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German Pages 356 [358] Year 2017
Judith Hagen
Die Tränen der Mächtigen und die Macht der Tränen Eine emotionsgeschichtliche Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
Altertumswissenschaft Franz Steiner Verlag
Altertumswissenschaftliches Kolloquium 25
Judith Hagen Die Tränen der Mächtigen und die Macht der Tränen
AltertumswissenschAftliches Kolloquium Interdisziplinäre Studien zur Antike und zu ihrem Nachleben
Herausgegeben von Rainer Thiel und Meinolf Vielberg.
Wissenschaftlicher Beirat: Walter Ameling (Köln), Susanne Daub (Jena), Michael Erler (Würzburg), Angelika Geyer (Jena), Jürgen Hammerstaedt (Köln), Jan Dirk Harke (Jena), Gerlinde Huber-Rebenich (Bern), Elisabeth Koch (Jena), Christoph Markschies (Berlin), Norbert Nebes (Jena), Tilman Seidensticker (Jena), Dietrich Simon (Marburg), Timo Stickler (Jena), Christian Tornau (Würzburg) und Helmut G. Walther (Jena) Band 25
Judith Hagen
Die Tränen der Mächtigen und die Macht der Tränen Eine emotionsgeschichtliche Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11852-1 (Print) ISBN 978-3-515-11855-2 (E-Book)
Für Achim
VORWORT Die vorliegende Arbeit entstand aus dem Wunsch heraus, sich mit Gesten als einer wesentlichen Grundlage menschlicher Interaktion und dadurch auch mit ihren Ursachen sowie der Intention desjenigen auseinanderzusetzen, der sie ausführt. Tränen nehmen in der Regel die Funktion einer Geste ein, da sie ein nach außen hin sichtbares Zeichen einer Emotion darstellen. Damit wurde ein Ansatzpunkt für eine altertumswissenschaftliche Forschungsarbeit gewählt, der eine systematische Beschäftigung mit historiographischen Texten der römischen Kaiserzeit im Rahmen eines emotionsgeschichtlichen Zugangs ermöglichte, wobei historische ebenso wie philologische Aspekte zum Tragen kamen. Bei der Untersuchung handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner 2016 bei der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth eingereichten Dissertation (Tag der Annahme: 13. Juli 2016). Mein Dank gilt in erster Linie den beiden Gutachtern dieser Arbeit, Herrn Prof. Dr. Ralf Behrwald (Bayreuth) und Herrn Prof. Dr. Meinolf Vielberg (Jena), die ihr durch viele Gespräche und durch ihre sorgfältige Lektüre wesentliche Impulse gaben. Daneben habe ich allen – Freunden und mitunter Kollegen – zu danken, die sich für mein Thema interessierten und mir durch ihre Fragen gedankliche Anregungen boten. Herrn Prof. Dr. Rainer Thiel (Jena) und Herrn Prof. Dr. Meinolf Vielberg bin ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Altertumswissenschaftliches Kolloquium“ sehr verbunden. Schließlich möchte ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein meinen Dank für die freundliche finanzielle Unterstützung der Drucklegung aussprechen. Jena, im Mai 2017
Judith Hagen
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort...............................................................................................................
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Einleitung ...........................................................................................................
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I. 1. 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 2. 2.1 2.2 2.3 2.4
14 14 14 15 21 27 27 29 37 37 39 41 42 42 45 50
3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Forschungsgeschichte und methodisches Vorgehen ............................. Emotionen und Rituale in den Altertumswissenschaften ..................... Ritualgeschichtliche Beiträge ............................................................... Machteliten und Rituale........................................................................ Kulturgeschichtliche Beiträge .............................................................. Emotionsgeschichtliche Beiträge ......................................................... Philosophie ........................................................................................... Geschichtswissenschaft und Philologie ................................................ Tränen in den Altertumswissenschaften ............................................... Literaturwissenschaftliche Beiträge ..................................................... Archäologische Beiträge....................................................................... Kirchengeschichtliche Beiträge ............................................................ Emotionen und Rituale in der Mediävistik ........................................... Affekte und ihre Kontrolle.................................................................... Emotionen als strategisches Instrument mittelalterlicher Politik ......... Emotionen als spontane menschliche Ausdrucksformen...................... Abhängigkeit emotionaler Ausdrucksformen von spezifischen sozialen Gruppen .................................................................................. Methodisches Vorgehen ........................................................................ Physiologie und Psychologie des Weinens ........................................... Historizität und Authentizität................................................................ Emotionsgeschichtliche Analyse kaiserzeitlicher Historiographie....... Definition des Weinens und Abgrenzung des Wortfelds....................... Textcorpus ............................................................................................
II. 1. 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3
Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie .... Wo wird geweint? ................................................................................. Cicero und Quintilian über das Weinen vor Gericht............................. Cicero.................................................................................................... Quintilian .............................................................................................. Weinen vor Gericht in der Historiographie .......................................... Die (erfolglosen) Tränen der Servilia ................................................... Die (bedingt erfolgreichen) Tränen der Peponila ................................. Die Tränen der Messalina und des Vitellius .........................................
67 67 67 67 72 74 75 77 78
52 55 55 59 61 64 65
10 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 1.5 1.6 1.7 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3 2.2.3 2.3 2.4 2.4.1 2.4.1.1 2.4.1.2 2.4.2 2.4.3 2.5 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 4. 4.1 4.1.1 4.1.1.1 4.1.1.2 4.1.2 4.1.2.1 4.1.2.2 4.1.2.3 4.1.2.4 4.1.3
Inhaltsverzeichnis
In der Kurie und auf dem Forum .......................................................... In der Kurie........................................................................................... Auf dem Forum .................................................................................... Im Circus und im Theater ..................................................................... In der Kirche und ihrer Umgebung....................................................... Im Lager und auf dem Marsch ............................................................. In privatem Rahmen ............................................................................. Wer weint – und vor wem? ................................................................... Weinende Kaiser und Feldherren vor Soldaten .................................... Weinen vor Soldaten ............................................................................. Weinen vor revoltierenden Soldaten..................................................... Weinende Soldaten ............................................................................... Weinen in Situationen der Gehorsamsverweigerung............................ Weinen als Geste der Loyalität ............................................................. Bei Begrüßung und Abschied ............................................................... Treue zum Feldherrn in Kriegssituationen ........................................... Treue der Soldaten Othos angesichts seines Untergangs...................... Weinen im Krieg ................................................................................... Weinende Senatoren ............................................................................. Weinende Kaiser und weinende Senatoren beim Machtverzicht ......... Tränen bei der Ablehnung von Ehrungen und Macht ........................... Die Annahme des Titels pater patriae durch Augustus ........................ Tränen bei der Ablehnung politischer Macht ....................................... Tränen bei der Rückgabe politischer Macht ......................................... Tränen beim Machtverzicht als inszeniertes Verhalten ........................ Emotionen und Kommunikation .......................................................... Weinen Frauen anders als Männer? ...................................................... Positiv gewertete weibliche Tränen ...................................................... Tränen in negativ konnotierten Kontexten ........................................... Tränen (und Tränenlosigkeit) als machtstrategisches Instrument ........ Spezifisch weibliche Tränen? ............................................................... Wann wird geweint – und wann nicht?................................................. Weinen um Tote .................................................................................... Weinende Herrscher, Feldherrn und Politiker ...................................... Unwillkürliche Tränen der Trauer ........................................................ Geheuchelte Tränen .............................................................................. Modi des Weinens um hochrangige Verstorbene .................................. Die Tränen um Pompeius in Lukans Bellum civile............................... Die tränenreiche Trauer um Germanicus in den taciteischen Annalen . Weinen um verstorbene Herrscher........................................................ Vorgezogenes Weinen ........................................................................... Echte und unechte Tränen.....................................................................
82 82 89 96 99 102 106 109 109 110 116 122 122 127 127 129 130 134 136 138 139 139 143 154 161 163 164 165 170 179 190 194 195 196 196 202 212 212 216 221 228 230
Inhaltsverzeichnis
4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.2.1
Verbotenes Weinen ............................................................................... Verbotenes und bestraftes Weinen ........................................................ Der Weise verbietet das Weinen um seine Person ................................ Sterbende Philosophen ......................................................................... Sterbende Kaiser und Feldherren als Philosophen ............................... Tränen beim Abschied .......................................................................... Tränen in religiösen Kontexten ............................................................ Tränen bei der Buße: Theodosius I. ...................................................... Tränen beim Gebet ............................................................................... Gebete gegen Feinde: Bischof Alexander von Konstantinopel und der Mönch Julian .................................................................................. 4.4.2.2 Gott als Schlachtenhelfer: Theodosius I. und Julian Apostata ............. 4.4.3 Tränen bei der Bekehrung: Julian Apostata und Augustinus ................ 4.5 Möglichkeiten der Reglementierung interpersonellen Interagierens.... 5. Welche Emotionen werden präsentiert – und wozu?............................ 5.1 Tränen, Emotionen, Tugenden und der Charakter ................................ 5.2 Indikatoren für die Eignung zum Herrscher ......................................... 5.2.1 Fähigkeit zu Mitleid und Trauer ........................................................... 5.2.2 Tränen angesichts der notleidenden Stadt ............................................ 5.2.3 Tränen als Sieger um den Besiegten ..................................................... 5.2.4 Tränen und Tränenlosigkeit als Zeichen charakterlicher Stärke........... 5.3 Indikatoren für die mangelnde Eignung zum Herrscher ...................... 5.3.1 Geheuchelte Fähigkeit zu Mitleid und Trauer ...................................... 5.3.2 Tränen als Zeichen unmännlichen Verhaltens ...................................... 5.3.3 Tränen aus Feigheit und Angst ............................................................. 5.3.4 Tränen als Zeichen charakterlicher Schwäche ..................................... 5.4 Das Emotionsinventar römischer Herrscher und seine Darstellung ..... III.
11 233 234 242 243 252 257 260 261 267 267 268 269 272 273 274 276 276 287 293 301 303 304 306 310 313 318
Zusammenfassung ................................................................................ 320
Literaturverzeichnis ........................................................................................... 328 Register .............................................................................................................. 343 Personenregister .......................................................................................... 343 Stellenregister .............................................................................................. 348
EINLEITUNG Die vorliegende Arbeit bietet einen emotionsgeschichtlichen Zugang zu historiographischen Quellen der Kaiserzeit. Wie bereits im Titel formuliert, sind Tränen als Äußerung von Emotionen der Ausgangspunkt der Untersuchung. Im Fokus stehen ‚Mächtige‘, also politische und militärische, aber auch geistliche Entscheidungsträger, für die oft der Begriff der Führungselite gewählt wird.1 In erster Linie soll zwar die Darstellung der Tränen, die von kaiserzeitlichen Machthabern vergossen wurden, analysiert werden, allerdings spielten mitunter auch die Tränen, die vor ihnen vergossen wurden, für den jeweils vorliegenden kommunikativen Kontext eine bedeutende Rolle. Den methodischen Ansatz der Arbeit bildet die Emotionsgeschichte; der zeitliche Rahmen umspannt die römische Kaiserzeit, einige Male wird jedoch auch darüber hinausgegriffen, da weder der Beginn des Prinzipats noch das Ende der Spätantike eine zwingende Zäsur für die Betrachtung von Emotionen in der Historiographie darstellen. Der Grundgedanke der Arbeit besteht in der Überlegung, dass Tränen verschiedene Emotionen ausdrücken können; in der Öffentlichkeit vergossene Tränen stehen dabei – so die These – in einem Spannungsfeld zwischen Emotion und Ritual. Gegenstand der Untersuchung sind also nicht vornehmlich Emotionen, sondern Tränen als eine mögliche Form, sie zu äußern. Die Arbeit ist, kurz gesagt, folgendermaßen aufgebaut: Ein Methodenkapitel präsentiert zunächst für das Thema relevante Forschungen aus der Altertumswissenschaft und der Mediävistik, um vor diesem Hintergrund eigene Überlegungen zu entwickeln, die auf eine Untersuchung von Tränen in der kaiserzeitlichen Historiographie Anwendung finden sollen. Im Hauptteil werden fünf Aspekte, die in Zusammenhang mit Tränen zu bringen sind, als Ausgangspunkt für die Analyse einzelner Episoden gewählt: lokale Gegebenheiten, Personengruppen in ihrem Verhältnis zueinander, Frauen im Vergleich zu Männern, Reglementierungen emotionalen Verhaltens sowie Emotionen und ihre Bewertung in der literarischen Darstellung. Dabei werden historische und philologische Herangehensweise miteinander verbunden. Zusammenfassenden Betrachtungen setzen schließlich die Erkenntnisse, die im Verlauf der Untersuchung hervortraten, in Bezug zueinander.
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Vgl. dazu und zu äquivalenten Begriffen Vielberg (1996), S. 22.
I. FORSCHUNGSGESCHICHTE UND METHODISCHES VORGEHEN Tränen sind Ausdruck einer Emotion und besitzen Signalcharakter für das soziale Umfeld des Ausführenden; sie fungieren – und dies gilt insbesondere für Tränen, die öffentlich vergossen werden – als willkürlich oder unwillkürlich vollzogene Geste. In unterschiedlichen Kontexten kann das Weinen spezifische Funktionen annehmen, die jeweils mehr dem Bereich der Rituale oder dem der Emotionen zuzuordnen sind, wobei es sich stets in einem Spannungsfeld dieser beiden Kategorien befindet. Um verschiedene Deutungshorizonte von Tränen in antiken Texten offenzulegen, werden einige wesentliche Forschungspositionen auf den entsprechenden Gebieten in ihren Grundzügen vorgestellt und dabei der Vorgehensweise vor allem neuerer Forschungen Beachtung geschenkt, um auf dieser Basis eine eigene Methode für die Untersuchung von Schilderungen des Weinens in historiographischen Quellen der Kaiserzeit zu entwickeln. Dafür bieten nicht nur die Altertumswissenschaften, sondern auch Untersuchungen, die sich mit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit befassen, hilfreiche Ansatzpunkte. Die Darstellung der wissenschaftlichen Literatur und die kritische Auseinandersetzung damit wird zu einer Verortung des Themas der vorliegenden Arbeit führen. Dabei spielt die Emotionsgeschichte als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, die sich mit den Emotionen vergangener Epochen beschäftigt, eine wesentliche Rolle. 1. EMOTIONEN UND RITUALE IN DEN ALTERTUMSWISSENSCHAFTEN In den verschiedenen altertumswissenschaftlichen Disziplinen werden Emotionen und Rituale aus unterschiedlicher Perspektive betrachtet. Der Schwerpunkt des im Folgenden gebotenen selektiven Überblicks soll zwar auf der Alten Geschichte und der Klassischen Philologie liegen, jedoch werden auch benachbarte Teilfächer einbezogen, um die Bandbreite der Forschungsliteratur aufzuzeigen. 1.1 Ritualgeschichtliche Beiträge Der Begriff ‚Ritualgeschichte‘ wird hier nicht im engeren Sinn aufgefasst, vielmehr soll damit der Blick auf verschiedene Bereiche der Forschung gelenkt werden, in denen performatives Agieren den Gegenstand der Untersuchung bildet. Die Kommunikation der Führungseliten untereinander oder mit Untergebenen erfuhr oftmals eine rituelle Ausgestaltung, des Weiteren wurde ihr Verhalten auch unter kulturgeschichtlichen Aspekten betrachtet.
1. Emotionen und Rituale in den Altertumswissenschaften
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1.1.1 Machteliten und Rituale Für die Beschäftigung mit Ritualen im Umfeld römischer Herrscher sind nach wie vor die erstmals Mitte der 1930er Jahr erschienenen Aufsätze „Die Ausgestaltung des monarchischen Zeremoniells am römischen Kaiserhofe“ sowie „Insignien und Tracht der römischen Kaiser“ von Andreas Alföldi bedeutsam.1 Vor allem der erste Beitrag ist für die vorliegende Arbeit von Interesse: Darin widerlegt Alföldi die These, Diokletian habe bewusst das Hofzeremoniell der Perserkönige eingeführt, um dadurch ein neues Herrschaftsverständnis zu propagieren, das im Gegensatz zum augusteischen Prinzipat stand.2 Entgegen früheren Forschungsmeinungen kommt er zu dem Schluss, dass keine direkte und unvermittelte Übernahme des persischen Hofzeremoniells durch spätantike Kaiser stattfand, vielmehr hätten bereits in der Republik bestehende Gegebenheiten in späterer Zeit eine Umdeutung und Erweiterung erfahren.3 Alföldi analysiert die Bestandteile des Zeremoniells vor ihrem historischen Hintergrund4 und behandelt dabei besonders ausführlich die Herausbildung der Proskynese vor dem römischen Monarchen als Geste zeremonieller Huldigung, die dessen erhöhte Stellung veranschaulicht.5 Besonders die umfangreichen Quellenbelege können Anregungen für eine Beschäftigung mit einzelnen Aspekten des kaiserlichen Auftretens in der Öffentlichkeit bieten.6 Nicht so sehr die Entstehung, sondern vor allem die konkrete Einbettung eines bestimmten Rituals in das politische Geschehen bildet den Kern von Ulrich Huttners Monographie „Recusatio Imperii. Ein politisches Ritual zwischen Ethik und Taktik“, in der systematisch alle Zurückweisungen des Kaisertitels von den Anfängen des Prinzipats bis zu Julian untersucht werden. Als Fachterminus für dieses regelmäßig auftretende Handeln eines (künftigen) römischen Kaisers ist kein subs1
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Die Aufsätze wurden in den Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung, Band 49 (1934), S. 3–118, bzw. Band 50 (1935), S. 3–158 publiziert und geraume Zeit später zusammen unter dem Titel „Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche“ veröffentlicht, zuerst Darmstadt 1970 (3., unveränderte Auflage 1980). Vgl. Alföldi (31980), S. 3. Alföldi geht zunächst auf die Quellen ein, die Diokletian als Erfinder der monarchischen Repräsentation, wie sie in der Spätantike üblich war, darstellen, und zeigt anschließend die topische Verwendung des Perserkönigs als Tyrann und der dazugehörigen Terminologie in der griechischen und römischen Literatur auf, vgl. ebd., S. 6–25. Vgl. ebd., S. 25–118; die Analyse ist in drei Hauptteile untergliedert: Der Umgang des Herrschers mit Senatoren als seinesgleichen und im Kontrast dazu seine Absonderung von der Gesellschaft, die Begrüßung des Kaisers durch Einzelne sowie schließlich die kollektive Begrüßung des Kaisers und seine Ehrung in der Öffentlichkeit. Ihre Etablierung erfolgte durch das Zusammenwirken zweier gegensätzlicher Faktoren: Einerseits war das Knien eines Flehenden, das sich nicht allein auf die sakrale Sphäre beschränkte, ein Weg, auf dem sich die adoratio gewissermaßen von unten her durchsetzen konnte; andererseits gab es bereits vor Diokletian Versuche, sie von oben her zu etablieren, doch blieben sie bis zur Zeit der Tetrarchen erfolglos, vgl. ebd., S. 45–79. Stellungnahmen spätantiker Autoren zum kaiserlichen Zeremoniell und seine Funktion als Ordnung schaffendes Element innerhalb der römischen Rang- und Prestigehierarchie untersucht Herrmann-Otto (1998); Zum byzantinischen Zeremoniell vgl. Treitinger (21956). Rituale im Umfeld politischer wie geistlicher Würdenträger werden in dem epochenübergreifenden Sammelband von Boschung/Hölkeskamp/Sode (2015) thematisiert.
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I. Forschungsgeschichte und methodisches Vorgehen
tantivischer Begriff in den Quellen überliefert, allerdings sind in der deutschsprachigen Forschung dafür recusatio und confutatio gebräuchlich geworden. Huttner plädiert dafür, den Terminus recusatio imperii zu etablieren und definiert diesen als „die lediglich inszenierte, oder aber die konsequente Ablehnung der Machtübernahme durch den Prätendenten“.7 Bei dem in antiken Quellen häufig und mit wiederkehrenden Elementen geschilderten Machtverzicht römischer Kaiser vor Antritt ihres Amtes handelt es sich Huttner zufolge um ein Ritual. Schon Augustus werden Gesten des Machtverzichts unterschiedlichen Typs attestiert,8 und auch Tiberius legte beim Umgang mit Macht Vorsicht an den Tag.9 Bereits für die Kaiser nach Tiberius war es Huttner zufolge die Regel, darauf zu verweisen, dass sie nicht freiwillig, sondern durch andere Institutionen, das heißt den Senat oder das Heer, in ihre Stellung als Herrscher gelangt waren.10 In der frühen und hohen Kaiserzeit fand eine recusatio imperii seitens der Senats- und Adoptivkaiser als Respekt bezeugende Geste vor den Senatoren statt,11 viel zahlreicher sind aber die Fälle, in denen die Nachfolger des Augustus die ihnen vom Militär angetragene Kaiserwürde zunächst ablehnten und dies als regelrecht geforderter politischer Akt zu interpretieren ist.12 Auch Fälle einer tatsächlichen Verweigerung der Herrschaftsübernahme13 sowie die Abdankung Diokletians und Maximians im Jahre 305 werden behandelt.14 Auf der Grundlage seiner Quellenanalyse entwirft Huttner das Modell einer recusatio imperii, die sich im Wesentlichen in vier Schritten vollzieht.15 Zunächst einmal ist entscheidend, in welcher Form die kaiserliche Macht verfügbar ist, das heißt ob nach dem Tod eines Herrschers ein Machtvakuum existiert oder ob ein Usurpator sich die Macht zu Lebzeiten seines Konkurrenten aneignen will. Weiterhin ist das Verhältnis des künftigen Kaisers zu den Personengruppen zu bestimmen, die ihn ins Amt befördern wollen, nämlich der Senat bzw. die Truppen. Von ihrer 7 8
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Huttner (2004), S. 16; vgl. Huttners Einleitung S. 11–16. Diese Machtverzichtsgesten hatten Huttner zufolge das Ziel, die Position des Augustus im Staat sicherzustellen und zu festigen – ihnen lagen also machtpolitische Absichten zugrunde, vgl. ebd., S. 81–127. Auch in der griechischen Politik existierten derartige Verhaltensweisen, doch trotz struktureller Gemeinsamkeiten ist laut Huttner die recusatio imperii als eigenständiges Ritual im politischen Leben der Römer aufzufassen, vgl. ebd., S. 43–80. Dies wurde etwa von Velleius Paterculus als civilitas interpretiert, vom Großteil der antiken Historiographen (vor allem von Tacitus und Sueton) jedoch als heuchlerisches und eigennütziges Verhalten gedeutet, vgl. ebd., S. 128–148. Vgl. ebd., S. 149–159. Vgl. ebd., S. 214–239. Von fast allen Soldatenkaisern wird berichtet, sie hätten die Macht nur widerwillig und zudem oft unter Androhung von Gewalt übernommen, vgl. ebd., S. 160–213; hier stehen sich laut Huttner kaiserliche modestia (und die daraus resultierende recusatio imperii) und die Allmacht der Soldaten, die selbst in die Geschicke des Reiches eingreifen wollten und konnten, konträr gegenüber, vgl. ebd., S. 200 f. Auch ab dem Ende des 3. Jahrhunderts sind Zurückweisungen der Herrschaft gut bezeugt, vgl. ebd., S. 240–295. Vgl. ebd., S. 296–364. Vgl. ebd., S. 365–405. Vgl. ebd., S. 406–470; das Modell ist in erster Linie an der vorläufigen recusatio ausgerichtet, vgl. dazu ebd., S. 40 f.
1. Emotionen und Rituale in den Altertumswissenschaften
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Seite aus besteht eine Erwartungshaltung, auf die er reagiert, indem er die Macht ablehnt, wofür sich verschiedene Ursachen benennen lassen.16 Allerdings beugt er sich schließlich dem Druck dieser Masse und erklärt sich doch bereit, die ihm angebotene Herrschaft anzunehmen: Das Signalisieren von Gewaltbereitschaft durch diejenigen, die ihm die Macht antragen, bewegt ihn dazu, seine Entscheidung zu revidieren und sich zur Annahme zu entschließen – eine Inkonsequenz in seinem politischen Handeln, die mit der Verpflichtung gegenüber dem Staat und der Erwählung des Imperators durch die Götter erklärt wird.17 Die Beschreibungen von recusationes in den Quellen stellen teils die Aufrichtigkeit des Kaisers, teils sein Kalkül in den Vordergund.18 Der untersuchte Zeitraum reicht bis einschließlich Julian, da es sich bei seiner um die letzte ‚heidnische‘ Weigerung der Herrschaftsübernahme handle und die recusatio von den Herrschern der Folgezeit modifiziert worden sei.19 Gerade für diese Veränderungen, nämlich den Eingang christlichen Gedankengutes in die Herrschaftsauffassung und -propaganda sowie die wachsende Bedeutung der geistlichen Eliten, fehlt jedoch im Kontext der rituellen Machtverzichtserklärung eine umfassende Studie.20 Rituelles Agieren in der römischen Politik bildet auch den Gegenstand mehrerer Untersuchungen des Althistorikers Egon Flaig. Anders als in der vorangegangenen – zumindest der deutschsprachigen – Forschung liegt seiner Betrachtung performativen Agierens ein dezidiert soziologisch geprägter Ansatz zugrunde. Seine 1992 erschienene Habilitationsschrift mit dem Titel „Den Kaiser herausfordern. Die Usurpationen im Römischen Reich“ beschäftigt sich mit den Machtergreifungen im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. Einleitend formuliert Flaig anhand von Beispielen aus Tacitus‘ Historien seine Unterscheidung zwischen berichtender Erzählebene und einer Art von generalisierenden, gelegentlich apodiktisch wirkenden Aussagen eines Autors. Diese widersprechen sich oftmals und erschweren es dadurch, die tatsächlichen Sachverhalte aus dem Text zu eruieren, da das Ausgeführte
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Huttner führt folgende Gründe an: Die recusatio imperii als Ritual bildet einen „normierenden Zwang“ für den Prätendenten (ebd., S. 417, vgl. S. 415–417); die recusatio imperii dient der Legitimierung der Macht durch Verzicht auf selbige (S. 418–442); individuelle Motivation des Individuums, dem die Macht angetragen wird, die aber seine Tugenden herausstellt (S. 442– 457); die Weigerung der Herrschaftsannahme ist eine politische Lüge und dient als „Instrument, um – und das ist das politische Ziel – die Macht zu erringen“ (S. 458), sie ist gewissermaßen eine Tarnung für das eigene Streben nach der Macht (S. 458–460). Vgl. ebd., S. 461–470. Die positiven Eigenschaften des Kaisers als Herrscher werden etwa bei den Panegyrikern und der kaiserlichen Propaganda nahestehenden Quellen herausgestellt, andererseits (vor allem von Tacitus, Sueton und Cassius Dio) wird jedoch seine Machtgier kritisiert, vgl. ebd., S. 471 f. Vgl. ebd., S. 36 f. Huttner selbst verweist auf die in der mediävistischen Forschung nicht unbeachtete recusatio imperii Karls des Großen (vgl. ebd., S. 37 Anm. 5), die für eine Untersuchung diesen Zuschnitts sicherlich einen geeigneteren Zielpunkt gesetzt hätte. Doch obwohl sich ein Ausblick auf die recusatio späterer Herrscher geradezu aufgedrängt hätte, wird abschließend der in ganz anderen Kulturkreisen zu verortende Machtverzicht Simón Bolívars im Jahre 1819 behandelt, vgl. ebd., S. 473–482.
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I. Forschungsgeschichte und methodisches Vorgehen
kritisch hinterfragt und erst entschlüsselt werden muss.21 Die Lösung sieht Flaig in einer praxeologischen Historie, die darauf angelegt ist, historische Gegebenheiten zu erklären, indem sie die Beziehungen zwischen historisch Agierenden näher bestimmt.22 Diese manifestieren sich in Verhaltensweisen, die es aufzufinden und zu ordnen gilt, und die auf diese Weise rekonstruierten Strukturen geben Flaig zufolge die tatsächliche Praxis wieder. Das Agieren Einzelner oder von Gruppen hat eine bestimmte Codefunktion, die sich mit der Hilfe eines systematisch angelegten Katalogs von Handlungen entschlüsseln lässt.23 Das Kernthema Flaigs sind demnach die performativen Verhaltensweisen und ihre Bedeutung für politisches Handeln. Als entscheidendes Kriterium dafür, dass der Herrscher in seine Stellung gelangen bzw. sich in dieser behaupten kann, benennt Flaig den consensus universorum:24 Die Akzeptanz des Kaisers durch plebs urbana, Senatoren und Soldaten bildete stets die Basis seiner Macht, wie sich bereits seit Augustus nachweisen lässt.25 Durch Herausarbeitung der Mechanismen, die bei einer Usurpation wirksam waren, entwirft Flaig ein umfassendes Bild des Akzeptanzsystems, in dem der Usurpator oder Kaiser sich nach festgelegten Regeln bewegen musste. Dabei liefert er manche neuen Auslegungen der geschilderten Sachverhalte, allerdings ist seine Sichtweise mitunter zu einseitig (da zu stark auf die von ihm entworfenen Modelle fixiert), was
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Die beiden Erzählebenen werden von Flaig als ‚berichthafter‘ bzw. ‚maximischer‘ Diskurs bezeichnet, vgl. Flaig (1992), S. 14–25, besonders S. 25: „Der berichthafte Diskurs im taciteischen Text folgt zwar häufig nicht derjenigen Ereignislogik, die unsere Wissenschaft verlangt. Doch er ist übersetzbar in deren Terminologie. Mit dem Eingeständnis, daß wir genötigt sind, von einem Diskurs in den anderen zu übersetzen, ist die Vorstellung abgewiesen, man könne durch den berichthaften Diskurs hindurch direkt das Reale fassen. Wir fassen immer nur Kodiertes.“ Während der berichthafte Diskurs mitunter sachlich Falsches enthält und somit kritisch hinterfragt werden muss, kann auch der Inhalt des maximischen Diskurses nicht als Ausdruck objektiver Gegebenheiten gewertet werden, da er das Selbstverständnis des antiken Verfassers widerspiegelt und dessen Gedankenwelt an Faktoren wie etwa seine soziale Stellung gekoppelt ist, vgl. ebd., S. 25–32. Vgl. ebd., S. 34; mit dem Begriff ‚Praxeologie‘ lehnt sich Flaig an Forschungsansätze des französischen Soziologen Pierre Bourdieu an. Vgl. ebd., S. 32–37; die Neuartigkeit seines Vorhabens betont Flaig ebd., S. 37: „Der direkte Zugriff auf die Intentionen der Handelnden ist in der Forschungspraxis häufig daneben gegangen. Indem nun solche Inventare von ‚Performanzen‘ und Gesten – d. h. Register von kodiertem Verhalten – erstellt werden, gewinnt der Historiker neue Möglichkeiten, die Interaktionen der untersuchten Gruppen zu erhellen.“ Vgl. ebd., S. 174–207; Flaig verwehrt sich im Gegensatz zu manchen Forschern vor ihm gegen die Deutung des Prinzipats als einer im Einklang mit der römischen Verfassung stehenden Regierungsform. Flaig exemplifiziert seine Theorie zunächst an dessen ersten Nachfolgern und den ersten beiden Usurpationsversuchen der Kaiserzeit (ebd., S. 208–239), um dann ausführlich die Usurpationen des Galba, Otho, Vitellius, Vespasian und des Antonius Saturninus zu analysieren (S. 240– 450). Schließlich werden die Zusammenhänge von Usurpation und Verhalten der Soldaten, ihre Rolle bei der Verteidigung des Imperiums und bei dessen Umgestaltung (vor allem im Zuge des Bataveraufstandes 69/70 n. Chr.) sowie die Themenkomplexe Samtherrschaft – Legalisierung einer Usurpation – Rücktritt des Kaisers (alle drei Bereiche werden infrage gestellt und verneint) behandelt (S. 451–468).
1. Emotionen und Rituale in den Altertumswissenschaften
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er bei anderen Historikern selbst kritisiert.26 Sein Deutungsrahmen ist letztlich ebenso streng wie andere geschichtswissenschaftliche Forschungsansätze.27 In seiner erstmals 2003 erschienenen Monographie „Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom“ analysiert Flaig ebenfalls performative Handlungen, indem er auf unterschiedliche Felder der römischen politischen Lebenswirklichkeit eingeht und dabei eine Interpretation ausgewählter antiker Textbelege vor allem aus dem Genre der Historiographie bietet. Die Bedeutung rituellen Agierens wird unter Berücksichtigung der Methoden näher beleuchtet, die Flaig auch in seiner Arbeit über Usurpationen angewendet hat:28 Gesten haben eine kommunikative Funktion, sie nehmen auf bestimmte Normen und Werte Bezug, deren Sinngehalt den jeweils agierenden Personen als Orientierung dient; aus diesem Umstand resultiert der Zeichencharakter von Gesten.29 Durch das Handeln in einem spezifischen Fall werden immer wieder ethische Maßstäbe sichtbar, nach denen sich die Anwendung bestimmter Ausdrucksweisen richtet.30 Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Bittgesten setzt sich Flaig mit den in manchen Fällen geschilderten Tränen auseinander.31 Wie effektiv ihr Einsatz in der politischen Kommunikation sein konnte, verdeutlicht er etwa an Plutarchs Bericht über die Auseinandersetzungen zwischen Tiberius Gracchus und Octavius im Jahre 133 v. Chr. Nachdem der Volkstribun als Antwort auf eine Blockade seines Gegners dessen Politik ausgeschaltet hatte, konnte er durch zwei Konsulare dazu gebracht werden, sich wieder einvernehmlich zu zeigen. Erreicht wurde seine Hal26
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So wirkt beispielsweise die Kritik an Mommsens Äußerungen über die Samtherrschaft im Prinzipat besonders durch das mehrmalige Rekurrieren auf den großen Althistoriker im Verlauf der eigenen Argumentation aufdringlich, vgl. ebd., S. 551–555, besonders S. 551; Tadel an Mommsen auch ebd., S. 561; ausführliche und differenzierte Auseinandersetzung mit Mommsens staatsrechtlichem Begriff des Prinzipats ebd., S. 184–201. Diese Gegebenheiten führten Andrew Lintott in seiner Rezension von Flaigs Monographie dazu, diese im Ganzen als zu einseitig einzustufen, wie er schon mit dem ersten Satz andeutet. Insgesamt sei gerade das an soziologischen Theorien ausgerichtete methodische Vorgehen zwar überzeugend, doch seien mit dem von Flaig gewählten Ansatz auch erhebliche Schwierigkeiten verbunden, vgl. Lintott (1994), S. 132: „However, the impact of this work will reside mainly in the theoretical approach. For, in spite of the professions of praxeological historians that they are producing a discourse about patterns of events, free from reified abstract concepts, the effects of our own cultural determination and the ideology of the ancient sources, they cannot operate without rules of interpretation of their own which have ideological links. In F.’s case, whatever his self-consciousness, his mentalité in this work tends to be that of a self-justifying and self-reinforcing sociology, which leaves little scope for alternative discourses.“ Vgl. Flaig (22004), S. 11. Vgl. ebd., S. 10. Ebd.: „Kulturelle Semantik stabilisiert zwar, doch sie hält sich von alleine nicht stabil. Sie wirkt (…) nur im aktualisierenden Vollzug, rituell und institutionell. Sie zu reproduzieren, erfordert hohe soziale Anstrengungen; sie ‚identisch‘ zu reproduzieren, ist unmöglich. Semantische Kämpfe und Verschiebungen der Kräfteverhältnisse verändern sie.“ Flaig stellt deutlich heraus, wie wichtig es ist, kontextbezogen individuelle Folgerungen zu ziehen – „achtet man auf die jeweilige politische Konjunktur sowie auf die soziale Situativität, dann werden die Spielräume des Handelns sichtbar und die strategische Qualität der Handlungsoptionen kommt zum Vorschein.“ Vgl. insgesamt das Kapitel „Zwingende Gesten in der römischen Politik“, S. 99–122.
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tung Plutarch zufolge dadurch, dass die ehemaligen Konsuln seine Hände fassten und ihn unter Tränen beschworen.32 Weil die Akzeptanz der Geste für Tiberius kein Abweichen von seinem Standpunkt, sondern – so Flaig – nur ein „habituelles Einvernehmen“ bedeutete, konnte er der Aufforderung nachkommen.33 Die zurate gezogenen Textpassagen werden von Flaig als Zeugnisse kommunikativer Strukturen gewertet; er unterzieht für die römische Kultur typische Institutionen einer eingehenden Betrachtung, so etwa den Triumph, die pompa funebris, die Volksversammlung und – im Schlusskapitel – die Spiele.34 Seine Fixierung auf performatives Agieren führt mitunter dazu, dass er Intentionen unterstellt, die in dieser Form nicht vorhanden sein konnten, da sie voraussetzen, dass sich die handelnden Gruppen bewusst innerhalb der dargestellten Muster bewegten – Modelle rituellen Verhaltens können eine Erklärung für ein bestimmtes Verhalten bieten, bilden aber nicht immer dessen Grundlage oder Ursprung.35 Dennoch überzeugen die neuen Interpretationen der Texte in weiten Teilen, und durch Flaigs Verknüpfung von Methoden aus Soziologie und Geschichte werden eingefahrene Deutungsmuster überwunden, so dass die Untersuchung allseits bekannter Texte36 neue Erkenntnisse liefert und dadurch die hohe Bedeutung von Ritualen für das politische Geschehen in Republik und Kaiserzeit herausstellt.37 Mit einem ganz bestimmten Ort öffentlicher Kommunikation, nämlich dem Amphitheater, beschäftigt sich Helmut Krasser in einem 2006 publizierten Aufsatz: Er beschreibt dieses als Kommunikationsraum für Zuschauer, Magistrate und Kaiser, in dem ein gemeinsamer Konsens von Werten inszeniert wurde.38 Vor diesem Hintergrund erfolgt eine Interpretation von Statius‘ Silvae 2,5, worin der ruhmlose Tod eines Löwen und das Weinen des Kaisers über das Schicksal des Tieres geschildert wird. Durch seine nach außen hin sichtbare Trauer wird, so Krasser, die Tugend der misericordia für die Zuschauer sichtbar, so dass weniger die nicht gelungene Aufführung, sondern vielmehr die Tragik des Ereignisses in den Vordergrund rückt.39 Ebenfalls von 2006 stammt ein Beitrag von Antony Hostein, der sich mit den im Panegyricus VIII (5) geschilderten Tränen Konstantins des Großen in der 32 33 34 35 36 37 38 39
Vgl. ebd., S. 99 f. Ebd., S. 103. Freilich war das Entgegenkommen des Tiberius Gracchus nur von kurzer Dauer; im folgenden politischen Schlagabtausch erwies er sich als durchsetzungskräftiger als Octavius, der schließlich als Volkstribun abgesetzt wurde, vgl. ebd., S. 100 f. Unter soziologischem und historischem Blickwinkel in ungewohnter Verknüpfung beleuchtete bereits Paul Veyne die Spiele, freilich in einem ganz anders gearteten breiteren Rahmen, vgl. Veyne (1992). Flaig knüpft mit seiner Herangehensweise deutlich an die Methoden Veynes an. Vgl. etwa die Formulierung der Beweggründe Neros bei der Umgestaltung der Gladiatur ebd., S. 254–256. Dass es sich bei den analysierten Texten um vielfach beforschte Quellen handelt, betont Flaig (1992), S. 37 selbst. Politische Konventionen zur Zeit der Römischen Republik stehen zudem in Untersuchungen Karl-Joachim Hölkeskamps im Zentrum, so in seiner 2004 erschienen Monographie „Senatus Populusque Romanus. Die politische Kultur der Republik – Dimensionen und Deutungen“. Diese These wird anhand mehrerer Beispiele aus der lateinischen Literatur untermauert, vgl. Krasser (2006), S. 273–276. Vgl. ebd., S. 284–288.
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Stadt Autun befasst.40 Sehr unterschiedliche Belege antiken Weinens werden schließlich in einer bereits 1980 erschienenen Miszelle unter dem Titel „Romans in Tears“ von Ramsay Macmullen angeführt. Er wirft eine Vielzahl von Fragen auf, die dem Bereich der Ritual- und Emotionsgeschichte entstammen, allerdings bis auf Hostein offenbar von niemandem aufgegriffen worden sind. Es werden ganze Bereiche umrissen, in denen eine eingehendere Untersuchung von Tränen ertragreich erscheinen würde: die Zurschaustellung von Tränen bzw. Emotionen allgemein durch Senatoren in der Öffentlichkeit; Tränen vor Gericht; Weinen von Soldaten und ihren Feldherren; Bemerkungen zum Weinen in der philosophischen Literatur; Weinen als tugendhaftes Verhalten für ehrbare Männer der Oberschicht; Weinen von Kaisern und anderen hochgestellten Persönlichkeiten vor Untergebenen.41 Ein Grund für die Schilderung des Weinens bestand Macmullen zufolge für die antiken Autoren vermutlich darin, dass damit der Erwartungshorizont des Lesepublikums erfüllt wurde.42 1.1.2 Kulturgeschichtliche Beiträge Was in der modernen Forschung unter dem Begriff Kulturgeschichte verstanden wird, ist schon vor geraumer Zeit ein Gegenstand altertumswissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Natürlich bilden Gesten dabei nicht notwendigerweise den Schwerpunkt, doch bieten kulturgeschichtliche Darstellungen mitunter hilfreiche Blicke auf das Umfeld, in das sie zu stellen sind. Große Popularität erlangten die erstmals in den Jahren 1862 bis 1871 erschienen „Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine“ von Ludwig Friedländer.43 Sie wenden sich an ein breites bürgerliches Lesepublikum und bieten gelehrte Unterhaltung, eine spezifische wissenschaftliche Fragestellung liegt ihnen aber nicht zugrunde, und es erfolgt keine tiefergehende Analyse der Belege.44 Die Untersuchung ist auf die ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte beschränkt, 40
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Hostein stellt den Panegyricus dabei in einen weiteren Kontext: Er verweist auf Situationen, in denen Amtsträger regelmäßig öffentlich ihre Tränen vergossen; die Frage nach Historizität und Echtheit der nach außen hin präsentierten Emotion wird aufgeworfen; Beispiele weiterer antiker Autoren werden angeführt; schließlich wird eine zusammenfassende Analyse der im Panegyricus geschilderten kaiserlichen Tränen geliefert, vgl. Hostein (2006), S. 215–227. Hostein betont mit Nachdruck, dass es sich dabei nicht um eine unterhaltsame Anekdote, sondern um einen Gestus handelt, der an einem spezifischen Modell orientiert war, vgl. ebd., S. 228. Vgl. Macmullen (1980), S. 254 f. Vgl. ebd., S. 255. Zunächst auf drei Bände angelegt, wurde das Werk nach dem Tode des Verfassers in einer neunten Auflage stark bearbeitet, so dass der Umfang auf vier Bände anwuchs. Friedländer selbst bearbeitete seine Sittengeschichte bis zu seinem Tod immer wieder; ab der neunten Auflage (1919–1921) erfuhr das Werk dann durch keinen Geringeren als Georg Wissowa eine gründliche Durchsicht. Kapitelweise werden wesentliche Bereiche des Lebens und der Gesellschaft dargestellt, indem eine Fülle von literarischen Quellenbelegen referiert wird. Durch diese teils wörtlich zitierten, teils paraphrasierten Textpassagen werden unterschiedliche Felder der antiken Kultur anschaulich gemacht, lediglich überleitende Sätze verbinden die Belege untereinander.
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da sich dieser Zeitraum Friedländers Ansicht nach durch weitgehende Beständigkeit und Einheitlichkeit der Kultur auszeichnet (auch von der modernen Forschung wird das Jahr 200 meist als Bruch mit bisherigen historischen Entwicklungen beurteilt). Seine These einer größeren Stabilität der Kultur im Altertum sowie generell in südlichen Ländern ist allerdings eindeutig nicht mehr haltbar.45 Vor allem die zeittypische breite Quellenkenntnis des Verfassers machen einen Blick in dieses Werk immer noch lohnenswert. Mit einem einzelnen Aspekt der Kulturgeschichte, nämlich dem Privatleben der römischen Kaiser, beschäftigen sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gleich zwei Monographien. Die Untersuchung von Alexander Demandt bietet vor allem Unterhaltsames aus der Geschichte der römischen Kaiserzeit. Einleitend zeigt er aber auf, dass seit der Kaiserzeit durchaus Interesse am Privatleben des Herrschers und seiner Familie vorhanden war und sich daher Nachrichten darüber in den Quellen finden;46 des weiteren geht Demandt auf das Problem einer Trennung von ‚privat‘ und ‚staatlich‘ bei den römischen Imperatoren ein und fasst unter dem Begriff ‚Privatleben‘ alles, „was mit den wichtigsten Amtspflichten des Kaisers nicht unmittelbar verbunden ist.“47 Die in den folgenden neun Rubriken beschriebenen Gewohnheiten und Vorlieben der Kaiser und Kaiserinnen48 lesen sich wie eine thematisch geordnete Aneinanderreihung von Quellenbelegen – kommentiert wird kaum, wie es auch bei Friedländer der Fall ist. Wie dieser sieht Demandt zudem einen Bruch in der Sittengeschichte an der Wende zum dritten Jahrhundert, das einen Tiefpunkt darstelle, der erst in der Spätantike unter dem Einfluss des Christentums überwunden werde.49 45
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Vgl. das Vorwort von Band 1 der ersten Auflage von 1862, S. VI: „Das Unternehmen, die Cultur eines Zeitraums von zwei Jahrhunderten als ein Ganzes zu betrachten und darzustellen, kann dem bedenklich, ja unausführbar erscheinen, der an die Betrachtung neuerer Zeiten gewöhnt ist, wo Veränderungen, ja Umwälzungen schnell und häufig eintreten und zuweilen zwei aufeinanderfolgende Menschenalter sich völlig unähnlich sind. Doch im Alterthum war die Stabilität der Cultur ungleich größer und ihre Entwicklungen langsamer, schon deshalb, weil die umgestaltenden Entdeckungen und Erfindungen so gut wie ganz fehlten. Sodann sind auch noch heute die südlichen Länder in Gebräuchen, Sitten und Einrichtungen viel stabiler als die nördlichen, wie sich ja dort in Gegenden, die von der modernen Kultur nur oberflächlich berührt sind, so überraschend viel aus dem Alterthum bis auf unsre Tage erhalten hat.“ Eine wissenschaftliche Arbeit sei dem Thema jedoch bisher nicht gewidmet, da man es nicht für seriös genug gehalten habe, vgl. Demandt (21997), S. 12–21. Ebd., S. 30; vgl. insgesamt S. 24–35. Dass eine präzise Abgrenzung von negotium und otium gerade bei den Kaisern oft nur schwer möglich ist, betont Demandt selbst, vgl. ebd., S. 34: „So gehen das Offizielle und das Individuelle allenthalben ineinander über und müssen das tun, weil die Ansichten darüber, wo das Dienstliche aufhört und das Persönliche anfängt, beträchtlich schwanken.“ Demandt sieht es als selbstverständlich an, die Kaiserinnen in die Darstellung mit einzubeziehen, vgl. ebd., S. 7; freilich wird über sie deutlich weniger in den Quellen berichtet als über ihre Männer. Vgl. ebd., S. 250 f. Wie die Einteilung der Kaiserzeit in Aurea Aetas, Krise im dritten Jahrhundert und erneutes Aufblühen mit der Durchsetzung des Christentums in der Spätantike von Demandt nicht kritisch genug hinterfragt wird, so ist auch das ganze Schlusskapitel, das mit dem Titel „Ein anthropologisches Experiment“ überschrieben ist, nicht im Kern analysierend. Den römischen Kaisern bis zu den Antoninen wird eine ungehemmte Freiheit im Handeln at-
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Insbesondere der Spätantike widmet sich die Monographie von Monika Staesche zum Privatleben der römischen Kaiser,50 an deren Beginn die Schwierigkeit einer Unterscheidung von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ erörtert wird. Ausgehend von der Grundbedeutung des lateinischen privatus als „jemand, der kein politisches Amt ausübte“51, macht Staesche darauf aufmerksam, dass dem spätantiken römischen Kaiser durchaus eine Privatsphäre zugestanden wurde, die im Kontrast zum starren Hofzeremoniell stand.52 Die Definition der vita privata des römischen Herrschers lässt sich demnach „als die Summe der Eigenschaften und Bedürfnisse vornehmen, die der Kaiser mit anderen Menschen gemeinsam hatte“.53 Am Ende steht ein differenziertes Bild des Kaisers, das die anfangs geäußerten grundsätzlichen Überlegungen bestätigt und erweitert: Dem stark formalisierten, entpersonalisierten Hofzeremoniell stand vielfach eine Entfaltung in der persönlichen Sphäre entgegen (eine Ausnahme bildete Julian, der sich einer solchen Trennung nicht beugen wollte). Staesche kommt zu dem Schluss, dass ein Kaiser dann von den Quellen als positiv gewertet wurde, wenn er es verstand, Ritual und Individualität im Gleichgewicht zu halten – die Annahme, die spätantiken Herrscher hätten weniger Privatleben als ihre Vorgänger besessen, erweist sich als falsch, denn es seien lediglich die Informationen darüber weitaus dürftiger.54 Der Sittengeschichte ist, wenn man diesen Begriff weit fasst, auch die 1890 erschienene Untersuchung „Die Gebärden der Griechen und Römer“ von Carl Sittl zuzurechnen.55 Er definiert Gebärden – heutzutage würde vermutlich der Ausdruck ‚Gesten‘ verwendet – als „alle nicht mechanischen Bewegungen des menschlichen Körpers“, die sich in die instinktiven und die willentlich beeinflussten unterteilen lassen.56 Auf breiter Quellengrundlage und unter Einbeziehung der zugehörigen Wortfelder im Griechischen und Lateinischen führt er zunächst verschiedene Emotionen und ihre Äußerungsformen an: Freude, Überraschung, Zorn, Schmerz und Trauer, Freundschaft und Liebe, Hass, Furcht sowie schließlich Gesten des Schweigens.57 Dabei wird die besondere Stellung der Gesten deutlich – durch sie werden
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testiert, die der Stellung der Herrscher in dieser Zeit gewissermaßen einen historischen Sonderstatus zubilligt, der sich unterschwellig durch manche Forschungsliteratur zieht, der aber oft als Allgemeingut übernommen und nicht tatsächlich in Frage gestellt sowie dann einer genaueren Betrachtung unterzogen wird, vgl. ebd., S. 245–252. Die Arbeit wurde von Demandt angeregt und entstand etwa zeitgleich mit dessen Studie. Staesche (1998), S. 15. Vgl. ebd., S. 17–19. Ebd., S. 19. Konsequenterweise erfolgt zuerst eine Behandlung der Bereiche, die den Kaiser als menschliches Wesen (physische und psychische Aspekte) einbeziehen, um dann auf den Kaiser und sein Umfeld (Residenzen, Bildung und geistige Interessen, Hobbies) einzugehen; dabei wird die kulturgeschichtliche Bedeutung der behandelten Aspekte sichtbar gemacht. Vgl. ebd., S. 323–325. Wenigstens hingewiesen werden soll an dieser Stelle auf die umfangreiche und reich bebilderte Arbeit von Richard Brilliant, Gesture and Rank in Roman Art: The Use of Gestures to Denote Status in Roman Sculpture and Coinage von 1963; erwähnt werden sollte auch der Sammelband von Cairns (2005). Sittl (1890), S, 1. Vgl. ebd., S. 6–54. Als für seine Untersuchung besonders reichhaltiges Quellenmaterial stuft Sittl dabei weniger die klassische Geschichtsschreibung ein, sondern zieht vor allem Dichtung,
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Emotionen ausgedrückt, sie werden aber gerade deswegen in bestimmten Zusammenhängen regelmäßig verwendet und können rituellen Charakter haben. Der Hauptteil der Untersuchung behandelt dann verschiedene Arten von Gebärden in ihren jeweiligen situativen Kontexten.58 Das Weinen findet als wesentlicher Bestandteil einer Kette von Verhaltensweisen Erwähnung, wie sie beispielsweise bei der Totenklage praktiziert wurden,59 und obwohl sich Tränen nicht bildlich darstellen lassen, versuchte man doch, sie durch Gesten der Trauer anzudeuten.60 Auch auf Bittgesten geht Sittl ein, erwähnt in diesem Zusammenhang jedoch keine Tränen, die durchaus einen Bestandteil der supplicatio bilden konnten.61 Insgesamt ergibt sich so ein groß angelegter Katalog von Gesten, der den Charakter eines zwar nicht vollständigen, allerdings in diesem Umfang immer noch nicht ersetzten Handbuches der im griechischen und römischen Altertum gebräuchlichen Gesten besitzt. Einige Jahrzehnte nach Sittl befasste sich Karl Meuli mit „Entstehung und Sinn der Trauersitten“ und dem „Weinen als Sitte“; in den beiden posthum erschienenen Aufsätzen tritt deutlich hervor, dass sein Vorgehen von den ethnologischen Forschungen seiner Zeit geprägt ist. Meuli unterscheidet zwischen unwillkürlichen Tränen als einer natürlichen Reaktion und dem Weinen, das sich regelrecht als Pflicht bei bestimmten Gelegenheiten etabliert habe62 – drei von ihnen (Trauerweinen, Gebetsweinen, Grußweinen) untersucht er genauer. Die zeremonielle Totenklage könne zwar auch Ausdruck genuiner Trauer sein, doch zeichne sie sich vor allem durch den kontrollierten Einsatz des Weinens aus: Geweint werden kann sogar, wenn innerlich keine Trauer empfunden wird; bei Tränenversagen lässt sich Abhilfe schaffen, um weinen und somit der Sitte entsprechen zu können (besonders deutlich zeigt sich dieser Mechanismus bei den Klageweiber, die in der Antike und sogar weit darüber hinaus im europäischen Raum verbreitet waren). Die Geste der Trauer, nicht jedoch die Trauer selbst war es, die von der Norm gefordert wurde.63 Meuli geht somit davon aus, dass zunächst die nach außen hin gezeigte spontane Trauer eine innerlich empfundene gewesen sei. Sie bildete den Ausgangpunkt einer Entwicklung, an deren Ende das ausschließlich gekünstelte, übertriebene und demonstrativ praktizierte Trauerweinen steht.64 In der modernen westlichen Gesellschaft ziele man dagegen darauf ab, Tränen beim Begräbnis zu unterbinden.65 Das Gebetsweinen wurzelt nach Meuli ebenfalls in einem natürlichen Bekunden von Emotionen: Tränenvergießen sei für die christlichen Kirchenväter und Mönche ein Ausdruck der Blüte ihres spirituellen Lebens oder aber der Erleuchtung gewesen, daraufhin sei es beim mystischen Stufengebet zur Norm geworden. Noch häufiger
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den griechischen Roman, Biographien, die nachklassischen Historiker und Tragödie nebst Epos der Kaiserzeit heran, vgl. ebd., S. 3 f. Vgl. ebd., S. 55–349. Vgl. ebd., S. 77; zur Totenklage insgesamt vgl. S. 65–78. Vgl. ebd., S. 275. Vgl. ebd., S. 50 f. Zu Bittgesten in der römischen Politik vgl. Flaig (22004), S. 99–104. Vgl. Meuli (1975b), S. 355 sowie Meuli (1975a), S. 335. Vgl. Meuli (1975b), S. 361–370. Vgl. Meuli (1975a), S. 336, 338 sowie Meuli (1975b), S. 372. Vgl. Meuli (1975b), S. 373.
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sei das Weinen beim Bittgebet.66 Schließlich geht Meuli noch auf das Grußweinen als Form rituellen Weinens ein, das sich bei verschiedenen Völkern finde und wohl auf die Rührung zurückgehe, die man beim Wiedersehen empfinde.67 Weinen aus Trauer um einen Verstorbenen kann als allgemein verständliche Ausdrucksweise gelten. In der zeremoniellen Totenklage übernahmen häufig Klageweiber die Aufgabe, die Trauer durch expressive Gesten nach außen zu tragen – neben dem Tränenvergießen traten im Altertum vor allem das Schlagen der Brust und das Zerraufen der Haare als besonders charakteristische Merkmale des ritualisierten Klagens auf.68 Für das antike Rom gilt, dass das zeremonielle Weinen von Frauen je nach Kontext von den antiken Autoren unterschiedlich bewertet wurde. Darja Šterbenc Erker befasst sich mit dem frauenspezifischen Verhalten und seiner Beurteilung bei Ritualen der Trauer, der Rache und des Bittflehens und gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass Männer, die die Moral der Oberschicht vertreten, die Vorgänge negativ schildern, „wenn sich Frauen mit dem Weinen den Idealen des Zusammenlebens in der ‚civitas‘ widersetzten; wenn sie hingegen die Verdienste der Frauen für die politische Gemeinschaft betonen, bezeichnen sie die gleiche Praktik als positiv.“69 Die öffentliche Inszenierung der Trauer untersucht auch Roland Baumgarten in einem Aufsatz über das griechische Trauerritual und die Poliskultur.70 Die Beschränkung des adligen Prunks bei Bestattungsfeierlichkeiten zur Zeit Solons habe zu einer Verlagerung der Trauer in den privaten Bereich und damit der Ausschaltung des Wettkampfes zwischen den Aristokraten geführt; aufwändig und emotional anrührend gestaltet seien dagegen die zeitgleich aufkommenden öffentlichen Staatsbegräbnisse.71 66 67 68
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Vgl. ebd., S. 374–380. Vgl. ebd., S. 380–385. Vgl. Sittl (1890), S. 69–73 und 77; allenfalls in der Spätantike verloren laut Sittl die oftmals angemieteten Klagefrauen allmählich an Bedeutung. Da die sehr expressive öffentliche Trauer von Klageweibern im Ritual der Totenklage als übermäßig empfunden wurde, verbot bereits Solon zu heftiges Jammern und Klagen; allerdings vermochten auch nach ihm weder Gesetze des Staates noch der Kirche, sie völlig auszurotten, ebd., S. 77 f. Vgl. Šterbenc Erker (2006), S. 216 f.; zu einem ähnlichen Schluss gelangt Šterbenc Erker auch in ihrer umfangreichen Studie über die Rolle von römischen Frauen in ‚griechischen‘ Ritualen von 2013, vgl. dort besonders die Zusammenfassung der Kernthese auf S. 279 f. Eine umfassende Untersuchung zur Bedeutung der weiblichen Klage in der griechischen Literatur hat Gail Holst-Warhaft 1992 vorgelegt. Zunächst verweist Baumgarten auf die bildlichen Darstellungen von Trauergesten (Raufen der Haare, Berühren des Toten), wobei die Abbildung des Rituals in der Archaik durch die Abbildung der Emotion (etwa der nach unten gerichtete Blick) ergänzt wird, wie sich seit Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. abzeichnet. Ritualisierte und individuelle Trauer wiederum fanden ihren Ausdruck in den aufwändigen Begräbnisfeierlichkeiten der Aristokratie, vgl. Baumgarten (2008), S. 38–42. Vgl. ebd., S. 42–49; Baumgarten interpretiert die Staatsbegräbnisse als eine Form der Polisfeste, deren Bedeutung zu dieser Zeit stark angewachsen war. Der solonischen Funeralgesetzgebung ähnlich sind die von Platon in den Nomoi geäußerten Bestimmungen, jedoch ruht die Bestrebung, Emotionen während des Begräbnisses möglichst zurückzudrängen, hier auf philosophischem Grund, vgl. ebd., S. 51 f. Dass Platon Emotionen, wie sie durch Dichtung, speziell durch die Aufführung der Tragödie, aber wohl auch durch andere Polisrituale, hervorgerufen wurden, nicht generell verurteilte, sie aber für die philosophische Erkenntnis nutzbar machen
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Anthony Corbeills Untersuchung „Nature Embodied. Gesture in Ancient Rome“ von 2004 nimmt Gesten in ganz spezifischen Kontexten in den Blick und zeigt umfassend ihre Bedeutung in der römischen Lebenswirklichkeit auf.72 Beispiele von Ritualen in der Medizin und Religion belegen, wie die Menschen der römischen Epoche sich durch genau festgelegte Handlungen als Teilhaber an der sie umgebenden Welt wahrnehmen und durch dieses auf bestimmte Situationen abgestimmte Verhalten Einfluss auf sie nehmen konnten.73 Corbeill exemplifiziert diese Feststellung dann anhand der Gesten des Daumens, vor allem an seiner Funktion in der Arena.74 Auch auf frauenspezifische Charakteristika des römischen Trauerrituals75 und schließlich besonders auf den Zusammenhang zwischen körperlichem Gebaren und dem politischen Standpunkt geht Corbeill ein und legt den Fokus dabei auf die Art und Weise, wie Personen sich bewegten.76 Aufschlussreich sei dafür aber insbesondere der Gesichtsausdruck, da sich in ihm – so zumindest im Verständnis der zur Zeit der Römischen Republik schreibenden Autoren – die Ordnung der Natur und somit die des Staates implizit widerspiegelt: Der Gesichtsausdruck bildet stets das Innere des Individuums ab, er steht im Einklang mit der Natur; daher lässt sich die Änderung der staatlichen Ordnung nach dem Tod des Augustus am Gesichtsausdruck seines Nachfolgers Tiberius ablesen, wie ihn Tacitus schildert.77 Corbeills Studie verdeutlicht, dass Gesten, die zum ererbten kulturellen Inventar der Gesellschaft und des Einzelnen gehören, darüber Aufschluss geben, wie ein Römer seinen Körper als Instrument verwendete, um sich in der Welt und im Einklang mit ihr (oder im Widerspruch zu ihr) zu bewegen, und dadurch lassen sie Rückschlüsse darauf zu, wie die Welt wahrgenommen wurde. Die in diesem Abschnitt vorgestellten wissenschaftlichen Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit unterschiedlichen Themenfeldern; ihnen gemein ist, dass sie Gesten als einen integrativen Bestandteil der menschlichen Lebenswirklichkeit erscheinen lassen. Eine eindeutige Zuweisung zur Kultur-, Mentalitäts-, Emotions- oder Religionsgeschichte kann dabei nicht immer erfolgen und wäre auch nicht sinnvoll.
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wollte, legt Baumgarten in seinem 2006 publizierten Aufsatz „Gefährliche Tränen? Platonische Provokationen und aristotelische Antworten“ dar. Corbeill bietet kein vollständiges Inventar aller Gesten, sondern vielmehr eine Einführung in und zugleich auch eine Führung durch Teile der antiken römischen Gedankenwelt. Vgl. Corbeill (2004), S. 12–40. Vgl. ebd., S. 41–66. In erster Linie wird die Bedeutung des Daumens bei den Gladiatorenspielen untersucht, bei denen durch eine Geste mit der Hand ausgedrückt wurde, ob der Unterlegene sterben oder ihm Gnade gewährt werden solle. Corbeill kommt zu dem Schluss, dass ein nach oben gerichteter Daumen den Tod, das Hinunterdrücken des Daumens auf die geschlossene Faust dagegen Schonung anzeigte, vgl. dazu die Argumentation anhand des Bildmaterials ebd. S. 51–62. Sie werden unter der Überschrift „Blood, Milk, and Tears: The Gestures of Mourning Women“ behandelt, dessen Abfolge in Bezug zum Vorgang der Geburt gesetzt wird: Die einzelnen rituell geprägten Schritte beim Ablauf von Geburt und Beerdigung stehen in einem reziproken Verhältnis zueinander, vgl. ebd., S. 67–106. Bemerkenswert ist hierbei, dass Corbeill ein positives Bild der Gesten entwirft, die allein den Frauen beim Trauern vorbehalten sind und denen in der Regel eine negative Konnotation anhaftet, vgl. ebd., S. 106. Vgl. ebd., S. 107–139. Vgl. ebd., S. 140–167 sowie die Überlegungen zur dissimulatio des Tiberius in II. 2.3.
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1.2 Emotionsgeschichtliche Beiträge Spätestens seit dem Beginn der 1990er Jahre sind Emotionen in immer stärkerem Maße zum Gegenstand historischer Forschung geworden. Teils aus dem Gebiet der Philosophie, teils aus der Alten Geschichte und der Klassischen Philologie stammt eine ganze Reihe von Untersuchungen zur Emotionsgeschichte, deren Konstituierung sich in der angelsächsischen Forschungslandschaft verorten lässt.78 In verschiedenem Umfang und in unterschiedlichen Kontexten beschäftigt man sich mit Emotionen sowie ihren theoretischen Grundlagen, manchmal liegt der Fokus auf einer einzelnen Emotion. Einen Überblick über die Emotionsgeschichte innerhalb der Geschichtswissenschaft bietet Jan Plamper.79 1.2.1 Philosophie In der antiken Philosophie spielen Emotionen eine entscheidende Rolle. Ihre Ursachen, Erscheinungsformen, Auswirkungen und der Umgang mit ihnen wird in unterschiedlichen Zusammenhängen von griechischen und römischen Denkern behandelt. Die moderne Forschung hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen geistesgeschichtlichen Hintergrund von Emotionen aufzuzeigen, indem die antiken Modelle und philosophischen Schulen beschrieben und analysiert werden. Es ist nicht Aufgabe der vorliegenden Untersuchung, die antike Emotionsphilosophie und die diesbezügliche Forschungssituation umfassend oder auch nur in Grundzügen darzustellen; lediglich das Themenspektrum soll benannt werden, das im Zusammenhang mit Emotionen in der antiken Philosophie von Bedeutung ist. Eine Definition von Emotionen findet sich bereits Aristot. rhet. 2, 1.1378a 20– 23: ἔστι δὲ τὰ πάθη δι᾿ ὅσα μεταβάλλοντες διαφέρουσι πρὸς τὰς κρίσεις οἷς ἕπεται λύπη καὶ ἡδονή, οἷοιν ὀργὴ ἔλεος φόβος καὶ ὅσα ἄλλα τοιαῦτα, καὶ τὰ τούτοις ἐναντία.80 Dass diese Passage vielfach besprochen wurde, versteht sich fast von selbst; sie wurde nicht nur hinsichtlich ihres Bedeutungsgehaltes diskutiert, vielmehr wirft sie Fragen nach einer Gefühlslehre des Aristoteles ganz im allgemeinen auf, die unterschiedliche Antworten erfahren haben – es sei hier vor allem auf William W. Fortenbaughs Monographie „Aristotle on Emotion“ (zuerst erschienen
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Zu einer Definition der Emotionsgeschichte vgl. Punkt I. 3.3. Zu Beginn seiner Monographie betont Plamper (2012), S. 17, dass es gerade noch möglich sei, den Bestand der bisherigen Forschung zu sammeln; vgl. aber Groebner (2013), S. 114 f., der die Schwierigkeiten Plampers bei diesem Unternehmen herausstellt. „Die Emotionen sind die Dinge, durch welche sich (die Menschen), indem sie sich verändern, hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden und welchen Lust oder Schmerz folgt, wie zum Beispiel Zorn, Mitleid, Furcht und was es sonst noch Derartiges gibt sowie die Gegenteile von diesen“ (Übersetzung nach Rapp). Zur Interpretation der Gefühlsdefinition siehe vor allem Rapp (2002), S. 540–542, sowie die Ausführungen auf S. 543–583 über die in rhet. 2, 2–11 aufgeführten und näher erläuterten Emotionen. – Auch an anderen Stellen im Werk des Aristoteles finden sich theoretische Äußerungen zu dem Begriff πάθη, die relevanten Passagen listet Krewet (2011), S. 91–98 auf.
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1975) und Michael Krewets Abhandlung „Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles“ von 2011 verwiesen.81 Eine nach modernem Verständnis kognitivistische Interpretation von Emotionen liegt sowohl Aristoteles als auch den philosophischen Hauptströmungen des Hellenismus zugrunde: Emotionen sind Reaktionen auf bestimmte Stimuli.82 In welcher Relation diese Faktoren jedoch zueinander stehen und wie sich die Gefühle selbst definieren lassen, darüber herrscht mitunter sogar innerhalb einer Schulrichtung Uneinigkeit. Eine theoretische Darstellung der Emotionslehre vor allem der Stoiker und Epikureer ist zudem mit weiteren Problemen wie etwa dem weiten zeitlichen Rahmen und der Vielfalt der Autoren sowie der teilweise lückenhaften Überlieferung verbunden. Daher befassen sich zahlreiche Aufsätze mit den Emotionen in der hellenistischen Philosophie, eine Monographie über die Emotionstheorie der frühen Stoa hat Margaret Graver 2007 vorgelegt, weiterhin ist auf die Studie zur stoischen Theorie der Gefühle von Krewet aus dem Jahr 2013 zu verweisen.83 Grundlegend und einen weiten zeitlichen Rahmen umfassend ist die Studie von Sorabji (2000). Unabdingbar für eine Beschäftigung mit Emotionen im Altertum (besonders was Aristoteles und die Stoa anbelangt) und ebenso in der heutigen Zeit ist das Werk der amerikanischen Philosophin Martha C. Nussbaum, die antike Ansätze für neue Sichtweisen fruchtbar machen möchte.84
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Krewet weist in seiner Arbeit die Kohärenz der aristotelischen Gefühlstheorie nach, wobei er sich streng an den Werken des Aristoteles selbst orientiert; bisher wurde überwiegend – unter anderem auch von Fortenbaugh – die Ansicht vertreten, die theoretischen Äußerungen des griechischen Philosophen über Emotionen ergäben kein einheitliches Bild. Zur Forschungsgeschichte im Einzelnen vgl. Krewet (2011), S. 7–76. – Als Einstieg in das Thema ‚Emotionen‘ bei Aristoteles eignet sich Corcilius/Rapp (2011), S. 209–213 (mit Hinweisen auf weiterführende Literatur), sowie Rapp (2008). Zur Rolle der Emotionen in der politischen Theorie des Aristoteles und zu seiner soziopolitischen Auffassung menschlicher Gefühle bietet Sokolon (2006) aufschlussreiche Beobachtungen; dass die Emotionsphilosophie des Aristoteles mit anderen seiner Themengebiete verbunden ist, verdeutlicht beispielsweise Schmitt (2008). – Obwohl er sich nicht theoretisch zu ihnen äußert, spielen Emotionen natürlich auch in der Philosophie Platons eine zentrale Rolle, vgl. dazu etwa Erler (2008), der weiterführende Literatur nennt. Die Monographie von Eming (2006) mutet zunächst vielversprechend an, bleibt aber nicht nur in formaler Hinsicht problematisch. Eine differenzierte Stellungnahme zu der Frage, inwieweit die aristotelische Emotionstheorie als eine kognitivistische verstanden werden kann, findet sich bei Rapp (2002), S. 559–575. Vgl. weiterhin einführend Buddensiek (2008). Gerade im Thema der Emotionen offenbart sich die enge Verknüpfung von Philosophie, Medizin und Psychologie, wie sich schon im Titel von Gill (2008) und Caluori (2008) zeigt. – Knuuttilas fundierte Darstellung von 2004 spannt den Bogen von Platon bis zum 14. Jahrhundert, ist aber gerade deswegen nicht erschöpfend. – Auf Emotionen in Antike und Mittelalter geht der Band von Besnier/Moreau/Renault (2003) ein. Mit einzelnen Aspekten in erster Linie bei Stoikern und Epikureern beschäftigen sich die Aufsatzsammlungen von Brunschwig/Nussbaum (1993) und Sihvola/Engberg-Pedersen (1998), die unentbehrlich für das Thema sind. Einen kurzen Abriss über das Emotionsverständnis der wesentlichen antiken philosophischen Schulen und der heutigen Zeit bietet Polleichtner (2009), S. 21–52. Erwähnt werden soll an dieser Stelle die monumentale Arbeit „Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions“ von 2001, in der die Bedeutung und Funktion von Emotionen für
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Emotionen spielen in Stoa und Epikureismus eine wesentliche Rolle. Eine Beschäftigung mit ihnen lässt auch die lebenspraktische Bedeutung der Philosophie in Rom offenbar werden. Der Umgang mit Gefühlen ist immer wieder Thema römischer Philosophen, man denke nur an das Genre der Konsolationsliteratur.85 Hieran zeigt sich besonders, dass in der antiken Literatur wie der modernen Forschung die Grenze zwischen rein philosophischen Texten und anderen Gattungen zuweilen nur schwer gezogen werden kann. 1.2.2 Geschichtswissenschaft und Philologie Auch Philologen und Althistoriker, deren Ansatz nicht ausdrücklich philosophiegeschichtlich ist, interessieren sich oft für Emotionen. Ihnen ist daran gelegen aufzuzeigen, welche Bedeutung Emotionen im Werk eines antiken Autors einnehmen und welche soziokulturelle Funktion sie in unterschiedlichen Situationen der antiken Lebenswirklichkeit innehatten. Der historische Rahmen, innerhalb dessen die Äußerungen von Gefühlen sich vollzogen, wird dabei in unterschiedlicher Ausprägung näher beleuchtet; der philosophische Hintergrund wird mitunter ebenfalls einbezogen, doch dient er vor allem dem besseren Verständnis der historischen Gegebenheiten und bildet nicht den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung. Dass sich allerdings nicht erst in der modernen Forschung Gedanken über die in literarischen Texten geäußerten Emotionen finden, lässt sich etwa der in den 1940er Jahren erschienen Arbeit Ludwig Radermachers „Weinen und Lachen. Studien über antikes Lebensgefühl“ illustrieren. Bereits im Titel seiner Untersuchung verweist er allerdings darauf, dass Weinen und Lachen lediglich als einander entgegengesetzten Pole den Rahmen der Untersuchung bilden. Zwar wird auch der Totenkult und damit das Tränenvergießen behandelt,86 doch es geht vor allem um das Ernste (ἡ σπουδή) und das Heitere (ἡ παιδιά) sowie deren Verknüpfung, das σπουδογέλοιον, eine für die antike griechische Literatur typische Erscheinung.87 Neuere Forschungsarbeiten bieten freilich einen deutlich systematischeren Zugang zu Emotionen. An erster Stelle sollte hier auf Donald Lateiners bereits 1977 publi-
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ethisches Denken aufgezeigt wird. In zwei großen Abschnitten befasst sich das Werk mit Mitgefühl (S. 297–454) und Liebe (S. 457–714), der erste Teil dagegen ist theoretischer Natur und beleuchtet Emotionen und ihre Rolle bei Tieren, in menschlichen Gesellschaften, in der Kindheit und in der Musik. Eine Annäherung an die Natur der Emotionen im allgemeinen erfolgt unter der Überschrift „Emotions as Judgements of Value“ (S. 19–88). An Aufsätzen aus neuerer Zeit, die sich mit dieser Gattung befassen, seien exemplarisch Wiener (2008) und Schorn (2009) genannt. Vgl. Radermacher (21969), S. 43–56. Vgl. ebd., S. 11. Bis zu einem gewissen Grad, jedoch weniger, als es der Titel vermuten lässt, findet das Weinen und Lachen als solches Beachtung; Radermacher bietet dem Leser auf S. 12– 141 heitere und nachdenkliche Episoden aus unterschiedlichen Bereichen der griechischen Literatur, um die Wirkung von Scherz und Ernst näher zu beleuchten. Zum σπουδογέλοιον vgl. auch Kenner (1960), S. 5 f. Unterschiedliche Zugänge zum Phänomen des Lachens in der römischen Antike bieten die Untersuchungen von Beard (2014), Clarke (2007) und Corbeill (1996).
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zierte Ausführungen zur Bedeutung des πάθος im Werk des Thukydides und dessen Einfluss auf die hellenistischen Geschichtsschreiber verwiesen werden.88 William V. Harris setzt sich in seiner erstmals 2001 erschienenen Untersuchung „Restrainig Rage. The Ideology of Anger Control in Classical Antiquity“ mit einer einzigen Emotion auseinander und bezieht darin die griechische und römische Antike gleichermaßen ein. Besonders seine Überlegungen zur Herangehensweise an das Thema bieten für die vorliegende Arbeit relevante Anregungen.89 In praktisch allen literarischen Gattungen der Antike finden sich Äußerungen über den Zorn; nicht nur an expliziten Diskursen, sondern auch implizit lässt sich in verschiedenen Texten die hohe Bedeutung dieser Emotion belegen.90 Die historische Beschäftigung mit Zorn (und allen anderen Emotionen) gestaltet sich problematisch, da der Begriff inhaltlich nicht eindeutig fassbar ist, weshalb Harris nicht diesen, sondern die Ideologie der Zornkontrolle zum Gegenstand seiner Untersuchung macht.91 Bei der Einordnung von Emotionen wird von der modernen Forschung zwar keine einheitliche Position vertreten (sie werden als physiologische Reaktion oder soziales Konstrukt verstanden), doch stellt es sich als hilfreich heraus, die Anthropologie einzubeziehen, da sie die semantische Verschiedenheit von Emotionsbegriffen in unterschiedlichen Kulturen betont.92 Um den Begriffsinhalt von Ausdrücken des Zorns im Griechischen und Lateinischen zu verdeutlichen, steckt Harris vor allem das Bedeutungsspektrum von ὀργή, θυμός, ira und ‚anger‘ ab.93 Im Hinblick auf die Kontrolle des Zorns merkt er an, dass bereits in der archaischen Epo88 89 90
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Mit der Funktion von nonverbaler Kommunikation bei Herodot befasst sich Lateiner (1987); die Interessen Lateiners an den Themenbereichen ‚Gesten‘ und ‚Emotionen‘ spiegeln sich deutlich in der 2015 für ihn publizierten Festschrift mit dem Titel „Kinesis“ wider. Vgl. Harris (2004), S. 3–128. Harris unterscheidet zwischen (1) „von Zorn behaftete Handlungen und Rede im Zaum halten“, (2) „selbige beseitigen“, (3) „Gefühle des Zorns im Zaum halten“ und (4) „selbige beseitigen“; die drei zuletzt genannten Punkte gewannen erst im Laufe einer historischen Entwicklung an Bedeutung, vgl. ebd., S. 4 f. Auch die antike Philosophie bezieht er umfangreich ein: Schon vor Aufkommen der Stoa und des Epikureismus ist ein Streben nach Mäßigung der ὀργή und mitunter auch die Annahme zu erkennen, dass die Möglichkeit dazu vorhanden ist, doch ist es ein Kennzeichen gerade dieser beiden wichtigsten philosophischen Strömungen des Hellenismus, Zorn oder allgemein Emotionen ausschalten zu wollen; vgl. aber vor allem den bis in die christliche Spätantike hinein reichenden Überblick ebd., S. 88–127. An Quellen, die eine Haltung ihres Verfassers bezüglich der Kontrolle von Zorn (oder auch anderen Emotionen) zum Ausdruck bringen, sollten neben der philosophischen Literatur eine Vielzahl anderer Texte und mitunter auch bildliche Darstellungen berücksichtigt werden, vgl. ebd., S. 71–79. Vgl. die Definition von ideology ebd., S. 24: „a normative set or system of ideas, concerning in the first place political or social practices, or both (…), propagated in the interests of a class or group“ (vgl. insgesamt ebd., S. 3–31). Harris vertritt diesbezüglich eine Mittelposition: Emotionen seien zum Teil vom kulturellen Umfeld determiniert, was jedoch nicht bedeute, dass bestimmte Gefühle nur in manchen Kulturen zu finden seien; vielmehr seien beispielsweise Zorn-artige Emotionen ein allumfassendes menschliches Phänomen, vgl. ebd., S. 39 f. (vgl. insgesamt S. 32–49.). Vgl. ebd., S. 50–70; Harris kommt dabei zu dem Ergebnis, dass ὀργή sich auf starke und offen artikulierte Gefühle des Zorns bezieht, wogegen das lateinische ira zwar die gängige Übersetzung dieses griechischen Wortes und von seinem Gebrauch beeinflusst, allerdings in seiner Bedeutung weitaus vielfältiger ist, vgl. ebd., S. 70.
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che Bestrebungen nach Mäßigung auszumachen sind und diese dann kontinuierlich erweitert wurden.94 Seine Analyse befasst sich dann mit der Entwicklung staatlichen Zusammenlebens, die er in Bezug zur Ideologie einer Kontrolle des Zorns setzt;95 analog verfährt er auf Ebene der familia und zeigt die Bedeutung auf, die das Zurückhalten von Zorn besaß.96 Umgekehrt lässt sich auch aus den Quellen ablesen, welchen Schaden diese Emotion anrichten kann, weshalb eine Interpretation von Gefühlen des Zorns als Krankheit der Seele folgerichtig erscheint.97 Abschließend verweist Harris auf den Wandel, den die Emotion ‚Zorn‘ und der Umgang mit ihr im Christentum erfuhr,98 so dass der weit gespannte Rahmen der Arbeit umfassende Einblicke in wesentliche historische Entwicklungen verschafft.99 Die Andersartigkeit der Gefühlswelt des antiken Menschen und ihre Bedeutung für das Verständnis der griechischen Kultur bildet den Ausgangspunkt für David Konstans 2006 erschienene Monographie „The Emotions of the Ancient Greeks. Studies in Aristotle and Classical Literature“.100 Bereits für die Bezeichnungen von Emotionen im Griechischen lassen sich keine völlig deckungsgleichen Begriffe im Englischen finden, weshalb es von höchster Bedeutung sei, die Unterschiede zwischen dem Gefühlskatalog der Griechen und dem heutigen herauszuarbeiten.101 Auch Konstan diskutiert zwei Hauptströmungen der modernen Emotionsforschung: Neodarwinistisch geprägte Forscher vertreten die Ansicht, dass ein bestimmtes Spektrum von Emotionen angeboren und daher in allen Kulturen einheitlich vorhanden ist.102 Dem stehen kognitivistische Ansätze gegenüber, die besagen, dass
94 Vgl. ebd., S. 80–87. 95 Vgl. ebd., S. 131–282. Die Betonung des soziokulturellen Aspektes wird besonders durch den Verweis auf Norbert Elias und seine Theorie der Affektkontrolle deutlich, vgl. ebd., S. 150. 96 Vgl. ebd., S. 285–336. 97 Harris stellt hier besonders die von Stoikern und Epikureern formulierten therapeutischen Maßnahmen vor, vgl. ebd., S. 339–390. 98 Vgl. ebd., S. 391–399. 99 Für weitere Aspekte des Zorns in unterschiedlichen Gattungen vor allem der griechischen Literatur sollte auch der Band von Braund/Most (2003) herangezogen werden. 100 Vgl. Konstan (2006), S. ix: „The premise of this book is that the emotions of the ancient Greeks were in some significant respect different from our own, and that recognizing these differences is important to our understanding of Greek literature and Greek culture generally. What is more, I argue that the Greeks’ conception of the emotions has something to tell us about our own views, whether about the nature of particular emotions or the category of emotions itself.“ 101 Vgl. ebd., S. x. Dass die Deckungsgleichheit der Emotionskonzepte natürlich variiert, betont Konstan in seinem Vorwort, vgl. ebd., S. xi. Vgl. auch die Darlegung methodischer und sprachlicher Überlegungen ebd., S. 3–7, wo Konstan die Übersetzungsproblematik der Bezeichnung πάθη und einzelner Emotionsbegriffe anhand einer Analogie bezüglich der zu verschiedenen Zeiten und Kulturen variierenden Wahrnehmung von Farben erläutert. 102 Ausgangspunkt dieser Forschungsrichtung der Psychologie bildet das 1872 erschienene Werk „The Expression of the Emotions in Man and Animals“ von Charles Darwin. Gestützt auf das zu seiner Zeit neu aufgekommene Medium der Fotografie ging dieser davon aus, dass in den nach außen hin sichtbaren Ausdrucksformen von Emotionen wie beispielsweise Lachen und Weinen die ihnen zugrunde liegenden Gefühle von anderen in der Regel erkannt werden können. Vor allem Paul Ekman rekurriert auf Darwin, indem er aufzuzeigen sucht, dass ein bestimmtes Repertoire an Emotionen sich im Gesichtsausdruck eines Menschen unverkennbar
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sich das Inventar von Gefühlen von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheidet.103 Ihnen liegt die Deutung von Emotionen als Urteilen zugrunde; sie lassen sich als Reaktion auf einen von außen oder aus dem Inneren wirkenden Reiz verstehen – dieser erfährt eine Wertung, die je nach soziokulturellem Umfeld unterschiedlich ausfallen kann.104 Bereits die Emotionsdefinition des Aristoteles ist Konstan zufolge in einem kognitivistischen Sinne zu interpretieren.105 Nicht die innere Regung, die durch Zufall oder mechanische und natürliche Ursachen hervorgerufen wird, sondern die Reaktion auf die Motive und das Verhalten anderer bildet die Grundlage des griechischen Emotionsverständnisses.106 Weiterhin setzt sich Konstan mit jeweils einer spezifischen Emotion auseinander, wobei er von der Begriffsbestimmung der in der aristotelischen Rhetorik beschriebenen πάθη ausgeht,107 von denen er einen großen Teil (allerdings in anderer Reihenfolge) bespricht: Zorn, Sanftmut, Scham, Neid und Entrüstung, Furcht, Dankbarkeit, Liebe, Hass, Mitleid, Eifersucht sowie die bei Aristoteles nicht aufgeführte Trauer.108 Die Aussagen über diese Gefühle werden in Bezug zu literarischen Texten und Motiven aus der Zeit vom 8. bis zum 3. Jahrhundert vor Christus gesetzt, wobei sich zeigt, dass eine Einbettung des von Aristoteles dargebotenen Emotionsverständnisses in die Gesellschaft den antiken Gegebenheiten entsprach. Aus Konstans Untersuchung geht somit vor allem hervor, dass der Begriffsinhalt einzelner Emotionen mitunter stark vom heutigen Verständnis abweichen kann.109
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widerspiegelt. Als Grundemotionen definiert er Freude, Traurigkeit, Überraschung, Ekel, Wut, Furcht sowie Scham, Verachtung und Schuldgefühl, vgl. Konstan (2006), S. 7–11. Als Kritker der Ansätze Ekmans werden Margaret Mead und Gregory Bateson sowie besonders Martha Nussbaum aufgeführt, vgl. ebd., S. 14–21. Die Spannung zwischen neodarwinistischen und kognitivistischen Konzepten formuliert Konstan in diesem Zusammenhang ebd., S. 25 prägnant: „On the one hand, emotions are elicited by a stimulus, which is located in the outside world or else is generated by memory; on the other hand, emotions result in a response, which takes two forms: expression, which may have a communicative function, as Darwin proposed, and action, which is motivated by a whish or desire.“ Sie findet laut Konstan eine inhaltliche Entsprechung in der klassischen griechischen Kunst: Die idealisierten Darstellungen der klassischen Epoche lassen sich in erster Linie kontextbezogen deuten, wohingegen die hellenistische Kunst als ausdrucksstark und selbstevident erscheint, vgl. ebd., S. 29 f. Vgl. ebd., S. 23 f. und 31 sowie S. xii: „The Greeks did not conceive of emotions as internal states of excitation. Rather, the emotions are elicited by our interpretation of the words, acts, and intentions of others, each in its characteristic way.“ Die Definition von Emotionen in rhet. 2, 1.1378a 20–23 wird von Konstan auf S. 33–40 näher untersucht und in Bezug zu modernen Auffassungen gesetzt. Die Trauer (grief) wird nicht von Aristoteles behandelt, da sie nicht seiner Konzeption von Emotionen entsprach. Das Gefühl des Mitleids wurde von Konstan in einer eigenen Monographie untersucht, die sich auf den griechischen und römischen Kulturraum erstreckt, vgl. David Konstan, Pity Transformed, London 2001. Unerlässlich für eine Beschäftigung mit Emotionen in griechischen Texten (besonders Dichtung und Tragödie) ist zudem Doulas L. Cairns, Aidos. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford u. a. 1993. Ebenfalls auf den griechischen Raum ausgerichtet, bietet der von David Konstan und Keith Rutter herausgegebene Sammel-
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Auf den römischen Bereich ausgerichtet ist Robert A. Kasters 2005 publizierte Studie „Emotion, Restraint, and Community in Ancient Rome“, die fünf zentrale lateinische Emotionsbegriffe systematisch untersucht: verecundia, pudor, paenitentia, invidia und fastidium. Als Untersuchungsgegenstand benennt Kaster die Emotionen und ethischen Grundsätze der römischen Oberschicht.110 Die genannten Emotionen sind im Hinblick auf ihren Begriffsinhalt untereinander verbunden, und sie sind maßgeblich an der römischen Vorstellung einer stabilen Gesellschaft beteiligt.111 Die Schwierigkeit einer Übersetzung von Emotionsbegriffen zeigt sich laut Kaster in der Unterschiedlichkeit der von ihnen inhaltlich abgedeckten Bereiche, und er verdeutlicht dies an der Auffächerung des Substantivs fastidium in verschiedene Nuancen von ‚Abneigung‘, die es im Englischen umfasst. Für die Römer dagegen gab es nur ein einziges Wort für dieses Spektrum – eben fastidium.112 Um das Konzept emotionaler Erfahrung zu verdeutlichen, entwickelt Kaster den Ansatz der emotional scripts. Solche Skripte ermöglichen es, Emotionsbegriffe und ihre Äußerungsformen in der Darstellung römischer Autoren präzise zu ergründen, und zudem geht er konform mit den Methoden der kognitiven Forschung.113 Für die Zeit ab der späten Republik bis zur frühen Kaiserzeit114 setzt Kaster eine Kontinuität der emotionalen Skripte voraus, und auch darüber hinaus verläuft ihm zufolge ein Wandel in der Struktur von Gefühlen nur langsam.115 Vor diesem
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band „Envy, Spite and Jealousy. The Rivalrous Emotions in Ancient Greece“ (Edinburgh 2003) eine Fülle von Aufsätzen, die in ihrem methodischen Vorgehen teils sehr unterschiedlich sind. Kaster stellt die Frage danach, welcher Zusammenhang zwischen (der Herausbildung von) tugendhaftem Verhalten und Emotionen besteht; wie verschiedene Formen von Furcht, Bestürzung, Entrüstung und Abscheu unterschiedliche Verhaltensweisen, in denen sich ethische Grundsätze zeigen, befördern oder behindern; worin die spezifischen Konzepte der untersuchten Emotionen bestehen und wie sie einander überschneiden oder ergänzen; inwiefern ihre gegenseitige Beeinflussung ein System schafft, das dazu führt, dass negative Gefühle innerhalb des soziokulturellen Gefüges als ein konstruktiver Antrieb dienen können, vgl. Kaster (2005), S. 4. Vgl. ebd., S. 4 f. Vgl. ebd., S. 5–7. Zusammenfassend formuliert Kaster dies prägnant auf S. 7 f.: „We can take this last fact (that it was all fastidium to them sc.), then, to suggest that the Romans mapped this corner of their emotional terrain differently, uncluding under the single heading fastidium a cluster of affective experiences that we (English-speakers) currently distinuigh under a variety of terms, and the different sort of mapping that fastidium accomplishes will be a recurrent feature, in one way or another, of all the other emotion-talk that will engage us.“ Vgl. ebd., S. 8 f. Eine Annäherung an Emotionen im Rahmen eines solchen Schemas ist zudem nicht nur auf explizite, sondern auch implizite Äußerungen von Emotionen anwendbar, vgl. ebd., S. 10: „But, these are just the first steps that we are taking, and these steps can lead to broader views: when we understand the basic structures of thought and behavior that converge on a given emotion-term, and when we understand how those structures are related both to each other and to the structures associated with other terms, we can claim with greater confidence to understand (…) scenes built upon the same structures, even when they happen to be devoid of emotion-talk.“ Der zeitliche Rahmen umfasst also in etwa das erste vorchristliche und nachchristliche Jahrhundert, teilweise wird er auch noch etwas weiter gespannt, vgl. ebd., S. 10 f. Vgl. ebd., S. 11 f. Wesentliche Veränderungen sieht Kaster vor allem bei der Konzeption der paenitentia, die sich mit der Ausbreitung des christlichen Gedankengutes wandelt. Doch selbst
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Hintergrund werden die genannten Emotionen separat analysiert: Nach sprachlichen und lexikalischen Überlegungen umreißt jeweils eine Formulierung der emotional scripts, was unter den genannten Begriffen zu verstehen ist,116 anschließend erfolgt eine quellenbasierte detailliertere Darstellung, die verschiedene Schattierungen dieser Emotionen noch eingehender erkundet. Kasters sozial- und kulturgeschichtlich geprägter Ansatz und die präzise philologische Argumentation stellen die Funktionen der untersuchten fünf Emotionen117 innerhalb der moralisch-ethischen Konzepte der römischen Elite dar, wie sie sich in den literarischen Texten manifestiert. Seine Methode liefert Inspiration für Übersetzungstechniken und zudem ganz im allgemeinen Orientierungspunkte für eine Analyse des Bedeutungsgehaltes von Emotionen. Eine Verknüpfung von lexikalischem Zugang (wie er von einem Großteil der emotionsgeschichtlichen Forschung betrieben wird) mit dem von Kaster entworfenen Ansatz der Emotionsskripte entwickelt Sanders in seiner Studie über Neid und Eifersucht im klassischen Athen von 2014.118 Von den bisher behandelten Untersuchungen hebt sich Ramsay Macmullens Essay „Feelings in History, Ancient and Modern“ von 2003, das ebenfalls die Rolle von Emotionen in historischen Texten untersucht, in mancherlei Hinsicht ab. Ausgehend von der These, dass Gefühle den ausschlaggebenden Faktor für menschliches Handeln darstellen, untersucht er zunächst ihre Rolle im Werk mehrerer römischer Geschichtsschreiber;119 dass seine Reihe ihren Beginn mit Thukydides nimmt, begründet der Verfasser mit dem Vorbildcharakter, den dessen Werk unter anderem für Sallust besaß.120 Am Beispiel der Sizilischen Expedition der Athener im Jahr 415 v. Chr. wird die Fähigkeit des griechischen Historiographen zu emotionaler Schilderung verdeutlicht: Er präsentiere das Verlangen nach Abenteuer und Beute als die wesentliche Ursache der Unternehmung und mache sie durch die Lebendigkeit seiner Erzählweise, der ἐνάργεια, dem Leser nachvollziehbar.121 Um eine solche emotionale Reaktion hervorzurufen, musste – so zumindest die Auffassung von Macmullen – der Autor die dargestellten Gefühle selbst besitzen. Voraussetzung für diesen Zugriff auf die Gefühlswelt des Thukydides bildet die Annahme, dass er mit seinem Leser die humanitas („humanity“) als gemeinsame Basis teile.122
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in diesem Fall bezieht sich die Umgestaltung nur auf Teile des emotionalen Skripts und führt nicht zu einer plötzlichen völligen Ersetzung desselben, vgl. ebd., S. 12 und S. 81 (mit Anmerkung 36, S. 179 f.). Die Emotionsskripte finden sich ebd., S. 15, 30–33, 68–70, 86–92, 104 f. und 129–132, teilweise sind ihnen graphische Schemata beigegeben. Als Epilog behandelt Kaster die integritas als den zentralen Begriff römischer Werteethik, vgl. ebd., S. 134–148. Er wählt dafür die Bezeichnung „script methodology“, vgl. Sanders (2014), S. 7. Vgl. Macmullen (2003), S. 1–50. Vgl. ebd., S. 1. Zur Motivation der Sizilischen Expedition vgl. in diesem Zusammenhang auch de Libero (2000), S. 31–37. Vgl. Macmullen (2003), S. 4–8. In der Tat findet sich wenig explizit Persönliches bei Thukydides, und so schreibt Macmullen ebd., S. 6: „How can anyone be sure what his personal feelings were? In answer: only through the assumption of our common humanity. It cannot be easily supposed, because it cannot be felt by any of us, that an author could write as this one did, except in the grip of just such emotions as his readers experience, vicariously.“
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Diese aus Ciceros Forderung, ein guter Redner müsse die Gefühle, die in seinem Vortrag zum Ausdruck kommen, tatsächlich empfinden, herrührende und auf die Geschichtsschreibung übertragene These123 wird im Folgenden auf mehrere römische Autoren aus republikanischer und augusteischer Zeit angewendet.124 Macmullen unterscheidet zwischen dem, was der Autor den Handelnden der Vergangenheit an Emotionen zuschreibt; dem, was er selbst empfand; und dem, was er in seinen Lesern hervorruft – letztgenannter Aspekt kommt etwa bei Sallust, Livius und Caesar besonders stark zum Tragen.125 Anhand mehrere Beispiele aus der römischen Geschichtsschreibung verdeutlicht Macmullen deren rhetorischen Charakter und erläutert seine These ‚emotion = motivation‘, die er der modernen Perspektive ‚motivation = calculation‘ entgegenhält.126 Dabei handelt es sich aber lediglich um einen vermeintlichen Gegensatz – erkennen die damit befassten wissenschaftlichen Disziplinen doch durchaus an, dass sich der im modernen Denken der westlichen Welt etablierte Gegensatz ‚Emotionalität-Rationalität‘ in dieser absoluten Formulierung nicht halten lässt, wie Macmullen im zweiten Teil seiner Arbeit darlegt.127 Emotionen spielen bei der Entscheidungsfindung eine tragende Rolle, die in unterschiedlichen Gesellschaften auf unterschiedliche Weise geprägt worden sein kann, wobei jedoch die Existenz bestimmter Grundemotionen in der Forschung weithin Akzeptanz gefunden hat. Mit Einschränkungen könne somit die Gleichung ‚emotion = motivation‘ bestehen bleiben.128 Macmullens Ansatz ist kein rein geschichtswissenschaftlicher, sondern eher ein geschichtsphilosophischer. Problematisch ist dabei die Art und Weise, in der er sich 123 Vgl. ebd., S. 24 f. 124 Auch bei Polybius, Poseidonius, Sempronius Asellio, Caesar, Sallust, Livius, Diodorus Siculus, Dionysius von Halikarnass und Nikolaus von Damaskus finden sich Passagen, aus denen sich verschiedene Ebenen von Emotionalität ablesen lassen, vgl. ebd., S. 13–50. 125 Vgl. ebd., S. 35; leider werden jedoch spätere Autoren (etwa Tacitus) nicht behandelt, auf die dies sicherlich ebenfalls zutrifft. 126 Vgl. ebd., S. 50. 127 Vgl. ebd., S. 51–78. Dieses mit der Überschrift „Scientific“ versehene Kapitel hat vor allem exemplarischen Charakter; Macmullen zieht Erkenntnisse aus Psychologie, Ethnologie und anderen Fächern heran, um seine Thesen zu untermauern. 128 Vgl. ebd., S. 77: „The terms and images that energize, as they may be summoned from memory, come forward in the color of some feeling. They are inseparable from color. Beyond that, even cool cognition invoked for means not for ends owes its rapidity and smoothness to colors; those as tags that identify good or bad.“ – Die Analyse von in historischem Geschehen wirksamen Emotionen zeigt Macmullen zufolge auch bei einer Beschäftigung mit der neueren Geschichte auf, dass sie die eigentlichen Handlungsauslöser sind, und sie gelte es nachzuvollziehen, um zu einem tiefer gehenden Verständnis vergangener Epochen zu gelangen. So zeige sich die Bedeutung von Gefühlen und von Empathie auch deutlich im Kontext der nordamerikanischen Antisklaverei-Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts; dies gelte sowohl für zeitgenössische Schriftdokumente als auch den mündlichen Vortrag (Macmullen hebt die Bedeutung von Petitionsschriften, Pamphleten und anderen Textzeugnissen sowie von Eloquenz und Herkunft der Redner des Antislavery Movement hervor, vgl. S. 99–121) – in beiden Fällen seien Fakten herangezogen worden, die zwar als sachliche Argumente gegen die Versklavung von Menschen fungieren konnten, aber mehr noch gedankliche Bilder bei den Lesern und Hörern evozieren (Stichwort: enargeia) und sie dadurch zur Empathie bewegen sollten, vgl. ebd., S. 126.
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mit den dargebotenen Beispielen auseinandersetzt. Weniger, dass sie einigermaßen lose zusammengestellt sind – dies mag dem essayistischen Charakter der Untersuchung geschuldet sein –, sondern dass er offenbar kaum einen Unterschied in der Behandlung von Primär- und Sekundärliteratur macht, ist mit Skepsis zu betrachten: Antike und moderne Geschichtsschreibung wird zusammen mit Forschungsliteratur in die Argumentation einbezogen.129 Grundsätzlich ist es sicherlich bedeutsam, das Mitfühlen von Emotionen durch den Leser und den Erkenntnisgewinn zu betonen, der aufgrund dieser Empathie möglich wird.130 Methodische Überlegungen zu einer systematischen Untersuchung dieses Aspektes in der antiken historiographischen Literatur fehlen allerdings weitgehend, und letztlich bleibt es ein Wagnis, diese These so konsequent auf die Gattung der Geschichtsschreibung zu übertragen, wie Macmullen es tut.131 Seine Studie zeigt jedoch die Notwendigkeit auf, Überlegungen zu den komplexen emotionalen Verflechtungen von historischen Persönlichkeiten, Autor und Publikum in die vorliegende Arbeit einzubeziehen.132 129 Beispielsweise vermisst Macmullen die Empathie bei Georges Lefebvre und stellt ihm und der Annales-Schule kontrastierend Romane aus dem 18. Jahrhundert gegenüber (vgl. ebd., S. 84– 93), analog verfährt er in Bezug auf die Beschreibung der Trajanssäule durch Paul Veyne und die Schilderung einer Szene im Theater bei Johannes Chrysostomus (vgl. ebd., S. 96–98). Aufgabe der Forschung kann aber doch nur sein, Gefühle in ihrem historischen Kontext zu analysieren, nicht aber, Emotionen in der schriftlichen Fixierung eigener Erkenntnisse als wesentliches Mittel der Darstellung zu wählen. 130 Zur Bedeutung von Empathie in antiker Historiographie und modernen Romanen als Instrument zum Erkenntnisgewinn vgl. ebd., S. 8, wo die Frage nach dem Unterschied zwischen einem Romanautor, der gewissermaßen dazu verführt, das Dargestellte zu glauben, und einem Geschichtsschreiber folgendermaßen beantwortet wird: „The historian in real life feels what he believes others are feeling, he compassionates (if that is within his powers), he remembers his own experiences and the affect of them, he attributes what he remembers to others as he observes or describes them in similar situations, later, and he is quite easy in doing so because his results, in his view, achieve verisimilitude. They are exactly like the truth. A novelist would make just the same claim; for if he cannot persuade, he fails to draw us into the story.“ Mit dieser Behauptung wird das Wesen der antiken Geschichtsschreibung sicherlich gut beschrieben, allerdings sollte dabei nicht vergessen werden, dass die Handlung in Romanen stets fiktiv ist. Die Vergleichsebene und die aus dieser resultierende These besteht darin, dass tiefere Einsichten in grundsätzliche Wahrheiten durch Empathie bewirkt werden können, die bei der Lektüre von Texten hervorgerufen wird. Derartige Überlegungen liegen auch, freilich mit einer ganz anderen Akzentuierung (nämlich der juristischen und politischen Dimension), Martha C. Nussbaums Abhandlung „Poetic Justice. The Literary Imagination and Public Life“ von 1995 zugrunde. 131 Eine ausgedehntere Kritik an Macmullens Vorgehen formuliert Boquet (2004) in seiner Rezension der Studie; er verweist vor allem darauf, dass ihr ein zu unscharf definierter Emotionsbegriff zugrundeliegt, und bemängelt ein insgesamt zu unausgewogenes theoretisches Vorgehen – herauszuheben sei vor allem das erste Kapitel, das sich mit der antiken Historiographie befasst. 132 Einerseits verlässt Macmullen das rein wissenschaftliche Terrain, wenn er vorschlägt, bei der Lektüre ein eigenes Nach-Erleben der Vergangenheit zu erstreben, andererseits ist dies dennoch den Quellen nicht unangemessen, denn er fordert damit letztlich heutige Leser auf, antike Texte entsprechend ihrer eigentlichen Intention als Literatur zu lesen, vgl. ebd., S. 135: „Over-all, what I suggest is a certain way of reading the record – nothing new, but only long out of fashion: a way of searching out the emotions that determined behavior; and entering into them,
1. Emotionen und Rituale in den Altertumswissenschaften
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Die unter diesem Punkt vorgestellten Monographien verfolgen das Ziel einer Erkundung von Emotionen bei antiken Autoren unter einer historischen oder philologischen Fragestellung.133 Sie liefern methodische Überlegungen, die ihnen als Grundlage einer Analyse von Emotionen innerhalb eines zeitlich und thematisch festgelegten Rahmens dienen und die es (in vorliegender oder modifizierter Form) aufzugreifen lohnt.134 1.3 Tränen in den Altertumswissenschaften Tränen als besondere Ausdrucksform menschlicher Emotionen haben in der altertumswissenschaftlichen Forschung bereits einige Beachtung gefunden. Beiträge aus der Klassischen Philologie, der Archäologie und der Alten Kirchengeschichte, die Tränen in der Antike als eigenständiges Phänomen thematisieren, werden im Folgenden gesondert vorgestellt, auch wenn in den bisher erwähnten Untersuchungen schon oftmals Tränen einbezogen werden. 1.3.1 Literaturwissenschaftliche Beiträge Eines der Kerngebiete der Klassischen Philologie ist die auf literaturwissenschaftlichen Ansätzen beruhende Auseinandersetzung mit antiken Texten. Ein wichtiger Bezugspunkt für antike Autoren und moderne Wissenschaftler ist Homer, weshalb es nicht erstaunt, dass sich in der Forschung zu seinen Epen aktuelle Trends widerspiegeln. Bereits 1984 erschien die Monographie „Les larmes d‘Achille“ von Hélène Monsacré, die sich mit den Tränen der homerischen Helden befasst und dabei auf ourselves; and representing them in all their colors, so as more accurately to reveal the past, or re-feel it, and so to understand it.“ – Präzisere Ansätze im Hinblick auf die Frage, welche Wirkung ein historiographischer Text auf den antiken Leser hatte, liefert die Studie von Pausch (2011). Zwar hat sie ein einziges Werk, nämlich dasjenige des Livius, zum Gegenstand, doch dieses liefert dieselben Ausgangsbedingungen wie die meisten anderen Geschichtswerke: Grundlage ist der Text selbst, denn andere Quellen zur Wirkung auf den Leser existieren in der Regel nicht. Ausgehend von der These, dass es sich bei dem Text um den „Teil einer Kommunikationssituation zwischen dem Autor und seinem Rezipienten über den tatsächlichen – oder in vielen Punkten auch möglichen – Verlauf der Geschichte“ handelt, so bemerkt Pausch einleitend auf S. 1, würden sich narrative Strukturen und literarische Techniken exakt erfassen lassen. 133 Als Verknüpfung von Mentalitäts- und Emotionsgeschichte könnten die beiden Untersuchungen von Barton (31996) und Barton (2001) eingestuft werden. 134 Neuere Aufsätze auf dem Gebiet der Emotionsgeschichte beschäftigen sich mit jeweils einem ganz spezifischen Aspekt, sie untersuchen in der Regel einzelne Emotionen bei einem bestimmten Autor oder gar in einem bestimmten (Teil eines) Werkes. Vielfältige Anregungen für eine Beschäftigung mit Emotionen auf dem Gebiet der Klassischen Philologie liefern bereits Braund/Gill (1997) und Bormann/Wittchow (2008); an aktuellen Publikationen sind Cairns/ Fulkerson (2015), Caston/Kaster (2016), Lateiner/Spatharas (2016), Sanders/Johncock (2016) und Cairns/Nelis (2017) zu nennen. Insgesamt fällt auf, dass die antike Geschichtsschreibung weniger Beachtung als andere literarische Genera findet; in erster Linie dem griechischen Bereich widmen sich die Sammelbände von Chaniotis (2012) und Chaniotis/Ducrey (2013).
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Gender-Aspekte eingeht. Die Vorstellungen von heldenhaftem Verhalten zu homerischer Zeit und im 5. Jahrhundert v. Chr. unterscheiden sich ihr zufolge grundlegend: In der Ilias weinen alle großen Helden, da dieser Ausdruck von Trauer Männern und Frauen gleichermaßen zukommen darf. Dabei manifestiert sich in den Tränen der Männer ihr Heldentum (ihre Kraft ist ebenso intensiv wirksam, wie es der Eifer im Krieg ist), in denen der Frauen drückt sich dagegen lediglich ihr Unvermögen angesichts der gegenwärtigen Situation aus. Dieses Schema ändert sich in klassischer Zeit grundlegend, da die Kategorie des Helden männliche Tränen nicht mehr akzeptabel erscheinen lässt, und somit das Weinen ausschließliche Aufgabe der Frauen wird.135 In ihrem Aufsatz „Tränen und Weinen in der Dichtung des archaischen Griechenlands“ von 2006 betont Sabine Föllinger ebenfalls, wie zentral die Rolle von Tränen in den homerischen Epen ist. Dass man an den weinenden männlichen Helden in späterer Zeit keinen Anstoß nahm, liege jedoch weniger an einem tatsächlich vorhandenen sozialen Verhaltenskodex, vielmehr biete die Gattung des Epos besondere Möglichkeiten, die „emotionale Innenwelt“ sichtbar zu machen, wie ein Vergleich mit dem Lyriker Archilochos zeige, der extensives Trauerverhalten als weiblich einstuft. Föllinger geht auch auf die Fülle der für das Weinen verwendeten Verben bei Homer ein.136 In der homerischen Epik, der klassischen Tragödie und im Trauerritual wird Weinen und somit das Gefühl der Trauer durch Verhüllen von Kopf, Gesicht und Augen ausgedrückt. Douglas Cairns deutet diese Geste als kommunikatives Mittel des Ausgleichs zwischen Emotion und ritueller Performanz.137 Auch in dem großen lateinischen Epos, der Aeneis, fließen reichlich Tränen, die von den Rezipienten nicht als negativ empfunden werden. Wie es um das Weinen des Helden darin steht, hat Rudolf Rieks bereits 1970 in einem Aufsatz untersucht: Aeneas weint in der ersten Hälfte des Werkes, die ihr Vorbild in der homerischen Odyssee hat, überaus häufig, in der zweiten Hälfte dagegen, die nach der Ilias gestaltet ist, nur ein einziges Mal, nämlich bei der Trauer um Pallas. Seine Tränen sind Ausdruck der pietas, die ihn und die Aeneaden in besonderer Weise auszeichnet.138 Daneben befassen sich noch weitere Beiträge mit dem Weinen bei Vergil, wobei besonders hervorzuheben ist, dass das Diktum sunt lacrimae rerum (Verg. Aen. 1, 462) gleich in mehreren Titeln auftaucht.139 135 Demgegenüber betont Suter (2009), dass das Weinen als spontane Emotion in den griechischen Tragödien bei Männern und Frauen eine gleich bedeutende Stellung einnimmt; Tränen sind dort nicht geschlechtsspezifisch zu deuten, sondern dienen einer vielfältigen Charakterisierung. Arnould (1990) behandelt Tränen von Homer bis zur Zeit Platons, große Partien sind dabei Homer gewidmet. 136 Vgl. Föllinger (2006), S. 182, die hier auf Monsacré (1984), S. 171 f. und Arnould (1990), S. 143–158 verweist. Ergänzende Gedanken bietet die Miszelle von Neuberger-Donath (1996). 137 Vgl. Cairns (2009), S. 54. 138 Vgl. Rieks (1970), S. 186 und 189. Auf die Tränen der anderen Personen in der Aeneis geht Rieks auf S. 192–197 ein und setzt sie in Relation zum Weinen des Helden. 139 Vgl. Szabó (1982–1985), Funke (1985), Barigazzi (1986), Negri (1988) und Schrijvers (2001). Eine ausführliche Analyse mehrerer Szenen der Aeneis bietet Polleichtner (2009); er kommt zu dem Schluss, dass Vergil das emotionale Verhalten seines Helden auf die Ansichten abstimmte, die die philosophischen Schulen seiner Zeit bezüglich der Emotionen vertraten, vgl. ebd., S. 277–283.
1. Emotionen und Rituale in den Altertumswissenschaften
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Die Funktionen, die Tränen in der lateinischen Liebeselegie übernehmen können, sind gattungsbedingt äußerst vielfältig. So untersucht beispielsweise Joan Booth die performative Funktion des Weinens in der römischen Liebeselegie und bietet Passagen aus Tibull und Properz, die über den leicht zu Tränen neigenden elegischen Liebhaber handeln und eine Umkehr des herkömmlichen Rollenbildes darstellen, wogegen in Ovids Amores die Frauen in der schwächeren Position porträtiert werden.140 Thorsten Fögen wiederum beschäftigt sich mit den Tränen von Männern und Frauen bei Properz und Ovid, bei deren Verwendung oftmals ein humoristischer Aspekt im Vordergrund steht, der dem scherzhaften Unterton einer Liebeselegie entspricht.141 Mit Tränen bei bedeutenden griechischen Historiographen aus der Zeit von 440 bis 140 v. Chr. setzt sich Donald Lateiner auseinander und benennt die wesentlichen Kategorien, in die sich das Weinen in deren Werk einteilen lässt: Verzweiflung, Flehen und Freude.142 Die großen Geschichtsschreiber und die attischen Redner beschreiben Tränen entsprechend ihrer übergeordneten Darstellungsabsicht, die entweder pragmatisch (auf politisch-militärische Gesichtspunkte) ausgerichtet, rhetorischdramatisch oder aber moralisierend-psychologisierend ist. Loretana de Libero untersucht die bei den großen römischen Historikern Livius, Tacitus und Ammianus Marcellinus beschriebenen Tränen und kommt zu einem ganz ähnlichen Schluss: Das Weinen nimmt dort vielfältige kommunikative Funktionen ein und entspricht in der Verwendungsweise der dem jeweiligen Werk des Autors zugrundeliegenden Bedeutung von Emotionalität.143 Ein spezifisches historisches Ereignis, nämlich das Weinen Caesars, als man ihm am 9. August 48 v. Chr. das Haupt des ermordeten Pompeius überbringt, bildet den Gegenstand einer kleinen Schrift von Hans Jürgen Tschiedel.144 Andreola Rossi schließlich deutet die bei Livius geschilderten Tränen des römischen Feldherrn Marcellus bei der Einnahme von Syrakus im Frühling 212 v. Chr. als literarischen Topos und zugleich als ein Zeichen für den endgültigen Zerfall griechischer Kultur und Zivilisation auf römischem Territorium.145 1.3.2 Archäologische Beiträge Carl Sittl geht in seinen Ausführungen über die Gebärden in der Kunst darauf ein, dass die Darstellung von Tränen in der Kunst kaum möglich und daher eine symbolische bildliche Wiedergabe üblich gewesen sei.146 Mehrere Jahrzehnte nach ihm 140 141 142 143 144
Vgl. Booth (2008), S. 68 und 71. Vgl. Fögen (2006), S. 251. Vgl. Lateiner (2009), S. 109. Vgl. de Libero (2009), S. 221 f., 229 und 233. Über diesen Vorfall berichten zahlreiche antike Quellen ausführlich; sie legen dem Verhalten Caesars in der Regel eine ehrliche innere Haltung zugrunde, allerdings bilden Cassius Dio und Lukan eine Ausnahme, vgl. Tschiedel (1985), S. 5–8; die Tränen Caesars werden in II. 4.1.1.2 und II. 5.2.3. behandelt. 145 Vgl. Rossi (2000), S. 61; vgl. II. 5.2.3. 146 Vgl. Sittl (1890), S. 262–316, bes. S. 275: „Da Thränen kaum darzustellen sind, waren gerade für das Weinen bestimmte Symbole notwendig, auf welche auch die Schriftsteller Bezug nehmen. Wer zu weinen beginnt, bedeckt das Gesicht mit einer Hand oder mit beiden. (…) Kon-
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I. Forschungsgeschichte und methodisches Vorgehen
hat sich Hedwig Kenner mit dem „Weinen und Lachen in der griechischen Kunst“ beschäftigt. Im Vorwort der im Jahre 1960 veröffentlichten Untersuchung vertritt die Verfasserin die These, die Antike erkenne – im Gegensatz zur Moderne – „dem Weinen als der ergreifenderen und erhabeneren Emotion größere Bedeutung“ zu.147 Für die Darstellung des Lachens sei vor allem die in der griechischen Kunst nur allmählich weiterentwickelte Mimik ausschlaggebend, während für das Weinen die Gestik entscheidende Bedeutung habe.148 Aus dieser Feststellung erhellt die Art und Weise der Behandlung dieser beiden Gefühlsäußerungen:149 Das Weinen wird in chronologischer Reihenfolge betrachtet und dabei seine Bedeutung und Wandlung innerhalb der verschiedenen Epochen verfolgt,150 dagegen wird das Lachen nach Sachgebieten aufgegliedert und auf nur etwa halb so viel Raum dargestellt.151 Kenner gelangt zu dem Ergebnis, dass vor allem Gesten aus dem Totenkult herangezogen werden, um Trauer auszudrücken.152 Ab der klassischen Epoche verringert sich die Zahl dieser körperlichen Manifestationen der Trauer zugunsten von „Posen gemäßigter Trauer und edel beherrscht ertragenen Schmerzes, das gesenkte Haupt, die Mantelverhüllung, das Aufstützen des Antlitzes, die verschränkten Hände“. Ganz unverkennbar wird Weinen ab der hellenistischen und dann vor allem in römischer Zeit durch die Geste des Tränentrocknens kenntlich gemacht, eine mimische Darstellung jedoch existiert nicht.153 Hans van Wees konzentriert sich dagegen unter dem Titel „A Brief History of Tears: Gender Differentiation in Archaic Greece“ auf die kulturelle Einbettung des Weinens von Männern und Frauen in die griechische Gesellschaft. An literarischen Zeugnissen, aber auch anhand zahlreicher bildlicher Darstellungen von Trauerverhalten (weibliche und männliche Posen werden aufgeführt) weist er unter anderem nach, dass das Weinen beim Begräbnis über den gesamten Zeitraum hinweg als
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vulsivisches Schluchzen ahnen wir, wenn das Gewand über das Gesicht gezogen ist (…). Zahlreich sind solche Bilder freilich nicht. Endlich ist das Weinen unverkennbar, wenn sich einer mit dem Handrücken, mit dem Zeigefinger oder dem Daumen die Augen wischt; manche gebrauchen (…) das Kleid dazu. Beides scheint der römischen Periode anzugehören.“ Kenner (1960), S. 5. Vgl. ebd., S. 62. Laut Kenner lassen sich Weinen und Lachen klarer fassen als andere Emotionen, vgl. ebd., S. 5: „Sie (Weinen und Lachen sc.) sind bei der Ausdrucksbeschränkung der griechischen und überhaupt der gesamten antiken Kunst immer noch jene Emotionen, die sich am klarsten fassen lassen, während die übrigen wie z. B. Ratlosigkeit, Skepsis, Zorn, Verzweiflung, Entsetzen, Listigkeit, Lüsternheit, Verzückung usw. mehr vermutet und in das Kunstwerk, etwa aus dem Gesamtinhalt der Szene, wenn es sich um ein Mehrfigurenwerk handelt, hineininterpretiert werden müssen.“ Weinen und Lachen werden hier von Kenner allerdings fälschlich als Emotion gewertet. Vgl. ebd., S. 7–62. Vgl. ebd., S. 62–91. Abgesehen vom so genannten archaischen Lächeln ist das Lachen weitaus seltener zu finden als das Weinen, vgl. ebd., S. 62 und 92 f. Kenner führt als solche das Haareraufen, Stirn-, Wange-, Brustschlagen, Auf-der-Erde-kauern, Gesten der Selbstverletzung und -Erniedrigung an, vgl. ebd., S. 92. Vgl. ebd., mit der Bemerkung, es werde lediglich „die tragische Miene der Laokoonbraue und der gesenkten Mundwinkel in vielfachen Variationen von zarten Andeutungen angefangen bis zum kraß aufgetragenen Pathos herab abgewandelt.“
1. Emotionen und Rituale in den Altertumswissenschaften
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Aufgabe der Frauen galt. Tränen wurden zwar nicht generell als unmännlich empfunden, jedoch vollzogen sich ab dem Beginn des 6. Jahrhunderts Änderungen im geschlechtsspezifischem Ausdruck von Trauer, so dass bei Männern höchstens spontan vergossene Tränen statthaft waren, da eine möglichst umfassende Kontrolle der eigenen Emotionen angestrebt wurde.154 Diese spiegelt sich in der seit dieser Zeit stärker betonten Superiorität der Männer gegenüber den Frauen wider. Die Trauer im griechischen Bereich machen Harvey A. Shapiro (1991) und Ingeborg Huber (2001) zum Gegenstand ihrer Untersuchungen.155 Für das antike Rom ist die Literatur über Tod und Begräbnis umfangreich, die Darstellung von Trauer oder gar Tränen in der Kunst wird jedoch deutlich seltener thematisiert, als es für Griechenland der Fall ist.156 1.3.3 Kirchengeschichtliche Beiträge In neueren Forschungen auf dem Gebiet der Theologie ist die Bedeutung des Weinens in religiösen Zusammenhängen hervorgehoben worden.157 So hat sich Barbara Müller mit dem Penthos bei den ägyptischen Anachoreten im 4. und 5. Jahrhundert beschäftigt, mit dem eine bestimmte religiöse Praxis bezeichnet wird, bei der Tränen ein essentieller Bestandteil gewesen sind. Unter dem Titel „Der Weg des Weinens. Die Tradition des ‚Penthos‘ in den Apophthegmata Patrum“ liefert sie eine Deutung von Herkunft und Inhalt des Penthos-Verständnisses und geht dabei sowohl auf den biblisch-theologischen Hintergrund158 als auch auf Weinen innerhalb des Isis- und Osiris-Kults159 ein und entwirft ein detailreiches Bild von der Bedeutung des Penthos für die christlichen Anachoreten.160 154 Spätestens seit der Klassischen Zeit hatte sich diese Verhaltensnorm etabliert, vgl. van Wees (1998), S. 16–19. 155 Shapiro geht auf den Wandel ein, der sich nach den Perserkriegen mit der wachsenden Bedeutung von Staatsbegräbnissen vollzog, und weist dabei auf die Bedeutung von Familiengrabstätten hin, während Huber einen umfassenden Überblick über die bildlichen Erscheinungsformen von Trauer in der griechischen Kunst vorlegt und dabei auch Schriftquellen, die sich mit der Zurschaustellung der Trauer beschäftigen, einbezieht. 156 Noch keine erschöpfende Behandlung des Themas, aber eine gute Grundlage für künftige Forschungen bietet Anna Schreiber-Schermutzki, Trauer am Grab – Trauerdarstellungen auf römischen Sepulkraldenkmälern, Diss. phil. Freiburg i. Br. 2008 (http://www.freidok.uni-freiburg. de/volltexte/6958/); dort auch weitere Literaturhinweise zu verwandten Themen. – Raeck (2004) geht nicht speziell auf Tränen, sondern auf den kontrollierten Umgang mit Emotionen ein, wie er in der griechisch-römischen darstellenden Kunst sichtbar wird, und verweist auch auf Unterschiede zwischen den beiden Kulturräumen. 157 Bereits Meuli äußert sich knapp zum Gebetsweinen, vgl. oben II. 1.1.2. 158 Vgl. Müller (2000), S. 86–106 und 112–131. 159 Vgl. ebd., S. 106–111; der kurze Vergleich zwischen dem Penthos der Wüstenväter und dem Trauern und Weinen im ägyptischen Kult ist sicherlich nicht erschöpfend, sondern zeigt eher die noch zu füllenden Lücken der Forschung auf. 160 Den Kern der Darstellung bilden Überlegungen zur Funktion dieses Phänomens im anachoretischen Mönchtum: Der eine Weg des Penthos, das als eine Tugend zu interpretieren ist, besteht in der Trauer um den eigenen Tod, das heißt den Tod in der diesseitigen Welt, der eine Hinwendung zu Gott ermöglicht, der andere in einem kontemplativen Weinen, das sich ebenfalls auf Gott hin ausrichtet, vgl. ebd., S. 166–221.
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I. Forschungsgeschichte und methodisches Vorgehen
Über verschiedene Epochen hinweg untersucht Christoph Benke in seiner Schrift „Die Gabe der Tränen. Zur Tradition und Theologie eines vergessenen Kapitels der Glaubensgeschichte“ das Vorkommen und die Bedeutung von Tränen in der christlichen Theologie. Die Zeugnisse verschiedener Glaubensgelehrter vom ausgehenden 6. Jahrhundert bis in die Neuzeit hinein dienen ihm als Hintergrund für seine Theologie der Tränen.161 Hauptsächlich auf das Mittelalter konzentriert sich die Studie von Piroska Nagy, „Le don des larmes au Moyen Age. Un instrument spirituel en qête d‘institution (Ve-XIIIe siècle)“. Sie zeichnet facettenreich die Entwicklung der Tränen innerhalb des christlichen Glaubens nach: Von den Wüstenvätern an gewann das donum lacrimarum eine wachsende Bedeutung und konnte im Hochmittelalter einen Höhepunkt erfahren, allerdings zeichnet sich seit dem 13. Jahrhundert eine wesentliche Änderung in der theologisch-spirituellen Auffassung der Tränen ab. 2. EMOTIONEN UND RITUALE IN DER MEDIÄVISTIK Die Forschungssituation in der Mediävistik unterscheidet sich von derjenigen in den Altertumswissenschaften, was sicherlich auch mit dem ganz anders gearteten Charakter des Faches zusammenhängt. Emotionen und Rituale werden hier schon länger, als es in den Altertumswissenschaften der Fall ist, in politisch-kulturellem Zusammenhang untersucht.162 Der folgende Abschnitt stellt noch selektiver, als es beim vorangegangenen der Fall war, einige Ansätze vor, die relevante Anregungen für die Beschäftigung mit dem Weinen als Kommunikationsform zwischen Emotion und Ritual bieten. 2.1 Affekte und ihre Kontrolle Die Gefühlswelt des mittelalterlichen Menschen suchte der Niederländer Johan Huizinga in seinem erstmals 1919 erschienenen Werk „Herbst des Mittelalters“ zu ergründen. Wie der Untertitel „Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden“ bereits ankündigt, ist der Untersuchungszeitraum auf das Spätmittelalter begrenzt. Dabei verfolgt der Historiker einen kulturgeschichtlichen Ansatz und verwendet als hauptsächliche Quellen Chroniken.163. Ihm erscheinen die Emotionen in der dort geschilderten Lebenswirklichkeit der Menschen weitaus kontrastreicher gezeichnet als diejenigen der von ihm selbst wahrgenommenen Umwelt. Diese Ansicht wird bereits im Einleitungssatz formuliert: „Als die Welt noch ein halbes Jahrtausend jünger war, hatten
161 Vgl. Benke (2002), S. 29–299 und 300–410. 162 Neben manchen der in diesem Kapitel behandelten Untersuchungen befasst sich auch der Sammelband von Mosetti Casaretto/Ciocca (2011) speziell mit Tränen. 163 Vgl. Huizinga (111975), S. 10 f.
2. Emotionen und Rituale in der Mediävistik
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alle Geschehnisse im Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen als heute.“164 Huizinga beschreibt den Ausdruck von Gefühlen sehr plastisch und anschaulich, die Untersuchung ist weniger logisch-argumentativ aufgebaut als vielmehr von bildhafter Darstellung geprägt und wirkt dadurch suggestiv. Der Grad der Emotionalität der Texte wird am Maßstab von Zeit und kulturellem Umfeld des Verfassers selbst gemessen, so dass dieser infolgedessen der spätmittelalterlichen Gefühlswelt eine kindliche, naive, durch Spontaneität und Unmittelbarkeit charakterisierte Natur zuschreibt.165 Zwar können derartige Thesen nicht in der vorliegenden Form aufrecht erhalten werden, doch liefert Huizinga Anregungen für weitere Forschungen durch seine Beobachtung, dass Emotionen in spätmittelalterlichen Quellen kontrastreicher und lebhafter beschrieben werden. Aus soziologischer Perspektive behandelt Norbert Elias die menschlichen Affekte in seinem zuerst 1939 erschienenen Hauptwerk „Über den Prozess der Zivilisation“, dessen Untersuchungszeitraum sich vom Frühmittelalter bis in die Zeit um 1900 erstreckt. Im ersten Band stellt er Verhaltensänderungen in den weltlichen Oberschichten Westeuropas dar,166 bei denen er eine zunehmende Affektkontrolle konstatiert; zu diesem Befund gelangt er durch die Analyse vor allem von Manierenbüchern. Die gerichtete Entwicklung der Fähigkeit, die eigenen Emotionen bzw. deren Äußerung nach außen hin bewusst zu steuern, versteht er als den „psychischen Prozeß der Zivilisation“167: Im Laufe der Zeit fand ihm zufolge ein Strukturwandel des Verhaltens in der adligen Gesellschaft statt, und zwar dahingehend, dass spontanem affektiven Handeln durch das Überdenken der Auswirkungen ebendieses Handelns immer mehr entgegengewirkt wurde.168 Diese zunehmenden Kontrollmechanismen und die damit einhergehende Veränderung der Persönlichkeitsstruktur fasst Elias in dem Begriff ‚Psychogenese‘ zusammen. Parallel dazu verlief auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ein Wandel von Strukturen (‚Soziogenese‘).169 164 Vgl. ebd., S. 1. Dieser Gedanke wird in den darauf folgenden Sätzen noch weiter ausgeführt: „Zwischen Leid und Freude, zwischen Unheil und Glück schien der Abstand größer als für uns; alles, was man erlebte, hatte noch jenen Grad von Unmittelbarkeit und Ausschließlichkeit, den die Freude und das Leid im Gemüt der Kinder heute noch besitzen. Jede Begebenheit, jede Tat war umringt von geprägten und ausdrucksvollen Formen, war eingestellt auf die Erhabenheit eines strengen, festen Lebensstils. Die großen Ereignisse: Geburt, Heirat, Sterben standen durch das Sakrament im Glanz des göttlichen Mysteriums. Aber auch geringere Geschehnisse, eine Reise, eine Arbeit, ein Besuch, waren von tausend Segnungen, Zeremonien, Sprüchen und Umgangsformen begleitet.“ 165 Vgl. Rosenwein (2002), S. 823. Auch auf Tränen kommt Huizinga bereits im ersten Kapitel zu sprechen, vgl. Huizinga (111975), S. 8–10. 166 Der Titel von Band 1 lautet: „Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes“. 167 Elias I (201997), S. 76. 168 Elias versteht dies als einen „Wandel der psychischen Selbststeuerung in der Richtung einer größeren Langsicht und einer strengeren Regelung der triebhaften Augenblicksimpulse“, II (201997), S. 406; vgl. insgesamt S. 380–407. 169 Vgl. Elias I (201997), S. 11; mit der Soziogenese, insbesondere dem Staatsbildungsprozess, befasst sich der zweite Band.
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Die Befunde des Soziologen stützen das von ihm entworfene Modell einer wachsenden Kontrolle der Affekte, das die gesellschaftliche Entwicklung des Verhaltens von einem ‚primitiven‘ hin zu einem ‚zivilisierten‘ und somit eine Gerichtetheit dieser Veränderungen voraussetzt: Die Affektkontrollen etablierten sich allmählich und wurden vielfältiger.170 Hierin liegt allerdings der Ansatzpunkt für eine grundlegende Kritik an Elias, denn trotz der methodisch durchdachten Handhabung seines Themas lässt sich nicht leugnen, dass die Ausdrücke ‚primitiv‘ und ‚zivilisiert‘ und das damit verbundene Konzept der Affektkontrolle eine massive Wertung darstellen. Zudem ist eine Übertragung auf andere Personengruppen als die von ihm untersuchten nicht ohne Weiteres möglich.171 Daher ist es problematisch, die Verstärkung der Affektkontrollen in einem solchen Maß als umfassendes, die Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes beeinflussendes Phänomen anzusehen, wie es Elias tut. Im Hinblick auf die Behandlung der Affekte als Gegenstand historischer Forschung ist schließlich darauf zu verweisen, dass er die Geschichtlichkeit von Emotionen voraussetzt; diese haben für die individuelle Persönlichkeit sowie für die Interaktion von Menschen stets eine bedeutende Rolle gespielt. Auch der Elias‘ Forschung zugrundeliegende Gedanke, dass Kontrollmechanismen von Affekten in bestimmten Relationen zu den gesellschaftlichen Strukturen stehen, in denen Menschen leben, lässt sich als Basis für eine theoretische Herangehensweise an die Untersuchung von Emotionen verwenden.172 Als richtungsweisend für die Etablierung der Emotionsgeschichte als eigenständige Teildisziplin kann der Aufsatz „Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen“ von Lucien Febvre gelten, der in französischer Sprache zuerst 1941 erschien.173 Darin plädiert Febvre dafür, die Emotionen in der Geschichte als Gegenstand der Forschung (oder gar als Basis für die Arbeit eines Geschichtswissenschaftlers) anzuerkennen und Methoden für ihre Untersuchung zu entwickeln.174 Die Herangehensweise Huizingas scheint ihm dazu wenig zielführend, denn er behandelt die Thematik zu einseitig, indem er die Unstetigkeit und 170 Elias I (201997), S. 12 beschreibt den Prozess der Psychogenese mit dem „langfristigen Wandel der Individualstrukturen in der Richtung auf eine Festigung und Differenzierung der Affektkontrollen“. 171 Die Quellenauswahl ist ohne Zweifel beeinflusst von Elias‘ erst 1969 erschienener Habilitationsschrift „Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie“. 172 So betrachtet ja auch Barbara Rosenwein die gesellschaftlichen Strukturen, in denen man sich aufhält; Elias untersucht letztlich eine einzige Gruppe in ihrer geschichtlichen Entwicklung, wogegen Rosenweins Theorien auf ein vernetzteres Denken abzielen und sie verschiedene Personen(gruppen) in ihrem Verhältnis zueinander untersucht. Bestimmte Regeln (also Normen der Affektkontrollen) können für eine einzige Personen verschieden sein, je nachdem, in welcher Gruppe sie sich aufhält. Zu Rosenwein vgl. I. 2.4. – Nicht eingegangen werden soll an dieser Stelle auf die umfassende Kritik an Elias‘ Modell des Zivilisationsprozesses durch Hans Peter Duerr. 173 Plamper (2012), S. 55 verweist darauf, dass der sich in Europa ausbreitende Faschismus für Febvre den Anstoß für die Beschäftigung mit Emotionen in der Geschichte gebildet haben mag. 174 Vgl. Febvre (1977), S. 333. Febvre verwendet nicht den Begriff der ‚émotion‘, sondern der ‚sensibilité‘, um „das affektive Leben und seine Ausdrucksformen zu bezeichnen“, vgl. Febvre (1977), S. 315.
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hohe Intensität der Emotionen im Mittelalter gegen den Umgang mit diesen in anderen Epochen abgrenzt.175 Vielmehr erachtet Febvre es für sinnvoll, dass der Historiker Emotionen unter dem Blickwinkel der Ideengeschichte erforscht und dabei die Psychologie einbezieht.176 Er geht auf die Schwierigkeiten ein, die ein rein lexikalischer Ansatz, aber auch die Analyse unterschiedlicher Dokumente aus dem Bereich der Literatur wie der bildenden Künste bietet.177 Kritisch zu betrachten ist vor allem Febvres Ansicht, es habe bei der Herausbildung der Zivilisationen eine allmähliche Zurückdrängung emotionaler durch intellektuelle Tätigkeiten stattgefunden;178 gefolgt ist man ihm allerdings in dem Bestreben, die Erforschung von Emotionen in der Geschichte zu systematisieren. 2.2 Emotionen als strategisches Instrument mittelalterlicher Politik Die Frage nach der Gefühlswelt wird von dem Mediävisten Gerd Althoff dahingehend modifiziert, dass er den Schwerpunkt auf die Bedeutung ritueller Akte legt. Ihm geht es vor allem darum, deren Funktionen innerhalb spezifischer Zusammenhänge zu analysieren;179 die Demonstration von Emotionen in Form von Gesten und anderen nonverbalen Ausdrucksweisen lässt sich als Ritual deuten. In der Regel wertet Althoff dafür historiographische Quellen aus und behandelt vornehmlich Situationen, in denen eine symbolische Kommunikation zwischen Mächtigen – fast immer in öffentlichem Rahmen – stattfand. Das Ziel seiner 2003 erschienen Monographie „Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter“180 besteht zum einen darin, die bewusste Ausgestaltung („Gemachtheit“) mittelalterlicher Herrschaftsrituale zu beweisen, die den Zweck hatte, bestimmte Botschaften zu übermitteln.181. Um Informationen eindeutig transportieren zu können, muss jedoch zunächst eine gewisse Verbindlichkeit und Eindeutigkeit solcher Rituale gegeben sein.182 Zweitens wird die Geschichtlichkeit der Rituale aufgezeigt, die unter dem Einfluss vielfältiger Faktoren entstanden sind und zugleich selbst Entwicklun175 Zur Kritik an Huizinga vgl. Febvre (1977), S. 319–322. 176 Vgl. ebd., S. 324: „Es (das Gebiet der Geschichte der Ideen und der Institutionen sc.) ist sogar sein Forschungsgebiet schlechthin, denn die Ideen und der Mechanismus der Institutionen einer Epoche können vom Historiker nicht verstanden und verständlich gemacht werden ohne eine grundlegende Bemühung, die ich eine psychologische nennen würde. (…) Für den Historiker sind Ideen und Institutionen niemals ewige Gegebenheiten, sondern historische Erscheinungsformen des menschlichen Geistes in einer bestimmten Epoche und unter dem Zwang von Umständen, die sich nie mehr wiederholen“ (vgl. auch ebd., S. 330). 177 Vgl. ebd., S. 324–330. 178 Vgl. ebd., S. 318. 179 Auf dieses Anliegen weist besonders deutlich seine 1997 unter dem Titel „Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde“ erschienene Sammlung von Aufsätzen hin. 180 Ihr Grundanliegen besteht darin, zum „Verständnis ritueller Verhaltensmuster und ihrer Funktionen in der öffentlichen Kommunikation mittelalterlicher Herrschaftsträger“ beizutragen, vgl. Althoff (2003), S. 9. 181 Ebd., S. 189. 182 Vgl. ebd. und insgesamt S. 189–194.
