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German Pages 358 [360] Year 2003
Helga Schölten
Die Sophistik
Helga Schölten
Die Sophistik Eine Bedrohung für die Religion und Politik der Polis?
Akademie Verlag
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs 1: Geistes- und Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
ISBN 3-05-003729-6 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2003 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgend einer Form - durch Photokopien, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine andere von Maschinen, insbesondere von Datenveraibeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Dietrich Otte Druck: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Gedruckt in Deutschland
Inhaltsverzeichnis
Vorwort I.
Einleitung
11- 32
1.
Die Fragestellung
11- 17
2.
Terminologie
18- 27
3. 3.1 3.2
Einfuhrung in die Thematik: Vom mythischen zum rationalen Denken Das Individuum und die Polisordnung
28- 34 28- 32 32- 34
II.
Sophisten als Systemkritiker
35-274
1.
Relativismus und Asebie: Eine Gefährdung der inneren Ordnung durch Protagoras? Zur Person Das anthropozentrische Weltbild und seine Konsequenzen für die Polis a) Der Homo-Mensura-Satz als Leitgedanke b) Der Agnostizismus des Protagoras Zusammenfassung
1.1 1.2
1.3 2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2
2.3
Mythos und Polis bei Gorgias Zur Person Die Aufkündigung der Verbindlichkeit des Mythos: Das Enkomion auf Helena Inhaltsangabe und Kommentar Der Mythos in der Argumentation des Gorgias a) Zeitbezüge: Die Kriegsschuld b) Die Eigenverantwortlichkeit des Menschen c) Der Lerncharakter mythischer Überlieferung d) Die Bestimmung des kosmos des menschlichen Zusammenlebens Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit: Die Apologie des Palamedes
35- 63 35- 47 47- 63 54- 59 59- 63 63 64-131 64- 73 73- 97 73- 82 8283889194-
97 87 91 94 97
97-107
6
Inhaltsverzeichnis
2.4 2.5
Eine Abwendung vom Polisgedanken: Der Epitaphios Zusammenfassung
3.
Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos Zur Person Zum Atheismus des Prodikos Der Ursprung der Religion Herakles am Scheideweg: Die Bedeutung des Mythos in der Welt des Prodikos Zusammenfassung
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4. 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.4 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 7. 7.1 7.2
Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos Zur Person Patrios politela'. Eine zeitgenössische Kritik an der demokratischen Verfassung Athens Inhaltsangabe und Kommentar Eine Alternative zum bestehenden System der attischen Demokratie Zur Frage der Theodizee: Götterglaube und Gerechtigkeit Zusammenfassung Die rationale Erfassung des kosmos durch den Universalgelehrten Hippias Zur Person Die Breite der Bildung im Dienste der Autarkie des Menschen Von der mythischen Vergangenheit zur Gegenwart: Die Synagoge des Hippias TVo/7705-Kritik und Panhellenismus Zusammenfassung
107-128 128-131
132-152 132-136 136-138 139-143 143-150 150-152 153-173 153-158 159-168 160-162 162-168 169-172 172-173
174-191 174-178 179-181 182-184 185-189 190-191
Der Urzustand als Maßstab der Gegenwart: Das kritische Urteil Antiphons Zur Person Die Tetralogien: Das „Recht auf Leben" und die Grenzen der Rechtsprechung Die nomos-physis-Antithese: Der Eingriff des Menschen in die naturgegebene Ordnung Das Homonoia-Modell Antiphons Zusammenfassung
206-220 221-225 225-227
Kritias und das Recht des Stärkeren Zur Person Nomos und physis - Die Sozialtheorie im Sisyphos-Fragment a) Die Verfasserfrage b) Der Text
228-257 228-238 238-254 238-241 241-246
192-227 192-202 202-206
Inhaltsverzeichnis
7
7.3
c) Nomos als Fortschritt der Menschheit? Das Recht des Stärkeren - Theorie und Praxis
246-254 255-257
8.
Zusammenfassung
258-274
III.
Die von den Sophisten ausgehenden Gefahren in der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen: Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
275-326
1. 1.1 1.2
Einführung Komödie und Polis Leben und Werk des Aristophanes
275-282 275-280 280-282
2.
Die Wolken
283-303
3.
Die Vögel
304-316
4.
Die Frösche
317-322
5.
Zusammenfassung
323-326
IV.
Schlußbetrachtung
327-330
V.
Quellen-und Literaturverzeichnis
331-341
VI.
Register
342-358
1.
Historische und mythische Personen
342-344
2. 2.1 2.2
Quellen Literarische Quellen Inschriften und Papyri
344-358 344-358 358
Vorwort
Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2000/2001 vom Fachbereich 1: Geistes- und Gesellschaftswissenschaften der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg als Habilitationsschrift angenommen. Für die Veröffentlichung wurde das Manuskript nach den Anregungen der Gutachter geringfügig überarbeitet und um ein Personen- und Quellenregister erweitert. Gern komme ich der Pflicht nach, allen Kollegen und Freunden zu danken, die zum Abschluß meiner Habilitationsschrift beigetragen haben. Mein erster Dank gilt Ruprecht Ziegler, der meine berufliche Laufbahn in Duisburg gefordert und meine Studien mit Interesse verfolgt hat. Ferner danke ich den Gutachtern Ruprecht Ziegler und Thomas Grünewald, Duisburg, sowie Gustaf Adolf Lehmann, Göttingen, für wertvolle Hinweise und fördernde Gespräche. Allen, die über meine Thesen, das Konzept und die Methodik mit mir diskutiert haben, sei herzlich gedankt - besonders Raban von Haehling, Aachen, der mit wichtigen Anregungen lebhaften Anteil genommen hat. Brigitte von Haehling und Clemens Boothe haben die Mühe auf sich genommen, den ganzen Text zu lesen, auf Stil und Inhalt zu achten und mit kritischen Fragen einen großen Beitrag zu leisten. Ursula Rothe und Markus Veh haben Korrekturen gelesen und auf Einheitlichkeit im Detail geachtet. Ihnen allen sowie den Duisburger Kollegen, den Historikerinnen und Historikern, die es mir ermöglichten, in kollegialer Atmosphäre die Arbeit fertig zu stellen, gilt mein herzlicher Dank.
Meiner Familie und besonders meinem Mann Heinrich Gossen, der mir immer verständnisvoll zur Seite steht, sei dieses Buch gewidmet.
Duisburg, im März 2002
Helga Schölten
I. Einleitung
1. Die Fragestellung Die sophistische Bewegung setzte in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. ungefähr zeitgleich in ganz Griechenland ein, ihr Zentrum hatte sie in Athen. Die Anfänge philosophischen Denkens der Griechen lagen jedoch in der westkleinasiatischen Stadt Milet. Im 6. Jahrhundert förderten die weitreichenden Handelsbeziehungen der Polis den kulturellen Austausch und machten sie zu einer Metropole der Philosophie, Wissenschaft und Kunst. Nach der Zerstörung der Stadt im Jahre 4941 und dem Sieg der Griechen über die Perser entwickelte sich Athen zum politischen und kulturellen Mittelpunkt Griechenlands. Philosophen wie Anaxagoras, aber auch Sophisten wie Protagoras und Gorgias machten die Athener mit Vorstellungen vertraut, die weit von dem durch Mythos und Tradition bestimmten Denken abwichen2. Alle bekannten Sophisten hielten sich zeitweise in Athen auf und boten gegen ein Honorar einen auf neuen Methoden beruhenden Unterricht3. Dabei legten sie ihr Hauptaugenmerk auf den Menschen und nicht wie die Naturphilosophen auf den physischen „Kosmos" und auf die Frage, wie das „Uranfangliche" durch die Erfahrungen des Alltags zu erklären sei oder wie Mythos und Ordnung entstanden seien4. Trotz aller Unterschiede zwischen den einzelnen sophistischen Lehren bestand ihr erklärtes Ziel darin, den Menschen eine spezielle „höhere Bildung" zukommen zu lassen, mit deren Hilfe sie sich den neuen Anforderungen des Lebens in der „modernen" Polis besser stellen könnten5.
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Hdt. 5.18-20. Vgl. zur Geschichte der Philosophie und ihren Anfangen u.a.: E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1. Teil, Leipzig 19206; W.K.C. Guthrie, A History of Greek Philosophy, Vol. Ill, The Fifth-Century Enlightenment, Cambridge 19752; A. Graeser, Geschichte der Philosophie, Bd. II, München 19932; W. Rod, Der Weg der Philosophie. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Bd. I, München 1994. Vgl. u.a. Xen. mem. 1.6.13; G.B. Kerfeld, The Sophistic Movement, Cambridge 1981,26, 36f. Gemeinsam war ihren Lehren, daß sie sich nicht vollständig von den Naturphilosophen abwandten, sich jedoch humanen und gesellschaftlichen Fragen als Zentrum ihres Interesses zuwandten. Vgl. E.Ch. Welskopf, Sophisten, in: dies. (Hrsg.), Hellenische Poleis, Krise - Wandlung - Wirkung, Bd. IV, Berlin 1974, 1927f. Vgl. Kap. 13.1; Ch. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, 8.
12
I. Einleitung
Die Perserkriege, die Entwicklung der attischen Demokratie, der Machtzuwachs Athens und die Ereignisse des Peloponnesischen Krieges bewirkten große Veränderungen im politischen, ökonomischen und sozialen Bereich der attischen Gesellschaft, so daß alte und neue Vorstellungen nebeneinander bestanden und sich überschnitten. Die Demokratie formulierte zwar neue politische Normen gegen die Einflußnahme des Adels, doch die aristokratisch bestimmte Ethik galt weiterhin1. In der politischen Praxis setzten mächtige Persönlichkeiten, darunter auch soziale Aufsteiger, ihre Entscheidungen durch und sorgten für deren Umsetzung2. Unsicherheit, Ängste und soziale Desintegration sind eine denkbare Folge der Zeit des Übergangs und Wandels. Thukydides liefert mit seiner .Pathologie des Krieges' ein eindrucksvolles Szenario dieser Stimmung. Im sorgfältig konzipierten ,Melierdialog' thematisiert er das Machtdenken der Athener und die Frage nach der Legitimation einer .Politik der Stärke'3. Demnach wahrte das politische System Athens nicht mehr die moralische Verantwortung gegenüber dem Althergebrachten, den alten Werten. Die Sophisten boten den Menschen Alternativen zum traditionellen Denken und somit zum herkömmlichen Bildungswesen, wobei sie offenbar auf ein Bedürfnis reagierten und den neuen politischen Bedingungen Rechnung trugen4. Welche Konsequenzen dies für das bestehende Wertesystem hatte, stellt eine der grundlegenden Fragen dieser Studie dar. Die Sophisten gelten als „Zerstörer des Mythos"5 und als diejenigen, welche die attische Demokratie in ein „demagogisches Chaos" führten - so lautet eine auf Piaton basierende Beurteilung der Bewegung6. Der gegen die Sophisten gerichtete Vorwurf, als Zerstörer des Mythos, der Tradition und Moral zu gelten, soll im folgenden nicht als eine Konsequenz sophistischen Wirkens vorausgesetzt, sondern einer kritischen historischen Analyse unterzogen werden.
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5
Vgl. V. Ehrenberg, Der Staat der Griechen, Zürich/Stuttgart 19652, 107f. K. Raaflaub, Politisches Denken und Krise der Polis. Athen im Verfassungskonflikt des späten 5. Jahrhunderts v.Chr., HZ 255, 1992, 48f. Thuk.3.82f.; 5.85-113. Eine intellektuelle Bildung, die über den traditionellen Elementarunterricht hinausging, war als allgemeines Lehrangebot im 5. Jahrhundert und auch später nicht üblich. Vgl. P. Scholz, Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie und Politik im 4. und 3. Jh. v.Chr., Stuttgart 1998, 37f. Auf die Frage des Phaidros, ob er an die Wahrheit des attischen Mythos von Oreithyia und Boreas glaube, antwortet Sokrates mit einer deutlichen Kritik des Umgangs der Sophisten mit dem Mythos: Άλλ'εν άπιστοίην, ώ σ π ε ρ οι σοφοί, ούκ αν άτοπος είην, είτα σοφιζόμενος
φαίην αϋτήν πνεύμα βορέου κατά των πλησίον πετρών, συν Φαρμακεία παίζουσαν, ώσαι καί ούτω δή τελευτησασαν λεχθηναι ύπό του Βορέου άνάρπαστον γεγονέναι (Plat. Phaidr. 229c). Platon bemüht sich, dem Mythos wieder einen,
6
wenn auch neuen, Platz einzuräumen. Vgl. Ch. Quarch, Piatons Konzept des „diamythologein". Philosophie und Mythos in Piatons 'Phaidon', in: E. Rudolph (Hrsg.), Mythos zwischen Philosophie und Theologie, Darmstadt 1994, 117, 130f.; A. Lesky, Geschichte der Griechischen Literatur, Darmstadt 1971\ 556. P.L. Österreich, Philosophen als politische Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs, Darmstadt 1994, 74.
1. Die Fragestellung
13
Es ist zu untersuchen, ob die Sophisten mit ihrer kritischen und rationalen Weltbetrachtung die gesamte Polisordnung in Frage stellten. Mythen, Geschichten über Götter, Helden und die Entstehung der Welt sowie der Ritus als Ausübung dessen, was „gebräuchlich" war, standen in enger Verbindung zueinander und prägten das griechische Religionsverständnis1. Mythen erklären zum Teil Rituale und stellen sogenannte Aitien dar. Sie bilden außerdem aus Sicht der Griechen des 5. Jahrhunderts einen Teil ihrer eigenen Vergangenheit2. Wenn die Sophisten den Mythos zerstörten und an dessen Stelle eine von Philosophen geprägte Vorstellung vom „Göttlichen" trat, mußte dann nicht auch die Ausübung alter Riten, die griechische Religion insgesamt eine grundlegende Wandlung erfahren haben3? Darüber hinaus würde der Berufung auf ruhmreiche Ahnen, auf die Helden der mythischen Vorzeit, jede Legitimation abgesprochen, was eine Identitätskrise heraufbeschwören könnte4. Die Religion der Griechen durchdrang alle Bereiche des täglichen, aber auch des politischen Lebens. In Festzügen und Prozessionen wurde nicht nur einer Gottheit gehuldigt, es bot sich ebenso die Gelegenheit, das Gemeinschaftsbewußtsein, die koinonia, und auch die Macht der Polis zu repräsentieren5. Die Interdependenz des Religiösen und Politischen in der griechischen Gesellschaft drängt folglich auch die Frage auf, inwiefern die Sophisten eine politische Bedrohung darstellten. Dies beschränkt sich jedoch nicht allein auf mögliche Auswirkungen ihrer Mythenkritik. In ihren Texten nehmen die Sophisten ebenso zu wichtigen politischen 1
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Vgl. dazu u.a. G.St. Kirk, Griechische Mythen. Ihre Bedeutung und Funktion, Hamburg 19872 (engl. 1974); G.Binder/B. Effe (Hrsg.), Mythos. Erzählende Weltdeutung im Spannungsfeld von Ritual, Geschichte und Rationalität, BAC 2, Trier 1990; F. Graf, Griechische Mythologie. Eine Einführung, München/Zürich 1991. Vgl. Thuk. 1.3-15. H.-J. Gehrke/A. Möller (Hrsg.), Vergangenheit und Lebenswelt. Soziale Kommunikation, Traditionsbildung und historisches Bewußtsein, Tübingen 1996. Die Frage nach der Wirkung der Verbreitung der unterschiedlichen Lehren der Sophisten auf die Religionsgeschichte des 5. und 4. Jahrhunderts verdient eine eigene Untersuchung. Vgl. dazu die kurze Überblicksdarstellung in Burkerts .Geschichte der griechischen Religion'. W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epochen, Stuttgart u.a. 1977,452-495. Zur „Heimholung" des attischen Helden Theseus nach der Eroberung von Skyros: K.-E. Petzold, Die Gründung des Delisch-Attischen Seebundes: Element einer „imperialistischen" Politik Athens? I, Historia 43, 1994,25f., II, Historia 42, 1993, 430. Zur griechischen Religion vgl. unter vielen anderen: Burkert, Griechische Religion; L. Bruit Zaidman/P. Schmitt Pantel, Die Religion der Griechen. Kult und Mythos, München 1994 (franz. 19912); J.P. Vernant, Mythos und Religion im alten Griechenland, Paris/Frankfurt 19953; J.N. Bremmer, Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland, Darmstadt 1996 (engl. 1994); R. Parker, Athenian Religion: A History, Oxford 1996. Smarczyk zeigt die enge Verbindung zwischen der Religion und der politischen Entwicklung Athens. Mythos und Kultausübung dienten auch der sakralen Legitimation des attischen Herrschaftsanspruchs gegenüber den Seebundstaaten. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet das große Panathenäenfest: Vgl. z.B. B. Smarczyk, Untersuchungen zur Religionspolitik und politischen Propaganda Athens im Delisch-Attischen Seebund, München 1984, 549. Yunis stellt fest, daß die politische Gemeinschaft des klassischen Athen auch immer eine essentiell religiöse Gemeinschaft war. Dazu führt er eine Reihe von Beispielen auf. Vgl. H. Yunis, A New Cree: Fundamental Religious Beliefs in the Athenian Polis and Euripidean Drama, Göttingen 1988, 19-28.
14
I. Einleitung
Themen Stellung. Nomos und physis, nomos und dike sind die beiden viel diskutierten Begriffspaare dieser Zeit. Das Rechtswesen und die Basis seiner Legitimation stehen immer mehr auf dem Prüfstand. Eine zunehmende Zahl von politischen Prozessen und auch die Kodifizierung des Rechts am Ende des 5. Jahrhunderts geben ein Zeugnis davon1. Die Selbstverständlichkeit und Verbindlichkeit der Werte, die etwa im Mythos formuliert sind, werden in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts in die öffentliche Diskussion eingeführt. Sozial- und rechtsphilosophische Themen schlagen sich in den Verfassungsdebatten nieder2. Bedeuteten die neuen sophistischen Lehren eine Bedrohung für die Religion und Politik der Polis, und wie wurden sie von ihren Zeitgenossen wahrgenommen? In der gesamten Überlieferung des 5. Jahrhunderts v.Chr. ist der Einfluß der sophistischen Gedanken, Theorien und Techniken greifbar. Häufig bleibt es in der modernen Forschung bei dem Hinweis, das Denken der Sophisten komme beispielsweise in dem Geschichtswerk des Thukydides, in den Komödien des Aristophanes und den Tragödien des Euripides zum Ausdruck3. Doch nicht die Spiegelung sophistischer Gedanken und Lehren in den Werken der Zeitgenossen, sondern die Testimonien und die fragmentarischen Textzeugnisse der wichtigen Vertreter der sophistischen Bewegung werden in Kapitel II erstmals einer historisch kritischen Analyse unterzogen. Auf diese Weise wird die in philosophischen wie historischen Studien vorherrschende, verzerrte Perspektive der platonischen Dialoge vermieden4. Der neue Blickwinkel gibt Aufschluß 1
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C. Mossé, Die politischen Prozesse und die Krise der athenischen Demokratie, in: Welskopf, Hellenische Poleis, Bd. I, 160-187; O. Gigon/M.W. Fischer, Antike Rechts- und Sozialphilosophie, Frankfurt a.M. u.a. 1988; P. Cartledge/P. Millett/S. Todd (Hrsg.), „Nomos", Essays in Athenian Law, Policy and Society, Cambridge 1990. Vgl. Hdt. 3.80ff.; Ps.-Xen. Ath. Pol. Demandt sieht in der Verfassungsdiskussion bei Herodot sogar das erste sophistische Zeugnis. A. Demandt, Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, Köln/Weimar/Wien 1993,48. Solche Hinweise finden sich in Gesamtdarstellungen: vgl. dazu u.a. Lesky, Griechische Literatur, 517; M. Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law. Law, Society, and Politics in Fifth-Century Athens, Berkeley u.a. 1986, 307f.; Romilly, Sophists, u.a. 8, 134-136. Die Beziehungen zeitgenössischer Autoren zur Sophistik erfordern Einzeluntersuchungen. Eine kleine Auswahl von Einzelbeiträgen sei an dieser Stelle genannt: F. Rittelmeyer, Thukydides und die Sophistik, (Diss. Erlangen 1914), Leipzig 1915; G. Ludwig, Thukydides als sophistischer Denker, (Diss.) Frankfurt 1952; F. Kiechle, Ursprung und Wirkung der machtpolitischen Theorien im Geschichtswerk des Thukydides, Gymnasium 70, 1963, 289ff.; V. Hunter, Thukydides, Gorgias, and Mass Psychologie, Hermes 114, 1986, 412-429; M.R. Lefkowitz, 'Impiety' and 'Atheism' in Euripides' Dramas, CQ 39, 1989, 70-83; B. Effe, Die Grenzen der Aufklärung. Zur Funktion des Mythos bei Euripides, in: G. Binder/B. Effe (Hrsg.) Mythos. Erzählende Weltdeutung im Spannungsfeld von Ritual, Geschichte und Rationalität, BAC 2, Trier 1990, 56-74; E.R. Schwinge, Griechische Tragödie und zeitgenössische Rezeption: Aristophanes und Gorgias. Zur Frage einer angemessenen Tragödiendeutung, Göttingen 1997; D.J. Conacher, Euripides and the Sophists. Some Dramatic Treatments of Philosophical Ideas, London 1998. Vgl. Α. Rubel, Stadt in Angst. Religion und Politik in Athen während des Peloponnesischen
1. Die Fragestellung
15
über die Zeit des Übergangs, die durch Termini wie „die Zeit des Niedergangs" oder „die radikale Demokratie" gekennzeichnet ist1. Es gilt, den Einfluß einzelner Vertreter der Sophistik auf die religiöse und politische Ordnung ihrer Zeit und möglicherweise auch ihr aktives Mitwirken daran herauszustellen. Die Interpretation der aus historischer Sicht bisher zu wenig berücksichtigten Quellengattung soll einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der literarischen Überlieferung des 5. und 4. Jahrhunderts leisten2. Zur Geschichte des griechischen Denkens kann auf einschlägige Arbeiten Zellers, Guthries, Kerfeids, Romillys, Classens und vieler anderer verwiesen werden3. Diels und Kranz verdankt die moderne Forschung eine nahezu vollständige Zusammenstellung der Testimonien und Fragmente der Sophisten, die auch in einer kompletten englischen Übersetzung bei Kent Sprague vorliegen4. Diese Sammlung konnte durch die in den letzten Jahren hinzugekommenen neuen Papyrusfunde und Textauszüge ergänzt werden5. Vor der Erörterung der Testimonien und Fragmente erfolgt eine terminologische Untersuchung (I 2) der Begriffe „Sophistik"/„Sophist" und verwandter Bezeichnungen, um die keineswegs einheitliche Gruppe der „Weisheitslehrer" genauer zu fassen und zu definieren6. Die Einleitung schließt mit einer einfuhrenden Erörterung (I 3) des „mythischen und rationalen Denkens" und der Beziehung des Individuums zur Polisordnung.
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Kriegs, Darmstadt 2000, u.a. 50f., 158, Anm. 5. C. Mossé, Der Zerfall der Athenischen Demokratie (404-86 v.Chr.), Zürich/München 1979; G.E.M. de Ste. Croix, The Class Struggle in the Ancient Greek World from the Archaic Age to the Arab Conquest, London 19832. Vgl. zu den „Niedergangsthesen" den kritischen Forschungsüberblick bei J. Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn u.a. 1995 4 ,673-677. Welskopf, Sophisten, 1927-1984; J. Martin, Zur Entstehung der Sophistik, Saeculum 27, 1976, 143-164; M. Dreher, Sophistik und Polisentwicklung, Frankfurt am Main/Bern, 1983. Zur „gemäßigten" und „radikalen" Demokratie vgl. M.H. Hansen, Die athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis, Berlin 19952, 69. Vgl. u.a.: Zeller, Die Philosophie der Griechen; M. Untersteiner, The Sophists, Oxford 1954; Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III; C.J. Classen (Hrsg.), Sophistik, Darmstadt 1976; Kerfeld, Sophistic Movement; ders., The Sophists and their Legacy, Proceedings of the Fourth International Colloquium on Ancient Greek Philosophy at Bad Homburg 1979, Wiesbaden 1981; B. Cassin (Hrsg.), Positions de la sophistique, colloque de Cerisy, Paris 1986; J. de Romilly, The Great Sophists in Periclean Athens, Oxford 1992 (French 1988); K.F. Hoffmann, Das Recht im Denken der Sophistik, Bonn 1997. H. Diels/W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2, Berlin 1952, ND Dublin 1966/67, 252-428 (im folgenden als DK abgekürzt); R. Kent Sprague, The Older Sophists. A complete translation, Columbia 1972; vgl. M. Untersteiner, Sofisti. Testimonianze e Frammenti, I-IV, Florenz 19673. Vgl. M. Gronewald, Ein neues Protagoras-Fragment, ZPE 2, 1968, lf.; PHerc 1428 fr. 19 (N 1428 fr. 19=HV2 II 6c; O 1224); vgl. dazu A. Henrichs, Two Doxographical Notes: Democritus and Prodicus on Religion, HSPh 79, 1975, 93-123. Vgl. z.B. Classen, Sophistik, 1-18. Kerfeld fordert wieder eine eingehendere Analyse der einzelnen Sophisten, die generell als die fuhrenden Intellektuellen ihrer Zeit angesehen werden müssen. Kerfeld, Sophists and their Legacy, 3f.
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I. Einleitung
Die Analyse der Textfragmente in Kapitel II bildet den Schwerpunkt der Studie. Es bietet sich an, die teilweise komplizierten und aufeinander aufbauenden Gedankengänge der einzelnen Sophisten als Ganzes zu verfolgen. Kurzbiographien dienen außerdem der historischen Einordnung der mit annähernder Sicherheit als authentisch zu beurteilenden Kernthesen1. Eine Gliederung nach rein systematischen Gesichtspunkten würde m. E. das Verständnis der Auffassungen erschweren, zu Überschneidungen und Wiederholungen fuhren. Daher wird an der von Diels und Kranz gewählten, vertrauten Reihenfolge festgehalten. Um nicht von vornherein der vorwiegend von Piaton geprägten, negativen Beurteilung zu unterliegen, stehen die wenigen Textauszüge im Mittelpunkt, die sich mit größter Wahrscheinlichkeit der Autorschaft der Sophisten selbst zuordnen lassen. Es wird somit grundsätzlich zwischen dem „historischen" und dem „platonischen" Protagoras, Gorgias etc. differenziert2. Die direkten und indirekten systemkritischen Ansätze der Sophisten kommen in diesem Kapitel zur Sprache. Die Relativierung der Werte und Normen bedeutete eine Gefahr für die innere Ordnung. Doch die Untersuchung wird zeigen, daß die Sophisten es nicht dabei bewenden ließen, alles Althergebrachte vom Sockel zu stürzen und ihre Schüler in einem Zustand der völligen Orientierungslosigkeit allein zu lassen. Entwickelten sie jedoch neue, „sophistische" Konzepte sozio-politischer Gemeinschaften? Am Anfang der Sophistik und damit auch des Kapitels II stehen Protagoras' Leben und Werk. Nur wenige Zeilen seiner Studien blieben erhalten. Doch mit dem sogenannten Homo-Mensura-Satz legte er den Grundstein der sophistischen Bewegung, indem er den Menschen in den Mittelpunkt des Interesses rückte3. Aufgrund der ausgesprochen guten Überlieferungssituation folgt eine ausfuhrliche Interpretation der Studien des Gorgias, dem in dieser Arbeit eine zentrale Rolle zukommt. Mit dem Enkomion auf Helena und der Verteidigungsrede für Palamedes greift er bezeichnenderweise mythische Themen auf. Welchen Stellenwert dem Mythos in den überlieferten Texten und Fragmenten der Sophisten zukommt, sei vor dem Hintergrund der Bedeutung des Mythos insgesamt im Bereich der Religion, Politik und im Polisleben betrachtet. Dabei stellt sich auch die Frage nach den Zeitbezügen und den eventuell kritischen Anspielungen. Die Ergebnisse aus der Interpretation der Texte des Gorgias stellen eine wichtige Grundlage für die Thematik insgesamt dar. Die Bewertung von Religion und Mythos durch Prodikos mußte als polisgefährdend angesehen werden, denn bei ihm handelt es sich nicht um einen Agnostiker, was sicher für Protagoras gilt, sondern eindeutig um einen Atheisten. In den Hören entwickelte er eine Kulturentstehungslehre und bot
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Schriften anonymer Autoren, wie die im Anonymos Iamblichi überlieferten Auszüge und die sogenannten Dissoi Logoi, bei denen es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um spätere Texte eines Schülers handelt, bleiben hier außer Acht, weil sie für eine historische Analyse kaum Möglichkeiten der konkreten Einordnung in die jeweilige politische Situation bieten. Anonym. lambì. 3.3, 7.1 [DK 89]; Dissoi Logoi [DK 90.6]; W. Kranz, Vorsokratisches IV: Die sogenannten Δ ι σ σ ο ί Λόγοι, Hermes 72, 1937,225-232, jetzt in: Classen Sophistik, 632. Vgl. u.a. 43, 62, 93,155,170. Sext. Emp. adv. math. 7.60; Plat. Theaet. 151e, 152a [DK 80 Β 1]; vgl. dazu Kap. II 1.2.a.
1. Die Fragestellung
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außerdem seinen Schülern Orientierungshilfen in einer Welt ohne Götter1. Konkreter auf die politische Ordnung der Polis bezogen entwarf Thrasymachos mit der patrios politela ein Alternativmodell, das noch bis weit in das 4. Jahrhundert nachwirken sollte 2 . Am Ende der rationalen Beurteilung des kosmos durch Hippias stand die Autarkie des Individuums. Hippias gehörte trotz des abwertenden Urteils Piatons zu den fuhrenden Gelehrten seiner Zeit, auch wenn er mit seinem allzu umfassenden Lehrangebot bei seinen Zeitgenossen wohl oft nur auf Unverständnis oder Ablehnung stieß. Die Ansichten Antiphons und Kritias' werden zuletzt behandelt. Sie nehmen eine Sonderstellung in der Reihe der bekannten Vertreter der Sophistik ein, stammten sie doch beide aus Athen und beteiligten sich jeweils aktiv am Sturz der demokratischen Verfassung in den Jahren 411 und 404. Damit ergibt sich eine unmittelbare Verbindung zwischen Sophisten und aktueller Politik3. Antiphons Schrift „Über die Wahrheit" enthält eine Kosmologie, in der das Naturgegebene dem künstlich Gestalteten gegenübergestellt wird und in der physis-nomos-Antithese einen Ausdruck findet4. Kritias ist vorwiegend als ein grausamer und skrupelloser Politiker bekannt. Seine Werke zeugen von einer intensiven Beschäftigung mit den Fragen seiner Zeit. Das „Sisyphos-Fragment" läßt sich ihm zwar nicht zweifelsfrei zuordnen, es beinhaltet jedoch eine für die Sophistik typische Kulturentstehungstheorie und eine mit dem Werdegang des Kritias gut zu vereinbarende Lehre vom Recht des Stärkeren5. Nach einer Erörterung der kritischen Äußerungen der Sophisten über den Mythos, die Götter und die bestehende Polisordnung erfolgt eine abschließende Beurteilung der möglicherweise von diesen Auffassungen ausgehenden Gefahren. Es stellt sich erneut die Frage, ob und inwiefern sich die Lehrtätigkeit der Sophisten auf Wandlungen im politischen, sozialen oder geistesgeschichtlichen Bereich auswirkten. Kapitel III behandelt daher exemplarisch die Wahrnehmung der Sophisten durch ihre Zeitgenossen. Die Komödien des Aristophanes erweisen sich für den rezeptionsgeschichtlichen Ausblick als besonders gut geeignet, denn als zeitgenössische Dokumente reflektieren sie gesellschaftliche und politische Entwicklungen. Neben dem „Politiker" ist auch die Figur des Gelehrten Teil des beliebten Repertoires, denn das Verspotten von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gehört zu den Effekten der Komik 6 . Die historische Analyse und Einordnung der fragmentarischen Überlieferungen zu den Lehrmeinungen der Sophisten schafft einen nicht allein von den Geschichtsschreibern oder den Rednern bestimmten Blickwinkel und wirft somit neues Licht auf die Zeit des ausgehenden 5. Jahrhunderts.
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Sext. adv. math. 9.18 [DK 84 Β 5]; Xen. mem. 2.1.21-33 [DK 84 Β 2]; vgl. Kap. II 3.4. Dion. Hal. Dem. 3 (Raderm, 132, 3) [DK 85 Β 1]; vgl. Kap. II 4.2. Vgl. Kap. I 3.2, II. 6, II 7. Laut Raaflaub trug das politische Denken der Sophisten insgesamt mehr zur Verschärfung der Krise als zu ihrer Überwindung bei. Raaflaub, Politisches Denken, 45. Vgl. DK 87 Β 1-43; Kap. II 6.3. Sext. Emp. adv. math. 9.54 [DK 88 Β 25 (TrGF 1,43 F 19)]; vgl. Kap. II 7.2,7.3. Vgl. B. Zimmermann, Die griechische Komödie, Darmstadt 1998, 127-144.
2. Terminologie: σοφιστής und verwandte Begriffe im Sprachgebrauch des 5. Jahrhunderts „Als , Sophisten' bezeichnet man im frühen Griechenland die Koryphäen des Geistes und der Weisheit. Im engeren, nach Mitte des 5. Jahrhunderts sich zunehmend herauskristallisierenden Sinn ist ein Sophist deijenige, der die .sophistische Kunst' professionell ausübt", so lautet die Definition Buchheims1. Im folgenden wird die Entwicklung des Sprachgebrauchs, ausgehend von den Begriffen σοφιστής und verwandten Wörtern wie σοφιστικός, σόφισμα und σοφίζεσται, näher untersucht. Die Termini stehen in deutlicher Beziehung zu σοφός und σοφία, was mit „weise" und „Weisheit" übersetzt wird, in einer älteren Verwendung auch mit „Kunst" und „Geschicklichkeit"2. Dichter, Seher und Weise verfugten über σοφία. Ihr Wissen über die Götter, Menschen und die Gesellschaft war den anderen Menschen nicht zugänglich. Sie wandten keine spezielle Technik an, sondern enthüllten Visionen3. Brisson erklärt, σοφός zu sein bedeute, sein Handeln, sich selbst und andere zu meistern. Σοφία stehe schließlich für „Bildung", während derjenige, der sie erworben habe, zum φιλόσοφος geworden sei4. Bei Piaton könne die Bezeichnung σοφία alles Mögliche bedeuten, insofern sie in der sinnlich wahrnehmbaren Welt an keinen bestimmten Inhalt gebunden sei. Φιλοσοφία bezeichne Piaton zufolge nicht mehr das Erlernen einer σοφία, sondern das Streben danach, welches die menschlichen Fähigkeiten übersteige5. Was genau verstanden aber die zeitgenössischen Autoren darunter, wenn sie von den „Sophisten" sprachen? Handelt es sich dabei um dieselbe Personengruppe, die auch heute als solche bezeichnet wird? Aristeides, ein Autor des 2. Jahrhunderts n.Chr., bringt die Problematik auf den Punkt: Hat nicht Androtion die „Sieben" Sophisten genannt, ich meine die sieben Weisen, und ebenso den Sokrates, den allbekannten? Und nennt nicht Isokrates die auf „Streit" erpichten Männer und die Dialektiker, wie sie sich selbst nennen würden, Sophisten, während er sich selber einen Philosophen nannte, und ebenso die Rhetoren und die Philosophen, die sich mit der Erör-
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Th. Buchheim, Sophistik, in: J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt 1995,1075. Ch. Eucken, Die Gotteserfassung im Symposion des Xenophanes, WJA 19, 1993, 81. Schon bei Xenophon bestimmt die σοφίη - in einem Heraklit vorbereitenden Sinne - eine für das ganze Leben maßgebende Weisheit. Zur Verwendung der Termini vgl. auch A. Capizzi, Interprétations de la Sophistique. La confluence des sophistes à Athènes après la mort de Périclès et ses connexions avec les transformations de la société Attique, in: Cassin, Positions de la sophistique, Paris 1986, 167f.; S. Ebbesen, Sophisma, Sophismata, in: Ritter/Gründer, Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, 1069. Vgl. Kerfeld, Sophistic Movement, 24. L. Brisson, Einführung in die Philosophie des Mythos. Antike, Mittelalter und Renaissance, Darmstadt 1996, 17. Ausführlicher zur Entstehung des Begriffes φ ι λ ό σ ο φ ο ς und der Kontroverse in der modernen Forschung: M. Kranz, Philosophie, in: Ritter/Gründer, Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Darmstadt 1989, 576; Brisson, Philosophie des Mythos, 16f.
2. Terminologie
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tening politischer Probleme abgaben? Ebenso gebrauchen das Wort auch einige seiner Schüler. Und nennt nicht Lysias den Piaton einen Sophisten und dann den Aischines?1
Der früheste Beleg für die Verwendung des Verbs σοφίζεσθαι begegnet uns am Ende des 8. Jahrhunderts in den Erga Hesiods 2 . Es beschreibt die Fähigkeiten und erlernten Fertigkeiten einer Person. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts erscheint erstmals bei Pindar (518—438) das Substantiv σοφιστής; im Plural gebraucht bezeichnet es eine Gruppe von Dichtern 3 . Der Begriff σοφιστής und verwandte Termini finden sich in den Dramen des 5. Jahrhunderts: In Aischylos' (525/4-456) Spätwerk Der gefesselte Prometheus aus dem Jahre 458 bezeichnet σοφιστής einen klugen, mit Kunstfertigkeit versehenen Mann, wobei gleichzeitig die etwas anrüchige Eigenschaft der „List" und des „Trickreichtums" mitschwingt 4 ; in diesem Sinne ist auch σόφισμα zu verstehen 5 . In den insgesamt fünf Textstellen dienen die Begriffe ausschließlich der Charakteristik des Prometheus. Dieser setzte sein Wissen offenbar tadelnswert ein und frevelte den Göttern: Dich Weisheitsklügler, überscharf an Schärfe du, der, frevelnd an den Göttern, Taggeschöpfen bot Ehr' und Geschenk, des Feuers Dieb, dich red ich an!6
Dem ca. dreißig Jahre jüngeren Sophokles (497/6-406) war der Terminus offensichtlich geläufig, doch es finden sich nur wenige Belegstellen. In den Tragödienfragmenten gebraucht er das Substantiv im Singular, einmal im positiven Sinne zur Bezeichnung eines Musikers 7 , eine andere Stelle erinnert an den Prometheus des Aischylos: Eine wohlüberlegte Meinung mit rechtschaffenen Gedanken ist ein besserer Erfinder als jeder Sophist8.
Im Philoktet aus dem Jahre 409 verwendet der Autor σόφισμα und σοφίζεσται 9 zur Umschreibung eines hinterhältigen Planes, den der hemmungslose Odysseus gegen Philoktet geschmiedet hatte und gegenüber Neoptolemos nur rechtfertigen konnte, weil dies dem Sieg über Troja diene 10 . Insgesamt kam Odysseus die Rolle des Erziehers des Neoptolemos zu11. Seine skrupellose Lehrtätigkeit stieß bei der „Natur" seines Schülers an ihre Grenzen 12 .
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Aristeid. or. 46 (Capelle, 321). Alle griechischen Zitate und die deutschen Übersetzungen folgen den im Quellenverzeichnis aufgeführten Textausgaben. Auf Abweichungen in den Übersetzungen wird in den Fußnoten gesondert hingewiesen. Hes. Erg. 649. Pind. Isthm. 5.24. Aischyl. Prom. 63 Aischyl. Prom. 459,470, 1011. Aischyl. Prom. 944: σέ τον σοφιστήν, τον πικρώς ύπέρπικρον,
τον έξαμαρτόντ' εις θεούς έφημέροις πορόντα τιμάς, τον πυρός κλέπτην λέγω· 7
Soph. fr. 906. Soph. fr. 97 Ν; vgl. Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III, 33. 9 Soph. Phil. 14, 77. 10 Soph. Phil. 82. " Soph. Phil. 971, 1014f. 12 Vgl. P.W. Rose, Sophokles' Philoctetes and the Teachings of the Sophists, HSPh 80,1976, 81. 8
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I. Einleitung
Die geringe Verwendung der Termini σόφισμα, σοφίζεσται und das Fehlen des Substantivs σοφιστής täuschen über die tatsächliche Auseinandersetzung des Autors mit den Sophisten hinweg. Um diese schließlich zu verdammen, resümiert Rose, nutzte Sophokles die sophistische Analyse zum Ursprung und zur Entwicklung der Gesellschaft1 . Damit steht der Tragödiendichter Piaton näher als Homer oder Pindar2. Obwohl Sophokles in seinen Tragödien durchaus aktuelle Themen verarbeitete, welche von den „Denkern" seiner Zeit diskutiert wurden3, verzichtete er überwiegend auf die entsprechenden Begriffe zur genaueren Definition dieser Gruppe. Auch der dritte große Tragödiendichter, Euripides (485/4-406), benutzt nur einmal das Substantiv, doch erscheinen die verwandten Termini häufiger und in verschiedenen Texten. Gemeinsam ist ihnen die überwiegend negative Bedeutung. „Das muß ein großer Weisheitslehrer sein, der zur Vernunft die Narren zwingen kann"4 - diese eher abschätzige Bemerkung des Hippolytos ist sicher ironisch zu verstehen. Insgesamt handelt es sich bei den auf diese Art und Weise gekennzeichneten Personen um Menschen, die sich durch ihre schlechten Eigenschaften auszeichnen: Sie reden der Menge nach dem Mund, d.h. sie erreichen das Wohlwollen der Menge, indem sie sich der Mehrheit anschließen. Sie handeln unaufrichtig, geben etwas vor oder ersinnen eine List. Sie verbreiten schlechte Lehren. Auch ein verhängnisvolles „Götterwerk", eine List der Götter, ist als σόφισμα umschrieben5. Die zwischen ca. 430 und 407/6 aufgeführten Tragödien des Euripides enthalten einige Zeitbezüge; dies hat insbesondere die Forschung der letzten Jahre erwiesen6. Die Verwendung des Terminus σοφιστής und die im Vergleich zur früheren Überlieferung auffallend häufig erscheinende Bezeichnung eines Sachverhalts mit σόφισμα - die List, der Kunstgriff - läßt auf einen solchen Gegenwartsbezug schließen. Euripides setzte diesen Terminus im Rahmen seiner Darstellung mythischer Themen ein, woraus zu schließen ist, daß er auch dem Theaterpublikum vertraut sein mußte. Insbesondere der
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Rose, Sophokles' Philoctetes, 96. Rose, Sophokles' Philoctetes, 98. Sophokles wendet sich beispielsweise in der Antigone gegen die Überzeugung des menschlichen Ursprungs kultureller Entwicklungen. Soph. Ant. 332-375. Antigone verteidigt gegenüber Kreon die theonome Weltsicht. Die Gesetze der Götter dürften nicht durch menschliche Machtbehauptung in den Hintergrund gedrängt werden. In den eckigen Klammern ist die wahrscheinliche Datierung genannt: Eur. Hipp. [428] 921 :
δεινόν σοφιστήν ειπας, όστις εΰ φρονεΐυ τους μή φρονοΰντας δυνατός έστ' άναγκάσαι. 5
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Eur. Herakleid. [430] 993: mit üblen Hintergedanken überlegt; Hek. [20er Jahre] 258: der Menge nach dem Mund geredet; Iph. Taur. [414] 380: unaufrichtiges Handeln, so tun als ob; 1031: etwas vorgeben; Phoin. [408] 65: Winkelzüge; 871: Götterwerk im negativen Sinne; 1408: List; Bakch. [Spätwerk 407?] 1.30: Vorgabe; 2.489: schlechte Lehren; Iph. Aul. [Spätwerk 407?] 1.444: List. Vgl. u.a. U. Neumann, Gegenwart und mythische Vergangenheit bei Euripides, Stuttgart 1995; K. Ferla, Soziale Normen in der Medea des Euripides, in: Gehrke/Möller, Vergangenheit und Lebenswelt, 1996, 219-234; W. Nicolai, Zur Politischen Tendenz der Euripideischen Bakchen, A&A XLIII, 1997, 109-122.
2. Terminologie
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als σόφισμα beschriebene Tatbestand ist bei ihm ausschließlich mit abwertenden Gedanken verbunden1. In demselben Zeitraum amüsierte sich das Publikum über die Komödien des Aristophanes (-450—386/5), der die σοφίσματα in den im Jahre 423 aufgeführten Wolken nun einer Gruppe von Personen zuordnet. Nur in diesem Werk, in welchem den σοφισταί die Hauptrolle zukommt, gebraucht er das Substantiv. An einer Stelle erklärt Sokrates seinem Schüler: Und beim Zeus, du weißt also nicht, daß sie (die Wolken) die meisten Sophisten ernähren, die Seher aus Thurioi, Quacksalber, siegelringtragende Langhaarige, die zu den im Kreis Tanzenden verdrehte Lieder singen, der Lügenastronom. Sie ernähren die faulen Nichtsnutze, damit sie ihnen zu Ehren lobsingen2.
Der hier charakterisierte „Sophist" beschäftigt sich mit „luftigen" Theorien und gaukelt den einfachen Menschen etwas vor. Aristophanes definiert offenbar den typischen, weltfremden Intellektuellen - den σοφιστής - nach den zeitgenössischen Vorurteilen. Die Gruppe der Nichtstuer setzt sich aus Sehern, Ärzten, Dithyrambikern und extravaganten Halunken zusammen3. Der Chor der Wolken nährt sie alle. Er verspricht Bildung und Wissenschaft, wobei er besonders Prodikos als „Himmelssophisten" hervorhebt4. Als Leiter der „Sophistenschule" nennt Aristophanes Sokrates, der junge Menschen in Astronomie, Geometrie, aber auch Rhetorik unterrichtet5. Die Darstellung des Sokrates als barfüßiger Hungerleider widerspricht allerdings der Vorstellung von einem Sophisten, der doch auch der Schilderung in den Wolken zufolge Geld für seinen Unterricht forderte6. Das Substantiv σοφιστής, im Singular wie im Plural, bezeichnet in der Komödie Lehrer, die „Übles" unterrichten, gewiefte Prozeßredner oder einfach Schurken, die auf Geld erpicht sind und das Recht beugen. Die traditionellen Erziehungsgrundsätze, wie z.B. die Ehrfurcht vor den Göttern und die Achtung der Eltern zu erreichen, sowie einen trainierten Körper zu erzielen, wird zugunsten der geistigen Ausbildung in der Naturphilosophie, Mathematik, Astronomie und Rhetorik geopfert7. Der Begriff wird nahezu
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Vgl. Eur. Iph. Taur. 380,1031 ; Phoin. 65, 871,1408; Bakch. 1.30, 2.489; Iph. Aul 1.444. Aristoph. nub. 331 ff. (die Übersetzung weicht von der Seegers ab):
Σω. ού γαρ μα Δί' οισθ' ότιή πλείστους αύται βόσκουσι σοφιστάς, Θουριομάντεις, ΐατροτέχνας, σφραγιδονυχαργοκομήτας, κυκλίων τε χορών άσματοκάμπτας άνδρας μετεωροφένακας, ούδέν δρώντας βόσκουσ' αργούς, δτι ταύτας μουσοποιοΰσιν. 3
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Zum Seher aus Thurioi vgl. Kap. II 1,42, Anm. 3. Vgl. dazu ausfuhrlich B. Zimmermann, Aristophanes und die Intellektuellen, in: O. Reverdin/B. Grange (Hrsg.), Aristophane, Entretiens Sur L'Antiquité Classique, Genf 1991, 255-281. Aristoph. nub. 360. Aristoph. nub. 171-174,177-179, 357f. Aristoph. nub. 200-217, 835-387, 1309. Vgl. u.a. Kerfeld, Sophists and their Legacy, 4. Auch Xenophon betont, daß Sokrates lediglich von der Gunst seiner Freunde lebte; Xen. mem. 1.2.5. Aristoph. nub. 1111,1309.
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I. Einleitung
zum Schimpfwort, wenn die „schlechte Rede" versichert: „Wart nur, er wird ein tüchtiger Sophist!"1 In weiteren Komödien des Aristophanes, in den Vögeln, Fröschen und im Reichtum findet sich nur die Bezeichnung σόφισμα im Sinne von geschickter Fertigkeit, Kniff oder Kunstgriff. Wertneutral betrachtet sind die „Sophisten" in den Wolken Männer, die eine Ausbildung genossen haben, welche sie zu einem Agieren in der Öffentlichkeit befähigt 2 . Sie bieten dieses Wissen gegen ein Honorar an3. Damit zeichnet sich ein wichtiges Kriterium zur Bestimmung dieser Gruppe ab: die Professionalität. Der Sprachgebrauch der Bühnendichter des ausgehenden 5. Jahrhunderts zeigt, daß die Sophisten trotz aller Divergenzen in gleicher Weise handelten und insofern eine Einheit bildeten. Als eine solche wurden sie zumindest vom athenischen Volk wahrgenommen, das in Sokrates den Geist dieser Bewegung sah4. Ein Schauspiel mußte die Stimmung der Zuschauer erfassen und dessen Sprache treffen, um verständlich und auch erfolgreich zu sein5. Sokrates, Naturphilosophen und generell Lehrer jeglicher Art werden in den Wolken als Sophisten bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen in der Darstellung der Komödie, daß sie sich mit Themen auseinandersetzten, welche die traditionellen Bahnen verließen6. Berücksichtigt man den Umfang des Lehrprogrammes der Sophisten und auch die Gemeinsamkeiten der sophistischen und sokratischen Vorgehensweise, ist die wenig differenzierte Betrachtungsweise nicht erstaunlich7. So formuliert Kerfeld: „But what Socrates was concerned with was the attempt to make sense of the phenomenal world while taking into account its contradictory aspects. In this he was functioning as a part of the sophistic movement rather than as an opponent of that movement" 8 . Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts zeichnet sich in den Dramen eine negative Konnotation des Begriffes σοφιστής ab, die mit der professionellen Ausübung des unkonventionellen Lehrens in Verbindung steht. Am Beispiel der um 445 verfaßten Historien Herodots und Thukydides' am Ende des 5. Jahrhunderts fertiggestellten Geschichte des Peloponnesischen Krieges ist der Bedeutungswandel ebenfalls gut zu beobachten: Im Vokabular Herodots bezeichnet σόφισμα eine List9. Zweimal ist von σόφισμα bzw. σοφίσματα και μηχαναί die Rede, d.h. von den findigen Strategien und deren 1 2 3 4
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Aristoph. nub. 1111. Aristoph. nub. 205; av. 431, 1401; ran. 17, 872; PI. 160. Vgl. 21,Anm. 6. Aristoph. nub.; Aischin. 1.173; V. Ehrenberg, Aristophanes und das Volk von Athen. Eine Soziologie der altattischen Komödie, Zürich/Stuttgart 1968, 276. Vgl. dazu Kap. III 2. Aristophanes stieß zunächst auf Unverständnis, woraufhin er die Wolken noch einmal umschrieb. Sie erreichten im Jahre 423 nur den dritten Platz. Ch. Segal, Aristophanes' Cloud-Chorus, Arethusa 2, 1967, 143-161, jetzt in: E. Segal (Hrsg.), Oxford Readings in Aristophanes, Oxford/New York 1996, 162f. Vgl. dazu Kap. III 1.1,2. Segal listet die in den Wolken herausgebildeten Antithesen auf, die sich dem Alten, d.h. Guten, und dem Neuen, d.h. Schlechten, zuordnen lassen. Segal, Aristophanes' Cloud-Chorus, 165. Zu nennen ist beispielsweise eine auf der Bildung von Antithesen aufbauende Dialektik oder das Überdenken überlieferter Traditionen. Vgl. Ehrenberg, Aristophanes, 279. Kerfeld, Sophists and their Legacy, 5. Hdt. 3.85.12; 3.152.3, 6; ähnlich auch 1.80.22.
2. Terminologie
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Umsetzung1. Die σοφισταί sind bei ihm dagegen ganz wertneutral Lehrer, Gelehrte2, und einmal erwähnt er mit unverkennbarer Hochachtung den „Sophisten" Pythagoras3. Dagegen verwendet Thukydides die Termini σοφισταί und σόφισμα in einem abwertenden Sinne, aber insgesamt nur je einmal: Die σοφίσματα bezeichnen die vorgegebenen Scheingründe4; die σοφισταί sind in einer von Thukydides konzipierten Stellungnahme Kleons zur Mytilene-Frage im Jahre 427 genannt5. Die Athener hatten zuvor ihren unmenschlichen Strafbeschluß gegen die abtrünnige Stadt bereut und diesen erneut auf die Tagesordnung der Volksversammlung gesetzt. Kleon, dem laut Thukydides das Volk vertraute6, ergreift das Wort und kritisiert die mangelnde Bereitschaft zu Härte und Durchgreifen. So klagt er, daß sich die Athener beim Treffen ihrer Entscheidungen nur an schönen Worten und nicht an Tatbeständen - πράγματα - orientieren7: Auf die Neuheit eines Gedankens hereinfallen, das könnt ihr gut, und einem bewährten nicht mehr folgen wollen - ihr Sklaven immer des neuesten Aberwitzes, Verächter des Herkommens, jeder nur begierig, wenn irgend möglich, selber reden zu können, ... so sucht ihr nach einer andern Welt gleichsam, als in der wir leben, und besinnt euch dafür nicht einmal auf das Nächste zur Genüge;... 8 .
Der mangelnde Tatendrang, hervorgerufen durch die verfuhrenden Reden, das begierige Aufgreifen neuer Gedanken zu Lasten der Tradition führte zu einem gewandelten Leben. In dieser Skizze des Lebens der Athener häufen sich die Vorwürfe gegen deren schlechte Gewohnheiten, für welche Kleon abschließend die Sophisten als Verantwortliche bezeichnet: ... kurz, ihr gebt euch der Freude des Hörens hin und ihr gleicht denen, die lieber unter den Zuhörern der Sophisten sitzen, als über die Polis zu beraten9.
Diesen Gedankengang nimmt Kleon am Ende seiner Rede erneut auf und bemerkt, den Rednern seien besser andere Tummelplätze zu bieten als ausgerechnet und fatalerweise die Staatsbelange10. Bei den genannten Rednern handelt es sich nicht unbedingt um 1 2 3 4 5
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Hdt. 3.85.12; 3.152.3. Hdt. 1.29.3; 2.49.6. Hdt. 4.95.10. Thuk. 6.77.1,5. Thuk. 3.38.7. Die Rede erhielt, wie das gesamte Werk des Thukydides, vor dem Hintergrund der Niederlage Athens ihre endgültige Form. Zu den Reden des Thukydides vgl. H. Strasburger, Thukydides und die politische Selbstdarstellung der Athener, Hermes 86, 1958, jetzt in: H. Herter, Thukydides, Darmstadt 1986, 503ff. Thuk. 3.36.3. Kleon wird als gewalttätiger Mann charakterisiert, der jedoch das größte Vertrauen des Volkes genoß. Thuk. 3.38.3-6. Vgl. auch Thuk. 2.40.2, wo er logos und ergon gegenüberstellt. Ob er sich an ein von Gorgias im Palamedes angesprochenes Thema als dessen Schüler erinnerte, bleibt ungewiß. Vgl. Gorg. Pal. [fr. 1 la.35]; dazu Kap. II 2.3, 102f. Möglicherweise handelt es sich auch um eine politische Floskel im Sinne von, 'auf Worte müssen nun Taten folgen'. Thuk. 3.38.6, 7. Thuk. 3.38.7 (die Übersetzung weicht von der Landmanns ab): άπλώς τε άκοής ήδονη
ήσσώμενοι καί σοφιστών θεαταίς έοικότες καθημένοις μάλλον ή περί πόλεως βουλευομένοις. 10
Thuk. 3.40.3.
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I. Einleitung
Sophisten. Diese, die auch gegen Bezahlung schöne Reden verfaßten1, sind der Darstellung zufolge ein Produkt des oben beschriebenen, gewandelten Lebens der Athener. Die bei Thukydides hier im Plural genannte Gruppe der Sophisten unterscheidet sich deutlich von den „Gelehrten" bei Herodot. Zusammenfassend ergibt sich zur Verwendung der Termini in der Geschichtsschreibung für die Darstellung Herodots noch eine Wertneutralität, während dann in der am Ende des 5. Jahrhunderts fertiggestellten Geschichte des Peloponnesischen Krieges des Thukydides der schädliche Einfluß dieser Personen evident ist 2 . Die Untersuchung des Sprachgebrauchs belegt eine seit der Mitte des 5. Jahrhunderts n.Chr. überwiegend abwertende Bedeutung der Termini σοφιστής, σοφιστικός, σόφισμα und σοφίζεσται. Den Bühnenautoren kommt dabei eine wichtige Rolle zu, da sie weite Kreise des Volkes erreichten und gewissermaßen meinungsbildend agierten. Andererseits stellten sie einen Spiegel der öffentlichen Meinung dar . Vielmehr jedoch als die Vertreter der Sophistik selbst wird ihr Agieren kritisiert. Der Begriff σόφισμα beschreibt eine mit hinterlistigen Absichten eingesetzte Klugheit oder List, was zahlreiche Textstellen belegen4. Dieses Ergebnis erstaunt, zumal Autoren wie Euripides oder Thukydides der Überlieferung zufolge selbst enge Kontakte zu Sophisten unterhielten, sogar zu ihren Schülern gehörten5. An der Einflußnahme der geistigen Strömung auf ihre Werke besteht kein Zweifel6. Der auf den ersten Blick paradox erscheinende Sprachgebrauch zeigt jedoch, daß die Zeitgenossen zwischen dem von ihnen selbst wahrgenommenen Ausbildungsangeboten der Sophisten und den zutage tretenden Wirkungen der Lehren differenzierten. Verstand Pindar noch zu Beginn des 5. Jahrhunderts unter σοφισταί völlig wertneutral Dichter, Musiker und Gelehrte, diente der Begriff in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch zur Verunglimpfung der Personen, die sich nicht mehr auf der Grundlage der altbewährten Traditionen bewegten, was mit fatalen Folgen verbunden sein konnte7. 1 2
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Thuk. 3.38.2. Eine eingehendere Analyse der Beurteilung der Sophisten und ihrer Wirkung im Urteil des Thukydides kann im Rahmen dieser Studie nicht vorgenommen werden. Vgl. zum Methodenkapitel im Werk des Thukydides Kap. II 2.2.2 c, 93. Vgl. dazu ausfuhrlich Kap. III 1.1. σοφιστής, σοφισταί: 1 (Pind.); 2 (Aischyl.); 2 (Soph.); 1 (Eur.); 4 (Aristoph.); 3 (Hdt.); 1 (Thuk.); σόφισμα, σοφίζεσται: 1 (Hes.); 1 (Pind.); 3 (Aischyl); 2 (Soph.); 10 (Eur.); 6 (Aristoph.); 3 (Hdt.); 1 (Thuk.). Einer Überlieferung zufolge - so berichtet Diogenes Laertius zu Beginn des 3. Jahrhunderts n.Chr., ohne diese genauer zu bestimmen - las Protagoras seine Schrift Über die Götter im Hause des Euripides vor. Diog. Laert. 9.54 [DK 80 A 1]. Marcellinus, ein Autor des 5. oder 6. Jahrhunderts n.Chr., bemerkt den Einfluß des Gorgias und Prodikos auf Thukydides. Marceil. V. Thuk. 36 [DK 84 A 9]; er galt auch als ein Schüler Antiphons. Hermog. de id. Β 399, 18 R [DK 87 A 2]; vgl. Cie. or. 13.40. Neumann, Gegenwart und mythische Vergangenheit, 22-25. Der „Sophist" Prometheus stellt sich gegen den Willen des Zeus und stürzt zum Schluß samt Felsen ins Meer (Aischyl. Prom.); Odysseus scheitert an der „guten", von aristokratischen Werten be-
2. Terminologie
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Neben einer eher generellen Bedeutung entwickelte sich nachweislich seit Aristophanes eine Konkretisierung, die das Kriterium der Professionalität in den Mittelpunkt rückte. An diese kritische Darstellung knüpfte im 4. Jahrhundert Piaton an, wobei er Sokrates als Kontrahenten der Sophisten auftreten ließ. Es gehörte sicher einiger Mut dazu, sich nach der Lektüre des Protagoras-Dialoges selbst einen Sophisten zu nennen1 : Und du, sprach ich, um der Götter willen, würdest du dich nicht schämen, den Hellenen dich als einen Sophisten darzustellen?2
Diese Frage stellt Sokrates im Protagoras-Dialog seinem Gesprächspartner Hippokrates, der sie verschämt verneint. Protagoras selbst tritt im weiteren Verlauf des Dialoges die Flucht nach vorn an und bekennt offen, um aufrichtig zu wirken, ein Sophist zu sein3. Offenkundig bleibt die mit dem Begriff verbundene Geringschätzung. Eine zweifelsfrei nur nach dem Peloponnesischen Krieg zu datierende sophistische Schrift, die sogenannten Dissoi Logoi4, enthält eine Rechtfertigung der Sophisten. Der Autor, bei dem es sich offenbar um einen Schüler handelte , verteidigt im sechsten Abschnitt des im dorischen Dialekt verfaßten Textes seine Lehrer, die σοφισταί. Mit Blick auf deren Lehrstoff unterscheidet er sie von den Anaxagoreern und Pythagoreern. Der Text wirkt wie eine Reaktion auf die Diskussion im Protagoras-Dialog, denn sie wendet sich gegen den Satz, daß σοφία und αρετή weder lehr- noch lernbar seien6. Folgende Argumente würden dem Dorer zufolge u.a. dazu angefügt: ... Zweitens: Wenn sie lehrbar wären, so gäbe es Lehrer dafür, wie fur die Musik. ... Viertens: Leute, welche die Schule von Sophisten besuchten, hatten davon keinen Nutzen. Fünftens: Viele, welche die Schule der Sophisten nicht besuchten, sind bedeutende Männer geworden7.
Dem entgegnet der namentlich nicht genannte Autor: Ich halte diese Behauptung für ganz einfaltig.... Was aber den zweiten Beweis betrifft, daß es keine Lehrer dafür gebe, so frage ich: Was lehren denn die Sophisten anderes als Bildung und Tugend? ... Ebensowenig stichhaltig ist der vierte Beweis, wenn manche Leute in der Schule der Sophisten nicht gebildet worden sind, denn auch viele versuchten Lesen und Schreiben zu
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stimmten Natur des Neoptolemos (Soph. Phil.); Hekabe bezeichnet es anklagend als σόφισμα, der Menge nach dem Mund zu sprechen, was den Opfertod ihres Kindes zur Folge hätte (Eur. Hek. 258). Vgl. außerdem die Mißachtung der Eltern in den Wolken des Aristophanes (vgl. Kap. III 2) oder die Rede Kleons in der Darstellung des Thukydides, in der die Sophisten die Menge mit schönen Worten locken und von den Staatsgeschäften ablenken (Thuk. 3.38). So Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III, 34. Plat. Prot. 312a. Plat. Prot. 317b. Laut Kranz trifft dieser Titel bestenfalls auf die ersten vier Abschnitte des Textes zu. Eine genauere Datierung erscheint mir aufgrund des Textes nicht möglich. Vgl. Kranz, Δ ί σ σ ο ί Λόγοι, 629; Kerfeld, Sophistic Movement, 54. Kranz, Δ ι σ σ ο ί Λόγοι, 632; vgl. Κ. Bringmann, Rhetorik, Philosophie und Politik um 400 v.Chr. Gorgias, Antiphon und die Dissoi Logoi, Chiron 30,2000, 494f. DK 90 6; Plat. Prot. 328c, 330a; Kranz, Δ ι σ σ ο ί Λόγοι, 634.
DK 90 6.3, 5, 6: (3) (Wieland, 103): άλλα δέ, ώς αϊ διδακτόν ήν, διδάσκαλοι κα άποδεδεγμένοι ήν, ώς τάς μωσικάς.... (5) τέταρτα δε, ότι ήδη τινές παρά σοφιστάς έλθόντες ούδέν ώφέληεν. (6) πέμπτα δέ, δτι πολλοί ού συγγενόμενοι σοφισταΐς άξιοι λόγω γεγένηυται.
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I. Einleitung lernen und haben es nicht gelernt. Ferner ist allerdings auch die Naturanlage etwas, vermöge derer mancher, der nicht in die Schule der Sophisten ging, doch ein bedeutender Mann wurde,
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Die Argumentation dieses 6. Abschnittes der Dissoi Logoi als protagoreisch zu bezeichnen und die Übereinstimmungen mit dem platonischen Dialog als Belege fur ursächliche Aussagen des Protagoras anzuführen, wie Kranz es unternimmt 2 , ist meines Erachtens nicht zu halten. Die Aussagen des anonymen Verfassers sind nicht genauer zu datieren 3 . Sie nehmen Stellung zu einer im frühen 4. Jahrhundert aktuellen Frage, die in dieser Form, wie die Dialoge Piatons, erst nach dem Tod des Sokrates wahrscheinlich ist. Der Text endet mit der Feststellung des Autors, er könne zwar nicht behaupten, daß σοφία und άρετή lehrbar seien, aber die dagegen angeführten Beweise überzeugten ihn nicht 4 . Der Terminus σοφιστής war demzufolge im 4. Jahrhundert trotz aller negativen Anklänge noch nicht generell verunglimpfend; er konnte durchaus noch im positiven Sinne zur Bezeichnung einer professionellen Gruppe von „Weisheitslehrern" dienen. Abschließend sind folgende Bedeutungen der besprochenen Termini festzuhalten: Erstens eine wertneutrale Anwendung, welche ganz allgemein zur Bezeichnung von Dichtern, Sängern und Gelehrten dient. Zweitens charakterisieren die Begriffe, im negativen Sinne gebraucht, Personen, die ihre Klugheit und ihr Wissen mit üblen Hintergedanken einsetzen, oder sie kennzeichnen eine professionelle Gruppe von angeblichen „Weisheitslehrern". Und drittens bezeichnen sie im positiven Sinne professionelle „Weisheitslehrer".
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DK 90 6.7, 10, 11: (7) (Wieland, 103): έγώ δέ κάρτα εΰήθη νομίζω τόνδε του λόγον ... πρός δέ τάν δευτέραν άπόδειξιν, ώς άρα ούκ έντί διδάσκαλοι άποδεδεγμένοι, τί μα ν τοί σοφισταί διδάσκοντι άλλ' ή σοφίαν καί άρετάν; ... (10) τέταρτον δέ, α'ι μή τοι παρά [σοφών] σοφιστών σοφοί γίνονται· και γαρ γράμματα πολλοί ούκ έμαθον μαθόντες.
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Kranz, Δ ι σ σ ο ί Λόγοι, 634. Kranz nennt als Beleg dafür, daß diese im 6. Abschnitt ausgeführten Gedankengänge auf Protagoras zurückzufuhren seien, den Protagoras-Dialog Piatons. Übereinstimmende Formulierungen müßten ihm zufolge zu den Protagoras-Fragmenten gerechnet werden. Diese Folgerung ist meines Erachtens nicht zu halten. Der Anspruch, Weisheit und Tugend zu lehren, bezieht sich in den Dissoi Logoi auf alle Sophisten. Im Dialog Piatons diskutiert der Protagonist der Bewegung diese grundsätzliche Funktion. Für die Textfragmente des historischen Protagoras ist damit nichts gewonnen. Seine Autorschaft ist nicht zu belegen. Es bleibt insgesamt ungewiß, ob der eine Text den anderen beeinflußt hat. Nach DK 90 1.8 bleibt lediglich eine Datierung nach dem Peloponnesischen Krieg, aber keine Angabe, wie lange nach Kriegsende der Text verfaßt wurde. Meiner Ansicht nach kann die Schlußfolgerung von Kranz, daß der Autor zu den „Nachsokratikern" gehörte (Kranz, Δ ι σ σ ο ί Λόγοι, 640), nicht überzeugen. Auffällig erscheint dagegen die Nähe zu Gorgias, die u.a. in der Frage zur Urteilsfindung der Richter zum Ausdruck kommt. Vgl. z.B. DK 90 4.7, 8; Kap. II 2.3. DK 90 6.13.
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2. Terminologie
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Diese Bedeutungen hatten nebeneinander auch im 4. Jahrhundert weiter Bestand, wie die zahlreichen Belege in den Werken Piatons, Xenophons oder Isokrates zeigen1. So ergibt eine Untersuchung Classens zur Darstellung der Sophistik und der Sophisten bei Xenophon eine nichtspezifische Verwendung von σοφιστής in dessen Werken2. Xenophon beurteilt die Sophisten nicht wie Piaton als eine einheitliche und bedrohliche Bewegung3, sondern allgemein als Männer, die Wissen und Fähigkeiten vermitteln, welche insbesondere im politischen Leben Erfolg versprechen sollen. Verachtung verdienen sie, wenn sie Geld fordern, denn in dieser Hinsicht sei ihre Tätigkeit etwa mit der von Hetären vergleichbar4. Die Kritik der Zeitgenossen richtete sich gegen die Professionalisierung eines Unterrichts, der traditionell innerhalb der aristokratischen Familie oder vielleicht Hetairie erfolgte5, nun jedoch gegen Geld für potentiell jeden 6 , de facto nur für die Zahlungskräftigen zugänglich war. Dabei galt neben der Tatsache, daß sie Geld nahmen7, insbesondere die Höhe der Honorare8 und vor allem die Wirkung ihrer Lehrtätigkeit als anrüchig. Piaton war besonders darum bemüht, seinen Lehrer von dem Vorwurf, die Jugend verdorben zu haben9, freizusprechen und ihn deutlich von den professionellen Weisheitslehrern zu unterscheiden. Σοφιστής als feststehender terminus technicus für eine klar umrissene bestimmte Gruppe von Philosophen entspricht zwar der Stilisierung bei Piaton, jedoch nicht dem den Texten des 5. und 4. Jahrhunderts zugrundeliegenden Sprachgebrauch.
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In den Dialogen Piatons finden sich mehr als 100 Belege. Vgl. die Gesamtübersicht bei Xenophon: Kyr. 3.1.14; 6.1.41; mem. 1.1.11; 1.6.1, 13; 4.2.1, 8; por. 5.5; symp. 4.4; Hier. 1.24, vect. 5.4; kyn. 13.1-8. Auch bei Isokrates liegt eine kritische, aber ausgewogene und nicht durchweg verurteilende Sichtweise vor. Vgl. dazu besonders die Antidosis: Isokr. antidos. (or. 15) 2.2; 4.11; 148.7; 155.2; 157.4; 168.8; 194.5; 197.6; 203.5; 215.7; 220.2; 221.5; 235.4; 237.3; 268.4; 285.2; 313.2. C.J. Classen, Xenophons Darstellung der Sophistik und der Sophisten, Hermes 112, 1984, 154-167. Vgl. Classen, Xenophons Darstellung der Sophistik, 166. Xen. mem. 1.6.13. Kerfeld, Sophistic Movement, 37f. Vgl. Kerfeld, Sophistic Movement, 26. Es war üblich, für die Dienste der Sänger, Ärzte etc. zu zahlen. Vgl. Hdt. 3.131; Plat. Gorg. 520d; Isokr. antidos. (or. 15) 166; Kerfeld, Sophistic Movement, 25. So verlangte Gorgias 100 Minen (Sud. s.v. Gorgias; Diod. 12.53.2). Eine Mine enthielt nach dem attischen Münzfuß ca. 425 Gramm Silber und zählte 100 Drachmen. Der Lohn eines Künstlers betrug eine Drachme am Tag. Dies dokumentieren Listen über die Ausgaben bei Tempelbaumaßnahmen am Ende des 5. Jahrhunderts. Zur Einschätzung der Höhe der Honorare vgl. Kerfeld, Sophistic Movement, 27f; Rubel, Stadt in Angst, 60f. Vgl. u.a. Xen. mem. 1.1; Plat. Apol. 17b.
3. Einführung in die Thematik 3.1
Vom mythischen zum rationalen Denken?
Im Anschluß an Hegels Vergleich des Zeitalters der Sophistik mit dem der Aufklärung des 18. Jahrhunderts bildeten sich verschiedene Einschätzungen zur Bedeutung der Sophisten 1 . Eine, die sich im wesentlichen auf Piaton stützt, bezeichnet die Sophisten als „Zerstörer des Mythos". Inwiefern dieser Vorwurf berechtigt ist, soll in Kapitel II anhand konkreter Textbeispiele aus den Fragmenten der Sophisten überprüft werden. Doch zuvor stellt sich das Problem der religiösen und sozialen Bedeutung des Mythos, seiner Einbettung in den geistesgeschichtlichen Kontext. In welcher Hinsicht konnte die „Zerstörung des Mythos" als bedrohlich empfunden werden? Kritik und generelle Zweifel an der Gültigkeit und Glaubwürdigkeit der Mythen begannen nicht erst mit der Sophistik, sondern bereits mit den ionischen Naturphilosophen. Ihnen reichte die Göttergenealogie eines Hesiod, beispielsweise zur Erklärung des Kosmos, nicht mehr aus. Sie versuchten, durch Beobachtungen des Alltäglichen die Ordnung der Welt und auch die Entstehung der Mythen zu erklären 2 . Diese Anfänge der griechischen Philosophie sind mit denen des politischen Denkens, der Entstehung der Polis, eng verbunden 3 . Von einer linearen Entwicklung vom mythischen zum philosophischen, vom irrationalen zum rationalen Denken, kurz vom „Mythos zum Logos", kann aber keine Rede sein. Schon die Epen Homers lassen durchaus rationales Denken erkennen 4 . Mythos und Logos schließen einander nicht aus. Kirk erklärt, daß das Aufkommen von Philosophie in Griechenland nicht einfach auf eine Rationalisierung des Mythos zurückzuführen sei. Er definiert Philosophie wie folgt: „Die Entwicklung der Philosophie beruht erstens (so lautet mein Vorschlag) nicht allein auf einer Denkweise - das heißt, rational und systematisch in einem, sondern auch auf der All-
1
Vgl. Lesky, Griechische Literatur, 387; E. Wolf, Griechisches Rechtsdenken II, Rechtsphilosophie und Rechtsdichtung im Zeitalter der Sophistik, Frankfurt 1952, 9-12; Kerfeld, Sophists and their Legacy, 2; Ch. Roßner, Recht und Moral bei den griechischen Sophisten, (Rechtswissenschaftliche Forschung und Entwicklung), (Diss.) München 1998, 17. Eine kritische Stellungnahme zu dem Vergleich der „ersten" Sophistik mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts bietet Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 6f.
2
J.P. Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, (franz. 1962) Frankfurt a.M. 1982, 104f. „Der Kampf gegen den Mythos", so Nestle, „beginnt mit Xenophanes". W. Nestle, V o m Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens, Stuttgart 1975 2 , 87; zur Kritik an der bildlichen Vorstellung von den Göttern durch Xenophanes vgl. Brisson, Philosophie des Mythos, 11.
3
Vgl. dazu Ch. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a.M. 1980, 12f., 70-72; Vernant, Entstehung des griechischen Denkens, 132 (wie 28, Anm. 2). Lohr verweist auf die sozialen Umwälzungen und Erweiterungen des geistigen Horizonts durch Reisen; G. Lohr, Religionskritik in der griechischen und römischen Antike. Methodologische und inhaltliche Vorüberlegungen zu einer religionswissenschaftlichen Darstellung, Saeculum 49, 1998, 14.
4
Kirk, Griechische Mythen, 275; vgl. G.W. Most, From Logos to Mythos, in: R. Buxton (Hrsg.), From Myth to Reason? Studies in the Development of Greek Thought, Oxford 1999, 28.
3. Einführung in die Thematik
29
gemeinheit ihres Gegenstandes - eher abstrakt als partikular - und auf einer besonderen Haltung seitens des Denkers: eine uneingeschränkte und alles tangierende Befragung." 1 Das Interesse der Philosophie galt der Welt als Ganzes, unter Zurückweisung der überlieferten Mythen. Diese sind keine starren und unveränderlichen Gebilde, denn sie bestehen aus Grundstrukturen, aus Standards, und passen sich im Detail der jeweiligen Zeit an, um verständlich zu bleiben 2 . Heroenmythen dienten darüber hinaus als Exempla; als solche wurden sie bereits bei Homer eingesetzt3. Ein Beispiel dafür bietet die Geschichte des Meleagros in der Ilias, die in genealogischen Zeitebenen von der „Gegenwart" des trojanischen Krieges in die Vergangenheit zurückführt 4 : Nach der Jagd auf den kalydonischen Eber brach um die Beute, das Eberfell, ein Streit aus, bei dem Meleagros seinen Onkel tötete. Dafür traf ihn der Fluch seiner Mutter, woraufhin er sich zornig zurückzog, obwohl Kalydon von den feindlichen Kureten umkämpft wurde. Die Erzählung des Mythos in der Ilias sollte bei Achill eine entsprechende Reaktion - nämlich das Wiedereingreifen in das Kampfgeschehen - auslösen. Auch Meleagros hatte sich aus einem für sein Volk bedrohlichen Krieg zurückgezogen und damit seine persönlichen Beweggründe über die Interessen der Gemeinschaft gestellt. Der Konflikt zwischen Agamemnon und Achill hatte Phoinix dazu veranlaßt, auf dieses Paradigma zurückzugreifen. Kirk bezeichnet Homer als das „Schatzkästchen" der Moral der Vorfahren und der praktischen Weisheiten 5 . Die heroische Überlieferung diente den Menschen als Maßstab und Orientierungshilfe für ihr persönliches Verhalten. Die Tragödiendichter gaben den Mythen schließlich ihre eigene Interpretation, wobei sie durchaus zeitgenössische Fragen aufgriffen 6 . Die Nutzung des Mythos kann als ausgesprochen rational angesehen werden. Ein im Mythos verhaftetes, damit nicht zwangsläufig irrationales Denken hemmt jedoch die Flexibilität, allgemeine Theorien zu entwickeln. Die Anfänge philosophischen Denkens liegen in dem Wunsch begründet, sich dem Abstrakten zuzuwenden. Daraus entsteht zwangsläufig auch eine kritische Auseinandersetzung mit religiösen Vorstellungen, was nicht gleichbedeutend mit einer Ablehnung des Wirkens der Götter ist. So betrachtete der um 540 geborene Heraklit von Ephesos die Welt als immer dagewesen und das Feuer als die Ursubstanz, die er mit Zeus gleichsetzte7. Doch er wandte sich ab von dem '
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Kirk, Griechische Mythen, 275. Vgl. M. Gatzemeier, Sprachphilosophische Anfange, in: M. Dascal u.a., Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Vol. I, Berlin/New York 1992, 2. Der Mythos enthält durchaus Rationalitätsmomente, wenn auch in einer anderen sprachlichen Form als der entwickelte Logos. Vgl. Most, From Logos to Mythos, 42. Vgl. die Definition von „Mythos" bei Graf, Griechische Mythologie, 8. Kirk, Griechische Mythen, 275-278. Horn. II. 9.524ff; vgl. dazu K.-E. Petzold, Die Meleagros-Geschichte der Ilias, Historia 25, 1976, 146-169; H. Petersmann, Vom Märchen zur epischen Sage. Eine sprach- und motivgeschichtliche Untersuchung zu den Namen der Hauptpersonen in der Meleagris, WS 107, 1994,15-27. Kirk, Griechische Mythen, 276; vgl. auch Brisson, Philosophie des Mythos, 7. Vgl. z.B. Sophokles' Antigone, oder auch den Herakles des Euripides, der dabei aber vom mythischen Standard abweicht. Clem. Alex, ström. 5.115, 1 [DK 22 Β 32]: ε ν το σοφόν μ ο ΰ ν ο ν λ έ γ ε σ θ α ι ο ϋ κ έ θ έ λ ε ι κ α ί έ θ έ λ ε ι Ζ η ν ό ς όνομα.
30
I. Einleitung
auf Göttermythen basierenden Weltmodell eines Homer oder Hesiod, indem er die Gottheit als „Absolutes" auffaßte 1 . Mythen sind traditionelle Erzählungen, die nicht nur physikalische Erscheinungen, sondern auch Rituale, somit religiöse Verehrungsformen erklären und auch die Grundlage oder die Voraussetzung dafür bilden 2 . Mythen können als Aitien entstanden sein, um längst vergessene Hintergründe bestimmter Riten zu deuten, sie können aber ebenso rituelle Handlungen ausbilden 3 . Sie vermitteln außerdem traditionelle Werte und Handlungsschemata, die zur Orientierung des einzelnen in Konfliktsituationen dienen. Erst eine Überwindung der herkömmlichen Vorstellungen ermöglicht eine Anregung philosophischen Denkens 4 . Was die sogenannten Naturphilosophen mit ihren Spekulationen bislang nicht leisteten, erfüllten die Sophisten: Sie schlossen eine Lücke in dem beschriebenen Entwicklungsprozeß, indem sie jetzt noch akzentuierter den Menschen in das Zentrum des Interesses rückten und Erklärungen für den „Kosmos" des menschlichen Zusammenlebens anboten. Sie nutzten die traditionelle Exempla-Funktion der Mythen, um den Menschen neue Orientierungshilfen in Fragen des Verhaltens, des Handelns und der ethischen Werte zu liefern. Trotz der Distanz zum heroischen Zeitalter nahmen die Zeitgenossen des 5. Jahrhunderts die Denk- und Handlungsweisen eines Agamemnon, Odysseus oder einer Penelope zum Leitfaden richtigen Verhaltens. Was die Naturphilosophen auf einer abstrakten Ebene behandelten, versuchten die Sophisten jetzt auch auf den unmittelbaren menschlichen Kosmos anzuwenden. Damit reagierten sie auf ein Bedürfnis, das durch die ersten Entwicklungsstufen philosophischen Denkens entstanden war. Ausgehend von der viel zitierten These, daß die Sophisten den Mythos zerstörten, ist jetzt zu entgegnen, daß sie sich in einen Prozeß des Denkens einschalteten,
1
Hippol. Haer. 9.10.8 [DK 22 Β 67]: „Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger ..." Heraklit stellt mit seiner Ablehnung des genealogischen Weltmodells Hesiods einen Einschnitt im Prozeß des griechischen Denkens dar. Für ihn ist die Weltordnung ( κ ό σ μ ο ς ) weder ein Geschöpf der Götter noch der Menschen. Es gibt keinen Zeitpunkt der Entstehung oder des Endes der Weltordnung, denn sie ist ewig. Vgl. Clem Alex, ström. 5.104, 2 [DK 22 Β 30], Vgl. auch Kirk, Griechische Mythen, 283.
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Henrichs bemerkt, daß mythos und logos auf verschiedene Art und Weise ihr Verständnis von der Welt artikulieren. Vgl. A. Henrichs, Demythologizing the Past, Mythicizing the Present: Myth, History, and the Supernatural at the Dawn of the Hellenistic Period, in: R. Buxton (Hrsg.), From Myth to Reason? Studies in the Development of Greek Thought, Oxford 1999, 224.
3
Mit diesen neuen Göttern ist zunächst eine Erzählung, ein Mythos verbunden, der zum Teil im Ritus seinen Ausdruck findet; vgl. z.B. die Heroenkulte oder die Einführung „fremder" Gottheiten durch Einwanderer. Vgl. Burkert, der u.a. auf die Parallelen der mythischen Überlieferung der Griechen und Sumerer hinweist. W. Burkert, Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin/New York 1972, 290f.; Graf, Griechische Mythologie, 43-57; Kirk, Griechische Mythen, 213-241 und 243-262 zu den westasiatischen Einflüssen; Κ Kerényi, Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Ein Lesebuch, Darmstadt 1996 5 .
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Kirk, Griechische Mythen, 276; vgl. auch K. Heinrich, Die Funktion der Genealogie im Mythos (1963), in: ders., Vernunft und Mythos. Ausgewählte Texte, Frankfurt a.M. 1992 3 ; Brisson, Philosophie des Mythos, 7f.
3. Einführung in die Thematik
31
der nicht einfach mit einer Ablösung des Mythos durch den Logos charakterisiert werden kann. Dieser vollzog sich keineswegs gradlinig. Mit den seit den Perserkriegen gestiegenen Anforderungen galt es, die Rolle des Individuums in der Polis neu zu definieren. Mit der immensen Machterweiterung Athens hatten sich ungeahnte Handlungs- und Erwartungsräume eröffnet, „so daß auf den verschiedensten Gebieten die Dinge neu gesehen, geformt, gemeistert werden konnten" 1 . Wie sollte der einzelne auf gewandelte Strukturen reagieren 2 ? Der neuen Skepsis gegenüber mythischen Erklärungsmustern und Verallgemeinerungen mußte ein Überdenken überkommener Verhaltensmuster folgen. Mythen prägten die Vorstellungen von den Göttern und die Pflege der Kulte. Sie variierten von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit, paßten sich den Gegebenheiten der jeweiligen Polis an und fungierten gleichzeitig als ein wichtiger Ausdruck ihrer kulturellen Identität 3 . Kritik und Zweifel an den Mythen mußten sich folglich auch auf die Religion auswirken, die eng in das alltägliche Leben eingebunden war. Die den nomoi entsprechende Verehrung der Götter garantierte das Wohl und Funktionieren der Polisgesellschaft. Die Religion war durch nomoi definiert und somit auch immer ein soziales und politisches Phänomen. Das Nachdenken über die Götter hatte bereits mit den ionischen Naturphilosophen des 6. Jahrhunderts, mit Thaies (-624-546), Anaximander (611-546), Anaximenes ( - 5 2 5 gestorben) begonnen und setzte sich mit den Intellektuellen des 5. Jahrhunderts, den Dichtern, Historikern, Sophisten und den Philosophen fort. Einen besonderen Nährboden religionstheoretischer Überlegungen stellte im letzten Viertel des 5. Jahrhunderts Athen dar. Nicht aus der Krisensituation heraus, sondern aufgrund eines erweiterten Horizonts öffnete sich die Polis vermehrt für fremde Gottheiten 4 . Es ist eine Verbreitung der Kulte zu beobachten, die eine intellektuelle Auseinandersetzung mit Fragen der Religion sicher verstärkt anregte. Die ursprüngliche Allianz zwischen einer naturalistischen Weltsicht und der kosmischen Theologie stand jetzt zur Diskussion. Allegorien dienten bereits im 6. Jahrhundert zur Deutung von Mythen und ihrer Anpassung an neue Denkweisen 5 . Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts mehren sich Spekulationen und Theorien über den Ursprung der Religion und der menschlichen Zivilisation 6 .
Meier, D i e politische Kunst der griechischen Tragödie, 8. 2
D i e s e Diskrepanz stellt b e i s p i e l s w e i s e den Konflikt in der A n t i g o n e des S o p h o k l e s dar.
3
Mythen
stellten oft eine Art kollektiver Erinnerung dar und bildeten damit einen Teil
des
Geschichtsverständnisses. Henrichs, D e m y t h o l o g i z i n g the Past, 2 2 4 f . , 2 3 6 . Zur gezielten Argumentation mit d e m M y t h o s im Interesse der Seebundpolitik: vgl. Smarczyk, Religionspolitik, 3 1 8 385. 4 5
S o Parker, Athenian Religion, 197; vgl. zuletzt Rubel, Stadt in Angst, 2 3 3 - 2 6 2 . Vgl. Graf, Griechische M y t h o l o g i e , 177f. M o s t betont, daß die A l l e g o r e s e den M y t h o s z u w e i l e n vor der V e r d a m m u n g retten sollte. Allegoristen setzten voraus, daß die den M y t h o s erzählende Person schon mit dem logos
vertraut ist, ihn aber in einen M y t h o s hüllt. A u f diese W e i s e k ö n n e der
tatsächliche Inhalt vor Ignoranten geschützt werden und nur w e n i g e hätten einen Zugang. Most, From L o g o s to Mythos, 33. 6
V g l . Ch.H. Kahn, Greek Religion and P h i l o s o p h y in the S i s y p h o s Fragment, Phronesis 4 2 . 3 , 1997, 255.
32
I. Einleitung
Die Lehren und Theorien der Sophisten lassen sich nicht immer präzise von den Thesen der sogenannten Naturphilosophen abgrenzen, denn sie widmen sich teilweise ähnlichen Themen oder bauen aufeinander auf 1 . Mit Piaton ist ein deutlicher Wendepunkt erreicht, an dem nach herkömmlicher Auffassung der Versuch einer Verbindung zwischen der Beschäftigung mit dem Abstrakten, der Theoriebildung und der menschlichethischen Basis unternommen wird - mit dem Ziel, durch die Formulierung einer „Wahrheit" der „Vereinzelung" und Orientierungslosigkeit entgegen zu wirken 2 .
3.2
Das politische System: Das Individuum und die Polisordnung
Ein sich wandelndes Menschenbild sowie gesellschaftliche und politische Entwicklungen führten im 17. und 18. Jahrhundert zu einem Gesellschaftsdenken, das eine theoretische Grundlage fur den Übergang von den ständischen Strukturen zur bürgerlichen Gesellschaft, vom Feudalismus zum Kapitalismus schuf. Hierfür kommt Rousseaus „Contrat social" eine herausragende Bedeutung zu 3 . Wie in der Neuzeit, so haben auch in der Antike politische und gesellschaftliche Wandlungsprozesse ebenso naturphilosophische wie sozial- und rechtsphilosophische Fragen aufgeworfen 4 . Aus den Lehren zur Entwicklung des Kosmos, des Lebens und des Menschen entstanden Kultur- und Gesellschaftstheorien. Ihren intellektuellen Höhepunkt erreichten die theoretischen Überlegungen in der Zeit der klassischen Polis in Athen, dem kulturellen Zentrum Griechenlands. Politische Theorie und Praxis griffen dabei eng ineinander. Die attische Demokratie ist selbst Teil des Entwicklungsprozesses, der auf die Weltoffenheit ionischer Naturphilosophie zurückgeht und den sie gleichzeitig durch die Möglichkeit einer größeren Meinungsvielfalt fördert. Ohne den Hintergrund der Polis Athen zur Zeit des Peloponnesischen Krieges wären viele Thesen und Lehren der Sophisten und die Reaktionen der Zeitgenossen kaum zu erklären 5 . Die ökonomischen, politischen und sozialen Wandlungen des 5. Jahrhunderts stellten erhöhte Anforderungen an die Bewohner der Poleis. Die Sophisten versprachen, die Bürger mit ihrem Lehrangebot zu wappnen. Dies behaupten einhellig die zeitgenössi-
1
Vgl. Kap. I 3.1, 30. Es gibt auch in der modernen Wissenschaft terminologische Schwierigkeiten, die sich in der Verwendung der Begriffe „Vorsokratiker", „ältere" und „neuere Sophistik" als Gegensatz zur Sokratik äußern. So beschäftigte sich zum Beispiel Antiphon auch mit mathematischen Fragen. Vgl. dazu Kap. II 6.3. Cassin betont den skeptischen Blickwinkel der Sophisten und unterschätzt die philosophischen Gesamtkonzepte. Vgl. B. Cassin (Hrsg.), Le plaisir de parler: Études de sophistique comparée, Paris 1986, 6.
2
Platon stellte die ursprüngliche Allianz im Timaios und in den Nomoi wieder her. So Kahn, Sisyphos Fragment, 255.
3
J.J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag (aus dem franz. übersetzt von H. Denhardt/W. Bahner), Köln 1988 2 .
4
Vgl. Ch.H. Kahn, The Origins of Social Contract Theory, in: Kerfeld, Sophists and their Legacy, 92-108; R. Müller/H. Klenner, Gesellschaftsvertragstheorien von der Antike bis zur Gegenwart, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1985. Vgl. Romilly, Sophists, 18-26.
5
3. Einführung in die Thematik
33
sehen und auch die späteren antiken Autoren 1 . Je größer und bedeutender die Stadt war, um so wichtiger mußte das Leistungsprinzip für die Bürger werden, die bislang entsprechend ihrer Herkunft Einfluß in der Polis ausübten. Das erklärt, warum Aristokraten, aber auch reiche Emporkömmlinge das zusätzliche Bildungsangebot gern annahmen 2 . Sie verfugten über genügend Geld, den Unterricht zu zahlen. Gerade gegen die Professionalisierung der Bildung wandte sich die Kritik vieler Zeitgenossen. Ob die Honorare tatsächlich so hoch waren, wie teilweise behauptet wird 3 , oder ob es möglicherweise absichtlich übertrieben wurde, sei dahingestellt. Eine wichtige Voraussetzung blieb, daß die Schüler in der Lage waren, die notwendige Zeit aufzubringen, dem Unterricht zu folgen. Das setzte ein Leben voraus, das nicht oder nicht mehr allein vom ständigen Broterwerb bestimmt war 4 . Eine Wirtschafts- und Handelsmetropole wie Athen in der Mitte des 5. Jahrhunderts versprach den Sophisten genügend potentielle Schüler, die mit besonders hohen politischen Anforderungen konfrontiert wurden und die dank der Blüte der Stadt auch über das notwendige Kapital verfügten. Beispielhaft sei auf den Gerbereibesitzer Kleon hingewiesen, den Thukydides als einen sophistisch gebildeten Politiker einführt 5 . Die Ausbildung kam insbesondere in der Redekunst zum Tragen. In der attischen Demokratie mußten bisweilen bis zu sechstausend Menschen und mehr für eine Idee, eine Entscheidung oder ein Urteil gewonnen werden 6 . Doch auch in einem oligarchischen oder tyrannischen Staatswesen kam der Rednergabe eine außerordentliche Bedeutung zu, denn ohne das Volk konnte selbst ein Tyrann nicht bestehen 7 . Die Macht des logos, die dynamis der Rede, wurde zu einem maßgeblichen Wirkungsfaktor des politischen Systems. Die Sophisten reagierten ebenfalls auf das wachsende Krisenbewußtsein in der Zeit des Peloponnesischen Krieges. Verfassungsdiskussionen, wie sie sich schon in den Historien Herodots abzeichnen 8 , die Frage der Machtpolitik Athens in der Darstellung des Thukydides 9 oder auch die Gültigkeit einer allgemeinen Gerechtigkeit (δίκη) vor den Gesetzen der Menschen (νόμοι), das Verhältnis zwischen der Vertragstheorie und dem Naturrecht (νόμος - φύσις), spiegeln die um die Polisordnung kreisenden aktuel-
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9
Vgl. etwa die zahlreichen Beispiele in den Dialogen Piatons, die zwar teilweise polemisch sind, doch an dem Kern der Aussage, an dem Lehranspruch der Sophisten ist nicht zwangsläufig zu zweifeln. Eine ganze Reihe von Schülern der Sophisten sind in den Viten des Philostrat und des Diogenes Laertius genannt. Vgl. die Handlung in den Wolken des Aristophanes, die Sokrates als einen Lehrmeister der neuen Bildung karikiert; u.a. Aristoph. nub. 113-120. Vgl. Kap. I 2, 22,27; Scholz, Der Philosoph und die Politik, 380. Vgl. dazu Welskopf, Sophisten, 1930f. Vgl. Thuk. 3.37-40. Vgl. u.a. J. Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn u.a. 1995 4 ,193-209. Vgl. Aristot. Pol. 1315b. Hdt. 3.80f.; M. Treu, RE IX A, 1959, Sp. 1937-1943 s.v Pseudo-Xenophon, mit weiteren Beispielen. Vgl. auch Demandt, Der Idealstaat, 48f. Der Verfassungsdiskurs spiegelt sich durchaus auch im Werk des Thukydides wider. Vgl. dazu jetzt: H. Leppin, Thukydides und die Verfassung der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v. Chr., Berlin 1999.
34
I. Einleitung
len Fragen der Zeit wider. Die Sophisten schalteten sich in diese Diskussionen ein und stellten die Polis mit ihren bestehenden Normen und Traditionen auf den Prüfstand. Führten ihre Vorstellungen tatsächlich zu einer Individualisierung und zu einem generellen Relativismus, wie es uns Piaton und andere Autoren berichten, dann bleibt das Problem zu betrachten, ob überhaupt irgendeine Form einer sozio-politischen Gemeinschaft als Lebensform denkbar ist. Im folgenden Kapitel soll anhand der Fragmente der sophistischen Überlieferung, möglichst frei von der Sichtweise der ihnen zum Teil nicht wohl gesonnenen Zeitgenossen, die kritische Haltung der Sophisten gegenüber dem religiösen, moralischen und politischen System erörtert werden. Dabei stellt sich auch die Frage, ob sie bei aller offenen und versteckten Kritik eine eigene, „sophistische" Auffassung von sozialer und politischer Gemeinschaft entwickelten. Aus einem grenzenlosen Individualismus und Relativismus würde die Auflösung eines jeden Staats- und Gesellschaftssystem resultieren.
II. Sophisten als Systemkritiker
1. Relativismus und Asebie: Eine Gefährdung der inneren Ordnung durch Protagoras? 1.1 Zur Person Das Leben und der intellektuelle Werdegang des Protagoras bleiben in weiten Teilen im Dunkeln. Keine seiner Abhandlungen ist vollständig erhalten, nur wenige seiner Äußerungen sind gesichert überliefert, und dennoch wird ihnen in der antiken wie in der modernen Literatur große Aufmerksamkeit geschenkt1. Den Möglichkeiten entsprechend soll zunächst der Lebensweg des Protagoras rekonstruiert werden: Protagoras stammte aus Abdera, einer griechischen Apoikie an der thrakischen Küste2. Abdera war ursprünglich eine Gründung des ionischen Klazomenai, wurde von den Thrakern zerstört und 545 v.Chr. von Teos neu gegründet. Die blühende Handelsstadt gehörte zum Reich der Odrysen und unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Athen3. Ob Protagoras an dem Reichtum seiner Heimatstadt partizipierte, bleibt unklar, denn die Überlieferung zu der Frage, an welcher Stelle der sozialen Hierarchie er anzusiedeln ist, zeigt sich ausgesprochen widersprüchlich und legendenhaft. Diogenes Laertius berichtet zum Ende des 2. Jahrhunderts n.Chr., Protagoras sei entweder der Sohn eines, sonst nicht genannten, Artemon gewesen, oder einer Person namens Maiandrios. Zu Artemon nennt er keine Belegstelle. Bei Maiandrios beruft er sich auf den attischen Chronisten Apollodoros aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. und die persi-
1
Vgl. u.a. H.A. Koch, Protagoras bei Piaton, Aristoteles und Sextus Empiricus, Hermes 99, 1971, 278-282; B. Huss, Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras. Ein Forschungsbericht, Gymnasium 103, 1996, 229-257; M. Emsbach, Sophistik als Aufklärung. Untersuchungen zur Wissenschaftsauffassung des Sophisten Protagoras, (Diss.) Hamburg 1980; E. Schiappa, Protagoras and Logos. A Study in Greek Philosophy and Rhetoric, South Carolina 1991.
2
Sext. Emp. adv. math. 7.60 [DK 80 Β 1]; Diog. Laert. 9.50 [DK 80 A 1], Diogenes Laertius beruft sich auf Apollodor und Dinon. Apollod. FGrHist 244 F 70, II 1040; Dinon Persika fr. 6 FGrHist II 90; vgl. auch Hesych. Plat. Pol. 600c [DK 80 A 3]; Clem. Alex, strom. 1.14.64, 4.2; Epiphan. panar, (ad. haer.) 3.506.18; Eus. praep. ev. 14.3.7 [DK 80 B4]; Diogen. v. Oinoanda fr. 12c. 2,1 [DK 80 A 23], Hdt. 7.137; Thuk. 2.29.4Í; 2.97.3.
3
36
II. Sophisten als Systemkritiker
sehe Geschichte Dinons aus dem ausgehenden 4. Jahrhundert v.Chr. 1 , weshalb die zweite Variante wohl die glaubwürdigere ist. Sein Nachfolger in der Abfassung von Philosophenviten, Philostrat, weiß einige Jahrzehnte später, zu Beginn des 3. Jahrhunderts n.Chr., zu berichten, Maiandrios sei einer der reichsten Männer Thrakiens g e w e sen 2 . Während der Griechenlandinvasion des Xerxes im Jahre 480 habe er den persischen Großkönig als seinen Gastfreund in seinem Haus empfangen. Bei dieser Gelegenheit hätten persische Magier seinen Sohn Protagoras unterrichtet und in ihre Kunst eingeweiht, ein Privileg, das üblicherweise nur Persern zuerkannt worden sei. Seine Berührung mit der persischen Magie erkläre die unorthodoxe Sichtweise des Protagoras über die Götter: Ich denke, es lag an seiner persischen Einführung, daß Protagoras diese unorthodoxe Sicht vertrat, daß man nicht sagen könne, ob Götter existieren oder nicht;.. A
Diese Äußerungen sollten in Athen großes Aufsehen erregen, so daß er die Stadt verließ und an einem anderen Ort starb4. Philostrat nutzte für seine legendenhaft anmutende Erzählung möglicherweise die persische Geschichte Dinons. Für die Wahrscheinlichkeit der Philostrat-Überlieferung spricht die bei Herodot belegte gastfreundschaftliche Beziehung zwischen Abdera und Persien. Auch Herodot erwähnt einen Aufenthalt des Xerxes in der Stadt im Verlauf des Rückzugs des Jahres 480 5 . Eine Parallele zu Protagoras bietet die Biographie des jüngeren Zeitgenossen und Mitbürgers Demokrit, der ebenfalls von persischen Magiern unterrichtet worden sein soll 6 . Ein kultureller Austausch zwischen den Bewohnern Abderas und ihren Gastfreun-
1
Diog. Laert. 9.50 [DK 80 A 1]; Apollod. FGrHist 244 F 70, II 1040. Apollodoros aus Athen verfaßte um 130 v.Chr. eine Chronik; Dinon von Kolophon schrieb um 340 v.Chr. eine vielbändige persische Geschichte. Vgl. Sud. s.v. Protagoras; Epiphan. panar, (ad. haer.) 3.16. Der N a m e Maiandrios ist im ionischen Raum und auf Samos schon im 6. und 5. Jahrhundert
v.Chr.
gebräuchlich, für Attika und den griechischen Westen findet sich kein Beleg. Vgl. Untersteiner, The Sophists, 5, Anm. 3; P.M. Fraser/E. Matthews, A Lexicon of Greek Personal Names, Oxford 1997, Vol.1, 295. 2
Philostr. V. Soph. 1.10.Iff. [ D K 8 0 A 2 ] ,
3
Philostr. V. Soph. 1.10.2 [DK 80 A 2],
4
Eus. praep. ev. 14.3.7; Diog. Laert. 9.51 [DK 80 Β 4]; Eus. praep. ev. 14.19.9, 1; Cie. de nat. deor. 1.24.63 [DK 80 A 23]; los. c.Ap. 2.266.2; Diog. Laert. 9.52 [DK 80 A 1]; Philostr. V. Soph. 1.10.3 [DK 80 A 2]; Aristeid. rhet. Plat. 291.10. Umstritten ist, ob seiner Abreise ein Prozeß voranging, der die Todesstrafe oder die Verbannung und die Verbrennung der Bücher forderte. Scholz, Der Philosoph und die Politik, 65, Anm. 195.
5
Hdt. 7.120; 8.120.
6
Diog. Laert. 9.34. Das in den Quellen mehrfach bezeugte Schüler-Lehrer-Verhältnis zwischen Protagoras und Demokrit stimmt nicht mit den üblicherweise in der Forschung angenommenen Lebensdaten der beiden überein. Vgl. Diog. Laert. 9.54 [DK 80 A 1]; Philostr. V. Soph. 1.10.1 [DK 80 A 2]; Hesych. Plat. Pol. 600c [DK 80 A 3]; Apul. Flor. 18 [DK 80 A 4]; Diog. Laert. 10.8.8; Ath. 8.50.14; Clem. Alex, ström. 1.14.64, 4.2; Eus. praep. ev. 10.14.16, 2. Apollodoros zufolge lebte Demokrit zwischen 460 und 370 v.Chr., nach Diodor zwischen 490 und 404. Vgl. Diog. Laert. 9.41; Apollod. FGrHist 244 F 36 [DK 68 A 1]; Diod. 14.11.5 [DK 68 A 5], Die zuletzt genannte Datierung ist aufgrund der Lebensdaten des Anaxagoras, dessen Schüler Demokrit war,
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
37
den ist naheliegend. Die Berührung mit persischen Sitten, Gebräuchen und religiösen Vorstellungen und mit der Kultur des thrakischen Hinterlandes, mit seinen von Herodot beschriebenen eigentümlichen Sitten', bot der intellektuellen Entwicklung der Bewohner dieser Stadt zahlreiche Anregungen. Es ist nicht auszuschließen, daß auch Protagoras' „Theologie" darauf zurückzufuhren ist2. Insgesamt zeigt die Erzählung Philostrats das Unverständnis dieses Autors des 3. Jahrhunderts n.Chr., was den „Göttersatz" betrifft, und sein Bedürfnis, eine Erklärung für diese Ansicht zu finden. Als historischer Kern der Anekdote kann die in Abdera gegebene Möglichkeit, mit fremden Kulturen in Kontakt zu treten, und die vornehme Herkunft des Protagoras gelten. Dem steht eine weitere Überlieferung entgegen, die Protagoras als einen einfachen Lastenträger ausweist: Er habe Schulterpolster zur Arbeitserleichterung erfunden, berichtet Aristoteles, und Epikur folgert daraus, so überliefert es Diogenes Laertius, daß er ein Träger gewesen sei 3 . Athenaios, ein Zeitgenosse des Diogenes, verweist ebenfalls auf Epikur: In demselben Brief sagt Epikur auch, daß Protagoras, der Sophist, vom Lasten- und Holzträger zum Privatsekretär des Demokrit wurde. Letzterer wurde auf die merkwürdige Art, wie er das Holz trug, aufmerksam und verschaffte ihm einen Anfang, indem er ihn in seinem Haushalt aufnahm 4 .
Die praktische Erfindung des Sophisten führte zu der Schlußfolgerung Epikurs, Protagoras sei ein Lastenträger und somit von niedriger Herkunft gewesen. Diese Aussage reiht sich gut ein in seine polemischen Äußerungen über seine Vorgänger. So erscheint beispielsweise Aristoteles als ein Verschwender, der sein väterliches Erbe verschleudert und sich danach auf Faseleien und Quacksalbereien konzentriert habe 5 . Spätere Autoren übernahmen offenbar unkritisch die Behauptungen Epikurs. Möglicherweise fühlten sie sich auch durch die Vergleiche aus dem täglichen Leben in Protagoras' Schriften zur Veranschaulichung seiner Lehren bestärkt. Dies entsprach der damaligen Sitte, abstrakte Begriffe mit den Beispielen des Handwerks zu erläutern 6 . Der Aufstieg des einfachen Mannes, der einem Gelehrten begegnet und von diesem unterrichtet wird, erscheint jedoch wenig glaubwürdig. Zum Alter und Tod des Protagoras bemerkt Diogenes Laertius: Einige berichten, er sei auf der Reise gestorben in einem Alter von neunzig Jahren. Apollodoros dagegen gibt ihm nur siebzig Jahr; als Sophist gewirkt hat er nach diesem vierzig Jahre und seine Blütezeit fällt nach ihm in die achtundvierzigste Olympiade (444-441 v.Chr) 7 .
nicht zu halten. Vgl. Diog. Laert. 2.14; 9.30. Untersteiner, The Sophists, 2. 1
Hdt. 5.4-6; vgl. Nestle, Vom Mythos zum Logos, 264.
"
Vgl. dazu auch Untersteiner, The Sophists, 3.
3
Diog. Laert. 9.53 [DK 80 A 1]; Aristot. Über die Erziehung fr. 63 (Rose).
4
Bei Diogenes Laertius und Athenaios handelte sich um Autoren des 3. Jahrhunderts n.Chr.; Ath. 8.50.14 (354c ed. Kaibel) [DK 68 A 9]; vgl. auch Hesychios' Scholion zu Piatons Staat 600c.
5
Diog. Laert. 10.8.
6
Vgl. DK, 254 zu: Diog. Laert. 9.53 [DK 80 A 1); Untersteiner, The Sophists, 7, Antn. 20; P. Thrams, Die Morallehre Demokrits und die Ethik des Protagoras, Heidelberg 1986, 69.
7
Diog. Laert. 9.55. 56 [DK 80 A 1 ].
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II. Sophisten als Systemkritiker
Piaton bestätigt die Altersangaben Apollodoros', während Hesychios und der von Diogenes nicht namentlich genannte Autor von einem höheren Alter, von ca. neunzig Jahren ausgehen 1 . Zu den Umständen des Todes fährt der Biograph fort: Von seinen Schriften las er zuerst die „Von den Göttern" vor, deren Anfang wir oben mitgeteilt haben. Seine Vorlesungen hielt er in Athen im Hause des Euripides oder nach anderen in dem des Megakleides, noch andere verlegen sie in das Lykeion; sein Schüler Archagoras, des Theodotos Sohn, lieh ihm dazu seine Stimme. Die Anklage gegen ihn erhob Pythodorus, des Polyzelos Sohn, einer der Vierhundert; Aristoteles dagegen nennt den Euathlos.... Philochoros berichtet, bei seiner Fahrt nach Sizilien sei das Schiff gesunken, und das deute auch Euripides im ,Ιχίοη' an 2 .
Bei der von Aristoteles genannten Anklage des Euathlos handelt es sich offenbar um eine Verwechslung mit einer vielfach belegten Beschwerde des Euathlos über die Honorarforderung und die Zahlungsmodalitäten des Protagoras 3 . Ging der Reise und dem Tod des Protagoras tatsächlich ein Prozeß voraus, wie es die anekdotenhafte Erzählung berichtet, handelte es sich um einen Asebieprozeß 4 . Erfolgte die Anklage unter der Federführung des Pythodoros in der Zeit seiner Mitgliedschaft im Rat der Vierhundert, dann starb Protagoras unter der oligarchischen Herrschaft im Jahre 411 v.Chr. Dazu paßt die angebliche Anspielung auf den Tod des Sophisten in der zwischen 410 und 408 verfaßten Tragödie Ixion des Euripides, was nur einen Sinn gemacht hätte, wenn das Ereignis in der Erinnerung des Publikums noch präsent gewesen wäre 5 . Die fragmentarische Überlieferung erlaubt keine Bestätigung. Nestle, Morrison und Murray weisen auf einige Zeilen aus der im Frühjahr 415 aufgeführten Tragödie Palamedes des Euripides hin, die Diogenes Laertius fälschlicherweise als eine Anspielung auf den erst im Jahre 399 erfolgten Tod des Sokrates interpretiert 6 : Gemordet habt ihr, gemordet, den besonders Weisen, ihr Griechen, niemandem fügte sie Schmerz zu, der Musen Nachtigall 7 . 1 2 3
4
5 6 7
Plat. Men. 91e [DK 80 A 8]; Diog. Laert. 9.56 [DK 80 A 1]; Hesych. Plat. Pol. 600c [DK 80 A 3], Diog. Laert. 9.54, 55 [DK 80 A 1], Diog. Laert. 9.56 [DK 80 A 1]; Apul. Flor. 18 [DK 80 A 4]; Cie. Brut. 12, 46 [DK 80 Β 6]; Syrian. Schol. in Hermog. Vol. II p. 42, 1 (ed. Rabe). Vgl. 36, Anm. 4. Als kaum glaubhaft bewerten Wallace und, ihm zustimmend, Scholz die Überlieferung. Scholz, Der Philosoph, 65, Anm. 195; R.W. Wallace, Private Lives and Public Enemies: Freedom of Thought in Classical Athens, in: A.L Boegehold/A.C Scafura (Hrsg.), Athenian Identity and Civic Ideologie, Baltimore/London 1994, 134-137. Diog. Laert. 9.54, 55 [DK 80 A 1], Diog. Laert. 2.44. Eur. Pal. fr. 588 (die Übersetzung weicht etwas von der Seecks ab):
έκάνετε, έκάνετ' τάν πάνσοφον, ώ Δαναοί, τάν ούδέν' ά λ γ ΰ ν ο υ σ α ν άηδόνα Μουσάν. Vgl. G. Murray, Euripides und seine Zeit, Darmstadt 1969, 77; Nestle, Vom Mythos zum Logos, 266; J.S. Morrison, The Place of Protagoras in Athenian Public Life, (460-415 B.C.), CQ 35, 1941, 4. Palamedes wurde zusammen mit den Troerinnen und Alexandros aufgeführt.
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
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Leider ist kein Name genannt. Doch handelt es sich tatsächlich um eine kritische oder ironische Stellungnahme zum Tod des Protagoras, dann ist der Todeszeitpunkt vor 415 anzusetzen 1 . Die Anklageerhebung des Pythodoros stellt zu dieser frühen Datierung keinen Widerspruch dar. Er könnte durchaus vor seiner Amtszeit als Ratsmitglied der Vierhundert eine solche erhoben haben 2 . Piaton und Apollodoros zufolge erreichte Protagoras ein Alter von siebzig Jahren 3 . Er wurde somit 485 oder 481 in Abdera geboren, denn aus den Anspielungen bei Euripides ergibt sich eine Datierung seines Todes entweder vor 415 oder um 411. Piaton läßt ihn in seinem gleichnamigen Dialog als einen älteren Mann auftreten: ... obgleich ich diese Kunst schon viele Jahre betreibe; wie ich denn überhaupt schon hoch in Jahren bin und es keinen unter euch gibt, dessen Vater ich nicht dem Alter nach sein könnte 4 .
Weitere Zeitbezüge im Protagoras-Dialog deuten auf eine fiktive Handlungszeit vor 431: So tritt Alkibiades als junger Mann mit erstem Bartwuchs a u f , und auch die beiden Söhne des Perikles, Paralos und Xanthippos, die gleich im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges starben, gehören zu den Anwesenden 6 . Die Handlung des Dialoges wird allgemein in das Jahr 432 datiert. Morrison folgert, bei einem Alter des Sokrates von siebenundreißig müsse Protagoras damals mindestens einundfünfzig Jahre alt gewesen sein 7 . Für eine so genaue Datierung gibt die Quellenlage meines Erachtens zu wenig her. Es ist vielmehr die Frage zu untersuchen, welche Indizien den Tod des Sophisten noch vor 415, und welche ihn um Jahre 411 wahrscheinlicher machen. Im folgenden wird dargelegt, daß die Flucht des Protagoras erst vor dem Hintergrund der innenpolitischen Situation in Athen verständlich wird. Als zentrale Ereignisse sind der Hermen- und Mysterienfrevel im Sommer 415 und der Sturz der Demokratie im Jahre 411 zu nennen. Eine Datierung vor 415 ist daher wenig wahrscheinlich. Ist die Flucht des Protagoras oder, neutraler formuliert, sein Verlassen der Stadt eine Folge des Hermen- und Mysterienfrevels und des Schicksals des Alkibiades? Dann wäre auch das Reiseziel Sizilien kein Zufall. Oder erfolgte sein Tod unter der Herrschaft der Vierhundert, die mit Prota-
1
2 3 4 5
6
7
Die Vorführungen der Tragödien fanden ausschließlich während der Dionysosfeste im Frühjahr statt. Vgl. E. Degani, Griechische Literatur bis 300 v.Chr., in: H.-G. Nesselrath, Einleitung in die griechische Philologie, Stuttgart/Leipzig 1997, 223. Vgl. auch Morrison, The Place of Protagoras, 4. Vgl. 37f. Plat. Prot. 317c. Plat. Prot. 309a. Im Jahre 420 amtierte Alkibiades als Stratege und hatte damit mindestens ein Alter von dreißig Jahren erreicht. Vgl. Hansen, Demokratie, 90. Plat. Prot. 315a; Plat. Prot. 327d. Der Anachronismus in der Anspielung des Protagoras auf die Die Wilden des Pherekrates, die an den Lenäen im Jahre 421 aufgeführt wurden, ist nicht überzubewerten. So bemerkt O'Sullivan, daß die Handlungen der Dialoge zuweilen so schwer zu datieren seien, wie die Geschichte von Alice im Wunderland. N. O'Sullivan, Pericles and Protagoras, Greece & Rome 42, 1995,1, 19. Vgl. auch andere offensichtliche Anachronismen in den Dialogen, zum Beispiel im Menexenos, dazu St. Tsitsiridis, Piatons Menexenos. Einleitung, Text, Kommentar, Stuttgart/Leipzig 1998, 22-32. Plat. Prot. 317c; Morrison, The Place of Protagoras, 2, 3.
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II. Sophisten als Systemkritiker
goras einen Oppositionellen ausschalten wollten und somit in erster Linie ihre politischen Ambitionen verfolgten? Ein mögliches Indiz kann die Beziehung des Protagoras zu fuhrenden Politikern seiner Zeit darstellen. Dabei ist gleich an den viel beschworenen, persönlichen Kontakt zwischen Protagoras und Perikles zu denken 1 , den eine Anekdote in der Periklesvita des Plutarch direkt bestätigt 2 : Perikles und Protagoras diskutieren dort ein juristisches Fallbeispiel, das auch Antiphon in seinen Tetralogien aufgreift 3 . Plutarch beabsichtigte in erster Linie eine Idealisierung des Staatsmannes, der nach den Vorstellungen eines Autors des ausgehenden 1. Jahrhunderts n.Chr. philosophisch gebildet und interessiert sein mußte 4 . Ein solches Interesse des Perikles scheint ein von Xenophon erwähntes Gespräch zwischen ihm und Alkibiades zu belegen. Doch auch hierbei handelt es sich um eine ausschmückende Anekdote, die lediglich das Interesse des Perikles an juristischen Fragen bekundet 5 . Der Darstellung Piatons zufolge hält Perikles wenig von sophistischer Bildung, denn seine beiden Söhne Xanthippus und Paralos wachsen ohne die spezielle Ausbildung in der politischen τ έ χ ν η auf 6 . Als ein weiteres Argument für den Kontakt zwischen Perikles und Protagoras dient eine bei Diogenes Laertius überlieferte Notiz des Piatonschülers Herakleides von Pontos, die Protagoras als den Gesetzgeber der Apoikie Thurioi ausweist 7 . Zweifel an der Glaubwürdigkeit scheinen sich daraus zu ergeben, daß Diodor in aller Ausführlichkeit die Gründung der unteritalischen Stadt am Golf von Tarent schildert und dabei Charandas als Gesetzgeber hervorhebt 8 . Das Wirken des Charandos ist dagegen in das 6. Jahrhundert zu datieren, und Aristoteles nennt ihn als den Gesetzgeber der chalkidischen Städte Unteritaliens und Siziliens 9 . Diodors Überlieferung entstammte offenbar einer unzuverlässigen und legendenhaften Quelle 10 , womit der Nachricht des Herakleides mehr Gewicht zukommt. Plutarch bezeichnet die Gründung von Thurioi im Jahre 444/443 als ein perikleisches Projekt in einer Reihe weiterer Maßnahmen, die durchaus nicht alle auf dem Konto des Staatsmannes zu verbuchen sind. Protagoras erwähnt er in diesem Kontext nicht".
1
Vgl. dazu kritisch O'Sullivan, Pericles and Protagoras, 15-23.
2
Plut. Per. 36; vgl. [Plut.] Cons. ad Apoll. 33 p. 118E [DK 80 Β 9],
3
Antiph. Tetr. II; Kap. II 2.3, 105; Kap. II 6.2, 203. Es handelt sich offenbar um ein Thema, das im 5. Jahrhundert v.Chr. häufiger diskutiert wurde und schließlich zum pädagogischen Standardrepertoire gehörte. Vgl. Ph.A. Stadter, Pericles A m o n g the Intellectuals, ICS 16, 1991, 113.
4
Das Streitgespräch behandelt einen philosophischen Gemeinplatz, wobei die agierenden Gesprächspartner beliebig austauschbar sind. Vgl. dazu Stadter, Pericles, 113.
5
Xen. mem. 1.2.4Iff. Podlecki interpretiert die Xenophon-Stelle als einen Beleg für die philosophischen Interessen des Perikles. A.J. Podlecki, Pericles and his Circle, L o n d o n / N e w York 1998, 93.
6
Plat. Prot. 319c-320a; vgl. Plat. Alk. I 122a; Stadter, Pericles, 113.
7
Herakl. Pont. fr. 21 (Voss, Diog. Laert. 9.50) [DK 80 A 1],
8
Diod. 12.11.3-12.19.3.
9
Aristot. Pol. 1274a.
10
11
Vgl. den Kommentar zu Diod. 12.11.3 in: Diodor, Griechische Weltgeschichte Buch XI-XIII, übersetzt von Otto Veh, eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Will, Stuttgart 1998, 327. Plut. Per. 11.5; vgl. Stadter, Pericles, 114.
41
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
Läßt sich Perikles auch nicht namentlich als Planer und geistiger Vater des panhellenischen Unternehmens bestätigen, so ist doch von einer politischen Gruppierung auszugehen, in welcher er eine führende Rolle spielte. Kurz zuvor war sein innenpolitischer Gegner Thukydides Melesiou verbannt worden, was offenbar mit einem zuvor gescheiterten Versuch der Neugründung von Sybaris zusammenhing 1 . Im Jahre 453 war Sybaris zum dritten Mal gegründet und kurz darauf zerstört worden. Die überlebenden Sybariten wandten sich 446 an Athen um Hilfe. Athen sandte zehn Schiffe unter dem Kommando des Lampón und des Xenokritos 2 . Laut Aristoteles kam es zu Unruhen zwischen Neusiedlern und Sybariten, woraufhin die Sybariten vertrieben oder getötet wurden 3 . Thukydides Melesiou mußte sich schließlich in Athen vor Gericht gegen eine nicht näher bekannte Anklage des Xenokritos verantworten 4 . Athen befand sich damals in einer Zeit der innenpolitischen Krise. Das Ringen um die Macht zwischen Thukydides Melesiou und Perikles kulminierte im Jahre 444, als sich Thukydides Melesiou nach dem Ostrakismosentscheid in die Verbannung begeben mußte 5 . Die politische Gruppierung um Perikles hatte das konventionelle Instrument der Machtpolitik zur Ausschaltung eines politischen Gegners erfolgreich eingesetzt. U m weiteren kritischen Stimmen zuvorzukommen, die sich gegen die Baupolitik und die Vereinbarung mit Persien im Jahre 4 4 9 hätten wenden können, wurde der panhellenische Gedanke bemüht 6 . A u f diese Weise setzte sich auch die Westpolitik, die sich u.a. durch die Sicherung von Verträgen mit Leontinoi und Rhegion äußerte 7 , durch. A n dem als panhellenisches Unternehmen propagierten Projekt beteiligten sich zahlreiche Siedler aus verschiedenen Regionen Griechenlands; die Leitung oblag Athen 8 . Hippodamos
1
Podlecki, Pericles, 82f.
2
Diod. 12.10.3-4. Zu den numismatischen Belegen vgl. V. Ehrenberg, The Foundation of Thurii, AJPh 69, 1948, jetzt in: G. Wirth (Hrsg.), Perikles und seine Zeit, Darmstadt 1979, 116.
3
Aristot. Pol. 1303a32; Strab. 6.1.13, c263; Diod. 12.11.3.
4
Plut. Per. 14; Podlecki, Pericles, 81-88.
5
Der Ostrakismos diente auch der innenpolitischen Stabilisierung, da der oppositionellen Gruppe die Führung genommen wurde und damit wohl ihr innerer Zusammenhalt verloren ging. Die Mehrheit hatte sich gegen Thukydides Melesiou durchgesetzt. Vgl. dazu H.D. Meyer, Thukydides Melesiou und die oligarchische Opposition gegen Perikles, Historia 16, 1967, 147-151. Zum Ostrakismos: Vgl. M. Rehbinder, Ostrakismos als Schritt auf dem W e g in die Demokratie, in: O. Gigon/M.W. Fischer, Antike Rechts- und Sozialphilosophie, Frankfurt a.M. u.a. 1988, 64; K. Petzold, Zur Entstehungsphase der athenischen Demokratie, RFIC 118, 1990, 163, 173; M. Dreher, V e r b a n n u n g ohne Vergehen.
Der Ostrakismos (das Scherbengericht),
in: L. Burckhardt/J.
von
Ungern-
Sternberg, Große Prozesse im antiken Athen, München 2000, 66-81. Vgl. 51, Anm. 2. 6
In der Forschung ist oft zu einseitig allein von Perikles die Rede, der als Stratege oder in der Baukommission durchaus Kollegen hatte. Will, Perikles, u.a. 72.
7
Vgl. die Bündnisse mit Segesta (IG I2 19, 20.1 = Tod Ρ 31), Rhegion (IG I3 53, IG I2 51) und Leontinoi (IG I 3 54, IG I2 52). Die athenisch-persische Einigung des Jahres 449 veranlaßte vermutlich eine verstärkte Orientierung in Richtung Westen, auch aus politischen und nicht nur wirtschaftlichen Interessen. Vgl. Ehrenberg, Thurii, 118 (wie 41, Anm. 2); Will, Perikles, 81, 124.
8
Doch die Sybariter, denen man doch zu helfen vorgab, wurden vertrieben. Attische Siedler und Peloponnesier gerieten bald in Streit darüber, wer als Gründer der Kolonie gelte. Diod. 12.35; Aristot. Pol. 1307a, b; Podlecki, Pericles, 82f.
42
II. Sophisten als Systemkritiker
von Milet soll den Stadtplan entworfen haben, Xenokritos und Lampón nahmen wohl wieder teil, vielleicht auch Herodot, Empedokles und Lysias1. Das Gebiet von Thurioi wurde in zehn Phylen aufgeteilt und erhielt Diodor zufolge eine demokratische Verfassung2, was zumindest an eine Vorbildfunktion der Polis Athen denken läßt. Den Ausführungen des Aristoteles folgend verfügte Thurioi über eine Verfassung oligarchischen Charakters, die eine Vergabe der Ämter nach Zensusklassen vorsah, bis sich schließlich das Volk durchsetzte3. Wann sich der Verfassungswandel vollzogen hatte, ist aus den Angaben des Aristoteles jedoch nicht zu schließen. Es sagt somit nichts über die ursprünglichen nomoi der Stadt aus. Fungierte Protagoras laut Herakleides als Gesetzgeber von Thurioi im Auftrag der perikleischen Regierung, so ist von einer demokratischen Verfassung athenischen Musters auszugehen4. Die zeitgenössischen Quellen bieten keinen fundierten Hinweis auf den von Plutarch erwähnten persönlichen Kontakt des Sophisten zu Perikles; gegen einen solchen spräche ferner, daß die ideelle Grundlage der „perikleischen Politik" sich zu sehr von den Ansichten des Sophisten unterscheidet. So diente das ebenfalls unter panhellenischen Vorzeichen propagierte Bauprogramm neben einer deutlich sichtbaren Repräsentation der Macht Athens auch deren sakraler Fundierung5. Die Realpolitik war untrennbar mit der religiösen Tradition verknüpft. Die skeptischen Überlegungen des Protagoras über die Götter ließen sich damit kaum vereinbaren6. Trifft jedoch die Darstellung Piatons im 1
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5
6
Herodot: Plut, de exilio 13 = mor. 604f.; Strab. 14.2.16; Suda s.v. Herodot berichtet lediglich, daß Herodot dort seinen Lebensabend verbrachte. Empedokles: Diog. Laert. 8.52; Apollod. FGrHist 244 F 32 [DK 31 A 1]; Lysias: Dion. Hal. Lys.l. Diod. 12.11.3. Aristot. Pol. 1307a. Romilly zweifelt nicht an der Historizität der Gesetzgeberfunktion des Protagoras und vermutet eine demokratische Verfassung nach attischem Vorbild. Romilly, Sophists, 214. Untersteiner hält den attischen Sonderfall für unvereinbar mit einem panhellenischen Konzept. Untersteiner, The Sophists, 3. Auch Welskopf und Kerfeld zweifeln nicht an der Freundschaft zwischen Protagoras und Perikles sowie an der Teilnahme des Sophisten an der Gründung von Thurioi. Welskopf, Die Sophisten, 1936; Kerfeld, Sophistic Movement, 43. Raaflaub sieht die enge Beziehung zwischen den beiden und Protagoras' Beteiligung an der Gründung von Thurioi als erwiesen an. Raaflaub, Politisches Denken, 20, Anm. 53; vgl. zuletzt auch Leppin, Thukydides, 43, Anm. 1; gegen Stadter, Pericles, 114. Die These O'Sullivans, in den bekannten Zeilen aus den Wolken des Aristophanes aus dem Jahre 423 einen weiteren Beleg für die Beteiligung des Protagoras an der Gründung von Thurioi zu sehen, ist meines Erachtens sehr spekulativ. Der dort genannte „Thurische Seher" werde üblicherweise als Lampón identifiziert. Aristophanes habe jedoch kaum beabsichtigt, den bekannten Seher im Kontext mit den, so O'Sullivan, „atheistic intellectuals" zu nennen. Der Begriff „Mantik" erhalte in Piatons Kratylos 384a die Bedeutung von „merkwürdiger Ausdruck", folglich könne in den oben genannten Zeilen durchaus eine Anspielung auf Protagoras enthalten sein. So O'Sullivan, Pericles and Protagoras, 16-18. Aristoph. nub. 331 ff.; vgl. Kap. I 2, 21. Zur Selbstrepräsentation der Polis vgl. W. Burkert, Greek Poleis and Civic Cults: Some Further Thoughts, in: M.H. Hansen/K. Raaflaub (Hrsg.), Studies in Ancient Greek Poleis, Stuttgart 1995, 201-210. Zur Baupolitik: Will, Perikles, 59-68; Ch. Schubert, Perikles, Darmstadt 1994, 92-94. Diog. Laert. 9.51 [DK 80 Β 4]; vgl. u.a. 49, Anm. 7; Stadter, Pericles, 115. Martin stimmt den Thesen Morrisons zu, und sieht die politische Auffassung des Protagoras als übereinstimmend mit der Form der perikleischen Demokratie. Martin, Entstehung der Sophistik, 162.
43
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
Protagoras-Dialog in der wichtigen Grundaussage zu, der Sophist verspreche, die πολιτική τέχνη zu unterrichten, wußte Protagoras durchaus zwischen theoretischen Überlegungen und den Anforderungen der Tagespolitik zu differenzieren1. Der Praxisbezug des Unterrichts ist als ein grundlegendes sophistisches und auch protagoreisches Lehrziel festzuhalten2. Der Mythos des Protagoras im platonischen Dialog legt außerdem eine demokratische Grundhaltung des Sophisten nahe, welche dann wahrscheinlich die Basis der Gesetzgebung von Thurioi bildete. Die Leistungen des in der πολιτική τέχνη unterrichteten Bürgers, des αγαθός πολίτης, bezeichnet Protagoras als πολιτική άρετή 3 . Das Argumentationsziel des Mythos, daß alle Menschen an αιδώς und δική teilhaben4, bildet die Voraussetzung für die Lehrbarkeit der „politischen Kunst" und damit fur das soziale und das staatliche Gemeinschaftsleben. Es handelt sich offenbar um einen auf den historischen Protagoras zurückgehenden Grundsatz, der eine theoretische Begründung des demokratischen Systems5 und möglicherweise die Basis der Verfassung von Thurioi darstellte. Einen weiteren Anhaltspunkt zu den nomoi von Thurioi liefert vielleicht die von Protagoras an späterer Stelle im Dialog geäußerte, sehr spezifische Theorie zur Strafe. Im Hinblick auf die Sozialisation sollte die Strafe nicht als reine Vergeltungs-, sondern als pädagogische Maßnahme eingesetzt werden6. Trifft die Datierung der Handlung des platonischen Dialoges in das Jahr 432 zu, kam Protagoras damals zum zweiten Mal nach Athen7. Den ersten Aufenthalt des Protagoras in Athen mit den Vorbereitungen des prestigeträchtigen Projekts der Gründung von
1
Plat. Prot. 318e-319a: T o δέ μάθημα έστιν ευβουλία περί των οικείων, οπως αν άριστα τήν αϋτοΰ οϊκίαν διοικοί, καί περί των της πόλεως, οπως τα της πόλεως δυνατώτατος αν είη καί πράττειν καί λέγειν. - "Αρα, έφην έγώ, επομαί σου τω λόγω; Δοκεις γαρ μοι λέγειν τήν πολιτκήν τέχνην και ύπισχνείσθαι ποιείν άνδρας αγαθούς πολίτας. - Αϋτό μέν οΰν τοΰτό έστιν, έφη, .... Vgl. außerdem die differenzierte Betrachtungsweise Antiphons; vgl. Kap. II 2.3, 105; Kap. II 6.2.
2
Hätte Protagoras in bezug auf die
πολιτική τέχνη
einen völlig anderen Standpunkt vertreten,
ließe sich die Gesamtthematik des platonischen Dialoges nicht rechtfertigen und hätte wohl auch ihr Ziel verfehlt. Zu der Frage, welche Thesen und Gedanken des Dialoges auf den historischen Protagoras zurückgehen, vgl. u.a. B. Manuwald, Piaton oder Protagoras? Zur großen Rede des Protagoras (Plat. Prot. 320c8-328d2), in: Ch. Mueller-Goldingen (Hrsg.), Lenaika, Festschrift für Carl Werner Müller zum 65. Geburtstag am 28. Januar 1996, Stuttgart 1996, 103-131; Leppin bescheinigt Protagoras ein zumindest demokratienahes Denken. Leppin, Thukydides, 45f. 3
4
Plat. Prot. 323a; vgl. dazu A.W.H. Adkins,
άρετή, τέχνη,
5
So auch Manuwald, Piaton oder Protagoras?, 123.
6
Plat. Prot. 324b.
7
Democracy and Sophists:
Protagoras
316b-328d, JHS 9 3 , 1 9 7 3 , bes. 6. Plat. Prot. 322c.
Hippokrates bittet Sokrates, ihn zum Haus des Kallias zu begleiten. Plat. Prot. 310e: „Denn ich selbst bin nicht nur zu jung, sondern habe auch den Protagoras noch niemals gesehen oder gesprochen, denn ich war noch ein Kind, als er das erstemal hierher kam. Aber alle, o Sokrates, loben ja den Mann und sagen, er wäre der kunstreichste im Reden. Warum aber gehen wir nicht gleich zu ihm, damit wir ihn noch zu Hause treffen?"
44
II. Sophisten als Systemkritiker
Thurioi in Verbindung zu bringen, ist sehr wahrscheinlich1. Einen weiteren Aufenthalt zwischen 423 und 421 ermittelte schließlich Athenaios: Nun fuhrt Eupolis Protagoras (in dieser Komödie) als einen in der Stadt Anwesenden ein. Andererseits nennt ihn Ameipsias im zwei Jahre früher (423) aufgeführten „Konnos" nicht unter dem Chor der Denker. So ist es klar, daß er in der Zwischenzeit eintraf2.
Was Protagoras dazu veranlaßte, Athen zeitweise zu verlassen, bleibt wie fast alles andere in seinem Lebenslauf ungewiß. Sicher begab er sich auf Reisen, um, wie auch Gorgias oder Hippias, seine Dienste in anderen Regionen Griechenlands anzubieten. Es ist nicht zwangsläufig auf innenpolitische Entwicklungen Athens zurückzuführen, wenn er beispielsweise nach Sizilien ging, wo ihn Hippias hörte3. Eupolis verhöhnt ihn in seiner in das Jahre 421 zu datierenden Komödie Die Schmeichler: Der Frevler hält lügnerische Reden über das, was in der Luft ist, aber er ißt, was von der Erde kommt 4 .
Wie Sokrates in der Darstellung der zwei Jahre zuvor aufgeführten Wolken des Aristophanes beschäftigt sich auch Protagoras mit naturwissenschaftlichen Themen. Eupolis charakterisiert ihn als einen überheblichen Schurken, dessen „abgehobene" Ansichten nur Lügen darstellten5. In einem weiteren Fragment liefert Protagoras dem reichen Rallias unsinnige Belehrungen darüber, wie er sich auf die heißesten Tage des Jahres vorzubereiten habe6. Der Spott des Komödiendichters trifft jedoch vor allem Kallias, der als ein von Luxus und Verschwendungssucht bestimmter Mann auf der Bühne erscheint, in dessen Haus sich Sophisten trafen. Neben Protagoras scheint auch Alkibiades auf der Bühne aufgetreten zu sein7. 1
Vgl. 40-43.
2
Ath. 5.218b [DK 80 A 11]: διδασκαλίας των Εύπόλιδος Κολάκων ού πολλώι χρόνωι κατά τό εικός ... έν οΰν τοΰτωι τώι δράματι Εύπολις τον Πρωταγόραν ώς έπιδημούντα εισάγει [II253, 18], Άμειψίας δ' έν τώι Κόννωι [I 673 Κ.] δύο πρότερον έτεσιν διδαχθέντι ['423] ού καταριθμεί αυτόν έν τώι των φροντιστών χορών δήλον οΰν ώς μεταξύ τούτων τών χρόνων παραγέγονεν.
3
Plat. Hipp. mai. 282e [DK 80 A 9]. Die auf den ersten Blick so schlüssig erscheinende Rekonstruktion der Aufenthalte des Sophisten in Athen durch Morrison, beruht auf dieser meines Erachtens zu engen Verknüpfung. Morrison, The Place of Protagoras.
4
Eustath. Od. 1447, 53 (Eup. PCG 157) [DK 80 A 11]: ... ός άλαζονεύεται μεν άλιτήριος περί τών μετεώρων, τα δέ χαμάθεν έσθίει. Vgl. DK 80 A 1.
5
So wird in den Scholien zu Aristophanes Wolken auch bemerkt, daß das, was Aristophanes Sokrates andichte, eigentlich fur Protagoras gelte: Schol. in Aristophanes nub. 112b2: ού γ ά ρ
Σωκράτης, ά λ λ α
6 7
Πρωταγόρας ò Αύδηρίτης έφεύρεν έπενόησεν αύτόν
και
έ δ ί δ α σ κ ε ν έπί μισθω. Nicht Sokrates, sondern Protagoras habe gegen ein Honorar gelehrt. Zur Frage des Honorars vgl. Kap. III 2, 300f. Eustath. Od. 1447, 53 (Eup. PCG 174) [DK 80 A 11], Vgl. And. Myst (or. 1) 130, 131; Eup. PCG 174, 176, 331-342, 390. Vgl. J.K. Davies, Athenian Propertied Families, 600-300 B.C., Oxford 1971, 263-269; Zimmermann, Die griechische Komödie, 197-199. W.D. Furley, Andokides and the Herms. A Study of Crisis in Fifth-century Athenian Religion, London 1996, 131-133. Α. Patzer, Sokrates in den Fragmenten der Attischen Komödie, in: A. Bierl/P. von Möllendorff, Orchestra. Drama Mythos Bühne, Stuttgart/Leipzig 1994, 71.
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
45
Das Haus des Kallias bildet ebenso den Schauplatz des platonischen Dialoges wie des Gastmahls des Xenophon. Der in beiden Texten weitaus positiver beschriebene Kallias war ein Enkel des gleichnamigen Unterhändlers des Jahres 449. Über seine eigenen politischen Aktivitäten ist leider wenig bekannt, doch zeigen seine familiären Bande eine Nähe zur Hetairie des Alkibiades: Seine Schwester Hipparete war mit Alkibiades verheiratet und seine Mutter vermutlich in zweiter Ehe mit Perikles1. So umgab er sich mit den einflußreichsten Politikern und Denkern seiner Zeit2. Protagoras' Bekanntschaft mit Kallias kann als ein weiteres Indiz für die Verbindungen des Sophisten zu den einflußreichen Politikern in Athen gelten. Stand Protagoras dem Kreis um Alkibiades nahe, ist sein Tod nach der im Jahre 415 erfolgten Aufdeckung des Hermen- und Mysterienfrevels wahrscheinlich - ausgehend von einem Lebensalter von siebzig Jahren3. Demnach hätte er die Stadt zumindest nicht ganz freiwillig oder unbefangen verlassen, was der Erzählung des Diogenes Laertius wieder mehr Glaubwürdigkeit verleiht. Inwiefern der aufsehenerregende Skandal in Athen für das weitere Schicksal des Protagoras eine Rolle spielte, sei in Kapitel II 1.2 ausführlicher diskutiert. Die Quellenlage erweist sich insgesamt als zu unzuverlässig, um Protagoras eindeutig mit diesen Ereignissen in Verbindung zu bringen 4 . Als Fremder hätte er in Athen bestenfalls als ein Sympathisant des Alkibiades gegolten. Doch sind sein Einfluß und seine Wirkung nicht zu unterschätzen. Er verkehrte in den „besten Kreisen", hielt Vorträge in den Häusern der reichen Athener5 und gehörte zu den Spottfiguren der Komödie, was einen großen Bekanntheitsgrad voraussetzt. Zu seinen Schülern zählten Euathlos, Prodikos, Isokrates, sowie Archagoras, der nicht näher bekannte Sohn des Theodotos 6 . Diogenes Laertius überliefert eine Titelliste seiner Werke, die nur einen kleinen Eindruck von der Bandbreite seines Schaffens und seiner Interessen vermittelt: Erhalten sind von ihm folgende Bücher: Eristische Technik, Vom Ringkampf, Von den Wissenschaften, Vom Staate, Vom Ehrgeiz, Von den Tugenden, Vom Urzustände, Von den Din-
1
2
3 4 5 6
Plut. Alk. 8.2; Plut Per. 24.8. Podlecki, Pericles, 93, 110. Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Kallias und Alkibiades blieben jedoch nicht von Dauer, denn es kam nach der Geburt des ersten Kindes der Hipparte zum Streit um die Mitgift. Kallias klagte Alkibiades schließlich wegen geplanten Mordes vor der Ekklesia an. Eine genaue Datierung der Vorgänge ist nicht möglich. Doch dürfte sich die Freundschaft erst nach 415 getrübt haben, denn zuvor hatte Alkibiades noch die Loyalität seiner philoi geprüft. Vgl. dazu Smarczyk, Religionspolitik, 275, Anm. 332, mit einem Kommentar der Quellenbelege. Plat. Krat. 391 b, c [DK 80 A 23]; Them. or. 347cl0: „Keiner schätzte Kallias deshalb gering, weil er nicht nur Protagoras verehrte und nacheiferte, sondern auch Antimoiros und die anderen Schüler des Protagoras ..." Vgl. Scholz, Der Philosoph, 41. Vgl. 37f. Vgl. Smarczyk, Religionspolitik, 279, Anm. 342. Diog. Laert. 9.54, 55 [DK 80 A 1] Zitat 37f.; Plat. Prot. Euathlos: Quint, inst. 3.1.10 [DK 80 Β 6]; Apul. Flor. 18 Ρ [DK 80 A 4]; Syrian. Schol. in Hermog. Vol. II p. 42, 1, 2 (ed. Rabe); Prodikos, Isokrates: Hesych. onomat. Schol. Plat. Pol. 600c [DK 80 A 3]; Archagoras: Vgl. 38, Anm. 2.