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gen anzeigen – mit der Änderung der Herrschaftsverhältnisse ändern sich die Rituale.183 Drittens zwangen Rituale regelrecht zu einem konformen Verhalten, so dass eine Kommunikation zwischen den daran Beteiligten stattfand, die deren Verhältnis zueinander offenlegte.184 Ein nonkonformes Agieren war nicht ohne Folgen und unterblieb deswegen meist, und dadurch wurde menschliches Verhalten berechenbarer, was zu einer Stabilisierung der herrschenden Ordnung führte.185 Auf der anderen Seite sind die Rituale selbst als ein Instrument herrscherlicher Machtausübung zu verstehen – allerdings nur in einem begrenzten Ausmaß, da in ihre Inszenierung nicht nur der Herrscher, sondern auch andere Parteien involviert waren.186 Althoff vertritt die These, öffentliche rituelle Akte seien als die demonstrative Besiegelung eines Konsenses zu verstehen, der im Vorhinein von den beteiligten Parteien ausgehandelt wurde.187 Rituale sind ihm zufolge Träger einer Botschaft und zugleich symbolischer Ausdruck von Emotionen; jedoch nicht diese, sondern die Rituale und die mit ihnen zusammenhängenden Machtkonstellationen stehen im Mittelpunkt seines Interesses.188 Dieses strukturelle Vorgehen findet sich auch in mehreren Aufsätzen Althoffs, in denen er auf Emotionen und insbesondere Tränen als Bestandteil öffentlicher Inszenierungen eingeht.189 Unter dem Titel „Empörung, Tränen, Zerknirschung“ werden allgemein „Emotionen in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters“ behandelt. Nach einem Hinweis auf den Kontrastreichtum von Gefühlen im Mittelalter190 wirft Althoff die Frage auf, ob die Gefühlsäußerungen nicht zweckrationaler waren, als es zunächst den Anschein hat, da die öffentliche Kommunikation einen äußerst demonstrativen Charakter besaß.191 Nach außen getragenen Emotionen kommt demnach ein Zeichencharakter zu, der dazu führt, dass emotional wirkende Verhaltensweisen in bestimmten Situationen besonders häufig auftreten, nämlich „am Beginn von Konflikten, in der Phase ihrer Entstehung, sowie am Ende von Auseinandersetzungen, im Zuge ritueller Handlungen zur Beilegung der Konflikte“ und außerdem „dann, wenn mittelalterliche Menschen andere um etwas bitten“.192 Gefühle wurden nicht beliebig geäußert, sondern waren lediglich in spezifischen Bereichen akzeptiert.193 Nur vermeintlich wohnt laut Althoff solchen emotionalen Ausdrucksweisen eine Spontaneität inne, die das Überwältigtsein des
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Vgl. ebd., S. 188; vgl. insgesamt S. 195–199. Ebd., S. 199. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 200 f.; vgl. insgesamt S. 199–203. Ebd., S. 201 f. Da Althoff eben nicht die Emotionen, sondern die Rituale selbst in den Mittelpunkt seiner Forschung rückt, ist Rosenweins Kritik, dass er nur an Fragen herrscherlicher Macht und nicht an anderen sozialen Konstrukten interessiert ist, unberechtigt, vgl. Rosenwein (2002), S. 842. Vgl. etwa Althoff (2000) und Althoff (2004). Auch auf die ältere Forschung, die darin eine übersteigerte Emotionalität zu erkennen meint, wird verwiesen, vgl. Althoff (1997), S. 258–261. Vgl. ebd., S. 261. Ebd., S. 262. Vgl. ebd., S. 263.
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Menschen anzeigen soll; vielmehr heben sie in verschiedener Intensität die Entschlossenheit hervor, die eigene Meinung durchzusetzen.194 Von heftigen Emotionen ergriffen wurde etwa König Heinrich IV., als er sich vor seinen Fürsten zu Boden warf, sie unter Tränen um Unterstützung gegen das von den Sachsen erlittene Unrecht bat und ihnen die Füße küsste, um seiner Bitte möglichst große Deutlichkeit und Eindringlichkeit zu verleihen.195 Die von ihm verwendeten Mittel wurden gegebenenfalls auf unterschiedlichen Gebieten genutzt: „Durch Fußfall ohne Worte konnte man etwa den König um eine Gunst oder ein Amt bitten; mit Fußfall und unter Tränen intervenierte man für andere. Mit Fußfällen, tränenreichen Selbstbezichtigungen und manchmal auch Fußküssen erbat man Verzeihung; häufig geschah dies im Rahmen des Rituals der deditio.“196 Ferner geht Althoff noch auf den Bereich der Drohungen, Beschimpfungen und Verwünschungen ein, in dem ebenfalls häufig eine übermäßige Emotionalität geschildert werde.197 Diese Beobachtungen bestätigen laut Althoff die These, dass in Ritualen gezeigte Emotionen auch oder gar hauptsächlich Zeichencharakter besitzen, also Träger von Botschaften sind. Wenn ihr Ziel erreicht und die Botschaft übermittelt ist, können sie rasch in andere, oft sogar gegenteilige Gefühle umschlagen.198 Wie die entsprechende Kleidung und bestimmte Gesten wurde ein emotionales Verhalten in 194 Ebd., S. 267: „Je entschiedener man erscheinen wollte, desto extremere Reaktionen und Emotionen zeigte man öffentlich.“ Auf S. 266 f. bietet Althoff den Bericht Thangmars aus der Vita Bernwardi über Otto III., wie er während eines Aufstandes der Römer im Jahre 1001 durch seine Rede, in der er die ihnen erwiesenen Wohltaten aufzählte, die Zuhörer so sehr beeindruckte, dass sie zu Tränen gerührt waren und ihm wieder ihre Treue versicherten. Da bereits am Vortag ein Treffen zu Gesprächen vereinbart worden war, also beide Parteien zu einer Beilegung des Konfliktes bereit waren, fungierte die Rede Ottos – so Althoffs Fazit – als eindeutiges Zeichen für diese Bereitschaft zum Friedensschluss. 195 Ebd., 267 f.; der Bericht darüber findet sich in Brunos Buch vom Sachsenkrieg. 196 Ebd., S. 269. Auch für die deditio postuliert Althoff eine vertragliche Vereinbarung im Vorfeld: „Durchführung wie Ausgang wurden festgelegt, das jeweilige Verhalten abgesprochen. Es war dem Gedanken der Genugtuung verpflichtet und konnte so je nach Rang der Personen, Schwere des Konflikts oder des angerichteten Schadens, der angetanen Ehrverletzung variiert werden. Bei der Durchführung hielten jedoch alle die Fiktion einer spontanen Handlung aufrecht“, ebd. 197 Vgl. ebd., S. 271–276. 198 Ebd., S. 276 – Althoff bemerkt, dass sich „die rituell gezeigte Emotion eben schneller als eine echte“ legt. Auch Zustimmung, Freude und Einverständnis konnten durch rituelles Verhalten zum Ausdruck gebracht werden; Beispiele dafür bieten die Herrscherakklamationen oder der Jubel bei Herrscherempfängen (ebd., S. 276 f.). Eine besonders wichtige Funktion nimmt auch die öffentlich bekundete Traurigkeit (tristitia) ein, die Althoff auf S. 278 nur knapp behandelt; sie signalisierte „eine Trübung von Beziehungen, hatte die Funktion einer ernsten Warnung, die ausgesandt wurde, bevor man sich entfernte und zu den Waffen griff. Konkretisiert wurde sie durch die Verweigerung jener heiter-leutseligen Stimmung, mit der sich die Mitglieder einer Gruppe gegenseitig den guten Zustand ihrer Beziehungen testierten. Wenn jemand in solcher Situation nicht sprach, nicht lachte, gar das Essen verweigerte und stumm die Tischplatte mit dem Fingernagel zerkratzte, dann sandte er in der Tat unmißverständliche Signale aus. Das gerade zitierte Verhalten soll Heinrich IV. beim Versöhnungsmahl in Canossa an den Tag gelegt haben. Wirkungsvoller konnte man ihm nicht vorwerfen, er habe es an Friedensbereitschaft fehlen lassen. Er hatte es ja selbst unmißverständlich zum Ausdruck gebracht.“
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den besprochenen Situationen erwartet.199 Die Ursache dieser Kommunikationsweise liege in den „spezifischen Bedürfnissen und Eigenarten der mittelalterlichen Gesellschaft“.200 Im seinem Aufsatz „Der König weint. Rituelle Tränen in öffentlicher Kommunikation“ behandelt Althoff die Frage, ob die Tränen mittelalterlicher Herrscher als „Äußerungen individueller Befindlichkeit“ zu verstehen sind oder ob sie zu den „rituellen Ausdrucksmitteln des Verhaltens“ gehören und somit auf dem Gebiet der „Inszenierungen, an denen die öffentliche Kommunikation des Mittelalters so reich ist“, anzusiedeln sind.201 Solche rituellen Aufführungen lassen sich als Repräsentation herrscherlicher Macht und zugleich als Instrument herrscherlicher Machtausübung deuten.202 In erster Linie durch die „Beobachtung der Funktionen des Weinens in der öffentlichen Kommunikation“ lässt sich laut Althoff demnach die Frage nach dem Verhältnis von Emotionalität und Konventionalität dieses Phänomens beantworten.203 Wenn das Thema aus einer breiteren Perspektive, nämlich im Kontext der öffentlichen nonverbalen Kommunikation im Mittelalter, die Inszenierungscharakter besaß, betrachtet und in diesem Rahmen untersucht wird, in welchen Situationen der König weinte, erweisen sich vor allem fünf Anlässe als besonders häufig für die Demonstration von Tränen:204 Der König weinte aus Trauer, aus Reue, bei der Bitte an Getreue, mit der Absicht, christliche Herrschertugenden unter Beweis zu stellen (wie es häufig bei den deditiones geschah), sowie beim Abschied von Freunden und Vertrauten.205 Im Falle des Klagens um einen Toten besteht nach Althoffs Ansicht das nicht lösbare Problem, ob es sich um rituelle oder spontane Trauer handelt; in allen anderen Fällen jedoch seien die Tränen als rituelle Ausdrucksformen zu deuten, die in bestimmten Situationen gefordert und somit integrativer Bestandteil inszenierten Geschehens waren.206 Weitere Überlegungen zum Weinen bei deditiones und bei der Reue stellt Matthias Becher in seinem Aufsatz „Cum lacrimis et gemitu. Vom Weinen der Sieger und der Besiegten im frühen und hohen Mittelalter“ an. Neben anderen Beispielen für eine Unterwerfung führt er diejenige des Erzbischofs Arnulf von Reims an, der 199 Diese sah in der Achtung des honor, der sich als „die Summe aus Rang, Stellung, Besitz und Ehre“ einer Person definiert, eine „fundamentale Voraussetzung jedweder Interaktion namentlich in der Öffentlichkeit“, weshalb öffentlich demonstriertes rituelles Verhalten eine „Selbstvergewisserung der Beteiligten“ darstellte, „ob die bestehende Rangordnung noch von allen anerkannt wurde“, und somit äußerst zweckrational eingesetzt wurde, vgl. ebd., S. 278. 200 Ebd., S. 279; vgl. auch S. 280: „Wer teilnahm, anerkannte die Ordnung des Verbandes und verpflichtete sich damit zur Einhaltung und Bewahrung dieser Ordnung in der Zukunft.“ 201 Althoff (1996), S. 239. 202 Vgl. ebd., S. 239 f. 203 Ebd. 204 Vgl. ebd., S. 242. 205 Vgl. ebd., S. 242 f. Vgl. für die Trauer S. 243–245, für die Reue S. 245–247, für die Bitte S. 247–249, für die Demonstration christlicher Herrschertugenden S. 249 f. und für den Abschied S. 250 f. 206 Ebd., S. 251 f. Ähnliche Überlegungen zur Funktion von Tränen und Emotionen wie die soeben vorgestellten finden sich auch in Althoffs Aufsatz „Tränen und Freude. Was interessiert Mittelalter-Historiker an Emotionen?“ von 2006.
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991 von kirchlichen Würdenträgern wegen Hochverrats verurteilt wurde. Ihm wurde nicht gestattet, sich vor seinen Anklägern zu verteidigen; vielmehr zwang man ihn, wahrscheinlich unter Drohungen, weinend und seufzend (cum lacrimis et gemitu) seine Schuld zu bekennen. Am nächsten Tag weigerte er sich zunächst, dieses Geständnis auch öffentlich vor König Hugo Capet vorzubringen, leistete aber schließlich doch der Aufforderung dazu Folge. Mit einem Fußfall und unter Tränen bat er so eindringlich um sein Leben, „daß die ganze Synode zu Tränen und Seufzern gerührt war.“207 Auf dieses Bitten hin wurde Arnulf von König Hugo geschont und nur zu leichter Haft verurteilt. Von besonderem Interesse ist diese Episode, weil sie gleich zwei Mal von den Tränen eines Bittenden berichtet. Becher zieht daraus den Schluss, dass das erste Weinen, welches beim Geständnis in privatem Umfeld stattfand, spontan einsetzte, das zweite dagegen, welches sich an den König und zudem die anderen Anwesenden richtete, inszeniert war. Die geschilderten Tränen sind deswegen so bemerkenswert, weil sie nicht nur in den deditiones, sondern auch in der kirchlichen Bußpraxis üblich waren208 und eine spezifische Funktion besaßen: „Neben anderen Elementen des jeweiligen Rituals sollten sie die Aufrichtigkeit der zur Schau gestellten Reue betonen.“209 Becher hebt, wie Althoff, die Tatsache hervor, dass in der Regel vor den öffentlichen Begegnungen zweier Parteien Verhandlungen stattfanden, bei denen das rituelle Verhalten selbst festgelegt wurde. Diese Beobachtung wird jedoch um einen entscheidenden Aspekt ergänzt: „Voraussetzung für eine solche Absprache aber war, daß der Verlierer in einem Machtkampf nicht wirklich besiegt war, sondern (…) noch andere Optionen besaß.“210 Dies scheint beim ersten Weinen des Erzbischofs Arnulf nicht der Fall gewesen zu sein. Neben dem Weinen der Besiegten wird das Weinen der Sieger in den Quellen erwähnt, das allerdings ganz anders motiviert war; es richtete sich nicht so sehr an den Besiegten, sondern viel eher an dessen Anhänger, um ihnen die „Bereitschaft, die Auseinandersetzung auch wirklich zu beenden“ zu signalisieren, indem er „das Maß an Pietät oder Menschlichkeit, das die Unterlegenen in ihrer Gesamtheit mit ihm aussöhnt“ zur Schau stellte.211 207 Becher (2001), S. 32; vgl. insgesamt S. 31 f. Dementsprechend folgert Becher am Schluss seiner Arbeit auf S. 52: „Das Weinen zielte dabei (…) nicht nur auf den Sieger, sondern auch auf dessen umstehende Gefolgschaft. Zum einen sollte diese von der wahren Gesinnung des Besiegten überzeugt werden, zum anderen trat sie bisweilen auch selbst für den Besiegten ein und unterstrich mit eigenen Tränen dessen Bitten. Das alles diente dem Ziel, eine milde Strafe oder gar Vergebung zu erhalten.“ 208 Vgl. ebd., S. 33. 209 Ebd., S. 39. Eines der berühmtesten Beispiele für eine Kirchenbuße bildet der Canossagang König Heinrichs IV. im Jahre 1077, der neben anderen der Tradition dieses Rituals entsprechenden Verhaltensweisen auch Tränen demonstrierte, um dadurch aufrichtig Reue zu zeigen. Wie König Hugo in der zuvor geschilderten Begebenheit, so geriet Papst Gregor VII. unter den Druck, auf die vor ihm vollführten rituellen Verhaltensweisen eine angemessene Antwort zu geben, so dass er faktisch gezwungen war, den Kirchenbann aufzuheben, vgl. ebd., S. 38. 210 Ebd., S. 42. 211 Ebd., S. 52. Becher sieht darin den Grund dafür, „daß die Tränen des Siegers vor allem in solchen erzählenden Quellen Erwähnung fanden, die dem Verlierer nahestanden“, und betont im letzten Abschnitt seiner Arbeit, dass es sich bei den von ihm auf den Seiten 43 bis 50 geschil-
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Althoffs Paradigma liefert ebenso wie der Beitrag Bechers wesentliche Impulse zu einer Untersuchung des Weinens unter dem Aspekt eines politischen Rituals; dementsprechend wird darin vor allem die Struktur betont, die den geschilderten Handlungen innewohnte. Der Aufführungscharakter und die Art und Weise, wie man (öffentlich) kommunizierte, steht im Vordergrund, mitunter sicherlich zu stark. Dass innerhalb eines kommunikativen Gefüges (selbst eines rituell geprägten) ganz unwillkürlich Emotionen geäußert werden könnten, wird offenbar nicht mehr in Erwägung gezogen. 2.3 Emotionen als spontane menschliche Ausdrucksformen Das Modell Althoffs wurde im Hinblick auf seine universale Anwendbarkeit lange kaum hinterfragt. Einen regelrechten Angriff auf seine Thesen bietet Peter Dinzelbacher mit seiner Untersuchung „Warum weint der König? Eine Kritik des mediävistischen Panritualismus“ von 2009.212 Bereits im Untertitel wird betont, dass er die Deutung Althoffs und seiner Schüler für problematisch hält. Rituale sind seiner Auffassung zufolge zu einem Modethema der deutschen Mediävistik geworden, das die Quellen überstrapaziert.213 Er kommt zu dem Schluss, dass Weinen ein Bestandteil bestimmter ritueller Abläufe sein konnte, doch handle es sich dabei um eine spontane Reaktion und keinen notwendigen Bestandteil von ihnen, daher stelle es eine „(individuelle und epochenabhängige) emotionelle ‚Unterfütterung‘ eines ritualisierten Verhaltensablaufs“ dar.214 Dinzelbacher beschränkt seine Untersuchung auf das Weinen von mittelalterlichen Herrschaftsträgern in der Öffentlichkeit, das nur in ganz bestimmten Situationen aufgetreten sei.215 Er grenzt seine Untersuchung also genau ein und nimmt solche Szenen näher in den Blick, auf die auch Althoff seinen Fokus legt.216 Vor allem dessen These, dass ein solches Weinen eine „fingierte Spontanhandlung“ gewesen und diese im Vorhinein von den Beteiligten abgesprochen worden sei, so dass öffentliche Tränen mit politischer Bedeutung also nie spontan waren, erfährt
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derten Beispielen um Bruderkriege handelte, „die nur mittels einer besonders sensiblen und Versöhnungsbereitschaft signalisierenden Vorgehensweise aller Beteiligten beendet werden konnten.“ Im Folgenden wird nur der erste Teil des Bändchens, der über Tränen handelt, berücksichtigt (S. 11–78); im zweiten Teil befasst Dinzelbacher sich mit Heilritualen im Mittelalter (S. 79– 133). Vgl. Dinzelbacher (2009), S. 8: „Im Zuge dieser Fokusierung ist es allerdings, wie so häufig in den Kulturwissenschaften, wenn neue Thematiken modisch werden, dazu gekommen, daß Rituale unkritisch auch dort am Werk gesehen werden, wo sie in den Quellen schlichtweg nicht nachweisbar sind.“ Ebd., S. 66; vgl. insgesamt S. 65–71. Nämlich „bei Todesfällen, in religiöser Zerknirschung, bei der Bitte um Hilfe, als Mitleid mit seinen Getreuen oder seinen Untertanen, als Demonstration seiner clementia, in Abschiedsszenen sowie aus verlorener Ehre“, ebd., S. 16 f. „Was uns hier interessiert, sind vielmehr solche öffentliche Situationen, denen eine politische Bedeutung zukommt“, ebd., S. 18.
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deutliche Kritik.217 Dinzelbacher stellt die Frage, weshalb es denn notwendig gewesen sei, Handlungen als spontan zu inszenieren und wie die Erwartungshaltung aller Beteiligten anders hätte entstehen können, als dadurch, „daß sich genau dies oft und spontan abgespielt hatte“.218 Zunächst bietet Dinzelbacher Beispiele aus den Quellen, anhand derer die Spontaneität der Tränen belegt werden soll. Es scheint ihm offensichtlich, dass die Emotionen im Zuge der dort geschilderten Ereignisse ganz unwillkürlich auftraten und nicht primär als eine zielorientierte ‚Aufführung‘ zu interpretieren sind.219 Diese Konzentration auf den emotionalen Gesichtspunkt führt dazu, dass der plötzliche Umschwung im Verhalten als epochenspezifisches Merkmal gedeutet220 und dadurch ein recht einseitiges Bild des Verhaltens im allgemeinen entworfen wird.221 Zweifellos wird von Althoff der rituelle Aspekt zu stark betont – prinzipiell besteht aber kein Widerspruch zwischen Emotion und Ritual: Auch innerhalb performativer Aktionen kann der Handelnde die geäußerten Gefühle tatsächlich empfinden.222 Die aus Psychologie und Ethnologie referierten Positionen stellen den Umstand heraus, dass es sich beim Weinen um ein unwillkürliches Phänomen handelt, das Signalcharakter besitzt und für dessen Ausprägung kulturelle Faktoren verantwortlich sind.223 Dinzelbacher erkennt die hohe Bedeutung von Geste und Ritual in der mittelalterlichen Gesellschaft (im Kontrast zur heutigen Mediengesellschaft) durchaus an, zieht jedoch daraus den Schluss, dass Weinen für Herrschergestalten grundsätzlich nicht von Vorteil war.224 Auch die höfische Literatur, in der sich Nor-
217 Vgl. ebd., S. 21 f. Zu Recht weist Robert Gramsch in seiner 2010 erschienenen Rezension darauf hin, dass hier – wie auch an anderen Stellen – die Argumentation Dinzelbachers unpräzise ist und er Althoff Stellungnahmen zuschreibt, die dieser so nicht geäußert hat. 218 Dinzelbacher (2009), S. 25. Damit dreht sich seine Argumentation jedoch gewissermaßen im Kreis, denn nach derartigen Kriterien (regelmäßige Wiederkehr, schematische Abläufe) definiert sich ja gerade ein Ritual. 219 Vgl. ebd., S. 26–35. 220 Vgl. ebd., S. 27 f.: „Das ist genau dieses unvermittelte Ändern der Position, das schon Huizinga als typisch für die mittelalterliche Epoche erkannt hat.“ 221 Genau dieses Argument hält Dinzelbacher seinem Kollegen Althoff entgegen, dessen Vorgehensweise „zu einem unausgewogenen Bild mittelalterlichen Verhaltens überhaupt führen“ müsse, vgl. ebd., S 19. 222 Dinzelbacher scheint darin auf jeden Fall einen Widerspruch zu sehen, zumindest aber unterstellt er Althoff, dass dieser die Emotionen völlig außer Acht lässt und Weinen ausschließlich als willkürlich einsetzbares Instrument betrachtet. Mit dem Hinweis auf Hilfsmittel, die Tränen hervorrufen, wird diese Sichtweise nahezu ad absurdum geführt, vgl. ebd., S. 43 f. Auch das S. 44 angeführte Zitat aus Cicero, De oratore 2, 196 ist dem Anliegen des Bändchens nicht dienlich – gerade der Redner vor Gericht befindet sich ja in einer Situation, die als höchst ritualisiert verstanden werden muss. Zu dem von Cicero einem Redner nahegelegten Umgang mit Emotionen vgl. II. 1.1.1. 223 Vgl. ebd., S. 36–40. Es wäre an dieser Stelle allerdings sinnvoll gewesen, neuere und differenziertere Forschungspositionen gerade aus diesen beiden Disziplinen heranzuziehen. 224 Vgl. ebd., S. 40 f. Ganz anders verhalte es sich mit der Empathie beim Weinen anderer hochgestellter Persönlichkeiten, vgl. ebd., S. 44–46 und 51–55. Ob für das Mitweinen der Mächtigen bei Hofe, wie Dinzelbacher meint, lediglich die Solidarität der ausschlaggebende Grund war, ist stark zu bezweifeln.
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men und Werte widerspiegeln,225 wird von ihm einbezogen, da dort ebenfalls zahlreiche Ereignisse geschildert werden, bei denen Tränen eine wesentliche Bedeutung zukommt. Dinzelbacher konstatiert, dass es sich hierbei ebenfalls um den spontanen Ausdruck einer Emotion handelt, ohne aber darauf einzugehen, dass das Weinen gerade in den von ihm zitierten Beispielen rituellen Charakter hat.226 Zuletzt wird noch auf die Rolle des christlichen Weinens, nämlich des Weinens aus frommer Reue, hingewiesen.227 Vor allem seine Folgerung, den Menschen, oder besser: Männern, des Mittelalters eine geringere Affektkontrolle als den heutigen zu attestieren, erscheint befremdlich.228 Der Rückgriff auf die Ansichten von Huizinga und Elias erfolgt kritiklos und ohne die Einbeziehung von Gegenpositionen, und er erweist sich vor dem Hintergrund der modernen Forschung in dieser Art und Weise eben gerade nicht als tragfähig.229 Das Büchlein regt somit zwar dazu an, die Thesen Althoffs bei einer eigenen Behandlung des Themas zu hinterfragen, allerdings geht Dinzelbacher grundlos polemisch gegen seinen Fachkollegen vor, so dass es sich – wie Robert Gramsch es in seiner Rezension formuliert – mit dem Begriff ‚Streitschrift‘ treffend charakterisieren lässt.230 2.4 Abhängigkeit emotionaler Ausdrucksformen von spezifischen sozialen Gruppen Barbara Rosenwein verfolgt einen Ansatz, der der Komplexität des Gefühlslebens im Kontext sozialer Bindungsverhältnisse gerecht zu werden versucht und der seinen Ausgangspunkt von der Tatsache her nimmt, dass Menschen in sogenannten emotional communities leben. Nach intensiver Auseinandersetzung mit Emotionstheorien aus Soziologie und Geschichte231 entwickelte sie ihr eigenes Modell, das sowohl kognitive als auch gesellschaftlich-soziale Aspekte berücksichtigt und den von William 225 Vgl. ebd., S. 20. 226 Vgl. ebd., S. 46–51, über positiv gewertete Tränen. Kritik an weinenden Herrschern und Helden in literarischen Texten des Hochmittelalters wird auf S. 55–61 behandelt. Auf S. 60 liest man dann bemerkenswerterweise den Satz: „Das Weinen in den literarischen Texten der Zeit verweist nicht auf etwas, es ist der Tatbestand selbst, ist die Information über den seelischen Zustand, es gehört aber zu einem sich spontan entwickelnden Ritual (könnte man als Oxymoron formulieren).“ 227 Vgl. ebd., S. 62–65. 228 Vgl. ebd., S. 77 f. Sein Versuch, den Begriff der Kindlichkeit auf den Gefühlshaushalt der mittelalterlichen Menschen wertneutral gebrauchen zu wollen, überzeugt nicht, denn ehe eine solche Analogie gewählt wird, ist es ohne größere Probleme möglich, sich Unterschieden bei der Äußerung von Emotionen deskriptiv anzunähern. 229 Vgl. ebd., S. 71–77. 230 Vgl. Gramsch (2010). Im Gegensatz zum Verfasser des essayistischen Bändchens drückt sich Gramsch unvoreingenommen aus und zeigt plausibel dessen Unebenheiten auf. 231 Überwiegend theoretische und methodische Überlegungen enthält ihr Aufsatz „Worrying about Emotions in History“, vgl. Rosenwein (2002), S. 821–842 zur Forschungsgeschichte der Emotionen (ein weitaus strukturierterer Überblick, als ihn beispielsweise Dinzelbacher liefert); vgl. auch Rosenwein (2006), S. 5–25.
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Reddy geprägten Begriff der emotives einbezieht.232 Vor diesem Hintergrund verweist sie zu Recht darauf, dass sich neben dem Gebiet der verbalen Äußerungen außerdem mit dem der emotionalen Gesten ein Forschungsfeld erschließen lässt, das von höchstem Interesse für die mittelalterliche Geschichtswissenschaft ist.233 In ihrer Monographie234 „Emotional Communities in the Early Middle Ages“ untersucht Rosenwein mehrere solcher Gemeinschaften vom 6. bis zum Ende des 7. Jahrhunderts. Diese werden definiert als „groups in which people adhere to the same norms of emotional standards and value – or devalue – the same or related emotions“235 und zeichnen sich dadurch aus, dass in der Regel mehrere von ihnen nebeneinander existieren, dass sie sich im Laufe der Zeit verändern, und dass sie in den Quellen unterschiedlich stark in Erscheinung treten.236 Die Ausrichtung auf das Frühmittelalter beruht auf dessen Funktion als Bindeglied zur Antike, deren Emotionstheorien im ersten Kapitel behandelt werden. Es lässt sich nämlich ein spezifischer Bestand an Vokabeln für die πάθη bzw. affectus festmachen, der vor allem in der christlichen Spätantike eine Umdeutung und Veränderung erfuhr, wie sich besonders eingängig am inhaltlich schwierig zu fassenden Begriff der Liebe, der mit den lateinischen Substantiven amor und caritas ausgedrückt wird, aufzeigen lässt.237 Rosenwein ist daran gelegen, auf die Bedeutung früherer Epochen für die darauf folgenden hinzuweisen; antike Emotionsbegriffe und deren Inhalte sind in stetiger Modifizierung ohne Zweifel zu einem wesentlichen Bestandteil der abendländischen Geschichte geworden.238 232 Eine Definition von Kognitivismus und Sozialkonstruktivismus bietet Rosenwein (2002) auf S. 836: „In the cognitive view, emotions are part of a process of perception and appraisal, not forces striving for release. Denying that emotions are irrational, cognitive psychologists see them as resulting from judgements about ‚weal or woe‘ – that is, about whether something is likely to be good or harmful, pleasurable or painful, as perceived by each individual“, und S. 837: „In the 1970s, this new model of the emotions was joined by a second one (…): social constructionism. According to this view, emotions and their display are constructed, that is, formed and shaped, by the society in which they operate.“ Die emotives, so formuliert Rosenwein auf S. 837 weiter, zielen darauf ab, „to describe the process by which emotions are managed and shaped, not only by society and its expectations but also by individuals themselves as they seek to express the inexpressible, namely how they ‚feel‘.“ Detailliertere Ausführungen zu Reddys sind in Rosenwein (2006), S. 16–25 zu finden. 233 Das mittelalterliche Repertoire an Wörtern, deren Bedeutungsgehalt im Bereich der Emotionen liegt, ist zwar nicht in auffallender Weise gering; viel zahlreicher aber erscheinen Gesten als symbolisches Ausdrucksmittel von Emotionen in Chroniken, Gedichten, Urkunden und Rechtsquellen, vgl. Rosenwein (2002), S. 839. Auch auf den Ansatz Althoffs wird eingegangen, vgl. ebd., S. 841 f. 234 Sie selbst bezeichnet diese als „an extended essay and an invitation to others to add to the picture that it sketches“, vgl. Rosenwein (2006), S. 29. 235 Ebd., S. 2. 236 Vgl. ebd. 237 Vgl. ebd., S. 45. Eine Übersicht über Ciceros von der stoischen Philosophie ausgehendes Emotionsvokabular sowie eine zeitlich weiter ausgreifende über lateinische Emotionswörter (jeweils mit englischer Übersetzung) veranschaulicht den antiken Sprachgebrauch (ebd., S. 40 und 52 f.). 238 Die Erforschung mittelalterlicher Emotionen ist somit nicht wesentlich von der Untersuchung anderer Gegebenheiten und Strukturen verschieden; sie stellt keinen Anachronismus dar, denn es waren zwar alle Emotionen „different from their manifestations today, but in every case the his-
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Bei der Analyse frühmittelalterlicher Quellen geht Rosenwein auf verschiedene Gattungen ein. Es werden Grabinschriften aus Gallien als Zeugnisse von in unterschiedlichen, aber nahe beieinander liegenden Regionen (Trier, Clermont und Vienne) zeitgleich bestehenden emotional communities näher betrachtet, und die umfangreichen Schriften Gregors des Großen verschaffen Einblick in seine von der christlichen Doktrin geformte, klerikal-elitäre emotionale Gemeinschaft (er steht Gefühlen skeptisch gegenüber, gesteht ihnen aber eine nützliche Rolle für die Erlangung christlicher Tugenden zu). Außerdem werden drei emotional communities in der Francia näher betrachtet: Gregor von Tours und Venantius Fortunatus waren befreundet, dennoch spiegeln sich Emotionen in ihren Werken in ganz gegensätzlicher Weise wider, was Rosenwein auf die Unbeständigkeit der äußeren Verhältnisse zurückführt; am Hofe Chlothars II. und seiner Nachfolger in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts herrschte ein zurückhaltenderer Ton beim Ausdruck von Emotionen; dagegen ist in Texten vornehmlich anonymer Autoren aus der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts bei der fränkischen Machtelite ein hoher Grad an Emotionalität und mitunter der in späteren Texten von Althoff untersuchte Signalcharakter von Emotionen erkennbar.239 Gemeinsam ist allen untersuchten Gruppierungen, so Rosenwein, der christliche Grundtenor, der allerdings eben gerade nicht zu einer homogenen Einstellung gegenüber Emotionen führte.240 Demnach sollte das Mittelalter als Epoche nicht pauschal betrachtet werden, vielmehr müsse eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Emotionen im Mittelalter durch eine kleinteilige Vorgehensweise gekennzeichnet sein,241 und Rosenwein zeigt in ihrer Studie auf, wie man zu sicheren Aussagen über Emotionen innerhalb eines klar abgesteckten Rahmens gelangen kann und wie Veränderungen darin festgestellt werden können. Die Ausdrucksweise von Emotionen ändert sich Rosenwein zufolge mit der Zeit, es werden jeweils unterschiedliche Aspekte stärker oder schwächer in den Texten betont. Dabei zeigt sich, dass in der Regel eine bestimmte emotional community, und zwar fast immer die der herrschenden und somit einflussreichsten Gesellschaftsschicht, für eine Epoche prägend ist und in dieser Funktion im Laufe der Zeit von einer anderen abgelöst wird.242 Wie sich das in den Schriftquellen widerspiegelt, untersucht Rosenwein ausgehend von sprachlichen Kriterien: anhand von Häufigkeit und Art der Emotionswörter, von Veränderungen in diesem Bereich, und durch Vergleiche mit gleichzeitigen bzw. folgenden Phänomenen; zudem werden die Texte in Bezug zur Person des Autors und zur politischen Situation gesetzt.243
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torian can have fair hopes of entering sympathetically into a mind-set that is not entirely foreign to her own. Western emotions have persisted over the long haul“, ebd., S. 56. Das Kapitel über das antike Vermächtnis von Emotionen und dem dazugehörigen Vokabular findet sich ebd., S. 32–56. Vgl. ebd., S. 57–189 und 192 f. Ausdruck und Wahrnehmung von Emotionen und christliche Religion übten hingegen sicherlich eine wechselseitige Wirkung aufeinander aus, vgl. ebd., S. 201. Vgl. ebd., S. 191. Vgl. ebd., S. 199 f. Vgl. ebd., S. 193–196.
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Ihr Konzept der emotional communities hat neuerdings auch in der altertumswissenschaftlichen Forschung Resonanz gefunden.244 3. METHODISCHES VORGEHEN Der ausführliche, aber gleichwohl nicht erschöpfende Literaturüberblick hat die ambivalente Natur des Weinens aufgezeigt, wobei die verschiedenen älteren und neueren Forschungsansätze Anregungen für die vorliegende Arbeit bieten, allerdings nicht unverändert übernommen werden sollen. Die Modelle aus Altertumswissenschaft und Mediävistik sollen vielmehr die eigenen Interpretationen bereichern, so dass die Dichotomie des Weinens zwischen Emotion und Ritual dem Kontext entsprechend berücksichtigt werden kann. Überlegungen zum Weinen als einer performativen Handlung und zur eigenen Vorgehensweise bei der Quellenanalyse sollen dieses Kapitel nun abschließen. 3.1 Physiologie und Psychologie des Weinens Das Tränenvergießen kann beim Menschen unterschiedliche Ursachen haben. Bereits die wahrscheinlich im 3. Jahrhundert v. Chr. verfassten und unter dem Namen des Aristoteles überlieferten Problemata physica bieten sowohl eine physiologische als auch eine psychologische Erklärung für die Absonderung von Tränen.245 An mehreren Stellen werden von außen auf den Körper einwirkende mechanische Reize, die Weinen hervorrufen, beschrieben: So führt etwa auf das Auge auftreffende Luft dazu, dass Tränen abgesondert werden;246 auch Rauch247, Gemüsearten wie die Zwiebel248 und das Reiben der Augen (δακρύει γὰρ ὁ ὀφθαλμὸς μετὰ τὴν τρῖψιν)249 können Aus-
244 Vgl. etwa Chaniotis (2016). 245 Im Rahmen der folgenden Überlegungen kann als unerheblich außer Acht gelassen werden, dass diese Schrift des Corpus Aristotelicum wahrscheinlich nicht auf Aristoteles selbst zurückgeht, vgl. Baumgarten (2006), S. 211 Anm. 18. 246 Probl. phys. 884b 22–35 beschäftigt sich mit dem Problem, weshalb einem Reiter oder Fußgänger desto mehr die Augen tränen, je schneller er sich vorwärts bewegt, und es werden drei unterschiedliche Erklärungsansätze geboten: Entweder ist dies der Fall, weil die auf das Auge treffende Luft kalt ist (διὰ τὸ ψυχρὸν εἶναι τὸν προσπίπτoντα ἀέρα) und ein Zusammenziehen sowie eine Verdichtung des Fleisches und somit eine Absonderung von Flüssigkeit bewirkt; oder im Gegenteil, weil sie warm ist und dadurch die Ausscheidung von Tränen als einer Art Schweiß hervorruft (τὸ δὲ δάκρυον ἱδρώς τίς ἐστι; Tränen und Schweiß wird zudem die Qualität ‚salzig‘ zugeschrieben); oder weil der auf das Auge einwirkende Luftstoß (ἡ ὑπὸ τοῦ ἀέρος πληγή) dessen Kanäle (πόροι, Ausgänge der Nervenbahnen?) auflockert und dadurch zur Ausschüttung von Tränen führt. Ganz ähnlich auch probl. phys. 882a 3–12. 247 Vgl. probl. phys. 896b 8 f. 248 Vgl. probl. phys. 925a 27-b 12. 249 Vgl. probl. phys. 957a 38-b 4 und 962a 25–31.
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löser für das Weinen sein. Zudem wird die Tränenqualität beim eigentlichen Weinen von derjenigen bei Augenleiden unterschieden.250 An anderer Stelle der Problemata251 ist die Aussage zu finden, dass manche Menschen von Natur aus (φύσει) schnell zum Weinen geneigt (ἀριδάκρυες) seien, andere dagegen nach einem bestimmten Quantum an Wein ihre gewohnte Verhaltensweise (ἦθος) in diese Richtung hin änderten. Daneben führt Aristoteles zwei weitere Beispiele für charakterliche Eigenschaften auf, die manche Menschen immer besitzen, andere jedoch nur im Stadium der Trunkenheit aufweisen.252 Ob es sich bei der Neigung zum Weinen also um eine dauerhafte oder eine momentane, durch den Wein hervorgerufene handelt – Tränen werden hier als körperliche Manifestation seelischen Befindens gedeutet, als das Nachaußentragen einer Emotion.253 Den Anfang einer systematischen Analyse der Emotionen in den modernen Naturwissenschaften markiert das 1872 erschienene Werk „The Expression of the Emotions in Man and Animals“ von Charles Darwin,254 das sich auch mit dem Zweck der Tränenabsonderung beschäftigt. Der Evolutionsforscher beschreibt zunächst das Weinen infolge einer Reizung des Auges von außen als einen Reflex;255 im Laufe der Zeit habe sich daraus eine eigenständige Reaktion auf inneres Leiden entwickelt.256 Aus einer ursprünglich mechanischen Reaktion wurde also eine körperliche Ausdrucksweise der inneren Befindlichkeit. Mag seine Theorie in dieser Form mittlerweile veraltet sein, so bildete sie dennoch die Grundlage für spätere 250 Beim Weinen vergossene Tränen sind warm, bei Augenleiden vergossene Tränen sind kalt, vgl. probl. phys. 959b 20–30. Fehlendes mechanisches Weinen als Merkmal eines toten Körpers wird Lucan. 9, 745 f. erwähnt. 251 Vgl. probl. phys. 953b 7–12. Die Ausführungen über das Weinen unter Alkoholeinfluss sind eigebettet in Überlegungen zur Melancholie, vgl. 953a 10–957a 35. Die Veränderung der geistigen Verfassung unter Alkoholeinfluss versus die von Natur aus bestehende Neigung zu etwas und ein dementsprechendes Verhalten, sowie die diesen Sachverhalten zugrunde liegenden physiologischen Vorgänge werden 953b 13–34 diskutiert. 252 Es wird noch der „geschwätzige“ (ὁ λάλος) und der „erschütterte, aufgeregte“ (ὁ κεκινημένος) Mensch genannt, vgl. probl. phys. 953b 10. 253 Baumgarten (2006), S. 208. 254 Vgl. Kappas (2006), S. 298. Zu den emotionsbiologischen Ansätzen Darwins und ihrem Fortwirken sowie zu Möglichkeiten ihrer wissenschaftlichen Überprüfung vgl. Merten (2003), S. 35–45. 255 Der Zweck der Tränenabsonderung besteht im „Schlüpfrigmachen der Oberfläche des Auges“, im „Netzen der Augenhöhlen“ und darin, „Staubkörnchen und andere winzige Teilchen auszuwaschen“, vgl. Darwin (1872/1964), S. 114. 256 Ebd., S. 119 f.: „Weinen [ist] wahrscheinlich das Resultat irgendeiner Kette von Ereignissen wie den folgenden. Wenn Kindern Nahrung fehlt oder sie sonst in irgendeiner Weise leiden, so schreien sie laut auf (…), teilweise als Hilferuf an ihre Eltern, und teilweise, weil jede große Anstrengung zur Erleichterung dient. Fortgesetztes Kreischen führt unvermeidlich zur Füllung der Blutgefäße des Auges, und dies wird, zuerst bewußt und zuletzt gewohnheitsmäßig, zum Zusammenziehen der Muskeln um die Augen geführt haben, um sie zu schützen. Gleichzeitig wird der krampfhafte Druck auf die Oberfläche des Auges und die Ausdehnung der Gefäße im Auge, ohne notwendig eine bewußte Empfindung mitzuteilen, durch Reflextätigkeit die Tränendrüsen affiziert haben. Endlich (…) ist es dahin gekommen, daß Leiden leicht die Absonderung von Tränen bewirkt, ohne dabei notwendig von irgend einem anderen Vorgang begleitet zu sein.“
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Forschungen, die sich mit dem Weinen befassten. Deren Ansätze zu umreißen, ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht notwendig;257 als bemerkenswert stellt sich dagegen die Tatsache heraus, dass keiner von ihnen letztlich die Funktion der Tränen selbst erklären kann.258 Um die Ursachen eines emotional bedingten Weinens beim Erwachsenen zu eruieren, existieren verschiedene Modelle. Wissenschaftler der Universität Tilburg haben ein umfassendes Modell entwickelt259, das die „Interaktion einer komplexen Reihe von psychobiologischen, kognitiven und gesellschaftlichen Prozessen“260 berücksichtigt, die für das Weinen ausschlaggebend sind; es bezieht also verschiedene Ereignisse und Situationen, aber auch die Gefühle einer Person mit ein.261 Diese von Fall zu Fall in unterschiedlicher Konstellation auftretenden determinierenden Faktoren machen nachvollziehbar, weshalb verschiedene Menschen sich in derselben Situation nicht identisch verhalten.262 Die Einschätzung aktuell vorliegender Gegebenheiten und die Möglichkeit, sie bei Veränderungen kontinuierlich einer Neubewertung zu unterziehen, führt dabei zu individuellen Verhaltensmustern, die sich durch dieses Prozessmodell erklären lassen.263 Der Verlauf einer emotionalen Reaktion kann in mehreren Schritten beschrieben werden, die sich in ihrer Gesamtheit als Emotionsszenario oder emotionale Episoden darstellen.264 257 Ein sehr knapper, aber dennoch höchst prägnanter Überblick über die verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze zur Untersuchung des Weinens findet sich bei Vingerhoets (2006), S. 313–316. 258 Vgl. Kappas (2006), S. 301. 259 Vergleichbare sogenannte integrative Modelle des Weinens umreißt Kappas (2006), S. 303– 305; einen kurzen Überblick über verschiedene Ansätze liefern Kottler/Montgomery (2001), S. 1–17. – Vingerhoets (2006), S. 310 bietet eine physiologische Definition des Weinens; er verwendet den Begriff ausschließlich für die emotional bedingte Absonderung von Tränen. 260 Ebd. (2006), S. 323. 261 Vgl. ebd., S. 326. 262 Eine schematische Darstellung des Modells findet sich bei Vingerhoets (2006), S. 324. Es stellt das Weinen dar als „eine emotionale Reaktion, die im Großen und Ganzen mit denselben Begriffen zu fassen ist wie Emotionen allgemein“, ebd., S. 325. 263 Emotionales Weinen erscheint in der Regel als schwer fasslicher Vorgang zwischen Willkür und Unwillkürlichkeit – vgl. dazu schon Meuli (1975), S. 357 –, allerdings bietet ein Schema wie dieses eine Fülle von Ursachen, die in verschiedener Konstellation Tränen auslösen können. Somit ist es beispielsweise möglich, durch das Zusammenwirken bestimmter Faktoren ein Weinen auf Befehl zu erklären: Die Einschätzung der eigenen Situation setzt beim Weinenden ein Emotionsprogramm in Kraft, das eine spezifische Kette von Reaktionen auslöst, die aber jeweils „verändert und moduliert (übertrieben, reduziert oder gar ganz unterdrückt)“ werden können, vgl. Vingerhoets (2006), S. 324. Die Aufgabe, alle in Frage kommenden Faktoren abzuprüfen, wird jedoch gerade im Rahmen einer Textanalyse in der Regel nicht zu lösen sein. 264 Den Ablauf emotionaler Episoden gibt Sanders (2014), S. 2 in Anlehnung an von ihm in Anm. 7–10 exemplarisch genannte Literatur folgendermaßen wieder: Kognition (Wahrnehmung einer bzw. Erinnerung an eine Situation) – Interpretation dieser Situation – eventuelle Bewältigungsstrategien und Steuerungsmechanismen bezüglich dieser Emotion – verbaler Ausdruck und physische Aktion, die aus der Emotion resultieren – Lösung. Die verschiedenen Komponenten einer Emotion werden in der Forschung nicht einheitlich benannt, sie hängen wesentlich von der Definition ab, die für Emotionen gegeben wird; vgl. dazu Scherer (1990), S. 2–16, besonders die Schemata auf S. 4 und 10.
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Weinen kann Äußerung sehr verschieden gearteter Emotionen sein, was es in evidenter Weise von anderen physiologischen Ausdrucksformen unterscheidet.265 Nicht nur Schmerz und Trauer, sondern auch Freude, Zorn, Wut, Verzweiflung, Zerknirschung, Wehmut, Rührung, Andacht und weitere psychische Ursachen können Tränen auslösen.266 Weinen nimmt daher eine besondere Stellung unter den Formen menschlicher Expressivität ein,267 denn es stellt – wie das Lachen – zwar eine der Sprache sowie der Mimik und Gestik benachbarte Äußerungsform dar, ist aber keiner dieser beiden Kategorien eindeutig zuzuweisen.268 Vielmehr vollzieht es sich stets innerhalb eines Rahmens zwischen Intentionalität und Unwillkürlichkeit und fungiert dabei als Geste, die eine Emotion nach außen hin mitteilt;269 welches Gefühl es jeweils repräsentiert, ist stark abhängig von dem Kontext, in dem es sich vollzieht. Aufgrund dieses Zeichencharakters haben Tränen stets eine kommunikative Funktion, oder anders formuliert: In dem als Geste verstandenen Weinen vollzieht sich das Nachaußentragen von Emotionen als Form der Kommunikation. Die automatische Signalwirkung von Tränen auf das soziale Umfeld ist offensichtlich270 und beim öffentlichen Auftreten sicherlich als besonders stark zu erachten. Beim Vorgang des Weinens kommt demnach eine ganze Reihe von Faktoren zum Tragen; es gestaltet sich als ein Zusammenspiel von Physiologie und Psychologie. Weinen ist selbst keine Geste, kann aber als eine solche fungieren, und dies ganz besonders innerhalb einer Kette einzelner performativer Verhaltensweisen (die sich oftmals im Rahmen eines Rituals vollziehen).
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Vgl. ebd., S. 311 und 325 f. Vgl. bereits Meuli (1975), S. 358; dazu auch Vingerhoets (2006), S. 326–329. Vgl. Plessner (31961), S. 67. Vgl. ebd., S. 53 und 56. Allerdings sind Tränen letztlich ein Bestandteil der Körpersprache und wirken in erster Linie als Geste. Hahnemann (2015), S. 161 betont, dass an einem Sprechakt nicht nur verbale, sondern auch paralinguistische und kinesische Elemente beteiligt sind; neben dem Inhalt einer Rede seien demnach die lautliche Komponente und besonders die begleitenden Bewegungen des Körpers (wozu auch Mimik, Gestik und bspw. Erröten gezählt werden) für das Verständnis des Vermittelten in kommunikativen Kontexten von hoher Bedeutung (siehe ebd. für weitere Literaturhinweise diesbezüglich). 269 Dass Emotionen nicht unmittelbar ausgedrückt, sondern erst in vermittelnden Ausdrucksformen erkennbar werden, unterstreicht Rosenwein (2006), S. 27: „Emotions are always delivered ‚secondhand‘ (…): via gestures, bodily changes, words, exclamations, tears. None of these things are the emotion; they are symptoms that must be interpreted – both by the person feeling them and by observers.“ 270 Auch eine Deutung des öffentlichen Weinens als ausschließlich unwillkürliche und dem persönlichen Bereich zugehörige Geste, wie sie von Dinzelbacher vorgenommen wird, führt nicht dazu, dass man ihm eine Bedeutung innerhalb eines rituellen Zusammenhangs absprechen sollte. Vielmehr hat es eine Vermittlerfunktion, indem es die innere Gefühlswelt des Menschen nach außen hin sichtbar macht und in die soziale Interaktion miteinbezieht, vgl. Dinzelbacher (2009), S. 76.
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3.2 Historizität und Authentizität Weinen ist per se als historisches Ereignis nicht von Bedeutung; vielmehr erwächst ein Erkenntnisgewinn aus der Untersuchung von in der römischen Historiographie geschilderten Tränen – wie es auch bei vielen anderen Gegebenheiten der Fall ist – aus den Fragen, die an das Phänomen und die Umstände, die es hervorbringen, herangetragen werden. Kaum zu lösen sein dürfte das Problem der Historizität: Ob die in einem Text beschriebenen Tränen jeweils wirklich vergossen wurden, ob also das geschilderte mit dem tatsächlichen Geschehen übereinstimmt bzw. in welchen Punkten es nicht übereinstimmt, ist in den wenigsten Fällen sicher zu entscheiden.271 Daher besteht die Notwendigkeit, andere Aspekte aus dem Text herauszuarbeiten und ihm ohne die Klärung der Faktizität Informationen darüber zu entnehmen, welche Erwartungshaltung im Hinblick auf öffentliches performatives Handeln bestand.272 Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass – auch wenn man annimmt, eine Darstellung gebe tatsächliches Geschehen wieder – nicht geklärt werden kann, inwieweit die Authentizität geschilderter Emotionen gegeben ist. Hier ist ebenfalls eine andere Frage sinnvoller und erfolgversprechender, nämlich die nach der Funktion eines bestimmten Agierens in der Öffentlichkeit.273 Dabei sollte nicht nur auf den unmittelbaren Kontext, sondern ebenso darauf geachtet werden, ob sich die Darstellung eines bestimmten Verhaltens regelmäßig in den Quellen findet und somit zu vermuten ist, dass die in spezifischen Situationen wirksam werdenden Mechanismen den normativen Standards entsprachen.274 271 Auch Friedländer war sich dieser Schwierigkeit wohl bewusst, wie seine Bemerkung im Vorwort zur ersten Auflage der „Sittengeschichte“, Band 1 (1862), S. VII verdeutlicht, er habe, „um die Gefahr subjektiver Auffassung so viel als möglich zu vermeiden, wo es irgend geschehn konnte, Aeußerungen von Zeitgenossen oder doch von Personen, die jener Zeit nicht fern standen, benutzt; auch so erfahren wir freilich oft nicht, wie die Dinge waren, sondern wie sie jenen erschienen, doch ist dies in vielen Fällen alles, was wir wissen können.“ 272 Vgl. Althoff (2003), S. 187. 273 Vgl. dazu Becher (2001), S. 40 f. 274 Vgl. Althoff (1996), S. 242. Eine völlig verfälschte Darstellung historischer Geschehnisse hält Althoff im Fall der mittelalterlichen Geschichtsschreibung für unwahrscheinlich, so dass es möglich sei, die Existenz bestimmer ritualisierter Verhaltensweisen aus den Texten zu folgern: „Wenn in mittelalterlicher Historiographie immer wieder von unterschiedlichen Autoren und in unterschiedlichen Zusammenhängen an bestimmten Stellen öffentlicher Kommunikation Tränenausbrüche berichtet werden, spricht alles dafür, daß es sie an diesen Stellen wirklich gegeben hat und daß sie eine bestimmte Funktion erfüllten. Ohne daher die Tatsache gering zu achten, daß uns die mittelalterlichen ‚Aufführungen‘ nur noch in ihren schriftlichen Substraten greifbar sind, wird man methodisch legitim von diesem Substrat ausgehen können, um sich der Wirklichkeit der Aufführungen zu nähern“, ebd. – Zur Frage von Echtheit und Historizität vgl. die prägnanten Bemerkungen von de Libero (2009), S. 209 f.; sie betont, dass die Beschreibung des Weinens durch die antiken Geschichtsschreiber als grundlegender Ansatz für weitere wissenschaftliche Fragestellungen verstanden werden muss. In diesem Sinne äußert sich auch Huttner (2004), S. 39 f. im Hinblick auf das von ihm untersuchte Thema: „Es hat in den meisten Fällen wenig Sinn, aus den z. T. geradezu chiffrenhaften Quellentexten, die sich in manchen Fällen bis in die Formulierungen hinein ähneln, auf die konkreten Ereignisse um die recusatio imperii des einen oder anderen Kaisers schließen zu wollen. Die Fragestellung muß, um dem
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Bei einem solchen methodischen Vorgehen gilt es, der grundsätzlichen Gefahr zu entgehen, nonverbales Agieren wie das Weinen ohne Weiteres mit den Gegebenheiten der eigenen Zeit zu vergleichen.275 Werden Gemeinsamkeiten erkannt, besteht die Gefahr einer voreiligen Gleichsetzung; dementsprechend formuliert Thorsten Fögen: „Einige Formen des Weinens, die für die Antike feststellbar sind, mögen in mancher Hinsicht Parallelen zur modernen westlichen Welt erkennen lassen. Daraus allerdings eine phänomenologische Gleichsetzung von Antike und Neuzeit zu rechtfertigen oder gar eine Allgemeingültigkeit für sämtliche Kulturräume und Gesellschaften abzuleiten, wäre methodisch fragwürdig.“276 Umgekehrt rufen Differenzen zwischen antikem und heutigem Verhalten häufig Unverständnis oder zumindest ein Gefühl der Befremdlichkeit hervor, das, wird es nicht außer Acht gelassen, zu einer Übertragung gegenwärtiger auf historische Normen und schließlich zu einer Bewertung von Handlungsweisen, die in einer vergangenen Epoche üblich und gefordert waren, nach Maßstäben der Gegenwart führt. Nicht nur Historiker, sondern ebenso die großen Denker des zwanzigsten Jahrhunderts haben dieses Problem in der Regel unberücksichtigt gelassen,277 so dass die Geschichte der westlichen Hemisphäre als die einer wachsenden Affektkontrolle präsentiert und die (vermeintliche) Beherrschung der Emotionen als Endpunkt dieser Entwicklung angesehen wird.278 Vor allem in der älteren Literatur wird die Kindlichkeit oder Naivität betont, die als Kennzeichen vergangener Epochen oder geographisch weiter entfernter, außereuropäischer Völker angesehen wird.279
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Charakter der Quellen gerecht zu werden, abgewandelt werden: Es kann nicht mehr um das Ereignis an sich, sondern es muß um die Darstellung und Bewertung des Ereignisses gehen. Die Rezeptionsgeschichte muß (vorläufig) die Ereignisgeschichte ersetzen.“ Weiterhin heranzuziehen sind hier Tschiedel (1985), S. 4 („Unmöglichkeit einer exakten Trennung von Historizität und Fiktion“) sowie Hostein (2006), S. 216 („Les larmes versées en public sont avant tout le fruit d‘une construction rhétorique des auteurs antiques. Pour autant, les larmes ainsi décrites ne peuvent être réduites à une simple construction idéologique; elles témoignent de gestes et de comportements réels“). In diesem Zusammenhang erscheint die These Althoffs folgerichtig, die in der heutigen Zeit bei Emotionen vorgenommene „Differenzierung zwischen echt und aufgeführt“ habe im Mittelalter noch nicht bestanden, weshalb eine Kritik an dieser (nur aus der Sicht der Moderne heraus) fehlenden Echtheit ein „anachronistisches Urteil“ darstellen würde, vgl. Althoff (1997), S. 281. Fögen (2006), S. 160; weiter heißt es: „Soziologische und anthropologische Arbeiten haben überzeugend nachgewiesen, dass zahlreiche Formen des Weinens und Anlässe für das Vergießen von Tränen soziokulturell determiniert sind und keineswegs universale Phänomene darstellen (…).“ Vgl. Rosenwein (2002), S. 828 und 845. Prägnant formuliert von Rosenwein (2002), S. 827: „Greece and Rome may be quickly dismissed: did not Homer sing of the sweet delights of anger? The Middle Ages had the emotional life of a child: unadulterated, violent, public, unashamed. The modern period (variously defined) brought with it self-discipline, control, and suppression.“ Gerade die Abkehr von dieser Sichtweise zeichnet die Innovationskraft von Rosenweins Konzept aus, vgl. Plamper (2012), S. 79. Auch Sittl schreibt im Sinne einer Theorie der sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelnden Kontrolle der eigenen Emotionen, wobei er, dem Geist seiner Zeit entsprechend, auch die Erkenntnisse der damaligen Anthropologie bzw. Ethnologie einbezieht, die manchen außereuropäischen Völkern eine so große Naivität beimaß, wie es sie in der westlichen Welt höchstens in der Vergangenheit gegeben habe, vgl. Sittl (1890), S. 7: „Kindliche Völker werden gleich den
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Dinzelbacher betont zwar die Absicht, die Bezeichnung ‚Affektkontrolle‘ wertneutral zu gebrauchen,280 doch liegt der Ansatz zu einer Kritik an der Verwendung dieses Begriffes darin, dass er zu stark vom eigenen Standpunkt aus gedacht ist. Die These, dass die Kontrolle der Affekte im Laufe eines bestimmten Abschnitts der Geschichte wuchs, wird gleichbedeutend gesetzt mit dem Gedanken, dass es besser sei, die Affekte im Zaum zu halten. Somit wird suggeriert, dass der Wille zu einer Affektkontrolle vorhanden war, es allerdings an einer Umsetzung in die Praxis mangelte. Sicherlich bestehen bei der Äußerung von Emotionen zu verschiedenen Zeiten (und auch in geographisch voneinander entfernten Regionen) erhebliche Unterschiede; sie sollten aber sachlich beschrieben werden. Den mittelalterlichen und ebenso den antiken Menschen muss nicht zwangsweise eine geringere Affektkontrolle unterstellt werden, weil ihr Verhalten oftmals emotionaler als das heutige erscheint. Ebenso wahrscheinlich oder gar plausibler ist es, dass sich lediglich das Bestreben, bestimmte eigene Affekte in bestimmten Situationen und im Zusammenwirken mit bestimmten Personen zu unterdrücken, von dem gegenwärtig als Norm vermittelten unterschied. Mit anderen Worten: Nicht die generelle Kontrolle über die eigenen Emotionen fehlte, sondern die Regeln dafür, was unter spezifischen Gegebenheiten ein angemessenes Verhalten darstellt, unterschieden sich. Diese Prämisse spielt zweifelsohne keine geringe Rolle für das Unternehmen, Tränen in der römischen Historiographie näher zu beleuchten. 3.3 Emotionsgeschichtliche Analyse kaiserzeitlicher Historiographie Werden Emotionen (und nicht etwa politische Ideen, erzählerische Motive etc.) als Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit antiken literarischen Texten gewählt,281 dann bietet eine Analyse der Quellen aus diesem Blickwinkel Zugriff auf damit Kindern ihren Gefühlen einen unbefangeneren Ausdruck verleihen als einerseits vorgeschrittene Kulturvölker, andererseits die Erwachsenen. Auch die Griechen und Römer müssen, weil sie ihren Ursprüngen näher stehen, in diesem Punkte naiver als die Modernen sein; und wenn bei uns der gemeine Mann sich ursprünglicher giebt als der von der sogenannten Schicklichkeit eingeengte Gebildete, so wird eine solche Sonderung der Klassen auch im Altertume nachzuweisen sein.“ Zur Unbeständigkeit der Emotionen bei ‚Primitiven‘ und Kindern äußert sich Meuli (1975b), S. 362. – Die Entwicklung einer Affektkontrolle vom Mittelalter an bis zum 19. Jahrhundert, wie Elias sie in seinem Werk über den Prozess der Zivilisation der westlichen Welt attestiert, setzt Harris (2001), S. 150 f. in Analogie zu einer wachsenden Kontrolle des Zorngefühls im alten Griechenland. 280 Vgl. Dinzelbacher (2009), S. 77 f. 281 Das Substantiv ‚Emotion‘ stellt zur Bezeichnung einer Gemütsbewegung, an der physiologische und psychologische Prozesse beteiligt sind, den am besten geeigneten dar, denn er lässt sich ohne wertende Konnotationen verwenden; anders verhält es sich mit Begriffen wie ‚Affekt‘, ‚Gefühl‘, ‚Stimmung‘ oder ‚Empathie‘, die Merten (2003), S. 10–12 voneinander abgrenzt. Eine (fast) synonyme Verwendung von ‚Emotion‘ und ‚Gefühl‘ ist mitunter angemessen, da letztgenanntes den Aspekt der subjektiven Wahrnehmung hervorhebt und dies auf manche Darstellungen zutrifft. Verschiedene Ansätze zu einer Definition von ‚Emotion‘ im Rahmen psychologischer Forschung stellt Merten (2003), S. 12–17 vor.
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zusammenhängende Aspekte der antiken Lebenswirklichkeit, so dass diese selbst in den Augen des Forschers schärfere Konturen annehmen kann. Tränen als von außen sichtbare Gefühlsäußerung stellen dabei einen besonderen Anknüpfungspunkt dar, denn die Beteiligung körperlicher Prozesse beim Empfinden von Emotionen zeigt sich an ihnen besonders deutlich.282 Die Aufgabe der Emotionsgeschichte besteht allerdings nicht darin, Emotionen als (neuro)biologische Prozesse zu untersuchen, sondern vielmehr darin, die Bedeutung von Emotionen in der antiken Kultur und Gesellschaft sichtbar zu machen – es können beispielsweise die äußeren Faktoren, die Emotionen hervorriefen, herausgearbeitet oder Überlegungen dazu angestellt werden, wie Emotionen in der Literatur und in der Kunst oder allen anderen Realien in Erscheinung traten.283 Unterschiedliche Ansätze zur Erforschung von Emotionen treten in neueren Publikationen ebenso deutlich hervor wie diesbezügliche theoretische Überlegungen.284 Mit ihrem Anliegen weist die Emotionsgeschichte, und besonders das Konzept der emotional communities, eine große Nähe zur Mentalitätsgeschichte auf, zu der eine Abgrenzung in letzter Konsequenz sich unter Umständen schwierig gestalten mag. Die Frage, ob die Emotionsgeschichte als wissenschaftliche Teildisziplin (eigenständig neben der) oder als Teil der Mentalitätsgeschichte einzustufen ist, sollte allerdings weniger wichtig erscheinen als der konkrete Erkenntnisgewinn, der sich im Zuge einer wissenschaftlichen Untersuchung ergibt.285 Emotionen sind nur einer von mehreren Ansatzpunkten, die Einblick in die Kausalzusammenhänge menschlichen Handelns bieten können. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen erscheint es angemessen, die vorliegende Arbeit auf dem Gebiet der Emotionsgeschichte im weitesten Sinne zu ver282 Bei Entstehung wie Äußerung von Emotionen sind stets biologische Prozesse innerhalb des Körpers beteiligt, und in der Regel zeigen sie sich auch nach außen hin – vor allem am Gesichtsausdruck oder an der Stimme, vgl. dazu etwa Scherer/Wallbott (1990), S. 372–378 ; insofern ist eine gewisse Nähe der Emotionsgeschichte zur Körpergeschichte gegeben. 283 Vgl. Chaniotis (2012), S. 15. Chaniotis/Ducrey (2013), S. 10 f. verweisen darauf, dass sich für einen Altertumswissenschaftler nicht die Frage stellt, ob er sich mit Emotionen beschäftigen solle, sondern lediglich, auf welche Weise dies geschehen könne; von wesentlicher Bedeutung sei dabei die Untersuchung kommunikativer Kontexte und emotionaler Gemeinschaften. Eine Einführung in die Problematik und mögliche Untersuchungsmethoden literarischer Quellen bietet Sanders (2012). 284 Vgl. dazu besonders Chaniotis (2012), Sanders (2012) und Chaniotis/Ducrey (2013). 285 Chaniotis (2012), S. 23 bringt nachdrücklich zum Ausdruck, dass Emotionen seiner Meinung nach den universalen Schlüssel zum Textverständnis überhaupt darstellen: „Historians have to study emotions, because emotions have shaped all the source material that they have at their disposal. Therefore, the ancient historian does not only – perhaps not even primarily – study texts in order to understand emotions. It is far more urgent for an ancient historian to study emotions in order to understand texts.“ Fast ebenso weit geht Plamper (2011), der die Möglichkeiten der Emotionsgeschichte als nahezu unbegrenzt wahrnimmt, wie seine Ausführungen zu deren Forschungsperspektiven auf S. 327–348 (besonders S. 345–348) zeigen. Dagegen wirft Groebner (2013), S. 114 im Rahmen seiner Kritik an Plamper die Frage auf: „Ist die die Emotionsgeschichte also nur ein neuer Name für ein altes Problem, mit dem sich vorangegangene Historikergenerationen unter dem Etikett der Mentalität, der Psychologie und, noch früher, der Seele herumgeschlagen haben?“
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orten; ihr Anliegen besteht vornehmlich darin, anhand der Untersuchung von Tränen als Äußerungen von Emotionen Rückschlüsse auf Verhaltensmuster und -regeln sowie deren Bedeutung für die Einzelperson und vor allem für das gesellschaftliche Zusammenleben zu ziehen – und zugleich den Texten, die darüber Auskunft geben, als literarische Zeugnisse gerecht zu werden. Bei der Quellenanalyse ist nicht nur der historische, sondern in gleicher Weise der literarische Kontext zu berücksichtigen. Autor und Darstellungsabsicht des Werkes müssen ebenso wie gegebenenfalls das begriffliche Umfeld von ‚Weinen‘ in die Deutung der einzelnen Episoden einbezogen werden.286 Die geschilderten Tränen sind Ausdruck von Emotionen, und diese wiederum können als wesentliche handlungsauslösende Faktoren aufgefasst werden. Demnach lässt sich umgekehrt formulieren, dass ein antiker Autor über die Ereignisse so schrieb, wie er schrieb, weil er es als angemessen empfand – seine Darstellung kam der Erwartungshaltung des Lesers entgegen, der ein gewisses Identifikationspotential mit den Handlungsträgern bei der Lektüre vorfand.287 In der vorliegenden Untersuchung werden in antiken Schriftquellen beschriebene Tränen einerseits als Teil eines ritualisierten Handelns interpretiert, indem Gemeinsamkeiten bei der Struktur sich ähnelnder Verhaltensweisen aufgezeigt werden; dafür bieten sowohl zahlreiche Überlegungen aus dem Bereich der Altertumswissenschaften als auch in diesem Zusammenhang relevante Forschungsansätze der Mediävistik weiterführende Aspekte. Andererseits muss das geschilderte Weinen in vielen Fällen vor allem als ein unmittelbarer Ausdruck der inneren emotionalen Befindlichkeit in der jeweils ganz spezifisch vorliegenden Situation gedeutet werden. Durch eine Verknüpfung von philologischer und historischer Herangehensweise soll dabei dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Deutung literarischer Quellen ihrer Vielschichtigkeit Genüge leisten muss. Ein gewisses Maß an Geschlossenheit bietet für diese Aufgabe die Untersuchung speziell der Tränen von politischen und militärischen Entscheidungsträgern, da ihnen in der antiken Geschichtsschreibung eine wesentliche Rolle zukommt. Es gilt dabei zu berücksichtigen, dass der Begriff ‚Mächtige‘ sich nicht klar eingrenzen lässt (‚Mächtige‘ stellen keine homogene Gruppe dar, vielmehr existieren darin deutliche Abstufungen unterschiedlicher Art); vornehmlich handelt es sich um die Kaiser, Feldherren, Senatoren und hohen Geistlichen – also die Mitglieder der politisch führenden Schichten, die in der Regel von der Historiographie als die zentralen Gestalten dargestellt werden. Weinen kann Bestandteil der Kommunikation zwischen Mächtigen sein, außerdem kann es eine Signalwirkung auf niedriger ge286 Dass die Sprache, mit der Emotionen geschildert werden, ein wesentliches Element für die Analyse darstellt, wird vor allem in den Untersuchungen von Kaster, Konstan und Rosenwein eingehend berücksichtigt. 287 Das Bemühen eines antiken Autors um ein möglichst hohes Identifikationspotential für den Leser betont etwa Macmullen. Allerdings macht er dabei offenbar keinen Unterschied zwischen antikem und modernem Leser, vgl. etwa Macmullen (2003), S. 46 im Hinblick auf die Darstellung des jugendlichen Augustus bei Nikolaos von Damaskus: „the natural fit between the emotions and impulses that any observer would expect in a teenager of Augustus‘ particular experience and situation, and Nikolaos‘ account, can be seen and tested in the text quite satisfactorily. Thereby we can understand what happened.“
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I. Forschungsgeschichte und methodisches Vorgehen
stellte Personen haben. Umgekehrt können jedoch auch die Tränen einzelner Untergebener oder von Personengruppen (vor allem den Soldaten kommt hier oftmals eine herausragende Bedeutung zu), die vor Machtträgern vergossen werden, eine kommunikative und die Ereignisse vorantreibende Wirkung entfalten. Im Zentrum stehen also in erster Linie das Weinen von ranghohen politischen und militärischen Persönlichkeiten und außerdem die vor ihnen oder für sie vergossenen Tränen. Sie werden vor dem literarischen und historischen Hintergrund der Episoden gedeutet und tragen so zu dem Entwurf eines Bildes der soziokulturellen Gegebenheiten in kommunikativen Situationen bei. Der Anfang des behandelten Zeitraums ist mit dem Übergang von der späten Republik zum Beginn des Prinzipats angesetzt: Seit dieser Zeit werden Einzelpersonen, die der Oberschicht angehören, verstärkt als die wesentlichen Träger historischen Geschehens wahrgenommen, eine Funktion, die der Kaiser besonders häufig erfüllt, die aber auch einem weiteren Personenkreis der Oberschicht zuerkannt wird. Der strukturelle Wandel, der in der politischen Kommunikation zu konstatieren ist,288 führte zu neuen Möglichkeiten des Umgangs mit und des Einsatzes von Emotionen bei der interpersonellen Interaktion in der Öffentlichkeit. Dies zeigt sich besonders an dem Umstand, dass der Kaiser die Möglichkeit besaß, Kontrolle über Emotionen größerer und besonders auch gegnerischer Gruppen auszuüben.289 Die Untersuchung mit dem Ende der Spätantike abzubrechen ist nicht sinnvoll, vielmehr soll die konventionelle Epochengrenze überschritten und die Analyse bis hin zu Texten des Frühmittelalters ausgedehnt werden; freilich werden diese in weitaus geringerem Umfang als die antiken Quellen berücksichtigt. Die Quellenanalyse erfolgt demnach mit einer systematisierten Ausschnitthaftigkeit. 3.4 Definition des Weinens und Abgrenzung des Wortfelds Weinen im engeren Sinn ist zu definieren als die Absonderung von Tränenflüssigkeit aus den Augen. Dem deutschen Substantiv ‚Träne‘ entspricht das etymologisch verwandte griechische δάκρυ und das lateinische lacrima, die in ihrer Grundbedeutung jeweils genau diese Flüssigkeit bezeichnen.290 Mit diesen beiden Begriffen und ihren Derivaten wird demnach auf die optische Signalwirkung verwiesen, die den Tränen innewohnt; eine eventuelle akustische Komponente ist nicht notwendigerweise inbegriffen. Dies ist dagegen der Fall bei den nächsten Entsprechungen des deutschen ‚weinen‘, nämlich κλαίω und fleo; beide zeigen an, dass auch eine lautliche Äußerung stattfindet, insbesondere das griechische Verbum beinhaltet zugleich den Hinweis auf ein Klagen.291 Für das Vergießen von Tränen als körperliche
288 Vgl. Vielberg (1996), S. 10–12 und 21. 289 Sehr deutlich zeigt sich dies im Senatus consultum de Cn. Pisone patre, vgl. dazu II. 4.2.1. 290 Zur Etymologie vgl. Walde/Hofmann (41965), S. 746; zur Grundbedeutung vgl. ThLL VII, 2, Sp. 836; auch de Libero (2009), S. 222 verweist darauf, dass Tränen als „visible marks of human emotions“ zu verstehen sind. 291 Vgl. Frisk (1960), S. 1865 und Walde/Hofmann (41965), S. 515 f. sowie ThLL VI, 1, Sp. 899.
3. Methodisches Vorgehen
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Reaktion, die nur zum Teil willentlich beeinflusst werden kann, bilden diese vier Begriffe samt ihren Ableitungen die Grundlage dieser Untersuchung.292 Die Ausdrücke, die ‚Weinen‘ im engeren Sinn bezeichnen, stehen jedoch häufig nicht isoliert, sondern innerhalb eines Feldes von Wörtern, die einen ähnlichen Sinngehalt aufweisen, so dass der sprachliche Kontext sich jeweils als wesentlicher Faktor dafür erweist, die genaue Bedeutung einzelner Wörter zu bestimmen.293 Die Konnotation, mit der die emotionale Äußerung im Einzelfall versehen ist, wird erst aus dem Sinnzusammenhang deutlich. Es können etwa Begriffe hinzutreten, die ein Klagen, Jammern, Trauern und Seufzen bezeichnen; an Beispielen seien hier aus dem Griechischen θρηνέω, ὀδύρομαι und ὀλοφύρομαι, aus dem Lateinischen lamento, lugeo und ploro genannt.294 Regelmäßig treten Situationen auf, in denen Tränenvergießen mit einem Bitten oder Flehen verbunden wird, so dass auch Begriffe aus diesem Umfeld neben ‚Weinen‘ oder ‚Tränen‘ auftauchen. 3.5 Textcorpus Im Folgenden wird eine Auflistung der Texte geliefert, die als Grundlage dieser Arbeit dienen. Neben historiographischen Werken im engeren Sinn295 werden das Epos Lukans über den Bürgerkrieg296, Caesars Commentarii über den Gallischen Krieg und den Bürgerkrieg297 sowie antike biographische Literatur verwendet.298 292 Das Resultat des Weinens, nämlich tränennasse Augen, wird in Suet. Tib. 7, 3 beschrieben, vgl. dazu II. 1.7 und II. 5.3.2. 293 Zur Wortfeldtheorie vgl. Vielberg (1996), S. 25 f. 294 Zur Bedeutung von luctus, planctus und squalor im Zusammenhang mit dem Vorgang des Trauerns vgl. Corbeill (2004), S. 68. Zum Gebrauch von flere, lacrimare und plorare und ihrer Entwicklung in den romanischen Sprachen (deren übliche Bezeichnungen für „weinen“ aus dem lateinischen plorare oder plangere hergeleitet sind) vgl. Bonfante (1978). 295 Agathias von Myrina und Menander Protektor, die beiden Fortsetzer des Prokop von Caesarea, sind nicht in das Textcorpus aufgenommen, denn ihre historiographischen Werke erweisen sich als unergiebig bezüglich der Begriffe κλαίω und δακρύω sowie ihrer Ableitungen; Agathias zieht augenscheinlich die Verwendung von ὀλοφύρομαι vor. 296 Die Einbeziehung von Lukans Epos über den römischen Bürgerkrieg liegt darin begründet, dass dieses Werk entscheidende Charakteristika der Historiographie beinhaltet, vgl. dazu etwa die Bemerkung Tschiedels (1985), S. 7, Lukans Epos sei in der Antike „als ein Stück Geschichtsschreibung“ angesehen worden. 297 Späth (1994), S. 297 Anm. 81 weist darauf hin, dass Commentarii heutzutage als Geschichtsschreibung gelten können, dass allerdings in der Antike vor allem stilistische Merkmale ausschlaggebend für eine Abgrenzung dieser Gattung von der Historiographie waren. 298 Zur Nähe von antiker Biographie und Historiographie vgl. etwa von Albrecht (32003), S. 291: „Verwandte, aber von der Geschichtsschreibung zu trennende Genera sind Biographie und Autobiographie, formal recht uneinheitliche Gebilde, die wir gesondert behandeln“ (auf S. 1104– 1138 behandelt von Albrecht etwa Sueton zusammen mit Florus und Ammian unter der Überschrift „Geschichtsschreibung und Verwandtes“) und S. 292: „Die Biographie überlagert später auf lange Zeit die lateinische Geschichtsschreibung, da die Machtfülle der Kaiser eine solche Sicht nahelegt“; Vielberg (1996), S. 21 verweist ebenfalls auf die Entwicklung, dass die historische Biographie „insbesondere als Kaiserbiographie die Darstellung der res gestae populi Romani verdrängt“; Demandt (1965), S. 99 hebt den Einfluss hervor, den das zu dessen Zeit
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I. Forschungsgeschichte und methodisches Vorgehen
Zusätzlich werden in einzelnen Fällen Briefe und Reden sowie Passagen aus der Dichtung herangezogen. Dies geschieht, wenn die betreffenden Belege als sinnvolle Ergänzung dienen, oder aber wenn von entscheidenden Ereignissen berichtet wird und Tränen eine Rolle spielen, die an anderer Stelle nicht berichtet werden und in der Geschichtsschreibung geschilderte Ereignisse näher beleuchten. Caesar, Bellum Gallicum und Bellum civile Nikolaus von Damaskus, Fragmente der Vita des Augustus Lukan, Bellum civile Plutarch, Viten des Lucullus, Sulla, Cato minor, Pompeius, Caesar, Cicero, Brutus, Marcus Antonius, Galba und Otho Velleius Paterculus, Historia Romana Tacitus, Annales und Historiae, Agricola Sueton, De vita Caesarum libri VIII Scriptores Historiae Augustae Cassius Dio, Res Romanae Herodian, Ab excessu divi Marci Flavius Josephus, Bellum Iudaicum Appian von Alexandria, Bellum civile Florus, Epitomae de Tito Livio libri duo Aurelius Victor, Liber de Caesaribus und Epitome de Caesaribus Eutrop, Breviarium Laktanz, De mortibus persecutorum Eusebius von Caesarea, Historia ecclesiastica und Vita Constantini Ammianus Marcellinus, Res gestae Rufinus, Historia ecclesiastica Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica Sozomenos, Historia ecclesiastica Theodoret, Historia ecclesiastica Orosius, Historiarum adversum paganos libri VII Zosimus, Nea historia Malalas, Chronographica Prokop, De bellis und Anecdota Theophylaktos Simokates, Historiae Jordanes, Getica Gregor von Tours, Historiarum libri decem Fredegar, Liber historiae Francorum Julian von Toledo, Historia Wambae regis Paulus Diaconus, Historia Langobardorum und Historia Romana Einhard, Vita Karoli übliche biographische Genus auf das Werk Ammians hatte; Späth (2010), S. 294 fasst die „antiken Autoren der historiographischen und biographischen Erzählungen, die wir als literarische Quellen lesen“, in eines (und bietet damit zugleich eine treffende Umschreibung des Umstands, dass die antike Historiographie nicht den Grundsätzen der gleich im Anschluss von ihm genannten modernen Geschichtsforschung folgt).
II. UNTERSUCHUNG DES WEINENS IN DER KAISERZEITLICHEN HISTORIOGRAPHIE In den folgenden fünf Kapiteln soll auf jeweils einen Aspekt des Weinens in der Geschichtsschreibung der Kaiserzeit näher eingegangen werden. Ihr Beginn wird durch eine Frage markiert, die auf den jeweiligen Rahmen der Analyse verweist – er lässt sich mit den folgenden Schlagwörtern benennen: Orte, Personengruppen, Frauen, Reglementierungen und Emotionen. 1. WO WIRD GEWEINT? Die erste Frage bezieht sich ganz konkret auf die Orte, an denen – folgt man den Quellen – mit gewisser Regelmäßigkeit und aus sehr unterschiedlichen Gründen geweint wurde. Die Schilderungen der Tränen machen die Aussagekraft der entsprechenden Beispiele evident – an bestimmten Orten lassen sich spezifische Verhaltensmuster erkennen, die den jeweiligen Situationen entsprechend für angemessen erachtet wurden. Sieben lokale Gegebenheiten, die als Plattform für die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Personengruppen dienen, werden eingehender betrachtet; dabei soll deutlich werden, welches Deutungspotential den Tränen innewohnt. 1.1 Cicero und Quintilian über das Weinen vor Gericht In Gerichtsverhandlungen, antiken wie modernen, kommt den Emotionen eine herausragende Rolle zu: Mit sachlichen Argumenten, aber auch mit der Zurschaustellung von Gefühlen wird Einfluss auf die Stimmung der Richter genommen. In Prozessen und überhaupt beim Vorbringen eigener Anliegen vor bedeutenden Personen besitzen Tränen der Redner und der Zuhörer oftmals entscheidenden Einfluss. Zunächst ist es dem vorliegenden Thema daher dienlich, theoretische Äußerungen Ciceros und Quintilians über Tränen als intentional einzusetzendes Instrument des Redners wiederzugeben. Besonders Ciceros Überlegungen werden sich in anderen Zusammenhängen noch als hilfreich erweisen. 1.1.1 Cicero Cicero stellte seine drei Bücher umfassende Schrift De oratore im Jahre 55 v. Chr. fertig; darin setzt er sich mit dem Ideal des orator perfectus, des umfassend gebildeten und im Vortrag vollendeten Redners, auseinander.1 In Form eines fiktiven 1
Den politischen, soziokulturellen und literarischen Hintergrund von De oratore behandelt in verschiedenen Aspekten Elaine Fantham, The Roman World of Cicero‘s De oratore (2004).
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
Dialoges, der im Jahr 91 v. Chr. angesiedelt ist, führen intellektuelle Größen der Zeit – allen voran die als Redner hoch angesehenen Politiker Marcus Antonius, der Großvater des späteren Triumvirn, und Lucius Licinius Crassus – die theoretischen Grundlagen und praxisorientierte Ratschläge an, die den Redner dazu befähigen, seine Sache erfolgreich vorzubringen. Weite Teile des zweiten Buches (2, 99–306) behandeln die Inventio, also die Auffindung des Stoffes, den es in die Rede einzubringen gilt. Antonius fungiert in diesem Abschnitt als Hauptredner und berichtet zunächst davon, wie er zu Beginn eines Rechtsfalls die Sachlage überprüft und auf diese abgestimmt die Art der Verteidigung festlegt (2, 99–113). Daran schließt sich eine Einteilung der Beweismittel, die Richter und Zuhörer überzeugen sollen, in rationale und emotionale an.2 Nach weitläufigen Ausführungen über das Anbringen von Sachargumenten (2, 132–177) erfolgt die Darstellung von Ethos und Pathos in Buch 2, Kapitel 178– 216.3 Die hohe Bedeutung dieser beiden Instrumente der persuasio wird gleich zu Beginn des Abschnitts betont: Das Wichtigste einer Rede sei, dass der Zuhörer dem Vortragenden gegenüber wohlwollend gesonnen (ut faveat oratori is, qui audiet) und dass er selbst in solchem Maße von seinen Affekten ergriffen werde, dass er sich nicht mehr von vernunftgemäßer Überlegung leiten lasse (utique ipse sic moveatur, ut impetu quodam animi et perturbatione magis quam iudicio aut consilio regatur).4 Um Sympathie zu gewinnen,5 müssen die ehrenhafte Gesinnung, die Handlungen und das Ansehen, in dem die eigene Lebensführung bei den Zuhörern steht, in der Rede hervorgehoben werden, was voraussetzt, dass diese tatsächlich 2
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Gleich zu Beginn des Abschnitts über die Inventio kommt Antonius auf die drei für das Überzeugen wichtigen Faktoren probare-conciliare-commmovere zu sprechen, vgl. Cic. de or. 2, 114 f.: Cum igitur (…) rem tractare coepi, nihil prius constituo, quam quid sit illud, quo mihi sit referenda omnis illa oratio, quae sit propria quaestionis et iudici; deinde illa duo diligentissime considero, quorum alterum commendationem habet nostram aut eorum, quos defendimus, alterum est accomodatum ad eorum animos, apud quos dicimus, ad id, quod volumus, commovendos. Ita omnis ratio dicendi tribus ad persuadendum rebus est nixa: ut probemus vera esse, quae defendimus; ut conciliemus eos nobis, qui audiunt; ut animos eorum, ad quemcumque causa postulabit motum, vocemus. Auf rationaler Ebene ist demnach das Vorbringen sachlicher Argumente von Nöten, auf emotionaler Ebene gilt es, die Zuneigung der Zuhörer für die eigene Person sowie die des Klienten zu gewinnen und zudem sie in eine dem jeweiligen Fall angemessenene emotionale Stimmung zu versetzen. Zum Verhältnis der Behandlung von Ethos und Pathos bei Cicero und Aristoteles vgl. Wisse (1989); besonders auf das Pathos bei diesen Autoren geht bereits Solmsen (1938) ein. Cic. de or. 2, 178: Nihil est enim in dicendo (…) maius, quam ut foveat oratori is, qui audiet, utique ipse sic moveatur, ut impetu quodam animi et perturbatione magis quam iudicio aut consilio regatur. Dass – zumindest für Antonius – ein auf die Emotionen abzielendes noch wichtiger als das auf rationaler Ebene angesiedelte Argumentieren ist, fomuliert Cicero im direkt darauf folgenden Satz: plura enim multo homines iudicant odio aut amore aut cupiditate aut iracundia aut dolore aut laetitia aut spe aut timore aut errore aut aliqua permotione mentis quam veritate aut praescripto aut iuris norma aliqua aut iudici formula aut legibus. Zu der Bedeutung von Ethos und Pathos bei Cicero und Aristoteles bieten Leeman/Pinkster/Rabbie (1989), S. 123–133 einführende Bemerkungen. Vgl. das Verbum conciliare in Cic. de or. 2, 115, das dann in 2, 182 wieder aufgegriffen wird und den Abschnitt über das Ethos (2, 182–184) einleitet.
1. Wo wird geweint?
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vorhanden sind.6 Der Teil der oratio, in welchem das ἦθος des Redners dargestellt wird, soll lenis atque summissa („sanft und ohne Heftigkeit“), derjenige dagegen, in welchem die πάϑη der Zuhörer angesprochen werden, intenta ac vehemens („spannungsgeladen und temperamentvoll“) sein.7 Es gilt dabei, die angemessene Position für die Anbringung des Ethos zu beachten.8 Eine durch ihre Heftigkeit gekennzeichnete Redeweise vermag, klug in die oratio eingebracht, die Gemüter der Richter in nahezu jede erdenkliche Stimmung zu versetzen.9 Um dies zu erreichen, ist es jedoch notwendig, dass der Redner – ebenso wie er das von ihm nach außen hin kommunizierte Ethos tatsächlich besitzen muss – von den Empfindungen, die er hervorrufen möchte, selbst ergriffen ist: Um den Richter für die vorgebrachte Sache zu entflammen (incendere iudicem), muss der Vortragende sie mit glühendem Eifer vertreten (ipse ardere).10 Wie die vom Redner echt empfundenen Affekte seine Zuhörer mitreißen können, illustriert Cicero daraufhin in den Abschnitten 189 bis 196, in denen er auch mehrmals auf das Weinen zu sprechen kommt.11 So ist es seiner Ansicht nach nicht möglich, dass beim Zuhörer Weinen und Mitleid ausgelöst werden (ut ad fletum misericordiamque deducatur), wenn sie nicht fest im Vortragenden verankert (impressi atque inusti) sind.12 Um den Richter zum Mitleid zu bewegen, muss ein Verteidiger ihm seinen 6 7 8
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Vgl. Cic. de or. 2, 182: Conciliantur autem animi dignitate hominis, rebus gestis, existimatione vitae; quae facilius ornari possunt, si modo sunt, quam fingi, si nulla sunt. Vgl. Cic. de or. 2, 211; die Behandlung des Pathos erfolgt in 2, 185–211. Vgl. Cic. de or. 2, 184: Horum (quorum de re disceptatur sc.) igitur exprimere mores oratione iustos, integros, religiosos, timidos, perferentes iniuriarum mirum quiddam valet; et hoc vel in principiis vel in re narranda vel in perorando tamen habet vim, si est suaviter et cum sensu tractatum, ut saepe plus quam causa valeat. Tantum autem efficitur sensu quodam ac ratione dicendi, ut quasi mores oratoris effingat oratio. Bemerkenswert ist, dass gerade die Missachtung dieses Ratschlages ausschlaggebend dafür gewesen zu sein scheint, dass Antonius im Prozess gegen Norbanus (vgl. 2, 197–201) erfolgreich war – das Ethos findet in seiner Rede seinen Platz am Ende, allerdings werden gleich zu Beginn mit Vehemenz die Emotionen angesprochen, vgl. Wisse (1989), S. 279. Vgl. Cic. de or. 2, 185: Mentis iudicum permovet impellitque, ut aut oderint aut diligant aut invideant aut salvum velint aut metuant aut sperent aut cupiant aut abhorreant aut laetentur aut maereant aut misereantur aut poenire velint aut ad eos motus deducantur, si qui finitimi sunt [et de propinquis ac] talibus animi permotionibus. Der Redner muss für dafür zunächst die Ausgangsstimmung der Richter ausfindig machen, vgl. 2, 186 f. So die anerkennenden Worte des Antonius über die Wirkung von Crassus‘ Auftreten in Gerichtsverhandlungen Cic. de or. 2, 188: tantum est flumen gravissimorum optimorumque verborum, tam integrae sententiae, tam verae, tam novae, tam sine pigmentis fucoque puerili, ut mihi non solum tu incendere iudicem, sed ipse ardere videaris. Auf das Zusammenspiel von Tränen und Sprache an dieser Stelle, aber auch in anderen Passagen bei Cicero und zudem bei anderen Autoren geht Casamento (2004) ein; er kommt zu dem Schluss, dass die Tränen eine entscheidende Rolle für die Glaubwürdigkeit eines Redners spielen konnten, vgl. ebd., S. 62. Vgl. Cic. de or. 2, 189: Neque fieri potest ut doleat is, qui audit, ut oderit, ut invideat, ut pertimescat aliquid, ut ad fletum misericordiamque deducatur, nisi omnes illi motus, quos orator adhibere volet iudici, in ipso oratore impressi esse atque inusti videbuntur. Die Eindringlichkeit der Rede und das Ergriffensein des Redners veranschaulicht Cicero nicht nur an dieser Stelle mit der Metapher einer flammenden Rede; vgl. auch den folgenden Abschnitt 190: ut enim nulla materies tam facilis ad exardescendum est, quae nisi admoto igni ignem concipere possit,
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
Schmerz durch äußerliche Zeichen kundtun, von denen der Tränenausbruch (conlacrimatio) nach Worten, gedankenreichen Satzperioden, Stimme und Mimik als intensivstes Mittel am Ende einer asyndetischen Reihung genannt wird: neque ad misericordiam adducetur (iudex sc.), nisi tu ei signa doloris tui verbis, sententiis, voce, vultu, conlacrimatione denique ostenderis.13 Dass sich ein Redner von seinen Emotionen mitreißen lassen kann, obwohl er so häufig (totiens) und noch dazu in fremden Angelegenheiten (in rebus alienis) vor Gericht auftritt, liegt an der jeweiligen Kraft des gedanklichen Inhalts und der Aspekte, die er beim Vortrag behandelt (vis earum sententiarum atque eorum locorum, quos agas tractesque dicendo). Daher sind keine Verstellungskünste und Täuschungsmanöver (simulatio et fallacia) notwendig – die Natur einer Rede selbst, mit der die Zuhörer bewegt werden sollen, versetzt nämlich den Orator sogar am meisten von allen Beteiligten in die von ihm intendierte Stimmung.14 Außerdem ermöglichen eigene Glaubwürdigkeit (fides), Pflichtgefühl (officium) und Gewissenhaftigkeit (diligentia) dem Verteidiger, sich mit seinem Mandanten zu identifizieren, auch wenn es sich bei diesem um einen Fremden handelt.15 Im Anschluss an einen Vergleich des Redners mit einem Schauspieler bzw. einem Dichter16 berichtet Antonius, wie er bei seiner Verteidigung des Manius Aquilius Tränen als wirkungsvollstes rhetorisches Mittel einsetzte. Um in sich selbst Mitleid für diesen ehemaligen Feldherrn aufkeimen zu lassen, erinnerte er sich an dessen durch den Senat verliehene Auszeichnungen und seine ovatio (eine kleine Form des Triumphes) im Jahr 100 v. Chr., ruhmreiche Momente, die in starkem Kontrast zu seinem Auftreten als gedemütigter Angeklagter stehen. In dieser seelischen Verfassung gelingt es ihm, die Richter gleichermaßen betroffen zu machen (moveri iudices), indem er Aquilius, den innerlich wie äußerlich trauernden alten Mann (maestum ac sordidatum senem),17 aufstehen heißt, um ihm die Tunika vom Leib zu reißen und seine Narben zur Schau zu stellen (ut discinderem tunicam, ut
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sic nulla mens est tam ad comprehendendam vim oratoris parata, quae possit incendi, nisi ipse imflammatus ad eam et ardens accesserit. Cic. de or. 2, 190. Das Substantiv conlacrimatio ist höchst selten und bei Cicero nur an dieser Stelle zu finden, vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie (1989), S. 147. Vgl. Cic. de or. 2, 191: Ac, ne hoc forte magnum ac mirabile esse videatur hominem totiens irasci, totiens dolore, totiens omni motu animi concitari, praesertim in rebus alienis, magna vis est earum sententiarum atque eorum locorum, quos agas tractesque dicendo, nihil ut opus sit simulatione et fallaciis; ipsa enim natura orationis eius, quae suscipitur ad aliorum animos permovendos, oratorem ipsum magis etiam quam quemquam eorum qui audiunt permovet. Vgl. Cic. de or. 2, 192: Et ne hoc in causis, in iudiciis, in amicorum periculis, in concursu hominum, in civitate, in foro accidere miremur, cum agitur non solum ingeni nostri existimatio (…), sed alia sunt maiora multo, fides, officium, diligentia, quibus rebus adducti, etiam cum alienissimos defendimus, tamen eos alienos, si ipsi viri boni volumus haberi, existimare non possumus. Vgl. Cic. de or. 2, 193 f. Weitläufigere Gedanken zu diesem Aspekt bietet Corbeill (2004), S. 114–116. Mit dem Adjektiv maestus wird die innere Trauer zum Ausdruck gebracht; das demselben Wortfeld zugehörige sordidatus dagegen bezeichnet jemanden, der sich als Zeichen äußerer Trauer in schwarze, oft schmutzige Kleidung gehüllt hat, vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie (1989), S. 152.
1. Wo wird geweint?
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cicatrices ostenderem). Durch den Zusatz motu magno animi ac dolore („unter großer seelischer Erschütterung und Schmerz“) grenzt Antonius sein aus dem Affekt heraus erfolgtes Handeln deutlich gegen ein solches auf rationaler Grundlage (ars) ab.18 Die Wirkungskraft des auf die Empathie der Zuhörer abzielenden Auftrittes wird noch weiter gesteigert: Gaius Marius, der dem Angeklagten als advocatus vor Gericht beisteht,19 verstärkt mit seinen Tränen den traurigen Ton der Rede (cum maerorem orationis meae praesens ac sedens multum lacrimis suis adiuvaret). Antonius wiederum richtet das Wort immer wieder an diesen Beisitzenden (illum crebro appellans), spricht ihm gegenüber Empfehlungen für dessen Amtskollegen Aquilius aus (cum ego conlegam ei suum commendarem) und wendet sich an ihn, damit dieser in seiner Eigenschaft als advocatus das allen Feldherren gemeinsame Schicksal verteidigt (cum ipsum advocatum ad communem imperatorum fortunam defendendam invocarem). Dieser Mitleid erregende Vortrag (miseratio) samt eines flehentlichen Hilferufs (imploratio) an Götter, Menschen, Bürger und Bundesgenossen vollzieht sich nicht ohne die Tränen und den Schmerz des Redners (non sine meis lacrimis, non sine dolore [magno]), die beide essentielle Bestandteile seines Repertoires und notwendig sind, um das beabsichtigte Resultat, nämlich das Erwecken von misericordia, zu erzielen. Die Tränen sind gleichsam als ein Symbol für das höchste Maß an Ergriffenheit des Redners zu verstehen. Hätte Antonius es nicht vermocht, eigenen Schmerz zu empfinden und aufgrunddessen zu weinen, dann wäre die Rede fehlgeschlagen, weshalb er den Gesprächsteilnehmern des Dialogs rät, die Fähigkeit zu entwickeln, beim Reden in Zorn zu geraten, Schmerz zu empfinden und zu weinen: Quam ob rem vos doceo, (…) ut in dicendo irasci, ut dolere, ut flere possitis. So bildet das Weinen den Höhepunkt beim Auftritt des Antonius vor Gericht und ebenso am Ende des von ihm vorgetragenen lehrhaften Beispiels.20 18
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Cic. de or. 2, 195: Quem enim ego consulem fuisse, imperatorem ornatum a senatu, ovantem in Capitolium ascendisse meminissem, hunc cum adflictum, debilitatum, maerentem, in summum discrimen adductum viderem, non prius sum conatus misericordiam aliis commovere quam misericordia sum ipse captus. Sensi equidem tum magno opere moveri iudices, cum excitavi maestum ac sordidatum senem et cum ista feci, quae tu, Crasse, laudas non arte, de qua quid loquar nescio, sed motu magno animi ac dolore, ut discinderem tunicam, ut cicatrices ostenderem. Gaius Marius trat als advocatus des Aquilius auf; unter diesem Begriff ist zu Lebzeiten Ciceros der „Sachverständige“ vor Gericht, der „Rechtsverständige, den man bei einem Rechtsstreite zur Beratung zog, der sich persönlich für eine Meinung vor Gericht anführen ließ und dieselbe durch seine Gegenwart unterstützte“, Georges (81913), Sp. 163 f. – Gaius Marius war also nicht Beisitzer des Gerichts, sondern konnte Antonius bei seiner Verteidigung durch die Tränen unterstützen, vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie (1989), S. 152. Cic. de or. 2, 196: Cum C. Marius maerorem orationis meae praesens ac sedens multum lacrimis suis adiuvaret cumque ego illum crebro appellans conlegam ei suum commendarem atque ipsum advocatum ad communem imperatorum fortunam defendendam invocarem, non fuit haec sine meis lacrimis, non sine dolore [magno] miseratio omniumque deorum et hominum et civium et sociorum imploratio; quibus omnibus verbis, quae a me tum sunt habita, si dolor afuisset meus, non modo non miserabilis, sed etiam inridenda fuisset oratio mea. Quam ob rem hoc vos doceo, Sulpici, bonus ego videlicet atque eruditus magister, ut in dicendo irasci, ut dolere, ut flere possitis.
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
In den darauf folgenden Kapiteln 197–201 wird der Prozess gegen Gaius Norbanus als eine „case-history für die ganze Rolle des Pathos und des Ethos“21 geschildert; Antonius selbst betont am Ende seines Berichts, er habe als Verteidiger mehr dadurch, dass er auf die Affekte der Richter abzielte, als dadurch, dass er sie durch rationale Argumente belehrte, einen Sieg davongetragen: ita magis adfectis animis iudicum quam doctis, tua, Sulpici, est a nobis tum accusatio victa (2, 201). Im Anschluss bietet er Ratschläge für die Handhabung von Ethos und Pathos, gestützt auf die eigene praktische Erfahrung als Redner vor Gericht (204–211),22 um dann den Abschnitt über diese beiden Überzeugungsmittel mit Ausführungen über ihr Verhältnis zueinander zu beschließen (211–216).23 Unmissverständlich wird hier der Zweck einer auf die Affekte abzielenden Redeweise genannt: Durch sie soll der Richter nicht faktische Kenntnis (cognitionem) erlangen, sondern in eine Störung seiner Gemütsruhe, eine emotionale Unruhe (perturbationem) geraten.24 Der intentionale Einsatz von Emotionen in einer Gerichtsrede wird also dem angehenden Redner in De oratore ausführlich erläutert und anempfohlen. Dabei ist Cicero sich der Problematik eines gekünstelt wirkenden Auftritts wohl bewusst, weshalb er mit Nachdruck hervorhebt, dass der Redner die Gefühle, die er in seinen Zuhörern auslösen möchte, zunächst selbst empfinden muss. Bei der Verteidigung eines Angeklagten nehmen die πάθη, darunter auch die misericordia,25 einen hohen Stellenwert ein; als intensivstes und wirksamstes Mittel aber, um Mitleid hervorzurufen, wird das Tränenvergießen beschrieben. 1.1.2 Quintilian Gegen Mitte der neunziger Jahre nach Christi Geburt äußerte sich der Rhetor Quintilian in seiner Institutio oratoria zu Emotionen und ihrem Stellenwert für den Redner, und zwar widmet er sich ihnen im sechsten Buch dieses Werkes und darin besonders im zweiten Kapitel.26 Er misst, ganz im Anschluss an Cicero, der eigenen 21 22
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Leeman/Pinkster/Rabbie (1989), S. 118. Zum historischen Hintergrund des Prozesses und seiner Funktion in De oratore vgl. Wisse (1989), S. 269–282. Als Emotionen, die es bei der Zuhörerschaft in erster Linie hervorzurufen gilt, werden amor, odium, iracundia, invidia, misericordia, spes, laetitia, timor und molestia aufgeführt; vgl. auch die Aufzählung in Cic. de or. 2, 178. Zum Verhältnis der hier aufgezählten zu den in Aristoteles‘ Rhetorik genannten πάθη vgl. Leeman/Pinkster/Rabbie (1989), S. 132 f. und – besonders ausführlich – Wisse (1989), S. 282–296. Zur Funktion dieser Passage als Überleitung zum folgenden Abschnitt über den Witz (Cic. de or. 2, 216–290) vgl. Wisse (1989), S. 301–312. Cic. de or. 2, 214: Illud autem genus orationis non cognitionem iudicis, sed magis perturbationem requirit, quam consequi nisi multa et varia et copiosa oratione et simili contentione actionis nemo potest (…). Sie wird Cic. de or. 2, 211 als letzte der Emotionen behandelt: Iam misericordia movetur, si is, qui audit, adduci potest, ut illa, quae de altero deplorentur, ad suas res revocet, quas aut tulerit acerbas aut timeat, ut intuens alium crebro ad se ipsum revertatur; et cum singuli casus humanarum miseriarum graviter accipiuntur, si dicuntur dolenter, tum adflicta et prostrata virtus maxime luctuosa est. Einen Vergleich zwischen der Behandlung der Emotionen bei Cicero und Quintilian zieht Pieter H. Schrijvers, Intention, imagination et théories des émotions chez Cicéron et Quintilien (1982).
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Ergriffenheit die entscheidende Bedeutung für die Erregung von Affekten beim Publikum bei: Summa enim, quantum ego quidem sentio, circa movendos adfectus in hoc posita est, ut moveamur ipsi.27 In den Kapiteln 6, 2, 28 bis 36 geht er daraufhin der Frage nach, wie man selbst von Emotionen, die man bei anderen auslösen möchte, mitgerissen wird (quo modo fiet ut adficiamur?), und beantwortet sie mit dem Hinweis, man müsse seine φαντασία (das Vermögen, sich abwesende Dinge bewusst vorzustellen, so dass man den Eindruck hat, sie seien tatsächlich anwesend) einsetzen.28 Sie bewirke dann, dass die bloße Vorstellung deutlich vor Augen trete (ἐνάργεια), so dass sich die eigenen Emotionen als Reaktion darauf einstellen können. Diesen Mechanismus kann und soll der Redner sich bewusst zunutze machen.29 Auch ein guter Schauspieler lässt sich von seiner Rolle innerlich anrühren,30 und ebenso soll sich ein Schüler in die von ihm zu behandelnden Themen hineinversetzen, da es für ihn nutzlos ist, diverse Rollen zu übernehmen, wenn er sich nicht in die von ihm dargestellten Personen hineinversetzt. Diese Überlegungen und das ihnen entsprechende Handeln, so beschließt Quintilian das zweite Kapitel, hätten ihm den Ruf eingebracht, Talent zu besitzen. Oftmals sei er selbst tief bewegt (motus) gewesen und es hätten ihn nicht nur Tränen ergriffen (me non lacrimae solum deprenderent), sondern er sei erbleicht und habe sogar Schmerz (dolor) empfunden, der mit einem tatsächlichen nahezu identisch (veri similis) gewesen sei.31 Das Abzielen auf die Emotionen der Richter seitens des Angeklagten und seines Verteidigers spielt eine herausragende Rolle in Prozessen, und hierbei wiederum hat das Erregen von Mitleid oberste Priorität: Plurimum tamen valet miseratio, quae iudicem non flecti tantum cogit, sed motum quoque animi sui lacrimis confiteri.32 Die eigenen Fähigkeiten richtig einschätzen zu können ist beim Auftreten vor Gericht allerdings ein entscheidender Faktor, und nur ein Redner von höchster Be27
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Quint. inst. 6, 2, 26. Vgl. auch die 6, 2, 27 f. folgenden rhetorischen Fragen und ihre Beantwortung: An ille dolebit, qui audiet me, in hoc dicam, non dolentem? irascetur, si nihil ipse, qui in iram concitat ei quod exigit simile patietur? siccis agentis oculis lacrimas dabit? fieri non potest. nec incendit nisi ignis nec madescimus nisi umore nec res ulla dat alteri colorem, quem non ipsa habet. Vgl. Quint. inst. 6, 2, 29–31, besonders 29: Quas φαντασίας Graeci vocant (nos sane visiones appellemus), per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur, has quisquis bene conceperit, is erit in adfectibus potentissimus. Vgl. Quint. inst. 6, 2, 32–36, besonders 32: Insequitur ἐνάργεια, quae a Cicerone inlustratio et evidentia nominatur, quae non tam dicere videtur quam ostendere, et adfectus non aliter, quam si rebus ipsis intersimus, sequentur. Die völlige Identifikation mit der Person, für die man vor Gericht eintritt, hebt Quintilian nachdrücklich hervor: Nos illi simus, quos gravia, indigna, tristia passos queremur, nec agamus rem quasi alienam, sed adsumamus parumper illum dolorem. ita dicemus, quae in nostro simili casu dicturi essemus (6, 2, 34). Vgl. Quint. inst. 6, 2, 35: Vidi ego saepe histriones atque comoedos, cum ex aliquo graviore actu personam deposuissent, flentes adhuc egredi. Quint. inst. 6, 2, 36: Haec dissimulanda mihi non fuerunt, quibus ipse, quantuscumque sum aut fui, pervenisse me ad aliquod nomen ingenii credo: frequenter motus sum, ut me non lacrimae solum deprenderent, sed pallor et veri similis dolor. Quint. inst. 6, 1, 23.
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gabung sollte es riskieren, Tränen hervorrufen zu wollen, wie Quintilian mit Nachdruck warnend festhält (Illud praecipue monendum, ne qui nisi summis ingenii viribus ad movendas lacrimas adgredi audeat). Denn stellt sich seine Darbietung als zu wenig talentiert heraus, kann die Absicht leicht ins Gegenteil umschlagen, und er erntet Gelächter.33 Obwohl sich Quintilian bei der Behandlung von Ethos und Pathos an Ciceros Überlegungen zu diesem Thema orientiert, übernimmt er nicht nur dessen Ansichten; vielmehr geht er in einem wesentlichen Aspekt über seinen Vorläufer hinaus und erläutert das eigene Empfinden des Redners in anschaulicher Weise. Das Weinen findet an einigen anderen Stellen seines Werkes kurze Erwähnung zum Zwecke der Illustration; so dient ihm beispielsweise ein Cicero-Zitat im elften Buch dazu, den wirkungsvollen Einsatz von Tränen bei einem Redner zu veranschaulichen, der sich am Schluss seiner Rede von dolor und fatigatio überwältigt sieht.34 Cicero wie Quintilian stellen beide jeweils dahingehend Überlegungen an, wie ein Redner zunächst Emotionen in sich selbst aufkommen lassen muss, um dann in der Lage zu sein, diese auch bei den Zuhörern hervorzurufen. Tränen sind dabei von eminenter Bedeutung; wenn man misericordia empfindet und ein derartiges Gefühl an sein Publikum vermitteln möchte, sind sie das für diesen Zweck am besten geeignete Instrument. Ihr Einsatz vor Gericht ist, wie die Verwendung anderer argumenta, mit deren Hilfe der Redner die Richter auf seine Seite ziehen will, intentional. 1.2 Weinen vor Gericht in der Historiographie Gerade die Tatsache, dass vor Gericht nicht ausschließlich rationale Mittel zum Einsatz kamen, verweist auf den starken Praxisbezug, den die Rechtskultur im antiken Rom besaß. Die Ausführungen über Theorie und tatsächliche Anwendung rhetorisch geschulter Verhaltensweisen bei Cicero und Quintilian lassen sich als Grundlage für eine Betrachtung von Beispielen aus dem hier zu untersuchenden Textcorpus heranziehen, in denen von Tränen im Zuge einer gerichtlichen Verhand33
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Vgl. Quint. inst. 6, 1, 44 f.: Illud praecipue monendum, ne qui nisi summis ingenii viribus ad movendas lacrimas adgredi audeat; nam ut est longe vehementissimus hic, cum invaluit. adfectus, ita, si nil efficit, tepet, quem melius infirmus actor tacitis iudicum cogitationibus reliquisset. nam et vultus et vox et ipsa illa excitati rei facies ludibrio etiam plerumque sunt hominibus, quos non permoverunt. quare metiatur ac diligenter aestimet vires suas actor et, quantum onus subiturus sit, intellegat: nihil habet ista res medium, sed aut lacrimas meretur aut risum. Quint. inst. 11, 3, 173: Illa quoque mire facit in peroratione velut deficientis dolore et fatigatione confessio, ut pro eodem Milone: ‚sed finis sit, neque enim prae lacrimis iam loqui possum‘: quae similem verbis habere debent etiam pronuntiationem. Quintilian erörtert in dem entsprechenden Abschnitt die für die jeweiligen Teile der Rede angemessene actio. Eine Vortragsweise, die Mitleid (miseratio) und Trauer (maeror) bei den Zuhörern erregt, beschreibt Cicero bei seinen Überlegungen zur actio als flexibilis („geschmeidig“), plenus („mit voller Stimme“), interruptus („gebrochen“) und flebili voce („mit weinerlicher, klagender Stimme“), vgl. Cic. de or. 3, 217.
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lung berichtet wird. Sowohl Angeklagte als auch Richter und Zuhörer waren zuweilen so sehr emotional involviert, dass sie unter den vorliegenden Umständen weinten. Drei Ereignisse, bei denen Tränen geschildert werden und die sich an verschiedenen Orten zutrugen, werden nachfolgend besprochen. 1.2.1 Die (erfolglosen) Tränen der Servilia Am Schluss seiner Annalen beschreibt Tacitus das schonungslose Vorgehen Neros gegen die als charakterlich vorbildhaft geltenden, stoisch gesinnten Senatoren Thrasea Paetus und Barea Soranus im Jahre 66 n. Chr.35 Gegen den zuletzt Genannten wurde bereits von dem Ritter Ostorius Sabinus Anklage erhoben; ihm wird sein menschenfreundliches Verhalten während seines Prokonsulats in der Provinz Asia von Nero übelgenommen, offiziell dagegen legt man ihm seine Freundschaft mit Rubellius Plautus und seine Bestreben, die Provinzbewohner zu einem Umsturz zu bewegen, zur Last.36 Die Verkündung des Urteils soll zu der Zeit erfolgen, in der Tiridates Rom besucht,37 und so findet im Anschluss an die Verurteilung des Thrasea die Verhandlung gegen Soranus vor den Senatoren in der Kurie statt.38 Den zuvor genannten 35
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Vgl. Tac. ann. 16, 21–35; die Annalen brechen mitten in der Schilderung vom Tod des Thrasea Paetus ab. Unverkennbar wird auf die ins Grenzenlose gewachsene Ruchlosigkeit Neros, die bereits in den vorangegangenen Kapiteln weitläufig thematisiert wurde, zu Beginn des Kapitels 21 hingewiesen: Trucidatis tot insignibus viris ad postremum Nero virtutem ipsam exscindere concupivit interfecto Thrasea Paeto et Barea Sorano, olim utrisque infensus. Die Geschehnisse um Thrasea Paetus und sein Verhalten dabei werden 16, 21 f. und 24–29, die Ereignisse um Barea Soranus werden 16, 23 und 16, 30–33 berichtet. Vgl. Tac. ann. 16, 23, 1: At Baream Soranum iam sibi Ostorius Sabinus eques Romanus poposcerat reum ex proconsulatu Asiae, in quo offensiones principis auxit iustitia atque industria, et quia portui Ephesiorum aperiendo curam insumpserat vimque civitatis Pergamenae prohibentis Acratum, Caesaris libertum, statuas et picturas evehere inultam omiserat. sed crimini dabatur amicitia Plauti et ambitio conciliandae provinciae ad spes novas. Tacitus unterscheidet somit klar zwischen den wahren, vermutlich aber rechtlich wenig stichhaltigen und den offiziell vorgebrachten, allerdings wohl frei erfundenen Anklagepunkten. – Zum Zeitpunkt der Statthalterschaft sowie zu den verwandtschaftlichen Verhältnissen zwischen Soranus, Plautus und Lucius Vetus, der sich ebenfalls in seiner Zeit als Prokonsul von Asia moralisch aufrichtig verhalten hatte und aufgrunddessen verklagt worden war (vgl. Tac. ann. 16, 10 f.), vgl. Koestermann (1968), S. 384 f. Vgl. Tac. ann. 16, 23, 2: Tempus damnationi delectum, quo Tiridates accipiendo Armeniae regno adventabat, ut ad externa rumoribus intestinum scelus obscuraretur, an ut magnitudinem imperatoriam caede insignium virorum quasi regio facinore ostentaret. Auch hier bleibt eine deutliche Äußerung zu Neros Schlechtigkeit nicht aus; die Wahl des Termins kann nur negative Ursachen haben, nämlich dass entweder die allgemeine Aufmerksamkeit von dem Prozess abgelenkt wird oder dass Nero vor dem auswärtigen König seine herrscherliche Macht zur Schau stellen will. Die Senatoren müssen zur Urteilsverkündung der beiden Prozesse die Kurie in einer bedrohlich wirkenden Atmosphäre betreten, vgl. Tac. ann. 16, 27, 1: At postera luce duae praetoriae cohortes armatae templum Genetricis Veneris insedere; aditum senatus globus togatorum obsederat non occultis gladiis, dispersique per fora ac basilicas cunei militares. inter quorum aspectus et minas ingressi curiam senatores.
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Anklagepunkten wird noch ein weiterer hinzugefügt: Servilia, die Tochter des Soranus, habe den Magiern Geld zukommen lassen (pecuniam magis dilargita esset).39 Dieser neue Vorwurf entspricht zwar den Tatsachen, doch liegen die Anfragen an die magi, so legt Tacitus es dar, in der pietas und caritas der Tochter begründet, da sie lediglich erfahren möchte, ob ihre Familie schadlos aus dem Verfahren gehen werde. Freilich hat die noch nicht einmal Zwanzigjährige die Lage durch ihr ungeschicktes Verhalten (imprudentia aetatis) verschlimmert, und so schaut sie ihren Vater noch nicht einmal an, als sie in den Senat gerufen wird und beide sich vor dem Tribunal der Konsuln gegenüberstehen.40 Auf die Frage hin, ob sie ihren Brautschmuck verkauft habe, um dadurch an Geld für die Durchführung magischer Handlungen zu kommen, antwortet Servilia zunächst nicht, sondern wirft sich zu Boden, weint und schweigt dabei (strata humi longoque fletu et silentio). Dann umfasst sie mit ihren Armen den ganzen Altar41 und äußert sich mit den Worten: Sie habe ausschließlich darum in ihren Gebeten gefleht, dass Kaiser und Senatoren ihren geliebten Vater unversehrt belassen mögen; sie habe ihren Schmuck weggegeben und würde, wenn nötig, sogar ihr Leben geben; den Princeps habe sie nur als ein göttliches Wesen erwähnt; ihr Vater habe nichts von ihrer Tat gewusst.42 Eindringlich wird dem Leser vor Augen geführt, wie Servilia sowohl bei ihrem nonverbalen Agieren als auch in ihrer Rede die nachdrücklichste Form aller möglichen Verhaltensweisen wählt. Ihre Tränen und ihr Schweigen appellieren schon für sich mit sehr hoher Intensität an das Mitgefühl der Anwesenden, und die direkt wiedergegebenen Worte unterstützen diese Absicht deutlich.43 Allerdings bleibt die Seite der Kläger davon unbeeindruckt, was sich prompt in der folgenden Szene 39 40
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Vgl. Tac. ann. 16, 30, 2: Sed recens et quo discrimini patris filiam conectebat, quod pecuniam magis dilargita esset. Vgl. Tac. ann. 16, 30, 2 f.: Acciderat sane pietate Serviliae (id enim nomen puellae fuit), quae caritate erga parentem, simul imprudentia aetatis, non tamen aliud consultaverat quam de incolumitate domus, et an placabilis Nero, an cognitio senatus nihil atrox adferret. igitur accita est in senatum, steteruntque diversi ante tribunal consulum grandis aevo parens, contra filia intra vicesimum aetatis annum, nuper marito Annio Pollione in exilium pulso viduata desolataque, ac ne patrem quidem intuens cuius onerasse pericula videbatur. Vermutlich ist der Altar der Göttin Victoria gemeint; Tac. ann. 16, 27, 1 wird zwar auch der Tempel der Venus Genetrix genannt, doch wird ja explizit erwähnt, dass die Senatoren die Kurie betreten. Vgl. Tac. ann. 16, 31, 1 f.: Tum interrogante accusatore, an cultus dotales, an detractum cervici monile venum dedisset, quo pecuniam faciendis magicis sacris contraheret, primum strata humi longoque fletu et silentio, post altaria et aram complexa ‚nullos‘ inquit ‚impios deos, nullas devotiones, nec aliud infelicibus precibus invocavi, quam ut hunc optimum patrem tu, Caesar, vos, patres, servaretis incolumem. sic gemmas et vestes et dignitatis insignia dedi, quo modo si sanguinem et vitam poposcissent. viderint isti, antehac mihi ignoti, quo nomine sint, quas artes exerceant: nulla mihi principis mentio nisi inter numina fuit. nescit tamen miserrimus pater, et si crimen est, sola deliqui‘. Koestermann (1968), S. 401 hebt das literarische Können des Tacitus an dieser Stelle deutlich hervor: „Das Verhalten der Servilia, die von ihren Gefühlen überwältigt wird, ehe sie sich zum Sprechen aufrafft, hat Tacitus mit bemerkenswertem Einfühlungsvermögen geschildert.“ Dass Reden in Prozessen, von denen sich etliche in den Annalen finden, wörtlich wiedergegeben werden, ist bei Tacitus durchaus nicht häufig zu finden, vgl. ebd., S. 400.
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manifestiert, denn als Soranus seine Tochter unterbricht und darauf verweist, dass sie mit den übrigen Beschuldigungen nichts zu tun habe und bestenfalls ihre nimia pietas als Verbrechen angesehen werden könne, will er sie in seine Arme schließen, doch wird dies von den Liktoren verhindert. Bei der Zeugenvernehmung sagt ein bestochener Klient des Soranus, Publius Egnatius Celer, zu dessen Ungunsten aus, und so fällt das Urteil ganz im Sinne der Ankläger aus – auch der wahrheitsgemäß aussagende Cassius Asclepiodotus kann nichts ausrichten, vielmehr wird er enteignet und verbannt. Barea Soranus und seiner Tochter wird die Wahl ihrer Todesart freigestellt, der Ankläger dagegen wird reichlich entlohnt, so merkt Tacitus am Ende dieser Schilderung lapidar an.44 Der Fokussierung auf den neu hinzugekommenen Anklagepunkt, nämlich die Befragung der Magier, entspricht die herausragende Position, die den Worten und Gesten der Servilia beigemessen wird. Die junge Frau ergreift die stärksten ihr verfügbaren Maßnahmen, um sich vor Gericht zu verteidigen: Sie wirft sich nieder, weint und bekundet mit unmissverständlichen Worten ihre Treue zum Vater sowie ihre staatstreue Gesinnung. Die ausführliche Darstellung ihres Auftritts macht ihn zu einem besonders wirkungsvollen Bestandteil der Soranus-Episode, und dass sie trotz allem keinen Erfolg hat, führt unverkennbar die Willkür des Rechtsapparates unter Nero vor Augen und portraitiert seine Anhänger, die sich weder durch Fakten noch durch Tränen beirren lassen, als völlig erbarmungslos. Der Einsatz rationaler und emotionaler Argumente bleibt daher ohne Erfolg. 1.2.2 Die (bedingt erfolgreichen) Tränen der Peponila Allerdings führt auch der Erfolg solcher Maßnahmen nicht zwangsläufig dazu, dass der Angeklagte mit dem Leben davonkommt, wie Cassius Dio am Beispiel der Peponila zeigt. Deren Mann, der Lingone Iulius Sabinus, hatte sich als Nachkomme Gaius Iulius Caesars ausgegeben, im Jahre 70 n. Chr. mit der Unterstützung weiterer angrenzender Stämme eine Revolte angezettelt und sich mit dem Namen Caesar schmückt. Sein Aufstand wurde bald niedergerungen, doch konnte er sich neun Jahre lang in einer bei einem niedergebrannten Monument befindlichen Höhle zusammen mit seiner Frau verborgen halten. In dieser Zeit gebar sie ihm, so Dio, sogar zwei Söhne.45 Schließlich wurde die Familie aber entdeckt und 79 n. Chr. nach Rom gebracht, wo sich Peponila vor Kaiser Vespasian in tiefer Demut zeigte und um Gnade bat. Sie warf sich ihm zu Füßen und hielt eine Verteidigungsrede, die Cassius Dio als ἐλεεινότατον („höchstes Mitleid erregend“) bezeichnet, was die adlige Frau vor allem dadurch erreichte, dass sie auf ihre zwei Kinder verwies, die neben ihr und ihrem Mann den Kaiser anflehten; Dio zitiert hier wörtlich: ταῦτα, Καῖσαρ, καὶ ἐγέννησα ἐν τῷ μνημείῳ καὶ ἔθρεψα, ἵνα σε πλείονες ἱκετεύσωμεν.46
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Vgl. Tac. ann. 16, 32 f. Im Verhalten des Soranus zeigt sich einerseits die ihm zukommende Schutzfunktion bezüglich seiner Tochter und andererseits die liebevolle Zuneigung zu ihr, vgl. Späth (1994), S. 224. Vgl. Cass. Dio 65 (66), 3, 1 f. Vgl. Cass. Dio 65 (66), 16, 2.
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Mit ihrem Auftreten rief Peponila bei Vespasian und allen anderen Zuhörern Tränen hervor – trotzdem wurde die Familie nicht begnadigt (δακρῦσαι μὲν γὰρ καὶ αὐτὸν καὶ τοὺς ἄλλους ἐποίησεν, οὐ μέντοι καὶ ἠλεήθησαν).47 Das lag in diesem Fall eindeutig nicht daran, dass es der dramatischen Darbietung der Gallierin an Überzeugungskraft fehlte, denn selbst der Kaiser weinte angesichts ihres Schicksals und gab dadurch sein Mitgefühl zu erkennen. Dennoch sah er nicht von einem Todesurteil ab, da das Vergehen des Iulius Sabinus als so hoch einzustufen war, dass dafür unter keinen Umständen ein Freispruch ergehen konnte. Vespasian war zu Tränen gerührt, und es mag ihm vielleicht sogar widerstrebt haben, dass er hier keine Gnade walten lassen konnte. Sein Urteil war ob der Schwere des Verbrechens nicht ungerecht, sondern unvermeidlich, trotzdem zeigte er sich menschlich und signalisierte, dass er am Schicksal der Verurteilten Anteil nahm.48 Ganz im Gegensatz dazu war das Urteil, das über die verzweifelt weinende Servilia gefällt wurde, in der Sache nicht begründet und konnte nur im Rahmen eines Unrechtsregimes zustandekommen. 1.2.3 Die Tränen der Messalina und des Vitellius Eine Begebenheit, an der sich der Einsatz von Tränen im Zusammenhang mit dem rechtswidrigen Vorgehen bei der Verurteilung unerwünschter Personen gleich in mehrfacher Weise illustrieren lässt, wird zu Beginn von Buch 11 der taciteischen Annalen geschildert. Es handelt sich um die Anklage des Valerius Asiaticus49 im Jahre 47 n. Chr., der den Neid der Messalina auf sich gezogen hatte. Der zweimalige Konsul und einflussreiche homo novus war im Besitz der Lucullischen Gärten, nach denen die Kaiserin gierte (inhians), zudem nimmt sie seine angebliche frühere Beziehung zu Poppaea Sabina der Älteren zum Anlass einer Klage gegen ihn sowie gegen Poppaea selbst.50 Daher erhebt sich der machtbewusste Suillius auf Messali47
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Cass. Dio 65 (66), 16, 1 f.: Ὁ Σαβῖνος ἐκεῖνος ὁ Γαλάτης ὁ Καίσαρά ποτε ἑαυτὸν ὀνομάσας καὶ ἐς ὅπλα χωρήσας ἡττηθείς τε καὶ ἐς τὸ μνημεῖον κατακρυφθεὶς ἐφωράθη τε καὶ ἐς τὴν Ῥώμην ἀνήχθη. συναπέθανε δὲ αὐτῷ καὶ ἡ γυνὴ Πεπονίλα, ἥπερ που καὶ διεσέσωστο αὐτόν, καίτοι καὶ τὰ παιδία τῷ Οὐεσπασιανῷ προβαλοῦσα καὶ ἐλεεινότατον ἐπ᾿ αὐτοῖς λόγον εἰποῦσα, ὅτι „ταῦτα, Καῖσαρ, καὶ ἐγέννησα ἐν τῷ μνημείῳ καὶ ἔθρεψα, ἵνα σε πλείονες ἱκετεύσωμεν.“ δακρῦσαι μὲν γὰρ καὶ αὐτὸν καὶ τοὺς ἄλλους ἐποίησεν, οὐ μέντοι καὶ ἠλεήθησαν. Dass Vespasian sich in vergleichbaren Fällen ähnlich verhielt, legt die Bemerkung Suetons nahe, er habe sogar gerechte Todesurteile nur unter Tränen und mit Bedauern unterzeichnet (Suet. Vesp. 15: neque caede cuiusquam umquam iustis suppliciis inlacrimauit etiam et ingemuit); vgl. II. 5.2.1. – Tacitus verweist hist. 4, 67, 2 auf die (heute verlorene) Darstellung des insigne Epponinae uxoris exemplum in einem der folgenden Bücher der Historien; diese Bemerkung legt immerhin nahe, dass er die Frau des Iulius Sabinus und, so kann man vermuten, ihren Einsatz für ihren Mann vor dem Kaiser als vorbildhaft einstuft. Zu seiner Person vgl. Koestermann (1967), S. 25 f. Messalina hängt Valerius Asiaticus vermutlich deswegen ein früheres Verhältnis mit Poppaea an oder bringt dieses gerade in jenem Jahr zur Anklage, weil Poppaea eine außereheliche Beziehung mit dem Schauspieler Mnester hatte, zu dem Messalina selbst leidenschaftliche Gefühle hegte – diese Vermutung ließe sich jedenfalls durch die Bemerkung Tac. ann. 11, 4, 1 bestätigen, die beiden angeklagten Ritter hätten ihr Haus dem Mnester und der Poppaea zur Verfügung gestellt; vgl. dazu Koestermann (1967), S. 25 und 33.
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nas Betreiben hin zum Ankläger, dem obendrein Sosibius, Erzieher des Kaisersohnes Britannicus, an die Seite gestellt wird. Dieser denunziert den Asiaticus bei Claudius, indem er ihn als reich und populär, infolgedessen also als eine Gefahr für die Herrschaft charakterisiert, zumal er auch der Anstifter der Verschwörung gegen Caligula gewesen sei. Claudius lässt sich davon überzeugen, dass der Gallier Valerius Asiaticus die Stämme seiner Heimat zu einer Revolte bewegen wolle und gibt den Befehl, ihn in Baiae festzunehmen.51 Der übereilten Verhaftung entspricht es, dass die Verhandlung nicht – wie üblich – in der Kurie stattfindet, sondern im herrscherlichen Privatgemach (cubiculum), in Anwesenheit der Messalina, des Claudius und des Suillius. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, die Soldaten verdorben (corruptionem militum), mit Poppaea Ehebruch begangen (adulterium Poppaeae) sowie seinen Körper verweichlicht zu haben (mollitiam corporis), was in diesem Falle – wie sich aus der Entgegnung des Asiaticus ergibt – das Verhalten des Angeklagten als passiver Partner bei einem Geschlechtsakt zwischen Männern bezeichnet.52 Besonders der letztgenannte Punkt ist inhaltsleer und allgemein gehalten und stellt für sich genommen keinen Verstoß gegen geltendes Recht dar, so dass Valerius Asiaticus nicht mehr länger schweigen kann (victo silentio) und in folgende Worte, die Tacitus wörtlich zitiert und ihnen dadurch besonderes Gewicht verleiht, ausbricht: interroga, Suilli, filios tuos: virum esse me fatebuntur („Frage doch deine Söhne, Suillius: die werden dir verraten, dass ich ein Mann bin“).53 Nach dieser von einer heftigen Aufwühlung zeugenden Entgegnung beginnt der Angeklagte seine eigentliche Verteidigungsrede, deren Inhalt gänzlich ausgespart wird, doch muss sie stichhaltige Gegenargumente geliefert haben. Das Entscheidende ist, dass es Asiaticus in dieser 51
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Vgl. Tac. ann. 11, 1: Nam Valerium Asiaticum, bis consulem, fuisse quondam adulterum eius credidit, pariterque hortis inhians, quos ille a Lucullo coeptos insigni magnificentia extollebat, Suillium accusandis utrisque immittit. adiungitur Sosibius Britannici educator qui per speciem benevolentiae moneret Claudium cavere vim atque opes principibus infensas: praecipuum auctorem Asiaticum interficiendi Caesaris non extimuisse contione in populi Romani fateri gloriamque facinoris ultro petere; clarum ex eo in urbe, didita per provincias fama parare iter ad Germanicos exercitus, quando genitus Viennae multisque et validis propinquitatibus subnixus turbare gentilis nationes promptum haberet. at Claudius nihil ultra scrutatus citis cum militibus tamquam opprimendo bello Crispinum praetorii praefectum misit, a quo repertus est apud Baias vinclisque inditis in urbem raptus. Das OLD bietet unter dem Lemma mollitia diese Bedeutung des Wortes mit der hier vorliegenden Stelle als Beleg, S. 1242. Zu den verschiedenen Aspekten von mollitia vgl. Edwards (1993), S. 63–97; über Ehebruch und homosexuelle Beziehungen mit freien Männern als Teilbereich des Begriffsinhalts von stuprum äußert sich Williams (22010), S. 103–136. Beachtlich ist an dieser verbatim zitierten und dadurch von Tacitus als besonders bedeutend eingestuften Bemerkung – wörtliche Zitate von Angeklagten sind bei ihm nicht eben häufig zu finden, wie Koestermann (1968), S. 400 anmerkt –, dass sie, wie die in der Verteidigungsrede auftretenden Tränen, die emotionale Aufwühlung des Valerius Asiaticus bereits eindeutig kennzeichnet. Er sieht sich durch die dritte Anschuldigung so sehr in die Enge getrieben, dass er spontan reagiert, möglicherweise hätte er sich sonst auch nicht zu dieser Aussage homosexuellen Inhalts hinreißen lassen. Vgl. zu dieser Textstelle Williams (22010), S. 180–182. Späth (1994), S. 195 merkt an, dass Asiaticus durch seine Aussage, Suillius solle seine Söhne fragen (gemeint ist: nach seiner sexuellen Potenz fragen), diese indirekt der mollitia beschuldigt und dadurch auch ihren Vater angreift.
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scheinbar ausweglosen Situation fertigbringt, Claudius in höchstem Maß emotional zu bewegen (commoto maiorem in modum Claudio) und Messalina sogar Tränen zu entlocken (Messalinae quoque lacrimas excivit).54 Die Kaiserin trocknet ihre Tränen und verlässt daraufhin den Raum, um Vitellius, den Großvater des späteren Herrschers gleichen Namens, dazu zu ermahnen, den Angeklagten nicht entkommen zu lassen, außerdem stellt sie sicher, dass Poppaea keine Gefahr mehr für sie sein wird.55 Die Ironie dieser Passage ist unverkennbar: Hatte Messalina doch selbst die – unberechtigte – Anklage in die Wege geleitet, um sich nun von ihren Gefühlen mitreißen zu lassen und offen Sympathie für den Beschuldigten zu bekunden; völlig absurd wird ihr Verhalten noch dadurch, dass sie sich auch im Anschluss nicht von ihrem Vorhaben abbringen lässt.56 Aufgrund der inhaltlich (zumindest steht zu vermuten, dass sich die fadenscheinigen Anschuldigungen leicht widerlegen ließen) wie durch die Art des Vortrags überzeugenden Darbietung des Asiaticus hat sich Claudius eigentlich zu einem Freispruch entschieden, doch der Prozess nimmt an dieser Stelle eine unvorhergesehene Wendung: Der Herrscher wird wiederum umgestimmt, was an dieser Stelle durch den Einsatz von Tränen seitens eines vermeintlichen Fürsprechers geschieht. Vitellius weint vor dem Kaiser und führt seine Freundschaft zu Asiaticus, ihrer beider Hochachtung vor der Mutter des Kaisers, Antonia Minor, dessen Verdienste um den Staat und weitere Dinge an, die Mitleid erregen sollen, um sich dann dafür auszusprechen, dass man den Angeklagten seine Todesart selbst frei wählen lassen solle (liberum mortis arbitrium). Claudius folgt dieser Einschätzung und lässt, so bemerkt Tacitus ironisch, kaiserliche Milde walten.57 Asiaticus öffnet sich bald darauf die Adern und geht gelassen in den Tod.58 54
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Tac. ann. 11, 2, 1: Neque data senatus copia: intra cubiculum auditur, Messalina coram, et Suillio corruptionem militum, quos pecunia et stupro in omne flagitium obstrictos arguebat,exin adulterium Poppaeae ac postremum mollitiam corporis obiectante. ad quod victo silentio prorupit reus et ‚interroga‘ inquit ‚Suilli, filios tuos: virum esse me fatebuntur‘. ingressusque defensionem, commoto maiorem in modum Claudio, Messalinae quoque lacrimas excivit. – Messalina reagiert demnach so, wie es vom Angeklagten beabsichtigt war; Asiaticus war rhetorisch bewandert genug, um ihre Imaginationskraft und somit ihre Emotionen zu aktivieren; überreden konnte er sie am Ende allerdings nicht, vgl. de Libero (2009), S. 226. Tac. ann. 11, 2, 2: Quibus abluendis cubiculo egrediens monet Vitellium, ne elabi reum sineret; ipsa ad perniciem Poppaeae festinat, subditis qui terrore carceris ad voluntariam mortem propellerent, adeo ignaro Caesare, ut paucos post dies epulantem apud se maritum eius Scipionem percontaretur, cur sine uxore discubuisset, atque ille functam fato responderet. – Die Ahnungslosigkeit des Claudius, die oftmals als Naivität benannt wird, zeigt sich hier ebenso wie zu Beginn der Episode, wo er unhinterfragt den Asiaticus als schuldig anerkennt und ihn festnehmen lässt. Vgl. Koestermann (1967), S. 30. Es ist davon auszugehen, dass die Tränen der Messalina, die Asiaticus durch seine Rede bei ihr hervorruft, als aufrichtig verstanden werden sollen, so dass ihre anschließende Unerbittlichkeit im Vorgehen gegen den Angeklagten einen noch größeren Kontrast bilden, vgl. Hausmann (2009), S. 158 f. Tac. ann. 11, 3, 1: Sed consultanti super absolutione Asiatici flens Vitellius, commemorata vetustate amicitiae utque Antoniam principis matrem pariter observavissent, dein percursis Asiatici in rem publicam officiis recentique adversus Britanniam militia, quaeque alia conciliandae misericordiae videbantur, liberum mortis arbitrium ei permisit; et secuta sunt Claudii verba in eandem clementiam. – Auf die hier abermals unverkennbare Ironie des Tacitus verweist Koestermann (1967), S. 31.
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Die ganze besprochene Passage ist von Ironie durchzogen: Charakterisiert sie doch den Kaiser mehrfach als stark beeinflussbar und daher ohne kritisches Urteilsvermögen59 und stellt Suillius und Vitellius als eigentliche Entscheidungsträger hin; der Einsatz rhetorischer Mittel erzielt die beabsichtigte Wirkung und führt trotzdem nicht zu einem gerechten Urteil. Der tatsächliche Grund der Anklage wird bereits in Abchnitt 11, 1 genannt, so dass die von Suillius formulierten Punkte schon von Anfang an die Befangenheit des Klägers und die mangelnde Sachbezogenheit des Prozesses herausstellen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Verteidigungsrede und die (so legt der Kontext nahe) unwillkürlichen Tränen der Messalina zunächst zu einem Erfolg für Asiaticus führen, und wiederum überraschend, dass ein erneuter Stimmungswandel einsetzt und Vitellius einem beinahe erfolgten Freispruch des Claudius zuvorkommt. Die Argumente, die er scheinbar zu Gunsten des Angeklagten vorbringt, sind allesamt geeignet, um Asiaticus in positivem Licht erscheinen zu lassen; untermauert wird dieser Einsatz noch durch die geschickt angebrachten Tränen, die beim Kaiser Mitleid erregen. Doch handelt es sich in diesem Fall um geheuchelte Tränen und einen nur vorgeblichen Appell an die misericordia, tatsächlich aber tritt der boshafte Charakter des sich als Fürsprecher präsentierenden Vitellius zutage.60 Die Umkehrung der eigentlichen Ordnung spiegelt sich dann zuletzt in der Tatsache, dass der Ausgang des Geschehens mit der kaiserlichen clementia assoziiert wird.61 Die im Affekt begonnene Verteidigungsrede des Asiaticus zeigt ihren Effekt in der Betroffenheit des Claudius und den Tränen der Messalina, die geheuchelten Tränen des Vitellius haben ebenfalls die beabsichtigte Wirkung, und sie führen in diesem Fall zum Erfolg – nämlich dazu, dass durch ein mit Hilfe von Tränen authentifiziertes Mitleid des Vortragenden das Mitleid des Zuhörers angesprochen wird.62 58
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Tac. ann. 11, 3, 2: Usurpatis quibus insueverat exercitationibus, lauto corpore, hilare epulatus, cum se honestius calliditate Tiberii vel impetu C. Caesaris periturum dixisset, quam quod fraude muliebri et impudico Vitellii ore caderet, venas exsolvit, viso tamen ante rogo iussoque transferri partem in aliam, ne opacitas arborum vapore ignis minueretur: tantum illi securitatis novissimae fuit. Vgl. Koestermann (1967), S. 28 zu der übereilten Festnahem des Valerius Asiaticus auf Befehl des Claudius hin, der seinen – wohlgemerkt: gar nicht dazu berufenen – Ratgeber Sosibius nicht hinterfragt. Zur generellen Beeinflussbarkeit des Kaisers durch seine Frau und durch Freigelassene vgl. auch Suet. Claud. 29, 1 sowie Cass. Dio 60, 8, 4, und 60, 14, 1; weitere Belege in den Annalen des Tacitus nennt Koestermann, ebd. Cass. Dio 60 (61), 29, 4–6 berichtet deutlich nüchterner von den Ereignissen und erklärt das Verhalten des Vitellius genauer; laut seiner Darstellung habe dieser mit seiner Aussage der Messalina einen Gefallen tun wollen und vor Claudius bekundet, der Angeklagte sei mit der Bitte an ihn herangetreten, er wolle sich seine Todesart selbst aussuchen (vgl. 60 (61), 29, 6: Ὁ Οὐιτέλλιος τῇ Μεσσαλίνῃ χαριζόμενος παρακεκλῆσθαι ἔφη ὑπ᾿ αὐτοῦ ἵν᾿ ὅπως ἂν βουληθῇ ἀποθάνῃ). Vgl. Koestermann (1967), S. 32, der auf eine ähnliche Formulierung an anderer Stelle der Annalen hinweist. Auf sprachlicher Ebene lässt sich eine Verdrehung gesetzter Normen daran festmachen, dass die Wendung in eandem clementiam von einem antiken Leser höchstwahrscheinlich mit der formelhaften Bekundung der Zustimmung im römischen Senat in eandem sententiam assoziiert wurde, vgl. Hausmann (2009), S. 164. Die manipulative Funktion des Weinens wird des öfteren von Tacitus herausgearbeitet, vgl. de Libero (2009), S. 223.
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Anhand dieses Beispiels lässt sich deutlich illustrieren, wie sehr sich das von den beiden berühmtesten Rednern Roms explizit empfohlene Mittel zum Erregen von misericordia, nämlich der Einsatz von Tränen, in der Praxis etabliert hatte und in Vorgänge rechtlicher Entscheidungsfindung involviert war. Gerade die von Vitellius vergossenen Tränen verdeutlichen dabei, dass nicht nur eine inhaltlich sachliche Darstellung, sondern ebenso die Art des Vortrags manipulativ sein konnte. Das Weinen vor Gericht findet sich auch in historiographischen Texten; sie belegen dessen praktischen Einsatz. Ort der Verhandlung ist zwar üblicherweise die Kurie, doch stellte sich heraus, dass mitunter die Privaträume des Kaisers den lokalen Rahmen für eine Entscheidungsfindung in juristischen Angelegenheiten abgeben können. Was für den angehenden orator beschrieben wird, besitzt nicht nur bei Gerichtsprozessen seine Gültigkeit, vielmehr entspricht es den Erfordernissen verschiedener Situationen, bei denen rhetorisches Können eine Rolle spielte und die das Einbringen des eigenen Pathos erforderten. Der Rahmen für kommunikative Kontexte, in denen ein Einsatz rhetorischer Mittel für einen römischen Mann notwendig war, kann auch weiter gefasst werden. Damit rücken diejenigen örtlichen Gegebenheiten näher in das Blickfeld, die den Hintergrund für Ereignisse bilden, bei denen Argumentieren und Überzeugen von entscheidender Bedeutung ist und in denen sich ein durch Gewohnheit verfestigtes Handeln etabliert hat. Oftmals ist in solchen Zusammenhängen weniger das Handeln eines einzelnen Mannes, sondern das Verhalten einer Gruppe bestimmend für die Konsensfindung bei der Kommunikation zwischen zwei Parteien. 1.3 In der Kurie und auf dem Forum Mit Kurie und Forum sowie Circus und Theater legt der nächste Abschnitt den Fokus auf Orte öffentlichen politischen Interagierens, die den unterschiedlichen sozialen Gruppen im antiken Rom eine Bekundung der eigenen Meinung ermöglichten. In der Kurie als der Versammlungsstätte des Senats wurden offizielle Beschlüsse gefasst, die das staatliche Leben regelten. Daher stellte sie bis weit in die Kaiserzeit hinein gewissermaßen das Zentrum des politischen Geschehens dar; auf dem Forum dagegen konnte eine Meinungsbildung innerhalb der Bevölkerung als Reaktion auf bedeutsame Ereignisse stattfinden, deren Artikulation sich oftmals in dramatischer Weise gestaltete.63 1.3.1 In der Kurie In den Senatssitzungen verständigten sich die anwesenden Mitglieder nach einem festgelegten Verfahren.64 Weinen bildete keinen essentiellen Bestandteil der Zusammenkünfte, doch wird in unterschiedlichen Situationen von den Tränen einer 63 64
Kurie und Forum bildeten seit ihrer Entstehung den Mittelpunkt des politischen Lebens, und die Entwicklung ihrer Bedeutung spiegelt sich auch in ihrer baulichen Entwicklung wider, vgl. dazu etwa die entsprechenden Passagen bei Filippo Coarelli sowie Hölkeskamp (2001). Zum Ablauf der Senatssitzungen in der Kaiserzeit vgl. grundlegend Talbert (1984), S. 221–289.
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oder mehrerer Personen berichtet.65 Tacitus beschreibt in den Kapiteln 11 bis 14 des ersten Buches der Annalen,66 wie Tiberius in der zweiten Versammlung des Gremiums nach dem Tod des Augustus von den Senatoren um die Übernahme der Regierung gebeten wird und sie zunächst mit zahlreichen Argumenten ablehnt. Daraufhin verdeutlichen die Senatsmitglieder, die laut Tacitus die Absicht des Princeps durchschauen, sich seine Machtposition unangefochten zu sichern, ihr Anliegen mit einer drastischen Eindringlichkeit: Sie klagen, weinen und flehen (in questus lacrimas vota effundi), zudem erheben sie ihre Hände zu den Göttern und dem Bild des Augustus und strecken sie zum Knie des Tiberius aus (ad deos, ad effigiem Augusti, ad genua ipsius manus tendere), um ihn zum Einlenken zu bewegen. Tiberius signalisiert abermals seinen Unwillen, doch letztlich erweist sich ein wiederholtes Bitten insoweit als effektiv, als dass der künftige Princeps zwar noch nicht die Herrschaft übernimmt, sie jedoch zumindest nicht mehr ablehnt und dadurch der mehrfachen supplicatio ein Ende bereitet.67 Ein völlig anderer Anlass für die Tränen des versammelten Senats bot sich im Jahre 180, wie die Epitome de Caesaribus gegen Ende des Kapitels 16 lapidar anmerkt: Nachdem der Tod Mark Aurels in Rom gemeldet worden ist, wird die gesamte Stadt von Erschütterung und Trauer ergriffen (confusa luctu publico urbe); die Senatoren legen Trauerkleidung an und kommen weinend in der Kurie zusammen (senatus in curiam veste tetra amictus lacrimans convenit).68 Die allgemeine Trauer der Bevölkerung verweist auf das große Ansehen, das der Philosoph und Kaiser in allen Teilen der Gesellschaft besessen hat, und die diesem entsprechende Gefühlsäußerung der Bewohner Roms wird durch das Handeln der Senatoren bestätigt – an deren Versammlung, die auf die Meldung vom Tod des Herrschers hin stattfindet, wird zunächst die Tatsache hervorgehoben, dass man mit Trauergewändern bekleidet ist und Tränen vergießt. Die öffentliche Bekundung der Staatstrauer in diesem quasi zeremoniellen Akt vollzieht sich ohne Worte, ihre Genuinität wird vielmehr noch dadurch herausgestellt, dass keine Reden von Nöten sind, sondern ein Konsens darüber besteht, wie hoch der Verlust dieses Herrschers einzustufen ist. Folglich verwundert nach dieser kurzen Bemerkung, die die Aufrichtigkeit der Trauer seitens der Regierenden und der Regierten betont, auch der letzte Satz des Kapitels nicht, in dem der einmütige Beschluss zur Konsekration des Kaisers formuliert wird.69 Der übergroßen Trauer um Mark Aurel entspricht eine unangefochtene Hochschätzung, die beide ihren höchsten Ausdruck in den performativen Handlungen der Senatoren und den Beschlüssen dieses Gremiums finden. 65 66 67 68 69
Bei Livius werden allerdings nirgends Tränen in der Kurie erwähnt, vgl. de Libero (2009), S. 214. Vgl. Koestermann (1963), S. 104. Tac. ann. 1, 13, 5: Fessusque clamore omnium, expostulatione singulorum flexit paulatim, non ut fateretur suscipi a se imperium, sed ut negare et rogari desineret; vgl. Koestermann (1963), S. 113. Ausführlicher wird dieses Beispiel in II. 2.4.1.2 behandelt. Aur. Vict. epit. Caes. 16, 13: De eius morte nuntio Romam pervecto confusa luctu publico urbe senatus in curiam veste tetra amictus lacrimans convenit. Vgl. dazu II. 4.1.2.3. Aur. Vict. epit. Caes. 16, 14: Et quod de Romulo aegre creditum est, omnes pari consensu praesumpserunt Marcum caelo receptum esse. Ob cuius honorem templa columnae multaque alia decreta sunt.
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
Nicht das Ableben eines Kaisers, sondern seines designierten Nachfolgers ist in einem weiteren Beispiel aus den taciteischen Annalen der Grund dafür, dass im Senat Tränen vergossen werden. Als Drusus der Jüngere im Jahre 23 n. Chr. schwer erkrankt, erscheint sein Vater Tiberius wie gewohnt in der Kurie, und sogar nach dem Tod des Sohnes – die Todesursache, nämlich ein Gift, das ihm Seian verabreichen ließ, wird erst acht Jahre später enthüllt70 – verhält er sich nicht anders. Konsuln und Senatoren bekunden jeweils durch ihr Gebaren die Trauer um den Thronfolger: die einen indem sie sich per speciem maestitiae auf die Sitze gewöhnlicher Senatoren begeben, was von Tiberius gerügt wird; die anderen indem sie in Tränen ausbrechen (effusi in lacrimas). Tiberius spricht ihnen in einer kurzen Rede Mut zu,71 indem er zwar auf seinen eigenen Schmerz (dolor) hinweist, zugleich jedoch anführt, er habe aus der Verrichtung der staatlichen Aufgaben Trost erfahren. Allerdings kommt seine Sorge um die Nachfolge in den sich daran anschließenden Worten über das hohe Alter der Livia und sein eigenes sowie über das geringe seiner Enkel zum Ausdruck; schließlich lässt er zwei Söhne des Germanicus, nämlich Nero und Drusus, herbeirufen.72 Der zeremonielle Charakter der Situation wird auch dadurch offensichtlich, dass die beiden von den Konsuln vor den Kaiser geführt werden, der sie bei den Händen nimmt und sie den Senatsmitgliedern anempfiehlt; sie werden nun, da Drusus tot ist, offiziell als Thronfolger designiert. Der Hinweis auf ihre Abstammung von Augustus und die Aussage, die gegenwärtig versammelten patres seien als ihre Eltern zu verstehen, stellt unmissverständlich die hohe Stellung der beiden jungen Männer heraus.73 Auf diesen feierlichen Akt reagieren die Anwesenden wiederum 70 71
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Tac. ann. 4, 8, 1: Igitur Seianus maturandum ratus deligit venenum, quo paulatim inrepente fortuitus morbus adsimularetur. id Druso datum per Lygdum spadonem, ut octo post annos cognitum est. Tac. ann. 4, 8, 2: Ceterum Tiberius per omnes valitudinis eius dies, nullo metu an ut firmitudinem animi ostentaret, etiam defuncto necdum sepulto, curiam ingressus est. consulesque sede vulgari per speciem maestitiae sedentis honoris locique admonuit et effusum in lacrimas senatum victo gemitu, simul oratione continua erexit. – Sueton hebt in der Vita des Kaisers hervor, dass Tiberius gegenüber Germanicus und Drusus keine väterlichen Gefühle hegte und dass ihn gerade der Tod des Drusus so unbeeindruckt ließ, dass er sich dennoch den Staatsgeschäften widmete, vgl. Suet. Tib. 52, 1: Filiorum neque naturalem Drusum neque adoptiuum Germanicum patria caritate dilexit, alterius uitiis infensus. Nam Drusus fluxioris remissiorisque uitae erat. Itaque ne mortuo quidem perinde adfectus est, sed tantum non statim a funere ad negotiorum consuetudinem rediit iustitio longiore inhibito. Tac. ann. 4, 8, 3: Non quidem sibi ignarum posse argui, quod tamen recenti dolore subierit oculos senatus: vix propinquorum adloquia tolerari, vix diem aspici a plerisque lugentium. neque illos imbecillitatis damnandos: se tamen fortiora solacia e complexu rei publicae petivisse. miseratusque Augustae extremam senectam, rudem adhuc nepotum et vergentem aetatem suam, ut Germanici liberi, unica praesentium malorum levamenta, inducerentur petivit. Tac. ann. 4, 8, 4 f.: Egressi consules firmatos adloquio adulescentulos deductosque ante Caesarem statuunt. quibus adprensis ‚patres conscripti, hos‘ inquit ‚orbatos parente tradidi patruo ipsorum precatusque sum, quamquam esset illi propria suboles, ne secus quam suum sanguinem foveret attolleret, sibique et posteris conformaret. Erepto Druso preces ad vos converto disque et patria coram obtestor: Augusti pronepotes, clarissimis maioribus genitos, suscipite regite, vestram meamque vicem explete. hi vobis, Nero et Druse, parentem loco. ita nati estis, ut bona malaque vestra ad rem publicam pertineant.‘
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mit Tränen: Magno ea fletu et mox precationibus faustis audita („Sie hörten der Rede unter heftigem Weinen zu und äußerten dann ihre Glückwünsche“). Nach Tacitus wird die ehrwürdige Atmosphäre jedoch dadurch gemindert, dass Tiberius seine Rede mit Bemerkungen darüber fortsetzt, er wolle die Regierungsgewalt wieder abgeben und die Konsuln oder jemand anderes solle die Regierung übernehmen.74 Das zweimalige Weinen der Senatoren vollzieht sich in dem geschilderten Zusammenhang innerhalb eines vorgegebenen Rahmens, den es auch nicht sprengt. Mit der Formulierung per speciem maestitiae („unter dem Anschein von Traurigkeit“) wird die Art und Weise bezeichnet, in der die Konsuln sich auf die für Senatoren vorgesehenen Plätze und nicht auf ihre Amtssessel setzen, parallel dazu ist von den Tränen der Senatoren die Rede. Diese Aneinanderreihung muss zwar nicht zwangsläufig dazu führen, dem Verhalten jegliche Aufrichtigkeit abzusprechen,75 allerdings steht es im Kontext einer offiziellen Versammlung und kommt einer gewissen Erwartungshaltung entgegen. Die kollektiv vergossenen Tränen stellen eine unmissverständliche Beileidsbekundung und im zweiten Fall ein Signal für die anrührende Feierlichkeit der Situation dar. Tränen des Tiberius selbst finden ebenfalls in den Annalen Erwähnung. Nach dem Tod des Germanicus 19 n. Chr. in Syrien wurde Gnaeus Calpurnius Piso in Rom angeklagt, da man ihn verdächtigte, den Thronfolger vergiftet zu haben, und zudem wurde ihm sein anschließendes Verhalten in der Provinz zur Last gelegt.76 Die Rede des Tiberius zu Beginn des Prozesses zeichnet sich durch einen der angespannten Lage entgegenwirkenden, auf Ausgleich bedachten Ton aus (moderato temperamento); er hebt zunächst hervor, dass Objektivität bei der Untersuchung angebracht sei, und bringt dann die Hauptanklagepunkte gegen Piso vor.77 Dem Tadel des Kaisers an der Verbreitung des Gerüchtes, Germanicus sei vergiftet worden, folgt der Hinweis auf die eigene tiefe Trauer um den Adoptivsohn: Defleo equidem filium meum semperque deflebo. Dennoch sei es unabdingbar, die Verteidigung ausführlich zu Wort kommen zu lassen, allerdings sollten auch die Ankläger 74
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Tac. ann. 4, 9, 1: Magno ea fletu et mox precationibus faustis audita; ac si modum orationi posuisset, misericordia sui gloriaque animos audientium impleverat: ad vana et totiens inrisa revolutus, de reddenda re publica utque consules seu quis alius regimen susciperent, vero quoque et honesto fidem dempsit. – Tiberius selbst zieht die Glaubwürdigkeit seines zunächst an den Tag gelegten Verhaltens in Frage: Spricht er doch dem Senat Trost zu und verweist auf die hohe Bedeutung der Regierungsgeschäfte, die ihm Kraft gäben, nur um im Anschluss seine Aufgabe als Lenker des Staates von sich zu weisen, vgl. Koestermann (1965), S. 63; zur mangelnden Glaubwürdigkeit in dieser Situation vgl. auch Huttner (2004), S. 143 f. – Im weiteren Verlauf der Senatssitzung werden die Ehrungen für Drusus beschlossen, vgl. Tac. ann. 4, 9, 2. So jedoch Koestermann (1965), S. 60. Die Spannungen zwischen Piso, dem Statthalter Syriens, und Germanicus, der durch Senatsbeschluss an die Spitze der östlichen Provinzen gestellt war (vgl. Tac. ann. 2, 43), führten zu der Annahme, dieser sei durch Piso vergiftet worden. Der Tod des Germanicus sowie die Versuche, Piso die Schuld an seinem Tod nachzuweisen, werden Tac. ann. 2, 69–75 geschildert. Zum Verhalten des Piso nach dessen Tod vgl. 2, 76–81. Vgl. Tac. ann. 3, 12, 1–4. Piso wird vorgeworfen, dass er sich dem Germanicus widersetzt (und somit seine Stellung als Legat überschritten) und über seinen Tod gefreut habe oder aber ihn sogar umbringen ließ, und dass er das Heer zu einem Aufstand anstacheln habe wollen.
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mit Sorgfalt ihre Argumente vorbringen. Einzig im Ort der Verhandlung, nämlich dem Senat und nicht dem Forum, zeige sich eine bevorzugte Behandlung des Germanicus. Die Rede des Tiberius endet mit einem stark emotional aufgeladenen Appell an die Senatoren, keine Rücksicht auf seinen eigenen Schmerz und den des Drusus zu nehmen: Nemo Drusi lacrimas, nemo maestitiam meam spectet. Der Prozess soll rechtmäßig vonstatten gehen und die Vorrangstellung des Kaisers dabei nicht beachtet werden, selbst dann nicht, wenn etwas zu seinen Ungunsten vorgebracht wird, wobei er jedoch gleich deutlich macht, dass solche Vorwürfe frei erfunden seien (nec si qua in nos adversa finguntur).78 Tiberius stellt seine Person mit Nachdruck zurück und betont die Notwendigkeit, gerade bei der Anklage gegen Piso strikt nach den Gesetzen vorzugehen. Wie später die Rede nach dem Tod des Drusus, so ist auch diese in wesentlichen Teilen direkt wiedergegeben und kann als Zeugnis für die gewissenhafte Erfüllung der politischen Pflichten des Kaisers, aber ebenso als Beleg für den bewussten Einsatz von Emotionen zu eigenen Gunsten gewertet werden.79 Die Tränen werden als besonders starkes Bild verwendet, das der allgemein angespannten Lage entgegengestellt wird.80 Demgegenüber erzielen die Tränen, die Sueton in Kapitel 36 der Claudius-Vita schildert, die Wirkung, den Kaiser bloßzustellen. Bei der Behandlung seiner charakterlichen Eigenschaften wird auf timor („Furchtsamkeit“) und diffidentia („Misstrauen“), die er in höchster Intensität besessen habe,81 gleichsam als Leitbegriffe für die folgenden Abschnitte verwiesen, in denen anhand mehrerer Beispiele die Angst des Claudius vor Verschwörern herausgehoben wird. Dass er infolge eines Briefes voll schmählicher Drohungen und einiger Anschläge in seinem Schrecken gleich zwei Mal in Erwägung zieht, sein Amt niederzulegen, bezeugt die seiner Stellung völlig unangemessene Unsicherheit.82 Auf ein tatsächlich geplantes, aber
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Tac. ann. 3, 12, 5–7: Defleo equidem filium meum semperque deflebo; sed neque reum prohibeo quo minus cuncta proferat, quibus innocentia eius sublevari aut, si qua fuit iniquitas Germanici, coargui possit, vosque oro ne, quia dolori meo causa conexa est, obiecta crimina pro adprobatis accipiatis. si quos propinquus sanguis aut fides sua patronos dedit, quantum quisque eloquentia et cura valet, iuvate periclitantem. ad eundem laborem, eandem constantiam accusatores hortor. id solum Germanico super leges praestiterimus, quod in curia potius quam in foro, apud senatum quam apud iudices de morte eius anquiritur: cetera pari modestia tractentur. nemo Drusi lacrimas, nemo maestitiam meam spectet, nec si qua in nos adversa finguntur. Die Rede des Tiberius nach dem Tod seines Adoptivsohnes, die ihm Tacitus in den Mund legt, verdeutlicht das geschickte Vorgehen des Kaisers und des Schriftstellers, vgl. Koestermann (1963), S. 436. Inwieweit diese Rede und die nach dem Tod des Drusus gehaltenen ein negatives Tiberius-Bild vermitteln wollen, muss offen bleiben; sie besitzen ambivalente Züge, daher ist wiederum die Ansicht Koestermanns (1965), S. 60 nachvollziehbar, in der ann. 4, 8, 3–5 wiedergegebenen Rede zeige sich die Achtung des Tacitus vor der Persönlichkeit des Kaisers. Piso kann sich in dem Prozess nur schlecht verteidigen; einem endgültigen Urteil kommt er durch Selbstmord zuvor (ann. 3, 15, 3). Suet. Claud. 35, 1: Sed nihil aeque quam timidus ac diffidens fuit. Suet. Claud. 35, 2–36: Motu ciuili cum eum Camillus, non dubitans etiam citra bellum posse terreri, contumeliosa et minaci et contumaci epistula cedere imperio iuberet uitamque otiosam
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vereiteltes Attentat hin83 verhielt er sich nach der Darstellung Suetons folgendermaßen: senatum per praecones propere conuocauit lacrimisque et uociferatione miseratus est condicionem suam, cui nihil tuti usquam esset, ac diu publico abstinuit („Er berief eilends durch Herolde den Senat ein, jammerte unter Tränen und lautem Klagen über seine Lage, in der niemals Sicherheit gewährleistet sein könne, und blieb lange der Öffentlichkeit fern.“).84 Welchen Zweck Claudius mit diesem gefühlsbeladenen Auftritt verfolgte, ist nicht eindeutig nachzuvollziehen. Der Umstand, dass er die eigene Angst durch Weinen zur Schau stellte, lässt ihn jedenfalls als eine schwache Herrschergestalt erscheinen, der vor der mächtigen Elite Roms ungezügelt seine Emotionen zum Ausdruck bringt. Die Tränen des Kaisers sind keine unmittelbare Reaktion auf das fehlgeschlagene Attentat, sondern treten mit einiger zeitlicher Verzögerung ein, nachdem nämlich der Täter in Gewahrsam gebracht ist und der Senat sich versammelt hat. Entweder stand Claudius demnach so sehr unter Schock, dass er längere Zeit seine Gefühle nicht im Zaum halten konnte (was den Leser Suetons nicht verwundert, wirken doch die Schutzmaßnahmen, die er anordnete, ebenso überzogen wie seine Reaktionen auf Bedrohungen), oder aber seinem Handeln lag die Intention zugrunde, durch eine besonders ausdrucksvolle performative Geste auf die starke Gefährdung seiner Person hinzuweisen und besseren Schutz anzumahnen. Damit vergleichbar ist eine Begebenheit, die Cassius Dio aus dem Jahre 70 n. Chr. schildert.85 Gaius Helvidius Priscus, der Schwiegersohn des hoch angesehenen und unter Nero zum Tode verurteilten Thrasea Paetus, scheute sich nicht, freimütig dem Kaiser gegenüber seine Meinung zu äußern. Selbst als Prätor verhielt er sich nicht konform mit den Senatoren und erging sich unablässig in Beleidigungen gegen Vespasian (βλασφημῶν αὐτὸν οὐκ ἐπαύετο), so dass die Volkstribunen ihn einmal ergreifen ließen und ihren Helfern übergaben. Diese Demonstration von Uneinigkeit rief bei Vespasian so große Erschütterung hervor (συνεχύθη), dass er in Tränen ausbrach und das Senatsgebäude verließ (δακρύσας ἐκ τοῦ βουλευτηρίου ἐξῆλθε). Sein Kommentar zur Festnahme des Helvidius Priscus ist schlicht: ἐμὲ μὲν υἱὸς διαδέξεται, ἢ οὐδεὶς ἄλλος („mir wird entweder mein Sohn nachfolgen, oder überhaupt keiner“).86
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in priuata re agere, dubitauit adhibitis principibus uiris an optemperaret. quasdam insidias temere delatas adeo expauit, ut deponere imperium temptauerit. Suet. Claud. 36: Quodam, ut supra rettuli , cum ferro circa sacrificantem se deprehenso; vgl. dazu 13, 1: Nec tamen expers insidiarum usque quaque permansit, sed et a singulis et per factionem et denique ciuili bello infestatus est. e plebe homo nocte media iuxta cubiculum eius cum pugione deprehensus est; reperti et equestris ordinis duo in publico cum dolone ac uenatorio cultro praestolantes, alter ut egressum theatro, alter ut sacrificantem apud Martis aedem adoreretur. Suet. Claud. 36. Vgl. dazu auch II. 5.2.1. Cass. Dio 65 (66), 12: Ἐπεὶ δὲ Πρίσκος Ἑλουίδιος ὁ τοῦ Θρασέου γαμβρός, τοῖς τε στωικοῖς δόγμασιν ἐντραφεὶς καὶ τὴν τοῦ Θρασέου παρρησίαν οὐ σὺν καιρῷ μιμούμενος, στρατηγῶν δὲ τηνικαῦτα, οὔτε τι πρὸς τιμὴν τοῦ αὐτοκράτορος ἔδρα καὶ προσέτι καὶ βλασφημῶν αὐτὸν οὐκ ἐπαύετο, καί ποτε διὰ τοῦτο οἱ δήμαρχοι συλλαβόντες αυτὸν τοῖς ὑπηρέταις παρέδοσαν,
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Aus Vespasians Benehmen lässt sich das Bestreben erkennen, die eigene Machtstellung als unerschütterlich darzustellen. Dass er sich der Nachfolge seiner Söhne selbst nach Verschwörungen gegen seine Person sicher war und sich in entsprechender Weise vor den Senatoren äußerte, belegt auch Sueton;87 als Reaktion auf das ungebührliche Verhalten des Helvidius Priscus erscheint die Äußerung jedoch nur bei Dio. Er stellt den mit der monarchisch geprägten Regierungsform, die sich seit Augustus etabliert hatte, anhaltend unzufriedenen und sich oft entsprechend äußernden Priscus einem Kaiser gegenüber, der sich als Begründer einer neuen Dynastie versteht und dies als vorherbestimmte Tatsache propagiert. Sein Ausspruch und die Tränen der Entrüstung, die einen Affront der eigenen Position konterkarieren, zeigen, dass sich für republikanisch gesinnte Politiker längst keine Handlungsmöglichkeiten mehr boten. Im Gegensatz zur Schilderung des Claudius bei Sueton entspringt die Reaktion Vespasians nicht einer wesensbestimmenden Eigenschaft, sie ist vielmehr eine Stellungnahme zu gegenwärtigen Ereignissen. Die Vorrangstellung des Kaisers kommt ebenso in Tränen des Antoninus Pius vor dem Senat zum Ausdruck, über die Cassius Dio berichtet. Nach dem Tod Hadrians im Jahre 121 weigert sich der Senat, ihn zu vergöttlichen. Dies veranlasst seinen Nachfolger dazu, weinend und klagend (δακρύων καὶ ὀδυρόμενος) vor dem Gremium zu verkünden, dass er die Römer in diesem Falle nicht länger regieren wolle; wenn man Hadrian als Gegner des Staates ansehe und seine Entscheidungen für nichtig erachte, dann sei schließlich auch seine Adoption ungültig. Das Weinen verfehlt hier seine starke Signalwirkung nicht; es untermauert auf eindringlichste Weise, wie ernst es dem neuen Kaiser in dieser Angelegenheit ist, so dass sich der Senat gezwungen sieht, seinem Ansinnen nachzugeben.88 Als letztes Beispiel für Tränen in der Kurie soll schließlich die Szene vom 15. 2. 2 v. Chr. herangezogen werden, die Sueton in seiner Lebensbeschreibung des ersten Princeps wiedergibt. Eingebettet in eine längere Rubrik, die sich mit der clementia und der civilitas des Augustus befasst,89 wird die Verleihung des Titels pater patriae beschrieben, der ihm vom gesamten römischen Volk repentino maximoque consensu angetragen worden sei. Auf zwei Versuche der Bürger reagiert der Kaiser zunächst mit Ablehnung (non recipiebat), als dann jedoch der in der Kurie versammelte Senat bekundet, dass er das Ansinnen teilt und seine Absicht nicht
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συνεχύθη τε ὁ Οὐεσπασιανὸς καὶ δακρύσας ἐκ τοῦ βουλευτηρίου ἐξῆλθε, τοσοῦτον μόνον ὑπειπὼν ὅτι «ἐμὲ μὲν υἱὸς διαδέξεται, ἢ οὐδεὶς ἄλλος». Vgl. Suet. Vesp. 25: Conuenit inter omnes, tam certum eum de sua suorumque genitura semper fuisse, ut post assiduas in se coniurationes ausus sit adfirmare senatui aut filios sibi successuros aut neminem. Über das Verhalten des Antoninus Pius bei diesem Vorfall schreibt Dio 70, 1, 2 f., ὅτι μὴ βουλομένης τῆς γερουσίας τὰς ἡρωικὰς τιμὰς δοῦναι τῷ Ἁδριανῷ τελευτήσαντι διά τινας φόνους ἐπιφανῶν ἀνδρῶν, ὁ Ἀντωνῖνος ἄλλα τε πολλὰ δακρύων καὶ ὀδυρόμενος αὐτοῖς διελέχθη, καὶ τέλος εἶπεν „οὐδὲ ἐγὼ ἄρα ὑμῶν ἄρξω, εἴγε ἐκεῖνος καὶ κακὸς καὶ ἐχθρὸς ὑμῖν καὶ πολέμιος ἐγένετο· πάντα γὰρ δῆλον ὅτι τὰ πραχθεντα ὑπ᾿ αὐτοῦ, ὧν ἓν καὶ ἡ ἐμὴ ποίησίς ἐστι, καταλύσετε“. ἀκούσασα δὲ τοῦτο ἡ γερουσία καὶ αἰδεσθεῖσα τὸν ἄνδρα, τὸ δέ τι καὶ τοὺς στρατιώτας φοβηθεῖσα, ἀπέδωκε τῷ Ἁδριανῷ τὰς τιμάς. Die Überschrift dieser Rubrik findet sich zu Beginn von Suet. Aug. 51, 1: Clementiae ciuilitatisque eius multa et magna documenta sunt.
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durch Dekret oder Akklamation (neque decreto neque adclamatione) verkündet, sondern den Valerius Messalla damit betraut, zeigt Augustus sich gerührt und kann nur unter Tränen (lacrimans) antworten, dass er dem Wunsch nachkomme.90 Unzweifelhaft soll dadurch auch die Bescheidenheit, die bei einer solchen Gelegenheit zu signalisieren angebracht war, zum Ausdruck kommen. Was das Weinen in der Kurie anbelangt, so lässt sich demnach festhalten, dass es in einzelnen Situationen den Senatoren und dem Kaiser als Instrument dafür diente, die eigene Meinung kundzutun, und dieser Umstand besitzt unabhängig davon Gültigkeit, ob die Tränen unwillkürlich vergossen wurden oder nicht. Sie reihen sich somit in ein umfangreiches Repertoire an Mitteln der nonverbalen Kommunikation ein, die zwar nicht als unabdingbare, aber doch als angemessene und hilfreiche Aktion oder Reaktion dienen konnten. Im Senat als einem Ort, an dem ein geregeltes Interagieren stattfand, konnten Tränen sich in etablierte Umgangsformen eingliedern und eine bestimmte Signalwirkung aussenden, andererseits konnten sie aber auch die Verhaltensnormen sprengen und dadurch ebenfalls Akzente setzen. 1.3.2 Auf dem Forum Das Forum Romanum besaß seit der Königszeit eine herausragende Stellung und ist als Dreh- und Angelpunkt von Politik und Wirtschaft der Stadt anzusehen. An diesem Ort fanden unzählige Ereignisse von höchster geschichtlicher Tragweite statt; viele von ihnen lassen einen Einblick zu in die Gestaltung des öffentlichen politischen Lebens durch Staatsmänner und Bevölkerung, die sich in der Interaktion zwischen diesen beiden Gruppen vollzog. Neben dem Forum spielte das nahe gelegene Kapitol eine herausragende Rolle für den Staat, und hier zeigt sich die enge Verbindung von Religion und Politik in den Sakralbauten und weiteren Monumenten sehr deutlich. Im Zusammenhang mit Geschehnissen an diesen Orten wird vom Weinen politisch involvierter Einzelpersonen oder eines Teils der Bevölkerung berichtet. Von Tränen, die vor dem Eingang der Kurie vergossen werden, berichtet Appian in seiner Geschichte der römischen Bürgerkriege. Nach der Ermordung Caesars versuchten die verschiedenen Parteien die Lage zu ihrem Vorteil auszunutzen, und dabei war es zu gravierenden Spannungen zwischen dem Senat und Antonius gekommen. Anfang Januar 43 v. Chr. spricht Cicero sich dafür aus, ihn zum Staatsfeind zu erklären,91 Lucius Calpurnius Piso Caesonius dagegen tritt als Fürsprecher des Feldherrn, der gerade vor Mutina steht, ein und hält zu seinen Gunsten eine 90
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Suet. Aug. 58, 1 f.: Patris patriae cognomen uniuersi repentino maximoque consensu detulerunt ei: prima plebs legatione Antium missa; dein, quia non recipiebat, ineunti Romae spectacula frequens et laureata; mox in curia senatus, neque decreto neque adclamatione, sed per Valerium Messalam is mandatibus cunctis: quod bonum, inquit, faustumque sit tibi domuique tuae, Caesar Auguste! sic enim nos perpetuam felicitatem rei p. et laeta huic precari existimamus: senatus te consentiens cum populo R. consalutat patriae patrem. cui lacrimans respondit Augustus his uerbis – ipsa enim, sicut Messalae, posui –: compos factus uotorum meorum, p. c., quid habeo aliud deos immortales precari, quam ut hunc consensum uestrum ad ultimum finem uitae mihi perferre liceat? Eine genauere Behandlung dieser Passage erfolgt II. 2.4.1.1. App. civ. 3, 52 f.
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lange Rede.92 Gegen deren Ende bringt er unter anderem das Argument vor, dass Mutter, Ehefrau und Sohn des Antonius nicht in Rom zurückgelassen worden wären, wenn dieser sich dem Staat widersetzen wolle. Seine Familienangehörigen befinden sich vor dem Senatsgebäude; sie weinen (κλαίουσι) und bringen, so Piso, durch ihr Verhalten zum Ausdruck, dass sie die Gegner des Antonius als die wirkliche Gefahr für den römischen Staat ansehen.93 Der Senator hat mit seiner Rede einigen Erfolg bei seinen Kollegen – immerhin wird Antonius nicht zum Staatsfeind erklärt, allerdings fordert man ihn durch eine Delegation dazu auf, die Gallia Cisalpina an Brutus zu übergeben und sich selbst auf den Weg nach Rom zu machen.94 Die hier erwähnte emotional aufgeladene Geste signalisiert unmissverständlich, dass Antonius aufs Stärkste von seiner Familie unterstützt wird. Seine Mutter Iulia, seine Frau Fulvia und sein jugendlicher Sohn begannen ihren Einsatz sogar schon in der Nacht zuvor, indem sie mit weiteren Angehörigen und Freunden einflussreiche Politiker besuchten und sie anflehten (ἱκετεύοντες), am kommenden Tag die Interessen des Antonius zu vertreten. Als die Senatoren dann am Morgen die Kurie betreten, stellen sich ihnen die drei engsten Familienmitglieder des Antonius in den Weg, fallen ihnen jeweils zu Füßen und verhalten sich mit allen dafür charakteristischen Zeichen als Bittflehende: Sie stehen, mit Trauergewändern bekleidet, bei den Türen und klagen und jammern lautstark (σὺν οἰμωγῇ καὶ ὀλολυγαῖς καὶ μελαίνῃ στολῇ παρὰ θύραις ἐκβοῶντες).95 Ihr Verhalten zeigt große Wirkung auf die tatsächlichen Ereignisse; zwar sind sie nicht als Redner im Senat zugelassen, doch sie reizen die ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen geschickt aus und versuchen, mit emotionalen Mitteln Einfluss auf die Entscheidung des Senats zu nehmen; dass sie sich bis vor den Eingang der Kurie begeben, versinnbildlicht dies geradezu. Wie groß ihre Erfolgschancen waren, zeigt sich nicht zuletzt in der kurzen Bemerkung Appians, die sich an die Schilderung dieses tiefgreifenden Einsatzes anschließt: Cicero habe dessen Auswirkungen gefürchtet und versucht, dem dadurch entgegenzuwirken, dass er seine Rede möglichst rasch begann (δείσας δ᾿ ὁ Κικέρων ἐβουληγόρησεν ὧδε).96 Die Vermittlung der eigenen Emotionen nach außen hin und zudem die Beeinflussung der Emotionen des Publikums erfolgt bei Trauerreden mit besonders hoher Intensität. In seiner Vita des Caligula illustriert Sueton, dass der Kaiser diesen Umstand zu seinem Vorteil zu nutzen verstand. Die Ausgangsposition zu Beginn seiner 92 93
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App. civ. 3, 54–60. App. civ. 3, 58: Πῶς δ᾿ αὐτὸς Ἀντώνιος, εἴ τι τοιοῦτον (τὸ τὸν στρατὸν ἄξειν ἐπὶ τὴν πόλιν sc.) ἐγίγνωσκε, τὰ ἐνέχυρα τὰ νῦν ὄντα πρὸ τοῦ βουλευτηρίου κατέλιπεν ἡμιῖν, μητέρα καὶ γυναῖκα καὶ μειράκιον υἱόν; οἳ κλαίουσι καὶ δεδίασι νῦν οὐ τὴν Ἀντωνίου πολιτείαν, ἀλλὰ τὴν τῶν ἐχθρῶν δυναστείαν. App. civ. 3, 61. App. civ. 3, 51: Ἀντωνίου δὲ ἡ μήτηρ καὶ ἡ γυνὴ καὶ παῖς ἔτι μειράκιον οἵ τε ἄλλοι οἰκεῖοι καὶ φίλοι δἰ ὅλης τῆς νυκτὸς ἐς τὰς τῶν δυνατῶν οἰκίας διέθεον ἱκετεύοντες καὶ μεθ᾿ ἡμέραν ἐς τὸ βουλευτηριον ἰόντας ἠνώχλουν, ῥιπτούμενοί τε πρὸ ποδῶν σὺν οἰμωγῇ καὶ ὀλολυγαῖς καὶ μελαίνῃ στολῇ παρὰ θύραις ἐκβοῶντες. οἱ δὲ ὑπό τε τῆς φωνῆς καὶ τῆς ὄψεως καὶ μεταβολῆς ἐς τοσοῦτον αἰφνιδίου γενομένης ἐκάμπτοντο. Ebd.
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Herrschaft war denkbar günstig, da er beim Volk beliebt war,97 und er steigerte seine Popularität geschickt durch sein Verhalten. Gleich als erste dafür förderliche Maßnahme wird die Leichenrede erwähnt, die er für seinen Nachfolger Tiberius hielt und dabei vor dem Volk Tränen vergoss (Tiberio cum plurimis lacrimis pro contione laudato facto). Dass Caligula sich öffentlichkeitswirksam zu inszenieren und der Erwartungshaltung der römischen Bevölkerung zu entsprechen wusste, tatsächlich aber mit Kalkül zu handeln in der Lage war und dabei auch vor brutalem Vorgehen nicht zurückschreckte, wird jedoch in der Biographie durch die Erwähnung des Gerüchtes herausgestellt, der junge Mann habe seinen Vorgänger mit einem Kissen erstickt.98 Eine der historisch wie literarisch bekanntesten Leichenreden stellt diejenige des Marcus Antonius dar, die er auf den ermordeten Diktator Gaius Iulius Caesar hielt. Der römische Geschichtsschreiber Appian von Alexandria schildert die Ereignisse nach dessen Tod an den Iden des März 44 v. Chr. besonders dramatisch und zudem ausführlich. Einen Tag nach dem Anschlag herrschte eine enorme Spannung in der Stadt; die Mörder hatten sich auf dem Kapitol verschanzt, die Bevölkerung war in Aufruhr, und es bestand Uneinigkeit darüber, wie mit den Verschwörern umzugehen sei.99 Zunächst machte sich Lepidus daran, zu dem auf dem Forum versammelten Volk zu sprechen, um es gegen die Caesarmörder aufzubringen. Er habe, so Appian, mit einem Stimmungsumschwung gerechnet und versuchte daher, die Emotionen seiner Hörer mit rhetorischem Geschick zu beeinflussen, indem er seinen Auftritt als Redner nicht etwa mit Worten begann sondern damit, dass er auf die Rostra trat und jammerte und weinte (ἐπὶ τὰ ἔμβολα παρελθὼν ἔστενε καὶ ἔκλαιεν). Erst nach geraumer Zeit sprach er zu der versammelten Menge, die ihm einige Zustimmung bekundete.100 97
Dazu trug wesentlich die Erinnerung an den bei stadtrömischer Bevölkerung und Soldaten ausnehmend beliebten Vater Germanicus bei, vgl. Suet. Cal. 13 f. 98 Suet. Cal. 15, 1: Tiberio cum plurimis lacrimis pro contione laudato facto funeratoque amplissime, confestim Pandateriam et Pontias ad transferendas matris fratrisque cineres festinauit. Die Kapitel 15 und 16 reihen eine Vielzahl von Maßnahmen aneinander, mit denen Caligula sich zu Beginn seiner Herrschaft überaus beliebt machen konnte. – Zum Tod des Tiberius vgl. Suet. Cal. 12, 2 f.; vgl. auch II. 4.1.1.2. 99 Über die Kontroversen in der kurz zuvor abgehaltenen Senatssitzung, die sich mit der Frage befasste, ob es sich bei dem Mord an Caesar um einen Tyrannenmord handelte, berichtet Appian in 2, 126–129. 100 App. civ. 2, 131: Λεπίδου δέ τι μέλλοντος λέγειν, οἱ πόρρω συνεστῶτες κατελθεῖν αὐτὸν εἰς τὴν ἀγορὰν ἠξίουν, ἵνα ὁμαλῶς ἅπαντες ἐπακούσειαν. καὶ ὁ μὲν εὐθὺς ᾔει, νομίζων ἤδη τὸ πλῆθος τρέπεσθαι, καὶ ἐπὶ τὰ ἔμβολα παρελθὼν ἔστενε καὶ ἔκλαιεν ἐν περιόπτῳ μέχρι πολλοῦ, ἀνενεγκὼν δέ ποτε εἶπεν· (…). Rede und Verhalten des Lepidus zeigen, wie geschickt er den Dialog mit der Menschenmenge zu führen weiß; es gelang ihm jedoch letztlich nicht, sich die Situation für die Etablierung einer Vormachtstellung seiner Person zunutze zu machen. Die darauf folgende Rede des Antonius sowie die von ihm herbeigeführte Entscheidung des Senats, die Beschlüsse Caesars als gültig anzuerkennen und seine Mörder nicht gerichtlich zu verfolgen, schildert App. civ. 2, 132–135. – Dem Vorgehen des Lepidus ähnlich ist der Versuch des Vitellius, von der Herrschaft zurückzutreten; er steht auf der Rednertribüne, gibt sich bescheiden und bekundet weinend, er wolle von der Herrschaft zurücktreten. Seinem Wunsch wird entgegengehandelt, und so erreicht er Rückhalt bei den Soldaten (vgl. Suet. Vit. 15, 2), der al-
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Noch deutlicher tritt bei der Grabrede des Antonius auf Caesar zutage, welchen Erfolg ein Redner, der sich darauf versteht, die Atmosphäre adäquat einzuschätzen und dementsprechend ein breites Repertoire an Mitteln einzusetzen, haben konnte, denn Antonius übermittelt das eigene leidenschaftliche Eintreten für eine Rache an den Caesarmördern nachdrücklich an die Zuhörer.101 Seine Vorgehensweise entspricht ganz dem, was Cicero einem Redner vor Gericht empfiehlt, um Erfolg zu erzielen. Nachdem der Senat die Amnestie der Täter, ein staatliches Begräbnis für Caesar sowie die öffentliche Verlesung seines Testaments beschlossen hatte,102 sprach Brutus zu einer Menge von römischen Bürgern, die sich auf das Kapitol begeben hatten, und erntete Beifall dafür.103 Schließlich wurde am 20. März 44 v. Chr. der Inhalt des Testaments vorgetragen und die Leiche des Diktators auf der Rednerbühne des Forum aufgebahrt, und bereits an dieser Stelle der Beschreibung Appians lässt sich erahnen, dass die Abhaltung der Bestattungsfeierlichkeiten die Stimmung zum Nachteil der Caesarmörder umschwenken wird: Antonius hielt unter Einsatz seines gesamten rhetorischen Könnens (ἐτέχναζεν) vor der versammelten Bevölkerung die Grabrede für seinen Amtskollegen, Freund und Verwandten.104 Appian gibt diese Rede in Teilen wieder, er schilderte aber vor allem die Art und Weise des Vortrags.105 Antonius begann, so der Historiograph, damit, der Menge die Verdienste des Diktators um den Staat ins Gedächtnis zu rufen und zählte zu diesem Zweck die für ihn von Senat und Volk beschlossenen Ehrungen (wie etwa den Titel „Vater des Vaterlandes“) auf, und zwar τῷ μὲν προσώπῳ σοβαρῷ καὶ σκυθρωπῷ („mit erhabener und trauervoller Miene“). Bei der Nennung der einzelnen Beschlüsse richtete er jeweils seinen Blick auf die Leiche Caesars und deutete mit der Hand auf sie, zudem fügte er jeweils eine Bemerkung an, die von seiner Trauer und Erbitterung (οἴκτος καὶ ἀγανάκτησις) zeugte. Deutlich erscheint hier der Kontrast zwischen den Verdiensten des Toten und seiner brutalen
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lerdings nur kurze Zeit wirksam ist, denn sein Sturz und Tod steht unmittelbar bevor. Auch Lepidus weiß, dass er, um das Amt des Pontifex Maximus zu erlangen, Unterstützung braucht und zumindest zum Schein die Aufforderung zur Übernahme erhalten muss, um eine bessere Ausgangsbasis zu haben. Zur Grabrede im römischen Bestattungsritual vgl. Hope (2009), S. 77–79. Vgl. App. civ. 2, 132–136; der Einfluss des Antonius auf diese Entscheidung wird in den Kapiteln 133 f. hervorgehoben. App. civ. 2, 137–142. App. civ. 2, 143. Nachdem der Inhalt des Testaments bekannt war, musste Caesar unweigerlich als Patriot gelten, der sich um das Wohl des Volkes gesorgt hatte – vermachte er doch den Bürgern Roms seine Gärten als Erholungsstätte und ließ zudem an jeden einzelnen von ihnen eine nicht unerhebliche Geldsumme zahlen. Die Menschen standen bereits vor Beginn der Grabrede wehklagend und jammernd da und bereuten, so Appian, eine Amnestie der Mörder befürwortet zu haben; es ist bereits die nötige Atmosphäre für die folgende dramatische Rede geschaffen. – Zur geschickt kalkulierten Inszenierung der Bestattungsfeierlichkeiten vgl. besonders Suet. Div. Iul. 84; knapper wird das Begräbnis Plut. Caes. 68 geschildert, Plut. Ant. 14, 6–8 geht vor allem auf die Rolle des Antonius dabei ein. Cass. Dio. 44, 36–49 formuliert die Grabrede des Antonius in aller Ausführlichkeit wörtlich aus. Auf die Unterschiede der Darstellung bei Appian und in Plutarchs Antonius-Vita geht Bengtson (1977), S. 84 ein. Überlegungen dahingehend, dass Appian eine veröffentlichte Fassung der laudatio funebris des Antonius zugänglich gewesen sein könnte, stellt Bengtson (1977), S. 82 an.
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Ermordung; Caesar habe, so Antonius, die ihm verliehenen Ehren nicht erzwungen, sondern sie seien an ihn herangetragen worden. Daraufhin rezitierte er die Eide, mit denen man sich verpflichtet hatte, das Leben des Diktators zu schützen, erhob dann deutlich seine Stimme (μάλιστα τὴν φωνὴν ἐπιτείνας), streckte seine Hand zum Kapitol hin aus (τὴν χεῖρα ἐς τὸν Καπιτώλιον ἀνασχών) und bekundete mit einer Anrede an Jupiter und die übrigen Götter, er selbst sei gewillt gewesen, für Caesar einzustehen, nun aber solle die Amnestie die Dinge zum Guten lenken. Diese Bemerkung richtete sich ganz offensichtlich gegen die Senatoren, denen der Redner sofort insoweit entgegenkam, als er die Geschehnisse als das Werk eines bösen Geistes (δαιμόνων του) bezeichnete und auf einen drohenden Bürgerkrieg verwies.106 Nachdem bereits ein Näheverhältnis zu den Göttern hergestellt war, sei Antonius wie auf einer Bühne zu der aufgebahrten Leiche hingetreten (τὸ λέχος ὡς ἐπὶ σκηνῆς περιέστη) und habe ihn mit den entsprechenden Gesten (τὰς χείρας ἀνέτεινεν) wie einen himmlischen Gott (ὡς θεὸν οὐράνιον ὕμνει) gepriesen. Er zählte die Leistungen des erfolgreichen Feldherrn in einer Du-Anrede auf und präsentierte sie somit als schier übermenschliche Taten; dass sein höchst leidenschaftlicher Auftritt selbst in Verbindung mit göttlichen Mächten stand oder zumindest diesen Eindruck erweckte, wird durch die Charakterisierung der Art seines Vortrags mit dem Adjektiv ἔνθους sowie dem Partizip ἐπιθειάσας angedeutet. Schließlich aber senkte Antonius seine Stimme und verfiel in einen klagenden Tonfall (τὴν φωνὴν ἐς τὸ θρηνῶδες ἐκ τοῦ λαμπροτέρου μετεποίει), er jammerte und weinte (ὠδύρετο καὶ ἔκλαιε) in tiefer Trauer und schwor, sein eigenes Leben für Caesar geben zu wollen – eine eindringlichere Bekundung der eigenen Bereitschaft zur Rache an den Mördern sowie die Anstachelung der Zuhörer dazu scheint kaum möglich. Den Höhepunkt der Darbietung des Antonius bildet die Enthüllung der von Dolchstößen durchbohrten und blutdurchtränkten Leiche. Diese Maßnahmen verfehlten ihre Wirkung nicht: Das Volk stimmte zusammen mit Antonius in höchst trauervolle Klagen ein, und die Trauer der Menschen schlug sogar in Zorn um (αὐτῷ πενθιμώτατα συνωδύρετο καὶ ἐκ τοῦ πάθους αὖθις ὀργῆς ἐνεπίμπλατο). Weitere unterstützende performative Handlungen (Aufzählung der Taten Caesars, Enthüllung seines Wachsbildes) bekräftigten das durch die Rede des Antonius angestachelte Volk noch in seiner Rachsucht, so dass es sich mit Gewalt gegen die Mörder erhob; diesen gelang es jedoch, aus der Stadt zu fliehen.107 106 App. civ. 2, 144 f. 107 App. civ. 2, 146: Πολλά τε ἄλλα ἐπιθειάσας τὴν φωνὴν ἐς τὸ θρηνῶδες ἐκ τοῦ λαμπροτέρου μετεποίει καὶ ὡς φίλον ἄδικα παθόντα ὠδύρετο καὶ ἔκλαιε καὶ ἠρᾶτο τὴν ἑαυτοῦ ψηχὴν ἐθέλειν ἀντιδοῦναι τῆς Καίσαρος. Εὐπορώτατα δὲ ἐς τὸ πάθος ἐκφερόμενος τὸ σῶμα τοῦ Καίσαρος ἐγύμνου καὶ τὴν ἐσθῆτα ἐπὶ κόντου φερομένην ἀνέσειε, λελακισμένην ὑπὸ τῶν πληγῶν καὶ πεφυρμένην αἵματι αὐτοκράτορος. ἐφ᾿ οἷς ὁ δῆμος οἷα χορὸς αὐτῳ πενθιμώτατα συνωδύρετο καὶ ἐκ τοῦ πάθους αὖθις ὀργῆς ἐνεπίμπλατο. ὡς δ᾿ ἐπὶ τοῖς λόγοις ἕτεροι θρῆνοι μετὰ ᾠδῆς κατὰ πάτριον ἔθος ὑπὸ χορῶν ἐς αὐτὸν ᾔδοντο καὶ τὰ ἔργα αὖθις αὐτοῦ καὶ τὸ πάθος κατέλεγον καί που τῶν θρήνων αὐτὸς ὁ Καίσαρ ἐδόκει λέγειν, ὅσους εὖ ποιήσειε τῶν ἐχθρῶν ἐξ ὀνόματος, καὶ περὶ τῶν σφαγέων αὐτῶν ἐπέλεγεν ὥσπερ ἐν θαύματι· „ἐμὲ δὲ καὶ τούσδε περισώσαι τοὺς κτενοντάς με,“ οὐκ ἔφερεν ἔτι ὁ δῆμος, ἐν παραλόγῳ ποιούμενος τὸ πάντας αὐτοῦ τοὺς σφαγέας χωρὶς μόνου Δέκμου, αἰχμαλώτους ἐκ τῆς Πομπηίου στάσεως γενομένους, ἀντὶ κολάσεων ἐπὶ ἀρχὰς καὶ ἡγεμονίας ἐθνῶν καὶ στρατοπέδων προαχθέντας ἐπιβουλεῦσαι,
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Durch die Ausschöpfung aller ihm zur Verfügung stehender rhetorischer Mittel nimmt Antonius auf die bereits vorhandene Bereitschaft der Zuhörer Einfluss, sich emotional in die Geschehnisse involvieren zu lassen, und er kann die Stimmung im Volk dahingehend beeinflussen, dass es die von ihm nach außen übermittelte Trauer selbst annimmt und Rache fordert. Die Rednerbühne wird dabei von Antonius gleichsam als Theaterbühne (ὡς ἐπὶ σκηνῆς) benutzt, auf der er sein schauspielerisches Können unter Beweis stellt;108 dementsprechend erzielt sein Auftritt die beabsichtigte Wirkung. Der Tadel des Senats an einer solchen Inszenierung verwundert nicht, da Antonius sich faktisch über die von diesem Gremium verhängte Amnestie der Caesarmörder hinwegzusetzen versuchte.109 Beispiele von Tränen, die vor dem Volk zur Unterstützung des gesprochenen Wortes eingesetzt werden, finden sich auch in Schilderungen weniger dramatischer Eregnisse. So berichtet Cassius Dio davon, dass Gnaeus Cornelius Lentulus Marcellinus, Konsul im Jahre 56 v. Chr., vor die auf dem Forum versammelten Bürger trat und seine Intention, ein Konsulat des Pompeius und Crassus für das Folgejahr zu verhindern, zu erkennen gab und die gegenwärtige Situation – gemeint sind die Uneinigkeiten und Turbulenzen bei der Wahl der Konsuln im Senat, die noch zu keinem Ergebnis geführt hatte – beklagte. Seine Rede wurde unterstützt von den Senatoren, die mit ihm vor die Kurie getreten waren und den Worten durch ihr Weinen und Seufzen eine erhöhte emotionale Intensität verliehen.110 Für den Marktplatz von Jerusalem bietet Flavius Josephus ähnliche Beispiele von Reden, bei denen der Vortragende sich durch begleitendes Weinen eine bessere Wirkung versprach.111 Außer den Tränen von Einzelpersonen werden auch derartige emotionale Ausbrüche seitens einer Menschenmenge geschildert. Nachdem Oktavian, Antonius und Lepidus sich im Jahre 43 v. Chr. zum zweiten Triumvirat zusammengeschlossen hatten, fand eine Reihe von Proskriptionen statt, denen neben anderen Cicero
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Δέκμον δὲ καὶ παῖδα αὐτῷ θετὸν ἀξιωθῆναι γενέσθαι. – Der weitere Verlauf der Bestattung und die in rasender Wut nach den Caesarmördern suchenden Bürger werden civ. 2, 147 f. beschrieben. Dass es sich bei der unkontrollierbar agierenden Menge nur um einen kleinen, aber organisierten Teil aller Einwohner Roms handelte, betont Halfmann (2011), S. 67. App. civ. 2, 146. Auf die Qualitäten des Antonius als Redner an dieser und anderer Stelle geht Bengtson (1977), S. 82 f. ein. App. civ. 3, 2: Ἀντώνιον μὲν ἡ βουλὴ δι᾿ αἰτίας εἶχεν ἐπὶ τοῖς ἐπιταφίοις τοῦ Καίσαρος, ὑφ᾿ ὧν δὴ μάλιστα ὁ δῆμος ἐρεθισθεὶς ὑπερεῖδε τῆς ἄρτι ἐπεψηφισμένης ἀμνηστίας καὶ ἐπὶ τὰς οἰκίας τῶν σφαγέων σὺν πυρὶ ἔδραμον. Cass. Dio 39, 28, 4 f.: Προῆλθον ἐς τὴν ἀγορὰν ἅμα πάντες, καὶ συνδραμόντος ἐπὶ τούτῳ τοῦ πλήθους ἐς πᾶν κατηφείας αὐτοὺς κατέστησαν, δημηγορῶν μὲν ὁ Μαρκελλῖνος καὶ τὰ παρόντα σφίσιν ὀδυρόμενος, ἐπιδακρύοντες δὲ οἱ ἄλλοι καὶ ἐπιστένοντες, ὥστε μηδένα μηδὲν ἀντιφθέγξασθαι. Anschließend begeben sich die Senatoren wieder zurück in das Senatsgebäude; ihr Auftritt vor dem Volk kann als Kundgabe des gegenwärtigen Standes der Wahlen gewertet werden. Ios. bell. Iud. 2, 402 (Herodes Agrippa II. nach seiner Rede, mit der er sein Volk gegen einen Krieg mit den Römern zu stimmen versuchte); 4, 162 (der vormalige Hohepriester Ananus während seiner Rede vor dem jüdischen Volk, um es gegen die Zeloten anzustacheln); 5, 420 und 6, 111 (Josephus in einer Rede vor der Bevölkerung, um sie zur Übergabe der Stadt zu bewegen).
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zum Opfer fiel. Er wurde am 7. Dezember ermordet und man brachte nicht nur – wie es üblich war – seinen Namen als den eines Geächteten und Getöteten auf der Rednerbühne an, sondern ebenso seinen abgeschlagenen Kopf. Als die Bürger Roms, so schildert es Florus, diese grausame Zurschaustellung der Macht des herrschenden Regimes sahen, brachen sie in Tränen aus. Mit der Erwähnung der Tränen sowie dem Hinweis des Florus, sie seien ebenso zu ihm zusammengelaufen, wie sie es getan hätten, um ihn zu hören, soll zweifelsohne die hohe Ehrerbietung einen Ausdruck finden, die die Bevölkerung diesem großen Redner entgegenbrachte.112 Ähnlich verhielten sich die Einwohner mehrere Städte, als sie auf dem Marktplatz bettelnde Soldaten sahen. Justinian behandelte, so berichtet Prokop in Kapitel 24 der Historia arcana, den Soldatenstand respektlos; unter anderem ließ er in dessen Mitgliedslisten nach Kriegsuntauglichen suchen. Einigen der Militärangehörigen wurde aufgrund von Untauglichkeit und hohem Alter ihr cingulum, also das Abzeichen ihres Berufes, genommen, so dass sie ohne Einkommen waren. Dadurch seien sie gezwungen gewesen, sich ihren Lebensunterhalt als Bettler auf dem Marktplatz zu verdienen, was Tränen und Wehklagen der Leute hervorrief.113 Sowohl Einzelpersonen als auch einer Menschenmenge konnten demnach Tränen dazu dienen, die eigene emotionale Aufwühlung zum Ausdruck zu bringen. Das Forum bot den Bürgern in Rom (und ebenso in anderen Städten) die Möglichkeit zur Interaktion mit seinen Machthabern, und Weinen, verstanden als ein Nachaußentragen der eigenen Emotionen, konnte – so ließ sich anhand der oben besprochenen Beispiele zeigen – sich als eine spontane Reaktion auf ein Ereignis darstellen und zugleich eine politische Meinung bekunden. Es wurde deutlich, wie durch das emotional aufgeladene Vorbringen der eigenen Position die Emotionen der Zuhörer beeinflusst wurden; Rednern auf dem Forum wie in der Kurie war bewusst, dass sie ihr Publikum zu lenken versuchen konnten, und dies taten sie auch. Der Einsatz von Tränen in manipulativer Absicht entspricht in solchen Fällen ganz den 112 Flor. epit. 2, 16: Nam Romae capita caesorum proponere in rostris iam usitatum erat; uerum sic quoque ciuitas lacrimas tenere non potuit, cum recisum Ciceronis caput in illis suis rostris uideretur, nec aliter ad uidendum eum, quam solebat ad audiendum, concurreretur. Haec scelera in Antonii Lepidique tabulis: Caesar percussoribus patris contentus fuit, ideo ne, si inulta fuisset, etiam iusta eius caedes haberetur. Florus nimmt Oktavian an dieser Stelle in Schutz, da er den Mord an Cicero nur Antonius und Lepidus zuweist; der spätere Princeps wird bei den Proskriptionen als vergleichsweise moderat hingestellt. Plutarch berichtet davon, dass man Cicero sogar Haupt und Hände abschlug und öffentlich auf den Rostra präsentierte; er sieht darin die Schlechtigkeit des Antonius versinnbildlicht (Plut. Cic. 48 f.). Weitere Belegstellen finden sich bei de Libero (2009), S. 219 Anm 9. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Florus und Plutarch sich hier an der Schilderung des Livius orientierten, die Sen. suas. 6,17 überliefert ist. – Von Tränen über das Wiederaufleben vergangener Propaganda berichtet dagegen Plut. Caes. 6, 5: Während seiner Ädilität im Jahre 65 v. Chr. ließ Caesar einige Bildsäulen des Marius auf dem Kapitol aufstellen, worüber die politisch nur mehr wenig bedeutsamen Anhänger des Marius aus Freude weinten. 113 Proc. hist. 24, 8: Ἐκ τῶν εὐσεβούντων ἐν τῷ δημοσίῳ τῆς ἀγορᾶς προσαιτοῦντες τροφὴν δακρύων τε καὶ ὀλοφύρσεως ἀεὶ προφάσεις τοῖς ἐντυγχάνουσιν ἐγίνοντο πᾶσι. Die Bettelei der Soldaten zeigt einerseits, dass der Kaiser nicht in der Lage war, seine Soldaten angemessen zu versorgen, und andererseits ist das Bild der Mitleid erregenden Männer, das von Prokop evoziert wird, fast schon ironisch, denn die Soldaten symbolisierten ja üblicherweise die Stärke des Römischen Reiches.
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Ratschlägen in de oratore und ist oftmals erfolgreich, stets besitzt er jedoch eine hohe Signalwirkung; er kann Bestandteil einer geplanten Redeaufführung sein, wenn es der Kontext erfordert. Eine weitere Gruppe von Textbelegen präsentierte die Kurie als Ort der Kommunikation zwischen Kaiser und Senatoren, an dem durch Weinen die Position des Herrschers in Frage gestellt bzw. gestärkt wurde – sei es, indem er selbst weinte, sei es, indem die Senatoren Tränen vergossen. 1.4 Im Circus und im Theater Neben dem Forum nahmen Circus und Amphitheater eine überaus bedeutende Funktion im gesellschaftlichen Leben der Römer ein. Nach Flaig stellten sie sich weniger als Orte des ungezwungenen Amusements denn als öffentliche Räume politischer Interaktion dar. Veranstalter der Spiele, Senatoren und Zuschauer pflegten sich hier, wie es auch für andere Anlässe galt, nur innerhalb geregelter Bahnen zu bewegen.114 Ein Instrument performativen Handelns, dessen sich das Volk bei seiner Willensbekundung bedienen konnte, waren Tränen, die mitunter bei der wohlwollenden Begrüßung des Spielegebers auftraten;115 andererseits konnte es geschehen, dass der Kaiser selbst weinte und damit Einfluss auf die Bewertung der Ereignisse nahm.116 Die Spiele fanden an einem Ort statt, der eine Kommunikation zwischen Kaiser und Volk ermöglichte,117 und daher lässt sich die Behauptung aufstellen, dass jegliches Handeln bei diesen Veranstaltungen als performativ aufgefasst werden konnte, wie die folgenden Episoden zeigen. Nicht in wechselseitigem Austausch mit dem Publikum steht das Weinen des Titus am Schluss der von ihm veranstalteten Spiele zur Einweihung des Colosseum im Frühling des Jahres 80 n. Chr. Sueton berichtet am Ende der Vita des Kaisers im Zusammenhang mit den Ankündigungen seines nahenden Todes: Spectaculis absolutis, in quorum fine populo coram ubertim fleuerat, Sabinos petit aliquanto tristior, quod sacrificanti hostia aufugerat quodque tempestate serena tonuerat.118 Der Autor suggeriert dadurch, dem Kaiser sei bewusst gewesen, dass er nicht mehr lange 114 Vgl. Flaig (22004), S. 237–242; Flaig stellt dabei die Rolle der stadtrömischen Bevölkerung als stabilisierenden oder schwächenden Faktor aristokratischer Macht heraus. Mit der Bedeutung der Plebs urbana für das politische Geschehen der Kaiserzeit setzt sich Flaig (1993a), S. 38–93 auseinander, ein Abschnitt daraus befasst sich in diesem Zusammenhang mit den Spielen (S. 52–59). – Mit der Bedeutung der Spiele setzt sich Groot (2008) auseinander; die Schlussbemerkungen über die Funktion der Spiele zur Symbolisierung und Legitimierung der kaiserlichen Macht auf S. 380 f. setzen antike und moderne Diskurse darüber in Bezug zueinander. 115 Vgl. Flaig (22004), S. 237. Die kollektive Begrüßung des Kaisers und besonders seine Akklamation bei den Spielen behandelt schon Alföldi (31980), S. 80–88, vgl. auch Aldrete (1999), S. 104–114. 116 Zur Bedeutung kaiserlichen Weinens als lenkendes Element bei der Kommunikation im Amphitheater vgl. den bereits oben erwähnten Aufsatz von Krasser (2006). 117 Zu den Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikation zwischen Kaiser und Volk bei den Spielen liefert besonders Groot (2008), S. 330–332 gut abgewogene Bemerkungen; vgl. zudem Seelentag (2004), S. 25. 118 Suet. Tit. 10, 1.
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zu leben hatte – er vergießt unzählige Tränen, nachdem die Feierlichkeiten vorüber sind, zieht sich dann aus der Öffentlichkeit zurück und stirbt bald darauf.119 Das Weinen deutet hier somit als negatives Vorzeichen auf das Lebensende des Titus hin. Gleich zu Beginn der Caracalla-Biographie zählt die Historia Augusta die charakterlichen Vorzüge des Knaben auf und erwähnt dabei unter anderem, dass er in Tränen ausbrach oder die Augen abwandte, wenn man Verurteilte den wilden Tieren vorwarf. Diese Reaktion machte ihn bei den Zuschauern äußerst beliebt (populo plus quam amabile fuit).120 Durch seine Bekundung von Mitgefühl (misericordia) legte der junge Thronfolger nämlich ein tugendhaftes Verhalten an den Tag, durch das er sich bereits im Kindesalter als geeignet für seine Bestimmung erwies – ein guter Herrscher zeichnete sich durch entprechende virtutes aus. Diese sind auch in einem Edikt des Caligula erkennbar, in dem er das Bild eines aus Mitleid weinenden Herrschers evoziert (deflevit edicto): Fünf Netzfechter hatten sich kampflos von fünf Gladiatoren besiegen lassen, doch sie fügen sich nicht ihrem Todesurteil, sondern töten die Sieger des Gefechtes in einem unbedachten Moment. Zu dieser Tat äußert sich der Kaiser bewusst öffentlich und bekundet seine Verachtung der Verbrecher (und somit sein Mitleid mit den Gladiatoren) sowie derer, die tatenlos zusahen.121 Von Tränen des Publikums berichtet Tacitus im dritten Buch der Annalen, und zwar im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Lepida, eine Urenkelin des Lucius Sulla und des Gnaeus Pompeius. Sie wurde 20 n. Chr. unter anderem beschuldigt, ihrem geschiedenen, kinderlosen Mann ein Kind untergeschoben und versucht zu haben, diesen zu vergiften. Mitleid mit ihr kam, so Tacitus, deswegen auf, weil die Auflösung der Ehe bereits vollzogen war,122 und so war die Untersuchung mitten im Gange, als Lepida mit anderen Standesgenossinen die Spiele besuchte.123 Im Theater 119 Dieser Kausalzusammenhang erweist sich bei näherer Betrachtung allerdings als literarisches Konstrukt. Cassius Dio stellt 66, 26, 1 richtig dar, dass Titus erst im folgenden Jahr starb und erwähnt ebenfalls, dass seine Tränen für alle bei den Spielen Anwesenden sichtbar waren: Διατελέσας δὲ ταῦτα, καὶ τῇ γε τελευταίᾳ ἡμέρᾳ καταδακρύσας ὥστε πάντα τὸν δῆμον ἰδεῖν, οὐδὲν ἔτι μέγα ἔπραξεν. Zu dieser Episode vgl. genauer II. 5.3.4, dort auch weitere Überlegungen zur tatsächlichen zeitlichen Abfolge der Ereignisse. 120 SHA Carac. 1, 5: Denique, si quando feris obiectos damnatos vidit, flevit aut oculos avertit. quod populo plus quam amabile fuit; vgl. dazu II. 5.2.1. 121 Suet. Cal. 30, 3: Retiari tunicati quinque numero gregatim dimicantes sine certamine ullo totidem secutoribus succubuerant; cum occidi iuberentur, unus resumpta fuscina omnes uictores interemit: hanc ut crudelissimam caedem et defleuit edicto et eos, qui spectare sustinuissent, execratus est. – Die fehlgeschlagene Inszenierung und die öffentliche Äußerung des Kaisers, mit der auf ein den Normen entsprechenden und in diesem Sinne gerechten Ausgang des Geschehens verwiesen werden soll, weist in manchen Einzelheiten Parallelen mit den in Stat. silv. 2, 5 geschilderten Begebenheiten auf, die Krasser (2006) interpretiert, vgl. besonders seine Schlussbemerkungen S. 287 f. – Die generelle Einstellung Caligulas zu den Spielen und sein unangemessenes Verhalten diesbezüglich stehen bei Sueton allerdings im Vordergrund, vgl. Groot (2008), S. 149–153. 122 Vgl. Tac. ann. 3, 22. 123 Es handelte sich hier wohl um die ludi magni Romani, die vom 4.–19. September stattfanden, vgl. Koestermann (1963), S. 458; vgl. aber auch Martin/Woodman (1996), S. 218.
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des Pompeius ruft sie unter tränenreichem Wehklagen (lamentatione flebili) ihre Vorfahren an, allen voran den Erbauer des Monuments, von dem sich zudem Standbilder im Gebäude befinden, was großes Mitleid mit ihr bei den übrigen Besuchern hervorruft. Sie sind so ergriffen, dass sie in Tränen ausbrechen und Verwünschungen gegen den früheren Gatten ausstoßen, da ihnen Lepida absolut integer erscheint. Ihr gelingt es, das Publikum im Theater zu ihren Gunsten zu mobilisieren, indem sie auf ihre Abkunft von Pompeius verweist und weint; den Zuschauern wiederum steht eine Frau vor Augen, die von edler Abstammung ist und sogar in die Familie des höchst geehrten Augustus einheiraten sollte (was nur durch den frühen Tod des Lucius Caesar verhindert wurde).124 Im Weinen nimmt die vermeintliche Unschuld eine deutlich sichtbare Form an, und die Adlige hat – ganz dem bereits im Zusammenhang mit den Verhandlungen vor Gericht angesprochenen Muster entsprechend – Erfolg bei ihrem Bemühen, Einfluss auf das Publikum zu nehmen und es für ihr Anliegen zu vereinnahmen. Sie versucht gewissermaßen, ihren Prozess an einen anderen Ort zu verlagern (den Tacitus für unpassend erachtet).125 Lepida zweckentfremdet die Spiele, indem sie dort Beifall für ihre eigene Angelegenheit zu erlangen sucht.126 Im Theater hat sie damit zwar Erfolg, vor Gericht allerdings wird sie für schuldig befunden und dann in die Verbannung geschickt.127 Die Vorliebe Neros für die Spiele nimmt bei Cassius Dio einen breiten Raum ein, und er attestiert ihm einen unangemessenen Umgang mit diesen politisch bedeutsamen Veranstaltungen.128 Im höchsten Maße unwürdig ist sein Verhalten an den Juvenalien, die der junge Kaiser im Jahre 59 n. Chr. aus Anlass seiner ersten Bartabnahme veranstalten lässt. Bereits die Tatsache, dass Senatoren und Ritter als aktive Teilnehmer bei den Spielen in Erscheinung treten, ist ungeheuerlich und lässt den ausufernden Charakter der Veranstaltungen erkennen.129 Deren Höhepunkt bil124 Tac. ann. 3, 23, 1: Lepida ludorum diebus, qui cognitionem intervenerant, theatrum cum claris feminis ingressa, lamentatione flebili maiores suos ciens ipsumque Pompeium, cuius ea monimenta et adstantes imagines visebantur, tantum misericordia permovit, ut effusi in lacrimas saeva et detestanda Quirinio clamitarent, cuius senectae atque orbitati et obscurissimae domui destinata quondam uxor L. Caesari ac divo Augusto nurus dederetur. 125 Lepida verhält sich in der Tat so, wie es bei einer Gerichtsverhandlung zu erwarten wäre, und dementsprechende Mechanismen werden bei Vortragender und ihren Zuhörern wirksam, wie Martin/Woodman (1996), S. 219 f. ausführlich herausarbeiten. 126 Dass Tacitus das Auftreten der Lepida verurteilt, lassen der abrupte Übergang zu 3, 23, 2 und die der Lepida zugewiesenen Attribute infamis und nocens erkennen, vgl. Koestermann (1963), S. 459. – Groot (2008), S. 63 f. deutet die Beeinflussbarkeit der Zuschauer zu einer falschen Meinung hin als unwürdiges Verhalten, mit dem Tacitus den negativen Einfluss der Spiele demonstrieren will; wie er die politische Rolle der ludi in der Kaiserzeit beurteilt, analysiert Groot auf S. 51–73. 127 Tac. ann. 3, 23, 2: Dein tormentis servorum patefacta sunt flagitia itumque in sententiam Rubelli Blandi, a quo aqua atque igni arcebatur. huic Drusus adsensit, quamquam alii mitius censuissent. mox Scauro, qui filiam ex ea genuerat, datum, ne bona publicarentur. tum demum aperuit Tiberius compertum sibi etiam ex P. Quirinii servis veneno eum a Lepida petitum. 128 Vgl. Groot (2008), S. 199. 129 Die ablehnende Haltung Dios zu den Iuvenalia ist beispielsweise Cass. Dio 61 (62), 17, 3 in der Wertung einer Darbietung als αἴσχιστον und δεινότατον erkennbar; sehr scharfzüngig ist die Bemerkung Cass. Dio 61 (62), 17, 4, man habe die großen Adelsgeschlechter der Zeit auf der
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det jedoch ein Auftritt der Kaisers selbst, der sich mit dem Gewand eines Kitharöden bekleidet (τὴν κιθαρῳδικὴν σκευὴν ἐνδεδυκώς) und sein Können zum Besten gibt. Da seine Stimme jedoch schwach und heiser ist, haben Gesang und Spiel den Effekt, dass sie beim ganzen Publikum Gelächter und Tränen hervorrufen (καίτοι καὶ βραχὺ καὶ μέλαν, ὥς γε παραδέδοται, φώνημα ἔχων, ὥστε καὶ γέλωτα ἅμα καὶ δάκρυα πᾶσι κινῆσαι) – eine Reaktion, in der sich unverkennbar die Ironie und Absurdität der Darbietung offenbart.130 Geradezu grotesk wirken daher die sich daran anschließenden Ausführungen darüber, wie Nero seinen Applaus geplant und dafür eigens eine große Menge an Soldaten abgestellt hatte.131 Der Charakter einer Person kann sich schließlich darin zeigen, dass sie in einem schicksalhaften Moment Größe bewahrt und Tränen zurückhalten kann. So ist die Bemerkung Prokops zu verstehen, der gefangene Vandalenkönig Gelimer habe, als er im Jahre 534 nach Byzanz gebracht und vor Kaiser Justinian geführt worden war, in der Rennbahn gestanden und trotz seines großen Unglücks nicht vor den Augen aller geweint (ἀπέκλαυσεν) oder geseufzt (ἀνῴμοξεν).132 Tränen stellen in Circus und Amphitheater nur einen Aspekt der performativen Interaktion zwischen verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen dar, gerade deswegen erstaunt es jedoch nicht, dass einige Beispiele in den Quellen erwähnt werden. Nicht zuletzt manifestiert sich in dieser Art der Kommunikation, dass die Geschehnisse bei den Spielen in der Kaiserzeit längst zu einem Politikum geworden waren.133 1.5 In der Kirche und ihrer Umgebung Mit dem Aufstieg des Christentums seit Beginn des vierten Jahrhunderts kam innerhalb der Geschichtsschreibung die Tendenz auf, diese Entwicklung in das literarische Schaffen einzubeziehen, und so gesellte sich neben die traditionellen Formen, vergangene und zeitgenössische Ereignisse schriftlich zu fixieren, die Historia ecclesiastica. Werke, die diesen Titel tragen, sind von mehreren der griechischen und
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Bühne oder in der Arena gesehen, wie sie Dinge taten, deren Ausführung sie in der Regel nicht einmal bei anderen zuschauten: καὶ εἶδον οἱ τότε ἄνθρωποι τὰ γένη τὰ μεγάλα (…) κάτω τε ἑστηκότας καὶ τοιαῦτα δρῶντας ὧν ἔνια οὐδ᾿ ὑπ᾿ ἄλλων γινόμενα ἐθεώρουν. Cass. Dio 61 (62), 20, 1 f.: Καὶ ἔδει γὰρ καὶ τὸν κολοφῶνα ἄξιον τῶν πραττομένων ἐπενεχθῆναι, παρῆλθέ τε καὶ αὐτὸς ὁ Νέρων ἐς τὸ θέατρον, ὀνομαστὶ πρὸς τοῦ Γαλλίωνος ἐσκηρυχθείς, καὶ ἔστη τε ἐπὶ τῆς σκηνῆς ὁ Καῖσαρ τὴν κιθαρῳδικὴν σκευὴν ἐνδεδυκώς, καὶ „κύριοί μου, εὐμενῶς μου ἀκούσατε“ εἶπεν ὁ αὐτοκράτωρ, ἐκιθαρῴδησέ τε Ἄττιν τινὰ ἢ Βάκχας ὁ Αὔγουστος, πολλῶν μὲν στρατιωτῶν παρεστηκότων, παντὸς δὲ τοῦ δήμου, ὅσον αἱ ἕδραι ἐχώρησαν, καθημένου, καίτοι καὶ βραχὺ καὶ μέλαν, ὥς γε παραδέδοται, φώνημα ἔχων, ὥστε καὶ γέλωτα ἅμα καὶ δάκρυα πᾶσι κινῆσαι. Vgl. Cass. Dio 61 (62), 20, 3–5. Noch weitaus bissiger als Dio äußert sich Tac. ann. 14, 15 zu den Juvenalien. Proc. bell. Vand. 2, 9, 11: Ὡς δὲ ἐν τῷ ἱπποδρόμῳ Γελίμερ ἐγεγόνει καὶ τόν τε βασιλέα ἐπὶ βήματος ὑψηλοῦ καθήμενον τόν τε δῆμον ἐφ᾿ ἑκάτερα ἑστῶτα εἶδε καὶ αὐτὸν οὗ ἦν κακοῦ περισκοπῶν ἔγνω, οὔτε ἀπέκλαυσεν οὔτε ἀνῴμοξεν. Die Relation zwischen dem politisch-religiösen, rituellen Charakter der Spiele in Circus und Amphitheater und dem Modus der Politisierung der stadtrömischen Plebs beschreibt Flaig (1992), S. 52–59.
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lateinischen Autoren überliefert. Ihre Intentionen bei der Darstellung der Ereignisse waren mitunter sehr verschieden von denjenigen ihrer nichtchristlichen ‚Kollegen‘. Die Kirche als lokaler Bezugsrahmen wird dementsprechend häufig in der christlichen Geschichtsschreibung erwähnt. Oftmals wird davon berichtet, dass Tränen beim Gebet vergossen werden.134 Ein in diesem Zusammenhang von Rufin und Socrates geschilderter Vorfall betrifft die feindselige Einstellung des Bischofs Alexander von Konstantinopel zu dem als Häretiker angesehenen und verbannten Arius, der allerdings im Jahre 335 auf kaiserlichen Befehl wieder in die Kirche aufgenommen werden sollte. Bischof Alexander wollte diese Anordnung nicht befolgen, wandte er sich mit einem tränenreichen Gebet an Gott und wurde erhört.135 An mehreren Stellen berichtet Gregor von Tours über Tränen in der Kirche. So gibt er den Inhalt einer Predigt des Bischofs Avitus von Vienne (gestorben 518) wieder, der über Bischof Mamertus, einen seiner Vorgänger, schrieb. Nachdem die Stadt bereits monatelang von Naturplagen heimgesucht worden war und schließlich der Blitz in den Königspalast eingeschlagen hatte, habe dieser sich im Gegensatz zu den Besuchern der gerade stattfindenden Messe besonnen verhalten und sei nicht in Furcht aus der Kirche geflüchtet, sondern habe sich vor dem Altar niedergeworfen (prostratus ante altare) und unter Seufzen und Tränen die Barmherzigkeit Gottes angerufen (cum gemitu et lacrimis Domini misericordiam inpraecatur). Dieser geradezu abundante Einsatz von Tränen zeigte Wirkung, der Brand wurde gelöscht.136 Beim Gebet weinte ebenfalls die Frau des Aetius, als dieser im Feld gegen die Hunnen stand; sie hielt sich in der Peterskirche in Rom auf und betete unter Tränen darum, dass ihr Gatte wohlbehalten heimkehre.137 Auch der in der Diözese Trier lebende Säulenheilige Wulfilaich vergoss Tränen, um die Hilfe Gottes zu erlangen, und so wurde es ihm und der Bevölkerung möglich, ein Götterbild der Diana umzustürzen, das sich vorher der Zerstörung widersetzt hatte.138 Am Grab eines Heiligen weinten sowohl Merovech, da er negative Voraussagen für bald anstehende Ereignisse erhielt (577 am Grab des heiligen Martin),139 als auch Bischof Magnerich von Trier, der für einen Amtskollegen betete (am Grab des heiligen Maximinus).140 134 Vgl. dazu auch II. 4.4.2. 135 Eine genauere Analyse der bei Rufin. hist. 10, 13 f. und Socr. hist. eccl. 1, 37 f. geschilderten Ereignisse erfolgt II. 4.4.2.1. 136 Gregor verwendet an dieser Stelle ein besonders ausdrucksstarkes Bild: Penetravit excelsa poli oratio pontefecis incliti, restinxitque domus incendium flumen profluentium lacrimarum; das Geschehen führte zur Entstehung der Bettage vor Christi Himmelfahrt. Der Bericht findet sich Greg. Tur. hist. lib. II, c. 34, p. 83 f. 137 Greg. Tur. hist. lib. II, c. 7, p. 49, vgl. dazu auch II. 3.1. 138 Greg. Tur. hist. lib. VIII, c. 15, p. 382: Tunc ego ad basilicam propero, prostratusque solo, divinam misericordiam cum lacrimis flagitabam, ut, quia id humana industria evertere non valebat, virtus illud divina destrueret. 139 Greg. Tur. hist. lib. V, c. 14, p. 212: In his responsibus ille confusus, flens diutissime ad sepulchrum beati antestetis. 140 Greg. Tur. hist. lib. VIII, c. 12, p. 378 f.: Veniens itaque ad basilicam sancti Maximini, prosternitur sepulchro, illud apostoli Iacobi retinens: Orate pro invicem, ut salvimini. Fusaque diu
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Darüber hinaus werden von Gregor von Tours noch weitere Ursachen für Tränen angegeben, die aus unerfreulichen Anlässen vergossen wurden. Die Gemeinde weinte beim Abschied ihres Bischofs Athanasios von Alexandrien, der von Kaiser Julian ins Exil geschickt wurde, weil er so viele Hellenen zum Christentum bekehrt habe.141 Da Bischof Aravatius wusste, dass sein Tod herannahte und er seiner Gemeinde nicht mehr beistehen konnte, verließ er das Volk von Tongern, doch beiderseits konnte man die Tränen nicht zurückhalten;142 strukturell teilweise ähnlich ist der Abschied des Bischofs Sidonius von Clermont von seinem Volk, der Nachstellungen ausgesetzt war und sich schließlich krank zum Verlassen der Stadt entschloss.143 Auch werden Tränen vor König Chilperich in der Kirche des heiligen Petrus zu Paris erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit der Anklage seines Freundes, des Bischofs Praetextatus von Rouen.144 Von Paulus Diaconus schließlich wird bei der Schilderung der Beisetzung König Kuninkperts im Jahre 700 das Weinen der trauernden Langobarden in der Kirche explizit erwähnt.145 Andererseits weinte man mitunter aus Anlässen, die man als freudig empfand, in der Kirche: Die Predigt des Bischofs Dometianos von Martyrupolis, das etwa 591 von den Persern an die Römer übergeben wurde, rief bei den Zuhörern reichlich Tränen hervor.146 Die Überlegenheit des christlichen Gottes sah Gregor von
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oratione cum lacrimis, ut fratre dignaretur Dominus adiuvare, egressus est foris. – Zu den Tränen des Kaisers Theodosius vor Bischof Ambrosius von Mailand, die er vor und in dessen Kirche vergossen haben soll, vgl. II. 4.4.1. Soz. hist. eccl. 5, 15, 3: Διὰ τοῦτο δὲ τὸ βασιλέως πρόσταγμα μέλλων φεύγειν, δεδακρυμένην ἰδὼν ἀμφ᾿ αὐτὸν τὴν τῶν Χριστιανῶν πληθύν „θαρρεῖτε“, ἔφη, „νεφύδριον γάρ ἐστι, καὶ θᾶττον παρελεύσεται“. Greg. Tur. hist. lib. II, c. 5, p. 46 f.: Quae erant necessaria sepulturae secum citius levat, valedicensque clericis ac reliquis civibus urbis, denuntiat cum fletu et lamentatione, quia non visuri essent ultra faciem illius. At ille cum heiulato magno et lacrimis prosequentes supplecabant humili praece, dicentes: ‚Ne derelinquas nos, pater sanctae, ne obliviscaris nostri, pastor bonae!‘ Sed cum eum fletibus revocare non possent, accepta benedictione cum osculis, redierunt. Greg. Tur. hist. lib. II, c. 23, p. 68: Qui rogat suos, ut eum in ecclesiam ferrent. Cumque ibidem inlatus fuisset, conveniebant ad eum multitudo virorum ac mulierum simulque etiam et infantium plangentium atque dicentium: ‚Cur nos deseres, pastor bone, vel cui nos quasi orphanos derelinquis? Numquid erit nobis post transitum tuum vita? Numquid erit postmodum, qui nos sapientiae sale sic condiat aut ad dominici nominis timorem talis prudentiae ratione redarguat?‘ Haec et his similia populis cum magno fletu dicentibus, tandem sacerdos, Spiritu in se sancto influente, respondit: ‚Nolite timere, o populi, ecce! frater meus Aprunculus vivit, et ipse erit sacerdos vester‘. Qui non intellegentes, putabant, eum loqui aliquid in extasi. Greg. Tur. hist. lib. V, c. 18, p. 222: Prosternitur rex coram pedibus sacerdotum, dicens: „Audite, o piissimi sacerdotes, reum crimen exsecrabile confitentem“. Cumque nos flentes regem elevassemus a solo, iussit eum basilicam egredi. Paul. Diac. hist. Langob., lib. VI, c. 17, p. 170: Hic cum multis Langobardorum lacrimis iuxta basilicam domini Salvatoris, quam quondam avus eiusdem Aripert construxerat, sepultus est. – Überhaupt finden Tränen der Bevölkerung bei der Bestattung ihrer Herrscher des öfteren Eingang in die literarische Darstellung, Beispiele dazu werden II. 4.1.2 geboten. Theophyl. hist. 4, 16, 27 f.: Ἐπεὶ δ᾿ οὕτω που τὰ τῆς διαλαλιᾶς τῷ ἱερεῖ ἐπεφιλοσόφητο λίαν ἐπαινετῶς, ἐκρότει τὸ ἄθροισμα τὸ μεγαλόνουν τῆς διαλέξεως, καὶ πολὺ τὸ δάκρυον τῇ χαρᾷ κεκραμένον ὑπὸ τῆς κατανύξεως τοῦ λόγου τῇ ἐκκλησίᾳ περιεκέχυτο, καὶ φιλόδακρυς ἦν ἡ πανήγυρις οὐκ ἔχουσα πάθους ὑπόθεσιν· οὕτω γὰρ ὁ καιρὸς παρεκάλει τὰ δάκρυα χηρεύων ἀλγηδόνων καὶ τοῦ λυπήσοντος. ὁ μὲν οὖν ἱερεὺς σφαγιάσας τὸν ἄρτον τόν τε οἶνον ἱερουρ-
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Tours zufolge auch Bischof Avitus von Vienne bestätigt, und so weinte er vor der Taufkapelle, als er sein Vorhaben, die Juden seiner Stadt zu taufen, tatsächlich umsetzen konnte.147 Nach Fredegar schließlich ereignete sich ein Wunder im Zusammenhang mit der Wiederauffindung der Gebeine des heiligen Viktor von Solothurn in der nach ihm benannten Kirche in Genf, deren Begräbnisstätte in Vergessenheit geraten war. Durch ein Lichtzeichen erhielten drei in die Stadt gereiste Bischöfe den Hinweis, an welcher Stelle sich der Leichnam des Heiligen befinde, und als sie ihn ausgruben, lag er unversehrt vor ihnen; ihre Überwältigung angesichts dieser Ereignisse konnen sie nur mit Tränen zum Ausdruck bringen.148 Die beschriebenen Szenen sind zutiefst emotional aufgeladen und zeigen, dass die Kirche ein Kommunikationsrahmen für politisch und gesellschaftlich bedeutsame Ereignisse geworden war. Gebete zu Gott begleitende ebenso wie Tränen, die Bestürzung, Trauer oder Freude ausdrückten, lassen erkennen, wie verschiedenartig das Schema wechselseitiger Verhaltensweisen in den christlichen Sakralbauten ausfallen konnte, und wie sehr sie zu einem Ort geworden waren, an dem sich Vorgänge ereigneten, deren Tragweite oft über den bloßen religiösen Kontext hinausreichte. 1.6 Im Lager und auf dem Marsch Weite Teile der antiken Historiographie haben Kriege und die damit zusammenhängenden vorbereitenden militärischen Maßnahmen und Handlungsabläufe zum Darstellungsgegenstand. Im Lager und auf dem Marsch (also in der Regel vor oder nach einer Schlacht) boten sich vielfältige Möglichkeiten und Notwendigkeiten zur Interaktion zwischen Soldaten und ihren Vorgesetzten sowie untereinander, und natürlich zwischen eigenen und gegnerischen Truppen. Auch bildet mitunter das Auftreten von Gesandten einen entscheidungsbestimmenden Faktor im Kommunikationsgefüge, das in einem Text dargelegt wird. Tränen waren innerhalb der geregelten und ungeregelt stattfindenden Kriegsgeschehnisse in unterschiedliche Personenkonstellationen eingebunden und flossen bei unterschiedlichen Vorkommnissen mitunter sehr reichlich. Um ihre Untergebenen von ihrem Anliegen zu überzeugen, setzten Feldherren mitunter bei ihren Reden Tränen ein. In Caesars Bürgerkrieg ist zu lesen, dass Marcus Petreius, Legat des Pompeius in Spanien, im Sommer 49 v. Chr. bei Ilerda, wo er seine Truppen mit denen seines Kollegen Afranius vereinigt hatte, weinend und flehend einen Appell an die Soldaten richtete, ihn nicht an Caesar auszuliefern, und
γήσας τοῖς θεανδρικοῖς μυστηρίοις τὸ συνεληλυθὸς τῇ μεταλήψει ἡγίαζεν. καὶ οὕτω που ἡ πόλις ἡμέραις ἑπτὰ ταῖς θυμηδίαις καθεωρτάζετο. 147 Greg. Tur. hist. lib. V, c. 11, p. 206: At ille prae gaudio lacrimans, cunctos aqua abluens, crismate liniens, in sinu matris eclesiae congregavit. 148 Fredegar. Chron., lib. IV, c. 22, p. 129: Quem cum selencio hii tres pontifecis, cum lacrimis et orationibus, elevato lapide, in arcam argentiam invenerunt sepultum, cuius faciem robentem quasi vivum repperunt.
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sie kamen diesem Aufruf trotz ihrer Bereitschaft zur Kapitulation nach.149 Derartiges Geschick im Umgang mit den eigenen Soldaten hatte Plutarch zufolge schon der junge Pompeius bewiesen, als er im Jahre 87 v. Chr. mit seinem Vater gegen Cinna im Feld stand: Einen nächtlichen Mordanschlag auf seine Person konnte er zwar vereiteln, doch entwickelte sich daraus ein allgemeiner Aufruhr unter den Soldaten, dem der Feldherr selbst sich entzog. Sein Sohn dagegen wirkte den Tendenzen zum Abfall entgegen, indem er sich mitten unter den Soldaten auf den Boden warf und unter Tränen als Bittflehender gebärdete.150 Wenige Jahre später war er, so ist an späterer Stelle in seiner von Plutarch verfassten Vita zu lesen, mit einer ähnlichen Strategie erfolgreich und konnte eine Meuterei seiner Soldaten in Utica beenden.151 Auch gegnerischen Militärs wird dieses Verhalten attestiert; so berichtet etwa Caesar davon, dass sich der Häduer Litaviccus unter Tränen an seine Soldaten wandte, um sie zum Abfall von Caesar zu bewegen.152 Häufig werden im soldatischen Umfeld Tränen erwähnt, die in direktem Zusammenhang mit der Erfahrung einer Schlacht als eines emotional aufwühlenden Ereignisses stehen. Dem Bellum Gallicum zufolge führte die Unerfahrenheit mancher hochrangiger Militärs, die ihre Posten aufgrund ihrer Freundschaft zu Caesar erhalten hatten, dazu, dass sie vor der Schlacht gegen Ariovist 58 v. Chr. von großer Furcht ergriffen wurden und teils abreisten, teils aber ihrer Angst durch Tränen Ausdruck verliehen und sich somit unangemessen und unwürdig verhielten;153 an 149 Caes. bell. civ. 1, 76, 1: Quibus rebus confectis flens Petreius manipulos circumit militesque appellat, neu se neu Pompeium absentem imperatorem suum adversariis ad supplicium tradant, obsecrat. – Die Truppen des Lucius Afranius und des Marcus Petreius wurden daraufhin von Caesars Heer eingeschlossen und ergaben sich wenig später. Lukan berichtet, dass sich die Pompeianer und Caesarianer zunächst unter Tränen verbrüdert hätten (Lucan. 4, 180–182: Arma rigant lacrimis, singultibus oscula rumpunt, | Et quamvis nullo maculatus snguine miles | Quae potuit fecisse timet.), doch Petreius habe sich seine Truppen durch eine hasserfüllte Rede (Lucan. 4, 212–235) wieder gefügig machen können. 150 Plut. Pomp. 3, 4 f.: Ἐκ δὲ τούτου γίνεται μέγα κίνημα μίσει τοῦ στρατηγοῦ καὶ πρὸς ἀπόστασιν ὁρμὴ τῶν στρατιωτῶν, τάς τε σκηνὰς ἀνασπώντων καὶ τὰ ὅπλα λαμβανόντων. ὁ μὲν οὖν στρατηγὸς οὐ προῄει δεδιὼς τὸν θόρυβον, ὁ δὲ Πομπήιος ἐν μέσοις ἀναστρεφόμενος καὶ δακρύων ἱκέτευε, τέλος δὲ ῥίψας ἑαυτὸν ἐπὶ στόμα πρὸ τῆς πύλης τοῦ χάρακος, ἐμποδὼν ἔκειτο κλαίων καὶ πατεῖν κελεύων τοὺς ἐξιόντας, ὥσθ᾿ ἕκαστον ἀναχωρεῖν ὑπ᾽ αἰδοῦς, καὶ πάντας οὕτω πλὴν ὀκτακοσίων μεταβαλέσθαι καὶ διαλλαγῆναι πρὸς τὸν στρατηγόν. Eine detaillierte Analyse dieser und der folgenden Stelle findet sich in II. 2.1.2. 151 Plut. Pomp. 13, 3. 152 Caes. bell. Gall. 7, 38, 1: Litaviccus accepto exercitu cum milia passuum circiter xxx a Gergovia abesset, convocatis subito militibus lacrimans ‘quo proficiscimur,‘ inquit ‚milites?‘ 153 Caes. bell. Gall. 1, 39, 2–4: Hic primum ortus est a tribunis militum, praefectis, reliquisque qui ex urbe amicitiae causa Caesarem secuti non magnum in re militari usum habebant: quorum alius alia causa inlata, quam sibi ad proficiscendum necessariam esse diceret, petebat ut eius voluntate discedere liceret; non nulli pudore adducti, ut timoris suspicionem vitarent, remanebant. Hi neque vultum fingere neque interdum lacrimas tenere poterant: abditi in tabernaculis aut suum fatum querebantur aut cum familiaribus suis commune periculum miserabantur. Vulgo totis castris testamenta obsignabantur. Mit der unwürdigen Zurschaustellung ihrer Feigheit veranlassten diese Männer auch die kriegserfahrenen Heeresmitglieder, angesichts der drohenden Schlacht in Unruhe und Furcht zu geraten; Caesar gelang es aber, seinen Soldaten mit einer Ansprache wieder Mut zu machen, die im darauf folgenden Kapitel wiedergegeben wird.
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späterer Stelle wird beschrieben, dass römische Soldaten auf ihrem Marsch von den Eburonen überrascht wurden und clamore et fletu versuchten, ihr Gepäck zu retten.154 Unter Tränen ergaben sich – so wird in Caesars Bellum civile berichtet – die in die Enge getriebenen Soldaten des Pompeius in der Schlacht bei Pharsalos 48 v. Chr., denen gegenüber Caesar jedoch Milde walten ließ.155 Tacitus berichtet im Zuge der Behandlung des Partherkriegs unter Nero vom Weinen der Soldaten des Gnaeus Domitius Corbulo beim beiderseitigen Zusammentreffen am Euphrat über das Los ihrer Kameraden, die ihr Befehlshaber unter schmachvollen Bedingungen aus Armenien hatten abziehen müssen.156 Ein Beispiel für die Beliebtheit des Antonius bei seinen Soldaten ist in dessen von Plutarch verfasster Vita zu lesen: Den Tränen, die er auf seinem Partherfeldzug nach dem Rückzug von Phraata 36 v. Chr. um die Verwundeten im Lager vergoss (demnach eine ausdrucksstarke Loyalitätsbekundung), entgegnete man mit dem Hinweis, dass die Unversehrtheit des Feldherrn als oberste Priorität gesehen werde.157 Wenige Tage später, so heißt es bei Plutarch weiter, überschritt das Heer den Fluss Araxes, die Grenze zu Armenien, und die Soldaten zeigten ihre Freude und Erleichterung, indem sie den Boden küssten und weinend ihre Kameraden umarmten.158 Vor der Schlacht von Actium schildert Plutarch schließlich einen Kohortenführer des Antonius als weinend, der die bevorstehende Seeschlacht gegenüber einem Kampf auf dem Land für wenig erfolgversprechend hielt.159 154 Caes. bell. Gall. 5, 33, 6: Praeterea accidit (…) ut vulgo milites ab signis discederent, quaeque quisque eorum carissima haberet, ab impedimentis petere atque arripere properaret, clamore et fletu omnia complerentur. Vgl. dazu auch II. 2.2.3. 155 Caes. bell. civ. 3, 98, 1 f.: Caesar prima luce omnes eos, qui in monte consederant, ex superioribus locis in planitiem descendere atque arma proicere iussit. Quod ubi sine recusatione fecerunt passisque palmis proiecti ad terram flentes ab eo salutem petiverunt, consolatus consurgere iussit et pauca apud eos de lenitate sua locutus, quo minore essent timore, omnes conservavit militibusque suis commendavit, ne qui eorum violaretur, neu quid sui desiderarent. Vgl. auch II. 2.2.3. 156 Tac. ann. 15, 16, 4: Corbulo cum suis copiis apud ripam Euphratis obvius non eam speciem insignium et armorum praetulit, ut diversitatem exprobraret: maesti manipuli ac vicem commilitonum miserantes ne lacrimis quidem temperare; vix prae fletu usurpata consalutio. decesserat certamen virtutis et ambitio gloriae, felicium hominum adfectus: sola misericordia valebat, et apud minores magis. Vgl. auch II. 2.2.3. 157 Plut. Ant. 43, 2: Ἀλλ᾽ οὗτος μὲν ἐκ τῶν τραυμάτων οὐκ ἀνήνεγκε, τοὺς δ᾽ ἄλλους περιιὼν ὁ Ἀντώνιος ἐπεσκόπει καὶ παρεθάρρυνε δεδακρυμένος καὶ περιπαθῶν. οἱ δὲ φαιδροὶ τὴς δεξιᾶς αὐτοῦ λαμβανόμενοι, παρεκάλουν ἀπιόντα θεραπεύειν αὑτὸν καὶ μὴ κακοπαθεῖν, αὐτοκράτορα καλοῦντες, καὶ σώζεσθαι λέγοντες, ἂν ἐκεῖνος ὑγιαίνῃ. – Tiberius’ Beliebtheit bei den Soldaten zeigt sich anhand der Tränen, mit den sie ihn begrüßten, als er nach seiner Adoption 4 n. Chr. nach Germanien geschickt wurde (Vell. 2, 104, 4). Tränen für einen toten Imperator seitens der Soldaten verdeutlichen ebenfalls, wie sehr dieser von ihnen geschätzt wurde, so im Falle Othos (Plut. Otho 17, 6 f.) und Julians (Amm. 25, 5, 6). 158 Plut. Ant. 49, 5: Ἐπεὶ δ᾿ ἀσφαλῶς διαπεράσαντες ἐπέβησαν τῆς Ἀρμενίας, ὥσπερ ἄρτι γῆν ἐκείνην ἰδόντες ἐκ πελάγους, προσεκύνουν καὶ πρὸς δάκρυα καὶ περιβολὰς ἀλλήλων ὑπὸ χαρᾶς ἐτρέποντο (vgl. dazu auch II. 2.2.3). 159 Plut. Ant. 64, 2 f.: Ἔνθα πεζομάχον ἄνδρα τῶν ταξιαρχῶν λέγουσι (…) τοῦ Ἀντωνίου παριόντος ἀνακλαύσασθαι καὶ εἰπεῖν· „ὦ αὐτόκρατορ, τί τῶν τραυμάτων τούτων ἢ τοῦ ξίφους καταγνοὺς ἐν ξύλοις πονηροῖς ἔχεις τὰς ἐλπίδας; Αἰγύπτιοι καὶ Φοίνικες ἐν θαλάσσῃ μαχέσθωσαν, ἡμῖν δὲ
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Tacitus berichtet wiederum, dass vier Wochen nach der ersten Schlacht bei Bedriacum, also Mitte Mai 69 n. Chr., manche Soldaten des siegreichen Vitellius weinten, als sie das Schlachtfeld besichtigten und die Wechselhaftigkeit des menschlichen Schicksals vor Augen geführt bekamen.160 In ergreifender Manier erwähnt schließlich Prokop zahlreiche Tränen im Zuge der Geschehnisse vor und nach der Schlacht von Trikamaron im Dezember 533 – vor allem der Vandalenkönig Gelimer und sein Bruder Tzazon sowie ihre Untergebenen waren sich der Ausweglosigkeit ihrer Situation deutlich bewusst, und sie bekundeten dies im Heereslager durch ihre expressiven Gesten.161 Das besonders nachdrückliche Vorbringen einer Bitte durch Gesandte, die Tränen vergießend vor einen römischen Feldherrn treten, wird gleich drei Mal im Bellum Gallicum erwähnt, und zwar im ersten Buch: Der Häduer Diviciacus bat Caesar auf diese Weise, seinen Intrigen spinnenden Bruder zu schonen;162 nach der Schlacht von Bibracte im Jahr 58 v. Chr. kamen helvetische Gesandte zu Caesar und baten ihn um Frieden, wobei sie sich vor seine Füße warfen und weinten;163 wenig später verfuhren die Stammesfürsten aus fast ganz Gallien ebenso.164 Als Gesandte Mithridates‘ VI. nach der Schlacht von Cheironeia vor Sulla, so berichtet Plutarch in dessen Vita, die Bedingungen des Königs von Pontos für einen Friedensschluss vortrugen, wurde der römische Feldherr so zornig, dass sie vor Schreck sprachlos waren. Der ebenfalls anwesende pontische General Archelaos aber reagierte geschickt und versuchte ihn mit Tränen und Bitten zu besänftigen.165 Die Funktion von Tränen als eigenständiges oder begleitendes Mittel, im Rahmen einer durchdachten Rhetorik die eigene Meinung zu bekunden, findet sich also auch im militärischen Umfeld; ähnlich wie bei einem Rechtsfall vor Gericht war es hier von essentieller Bedeutung, die eigene Position durchzusetzen. Dass der Anblick eines Schlachtfeldes und, ganz allgemein, die unmittelbare Erfahrung der Grausamkeiten des Krieges Tränen hervorriefen, entspricht sicherlich der Realität,
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γῆν δὸς ἐφ᾽ ἧς εἰώθαμεν ἑστῶτες ἀποθνήσκειν ἢ νικᾶν τοὺς πολεμίους.“ Vgl. dazu auch II. 2.2.2.2. Tac. hist. 2, 70, 3: Vulgus quoque militum clamore et gaudio deflectere via, spatia certaminum recognoscere, aggerem armorum, strues corporum intueri mirari; et erant quos varia sors rerum lacrimaeque et misericordia subiret. Proc. bell. Vand. 1, 25, 24; 2, 6, 27 und 2, 6, 33. Caes. bell. Gall. 1, 20, 1: Diviciacus multis cum lacrimis Caesarem complexus obsecrare coepit ne quid gravius in fratrem statueret; 1, 20, 5: Haec cum pluribus verbis flens a Caesare peteret, Caesar eius dextram prendit; consolatus rogat finem orandi faciat; tanti eius apud se gratiam esse ostendit uti et rei publicae iniuriam et suum dolorem eius voluntati ac precibus condonet. Caes. bell. Gall. 1, 27, 2: Qui cum eum in itinere convenissent seque ad pedes proiecissent suppliciterque locuti flentes pacem petissent, atque eos in eo loco quo tum essent suum adventum expectare iussisset, paruerunt. Caes. bell. Gall. 1, 31, 1 f.: Eo concilio dimisso, idem princeps civitatum qui ante fuerant ad Caesarem reverterunt petieruntque uti sibi secreto in occulto de sua omniumque salute cum eo agere liceret. Ea re impetrata sese omnes flentes Caesari ad pedes proiecerunt; 1, 32, 1: Hac oratione ab Diviciaco habita omnes qui aderant magno fletu auxilium a Caesare petere coeperunt. Plut. Sull. 23, 8: Οἱ μὲν οὖν πρέσβεις φοβηθέντες ἡσύχαζον, ὁ δ᾿ Ἀρχέλαος ἐδεῖτο τοῦ Σύλλα καὶ κατεπράϋνε τὴν ὀργήν, ἁπτόμενος τῆς δεξιᾶς αὐτοῦ καὶ δακρύων.
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und die Erwähnung dieser Reaktion macht das Geschilderte für den Leser besser nachvollziehbar. 1.7 In privatem Rahmen Die Grenze zwischen ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ kann bei Personen, die Spitzenpositionen im römischen Staat einnahmen, nicht scharf gezogen werden, und dies gilt besonders für die Kaiser. Person und Amt waren so untrennbar verbunden, dass die ihnen zugeordneten Bereiche in verschieden hohem Ausmaß ineinandergriffen.166 Eine Unterscheidung ist dennoch gerechtfertigt und führt zu einer angemessenen Einschätzung von Vorkommnissen, die der Sache nach der öffentlich-politischen Ebene zuzurechnen sind, aber in privatem Rahmen stattfanden. Daneben haben Begebenheiten Eingang in die Geschichtsschreibung gefunden, deren anekdotischer Charakter vor allem dem Interesse des Lesers am Privaten entgegenkommt.167 Im Allgemeinen wird der Aspekt des Privaten in den Schilderungen vor allem dadurch zum Ausdruck gebracht, dass nur wenige Personen zugegen waren, was entweder angemerkt wird oder durch den Kontext zu erschließen ist. Zu Beginn der Annalen berichtet Tacitus über das Ende des Augustus und erwähnt das damals kursierende Gerücht, der Gesundheitszustand des Kaisers habe sich durch Einwirkung der Livia verschlechtert, da ihr eine mögliche Versöhnung ihres Gatten mit seinem Enkel Agrippa Postumus missfiel. Dieser hielt sich seit 7 n. Chr. als Verbannter auf der Insel Planasia auf, wo Augustus ihn einige Monate zuvor mit wenigen Vertrauten besucht hatte, um sich mit ihm auszusöhnen. Die Intensität dieser Begegnung und die hohe Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr nach Rom spiegelt sich in der Bemerkung wider, beide Seiten hätten Tränen vergossen und ihre gegenseitige Liebe durch weitere Gesten bekundet.168 Nur wenige Zeugen kann es auch für die Tränen gegeben haben, mit denen Sueton zufolge Kaiser Titus seinen Bruder Domitian dazu aufforderte, die ihm entgegengebrachte brüderliche Liebe zu erwidern und nicht durch Brudermord die Herrschaft an sich reißen zu wollen.169 Trä166 Vgl. dazu Demandt (21997), S. 34. 167 Zu diesem Aspekt vgl. Staesche (1998), S. 324 f.: „Das Interesse eines Menschen an der Privatsphäre des anderen ist (…) genauso eine anthropologische Konstante wie das Bedürfnis eines Menschen nach einem eigenen privaten Bereich.“ – Zwar werden in den Quellen oftmals alle anderen Bürger als privati gegen den Kaiser, der Inhaber des höchsten Amtes und in letzter Instanz eigenmächtig entscheidend war, abgegrenzt (und dies entspricht der Grundbedeutung des Wortes); trotzdem werden auch andere Personen des öffentlichen Lebens in privatem Umfeld (unter anderem als weinend) geschildert, denn das Interesse an ihnen war zumindest fast genauso groß. Zur Semantik des lateinischen privatus und dem Gebrauch des Wortes in unterschiedlichen Bedeutungen in der Historia Augusta und bei anderen Geschichtsschreibern vgl. Béranger (1985). 168 Tac. ann. 1, 5, 1: Gravescere valitudo Augusti, et quidam scelus uxoris suspectabant. quippe rumor incesserat paucos ante mensis Augustum electis consciis et comite uno Fabio Maximo Planasiam vectum ad visendum Agrippam; multas illic utrimque lacrimas et signa caritatis, spemque ex eo fore ut iuvenis penatibus avi redderetur. 169 Vgl. Suet. Tit. 9, 3 und Aur. Vict. epit. Caes. 10, 11.
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nen des jungen Mark Aurel um einen verstorbenen Erzieher wurden, so eine Episode in der Historia Augusta, von Dienern bei Hofe (aulici ministri) kritisiert, sein Adoptivvater Antoninus Pius dagegen sah sie als Zeugnis seiner Menschlichkeit.170 In der Caesar-Vita Plutarchs wird geschildert, wie dieser während seines Feldzugs in Spanien in seinen Mußestunden über die Geschichte Alexanders des Großen las und danach in Tränen ausbrach; als Grund dafür gab er seinen verwunderten Freunden an, dass Alexander in dem Alter, in dem er gerade stehe, bereits über zahlreiche Völker geherrscht, er selbst dagegen noch keine Heldentat vollbracht habe.171 Mehrfach berichtet Plutarch davon, dass hochgestellte Frauen um ihre Männer weinten, da diese in politische Ereignisse und Entscheidungen involviert waren, deren Ausgang für sie und ihre Angehörigen von folgenschwerer Bedeutung war. Die Tränen der weiblichen Familienmitglieder markieren bei der Abfolge der Ereignisse innerhalb der Erzählung den Übergang vom privaten zum öffentlichen Bereich.172 Dass die Tränen des Tiberius um seine geschiedene Frau Vipsania Agrippina in der Öffentlichkeit ein völlig unangebrachtes Verhalten darstellten, wird von Sueton hervorgehoben. Tiberius war in seiner von Augustus verordneten Ehe mit Iulia offenbar nicht glücklich und liebte seine vormalige Gattin tatsächlich, so dass er spontan weinen musste, als er sie zufällig sah; um eine solche Reaktion künftig zu unterbinden, achtete man nach diesem Erlebnis darauf, dass sie ihm nicht mehr unter die Augen kam.173 Schauplatz der folgenden drei Beispiele sind jeweils Privaträume im eigenen Haus oder im Palast: Prokop zeigt die Verruchtheit der Antonina, die mit ihrem Adoptivsohn Theodosios ein Verhältnis hatte, daran auf, dass sie, nachdem er sich von ihr abgewandt hatte und Mönch geworden war, vor ihrem Mann Belisar jammert und klagt, so dass dieser den Verlust des jungen Mannes ebenfalls so schwer nimmt, dass er weint.174 Atalarich wurde Prokop zufolge als Kind einmal wegen ungezogenen Benehmens von seiner Mutter Amalasuntha im Frauengemach gezüchtigt und lief weinend in die Räume der Männer.175 Nachdem Valentinian III. die für ihre Schönheit berühmte Frau des Senators Maximus in seinen Palast gelockt und vergewaltigt hatte, kehrte sie tränenüberströmt nach Hause zurück und 170 SHA Pius 10, 5: Inter argumenta pietatis eius et hoc habetur, quod, cum Marcus mortuum educatorem suum fleret vocareturque ab aulicis ministris ab ostentatione pietatis, ipse dixerit: ‚permittite‘, inquit, ‚illi, ut homo sit. neque enim vel philosophia vel imperium tollit affectus.‘ Eine genauere Behandlung dieser Episode erfolgt in II. 5.2.1 und II. 4.1.1.1. 171 Plut. Caes. 11, 5 f.: Ὁμοίως δὲ πάλιν ἐν Ἰβηρίᾳ σχολῆς οὔσης ἀναγινώσκοντά τι τῶν περὶ Ἀλεξάνδρου γεγραμμένων σφόδρα γενέσθαι πρὸς ἑαυτῷ πολὺν χρόνον, εἶτα καὶ δακρῦσαι· τῶν δὲ φίλων θαυμασάντων τὴν αἰτίαν εἰπεῖν „οὐ δοκεῖ ὑμῖν ἄξιον εἶναι λύπης, εἰ τηλικοῦτος μὲν ὢν Ἀλέξανδρος ἤδη τοσούτων ἐβασίλευεν, ἐμοὶ δὲ λαμπρὸν οὐδὲν οὔπω πέπρακται;“ Vgl. dazu genauer II. 5.2.4. 172 Vgl. Plut. Caes. 7, 3; Caes. 63, 9 f.; Cato min. 9, 1; Cato min. 27, 3; Cato min. 32; Brut. 23, 4. Weitere Überlegungen dazu finden sich in II. 3.1. 173 Suet. Tib. 7, 3: Sed Agrippinam et abegisse post diuortium doluit et semel omnino ex occursu uisam adeo contentis et [t]umentibus oculis prosecutus est, ut custoditum sit ne umquam in conspectum ei posthac ueniret. Genauer wird diese Episode in II. 5.3.2 behandelt. 174 Vgl. Proc. hist. 1, 38 f., dazu genauer II. 3.2. 175 Vgl. Proc. bell. Goth. 1, 2, 9 f.
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machte ihrem Mann Vorwürfe, da er seinen Ring als Pfand bei Valentinian hinterlassen und dieser dann als Lockmittel gedient hatte.176 Bei einigen Episoden wird die Vermischung von privater mit öffentlicher Sphäre besonders deutlich; die Vorfälle ereigneten sich in einem genuin persönlich geprägtem Umfeld, jedoch beziehen sie sich inhaltlich auf politische Angelegenheiten. Als ein hochstehender Byzantiner sich mit der Geste eines Bittflehenden (er wirft sich zu Boden und vergießt Tränen) in ihren Gemächern an die Kaiserin Theodora wendet, begegnet sie ihm nur mit Hohn – Prokop dient die Schilderung als Beleg dafür, dass sie selbst ernste staatliche Angelegenheiten ins Lächerliche zu ziehen pflegte.177 Die eigene Position zu aktuellen politischen Geschehnissen konnte dem Herrscher sogar bei einem Besuch in seinem cubiculum präsentiert werden. So berichtet Tacitus über Lucius Vitellius, den Bruder des Kaisers, dieser sei im Schlafgemach des Aulus Vitellius und seines Sohnes unter Bitten und Tränen nahe an diese beiden herangetreten (preces lacrimasque attulisse); Ziel seiner Darbietung war es, Iunius Blaesus bei seinem Bruder zu verleumden.178 Herodian berichtet, dass der Militärtribun Saturninus seinem Kaiser unter Tränen (δακρύοντος) in dessen θάλαμος von einem geplanten Umsturz des Prätorianerpräfekten Gaius Fulvius Plautianus berichtet; allerdings schenkt ihm Septimius Severus zunächst keinen Glauben.179 Nach Tacitus wiederum beschwichtigte Otho, während er ein Gelage im Palatium abhielt, durch Tränen und Bitten die Soldaten, die plötzlich in die kaiserliche Residenz eingefallen waren.180 Von Tränen beim Umgang einzelner Herrscher mit Angehörigen ihrer Familie, die als potentielle Nachfolger gelten konnten, berichten schließlich Tacitus (über Tiberius) und Flavius Josephus (über Herodes).181 Bereits die einigermaßen kurze Behandlung dieser Episoden macht deutlich, dass mitunter die Amtsgeschäfte Eingang in die private Sphäre gefunden haben. Entscheidungen über staatliche Angelegenheiten oder Begegnungen mit den Inhabern politisch bedeutender Ämter konnten in der Kaiserzeit im näheren Umfeld des Herrschers stattfinden und sich dort mit derselben emotionalen Intensität und unter der Nutzung derselben Verhaltensmuster vollziehen, die auch an anderen für die 176 Vgl. Proc. bell. Vand. 1, 4, 23; eine genauere Behandlung dieser Episode findet sich in II. 3.2. 177 Vgl. Proc. hist. 15, 24–35. Das Vorbringen einer Bitte vor höhergestellten Personen fand regelmäßig etwa im Rahmen der salutatio statt; eine ausführliche Darstellung der Morgenbegrüßungen in Republik und früher Kaiserzeit liefert Goldbeck (2010). 178 Tac. hist. 3, 38, 2–4. 179 Herodian. 3, 12, 3. 180 Tac. hist. 1, 82, 1. 181 Vgl. Tac. ann. 6, 46, 4 und Ios. bell. Iud. 1, 556 und 559. Der Ort der von diesen beiden Autoren wiedergegebenen Aussagen ist jeweils nicht genannt, doch muss man dabei wohl an den herrscherlichen Wohnsitz denken. Tacitus berichtet, dass Tiberius wenige Zeit vor seinem Tod unter Tränen an seinen Enkel Tiberius Gemellus, den Sohn des Drusus, die Bemerkung richtete, dieser werde von Caligula umgebracht werden (zuvor hatte Tiberius dem Caligula selbst pauschal sein moralisch verwerfliches Verhalten prophezeit); die entsprechenden Äußerungen finden sich im Zuge des Berichts über die Unsicherheit des Kaisers bei seiner Nachfolgeregelung. Josephus dagegen führt den näheren Umkreis Herodes des Großen als Zeugenschaft für dessen tränenreiche Präsentation seiner Enkel, der Kinder des ermordeten Alexander und des Aristobulos, als potentielle Nachfolger an (was wiederum sein aus erster Ehe stammender Sohn Antipater als Gefährdung seiner eigenen Stellung als Thronerbe ansah).
2. Wer weint – und vor wem?
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Gestaltung der Politik relevanten Orten auftreten. Schilderungen von Tränen hochgestellter Persönlichkeiten im privaten Raum können nie als gänzlich losgelöst von politischen Gegebenheiten gelten – selbst das Weinen der Frauen aus Angst um ihre Familienangehörige oder ein Weinen als spontane Reaktion auf eine als ungerecht empfundene Behandlung belegen vor allem eine Vermischung von Politischem mit Privatem. Faktisch waren und sind diese beiden Bereiche im Falle von Personen, an denen seitens der Gesellschaft ein hohes Interesse besteht, nur schwer zu trennen, und wenn Nachrichten aus dem privaten Umfeld nach außen dringen, werden sie dadurch öffentlich gemacht und oftmals nach entsprechenden Maßstäben gewertet. Umgekehrt verhält es sich im Fall des spontan in der Öffentlichkeit weinenden Tiberius: An seiner Reaktion wird dem Leser die menschliche, sehr private Seite des Thronerben aufgezeigt – angemessen war sein Auftreten allerdings keinesfalls.182 2. WER WEINT – UND VOR WEM? Nachdem im vorangegangenen Kapitel mehrere Orte, an denen das Vergießen von Tränen regelmäßig Erwähnung findet, als Bezugspunkte gewählt worden sind, sollen nun einige Personengruppen näher in den Blick genommen werden. Die Interaktion zwischen Individuen (Kaiser, Senatoren, militärische Funktionsträger) und Kollektiven (Senatoren, Soldaten, Bevölkerung) kommt in der antiken Historiographie regelmäßig zum Ausdruck und steht in wechselnden Zusammenhängen. Ihre Bedeutung lässt sich kontextbezogen aufzeigen, indem die Schilderungen von Tränen dieser Personen wiedergegeben und nach situativen Gegebenheiten angeordnet werden. Dadurch wird evident, in welcher Relation die einzelnen sozialen Gruppen in den jeweiligen Situationen oder auch in einem allgemeiner gefassten Rahmen zueinander standen. Zudem spielte im Verhalten hochrangiger Persönlichkeiten untereinander eine emotional geprägte Kommunikation durch Tränen mitunter eine entscheidende Rolle. Legt man die Überlegung zugrunde, dass literarische Quellen Aufschluss über emotionale Gemeinschaften bieten können, dann gilt es folglich, die Handlungsmuster bestimmter Personenkreise der römischen Gesellschaft herauszustellen; Aktion und Reaktion hingen dabei wesentlich davon ab, in welcher emotional community sich die beschriebenen Vorgänge ereigneten. Ausgehend von der Frage, wer weint und vor wem geweint wird, lassen sich also situationsbezogene Affekte aufzeigen, die innerhalb einer emotionalen Gemeinschaft wirksam werden. 2.1 Weinende Kaiser und Feldherren vor Soldaten Das Verhältnis zwischen Soldaten und ihren Vorgesetzten war von beiderseitiger Abhängigkeit und damit einhergehend von einer loyalen Bindung aneinander gekennzeichnet. Diese Verbundenheit konnte in unterschiedlicher Intensität ausge182 Eine ausführliche Behandlung der Episode erfolgt in II. 5.3.2.
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
prägt sein; eine wesentliche Rolle dabei spielte der Charakter des Feldherrn oder Kaisers sowie sein militärischer Erfolg,183 was sich in einem großen Teil der im folgenden analysierten Episoden widerspiegelt. 2.1.1 Weinen vor Soldaten Aufgrund der persönlichen Bindung der Soldaten an den Feldherrn und, seit dem Prinzipat, an den Kaiser ist es nicht verwunderlich, dass in mehreren Darstellungen eine Handlungsweise geschildert wird, die darauf abzielte, das Näheverhältnis zwischen Befehlshaber und Untergebenen zu intensivieren. Im Verhalten eines Feldherrn gegenüber seinen Soldaten zeigte sich, inwiefern er dem Idealbild eines militärischen Anführers zu entsprechen versuchte. Dass die Atmosphäre in Krisensituationen emotional aufgeladen war, wird auch in Schilderungen des Tränenvergießens offensichtlich. Die Beliebtheit beim Heer bildete eine wesentliche Grundlage für einen Feldherrn, wenn er langfristig erfolgreich sein wollte. Ein Anführer, an dessen Nähe zu den Soldaten von vorneherein kein Zweifel bestand, genoss bei ihnen in der Regel großen Respekt. Für Marcus Antonius ist das hohe Ansehen bei seinen Truppen vielfach in der antiken Historiographie bezeugt; auch Plutarch bietet ein bemerkenswertes Beispiel davon, wie ihm für sein Verhalten Respekt gezollt wurde: Im Jahre 36 v. Chr. musste er die Belagerung von Phraata aufgeben und seinen gescheiterten Feldzug gegen die Parther abbrechen. Der Versuch, die medische Stadt zu erobern, hatte dem Biographen zufolge dreitausend Tote und fünftausend Verwundete gefordert und wäre ohne das umsichtige Handeln des Antonius wohl noch weitaus verlustreicher gewesen.184 Anschließend ging dieser im Lager umher und munterte die verletzten Soldaten auf, wobei sein Weinen ein Zeugnis tiefer innerer Anteilnahme mit ihrer Situation bot (ἐπεσκόπει καὶ παρεθάρρυνε δεδακρυμένος καὶ περιπαθῶν). Dem Ausdruck des Mitgefühls begegneten die Verwundeten ihrerseits mit Wohlwollen und brachten ihre Sympathie für den Anführer zum Ausdruck: Sie ergriffen frohen Mutes seine rechte Hand (τὴς δεξιᾶς αὐτοῦ λαμβανόμενοι) und sagten, er solle sich um sich selbst sorgen und keinen Kummer empfinden (θεραπεύειν αὑτὸν καὶ μὴ κακοπαθεῖν). Wie im Falle eines Sieges185 redeten die Soldaten ihn als imperator (αὐτοκράτωρα) an und sprechen ihm ihr bedingungslo-
183 Durch sein erfolgreiches Agieren bei kriegerischen Auseinandersetzungen konnte ein Feldherr der späten Republik seinen Truppen eine sichere Einkommensgrundlage gewährleisten. Diese materielle Entlohnung sieht Brunt (1988), S. 436 als wesentliche Grundlage dafür an, dass die Soldaten ihrem Befehlshaber Loyalität zusicherten; seiner Auffassung folgt Stäcker (2003), legt aber größeres Gewicht auf die Betonung der Sieghaftigkeit des Feldherrn und seiner Nähe zu den Soldaten, vgl. S. 45–47. Er zeigt in seiner Untersuchung auf, dass diese Faktoren auch in den ersten beiden Jahrhunderten des Prinzipats ausschlaggebend für ein gutes Verhältnis des Kaisers zu seinen Soldaten waren. 184 Vgl. Plut. Ant. 42, 6–43, 1. Der Partherfeldzug wird ausführlich in den Kapiteln 37 bis 52 der Vita behandelt. 185 Vgl. Pelling (1988), S. 232.
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ses Vertrauen aus – ihre Rettung bestehe darin, dass er gesund sei (σώζεσθαι λέγοντες ἂν ἐκεῖνος ὑγιαίνῃ).186 Der Rest des Kapitels zählt in einer etwa doppelt so langen Passage die Vorzüge vor allem des Marcus Antonius, aber ebenso diejenigen seiner Soldaten auf. Sie bringen ihm bedingungslose Loyalität entgegen, die ihn ganz in die militärische Tradition der großen Feldherrn der römischen Republik stellt. Durch seine charakterlichen Qualitäten und seine Präsenz bei den im Kampf verletzten Soldaten gelingt es ihm, diese zu motivieren: Obwohl seine Kampagne scheiterte und die Bedingungen des Rückzugs ungünstig waren, bringt er es mit Hilfe seines Einfühlungsvermögens und der Bekundung der eigenen Betroffenheit fertig, die Kranken und Verwundeten in noch stärkerem Maß als die Gesunden für sich einzunehmen.187 Die Positionierung dieser kurzen Skizze des Antonius als in seinen Grundanlagen bestens zum militärischen Anführer geeigneten Mannes verweist bereits darauf, dass Plutarch dem Leser eine Interpretation der beschriebenen Szene nahelegt (Antonius weint und erreicht durch sein eindringliches Verhalten eine höchstmögliche Zusicherung der Loyalität seiner kampfgeschwächten Soldaten); er unterbricht die Erzählung regelrecht, um Antonius trotz des militärischen Misserfolgs glaubhaft als erfolgreichen Feldherrn darzustellen.188 Die Episode zeigt, wie wichtig die Persönlichkeit des Feldherrn war, um auf das Verhalten seiner Soldaten zu seinem eigenen Vorteil Enfluss zu nehmen. Die entsprechenden charakterlichen Anlagen sowie die Fähigkeit und Erfahrung, diese auch in der Praxis für sich nutzbar zu machen, waren entscheidende Voraussetzungen für militärisches Gelingen. In der Regel wird der Erfolg allerdings anhand eines Sieges aufgezeigt; Tränen in einem solchen Zusammenhang attestiert Theophylaktos Simokates dem oströmischen Feldherrn Philippikos vor der Schlacht gegen die Perser bei Solachon am Fluss Arzamon im Frühjahr 585.189 Beim Herannahen der 186 Plut. Ant. 43, 1 f.: Ἀπέθανον δὲ τρισχιλίων οὐκ ἐλάττους, ἐκομίσθησαν δὲ ἐπὶ σκηνὰς τραυματίαι πεντακισχίλιοι· καὶ Γάλλος ἦν ἐν τούτοις, τέτταρσιν ἐναντίοις διαπεπαρμένος τοξεύμασιν. ἀλλ᾽ οὗτος μὲν ἐκ τῶν τραυμάτων οὐκ ἀνήνεγκε, τοὺς δ᾽ ἄλλους περιιὼν ὁ Ἀντώνιος ἐπεσκόπει καὶ παρεθάρρυνε δεδακρυμένος καὶ περιπαθῶν. οἱ δὲ φαιδροὶ τὴς δεξιᾶς αὐτοῦ λαμβανόμενοι, παρεκάλουν ἀπιόντα θεραπεύειν αὑτὸν καὶ μὴ κακοπαθεῖν, αὐτοκράτορα καλοῦντες καὶ σῴζεσθαι λέγοντες, ἂν ἐκεῖνος ὑγιαίνῃ. Das offenbar taktisch unkluge Vorgehen des Offiziers Flavius Gallus beschreibt Plutarch in Kapitel 42. 187 Plut. Ant. 43, 3–6: Καθόλου μὲν γὰρ οὔθ᾿ ἀλκαῖς οὔθ᾿ ὑπομοναῖς οὔτε ἡλικίᾳ λαμπρότερον ἄλλος αὐτοκράτωρ στρατὸν ἐκείνου δοκεῖ συναγαγεῖν ἐν τοῖς τότε χρόνοις· ἡ δὲ πρὸς αὐτὸν αἰδὼς τὸν ἡγεμόνα καὶ πειθαρχία μετ᾽ εὐνοίας, καὶ τὸ πάντας ὁμαλῶς, ἐνδόξους ἀδόξους, ἄρχοντας ἰδιώτας, τὴν παρ᾿ Ἀντωνίου τιμήν τε καὶ χάριν μᾶλλον αἱρεῖσθαι τῆς σωτηρίας καὶ τῆς ἀσφαλείας, οὐδὲ τοῖς πάλαι Ῥωμαίοις ἀπέλιπεν ὑπερβολήν. τούτου δὲ αἰτίαι πλείονες ἦσαν, ὡς προειρήκαμεν· εὐγένεια, λόγου δύναμις, ἁπλότης, τὸ φιλόδωρον καὶ μεγαλόδωρον, ἥ τε περὶ τὰς παιδιὰς καὶ τὰς ὁμιλίας εὐτραπελία. τότε δὲ καὶ συμπονῶν καὶ συναλγῶν τοῖς κακοπαθοῦσι καὶ μεταδιδοὺς οὗ τις δεηθείη, προθυμοτέρους τῶν ἐρρωμένων τοὺς νοσοῦντας καὶ τετρωμένους ἐποίησε. 188 Vgl. Pelling (1988), S. 232. Dass die römischen Truppen allerdings auch einem Feldherrn, dem gegenüber sie generell wohlgesonnen waren, nicht blindlings folgten, zeigte sich später in der Schlacht von Actium. 189 Das Jahr dieser Unternehmung wird mit 585 oder 586 angegeben, vgl. Schreiner (1985), S. 259 Anm. 190.