46
II. Sophisten als Systemkritiker gen im Hades, Von den verfehlten Handlungen der Menschen, Vorschriften, Rechtsstreit über die Bezahlung, Widerstreitsfragen - zwei Bücher 1 .
Auch bei dieser Liste handelt es sich lediglich um ein Fragment - sie ist nicht vollständig. So sind etwa seine Studien Über die Götter und Über die Wahrheit zusätzlich zu nennen. Untersteiner weist darauf hin, daß über die Art und Weise der Veröffentlichungen im 5. Jahrhundert wenig bekannt ist und antike Autoren kaum Wert auf die Titel ihrer Arbeiten legten. Er geht davon aus, daß die oben genannten „Werktitel" lediglich die Themen oder Unterpunkte der in zwei Büchern erschienen Gegenargumente - der ΑΝΤΙΛΟΠΩΝ - bezeichneten, welche sich mit Fragen über die Götter, das Sein, die Gesetze der Polis und ihre Belange, sowie mit den Künsten beschäftigten 2 . 'Αλήθεια ή Καταβάλοντες - Wahrheit oder Widerlegung war das wichtigste und in der Antike am meisten beachtete Werk des Protagoras3. Darüber hinaus untersuchte Protagoras die griechische Sprache und ihre Grammatik, wobei er die Kongruenz von Kasus, Numerus und Genus herausarbeitete4 und den Aufbau einer Rede analysierte5. Die Ergebnisse bereicherten sicherlich seinen Rhetorikunterricht6. Das Lehrangebot des Protagoras und der anderen Sophisten ging weit über das übliche Erziehungsprogramm hinaus, das seit dem späten 5. Jahrhundert in einigen Poleis der öffentlichen Kontrolle unterlag und finanziert wurde7. ... keine Téchne ohne Übung und keine Übung ohne Téchne8 - könnte als ein Leitsatz der Lehrtätigkeit des Protagoras bezeichnet werden. Die Lesungen erfolgten gegen ein offenbar hohes Honorar, weshalb er dem Spott und der Kritik der Bürger ausgesetzt war. Allgemein zu der Professionalität der Sophisten bemerkt ein anonymer Kommentator der Sophistici elenchi des Aristoteles: Denn es ist ein sophistisches Phänomen, daß es eine Weisheit gibt und nicht gibt; und der Sophist ist der Händler der scheinbaren Weisheit, aber nicht der tatsächlichen - unter den alten sind dies Gorgias, Hippias, Protagoras und Prodikos 9 .
'
Diog. Laert. 9.55 [DK 80 A 1, vgl. Β 8]: έστι δέ τα σωιζόμενα αύτοΰ βιβλία τάδε: *** Τέχνη εριστικών, Περί πάλης, Περί των μαθημάτων, Περί πολιτείας, Περί φιλοτιμίας, Περί αρετών, Περί της έν άρχήι καταστάσεως, Περί τών έν "Αιδου, Περί τών οϋκ όρθώς τοις άνθρώποις πρασσομένων, Προστακτικός, Δίκη ύπέρ μισθού, Άντιλογιών α β.
2
Untersteiner, The Sophists, 10.
3
Untersteiner, The Sophists, 15f.
4
Aristot. Rhet. 1407b6; Soph. El. 173bl7; Poet. 1456bl5 [DK 80 A 27, 28, 29]; Anom. in Aristot. Rhet. 182.26b6; Anom. in Aristot. Soph. El. paraphrasis Sec. 75.7.
5
Plat. Phaedr. 266d [DK 80 A 26].
6
Vgl. Cie. Brut. 12, 46; Quint. 3.1.10; Diog. Laert. 9.51; Aristot. Rhet. 1402 a 23 [DK 80 Β 6]; vgl. DK 80 A 1.
7
Vgl. dazu Scholz, Der Philosoph, 38-40.
8
Joh. Stob. Anth. 3.29.80.1 [DK 80 Β 10]: (Πρωταγόρας έλεγε μηδέν είναι) μήτε τέχνην άνευ μελέτης μήτε μελέτην άνευ τέχνης. Diels hält den Quellenwert für nicht gesichert. Die vielseitige Bedeutung des Terminus τ έ χ ν η , Fertigkeit, weist auch auf den praxisbezogenen Anspruch der sophistischen Lehre hin, und ist meines Erachtens gut mit dem Angebot des Protagoras zu vereinbaren. Vgl. dazu auch den Protagoras-Dialog Piatons.
9
Anon. in Aristot. Soph. El. paraphrasis See. 5, 6:
έστι γαρ ή σοφιστική φαινομένη σοφία
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
47
Erstmals habe Protagoras ein Honorar von einhundert Minen gefordert, so Piaton 1 . Den gleichen Betrag erhoben Zenon und Gorgias 2 , was den Verdacht nahelegt, daß die genannten einhundert Minen synonym für eine horrende Summe stehen. Sicher konnte sich nur ein geringer Prozentsatz der attischen Bevölkerung eine Lektion leisten, nämlich nur diejenigen, die neben den entsprechenden Mußestunden auch über hinreichende Geldmittel verfügten 3 . Einige Autoren berichten über eine Auseinandersetzung des Protagoras mit seinem Schüler Euathlos. Sie führte möglicherweise zu einem Prozeß, dem er schließlich eine eigene Schrift, Δ ί κ η ύ π έ ρ μισθού, widmete. Andererseits habe er nur den Betrag verlangt, den seine Schüler, nach Abschätzung ihres neu erworbenen Wissens, für seinen Unterricht zu zahlen bereit gewesen seien 4 . Doch nicht die Lohnforderungen, sondern sein Skeptizismus was die Götter betrifft, ist ihm der Überlieferung zufolge zum Verhängnis geworden.
1.2 Das anthropozentrische Weltbild und seine Konsequenzen für die Polis Der gegen Protagoras gerichtete Vorwurf des Atheismus ist vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse in Athen und seiner Lehre zu betrachten. Des weiteren brachte Diopeithes den Antrag vor das Volk, es sei unter Anklage zu stellen, wer nicht an die Götter glaube - τ α θ ε ί α μ ή ν ο μ ί ζ ο ν τ α ς - und sich in wissenschaftlichen Vorträgen mit den Dingen über der Erde befasse 5 .
Wer die Götter nicht verehrte - τ α θ ε ι α μ ή νομίζοντας - und naturwissenschaftliche Forschungen anstellte, wurde nach dem Dekret des Diopeithes unter Anklage gestellt. Wallace konnte jedoch überzeugend die Unechtheit des Dekretes belegen 6 . Die bei Pluοΰσα δέ ού, κ α ι ò σοφιστής χρηματιστής άπό φαινόμενης σοφίας ά λ λ ' ούκ ούσης, οίον έν τοις ά ρ χ α ί ο ι ς Γοργίας 'Ιππίας Πρωταγόρας κ α ι Πρόδικος. Vgl. auch Xen. Symp. 1.5.2. 1
Plat. Prot. 349a [DK 80 A 6]; Plat. Men. 91d [DK 80 A 8]; Diog. Laert. 9.52 [DK 80 A 1]; Hesych. onomat. Schol. Plat. Pol. 600c [DK 80 A 3]; Philostr. V. Soph. 1.10.4 [DK 80 A 2],
2
Zenon: Plat. Alk. 1 119a; Gorgias: Plat. Hipp. mai. 282b [Test. 4]; Xen. an. 2.6.16ff. [Test. 5]; Diod. 12.53.Iff. Vgl. Scholz, Der Philosoph, Anhang III, 380, zur Höhe des Unterrichtslohns der Sophisten, Rhetoren und Philosophen.
3
Vgl. Welskopf, Sophisten, 1930-1936.
4
Plat. Prot. 328b [DK 80 A 6]; Aristot. N E 1164a24.
5
Plut. Per. 32.2.
6
Wallace bemerkt, daß das Dekret nur bei Plutarch genannt ist, während beispielsweise X e n o p h o n trotz der gegebenen Thematik keine legale oder öffentliche Aktion des Diopeithes nennt. Es ist überhaupt kein Fall überliefert, der nach dem besagten Beschluß verhandelt wurde. Vgl. Wallace, Freedom of Thought, 137f. Parker weist d a r a u f h i n , daß die Worte des Dekretes nicht zeitgemäß seien. Er sieht trotz fehlender Parallelüberlieferung keinen Grund, an der Historizität des Beschlusses zu zweifeln. Parker, Athenian Religion, 208. Schubert zweifelt nicht an der Authentizität des Psephismas und geht von einer Überlieferung im Wortlaut aus. Der Text spiegele eine Konkurrenzstimmung zwischen der Volksreligion und den „aufklärerischen" Ansichten wider und das Dekret greife drastisch in die freie Meinungsäußerung ein. Schubert, Perikles, 108-111 (wie 42, Anm. 4).
48
II. Sophisten als Systemkritiker
tarch erhaltene Formulierung „θεούς νομίζειν" meint weniger einen der heutigen Vorstellung entsprechenden emotionalen Glauben an die Götter, sondern ist treffender mit „an die Götter glauben und sie nach den Gebräuchen ehren" zu übersetzen1. Der Begriff „Atheismus" oder άθεος - frevelhaft - findet sich erstmals in den Persern des Aischylos. Als Attribut zu einer Person wird άθεος erst in Piatons Apologie verwandt2. Der Terminus νόμος beinhaltet im 5. Jahrhundert nicht nur die Polisverfassung, sondern gleichermaßen sämtliche religiöse Vorstellungen3. Nicht jede skeptische oder lästernde Äußerung über die Götter war gleich strafbar; sonst wären die Mysterienparodie in den Fröschen des Aristophanes oder folgendes Gebet der Hekabe in den Troerinnen des Euripides undenkbar: Du hältst die Erde und du thronst auf ihr! Wer du auch bist, du rätselhafter Zeus, Gesetz des Stoffes, höchster Menschengeist ...4.
Die Tragödien gehören neben den naturphilosophischen Studien zu den ersten Quellen unorthodoxen religiösen Denkens des 5. Jahrhunderts, gleichzeitig spiegeln sie die traditionelle, von den Bürgern nach den nomoi praktizierte Religion wider5. Die nomoi zu verletzen, bedeutete Asebie. Die Prozesse gegen Aspasia, Anaxagoras oder Prodikos sind in der Überlieferung nur unsicher dokumentiert, zeitgenössische Quellen schweigen dazu; auch der Prozeß gegen Protagoras gilt als schwer nachweisbar6. 1
2 3
4
Zum Wandel der Wortbedeutung in der Antike vgl. F. Heinimann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im Griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Darmstadt 1987 (ND Basel 1947), 121; W. Fahr, Θεούς νομίζειν. Zum Problem der Anfänge des Atheismus bei den Griechen, Hildesheim/New York 1969. Aischyl. Pers. 808; Plat. Apol. 26c3. Fahr, Θεούς νομίζειν, 169. Maßstab der eusebeia waren die nomoi. Vgl. Isokr. Areop. (or. 7) 30. Die griechische Religion begründete sich nicht auf eine „heilige Schrift", sondern auf rituelle Traditionen, auf nomoi. Vgl. Burkert, Griechische Religion, 411 f. Eur. Tr. 884-886:
ώ γης όχημα κάπί γης έχων έδραν, όστις ποτ' εΐ σΰ, δυστόπαστος εΐδέναι, Ζευς, είτ' ανάγκη φύσεος είτε νους βροτών,.... 5
6
Vgl. Aristoph. ran. 153-157,313-15ff. u.a.; vgl. Kap. III 4. Die Welt des Theaters steht in einer engen Beziehung zur Realität der Polis, sodaß sie auch die religiösen Konflikte thematisiert. Vgl. dazu R. Parker, Gods Cruel and Kind: Tragic and Civic Theology, in: Ch. Pelling (Hrsg.), Greek Tragedy and the Historian, Oxford 1997, 147; Ch. Sourvinou-Inwood, Tragedy and Religion: Constructs and Readings, in: Pelling, Greek Tragedy, 185f. Vgl. Kap. III 1.1. Scholz, Der Philosoph, 65, Anm. 195; Parker, Athenian Religion, 207f.; Wallace, Freedom of Thought, 133f. Zu den Prozessen vgl. u.a.: O. Lendle, Philochoros über den Prozeß des Phidias, Hermes 83, 1955, 284ff.; E. Hering, Angeklagt ist Aspasia, Leipzig 1967; W. von Wedelo, Die politischen Prozesse im Athen des 5. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Entwicklung der attischen Demokratie zum Rechtsstaat, BIDR 74, 1971, 107-188; Mossé, Die politischen Prozesse, 160-187; J. Mansfeld, The Chronologie of Anaxagoras' Athenian Period and the Date of his Trial: Part 1, Mnemosyne 32, 1979, 39-69, Part 2, Mnemosyne 33, 1980, 17-95; Städter, Pericles, 111-124; K. Raaflaub, Den Olympier herausfordern? Prozesse im Umkreis des Perikles, in: Burckhardt/von Un-
49
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
Bei der gut belegten Verurteilung des Damon oder Sokrates spielten auch politische Ambitionen eine Rolle 1 . Ohne auf den konkreten historischen Kontext näher einzugehen, der hier nicht behandelt werden kann2, läßt sich festhalten, daß der politische Aspekt in der Verletzung der nomoi bestand, insofern die nomoi die innere Ordnung der Polis garantierten. Gottesfrevel wurde offenbar erst dann geahndet, wenn das Wohl der Polis in Gefahr war3. Thukydides bringt die Differenzierung zwischen „privat" und „öffentlich" in der Grabrede des Perikles auf den Punkt: Sondern frei leben wir miteinander im Staat und im gegenseitigen Verdächtigen des alltäglichen Treibens, ohne dem lieben Nachbarn zu grollen, wenn er einmal seiner Laune lebt, und ohne j e n e s Ärgernis zu nehmen, das zwar keine Strafe, aber doch kränkend anzusehen ist. Bei so viel Nachsicht im U m g a n g von Mensch zu Mensch erlauben wir uns doch im Staat, schon aus Furcht, keine Rechtsverletzung, ... 4 .
Für die Religionsausübung läßt sich nicht etwa eine Linie zwischen einer privaten und einer öffentlichen Sphäre ziehen 5 . Ausschlaggebend war, ob eine Handlung als ά σ ε β η ς angezeigt wurde, in welchem Rahmen auch immer sie stattgefunden hatte. „Die griechische Religion ist eine Pflicht," so Burkert, „die sich in Geboten und in der Androhung härtester Sanktionen äußert ,.."6. Im Jahre 421 hielt Protagoras sich nachweislich in Athen auf, danach verließ er die Stadt. Wahrscheinlich kehrte der Sophist Athen aufgrund der dort vorherrschenden antiintellektuellen Stimmung den Rücken. Die Hauptkritik richtete sich gegen seine Ansichten über die Götter: περί μέν θεών ούκ έ χ ω είδέναι,
Über die Götter allerdings habe ich keine
ο ύ θ ' ώ ς ε ί σ ί ν ούθ' ώ ς ο ύ κ ε ί σ ί ν
Möglichkeit
ούθ' ό π ο ΐ ο ί τ ί ν ε ς ίδέαν-
weder daß sie sind, noch daß sie nicht
zu
wissen
(festzustellen?),
πολλά γαρ τα κωλύοντα είδέναι ή
sind, noch welche Gestalt sie haben; denn
τ' ά δ η λ ό τ η ς κ α ί β ρ α χ ύ ς ώ ν ò β ί ο ς
vieles gibt es, was das Wissen (Feststel-
τού άνθρωπου7.
len?) hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit, und daß das Leben des Menschen kurz ist.
gern-Sternberg, Große Prozesse, 110. '
Vgl. Parker, der darauf hinweist, daß religiöse, soziale und politische Faktoren kaum auseinander zu dividieren sind. Parker, Athenian Religion, 207; Wallace, Freedom o f T h o u g h t , 139-143 u.a.
2
Vgl. u.a.: I.F. Stone, The Trial of Socrates, Boston [u.a.] 1988; W.R. Connor, The Other 399: Religion and Trial of Socrates, in: M.A. Flower/M. Toher (Hrsg.), Geórgica. Greek Studies in Honour of George Cawkwell, London 1991, 49-56; J. Klowski, Ein neuer Z u g a n g zu Sokrates; I.F. Stones: Der Prozeß gegen Sokrates AU 36, 1993, 27-36; A. Demandt, Sokrates vor dem Volksgericht von Athen 399 v.Chr., in: ders., Macht und Recht. Große Prozesse in der Geschichte, M ü n chen 1996, 9-33.
3
Bei kleineren Vergehen mußte sich der Betreffende vor dem Gymnasiarchen rechtfertigen. Vgl. Scholz, Der Philosoph, 56ff.
4
Thuk. 2.37.2; vgl. Wallace, Freedom o f T h o u g h t , 127.
5
Parker, Athenian Religion, 5-7.
6
Burkert, Griechische Religion, 375.
7
Diog. Laert. 9.51 [DK 80 Β 4]: Weitere Überlieferungen des Fragmentes: Eus. praep. ev. 14.3.7 [DK 80 Β 4]; Philostr. V. Soph. 1.10.2; Hesych. Onomatol. Schol. Plat. Pol. 600C; Sext. Emp. adv. math. 9.55, 56; Cie. de nat. deor. 1.24, 63; Diogen. V. O i n o a n d a f r . 12c. 2, 1 p. 19 William [DK 80
50
II. Sophisten als Systemkritiker
Seine Lehren wirkten lange Zeit weiter, wie Piaton in seinem Dialog Menon bemerkt 1 . Daher auf einen friedlichen Tod des Sophisten zu schließen, überzeugt nicht 2 . Schon Kerfeld bemerkt, daß Piaton in ähnlicher, wenn auch positiver Form über Sokrates berichtete 3 . Die Frage, ob ein Prozeß stattfand, ist kaum relevant. Protagoras fürchtete offenbar Sanktionen, welcher Art auch immer. Möglicherweise floh er, bevor er sich einer Anklage stellen mußte, wie es Flavius Josephus schildert: Wäre Protagoras nicht sofort geflohen, hätte man ihn verhaftet und zum Tode verurteilt, aufgrund seiner Stellungnahme zu den Göttern in seinen Schriften, welche in Konflikt mit athenischen Lehren gerieten 4 .
Die skeptischen Ansichten über die Götter reichten meiner Ansicht nach allein nicht aus, Protagoras als für die Polis gefahrlich einzustufen. Ähnliche Äußerungen kannten die Athener, wie bereits bemerkt, beispielsweise aus dem Theater. Ein Unterschied bestand jedoch darin, daß Protagoras seine Überlegungen zum Lehrstoff erhob, während sie auf der Theaterbühne lediglich verschiedenen Charakteren zugeordnet wurden. Die Tatsache, daß Protagoras seine Ansichten öffentlich vertrat und an seine Schüler weitergab, konnte als eine Gefahrdung der Kultgemeinschaft angesehen werden. Die Lehrtätigkeit mag ausschlaggebend gewesen sein, doch übte er sie längere Zeit unbehelligt und wohl auch geachtet aus. Seine Funktion als Lehrer unorthodoxer Theorien erhält erst vor dem Hintergrund einer gesteigerten Sensibilität gegenüber pietätsverletzenden Äußerungen mehr Gewicht. Eine solche Situation war eindeutig nach Bekanntwerden des Hermen- und Mysterienfrevels im Sommer 415 gegeben. Thukydides liefert ein eindrucksvolles Bild der inneren Anspannung der Bevölkerung: Denn nach der Abfahrt der Flotte gaben die Athener die Nachforschungen nicht auf, nach den Freveln, die mit den Mysterien und den Hermen geschehen waren, und ohne die Angeber auf ihren Ruf zu prüfen - jeder war ihrem Argwohn recht - , setzten sie auf schlechter Menschen Wort höchst ehrenwerte Bürger ins G e f ä n g n i s . ... täglich nahm ihr Ungestüm noch zu und die Verhaftungen,...5.
Die negative Stimmung in der attischen Öffentlichkeit gegen Naturphilosophen und Sophisten zeichnete sich schon in den zwanziger Jahren ab und erreichte nun einen Höhepunkt. Aus Thukydides ist jedoch nicht auf eine alleinige Verfolgung der Intellektuellen zu schließen, waren doch auch weitere Bevölkerungsgruppen betroffen. Die politischen Ziele und Ambitionen, in diesem Fall die sizilische Expedition, hatten nach wie vor Vorrang 6 .
A 2, 3, 12, 23]; Eus. praep. ev. 14.9.9, 1; Epiphan. panar, (ad. haer.) 3.506.18; Joh. Chrys. Scr. ecc. in epistul. ad corinth., vol. 61, 36.53. 1
Plat. Men. 91e: „Und in dieser ganzen Zeit bis auf den heutigen Tag hat er nicht aufgehört, gepriesen zu werden."
2
Vgl. zuletzt Wallace, Freedom of Thought, 134.
3
Kerfeld, Sophistic Movement, 43.
4
5 6
los. c. Ap. 2.266.2: κ α ι Π ρ ω τ α γ ό ρ α ς ε ί μ ή θ ά τ τ ο ν έ φ υ γ ε , σ υ λ λ η φ θ ε ί ς α ν γ ρ ά ψ α ι τι δόξας ούχ όμολογούμενον τοις Αθηναίοις περί θεών. Thuk. 6.53.2; 6.60.2. Thuk. 6.29.3.
έτεθνήκει
51
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
Der Hermen- und Mysterienfrevel versetzte Athen in Aufruhr, denn sie galten als Angriffe auf die Autorität der traditionellen Polis-Religion und der demokratischen Gesellschaft'. Die in einem Privathaushalt erfolgte und nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Mysterienparodie wurde mit der im Stadtbild offen sichtbaren Zerstörung der Hermen in Verbindung gebracht 2 . Federführend waren Hetairien, kleine elitäre Gemeinschaften, deren Mitglieder sich zur gemeinsamen Kultpflege und zum geselligen Beisammensein trafen. Im politischen Alltag stellten sie ihre Verbundenheit unter Beweis, indem sie sich gegenseitig protegierten 3 . Das Nachspielen der Mysterien zählte offenbar schon seit längerer Zeit zu den bislang jedoch nicht öffentlich gewordenen Privatvergnügen der aristokratischen Oberschicht 4 . Jetzt wurden alle mutmaßlich Beteiligten, darunter auch Unschuldige, verfolgt und verurteilt. Die Darstellung des Thukydides deutet auf ein politisches Komplott gegen Alkibiades und seine Anhänger 5 . Das schlechte Omen sollte vielleicht zu einem rechtzeitigen Stopp der Aktion führen, die Alkibiades in der Darstellung des Thukydides so wortgewandt unterstützt hatte 6 . Tatsächlich gab es keine Diskussionen über eine Streichung des im Demos so begeistert aufgenommenen Vorhabens. Doch die emotional aufgeladene Stimmung konnte in der innenpolitischen Auseinandersetzung zur Beseitigung politisch unliebsamer Gegner genutzt werden. Die Wirkung der Zerstörung der Hermen auf das religiöse und auch politische Empfinden der attischen Bevölkerung ist nicht zu unterschätzen. Den Besitz eines Gottes zu schädigen, galt als Provokation und störte das Verhältnis zwischen Göttern und Menschen 7 . Die bekannt gewordene Mysterien-Profanation mußte die öffentliche Erregung noch schüren. Die in einem vornehmen Privathaushalt parodierte Mysterienfeier stand außerdem in einem deutlichen Kontrast zu der aktuellen Religi-
1
Vgl. dazu ausführlich R. Osborne, The Erection and Mutilation of the Hermai, P C P h S 31, 1985, 47-73. Die Hermen symbolisierten den Demos der Athener sowie ihre Verbindung zur Außenwelt.
2
Furley vertritt die Ansicht, daß, obwohl einige wenige beider Vergehen angeklagt wurden, es vermutlich
keine direkte oder ursächliche
Verbindung
zwischen
beiden
gab.
Vgl.
Furley,
Andokides and the Herms, 41-48. Die A n m e r k u n g Lehmanns, die modernen Interpretationen seien hier zu pragmatisch und unterschätzten die Wirkung in der attischen Öffentlichkeit, ist meines Erachtens überzeugend. G.A. Lehmann, Überlegungen zur Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg: V o m Ostrakismos des Hyperbolos zum Thargelion 411 v.Chr., Z P E 69, 1987, 54. Vgl. auch Smarczyk, Religionspolitik, 268-279; K - W . Welwei, Das klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert, Darmstadt 1999, 206. 3
Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg, 56, Anm. 53; vgl. Smarczyk, Religionspolitik, 273; J.F. McGlew, Politics on the Margins: The Athenian Hetaireiai in 415 B.C., Historia 48, 1999, 1-22. McGlew verweist ebenfalls auf die konspirative Rolle der Hetairien und die in ihrem Kreis geführten Diskussionen. Durch das Zerschlagen der Hermen wurde die Verbindung zwischen Oikos und Polis demonstrativ zerstört. M c G l e w geht nicht weiter auf die Rolle des Alkibiades ein. Ebensowenig berücksichtigt er die Studien Lehmanns.
4
Vgl. Thuk. 6.28.1; And. Myst. (or. 1) 11. Smarczyk kommentiert ausführlich die überlieferten
5
Thuk. 6.28.
6
Thuk. 6.16-18, 27.
7
Vgl. F. Graf, Der Mysterienprozeß, in: Burckhardt/von Ungern-Sternberg, Große Prozesse, 115,
Mysterien-Profanationen. Vgl. Smarczyk, Religionspolitik, 270-272, Anm. 324.
122f.
52
II. Sophisten als Systemkritiker
onspolitik, die Eleusis als panhellenisches Heiligtum verstärkt in den Dienst der Macht Athens stellte. Die private „Inititation" mußte als ein Affront gegen die in den Feierlichkeiten des öffentlichen Kultes zutage tretende soziale Schrankenlosigkeit aufgefaßt werden 1 . Gegner des Alkibiades verknüpften die beiden Religionsfrevel und ließen Gerüchte einer oligarchischen Verschwörung im Umfeld des attischen Politikers aufkommen 2 . Die zunehmende Nervosität wegen der militärischen Aktionen im Westen zog zahlreiche Verdächtigungen und Anzeigen nach sich 3 . Verfolgt wurde außerdem Diagoras von Melos, der wie Alkibiades seit 414 im gesamten Herrschaftsgebiet Athens geächtet war 4 . Trifft die Vermutung Jankos zu, kommt er neben Diogenes von Apollonia als Autor des Derveni Papyrus in Frage. Der Verfasser unternimmt eine allegorische Deutung der homerischen und orphischen Dichtung und vertritt die Auffassung, daß es töricht sei, sich in Mysterien einweihen zu lassen, ohne die wahre Bedeutung des Zeremoniells zu kennen. Glaube solle auf Wissen beruhen 5 . Damit erhält der Vorwurf, er habe die Eleusinischen Mysterien verraten, sicherlich mehr Gewicht. Als innenpolitisch zu brisant galten seine Äußerungen erst vor dem Hintergrund der Mysterienparodie und des Hermenfrevels 6 . Andokides berichtet in dem fünfzehn Jahre später erfolgenden Prozeß rückblickend über die Ereignisse im Hermokopidenprozeß 7 : Eine zwielichtige Person namens Diokleides habe dem Rat der Fünfhundert insgesamt zweiundvierzig Namen genannt. Dazu gehörten u.a. zwei Ratsmitglieder, ein Bruder des Nikias und Kritias. Doch die Aussage galt bald als hinfällig, denn Andokides verriet als „Kronzeuge" die Teilnehmer seiner eigenen Hetairie unter der Führung des Euphiletos 8 . Die verantwortlichen Hetai1
2 3 4
5
6 7
8
Beide Vergehen sind in einem einheitlichen Milieu konspirativer Hetairien zu suchen. Vgl. Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg, 53-55; McGlew, Politics on the Margins, 10. Thuk. 6.27.2; 6.60.1; Graf, Mysterienprozeß, 116. And. Myst. (or. 1)37-42. Die Quellenbelege dazu hat Winiarczyk zusammengestellt. M. Winiarczyk, Wer galt im Altertum als Atheist?, Philologus 128, 1984, 164-166; Raaflaub, Den Olympier herausfordern?, 110, Anm. 35. Vgl. col 20.1-12; R. Janko, The Physics as Hierophant: Aristophanes, Socrates and the Authorship of the Derveni Papyrus, ZPE 118, 1997, 67. Anspielungen auf seine Lehre finden sich bereits in den Wolken des Aristophanes. Aristoph. nub. 830; Kap. III 2, 289. Vgl. auch Smarczyk, Religionspolitik, 281-287. Andokides war im Jahre 403 nach Athen zurückgekehrt und geriet in einen Streit mit Kallias. Dieser beschuldigte ihn, er habe einen Olivenzweig auf den Altar des Eleusiniums in Athen gelegt, was unter Strafe stand. Der Ursprung der Anklage des Kallias lag Andokides zufolge in den Ereignisse des Jahre 415 und er beteuert, damals nicht an den Freveltaten beteiligt gewesen zu sein. And. Myst. (or. 1) 11-70. Vgl. zu der anschaulichen Schilderung des Andokides den knapperen Bericht des Thukydides. Thuk. 6.27-29, 53, 60, 61. Andokides drohte die Todesstrafe und so sah er den einzigen Ausweg im Denunzieren seines Vaters und anderer Beteiligter unter der Zusicherung von Straffreiheit. Später beteuerte er seine Unschuld. Die Namen finden sich ebenfalls in der Liste des Teukros. Vgl. And. Myst. (or. 1) 15, 35, 61-67.
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
53
rien, die des Euphiletos und schließlich die des Alkibiades im Mysterienprozeß, hatten ihrer Frustration über die innen- und außenpolitischen Maßnahmen Athens offenen Ausdruck verliehen1. Sie hatten sich zu organisierten oligarchischen Gruppierungen entwickelt, die einen Bruch mit der πολιτεία und der demokratischen Gesellschaftsordnung beabsichtigten. Ein wesentliches Motiv des Euphiletos bestand darin, durch die gemeinsame verbrecherische Aktion den Gemeinschaftssinn seiner Hetairie zu stärken2. Einen Beitrag zur Politisierung der Gruppierungen leisteten die Sophisten mit ihrem teilweise unterschiedlichen Bildungsprogramm. Der respektlose Umgang mit religiösen Bräuchen ist ebenfalls auf den Einfluß der Sophistik zurückzufuhren und galt im attischen Volk als anstößig3. Protagoras' Auftritt in Eupolis' Schmeichlern aus dem Jahre 421 und die fiktive Handlung des Protagoras-Dialoges sprechen für einen persönlichen Kontakt des Protagoras zu Alkibiades im Hause des Kallias. Darin mag die eigentliche Ursache seiner Gefahrdung bestanden haben. Kallias, ein Angehöriger des vornehmen eleusinischen Priestergeschlechts der Keryken4, stand in keiner direkten Verbindung zu den Freveln des Jahres 415s. Zusammen mit den übrigen eleusinischen Priestern dürfte er dem Wunsch des Volkes nachgekommen sein, den verurteilten Alkibiades zu verfluchen6. Doch in seiner widersprüchlichen Persönlichkeit offenbarte sich der Verfall der religiösen Sitten innerhalb der attischen Oberschicht, wenn ein dadouchos intellektuelle „Freidenker" in seinem Haus empfing. Was unmittelbar zur Flucht des Protagoras führte, bleibt ungewiß. Vielleicht hielt er es selbst für das Beste, Athen zu verlassen, oder er wurde tatsächlich als eine Gefahr für die innere Ordnung eingestuft, weshalb man eine Anklage gegen ihn erhob7. Die ebenfalls erwähnte Bücherverbrennung hat sicher nicht stattgefunden; für eine solche Maßnahme findet sich in dieser Zeit keine Parallele, und noch Isokrates lagen die Schriften des Protagoras offensichtlich vor8. 1
2
3
4 5
6
7
8
Zu den Beteiligten vgl. And. Myst. (or. 1 ) 51, 52, 63; IG I2 329,334,330. Zu Alkibiades vgl. Thuk. 8.48.3ff.; Graf weist darauf hin, daß es sich eindeutig um zwei Prozesse handelte. Graf, Mysterienprozeß, 117. And. Myst. (or. 1) 61, 67. Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg, 54. Thuk. 3.82.6; Plut. Alk. 18.7, 8; vgl. Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg, 53f., 60. Vgl. Parker, Athenian Religion, 302. Vgl. auch Xen. Hell. 6.3.3-6. Andokides hätte in seiner Mysterienrede aus dem Jahre 399 kaum vergessen, auf diesen Aspekt hinzuweisen. Kallias stand im Hintergrund der von Kephisios gegen Andokides erhobenen Anklage. Vgl. Furley, Andokides and the Herms, 104, 113f. And. Myst. (or. 1) 51; Diod. 13.69.2; Plut. Alk. 22.5, 33. Weitere Quellenangaben bei Smarczyk, Religionspolitik, 276, Anm 334. Smarczyk hält die Historizität des Asebie-Prozesses gegen Protagoras fur wahrscheinlich. Seiner Ansicht nach läßt sich nicht erhärten, daß Protagoras ein Parteigänger des Alkibiades gewesen sei. Dem Prozeß liege kaum ein gegen die Mysterien gerichtetes Sakrileg zugrunde und er sei eher auf den Agnostizismus des Protagoras zurückzuführen. Vgl. Smarczyk, Religionspolitik, 279, Anm. 342. Isokr. Hei. (or. 10) 2.5: „Wer aber ist so wenig informiert, daß er nicht wüßte: Protagoras und die
II. Sophisten als Systemkritiker
54 a) D e r H o m o - M e n s u r a - S a t z als Leitgedanke
Führten somit vorrangig die äußeren politischen Umstände und die aufgebrachte Stimmung im Volk zur Flucht des Protagoras aus Athen, bleibt zu untersuchen, ob seine Thesen selbst eine Gefahr für den inneren Frieden der Polis beinhalteten. Leider sind nur Fragmente seiner Schriften erhalten, was eine Interpretation im Hinblick auf die Lehre des historischen Protagoras erschwert. Es handelt sich offenbar um Leitgedanken, unter denen der Homo-Mensura-Satz die Grundlage des protagoreischen Denkens und der Sophistik insgesamt bildete 1 : έστίν
Aller Dinge Maß ist der Mensch, der sei-
άνθρωπος, των μ έ ν όντων ώ ς έστιν,
πάντων
χρημάτων
μέτρον
enden, daß sie sind, der nicht seienden,
των δέ ούκ όντων ώς ούκ έστιν2.
daß sie nicht sind.
Wichtig für die hier zugrunde liegende Thematik ist die Frage nach den Konsequenzen, die eine solche Ansicht im alltäglichen Leben nach sich zog. Die Fülle der verschiedenen Überlegungen zur Interpretation der wichtigsten Bestandteile des Homo-Mensura-Satzes veranschaulicht die Problematik, anhand nur weniger überlieferter Zeilen ein Bild des historischen Protagoras und seiner Vorstellungen zu entwickeln sowie deren Bedeutung für die Poleis zu beurteilen. Dabei ist es fraglich, ob Protagoras sich der Bedeutungsvielfalt seiner Äußerungen bewußt war. Umstritten sind die Termini ά ν θ ρ ω π ο ς - Mensch, π ά ν τ α χ ρ ή μ α τ α - alle Dinge, μέτρον - Maß, ώ ς wie/daß, έ σ τ ι ν / τ ά οντα - sein/das Seiende. Huss stellt in einem Forschungsbericht die Meinungen zu dem schon in der Antike viel diskutierten Satz bis zum Jahre 1996 zusammen und zeigt die sich abzeichnenden Tendenzen: Danach bezieht sich der Satz nicht nur auf den einzelnen Menschen, das Individuum, sondern auch auf eine Gruppe von Menschen. Somit handelt es sich um eine politische Aussage, die für das Individuum, den politischen Verband und die Menschheit insgesamt gilt 3 . „Alle Dinge" π ά ν τ α χ ρ ή μ α τ α - bezeichnen das, was den Menschen betrifft, wozu er in Beziehung treten kann und was für ihn der Fall ist. Bereits bei Anaxagoras findet sich eine umfassende Anwendung des Begriffes χ ρ ή μ α τ α , die auch hier anzunehmen ist. Basierend auf der eleatischen Ontologie geht Anaxagoras in seiner Stofflehre von einer Masse von Urteilchen aus, die einst eine Einheit bildeten, und stellt fest:
anderen Sophisten, die zu seinerzeit lebten, hinterließen uns solche Schriften und noch viel gekünsteltere als diese." Burkert, Griechische Religion, 463, Anm. 14. 1
So auch Kerfeld, Sophistic Movement, 85: „Indeed, it would not be too much to say that the correct understanding of its meaning will take us directly to the heart of the whole of the fifth-century sophistic movement."
2
Sext. Emp. adv. math. 7.60; Plat. Theaet. 151 e, 152a [DK 80 Β 1], Vollständig überliefert findet sich das Fragment insgesamt zweimal in den Werken des Sextus Empiricus, eines Autors des 3. Jahrhunderts n.Chr., ebenfalls vollständig im Theaitetos Piatons und bei Diogenes Laertius. Vgl. Sext. Emp. Pyrrh. hyp. 1.216; Diog. Laert. 9.51. In verkürzter Form ist der Satz im Kratylos Piatons und in der Metaphysik des Aristoteles zu lesen. Plat. Krat. 386a; Aristot. metaph. 1062bl2f.; 1053a35f.
3
K. Döring, Die politische Theorie des Protagoras, in: Kerfeld, Sophists and their Legacy, 109-155.
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
55
Wenn das der Fall ist, muß man anerkennen, daß in der Gesamtmenge alle Sachen - π ά ν τ α χ ρ ή μ α τ α - enthalten sind1. Mit der weit gefaßten Interpretation des χ ρ ή μ α τ α - B e g r i f f e s ist τ α όντα - ebenfalls dem zeitgenössischen Sprachgebrauch entsprechend - auf individuenartige Dinge und auf Sachverhalte zu beziehen - auf das, was der Fall ist2. Damit ist der existentiellen eine veritative Nuance, eine Aussage über das „Wahr-sein" hinzugefugt 3 . Tatsachen und Sachverhalte sind ebenfalls Bestandteile der Realität; sie sind Teile der Welt wie die individuenartigen Gegenstände 4 . Der Mensch ist das Maß - μέτρον, in der Beziehung, in der er als Subjekt die Dinge - χ ρ ή μ α τ α - wahrnimmt. Zuletzt beschäftigte sich Hoffmann mit dem Problem des Homo-Mensura-Satzes und den Rückschlüssen auf die ethischen und rechtlichen Vorstellungen des Protagoras 5 . Er lehnt zu Recht die Auffassung ab, es handele sich um einen Beleg für die demokratische Grundeinstellung des Sophisten, weil die Urteile eines jeden Individuums gleichberechtigt nebeneinander ständen. Zur Begründung argumentiert er mit der Darstellung des Protagoras bei Piaton, wonach der Weise den größtmöglichen Nutzen für die Polis erkenne und die Nützlichkeit zum Prinzip erhoben werde 6 . Doch auch ohne Piaton zu bemühen, scheint der Praxisbezug weniger dem Dienste der Demokratie gewidmet zu sein als einer Befähigung, sich in der antiken Polis zu behaupten. Das schließt keineswegs eine erkenntnistheoretische Aussagekraft aus, die sich hier gegen die Eleaten richtete. Protagoras wendet sich gegen Parmenides, der den Menschen auf die geistige Wahrnehmung beschränkte, wenn er τ α όντα mit dem Erkennen gleichsetzte: Erkennen und Sein sind identisch, denn alles, was erkannt werden kann, muß auch sein, und alles, was sein kann, muß erkannt werden 7 .
'
Simpl. in Phys. 156,1 [DK 59 Β 4, Mansfeld 24]: τούτων δέ ούτως έχόντων έν τώ σύμπαντι χρή δοκεΐν ένεΐναι π ά ν τ α χρήματα. Huss, Der Homo-Mensura-Satz, 229-257, bes. 254f. Zu den einzelnen Begriffen vgl. auch Roßner, Recht und Moral, 34-42. Welskopfs Untersuchung des Begriffes χ ρ ή μ α τ α zeigt, daß im allgemeinen griechischen Sprachgebrauch eine umfassende und eine spezielle Verwendung zu unterscheiden ist. Er bezeichnet den Reichtum und das Geld. In einer umfassenden A n w e n d u n g meint χ ρ ή μ α τ α den Gebrauchswert, das Gebrauchsgut, immer in Beziehung zum Menschen, auf sein Verhalten zu den Gegenständen, zu anderen Menschen und zu sich selbst. Welskopf, Sophisten, 1950f. Laut Heitsch hörte der Grieche in χ ρ ή μ α τ α mit Selbstverständlichkeit das V e r b u m χ ρ ή σ θ α ι .gebrauchen, mit etwas u m g e h e n ' . E. Heitsch, Frühgriechische Literatur als Antwort. Aus der Geschichte der Frage, in: K. Pestalozzi (Hrsg.), Der fragende Sokrates, Colloquium Rauricum Bd. 6, Stuttgart/Leipzig 1999, 18.
2
Vgl. Graeser, der auf die Redeweise Wittgensteins im „Tractatus" verweist. Graeser, Philosophie, Bd. II, 23.
3
Kerfeld, Sophistic Movement, 86; Huss, Homo-Mensura-Satz, 252f. Vgl. zum Beispiel Thuk.
1.10.2: ... Αθηναίων δέ το αύτό τούτο παθόντων δ ι π λ α σ ί α ν αν τήν δύναμιν ε ί κ ά ζ ε σ θ α ι ά π ό της φανεράς όψεως της πόλεως ή έστιν. Vgl. auch Aristot. metaph. 1011b. 4 5
Graeser, Philosophie, Bd. II, 22f. Er bezieht dabei die Darstellung Piatons eng in seine Interpretation ein. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 2, 12-41.
6
H o f f m a n n , Recht im Denken der Sophistik, 41.
7
Vgl. Huss, Der Homo-Mensura-Satz, 254. Vgl. Clem. Alex, ström. 6.23.3; Plotin. Enn. 5.1.8 [DK
56
II. Sophisten als Systemkritiker
Bevor die Möglichkeiten der praktischen Anwendung des Homo-Mensura-Satzes anhand weiterer erhaltener Fragmente erörtert werden, seien zunächst kurz die Deutungen der antiken Autoren skizziert: In Piatons Theaitetos diskutiert Sokrates die These seines Gesprächspartners, daß Erkenntnis und Wahrnehmung gleichzusetzen seien, und zitiert in diesem Kontext den Homo-Mensura-Satz. Es entsteht der Eindruck, Protagoras führe jegliches menschliche Wissen auf die Sinneswahrnehmung des Individuums zurück. Diesen extremen Subjektivismus, der jegliches objektive Sein ausschließt, veranschaulicht Sokrates in gewohnter Manier anhand verschiedener alltäglicher Beispiele. Mansfeld weist darauf hin, daß das Individuum in Sokrates Ausführungen ebenso als Beispiel für die Gattung Mensch aufgefaßt werden könnten. Somit sei eine weiter gefaßt, generelle Deutung von άνθρωπος ohne weiteres möglich 1 . Piatons Interpretation folgend schickt Sextus Empiricus dem Zitat eine Erläuterung voraus, wonach Protagoras behaupte, daß sämtliche Vorstellungen und Meinungen - πάσας τ ά ς φ α ν τ α σ ί α ς κ α ι τ ά ς δόξας - wahr seien. Alles, was ein Mensch sich vorstelle und meine, beinhalte im Hinblick auf seine Person auch die Wahrheit 2 . Die Sinnesempfindungen wandelten sich je nach Alter und körperlicher Verfassung, wie auch die Materie ständig im Fluß sei. Der Mensch erfasse bald das eine, bald das andere, je nach seiner momentanen Verfassung 3 . Schließlich fügt er eine weitere Auffassung des Protagoras an: Er sagt aber auch, daß die „logoi" von allen Erscheinungen in der Materie zugrunde liegen, mit der Wirkung, daß die Materie, sofern sie für sich selbst erscheint, alles ist und so allen erscheint 4 .
Aus den Texten des Sextus Empiricus ergibt sich eine mögliche Interpretation der protagoreischen Erkenntnistheorie: Das Sein entspricht nicht dem Erscheinen 5 . Erst das Zusammentreffen eines wahrgenommenen Objekts und eines wahrnehmenden Menschen bringen das Objekt zur Erscheinung. Der einzelne nimmt jeweils nur einen Ausschnitt des Objekts - des Seins - wahr, doch ist für ihn das Erscheinende auch das Seiende. Hinter dem Erscheinenden besteht somit eine unabhängige Realität.
28 Β 3]. Für Protagoras definiert nicht das geistige Erkennen allein das „Seiende", sondern der Mensch mit all seinen sinnlichen und geistigen Erfahrungen. Vgl. Heitsch, Frühgriechische Litera1
tur, 18 (wie 55, Anm. 1). J. Mansfeld, Protagoras on Epistemological Obstacles and Persons, in: Kerfeld, Sophists and their Legacy, 43.
2
Sext. Emp. adv. math. 7.60.
3
Sext. Emp. Pyrrh. hyp. 1.217 [DK 80 A 14]; vgl. auch Plat. Theaet. 152d, e.
4
1.218 [DK 80 A 14]: λέγει δέ και τους λόγους πάντων των φαινομένων ύποκεϊσθαι έν τήι ύληι, ώς δύνασθαι την ύλην όσον έφ' έαυτήι πάντα είναι όσα πάσι φαίνεται.
5
Sext. Emp. Pyrrh. hyp.
Diese Konsequenz ergibt sich auch aus dem bei Didymus wiedergegebenen Fragment: „Ich erscheine dir, dem Anwesenden, als Sitzender. Dem Abwesenden aber erscheine ich nicht als Sitzender. Somit ist ungewiß, ob ich sitze oder ob ich nicht sitze." Didymus, ein christlicher Autor des 4. Jahrhunderts n.Chr., sieht darin allerdings einen Beleg dafür, daß das Sein fur die Dinge im Schein bestehe. Vgl. Didymos über die Psalmen (Tura-Papyri; M. Gronewald, Ein neues Protagoras-Fragment, Z P E 2, 1968, lf.).
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
57
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der spätantike Autor Johannes Philoponus in seinem Aristoteleskommentar. Er bemerkt, Protagoras habe gemäß der „rechten" Rede dargelegt, daß sich die Wahrnehmung und das Erkennen auf das Erscheinende richte, der Verstand sich jedoch an der Wahrheit orientiere 1 . Die Ansicht, jede Erscheinung sei wahr, konnte weder Sextus Empiricus, Demokrit noch Piaton überzeugen 2 . Für Aristoteles bestand zwischen Erscheinung und Sein kein Unterschied, was einer gänzlich subjektivistischen Deutung gleichkommt 3 . Auch die Ausführungen in Piatons Theaitetos erwecken den Eindruck, Protagoras habe einen grenzenlosen Individualismus gepredigt. Welskopf sieht darin jedoch eine Argumentation in sokratischer Manier: Ausgehend von alltäglichen Erfahrungen eines jeden werden induktiv aus der Masse von Meinungen und Wahrnehmungen feste Punkte herauskristallisiert". Völlige Klarheit kann in dieser Problematik nicht erzielt werden 5 , doch ist ein objektives Sein, d.h. eine unabhängige Realität in der Sicht des Protagoras anzunehmen. Der Relativismus besteht in der genannten Interaktion zwischen dem Subjekt und dem Objekt; und zwar wird das Objekt, χ ρ ή μ α τ α - die Dinge, erst in der sinnlichen Wahrnehmung der Erscheinung zum Sein und nur für denjenigen, dem es erscheint 6 . Damit ist kein absoluter Subjektivismus, aber eine deutliche Begrenztheit der Möglichkeit der Erkenntnis durch den Menschen formuliert. Der Zugang zu einer objektiven Wahrheit bleibt dem einzelnen wie der Gemeinschaft verschlossen, womit eine „prinzipielle Offenheit menschlicher Wertsetzung" 7 gefordert ist. Für das Zusammenleben der Menschen folgt daraus, daß die Wertvorstellungen einem ständigen Wandlungs- und Anpassungsprozeß an die gegebenen Verhältnisse (Erscheinungen) unterworfen sind. Die Autorität eines Beschlusses in der Volksversammlung und diejenige eines richterli'
2
Johannes Philoponus in Aristot. libros de anima comm. vol. 15, 71, 26: ... και τό φαινόμενον ταύτόν έστι, και ούδέν διαφέρειν την άλήθειαν και το τη αίσθήσει φαινόμενον, άλλα τό φαινόμενον έκάστω και τό δοκούν τοΰτο και είναι αληθές, ώσπερ και Πρωταγόρας έλεγε, κατά γε τον όρθόν λόγον διαφερόντων, και της μέν αίσθήσεως και της φαντασίας περί τό φαινόμενον έχούσης, του δέ νου περί την άλήθειαν. Sext. Emp. adv. math. 7.389, 390: „Es kann sicherlich nicht behauptet werden, daß j e d e Erschein u n g wahr ist, da dieses Argument auf sich selbst zurückgeführt werden kann, wie Demokrit und Piaton (Theaet. 171a) zeigen, wenn sie mit Protagoras uneinig sind: denn, wenn j e d e Erscheinung wahr ist, dann ist der Glaube, daß nicht j e d e Erscheinung wahr ist - so dieser Glaube die Form einer Erscheinung erhält, ebenso wahr und der Glaube, daß j e d e Erscheinung wahr ist, falsch."
3
Aristot.
metaph.
1062bl2f.
Vgl. u.a. Kerfeld, der
den
Homo-Mensura-Satz
ausschließlich
subjektivistisch deutet. Kerfeld, Sophistic Movement, 166. Chappell interpretiert die Aussage des Protagoras, alle Ansichten entsprächen der Wahrheit, als eine Niederlage der protagoreischen Argumentation. Es handele sich nicht nur um eine Widerlegung der eigenen Ansicht. Damit folgt Chappell der subjektivistischen Deutung des Aristoteles. T.D.J. Chappell, Does Protagoras Refute H i m s e l f ? , C Q 45, 1995, 333-338. 4
Welskopf, Sophisten, 1950f.
5
Dazu tragen auch nicht die Ergänzung des Fragmentes bei Didymus oder die Ausführungen anderer Autoren bei. Vgl. 56, Anm. 5.
6
Vgl. Koch, Protagoras bei Piaton, 281 (wie 35, Anm. 1).
7
Vgl. Huss, Der Homo-Mensura-Satz, 254.
II. Sophisten als Systemkritiker
58
chen Urteils kann sich nicht auf allgemeingültige Werte wie „Wahrheit" oder „Gerechtigkeit" berufen, sondern nur auf das, was zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung der Volks- oder Gerichtsversammlung als „wahr" erscheint. Einen Bezug zur Praxis erhält der sophistische Leitsatz in der von Protagoras angebotenen τ έ χ ν η , die darin besteht, sowohl die eine, als auch die andere Sache „schmackhaft" zu präsentieren 1 . Es gilt die „Dinge" zu erkennen und an sie zu appellieren, die sich dem Menschen offenbaren, deren „Maß" er ist, und die Meinung über die „Dinge" zu formen 2 . Protagoras bietet die Fertigkeit, wie es in negativen, kritischen Stellungnahmen anklingt, die Ansichten der Menschen nach Belieben zu manipulieren 3 . Protagoras habe als erster behauptet: Über jede Sache gibt es zwei einander entgegengesetzte Aussagen (Meinungen) 4 .
Gibt es immer zwei logoi zu einer Sache, dann gilt es die schwächere Meinung zur stärkeren zu machen 5 .
Die beiden Bücher mit dem Titel Antilogion - Gegenargumente - beinhalten möglicherweise einen großen Teil seiner Studien, so lautet die These Untersteiners 6 . Ist den Hinweisen des Aristoxenos, eines Schülers des Aristoteles, und des Favorinus, eines Autors des 1. Jahrhunderts n.Chr., Glauben zu schenken, behandelte es vorwiegend staatstheoretische Überlegungen, denn fast die ganze Politela [Piatons] sei aus dem Antilogion des Protagoras entlehnt 7 . Positiv ausgedrückt bot Protagoras seinen Schülern eine Argumentationstechnik, die es ihnen ermöglichte, neben der Berufung auf traditionelle Werte eine fundierte Analyse der konkreten Situation zu liefern. Der Homo-Mensura-Satz und die Aussage über die Götter zeigen, daß immer zwei Meinungen möglich sind. Dabei können die Argumente der gerechten Sache vor Gericht durchaus die hier angesprochenen „schwächeren" sein 8 . In der Praxis gilt es, die
2 3
4
5
In Piatons Protagoras-Dialog betont der Sophist gegenüber Sokrates die große Bedeutung der π ο λ ι τ ι κ ή τ έ χ ν η , die zu seinem Lehrangebot gehöre. Vgl. dazu 43, Anm. 2. Vgl. auch Mansfeld, Protagoras, 47. Vgl. Plat. Phaedr. 261 c 10-d 1 ; C.J. Classen, Schöpfergott oder Weltenordner - zu den Gottesvorstellungen der Griechen von Homer bis Piaton, in: ders., Ansätze. Beiträge zum Verständnis frühgriechischer Philosophie, Würzburg/Amsterdam 1986, 25.
Diog. Laert. 9.51 [DK 80 Β 6a]: δύο λόγους είναι περί παντός πράγματος αντικείμενους άλλήλοις. Aristot. Rhet. 1402a23 [DK 80 Β 6b]: ... τον ήττω ... λόγον κρείττω ποιείν. Vgl. auch die Anspielung in Aristophanes' Wolken. Aristoph. nub. 112-115 [DK 80 C 2]:
είναι παρ' αύτοίς φασιν άμφω τώ λόγω, τον κρείττον', όστις έστί, και τον ήττονα. τούτοιν τον έτερον τοΐν λόγοιν, τον ήττονα, νικάν λέγοντα φασι τάδικώτερα. Vgl. dazu Kap. Ill 2, 285. 6 7
8
Untersteiner, The Sophists, 10. Diog. Laert.: = Aristoxenus (fr. 33 FHG II 282); Favorinus (fr. 21 FHG III 580) [DK 80 Β 5], Aristoxenos war einflußreich als erster Verfasser von Philosophenbiographien. Favorinus gehörte als Schüler Dion von Prusas der zweiten Sophistik an. Vgl. Lesky, Griechische Literatur, 648, 933. Vgl. auch Romilly, Sophists, 88-90. Welskopf verweist auf die einseitig negative Auslegung des Satzes bei Piaton. Vgl. Welskopf, Die Sophisten, 1932.
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
59
verschiedenen Standpunkte gegeneinander abzuwägen, um einen Konsensus zu erzielen. Für jede politische Entscheidungsfindung ist ein Konsensus unerläßlich, ob in einem kleinen Adelsrat oder in der demokratischen Versammlung. Erst die theoretische Grundvoraussetzung, daß dem Individuum, wie dem Kollektiv jeweils nur ein Teil der χ ρ ή μ α τ α zugänglich ist, ermöglicht Stimmen für die eine oder die andere Position zu gewinnen, so könnte die Argumentation des Protagoras gelautet haben. Auf der Ebene der Realpolitik vertrat der Sophist offenbar eine demokratische Gesinnung, die eine Bestätigung im Mythos des Protagoras bei Piaton findet. Wie oben bereits bemerkt, sind zumindest die Grundaussagen auf den historischen Protagoras zurückzufuhren 1 . Im Dialog Piatons diskutieren Protagoras und Sokrates über die Frage, ob „Tugend" - άρετή - lehrbar sei. Ohne die moralische arete kann die politische Gemeinschaft nicht überleben, oder erst gar nicht existieren, so lautet die Kernaussage, die Protagoras in Form eines Mythos erläutert2. Der Schwerpunkt der formulierten Kulturentstehungstheorie, die den Menschen deutlich von den Tieren abhebt, liegt weniger im technischen Fortschritt, sondern deutlich in der Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung 3 . Zum Ende des Mythos nämlich verleiht Zeus den Menschen α ι δ ώ ς und δίκη. Offensichtlich handelte es sich um einen Leitgedanken des Sophisten, daß „Ehrgefühl" und „Recht" allen Menschen gleichermaßen zugänglich seien und die πολιτική τ έ χ ν η lehrbar sei. Daraus folgt, daß nicht die aristokratische Herkunft oder von Natur aus gegebenen Fähigkeiten und Tugenden der Bürger eine effektive Staatsführung und ein harmonisches Gemeinschaftsleben garantieren, sondern erst die Ausbildung in der πολ ι τ ι κ ή τ έ χ ν η legitimiert, von wahrhaften αγαθοί, von wirklich fähigen Bürgern zu sprechen". Der Sophist begründet die Unverzichtbarkeit seiner besonderen Lehrtätigkeit und rechtfertigt gleichzeitig das demokratische System. Die nach wie vor bestehende aristokratisch bestimmte Ethik konnte dieser Auffassung zufolge keine Gültigkeit mehr beanspruchen, womit der Sophist die Widersprüchlichkeit zwischen der demokratischen Ordnung Athens und den herrschenden Wertvorstellungen offenlegte 5 . Handelte es sich bei den im Mythos formulierten Thesen um die soziologischpolitische Auffassung des Sophisten, formulierte er im Homo-Mensura-Satz die erkenntnistheoretische Ausgangsbasis seiner Lehren. b) Der Agnostizismus des Protagoras Die Grundgedanken des Homo-Mensura-Satzes führen jetzt zu der Frage, ob ein Redner, abgesehen von praktischen politischen Erwägungen bei einer strengen Auslegung des Satzes auch mit den Göttern argumentieren konnte, oder generell formuliert, ob die Götter zu den χ ρ ή μ α τ α gehörten. Demzufolge hätten die Menschen einen Zugang zum Göttlichen, wenn auch nur zu einem Teil ihres Wesens 6 . Protagoras schließt dies für '
Vgl. oben 43. Vgl. M. Nili, Morality and Self-Interest in Protagoras, Antiphon and Democrit, Leiden 1985, 6.
3
Vgl. auch Manuwald, Platon oder Protagoras?, 116f. Eine kurze Zusammenfassung des Mythos findet sich in Kap. II 7.2 c.
4
So auch Adkins, 11 (wie 43, Anm. 3).
5
Vgl. Kap. 13.2.
6
Vgl. 55, Anm. 1; Huss, Der Homo-Mensura-Satz, bes. 254f.
60
II. Sophisten als Systemkritiker
sich selbst aus - (περί μεν θεών ούκ έ χ ω ε'ιδέναι, ούθ' ώς είσίν ούθ' ώς ούκ ε ί σ ί ν ούθ' όποιοι τίνες ί δ έ α ν ) , wenn er feststellt, daß sich die Götter seiner Wahrnehmung entziehen und verborgen bleiben - ( π ο λ λ ά γ α ρ τα κωλΰοντα είδέναι ή τ' άδηλότης ...)• Außerdem sei das menschliche Leben für eine solche Erkenntnis zu kurz - (... κ α ι β ρ α χ ύ ς ών ó βίος του άνθρωπου) 1 , womit er ein Kriterium der Erkenntnistheorie des Empedokles aus Akragas (-494—434) aufgreift 2 . In der Wiedergabe des „Götter-Fragmentes" bei Eusebius bemerkt er, daß er nicht wissen könne, von welcher Gestalt sie geschaffen seien 3 . Auch das Land, wo sie umhergehen und gebieten, habe er nie gesehen, so die spätantike Überlieferung bei Johannes Chrysostomos 4 . Vor einer näheren Erörterung der Problematik, ob Protagoras die Existenz der Götter generell verneinte, seien zunächst mögliche Anregungen aus religionsgeschichtlich relevanten Gedanken seiner Vorgänger betrachtet. Protagoras' Haltung den Göttern gegenüber steht in einer längeren Tradition antiker Religionskritik, auf welche hier nur exemplarisch verwiesen werden kann. Sie richtete sich gegen das Götterbild Homers und Hesiods 5 , das den Menschen kaum zum Vorbild dienen konnte. So bemerkt Xenophanes ca. in der Mitte des 6. Jahrhunderts: Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angedichtet, was nur immer bei den Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen, Ehebrechen, und sich gegenseitig betrügen 6 .
Xenophanes forderte, die Vorstellungen von Göttern und Heroen besser zu machen, um auch das Verhalten der Menschen zu bessern7. Er vertritt die Vorstellung: ... nur ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der Größte, weder an Aussehen den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken 8 .
'
Vgl. 49, zur Übersetzung des hier zur Erinnerung wiederholten Textes.
2
Diog. Laert. 9.51 [DK 80 Β 4], Empedokles bemerkt in seinem Buch Über die Natur (Sext. Emp. adv. math. 7.123f [DK 31 Β 2] (Mansfeld 7): „In ihrer Lebenszeit haben sie [die Menschen] nur einen winzigen Teil des Ganzen erschaut: zum raschen Tode bestimmt, sind sie aufwärts getragen worden und zerstoben wie Rauch, nur jener Einzelheit gewiß, worauf ein jeglicher eben gestoßen." Möglicherweise kannte Protagoras Empedokles persönlich, sie waren in j e d e m Fall Zeitgenossen. Diog. Laert. 8.52; vgl. Mansfeld, Protagoras, 41.
3
Eus. praep. ev. 14.3.7 [DK 80 Β 4]; Eus. praep. ev. 14.9.9, 1.
4
Joh. Chrys. ep. ad. corinth. Vol. 61, 36.53.
5
Burkert, Griechische Religion, 452. Eur. Bakch. 199ff. bezieht sich nicht unbedingt auf Protagoras. Diels führt es dort unter der Rubrik „Schlechtbezeugtes" [DK 80 C 4] auf.
6
Sext Emp. adv. math. 9.193 [DK 21 Β 11] (Capelle 22, 121):
πάντα θειοίσ' ανέβηκαν "Ομηρος θ' Ησίοδος τε, οσσα παρ' άνθρώποισιν όνείδεα καί ψόγος έστίν, κλέπτειν μοιχεύειν τε καί αλλήλους άπατεύειν. 7
Ath. 11.462c [DK 21 Β 1, 13-16] (Capelle, 41, 124): „Zuerst nun müssen verständige Männer die Gottheit preisen mit frommen Reden und reinen Worten. Wenn sie ihr gespendet und sie gebeten haben, ihnen Kraft zu verleihen, das Rechte zu tun - ... ." Eucken kommt zu dem Ergebnis, daß es sich bei der Bitte um das „Gerechte" in dem Gebet um eine Bitte um die rechte Gottesvorstellung handele. Eucken, Gotteserfassung, 10.
8
Clem. Alex, ström. 5.109(11 399, 16) [DK 21 Β 23] (Capelle 26, 121):
εις θεός έν τε θεοίσι καί άνθρώποισι μέγιστος,
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
61
Die bei ihm offenkundige Begrenztheit der Erkenntnismöglichkeit der Götter wird mit einer Theologie verbunden, die sich auf das menschliche Leben auswirkt. Er verfolgt einen pädagogischen Ansatz, wenn er betont, daß der Weisheit mehr Gewicht als der körperlichen Tüchtigkeit beizumessen sei, wenn es gelte, die Ordnung der Polis zu verbessern'. Dazu gehörte offenbar die gebührende Achtung der Götter2. Damit formuliert Xenophanes nahezu einen Grundgedanken der modernen Religionssoziologie, indem er die gesellschaftliche Realität der Religion betont und ihre Bedeutung für das Gemeinschaftsleben herausstreicht3. Auch Heraklit, der die Rituale kritisierte, oder der über das „Seiende" nachdenkende Eleier Parmenides 4 stellten etwa am Ende des 6. Jahrhunderts das traditionelle Götterbild in Frage. Mit dem sich abzeichnenden Rückgang anthropomorpher Göttervorstellungen verloren die Götter die menschlichen Züge und wurden abstrakter. Anaxagoras aus Klazomenai gelangte ca. in den siebziger Jahren des 5. Jahrhunderts nach Athen und verbreitete dort die naturphilosophischen Ideen Ioniens, wobei folgendes als Grundsatz seiner Studien zu bezeichnen ist: „Der Anblick der verborgenen sind die erscheinenden Dinge" 5 . Zum alles lenkenden und ordnenden Prinzip erhob er den nous - den „Geist"6. Sein Schüler Euripides erklärt: „Der nous in einem jeden ist fur die Menschen Gott"7. Das Nachdenken über das Göttliche führte zu der Vorstellung, daß in jedem Menschen ein Teil des Gottes enthalten sei - eine Vorstellung, die vor allem Diogenes von Apollonia vertrat8. Der Gedanke des Göttlichen im Menschen, ob in der Luft, im
ούτι δέμας θνητοίσι όμοιος ούδέ νόημα. Mit X e n o p h a n e s beginnt die kosmologisch orientierte Gottesvorstellung, eine neue weiter gefaßte Konzeption des Göttlichen. Vgl. Kahn, The Sisyphos Fragment, 250-253. 1
Ath. 9.413F [DK 21 Β 2],
2
Vgl. beispielsweise: Ath. 11.462c [DK 21 Β 1, 21-24, oder 13-16] (Capelle 19, 120): „... aber stets der Götter in Ehrfurcht zu gedenken, das hat Sinn und Verstand."
3 4
Vgl. É. Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 1968, 598. Herkalit: Theosophia 68, 184f.; Orig. C.Cels. 7.62 [DK 22 Β 5]; Parmenides: Simpl. in Phys., 86, 7f. [DK 28 Β 6]; Simp, in Cael. 558, 9f. [DK 28 Β 19].
5
Sext. Emp. adv. math. 7.140 [DK 59 Β 21a]: όψις γαρ των άδηλων τα φαινόμενα.
6
Vgl. Simpl. in Phys. 164, 22, 156, 13ff [DK 59 Β 11, Β 12], Die schwierige Frage, was genau Anaxagoras unter nous verstand, kann an dieser Stelle kaum gelöst werden. Die A n n a h m e Rods, es handele sich im Hinblick auf die Überlegungen des Bewegungsprinzips um etwas Göttliches, nicht jedoch um Gott, ist meines Erachtens überzeugend. Vgl. Rod, 68f. (wie 11, Anm. 2); vgl. auch F. Ricken, Griechische Philosophie, in: Nesselrath, Griechische Philologie, 518.
7
Schol. Pind. Nem. 6 = Eur. fr. 1018. Übersetzung zitiert nach Burkert, Griechische Religion, 470.Vgl. Eur. Tr. 884-888.
8
Simpl. in Phys. 151.28 [DK 64 Β 5] (die Übersetzung weicht etwas von der Capelles (9, 312) ab): „Und meines Erachtens ist , der Denkvermögen besitzt, das, was von den Menschen die Luft genannt wird. Von diesem werden sie alle gelenkt, und er herrscht über alle. Denn eben dieser ist, dünkt mich, Gott; er ist allgegenwärtig, ordnet alles und ist in jeglichem Dinge vorhanden." Janko räumt die Möglichkeit ein, bei Diogenes von Apollonia handele es sich wahrscheinlich um den Autoren des 1962 entdeckten Derveni Papyrus. In einer ausführlichen inhaltlichen
und
sprachlichen Analyse kommt er zu dem Ergebnis, daß viele Argumente für Diogenes von Apollonia
62
II. Sophisten als Systemkritiker
Denken oder in der Seele, bildete eine wichtige Voraussetzung für die Botschaft der Mysterien von Eleusis 1 . Sie offenbarten den Menschen einen Einblick in das Unsterbliche, das Göttliche und seinen Ursprung 2 . Auch mit den Jenseitsvorstellungen der griechischen Religion setzte sich Protagoras vermutlich in seiner Schrift mit dem Titel Π ε ρ ί των έν "Αιδου auseinander. Möglicherweise entwickelte der Autor des Derveni-Papyrus die Thesen dieses Werkes weiter, was eine Einflußnahme des Sophisten auf den berühmten „Atheisten" Diagoras von Melos näher bringt 3 . Protagoras verfolgte die Vorstellungen seiner Vorgänger in seiner Lehre konsequent weiter, wie die des Xenophanes, daß Götter nichts Menschliches haben, und schuf der zeitgenössischen Religionskritik eine theoretische Grundlage 4 . Der Forschungsansatz des Anaxagoras klingt an, wenn Protagoras feststellt, daß die Götter ά δ η λ ο ς - verborgen - bleiben. Protagoras kannte keine φ α ι ν ό μ ε ν α - Erscheinungen - der Götter. Sie standen außerhalb des menschlichen Horizontes. In seiner rationalen Weltsicht leugnete er zwar die Existenz der Götter nicht völlig - das hätte seinem theoretischen Ansatz widersprochen, aber Göttliches lasse sich nicht mit menschlichen Sinnen erfahren. Protagoras formuliert den „Göttersatz" als seine persönliche Stellungnahme, indem er in der ersten Person Singular spricht. Die hierin zutage tretende Haltung des Protagoras zu den Göttern steht in einem eklatanten Gegensatz zu den in der Form eines Mythos vorgetragenen Äußerungen des „platonischen" Protagoras, der die Existenz von Göttern voraussetzt 5 . Unter Berücksichtigung des gewählten Genres ist es jedoch kaum verwunderlich, daß auch Götter genannt sind. Für die Frage nach der Authentizität des platonischen Textes ist damit nichts gewonnen 6 . Antike Autoren zählten Protagoras zu den Atheisten, womit sie zum Ausdruck brachten, daß er in keiner Beziehung zu den Göttern stehe 7 . Nach dem heutigen Sprachverständnis ist die Bezeichnung Agnostiker treffender 8 , wobei Protagoras nicht s p r e c h e n , m e h r j e d o c h f ü r D i a g o r a s v o n M e l o s . J a n k o , T h e P h y s i c s as H i e r o p h a n t , 9 2 f . ; vgl.