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Feinde suchte der Byzantiner seinen Soldaten Mut zu machen, indem er zunächst ein Bild Christi, das als nicht von Menschenhand geschaffen (ἀχειροποίητος) galt und regelrecht kultisch verehrt wurde (τῶν ἰσοθέων πρεσβειῶν ἠξίωται), enthüllte und damit an das Heer herantrat, um dessen Kampfesmut zu bestärken. Dann stellte er sich in die Mitte der versammelten Soldaten und richtete aufmunternde Worte an sie, wobei er eine Flut von Tränen verströmte (τῇ ἐπιρροίᾳ τῶν δακρύων βλύζων). Auf diesen Umstand wird in der Schilderung eine starke Betonung gelegt, die Rede dagegen wird nicht wiedergegeben. Sie dürfte auch nicht die gesamte riesige Schar der Zuhörer erreicht haben, so dass eine auf breite Wirkung abzielende Unterstützung der Worte den Kreis derer, bei denen die intendierte Botschaft unmittelbar ankam, sicherlich vergrößerte – die intensive Zurschaustellung der eigenen Emotionen durch Tränen ging vermutlich mit einer entsprechenden Mimik und Gestik einher. Angesichts der Tatsache, dass der Kampf bald losbrechen würde (ὑπὸ τῆς χύσεως τῆς ἀγωνίας), sah sich Philippikos dazu angehalten, alle Optionen einer emotionalen Einflussnahme auf seine Soldaten auszuschöpfen. Seine demonstrative Nähe zu ihnen hatte den gewünschten Erfolg:190 Die ohnehin zur Schlacht Bereiten – so Simokates – steigerte er mit diesem Vorgehen in ihrer Angriffslust, in den Unbedachten und Trägen weckte er sie überhaupt erst. Schließlich tönten die Trompeten, und der Kampf war eröffnet.191 Alle Register zog der Darstellung Caesars zufolge auch der gallische Truppenführer Litaviccus, um im Jahre 52 v. Chr. erfolgreich auf die Stimmung seiner Untergebenen Einfluss zu nehmen. Während Caesar selbst Gergovia belagerte, brachte der Arverner es fertig, die dem römischen Feldherrn versprochenen häduischen Truppen (die immerhin eine Stärke von zehntausend Mann besaßen) dreißig Meilen von der Stadt entfernt zum Abfall zu bewegen. Er machte plötzlich Halt und brachte weinend (lacrimans) von Caesar als falsch eingestufte Anschuldigungen gegen die Römer und vermeintliche Zeugen vor, was bei den Soldaten Empörung hervorrief und sie gegen ihre Verbündeten aufbrachte, wie im Bellum Gallicum berichtet wird.192 Ebenfalls mit Hilfe seiner Tränen überzeugte, so schildert Plutarch in des190 Simokates verweist zwar auf die Rede als entscheidenden Faktor für die Motivation zum Kampf (ἦν ἱκανὴ τῶν λόγων ἡ φύσις), doch steht sie im Kontext einer Reihe von Elementen, die auf die Emotionen der Soldaten Einfluss nehmen sollten: zunächst das Vorzeigen des Christusbildes, die Präsenz des Feldherrn unter seinen Soldaten, seine Rede, deren Begleitung durch expressive Gesten und zum Schluss die Trompeten. 191 Theophyl. hist. 2, 3, 4–7: Ἐπεὶ δὲ τὸ πολέμιον παρεφαίνετο, καὶ ἦν κόνις πολλὴ, Φιλιππικὸς τὸ θεανδρικὸν ἐπεφέρετο εἴκασμα, ὃ λόγος ἕκαθεν καὶ εἰς τὰ νῦν διηχεῖ θείαν ἐπιστήμην μορφῶσαι, οὐχ ὑφάντου χεῖρας τεκτήνασθαι ἢ ζωγράφου μηλιάδα ποικῖλαι. διά τοι τοῦτο καὶ ἀχειροποίητος παρὰ Ῥωμαῖοις καθυμνεῖται καὶ τῶν ἰσοθέων πρεσβειῶν ἠξίωται· ἀρχέτυπον γὰρ ἐκείνου θρησκεύουσι Ῥωμαῖοί τι ἄρρητον. ταύτην ὁ στρατηγὸς τῶν σεβασμίων περιπέπλων γυμνώσας τὰς τάξεις ὑπέτρεχεν, κρείττονος καὶ ἀνανταγωνίστου θράσους ἐντεῦθεν μεταδιδοὺς τῷ στρατεύματι. εἶτα παρελθὼν τῆς πληθύος εἰς μέσον, τῇ ἐπιρροίᾳ τῶν δακρύων ὑπὸ τῆς χύσεως τῆς ἀγωνίας βλύζων ἀένναον τοῖς παρακλητικοῖς ῥήμασιν ἐκέχρητο πρὸς τὸ στράτευμα. καὶ ἦν ἱκανὴ τῶν λόγων ἡ φύσις τῶν μὲν σπουδαίων τὰς ὁρμὰς ἐπιτεῖναι, τῶν δὲ ῥαθύμων καὶ νωθτρῶν διεγεῖραι τὸ πρὸθυμον. καὶ δὴ τὸ παρορμητικὸν μέλος αἱ σάλπιγγες ἤχησαν, ἐπεὶ δὲ περιελάλησαν, παρέθηγον τὰς δυνάμεις εἰς πόλεμον. – Zum Christusbild vgl. Schreiner (1985), S. 261 Anm. 211–213. 192 Caes. bell. Gall. 7, 38.
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sen Vita, Cato der Jüngere eine Reiterabteilung, die nach der Schlacht bei Thapsos im April 46 v. Chr. zu ihm nach Utica gekommen war, nicht von der Stadt wegzuziehen und den dort verweilenden Senatoren einen Tag lang Schutz zu bieten, um ihnen dadurch die Flucht zu ermöglichen.193 Liest man den Bericht Suetons über eine der bekanntesten Begebenheiten der römischen Geschichte, dann wird deutlich, dass er dem Einbeziehen performativen Agierens – darunter dem Weinen – in die Kommunikation mit den eigenen Soldaten eine entscheidende Rolle beimaß. Es handelt sich um Caesars Überschreitung des Rubico am 10. Januar 49 v. Chr., nach der sich der Feldherr unter anderem durch Tränen der Loyalität seiner Truppen versicherte.194 Die Schilderung des historisch bedeutsamen Ereignisses, mit dem der römische Bürgerkrieg eröffnet wurde, steht in Kapitel 31 bis 33 der Caesarvita.195 Zunächst wird der heimliche Aufbruch in der Nacht zu dem Grenzfluss der Provinz Gallia Cisalpina geschildert, bei dem sich die Kohorten Caesars aufhielten. Als er sein Ziel erreicht hatte, verweilte er kurz und überdachte das Ausmaß seines Vorhabens (paulum constitit, ac reputans quantum moliretur). Zu seiner Umgebung gewandt fasste er seine Gedanken in die Worte, man könne jetzt noch umkehren, doch nach dem Überschreiten der vor ihnen liegenden kleinen Brücke müsse eine Entscheidung durch Waffen herbeigeführt werden (etiam nunc, inquit, regredi possumus; quod si ponticulum transierimus, omnia armis agenda erunt).196 Dieses Zögern wird daraufhin explizit mit dem Partizip cunctanti benannt, doch bereits das nächste Wort, ostentum, hebt das retardierende Moment der Handlung auf. Der Feldherr ist sich der Tragweite seines Handelns deutlich bewusst und hadert mit einer Entscheidung; da geschieht ein Wunder: Es erscheint ein Mann von außerordentlicher Schönheit und Größe, der auf der Rohrflöte spielt (harundine canens); ihm hören viele der Soldaten zu. Ganz unvermittelt reißt er einem von ihnen die Trompete aus der Hand, bläst am Fluss zum Angriff und begibt sich ans andere Ufer. Daraufhin fordert Caesar dazu auf, sich dorthin auf den Weg zu machen, wohin die Zeichen der Götter sowie die Ungerechtigkeit der Gegner197 rufen 193 Plut. Cato min. 63, 11. 194 Das hier zu behandelnde, sehr dramatisch ausgestaltete Beispiel aus Sueton verweist auf die hohe Bedeutung, die der Rechtfertigung des Bürgerkriegs von Seiten Caesars zukam. In Caes. bell. civ. 1, 7, 7 fordert Caesar im Kontext einer Rede an seine Soldaten diese auf, mit der Eröffnung des Bürgerkriegs sein Ansehen und seine Ehre (existimationem dignitatemque) zu verteidigen. Die Strategien, die Caesar zur Begründung seines Vorgehens im Bürgerkrieg verfolgt, untersucht Raaflaub (1972) genauer. 195 Vgl. Lambrecht (1984), S. 51. 196 Suet. Div. Iul. 31, 2: Dein post solis occasum mulis e proximo pistrino ad uehiculum iunctis occultissimum iter modico comitatu ingressus est; et cum luminibus extinctis decessisset uia, diu errabundus tandem ad lucem duce reperto per angustissimos tramites pedibus euasit. consecutusque cohortis ad Rubiconem flumen, qui prouinciae eius finis erat, paulum constitit, ac reputans quantum moliretur, conuersus ad proximos: etiam nunc, inquit, regredi possumus; quod si ponticulum transierimus, omnia armis agenda erunt. 197 Die inimicorum iniquitas nimmt Bezug auf die innenpolitischen Streitigkeiten, als deren Folge die Volkstribunen aus Rom vertrieben wurden und die ein Handelns Caesars immer dringender erforderten, wenn er nicht als Verlierer enden wollte, vgl. Lambrecht (1984), S. 58.
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und den Rubico zu überqueren. Mit dem anschließenden Satz iacta alea est bekräftigt er die Unumkehrbarkeit und Endgültigkeit seiner Entscheidung.198 In der ohne Zweifel höchst gefährlichen Situation befindet sich der Imperator in einem Zwiespalt. Vor einer Überquerung des Flusses schreckt er zwar zurück und weiß um die drohenden Kosequenzen seines Vorgehens (nämlich einen Bürgerkrieg), doch eine Umkehr wäre, obwohl er sie in Erwägung zieht und vorschlägt, ebenfalls mit Schwierigkeiten verbunden. Das von den Göttern gesandte ostentum nimmt ihm seine Entscheidung ab und legitimiert sein Handeln; Sueton verwendet es als ein Mittel, Caesars Weg zum Alleinherrscher, der er am Ende werden sollte, als göttliche Vorherbestimmung herauszustellen.199 Diesem consensus deorum wird in Kapitel 33 der consensus militum an die Seite gestellt.200 Nachdem er das Heer über den Rubico geführt hat (traiecto exercitu), hält Caesar im Beisein der aus Rom vertriebenen Volkstribunen (adhibitis tribunis plebis, qui pulsi superuenerant) vor seinen versammelten Soldaten (pro contione) eine Rede, in der er sie um die Zustimmung zu seinem Vorgehen bittet. Er appelliert an ihre Loyalität, wobei er weint und sich das Gewand von der Brust reißt: pro contione fidem militum flens ac ueste a pectore discissa inuocauit. Auch wenn die Antwort der Soldaten nicht überliefert wird, ist den folgenden Geschehnissen zu entnehmen, dass sie ihr Einverständnis gaben.201 Die Vergewisserung, dass die Truppen sich ihm noch verbunden fühlten, war für Caesar in dieser Lage essentiell, da er mit der Flussüberquerung demonstrativ gegen den Willen des Senats handelte und somit seine Handlungskompetenzen übertrat. Sein Anliegen, sich den Gehorsam seiner Soldaten bestätigen zu lassen, war vermutlich mit einem Donativ verbunden, mit dem das Verhältnis gegenseitiger Verpflichtung und Bindung zwischen Feldherrn und Soldaten gestärkt werden sollte.202 Ein solcher Konsens zwischen Caesar und seinen Kohorten war die Voraussetzung für seinen Erfolg bei der Durchsetzung politischer Ambitionen, denen formal jegliche Rechtmäßigkeit fehlte – ein Umstand, der von Sueton gekonnt über-
198 Suet. Div. Iul. 32: Cunctanti ostentum tale factum est. quidam eximia magnitudine et forma in proximo sedens repente apparuit harundine canens; ad quem audiendum cum praeter pastores plurimi etiam ex stationibus milites concurrissent interque eos et aeneatores, rapta ab uno tuba prosiliuit ad flumen et ingenti spiritu classicum exorsus pertendit ad alteram ripam. tunc Caesar: eatur, inquit, quo deorum ostenta et inimicorum iniquitas uocat. iacta alea est, inquit. 199 Vgl. Lambrecht (1984), S. 53 f. 200 Vgl. ebd., S. 59. 201 Vgl. ebd. Sueton berichtet im folgenden Abschnitt von dem Gerücht, Caesar habe in dieser Rede einigen seiner Soldaten das Vermögen eines Ritters versprochen. Dieses sei entstanden, weil der Feldherr öfter auf seinen Ringfinger der linken Hand zeigte, Suet. Div. Iul. 33: Existimatur etiam equestres census pollicitus singulis; quod accidit opinione falsa. nam cum in adloquendo adhortandoque saepius digitum laeuae manus ostentans adfirmaret se ad satis faciendum omnibus, per quos dignitatem suam defensurus esset, anulum quoque aequo animo detracturum sibi, extrema contio, cui facilius erat uidere contionantem quam audire, pro dicto accepit, quod uisu suspicabatur; promissumque ius anulorum cum milibus quadrigenis fama distulit. 202 Vgl. Lambrecht (1984), S. 58 f.
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spielt wird, indem er den Soldaten und dem eine erfolgreiche Zukunft verheißenden Wunderzeichen jeweils die Rolle einer legitimierenden Instanz zukommen lässt.203 Vor diesem Hintergrund wird die Funktion des Weinens verständlich. Es erscheint neben dem Zerreißen der Kleider204 als besonders ausdrucksstarke Geste, die bei den milites Zustimmung zu seinem Handeln hervorrufen sollte. Dass der Inhalt der Rede selbst nicht wiedergegeben ist, verdeutlicht den hohen Stellenwert des nonverbalen Agierens: Caesar kommuniziert dadurch seine Emotionen. Er befindet sich in einer Extremsituation, hat eine geographische wie politische Grenze überschritten und weiß, dass nun der Bürgerkrieg droht, aber auch, dass seine Soldaten ihn unterstützen. In diesem Moment reduziert sich der Inhalt dessen, was er ihnen mitteilt, auf das Weinen, auf das die Soldaten ihrerseits mit einer Bekundung ihrer Loyalität reagieren. Seine Gesten sind nicht nur eine begleitende Untermalung, sondern wesentlicher Bestandteil einer Botschaft (oder sogar die Botschaft selbst), die sie mit Eindeutigkeit performativ vermitteln. Im Weinen und Kleiderzerreißen wird ein Verhalten erkennbar, das den Imperator in einen gemeinsamen emotionalen Rahmen mit seinen Untergebenen stellt. Er inszeniert sich vor seinen Truppen als leidenschaftlich Bittender, und dass er flens ac ueste a pectore discissa fidem inuocauit, war offenbar unmissverständlich. Besonders die sehr persönlich gefärbte Zurschaustellung der eigenen Tränen konnte als eine Erinnerung an einen gemeinsamen Wertekanon und dadurch zu dessen Affirmation dienen.205 Die Effizienz des Weinens in der beschriebenen Krisensituation liegt darin begründet, dass es als Ausdrucksmittel höchster expressiver Stärke den Verlust der generell für einen Politiker und Feldherrn unerlässlichen und nach außen hin demonstrierten Selbstkontrolle anzeigt.206 Allerdings lässt sich im Falle eines im Umgang mit seinem Heer erfahrenen und gewandten Feldherrn wie Caesar voraussetzen, dass es sich lediglich um einen partiellen Verlust handelte. Daher erscheint die Annahme plausibel, dass der Einsatz nonverbaler Mittel – einschließlich der Tränen – von ihm zumindest in einem gewissen Ausmaß bewusst gestaltet wurde.207 203 Vgl. ebd., S. 61; S. 56 f.: Lucan. 1, 183–203 erwähnt ein negatives göttliches Zeichen, das Caesar allerdings übergeht. 204 Zum Zerreißen der Kleider vgl. Sittl (1890), S. 22 Anm. 2, der Augustus‘ Reaktion auf die Nachricht von der Varusschlacht als Nachahmung von Caesars Verhalten interpretiert, wie es von Sueton an der vorliegenden Stelle geschildert wird. Tacitus berichtet, dass Gnaeus Calpurnius Piso 19 n. Chr. von den Mauern des von ihm besetzten Kastells Celenderis in Kilikien aus versuchte, die Legionen des Gnaeus Sentius Saturninus, seines Nachfolgers in der Statthalterschaft Syriens, zum Abfall zu bewegen (seditionem coeptabat), indem er sich bald an die Brust schlug (semet adflictando), bald einzelne namentlich anredete (singulos nomine ciens) und Belohnungen versprach (praemiis vocans); ein solches expressives Verhalten machte großen Eindruck, seine Absichten wurden aber dadurch vereitelt, dass Sentius mit dem Angriff der Festung begann und diese bald einnahm, vgl. Tac. ann. 3, 81. 205 Vgl. Krasser (2006), S. 275. An dem in Kapitel 33 geschilderten Vorzeigen des Ringfingers der linken Hand, an dem der goldene Ring des Ritters steckte, zeigt sich, dass eine Geste auch missverstanden werden konnte. 206 Vgl. Flaig (1992), S. 153 f., ders. (1993a), S. 213 und ders. (22004), S. 113. 207 Mit dem Blick auf das nächste Unterkapitel ließe sich an dieser Stelle die Überlegung anführen, ob Caesar mit seinem Verhalten einer möglichen Gehorsamsverweigerung seiner Soldaten zu-
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2.1.2 Weinen vor revoltierenden Soldaten Die Inanspruchnahme des Weinens durch einen Feldherrn als eine Form der Kommunikation mit den ihm unterstellten Soldaten208 war in Handlungsabläufe eingebunden, die sich nach im Lauf der Geschichte immer mehr verfestigten Mustern vollzogen. Ein Ereignis, das in bemerkenswerter Weise zu Tränen Anlass geben konnte, war eine Revolte unter den Soldaten – ein Indiz dafür, dass sich die loyale Bindung an ihren Anführer aufgelöst oder zumindest gelockert hatte. Aus der Zeit der römischen Republik liefert Plutarch mehrere Beispiele, an denen die Konventionen des Verhaltens im Falle einer Meuterei sichtbar werden. „Weinende Feldherrn vor meuternden Legionen“ heißt ein Abschnitt in Egon Flaigs Monographie „Ritualisierte Politik“,209 in dem ein Paradigma für derartige Fälle entworfen wird, und zwar anhand ausgerechnet eines nur unter Vorbehalt als zielführend einzustufenden Vorfalls. Es handelt sich um das Bemühen des Feldherrn Lucius Licinius Lucullus während des 3. Mithridatischen Krieges, genauer: Anfang 67 v. Chr., in Kleinasien eine Revolte der Fimbrianer, einer besonderen Einheit unter seinen Legionen, zu beenden. Mitten auf dem Marsch zu einem weiteren Kampf gegen Tigranes II. von Armenien, der sein Heer mit dem Mithridates‘ VI. von Pontos zusammenführen wollte,210 brach unter den fimbrianischen Truppen ein Aufstand aus, und sie verließen ihre Posten in der Heeresordnung (πορευομένῳ δ᾽ αὐτῷ καθ᾽ ὁδὸν οἱ Φιμβριανοὶ στασιάσαντες ἀπέλιπον τὰς τάξεις) mit der Begründung, der Senat habe bereits ihre Entlassung beschlossen und sie seien zudem nicht mehr verpflichtet, Lucullus zu folgen, da die Befehlsgewalt anderen zugewiesen worden sei. Daraufhin ergriff der Feldherr eine drastische Maßnahme: Er flehte die Meuternden einzeln an, ging unterwürfig und Tränen vergießend von einem Zelt zum anderen und ergriff sogar die Hand einzelner Soldaten (ἀντιβολῶν καθ᾽ ἕνα καὶ κατὰ σκηνὰς περιιὼν ταπεινὸς καὶ δεδακρυμένος, ἔστι δ᾽ ὧν καὶ χειρὸς ἁπτόμενος).211 Aus der komprimierten Beschreibung des Verhaltens, das Lucullus an den Tag gelegt haben soll, extrahiert Flaig drei performative Handlungen, nämlich das Herumgehen im Lager, das Weinen sowie das Berühren der Hände. Sie dienen allesamt dazu, die entstandene Distanz zu den Soldaten mit Hilfe möglichst starken demons-
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vorkommen wollte; jedenfalls erklärt sich so, dass Flaig (1993a), S. 213 die vorliegende Stelle als Beleg eines vor meuternden Soldaten weinenden Feldherrn anführt. – Es ist anzunehmen, dass der Wirkungsgrad von Tränen eines Befehlshabers vor seinen Untergebenen stets hoch war, so auch im Falle des oströmischen Feldherrn Belisar, der aus Trauer um einen infolge von Disziplinlosigkeit getöteten Soldaten vor den übrigen weint, damit aber dessen Kameraden zugleich vor Augen führt, welche Folgen leichtfertiges Verhalten nach sich ziehen kann, so dass seine Tränen auch mahnenden Charakter besitzen, vgl. Proc. bell. Vand. 2, 4, 14–25. Vgl. Krasser (2006), S. 275. Vgl. Flaig (22004), S. 110–115. Vgl. Plut. Luc. 35, 1–3. Plut. Luc. 35, 3: Πορευομένῳ δ᾽ αὐτῷ καθ᾽ ὁδὸν οἱ Φιμβριανοὶ στασιάσαντες ἀπέλιπον τὰς τάξεις, ὡς ἀφειμένοι δόγματι τῆς στρατείας καὶ μηκέτι τῷ Λουκούλλῳ προσῆκον ἄρχειν, ἑτέροις ἀποδεδειγμένων τῶν ἐπαρχιῶν. οὐδὲν οὖν ἐστιν ὅ τι τῶν παρ᾽ ἀξίαν ὁ Λούκουλλος οὐχ ὑπέμεινεν, ἀντιβολῶν καθ᾽ ἕνα καὶ κατὰ σκηνὰς περιιὼν ταπεινὸς καὶ δεδακρυμένος, ἔστι δ᾽ ὧν καὶ χειρὸς ἁπτόμενος.
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trativen Agierens zu überbrücken und das Näheverhältnis zu ihnen wiederherzustellen. Diese gestischen Darbietungen können als Formen rituellen Interagierens unterschiedlichen Bereichen zugewiesen werden: So lässt sich der Rundgang von Zelt zu Zelt mit der ambitio, der an die Wähler gerichteten persönlichen Einwerbung von Stimmen auf dem Forum, und der supplicatio, einem mit Bitt- oder Dankgebeten und Opfern verbundenen Umzug zu verschiedenen Tempeln, assoziieren; im Weinen wird der Kontrollverlust des Feldherrn, von dem ansonsten charakterliche Unerschütterlichkeit gefordert und auch demonstriert wurde, nach außen hin kommuniziert und dadurch an die quasi-familiäre Verbundenheit mit den Untergebenen appelliert; das Ergreifen der Hände kann als universell verständliche eindringliche Bittgeste gelten.212 Dennoch wurde die mit hoher Eindringlichkeit vorgebrachte Botschaft von dem Adressatenkreis, an den sie gerichtet war, abgelehnt. Die Fimbrianer wiesen die Hände des Lucullus und somit den Appell an ihre Loyalität zurück – die Geste wurde von ihnen schlicht nicht akzeptiert, doch sie sahen sich von ihr durchaus unter Zugzwang gesetzt.213 Das Weinen eines Feldherrn konnte nur dann Wirkung zeigen, wenn er in guter Beziehung zu seinen Soldaten stand, oder genauer: wenn er ihnen regelmäßig zu verstehen gab, dass er nicht in Distanz zu ihnen stand. Eine solche persönliche Bindung existierte zwischen Lucullus und den kleinasiatischen Legionen, die schon lange Zeit und unter verschiedenen Befehlshabern gekämpft hatten, jedoch nicht, weshalb die Tränen als Appell an die emotionale Verbundenheit zwischen Soldaten und Imperator zum Scheitern verurteilt waren.214 Allerdings zeigten die Bittgesten des Feldherrn bei den übrigen Soldaten (an die sie gar nicht gerichtet waren) ihre Wirkung, und diese setzten die Fimbrianer unter Druck, auf die Forderungen einzugehen (τῶν ἄλλων στρατιωτῶν δεομένων). Dies geschah, indem die Meuternden sich bereit erklärten, den Sommer über im Feld zu bleiben.215 Die eindringliche Inszenierung des Lucullus hatte somit deswegen Erfolg, weil ein allgemeiner Konsens über die Wirkung seiner Bittgesten bestand und wenigstens ein Teil seiner Soldaten diese anerkannte.216 Eine wichtige Frage bleibt noch zu klären: War dieses Verhalten des römischen Feldherrn, insbesondere das Weinen, für ihn demütigend? Antike Heerführer weinten gelegentlich vor ihren Soldaten, allerdings bestand eine unterschiedliche Auffassung bei Griechen und Römern hinsichtlich dessen, wie angemessen solche Tränen waren: Egon Flaig betont, dass sie im griechischen Bereich zumindest in den Vgl. Flaig (22004), S. 111–115. Vgl. ebd., S. 114 f. Vgl. ebd. S. 112–114. Plut. Luc. 35, 5 f.: Οἱ δ᾽ ἀπετρίβοντο τὰς δεξιώσεις καὶ κενὰ προσερρίπτουν βαλλάντια, καὶ μόνον μάχεσθαι τοῖς πολεμίοις ἐκέλευον, ἀφ᾽ ὧν μόνος ἠπίστατο πλουτεῖν. οὐ μὴν ἀλλὰ τῶν ἄλλων στρατιωτῶν δεομένων, ἐκβιασθέντες οἱ Φιμβριανοὶ συνέθεντο παραμεῖναι τὸ θέρος· ἐὰν δὲ μηδεὶς ἐν τῷ χρόνῳ τούτῳ κατίῃ πρὸς αὐτοὺς ἀγωνιούμενος, ἀπηλλάχθαι. ταῦτ᾽ ἔδει στέργειν ἐξ ἀνάγκης τὸν Λούκουλλον, ἢ προέσθαι τοῖς βαρβάροις τὴν χώραν ἀπολειφθέντα. 216 Dieser Erfolg ist allerdings nur von kurzer Dauer, wie Plutarch im Rest des Kapitels schildert: Mit der lex Manilia wurde der Oberbefehl im Krieg gegen Mithridates im Jahr 66 v. Chr. an Pompeius übertragen. Dass die Fimbrianer mit ihrer Loyalität gegenüber Lucullus haderten, wird bereits in Plut. Luc. 34 hervorgehoben. 212 213 214 215
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Bürgerheeren inakzeptabel gewesen, gegenüber römischen Truppen dagegen häufig praktiziert worden seien.217 Eine Stellungnahme des Griechen Plutarch zu den Gesten des Lucullus ist in der Formulierung zu erkennen, mit denen er sie einleitend in Kapitel 35, 3 beschreibt: οὐδὲν οὖν ἐστιν ὅ τι τῶν παρ᾽ ἀξίαν ὁ Λούκουλλος οὐχ ὑπέμεινεν, also: „es gab nichts an unwürdigen Verhaltensweisen, die Lucullus nicht auf sich nahm“ – mit anderen Worten: er setzte alle Mittel ein, die ihm zur Verfügung standen, er reizte die Grenzen des Möglichen aus, um die Fimbrianer zum Bleiben zu bewegen, auch wenn er dadurch sein Ansehen minderte. Ob der Biograph damit das Verhalten des Lucullus tatsächlich als verwerflich wertet, ist schwer zu entscheiden.218 Die negative Ausdrucksweise mag zum einen dem Umstand geschuldet sein, dass seinen Maßnahmen nur ein Teilerfolg zuzusprechen ist, zum anderen beruht der Effekt der beschriebenen Bittgeste im Kern gerade darauf, dass der Ausführende sich demütig (ταπεινός) zeigt. Unter gewissen Umständen galt diese Selbsterniedrigung als legitimes Verhalten, das nicht einer umfassenden, sondern lediglich einer partiellen Demütigung gleichkam, die den Adressaten unter den Druck setzte, dem Bittenden entgegenzukommen. Das asymmetrische Verhältnis im Hinblick auf das Ansehen der Beteiligten war zeitlich beschränkt und wurde durch die schrittweise Annäherung von sich selbst demütig präsentierendem Bittsteller und einlenkendem Gegenpart schließlich wieder in den Normzustand überführt. Derartige Episoden werden von Plutarch in der Vita des Pompeius ohne negativen Beigeschmack behandelt. Als dieser mit seinem Vater 87 v. Chr. gegen Cinna im Feld stand, plante auf dessen Anstiftung Lucius Terentius Afer, Freund und Zeltgenosse des jungen Mannes, einen Mordanschlag auf ihn und den Feldherrn. Pompeius erfuhr davon, ließ sich jedoch nichts anmerken, und in der Nacht hieb Terentius mit seinem Schwert auf die Decken ein, unter denen sein Gefährte hätte liegen sollen.219 In dieser auf Umsturz ausgerichteten Atmosphäre entstand ein Aufruhr (κίνημα) unter den Soldaten aus Hass gegen ihren Anführer Pompeius Strabo, der aus Angst in seinem Zelt blieb. Sein Sohn dagegen wandte sich den Aufrührerischen zu (ἐν μέσοις ἀναστρεφόμενος) und flehte sie unter Tränen an (δακρύων ἱκέτευε). Schließlich warf er sich weinend (κλαίων) vor den Toren des Lagers zu Boden und forderte in dieser Körperhaltung die herauseilenden Soldaten auf, ihn 217 Vgl. Flaig (22004), S. 112. Er führt S. 269 Anm. 16 Xen. an. 1, 3, 2 als Beleg für das Weinen vor einem Söldnerheer an; die kulturelle Kodierung unterschied sich ihm zufolge also im griechischen und römischen Bereich, so dass eine positive Konnotation von Tränen eines Feldherrn vor Soldaten als Eigenheit römischer Mentalität angesehen werden sollte. 218 Flaig (22004), S. 112 folgert aus der „Entwürdigung“, die sich dem παρ᾽ ἀξίαν entnehmen lässt, dass Plutarch die Geste missbilligt („sie ist ihm als Griechen zuwider“). 219 Plut. Pomp. 3, 1–3: Ἔτι δὲ μειράκιον ὢν παντάπασι καὶ τῷ πατρὶ συστρατευόμενος ἀντιτεταγμένῳ πρὸς Κίνναν, Λεύκιόν τινα Τερέντιον εἶχεν ἑταῖρον καὶ σύσκηνον. οὗτος ὑπὸ Κίννα πεισθεὶς χρήμασιν, αὐτὸς μὲν ἔμελλε Πομπήιον ἀποκτενεῖν, ἕτεροι δὲ τὴν σκηνὴν ἐμπρήσειν τοῦ στρατηγοῦ. μηνύσεως δὲ τῷ Πομπηίῳ περὶ δεῖπνον ὄντι προσπεσούσης, οὐδὲν διαταραχθείς, ἀλλὰ καὶ πιὼν προθυμότερον καὶ φιλοφρονησάμενος τὸν Τερέντιον, ἅμα τῷ τραπέσθαι πρὸς ἀνάπαυσιν ὑπεκρυεὶς τῆς σκηνῆς ἔλαθε, καὶ τῷ πατρὶ φρουρὰν περιστήσας ἡσύχαζεν. ὁ δὲ Τερέντιος ὡς ἐνόμιζε καιρὸν εἶναι, σπασάμενος τὸ ξίφος ἀνέστη, καὶ τῇ στιβάδι τοῦ Πομπηίου προσελθών, ὡς κατακειμένου πολλὰς ἐνεφόρει πληγὰς τοῖς στρώμασιν.
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niederzutreten. Die umfangreiche Inszenierung seines Bittens hatte zur Folge, dass die Soldaten beschämt zurückwichen und bis auf achthundert Mann zur Versöhnung mit ihrem Feldherrn bereit waren.220 Schon in jungen Jahren bewies Pompeius, wie Plutarch seinem Leser in dieser Schilderung zu verstehen gibt, Courage und Geschick als Feldherr. Ein planendes Moment wird in der Abfolge der einzelnen Vorgänge ersichtlich: Zunächst kontrolliert der junge Mann seine Reaktion, obwohl sein Leben in unmittelbarer Gefahr ist, dann handelt er umsichtig und wehrt die Meuterei erfolgreich ab, indem er sich als Bittflehender vor den Soldaten inszeniert und dadurch ganz offensichtlich ihrer Erwartungshaltung zuwiderhandelt, so dass sie an die grundsätzlich vorhandene Loyalität erinnert werden.221 Ihr Vorhaben verkehrt sich ins Gegenteil: Pompeius konnte ihre Revolte mit Hilfe von geschickt in Szene gesetztem performativen Handeln, darunter Tränen, abwehren.222 In seiner Lebensbeschreibung wird das Weinen ein weiteres Mal als probates Mittel, aufrührerische Soldaten wieder gefügig zu machen, erwähnt. Nach dem Sieg über den Marianer Gnaeus Domitius Ahenobarbus im Jahr 81 v. Chr. erreichte Pompeius in Utica die Nachricht Sullas, er solle den Großteil seines Heeres entlassen und mit nur einer Legion den Feldherrn erwarten, der ihn ablösen werde. Nach außen hin zeigte Pompeius seinen Ärger und Unmut darüber nicht, seine Soldaten aber äußerten ihren Unwillen, und als er ihnen den Rückmarsch befahl, weigerten sie sich und erklärten ihm ihre Treue.223 Auch durch gutes Zureden konnte der Befehlshaber sie nicht beruhigen, so dass er dem Appell mit Worten eine wirkmächtige Geste folgen ließ: Er stieg vom Tribunal und begab sich weinend in sein Zelt (καταβὰς ἀπὸ τοῦ βήματος ἐπὶ τὴν σκηνὴν ἀπῄει δεδακρυμένος). Von dort holten die Soldaten ihn wieder zurück, stellten ihn auf das Tribunal und forderten ihn zum Bleiben auf; Pompeius bat sie seinerseits erneut, zu gehorchen und die Meuterei abzubrechen; sie bedrängten ihn und versuchten schließlich ihn niederzuschreien; daraufhin schwur er, dass er sich töten werde, wenn sie ihm gegenüber 220 Plut. Pomp. 3, 4 f.: Ἐκ δὲ τούτου μέγα κίνημα γίνεται μίσει τοῦ στρατηγοῦ καὶ πρὸς ἀπόστασιν ὁρμὴ τῶν στρατιωτῶν, τάς τε σκηνὰς ἀνασπώντων καὶ τὰ ὅπλα λαμβανόντων. ὁ μὲν οὖν στρατηγὸς οὐ προῄει δεδιὼς τὸν θόρυβον, ὁ δὲ Πομπήιος ἐν μέσοις ἀναστρεφόμενος καὶ δακρύων ἱκέτευε, τέλος δὲ ῥίψας ἑαυτὸν ἐπὶ στόμα πρὸ τῆς πύλης τοῦ χάρακος, ἐμποδὼν ἔκειτο κλαίων καὶ πατεῖν κελεύων τοὺς ἐξιόντας, ὥσθ᾿ ἕκαστον ἀναχωρεῖν ὑπ᾽ αἰδοῦς, καὶ πάντας οὕτω πλὴν ὀκτακοσίων μεταβαλέσθαι καὶ διαλλαγῆναι πρὸς τὸν στρατηγόν. 221 Vgl. Heftner (1995), S. 73 f. 222 Plausibel ist die Vermutung von Heftner (1995), S. 76 hinsichtlich der historischen Glaubwürdigkeit dieser Beschreibung: Plutarch schreibt, alle bis auf achthundert der revoltierenden Soldaten hätten sich überzeugen lassen, von ihrem Vorhaben abzusehen. Da es die Absicht des Biographen war, seinen Helden möglichst vorteilhaft darzustellen, ist es gut möglich, dass diese erwähnten achthundert Soldaten als die eigentlichen Meuterer anzusehen sind und ihr Umsturzversuch auf die gesamte Menge übertragen wurde. 223 Plut. Pomp. 13, 1 f.: Ἐπανελθόντι δ᾿ εἰς Ἰτύκην αὐτῷ γράμματα κομίζεται Σύλλα, προστάττοντος ἀφιέναι μὲν τὴν ἄλλην στρατιάν, αὐτὸν δὲ μεθ᾽ ἑνὸς τάγματος περιμένειν αὐτόθι τὸν διαδεξόμενον στρατηγόν. ἐπὶ τούτοις αὐτὸς μὲν ἀδήλως ἤχθετο καὶ βαρέως ἔφερεν, ἐμφανῶς δ᾿ ὁ στρατὸς ἠγανάκτει, καὶ δεηθέντος τοῦ Πομπηιου προελθεῖν, τόν τε Σύλλαν κακῶς ἔλεγον, κἀκεῖνον οὐκ ἔφασαν προήσεσθαι χωρὶς αὑτῶν, οὐδ᾿ εἴων πιστεύειν τῷ τυράννῳ.
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Gewalt anwendeten, und dies bringt sie am Ende dazu, sich gefügig zu verhalten.224 Pompeius reizt hier alle Handlungsmöglichkeiten, die dem Feldherrn zur Vefügung standen, um meuternden Truppen zu begegnen, radikal aus. Er vergießt nicht nur Tränen – diese bewirken gewissermaßen lediglich einen status quo, denn im Anschluss redete man lange (πολὺ μέρος τῆς ἡμέρας) hin und her –, sondern droht sogar mit Selbstmord. Diese Androhung der höchstmöglichen Aktion bei seinem öffentlichen Auftreten lässt sich dadurch erklären, dass ihm sehr wohl bewusst war, wie beliebt er bei den Soldaten war und dass er letztlich mit ihrem Einlenken rechnen konnte.225 Aus einer solchen Schilderung der Ereignisse lässt sich ablesen, dass hinter dem Verhalten des Pompeius nicht etwa Ohnmacht angesichts einer Krisensituation, sondern politisches Kalkül und gute Führungsqualitäten standen. Nach der scheinbar fast aus den Fugen geratenen Revolte, die sich nur durch die denkbar extremsten Maßnahmen beruhigen ließ, sah sich Pompeius der Treue seiner Soldaten entsprechend in denkbar stärkster Weise versichert. Dies versetzte ihn in die Lage, einen Grund für die Missachtung des Befehls liefern zu können, denn der wurde durchaus nicht befolgt; vielmehr kehrte der Feldherr mit seinem gesamten Heer nach Rom zurück. Die Interaktion zwischen ihm und den Aufständischen folgte Konventionen, um die beide Parteien wussten, und seitens des Pompeius ist dahinter zumindest ein gewisses Maß an politischem Kalkül zu vermuten. Seinen unbedingten Rückhalt bei den Truppen musste auch Sulla in Rom anerkennen, wie der Fortgang des Kapitels verdeutlicht.226 Diese beiden Schilderungen fügen sich, wie eine analysierende Betrachtung zeigte, ausgezeichnet in das von Flaig entwickelte Schema und weisen den Tränen eine Funktion als zielführendes Instrument performativen Agierens zu. Ebenso wie einige weitere Elemente stellt das Weinen in den vorliegenden Zusammenhängen ein Verhalten dar, das einem allgemeinen gesellschaftlichen Konsens bezüglich der Handlungsmöglichkeiten in der vorliegenden Situation entsprach und insofern rituell geprägt war. Ein überzeugender Beleg dafür findet sich in Suetons Vita des Kaisers Nero: Dieser ist der Ansicht, dass er die 68 n. Chr. revoltierenden Truppen in Gallien einzig dadurch, dass er vor sie hintritt und weint (inermem se in conspectum exercituum proditurum nec quicquam aliud quam fleturum), wieder gefügig ma224 Plut. Pomp. 13, 3 f.: Τὸ μὲν οὖν πρῶτον ὁ Πομπήιος ἐπειρᾶτο πραΰνειν καὶ παρηγορεῖν αὐτούς· ὡς δ᾽ οὐκ ἔπειθε, καταβὰς ἀπὸ τοῦ βήματος ἐπὶ τὴν σκηνὴν ἀπῄει δεδακρυμένος, οἱ δὲ συλλαβόντες αὐτὸν αὖθις ἐπὶ τοῦ βήματος κατέστησαν· καὶ πολὺ μέρος τῆς ἡμέρας ἀνηλώθη, τῶν μὲν μένειν καὶ ἄρχειν κελευόντων, τοῦ δὲ πείθεσθαι δεομένου καὶ μὴ στασιάζειν, ἄχρις οὗ προσλιπαρούντων καὶ καταβοώντων ὤμοσεν ἀναιρήσειν ἑαυτὸν εἰ βιάζοιντο, καὶ μόλις οὕτως ἐπαύσαντο. 225 Vgl. Flaig (22004), S. 112 f. 226 Entgegen der Behauptung von Heftner (1995), S. 117 kommt an dieser Stelle gerade nicht zum Ausdruck, dass Pompeius keine Führungsqualitäten besaß und die Situation außer Kontrolle geraten war – im Gegenteil: der Feldherr konnte die Situation nur zu genau einschätzen und zum eigenen Vorteil ausnutzen, auch wenn sie sicherlich nicht geplant war. Bereits Miltner (1952), Sp. 2072 f. betont, dass die Befehlsverweigerung der Truppen dem Verhalten des Pompeius den Anschein der Legitimität verlieh und dass ihm die Situation durchaus gelegen kam im Hinblick auf seine Positionierung gegenüber Sulla.
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chen kann. Gerade anhand der Tatsache, dass es sich hier um ein ledigleich geplantes, aber nicht tatsächlich durchgeführtes Weinen handelt, wird deutlich, dass Nero um den Effekt von Tränen vor meuternden Legionären wusste. Allerdings schätzte er seine eigene Position bei den Soldaten in Gallien völlig falsch ein – mitnichten war deren loyale Anbindung an ihn so stark, dass dieses Mittel Erfolg versprochen hätte. In der Darstellung Suetons tritt somit sehr klar Neros Mangel an Führungsqualitäten zutage.227 Weniger die Tatsache, dass drei der vier besprochenen Beispiele aus der Zeit der Römischen Republik stammen, sondern viel mehr noch der Umstand, dass sich in den für diese Untersuchung herangezogenen historiographischen Texten insgesamt nur vier Schilderungen finden, die sich in ein Paradigma fügen wie es etwa Flaig vorgibt, wirft die Frage auf, inwieweit der Entwurf eines solchen Musters überhaupt sinnvoll ist. Vor allem ist zu berücksichtigen, dass Tränen zwar ein performatives Instrument von höchster Ausdruckskraft sind, es aber noch weitere gestische Elemente oder aber Reden gibt, die eine zumindest fast ebenso starke Wirkung bei den Adressaten erzeugen können und in vergleichbaren Situationen zum Einsatz kommen – Tränen waren kein unabdingbarer Bestandteil ritualisierten Verhaltens, durch das meuternde Soldaten beruhigt werden sollten.228 Die starke Hervorhebung des Weinens innerhalb einer Kette möglicher Interaktionselemente zwischen revoltierenden Soldaten und ihrem jeweiligen Feldherrn resultiert aus seinem herausragenden expressiven Charakter und zeigt die hohe emotionale Intensität an, die mit Tränen verbunden ist und in der oftmals ihre Sonderstellung unter den jeweiligen nonverbalen Handlungsoptionen erkennbar wird.229 227 Suet. Nero 43, 2: Consules ante tempus priuauit honore atque in utriusque locum solus iniit consulatum, quasi fatale esset non posse Gallias debellari nisi a consule. ac susceptis fascibus cum post epulas triclinio digrederetur, innixius umeris familiarium affirmauit, simul ac primum prouinciam attigisset inermem se in conspectum exercituum proditurum nec quicquam aliud quam fleturum, reuocatisque ad paenitentiam defectoribus insequenti die laetum inter laetos cantaturum epinicia, quae iam nunc sibi componi oporteret. Ausführlichere Behandlung erfährt diese Stelle bei Hagen (2016), S. 208 f.; Champlin (2003), S. 81 f. betont den performativen Charakter eines solchen Auftritts und weist darauf hin, dass Nero derartige Ansprachen in der Regel gemieden haben soll, um seine Stimme zu schonen. – Für die Kaiserzeit ist in diesem Zusammenhang auch zu beachten, dass die persönliche Anwesenheit des Herrschers zwar selbstverständlich seine Nähe zu den Truppen demonstrieren konnte, dass sie aber ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. ein oftmals überschätzter Faktor bei der Schaffung dieses Bindungsverhältnisses war, vgl. Stäcker (2003), S. 87–151 (besonders S. 150 f.). Die Nähe zu den Soldaten wurde üblicherweise und prinzipiell erfolgreich auf symbolische Weise hergestellt (vor allem durch die imago principis), vgl. ebd., S. 218–221. 228 Solche Episoden können in dieser Arbeit keine Berücksichtigung finden; es wäre aber sicher lohnend, mit Hilfe von Flaigs Paradigma die einzelnen Elemente der Interaktion bei gelungenen und missglückten Revolten zu untersuchen. 229 Durch Tränen erreichte, so der aus voreingenommener Sicht schreibende Verfasser des Bellum civile, auch der pompeianische Feldherr Petreius angesichts der Bemühungen Caesars, eine Schlacht zu vermeiden, und angesichts der dazu durchaus vorhandenen Bereitschaft der Truppen, dass diese ihm erneut Treue gelobten, worin sich zeigt, dass seine Angst, die Soldaten könnten zu Caesar überlaufen, gut begründet war, vgl. Caes. bell. civ. 1, 76, 1–3: Quibus rebus confectis flens Petreius manipulos circumit militesque appellat, neu se neu Pompeium absentem imperatorem suum adversariis ad supplicium tradant, obsecrat. fit celeriter concursus in
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2.2 Weinende Soldaten Für das Verhältnis zwischen römischen Soldaten und ihren jeweiligen Feldherren war eine gegenseitige loyale Bindung grundlegend, der auf beiden Seiten eine Erwartungshaltung entsprach. Die Soldaten bildeten neben den übrigen Gesellschaftsschichten des Römischen Reiches eine gesonderte Kategorie: Wesentliches Identitätsmerkmal des Heeres war nicht das Standesbewusstsein seiner Mitglieder, sondern ein unabhängig davon entwickelter, sozialer Zusammenhalt, innerhalb dessen jedoch eine eigene Hierarchie bestand.230 Eine Gehorsamsverweigerung stellte einen Bruch in der Treueverpflichtung der Soldaten dar und hatte jeweils situationsabhängige Auswirkungen. Der folgende Abschnitt untersucht Tränen von Soldaten, die ihnen gestellten Befehlen nicht nachkommen und die eigene Reue darüber in Gesten bekunden, sowie ein Weinen, in dem sich die Loyalität gegenüber dem Feldherrn zeigt. Schließlich werden unterschiedliche Anlässe herausgearbeitet, die sich bei der Betrachtung von im Krieg weinenden Kämpfern ergeben. 2.2.1 Weinen in Situationen der Gehorsamsverweigerung Anhand von Beispielen, in denen Soldaten vor ihren Befehlshabern weinten, wird offensichtlich, dass sie die Wirkung derartiger performativer Kommunikationsmittel kannten, und aus deren Einsatz lässt sich zudem ersehen, dass bei Befehlshabern wie Untergebenen ein Konsens hinsichtlich der Gültigkeit solcher Verhaltensweisen bestand. Tränen auf beiden Seiten erwähnt Tacitus im Zusammenhang mit den militärischen Auseinandersetzungen im sogenannten Vierkaiserjahr. Zwei Heeresabteilungen des Vitellius unter dem Befehl des Fabius Valens und des Aulus Caecina Alienus waren im Frühling 69 n. Chr. in Oberitalien einmarschiert; bevor es zu einem Zusammenschluss kam, erlitt das Heer des Caecina eine Niederlage, und die Soldaten des Valens veranstalteten eine Meuterei, deren Gründe in den Historiae ausführlich dargelegt werden. Die militärische Disziplin der Legionssoldaten war bereits durch ausufernde Streitigkeiten ins Wanken geraten (corrupta iurgiis aut rixis disciplina), da die Bataverkohorten, die gegen Nero gekämpft und sich dann dem Valens angeschlossen hatten, mit ihren kriegerischen Erfolgen prahlten und dadurch die Leistung der übrigen Soldaten schmälerten, als offensichtlich wurde, dass die Bundesgenossen in der Gallia Narbonensis (die Trevirer und Tungrer) Unterstützung benötigten. Zu ihnen wollte Valens einen Teil jener Bataver schicken in der Annahme, er könne dadurch sowohl den Verbündeten Hilfe bieten als auch die seine Truppen gefährdende Unruhe, die von den Kohorten ausging, beseitigen. Die praetorium. postulat, ut iurent omnes se exercitum ducesque non deserturos neque prodituros neque sibi separatim a reliquis consilium capturos. princeps in haec verba iurat ipse; idem iusiurandum adigit Afranium; subsequuntur tribuni militum centurionesque; centuriatim producti milites idem iurant. – Ebenfalls besonders eindringlich und mit Schluchzen (singultu) verbunden ist das Flehen des Tampius Flavianus, eines flavianischen Kommandanten, vor seinen sich auflehnenden Soldaten, vgl. Tac. hist. 3, 10, 2. 230 Vgl. Flaig (1992), S. 134–136 und 142 f.
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Legionssoldaten wehrten sich jedoch lautstark gegen dieses Vorhaben, denn sie wussten um die strategische Bedeutung der Bataver und plädierten daher dafür, den gegenwärtigen Heeresverband unverändert beizubehalten, um die militärische Schlagkraft nicht zu verringern.231 Der Aufstand der Soldaten nimmt überhand: Nicht nur mit Worten bedrängen diese den Feldherrn, sondern sie werfen auch Steine und stellen ihm nach, als er flieht; weitere Beschimpfungen sowie die Bestürmung und Plünderung seines Zeltes folgen.232 Als die Empörung sich allmählich beruhigt (deflagrante paulatim seditione), wendet der Lagerpräfekt Alfenus Varus eine kluge Taktik an, um die Meuternden wieder gänzlich zur Vernunft zu bringen, indem er die Zenturionen nicht mehr ihre Runden bei den Nachtwachen machen und die Trompetensignale, mit denen die Soldaten üblicherweise zu ihren Pflichten im Lager beordert werden, unterbinden lässt.233 Der beabsichtigte Effekt tritt ein, denn sie sind allesamt zutiefst bestürzt und ratlos, was sie tun sollen – obwohl sie sich gerade noch ungezügelt und in emotionaler Aufwallung aufgelehnt haben, sind sie nun wiederum darüber in Furcht, dass sie ohne jegliche Führung dastehen (id ipsum quod nemo regeret paventes). Ob dieser Erkenntnis schweigen sie zunächst und geben sich unterwürfig;234 schließlich suchen sie durch Bitten und Tränen (precibus ac lacrimis) Verzeihung zu erlangen für ihr Betragen, das sie durch die Maßnahmen des Lagerpräfekten als fehlgeleitet erkennen können.235 Das radikale Umschwenken bringt den äußerlich sichtlich mitgenommenen (deformis) Valens dazu, sich weinend (flens), aber immerhin unversehrt – was angesichts der Nachstellungen seiner Untergebenen nicht selbstverständlich zu erwarten ist (praeter spem incolumis) – vor seine Soldaten zu begeben, die ihm ihrerseits mit Begeisterung, Mitleid und Wohlwollen (gaudium miseratio favor) begegnen. Die Stimmung der Meuterer schlägt vollends in Jubel um (versi in laetitiam), lobend und freudig dankend (laudantes gratantesque) tragen sie ihren Feldherrn, umgeben von den Legionsadlern und Feldzeichen, auf das Tribunal. Diese ihm erwiesenen Ehrerbietungen nimmt Valens an und zeigt sich kompromissbereit, was die Strafen für den Aufstand anbelangt: Er sieht von Hinrichtungen ab; zwar weiß er, dass die Erhebung von allen Soldaten ausging und er diesen Umstand nicht ignorieren kann, beschuldigt aber 231 Tac. hist. 2, 27, 2–2, 28. Die Soldaten verfügten in der Regel über ein beträchtliches strategisches Wissen, mitunter war das ihre Feldherrn deutlich geringer, vgl. Flaig (1992), S. 144–152. Die Begründung der Soldaten dafür, weshalb sie die Entscheidung des Valens als taktisch unklug unklug einstuften, ist jedenfalls plausibel. 232 Tac. hist. 2, 29, 1: Haec ferociter iactando, postquam immissis lictoribus Valens coercere seditionem coeptabat, ipsum invadunt, saxa iaciunt, fugientem sequuntur. spolia Galliarum et Viennensium aurum, [et] pretia laborum suorum, occultare clamitantes, direptis sarcinis tabernacula ducis ipsamque humum pilis et lanceis rimabantur; nam Valens servili veste apud decurionem equitum tegebatur. 233 Vgl. Heubner (1968), S. 114. 234 Zum Gebrauch von patientia in dieser Bedeutung vgl. Georges (81913), Sp. 1509. 235 Tac. hist. 2, 29, 2: Tum Alfenus Varus praefectus castrorum, deflagrante paulatim seditione, addit consilium, vetitis obire vigilias centurionibus, omisso tubae sono, quo miles ad belli munia cietur. igitur torpere cuncti, circumspectare inter se attoniti et id ipsum quod nemo regeret paventes; silentio, patientia, postremo precibus ac lacrimis veniam quaerebant.
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nur einige wenige von ihnen, denen er dann auch noch zugesteht, dass in Zeiten des Bürgerkriegs die Soldaten größere Freiheiten als die Heerführer hätten.236 Aus der Darstellung des Tacitus lässt sich der Eindruck gewinnen, dass die Beteiligten (Soldaten, Feldherr, Lagerpräfekt) in ihrem Verhalten üblichen Handlungsmustern folgten. Die einzelnen Schritte ihres Vorgehens werden aufeinander bezogen und der Ablauf der Geschehnisse dem Leser als nachvollziehbar präsentiert. Vorbildhaft wirken jedoch weder die Soldaten noch ihr Kommandant. Diese verschwenden zunächst keinen Gedanken an die Konsequenzen ihres Handelns und agieren als homogene Gruppe, die vor Augen geführt bekommen muss, wie unangebracht sie sich verhält. Die breite Masse (vulgus) veranstaltet erst einen Aufstand, bei dem man nach dem Leben des Feldherrn trachtet, dann erfolgt seine ebenfalls übertriebene Ehrung. Die Soldaten weinen dabei, gemeinhin eine Geste, durch die die eigene Reue glaubhaft erscheint; in den Tränen ihres Anführers spiegelt sich wohl die Erleichterung über das Ende der Revolte, zugleich bezeugen sie aber seine Erschütterung durch das ihm entgegengebrachte Misstrauen. Ihm bleibt jedoch keine andere Wahl, als sich mit seinen Soldaten wieder zu versöhnen, und dafür muss er vor diesen und vor sich selbst eine Begründung suchen. Sie lautet, dass civilibus bellis plus militibus quam ducibus licere. Dies mag sogar den Tatsachen entsprechen und ist in der vorliegenden Situation wirksam, trotzdem zeugt die Aussage nicht gerade von einer unangefochtenen Autorität des Feldherrn unter seinen Soldaten. Andererseits ist er aber nicht unfähig, immerhin handelt er utili moderatione. Deutlich schlechter fällt das Urteil des Autors über die Soldaten aus: Sie kennen weder in der einen noch in der anderen Richtung ein Maß, so dass es nicht überrascht, wenn im folgenden Kapitel erneut von einer drohenden Meuterei berichtet wird. Dadurch wird umso mehr die Gültigkeit dieser für Tacitus typischen apodiktischen Aussage untermauert, mit der er den Wankelmut der Soldaten im Moment des Umschwungs kommentiert: ut est vulgus utroque immodicum.237 Nicht unmittelbar ersichtlich, aber dem Inhalt nach und mit subtilen literarischen Mitteln werden die Geschehnisse hier in leicht übersteigerter Form geschildert; die Intensität der erwähnten performativen Mittel, darunter auch das Weinen, geht dabei mit dem Gesamtcharakter der Darstellung konform. 236 Tac. hist. 2, 29, 3: Ut vero deformis et flens et praeter spem incolumis Valens processit, gaudium miseratio favor: versi in laetitiam, ut est vulgus utroque immodicum, laudantes gratantesque circumdatum aquilis signisque in tribunal ferunt. ille utili moderatione non supplicium cuiusquam poposcit, ac ne dissimulans suspectior foret, paucos incusavit, gnarus civilibus bellis plus militibus quam ducibus licere. 237 Bemerkenswert ist auch, mit welch hohem stilistischen Geschick der abrupte Gesinnungswandel in 2, 29, 3 umgesetzt wird; es häufen sich in geradezu übertriebenem Ausmaß die positiv konnotierten Begriffe: zunächst das Trikolon gaudium miseratio favor, dann die unmissverständliche Angabe, wohin das Ganze zielt, nämlich in laetitiam, und nach den attributiven Partizipien laudantes gratantesque wird beschrieben, durch welches ehrerbietige Verhalten sich der Stimmungsumschwung äußert. Lediglich als Einschub geschickt darin verpackt wird mitgeteilt, was davon zu halten ist – mag dem antiken Lesepublikum diese kommunikative Interaktion auch normkonform erschienen sein, sie war doch, so möchte Tacitus hier wohl vermitteln, übertrieben und in ihr zeigen sich die negativen Auswirkungen der vorliegenden Extremsituation, nämlich des Bürgerkrieges.
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Nach der zweiten Schlacht von Bedriacum Ende Oktober 69 n. Chr. kam es Tacitus zufolge erneut zu einem Tränenausbruch der vitellianischen Soldaten, und zwar vor ihrem Kommandanten Aulus Caecina Alienus. Dieser versuchte kurz vor der entscheidenden Schlacht, zum Heer Vespasians überzulaufen, doch dagegen sträubte sich ein Großteil seiner Truppen und nahm ihn als Verräter gefangen.238 Nach der Niederlage trat jedoch eine unerwartete Wendung ein, denn als absehbar war, dass sich die Soldaten des Vitellius in dem von den Flavianern belagerten Cremona nur dadurch retten könnten, dass sie die Stadt aufgaben, wandten sie sich an Caecina und baten ihn, sich als Fürsprecher für sie einzusetzen. Damit appellierten sie an das ursprünglich vorhandene Loyalitätsverhältnis zwischen Feldherrn und Soldaten. Als er ihr flehentliches Bitten zornig abwies, drangen sie erneut auf ihn ein, diesmal unter Tränen (lacrimis fatigant). Obwohl er ein Verräter war (proditor), worin das höchste aller Übel (extremum malorum) zu sehen sei, sahen die eigentlich höchst tapferen (fortissimi) Männer in ihrer Verzweiflung keine andere Möglichkeit, als ausgerechnet ihn darum zu bitten, sich für ihre Belange einzusetzen. Dass selbst ihre Tränen keine Wirkung hatten, erscheint verständlich, da sie ihn zuvor als Reaktion auf seinen geplanten eigenmächtigen Abfall von Vitellius in Fesseln gelegt hatten und somit die militärische Treueverpflichtung von beiden Seiten her unwiederbringlich gebrochen war.239 Ob er sich dennoch für sie einsetzte, wird nicht erwähnt; der flavianische Feldherr Antonius Primus jedenfalls gibt sich in seiner Siegesansprache an die Soldaten nachsichtig den Unterlegenen gegenüber.240 Beide Episoden sind eingebettet in tief emotional aufgeladene historische Ereignisse, deren Wiedergabe bei Tacitus eine entsprechend dramatische Gestaltung erfährt. Die politisch brisanten Verhältnisse boten oft Anlässe für Meutereien, von denen Tacitus berichtet – etwa die beiden hist. 3, 10 und 3, 11 erwähnten auf Seiten der Flavianer – und dabei stets zum Ausdruck bringt, dass extreme Zeitumstände die schlechten Charakterzüge von Individuen und Gruppen nach außen dringen lassen. Soldaten, die nach eigenem Fehlverhalten vor ihrem Feldherrn weinen, werden in der römischen Historiographie nicht zwangsläufig negativ beurteilt; vielmehr spiegelt sich hier die generell kritische, oftmals sogar pessimistische Einstellung des Tacitus wieder. Einen weitaus nüchterneren Ton schlägt Zosimus in seinem Bericht über den geschickten Umgang Stilichos mit ungehorsamen Soldaten an, der nur wenige Sätze umfasst und in die Zeit kurz vor Sturz und Ermordung des weströmischen Heermeisters fällt.241 Hintergrund der Episode ist die Nachricht vom Tod des oströmischen Kaisers Arcadius im Frühjahr 408 n. Chr, die den weströmischen Herr238 Vgl. Tac. hist. 3, 13 f. 239 Vgl. Tac. hist. 3, 31, besonders 3, 31, 2: Primores castrorum nomen atque imagines Vitellii amoliuntur; catenas Caecinae (nam etiam tunc vinctus erat) exolvunt orantque ut causae suae deprecator adsistat. aspernantem tumentemque lacrimis fatigant, extremum malorum, tot fortissimi viri proditoris opem invocantes; mox velamenta et infulas pro muris ostentant. 240 Vgl. Tac. hist. 3, 32, 1; die Gründe für die dennoch folgende Einäscherung der Stadt (hist. 3, 32 f.) bleiben gerade wegen seines taktisch durchdachten Handelns im Einzelnen unklar. 241 Zum Niedergang und der Ermordung des Stilicho vgl. Zos. hist. 5, 32–35.
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scher Honorius in Bononia erreichte. Dorthin hatte er sich von Ravenna aus auf den Weg gemacht, allerdings war es auf dem Marsch offenbar zu einer Streiterei zwischen den Soldaten gekommen, die den jungen Herrscher veranlasste, seinen tatkräftigen Heermeister aus Ravenna herbeiholen zu lassen, damit er die Soldaten wieder zur Vernunft bringe.242 Dies gelingt ihm schnell: Er lässt die Aufsässigen antreten und verdeutlicht ihnen, dass der Kaiser ihm nicht nur angetragen habe, sie wieder zu mäßigen, sondern auch, jeden zehnten der Männer, die für diese Auflehnung verantworlich seien, zu töten. Dadurch zutiefst in Angst und Schrecken versetzt, vergießen die Soldaten allesamt Tränen (δάκρυα πάντες ἀφιέντες), und mit Hilfe dieses Verhaltens erreichen sie, dass der Feldherr ihnen gegenüber nachsichtig ist und die Begnadigung durch den Kaiser zusichert, die er daraufhin problemlos von diesem erhält.243 Nach diesem Vorfall wenden sich beide wieder den drängenden Fragen der Tagespolitik zu, und zumindest vorerst kommt man darin überein, dass Stilicho in den Osten zu Theodosius II. reisen und Honorius im Westen verbleiben soll, wie im Rest des Kapitels erzählt wird. Welchen Sinn könnte in diesem Kontext der Bericht über Soldaten haben, die durch ihr Weinen ihren Kommandaten zum Mitleid (εἰς ἔλεον) ihnen gegenüber stimmen, so dass er Milde walten lässt? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Ursache für die Unruhe unter den Soldaten nur ungenau benannt ist: Sie begleiteten den Kaiser nach Bononia und wiegelten sich auf dem Weg dorthin gegenseitig auf (στρατιωτῶν κατὰ τὴν ὁδὸν πρὸς ἀλλήλους στασιασάντων). Vermutlich handelte es sich um Truppen, deren Mitglieder nichtrömischer Herkunft waren und sich gerade von Stilicho leichter als von anderen Befehle erteilen ließen; ihre Meuterei wiederum konnte der Heermeister für einen Versuch nutzen, seine autoritäre Stellung gegenüber Honorius wiederzuerlangen.244 So erscheint er in der knappen Schilderung des Zosimus als fähiger Kommandant, denn er verhindert ein Ausufern der Rebellion; das kann ihm jedoch nur deshalb so schnell gelingen, weil er ein beträchtliches Ansehen bei den Soldaten genießt.245 Stilicho besitzt Führungsqualitäten, aufgrund derer er mit den Soldaten besser zurechtkommt als der Kaiser und seine Begleiter. In der Historia nova wird zwar durchaus ein ambivalentes Bild dieses mächtigen Feldherrn und Politi242 Zos. hist. 5, 31, 1. 243 Zos. hist. 5, 31, 2 f.: Στειλίχονος συναγαγόντος τοὺς στασιάσαντες, καὶ οὐχ ὅτι σωφρονισθῆναι μόνον οὐτοὺς ὁ βασιλεὺς κελεύσειν εἴποντος, αλλ᾿ ὅτι κατὰ δεκάδα τὸν αἰτιώτατον ἕνα θανάτῳ ζημιωθῆναι προσετέτακτο, τοσοῦτον αὐτοῖς ἐνέθηκε φόβον ὥστε δάκρυα πάντας ἀφιέντας εἰς ἔλεον τὸν στρατηγὸν ἐπισπάσασθαι καὶ ὑποσχέσθαι τὴν τοῦ βασιλέως εὐμένειαν. Ἐπεὶ δὲ οὐκ ἔσφηλεν αὐτὸν ὁ βασιλεὺς τῆς ὑποσχέσεως, εἰς τὴν περὶ τῶν κοινῶν ἐτράπησαν σκέψιν. 244 Vgl. Paschould (1986), S. 225. Die Überlegungen, ob Stilicho selbst eine Rebellion provoziert hatte oder im Gegenteil seine Widersacher (allen voran Olympius) sie vorangetrieben hatten, sind zwar nicht unplausibel, allerdings auch nicht zu belegen, vgl. ebd. 245 Stilicho besaß zu dieser Zeit zwar keine unangefochtene, mit Sicherheit aber eine der wichtigsten politischen und militärischen Positionen im Weströmischen Reich. Das zeigt sich nicht zuletzt daran sehr deutlich, dass seine offenkundig selbst erfundene, eigenmächtig dem Kaiser zugeschriebene Strafandrohung, jeden zehnten Mann der Hauptverantwortlichen zu töten, von Honorius vorbehaltlos bestätigt wird, vgl. Paschould (1986), S. 225.
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kers gezeichnet, die vorliegende Episode stellt aber seine charakterlichen Stärken heraus.246 Auffällig ist, dass es sich bei den weinenden Soldaten um einen der nur drei Belege handelt, die sich bei Zosimus für Tränen finden.247 Die Vermutung liegt nahe, dass das beschriebene Handlungsmuster dem Leser plausibel und trotz des Weinens nicht emotional überladen erschien, da es seinen Platz in der antiken Lebenswirklichkeit besaß. In den hier betrachteten Beispielen ist die Gruppe der Soldaten durch ihr kollektives Handeln gekennzeichnet, das auch Aspekte emotionaler Befindlichkeiten zum Ausdruck bringt. Das Weinen als sehr starke Performanz mit Signalcharakter, die auf eine Nichtbeachtung der im militärischen Bereich üblichen Umgangsformen folgt, hat innerhalb der beschriebenen Abläufe den Zweck, die eigene Gehorsamsverweigerung zu nivellieren, das heißt: die durch die Verweigerung des Gehorsams entstandene Diskrepanz zwischen vorgegebener oder zu erwartender und tatsächlicher Verhaltensweise aufzuheben. 2.2.2 Weinen als Geste der Loyalität Offiziell gelobten die Soldaten ihrem Feldherrn Treue durch einen militärischen Eid. In der Zeit der Republik war es üblich, ihn vor Beginn eines Feldzugs zu leisten; in der Kaiserzeit dagegen fand insofern eine Bedeutungsverschiebung des sacramentum statt, als dass es auf den Kaiser als den höchsten Feldherrn abgelegt wurde.248 Es bot die Voraussetzung und war zugleich ein Anzeichen für die grundsätzliche Bereitschaft, sich – falls dies für notwendig erachtet wurde – unter Gefährdung des eigenen Lebens für ein übergeordnetes Ziel einzusetzen. In Extremsituationen kam das Weinen der Soldaten vor dem Feldherrn oftmals dem Bedürfnis entgegen, ihm das Vorhandensein der soldatischen Loyalität mittels unmissverständlicher und zugleich sehr intensiver Gesten zu beteuern. 2.2.2.1 Bei Begrüßung und Abschied Wiedersehensfreude und Abschiedsschmerz249 konnten ein Anlass für Tränen sein, in denen eine solche außergewöhnliche Verbundenheit zum Ausdruck kam. Als Tiberius im Jahre 4 n. Chr. erneut nach Germanien geschickt wurde, zeigte sich seine Beliebtheit bei den Truppen in Norditalien und Gallien, die bereits wenige Jahre zuvor unter ihm gedient hatten, in der schier grenzenlosen Begeisterung, mit der sie ihn begrüßten, wie Velleius Paterculus berichtet, der diesen Vorfall selbst miterlebt hat. Beim Anblick des Tiberius vergossen sie Freudentränen (militum conspectu 246 Bereits im weiteren Verlauf des Kapitels erscheinen jene Führungsqualitäten allerdings als ambivalent, denn Stilicho gelingt es, seine eigenen Vorschläge gegen die ursprüngliche Absicht des Honorius durchzusetzen und für sich selbst in Anspruch zu nehmen, zur Klärung der politischen Verhältnisse nach Konstantinopel zu reisen. 247 Die beiden anderen Belege finden sich Zos. hist. 3, 7, 7 und 4, 57, 4. 248 Knappe Bemerkungen zur sakralen Bedeutung des Eides der Soldaten zu verschiedenen Zeiten liefert LeBohec (1993), S. 277 f. Ausführungen zur Bedeutung des sacramentum für die sakrale Anbindung an den Kaiser bietet Stäcker (2003), S. 293–308. 249 Zu diesem Aspekt vgl. auch II. 4.3.
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eius elicitae gaudio lacrimae); ausgelassen vor Begeisterung brachten sie ihm in jubelndem Eifer ihre Begrüßung entgegen (alacritasque et salutationis nova quaedam exultatio), und sie versuchten, seine Hand zu ergreifen (contingendi manum cupiditas). Außerdem bekundeten sie verbal ihre Freude über die Rückkehr ihres Imperators und riefen ihm zu, wo einzelne von ihnen mit ihm im Feld gestanden hatten. Obwohl die Schilderung des Velleius einen Eindruck von der Stimmung bei der Ankunft des Tiberius vermittelt, hält er selbst sie noch für ungenügend, da man gar nicht mit Worten ausdrücken könne, was sich damals ereignet habe.250 Gerade die Tatsache, dass diese Beschreibung von der eigenen Augenzeugenschaft251 beeinflusst ist, spricht für ihre grundsätzliche Glaubwürdigkeit, und diese wird auch dadurch nicht zwangsläufig getrübt, dass der Historiograph seinen Kaiser durchweg in positivem Licht erscheinen lässt. Vielmehr kann man diese Stelle als Beleg für eine emotional geprägte Wiedergabe eines tatsächlich stark auf den Gefühlshaushalt einwirkenden und diesen wiederum repräsentierenden Vorfalls interpretieren, wobei der Ausdruck der eigenen Empfindungen durch Gesten und Worte geschah, die nicht beliebig gewählt, sondern einem für diese Art von Anlässen etablierten Katalog performativer Elemente entnommen wurden. Tränen, mit denen die Hochschätzung eines Feldherrn bekundet wurde, konnte es auch bei seinem Abschied von den Soldaten geben: Der jüngere Cato wurde Plutarch zufolge nach Ende seines Militärtribunats in Makedonien 67 v. Chr. mit Tränen und zahllosen Umarmungen (δάκρυσι καὶ περιβολαῖς ἀπλήστοις) von Seiten des Heeres aus seiner Provinz verabschiedet. Wie ungewöhnlich diese stark ausgeprägte Bekundung der Trauer über den Abzug Catos war, wird in der Darstellung Plutarchs im vorhinein betont: Üblich waren gute Wünsche und Lobesbekundungen (εὐχαὶ καὶ ἔπαινοι), also eine zwar unmissverständliche, aber moderate Form der Sympathieerweisung. Auf seinem Weg wurden dem römischen Befehlshaber zudem Gewänder unter die Füße gelegt und man küsste seine Hände, eine zur Zeit der späten Republik höchst seltene Ehrung, wie der Vitenschreiber wieder hervorhebt.252 In den beiden hier referierten Episoden wird das Näheverhältnis, das zwischen Feldherr und den ihm unterstellen Soldaten bestand, unmittelbar von diesen zum Ausdruck gebracht. 250 Vell. 2, 104, 4: At uero militum conspectu eius elicitae gaudio lacrimae alacritasque et salutationis noua quaedam exultatio et contingendi manum cupiditas non continentium protinus quin adiicerent, ‘uidemus te, imperator? saluum recepimus?‘, ac deinde ‘ego tecum, imperator, in Armenia, ego in Raetia fui, ego a te in Vindelicis, ego in Pannonia, ego in Germania donatus sum‘, neque uerbis exprimi et fortasse uix mereri fidem potest. 251 Wie beeindruckt Velleius von der Persönlichkeit des Tiberius war, betont der Geschichtsschreiber selbst in 2, 104, 3; er lässt seinem Leser keinen Zweifel daran, dass nicht nur er selbst, sondern seiner Einschätzung nach auch die Soldaten den als Nachfolger des Augustus designierten (vgl. 2, 103) Mann für einen begabten Feldherrn und ebenso für einen fähigen Herrscher hielten. 252 Plut. Cato min. 12, 1: Ἐπεὶ δὲ τέλος εἶχεν ἡ στρατεία τῷ Κάτωνι, προεπέμφθη οὐκ εὐχαῖς, ὃ κοινόν ἐστιν, οὐδ᾽ ἐπαίνοις, ἀλλὰ δάκρυσι καὶ περιβολαῖς ἀπλήστοις, ὑποτιθέντων τὰ ἱμάτια τοῖς ποσὶν ᾗ βαδίζοι, καὶ καταφιλούντων τὰς χεῖρας, ἃ τῶν αὐτοκρατόρων ὀλίγοις μόλις ἐποίουν οἱ τότε Ῥωμαῖοι. Zu diesem Beispiel vgl. auch II. 4.3.
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Der Autor setzt dabei jeweils die besonders starke Ausprägung dieser Treuebindung sowohl als gegeben voraus als es auch Zweck seiner Darstellung ist, den Protagonisten dadurch als fähigen Befehlshaber zu charakterisieren. 2.2.2.2 Treue zum Feldherrn in Kriegssituationen Von entscheidender Bedeutung waren die praktischen Konsequenzen dieser verpflichtenden Loyalität vor allem im Falle kriegerischer Unternehmungen, wie zwei Episoden aus den Viten Plutarchs zeigen. Als im Verlauf der Britannienexpedition Caesars (55/54 v. Chr.) die vorderen ταξιάρχοι – gemeint sind Kohortenführer – in einem sumpfigen Gelände von Feinden überfallen wurden, rettete sie ein einfacher Soldat durch seine heldenmutige Abwehr der Angreifer. Caesar und die bei ihm befindlichen Männer gingen ihm entgegen, um ihn zu loben; er jedoch sah ihnen nicht einmal ins Gesicht (κατηφὴς) und warf sich unter Tränen vor Caesar nieder (δεδακρυμένος προσέπεσε τῷ Καίσαρι), wobei er um Verzeihung dafür bat, seinen Schild von sich geworfen zu haben (συγγνώμην αἰτούμενος ἐπὶ τῷ προέσθαι τὸν θυρεόν).253 In diesem Verhalten manifestiert sich die uneingeschränkte Treue, die der Legionär seinem Feldherrn entgegenbringt. Er hat zwar gerade einen deutlichen Beweis seiner Tapferkeit geliefert und damit großen Eindruck auf Caesar gemacht, allerdings musste er seinen Schild aufgeben – normalerweise ein Zeichen für eine voreilige bzw. eine aus Feigheit resultierende Flucht aus der Schlacht. In der vorliegenden Situation hätte wohl niemand dem Helden des Augenblicks dies zum Vorwurf gemacht, dennoch zeigt er sich unterwürfig, indem er selbst darauf hinweist. Dadurch kann ihm eine weitere bedeutende Tugend attestiert werden, nämlich die moderatio: Caesar in seiner Funktion als Kommandant der Truppen und seine feldherrlichen Tugenden bedeuten dem einfachen Soldaten mehr als die eigenen Heldentaten, er stellt sie hinter die militärischen Leistungen seines Befehlshabers zurück.254 Im Vorfeld der Seeschlacht bei Actium war die Stimmung auf der Seite des Antonius alles andere als zuversichtlich. Als der grundsätzlich sehr beliebte Feldherr an einem der Kohortenführer vorbeiging, begann dieser zu weinen (ἀνακλαύσασθαι), verwies auf seine Narben und bekundete mit Worten sein Unbehagen angesichts des bevorstehenden Gefechts, da die Soldaten des Antonius auf 253 Plut. Caes. 16, 5–7: Ἐν δὲ Βρεττανίᾳ τῶν πολεμίων εἰς τόπον ἑλώδη καὶ μεστὸν ὑδάτων ἐμπεσοῦσι τοῖς πρώτοις ταξιάρχοις ἐπιθεμένων, στρατιώτης, Καίσαρος αὐτοῦ τὴν μάχην ἐφορῶντος, ὠσάμενος εἰς μέσους καὶ πολλὰ καὶ περίοπτα τόλμης ἀποδειξάμενος ἔργα, τοὺς μὲν ταξιάρχους ἔσωσε τῶν βαρβάρων φυγόντων, αὐτὸς δὲ χαλεπῶς ἐπὶ πᾶσι διαβαίνων ἔρριψεν ἑαυτὸν εἰς ῥεύματα τελματώδη, καὶ μόλις ἄνευτοῦ θυρεοῦ, τὰ μὲν νηχόμενος τὰ δὲ βαδίζων, διεπέρασε. θαυμαζόντων δὲ τῶν περὶ τὸν Καίσαρα καὶ μετὰ χαρᾶς καὶ κραυγῆς ἀπαντώντων, αὐτὸς εὖ μάλα κατηφὴς καὶ δεδακρυμένος προσέπεσε τῷ Καίσαρι, συγγνώμην αἰτούμενος ἐπὶ τῷ προέσθαι τὸν θυρεόν. 254 Der Soldat wird auch von Valerius Maximus und Cassius Dio erwähnt, vgl. Pelling (2011), S. 213. – Suet. Div. Iul. 68, 1 berichtet von der Tapferkeit, mit der ein Großteil der gefangen genommenen Soldaten Caesars ihre Treue unter Beweis stellte: Sie wollten lieber sterben als gegen ihn kämpfen.
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dem Land und nicht zur See zu kämpfen gewohnt seien. Trotz dieses eindringlichen Appells an Antonius, eine andere Taktik zu wählen, kam es nicht zu einer Meuterei; vielmehr zeigt die Reaktion des Kohortenführers, dass er bereit war, seinem Kommandanten zu folgen, obwohl er eine Niederlage für wahrscheinlich hielt.255 2.2.2.3 Treue der Soldaten Othos angesichts seines Untergangs Unsicherheit bei der Durchsetzung des eigenen Anliegens (in diesem Fall: des Fortbestehens der Herrschaft) sah sich auch Kaiser Otho ausgesetzt, der aber dennoch auf die Unterstützung seiner Soldaten zählen konnte, nachdem sein Heer in der ersten Schlacht von Bedriacum am 14.4.69 n. Chr. unterlegen war und er einen Tag später in Brixellum davon erfahren hatte. Die Ereignisse unmittelbar vor seinem Tod werden sowohl von Tacitus als auch von Plutarch, Cassius Dio und Sueton ausführlich dargestellt.256 Tacitus berichtet hist. 2, 46 zunächst davon, dass Soldaten des besiegten Heeres die Nachricht von der Niederlage überbrachten; diese löste jedoch nicht, wie man erwarten könnte, Bestürzung aus, sondern veranlasste im Gegenteil die Soldaten dazu, ihrem Imperator Mut zuzusprechen, und zwar nicht aus Schmeichelei (adulatio), sondern aus der brennenden Begierde heraus, in die Schlacht zu ziehen und das Glück der eigenen Partei wiederzuerlangen. Dem Ausstrecken der Hände (tendere manus) und Umfassen der Knie (prensare genua) als typische Bittgesten entspricht die Rede des Prätorianerpräfekten Plotius Firmus, Otho solle mit derselben Entschlossenheit wie seine Soldaten in den Kampf gegen das vitellianische Heer ziehen und sein Schicksal auf sich nehmen. Die Antwort des Kaisers fällt jedoch ablehnend aus: Er sehne sich nicht nach Rache, sondern möchte den Bürgerkrieg (an dem er Vitellius die Schuld zuschreibt) beendet wissen; die Tapferkeit und Treue seiner Soldaten erleichtere ihm den eigenen unvermeidlichen Tod.257 Eindrucksvoll wendet Otho sich an einzelne seiner Soldaten und trifft vorbereitende Maßnahmen für sein unmittelbar bevorstehendes Ende;258 mit einer exemplarischen Gelassenheit, so stellt Tacitus es dar, sieht er seinem Tod entgegen und stößt sich bei Anbruch des folgenden Tages einen Dolch in die Brust (luce prima in ferrum pectore incubuit).259 Seine Freigelassenen und Sklaven sowie Plotius Firmus hören sein daraufhin ertönendes Stöhnen und begeben sich zu ihm. Man begräbt den Toten schnell, damit sein Leichnam nicht geschändet werden kann; cum laudibus et lacrimis („unter Lobesbekundungen und Tränen“) tragen die Prätorianer ihn und küssen seine Hände, und einige Soldaten töten sich, dem der Situation angemessenen Verhalten des Kaisers nacheifernd (aemulatio decoris) und aus Liebe (caritas) zu ihm, neben dem Scheiterhaufen – dies tun zudem auch Soldaten in Bedriacum, Placentia und in anderen Lagern.260 255 Plut. Ant. 64, 1 f.; vgl. auch II. 1.6. 256 Heubner (1968), S. 181–190 liefert eine detaillierte Gegenüberstellung der Berichte bei Tacitus, Plutarch und Sueton. 257 Tac. hist. 2, 47. 258 Tac. hist. 2, 48. 259 Tac. hist. 2, 49, 1 f. 260 Tac. hist. 2, 49, 3 f.: Ad gemitum morientis ingressi liberti servique et Plotius Firmus praetorii praefectus unum vulnus invenere. funus maturatum; ambitiosis id precibus petierat ne ampu-
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Auch Plutarch zufolge brachten Verwundete die Nachricht vom Sieg des Vitellius, was die Freunde Othos dazu veranlasste, ihm Mut zu machen, und die Soldaten bekundeten ihre andauernde Unterstützung, indem sie allesamt zu ihm liefen, ihn Kaiser nannten (ἐκάλουν αὐτοκράτορα) und mit den dafür charakteristischen Gesten als Bittflehende vor ihm auftraten: Sie versuchten lautstark flehend seine Hände zu ergreifen (μετὰ βοῆς καὶ ἱκεσίας χειρῶν ἥπτοντο), fielen vor ihm nieder (προσέπιπτον) und weinten (ἐδάκρυον); mit Worten baten sie ihn, sie nicht an die Feinde auszuliefern, sondern sich ihres Schutzes zu bedienen. Als Beweis für die Bereitschaft, für den Kaiser in den Tod zu gehen, tötete sich einer der Soldaten selbst mit seinem Schwert.261 Daraufhin stellte Otho in einer Rede in aller Deutlichkeit heraus, dass sein Tod unabdingbar sei, und traf entsprechende Vorkehrungen.262 Am nächsten Morgen stürzte er sich ins Schwert. Die geradezu fanatische Reaktion der Soldaten darauf zeigt ihre unbedingte Loyalität: Sie weinten nicht nur, sondern gaben sich die Schuld an seinem Tod, da sie ihn nicht besser bewacht hätten, und errichteten ihm einen Scheiterhaufen, an dem sich einige von ihnen selbst töteten. Die Männer waren, so der griechische Biograph, von einem nicht zu zügelnden Verlangen getrieben, ihrem Feldherrn und Kaiser zu dienen; sogar als er tot war, ließ es nicht nach, sondern schürte nur ihren Hass gegen die Feinde.263
taretur caput ludibrio futurum. tulere corpus praetoriae cohortes cum laudibus et lacrimis, vulnus manusque eius exosculantes. quidam militum iuxta rogum interfecere se, non noxa neque ob metum, sed aemulatione decoris et caritate principis. ac postea promisce Bedriaci, Placentiae aliisque in castris celebratum id genus mortis. Zur zentralen Bedeutung von Ruhm (gloria) im Werk des Tacitus auch mit Verweis auf Otho und seine Soldaten vgl. Swoboda (2014), S. 287–290. 261 Plut. Otho 15, 1–3: Τῷ δὲ Ὄθωνι πρῶτον μὲν ἀσαφής, ὥσπερ εἴωθε περὶ τῶν τηλικούτων, προσέπεσε λόγος· ἐπεὶ δὲ καὶ τετρωμένοι τινὲς ἧκον ἐκ τῆς μάχης ἀπαγγέλλοντες, τοὺς μὲν φίλους ἧττον ἄν τις ἐθαύμασεν οὐκ ἐῶντας ἀπαγορεύειν, ἀλλὰ θαρρεῖν παρακελευομένους, τὸ δὲ τῶν στρατιωτῶν πάθος ἅπασαν ὑπερέβαλε πίστιν, ὡς οὐδε ἀπῆλθεν οὐδὲ μετέστη πρὸς τοὺς κρατοῦντας, οὐδ᾽ ὤφθη τὸ καθ᾽ αὑτὸν ζητῶν ἀπεγνωσμένου τοῦ ἡγεμόνος, πάντες δ᾽ ὁμαλῶς ἐπὶ θύρας ἦλθον, ἐκάλουν αὐτοκράτορα, προελθόντος ἐγίνοντο τρόπαιοι μετὰ πολλῆς ἱκεσίας, χειρῶν ἥπτοντο, προσέπιπτον, ἐδάκρυον, ἐδέοντο μὴ σφᾶς ἐγκαταλιπεῖν μη προδοῦναι τοῖς πολεμίοις, ἀλλὰ χρῆσθαι μέχρι ἂν ἐμπνέωσι καὶ ψυχαῖς καὶ σώμασιν ὑπὲρ αὑτοῦ. ταῦθ᾿ ὁμοῦ πάντες ἱκέτευον· εἷς δὲ τῶν ἀφανεστέρων ἀνατείνας τὸ ξίφος καὶ εἰπών, „ἴσθι Καῖσαρ οὕτως ὑπὲρ σοῦ παρατεταγμένους ἅπαντας“, ἀπέσφαξεν ἑαυτόν. 262 Plut. Otho 15 f. 263 Plut. Otho 17, 6–12: Ἀραμένων δὲ τῶν παίδων οἰμωγὴν, εὐθὺς ἅπαν τὸ στρατόπεδον καὶ τὴν πόλιν ἐπεῖχε κλαυθμός· καὶ οἱ στρατιῶται μετὰ βοῆς εἰσέπεσον ἐπὶ τὰς θύρας καὶ ὠλοφύροντο, περιπαθοῦντες καὶ λοιδοροῦντες ἑαυτοὺς, μὴ φυλάξαντας τὸν αὐτοκράτορα μηδὲ κωλύσαντας ἀποθανεῖν ὑπὲρ αὐτῶν. ἀπέστη δ᾿ οὐδεὶς, τῶν καθ᾿ ἑαυτόν, ἐγγὺς ὄντων τῶν πολεμίων, ἀλλὰ κοσμήσαντες τὸ σῶμα καὶ πυρὰν κατασκευάσαντες, ἐξεκόμιζον ἐν τοῖς ὅπλοις οἱ φθάσαντες ὑποδῦναι καὶ βαστάσαι τὸ λέχος ἐπιγαυρούμενοι. τῶν δ᾿ ἄλλων οἱ μὲν τὸ τραῦμα τοῦ νεκροῦ κατεφίλουν προσπίπτοντες, οἱ δ᾽ ἥπτοντο τῶν χειρῶν, οἱ δὲ προσεκύνουν πόρρωθεν. ἔνιοι δὲ τῇ πυρᾷ λαμπάδας ὑφέντες, ἑαυτοὺς ἀπέσφαξαν, οὐδὲν ἐκδήλως οὔτε πεπονθότες χρηστὸν ὑπὸ τοῦ τεθνηκότος, οὔτε πείσεσθαι δεινὸν ὑπὸ τοῦ κρατοῦντος δεδιότες. ἀλλ᾽ ἔοικε μηδενὶ τῶν πώποτε τυράννων ἢ βασιλέων δεινὸς οὕτως ἔρως ἐγγενέσθαι καὶ περιμανὴς τοῦ ἄρχειν, ὡς ἐκεῖνοι τοῦ ἄρχεσθαι καὶ ὑπακούειν Ὄθωνος ἠράσθησαν· οὕς γε μηδ᾽ ἀποθανόντος ὁ πόθος προὔλιπεν, ἀλλὰ παρέμεινεν εἰς ἀνήκεστον ἔχθος Οὐιτελλίῳ τελευτήσας.
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In der Darstellung Suetons steht die unzerrüttbare Treue der Soldaten, aber in gleichem Maße auch das Leid eines Bürgerkriegs ganz zu Beginn der Episode im Vordergrund: Der Bote, der die Nachricht von der Niederlage überbrachte, tötete sich angesichts des Inhalts seiner Mitteilung selbst, was von dem Biographen als Schlüsselerlebnis für Otho dargestellt wird, den Bürgerkrieg zu beenden.264 Der Kaiser habe seinem nächsten Umfeld nahegelegt, sich zu retten, und weitere vorbereitende Maßnahmen für seinen Tod getroffen; am darauf folgenden Morgen habe er sich mit einem Dolch das Leben genommen.265 Viele der anwesenden Soldaten hätten unter Tränenströmen Hände und Füße des tot Darniederliegenden geküsst (cum plurimo fletu manus ac pedes iacentis exosculati), und einige hätten sich bei seinem Scheiterhaufen selbst getötet – zu Lebzeiten erschien er zwar den wenigsten lobenswert, wie Sueton in Kapitel 12, 1 beschreibt, doch sein Tod rief Erstaunen hervor, und das Lob auf ihn gipfelte sogar in dem Gerücht, er habe Galba nur deswegen umgebracht, um die republikanische Freiheit wiederherzustellen.266 Cassius Dio bietet eine ganz ähnliche Schilderung der Ereignisse; er berichtet zunächst ebenfalls, wie sich der Bote umbringt, der die Nachricht von der Niederlage überbringt. Die Kampfbereitschaft der Soldaten war dem Historiographen zufolge trotz des Misserfolgs gestärkt, denn sie liebten ihren Feldherrn und Kaiser nicht nur vordergründig, sondern hatten diese treue Gesinnung auch verinnerlicht (ἐφίλουν τε τὸν Ὄθωνα καὶ πᾶσαν αὐτῷ εὔνοιαν οὐκ ἀπὸ τῆς γλώττης μόνον ἀλλὰ καὶ ἀπὸ τῆς ψυχῆς εἶχον).267 In einer Rede verdeutlichte Otho seine Abscheu vor dem Bürgerkrieg und ließ keinen Zweifel daran, dass ein Überlaufen seines Heeres zu Vitellius für ihn keinen Treuebruch darstellen werde; vielmehr sah er seine Verpflichtung als militärischer Anführer darin, selbst in den Tod zu gehen, um die ihm Untergebenen zu retten.268 Die Soldaten bewunderten ihn dafür nur umso mehr und waren von Mitleid erfüllt, so dass sie ihrerseits die Bereitschaft bekundeten, für ihn zu sterben und ihn als Vater bezeichneten, der ihnen wichtiger als die eigenen Kin264 Sueton führt Otho 10, 1 an, dass sein Vater an dem besagten Krieg teilgenommen und oft von der generellen Abscheu Othos vor Bürgerkriegen erzählt habe – dieser sei durch das Beispiel des Soldaten, dem man die Kunde über die Niederlage zunächst nicht glaubte und der sich daraufhin ins Schwert stürzte, zu der Erkenntnis gelangt, dass solche Männer nicht länger in Lebensgefahr schweben dürften (tunc ac despiciendam vitam exemplo manipularis militis concitatum (Othonem sc.), qui cum cladem exercitus nuntiaret nec cuiquam fidem faceret ac nunc mendaci nunc timoris, quasi fugisset, ex acie argueretur, gladio ante pedes eius incubuerit. Hoc viso proclamasse cum aiebat, non amplius se in periculum talis tamque bene meritos coniecturum). 265 Suet. Otho 10, 2–11, 2; eine Rede vor den Soldaten erwähnt Sueton nicht, allerdings stand ihm zufolge der Kaiser einem jeden mit seinem Anliegen die ganze Nacht hindurch zur Verfügung. 266 Suet. Otho 12, 2: Per quae factum putem, ut mors eius minime congruens vitae maiore miraculo fuerit. Multi praesentium militum cum plurimo fleto manus ac pedes iacentis exosculati, fortissimum virum, unicum imperatorem praedicantes, ibidem statim nec procul a rogo vim suae vitae attulerunt; multi et absentium accepto nuntio prae dolore armis inter se ad internecionem concurrerunt. Denique magna pars hominum incolumem gravissime detestata mortuum laudibus tulit, ut vulgo iactatum sit etiam, Galbam ab eo non tam dominandi quam rei p. ac libertatis restituendae causa interemptum. 267 Cass. Dio 63 (64), 11 f. 268 Cass. Dio 63 (64), 13.
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der und Eltern sei. Ihre Bestürzung drückte sich in Tränenströmen und Wehklagen (καὶ δάκρυσί τε ἔκλαιον καὶ ἐθρήνουν) aus,269 so dass kein Mittel fehlte, um ihn ihrer Treue und Hochschätzung zu versichern. Soldaten und Kaiser lieferten sich den ganzen Tag über Auseinandersetzungen, bis Otho dann auf den Legionär verwies, der sich lediglich deswegen umgebracht habe, weil er die Nachricht von der Niederlage überbringen musste, und die ihm unterstellten Soldaten aufforderte, ihn nach eigenem Wunsch sterben zu lassen. Nach seinem Tod durch den Dolch wurde er auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und einige Soldaten töteten sich vor seinem Grab. Cassius Dio schließt mit dem Hinweis, das ehrenhafte Handeln des Kaisers am Ende seiner Herrschaft habe im Kontrast zu seinem Leben und Amtsantritt gestanden.270 Die Schilderungen des Tacitus, Plutarch, Sueton und Cassius Dio sind Belege dafür, wie dramatisch der Ausdruck soldatischer Treue sich gestalten konnte.271 Mit ihrem Weinen und ähnlich intensiven Gebärden sowie mit ihrer Rede signalisierten die Soldaten, so ließ sich anhand der hier aufgeführten Textstellen zeigen, dass sie bis zum äußersten für ihren Feldherrn einstehen würden. Tränen und weitere nonverbale wie verbale Ausdrucksformen waren ein Modus der Verständigung, der die praktische Umsetzung des Treueverhältnisses dokumentiert, und der mitunter sehr persönliche Charakter dieser nahen Bindung findet somit auch in der historiographischen Literatur Erwähnung. Die Loyalität der Soldaten gründete sich auf die Erfüllung von Erwartungen, die sie ihrem Feldherrn entgegengebracht hatten und um die er wusste. Die Struktur ihrer Kommunikation entsprach Normen, über deren Gültigkeit innerhalb der betreffenden emotionalen Gemeinschaft (die sich aus Soldaten und Kommandoinhaber zusammensetzte) ein Konsens bestand. Dabei tritt das hierarchische Gefälle im Hinblick auf seine semiotische Bedeutung hinter das wechselseitig loyale Bindungsverhältnis zurück.272
269 Cass. Dio 63 (64), 14, 1: Οἱ δὲ δὴ στρατιῶται, ἐξ ὧν ἤκουον, καὶ ἐθαύμαζον ἅμα καὶ ἠλέουν εἴ τι πείσοιτο, καὶ δάκρυσί τε ἔκλαιον καὶ ἐθρήνουν, πατέρα τε ἀνακαλοῦντες καὶ παίδων καὶ γονέων φίλτερον ὀνομάζοντες. „ἐν σοί“ τε „καὶ ἡμεῖς σωζόμεθα“ ἔλεγον, „καὶ ὑπὲρ σοῦ πάντες ἀποθανούμεθα“. 270 Cass. Dio 63 (64), 14 f.; das prägnante Urteil des Verfassers im letzten Satz von Kapitel 15 lautet: Κάκιστα γὰρ ἀνθρώπων ζήσας κάλλιστα ἀπέθανε, καὶ κακουργότατα τὴν ἀρχὴν ἁρπάσας ἄριστα αὐτῆς ἀπηλλάγη. 271 Zur Bekundung der Loyalität dem Kaiser gegenüber durch Tränen auch nach dessen Tod vgl. II. 4.1.2.3. 272 Die Distanz, die zwischen dem Feldherrn und den aus sozial weitaus weniger angesehenen Gesellschaftsschichten stammenden Soldaten bestand, wurde von vielen militärischen Befehlshabern dadurch behoben, dass sie sich symbolisch als einer von ihnen präsentierten. Dies geschah oftmals, indem sie die physischen Strapazen des Soldatenlebens teilten und dadurch ihre Anerkennung der Leistungen derer signalisierten, die ihnen unterstellt waren. Diese „soziale Mimesis“ kam einer Erwartungshaltung der Soldaten entgegen, schuf damit eine tatsächliche Nähe zwischen ihnen und ihrem Vorgesetzten und führte dazu, dass eine emotional geprägte Bindung entstehen konnte, die den wesentlichen Motivationsfaktor im Handeln der einzelnen Truppenmitglieder darstellte; vgl. dazu Flaig (1993a), S. 212 f.
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2.2.3 Weinen im Krieg Der folgende Abschnitt unterscheidet sich von den vorangehenden beiden dahingehend, dass er nicht notwendigerweise von Soldaten handelt, die vor ihrem Kommandanten weinen: Die kommunikative Bedeutung ihrer Tränen rührt nicht in erster Linie daher, dass sie an ein spezifisches Gegenüber gerichtet sind, sondern sie resultiert daraus, dass das Weinen Ausdruck einer emotionalen Befindlichkeit in Grenzsituationen ist, mit denen Soldaten im Krieg zwangsläufig konfrontiert waren. Beispielsweise verursachte der Überraschungseffekt eines gallischen Angriffs auf Soldaten Caesars, die sich gerade auf dem Marsch befanden, unter diesen eine große Unordnung, so dass sie clamore et fletu versuchten, ihr Gepäck zu retten, wie im Bellum Gallicum berichtet wird.273 Tränen in den römischen Bürgerkriegen werden an zahlreichen Stellen beschrieben. Die Soldaten des Pompeius ergaben sich, so berichtet Caesar, in der Schlacht bei Pharsalos weinend den Caesarianern,274 Lukan zufolge verbrüderten sich unter Tränen die Caesarianer und Pompeianer in Spanien und wurden dann doch zum Kampf gezwungen,275 ebenfalls Lukan beschreibt, wie die Soldaten Caesars ihn mit Klagen und Vorwürfen überhäuften (turba suorum flevit gemitusque et querellas ingessit), als er von Dyrrhachium aus nach Brundisium zu fahren versucht hatte, um von dort die restlichen Truppen überzusetzen, und dies misslungen war.276 Cassius Dio wiederum schildert, dass unmittelbar nachdem Trompeter im Heer Caesars sowie des Pompeius den Beginn der Schlacht bei Pharsalos kundgetan hatten, Tränen und Jammern im Lager beider Parteien zu beobachten war (ἐς δάκρυα καὶ θρῆνον ἔπεσον), bis schließlich doch der Kampf begann.277 Siegreiche und besiegte Soldaten vergossen, so Tacitus, gemeinsam Tränen nach der ersten Schlacht von Bedriacum, und als Vitellius vierzig Tage später den Ort des Geschehens besichtigte, brachen zumindest einige der ihn begleitenden Soldaten über die Wechselfälle des Schicksals in Tränen aus und zeigten Mitleid mit den gefallenen Mitbürgern (erant quos varia sors rerum lacrimaeque et misericordia subiret).278 Die besiegten Soldaten des Vitellius wiederum hätten aus Furcht vor den Siegern geweint und seien von dem römischen Heerführer Mucianus Licinius wieder beruhigt worden.279 Auch in anderen Gefechtssituationen wurde geweint, etwa – laut Appian – als Lucius Antonius Anfang 40 v. Chr. bei Perusia von Oktavian zur Kapitulation ge273 274 275 276
Caes. bell. Gall. 5, 33, 6; vgl. dazu auch II. 1.6. Caes. bell. civ. 3, 98, 1 f.; vgl. II. 1.6. Lucan. 4, 169–236. Lucan. 5, 680 f. – Das Gegenbild zum vorzeitigen Lebensende im Kampf entwirft der Dichter selbst und lässt es die Soldaten äußern, die Kritik an Caesar üben und ihm vor Augen führen, dass sie im Schoß einer weinenden Gattin an Krankheit und nicht auf dem Schlachtfeld durch das Schwert sterben wollen, vgl. Lucan. 5, 278–283 (einen Gegenentwurf bietet auch Tacitus‘ Schilderung vom Tod des Agricola im Beisein seiner Gattin, vgl. dazu II. 4.1.2.2). Die Friedenssehnsucht, die darin zum Ausdruck kommt, erinnert stark an die Gedichte Tibulls, in denen ebenfalls die ländliche Idylle einen Gegenentwurf zu den Strapazen und Gefahren des Krieges bildet. 277 Cass. Dio 41, 58, 2 f. 278 Tac. hist. 2, 45, 3 f. und 2, 70, 3. 279 Tac. hist. 4, 46, 3.
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zwungen wurde – die Soldaten des Triumvirn setzten sich bei ihrem Feldherrn für die im Heer des Lucius kämpfenden Kameraden ein, umarmten diese und weinten mit ihnen.280 Von Petilius Cerialis, der von Vespasian zur Niederschlagung des Bataveraufstandes 70 n. Chr. nach Germanien geschickt worden war, schreibt Tacitus, er habe besonnen gehandelt und in Trier einen Heeresteil wieder aufgenommen, der sich zuvor unangemessen verhalten hatte und nun beschämt mit Tränen um eine gnädige Behandlung bat;281 Solidarität mit anderen römischen Truppen hätten wiederum die Soldaten des Gnaeus Domitius Corbulo durch ihre Tränen angezeigt.282 Das Heer des Marcus Antonius, berichtet Plutarch in dessen Lebensbeschreibung, weinte auf dem Rückmarsch vom erfolglosen Partherfeldzug 36 v. Chr. voller Erleichterung und Freude, als es den Grenzfluss zum verbündeten Armenien überquert hatte.283 Das kollektive Handeln der Soldaten versinnbildlicht die extreme Gefühlslage, die in Kriegssituationen in der Regel allumfassend herrschte. Dass Kriege auf menschlicher wie wirtschaftlicher Ebene negative Auswirkungen hatten, lässt sich kaum leugnen; bei den Bürgerkriegen, die Rom unter Caesar, Oktavian und im Vierkaiserjahr zu ertragen hatte, handelte es sich jedoch um (so der einhellige Konsens) unbedingt abzulehnende militärische Auseinandersetzungen, da Römer gegen Römer kämpften und diese Tatsache allein die Absurdität der Geschehnisse aufzeigt. Gerade bei Tacitus und Lukan, aber auch vereinzelt bei anderen Autoren, erfüllt die Schilderung von Tränen die wesentliche erzählerische Funktion, auf das mit dem Krieg verbundene Leid aufmerksam zu machen und es dem Leser näherzubringen. Nicht nur im homogenen Verhalten der Truppen oder großer Teile von ihnen, sondern sogar noch deutlicher im Handeln einzelner kommt die Pervertierung der gesellschaftlich tradierten Normen zum Ausdruck und wird auf ein Höchstmaß gesteigert: In der zweiten Schlacht von Bedriacum tötete, so ist in den taciteischen Historiae zu lesen, ein Sohn seinen Vater, der im gegnerischen Heer kämpfte, und als er ihn erkannte, flehte er flebili voce die väterlichen Manen an;284 Orosius formuliert mit Bedacht, wie sich ein Soldat, der im Bürgerkrieg gegen Marius und Cinna unwissentlich seinen Bruder getötet hatte, am folgenden Tag über dessen Leichnam ins Schwert stürzte, wobei ihm Tränen und zugleich Blut entströmten (simulque lacrimas et sanguinem fundens).285 Neben dem Weinen der eigenen Soldaten findet auch das der gegnerischen ab und an Erwähnung: Das Wehgeschrei der Ambronen und anderer Stämme ertönte Plutarch zufolge nach der Schlacht bei Aquae Sextiae 102 v. Chr. nachts aus ihrem Lager – es habe sich dabei aber weniger um ein Weinen und Stöhnen (οὐ κλαυθμοὶ οὐδὲ στεναγμοί) gehandelt, vielmehr sei es von den Römern als Schauder hervorrufende Geräuschkulisse (φρικώδης ἦχος) wahrgenommen worden;286 Tränen und Wehkla280 281 282 283 284 285 286
App. civ. 5, 46. Tac. hist. 4, 72, 3. Tac. ann. 15, 16, 4; vgl. auch II. 1.6. Plut. Ant. 49, 5; vgl. dazu auch II. 1.6. Tac. hist. 3, 25, 2. Oros. hist. 5, 19, 12 f. Plut. Mar. 20, 2 f.
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gen (lacrimae et lamenta) herrschten, so Ammianus Marcellinus, bei den von den Römern 358 besiegten Juthungen, als sie in ihre Heimat zurückkehrten.287 Der aus Antiochia stammende Historiograph erwähnt zudem Tränen im Kampf auf Seiten der Virten und Perser,288 einige hochrangige Alamannen, die um das Schicksal ihrer Söhne weinten,289 und das Jammern und Weinen barbarischer Gefangener.290 In den behandelten Beispielen von Tränen der Soldaten im Krieg werden diese also meist als einheitliche Gruppe angeführt, deren Verhalten zwar eine Form von Kommunikation darstellt, aber nicht primär auf einen Kommunikationspartner hin ausgerichtet ist. Das Kampfgeschehen führte auf menschlicher Ebene zu extremen Belastungen, von der die emotionale Gemeinschaft der Kämpfer in ihrer Gesamtheit betroffen war und auf die ihre Mitglieder in der Regel ähnlich reagierten. 2.3 Weinende Senatoren Für den Senatorenstand, die für das politische Geschehen relevante Gruppierung des römischen Adels, ist eine konstante Homogenität vorauszusetzen, insofern man seinen Habitus und seine soziokulturelle Verortung innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges in den Blick nimmt.291 Trotz der in der Kaiserzeit zunehmenden Konkurrenz untereinander292 lässt das in den Quellen festgehaltene öffentliche Handeln der Senatoren in der Regel ein geschlossenes Auftreten erkennen. Von Tränen seitens ihres Gremiums wird nur selten berichtet; an ihrer gelegentlichen Erwähnung lässt sich jedoch ablesen, dass auch der Senat über ein Instrumentarium nonverbalen Agierens verfügte und dieses zum Einsatz brachte, wenn es erforderlich war. Die Verunsicherung der an der Spitze der Gesellschaft stehenden Männer Roms nach dem Tod des ersten Princeps zeigte sich Tacitus zufolge an ihrem Verhalten gegenüber seinem Nachfolger. Konsuln, Senatoren und Ritter betonten nicht etwa ihre Handlungsspielräume, sondern begaben sich freiwillig in Knechtschaft; ihre Eigenständigkeit auf politischer Ebene war – so legt es zumindest die Darstellung in den Annalen nahe – bereits während der Herrschaft des Augustus zugunsten des servitium abhanden gekommen.293 Eine hohe gesellschaftliche Stellung trieb die Einzelnen umso mehr an, eilig zu handeln (festinantes) und sich dabei zu verstellen (falsi); sie mischten Tränen mit Freude, Klagen mit Schmeichelei (lacrimas gaudium, questus adulatione miscebant) und gaben somit kein eindeutiges Signal, 287 288 289 290
Amm. 17, 6, 2. Amm. 19, 5, 8 und 19, 6, 13. Amm. 28, 2, 8. Amm. 29, 5, 12. – Noch mehr Beispiele lassen sich anführen, wenn man das Wortfeld „Weinen“ erweitert: Die Sarmaten etwa beklagten (deplorantes), nachdem sie in das Römische Reich aufgenommen worden waren, ihr Schicksal (Amm. 17, 12, 19), und die Britannier schleppten unter Wehklagen (ploratu) von Männern und Frauen Verwundete weg (Tac. Agr. 38, 1). 291 Auf die politische Aktivität innerhalb des Senatorenstandes sowie dessen Habitus und Interaktion mit dem Kaiser geht Flaig (1992), S. 94–131 ein, vgl. besonders S. 95–100. 292 Vgl. Flaig (1992), S. 107–117. 293 Vgl. Koestermann (1963), S. 85.
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obwohl sie performative Aktionsformen wählten, die für sich genommen Träger einer emotionalen Botschaft sind. An ihrem Gesichtsausdruck ließ sich nicht ablesen, welche Position sie genau bezogen, vielmehr ist ihre bewusste Gestaltung des Mienenspiels als Zeichen der Verstellung zu deuten (vultu composito). Die Reaktion der Mächtigen, so wird dem Leser durch die Wortwahl des Geschichtsschreibers vermittelt, war wohlüberlegt und entsprach der vorliegenden Situation. In der Phase des bevorstehenden Amtsantritts des Tiberius herrschte Unsicherheit, wie man ihm begegnen solle, und weder konnten sich die consules patres eques als froh über den Tod des Princeps (laeti excessu principis) noch als zu traurig am Beginn der Herrschaft seines Nachfolgers (tristior primordio) präsentieren – und zwar unabhängig von ihrer tatsächlichen Gefühlslage.294 Die Entscheidung für einen Mittelweg gestaltete sich als schwierig und führte zu einem Wechsel zwischen den Extremen (Tränen und Freude, Klagen und Schmeichelei), doch die nach außen hin kommunizierten Emotionen spiegelten nicht die inneren Befindlichkeiten wider, denn der mit ihnen einhergehende Gesichtsausdruck war gekünstelt. Daher ist das hier geschilderte Verhalten als Hinweis auf das Vorherrschen der dissimulatio zu deuten, die unter Tiberius in den Vordergrund trat und die vor allem der Kaiser selbst ausgiebig praktizierte.295 Auch in Tacitus‘ Darstellung des darauf folgenden Zeitraums werden Tränen der Senatoren erwähnt: Sie weinten in der zweiten Senatssitzung nach dem Tod des Augustus im Rahmen der Herrschaftsübernahme des Tiberius (ann. 1, 11, 3) und nach dem Tod Drusus‘ des Jüngeren einige Jahre später (ann. 4, 8, 2).296 Tränen um den verstorbenen Mark Aurel in der Kurie und bei der Bestattung des Pertinax seitens der Senatoren werden ebenfalls deswegen in einen historiographischen Bericht eingebunden, weil ihr Verhalten innerhalb eines öffentlichen Rahmens eine starke Signalwirkung für den Leser besaß.297 294 Tac. ann. 1, 7, 1: At Romae ruere in servitium consules patres eques. quanto quis inlustrior, tanto magis falsi ac festinantes vultuque composito, ne laeti excessu principis neu tristior primordio, lacrimas gaudium, questus adulatione miscebant. 295 Nicht nur die Konsuln erwiesen in geradezu vorauseilendem Gehorsam dem neuen Herrscher ihre Huldigung, indem sie ihren Eid auf ihn ablegten, sondern auch stadtrömische Präfekten und gleich nach ihnen Senat, Soldaten und Volk, Tac. ann. 1, 7, 2: SEX. POMPEIUS et SEX. AP
ULEIUS consules primi in verba Tiberii Caesaris iuravere, apudque eos Seius Strabo et C. Turranius, ille praetoriarum cohortium praefectus, hic annonae; mox senatus milesque et populus. – Zur dissimulatio als bestimmendes Element der Herrschaft des Tiberius vgl. Corbeill (2004), S. 159 (mit weiteren Hinweisen auf die Bedeutung des vultus bei Tacitus) und 164 f. (zur vorliegenden Stelle); zur simulatio und dissimulatio im Werk des Tacitus liefert Strocchio (2001) eine ausführliche Untersuchung (auf Tiberius wird auf S. 33–77 eingegangen). Auf das Bedürfnis, dass der Kaiser seine innere Einstellung, die sich am Gemeinwohl orientierte, in seinem Verhalten nach außen hin erkennen lassen solle, verweist auch das Senatus consultum zum Pisoprozess, Zeile 130–133: debere eum (Tiberium sc.) finire dolorem ac restituere patriae suae non tantum animum, sed etiam voltum, qui publicae felicitati conveniret; vgl. dazu die Bemerkungen von Eck/Caballos/Fernándes (1996), S. 240. 296 Vgl. auch II. 1.3.1, ; zu den Tränen der Senatoren im Rahmen der recusatio imperii siehe unten II. 2.4. 297 Vgl. Aur. Vict. epit. Caes. 16, 13 und Cass. Dio 75, 5, 2; zu beiden Beispielen vgl. genauer II. 4.1.2.3.
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Nicht in Rom, sondern in Utica weinte Cato der Jüngere im Frühjahr 46 v. Chr. vor einer Abteilung römischer Reiter, und ebenso weinten die Senatoren, um Schutz für sich zu erbitten, so schreibt Plutarch.298 Als Caesar sich im Anmarsch auf Rom befand, verließen die Senatoren schließlich am 18. 1. 49 v. Chr. die Stadt, und Cassius Dio merkt an, dass bei vielen von ihnen Tränen den Abschied begleiteten.299 Einige der erwähnten Beispiele werden an anderen Stellen noch ausführlicher behandelt; allein an der hier gebotenen Zusammenstellung zeigt sich jedoch, dass die Senatoren, ähnlich wie die Soldaten, als in wesentlichen Belangen oft übereinstimmend handelnde Gruppe verstanden werden. Ihr politisches Auftreten enthielt oftmals eine emotionale Komponente, die besonders Tacitus stark betont, wie auch an einer der nachfolgend zu besprechenden Stellen deutlich wird. 2.4 Weinende Kaiser und weinende Senatoren beim Machtverzicht Der römische Senat war zwar nicht ermächtigt, den Kaiser zu wählen, allerdings war sein Einfluss auf dessen Einsetzung im Amt in den allermeisten Fällen erheblich.300 Um seine künftige Position auf eine sichere Grundlage zu stellen, war es für den angehenden Herrscher im Moment seiner Machtübernahme unerlässlich, den Ehrenstatus des Senats zu bestätigen. Gerade weil den Tatsachen nach keine politische Gleichheit zwischen ihm und dem seine Stellung bestätigenden Gremium bestand, war der neue Kaiser bestrebt, durch unterschiedliche kommunikative Maßnahmen ein Näheverhältnis herzustellen, und dies geschah besonders durch das Ritual der recusatio imperii.301 Vor allem der Senat und das Heer, aber auch die Bevölkerung Roms spielten für das Akzeptanzsystem, das die Konstituierung und dann die Stabilität einer Herrschaft im Prinzipat bedingte, eine wesentliche Rolle; sie werden gemeinhin als die drei den Kaiser faktisch legitimierenden Instanzen angesehen.302 Daher besaß ihre Reaktion auf eine Amtsablehnung eine richtungsweisende Bedeutung für den Prozess der Herrschaftsübernahme – ihre Bestrebungen, den zum höchsten Machthaber Auserkorenen dennoch zu einer Annahme zu bewegen, sind wesentlicher Bestandteil der Schilderungen derartiger Vorgänge in den Quellen. Der Prozess von der Bekundung des Machtverzichts hin zu einer Zustimmung der Übernahme folgte
298 299 300 301
Plut. Cato min. 62 f. Cass. Dio 41, 9, 5; vgl. ausführlicher II. 4.3. Vgl. Flaig (1992), S. 126. Vgl. Seelentag (2004), S. 23. Zur recusatio imperii als Ritual vgl. die Bemerkungen in II. 4.5. Die Kleinschreibung und Kursivsetzung des Terminus wurde hier zur besseren Handhabung gewählt, obwohl sie so nicht in den Quellen zu finden ist. 302 Zum Akzeptanzsystem vgl. Flaig (1992), S. 174–207 und Seelentag (2004), S. 17–29. Den Kaiser in seinem Verhältnis zu Volk, Senat und Heer behandelt Flaig (1992), S. 38–173 grundlegend und facettenreich; die wesentliche Bedeutung des Heeres für das römische Kaisertum in der Spätantike kommt in den ausführlichen Darlegungen bei Straub (1964), S. 7–75 zum Ausdruck.
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festgelegten Formen;303 Tränen mussten nicht, konnten aber in diesem Zusammenhang vergossen werden und sind sicherlich als ein Indikator für die hohe Intensität des Kommunikationsvorgangs zu deuten. In vergleichbarer Weise gestaltete sich der angedrohte und (im Falle Diokletians) tatsächliche Machtverzicht bereits im Amt befindlicher Herrscher. 2.4.1 Tränen bei der Ablehnung von Ehrungen und Macht Die Kaiserherrschaft wurde, wie es bei hohen politischen Ehrungen der Fall war, von denen, die sie angetragen bekamen, regelmäßig abgelehnt. In den Tränen, die den historiographischen Quellen zufolge dabei vergossen wurden, wird die Bereitschaft offensichtlich, die eigene Person nicht uneingeschränkt über andere zu stellen. Auch in dieser Situation ist der antike Herrscher Zwängen oder zumindest Reglementierungen unterworfen, die sein Handeln erklärbar machen, selbst wenn ein jeweils unterschiedlich hohes Maß an politischem Kalkül sich als zusätzliche Erklärung für sein Vorgehen bietet. 2.4.1.1 Die Annahme des Titels pater patriae durch Augustus Dass Augustus sich bei der Annahme des pater patriae-Titels zunächst zögerlich gab und ihn schließlich unter Tränen annahm, wurde bereits erwähnt.304 Die bei Sueton geschilderte Passage soll nun noch einmal genauer betrachtet werden, der Fokus dabei aber vor allem auf den Mechanismen liegen, die in der Kommunikation zwischen Senat und Princeps wirksam waren, und weiterhin auf der kontextuellen Einbettung bei Sueton. Zwar handelt es sich in diesem Falle nicht um eine recusatio imperii, doch lässt sich die anfängliche Ablehnung und schließliche Annahme eines Ehrentitels, die recusatio honorum, gewissermaßen als deren Vorstufe auffassen.305 Das Weinen des Augustus bei jenem öffentlichen Auftreten vor dem Senat, bei dem ihm am 15. Februar des Jahres 2 v. Chr. der Titel pater patriae verliehen wurde, beschreibt Sueton in Kapitel 58 der Augustus-Vita; dieses steht innerhalb einer größeren Rubrik, die die Kapitel 51 bis 65 umfasst und die clementia und civilitas des
303 Die eminente Bedeutung eines solchen Rahmens fasst Flaig (1992), S. 197 präzise zusammen: „Gerade weil man nicht ‚wählte‘ und abstimmte, sondern zustimmte, bedurfte die Erhebung des Kaisers zeremonieller Akte mit symbolischer Prägnanz.“ 304 Vgl. II. 1.3.1. 305 Als Beispiel einer recusatio honorum, bei der Tränen vergossen werden, kann App. civ. 1, 65 f. herangezogen werden: Als der Senat 87 v. Chr. Lucius Cornelius Cinna das Konsulat entzog und dieser bis nach Capua vorrückte, versuchte er die Offiziere der dort stationierten Armee sowie die anwesenden Senatoren für sich zu gewinnen, indem er in einer Versammlung die fasces niederlegte und unter Tränen zu ihnen sprach, seine Kleider zerriss und sich vor den Anwesenden auf den Boden warf. Seine emotional aufgeladene Darbietung führt dazu, dass sie ihn überwältigt aufhoben und wieder in die sella curulis einsetzten. Appian erwähnt dabei ausdrücklich die Absicht des Cinna: Er wollte seine Zuschauer mit seiner Rede anstacheln (ταῦτ᾽ εἰπὼν ἐς ἐρέθισμα), was allerdings ebenso für sein Verhalten zu gelten hat.
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Kaisers behandelt.306 Nachdem Beispiele für die Milde und Bürgernähe des Kaisers gegeben worden sind, geht der Biograph nach Kapitel 56 dazu über, die Anerkennung dieser Eigenschaften seitens des Volkes zu schildern (Kapitel 57 bis 60).307 Auch wenn man von den Senatsbeschlüssen absieht, lassen sich nach Sueton einige Dankesbezeugungen festmachen, die das Volk ihm von sich aus erwies. So feierten die römischen Ritter seinen Geburtstag, alle Stände warfen gemäß einem Gelübde einen Geldbetrag in den lacus Curtius und brachten dem Princeps Neujahrsgeschenke dar. Nach dem Brand seines Hauses auf dem Palatin beteiligten sich zahlreiche Bürger finanziell am Wiederaufbau, und außerdem wurde er, wenn er auf Reisen gewesen war, bei seiner Rückkehr nach Rom ehrenvoll empfangen.308 Dass ihm der Beiname „Vater des Vaterlandes“ ausschließlich auf das Betreiben von Volk und Senat (uniuersi) verliehen wird, und zwar „in spontaner und höchster Übereinstimmung“ (repentino maximoque consensu), kann dem Leser dann nur folgerichtig erscheinen. Auf die erste Maßnahme des Volkes (eine Gesandtschaft wird nach Antium geschickt) reagiert der Princeps jedoch noch mit Ablehnung (non recipiebat). Dem zweiten Versuch kann er sich dagegen bereits weniger wirksam entziehen, da die Bürger, in Massen anwesend und mit Lorbeer bekränzt, ihm beim Betreten des Theaters den Titel antragen. Kurz darauf zeigt der Senat, dass er dieses Ansinnen teilt und gibt seine Absicht nicht durch Dekret oder Akklamation (neque decreto neque adclamatione) bekannt, sondern lässt den Valerius Messalla die Entscheidung verkünden.309 Von diesem wird Augustus feierlich begrüßt: quod bonum (…) faustumque sit tibi domuique tuae, Caesar Auguste! sic enim nos perpetuam felicitatem rei p. et 306 Vgl. Suet. Aug. 51, 1: Clementiae ciuilitatisque eius multa et magna documenta sunt. Hanslik (1954), S. 135 setzt die Rubrik in den weiter gefassten Betrachtungsrahmen „Augustus in seinem Verhalten als erster Diener des Staates“, der mit dem Kapitel 65 beschlossen wird; ab Kapitel 66 werden die Freundschaften des Kaisers betrachtet, und auch dort spielen clementia und civilitas eine große Rolle. 307 Suet. Aug. 57, 1: Pro quibus meritis quanto opere dilectus sit, facile est aestimare; vgl. auch Carter (1982), S. 178. 308 Suet. Aug. 57, 1 f.: Omitto senatus consulta, quia possunt uideri uel necessitate expressa uel uerecundia. equites R. natalem eius sponte atque consensu biduo semper celebrarunt. omnes ordines in lacum Curti quotannis ex uoto pro salute eius stipem iaciebant, item Kal. Ian. stren[u]am in Capitolio etiam absenti, ex qua summa pretiosissima deorum simulacra mercatus uicatim dedicabat, ut Apollinem Sandaliarium et Iouem Tragoedum aliaque. in restitutione Palatinae domus incendio absumptae ueterani, decuriae, tribus atque etiam singillatim e cetero genere hominum libentes ac pro facultate quisque pecunias contulerunt, delibante tantum modo eo summarum aceruos neque ex quoquam plus denario auferente. reuertentem ex prouincia non solum faustis ominibus, sed et modulatis carminibus prosequebantur. obseruatum etiam est, ne quotiens intrioret urbem, supplicium de quoquam sumeretur. – Zum kaiserlichen Empfangzeremoniell vgl. Lehner (1997). 309 Suet. Aug. 58, 1: Patris patriae cognomen uniuersi repentino maximoque consensu detulerant ei: prima plebs legatione Antium missa; dein, quia non recipiebat, ineunti Romae spectacula frequens et laureata; mox in curia senatus, neque decreto neque adclamatione, sed per Valerium Messalam is mandatibus cunctis. Bei dem genannten Senator handelt es sich um Marcus Valerius Messalla Corvinus, der als fähiger Feldherr und auch als Förderer von Dichtern bekannt war. Den Grund dafür, warum die Wahl eines Sprechers auf ihn fiel, sieht Carter (1982), S. 180 darin, dass er ein gewisses Maß an Unabhängigkeit verkörperte.
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laeta huic precari existimamus: senatus te consentiens cum populo R. consalutat patriae patrem310 („Möge es dir und deinem Haus glücklich und günstig ergehen, Caesar Augustus! Denn wir sind der Ansicht, dass wir mit solchen Worten um beständiges Glück für den Staat und Heil für unsere Stadt bitten: Der Senat begrüßt dich in Übereinstimmung mit dem römischen Volk als Vater des Vaterlandes“). Die Antwort des Princeps wird von Sueton nach eigener Aussage ebenso wie die Anrede durch Messalla wortgetreu überliefert – ipsa (verba sc.) enim, sicut Messallae, posui –; zudem spricht er unter Tränen (lacrimans): compos factus uotorum meorum, p. c., quid habeo aliud deos immortales precari, quam ut hunc consensum uestrum ad ultimum finem uitae mihi perferre liceat? („All meine Wünsche sind in Erfüllung gegangen, Senatoren: Was könnte ich die unsterblichen Götter noch anderes bitten, als dass es mir vergönnt sein möge, diesen euren einstimmigen Wunsch bis zum Ende meines Lebens auszuführen?“).311 Augustus zeigt sich durch die ihm erwiesenen Ehren nach der Darstellung Suetons sichtlich gerührt; überwältigt von so großer einhelliger Dankbarkeit seitens des Volkes und des Senates kann er die Annahme des Titels nur unter Tränen bestätigen. Das Weinen fungiert dabei als besonders wirksames Mittel, die eigene Ergriffenheit symbolisch nach außen zu tragen, ist zugleich aber als Erscheinungsform der modestia zu deuten, wie die folgenden Überlegungen verdeutlichen. Der Begriff modestia („maßvolles Verhalten“, „aufrichtige Gesinnung“) fällt unter die beiden in 51, 1 genannten Schlagworte clementia und civilitas. Bereits zuvor (vor allem in den Kapiteln 51 bis 53) wurde diese kaiserliche Eigenschaft anhand der Ablehnung von Ehrenbezeugungen exemplifiziert, wobei besonders die Weigerung, den Titel eines Diktators anzunehmen, Beachtung finden sollte.312 Denn darin offenbart sich am eindeutigsten die auch an anderen Stellen betonte Distanzierung zum Verhalten Caesars,313 dessen maßloses Gebaren schließlich zu seiner Ermordung führte.314 Es verwundert demnach nicht, dass eine sofortige Zustimmung zur Annahme des Titels „Vater des Vaterlandes“ für Augustus keinesfalls in Frage kam. Als der Princeps vor dem Senat steht und dieser ihm seine Wünsche in aller Eindeutigkeit übermittelt, gerät er unter Zugzwang und hat, so scheint es, kaum eine andere Wahl, als sich gefügig zu erweisen. Indem er den Namen des pater patriae annimmt, tritt seine überhöhte Stellung im Staat in aller Deutlichkeit hervor. Dass der Senat ihm diese zugesteht, wird auch in der Wortwahl des Messalla evident, denn der Wunsch quod bonum faustumque sit tibi domuique tui ist ein 310 Suet. Aug. 58, 2. 311 Suet. Aug. 58, 2 f. 312 Suet. Aug. 52: Dictaturam magna ui offerente populo genu nixus deiecta ab umeris toga nudo pectore deprecatus est. 313 Vgl. Hanslik (1954), S. 135. 314 Vgl. Suet. Div. Iul. 76–79. Bemerkenswert ist, dass im Fall Caesars die Ablehnung königlicher Ehrungen nicht mehr ausreichte, um seine modestia glaubhaft zum Ausdruck zu bringen, vgl. 79, 2: Neque ex eo infamiam affectati etiam regii nominis discutere ualuit, quanquam et plebei regem se salutanti Caesarem se, non regem esse responderit et Lupercalibus pro rostris a consule Antonio admotum saepius capiti suo diadema reppulerit atque in Capitolium Ioui Optimo Maximo miserit.
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Beispiel für eine offizielle Formel, mit der das Wohlergehen von Staat und Kaiser miteinander in Kausalzusammenhang gestellt wurden.315 Hätte Augustus der Titelverleihung sofort zugestimmt, wäre möglicherweise die Autorität des Senats in Frage gestellt gewesen. Auf deren offizielle Wahrung war der Princeps jedoch stets sorgfältig bedacht, so dass er seine Zustimmung erst gab, als der Senat seinen Wunsch an ihn herantrug. Um die in dieser Situation bestehende Diskrepanz zwischen modestia und real bestehender Vorrangstellung zu mildern, wendete Augustus mit seinem Weinen und mit der verbalen Bekundung seiner Bescheidenheit kommunikative Instrumente an, die darauf abzielten, einen Konsens zu schaffen.316 Durch performatives Agieren stellte er seine Person auf die Stufe aller übrigen Anwesenden, und diese Demonstration der Gleichrangigkeit wurde durch seine Antwort zweifelsfrei klargemacht: Er bekundete, es sei seine Absicht, dem Willen des Senats mit Hilfe der Götter bis an sein Lebensende nachzukommen. Die Tränen des Princeps mögen zwar auch als Zeichen seiner Rührung zu deuten sein (und es ist zu vermuten, dass der Leser dies annehmen soll);317 überrascht war er jedoch wohl kaum, wie seine wohlkalkulierte Antwort nahelegt. Sie diente ihm zusammen mit dem Weinen als ein Mittel, sich als der Gruppe der Senatoren zugehörig zu präsentieren. Die Verleihung des Titels pater patriae stellte nach eigener Aussage des ersten römischen Kaisers den Höhepunkt seines Lebens dar. Dementsprechend schildert er sie am Schluss seines Tatenberichts: Tertium decimum consulatum cum gerebam, senatus et equester ordo populusque Romanus universus appellavit me patrem patriae, idque in vestibulo aedium mearum inscribendum et in curia Iulia et in foro Aug. sub quadrigis quae mihi ex s. c. positae sunt censuit. Cum scripsi haec, annum agebam septuagensumum sextum.318 Auch hier liegt die Betonung auf der Einmütigkeit aller Römer bei der Verleihung, und die nüchterne Beschreibung stellt heraus, dass kein eigenes Zutun des Herrschers notwendig war. Bei Sueton ist die Verleihung des Titels pater patriae sehr emotional und dramatisch in Szene gesetzt;319 sie markiert zwar nicht das Ende des Abschnitts „Lohn für die dem Volk erwiesene clementia und civilitas“, kann aber dennoch als dessen Gipfelpunkt aufgefasst werden – stand doch die Bedeutung dieser Auszeichnung jedem antiken Leser deutlich vor Augen. In den anschließenden Kapiteln 59 und 60 wird die hohe Stellung des Augustus im gesamten Römischen Reich unterstrichen.320 315 Alföldi (31980), S. 87 Anm. 4. Die Betonung der Vorrangstellung des Augustus wird auch durch die Formulierung domui tuae ausgedrückt, welche unverkennbar die dynastische Komponente herausstellt, vgl. Carter (1982), S. 181. 316 Vgl. Krasser (2006), S. 289 Anm. 11. 317 Tränen der Rührung als Reaktion auf die Bekundung der loyalen Verbundenheit seitens des Volkes erwähnt auch Plin. paneg. 73, 4–6. 318 Mon. Ancyr. 35. 319 Hanslik (1954), S. 135. 320 Kapitel 59: auch im Rest Italiens und in den Provinzen wird dem Kaiser größte Ehre erwiesen, Kapitel 60: Verhalten auswärtiger Könige dem römischen Princeps gegenüber, vgl. Hanslik (1954), S. 136. Dagegen sieht Carter (1982), S. 178 f. in der Bemerkung, auch Könige verhielten sich dem Princeps gegenüber als gewöhnliche Klienten (Kap. 60), eine Klimax. Inhaltlich mag sich dies zunächst begründen lassen. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass für einen rö-
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Von den Senatoren wollte sich der Kaiser als einer der ihren verstanden wissen und bestätigte unmissverständlich ihren Ehrenstatus. Zwar stand er de facto nicht auf einer Stufe mit ihnen, doch sollte der Anschein gewahrt werden, dass es der Fall sei, und eine unvermittelte Annahme des Titels hätte dies nicht ermöglicht. An seinem Auftritt lässt sich der gezielte Einsatz emotionaler Elemente der Kommunikation (Demonstration der eigenen modestia durch Weinen und in Worten) beispielhaft illustrieren.321 Dass den Verzichtsgesten des Augustus ein machtpolitisches Kalkül zu unterstellen ist, legen besonders drei Überlegungen nahe: Er praktizierte ein ähnliches Verhalten mehrfach, als man ihm Auszeichnungen verleihen wollte;322 die Zurückweisung von Ehrungen wird von ihm selbst in den Res Gestae erwähnt;323 die Zögerlichkeit und anschließende Annahme hatte letztlich eine Stabilisierung der Macht zur Folge.324 Die Absicht Suetons wiederum bestand in erster Linie nicht darin, den Kaiser als im taktisch klugen Umgang mit Macht versierten Politiker darzustellen, vielmehr wird durch den weiteren Kontext innerhalb der Vita sein Verhalten zumindest in weiten Zügen als seiner Stellung angemessen und tugendhaft präsentiert; zudem suggeriert der Biograph in der vorliegenden Episode nicht zuletzt durch den Hinweis auf die Spontaneität bei der Verleihung des Titels und auf das einheitliche Handeln aller Bürger (repentino maximoque consensu), dass eine einhellige Zustimmung zur Alleinherrschaft des Augustus existierte. Nicht bei der zweimaligen Ablehnung, sondern erst bei der schließlich erfolgenden Annahme des Titels vergoss er Tränen, die auf seinen würdigen Umgang mit dieser Ehrung und darüber hinaus mit der herrschlichen Macht verweisen. 2.4.1.2 Tränen bei der Ablehnung politischer Macht In einem der bekanntesten Beispiele einer recusatio imperii war das mit Weinen verbundene Bitten der Senatoren von herausragendem Einfluss, nämlich in der zweiten Senatssitzung nach dem Tod des Augustus, wie sie in den taciteischen Annalen geschildert wird.325 Nach der Beisetzung und Konsekration des ersten Princeps326 vollzog sich die Übertragung der herrscherlichen Macht an seinen Nachfolger nicht reibungslos, denn dieser legte zunächst eine ablehnende Haltung
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mischen Bürger wohl das Verhalten des Senats am entscheidendsten war und dass der Ton der Kapitel 57, 59 und 60 deutlich nüchterner als der von Kapitel 58 gehalten ist, das nicht zuletzt durch die beiden direkten Reden des Messalla und des Augustus besonders feierlich wirkt. Krasser (2006), S. 275 spricht mit Bezug auf die vorliegende Stelle von einer „Instrumentalisierung des Weinens durch sozial Höhergestellte als Mittel der Kommunikation und Verständigung mit Untergebenen“. Vgl. Huttner (2004), S. 81–127. Vgl. Huttner (2004), S. 425. Besonders scharf formuliert Huttner (2004) auf S. 126: „Der Machtverzicht war also ein zutiefst unredlicher, denn Augustus begnügte sich selbstverständlich nicht damit, sondern strebte eine entsprechende Kompensation an; der vorgebliche Machtverzicht diente also der Stabilisierung der Macht.“ Zur Chronologie der Ereignisse nach dem Tod des Augustus vgl. Levick (21999), S. 68–81. Vgl. Tac. ann. 1, 8, 6 und 1, 10, 8.