52.
A u c h w e n n die S t u d i e J a n k o s eine H y p o t h e s e bleibt, d o k u m e n t i e r t d e r T e x t d e s D e r v e n i P a p y r u s e i n e n r a t i o n a l e n U m g a n g mit m y t h i s c h e n S t o f f e n u n d e i n e d i s t a n z i e r t e H a l t u n g zur K u l t p r a x i s . 1
S o b e a b s i c h t i g t e d e r A u t o r d e s D e r v e n i P a p y r u s e i n e B e s c h r e i b u n g d e r N a t u r der M y s t e r i e n a u f d e r G r u n d l a g e der o r p h i s c h e n Schrift, w o b e i er in seiner a l l e g o r i s c h e n I n t e r p r e t a t i o n d i e L e h r e d e s A n a x a g o r a s z u g r u n d e legte. V g l . d a z u J a n k o , T h e P h y s i c i s t as H i e r o p h a n t , 70.
2 3
V g l . u.a. W . B u r k e r t , A n t i k e M y s t e r i e n . F u n k t i o n u n d G e h a l t , M ü n c h e n 1994 3 , 12. L e i d e r b l e i b t d i e A u t o r s c h a f t d e s P a p y r u s t e x t e s u n g e w i ß . V g l . J a n k o , T h e P h y s i c i s t as H i e r o p h a n t ,
68. 4
Vgl.
Classen,
der
von
einem
begrenzten
Skeptizismus
des
Xenophanes
spricht.
Classen,
S c h ö p f e r g o t t o d e r W e l t e n o r d n e r , 15 ( w i e 58, A n m . 3). Vgl. a u c h K e r f e l d , S o p h i s t i c M o v e m e n t , 164. 5
Plat. Prot. 3 2 0 c - 3 2 2 d ; vgl. K a p . II 7.2 c.
6
Vgl. 43.
7
V g l . u.a. Lact, ira 9; E p i p h a n . D e F i d e 9 . 2 0 (III 5 0 6 H o l l ) ; A u g . C. litt. Pet. III 2 1 . 2 5 ( C S E L 5 2 ) ; Cyr. Al. C. Iul. 6 . 1 8 9 ( P G 76, col. 7 8 9 B ) . V g l . B u r k e r t , G r i e c h i s c h e R e l i g i o n , 4 1 1 . A t h e i s m u s h a t t e in d e r A n t i k e k e i n e s o a b s o l u t e B e d e u t u n g wie heute. D e r B e g r i f f b e z o g sich a u f d a s h e r r s c h e n d e , d a s v o r a u s g e s e t z t e G o t t e s b i l d . V g l . L o h r , R e l i g i o n s k r i t i k , 10 ( w i e 28, A n m . 3).
8
V g l . S c h i a p p a , P r o t a g o r a s and L o g o s , 1 4 3 - 1 4 8 ; T h r a m s , M o r a l l e h r e D e m o k r i t s u n d die E t h i k d e s
1. Relativismus und Asebie: Protagoras
63
nur die rationale, sondern auch die sensuelle Erkenntnis der Götter ablehnt. Sein Agnostizismus resultierte zwangsläufig aus seinem anthropozentrischen Weltbild. Stand sein „Göttersatz" zu Beginn einer seiner Studien, so ist anzunehmen, daß er im folgenden näher ausführte, warum ihm die Wahrnehmung des Göttlichen verborgen bleiben mußte. Neben den praktischen Beispielen zur Erklärung des Homo-Mensura-Satzes erläuterte er sicher auch die gemeinhin als „göttlich" interpretierten Erscheinungen und führte sie auf rationale Ursachen zurück. Denkbar wären Fragen nach dem Glück, dem Schicksal oder Tod des Menschen. Insgesamt laufen die Fäden der Argumentationsstränge in seiner Erkenntnistheorie zusammen. Unter der Voraussetzung des HomoMensura-Satzes kann die vorsichtige Formulierung seiner individuellen Haltung zu den Göttern eine allgemeinere Gültigkeit erlangen.
1.3 Zusammenfassung Protagoras konnte kaum die Tatsache, daß Kulte und Riten im alltäglichen Leben der Menschen und in der Polis allgegenwärtig waren, leugnen. Handelte der Sophist im politischen Bereich durchaus praxisorientiert, ist auch in dem untrennbar damit verknüpften religiösen Bereich ein der Norm entsprechendes Verhalten anzunehmen. Er weigerte sich sicher nicht, an den öffentlichen Kulthandlungen teilzunehmen. Aus seiner Sicht besaßen sie jedoch keinerlei Anspruch auf Verbindlichkeit, die für ihn nur aus der menschlichen Erkenntnis resultieren konnte. Seher und Vorzeichendeuter mußten somit zu Scharlatanen werden. Ebensowenig gab es seinen theoretischen Auffassungen zufolge noch einen Anlaß zu einer ehrfürchtigen Kultpflege. Dem Anfang aller Moral und zivilisierten Lebens 1 , als welche die Gottesfürchtigkeit von je her galt, war die Grundlage entzogen. Ausgeschlossen war die Offenbarung einer Existenz des Göttlichen, worauf die Botschaft der Mysterien von Eleusis beruhte. Hiermit schließt sich der Kreis der Historie und Lehre, Praxis und Theorie berücksichtigenden Analyse. Die Thesen des Sophisten mußten als Götterfrevel aufgefaßt werden. Eine gesteigerte Sensibilität der Bevölkerung gegen Intellektuelle, die in einer Zeit äußerster innenpolitischer Spannungen die traditionellen religiösen Vorstellungen kritisierten, ließ Protagoras zu einer Gefahr für das Wohl der Polis werden.
Protagoras, 71 (wie 37, Anm. 6). Vgl. auch Kahn, The Sisyphos Fragment, 253f. 1
Horn. Od. 6.121; Burkert, Griechische Religion, 373.
2. Mythos und Polis bei Gorgias 2.1
Zur Person
Gorgias, der Sohn des Charmantidas, stammte aus der sizilischen Polis Leontinoi'. Er lebte von ca. 490/485-381/376 und erreichte somit ein hohes Alter von über einhundert Jahren2. Seine Heimatstadt war als Apoikie der euböischen Stadt Chalkis 3 von ionischem Einfluß geprägt. Dort kam er mit rhetorischen, dialektischen und naturphilosophischen Studien in Berührung, durch seinen Bruder, den Arzt Herodikos, auch mit der Medizin 4 . Unter dem Einfluß Zenons schrieb er vermutlich seine Abhandlung über das Nichtsein und die Natur, während Empedokles ihn mit der Kunst der Rhetorik und vielleicht auch der Sicht der Pythagoreer vertraut machte 5 . Das erste „Lehrbuch der Rhetorik" verfaßte Korax von Syrakus und dessen Schüler Teisias 6 , welches sicher den Werdegang des Gorgias nachhaltig beeinflußte 7 . Die Macht des Wortes spielt bei allen Sophisten eine wichtige Rolle, doch für die Tätigkeit und Lehre des Gorgias ist sie zum Mittelpunkt geworden 8 . Seine Lehren über die Wirkung des λόγος trugen zur Entwicklung einer Theorie der Rhetorik bei, die zu seiner Zeit noch keine eigene Disziplin darstellte9.
1
Sud. s.v. Gorgias; Sopatros (Rhetores Graeci Bd. V 7, 10-12); Troilos, Prolegomena zur Rhetorik des Hermogenes (Prolegomena 60.4f.) [Test. 2]; Paus. 6.17.7 [Test. 7]. Die Fragmente und Testimonien werden nach der Ausgabe Buchheims zitiert.
2
Philostr. V. Soph. 1.9.Iff. [Test. 1.6]; Paus. 6.17.7 [Test. 7]; Diog. Laert. 8.58 zitiert Apoilod. FGrHist 244 F 33 [Test. 10]; Cie. Cato 5.13 [Test.2]; Plin. nat. 7.156 [Test. 13],
3
Diod. 12.53.Iff.; Anonymus (Prolegomena 27, 13-28.8) [Test. 4]; der anonyme Autor spricht fälschlicherweise von einer Apoikie Athens.
4 5
Plat. Gorg. 448b [Test. 2a]; Plat. Gorg. 456a-b [Test. 22], [Aristot.] De Melisso Xenophane Gorgia 5-6. 9 7 9 a l 2 - 9 8 0 b 2 1 = Gorg. Nichtseiendes [fr. 3]; Plat. Gorg. 448b [Test. 2a]; Diog. Laert. 8.58, 59 [Test. 3]; Diog. Laert. 8.58 zitiert Apoilod. FGrHist 244 F 33 [Test. 10]; Quint, inst. 3.1.8f. [Test. 14]. Gemeinsam war ihnen der dithyrambische Stil. Mit allen Vorbehalten zu einer Aufgliederung seiner „wissenschaftlichen" Entwicklung fuhrt Untersteiner aus, daß er sich bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts mit der Eristik und zu Beginn des Peloponnesischen Krieges mit der Rhetorik und der epideiktischen Rede vertraut machte. U n tersteiner, The Sophists, 93f. Zur Frage der Beziehung zwischen Empedokles und Gorgias, vgl. auch Th. Buchheim, Maler und Sprachbildner: Zur Verwandtschaft des Gorgias mit Empedokles,
6
Hermes 113, 1 9 8 5 , 4 1 7 - 4 2 9 . Korax soll nach 4 6 7 die Kunst der politischen Rhetorik erfunden haben. Vgl. z.B. Cie. Brut. 46f. Aristoteles setzt die Gerichtsrede an den Beginn der Rhetorik. Aristot. Rhet. 1.1354b. Schiappa bemerkt, eine Theorie der Rhetorik sei erst im 4. Jahrhundert entwickelt worden. E. Schiappa, Toward a Predisciplinary Analysis of Gorgias' Helen, in: Ch. L. Johnstone (Hrsg.), Theory, Text, Context: Issues in Greek Rhetoric and Oratory, N e w York 1996, 65-87. Vgl. Guthrie, Greek Philosophy, Vol. Ill, 178f.;
7
Sud. s.v. Gorgias; Sopatros (Rhetores Graeci Bd. V 7, 10-12) [Test. 2],
8
Guthrie, Greek Philosophy, Vol. Ill, 39; Lesky, Griechische Literatur, 397. Sud. s.v. Gorgias [Test. 2]; Diog. Laert. 8.58, 59; Sext. Emp. adv. math. 7.6; Schol. zu Iambi. V.
9
Pyth. 150, 10-12 (ed. Deubner) [Test. 3], Vgl. Schiappa, Gorgias' Helen, 86.
2. Mythos und Polis bei Gorgias
65
Politisch trat Gorgias im Jahre 427 1 in Aktion, als seine sizilische Heimatstadt Leontinoi Krieg gegen Syrakus führte. Der Expansionsdrang der Syrakusaner, Griechen dorischer Herkunft, hatte vermutlich bereits im Frühjahr 427 den Konflikt mit den ionischen chalkidischen Städten ausgelöst 2 . Im Sommer drohte Leontinoi und den verbündeten Städten die Niederlage, weshalb sie eine Gesandtschaft mit einem Hilfegesuch nach Athen schickten. Die Leitung übertrugen sie dem Sophisten Gorgias, der sich als geübter Rhetoriker dafür besonders gut eignete 3 . Auch Thukydides erwähnt, obgleich er Gorgias nicht namentlich nennt, diese Gesandtschaft aus Leontinoi, die um militärische Unterstützung gegen den zunehmenden Druck der Syrakusaner bat 4 . Dem Leontiner gelang es, mit Hilfe seiner Wortgewandtheit die Athener für das Hilfegesuch zu gewinnen 5 . Bei den Verhandlungen konnte sich Gorgias auf ein Bündnis berufen, welches 433/32 erneuert worden war 6 . Im Herbst 427 sandte Athen schließlich zwanzig Schiffe zu Hilfe, eine nicht sonderlich hohe Zahl 7 . Eine Ursache für die zaghafte Unterstützung bestand in der zunehmenden finanziellen Belastung Athens 8 . Im Jahr zuvor war Mytilene vom Seebund abgefallen, Plataia wurde belagert und noch im Sommer zerstört, schwere Unruhen belasteten Kerkyra, sodaß ein Abzweigen eines größeren Teils der attischen Flotte von den Krisenherden, insbesondere aus der Ägäis, in diesem Sommer ein zu großes Risiko bedeutet hätte 9 . Gorgias fuhr trotzdem mit einer Kompromißlösung, nämlich der unter den gegebenen Umständen positiven Nachricht der Zusicherung von zwanzig Schiffen, zurück in seine Heimat 10 . Das folgende Jahr ließ die Bedrohung für Leontinoi erwartungsgemäß wachsen, sodaß im Herbst 426 abermals Unterhändler in Athen eintrafen. Die Teilnehmer dieser
1
D i o d . 12.53.1 [Test. 4], zur Zeit des Archontats des Eukles.
2
D i e dorische Stadt Kamarina bildete eine A u s n a h m e , sie stand auf der Seite der leontinischen Verbündeten. Thuk. 3 . 8 6 . 2 , 8 8 - 1 0 0 . Vgl. B.G.H. Williams, The Political M i s s i o n o f Gorgias to A t h e n s in 4 2 7 B.C., C Q 25, 1931, 52ff.
3
Plat. Hipp. mai. 282b; Diod. 12.53.2; Dion. Hal. Lys. 3.4-5; A n o n y m u s ( P r o l e g o m e n a 27, 1 3 - 2 8 . 8 ) [Test. 4]. Laut Pausanias begleitete ihn der Rhetoriklehrer Teisias (Paus. 7 . 1 7 . 7 [Test. 7]), der j e d o c h als Syrakusaner die Seiten g e w e c h s e l t haben müßte. V g l . Schol. zu Isokr. adv. Soph. (or. 13) 19 (11); Quint, inst. 3.1.8f. [Test. 14],
4
Thuk. 3 . 8 6 ; vgl. 65, Anm. 1.
5
D i o d . 12.53.3 [Test. 4],
6
T.E. Wiek, Megara, Athens and the West in the Archidamian War: A Study in Thukydides, Historia 28, 1979, 6; A.J. Holladay, Athenian Strategy in the Archidamian War, Historia 27, 1978, 4 0 9 .
7
Thuk. 3 . 8 6 . 1 .
8
Thuk. 3.18; Holladay, Athenian Strategy, 4 0 8 .
9
Mytilene hatte sich im S o m m e r 4 2 8 v o m Seebund losgesagt und konnte im S o m m e r des f o l g e n d e n Jahres erobert werden: z.B. Thuk. 3 . 2 - 6 , 8 - 1 8 , 27, 28, 3 5 - 5 0 ; zu Plataia: z.B. Thuk. 3 . 5 2 - 6 8 ; Kerkyra: Thuk. 3 . 6 9 - 8 5 . Weitere Revolten, w i e b e i s p i e l s w e i s e die genannte auf Lesbos, stellten für Athen eine m ö g l i c h e Gefahrenquelle dar. Thukydides bemerkt, der eigentliche Auftrag der Flotte habe in der B l o c k a d e der Getreidezufuhr zur P e l o p o n n e s und im Auskundschaften Eroberungen auf Sizilien durch Athen bestanden. Thuk. 3 . 8 6 . 4 .
10
S o Williams, Political M i s s i o n o f Gorgias, 56.
möglicher
66
II. Sophisten als Systemkritiker
zweiten Gesandtschaft sind zwar nicht namentlich genannt, doch es ist davon auszugehen, daß Gorgias erneut dazugehörte. So reiste er vermutlich im Herbst 426 nach Athen, um bald mit der Zusage von vierzig weiteren Schiffen nach Leontinoi zurückzukehren 1 . Die in Richtung Sizilien ausgesandten Schiffe unter dem Kommando des Sophokles und Eurymedon sollten auf ihrem Weg zuerst Kerkyra anlaufen, um dort das proathenisch gesinnte Volk im Bürgerkrieg gegen die vom Festland aus angreifenden prokorinthischen Gruppierungen der kerkyrischen Oberschicht zu verteidigen 2 . Unterdessen stimmten die beiden Strategen dem Plan des Demosthenes zu, der zur Zeit kein offizielles Kommando führte, einen Überraschungsangriff auf die Peloponnes zu unternehmen. Das an der Westküste gelegene Pylos sollte als strategischer Stützpunkt gesichert werden 3 . Das Eintreffen spartanischer Truppen auf Kerkyra nötigte sie jedoch, von ihrem Plan abzulassen. Als ein Frühjahrssturm die Athener wider Erwarten an den ursprünglich anvisierten Ort verschlug, errichteten sie dort die Festung 4 . Die Athener hatten die Hilfsexpedition für Leontinoi zunächst nur zum Vorwand genommen, um einen wichtigen militärischen Stützpunkt auf der Peloponnes zu gewinnen, ohne daß zuvor etwas von den Plänen durchsickern konnte 5 . Schließlich erreichten die Schiffe am Ende des Sommers unter Eurymedon und Sophokles Sizilien. Sie zogen sich allerdings bald wieder zurück, weil der entscheidende Erfolg zur Ausdehnung der athenischen Machtbasis ausblieb, und sich die sizilischen Städte auf dem Friedenskongreß von Gela einigten 6 . Das Warten auf die attische Flotte hatte in Leontinoi gewiß zu Unzufriedenheit nach einer anfangs euphorischen Stimmung geführt. Syrakus hatte im Sommer 425 das Ausbleiben der attischen Verstärkung zu Angriffen genutzt, ohne jedoch einen durchgreifenden Erfolg zu erzielen 7 . Zu diesem Zeitpunkt wäre eine erneute Abreise des Gesandten Gorgias nach Athen denkbar. Der Überlieferung zufolge muß Gorgias sich einige Zeit in Athen aufgehalten haben, denn laut Philostrat trug er einen Epitaphios vor und trat sogar im Theater a u f . Eine 1
Thuk. 3.115.3-6.
2
Der Feldherr Pythodoros war zuvor, bereits im Herbst des Jahres 426, nach Sizilien aufgebrochen. Vgl. Thuk. 4.2.3, 4. Der Bürgerkrieg auf Kerkyra war im Winter 428/27 ausgebrochen, als eine Gruppe Kerkyrer aus der korinthischen Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Um freigelassen zu werden, hatten sie versprechen müssen, ihre Heimatstadt zu einem Bündnis mit Korinth zu bewegen. Thuk. 3.69-81. Vgl. Welwei, Athen, 173f.
3
Thuk. 4.3.1, 2. Vgl. J. Roisman, The General Demosthenes and his Use of Military Surprise, Stuttgart 1993, 33.
4
Thuk. 4.3.1, 2; 4.4. Die Festung Pylos bot eine gute Ausgangsposition, um von dort aus Sparta zu attackieren. Andererseits ließ sie sich gut gegen Angriffe von der See- und Landseite verteidigen. Es handelte sich um ein länger geplantes Unternehmen. Vgl. Roisman, Demosthenes, 33f.
5
R S. Strassler, The Opening of the Pylos Campaign, JHS CX, 1990, 110. Anders Roisman, der den Überraschungseffekt nicht als einen Teil der Strategie betrachtet. Roisman, Demosthenes, 33f. Vgl. auch Welwei, Athen, 177.
6
Thuk. 4.48.6; 4.65. Thuk. 4.24-26. Vgl. Kap. II 2.4. Philostr. V. Soph. 1.9.Iff. [Test. 1]; Philostr. V. Soph. 1 prooem. (202, 19-203,
7 8
2. Mythos und Polis bei Gorgias
67
Gefallenenrede bei einem Staatsbegräbnis zu halten, war einem Fremden kaum gestattet, so muß es sich um einen Vortrag in Form einer epideiktischen Rede gehandelt haben. Als Beleg seiner Anwesenheit in Athen vor 425 wird häufig eine Anspielung in den im Jahre 425 aufgeführten Achamern des Aristophanes angeführt: Denn er ist sich bewußt, der Dichter, daß euch er nur Gutes gesucht zu bereiten. So steuert' er doch dem Unfug, daß euch mit Reden die Fremden berückten, daß ihr ködern euch ließt mit schmeichelndem Wort, aufhorchend mit offenen Mäulern. Vormals, wenn euch die Gesandten der Städt' eine Nase zu drehen gedachten, da hießt ihr: „das veilchenbekränzte Volk", und wenn einer euch so betitelt, da jucktet, ihr über die Kränze entzückt, empor auf unruhigem Hintern! 1 .
Richten sich die Zeilen gegen den redegewandten Gesandten Gorgias, warum ist er dann nicht namentlich genannt, wie beispielsweise in den Vögeln2? Eine Erklärung liegt meiner Ansicht nach darin, daß die zitierte Textpassage aus den Acharnern das Verhalten der Athener anprangert und sich nicht gegen konkrete Personen wendet. Es handelte sich wohl eher um eine Anspielung auf die häufigen Verhandlungen der Seebundstädte um die Höhe des Phoros 3 . Der zuerst zaghaften Zusage von zwanzig Schiffen und auch dem zum Ende des Jahres 426 vergrößerten Aufgebot gingen sicher Diskussionen voraus. Denkbar sind warnende Stimmen vor einem gewagten Ausgreifen der attischen Flotte in den Westen und einem damit verbundenen gefährlichen Zersplittern der Kräfte 4 . Andererseits dienten die westlichen Allianzen zur Abschreckung und Sicherung der Seeherrschaft; es wird
13, ed. Kayser) [Test. la]. 1
Aristoph. Ach. 633-638:
φησίν δ' είναι πολλών αγαθών άξιος ύμίν ö ποιητής, π α ύ σ α ς υ μ ά ς ξενικοίσι λόγοις μή λ ί α ν έξαπατάσθαι, μήθ' ήδεσθαι θωπευομένους, μήτ' είναι χαυνοπολίτας. πρότερον δ' ύ μ ά ς άπό των πόλεων οι πρέσβεις έξαπατώντες πρώτον μεν ίοστεφάνους έ κ ά λ ο υ ν κάπειδή τούτο τις ειποι, εύθύς δια τούς στεφάνους έπ' άκρων τών πυγιδίων έκάθησθε. Vgl. Williams, Political Mission of Gorgias, 53-56; Buchheim, 202. 2
Aristoph. av. 1694-1705 [Test. 5a],
J
U m 425 dokumentieren attische Volksbeschlüsse eine Neuregelung und Rationalisierung der Beitragszahlungen. Die Höhe der Phoroi wurde vor den großen Panathenäen im Juli/August bekanntgegeben. Die Abgesandten der Bündner hatten daraufhin das Recht, Einspruch einzulegen. IG P71, IG F 34, IG I 3 1453. Zu den in der Datierung umstrittenen Dekreten, dem Kleinias-Dekret und
dem Münzdekret, vgl. H. Leppin, Die άρχοντες έν τ α ΐ ς πόλεσι des delisch-attischen Seebundes, Historia 41, 1992, 257-271; Welwei, Athen, 179-183, Anm. 169, 170, 186. 4
Vgl. z.B. die Diskussionen zur sizilischen Expedition 415: Thuk. 6.9-23.
II. Sophisten als Systemkritiker
68
deutlich, daß Athen zu jedem Zeitpunkt seinen eigenen militärischen Interessen folgte'. Auch im Herbst 426 handelte es sich nicht uneingeschränkt um Hilfsmaßnahmen oder etwa um ein gezieltes Ausgreifen durch einen Eroberungszug Athens nach Westen, sondern zunächst um ein bewußt initiiertes Ablenkungsmanöver zur Befestigung von Pylos2. Der Gesandte Gorgias hatte aus Sicht der Leontiner jedoch zumindest eine Zusage erhalten. Der Sophist hielt sich zwischen Frühsommer und Herbst 427 in Athen auf. Dort konnte er die Debatte um die Bestrafung der Mytilener verfolgen 3 . Die von Thukydides verfaßte Rede Kleons enthält möglicherweise eine Anspielung auf sein Wirken in der Stadt. Kleon kritisiert nämlich die Gewohnheit der Athener, auf „schöne Reden" zu hören, und wendet sich gegen das Wirken von Sophisten in der Stadt4. Gorgias nutzte möglicherweise seinen Aufenthalt im Jahre 427 und vielleicht nach 426, Vorträge zu halten und Unterricht zu erteilen. Diodor bemerkt ironisch, er habe alle an „Sophisterei" überragt, so daß er einhundert Minen von seinen Schülern erhob 5 . Neben Athen gehörte Thessalien, ein in der Zeit des Peloponnesischen Krieges neutraler Staat6, zu den Aufenthaltsorten des Sophisten. Gorgias agierte dort zu einer Zeit, als mit dem Herrschergeschlecht der Aleuaden die begütertsten Menschen Griechenlands in Thessalien wohnten 7 . Zu seinen Schülern aus der aleuadischen dynasteia von Larisa zählten Aristippos und Menon, die im Jahre 401/400 am Zug der Zehntausend teilnahmen 8 . Cicero zufolge hatte auch der junge Isokrates den senex Gorgias in diesem Land gehört, der laut Plutarch 9 auf seinem Grabstein seine Lehrer abbilden ließ, darunter auch Gorgias 10 . Im Jahre 427 war Gorgias ca. 61 Jahre alt und 1
Vgl. Holladay, Athenian Strategy, 411.
2
Dies legt Strassler in seinem Beitrag überzeugend dar. Strassler, Pylos Campaign (wie 66, Anm. 5).
3
Thuk. 3.37-50.
4
Vgl. Thuk. 3.38.4.
5
Plat. Hipp. mai. 282b [Test. 4]; Xen. an 2.6.16ff. [Test. 5]; Diod. 12.53.Iff.
6
Vgl. z.B. Thuk. 4.78. Viele Menschen in Thessalien standen auf der Seite Athens; wäre es aber ein von bürgerlicher Gleichheit bestimmter Staat gewesen, so Thukydides, hätte der spartanische Feldherr Brasidas niemals mit seinen Truppen Richtung Thrakien passieren dürfen.
7
Isokr. Antid. (or. 15) 155 [Test. 18]. Thessalien war bekannt für seinen Getreideanbau und die Viehwirtschaft und gehörte zu den bedeutenden Agrarstaaten Griechenlands. Es bildete sich schon im 6. Jahrhundert eine reiche Adelsschicht, die eine Hegemonie über Mittelgriechenland anstrebte. Aristokratische Familien wie die Aleuaden dominierten in den Städten und über weite Teile des Landes. Vgl. Stählin, Thessalien, Sp. 111-137; H.-J. Gehrke, Jenseits von Athen und Sparta. Das Dritte Griechenland und seine Staatenwelt, München, 1986, 98-100; S. Sprawski, Jason of Pherae. A Study on History of Thessaly in Years 431-370 BC, (Electrum. Studies in Ancient History, Vol 3), Krakau 1999.
8
Plat. Men. 70a-b [Test. 19]; Xen. an. 1.1.10; 1.2.6; 2.6.21-29. Vgl. dazu jetzt O. Lendle, Zwei Gorgiasschüler als STRATHGOI. Xenophon über Proxenos und Menon (Anabasis 2.6.16-29), in: Ch. Mueller-Goldinger (Hrsg.), Lenaika, Festschrift für Carl Werner Müller zum 65. Geburtstag am 28 Januar 1996, Stuttgart 1996, 151-164.
9 10
Plut. mor. 838d [Test. 17], Cie. or. 52.176 [Test. 32], Weitere Belege für das Schüler-Lehrer-Verhältnis: Sud. s.v. Gorgias; Sopatros (Rhetores Graeci Bd. V 7, 10-12) [Test. 2]; Cie. Cato 5.13 [Test. 12]; Quint, inst. 3.1.13
2. Mythos und Polis bei Gorgias
69
damit aus römischer Sicht ein senex. Er fand in ganz Griechenland, nach Philostrat zuerst in Thessalien, seine Bewunderer: Mit der älteren Sophistik machte den A n f a n g Gorgias von Leontinoi in Thessalien 1 .
Platon bemerkt nicht ganz ohne Ironie: (Sokrates) Menon, früher waren die Thessalier berühmt unter den Hellenen und bewundert wegen ihrer Reitkunst und ihres Reichtums, nun aber, wie mir scheint, auch der Weisheit wegen, und darin besonders die Mitbürger deines Freundes Aristippos in Larisa. Das verdankt ihr dem Gorgias; denn als er in die Stadt kam, gewann er zu Anhängern aufgrund seiner Weisheit die ersten der Aleuaden, zu denen auch dein Verehrer Aristippos gehört, und auch unter den anderen Thessaliern 2 .
Ob Gorgias schon vor seinem ersten Athenbesuch im Jahre 427 in Thessalien lehrte, bleibt ungewiß. Die Bemerkung Piatons, daß er in Larisa die Aleuaden für sich gewinnen konnte, belegt, daß er zumindest noch einige Zeit vor Kriegsende, oder genauer vor dem 3. September 404, dort gewesen sein muß, denn zu diesem Zeitpunkt besiegte Lykophron von Pherai die Aleuaden in Larisa 3 . Somit ist es durchaus denkbar, den Anfang seiner Lehrtätigkeit überhaupt in Thessalien zu setzen. Auch die Bemerkung des Pausanias, wonach Iason von Pherai Gorgias im Vergleich zu dem Redner Polykrates den Vorzug gegeben habe 4 , bedeutet nicht zwangsläufig, daß er sich zu dieser Zeit in Pherai aufhielt. Ein weiterer Aufenthalt in Pherai am Hofe des Tyrannen Iason ist aufgrund seines langen Lebens durchaus möglich 5 . Dafür spricht, daß sein Schüler Isokrates zu den Gastfreunden Iasons gehörte 6 . Laut Xenophon unterrichtete Gorgias den Böotier Proxenos, einen Gastfreund des Geschichtsschreibers 7 . Als Teilnehmer des Zuges der Zehntausend traf Xenophon seinen Freund im Jahre 401 in Sardes 8 . Kurz darauf, noch vor 400, fand Proxenos im Alter von ca. dreißig Jahren den Tod 9 . Gorgias muß ihn in Böotien vor 401, unmittelbar nach Kriegsende, oder sogar während des Peloponnesischen Krieges unterrichtet haben. Auch wenn Böotien zum Peloponnesischen Bund gehörte, stand es einem angesehenen Bürger Thebens in der Zeit des Dekeleischen Krieges sicher frei, einen Lehrer aus [Test. 16], 1
Philostr. V. Soph. 1 prooem. (202, 19-203, 13, ed. Kayser) [Test, la]. Die Übersetzung weicht von der Buchheims und Schleiermachers ab.
2
Plat. Men. 70 a-b [Test. 19],
3
Xen. Hell. 2.3.4. Die genaue Datierung ergibt sich aus der erwähnten Sonnenfinsternis. Zu den inneren K ä m p f e n in Thessalien vgl. H.-J. Gehrke, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr., M ü n c h e n 1985, 188-194.
4
Iason von Pherai fungierte zwischen 380 und 370 als Tyrann. Paus. 6.17.9 [Test. 7]. Polikrates war ein Redner und Politiker des 4. Jahrhunderts v.Chr. und ein Freund des Sokratesanklägers Meietos. Seine als Anklagerede fingierte Polemik gegen Sokrates lag noch Libanios vor. Lib. or. Att. II 221.
5
Die Skepsis Buchheims, der, offenbar aufgrund der Erwähnung Iasons von Pherai, nur einen Aufenthalt des Sophisten in hohem Alter für möglich hält, ist meiner Ansicht nach unbegründet. Buchheim, 201 zu Test. la.
6
Isokr. Epist. (6) 1; vgl. Sprawski, Jason of Pherae, 56.
7
Xen. an. 1.1.11; 2.6.16; 3.1.4.
8
Xen. an. 3.1.8. Xen. an. 2.6.20; 5.3.5.
9
70
II. Sophisten als Systemkritiker
Leontinoi in seinem Haus zu empfangen. Umgekehrt ist ein Aufenthalt des Proxenos in Athen, um den Sophisten zu hören, in dieser Zeit kaum denkbar. Neben seinem Verwandten Eumolpos1 unterrichtete Gorgias wohl einige bekannte Persönlichkeiten. Nach Philostrat handelte es sich beispielsweise um die Athener Kritias, Alkibiades, Thukydides und Perikles2. Die Zuverlässigkeit dieser, durch keine weitere Quelle bestätigten, Namen ist aufgrund der Erwähnung des Perikles, der aus rein chronologischen Gründen nicht sein Schüler gewesen sein kann, zumindest in Zweifel zu ziehen. Philostrats Hinweis, Aspasia habe die Sprache des Perikles nach Gorgias' Stil geprägt, läßt vermuten, daß er die Dialoge Piatons, insbesondere den Menexenos, gut kannte3. Er machte wohl aus den Sokratesschülern Kritias und Alkibiades4 keine Anhänger des Gorgias, um Sokrates zu entlasten. So sprach er mit hoher Achtung von dem Sophisten, der auch den Sokratiker Aischines beeinflußt habe 5 . Vielmehr konnten in diesem Zeitraum in Athen verschiedene Vorträge und Lehren, z.B. des Protagoras, des Gorgias und auch des Sokrates, gehört werden. So erscheint ein Schüler des Gorgias, Polos von Akragas6, auch im Gorgias-Dialog Piatons. Zu seinen Schülern zählten ferner Likymnos - vielleicht der Dichter aus Chios*7 - und Alkidamas von Elaia 8 , außerdem wohl der als Rhetoriklehrer bekannte Sophist Thrasymachos. Die von Thrasymachos angewandte Hiatvermeidung ging wahrscheinlich auf Gorgias zurück9. Vielleicht trafen sich Thrasymachos und Gorgias in Thessalienl°. Gorgias bereiste verschiedene Städte und Regionen Griechenlands, wobei seine Bewegungsfreiheit auch während des Peloponnesischen Krieges nicht auf die Anhänger Athens oder die neutralen Staaten beschränkt gewesen zu sein scheint. Zu den letzteren gehörte auch Argos, wo er wenig Gegenliebe fand und der Besuch seiner Veranstaltungen unter Strafe gestellt worden sein solU 1
Vgl. das Epigramm aus Olympia, Nr. 875a (534, ed. Kaibel) [Test. 8]; Zitat, 71. 2 Philostr. V. Soph. 1.9.3 [Testi]. 3 Plat. Menex. 235e-236d. In Piatons Menexenos wiederholt Sokrates eine Rede der Aspasia. Letztere habe schon Perikles unterrichtet. Die dort erzählte Geschichte Athens reicht bis in das Jahr 386, womit ein deutlicher Anachronismus vorliegt. Vgl. Tsitsiridis, Piatons Menexenos, 22f. 4 Vgl. z.B. Xen. mem. 1.2.24. 5 Philostr. ep. 73. [Test. 35]. 6 Sud. s.v. Gorgias; Sopatros (Rhetores Graeci Bd. V 7, 10-12) [Test. 2]; Dion. Hal. Lys. 3.4-5 [Test. 4]; Plat. Phaidr. 267c. 7 Dion. Hal. Lys. 3.4-5 [Test. 4]; vgl. Untersteiner, The Sophists, 94. 8 Sud. s.v. Gorgias; Sopatros (Rhetores Graeci Bd. V 7, 10-12) [Test. 2]. Alkidamas wird ebenfalls eine Rede zum Thema „Palamedes" zugeordnet, deren Echtheit umstritten ist. Vgl. Lesky, Griechische Literatur, 401. 9 Zum Hiat als Kollision (σύγκρουσις) von aus- und anlautenden Vokalen vgl. R. Kannicht, Griechische Metrik, in: Nesselrath, Griechische Philologie, 346. Eisenhut schreibt die Entwicklung Thrasymachos zu, der seiner Ansicht nach, aufgrund des genannten Aristophanes-Fragmentes schon vor Gorgias in Athen einen Namen als Rhetor erlangt habe. W. Eisenhut, Einführung in die antike Rhetorik und ihre Geschichte, Darmstadt 1994, 13-15. 10 Vgl. Kap. II 4.1. 11 Olymp. Komm. Plat. Gorg. 7.2 [Test. 22a].
2. Mythos und Polis bei Gorgias
71
Ein Auftritt im Purpurmantel und seine Vorträge in Delphi und Olympia deuten auf ein großes öffentliches Ansehen hin1. In beiden Orten errichtete er goldene Statuen seiner eigenen Person 2 . Davon zeugt u.a. das in Olympia gefundene Epigramm aus dem frühen 4. Jahrhundert, das ihm Eumolpos, der Sohn seines Neffen Hippokrates 3 , weihte: Gorgias von Leontinoi, Sohn des Charmantidas. Die Schwester des Gorgias hatte Deikrates zur Frau, diese gebar ihm Hippokrates. Hippokrates' Sohn aber, Eumolpos, hat dieses Bildnis als Weihegeschenk aufgestellt um zweierlei: der Erziehung und der Freundschaft wegen. Die Seele zu üben im Wettstreit der Tüchtigkeit, erfand kein Mensch j e eine schönere Kunst als Gorgias; er hat auch in den Tälern Apollons ein Bildnis gewidmet, nicht als Beweis seines Reichtums, sondern seiner frommen Gesinnung 4 .
Der Text betont die eusebeia des Sophisten und ist offenbar als eine Reaktion seines Verwandten und Schülers Eumolpos auf die Vorwürfe wegen seines Reichtums zu interpretieren. Texte der sogenannten zweiten Sophistik aus dem 2. Jahrhundert n.Chr. schreiben Gorgias einen strengen und disziplinierten Lebensstil zu 5 , wobei es sich um einen anachronistischen Rückschluß von ihren eigenen Maßstäben auf die des Gorgias handeln könnte. Eine Reihe von Autoren weisen auf den Reichtum des Sophisten hin, ohne konkrete Zahlen zu nennen. Obwohl er Diodor zufolge einhundert Minen als Honorar verlangte, hinterließ er nach seinem Tod lediglich eintausend Statere, nur zwanzig Minen 6 . Offenbar folgte er seinem im Palamedes formulierten Prinzip, Geld stets im Umlauf zu halten 7 . Isokrates berichtet, er habe am meisten von allen (Sophisten) verdient und sich nirgendwo so lange aufgehalten, daß er Steuer zahlen mußte 8 . Er verfugte somit nicht über den Status eines Metöken, sondern reiste als xenos bzw. als ein demiourgos durch die Lande, der seine Dienste als Lehrer anbot 9 . Die Schulung der Aleuaden gehörte sicher zu seinen lukrativsten Aufgaben.
1
Ael. var. hist. 12.32 [Test. 9]; Philostr. V. Soph. 1.9.Iff. [Test. 1]; Paus. 10.18.7 [Test. 7]; Epigramm aus Olympia, Nr. 875a (534, ed. Kaibel) [Test. 8]; Ael. var. hist. 12.32 [Test. 9],
2
Paus. 10.18.7; Plin. nat. 33.83 [Test. 7]; Isokr. Antidos. (or. 15) 156 [Test. 18]; Philostr. V. Soph. 1 prooem. [Test. 1 a]; Xen. an. 2.6.16ff. [Test. 5]; Epigramm aus Olympia, Nr. 875a (534, ed. Kaibel) [Test. 8],
3 4
Gorgias selbst blieb unverheiratet. Isokr. Antidos. (or. 15)155 [Test. 18]. Epigramm aus Olympia, Nr. 875a (534, ed. Kaibel) [Test. 8] (die Übersetzung weicht etwas von
Χαρμαντίδου Γοργίας Λεοντίνος. τήμ μεν άδελφήν Δήικράτης τήγ Γοργίου έσχεν, έκ ταύτης δ ' αύτω γίγνεται ' Ιπποκράτης. ' Ιπποκράτους δ ' Εύμολπος, ος εικόνα τήνδ' άνέθηκεν δισσών, παιδείας καί φιλίας ενεκα. Γοργίου άσκήσαι ψυχήν αρετής ές αγώνας ουδείς πω θνητών καλλίον' εύρε τέχνην ου και 'Απόλλωνος γυάλοις είκών άνάκειται ού πλούτου παράδειγμ', εύσεβείας δέ τρόπων. der Buchheims ab):
5
Ath. 12.548cd [Test. 11]; [Lukian], Macrobii 23 (Bd. I, 80, ed. MacLeod) [Test. 13],
6
Vgl. 68, Anm. 4; Isokr. Antidos. (or. 15) 155 [Test. 18],
7
Vgl. Gorg. Pal. [fr. l l a . 9 , 10],
8
Isokr. Antidos. (or. 15) 155, 156.
9
Das Mißtrauen gegenüber Fremden bezeugt u.a. Thukydides. Er erklärt, daß es unter allen Griechen allgemein als verdächtig galt, fremdes Land ungefragt zu durchqueren. Thuk. 4.78.2. So benötigte
72
II. Sophisten als Systemkritiker
Die Kritik Piatons an Gorgias' Reichtum und an der Besoldung der Sophisten insgesamt zeichnet sich auch in einer Quelle des 2. Jahrhunderts n.Chr. ab: Athenaios zufolge kannte Gorgias den gleichnamigen platonischen Dialog aus dem Jahre 390 und hatte sich über den Text sarkastisch geäußert: Man sagt, Gorgias habe, als er den ihm gleichnamigen Dialog las, zu Vertrauten von ihm gesagt: ,Wie schön kann Piaton Spottverse dichten' 1 .
Unter Berufung auf Hermippos, einen Autor des 2. Jahrhunderts v.Chr., schildert Athenaios eine Begegnung zwischen Gorgias und Piaton, die in einem verbalen Schlagabtausch gipfelt: ,Da kommt j a unser schöner und güldener Gorgias' 2 .
Gorgias kontert, indem er Piaton als einen „neuen Archilochos" Athens bezeichnet und damit als jemanden, der durch Spott, persönlichen Haß und seine scharfe Kritik an der alten Adelsethik bekannt geworden ist. A n d e r e aber behaupten, daß Gorgias, als er den platonischen Dialog vorlas, den Anwesenden erklärte, nichts davon gesagt oder gehört zu haben 3 .
Die hier zum Ausdruck gebrachte deutliche Distanz des historischen Gorgias zum gleichnamigen Dialog macht eine differenzierte Analyse der Fragmente seiner Schriften erforderlich. Zwei seiner Reden sind vollständig erhalten, ein Enkomion auf Helena und eine Verteidigung des Palamedes". Das Fragment der Grabrede ist keinem konkreten militärischen Ereignis zuzuordnen und somit ebenso schwierig zu datieren wie seine Olympische Rede, welche die panhellenische Idee propagierte 5 . Weitere Werke des Gorgias, die Pythische Rede, die Lobrede auf Elea, möglicherweise eine Lobrede auf Achilleus, die Kunst der Rhetorik und eine Schrift über das Nicht-Sein oder die Natur sind nur in kleinen Auszügen erhalten oder lediglich bei späteren Autoren erwähnt 6 .
der spartanische Feldherr Brasidas auf seinem Zug nach Thrakien für die Durchreise einen einheimischen Führer und die Zustimmung der Bewohner. Scholz nennt ein Beispiel des Mißtrauens, das man - im 4. Jahrhundert - Fremden besonders in Notzeiten entgegen brachte: Vor der Schlacht von Chaironeia wurden die Metöken durch einen Volksbeschluß daran gehindert, die Stadt zu verlassen. Hypereid. 3.29, 33. Zu der schwierigen rechtlichen Situation der Metöken in Athen vgl. jetzt P. Scholz, Der Philosoph und die Politik, 52-55. 1
2 3
Ath. 11.505de [Test. 15a]: λ έ γ ε τ α ι δέ ώς κ α ι ò Γοργίας αύτός άναγνούς τον όμώνυμον α ύ τ φ διάλογον προς τους συνήθεις έφη· >ώς κ α λ ώ ς οΐδε Πλάτων ίαμβίζεινήκει ήμΐν ò κ α λ ό ς τε κ α ι χρυσούς Γοργίας τ ά μ έ ν κ α τ ά των β α ρ β ά ρ ω ν τ ρ ό π α ι α ύ μ ν ο υ ς α π α ι τ ε ί , τ α δ έ κ α τ ά των 'Ελλήνων θρήνους< (Philostr. V. Soph. 1.9.5 = Gorg. epit. [fr. 5b]).
2
„Bezeichnenderweise scheint der Begriff erst in der Zeit des Peloponnesischen Krieges aufgekommen zu sein". M. Jehne, Koine Eirene, Stuttgart 1994, 12, Anm. 30. Die Mahnung zur Eintracht aller Griechen hat neben der innerstaatlichen auch eine zwischenstaatliche Bedeutung unter der „Flagge des Panhellenismus". Vgl. Jehne, Koine Eirene, 13, der als Beleg dazu die Inhaltsangabe zum Olympikos des Gorgias bei Philostrat anführt; vgl. Philostr. V. Soph. 1.9.4 [Test. 1.4]. Demokrit betont, daß es ein Ergebnis der Homonoia ist, daß die Städte große Taten vollenden können. Stob. 4.46 [DK 68 Β 255]; vgl. dazu Kerfeld, Sophistic Movement, 149. Anon. [Longinus], Περί ύ ψ ο υ ς 3.2. (4.3-5, ed. Russell) [fr. 5a], Der fälschlicherweise als Longinus oder Pseudo-Longinus bezeichnete Autor des 1. Jahrhunderts n.Chr. überliefert den Ausspruch des Gorgias: ,,Ξέρχης ó των Π ε ρ σ ώ ν Ζεύς". Η.-G. Kleinow, Die Überwindung der Polis im frühen 4. Jahrhundert v.Chr. Studien zum epitaphischen Tatenkatalog und zu den panhellenischen Reden bei Lysias, Piaton und Isokrates, (Diss.) Erlangen/Nürnberg 1981, 18. Der Redner Lysias distanziert sich in seiner Olympischen Rede von den Sophisten, die der Gemeinschaft nicht nützten und als solche nicht vor ihr in Olympia sprechen dürften. Lys. Ol. 3; Kleinow, Die Überwindung der Polis, 22. Vgl. Kleinow, Die Überwindung der Polis, 3, 7-10 zum Begriff des Panhellenischen.
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II. Sophisten als Systemkritiker
Diskussionen über die außenpolitische Situation Athens und die Beziehung zu Persien anspielen wollte. Weder Dionysios von Halikarnassos, noch Philostrat erwähnen, in welchem Krieg die beklagten Athener gefallen seien. Wohl aufgrund der sophistischen Beeinflussung des Thukydides tendiert die Forschung zu einer Datierung der Rede des Gorgias in die Zeit des Peloponnesischen Krieges 1 . Eine Mahnung zur Einheit der Griechen hätte jedoch auch nach dem Wiedereintritt der Perser in die innergriechischen Auseinandersetzungen im Jahre 412/411 auf der Seite Spartas 2 eher den Nerv eines spartanischen Publikums getroffen. Die Formulierung Philostrats - „weil er in den Athenern ein Publikum hatte, das auf Herrschaft aus war, welche zu erwerben unmöglich war, ohne zu drastischen Mitteln zu greifen" 3 - ist natürlich auch mit der Endphase des Peloponnesischen Krieges erklärbar. Meiner Ansicht nach sprechen jedoch mehr Argumente fur eine Datierung in die Anfangsphase des Korinthischen Krieges zwischen 395 und 392. Im Interesse Athens mußte eine baldige Revision der Bestimmungen von 404 liegen. Die Beteiligung an der Korinthischen Koalition im Krieg gegen Sparta führte die Polis aus der Isolation und brachte sie einer Einflußnahme in der Ägäis wieder einen Schritt näher 4 . Die von Philostrat erwähnten „drastischen Mittel" sind möglicherweise die Kontakte Athens und der Verbündeten zu den Persern. Im Jahre 398/97 drängten einige Stimmen in Athen erfolgreich auf eine Annäherung an Persien, um die Stadt von dem unerträglichen Druck Spartas zu lösen, der sogar bei den peloponnesischen Bündnern Korinth und Theben auf Ablehnung gestoßen war. Die attische Gesandtschaft wurde jedoch auf ihrem Weg zum persischen Großkönig abgefangen und in Sparta hingerichtet. Obwohl der Athener Demainetos mit der Genehmigung des Rates den auf der persischen Seite kämpfenden attischen Feldherrn Konon mit einer Triere unterstützte, vermied Athen zunächst den offenen Konflikt mit Sparta 5 . Nach der Entsendung des Demainetos um 396/95 zu Konon lehnte der Rat sogar jede Verantwortung für das Unternehmen ab 6 .
'
Vgl. Kleinow, Die Überwindung der Polis, 189; Vgl. Buchheim, 190. Romilly datiert den Epitaphios ohne nähere Begründung in die zweite Hälfte des korinthischen Krieges, in eine Zeit, in der die Athener dabei waren, ihre Autorität wieder zu erlangen. Romilly, Sophists, 23 If.
2
Thuk. 8.18, 36f„ 58.2; StV II2 200.
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Philostr. V. Soph. 1.9.5 [Test. 1]; zitiert 1 lOf.
4
Xen. Hell. 3.5.2; Hell. Oxyrh. 7 (2) 2; Ch. D. Hamilton, Isocrates, IG IF 43, Greek Propaganda and Imperialism, Traditio 36, 1980, 87; R. Urban, Der Königsfrieden von 387/86 v.Chr. Vorgeschichte, Zustandekommen, Ergebnis und politische Umsetzung, Stuttgart 1991, 25-29; G.A. Lehmann, Spartas Arche und die Vorphase des Korinthischen Krieges, ZPE 28, 1978, 109-128; ZPE 30, 1978, 73-93; Ph. Harding, Athenian Foreign Policy in the Fourth Century, Klio 77, 1995, 107.
5
Xen. Hell. 4.8.12; Hell. Oxyrh. 6 (1) 1-3; 7 (2) 1, 2; Isaios 11.8 - FGrHist 324 F 18-328, F 147; Plut. Artax. 21.1; Ages. 23.1; Paus. 1.3.2; 3.9.2; Diod. 14.39; vgl. P. Funke, Homónoia und Arché. Athen und die griechische Staatenwelt vom Ende des Peloponnesischen Krieges bis zum Königsfrieden (404/3-387/6 v.Chr.), Wiesbaden 1980, 65; Urban, Königsfrieden, 33; Hamilton, Greek Propaganda and Imperialism, 87.
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Der Hellenika des Oxyrhynchos-Papyrus zufolge lassen sich drei Gruppierungen in Athen ausmachen: Die „Reichen", die einen Krieg aus Angst vor den Verlusten in jedem Fall ablehnten; die „Armen", angeführt von Kephalos und Epikrates, die im Kriegsfall auf Beute hofften, und die gemäßigten Demokraten um Thrasybulos, Aisimos und Anytos, die sich für einen vorsichtigen
2. Mythos und Polis bei Gorgias
113
Vor dem Hintergrund der innenpolitischen Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Einschätzungen der Chancen und Risiken eines Konfrontationskurses gegen Sparta wird die Aussage des Gorgias zu einer deutlichen politischen Stellungnahme. Gorgias formulierte somit seine Kritik an der Politik eines offenen Bruchs mit Sparta und der Annäherung an die Perser in Form einer epideiktischen Rede, eines Epitaphios, möglicherweise zum Gedenken der ersten Kriegstoten. In jedem Fall hätte er sich die Gruppe der Befürworter der Korinthischen Allianz zum Feind gemacht. Vielleicht reagierte deshalb Argos, neben Korinth, Theben und Athen ein Mitglied der Allianz, mit dem Verbot, seine Veranstaltungen zu besuchen 1 . Der in der Anfangsphase des Korinthischen Krieges (395-392) verfaßte „echte" Epitaphios des Lysias begründet im Dienste einer „propagandistischen" Selbstdarstellung Athens den attischen Hegemonialanspruch, der dem Wohlergehen ganz Griechenlands diene. Dabei erwähnt er weder die umfangreichen Subsidien seitens der Perser 2 , noch fordert er zu einer Einigung mit Sparta a u f . Die Vorteile einer solchen Übereinkunft mit Sparta erläutert Andokides, der an den Friedensverhandlungen in Sparta 392 teilgenommen hatte, in seiner Rede Über den Frieden mit Sparta. Sparta akzeptiere den athenischen Anspruch auf die Klerucheninseln Lemnos, Imbros und Skyros, doch die Rückforderung der thrakischen Chersones und weiterer Besitzungen in der Ägäis würden am Widerstand der jetzigen Verbündeten und des Großkönigs scheitern. Daher gebe es keinen Grund, die auf der Autonomie aller Griechen basierende κοη>ή ειρήνη abzulehnen 4 . Zu einer Einheit aller Griechen, jetzt dezidiert gegen den Perserkönig, fordert Lysias in seiner um 388 verfaßten Olympischen Rede a u f . Schon 389 ist eine eigenständige und antipersische Politik Athens deutlich greifbar; es werden Allianzen mit verschiedenen Staaten geknüpft und Revolten in Persien unterstützt 6 . Die Debatte über die athenisch-persischen Beziehungen setzte sich auch nach dem Königsfrieden 387/6 fort, wie etwa der platonische Menexenos und der Panegyrikos des Isokrates dokumentieren 7 .
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Bruch mit Sparta einsetzen. Die sogenannte Demainetos-Äffäre läßt die inneren Konflikte offen zum Ausbruch kommen. Hell. Oxyrh. 6 (1) 1-3; 7 (2) 2. Vgl. Dazu Urban, Königsfrieden, 35; Funke, Homónoia und Arche, 63f. Olymp. Komm, zu Plat. Gorg. 7.2 [Test. 22a]; vgl. Welwei, Athen, 267. Der persische Satrap Pharnabazos sicherte im Jahre 393 dem Synhedrion des Korinthischen Bundes Zahlungen zu, die Athen zum Wiederaufbau der Mauern verhalfen. Konon erschien mit achtzig Trieren in Athen. Vgl. Xen. Hell. 4.8.7. Lys. 2.47, 66; vgl. Strasburger, Thukydides, 505; Hamilton, Greek Propaganda and Imperialism, 93f.; ausführlich zur Rede des Lysias: Frangeskou, Attic Funeral Orations, 317-327. And. de pace (or. 3) 12, 14, 23, 39. Zum Frieden für alle Griechen vgl. And. de pace (or. 3) 17; M. Jehne, Friedensverhandlungen von Sparta 392/1 v.Chr. und das Problem der kleinasiatischen Griechen, Chiron 21, 1991, 275. Lys. 33; Hamilton, Greek Propaganda and Imperialism, 95. Xen. Hell. 4.8.25-27; Hamilton, Greek Propaganda and Imperialism, 89; Funke, Homónoia und Arché, 150-161; Jehne, Koine Eirene, 35. Anders Urban, der wenig überzeugend vermutet, daß den Athenern bei der Hilfeleistung für Euagroas von Zypern gegen die Perser die politischen Dimensionen einer solchen Militärhilfe nicht bewußt gewesen seien. Urban, Königsfrieden, 96f. Plat. Menex. 245b-e; Isokr. Paneg. (or. 4) 120. Für den Dialog Menexenos ist der Königsfrieden
114
II. Sophisten als Systemkritiker
Die „Persien-Thematik" in der Rede des Gorgias reiht sich folglich gut in die zeitgenössische Diskussion um die Frage nach der außenpolitischen Zukunft Athens vor dem Hintergrund der Hegemonie Spartas und der Korinthischen Allianz ein. Fassen wir die Aussagen des Philostrat zusammen, verfaßte Gorgias die Rede in Athen, in einer Zeit, in der die Stadt sich im Wiederaufbau ihres Selbstbewußtseins befand. Dabei war Gorgias sich offenbar der Brisanz einer Betonung des Homonoia-Gedankens angesichts der persischen Hilfe bewußt. Isokrates bemerkt, daß Redner gleich zu Beginn ihres Auftritts generell zum gemeinsamen Eintreten gegen die Barbaren mahnten, und beurteilt sie angesichts der nicht zu vereinbarenden Machtinteressen der Poleis als realitätsfern und naiv, es sei denn, so fuhrt er weiter aus, sie wollten lediglich eine Festrede halten und nichts damit bewirken 1 . Es stellt sich somit die Frage, ob Gorgias es lediglich als formales Problem betrachtete, der äußeren Form einer offiziellen Gefallenenrede, einer seit den Perserkriegen etablierten Einrichtung, gerecht werden zu müssen, und deshalb den Aspekt des Konfliktes zwischen Hellenen und Barbaren berücksichtigte 2 . Handelte es sich somit nur um eine Musterrede, oder galten seine Überlegungen der Darstellung gegenwärtiger Ereignisse, nämlich einer offenen Kritik an der gefährlichen Politik „Griechen gegen Griechen", wobei die Perser als der wahre Feind nicht erkannt seien? Trifft letzteres zu, ist die Rede wahrscheinlich in das erste Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts nach 398/97, vermutlich um 395 zu datieren. Neben der außenpolitischen Tendenz des Textes, die sich lediglich aus der sekundären Überlieferung durch Philostrat ergibt, erfordert der Text des Fragmentes selbst eine bisher vernachlässigte, eingehende Analyse: Häufig wird die Rede, wenn überhaupt beachtet, als Auszug eines Schulbeispiels interpretiert. Mit ihrer Hilfe wäre jeder Schüler des Gorgias dazu in der Lage gewesen, ohne größeren Aufwand einen Epitaphios vorzubereiten, ähnlich wie es Sokrates im Menexenos mit beißender Ironie demonstriert, wenn er eine angebliche Rede der Aspasia vorträgt 3 . Damit wäre der Epitaphios des Gorgias ausschließlich ein Formular, das bei gegebenem Anlaß mit zumindest als ein terminus ante quem festzuhalten. Tsitsiridis, Piatons Menexenos, 43. 1
Isokr. Paneg. (or. 4) 15-17. Bleckmann weist auf die aktuelle Diskussion der innenpolitischen H o m o n o i a nach 411 und 403 hin. B. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage. Die letzten Jahre des Peloponnesischen Krieges, Stuttgart/Leipzig 1998, 324-327. Gorgias verwendet den Begriff H o m o n o i a in einem außenpolitischen Kontext, was auch der Hinweis auf die Olympische R e d e zeigt.
2
Vgl. Diod. 11.33; Landmann, Das Lob Athens, 72f.; Kleinow, Die Überwindung der Polis, 1-3 mit näheren Angaben zur Forschungsliteratur. Zum Hellenen-Barbaren-Topos in den Epitaphioi vgl. J.E. Ziolkowski, National und Other Contrasts in the Athenian Funeral Orations, in: H.A. Khan (Hrsg.), The Birth of the European Identity; The Europe-Asia Contrast in Greek Thought 4 9 0 - 3 2 2 B.C., Nottingham Classical Literature Studies, Vol. 2, 1993, Nottingham 1994, 1-36.
3
Vgl. Plat. Menex. 335e-336d; R. Thurow, Der platonische Epitaphios. Untersuchungen zur Stellung des „ M e n e x e n o s " im platonischen Werk, (Diss.) Tübingen 1968, IX; H.D. Rankin, Sophists, Socratics and Cynics, 1983, 36; vgl. dazu zuletzt B. Wilke, De mortuis nihil nisi bene. Elaborierte Mündlichkeit in den attischen Grabreden, in: Gehrke/Möller, Vergangenheit und Lebenswelt, 1996, 237. Wilke erwähnt den Text mit einem Satz, ohne - sicherlich aufgrund ihrer Fragestellung - näher darauf einzugehen.
2. Mythos und Polis bei Gorgias
115
konkretem, auf die jeweilige Situation bezogenen Inhalt angefüllt werden konnte. Dreher beurteilt die Grabrede als eine nahezu inhaltsleere, sich in allgemeinen Formeln und Floskeln erschöpfende Darstellung, die lediglich die gängigen Rechts- und Moralvorstellungen aufgreife1. Entgegen dieser Auffassung ist nun zu zeigen, daß der in epideiktischer Form gefaßte Text durchaus eine eigene politische Aussage beinhaltet. Dazu sind zunächst weitere Epitaphioi vergleichend hinzuzuziehen. Die Typologie der bekannten Gefallenenreden dient der Beurteilung, inwieweit das Fragment des Gorgias von diesen anderen Reden abweicht und damit ein eigenständiger Charakter auszumachen ist. Wann zu den Begräbnisfeierlichkeiten die erste Grabrede gehalten wurde und diese, aus der besonderen Situation heraus entwickelte Typologie entstand, ist unbekannt2. Auch wenn die meisten Beispiele dieses Redetypus aus dem 4. Jahrhundert stammen, dürften, wie oben dargestellt, die charakteristischen Elemente eines Epitaphios auf einer älteren Tradition beruhen. So läßt Thukydides den Perikles in der Gefallenenrede sich bewußt von dieser Tradition distanzieren3: Die meisten, die bisher hier gesprochen haben, rühmen den, der zuerst den alten Bräuchen diese R e d e beifugte, weil es schicklich sei, am Grabe der Gefallenen sie zu sprechen 4 .
In der Darstellung des Thukydides trägt Perikles die Rede auf die im ersten Kriegsjahr gefallenen Athener im Jahre 430 vor. Es besteht kaum ein Zweifel daran, daß der Epitaphios nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges ausgestaltet wurde und sich im Kontext der Gesamtschrift an das Publikum der nachfolgenden Generation richtete5. Plutarch konnte unter Berufung auf Stesimbrotos berichten, er (Perikles) habe in der feierlichen Rede zu Ehren der auf Samos gefallenen Athener dem Gedanken Ausdruck gegeben, j e n e Männer seien unsterblich geworden wie die Götter 6 .
1
Dreher, Sophistik und Polisentwicklung, 58f.
2
Diese Frage wurde bereits in der Antike diskutiert. Vgl. dazu Landmann, Das Lob Athens, 73. In der klassischen Polis war die Ehrung der Gefallenen ein integraler Bestandteil des politischen Gemeinschaftsbewußtsein. K.-W. Welwei, Heroenkult und Gefallenenehrung im antiken Griechenland, in: Binder/Effe (Hrsg.), Tod und Jenseits im Altertum, Trier 1991, 50.
3
Vgl. H. Flashar, Der Epitaphios des Perikles. Seine Funktion im Geschichtswerk des Thukydides, Heidelberg 1969, 11 f.; Landmann, Das Lob Athens, 72; H. Strasburger, Thukydides und die politische Selbstdarstellung der Athener (Hermes 86, 1958, 17-40), jetzt in: H. Herter, Thukydides, Darmstadt 1986, 503f. Auch Gaiser weicht in seiner Interpretation deutlich von Flashar ab, indem er nicht eine Kritik des Thukydides an der attischen Realität um 431 v.Chr. als gegeben ansieht, sondern vielmehr von der Formulierung eines idealen Staatsbildes ausgeht. K. Gaiser, Das Staatsmodell des Thukydides, Heidelberg 1975. Ziolkowski bezeichnet die Rede des Perikles, trotz einiger Abweichungen im ersten Hauptteil, insgesamt als eine typische Grabrede. J.E. Ziolkowski, Thukydides and the Tradition of Funeral Speeches at Athen, N e w York 1981.
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Thuk. 2.35.1: Ol μέν [ουν] πολλοί χών ένθοίδε ήδη είρηκότων έπαινοΰσι τον προσθέντα τω νόμω τον λόγον τόνδε, ώς καλόν έπί τοις έκ των πολέμων θαπτομένοις άγορεύεσθαι αυτόν. Flashar, Der Epitaphios des Perikles, 11; Landmann, Das Lob Athens, 71; Bleckmann, Athens W e g in die Niederlage, 323f.
6
Plut. Per. 8.9: im τους έν Σάμω τεθνηκότας έγκωμιάζων έπί του βήματος αθανάτους έλεγε γεγονέναι καθάπερ τους θεούς- Stesimbrotos von Thasos hatte am Ende des 5.
116
II. Sophisten als Systemkritiker
Anschließend gibt er einen Auszug wörtlich wieder: Denn wir sehen die Götter nicht selbst, schließen aber aus den Ehren, die sie genießen, und aus den Wohltaten, die sie erweisen, auf ihre Unsterblichkeit. So ist es auch bei den Bürgern, die für das Vaterland ihr Leben gelassen haben'.
Aristoteles fuhrt als Beispiel der Beredsamkeit des Staatsmannes folgendes Zitat aus seiner Grabrede an: Perikles sagte, daß die im K a m p f gefallene Jugend so aus der Stadt weggenommen worden sei, wie wenn man den Frühling aus dem Jahre nähme 2 .
Möglicherweise trug Perikles diesen Epitaphios im Jahre 439 auf die Gefallenen des Samischen Krieges vor, welchen Thukydides dann sinngemäß in das erste Kriegsjahr 430 versetzte 3 . In der Antike kannte man nämlich nur eine Grabrede des Perikles. Dem damit ältesten Zeugnis folgen zeitlich das Fragment des Gorgias und die Rede des Lysias auf die Gefallenen des Korinthischen Krieges vor 392. Erhalten geblieben sind weitere Reden des 4. Jahrhunderts, die Piaton, Demosthenes und Hypereides verfaßten. Um 386 oder wenig später schrieb Piaton den Dialog Menexenos, in welchem Sokrates eine Gefallenenrede vorträgt, die er von Aspasia gehört haben will. Der offen zutage tretende Anachronismus verdeutlicht den fiktiven Charakter der Rede, die sich ironisch gegen die in den Kriegsjahren sicher präsente patriotische Rhetorik wandte 4 . Demosthenes sprach zu Ehren der in der Schlacht von Chaironeia Gestorbenen. Hypereides' Rede auf die Gefallenen im Lamischen Krieg gehört in das Jahr 322, als der Versuch der Griechen, sich gegen die Makedonen aufzulehnen, gescheitert war. Auch ein Auszug aus dem Panegyrikos des Isokrates aus dem Jahre 380 ist in dieser Reihe erwähnenswert. Diese späteren Beispiele orientieren sich an einem sicher schon vorthukydideischen Schema, welches ein Prooemium, einen Epainos - den Preis der Vorfahren, der Athener und der Gefallenen, der Polis und ihrer Bürger, die Mahn- und Trostrede an die Hinterbliebenen und einen Epilog aufweist 5 . Dabei wird in den Reden mal der eine, mal der andere Aspekt mehr hervorgehoben.
Jahrhunderts eine kritische Schrift über Themistokles, Kimon und Perikles verfaßt. '
2
Plut. Per. 8.9: ούδέ γαρ εκείνους αύτούς όρώμεν, ά λ λ α ταΐς τιμαΐς α ς έχουσι και τοις άγαθοίς ά παρέχουσιν αθανάτους είναι τεκμαιρόμεθα· ταύτ' οΰν ύπάρχειν και τοις ύπέρ της πατρίδος άποθανοΰσιν. Aristot. Rhet. 1411a: ώσπερ Περικλής έφη την νεότητα τήν άπολομένην έν τω πολεμώ ούτως ήφανίσθαι έκ της πόλεως ώσπερ εί τις το έαρ έκ του ένιαυτού εί έξέλοι.
3
Thukydides erklärt vorab in dem sogenannten Methodenkapitel, daß es schwierig sei, den genauen Wortlaut von Reden wiederzugeben. So werde er sie so referieren, wie ein j e d e r in der entsprechenden Situation hätte sprechen müssen. Thuk. 1.22.1, 2: „ ... nur wie meiner M e i n u n g nach ein j e d e r in seiner Lage etwa sprechen mußte, so stehen die Reden da, in möglichst engem Anschluß an den Gesamtsinn des in Wirklichkeit Gesagten."
4
Vgl. dazu u.a. E.F. Bloedow, Aspasia and the 'Mystery' of Menexenos, WS 9, 1975, 32-48; C.W. Müller, Piaton und der „Panegyrikos" des Isokrates. Überlegungen zum platonischen „Menexenos", Philologus 135, 1991, 140-156; Tsitsiridis, Piatons Menexenos, 22-25, 48f.
5
Wilke, De mortuis nihil nisi bene, 237; Tsitsiridis, Piatons Menexenos, 60f.; Frangeskou, Attic Funeral Orations, 319.