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an den Tag,327 als man mit Bitten an ihn herantrat: Er brachte verschiedene Argumente gegen eine Amtsübernahme vor (varie disserebat), so zunächst die Größe des Römischen Imperiums (magnitudo imperii) und seine eigene modestia (also der geringe persönliche Ehrgeiz, eine derartige Machtposition einzunehmen), gefolgt von Hinweisen auf die einzigartigen Anlagen des Augustus, die ihn einer solchen Aufgabe gewachsen machten, und darauf, dass eine Teilung der Herrschaft sinnvoll sei.328 Indessen betont Tacitus explizit die Unaufrichtigkeit, die Tiberius mit diesen Äußerungen an den Tag legte; seine Rede habe mehr einem seiner Stellung gemäßen Anstand (dignitas) Rechnung getragen als tatsächlicher Ehrenhaftigkeit (fides) entsprochen.329 Der Kaiser drückte sich auch zu anderen Gelegenheiten unklar aus, allerdings verschleierte er, so der Verfasser der Annalen, in diesem Falle seine Absichten besonders gut. Dennoch durchschauten ihn die Senatoren und befürchteten, dass man ihnen dies ansah (quibus unus metus si intellegere viderentur). In der Konsequenz gestalteten sie ihre Meinungsbekundung mit einem umso expressiveren Gebaren, um nach außen hin ihre Unterwürfigkeit zum Ausdruck zu bringen: Sie verfielen in ein demonstratives Klagen, Weinen und flehendes Bitten und streckten – ein Charakteristikum der supplicatio330 – die Hände zu den Göttern, dem Bild des Augustus und den Knien des Tiberius aus, um ein Einlenken seinerseits zu erreichen: at patres (…) in questus lacrimas vota effundi; ad deos, ad effigiem Augusti, ad genua ipsius manus tendere.331 Zwar sind Tränen kein essentieller Bestandteil einer Bittgeste, aber sie verstärken diese, so dass die intensivierende gestische Darbietung der Senatoren mit ihrer Angst, Tiberius werde durchschauen, dass sie seine Unaufrichtigkeit erkannt hätten, korrespondiert. Die Reaktion des Thronfolgers fiel anders aus als erwartet: Er ließ ein Schriftstück herbeiholen und verlesen, das eigenhändige Ausführungen des Augustus über die Machtmittel des Römischen Reiches enthielt, verbunden mit dem Ratschlag, 327 Tiberius hatte sich schon zuvor ablehnend gegen die Übernahme verschiedener Machtbefugnisse gezeigt, wie Huttner (2004), S. 133–135 anmerkt; Levick (21999), S. 75 f. weist darauf hin, dass Tiberius bereits mit allen wesentlichen herrscherlichen Befugnissen ausgestattet war, als Augustus starb. 328 Tac. ann. 1, 11, 1: Versae inde ad Tiberium preces. et ille varie disserebat de magnitudine imperii, sua modestia. solam divi Augustu mentem tantae molis capacem: se in partem curarum ab illo vocatum experiendo didicisse, quam arduum, quam subiectum fortunae regendi cuncta onus. proinde in civitate tot inlustribus viris subnixa non ad unum omnia deferrent: plures facilius munia rei publicae sociatis laboribus exsecuturos. 329 Levick (21999), S. 76 f. interpretiert das Verhalten des Tiberius an dieser Stelle dahingehend, dass er sich an die Senatoren wandte, um sie zu einem Mitwirken bei der Herrschaftsausübung und damit der Übernahme von Verantwortung anzuregen, was eine Abkehr vom Regierungsstil des Augustus und der von diesem geschaffenen rechtlichen Ordnung bedeutet hätte. 330 Gebräuchlichstes Kennzeichen ritualisierten Bittens war das Ausstrecken der Arme, wie es an zahlreichen Stellen in der antiken Literatur geschildert wird, vgl. Sittl (1890), S. 50 f. 331 Tac. ann. 1, 11, 2 f.: Plus in oratione tali dignitatis quam fidei erat; Tiberioque etiam in rebus quas non occuleret, seu natura sive adsuetudine, suspensa semper et obscura verba: tunc vero nitenti, ut sensus suos penitus abderet, in incertum et ambiguum magis implicabantur. at patres, quibus unus metus si intellegere viderentur, in questus lacrimas vota effundi; ad deos, ad effigiem Augusti, ad genua ipsius manus tendere.
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dessen Grenzen nicht weiter auszudehnen.332 Abermals wird dann in der Schilderung auf das demütige Bitten der Senatoren Bezug genommen, wobei die Formulierung, sie hätten sich zu äußerst erniedrigendem, fußfälligem Bitten herablassen müssen (senatu ad infimas obtestationes procumbente), die Abscheu des Verfassers vor diesem Verhalten zeigt. Auf die Frage des Asinius Gallus, über welchen Teil des Reiches er herrschen wolle, reagierte Tiberius offensichtlich beleidigt, und die Ausführungen des Gallus, er habe ihn nur zu der Aussage bringen wollen, das Imperium Romanum sei ein einheitliches Gebilde und müsse von einem einzigen Mann regiert werden, ließ den Zorn des Prätendenten nicht geringer werden. Ebenso erregten einige weitere Senatoren seinen Unwillen.333 Ob er sich inhaltlich dem emphatisch vorgebrachten Wunsch der Senatoren fügte, darüber beließ Tiberius sie im Unklaren. Durch den lautstarken Tumult erschöpft, gab er den Forderungen der einzelnen allmählich insofern nach, als dass er zwar nicht die Übernahme der Herrschaft öffentlich erklärte, aber immerhin aufhörte, sie abzulehnen und sich bitten zu lassen (ann. 1, 13, 5: fessusque clamore omnium, expostulatione singulorum flexit paulatim, non ut fateretur suscipi a se imperium, sed ut negare et rogari desineret).334 Die Senatoren trugen demnach implizit die Erwartung an Tiberius heran, eine entsprechende Reaktion auf ihr Verhalten zu zeigen und die Herrschaft anzunehmen; da er sich aber kontinuierlich weigerte, fand sich keine gemeinsame Kommunikationsebene, und die verbale wie gestische Interaktion wurde abgebrochen. Ergänzende Aspekte zum Bericht des Tacitus, der unverkennbar einen negativen Unterton hat, liefert Sueton an der entsprechenden Stelle seiner Tiberius-Vita. Seine Schilderung lässt ebenfalls erkennen, dass ein Ende der Debatte nicht ohne Probleme gefunden wurde, legt jedoch nahe, dass der Tumult in einem weitaus höheren, ja geradezu gefährlichen Maße der Kontrolle entglitten sein muss. Der 332 Tac. ann. 1, 11, 3 f.: Proferri libellum recitarique iussit. opes publicae continebantur, quantum civium sociorumque in armis, quot classes, regna, provinciae, tributa aut vectigalia, et necessitates ac largitiones. quae cuncta sua manu perscripserat Augustus addideratque consilium coercendi intra terminos imperii, incertum metu an per invidiam. Augustus werden hier in einem typisch taciteischen Seitenhieb negative Absichten unterstellt, die zumindest in dieser intensiven Ausprägung nicht bestanden haben dürften, vgl. Koestermann (1963), S. 107. 333 Vgl. Tac. ann. 1, 12, 1–13, 4. Die Frage des Asinius Gallus zeigt auf, wie sehr Tiberius bereits an die Grenzen der ritualisierten Form der Herrschaftsannahme gelangt war, vgl. Flaig (1992), S. 218. 334 Ob am Ende der Senatssitzung also eine Annahme der Herrschaft seitens des Tiberius gestanden hat, wird bewusst nicht eindeutig formuliert; auch Suet. Tib. 24, 3 äußert sich unpräzise, während Dio 57, 7, 1 den Zeitpunkt der Annahme mit dem Ende der Aufstände in Pannonien und Germanien angibt (diese werden auch Suet. Tib. 25 erwähnt), vgl. dazu Koestermann (1963), S. 104 f. Dass sich die Regierungsübernahme des Tiberius insgesamt als länger dauernder Prozess gestaltete, betont Huttner (2004), S. 128 f.; dies ist auch ihrer Darstellung bei Velleius Paterculus (der Tiberius mit Wohlwollen porträtiert) zu entnehmen, vgl. Vell. 2, 124, 2: Una tamen ueluti luctatio ciuitatis fuit, pugnantis cum Caesare senatus populique Romani ut stationi paternae succederet, illius ut potius aequalem ciuem quam eminentem liceret agere principem. tandem magis ratione quam honore uictus est, cum quidquid tuendum non suscepisset periturum uideret; solique huic contigit paene diutius recusare principatum quam ut occuparent eum alii armis pugnauerant. Vgl. ferner Strocchio (2001), S. 49.
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Biograph erwähnt zwar keine Tränen, beschreibt aber, wie die Senatoren auf Tiberius eindrangen, um ihn zur Annahme zu bewegen, wobei ihre supplicatio und das Hinhalten seitens des Tiberius hervorgehoben werden – er beließ den Senat im Unklaren über seine Anwort (precantem senatum et procumbentem sibi ad genua ambiguis responsis et callida cunctatione suspendens). Nachdem der Prätendent allerdings mehrere Versuche ignoriert hatte, fand laut Sueton ein Umschwung im Verhalten einiger Senatoren statt: Sie verloren die Geduld und zeigten sich nicht mehr unterwürfig bittend, sondern offen wütend über sein Verhalten, was anhand zweier Äußerungen (eine in direkter, eine in indirekter Rede formuliert) kenntlich gemacht wird. In ihnen wird die scharfe Kritik der beiden Sprecher an der Reaktion des Tiberius bzw. dem Ausbleiben einer angemessenen Reaktion prägnant geäußert; inhaltlich gehen sie weit über die Provokationen hinaus, die Tacitus in Kapitel 12, 1–3 seiner Annalen erwähnt (und anders als dort werden die Sprecher von Sueton nicht namentlich genannt). Ein Senator rief: Aut agat aut desistat!, ein anderer verwies lautstark darauf, dass alle übrigen Männer spät erfüllten, was sie versprochen hätten, er dagegen spät verspreche, was er schon längst tue (ceteros, quod polliciti sint, tarde praestare, se[d] ipsum, quod praestet, tarde polliceri). Die erste Aufforderung („Entweder soll er handeln oder aufhören [mit seinem Possenspiel]“) spiegelt die Erwartung wider, dass eine klare Entscheidung des Prätendenten zu erfolgen habe; entweder solle er das ihm angetragene Amt annehmen oder nicht länger so tun, als sei noch eine Annahme zu erwarten (und dann nicht den nächsten Schritt dafür tun). Die zweite Äußerung ist als spöttische Kommentierung der Situation zu verstehen: Im ersten Satz des Kapitels verweist Sueton darauf, dass Tiberius bereits äußere Anzeichen der Herrschaft für sich in Anspruch genommen hatte, sich vor Freunden und Senatoren allerdings zögerlich verhielt.335 Erst nachdem sich die Situation derart zugespitzt hatte, stimmte Tiberius einer Übernahme der Herrschaft zu, doch selbst da behauptete er vordergründig, dass er gezwungen worden sei, beklagte sein Amt als Sklavendienst und schränkte sein Zugeständnis an den offiziell vorgebrachten Wunsch der Senatoren dadurch ein, dass er in Aussicht stellte, er werde einmal die Herrschaft aus Altersgründen abgeben.336 Das zähe Ringen um die Initiative des zu bestätigenden Kaisers erzielte somit zwar der Sache nach das gewünschte Ergebnis, doch das Bitten der Senatoren ist sicherlich nur unter Vorbehalt als erfolgreich einzustufen. Im Hinblick auf die erwartbaren Handlungsmuster bei der recusatio imperii ist die Schilderung Suetons 335 Suet. Tib. 24, 1: Principatum, quamvis neque occupare confestim neque agere dubitasset, et statione militum, hoc est vi et specie dominationis assumpta, diu tamen recusavit, impudentissimo mimo nunc adhortantis amicos increpans ut ignaros, quanta belua esset imperium, nunc precantem senatum et procumbentem sibi ad genua ambiguis responsis et callida cunctatione suspendens, ut quidam patientiam rumperent atque unus in tumultu proclamaret: „Aut agat aut desistat!“ Alter coram exprobraret ceteros, quod polliciti sint tarde praestare, se[d] ipsum, quod praestet tarde polliceri. 336 Suet. Tib. 24, 2: Tandem quasi coactus et querens miseram et onerosam iniungi sibi servitutem, recepit imperium; nec tamen aliter, quam ut depositurum se quandoque spem faceret. Ipsius verba sunt: „Dum veniam ad id tempus, quo vobis aequum possit videri dare vos aliquam senectuti meae requiem.“
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aufschlussreicher als die des Tacitus, denn sie zeigt gerade das mögliche Scheitern dieses Rituals auf.337 Dem Prätendenten werden dabei schauspielerische Qualitäten zugeschrieben (er wird als impudentissimus mimus, als „äußerst schamloser Schauspieler“, bezeichnet), und seinem Zögern habe eine taktische Überlegung zugrundegelegen (callida cunctatio), so der Biograph. Nur noch mit großer Mühe fand sich schließlich eine gemeinsame Ebene der Kommunikation zwischen ihm und den Senatoren, da er auf die Zurschaustellung ihrer unterlegenen Position mehrfach nicht in angemessener Weise reagierte; mit ihrem Agieren forderten sie ein Verhalten ein, das Tiberius nicht lieferte. Ihre Forderung war nicht unverbindlich, sondern ist als eine Bestätigung seiner übergeordneten Position zu verstehen, der die Antwort entsprach, diese zumindest formal zu relativieren und die Senatoren als gleichgestellt zu behandeln.338 Tiberius jedoch bewirkte mit seinem zu ausdauernden Zögern, dass sie immer extremere Maßnahmen ergreifen mussten – die bei Tacitus geschilderten Tränen veranschaulichen dies deutlich-, ihr Vorgehen angesichts seiner offensichtlichen Weigerung, auf den von ihnen vorgegebenen rituellen Rahmen einzugehen, änderten und daraufhin ihrem Drängen unverschleiert Ausdruck verliehen. Schon allein die Tatsache, dass sich diese Ereignisse unter den politisch hochrangigsten Männern des römischen Staates abspielten, lässt vermuten, dass hinter ihrem Verhalten jeweils planvolle Überlegungen standen. Die Strategie des Tiberius scheint jedenfalls darin bestanden zu haben, sich mehrere Male bitten zu lassen, um so eine möglichst gefestigte Machtbasis zu erhalten.339 Diese hielt er, folgt man der weiteren Darstellung Suetons, für besonders notwendig, da seine Herrschaft in mancherlei Hinsicht bereits Gefahren ausgesetzt war, so dass der eigentliche Grund für das Zögern nicht etwa Machtgier, sondern die Angst vor Bedrohungen verschiedener Art (metus undique imminentium discriminum) war;340 in der Darstellung des Tacitus wird ihm dagegen grundsätzlich ein heuchlerischer Charak337 Vgl. Flaig (1992), S. 216: „Je mehr Befugnisse und Ehren ein angehender Herrscher schon besaß, desto schwieriger war es für die Senatoren, ihn zu beehren. Das Ritual konnte also scheitern, wenn ein Herrscher sich ‚falsch‘ benahm. Dieser Fall trat ein, als Tiberius seine recusatio spielte.“ 338 Vgl. Seelentag (2004), S. 32–34, der für diese Haltung der Senatoren den Begriff des affirmativen Forderns verwendet. 339 Die Zurückweisung der Herrschaft durch Tiberius als taktisches Manöver zu deuten, legt besonders Suet. Tib. 24, 1 nahe, wie Huttner (2004), S. 146 bemerkt: „Eindeutig unterstellt hier Sueton dem Tiberius eine Absicht, er verweist auf seine schlaue Verschlagenheit und damit auf sein Kalkül.“ Demgegenüber äußert er sich S. 147, dass es sich letztlich vermutlich nicht um ein „kratisches Manöver“ gehandelt und Tiberius mit seinem Verhalten nicht bewusst das Ziel verfolgt habe, seine Machtgrundlage zu festigen, sondern vielmehr die Stellung des Senats stärken wollte. Dies mag zunächst einleuchten, allerdings stellt sich dann die Frage, wie Tiberius das Ritual derart entgleisen lassen konnte – denn auch wenn er einige Jahre auf Rhodos im politischen Abseits verbrachte, ist er doch schwerlich als politisch so unerfahren einzuschätzen, dass ihm das Gespür in einer derart spannungsgeladenen Situation gänzlich gefehlt hätte. 340 Vgl. Suet. Tib. 25. Die Grundemotion ‚Angst‘ war zunächst offensichtlich sehr stark ausgeprägt; als Tiberius sie überwunden hatte, war er zu Beginn seiner Herrschaft ein durchaus umgänglicher Herrscher, so Sueton in den darauf folgenden Kapiteln (26, 1: Verum liberatus metu civilem admodum inter initia ac paulo minus quam privatum egit). Dagegen stellt Tacitus das
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ter unterstellt.341 Welche Überlegungen der Kaiser tatsächlich anstellte, ist sicherlich nicht zu klären, die Intention seines Verhaltens bei der recusatio kommt dagegen in beiden historiographischen Quellen zum Ausdruck: Tiberius beabsichtigte, seine civilitas stark zu betonen, um die eigene Position auf eine sichere Grundlage zu stellen. Der vorsichtige Umgang mit herrscherlichen Befugnissen seitens des Augustus hatte richtungsweisend gewirkt, so dass sich seine Nachfolger daran zu orientieren hatten.342 Wenn einem erfolgreichen Politiker Ehrungen und Ämter angetragen wurden, war es für ihn ratsam, sie nicht sofort anzunehmen, sondern zunächst Bescheidenheit zum Ausdruck zu bringen, um den Status derer, die ihm diese Ehrungen entgegenbrachten, zu wahren. Dass dieses Verhalten auch bei der Übernahme der Herrschaft im Prinzipat für angemessen erachtet wurde, verwundert daher nicht. Die Annahme des Kaisertitels unter anfänglicher Zurückweisung erfolgte in der Regel schrittweise; die einzelnen Bestandteile dieses Vorgangs werden in den Quellen festgehalten und rechtfertigen seine Bezeichnung als Ritual. Tiberius dehnte dieses so lange aus, bis dessen Rahmen gesprengt wurde, doch an seiner Absicht, es aktiv zu gestalten, kann kein Zweifel bestehen.343 Die Kommunikation bei der rituell geprägten Ablehnung des Herrscheramtes fand unter Einbezug emotionaler Komponenten statt, und diese konnten eine hohe Intensität aufweisen, wie die Tränen als Bestandteil der supplicatio in dem gerade behandelten Beispiel belegen. In der nun folgenden Episode weint der am 1. September 672 vorläufig diese Position ablehnende Westgotenfürst Wamba, wobei die Schilderung des Julian von Toledo ebenfalls höchst dramatisch ausfällt und zudem eine mustergültige recusatio imperii mit allen in Huttners Modell aufgeführten Elementen wiedergibt.344 Gleich zu Beginn seiner Geschichte des Königs Wamba (nach einem knappen Einleitungskapitel, das auf den Vorbildcharakter der dargestellten Ereignisse abhebt) stellt der Verfasser seinen Protagonisten als clarissimus Wamba princeps vor
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Misstrauen (suspicacem animum, ann. 1, 13, 4) des Tiberius als einem Herrscher nicht angemessene Eigenschaft heraus. Dass die während seiner Regierung nicht nur einmal vorgebrachte Drohung, das Amt niederzulegen, Tiberius unglaubwürdig machte, konstatiert Tacitus an späterer Stelle in den Annalen (ann. 4, 9, 1), vgl. dazu Huttner (2004), S. 143 f. Cassius Dio beschreibt 57, 1 die Verschlagenheit des Tiberius als grundlegenden Wesenszug des Kaisers. – Mit Sicherheit war bei Herrschaftsübernahme des Tiberius das Ritual der recusatio imperii, also der – wie Flaig (1992), S. 216 in im Zuge seiner Ausführungen zum Nachfolger des Augustus formuliert – „bescheidenen Ablehnung der Herrschaft“, noch nicht etabliert, sondern es erschien offenbar schlicht folgerichtig, sich wie bei einer recusatio honorum zu verhalten und vor allem, sich Augustus zum Vorbild zu nehmen. Vgl. Huttner (2004), S. 130. Tiberius wandelte die recusatio also buchstäblich in eine cunctatio um, wie Flaig (1992), S. 217 anmerkt. Vgl. Huttner (2004), S. 406–470. Da der von ihm untersuchte Zeitraum sich nur bis zu Kaiser Julian Apostata erstreckt, wird die recusatio imperii des Wamba nicht behandelt, woran sich zeigt, dass Huttners Abgrenzung einigermaßen willkürlich vorgenommen wurde; an der Episode über den Westgotenkönig lässt sich zweifelsohne die Kontinuität im Verhalten bei einer Herrschaftsablehnung aufzeigen, die noch stark in antiker Tradition verhaftet ist.
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und betont, dass er von göttlicher wie weltlicher Seite zum König bestimmt gewesen und dies schon vor Herrschaftsantritt prophezeit worden sei. Und damit fängt bereits die Schilderung der recusatio an: Wamba war mit der Ausrichtung der Bestattung des Königs Rekeswind und mit Wehklagen über den Verstorbenen beschäftigt, als alle anwesenden Adligen unvermittelt und einmütig (subito una omnes in concordiam versi) ausrufen, dass sie ihn gerne zum Herrscher hätten (illum se delectanter habere principem clamant). Auslöser ihrer Akklamation ist weniger eine emotionale denn eine körperliche Neigung; sie werden gewissermaßen nicht so sehr durch eine gemeinsame Gefühlsregung, sondern mit einer Regung des Mundes dazu angetrieben (uno quodammodo non tam animo quam oris affectu pariter provocati).345 Das Zurufen der Männer ertönt mit vereinter Stimme (unitis vocibus intonant), ihre verbale Bekundung wird jedoch noch durch die gestische Demonstration ihres Anliegens gesteigert: Sie fallen dem zum König Auserwählten zu Füßen (catervatim suis pedibus obvolvuntur); die Ursache für diese intensive Bekundung ihrer Absichten liegt darin, dass sie eventuellen Ablehnungsversuchen zuvorkommen möchten (ne postulantibus abnueret). Allerdings erfolgt von Seiten Wambas eine Reaktion von ebenso hoher Ausdrucksstärke, denn er weicht vor ihnen zurück (quos refugiens), wird von Tränen und Schluchzen ergriffen (lacrimosis singultibus interclusus)346 und lässt sich auch angesichts eindringlicher Bitten seines Volkes zunächst nicht umstimmen (nullis precibus vincitur nulloque voto flectitur populorum). Als Begründung dafür gibt er die bevorstehende Phase politischer Turbulenzen und sein hohes Alter an.347 Dem heftig Widerstand Leistenden (acriter reluctanti) trat ein Sprecher der Herzöge ensprechend scharf entgegen und stellte ihn mit drohender Miene (minaci vultu) vor die Wahl, sich entweder den Wünschen sofort zu fügen oder aber, falls er sich weiterhin weigere, den Tod durch das Schwert zu finden.348 345 Die Schilderung einer derartigen unwillkürlichen Ausrufung eines Herrschers ist nicht ohne Vorgänger, vgl. Martínez Pizarro (2005), S. 119 f. Anm. 94. 346 Martínez Pizarro (2005), S. 180 Anm. 18 stellt heraus, dass diese Übersetzung des Partizips Perfekt Passiv, die ein Weinen des Subjekts (und nicht etwa den Umstand, dass weinende und schluchzende Adlige Wamba bedrängen) zum Ausdruck bringt, sich aus einer ähnlichen Verwendung dieses Wortes an anderen Stellen bei Julian von Toledo erschließen lässt; vgl. auch II. 5.2.1. 347 Man kann davon ausgehen, dass bereits in der römischen Kaiserzeit die Angabe von Alter oder Krankheit als Grund für die Ablehnung eines Amtes dazu dienten, die Sorge des betreffenden Kandidaten um das Wohl des Staates und somit die eigene Tugend zum Ausdruck zu bringen, vgl. Huttner (2004), S. 454–457. 348 Iul. Tolet. hist. Wambae, c. 2, p. 502 f.: Adfuit enim in diebus nostris clarissimus Wamba princeps, quem digne principari Dominus voluit, quem sacerdotalis unctio declaravit, quem totius gentis et patriae communio elegit, quem populorum amabilitas exquisivit, qui ante regni fastigium multorum revelationibus celeberrime praedicitur regnaturus. Qui clarissimus vir, dum decidentis Recesvindi principis morte exequiale funus solveret et lamenta, subito una omnes in concordiam versi, uno quodammodo non tam animo quam oris affectu pariter provocati, illum se delectanter habere principem clamant; illum se nec alium in Gothis principari unitis vocibus intonant et catervatim, ne postulantibus abnueret, suis pedibus obvolvuntur. Quos vir omni ex parte refugiens, lacrimosis singultibus interclusus, nullis precibus vincitur nulloque voto flectitur populorum, modo non se suffecturum tot ruinis imminentibus clamans, modo senio confectum sese pronuntians. Cui acriter reluctanti unus ex officio ducum, quasi
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Danach zeigte Wamba sich nicht länger zögerlich und nahm die Herrschaft an (regnum suscipiens); ausschlaggebend dafür waren jedoch nicht so sehr die Bitten, sondern vor allem die Drohungen, die ihm gegenüber geäußert wurden (non tam precibus quam minis superatus). Erst nach der Wiedergabe dieser Ereignisse wird mitgeteilt, wann und wo sie stattfanden, nämlich an den Kalenden des September in dem kleinen Ort Gerticos. Salben ließ sich der gerade ernannte Herrscher erst neunzehn Tage später in der rund einhundertzwanzig Meilen entfernten Hauptstadt Toledo.349 Offensichtlich soll die dramatische Wiedergabe dieser Ereignisse bei Julian von Toledo aufzeigen, dass die Herrschaft Wambas eine sichere Basis auf göttlicher (Vorherbestimmung, Salbung) wie weltlicher Ebene (einstimmige Akklamation durch die Fürsten) besaß. Die Legitimität und Eignung des Königs wird als unanfechtbar präsentiert, und zu dieser deutlichen Positionierung bildet die sich unmittelbar anschließende Darstellung seiner Rivalen Hildericus und Paulus einen wirkungsvollen Kontrast.350 Die literarische Ausgestaltung der recusatio imperii des Wamba weist einen Facettenreichtum auf, der eindeutig an die antike Tradition der rituellen Ablehnung des Herrscheramtes anknüpft; am auffälligsten und eindringlichsten sind dabei die Betonung der göttlichen Bestimmung, das Niederwerfen, die Tränen sowie die Androhung von Gewalt. Joaquín Martínez Pizarro zieht an dieser Stelle enge Parallelen zu der Art und Weise, wie Corippus den Herrschaftsantritt Justinus‘ II. schildert. Seine Darstellung weist einen ebenso hohen Grad an Emotionalität auf; Unterschiede bestehen vor allem dahingehend, dass in der panegyrischen Schrift keine Gewaltandrohung erwähnt wird und dass das Verhalten des Byzantiners formalisierter wirkt.351 vicem omnium acturus, audacter in medio minaci contra eum vultu prospiciens dixit: ‚Nisi consensurum te nobis modo promittas, gladii modo mucrone truncandum te scias. Nec dehinc tamdiu exhibimus, quamdiu aut expeditio nostra te regem accipiat aut contradictorem cruentus hic hodie casus mortis obsorbeat‘. 349 Iul. Tolet. hist. Wambae, c. 3, p. 502 f.: Quorum non tam precibus quam minis superatus, tandem cessit, regnumque suscipiens, ad suam omnes pacem recepit, et tamen dilato unctionis tempore usque in nono decimo die, ne citra locum sedis antiquae sacraretur in principe. Gerebantur enim ista in villula, cui antiquitas Gerticos nomen dedit, quae fere centum viginti milibus ab urbe regia distans in Salamanticensi territorio sita est. Ibi enim uno eodemque die, scilicet in ipsis Kalendis Septembribus, et decidentis regis vitalis terminus fuit et pro subsequentis iam dicti viri praeelectione illa quam praemisimus populi adclamatio extitit. Im Rest des dritten Kapitels werden legitimierenden Instanzen nochmals betont (divinitus, per hanelantia plevium vota et per eorum obsequentia) und zudem der Grund für das Aufschieben der Salbung genannt (man wollte die Zustimmung auch entfernter wohnender Untergebener abwarten). Das folgende Kapitel enthält eine Schilderung der Salbung, während der sich ein glückverheißendes Vorzeichen ereignet habe. 350 Vgl. Martínez Pizarro (2005), S. 110. Beginn und Ausweitung der Rebellion sowie die Proklamation des Paulus zum König des östlichen Reichsteils stellt Julian von Toledo in den Kapiteln 5–8 dar; zu den Kapiteln 7–8 vgl. Martínez Pizarro (2005), S. 124 f. 351 Martínez Pizarro (2005) unterzieht die beiden Textbelege auf S. 117–122 einem detaillierten Vergleich. Corippus schildert den Vorgang in seinem Gedicht In laudem Augusti Minoris 1, 115–187. Die Trauer um den verstorbenen Onkel Justinian als Grund für die tränenreiche Ablehnung des Amtes präsentieren auf besonders dichtem Raum und sehr nachdrücklich die Zeilen 160–162: Ipse autem, patris concussus sorte beati, | sceptra recusabat lacrimans largoque
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Tränen des künftigen Herrschers und die Prostration derer, die ihm das Amt antragen, stellen hier wie dort eine sehr nachdrückliche Form stark emotional gepräger Kommunikation dar. Die letzte Maßnahme, Wamba trotz seiner Ablehnung noch zur Annahme zu bewegen, sehen die Bittenden darin, ihm gegenüber Gewaltanwendung in Aussicht zu stellen. Anhand dieses abrupten qualitativen Wandels der Performanzen muss nicht zwangsläufig eine mangelnde Überzeugungskraft der ganzen Szene festzumachen sein, auch wenn sich Tränen und Gesten der supplicatio einerseits und das physische Bedrängen andererseits in der antiken literarischen Tradition zwar einzeln, aber nicht in Kombination miteinander finden.352 Vielmehr sind Prostration und Weinen besonders eindringliche Gesten, die die Authentizität des Geschehens betonen,353 wogegen das Signalisieren von Gewaltbereitschaft das äußerste zur Verfügung stehende Druckmittel ist, das dann schließlich zum Erfolg führt. Innerhalb des von performativem Agieren bestimmten Rahmens bot die Gewaltandrohung seitens der Bittenden dem Ablehnenden die Möglichkeit, seine Position zu ändern und dabei dennoch sein Verhalten nicht als primär von Machtgier oder Angst geleitet erscheinen zu lassen.354 Die Agierenden tragen in der ritualisierten Interaktion ihre Emotionen nach außen, wobei diese von der Aufrichtigkeit des Verhaltens zeugen sollen. Ihrer Ausdruckskraft bediente sich die Literatur zur Darstellung von Situationen großer politischer wie persönlicher Tragweite; für die antike Lebenswirklichkeit wiederum bleibt festzuhalten, dass es beim Machtverzicht nicht nur möglich war, Emotionen zu zeigen, sondern dass dies sogar einer durch den Rahmen des Rituals gefestigten Erwartungshaltung entsprach, und Tränen rigabat | imbre genas fletuque uiri uestesque madebant. Die Verse 163–172, eine Justinus in den Mund gelegte wörtliche Rede, sollen dessen charakterliche Eignung für das Herrscheramt unverkennbar zum Ausdruck bringen. Die Ausgangssituation der Prätendenten und ebenso die Darstellungsabsicht der beiden Autoren weisen große Ähnlichkeiten auf: Wie Wamba, so war auch Justinus II. nicht der einzige in Frage kommende Nachfolger des kurz zuvor verstorbenen Herrschers, so dass man die Prätendenten als in jeglicher Hinsicht höchst geeignet zu präsentieren suchte. Dass gerade ab justinianischer Zeit in Ostrom ein hoher Grad an Formalisierung herrschte, was rituelle Performanzen anbelangt, ist unstrittig; dennoch ist Corippus‘ Lobrede auf Justinus II. inhaltlich wie sprachlich-stilistisch daraufhin angelegt, auf die Emotionen ihres Publikums einzuwirken. 352 So Martínez Pizarro (2005), S. 122; er attestiert Julians Schilderung an dieser Stelle einen „unconvincing and paradoxical character“. Weiterhin führt er den abrupten charakterlichen Wandel Wambas bald nach der Salbung an, der allerdings keine singuläre Erscheinung in den literarischen Quellen ist (S. 122 f.). 353 Immerhin ist es im Falle des Westgotenkönigs notwendig, bis zum Äußersten zu gehen und sein Leben zu bedrohen, wodurch seiner Ablehnung der Herrschaft ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit zugesprochen wird, vgl. Martínez Pizarro (2005), S. 118. 354 Zur Gewaltandrohung als Druckmittel gegen den Prätendenten vgl. Huttner (2004), S. 461– 470; er betont, dass diese Gewalt nicht zügellos, sondern in einem formalisierten Rahmen stattfand (S. 465). Im Hinblick auf das Dilemma, dass der Herrscher in spe die ihm angetragene Herrschaft nicht ohne Weiteres annehmen konnte, ohne als inkonsequent zu gelten, vermerkt er S. 468: „Um einem Prestigeverlust vorzubeugen, ist diese Inkonsequenz tunlichst zu kaschieren. In der öffentlichen Sprachregelung darf der letztlich herbeigeführte Griff nach der Macht jedenfalls nicht als ein durch Angst und schon gar nicht durch eine jäh geweckte Machtgier motivierter Akt gedeutet werden“.
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konnten dazugehören, ohne dass sie den Weinenden in ein negatives Licht gerückt hätten.355 Auch in der Historia Augusta werden diese regelmäßig praktizierten Verhaltensmuster erwähnt, etwa in der Vita des Usurpators Iulius Saturninus; die Schilderung seiner recusatio imperii wirft jedoch manche Probleme auf. Saturninus wurde dem Verfasser der Biographie zufolge in Ägypten, dessen Bewohnern vor allem negative Eigenschaften attestiert werden, zum Kaiser ausgerufen, war aber so einsichtig zu erkennen, dass dies durchaus nicht zu seinem Vorteil wäre und floh nach Palästina.356 Dort wurde ihm bei weiterem Nachdenken klar, dass er als Privatmann nicht in Sicherheit leben würde und ließ sich daher mit dem Purpurgewand bekleiden – es handelte sich hierbei um ein Frauengewand (cyclas uxoria), das man einer Statue der Göttin Venus entwendet hatte (ex simulacro Veneris) – und als Kaiser verehren (purpura amictus et adoratus est).357 Dann weinte er (flebat) und führte an, dass seine bisherigen militärischen Leistungen angesichts seiner Kaiserwürde bedeutungslos seien – offensichtlich war ihm bewusst, dass seine Herrschaft nicht von langer Dauer sein konnte.358 Nachdem man ihn aufgefordert hatte, seine Stellung zu behaupten, hielt er eine Rede, in der er die Risiken der Herrschaft mit dem Bild von über dem Haupt des Imperators hängenden Schwertern verdeutlichte und zudem darauf verwies, dass dieser auch persönlichen Angriffen ausgesetzt sei. Als Rivale des von ihm durchaus geschätzten Probus sei sein Tod unvermeidlich und sein einziger Trost, dass er nicht alleine sterben werde, so schließt Saturninus in resignierendem Ton seine Ansprache.359 Ob redebegleitende Elemente, also etwa Tränen, und gesprochene Worte in der Absicht geäußert wurden, eine möglichst große Bestätigung von den anwesenden Soldaten zu bekommen, oder ob es sich schlicht um eine unbedachte, spontane Reaktion auf die Akklamation handelt, ist nicht sicher festzustellen. Die Tränen 355 Martínez Pizarro (2005), S. 120 f. gelangt zu der Ansicht, dass die Demonstration von Emotionen hier wie auch in anderen Situationen nicht nur erlaubt, sondern sogar gefordert war, und stellt dem eine Geringschätzung von männlichen Tränen zu Zeiten der Republik gegenüber. 356 SHA quadr. tyr. 7, 4–9, 2. Die Ausrufung in Ägypten ist vermutlich historisch nicht zutreffend, vgl. Huttner (2004), S. 209. 357 SHA quadr. tyr. 9, 3: ibi tamen cum cogitare coepisset tutum sibi non esse, si privatus viveret, deposita purpura ex simulacro Veneris cy[n]clade uxoria militibus circumstantibus amictus et adoratus est. Die Herkunft des spontan benötigten Purpurs von einer Statue findet sich auch SHA Prob. 10, 5; da es sich im Falle des Saturninus um das Gewand eines weiblichen Götterbildes handelte, mag es in der Absicht des Verfassers der Vita gelegen haben, die Szene etwas skurril erscheinen zu lassen, vgl. Huttner (2004), S. 206 und 210. 358 SHA quadr. tyr. 9, 4 f.: Avum meum saepe dicentem audivi se interfuisse, cum ille adoraretur. ‚flebat‘, inquit, ‚et dicebat: „necessarium, si non adrogantur dicam, res p. virum perdidit. ego certe instauravi Gallias, ego a Mauris possessam Africam reddidi, ego Hispanias pacavi. sed quid prodest? omnia haec adfectato semel honore perierunt.“ Um den Wahrheitsgehalt der Erzählung zu untermauern, führt der Verfasser die Augenzeugenschaft seines Großvaters an, der auch in anderen Viten als Gewährsmann herangezogen, aber nicht namentlich genannt wird, vgl. dazu Birley (1978). 359 Vgl. Huttner (2004), S. 211 mit dem Hinweis, in der mit Sicherheit fiktiven Rede komme zum Ausdruck, dass in der Soldatenkaiserzeit die mit dem Herrscheramt verbundene Gefahr für die Person des Kaisers ein akzeptabler Grund dafür war, sich der Übernahme zu verweigern.
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sind an dieser Stelle vermutlich als ein Indiz dafür zu deuten, dass Saturninus sich der Gefährlichkeit seiner neuen Position sehr bewusst war und die Macht nicht unverhohlen an sich riss; das bei einer Ernennung zum Herrscher für angemessen erachtete Verhalten dürfte ihm auf jeden Fall ebenso bekannt gewesen sein wie der Umstand, dass sich ein Kaiser, der zur Annahme des Amtes gedrängt wurde, der Loyalität seines Umfeldes sicher sein konnte und zudem seiner Herrschaft den Anstrich rechtlicher Gültigkeit verlieh.360 Neben diesen Fällen einer in erster Linie formelhaft vollführten Machtzurückweisung, bei der Tränen von Bedeutung waren und die schließlich doch zu einer Einwilligung in das Anliegen der Bittenden führte, wurde das Kaiseramt auch mit Erfolg tränenreich abgelehnt. In der Historia Augusta wird berichtet, dass Claudius Pompeianus, der Schwager des Commodus, sich zu Pertinax begab, den verstorbenen Kaiser beweinte und von Pertinax aufgefordert wurde, die Herrschaft zu übernehmen. Da er sah, dass die Prätorianer diesen bereits zum neuen Imperator ausgerufen hatten, lehnte er sie ab.361 Der Grund dafür, dass er das Amt angetragen bekam, ist möglicherweise in der hohen Wertschätzung zu sehen, die ihm als erfahrenem Militär und Berater Mark Aurels allgemein entgegengebracht wurde; seine Ablehnung mag neben der klugen Einschätzung der Situation damit zusammenhängen, dass er zum genannten Zeitpunkt bereits ein älterer Mann war. An der beschriebenen Szene ist seine charakterliche Integrität bestens abzulesen – er weinte um Commodus, obwohl dieser seine Frau und seinen Sohn hatte umbringen lassen, und die Bekundung seiner Trauer um den Verstorbenen diente nicht dazu, ihn als geeigneten (da bescheidenen) Nachfolger zu präsentieren.362 Umgekehrt führte seine Reaktion sicherlich auch dazu, den Machtanspruch des Pertinax zu festigen. Zahlreiche weitere Fälle einer Ablehnung des Kaiseramtes, bei denen kein Tränenvergießen erwähnt wird, sind in den Quellen oftmals nicht minder dramatisch ausgestaltet.363 Wie sich zeigte, war der künftige Herrscher bei der Übernahme der Macht bestrebt, sich bescheiden zu geben.364 Die Interaktion mit denen, die ihn 360 Vgl. Huttner (2004), S. 211 f. 361 SHA Pert. 4, 10: Et cum ad eum Claudius Pompeianus, ger Mar[i]ci, venisset casumque Commodi lacrimasset, hortatus Pertinax, ut imperium sumeret. sed ille recusavit, quia iam imperatorem Pertinacem videbat. – Pertinax wurde am folgenden Tag (1. Januar 193) offiziell zum Kaiser erhoben. 362 Ein Angebot des Didius Iulianus, sich an der Herrschaft zu beteiligen (e Tarracinensi ad participatum evocavit), lehnte er später ebenfalls ab – mit der Begründung, er sei zu alt und habe schwache Augen (SHA Did. Iul. 8, 3). Vgl. dazu auch Huttner (2004), S. 360 f. – Strukturell teilweise vergleichbar mit dem geschilderten Vorfall ist die Zurückweisung der Herrschaft durch Lucius Verginius Rufus, den Statthalter von Obergermanien, nach der Schlacht bei Vesontio im Mai 68 n. Chr. Cassius Dio berichtet 63, 25, 1, er habe den Tod des Gaius Iulius Vindex betrauert (ἐπένθησε) und sich von seinen Soldaten nicht zum Kaiser ausrufen lassen. 363 Vgl. dazu Huttner (2004), S. 327–364. 364 Bei seiner anfänglichen Machtzurückweisung zeigte sich demnach auch Galba offenbar nicht zuversichtlich, vielmehr scheint die Klage über die gegenwärtigen Zustände das vorherrschende Element gewesen zu sein: Als man ihn am 3.4.58 n. Chr. zum Kaiser ausrief, ließ er – so Sueton – vor sich die Bilder von Leuten aufstellen, die Nero verurteilen und hinrichten hatte lassen und platzierte neben sich einen Knaben, den er aus dem Exil hatte holen lassen; dann beklagte er die Zeitumstände (deplorauit temporum statum), wurde als Kaiser begrüßt, erklärte
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akklamierten, spielte sich nach etablierten Mechanismen bei der Zurückweisung politischer Macht ab, die sich ohne Weiteres den politischen Gegebenheiten des Prinzipats entsprechend modifizieren und somit als rituelle Form (recusatio imperii) entwickeln ließen. 2.4.2 Tränen bei der Rückgabe politischer Macht Nicht nur vor dem Antritt der Herrschaft, sondern auch, wenn er sich bereits im Amt befand, wies ein römischer Kaiser bisweilen seine Macht zurück. Die Bekundung der Absicht, die Herrschaft niederzulegen, war sogar in weitaus mehr Fällen als eine recusatio imperii bei Amtsantritt nicht erfolgreich und diente ebenso wie diese dem Zweck, die bestehende Machtbasis zu sichern oder aber die eigene Machtposition zu betonen. Eine tatsächliche Abdankung erfolgte nur im Falle Diokletians; über drei Kaiser wird berichtet, wie sie tränenreich ihren Rücktritt in Aussicht stellten. Die Tränen des Claudius sowie des Antoninus Pius vor dem Senat wurden bereits behandelt;365 sie sollen hier noch einmal unter dem Aspekt betrachtet werden, dass es sich jeweils um die Androhung einer Abdankung handelte. Auf einen Brief voller schmähender und dreister Drohungen (contumeliosa et minaci et contumaci epistula)366, den ihm der dalmatinische Statthalter Furius Camillus Scribonianus im Zuge seines bürgerkriegsartigen Aufstandes (motu ciuili)367 übersandte und in dem er ihm nahelegte, von der Herrschaft zurückzutreten (cedere imperio), reagierte der als furchtsam und misstrauisch geschilderte Claudius wenig souverän, wie Sueton berichtet: Der Kaiser äußerte vor den ersten Männern des Staates seine Zweifel (dubitauit), ob er dieser Aufforderung Folge leisten solle.368 Anschläge, die man ihm unüberlegt meldete, versetzten ihn ebenfalls in so große Furcht, dass er eine Herrschaftsniederlegung (deponere imperium) in Erwägung zog. Als man einen Mann, der sich in seiner Nähe aufhielt, während er opferte, mit einem Dolch bewaffnet aufgriff, berief der Kaiser eigens den Senat ein, um unter Tränen und lautem Klagen über seine Position zu jammern (lacrimisque et uociferatione miseratus
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sich aber nur zum Statthalter des Senats und des römischen Volkes, vgl. Suet. Galba 10, 1. Ähnlich berichtet Plutarch, dass Galba den Titel Imperator nicht sofort annahm, sondern zunächst Anklagen gegen Nero vorbrachte, den Tod der von Nero hingerichteten herausragenden Männer beklagte (τῶν ἀνῃρημένων ἀνδρῶν ὑπ᾽ αὐτοῦ τοὺς ἐπιφανεστάτους ὀλοφυράμενος) und sich als Diener von Senat und Volk von Rom verstanden wissen wollte (ὡμολόγησεν ἐπιδώσειν τῇ πατρίδι τὴν ἑαυτοῦ πρόνοιαν, οὔτε Καῖσαρ οὔτ᾿ αὐτοκράτωρ, στρατηγὸς δὲ συγκλήτου καὶ δήμου Ῥωμαίων ὀνομαζόμενος), Plut. Galba 5, 2. Vgl. II. 1.3.1. Suet. Claud. 35, 2. Zu diesem Aufstand und seinem Scheitern Suet. Claud. 13, 2: Bellum ciuile mouit Furius Camillus Scribonianus Dalmatiae legatus; uerum intra quintum diem oppressus est legionibus, quae sacramentum mutauerant, in paenitentiam religione conuersis, postquam denuntiato ad nouum imperatorem itinere casu quodam ac diuinitus neque aquila ornari neque signa conuelli mouerique potuerunt. Suet. Claud. 35, 2: Motu ciuili cum eum Camillus, non dubitans etiam citra bellum posse terreri, contumeliosa et minaci et contumaci epistula cedere imperio iuberet uitamque otiosam in priuata re agere, dubitauit adhibitis principibus uiris an optemperaret.
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est condicionem suam), in der er nie in Sicherheit war.369 Die Androhung des Rücktritts wurde von ihm somit übereilt und nahezu inflationär gebraucht, und mit der Erwähnung einer Senatsversammlung, die zu dem Zweck stattfand, dass der Kaiser den übrigen Machteliten etwas vorweinte, beabsichtigt Sueton vermutlich, die mangelnde Fähigkeit des Claudius aufzuzeigen, mit der ständigen Bedrohung, die sein Amt mit sich brachte, umzugehen; zugleich mag der Herrscher aber auch einen besseren Schutz seiner Person angemahnt haben. Eine völlig andere Motivation lag offenbar den in der Historia Augusta geschilderten Tränen des Antoninus Pius zugrunde. Als der Senat seinen Vorgänger nicht vergöttlichen wollte, da er angesehene Männer hatte hinrichten lassen, hielt Antoninus eine Rede, die von Tränen und Wehklagen begleitet war (ἄλλα τε πολλὰ δακρύων καὶ ὀδυρόμενος αὐτοῖς διελέχθη). Neben dieser gestischen Untermalung wird dem abschließenden Satz eine herausragende Bedeutung zugewiesen, denn er wird wörtlich zitiert; der neue Herrscher verkündete vor den Senatoren, er wolle nicht ihr Kaiser sein, wenn Hadrian in ihren Augen ein Bösewicht, Gegner und sogar Feind des Staates gewesen sei, da sie dann ja all seine Maßnahmen für nichtig erklären würden und auch seine Adoption darunter falle. Der Senat gab daraufhin nach, einerseits aufgrund des starken Eindrucks, den diese selbstbewusste Rede auf ihn machte und mit der es Antoninus Pius gelang, seine Achtung zu erhalten (αἰδεσθεῖσα τὸν ἄνδρα), andererseits wegen seiner Furcht vor den Soldaten (τοὺς στρατιώτας φοβηθεῖσα). Durch sein emotionales Auftreten und durch inhaltlich stichhaltige Argumente gelang es laut Sueton dem Kaiser, sich im Senat durchzusetzen, ohne sich jedoch über ihn zu stellen. Sein taktisch kluges Vorgehen führte zu einer Festigung der kaiserlichen Autorität und des Führungsanspruchs, den er de facto besaß und den es auf geschickte Weise umzusetzen galt.370 In äußerst prekärer Lage zeigten dagegen Soldaten und stadtrömische Bevölkerung Vitellius ihre Treue an. Sueton berichtet zunächst, dass der Kaiser Gegenmaßnahmen ergriff, nachdem im achten Monat seiner Regierung, also im August des Jahres 69,371 die Heere in Moesien, Pannonien, Judaea und Syrien von ihm abgefallen waren und Vespasian den Treueid geleistet hatten (uerba iurarunt). Um sich die Ergebenheit und Gunst (studium ac fauorem) derer zu erhalten, die ihm geblieben 369 Suet. Claud. 36: Quasdam insidias temere delatas adeo expauit, ut deponere imperium temptauerit. Quodam, ut supra rettuli, cum ferro circa sacrificantem se deprehenso, senatum per praecones propere conuocavit lacrimisque et uociferatione miseratus est condicionem suam, cui nihil tuti usquam esset, ac diu publico abstinuit. 370 Vgl. Cass. Dio 70, 1, 2. Auch Aurelius Victor berichtet von einer anfänglichen Weigerung des Senats, Hadrian zu vergöttlichen; sein Einlenken wird hier jedoch damit begründet, dass die Senatoren, die dieser angeblich hatte töten lassen, wieder auftauchten, vgl. Aur. Vict. Caes. 14, 13 f.: At patres ne principis oratu quidem ad Divi honorem eidem deferendum flectebantur; tantum amissos sui ordinis tot viros maerebant. Sed postquam subito prodiere, quorum exitium dolori erat, quique suos complexi, censent quod abnuerant. Laut SHA Heliog. 7, 9 f. ließ Hadrian die Männer in seinem Wahnsinn töten, doch Antoninus rettete sie und führte sie dann zum Erstaunen aller in den Senat (was ihm den Beinamen ‚Pius‘ einbrachte): Nam ex eo emollitam insaniam ferunt, per quam multos senatores occidi iusserat. quibus servatis Antoninus Pii nomen meruit, quod eos post ad senatum adduxit quos omnes iussu principis interfectos credebant. 371 Vgl. Shotter (1993), S. 184.
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waren, beschenkte er sie aus öffentlichen und eigenen Mitteln; außerdem führte er in Rom eine Truppenaushebung durch, wobei er den Freiwilligen reiche Entlohnung in Aussicht stellte.372 Da er sich dennoch von allen Seiten bedrängt und verraten sah (ubique superatus atque proditus) und sein militärisches Vorgehen weder zu Land noch auf dem Meer Erfolg zeigte, ließ er sich auf Verhandlungen ein und konnte mit Flavius Sabinus, dem älteren Bruder Vespasians, im Dezember 69 n. Chr. sein Leben (salus) und die ungeheuerliche Summe von hundert Millionen Sesterzen (milies sestertium) aushandeln. Sofort im Anschluss daran verkündete er von den Stufen des Palatium herab den zahlreich versammelten Soldaten, er werde sich von der Regierung zurückziehen, die er ja ohnehin nur widerwillig angenommen habe (cedere se imperio quod inuitus recepisset professus). Als alle lautstark Einwände erhoben (cunctis reclamantibus), verschob er die Angelegenheit. Früh am nächsten Morgen des 18. Dezember stieg er daraufhin in Trauerkleidung (sordidatus) zur Rostra hinab und gab dieselbe Haltung noch einmal bekannt, diesmal unter vielen Tränen (multis cum lacrimis) und aus einem Büchlein abgelesen (e libello).373 Die Soldaten und zudem das römische Volk erhoben wiederum Einspruch (interpellante), forderten ihn auf, nicht den Mut sinken zu lassen (ne deficeret hortante) und wetteiferten miteinander in Hilfeversprechungen, so dass er wieder an Zuversicht gewann (animum resumpsit). Der Kaiser ließ Flavius Sabinus und die übrigen Anhänger Vespasians auf das Kapitol treiben, den Tempel des Iuppiter Optimus Maximus in Brand setzen und die Männer durch das Feuer vernichten. Vom Palast des Tiberius aus schaute er dem Ereignis beim Essen zu. Bald reute ihn die Tat (paenitens facti), was ihn jedoch nur dazu veranlasste, die Schuld anderen zuzuschieben und eine Versammlung einzuberufen, um die Sorge um die öffentliche Ordnung zu beschwören.374 Als Vitellius seinen Dolch, das Symbol der kaiserlichen Macht über Leben und Tod,375 löste und der Reihe nach allen Beamten und Senatoren reichte, nahm ihn 372 Suet. Vit. 15, 1: Octauo imperii mense desciuerunt ab eo exercitus Moesiarum atque Pannoniae, item ex transmarinis Iudaicus et Syriaticus, ac pars in absentis pars in praesentis Vespasiani uerba iurarunt. ad retinendum ergo ceterorum hominum studium ac fauorem nihil non publice priuatimque nullo adhibito modo largitus est. dilectum quoque ea condicione in urbe egit, ut uoluntariis non modo missionem post uictoriam, sed etiam ueteranorum iustaeque militiae commoda polliceretur. 373 Suet. Vit. 15, 2: Urgenti deinde terra marique hosti hinc fratrem cum classe ac tironibus et gladiatorum manu opposuit, hinc Betriacenses copias et duces; atque ubique aut superatus aut proditus salutem sibi et milies sestertium a Flauio Sabino Vespasiani fratre pepigit; statimque pro gradibus Palati apud frequentes milites cedere se imperio quod inuitus recepisset professus, cunctis reclamantibus rem distulit ac nocte interposita primo diluculo sordidatus descendit ad rostra multisque cum lacrimis eadem illa, uerum e libello testatus est. 374 Suet. Vit. 15, 3: Rursus interpellante milite ac populo et ne deficeret hortante omnemque ope ram suam certatim pollicente, animum resumpsit Sabinumque et reliquos Flauianos nihil iam metuentis ui subita in Capitolium compulit succensoque templo Iouis Optimi Maximi oppressit, cum et proelium et incendium e Tiberiana prospiceret domo inter epulas. non multo post paenitens facti et in alios culpam conferens uocata contione iurauit coegitque iurare et ceteros nihil sibi antiquius quiete publica fore. 375 Vgl. Shotter (1993), S. 188 und die Formulierung ius necis vitaeque civium, die Tac. hist. 3, 68, 2 bei der Beschreibung dieser Ereignisse wählt. – Plut. Luc. 28, 6 beschreibt, wie der armeni-
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keiner an. Ebenso ließ man ihn den Dolch nicht im Tempel der Concordia niederlegen, sondern brachte den Kaiser dazu, ihn zu behalten und sogar die Annahme des Beinamens Concordia zu erwägen. An die Nachrichten dieses selbstgerechten Verhaltens knüpft der Bericht vom Ende des Kaisers an, der zunächst noch eine Einigung auf dem Verhandlungsweg zu erzielen suchte.376 Dass Vitellius von den Ereignissen überrumpelt wurde und völlig unvermittelt vor seinen Soldaten in Tränen ausbrach, ist wenig wahrscheinlich. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass der Kaiser über die Zustände in Rom hinreichend informiert war, so dass er Kenntnis darüber besaß, wie loyal ihm Truppen und Volk noch gesonnen waren. Zudem war sicherlich abzusehen, dass unter den gegebenen Umständen eine starke emotionale Reaktion beider Seiten geradezu provoziert wurde. Zunächst begnügte Vitellius sich noch mit einer einfachen verbalen Erklärung seiner Abdankung, die auf Widerspruch stieß. Bei seiner zweiten Ankündigung, das Herrscheramt niederzulegen, steigerten Tränen und Trauerkleidung die Wirkung seiner Rede. Sein Auftreten als Bittflehender zielte ganz offensichtlich auf die Emotionen seiner Zuhörer ab und hatte den Effekt, dass Soldaten wie Volk dem Kaiser ihre Unterstützung zusicherten. Das Niederlegen des Dolches war für die Senatoren eine unmissverständliche symbolische Handlung und führte zur Bekräftigung ihrer Position. War dieses Resultat beabsichtigt? Die Ablehnung des Herrscheramtes wurde von Vitellius laut Sueton drei Mal im Nachhinein praktiziert, und da er schon zuvor bei mehreren Gelegenheiten eine Zurückweisung kaiserlicher Macht zum Ausdruck brachte, ist es wenig wahrscheinlich, dass er in dieser zugespitzten Situation mit einer Zustimmung zu seinem Rücktritt rechnete.377 Zudem gewann der Kaiser nach dem zweiten Abdankungsversuch deutlich an Zuversicht, so dass er sich zunächst selbstsicher geben konnte. Nach dem Brand und dem Tod des Flavius Sabinus war es strategisch klug, abermals um eine Bestätigung seiner Regierung zu ersuchen. Daher drängt sich die Folgerung auf, Vitellius habe erwartet, dass man ihm zu einem Verbleiben im Amt drängte.378 Mit dem Auftritt als Bittflehender ließ er sich die Treue seiner Untergesche König Tigranes II. während der Kämpfe bei Tigranokerta 69 v. Chr. weinend sein Diadem, das Bestandteil des königlichen Ornats war, an seinen Sohn übergab, der es wiederum einem Diener aushändigte; dieser wurde dann von den Römern gefangengenommen. 376 Suet. Vit. 15, 4–16, 1: Tunc solutum a latere pugionem consuli primum, deinde illo recusante magistratibus ac mox senatoribus singulis porrigens, nullo recipiente, quasi in aede Concordiae positurus abscessit. sed quibusdam adclamantibus ipsum esse Concordiam, rediit nec solum retinere se ferrum affirmauit, uerum etiam Concordiae recipere cognomen; suasitque senatui, ut legatos cum uirginibus Vestalibus mitterent pacem aut certe tempus ad consultandum petituros. Kapitel 16 und 17 schildern, wie der Kaiser umkommt; seine dabei deutlich ersichtliche Feigheit bildet einen Kontrast zu der zuvor dargelegten Selbstgefälligkeit, die in der Art und Weise seines Todes (er wird gedemütigt und gefoltert) eine Entsprechung findet. 377 Huttner (2004), S. 171–176 setzt sich mit der Zurückweisung von Machtkompetenzen (vor allem aber des Caesarentitels) auseinander, die Vitellius bei mehreren Gelegenheiten betrieb, und gelangt dabei zu dem Schluss, dass sie in erster Linie als formelhaft zu verstehen ist. 378 Dass Huttner diese Episode in seiner Monographie nicht erwähnt, zeigt deutlich, wie schematisch er bei der Behandlung des Themas vorgeht. Zwar handelt es sich in diesem Fall nicht um eine recusatio imperii im eigentlichen Sinn, doch sind hier genau jene Elemente zu finden, die Huttner für eine Ablehnung der Macht bei Herrschaftsantritt konstatiert.
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benen zusichern; die Bindung zwischen Kaiser und römischen Bürgern war offensichtlich so eng, dass er diese Ressource angesichts der drohenden Auseinandersetzungen anzuwenden wagte.379 Die Senatoren versicherten ihm dann erneut, dass er auf ihre Loyalität zählen konnte. Somit ergibt sich das Bild, dass Vitellius die Reihenfolge, mit der sich ein römischer Kaiser bei Amtsantritt von den drei maßgeblichen Gruppen im Staat bestätigen ließ, umkehrte (die Abdankung erfolgte vor Soldaten, Volk und schließlich Senat).380 Zwar ist trotz dieser Überlegungen nicht der eindeutige Nachweis dafür erbracht, aber dennoch liegt auf dieser Grundlage die Schlussfolerung nahe, dass es sich bei seinem Auftritt um eine bewusste Inszenierung handelte, die darauf abzielte, den Konsens, den man ihm zu Beginn seiner Herrschaft bekundete, erneut einzuholen – und zwar ebenfalls unter Zuhilfenahme von Gesten, mit deren Symbolkraft alle Beteiligten vertraut waren.381 Eine andere Möglichkeit besteht darin, Vitellius die Absicht zuzuschreiben, er habe zumindest am Anfang zurücktreten wollen, um seine Macht nicht Vespasian übergeben zu müssen; da seine Gesten nicht eindeutig, sondern ambivalent waren, erzielte er den Effekt, seine Position bestätigt zu bekommen.382 Die Schilderung derselben Ereignisse in den taciteischen Historien ist zwar länger, aber gerade was die Bekundung der Rücktrittsabsicht angeht ungenauer.383 Tacitus betont ausgiebig den Rückhalt und die Sympathie, die der Kaiser bei Soldaten und Volk genoss,384 erwähnt jedoch nur einen einzigen Versuch des Vitellius, seine Macht zurückzugeben, und zwar denjenigen am 18. Dezember.385 In dem Bewusstsein, dass seine Herrschaft nicht länger Bestand haben würde, verließ Vitellius die kaiserliche Residenz, um unter Anwesenheit des Volkes durch die Stadt zu schreiten und dadurch seinen Rückzug von der Herrschaft anzuzeigen – ein Vorfall, für den in der Geschichte Roms – so Tacitus – keine Parallelen zu finden sind.386 Bei der anschließend abgehaltenen Versammlung verkündete der Kaiser vor Mitgliedern unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen (Soldaten waren an379 380 381 382
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Zur Vertrautheit und emotionalen Nähe als Ressource vgl. Flaig (22004), S. 114. Vgl. Flaig (1992), S. 564. Vgl. Flaig (1992), S. 568. Vgl. Flaig (1992), S. 566 f. Auf diese Erklärung deutet auch die Bemerkung des Tacitus, die Bekräftigungen seitens der Soldaten seien bei Vitellius auf taube Ohren gestoßen, er sei vielmehr aus Sorge um seine Frau und seine Kinder bestrebt gewesen, nicht die Position des Verlierers gegenüber Vespasian einnehmen zu müssen, vgl. Tac. hist. 3, 67, 1: Surdae ad fortia consilia Vitellio aures: obruebatur animus miseratione curaque, ne pertinacibus armis minus placabilem victorem relinqueret coniugi ac liberis. Vgl. Flaig (1992), S 564. Die Ereignisse vom Abkommen zwischen Flavius Sabinus und Vitellius bis hin zum Tod des Sabinus werden Tac. hist. 3, 64–75 behandelt. Vgl. Tac. hist. 3, 66 und 3, 67, 2. Die Szene ereignete sich auf die Nachricht vom Abfall der Truppen in Narnia hin, Tac. hist. 3, 67, 2 wird das genaue Datum genannt: XV kalendas Ianuarias audita defectione legionis cohortiumque, quae se Narniae dediderant, pullo amictu Palatio degreditur, maesta circum familia (…). Tac. hist. 3, 68, 1: Nec quisquam adeo rerum humanarum immemor quem non commoveret illa facies, Romanum principem et generis humani paulo ante dominum relicta fortunae suae sede per populum, per urbem exire de imperio. nihil tale viderant, nihil audierant. repentina vis
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wesend, und sogar Frauen schauten zu) in wenigen, der traurigen Stimmung angemessenen Worten, dass er für die Schaffung von Frieden und im Interesse des Staates abtrete (cedere se pacis et re publicae causa), dass sie aber die Erinnerung an ihn hochhalten und seinen Familienmitgliedern (Bruder, Gattin und die noch jungen Kinder) Mitleid zollen sollten. Der knappen verbalen folgte eine gestische Bekundung: Vitellius hielt seinen Sohn vor sich, um ihn einzelnen und der Volksmenge in ihrer Gesamtheit zu empfehlen, und versuchte schließlich seinen von der Seite gelösten Dolch dem Konsul Caecilius Simplex, der neben ihm stand, zu übergeben – ohne Worte, denn das Weinen hinderte ihn am Sprechen (fletu praepediente).387 Dieser wies ihn ab, und ebenso taten es lautstark alle übrigen in der Versammlung Anwesenden, die schließlich noch vehementer protestierten, als Vitellius seine Herrschaftsinsignien (insignia imperii) im Tempel der Concordia niederlegen und sich in die Privatwohnung seines Bruder begeben wollte – man drängte ihn dazu, sich in das Palatium zu begeben.388 In den Historiae wird diese Szene also mit höchster Dramatik beschrieben; der Grund dafür, dass Tacitus die Wiedergabe der Ereignisse an dieser Stelle verdichtet und die drei Versuche des Vitellius, die Herrschaft niederzulegen, in einen gebündelt hat, ist aber vermutlich weniger literarisch-ästhetischen Gesichtspunkten geschuldet als der Absicht, die Persönlichkeit des Vitellius als kohärent zu präsentieren – er hatte erkannt, wie ausweglos die Situation war, und unternahm einen energischen, aber wirkungslosen Rücktrittsversuch.389 Tacitus stellt die Ereignisse differenzierter und facettenreicher als Sueton dar; die Frage, welche Überlegungen dem Rücktrittsgesuch des Vitellius zugrundegelegen haben, kann er jedoch ebenfalls nicht lösen. Dem in zeremonieller Formensprache vorgebrachten Anliegen, die Kaiserherrschaft abzulegen, wurde jedenfalls von den Instanzen, die sie dem Prätendenten angetragen hatten, nicht stattgegeben.390
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dictatorem Caesarem oppresserat, occultae Gaium insidiae, nox et ignotum rus fugam Neronis absconderant, Piso et Galba tamquam in acie cecidere. Tac. hist. 3, 68, 2: In sua contione Vitellius, inter suos milites, prospectantibus etiam feminis, pauca et praesenti maestitiae congruentia locutus – cedere se pacis et rei publicae causa, retinerent tantum memoriam sui fratremque et coniugem et innoxiam liberorum aetatem miserarentur –, simul filium protendens, modo singulis modo universis commendans, postremo fletu praepediente adsistenti consuli (Caecilius Simplex erat) exolutum a latere pugionem, velut ius necis vitaeque civium, reddebat. Tac. hist. 3, 68, 3: Aspernante consule, reclamantibus qui in contione adstiterant, ut in aede Concordiae positurus insignia imperii domumque fratris petiturus discessit. maior hic clamor obsistentium penatibus privatis, in Palatium vocantium. interclusum aliud iter, idque solum quo in sacram viam pergeret patebat: tum consilii inops in Palatium redit. Vgl. Heubner (1972), S. 148 f., der die Darstellung des Tacitus derjenigen bei Sueton und Cassius Dio (der in diesem Zusammenhang jedoch keine Tränen erwähnt) gegenüberstellt; anders als diese porträtiert er den Kaiser nicht als wankelmütigen Tyrannen, der die Situation bedingungslos zum eigenen Vorteil ausnutzt. Daher schildere Tacitus den Verlauf der Ereignisse gegen Ende der Regierung des Vitellius so genau, um die Schuld am Brand nicht allein Vitellius und seinen Truppen zuzuweisen, vgl. Heubner (1972), S. 151. Dies erscheint gerade dann folgerichtig, wenn bedacht wird, dass die rituell geprägten Kommunikationsmuster bei der Übernahme der Herrschaft zu deren Annahme führten; demnach konnte
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
Erfolgreich war nur eine einzige Abdankung eines römischen Kaisers. Am 1. Mai 305 legte Diokletian in Nikomedeia die Herrschaft nieder, und der von ihm ernannte Augustus des Westens, Maximian, tat es ihm gleich. Sein Rücktritt wird von der Forschung und den antiken Quellen überwiegend als eine Maßnahme gedeutet, die auf die Stabilisierung der politischen Verhältnisse im Römischen Reich abzielte und die auf ein hohes Ethos des Kaisers hindeutet. Andererseits findet sich auch Polemik gegen seinen Rückzug ins Privatleben, so etwa bei Laktanz.391 Bereits in Kapitel 17 von De mortibus persecutorum wird Diokletian als nur unter Vorbehalten zurechnungsfähiger alter Mann präsentiert, der nach schwerer Krankheit geschwächt und nicht mehr gänzlich genesen ist; dem Leser wird dabei suggeriert, dass sein Niedergang als Folge der von ihm initiierten Christenverfolgung aufzufassen ist.392 Als wahrer Urheber der abdicatio wird der Caesar Galerius präsentiert, der seinen Adoptivvater zunächst mit Sachargumenten – er sei ja bereits ein alter Mann (iam senem esse) und solle sich nach den Mühen der Regierung zur Ruhe setzen (requiescere post labores)393 – zu überreden versuchte; als dieser sich jedoch unwillig zeigte (aber dem Caesar der Osthälfte des Imperiums immerhin anbot, sich die Bezeichnung Augustus zuzulegen, wenn es ihm um den Kaisertitel gehe), drohte ihm Galerius.394 Daraufhin lenkte Diokletian ein; seine in knappen Worten erteilte Zustimmung entspricht dabei in ihrer Wirkung dem Bild, das Laktanz an dieser Stelle von ihm entwirft: Der Augustus des Ostens ist ein alter, entkräfteter Mann, der sich unter Tränen (lacrimabundus) zu einem Einverständnis genötigt sieht.395 In gleicher Weise gab er bei der Besetzung der Caesaren-Posten den Forderungen des Galerius nach, wobei das Attribut gemebundus als eine Entsprechung zu lacrimabundus fungiert.396
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die Bekundung eines Rücktritts vom Kaiseramt nur ebenso eine Bestätigung der Position nach sich ziehen. Die Abdankung konnte demnach nur dann konsequent sein, wenn der Kaiser nicht den Konsens der ihn legitimierenden Instanzen zu seinem Handeln einzuholen versuchte, sondern sie vor vollendete Tatsachen stellte, wie es Diokletian dann tat. Dass eine ehrenvolle Möglichkeit, sich in bereits als verloren einzuschätzender Lage zurückzuziehen, nur der eigenmächtig herbeigeführte eigene Tod bieten konnte, verdeutlicht etwa das Beispiel Othos, vgl. II. 2.2.2.3. Vgl. Huttner (2004), S. 388 f. Die maßgeblichen literarischen Quellen behandelt Huttner auf S. 365–389. Vgl. Lact. mort. pers. 17, 1: Hoc igitur scelere perpetrato Diocletianus, cum iam felicitas ab eo recessisset, perrexit statim Romam. Der Rest des Kapitels befasst sich mit der Krankheit, die ihn in Nikomedeia mit solcher Härte traf, dass es ihn fast das Leben und einen Teil seiner geistigen Gesundheit kostete, vgl. vor allem 17, 9: Et ille Idibus Decembribus morte sopitus animam receperat, nec tamen totam. Demens enim factus est, ita ut certis horis insaniret, certis resipisceret. Auf das eigene hohe Alter wird mitunter auch bei einer recusatio imperii verwiesen, vgl. Huttner (2004), S. 381. Vgl. Lact. mort. pers. 18, 1–6. Lact. mort. pers. 18, 7: His auditis senex languidus (…), lacrimabundus: „Fiat“, inquit, „si hoc placet.“ Vgl. Lact. mort. pers. 18, 8–15. Schwäche und Resignation Diokletians kommen besonders in den letzten beiden Abschnitten 18, 14 f. zum Ausdruck: At ille gemebundus: „Non idoneos homines mihi das, quibus tutela rei publicae committi possit.“ „Probavi eos“, inquit. „Tu videris, qui regimen imperii suscepturus es. Ego satis laboravi et providi, quemadmodum me im-
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Bei der Beschreibung der Abdankung selbst verwendet Laktanz die Tränen Diokletians als ein physisches Zeugnis seiner umfassenden Schwäche. Der Kaiser habe unter Tränen das Wort an die versammelten Soldaten gerichtet (cum lacrimis alloquitur milites) und ihnen mitgeteilt, er wolle sich aufgrund seiner Krankheit zur Ruhe setzen und die Herrschaft anderen übergeben. Die Ernennung des Maximinus Daia und des Severus zu Caesaren erfolgte allerdings so überraschend, dass aufgrund der großen Bestürzung, die beim Publikum herrschte, keine Proteste laut wurden. Gleich zu Beginn des Kapitels verweist Laktanz darauf, dass Konstantin, der dem Rücktritt Diokletians beiwohnte, der Wunschkandidat der Soldaten für einen Caesarenposten war, und entsprechend harsch fällt seine Kritik besonders an Daia aus. Der oberste Herrscher des Römischen Reiches zeichnet sich durch seine Schwäche, sein Nachfolger Galerius vor allem durch seine Machtgier aus – einen für das Amt qualifizierten wie kraftvollen Augustus gibt es erst wieder mit Konstantin.397 Diokletian wird als weinerlicher alter Mann dargestellt, der nicht mehr zu eigenen Entscheidungen fähig ist; auf menschlicher wie politischer Ebene wird sein Handeln als gescheitert präsentiert. In seinen Tränen kommt dieser Niedergang bildlich zum Ausdruck, was die Vermutung nahelegt, sie seien eine literarische Erfindung des Laktanz.398 Allerdings lassen die zuvor behandelten Beispiele ebenso die Überlegung zu, dass es in dieser von formelhaftem Handeln geprägten Situation statthaft war, Emotionen offen zu zeigen. Um welche genau es sich dabei gehandelt haben mag, ist in diesem Zusammenhang schwer ersichtlich und weniger wichtig als der Umstand, dass eine performative Interaktion mit dem Publikum anzunehmen ist. Deren Interpretation konnte unterschiedlich ausfallen und in den Dienst der eigenen Darstellungsabsicht gestellt werden. 2.4.3 Tränen beim Machtverzicht als inszeniertes Verhalten Abschließend bleibt festzuhalten, dass bei der Bekundung eines Machtverzichts durch einen römischen Herrscher auf ganz unterschiedliche Weise Tränen vergossen wurden und diese in den Quellen verschiedene Funktionen erfüllen konnten: Bei der perante res publica staret incolumis. Si quid accesserit adversi, mea culpa non erit.“ Vgl. dazu vgl. Huttner (2004), S. 382: „Die Einwilligung in die Abdankung wird also von Laktanz zu einem Akt demütiger Schwäche stilisiert, wodurch in einer raffinierten Umordnung einzelner Faktoren eine völlige Umwertung der Abdikation von 305 erzielt wird. Physische Unzulänglichkeit und psychische Schwäche werden bei Laktanz zu wesentlichen Kausalitäten für den Entschluß zur Abdankung, die nicht aus rationalen Gründen, und schon gar nicht aus freien Stücken erfolgt.“ 397 Vgl. Lact. mort. pers. 19, besonders 19, 3–5: Contio militum convocatur, in qua senex cum lacrimis alloquitur milites: Se invalidum esse, requiem post labores petere, imperium validioribus tradere, alios Caesares subrogare. Summ omnium expectatio, quid afferret. Tunc repente pronuntiat Severum et Maximinum Caesares. Obstupefiunt omnes. In tribunali Constantinus adstabat susum. (…) Nemo tamen reclamare ausus est cunctis insperatae novitate rei turbatis. Huttner (2004), S. 389 bemerkt, in der Darstellung des Laktanz sei die Abdankung ein „Zeichen politischer Schwäche und Resignation, da das politische Programm Diokletians und insbesondere die Christenverfolgung gescheitert waren.“ 398 So Huttner (2004), S. 380.
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
Annahme des Titels pater patriae wird Augustus als sichtlich gerührt und bescheiden geschildert, doch ist davon auszugehen, dass er sich der Wirkung seiner Tränen als einer Geste des Konsens bewusst war. Die vor Tiberius weinenden Senatoren wissen kaum mehr einen Ausweg und bedienen sich aller ihnen zur Verfügung stehender Mittel, um die Machtübernahme des Tiberius in einer zeremoniellen Form zu gestalten. Der Westgotenfürst Wamba wird physisch wie verbal so vehement von den anderen Adligen bedrängt, dass ihm kaum ein anderer Ausweg bleibt, als sich ihren Wünschen zu fügen; in seinen Tränen mag sich seine Angst widerspiegeln, zugleich sollen sie aber einen unmissverständlichen Beleg dafür abgeben, dass ihm die Macht aufgezwungen werden musste. Saturninus weint ebenfalls aus Angst, und auch ihm stehen militärische Auseinandersetzungen unmittelbar bevor, doch hält er seinen Untergang von vorneherein für wahrscheinlich. Claudius Pompeianus trauert offensichtlich um seinen Angehörigen, als man ihm die Macht anbietet. An der Erwähnung von Tränen, die einige Herrscher vor ihrem Amtsantritt vergossen haben, zeigt sich demnach, dass diese Situation als emotional höchst aufgeladen empfunden wurde. Dass Emotionen nach außen hin sichtbar gemacht wurden, galt unter solchen Umständen durchaus als angemessen – die Transferierung von Macht erfolgte symbolisch und zeremoniell. Welche Beurteilung Weinen und andere nonverbale Artikulationsformen dabei hatten, hängt vor allem vom Charakter des gewünschten Kandidaten ab, von dem in den literarischen Texten ein Eindruck vermittelt wird. Ähnlich verhält es sich mit Tränen, die bei Schilderungen der (in der Regel nur zum Schein beabsichtigten) Rückgabe kaiserlicher Macht erwähnt werden. Zweimal findet sich die tränenreiche Androhung einer Abdankung: Im Falle des grundsätzlich überängstlichen Claudius wirkt sie eher lächerlich, im Falle des Antoninus Pius untermauert sie dessen untadeligen Charakter. Der Versuch des Vitellius, unter Einbeziehung performativer Elemente seine Herrschaft niederzulegen, misslingt, wobei offen bleiben muss, ob er damit einen Ausweg aus misslicher Lage oder – was wahrscheinlicher ist – eine Bestätigung seiner Herrschaft zu erlangen suchte. Die Darstellung des Laktanz verfolgt den Zweck, Diokletian zu verunglimpfen, die Tränen sind dabei neben weiteren Faktoren ein Element, das den Abdikanten eindeutig zu einem unfähigen Herrscher deklariert. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich, dass die Tränen als ein nonverbales Ausdrucksmittel besonders eindringlich das Näheverhältnis zwischen den Kommunikationspartnern oder aber eine Störung desselben (und zugleich die Absicht, es wiederherzustellen) anzeigen. Bei der recusatio imperii wird ersichtlich, dass die im Amt des Princeps gebündelten Vollmachten nicht ohne Weiteres angenommen werden können, sondern vielmehr dem künftigen Herrscher aufgedrängt werden müssen, damit auf keinen Fall der Eindruck entstehen kann, er sei von persönlichem Ehrgeiz getrieben;399 analog wird für die Rückgabe der Macht ein zeremonieller Rahmen gewählt, der emotionale Komponenten miteinbezieht. Tränen repräsentieren dabei zwar den Kontrollverlust über die eigenen Affekte, doch dieser war in Kontexte eingebunden, die ihn rechtfertigten und ihm eine kommunikative Funktion zuwiesen. Die Tränen sind zwar nicht zwangsweise als geheuchelt (ab-) 399 Vgl. Martínez Pizarro (2005), S. 115.
2. Wer weint – und vor wem?
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zuwerten, doch lässt sich konstatieren, dass sie wenn nicht sogar willkürlich herbeigeführt und eingesetzt, so doch auf jeden Fall bewusst nicht unterdrückt wurden, um die Aufrichtigkeit des eigenen Anliegens zu untermauern. Insofern ist die von Loretana de Libero gewählte Klassifizierung der recusatio imperii als „culmination of teary hypocrisy“ gerechtfertigt.400 2.5 Emotionen und Kommunikation Zwischen den in diesem Kapitel behandelten Personengruppen fand in verschiedenen Konstellationen eine Interaktion statt. Kaiser, Senatoren und Soldaten trafen in unterschiedlichen kommunikativen Kontexten aufeinander, über die von den kaiserzeitlichen Historiographen berichtet wird. Bei zahlreichen Begegnungen traten den Darstellungen zufolge auch Tränen als Reaktion auf bestimmte Vorgänge ein, und neben anderen Faktoren bestimmten sie den weiteren Verlauf der Geschehnisse oft wesentlich. Emotionen stellen ein zentrales Element im Ablauf kommunikativer Vorgänge dar; Tränen können dabei je nach Situation unterschiedliche Emotionen zum Ausdruck bringen, in einigen Fällen, wie etwa den weinenden Feldherren vor meuternden Soldaten, verweisen sie vor allem darauf, dass eine Grenzsituation beschrieben wird. Da die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ebenso wie die konkrete Situation das eigene Handeln bestimmt, ist – so stellen es die Texte dar – der Modus, in dem sich die Äußerung von Emotionen vollzieht, nicht nur ganz im Allgemeinen kulturell determiniert, sondern im Besonderen kontext- und gruppenspezifisch. Soldaten verhielten sich im Umfeld ihrer Kameraden entsprechend den für diese Gemeinschaft geltenden Regeln, und ebenso war das Verhalten eines Feldherrn vor seinen Soldaten, eines Kaisers vor Senatoren oder Volk sowie der Senatoren im Umgang mit dem Kaiser Regeln unterworfen, die nicht zwangsläufig auch in anderen Konstellationen Gültigkeit besaßen. Die Tränen waren stets an einen Adressaten gerichtet, auf dessen Verhalten mitunter bewusst Einfluss genommen werden sollte, indem an ein Näheverhältnis appelliert wurde. In den Episoden aus der Historiographie werden Situationen geschildert, die eine Selbstvergewisserung oder Festigung persönlicher Beziehungen durch Tränen sinnvoll erscheinen ließen (beispielsweise die tränenreiche Rede Caesars vor Überquerung des Rubico bei Sueton oder die Soldaten, die Velleius Paterculus zufolge unter Tränen ihren ehemaligen Kommandeur Tiberius begrüßten). Vor dem Hintergrund, dass beide Kommunikationspartner sich – unter anderem – durch Tränen gegenseitig ihrer Loyalität versicherten, zeigte sich, dass die einzelnen Personengruppen in regelmäßig wiederkehrenden Situationen nach einem bestimmten Muster handelten. Dabei standen ihnen verschiedene Mittel zur Verfügung, aufeinander Bezug zu nehmen und auf Konfliktsituationen zu reagieren. Auf welche Weise und in welcher Intensität ein derartiger Kommunikationsprozess ablief, hing von den Absichten der daran Beteiligten ab. Gerade bei einem 400 De Libero (2009), S. 223.
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
asymmetrischen Machtverhältnis galt es, formelle Umgangsformen zu wahren und der Erwartungshaltung des soziokulturellen Umfeldes zu entsprechen, denn nur dies gewährleistete einen dauerhaften Konsens über die Anerkennung beider Positionen. Hinsichtlich des Grades der Ritualisierung einer derartigen verbalen wie nonverbalen Verständigung existierten Abstufungen. So ist die pathosgeladene Rede des Feldherrn vor der Schlacht (in der Historiographie wie der historischen Wirklichkeit) als ein ritualisiertes Element bei der Kriegsführung zu verstehen, und gerade im militärischen Bereich konnte die Bekräftigung loyaler Bindungen sicherlich als formelhaft angesehen werden – was sie keinesfalls ihrer realen Bedeutung beraubte. Im Falle der Ablehnung herrscherlicher Macht erscheint die Verwendung des Begriffs „Ritual“ durchaus gerechtfertigt, dennoch sollte dieser selbst hier nicht überstrapaziert werden. Inwieweit die recusatio imperii bereits zur Zeit des Tiberius als voll ausgebildetes, in seinen Elementen wie deren Abfolge starr vorgegebenes Ritual gedeutet werden kann, sollte offen gelassen werden. Erst in den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich eine verbindliche Forderung an die Anwärter auf das Amt des Kaisers oder Papstes, ihre Ablehnung mit einer Deutlichkeit zu bekunden, die dem westeuropäischen Leser des 21. Jahrhunderts als überzogen erscheint. Gerade die Person des Tiberius lässt weniger verbindliche Aussagen über dessen Absichten zu, als es zunächst den Anschein hat, und seine Behandlung in den Quellen gestaltet sich durchaus komplex. In jedem Falle aber lässt sich seit Augustus voraussetzen, dass ein ritualisiertes Zögern bei der Machtannahme wenn nicht verbindlich gefordert, so doch für angemessen befunden wurde.401 3. WEINEN FRAUEN ANDERS ALS MÄNNER? Die gesonderte Betrachtung mächtiger Frauen im Hinblick auf ihr Weinverhalten erschließt sich aus dem eingeschränkten oder aber erweiterten Handlungsspielraum, der sich ihnen im Vergleich mit den Männern bot. Eine Partizipation der Frauen des Kaiserhauses an der herrscherlichen Macht wird in den Quellen nicht bestritten; inwieweit ein dementsprechendes Handeln allerdings den gesellschaftlichen und politischen Normen entsprach, darüber wird seitens der antiken Historiographen und der modernen Forschung unterschiedlich geurteilt.402 Das folgende Kapitel soll vor allem der Frage nachgehen, ob sich beim Weinen von Frauen in hohen gesellschaftlichen Positionen genderspezifische Aspekte feststellen lassen oder ob ihr Verhalten schlüssiger mit einer Orientierung an situativen Gegebenheiten zu erklären ist und somit im Wesentlichen dieselben Strukturen wie das Handeln männlicher Führungseliten aufweist. Lassen sich die Tränen von Frauen Hand401 Martínez Pizarro (2005), S. 115 verweist ganz zu Recht auf eine „ritualized reluctance“ der Aristokratie zu Zeiten der Römischen Republik. – Dass es sich dabei um eine eigenständige kulturelle Entwicklung handelte, stellt Flaig (1992), S. 78 heraus, der supplicatio und recusatio als zur römischen Monarchie gehörendes Element beschreibt und sie in Kontrast zu hellenistischen oder orientalischen Monarchien setzt. 402 Vgl. Späth (2010), S. 294.
3. Weinen Frauen anders als Männer?
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lungsmustern zuweisen, an denen evident wird, dass sich ihr eigenständiges Agieren im Einzelfall sehr weit erstrecken konnte? Und ist das Weinen als Reaktion etwa auf emotional aufwühlende Ereignisse spezifisch weiblich? 3.1 Positiv gewertete weibliche Tränen Das Urteil der antiken Autoren über weibliche Tränen fällt in vielen Fällen positiv aus; die Gründe dafür treten nach einer näheren Betrachtung der entsprechenden Schilderungen heraus. In der Regel wird in ihnen am Weinen die Liebe und Treue zu einem nahestehenden Mann evident: Es spiegelt die Angst um ihn in Situationen der Ungewissheit wider. Derartige Frauenporträts finden sich häufig bei Plutarch. Im Zusammenhang mit der Ernennung Catos des Jüngeren zum Militärtribun 67 v. Chr. berichtet der Biograph, dass dessen Frau Atilia vor seiner Abreise nach Makedonien betrübt war und weinte (ἀχθομένης καὶ δακρυούσης). Daraufhin habe Munatius, ein Freund Catos, sie dadurch zu beruhigen versucht, dass er ihr versicherte, er werde ihn für sie bewachen.403 Fünf Jahre später zeigte sich die Besorgnis um den Gatten erneut in ihren Tränen, als er das Volkstribunat bekleidete und sich weigerte, einer Gesetzesvorlage des Quintus Caecilius Metellus Nepos, eines seiner Kollegen, zuzustimmen. Am Tag der Abstimmung hatte Metellus einen Trupp Bewaffneter auf dem Forum aufgestellt und war sich breiter Unterstützung sicher; zwar besaß auch Cato großen Rückhalt gerade bei den vornehmsten Männern des Staates, doch reichte dieser offenbar nicht so weit, ihn bei einem möglichen Kampf zu unterstützen. Angesichts dieser bedrohlichen Lage herrschte in seinem Haus – so beschreibt es Plutarch – tiefe Niedergeschlagenheit und Furcht (κατήφεια καὶ φόβος), und einige seiner Freunde suchten die Nacht hinduch vergeblich nach einem Ausweg. Ehefrau und Schwestern dagegen äußerten ihre Anteilnahme auf sehr eindringliche Weise, indem sie flehentliche Bitten ausstießen und weinten (ποτνιωμέναι καὶ δακρύουσαι). Einzig Cato selbst zeigte sich unerschütterlich und besonnen; er schlief sogar so fest, dass man ihn am Morgen wecken musste.404 403 Plut. Cato min. 9, 1: Ἀποδειχθεὶς δὲ χιλίαρχος, εἰς Μακεδονίαν ἐπέμπετο πρὸς Ῥούβριον τὸν στρατηγόν. ἔνθα δὴ λέγεται, τῆς γυναικὸς ἀχθομένης καὶ δακρυούσης, ἕνα τῶν φίλων τοῦ Κάτωνος Μουνάτιον εἰπεῖν· „ὦ Ἀτιλία, θάρσει· τοῦτον ἐγώ σοι φυλάξω.“ Mit diesem Vorschlag erklärte sich auch Cato selbst einverstanden (ob er die Angesprochene tatsächlich tröstete, bleibt offen), und Plutarch schildert in den folgenden Sätzen, dass er scherzhaft den Spieß umdrehte und Munatius im selben Zimmer zu schlafen nötigte, wobei er ihm vorhielt, dass er ihn ja zu bewachen habe. 404 Plut. Cato min. 27, 2 f.: Πολλὴ δὲ τὴν οἰκίαν αὐτοῦ κατήφεια καὶ φόβος εἶχεν, ὥστε τῶν φίλων ἐνίους ἀσίτους διαγρυπνῆσαι μετ᾽ ἀλλήλων, ἐν ἀπόροις ὄντας ὑπὲρ αὐτοῦ λογισμοῖς, καὶ γυναῖκα καὶ ἀδελφὰς ποτνιωμένας καὶ δακρυούσας, αὐτὸς [δ᾽] ἀδεῶς καὶ τεθαρρηκότως ἐντυχὼν πᾶσι καὶ παρηγορήσας, καὶ γενόμενος περὶ δεῖπνον ὥσπερ εἰώθει καὶ νυκτερεύσας, ὑφ᾽ ἑνὸς τῶν συναρχόντων Μινυκίου Θέρμου βαθέως καθεύδων ἐπηγέρθη. Bei dem Gesetz handelte es sich, wie Plutarch im vorangehenden Kapitel erläutert, um die Erlaubnis an Pompeius, mit seinen Truppen in Italien einzumarschieren, um den Staat gegen Catilina zu schützen; Cato sah allerdings in diesem Zugeständnis eine zu große Gefahr für den Staat. Der Verlauf der Abstimmung, wie er in Plut. Cato min. 28 wiedergegeben wird, gestaltete sich denn
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
Eine ganz ähnliche Situation, die sich ebenfalls in der Lebensbeschreibung Catos findet, ergab sich unter dem Konsulat Caesars im Jahre 59 v. Chr.: Cato verweigerte seine Zustimmung zu dem Ackergesetz, das dieser bald nach Amtsantritt mit Gewalt im Senat durchzusetzen versuchte. Alle übrigen Senatoren beugten sich dem Druck (ὤμνυσαν οὖν ἅπαντες ἐξ ἀνάγκης), da ihnen das Beispiel des Quintus Caecilius Metellus Numidicus vor Augen stand, der 100 v. Chr. in die Verbannung geschickt worden war, weil er sich den Ackergesetzen des Lucius Appuleius Saturninus widersetzt hatte. Auch die weiblichen Mitglieder in Catos Familie (αἱ γυναῖκες οἴκοι) erkannten die Gefahr und baten ihn eindringlich – sie weinten und flehten (δακρύουσαι καθικέτευον) -, nachzugeben; ebenso drangen seine Freunde und Bekannten auf ihn ein. Zu diesen emotionalen Mitteln kam die sachliche Argumentation Ciceros, der Cato aufzeigte, dass seine Weigerung ihm und dem Staat keinen Nutzen bringen werde. Derart im privaten wie öffentlichen Bereich bedrängt, ließ sich Cato tatsächlich zum Nachgeben bringen.405 Auch in weiteren Viten Plutarchs finden sich Beispiele von Frauen, die in Zeiten politischen Umbruchs aus Angst um ihre Ehemänner oder andere Männer aus ihrer Familie, deren Schicksal ungewiss ist, weinen. So versetzte die Bewerbung Caesars um das Amt des Pontifex Maximus im Jahre 63 v. Chr. ihn, da er seine Wahl mit allen Mitteln durchsetzen wollte, in eine nicht ungefährliche Position. Am Tag der Abstimmung zeigte sich in den Tränen seiner Mutter Aurelia große Besorgnis, als sie ihn an die Tür begleitete; Caesar wiederum habe sie, so der Biograph, beim Weggehen geküsst und ihr gesagt, sie werde ihren Sohn als Inhaber des Amtes oder als Verbannten wiedersehen. Durch diese Reaktion gab er ihr offensichtlich zu verstehen, dass er ihre Liebe wertschätzte, verdeutlichte aber andererseits, dass er selbst beabsichtigte, sich ohne Furcht dem Ausgang der Wahl (die bekanntermaßen zu seinen Gunsten ausfiel) zu stellen.406 Gegen Ende der Caesar-Vita erwähnt Plutarch dann unter den verschiedenen Omina, die dessen Tod angekündigt haben sollen, einen Traum seiner Frau Calpurnia, deren Unruhe ihr Gatte deshalb mitbekam, weil sie im Schlaf Wortfetzen ausstieß und ein tiefes Seufzen von sich gab. Der Inhalt des Traumes bestand darin, auch sehr turbulent, doch gelang es Cato schließlich, seine Interessen durchzusetzen. Die Angst um ihn seitens seiner Freunde und Familienmitglieder war aber sicherlich mehr als berechtigt. 405 Die Episode wird Plut. Cato min. 32 behandelt, vgl. besonders 32, 7–11: Διὸ καὶ τὸν Κάτωνα πολλὰ μὲν αἱ γυναῖκες οἴκοι δακρύουσαι καθικέτευον εἶξαι καὶ ὀμόσαι, πολλὰ δὲ οἱ φίλοι καὶ συνήθεις. ὁ δὲ μάλιστα συμπείσας καὶ ἀγαγὼν αὐτὸν ἐπὶ τὸν ὅρκον ἦν Κικέρων ὁ ῥήτωρ, παραινῶν καὶ διδάσκων, ὡς τάχα μὲν οὐδὲ δίκαιόν ἐστι τοῖς ἐγνωσμένοις κοινῇ μόνον οἴεσθαι δεῖν ἀπειθεῖν, ἐν δ᾿ ἀδυνάτῳ τῷ μεταστῆσαί τι τῶν γεγονότων ἀφειδεῖν ἑαυτοῦ παντάπασιν ἀνόητον καὶ μανικόν· ἔσχατον δὲ κακῶν, εἰ δι᾽ ἣν ἅπαντα πράττει πόλιν ἀφεὶς καὶ προέμενος τοῖς ἐπιβουλεύουσιν, ὥσπερ ἄσμενος ἀπαλλάξεται τῶν ὑπὲρ αὐτῆς ἀγώνων· καὶ γὰρ εἰ μὴ Κάτων τῆς Ῥώμης, ἀλλ᾽ ἡ Ῥώμη δεῖται Κάτωνος, δέονται δὲ καὶ οἱ φίλοι πάντες· ὧν αὑτὸν εἶναι πρῶτον ὁ Κικέρων ἔλεγεν, ἐπιβουλευόμενον ὑπὸ Κλωδίου, διὰ δημαρχίας ἄντικρυς ἐπ᾽ αὐτὸν βαδίζοντος. ὑπὸ τούτων φασὶ καὶ τοιούτων τὸν Κάτωνα λόγων καὶ δεήσεων μαλασ– σόμενον οἴκοι καὶ κατ᾽ ἀγοράν, ἐκβιασθῆναι μόλις καὶ προσελθεῖν πρὸς τὸν ὅρκον ἔσχατον ἁπάντων, πλὴν ἑνὸς Φαωνίου τῶν φίλων καὶ συνήθων. 406 Plut. Caes. 7, 3 f.: Τῆς δ᾽ ἡμέρας ἐνστάσης, καὶ τῆς μητρὸς ἐπὶ τὰς θύρας αὐτὸν οὐκ ἀδακρυτὶ προπεμπούσης, ἀσπασάμενος αὐτήν, „ὦ μῆτερ“ εἶπε, „τήμερον ἢ ἀρχιερέα τὸν υἱὸν ἢ φυγάδα ὄψει.“ διενεχθείσης δὲ τῆς ψήφου καὶ γενομένης ἁμίλλης, ἐκράτησε.
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dass sie um ihren toten Gatten weinte und den Ermordeten in ihren Armen hielt (κλαίειν ἐκεῖνον ἐπὶ ταῖς ἀγκάλαις ἔχουσα κατεσφαγμένον); eine alternative Version lautete, so der Biograph, dass Calpurnia den Giebelschmuck am Haus Caesars, ein vom Senat zugestandenes Zeichen seiner Würde, herabgerissen sah und deswegen klagte und weinte. Aufgrund dieser Traumzeichen wandte sie sich mit der Bitte an Caesar, die Senatsversammlung aufzuschieben oder zumindest, wenn er ihren Träumen keine Beachtung schenke, weiteren Rat einzuholen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass laut Plutarch nicht die im Schlaf erfahrenen Omina, sondern vielmehr die Reaktion der Calpurnia auf sie den Gatten (nach weiteren unheilverkündenden Vorzeichen seitens der Seher) zu einer Absage der Senatssitzung bewegte – hatte er doch zuvor an ihrer Gottesfurcht nie weibliche Züge entdeckt (οὐδένα γὰρ γυναικισμὸν ἐν δεισιδαιμονίᾳ πρότερον κατεγνώκει τῆς Καλπουρνίας) und war durch dieses für sie ungewöhnliche, emotional aufgeladene Verhalten selbst von böser Vorahnung und Furcht ergriffen.407 Dennoch wurde er schließlich von Decimus Iunius Brutus Albinus überredet, sich in die Kurie zu begeben, wo ihn die Verschwörer ermordeten.408 In ähnlicher Art verweisen die Tränen der Porcia in Plutarchs Brutus-Vita auf eine metaphorische Ebene: In den politisch labilen Monaten nach dem Tod Caesars entschloss sich Brutus, Italien zu verlassen und reiste im Sommer 44 v. Chr. mit seiner Frau zum süditalischen Velia, um von dort aus nach Griechenland überzusetzen. Porcia dagegen sollte nach Rom zurückkehren und versuchte zu verbergen, wie sehr sie innerlich aufgewühlt war (λανθάνειν ἐπειρᾶτο περιπαθῶς ἔχουσα). Obwohl sie sich ansonsten ihrer edlen Herkunft entsprechend verhielt, gelang es ihr 407 Plut. Caes. 63, 8–12: Μετὰ ταῦτα κοιμώμενος ὥσπερ εἰώθει παρὰ τῇ γυναικί, πασῶν ἅμα τῶν θυρῶν τοῦ δωματίου καὶ τῶν θυρίδων ἀναπεταννυμένων, διαταραχθεὶς ἅμα τῷ κτύπῳ καὶ τῷ φωτὶ καταλαμπούσης τῆς σελήνης, ᾔσθετο τὴν Καλπουρνίαν βαθέως μὲν καθεύδουσαν, ἀσαφεῖς δὲ φωνὰς καὶ στεναγμοὺς ἀνάρθρους ἀναπέμπουσαν ἐκ τῶν ὕπνων· ἐδόκει δ᾿ ἄρα κλαίειν ἐκεῖνον ἐπὶ ταῖς ἀγκάλαις ἔχουσα κατεσφαγμένον· οἱ δ᾿ οὔ φασι τῇ γυναικὶ ταύτην γενέσθαι τὴν ὄψιν, ἀλλ᾿, ἦν γάρ τι τῇ Καίσαρος οἰκίᾳ προσκείμενον οἷον ἐπὶ κόσμῳ καὶ σεμνότητι τῆς βουλῆς ψηφισαμένης ἀκρωτήριον, ὡς Λίβιος ἱστορεῖ, τοῦτ᾿ ὄναρ ἡ Καλπουρνία θεασαμένη καταρρηγνύμενον ἔδοξε ποτνιᾶσθαι καὶ δακρύειν. ἡμέρας δ᾽ οὖν γενομένης ἐδεῖτο τοῦ Καίσαρος, εἰ μὲν οἷόν τε, μὴ προελθεῖν, ἀλλ᾽ ἀναβαλέσθαι τὴν σύγκλητον· εἰ δὲ τῶν ἐκείνης ὀνείρων ἐλάχιστα φροντίζει, σκέψασθαι διὰ μαντικῆς ἄλλης καὶ ἱερῶν περὶ τοῦ μέλλοντος. εἶχε δέ τις ὡς ἔοικε κἀκεῖνον ὑποψία καὶ φόβος· οὐδένα γὰρ γυναικισμὸν ἐν δεισιδαιμονίᾳ πρότερον κατεγνώκει τῆς Καλπουρνίας, τότε δ᾿ ἑώρα περιπαθοῦσαν. ὡς δὲ καὶ πολλὰ καταθύσαντες οἱ μάντεις ἔφρασαν αὐτῷ δυσιερεῖν, ἔγνω πέμψας Ἀντώνιον ἀφεῖναι τὴν σύγκλητον. Zur Reaktion der Calpurnia als Ursache für Caesars Unbehagen vgl. Pelling (2011), S. 472 f. 408 Vgl. Plut. Caes. 64–66. Decimus Iunius Brutus führt nur die Träume Calpurnias als Grund für Caesars Bedenken an und versucht ihre Bedeutung durch seinen Spott darüber herabzuwürdigen, vgl. Plut. Caes. 64, 4 f.: Εἰ δὲ φράσει τις αὐτοῖς καθεζομένοις νῦν μὲν ἀπαλλάττεσθαι, παρεῖναι δ᾿ αὖθις, ὅταν ἐντύχῃ βελτίοσιν ὀνείροις Καλπουρνία, τίνας ἔσεσθαι λόγους παρὰ τῶν φθονούντων; ἢ τίνα τῶν φίλων ἀνέξεσθαι διδασκόντων ὡς οὐχὶ δουλεία ταῦτα καὶ τυραννίς ἐστιν; Dass der vom Schicksal bestimmte Verlauf der Ereignisse dennoch eintrat, kündigt Plutarch bereits im Einleitungssatz der Episode, die Caesars Tod schildert, an und betont dabei die Unvermeidlichkeit des Geschehens, vgl. Plut. Caes. 63, 1: Ἀλλ᾽ ἔοικεν οὐχ οὕτως ἀπροσδόκητον ὡς ἀφύλακτον εἶναι τὸ πεπρωμένον, ἐπεὶ καὶ σημεῖα θαυμαστὰ καὶ φάσματα φανῆναι λέγουσι.
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nicht, ihren Schmerz zu verbergen, denn ein Gemälde mit der Darstellung des Abschieds Hektors von Andromache gab ihre Gefühle zu erkennen. Das Bild war von so eindringlicher Wirkung, dass es sie zu Tränen rührte (ἐξέτηξεν εἰς δάκρυα), und sie ging mehrmals am Tag zu ihm hin und weinte (πολλάκις φοιτῶσα τῆς ἡμέρας ἔκλαιεν). Als Acilius, ein Freund des Brutus, die Abschiedsworte der Andromache aus der Ilias zitierte, brachte dieser ihm gegenüber jedoch zum Ausdruck, dass die Erwiderung Hektors sich nicht in Bezug auf Porcia eigne, denn seine Gattin sei nur durch ihre natürliche körperliche Schwäche an der Teilnahme am Kampf gehindert, im Geist aber sei sie eine den Männern ebenbürtige Kämpferin.409 In der Schilderung Plutarchs empfindet Porcia die Situation der Trojanerin als der eigenen ähnlich, und in mehrfacher Konfrontation mit dem Bild wird sie ihr vor Augen geführt. Der direkte Verweis auf ihre Gefühle präsentiert sie als liebende Ehefrau, ihr Verhalten ist aber weitaus mehr als eine bloße Untermalung der Tragik des Geschehens – ihr Mann kommentiert es und spricht ihr große Tapferkeit zu, da nur ihre Physis sie daran hindere, sich den Männern anzuschließen. Ob die Anekdote nun der Wahrheit entspricht oder nicht, sie fügt sich sehr stimmig in die Konzeption der Vita, denn wie es bei Hektor der Fall war, so sollte Brutus seine Frau nach dem Abschied nicht mehr wiedersehen.410 In eine christliche Wundererzählung bindet Gregor von Tours die Tränen der Frau des Aetius, die nicht mit Namen erwähnt wird, ein. Als sie erfuhr, dass ihrem Mann, der im Jahre 451 in Gallien gegen die Hunnen kämpfte, höchste Gefahr drohte, betete sie in der Peterskirche in Rom tage- und nächtelang um seine wohlbehaltene Rückkehr.411 Die emotionalen Triebkräfte, die sie zu diesem Bitten drängten, benennt Gregor explizit: Sie war von Unruhe und Trauer ergriffen (anxia 409 Plut. Brut. 23: Ἐν μὲν οὖν ταῖς πρώταις ἐπιστολαῖς τοιοῦτος ὁ Βροῦτος· ἤδη δὲ τῶν μὲν ὡς Καίσαρα, τῶν δ᾽ ὡς Ἀντώνιον διισταμένων, ὠνίων δὲ τῶν στρατοπέδων ὥσπερ ὑπὸ κήρυκι προστιθεμένων τῷ πλέον διδόντι, παντάπασι ἀπογνοὺς τῶν πραγμάτων ἔγνω καταλιπεῖν Ἰταλίαν, καὶ πεζῇ διὰ Λευκανίας εἰς Ἐλέαν ἐπὶ θάλασσαν ἧκεν. ὅθεν ἡ Πορκία μέλλουσα πάλιν εἰς Ῥώμην ἀποτραπέσθαι, λανθάνειν μὲν ἐπειρᾶτο περιπαθῶς ἔχουσα, γραφὴ δέ τις αὐτὴν προὔδωκε, τἆλλα γενναίαν οὖσαν. ἦν γὰρ ἐκ τῶν Ἑλληνικῶν διάθεσις, προπεμπόμενος Ἕκτωρ ὑπὸ Ἀνδρομάχης, κομιζομένης παρ᾽ αὐτοῦ τὸ παιδίον, ἐκείνῳ δὲ προσβλεπούσης. ταῦτα θεωμένην τὴν Πορκίαν ἡ τοῦ πάθους εἰκὼν ἐξέτηξεν εἰς δάκρυα, καὶ πολλάκις φοιτῶσα τῆς ἡμέρας ἔκλαιεν. Ἀκιλίου δέ τινος τῶν Βρούτου φίλων τὰ πρὸς Ἕκτορα τῆς Ἀνδρομάχης ἔπη διελθόντος· Ἕκτορ, ἀτὰρ σύ μοί ἐσσι πατὴρ καὶ πότνια μήτηρ | ἠδὲ κασίγνητος, σὺ δέ μοί θαλερὸς παρακοίτης, μειδιάσας ὁ Βροῦτος, „ἀλλ᾽ οὐκ ἐμοί γ᾽,“ εἶπε, „πρὸς Πορκίαν ἔπεισι φάναι τὰ τοῦ Ἕκτορος· | ἱστόν τ᾿ ἠλακάτην τε καὶ ἀμφιπόλοισι κέλευε· σώματος γὰρ ἀπολείπεται φύσει τῶν ἴσων ἀνδραγαθημάτων, γνώμῃ δ᾽ ὑπὲρ τῆς πατρίδος ὥσπερ ἡμεῖς ἀριστεύει.“ ταῦτα μὲν ὁ τῆς Πορκίας υἱὸς ἱστόρηκε Βύβλος. Brutus verweist seine Frau eben nicht auf das ihr gesellschaftlich zugewiesene Terrain, ganz im Gegensatz zu Hektor, der Andromache anweist, sich auch gedanklich mit dem ihr als Frau zustehenden Gebiet (nämlich dem Spinnen und Weben sowie der Anleitung der innerhalb der Hierarchie des Hauses unter ihr stehenden Frauen in diesem Bereich) zu befassen, da der Krieg Sache der Männer sei. 410 Die Tapferkeit der Porcia wird nochmals am Ende der Biographie hervorgehoben, denn sie begeht auf die Nachricht vom Tod ihres Mannes hin Selbstmord, wobei Plutarch ausdrücklich ihre Liebe zu Brutus betont, vgl. Plut. Brut. 53, 5–7. 411 Vgl. II. 1.6.
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atque maesta). Zwar ist das Schicksal ihres Mannes bereits vorherbestimmt, doch ihr kontinuierliches Weinen bewirkt eine Änderung, wobei dieser Kausalzusammenhang dem Leser der Episode folgendermaßen offengelegt wird: Eines nachts wurde ein Betrunkener in der Kirche eingesperrt und sah zwei Männer, die sich unterhielten. Der eine merkte an, dass er die Tränen der Frau des Aetius nicht länger ertragen könne (uxoris Aeti lacrimas diutius sustenire non patior), da sie unablässig um die Rückkehr ihres Mannes bete und doch anderes beschlossen sei. Daher habe er selbst eine unermessliche Gnade (inmensam pietatem) für sein Leben erwirkt und werde ihn nun lebend aus Gallien zurückbringen. Wer aber diese Unterredung mitangehört habe, der solle das Geheimnis Gottes (arcanum Dei) nicht einem anderen kundtun, sonst werde er mit dem baldigen Tod bestraft (pereat velociter a terra). Als der verborgene Zuhörer dennoch von seinem Erlebnis berichtete, wurde er mit Blindheit geschlagen, schreibt Gregor, und liefert damit die Erklärung für beide Wunder, die hier berichtet werden: Aetius wird – wie der Rest des Kapitels erzählt – trotz ungünstiger Umstände gerettet, weil ein Heiliger Fürsprache für ihn einlegt; höchstwahrscheinlich sind mit den beiden sich Unterredenden Petrus, der Schutzheilige der Kirche, und Paulus gemeint. Das Erblinden des trunkenen Mannes, der das Gespräch unwillkürlich mitbekommt, ist ebenfalls eine wundersame Begebenheit, deren Ursache in Gottes Willen zu suchen ist.412 Die Frau des Aetius jedenfalls bewirkt laut dieser Erzählung mit ihrem tränenreichen Gebet eine Schicksalswendung; ohne diese Nachdrücklichkeit wäre ihr Anliegen nicht erhört worden, wie die Bemerkung des Petrus, er könne ihre Tränen nicht länger ertragen, aufzeigt. Angesichts einer Drohung, die ihr das gefährliche Leben ihres Mannes vor Augen führt, weint auch Königin Bertrud, die zweite Frau des Merowingerkönigs Chlothar II. In Buch 2, Kapitel 43 seiner Chronik berichtet Fredegar zunächst von einem Komplott dreier Adliger im Jahre 613/614. Im Anschluss wird geschildert, wie Leudemund, der Bischof von Sitten und einer der Verschwörer, sich zu Bertrud begab und ihr nahelegte, ein größeres Vermögen nach Sitten zu bringen, sich von ihrem Mann zu trennen und Aletheus zu heiraten, da Chlothar II. bald sterben 412 Greg. Tur. hist. lib. II, c. 7, p. 49: His diebus Romam sonus adiit, Aetium o in maximo discrimine inter falangas hostium laborare. Quo auditu uxor eius anxia atque maesta, assiduae basilicas sanctorum apostolorum adibat atque, ut virum suum de hac via reciperet sospitem, praecabatur. Quae cum die noctuque haec agerit, quadam nocte homo pauperculus, crapulatus a vino, in angulo basilicae beati Petri apostoli obdormivit. Clausis autem ex more usteis, a custodibus non est nanctus. De nocte vero consurgens, relucentibus per tota aedis spatia lychinis, pavore territus, aditum, per quem foris evaderit, quaerit. Verum ubi primi atque alterius ustei claustra pulsat et obserata cuncta cognoscit, solo decubuit, trepidus praestolans locum, ut, convenientibus ad matutinis hymnis populis, hic liber abscederit. Interea vidit duas personas se invicem venerabiliter salutantes sollicitusque de suis esse prosperetatibus. Tunc qui erat senior ita exorsus est: ‚Uxoris Aeti lacrimas diutius sustenire non patior. Petit enim assiduae, ut virum suum de Galliis reducam incolomem, cum aliud exinde fuisset apud divinum iuditium praefinitum, sed tamen obtenui inmensam pietatem pro vita illius. Et ecce nunc illum propero viventem exinde reducturus! Verumtamen obtestor, ut qui haec audierit sileat arcanumque Dei vulgare non audeat, ne pereat velociter a terra‘. Ille autem haec audiens, silire non potuit; sed mox inluciscente caelo omnia quae audierat matrisfamiliae pandit, expletisque sermonibus, lumen caruit oculorum. Der Rest des Kapitels schildert Aetius als erfolgreichen Taktiker; er kehrt nach der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 als Sieger in die Heimat zurück.
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werde; der Adlige werde sich bereitwillig von seiner Frau trennen und Bertrud ehelichen. Die Königin brach daraufhin in Tränen aus (lacrimas prorumpens), denn sie fürchtete, seine Worte könnten der Wahrheit entsprechen. Leudemund erkannte seinerseits, dass er sich durch sein Vorgehen in Gefahr gebracht hatte, und floh; ihn begnadigte Chlothar II. später, Aletheus jedoch ließ er hinrichten.413 In den besprochenen Episoden wird jeweils die loyale Verbundenheit der Frauen sichtbar, die angesichts (möglicherweise bevorstehender) Schicksalsschläge um ihnen nahestehende Männer weinen; ihre Angst vor einem Verlust des geliebten Angehörigen zeigt sich in ihren Tränen. Insbesondere Cato der Jüngere, Caesar und Brutus weisen in ihren Reaktionen darauf ein hohes Maß an Selbstsicherheit auf und geben sich furchtlos. Mitunter werden tapferen Männern von den Verfassern auch tapfere Frauen an die Seite gestellt; Calpurnia und Porcia werden von Plutarch sogar als in Gefahrensituationen ihren Gatten gleichgestellt präsentiert – Caesar und Brutus gehen auf die Besorgnis ihrer Ehefrauen ein und schätzen deren charakterliche Qualitäten.414 3.2 Tränen in negativ konnotierten Kontexten Die Frauen pauschal – nicht nur in der Antike – zugewiesene Eigenschaft, zu leicht zum Weinen zu tendieren, ist in mehreren Passagen der hier untersuchten Geschichtsschreibung negativ konnotiert.415 Einerseits kann diese Einfärbung durch die Neigung zu Tränen als solche bedingt, andererseits aber in der Situation, in der sie auftreten, begründet sein. Das in den taciteischen Annalen mehrfach herausgearbeitete angespannte, durch Feindschaft gekennzeichnete Verhältnis zwischen Agrippina der Älteren und Tiberius wird auch an einer Episode offenbar, in der die Witwe des Germanicus 413 Fredegar. Chron., lib. IV, c. 44, p. 142: Leudemundus quidem episcopus Seduninsis ad Bertetrudem reginam veniens, sigricius consilio Aletheo patricio verba ignominiosa dixit, quod Chlotharius eodem anno omnimodis migraret de seculo, ut thinsauris, quantum potebat, secretisseme ad Sidonis suam civitatem transferrit, eo quod esset locum tutissimum; Aletheos esset paratus, suam relinquens uxorem, Bettethrudem reginam acceperit; eo quod esset regio genere de Burgundionibus, ipse post Chlotharium possit regnum adsumere. Regina Bertetrudis cum haec audisset, verens, ne veritatem subsisterit, lacrimas prorumpens, abiit in cobiculum. Leudemundus cernens se huiuscemodi verbis habere periculum, fugaciter per nocte Sedunis perrexit. Exinde latante e fuga Lussovio ad domno Austasio abbate pervenit. Post haec ab ipso abbati cum domno Chlothario his culpis excusatur; ad suam reversus est civitatem. Chlotharius Masolaco villa cum procerebus resedens, Aletheum ad se venire precepit. Huius consilium iniquissimum conpertum est; gladium trucidare iussit. 414 Positiv gewertet werden auch die Tränen der Servilia, die ihrem Vater vor Gericht beizustehen versucht (Tac. ann. 16, 31, 1), sowie das Verhalten der Peponila, die bei Vespasian und anderen Personen Tränen hervorruft (Cass. Dio 65 (66), 16, 1 f.), vgl. II. 1.2.1 und II. 1.2.2; Beispiele von Frauen, die für ihre in den Augen des Historiographen gerechtfertigten Tränen bestraft wurden, sind in II. 4.2.1 zu finden. 415 Die exzessive Zurschaustellung z. B. von Schmerz oder Trauer wurde als ‚weibisch‘ empfunden und abgelehnt, vgl. dazu Williams (22010), S. 151 mit mehreren Textbelegen auf S. 367 Anm. 47.
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geweint haben soll. Einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes, im Jahre 26 n. Chr., besuchte der Kaiser sie am Krankenbett. Agrippina hielt an ihrem Zorn fest (pervicax irae), den insbesondere die kurz zuvor erfolgte Verurteilung ihrer Cousine Claudia Pulchra hervorgerufen hatte,416 und weinte zunächst wortlos (profusis diu ac per silentium lacrimis) vor Tiberius. Dann ging sie dazu über, ihm Vorwürfe zu machen und ihn zu bitten (mox invidiam et preces orditur), ihr in ihrer Einsamkeit Abhilfe zu schaffen und einen Ehemann zu geben; als Faktoren, die eine erneute Heirat begünstigten, führte sie an, dass sie dafür noch jung genug sei, dass eine tugendhafte Frau nur in der Ehe Trost finde, und dass es in Rom genug Männer gebe, die die Frau und Kinder des Germanicus willig in ihr Haus aufnehmen würden. Tiberius erkannte jedoch die politischen Konsequenzen dieser Bitte (quantum ex re publica peteretur) und verließ Agrippina ohne dem Gesuch stattzugeben, da er seine emotionale Reaktion darauf nicht nach außen hin preisgeben wollte. Sie bestand aus offensio, also einem Gefühl des Ärgers oder Unwillens angesichts der Bitte, und aus metus, der Angst davor, dass sich mit einer erneuten Heirat ein zu starker machtpolitischer Gegenpol bilden könnte.417 Das Vorgehen des Tiberius, jegliche Äußerung zu vermeiden, lässt sich als strategisch geschickt einstufen; die emotionalen (Tränen) wie verbalen Bekundungen (Vorwürfe und Bitten) der Agrippina scheinen dagegen wenig überlegt, sie entspringen ihrem Zorn und führen nicht zum Erfolg ihres Anliegens. Vermutlich in erster Linie die Vermittlung einer hohen Glaubwürdigkeit strebt Tacitus mit der Bemerkung an, er habe die Episode nicht den ihm vorliegenden historiographischen Quellen, sondern den Aufzeichnungen (commentarii) der Agrippina minor entnommen.418 Eine Wiederverheiratung der Witwe des Germanicus hätte sicherlich zu einer Erhöhung ihres politischen Einflusses geführt, und es ist unwahrscheinlich, dass sie selbst diese Konsequenz nicht abgesehen hat. Ihre Argumente sind zwar sehr persönlicher Natur und zudem ist sie durch Krankheit geschwächt, andererseits kann man ihrem Handeln durchaus den Versuch entnehmen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten die eigene Position zu stärken. Sie wendet sich an Tiberius als den ihr übergeordneten Mann, der eine Heirat, über die sie nicht selbst bestimmen kann, in die Wege leiten soll; nicht nur ihre Stellung als Frau innerhalb des sozialen Gefüges 416 Vgl. Tac. ann. 4, 52. 417 Tac. ann. 4, 53, 1 f.: At Agrippina pervicax irae et morbo corporis implicata, cum viseret eam Caesar, profusis diu ac per silentium lacrimis, mox invidiam et preces orditur: subveniret sulitudini, daret maritum; habilem adhuc iuventam sibi, neque aliud probis quam ex matrimonio solacium; esse in civitate, *** Germanici coniugem ac liberos eius recipere dignarentur. sed Caesar, non ignarus quantum ex re publica peteretur, ne tamen offensionis aut metus manifestus foret, sine responso quamquam instantem reliquit. 418 Tac. ann. 4, 53, 2: Id ego, a scriptoribus annalium non traditum, repperi in commentariis Agrippinae fliliae, quae Neronis principis mater vitam suam et casus suorum posteris memoravit. Die Äußerung des Tacitus über die Herkunft seines an dieser Stelle verwendeten historischen Materials macht den Ablauf des Dargestellten plausibel, sie zeigt aber zugleich auch an, wie er bei seinem historischen Arbeiten vorging und hierbei vor allem, wie die geschichtliche Wirklichkeit, die dem Leser vermittelt wird, durch Auswahl und Anordnung des Stoffes von ihm entworfen ist, vgl. dazu Koestermann (1965), S. 167 und Späth (1994), S. 296–298; zu den Intentionen der Abfassung dieser commentarii vgl. Späth (1994), S. 38.
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(nämlich die einer tugendhaften Ehefrau im Gegensatz zu derjenigen einer tugendhaften Witwe), sondern auch ihre Position auf politischer Ebene hätte eine Aufwertung erfahren.419 Die Atmosphäre, in der diese eindringlich vorgetragene Bitte stattfindet, ist von vorneherein spannungsgeladen; Agrippina weint aus Zorn und ist körperlich entkräftet, sie richtet dann jedoch Vorwürfe und Bitten an Tiberius – ihre Tränen sind somit eine Äußerungform ihres Hasses und zugleich Unterstützung ihres Appells an den Kaiser. Sie ist ihm nicht hilflos ausgeliefert, dennoch erzielt sie mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln und innerhalb ihres Handlungsspielraums keinen Erfolg. Die Tränen in dieser vermutlich bewusst so facettenreich ausgestalteten Episode haben aufgrund der Umstände, unter denen sie auftreten, eine negative Konnotation. Obwohl ganz offensichtlich nicht als geheuchelt beschrieben, verweisen die bereits zuvor besprochenen, aus Mitleid für den angeklagten Valerius Asiaticus vergossenen Tränen der Messalina in den Annales nicht auf ihren integren Charakter:420 Die Gattin des Claudius kann ihre spontane emotionale Reaktion nicht verbergen, doch wirkt sie ihr erfolgreich entgegen und setzt das Vorhaben, Asiaticus unschädlich zu machen und sich der Lukullischen Gärten zu bemächtigen, durch. Weinen aus Mitleid zeugt zwar üblicherweise von einem ehrbaren Charakter, doch Messalina macht durch ihre Schlechtigkeit selbst diese menschliche Regung zunichte bzw. verkehrt sie ins Negtive. Völlig machtlos dagegen ist sie am Ende ihres Lebens, und dass sie im Herbst 48 n. Chr. in eben jenen Gärten zu Tode kommt, scheint fast eine Ironie des Schicksals. Tacitus beschreibt ann. 11, 26, wie Messalina sich von ihrem Geliebten Gaius Silius überreden ließ, ihn zu heiraten, als Kaiser Claudius sich in Ostia befand; zwar habe sie Angst gehabt, später von ihm verstoßen zu werden, doch letztlich habe der Reiz für sie in der Größe der Schande (magnitudo infamiae) einer solchen illegitimen Eheschließung bestanden.421 Die folgenden Kapitel berichten von dem skandalträchtigen Ereignis und dem sich abzeichnenden Niedergang der Messalina (und ihres ‚Ehemannes‘), der vor allem der wachsenden Macht des Narcissus am Kaiserhof geschuldet ist; Claudius selbst wird – wie im Prozess gegen Asiaticus und an vielen weiteren Stellen des taciteischen Werkes – als leicht beeinflussbar dargestellt. Seine Rückkehr trieb Messalina dazu, sich in die Lukullischen Gärten zurückzuziehen, und sie bilden den Schauplatz für ihr Ende, das in den beiden abschließenden Kapiteln des elften Buches der Annalen geschildert wird. Bereits mit dem Verbum prolatare wird angezeigt, dass Messalina ihren unabwendbaren Tod lediglich zeitlich hinausschob – auch wenn sie Bittschriften abfasste (componere preces) und sich einige Hoffnung machte, der sich bisweilen Wut zugesellte. Dafür, dass sie die Ausweglosigkeit der Situation nicht erkannte, ist ihre 419 Unterschiedlich nuanciert äußern sich zu dieser Thematik Koestermann (1965), S. 167 und Späth (1994), S. 195 f. Die Bildung konträrer politischer Faktionen hätte sich im Falle einer Wiederverheiratung der Agrippina sicherlich verstärkt; zu den Tac. ann. 4, 17, 4 erwähnten partes Agrippinae und der Bedeutung dieser Äußerung vgl. Bauman (1992), S. 145 und 154– 157. 420 Tac. ann. 11, 2, 1; vgl. II. 1.2.3. 421 Zum möglichen Zweck dieser Heirat vgl. Bauman (1992), S. 176–179.
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superbia verantwortlich zu machen.422 Claudius weilte unterdessen im Palast und äußerte Mitleid über die Lage der Messalina, so dass Narcissus fürchtete, er werde ihr verzeihen, und daher die anwesenden Zenturionen und den Tribun anwies, sie sollten auf kaiserlichen Befehl den Mord an der Kaisergattin ausführen. Ihnen wurde der Freigelassene Euodus an die Seite gestellt, der in die Gärten vorauseilte und Messalina auf dem Boden lagernd vorfand, daneben ihre Mutter Domitia Lepida. Deren Verhältnis zur Tochter war, als diese sich auf der Höhe der Macht befand, alles andere als harmonisch (florenti filiae haud concors), doch zeigte sie in höchster Notlage Mitgefühl (miseratio) mit ihr und gab ihr den Rat, nicht darauf zu warten, dass man sie erdolche; ihr Leben sei vorüber, und sie könne nur noch nach einem würdevollen Tod streben (neque aliud quam morti decus quaerendum).423 Durch ihre Ausschweifungen (per libidines), so Tacitus, war Messalina jedoch bereits so verdorben, dass ihr kein Deut Ehre mehr innewohnte, vielmehr gab sie vergebliche Tränen und Klagen (lacrimae et quaestus irriti) von sich. Als die Eingangspforte aufgestoßen wurde und der Tribun sowie Euodus – letztgenannter verhöhnte sie ungehemmt – vor ihr standen, wurde ihr klar, welches Ende ihr bevorstand. Dennoch brachte sie es nicht fertig, sich mit dem (ihr offenbar zu diesem Zweck zur Verfügung gestellten) Schwert umzubringen, sondern hielt dieses vergebens und in Furcht an Kehle und Brust. Der Tribun, der ihr zuvor mit Schweigen begegnet war, durchbohrte sie schließlich mit einem Stoß, und der Körper der Messalina wurde ihrer Mutter überlassen, schreibt Tacitus lapidar.424 Claudius ließ trotz der Meldung ihres Todes seine Tischgesellschaft nicht unterbrechen und reagierte auch in der Folgezeit emotionslos auf den Verlust seiner Frau (ne secutis quidem diebus odii gaudii, irae tristitiae, ullius denique humani affectus signa dedit), der Senat wiederum kam dieser Haltung entgegen, indem er ihre damnatio memoriae beschloss, und Narcissus gewann durch sein eigenmächtiges Handeln umso größeren Einfluss.425 422 Tac. ann. 11, 37, 1: Interim Messalina Lucullianis in hortis prolatare vitam, componere preces, nonnulla spe et aliquando ira: tantum inter extrema superbiae gerebat. 423 Die Anwesenheit der Domitia Lepida und ihr neu aufkommendes Mitgefühl für die Tochter verweisen auf die Schutzfunktion, die sie gegenüber ihrer Tochter einnimmt, selbst wenn sie nichts ausrichten kann, vgl. Späth (1994), S. 36. 424 Tac. ann. 11, 37, 1–38, 2: Ac ni caedem eius Narcissus properavisset, verterat pernicies in accusatorem. nam Claudius domum regressus et tempestivis epulis delenitus, ubi vino incaluit, iri iubet nuntiarique miserae (hoc enim verbo usum ferunt) dicendam ad causam postera die adesset. quod ubi auditum et languescere ira, redire amor ac, si cunctarentur, propinqua nox et uxorii cubiculi memoria timebantur, prorumpit Narcissus denuntiatque centurionibus et tribuno, qui aderat, exequi caedem: ita imperatorem iubere. custos et exactor e libertis Euodus datur; isque raptim in hortos praegressus repperit fusam humi, adsidente matre Lepida, quae florenti filiae haud concors, supremis eius necessitatibus ad miserationem evicta erat suadebatque, ne percussorem opperiretur: transisse vitam neque aliud quam morti decus quaerendum. sed animo per libidines corrupto nihil honestum inerat; lacrimaeque et questus irriti ducebantur, cum inpetu venientium pulsae fores adstititque tribunus per silentium, at libertus increpans multis et servilibus probris. Tunc primum fortunam suam introspexit ferrumque accepit, quod frustra iugulo aut pectori per trepidationem admovens ictu tribuni transigitur. corpus matri concessum. 425 Tac. ann. 11, 28, 2–4: Nuntiatumque Claudio epulanti perisse Messalinam, non distincto sua an aliena manu; nec ille quaesivit, poposcitque poculum et solita convivio celebravit. ne secutis
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Messalina ist der Darstellung des Tacitus zufolge also zu Lebzeiten rücksichtslos und ehrlos, er widmet ihrem von libido getriebenen Handeln große Teile des elften Annalenbuches und will ihren Untergang plausibel machen.426 Sie zeichnet sich durch ihre sexuelle Zügellosigkeit ebenso wie durch ihr selbstbewusstes und dabei unangemessenes Verhalten aus. Ihre mangelnde Fähigkeit einer korrekten Situationseinschätzung wird ihr schließlich zum Verhängnis, und die unwillkürlich auftretenden Tränen sind neben der Unfähigkeit, sich selbst einen ehrenvollen Tod zu geben, ein Zeugnis ihrer umfassenden charakterlichen Schwäche und daher kaum des Mitleids würdig. Als niederträchtig, aber dennoch planvoll handelnd wird auch Poppaea Sabina die Jüngere von Tacitus präsentiert. Neben der Mutter, Agrippina der Jüngeren, ist sie eine zweite Frau im engsten Umfeld Neros, die weitreichenden Einfluss auf ihn ausübt und versucht, ihm gegenüber ihren Willen durchzusetzen. Unter anderem wird dies zum Beginn von Buch 14 der Annalen, der sich mit dem Jahr 59 n. Chr. befasst, deutlich: Nero beabsichtigte, so der römische Historiker, schon seit einiger Zeit, seine Mutter töten zu lassen,427 und seine Vermessenheit wie seine Liebe zu Poppaea nahmen mit fortschreitender Regierungsdauer zu. Allerdings war ihm bewusst, dass er sich zu Lebzeiten Agrippinas nicht von Oktavia scheiden lassen und Poppaea zur Frau nehmen konnte, weshalb diese ihm gegenüber spöttisch Beschwerden äußerte und ihn als kleines Kind bezeichnete, das den Anweisungen anderer unterworfen sei und nicht nur keine Herrschaft, sondern ebenso keine Freiheit besitze. Die Geliebte verwies, von Tacitus als suggestive Fragen in indirekter Rede formuliert, auf ihre Schönheit, ihre ehrenvollen Vorfahren, ihre Fruchtbarkeit und ihre Aufrichtigkeit, somit Faktoren, die ganz und gar nicht für einen Aufschub der Heirat sprachen, und führte zudem an, dass ihr, da sie nicht seine Frau sei, nicht die Möglichkeit offenstehe, ihm das Fehlverhalten des Senats und den Zorn des Volkes auf seine hochmütige und habsüchtige Mutter offenzulegen. Abschließend brachte sie ihr Bedauern darüber zum Ausdruck, dass Agrippina offensichtlich nur eine Schwiegertochter akzeptieren könne, die ihrem Sohn verhasst sei, und daher solle er sie, Poppaea, ihrem Gatten zurückgeben, so dass sie lediglich die Verunglimpfung des Kaisers anhören müsse, aber nicht sie dauernd vor Augen gestellt bekomme und zugleich in die damit verbundenen Gefahren verwickelt sei.428 Mit derlei Worten, zusätzlich aber mit Tränen und Verführungskünsten drang sie auf ihn ein – wobei niemand sie davon abhielt, da der Einfluss Agrippinas allgemein als zu quidem diebus odii gaudii, irae tristitiae, ullius denique humani affectus signa dedit, non cum laetantes accusatores adspiceret, non cum filios maerentes. iuvitque oblivionem eius senatus censendo nomen et effigies privatis ac publicis locis demovendas. decreto Narcisso quaestoria insignia, levissimum fastidio eius, cum super Pallantem et Callistum ageret. † honesta quidem, sed ex quis deterrima orerentur [tristitiis multis]. 426 Über die Kapitel 26 bis zum Ende des Buches schreibt Koestermann (1967), S. 86, Tacitus sei es hierin gelungen, „das ungehemmte Triebleben der Kaiserin eindringlich zu charakterisieren.“ 427 Bereits Tac. ann. 13, 20, 3 wird erwähnt, dass Nero interficiendae matris avidus war. 428 Über die Involvierung von Frauen römischer Potentaten in deren politischen Machtkämpfe als Korrelat zur Schutzfunktion, die Männer gegenüber ihren Frauen innehatten, äußert sich Späth (1994), S. 216–219.
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groß erachtet wurde und man nicht absah, dass Nero seine Mordabsichten in die Tat umsetzen würde.429 Die Einflussnahme der Poppaea auf den Kaiser nimmt eine zentrale Bedeutung in der Darstellung des Tacitus ein: Die Geliebte verstärkt bereits vorhandene Tendenzen zur Gewalttat in dem jungen Mann so weit, dass er seine Pläne in die Tat umsetzt; sie bringt es fertig, sich selbst vor ihm als ehrbare Frau in Kontrast zu Agrippina setzen, deren Existenz als Hemmnis für seine Kompetenzen als Herrscher und Ehegatte erscheint, und den Hass auf sie zu schüren. Als hauptsächliche Komponente dafür werden die verba bezeichnet, die allerdings nachdrückliche Unterstützung durch lacrimae sowie die ars adulterae (unter der man sich offenbar ein auf Verführung bedachtes körperliches Gebaren vorzustellen hat) erfahren. Unverkennbar soll an dieser (wie auch manch anderer) Stelle des Werkes die manipulative Absicht Poppaeas hervortreten.430 Ihr ist nur teilweise Erfolg beschieden, denn Nero ließ Agrippina zwar bald darauf umbringen, bis zu seiner Heirat mit Poppaea Sabina sollte es aber noch drei Jahre dauern. Frauen, die sich unter Einbeziehung von Tränen mit einem Anliegen an politisch einflussreiche Ehemänner oder Liebhaber richten, finden sich noch in weiteren Episoden der kaiserzeitlichen Historiographie. Laut Herodian reagierte Marcia, die bevorzugte Geliebte des Commodus, als dieser ihr seine Absicht verkündete, sich am Neujahrstag in Gladiatorenmontur als Konsul zu präsentieren, damit, dass sie ihn zunächst beharrlich anflehte (ἐλιπάρει), davon abzusehen. Sie fiel vor ihm nieder und bat ihn unter Tränen (προσπίπτουσα μετὰ δακρύων ἐδεῖτο), er solle keinen Frevel am Amt des Kaisers üben und sich nicht in Gefahr begeben, indem er sich unter Gladiatoren und verkommene Menschen mische. Commodus zeigte sich unnachgiebig und unempfindlich gegenüber derartigen Gefühlsausbrüchen, so dass Marcia weinend fortging (δακρύουσα ἀπέστη). Trotz des zusätzlichen Appells zweier hoher Amtsträger seines Hofes blieb der Kaiser bei seiner Entscheidung, die
429 Tac. ann. 14, 1: GAIO VIPSANO FONTEIO consulibus diu meditatum scelus non ultra Nero distulit, vetustate imperii coalita audacia et flagrantior in dies amore Poppaeae, quae sibi matrimonium et discidium Octaviae incolumi Agrippina haud sperans crebris criminationibus, aliquando per facetias incusare principem et pupillum vocare, qui iussis alienis obnoxius non modo imperii, sed libertatis etiam indigeret. cur enim differi nuptias suas? formam scilicet displicere et triumphales avos, an fecunditatem et verum animum? timeri ne uxor saltem iniurias patrum, iram populi adversus superbiam avaritiamque matris aperiat. quod si nurum Agrippina non nisi filio infestam ferre posset, reddatur ipsa Othonis coniugio: ituram quoque terarrum, ubi audiret potius contumelias imperatoris quam viseret periculis eius immixta. haec atque talia lacrimis et arte adulterae penetrantia nemo prohibebat, cupientibus cunctis infringi potentiam matris et credente nullo usque ad caedem eius duratura filii odia. 430 Eine – gemäß taciteischer Darstellung – mit Kalkül betriebene Verführung lässt sich für Poppaea gegenüber Nero, aber auch für dessen Mutter Agrippina gegenüber Claudius feststellen, vgl. Späth (1994), S. 109 und S. 207 Anm. 4. – Weitere Belege für die Versuche der Poppaea, durch Bitten und herausfordernde Kommentare Einfluss auf die Entscheidungen Neros zu nehmen, liefert Späth (1994), S. 111 Anm. 166; an der vorliegenden Stelle wird besonders deutlich, dass Poppaea ihrem Wunschgemahl mangelnde Eigenständigkeit attestiert, vgl. Späth (1994), S. 85 Anm. 96
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in der Sache ebenso unangemessen zu werten war wie sein daraufhin in Notizen festgehaltener Beschluss, seine jüngsten Kritiker töten zu lassen.431 Drei ausssagekräftige Beispiele weinender Frauen bietet sodann Prokop. In den Gothenkriegen berichtet er von folgendem Vorfall: Nachdem die Gattin des im Jahr 540/541 herrschenden Ostgotenkönigs Ildibad seitens der Frau des Adligen Uraias tiefe Kränkungen erfahren hatte (die Königin war schlichter gekleidet, man sah ihr demnach ihre schlechtere Finanzsituation äußerlich an, umgekehrt war die Gemahlin des Uraias bekannt für ihre Schönheit und ihren Reichtum, was sie die andere Frau spüren ließ), begab sie sich unter Tränen (δεδακρυμένη) zu ihrem Mann und forderte von ihm Vergeltung, da sie schlimmste Beleidigungen erfahren habe; Ildibad verleumdete daraufhin den Uraias und ließ ihn umbringen.432 Somit ist die Rivalität der beiden Frauen und die daraus resultierende, mit Bestimmtheit vorgebrachte Bitte der Königin an ihren Gatten als Ursache des Mordes an Uraias dargestellt – der Mann wird für das Verhalten seiner Frau haftbar gemacht, der Konkurrenzkampf der Frauen wird zwischen ihren Männern ausgetragen.