117
2. M y t h o s und P o l i s bei G o r g i a s
D a s G o r g i a s f r a g m e n t beginnt mit e i n e m traditionellen Bestandteil j e d e s P r o o e m i u m s , n ä m l i c h mit d e m H i n w e i s auf die Schwierigkeit, das rechte M a ß zu finden, um W ü n s c h e n und Erwartungen der Hörer gerecht zu werden. Isokrates erklärt in s e i n e m Panegyrikos, d e m er den Tatenkatalog e i n e s Epitaphios z u m L o b der P o l i s A t h e n einfügt: Denn nach meinen Beobachtungen wollen alle anderen Redner in ihren einleitenden Worten die Zuhörer gnädig stimmen, und sie bringen entschuldigende Worte vor für die Reden, die sie halten werden: Die einen sagen, die Vorbereitung ihrer Rede sei ganz spontan gewesen, andere machen geltend, es sei schwierig, der Bedeutung des Gegenstandes entsprechende Worte zu finden 1 . U m die richtigen Worte b e m ü h t e sich auch Perikles in der v o n T h u k y d i d e s überlieferten Grabrede: Es ist schwer, das rechte Maß der Rede zu treffen, ..A Ä h n l i c h e Formulierungen f i n d e n sich auch in den weiteren bekannten Grabreden des Lysias, Piaton, D e m o s t h e n e s oder Hypereides 3 . D e r Redner darf sich
nicht allein
a u f die G e f a l l e n e n
des b e t r e f f e n d e n
Jahres
beschränken, v i e l m e h r wird v o n ihm erwartet, daß er die früheren G e n e r a t i o n e n mit einbezieht 4 . D i e Vorfahren, zu denen auch die m y t h i s c h e n A h n e n g e r e c h n e t w e r d e n , d i e n e n d e n j u n g e n G e n e r a t i o n e n z u m Vorbild, w i e auch die Taten der g e r ü h m t e n G e f a l l e n e n 5 . D a s g e n e a l o g i s c h e D e n k e n der G r i e c h e n verknüpft die H e r o e n z e i t mit der
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Isokr. Paneg. (or. 4) 13. Thuk. 2.35.2: χ α λ ε π ό ν γ α ρ το μ ε τ ρ ί ω ς ε ι π ε ί ν .... Lys. 2.2; Plat. Menex. 237a; Demosth. 20.141; Hyp. Epit. 6.3.6; vgl. J.Th. Kakrides, Der thukydideische Epitaphios, München 1961, 5; Flashar, Der Epitaphios des Perikles, 13f. Lysias greift die Problematik nach seiner Schilderung der Taten der Vorfahren auf, um eine flüssige Überleitung von den Perserkriegen zur Zeit des Peloponnesischen Krieges zu erzielen. Lys. 2.54. Zu Lysias und Demosthenes vgl. Frangeskou, Attic Funeral Orations, S. 315-336. Thuk. 2.36.3; Plat. Menex. 237a-c; Hyp. 6.3.6. Landmann, Das Lob Athens, S. 76f. Wilke hat einen Tatenkatalog von fünf Episoden der athenischen Vergangenheit herausgearbeitet: „Die Abwehr der Amazonen; der Sieg über Eumolpos; die tatkräftige Hilfe für die verfolgten Herakliden; die Unterstützung der Argiver bei der Bestattung der,Sieben gegen Theben'; der Sieg in den Perserkriegen. Thukydides, Piaton und Hypereides klammern in einer bewußten Abgrenzung die mythische Zeit aus." Wilke, De mortuis nihil nisi bene, 24If. Lys. 2.61.8: κ α ι ν ο ί ς κ ι ν δ ύ ν ο ι ς ...; Plat. Menex. 246a-247c. Vgl. Frangeskou, Attic Funeral Orations, 323-325. Platon läßt in der Aufforderung an die nachfolgende Generation zum Nacheifern die Toten selbst zu Wort kommen. Ihre Botschaft lautet: „ ... versucht zuerst und zuletzt, überall und auf alle Weise, alle Mühe anzuwenden, damit ihr ja uns und die Früheren übertrefft an Ruhm" (Plat. Menex. 247a). Im Gorgias greift Piaton die Frage auf, was Athen und seinen großen Politikern gefehlt habe, und kommt zu dem Ergebnis, daß es ihnen nicht gelungen sei, das Volk besser zu machen (Plat. Gorg. 503b-d). Vgl. dazu Müller, der den platonischen Menexenos als eine Antwort auf den Panegyrikos des Isokrates verstanden wissen möchte. Müller, Piaton und der „Panegyrikos" des Isokrates, 140-156, bes. 154. Bloedow interpretiert den platonischen Dialog als ein Selbstporträt der Polis Athen des Jahres 386 und als einen Angriff auf die sophistische Rhetorik, als deren Vertreterin Aspasia auftrete. Bloedow, Aspasia and the ,Mystery' of Menexenos, 48 (wie 116, Anm. 3). Tsitsiridis interpretiert den Dialog Menexenos sehr überzeugend als eine ironische Kritik an den bekannten Epitaphioi. Tsitsiridis, Piatons Menexenos, 88-90.
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II. Sophisten als Systemkritiker
Gegenwart1. Namentlich werden die Toten allerdings nicht erwähnt, und auch sonst wird keine Person besonders hervorgehoben2. Zunächst will ich unsren Vorfahren gedenken; ... So sind sie preiswürdig, und noch mehr als sie unsre Väter 3 .
Thukydides faßt das Lob der Vorfahren insgesamt kurz und stellt dafür das zeitgenössische Athen in den Mittelpunkt. Die religiös begründete Opferbereitschaft des Kriegers findet jetzt in der Erhaltung der Autonomie der Polis einen neuen Sinn. „Was früher heilige Wahrheit war, wird Phrase", so Landmann4. Gorgias verzichtet gänzlich auf die Erwähnung der Vergangenheit, der Helden und Ahnen der mythischen Vorzeit5. Während die einleitenden Worte noch der üblichen Form entsprechen, fehlt der Hinweis auf die „Wurzeln" der Menschen, ihre religiöse, mythische Einbettung. Thukydides greift diese „Phrase" auf, um im Vergleich zu früheren Zeiten die gegenwärtige Generation auf dem höchsten Entwicklungsstand zu präsentieren. In diesem Sinne bemerkt Perikles resümierend, daß insgesamt unsre Stadt die Schule von Hellas sei, und im einzelnen, wie mich dünkt, derselbe Mensch bei uns wohl am vielseitigsten mit A n m u t und gewandt sich am ehesten in j e d e r Lage selbst genügen kann 6 .
„To σώμα αύταρκες" - die autarke Persönlichkeit - entwickelt sich nicht in einer „isolierten Selbstgenügsamkeit", sondern im Rahmen der Polis. Der einzelne definiert seine Identität als einen Teil der Polis7. Diese zeichnet ihn vor anderen Menschen aus. „Gut aber sind sie geworden wegen ihrer Abkunft vom Guten", heißt es ironisierend im Menexenos Piatons8. Das Lob orientiert sich an dem schematischen Aufbau eines Welwei, Heroenkult und Gefallenenehrung, 50. 2
Dies unterscheidet die griechische Grabrede deutlich von der römischen laudatio funebris. Die Grabrede des Hypereides aus dem späten 4. Jahrhundert bildet mit ihrem Lob auf den Feldherrn Leosthenes eine Ausnahme. Vgl. Landmann, Das Lob Athens, 73.
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Thuk.
2.36.1:Άρξομαι δέ άπό των προγόνων πρώτον ... και έκεΐνοί τε άξιοι επαίνου και έτι μάλλον οι πατέρες ήμών. Die Gefallenenrede des Perikles gibt mit dieser aufstei-
genden Linie, das Lebensgefühl der Sophisten wieder und vollzieht einen Bruch mit der Tradition. So Landmann, Das Lob Athens, 77. Möglicherweise kennt er den Mythos des Protagoras - wenn es sich nicht um eine rein platonische Erfindung handelte - und den Sisyphos des Kritias (?), die ebenfalls eine aufsteigende Entwicklung aufweisen. Im Pentekontätie-Exkurs präsentiert dagegen Thukydides Athen um 440, nach der Samoskrise, auf dem Höhepunkt der Macht. Thuk. 1.118. 4
Landmann, Das Lob Athens, 67.
5
Es läßt sich nicht sagen, ob er sich in einer ab- oder aufsteigenden Linie zu ihnen sah. Vgl. Landmann, Das Lob Athens, 77.
6
Thuk. 2.41.1:... πόλιν της Ελλάδος παίδευσιν είναι και καθ' εκαστον δοκείν άν μοι τον αύτόν άνδρα παρ' ήμών έπί πλεΐστ' άν είδη και μετά χαρίτων μάλιστ' άν εύτραπέλως τό σώμα αύταρκες παρέχεσθαι.
7
Vgl. Flashar, Der Epitaphios des Perikles, 25f.; Landmann, Das Lob Athens, 91. Perikles gibt sich als ein Vertreter der athenischen Demokratie als Lebensform aus. Vgl. auch Leppin, Thukydides, 89f. Raaflaub sieht in der Wahl des Begriffes die Formulierung einer „perikleischen Staatsideologie". Vgl. K. Raaflaub, Athens ,Ideologie der M a c h t ' und die Freiheit des Tyrannen, in: J.M. Balcer, Studien zum Attischen Seebund, Xenia 8, Konstanz 1984, 59-66.
8
Plat. Menex. 237a:
Αγαθοί δέ έγένοντο δια τό φΰναι έξ άγαθών.
Galten die Kriegsgefalle-
2. Mythos und Polis bei Gorgias
119
Enkomions, das nach dem Prooemium ein Lob nach Lebensaltern enthält. Piaton überträgt die Genealogie auf den Epitaphios. Dabei entsprechen die Altersstufen nicht den Lebensetappen der Gefallenen, sondern der Entwicklung des Volkes der Athener, der attischen Polis 1 . An dieser Stelle im Epitaphios folgt bei Gorgias kein Lob der gesamten Polis und der Verfassung 2 , sondern der Gefallenen selbst, wobei er ein eigenes Gesetz menschlichen Zusammenlebens formuliert, dessen Deutung ich noch zurückstellen möchte. Die abschließende Auflistung der Tugenden der Gefallenen, die ein spätantiker Hermogenes-Kommentar als anbiedernde Anhäufung charakterisiert 3 , entspricht jedoch wiederum den üblichen Bestandteilen eines Epitaphios, worauf dann die Trostrede an die Verwandten und der Epilog folgen müßte 4 . Die lange Liste der Tugenden, die den Gefallenen Unsterblichkeit garantiert, findet ebenfalls ihre Entsprechung bei Thukydides. Doch, wie bereits bemerkt, bestimmt der Gedanke an die Einheit der Polis die Rede des Perikles, dem auch der folgende ernüchternde Einschub keinen Abbruch tun kann, denn er ist dem Leitthema untergeordnet: Denn selbst wenn einige sonst minder taugten, darf man ihren im Krieg für die Heimat bewiesenen Mannesmut höher stellen 5 .
Das Leben aller Athener ist der Polisgemeinschaft gewidmet, wodurch sie Unsterblichkeit erlangen. Thukydides bricht hier mit der im Epitaphios sonst üblichen beweihräuchernden Selbstdarstellung Athens 6 . Dagegen hebt Lysias weniger die Verdienste der Polis Athen um ihrer selbst willen hervor, so etwa ihre besondere Verfassung oder ihren kulturellen Glanz, sondern die politische Rolle der Athener als Wohltäter von ganz Hellas 7 . Gorgias verfolgt schließlich weder eine Idealisierung der Polis und ihrer Besonderheiten, noch lobt er ihre Verdienste für Griechenland. Er bindet das Lob der Gefallenen an das seiner Ansicht nach göttlichste und allgemeinste Gesetz. Es entsteht nicht der Eindruck, daß eine Lücke im Text vorliegt, in welche die entsprechenden Passagen zu ergänzen sind, sondern meines Erachtens setzt der Redner an dieser Stelle bewußt der Identität der Polis etwas anderes, einen von ihm formulierten νόμος, entgegen. Diesem neuen νόμος, dem die gefallenen Athener nachkamen, entsprach es, dem individuellen
nen doch üblicherweise ungeachtet ihrer früheren Stellung als agathoi. Vgl. Welwei, Heroenkult und Gefallenenehrung, 50. 1
Darin folgen ihm auch Demosthenes und Hypereides. Tsitsiridis, Piatons Menexenos, 61 f.
2
Vgl. Thuk. 2.36.1, 3; 2.37.1; Lys. 2.3; Plat. Menex. 237a-c; 238a-c; Hyp. 6.3.6; 6.4; Isokr. Paneg. (or. 4) 39.
3
Zosim. aus Äthan. Alexandr. Proleg. zu Hermog. stat. (Prolegomena 180, 9-20) = Gorg. Epit [fr. 5a]. Wolf sieht darin eine Wiederaufrichtung des Vorbildes des ά ν ή ρ α γ α θ ό ς gemäß der π ά τ ρ ι ο ς π ο λ ι τ ε ί α ; eine Propagierung der traditionellen politischen ά ρ ε τ ή gegenüber dem „demokratischen Bürgerideal". E. Wolf, Griechisches Rechtsdenken II, 64.
4
Flashar, Der Epitaphios des Perikles, 1 lf. mit weiteren Angaben.
5
Thuk. 2.42.3: κ α ι γαρ τοις τ ά λ λ α χείροσι δίκαιον τήν ές τούς πολέμους ύπέρ της πατρίδος ά ν δ ρ α γ α θ ί α ν προτίθεσθαι·
6
Strasburger, Selbstdarstellung der Athener, 522. Lys. 2.55-57.
7
II. Sophisten als Systemkritiker
120
Rechtsstandpunkt das Angemessene vorzuziehen. Damit ist der von Piaton erhobene Vorwurf entkräftet, am Ende einer Ausbildung durch Gorgias stehe der grenzenlose, ohne Rücksichtnahme auf die Interessen anderer verfolgte Subjektivismus, den Kallikles befürworte'. Gorgias zufolge sollte die Geradheit der Rede - λόγων όρθότης gelten, und nicht das „genaue Gesetz" - νόμου ά κ ρ ι β ε ί α , womit die festgelegten Regeln und Gesetze gemeint sind, die eben die Grundlagen der Verfassung darstellten. Es werden nicht nur λόγος und νόμος kontrastiert, sondern es wird genauer differenziert. Um die Bedeutung dieser Antithese zu erläutern, sei zunächst die Formel von der „Geradheit der Rede" aufgegriffen. Der Begriff όρθότης erscheint in den Texten des 5. und 4. Jahrhunderts nur bei wenigen Autoren - natürlich unter dem Vorbehalt der Schwierigkeit einer terminologischen Untersuchung angesichts einer teilweise fragmentarischen Überlieferungssituation insbesondere bei den Sophisten. Aristophanes verwendet den Terminus όρθότης einmal in den Fröschen, im Sinne von „der Wahrheit entsprechend" 2 . In den Tetralogien Antiphons steht orthos logos für das überzeugende Argument 3 . Weder Herodot, Thukydides, Xenophon, noch andere zeitgenössische Autoren nutzen diese Formulierung. Auffallend sind vor diesem Hintergrund dagegen die zahlreichen Belege in den Dialogen Piatons, unter welchen der Kratylos und die Nomoi hervorzuheben sind 4 , wobei im Kratylos die όρθότης των ονομάτων das Leitthema darstellt. Hermokrates vertritt die These, daß die Dinge - π ρ ά γ μ α τ α - ihre Benennung ονόματα - durch Herkommen - νόμος - gefunden haben, wohingegen Kratylos sie als von Natur - φύσις - gegeben annimmt. Auch wenn der Dialog nicht explizit von der όρθότης των λόγων spricht, ist mit Sokrates festzuhalten, daß das „Benennen" einen Teil der Rede darstellt 5 . Den „richtigen Gebrauch der Wörter" zu lernen, bedeute die „ersten Weihen" der Sophistik zu erfahren 6 . Dies stand somit zu Beginn eines „sophistischen" Unterrichts. Piaton zufolge hat auch Protagoras die όρθότης (zu ergänzen ist: των ονομάτων 7 ) im Hinblick auf die grammatische Form des sprachlichen Ausdrucks untersucht und Kallias darin unterrichtet 1 . 1
Der G o r g i a s - D i a l o g Piatons steigert sich hin zu der Figur des Kallikles, der sich in seiner individualistischen Grundperspektive auf das Naturrecht beruft. Plat. Gorg. 4 9 1 e - 4 9 2 c .
2
Aristoph. ran. 1181.
3
P.Oxy. 1 3 6 4 [ D K 87 Β 4 4 col. IV], Vgl. dazu Kerfeld, Sophistic M o v e m e n t , 102; Kap. II 6.3, 2 1 0 f .
4
Plat. Krit. 4 6 b 2 ; Krat. 3 8 3 a 5 ; 3 8 3 a 7 ; 3 8 4 a 7 ; 3 8 4 b 6 ; 3 8 5 d 8 ; 3 9 1 a 3 ; 391a8; 3 9 1 c 3 ; 3 9 1 d 7 ; 3 9 1 d 8 ; 392b5; 393b4; 394e6; 3 9 7 b l ; 400d4; 4 0 0 e l ; 404c7; 4 I l a 2 ; 421c5; 422b8; 422c4; 426a4; 427d5; 4 2 8 b 4 ; 4 3 2 c 7 ; 4 3 3 b 2 ; 4 3 3 e 5 ; 4 3 5 c 2 ; 4 3 5 c 6 ; Polit. 2 9 3 d 2 ; 294a4; Phil. 37d6; 3 7 d 7 ; Charm. 1 7 2 a l ; Euthyd. 2 7 7 e 4 ; 2 8 2 a 4 ; Gorg. 5 0 6 d 7 ; Men. 97b9; Hipp. min. 3 6 8 d 4 ; Tim. 4 7 c 2 ; N o m . 6 2 7 d 3 ; 642a4; 6 5 5 d l ; 657a8; 657b3; 667b7; 6 6 7 c l ; 667c6; 668c7; 670b4; 700e2; 721a7; 734d7; 841b6; 8 5 3 b 6 ; 931 b 1.
5
6
Plat. Krat. 3 8 7 c 6 , 7: Ούκοΰν του λέγειν μόριον το όνομάζειν; όνομάζοντες γαρ που λέγουσι τους λόγους. Plat. Euthyd. 2 7 7 e 4 . Platon vergleicht die von Prodikos zur Grundlage apostrophierte Unterrichtung zur
ορθότητα των ονομάτων
in ausgesprochen ironischer Art und W e i s e mit Initiations-
ritualen. Eine ähnliche A n s p i e l u n g enthalten auch die Wolken
des Aristophanes (Aristoph. nub.
143). V g l . dazu Segal, Aristophanes, 167; Kap. III 2. 7
S o auch D K zu Protagoras. Vgl. D. Fehling, Protagoras und die ό ρ θ ο έ π ε ι α , R h M 108, 1965, jetzt
2. Mythos und Polis bei Gorgias
121
Gleich zu Beginn des Kratylos wird Prodikos als ein Spezialist dieses Fachgebietes bezeichnet. Er beschäftigte sich mit der griechischen Sprache, deren Grammatik und Synonymik 2 . Auf der Bildung von Synonymen basiert ein wichtiger Teil der Argumentation. Mehrere Begriffe können ein Ding, eine Handlung bezeichnen. Sokrates erklärt, daß die Namen - ονόματα - das Sein der Dinge, ihr Wesen - ο ύ σ ί α erfassen. Nicht der Mensch, sondern das Sein ist für die Namengebung entscheidend. In diesem Kontext wird der Homo-Mensura-Satz des Protagoras angesprochen 3 . Jedes „Ding", das gleiche gilt auch für die „Handlung" 4 , hat ein eigenes Wesen, welches dann „von Natur aus" den Namen bestimmt. Weder φύσις, noch νόμος allein erklären das Zustandekommen der Bezeichnungen; dies soll die folgende Graphik dokumentieren: όρθότης.·
Ist auch das Reden Handeln, so hat das Reden ein eigenes Sein/Wesen. Auch die δ ύ ν α μ ι ς der Worte unterliegt diesem Wesen 5 . Dieses zu erkennen, heißt die όρθότης der Rede zu erzielen. Dies liegt somit nicht im Ermessen, bzw. in der Macht des einzelnen. Im Epitaphios des Gorgias bezieht sich die όρθότης των λ ό γ ω ν nicht auf ein den Dingen innewohnendes Sein. Bereits in einer frühen Schrift hatte Gorgias das Sein, wie das Nichtsein, negiert 6 . Die „Geradheit" der Rede meint eine gelungene Rhetorik, die nicht einer individuellen Beliebigkeit entspricht, sondern einer auf die Situation bezogenen, richtigen Argumentation. Die Wahrheit bleibt dabei nur dem einzelnen zugänglich 7 . Somit kann nicht der Gehorsam gegenüber der α κ ρ ί β ε ι α των νόμων, der buchstabengetreuen Auslegung der Gesetze, zu den ersten Bürgertugenden gehören, wie es in der Grabrede des Perikles formuliert ist: Bei so viel Nachsicht von Mensch zu Mensch erlauben wir uns doch im Staat, schon aus Furcht, keine Rechtsverletzung, im Gehorsam gegen die jährlichen Beamten und gegen die in: Classen, Sophistik, 345-347. 1
Plat. Krat. 391c. Vgl. Gatzemeier, Sprachphilosophische Anfänge, 13.
2
Plat. Prot. 337a-c [DK 84 A 13],
3
Plat. Krat. 385e-386a5.
4
Plat. Krat. 3 8 7 a l , 2.
5
Plat. Krat. 394a, b; vgl. Gorg. Hei. [fr. 11]; dazu Kap. II 2.2.
6
[Aristot.] De Melisso Xenophane Gorgia 5-6. 979al2-980b21 = Gorg. Nichtseiendes [fr. 3]; vgl. dazu Plat. Krat 421b.
7
Es entspricht ebenso dem Sprachgebrauch des Aristophanes. Vgl. Aristoph. ran. 1181; Kap. III 4. Im Palamedes
erläutert Gorgias die Möglichkeit der Erkenntnis der Wahrheit. Vgl. Kap. II 2.3.
122
II. Sophisten als Systemkritiker
Gesetze, vornehmlich die, welche zu Nutz und Frommen der Verfolgten bestehen, und gegen die ungeschriebenen, die nach allgemeinen Urteil Schande bringen 1 .
Entscheidend bleibt aus Sicht des Gorgias die „richtige", an der Situation und an den Umständen orientierte Beweisführung des Individuums. Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch in den Fragmenten Demokrits, der Einsicht und Wissen einen höheren Wert beimißt, als Gesetzen und Zwängen 2 . Die όρθότης der Rede orientiert sich Gorgias zufolge an einem allgemeingültigen Gesetz, dem θειότατος κ α ι κοινότατος νόμος, dem „Gesetz der Entsprechung", der „Jeweiligkeit". Der Situation entsprechend zu reagieren, bedeutet im gegebenen Fall zu reden, zu schweigen oder zu handeln. Auch in diesem Kontext findet sich kein Platz für ein übergeordnetes „Wesen der Dinge". Der Mensch, das Individuum, wird ins Zentrum gerückt, denn letztlich liegt es bei ihm, diesem höchsten Gesetz gerecht zu werden. Gorgias weicht deutlich von der üblichen Form einer Grabrede ab, indem er die Ordnung der Polis durch das göttlichste und allgemeinste Gesetz aufhebt. Was bleibt ist das Individuum, das sich der jeweiligen Situation anpassen muß, um das Gebotene zu tun. Die enge adversative Fügung des Satzes in §2 (μεν - δε, μεν - δή) hat den Effekt, daß „sie besitzen vieles" sowohl „Menschliches" als auch „Göttliches" beinhaltet, wenn sie sich für das Angemessene - το παρόν έ π ι ε ι κ έ ς - entscheiden. Damit schließt sich der Kreis seiner Argumentation. Mit Verstand, mit Weitblick - γνώμη - ist das Handeln abzuwägen, um das Gesetz der „Jeweiligkeit" zu erfüllen: Laut Buchheim ist das Gesetz zum einen als eine ausgleichende Entsprechung „helfend gegenüber zu Unrecht Heimgesuchten" - zum anderen als eine einstimmige Entsprechung - „gewalttätig gegenüber Gewalttätigen" - oder als eine vermittelte Entsprechung - „ehrfürchtig zu Gott durch das Gerechte" - zu charakterisieren 3 . Eine inhaltliche Einflußnahme des Gorgias auf Thukydides, wie sie Romilly annimmt, ist in den entscheidenden Aussagen nicht festzustellen 4 . Im Gegenteil: Dem auf die Verfassung bezogenen, identitätsbildenden Polisgedanken, der sich in ähnlicher Form auch in den übrigen bekannten Grabreden des Lysias, Piaton, Demosthenes und Hypereides und auch im Panegyrikos des Isokrates findet, steht nach eingehender Analyse ein Überschreiten der Polisgrenzen in den Vorstellungen des Gorgias gegenüber. Die Polis, so schildern es die traditionellen Grabredner, kommt in ihrer sozialen Verpflichtung für das Begräbnis und die Unterstützung der Hinterbliebenen a u f ; πόλις
1
Thuk. 2.37.3: άνεπαχθώς δέ τα ίδια προσομιλοΰντες τα δημόσια δια δέος μάλιστα ού παρανομοΰμεν, των τε αίεί έν άρχη όντων άκροάσει και των νόμων, και μάλιστα αύτών όσοι τε έπ'ώφελία των αδικούμενων κείνται και όσοι άγραφοι όντες αίσχΰνην όμολογουμένην φέρουσιν.
2
Demokr. [DK 68 Β 181], Vgl. Segal, Gorgias, 103.
3
Buchheim, 191, Anm. 7.
4
Romilly nennt Thukydides den ersten Nachahmer des Gorgias und weist auf die Brillianz des Stils hin, der sich durch seinen Rhytmus, Parallelismen und den Effekt der Antithesen auszeichnet. Romilly, Sophists, 64f. Ein stilistischer Einfluß des Autors auf Thukydides ist durchaus denkbar.
5
Vgl. Thuk. 2.34, 46.
2. Mythos und Polis bei Gorgias
123
bezeichnet aber auch die Stadt, die verteidigt oder verlassen wird, um ganz Griechenland zu befreien'. Den Gedanken der Abwendung von der Polis versteht der Meister der Rhetorik auch sprachlich zu untermalen: δίκαιοι δέ προς τους αστούς τω ί σ φ - nicht die isonomia, welche z.B. im Epitaphios des Perikles als ein demokratischer Grundsatz angesprochen wird2, sondern die individuelle Vorstellung von Gerechtigkeit - daher die Verwendung des Adjektivs δίκαιος - sollte in der Anerkennung der Gleichheit der Mitbürger zum Ausdruck kommen. Das Individuum, welches er nicht als Bürger der Polis, als πολίτης, sondern lediglich als Stadtbewohner, άστός, bezeichnet, lebt in einer Gemeinschaft, deren Regeln Gorgias in seiner Rede aufzeigt 3 . Der θειότατος και κοινότατος νόμος kann nicht durch die Grenzen der Polis eingeschränkt werden4. Der Superlativ θειότατος και κοινότατος umschreibt einen noch weiter reichenden Wirkungskreis; dieses Gesetz erhebt Anspruch auf eine unbegrenzte und immerwährende Gültigkeit in der gesamten Menschheit, weshalb es auch das „göttlichste" ist. Das Fehlen des Begriffes „Polis" und verwandter Termini ist nicht durch mögliche Textlücken zu erklären, oder auf eine Komprimierung zu einer „Schablone" einer Gefallenenrede zurückzuführen. Es handelt sich meiner Ansicht nach vielmehr um die bewußte Vermeidung eines politischen Terminus, der, nicht allein auf Athen begrenzt, das zeitgenössische Staatswesen bezeichnete und den hellenischen Staatsgedanken geprägt hat. Die verschiedenen Überlieferungsspuren des Epitaphios in den Werken des Hermogenes und den Kommentaren zu den Schriften5 führen die Textfragmente als
1 2 3
4
5
Lys. 2.33; Plat. Menex. 240e. Thuk. 2.37.1:... κατά μεν τους νόμους προς τα ίδια διάφορα πάσι τό ίσον,.... Lysias gedenkt derer, die als Fremde fur Athen kämpften und im öffentlichen Grab lagen. Sie hatten sich ihres Vaterlandes würdig erwiesen. Die Polis habe beschlossen, ihnen die gleichen Ehren zukommen zu lassen, wie den Städtern, den άστοίς (Lys. 2.66). Der Kontext verdeutlicht, daß hier άστός im Sinne von „Kernathener", im Gegensatz zu den gebürtig nicht aus Athen stammenden Fremden verwandt wird. Ebenfalls zur begrifflichen Abgrenzung von den ξένοι gebraucht Thukydides den Terminus άστός. Er spricht zwar von der πόλις, der πολιτεία und von πολιτεύειν, doch erscheint an keiner Stelle das Substantiv πολίτης, nicht einmal in seinem „Lob auf die Verfassung" in §37. Es ist lediglich von den άνδρες άριστοι die Rede, die die Staatsgeschäfte ausübten - πολιτεύειν (Thuk. 2.46). Diese Ausübung ist laut Aristoteles das Merkmal eines π ο λ ί τ η ς schlechthin, nämlich die Teilnahme an den Gerichtsverhandlungen und der Regierung (Aristot. Polit. 1275a). Weitere Belege zur Bedeutung π ο λ ί τ η ς als Staatsbürger bei S. Laufer, Πολίτης, in: E.Ch. Welskopf, Soziale Typenbegriffe im alten Griechenland und ihr Fortleben in den Sprachen der Welt, Bd. III, Berlin 1981, 376-384. Der Terminus άστυ bezeichnet bei Thukydides und bei Aristoteles die innere Stadt, die städtische Siedlung Athens ohne Piräus. Vgl. Thuk. 2.17; Aristot. Ath. Pol. 38.4; 40.3; P. M u s i o l e k / Α σ τ υ als Bezeichnung der Stadt, in: Welskopf, Soziale Typenbegriffe, Bd. III, 368-375. Der Begriff κ ο ι ν ό ς bezeichnet bei Piaton einen über die Polis hinausgehenden Rahmen, nämlich Hellas. Plat. Menex. 242d; vgl. Kleinow, Die Überwindung der Polis, 122 mit weiteren Belegen. Zosim. aus Äthan. Alexandr. Proleg. zu Hermog. stat. (Proleg. Syll. 180, 9-20, ed. Rabe); [Longinus] Περί ύψους 3.2 (4.3-5 ed. Russell); Hermog. De id. 1 (Prolegomena 248.26-249.7) = Gorg. Epit [fr. 5a]; Philostr. V. Soph. 1.9.5; Isokr. Paneg. (or. 4) 158 = Gorg. Epit [fr. 5b],
124
II. Sophisten als Systemkritiker
Beispiele der überzogenen und lächerlichen Dramatik der gorgianischen Sprache an. So habe er „Geier als beseelte Gräber" 1 bezeichnet und, wie bereits angeführt, „Xerxes als Zeus der Perser" 2 . Der bewußte Einsatz sprachlicher Mittel diente Gorgias nicht nur zur Vermittlung des Inhalts, sondern er beabsichtigte, seiner eigenen Sprachtheorie zufolge 3 , auch immer eine emotionale Reaktion des Publikums. In „ehrfürchtigem Erschauern" vor dem „göttlichsten und allgemeinsten Gesetz" und auch vor dem bildhaften und klangvollen Stil sollte das Publikum die Rede wahrnehmen. Laut Dionysios von Halikarnassos propagierte Gorgias gezielt die Übertragung des poetischen Ausdrucks auf die politische Rede, um den Unterschied zwischen geschulten Rednern und Laien zu wahren 4 . Möglicherweise spielten auch Überlegungen zur psychagogischen Wirkung seines logos eine Rolle, wenn Gorgias in einer der Poesie verhafteten Sprache die Formulierung „δίκαιοι δέ προς τούς α σ τ ο ύ ς ... ευσεβείς δέ προς τούς φίλους", der Wendung „δίκαιοι δέ προς τούς π ο λ ί τ α ς ... ε υ σ ε β ε ί ς δέ προς τούς φίλους" vorzog. Doch insbesondere vor dem Hintergrund der vorgestellten Typologie der Epitaphioi und der ausführlichen Analyse der Textaussage der Grabrede des Gorgias ist die Dimension seiner politischen Bedeutung hier nicht von Polis und Politen zu sprechen, evident. Ebenso fehlte der Patris-Gedanke, der bei Lysias und Piaton den Geburtsort der Väter bezeichnet und das damit verbundene Lob der autochthonen Abstammung 5 . Was die Gefallenen laut Lysias auszeichnet, ist, daß sie sich ihre Vorfahren zum Vorbild genommen und deren άρετή selbst unter Beweis gestellt haben 6 . Die Gesetze befolgend kämpften die Athener für die Freiheit aller und starben ehrenvoll 7 . Ihre untadeligen Motive dienten der Gerechtigkeit und dem Wohle von Hellas, weshalb ganz Griechenland an ihrem Grab klagen müßte8. Der zentrale Gedanke einer jeden Grabrede, nämlich die mit der Ehrung der Gefallenen verbundenen Sinngebung ihres Todes, die den Hinterbliebenen Trost spendet, fehlt im gorgianischen Epitaphios. Für den Sophisten ist weder die Eingliederung des einzelnen auf einer vertikalen Zeitleiste in die Reihe der ruhmreichen Ahnen und Vorfahren von Bedeutung, noch auf der horizontalen Betrachtungsebene die Einbettung in die Polisgemeinschaft. Dem stellt Gorgias seine Idealvorstellung entgegen: Wer sein Verhalten an dem von ihm formulierten nomos orientiert, einmal gegenüber den Menschen insgesamt, oder in seinem konkreten Umfeld, der Gemeinschaft, erreicht ewigen Nachruhm. Τοιγαρούν -
Dieses Zitat enthalten alle unter fr. 5a aufgenommen Textauszüge. 2 3 4 5
6 7 8
[Longinus] Περί ύψους 3.2 (4.3-5 ed. Russell) = Gorg. Epit [fr. 5a], Vgl. dazu Gorg. Hei. [fr. 11]; Kap. II 2.2. Syrian. Komm, zu Hermog. Bd. 1 (Prolegomena 11, 20-23) [Test. 29], Lys. 2.6.8; 2.9.6; 2.18.1; 2.33.2, 5; 2.55.4; 2.65.4; 2.70.2, 5; Plat. Menex. 237bf.; vgl. auch Wilke, De mortuis nihil nisi bene, 238f. Ermals erscheint der π α τ ρ ί ς - B e g r i f f vom Polisrahmen gelöst in einem Fragment einer Tragödie des Euripides (Stob. 3.40.2 = Eur. fr. 777); danach bezieht sich der Terminus erst wieder im Panegyrikos des Isokrates auf ganz Griechenland. Vgl. Isokr. Paneg. (or. 4) 81 ; Kleinow, Die Überwindung der Polis im frühen 4. Jahrhundert v.Chr., 102. Lys. 2.61.7, 8. Lys. 2.21, 27; Plat. Menex. 240d-e, 242a; vgl. auch Demosth. 601 Of. Lys. 2.60.
2. Mythos und Polis bei Gorgias
125
daher also - bleibt die Erinnerung wach. Das Verhalten jedes einzelnen in einer jeweiligen Situation und nicht das Vorbild der Vorfahren, die Traditionen und festgesetzten Nomoi der Polis sind entscheidend. Polis, Patris oder Hellas finden keinen Raum in dieser Argumentation. Selbst unter der Berücksichtigung des fragmentarischen Charakters des Textes müßte jedoch bei der Aufstellung der Siegeszeichen das Verdienst für die Gemeinschaft erwähnt sein 1 . Der Epitaphios des Gorgias kann nicht als ein Stilbeispiel für dieses Genre bezeichnet werden. Ebensowenig ist der Text als ein Vortrag zu einem konkreten Anlaß denkbar. Wer hätte schon den höchsten Regeln des Gorgias, einem sophistischen Ideal 2 , entsprochen? Vielmehr scheint in §2 und §3 die Basis eines „sophistischen" Staates entwickelt zu sein, einer nach der Ansicht des Gorgias idealen Form menschlichen Zusammenlebens in einem Staat, in dem keine eigensinnigen Vorstellungen von Gerechtigkeit, keine streng formulierten Gesetze gelten, die sich nicht auf den Einzelfall anwenden lassen. Statt dessen hat in Gorgias' Idealstaat nur das „Angemessene" - το παρόν έ π ι ε ι κ έ ς Bestand 3 . Das Prinzip des Angemessenen könnte die bestehenden Barrieren zwischen Staat und Gesellschaft überwinden, die sich u.a. in Spannungen zwischen aristokratisch geprägten Vorstellungen und dem staatlichen Gleichheitsanspruch zeigen 4 . Gorgias hatte möglicherweise das Problem, das nur vor dem athenischen Hintergrund zu deuten ist, bei der Formulierung des Textes erkannt. Es handelt sich dabei um ein Phänomen sozialen Wandels, dessen Kennzeichen es ist, daß gesellschaftliche Werte und Strukturen sich nicht zwangsläufig kongruent zu den politischen Reformen entwickeln. Um die aus der Diskrepanz resultierenden Spannungen zu überwinden, besteht die Lösung, so Ehrenberg, in einer wechselseitigen Angleichung, die entweder zum Wandel der gesellschaftlichen Strukturen im Sinne der Verfassungsideale oder zur Änderung des politischen Systems führt 5 . In einem krassen Gegensatz und eben vor dem Hintergrund sophistischer Gedanken und Diskussionen über neue Formen des menschlichen Zusammenlebens ist die Haltung des Sokrates in Piatons Kriton zu verstehen. Sokrates bekennt sich in der wohl eindrucksvollsten Art und Weise, nämlich unter Einsatz seines Lebens, zur Polis und ihren Gesetzen. Im Dialog Kriton erläutert er seinem Gesprächspartner, weshalb er die 1 2
Plat. Menex. 240d, e. Vgl. Buchheim, 191: „Wenn es ein Ideal der Sophistik gibt, dann dieses: in der ,Jeweiligkeit' die höchste Gültigkeit zu erreichen."
3
Dieser rechtsphilosophische Gedanke vom Vorrang des Einzelfalls taucht hier erstmals im abendländischen Rechtsdenken auf, so Wolf, Griechisches Rechtsdenken II, 65. Es wendet sich auch gegen die Kodifizierung der Gesetze nach 410 und 403, die jedoch offensichtlich wenig zur Klärung von Rechtslagen beitrug, sondern eher Verwirrung stiftete. Vgl. Lys. 30.3; Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 48; Bleckmann, Athens W e g in die Niederlage, 423.
4
Bei Thukydides grenzt die Furcht vor den Beamten und den Gesetzen, geschriebene, ungeschriebene, die individuelle Freiheit ein. Vgl. Landmann, Das Lob Athens, 83-84.
5
Auch Aristoteles macht mit seiner kritischen Äußerung zu Piatons Staat auf dieses Phänomen aufmerksam. Aristot. Pol. 1261a5-10; Plat. Pol. 462b; vgl. dazu V. Ehrenberg, Der Staat der Griechen, Zürich/Stuttgart 1965 2 , 1 lOf.
wie
II. Sophisten als Systemkritiker
126
Chance der Flucht trotz aller gutgemeinter Bitten der Freunde nicht wahrnimmt. Er entwirft dazu einen fiktiven Dialog mit den Gesetzen, die sich ihm bei seiner Flucht in den Weg stellen würden: S a g e nur, Sokrates, was hast du im Sinne zu tun? Ist es nicht so, daß du durch diese Tat, w e l che du unternimmst, uns, den Gesetzen, und also d e m ganzen Staat den Untergang zu bereiten gedenkst, soviel an dir ist? 1
Sokrates wollte lieber sterben, als in die Verbannung zu gehen und damit die Stadt zu verlassen, in der er sein ganzes Leben verbracht hatte. Du aber tatest damals zwar gar schön, als wärest du gar nicht unwillig, w e n n du sterben müßtest, sondern wähltest, wie du sagtest, lieber als die V e r w e i s u n g den Tod 2 .
Dazu bewegte ihn weniger eine sentimentale Treue, sondern ein Bekenntnis zur bestehenden Ordnung, als deren Teil er sich selbst verstand. Jederzeit hätte er Athen verlassen können, wäre er mit den Gesetzen nicht einverstanden gewesen 3 . Zu fliehen, käme einer Lebenslüge gleich und bedeute das Verderben der Polis. Es wäre moralisch nicht zu vertreten 4 , denn es gelte, daß man nämlich nicht das Leben am höchsten achten muß, sondern das gut Leben 5 .
Sokrates verwirft den Hinweis des Kriton, daß er gegen die Konvention, die öffentliche Meinung verstoße, wenn er nicht fliehe: Nicht die Meinung der Masse sei zu bedenken - ούκ d p a ... τ ί έροΰσιν οι π ο λ λ ο ί ή μ ά ς , sondern die Ansicht dessen, der sich auf Gerechtes und Unrechtes verstehe, und auf die Wahrheit selbst - ö τ ι έ π α ί ω ν π ε ρ ί τ ω ν δ ι κ α ί ω ν κ α ί α δ ί κ ω ν ό ε ι ς κ α ί α ύ τ ή ή α λ ή θ ε ι α 6 . Die hier geäußerte Kritik an der demokratischen Entscheidungsfindung scheint auf den ersten Blick in einem deutlichen Widerspruch zu seiner Gesetzestreue zu stehen. Bürger einer Polis zu sein bedeute, wenn es nicht gelänge bessere Gesetze durchzusetzen, sich den bestehenden zu unterwerfen 7 . Die Kernaussage des Dialoges besteht in der Erkenntnis der einzig gültigen Instanz, der Sokrates Respekt und Gehorsam zollt, nämlich der Herrschaft des Gesetzes und eben nicht der Herrschaft der Menschen. Piaton fuhrt die widerspruchslose Akzeptanz des Urteils der Richter auf den absoluten Gesetzesgehorsam des Sokrates zurück und wendet sich damit ganz entschieden gegen den - von ihm vermutlich absichtlich verschwiegenen - Anklagepunkt des Anytos, er verführe zur Mißachtung der Gesetze 8 . 1
Plat. Krit. 50a.
2
Plat. Krit. 52c.
3
Plat. Krit. 5 ld.
4
Es mußte auch ein Affront bedeuten gegenüber den überzeugten Demokraten, die unter der Herrschaft der dreißig Tyrannen
g e f l o h e n waren.
Sokrates blieb bekanntlich
und weigerte
sich
schließlich, den z u m T o d e verurteilten Feldherrn Leon herbeizuschaffen. Zuvor gehörte er offenbar nicht zu den entschiedenen Gegnern der Dreißig, w e s h a l b Piaton sich später bemühte, ihn als „passiven Widerstandskämpfer" zu charakterisieren. Vgl. Scholz, Der Philosoph und die Politik, 78. 5
Plat. Krit. 48b.
6
Plat. Krit. 48a.
7
Plat. Krit. 51 e - 5 2 a .
8
Xen. mem. 1.2.9; W e l w e i , Athen, 2 5 6 .
2. Mythos und Polis bei Gorgias
127
Trotz seines unkonventionellen Handelns hatte Sokrates niemals den Boden der Polis Athen, weder geographisch, noch verfassungsrechtlich, verlassen. Es kann als eine ideologische Rechtfertigung seiner zumindest anfanglichen Duldung der Dreißig interpretiert werden, die durch einen Volksbeschluß zur Macht gelangt waren 1 . Jahre später nannte Aischines die Beziehung des „Sophisten" Sokrates zu Kritias als das Motiv für die Anklage 2 . Die Betonung der Herrschaft der Gesetze als oberste Instanz ethischen Handelns und Garant des Bestehens der Polis bildet außerdem einen deutlichen und vielleicht von Piaton beabsichtigten Kontrast zu dem Gesetz der „Jeweiligkeit" des Gorgias. Piaton bemühte sich, seinen Lehrer von dem Verdacht, als Sophist die Polis zu gefährden, freizusprechen 3 . Sokrates dagegen avancierte zum Märtyrer der nach 404/3 wieder eingesetzten demokratischen Ordnung und läßt auch die Anklagepunkte gegen ihn, etwa er habe die Jugend verdorben, als absurd erscheinen. Abschließend bleibt festzuhalten, daß die stark komprimierte Form des gorgianischen Epitaphios vordergründig als eine „Schablone" gedeutet werden kann, die lediglich mit konkretem Inhalt gefüllt werden müßte. Doch enthält diese „Schablone" selbst eine politische Botschaft an das attische Publikum, was gerade durch das Weglassen fester Bestandteile einer Grabrede deutlich wurde. Bei dem Epitaphios des Gorgias handelt es sich um eine in Athen offenbar bekannt gewordene Schrift, welche eine Stellungnahme zur Innenpolitik in idealisierter Form und, ausgehend von der Historizität der Hinweise des Philostrat, auch zur Außenpolitik enthält. Im Text des vorliegenden Fragmentes findet sich keine Mahnung zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die Perser, welches die Inhaltsangabe des Philostrat erwähnt. Bei der Aufstellung der Siegeszeichen ist allgemein vom Feind die Rede τ ρ ό π α ι α των π ο λ ε μ ί ω ν - und nicht etwa, wie z.B. in einer ähnlichen Passage des Menexenos von den Barbaren - τ ρ ό π α ι α των βαρβάρων 4 . „Barbaren" bezeichnete im 5. Jahrhundert üblicherweise die Perser. Eine Untersuchung Ziolkowskis zeigt die polarisierende Verwendung der Begriffe „Barbaren" und „Hellenen" als Äquivalent zu
1
Xen. Hell. 2.3.1, 2.
2
Aischin. or. 1.173.3: άΕπειθ' ύμείς, ώ 'Αθηναίοι, Σωκράτην μεν τον σοφιστήν ά π ε κ τ ε ί ν α τ ε , δτι Κριτίαν έφάνη πεπαιδευκώς, ε να των τριάκοντα των τον δήμον κ α τ α λ υ σ ά ν τ ω ν , ... Das Amnestiegesetz von 403 Schloß eine direkte Anklage gegen Sokrates wegen seiner angeblichen Beteiligung an der Tyrannis aus. Vgl. Scholz, Der Philosoph und die Politik, 66, Anm. 196; Welwei, Athen, 257. Zum Prozeß des Sokrates vgl. u.a. Connor, Religion and Trial of Socrates, 49-56 (wie 49, Anm. 2); Klowski, Ein neuer Zugang zu Sokrates, 27-36 (wie 49, Anm. 2); Rubel, Stadt in Angst, 342-363. Zur Amnestiegesetzgebung vgl. Xen. Hell. 2.4.38-43; Aristot. Ath. Pol. 39, 40; Isokr. Gegen Kallimachos (or. 18); J.H. Kühn, Die Amnestie von 403 v.Chr. im Reflex der 18. Isokrates-Rede, WS 1, 1967, 3Iff.
3
Wahrscheinlich ist ihm eine Mitverantwortung an der Herrschaft der Dreißig zur Last gelegt worden. Vgl. Kap. II 6, 7. Ähnliche Bemühungen, Theramenes nach seinem Tod zu rehabilitieren, dokumentiert die auf dem Michigan-Papyrus überlieferte Verteidigungsschrift. Vgl. H.C. Youtie/R. Merkelbach, Ein Michigan-Papyrus über Theramenes, ZPE 2, 1968, 161-169.
4
Plat. Menex. 240d.
II. Sophisten als Systemkritiker
128
„Perser" und „Griechen" in den Grabreden des Lysias und Piaton 1 . Bei Gorgias stellen nicht π ο λ ΐ τ α ι ihre Trophäen des Sieges über griechische oder barbarische Feinde auf 2 , sondern allgemein die Menschen seiner Idealvorstellung, die einen Sieg über einen Feind errungen haben. Kannte Philostrat tatsächlich eine vollständigere Version des Textes, ist der Gedanke eines Zusammenstehens aller Griechen gegen die Barbaren in einem Rückblick auf die Vorfahren, auf die Perserkriege, möglicherweise als eine Warnung vor schwerwiegenden außenpolitischen Fehlern in der Gegenwart nur zu Beginn des Fragmentes zu verstehen. Schon im Palamedes hebt Gorgias den panhellenischen Gedanken wohl erstmals überhaupt in dieser Deutlichkeit und Stärke hervor. Gefordert ist dann im Epitaphios des Gorgias zweierlei: einmal die Einheit gegenüber den Barbaren, d.h. ein panhellenisches Konzept fur die griechischen Poleis, und zum anderen die darüber hinausgehende Idee eines „idealen Zusammenlebens" gemäß dem „göttlichsten und allgemeinsten Gesetz", mit dem eine Individualisierung einhergeht. Der Mensch sieht sich befreit von der Einbettung in die Polis, von einer Gemeinschaft, die ihr Selbstverständnis auch im Mythos definiert. Er lebt nicht mehr in Stadtstaaten, womit nicht nur an Athen zu denken ist, sondern in einer Gemeinschaft nach dem oben formulierten idealen Gesetz der Entsprechung. In letzter Konsequenz bedeutet die Vorstellung des Gorgias die Überwindung des Polisdenkens in jeder Hinsicht. Der überlieferte Text enthält somit genügend politischen Zündstoff, in Gorgias einen gefährlichen Systemkritiker zu sehen.
2.5
Zusammenfassung
Das Enkomion auf Helena, die Apologie des Palamedes und der Epitaphios bauen inhaltlich aufeinander auf und bieten eine Steigerung von der Kritik an der attischen Demokratie bis hin zur Entwicklung der Idee einer idealen menschlichen Gemeinschaft. Daß sie Themen von durchaus öffentlichem Interesse behandeln, zeigen die Komödien des Aristophanes. So finden sich beispielsweise in den Acharnern, Wespen und Vögeln in der gleichen Reihenfolge die Frage der Kriegsschuld, des Rechtswesens oder der Abwendung vom Polisdenken 3 . Die von Gorgias formulierten Werte - die Wahrheit und Gerechtigkeit sowie das Ideal des angemessenen Handelns - sind nur individuell zu erreichen, nur im „Mikrokosmos", wie im Palamedes am Beispiel der Rechtsfindung erörtert. Keine 1
Ziolkowski, Athenian Funeral Orations, 3. Im Laufe des 4. Jahrhunderts verdrängen die M a k e d o nen die Perser als große Bedrohung Griechenlands, womit auch die Polarität „Hellenen-Barbaren" an Bedeutung verliert. Auch in den Reden des Demosthenes und Hypereides ist von „Barbaren" und „Hellenen" die Rede, jedoch in einem weitaus geringeren Umfang.
2
Thuk. 2.36.4. Thukydides bemerkt, daß er die Siege der Vorfahren über „griechische und barbarische Feinde" nicht weiter ausführen möchte. Vgl. 117-119. Insgesamt spielt der Hellenen-Barbaren-Topos im Werk des Thukydides keine besondere Rolle. An anderer Stelle (Thuk. 1.84) läßt er z.B. Archidamas darauf hinweisen, daß sich die Menschen nicht sonderlich voneinander unterscheiden. Vgl. Ziolkowski, Athenian Funeral Orations, 4.
3
Zu Aristophanes Kap. III.
2. Mythos und Polis bei Gorgias
129
übergeordnete Instanz, kein „Makrokosmos", kann einen Anspruch auf diese Werte erheben. Es gibt keine kollektive Wahrheit, Weisheit, oder Gerechtigkeit, daher kann nur ein Wahrscheinlichkeitswert (εικός) erreicht werden. Gorgias' Antwort auf die Diskrepanz des „Mikro"- und „Makrokosmos" besteht offenbar in der Methode des logischen Argumentierens, des logismos. Mit Hilfe der lernbaren Technik kann man sich dem Ideal der Wahrheit durch das Ausschließen von Unmöglichem zumindest annähern und somit durch die Anwendung der induktiven Methode vom einzelnen zum allgemeinen gelangen. Das bestehende politische System der demokratischen Polis ist am Ende zugunsten einer idealen Gesellschaft aufgelöst, denn ihm wird in den Reden nach und nach die Legitimationsbasis entzogen: Entscheidungen, die in der Menge, im όχλος 1 , getroffen werden, können durchaus legal sein, jedoch nicht zwangsläufig legitim. Ein solches von der Mehrheit gefälltes Urteil beruht unmöglich auf Wahrheit und Gerechtigkeit. Der Institution der Geschworenengerichte, im Prinzip auch der Volksversammlung, fehlt damit die Entscheidungsgrundlage. Der Mythos, der bislang zur Formulierung der Identität des Individuums und der Gemeinschaft diente, ist nicht mehr verbindlich und verliert seine integrative Funktion. Für Athen bestand die Konsequenz darin, daß dem System der attischen Demokratie wie der hegemonialen Machtstellung der Polis jeder legitime Anspruch auf Gültigkeit fehlte 2 . Auch eines der großen Themen des Mythos, welches im Drama auf der Bühne Gestalt annimmt, die Sterblichkeit des Menschen, verliert an Bedeutung angesichts der Naturgegebenheit und des am Ende des Lebens einzig ausschlaggebenden - des guten Rufes 3 . Jeder Mensch trägt selbst die Verantwortung für sein Handeln. Er kann sich nicht hinter einem Mehrheitsbeschluß, einem durch Seher ermittelten Ratschluß der Götter oder einer Argumentation aufgrund des Mythos verstecken. Weder Götter-, noch Heroengeschichten geben Antworten auf die praktischen Fragen des Lebens, sie können nicht zur Rechtfertigung oder als Exempla zur Handlungsorientierung dienen. Damit ist dem traditionellen Bildungssystem, den im privaten wie im öffentlichen Bereich allgegenwärtigen Kulthandlungen die Grundlage entzogen 4 . Zugleich bedeutet es ein Rechtfertigungsdefizit der attischen ά ρ χ ή . Die Erwähnungen der Götter in der Helena oder im Palamedes stehen außerdem im Dienste des Redeerfolges 5 . Vermutlich teilte Gorgias die agnostische Sichtweise des Protagoras. Eine rhetorische Ausbildung, ein bewußter und verantwortungsvoller Umgang mit der δ ύ ν α μ ι ς des logos, führt zu tiefer gehenden Erkenntnissen, zur σ ο φ ί α , um das Leben zu meistern. Erst dann ist das Ideal erreicht, dem göttlichsten und allgemeinsten Gesetz zu genügen und jeder Situation entsprechend angemessen zu handeln. Gorgias stellt sehr hohe Anforderungen an die Menschen seiner Zeit, indem er jedem einzelnen die Verantwortung für sein Agieren zuschreibt. Er durchtrennt alle bisher gül'
Gorg. Pal. [fr. l l a . 3 3 ] ,
2
V g l . dazu die Untersuchung Smarzcyks, Religionspolitik, 2 9 8 .
3
V g l . Gorg. Epit. [fr. 6]; Thuk. 2 . 3 5 - 4 6 ; noch in römischer Zeit stellt es z.B. für Plinius d.J. ein w i c h t i g e s T h e m a dar.
4
V g l . Kap. 1 3 . 1 .
5
S o auch Roßner, Recht und Moral, 1 5 6 - 1 5 8 .
130
II. Sophisten als Systemkritiker
tigen Bindungen, die Sicherheit bieten und Anlehnung erlauben. Und doch propagiert Gorgias keine Individualisierung in jedem Bereich, deren Konsequenz in der Auflösung der sozio-politischen Gemeinschaft bestünde. Er erkennt, daß das Individuum nur in der Gemeinschaft existieren kann; sie ist lebensnotwendig, denn die Anerkennung und Bewertung des korrekten Handelns erfolgt nur innerhalb der Gruppe. Die Gemeinschaft vermittelt die τιμή und den damit verknüpften guten Ruf 1 . Das allein zählt am Ende des Lebens und nicht die Tatsache der Unvermeidlichkeit des Todes. Die Ehre verleiht den „tüchtigen Menschen", den εύανδρία, die Unsterblichkeit. Das System der attischen Demokratie kann das Ziel, den κόσμος einer sozio-politischen Gemeinschaft nach der Vorstellung des Gorgias, nicht erreichen. Der Terminus „Polis" dient in der Helena-Rede allgemein zur Bezeichnung eines Staates, ohne damit explizit die attische Demokratie zu meinen2. Schemenhaft entwirft Gorgias eine Gesellschaft, welche zwar auf den alten aristokratischen Werten basiert, sie aber nicht als von Natur gegeben ansieht. Eine höhere Bildung ist gefordert. Alles Irrationale bleibt ausgeklammert, nur die zu erstrebenden Ideale sind quasi göttlich, nämlich unsterblich3. Das „göttlichste und allgemeinste Gesetz" gibt der sophistischen Lebenswelt des Gorgias, dem kosmos des idealen menschlichen Zusammenlebens, die notwendigen Konturen: Das der jeweiligen Situation angemessene Verhalten hat Bestand und ist nicht in festgefugte Normen zu pressen. Die klassische Polis - ob nun als demokratisches Staatswesen oder als traditionell gewachsener Bürgerverband oligarchischer Prägung hat keinen Bestand mehr. Wie vorsichtig, aber auch kreativ Gorgias bei der Formulierung seiner Ideen vorging, zeigt sich darin, daß er für seine kritische Gegenwartsanalyse den formalen Rahmen des Mythos und des Epitaphios nutzt, ihn jedoch gleichzeitig sprengt, indem er ihn mit neuen Inhalten füllt und somit Lehrstücke zur Umstrukturierung der Gesellschaft anbietet. Eine „sophistische" Ausbildung nahmen vorwiegend junge Leute aus höheren, zumindest begüterten Schichten wahr; junge Männer, die es sich erlauben konnte, den üblichen Lernstoff durch Lesen oder Hören sophistischer Abhandlungen zu ergänzen. An ihnen lag es, die εύανδρία zu den bestimmenden Kräften der Gemeinschaft zu machen und mit Hilfe der erworbenen Fähigkeiten einen Wandel unter Ausnutzung der zur Verfugung gestellten Mittel zu bewirken4. Tatsächlich erfolgten in den Jahren 411/10 und 404/03 zwei Versuche, die Demokratie mit ihren eigenen Mitteln zu stürzen5. Die Ereignisse von 411 lassen vermuten, daß 1 Vgl. Segal, Gorgias, 103, 140, Anm. 35. 2 Vgl. Dreher, der auf die eingeschränkte Verwendung des Begriffes Polis in der modernen Forschung hinweist, die den Sophisten nicht bekannt war. Dreher, Sophistik und Polisentwicklung, 10. 3 Franz, Fiktionalität und Wahrheit, 241 (wie 79, Anm. 3). Vgl. H. Heftner, Die Ps.-Andokides-Rede gegen Alkibiades ([And.] 4) und die politische Diskussion nach dem Sturz der „Dreißig" in Athen, Klio 77, 1995, 97 zu Ps.-Andokides. Zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangte auch Antiphon in seinen Tetralogien. Vgl. Kap. II 6.2. 4 Treffen die in den Quellen erwähnten Honorare der Sophisten zu, konnte sich ihr Bildungsangebot nur an die gehobene Schicht richten. Vgl. dazu auch Welskopf, Sophisten, 1930f.; vgl. 27. 5 Vgl. dazu z.B.: P.J. Rhodes, The Five Thousand in the Athenian Revolution of 411 B.C., JHS 92, 1972, 115ff.; D. Flach, Der oligarchische Staatstreich vom J. 411, Chiron 7, 1977, 9-35; H. Wolff,
2. Mythos und Polis bei Gorgias
131
den oligarchischen Umsturzversuchen theoretische Überlegungen vorangegangen sind, welche bei Gorgias und Antiphon greifbar sind1. Auch die staatstheoretischen Ausführungen des Thrasymachos zur „πάτριος πολιτεία", eine Restitution der kleisthenischen Verfassungsordnung, spielten bei der Interimsverfassung unter Theramenes vom Herbst 411 bis zum Frühjahr 410 eine nicht zu unterschätzende Rolle 2 . Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Oligarchen um die beste Verfassung, welche sich vor 411/10 und 404/03 zuspitzte, ist der Einfluß einer Staatskritik, wie sie hier bei Gorgias zutage tritt, greifbar. Sind der Redner und der Sophist Antiphon identisch, liegt sogar eine aktive politische Beteiligung eines Sophisten an einer revolutionären Machtergreifung vor3. Antiphon fand im Jahre 411 den Tod. Den Vierhundert folgten unter der Federführung des Theramenes die Fünftausend 4 . Thukydides lobt vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen das Konzept des Theramenes als einen politisch gelungenen Kompromiß zwischen Oligarchie und Demokratie 5 . Obwohl kein Beleg für eine Anklage gegen Gorgias vorliegt, gehörte er sicher zu den intellektuellen Wegbereitern des Umsturzes der Demokratie.
Die Opposition gegen die radikale Demokratie in Athen bis zum J. 411, Z P E 36, 1979, 279ff.; Lehmann, Überlegungen zur Krise der attischen Demokratie, 33-73; G.A. Lehmann, Die revolutionäre Machtergreifung der „Dreißig" und die staatliche Teilung Attikas (404-401/0 v.Chr.), in: Festschrift f ü r H.E. Stier 1972, 201-233; Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen. 1
Dreher zufolge stehe Gorgias ganz auf der Seite des geltenden N o m o s der Polis; er erweise sich als ein glaubwürdiger Vertreter der Staatskonformität. Dreher, Sophistik und Polisentwicklung, 60f.; vgl. auch Leppin, Thukydides, 140.
2
Vgl. dazu ausführlich Kap. II 4.2. Thrasymachos verwendet den Begriff π ά τ ρ ι ο ς π ο λ ι τ ε ί α , den er nicht weiter definieren mußte, da er offenbar bekannt war. Der Terminus repräsentierte die innenpolitische Auseinandersetzung um diejenige Staatsform, die die radikale Demokratie ablösen und Athen einen außenpolitischen Erfolg versprechen sollte. Vgl. J. Witte, Demosthenes und die Patrios Politela, von der imaginären Verfassung zur politischen Idee, Bonn 1995, 23; Arist. Ath. Pol. 29.1; Lehmann, Oligarchische Herrschaft, 43, Anm. 49.
3
Als weiteres Beispiel ist an dieser Stelle Kritias anzuführen. Vgl. unten Kap. II 6, 7.
4
Thuk. 8.97; vgl. dazu ausführlich Kap. 11 4.2.2, 166.
5
Thuk. 8.97.2; damit lobt Thukydides jedoch nicht generell das Ideal einer „Mischverfassung der Fünftausend", sondern er beurteilt die konkrete Entwicklung der Verfassung vor dem Hintergrund der gegebenen politischen und militärischen Situation Athens. Vgl. Lehmann, Oligarchische Herrschaft, 42, Anm. 48.
3. Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos 3.1
Zur Person
Als Gesandter seiner Heimatinsel Keos gelangte Prodikos mehrmals nach Athen und sprach dort vor der Ratsversammlung 1 . Das konkrete Anliegen des Prodikos ist nicht überliefert. Thukydides nennt die Bürger von Keos als Teilnehmer an den Kämpfen vor Syrakus im Jahre 413 und bemerkt, daß sie als beitragspflichtige Bündner Athens wie Untertanen und unter Zwang folgten 2 . So ist es möglich, daß Prodikos im Vorfeld über die Beteiligung an der sizilischen Expedition und schließlich über die Modalitäten verhandelte. Wie Gorgias fand er durch seine Redegabe Beachtung, und offenbar versprach sich seine Heimatstadt davon ein erfolgreiches Ergebnis, weshalb sie ihn mehrmals als Gesandten in Anspruch nahm 3 . Prodikos bereiste auch andere Regionen Griechenlands 4 : Einer etwas zweifelhaften, weil sonst nicht überlieferten, Erzählung des Philostrat zufolge gelangte er nach Boiotien. Damals sei Xenophon dort inhaftiert gewesen, den Prodikos freigekauft und fur seine Lehren gewonnen habe 5 . Zu wenige persönliche Daten sind überliefert, um den Lebenslauf des Prodikos und seine Lebensumstände auch nur annähernd zu rekonstruieren. Er gehörte zu den Schülern des Protagoras 6 , weshalb sein Geburtsdatum meist um 460 v.Chr. angesetzt wird 7 . Der Zeitpunkt seines Todes ist nicht bekannt. Am häufigsten ist er in den Dialogen Piatons erwähnt 8 . Aus der sehr ironisch gefärbten Darstellung lassen sich nur wenige konkrete Informationen zur Person des Sophisten herauskristallisieren. Im Protagoras-Dialog traf auch Prodikos seine Anhänger im Hause des reichen Kallias: Auch den Tantalos schaute ich 9 ; Prodikos nämlich, der Keier, war auch angekommen und befand sich in einem Gemach, welches Hipponikos ehedem als Vorratskammer gebraucht hatte; jetzt aber hatte Kallias, wegen der Menge der Einkehrenden auch dieses ausgeleert und zum Gastzimmer gemacht. Prodikos nun lag noch dort eingehüllt in Decken und Felle, und zwar so viele, wie man sah. ... Wovon sie aber sprachen, konnte ich von draußen nicht vernehmen, wiewohl sehr begierig, den Prodikos zu hören, denn gar weise und göttlich dünkt mich der
1
Plat. Hipp. mai. 282c [DK 84 A 3],
2
Thuk. 7.57.
3
Philostr. V. Soph. 12 [DK 84 A la]; Plat. Hipp. mai. 282c [DK 84 A 3],
4
Plat. Prot. 315d, e [DK 84 A 2],
5
Philostr. V. Soph. 12 [DK 84 A la],
6
Sud. s.v. Prodikos [DK 84 A l ] ,
7
Vgl. Guthrie, Greek Philosophy, Vol. Ill, 274; Untersteiner, The Sophists, 206.
8
Vgl. die Fragmente und Testimonia bei DK: Plat. Symp. 177b, Plat. Euthyd. 305c [DK 84 Β 1, 6]; Plat. Prot. 315d, e; Hipp. mai. 282c; Theaet. 151b; Apol. 19e; Kratyl. 384b; Prot. 337a-c; 340a; Men. 75e [DK 84 A 2, 3, 3a, 4, 11, 13-15]; Plat. Symp. 177b [DK 84 Β 1]; Plat. Euthyd. 305c [DK
9
84 Β 6]; Plat. Prot. 315d, e [DK 84 A 2] u.a. Es handelt sich hierbei um ein Zitat aus der Ν έ κ υ ι α Homers: Horn. Od. 11.582.
3. Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos
133
Mann zu sein. Allein die Tiefe seiner Stimme verursachte in dem Gemach ein dumpfes Getöse, das alles Gesprochene unvernehmlich machte 1 .
Die Ironie Piatons ist bezeichnend, wenn er die Sophisten im Hause des Kallias mit Zitaten aus der Nekyia der Odyssee vorstellt. Er vergleicht Prodikos mit Tañíalos, der in der Unterwelt dazu verdammt war, weder Speisen, noch Trank zu erlangen, so sehr er sich auch bemühte 2 . Die Analogie zwischen der tragischen Figur aus der griechischen Mythologie und einem vergeblich nach Erkenntnissen strebenden Sophisten liegt nahe 3 . Aus einer umgebauten Vorratskammer habe man seine tiefe und durchdringende Stimme grollen hören können. Auch Philostrat bemerkt, die tiefe, gut hörbare und fast unangenehm laute Stimme habe Prodikos besonders als Gesandten befähigt 4 . Prodikos hielt sich vor 432 in Athen auf, wenn die übliche Datierung des ProtagorasDialoges zutrifft. In den 20er Jahren erreichte er einen so hohen Bekanntheitsgrad, daß er im Jahre 423 als „Meteorsophist" in den Wolken des Aristophanes erscheinen konnte 5 . Spöttisch lobt der Dichter die Weisheit und Einsicht des „Naturwissenschaftlers" Prodikos, während seine Lehren in den 414 aufgeführten Vögeln verworfen werden 6 . Ein Fragment einer um 410 verfaßten Komödie des Aristophanes enthält außerdem den Vorwurf, Prodikos übe einen schlechten Einfluß aus: Irgendeine Schrift hat ihn verdorben, oder Prodikos oder einer der anderen Schwätzer 7 .
Wie Protagoras oder Gorgias nutzte Prodikos seine Aufenthalte in Athen, um seine Lehren und Thesen in einem privaten Kreis und auch vor einem größeren Publikum in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Der fälschlicherweise in das Platon-Corpus aufgenommene Dialog Eryxias8 berichtet, Prodikos habe im Lykeion von Athen ein wichtiges Thema so witzlos und langweilig angesprochen, daß er die Hörer nicht überzeugen konnte. Schließlich sei er aus dem Gymnasium verwiesen worden, da er der Jugend nur „Unziemliches" - ούκ έ π ι τ ή δ ε ι ο ν - und „Abgeschmacktes" - μοχθηρόν - beigebracht habe 9 . Handelt es sich an dieser Stelle um eine authentische Aussage, agierte Prodikos in einer öffentlichen Einrichtung der Stadt und unterlag als Fremder offenbar einer administrativen Kontrolle. Die Aufgabe, über die Einhaltung der öffentlichen Moral zu wachen, nahm der zuständige Gymnasiarch wahr 10 . Die Gymnasiarchie war im Athen
1
Plat. Prot. 315d, e [DK 84 A 2],
2
Horn. Od. 11.582-592.
3
So bemüht sich beispielsweise Protagoras vergeblich um den Nachweis, daß Tugend lehrbar sei, bis das Gespräch mit Sokrates zu scheitern droht. Vgl. Plat. Prot. 333e-335c.
4
Philostr. V. Soph. 12 [496] [DK 84 A la].
5
Aristoph. nub. 360 [DK 84 A 5], Vgl. dazu Kap. III 2, 288.
6
Aristoph. av. 689-692. Vgl. dazu Kap. III 3, 304.
7
Aristoph. Tagenistae fr. 490 Κ (PCG IIP 506) [DK 84 A 5]:
τούτον τον άνδρ' ή βυβλίον διέφθορεν ή Πρόδικος ή των ά δ ο λ ε σ χ ώ ν εις γέ τις. 8
[Plat.] Eryx. 397 [DK 84 Β 8],
9
[Plat.] Eryx. 399.
10
Am Ende des 4. Jahrhunderts wurde zum Beispiel der Kyniker Krates in Theben vom Gymnasiarchen mit der Peitsche gezüchtigt und in Korinth von Euthykrates am Fuße fortgeschleift, so be-
134
II. Sophisten als Systemkritiker
des 5. und 4. Jahrhunderts eine einjährige Leiturgie 1 . Sie deckte die Kosten der jährlichen Fackelwettläufe und Wettbewerbe, bei denen die körperliche Konstitution und künstlerisches Geschick unter Beweis gestellt wurden 2 . Die Entwicklung des Gymnasiums zu einer Stätte intellektueller Bildung vollzog sich schrittweise. Beispielsweise gaben Gorgias und Hippias am Rande der offiziellen kultischen und sportlichen Veranstaltungen in Olympia eine Kostprobe ihres Könnens 3 . Auch Sokrates suchte den Kontakt zu den jungen Männern im Gymnasium, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen 4 . Inwieweit der Gymnasiarch bereits am Ende des 5. Jahrhunderts auch über die ethische Erziehung im Gymnasium wachte, ist unklar. Doch gehörte es zu den Aufgaben der traditionellen Bildungsstätte, aristokratische Wertvorstellungen zu vermitteln 5 . Die Ausbildung der männlichen Jugend galt im späten 5. Jahrhundert in einigen griechischen Städten als eine öffentliche Angelegenheit 6 . Neben dem reinen Elementarunterricht im Lesen, Rechnen, Schreiben und Musizieren gehörten athletische Übungen, Reiten und andere Sportarten zum Erziehungsprogramm. Die zunehmende Demokratisierung machte eine kollektive Erziehung und Ausbildung der männlichen Jugend erforderlich. Am Ende des 5. Jahrhunderts gingen schließlich alle abkömmlichen jungen Athener in das didaskaleion, die Elementarschule und das Gymnasium 7 . Noch zur Zeit Piatons gehörte die Bildung de facto zu den Privilegien der Reichen, denn sie verfugten über die erforderliche Muße und die finanziellen Mittel 8 . Die intellektuelle Bildung hatte aber nach wie vor einen eher geringen Stellenwert. Alle weiteren Kenntnisse und Erfahrungen sammelten die jungen Männer, indem sie ihren Vater oder Vormund in die Gerichts- und Volksversammlungen, auf die Agora, ins Theater oder zum Symposion
richtet Diogenes Laertius. Diog. Laert. 6.90; vgl. auch Diog. Laert. 4.63; Scholz, Der Philosoph und die Politik, 56-60. '
And. Myst. (or. 1) 132; Demosth. or. 20.21.