431 Herodian. 1, 16, 2–17, 2: Πάντων ἑορταζόντων ὁ Κόμοδος ἐβούλετο οὐκ ἐκ τῆς βασιλείου, ὡς ἔθος, προελθεῖν οἰκίας, ἀλλ᾿ ἐκ τοῦ τῶν μονομάχων καταγωγίου, ἀντὶ δὲ τῆς εὐπαρύφου καὶ βασιλικῆς πορφύρας ὅπλα τε αὐτὸς φέρων καὶ συμπροιόντων τῶν λοιπῶν μονομάχων ὀφθῆναι τοῖς Ῥωμαίοις. ἐπεὶ δὲ τὴν γνώμην αὐτοῦ ταύτην ἀνήνεγκε πρὸς Μαρκίαν, ἣν εἶχε τῶν παλλακίδων τιμιωτάτην, [ἠ] οὐδέν τε ἀπεῖχε γαμέτης γυναικός, ἀλλὰ πάντα ὑπῆρχεν ὅσα Σεβαστῇ πλῆν τοῦ πυρός, ἤ, μαθοῦσα τὴν παράλογον οὕτω καὶ ἀπρεπῆ βούλησιν αὐτοῦ, τὰ πρῶτα ἐλιπάρει καὶ προσπίπτουσα μετὰ δακρύων ἐδεῖτο μήτε τὴν Ῥωμαίων ἀρχὴν καθυβρίσαι μηθ᾿ ἑαυτὸν ἐπιδόντα μονομάχοις καὶ ἀπεγνωσμένοις ἀνθρώοις κινδυνεῦσαι. ἐπεὶ δὲ πολλὰ ἱκετεύουσα οὐκ ἐτύγχανεν αὐτοῦ, ἡ μὲν δακρύουσα ἀπέστη, ὁ δὲ Κόμοδος μεταπεμψάμενος Λαῖτόν τε τὸν ἔπαρχον τῶν στρατοπέδων Ἔκλεκτόν τε τὸν τοῦ θαλάμου προεστῶτα ἐκέλευεν αὑτῷ παρασκευασθῆναι ὡς διανυκτερεύσων ἐν τῷ τῶν μονομάχων καταγωγίῳ κἀκεῖθεν προελευσόμενος ἐπὶ τὰς θυσίας τῆς ἱερομηνίας, ὡς ᾿Ρωμαίοις ἔνοπλος ὀφθείη. οἱ δὲ ἱκέτευον καὶ πείθειν ἐπειρῶντο μηδὲν ἀνάξιον τῆς βασιλείας ποιεῖν. ὁ δὲ Κόμοδος ἀσχάλλων τοὺς μὲν ἀπεπέμψατο, αὐτὸς δὲ ἐπανελθὼν ἐις τὸ δωμάτιον ὡς δὴ καθευδήσων (καὶ γὰρ μεσημβρίας εἰώθει τοῦτο ποιεῖν), λαβὼν γραμματεῖον τούτων δὴ τῶν ἐκ φιλύρας ἐς λεπτότητα ἠσκημένων ἐπαλλήλῳ τε ἀνακλάσει ἀμφοθέρωθεν ἐπτυγμένων γράφει ὅσους χρὴ τῆς νυκτὸς φονευθῆναι. ὧν πρώτη μὲν ἦν Μαρκία, εἵποντο δὲ Λαῖτός τε καὶ Ἔκλεκτος, ἐπὶ δὲ τούτοις πολὺ πλῆθος τῶν τῆς συγκλήτου πρωτευόντων. Der Rest des Kapitels befasst sich mit der Aufdeckung dieser Pläne durch Marcia und dem Mord an Commodus, den sie gemeinsam mit zwei seiner Vertrauten in Auftrag gab. 432 Proc. bell. Goth. 3, 1, 37–41: Ὕστερον δὲ Οὐραΐαν Ἰλδιβάδῳ προσκεκρουκέναι ξυνέπεσεν ἀπ̓ αἰτίας τοιᾶσδε. ἦν τῷ Οὐραΐᾳ γυνὴ πλούτῳ τε καὶ σώματος κάλλει τὰ πρωτεῖα φερομένη ἐν τούτοις δὴ τοῖς βαρβάροις πασῶν μάλιστα. αὕτη ἐς τὸ βαλανεῖον κατῆλθέ ποτε, κόσμου τε περιβεβλημένη πολύ τι χρῆμα καὶ θεραπείαν ἐπαγομένη λόγου πολλοῦ ἀξίαν. τήν τε Ἰλδιβάδου γυναῖκα ἐν ἱματίοις λιτοῖς ἐνταῦθα ἰδοῦσα, οὔτε ὡς ξυνοικοῦσαν βασιλεῖ προσεκύνησεν, ἀλλὰ καὶ ἄλλως ὑπεριδοῦσα ἐς αὐτὴν ὕβρισεν. ἔτι γὰρ Ἰλδίβαδος πενίᾳ ξυνῆν ὡς ἥκιστα βασιλικοῖς ἐντυχὼν χρήμασι. περιαλγὴς δὲ γενομένη τῆς ὕβρεως τῇ ἀτοπίᾳ τοῦ Ἰλδιβάδου γυνή, παρά τε τὸν ἄνδρα δεδακρυμένη ἦλθε καί οἱ ἀμῦναι τὰ ἀνήκεστα πρὸς τῆς Οὐραΐου γυναικὸς παθούσῃ ἠξίου. διὸ δὴ τὰ μὲν πρῶτα Ἰλδίβαδος Οὐραΐαν ἐς τοὺς βαρβάρους διέβαλεν, ὡς δὴ ἐς τοὺς πολεμίους αὐτομολεῖν μέλλοι, ὀλίγῳ δὲ ὕστερον δόλῳ ἔκτεινε καὶ ἀπ̓ αὐτοῦ ἐς τὸ Γότθων ἔχθος ἐνέπεσε. Die Strafe für dieses offensichtlich für unverhältnismäßig erachtete Verhalten erfolgte mit wenig Verzögerung, denn der Mord brachte die Ostgoten gegen Ildibad auf, so dass er schließlich selbst getötet wurde, wie das übrige Kapitel schildert.
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Eine noch weitaus schmachvollere Behandlung erfuhr die Frau des römischen Senators Petronius Maximus und richtete aufgrunddessen Vorwürfe an ihn, wie in den Vandalenkriegen erzählt wird: Maximus hinterließ seinen Goldring als Bürgschaft für seine Spielschulden bei Valentinian III. Da der Kaiser des Weströmischen Imperiums ein Auge auf die als außerordentlich schön, aber auch moralisch integer geltende Frau geworfen hatte, sah er die Gelegenheit gekommen, sie mit diesem Ring in den Palast zu locken und dort zu vergewaltigen.433 Daraufhin kehrte sie in Tränen (δεδακρυμένη) zu ihrem Mann zurück und erging sich in Verwünschungen ihm gegenüber, denn er trage die Schuld an dem Vorfall. Maximus wurde sein Fehler daraufhin schmerzlich bewusst (περιώδυνος γενόμενος); er sann auf Rache und beabsichtigte einen Anschlag auf den Kaiser zu verüben. Dafür musste zunächst noch Aetius beseitigt werden, an dessen Tod – Prokop zufolge – Maximus wesentlich beteiligt war,434 und ebenso war er in den Tod Kaiser Valentinians III. involviert, nach dessen Ableben am 16. März 455 er selbst die Herrschaft übernahm und die Gattin Valentinians, Eudoxia, zwang, eine Ehe mit ihm einzugehen – seine Frau Lucina war zwischenzeitlich verstorben.435 In dieser wie der vorausgehenden Episode werden die Frauen zwar als in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkte, aber doch selbständig agierende Personen dargestellt. Sie stehen mitnichten am Rande, sondern sind vielmehr als Auslöser von oder zumindest wesentlich Beteiligte an Handlungsketten gedeutet, die nach dem Appell an ihre Gatten von diesen in Gang gesetzt werden. Ursache für das Verhalten der Männer bildet in beiden Fällen der Umstand, dass die unangemessene, kränkende Behandlung ihrer Frauen, für die sie eine Schutzfunktion innehaben, einen Angriff auf die eigene Ehre darstellt.436 In einem dritten bei Prokop überlieferten Vorfall ist das Weinen als solches noch deutlich negativer konnotiert. Erscheint dem Leser die Beschwerde der Ehefrauen des Ildibad und des Maximus im Kern als gerechtfertigt, so wird ihm in der überhaupt auf Polemik angelegten Historia arcana an den Klagen der Antonina, Ehefrau des Feldherrn Belisar, deren verkommener Charakter und an der Reaktion ihres Gatten dessen Schwäche vor Augen geführt. Gleich nach der Einleitung beginnt das Werk in Kapitel 1, 11 mit einem scharfen Angriff auf Belisar und seine Frau, die im Mittelpunkt der nachfolgend geschilderten Ereignisse steht. Es wird in aller Deutlichkeit herausgestellt, dass der erfolgreiche Feldherr ihr in blinder Liebe 433 Vgl. Proc. bell. Vand. 1, 4, 17–22. 434 Proc. bell. Vand. 1, 4, 23 f.: Ἠ δὲ μετὰ τὴν ὕβριν ἐς τοῦ ἀνδρὸς τὴν οἰκίαν ἐλθοῦσα δεδακρυμένη τε καὶ τῇ συμφορᾷ ὡς ἔνι μάλιστα περιαλγοῦσα πολλὰς ἐπέβαλε τῷ Μαξίμῳ ἀράς, ἅτε τοῖς πεπραγμένοις τὴν αἰτίαν παρασχομένῳ. περιώδυνος τοίνυν ὁ Μάξιμος τοῖς ξυμπεσοῦσι γενόμενος αὐτίκα μὲν εἰς ἐπιβουλὴν τοῦ βασιλέως καθίστατο, ὡς δὲ τὸν Ἀέτιον ἑώρα μέγα δυνάμενον (…), ἐνθύμιόν οἱ ἐγένετο ὥς οἱ Ἀέτιος ἐς τὰ πρασσόμενα ἐμπόδιος ἔσται. 435 Vgl. Proc. bell. Vand. 1, 4, 24–36. Die Herrschaft des Maximus währte allerdings nur wenige Wochen, denn er kam beim Einfall der Vandalen am 31. Mai 455 um. 436 In diese Überlegung fügt sich etwa die Bemerkung von Cancic-Lindemaier (2006), S. 125 f., dass historischen Frauenfiguren oftmals lediglich eine Vermittlerrolle für die von Männern entworfene Ordnung zukomme. Über den Zusammenhang von Ehebruch und verletzer Ehre des betrogenen Gatten vgl. beispielsweise Edwards (1993), S. 56 (mit Beispielen aus der Poesie, die diesem Umstand scherzhaft Rechnung tragen, und dem Verweis darauf, dass die Thematik von Cicero oder Tacitus auf andere Weise behandelt wurde).
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ergeben, ja regelrecht verfallen war,437 obwohl sie ihn kontinuierlich mit ihrer beider Adoptivsohn Theodosios, einem jungen Mann aus Thrakien, betrog. Dieses Verhältnis, so Prokop, lebte sie immer ungehemmter aus, so dass sogar der Geliebte selbst die Affäre für zu gefährlich hielt und sich daher von Byzanz nach Ephesos begab, um ein Leben als Mönch zu führen. Dies rief wiederum bei Antonina heftige Reaktionen hervor; sie war völlig außer sich (ἐμάνη) und verfiel in den Habitus einer Trauernden (ἐς τρόπον μεταβαλοῦσα τὸν πένθιμον). Mit dementsprechendem Vokabular wird nachdrücklich ihr Verhalten beschrieben (κωκύουσα, ὀλολυγῇ κεχρημένη ὠλοφύρετο), zudem habe sie wortreich den Verlust des jungen Mannes betrauert. Dieses Gebaren verfehlte seine Wirkung auf Belisar nicht, vielmehr wurde er selbst zu Wehklagen (ὀλοφύρσεις) angesteckt, weinte (ἔκλαε) und sehnte den Adoptivsohn ebenfalls herbei. Obwohl jedoch Kaiser und Kaiserin auf Bitten Belisars nach Theodosios schickten, kam er nicht, sondern wartete die Abreise des Feldherrn aus Byzanz ab, um dann heimlich zu dessen Frau zurückzukehren.438 Im Gegensatz zur üblichen Vorstellung der Protagonisten eines historiographischen Werkes werden am Anfang der Geheimgeschichte die verwerflichen, nicht die lobenswerten Eigenschaften der Akteure in entsprechend überspitztem Ton beschrieben. Belisar ist seiner Gattin aufgrund seiner Liebe unterlegen, in seiner Einfalt (εὐήθεια) wird er zum unglückseligen Opfer (ταλαίπωρος) ihrer Intrigen und weint kläglich – in ganz ‚unmännlicher‘ Manier – um deren verlorenen Liebhaber. In mehrfacher Hinsicht treten in der besprochenen Episode die unliebsamen Charakterzüge der Antonina hervor: Ihre Klage über den Verlust des Theodosios wirkt höchst weinerlich, außerdem ist sie unangemessen, denn sie gilt nicht dem eigenen Mann (bei dessen Tod wäre sie angebracht), und vor allem steht hinter ihrem Verhalten eine List, um weiterhin Ehebruch treiben zu können. Der junge Mann steht ihr in seiner Durchtriebenheit in nichts nach, und es ist gut möglich, dass er die Intrige zusammen mit ihr ersonnen hat. Die Umkehrung der üblichen Rollen ist bei der Darstellung Belisars und seiner Ehefrau ein wesentliches Merkmal, auf dessen Grundlage die übertriebene Trauer um den Verlust des Adoptivsohnes karikaturhafte Züge trägt. Prokop zeichnet das Zerrbild einer dramatischen Trauerszene, de437 So die Wendung ἔρωτι ἀναγκασθείς in 1, 20; dass Antonina sich auf die Giftmischerei und Liebeszauber verstand, wird zuvor in 1, 12 f. und 1, 26 erwähnt. 438 Proc. hist. 1, 36–39: Θεοδόσιον ἐδεδίσσετο τὸ συνειδέναι καὶ ἔστρεφεν αὐτοῦ τὴν διάνοιαν. λήσειν γὰρ ἐς τὸ παντελὲς οὐδαμῆ ᾤετο, ἐπεὶ τὴν γυναῖκα ἑώρα οὐκέτι τὸ πάθος ἐγκρυφιάζειν οἵαν τε οὖσαν, οὐδὲ κεκρυμμένως ἐξερρωγέναι, ἀλλὰ διαρρήδην μοιχαλίδα εἶναί τε καὶ ὀνομάζεσθαι ὡς ἥκιστα αξιοῦσαν. διὸ δὴ αὖθις ἐς τὴν Ἔφεσον ἀφικόμενος καὶ ἀποθριξάμενος ᾗπερ εἴθισται ἐνέγραψεν εἰς τοὺς μοναχοὺς καλουμένους αὑτόν. τότε δὴ κατ᾿ ἄκρας ἐμάνη καὶ τὴν ἐσθῆτα ξὺν τῇ διαίτῃ ἐς τρόπον μεταβαλοῦσα τὸν πένθιμον περιῄει συχνὰ κατὰ τὴν οἰκίαν κωκύουσα, ὀλολυγῇ τε κεχρημένη ὠλοφύρετο οὐκ ἀπολελειμμένου τἀνδρὸς, ὁποῖον αὐτῇ ἀγαθὸν ὠλώλει, ὡς πιστὸν, ὡς εὔχαριν, ὡς εὐνοϊκὸν, ὡς δραστήριον. τελευτῶσα δὲ καὶ τὸν ἄνδρα ἐς ταύτας δὴ ἐπαγαγομένη τὰς ὀλοφύρσεις ἐκάθισεν. ἔκλαε γοῦν ὁ ταλαίπωρος τὸν ποθεινὸν ἀνακαλῶν Θεοδόσιον. ὕστερον δὲ καὶ εἰς βασιλέα ἐλθὼν, αὐτόν τε καὶ τὴν βασιλίδα ἱκετεύων, ἀνέπεισε Θεοδόσιον μεταπέμψασθαι ἅτε ἀναγκαῖον αὐτῷ κατὰ τὴν οἰκίαν ὄντα τε καὶ ἐσόμενον. ἀλλὰ Θεοδόσιος ἀπεῖπε μηδαμῆ ἐνθένδε ἰέναι, ὡς ἀσφαλέστατα ἐμπεδώσειν ἰσχυρισάμενος τὸ τῶν μοναχῶν ἐπιτήδευμα. ἦν δὲ ἄρα ὁ λόγος κατάπλαστος, ὅπως ἐπειδὰν τάχιστα Βελισάριος ἐκ Βυζαντίου ἀποδημοίη, αὐτὸς παρὰ τὴν Ἀντωνίναν ἀφίκηται λάθρα. ὅπερ οὖν καὶ ἐγένετο.
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ren Emotionen seitens der Antonina inszeniert sind, um das Handeln ihres Mannes in die gewünschte Richtung zu lenken.439 Insgesamt ergibt sich nach diesen Ausführungen der Befund, dass Tränen, die von Frauen vergossen werden, um eigene Anliegen durchzusetzen, oftmals in negativen Kontexten stehen. Am Weinen können sich die Widrigkeiten einer Situation, aber auch der schlechte Charakter einer Frau zeigen, und der letztgenannte Aspekt wird besonders bei Tacitus evident.440 3.3 Tränen (und Tränenlosigkeit) als machtstrategisches Instrument Einige Darstellungen hochrangiger weinender Frauen, die machtstrategisch agierten, lassen sich mit denen von Männern parallelisieren. Innerhalb der ihnen vorgegebenen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen planten sie ihr Handeln gegenüber ihren Kommunikationspartnern, damit deren Entscheidungen möglichst zu ihrem Vorteil ausfielen. Dabei kamen unterschiedliche Mittel zum Einsatz, von denen das Weinen wohl die höchste emotionale Intensität aufwies. Bereits bei einigen der im vorangegangenen Abschnitt behandelten Passagen (besonders im Falle der Antonina), in denen Tränen eine negative Konnotation zugeschrieben werden kann, kam deutlich zum Ausdruck, dass stark von Emotionen geprägtes Handeln antiker Frauen mit planvoller Überlegung einhergehen konnte – für ihr Verhalten konnte ein Ineinandergreifen rationaler und emotionaler Beweggründe ausschlaggebend sein. Zugleich ist bei Frauen in Machtpositionen – ähnlich wie es bei Männern der Fall ist – eine Verschränkung von öffentlich-politischem und privatem Bereich zu konstatieren. Besonders deutlich lässt sich dies am Beispiel der Kleopatra VII. aufzeigen; ihr wird mehrfach taktisch geschicktes Agieren zugeschrieben –441 und in diesem Zusammenhang sollen von ihr manche Tränen vergossen worden sein. Kalkül in ihrem Verhältnis zu Antonius und ein gezielter Einsatz von Tränen wird Kleopatra in aller Deutlichkeit von Plutarch attestiert, der in seiner Vita des 439 Die ersten fünf Kapitel der Historia arcana werden von Kaldellis (2004), S. 142–150 sogar ihrer Gattung nach als Frauenherrschaft („Gynecocracy“) bezeichnet, was trotz der angeführten Argumente als zu weit ausgreifend erscheint; stimmiger wirkt die für die gesamte Geheimgeschichte in der Suda gewählte und von Kaldellis selbst zitierte Einstufung als „a combination of invective and comedy“ (S. 149). Zur Historia arcana vgl. grundlegend Cameron (1996), S. 49–66. 440 An den oben behandelten Episoden wurde deutlich, dass gerade im taciteischen Oevre die Funktion von Tränen vornehmlich darin besteht, ein negatives Bild der Protagonisten zu zeichnen, deren Handeln als nicht vorbildhaft beurteilt wird. Ob es sich dabei um Männer oder Frauen handelt, spielt allerdings kaum eine Rolle, wie de Libero (2009), S. 225 betont: „Weeping heroes are rarely found in the works of Tacitus, seldom is the shedding of tears depicted as an honest, heartfelt plea for an honourable cause. The tearful pleading of women is similarly portrayed, there seems to be no gender difference.“ 441 Einschlägig sind die antiken Berichte über ihre Verführungskünste, die sie bei Caesar und Marcus Antonius angewandt haben soll und die sich als eine strategische Maßnahme zur Erlangung und Sicherung ihrer Macht deuten lassen.
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Feldherrn dessen Geliebte und ebenso seine Gattin porträtiert. Als diese im Jahr 35 v. Chr. mit der Erlaubnis ihres Bruders Oktavian nach Athen reiste, wies Antonius sie schriftlich an, dort zu bleiben, obwohl sie ihm materielle wie finanzielle Unterstützung für den bevorstehenden Feldzug im Osten mitgebracht hatte.442 Ihr Ehemann selbst hielt sich mit Kleopatra in Leuke Kome443 auf, wo die Ptolemäerin sich wiederum unter Druck gesetzt fühlte – besaß doch Oktavia Plutarch zufolge durch ihren ehrbaren Charakter (τοῦ τρόπου τῇ σεμνότητι) und die Macht ihres Bruders (τῇ Καίσαρος δυνάμει) erheblichen Einfluss auf Antonius und verstand sich auf einen einnehmenden Umgang mit ihm (τὸ καθ᾽ ἡδονὴν ὁμιλεῖν καὶ θεραπεύειν Ἀντώνιον).444 Der Versuch der Römerin, sich Antonius anzunähern, stellte für Kleopatra eine ernstzunehmende Bedrohung dar, so dass ihre Angst davor, dass Oktavia ein unüberwindbares Hindernis für sie selbst werden und den Mann gänzlich in ihren Bann ziehen würde, zu einem Täuschungsmanöver führte. Die ägyptische Königin gab sich den Anschein, in Antonius verliebt zu sein (ἐρᾶν αὐτὴ προσεποιεῖτο τοῦ Ἀντωνίου) und demonstrierte dies nach außen hin: Durch zu geringe Nahrungsaufnahme verlieh sie ihrem Körper ein ausgezehrtes Aussehen; wenn Antonius zu ihr kam, verrieten ihre Augen außergewöhnliche Freude, wenn er ging, setzte sie einen dahinschmelzenden und ergebenen Blick auf; sie setzte sich dadurch gekonnt in Szene, dass sie oft von ihm weinend gesehen wurde (πραγματευομένη δὲ πολλάκις ὀφθῆναι δακρύουσα), ihre Tränen aber schnell abzuwischen und zu verbergen versuchte, als ob sie sie vor ihm verheimlichen wolle (ταχὺ τῶν δακρύων ἀφῄρει καὶ ἀπέκρυπτεν, ὡς δὴ βουλομένη λανθάνειν ἐκεῖνον).445 Derartige Auftritte blieben auch auf die Schmeichler (κόλακες) im Umfeld des Antonius nicht ohne Wirkung, die ihm die Liebe der Kleopatra in Kontrast zu der ihrer Ansicht nach politisch motivierten ehelichen Verbindung Oktavias setzten,446 so dass er ihren drängenden Bitten, seiner Geliebten den Vorzug zu geben, nachkam und den geplanten Feldzug gegen die Parther aufschob.447 Durch das Verhalten der Oktavia, die ihrem Mann Loyalität entgegenbringt und damit die Erwartungen, die an eine ehrbare Frau ihres Ranges gestellt wurden,448 442 Plut. Ant. 53, 1–4. An dieser Stelle wird die zwangsläufige Verknüpfung von privatem und öffentlichen Agieren deutlich – hatte doch Oktavian aus rein machtstrategischen Gründen seine Zustimmung zu dem Besuch gegeben, nämlich – so Plutarch – um im Falle einer unangemessenen Behandlung seiner Schwester einen triftigen Kriegsgrund gegen Antonius vorweisen zu können. 443 Plut. Ant. 51, 2 nennt diesen Ort und beschreibt ihn als zwischen Beirut und Sidon gelegen. 444 Plut. Ant. 53, 5. 445 Plut. Ant. 53, 5–7: Αἰσθομένη δὲ ἡ Κλεοπάτρα τὴν Ὀκταουίαν ὁμόσε χωροῦσαν αὑτῇ, καὶ φοβηθεῖσα μὴ τοῦ τρόπου τῇ σεμνότητι καὶ τῇ Καίσαρος δυνάμει προσκτησαμένη τὸ καθ᾽ ἡδονὴν ὁμιλεῖν καὶ θεραπεύειν Ἀντώνιον, ἄμαχος γένηται καὶ κρατήσῃ παντάπασι τοῦ ἀνδρός, ἐρᾶν αὐτὴ προσεποιεῖτο τοῦ Ἀντωνίου, καὶ τὸ σῶμα λεπταῖς καθῄρει διαίταις· τὸ δὲ βλέμμα προσιόντος ἐκπεπληγμένον, ἀπερχομένου δὲ τηκόμενον καὶ ταπεινούμενον ὑπεφαίνετο. πραγματευομένη δὲ πολλάκις ὀφθῆναι δακρύουσα, ταχὺ τῶν δακρύων ἀφῄρει καὶ ἀπέκρυπτεν, ὡς δὴ βουλομένη λανθάνειν ἐκεῖνον. 446 Plut. Ant. 53, 8–10. 447 Plut. Ant. 53, 11 f. 448 Vgl. Schäfer (2006), S. 166.
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voll erfüllt, fühlt Kleopatra sich als seine Geliebte herausgefordert und eröffent gewissermaßen mit emotionalen Mitteln den Krieg gegen sie, indem sie auf Antonius Einfluss zu nehmen versucht. Ihre schauspielerischen Qualitäten ermöglichen es ihr, sich nach außen hin als körperlich wie seelisch Leidende zu präsentieren, die sich der Liebe des Antonius nicht gewiss sein kann. Der Appell an die Emotionen ihres Geliebten (sowie aller anderen) soll sie als von seinem Verhalten abhängig und seines Wohlwollens bedürftig erscheinen lassen, tatsächlich handelt es sich jedoch um eine aus taktischen Erwägungen praktizierte Verstellung. Plutarch stellt die Königin als starke Persönlichkeit dar, die die Fäden in der Hand hält und sich ganz bewusst inszeniert; sie vermag ihren Blick als „sich verzehrend“, „(in Tränen) zerfließend“ (τηκόμενον) aussehen zu lassen, doch ist dies nur gespielt: Ihr vermeintlich weiblich-schwächliches Verhalten besitzt höchste Wirkung und führt dazu, dass sie Fürsprecher unter den engeren Anhängern des Antonius findet. Diese beeinflussen wiederum den Feldherrn, indem sie ihn „weich und weibisch machen“ (ἐξέτηξαν καὶ ἀπεθήλυναν) und somit genau denjenigen Gemütszustand in ihm auslösen, den Kleopatra vorgibt zu empfinden.449 Komplementär zu dieser Episode verhält sich nur wenige Abschnitte danach die Schilderung der Ereignisse, die sich im Frühjahr 32 v. Chr. zutrugen. Kleopatra begab sich nach Athen und war erneut darum bemüht, ihre Konkurrentin, die bei den Einwohnern der Stadt äußerst beliebt war und in hohem Ansehen stand, zu übertreffen, indem sie sich ebenfalls hohe Ehrungen verschaffte und dabei von Antonius unterstützt wurde.450 In Rom ließ der Feldherr die Scheidung von seiner Frau bekanntgeben, woraufhin diese mit den Kindern das Haus verließ; dabei weinte sie und es machte ihr erkennbar schwer zu schaffen, dass auch sie als einer der Urheber des Krieges dastehen würde (κλαίουσαν δὲ καὶ δυσφοροῦσαν, εἰ δόξει μία τῶν αἰτιῶν τοῦ πολέμου καὶ αὐτὴ γεγονέναι). Allerdings empfanden, so schreibt 449 Antonius fürchtet schließlich um das Leben Kleopatras und lässt sein Handeln von ihrem Wohlergehen bestimmen, was laut Plutarch bis hin zur nicht militärstrategisch bestimmten Entscheidung führte, den geplanten Feldzug aufzuschieben, vgl. Plut. Ant. 53, 11: Τέλος δ᾽ οὖν οὕτω τὸν ἄνθρωπον ἐξέτηξαν καὶ ἀπεθήλυναν, ὥστε δείσαντα μὴ Κλεοπάτρα πρόηται τὸν βίον, εἰς Ἀλεξάνδρειαν ἐπανελθεῖν, τὸν δὲ Μῆδον εἰς ὥραν ἔτους ἀναβαλέσθαι, καίπερ ἐν στάσει τῶν Παρθικῶν εἶναι λεγομένων. Plutarch verwendet mit ἐξέτηξαν καὶ ἀπεθήλυναν ein Vokabular, dass an dieser Stelle deutlich die Schwäche des Antonius in den Vordergrund stellt. Die Schmeichler machen ihn ‚mürbe‘ und bringen ihn dazu, sich ‚weibisch‘ zu verhalten, so dass er den (gespielten) Emotionen seiner Geliebten argumentative Kraft einräumt. Unterschiedlichen Nuancierungen des Verbums ἐκτήκειν schwingen hier mit: Es zeigt an, dass Antonius „weich wird“, also von außen beeinflusst nicht mehr eigenständig (‚männlich‘) Entscheidungen trifft, zudem wird darin das Attribut wieder aufgenommen, das den Blick (τὸ βλέμμα) der Kleopatra näher bezeichnete – τηκόμενον. Unmissverständlich wird die Botschaft dann mit ἀποθηλύνειν („weibisch machen“). Ein derartiges Verhalten der Kleopatra, in dem sich ja gerade ihr politisches Geschick manifestiert, muss nicht als bloße Erfindung Plutarchs abgetan werden, wie Schäfer (2006), S. 166 f. anmerkt; für Antonius sei allerdings eine größere Eigenständigkeit bei seiner Entscheidung, sich von Oktavia zu distanzieren, anzunehmen. – Eine bewusste Einflussnahme auf die eigene Fähigkeit, in Tränen auszubrechen, und der gezielte Einsatz dieser Tränen wird auch Justinian zugeschrieben, freilich deutlich negativer konnotiert, vgl. II. 5.3.1. 450 Plut. Ant. 57, 1–3.
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Plutarch ironisierend, die Römer nicht so sehr Mitleid mit ihr als vielmehr mit Antonius – besonders diejenigen unter ihnen, die aus eigener Anschauung wussten, dass Kleopatra weder an körperlicher Schönheit noch an jugendlichem Liebreiz Oktavia übertraf.451 Wie bereits in der zuvor besprochenen Passage stellt Plutarch hier dem Leser die Tugenden der Oktavia deutlich vor Augen und setzt sie in Kontrast zu den charakterlichen Eigenschaften der Kleopatra.452 Die Römerin hält bis zum endgültigen Bruch des Antonius mit ihr zu ihrem Gatten;453 sie demonstriert durch ihr untadeliges Auftreten nach dessen Trennungsschreiben erneut, dass sie dem Idealbild einer römischen Ehefrau und Mutter entspricht (Treue und Fürsorge um die Familie treten besonders deutlich heraus), so dass es naheliegend erscheint, ihr den Vorzug vor der ägyptischen Königin zu geben. Beide Frauen stehen im Wettkampf miteinander und nutzen die ihnen zu Gebote stehenden Handlungsoptionen, wobei sie sich der Tragweite ihres Verhaltens bewusst sind. Kleopatra ist keine von der Zuneigung ihres Liebhabers abhängige Geliebte, sondern ist sich – zumindest gemäß der Schilderung Plutarchs – um die politische Bedeutung einer Allianz mit Antonius im Klaren,454 daher versucht sie ihn für ihre Zwecke einzuspannen. Dem Erfolg bei der Durchsetzung ihrer Absichten steht allerdings nicht der Misserfolg Oktavias gegenüber, denn diese bietet ihm ebenfalls Unterstützung für seine Kriegszüge, besitzt eine ebensogroße (oder gar größere) physische Attraktivität, und zudem werden die von ihr nach außen hin präsentierten Emotionen nicht als gespielt, sondern als Ausdruck ihrer tatsächlichen inneren Befindlichkeit dargestellt.455 In Handlungen, die von planvoller Überlegung, ebenso jedoch von der Liebe zum Gatten geleitet werden, sind allerdings auch ihre Tränen eingebettet, und sie tragen wesentlich dazu bei, dem Leser ein positives Bild ihrer Persönlichkeit zu entwerfen, wogegen die Tränen der Kleopatra ihre tatsächliche Ursache in dem machtstrategisch geschickten Planen der Königin haben, dessen Ziel in einer politischen Einflussnahme bestand. 451 Plut. Ant. 57, 4 f.: Εἰς δὲ Ῥώμην ἔπεμψε τοὺς Ὀκταουίαν ἐκ τῆς οἰκίας ἐκβαλοῦντας. ἀπελθεῖν δέ φασιν αὐτὴν τὰ μὲν τέκνα πάντα Ἀντωνίου μεθ᾽ ἑαυτῆς ἔχουσαν ἄνευ τοῦ πρεσβυτάτου τῶν ἐκ Φουλβίας – ἐκεῖνος γὰρ ἦν παρὰ τῷ πατρί –, κλαίουσαν δὲ καὶ δυσφοροῦσαν, εἰ δόξει μία τῶν αἰτιῶν τοῦ πολέμου καὶ αὐτὴ γεγονέναι. Ῥωμαῖοι δὲ ᾤκτειρον οὐκ ἐκείνην ἀλλ᾽ Ἀντώνιον, καὶ μᾶλλον οἱ Κλεοπάτραν ἑωρακότες οὔτε κάλλει τῆς Ὀκταουίας οὔτε ὥρᾳ διαφέρουσαν. 452 Vgl. Pelling (1988), S. 259: „Octavia’s response is as dignified as ever“. 453 Zwei Jahre zuvor, nach ihrer Rückkehr aus Athen in die Hauptstadt des Reiches, widersetzte Oktavia sich bereits dem Drängen ihres Bruders, sie solle aufgrund der erlittenen Kränkung seitens ihres Gatten in ein eigenes Haus ziehen, und hielt weiterhin loyal zu ihrem Ehemann. Oktavia handelte ihrem Bruder gegenüber eigenständig, wobei sie unmissverständlich zum Ausdruck brachte, dass sie nicht als Spielball männlicher Politik fungieren wolle; durch ein solches Verhalten brachte sie die Römer dazu, Antonius zu hassen und sie zu bemitleiden (allerdings trug dieser, wie in den folgenden Sätzen dargelegt wird, selbst dazu bei, sich unbeliebt zu machen), vgl. Plut. Ant. 54, 1–5. 454 Vgl. Becher (1966), S. 74 sowie Schäfer (2006), S. 206 f. 455 Materialle Zuwendungen erfolgten im Jahre 35 v. Chr. seitens der Oktavia, aber auch kurz zuvor von Seiten der Kleopatra, die Kleidung und Geld für die Soldaten des Antonius nach Leuke Kome mitbrachte – allerdings führt Plutarch an, dass nach manchen Quellen Antonius das Geld aus eigener Kasse zahlte und den Soldaten sagte, es stamme von Kleopatra, vgl. Plut. Ant. 51, 3 f.
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Auch bei der Begegnung mit Oktavian versucht Kleopatra, auf diesen durch ein Appellieren an sein Mitgefühl eine manipulative Wirkung zu erzielen, was ihr zwar – folgt man den Quellen – nicht in dem beabsichtigen Ausmaß, aber zumindest teilweise gelingt. Plutarch und Cassius Dio geben ihr Treffen mit Oktavian nach dem dramatischen Tod des Antonius456 im Sommer 30 v. Chr. in einer emotionsbetonten Schilderung wieder. Plutarch berichtet zunächst, dass Kleopatra den Leichnam des Antonius mit der Erlaubnis Oktavians bestattete und seelisch wie körperlich entkräftet war, weshalb sie sich ein Fieber zuzog. Ihr Plan, sich mit ihrer Krankheit als Vorwand selbst durch Hunger zu töten, schlug allerdings fehl.457 Als Oktavian sie in ihrem geschwächten Zustand besuchte,458 sprang sie trotz ihres schlechten Gesundheitszustands von ihrem Bett auf und fiel, nur mit dem Untergewand bekleidet, vor ihm nieder (αὐτῷ μονοχίτων ἀναπηδήσασα προσπίπτει) – und zwar in einem Mitleid erregenden äußeren Aufzug: Haupt und Gesicht waren zerschunden (δεινῶς ἐξηγριωμένη κεφαλὴν καὶ πρόσωπον), ihre Stimme war zittrig (ὑπότρομος δὲ τῇ φωνῇ), die Augen waren verweint und eingefallen (συντετηκυῖα ταῖς ὄψεσιν).459 Obwohl jedoch die Trauer um Antonius seelische wie körperliche Spuren hinterlassen hatte, waren ihr Liebreiz und ihre jugendliche Verwegenheit (ἡ χάρις ἐκείνη καὶ τὸ τῆς ὥρας ἰταμὸν) nicht erloschen und zeigten sich nach außen hin in ihrem Gesichtsausdruck. Kleopatra begann sich nach dieser Demonstration von unterwürfigen Bittgesten zu rechtfertigen und die Verantwortung für ihr Verhalten auf Antonius abzuschieben. Oktavian allerdings widerlegte ihre Argumentation, woraufhin sie sich auf das Bitten und Erregen von Mitleid verlagerte. Auch durch einen 456 Vgl. Plut. Ant. 76, 5–77, 7 und, wesentlich kürzer, Cass. Dio 51, 10, 5–9. 457 Plut. Ant. 82, 2–5: Ἀντώνιον δὲ πολλῶν αἰτουμένων θάψαι καὶ βασιλέων καὶ στρατηγῶν, οὐκ ἀφείλετο Κλεοπάτρας τὸ σῶμα Καῖσαρ, ἀλλὰ ἐθάπτετο ταῖς ἐκείνης χερσὶ πολυτελῶς καὶ βασιλικῶς, πᾶσιν ὡς ἐβούλετο χρῆσθαι λαβούσης. ἐκ δὲ λύπης ἅμα τοσαύτης καὶ ὀδύνης – ἀνεφλέγμηνε γὰρ αὐτῆς τὰ στέρνα τυπτομένης καὶ ἥλκωτο – πυρετῶν ἐπιλαβόντων, ἠγάπησε τὴν πρόφασιν, ὡς ἀφεξομένη τροφῆς διὰ τοῦτο καὶ παραλύσουσα τοῦ ζῆν ἀκωλύτως ἑαυτήν. ἦν δ᾿ ἰατρὸς αὐτῇ συνήθης Ὄλυμπος, ᾧ φράσασα τἀληθὲς ἐχρῆτο συμβούλῳ καὶ συνεργῷ τῆς καθαιρέσεως, ὡς αὐτὸς ὁ Ὄλυμπος εἴρηκεν, ἱστορίαν τινὰ τῶν πραγμάτων τούτων ἐκδεδωκώς. ὑπονοήσας δὲ Καῖσαρ ἀπειλὰς μέν τινας αὐτῇ καὶ φόβους περὶ τῶν τέκνων προσέβαλλεν, οἷς ἐκείνη καθάπερ μηχανήμασιν ὑπηρείπετο, καὶ παρεδίδου τὸ σῶμα θεραπεύειν καὶ τρέφειν τοῖς χρῄζουσιν. Kleopatra war nicht nur durch ihr inneres Leid (λύπη) erschöpft, sondern auch deswegen, weil sie sich angesichts des qualvoll sterbenden Antonius ihre Brust geschlagen und zerkratzt hatte, vgl. Plut. Ant. 77, 5: Δεξαμένη δὲ αὐτὸν οὕτως καὶ κατακλίνασα, περιερρήξατό τε τοὺς πέπλους ἐπ᾽ αὐτῷ, καὶ τὰ στέρνα τυπτομένη καὶ σπαράττουσα ταῖς χερσί, καὶ τῷ προσώπῳ τοῦ αἵματος ἀναματτομένη, δεσπότην ἐκάλει καὶ ἄνδρα καὶ αὐτοκράτορα· καὶ μικροῦ δεῖν ἐπιλέληστο τῶν αὑτῆς κακῶν οἴκτῳ τῶν ἐκείνου. Zu diesem weiblichen Gestus der Trauer und Selbstmisshandlung vgl. Sittl (1890), S. 22 f. und 65–78; Corbeill (2004), S. 83 f. und 87 f. 458 Der Ort dieses Zusammentreffens wird von Plutarch nicht benannt, so dass der Leser annehmen kann, es handle sich um das Grabmal; Dio dagegen gibt den königlichen Palast als Schauplatz der Begegnung an (51, 11, 5), vgl. Pelling (1988), S. 315. 459 In der Verbindung συντετηκυῖα ταῖς ὄψεσιν kommen die äußeren Merkmale der körperlichen Auszehrung infolge des Weinens zum Ausdruck; Pelling (1988), S. 315 führt an, dass diese Wortwahl des Plutarch „suggests both soreness from tears and the lifelessness which comes from continual grief“.
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ihrer Verwalter, der ihr die Unterschlagung von Vermögen unterstellte, konnte sie nicht vor Oktavian bloßgestellt werden, sondern im Gegenteil vermochte sie ihn davon zu überzeugen, dass sie Mittel brauchen werde, um standesgemäß mit dem Caesaren und seinem Umfeld (genauer: seiner Frau Livia) interagieren zu können. Letztlich war Oktavian von ihren (vorgespielten) Absichten überzeugt; er freute sich, so Plutarch, dass sie offensichtlich am Leben bleiben wolle, und verabschiedete sich in dem Glauben, sie getäuscht zu haben (nämlich indem er ihr eine zuvorkommende Behandlung als Besiegte in Rom versprach, sie aber wohl im Triumphzug mitführen wollte) – doch war er selbst der Getäuschte (ἐξηπατηκέναι μὲν οἰόμενος, ἐξηπατημένος δὲ μᾶλλον).460 Der weitere Verlauf der Ereignisse wird in dieser Bemerkung bereits angedeutet – Kleopatra ist es gelungen, Oktavian zu täuschen, und kann den ihr zugestandenen Handlungsspielraum nutzen, um Vorbereitungen für ihren Selbstmord zu treffen. Ihr Verhalten ist, wie in der oben analysierten Episode, unaufrichtig, doch wie viel und welche Teile ihrer Darbietung inszeniert sind, darüber belässt Plutarch den Leser im Unklaren – deutlich tritt aber auf jeden Fall das Kalkül zutage, das die Königin ihrem Verhalten zugrundegelegt haben soll.461 Auch mit der Beschreibung des anfänglichen Gefühlsausbruchs verhält es sich ambivalent: Die Zurschaustellung der eigenen Emotionen, die sich deutlich in der äußeren Erscheinung manifestiert, ist zwar Bestandteil eines strategischen Vorgehens, die Trauer um Antonius lässt sich Kleopatra jedoch nicht ohne Weiteres absprechen, und gerade an dieser Stelle erfährt sie im Rahmen der Biographie eines Römers eine vergleichsweise ausgewogene Charakterisierung.462 460 Plut. Ant. 83, 1–7: Ἦκε δὲ καὶ αὐτὸς ἡμέρας ὀλίγας διαλιπὼν ἐντευξόμενος αὐτῇ καὶ παρηγορήσων. ἡ δ᾿ ἔτυχε μὲν ἐν στιβάδι κατακειμένη ταπεινῶς, εἰσιόντι δ᾽ αὐτῷ μονοχίτων ἀναπηδήσασα προσπίπτει, δεινῶς μὲν ἐξηγριωμένη κεφαλὴν καὶ πρόσωπον, ὑπότρομος δὲ τῇ φωνῇ καὶ συντετηκυῖα ταῖς ὄψεσιν. ἦν δὲ πολλὰ καὶ τῆς περὶ τὸ στέρνον αἰκίας καταφανῆ, καὶ ὅλως οὐθὲν ἐδόκει τὸ σῶμα τῆς ψυχῆς ἔχειν βέλτιον. ἡ μέντοι χάρις ἐκείνη καὶ τὸ τῆς ὥρας ἰταμὸν οὐ κατέσβεστο παντάπασιν, ἀλλὰ καὶπερ οὕτως διακειμένης ἔνδοθέν ποθεν ἐξέλαμπε καὶ συνεπεφαίνετο τοῖς κινήμασι τοῦ προσώπου. κελεύσαντος δὲ τοῦ Καίσαρος αὐτὴν κατακλιθῆναι καὶ πλησίον αὐτῆς καθίσαντος, ἥψατο μέν τινος δικαιολογίας, εἰς ἀνάγκην καὶ φόβον Ἀντωνίου τὰ πεπραγμένα τρεπούσης· ἐνισταμένου δὲ πρὸς ἕκαστον αὐτῇ τοῦ Καίσαρος, ἐξελεγχομένη ταχὺ πρὸς οἶκτον μεθηρμόσατο καὶ δέησιν, ὡς δή τις ἂν μάλιστα τοῦ ζῆν περιεχομένη. τέλος δὲ τοῦ πλήθους τῶν χρημάτων ἀναγραφὴν ἔχουσα προσέδωκεν αὐτῷ· Σελεύκου δέ τινος τῶν ἐπιτρόπων ἐλέγχοντος ὡς ἔνια κρύπτουσαν καὶ διακλέπτουσαν, ἀναπηδήσασα καὶ τῶν τριχῶν αὐτοῦ λαβομένη, πολλὰς ἐνεφόρει τῷ προσώπῳ πληγάς. τοῦ δὲ Καίσαρος μειδιῶντος καὶ καταπαύοντος αὐτήν, „ἀλλ᾽ οὐ δεινόν“ εἶπεν „ὦ Καῖσαρ, εἰ σὺ μὲν ἠξίωσας ἀφικέσθαι πρὸς ἐμὲ καὶ προσειπεῖν οὕτω πράττουσαν, οἱ δὲ δοῦλοί μου κατηγοροῦσιν, εἴ τι τῶν γυναικείων ἀπεθέμην, οὐκ ἐμαυτῇ δήπουθεν, ἡ τάλαινα, κόσμον, ἀλλ᾽ ὅπως Ὀκταουία καὶ Λιβίᾳ τῇ σῇ μικρὰ δοῦσα δἰ ἐκείνων ἵλεώ σου τύχοιμι καὶ πραοτέρου;“ τούτοις ὁ Καῖσαρ ἥδετο, παντάπασιν αὐτὴν φιλοψυχεῖν οἰόμενος. εἰπὼν οὖν ὅτι καὶ ταῦτα ἐπιτρέπει καὶ τἆλλα πάσης ἐλπίδος αὐτῇ χρήσεται λαμπρότερον, ᾤχετο ἀπιών, ἐξηπατηκέναι μὲν οἰόμενος, ἐξηπατημένος δὲ μᾶλλον. 461 Vgl. Pelling (1988), S. 314. 462 Dramatisch, aber nicht unaufrichtig erscheint die letzte Rede Kleopatras vor dem Grab des Antonius in Kapitel 84. Ein vielschichtiges Bild der Ptolemäerin zeichnet desgleichen der Dichter Horaz in der berühmten Ode 1, 37, die neben Abscheu auch Bewunderung für die Kö-
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Deutlich negativ gefärbt und zudem weitaus weniger komplex ist dagegen das Bild der Königin, das Cassius Dio entwirft.463 Ihm zufolge kam es auf Kleopatras Betreiben hin zu der Begegnung, und er lässt sie den Schauplatz regelrecht als Bühnenbild ausgestalten; ein luxuriöses Ambiente bot ihr den entsprechenden Hintergrund, um sich möglichst wirkungsvoll in Szene zu setzen: In einer aufwändig hergerichteten Wohnung ihres Palastes platzierte sie sich auf einer Liege, um sich herum ließ sie Bildnisse ihres vormaligen Geliebten Caesar aufstellen, an ihrer Brust hielt sie dessen (private) Briefe an sie, und ihre äußere Aufmachung – sie war in ein Trauergewand gekleidet – sollte bewusst nachlässig wirken.464 Vor Oktavian führte sie zunächst dessen göttlich legitimierte Herrschaft an, um dann auf seinen Adoptivvater zu verweisen, der ihr die ägyptische Krone verliehen habe; die verbalen Bekundungen seiner Liebe las sie dem jungen Caesaren aus den genannten Briefen vor, wobei sie abwechselnd weinte und die Briefe küsste (τοτὲ μὲν ἔκλαε καὶ τὰς ἐπιστολὰς κατεφίλει) und den Bildnissen fußfällige Verehrung erwies (τοτὲ δὲ πρὸς τὰς εἰκόνας αὐτοῦ προσέπιπτε καὶ ἐκείνας προσεκύνει). Ihre Augen waren während ihrer Darbietung auf Oktavian gerichtet (τὰ βλέφαρα ἐς τὸν Καίσαρα ἐπενέκλα), sie gab wohlklingende Klagelaute von sich (ἐμμελῶς ἀνωλοφύρετο) und sprach ihr Gegenüber in umschmeichelnder Manier an (θρυπτικόν τι προσεφθέγγετο) – schließlich kulminierten ihre Äußerungen in der Feststellung, dass Iulius Caesar in seinem anwesenden Sohn lebendig sei („εἴθε σου προετεθνήκειν“, „ἀλλὰ καὶ τοῦτον ἔχουσα σὲ ἔχω“): Das Bestreben der Königin, Oktavian für sich zu gewinnen, sollte demnach als Wunsch nach einer Erneuerung des vormaligen Verhältnisses zu dem vierzehn Jahre zuvor verstorbenen römischen Diktator dargestellt werden.465 Zusammenfassend hebt Cassius Dio hervor, dass Kleopatra mit Feinsinn in ihren Worten und ihrem Agieren (ποικιλίᾳ καὶ τῶν ῥημάτων καὶ τῶν σχημάτων ἐχρῆτο) versuchte, Oktavian zu beeinflussen, und dabei nicht ohne Wirkung auf ihn blieb (ὁ οὖν Καῖσαρ συνίει), es gelang ihm jedoch, sich dies nicht anmerken zu lassen (προσεποιεῖτο), und er ergriff eine taktisch geschickte Gegenmaßnahme, indem er starr auf den Boden blickte und ihr Unversehrtheit versprach.466 Auch als
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nigin hervorruft, da diese sich der Vorführung ihrer Person im Triumphzug durch einen mutigen Selbstmord entzieht. Die literarische Darstellung Kleopatras durch Plutarch ist facettenreich und lässt auch Respekt gegenüber der Herrscherin erkennen; gerade die vorliegende Episode wird von Casius Dio jedoch in einer geradezu plumpen Art ausgestaltet, vgl. Pelling (1988), S. 314 f. Cass. Dio 51, 11, 6–12, 1: Ἀμέλει καὶ ὀφθῆναι καὶ διαλεχθῆναί τι τῷ Καίσαρι ἐθελήσασα ἐπέτυχε· καὶ ἵνα γε ἐπὶ πλεῖον ἀπατηθῇ, αὐτὸς ἀφίξεσθαι πρὸς αὐτὴν ὑπέσχετο. οἶκόν τε οὖν ἐκπρεπῆ καὶ κλίνην πολυτελῆ παρασκευάσασα, καὶ προσέτι καὶ ἑαυτὴν ἠμελημένως πως κοσμήσασα (καὶ γὰρ ἐν τῷ πενθίμῳ σχήματι δεινῶς ἐνέπρεπεν) ἐκαθέζετο ἐπὶ τῆς κλίνης, πολλὰς μὲν εἰκόνας τοῦ πατρὸς αὐτοῦ καὶ παντοδαπὰς παραθεμένη, πάσας δὲ τὰς ἐπιστολὰς τὰς παρ᾽ ἐκείνου οἱ πεμφθείσας ἐς τὸν κόλπον λαβοῦσα. Cass. Dio 51, 12, 2–4. Cass. Dio 51, 12, 5: Τοιαύτῃ τινὶ ποικιλίᾳ καὶ τῶν ῥημάτων καὶ τῶν σχημάτων ἐχρῆτο, μελιχρὰ ἄττα καὶ προσβλέπουσα αὐτῷ καὶ λαλοῦσα. ὁ οὖν Καῖσαρ συνίει μὲν αὐτῆς καὶ παθαινομένης καὶ πληκτιζομένης, οὐ μέντοι καὶ προσεποιεῖτο, ἀλλ᾽ ἐς τὴν γῆν τοὺς ὀφθαλμοὺς ἐρείσας τοῦτο μόνον εἶπεν, „θάρσει ὦ γύναι, καὶ θυμὸν ἔχε ἀγαθόν· οὐδὲν γὰρ κακὸν πείσῃ.“
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Kleopatra ihm zu Füßen gefallen sei und weinend darum gebeten habe (πρός τὰ γόνατα αὐτοῦ προσέπεσε καὶ ἀνακλαύσασα ἔφη), aus dem Leben scheiden zu dürfen und neben Antonius begraben zu werden, hätten sich ihre Hoffnung, ihn zum Mitleid zu bewegen, nicht erfüllt; vielmehr versuchte der Römer, so Dio, ihr Mut zuzusprechen, und andererseits verstärkte er ihre Bewachung – beides zu dem Zweck, sie in seinem Triumph mitführen zu können.467 Demnach verstand sich Oktavian darauf, mit Kalkül seinem Gesprächspartner gegenüberzutreten (er verstellte sich willentlich – προσεποιεῖτο – und fühlte sich in der vorliegenden Situation überlegen), nur war Kleopatra geschickter. Sie machte (darauf verweist vor allem die Wendung ποικιλίᾳ ἐχρῆτο) bewussten Gebrauch von verbalen wie nonverbalen Mitteln, um auf seine Emotionen einzuwirken. Wie weitreichend ihre planvollen Überlegungen waren, kommt in der Tatsache zum Ausdruck, dass sie am Ende die Oberhand behält und es zustandebringt, sich selbst zu töten, um dem für sie unwürdigen Schicksal zu entgehen, und in der sich dieser Episode anschließenden Bemerkung, Kleopatra habe nun den Entschluss zu sterben fest gefasst (ὄντοως ἀποθανεῖν ἐπεθύμησε) – mit der Reaktion des Oktavian hatte sie offenbar bereits im vorhinein gerechnet (ὑποτοπήσασα).468 Gleich mehrfach werden in dieser Episode Tränen erwähnt (ἔκλαε, ἀνακλαύσασα); auch ansonsten ist sie von einem Vokabular durchsetzt, das tiefste Klage beschreibt (ἐμμελῶς ἀνωλοφύρετο, περιαλγήσασα), und Kleopatra verhält sich als eine unterwürfig Bittende. Historisch glaubwürdig ist die Art und Weise, wie sie Oktavian vor allem unter Zuhilfenahme ihrer Verführungskünste für sich zu gewinnen versucht, wohl kaum; vielmehr orientiert sich die Darstellung des Cassius Dio an literarischen Prinzipien.469 Einigkeit besteht zwischen Plutarch und Dio immerhin dahingehend, dass die ägyptische Königin ihren Kommunikationspartner mit Hilfe einer emotional bestimmten Argumentation bis zu einem gewissen Grad zu beeinflussen vermochte;470 die in diesem Zusammenhang erwähnten Tränen der Kleopatra vor den römischen Machthabern wirken zwar nicht unmittelbar, aber sie 467 Cass. Dio 51, 12, 6–13, 1: Περιαλγήσασα οὖν ἐκείνη ὅτι μήτε προσεῖδεν αὐτὴν μήτε τι ἢ περὶ τῆς βασιλείας ἢ καὶ ἐρωτικόν τι ἐφθέγξατο, πρός τε τὰ γόνατα αὐτοῦ προσέπεσε καὶ ἀνακλαύσασα „ζῆν μέν“ ἔφη, „Καῖσαρ, οὔτε ἐθέλω οὔτε δύναμαι· ταύτην δέ σε τὴν χάριν ἐς τὴν τοῦ πατρὸς μνήμην αἰτῶ, ἵν᾽ ἐπειδή με Ἀντωνίῳ μετ᾽ ἐκεῖνον ὁ δαίμων παρέδωκε, μετ᾽ αὐτοῦ καὶ ἀποθάνω. εἴθε μὲν γὰρ ἀπωλώλειν εὐθὺς τότε μετὰ τὸν Καίσαρα· ἐπεὶ δέ μοι καὶ τοῦτο παθεῖν ἐπέπρωτο, πέμψον με πρὸς Ἀντώνιον, μηδέ μοι τῆς σὺν αὐτῷ ταφῆς φθονήσῃς, ἵν᾽ ὥσπερ δι᾽ ἐκεῖνον ἀποθνήσκω, οὕτω καὶ ἐν Ἅιδου αὐτῷ συνοικήσω.“ καὶ ἡ μὲν τοιαῦτα ὡς καὶ ἐλεηθησομένη ἔλεγε, Καῖσαρ δὲ πρὸς μὲν ταῦτα οὐδὲν ἀπεκρίνατο, φοβηθεὶς δὲ μὴ ἑαυτὴν διαχρήσηται, θαρσεῖν τε αὐτῇ αὖθις παρεκελεύσατο, καὶ οὔτε τὴν θεραπείαν αὐτῆς ἀφείλετο καὶ ἐν ἐπιμελείᾳ αὐτὴν ἐποιεῖτο, ὅπως οἱ τὰ ἐπινίκια ἐπιλαμπρύνῃ. 468 Cass. Dio 51, 13, 2. 469 Vgl. Schäfer (2006), S. 243 f., der die Schilderung des Cassius Dio ins Reich der Fabel verweist. 470 Hierin besteht der Unterschied zwischen den Reaktionen des Antonius und des Oktavian: Letztgenannter bringt es fertig, sich trotz Ablenkung auf seine Ziele zu konzentrieren (und kann sie dann nicht erreichen, da sein Verhalten letztlich doch von Kleopatra gelenkt wird); der zweite Liebhaber der ägyptischen Königin dagegen ist leichter emotional beeinflussbar und ihr in dieser Hinsicht unterlegen, was besonders in Plutarchs Vita des Feldherrn mehrfach zum Ausdruck kommt, vgl. dazu Becher (1966), S. 79.
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tragen – neben anderen Faktoren – wesentlich dazu bei, auf der Grundlage eigenständiger taktischer Überlegungen Strategien zu verfolgen, die schließlich zum Erfolg führen.471 Einen Kontrast zum offenbar sehr durchdachten, vorausschauenden Vorgehen der Kleopatra bietet die Leichtfertigkeit einer (deutlich weniger bekannten und weniger hochrangigen) Frau im Jahre 359, wie sie Ammianus Marcellinus schildert: Assyria, die Gattin des magister peditum Barbatio, wird von ihm schon im Zuge ihrer Vorstellung als nec taciturna nec prudens beschrieben. Dass sich ein Ereignis mit negativem Ausgang anbahnt, wird bereits durch die Unheil verkündenden Vorzeichen angedeutet, die Barbatio in der Gestalt eines Bienenstocks in seinem Haus erhält. In großer Bersorgnis (multiplici metu suspensus) begab er sich auf einen Feldzug, und währenddessen ließ seine Frau, „von weiblicher Eitelkeit getrieben“ (perculsa uanitate muliebri), ihre Dienerin in Geheimschrift einen Brief abfassen. Der Zeitpunkt dieses Schreibens war ebenso ungünstig gewählt (intempestiue), wie sein Inhalt für Barbatio kompromittierend war: Assyria bat ihn darin „gleichsam weinend“ (uelut flens), er solle sie nicht verachten, wenn er (worauf er seine Hoffnung gelegt hatte) nach dem bald herannahenden Tod Constantius‘ II. die Herrschaft erlangt habe, und mit der für ihre Schönheit gerühmten Kaiserin Eusebia eine Ehe eingehen. Eine Abschrift des Briefes wurde jedoch von der Dienerin an den magister militum Arbitio weitergeleitet, mit der Folge, dass Barbatio, der den Erhalt der Nachricht einräumte, und seine Frau enthauptet wurden.472 Assyria und ihren Gatten verbindet, wie der folgende Abschnitt verdeutlicht, eine zu große Redseligkeit; allerdings ist Barbatio ein treuloser Verräter, sie aber nur zu naiv (non prudens), um die möglichen Konsequenzen ihres Verhaltens abzusehen.473 Ammian schreibt ihr ein gezieltes Verhalten zu, und die inständige und gleichsam unter Tränen schriftlich vorgebrachte Bitte der Assyria ist als im Rahmen ihrer Möglichkeiten stehende Maßnahme zu verstehen, sich die Stellung als Frau eines mächtigen Mannes auch künftig zu sichern (was in das genaue Gegenteil umschlägt und somit einen Beleg für ihre Unbesonnenheit bietet). 471 In hohem Maß emotionalisierend wirkt schließlich die ausgeschmückte Darstellung Kleopatras angesichts ihres Todes bei Plutarch, wobei ihre Zurschaustellung der eigenen inneren Befindlichkeit auf keinen spezifischen Kommunikationspartner ausgerichtet ist, sondern vielmehr nur auf literarischer Ebene Wirkung erzielt; der Biograph hebt sehr deutlich hervor, dass sie dem Schicksal, im Triumphzug Oktavians mitgeführt zu werden, zu entfliehen versuchte, und betont dabei ihre Liebe zu Antonius, um dann schließlich ihre Unerschrockenheit kurz vor dem eigenen Tod zu veranschaulichen, vgl. Plut. Ant. 84–86 (besonders 85, 1: Τοιαῦτ᾿ ὀλοφυραμένη καὶ στέψασα καὶ κατασπασαμένη τὴν σορόν, ἐκέλευσεν αὑτῇ λουτρὸν γενέσθαι). An dieser Stelle hebt sich Plutarch gegenüber Cassius Dio durch größere Dramatik ab, vgl. Schäfer (2006), S. 244–246. – Die Frage nach den tatsächlichen Emotionen Kleopatras, vor allem nach der Authentizität ihrer Liebe zu Antonius, drängt sich besonders angesichts ihrer eindringlichen Klage um ihn (und zugleich ihr eigenes Schicksal) vor seinem Grab auf, daher sollte betont werden, dass sie schlicht nicht beantwortet werden kann, wie Schäfer (2006), S. 252 f. schlüssig darlegt. 472 Amm. 18, 3, 1–4. 473 Im restlichen Kapitel wird zunächst Barbatio charakterisiert (18, 3, 6 f.); den Schluss der Episode bildet, wie auch den Einstieg, ein Bezug auf das Tierreich, was hier den Wert des Schweigens in unsicheren Situationen verdeutlichen soll (18, 3, 8 f.).
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Dass Weinen den politischen Kommunikationsstil prägen konnte, wird am Beispiel der Ariadne, der Frau des Kaisers Zenon, ersichtlich. Johannes Malalas berichtet zunächst in Buch 15 seiner Weltchronik, sie habe sich an ihren Gatten gewandt, um die Freilassung ihrer Mutter Verina (die sich gegen Zenon gewandt hatte) zu erlangen. Der Kaiser habe ihr geantwortet, sie solle sich an den patricius Illus wenden, was sie getan habe: Sie bat diesen unter Tränen darum, die Mutter freizulassen (ᾔτεσεν αὐτὸν μετὰ δακρύων διὰ τὴν αὐτῆς μητέρα Βηρίναν, ἵνα ἀπολυθῇ). Als er dem Ersuchen nicht stattgab, habe sie wieder zu ihrem Mann gesprochen: Ἰλλοῦς ἐστιν εἰς τὸ παλάτιον ἢ ἐγώ; („Hat Illus im Palast das Sagen, oder ich?“). Zenon wiederum gab ihr, so berichtet Malalas, freie Hand, und Ariadne verübte daraufhin einen Mordanschlag auf Illus, der jedoch misslang.474 Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass Weinen zu den kommunikativen Gepflogenheiten gehören konnte und offensichtlich der Bitte Nachdruck verleihen sollte. Als jedoch nicht die gewünschte Reaktion erfolgte, vermochte die Kaiserin sehr schnell eine ganz andere, nämlich die genau entgegengesetzte emotionale Strategie einzuschlagen. Ihre Tränen zeugen demzufolge davon, dass sie jede Maßnahme, die sie für zweckdientlich hielt, ergriff und an der Ausübung politischer Macht teilhatte. Neben dem (zumindest teilweise) bewussten Einsatz lässt sich an manchen Stellen auch das Unterlassen von Tränen als instrumentalisiertes Handeln auffassen. Ein besonders aussagekräftiges Beispiel bietet sich hier erneut mit Kleopatra, und zwar im Rahmen der Darstellung ihrer ersten persönlichen Begegnung mit Caesar im Sommer 48 v. Chr., wie sie im zehnten Buch des lukanischen Bellum civile wiedergegeben wird. Der Dichter lässt keinen Zweifel daran, dass er gegen die ägyptische Königin tiefste Abneigung empfindet,475 und vor diesem Hintergrund beschreibt er sie als ruchlose Verführerin, die Verderben über Caesar und letztlich das ganze Imperium Romanum zu bringen versucht (10, 53–81). Als sie dem römischen Machthaber gegenübertritt, ist sie imstande, sich gezielt zu verstellen, um auf ihn Einfluss zu nehmen: Sie ist sich ihrer Schönheit bewusst (formae suae confisa) und präsentiert sich zwar ohne jegliche Tränen ihrer Trauer (sine ullis tristis lacrimis), aber doch so weit zurechtgemacht, wie es notwendig ist, um ihren (vorgeblichen) Schmerz glaubwürdig erscheinen zu lassen (compta qua simulatum dolorem decuit) – ihre Haare sehen aus, als habe sie sie zerrauft (veluti laceros dispersa capillos).476 In ihrer Rede versucht sie, Caesar vor allem gegen Potheinos, den einflussreichsten politischen Machthaber im Umkreis ihres Bruders, aufzubringen (10, 85–103), doch inhaltlich vermag sie den Römer nicht zu überzeugen. Was nämlich letztlich wirkt, so Lukan, ist das Antlitz der Kleoptra und ihre Schönheit, die sie in 474 Mal. chron. 15, 13 (=Dind. 387). Der darauf folgende Abschnitt (Kapitel 14) schildert das Ende des Illus im Jahre 488 in Isaurien, wo er sich zusammen mit dem zum Gegenkaiser ausgerufenen Leontios lange Zeit in einem Kastell verschanzt hielt. 475 Die Begegnung wird Lucan. 10, 53–106 geschildert, wobei es sich bei den Versen 85–103 um eine wörtliche Rede der Kleopatra handelt. Zum negativen Bild der Kleopatra bei Lukan und der narrativen Funktion der hier behandelten Episode innerhalb des lukanischen Epos vgl. Berti (2000), S. 93 f. 476 Lucan. 10, 82–84: Quem formae confisa suae, Cleopatra sine ullis | tristis adit lacrimis, simulatum compta dolorem | qua decuit, veluti laceros dispersa capillos.
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frevelhafter Weise einsetzt, so dass Caesar sich beeinflussen lässt und mit ihr die Nacht verbringt.477 Mehrfach wird der ägyptischen Königin demnach in den Quellen eine bewusste Kontrolle über ihre Tränen zugeschrieben, und sie wusste sie zu ihrem Vorteil einzusetzen.478 Kontrolle über die eigenen Emotionen und ein Unterdrücken von Tränen, als sie eigentlich zu erwarten wären, schreibt weiterhin Tacitus der germanischen Adligen Thusnelda zu. Beim Feldzug des Germanicus gegen die Chatten im Jahre 15 n. Chr. kam dieser dem Adligen Segestes zu Hilfe, der seine Stammesgenossen – vor allem Arminius – gegen sich aufgebracht hatte und von ihnen belagert wurde.479 Unter den befreiten Verwandten und Anhängern des Segestes befanden sich auch vornehme Frauen, unter anderem seine Tochter Thusnelda, die von Arminius geraubt und geehelicht worden war. Die junge Frau zeigte (möglicherweise aufgrund ihrer Schwangerschaft) mehr die Gesinnung ihres Mannes als die ihres Vaters (mariti magis quam parentis animo) und brachte es dabei fertig, sich in keiner Weise als unterwürfig zu präsentieren: neque victa in lacrimas neque voce supplex (weder ließ sie sich zu einem Tränenausbruch hinreißen noch dazu, bittende Worte von sich zu geben). Segestes dagegen gab sich selbstbewusst und als Anhänger Roms, was die nachfolgende wörtliche Rede, die Tacitus ihm in den Mund legt, noch verdeutlicht.480 In dieser Episode bringt Tacitus zum Ausdruck, dass Thusnelda sich bewusst dazu entschieden habe, zu ihrem Gatten zu stehen, und an dem Umstand, dass sie ihre Gefangennahme nüchtern hinnimmt, lässt sich ihre Charakterstärke erkennen – inwieweit sich hierin eine Bewunderung des Autors für das Verhalten dieser Frau zeigt, ist aber schwer zu beurteilen.481 477 Lucan. 10, 104–106: Nequiquam duras temptasset Caesaris aures: | vultus adest precibus, faciesque incesta perorat. | exigit infandam corrupto iudice, noctem. 478 Weitere Quellenbelege zur einer gespielten Trauer führt Schmidt (1986), S. 149 an. Zu Parallelen der vorliegenden Stelle mit der bei Cassius Dio und Plutarch geschilderten Begegnung Kleopatras mit Oktavian vgl. Schmidt (1986), S. 149 f. und Berti (2000), S. 110. 479 Tac. ann. 1, 57, 1–3. 480 Tac. ann. 1, 57, 4 f.: Inerant feminae nobiles, inter quas uxor Arminii eademque filia Segestis, mariti magis quam parentis animo, neque victa in lacrimas neque voce supplex, compressis intra sinum manibus gravidum uterum intuens. ferebantur et spolia Varianae cladis, plerisque eorum qui tum in deditionem veniebant praedae data; simul Segestes ipse, ingens visu et memoria bonae societatis impavidus. In der in Kapitel 58 wiedergegebenen Rede des Segestes bezeichnet sich dieser als Vermittler zwischen Rom und den Germanen und stellt die Entscheidung, wie mit seiner Tochter zu verfahren sei, dem Germanicus anheim; der römische Feldherr versichert ihm wiederum, seinen Kindern und Verwandten werde nichts geschehen. 481 Vgl. dazu de Libero (2009), S. 225 f., die zudem auf die Konsequenzen dieses Verhaltens hinweist: Thusnelda wurde zusammen mit ihrem Sohn im Trimphzug des Germanicus 17 n. Chr. mitgeführt. – Ihre Tränen vermochte laut Orosius auch die skythische Königen Thamyris (Tomyris) zu unterdrücken: Nach dem Verlust ihres Sohnes und eines großen Teils ihres Heeres gegen den Perserkönig Kyros den Großen im Jahr 529 v. Chr. begegnete sie dem Schmerz, den sie als Mutter und als Königin erleiden musste, nicht durch das Vergießen von Tränen, sondern mit dem Verlangen, das Blut der Feinde zu vergießen. Dass sie auf Rache sann, wusste sie allerdings durch gespielte Verzweiflung über die Niederlage nach außen hin zu verbergen und schaffte es dadurch, ihre Feinde in die Falle zu locken, vgl. Oros. hist. 2, 7, 4–6 (besonders Abschnitt 4: Thamyris exercitu ac filio amisso uel matris uel reginae dolorem sanguine hostium diluere potius quam suis lacrimis parat. simulat diffidentiam desperatione cladis inlatae paula-
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
Anhand der hier behandelten Episoden wird deutlich, dass Tränen und ihre Absenz in Situationen, in denen sie offenbar von Frauen erwartet wurden, intentional zur Verdeutlichung des eigenen Standpunktes eingesetzt wurden: Aufgrund der Zusammenstellung der Beispiele, aber auch nach der Untersuchung etwa von weinenden Feldherren vor ihren Soldaten und Kaisern vor dem Senat lässt sich folgern, dass in den entsprechenden Situationen tatsächlich geweint wurde – Tränen sind nicht unbedingt ausschließlich eine literarische Ausschmückung, die narrative Strukturen unterstützt, sondern bilden reale Handlungsoptionen ab. Gerade die aus der Antonius-Vita Plutarchs angeführten Tränen besitzen innerhalb der beschriebenen komplexen Verhaltensmuster eine hohe Plausibilität und zeigen Möglichkeiten einer emotionalen Beeinflussung des Kommunikationspartners auf, die facettenreich gestaltet sind; bei Cassius Dio dagegen ist die weinende Kleopatra vor Oktavian deutlich überzogen dargestellt – doch nicht nur ihre Tränen, sondern ihr gesamtes Auftreten erscheinen nicht glaubhaft, sondern dienen dazu, bestimmte Charakterzüge der Königin negativ hervorzuheben. Diese Wirkung kann jedoch nur deswegen erzielt werden, weil beim Leser eine Erwartungshaltung hinsichtlich eines möglichen Aktionsspektrums existierte, das in diesem Fall deutlich überschritten wird. Die Tränen (oder Tränenlosigkeit) antiker Frauen in hohen gesellschaftlichen Positionen lassen sich in zahlreichen Situationen vor allem als ein Verhalten auffassen, dem innerhalb der machtstrategisch motivierten Abfolge von Handlungen ganz bewusst eine zielführende Funktion zugewiesen wird. 3.4 Spezifisch weibliche Tränen? Die bisher behandelten Fälle zeigen auf, dass über weibliche Tränen in der kaiserzeitlichen Historiographie keine pauschalisierenden Aussagen möglich sind; dementsprechend ist bei genauerer Betrachtung die Grenze zwischen den zuvor gebildeten drei Kategorien nicht immer deutlich zu ziehen.482 Angesehene Frauen weitimque cedendo superbum hostem in insidias uocat). Das Unterdrücken der Tränen bildet hier kein Instrument strategischen Handelns, sondern die Emotionslosigkeit der Herrscherin erhöht das Kalkül, mit dem sie gegen ihre Feinde vorgeht. 482 Ein weiteres Beispiel, das diesen Umstand illustriert, ist Herodian. 4, 3, 9: Nach der Bestattung und Apotheose des Septimius Severus versammeln Caracalla und Geta in Gegenwart ihrer Mutter die väterlichen Freunde; sie geben ihren Plan kund, die Herrschaft zu teilen, woraufhin Iulia Domna einwendet, dass sie das Land und Meer zwar aufteilen könnten, nicht aber ihre Mutter – ihre Söhne müssten sie zuerst umbringen und zerteilen, um dann den ihnen jeweils zukommenden Teil der Mutter zu begraben (4, 3, 8: πρῶτον δὴ ἐμὲ φονεύσατε, καὶ διελόντες ἑκάτερος παρ᾿ ἑαυτῷ τὸ μέρος θάπτετω· οὕτω γὰρ ἂν μετὰ γῆς καὶ θαλάττης ἐς ὑμᾶς μερισθείην). In ihrer Rede führt sie also ein denkbar erschütterndes Szenario (mit dem sie vor allem auf die in ihren Augen mangelnde Realisierbarkeit einer Teilung der Herrschaft hinzuweisen versucht) an, und dieses wird visuell und auditiv durch ihre Tränen und Wehklagen unterstützt, zudem umarmt sie die beiden Söhne. Herodian gibt explizit das Motiv ihres Handelns an: Sie möchte die beiden konkurrierenden jungen Männer miteinander versöhnen, was ihr zwar nicht langfristig, aber doch zumindest nach außen hin für den Moment gelingt; ihr Verhalten erzeugt bei allen Anwesenden Mitleid, und die Versammlung löst sich auf, vgl. Herodian. 4, 3, 9: Ταῦτα δὲ λέγουσα μετὰ δακρύων καὶ οἰμωγῆς, ἀμφοτέροις τε τὰς χείρας περιβάλλουσα καὶ ὑπὸ τὰς
3. Weinen Frauen anders als Männer?
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nen, um den Bitten an ihre (männlichen) Gesprächspartner Nachdruck zu verleihen, wobei ihre Tränen unmittelbarer Ausdruck ihrer inneren Befindlichkeit (Furcht oder Trauer um den Ehemann bzw. andere Angehörige) und als Zeugnis ihrer Loyalität positiv zu beurteilen sind; die Bewertung der Frauen (einschließlich ihrer Tränen) geht hier mit der Darstellung der männlichen Protagonisten konform. Das Verhalten der weiblichen Charaktere ist in diesen Fällen insofern genderspezifisch, als es die Funktion einnimmt, das Handeln von Männern, auf dem das Hauptaugenmerk der Erzählung liegt, in seiner Bedeutsamkeit zu unterstreichen.483 Historisch plausibel erscheint es dabei allemal, und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass Frauen in derartigen Situationen nicht geweint hätten.484 Wenn Frauen nicht als Unterstützende von Männern ihres Umfeldes oder zumindest als treibende Kraft, die hinter deren Handlungen steht, sondern als im eigenen Interesse agierende Individuen (wie etwa Messalina und Kleopatra) dargestellt sind, erfolgt hingegen eine ambivalente oder gar negative Deutung ihres Verhaltens. Einerseits kann ihre Machtgier in den Vordergrund treten, so dass die Tränen als Teil einer Handlungsabfolge, mit der die Frauen eigene Ziele durchzusetzen versuchen, ein deviantes Verhalten anzeigen; andererseits kann der beabsichtigte Einsatz dieser manipulativen Kraft auch Anerkennung hervorrufen – dass im Vorgehen der Kleopatra ihre Tapferkeit zum Ausdruck kommt, ist als positive Komponente ihrer Persönlichkeit aufzufassen. Die spezifische Eigenart weiblicher Tränen tritt in der Darstellung der Cornelia Metella bei Lukan hervor, so dass sich eine Betrachtung der entsprechenden Passagen als Abschluss der Ausführungen zu weinenden Frauen anbietet. Nach der verlorenen Schlacht bei Pharsalos am 9.8.48 v. Chr. begibt sich Pompeius nach Mytilene auf Lesbos, wo ihn seine Gattin mit böser Vorahnung erwartet (Lucan. 8, 40–53). Da ihre Befürchtungen, dass Pompeius die Schlacht als Verlierer verlassen hat und sein Ende herannaht, der Wahrheit entsprechen, sei für sie nun, so der römische Dichter, ἀγκάλας ἄγουσα, συνάγειν ἐπειρᾶτο. πάντας δὲ οἴκτου καταλαβόντος διελύθη τὸ συνέδριον, ἥ τε σκέψις ἀπεδοκιμάσθη, ἑκάτερός τε ἐς τὰ ἑαυτοῦ βασίλεια ἀνεχώρησε. Die Wirkung der Tränen und anderweitigen auf die Emotionen der Zuhörer Einfluss nehmenden Reaktionen der Mutter auf die Zwistigkeiten unter ihren Söhnen beruht hier gerade darauf, dass sie nicht als intentional, sondern als unwillkürlich verstanden werden; dies steht aber nicht im Widerspruch dazu, dass sie in ein strukturiertes Verhalten eingebunden sind. Ursache des Weinens ist der Wunsch der Iulia Domna nach Versöhnung, und dieser erfüllt sich durch ihr Verhalten, so weit es unter den Umständen möglich ist; sie handelt eigenständig, aber gänzlich im Interesse ihrer Söhne. 483 Zum Handeln von Frauen in Bezug auf Männer in ihrem persönlichen Umfeld vgl. besonders Cancik-Lindemaier (2006), S. 129 mit Anm. 22. – Umgekehrt ist es auch möglich (allerdings seltener), eine weinende Frau in Kontrast zu einem Mann zu setzen: Cassius Dio berichtet 77 (78), 16, 6a, dass Cornificia, eine Tochter Mark Aurels, nach dem Tod Getas im Jahre 211 von Caracalla in den Selbstmord getrieben wurde; auf die Nachricht hin, sie könne sich die Todesart selbst aussuchen, weinte sie zunächst, um sich dann aber ihre edle Abstammung vor Augen zu halten (ἡ δὲ κλαύσασα πολλά, καὶ μνησθεῖσα τοῦ πατρὸς Μάρκου καὶ τοῦ πάππου Ἀντωνίνου καὶ τοῦ ἀδελφοῦ Κομμόδου) und tapfer in den Tod zu gehen; ihr Verhalten bildet somit einen krassen Gegensatz zur Brutalität Caracallas. Vgl. dazu genauer II. 4.2.1. 484 Auch für Männer ist es in bestimmten Situationen nicht ‚unmännlich‘, Tränen zu vergießen; zu positiv gewertetem Weinen bei Männern vgl. vor allem II. 4.1.1.1 und II. 5.2.
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
die Zeit gekommen, sich nicht länger furchtsam zu geben, sondern zu trauern und zu weinen (8, 53 f.: Quid perdis tempora luctus? | Cum possis iam flere, times). Dieser Aufforderung an Cornelia zu einem tugendhaften weiblichen Verhalten folgt die plastische Schilderung ihrer Reaktion, als sie die Situation begreift: Sie sinkt entkräftet zu Boden und hofft, sie sei tot, mit anderen Worten: sie gibt sich dem Selbstmitleid hin (8, 54–61). Die Ermahnungen des Pompeius, in der gegenwärtigen Lage tapfer aufzutreten, ihm treu zu sein und seinen Tod zu betrauern (8, 72–85), gipfeln in seiner Frage, ob sie ihn („das, was du beweinst“) überhaupt geliebt habe (quod defles, illud amasti?). Daraufhin steht die Getadelte auf und bricht in ein intensives Wehklagen aus – sie habe ihren beiden Gatten (Publius Licinius Crassus und nun Gnaeus Pompeius) und sogar der ganzen Welt nur Unglück gebracht; Julia (die Tochter Caesars und 54 v. Chr. verstorbene Ehefrau des Pompeius) möge sich doch durch ihren – der Nebenbuhlerin – Tod besänftigen lassen (placata paelice caesa) und den großen Feldherrn schonen (Magno parce tuo; 8, 86–105). Die zuvor aufgetretenen Zweifel an ihrer Loyalität werden durch ihre ausdrucksstarke Rede revidiert, und überdies wird ihre Liebe daran sichtbar, dass sie an die Brust des Gatten sinkt. Ihr emotionales Auftreten lässt den Anwesenden Tränen in die Augen treten (cunctorum lumina solvit | in lacrimas), und auch Pompeius ist nun so tief gerührt, dass er weint (duri flectuntur pectora Magni | siccaque Thassalia confudit lumina Lesbos; 8, 105–108). Als die in Buch 8 gedanklich vorweggenommene Situation dann tatsächlich eintritt (Pompeius ist in Ägypten von Anhängern Ptolemaios‘ XIII. ermordet worden), finden sich ähnliche Elemente bei der Charakterisierung der Cornelia im Zusammenhang mit der Klage um den Toten zu Beginn von Buch 9, bei ihrer Abreise aus Ägypten.485 Dort wird sie als in tiefster Verzweiflung Trauernde präsentiert; sie beklagt sich zunächst bei der Göttin Fortuna darüber, dass sie für unwürdig befunden worden sei, den Scheiterhaufen ihres Mannes zu entzünden und mit den angemessenen Gesten die Bestattung zu begleiten.486 In den darauf folgenden Ausführungen der Cornelia kommen ihre Vorwürfe an die Schicksalsgöttin und ihr Selbstmitleid sehr deutlich zum Ausdruck, zudem formuliert sie die (angeblich ihr aufgetragene) Botschaft des Pompeius an die Söhne, im Falle seines Todes den Bürger485 Zu Unterschieden zwischen der Klage Cornelias in 9, 51–116 und der ersten Klage unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes in 8, 639–661, vgl. Wick (2004b), S. 26 (vor allem ist darauf hinzuweisen, dass die Witwe des Pompeius ihre anfängliche Absicht, Selbstmord zu begehen, in ihrer zweiten Klage modifiziert); auf literarische Vorbilder für die Darstellung der Cornelia bei Lukan weist Wick (2004b), S. 27 hin. Lukan beschreibt 8, 712–872, wie ein Anhänger des Pompeius dessen an Land gespülten Rumpf bestattet, und lässt das Buch mit Gedanken zum Nachleben des Pompeius und seiner Grabstätte ausklingen. 486 Lucan. 9, 55–64; vgl. besonders die Klage darüber, dass es ihr nicht vergönnt gewesen sei, ihre Haare zu zerraufen und zu verbrennen, die Körperteile des Pompeius zu bestatten und Tränen über seine Wunden fließen zu lassen (57–59: laceros exurere crines | membraque dispersi pelago componere Magni | volneribus cunctis largos infundere fletus). Zu dem Motiv des Benetzens der Wunden mit Tränen vgl. Wick (2004b), S. 29 und Seewald (2008), S. 61; es findet sich in der Beschreibung, wie Cordus den Rumpf des Pompeius notdürftig bestattet, vgl. 8, 726– 728. – Auf die den Frauen vorbehaltenen Gesten während einer Bestattung und deren tiefere Bedeutung geht Corbeill (2004), S. 67–106 ein (vgl. besonders S. 82–88, 92 f. und 105 f.).
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krieg fortzuführen. Am Ende der Rede stellt sie in Aussicht, dass ihr eigenes Leben (anima vivax) nur noch aus Schmerz bestehen werde, da es den Tod des Pompeius mitansehen musste – daher werde es, von der lauten Klage zunichte gemacht, vergehen und in Tränen zerfließen (planctu contusa peribit | effluet in lacrimas).487 Die Witwe bedeckt nach diesen Worten ihr Gesicht mit dem Trauerschleier und zieht sich äußerlich wie innerlich zurück – sie begibt sich in das dunkle Schiffsinnere (tenebras puppis cavernis delituit), wo sie ihren heftigen Schmerz eng umschlingt (saevum dolorem arte complexa) und sich an ihren Tränen labt (perfruitur lacrimis) – statt ihrem Gatten liebt sie ihr Leid (amat pro coniuge luctum), und die Gefahren der See versetzen sie nicht in Furcht, sondern vielmehr in Todessehnsucht.488 Insgesamt wird Cornelia somit zwar durchaus Anerkennung gezollt und Mitgefühl entgegengebracht, da sie unermesslichen Schmerz ertragen muss, allerdings ist auch eine negative Wertung ihrer zu großen Selbstbezogenheit seitens des Dichters zu erkennen.489 Der Aspekt des Mitleids rückt etwas später wieder in den Vordergrund; zunächst wird berichtet, dass Cornelia mit Sextus Pompeius nach Paliouros in Libyen gelangt, wo sich bereits Cato und Gnaeus Pompeius befinden.490 Auf die Nachricht vom Tod des Vaters hin ist der ältere Sohn zwar tief erschüttert, reagiert aber nicht mit nach außen hin sichtbarer Trauer (non in gemitus lacrimasque dolorem effudit), sondern sinnt in rasender Wut auf Rache, wie es das pflichtgemäße Verhalten gegenüber dem Vater gebietet (iusta pietate furens; vgl. insgesamt 9, 145– 166). Die an der Küste zusammengekommene Menschenmenge dagegen zeigt ihre Trauer durch exzessives Klagegebaren, das sich noch erhöht, als Cornelia das Schiff verlässt – sie ist sichtbar mitgenommen von ihrem Schmerz: die Tränen haben sie erschöpft (lacrimis exhausta), und ihre Haare fallen ihr ungeordnet ins Gesicht (solutas comas in voltus effusa).491 Nicht das Weinen als solches, sondern das – für Frauen charakteristische – Ausmaß ihres Klageverhaltens nach außen hin wird insgesamt als zu ungezügelt wahrgenommen, doch wird ihrem Schmerz in gewissem Umfang Verständnis entgegengebracht. Denn der Mord an Pompeius war so erschütternd, dass – so Lukan – selbst der ansonsten beherrschte Cato mit Tränen reagierte (mala vel duri lacrimas motura Catonis).492 Cornelia wird nicht pauschal als nega487 Lucan. 9, 64–108; zu der ungewöhnlichen Verbindung effluet in lacrimas vgl. Wick (2004b), S. 41; Seewald (2008), S. 79 führt weitere Belege an und betont die Einzigartigkeit vom Bild des Lukan, Cornelia weine ihre Seele aus sich heraus. 488 Lucan. 9, 109–116. 489 Auf eine sprachliche Parallele zu arte complexa dolorem, die bei Seneca negativ gewertet ist, sowie weitere Bemerkungen dieses Philosophen zu maßloser Trauer bei Frauen verweist Wick (2004b), S. 41 f. und ebenso Seewald (2008), S. 80. 490 Wick (2004a), S. 3–5 äußert sich zum Umgang Lukans mit den historischen Quellen in 9, 1–299 und stellt heraus, dass Cornelias Zusammentreffen mit Cato in Libyen aller Wahrscheinlichkeit nach historisch falsch ist; zur Ortsbezeichnung vgl. ihre Anmerkungen auf S. 24. Auf literarische Strukturvorlagen dieser Passage verweist Wick (2004a), S. 10–12. Die Ankunft Catos in Libyen wird zu Beginn von Buch 9 (Vers 19–50) geschildert. 491 Lucan. 9, 167–173. Die Ehrung des Pompeius durch die Rede Catos beschließt die Schilderung der Trauer um den großen Feldherrn (190–214). 492 Lucan. 9, 50; durus verweist auf Catos stoische Gesinnung, vgl. Seewald (2008), S. 56 f. Zur Trauer um Pompeius vgl. II. 4.1.2.1.
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tiv, sondern sehr differenziert in ihrer Trauer dargestellt, und dieser Umstand schließt mit ein, dass auf ein geschlechtsspezifisches Verhalten eingegangen wird. Abschließend lässt sich in Bezug auf die in der kaiserzeitlichen Geschichtsschreibung erwähnten Tränen von Frauen festhalten, dass es sich dabei teils um genderspezifische Erscheinungen, teils um Zeugnisse dafür handelt, dass Frauen in Machtpositionen performative Mittel kannten und diese auch bewusst einsetzten, um ihrem Kommunikationspartner – in der Regel handelte es sich dabei um Männer – die eigenen Ansichten zu präsentieren und auf ihn emotional Einfluss zu nehmen. Dabei lässt sich feststellen, dass der Charakter der weinenden Frau in Relation zu demjenigen gesehen wird, an den die Tränen gerichtet sind; an den Handlungsabläufen, in die das Weinen eingebunden ist, werden positive wie negative Eigenschaften der agierenden Frau evident, doch der Protagonist innerhalb der historiographischen Darstellung ist stets ein Mann.493 Die Möglichkeiten eigenständigen Handelns von Frauen wie Männern wiederum waren nicht nur vom Geschlecht, sondern auch von weiteren Faktoren wie etwa der sozialen Stellung begrenzt, und das Vergießen von Tränen innerhalb bestimmter kommunikativer Strukturen war generell beiden möglich. Gerade als Reaktion auf emotional aufwühlende Ereignisse kann Weinen per se sicherlich nicht als spezifisch weiblich gelten, allerdings werden Ausmaß und Intensität als Indikator für ein frauentypisches Verhalten erachtet, und daher war eine Instrumentalisierung von Tränen in einigen Situationen mitunter nur für Frauen realisierbar. Es gilt aber zu beachten, dass die Kategorie des Geschlechts lediglich eine von mehreren Möglichkeiten bildet, interpersonelle Handlungsstrukturen zu untersuchen, und demzufolge nur eine sehr spezifische Sichtweise auf die antike Lebenswirklichkeit darstellt.494 4. WANN WIRD GEWEINT – UND WANN NICHT? Von den unterschiedlichen Personen(gruppen) und dem Verhältnis, in dem sie zueinander standen, wird der Fokus im folgenden Kapitel auf Situationen, in denen politische und militärische Entscheidungsträger weinten oder in denen vor ihnen geweint wurde, und die Reglementierung des Weinens verlagert. In den beiden vorangegangenen Kapiteln wurde bereits an mehreren Stellen deutlich, dass Weinen innerhalb bestimmter kommunikativer Strukturen mit einer gewissen Regelhaftigkeit erfolgen konnte. Das Agieren von Menschen in Bezug auf andere Menschen unterliegt einer je nach Situation unterschiedlich stark variierenden Ordnung. Auf die danach ausgerichteten Verhaltensmuster soll nun näher eingegangen werden; mit anderen Worten: es sollen die Zusammenhänge, die den Rahmen der Interaktion bildeten, genauer ins Blickfeld rücken. 493 Umgekehrt wird etwa an den Tränen, die ein Bittsteller vor Theodora vergossen haben soll, und der Reaktion der Kaiserin darauf ihr verwerflicher Charakter evident, vgl. Proc. hist. 15, 27; eine umfassende Behandlung der Tränen von Männern als Anzeichen dafür, ob ihr Charakter als positiv oder negativ einzustufen ist, erfolgt in II. 5. 494 Zur Bedeutung des Geschlechterverhältnisses für eine Untersuchung der antiken Gesellschaft vgl. besonders Cancik-Lindemaier (2006), S. 132 f.
4. Wann wird geweint – und wann nicht?
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4.1 Weinen um Tote Tränen als Zeichen der Trauer um einen verstorbenen Menschen sind ein universell verständliches Phänomen.495 Dass sie denjenigen, der mit dem Tod eines anderen konfrontiert ist, unwillkürlich übermannen können, hat bereits Platon beschrieben, bei dem Emotionen eine sehr facettenreiche Beurteilung erfahren.496 Wie unkontrollierbar ein Tränenausbruch sein kann, demonstriert unter anderem die Schlussszene des platonischen Phaidon, in der die Anhänger des Sokrates ihr Weinen erst unterdrücken, nachdem ihr Lehrer sie dazu ermahnt hat.497 Daneben wird in den Nomoi im Zusammenhang mit den Vorschriften über Grabanlagen und Bestattungen hervorgehoben, dass Tränen als Reaktion auf den Tod eines Angehörigen nicht vermeidbar sind; vom Staat verboten werden sollte jedoch eine ausufernde Praxis des Bejammerns und Beweinens.498 Das Weinen als unmittelbare Reaktion, so beschreibt Platon es an dieser Stelle, entzieht sich der Kontrolle, während ritualisiertes öffentliches Klagen eine bewusste Lenkung erfahren kann und sollte.499 Letztgenanntes ist vor allem deswegen einzudämmen, weil es die Gefahr in sich birgt, unweigerlich den unvernünftigen Seelenteil aller Anwesenden anzusprechen.500 Dieser mag zwar bei einer unvermittelt auftretenden Reaktion zunächst die Oberhand gewinnen, doch sollte man durch Übung anstreben, das Weinen so weit wie möglich zu vermeiden. Platon unterscheidet demnach zwischen zwei Formen des Weinens: dem „eher ‚natürlich‘ konditionierten, kaum steuerbaren“ sowie dem „eher ‚kulturell‘ konditionierten bzw. sozialen“.501 In den folgenden Abschnitten wird deutlich werden, dass die Grenze nicht immer eindeutig zwischen diesen beiden Polen verläuft.
495 Vgl. dazu etwa Meuli (1975b), S. 359. 496 Grundlegend äußert sich Erler (2008) über Platons Konzept der Emotionen, das in unterschiedlichen Kontexten mehrerer Dialoge entwickelt wird. 497 Plat. Phaid. 117c-e; darauf wird unten in II. 4.2.2.1 näher eingegangen. 498 Vgl. Plat. leg. 12, 958d-960b, bes. 959e-960a: Τῷ δὲ πολιτικῷ νομοθετοῦντι παραχωρεῖν χρὴ τὰ τοιάδε· δακρύειν μὲν τὸν τετελευτηκότα ἐπιτάττειν ἢ μὴ ἄμορφον, θρηνεῖν δὲ καὶ ἔξω τῆς οἰκίας φωνὴν ἐξαγγέλλειν ἀπαγορεύειν, καὶ τὸν νεκρὸν εἰς τὸ φανερὸν προάγειν τῶν ὁδῶν κωλύειν, καὶ ἐν ταῖς ὁδοῖς πορευόμενον φθέγγεσθαι, καὶ πρὸ ἡμέρας ἔξω τῆς πόλεως εἶναι. Dass man sich generell übermäßigen Lachens und Weinens enthalten und es sogar zu verbergen versuchen soll, wird leg. 5, 732c gefordert: Διὸ δὴ γελώτων τε εἴργεσθαι χρὴ τῶν ἐξαισίων καὶ δακρύων, παραγγέλλειν δὲ παντὶ πάντ᾽ ἄνδρα, καὶ ὅλην περιχάρειαν πᾶσαν ἀποκρυπτόμενον καὶ περιωδυνίαν εὐσχημονεῖν πειρᾶσθαι (…); vgl. dazu Radermacher (21969), S. 53. 499 Vgl. Baumgarten (2006), S. 204. Erler (2008), S. 35 betont, dass nach dem Verständnis Platons prinzipiell eine Kontrolle über das eigene Verhalten möglich sei; Platons Konzeption des Weinens schreibe den kognitiven Aspekten einen wesentlichen Anteil am Ablauf einer emotionalen Reaktion zu. 500 Vgl. ebd., S. 201–203 über die Dreiteilung bzw. Zweiteilung der Seele und das Zusammenwirken der Seelenteile bei einer Trauerreaktion sowie die Stärkung des λογιστικόν durch eine Vermeidungsstrategie. Meuli (1975b), S. 373 berichtet von Bestrebungen um die Mitte des 20. Jahrhunders, Emotionen (und somit Tränen) auslösende Handlungsweisen und Situationen bei der Trauerfeier zu meiden (Beispiele aus der Schweiz und Amerika werden angeführt). 501 Baumgarten (2006), S. 204.
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4.1.1 Weinende Herrscher, Feldherrn und Politiker In unterschiedlichen Zusammenhängen wird von den antiken Historiographen erwähnt, dass Verstorbene aus der eigenen Familie oder aus einer Gruppierung, zu der ein nahes Verhältnis bestand, von hochrangigen Personen beweint wurden. Die emotionale Nähe oder aber Distanz zu Ehepartnern, Kindern, Verwandten und Freunden spiegelte sich auch in der Art und Weise wider, wie Herrscher, Feldherrn und Politiker sie beweinten, und dabei können diejenigen, die Tränen vergießen, positiv oder negativ charakterisiert werden. 4.1.1.1 Unwillkürliche Tränen der Trauer Die zunächst zu behandelnden Beispiele von weinenden Machtträgern, deren Tränen als Zeichen ihres Trauerschmerzes aufgefasst werden, sind im weitgehend privaten Umfeld502 angesiedelt, d. h. die Konfrontation mit dem Tod eines Nahestehenden erfolgt darin nicht in einem Rahmen, der ein bestimmtes normiertes Handeln, das sich (auch) an weitere Anwesende richtete, zwingend erforderlich machte. Nikolaus von Damaskus beschreibt, wie Augenzeugen Oktavian in Lupiae (Lecce) über das Testament Caesars, den Aufruhr nach dessen Tod sowie sein Begräbnis berichteten. Am Ende ihrer Erzählung hoben sie die Sympathie des Volkes für Caesar und die daraus resultierende Missstimmung hervor, die sich besonders in dem Moment gezeigt habe, als es das blutdurchtränkte Gewand und den Körper des Toten gesehen habe.503 Daraufhin verfiel Oktavian in Tränen und Klagen (εἰς δάκρυα καὶ οἶκτον ἐρρύη), denn er erinnerte sich an den Verstorbenen und wurde sich seiner Liebe zu diesem bewusst, und war deshalb erneut von Trauer ergriffen.504 Nach dem Abklingen dieser Reaktion auf den eindringlichen Bericht konzentrierte er sich aber bald wieder darauf, wohlüberlegt zu handeln und begab sich erst nach Brundisium (Brindisi), als er erfahren hatte, dass dort keine seiner Gegner anzutreffen seien.505 Bemerkenswert ist, dass gerade an dieser Stelle von Tränen und Klagen die Rede ist (vielleicht ist ihr Hervorbrechen besonders dem Hinweis auf Gewand und Leichnam geschuldet?), da auch eine vorausgehende Passage aus der Lebensbeschreibung des Augustus erhalten ist, die darüber handelt, wie den jungen Mann die Nachricht vom Tod Caesars in Apollonia erreichte (demnach die erste Konfrontation mit dessen Ableben), und dort steht weniger die Trauer als vielmehr seine Überlegung zum weiteren strategischen Vorgehen im Vordergrund.506 Die unwillkürlich vergossenen Tränen des Oktavian bei Nikolaus von Damaskus 502 Obwohl für die Kenntnis mancher Episoden die Anwesenheit weiterer Personen, die darüber berichten konnten, vorauszusetzen ist oder sogar erwähnt wird, lässt sich der Kontext spontaner Trauer in der Regel als ein privater definieren; zur Frage nach der Unterscheidung von privat und öffentlich vgl. auch I. 1.1.2 sowie II. 1.7. 503 Vgl. Nicol. Damasc. Aug. 48–50 504 Nicol. Damasc. Aug. 51: Ταῦτα ὡς ἤκουσε Καῖσαρ ὁ νέος, εἴς τε δάκρυα καὶ οἶκτον ὑπὸ μνήμης τἀνδρὸς καὶ φιλοστοργίας ἐρρύη, καινότερόν τε τὸ πένθος ἐποίει. 505 Vgl. ebd. 506 Vgl. Nicol. Damasc. Aug. 37–43.
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sind somit als unverkennbares Zeichen seiner großen Trauer zu verstehen, zugleich finden sie jedoch einen angemessenen Platz in der Abfolge von Handlungen des jungen Mannes, denen wohlabgewogene Strategien zugrunde liegen. Das Weinen ranghoher Persönlichkeiten um Ehegatten, Kinder, Geschwister und weitere Familienmitglieder wird noch an diversen anderen Stellen angeführt: Während Cato der Jüngere, so berichtet Plutarch in dessen Vita, sich im Jahre 67 v. Chr. als Militärtribun in Makedonien aufhielt, erkrankte sein Bruder Caepio in der Stadt Ainos in Thrakien. Obwohl er sich so schnell es ihm möglich war dorthin begab, konnte Cato ihn nur kurz nach seinem Tod erreichen. Über diesen Verlust war er zutiefst erschüttert (ἐμπαθής) und zeigte dies nach außen hin – obwohl die Demonstration derart starker emotionaler Regungen sich nicht mit seiner philosophischen Haltung vertrug. Seine schwere Trauer kam, schreibt Plutarch, allerdings nicht nur in Wehklagen und Umarmungen des Toten (κλαυθμοῖς καὶ περιπτύξεσι τοῦ νεκροῦ) zum Ausdruck, sondern auch darin, dass er die Bestattung und das Grabmal des Bruders prachtvoll gestalteten ließ und keine Kosten scheute.507 Dafür wurde er von einigen Leuten kritisiert, da dies im Widerspruch zu seiner Bescheidenheit in allen übrigen Belangen stehe; Plutarch führt allerdings aus, sie hätten nicht gesehen, dass er sich zwar gegen körperliche Genüsse, Furcht und unverschämte Bitten unerbittlich und hart verhielt, doch dass ihm auch andere Charakterzüge innewohnten – wie eben die Milde und Liebe zum Bruder, die der Biograph zu Beginn der Vita bereits stark betont hatte.508 Eine Parallele dazu bietet die Standhaftigkeit des Perikles, die Plutarch in dessen Lebensbeschreibung betont. Der Athener genügte seinen selbstgesetzten Ansprüchen sogar dann noch, als Freunde und Verwandte von der Seuche hinweggerafft wurden. Erst als sein letzter rechtmäßiger Sohn Paralos starb und er ihm den Kranz auf das Haupt legte, konnte er seine geistige Erhabenheit (τὸ μεγαλόψυχον) nicht mehr bewahren und war so überwältigt, dass er in lautes Klagen ausbrach und
507 Plut. Cato min. 11, 3: Καὶ παρ᾽ οὐδὲν ἐλθὼν καταποντωθῆναι, τύχῃ τινὶ παραλόγῳ σωθεὶς ἄρτι τεθνηκότος τοῦ Καιπίωνος, ἐμπαθέστερον ἔδοξεν ἢ φιλοσοφώτερον ἐνεγκεῖν τὴν συμφοράν, οὐ μόνον κλαυθμοῖς καὶ περιπτύξεσι τοῦ νεκροῦ καὶ βαρύτητι λύπης, ἀλλὰ καὶ δαπάνῃ περὶ τὴν ταφὴν καὶ πραγματείαις, θυμιαμάτων καὶ ἱματίων πολυτελῶν συγκατακαέντων, καὶ μνήματος ξεστοῦ λίθων Θασίων ἀπὸ ταλάντων ὀκτὼ κατασκευασθέντος ἐν τῇ Αἰνίων ἀγορᾷ. 508 Plut. Cato min. 11, 4: Ταῦτα γὰρ [ἔνιοι] ἐσυκοφάντουν πρὸς τὴν ἄλλην ἀτυφίαν τοῦ Κάτωνος, οὐ καθορῶντες ὅσον ἐν τῷ πρὸς ἡδονὰς καὶ φόβους καὶ δεήσεις ἀναισχύντους ἀγνάμπτῳ καὶ στερρῷ τοῦ ἀνδρὸς τὸ ἥμερον ἐνῆν καὶ φιλόστοργον. Der Rest des Kapitels schildert den besonnenen Umgang Catos mit materiellen Spenden zu Ehren des Toten. Schorn (2009), S. 354– 356 betont bei seiner Betrachtung der vorliegenden Passage, dass das stoische Ideal der ἀπάθεια von Plutarch nicht als völlige Abwesenheit von Emotionen, sondern als Standhaftigkeit des Geistes verstanden wird. – Zur ungewöhnlich großen Zuneigung zum Stiefbruder Caepio vgl. Plut. Cato min. 3, 8–10. Die Kontrolle über die eigenen Emotionen als Resultat einer strengen philosophischen Lebensführung betont Plutarch auch in seiner Vita des Phokion, der diejenige Catos gegenübergestellt ist: Man habe den Athener nicht leicht lachen oder weinen sehen (Plut. Phoc. 4, 3 Φωκίωνα γὰρ οὔτε γελάσαντά τις οὔτε κλαύσαντα ῥᾳδίως Ἀθηναίων εἶδεν). – Sehr eindringlich werden von Plutarch wie Appian die Tränen des Brutus um seinen Schwager Cassius nach der ersten Schlacht bei Philippi im Oktober 42 v. Chr. dargestellt, vgl. Plut. Brut. 44, 2 und App. civ. 4, 114.
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reichlich Tränen vergoss (ὥστε κλαυθμόν τε ῥῆξαι καὶ πλῆθος ἐκχέαι δακρύων), was zuvor in seinem Leben noch nicht geschehen war.509 In ähnlicher Weise zielt eine Anekdote in der Historia Augusta auf die (vermeintliche) Diskrepanz zwischen philosophischer Lebenseinstellung und dem eigenen Handeln ab. Auf den Tod eines seiner Lehrer reagierte der zum Herrscher bestimmte Mark Aurel, damals bereits ein erwachsener Mann, mit Weinen, woraufhin die Diener am kaiserlichen Hof ihn wegen einer derartigen Zurschaustellung seiner Gefühle tadelten; sein Adoptivvater Antoninus Pius jedoch gestand ihm diese menschliche Regung zu und äußerte sich dementsprechend.510 Nur mit ein paar Worten kommentiert Zosimus, wie Theodosius seine Gattin Galla betrauerte. Als er im Frühjahr 394 eine Neuordnung der Heeresleitung vornahm und im Begriff war, gegen Eugenius ins Feld zu ziehen, starb sie bei der Geburt. Der Kaiser beweinte sie nach homerischer Sitte (κατὰ τὸν Ὁμηρικὸν νόμον) einen Tag lang und brach dann auf;511 für eine längere Trauer war angesichts der angespannten Lage keine Zeit, doch wird in nur einem Wort (δακρύσας) ausgedrückt, dass Theodosius von dem Verlust schwer getroffen war. Nach Gregor von Tours geriet auch Chilperich I. in tiefe Bestürzung, als er sich im Jahre 584 von Paris nach Soissons aufmachte und sein etwa zweijähriger Sohn Theuderich starb. Der fränkische König kehrte daraufhin mit seiner Frau Fredegunde nach Paris zurück, wo der Knabe bestattet wurde; der Schmerz der Eltern wird mit der Bemerkung deutlich gemacht, sie hätten sich cum inmenso fletu wieder in die Stadt begeben.512 509 Plut. Per. 36, 7–9: Ἀπέβαλε δὲ καὶ τὴν ἀδελφὴν ὁ Περικλῆς τότε καὶ τῶν κηδεστῶν καὶ φίλων τοὺς πλείστους καὶ χρησιμωτάτους πρὸς τὴν πολιτείαν. οὐ μὴν ἀπεῖπεν οὐδὲ προὔδωκε τὸ φρόνημα καὶ τὸ μέγεθος τῆς ψυχῆς ὑπὸ τῶν συμφορῶν, ἀλλ᾽ οὐδὲ κλαίων οὔτε κηδεύων οὔτε πρὸς τάφῳ τινὸς ὤφθη τῶν ἀναγκαίων, πρίν γε δὴ καὶ τὸν περίλοιπον αὑτοῦ τῶν γνησίων υἱῶν ἀποβαλεῖν Πάραλον. ἐπὶ τούτῳ δὲ καμφθεὶς, ἐπειρᾶτο μὲν ἐγκαρτερεῖν τῷ ἤθει καὶ διαφυλάττειν τὸ μεγαλόψυχον, ἐπιφέρων δὲ τῷ νεκρῷ στέφανον ἡττήθη τοῦ πάθους πρὸς τὴν ὄψιν, ὥστε κλαυθμόν τε ῥῆξαι καὶ πλῆθος ἐκχέαι δακρύων, οὐδέποτε τοιοῦτον οὐδὲν ἐν τῷ λοιπῷ βίῳ πεποιηκώς. Vgl. dazu Schorn (2009), S. 353 f. 510 SHA Pius 10, 5. Eine genauere Betrachtung dieser Szene erfolgt in II. 5.2.1; vgl. auch II.1.7. 511 Zos. hist. 4, 57, 3 f.: Ἡ μὲν οὖν ἀρχαιρεσία τοῦτον αὐτῷ διετέθη τὸν τρόπον, ἤδη δὲ αὐτῷ πρὸς τὴν ἔξοδον ἐπειγομένῳ συμβέβηκε Γάλλαν τὴν γαμετὴν ἐν ταῖς ὠδῖσιν αὐταῖς τελευτῆσαι, σὺν τῷ βρέφει καὶ τὸν βίον ἀποθεμένην. ταύτην μὲν οὖν κατὰ τὸν Ὁμηρικὸν νόμον ὁ βασιλεὺς ἐπ’ ἤματι δακρύσας ἀπεχώρει σὺν τῷ στρατῷ τὰ κατὰ τὸν πόλεμον διαθήσων. Il. 19, 229 schlägt Odysseus einen Zeitraum von einem Tag für die Totentrauer vor und legt nahe, sich dann auf den Kampf zu konzentrieren. 512 Greg. Tur. hist., lib. VI, c. 34, p. 304 f.: Sed Chilperico rege egresso de Parisius, ut in pago Sessionico accederet, novus luctus advenit. Filius enim eius, quem anno superiore acro baptismate abluerat, a desinteria correptus, spiritum exalavit. Hoc enim fulgor ille, quod superius ex nube dilapsum memoravimus, figuravit. Tunc cum inmenso fletu regressi Parisius, sepelierunt puerum. Die Naturerscheinung, die an dieser Stelle eine nachträgliche Deutung erfährt, wird am Ende des vorangegangenen Kapitels beschrieben, vgl. c. 33, p. 304: His diebus apparuerunt a parte aquilonis nocte media radii multi fulgore nimio relucentis, qui ad se venientes iterum separabantur, usquequod evanuerunt. Sed et caelum ab ipsa septemtrionali plaga ita resplenduit, ut potaretur aurora producere. Auffällig ist der Kontext, in den Gregor die Trauer stellt, denn er beschreibt, wie der König sie seinem politischen Kalkül zunutze machte: Zu Beginn des Kapitels 34 ist von Gesandten (bzw. einem Gesandten in Begleitung anderer) aus Spanien
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Sehr plastisch beschreibt Theophylaktos Simokates die Trauer unter den Awaren, nachdem sie im Frühjahr 598 die thrakische Stadt Drizipera geplündert hatten. Der byzantinische Historiograph stuft es, wie er einleitend bemerkt, als eine Strafe Gottes ein, dass eine Seuche das gegnerische Heer befiel – die Barbaren hätten nämlich den Leichnam des Märtyrers Alexandros aus dem Grab genommen.513 Sieben der Kinder des Chagan fielen der Krankheit zum Opfer, und es herrschte daher unter den Awaren statt lautstarker Freude über den Sieg das Gegenteil vor: Weinen, Tränen, unaussprechliche Trauer und unerträgliche Strafen.514 Der Awarenfürst war so sehr erschüttert, dass er sich zehn Tage lang nicht dem Gesandten widmen konnte, den Kaiser Maurikios zu ihm geschickt hatte; vielmehr jammerte er über das Schicksal, das ihn ereilt hatte, und verfiel in heftiges Wehklagen, da er seine Söhne und große Teile seiner Truppen verloren hatte (ὁ δὲ Χάγανος τὰς παρούσας τύχας κατοδυρόμενος ἐθρήνει ἀσχέτως τὴν ἀποβολὴν τῶν υἱῶν τε τῶν δυναμένων λύμην). Der Byzantiner musste noch weitere acht Tage warten, bevor es zu Verhandlungen kam – zunächst lehnte der Chagan die Geschenke des Kaisers ab, dann ließ er sich überreden, sie doch anzunehmen, und schließlich kam es zum Friedensschluss zwischen Byzantinern und Awaren.515 In dieser Episode vermischt sich der Schmerz des Chagan über den Verlust seiner Kinder und der gefallenen Soldaten mit der von Trauer geprägten Einsicht, sich – zumindest vorerst – mit den Byzantinern einigen zu müssen. Ein Beispiel dafür, dass sich eine ranghohe Persönlichkeit angesichts schwerer Trauer mit ihrem Schicksal abfindet, bietet Paulus Diaconus im sechsten Buch seiner Langobardengeschichte. Dort wird erzählt, wie König Liutprand sich im Jahre 741 bei Forum Fulvii auf die Jagd begab und dabei sein Neffe Aufusus versehentlich von einem Pfeil getroffen wurde. Liutprand reagierte auf das dem Knaben zudie Rede, denen Chilperich das Versprechen gab, seine Tochter Rigunth dem Sohn König Leuvigilds zur Frau zu geben. Diese rief er nach seiner unvorhergesehenen Rückkehr nach Paris erneut zu sich, um einen Aufschub des Abkommens zu erwirken – und zwar mit dem Hinweis darauf, dass er sich in Trauer befinde (planctum in domo sustineo) und daher nicht die Hochzeit seiner Tochter feiern könne. Hinter dieser Absicht, die Eheschließung hinauszuzögern, stand – so schreibt Gregor von Tours weiter – der Wunsch, eine andere Tochter mit dem Königssohn zu vermählen – was allerdings scheiterte. Somit erscheint die Trauer selbst zwar nicht als unehrlich, sie wird aber (in der Schilderung Gregors) gewissermaßen zu politischen Zwecken missbraucht. 513 Vgl. Theophyl. hist. 7, 14. 514 Theophyl. hist. 7, 15, 1–3: Ἐν ταύταις τοιγαροῦν ταῖς ἡμέραις τὸ κατὰ πάντων τῶν ἐθνῶν κράτος αὐτοῦ ὁ ἡμέτερος πιστούμενος Ἰησοῦς, εἰς κληρονομίαν τε παρὰ τοῦ πατρὸς τὴν οἰκουμένην λαβὼν κατάσχεσίν τε τὰ πέρατα τῆς γῆς, οὐδαμῶς τῷ Χαγάνῳ ἁμάρτυρον τὴν ἑαυτοῦ βασιλείαν παρῆκεν. ἀθρόᾳ γὰρ ἐπιφοιτήσει λοιμοῦ τὰ τῶν βαρβάρων περιπίπτουσι πλήθη, καὶ ἦν αὐτοῖς τὸ κακὸν ἀπαραίτητον καὶ σοφίσματος οὐκ ἀνεχόμενον. εἰσπράττεται τοιγαροῦν ὁ Χάγανος, ἀνθ᾿ ὧν Ἀλέξανδρον ἠτιμάκει τὸν μάρτυρα, ἀξιολόγους ποινάς· ἑπτὰ γὰρ παῖδες ἀυτῷ βουβῶσι περιτυγχάνουσι θέρμῃ τε ῥαγδαίᾳ τινὶ καὶ φλογώδει, καὶ ἐν ἡμέρᾳ μιᾷ τὸν τῇδε καταλύουσι βίον. οὕτω μὲν οὖν ὁ Χαγάνος δυστυχῶς εὐτυχεῖ τὰ ἐπινίκια· ἀντὶ γὰρ παιώνων καὶ ᾀσμάτων καὶ ὕμνων καὶ κρότων χειρῶν καὶ συμφωνίας χορῶν καὶ γέλωτος κυματίζοντος θρήνους εἶχε καὶ δάκρυα καὶ πένθη ἀπαρηγόρητα καὶ ζημίαν ἀνυπομόνητον. ἐβάλλετο γὰρ ὑπὸ στρατευμάτων ἀγγέλων, καὶ φανερὰ μὲν ἦν ἡ πληγή, ἀόρατος δὲ ἡ παράταξις. 515 Vgl. Theophyl. hist. 7, 15, 4–12.
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gestoßene Unglück mit Tränen und Klagen (cum lacrimis eius incommodum lamentari coepit) und schickte sofort einen Gesandten zu dem Eremiten Baodolinus, der sich durch seine mit der Hilfe Christi erwirkten Wunder und Weissagungen einen Namen gemacht hatte.516 Von diesem erhoffte er sich eine wirksame Fürsprache für das Leben des Aufusus bei Christus, doch verstarb der Junge, noch bevor der Diener bei dem Gottesmann eintraf. Da Baodolinus sein Anliegen vorausgesehen hatte, ergriff er als erster das Wort und verkündete, er könne dem Knaben nicht mehr helfen, da er bereits tot sei – und diese Nachricht wiederum löste bei dem Langobardenkönig zwar Schmerz aus (licet doluerit), doch erkannte er daran die weissagerische Fähigkeit (prophetiae spiritum) des Eremiten.517 Der kurze Bericht vom Tod des Aufusus stellt somit die Trauer des Liutprand sowie seine Akzeptanz des Schicksals und in mindestens ebenso hohem Maß die prophetische Gabe des Baodolinus heraus. Die Aufrichtigkeit des Schmerzes, den der König empfindet und zum Ausdruck bringt, wird von Paulus Diaconus besonders stark betont und mit der großen Liebe zu dem Knaben begründet: Valde enim eundem puerum amabat. Auch der an Sueton geschulte Einhard beschreibt in seiner Vita Karls des Großen, wie ein Herrscher die eigene Trauer zur Schau stellt, wobei er die Tränen des Frankenkaisers kritisiert und zugleich Verständnis für sie äußert. Im Zuge der Darstellung des Privatlebens518 schreibt der Biograph darüber, welche Behandlung Karl seinen Kindern zukommen ließ – allesamt seien sie zu tugendhaftem Verhalten erzogen worden. Zwei Söhne und eine Tochter starben jedoch noch zu seinen Lebzeiten;519 die tiefe Trauer darüber war der Schilderung Einhards zufolge für andere sichtbar und wird von ihm folgendermaßen beurteilt: Mortes filiorum ac filiae pro magnanimitate, qua excellebat, minus patienter tulit, pietate videlicet, qua 516 Paul. Diac. hist. Langob., lib. VI, c. 58, p. 186: Huius regis temporibus fuit in loco cui Forum nomen est, iuxta fluvium Tanarum, vir mirae sanctitatis Baodolinus nomine, qui multis mira culis, Christi gratia suffragante, refulsit. Qui saepe futura praedixit, absentia quoque quasi praesentia nuntiavit. 517 Paul. Diac. hist. Langob., lib. VI, c. 58, p. 186: Denique cum rex Liutprand in Urbem silvam venatum isset, unus ex eius comitibus cervum sagitta percutere nisus, eiusdem regis nepotem, hoc est sororis eius filium, Aufusum nomine, nolens sauciavit. Quod rex cernens – valde enim eundem puerum amabat – cum lacrimis eius incommodum lamentari coepit statimque unum e suis equitem misit, qui ad virum Dei Baodolinum curreret eumque peteret, ut pro vita eiusdem pueri Christum supplicaret. Qui cum ad servum Dei pergeret, puer defunctus est. Cui Christi famulus ad se pervenienti ita dixit: ‚Scio, quam ob causam veneris; sed illud quod postulare missus es iam fieri non potest, quia puer ille defunctus est‘. Quod cum his qui missus fuerat regi quod a servo Dei audierat renuntiasset, rex, licet doluerit, quod effectum supplicationis suae habere non potuit, tamen quia vir Domini Baodolinus prophetiae spiritum habuerit, aperte cognovit. 518 Privatleben und Familie werden ab Kapitel 18 der Vita dargestellt, vgl. dessen Beginn: Cuius animi dotes et summam in qualicumque et prospero et adverso eventu constantiam ceteraque ad interiorem atque domesticam vitam pertinentia iam abhinc dicere exordiar. 519 Einhard, Vita Karoli Magni, c. 19, p. 23 f.: Liberos suos ita censuit instituendos, ut tam filii quam filiae primo liberalibus studiis, quibus et ipse operam dabat, erudirentur. Tum filios, cum primum aetas patiebatur, more Francorum equitare, armis ac venatibus exerceri fecit, filias vero lanificio adsuescere coloque ac fuso, ne per otium torperent, operam impendere atque ad omnem honestatem erudiri iussit. Ex his omnibus duos tantum filios et unam filiam, priusquam moreretur, amisit, Karolum (…) et Pippinum (…) et Hruodtrudem (…).
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non minus insignis erat, conpulsus ad lacrimas.520 Der Kaiser weinte demnach über den Verlust seiner Kinder, und der prägnanten Formulierung lässt sich entnehmen, dass dieses Verhalten als unangemessen empfunden wurde, da es nicht im Einklang mit seiner Seelengröße stand. Allerdings wird es durch die Liebe zu den Verstorbenen entschuldbar,521 so dass die zunächst geäußerte Missbilligung in Anerkennung umschlägt. Die magnanimitas wird durch die geschilderte Emotionsäußerung nicht gemindert, ihr wird vielmehr die für ebenso wichtig erachtete pietas an die Seite gestellt. Im unmittelbar folgenden Satz verweist Einhard auf einen Todesfall, der dem Kaiser ebenfalls unwillkürlich Tränen entlockte; dass sie nicht negativ zu werten sind, bedarf nach der vorangehenden Äußerung keiner weiteren Begründung mehr, wohl aber, dass in ebenso intensiver Weise wie um die Kinder auch um eine Person geweint werden durfte, die nicht der eigenen (biologischen) Familie angehörte. Nachdem Karl nämlich im Jahr 795 die Nachricht vom Tod Papst Hadrians I. erhalten hatte, weinte er, so der Biograph, um ihn wie um einen Bruder oder sehr geliebten Sohn (sic flevit, acsi fratrem aut carissimum filium amisisset), da er Freundschaften einen hohen Stellenwert beimaß und mit Beständigkeit an ihnen festhielt. Dass er um Hadrian, zu dem er in einem besonders engen Freundschaftsverhältnis stand (quem in amicis praecipuum habebat), weinte, verwundert folglich ebensowenig wie die Tatsache, dass dieser Umstand positiv dargestellt wird.522 Für einen Herrscher war es unerlässlich, eine möglichst hohe Charakterfestigkeit zu besitzen und diese beständig vor anderen zu beweisen. Einhard attestiert Karl dem Großen zu Beginn der Darstellung seines familiären Lebens in Kapitel 18 ein besonders hohes Maß an seelischer Standhaftigkeit (summa in qualicumque et prospero et adverso eventu constantia), zu der ein ungehemmter Tränenausbruch – der zwar im privaten Rahmen, aber offenbar in Anwesenheit weiterer Personen stattfand – im Widerspruch zu stehen scheint, da er eine mangelnde Beherrschung des eigenen Geistes anzeigt.523 Letztlich spiegelt sich in der Emotionalität des Herrschers an dieser Stelle jedoch eine weitere lobenswerte Eigenschaft wider, nämlich die auf Nahestehende ausgerichtete pietas. Das prinzipiell für unangebracht befundene Weinen wird dadurch in den geschilderten Situation zu einem ehrbaren Verhalten, das zu einer umso größeren Hochschätzung der Herrscherpersönlichkeit führt. 520 Einhard, Vita Karoli Magni, c. 19, p. 24; eine Übersetzung könnte etwa lauten: „Den Tod der Söhne und der Tochter ertrug er weniger erhaben, als seine geistige Beschaffenheit es nahelegte, durch die er sich vor allen anderen hervortat; seine liebevolle Gesinnung, durch die er sich nicht weniger auszeichnete, trieb ihn zu seinem Tränenausbruch.“ 521 Vgl. Althoff (1996), S. 243. 522 Einhard, Vita Karoli Magni, c. 19, p. 24: Nuntiato etiam sibi Hadriani Romani pontificis obitu, quem in amicis praecipuum habebat, sic flevit, acsi fratrem aut carissimum filium amisisset. Erat enim in amicitiis optime temperatus, ut eas et facile admitteret et constantissime retineret, colebatque sanctissime quoscumque hac adfinitate sibi coniunxerat. 523 Meuli (1975b), S. 361 führt die vorliegende Stelle als einen Beleg dafür an, dass der „Zusammenbruch einer als unerschütterlich angesehenen Stütze“ bei den Untergebenen Verunsicherung und Bestürzung hervorgerufen habe. – Zum Weinen als Verhalten, das eine Lockerung der Selbstkontrolle anzeigt, vgl. Flaig (22004), S. 113.
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Die Beschreibung von unwillkürlichem Weinen über den Tod von Familienangehörigen dient in den bisher angeführten Beispielen vorrangig dazu, den Charakter des Dargestellten positiv herauszuheben.524 Spontane Tränen werden dabei stets als authentisch aufgefasst, und in ihnen kommt die Trauer über den Verlust des Verstorbenen und damit die Zuneigung zu ihm deutlich fassbar zum Ausdruck. Tränen um Frau, Kinder und Freunde mochten zudem ein hohes Identifikationspotential für den Leser bereitstellen; es handelte sich dabei offenbar um eine Reaktion, die auch für römische Herrscher und andere Machtträger gut vorstellbar war – wobei sie an besonders hohen moralischen Maßstäben gemessen wurde und den Weinenden in der Regel zwangsläufig ein gewisser Vorbildcharakter zukam.525 4.1.1.2 Geheuchelte Tränen Weinen war wie jegliches andere Verhalten eines Mächtigen der Kritik ausgesetzt. Vor allem Tränen, die in der Öffentlichkeit vergossen wurden, finden in Episoden Erwähnung, in denen die betreffenden Historiographen diese negativ werten, indem sie den Weinenden Heuchelei vorwerfen. Daraus ist allerdings nicht zu folgern, dass Weinen bei einer zeremoniell geprägten Klage um einen Toten generell als deviantes Verhalten eingestuft wurde, sondern vielmehr lassen die Beispiele den Umkehrschluss zu, dass seitens der Anwesenden die Erwartung bestand, der Betroffene werde seine Trauer um den Verstorbenen nach außen hin sichtbar ausdrücken. Nach dem Tod des Pompeius am 28. September 48 v. Chr., so berichten die antiken Quellen einhellig, weinte Caesar, als man ihm dessen Kopf bei seiner Ankunft in Ägypten überbrachte.526 Im Gegensatz zu fast allen anderen literarischen Darstellungen bezweifelt Lukan in seinem Epos, dass die Tränen Caesars seinen tatsächlichen Emotionen entsprachen – ein Urteil, das völlig im Einklang mit seinem auch sonst negativ gefärbten Caesar-Bild steht; seiner Bewertung der Tränen folgte, so Hans Jürgen Tschiedel, lediglich Cassius Dio, dessen Bericht Parallelen zu dem Lukans aufweise.527 Lukan schildert am Ende des neunten Buches seines Bellum civile die Begebenheit in aller Ausführlichkeit. Zunächst trat ein Getreuer Ptolemaios‘ XIII. vor 524 Nicht grundlegend positiv konnotiert ist der Hinweis auf die Tränen des Tiberius um seinen Adoptivsohn, der sich in Tac. ann. 3, 12, 5 findet (vgl. dazu II. 1.3.1), und dass Hadrian um seinen Geliebten Antinous weint, erscheint anstößig (SHA Hadr. 14, 5), vgl. dazu II. 5.3.2. Zum beherrschten Umgang mit der Trauer vgl. SHA Aur. 16, 5; auf die Stelle wird in II. 5.2.1 näher eingegangen. 525 Dieser Aspekt steht beim Beispiel des Simokates freilich weniger im Vordergrund; es bietet unterschiedliche Ansätze für eine emotionale Ausdeutung der Darstellungsabsicht. Dass er die Seuche, die die Awaren ereilte, als eine Strafe Gottes für die Plünderung besonders der Kirche in Drizipera und für die Schändung der Leiche des Märtyrers Alexandros (Theophyl. hist. 7, 14) darstellt, könnte ein Gefühl der Genugtuung erzeugen, ebenso mag der Leser jedoch zum Mitleid mit dem Chagan animiert werden (selbst wenn sein Verlust als gerechtfertigt angesehen wird). 526 Vgl. Tschiedel (1985), S. 4 f., eine Ausnahme stellen lediglich die Commentarii de bello civili dar. 527 Vgl. Tschiedel (1985), S. 6–8 und, ihm folgend, Wick (2004b), S. 426.
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Caesar und verkündete, man habe ihm die Aufgabe abgenommen, seinen Gegner Pompeius umzubringen; am Ende der Rede wird diese Tat als scelus (V. 1031 und 1032) bezeichnet und darauf hingewiesen, dass Caesar dem ägyptischen Herrscher zu Dank verpflichtet sei, da er dieses Verbrechen nun nicht selbst begehen müsse (V. 1010–1032). Dann überreichte der Gesandte Caesar das Haupt des Ermordeten, das entstellt und in seinem Aussehen verändert war (V. 1032–1034).528 Die erste Reaktion des Römers bestand Lukan zufolge aufgrunddessen darin, den Kopf einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, bis er zu der Überzeugung gelangte (dum crederet), es handle sich tatsächlich um das Haupt des Pompeius (V. 1035 f.). Mit dem Kopf als einem zuverlässigen Beweis für die Untat hielt Caesar es für sicher, nach außen hin eindeutig Position zu beziehen: Er verhielt sich, wie es von einem guten Schwiegervater zu erwarten war, indem er Tränen vergoss (lacrimas effudit) und Seufzer ausstieß (gemitus expressit). Dass es sich dabei um reine Heuchelei handelt, wird durch die beigestellten Attribute deutlich gemacht – die Tränen flossen nicht von selbst (non sponte cadentis), und die begleitenden Klagelaute entsprangen einer frohen Gesinnung (pectore laeto). Nur durch Tränen konnte er seine Freude verbergen, die unter diesem Deckmantel sichtbar war, und in Lukans Augen wurde durch diese offensichtliche Täuschung der Vorteil, den Caesar aus der Untat des als Tyrannen deklarierten Ägypterkönigs zog, zunichte gemacht. Er habe lieber das abgetrennte Haupt betrauern (lugere) wollen, als in der Schuld des Königs zu stehen (debere, was einen ehrlichen Ausdruck seiner Freude zur Folge gehabt hätte); er habe es nicht gewagt, Pompeius sein Seufzen zu versagen, obwohl er schon so oft mit ausdrucksloser Miene (duro uoltu) buchstäblich über Leichen gegangen sei.529 Bereits an dieser Stelle ist dem Leser deutlich vermittelt worden: Caesar verstand sich darauf, willkürlich Tränen einzusetzen, wobei ihre mangelnde Authentizität leicht nachweisbar ist, denn sie stehen im Kontrast zu der ihm ansonsten eigenen Kaltblütigkeit. Ein weiterer Abschnitt geht auf die Motivation für dieses Verhalten ein, worauf verschiedene Antworten (in Form von direkten Fragen, die sich an den Feldherrn selbst richten) gegeben werden; entscheidend ist die Feststellung, dass Caesar, welche Beweggründe ihn im einzelnen auch angetrieben haben mögen, keine pietas besitze: quisquis te flere coegit | impetus, a uera longe pietate recessit (V. 1055 f.).530 Mit der Bemerkung, er habe seine geheuchelten Emotionen 528 Auf den von ihm offensichtlich verabscheuten Prozess der Einbalsamierung des Hauptes geht Lukan gleich nach der Schilderung der Enthauptung ein (vgl. 8, 687–691); Erasmo (2005), S. 352 verweist darauf, dass dieser ägyptische Bestattungsbrauch einem Römer moralisch verwerflich vorkommen musste – Lukan selbst bezeichnet ihn 8, 688 als ars nefanda. 529 Lucan. 9, 1037–1046: Utque fidem uidit sceleris tutumque putauit | iam bonus esse socer, lacrimas non sponte cadentis | effudit gemitusque expressit pectore laeto, | non aliter manifesta potens abscondere mentis | gaudia quam lacrimis, meritumque inmane tyranni | destruit et generi mauolt lugere reuolsum | quam debere caput. qui duro membra senatus | calcarat uoltu, qui sicco lumine campos | uiderat Emathios, uni tibi, Magne, negare. | non audet gemitus. 530 Lucan. 9, 1046–1062. Wick (2004b), S. 428 verweist darauf, dass eine Argumentation gegen die Aufrichtigkeit Caesars seitens des Dichters (hier in Form einer Apostrophe) erfolgen müsse und daher der Rede des Feldherrn vorgeschaltet sei, so dass zu deren Beginn der Gedanke, seine Tränen seien authentischer Ausdruck seiner Empfindungen, völlig abwegig erscheint.