2
Zum Erziehungsprogramm gehörten neben den athletischen Übungen der Unterricht im Tanz, Kitharaspiel, in der Lektüre Homers und frühgriechischer Lyriker. Bleicken, Demokratie, 298; Scholz, Der Philosoph und die Politik, 39, 60.
3
Vgl. Kap. II 2.1; 5.1; I. Weiler, Der Sport bei den Völkern der alten Welt, Darmstadt 1981, 113.
4
Vgl. u.a. Plat. Lys. 203a-204b; Charm. 153a; Euthyd. 271a.
5
Neben den im Zuge der Demokratisierung eingerichteten städtischen Gymnasien befanden sich einige im Privatbesitz. Vgl. Ps.-Xen. Ath. Pol. 1.13, 2.10. Vgl. Ch. Mann, Krieg, Sport und Adelskultur. Zur Entstehung des griechischen Gymnasions, Klio 80, 1998, 13f.
6
Scholz, Der Philosoph und die Politik, 38; Hdt. 6.27; Aristoph. nub. 964f.
7
Ps.-Xen. Ath. Pol. 2.10. Schon Äußerungen Pindars deuten auf eine Diskussion des Erziehungssystems hin, wenn er bemerkt, daß Erziehung nur bei Adligen Sinn habe. Pind. Pyth. 2.131, 176; Ol. 2.94-96; Nem. 3.42. Aristophanes karikiert in den Wolken die streitsüchtigen Intellektuellen, die die ,neue' Erziehung genossen haben. Er kontrastiert die gute alte Erziehung im Gymnasium mit der neuen, die ihren Mittelpunkt auf der Agora und in den Bädern findet. Vgl. u.a. Aristoph. nub. 1002-1009; Kap. III 2, 291; H.-I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, Freiburg 1957 (franz. Paris 1955), 66; Romilly, Sophists, 30-33; G. Cambiano, Mensch werden, in: J.-P. Vernant (Hrsg.), Der Mensch der griechischen Antike, Frankfurt 1993, 121f.
8
Plat. Prot. 326c; Marrou, Erziehung, 64; Scholz, Der Philosoph und die Politik, 38f; Romilly, Sophists, 38.
3. Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos
135
begleiteten 1 . Trug Prodikos tatsächlich seine „jugendverderbende" Reden an der Stätte der traditionellen Bildung vor, geriet er mit dem Erziehungsanspruch der Polis in Konflikt, weil er den privaten Rahmen verlassen hatte. Auch der spätantike Lexikograph der Suda nennt den Vorwurf, Prodikos habe die Jugend verdorben: Prodikos von Keos, von der Insel Keos, ein Bürger von Iulis, war ein Naturphilosoph und Sophist, ein Zeitgenosse des Demokrit aus Abdera und des Gorgias, ein Schüler des Protagoras aus Abdera. In Athen wurde er verurteilt, den Schierling zu trinken, weil er die Jugend verdorben habe2.
Die Behauptung, daß er den Schierling trinken mußte, stellt sicherlich eine Verwechslung mit Sokrates dar3. Philostrat bemerkt, Prodikos habe Jagd auf junge Leute aus gutem Hause gemacht, um möglichst viel Geld zu verdienen, und dazu sogar Helfershelfer benutzt. Einige seiner Schüler sind namentlich genannt, so Theramenes, der den Spitznamen κόθορνος, „Schauspielerschuh" - gemeint ist ein Schuh, der auf beiden Füßen paßt - trug 5 , und damit als jemand gekennzeichnet ist, der häufiger die politischen Fronten wechselte 6 . Dionysios von Halikarnassos identifiziert ihn als den bekannten Rhetoriker und Politiker, der an dem Sturz der Demokratie 411/10 und 404/3 beteiligt war und unter der Herrschaft der Dreißig den Tod fand 7 . Zu den Schülern des Prodikos zählten außerdem Euripides und Isokrates; den Geschichtsschreiber Thukydides habe er in der ausgewogenen Wahl der Worte beeinflußt 8 . Prodikos selbst war ein Schüler des Protagoras . Neben der Kunst der Rhetorik 10 gehörte die Synonymik zu Prodikos' Forschungsgebieten 11 . Dabei behandelte er die Frage nach der korrekten Benennung 1
Scholz, Der Philosoph und die Politik, 37f., Anm. 104. Scholz nennt eine extrem minimale Schätzung von Harris, wonach in klassischer Zeit nicht einmal zehn Prozent der Bevölkerung lesen konnte. W.V. Harris, Ancient Literacy, Cambridge (Mass.), London 1989,114.
2
Sud. s.v. Prodikos [DK 84 A 1]: Πρόδικος Κείος από Κέω της νήσου, πόλεως δέ Ίουλίδος, φιλόσοφος φυσικός και σοφιστής, σύγχρονος Δημοκρίτου του Άδηρίτου και Γοργίου, μαθητής Πρωταγόρου του 'Αβδηρίτου. έν Αθήναις κώνειον πιών άπέθανεν ώς διαφθείρων τους νέους.
3
Sud. s.v. Prodikos [DK 84 A 1]. So auch Wallace, Freedom of Thought, 130; Kerfeld, Sophistic Movement, 45; Rankin, Sophists, 45.
4
Philostr. V. Soph. 12 (496) [DK 84 A la]: άνίχνευε δέ ούτος τους εϋπατρίδας των νέων και τους έκ των βαθέων οίκων, ώς και προξένους έκτησθαι ταύτης της θήρας· χρημάτων τε γαρ ήττων έτύγχανε και ήδοναΐς έδεδώκει.
5
Schol. Aristoph. nub. 361 [DK 84 A 6]; vgl. auch Ath. 5.220b [DK 84 A 4b]. Vgl. Xen. Hell. 2.3.31; D.J. Stewart, Prodicus, in: Kent Sprague, 74. Zu der Frage der politischen Einordnung des Theramenes vgl. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 339-347. Dion. Hal. Isocr. 1 [DK 84 A 7]; vgl. Thuk. 8.68f., 92,94. Dion. Hal. Isocr. 1 [DK 84 A 7]; Gell. 15.20.4 [DK 84 A 8]; Marceil. V. Thuk. 36 [DK 84 A 9]. Hesych. onomat. Schol. Plat. Pol. 600c [DK 80 A 3]. Plat. Krat. 384b [DK 84 A 11]; Plat. Prot. 337 a-c [DK 84 A 13]; Plat. Euthyd. 277e, f [DK 84 A 16]; Plat. Phaidr. 267 b [DK 84 A 20], Plat. Men. 75e [DK 84 A 15]; Plat. Lach. 197b, d [DK 84 A 17]; Plat. Charm. 164 a, b [DK 84 A 18]; Aristot. Top. Β 6.112 b 22 [DK 84 A 19].
6
7 8 9 10
11
136
II. Sophisten als Systemkritiker
von Dingen oder Eigenschaften 1 - όρθότης ονομάτων - natürlich auch unter Berücksichtigung der όρθότης der Rede2. Prodikos beschäftigte sich in seiner Schrift Περί φύσεως 3 ebenso mit naturwissenschaftlichen Problemen, mit der Religion 4 und den menschlichen Moralvorstellungen 5 . Piaton zufolge sah Prodikos das Wirken eines Sophisten teils im Philosophieren, teils in dem Aufgabenbereich eines Staatsmannes 6 . Erhalten sind lediglich kleine Fragmente der Schriften des Prodikos und ein längerer, von Xenophon wiedergegebener, Auszug aus den Hören, der Mythos über „Herakles am Scheideweg" 7 . Welche Haltung Prodikos gegenüber religiösen Vorstellungen, den traditionellen Werten und Normen der Polis einnahm, wird im folgenden Kapitel eingehend erörtert.
3.2
Zum Atheismus des Prodikos
Religion ist immer auch ein gesellschaftliches Phänomen. Leugnete Prodikos zwar die Existenz der Götter, so sprach er der traditionellen Kultpflege nicht zwangsläufig ihre soziale und integrierende Bedeutung ab. Sicher ist jedoch, daß er, wie zuvor Protagoras, dem Götterkult die sakrale Legitimation und damit seine lebenswichtigen Wurzeln nahm. Ein von Henrichs ausfuhrlich behandeltes Papyrus-Fragment bietet einen Einblick in das Buch des Philodemos ,ΠερΙ ε ύ σ ε β ε ί α ς ' aus dem 1. Jahrhundert v.Chr. Es kritisiert die mythischen Götterauffassungen der griechischen Dichter und Mythographen und stellt der Theologie der Philosophen von Thaies bis Diogenes von Babylon die epikureische Sicht entgegen. In der Wiedergabe des Philodemos findet sich folgende Aussage des Prodikos:
'
Marceli. V . Thuk. 3 6 [ D K 8 4 A 9]:
όνόμασιν άκριβολογίαν;
... καί μέντοι καί Προδίκου του Κείου τήν
έπί
τοις
Plat. Krat. 3 8 4 b [DK 8 4 A 11]; weitere Beispiele: Plat. Prot. 3 3 7 a-c,
3 4 0 [ D K 8 4 A 13, 14]; Plat. Men. 7 5 e [DK 8 4 A 15]; Plat. Euthyd. 2 7 7 e , f [ D K 8 4 A 16]; Plat. Lach. 197b, d [ D K 8 4 A 17]; Plat. Charm. 164 a, b [DK 8 4 A 18]; Aristot. Top. Β 6 . 1 1 2 b 2 2 [ D K 8 4 A 19]; vgl. dazu Nestle, V o m M y t h o s zum L o g o s , 50. V g l . Kap. II 2.4, 120f.. 2
Plat. Krat. 3 8 4 b [ D K 8 4 A 11], V g l . Kap. II 2.4, 120f.
3
Galen, de elem. 1.9 [ D K 2 4 A 2]; Gal. de virt. physic. 2 . 9 [DK 8 4 Β 4]; Quint. 3 . 1 . 1 2 [ D K 8 4 A
4
Philodem, de piet. C 9.7 (p. 75 G); Cie. nat. deor. 1.37, 118; Sext. Emp. adv. math. 9 . 1 8 ; Themist.
10], or. 3 0 (p. 4 2 2 ) [ D K 8 4 Β 5]:
Περί θεών;
PHerc 1428 fr. 19 ( Ν 1428 fr. 19 = H V 2 II 6; O 1 2 2 4 ) -
aus Α. Henrichs, T w o Doxographical N o t e s : Democritus and Prodicus on Religion, H S P h 79, 1975, 9 3 - 1 2 3 ; und ders., The Atheism o f Prodicus, CronErc 6, 1976, 15-21; ders., The Sophists and Hellenistic Religion: Prodicus as The Spiritual Father o f the Isis Aretalogies, H S P h 88, 1984, 139158. 5
X e n . mem. 1.2.21ff. [DK 8 4 Β 2],
6
Plat. Euthyd. 3 0 5 c [ D K 8 4 Β 6],
7
V g l . 136, A n m . 5.
3. Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos
137
[Prodikos] behauptet,
άγ[αθ]ούς {υε} [ ν α [ . . . . ] {υρο} [ 10
w . 3-9 desunt M
[ . . . ] . οσ[ 12 . . . [ {σιτον} ύ]πό [τ]ών
daß die von den
Menschen anerkannten .ανθρώπων νομιζοGötter nicht existieren und ihnen 14 μένους θεούς ούτ' εΐdas Wissen fehlt, und daß ναί φησιν ούτ' είδέdie Urmenschen die Früchte 16 ναι, τους δέ καρπούς und alle Dinge, και πάνθ' δλως τά χρήdie zum Leben beitragen, [ver18 σιμα πρ[ός τ]όν βίον göttlichten] '. τούς άρ[χαίο]υς άγα[σθέντας έκθειάσαι...] Henrichs weist auf eine besondere Schwierigkeit in den Zeilen 12 bis 16 hin. Folgende, auf den ersten Blick einleuchtende, Übersetzung entspreche erst dem Sprachgebrauch des späten 4. Jahrhunderts: „[Prodicos] maintains that the gods of popular belief do not exist and that he does not recognize them, ..."2. Eine Zuordnung des Verbs είδέναι zu Prodikos als Subjekt des Satzes sei für das 5. Jahrhundert untypisch. Die Zeilen könnten lediglich als eine Paraphrase des Prodikos-Textes interpretiert werden. Daher spricht Henrichs sich in einer späteren Studie für die folgende Übersetzung aus: „[Prodicos] maintains that the gods of popular belief do not exist and that they lack knowledge ..."3. Handelt es sich um ein Zitat oder zumindest um eine sinngemäße Wiedergabe der Aussage des Prodikos, ist an seinem Atheismus nicht zu zweifeln4. Die von den Menschen
1
2 3 4
PHerc 1428 fr. 19, Zeile 12-20. (N 1428 fr. 19 = HV2 II 6C; O 1224); zitiert nach Henrichs, Two Doxographical Notes, 107; Henrichs, Atheism of Prodicus, 15. Wie im folgenden erläutert, weicht die Übersetzung etwas von der Henrichs ab. Henrichs, Two Doxographical Notes, 107f. Henrichs, Atheism of Prodicus, 20. Der Begriff .Atheismus" wird hier in der absoluten, dem heutigen Verständnis entsprechenden Bedeutung verwandt. Vgl. auch die Liste der nach antikem Verständnis als Atheisten geltenden Personen bei Sext. Emp. adv. math. 9.51 [DK 84 Β 5]: μή ε ί ν α ι δέ [sc. θεόν] οϊ
έπικληθέντες άθεοι, καθάπερ Εύήμερος ... και Διαγόρας ò Μήλιος και Πρόδικος ò Κείος κ α ί Θεόδωρος. Vgl. Kap. II 1,48. Ein weiteres Zeugnis dafür, daß Prodikos am Ende des 4. Jahrhunderts Gottlosigkeit vorgeworfen wurde, stellt ein Hinweis Epikurs dar: Epicurus, 12 (ad. Philod., PHerc 1077, col. 82, 5-18), frg. 87 (Usener) = frg. 27,2 Arrighetti2): (...) ώς κά[ν τώι]
δωδεκάτω[ι (sc. Περί φύσεως) Προ]δίκωι και Δια[γόραι] και Κριτίαι κά[λλοις] μένφ[εται] (sc. Επίκουρος) φας πα[ρα]κόπτειν καί [μαίνεσ]θαι και βακχεύουσιν αύτούς [ε'ι]κά[ζει], δούς [δέ μ]ή πράγμα[θ ' ή]μεΐν παρέχειν ούδ ' ένοχλεΐν κα[ύτός] παραγραμ[μ]ατίζ[ει] τά τ[ώ]ν θεών [πράγμα]τα (...); zitiert nach M. Winiarczyk, Nochmals zum Satyrspiel „Sisyphos", WS 100, 1987, 36. Vgl. auch Cie. nat. deor. 1. 37, 118 [DK 84 Β 5]; M. Davies, Sisyphus and the Invention of Religion ("Critias" TrGF 1 (43) F 19=B 25 DK), BICS 36, 1989, 25; Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law, 277. Diels kannte den Text des Fragmentes, hatte aber offenbar vergessen, ihn in seiner Sammlung aufzunehmen. Das führte zu Fehlinterpretationen der theologischen Sicht des Prodikos. Vgl.
138
II. Sophisten als Systemkritiker
anerkannten Götter - ύ ] π ό [τ]ών α ν θ ρ ώ π ω ν νομιζομένους θεούς - existieren nicht. Die Übersetzung „gods of popular b e l i e f ist bereits eine Interpretation, die zu der Annahme verfuhrt, daß neben der Polis-Religion eine Form von individueller Religiosität ihre Gültigkeit behalte. Eine wörtliche Übersetzung des Textes vermeidet ein solches Mißverständnis und trifft meines Erachtens den Kern der Aussage: [Prodikos] behauptet, daß die von den Menschen anerkannten Götter nicht existieren und daß ihnen das Wissen fehlt,...
Der Terminus θεούς ν ο μ ί ζ ε ι ν bezeichnet im eigentlichen Sinne, an die Götter zu glauben, indem ihnen durch Kulthandlungen die gebührende Achtung entgegengebracht und auf diese Weise die Verbindung zwischen den Menschen und den Göttern hergestellt wird. Es war der Kern dessen, was die „Religion" und den „Glauben" der Griechen ausmachte 1 , wobei die Begriffe „Religion" und „Glaube" im Griechischen kein Äquivalent finden und daher besser mit „Kulthandlung" oder „Kultpflege" umschrieben sind. Damit wird die nach heutigem Verständnis so eindeutige Trennlinie zwischen Glaube und Unglaube unscharf und es öffnete sich ein größerer Spielraum für Spekulationen über das Göttliche und die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen. Prodikos schließt zwei Aspekte aus: die Existenz der Götter und das Wissen der Götter. Auf diesem unbegrenzten Wissen beruhte die Macht der Götter im täglichen Leben. Epen und Tragödien, aber auch philosophische Studien handeln von der allgegenwärtigen göttlichen Macht, die die Ordnung des menschlichen Lebens garantierte 3 . Weder die traditionellen, noch die von den Naturphilosophen angestrengten Vorstellungen vom Göttlichen haben bei Prodikos Bestand. Diese Radikalisierung der Sichtweise des Protagoras läßt in ihrer letzten Konsequenz nur die Eigenverantwortlichkeit des Menschen gelten 4 .
Henrichs, T w o Doxographical Notes, 109, Anm. 62; Parker, Athenian Religion, 213, Anm. 56. Romilly kennt den Papyrustext offenbar nicht, weshalb sie die Frage, ob es sich bei Prodikos um einen Atheisten handelte, offen läßt. Romilly, Sophists, 107, 192. Guthrie bezweifelt ebenso, daß Prodikos die Existenz der Götter geleugnet habe. Greek Philosophy, Vol. III, 212. Roßner nimmt das Papyrusfragment nicht zur Kenntnis. Roßner, Recht und Moral, lOOf. Rubel nennt zwar den Text, geht aber auf den Inhalt nicht näher ein. Rubel, Stadt in Angst, 57. 1
M. Vegetti, Der Mensch und die Götter, in: Vernant (Hrsg.), Der Mensch in der griechischen Antike, 298; J.P. Vernant, Der Mensch des antiken Griechenlands, in: ders. (Hrsg.), Der Mensch in der griechischen Antike, 16.
2
Das verdeutlichte schon die Verwendung des Begriffes ,Atheismus', vgl. Kap. II 1, 47f.; Vernant, Der Mensch des antiken Griechenlands, in: ders. (Hrsg.), Der Mensch in der griechischen Antike, 17.
3
Vgl. Kap. II 1, 62. Vgl. Kap. II 2.2.2 b.
4
3. Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos
3.3
139
Der Ursprung der Religion
Die Entstehung der menschlichen Kultur und Zivilisation war ein häufig diskutiertes Thema der Zeit, mit dem sich nicht nur Sophisten, Tragödiendichter und Philosophen, sondern auch Historiker wie Herodot beschäftigten. Reisen, die Berührung mit fremden Sitten und Kulturen lösten das Nachdenken über die Natur, die Götter und die Menschen aus 1 . Ich habe aber nicht die Absicht, hier zu erzählen, was man mir von den Göttern erzählte [in Ägypten], höchstens ihre N a m e n ; denn ich glaube, von den Göttern wissen alle Menschen gleich wenig 2 .
Die vorsichtige, eher distanzierte Haltung Herodots gegenüber den unterschiedlichen Göttervorstellungen läßt seine Beeinflussung durch die kritischen Überlegungen der Naturphilosophen und möglicherweise auch des Protagoras vermuten 3 . Erste Überlegungen über den Ursprung der Welt und der Menschheit stellten im 6. Jahrhundert die ionischen Naturphilosophen in Milet an. Anaxagoras verbreitete in der Mitte des 5. Jahrhunderts seine Lehren in Athen 4 . Er ging von einer ursprünglichen Gesamtmaterie aus, in der alle Elemente enthalten gewesen seien. Irgendwann habe eine Aussonderung stattgefunden und Menschen wie Tiere aus Teilen fest zusammengefügt 5 . Die verschiedenen Ansätze von Kulturentstehungslehren des 5. Jahrhunderts sind nicht zwingend auf eine Ursprungsquelle zurückzuführen. Sie stehen in der Tradition kritischer naturphilosophischer Betrachtungen, die sich von mythischen Kosmogonien distanzierten oder allegorische Deutungen unternahmen 6 . Prodikos führt, wie Demokrit und Kritias, den Gedankengang mit der Frage fort, wie denn der Glaube an die Götter entstanden sei. Zusammen mit Diagoras von Melos, Protagoras, Kritias, Theodoras von Kyrene und Euhemeros erscheint Prodikos in der von Cicero und Sextus Empiricus übermittelten Liste der Atheisten 7 . Der Sophist ließ es nicht mit der eindeutigen Feststellung der Nichtexistenz der Götter bewenden und setzte sich folglich mit der Frage nach dem Ursprung der Religion auseinander. 1
Vgl. Kap. I 3.1. Vgl. Hdt. 2.52ff.; Demokrit: PHerc 1428 fr. 16; Sext. Emp. adv. math. 9.24 [DK 68 A 75]; Clem. Alex. Protr. 68.5; Clem. Alex, ström. 5.102.1 [DK 68 Β 30]; Moschion fr. 6.4; Eur. Hik. 202; Isokr. Nik. (or. 3) 6. Die Thesen des Kritias (?) oder Piatons im „Mythos des Protagoras"
2 3
werden unten behandelt. Vgl. Kap. II 7.2; Plat. Prot. 320c8-322d5. Hdt. 2.3.2; vgl. auch Hdt. 1.60.3; 1.131. So auch Burkert, Griechische Religion, 463. Vielleicht waren beide an der Gründung von Thurioi beteiligt. Vgl. Kap. II 1.1, 40f..
4
Clem. Alex, ström. 1.63.2 [DK 59 A 7]: „Anaxagoras, Sohn des Hegesiboulos, aus Klazomenai. Dieser M a n n hat die Philosophie aus Ionien nach Athen verpflanzt."
5
Simpl. K o m m , zu Aristot. phys. 1561ff. [DK 59 Β 4],
6
Für Heraklit etwa besteht der Kosmos seit jeher, ohne ein Einwirken von Göttern oder Menschen. Vgl. Clem. Alex, ström. 5.104.2 [DK 22 Β 30]. Parmenides verbindet schließlich mythische und naturphilosophische Kosmogonien. In seinen Ausführungen über die Entstehung des Alls werden auch Götter geschaffen. Vgl. Aristot. metaph. 984b25f. [DK 28 Β 13]; Burkert, Griechische Reli-
7
gion, 452-460. Sext. Emp. adv. math. 9.51, 55 [DK 80 A 12]; Cie. nat. deor. 1.42, 117f.
140
II. Sophisten als Systemkritiker
Gibt es laut Prodikos keine allwissenden Götter, so ist die Pflege der Kulte ein rein gesellschaftliches Phänomen, das irgendwann seinen Anfang genommen haben muß: [Prodikos] behauptet, daß die von den Menschen verehrten Götter nicht existieren und ihnen das Wissen fehlt, und daß die Urmenschen die Früchte und alle Dinge, die zum Leben beitragen [ vergö ttlichten] 1 .
In einem weiteren, vollständigeren Teil des in Herculaneum gefundenen Papyrus nimmt die Kulturentstehungslehre des Prodikos weiter Gestalt an: Persaios aber ist offenkundig jemand, der wahrhaft betont, daß das ,daimonion' nicht sichtbar ist, oder er selbst es nicht erkennt, wenn er in der Schrift ,Über die Götter' sagt, daß es wahrscheinlich zutrifft, was Prodikos dazu geschrieben hat, daß die Nahrungsmittel und die nutzenbringenden Dinge zuerst für Götter gehalten und verehrt wurden, dann aber die Erfinder der Kulturpflanzen, der Schutzfunktionen oder aller anderer Techniken wie Demeter, Dionysos und die [Dioskouren] ..?.
Vorbildcharakter hatte vielleicht die Schrift ,Περί της έν ά ρ χ ή ι κ α τ α σ τ ά σ ε ω ς ' seines Lehrers Protagoras, von der leider nur der Titel erhalten ist. Prodikos formulierte eine rationale Erklärung des Ursprungs des Polytheismus, die weitere zeitgenössische Intellektuelle inspirierte3. Späteren Autoren lag die Schrift des Prodikos offenbar noch vor. Sextus Empiricus berichtet: Prodikos von Keos behauptet, daß die Menschen der Urzeit die Sonne, den Mond, die Flüsse und Quellen und alles andere, was für unser Leben von Nutzen ist, für Götter gehalten hätten, wegen des von ihnen gespendeten Nutzens; so dachten z.B. die Ägypter, der Nil sei ein Gott. Und so sei das Brot für Demeter, der Wein für Dionysos, das Wasser für Poseidon, das Feuer f ü r Hephaistos gehalten worden und auch alles andere, was für den Menschen nützlich gewesen sei 4 .
Das Überleben in der ungezähmten Natur formte die Idee des Götterkultes. Der Mensch habe die für sein Leben notwendigen und nützlichen Dinge als göttlich betrachtet - weil 1
PHerc 1428 fr. 19, Zeile 12-20, zitiert 136f.
2
Persaeus in: PHerc 1428 col. ii-iii [DK 84 Β 5: Philodem, de piet. c. 9, 7 (Gomperz, Herkulaneische Studien II, Leipzig 1866, 75-76)] (die Übersetzung weicht ab von Kent Sprague): Περσ[αΐος δέ]
δήλος έστιν [άναιρών] όντω[ς κ]α[1 άφανί[ζων το δαιμόνιον ή μηθέν ύπέρ αύτού γινώσκων, οταν έν τώι Περί θεών μή [άπ]ίθανα λέγηι φαίνεσθαι τα περί τα τρέφοντα και ώφελούντα θεούς νενομίσθαι και τετειμήσθ[αι] πρώτον ύπό [Προ]δίκου γεγραμμένα, μ[ε]τά δέ ταύτα τού[ς εύρ]όντας ή τροφάς ή [σ]κέπας ή τοις ά λ λ α ς τέχνας ώς Δήμητρα και Δι[όνυσον] και τού[ς Διοσκούρ]ου[ς ... . Die hier nach Henrichs zitierte griechische Textversion orientiert sich eng an der Papyrus-Vorgabe. Henrichs, T w o Doxographical Notes, 116. 3
4
Henrichs erwähnt u.a. Euripides, Euhemerus und Persaeus, die auf die Vorstellungen des Prodikos in ihren Werken zurückgriffen. Henrichs, Two Doxographical Notes, 11 Of., Anm. 64-66. Burkert, Griechische Religion, 463. Sext. adv. math. 9.18 [DK 84 Β 5] (die Übersetzung weicht von der Capelles ab; Capelle, 367, 10):
Πρόδικος δέ ò Κείος'ήλιον, φησί, και σελήνην και ποταμούς και κρήνας και καθόλου πάντα τά ώφελοΰντα τον βίον ήμών οί παλαιοί θεούς ένόμισαν διά τήν άπ' αύτών ώφέλειαν, καθάπερ Αιγύπτιοι τον Νείλον', και διά τούτο τον μέν άρτον Δήμητραν νομισθήναι, τον δέ οινον Διόνυσον, το δέ ύδωρ Ποσειδώνα, το δέ πύρ Ήφαιστον και ήδη τών εύχρηστούντων εκαστον.
3. Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos
141
er ganz offensichtlich noch keine rationale Erklärung dafür kannte, so könnte eine Ergänzung der These lauten. Die Götter waren ein Produkt des menschlichen Denkens und auch der Entwicklung der Sprache1. In einer zweiten Entwicklungsstufe habe der Mensch die Erfindungen, die göttlichen Dinge zu göttlichen Personen erhoben2. Epiphanius, einem Autor des ausgehenden 3. Jahrhunderts n.Chr., zufolge hat Prodikos die Götter als das vierte Element bezeichnet, nämlich die Sonne und den Mond. Aus diesen habe das ganze Leben seinen Anfang genommen 3 . Damit handelte es sich offensichtlich um eine Ergänzung der drei Elemente Feuer, Wasser und Erde des Heraklit4. Der Utilitarismus bildete den Auslöser und den Kern der Theorie des Prodikos, während etwa Demokrit die Entstehung der Religion aus der Furcht der Menschen vor Naturerscheinungen wie Donner, Blitz, Sonnen- und Mondfinsternis ableitete5. Für Prodikos entstanden Gottheiten wie Helios oder Poseidon, die als Wohltäter der Menschheit eingestuft wurden, auch dadurch, daß sie einen Namen erhielten. Zivilisationsbringer wie Demeter oder Dionysos lebten ursprünglich als Menschen auf der Erde6. Von ihren Zeitgenossen bewundert, wurden sie vermutlich erst nach ihrem Tod vergöttlicht. Sie handelten nicht, weil sie Götter waren, sondern sie wurden durch ihr Handeln zu Göttern. Eine solche Auffassung zerstörte die Barriere zwischen den olympischen Göttern und den sterblichen Menschen. Prodikos entwickelte die Grundlage für eine Reinterpretation des Göttlichen und trug damit zur Bildung der hellenistischen Gottesvorstellung bei. Indem er die Götter „demythologisierte" und „historisierte", ebnete er den
'
Vgl. Henrichs, T w o Doxographical Notes, 111, Anm. 67.
2
Die Theorie einer Entwicklung in zwei Phasen hat Nestle überzeugend herausgearbeitet; W. Nestle, Die Hören des Prodikos, Hermes 71, 1936, 151-170; jetzt in: Classen, Sophistik, 425-451; W. Jaeger, Die Theorien über Wesen und Ursprung der Religion, in: ders. Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953, 196-216 (engl. 1947), jetzt in: Classen, Sophistik, 49; Henrichs, T w o Doxographical Notes, 112. Henrichs verweist auf den Einfluß des Prodikos auf spätere Autoren hellenistischer Zeit, die die „Zwei-Phasen-Theorie" bestätigen. Vgl. Henrichs, Sophists and Hellenistical Religion, 141-143, bes. 142, Anm. 15. Vgl. z.B. Sext. Emp. adv. math. 9.17= Euhemerus FGrHist 63 T; Cie. nat. deor. 1.37, 118 [DK 84 Β 5], Vgl. Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law, 277.
3
Epiphan. panar. 3.507.1: Π ρ ό δ ι κ ο ς τ α τ έ σ σ α ρ α σ τ ο ι χ ε ί α θ ε ο ύ ς κ α λ ε ί , ε ί τ α ή λ ι ο ν σελήνην
έκ
γαρ
τούτων π ά σ ι
τό ζ ω τ ι κ ό ν
έλεγεν
και
ύ π ά ρ χ ε ι ν . - ein bei DK nicht
berücksichtigtes Fragment. 4
Vgl. Clem. Alex, ström. 5.105 [DK 22 Β 31]. Heraklit vertrat die Auffassung, daß alles aus dem Feuer hervorgegangen sei.
5
Der Schrecken darüber veranlaßte die Menschen, allmächtige Wesen, Götter als Urheber dieser für sie unerklärlichen Phänomene anzunehmen. Vgl. Sext. Emp. adv. math. 9.24 [DK 68 A 75]. Κ. Döring, Antike Theorien über die staatspolitische Notwendigkeit der Götterfurcht, A & A 24, 1978, 45. Romilly bezieht die Nützlichkeitserwägungen auch auf die Ausübung des Kultes. Romilly, Sophists, 193. Vgl. auch die Theorie des „Sisyphos" in Kap. II 7.2.
6
Auch für Herodot war die Vorstellung, Dionysos, Pan und auch Herakles hätten ursprünglich als Sterbliche auf der Erde geweilt, durchaus nicht abwegig. Hdt. 2.112, 118, 146; vgl. auch Eur. Bakch. 274ff. In den Vögeln greift Aristophanes den Gedanken kritisch auf. Aristoph. av. 685f. Vgl. Nestle, Vom Mythos zum Logos, 255; Kap. III 3.
142
II. Sophisten als Systemkritiker
Weg fur die imitatio dei und die Vergöttlichung hellenistischer Monarchen 1 . Im 5. Jahrhundert bedeutet jedoch Prodikos' rationale Erklärung des Ursprungs religiösen Denkens die Ablehnung einer theologisch begründeten Verehrung der Götter. Aus der Sicht des Prodikos war die kultische Verehrung der Götter innerhalb der Zivilisationsgeschichte lediglich eine soziale Institution und damit ein nomos. Konnte der Theorie des Sophisten zufolge ein solcher nomos, den er auf die Naivität der Urmenschen zurückführte, in der „modernen" Poliswelt weiterhin Gültigkeit beanspruchen? - Die Verneinung der Existenz von Göttern gibt eine vermeintlich eindeutige und negative Antwort: Die Menschen schuldeten keiner göttlichen Macht Dankbarkeit fur das „Nützliche" in ihrem Leben, denn die zivilisationsfördernden Erfindungen gingen auf ursprünglich menschliche Errungenschaften zurück. Es bleibt jedoch ungewiß, ob Prodikos selbst konsequent seinen theoretischen Überlegungen folgte und die praktische Kultausübung verweigerte, denn er blieb ein geehrter Bürger seiner Heimatinsel 2 . Die zweite Komponente des atheistischen Bekenntnisses des Prodikos bestand in der Negierung der göttlichen Allwissenheit 3 . Die olympischen Götter bildeten eine den Menschen nachempfundene Familie, eine Gesellschaft, die ethische Werte verkörperte. Die Menschen verfugten zwar schon in den Epen Hesiods über einen Freiraum bei der Gestaltung ihres Lebens, es war jedoch weitgehend durch göttlich vorgegebene Regeln organisiert 4 . Hesiod legt die Herrschaft des Zeus über Götter und Menschen dar: Ungenannt wie genannt sind durch ihn die sterblichen Männer, nach dem Willen des Zeus, des großen, berühmt oder ruhmlos 5 .
Zeus und seine Tochter Dike schützen das Recht. Unrechte Handlungen wirken sich auf die gesamte Gemeinschaft aus, denn für das Unheil sind die Menschen selbst verantwortlich 6 : Diese wachen über das Recht und vermessene Taten, wenn in luftigem Kleid sie alle Länder durchschweben, und eine Jungfrau ist Dike, Kronions leibliche Tochter, hoch in Ehren und R u h m bei den Göttern auf dem Olympos. Wenn sie nun einer verletzt, mit krummen Worten sie schmähend, setzt sie sich nieder sogleich beim Vater, bei Zeus, dem Kroniden, sagt ihm der rechtlosen Menschen Gesinnung, damit das ganze Volk abbüße die Frevel der Herren, ... 7 .
Prodikos Schloß aus, daß die Götter über ein Wissen verfugten und Einfluß auf das menschliche Leben ausübten. Bildeten die Götter nicht mehr die Basis des gesellschaftlichen Wertsystems, wer garantierte dann die Ordnung? Dem Menschen und der gesamten Polis fehlte die traditionelle ethische Grundlage zur Orientierung.
Vgl. dazu Henrichs, Demythologizing the Past, 241 f. Möglicherweise beeinflußte er mit seinem Demeter-Bild die eleusinische Literatur des ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jahrhunderts. Vgl. Henrichs, Sophists and Hellenistical Religion, 144f., 157. 2
So auch Bremmer, Götter, Mythen und Heiligtümer, 103.
3
Mit der immer währenden Existenz und dem unbegrenzten Wissen umfaßte er die grundsätzlichen Qualitäten der griechischen Götter. Henrichs bezeichnet sie als die Götter des Volksglaubens und
4
der Philosophie. Henrichs, Sophists and Hellenistic Religion, 141. Hesiod nennt zum Beispiel einige Reinheitsvorschriften beim Opfer: Hes. erg. 723-725.
5
Hes. erg. 3-5.
6
Vgl. den Mythos zu Prometheus oder den fünf Menschengeschlechtern. Hes. erg. 42-58, 105-200. Hes. erg. 254-260.
7
3. Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos
143
Daß Prodikos jedoch das Individuum keiner völligen Orientierungslosigkeit auslieferte, die auch ein zivilisiertes gesellschaftliches Zusammenleben zunichte gemacht hätte, zeigt das folgende Kapitel.
3.4
Herakles am Scheideweg: Die Bedeutung des Mythos in der Welt des Prodikos
In dem bei Xenophon überlieferten Mythos von Herakles am Scheideweg stellte Prodikos sich dem Problem und bot den Menschen eine Entscheidungshilfe 1 . Der Mythos von Herakles am Scheideweg bildete aller Wahrscheinlichkeit nach das Kernstück der Kulturentstehungslehre des Sophisten. Es gibt auch ein Buch des Prodikos mit dem Titel Hören·, in diesem läßt er den Herakles mit der „Tugend" und der „Schlechtigkeit" zusammentreffen, und wie ihn jede von beiden auf ihre Seite zu ziehen sucht, läßt er den Herakles die Partei der Tugend ergreifen und den Schweiß im Dienste dieser den rasch verfliegenden Lüsten der Schlechtigkeit vorziehen 2 . Die Hören behandelten wohl die Entwicklung der wilden Bewohner zu den Jägern und der Nomaden zu den seßhaften Ackerbauern 3 . Er leitet alle O p f e r der M e n s c h e n und Mysterien und Kulte von der ehrlichen A r b e i t d e s A c k e r b a u s ab, ... 4
stellt Themistius in seiner Rede fest. Der spätantike Autor behandelt darin die Frage, ob man Ackerbau betreiben sollte. Dazu lag ihm ein wohl schon von Xenophon genutzter Text vor5. Der Gedanke, in der Technik des Ackerbaus eines der grundlegendsten Zivilisationsgüter zu sehen, findet sich im Epos wie im Mythos 6 . Die Urbarmachung der
1
X e n . m e m . 2 . 1 . 2 1 - 3 3 [DK 84 Β 2], A u c h Romilly k o m m t zu d e m Ergebnis, d a ß die S o p h i s t e n k e i n e s w e g s alles in Frage stellten und nur eine große Leere und Unsicherheit zurückließen. Vgl. Romilly, Sophists, 132. A u c h f ü r Gorgias k o n n t e festgehalten werden, daß er d u r c h a u s positive W e r t e formulierte.
2
Schol. A r i s t o p h . nub. 361 [ D K 84 Β 1]: φέρεται δέ καί Προδίκου βιβλίον έπιγραφόμενον Ώ ρ α ι, έν ώι πεποίηκε τον Ήρακλέα τήι Άρετήι καί τήι Κακίαι συντυγχάνοντα καί καλούσης έκατέρας έπί τα ήθη τοί αυτής, προσκλίναι τήι Άρετήι τον Ήρακλέα καί τους εκείνης ιδρώτας προκριναι των πρόσκαιρων τής κακίας ηδονών.
3
So auch H e n r i c h s , Sophists and Hellenistic Religion, 142.
4
T h e m . or. 3 0 (p. 4 2 2 ) [DK 84 Β 5] (die Ü b e r s e t z u n g weicht von der C a p e l l e s ab; Capelle, 368, 11 ):
ος ίερουργίαν πάσαν άνθρωπου καί μυστήρια καί τελετάς τών γεωργίας καλών έξάπτεΐ. X e n o p h o n beschreibt in seinem Oikonomikos den A c k e r b a u als die G r u n d l a g e j e g l i c h e r Kultur. Vgl. X e n . Oik. 5, bes. 5.17: καλώς δ έ κάκεΐνος εΐπεν, δς έ φ η τήν γεωργίαν τών άλλων τεχνών μητέρα και τροφόν είναι. 5
S o Nestle, V o m M y t h o s z u m Logos, 351.
6
Die T e c h n i k e n des A c k e r b a u s nicht zu k e n n e n bedeutet, von der Zivilisation noch nicht berührt zu sein. So k e n n z e i c h n e t H o m e r das Land der unzivilisierten K y k l o p e n . Horn. O d . 9 . 1 0 6 - 1 1 2 : „ K e i n e r rührt H a n d z u m P f l a n z e n und P f l ü g e n ; sie stellen alles a n h e i m den unsterblichen Göttern. Es w ä c h s t j a auch alles o h n e Saat o d e r Pflug, der W e i z e n , die Gerste, die R e b e n . ... Sie h a b e n a u c h keine rechtliche O r d n u n g , beraten auch nicht in o f f n e r V e r s a m m l u n g . "
144
II. Sophisten als Systemkritiker
Felder und die Seßhaftigkeit unterscheidet den „zivilisierten" Menschen von den umherstreifenden Jägern und Sammlern. Untrennbar mit dieser zweiten Entwicklungsstufe ist die Ausbildung gemeinschaftlicher Regeln verbunden, zu denen auch die Ausübung von Kulten gehört. Es besteht somit eine enge Verbindung zwischen der Entwicklung eines „Gesellschaftsvertrages", hier der Polisordnung, und der kulturellen Weiterentwicklung des Menschen1. Das gemeinsame religiöse Ritual garantierte den Zusammenhalt und den Fortbestand der Polis2. Die Getreidenahrung und die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod stellten die Grundlagen des Mysterienkultes von Eleusis dar. In der eleusinischen Ausgestaltung des Demetermythos übermittelt Demeter dem Königssohn Triptolemos die Kunst des Ackerbaus3. Prodikos beschäftigte sich mit den Mysterienkulten, den Initiationsriten und der mythischen Überlieferung. Das dokumentieren die häufigen Erwähnungen Demeters, des Dionysos und des Herakles4. In seinen überzeugenden Überlegungen zu den Hören des Prodikos kommt Nestle ebenfalls zu dem Ergebnis, den Mythos in die anthropologische und soziologische Religions- und Kulturtheorie zu integrieren. Schon der Titel ~Ωραι erinnere an die Fruchtbarkeits- und Segensgöttinnen Θαλλώ, Αύξώ und Καρποί5, während sie bei Hesiod als Töchter der Themis - Ευνομία, Δίκη und Ειρήνη - ethische und rechtliche Werte verkörpern. Für Nestle besteht das Verbindungsglied zwischen der Herleitung der Religion aus dem Ackerbau und dem Mythos von Herakles am Scheideweg in den πόνοι, den Mühen des Herakles. Arbeit und Fleiß seien die Grundlagen der staatserhaltenden Gesinnung6. Dabei zieht er jedoch nicht die Schlußfolgerung, daß der Mythos vom Verfasser offensichtlich als Orientierungshilfe gedacht war, denn das Programm der Schrift ist meiner Ansicht nach durchaus weiter gefaßt. Der Titel *Ωραι verweist eindrucksvoll auf die Breite des Spektrums, das die materielle wie die ethische Basis abdeckt7. Vor einer weiteren Deutung der Lehre des Prodikos sei der Mythos im Kontext der Überlieferung des Xenophon vorgestellt. Xenophon gibt den Text nicht im originalen 1 2 3
4 5 6 7
Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag; vgl. Kap. I 3.2. Burkert, Homo Necans, 96. Ov. met. 5.645-649. Burkert, Homo Necans, 322; Smarczyk, Religionspolitik, 178f. Auf Keos, der Heimat des Prodikos, kam der bäuerlichen Gottheit Aristaios diese Rolle zu. Seine kultische Verehrung stand in einer engen Verbindung zu den Vegetationsgottheiten, den Hören. Aristaios war ein Sohn des Apollon und der Nymphe Kyrene. Nachdem Kyrene Aristaios in Afrika geboren hatte, übergab Hermes das Kind in die Obhut der Hören und der Gaia, die ihn unsterblich machten. Auf Rat seines Vaters ließ er sich später auf Keos nieder. Dort und auf seinen Reisen vermittelte er den Menschen die Künste der Landwirtschaft. Pind. Pyth. 9.59f., 60-64; Apoll. Rhod. 2.500-526; Diod. 4.82. Nestle, Vom Mythos zum Logos, 351. Philodem, de piet. c. 9, 7 (p. 75) [DK 84 Β 5]. Vgl. 136f. Paus. 9.35.2; Nestle, Die Hören des Prodikos, 152. Vgl. Nestle, Die Hören des Prodikos, 151-170; Nestle, Vom Mythos zum Logos, 352. Guthrie bezweifelt die Annahme, bei den ~Ωραι habe es sich um ein umfassendes Konzept gehalten. Die Zuweisung der Titel sei dazu zu unsicher. Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III, 279. Doch es besteht auch die Möglichkeit, daß es sich um Kapitelüberschriften handelt. Auch wenn die Bedenken Guthries möglicherweise zutreffen, ergeben die Texte zusammen betrachtet dennoch ein einheitliches Konzept.
3. Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos
145
Wortlaut wieder, sondern läßt ihn Sokrates aus der Erinnerung, in der traditionellen Manier der mündlichen Überlieferung eines Mythos referieren 1 . In einem Gespräch mit Aristippos nutzt Sokrates die moralische und pädagogische Komponente des Mythos, um ihn von der Übung der Selbstbeherrschung und dem Verzicht auf die schnellebigen Annehmlichkeiten des Lebens zu überzeugen. So stehe beispielsweise ein Herrschender im Dienste der Gemeinschaft und müsse sich vielen Dingen gegenüber enthaltsam zeigen. Dennoch sei es besser zu herrschen, als beherrscht zu werden. Aristippos entgegnet, er wähle weder den einen, noch den anderen Weg, sondern ziehe es vor, als Fremder überall in Freiheit zu leben 2 . Sokrates verweist auf die Gefahren, denen er sich dabei aussetze. Er stehe immer hinter den Bürgern zurück. Wer sich aber bemühe und Erfolge erziele, erfahre wirkliche Freude und, was Sokrates bei weitem höher bewertet, er erhalte die Achtung und Anerkennung der Gemeinschaft. Zur Bekräftigung seiner Argumente zitiert er Hesiod: Schau, das Schlechte, du kannst es auch haufenweise gewinnen, leicht; denn glatt ist der Weg und immer liegt es so nahe! Doch vor das Gutsein haben den Schweiß die unsterblichen Götter dir gesetzt, und lang ist und steil der Pfad, der hinauffuhrt, und auch rauh zu Beginn, doch wenn er die Höhe erreicht hat, leicht ist das Gutsein dann, so schwierig es immer auch sein mag ..Λ
Hesiod, dem Vermittler der traditionellen Werte, stellt Sokrates jetzt mit Prodikos einen der neuen Denker zur Seite: Auch der weise Prodikos spricht sich in seiner Schrift über Herakles, die er bekanntlich auch sehr vielen vorträgt, ebenso über die Tugend aus und sagt etwa folgendes, soweit ich mich erinnern kann. Er erzählt nämlich: Als Herakles vom Kind zum jungen Manne heranwuchs, in welchem Alter die Jünglinge bereits selbständig werden und offenbaren, ob sie sich für ihr Leben dem Weg der Tugend zuwenden werden oder dem des Lasters, da sei er in die Einsamkeit gegangen und habe sich niedergesetzt und unschlüssig überlegt, welchen von beiden Wegen er einschlagen solle 4 .
In der Einsamkeit wird Herakles eine göttliche Erscheinung zuteil: Die personifizierte Tugend - Arete, ungeschminkt, schmucklos und in einem weißen Kleid, und die Schlechtigkeit - Kakia, geschminkt und aufreizend gekleidet. Beide verheißen ihm Glückseligkeit, wenn er sich jeweils für ihren Weg entscheide. Kakia verspricht ein Leben, in dem alle menschlichen Bedürfnisse und Wünsche in Erfüllung gehen: Wenn du nun mich zur Freundin wählst, dann werde ich dich auf dem angenehmsten und bequemsten Wege geleiten, und keine Lust soll dir unbekannt sein, ..A
Xen. mem. 2.1.21: „ ... Prodikos ... sagt etwa folgendes, soweit ich mich erinnern kann." Das von Prodikos erstmals formulierte Original kann so verdrängt, oder einer Gesprächssituation angepaßt worden sein. Vgl. Nestle, Vom Mythos zum Logos, 359. Zur Quellenlage vgl. auch Roßner, Recht und Moral 103. 2
Xen. mem. 2.1.11, 13; vgl. Classen, Sophisten bei Xenophon, 162f. Eine Person namens Aristippos ist außerdem als Schüler des Gorgias genannt. Vgl. Kap. II 2.1, 68.
3
Hes. erg. 286-291 ; vgl. Xen. mem. 2.1.20. Xen. mem. 2.1.21.
4 5
Xen. mem. 2.1.23.
146
II. Sophisten als Systemkritiker
Dieser vermeintlich paradiesische Zustand wird durch egoistisches Denken und Handeln erreicht: Er solle sich nicht um Kriege und Geschäfte kümmern, sondern darüber nachdenken, was er Angenehmes zum Essen oder Trinken finde. Er solle genießen, während die anderen für ihn arbeiten'. Doch die Freude daran erscheint gekünstelt, ist nicht wirklich und von Dauer, wie auch die Schönheit der Göttin nur vorgetäuscht und rein äußerlich ist. Darin besteht die Botschaft der Arete 2 . Sie beschönigt nicht die Mühen des Lebens oder verspricht eine Linderung. Nur über den steinigen Weg der Mühen - πόνοι - ist der einzig wahrhaftige Ertrag zu erzielen: Und die j u n g e n Leuten freuen sich über das Lob der Älteren, die Älteren aber freuen sich über die Ehrerbietung der jungen Leute; gern erinnern sie sich auch ihrer früheren Taten, und sie freuen sich ebenso, die gegenwärtigen recht vollbringen zu können, zumal sie durch mich den Göttern freund sind, von ihren Freunden geliebt und in ihrem Vaterlande geehrt werden. Wenn aber das vorausbestimmte Lebensende kommt, dann liegen sie nicht in Vergessenheit ungeehrt da, sondern durch Loblieder gepriesen leben sie in der Erinnerung fort für alle Zeit. Wenn du, Herakles, Sohn rechtschaffener Eltern, dich solchen Mühen unterzogen hast, dann ist es dir möglich, die vollkommene Glückseligkeit zu gewinnen 3 .
Nach der Darstellung des Mythos hoffte Sokrates, daß Aristippos diese Einsicht auch für die Zukunft beherzige 4 . Nicht ein Leben in der Fremde, sondern die Verbundenheit mit der Heimat und die Anerkennung durch die Gemeinschaft gilt als das höchste Glück, so lautet die Aussage des Mythos 5 . Indem Sokrates Aristippos ausgerechnet mit den Worten eines Mannes, der als Sophist das Leben eines „Wanderpredigers" führte, widerlegt, entlarvt er indirekt auch die oberflächliche Haltung des Prodikos. Die Kritik des Sokrates, der selbst im Angesicht des Todes seine Heimatstadt nicht verließ 6 , richtet sich hier eindeutig gegen die Lebensweise der Sophisten. Die durch ihre Reisen weltoffenen Lehrer übten auf die jungen Männer in den Poleis eine große Anziehungskraft aus. Sokrates warnt hier seinen Schüler vor der so attraktiv erscheinenden Sichtweise und deckt die davon ausgehenden Gefahren auf. Er grenzt sich somit bewußt von den Sophisten ab. Das hinderte ihn nicht, wie bereits bemerkt, mit Hilfe eines Textes des Prodikos seine Auffassung zu untermauern. Prodikos' Mythos stützte sich auf altaristokratische Tugenden und das Leben in der Polisgemeinschaft. In der Vermittlung der traditionellen Werte allein lag jedoch nicht die Absicht des Sophisten. Das äußert sich bereits in der Art und Weise seines Umgangs mit der mythischen Überlieferung. Er weicht von dem altbewährten Schema der Vermittlung von Moral und Tugend ab und schildert keine der bekannten 1
Xen. mem. 2.1.24, 25.
2
Xen. mem. 2.1.31.
3
Xen. mem. 2.1.33.
4
Xen. mem. 2.1.34. Noch in der Spätantike diente der Mythos des Prodikos zur Illustration. So zitierte Julian ihn häufiger und schrieb schließlich selbst eine Parabel, in der er die Rolle eines zweiten Herakles spielte. Als solcher verunglimpfte er das Regime des Constantius II. und betonte seine Mission als Reformer und Wiederhersteller der alten Ordnung und Religion. Vgl. Jul. or.
5
6
2.56d. In der Fremde leben zu müssen, galt als schreckliches Schicksal. Wenn jemand es freiwillig wählte, konnte er kaum auf Verständnis stoßen. Vgl. Scholz, Der Philosoph und die Politik, 54f. Vgl. Plat. Krit. 52b-d.
3. Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos
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Heldentaten des Herakles, um die Bedeutung der arete zu erläutern. Die „alten Geschichten" mit ihren Fabelwesen schienen ihm dazu offenbar nicht mehr geeignet. Er bietet keine Erklärung, warum Herakles die Mühen auf sich genommen hatte, oder demonstriert ihn als ein Beispiel von Manneskraft und Wehrhaftigkeit 1 . Die Gestalt des Herakles sollte den jungen Zuhörern des Prodikos dennoch eine Orientierungshilfe bieten. Daher wählte Prodikos offenbar einen Helden, mit dem sich insbesondere die jungen Männer identifizierten. Dem Herakles leisteten die Epheben in Athen ihren Eid und brachten ihm Opfer dar. Er gehörte zu den Heroen der Gymnasien 2 . Im geschilderten Mythos steht Herakles selbst im Ephebenalter, auf der Schwelle zum Erwachsenensein. In der Darstellung des Sophisten repräsentiert Herakles nicht den Helden, der ruhmreiche Taten vollbracht hat und damit vom Heros zum Gott aufgestiegen war3. Sein Leben ist nicht durch eine höhere Macht, durch die Götter oder einfach das Schicksal in seinen Bahnen vorbestimmt, wie es die religiösen und teilweise auch philosophischen Vorstellungen voraussetzen. Er erscheint als ein Mensch, der eine wichtige, seinen weiteren Lebensweg prägende Entscheidung treffen muß 4 . Der bekannte Held galt als ein Wohltäter der Menschen; hatte er doch zu ihrem Fortschritt beigetragen 5 . Als solcher erscheint er auch in der gleichnamigen Tragödie des Euripides, die eine weitere, düstere Seite des Helden thematisiert 6 . Die Ambivalenz seiner Person besteht nicht nur in der Stellung als Heros und Gott7. Der mythische Held vereint in sich die Gegensätze von Kultur und wilder Natur. Die Widersprüchlichkeit hat Euripides auf der Bühne in Szene gesetzt. So symbolisiert Lyssa als das personifizierte Wilde einen Teil seines Wesens 8 . Zum Ende der Tragödie bietet Theseus dem an seinen Gegensätzen zerbrochenen Helden Hilfe an, indem er rational an die Dinge herangeht und die traditionellen Normen nicht mehr beachtet 9 . Als Hauptfigur in der Darstellung des Sophisten eignete sich Herakles besonders gut, weil er in seinem Wesen die wichtigsten Kriterien der Kulturtheorie vereinte. Herakles stand am Wendepunkt der menschlichen Erfahrungen. Er verkörperte die Zeit des Übergangs von einer Lebensphase in eine andere: Für die Entwicklung der gesamten 1
So Nestle, Die Hören des Prodikos, 168.
2
Vgl. W. Schulz, Herakles am Scheidewege, Philologus 68, 1909, 488f.; Burkert, Griechische Religion, 319.
3 4
Kirk, Griechische Mythen, 169. Den Charakter des Rationalen und Moralischen im Erziehungskonzept des Prodikos betont auch Dumont. J.-P. Dumont, Prodicos: De la méthode au système, in: Cassin, Positions de la sophistique, 23 lf.
5
Damit ist die Verbindung zu dem Gedanken der Nützlichkeit hergestellt. Vgl. Romilly, Sophists,
6
Vgl. u.a. Eur. Herakl. 668-676.
7
Vgl. dazu: S. Jäkel, Der euripideische Herakles als ein Drama der Wende, Gymnasium 79, 1972,
193f„ 204f.
50-61; G.J. Baudy, Die Herrschaft des Wolfes, Das Thema der „verkehrten Welt" in Euripides' ..Herakles", Hermes 121. 1993, 159-180; Kirk, Griechische Mythen, 169: „Sogar den Griechen war er in gewisser Weise ein Rätsel, nicht zuletzt wegen seiner ambivalenten Stellung als Heros und Gott in einem: Er allein stieg vom Heros zur Olympischen Gottheit a u f . 8
Vgl. Eur. Herakl. 815-822. Lyssa ergreift schließlich von Herakles Besitz. Eur. Herakl. 854-876.
9
Eur. Herakl. 1323-1339.
148
II. Sophisten als Systemkritiker
Menschheit symbolisierte er den Übergang vom Wilden und Ungezähmten zum Geordneten. Er hatte die Welt von den letzten gefahrlichen Ungeheuern befreit 1 . Er war der einzige vergöttlichte Mensch, den die traditionelle Mythologie kannte 2 . Seine Überwindung des Todes brachte ihn in eine enge Verbindung zu den Mysterienkulten. Einer wohl jüngeren eleusinischen Überlieferung des 5. Jahrhunderts zufolge soll er in die kleinen Mysterien eingeweiht worden sein, bevor er in den Hades hinabstieg, um Kerberos zu holen 3 . Prodikos nutzte geschickt die mit der traditionellen Gestalt verbundenen Assoziationen für seine ethische Botschaft. Er weckte den Anschein mythischer Verbindlichkeit, wobei das Publikum sicher bald erkannte, daß es sich lediglich um eine Hülle handelte. Wie sein Vorgänger Gorgias verwandte Prodikos den Mythos, um seine Wertvorstellungen zum Ausdruck zu bringen. Er ging noch einen Schritt weiter, indem er nicht auf bekannte Handlungsschemata zurückgriff, sondern einen neuen, „sophistischen" Mythos entwickelte. Dabei konnte er literarische Vorbilder nutzen, die sich um eine Definition des menschlichen Glücks bemühten. Krischer führt dazu einige Beispiele an, so auch die von Xenophon einleitend zitierten Zeilen aus den Erga Hesiods 4 . Die Feststellung Hesiods, daß man arbeiten müsse, um Wohlstand zu erlangen, fließt in den πόνος-Gedanken des Prodikos ein. In den Oden Pindars stellen dann die athletischen Wettkämpfe 5 und der Krieg 6 die notwendigen und zu begrüßenden Lasten - πόνοι - in der aristokratischen Lebenswelt dar, in der König Kroisos aufgrund seines Wohlstandes ein Ideal verkörpert 7 . Herodot greift in seinen Historien die Anekdote auf und widerlegt den Reichtum des Kroisos als Wertmaßstab in Form eines Dialoges 8 . Er läßt Solon erklären, daß ein Mensch erst am Ende seines Lebens als glücklich gelten könne 9 . Erst dann sei zu überschauen, ob ihm die Anerkennung der Gemeinschaft zukomme und ihm kein größeres Unglück widerfahren sei. Damit ist der Reichtum des Kroisos keineswegs als höchstes Gut bewertet, sondern ein ausgeglichenes und zufriedenes Leben 10 . Herodot beabsichtigte offenbar, die Weisheit des Atheners Solon dem sagenhaften Reichtum des „Barbaren" Kroisos entgegenzusetzen und die Überlegenheit des ersteren zu demonstrieren". 1
Vgl. Eurip. Herakl. 377; Apollod. 2.5.6; Paus. 8.22.4; etc. vgl. Kerényi, Mythologie, Bd. 2, 120-
2
Kirk, Griechische Mythen, 169.
124. 3
Die Weihe des Herakles in Eleusis wird im frühen 5. Jahrhundert von Pindar berichtet. P.Oxy. 2622. Vgl. auch Eur. Herakl. 613; Apollod. 2.5.12; Kirk, Griechische Mythen, 193; Burkert, H o m o Necans, 293f.
4
5
Hes. erg. 286-292; Th. Krischer, Drei Definitionen des Glücks. Pindar, Herodot, Prodikos, R h M 136, 1993, 213-222. Vgl. Pind. Ol. 5.15.
6
Vgl. Pind. Pyth. 1.53f.
7
Pind. Pyth. 1.93f.
8
Hdt. 1.30-33.
9
Hdt. 1.32.4.
10
Hdt. 1.32.5,6.
"
Die A n n a h m e Krischers, Solon sei der „ideale Repräsentant Athens und des demokratischen Geistes" widerspricht der Ansicht Herodots, erst Kleisthenes habe die Demokratie in Athen eingeführt.
3. Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos
149
Auch Prodikos verwirft die rein materiellen Güter als Beurteilungsgrundlage. Der Agon zwischen Kakia und Arete geht über eine Charakteristik der eudaimonia hinaus. Die vorgezeigten Alternativen sollen die richtungsweisende Entscheidung des Herakles bewirken. Prodikos richtet den Blick somit auf die alles entscheidende Wahl zu Beginn des eigenverantwortlichen Lebens, während Solon lediglich in einer Rückschau das Glück des Menschen beurteilt. Dennoch entspricht der von der personifizierten „Arete" vorgegebene Weg den klassischen aristokratischen Vorstellungen der „kaloikagathoi": Denn von dem wirklich Guten und Schönen - αγαθών και καλών - geben die Götter den Menschen nichts ohne M ü h e und Anstrengung, sondern wenn du willst, daß dir die Götter gnädig seien, so mußt du die Götter verehren, wenn du von deinen Freunden geliebt werden willst, so mußt du deinen Freunden Gutes tun, wenn du vom Staat irgendwie geehrt zu werden wünschest, dann mußt du dem Staat nützen, wenn du von ganz Griechenland wegen deiner Tugend bewundert zu werden verlangst, dann mußt du versuchen, dich um Griechenland verdient zu machen, ... '.
Die aristokratische Gesinnung beinhaltet neben den Aufgaben im Dienste der Gemeinschaft auch die Kultpflege. Der gesamte traditionelle Wertekanon einschließlich der Götter und ihrer Verehrung wird propagiert. Das scheint ein fulminanter Widerspruch zu der oben formulierten These zu sein, die den Mythos als eine Antwort auf die „neue" Orientierungslosigkeit der Menschen in einer Welt ohne Götter betrachtet 2 . Erst im Gesamtkontext erhält das offenbar traditionelle Weltbild der „Arete" einen anderen Bedeutungsgehalt. Die Götter geben nicht die Richtung im Leben vor. Ihr Kult fungiert lediglich als soziale Institution. Nicht die Eifersucht der Göttin Hera oder das Delphische Orakel 3 , sondern die eigenen rationalen Entscheidungen bestimmen den weiteren Lebensweg des Herakles. Prodikos vermittelt seinen Hörern, daß jeder Mensch selbst die Entscheidung trifft, welchen Weg er auch im Leben einschlägt. Über arete zu verfugen bedeutet, sich den Göttern, den Freunden, den Poleis und Hellas gegenüber gebührend zu verhalten. Dieses Verhalten gilt seit Urzeiten; und doch erinnert es eher an das von Gorgias formulierte „Gesetz der Entsprechung", denn ohne die sakrale Grundlage, den Glauben an die Götter, ist das Individuum in letzter Konsequenz auf sich allein gestellt4. Das erstrebte Hdt. 6.131.1; Krischer, Drei Definitionen des Glücks, 216 (wie 148, Anm. 4). 1
Xen. mem. 2.1.32. Nach Bockisch erinnert der Text an uralte Götterhymnen. Vgl. G. Bockisch, Prodikos bei Xenophon. Zu Motiv und Stil in den Memorabilien, in: Der Stilbegriff in den Altertumswissenschaften. Universität Rostock: Institut für Altertumswissenschaften, 1993, 9.
2
Vgl. 143.
3
Vgl. u.a. Pind. N e m . Od. 1.35-40; Apollod. 2.4.12, 2.6.3.
4
Vgl. Kap. II 2.4. Ein bei Diels unter „Zweifelhaftes" aufgeführter Text unterstützt die These: [Plat.] Eryxias 397 D ff. [DK 84 Β 8] (die Übersetzung weicht etwas von der Capelles ab; Capelle, 368, 12): „Als ein Jüngerer ihn fragte, was seiner Ansicht nach gut daran sei, reich zu sein und was schlecht, antwortete er, für die guten und tüchtigen Menschen und solche, die das Geld zu rechter Zeit zu gebrauchen wissen, für die ist es ein Gut; für die Untüchtigen und Toren ein Übel. Und so steht es auch mit allen andern Dingen. Je nachdem, was für Menschen es sind, die von ihnen Gebrauch machen, sind notwendig auch die Dinge für sie beschaffen." Capelle interpretiert den Inhalt als eine Relativierung von Gut und Böse. Das trifft meiner Ansicht nach nicht den Kern der Aus-
150
II. Sophisten als Systemkritiker
Ziel ist schließlich nur zu erreichen, wenn die Mühen und Lasten aufgenommen werden. ... keine Techné ohne Übung und keine Übung ohne Techné1, hätte Protagoras an dieser Stelle vielleicht bemerkt. Erst die entsprechende Entscheidung definiert den Standort des einzelnen in der Gemeinschaft, den Grad seiner Integration und, daraus resultierend, den Grad seines Ansehens. Die Fähigkeit der Selbstbestimmung macht den jungen Menschen zu einem Erwachsenen. Die Entscheidung für die arete kann als einzig gültiges „Initiationsritual" gelten. Prodikos' Welt- und Menschenbild ist durch Mühen und Arbeit gekennzeichnet: Es ist nicht lange her, da hielt er eine Rede im Haus des Kallias, Sohn des Hipponikos, und sagte solche Dinge über das Leben, daß ich für meine Person um ein Haar das Menschenleben verachtet hätte und, Axiochos, seitdem wünscht meine Seele zu sterben 2 .
Die hier angedeutete, pessimistische Sichtweise findet schließlich bei Kritias eine Parallele 3 , trifft jedoch kaum den Kern der Auffassung des Prodikos. Ihm zufolge ist ein aktives und auch anstrengendes Leben nicht beklagenswert, sondern im Gegenteil, nur ein solches bietet wirkliche Erfüllung 4 .
3.5
Zusammenfassung
Eine Vielzahl von Kriterien spricht dafür, die Geschichte von „Herakles am Scheideweg" in die Kulturentstehungstheorie einzugliedern. Auch wenn der Text nicht wortgetreu auf Prodikos zurückgeht, wie Xenophon bemerkt 5 , ist die Authentizität des Stoffes vorauszusetzen 6 . Piaton zufolge wählte Prodikos die Form der Prosa - καταλογοίδην, womit er sich von den professionellen Mythenerzählern, den Dichtern, Rhapsoden, Chorsängern und Schauspielern abgrenzte 7 . Nachdem er die Existenz von Göttern in jeder Hinsicht verneint hatte, lieferte er im ersten Teil der Hören eine rationale Erklärung für die Entstehung der menschlichen Kultur und des damit eng verknüpften Ursprungs der Götterverehrung. Der allegorischen Deutung der Götter Homers 8 , seinem
sage. Prodikos differenziert die materiellen Werte, als ein solcher sind der Reichtum und die moralischen Werte zu bezeichnen, für die nur der Mensch der Maßstab sein kann. 1
Stob. 3.29.80.1 [DK 80 Β 10], Vgl. dazu auch den Protagoras-Dialog Piatons.
2
[Plat.] Axiochos 366c [DK 84 Β 9] (die Übersetzung weicht etwas von der Capelles ab; Capelle, 368, 12).
3
Vgl. Kap. II 7.2 c.
4
Berührungspunkte mit den Reden der Arete im Herakles:
5
Vgl. Xen. mem. 2.1.21.
Aristoph. PI. 467-597.
6
Vgl. dazu Bockisch, Prodikos bei Xenophon, 9, Arm. 11.
7
Plat. Symp. 177b. Vgl. auch Kap. II 2.2.1, 74. Ob ein Mythos in Versform vorgetragen wurde, hing vor allem davon ab, ob er musikalisch begleitet wurde. Die mündliche Tradierung erforderte ein mnemotechnisches Verfahren wie Metrik oder formelhafte Wiederholungen. Noch in Piatons Sprache ist die Übergangsphase von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit zu beobachten. Vgl. Brisson, Philosophie des Mythos, 22.
8
Allegorische Mythendeutungen unternahmen angeblich bereits Theagenes aus Rhegion in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, Anaxagoras und Demokrit im 5. Jahrhundert. Vgl. Brisson, Philosophie des Mythos, 49-51.
3. Eine neue Bewertung von Religion und Mythos durch den Atheisten Prodikos
151
logos, folgte ein Heroenmythos als didaktisches Exempel zur Vermittlung ethischer Werte. Für den außerhalb der „materiellen" Ebene liegenden Bereich, der nur den Gefühlen, den Sinnen und dem Intellekt zugänglich ist, wählte er den Mythos als Darstellungsform 1 . Leider ist nicht mehr festzustellen, ob sich in dem Prosatext noch die Übergangsphase zwischen Poesie und Prosa widerspiegelte 2 . „Herakles am Scheideweg" sollte Wertvorstellungen und Orientierungshilfen in einer Welt ohne Götter vermitteln. Dies scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch in sich zu sein. Doch ist an dieser Stelle die besondere Funktion von Heroenmythen zu berücksichtigen. Der Heroenmythos diente traditionell als Exempel 3 . Der Sophist behält lediglich die äußere Form des Mythos bei, indem er den bekannten Helden auf zwei Göttinnen treffen läßt, wobei die Ausgangssituation an das „Urteil des Paris" erinnert 4 . Er verläßt den Boden der Tradition, indem er insgesamt eine völlig neue Handlung entwirft, ohne die geographische Lage des Ortes zu nennen. Die Schaffung eines neuen Mythos in Prosa setzte sich sprachlich von der traditionellen Dichtung ab. Die Erzählform in Prosa, so wie sie wohl von alters her im Familienkreis angewandt wurde 5 , richtete sich jetzt nicht an Kinder, sondern an Jugendliche und Erwachsene. Offenbar erkannte der Sophist die wertvolle Wirkung der Erzählung eines Mythos auf das Publikum. Die Hörer identifizierten sich leicht mit dem „Helden" und wurden auf diese Weise zu einer bestimmten Haltung veranlaßt 6 . Der Mythos diente Prodikos zur Vermittlung rein ethischer Werte. Für die Erklärung der Entwicklung der menschlichen Kultur und der Rolle der Götter verlor er seine Gültigkeit. Götterkult und traditionellen Mythen kamen in der Welt des Prodikos nur noch eine marginale Bedeutung als gesellschaftliche Einrichtungen zu7. Ohne tieferen Gehalt oder Anspruch auf Verbindlichkeit spielten sie für das individuelle Leben und fur den Erhalt der Polis keine Rolle. Die Menschen hatten die Entwicklung ihrer Kultur selbst bestimmt und vorangetrieben. Nach wie vor hatte der aristokratische Grundsatz Bestand, im Interesse der Gemeinschaft sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und nicht den „glatten Weg" zu wählen. Indem jeder einzelne sein Verhalten an anthropozentrischen Moralkonzepten orientierte, trug er letztlich selbst die Verantwortung für sein persönliches Leben und das Wohl der Polis. Dem kollektiven Erziehungsanspruch der Stadtstaaten stand jetzt die Entscheidung und Verantwortung des einzelnen gegenüber, personifiziert in der Figur des Herakles, dem Heros der Epheben, und gelöst von jeglicher religiöser oder mythischer Basis. Leider ist nicht bekannt, wann Prodikos seine Thesen vortrug, was eine historische Einbindung seiner Lehren erschwert. Den Anspielungen in den Komödien des Es ist nicht zu klären, ob Prodikos logos und mythos
so deutlich differenzierte wie Piaton. Vgl.