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sogar noch mit den folgenden Worten bekräftigt (fallere audet) und versucht, durch die Maske vorgetäuschten Schmerzes (simulati fronte doloris) Glaubwürdigkeit zu erlangen,531 wird die lange Rede Caesars (V. 1064–1104) eingeleitet, die in dem gebotenen Kontext als reine Farce erscheint. Darin gibt dieser dem ägyptischen Gesandten zu verstehen, dass man ihn seiner Ansicht nach als Sieger um den einzigen Lohn (praemia) des Krieges gebracht habe, nämlich der Möglichkeit, den Besiegten das Leben zu schenken (und dadurch seine moralische Integrität zu belegen);532 der Mord an Pompeius sei eine ausschließlich auf eigene Vorteile bedachte Tat der Ägypter gewesen, denn wenn es ihren Zielen dienlich gewesen wäre, hätten sie Caesar in gleicher Weise umgebracht. Daher könne man lediglich erwarten, dass er Nachsicht mit dem jungen König habe und ihm das Verbrechen verzeihe (donamus nefas). Nach dieser klaren Stellungnahme fordert Caesar dazu auf, die sterblichen Überreste des Pompeius würdevoll zu bestatten und verleiht seiner eigenen Klage um den Verstorbenen, dessen Tod er einen Friedensschluss vorgezogen hätte, wortreich Ausdruck. Ausführlich erläutert Lukan also, welche Maßnahmen Caesar ergriffen habe, um seine Trauer bei den Anwesenden glaubhaft zu machen – doch es gelang ihm nicht, wie in den letzten viereinhalb Versen von Buch 9 lapidar mitgeteilt wird. Die Zuhörer wurden nicht ebenfalls zum Weinen motiviert (nec inuenit fletus comitem), vielmehr durchschauten sie Caesars Verstellung (nec turba querenti credidit), weshalb sie ebenso ihre Seufzer verbergen (abscondunt gemitus) und ihre (eigentlichen) Gefühle mit einer Maske des Frohsinns überdecken (pectora laeta fronte tegunt) – sie nehmen sich die Freiheit heraus, mit heiterer Miene auf das Verbrechen zu reagieren.533 Damit verhalten sie sich so, wie Caesar es getan hätte, wenn er ehrlich gewesen wäre, wobei auf ihren tatsächlichen Emotionshaushalt und dadurch ihre moralische Integrität verwiesen wird. Den Tränen Caesars wird von Lukan ein besonders hoher Stellenwert eingeräumt;534 sie werden von dem Feldherrn angeblich als ein Instrument gebraucht, mit denen er nach außen hin seine Emotionen authentifizieren möchte. Da er jedoch keine Trauer, sondern Freude empfindet, gelingt es ihm nicht, seine Umgebung von der Glaubwürdigkeit seines Verhaltens zu überzeugen;535 auch seine Worte ändern 531 Lucan. 9, 1062 f.; zur Formulierung simulati fronte doloris, wörtlich zu übersetzen mit „durch das geheuchelte Trugbild eines (eigentlich existierenden) Schmerzes“, vgl. Wick (2004b), S. 441 f. 532 Auf diesen Aspekt wird in II. 5.2.3 genauer eingegangen. 533 Lucan. 9, 1104–1108: nec talia fatus | inuenit fletus comitem nec turba querenti | credidit: abscondunt gemitus et pectora laeta | fronte tegunt, hilaresque nefas spectare cruentum, | o bona libertas, cum Caesar lugeat, audent. 534 Wick (2004b), S. 424 stellt die Vermutung an, dass die Aufrichtigkeit der Tränen Caesars Gegenstand einer controversia gewesen sein könnte, wie sie im Rahmen von Deklamationsübungen verfasst wurden und sie betont, dass das Ende von Buch 9 insgesamt Merkmale aufweist, die es in die Tradition rhetorischer Übungen stellen könnten. 535 Bemerkenswert ist, dass der Leser von Anfang an auf die mangelnde Glaubwürdigkeit der Tränen hingewiesen wird; bereits nach der ersten Erwähnung der lacrimae in V. 1038 wird unmittelbar eine Formulierung (non sponte cadentis) angeschlossen, die deren Unechtheit belegt, und diese Unaufrichtigkeit des Verhaltens wird von Lukan im Verlauf seiner direkten
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nichts an dem Umstand, dass dem Leser hier das Bild eines frevelhaften Menschen geboten wird, dessen Heuchelei nicht mehr zu überbieten ist. Seine Verstellung provoziert eine ebenso unehrliche Reaktion – die Zuhörer werden nicht zum MitWeinen angeregt, sondern sind frohen Sinnes. Die Absurdität dieser Episode beruht wesentlich auf der Diskrepanz zwischen beabsichtigter und tatsächlicher Wirkung der Tränen: Obwohl Lukans Caesar taktisch geschickt zu agieren und der Erwartungshaltung, die an ihn als Sieger gestellt wird, bestmöglich zu entsprechen versucht, erreicht er das Gegenteil und offenbart durch seine Tränen gerade seine fehlende Trauer.536 Weniger dramatisch, aber ebenfalls negativ gibt Cassius Dio die Tränen Caesars in seinem Geschichtswerk wieder; er bietet zudem in weniger pathetischen Worten eine Erklärung für die Selbstinszenierung des römischen Feldherrn. Auch Dio erwähnt, dass Caesar beim Anblick des Hauptes in Tränen und Klagen ausgebrochen sei (κατεδάκρυσε καὶ κατωλοφύρατο), auf sein staatsbürgerliches wie verwandtschaftliches Näheverhältnis zu Pompeius verwiesen sowie gegen die Ägypter Vorwürfe erhoben habe. Das Haupt des Schwiegersohns befahl er angemessen zu bestatten.537 Anders als Lukan berichtet Dio nicht im Detail von der Reaktion weiterer Anwesender, sondern stellt diese in den Kontext seiner eigenen Anmerkungen. Caesar habe für seinen Umgang mit der Situation einerseits Lob geerntet, andererseits aber sich lächerlich gemacht, weil – darüber sind Lukan und Dio sich wiederum vollkommen einig – seine Verstellung (προσποίησις) durchschaut wurde. Seine Herrschsucht und sein Hass auf den Gegenspieler Pompeius waren allgemein so bekannt, dass man seine Absichten in Ägypten ganz klar darin sah, diesen zu töten. Vor diesem Hintergrund kommt Cassius Dio zu dem nüchternen Urteil, Caesar habe nur vorgegeben, seinen Schwiegersohn zu lieben (ποθεῖν αὐτὸν ἐπλάττετο), und die äußeren Anzeichen der Trauer über dessen Tod seien reine Heuchelei gewesen (ἀγανακτεῖν τῷ ὀλέθρῳ αὐτοῦ ἐσκήπτετο).538 Kommentierung durch das Trauervokabular durchgängig thematisiert, vgl. V. 1041 (lacrimae) sowie 1048, 1055 und 1105 (flere); auch lugere (V. 1042), maerere (V. 1049) und gemitus (V. 1039, 1045 und 1106) haftet unverkennbar ein negativer Beigeschmack an. 536 Tschiedel (1985), S. 11 beschreibt Caesars Handeln folgendermaßen: Er „zwingt sich zu Tränen, weil er hofft, hinter der Maske des gefühlvollen Menschenfreundes den grausamen Despoten, der er in Wahrheit ist, besser verstecken zu können“, doch Lukan entreiße ihm diese Maske. Die Darstellungsabsicht liege darin, aufzuzeigen, dass Caesar keine humanitas besitze (S. 11 f.); vor allem aber bilde der Abschnitt innerhalb der Gesamtkonzeption des (unvollendeten) Werkes einen Wendepunkt: Caesars Unmenschlichkeit zeige sich hier auf ihrem Höhepunkt, und nach seinem frevlerischen Verhalten liefen die Ereignisse auf sein eigenes Ende zu (S. 18 f.) 537 Cass. Dio 42, 8, 1: Ὁ δ᾽ οὖν Καῖσαρ τὴν τοῦ Πομπηίου κεφαλὴν ἰδὼν κατεδάκρυσε καὶ κατωλοφύρατο, πολίτην τε αὐτὸν καὶ γαμβρὸν ὀνομάζων, καὶ πάνθ᾽ ὅσα ποτὲ ἀλλήλοις ἀνθυπουργήκεσαν ἀναριθμούμενος. τοῖς τε ἀποκτείνασιν αὐτὸν οὐχ ὅπως εὐεργεσίαν τινὰ ὀφείλειν ἔφη, ἀλλὰ καὶ ἐπεκάλει, καὶ ἐκείνην κοσμῆσαί τε καὶ εὐθετῆσαι καὶ θάψαι τισὶν ἐκέλευσε. 538 Cass. Dio 42, 8, 2 f.: Καὶ ἐπὶ μὲν τούτῳ ἔπαινον ἔσχεν, ἐπὶ δὲ δὴ τῇ προσποιήσει γέλωτα ὠφλίσκανε· τῆς γὰρ δυναστείας δεινῶς ἀπ᾽ ἀρχῆς ἐφιέμενος, καὶ ἐκεῖνον καὶ ὡς ἀνταγωνιστὴν καὶ ὡς ἀντίπαλον ἀεί ποτε μισήσας, καὶ τά τε ἄλλα ἐπ᾽ αὐτῷ πάντα πράξας καὶ τὸν πόλεμον τόνδε οὐκ ἐπ᾽ ἄλλο τι παρασκευάσας ἢ ἵνα ἀπολομένου αὐτοῦ πρωτεύσῃ, τότε τε ἐς τὴν
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In der Beschreibung beider Autoren kommt deutlich zum Ausdruck, dass Tränen um den verstorbenen Gegner eine erwartbare Reaktion darstellten und daher von Caesar als strategisch geschickte Demonstration seiner Trauer verstanden und eingesetzt worden sind.539 Ein derartiges Verhalten konnte, das geht aus beiden Schilderungen hervor, dem Sieger als Beleg seiner Milde und Menschlichkeit dienen, in diesem Fall hatte es jedoch die gegenteilige Wirkung. Dass ein Erwartungshaltung an Hinterbliebene bestand, verstorbene Familienangehörige oder Freunde öffentlich zu beweinen, geht zudem aus weiteren negativen Aussagen hervor, die über die geheuchelten Tränen hochrangiger Politiker getroffen werden. Tacitus, der in seinem historischen Œuvre durchgängig auf den durch die politischen Verhältnisse erzeugten Zwang zur Verstellung hinweist, postuliert auch für das Weinen Neros nach dem Tod der Mutter im März 59 n. Chr. ein Täuschungsmanöver. Zu Beginn des vierzehnten Annalenbuches betont er, dass der Kaiser seine Pläne zum Mord an Agrippina der Jüngeren seit seinem Regierungsantritt immer weiter konkretisiert habe, wozu ihn seine Geliebte Poppaea ganz wesentlich angetrieben habe.540 Nach anfänglichem Misserfolg gelang schließlich ein Anschlag auf die Mutter des Kaisers in ihrer Villa in der Nähe von Baiae, und sie wurde noch in derselben Nacht wenig feierlich begraben; die tatsächliche Sachlage versuchte man jedoch dergestalt zu verdrehen, dass ein Mordversuch an Nero seitens der Agrippina erfolgt sei.541 Erst danach wurde sich der junge römische HerrΑἴγυπτον οὐ δι᾽ ἄλλο τι ἐπειχθεὶς ἢ ἵνα αὐτόν, εἰ περιείη, προσκατεργάσαιτο, ποθεῖν τε αὐτὸν ἐπλάττετο καὶ ἀγανακτεῖν τῷ ὀλέθρῳ αὐτοῦ ἐσκήπτετο. – Tschiedel (1985), S. 6 stellt schlüssig heraus, dass Livius‘ Geschichtswerk, das Cassius Dio unter anderem für seine Römische Geschichte als Quelle herangezogen hat, eine andere Interpretation der Tränen Caesars geboten habe; auf S. 8 merkt er dementsprechend an, dass Dio wie Lukan mit ihrer von allen anderen Quellen abweichenden Deutung eventuell auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen – eine solche ist allerdings unbekannt, so dass Tschiedel bezüglich der Schilderung des Cassius Dio den Eindruck gewinnt, es handle sich dabei „um den prosaischen Extrakt dessen, was vom Dichter Lucan in einer hochpathetischen Szene breit ausgemalt ist und als Konzeption vermutlich auch auf ihn zurückgeht.“ 539 Tränen des Siegers um den Besiegten werden in II. 5.2.3 in Bezug auf das dieser Arbeit zugrundeliegende Textcorpus umfassend behandelt, so auch die historiographischen Zeugnisse, die positiv über die Tränen Caesars nach dem Tod des Pompeius berichten. Plutarch schreibt Cato dem Jüngeren in dessen Vita deutliche Kritik am Verhalten Caesars zu, vgl. Plut. Cato min. 23, 1 f.: Im Zuge der Senatsverhandlungen gegen die an der Catilinarischen Verschwörung des Jahres 63 v. Chr. Beteiligten schlug die Stimmung nach der Rede Caesars zu deren Gunsten um; Cato brachte daraufhin schwere Vorwürfe gegen Caesar vor, der sich seiner Meinung nach nur äußerlich und in seinen Reden volksnah und menschenfreundlich gebe, dabei jedoch auf einen Umsturz sinne (ὡς σχήματι δημοτικῷ καὶ λόγῳ φιλανθρώπῳ τὴν πόλιν ἀνατρέπων); er präsentiere sich weinend und klagend (δακρύων καὶ ἀνακλαιόμενος), obwohl der Tod der Verschwörer einer Befreiung der Stadt von Mord und Verbrechen gleichzusetzen sei. 540 Vgl. Tac. ann. 14, 1 sowie II. 3.2. 541 Über den Hass Neros auf Agrippina und sein intrigantes Vorgehen (darunter auch die scheinbaren Versöhnungsbestrebungen) sowie die Verbrennung der Leiche wird Tac. ann. 14, 1–9 berichtet. Champlin (2003), S. 84–91 bietet eine Schilderung der Ereignisse anhand der relevanten antiken Historiographen (Tacitus, Sueton, Cassius Dio), zudem behandelt er S. 91–111 die Frage, weshalb Nero mit Nachsicht reagierte, wenn man ihn – und das geschah auf ganz unterschiedliche Weise – als Schuldigen mit der Tat konfrontierte, und setzt das Auftreten des Kai-
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scher der Tragweite seines Verbrechens bewusst, so dass ihn in der restlichen Nacht, die er in Schweigen verbrachte, öfter ein plötzliches, beklemmendes Gefühl der Angst (pavor) befiel und er, nicht mehr bei klarem Verstand (mentis inops), für den kommenden Tag seinen Untergang erwartete.542 Tatsächlich geschah dann am Morgen das Gegenteil: Auf das Geheiß seines Prätorianerpräfekten Sextus Afranius Burrus begegneten ihm hochrangige Militärs mit Schmeicheleien und brachten ihm ihre Glückwünsche dar, da er einer unvorhergesehenen Gefahr, nämlich dem ruchlosen Verbrechen seiner Mutter, entgangen sei; ebenso taten die amici des Kaisers und Gesandtschaften der umliegenden Städte Kampaniens ihre Freude darüber kund, dass er einem Mordanschlag entronnen sei. Nero wiederum gab sich ihnen gegenüber traurig (maestus) und als ob er in innerem Aufruhr über dieses ihm widerfahrene Unheil sei (quasi incolumitati suae infensus); er vergoss sogar Tränen über den Tod seiner Mutter (morti parentis inlacrimans). Doch Tacitus stellt seiner Beschreibung der Reaktion eine Bewertung voran, die dem Leser die Unaufrichtigkeit des Kaisers unmissverständlich machen soll: Es handelte sich um pure Heuchelei, sein Gebaren erfolgte mit einer Verstellung nach außen hin, die im Gegensatz zu seinem inneren Befinden stand (diversa simulatione). Mit Beginn des folgenden Satzes wird dieser Gedankengang nochmals verallgemeinernd aufgegriffen: Der Anblick eines Ortes lässt sich nicht wie der Gesichtsausdruck eines Menschen auswechseln (non, ut hominum vultus, ita locorum facies mutantur), und da Nero es nicht mehr länger ertrug, am Ort des Geschehens zu verweilen, begab er sich nach Neapel. Von dort aus verfasste er ein Schreiben an den Senat, in dem er angab, Agermus, ein Freigelassener aus dem engsten Umfeld Agrippinas, sei bei einem Mordversuch am Kaiser gefasst worden, woraufhin Agrippina sich aus Schuldbewusstsein (conscientia) selbst umgebracht habe.543 Nero versteht sich laut der Schilderung des Tacitus also offensichtlich darauf, genau zu kontrollieren, welche Emotionen er an seine Umgebung vermittelt. Den Tränen des Kaisers als (prinzipiell der Situation angemessenen) Ausdruck seiner sers sowie die Reaktionen darauf mit mythischen Rollen, wie sie auch auf römischen Bühnen dargeboten und von Nero übernommen worden sind (Nero als Orest bietet hier die deutlichste Parallele), in Bezug. 542 Tac. ann. 14, 10, 1: Sed a Caesare perfecto demum scelere magnitudo eius intellecta est. reliquo noctis modo per silentium defixus, saepius pavore exsurgens et mentis inops lucem opperiebatur tamquam exitium adlaturam. 543 Tac. ann. 14, 10, 2 f.: Atque eum auctore Burro prima centurionum tribunorumque adulatio ad spem firmavit, prensantium manum gratantiumque, quod discrimen improvisum et matris facinus evasisset. amici dehinc adire templa, et coepto exemplo proxima Campaniae municipia victimis et legationibus laetitiam testari: ipse diversa simulatione maestus et quasi incolumitati suae infensus ac morti parentis inlacrimans. quia tamen non, ut hominum vultus, ita locorum facies mutantur, observabaturque maris illius et litorum gravis adspectus (et erant qui crederent sonitum tubae collibus circum editis planctusque tumulo matris audiri), Neapolim concessit litterasque ad senatum misit, quarum summa erat repertum cum ferro percussorem Agermum, ex intimis Agrippinae libertis, et luisse eam poenam conscientia, qua scelus paravisset. Im folgenden elften Kapitel werden weitere Anklagen gegen Agrippina wiedergegeben und Tacitus weist darauf hin, dass sich die öffentliche Meinung seit dieser Zeit gegen Nero und seinen Berater Seneca (der als Abfasser des Schriftstückes galt) richtete. – Zur Beschuldigung des Agermus vgl. ann. 14, 7, 6.
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gegenwärtigen Stimmung begegnet sein engstes Umfeld mit Glückwünschen, da er dem Tod entronnen sei; sie werden von der Reihe der Gratulanten nicht weiter kommentiert, jedoch hätte es mit Sicherheit als unangemessen gegolten, unverhohlen Freude zu zeigen. Auf die Lüge des Selbstmordes folgt mit einer simulatio der Trauer, die der theaterbegeisterte Nero inklusive der Tränen einsetzt, eine der Sache nach stimmige Reaktion, die ein entsprechendes Verhalten seiner Umgebung nach sich zieht. Dieser illusorische Charakter zieht sich auch durch den weiteren Verlauf der unmittelbar folgenden Ereignisse und zeigt dadurch umso stärker Neros Verkommenheit auf.544 Wie bei dem zuvor behandelten Beispiel wird an dieser Episode aus den taciteischen Annalen gerade durch die äußerlichen Anzeichen von Trauer verdeutlicht, dass dem Weinenden – so das Urteil der jeweiligen Autoren – jegliche pietas fehlt. Auch nach Tacitus finden sich Schilderungen von Tränen, die für unehrlich erachtet werden. Als Heuchelei bezeichnet Cassius Dio die Tränen des Domitian um seinen Bruder Titus, der am 13. September 81 n. Chr. starb; inwieweit Domitian an seinem durch eine Krankheit herbeigeführten Ende beteiligt war, ist zwar nicht zweifelsfrei zu klären, jedoch steht fest, dass er seinem Bruder alles andere als wohlgesonnen war, und so verwundert es nicht, dass er sich schnellstmöglich zu dessen Nachfolger ausrufen ließ.545 Liebe zum und Trauer um den Bruder sind nach Dio allerdings bloße Verstellung (καὶ φιλεῖν τὸν ἀδελφὸν καὶ πενθεῖν προσεποιεῖτο), und dementsprechend verhält es sich mit den Tränen bei dessen Grabrede sowie mit dem Wunsch nach Ehrungen für Titus – er gab bei all dem das Gegenteil dessen vor, was er eigentlich wollte.546 Ein ähnliches Verhalten legte der Historia Augusta zufolge auch Caracalla an den Tag. Am 19. Februar 212 ließ er seinen Bruder Geta ermorden und verbot anderen, dessen Tod zu beweinen.547 Er selbst zeigte allerdings durch Tränen seine Trauer über den Verlust, wenn der Name des Bruders erwähnt wurde oder er dessen 544 Die Lüge des Selbstmordes wurde zwar nach außen hin aufrechterhalten, für unschuldig hielt man Nero wohl dennoch kaum, wie der Hinweis auf die wachsende Skepsis gegenüber dem Kaiser und seinem wichtigsten Berater in Kapitel 11 andeutet. Den in Tac. ann. 14, 12 erwähnten Ehrenbeschlüssen zugunsten Neros werden böse Vorzeichen gegenübergestellt; die stadtrömische Bürgerschaft war immerhin so weit beeinflussbar (oder verpflichtet?), dass man ihn bei seinem Einzug in die Stadt feierlich empfing, was ihn – so Tacitus – dazu führte, seine Machtposition als gefestigt anzusehen und sich seinen Ausschweifungen hinzugeben, die er zu Lebzeiten Agrippinas noch gezügelt hatte (ann. 14, 13). 545 Mit dem Verweis auf frühere Anschläge des Domitian führt Cass. Dio 66, 26, 2 die verbreitete Meinung an, dieser habe das Ende seines durch Krankheit schwer gezeichneten Bruders wissentlich beschleunigt. 546 Cass. Dio 67, 2, 5 f.: Ἐπεί τοι καὶ ἕτερον σκηνοποιίᾳ τινὶ ἐοικὸς ἐγίγνετο. αὐτός τε γὰρ καὶ φιλεῖν τὸν ἀδελφὸν καὶ πενθεῖν προσεποιεῖτο, καὶ τούς τε ἐπαίνους τοὺς ἐπ᾽ αὐτῷ μετὰ δακρύων ἔλεξε καὶ ἐς τοὺς ἥρωας αὐτὸν σπουδῇ ἐσέγραψε, πάντα τὰ ἐναντιώτατα ὧν ἐβούλετο σκηπτόμενος. Dio betont, dass in der näheren Umgebung des Kaisers die Notwendigkeit bestand, sich zu verstellen (67, 2, 5), und dass die Heuchelei Domitians zu Unsicherheiten führte, welche Emotionen zu zeigen angemessen sei (67, 2, 7); somit kam das öffentliche Verhalten der hochrangigsten Männer des Staates in dieser Situation einer Darbietung auf der Theaterbühne (σκηνοποιία) gleich. 547 Vgl. dazu II. 4.2.1.
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Statue sah, so wird am Ende der Vita Getas berichtet. Unwillen soll er durch dieses Auftreten nicht erregt haben, vielmehr rief es Verwunderung hervor, wie schon im Vorhinein betont wird: Mirum sane omnibus videbatur, quod mortem Getae totiens etiam ipse fleret, quotiens nominis eius mentio fieret, quotiens imago videretur aut statua.548 Caracalla beabsichtigte offenbar, ausschließlich sich selbst als vom Schmerz Ergriffener zu präsentieren – nur sein dolor sollte in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden und kam besonders deutlich zur Geltung, da niemand sonst Tränen zeigen durfte. Das Weinen bei der Nennung des Namens oder vor Getas Bildnissen und Statuen lässt sich als Inszenierung eines emotionalen Zustands verstehen, der durch diese äußeren Anreize zwar verstärkt wird, sich aber letztlich wohl vor allem darauf gründet, dass der Herrscher das Weinen als politisch angemessene Entscheidung einstufte.549 Der Kontext, in den die Historia Augusta diese Aussage stellt, lässt klar erkennen, dass sie die gezeigten Emotionen als abweichend von den tatsächlichen verstanden wissen möchte – Caracalla wird als launenhaft und charakterlich unbeständig beschrieben.550 Parallelen zu diesem Verhalten bietet der Bericht des Gregor von Tours über den Tod der Galsvintha, der sich stimmig in die Darstellung der von Intrigen gekennzeichneten politischen Landschaft der Merowingerzeit fügt. Der fränkische König Chilperich I. heiratete die Tochter des Westgotenkönigs Athanagild im Jahr 567 als Reaktion auf die Ehe seines Bruders Sigibert I., die dieser im Jahr zuvor mit Brunichilde, ebenfalls einer Tochter Athanagilds, eingegangen war.551 Zunächst war Chilperich seiner Gattin noch gewogen, allerdings laut Gregor vor allem wegen der umfangreichen Schätze, die sie in die Verbindung eingebrachte hatte. Die wieder aufkeimende Liebe zu Fredegunde veranlasste den König schließlich, Galsvintha ermorden zu lassen; auf ihren Wunsch nach einer Rückkehr zu ihrem Vater war er nicht eingegangen, sondern hatte sich klug verstellt (dissimulans) und sie beruhigt. Sein Weinen über den Tod der Gattin diente, so legt es die Schilderung Gregors nahe, lediglich dazu, über seine eigentlichen Motive hinwegzutäuschen: Nachdem er Galsvintha beweint hatte (cum eam mortuam deflessit), heiratete er wenige Tage später Fredegunde. Demnach wurde von Chilperich ein Verhalten, das die Norm nach dem Tod eines Angehörigen auch unter den Mitgliedern der herrschenden Familien forderte, an den Tag gelegt, doch aufrichtig scheinen seine Tränen kaum.552 548 SHA Geta 7, 5; nur lapidar heißt es SHA Carac. 3, 5: Ipse mortem eius saepissime flevit. 549 Auch das aufwändige Begräbnis Getas mag von dem Bestreben Caracallas zeugen, den Mord an seinem Vorgänger zu verschleiern, vgl. SHA Geta 7, 1: Funus Getae accuratius fuisse dicitur quam eius, qui fratri videretur occisus. 550 Vgl. SHA Geta 7, 4 und 7, 6. 551 Vgl. Greg. Tur. hist., lib. IV, c. 27, p.160. 552 Greg. Tur. hist., lib. IV, c. 28, p. 160 f.: (…) Quae (Galsuintha sc.) cum ad Chilpericum regem venisset, cum grande honore suscepta eiusque est sociata coniugo; a quo etiam magno amore diligebatur. Detulerat enim secum magnos thesauros. Sed per amorem Fredegundis, quam prius habuerat, ortum est inter eos grande scandalum. (…) Cumque se regi quaereretur assiduae iniurias, perferre diceretque, nullam se dignitatem cum eodem habere, petiit, ut, relictis thesauris quos secum detulerat, libera redire permitteretur ad patriam. Quod ille per ingenia dissimulans, verbis eam lenibus demulsit. Ad extremum enim suggillari iussit a puero, mortu-
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Schließlich gilt es noch auf ein Beispiel für die Tränen eines Kaisers um seinen Vorgänger zu verweisen, denen zwar nicht unmittelbar Heuchelei unterstellt wird, die aber doch in einen Kontext gestellt sind, der beim Leser Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit hervorrufen kann. Gleich zu Beginn der rubrizierenden Darstellung der Caligula-Vita Suetons wird in den Kapiteln 13 und 14 das Wohlwollen des Volkes gegenüber dem gerade an die Macht gelangten Caligula herausgestellt, zu dessen Popularität die Erinnerung an seinen bei stadtrömischer Bevölkerung und Soldaten ausnehmend beliebten Vater Germanicus wesentlich beitrug. In Kapitel 15 und 16 werden im Gegenzug seine eigenen Maßnahmen geschildert, mit denen er sich diese Zuneigung des Volkes sichern bzw. verstärken konnte.553 Sueton berichtet zunächst – in Form eines Ablativus absolutus – von der Trauer um den Vorgänger Tiberius, auf den Caligula vor dem versammelten Volk unter reichlichen Tränen (cum plurimis lacrimis) die Leichenrede gehalten (laudato facto) und ihm eine prunkvolle Bestattung ausgerichtet habe (funerato amplissime).554 Sofort im Anschluss sei er, um die Asche seiner Mutter und die seines Bruders nach Rom zu bringen, bei stürmischem Unwetter zu den Inseln Pandateria und Pontia gereist, wodurch seine Liebe (pietas, das pflichtbewusste Verhalten gegenüber Angehörigen) umso mehr hervortrat. Persönlich füllte er die Asche in Urnen, ließ sie mit größtem Gepränge nach Rom bringen, dort im Mausoleum beisetzen und den Verstorbenen weitere Ehren zukommen.555 Im Anschluss werden Auszeichnungen genannt, die der neue Herrscher anderen nahen Verwandten zukommen ließ (15, 2); Kapitel 15, 3 bis 15, 4 hat weitere Wohltaten für das Volk zum Inhalt. So besteht das Ziel der Kapitel 15 und 16 darin, die popularitas des Kaisers zu illustrieren, zu der seine in 15, 1 f. hervorgehobene pietas wesentlich beitrug. Ihr entspricht das Verhalten bei der Leichenfeier für Tiberius, und sie erfährt noch eine Steigerung durch das Heimholen der Asche sowie die weiteren öffentlichen Zeichen der Wertschätzung naher Angehöriger. Da die vorliegende Rubrik eine durchaus positive Konnotation aufweist, besteht kein Grund zu der Annahme, das Weinen sei auf Ablehnung gestoßen. Vielmehr kam das Vergießen von Tränen als intensive und eindeutige Bekundung der eigenen Trauer im Zusammenhang mit der amque repperit in strato. (…) Rex autem cum eam mortuam deflessit, post paucos dies Fredegundem recepit in matrimonio. Dass gerade weitere Familienmitglieder die nach außen hin zum Ausdruck gebrachte Trauer nicht als aufrichtig ansahen, zeigt sich im nächsten Satz: Post quod factum reputantes ei fratres, quod sua emissione antedicta regina fuerit interfecta, eum a regno deieciunt. 553 Vgl. Wardle (1994), S. 158. Vgl. besonders den Einleitungssatz zu Suet. Cal. 15: Incendebat et ipse studia hominum omni genere popularitatis. 554 Vgl. dazu auch II. 1.3.2. 555 Suet. Cal. 15, 1: Tiberio cum plurimis lacrimis pro contione laudato facto funeratoque amplissime, confestim Pandateriam et Pontias ad transferendas matris fratrisque cineres festinauit, tempestate turbida, quo magis pietas emineret, adiitque uenerabundus ac per semet in urnas condidit; nec minore scaena Ostiam praefixo in biremis puppe uexillo et inde Romam Tiberi subuectos per splendidissimum quemque equestris ordinis medio ac frequenti die duobus ferculis Mausoleo intulit, inferiasque in annua religione publice instituit, et eo amplius matri circenses carpentumque quo in pompa traduceretur.
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Bestattung offensichtlich einer Erwartungshaltung der Bevölkerung entgegen, die darin ein Merkmal für die charakterliche Eignung des neuen Kaisers sah. Leicht getrübt wird die Darstellung des volksfreundlichen Benehmens nur durch zwei Kapitel, in denen die Lasterhaftigkeit des Caligula beschrieben (Kap. 11) und das Gerücht kolportiert wird, er habe Tiberius umbringen lassen (Kap.12). Diese Textpassagen liegen nicht allzu weit zurück, so dass sie dem Leser noch gut im Gedächtnis sind.556 Zudem bietet sich eine Deutung von quo magis pietas emineret in 15, 1 als Relativsatz mit finalem Nebensinn an, woraus sich die Folgerung ergibt, für den Kaiser sei nur von Bedeutung gewesen, seine pietas allen vor Augen zu führen – ob Sueton ihm diese tatsächlich attestiert, geht daraus nicht hervor.557 Die Tränen stellen in dem Beispiel aus der Caligula-Vita einen Bestandteil einer Reihe von emotionalisierenden Handlungen dar, die die pietas des Kaisers aufzeigen sollen. Bei einer öffentlichen Leichenfeier erfüllten sie augenscheinlich die Erwartungen der Zuschauer, zumindest aber brachten sie unmissverständlich und in intensiver Weise die Trauer um den Vorgänger zum Ausdruck. Sueton lässt keinen Zweifel daran, dass seiner Ansicht nach das leutselige Benehmen des Herrschers seine Wirkung tat und seine Beliebtheit bei den Römern steigerte; der Kontext, in dem diese Passage sich findet, mag jedoch dazu führen, die Tränen als Verstellung zu deuten. Werden die vorangegangenen Überlegungen zugrundegelegt, so ist im antiken historiographischen Diskurs über die Authentizität von Tränen angesichts des Todes nahestehender Personen ein Konsens darüber festzustellen, dass ein spontanes Weinen in der Regel über authentische Gefühle Auskunft gibt. Besteht dagegen ein zeitlicher Abstand zur Todesnachricht,558 so bietet sich ein Raum für Spekulationen darüber, ob die nach außen hin zur Schau gestellten Gefühle dem tatsächlichen inneren Gemütszustand entsprechen. Offenbar hielt man es für möglich, dass Emotionen vorgespielt werden konnten; wann dies der Fall war, ist jedoch nicht immer eindeutig festzustellen – und umgekehrt erlaubte gerade diese Tatsache es den Weinenden, durch Verstellung ihre Emotionen mehr oder weniger glaubhaft zu verschleiern. Anders ausgedrückt: An den zuletzt analysierten Episoden zeigt sich, dass tatsächliche und nach außen getragene Emotion nicht zwangsläufig deckungsgleich waren, dass der Weinende vielmehr versuchte, einer öffentlichen Erwar556 An einer Stelle wie dieser kann auch gezeigt werden, dass Sonnabend sich im Unrecht befindet, wenn er behauptet, Sueton präsentiere nur Fakten und interpretiere oder werte nicht. Denn durch seine Zusammenstellung des Materials findet offensichtlich sehr wohl eine Wertung statt. Vgl. dazu Sonnabend (2002), S. 176 f. und 182. – Auch gegen Ende der Tiberius-Vita wird die Mitwirkung des Caligula an dessen Tod geschildert (Suet. Tib. 73, 2). 557 Vgl. Wardle (1994), S. 159. 558 Ein Äquivalent dazu bildet die Möglichkeit, die Konfrontation mit dem Tod eines Menschen abzusehen und dadurch die eigenen Emotionen zu lenken, wie etwa im Falle des bei Lukan und Cassius Dio porträtierten Caesar – der auf jeden Fall ahnen konnte, dass sein Gegner nicht mehr lebte, und somit imstande war, seine spontane Reaktion (den beiden hier herangezogenen Autoren zufolge freute er sich über den Tod seines Gegners) gedanklich vorwegzunehmen (folgt man Lukan und nimmt man seine Darstellung sehr genau, so war Caesar in der Lage, nach außen hin nüchtern zu reagieren, als er den Kopf des Pompeius eingehend betrachtete, und daraufhin spielte er dann seine Trauer).
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tungshaltung zu entsprechen und durch performatives Agieren eine dieser entsprechende Botschaft zu vermitteln. Wird den Tränen die Genuinität nicht abgesprochen, so trägt dies zu einem positiven Bild vom Charakter des Weinenden bei.559 4.1.2 Modi des Weinens um hochrangige Verstorbene Nach dem Tod römischer und byzantinischer Herrscher (und ebenso anderer Mitglieder der Führungselite) trauerte man öffentlich um die Verstorbenen, und je hochrangiger eine Person zu ihren Lebzeiten war, umso wichtiger war es, in gebührender Weise von ihr Abschied zu nehmen. Die Trauer um sie (und zwar die spontane wie die zeremonielle) fand in einem öffentlichen Kontext statt und wurde auf unterschiedliche Weise reguliert. Besonders bei der zeremoniellen Totenklage bot sich die Möglichkeit, die Loyalität oder aber die Abneigung gegenüber Amtsautoritäten kollektiv zum Ausdruck zu bringen, wobei die Einstellung der Trauernden zum Toten stets auch eine politische Dimension besaß. Daneben finden sich Beispiele von trauernden Einzelpersonen, an denen sich verschiedene Arten des Umgangs mit der eigenen Trauer vor anderen aufzeigen lassen. Auch die gedankliche Auseinandersetzung mit dem noch nicht eingetretenen, jedoch unmittelbar bevorstehenden Tod konnte bei den Beteiligten Tränen hervorrufen. Im Rahmen einer Bestattung stellten Tränen im antiken römischen Kulturraum eine übliche, ja mitunter sogar wünschenswerte oder gar geforderte Reaktion dar. Dies zeigt sich unter anderem an manchen Episoden, in denen auf eine mangelnde Authentizität der durch das Weinen zur Schau gestellten Emotionen hingewiesen wird. 4.1.2.1 Die Tränen um Pompeius in Lukans Bellum civile Situative und lokale Gegebenheiten sowie beteiligte Personen bestimmen wesentlich, welche Modi der Trauer für angemessen befunden wurden. Besonders deutlich lässt sich dieser Umstand an dem von Lukan zwar literarisch ausgestalteten, nichtsdestoweniger aber für paradigmatisch und somit normkonform zu erachtenden Verhalten derjenigen Personen aufzeigen, die Pompeius am nächsten standen. Nach der Schilderung von dessen Tod werden sie dem Leser jeweils mit einem ihrem Charakter entsprechenden Verarbeitungsprozess ihrer Trauer präsentiert. Nach der Enthauptung des Pompeius bei Pelusium wurde – wie Lukan eindringlich beschreibt (8, 698–711) – sein Rumpf im Meer umhergeworfen und trieb schließlich an die Küste. Mühsam zog ihn dort im Dunkel der Nacht der Quaestor Cordus, ein Begleiter des ermordeten Feldherrn, aus dem Wasser (V. 713–726).560 Danach legte er sich auf den Körper des Pompeius und betrauerte ihn, indem er Tränen auf jede seiner Wunden vergoss (incubuit Magno lacrimasque effudit in 559 Krasser (2006), S. 274 weist darauf hin, dass die „Fähigkeit zur Trauer angesichts des Verlustes von nahestehenden Persönlichkeiten“ in der Regel eine positive Bewertung erfährt, wobei er das oben besprochene Beispiel Suet. Cal. 15, 1 als durchweg positiv konnotiert auffasst. 560 Erasmo (2005), S. 353 Anm. 36 führt an, dass es sich bei dem Quaestor um eine literarische Erfindung Lukans handelt, mit deren Hilfe das Pathos der Szene erhöht werden soll; Plut. Pomp. 80, 3–5 weicht von dieser Darstellung ab, der Biograph berichtet plausibler, dass Pompeius von seinem Freigelassenen Philippus und einem alten Soldaten bestattet wurde.
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omne | uolnus, V. 727 f.). In seiner Rede, die sich über die Verse 729 bis 742 erstreckt, kommt das ganze Ausmaß der Tragödie, die Pompeius widerfahren ist, zum Ausdruck – der große Feldherr erhält ein Armenbegräbnis ohne jeglichen Prunk, der ihm eigentlich gebühren würde. Sein Scheiterhaufen wird mit dem glühenden Holz entzündet, das von einer in der Nähe abgehaltenen Bestattung stammt (V. 743–759), und in der dürftigen Version einer Grabrede (V. 759–775) muss Cordus sich mit dieser armseligen Erfüllung des Ritus zufriedengeben (hoc fas esse, V. 764) – immerhin äußert er die Hoffnung, dass die Asche nicht auf Dauer an ihrem gegenwärtigen Ort bleiben werde.561 Die Schilderung der Verbrennung selbst ist kurz gehalten (V. 775–780), einige Verse sind dem Lob des Quaestors für sein Handeln gewidmet (V. 781–786), und knapp wird schließlich auf das eigentliche Begräbnis eingegangen – Cordus kennzeichnet das Grab mit einem Stein (V. 786– 793).562 Die emotional aufgeladene Darstellung des heimlichen, behelfsmäßigen Begräbnisses in beängstigender Szenerie bildet nur einen Teil des Trauerprozesses, an dem der Leser Lukans Anteil hat,563 und trotz der Tatsache, dass nur er die rituellen Handlungen vornehmen kann, steht der trauernde Cordus als Person hier nicht im Vordergrund des Geschehens, sondern er übernimmt im Wesentlichen eine vermittelnde Funktion für den Leser: Cordus trauert unverhohlen und unter Tränen; an seiner Figur wird aufgezeigt, dass ein ehrenhaft handelnder Mensch der Leiche des Pompeius, die zerschunden und ohne Kopf sicherlich keinen angenehmen Anblick bot, pietas (V. 785) entgegenzubringen hatte und es als sein officium (V. 786) ansah, Pompeius zu bestatten, so gut es ihm unter den widrigen Umständen möglich war. Dagegen wird gerade am Charakter eines Weinenden aufgezeigt, welch starke Wirkung der Tod des Feldherrn in einem ganz spezifischen Fall entfalten kann: Selbst der für seine Standhaftigkeit bekannte Cato wird zu Tränen bewegt, als er von dem tragischen Ereignis erfährt. Die Flotte, auf der sich die Witwe Cornelia und Sextus Pompeius befinden, legt an der Küste Libyens an, sie bringt Trauer und Klagen (luctus planctusque, Lucan. 9, 49) und eine derartig unglückliche Nachricht mit sich, dass sogar Cato weinen muss – mala uel duri lacrimas motura Catonis (V. 50). Dadurch, dass der Prozess des Weinens in Form eines Partizip Futur formuliert ist, wird der Leser mit Gewissheit darüber unterrichtet, dass dieses Verhalten eintreten (und beschrieben werden) wird, sobald die Reisenden ihre Botschaft überbracht haben; allerdings werden die Tränen später nicht mehr erwähnt, sondern vielmehr Catos gefasste Haltung mit dem Verhalten der anderen kontrastiert.564 Zunächst 561 Vgl. dazu Erasmo (2005), S. 353 f. 562 Vgl. Erasmo (2005), S. 355; zum Ablauf des römischen Bestattungsritus vgl. Toynbee (1971), S. 43–55 und Hope (2009), S. 65–96. 563 Erasmo (2005), S. 360 gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die ausführlichen Schilderungen von Tod und Bestattung des Pompeius (letztgenannte wird ja in Varianten mehr als einmal geschildert) dem Leser des Epos, aber auch dessen Akteuren einen Abschluss des Trauerprozesses erschweren. 564 Vgl. Seewald (2008), S. 55 f. und Wick (2004b), S. 26; Seewalds Erlärung dieser Diskrepanz mit dem Umstand, dass die Funktion der Tränen darin besteht, beim Leser eine innere Anteilnahme zu verursachen, erscheint jedoch zu einseitig. Nagyillés (2006), S. 408–410 verweist auf die Parallele zwischen Lucan. 9, 50 und Verg. Aen. 2, 6–8, betont aber, dass vor allem die Bedeutung von durus in diesen beiden Passagen stark divergiert.
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wird durch das Attribut durus seine Unerschütterlichkeit hervorgehoben, die ein wesentliches Merkmal seiner Persönlichkeit darstellt und von der er aufgrund der Todesnachricht abweicht, indem er – offensichtlich unwillkürlich – in Tränen ausbricht. Wie die zu Beginn dieses Kapitels besprochene Passage bei Plutarch, die über die Trauer Catos um den Bruder handelte, so führt auch die vorliegende Stelle aus dem Bellum civile dem Leser plastisch vor Augen, dass seine seelische Standhaftigkeit als ein hohes Maß an Affektkontrolle, nicht aber Affektlosigkeit zu interpretieren ist.565 Besonders bei Catos laudatio funebris auf Pompeius (die Lukan als höchstmögliche Ehrung für den Toten einstuft) wird deutlich, dass er angesichts der Tragödie besonnen zu handeln vermag.566 Völlig konträr verhalten sich die beiden Söhne des Pompeius, doch beide reagieren sehr emotional. Sextus Pompeius berichtet seinem Bruder, der vor ihm zusammen mit Cato bei Paliouros eingetroffen war, vom Tod des Vaters und verleiht seinem Entsetzen darüber Ausdruck, dass der ägyptische Pharao den Mord veranlasste. Nichtsdestoweniger sei die größte Erschütterung bei ihm durch die schändliche Behandlung von Pompeius‘ Haupt hervorgerufen worden – auch die Vernichtung des restlichen Körpers sei ein Verbrechen, doch den Gegenstand seiner Klage stelle dessen erhaltener Teil dar (V. 120–145). Demnach wird nicht explizit erwähnt, dass der jüngere der Brüder weinte, seine Rede und sein Verhalten zeigen jedoch, wie tief ihn der unrühmliche Tod des Vaters mitgenommen hat. Ganz anders reagiert Gnaeus Pompeius der Jüngere: Obwohl er ebenfalls von schmerzlicher Trauer (dolor, V. 146) erfüllt ist, verfällt er – so betont Lukan – nicht in Tränen und Wehklagen (non in gemitus lacrimasque, V. 146), sondern ruft vor Zorn rasend (furens, V. 147) dazu auf, Rache zu üben (V. 148–164). In seiner Wut (saevus, V. 165) ist er versucht, vorschnell zu handeln, doch übernimmt an dieser Stelle Cato eine mäßigende Funktion und hält den Zorn des jungen Mannes in Schranken (V. 166). Auffällig ist, dass der ältere Sohn nach außen hin keine Trauer zeigt,567 sondern im Gegensatz zu dem passiv trauernden Sextus durch seine Liebe zum Vater (pietas, V. 147) innerlich aufgebracht ist und Vergeltungsmaßnahmen anstrebt. Daher kann sein Zorn (ira, V. 166) von Cato als lobenswert eingestuft werden. Bereits weiter oben wurde erwähnt, dass der Trauerprozess der Cornelia in vielschichtiger Weise wiedergegeben wird.568 Sie wird dabei an mehreren Stellen belobigend dargestellt, allerdings erfährt ihr Verhalten auch Kritik, da es teilweise von zu großem Selbstmitleid geprägt sei – ihre Trauer ist zu exzessiv und weist dadurch für Frauen charakteristische Züge auf; mehrfach werden ihre Tränen und weiteres 565 Vgl. Seewald (2008), S. 56 und Tschiedel (1985), S. 12. Pompeius wird ebenfalls als charakterfest beschrieben, doch auch er kann in tiefer Erschütterung seine Tränen nicht unterdrücken; Lucan. 9, 50 stellt einen deutlichen Bezug zu 8, 107 (duri flectuntur pectora Magni) her, wie Wick (2004b), S. 25 f. bemerkt. 566 Lucan. 9, 186–217. Allgemeine Hinweise zur römischen laudatio funebris und die Funktion von Catos Totenrede bei Lukan bietet Wick (2004b), S. 67 f. Auf das ambivalente Bild, das Cato von dem Staatsmann Pompeius bietet, und die Ursachen für diese Darstellung gehen Seewald (2008), S. 119–124 und Wick (2004b), S. 69 f. genauer ein. 567 Daher ist seine Rede auch keine Trauerrede, sondern ein hassvoller Aufrug zum Gegenschlag, vgl. dazu Wick (2004b), S. 45. 568 Vgl. II. 3.4.
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Klagegebaren angeführt. In einer Rückblende (Lucan. 9, 51–116) gibt sie auch die Anweisungen des Pompeius wieder, nämlich seine Söhne zur Fortsetzung des Kampfes aufzufordern (wonach sich Gnaeus Pompeius ja sofort richten möchte). Letztlich bietet Cornelia gerade während der Trauerzeremonie an der libyschen Küste, bei der sie symbolisch die Leichenverbrennung des Pompeius wiederholt, das Bild einer treuen Ehefrau, die ihre Trauer allen Anwesenden kundtut (V. 171– 179). In der kollektiven Trauer der namenlosen Masse schließlich findet eine einhellige Verehrung des Pompeius Ausdruck. Das Weinen um diesen Mächtigen wird als beispiellos in der römischen Geschichte stilisiert, und Cornelias Anblick steigert die Intensität dieser Trauer – das Wehklagen wird noch lauter und das Schlagen der Brust wird doppelt so stark.569 Entlang der Küste tut man es der Witwe des Pompeius nach und errichtet Scheiterhaufen für eine Ersatz-Bestattung der Gefallenen von Pharsalos (V. 180 f.). Diese auch in allen äußeren Anzeichen sehr ausgeprägte Trauer ist von pietas (V. 180) geleitet, doch steht das Verhalten dieser Trauernden, so gibt Lukan zu verstehen, hinter den Worten und dem Handeln Catos zurück (V. 186–189). Lukan zeigt das Spektrum möglicher Reaktionen auf den Tod des Pompeius anhand verschiedener, für die Entwicklung der Erzählung wesentlicher Personen auf. Für eine unbedingte Loyalität und Pflichterfüllung unter widrigen Umständen steht Cordus, der nur im Zusammenhang mit der tatsächlichen Bestattung namentlich erwähnt wird und dabei mehrere Funktionen übernimmt, die bei der Totenfeier vor der libyschen Küste dann auch unter mehrere Menschen aufgeteilt werden. Dort repräsentiert Cato ein nahezu idealtypisches Verhalten – er zeigt sich standhaft und wird nur kurzzeitig erschüttert (was sprachlich in dem knappen Hinweis auf seine Tränen gebündelt formuliert wird), und dadurch zeigt er sich am meisten von allen Beteiligten als dem Verstorbenen ebenbürtig. Sextus Pompeius ist von tiefer Trauer ergriffen (auch wenn Lukan nicht erwähnt, dass er geweint habe, so wäre es jedenfalls nicht anstößig gewesen) und beklagt die Ungerechtigkeit des Schicksals (iniuria fati, V. 143); an seinem Bruder Gnaeus Pompeius ist der aus angemessener Wut resultierende Wunsch nach Rache und Tränenlosigkeit das hervorstechendste Merkmal.570 Cornelia erfüllt die Rolle der Witwe, die tiefe Trauer zeigt und mehrfach weint, mit unterschiedlichen Nuancierungen; sie ist sichtlich erschüttert, die Ungewissheit des eigenen Schicksals steht ihr vor Augen. Die bei Paliouros versammelte Menschenmenge schließlich tut ihre Loyalität ebenfalls durch Tränen kund und trägt dazu bei, die literarische Ausgestaltung umfassender und höchstmöglicher Trauer 569 Lucan. 9, 167–173: Interea totis audito funere Magni | litoribus sonuit percussus planctibus aether, | exemploque carens et nulli cognitus aeuo | luctus erat, mortem populos deflere potentis. | sed magis, ut uisa est lacrimis exhausta, solutas | in uoltus effusa comas, Cornelia puppe | egrediens, rursus geminato uerbere plangunt. 570 Der Aspekt der Vergeltung steht auch im Vordergrund der Darstellung des Germanicus auf seinem Totenbett; Tac. ann. 2, 71 lässt ihn in der Abschiedsrede seinen Freunden prophezeien, dass sein Tod beweint werden wird, und sie schwören, ihn zu rächen. Weniger das Element der Rache, sondern das der Trauer um den großen Feldherrn Pompeius bietet für Lukan den Anlass, die Tränen der Römer um diesen vorauszusehen (Lucan. 7, 33–44).
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abzurunden. Im Trauer- und Weinverhalten der verschiedenen zentralen Figuren des Epos werden somit emotionale Reaktionen und Handlungsoptionen aufgezeigt, die sich jeweils stimmig in das Bild einfügen, das Lukan von den Personen zeichnet. 4.1.2.2 Die tränenreiche Trauer um Germanicus in den taciteischen Annalen Ex negativo, an ihrem Fehlen also, zeigt sich im folgenden Beispiel sehr deutlich, dass Tränen bei der Bestattung einer Person hohen Ranges als äußeres Anzeichen der Trauer auch von Herrschern erwartet wurden und dass ihr Ausbleiben Skepsis hervorufen konnte, und zugleich wird auf die Tränen der römischen Bevölkerung und verschiedene Stadien der Trauer eingegangen. Es handelt sich um den Bericht über die Trauer um Germanicus und dessen Bestattung, den Tacitus zu Beginn des dritten Buches der Annalen gibt. Der im ganzen Reich überaus beliebte Feldherr war im Herbst 19 n. Chr. in Syrien verstorben. Bereits nach Verbreitung der Nachricht von seiner Krankheit sei die Bevölkerung Roms – so wird am Ende des zweiten Buches berichtet – in Betrübnis und Erbitterung (dolor ira) verfallen, doch auf die Meldung seines Todes hin habe sich die Trauer noch gesteigert: Das Volk trauerte aus vollstem Herzen (animis maerebant).571 Die Rückkehr der Agrippina mit den sterblichen Überresten ihres Gatten nach Italien Anfang 20 n. Chr., von Tacitus am Anfang des dritten Buches beschrieben, zog eine vergleichbare Reaktion nach sich. Von ihrer Ankunft in Brundisium bis zu ihrem Eintreffen in Rom bekundeten von dort angereiste Freunde sowie die Bevölkerung in ausufernder Manier ihre Trauer – herrschte zunächst noch Uneinigkeit darüber, wie man der Witwe begegnen solle, so brachen Freunde wie Fremde in Klagen aus, als sie aus dem Schiff stieg.572 Da der Kaiser zwei prätorische Kohorten geschickt hatte, machte sich ein feierlicher Trauerzug auf den Weg in die Hauptstadt, und überall wurden von den Einwohnern der Städte Opfer dargebracht und Tränen vergossen.573 Der Sohn des Tiberius, Drusus der Jüngere, und der Bruder des Verstorbenen, Claudius, erwarteten mit den in Rom verbliebenen Kindern des Germanicus die Prozession in Terracina; Konsuln, Senat und große Teile der stadtrömischen Bevölkerung hatten sich am Rand der Via Appia platziert – und alle waren, so wird dem Leser eindringlich vermittelt, zutiefst erschüttert. Dies zeigte sich daran, dass die Trauernden zum einen nicht geordnet zusammenstanden (disiecti) und zum anderen ein jeder ungehemmt weinte (ut cuique libitum flentes). Bis zu dieser Stelle hat Tacitus mehrfach verdeutlicht, dass es sich bei Trauer und Tränen von hohen Amtsträgern und der ganzen Bevölkerung um authentische Emotionen und deren ungefilterte Äußerung handelte, und schließlich formuliert er dies noch unmissverständlich in der Bemerkung, ihr Zweck sei nicht eine adulatio ge571 Eine weitere Steigerung habe dieser Schmerz wiederum erfahren, als sich das Gerücht verbreitete, Germanicus sei noch am Leben, bald aber dementiert werden musste; vgl. insgesamt Tac. ann. 2, 82. 572 Tac. ann. 3, 1, vgl. besonders 3, 1, 4: Postquam duobus cum liberis, feralem urnam tenens, egressa navi defixit oculos, idem omnium gemitus, neque discerneres proximos alienos, virorum feminarumve planctus, nisi quod comitatum Agrippinae longo maerore fessum obvii et recentes in dolore anteibant. 573 Tac. ann. 3, 2, 1 f.
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wesen, und mit der Begründung dieser Aussage erfolgt ein kontrastierender Blickwechsel hin zum Kaiser – es sei, so der Historiker, allgemein bekannt gewesen, dass sich Tiberius über den Tod des Gemanicus freute und diesen Umstand nur schlecht zu verbergen (dissimulare) vermochte.574 Die beiden ranghöchsten Einzelpersonen des römischen Staates, Tiberius und Augustus‘ Witwe Livia, hielten sich von der Öffentlichkeit fern (publico abstinuere), ein Verhalten, das in hohem Maße unangebracht erscheint, wie die beiden dafür von Tacitus vorgeschlagenen Deutungen bezeugen: Entweder hielten sie es für unter ihrer kaiserlichen Würde (inferius maiestate sua rati), ihre Klage öffentlich zu praktizieren, oder sie wollten sich nicht den forschenden Blicken der Allgemeinheit preisgeben, damit ihre Scheinheiligkeit (falsi) nicht durchschaut wurde.575 Da sogar öffentliches Tränenvergießen bei Trauerfällen, wie einige der bisher angeführten Beispiele zeigen, nicht zwangsläufig das eigene Ansehen beeinträchtigen musste, und zuvor bereits explizit erwähnt wurde, dass Tiberius sich über den Tod des Adoptivsohnes freute, wird dem Leser nahegelegt, die zweite der gebotenen Möglichkeiten zu bevorzugen – der Kaiser, dessen dissimulatio als eines seiner hervorstechendsten Persönlichkeitsmerkmale gelten kann, fürchtete, sich in diesem Falle nicht in ausreichendem Maß verstellen zu können.576 Die Absenz der Mutter des Germanicus, Antonias der Jüngeren, könnte wiederum mit einer Krankheit oder ihrer zu großen Trauer erklärt werden, doch suggeriert Tacitus, in einer Fortführung seiner begonnenen Negativcharakterisierung, sie sei von Tiberius und Livia gedrängt worden, sich nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen, damit sie selbst eine plausible Begründung hätten, in dieser Weise zu verfahren.577 In der Atmosphäre am Tag der Beisetzung selbst spiegelte sich laut Tacitus die tiefe Erschütterung der trauernden Bevölkerung wider, denn einerseits herrschte 574 Tac. ann. 3, 2, 3: Drusus Tarracinam progressus est cum Claudio fratre liberisque Germanici, qui in urbe fuerant. consules M. VALERIUS et M. AURELIUS (iam enim magistratum occeperant) et senatus ac magna pars populi viam complevere, disiecti et ut cuique libitum flentes; aberat quippe adulatio, gnaris omnibus laetam Tiberio Germanici mortem male dissimulari. Martin/Woodman (1996), S. 88 f. weisen darauf hin, dass nicht nur die schwer zu verbergende Freude des Tiberius, sondern auch die unehrliche Trauer von Senat und Bevölkerung, wie sie an anderer Stelle der Annalen geschildert werden, in Kontrast zu der hier als genuin geschilderten Trauer zu setzen sind. 575 Tac. ann. 3, 3, 1: Tiberius atque Augusta publico abstinuere, inferius maiestate sua rati, si palam lamentarentur, an ne omnium oculis vultum eorum scrutantibus falsi intellegentur. 576 Vgl. Martin/Woodman (1996), S. 90; Strocchio (2001), S. 66 weist darauf hin, dass Tacitus den Leser an dieser Stelle geschickt durch die variatio (inferius … rati, si …, an ne … intellegerentur) für seine eigene Interpretation zu gewinnen sucht. 577 Tac. ann. 3, 3, 2 f.: Matrem Antoniam non apud auctores rerum, non diurna actorum scriptura reperio ullo insigni officio functam, cum super Agrippinam et Drusum et Claudium ceteri quoque consanguinei nominatim perscripti sint, seu valetudine praepediebatur, seu victus luctu animus magnitudinem mali perferre visu non toleravit. facilius crediderim Tiberio et Augusta, qui domo non excedebant, cohibitam, ut par maeror et matris exemplo avia quoque et patruus attineri viderentur. Zum Fernbleiben der Antonia aus der Öffentlichkeit und der Äußerung des Tacitus, er habe zumindest in seinen Quellen keine Angaben zur Mutter des Germanicus in der vorliegenden Situation gefunden, bieten Martin/Woodman (1996), S 91–93 ausführliche Überlegungen.
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durch die Stille eine bedrückende und andererseits durch das laute Wehklagen (ploratibus) eine unruhige Stimmung. Auf dem Marsfeld, wo sich das Grabmal (das Mausoleum des Augustus) befand, hatten sich Soldaten, Magistrate und Volk dem Anlass entsprechend feierlich aufgestellt, wobei die Bevölkerung laut darüber klagte, dass das Reich keinen festen Halt habe und alle Hoffnung dahin sei. Diese mangelnde Rücksichtnahme auf den gegenwärtigen Herrscher Tiberius zeigte sich auch in der Verehrung der Agrippina (als decus patriae) und den Wünschen an die Götter zu ihren und ihrer Kinder Gunsten.578 Im zweiten Kapitel, das Tacitus der Leichenfeier für Germanicus widmet, führt er diesen Duktus fort und formuliert die Beschwerden des Volkes darüber, dass dem Toten im Gegensatz zu seinem Vater Drusus zu wenig Ehrbezeugungen erwiesen worden seien;579 zwar sei die Leiche zwangsläufig ohne großartigen Prunk fern der Heimat verbrannt worden, doch gerade deswegen hätte die Bestattung in Rom umso aufwändiger ausfallen müssen. Schon der Empfang des Leichnams sei aber zu unwürdig für den großen Feldherrn gewesen, und dementsprechend habe man die weiteren Bräuche der Ahnen vermisst: die Aufstellung seines Bildnisses vor der Bahre des Toten, Gedichte und Lobreden auf seine Leistungen – und Tränen, selbst wenn es sich bei diesen nur um eine (unechte) Nachahmung des (fehlenden) Trauergefühls handeln würde (lacrimae vel doloris imitamenta).580 578 Tac. ann. 3, 4: Dies, quo reliquiae tumulo Augusti inferebantur, modo per silentium vastus, modo ploratibus inquies; plena urbis itinera, conlucentes per campum Martis faces. illic miles cum armis, sine insignibus magistratus, populus per tribus concidisse rem publicam, nihil spei reliquum clamitabant, promptius apertiusque, quam ut meminisse imperitantium crederes. nihil tamen Tiberium magis penetravit quam studia hominum accensa in Agrippinam, cum decus patriae, solum Augusti sanguinem, unicum antiquitatis specimen appellarent versique ad caelum ac deos integram illi subolem ac superstitem iniquorum precarentur. Zum Mausoleum des Augustus und dem Ablauf der Bestattung vgl. Toynbee (1971), S. 57. 579 Tac. ann. 3, 5, 1: Fuere qui publici funeris pompam requirerent compararentque quae in Drusum patrem Germanici honora et magnifica Augustus fecisset. ipsum quippe asperrimo hiemis Ticinum usque progressum neque abscedentem a corpore simul urbem intravisse; circumfusas lecto Claudiorum Iuliorumque imagines; defletum in foro, laudatum pro rostris; cuncta a maioribus reperta aut quae posteri invenerint cumulata: at Germanico ne solitos quidem et cuicumque nobili debitos honores contigisse. 580 Tac. ann. 3, 5, 2: Sane corpus ob longinquitatem itinerum externis terris quoque modo crematum: sed tanto plura decora mox tribui par fuisse, quanto prima fors negavisset. non fratrem, nisi unius diei via, non patruum saltem porta tenus obvium. ubi illa veterum instituta, propositam toro effigiem, meditata ad memoriam virtutis carmina et laudationes et lacrimas vel doloris imitamenta? Die in diesem Kapitel erwähnten Ehrungen waren Bestandteil eines Staatsbegräbnisses, wie etwa die Totenklage auf dem Forum und die Lobrede von der Rostra herab; die weiteren Elemente des funus publicum bzw. funus imperatorium listet Toynbee (1971), S. 55– 61 auf. Dass kein Staatsbegräbnis mit den dazugehörigen Ehrungen stattfand, könnte laut Martin/Woodman (1996), S. 98 auch daran gelegen haben, dass die Verbrennung der Leiche bereits durchgeführt wurde und es der rituellen Praxis widersprach, ein und derselben Person zwei Bestattungen zukommen zu lassen; in Antiochia war es freilich nicht möglich, eine angemessen feierliche Leichenfeier zu bieten, vgl. Tac. ann. 2, 73, 1: Funus, sine imaginibus et pompa, per laudes ac memoriam virtutum eius celebre fuit. – Koestermann (1963), S. 426 weist darauf hin, dass et lacrimas vel doloris imitamenta ein selbständiges Kolon und keine Erklärung der veterum instituta darstellt.
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Der umfassenden, zunächst völlig haltlosen Trauer der Bevölkerung um Germanicus, für den man sich einhellig höchste Ehrungen wünschte, wird von Tacitus das seinem Urteil nach unangebrachte, abgestumpft wirkende Verhalten des Tiberius gegenübergestellt. Tränen und Trauerverhalten der Bürger (und teils auch der Senatoren und Soldaten) spiegeln die Verehrung des Feldherrn und seiner Familie wider, und eine derartige Intensität beim Ausdruck der eigenen Emotionen war zwar ungewöhnlich, wie der Schilderung zu entnehmen ist, aber durchaus angemessen. Dem Kaiser dagegen wird erst unterstellt, keine Trauer zu empfinden und sich daher den Blicken der Öffentlichkeit zu entziehen, bei der daraufhin geschilderten Leichenfeier wird der Vorwurf laut, dem Toten die Tränen versagt zu haben: Die fehlende Trauer bei Tiberius stellt in der öffentlichen Wahrnehmung also einen geringeren Mangel dar als das Unterlassen der Tränen als Ehrung für den Toten, und offenbar wäre ein Vorspielen der Emotion als angemessener beurteilt worden. Es spricht bereits für den schlechten Charakter des Tiberius, dass keine Trauergefühle (sondern vielmehr das Gegenteil) in ihm vorhanden waren, doch das Versagen der Tränen als äußeres Anzeichen der Trauer um Germanicus, die alle anderen doch wie selbstverständlich vergossen, zeigt seine Verworfenheit in höchstem Ausmaß. Das Edikt des Kaisers mit den Ehrenbeschlüssen für Germanicus (Kapitel 6) unterstützt dieses Bild, denn durch seinen nüchternen Ton entsteht der Eindruck, Tiberius sei geradezu emotionslos. Der auffällige Kontrastreichtum der taciteischen Darstellung lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen erfassen, vor allem werden jedoch verschiedene Modi und äußere Umstände des Trauerverhaltens von Kaiser, Familienangehörigen, Senat, Soldaten und Bevölkerung in dieser komplexen Darstellung erkennbar. Zunächst fällt auf, dass in dem ausführlichen Bericht darüber, wie Germanicus aus dem Leben schied, die einzelnen Stationen dieses Prozesses (der sich über mehrere Orte hinzog) involviert sind: Krankheit und Tod des Germanicus in der Nähe von Antiochia und seine Leichenfeier, die Ankunft seiner Witwe mit der Asche in Brundisium, der Trauerzug nach Rom, die Beisetzung der Asche im Mausoleum, schließlich Kritik an der übermäßigen Trauer des Volkes durch Tiberius und die offizielle Beendigung dieser Phase in einem Edikt;581 das Andenken an Germanicus wirkt sich sogar noch auf die weitere Darstellung aus, denn über mehrere Kapitel wird der Prozess gegen Gnaeus Calpurnius Piso, Statthalter der Provinz Syria und im Verdacht stehend, Germanicus vergiftet zu haben, wiedergegeben – dass sich der Kaiser zu Beginn der Verhandlungen mäßigend geäußert und Objektivität angemahnt habe, soll auch hier zu seinen Ungunsten gedeutet werden.582 581 Vgl. Tac. ann. 2, 69–3, 7; das Ende der in sich geschlossenen Episode, die in den ersten sechs Kapiteln von Buch 3 wiedergegeben ist, wird ann. 3, 7, 1 mit dem lapidaren Verweis auf das Ablegen der Trauer und die Rückkehr zum politischen Tagesgeschäft deutlich markiert und: Tum exuto iustitio reditum ad munia, et… Martin/Woodman (1996), S. 79 weisen darauf hin, dass ann. 3, 1–6 in zwei gleich lange Abschnitte (Ankunft der Asche in Italien und Überführung nach Rom; eigentliche Bestattung) gegliedert ist, in denen jeweils die Reaktion der Öffentlichkeit (inklusive Kritik) auf den Tod des beliebten Feldherrn dem Verhalten des Tiberius gegenübergestellt wird. 582 Tac. ann. 3, 7, 1–19, 2.
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Die emotional aufgeladene öffentliche Stimmung und das Trauerverhalten der Bevölkerung, das als authentisch und außergewöhnlich intensiv, dabei jedoch normkonform beschrieben wird, steht bei Tacitus im Gegensatz zu dem devianten Verhalten des Tiberius (und der Livia), der seine Emotionen nicht in der Öffentlichkeit preisgibt. Das Unterlassen einer öffentlich sichtbaren Klage (inklusive Tränen), die für wünschenswert erachtet wurde, zeigt an, dass der Kaiser offenbar der Ansicht war, einer vorherrschenden Erwartungshaltung nicht entsprechen zu können583 – und dadurch verstärkte er das negative Bild umso mehr, das man sich von ihm machte. Seine Bestrebungen, ausgleichend und mildernd zu wirken, werden ihm von Tacitus als Äußerung seines verkommenen Charakters und somit seiner fehlgeleiteten Emotionen ausgelegt;584 sein Auftreten zeigt, dass zwischen Herrscher und Untergebenen kein Konsens hinsichtlich des Ausmaßes der Trauer besteht – oder zumindest hinsichtlich der Frage, inwiefern ein öffentliches Weinen des Tiberius auch als eine nur äußerliche Zurschaustellung der Trauer ohne notwendige innere Beteiligung verpflichtend ist.585 Eine ähnliche Konstellation, die ebenfalls von einer starken Polemik geprägt ist, erwähnt Tacitus in der Vita seines Schwiegervaters Gnaeus Iulius Agricola. Dieser starb 93 n. Chr. vermutlich an einer Krankheit, und sein Tod wurde weitläufig 583 Vgl. die Bemerkung von Martin/Woodman (1996), S. 103, Tiberius habe in diesem Fall noch nicht einmal auf Heuchelei zurückgreifen können, von der er doch sonst oftmals Gebrauch machte. 584 Ein völlig anderes Bild des Tiberius entwirft das Senatus consultum de Cn. Pisone patre, wie Eck/Caballos/Fernández (1996), S. 298–303 betonen: der pietas des Herrschers gegenüber Germanicus (und überhaupt aller römischen Bürger außer Piso) wird ein hoher Stellenwert beigemessen, und seine zu Beginn des Prozesses geäußerte Unvoreingenommenheit als positives Merkmal herausgestellt; zudem wird versucht, das unterschiedliche Verhalten der weiblichen Mitglieder der Herrscherhauses mit der Begründung zu rechtfertigen, dass sie Trauer empfanden und damit lediglich unterschiedlich umgingen. 585 Zum Trauerweinen ohne innerliches Trauerempfinden vgl. Meuli (1975b), S. 365 f. – Tiberius selbst erwähnt zu Beginn des Piso-Prozesses seine Tränen vor dem Senat, allerdings mit dem Hinweis, die Trauer um seinen Sohn solle nicht die Objektivität des Verfahrens gefährden, vgl. Tac. ann. 3, 12, 5–7 und dazu II. 1.3.1. Auch nach dem Tod Drusus des Jüngeren versucht Tiberius, mäßigend zu wirken, vgl. Tac. ann. 4, 8, 2 und dazu II. 1.3.1; ebenso wird im Verhalten gegenüber Piso deutlich, dass – Tacitus zufolge – der Kaiser aus strategischen Gründen vermeiden wollte, seine Emotionen in die Öffentlichkeit zu tragen, vgl. Tac. ann. 3, 15, 2: Nullo magis exterritus est (Piso sc.) quam quod Tiberium sine miseratione, sine ira, obstinatum clausumque vidit, ne quo adfectu perrumperetur. Im Zusammenhang mit dem Freispruch der Gattin Pisos, Munatia Plancina, wird erneut der Vorwurf laut, Tiberius und sein Mutter hätten diese in Schutz genommen, anstatt Germanicus zu beweinen (ann. 3, 17, 2: Vitellii et Veranii voce defletum Caesarem, ab imperatore et Augusta defensam Plancinam). – Dass die Trauer um Kaisersöhne sowohl finanzielle Entlohnung wie Gefahren mit sich bringen konnte, wird zu Beginn des zweiten Hälfte desselben Buches demonstriert: Ende 21 n. Chr. wurde der römische Ritter Clutorius Priscus, der ein bekanntes Trauergedicht auf Germanicus‘ Tod verfasst hatte und dafür vom Kaiser reichlich finanziell bedacht worden war, gerichtlich belangt, da er auf den kranken (und noch nicht verstorbenen) Drusus ebenfalls ein Gedicht verfasst habe, um nach dessen Tod mit einer noch größeren Summe entlohnt zu werden. Wie Martin/Woodman (1996), S. 363 betonen, war die Abfassung eines derartigen Gedichts auf eine noch lebende Person auf jeden Fall unangebracht, und vermutlich schrieb man ihr auch eine Unheil verursachende Wirkung zu; der Angeklagte wurde zum Tode verurteilt, wobei Tiberius sich einer Stellungnahme enthielt.
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bedauert – er war für die nächsten Familienangehörigen zutiefst trauervoll (nobis luctuosus), für die Freunde niederschmetternd (amicis tristis) und selbst für Fremde und Unbekannte nicht ohne Betrübnis (extraneis etiam ignotisque non sine cura). In für ihn typischer Manier bringt Tacitus den Hinweis an, die Anteilnahme (miseratio) habe sich noch durch ein Gerücht verstärkt, dass Agricola vergiftet worden sei; er selbst wisse es zwar nicht besser, doch seien ungewöhnlich viele Ärzte und Boten zu Agricola geschickt worden, was entweder das fürsorgliche Verhalten (cura) oder das Nachspionieren (inquisitio) seitens des Kaisers angezeigt habe.586 Diese suggestiven Bemerkungen führen zu einer Ausweitung des negativ geprägten Bild Domitians;587 dieser habe am Tag des Ablebens, durch Boten genauestens über den Zustand des Kranken unterrichtet, den Anschein von Trauer zur Schau getragen (speciem dolorem prae se tulit) und eine dementsprechende Miene (vultus) aufgesetzt, hinter der er seine wahre Empfindung (nämlich gaudium) verbarg.588 4.1.2.3 Weinen um verstorbene Herrscher In der antiken Literatur finden sich noch weitere umfangreiche oder aber sehr intensive Schilderungen der Trauer um hochrangige Persönlichkeiten, bei der Tränen einen prominenten Platz einnehmen. Auf die sichtliche Erschütterung der Bevölkerung, als sie das Haupt des getöteten Cicero auf der Rostra ausgestellt sieht, wurde bereits eingegangen;589 auch die Leichenfeier für Caesar in der ausführlichen Darstellung Appians wurde schon behandelt, wobei sich die entscheidende Bedeutung der laudatio funebris des Antonius zeigte.590 Nikolaus von Damaskus erwähnt den zuvor durchgeführten Transport des Leichnams durch drei Sklaven, die diesen aus dem Senatsgebäude über das Forum zu seinem Haus tragen. Der Anblick der aus der Sänfte herabhängenden Hände und der Wunden im Gesicht des bisher mächtigsten, gleich einem Gott geehrten Staatsmannes im Römischen Reich als sicheres
586 Tac. Agr. 43, 1 f. 587 Tacitus schreibt Domitian insgesamt eine Abneigung gegen Agricola wegen dessen Erfolgen in Britannien und seiner Beliebtheit zu. 588 Tac. Agr. 43, 3: Supremo quidem die momenta ipsa deficientis per dispositos cursores nuntiata constabat, nullo credente sic adcelerari quae tristis audiret. speciem tamen doloris animi ore vultuque prae se tulit, securus iam odii et qui facilius dissimularet gaudium quam metum. Gerade die Textstelle, in der Tacitus beschreibt, wodurch Domitian seine Trauer nach außen hin präsentierte, ist offenbar korrupt, da animo vultuque („durch seine innere Verfassung und seine Miene“) inhaltlich keinen Sinn ergibt; die im kritischen Apparat angeführte Konjektur von Ernesti (habitu vultuque) wäre eine schlüssige Ergänzung und ist auch anderweitig belegt, vgl. Heubner (1984), S. 125 f. Im Rest des Kapitels berichtet Tacitus darüber, dass Domitian sich freute, von Agricola testamentarisch als Miterbe eingesetzt worden zu sein; er erkannte dabei allerdings nicht, dass diese Auszeichnung seitens eines ehrbaren Mannes ihn nicht selbst automatisch zu einem solchen machte, sondern dass er vielmehr ein schlechter Kaiser war. 589 Vgl. II. 1.3.2. Die historischen Umstände jener Zeit erscheinen Velleius Paterculus wiederum schier unaussprechlich – man könne dafür keine Worte finden, und niemand hätte damals das Unglück hinreichend beweinen können, so Vell. 2, 67, 1: Huius totius temporis fortunam ne deflere quidem quisquam satis digne potuit, adeo nemo exprimere uerbis potest. 590 Vgl. II. 1.3.2.
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Indiz seiner Entmachtung591 ruft bei allen, die ihm ausgesetzt sind, eine starke emotionale Reaktion hervor, und keiner von ihnen bleibt tränenlos (ἔνθα οὐδεὶς ἄδακρυς ἦν ὁρῶν τὸν πάλαι ἴσα καὶ θεὸν τιμώμενον). Diese umfassende Trauer wird im Bericht des Nikolaus noch weiter ausgestaltet: Überall auf dem Weg seien Jammern und Wehklagen zu hören gewesen, die ihren Gipfel in den schmerzerfüllten Klagen der Calpurnia fanden.592 Der von ihm beschriebene Trauermarsch erscheint für den mächtigen Caesar wenig würdevoll und macht dadurch die Tragödie, die sich mit dessen Ermordung ereignete, umso deutlicher.593 In aller Ausführlichkeit wird von Tacitus, Plutarch, Sueton und Cassius Dio auf Trauer und Tränen der Soldaten für Kaiser Otho eingegangen.594 Dieser erfuhr in Brixellum (Brescello) von der Niederlage in der ersten Schlacht von Bedriacum (14. April 69 n. Chr.) und erkannte, dass die Zahl der Opfer in den noch drohenden Auseinandersetzungen kaum abzuschätzen war. Die generelle Abscheu vor Bürgerkriegen und die Aussicht auf weitere Kämpfe, bei denen ausgezeichnete Soldaten umkommen würden, sowie die Möglichkeit, tapfer zu sterben (da ja weitere Tote dadurch verhindert würden) brachten ihn demnach dazu, sich zum Selbstmord zu entschließen.595 In dessen Vorfeld wird bereits die Treue der Soldaten zu ihrem Feldherrn stark betont,596 und nachdem Otho sich am darauf folgenden Morgen mit einem Dolch umgebracht hatte, seien – so stellen es die entsprechenden Quellen einheitlich dar – die Soldaten in Brixellum und in anderen Heerlagern in eine ausufernde Trauer verfallen: Sobald sein Tod bekannt war, herrschten Plutarch zufolge im Lager und in der Stadt lautes Weinen (εὐθὺς ἅπαν τὸ στρατόπεδον καὶ τὴν πόλιν ἐπεῖχε κλαυθμός); viele der anwesenden Soldaten küssten unter Tränenströmen Hände und Füße des tot Darniederliegenden (cum plurimo fleto manus ac pedes iacentis exosculati), schreibt Sueton; der Leichnam wurde von den Prätorianerko591 Vgl. Malitz (2003), S. 171 Anm. 322. Ebenfalls drei Sklaven als Träger und einen aus der Sänfte herabhängenden Arm erwähnt Suet. Div. Iul. 82, 3. 592 Nicol. Damasc. Aug. 97: Οἰκέται δὲ δὴ τρεῖς, οἵπερ ἦσαν πλησίον, ὀλίγον ὕστερον ἐνθέμενοι τὸν νεκρὸν εἰς φορεῖον οἴκαδε ἐκόμιζον διὰ τῆς ἀγορᾶς. ὁρᾶν δ᾿ἐνῆν ἔνθεν καὶ ἔνθεν ἀναστελμένων τῶν παρακαλυμμάτων, αἰωρουμένας τὰς χεῖρας καὶ τὰς ἐπὶ τοῦ προσώπου πληγάς. ἔνθα οὐδεὶς ἄδακρυς ἦν ὁρῶν τὸν πάλαι ἴσα καὶ θεὸν τιμώμενον· οἰμωγῆι τε πολλῆι καὶ στόνωι συμπαρεπέμπετο ἔνθεν και ἔνθεν ὀλοφυρομένων ἀπό τε τῶν τεγῶν καθ᾿ οὓς ἂν γένοιτο καὶ ἐν ταῖς ὁδοῖς καὶ προθύροις. καὶ ἐπειδὴ πλησίον τῆς οἰκίας ἐγένετο, πολὺ δὴ μείζων ὑπήντα κωκυτός· ἐξεπηδήκει γὰρ ἡ γυνὴ μετὰ πολλοῦ ὄχλου γυναικῶν τε καὶ οἰκετῶν, ἀνακαλουμένη τὸν ἄνδρα καὶ ἑαυτὴν ὀδυρομένη, ὅτι μάτην προύλεγε μὴ ἐξιέναι τὴν ἡμέραν ἐκείνην. τῶι δ᾿ἤδη μοῖρα ἐφειστήκει πολὺ κρείττων ἢ κατὰ τὴν αὐτῆς ἐλπίδα. 593 Vgl. Malitz (2003), S. 171 Anm. 322: „Die ganze Szene mußte auf die Betrachter wie das erschreckende Gegenteil einer würdigen Totenprozession wirken.“ 594 Vgl. dazu bereits II. 2.2.2.3. 595 In einer Rede vor den Soldaten, die ihm treu ergeben sind, fordert Otho sie dazu auf, sich auf die Seite des Vitellius zu schlagen, diesen als Sieger anzuerkennen und nicht länger zu ihm selbst zu halten; seinen eigenen Tod sieht er als unvermeidlich an – vgl. Tac. hist. 2, 47, Plut. Otho 15, 4–8 und Cass. Dio 63, 13. Sueton gibt keine Rede wieder, illustriert aber weitläufig Othos allgemeine Abneigung gegen Bürgerkriege und stellt den Selbstmord des Soldaten, der die Nachricht der Niederlage bei Bedriacum überbrachte, als Schlüsselereignis dar, das die Entscheidung des Kaisers zum Selbstmord festigte. 596 Vgl. Tac. hist. 2, 46, Plut. Otho 15, 1–4 sowie 16, 5 f., Suet. Otho 11, 1 und Cass. Dio 63, 11 f.
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horten cum laudibus et lacrimis zum Scheiterhaufen getragen (Tacitus).597 Cassius Dio, der späteste der hier herangezogenen Autoren, gestaltet vor allem das Weinen und Bitten der Soldaten nach der Rede Othos dramatisch aus, ihre Reaktion nach dessen Tod wird eher knapp beschrieben: Sie betrauerten ihren Kaiser, bestatteten seinen Leichnam, und einige töteten sich selbst.598 Allen vier Autoren ist gemeinsam, dass die Trauer um Otho – sei es bereits im vorhinein, sei es nach seinem Tod – sehr ausdrucksstark wiedergegeben ist – die Soldaten weisen ihm gegenüber ein kaum zu überbietendes Maß an Loyalität auf, und dementsprechend intensiv gestaltet sich auch ihre Trauer. Den Ablauf des (tränenreichen) Bestattungrituals für Kaiser Pertinax gibt Cassius Dio ausführlich gegen Ende seines Werkes wieder; es handelt sich um ein Ereignis, dem der Verfasser als Augenzeuge beigewohnt hatte. Nachdem Septimius Severus seine Position gefestigt hatte – er war am 9. April 193 von seinen Truppen in Pannonien zum Kaiser ausgerufen worden -, ließ er seinen Vorgänger vergöttlichen und dessen feierliche Bestattung inklusive aller dazu gehörigen Ehrungen ausrichten.599 Cassius Dio beschreibt die neben der Rostra errichtete Tribüne auf dem Forum Romanum, auf die man – umgeben von Säulen aus Elfenbein und Gold – die Bahre des Toten mit dessen wächsernem Bildnis (εἴδωλον) gesetzt hatte. Severus und nach ihm die Senatoren näherten sich diesem Aufbau, anschließend wurden weitere Masken und Figuren herangetragen, Klagegesänge vorgebracht und schließlich hielt Severus eine Lobrede (ἐγκώμιον) auf den Verstorbenen. Diese wurde von den Senatoren (ἡμεῖς, schreibt Dio) teils mit Zustimmung, teils mit Klagen begleitet, was sich zum Ende der Rede hin noch steigerte (τὰ μὲν ἐπαινοῦντες τὰ δὲ καὶ θρηνοῦντες τὸν Περτίνακα, πλεῖστα δὲ ἐπειδὴ ἐπαύσατο).600 Als die Bahre in Bewegung gesetzt wurde, mündete die intensive Bekundung der Trauer schließlich in lautes Wehklagen, und man weinte gemeinsam: καὶ τέλος, μελλούσης τῆς κλίνης κινηθήσεσθαι, πάντες ἅμα ὠλοφυράμεθα καὶ πάντες ἐπεδακρύσαμεν. In geordneter Reihenfolge wurde die κλίνη daraufhin zum Campus Martius begleitet, wo sie auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde.601 Trotz oder vielmehr: gerade wegen der rituellen Ausgestaltung der Bestattungfeierlichkeiten ist die Atmosphäre emotional höchst aufgeladen, und Cassius Dio beschreibt diese als ein Teilnehmer. Er rechnet sich einer (emotionalen) Gemeinschaft zu, die ihrer Trauer kollektiv und lautstark Ausdruck verleiht – und dadurch zugleich ihre Zustimmung zum politischen Kurs des neuen Herrschers signalisiert. 597 Plut. Otho 17, 6–12; Suet. Otho 12, 2; Tac. hist. 2, 49, 3. 598 Cass. Dio 63, 15, 1 f.: Καὶ αὐτοῦ τὸ σῶμα οἱ στρατιῶται ἀνείλοντο πενθοῦντες καὶ ἔθαψαν, καί τινες ἑαυτοὺς ἐπέσφαξαν αὐτῷ. 599 Vgl. Cass. Dio 74 (75), 4, 1; Pertinax wurde am 28. März 193 von den Prätorianern ermordet, doch erst einige Wochen später, am 9. Juni 193, zog Septimius Severus in Rom ein – zwischen Tod und Bestattung vergingen demnach einige Wochen, worauf auch Dio zu Beginn von deren Beschreibung in 74 (75), 4, 2 hinweist: ἡ δὲ δὴ ταφὴ καίτοι πάλαι τεθνηκότος αὐτοῦ τοιάδε ἐγένετο. Über den Verbleib des Leichnams wird der Leser nicht unterrichtet; 73 (74), 10 wird die Ermordung des Pertinax geschildert, und 73 (74), 13, 1 erfolgt die Bemerkung, die Leiche habe sich immer noch im Palast befunden. 600 Vgl. Cass. Dio 74 (75), 4, 2–5, 1. 601 Vgl. Cass. Dio 74 (75), 5, 2–5.
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
Ein außergewöhnlich hohes Maß wird der Trauer um Marcus Aurelius im Frühjahr 180 seitens des Senats und zudem seitens aller Untertanen in den Quellen eingeräumt, wobei sie eine unterschiedliche Behandlung erfährt. Herodian hebt auf die umfassende Vorbildfunktion des Philosophenkaisers ab, die sich auf alle Bereiche der Herrschaft erstreckte. Nach Bekanntwerden seines Ablebens wurden Militär und Volk in seiner Nähe von Trauer erfasst (πένθει κατείχετο) und überhaupt war es keinem Menschen im Imperium möglich, diese Nachricht tränenlos (ἀδακρυτί) aufzunehmen. Zugleich rief man ihn jedoch als fürsorglichen Vater (πατέρα χρηστόν), guten Kaiser (ἀγαθὸν βασιλέα), vortrefflichen Heerführer (γενναῖον στρατηγόν) und besonnenen wie ehrbaren Herrscher (σώφρονα καὶ κόσμιον ἄρχοντα) an, so Herodian.602 Er attestiert Mark Aurel somit eine uneingeschränkte Hochschätzung bei allen Untertanen, und diese kam in den Tränen als spontane Reaktion auf die Nachricht vom Tod des Kaisers zum Ausdruck. Alle weinten gleichermaßen, was als authentisch eingestuft wird – denn keiner verstellte sich (οὐδεὶς ἐψεύδετο). Ähnlich, aber in sehr knapper Formulierung stellt auch die Epitome de Caesaribus heraus, dass ein Konsens hinsichtlich der Schwere des Verlustes bestand, den das Römische Reich mit dem Tod Mark Aurels erlitten hatte: Ganz Rom trauerte, und der Senat versammtelte sich weinend in Trauerkleidung in der Kurie (senatus in curiam veste tetra amictus lacrimans convenit).603 Im Gegensatz dazu verfolgt die Historia Augusta eine überraschende Argumentationsstrategie, um die Größe des Kaisers herauszustellen. Am Tag seines Begräbnisses, so ist in der Vita Marci zu lesen, herrschte kein lautstarkes Wehklagen, denn die Liebe zu ihm war so groß, dass niemand ihn für beklagenswert hielt (ut nemo illum plangendum censuerit) – man war sich darüber einig, dass Mark Aurel von den Göttern (bei seiner Geburt) der hiesigen Welt überlassen worden (ab diis commodatus) und nach seinem Tod lediglich zu diesen zurückgekehrt sei (ad deos redisset). Bereits vor den Bestattungsfeierlichkeiten stand für Senat und Volk in bis dahin unerreichter Übereinstimmung jedoch fest, dass der Kaiser zu einem Gott zu erklären war.604 Offensichtlich soll diese Darstellung vom Leser so verstanden werden, als handle es sich hier um die höchstmögliche Form der Trauer, die man dem toten Mark Aurel entgegenbringen konnte: Andere Herrscher wurden deswegen
602 Herodian. 1, 4, 8: Τελευτήσαντος δὲ Μάρκου, ἐπειδὴ διεφοίτησεν ἡ φήμη, πᾶν τε τὸ παρὸν στρατιώτικον καὶ τὸ δημῶδες πλῆθος ὁμοίως πένθει κατείχετο, οὐδέ τις ἦν ἀνθρώπων τῶν ὑπὸ τὴν Ῥωμαίων ἀρχὴν ὃς ἀδακρυτὶ τοιαύτην ἀγγελίαν ἐδέχετο. πάντες δ᾿ ὥσπερ ἐκ μιᾶς φωνῆς, οἳ μὲν πατέρα χρηστόν, οἳ δ᾿ ἀγαθὸν βασιλέα, γενναῖον δὲ ἕτεροι στρατηγόν, οἳ δὲ σώφρονα καὶ κόσμιον ἄρχοντα ἀνεκάλουν, καὶ οὐδεὶς ἐψεύδετο. – Die Trauer des gesamten Reiches um einen verstorbenen Herrscher betont auch Aur. Vict. Caes. 10, 6: Huius (Titii sc.) sane mors adeo provinciis luctui fuit, uti generis humani delicias appellantes orbatum orbem deflerent; ebenso findet sich diese Bemerkung Aur. Vict. epit. Caes. 10, 16. 603 Aur. Vict. epit. Caes. 16, 13: De eius morte nuntio Romam pervecto confusa luctu publico urbe senatus in curiam veste tetra amictus lacrimans convenit. Vgl. dazu auch II. 1.3.1. 604 SHA Aur. 18, 2 f.: Tantusque illius amor eo die regii funeris claruit, ut nemo illum plangendum censuerit, certis omnibus, quod ab diis commodatus ad deos redisset. denique, priusquam funus conderetur, ut plerique dicunt, quod numquam antea factum fuerat neque postea, senatus populusque non divisis locis sed in una sede propitium deum dixit.
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nicht beweint, weil man sie verabscheute;605 der Philosoph auf dem römischen Kaiserthron aber wurde als so herausragende Persönlichkeit wahrgenommen, dass selbst eine nach außen hin expressiv gestaltete Trauer als Zeichen der inneren Befindlichkeit, wie sie für andere hochgeschätzte Herrscher angemessen sein mochte, für ihn unzureichend war. Marcus Aurelius ist nach seinem Tod lediglich in den Bereich göttlichen Daseins heimgekehrt, dem er entstammte, und daher steht die Liebe zu ihm im Vordergrund. Einen hohen zeremoniellen Charakter weisen die Trauer und die mit dieser einhergehenden Tränen (und andere Verhaltensweisen, in denen Trauer demonstriert wird) um Konstantin I. auf, wie sie in Eusebs Vita des Kaisers geschildert werden.606 Nach seinem Tod am 22. Mai 337 in der Nähe von Nikomedeia607 boten die Anwesenden eine exzessive Demonstration ihrer Trauer: Seine Leibwächter zerrissen ihre Kleider, warfen sich zu Boden und schlugen ihre Köpfe, was sie mit einem jammervollen Wehklagen begleiteten (κωκυτοῦ φωνὰς οἰμωγαῖς θ᾿ἅμα καὶ βοαῖς ἀφιέντες), und riefen den Kaiser wie einen Vater an; die führenden Militärs beweinten (ἀπεκλάοντο) ihn als ihren Retter, Wächter und Wohltäter; die übrigen Soldaten assoziiert Eusebius in ihrer Erschütterung mit einer Schafherde, die von ihrem Hirten Ordnung verlangt. Das Volk der Stadt schließlich war ebenfalls tief getroffen und bekundete entweder lautstark seine Trauer oder war von seinem Schmerz betäubt.608 Die expressive Bekundung der Emotionen durch alle Untertanen, die vor Ort waren, weist starke panygyrische Züge auf,609 doch damit ist der Tod Konstantins noch bei weitem nicht abgehandelt. Der Leichnam des Kaisers wurde – in einer Fortführung des ritualisierten Vorgehens – von den Soldaten nach Konstantinopel überführt, im dortigen Palast in 605 Besondere Erwähnung findet dies etwa bei Tacitus in Bezug auf Vitellius: Kurz vor seiner Ermordung zeigt man sich mitleidslos gegenüber dem Kaiser, er wird abgeführt und beschimpft, aber nicht beweint, vgl. hist. 3, 84, 5: Vinctae pone tergum manus; laniata veste, foedum spectaculum, ducebatur, multis increpantibus, nullo inlacrimante: deformitas exitus misericordiam abstulerat; vgl. auch die negative Sicht auf das Volk, wie sie hist. 3, 85 zum Ausdruck kommt: Et vulgus eadem pravitate insectabatur interfectum qua foverat viventem. Auch nach der Ermordung des Maximinus Thrax herrschte große Freude, und man beschloss die Auslöschung des Andenkens an den verstorbenen Kaiser (SHA Maximin. 26). 606 Eine weniger emotional aufgeladene, aber dennoch ausführliche Schilderung bieten etwa Socr. hist. eccl. 1, 40 und Soz. hist. eccl. 2, 34; Theod. hist. eccl. 1, 34 bietet nur kurze Hinweise und deutet an, dass die Ereignisse bereits von seinen Vorgängern dargestellt worden seien. 607 Vgl. Eus. Vita Const. 4, 64, 2. 608 Eus. Vita Const. 4, 65: Δορυφόροι μὲν αὐτίκα καὶ πᾶν τὸ τῶν σωματοφυλάκων γένος ἐσθῆτας περιρρηξάμενοι σφᾶς τε ῥίψαντες ἐπ᾿ἐδάφους, τὰς κεφαλὰς ἤρασσον, κωκυτοῦ φωνὰς οἰμωγαῖς θ᾿ἅμα καὶ βοαῖς ἀφιέντες, τὸν δεσπότην τὸν κύριον τὸν βασιλέα, οὐχ οἷα δεσπότην πατέρα δ᾿ὥσπερ γνησίων παίδων δίκην ἀνακαλούμενοι. ταξιάρχοι δὲ καὶ λοχαγοὶ τὸν σωτῆρα τὸν φύλακα τὸν εὐεργέτην ἀπεκλάοντο, τά τε λοιπὰ στρατιωτικὰ σὺν κόσμῳ τῷ πρέποντι οἷα ἐν ἀγέλαις τὸν ἀγαθὸν ἐπόθουν ποιμένα. δῆμοι θ᾿ὡσαύτως τὴν σύμπασαν περιενόστουν πόλιν, τὸ τῆς ψυχῆς ἐνδόμυχον ἄλγος κραυγαῖς καὶ βοαῖς ἔκδηλον ποιούμενοι, ἄλλοι δὲ κατηφεῖς ἐπτομένοις ἐῴκεισαν, ἑκάστου τε πένθος ἴδιον ποιουμένου ἑαυτόν τε κόπτοντος, ὡσανεὶ τοῦ κοινοῦ ἁπάντων ἀγαθοῦ τῆς αὐτῶν ἀφῃρημένου ζωῆς. 609 Cameron/Hall (1999), S. 341 kontrastieren die Szene mit einem adventus, bei dem der Herrscher jubelnd empfangen wurde, und stellen den panegyrischen Gehalt der Szene heraus. Zum herrscherlichen Zeremoniell des adventus vgl. die umfangreiche Studie von Lehnen (1997).
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einem goldenen Sarg aufgebahrt und bewacht.610 Die Verehrung des verstorbenen Herrschers zog sich über einen längeren Zeitraum (man wartete auf die Ankunft der Söhne) hin. Den Anfang dabei machten jeweils die Führungsschichten, denen die Ausführung der Proskynese vorbehalten war, und sie begrüßten den Verstorbenen in dieser Weise, als ob er noch lebte (βασιλέα οἷά περ ζῶντα καὶ μετὰ θάνατον γονυκλινεῖς ἠσπάζοντο); im Anschluss an die höheren Rangklassen traten Menschen aus dem Volk, einschließlich Frauen und Kinder, hinzu. Dem Kaiser kam auch nach seinem Tod noch die höchste Macht auf Erden zu (ἐβασίλευε δὲ καὶ μετὰ θάνατον μόνος θνητῶν ὁ μακάριος), schreibt Eusebius und weist dem Geschilderten somit eine spezifische Erklärung zu: Die zeremonielle Form wurde gewahrt, als ob der Kaiser noch am Leben sei (ἐπράττετό τε τὰ συνήθη ὡσανεὶ καὶ ζῶντος αὐτοῦ), und diese Ehre sei ihm völlig zu Recht durch Gott zuteil geworden.611 Die Verehrung des Toten vollzog sich also in einer adoratio, die zuvor nur lebenden Herrschern vorbehalten war.612 Die weitere Darstellung von Trauer – auch in Rom erscheint sie nahezu grenzenlos – und Bestattung sowie des Andenkens an den Toten bildet das Ende der Lebensbeschreibung und weist die dafür üblichen Elemente auf, allerdings mit christlichen Zusätzen – der Sarg wurde in einer Prozession, angeführt von dem zweitältesten Kaisersohn Constantius, zur Grabstätte getragen, wo dann christliche Priester die Leitung übernahmen. Gemeinsam mit ihnen betete das versammelte Volk unter Tränen und Wehklagen für die Seele des Kaisers (λεὼς δὲ παμπληθὴς σὺν τοῖς τῷ θεῷ ἱερομένοις οὐ δακρύων ἐκτὸς σὺν κλαυθμῷ δὲ πλείονι τὰς εὐχὰς 610 Eus. Vita Const. 4, 65; auf einzelne Aspekte dieser Maßnahmen geht Wallraff (2013), S. 155 f. ein. 611 Eus. Vita Const. 4, 67: Οἱ δέ γε τοῦ παντὸς στρατοῦ καθηγεμόνες κόμητές τε καὶ πᾶν τὸ τῶν ἀρχόντων τάγμα, οἷς τὸν βασιλέα καὶ νόμος πρότερον ἦν προσκυνεῖν, μηδὲν τοῦ συνήθους ὑπαλλαξάμενοι τρόπου τοῖς δέουσι καιροῖς εἴσω παριόντες τὸν ἐπὶ τῆς λάρνακος βασιλέα οἷά περ ζῶντα καὶ μετὰ θάνατον γονυκλινεῖς ἠσπάζοντο. μετὰ δὲ τοὺς πρώτους ταῦτ᾿ἔπραττον παριόντες οἵ τ᾿ ἐξ αὐτῆς συγκλήτου βουλῆς οἵ τ᾿ ἐπ᾿ ἀξίας πάντες, μεθ᾿ οὓς ὄχλοι παντοίων δήμων γυναιξὶν ἅμα καὶ παισὶν ἐπὶ τὴν θέαν παρῄεσαν. συνετελεῖτο δὲ ταῦτα οὕτω χρόνῳ μακρῷ, τῶν στρατιωτικῶν οὕτω μένειν τὸ σκῆνος καὶ φυλάττεσθαι βουλευσαμένων, ἔστ᾿ ἂν οἱ αὐτοῦ παῖδες ἀφικόμενοι τῇ δι᾿ ἑαυτῶν κομιδῇ τὸν πατέρα τιμήσειαν. ἐβασίλευε δὲ καὶ μετὰ θάνατον μόνος θνητῶν ὁ μακάριος, ἐπράττετό τε τὰ συνήθη ὡσανεὶ καὶ ζῶντος αὐτοῦ, τοῦτο μονωτάτῳ αὐτῷ ἀπ᾿ αἰῶνος τοῦ θεοῦ δεδωρημένου. μόνος γοῦν ὡς οὐδ᾿ ἄλλος αὐτοκρατόρων τὸν παμβασιλέα θεὸν καὶ τὸν Χριστὸν αὐτοῦ παντοίαις τιμήσας πράξεσιν εἰκότως τούτων ἔλαχε μόνος, καὶ τὸ θνητὸν αὐτοῦ βασιλεύειν ἐν ἀνθρώποις ὁ ἐπὶ πάντων ἠξίου θεός, ὧδ᾿ ἐπιδεικνὺς τὴν ἀγήρω καὶ ἀτελεύτητον τῆς ψυχῆς βασιλείαν τοῖς μὴ τὸν νοῦν λελιθωμένοις. 612 Herrmann-Otto (1998), S. 359 f. verdeutlicht, dass es sich hier nicht um ein Totenzeremoniell, sondern – aufgrund der Vakanz des Herrscherthrons – um eine Huldigung handelte, die in der Form einer adoratio gestaltet war, und führt die vorliegende Textpassage als eines der frühesten Zeugnisse für ein Empfangszeremoniell an, das die politisch-militärischen Ränge in einer festgelegten Reihenfolge vollzogen. – Demandt (22007), S. 104 merkt zu Eus. Vita Const. 4, 67, 3 im Hinblick auf die Herrschaftsübernahme der Söhne Konstantins pointiert an: „Es war die erneuerte diocletianische Tetrarchie auf dynastischer Basis. Keiner der Nachfolger wagte es jedoch in den nächsten Monaten, den Augustustitel zu übernehmen. Constantin regierte gleichsam als Toter weiter.“
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ὑπὲρ τῆς βασιλέως ψυχῆς ἀπεδίδοσαν τῷ θεῷ).613 Im Vordergrund der Vita steht das Lob Konstantins, die hier angeführte Passage zeigt aber zugleich sehr deutlich auf, dass Emotionen und Tränen im Trauerzeremoniell ein fester Platz zugeordnet war. Auch in späteren Darstellungen bilden Tränen einen wesentlichen Bestandteil der Trauer um Herrscher und werden dort illustrativ eingesetzt. Es fällt dabei auf, dass öffentliches kollektives Wehklagen seitens der Bevölkerung in diesem Zusammenhang auch bei fremden Völkern als selbstverständlich angesehen wurde. So beschreibt etwa Ammian, wie die Frauen aus dem Volk der Chioniten nach dem Tod des jung verstorbenen Königssohnes lautstark weinten und vergleicht diese mit den Kultdienerinnen der Venus am Fest des Adonis,614 und ebenso berichtet er von den Tränen der Quaden nach dem Tod ihres Königs.615 In der Gotengeschichte des Jordanes beschreibt der Autor, wie König Theoderich I. nach seinem Tod auf den Katalaunischen Feldern 451 noch auf dem Schlachtfeld beweint wird, um den Hunnen dessen Größe vor Augen zu führen;616 zudem stellt er in aller Ausführlichkeit die Umstände dar, unter denen zwei Jahre später der Hunnenkönig Attila an den Folgen zu großer Trunkenheit in der Nacht seines Hochzeitsbanketts verstarb und von seiner jüngst angetrauten Gemahlin sowie dem ganzen Volk mit Tränen und weiteren ihrem Brauch entsprechenden Maßnahmen betrauert wurde.617 Paulus Diaconus 613 Zu der Frage nach dem Anteil christlicher Motive in dieser Schilderung äußern sich etwa Cameron/Hall (1999), S. 344 und 347 f. sowie Wallraff (2013), S. 156–158. 614 Vgl. Amm. 19, 1, 11: Feminae uero miserabili planctu in primaeuo flore succisam spem gentis solitis fletibus conclamabant, ut lacrimare cultrices Veneris saepe spectantur in sollemnibus Adonidis sacris, quod simulacrum aliquod esse frugum adultarum religiones mysticae docent. 615 Amm. 29, 6, 6: Cuius rei tam atrocis disseminatus rumor ilico per diuersa et Quados et gentes circumsitas efferauit, regisque flentes interitum, in unum coactas misere uastatorias manus, quae Danubium transgressae, cum nihil exspectaretur hostile, occupatam circa messem agrestem adortae sunt plebem maioreque parte truncata, quidquid superfuit, domum cum multitudine uarii pecoris abduxerunt. 616 Iord. Get., c. 41, p. 113: Videres Gothorum globos dissonis vocibus confragosos adhuc inter bella furentia funeri reddidisse culturam. fundebantur lacrimae, sed quae viris fortibus inpendi solent. nam mors erat, sed Hunno teste gloriosa, unde hostium putaretur inclinatam fore superbiam, quando tanti regis efferri cadaver cum suis insignibus conspiciebant. 617 Iord. Get., c. 49, p. 123 f.: Sequenti vero luce cum magna pars diei fuisset exempta, ministri regii triste aliquid suspicantes post clamores maximos fores effringunt inveniuntque Attilae sine ullo vulnere necem sanguinis effusione peractam puellamque demisso vultu sub velamine lacrimantem. tunc, ut gentis illius mos est, crinium parte truncata informes facies cavis turpavere vulneribus, ut proeliator eximius non femineis lamentationibus et lacrimis, sed sanguine lugeretur virile (…). Cuius manes quibus a sua gente honoratae sunt, pauca de multis dicere non omittamus. in mediis si quidem campis et intra tenturia sirica cadavere conlocato spectaculum admirandum et sollemniter exhibetur. nam de tota gente Hunnorum lectissimi equites in eo loco, quo erat positus, in modum circensium cursibus Ambientes, facta eius cantu funereo (…) referebant (…) postquam talibus lamentis est defletus, stravam super tumulum eius quam appellant ipsi ingenti commessatione concelebrant, et contraria invicem sibi copulantes luctu funereo mixto gaudio explicabant, noctuque secreto cadaver terra reconditum copercula primum auro, secundum argento, tertium ferri rigore communiunt, significantes tali argumento potentissimo regi omnia convenisse: ferrum, quod gentes edomuit, aurum et argentum, quod ornatum rei publicae utriusque acceperit. addunt arma hostium caedibus adquisita, faleras vario gemmarum fulgore praetiosas et diversi generis insignia, quibus colitur aulicum decus. et, ut tantis divitiis humana curiositas arceretur, operi deputatos detestabili mercede tru-
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verweist in seiner Langobardengeschichte auf Weinen und Klagen der Langobarden während der Beisetzung ihres 572 ermordeten Königs Alboin sowie auf ihre Tränen im Rahmen der Bestattung des Königs Kuninkpert, der im Jahr 700 verstarb.618 Das Weinen aus Trauer um einen Herrscher, so vermitteln diese aus sehr unterschiedlichen Quellen stammenden Belege, erfolgte regelmäßig in aller Öffentlichkeit und besaß – neben weiteren Elementen – eine starke Signalwirkung, die sich auch an Außenstehende richten konnte. 4.1.2.4 Vorgezogenes Weinen Schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass Tränen um antike Führungspersönlichkeiten sogar schon vor ihrem Tod thematisiert werden konnten.619 So beschreibt Lukan die Tränen der Cornelia angesichts des Unglücks, das ihrem Gatten unausweichlich bevorsteht, und dass es sich um Tränen der Trauer um den bald toten geliebten Mann handelt, ist in ihrem Fall offensichtlich – die Liebe zu Pompeius lässt Cornelia weinen, denn der gedanklich vorweggenommene, in naher Zukunft eintretende Verlust versetzt sie in tiefe Trauer.620 Die länger andauernde schwere Krankheit Diokletians führte – der Darstellung des Laktanz zufolge – dazu, dass man um das Leben des in Nikomedeia weilenden Kaisers betete; man wähnte ihn am 13.12.304 sogar tot, was zu allgemeiner Trauerstimmung und Tränenvergießen führte. Am nächsten Tag aber herrschte Freude über die Nachricht, er sei noch am Leben.621 Theophylaktos Simokates stellt dar, wie alle Anwesenden nach der Rede, die der byzantinische Kaiser Tiberios im August 582 halten ließ, zu Tränen gerührt waren.622 Maurikios war zum Mitkaiser (und damit zum Nachfolger) ernannt wor-
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cidarunt, emersitque momentanea mors sepelientibus cum sepulto. Die Trauergebräuche werden zwar nicht pauschal negativ dargestellt, doch der Verweis auf die Ermordung der Totengräber zum Schutz des Grabes sowie der Umstand des Todes (Attila betrank sich so sehr, dass er keine Kontrolle mehr über seinen Körper besaß und daran verstarb) bieten dem Leser genügend Möglichkeiten, Abscheu vor den Hunnen zu empfinden. Paul. Diac. hist. Langob., lib. II, c. 28, p. 89: Cuius corpus cum maximo Langobardorum fletu et lamentis sub cuiusdam scalae ascensu, quae palatio erat contigua, sepultum est; lib. VI, c. 17, p. 170: Hic cum multis Langobardorum lacrimis iuxta basilicam domini Salvatoris, quam quondam avus eiusdem Aripert construxerat, sepultus est. Ähnliche Fälle, nämlich das Weinen anwesender Freunde angesichts des unausweichlich bevorstehenden Todes eines philosophisch lebenden Mannes, werden in II. 4.2.2.2 behandelt. Vgl. dazu genauer II. 3.4. Plut. Brut. 52, 1 erwähnt die Tränen des Sklaven Kleitos vor seinem Herrn Brutus, als dieser sich zum Selbstmord gedrängt fühlte, und ähnlich wie bei Cornelia ist hier wohl in der Verbundenheit zum bald Sterbenden die Ursache des Weinens zu sehen. Lact. mort. pers. 17, 5 f.: Deinde ita languore oppressus, ut per omnes deos pro vita eius rogaretur, donec idibus decembribus luctus repente in palatio, maestitia et lacrimae iudicium, trepidatio et silentium tota civitate. Iam non modo mortuum, sed etiam sepultum dicebant, cum repente mane postridie pervagari fama, quod viveret, domesticorum ac iudicum vultus alacritate mutari. Zweck dieser Darstellung ist es, die Schwäche des Kaisers zu betonen – dieser sei von vielen für tot gehalten worden, bis er dann im März des folgenden Jahres öffentlich auftrat; nach dem Tag im Dezember 304, als man ihn bereits tot glaubte, sei er, so Laktanz, teils unzurechnungsfähig gewesen (mort. pers. 17, 7–9). Tiberios ließ die weltlichen wie geistlichen höchsten Würdenträger zusammenkommen, vgl. Theophyl. hist. 1, 1, 2: Φοράδην γὰρ ἀχθεὶς ὁ βασιλεὺς Τιβέριος ἐπὶ τὴν ὕπαιθρον τῶν
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den, und ihm wurden die Verpflichtungen des Amtes vor Augen gestellt, was die Zuhörer zu Mitleid mit dem bereits todkranken Tiberios veranlasste – wesentlich trug dazu wohl der Umstand bei, dass er selbst nicht mehr imstande war, die Rede zu halten, sondern diese Aufgabe an den quaestor sacri palatii Johannes übertrug.623 Der am Folgetag eintretende Tod führt zum Vergießen reichlicher Tränenströme im Volk, und die Trauerfeier selbst folgt dem üblichen Ablauf, auf den Simokates ausführlich eingeht; doch nach der Bestattung des Tiberios lässt man von den Tränen ab und wendet sich den gegenwärtigen Verhältnissen zu. Da die neuen politischen Verhältnisse nicht instabil sind, kann die Trauer um den alten der Verehrung des neuen Kaisers weichen und die in angemessener Weise begangene Staatstrauer beendet werden.624 Ein pervertiertes Verhalten attestiert Flavius Josephus (und ihm folgend Eusebius) dem Herodes: Von Krankheit gezeichnet sann der König darauf, seinen Willen auch nach seinem Tod durchzusetzen, und da sein Volk voraussichtlich nicht um ihn weinen würde, traf er vorbereitende Maßnahmen, um dies zu erzwingen. In Jericho, so berichtet Josephus, ließ er im Frühjahr 4 v. Chr. Adlige gefangennehmen und verkündete vor seiner Schwester Salome und deren Mann Alexas, er sei sich bewusst, dass sein Tod bei den Juden Anlass für ein Fest sein werde (οἶδα Ἰουδαίους τὸν ἐμὸν ἑορτάσοντας θάνατον), daher laute sein Befehl, nach seinem Tode die Inhaftierten zu töten, damit ganz Judäa und jede Familie wider Willen um ihn weine (ἵνα πᾶσα Ἰουδαία καὶ πᾶς οἶκος ἄκων ἐπ᾽ ἐμοὶ δακρύσῃ).625 Kurz darauf erholte βασιλείων αὐλήν (…) τὸν τῆς ἱεραρχικῆς προεστῶτα καθέδρας συγκαλεσάμενος (Ἰωάννης δὲ κατ᾿ ἐκεῖνο καιροῦ τοὺς τῆς ἐκκλησίας διίθυνεν οἴακας) τόν τε τῶν ἱερῶν ἀξιωμάτων συναθροισάμενος ξύλλογον τούς τε δορυφόρους καὶ φύλακας καὶ πάντας τοὺς ἐς βασιλέως τιμὴν συντεταγμένος, ναὶ μὴν καὶ τοὺς ἐπισημοτέρους τοῦ δήμου. 623 Theophyl. hist. 1, 1, 21: Ὅτε τοίνυν τὰ τῆς διαλέξεως ἐπερατοῦτο τῷ αὐτοκράτορι, πολὺ τοῖς θεαταῖς τὸ δάκρυον ἐπεκύμαινεν, τῶν μὲν ἀνιωμένων ἐπὶ τῷ πάθει, παρ᾿ οἷς καὶ τὰ τῆς εὐνοίας ἦν λιπαρώτερα, ἄλλων δὲ κατακηλουμένων ἐπὶ τῷ οἴκτῳ διὰ τῆς συμπαθείας· φιλεῖ γὰρ ἡ συμφορὰ καὶ τῷ θεατῇ μεταδιδόναι τοῦ πάθους. – Die Eignung des Vortragenden für seine Aufgabe wird Theophyl. hist. 1, 1, 3 betont. 624 Theophyl. hist. 1, 2, 3–7: Τῇ δὲ ὑστεραίᾳ (…) τῷ κοινῷ τῆς φύσεως νόμῳ Τιβέριος, εἰ καὶ βασιλεὺς ἐτύγχανεν ὤν, ἐπειθάρχησεν ἀπέστη τε τῶν τῇδε, καὶ οἷα σκηνὴν τῆς ψυχῆς καταλελύκει τὸ ἀχθοφόρον τουτὶ καὶ γήϊνον χιτωνίσκιον. καὶ πολὺς ἀνὰ τὸ ἄστυ ἐπεκύμαινε θρῆνος· πολλῶν γὰρ ὀφθαλμῶν ῥεῖθρον διήνοιξε καὶ φλέβας δακρύων ἀνέτεμεν, καὶ μέγα ταῖς τῶν πολλῶν ψυχαῖς ἐνεφοίτα τὸ πένθος. τὸ φαιδρὸν τῆς στολῆς διερρήγνυτο τό τε κατηφὲς τῆς ἐσθῆτος ἀντελαμβάνετο. (…) καὶ δῆτα μετὰ τὸν ὄρθρον τὰς ἀκτῖνας προσβάλλοντος ἡλίου καὶ τὸ ὑπέργειον διατρέχοντος ἡμισφαίριον, προύπεμπεν ἅπας τεθνηκότα τὸν βασιλέα καὶ μετ᾿ εὐφημίας εἶχεν ἐπομβρῆσαν τὸ δάκρυον, πολύς τε ᾖν ὁ ἐπιτάφιος ἔπαινος, εἷς ἀπὸ στομάτων πολλῶν προχεόμενος οἷά τις ποταμὸς εἰς πολλὰς ἀρχὰς μεριζόμενος, ἢ δένδρον ὑψιτενές τε καὶ εὔκομον πολλαῖς τε καὶ μεγάλων κλάδων ἐκφύσεσι διαιρούμενον. (…) ἐπεὶ δὲ τοῦτον ὁ τῶν βασιλέων ὑπεδέξατο τάφος, ἐπὶ τὴν ἐς Μαυρίκιον τὸν αὐτοκράτορα δορυφορίαν ἅπας ἐτέτραπτο, καὶ πέρας αὐθήμερον εἶχε τὸ δάκρυον· οὐχ οὕτω γὰρ τοῖς ἀνθρώποις τῶν παρῳχημένων ἐστὶν ἀνάμνησις ὡς ἡ περὶ τὰ παρόντα μετὰ σπουδῆς ἐπιμέλεια. 625 Ios. bell. Iud. 1, 659 f.: Αὐτὸς δὲ ὑποστρέφων εἰς Ἱεριχοῦντα παραγίνεται μελαγχολῶν ἤδη, καὶ μόνον οὐκ ἀπειλῶν αὐτῷ τῷ θανάτῳ προέκοπτεν εἰς ἐπιβολὴν ἀθεμίτου πράξεως· τοὺς γὰρ ἀφ᾽ ἑκάστης κώμης ἐπισήμους ἄνδρας ἐξ ὅλης Ἰουδαίας συναγαγὼν εἰς τὸν καλούμενον ἱππόδρομον ἐκέλευσεν συγκλεῖσαι. προσκαλεσάμενος δὲ Σαλώμην τὴν ἀδελφὴν καὶ τὸν ἄνδρα ταύτης Ἀλεξᾶν „οἶδα, ἔφη, Ἰουδαίους τὸν ἐμὸν ἑορτάσοντας θάνατον, δύναμαι δὲ πενθεῖσθαι δι᾽ ἑτέρων
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sich Herodes wieder und versuchte, sich zu töten, doch im Irrglauben an seinen Tod machte sich sofort lautes Wehklagen (οἰμωγὴ μεγίστη) im Palast breit. Diese Klagelaute ermutigten wiederum den gefangenen Sohn des Herodes, Antipater, zu einem Befreiungsversuch, der allerdings misslang und mit seiner Hinrichtung endete. Wenig später starb auch Herodes selbst – seinen Anordnungen, die in Haft befindlichen Adligen zu töten, leistete man nicht Folge.626 Der Versuch, das Weinen um die eigene Person zu erzwingen, scheiterte somit – in der Darstellung des Josephus tritt vielmehr die Schlechtigkeit des Herodes zutage, dessen Bestreben nach unbedingter Kontrolle über das Verhalten der ihm Untergebenen sich ins Absurde verkehrt.627 4.1.3 Echte und unechte Tränen In den besprochenen Textbelegen werden Tränen im Zusammenhang mit der Trauer um Tote zum Thema gemacht. Sie werden in der Regel als Indikator dafür verstanden, wie stark und zudem wie authentisch sich die Trauer um einen Verstorbenen gestaltete; dem Leser wird durch die Art der Darstellung mehr oder weniger stark eine wohlwollende oder ablehnende Haltung gegenüber den Protagonisten suggeriert. Im Folgenden soll vor allem die Frage der Echtheit diskutiert werden, wobei auch auf benachbarte Bereiche eingegangen wird. Darüber, ob die von einem Trauernden vergossenen Tränen als authentisch oder als nur geheuchelt aufzufassen sind, existiert – wie sich gezeigt hat – bereits in der antiken Historiographie ein intensiver Diskurs. Tränen sind ein Bestandteil des Trauer- und Bestattungsprozesses und besitzen die Funktion, den Schmerz über den Verlust eines Menschen (und damit die Verbundenheit ihm gegenüber) nach außen hin zu repräsentieren. Ob sie einen unmittelbaren Ausdruck der Trauer oder lediglich einen Versuch darstellen, gegenläufige Empfindungen zu überspielen, ist somit Gegenstand einer Interpretation. Grundsätzlich wird die Echtheit der Emotionen, für die das Weinen steht, als gegeben angesehen; dies zeigt sich vor allem beim spontanen Weinen, gilt aber ebenso bei einem größeren zeitlichen Abstand zur Nachricht über den Tod eines Menschen. Der Spielraum dafür, die eigenen Affekte und dadurch die Botschaft, die durch das eigene Verhalten zum Ausdruck kommen sollte, bewusst zu lenken, kann unterschiedlich groß ausfallen, und in den Quellen wird über mehrere Versuche berichκαὶ λαμπρὸν ἐπιτάφιον ἔχειν, ἂν ὑμεῖς θελήσητε ταῖς ἐμαῖς ἐντολαῖς ὑπουργῆσαι. τούσδε τοὺς φρουρουμένους ἄνδρας ἐπειδὰν ἐκπνεύσω τάχιστα κτείνατε περιστήσαντες τοὺς στρατιώτας, ἵνα πᾶσα Ἰουδαία καὶ πᾶς οἶκος ἄκων ἐπ᾽ ἐμοὶ δακρύσῃ“; vgl. Eus. hist. eccl. 1, 8, 13. 626 Ios. bell. Iud. 1, 661–666. 627 Ios. ant. Iud. 19, 349 wird im Gegensatz dazu davon berichtet, wie im Jahre 44 n. Chr. das Volk klagte und weinte, da König Herodes Agrippa, der Enkel Herodes‘ des Großen, an schwerer Krankheit litt und in absehbarer Zeit sterben würde; durch dieses Verhalten wurde er, obwohl Gegenstand der Klage, selbst zu Tränen gerührt: Ἡ πληθὺς δ᾽ αὐτίκα σὺν γυναιξὶν καὶ παισὶν ἐπὶ σάκκων καθεσθεῖσα τῷ πατρίῳ νόμῳ τὸν θεὸν ἱκέτευεν ὑπὲρ τοῦ βασιλέως, οἰμωγῆς δὲ πάντ᾽ ἦν ἀνάπλεα καὶ θρήνων. ἐν ὑψηλῷ δ᾽ ὁ βασιλεὺς δωματίῳ κατακείμενος καὶ κάτω βλέπων αὐτοὺς πρηνεῖς καταπίπτοντας ἄδακρυς οὐδ᾽ αὐτὸς διέμενεν; vgl. Eus. hist. eccl. 2, 10, 8 – anders als Josephus stellt Eusebius jedoch Krankheit und Tod des Herodes Agrippa als Strafe Gottes für seine Verfolgung der Christen dar.
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tet, ihn zu den eigenen Gunsten zu nutzen. Dass dabei der Vorwurf der Heuchelei erhoben wird, ist wenig verwunderlich; gerade an diesen Beispielen lässt sich jedoch bestens belegen, dass der Weinende in den jeweils vorliegenden Situationen einer Erwartungshaltung zu entsprechen versuchte. Daran scheiterte er zwar, wie die über Caesar, Nero, Domitian, Caracalla, Chilperich I. und vielleicht auch Caligula handelnden Episoden zeigten, allerdings blieb der Zeichencharakter des Weinens in allen Fällen bestehen. Der Weinende demonstrierte seine Trauer – und selbst wenn man ihm keinen Glauben schenkte, so waren die Anforderungen erfüllt, die an ihn gestellt wurden; sein Handeln war nicht für deviant zu erachten. Dass selbst ein explizit als aufgeführt und unehrlich eingestuftes Weinen für wünschenswerter gehalten werden konnte als ein Unterlassen der Tränen (und somit der Demonstration von Trauer um einen Toten) exemplifiziert Tacitus deutlich an Tiberius, der die Öffentlichkeit während der Leichenfeierlichkeiten für Germanicus meidet. Einer spontanen Gefühlsäußerung wohnt in der Regel eine hohe Glaubwürdigkeit inne, so dass sich in ihr der Charakter eines Menschen manifestiert. Das gilt insbesondere für die innere Erschütterung über den Verlust eines Menschen, die sich in den meisten Fällen unwillkürlich im Vergießen von Tränen zeigt. Ein solches Verhalten wurde selbst bei einem für seine Standhaftigkeit bekannten Mann wie Cato (und daneben bei einigen weiteren Persönlichkeiten, die sich ansonsten beherrscht zeigten) nicht als Zeichen von Charakterschwäche gewertet. Das wohlkalkulierte Weinen Caesars in der Darstellung Lukans und des Cassius Dio steht nicht im Widerspruch zu diesen Überlegungen, denn dabei handelt sich zwar um eine schnelle, aber nicht unwillkürliche Reaktion, wie in den auf diese hinführenden Versen des Bellum civile deutlich wird: Caesar beginnt nicht sofort zu weinen, als er das Haupt des Pompeius vor sich erblickt, sondern unterzieht es nüchtern einer Betrachtung, um erst nach einer Bestätigung der Identität des Toten in Tränen auszubrechen.628 Ein Problem entsteht vor allem dann, wenn der Rahmen, innerhalb dessen das Weinen stattfindet, als ein ritueller einzustufen ist. Es bietet sich an, in diesem Zusammenhang den Begriff des Rituals weit zu fassen, wie es etwa Gerd Althoff in seinen Untersuchungen handhabt.629 Im Anschluss an seine auf das Hochmittelalter abgestimmten Überlegungen lässt sich auch für die römische Kaiserzeit konstatieren, dass der Unterschied zwischen echten und inszenierten Emotionen mitunter weniger relevant war als die Wirkung, die durch bestimmte Handlungsweisen erzielt werden konnte – durch das Zeigen von Emotionen wurde die Glaubwürdigkeit performativen Agierens in der Öffentlichkeit untermauert. Allerdings widerspricht ein solcher Aufführungsaspekt, der den Emotionen innewohnt, nicht zwangsläufig ihrer Authentizität.630 Gerade die hier untersuchten Belege des Weinens aus Trauer, 628 Lucan. 9, 1035–1038. Es steht zu vermuten, dass die Quellen, in denen seine Tränen für echt befunden werden, ein derart rationales Abwägen und Handeln in dieser Situation für unmöglich halten, vgl. dazu II. 5.2.3. 629 Vgl. etwa die von Althoff (2006), S. 6 gebotene Definition von Ritualen, bei denen es sich „um Aufführungen handelt, die in Ablauf wie auch Ausgang den Teilnehmern wie den Zuschauern bekannt und teilweise sehr genau vorgeplant waren“. 630 Vgl. Althoff (1997), S. 281 und Althoff (2006), S. 11. Zum Verhältnis der (zum Zweck der Beglaubigung der eigenen Absichten) gezeigten und der tatsächlichen Emotionen bemerkt Alt-
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das als geheuchelt eingestuft wird, lassen ein Bewusstsein für die Relevanz des Umstandes erkennen, dass die nach außen hin gezeigte von der tatsächlichen Emotion abweichen konnte: was ein äußerlich Trauernder tatsächlich empfand, darüber machte man sich durchaus Gedanken. Umgekehrt konnte gezeigt werden, dass in der Historiographie auch die als authentisch präsentierte Bekundung der Trauer um einen Verstorbenen überwiegend in politischen Kontexten erwähnt wird und die Funktion einnimmt, Ereignisse und Handlungen zu werten. Einen anderen Zugang zu ritualisierten Formen der Totenklage wählt Karl Meuli, der den Zusammenhang zwischen Spontanform und Zeremoniell des Weinens untersucht und dabei die übermäßige Intensität als Merkmal einer rituellen Klage einstuft. Diese begegnet vor allem bei den in der Antike und sogar bis in die Neuzeit hinein im Zuge von Bestattungen herangezogenen Klageweibern, was Meuli zu dem Schluss führt, dass die Tränen als eine Geste des Trauerns gefordert waren, nicht aber die Emotion selbst vorhanden sein musste, dass also eine Pflicht zur tränenreichen Klage um einen Toten bestand.631 Kritik an dieser Auffassung lässt sich insofern üben, als dass seine Einstufung eines solchen Trauerweinens als künstlich, übertrieben und demonstrativ632 nicht in allen Fällen als sicherer Maßstab dafür verwendet werden kann, das geschilderte Weinen als ein rein zeremonielles einzustufen. Auch spontanes Weinen kann exzessiv sein (es sei etwa auf die Tränen der Cornelia bei Lukan oder etwa diejenigen Karls des Großen um seine Kinder und Papst Hadrian I. bei Einhard hingewiesen), und andererseits kann dem vorgesehenen Auftreten in einem Trauerfall auf ganz unprätentiöse Weise entsprochen werden – Zonaras etwa berichtet, dass Julian im Jahr 361 nach dem Tode Constantius II. zum Augustus ausgerufen wurde und öffentlich um den Verstorbenen klagte (δημόσιον ἐπὶ τῷ τελευτήσαντι βασιλεῖ κατ᾿ ἔθος πεποίηκε πένθος);633 Tränen werden zwar nicht explizit erwähnt, doch wären sie in diesem Fall nicht ungewöhnlich gewesen. Das Hauptgewicht der kurzen Mitteilung liegt auf dem hoff (2006), S. 6 f.: „In mittelalterlichen Ritualen aber führten die Akteure ganz augenscheinlich Trauer ebenso wie Freude, Zorn ebenso wie Zerknirschung in beträchtlicher Intensität auf, ohne daß sie das Bewußtsein gehabt hätten, sie müßten ihre Ausdrucksformen der Stärke ihrer wirklichen Gefühle anpassen.“ Diese Feststellung ist allerdings gerade für das Weinen aus Trauer – für das in dem genannten Aufsatz immerhin auf S. 4 f. Beispiele geboten werden – problematisch; Althoff weist darauf selbst (1996), S. 243 hin („Schwer entscheidbar ist der Anteil von Emotionalität gewiß auf dem Felde der Totenklage des Herrschers bzw. der Herrscherin über verlorene Vertraute“). Insgesamt grenzt er emotionales und ritualisiertes Handeln zu stark voneinander ab. 631 Vgl. die Abgrenzung von natürlichem, unwillkürlichem Weinen Meuli (1975b), S. 356–361 gegenüber dem gekünstelten, übermäßigen, willkürlichen Weinen beim Trauerzeremoniell ebd., S. 361–370 – anhand des Beispiels einer Klagefrau in seiner eigenen Zeit, die im Nachbardorf an einer Bestattung teilnimmt und dort erfragt, bei welchem Abschnitt der Bestattung das Weinen zu beginnen habe, veranschaulicht Meuli auf S. 370 die Beeinflussbarkeit rituellen Weinens am deutlichsten. 632 Meuli (1975a), S. 336 und Meuli (1975b), S. 367. 633 Zon. 13, 12 (59): ᾿Αγγελθείσης δὲ τῷ Ἰουλιανῷ τῆς τοῦ Κωνσταντίου τελευτῆς τὰ μὲν στρατεύματα Αὔγουστον αὐτὸν ἀνευφήμησαν, ἐκεῖνος δὲ τὸ βασιλικὸν ἀμείψας σχήματα καὶ πενθῆρες ἐνδὺς σκυθρωπάζων ὦπτο. καὶ δημόσιον ἐπὶ τῷ τελευτήσαντι βασιλεῖ κατ᾿ ἔθος πεποίηκε πένθος.
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Umstand, dass einer rituellen Handlung (Akklamation) eine weitere (Demonstration der Trauer um den Vorgänger) folgte und Julian sich angemessen verhielt; er trauerte sichtbar, so dass seine tatsächlichen Emotionen nicht relevant sind – authentifiziert wird die Trauer aber durch die demonstrative Geste. Die kaiserzeitlichen Historiographen schildern Tränen und Trauer um Tote und weisen ihnen dabei eine bestimmte Funktion zu. In der Darstellung können Zweifel zum Ausdruck kommen, ob der Weinende auch innerlich Trauer empfand;634 oftmals soll jedoch gerade die Echtheit der Emotionen ein Indiz für den ehrbaren Charakter des Weinenden bilden. Im letzten Textbeleg, der unter der Rubrik „Weinen um Tote“ angeführt wird, kommt der vorbildhafte Charakter von Weinendem und Beweintem gleichermaßen zum Ausdruck. Am Ende der Lebensbeschreibung seines 93 n. Chr. verstorbenen Schwiegervaters bekundet Tacitus sein Bedauern darüber, dass er und seine Gattin nicht am Totenbett des Agricola sitzen konnten, um von ihm Abschied zu nehmen. Vielmehr gestaltet sich ihnen der Verlust besonders schmerzlich, da beide ihn vier Jahre zuvor zum letzten Mal gesehen haben und somit der Abschied auf immer (unwissentlich) vorverlegt worden ist. Für Tacitus besteht kein Grund für einen Zweifel daran, dass die Frau des Sterbenden (amantissima uxor) für einen würdevollen, angemessenen und zugleich friedvollen Abschied sorgte; dennoch fehlten die beiden ihm so Nahestehenden, die ihm ihre Liebe nicht durch ihre Tränen zeigen konnten, so dass Agricola von weniger Tränen beweint wurde, als ihm gebührt hätten (paucioribus tamen lacrimis comploratus es).635 4.2 Verbotenes Weinen Für den Versuch, die Trauer um andere Personen zu unterbinden, lassen sich im Wesentlichen zwei Aspekte ausmachen. Zum einen werden in den Quellen mehrere explizite Weinverbote oder sogar eine Bestrafung des Trauerweinens erwähnt, anhand derer vor allem die Einflussnahme von Herrschern auf alle Bereiche des Lebens abzulesen ist. Gerade die Kompetenzen des römischen Kaisers erstreckten 634 Das Urteil der Heuchelei wird etwa auch von Herodian über die demonstrative Trauer des Macrinus unmittelbar nach der Ermordung des Kaisers Caracalla im Jahr 217 gefällt (für dessen Tod der Prätorianerpräfekt laut Herodian selbst verantwortlich war), vgl. Herodian. 4, 13, 7: ὡς δὲ καὶ ὁ λοιπὸς στρατὸς εἶδε τὸ πραχθέν, πάντες συνέδραμον καὶ πρῶτος ὁ Μακρῖνος ἐπιστὰς τῷ πτῶματι ὀλοφύρεσθαί τε καὶ θρηνεῖν προσεποιεῖτο. Über die Fähigkeit des Chosrau und des Justinian, willkürlich Tränen zu vergießen, vgl. ΙΙ. 5.3.1. 635 Tac. Agr. 45, 3–5: Sed mihi filiaeque eius praeter acerbitatem parentis erepti auget maestitiam, quod adsidere valetudini, fovere deficientem, satiari vultu complexuque non contigit. excepissemus certe mandata vocesque, quas penitus animo figeremus. noster hic dolor, nostrum vulnus, nobis tam longae absentiae condicione ante quadriennium amissus est. omnia sine dubio, optime parentum, adsidente amantissima uxore superfuere honori tuo: paucioribus tamen lacrimis comploratus es, et novissima in luce desideravere aliquid oculi tui. Tacitus baut seine eigene Klage in Kapitel 45 der Vita geschickt in das Lob auf den Schwiegervater im Zuge der Schilderung seines Todes ein; dieser wird glücklich gepriesen, zur rechten Zeit gestorben zu sein, so dass er manche Verbrechen Domitians nicht mehr miterleben musste – die mangelnde Gelegenheit zu einem Abschied am Totenbett bedauert vor allem der Verfasser selbst und vermeidet durch die Du-Anrede zugleich, die eigene Person in den Vordergrund zu stellen.
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sich seit Beginn des Prinzipats erstaunlich weit, so dass sich die Frage stellt, inwieweit ein von ihm ausgesprochenes Verbot des Weinens rechtsgültig war, oder ob sich darin ausschließlich ein Beleg seiner Willkür zeigt. Darüber hinaus lässt sich an Szenen, die als eine Nachahmung der Schilderung vom Tod des Sokrates gestaltet sind, ablesen, dass ein derartiges philosophisches Sterben über mehrere Jahrhunderte hin für Persönlichkeiten, die einen vorbildlichen Lebensstil pflegten, unter Umständen als erstrebenswert galt. 4.2.1 Verbotenes und bestraftes Weinen Ein Verbot der Tränen um einen Verstorbenen kommt dem Versuch gleich, den Hinterbliebenen die Trauer um diesen zu verwehren. Die Emotion selbst unterliegt jedoch nicht der Steuerung durch andere, nur ihre Demonstration nach außen hin kann beeinflusst werden. Angesichts der Tatsache, dass die politischen Verhältnisse im kaiserzeitlichen Rom oftmals von persönlichen Spannungen belastet waren, ist es wenig erstaunlich, dass die dortigen Machthaber auch die Reaktion auf Todesfälle unter ihrer Kontrolle halten wollten. Verhielt man sich im Widerspruch zu ihrer Gesinnung, so erfolgte die Androhung oder zuweilen sogar die Ausführung einer Strafe. Im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Gnaeus Calpurnius Piso im Jahr 20 n. Chr ist ein gesetzliches Verbot der Trauer um einen Toten überliefert. Der Senatsbeschluss vom 10. Dezember, der das Urteil über den Statthalter Syriens beinhaltet und reichsweit verbreitet wurde, ist inschriftlich überliefert. Er gibt die einzelnen Punkte der Anklage, die auf crimen maiestatis lautete, detailliert wieder. Piso wurde zur Last gelegt, Germanicus vergiftet zu haben, und zudem wurden zahlreiche Vorwürfe in Bezug auf seine Amtsführung und sein Verhalten zum Kaiser gegen ihn erhoben.636 Der Angeklagte selbst erlebte den Ausgang des Prozesses nicht mehr mit, da er im Verlauf des Verfahrens Selbstmord begangen hatte. Dieser Umstand wird im Senatus consultum mit der Bemerkung, er sei dadurch einer noch schwereren Strafe zuvorgekommen, als Überleitung verwendet, an die sich eine Auflistung der im Rahmen der damnatio memoriae über ihn verhängten Strafen anschließt.637 Als erste von ihnen wird das Verbot an die Frauen seiner Familie, öffentlich um den Toten zu trauern, genannt: ne quis luctus mortis eius caussa a feminis quibus {e}is more maiorum, si hoc s(enatus) c(onsultum) factum non esset, lugendus esset (Z. 73–75). Ohne den vorliegenden Senatsbeschluss, so ist eindeutig zu lesen, wäre es althergebrachte Sitte und Aufgabe der Frauen gewesen, mit den dazugehörigen Zeichen (laute Klage, Trauergewand usw.) deutlich sichtbar ihre Trauer zu bekun636 Das Senatus consultum gibt die Anklagepunkte in Z. 23–71 wieder; eine übersichtliche Auflistung dazu findet sich bei Krüpe (2011), S. 99. 637 Vgl. Z. 71–73: Quas ob res arbitrari senatum non optulisse eum se debitae poenae, se maiori | et quam inminere sibi ab pietate et severitate iudicantium intellegeba{n]t | subtraxisse; (Lücke) itaq(ue) iis poenis, quas a semet ipso exegisset, adicere (…). Die einzelnen Maßnahmen gegen Piso sowie der Umgang mit Menschen aus seinem Umkreis werden Z. 73–123 wiedergegeben.
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den.638 Die über Piso verhängte damnatio memoriae führte auch dazu, dass das übliche, rechtlich geregelte Trauerverhalten nicht mehr als angemessen, sondern sogar selbst als Straftat zu werten war. Demnach bestand die Absicht dieser Anordnung im Wesentlichen darin, Kontrolle über die Demonstration von Emotionen auszuüben und dadurch die Reaktionen anderer dementsprechend zu lenken.639 Ein explizites Verbot von Tränen (die in der gerade angeführten Episode sicherlich in den luctus einzuschließen sind) oder gar ihre Bestrafung findet sich oftmals, aber nicht ausschließlich mit dem Bezug auf Frauen, so dass sich eine chronologische Anordnung der Beispiele anbietet. In seinem Bericht über die Proskriptionen Sullas 82/81 v. Chr. schreibt Dio, die Namen der betreffenden Personen seien öffentlich ausgestellt worden und dabei habe man genau auf die Reaktionen derer geachtet, die die Tafeln lasen. Wer nicht zu Sullas engerem Kreis gehörte, dem konnte sein Verhalten stets zur Last gelegt werden, ob er nun etwa die Listen mied, oder ob er sich neugierig zeigte.640 In einer derartigen Atmosphäre erwiesen sich Weinen und Lachen (τό τε δακρῦσαι ἢ καὶ γελάσαι) sofort als tödlich; nicht etwa Äußerungen, sondern lediglich der Gesichtsausdruck, und zwar sowohl ein finsterer wie ein heiterer, führten zur Exekution. Ebenso verfuhr man mit denen, die entweder einen Freund betrauerten oder sich über den Tod eines Feindes freuten.641 638 Eck/Caballos/Fernández (1996), S. 192–194 betonen, dass es sich um ein Verbot der öffentlichen und somit kontrollierbaren Trauer handelte, und verweisen zudem darauf, dass es sich ausschließlich auf die Frauen erstreckte, was vermutlich dem Umstand geschuldet ist, dass die Bestattung bereits stattgefunden hatte (und die Frauen auch darüber hinaus eine Trauerzeit von einem Jahr einzuhalten hatten). – Die hohe gesellschaftliche Bedeutung des öffentlichen Trauerns um einen Toten durch die Frauen seiner Familie behandelt Mustakallio (2013); sie verweist auch auf den formalisierten Ablauf des Begräbnisrituals und der Rolle der Frauen bei diesem (S. 239–243). Ihre These, dass der luctus matronarum ab der späten Republik und frühen Kaiserzeit an Bedeutung verlor (S. 248), ist durch seine Erwähnung in dem Senatsbeschluss zu Piso zwar nicht widerlegt, doch immerhin differenzierter zu betrachten; der Historiograph Tacitus wiederum gibt den Verlauf des Prozesses ann. 3, 10–19 wieder und erwähnt dabei das Trauerverbot nicht. Einen Vergleich zwischen dem Senatus consultum und der taciteischen Darstellung zieht Lebek (1999). – Zum Verbot der Trauer im Rahmen eines wegen Majestätsverbrechen Angeklagten äußern sich etwa Vittinghoff (1936), S. 46 f. und Krüpe (2011), S. 37 (siehe auch die Grafik S. 39). 639 Eck/Caballos/Fernándes (1996), S. 289–298 und, ihnen folgend, Krüpe (2011), S. 100–121 gelangen zu dem Schluss, dass die Verurteilung des Piso nicht in erster Linie seiner Person galt, sondern vielmehr der in der Bevölkerung nach dem Tod des Germanicus herrschenden Unruhe ein Ende bereitet werden sollte; dies lasse sich an der sehr komplex ausgestalteten Darstellung der Ereignisse bei Tacitus sowie daran erkennen, dass die Folgen für die Familie insgesamt als moderat einzustufen seien. 640 Vgl. Cass. Dio 30–35, 109, 14 f. 641 Cass. Dio 30–35, 109, 16: Τό τε δακρῦσαι ἢ καὶ γελάσαι θανάσιμον τὸ παραχρῆμα ἐγίγνετο· καὶ διὰ τοῦτο καὶ πολλοί, οὐχ ὅτι καὶ εἶπόν τι ἢ καὶ ἔπραξαν ὧν ἀπείρητο, ἀλλ᾽ ὅτι καὶ ἐσκυθρώπασαν ἢ καὶ ἐμειδίασαν, ἐφθείροντο. οὕτω καὶ τὰ σχήματα αὐτῶν ἀκριβῶς ἐτηρεῖτο, καὶ οὐκ ἐξῆν οὐδενὶ οὔτε ἐπὶ φίλῳ ὀδύρασθαι οὔτε ἐπ᾽ ἐχθρῷ ἐφησθῆναι, ἀλλὰ καὶ ἐκεῖνοι ὡς καὶ χλευάζοντές τινα ἐσφάζοντο. In den folgenden Sätzen führt Dio weitere Beispiele an, anhand derer die Schreckensherrschaft Sullas illustriert wird; nicht nur die namentlich aufgeführten, sondern alle Personen hätten somit stets deutlich den Tod vor Augen gehabt (30–35, 109, 17–20).
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Konkreter beschreibt Plutarch in der Vita des Brutus das rigorose Vorgehen gegen römische Patrizier, die eine den Interessen der Machthaber zuwiderlaufende Ansicht äußerten. Nach dem Antritt seines Konsulats am 19.08.43 v. Chr. trieb Oktavian den Prozess gegen die Caesarmörder voran und sorgte dafür, dass die Angeklagten in ihrer Abwesenheit verurteilt wurden. Dass sein Handeln nicht auf allgemeine Zustimmung stieß, verdeutlicht Plutarch mit der Bemerkung, die Menschenmenge habe merklich geseufzt, als Brutus durch einen Herold vor Gericht gerufen worden sei, die Adligen hätten sich geduckt und geschwiegen, und Publius Silicius habe man weinen sehen. Dies wurde als unangebrachte Meinungsäußerung aufgefasst, aufgrund derer er bald darauf im Zuge der Proskriptionen umgebracht wurde; Oktavian, Antonius und Lepidus kamen zu einer Einigung und teilten die Macht im Staat unter sich auf, wobei sie ihre Gegner gnadenlos verfolgten.642 Dem eigenmächtigen Handeln Oktavians steht somit eine ohnmächtige Bürgerschaft (einschließlich der Senatoren, die ihre Mienen den Blicken des Konsuls und seiner Helfer entziehen) gegenüber, von denen nur ein einziger Protest bekundet. Zugunsten einer einheitlichen Politik der Triumvirn wird allerdings jeder zu offen gezeigte Standpunkt unterdrückt.643 An mehreren Stellen berichtet Tacitus über die Gefährlichkeit von Tränen auch in der Kaiserzeit. Nach dem Sturz des Prätorianerpräfekten Lucius Aelius Seianus fanden im Jahr 32 n. Chr. zahlreiche Verfahren gegen seine Anhänger und Freunde statt, die zu Beginn des sechsten Annalenbuches wiedergegeben sind (ann. 6, 7–10). Mit welcher Rücksichtslosigkeit in dieser Zeit vorgegangen wurde, illustriert der Historiograph an dem Umstand, dass sogar die Frauen nicht verschont wurden. Zwar habe man sie nicht wegen eines Anschlags auf den Staat belangen können, doch ließen sich andere Gründe finden: Sie wurden wegen ihrer Tränen angeklagt (ob lacrimas incusabantur), und eine von ihnen wurde sogar getötet. Es handelte sich um die in hohem Alter stehende Vitia, die den Tod ihres Sohnes Fufius Geminus beweint hatte.644 Der tatsächliche Grund für ihre Beseitigung mag zwar nicht in 642 Plut. Brut. 27, 5 f.: Λέγεται δὲ τοῦ κήρυκος ὥσπερ εἴωθεν ἀπὸ τὸν βήματος τὸν Βροῦτον ἐπὶ τὴν δίκην καλοῦντος, τὸ μὲν πλῆθος ἐπιδήλως στενάξαι, τοὺς δ᾿ ἀρίστους κύψαντας εἰς γῆν ἡσυχίαν ἄγειν, Πόπλιον δὲ Σιλίκιον ὀφθῆναι δακρύσαντα, καὶ διὰ τὴν αἰτίαν ταύτην ὀλίγον ὕστερον ἕνα τῶν προγραφέντων ἐπὶ θανάτῳ γενέσθαι. μετὰ ταῦτα διαλλαγέντες οἱ τρεῖς, Καῖσαρ Ἀντώνιος Λέπιδος, διενείμαντο τὰς ἐπαρχίας σφαγάς τε καὶ προγραφὰς ἀνδρῶν διακοσίων ἐποίησαν, ἐν οἷς καὶ Κικέρων ἀπέθανε. 643 Dass Publius Silicius Corona bewusst Protest äußerte, geht aus der Schilderung des Plutarch nicht in aller Eindeutigkeit hervor, ist aber nach einem Vergleich der Beschreibung bei Cassius Dio plausibel. Dieser schreibt 46, 49, 5, Silicius habe sich während des Prozesses offen zugunsten eines Freispruchs für Brutus geäußert, wofür er im Stillen von den anderen Senatoren Lob erntete; damit die clementia Oktavians hervortreten konnte, sei er nicht sofort, sondern erst während der Proskriptionen umgebracht worden: Καί τις Σιλίκιος Κορωνᾶς βουλευτὴς ἄντικρυς τὸν Βροῦτον τὸν Μᾶρκον ἀπέλυσε. καὶ τότε μὲν αὐτός τε ἐπὶ τούτῳ μέγα ηὔχει καὶ παρὰ τῶν ἄλλων ἐπαίνους κρύφα ἐλάμβανε, τῷ τε Καίσαρι, ὅτι μὴ εὐθὺς ἀπέθανε, δόξαν ἐπιεικείας παρέσχεν, ὕστερον δὲ ἐκ προγραφῆς ἐθανατώθη. 644 Tac. ann. 6, 10, 1: Ne feminae quidem exsortes periculi qua occupandae rei publicae argui non poterant, ob lacrimas incusabantur; necataque est anus Vitia, Fufii Gemini mater, quod filii necem flevisset.
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ihren Tränen gelegen haben, dennoch geht aus diesem Beispiel deutlich hervor, dass sie das für ein Todesurteil ausschlaggebende Verhalten darstellten.645 Im darauf folgenden Jahr ordnete Tiberius schließlich die Hinrichtung aller in Haft befindlicher Anhänger des Seian an; die zuvor vollzogenen Todesurteile hatten ihn nur umso mehr angestachelt (inritatus suppliciis), herumzuwüten, und dementsprechend anschaulich beschreibt Tacitus die Folgen seines Befehls: Überall lagen Leichen jeglichen Geschlechts, Alters und sozialer Stellung herum, vereinzelt und in Haufen.646 Die Emotionen der Hinterbliebenen hielt man dadurch im Zaum, dass man ihnen untersagte, an die Toten heranzutreten, sie zu beweinen oder sie auch nur anzuschauen (adsistere, inlacrimare, ne visere quidem); diese wurden schließlich, schon im Begriff zu verwesen, in den Tiber geschleift. Aus Furcht vor der saevitia des Regimes, der man ohnmächtig gegenüberstand, gab es, so vermerkt Tacitus, keine Zusammengehörigkeit mehr unter den Menschen, sie empfanden nicht einmal Mitleid.647 Die Zeit nach dem Sturz des Seian wurde offenbar als in besonders hohem Maße von Grausamkeiten geprägt wahrgenommen. Es ist wohl an diesen Kontext zu denken, wenn Sueton eine Beispielreihe der saevitiae des Tiberius anführt, in der sich die pauschale Aussage findet, die Trauer um zum Tode Verurteilte sei Verwandten verboten gewesen (interdictum ne capite damnatos propinqui lugerent).648 Derartige Episoden sind nicht auf stadtrömische Verhältnisse beschränkt, sondern werden auch für andere Orte berichtet. So beschreibt Tacitus die hinterhältige Taktik des iberischen Königssohnes Radamistus, der seinen Onkel Mithridates, den König von Armenien, trotz der Versicherung eines Friedensschlusses mitsamt seiner Familie im Jahr 51 n. Chr. umbrachte; die Begründung für den Mord an dessen Söhnen gibt der römische Historiograph damit an, dass sie den Mord an ihren Eltern 645 Koestermann (1965), S. 262 vermutet den Grund dieser Tat darin, dass Tiberius sich an dem Einfluss störte, den der hier genannte Sohn sowie die Schwiegertochter der Vitia bei Livia gehabt hatte. Gefällt wurde das Urteil allerdings vom Senat, vgl. Tac. ann. 6, 10, 2: Haec apud senatum. 646 Tac. ann. 6, 19, 2: Inritatusque suppliciis cunctos, qui carcere attinebantur accusati societatis cum Seiano, necari iubet. iacuit immensa strages, omnis sexus, omnis aetas, inlustres ignobiles, dispersi aut aggerati. 647 Tac. ann. 6, 19, 3: Neque propinquis aut amicis adsistere, inlacrimare, ne visere quidem diutius dabatur, sed circumiecti custodes et in maerorem cuiusque intenti corpora putrefacta adsectabantur, dum in Tiberim traherentur, ubi fluitantia aut ripis adpulsa non cremare quisquam, non contingere. interciderat sortis humanae commercium vi metus, quantumque saevitia glisceret, miseratio arcebatur. Tacitus entwirft ein abschreckendes Bild des Tiberius und zugleich der kaiserzeitlichen Gesellschaft, in der einerseits das Delatorentum um sich griff, der Großteil der Menschen jedoch in Angst und Schrecken lebte und dabei emotional abstumpfte, vgl. dazu de Libero (2009), S. 229: „Apparently, it is feared that mourning tears will incite people to revenge and rebellion. In this respect, Tacitus offers in his works a rather unpleasant picture of imperial society and exhibits its progressive political and moral corruption in the shadow of an omnipotent princeps.“ 648 Suet. Tib. 61, 2; vgl. dazu Koestermann (1965), S. 262; vgl. auch den Hinweis Suet. Tib. 61, 3, jedes Verbrechen sei als Kapitalverbrechen gewertet worden, auch wenige und arglos ausgesprochene Worte (omne crimen pro capitali receptum, etiam paucorum simpliciumque verborum).
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beweint hätten (caedibus parentum inlacrimaverant), und stellt den Herrscher damit als einen Tyrannen par excellence dar.649 Flavius Josephus wiederum illustriert das Wüten der Zeloten im belagerten Jerusalem ebenfalls unter anderem damit, dass die Einwohner sich der Gefahr öffentlich vorgebrachter Tränen bewusst waren. Nach dem Mord an dem jüdischen Hohepriester Ananus ben Ananus im Jahre 68 n. Chr. und seinem Nachfolger Jesus ben Damneus wenige Monate später metzelte man wahllos einfache Leute aus dem Volk nieder, und zahlreiche adlige junge Männer (Josephus gibt ihre Zahl mit 12000 an) fanden in der Haft den Foltertod. Ihre Leichen wurden auf die Straßen geworfen, um Platz für weitere Opfer zu schaffen.650 In der Bevölkerung herrschte angesichts derartiger Grausamkeiten eine so große Bestürzung, dass man es nicht wagte, seine Verwandten offen zu beweinen oder sie zu bestatten (μήτε κλαίειν… μήτε θάπτειν), sondern man vergoss nur heimlich, ganz im Privaten Tränen und seufzte nur nach vorheriger Absicherung, dass keiner der Gegner in der Nähe sei. Wäre die Trauer bemerkt worden, so Josephus, dann wäre der Betreffende selbst zu Tode gekommen, und daher enthielt man sich weitgehend einer angemessenen Behandlung der Leichen – lediglich nachts habe man in der üblichen Weise etwas Staub auf sie geworfen.651 An späterer Stelle wird von einem Versammlungsverbot berichtet, das sich offenbar auch auf Menschen erstreckte, die zusammengekommen waren, um Tote zu beklagen; sie wurden Josephus zufolge aufgrund ihrer gemeinsam geäußerten Trauer umgebracht.652 Das Tränenverbot eines römischen Herrschers und zugleich das Vergießen eigener Tränen sind im Falle des Caracalla ausführlich beschrieben, und zwar in verschiedenen Quellen, die über die Zeit unmittelbar nach dem Mord an Geta handeln. Dieser war von seinem älteren Bruder nicht lange nach den Saturnalien des Jahres 211 aus dem Weg geräumt worden, wobei über manche Details seiner Ermodung nur Vermutungen angestellt werden können.653 Fest steht aber, dass ein Treffen der beiden Brüder im Beisein der Iulia Domna stattfand, während dem Geta umgebracht wurde. Cassius Dio berichtet, dass Zenturionen, die zuvor von Caracalla die Befehle dazu erhalten hatten, Geta niedermachten, der sich in den Schoß der Mutter 649 Tac. ann. 12, 47, 5: Et Radamistus, quasi ius iurandi memor, non ferrum, non venenum in sororem et patruum expromit, sed proiectos in humum et veste multa gravique opertos necat. filii quoque Mithridatis, quod caedibus parentum inlacrimaverant, trucidati sunt. Eine Parallele zu ann. 6, 10, 1 sieht hier Kostermann (1967), S. 191. 650 Vgl. Ios. bell. Iud. 4, 326–333. 651 Ios. bell. Iud. 4, 331 f.: Ἦν δὲ τοσαύτη τοῦ δήμου κατάπληξις, ὡς μηδένα τολμῆσαι μήτε κλαίειν φανερῶς τὸν προσήκοντα νεκρὸν μήτε θάπτειν, ἀλλὰ λαθραῖα μὲν ἦν αὐτῶν κατακεκλεισμένων τὰ δάκρυα καὶ μετὰ περισκέψεως, μή τις ἐπακούσῃ τῶν ἐχθρῶν, ἔστενον· ἴσα γὰρ τοῖς πενθουμένοις ὁ πενθήσας εὐθὺς ἔπασχε· νύκτωρ δὲ κόνιν αἴροντες χεροῖν ὀλίγην ἐπερρίπτουν τοῖς σώμασι, καὶ μεθ᾽ ἡμέραν εἴ τις παράβολος. 652 Ios. bell. Iud. 5, 533: Κηρύττουσι δὲ μηδένα τῶν κατὰ τὴν πόλιν μήτε συνομιλεῖν μήτε ἐπὶ ταὐτὸ συναθροίζεσθαι δέει προδοσίας, καὶ τοὺς συνολοφυρομένους πρὸ ἐξετάσεως ἀνῄρουν. 653 Vor allem die Fragen, ob Caracalla seinen Bruder eigenhändig umbrachte oder diese Aufgabe an andere deligierte, und ob er danach einen Anschlag vortäuschte oder ganz rational handelte, sind kaum zu klären; Krüpe (2011), S. 186 neigt dazu, am ehesten Dios Bericht Glauben zu schenken; vgl. insgesamt Krüpes Analyse der Ereignisse kurz vor und nach dem Tod des Geta auf S. 184–193.
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geflüchtet hatte. Diese wiederum stand der Tat machtlos gegenüber und musste zulassen, dass ihr Sohn blutüberströmt in ihren Armen starb. Dennoch durfte sie ihn nicht betrauern und beklagen (οὔτε πενθῆσαι οὔτε θρηνῆσαι; dass der Leser sich dabei Tränen vorstellt, ist wohl als selbstverständlich einzuschätzen), sondern wurde sogar gezwungen, wie bei einem glücklichen Ereignis Freude zu zeigen und zu lachen.654 Wie tief der Versuch, auf ihre Emotionen Einfluss zu nehmen, sich gestaltete, formuliert Dio ganz anschaulich: Iulia Domna wurde akribisch beobachtet, damit sie keine Äußerung der Trauer von sich gab, und dies erstreckte sich auf Worte, Kopfbewegungen und die Farbe des Gesichts, die wesentlich vom emotionalen Befinden beeinflusst wird.655 Eine noch größere Kontrolle über das Verhalten eines Menschen ist kaum denkbar – der Frau sollte buchstäblich jegliche Privatsphäre genommen werden. Dio zufolge durfte sie als einzige nicht weinen, womit sich seine Schilderung als die rigoroseste Durchsetzung eines Tränenverbotes erweist und das Motiv der Perversion hier am deutlichsten hervortritt.656 Herodian fokussiert seine Darstellung der Ereignisse zunächst auf das Handeln Caracallas unmittelbar nach dem Mord.657 Tränen von Seiten der Iulia Domna werden zwar nicht explizit erwähnt, doch wird auf ihre Trauer Bezug genommen. Bei der Schilderung der Massenhinrichtungen von Anhängern Getas berichtet der Historiograph, Caracalla habe Cornificia, eine ältere und aufgrund ihrer Abstammung von Mark Aurel hoch angesehene Frau, umbringen lassen. Als Grund habe der Kaiser angegeben, dass sie neben seiner Mutter über die Ermordung des Sohnes geweint habe.658 Nicht eindeutig geht aus dieser Darstellung hervor, ob zu dem Zeitpunkt dieser Beileidsbekundung bereits ein offzielles Trauerverbot im Rahmen der 654 Cass. Dio 77 (78), 2, 2–5: Ἐπεὶ οὖν καὶ στρατιῶται καὶ γυμνασταί, καὶ ἔξω καὶ οἴκοι, καὶ μεθ᾽ ἡμέραν καὶ νύκτωρ, συχνοὶ τὸν Γέταν ἐφρούρουν, ἔπεισε τὴν μητέρα μόνους σφᾶς ἐς τὸ δωμάτιον, ᾧ καὶ συναλλάξουσι, μεταπέμψασθαι· καὶ οὕτω πιστεύσαντος τοῦ Γέτα ἐσῆλθε μὲν μετ᾽ αὐτοῦ, ἐπεὶ δὲ εἴσω ἐγένοντο, ἑκατόνταρχοί τινες ἐσεπήδησαν ἀθρόοι, παρὰ τοῦ Ἀντωνίνου προπαρεσκευασμένοι, καὶ αὐτὸν πρός τε τὴν μητέρα, ὡς εἶδέ σφας, προκαταφυγόντα καὶ ἀπό τε τοῦ αὐχένος αὐτῆς ἐξαρτηθέντα καὶ τοῖς στήθεσι τοῖς τε μαστοῖς προσφύντα κατέκοψαν ὀλοφυρόμενον καὶ βοῶντα· „μῆτερ μῆτερ, τεκοῦσα τεκοῦσα, βοήθει, σφάζομαι.“ καὶ ἡ μὲν οὕτως ἀπατηθεῖσα τόν τε υἱὸν ἐν τοῖς ἑαυτῆς κόλποις ἀνοσιώτατα ἀπολλύμενον ἐπεῖδε, καὶ τὸν θάνατον αὐτοῦ ἐς αὐτὰ τὰ σπλάγχνα τρόπον τινά, ἐξ ὧν ἐγεγέννητο, ἐσεδέξατο· καὶ γὰρ τοῦ αἵματος πᾶσα ἐπλήσθη, ὡς ἐν μηδενὶ λόγῳ τὸ τῆς χειρὸς τραῦμα ὃ ἐτρώθη ποιήσασθαι. οὔτε δὲ πενθῆσαι οὔτε θρηνῆσαι τὸν υἱόν, καίπερ πρόωρον οὕτως οἰκτρῶς ἀπολωλότα, ὑπῆρξεν αὐτῇ (δύο γὰρ καὶ εἴκοσι ἔτη καὶ μῆνας ἐννέα ἐβίω), ἀλλ᾽ ἠναγκάζετο ὡς καὶ ἐν μεγάλῃ τινὶ εὐτυχίᾳ οὖσα χαίρειν καὶ γελᾶν. 655 Cass. Dio 77 (78), 2, 6: Οὕτω που πάντα ἀκριβῶς καὶ τὰ ῥήματα αὐτῆς καὶ τὰ νεύματα τὰ τε χρώματα ἐτηρεῖτο· καὶ μόνῃ ἐκείνῃ, τῇ Αὐγούστῃ, τῇ τοῦ αὐτοκράτορος γυναικί, τῇ τῶν αὐτοκρατόρων μητρί, οὐδ᾽ ἰδίᾳ που ἐπὶ τηλικούτῳ παθήματι δακρῦσαι ἐξῆν. 656 Unter den zahlreichen in den Folgemonaten Hingerichteten befand sich laut Dio 77 (78), 16, 6a auch Cornificia, eine Tochter Mark Aurels. Zwischen ihrem anfänglichen Klagen angesichts des eigenen Todes (das bald in ein nahezu heroisches Verhalten umschlägt) und dem Trauerweinen um Geta wird von Dio keine Verbindung hergestellt. 657 Herodian. 4, 4 beschreibt, wie Geta durch seinen Bruder ermordet wurde und Caracalla sofort im Anschluss unter den Soldaten verbreitete, es habe ein Komplott gegen ihn gegeben. 658 Herodian. 4, 6, 3: Τήν τε Κομόδου ἀδελφὴν, πρεσβῦτιν ἤδη καὶ πρὸς πάντων βασιλέων ὡς Μάρκου θυγατέρα τετιμημένην, ἀπέκτεινεν, αἰτίαν ἐπαγαγων ὡς δακρυσάσῃ παρὰ τῇ μητρὶ αὐτοῦ ἐπὶ τῷ τοῦ παιδὸς φόνῳ.
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über Geta verhängten damnatio memoriae galt, und ob der Leser ein solches zumindest für Iulia Domna auf jeden Fall vorauszusetzen hat.659 Keinen Zweifel wiederum lässt der Text daran, dass eine sichtbar vorgebrachte Trauer, die der Gesinnung des Herrschers widersprach, eine Strafe nach sich zog, und generell ist anzunehmen, dass öffentlich vorgebrachte Tränen eines Mitglieds der Herrscherfamilie einer politischen Linie entsprechen sollten. Genau dieser Gedanke erfährt in der Darstellung der Historia Augusta noch eine Ausweitung, denn dort tritt eine weitere Komponente hinzu: die Tränen des Caracalla. Sowohl in seiner Lebensbeschreibung als auch in derjenigen seines Bruders wird an entsprechender Stelle zunächst erwähnt, dass er die Absicht hatte, Iulia Domna sowie weitere um Geta trauernde Frauen zu töten.660 Zwar setzte er dieses Vorhaben nicht um, doch gründet dies vermutlich nur auf dem Umstand, dass sich ein weiterer Mord an Mitgliedern der Familie oder aber angesehenen Frauen aus dem Adel nicht einmal zum Schein hätte rechtfertigen lassen,661 und so wird mit dem Hinweis auf die nicht ausgeführte Tötung deutlich, welches Ausmaß seine Grausamkeit erreicht hatte. Doppelt gebrochen gestaltet sich der Verhaltensmodus des Kaisers noch dadurch, dass er zum Zwecke der Selbstinszenierung selbst weinte, obwohl er seinen Bruder als ihm selbst gegenüber hinterhältig darstellte. Das von der Historia Augusta erwähnte häufige Weinen Caracallas etwa vor dessen Statuen ist wohl als performatives Agieren zu deuten, in dem die eigene Fähigkeit zum angemessenen, tugendhaften Verhalten zum Ausdruck gebracht werden sollte. Mitwisser der Tat wie Anhänger Getas verfolgte er allerdings gleichermaßen – so etwa einen Mann, der Getas Bild in Ehren hielt.662 Stellt man die Belege aus den beiden Viten nebeneinander, so wird dem Leser mit Nachdruck vor Augen geführt, dass allein der Kaiser das Recht für sich beansprucht, Tränen zu zeigen und sich als Trauernder zu präsentieren, und dies sogar in zumindest semi-privaten Momenten.663 659 Zur Chronologie der Ereignisse vgl. Krüpe (2011), S. 197, der die Ermordung Getas im Zeitraum zwischen 19. und 26. Dezember 211 und eine offiziell vom Senat verhängte damnatio memoriae für Anfang 212 ansetzt. – Zimmermann (1999), S. 208 sieht in dem Trauerverbot für die Beileid wünschende Cornificia eine Ausdehnung des Trauerverbots für Iulia Domna; das letztgenannte geht aus dem vorliegenden Textbeleg Herodians allerdings nur indirekt hervor. Herodians Bemerkung in Bezug auf ein Trauerverbot wird von Zimmermann (1999), S. 208 Anm. 285 als eine Kompilation aus den zuvor besprochenen Stellen Cass. Dio 77 (78), 2, 5 f. und 77 (78), 16, 6a gedeutet. Zu Trauerverboten im Rahmen einer damatio memoriae vgl. die Hinweise bei Flaig (1993b), S. 294 Anm. 22. 660 SHA Carac. 3, 3: Cum flentem matrem Getae vidisset aliasque mulieres post necem fratris, mulieres occidere conatus est, sed ob hoc retentus, {ne} augeretur fratris occisi crudelitas; SHA Geta 7, 3: Occidere voluit et matrem Getae, novercam suam, quod fratrem lugeret, et mulieres, quas post reditum de curia flentes repperit. 661 Caracalla nahm also nur aus taktischen Gründen von diesen Morden Abstand, wie Krüpe (2011), S. 189 formuliert. 662 SHA Carac. 3, 5: Ipse mortem eius saepissime flevit. multos, qui caedis eius conscii fuerant, interemit eum, qui imaginem eius honoravit; SHA Geta 7, 5: Mirum sane omnibus videbatur, quod mortem Getae totiens etiam ipse fleret, quotiens nominis eius mentio fieret, quotiens imago videretur aut statua. 663 Wie bei Cassius Dio, so ist auch hier eine besonders hohe Einflussnahme auf das Handeln anderer nicht nur im öffentlichen Rahmen zu erkennen: Caracalla weint gerade in Momenten, die
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Die besprochenen Episoden zeigen, dass Tränen, die aus Trauer um Tote vergossen wurden, zugleich als nach außen gerichtete Stellungnahme aufgefasst werden konnten. Wenn jedoch eine Meinung von der durch die staatlichen Autoritäten vorgegebenen Linie abwich, dann stellte es insbesondere vor dem Hintergrund politischer Spannungen eine für den Weinenden mitunter gefährliche Handlung dar, sie öffentlich zu äußern. Dies gilt vor allem für die Kaiserzeit, in der sich die Deutungshoheit über politisches Geschehen im Wesentlichen auf eine Person konzentrierte, doch finden sich entsprechende Konstellationen schon früher.664 Ein Verbot der Totenklage im Zuge einer damnatio memoriae war rechtlich möglich, wie aus dem Senatsbeschluss über Piso hervorgeht; inwiefern eine Ahndung bei Zuwiderhandeln erfolgte, wird darin allerdings nicht angegeben. Eindeutig lässt sich wiederum daran belegen, dass die juristischen Grundlagen für das Verbot öffentlichen Weinens vorhanden waren. Wenn Herrschende die eigene Position gefährdet sahen, versuchten sie deren Grundlage zu stärken, was vor allem ein rigoroses Vorgehen keinem ritualisierten Ablauf unterlagen. Weder von Dio, noch von Herodian oder der Historia Augusta wird eindeutig auf die Bestattung Getas Bezug genommen; letztgenannte Quelle beschreibt das Weinen der erwähnten Frauen, als Caracalla aus der Kurie zurückkehrt, und Caracalla selbst, wenn der Name des Bruders erwähnt wird oder vor dessen Bildnissen und Statuen. – Ob die kaiserliche Demonstration von Tränen um den eigenen Bruder vor oder nach der damnatio memoriae erfolgte, geht nicht eindeutig aus dem Text hervor; häufiges Weinen bei der Konfrontation mit dessen Namen oder Abbild spricht eher für letztgenannte Option. Auch wenn die damnatio memoriae Getas sicherlich dazu diente, Caracalla als einzig legitimen Herrscher zu propagieren, behielt der Kaiser sich das Recht vor, selbst nach eigenem Ermessen zu agieren – in diesem Falle eben ganz willkürlich. Krüpe (2011), S. 252 f. gelangt nach umfangreicher Analyse unterschiedlicher Quellengattungen zu dem Schluss, dass Caracalla sich durch die damnatio in erster Linie als Sieger der Auseinandersetzungen mit Geta präsentieren wollte und ihm daher an deren Durchsetzung gelegen sei. Dies muss allerdings einer Selbstinszenierung als Trauernder nicht zwangsläufig widersprechen. 664 Neben den oben angeführten Beispielen aus Dio und Plutarch ist in diesem Zusammenhang die Episode über Horatia als besonders aufschlussreich einzustufen, die Livius aus der römischen Frühzeit (also mit weitem zeitlichen Abstand) berichtet: Im Kampf zwischen Horatiern (Rom) und Curatiern (Alba Longa) traten jeweils Drillingsbrüder gegeneinander an, von denen nur ein einziger Horatier überlebte und siegreich heimkehrte. Da seine Schwester um ihren von ihm getöteten Verlobten trauerte und weinte (solvit crines et flebiliter nomine sponsum mortuum appellat), tötete er sie mit dem Schwert, wofür ihm nach geltendem Recht die Todesstrafe drohte. Allerdings wurde nach einer tränenreichen Rede des Vaters, der vor der Volksversammlung um das Leben seines einzig verbliebenen Kindes bat, ein Sühnopfer für ausreichend befunden, vgl. Liv. 1, 24–26 (auch Flor. epit. 1, 1, 3 werden die Tränen der Horatia erwähnt, wobei Florus auf die Unrechtmäßigkeit der Tat hinweist, um sie dann als moralisch richtig zu werten: Citauere leges nefas, sed abstulit uirtus parricidam et facinus infra gloriam fuit). – Ein Anweisung an die Frauen in Sparta, die in der Schlacht bei Leuktra (371 v. Chr.) Gefallenen nur schweigend zu betrauern, wird Xen. Hell. 6, 4, 16 erwähnt (προεῖπαν δὲ ταῖς γυναιξὶ μὴ ποιεῖν κραυγήν, ἀλλὰ σιγῇ τὸ πάθος φέρειν), vgl. dazu Tamiolaki (2013), S. 40 f. – Die Herrschaft Philipps von Makedonien wird von Orosius als gewaltvoll beschrieben, die Bevölkerung der Städte des Reiches ist ihm zufolge in Furcht versetzt, muss diese Emotion aber unterdrücken, denn Tränen als Ausdruck des Schmerzes angesichts erlittenen Unrechts wären bereits als widerspenstiges Verhalten angesehen worden, vgl. Oros. hist. 3, 12, 31: Premit miseros inter iniuriarum stimulos superfusus pauor ipsaque dissimulatione dolor crescit hoc altius demissus quo minus profiteri licet timentium, ne ipsae quoque lacrimae pro contumacia accipiantur.
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gegen politisch Andersdenkende und direkte Konkurrenten bedeutete; öffentlich vergossene Tränen um Tote hätten bei anderen Mitleid mit dem Weinenden und zugleich Hass gegen den Verursacher der Tränen bewirken können. Der Kaiser bestimmte den Modus der Trauer, und auffällig ist, dass ein Verbot von Tränen dem Charakter entspricht, der anderweitig von ihm gezeichnet wird. Eine freie Meinungsäußerung konnte in Form von Tränen erfolgen und wurde geahndet, wobei das Urteil über denjenigen, der die Strafe verhängt, stets negativ ausfällt: das Untersagen der Tränen und der Klage um einen Toten zeugt von höchster Grausamkeit. Oftmals war das Tränenverbot an Frauen gerichtet, da ihnen die Pflicht zukam, einen Familienangehörigen zu betrauern, und zwar nach außen hin sichtbar; ein derartiges Verbot zielte also vor allem oder gar ausschließlich auf die rituelle Form der Trauer ab. Die Illustration eines Unrechtsregimes kann zudem anhand einer als Kollektiv behandelten Volksmenge, deren Tränen bestraft werden, erfolgen. Ein Verbot oder gar eine Strafe für ein unwillkürliches, unkontrollierbares Weinen über den Tod eines Menschen konnte Männer wie Frauen betreffen, wobei tatsächlich geweinte wie unterdrückte Tränen auch als Ausdruck der Ohnmacht und der Furcht angesichts eines grausamen Vorgehens von staatlicher Seite aus zu verstehen sind. Die Auswirkungen eines Trauer- und Tränenverbotes auf den Toten und die Hinterbliebenen waren tiefgreifend: Die Totenklage inklusive Tränen, egal ob sie spontan oder in ritueller Form vergossen wurden, stellt eine religöse Pflicht dar, und indem sie zum Verbrechen erklärt wurde, versagte man dem Verstorbenen eine angemessene Behandlung und untergrub seinen sozialen Status.665 Eine Perversion der üblichen Verhaltensweisen schildern auch die Anekdota Prokops, und zwar im Falle einer byzantinischen Mutter vornehmer Herkunft, deren beide Töchter Kaiserin Theodora zu einer Heirat mit Männern von weitaus niedrigerem Stand zwang. Die Hochzeit wurde somit zum Unglücksfall, den die Mutter jedoch – offenbar aus Furcht vor einer Strafe – nicht zu beweinen wagte.666 4.2.2 Der Weise verbietet das Weinen um seine Person In mehreren antiken Darstellungen wird davon berichtet, dass hochrangige Persönlichkeiten angesichts ihres eigenen Todes die anwesenden Freunde dazu ermahnten, nicht um sie zu weinen. In der Regel handelt es sich bei den Sterbenden um Männer, denen eine als vorbildhaft erachtete philosophische Lebensführung zugeschrieben wurde. Bei den hier zu behandelnden Beispielen liegt teils ein (erzwungener) Selbstmord, teils ein natürlicher Tod vor; das tertium comparationis besteht darin, dass die mitunter umfangreiche literarische Schilderung den Tod eines Philosophen in Szene setzt. Der Versuch des Sterbenden, das Weinen anderer zu unterbinden, wirft die Frage nach dem Grund seiner Ablehnung ihrer Tränen und seiner eigenen Tränenlosigkeit auf.
665 Vgl. Mustakallio (2013), S. 243. 666 Proc. hist. 17, 12: Ἡ δὲ μήτηρ αὐταῖς (…) οὔτε ἀνοιμῶξαι οὔτε ἀποκλαῦσαι τολμῶσα τὸ πάθος παρῆν τῇ ἐγγύῃ. Die ganze Episode wird Proc. hist. 17, 7–14 erzählt.
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4.2.2.1 Sterbende Philosophen Der Tod des Sokrates ist in dieser Episodenreihe gewissermaßen als Präzedenzfall vorauszusetzen; die Treue des Atheners zu den selbst gelehrten Idealen und seine Furchtlosigkeit trotz der Gewissheit, sterben zu müssen, wurden als mustergültig verstanden. Insbesondere der Bericht über sein Ableben im platonischen Phaidon kann als vorbildhaft für spätere Generationen von Philosophen und ihre Darstellung bei mehreren antiken Schriftstellern gelten. Thema des Dialogs ist das Schicksal der Seele nach dem Tod und die Angst vor diesem, worüber Sokrates und seine Schüler ausgiebig debattieren; Schauplatz ihrer Unterhaltung ist das Gefängnis in Athen, in dem der zum Tode Verurteilte sich befindet. In einer Rahmenhandlung wird Phaidon als Erzähler und Augenzeuge eingeführt, der über das Verhalten seines Lehrers und dessen Anhänger berichtet, und dabei geht er explizit auf deren Weinen und auf die genauen Ursachen einer derartigen tiefen emotionalen Reaktion ein. Zunächst fällt an der Schilderung auf, dass die Reaktionen der Anwesenden auf den unvermeidlich bevorstehenden Tod des Sokrates sich leicht voneinander unterscheiden. Trauer ist vor diesem Hintergrund zwar die dominierende Emotion, doch der Umgang mit ihr wird von den einzelnen Personen verschieden gehandhabt. Xanthippe, die Frau des Sokrates, erscheint als – in der Wahrnehmung antiker Männer – typische Vertreterin des weiblichen Geschlechts, denn sie zeigt ihren Schmerz deutlich sichtbar nach außen und intensiviert diesen noch, indem sie darauf hinweist, dass Sokrates und seine Gefährten sich zum letzten Mal unterhalten. Sokrates lässt sie wegführen, später trägt er ihr und anderen Frauen auf, was nach seinem Tod zu tun sei.667 Anerkennung zollt er der Aufrichtigkeit des Gefängniswärters, der ihm den Schierlingsbecher bringt und sich wort- wie tränenreich von ihm verabschiedet.668 Anders als die beiden Genannten ist Kriton während der Unterhaltung anwesend, in der Sokrates darlegt, weshalb man – zumindest bei entsprechender Lebensführung (114c 6–115a 8) – keine Angst vor dem Tod haben müsse: nicht der (sterbliche) Körper, sondern die (unsterbliche) Seele ist Sitz der Persönlichkeit eines Menschen. Durch sein Verhalten gibt Kriton allerdings zu erkennen, dass er das Gesagte nicht verstanden hat. Er fragt Sokrates nach seinen Wünschen an die Hinterbliebenen sowie bezüglich der Bestattungsmodalitäten und versucht ihn nach der Übergabe des Bechers mit dem tödlichen Gift dazu zu bringen, seinen Tod so 667 Plat. Phaid. 60a: ῾Ως οὖν εἶδεν ἡμᾶς ἡ Ξανθίππη, ἀνηυφήμησέ τε καὶ τοιαῦτ᾽ ἄττα εἶπεν, οἷα δὴ εἰώθασιν αἱ γυναῖκες, ὅτι „Ὦ Σώκρατες, ὕστατον δή σε προσεροῦσι νῦν οἱ ἐπιτήδειοι καὶ σὺ τούτους.“ καὶ ὁ Σωκράτης βλέψας εἰς τὸν Κρίτωνα, „Ὦ Κρίτων,“ ἔφη, „ἀπαγέτω τις αὐτὴν οἴκαδε.“ καὶ ἐκείνην μὲν ἀπῆγόν τινες τῶν τοῦ Κρίτωνος βοῶσάν τε καὶ κοπτομένην. Xanthippe wird zwar vor dem Gespräch zwischen Lehrer und Schülern nach Hause geschickt, danach (116a 3-b 1) aber nochmals zu ihm gelassen; an beiden Stellen äußert Sokrates sich nicht explizit zu ihrer Trauer, doch dass er sie fortsendet, soll offenbar darauf hindeuten, dass er ihrem Schmerz keine Gegenmaßnahme anzubieten hat. 668 Phaid. 116b 8-d 9. Es steht zu vermuten, dass es einem auf das männliche Geschlecht ausgerichteten Denken geschuldet ist, wenn Sokrates – zumindest in dieser Darstellung – sich über die Reaktion des Gefängniswärters wohlwollend äußert, auf die Emotionen seiner Frau jedoch nicht weiter eingeht.
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weit wie möglich hinauszuzögern; beide Male hält ihm Sokrates die Belanglosikeit seines Gedankengangs vor Augen.669 Ab dem Moment, in dem der Philosoph den Schierlingsbecher leert, sind alle Anwesenden so stark von ihren Emotionen ergriffen, dass sie sich nicht mehr länger zurückhalten können und unweigerlich weinen müssen, wie Phaidon berichtet. Auch er selbst bildet keine Ausnahme, vielmehr bindet er sein Verhalten in die Erzählung ein und berichtet, wie seine Tränen so stark flossen, dass er sich verhüllen musste. Zumindest in einer nachträglichen Analyse ist ihm bewusst, dass er in diesem Moment nicht um Sokrates weinte, sondern wegen des Schicksalsschlags, den er selbst erlitt, indem er eines solchen Freundes beraubt wurde.670 Noch vor ihm selbst, so Phaidon, sei Kriton jedoch aufgestanden, da er seine Tränen nicht mehr unterdrücken konnte; die niedrigste Toleranz für emotionalen Schmerz weist aber offensichtlich Apollodoros auf, der schon eine geraume Zeit geweint hatte und nun ungehemmt seiner Klage Ausdruck verlieh, mit der Folge, dass er alle Anwesenden erschütterte – außer Sokrates selbst.671 Dieser führt an, dass er die Frauen aus genau dem Grunde habe fortschicken lassen, weil sie zu anfällig für Tränen seien, und fordert seine Schüler auf, Ruhe und Standhaftigkeit an den Tag zu legen. Phaidon berichtet auch hier genau von der Reaktion der Anwesenden, sich selbst eingeschlossen: Sie schämten sich und hörten auf zu weinen (ἡμεῖς ἀκούσαντες ᾐσχύνθημέν τε καὶ ἐπέσχομεν τοῦ δακρύειν).672 Im Anschluss beschreibt er die physische Wirkung des Schierlings und den Tod des Sokrates, der am Ende des Dialogs als der moralisch und intellektuell bedeutendste Mann der Zeit ausgewiesen wird.673 In der Schlusszene des Phaidon tritt Sokrates angesichts des eigenen Todes als furchtlos auf, er besitzt eine vollständige Kontrolle über seine Emotionen und demonstriert in letzter Konsequenz, wie der Verstand sich über die Affekte hinwegsetzen, mit anderen Worten: wie das λογιστικόν den unvernünftigen Seelenteil beherrschen kann.674 Der Athener weist somit ein Verhalten auf, das demjenigen griechischer Tragödienhelden genau entgegengesetzt ist, so dass Platon in der vorliegenden Erzählung über die Person des Sokrates ein Beispiel für eine seinen Maßstäben
669 Phaid. 115b 1–116a 1 und 116e 1–117a 3; vgl. Erler (2008), S. 29. 670 Phaid. 117c 5-d 1: Καὶ ἡμῶν οἱ πολλοὶ τέως μὲν ἐπιεικῶς οἷοί τε ἦσαν κατέχειν τὸ μὴ δακρύειν, ὡς δὲ εἴδομεν πίνοντά τε καὶ πεπωκότα, οὐκέτι, ἀλλ᾽ ἐμοῦ γε βίᾳ καὶ αὐτοῦ ἀστακτὶ ἐχώρει τὰ δάκρυα, ὥστε ἐγκαλυψάμενος ἀπέκλαον ἐμαυτόν – οὐ γὰρ δὴ ἐκεῖνόν γε, ἀλλὰ τὴν ἐμαυτοῦ τύχην, οἵου ἀνδρὸς ἑταίρου ἐστερημένος εἴην. 671 Phaid. 117d 1–6: Ὁ δὲ Κρίτων ἔτι πρότερος ἐμοῦ, ἐπειδὴ οὐχ οἷός τ᾽ ἦν κατέχειν τὰ δάκρυα, ἐξανέστη. Ἀπολλόδωρος δὲ καὶ ἐν τῷ ἔμπροσθεν χρόνῳ οὐδὲν ἐπαύετο δακρύων, καὶ δὴ καὶ τότε ἀναβρυχησάμενος κλάων καὶ ἀγανακτῶν οὐδένα ὅντινα οὐ κατέκλασε τῶν παρόντων πλήν γε αὐτοῦ Σωκράτους. 672 Phaid. 117d 7-e 4: Ἐκεῖνος δέ, Οἷα, ἔφη, ποιεῖτε, ὦ θαυμάσιοι. ἐγὼ μέντοι οὐχ ἥκιστα τούτου ἕνεκα τὰς γυναῖκας ἀπέπεμψα, ἵνα μὴ τοιαῦτα πλημμελοῖεν· καὶ γὰρ ἀκήκοα ὅτι ἐν εὐφημίᾳ χρὴ τελευτᾶν. ἀλλ᾽ ἡσυχίαν τε ἄγετε καὶ καρτερεῖτε. καὶ ἡμεῖς ἀκούσαντες ᾐσχύνθημέν τε καὶ ἐπέσχομεν τοῦ δακρύειν. 673 Phaid. 117e 4–118a 17. 674 Vgl. Erler (2008), S. 25 f. und Erler (2011), S. 25
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entsprechende Dichtung bietet.675 Ein solcher idealer Umgang mit den eigenen Emotionen ist nur von einem wahren Philosophen wie Sokrates zu erreichen, der allerdings seine Schüler dazu anzuregen versucht, ebenfalls nach der Kontrolle ihrer Affekte zu streben.676 Dies gelingt ihnen in unterschiedlichem Maße, wie aus ihrem jeweiligen Verhalten hervorgeht. Phaidon kommt darin offenbar dem Sokrates besonders nahe; seine Reaktion wird am ausführlichsten beschrieben. Bereits zu Beginn des Dialogs erzählt er seinem Gesprächspartner, dass ihn wundersame Empfindungen überkamen (θαυμάσια ἔπαθον παραγενόμενος). Er habe nämlich kein Mitleid (ἔλεος) mit dem Todgeweihten empfunden, sondern vielmehr eine Mischung aus Lust und Trauer (κρᾶσις ἀπὸ τῆς ἡδονῆς ὁμοῦ καὶ ἀπὸ τῆς λύπης), und die meisten anderen Anwesenden seien in derselben Stimmung gewesen, schwankend zwischen Lachen und Weinen (τοτὲ μὲν γελῶντες, ἐνίοτε δὲ δακρύοντες). Phaidons gegensätzliche Emotionen rühren von der Einsicht her, dass Sokrates tatsächlich als glückselig (εὐδαίμων) zu bezeichnen ist, da der Tod für ihn kein Übel bedeutet, andererseits empfindet er Trauer über seinen eigenen Verlust.677 Die Absicht Platons bei dieser Beschreibung lag wohl darin, auch den Leser zu der Erkenntnis zu bringen, dass eine angemessene Situationseinschätzung zu einem kontrollierten Umgang mit den eigenen Emotionen führen kann.678 Die Methode, mit der dies zu erreichen ist, gibt Sokrates seinen Gesprächspartnern an die Hand: Um die Furcht vor dem Tod zu überwinden, gilt es täglich das eigene innere Kind – also den unvernünftigen Seelenteil – zu besingen (ἐπᾴδειν), das sich von dieser Emotion vereinnahmen lässt.679 Emotionen lassen sich demnach oftmals als Stör675 Vgl. Baumgarten (2006), S. 205 („Die Phaidon-Szene inszeniert also die Forderungen der Politeia; sie ist, wenn man so will, eine nach platonischen Maßstäben gelungene Tragödienszene mit einer über jeden Zweifel und jedes normale Menschenmaß erhobenen Leitfigur“) und Erler (2008), S. 26 f. (S. 27: „In der Tat verhält sich Platons Protagonist und antitragischer Held Sokrates, wie es Platon in der Dichterkritik in der Politeia von einer philosophischen Tragödie verlangt“). 676 Erler (2008), S. 32 weist darauf hin, dass sich die Anweisungen des Sokrates an einen spezifischen Kreis von Adressaten richten, nämlich denjenigen, der in der Politeia als Wächter bezeichnet wird und dem nur ein anständiger Mann (ἀνὴρ ἐπιεικής) zuzurechnen ist. Die im Phaidon erwähnten Frauen fallen offensichtlich nicht unter diese Sorte Mensch, denn sie werden ja erst gar nicht zum Gespräch zugelassen. 677 Phaid. 58e 1–59a 9: Καὶ μὴν ἔγωγε θαυμάσια ἔπαθον παραγενόμενος. οὔτε γὰρ ὡς θανάτῳ παρόντα με ἀνδρὸς ἐπιτηδείου ἔλεος εἰσῄει: εὐδαίμων γάρ μοι ἁνὴρ ἐφαίνετο, ὦ Ἐχέκρατες, καὶ τοῦ τρόπου καὶ τῶν λόγων, ὡς ἀδεῶς καὶ γενναίως ἐτελεύτα, ὥστε μοι ἐκεῖνον παρίστασθαι μηδ᾽ εἰς Ἅιδου ἰόντα ἄνευ θείας μοίρας ἰέναι, ἀλλὰ καὶ ἐκεῖσε ἀφικόμενον εὖ πράξειν εἴπερ τις πώποτε καὶ ἄλλος. διὰ δὴ ταῦτα οὐδὲν πάνυ μοι ἐλεινὸν εἰσῄει, ὡς εἰκὸς ἂν δόξειεν εἶναι παρόντι πένθει, οὔτε αὖ ἡδονὴ ὡς ἐν φιλοσοφίᾳ ἡμῶν ὄντων ὥσπερ εἰώθεμεν – καὶ γὰρ οἱ λόγοι τοιοῦτοί τινες ἦσαν – ἀλλ᾽ ἀτεχνῶς ἄτοπόν τί μοι πάθος παρῆν καί τις ἀήθης κρᾶσις ἀπό τε τῆς ἡδονῆς συγκεκραμένη ὁμοῦ καὶ ἀπὸ τῆς λύπης, ἐνθυμουμένῳ ὅτι αὐτίκα ἐκεῖνος ἔμελλε τελευτᾶν. καὶ πάντες οἱ παρόντες σχεδόν τι οὕτω διεκείμεθα, τοτὲ μὲν γελῶντες, ἐνίοτε δὲ δακρύοντες, εἷς δὲ ἡμῶν καὶ διαφερόντως, Ἀπολλόδωρος. Vgl. dazu Erler (2008), S. 36–39 und Erler (2011), S. 25. 678 Vgl. Erler (2008), S. 31 und 33. 679 Phaid. 77d 5-e 9: Ὅμως δέ μοι δοκεῖς σύ τε καὶ Σιμμίας ἡδέως ἂν καὶ τοῦτον διαπραγματεύσασθαι τὸν λόγον ἔτι μᾶλλον, καὶ δεδιέναι τὸ τῶν παίδων, μὴ ὡς ἀληθῶς ὁ ἄνεμος αὐτὴν ἐκβαίνουσαν
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faktoren auf dem Weg zur Erkenntnis einstufen, sind jedoch durch stetige Übung der Vernunft therapierbar. In der Person des Sokrates wird gewissermaßen das Ende dieses Weges offenbar, denn er hat es geschafft, seine Affekte (hier: die Angst vor dem Tod) aus eigenem Antrieb zu beseitigen. Phaidon bringt es immerhin fertig, seine Emotionen zu kontrollieren, indem er den philosophischen Anweisungen des Sokrates folgt.680 In weitaus geringerem Maße als Phaidon gelingt es Kriton und Apollodor, ihr Verhalten nach diesem Vorbild zu gestalten. Kriton stellt bis zum letztmöglichen Augenblick wiederholt Fragen, an denen seine Zuneigung zu dem Lehrer erkenntlich wird, die aber verdeutlichen, dass er noch nicht zur Einsicht gelangt ist (als Sokrates bereits seine letzten Worte gesprochen hat, erhofft er sich dennoch weitere Aussagen seines Lehrers); Apollodor dagegen gibt sich ungehemmt seinen Tränen hin und kann sie nicht zügeln.681 Die differenzierte Darstellung des Verhaltens einiger Anwesender spiegelt sich somit auch in ihren Tränen wider, zu denen die Ausgeglichenheit des Sokrates ein Gegengewicht bietet. Gerade der selbst Betroffene bleibt – in einer Umkehrung der üblichen Verhältnisse – standhaft und ist sogar in der Lage, den anderen Trost anzubieten und seine Fürsorge zu zeigen.682 Seine Kritik am Weinen der Freunde unmittelbar vor seinem Tod zeigt ihnen die Absurdität ihres Verhaltens in aller Deutlichkeit auf – mit der Folge, dass sie damit aufzuhören imstande sind. Dieser im platonischen Phaidon geschilderte ideale und zugleich idealisierte Umgang eines Philosophen mit dem eigenen Tod diente mehrfach als Paradigma, an dem sich die literarischen Inszenierung eines sterbenden Weisen orientierte. Die deutlichsten Parallelen zur Darstellung des sterbenden Sokrates zeigen sich in der dramatisch ausgestalteten Schilderung, die Tacitus vom erzwungenen Selbstmord des Seneca liefert.683 Nach Aufdeckung der Pisonischen Verschwörung im Jahr 65 n. Chr. und Verhaftungen einiger Mitwisser gaben diese teilweise die Namen weiterer Beteiligter preis, und neben anderen wurde Seneca beschuldigt, in
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ἐκ τοῦ σώματος διαφυσᾷ καὶ διασκεδάννυσιν, ἄλλως τε καὶ ὅταν τύχῃ τις μὴ ἐν νηνεμίᾳ ἀλλ᾽ ἐν μεγάλῳ τινὶ πνεύματι ἀποθνῄσκων. καὶ ὁ Κέβης ἐπιγελάσας, ὡς δεδιότων, ἔφη, ὦ Σώκρατες, πειρῶ ἀναπείθειν: μᾶλλον δὲ μὴ ὡς ἡμῶν δεδιότων, ἀλλ᾽ ἴσως ἔνι τις καὶ ἐν ἡμῖν παῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα φοβεῖται. τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείθειν μὴ δεδιέναι τὸν θάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύκεια. ἀλλὰ χρή, ἔφη ὁ Σωκράτης, ἐπᾴδειν αὐτῷ ἑκάστης ἡμέρας ἕως ἂν ἐξεπᾴσητε. Vgl. Erler (2011), S. 35. Zur Therapie der Affekte vgl. Erler (2004), im Hinblick auf die hier besprochene Stelle besonders S. 115–118, sowie Erler (2008), S. 31–36. Vgl. Erler (2011), S. 29 f. Sokrates‘ Sorge um andere zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er es für wichtig erachtet, vor seinem Tod ein Bad zu nehmen, um damit den Frauen das Waschen seines Leichnams abzunehmen (Phaid. 115a); seine Verehrung der Götter wiederum zeigt sich darin, dass er sogar angesichts seines Todes ein Trankopfer darbringen möchte (Phaid. 117b). Nicht nur Tacitus, sondern auch Sueton (kurz gehalten, im Rahmen seiner Aufzählung der parricidia et caedes Neros in Kapitel 33–38) und Cassius Dio (als polemisierende Anekdote, die sich gegen Seneca richtet, der seine Frau zum Selbstmord gezwungen habe, so Dio 62, 25) berichten über das Ende Senecas, vgl. dazu Ker (2009), S. 34–39. Das von Tacitus gezeichnete Porträt des sterbenden Seneca wurde von der Forschung teils als negativ oder satirisch, teils als durchweg positiv beurteilt, wie Ker (2009), S. 19 hervorhebt; er selbst sieht in der Darstellung ein komplexes Zusammenspiel der genannten Faktoren.
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den Plan der Ermordung Neros involviert zu sein.684 Tacitus berichtet über die Vollstreckung mehrerer Todesurteile, und innerhalb dieser Beschreibungen stellt der Tod des Seneca zwar keinen Einzelfall dar, er ist jedoch unter diejenigen Todesdarstellungen im 15. und 16. Buch der Annalen zu zählen, die besonders sorgfältig und länger ausgestaltet sind.685 Zudem verweist die breite Rezeption, die diese Szene erfahren hat, darauf, dass Form und Inhalt als mustergültiges Beispiel eines Philosophentodes gewertet wurden. Dass die Todesszene des Phaidon dabei einen entscheidenden Vorbildcharakter besaß, ist nicht von der Hand zu weisen. Mit einem deutlichen Hinweis auf die Schlechtigkeit Neros686 beginnt die Episode. Zunächst wird die Befragung Senecas durch Gavius Silvanus, Tribun einer Prätorianerkohorte, wiedergegeben und dabei auch der Ort der Handlung, nämlich das Landgut des Philosophen in der Nähe Roms, erwähnt, wo dieser mit seiner Gattin Pompeia Paulina und Freunden zu Abend speist; nach Berichterstattung beim Kaiser schickt Silvanus einen Zenturio zu Seneca, der den Befehl zum Selbstmord überbringt.687 Als er daraufhin dem Philosophen die Einsichtnahme in das eigene Testament untersagt, richtet dieser sich mit der Bemerkung an die anwesenden Freunde, dass er – da man ihn davon abhalte, sich für ihre Dienste erkenntlich zu zeigen – ihnen seinen einzigen und zugleich wertvollsten Besitz hinterlasse, das Bild seines Lebens (imaginem vitae suae); wenn sie dies im Gedächtnis behielten, dann würden sie den Ruf moralischer Integrität für ihre derartig treue Freundschaft erlangen. Zugleich ist er bestrebt, sie von ihren Tränen abzubringen und wieder zu innerer Stärke zu bewegen (lacrimas eorum ad firmitudinem revocat), einerseits lediglich durch Gespräche, und andererseits indem er energisch und zurechtweisend auf sie einredet: Er betont, dass die philosophische Lehre und die Vernunft die Leiterinnen in widrigen Situationen seien – angesichts der Grausamkeit Neros, die sich bereits im Mord an Mutter und Bruder äußerte, stellt die Absicht, auch Seneca zu beseitigen, keine Überraschung dar.688 684 Vgl. Tac. ann. 15, 54, 1–60, 3. Senecas Mitwisserschaft an der Verschwörung wird Tac. ann. 15, 65 thematisiert, wobei die Anmerkung, Subrius Flavus und ihm folgende Zenturionen hätten nach erfolgreicher Beseitigung Neros auch Piso umbringen wollen, eine Negativfolie bildet, um die Absicht dieser Verschwörer, Seneca auf den Kaiserthron zu bringen, nachvollziehbar erscheinen zu lassen, vgl. Ker (2009), S. 33 f. 685 Vgl. Ker (2009), S. 57 f. 686 Einleitend merkt Tacitus ann. 15, 60, 2 an, dass der Mord an Seneca bei Nero höchste Freude hervorgerufen habe, da er schon länger beabsichtigte, ihn zu töten; ein zuvor durchgeführter Giftmordversuch scheiterte, nun aber bot sich dem Kaiser die Gelegenheit, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, vgl. dazu Ker (2009), S. 21 f. 687 Tac. ann. 15, 60, 4–61, 4. Bereits bei dem Besuch des Gavius Silvanus konnte Seneca vermutlich damit rechnen, nicht mit dem Leben davonzukommen, doch zeigte er – so Tac. ann. 15, 61, 2 – nulla pavoris signa; der Tribun wiederum zeichnet sich durch seine Feigheit aus, da er selbst Teilnehmer der Verschwörung ist, unselbständig handelt (er holt sich Rat bei dem Präfekten Feanius, ob er Neros Befehl zum Selbstmord überbringen solle) und schließlich einen Zenturio zu Seneca schickt (ann. 15, 61, 3 f.). Tac. ann. 15, 71, 2 lässt Silvanus dennoch als ehrbaren Mann erscheinen, denn er bringt sich schließlich trotz eines Freispruchs um, vgl. Koestermann (1968), S. 300 f. 688 Tac. ann. 15, 62: Ille interitus poscit testamenti tabulas; ac denegante centurione conversus ad amicos, quando meritis eorum referre gratiam prohiberetur, quod unum iam et tamen pulcher-
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Die folgenden Abschnitte behandeln ausführlich, wie Seneca von den Anwesenden Abschied nimmt und welche Maßnahmen er ergreift, um zu sterben. Die Umarmung und tröstenden Worte an die Gattin zeugen von einem liebevollen Verhältnis zu ihr, ganz im Gegensatz zu Xanthippe spielt ihr Nachleben eine herausragende Rolle. Paulina beschließt, mit ihrem Mann in den Tod zu gehen, und beide öffnen sich die Pulsadern. Da das Blut nur langsam aus dem von Lebensweise und Alter geschwächten Körper des Philosophen herausfließt, schickt er die Gattin in ein anderes Zimmer, um sie nicht zu entmutigen. Trotz seiner Schmerzen ist er daraufhin in der Lage, eine Rede zu diktieren. Da der Tod immer noch nicht eintritt, lässt er sich von seinem Arzt einen schon zuvor bereitgestellten Schierlingsbecher reichen. Als auch das Gift zu wenig Wirkung entfaltet, steigt Seneca in warmes Wasser; er besprengt die umstehenden Sklaven mit Wasser, dem er die Bedeutung eines Trankopfers für Jupiter Liberator beimisst. Schließlich trägt man ihn in ein Dampfbad, wo er erstickt; seine Gattin dagegen überlebt, da ihre Wunden – den Anweisungen Neros folgend – verbunden werden.689 Bei der Betrachtung des langsamen Sterbens fällt auf, dass die Szene eine Kombination von Orten und Arten des Todes aufweist.690 Mehrere Personen sind daran beteiligt, Seneca in seinem Sterbeprozess zu unterstützen, so dass sich sein Tod schließlich als „domestic team effort“ vollzieht.691 Gemeinsamkeiten mit dem Verhalten des Sokrates treten in den wesentlichen Punkten trotz evidenter Unterschiede zutage.692 So kommt dem Element der Freiheit eine Schlüsselrolle zu. Dies geschieht zum einen auf politisch-historischer Ebene, indem der Gegensatz zwischen der Niederträchtigkeit Neros und dem von Seneca praktizierten moralisch vorbildhaften Verhalten hervortritt. Der von einem Unrechtsregime in den Tod getriebene Philosoph stirbt nicht würdelos, sondern bewahrt bis zum letzten Moment seine Haltung, und genau durch dieses Entgegentreten macht er sich frei von den Einschränkungen des politischen Regimes.693 Symbolisch wird dies etwa an der
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rimum habeat, imaginem vitae suae relinquere testatur, cuius si memores essent, bonarum artium famam tam constantis amicitiae laturos. simul lacrimas eorum modo sermone, modo intentior in modum coercentis ad firmitudinem revocat, rogitans ubi praecepta sapientiae, ubi tot per annos meditata ratio adversum imminentia? cui enim ignarum fuisse saevitiam Neronis? neque aliud superesse post matrem fratremque interfectos, quam ut educatoris praeceptorisque necem adiceret. Tac. ann. 15, 63 f. Die in Kapitel 64, 2 erwähnten Gerüchte im Volk, Paulina sei froh darüber gewesen, dem Tod zu entrinnen, dementiert Tacitus mit dem Hinweis darauf, dass sie ihr restliches Dasein mit bleicher Miene und ohne Lebensenergie zubringt; eine positive und negative Interpretation dieser Stelle wägt Ker (2009), S. 31 f. gegeneinander ab. Ker (2009), S. 22 sieht eine Entsprechung zwischen Neros mehrfachen Mordversuchen („multiple attempts“) und Senecas Tod, der mehrere Stadien durchläuft („multistage death“). Auf S. 269–278 erläutert er Öffnen der Pulsadern, Trinken von tödlichem Gift und das Bad als einem schnelleren Tod zuträgliches Mittel vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund. Ker (2009), S. 32. Vgl. Ker (2009), S. 54–57. Vgl. Cancik-Lindemaier (2006), S. 300: „Haltung im Tode ist die letzte Form von Widerstand, die unter dem Terrorregiment jener Zeit noch möglich ist“; auch den Tod des Lebemannes Petron in ann. 16, 19 reiht sie unter derartige exempla ein. – Ausführlich geht Ker S. 247–279 auf die Mechanismen ein, nach denen die libertas im erzwungenen Selbstmord zutage tritt.
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Libation kenntlich gemacht, die im Sterbeprozess des Thrasea Paetus ebenfalls eine Rolle spielt.694 Des weiteren stellt in philosophischer Hinsicht der Tod eine Befreiung vom Leben dar – im platonischen Phaidon finden sich derartige Überlegungen in dem langen Gespräch des Sokrates mit seinen Schülern, bei Seneca gilt es dagegen, in dessen gesamten Schriften nach der Einstellung des Philosophen zum Tod zu fragen. Dabei lässt sich feststellen, dass eine Übereinstimmung von Lehre und Leben besteht.695 Seneca greift bei der – ihm von Seiten des Kaisers explizit freigestellten – Gestaltung seines Todes gezielt auf das Vorbild des Sokrates zurück (eindeutiges Indiz der Planung ist etwa die Bereitstellung des Schierlingsbechers),696 und Tacitus kleidet diese Inszenierung in ein historiographisches Gewand.697 In Bezug auf das Weinen der Anwesenden ist festzuhalten, dass der Versuch Senecas, die anderen mit einem Appell an die Vernunft zum Aufhören zu bewegen, seine menschliche Größe in dieser Situation herausstellen soll. Dies ist zwar auch bei Sokrates der Fall, doch spielen im Dialog Platons gerade die Reaktionen der Anwesenden eine entscheidende Rolle; bei Tacitus werden sie gar nicht weiter erwähnt, so dass ihr Weinen in erster Linie dem Porträt Senecas dient, der sich als tatsächlich Betroffener standhaft verhält – er kann, wie Sokrates, in dieser Situation sogar Trost spenden und zur Zuversicht mahnen, seine Sorge gilt aber seiner Frau Paulina sowie der Philosophie.698 Wie Seneca seinen Tod bewusst als imitatio des sokratischen Sterbens arrangiert, so richtet sich – Tacitus zufolge – der Stoiker Thrasea Paetus bei der Ausgestaltung seines Selbstmords nach der Selbstinszenierung Senecas.699 Im Jahre 66 n. Chr. erließ Nero auch gegen ihn ein Todesurteil und schickte einen Amtsträger zu ihm. Thrasea befand sich bei dessen Ankunft am Abend inmitten eines Kreises vornehmer Männer und Frauen in seinem Park und war in philosophische Unterredungen mit dem Kyniker Demetrius vertieft. Deren Thema wird – im Gegensatz zum Inhalt des Diktats Senecas – genannt und stellt eine deutliche Parallele zum platonischen Sokrates her, denn man spricht de natura animae et dissociatione spiritus 694 Vgl. Cancik-Lindemaier (2006), S. 299 f. 695 Vgl. Cancik-Lindemaier (2006), S. 301–304. Noch genauer gehen Edwards (2007), S. 100– 107 und Ker (2009), S. 77–176 auf die Art und Weise ein, auf die der Tod und der Umgang mit diesem in den Schriften Senecas behandelt wird. 696 Vgl. Cancik-Lindemaier (2006), S. 299 zur Planung Senecas, die ihm ein „gelebtes Platonzitat“ ermöglichen sollte, sowie S. 303 f. zur intentionalen Gestaltung des eigenen Todes, mit der Seneca sich bewusst in eine Tradition stellte. 697 Vgl. Cancik-Lindemaier (2006), S. 304: „Tacitus hat ein philosophisches Konzept als Historiograph abgebildet.“ 698 Cancik-Lindemaier (2006), S. 299 geht sogar so weit, die Person der Paulina selbst, die ihren Mann überlebt und an das Verbrechen Neros erinnert, als das „Bild seines Lebens“ zu interpretieren, verweist aber S. 304 auch darauf, dass mit diesem Bild im übertragenen Sinn vor allem das philosophische Vermächtnis Senecas an seine Freunde gemeint ist. Ker (2009), S. 29 sieht die eheliche Treuedemonstration der Paulina als ein wesentliches Element der Darstellung, doch werde diese letztlich als unkompatibel mit den philosophischen Ambitionen des Gatten beurteilt, denn Seneca diktiert selbst in der Sterbestunde. 699 Vgl. Ker (2009), S. 60 f., der auch auf die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Episoden eingeht.
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corporisque. Als Domitius Caecilianus, ein Mitglied seines engsten Freundeskreises, diese Diskussion unterbrach, indem er an Thrasea herantrat und den Befehl zum Selbstmord überbrachte, weinten und klagten (flentis queritantesque) alle Anwesenden. Der zum Tode Verurteilte selbst jedoch vermochte seine Ruhe zu bewahren und forderte seine Gäste zu einem schnellen Aufbruch auf, um sich durch die Nähe zu ihm nicht übermäßig in Gefahr zu begeben; seine Gattin Arria wiederum, die mit ihm sterben wollte, mahnte er, am Leben zu bleiben und die gemeinsame Tochter nicht ihrer Stütze zu berauben.700 Tacitus schildert auch Thrasea Paetus als einen Mann, der sein Schicksal mit Fassung trägt und dabei noch in der Lage ist, Fürsorge für andere aufzubringen. Der Verurteilte begibt sich mit Demetrius sowie seinem Schwiegersohn Helvidius Priscus in das Schlafzimmer und lässt sich die Pulsadern öffnen. Er sieht, wie Seneca, das Versprengen seines Blutes als Libation an, und sein Sterben geht ebenso langsam vonstatten. Daher leidet Thrasea große Schmerzen und wendet sich an Demetrius – und gerade an diesem Punkt bricht der Text ab.701 Dennoch ist evident, dass Tacitus bewusst Parallelen zwischen dem Sterben Senecas und dem Ableben des Thrasea Paetus zieht, und es ist wenig wahrscheinlich, dass es sich dabei um bloße literarische Fiktion handelt. Unter Nero und unter anderen römischen Kaisern wurden Todesurteile in Form eines Selbstmordes vollstreckt, und gerade ein hochrangiger Senator, der eine philosophische Lebensweise pflegte, konnte in einer solchen Situation – die ihn wohl nicht völlig überraschend traf – seine moralischen Überzeugungen als politischen Protest zum Ausdruck bringen. Die Tränen der Freunde, die sich der Tatsache bewusst sind, dass sie den Verlust eines nahestehenden Menschen nicht verhindern können, erscheinen ebenso plausibel wie die Gefasstheit des Sterbenden, denn dessen philosophische Lebensgrundsätze manifestierten sich ja letztlich im historischen Geschehen. Charakterliche Unterschiede, aber die Gemeinsamkeit philosophischer Überzeugungen als Triebkraft des eigenen Handelns lassen sich bei den Protagonisten der drei bisher behandelten Episoden und Cato dem Jüngeren in der Schilderung Plutarchs feststellen.702 Als nämlich der starrköpfige Römer erkannte, dass Caesar als Gewinner aus den kriegerischen Auseinandersetzungen hervorgehen würde, entschloss er sich bei dessen Anmarsch auf Utica im Frühjahr 46 v. Chr. zum Selbst700 Tac. ann. 16, 34: Tum ad Thraseam in hortis agentem quaestor consulis missus vesperascente iam die. inlustrium virorum feminarumque coetus frequentis egerat, maxime intentus Demetrio Cynicae institutionis doctori, cum quo, ut coniectare erat intentione vultus et auditis, si qua clarius proloquebantur, de natura animae et dissociatione spiritus corporisque inquirebat, donec advenit Domitius Caecilianus ex intimis amicis et ei quid senatus censuisset exposuit. igitur flentis queritantesque qui aderant facessere propere Thrasea neu pericula sua miscere cum sorte damnati hortatur, Arriamque temptantem mariti suprema et exemplum Arriae matris sequi monet retinere vitam filiaeque communi subsidium unicum non adimere. Bei der Mutter der hier erwähnten Arria der Jüngeren handelt es um Arria die Ältere, die Frau des zum Tode verurteilten Aulus Caecina Paetus; sie tötete sich vor den Augen des Gatten, um ihm Mut für den befohlenen Selbstmord zu machen. 701 Vgl. Tac. ann. 16, 35. 702 Zur Abhängigkeit der Cato-Vita Plutarchs von der Lebensbeschreibung, die Thrasea Paetus verfasste, vgl. Lateiner (2009), S. 130.
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mord – einen Befehl dazu erhielt er nicht, doch kam er offenbar aufgrund eigener Einschätzung der Situation zu dem Schluss, darin die für seine Person am besten geeignete Maßnahme zu sehen. Auch an Cato wird seine Sorge um das Wohlergehen anderer hervorgehoben: Er fordert die nach Utica geflüchteten Senatoren dazu auf, die Stadt zu verlassen, rät ihren Einwohnern, Caesar keinen Widerstand zu leisten, und verabschiedet sich von Freunden und Bekannten; er selbst und sein gleichnamiger Sohn, den er nicht zu Abreise bewegen kann, verbleiben an Ort und Stelle.703 Eine Begnadigung durch Caesar erachtet Cato als nicht erstrebenswert,704 und so bereitet sich der stoisch geprägte Mann auf sein Ende vor, indem er gegen Abend ein Bad nimmt und die in Utica verbliebenen Freunde zum Mahl lädt. Während der dabei geführten philosophischen Gespräche kommt in einer hitzigen Rede die Absicht Catos, sich das Leben zu nehmen, deutlich zum Ausdruck.705 Nach innigem Abschied von Gästen und Sohn zieht er sich zurück in sein Schlafgemach, wo er sich zunächst der Lektüre des platonischen Phaidon widmet. Als man ihm nach mehrfachen Bitten sein Schwert, das der Sohn entfernen ließ, nicht bringt, steigert sich seine Wut so weit, dass er einem Sklaven gegenüber gewalttätig wird. Diesem Handeln gebietet wiederum sein Sohn Einhalt, der mit den Freunden in das Schlafgemach stürmt und weinend mit Klagen und Flehen auf den Vater eindringt (κλαίων ὁ υἱὸς εἰσέδραμε μετὰ τῶν φίλων καὶ περιπεσὼν ὠδύρετο καὶ καθικέτευεν). Dies bringt ihm den Vorwurf ein, Cato in den Zustand der Wehrlosigkeit zu treiben, doch der Vater verweist auf andere Möglichkeiten des Selbstmords, die auch ohne Schwert durchführbar sind.706 Der junge Mann verlässt daraufhin unter Weinen das Zimmer (ἐξῆλθε μετὰ κλαυθμοῦ), und von den Freunden bleiben nur Demetrios und Apollonides zurück. Ihnen gegenüber verdeutlicht Cato, dass er seine moralischen Grundsätze über Bord werfen würde, wenn er sich Caesar ergeben würde, und stellt klar, dass er sich von diesen leiten zu lassen gedenke; bei einem Entschluss zum Selbstmord müsse er jedoch auch die Macht haben, diesen auszuführen.707 Diese Aussagen überzeugen zumindest so weit, dass man ihn nicht weiter zu überreden versucht; die beiden Freunde verlassen unter Tränen (δακρύσαντες) das Zimmer, und Cato lässt sich sein Schwert bringen. Plutarch erwähnt die anschließende zweimalige Lektüre des Phaidon, mit der Cato sich offensichtlich selbst seines Vorhabens versichern will. Das Verbinden seiner geschwollenen Hand durch einen Arzt erweckt den Anschein von Normalität; die Vergewisserung, dass die Schiffe der Abreisenden aus dem Hafen gelaufen seien, verschafft Cato Beruhigung. Als man ihn schließlich wieder allein im Zimmer lässt, stößt er sich das Schwert in die Brust, und da dies nicht 703 704 705 706 707
Plut. Cato min. 65. Vgl. dazu auch II. 5.2.3. Plut. Cato min. 66 f. Plut. Cato min. 68. Plut. Cato min. 69. Die Rechtfertigung des Selbstmordes in der stoischen Philosophie ganz in diesem Sinne findet sich etwa auch in den Selbstbetrachtungen Mark Aurels 5, 29: Ὡς ἐξελθὼν ζῆν διανοῇ, οὕτως ἐνταῦθα ζῆν ἔξεστιν· ἐὰν δὲ μὴ ἐπιτρέπωσι, τότε καὶ τοῦ ζῆν ἔξιθι, οὕτως μέντοι ὡς μηδὲν κακὸν πάσχων. καπνὸς καὶ ἀπέρχομαι· τί αὐτὸ πρᾶγμα δοκεῖς; μέχρι δέ με τοιοῦτον οὐδὲν ἐξάγει, μένω ἐλεύθερος καὶ οὐδείς με κωλύσει ποιεῖν ἃ θέλω· θέλω δὲ κατὰ φύσιν τοῦ λογικοῦ καὶ κοινωνικοῦ ζῴου.
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sofort zum Tod führt, sucht man ihn noch zu retten. Am Ende tötet er sich mit bloßen Händen selbst, indem er seine bereits freiliegenden Eingeweide zerreißt.708 Cato wird deutlich temperamentvoller als Sokrates, Seneca und Thrasea Paetus dargestellt. Sein Jähzorn schreckt die Anwesenden sogar auf, und es soll möglicherweise der Eindruck entstehen, dass die Tränen, die in Vorwegnahme seines Todes vergossen werden, sowohl dem Schock über den rauhen Umgangston des Philosophen als auch dem Schmerz angesichts des bevorstehenden Verlustes geschuldet sind. Dennoch kommt die Fürsorge Catos um Freunde und Familie zur Geltung, und auf die Vorbildhaftigkeit des sterbenden Sokrates im Phaidon wird explizit Bezug genommen. Der Stoiker ist darauf bedacht, seine Würde zu erhalten, und dass er den eigenen Tod einer Auslieferung an Caesar vorzieht, müssen die ihm nahestehenden Menschen zwangsläufig akzeptieren.709 4.2.2.2 Sterbende Kaiser und Feldherren als Philosophen Der Gedanke des Widerstands auf politischer Ebene ist in den folgenden Beispielen nicht relevant (selbst wenn ihre Aussage auch als eine politische gedeutet werden kann), denn sie präsentieren sterbende Machthaber als Vorbilder moralischen Handelns. Zudem werden die betreffenden Personen nicht von staatlichen Obrigkeiten zum Sterben gezwungen, sondern sehen sich eines natürlichen Todes durch Krankheit oder durch eine (drohende) tödliche Verwundung im Krieg ausgesetzt. Ein philosophischer Hintergrund wiederum liegt in den ersten beiden Fällen ebenfalls zugrunde. So wird in der Historia Augusta über das Lebensende Mark Aurels berichtet, der Kaiser habe am sechsten Tag seiner Erkrankung seine Freunde zu sich beordert. Ihnen gegenüber demonstrierte er seine der philosophischen Grundhaltung erwachsene Geringschätzung des Irdischen und Todesverachtung, indem er sie fragte, weshalb sie um ihn weinten (quid de me fletis?), und ihnen nahelegte, ihre Gedanken auf die verheerende Seuche und den Tod ganz im allgemeinen zu verwenden; er forderte sie regelrecht auf, ihn gehen zu lassen, so dass er ihnen nun Lebewohl sagen könne.710 Der Abschied von den Freunden – deren Reaktion nicht beschrieben wird – ist somit nur aus der Perspektive des sterbenden Kaisers dargestellt; jedoch wird auch in dieser Schilderung die Ausgeglichenheit Mark Aurels angesichts des eigenen unmittelbar bevorstehenden Todes deutlich. 708 Plut. Cato min. 70. 709 Die Darstellung eines mit Fassung sterbenden Philosophen findet sich auch noch anderweitig in der antiken Historiographie, so etwa im Falle des Longinus. Zosimus berichtet über diesen Philosophen und Vertrauten der palmyrenischen Herrscherin Zenobia, er sei in Emesa von Kaiser Aurelian zum Tode verurteilt worden. Diese Strafe nahm er mutig an und tröstete diejenigen, die über diesen Umstand in Klagen verfielen, vgl. Zos. hist. 1, 56, 3: ῟ῼπερ ἐφ᾿οἷς κατηγορεῖτο ἐλεγχομένῳ παραχρῆμα ὁ βασιλεὺς θανάτου ζημίαν ἐπέθηκεν, ἣν οὕτω γενναίως ἤνεγκεν ὁ Λογγῖνος ὥστε καὶ τοὺς σχετλιάζοντας ἐπὶ τῷ πάθει παραμυθεῖσθαι. 710 SHA Aur. 28, 4 f.: Sexta die vocatis amicis et ridens res humanas, mortem autem contemnens ad amicos dixit, ‚quid e me fletis et non magis de pestilentia et communi morte cogitatis?‘ et cum illi vellent recedere, ingemescens ait: ‚si iam me dimittitis, vale vobis dico vos praecedens.‘ Zu weiteren literarischen Quellen über den Tod Mark Aurels vgl. Birley (21993), S. 210.
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Ähnlich verhält es sich im Falle der Darstellung des sterbenden Julian Apostata durch Ammianus Marcellinus, die deutliche Bezüge zu den bisher behandelten Beispielen aufweist.711 Julian begab sich am 26. Juni 363 ohne Rüstung in ein Gefecht gegen die Perser in der Nähe der Stadt Toummarra und wurde von einem Pfeil getroffen. Man trug den schwer Verwundeten in sein Zelt, während die Schlacht bis zum Einbruch der Dunkelheit weitergeführt wurde.712 Ammian gibt eine Rede des unter Schmerzen leidenden Kaisers wieder, die sicherlich weitgehend als literarische Fiktion anzusehen ist; sie soll vor allem ein stimmiges Gesamtbild Julians in der Situation seines Todes bieten.713 Dessen philosophische Lebenseinstellung wird darin ebenso gewürdigt wie seine Taten, und zugleich wird seine Ausgeglichenheit trotz des unmittelbar bevorstehenden Todes herausgestellt.714 Obwohl Julian diese Worte so wohl nicht gesprochen hat, mag er durchaus gefasst in den Tod gegangen sein; laut Ammian bedachte er seine Freunde mit Geldmitteln und betrauerte (ingemuit) sogar den Tod des magister officiorum Anatolius. Daraufhin brachen alle Anwesenden in Tränen aus, was harschen Tadel seitens des Kaisers bewirkte, der selbst in diesem Moment noch ungebrochen würdevoll wirkte. Es sei – so lässt der Historiograph ihn sagen – Zeichen eines niedrigen Charakters, einen Herrscher zu betrauern, der sich mit dem Himmel und den Gestirnen vereint habe (et flentes inter haec omnes, qui aderant, auctoritate integra etiam tum increpabat humile esse caelo sideribusque conciliatum lugeri principem dicens). Diese Kritik führte dazu, dass man das Weinen abbrach, und Julian führte mit den Philosophen Maximus und Priscus sogar noch komplexe Unterredungen über die Erhabenheit der Seelen (super animorum sublimitate). Sein Tod trat schließlich um Mitternacht ein, nachdem er noch einen Becher kaltes Wasser getrunken hatte. Mit der Bemerkung, Julian sei ein leichter, beschwerdefreier Tod zuteil geworden, geht Ammian sofort zu einer Gesamtwürdigung des Kaisers über.715 Gerade im Falle Julians, der eine an philosophischen Grundsätzen ausgerichtete Lebensweise praktizierte und sogar Abhandlungen verfasste, erscheint es nicht abwegig, dass manche von Ammian angeführten Elemente der Erzählung tatsächlich vorhanden waren, und so handelt es sich eben um eine literarische und zugleich reale Anlehnung an Vorbilder. Sokrates ist hier sicherlich an erster Stelle zu nennen, doch es fällt auf, dass an zwei Stellen ein Gedanke auftaucht, der in der Historia Augusta in Bezug auf den verstorbenen Mark Aurel geäußert wird und bereits wei711 712 713 714 715
Zum Julian-Bild des Ammian vgl. Demandt (1965), S. 132 f. Amm. 25, 3, 1–14. Zur Rede Julians vgl. Demandt (1965), S. 102. Amm. 25, 3, 15–20. Amm. 25, 3, 21–23: Post haec placide dicta familiares opes iunctioribus uelut supremo distribuens stilo Anatolium quaesiuit officiorum magistrum, quem cum beatum fuisse Salutius respondisset praefectus, intellexit occisum acriterque amici casum ingemuit, qui † eletantem contempserat suum. et flentes inter haec omnes, qui aderant, auctoritate integra etiam tum increpabat humile esse caelo sideribusque conciliatum lugeri principem dicens. quibus ideo iam silentibus ipse cum Maximo et Prisco philosophis super animorum sublimitate perplexius disputans hiante latius suffossi lateris uulnere et spiritum tumore cohibente uenarum epota gelida aqua, quam petiit medio noctis horrore, uita facilius est absolutus anno aetatis altero et tricesimo. Zum Hergang der Schlacht und zum Tod Julians vgl. besonders Rosen (2006), S. 364–366.
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ter oben Erwähnung fand:716 Die Seele des Kaisers steht den Göttern nahe, und nach seinem Tod ist er mit dem Himmel und den Gestirnen vereint, und daher besteht kein Grund, ihn zu betrauern.717 Anhand der Sterbeszene stellt auch Libanios die ἀρετή Julians dar; in seinem Epitaphios auf den Verstorbenen finden sich ähnliche Gesichtspunkte wie bei Ammian, etwa das Lob auf die Leistungen des Kaisers (das diesem in den Mund gelegt wird) und seine dementsprechend glückliche Stellung nach dem Tod sowie ein Hinweis auf den Tod des Sokrates. Libanios nennt explizite Vergleichspunkte zwischen dem Sterben dieser beiden Männer – zuletzt den, dass dieser wie jener im Gegensatz zu den Anwesenden keine Tränen vergoss.718 Bei dem Philosophen, der sich in seinem Sterben nach dem Vorbild des Sokrates richtet, handelt es sich wohl kaum ausschließlich um einen literarischen Topos, auch wenn die Trauerrede auf Julian ebenso wie die Schilderungen Ammians und der Historia Augusta sicherlich keine durchweg realistische Wiedergabe der Geschehnisse beinhalten. Vielmehr steht zu vermuten, dass die Vorstellung, ein philosophisch lebender Mann könne – wie Sokrates – sogar in seinen letzten Stunden an seinen Grundsätzen festhalten und den Freunden Trost spenden sowie ihr Weinen tadeln, fest in der Vorstellungswelt antiker Menschen verankert war. Ein christliches Pendant zu Mark Aurel und Julian bildet Kaiser Konstantin, dessen Lebensende Euseb in ähnlicher Weise schildert. Mehrfach wird die Nähe Konstantins zu Gott während seines Sterbeprozesses herausgestellt, zunächst in einem Abschnitt über die Taufe des Kaisers kurz vor seinem Tod, wobei Euseb darauf verweist, dass der Kaiser sich umgekleidet habe und nicht mehr mit Purpur in Berührung kommen wollte.719 Nach einem Dankgebet pries er sich selbst als glückselig, des ewigen Lebens würdig und Teilhaber am göttlichen Licht.720 Die hochrangigen Militärs, die daraufhin zu ihm kamen, zeichneten sich durch Weinerlich716 Vgl. die Stelle SHA Aur. 18, 2, die weiter oben in II. 4.1.2.3 behandelt wird. 717 Vgl. Amm. 25, 3, 17: Uel cum in umbram et angustias amendarer, uel post principatum susceptum animum tamquam a cognatione caelitum defluentem immaculatum, ut existimo, conseruaui, sowie 25, 3, 22. 718 Liban. or. 18, 272: Ἴδοι δ᾿ ἄν τις αὐτοῦ τὴν ἀρετὴν κἀκ τῶν τελευταίων ῥημάτων. ἁπάντων γὰρ τῶν περιεστηκότων εἰς θρῆνον πεπτωκότων καὶ οὐδὲ τῶν φιλοσοφοῦντων δυναμένων καρτερεῖν ἐπετίμα τοῖς τε ἄλλοις καὶ οὐχ ἥκιστα δὴ τούτοις εἰ τῶν βεβιωμένων αὐτὸν εἰς Μακάρων νήσους ἀγόντων οἵδε ὡς ἀξίως Ταρτάρου βεβιωκότα δακρύοιεν. ἐῴκει δὴ ἡ σκήνη μὲν τῷ δεξαμένῳ δεσμωτηρίῳ τὸν Σωκράτην, οἱ παρόντες δὲ τοῖς ἐκείνῳ παροῦσιν, ἡ πληγὴ δὲ τῷ φαρμάκῳ, τὰ ῥήματα δὲ τοῖς ῥήμασι, τῷ δὲ μὴ δακρύσαι τὸν Σωκράτην μόνον τὸ μηδὲ τοῦτον. Zum Lob des Kaisers auf die eigene Lebensführung und dem damit verbundenen Tadel an der Trauer derjenigen, die in der Todesstunde bei ihm sind, sowie dem Trost für sie vgl. auch Liban. or. 18, 296–298. – Fatouros/Krischer/Portmann (2002), S. 256 Anm. 308 verweisen darauf, dass die imitatio des Sokrates an dieser Stelle einen apologetischen Charakter besitzt, da die herausragende Tugend Julians einen starken Kontrast zu dem negativen Bild abgibt, das die Christen von ihm zeichneten. Diese Überlegungen gelten in gleicher Weise für die Darstellung Ammians. 719 Eus. vita Const. 4, 62. 720 Eus. vita Const. 4, 63, 1: Κἄπειτα τὴν φωνὴν ἀνυφώσας εὐχαριστήριον ἀνέπεμπε τῷ θεῷ προσευχήν, μεθ᾿ ἣν ἐπῆγε λέγων· „νῦν ἀληθεῖ λόγῳ μακάριον οἶδ᾿ ἐμαυτόν, νῦν τῆς ἀθανάτου ζωῆς πεφάνθαι ἄξιον, νῦν τοῦ θείου μετειληφέναι φωτός.“
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keit und Jammern (ἀπωδύροντο, ἀποκλαιόμενοι) aus und richteten Akklamationen an ihn, da sie ihren Kaiser noch nicht gehen lassen wollten.721 Dieser jedoch antwortete ihnen, dass er nun des wahren Lebens würdig sei und eilig zu seinem Gott reisen wolle.722 Konstantins Fürsorge um die Hinterbliebenen (Volk wie Familie) zeigte sich, so die Darstellung des Biographen, in seinem Testament. Demnach waren alle Maßnahmen getroffen, die einen würdevollen Tod zu einem geeigneten Zeitpunkt ermöglichten, und Konstantins Seele wurde zu Gott emporgenommen.723 Der Gedanke einer Angleichung des ersten christlichen Kaisers an Gott fügt sich stimmig in das Bild des erhabenen Herrschers, das Euseb in der gesamten Vita von ihm bietet. Zwar handelt es sich bei Konstantin nicht um einen Philosophen wie die beiden zuvor behandelten Kaiser, aber ihm wird eine herausragende Tugendhaftigkeit zugewiesen, die ihn auch in Glaubensfragen als höchste Instanz auf Erden erscheinen lässt,724 so dass die besondere Nähe zu Gott daran aufgezeigt wird, wie er sich am Ende seines Lebens verhält. Lose Bezüge zu den bisher behandelten Schilderungen von Weisen, die das Weinen verbieten, lassen sich schließlich noch bei zwei römischen Persönlichkeiten herstellen, deren Lebensstil nicht als wesentlich philosophisch oder religiös geprägt gilt. Dennoch wird ihnen angesichts ihres nahe bevorstehenden Todes ein besonnener Umgang mit ihrem Umfeld zugeschrieben, der sie als in dieser Situation vorbildhaft charakterisiert. Dies betrifft zum einen Antonius in der Darstellung Plutarchs: Als der römische Feldherr sich nach der Schlacht bei Actium wieder nach Alexandria begeben hatte, stand ihm deutlich vor Augen, dass sein baldiger Tod unabwendbar war. Am Abend vor der entscheidenden Schlacht am 1.8.30 v. Chr. (in der die Streitkräfte des Antonius kampflos zu Oktavian überliefen) ließ er sich üppig mit Wein bewirten, da er vermutete, am Folgetag zu sterben, und dementsprechend äußerte er sich. Daraufhin weinten seine Freunde, und er versuchte sie zu trösten, indem er ihnen vorhielt, dass er einen ruhmvollen Tod in der Schlacht sterben werde.725 Mit seiner Beschreibung attestiert Plutarch dem Feldherrn ein würdiges Verhalten kurz vor seinem Tod, und auch wenn seine sonstige Lebensgestal721 Vgl. Cameron/Hall (1999), S. 342. 722 Eus. vita Const. 4, 63, 2: ἐπεὶ δὲ τῶν στρατοπέδων οἱ ταξιάρχοι καὶ καθηγεμόνες εἴσω παρελθόντες ἀπωδύροντο, σφᾶς αὐτοὺς ἐρήμους ἔσεσθαι ἀποκλαιόμενοι, ἐπηύχοντό τε ζωῆς αὐτῷ χρόνους, καὶ τούτοις ἀποκρινάμενος, νῦν ἔφη τῆς ἀληθοὺς ζωῆς ἠξιῶσθαι μόνον τ᾿ αὐτὸν εἰδέναι ὧν μετείληφεν ἀγαθῶν· διὸ καὶ σπεύδειν μηδ᾿ ἀναβάλλεσθαι τὴν πρὸς τὸν αὐτοῦ θεὸν πορείαν. 723 Eus. vita Const. 4, 63, 3–64, 2, besonders 64, 2: Ἐν δὴ ταύτῃ τούτων ἀξιωθεὶς βασιλεύς, ἐπὶ τῆς ὑστάτης ἁπασῶν ἡμέρας (…) ἀμφὶ μεσημβρινὰς ἡλίου ὥρας πρὸς τὸν αὐτοῦ θεὸν ἀνελαμβάνετο, θνητοῖς μὲν τὸ συγγενὲς παραδοὺς ἔχειν, αὐτὸς δ᾿ ὅσον ἦν αὐτοῦ τῆς ψυχῆς νοερόν τε καὶ φιλόθεον τῷ αὐτοῦ θεῷ συναπτόμενος. Zu den Reaktionen der Führungsschichten nach dem Tod des Herrschers am 22. Mai 337 vgl. weiter oben II. 4.1.2.3. 724 Als lenkende Instanz an der Spitze des Staates, der die höchste Autorität auch in Glaubensfragen zukommt, wird Konstantin etwa beim Konzil von Nikaia Vita Const. 3, 6–23 präsentiert. 725 Plut. Ant. 75, 1–3: Πάλιν δὲ Ἀντώνιος ἔπεμπε Καίσαρα μονομαχῆσαι προκαλούμενος. ἀποκριναμένου δὲ ἐκείνου πολλὰς ὁδοὺς Ἀντωνίῳ παρεῖναι θανάτων, συμφρονήσας ὅτι τοῦ διὰ μάχης οὐκ ἔστιν αὐτῷ βελτίων θάνατος, ἔγνω καὶ κατὰ γῆν ἅμα καὶ θάλατταν ἐπιχειρεῖν. καὶ παρὰ δεῖπνον, ὡς λέγεται, τοὺς οἰκέτας ἐκέλευσεν ὑποχεῖν καὶ προθυμότερον εὐωχεῖν αὐτόν· ἄδηλον γάρ εἰ τοῦτο ποιήσουσιν αὔριον ἢ δεσπόταις ἑτέροις ὑπηρετήσουσιν, αὐτὸς δὲ
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tung nicht derjenigen eines Philosophen entsprach, so gewannen in diesem Moment seine tugendhaften Charakterzüge die Oberhand.726 Das zweite Beispiel ist diesem ganz ähnlich, denn auch Kaiser Otho versteht sich im Umgang mit seinen Leuten, als absehbar wird, dass er eine militärische Niederlage erleiden wird. Nachdem die eigenen Truppen in der ersten Schlacht von Bedriacum (14. April 69 n. Chr.) denen des Vitellius unterlegen waren, hält Otho eine letzte Ansprache an seine Soldaten, in der er sie auffordert, nicht für ihn zu kämpfen und seinen Tod hinzunehmen.727 Anschließend richtet er seine Appelle freundlich an einzelne, wodurch er Jung und Alt gleichermaßen emotional anspricht, und zwar die einen aufgrund seiner Autorität als Herrscher, die anderen durch seine Bitten. Mit ruhiger Miene und unerschrocken auf sie einredend schafft er es – so Tacitus – ihre Tränen zurückzudrängen, die in der vorliegenden Situation als unpassend klassifiziert werden (placidus ore, intrepidus verbis, intempestivas suorum lacrimas coercens). Auch weiterhin bleibt er gefasst und ist bestrebt, dass man seinen Anweisungen Folge leistet; seinen Neffen Salvius Cocceianus wiederum tröstet er und lobt vor diesem die eigenen Taten, bevor er sich zur Ruhe begibt.728 Allen behandelten Episoden ist gemeinsam, dass dem Umgang mit dem eigenen (baldigen) Sterben und dem Verhalten gegenüber anderen in dieser Situation eindeutig ein Vorbildcharakter zugewiesen wird. Eine uneingeschränkte, alle Bereiche des Lebens umfassende moralische Integrität ist zwar nicht bei allen Protagonisten über jeglichen Zweifel erhaben, doch die Philosophen, Kaiser und hochrangigen Funktionäre werden als Individuen geschildert, die große Verantwortung für andere übernehmen und selbst Vorsorge für die Zeit nach ihrem unmittelbar bevorstehenden Tod treffen. Ihre Aufforderung an die Anwesenden, nicht zu weinen, bezeugt ebenso wie der Trost an sie, dass sie der Verantwortung, die ihnen durch ihre Position zukommt, vollauf gerecht werden. Indem sie die Angst und Trauer der ihnen Untergebenen vor einem Verlust zu beschwichtigen suchen, sich selbst dabei jedoch durch Aufrichtigkeit und Unerschrockenheit auszeichnen, mit der sie ihr Schicksal akzeptieren, werden sie bis zum letzten Moment als Persönlichkeiten in Führungspositionen wahrgenommen. Der Tod des Philosophen Sokrates stellt in κείσεται σκελετὸς καὶ τὸ μηδὲν γενόμενος. τοὺς δὲ φίλους ἐπὶ τούτοις δακρύοντας ὁρῶν, ἔφη μὴ προάξειν ἐπὶ τὴν μάχην, ἐξ ἧς αὑτῷ θάνατον εὐκλεᾶ μᾶλλον ἢ σωτηρίαν ζητεῖν καὶ νίκην. 726 Lateiner (2009), S. 131 formuliert das philosophische Verhalten des Antonius in folgendem Wortspiel: „The noble, stoic (but not Stoic) Antony consoles his defeated and weeping companions at their last supper“. Zwar wird Antonius nicht in der Schlacht getötet, doch er erweist sich schließlich durch seinen Selbstmord (zu dem er aufgrund falscher Informationen getrieben wurde) als tapfer, vgl. Plut. Ant. 76 f. 727 Tac. hist. 2, 47. 728 Vgl. Tac. hist. 2, 48, besonders 48, 1: Talia locutus, ut cuique aetas aut dignitas, comiter appellatos, irent propere neu remanendo iram victoris asperarent, iuvenes auctoritate, senes precibus movebat, placidus ore, intrepidus verbis, intempestivas suorum lacrimas coercens. Wie es auch bei den zuvor behandelten Beispielen der Fall war, richtet der Todgeweihte seine Gedanken mit voranschreitendem Tag immer gezielter auf das eigene Sterben; auch Otho bittet noch um einen Schluck Wasser, er verbringt eine ruhige Nacht und bringt sich schließlich bei Anbruch des Tages mit einem Dolchstoß um (Tac. ann. 2, 49, 2).
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dieser Reihe ein Muster dar, auf das vielfach – und zwar seitens der historischen Persönlichkeiten und ebenso von antiken Schriftstellern – zurückgegriffen wurde und bei dessen Nachahmung eine unterschiedliche graduelle Abstufung zu beobachten ist, die an der Intensität des philosophischen Lebensstils des Betreffenden ausgerichtet ist. 4.3 Tränen beim Abschied Eine größere Gruppe von Beispielen zeigt auf, dass es üblich war, auch bei einem Abschied in aller Öffentlichkeit seinen Emotionen durch Tränen Ausdruck zu verleihen. Da in ihnen der Schmerz über eine Trennung zum Ausdruck kommt, verwundert es nicht, dass ein tränenreicher Abschied beschrieben wird, um den Charakter einer führenden Persönlichkeit lobend herauszuheben. Die emotionale Intensität der beschriebenen Szenen hängt in der Regel eng mit dem Umstand zusammen, dass ein Wiedersehen nicht zwangsläufig gewährleistet war und der Abschied somit eine starke Ungewissheit oder mitunter – angesichts einer lebensbedrohlichen Situation – sogar die Gewissheit nach sich zog, dass es sich um eine endgültige Trennung handelte. Derjenige, der Abschied nimmt, zeigt mitunter vor anderen sehr offen, wie sehr ihn diese Situation emotional aufwühlt. Als Caesar im Januar 49 v. Chr. in Italien einmarschierte, herrschte eine immens hohe politische Anspannung in Rom, die sich allein aus der Tatsache ablesen lässt, dass Pompeius und viele der Senatoren die Stadt verließen. Eine eindringliche Schilderung liefert Cassius Dio von ihrer Abreise, die ihm zufolge der außergewöhnlichen Lage entsprechend in einer emotional stark aufgeladenen Atmosphäre verlief.729 Zunächst hebt er die Unruhe und Trauer (ταραχὴ καὶ πένθος) hervor, die sich durch ein solches Handeln in Rom verbreiteten. Im Morgengrauen klagten die hochrangigen Politiker und beteten bei den Tempeln zu den Göttern, wobei sie überwundene Gefahren in Erinnerung riefen. Als sie schließlich aufbrachen, herrschte überall großes Wehklagen, in dessen Rahmen Dio drei unterschiedliche Modi der Verabschiedung stellt: Die einen nahmen innig Abschied von ihren Angehörigen und der Stadt, als sähe man sich zum letzten Mal; andere bezogen das Wehklagen auf sich selbst (ἑαυτούς ἐθρήνουν) und beteten zusammen mit den Abreisenden; die überwiegende Mehrheit äußerte jedoch Flüche angesichts der Tatsache, dass sie Frau und Kinder zurücklassen musste. Anschaulich beschreibt Dio, wie zögerlich der Abzug vonstatten ging und wie schwer Wegziehenden und Bleibenden der Abschied fiel; sogar von Fremden wurde jeder der Abreisenden beklagt, und man vergoss ohne Maß Tränen (ὀλολυγὴ ἐφ᾽ ἑκάστῳ αὐτῶν πολλὴ καὶ παρὰ τῶν ἄλλων καὶ δάκρυα ἄπλετα ἐγίγνετο). Anhand dieser Situation wird – Cassius Dio zufolge – deutlich, wie schwer der römische Staat vom Handeln Caesars getroffen war, da dieser eine regelrechte Spaltung bewirkte; ein Teil der Senatoren stand auf seiner Seite, ein Teil war neutral eingestellt, und viele waren gegen ihn. Die Konsequenzen sowohl auf politischer wie auf per729 Auf diese Stelle wurde bereits in II. 2.3 kurz eingegangen.
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sönlicher, emotionaler Ebene werden in höchster Intensität in Dios Wiedergabe der Ereignisse aufgezeigt.730 Anhand namentlich genannter Personen, nämlich Ciceros und seines Bruders Quintus, wird von Plutarch ein eindringlicher Abschied geschildert. Er berichtet, wie Cicero im Jahre 43 v. Chr. auf seinem Landgut bei Tusculum von seiner Ächtung durch Oktavian, Antonius und Lepidus erfuhr, weshalb er zusammen mit seinem Bruder die Reise zu Brutus nach Makedonien angetreten habe.731 Von ihrem Leid (ὑπὸ λύπης) waren sie so erschöpft, dass sie sich in Sänften tragen und diese – so Plutarch – immer wieder abstellen ließen, damit sie gegenseitig ihrem Kummer Ausdruck verleihen konnten (ἀλλήλοις προσωλοφύροντο). Die außerordentliche innere Anspannung, unter der die beiden innerlich standen, ließ sie demnach gefühlsbetont handeln. Allerdings erachtete Quintus es schließlich für sinnvoller, seinen Bruder vorausreisen zu lassen und selbst noch einmal umzukehren, um sich zu Hause für die Reise auszurüsten. Daher verabschiedeten sich die Brüder mit einer Umarmung und Tränen voneinander.732 Sie sollten sich nicht mehr wiedersehen, was wohl auch der Grund für Plutarch gewesen ist, die Szene so gefühlsbetont auszugestalten – im Leser soll Sympathie für die Protagonisten erweckt werden. Dies ist ebenfalls an der Stelle der taciteischen Annalen der Fall, an der über den Abschied des Germanicus von Frau und Kind berichtet wird. Der Feldherr befand sich in Köln und hatte gerade einen Aufstand der rheinischen Legionen niedergeschlagen, als erneute Unruhen drohten.733 Daher wies er auf Anraten seiner Entourage trotz anfänglicher Zweifel seine Frau Agrippina an, zusammen mit dem kleinen Caligula das Feldlager zu verlassen. Diese weigerte sich zwar zunächst, musste sich aber dem Willen des Germanicus fügen, dem der Abschied selbst schwerfiel; er 730 Cass. Dio 41, 9, 1–7: Οὕτως οὖν δὴ πάντων αὐτῶν διακειμένων (…), οὐδ᾽ ἐπινοῆσαι ῥᾴδιον ὅση μὲν ταραχὴ ὅσον δὲ καὶ πένθος ἐν τῇ τῶν τε ὑπάτων καὶ τῶν ἄλλων τῶν συνεξορμωμένων σφίσιν ἐξόδῳ ἐγένετο. τήν τε γὰρ νύκτα πᾶσαν ἀνασκευαζόμενοι καὶ περιφοιτῶντες ἐθορύβουν, καὶ ἐπὶ τὴν ἕω πολὺς μὲν πρὸς τοῖς ἱεροῖς οἶκτος (καὶ γὰρ ἑκασταχόθι περιιόντες εὐχὰς ἐποιοῦντο) πάντας αὐτοὺς ἐλάμβανε· τούς τε γὰρ θεοὺς ἀνεκάλουν καὶ τὰ δάπεδα κατεφίλουν, ὁσάκις τε [καὶ] ἐξ οἵων περιεγένοντο ἀνηριθμοῦντο, καὶ ὅτι τὴν πατρίδα, ὃ μηπώποτε ἐτετόλμητό σφισιν, ἐξέλιπον ὠδύροντο· πολὺς δὲ καὶ περὶ τὰς πύλας θρῆνος ἦν· οἱ μὲν γὰρ ἀλλήλους τε ἅμα καὶ ἐκείνην ὡς καὶ τελευταῖον ὁρῶντες ἠσπάζοντο, οἱ δὲ ἑαυτούς τε ἐθρήνουν καὶ τοῖς ἐξιοῦσι συνηύχοντο, καὶ οἵ γε πλείους ὡς καὶ προδιδόμενοι κατηρῶντο (…). κἀν τούτῳ ὀλολυγὴ ἐφ᾽ ἑκάστῳ αὐτῶν πολλὴ καὶ παρὰ τῶν ἄλλων καὶ δάκρυα ἄπλετα ἐγίγνετο· τὴν μὲν γὰρ τοῦ κρείττονος ἐλπίδα ἥκιστα, ἅτε ἐν τοῖς τοιούτοις ὄντες, τὰ δὲ δὴ πάθη πρότερον μὲν οἱ καταλειπόμενοι ἔπειτα δὲ καὶ οἱ ἀφορμώμενοι προσεδέχοντο. εἴκασε δ᾽ ἄν τις αὐτοὺς ἰδὼν δύο τε δήμους καὶ δύο πόλεις ἐκ μιᾶς γίγνεσθαι, καὶ τὴν μὲν ἀνίστασθαί τε καὶ φεύγειν, τὴν δὲ ἐγκαταλείπεσθαί τε καὶ ἁλίσκεσθαι. Πομπήιος μὲν οὖν οὕτω τὸ ἄστυ ἐξέλιπεν, συχνοὺς τῶν βουλευτῶν ἐπαγόμενος (…). 731 Plut. Cic. 46, 1–47, 1. 732 Plut. Cic. 47, 2–4: Ἐκομίζοντο δ᾽ ἐν φορείοις, ἀπειρηκότες ὑπὸ λύπης, καὶ κατὰ τὴν ὁδὸν ἐφιστάμενοι καὶ τὰ φορεῖα παραβάλλοντες ἀλλήλοις προσωλοφύροντο. μᾶλλον δ᾽ ὁ Κόιντος ἠθύμει, καὶ λογισμὸς αὐτὸν εἰσῄει τῆς ἀπορίας· οὐδὲν γὰρ ἔφθη λαβεῖν οἴκοθεν, ἀλλὰ καὶ τῷ Κικέρωνι γλίσχρον ἦν ἐφόδιον· ἄμεινον οὖν εἶναι τὸν μὲν Κικέρωνα προλαμβάνειν τῆς φυγῆς, αὐτὸν δὲ μεταθεῖν οἴκοθεν συσκευασάμενον. ταῦτ᾽ ἔδοξε, καὶ περιβαλόντες ἀλλήλους καὶ ἀνακλαυσάμενοι διελύθησαν. 733 Vgl. Tac. ann. 1, 31–39.
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umarmte die schwangere Gattin und den kleinen Sohn unter Tränen. Mit weiteren jammernden (lamentantes) Frauen verließ sie das Lager – paradoxerweise führte gerade dieser Auszug aus dem Feldlager dazu, dass die Soldaten einlenkten und ihr Verhalten bereuten.734 Die Gefahrensituation wurde in diesem Falle zwar bewältigt, doch zeigt sich deutlich, dass das Heerlager einen Ort darstellte, an dem unvermittelt Bedrohungen auftreten konnten. Auch die Absicht, den ambivalenten Charakter eines Herrschers anhand seiner Tränen bei einer Abreise hervortreten zu lassen, lässt sich beobachten. So beschreibt etwa Cassius Dio eine Abschiedsszene als bewusst von Kaiser Tiberius inszeniert: Da diesem bewusst war, dass die Machtposition seines Prätorianerpräfekten Lucius Aelius Seianus zu groß geworden war, er selbst sich aber nicht abrupt von ihm distanzieren konnte, wählte er die Taktik, dessen öffentliche Loyalität zum Kaiser zu betonen. In diesem Sinne ist die Bemerkung Dios zu verstehen, Tiberius habe beim Abschied geäußert, ein Teil seines Leibes und seiner Seele sei gleichsam aus ihm herausgeschnitten worden, zudem habe er den Seianus umarmt und unter Tränen geküsst.735 Die laut Dio geheuchelten Tränen des Kaisers sollten Verbundenheit signalisieren, obwohl seine Absicht tatsächlich darin bestand, sich des Mannes zu entledigen. Nicht nur der Abreisende weint bei seinem Aufbruch, sondern es wird auch von Tränen derjenigen, die von einer ihnen übergeordneten Persönlichkeit Abschied nehmen, berichtet; dabei wird stets eindeutig die Absicht verfolgt, den Protagonisten in ein positives Licht zu rücken. Beispiele hierfür bieten sich mit der Schilderung Plutarchs von der starken Bekundung der Trauer seitens der Soldaten, die Cato der Jüngere im Jahre 67 v. Chr. nach Ablauf seines Militärtribunats in Makedonien verließ,736 Lukans Beschreibung der Tränen, die die Bevölkerung von Larisa bei der Abreise des Pompeius verströmte,737 oder der Erwähnung von Tränen bei Nikolaus von Damaskus, der dadurch die Bevölkerung von Apollonia ihre Sympathie für den jungen Oktavian bekunden lässt.738 Velleius Paterculus erwähnt Tränen seitens der stadtrömischen Bevölkerung, als Tiberius sich im Jahre 6 v. Chr. nach 734 Eine Rede des Germanicus zu den Soldaten tat ihr übriges, um diese wieder in übliche Bahnen zu lenken, vgl. Tac. ann. 1, 40–44, besonders ann. 1, 40, 3 f.: Diu cunctatus aspernantem uxorem, cum se divo Augusto ortam neque degenerem ad pericula testaretur, postremo uterum eius et communem filium multo cum fletu complexus, ut abiret perpulit. Incedebat muliebre et miserabile agmen, profuga ducis uxor, parvulum sinu filium gerens, lamentantes circum amicorum coniuges, quae simul trahebantur; nec minus tristes qui manebant. 735 Vgl. Cass. Dio 58, 4, besonders 58, 4, 9: Τιβέριος νόσον προσποιησάμενος τὸν Σεϊανὸν ὡς καὶ ἐπακολουθήσων εἰς Ῥώμην προέπεμψε λέγων μέρος τοῦ σώματος αὐτοῦ καὶ τῆς ψυχῆς ἀποσπᾶσθαι ἀπ᾽ αὐτοῦ καὶ περιέβαλεν αὐτὸν καὶ κατεφίλησεν μετὰ δακρύων ὥστε Σεϊανὸν ἐπὶ πλέον ἐπαίρεσθαι. Wenige Monate nach diesem Vorfall, am 18. Oktober 31, wurde Sejan getötet. 736 Vgl. dazu genauer II 2.2.2.1. 737 Pompeius hatte sich nach der Schlacht von Pharsalos am 9.8.48 v. Chr. nach Larisa begeben und riet dann bei seiner Abreise der Bevölkerung, sich auf die Seite Caesars zu stellen, vgl. Lucan. 7, 712–725, besonders 723–725: Avehit inde | Pompeium sonipes, gemitus lacrimaeque secuntur | Plurimaque in saevos populi convicia divos. 738 Nicol. Damasc. Aug. 45: Τότε δὲ μετὰ δακρύων αὐτὸν ὁ πᾶς δῆμος ἀποσπώμενον προύπεμψε, θαυμάζων τὸ ἐν τῆι παρεπιδημίαι κόσμιον καὶ σῶφρον καὶ ἅμα οἰκτείρων τὴν τύχην.
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Rhodos begab.739 Dramatisch ausgestaltet ist der Bericht Herodians über die Abreise des jungen Severus Alexander im Jahre 231 aus Rom in Richtung Osten, wo ein Krieg gegen die Perser bevorstand. Sein Auszug aus der Stadt vollzog sich unter den Tränen beider Seiten – der Kaiser selbst vergießt Tränen, doch aufgrund seiner Beliebtheit weint auch die Βevölkerung.740 Der rituelle Kontext einer profectio bietet in dieser sehr knappen Beschreibung die Folie, auf der die emotionale Ergriffenheit der Akteure präsentiert wird.741 Ein Abschied in prekären Situationen kann demnach in der Historiographie in der Form Niederschlag finden, dass damit ein Ausnahmezustand dem Leser emotional nähergebracht wird. Die zurate gezogenen Historiographen gestalten ihre Schilderungen literarisch aus, doch lassen die hier besprochenen Beispiele darauf schließen, dass wohl in vielen anderen derartigen Situationen geweint wurde und dass Tränen unter derartigen Umständen keinen Anstoß erregten, sondern vielmehr als Bestandteil menschlicher Lebenswirklichkeit aufgefasst werden sollten. Beim Abschied eines Machthabers von seinen Untergebenen bekunden diese ihm in den aufgeführten Beispielen mitunter sehr stark ihr Bedauern über seine Abreise; der Mächtige wiederum zeigte seine Hochschätzung dieses Verhaltens an. Somit dienten die aus Schmerz über den Abschied vergossenen Tränen auch der Versicherung der gegenseitigen Loyalität.742 4.4 Tränen in religiösen Kontexten Tränen werden regelmäßig in religiösen Zusammenhängen unterschiedlicher Art vergossen und haben dabei im Wesentlichen die Funktion, die Aufrichtigkeit des eigenen Anliegens zu untermauern.743 Sie sind an eine göttliche Macht oder – im 739 Vell. 2, 99, 3: Quis fuerit eo tempore ciuitatis habitus, qui singulorum animi, quae digredientium a tanto uiro omnium lacrimae, quam paene ei patria manum iniecerit, iusto seruemus operi. Aufschlussreich ist in dieser Beschreibung auch die Anmerkung des Verfassers, er werde in einem künftigen Werk in noch angemessenerer Länge von dieser Begebenheit berichten. 740 Herodian. 6, 4, 2: Καταλαβούσης δὲ τῆς ὡρισμένης ἡμέρας τε τὰς ἐπὶ ταῖς ἐξόδοις νενομισμένας ἱερουργίας, παραπεμφθείς τε ὑπὸ τῆς συγκλήτου καὶ πάντος τοῦ δήμου, τῆς Ῥώμης ἀπῆρεν, ἐπιστρεφόμενος ἀεὶ πρὸς τὴν πόλιν καὶ δακρύων. ἀλλ᾿ οὐδὲ τῶν δημοτῶν ἦν τις ὃς ἀδακρυτὶ παρέπεμπεν αὐτόν· πόθον γὰρ ἑαυτοῦ τῷ πλῆθει ἐμπεποιήκει ἀνατραφείς τε ὑπ᾿ αὐτῶν καὶ μετρίως ἄρξας τοσούτων ἐτῶν. 741 Für die spätere Zeit finden sich im christlichen Kontext Beispiele der mit Tränen verbundenen Trauer um abreisende Geistliche seitens der Gemeinde, vgl. etwa Theod. hist. eccl. 4, 15 und 4, 18 sowie Soz. hist. eccl. 5, 15, 3. 742 Ähnlich verhält es sich beim Gegenstück des Abschiedsschmerzes, nämlich der Freude über das Wiedersehen, die mitunter ebenfalls Tränen hervorrufen kann. Bereits eingegangen wurde etwa auf die von Velleius Paterculus geschilderten Tränen der Soldaten über das Wiedersehen mit ihrem Feldherrn Tiberius (vgl. auch II. 2.2.2.1) sowie auf die Soldaten des Antonius, die laut Plutarch bei der Rückkehr aus dem Partherland weinten, als sie den Grenzfluss erreichten (Plut. Ant. 49, 5; vgl. dazu II. 1.6 sowie II. 2.2.3). Für das Grußweinen als Sitte bietet Meuli (1975b), S. 380–385 ein Fülle von Beispielen aus verschiedenen Ländern und Zeiten, darunter auch zahlreiche Belege aus der griechisch-römischen Antike. 743 Vgl. Althoff (1996), S. 245 und Becher (2001), S. 39.
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Falle der Buße – an deren Stellvertreter auf Erden gerichtet. Auf welche Weise Tränen bei der Kirchenbuße, beim Gebet und bei der Bekehrung auftraten, zeigen die folgenden Beispiele auf. 4.4.1 Tränen bei der Buße: Theodosius I. Tränen waren im Früh- und Hochmittelalter, so konstatiert Gerd Althoff, in der Regel ein wesentlicher Bestandteil der Herrscherbuße.744 Diesem kirchlichen Ritual unterwarf sich als erster weltlicher Machthaber der römische Kaiser Theodosius I., um seine Exkommunikation durch Ambrosius, den Bischof von Mailand, wieder aufzuheben. Zu einem Bruch zwischen staatlicher und weltlicher Gewalt war es gekommen, nachdem im Frühjahr 390 eine Anordnung des Theodosius in Thessalonike zu einem Blutbad geführt hatte, für das Ambrosius ihn verantwortlich machte.745 In einem längeren Brief fordert Ambrosius ihn auf, Reue für seine Sünde zu zeigen. Das Schreiben beginnt mit dem Hinweis auf die amicitia, die zwischen Kaiser und Bischof bestehe, sowie auf seinen Anlass: Ambrosius möchte sich dafür rechtfertigen, dass er Thodosius aus dem Weg geht und Mailand vor dessen Eintreffen verlassen hat.746 Zwar sei sein Rat beim Kaiser nicht erwünscht, schweigen könne er aber auch nicht, denn in diesem Falle würde ihn eine Mitschuld treffen – die Pflicht des Priesters bestehe darin, den Irrenden zu mahnen, und dies tut Ambrosius in seinem Brief ausgiebig.747 Die Schwere des Verbrechens dient ihm als Ausgangspunkt, um die Maßnahmen darzulegen, mit denen es gesühnt werden kann.748 Die Argumentation des Ambrosius beruht im Kern darauf, dass er sich als Vertreter der Kirche und Seelsorger präsentiert, der Verantwortung für das Seelenheil
744 Vgl. Althoff (1996), S. 245–247. 745 Vgl. Demandt (22007), S. 163 f., der auch auf einen Konflikt zwischen Kaiser und Mailänder Bischof im Jahr 388 hinweist, und – ausführlicher – McLynn (1994), S. 315–323; mehrere Konflikte zwischen Theodosius und Ambrosius in den Jahren zuvor sowie bereits in diesem Zusammenhang erfolgte Überlegungen, den Kaiser von der Messe auszuschließen, behandelt Kolb (1980), S. 43–48; vgl. ferner Leppin (2003), S. 153–156. 746 Ambr. epist. e. c. 11, 1: Et veteris amicitiae dulcis mihi recordatio est et beneficiorum, quae crebris meis intercessionibus summa gratia in alios contulisti, gratiae memini. Unde colligi potest quod non ingrato aliquo affectu adventum tuum semper mihi antehac exoptatissimum declinare potuerim. Sed qua causa hoc fecerim expediam. Über Beratungen des Theodosius und mögliche Gründe seiner Abreise vgl. Kolb (1980), S. 49. 747 Vgl. Ambr. epist. e. c. 11, 2–5, vgl. besonders die Bemerkung in Abschnitt 3: Si sacerdos non dixerit erranti, is qui erraverit in sua culpa morietur et sacerdos reus erit poenae, quia non admonuit errantem. Ambrosius beklagt zunächst, vom Konsistorium ausgeschlossen zu sein, allerdings erfuhr er dennoch von dem Massaker in Thessaloniki und sieht sich demnach gezwungen, seine Ansicht darüber kundzutun. Über den tatsächlichen Einfluss des Ambrosius auf die kaiserliche Politik in diesen Jahren differieren die Forschungsmeinungen, es seien exemplarisch Kolb (1980), der Ambrosius in einer starken Position sieht, und Cameron (2011), S. 63 f., der eine tiefere Einflussnahme in Frage stellt, gegenübergestellt. 748 Vgl. Ambr. epist. e. c. 11, 6.
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des Kaisers als eines Mitgliedes dieser Gemeinschaft trägt.749 Er zeigt diesem eine Handlungsoption auf, indem er ihm das Beispiel des biblischen Königs David vor Augen hält, geschickt eingeführt mit der Bemerkung, ob er sich etwa schäme, das zu tun, was der König, Prophet und Stammvater Christi getan habe (An pudet te, imperator, hoc facere quod rex propheta auctor Christi secundum carnem prosapiae fecit David?). Es folgen einige Abschnitte, in denen der Vorbildcharakter dieses alttestamentarischen Herrschers herausgestellt wird, der sich nicht scheute, für seine Sünden Buße zu tun und sich vor Gott zu erniedrigen.750 Der Bischof drängt jedoch nicht in dem Bestreben zur Buße, die kaiserliche Autorität anzugreifen, vielmehr soll das Schreiben ihn dazu bewegen, die humilitas als erstrebenswerte Eigenschaft und als Mittel zu verstehen, durch das bei Gott Vergebung zu erlangen ist. Allerdings kann die Sünde nur verziehen werden, wenn die Buße nach außen hin gezeigt wird, und hierbei wird die Wichtigkeit der Tränen explizit hervorgehoben: Peccatum non tollitur nisi lacrimis et poenitentia.751 Anschließend geht Ambrosius eindringlich auf die pietas des Kaisers ein, die ihn stets ausgezeichnet habe, und formuliert wörtlich, dass er ihm das Opfer nicht zu geben wage, wenn dieser am Gottesdienst teilnehme.752 Von Beginn an ist der Verfasser darauf bedacht, keinen Befehlston anzuschlagen oder gar eine offene Konfrontation zu suchen, sondern vielmehr argumentativ schlüssig vorzugehen. Freundschaft und die Hochschätzung der Person des Theodosius führen dazu, dass Ambrosius den Brief eigenhändig formuliert und der Kaiser ihn im Privaten lesen soll: Auf persönlicher wie öffentlicher Ebene soll keine Schmälerung der Autorität erfolgen.753 Die749 Vgl. Ernesti (1998), S. 177 f. 750 Vgl. Ambr. epist. e. c. 11, 7–10; vgl. dazu Ernesti (1998), S. 179 f. sowie auf S. 190–193 den Hinweis auf die Schrift des Ambrosius, De Apologia Prophetae David ad Theodosium Augustum, die noch genauer auf den Vorbildcharakter des biblischen Königs im Hinblick auf die Buße eingeht und dessen Handeln als Maßstab für christliche Herrscher darzulegen versucht. 751 Ambr. epist. e. c. 11, 11: Haec ideo scripsi non ut te confundam, sed ut regum exempla provocent ut tollas hoc peccatum de regno tuo; tolles autem humiliando deo animam tuam. Homo es et tibi venit temptatio, vice eam. Peccatum non tollitur nisi lacrimis et poenitentia. Nec angelus potest nec archangelus, dominus ipse, qui solus potest dicere: Ego vobiscum sum, si peccaverimus nisi poenitentiam deferentibus non relaxat. Ernesti (1998), S. 182 sieht diesen Satz als allgemein gültige Vorschrift an, die beinhaltet, dass jeder Christ seine Sünde der Form nach (d. h. durch die Buße) und ebenso durch seine nach außen hin (durch Tränen) gezeigte innere Verfassung bereuen müsse; die Bereitschaft, seine Seele vor Gott als demütig zu präsentieren, und ihre rituelle Ausgestaltung führen zu einer Tilgung der Sünde. Bereits Cyprian formuliert am Ende seiner Schrift über die Abgefallenen, dass die durch Klagen und Tränen gezeigte Aufrichtigkeit bei der Buße notwendig sei, um Gottes Erbarmen zu erlangen, vgl. Cypr. laps. 241: Si precem toto corde quis faciat, si ueris paenitentiae lamentis et lacrimis ingemescat, si ad ueniam delicti sui Dominum iustis et continuis operibus inflectat, misereri talium potest. 752 Vgl. Ambr. epist. e. c. 11, 12 f.; der Satz offere non audeo sacrificium, si volueris assistere ist demnach nicht als eine generelle Exkommunikation, sondern lediglich als eine Weigerung speziell des Ambrosius zu deuten, wie etwa Leppin (2003), S. 156 und McLynn (1994), S. 326 betonen. – Zur pietas und der ebenfalls als Herrschertugend beschriebenen moderatio vgl. Ernesti 178 f. 753 Vgl. Ambros. epist. 11, 14: Postremo scribo manu mea quod solus legas. Zu dem Umstand, dass es nicht in der Absicht des Ambrosius lag, die kaiserliche Autorität zu schmälern, vgl. Ernesti (1998), S. 175–177 und Schieffer (1972), S. 338 und 340.
4. Wann wird geweint – und wann nicht?
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ser Absicht dient auch die Art und Weise, in der der Bischof seine Weigerung, dem Kaiser die Kommunion zu erteilen, formuliert – er berichtet darüber in Form eines Traums oder einer Vision.754 Bei der Aufforderung zur Buße handelt es sich generell um eine übliche Verfahrensweise. Im vorliegenden Fall stellt sie allerdings insofern eine außergewöhnliche Maßnahme dar, als dass der Kaiser gerade in einer derartigen Situation nicht nur als Privatmann agieren konnte. Deutlich kommt jedoch in dem Brief das Bemühen des Ambrosius zum Ausdruck, Theodosius nicht als Untergebenen, sondern als Gleichgestellten anzusprechen.755 In überhöhender Weise geschieht dies gegen Ende des Schreibens, denn der Bischof stellt sich dort selbst in eine Reihe mit den Propheten, Theodosius wiederum in die Tradition der alttestamentlichen Könige.756 Ambrosius agiert als Christ, nicht als Politiker, und übt in seiner Funktion als Bischof Kritik am Verhalten eines Glaubensmitgliedes, so die Botschaft. Der Ton des Briefes war angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse sicherlich geboten, da Ambrosius sich nicht in der Position befand, den Kaiser zu tadeln oder gar ihm Befehle zu erteilen. Es steht sogar zu bezweifeln, ob es ihm tatsächlich möglich gewesen wäre, Theodosius von der Kommunion auszuschließen, falls dieser die Buße verweigert hätte.757 Der Konflikt zwischen den beiden ranghohen Persönlichkeiten fand auf religiöser wie politischer Ebene statt; welcher Anteil dabei höher zu gewichten ist, wurde von der Forschung unterschiedlich beurteilt.758 Eindeutiger ist die Funktion, die den an den Kaiser persönlich gerichteten Worten zukommt: Sie sind als Lösungsangebot zu verstehen, das Theodosius die Möglichkeit bietet, sein Handeln genau zu überdenken und nach eigenem Ermessen auf die subtile Argumentationsstrategie einzugehen. Ambrosius konstatiert, dass eine Buße unter Tränen stattfinden müsse, um Verzeihung zu erlangen, und der Kaiser ließ sich – wie die folgenden Ereignisse zeigen – auf diesen Vorschlag ein.759 754 Ambr. epist. 11, 14: Cum enim essem sollicitus ipsa nocte qua proficisci parabam, venisse quidem visus es ad ecclesiam sed mihi sacrificium offerre non licuit. Vgl. dazu Cameron (2011), S. 81. 755 In diesem Sinne Ernesti (1998), S. 183–187 und Schieffer (1972), S. 336. 756 Ambr. epist. 11, 16: Istud mihi commune est cum prophetis et tibi erit commune cum sanctis. Vgl. Ernesti (1998), S. 180. 757 So Cameron (2011), S. 81. 758 Eine kurze Zusammenstellung dazu geben Ernesti (1998), S. 187–190 und Kolb (1980), S. 41 f. – Im Gegensatz zu einem Großteil der Forschung legt Kolb (1980), S. 48–64 das Hauptgewicht nicht auf die ethisch-religiöse, sondern die politische Ebene und deutet den Bußakt von Mailand in erster Linie als eine Schwächung der kaiserlichen Macht im Westen des Imperium Romanum (und umgekehrt einer zunehmenden Macht der Kirche); gerade die politische Relevanz des Mailänder Bischofsamtes habe dieses für Ambrosius erst attraktiv erscheinen lassen (S. 59), und sie habe in Oberitalien ein deutliches Gegengewicht zur kaiserlichen Macht gebildet (S. 61); auch Bowersock (2000), S. 66 f. interpretiert die Buße als Triumph des Ambrosius. Anders etwa Demandt (22007), S. 164 über die Buße und Rekonziliation: „Dies ist in der Literatur immer wieder mit Canossa verbunden worden. Anders als Gregor VII und Heinrich IV verband Ambrosius mit der Demütigung seines Kaisers allerdings keine politischen Absichten.“ 759 Stellt man den Brief des Ambrosius in diesen Kontext, so wird deutlich, dass er – wenn seinem Vorschlag gefolgt wird – als eine Absprache im Vorhinein zu verstehen ist, die Leitlinien für ein
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II. Untersuchung des Weinens in der kaiserzeitlichen Historiographie
Nach dem Tod des Thodosius (also etwas fünf Jahre nach dem beschriebenen Konflikt) drückte Ambrosius seine hohe Wertschätzung dieses Verhaltens aus. In seiner Schrift De obitu Theodosii beschreibt der Mailänder Bischof, wie der Kaiser seine herrscherlichen Insignien ablegte und öffentlich in der Kirche über seine Sünde Tränen vergoss (deflevit in ecclesia publice peccatum suum). Seine eigene Schuld erscheint abgemildert (er sei von anderen getäuscht worden), sein Bemühen um Vergebung wird dagegen als außergewöhnlich hoch eingestuft: Er bat unter Seufzen und Tränen um Verzeihung (gemitu et lacrimis oravit veniam), und er schämte sich nicht, offen Buße zu tun.760 Seine humilitas wird demnach von dem wesentlich an den Ereignissen Beteiligten als außergewöhnliche Tugend gelobt. Um die Spannung, die zwischen Ambrosius und Theodosius herrschte (und damit auch ihre Anhänger und Untergebenen umfasste), zu lösen, bedurfte es gezielter Maßnahmen, und der Vorschlag des Ambrosius beinhaltete offensichtlich ein besonders geeignetes Manöver.761 In diesem waren Tränen als Ausdruck der inneren Bereitschaft zur Buße ein wesentlicher Bestandteil – sie zeigen an, dass der Büßer seinen Fehltritt bereut. Die literarischen Quellen, die in der Folgezeit die Ereignisse erwähnen, heben die Bestandteile des Bußrituals mit unterschiedlicher Ausführlichkeit hervor. In der Darstellung des Rufin von Aquileia werden besonders die Tränen im Zusammenhang mit dem Bußakt als Begleitmaßnahme des öffentlichen Schuldeingeständisses aufgeführt sowie auf das Gesetz des Kaisers zur Aussetzung der Hinrichtungen verwiesen; sie ist einigermaßen knapp gehalten.762 Sozomenos gestaltet die Szene etwas dramatischer, indem er erwähnt, dass Ambroöffentliches, demonstratives Handeln enthält; Absprachen dieser Art sind es, die Gerd Althoff für rituelles Agieren im Mittelalter voraussetzt, vgl. dazu I. 2.2. Auf den Umstand, dass dem Bußakt Vorbereitungen vorangegangen sein müssen, verweist McLynn (1994), S. 327. 760 Vgl. Ambr. de obitu Theod. 33 f.: Et ego – ut quadam sermonem meum peroratione concludam – ‚dilexi‘ virum misericordem, humilem in imperio, corde puro et pectore mansueto praeditum, qualem dominus amare consuevit dicens: ‚Supra quem requiescam, nisi supra humilem atque mansuetum?‘ ‚Dilexi‘ virum, qui magis arguentem quam adulantem probaret. Stravit omne, quo utebatur, insigne regium, deflevit in ecclesia publice peccatum suum, quod ei aliorum fraude obrepserat, gemitu et lacrimis oravit veniam. Quod privati erubescunt, non erubuit imperator, publicam agere paenitentiam, neque ullus postea dies fuit, quo non illum doloret errorem. Quid quod praeclaram adeptus victoriam, tamen, quia hostes in acie strati sunt, abstinuit a consortio sacramentorum, donec domini circa se gratiam filiorum experiretur adventu? 761 Dass der Lösungsansatz des Ambrosius an religiösen und ebenso an machtpolitischen Gegebenheiten orientiert war und das Verhältnis zwischen den beiden Männern öffentlich als ein freundschaftliches darzustellen beabsichtigte (was Theodosius auch in den Augen der Anhänger des Ambrosius rehabilitieren musste), verdeutlicht sehr prägnant McLynn (1994), S. 323: „The solution was provided by Ambrose, who turned the catastrophe into a public relations triumph for the emperor.“ Zur Selbstdarstellung der beiden Protagonisten durch dieses Vorgehen vgl. auch Leppin (2003), S. 158 f. 762 Vgl. Rufin. hist. 2, 18: Ob hoc cum a sacerdotibus Italiae argueretur, agnovit delictum culpamque cum lacrimis professus publicam paenitentiam in conspectu totius ecclesiae exegit et in hoc sibi tempus adscriptum absque regali fastidio patienter implevit. quibus omnibus illud quoque mirabiliter adiecit: lege sanxit in posterum, ut sententiae principum super animadversione prolatae in diem tricensimum ab executoribus differrentur, quo locus misericordiae vel, si res tulisset, paenitentiae non periret. Es fällt auf, dass Rufin in diesem Kontext Ambrosius nicht namentlich erwähnt.
4. Wann wird geweint – und wann nicht?
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sius dem Kaiser den Eintritt zur Kirche in Mailand verwehrte und dieser daraufhin öffentlich Buße leistete. Zuvor hatte er das kaiserliche Gewand abgelegt und ein Gesetz zur Aussetzung der Hinrichtungen für dreißig Tage erlassen. Tränen werden von ihm allerdings nicht explizit erwähnt.763 Eine ausnehmend lebhafte und ausführliche Schilderung der Ereignisse bietet Theodoret im fünften Buch seiner Kirchengeschichte, wobei er auch den Tränen des Kaisers eine bedeutende Funktion zuweist.764 Zunächst berichtet er davon, dass Ambrosius dem Kaiser, als dieser nach Mailand kam und die Kirche betreten wollte, bis zur Türe entgegenging und den Zutritt verwehrte (ἀφικόμενον εἰς τὴν Μεδιόλανον τὸν βασιλέα καὶ συνήθως εἰς τὸν θεῖον εἰσελθεῖν βουληθέντα νεὼν ὑπαντήσας ἔξω τῶν προθύρων, ἐπιβῆναι τῶν ἱερῶν προπυλαίων … ἐκώλυσεν).765 Mit eindringlichen Worten führte der Bischof ihm dort die Schwere seines Vergehens vor Augen und stellte unmissverständlich klar, dass ihm die Kirche nicht mehr offenstehe. Schließlich schickte er Theodosius fort und ermahnte ihn, das Band der Buße anzunehmen, das allerdings von Gott ausgehe und als das wichtigste Heilmittel für das seelische Wohlergehen zu verstehen sei.766 Der Kaiser musste sich diesen Befehlen fügen (τούτοις εἴξας ὁ βασιλεὺς τοῖς λόγοις) und in seinen Palast zurückkehren (ἐπανῆλθεν εἰς τὰ βασίλεια), was er unter Seufzen und Weinen (σ