Brisson, Philosophie des Mythos, 35. 2
Vgl. Bokisch, Prodikos bei Xenophon, 9.
3
Vgl. Kap. I 3.1.
4
Vgl. Kerényi, Mythologie Bd. 2, 247.
5
Piaton nennt die Großeltern oder Ammen in der Familie als die nichtprofessionellen Mythenerzähler. Vgl. Plat. Pol. 377c2-4. Brisson, Philosophie des Mythos, 22.
6
Vgl. Kap. II 2.2.2 c, 92.
7
Vgl. Martin, Entstehung der Sophistik, 152.
152
II. Sophisten als Systemkritiker
Aristophanes zufolge hielt sich Prodikos um 423, 414 und 410 in Athen auf 1 . Eine Verbindung des Sophisten zu den politischen Ereignissen innerhalb dieses Zeitraumes läßt sich lediglich über seinen Schüler Theramenes herstellen, der sich im Jahre 411 am Sturz der attischen Demokratie beteiligte 2 . Um die Oberhand in dem inneroligarchischen Machtkampf zu gewinnen, setzte sich Theramenes für die Verfolgung der Vierhundert und die Einrichtung der Herrschaft der Fünftausend ein. Seine Befürwortung einer „gemäßigten" Oligarchie nach dem Modell der boiotischen Hoplitenpoliteia erfolgte somit kaum aus einer persönlichen Überzeugung heraus 3 . Als „Wendehals" in der Komödie verspottet, erreichte er bei seinen Zeitgenossen keine gesellschaftliche Wertschätzung. Zeitgenossen wie Aristophanes sahen in ihm ein Mitglied einer skrupellosen Politikergeneration, die sich an keine traditionellen Werte mehr gebunden fühlte und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht war4. Auch im Jahre 404 nahm er in einer führenden Rolle am Sturz des demokratischen Systems teil. Dabei fiel er dem Machtstreben seines Gegners Kritias zum Opfer, der aufgrund seines literarischen Schaffens als „Sonderfall" unter den Sophisten genannt ist und in Kapitel II 7 ausführlich vorgestellt wird. Nach seinem Tod unter der Gewaltherrschaft der dreißig Tyrannen im Jahre 403 wurde Theramenes auf Betreiben seiner früheren Anhänger zu einem „Märtyrer" 5 . Folgte der Staatsmann den Theorien seines Lehrers Prodikos, dann glaubte er nicht an die Götter, und nur die rationalen Entscheidungen eines jeden einzelnen hatten für ihn Gewicht. Den hohen Zielen des Moralkonzeptes seines Lehrers Prodikos zeigte er sich offensichtlich nicht gewachsen, denn er wählte nicht den beschwerlichen Weg, im Interesse der Polisgemeinschaft zu handeln, sondern folgte lediglich seinen persönlichen Ambitionen. Am Beispiel der Folgen der eigentlich charakterlichen Schwäche des Theramenes ist eine negative Wirkung des Einflusses der sophistischen Lehren des Prodikos greifbar. Damit entspricht möglicherweise die Information des Eryxias-Dialoges, Prodikos sei wegen seiner jugendverderbenden Ansichten aus dem Gymnasium verwiesen worden, der Wahrheit 6 .
1
Vgl. oben 133.
2
Thuk. 8.68.4. Vgl. Kap. II 2.5, 131; Kap. II 4.2.2, 166Í; Kap. II 6.1, 191 f.; Kap. II 7.1, 228-230,
3
Thuk. 8.92.2-11. Vgl. J. Engels, Der Michigan-Papyrus über Theramenes und die Ausbildung des
232f. ,Theramenes-Mythos\ ZPE 99, 1993, u.a. 128-133; Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, u.a. 346f. 4
Vgl. 135; Aristoph. ran. 967; vgl. dazu Kap. III 4, 321.
5
Xen. Hell. 2.3.23-56. Zur kurz nach 403 einsetzenden Ehrenrettung des Theramenes vgl. den Michigan-Papyrus: Youtie/Merkelbach, Michigan-Papyrus; Engels, Der Michigan-Papyrus über
6
Theramenes, 125-155, bes. 145ff. [Plat.] Eryx. 399; vgl. 133.
4. Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos 4.1
Zur Person
Thrasymachos stammte aus Chalkedon in Bithynien, einer Kolonie Megaras und Bündnerstadt Athens 1 . Nur wenige Daten seiner Biographie lassen sich ermitteln: Einem Hinweis des Dionysios von Halikarnassos zufolge ist Thrasymachos sehr wahrscheinlich jünger als der Redner Lysias gewesen, der um 445 geboren wurde 2 . Thrasymachos gehörte zusammen mit Lysias, Euthydemos, den Brüdern des Polemarchos, Charmantides und Kleitophon zum Kreis der jungen Männer im Hause des Polemarchos. Der fiktive Handlungszeitraum der um 375 verfaßten Politeia Piatons ist angesichts des Geburtsdatums des Lysias in die Zeit zwischen 429 und 404 anzusetzen 3 . Auch die Rahmenhandlung der Politeia läßt vermuten, daß Thrasymachos und Lysias einer Altersgruppe angehörten: Zu Beginn des ersten Buches befinden sich Sokrates und Glaukon nach der Feier des Bendisfestes auf dem Rückweg in die Stadt und nehmen auf die Bitte des Polemarchos hin an einem Symposion teil: ( P o l e m a r c h o s ) : ... Wir w e r d e n also nach der M a h l z e i t u n s a u f m a c h e n und mit vielen j u n g e n Leuten dort Zusammensein und G e s p r ä c h e p f l e g e n . . . . W i r gingen also mit zu P o l e m a r c h o s u n d f a n d e n dort den Lysias und E u t h y d e m o s , die B r ü d e r des P o l e m a r c h o s , dann auch T h r a s y m a chos, den C h a l k e d o n i e r , und C h a r m a n t i d e s , den Päanier, und K l e i t o p h o n , den S o h n
des
Aristonymos4.
In die Zeit des Peloponnesischen Krieges ist Thrasymachos' an die Athener gerichtete Rede Über die Verfassung zu datieren5. Handelte es sich hierbei um einen Beitrag zu der seit 413 in Athens Öffentlichkeit einsetzenden Verfassungsdebatte 6 , durfte Thrasymachos als Fremder seine Thesen nicht selbst in der Volksversammlung vorbringen 7 . Vielleicht hatte er den Text als eine Auftragsarbeit verfaßt. Die Deutung der Schrift Über die Verfassung ist ausgesprochen umstritten und verdient eine ausfuhrliche Behandlung im folgenden Kapitel. Lange Zeit wurde ein kleiner Auszug aus den Daitales des Aristophanes als Beleg für die Anwesenheit des Thrasymachos in Athen vor 427 gewertet. In der Komödie 1
Sud. s.v. T h r a s y m a c h o s [DK 85 A 1]; Ath. 10.454f [DK 85 A 8]; Dion. Hal. D e m . 3 ( R a d e r m . , 132, 3) [ D K 85 Β 1]; Ath. 10.416a [ D K 85 Β 4]; Plat. Phaidr. 2 6 7 c ; H e r m i a s K o m m , zu Plat. P h a i d r . 2 6 7 c ( C o u v r e u r , p. 239, 18) [ D K 85 Β 6], Z u r B e z i e h u n g der Polis C h a l k e d o n zu A t h e n vgl. T h u k . 4.75; X e n . Hell. 2.2.1; 4 . 8 . 2 8 ; Diod. 13.66; Plut. Alk. 2 9 - 3 1 .
2 3
D i o n . Hal. Lys. 6. Vgl. Lesky, Griechische Literatur, 6 6 5 ; Untersteiner, T h e Sophists, 312. D e n U n t e r s u c h u n g e n Parkers z u f o l g e ist die V e r e h r u n g der Göttin B e n d i s in A t h e n nicht vor 4 2 9 w a h r s c h e i n l i c h . Parker, Athenian Religion, 172. P o l e m a r c h o s und N i k e r a t o s starben im Jahre 4 0 4 . Vgl. Guthrie, G r e e k P h i l o s o p h y , Vol. IV, 437f.; St. A. White, T h r a s y m a c h o s t h e D i p l o m a t , C P h 45, 1995, 3 2 4 - 3 2 6 .
4
Plat. Pol. 328a, b.
5
D i o n . Hal. D e m . 3 (Raderm., 132, 3) [DK 85 Β 1],
6
V g l . T h u k . 8.1.
7
Aristot. Ath. Pol. 42.1; H a n s e n , D e m o k r a t i e , 132f.
154
II. Sophisten als Systemkritiker
nannte ein Vater seinen Sohn im Streit „einen Thrasymachos". Storey bemerkt, daß damit nicht der Sophist gemeint sein konnte, denn es finde sich dazu keine Parallele im Sprachgebrauch des Aristophanes. Die Verwendung des Vokativs deutet vielmehr darauf hin, daß ein Charakter des Stückes angerufen wird, der einen für Aristophanes typischen, nämlich „sprechenden" Namen trägt. Θρασύς und μ ά χ η paßt gut in den Kontext der Konfrontation zwischen Vater und Sohn1. Eine Datierung des Aufenthaltes des Sophisten in Athen ist damit nicht gegeben. Der Schwerpunkt der Tätigkeit des Thrasymachos lag auf dem Gebiet der Rhetorik: ... die aber jetzt einen Namen besitzen, haben das Lehrgut von vielen Vorgängern, die es wie durch Überlieferung schrittweise weiter entwickelten, überkommen und ihm zu
diesem
Wachstum verholfen, Tisias nach den Ersten, Thrasymachos nach T i s i a s , . . . 2 .
Ein Scholion zu Isokrates Schrift gegen die Sophisten ordnet Thrasymachos ebenfalls in die Reihe der großen Rhetoriklehrer ein. Der anonyme Autor kommentiert die Worte des Isokrates über „Sophisten, ..., die ohne Bedenken ,technai' verfaßten": Er meint Tisias und Korax, die Syrakusaner, sowie Gorgias und Thrasymachos, welche als erste ,technai' verfaßten 3 .
Wahrscheinlich gehörte Thrasymachos zu den Schülern des Gorgias, das deutet zumindest eine Stelle in Piatons Phaidros an, in der Gorgias als Nestor und Thrasymachos als Odysseus bezeichnet werden4. Nicht Thrasymachos, sondern der 427 in Athen eingetroffene Gorgias erregte durch seine ungewöhnlichen Reden die Aufmerksamkeit des attischen Publikums5. Auch die Nähe ihrer Studiengebiete läßt auf einen engen Kontakt schließen. Beide verfaßten Lehrbücher zur Rhetorik, die eine bedeutende Wirkung in der attischen Kunstprosa erzielten6. Redefiguren wie zum Beispiel Antithesen oder Parisosen bestimmten ihren Redestil7. Thrasymachos widmete sich in der ρητορική τέχνη wie Gorgias der psychologischen Wirkung der Rede8: 1
Aristoph. Dait. fr. 198 [DK 85 A 4], I.C. Storey, Thrasymachos at Athens. Aristophanes fr. 205 (DAITALES), Phoenix 42, 1988, 212-218. Auch Aristoteles weist auf die Bedeutung des N a m e n s hin. Aristot. rhet. 1400b 19 [DK 85 A 6]. Vgl. dagegen die bislang vertretene Schlußfolgerung: „The Daiteleis was produced in 427 BC, and this shows that Thrasymachos was an established figure in the Athenian consciousness even before Gorgias" (Rankin, Sophists, 58). Vgl. A. Fuks, The Ancestral Constitution. Four Studies in Athenian Party Politics of the Fifth Century B.C., Westport 1975 ( N D 1953), 102; Kerfeld, Sophistic Movement, 51; Roßner, Recht und Moral, 191.
2
Aristot. Soph. El. 33, 183b29 [DK 85 A 2],
3
Schol. zu Isokr. adv. Soph. (or. 13) 19 [Gorg. Test. 2],
4
Plat. Phaidr. 261b, c. [Gorg. fr. 14]
5
Diod. 12.53.3 [DK 82 A 4]. Die Annahme, Thrasymachos sei schon vor Gorgias ein bekannter Rhetoriklehrer in Athen gewesen, stützt sich allein auf die oben genannte Stelle in Aristophanes' Daitales und wird auch durch die Informationen zu Gorgias widerlegt.
6
Schol. zu Isokr. adv. Soph. (or. 13) 19 [Gorg. Test. 2]; Schol. zu Aristoph. av. 880 [DK 85 Β 3]; Plat. Phaidr. 267c [DK 85 Β 6]; Plut, quaest. conv. 1.2, 3 [DK 85 Β 7]; Philodem. rhet. 2.49 [DK 85 Β 7a],
7
Cie. or. 12.39 [Gorg. Test. 30]; Cie. or. 13.40 [DK 85 A 12], Vgl. Zosim. aus Äthan. Alexandr. Proleg. zu Hermog. stat. (Proleg. Syll. 180, 9-20, ed. Rabe) = Gorg. Epit. [fr. 5a], Vgl. auch Aristot. rhet. 1409a2.
8
Sud. s.v. Thrasymachos [DK 85 A 1]; vgl. Kap. II 2.1, 70.
4. Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos
155
Auch im Erzürnen der Menge ist dieser Mann gewaltig und wiederum darin, die Erzürnten zu kirren, wie er sagt 1 .
Hermias bemerkt in seinem Kommentar zu dieser Stelle: Der Chalkedonier Thrasymachos lehrte folgendes: Man muß den Geschworenen dazu bewegen, sich zu grämen und sein Mitleid erflehen, sein Alter, seine Armut, die Kinder und ähnliches bejammern 2 .
Bekannt für seine schlüssigen und präzisen Formulierungen3 galt der Sophist außerdem als der Erfinder der Satz-Periodisierung und des Prosarhythmus4. Die Hiatvermeidung ging jedoch wohl eher auf Gorgias zurück; Isokrates erhob sie schließlich zum Gesetz 5 . Die sicher unter dem Einfluß der Lehren des Gorgias entstandenen Abhandlungen zur Rhetorik machten wohl den größten Teil seines Bildungsangebotes aus. Außerdem verfaßte er epideiktische Reden, wobei Gerichtsreden nicht erhalten blieben6. Schriften politischen Inhalts stellen die bereits erwähnte Rede an die Athener und eine weitere, an die Larisäer gerichtete dar7. Zu einer allgemeinen politischen Thematik bezieht der „platonische" Thrasymachos in der Politeia Stellung, indem er sich ungeduldig und ungestüm in die Diskussion über die Definition von Gerechtigkeit einmischt: Thrasymachos nun war, auch schon während wir miteinander redeten, oft im Begriff gewesen, in die Rede einzugreifen, war aber von den Anwesenden gehindert worden, welche gern unsere Rede zu Ende hören wollten. Als wir aber eine Pause machten, nachdem ich dies gesagt hatte, konnte er nicht länger Ruhe halten, sondern raffte sich auf und kam auf uns los, recht wie ein wildes Tier, um uns zu zerreißen, sodaß ich und Polemarchos ganz außer uns waren vor Schreck 8 .
Das aufbrausende Temperament läßt den Sophisten zu einem „Tier" werden und zeigt ihn in einem überaus scharfen Kontrast zu dem sich schnell wieder fassenden, mit gelassener Ironie reagierenden Sokrates9. Ein aktives, politisches Eingreifen des Sophisten sieht White aufgrund einer Stelle in den Politika des Aristoteles als erwiesen an. Während seiner Reisen habe er den Sturz 1
2 3 4
5
6
7
Plat. Phaidr. 267c, d [DK 85 Β 6]. Thrasymachos soll ein Werk namens Eleoi geschrieben haben, in dem er die gefühlsmäßigen Wirkungen eines Schauspiels behandelte. Aristot. rhet. 1404a] 3 [DK 85 Β 5], Hermias zu Plat. Phaidr. 267c, d (Couvreur, p. 239, 18) [DK 85 Β 6], Dion. Hal. Is. 20 [DK 85 A 13], Cie. or. 52.175f. [Gorg. Test. 32]; Cie. or. 13.40 [DK 85 A 12]; Eisenhut, Einführung in die antike Rhetorik, 14 (wie 70, Anm. 9). Vgl. Kap. II 2.1, 70.
Dion. Hal. Is. 20 [DK 85 A 13]: ... πάς δέ έστιν έν τοις τεχνογραφικοίς και έπιδεικτικοΐς, δικανικούς δέ [ή συμβουλευτικούς] ούκ άπολέλοιπε λόγους, ... Wie bei Gorgias erzielt der Rhetor eine doppelte Wirkung: Er ist ein rationalistisch linguistischer Techniker mit mancher Kenntnis der menschlichen Emotionen und einem nahezu magischen Charme. Die praktische Natur seiner Aktivitäten bringt aber wiederum diese beiden Aspekte in eine funktionale Einheit. Vgl. Segal, Gorgias, 116. Dion. Hal. Dem. 3 (Raderm., 132, 3) [DK 85 Β 1]; Clem. Alex, ström. 6.16 (II 435, 16 St.) [DK 85
Β 2], 8 9
Plat. Pol. 336b [DK 85 A 10] (die Übersetzung weicht etwas von der Schleiermachers ab). Vgl. Plat. Pol. 336e-337a.
156
II. Sophisten als Systemkritiker
der Demokratie in Kyme bewirkt 1 . Meiner Ansicht nach bleiben zu viele Fragen offen, denn weder der genannte Ort „Kyme", noch die in diesem Zusammenhang erwähnte Person „Thrasymachos" lassen sich zweifelsfrei identifizieren 2 . Ist die Annahme dennoch zutreffend, läßt er sich als Oligarch einordnen. Wie Gorgias gehörte er zu den bezahlten „Weisheitslehrern" 3 und hielt sich zeitweise in Thessalien auf, wo er eine Rede an die Larisäer verfaßte, aus der leider nur ein Satz überliefert ist: In Anlehnung an Euripides' Telephos\ Sollten wir, die wir Griechen sind, den Barbaren als Sklaven dienen?,
fragt Thrasymachos: Sollten wir Sklaven des Archelaos sein, wir, die wir Griechen sind, Sklaven eines B a r b a r e n ? 4
Der Sophist appelliert an den Hellenenstolz der Bürger, die Autonomie Thessaliens gegen den zwischen 413 und 399 regierenden Makedonenkönig Archelaos zu verteidigen 5 . In denselben außenpolitischen Kontext gehört offensichtlich der Inhalt der Rede περί π ο λ ι τ ε ί α ς , in welcher Herodes Atticus den attischen Stil klassischer Zeit so geschickt imitierte, daß sie für ein echtes Dokument des 5. Jahrhunderts v.Chr. gehalten wurde 6 . Die Frage der Autorschaft ist aber nach wie vor umstritten; sicher ist, daß der Verfasser auf gute historische Quellen zurückgreifen konnte 7 . Die Rede ist von dem gleichen panhellenischen Ton geprägt wie das Thrasymachos-Fragment, wenn sie zur Allianz mit Sparta gegen Archelaos auffordert 8 . Die Datierung der hier angesprochenen politischen Situation Thessaliens wird dadurch erschwert, daß keine eindeutigen Fakten im Text genannt sind. Die führenden Familien Thessaliens unterhielten jeweils persönliche Bindungen zu den Mächtigen Griechenlands, zu Athen, Sparta und Makedonien 9 . In den letzten Jahren des 5. Jahrhunderts war ein Bürgerkrieg zwischen den einzelnen Herrscherfamilien
White interpretiert eine Bemerkung des Aristoteles als ein bisher vernachlässigtes Testimonion. Aristot. Pol. 1304b. White, Thrasymachos the Diplomat, bes. 326f. 2
Gehrke bemerkt berechtigterweise kritisch: „Falls sich die Beseitigung der Demokratie in K y m e durch einen gewissen Thrasymachos auf dieses und nicht das italische Kyme bezieht, mag man sie mit dem Abfall (Kymes um 412 von Athen) verbinden, sicher wäre auch dies nicht." Gehrke, Stasis, 99.
3
Plat. Pol. 337d; vgl. Kap. II 2.1, 68f.
4
6.16 (II 435, 16 St.) [DK 85 Β 2]: ΥΠΕΡ ΛΑΡΙΣΑΙΩΝ: (καί μην έν Τηλέφωι είπόντος Εύριπίδου) „"Ελληνες όντες βαρβάροις δουλεύσομεν"; (Eurip. fr. 719) Θρασύμαχος έν τώι υπέρ Λαρισαίων λέγει· ,/Αρχελάωι δουλεύσομεν 'Έλληνες όντες βαρβάρωι;"
5
Wie keiner der acht Könige zuvor hatte Archelaos laut Thukydides die makedonische Kriegsmacht ausgebaut. Thuk. 2.100.
6
Vgl. W. Ameling, Herodes Atticus, I Biographie, Hildesheim u.a. 1983, 119f.; Nesselrath, Geschichte der griechischen Literatur, Kaiserzeit, in: ders., Griechische Philologie, 273.
7
Vgl. auch Sprawski, Jason of Pherae, 35.
8
Vgl. [Herodes] Περί πολιτείας; vgl. U. Albini, [Erode Attico] Περί πολιτείας, Einleitung, Text und Kommentar, Florenz 1968; Stählin, RE XII, 1925, s.v. Thessalien, 122; Lesky, Griechische Literatur, 934; Funke, Homónoia und Arché, 39f., Anm. 42; Sprawski, Jason of Pherae, 34-38.
9
Vgl. Sprawski, Jason of Pherae, 29; Thuk. 4.132.2.
Clem. Alex, ström.
4. Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos
157
ausgebrochen, in den auch Kritias verwickelt war 1 . Lykophron von Pherai bemühte sich, die Kontrolle über das ganze Land zu erreichen und besiegte die Aleuaden von Larisa im September des Jahres 404 2 . Seine Herrschaft in Larisa währte jedoch nicht lange, denn im Jahre 401 verfugten die Aleuaden Aristippos und Menon, beide Schüler des Gorgias, über die Autorität, den Zug der Zehntausend gegen Artaxerxes II. mit einem thessalischen Söldnerheer zu unterstützen 3 . Zuvor hatte der persische Prinz Kyros dem Larisäer Aristippos eine finanzielle Hilfe zur Bekämpfung seiner Gegner zukommen lassen 4 . Die Situation in Thessalien wandelte sich jedoch nach dem Scheitern des Thronwechsels in Persien. Lykophron sah eine erneute Chance, seine Herrschaft auf Thessalien auszubreiten. Ein Eingreifen Spartas oder des makedonischen Königs Archelaos ist fur diesen Zeitraum zwar nicht zweifelsfrei nachzuweisen 5 , aber das Redefragment des Thrasymachos und περί π ο λ ι τ ε ί α ς könnten ein Beleg dafür sein. Mit Kyros hatten die Aleuaden ihre wichtigste Stütze verloren, weshalb sie über Alternativen nachdenken mußten. In Frage kamen offenbar der makedonische König und Sparta, die beide die Gelegenheit beim Schöpf packen mußten, ihre Einflußsphäre auf das reiche Land auszudehnen. Während Thrasymachos in seiner Rede an die Larisäer vor dem Verlust der Autonomie unter der Vorherrschaft des Makedonen Archelaos warnt, wird in der Rede περί π ο λ ι τ ε ί α ς die Unterstützung Spartas befürwortet. Die Forderung des namentlich nicht genannten Autors, zur πάτριος π ο λ ι τ ε ί α zurückzukehren 6 , gibt keinen Aufschluß auf ein konkretes Verfassungsmodell. Doch die Tatsache, daß Thrasymachos den Terminus in die Verfassungsdebatte in Athen um 411 eingeführt hatte, was in Kapitel II 4.3 noch ausführlich erörtert wird, legt die Vermutung nahe, in der zeitgenössischen Rede des Sophisten aus Chalkedon eine der Quellen des Herodes Atticus zu sehen. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Larisa könnte die Rückkehr zur π ά τ ρ ι ο ς π ο λ ι τ ε ί α eine Wiedereinsetzung der Aleuaden und ein Ende der Herrschaft des Lykophron bedeuten. Dabei sollte die Hilfe von Griechen in Anspruch genommen werden. Die Argumente des Thrasymachos und der Rede über die Verfassung dienten der Propaganda einer Sparta zugeneigten Politik Thessaliens 7 . Die Grundlage dafür hatte sicherlich Gorgias mit der erstmaligen Formulierung des panhellenischen Gedankens im Palamedes geschaffen 8 . Leider ist nicht bekannt, seit wann sich Thrasymachos in Thessalien aufhielt, und ob er die Gelegenheit hatte, dort Gorgias oder Kritias zu treffen. Der zur Zeit des Peloponnesischen Krieges neutrale Staat 9 diente offensichtlich Exilierten als Zufluchtsort. Die
1 2
Vgl. Kap. II 7.1, 230f. Vgl. Xen. Hell. 2.3.4; vgl. Kap. II 2.1, 69.
3
Xen. an. 1.2.6; vgl. Kap. 112.1,69.
4
Xen. an. 1.1.10.
5
Ein Interesse Spartas an einer Ausweitung der Einflußsphäre in den nördlichen Regionen zeigt bereits die G r ü n d u n g der Kolonie von Herakleia Trachina im Jahre 426, die Thessalien als eine deutliche Bedrohung empfinden mußte. Vgl. Thuk. 3.92, 93; Sprawski, Jason of Pherae, 26.
6
Vgl. Sprawski, Jason of Pherae, 37.
7
Vgl. Funke, Homónoia und Arché, 39f.
8
Vgl. Gorg. Pal. [fr. 1 la37]; Kap. II 2.3, 103. Vgl. Kap. II 2.1, 69f.
9
158
II. Sophisten als Systemkritiker
reichen Herrscherfamilien der Städte Thessaliens hegten ein reges Interesse an den Gebildeten ihrer Zeit. So wußte Diogenes Laertius zu berichten, daß Sokrates die reichen Angebote der Mächtigen der Erde, wie Skopas aus Krannon, Eurylochos aus Larisa oder Archelaos von Makedonien, standhaft ablehnte - offensichtlich im Gegensatz zu den Sophisten1. Wann und unter welchen Umständen Thrasymachos starb, bleibt im Dunkeln. Ein Scholiast erklärt den folgenden Iuvenaltext Viele reute das erfolglose, unfruchtbare Lehramt, wie das Ende des Thrasymachos beweist2
- als einen Ausspruch eines Atheners, der sich aufgehängt habe3. Leider ist die Lesung des Namens „Thrasymachos" bei Iuvenal nicht ganz sicher. Entspricht die Überlieferung jedoch den historischen Tatsachen, dann nahm sich der Sophist resigniert das Leben. Seine Lehrtätigkeit war ohne Wirkung und daher erfolglos geblieben4. Schließlich bleibt nicht viel mehr zu seiner Biographie anzuführen als die angebliche Inschrift seines Grabsteins: Neoptolemos von Paros sagt in seinen „Epitaphien von Chalkedon", daß der folgende Epitaphios auf einem Gedenkstein des Sophisten Thrasymachos steht: „Der Name: Theta, Rho, Sigma, Ypsilon, My, Alpha, Chi, Omikron, Sigma. Geburtsort: Chalkedon zum Beruf die Weisheit"5.
1
2
3
4
5
Diog. Laert. 2.25. Zu den thessalischen Familien und der Geschichte des Landes vgl. Stählin, Thessalien, 111-137; Sprawski, Jason of Pherae, u.a. 55. luv. 7.203 [DK 85 A 7]: paenuit multos vanae sterilisque cathedrae, sicut Thrasimachi probat exitus Schol. zu luv. 7.203: rhetoris apud Athenas qui suspendió périt; vgl. dazu Nestle, Vom Mythos zum Logos, 348. Auch Rankin hält einen Selbstmord des Thrasymachos aufgrund seiner negativen Lebenseinstellung für möglich. Rankin, Sophists, 58f. Das „unfruchtbare" Lehramt meint sicher keine finanzielle Mittellosigkeit, wie Adamietz in seinem Textkommentar zu Iuvenal vermutet. Juvenal Satiren, lateinisch-deutsch, herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von J. Adamietz, München/Zürich 1993, 383.
Ath. 10.454f. [DK 85 A 8]: Νεοπτόλεμος δέ ò Παριανός έν τώι Περί έπιγραμμάτων έν Χαλκηδόνι φησίν έπί τού Θρασυμάχου του σοφιστοΰ μνήματος έπιγεγροίφθαι τόδε το έπίγραμμα· τούνομα βήτα ρώ άλφα σαν ΰ μΰ άλφα χει οϊ> σάν. πατρίς Χαλκηδών ή δέ τέχνη σοφίη.
4. Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos
4.2
159
Περί πολιτείας: Eine zeitgenössische Kritik an der demokratischen Verfassung Athens
Schon in den zwanziger Jahren des 5. Jahrhunderts geriet die attische Demokratie immer mehr in das Fadenkreuz der Kritik. Eine Reihe von außen- und innenpolitischen Vorfällen trug zu einer Zuspitzung der antidemokratischen Stimmung in Athen bei 1 . Gleichzeitig wuchs die Angst vor den „zersetzenden" Ansichten und Lehren der Sophisten 2 . Worin die Bedrohung der Polis durch die Lehren der Sophisten bestand, ist bisher am Einzelbeispiel erörtert worden. Eine einheitliche anti-demokratische oder eine prooligarchische Haltung der Sophisten läßt sich nicht ausmachen. Eine solche Sichtweise bedeutete außerdem, die Sophisten aus der einseitigen Perspektive der Polis Athen und der attischen Demokratie zu betrachten, was den viel weiter gefaßten sophistischen Theorien zum kosmos des Menschen und zum Leben in einer sozio-politischen Gemeinschaft nicht gerecht würde. Das jetzt zu erörternde Fragment einer Rede an die Athener behandelt das Problem einer innenpolitischen Krisensituation. Bislang bestand in der Forschung nahezu einhellig die Meinung, es handele sich um einen Beitrag zur Verfassungsdebatte in Athen um 411 oder 404 3 . Eine völlig neue Interpretation unternahm White. Danach habe Thrasymachos in der Funktion als Gesandter seiner Heimatstadt Chalkedon einen Vorschlag zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Chalkedon und Athen vorgetragen, der auf eine Änderung der Verfassung zu Hause abziele 4 . White bettet die Rede ein in ein umfassendes „diplomatisches Szenario", welches Yunis überzeugend widerlegt 5 . Yunis kommt jedoch zu dem Ergebnis, es handele sich bei dem vorliegenden Fragment wahrscheinlich um das Muster eines Prooemiums. Es hätte auch von „Nicht-Athenern", bei Auswechselung der Adressaten, einer symbuleutischen Rede vorangestellt werden können 6 . Als Bürger Chalkedons verfugte Thrasymachos, wie bereits bemerkt, nicht über das Recht, vor der Volksversammlung in Athen zu sprechen. So verfaßte er den Text mög-
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3
4 5
6
Auf die Bedeutung des Hermen- und Mysterienfrevels, die zunehmende Zahl von politischen Prozessen, militärische Niederlagen, insbesondere die Katastrophe der attischen Flotte vor Sizilien wurde bereits hingewiesen. Vgl. Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law, 199-291; Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 43, Anm. 49; vgl. Kap. II 1.2, 45, 50-53. Vgl. beispielsweise die 423 aufgeführten Wolken des Aristophanes. Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg, 33-73. Vgl. dazu Kap. III 2. Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 43, Anm. 49; Hefter, Ps.-Andokides' Rede gegen Alkibiades, 93f., Anm. 94; Romilly, Sophists, 179; Witte, Demosthenes und die Patrios Politeia, 22-24; Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 325f., 420, 425. White, Thrasymachos the Diplomat, 307-327. Der Inhalt des Textes zeigt, daß es sich bei dem Vortragenden um einen jüngeren Mann handeln muß. Yunis bemerkt zu den Thesen Whites beispielsweise, daß es völlig unpassend für einen fremden Gesandten sei, die Position eines noch unerfahrenen jungen Mannes einzunehmen. H. Yunis, Notes and Discussions, Thrasymachus Β 1 : Discord, not Diplomacy, CPh 92, 1997, 56f. Yunis, Thrasymachus Β 1, 58-66, bes. 65f.
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II. Sophisten als Systemkritiker
licherweise im Auftrag eines jungen Atheners und fungierte damit als λογογροίφος 1 . Diels vermutet, daß es sich lediglich um ein Schaustück seiner rhetorischen Fertigkeiten handelt, und damit um das Modell einer beratenden Rede 2 . Vielleicht liegt mit dem Text aber auch eine politische Flugschrift vor, die direkt die politischen Ansichten des Autors widerspiegelt 3 . Meines Erachtens sprechen einige Argumente dafür, den Text mit der Verfassungsdiskussion im Vorfeld des oligarchischen Umsturzes in Athen im Jahre 411 in Verbindung zu bringen. Das wird im folgenden anhand der Textanalyse dargelegt. 4.2.1 Inhaltsangabe und Kommentar Die verschiedenen Argumente der Interpretationen kreisen um das Problem, daß Dionysios von Halikarnassos nur einen Textauszug als Beispiel der Redekunst des Thrasymachos zitiert und dabei nicht den Anlaß der politischen Rede oder Schrift nennt 4 . Zunächst sei kurz der Inhalt vorgestellt: Ich wünschte, ihr Athener, ich hätte jener alten Zeit angehört, als es den Jüngeren genügte zu schweigen, während die Verhältnisse nicht zum öffentlichen Reden zwangen und die Älteren den Staat auf rechte Weise verwalteten. Da uns nun aber die Gottheit für eine so späte Zeit aufgespart hat, sodaß wir zwar des Staates hören, die unglücklichen Ereignisse aber selbst müssen und die schlimmsten davon nicht Werke der Götter, auch nicht des Schicksals, sondern der amtierenden Personen sind, ist es unumgänglich zu reden 5 .
Der Redner gehört der jüngeren Generation an und steht gleich in der Pflicht, sich dafür zu rechtfertigen, das Wort ergriffen zu haben. Erinnert er doch an die „gute alte Zeit", in der sich die jungen Leute zufrieden zeigten, nicht in die politische Debatte einzugreifen, weil die Älteren alles rechtmäßig verwalteten. Doch die widrigen Ereignisse zwin'
Vgl. Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III, 295f.; Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law, 367; Welskopf, Sophisten, 1955, Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 95. H o f f m a n n nennt keine weitere Alternativen und lehnt es ab, den Text zur Deutung der politischen und ethischen Vorstellungen des Thrasymachos hinzuzuziehen.
2
Vgl. DK, 322 Vgl. Romilly, Sophists, 223f.; Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 43. Weitere Literatur bei Yunis, Thrasymachus Β 1, 58, Anm. 2. Roßner mißt der Quelle dagegen zu Unrecht kaum Bedeutung für die Überzeugung des Thrasymachos bei. Vgl. Roßner, Recht und Moral, 208f.
3
4
Dion. Hal. Dem. 3 (Raderm., 132, 3) [DK 85 Β 1]:
παράδειγμα
έξ
ενός των δημηγορικών
λόγων. 5
Dion. Hal. Dem. 3 (Raderm., 132, 3) [DK 85 Β 1] (die Übersetzungen des Fragmentes folgen Diels und Döring, weichen jedoch in einigen Punkten etwas ab. K. Döring, Piatons Darstellung der politischen Theorien des Thrasymachos und des Protagoras, AU 36, 1993, 16): έ β ο υ λ ό μ η ν μ έ ν , ώ
'Αθηναίοι, μετασχείν εκείνου του χρόνου του παλαιού [και των πραγμάτων], ήνίκα σιωπάν άπέχρη τοις νεωτέροισι, των τε πραγμάτων ούκ άναγκαζόντων άγορεύειν και των πρεσβυτέρων όρθώς την πόλιν έπιτροπευόντων επειδή δ' είς τοσούτον ήμάς άνέθετο χρόνον 6 δαίμων, ώστε της πόλεως άκούειν, τάς δέ συμφοράς αυτούς, και τούτων τά μέγιστα μή, θεών έργα είναι μηδέ της τύχης, ά λ λ ά των έπιμεληθέντων, ανάγκη δή λ έ γ ε ι ν
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4. Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos
gen ihn zu reden1. Die Verantwortung für die mißliche Lage tragen nicht die Götter oder eine unbestimmte Schicksalsmacht, sondern die Regierung. Der Redner distanziert sich von einer theologisch orientierten Geschichtsbetrachtung und den traditionellen Legitimationsinstanzen, indem er die Eigenverantwortung aller Menschen für ihr Handeln hervorhebt2: Denn ohne Wahrnehmung und starrsinnig ist, wer sich selbst denen überläßt, die nur fehlerhafte Handlungen im Sinn haben, und wer selbst die Beschuldigungen der Hinterlist und der Schlechtigkeit anderer auf sich nimmt 3 .
Wer starr die Augen vor der Realität verschließe und nicht wage, sich zu den Fehlern der Regierenden zu äußern, mache sich mitschuldig. Genug aber ist uns die Vergangenheit und anstelle des Friedens sind wir jetzt in einen Krieg geraten und haben bis auf diesen Augenblick ständig Gefahren , so daß wir den vergangenen Tag begrüßen und den kommenden furchten, und anstelle der Eintracht haben wir Haß und Streit untereinander erreicht 4 .
„Genug aber" - α λ ι ς γαρ - leitet den Wechsel des Blicks von der Vergangenheit auf eine Beschreibung der gegenwärtigen Verfassung der Polis5. Der Redner stellt zur Charakterisierung der außen- wie innenpolitischen Situation die Begriffspaare „Friede und Krieg", „Eintracht und Streit" einander gegenüber. Haß und Verwirrung herrschen untereinander - προς αλλήλους. Mit der Verwendung des Reziprokpronomens α λ λ ή λ ο υ ς hebt der Autor hervor, daß er nicht die Differenzen zu anderen Stadtstaaten, sondern nur die Zwistigkeiten innerhalb der eigenen Polis anprangert6. „Homonoia" bezeichnet hier folglich die innere Eintracht der Polis7. Die anderen aber verführt die Menge der Glücksgüter zu Gewalttaten und Bürgerkrieg, wir aber waren im Besitz dieser Glücksgüter besonnen, im Unglück aber verloren wir den Verstand, was die anderen in der Regel besonnen werden läßt 8 .
1
Diels' Ergänzungsvariante zu Zeile 8 und 9 des Staates zu hören, die unglücklichen Ereignisse selbst -
, macht zwar Sinn,
wirft aber auch nicht mehr Licht auf den historischen Kontext. Vgl. DK, 322. 2
Vgl. dazu Kap. II 2.2.2 b.
3
Dion. Hal. Dem. 3 (Raderm., 132, 3) [DK 85 Β 1]: ή γαρ αναίσθητος ή καρτερώτατός έστιν, όστις έξαμαρτάνειν εαυτόν έτι παρέξει τοις βουλομένοις και της έτερων επιβουλής τε και κακίας αυτός ύποσχήσει τάς αιτίας. Dion. Hal. Dem. 3 (Raderm., 132, 3) [DK 85 Β 1]: άλις γαρ ήμίν ô παρελθών χρόνος και άντί μεν ειρήνης έν πολέμωι γενέσθαι και δια κινδύνων εις τόνδε τον χρόνον, τήν μέν παρελθοΰσαν ήμέραν άγαπώσι, τήν δ' έπιοΰσαν δεδιόσι, άντί δ' ομονοίας εις έχθραν και ταραχάς προς αλλήλους άφικέσθαι.
4
5
Die Übersetzung bei DK, „Nein, uns genügt die Vergangenheit ...", impliziert dagegen, daß der Redner und seine Zuhörer sich mit der Vergangenheit identifizieren, daß sie ihnen ausreicht.
6
Auch sprachliche Argumente widerlegen die These Whites. Der Text selbst zeigt deutlich, daß Redner und Hörer derselben Polis angehören.
7
Die oben besprochenen
Texte des Gorgias zeigen, daß der Leotiner den
Begriff für die
innergriechischen Beziehungen verwandte. Vgl. Plut. mor. 144 Β C, coniug. praec. 43=Gorg. Olymp, [fr. 8a]; Jehne, Koine Eirene, 12f. 8
Dion. Hal. Dem. 3 (Raderm., 132, 3) [DK 85 Β 1]: και τους μέν άλλους το πλήθος των αγαθών ύβρίζειν τε ποιεί και στασιάζειν, ήμείς δέ μετά μέν τών αγαθών
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II. Sophisten als Systemkritiker
Thrasymachos argumentiert mit der alltäglichen „Binsenweisheit", daß zu viel des Guten, womit wohl Ruhm und Wohlstand gemeint sind, die Menschen übermütig werden und einander bekämpfen läßt. Bei den Athenern aber gelte die Regel nicht, denn erst die Zeit des Unglücks habe sie um den Verstand gebracht. Warum also sollte man zögern auszusprechen, man erkennt, wenn einem Trauer über die gegenwärtige Lage und die Überzeugung, ein Mittel zu wissen, daß derartiges nicht mehr geschieht? Zuerst werde ich also zeigen, daß die miteinander Streitenden, unter den Rednern und unter den übrigen, in ihren Reden untereinander ertragen haben, was notwendigerweise diejenigen erleiden, die ohne Einsicht wetteifern: In dem Glauben, das Gegenteil voneinander zu sagen, merken sie nicht, daß sie dasselbe tun und daß die Rede der anderen in ihrer eigenen enthalten ist 1 .
Der Vortragende verfügt also über eine Antwort auf die gegenwärtige Misere. Der Rhetorik kommt dabei eine große Bedeutung zu. Die Lösung liegt in der Erkenntnis, daß den gegenwärtig streitenden Gruppierungen die „Einsicht" fehle. Es bestehe kein Unterschied zwischen den Positionen der vermeintlichen Kontrahenten: Betrachtet doch einmal von A n f a n g an, was j e d e der Gruppierungen erstrebt. Zuerst nun stiftet bei ihnen die „altererbte Staatsverfassung" - π ά τ ρ ι ο ς π ο λ ι τ ε ί α - Verwirrung, die doch so sehr leicht zu verstehen ist und allen Staatsbürgern in höchstem Grade gemeinsam ist. Soviel davon jenseits unserer eigenen Einsicht liegt, müssen wir auf die Erzählung Früherer hören, soviel die Älteren von uns selbst erlebten, das müssen wir von ihnen als den Wissenden erfahren. ... 2 .
Was bei den streitenden Gruppierungen Verwirrung stifte, sei die offenbar schon zur Diskussion stehende πάτριος π ο λ ι τ ε ί α . Alle glaubten, unterschiedliche Standpunkte zu vertreten. Was ihnen fehle, sei die Einsicht dessen, was unter der patrios politela zu verstehen sei. - Damit endet der Text des Fragmentes. 4.2.2 Eine Alternative zum bestehenden System der attischen Demokratie Der Auszug der Rede besteht im wesentlichen aus drei Teilen: Der Redner beginnt mit einem Rückblick auf die glückliche Zeit der Vergangenheit, fahrt mit einer Skizzierung der gegenwärtigen Krisensituation fort und zeigt schließlich einen Ausweg auf: Die Lösung der Probleme besteht in einer Rückbesinnung auf die „Väterverfassung" - die
1
2
έσωφρονοΰμεν, έν δέ τοις κακοίς έμάνημεν, ά τους ά λ λ ο υ ς σωφρονίζειν είωθεν. Dion. Hal. Dem. 3 (Raderm., 132, 3) [DK 85 Β 1]: τί δήτα μέλλοι τις αν γιγνώσκει ειπείν, δτωι γε λυπεισθαι έπί τοις παροΰσι και νομίζειν έχειν τι τοιούτον, ώς μηδέν έτι τοιούτον έσται; πρώτον μέν οΰν τους διαφερομένους προς ά λ λ ή λ ο υ ς καί των ρητόρων κ α ι των ά λ λ ω ν άποδείξω γ' έν τώι λέγειν πεπονθότας προς άλλήλους, όπερ ά ν ά γ κ η τους ά ν ε υ γνώμης φιλονικοΰντας π ά σ χ ε ι ν οίόμενοι γάρ εναντία λέγειν άλλήλοις, ούκ αισθάνονται τά α ύ τ ά πράττοντες ούδέ τον τών έτερων λόγον έν τώι σφετέρωι λόγωι ένόντα. Dion. Hal. Dem. 3 (Raderm., 132, 3) [DK 85 Β 1]: σκέψασθε γάρ έξ άρχής, ά ζητοΰσιν εκάτεροι. πρώτον μέν ή πάτριος πολιτεία ταραχήν αύτοίς παρέχει ράιστη γνωσθήναι και κοινοτάτη τοις πολίταις οΰσα πάσιν. όπόσα μέν οΰν έπέκεινα της ήμετέρας γνώμης έστίν, άκούειν ά ν ά γ κ η λόγων τών παλαιοτέρων, όπόσα δ' αύτοί έπειδον οί πρεσβύτεροι, ταΰτα δέ παρά τών είδότων πυνθάνεσθαι...
4. Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos
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π ά τ ρ ι ο ς π ο λ ι τ ε ί α 1 . Es gilt folglich, den im ersten Abschnitt beschriebenen, früheren Zustand wiederherzustellen und damit die Fehler der Regierenden zu beheben. Eine der zu revidierenden M a ß n a h m e n muß in einer Ausweitung des Kreises der politisch aktiven Bürger auf die Gruppe der Jüngeren bestanden haben. Sie erhielten offenbar weiterreichende Kompetenzen. Fehlentscheidungen wie diese hatten Athen in den Krieg und in die innere Zerrissenheit, stasis, gestürzt. A n dieser Stelle weist der Redner auf die traurige Besonderheit der B e w o h n e r A t h e n s hin, im Unglück keine Einheit zu bilden. Die A n n a h m e Y u n i s ' , ohne die A n r e d e hätte der Text anläßlich einer schwierigen Krisenlage für j e d e beliebige Polis Gültigkeit besessen 2 , trifft nicht zu. Der Redner konnte das Verständnis seines Publikums voraussetzen, ohne konkrete N a m e n oder Vorgänge zu nennen. Thrasymachos wandte sich an die Bürger Athens, die über eine Reform der bestehenden Verfassung nachdachten. W e n n der Autor von der π ά τ ρ ι ο ς π ο λ ι τ ε ί α sprach, hatte er die politische O r d n u n g Athens vor dem Peloponnesischen Krieg und vor Ephialtes und Perikles vor Augen. Der Terminus erscheint in dieser Form erstmals bei Thrasymachos und bezeichnet offensichtlich die zwischen 508/07 und 462/61, zwischen den Reformen des Kleisthenes und den einschlägigen Änderungen durch Ephialtes und Perikles, bestehende Verfassung. Einerseits schränkten die Reformen des Ephialtes beispielsweise die Befugnisse des Areopags, des „Ältestenrates", ein und unterstellten etwa die Dokimasie, die Ü b e r p r ü f u n g der Amtsträger, und die daraus resultierende Gerichtsbarkeit der Volksversammlung, den Geschworenengerichten und dem Rat der Fünfhundert 3 . Andererseits konnten sich die Älteren unter den Athenern noch an die Zeit des Friedens, des Wohlstands und der besonnenen Regierung der „Alten" erinnern, womit die Zeit vor den kleisthenischen R e f o r m e n auszuschließen ist4. Bei einer Datierung um 404 hätten sich wohl nur wenige an die Zeit vor 462 erinnern können. Damit ist die Rede mit größter Wahrscheinlichkeit in den Kontext der im Jahre 413 in der athenischen Öffentlichkeit einsetzenden Verfassungsdebatte zu datieren 5 . 1
Zum Politeia-Begriff vgl. Kap. II 7.3, 256, Anm. 3. Ein ähnlicher Gedanke findet sich in den Rittern des Aristophanes. Auch hier besteht die Lösung der Misere in einer Besinnung auf die frühere Zeit. Vgl. dazu ausfuhrlicher Kap. III 2, 298, Anm. 3.
2
Yunis, Thrasymachus Β 1, 66.
3
Vgl. Bleicken, Demokratie, 225f., 321-326; Hansen, Demokratie, 36-38; Welwei, Athen, 93; Witte,
4
Daß nicht etwa Solon gemeint sein könne, bemerkt Ruschenbusch, in seiner Untersuchung zum
Demosthenes und die Patrios Politela, 140f. Streit um die Verfassung Athens in der Überlieferung des 4. Jahrhunderts. Die Namen Theseus, Drakon, Solon und Kleisthenes werden von den einzelnen Gruppierungen für ihr Verfassungsideal genutzt. Ruschenbuschs These, während Kleisthenes schon in der Mitte des 5. Jahrhunderts als Verfassungsgeber bekannt gewesen sei, finde Solon nicht vor 356 eine Erwähnung in diesem Zusammenhang, ist problematisch. Vgl. E. Ruschenbusch, Π Α Τ Ρ Ι Ο Σ Π Ο Λ Ι Τ Ε Ι Α . Theseus, Drakon, Solon und Kleisthenes in Publizistik und Geschichtsschreibung des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr., Historia 7, 1958, 398-424. Es handelt sich um eine Frage der Überlieferungssituation; außerdem nimmt beispielsweise der bei Aristoteles überlieferte Kleitophon-Antrag durchaus auf SoIon bezug. Vgl. 165. Raaflaub weist außerdem auf die elementare psychologische Wirkung einer Ankündigung hin, zur „guten alten Zeit" zurückzukehren. Raaflaub, Politisches Denken, 38f. 5
Vgl. auch Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 43; Rauflaub, Politisches
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II. Sophisten als Systemkritiker
Die stetig gewachsene anti-demokratische Stimmung hatte nach der Katastrophe der attischen Flotte im Herbst 413 vor Syrakus einen Höhepunkt erreicht 1 . Das mißglückte sizilische Unternehmen stellte aus Sicht der Außenpolitik einen absoluten Tiefpunkt dar, dennoch verfielen die Athener nicht in eine fatalistische Niedergangsstimmung 2 . Die hohen Verluste schürten schließlich die Spannungen zwischen den politischen Gruppierungen. Die Suche nach den Verantwortlichen entfachte die offene Debatte über ein geeigneteres und effektiveres politisches System und die Wiederherstellung der „Homonoia". Im selben Jahr beschlossen die Athener die Wahl einer Kommission von zehn πρόβουλοι, einem Ältestenrat, der die Angelegenheiten der Polis vorberaten sollte 3 . Das bedeutete für den Rat und die Volksversammlung eine Einschränkung ihrer Entscheidungsfreiheit, auch wenn die Kompetenzen der neuen Kommission im einzelnen nicht bekannt sind 4 . Mit der Einberufung des Gremiums reagierte die Politik auf die Vorwürfe, unüberlegt gehandelt zu haben. Die jetzt von den probouleutes abgesegneten Maßnahmen zeigen, daß sie dennoch im Dienste des demokratischen Systems standen 5 . Doch die Stimmen, die wie beispielsweise Peisandros im Winter 412/11 nach einer „vernünftigen Verfassung" verlangten 6 , blieben laut. Bestärkt sahen sich die Gegner der Demokratie durch militärische Rückschläge im Kriegsjahr 412, als wichtige Bündner wie Chios und Milet abgefallen waren und ein persisch-spartanisches Abkommen zustande gekommen war 7 . In dieser außen- wie innenpolitisch unsicheren Lage bot Thrasymachos den Zuhörern einen Ausweg an. Dieser beinhaltete die Rückbesinnung auf Altbewährtes und bedeutete de facto eine Änderung des bestehenden demokratischen Systems. Die ehemaligen Gruppierungen um Ephialtes und Perikles veranlaßten die weitere Konstituierung der Demokratie und insbesondere die gegenwärtig führenden Politiker, wie beispielsweise Alkibiades oder Phrynichos, trugen dem Autor zufolge die Verantwortung für die Misere der Polis 8 . Menschliches Versagen und nicht das Wirken von Göttern oder Schick-
Denken, 36, Anm. 96; Welskopf, Sophisten, 1958; Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law, 367. 1
Vgl. Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg.
2
Vgl. Thuk. 7.87.5. Die Athener sahen mit der sizilischen Expedition die Niederlage keineswegs als besiegelt an. Thuk. 8.1-4. Vgl. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 317; Welwei, Athen, 212.
3
Thuk. 8.1.3; Aristot. Pol. 1298b.
4
Welwei, Athen, 213f.
5
Vgl. Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law, 338-341; Welwei, Athen, 213f.
6
Vgl. Thuk. 8.53.3. Zum „Demagogen" Peisandros vgl. Aristoph. av. 1553-1564. Kap. III 3, 31 If. Einen Spiegel der Krisenstimmung bietet die an den Lenäen des Jahres 411 aufgeführte Lysistrate des Aristophanes. Vgl. u.a. Aristoph. Lys. 574ff. Lysistrate bietet sich an, das verworrene „Knäuel" der Staatsgeschäfte zu lösen und die „Wolle" vom „Filz" zu befreien. Damit kann nur der „Filz" der gefährlich agierenden Hetairien gemeint sein. Vgl. auch Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 43, Anm. 49. Weitere Belege bei Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg.
7
Thuk. 8.6, 17; Thuk. 8.18; StV IP200. Vgl. u.a. Thuk. 8.48.2-3; vgl. Kap. II 7.1, 228f.
8
4. Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos
165
salsmächten war die Ursache allen Übels, des Peloponnesischen Krieges und der daraus resultierenden stasis. Auch Thukydides sah in der inneren Krise Athens in der Zeit des Dekeleischen Krieges eine Hauptursache der Niederlage Athens'. Doch er lastete nicht den einzelnen Politikern die Verantwortung für diese Katastrophe an. Vielmehr analysierte er am Beispiel der Eigendynamik der machtpolitischen Kontroversen die psychologischen Ursachen und Hintergründe des Peloponnesischen Krieges. Das Machtstreben der Athener führte diese zwangsläufig in den Krieg und weckte die latent in der Natur des Menschen angelegten negativen Verhaltensweisen 2 . In Frieden und Wohlstand dagegen pflege man überlegter zu handeln 3 . Möglicherweise reagierte Thukydides in seinem nach Kriegsende überarbeiteten Geschichtswerk auf den bekannten Thrasymachos-Text, der in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Verfassungsdebatte im Vorfeld der Ereignisse des Jahres 411 zu sehen ist4. Unterstützung findet die Interpretation des Fragmentes als ein wichtiges Dokument zur attischen Systemkrise durch den bei Aristoteles überlieferten Antrag des Kleitophon aus dem Jahre 411 : Kleitophon sprach sonst wie Pythodoros, beantragte aber, daß die Gewählten auch die überkommenen Gesetze überprüfen sollten, die Kleisthenes erlassen hatte, als er die Demokratie einrichtete, damit sie auch auf diese hörten und das Beste von ihnen bei Beschlüssen berücksichtigten; sie hielten nämlich die Verfassung des Kleisthenes nicht fur volksfeundlich, sondern der Solonischen ähnlich 5 .
In der Politeia Piatons steht Kleitophon Thrasymachos zur Seite, indem er versucht, dessen Argumente gegenüber Sokrates zu verteidigen und zu erläutern 6 . Beide waren, wenn auch in unterschiedlichem Maße, an dem oligarchischen Umsturz von 411 beteiligt. Kleitophon gehörte zum Kreis der Aktiven, während Thrasymachos offensichtlich wichtige theoretische Vorarbeiten leistete, ohne als „Nichtathener" selbst direkt eingreifen zu können 7 . Möglicherweise hatte der Sophist die Rede sogar für den ihm nahestehenden Kleitophon verfaßt, der auf diese Weise seinen Zusatzantrag begrün-
1
Thuk. 2.65.11 ; 8.1 ; vgl. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 327.
2
Vgl. die bei Thukydides ausgeführten Ursachen und Anlässe des Peloponnesischen Krieges. Thuk.
3
Thuk. 3.82.1-3.
4
Vgl. auch M. Finley, Ancestral Constitution, in: ders., The Use and Abuse o f History, London
1.23.6. Welwei, Das Problem des „Präventivkrieges", 305; Leppin, Thukydides, 108.
1975, 36f.; Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 43 Anm. 49; Engels, Theramenes, 147. Bleckmann weist daraufhin, daß der Thrasymachos-Text die zeitgenössische „Homonoia"-Diskussion wiedergibt. Vgl. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 325. Fuks sieht in dem Fragment keine politische Parteinahme gegeben. Vgl. Fuks, Ancestral Constitution, 104 (wie 154, Anm. 1). 5
Aristot. Ath. Pol. 29.3. Vgl. zum Kleitophon-Antrag und zur neueren Forschungsliteratur jetzt Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 365, 425f., Anm. 144.
6
Plat. Pol. 340a, b.
7
Vgl. 159. Kleitophon gehörte vermutlich zu den Mitgliedern der Vierhundert, die nicht so sehr ins politische Rampenlicht traten, daß Thukydides oder auch Aristoteles sich veranlaßt sahen, sie im weiteren Verlauf der Darstellung namentlich zu erwähnen.
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II. Sophisten als Systemkritiker
dete 1 . Warum die Auftragsarbeit dann nicht als „Antrag des Kleitophon" in die Überlieferung einging, ist jedoch kaum verständlich. Wahrscheinlicher ist, daß es sich um eine politische Flugschrift handelt. Thrasymachos fungierte damit als ein Sprachrohr der Gruppierung um Kleitophon, die eine Änderung der demokratischen Verfassung hin zur patrios politeia forderten. Propagierte der Sophist in seiner Rede die Zurücknahme der nachkleisthenischen Reformen und damit keineswegs eine Oligarchie, hatten Kleitophon und seine Anhänger dagegen ein oligarchisches System vor Augen, wenn von der πάτριος πολιτεία die Rede war2. Diese Auffassung teilte später auch Aristoteles, denn ihm zufolge regierten die Vierhundert zunächst nach einer provisorischen Verfassung „gemäß dem Brauch der Väter". Er bezeichnete sie als oligarchische Herrschaft 3 . Daß unterschiedliche Auffassungen mit dem Terminus πάτριος π ο λ ι τ ε ί α verbunden wurden, äußert sich schließlich auch in dem Vorwurf der demokratisch gesinnten Flottenbesatzung vor Samos, das neue Regime habe die patrioi nomoi gebrochen 4 . Tatsächlich zeichnete sich seit 413 immer mehr eine „sozio-politische Bruchlinie" 5 zwischen „Stadt-Athen" und Flotte, zwischen Demos und Hopliten ab. Proteste gegen Terror und Intrigen des 411 eingesetzten Rates der Vierhundert führten bald zu seiner Absetzung und zur Konstituierung des Regimes der Fünftausend, einer gemäßigten Zensusverfassung 6 . Die neu eingesetzte Kommission der νομοθέται sollte die sogenannte Theramenesverfassung weiter ausarbeiten 7 . Im Frühsommer 410 wurde schließlich die Demokratie wiederhergestellt 8 und das Beamtenkollegium der anagrapheis erhielt den Auftrag, die älteren, schriftlich fixierten
'
Die A n n a h m e Ostwalds, Kleitophon sei der Wortführer des Theramenes gewesen und nach seinen theoretischen Arbeiten zugunsten der aktiven Politiker in den Hintergrund getreten, ist wenig überzeugend. Er geht dabei offensichtlich von einem einheitlichen Theramenes-Bild als Vorkämpfer der „gemäßigten Oligarchie" aus. Vgl. Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law, 372f. und auch Raaflaub, Politisches Denken, 38. Bleckmann konnte die Vorstellung, Theramenes habe als Verteidiger der Interessen der reichen Mitbürger eine gemäßigtere Politik verfolgt, in das Reich der Legende verweisen. Es handelte sich vielmehr um einen inneroligarchischen Kampf, um die Festigung der eigenen Machtposition. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 354-357, 385f.; vgl. auch Engels, Der Michigan-Papyrus über Theramenes, 125-155; Kap. II 3.5, 152. Auch Romilly geht von einer oligarchischen Haltung des Sophisten aus. Vgl. Romilly, Sophists, 215f.
2
Vgl. Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 29. Raaflaub sieht in dem Antrag des Kleitophon eine Tarnung der tatsächlichen oligarchischen Absichten im Auftrag des Theramenes. Vgl. Raaflaub, Politisches Denken, 38.
3
Aristot. Ath. Pol. 31.1; 32.2.
4
Thuk. 8.76.6.
5
Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 44, Anm. 50.
6
Thuk. 8.89-93. Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 40; Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 358-370, bes. 369; Leppin, Thukydides, 182.
7
Vgl. Thuk. 8.97.2. Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 41.
8
Thuk. 8.97.2. Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 41; Bleckmann, Athens W e g in die Niederlage, 360f.; R. Rhodes, The Athenian Code of Laws, 410-399 BC, J H S 111, 1991, 88; vgl. auch Kap. II 7.1.
4. Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos
167
Gesetze neu zu publizieren 1 . Laut Bleckmann sollte die Kodifikation vorrangig demonstrieren, daß man sich im Besitz der π ά τ ρ ι ο ι νόμοι befinde, wobei der Schaffung einer erhöhten Rechtssicherheit weniger Gewicht zufalle. Das wiedereingesetzte demokratische Regime schlug damit einen, auch in der aktuellen Politik zu verzeichnenden, bewußt konservativen Kurs ein 2 . In der zweiten oligarchischen Phase in Athen im Jahre 404 spielten wiederum Theramenes und sein Gefolgsmann Kleitophon eine führende Rolle. Aristoteles berichtet: Die aber, die keiner politischen Gruppe angehörten, sonst jedoch offensichtlich in nichts den Bürgern nachstanden, bemühten sich um die altüberkommene Verfassung. Zu ihnen gehörten Archinos, Anytos, Kleitophon, Phormisios und viele andere. Ihr Hauptanführer war Theramenes 3 .
Die antidemokratischen Kräfte in Athen im Jahre 411 und 404 warben mit dem Terminus π ά τ ρ ι ο ς π ο λ ι τ ε ί α für die Aufrichtung der Zensusklassen und damit für die Aufhebung der bestehenden attischen Demokratie zugunsten einer Hopliten-Politeia. Die Vorbildfunktion der „Väterverfassung" diente der Herrschaftslegitimation nach der oligarchischen Machtübernahme 4 , und die demokratischen Gruppierungen bemühten sich ihrerseits bei der Wiedererlangung der Macht um die altbewährten, aber demokratischen nomoi. Auch nach dem Ende der Tyrannis der Dreißig im Jahre 403 spielte der Vergangenheitsbezug für die innenpolitischen Maßnahmen eine wichtige Rolle, wenn der Demokrat Thrasybulos seine Anhänger warnt, Unruhen zu vermeiden und nach den „altüberlieferten Gesetzen" - τοις νόμοις τοις ά ρ χ α ί ο ι ς - zu leben 5 . So wurde die Arbeit der anagrapheis fortgesetzt und auf der Grundlage eines von Teisamenos beantragten Volksbeschlusses zwei Kommissionen von je fünfhundert nomothetai gebildet 6 . In der Berufung auf die π ά τ ρ ι ο ς π ο λ ι τ ε ί α bestand somit ein nur scheinbarer Konsensus aller politischer Gruppierungen, denn tatsächlich verbanden sie damit unterschiedliche Auffassungen. Der Ausdruck π ά τ ρ ι ο ς π ο λ ι τ ε ί α und verwandte Formulierungen wie π ά τ ρ ι ο ι νόμοι 7 oder ή προγόνων π ο λ ι τ ε ί α 8 konnten synonym verwandt 1
Lys. or. 30.2; Rhodes, The Athenian Code of Laws, 91 (wie 166, Anm. 8); Bleicken, Demokratie, 218.
2
Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 420-426.
3
Aristot. Ath. Pol. 34.3. Bleckmann bemerkt zu den weiteren von Aristoteles genannten Namen, daß nur die V e r b i n d u n g zwischen Kleitophon und Theramenes wohl den Tatsachen entspricht, aufgrund einer E r w ä h n u n g bei Aristophanes (Aristoph. ran. 964-967), während etwa Phormisios eher zu seinen Gegnern gehörte. Vgl. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 345, Anm. 37; Funke, Homónoia und Arché, 1980, 106.
4
Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 20.
5
Xen. Hell. 2.4.42. Vgl. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 426, Anm. 146.
6
7
Das Teisamenos Dekret ist bei Andokides überliefert. And. Myst. (or. 1) 83f.; vgl. auch Bleicken, Demokratie, 219. In der Verfassungsdebatte rühmt Dareios die Monarchie und rät, an der „altüberlieferten Verfassung" festzuhalten. Hdt. 3.82.5. Vgl. Thuk. 4.118.3; Xen. Hell. 2.3.2.
8
Isokr. Panathen. (or. 12) 114; vgl. auch Isokr. Rede über den Frieden (or. 8) 3If.: „Schon früher nämlich sind wir infolge einer solch unüberlegten Politik, die sich in alles einmischt, in größte Gefahr geraten. Andererseits erhielten wir die Hegemonie von den Griechen freiwillig, als wir eine gerechte Polis hatten, ..." Isokrates greift den Gedanken des Thrasymachos auf und gibt ihm eine
168
II. Sophisten als Systemkritiker
werden, aber auch je nach Standort verschiedene Verfassungstypen bezeichnen. Gemeinsam ist ihnen eine in der Vergangenheit verankerte Legitimation. Die Zeit der vorbildhaften Ahnen konnte eine oder mehrere Generationen zurückliegen und sogar in die mythische Vergangenheit herabreichen 1 . So findet die πάτριος πολιτεία auch in der Grabrede im Menexenos ihren Platz. Piaton hatte offenbar die Diskussion verfolgt und knüpfte hiermit indirekt daran an2. Jeder, ob Monarch, Oligarch oder Demokrat, beanspruchte für sich, die „wahre" Verfassung der Väter zu vertreten und damit die Stabilität und Größe Athens zu garantieren3. Dabei erscheint es meiner Ansicht nach unerheblich, ob expressis verbis von der πάτριος πολιτεία die Rede war oder andere Formulierungen bevorzugt wurden 4 . Konservatismus in Gestalt eines bewußten Rückgriffs auf frühere Zeiten, war ein erfolgversprechendes Rezept zur Beilegung der Streitigkeiten in Athen. Die Eingebundenheit in eine ungebrochene Genealogie, von den mythischen Vorfahren bis hin zur Gegenwart, und die weiterhin gültigen, aristokratischen Wertvorstellungen prägten das Identitätsbewußtsein des Polisbürgers 5 . Thrasymachos traf mit der Forderung nach der patrios politeia den Nerv des Publikums. Er leistete offenbar wichtige theoretische Vorarbeiten zum politischen Umsturz von 411. Das Redefragment stellt ein wichtiges Zeugnis dazu dar6. Sehr wahrscheinlich erstmals in Form einer politischen Flugschrift hatte Thrasymachos den Begriff πάτριος π ο λ ι τ ε ί α in die aktuelle politische Diskussion eingeführt und damit nachhaltig die Politik Athens beeinflußt.
wichtige Rolle in seinem konservativen Konzept. Vgl. Hansen, Demokratie, 307f. 1
Das v o m Mythos geprägte Geschichtsbild der Griechen kam in einem genealogischen Denken, wie auch im Heroenkult und den Gefallenenreden zum Ausdruck. Vgl. dazu Welwei, Heroenkult und Gefallenenehrung, 50-75. Der Mythos stützte nicht nur das Identitätsbewußtsein des Gemeinwesens, sondern konnte auch der Legitimation politischer Gruppierungen dienen. So brachte etwa die Ü b e r f u h r u n g der Gebeine des athenischen „Nationalhelden" Theseus im Rahmen der Eroberung der Insel Skyros Kimon eine Rehabilitation seines Hauses und eine Festigung seiner politischen Basis im Demos. Vgl. Paus. 3.37; Plut. Thes. 36.1, Plut. Kim. 8.3-7; K.E. Petzold, Die Gründung des Delisch-Attischen Seebundes II, 25-29.
2
Plat. Menex. 238c, d; vgl. dazu Tsitsiridis, Menexenos, 73f.
3
Vgl. Aristot. Ath. Pol. 29.3, im Gegensatz zu Thuk. 8.76.6.
4
Vgl. dazu Hansen, Demokratie, 307f.
5
Das galt nicht nur für die Polis Athen. Als Beispiel sind die an vielen Orten Griechenlands gepflegten Heroenkulte zu nennen. Vgl. Welwei, Heroenkult und Gefallenenehrung, 50-75; Meier, Entstehung des Politischen, 256; Hansen, Demokatie, 307; W.R. Connor, The Problem of Athenian Civic Identity, in: A.L. Boegehold/A.C. Scafura (Hrsg.), Athenian Identity and Civic Ideology, Baltimore/London 1994, 34f.
6
Vgl. Fuks, Ancestral Constitution, 104 (wie 154, Anm. 1); Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 36, Anm. 7; Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 325.
4. Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos
4.3
169
Zur Frage der Theodizee: Götterglaube und Gerechtigkeit
Die Darstellung der Ereignisse vor Syrakus im Geschichtswerk des Thukydides zeigt, daß nicht nur die schlechte Versorgungslage die physische und moralische Verfassung der Truppe schwächte. Die Angst vor dem göttlichen Wirken, ausgelöst durch Weissagungen und das seltene Naturereignis einer totalen Mondfinsternis am Abend des 27. August 413, trugen wesentlich dazu bei1. Nach dem Bekanntwerden des Ausmaßes der Niederlage war der Zorn auf die politischen Redner, die sich für die Ausfahrt eingesetzt hatten, und auf die Seher und Propheten groß 2 . So erschreckte die Mondfinsternis die völlig demoralisierte Truppe und ihren Strategen Nikias derartig, daß dieser den Rückzug der Flotte verzögerte und damit die endgültige Niederlage vor Syrakus besiegelte 3 . Thrasymachos' Rede an die Athener richtete sich ebenfalls gegen die bei Thukydides erwähnten Gruppierungen. Er verurteilte nicht nur die führenden Politiker der attischen Demokratie, unter deren Fehlern das gesamte Gemeinwesen leide. Für die notwendige Analyse der Ursachen und der zu ergreifenden Maßnahmen zur aktuellen Krisenbewältigung lehnte er außerdem den traditionellen Götter- und Schicksalsglauben als nicht relevant ab. Für ihn lag die Chance zur Bewältigung der Krise in einer Verfassungsänderung. Auch die Reform der politischen Entscheidungsfindung durch das Einsetzen der Kommission von zehn probouloi im Jahre 413, hatte zu keiner Kehrtwende des bisherigen Herrschaftsstils gefuhrt. In der innenpolitisch extrem angespannten Atmosphäre standen rationale politische Maßnahmen zur Diskussion, aber auch das in alle sozialen und politischen Bereiche hineinwirkende religiöse Denken. Die Beziehung zwischen Göttern und Menschen war beeinträchtigt, und somit geriet das von aristokratischen Werten geprägte Identitätsbewußtsein ins Wanken. Dies wird u.a. deutlich, wenn Thrasymachos der „Gerechtigkeit" ihre traditionell „göttliche" Grundlage abspricht: Die Götter haben die menschliche Lebenswelt (τα ανθρώπινα) nicht im Auge. Denn andernfalls hätten sie nicht das größte der Güter für die Menschen außer Acht gelassen, die Gerechtigkeit. Denn wir sehen die Menschen diese nicht anwenden4.
Der Äußerung des Sophisten Thrasymachos über die nicht oder nicht mehr vorhandene Gerechtigkeit unter den Menschen fehlt zwar der konkrete historische Bezug, die negative Sichtweise entwickelte sich aber ganz offensichtlich vor dem Hintergrund einer bedrückenden Krisensituation. Überwältigt von dem Ausmaß erlebten Unglücks leugnet Thrasymachos nicht explizit die Existenz der Götter, aber er sieht keine Verbindung göttlicher Mächte zu den Menschen und ihrem Tun. Gerechtigkeit ist somit nicht etwa ein von den Göttern garantierter Wert. Bei dieser Sichtweise teilte er offenkundig den Agnostizismus des Protagoras.
' 2 3 4
Thuk. 7.50.4; 7.79.3; vgl. u.a. dazu Powell, Sicilian Expedition, 27-30. Thuk.8.1. Vgl. Thuk. 7.50.3, 4; Welwei, Athen, 209; Powell, Sicilian Expedition, 27-30. Hermias Komm, zu Plat. Phaidr. (Couvreur, p. 239, 21) [zu σ θ έ ν ο ς p. 267c s. Β 6] [DK 85 Β 8] (die Übersetzung weicht etwas von DK ab): έ γ ρ α ψ ε ν [Thr.] έ ν λ ό γ ω ι έ α υ τ ο ΰ τοιούτον τι, οτι οϊ θεοί ο ύ χ όρώσι τ α α ν θ ρ ώ π ι ν α - ού γοίρ ά ν το μ έ γ ι σ τ ο ν των έ ν ά ν θ ρ ώ π ο ι ς α γ α θ ώ ν π α ρ ε ι δ ο ν την δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν όρώμεν γ α ρ τ ο υ ς ά ν θ ρ ώ π ο υ ς τ α ΰ τ η ι μ ή χρωμένους.
170
II. Sophisten als Systemkritiker
Die Konsequenz daraus zieht Thrasymachos in seiner Rede an die Athener: Der Mensch trägt ganz allein die Verantwortung und muß sein Leben selbst in die Hand nehmen. Eine auf Omina gestützte Entscheidung entbehrt jeglicher Rechtfertigung. Das Erschrecken vor schlechten Vorzeichen und die daraus erfolgte Ableitung politischer Entscheidungen setzen eine Überzeugung voraus, wonach die Götter an irdischem Geschehen teilhaben. Der Glaube an Omina findet in dem Weltbild des Sophisten folglich keinen Platz. Er bietet somit eine Antwort auf die Frage nach den Verantwortlichen für die Misere vor Sizilien, denn nicht nur die politisch strategischen Überlegungen, sondern auch der Glaube an Seher, Orakel und Vorzeichen hatten, wie das Schicksal der Flotte unter dem Kommando des Nikias zeigte, große Opfer gefordert 1 . Thrasymachos' Überlegungen zur Gerechtigkeit sind dagegen von allgemeinerer Natur. Δικαιοσύνη, zusammengesetzt aus δ ί κ α ι ο ς und σΰνεσις, meint die geistige Erfassung dessen, was gerecht ist2. Die Menschen haben diese Fähigkeit offenbar verloren, und auch die Götter fallen als Sanktionsinstanz aus. In der Praxis bedeutet das fur jeden einzelnen, eigenverantwortlich handeln zu müssen. Döring verbindet die beiden Textfragmente, die Rede an die Athener ( B l ) und die Äußerung über die Gerechtigkeit der Götter (B8), indem er die Zeit, als die π ά τ ρ ι ο ς π ο λ ι τ ε ί α noch galt, mit dem Wirken der Gerechtigkeit, im Sinne eines „auf rechte Weise verwalteten Staates" gleichsetzt 3 . Die Aussage des Sophisten in Fragment B8 geht meiner Ansicht nach noch darüber hinaus, denn er stellt vorrangig die Frage nach der Theodizee: Wie können die Götter das Unrecht unter den Menschen dulden? Δ ι κ α ι ο σ ύ ν η bezieht sich nicht nur auf die Auslegung und Anwendung des positiven Rechts, sondern weitaus umfassender auf die Erkenntnis des Gerechten und damit auf einen hohen moralischen Wert der menschlichen Gemeinschaft. Thrasymachos beschreibt, wie er den gegenwärtigen moralischen Zustand der Gesellschaft wahrnimmt. Auch Fragment 8 scheint deshalb weniger ein Auszug einer rein theoretischen Studie zu sein, sondern eher Teil einer kritischen Analyse der Gegenwart des Autors. Der resignierende Pessimismus des Sophisten findet sich meines Erachtens auch in dem stark überzeichneten Thrasymachos-Bild Piatons wieder. Im ersten Buch der Politeia vertritt der platonische Thrasymachos vehement die These: ..., daß das Gerechte nichts anderes ist, als das dem Stärkeren Zuträgliche 4 .
Er bietet eine Definition der Gerechtigkeit, die auf den ersten Blick an die kompromißlose Verfechtung des Naturrechts durch Kallikles erinnert 5 . Mit dem „Stärkeren" meine er die Regierenden: 1
Vgl. 164f.
2
Vgl. Plat. Krat. 412c: Δικαιοσύνη δέ, δτι μεν έπι τη του δικαίου συνέσει τούτο κείται το όνομα, ράδιον συμβαλεΐν.
3
Döring, Piatons Darstellung der politischen Theorien des Thrasymachos und des Protagoras, 15.
4
Plat. Pol. 338c [DK 85 Β 6a]: φημί γαρ έγώ είναι τό δίκαιον ούκ άλλο τι ή το τού κρείττονος ξυμφέρον.
5
Vgl. Plat. Gorg. 491e-492c; Kap. 11 2.4, 119f.. Laut Kerfeld vertritt Thrasymachos die These, das Naturrecht gebiete, ungerecht zu sein. Vgl. G.B. Kerfeld, The Doctrine of Thrasymachos in Plato's .Republic', DUJ 40, 1947, 19-27, jetzt in: Classen, Sophistik, 562f. Zur weiteren Interpretation vgl.
4. Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos
171
Und jegliche Regierung gibt die Gesetze nach dem, was ihr zuträglich ist, die Demokratie demokratische, die Tyrannei tyrannische und die anderen ebenso. Und indem sie sie so geben, zeigen sie also, daß dieses ihnen Nützliche das Gerechte ist für die Regierten. Und den dieses Übertretenden strafen sie als gesetzwidrig und ungerecht handelnd. Dies nun, o Bester, ist das, wovon ich meine, daß es in allen Staaten dasselbe Gerechte ist, das der bestehenden Regierung Zuträgliche. Das aber hat die Gewalt, sodaß also, wenn einer alles richtig zusammen nimmt, herauskommt, daß überall dasselbe gerecht ist, nämlich das dem Stärkeren Zuträgliche 1 .
Unter den „wahrhaft in den Städten Herrschenden" sei der Tyrann der größte Verbrecher. Er raube außer dem Vermögen der Mitbürger gleich die Menschen selbst, indem er sie in seine Gewalt brächte. Die Ungerechtigkeit sei es, die sich durchsetze, denn sie sei stärker, ungebundener und dominierender, wenn man sie nur im Großen betreibe. Nicht die Gerechtigkeit, die Ungerechtigkeit sei nützlich 2 . Thrasymachos stützt sich hier keineswegs auf ein naturgegebenes Recht des Stärkeren3. Der an der politischen Realität verzweifelte Sophist argumentiert offensichtlich mit einem Begriff des positiven Rechts 4 . Sokrates versucht dagegen im Dialog mit Thrasymachos die Gerechtigkeit als einen ideellen Wert zu definieren und sie damit für die Allgemeinheit zu sichern. Der Idealist Sokrates geht anscheinend bewußt nicht auf die rationale, realitätsbezogene Sicht des Sophisten ein, weshalb beide konsequent aneinander vorbeireden 5 . Inwiefern der historische und der platonische Thrasymachos übereinstimmen oder miteinander zu vereinbaren sind, ist in der modernen Forschung nach wie vor umstritten 6 . Piaton wählte fur seine Politeia nicht den berühmten Rhetoriklehrer, sondern den politischen Zyniker, den streng rational und praxisbezogen argumentierenden Kritiker der politischen Lage. Ungeduldig lehnt Thrasymachos die intellektuellen Überlegungen darüber ab, was denn Gerechtigkeit bedeute. Seine provokative These sollte den Blick auf die Realität lenken und nicht als Definition dienen. Die Behauptung, Thrasymachos strebe nach Ungerechtigkeit, ist schließlich eine Verleumdung des Sophisten und muß
H o f f m a n n , Recht im Denken der Sophistik, 90f., Anm. 48-50. 1 2
Plat. Pol. 338e. Plat. Pol. 343b-344c. Vgl. zur Diskussion der Gerechtigkeitsauffassungen des Thrasymachos in der Darstellung Piatons: E. Schütrumpf, Konventionelle Vorstellungen über Gerechtigkeit. Die Perspektive des Thrasymachos und die Erwartungen an eine philosophische Entgegnung (Buch I), in: O. Höffe, Piaton, Politeia, Berlin 1997, 38-47.
3
So auch H o f f m a n n , Recht im Denken der Sophistik, 92; Leppin, Thukydides, 142.
4
So auch Schütrumpf, Die Perspektive des Thrasymachos, 43.
5
Vgl. auch Welskopf, Sophisten, 1961.
6
Döring weist darauf hin, daß die platonischen Dialoge fiktiv sind und keinen Anspruch auf Historizität erheben. Döring geht davon aus, daß Piaton die Ansicht des historischen Thrasymachos von A n f a n g an verfälscht wiedergegeben und im folgenden verzerrt hat. Döring, Piatons Darstellung der politischen Theorien, 18. Vgl. Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III, 88-97; White, Thrasymachos the Diplomat, 308; Für gänzlich unvereinbar hält sie Maguire. J.P. Maguire, Thrasymachos — or Plato?, Phronesis 16, 1971, 142-163, jetzt in: Classen, Sophistik, 568f. Weitere Angaben zur Forschungsdiskussion bei Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 72-74, Anm. 5 und 6.
II. Sophisten als Systemkritiker
172
als eine absichtliche Verfälschung seiner Sichtweise in der Darstellung Piatons gewertet werden 1 . Auch wenn Piaton ein verzerrtes Bild des Sophisten bietet, um seinen Lehrer Sokrates als den Überlegenen und moralisch Unantastbaren aus dem Gespräch hervorkommen zu lassen, deckt es sich zumindest in einer Hinsicht mit dem in den Fragmenten zutage tretenden historischen Thrasymachos: Der Sophist geht von einer empirischen Wirklichkeit aus, die mit dem menschlichen Verhalten gleichzusetzen ist. Die Menschen haben die Fähigkeit verloren, zu erkennen, was gerecht ist, erklärt er in Fragment B8. Man sieht sie die Gerechtigkeit nicht anwenden. Er beschreibt den generellen, moralischen Zustand der menschlichen Gesellschaft, die ohne den Schutz der Götter auf sich allein gestellt ist. In Piatons Politela liefert er einen düsteren, nüchternen Befund der politischen Realität, in der der Gerechtigkeitsbegriff pervertiert ist zur Bezeichnung der Interessen der Stärkeren. Gerechtigkeit ist zu einer Setzung durch den Herrschenden verkümmert 2 .
4.4
Zusammenfassung
Thrasymachos war ein Realist, der mit der patrios politeia konkrete politische Vorstellungen und keine Verklärung der Vergangenheit verband 3 . Er unterhielt nachweislich Kontakte zu den „revolutionären" Kreisen von 411 und leistete wichtige theoretische Vorarbeiten. In der „praxisbezogenen" Rede an die Athener sollte die Rückbesinnung auf die patrios politeia den Weg aus der Krise weisen. Die Nähe zu der Lehre des Gorgias offenbart sich neben den sprachphilosophischen Studien auch in der kritischen Beurteilung der Gegenwart und der attischen Demokratie im besonderen. Ob er im Jahre 404 ebenfalls die Forderungen nach der „Väterverfassung" unterstützte, ist nicht bekannt, aber unwahrscheinlich. Der Sophist hatte schon im Verlauf der Herrschaft der Vierhundert erkennen müssen, daß die dort propagierte patrios politeia nichts mit sei-
'
V g l . Plat. Pol. 545b. Hoffmann kommt zu dem Ergebnis, Piaton habe Thrasymachos im wesentlichen getreu dargestellt. Hoffmann, Recht im D e n k e n der Sophistik, 7 2 - 7 4 . Thrasymachos mißt die Gerechtigkeit j e d o c h im Gegensatz zu Sokrates an der Wirklichkeit. Roßner beurteilt die Darstellung des Thrasymachos bei Piaton als Karikatur und warnt zu Recht vor einer unkritischen Übernahme. Roßner, Recht und Moral, 2 0 7 .
2
V g l . A. N e s c h k e - H e n t s c h k e , Thrasymachos' sogenannte Definition des Gerechten in Piatons « Politeia », A B G 29, 1985, 24f. Es ist der Aufschrei eines desillusionierten Idealisten, s o Guthrie, Greek P h i l o s o p h y , V o l . III, 97. A u c h H o f f m a n n hält die Fragmente und die Darstellung in der Politeia
für k e i n e s w e g s widersprüchlich. D i e Annahme, in Fragment B 8 und in der Politeia
lege er
einen konventionellen Begriff von Gerechtigkeit zugrunde, erscheint w e n i g überzeugend.
Vgl.
H o f f m a n n , Recht im Denken der Sophistik, u.a. 96f., 102. „Er ist eher ein scharfsichtiger Kritiker als ein Verfechter e i n e r , n e u e n ' unkonventionellen (Herren-) Moral", so H o f f m a n n , Recht im D e n ken der Sophistik, 102. Vgl. Kerfeld, Thrasymachos in Plato's ,Republic', 5 5 9 f . ( w i e 170, A n m . 5). 3
Roßner bezeichnet Thrasymachos außerdem als einen Utilitaristen, der auf den konkreten Vorteil und N u t z e n bedacht sei. Vgl. Roßner, Recht und Moral, 2 1 0 . Der Nützlichkeitsaspekt ist j e d o c h vielmehr ein Nebenprodukt seiner nüchternen Beurteilung der Realität.
4. Eine pessimistische Gegenwartsanalyse des Thrasymachos
173
nem Konzept gemein hatte. Thrasymachos befürwortete keine Oligarchie, sondern die Restitution der Demokratie vor 462/61. Auch seine Rede an die Larisäer erlaubt keine eindeutige politische Einordnung des Sophisten. Sein Appell an den panhellenischen Gedanken bedeutete jedoch in der gegebenen außenpolitischen Lage Thessaliens eine Befürwortung der spartanischen Militärhilfe im Jahre 400/399. Seine Argumente dienten der Propaganda der Spartaner, die sich zum Streiter einer panhellenischen Bewegung aufschwangen, um ihre hegemoniale Stellung im Norden weiter auszudehnen'. Möglicherweise nahm sich der Sophist am Ende tatsächlich enttäuscht und resigniert das Leben, weil sich weder sein Konzept der π ά τ ρ ι ο ς π ο λ ι τ ε ί α in Athen, noch der Panhellenismus in Griechenland durchsetzen konnten 2 . Er fällte ein insgesamt vernichtendes Urteil über den Zustand der zeitgenössischen Polisgesellschaft. Seine pessimistische Gegenwartsanalyse enthält eine deutliche Kritik des bestehenden Polissystems und der attischen Demokratie. Die empirische Wirklichkeit zeigte weder die Wirksamkeit der Gerechtigkeit als höchsten moralischen Wert, noch bot sie irrationalen Kräften Raum. Thrasymachos verband konservative politische Gedanken mit einer „modernen", rationalen Weltsicht.
'
V g l . auch Funke, H o m ó n o i a und Arché, 39; Sprawski, Jason o f Pherae, 41.
2
D i e Spartaner hatten bei ihrem Eingreifen in Thessalien in erster Linie ihre eigenen machtpolitischen Interessen im A u g e , die allzu durchsichtig waren. Vgl. dazu Funke, H o m ó n o i a und Arché, 39f.
5. Die rationale Erfassung des kosmos durch den Universalgelehrten Hippias 5.1 Zur Person Als Bürger der noch jungen peloponnesischen Stadt Elis war Hippias der erste Dorer unter den Sophisten. Die Polis war im Jahre 471 durch Synoikismos gegründet worden und hatte im Laufe des 5. Jahrhunderts eine demokratische Verfassung entwickelt'. Das Suda-Lexikon berichtet unter dem Stichwort „Hippias": Hippias von Elis, Sohn des Diopeithes, Sophist und Philosoph, Schüler des Hegesidamos, der die Selbstgenügsamkeit als Ziel definierte. Er schrieb viele Dinge 2 .
Über seinen Vater Diopeithes oder seinen Lehrer Hegesidamos ist nichts Näheres bekannt. Eine weitere Information zu seinen Familienverhältnissen liefert die Vita des Redners Isokrates: Dem Isokrates wurde auch noch in seinem hohen Alter ein Kind geboren, Aphareus, empfangen von Plathane, der Tochter des Redners Hippias J .
Isokrates stand als Schüler des Protagoras, Gorgias und Prodikos 4 somit auch in enger Verbindung zu dem Sophisten Hippias, der ihm seine Tochter Plathane anvertraut hatte. Zum ersten Mal ist hiermit ein Kind eines Sophisten erwähnt. Eine weitere Besonderheit im Lebenswandel des Hippias besteht darin, daß er „seßhafter" war als seine „Kollegen". Ganz im Gegensatz etwa zu Gorgias 5 hielt er sich in einigen Städten lange genug auf, um dort als Metöke registriert zu werden. Er hatte offensichtlich durch seine Lehrtätigkeit genügend Geld erworben, ein metoikion entrichten und eine Familie ernähren zu können 6 . Die Verbindung seiner Tochter zu dem Athener Isokrates zeigt, daß Athen offensichtlich zu seinen dauerhaften Wohnorten gehörte. Weitere Hinweise zum Leben und zur Persönlichkeit des Sophisten bieten die Dialoge Piatons. Eine Schwierigkeit besteht dabei in den fur Piaton nicht ungewöhnlichen Anachronismen und in der bewußt karikierenden Verzeichnung der Sophisten. Hinzu kommt, daß die Echtheit der beiden nach Hippias benannten Dialoge umstritten ist7.
1
Strab. 8.3.2; Diod. 11.54.1; vgl. Gehrke, Stasis, 52.
2
Sud. s.v. Hippias [DK 86 A 1]: Ιππίας Διοπείθους Ηλείος- σοφιστής και. φιλόσοφος· μαθητής Ήγησιδάμου, ος τέλος ώρίζετο την αύτάρκειαν. έγραψε πολλά.
3
[Plut.] V. or. 10.4, 838a [DK 86 A 3], Patzer stellt eine weitere Verbindung zwischen Hippias und Isokrates her. Er kommt zu dem Ergebnis, daß Isokrates Hippias als Quelle nutzte. Vgl. A. Patzer, Hippias als Philosophiehistoriker, München 1986, 92f.; Isokr. Antidos. (or. 15) 268. Vgl. Kap. II 1.1, 45, Anm. 6; II 2.1, 68, Anm.9; II 3.1, 135, Anm. 8. Vgl. Isokr. Antidos. (or. 15) 155, 156; Kap. II 2.1. Philostr. V. Soph. 1.11.5 [DK 86 A 2], Es ist von einem Aufenthalt von einem Monat auszugehen, der einen Ausländer zwang, sich als Metöke eintragen zu lassen. Vgl. u.a. Hansen, Demokratie, 119. Im Hippias maior prahlt er, mehr als das Doppelte als andere Sophisten verdient zu haben. Plat. Hipp. mai. 282d [DK 86 A 7], Vgl. Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III, 281, Anm. 1. Diogenes Laertius berichtet, daß der unter Kaiser Tiberius lebende Astrologe und Grammatiker Thrasyllos die Dialoge Piatons in neun Tetra-
4 5 6
7
5. Die rationale Erfassung des kosmos durch den Universalgelehrten Hippias
175
Zuletzt äußerte Heitsch die Überzeugung, daß Hippias maior aufgrund sprachlicher und inhaltlicher Argumente nicht von Piaton stammen könne 1 . Damit sind die sich herauskristallisierenden historischen Fakten des Dialoges nicht zweifelsfrei auf Piaton, sondern möglicherweise auf einen späteren Autor zurückzufuhren, womit noch nichts über die Glaubwürdigkeit der Informationen zu Hippias gesagt ist. Im Hippias maior berichtet der Sophist, als junger Mann sei es ihm während eines Lehraufenthaltes auf Sizilien gelungen, eine Menge Geld zu verdienen. Dort habe er außerdem den viel älteren Protagoras getroffen 2 . Auch im Protagoras-Dialog gehört Hippias zu den jüngeren Sophisten, denn er erscheint als ein Altersgenosse des um 460 geborenen Sophisten Prodikos. Während Protagoras in der Säulenhalle des Hauses nach Philosophenmanier dozierend auf und ab wandert, karikiert Piaton im Vergleich dazu Hippias, indem er ihn auf einem Sessel wie auf einem Thron residieren läßt. Von dort aus diskutiert der Sophist mit seinen Anhängern, darunter auch Bürger aus Elis, über Fragen der Natur und der Astronomie 3 . Nach der gängigen Datierung der fiktiven Handlung des Protagoras-Dialoges hielt Hippias sich vor 431 in Athen a u f . Daß die Anwesenheit eines Eleiers vor 423 bzw. vor 420 eher unwahrscheinlich war, bemerkt Athenaios: Piaton fuhrt im „Protagoras" auch Hippias von Elis ein, bei ihm sind einige seiner Mitbürger, die sich wahrscheinlich nicht sicher in Athen hätten aufhalten können vor dem einjährigen Waffenstillstand, der unter dem Archontat des Isarchos, im Monat Elaphebolion vereinbart worden war 5 .
Die im folgenden geschilderten außenpolitischen Bedingungen bekräftigen die Vermutung des Athenaios, daß Hippias nicht vor dem Frühjahr des Jahre 423 bzw. 420 in Athen eintraf: Elis hatte schon im Vorfeld des Peloponnesischen Krieges im Konflikt zwischen Korinth und Kerkyra fur die Gegenseite Athens Stellung bezogen und im Archidamischen Krieg als Mitglied des Peloponnesischen Bundes gekämpft 6 . Erst der im Monat Elaphebolion, im Februar/März des Jahres 423 ausgehandelte einjährige Waffenstillstand ermöglichte einem Eleier, Athen zu besuchen. Es ist auszuschließen, daß Hippias an den Vertragsverhandlungen teilnahm, denn unter den bei Thukydides aufgeführten Unterhändlern werden keine Abgesandten der Stadt Elis erwähnt 7 . Möglicherweise reiste er in seiner Funktion als Lehrer nach Attika, doch darüber findet sich keine Nach-
logien eingeteilt herausgeben habe. Die Dialoge hatten eine doppelte Überschrift, bestehend aus einem Personennamen und einer Sachbezeichnung. Die siebte Tetralogie enthält demnach die beiden Hippias-Dialoge, der erste mit dem Nebentite! „Über das Schöne", der zweite „Über die Lüge". Ob die Titel auf Piaton zurückgehen, ist dem Text nicht zu entnehmen. Vgl. Diog. Laert. 3.57-60. '
Vgl. E. Heitsch, Grenzen philologischer Echtheitskritik. Bemerkungen zum ,Großen Hippias', A A W M 1999 (4), 6.
2
Plat. Hipp. mai. 282d [DK 86 A 7],
3
Plat. Prot. 315c, d; 317d.
4
Vgl. Kap. II 1.1, 39.
5
Ath. 5.218c [DK 86 A 5]; vgl. Thuk. 4.117.
6
Thuk. 1.27, 46; 2.25, 84; 3.29. Thuk. 4.119; StV I F 185.
7
176
II. Sophisten als Systemkritiker
rieht. Das Ende des Waffenstillstandes und die im folgenden Jahr erneut ausbrechenden offenen Feindseligkeiten hätten ihm einen längeren Aufenthalt nicht gestattet. Schließlich weigerten sich die Eleier, neben Korinth und Megara im Jahre 421 sich dem Nikias-Frieden anzuschließen 1 . Korinth bemühte sich daraufhin um ein Bündnis mit Argos, das jetzt aufgrund eigener Gebietsinteressen seine Neutralität aufgab und weitere Verbündete auf der Peloponnes suchte 2 . Die Argiver schlossen ein Bündnis mit den Mantineiern, die Teile Arkadiens erobert hatten und deshalb eine Strafaktion Spartas fürchteten 3 . Nach dem Austritt Mantineias aus dem Peloponnesischen Bund schlossen sich auch die Eleier dem Bündnis der Argiver und Mantineier an, denn sie beabsichtigten, das von Sparta annektierte Lepreon in Triphylien zurückzugewinnen 4 . Nachdem im Winter 421/420 ein findiger Plan zweier spartanischer Ephoren ein Bündnis zwischen Sparta und Argos in Aussicht gestellt hatte 5 , griff Alkibiades in das Geschehen ein. Durch ein geschicktes Täuschungsmanöver gelang es ihm, den Abschluß eines Defensivbündnisses mit Argos, Elis und Mantineia durchzusetzen 6 . Für einen früheren Zeitpunkt ist ein diplomatischer Kontakt zwischen Elis und Athen nicht belegt. Infolgedessen liegt es nahe, Hippias als einen Vertreter seiner Polis während der Bündnisverhandlungen im Sommer 420 zu sehen, denn wie Gorgias oder Prodikos repräsentierte auch er seine Heimatstadt in vielen griechischen Städten 7 . Möglicherweise hatte er bereits im Jahr zuvor in Korinth und Argos an den Verhandlungen über das Sonderbündnis teilgenommen 8 . Dazu paßt die im Hippias maior gelieferte Erklärung, warum er lange Zeit nicht mehr in Athen gewesen sei: Ich hatte eben nicht die Muße Sokrates. Denn wenn Elis irgend etwas auszurichten hat bei einer anderen Stadt, so kommt sie immer unter allen Bürgern zuerst zu mir und wählt mich zum Gesandten, weil sie mich für den besten Beurteiler und Berichterstatter dessen hält, was von jeder Stadt vorgetragen wird. So bin ich schon oft auch zu andern Städten abgeschickt worden,
1
Thuk. 5.17.
2
Korinth wollte unter dem Vorwand, einen Sonderbund gegen Sparta zu initiieren, ein Bündnis zwischen Argos und Athen verhindern, um Besitzungen in Westgriechenland zurückzugewinnen. Die Argiver wollten die im 6. Jahrhundert an Sparta verlorenen Gebiete der Kynuria wiedererlangen. Vgl. Thuk. 5.27.2; 5.28.2.
3
Thuk. 5.29.1.
4
Thuk. 5 . 3 1 . 1 , 2 .
5
Thuk. 5.36-37.2.
6
Alkibiades führte die spartanischen Gesandten in die Irre, die ein Bündnis zwischen Athen und Argos, welches Alkibiades initiiert hatte, verhindern sollten. Der Athener versprach ihnen die Rückgabe von Pylos, wenn sie vor der attischen Volksversammlung ihre Verhandlungsvollmachten bestritten. Die Spartaner fanden schließlich kein Gehör und die Argiver erhielten die Zustimmung des attischen Volkes. Vgl. Thuk. 5.45.1-4. Zu den Vertragsbedingungen mit Argos vgl. Thuk. 5.46.5; 5.47; StV II2 193=IG I2 86=HGI Bd. 1, 125. Korinth trat dem Bündnis nicht bei und einigte sich noch im Sommer 420 mit Sparta. Thuk. 5.48. Zu den Ereignissen vgl. Welwei, Athen, 194197.
7
Philostr. V.Soph. 1.11.5 [DK 86 A 2]; Plat. Hipp. mai. 281a [DK 86 A 6], Vgl. Kap. II 2.1, 65, Anm. 3; II 3.1, 133.
8
Thuk. 5.31.
5. Die rationale Erfassung des kosmos durch den Universalgelehrten Hippias
177
am meisten aber und in den meisten und wichtigsten Angelegenheiten nach Lakedaimon. Daher komme ich denn, was dich wundert, nicht häufig in diese Gegend 1 .
Die Handlung des Dialoges ist zeitlich offenbar nach 420 anzusiedeln, denn aus der Aussage des Sophisten ist zu schließen, daß er sich jetzt nicht in einer offiziellen Funktion in Athen aufhielt. Bei den im Dialog angesprochenen wichtigen Angelegenheiten, die ihn als Gesandten seiner Heimatstadt nach Sparta führten, handelte es sich gewiß um den noch im gleichen Sommer des Jahres 420 erfolgten Ausschluß Spartas von den Olympischen Spielen. Eleische Gesandte wiederholten die oben genannte Gebietsforderung, die Rückgabe von Lepreon, doch Sparta ließ sich auf keinen Handel ein 2 . Die recht spärlichen Nachrichten über die Haltung der Eleier nach der Schlacht bei Mantineia im Jahre 418 und im weiteren Kriegsverlauf weisen auf eine eher zurückhaltende Politik hin. Zwischen 402 und 400 wurden sie in mehreren Kämpfen von Sparta besiegt. Elis büßte dabei die Hälfte seiner Gebiete ein, behielt aber die Leitung der Olympischen Spiele 3 . Die Ereignisse des Sommers 420 hatten gezeigt, daß mit der Spielleitung neben dem Prestige und den wirtschaftlichen Vorteilen auch die Möglichkeit, außenpolitischen Druck auszuüben, verbunden war 4 . Hippias konnte sich somit seit 420 gefahrlos in Athen aufhalten und nach der im Jahre 400, vielleicht auch unter seiner Beteiligung, zustande gekommenen Übereinkunft seiner Heimatstadt mit Sparta auch in den Poleis des Peloponnesischen Bundes. Bei den Spartanern fanden die Vorträge des Hippias zu den Städtegründungen, Genealogien und Leistungen großen Anklang 5 . Zu dem umfangreichen Lehrangebot des Sophisten gehörten außerdem Astronomie, Geometrie, Musik, Rhythmus, Malerei, Bildhauerei und die „Altertumskunde" ( α ρ χ α ι ο λ ο γ ί α ) 6 . So stellte er eine Liste der Olympiasieger zusammen und beschäftigte sich mit Stadtgründungsgeschichten. Eine selbst entwickelte Mnemotechnik ermöglichte ihm, ein so breites Wissen zu erwerben. In dieser Kunst unterrichtete er auch den
1 2
Plat. Hipp. mai. 281a [DK 86 A 6]. Vgl. Thuk. 5.49.1-5. Thukydides schildert die Hintergründe der Streitigkeiten zwischen Elis und Sparta im Jahre 420. Die Spartaner hatten sich gegen den Vorwurf zu verantworten, Olympisches Recht gebrochen zu haben. Während der Olympischen Waffenruhe hatte Sparta die Festung Phyrkos angegriffen und eintausend Hopliten nach Lepreon geschickt. Die Eleier boten ihnen an, die über Sparta verhängte Strafe von zweitausend Minen zu zahlen, wenn diese dafür Lepreon wieder Elis unterstellten. Sie Spartaner blieben bei ihrer ablehnenden Haltung und versicherten weiterhin, über die Waffenruhe nicht rechtzeitig informiert worden zu sein. Vgl. dazu J. Roy, Thucydides 5.49.1-50.4: the Quarrel between Elis and Sparta in 420 B.C., and Elis' Exploitation of Olympia, Klio 80, 1 9 9 8 , 3 6 0 - 3 6 8 .
3
Xen. Hell. 3.2.21-31. Vgl. Gehrke, Stasis, 53f.
4
Vgl. Roy, Quarrel between Elis and Sparta, 366.
5
Philostr. V. Soph. 1.11.3 [DK 86 A 2], Auch im Hippias
maior wird der Erfolg des Sophisten in
Sparta erwähnt. Möglicherweise geht die Überlieferung Philostrats auf den Dialog oder auf eine 6
gemeinsame Quelle zurück. Plat. Hipp. mai. 285b [DK 86 A 11], Vgl. dazu die Aufzählung bei Philostrat (Philostr. V.Soph. 1.11.1-4 [DK 86 A 2]) und Piaton (Hipp. mai. 285b [DK 86 A l l ] ) ; Xen. Symp. 4.62 [DK 86 A 5a]; Plat. Prot. 315c, 318e.
178
II. Sophisten als Systemkritiker
reichen Kallias, der ihn gut dafür entlohnte 1 . Philostrat zufolge trat er sogar als Gedächtniskünstler auf: Hippias von Elis, der Sophist, hatte auch n o c h in alten Tagen ein so gutes Erinnerungsvermögen, daß er eine Liste von f ü n f z i g N a m e n , nachdem er sie einmal gehört hatte, aus der Erinnerung heraus in der R e i h e n f o l g e aufzählen konnte, in der er sie gehört hatte 2 .
Er eignete sich ein möglichst universelles Wissen an, das neben rein intellektuellen Fähigkeiten praktische Techniken und auch handwerkliche Fertigkeiten einbezog 3 , womit er in den Poleis ein sehr vielseitiges Bildungsangebot präsentierte. Zeitweise hielt Hippias sich in Sizilien auf, trug im Auftrag seiner Heimatstadt Reden in Olympia vor 4 und fand die Achtung der Spartaner 5 ; auch nach Athen reiste er wohl seit 420 mehr als einmal. Über Hegesidamos, den nur in der Suda genannten Lehrer des Sophisten, schweigt die Überlieferung 6 ; ebensowenig finden sich weitere Namen der Schüler des Hippias. Seine häufigen Reisen und das umfangreiche Lehrangebot sprechen für ein langes Leben des Sophisten 7 , auch wenn sich sein Geburtsdatum nicht genau ermitteln läßt. Als Altersgenosse des Prodikos dürfte er nicht vor 460 geboren sein. Zum Tod des Sophisten berichtet Tertullian: „Hippias wurde getötet, während er ein Komplott gegen den Staat organisierte" 8 . Die Unruhen in Elis im Jahre 401 waren wohl nicht gemeint, denn einer Erwähnung in der Apologie Piatons zufolge - vorausgesetzt, es liegt kein Anachronismus vor lebte Hippias noch im Jahre 399 9 . Daher kann es sich nur um den im Jahre 364 unternommen Versuch handeln, die eben erst etablierte Oligarchie in Elis zu stürzen 10 . Xenophon berichtet, daß schon vor dem Krieg gegen die Arkader Uneinigkeit zwischen den Befürwortern der Demokratie und der Oligarchie geherrscht habe und nennt unter den führenden Oligarchen eine Person namens Hippias. Untersteiner und auch Momigliano betrachten Hippias aufgrund seiner Lehrmeinung als einen Demokraten". Damit wäre eine Identifizierung des Oligarchen mit dem bekannten Sophisten auszuschließen. Es ist zu prüfen, inwiefern sich aus den spärlichen Nachrichten zum Inhalt der Schriften des Hippias Rückschlüsse auf seine politische Sichtweise oder seine Haltung zu den religiösen Vorstellungen seiner Zeit ziehen lassen.
1
X e n . Symp. 4 . 6 2 [ D K 8 6 A 5a]; Xen. Symp. 1.5.
2
Philostr. V. Soph. 1.11.1 [ D K 8 6 A 2],
3
Plat. Hipp. min. 3 8 6 b [ D K 86 A 12],
4
Plat. Hipp. min. 3 6 3 c , 3 6 8 b [ D K 86 A 8, 12]; Plat. Hipp. mai. 2 8 2 d [ D K 86 A 7],
5
V g l . 177, Anm. 5.
6
Sud. s.v. Hippias [DK 8 6 A 1],
7
Vgl. Philostr. V. Soph. 1.11.1 [ D K 86 A 2],
8
Tertull. A p o l . 4 6 1 [ D K 8 6 A 15],
9
Plat. A p o l . 19e [ D K 86 A 4], Zu inneren Unruhen in Elis vgl. Xen. Hell. 3 . 2 . 2 6 f . ; Gehrke, Stasis, 53f.
10
"
Zu den Unruhen in Elis vgl. Xen. Hell. 4 . 1 4 - 3 6 ; Gehrke, Stasis, 5 3 - 5 7 , bes. 55. Untersteiner, The Sophists, 2 7 3 , 294.; A. M o m i g l i a n o , Lebensideale in der Sophistik: Hippias und Kritias, (ital. in: La Cultura n.s. 9, 1930, 3 2 1 - 3 3 0 ) , jetzt in: Classen, Sophistik, 4 7 1 , 4 7 6 .
5. Die rationale Erfassung des kosmos durch den Universalgelehrten Hippias
179
5.2 Die Breite der Bildung im Dienste der Autarkie des Menschen Nur vier Titel oder Kapitelüberschriften der Werke des Hippias blieben erhalten: Troische Dialoge, Namen der Völker, Olympionikenliste und Sammlung, doch, wie bereits bemerkt, zeugen die Testimonia und Fragmente von einem vielseitigen Bildungsangebot des Sophisten 1 . Die Autarkie des Menschen sei sein Ziel gewesen, heißt es im SudaLexikon 2 . Leider ist nicht mehr zu ermitteln, ob der Begriff α υ τ ά ρ κ ε ι α tatsächlich auf Hippias selbst zurückgeht. Daß es sich durchaus um einen zeitgenössischen Begriff handelte, zeigt ein Fragment Demokrits. Das Leben in fremden Ländern lehre Genügsamkeit - α υ τ ά ρ κ ε ι α , so berichtet er vermutlich aus eigener Erfahrung 3 . Thukydides dagegen verwandte den Terminus zur Bezeichnung der Eigenständigkeit einer Polis". Auch im Epitaphios des Perikles ist die „autarke Persönlichkeit" - σ ώ μ α α ύ τ α ρ κ ε ς nur im Rahmen der Polis denkbar 5 . Der Sophist Hippias bemühte sich, ein möglichst vielseitiges Wissen zu erwerben und an eine zahlende Hörerschaft weiter zu vermitteln. Bezeichnete er die Autarkie als das Ziel seiner Lehrtätigkeit, ging es ihm um die größtmögliche Unabhängigkeit des einzelnen von seinen Mitmenschen und damit von den Leistungen der Gemeinschaft 6 . Dabei begnügte er sich nicht mit dem zeitgenössischen Wissensstand und auch nicht mit den herkömmlichen Vorstellungen von intellektueller Bildung. Die geistige Erfassung der empirischen Wirklichkeit und die praktische Umsetzung nützlicher, auch handwerklicher Techniken bestimmte seine Bemühungen 7 . Autarkie in jeder Hinsicht zu erlangen bedeutete, bekanntes Wissen zu erlernen und neues herauszuarbeiten. Die Überzeugung, mit Hilfe des Verstandes die Lebenswelt erfassen und sich gegen all ihre Anforderungen wappnen zu können, setzt einen strengen Rationalismus voraus. Vernunft, Verstand und Wissen bildeten demnach für ihn die Grundlage, sich im Leben zurecht zu finden. Hippias sammelte Kenntnisse, archivierte sie in Katalogen und entwickelte eine Mnemotechink, mit deren Hilfe er eine Fülle von Informationen aus dem Gedächtnis abrufen konnte. Die Archivierung historischer Fakten, der „Altertümer", führte dabei zur Erhaltung und Festigung des Traditionsbewußtseins. Ein Zeugnis dafür bietet die von Hippias angefertigte Liste der Olympiasieger 8 . Als Bürger der noch jungen Polis 1
Philostr. V. Soph. 1.11.4 [DK 86 A 2]; Plat. Hipp mai. 286a [DK 86 A 9]; Schol. zu Apoll. 3.1179 [DK 86 Β 2]; Plut. Num. 1 [DK 86 Β 3]; Ath. 13.608f [DK 86 Β 4], Untersteiner schreibt Hippias außerdem die Texte des Anonymos Iamblichos zu. Untersteiner, The Sophists, 274. Reesor hält die Argumente Untersteiners für zu schwach. Die Frage, wer die Texte verfaßte, bleibt weiterhin offen. M.E. Reesor, Anonymus Iamblichos, in: Kent Sprague, 271. So auch Kerfeld, Sophistic Movement, 54; Romilly, Sophists, 169.
2
Sud. s.v. Hippias [DK 86 A 1], Vgl. 175, Anm. 2. Stob. 3.738. lf. [DK 68 Β 246],
3 4
Thuk. 1.37.3.
5
Thuk. 2.41.1. Der Autarkie-Begriff weist bei Thukydides einen eindeutig politischen Gehalt auf. Vgl. Raaflaub, Athens I d e o l o g i e der M a c h t ' , 60-66 (wie 118, Anm. 5); Kap. II 2.4, 118.
6
Vgl. auch Nestle, Vom Mythos zum Logos, 369.
7
Vgl. Plat. Hipp. min. 368b [DK 86 A 12], Plut. N u m . 1 [DK 86 Β 3],
8
180
II. Sophisten als Systemkritiker
Elis hob er auf diese Weise die lange Tradition und die besondere Bedeutung des olympischen Kultbezirkes hervor. Zwar versuchten schon Herodot und Thukydides die mythische von der historischen Überlieferung zu unterscheiden, wobei sie lediglich für ihre eigene Lebenszeit ein entwickeltes Datierungssystem nach den Amtszeiten der Archonten zugrundelegten; Hippias' Verzeichnis der Olympioniken sollte jedoch die Basis einer festen Chronologie schaffen 1 . Vor allem archäologische Funde entlarven die Datierung des Beginns der Olympischen Spiele als allgemeingriechisches Fest in das Jahr 776 als eine Erfindung des Sophisten 2 . Bereits Plutarch zweifelte an der Zuverlässigkeit der Aufzeichnungen 3 . Skepsis ist deshalb auch bei den Namen der Siegerliste geboten. Sinn weist überzeugend nach, daß Hippias in einem großzügigen Umgang mit der historischen Wahrheit die anfänglich bescheidenen lokalen Agone zu Ehren der Orakelgottheit Zeus Olympios in die Reihe der sich seit dem 7. Jahrhundert ausweitenden, anspruchsvollen athletischen Wettkämpfe einordnete 4 . Die olympischen Spiele setzten in etwa zeitgleich mit den anderen großen Agonen Griechenlands im 7. und frühen 6. Jahrhundert ein 5 . Obwohl bei der Glaubwürdigkeit der Daten Abstriche zu machen sind, schuf Hippias doch die Ausgangsbasis einer in der Antike anerkannten Chronologie der griechischen Geschichte. Hippias' Bestreben, die Olympischen Spiele als die ältesten Wettkämpfe Griechenlands erscheinen zu lassen, fand seine Ursache möglicherweise in den lokalpatriotischen Gefühlen des Sophisten sowie in den Interessen seiner Heimatstadt Elis, den Anspruch auf die Ausrichtung der panhellenischen Spiele zu legitimieren 6 . Der Dank seiner Heimatstadt war ihm gewiß: Elis erteilte dem Sophisten häufig den Auftrag, die Festrede in Olympia zu halten 7 . Bei dieser Gelegenheit betonte er vermutlich das hohe Alter und die Ursprünglichkeit der Spiele, ohne sich auf lokale Mythen zu berufen, sondern auf die vorgeblich historischen Fakten. Die ehrenvolle Aufgabe bot ihm die Chance, einen größeren Bekanntheitsgrad zu erlangen, wie es bereits Gorgias und anderen berühmten Persönlichkeiten gelungen war 8 .
1
Heute liegen e i n i g e Teile einer Liste in einem Fragment des Oxyrynchos-Papyrus des 3. Jahrhunderts vor, s o w i e die spätere Fassung des Sextus Iulius Africanus und e i n i g e A u s z ü g e bei Eusebius. V g l . B. Peiser, T h e Crime o f Hippias o f Elis. Zur Kontroverse um die Olympionikenliste, Stadion 16, 1990, 38, 41; Kerfeld, Sophistic M o v e m e n t , 47f.; Nestle, V o m M y t h o s z u m L o g o s , 3 6 3 .
2
U. Sinn, Olympia. Die Stellung der Wettkämpfe im Kult des Z e u s O l y m p i o s , N i k e p h o r o s 4, 1991, 52f.; Peiser, Olympionikenliste, 3 7 - 4 2 .
3
Plut. N u m . 1 [ D K 86 Β 3], Erst die spätere Überarbeitung der Liste durch T i m a i o s und Eratosthenes erhöhte die Zuverlässigkeit der Datierungsgrundlage.
4
Sinn, Olympia, 52f.
5
V g l . Peiser, Olympionikenliste, 51 f., 56. Zu den bekanntesten Wettkämpfen gehörten beispielsw e i s e die Isthmischen Spiele zu Ehren P o s e i d o n s oder die Pythien zu Ehren des delphischen A p o l lon. V g l . Zaidman/Schmitt Pantel, D i e Religion der Griechen, 114-140.
6
Vgl. Sinn, Olympia, 53.
7
V g l . A n m 178, 4.
8
Themistokles, Alkibiades, Lysias oder auch der Maler Aëtion nutzten das große Auditorium. V g l . Sinn, Olympia, 32; vgl. Kap. II 2.1.
5. Die rationale Erfassung des kosmos durch den Universalgelehrten Hippias
181
Piaton karikiert den Auftritt des Sophisten bei den Olympischen Spielen im Hippias minor. Der „Alleskönner" habe nicht nur Gedichte, Tragödien, Dithyramben und fertige Vorträge im Gepäck gehabt, sondern auch noch stolz Kleidung, Schmuck und Badeutensilien als eigene Anfertigungen gerühmt 1 . Neben aller Ironie und Übertreibung in der Charakterisierung des Sophisten handelte es sich sicher nicht um eine reine Erfindung Piatons, wenn er Hippias die Autarkie des Menschen auch im Umgang mit den praktischen Dingen des Lebens vertreten läßt. Doch sich der Herstellung handwerklicher Erzeugnisse zu brüsten, mußte auf ein griechisches Publikum lächerlich wirken: Er machte sich nicht nur zum Gespött, weil er als „Alleskönner" maßlos übertrieb, sondern auch weil er mit traditionellen gesellschaftlichen Konventionen brach. Schließlich gehörte die Herstellung von Kleidungsstücken in der Regel zu den Aufgaben von Sklaven2. Die von ihm forcierte Aufwertung manueller Arbeit stand in einem deutlichen Kontrast zur aristokratischen Ethik, die auch im demokratischen Athen nach wie vor ihre Gültigkeit besaß3. So fand beispielsweise der „neureiche" Gerbereibesitzer Kleon mehr Verachtung als Anerkennung bei seinen Zeitgenossen 4 . Wollte Hippias somit anschaulich, nämlich am eigenen Körper, auf die Diskrepanz zwischen dem Anspruch des demokratischen Gleichheitsprinzips und der sozialen Realität hinweisen? Momigliano jedenfalls sieht in Hippias einen Verfechter des demokratischen Gleichheitsgedankens nicht nur auf politischer, sondern auch auf sozialer Ebene 5 . Die Aufwertung handwerklicher Fertigkeiten kann aber auch allein im Kontext des individualistischen Autarkieverständnisses interpretiert werden, nämlich als Achtung vor jeglicher Art erworbenen Wissens und als Eigenständigkeit in allen Lebensbereichen 6 . Allein auf „guter Herkunft" basierende gesellschaftliche Schranken finden in dem Weltbild des Hippias keinen Platz. Damit bewegt er sich nicht auf der Ebene der bekannten politischen Ordnungen, denn für ihn zählt nur die durch Wissen erworbene Unabhängigkeit des Individuums. Der Grundgedanke, die Welt rational zu erfassen und den Menschen möglichst umfangreiche Kenntnisse zur Verfugung zu stellen, scheint darüber hinaus die Welt des Irrationalen auszuklammern. Nichts ist über die Haltung des Sophisten zu den Göttern überliefert. In seinem Denken ist die Eigenverantwortlichkeit des Menschen vorauszusetzen, womit er ganz in der Tradition des Protagoras und Gorgias steht.
'
Plat. Hipp. min. 368b [DK 86 A 12],
2
Vgl. Momigliano, Lebensideale in der Sophistik, 471.
3
Vgl. Kap. 1,1.
4
Vgl. u.a. Thuk. 3.36.6; 3.44.4; vgl. u.a. Aristoph. equ. 136f.; 247-254; vesp. 1231-1238.
5
Vgl. Momigliano, Lebensideale in der Sophistik, 471, 476.
6
So auch Nestle, Vom Mythos zum Logos, 369.
182
5.3
II. Sophisten als Systemkritiker
Von der mythischen Vergangenheit zur Gegenwart: Die Synagoge des Hippias
Nach den Untersuchungen Snells ist Hippias als ein Mittler zwischen Vorsokratik und Philosophie zu verstehen 1 . Snell entdeckte, daß das enzyklopädische Werk mit dem Titel Συναγωγή 2 mehr als nur eine Katalogisierung bekannten Wissens beinhaltete. Er entwickelte eine hypothetische, aber überzeugende Rekonstruktion eines Zitates, in dem die Lehre des Thaies vom Ursprung aller Dinge aus dem Wasser mit der mythischen Überlieferung der Dichter in Verbindung gebracht wird. Unter Berücksichtigung der Einwände Patzers lautet der Text des Fragmentes in etwa folgendermaßen 3 : Alles ist aus Wasser entstanden, das glaubten schon die Alten, lange vor unserer Generation, die ersten Theologen, indem sie Okeanos und Thetis zu den Stammeltern der Entstehung machten 4 , gerade so wie Orpheus: „erst Okeanos selbst, der geräuschige schreitet zur Ehe, der sich mit Thetis, von Mutterseit ihm Schwester begattet." 5 - und Hesiod:
άπαντεςΙ κατά το στόμ| αί κατ τάς ρι-|νας κ|ν χ. 3
P.Oxy. 3647 col III (Funghi): ... ]δακρύ- |ομε[ν] λυποΰ-|μενο>· κ α ί τήι ά - | κ ο ή ι τους
φθόγ- Ιγους είσδεχόμε- |θα· καί τήι αύγήι| μετά της οψε|ως όρώμεν Και) ταΐς χερσίν έρ- |γαζόμεθα· καί] τοις ποσίν βαδ[ίζο-|μεν .υβ[ .. 4
5 6
Die Lehre von der Gleichheit der Menschen findet ihre Wurzel in der Medizin des 5. Jahrhunderts und in der Ethno- und Historiographie des 5. und 6. Jahrhunderts. Vgl. C.W. Müller, Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens (Klassisch-Philologische Studien, hrsg. von H. Herter/W. Schmid, Heft 31), Wiesbaden 1965, 151-55; Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 234-6. Vgl. Triantaphyllopoulos, Rechtsdenken, 1. Vgl. dazu S. 205f.; P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. III 25-33], Vgl. auch Wiesner, Antiphon, ein oder zwei Autoren?, 234f. Bei der vorliegenden Interpretation besteht keine Schwierigkeit mehr, den Inhalt auch dem Politiker von 411 zuzuschreiben. Hoffmann verweist außerdem auf die Kritik an der willkürlichen Trennung zwischen Freien und Sklaven. Aristot. Rhet. 1373B18. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 244; vgl. auch Bilik, P.Oxy. XI 1364 + LII 3647 und XV 1797, 34.
213
6. Der Urzustand als Maßstab der Gegenwart - Antiphon Die Gerechtigkeit
besteht darin, die gesetzlichen
ist, nicht zu übertreten
Vorschriften
des Staates, in dem man
Bürger
.
Mit der Gleichsetzung von το νόμιμον und το δίκαιον erweckt Antiphon den Anschein eines pflichtbewußten Bürgers, denn grundsätzlich galt das Gesetz als Vertreter des δίκαιον, des „objektiv Gerechten", und des „Zuträglichen" (συμφέρον) 2 . Er gibt damit genau die Position des Sokrates gegen die skeptischen Äußerungen des Hippias in den Memorabilia des Xenophon wieder. Auch Hippias hatte offensichtlich behauptet, gerecht (δίκαιον) und gesetzlich (νόμιμον) seien keineswegs gleichzusetzen 3 . Daß Antiphon jedoch ebenso wie Hippias eine «owos-kritische Haltung einnahm, zeigen seine weiteren Ausführungen 4 . Darin relativiert sich die Verbindlichkeit der Gesetzestreue, denn ihr liegt ein rein pragmatischer Gedanke zugrunde. Die Nützlichkeitserwägung ist demnach für die Befolgung von Gesetzen ausschlaggebend. Nur in der Öffentlichkeit sollten die Gesetze hochgehalten werden, ohne Zeugen die immer geltenden Gebote der Natur. Die weiteren Erläuterungen offenbaren eine immer deutlicher werdende Geringschätzung des positiven Rechts und der bestehenden Konventionen 5 . Den willkürlich und nur von Menschen vereinbarten nomoi hält Antiphon die zwingenden und gewachsenen Regeln der Natur entgegen 6 . Ein Übertreten von nomoi im Verborgenen ziehe somit keine Konsequenzen nach sich. Wenn das Verbotene entdeckt werde, treffe den Täter Schande (αισχύνη) und Strafe (ζημία). Die von der Natur bestimmten Sanktionen kämen dagegen immer zum Tragen und fielen ungleich härter aus, auch wenn das Vergehen vor allen Menschen verborgen bliebe - „... denn der Schaden beruht nicht auf bloßer Meinung, sondern auf Wahrheit" 7 . Meinung (δόξα) und Wahrheit (αλήθεια) bilden die zweite Antithese. Nur den Regeln der Natur liegt folglich die Wahrheit zugrunde. Kein Richter, der die bestehenden nomoi seinem Urteil zugrunde legt, kann sich daher auf die Wahrheit berufen. Verletzt jemand die Regeln der menschlichen Gemeinschaft und wird dabei ertappt, trifft ihn eine Strafe seitens des Staates und er büßt sein gesellschaftliches Ansehen ein. 1
P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. 16-11]: δ ι κ α ι ο σ ΰ ν η | ο ΐ » ν τ α τ η ς π ό - | λ ε α » ς ν ό μ ι μ α , | έ ν > ή ι ά ν π ο λ ι - [ τ ε ύ η τ α ί τ ι ς , μη] π α ρ > α β α ί ν ε ι ν .
2
Vgl. Triantaphy 1 lopoulos, Rechtsdenken, 11-13. Daß die Definition kaum seiner eigenen Meinung entspricht, hält auch Kerfeld fest. Vgl. Kerfeld, Sophistic Movement, 114. Bilik zieht die Übersetzung „Rechtschaffenheit" dem Begriff der Gerechtigkeit vor, weil es um die Einhaltung von „Geboten" gehe. Er faßt die oben zitierten Zeilen als eine Definition des Gerechten auf. Vgl. Bilik, P.Oxy. XI 1364 + LH 3647 und XV 1797, 31, Anm. 7. Doch es handelt sich hier weniger um eine Definition als um eine Beschreibung des Wirkens des positiven Rechts. So auch Roßner, Recht und Moral, 239.
3 4
Xen. mem. 4.4.14-19; vgl. Kap. II 5.4. Xen. mem. 4.4.16; Lys. 2.19. Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III, 111. Bignone hat verschiedene Parallelen zwischen Hippias und Antiphon herausgearbeitet. Bignone, Die ethischen Vorstellungen, u.a. 509.
5
Vgl. P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. V 6ff.]; Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 186f.
6
P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. I 12-33]. P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. II 21-23]: ο ύ γ α ρ δ ι α δ ό ξ α ν | β λ ά π τ ε τ α ι , ά λ λ α |
7
άλήθειαν.
δι'
214
II. Sophisten als Systemkritiker
Die Betrachtung dieser Dinge ist im allgemeinen um dessen willen angestellt, weil die meisten der auf dem ,nomos' beruhenden Rechtsbestimmungen feindlich zur Natur stehen 1 .
In den meisten Fällen scheint es folglich ratsam zu sein, die herrschenden nomoi im Geheimen zu mißachten, weil die meisten von ihnen der Natur widersprechen. Wieder erläutert Antiphon seine jetzt um so provokativere These mit Hilfe der Physiologie. Verbote wie Gebote schränkten die Natur des Menschen ein, denn sie legten fest, was gesehen, gehört, gesprochen, begehrt und getan werden dürfe. Auch die Bewegungsfreiheit finde in den nomoi eine Grenze. Weder die Gesetze noch die Gebote seien der Natur gegenüber freundlich und angemessen 2 . Doch er schränkt ein: Nicht alles von Natur aus für den Menschen Bestimmte könne positiv sein: Dagegen untersteht das Leben und auch das Sterben der Natur, und zwar wird ihnen (den Menschen) das Leben von dem Zuträglichen, das Sterben dagegen von dem nicht Zuträglichen zuteil 3 .
Leben und Tod gehörten in den Bereich der physis, doch nur das Leben sei gut fur den Menschen. Sobald jedoch die nomoi bestimmten, was dem Menschen dienlich sei, bedeute es eine Fessel der physis\ alles ohne menschliches Einwirken generell Gute entspräche der Freiheit. Nicht Schmerz und Kummer, sondern Erfreuliches und Lustvolles fördere die Natur. Denn es entspreche der physis des Zuträglichen, zu nützen und nicht zu schaden 4 . Doch die Natur hält auch das für den Menschen nicht Vorteilhafte bereit: Neben dem Tod sei hierbei an Behinderungen wie Blindheit, Taubheit u.a. zu denken 5 oder aber an die oben genannten Gefühle wie Trauer oder Kummer 6 . Nach einer Lücke im Text folgt jetzt der Versuch, anhand von Beispielen das bisher Apostrophierte zu belegen. Jemand befolge die Gesetze oder Sitten, wenn er seinen Eltern Gutes tue, obwohl sie ihn mißhandelten, oder wenn er im Prozeß dem Gegner erlaube zu schwören, ohne selbst einen Eid zu leisten 7 . Der Grundsatz solle dagegen lauten, so wenig Schmerz wie möglich zu erleiden, denkbar viel Freude zu empfinden und kein Übel zu ertragen 8 . Damit formuliert Antiphon sein Grundpostulat an die nomoi 1
P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. II 23-30] (die Übersetzung weicht etwas ab von DK): έ σ τ ι | δ έ
πάν των δε έ ν ε - | κ α τούτων ή σ κ έ - | ψις, οτι τα πολλα| των κ α τ ά νό-|μον δικαίων| πολεμίως τήι| φύσει κείται· 2
P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. III 1-25],
3
P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. III 25-33] (die Übersetzung weicht etwas ab von DK): τ < 0 δ'
αΐ>| ζην έστι της φύ- |σεως κ α ι το άπο- |θανεΐν, κ α ι τό| μέν ζην αύτ, so erscheint das Bezeugen der Wahrheit untereinander (oder füreinander) als gerecht und ebenso sehr als nützlich für die Geschäfte der M e n schen 4 .
Daß diese herkömmliche Vorstellung keinen Bestand haben kann, erklärt Antiphon im folgenden: Eine Zeugenaussage vor Gericht sei nicht gerecht, selbst wenn sie sich auf die Wahrheit berufe 5 . Denn gerecht sei, keinem ein Unrecht zufügen, wenn man selbst kein Unrecht erleidet 6 .
Die Definition des Gerechten wird jetzt an dem bestehenden Rechtssystem gemessen. Selbst wenn ein Zeuge vor Gericht die Wahrheit aussage, füge er in jedem Fall dem Angeklagten wie auch sich selbst Schaden zu. Obwohl ihm selbst zuvor kein Schaden zugefügt worden sei, belaste er einen anderen. Der Beschuldigte werde somit zu Un-
1
P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. VI 3-9] (die Übersetzung weicht etwas ab von DK): ν ΰ ν | 5 è
φαίνε μαρτυρεΐν| έν ά λ > λ ή λ ο ι ς τάληθή| δίκαιο>ν νομίζεται| ειναι> κ α ι χρήσιμον| ούδέν> ήττον είς| τα τών> άνθρώπων| έπιτ>ηδεύματα. 5
P.Oxy. 1797 [DK 87 Β 44 Β 2 col. I 1-11],
6
P.Oxy. 1797 [DK 87 Β 44 Β 2 col. I 12-15] (die Übersetzung weicht etwas ab von DK): έ π ε ί π ε > ρ τ ο μ ή ά δ ι κ ε ΐ ν | μ η δ > έ ν α μ ή ά δ ι - | κ ο ύ > μ ε ν ο ν α ύ τ ό ν | δ ί κ > α ι ό ν έ σ τ ι ν Die Partizipialkonstruktion stellt hier eine enge konditionale V e r k n ü p f u n g her.
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II. Sophisten als Systemkritiker
recht verurteilt und verliere Geld oder Leben'. Das Richten, Urteilen und Warten bis zur Entscheidung erscheine ebenfalls als nicht gerecht, denn was dem einen nütze, schade dem anderen 2 . Damit ist das Prinzip des Zuträglichen verletzt. Dem gelte es vorzubeugen, denn: Kein Unrecht begehen und selbst kein Unrecht leiden, ist gerecht 3 .
Verbietet die erste Definition, ungerecht zu handeln, wenn einem kein Unrecht zuteil wurde, verhindert das zweite Postulat jede Form von Ungerechtigkeit. Nachdem Antiphon die erste Definition widerlegt hat, formuliert er jetzt eine ideale Form gegenseitiger Rücksichtnahme 4 . Die Argumentation Antiphons beginnt mit einer sehr konventionellen, auf die Gerichtspraxis bezogenen Vorstellung von Gerechtigkeit und gelangt in zwei Schritten zu einem idealen Gerechtigkeitsgedanken. Er läßt zwar die Antwort offen, wie seine eigene Vorstellung aussieht, gibt aber eine moralische Handlungsmaxime vor 5 . Die Konsequenz einer strengen Anwendung dieser Maxime besteht darin, daß prinzipiell jede Aussage vor Gericht als ungerecht anzusehen ist. Das Handeln der Richter, der Zeugen, der Kläger und Angeklagten kann nicht als gerecht gelten. Damit beruht das bestehende Rechtssystem nicht auf dem Grundprinzip der Gerechtigkeit, dem es dienen sollte. Zudem handeln die rechtlichen Institutionen nach den Gesetzen, die lediglich der δόξα und nicht der α λ ή θ ε ι α entsprechen. Jedes Urteil entbehrt daher der Legitimation, denn eine gerechte Strafe garantiert nur die Natur 6 . H o f f m a n n unternimmt Moulton folgend einen Vergleich zwischen der Gerechtigkeitsauffassung im Geschichtswerk des Thukydides und dem Grundprinzip Antiphons 7 . So sieht Thukydides angesichts des gefährlichen Mechanismus von Gewalt und Gegengewalt sowie des übersteigerten Machtstrebens einen Vorteil in der Schadensminimierung 8 . Gehörte Thukydides tatsächlich zu den Schülern Antiphons, dann betrachtete er 1
P.Oxy. 1797 [DK 87 Β 44 Β 2 col. I 15-col II 25],
2
P.Oxy. 1797 [DK 87 Β 44 Β 2 col. II 25-36], Ausführlicher dazu Bilik, P.Oxy. XI 1364 + LH 3647 und X V 1797, 37f. P.Oxy. 1797 [DK 87 Β 44B 2 col. II 18-21] (die Übersetzung weicht etwas ab von DK):... τ α ΰ τ ά
3
τε δί- |καια ε ί ν α ι κ α ι το μη- |δ>έν άδικείν μη- |δέ> αύτόν ά δ ι κ ε ι σ θ α ι . Stellt die Partizipialkonstruktion μ ή ά δ ι κ ο ΰ μ ε ν ο ν α ύ τ ό ν in der ersten Definition eine enge konditionale Verknüpfung her, zeigt hier der passive Infinitiv ά δ ι κ ε ι σ θ α ι ein unabhängiges Nebeneinander und damit auch eine Bedeutungsverschiebung. 4
Vgl. Moulton, On Truth, 348. Es handelt sich um eine Definition von Gerechtigkeit, die zum Beispiel Sokrates mehrfach äußert. Vgl. Plat. Krit. 49b; dazu Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III, 113.
5
So auch Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 215f.; Moulton, On Truth, 349. Hoffmann fügt außerdem hinzu daß δ ί κ α ι ο ν in Fragment 44a immer im Zusammenhang mit ν ό μ ο ς steht.
6
Vgl. auch Moulton, On Truth, 349. Hoffmanns Untersuchung zeigt, daß die Vorstellungen Diodots in der Mytilenedebatte mit den Gedanken des Antiphon nicht zu vereinbaren sind. Meines Erachtens erscheint die Frage nach dem Nutzen für die Polis auch selbstverständlich in die Debatte darüber zu gehören, wie künftig vom Seebund abgefallene Städte zu behandeln seien. Der weiteren Interpretation Hoffmanns ist zuzustimmen, in der auf die Relativierung des Begriffes δ ί κ α ι ο ν hingewiesen wird. Diodot vertritt eine eigene Auffassung von Gerechtigkeit, indem er die traditionelle Vorstellung, nur den Schuldigen zu strafen, mit dem σ υ μ φ έ ρ ο ν verbindet. Vgl. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 254f.
7
8
Vgl. besonders die Parallelen zu Antiphon in den Reden des Hermokrates (Thuk. 4.62) Weitere
6. Der Urzustand als Maßstab der Gegenwart - Antiphon
217
dessen Thesen vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund. Der Vergleich verdeutlicht, daß die Schriften Antiphons ebenso einen Teil der zeitgenössischen Diskussion über die moralischen Werte und ihre Gültigkeit in dem bestehenden Polissystem ausmachen. Nach dem gescheiterten Sizilienunternehmen Athens nahmen die Spannungen in Athen und die Kritik am bestehenden politischen System zu. Die umfassende Abhandlung Περί 'ΑληθΕίας paßt daher besonders gut in die Zeit nach 4151. Beginnend mit der Charakterisierung der von der φΰσις vorgegebenen Grundstoffe von Objekten allgemein, lenkt Antiphon den Blick auf die Natursubstanz des Menschen und den daraus folgenden Regeln der sozialen Gemeinschaft 2 . An diesem Maßstab beurteilt er das bestehende sozio-politische System. Er schafft ein Bild, das geprägt ist von den Gegensätzen zwischen einer mit der Natur völlig übereinstimmenden Idealvorstellung und einer weitgehend davon unterschiedenen Gegenwart. Die Grundfesten der attischen Demokratie, isonomia und eleutheria, die etwa im Epitaphios des Perikles als vorbildhaft gerühmt werden 3 , beruhen nach Antiphon in Wahrheit nur auf Schein. Wirkliche Freiheit und Gerechtigkeit kann nur eine Verfassung garantieren, die der physis des Menschen folgt. Dabei ist zwar nicht alles von der Natur für den Menschen Vorgesehene vorteilhaft, aber in keinem Fall darf ein menschliches und damit künstliches Einwirken die von der Natur vorgesehenen Annehmlichkeiten des Lebens einschränken oder gar zunichte machen. Wird diese Grundvoraussetzung eingehalten, sind die Polisgrenzen sowie die Unterschiede zwischen den Völkern irrelevant. Viele der bestehenden nomoi wirken als künstliche Trennlinien zwischen naturgemäß Gleichem 4 . Von der kosmopolitischen Ebene wendet sich der Sophist schließlich der Polisebene zu. Stellen die nomoi willkürliche Übereinkünfte dar, können nur die von der physis vorgegebenen Regeln tatsächliche Verbindlichkeit beanspruchen. Es stellt sich die Frage, ob Antiphon mit der Forderung nach der Einhaltung des Naturrechts gleichzeitig auch das „Recht des Stärkeren" propagierte, ohne es explizit zu formulieren 5 . Für Antiphon besteht das Erreichen des Naturzustandes in dem Erlangen des Zuträglichen. Gemeint ist damit alles, was dem Menschen von Natur aus zugute komme, wie zum Beispiel das Leben, die Freude und das Lustvolle. Die Lebensphilosophie Antiphons, so bezeichnet es Xenophon, bestehe darin, Wohlleben und Schwelgerei zu propagieren, während er Sokrates ausführen läßt, die größere Freude im Leben erfolge erst durch die Bewältigung von Entbehrungen und Mühen 6 . Auch Prodikos hatte Herakles
H i n w e i s e : Thuk. 1.144.1; 2 . 6 3 . 2 ; 4.18.3Í.; 4 . 6 1 . 5 ; 6.11.7; 6.14; 7 . 6 3 . 3 und die D i s k u s s i o n bei H o f f m a n n ( R e c h t im D e n k e n der Sophistik, 2 5 8 - 2 6 1 ) . 1
Vgl. Kap. II 4 . 2 . 2 ; Hoffmann, Recht im D e n k e n der Sophistik, 2 7 1 .
2
Auch Wiesner weist darauf hin, daß es nicht nur um die Natur des M e n s c h e n geht, w i e zum Beispiel Ostwald behauptet. Vgl. Wiesner, Antiphon, ein oder zwei Autoren?, 2 4 1 ; Ostwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty o f Law, 298f.
3
Thuk. 2 . 3 7 . 1 , 2; vgl. oben Kap. II 2.4, 1 2 1 - 1 2 3 .
4
Antiphon vertritt damit dieselbe A u f f a s s u n g w i e Hippias. Vgl. Kap. II 5.4.
5
V g l . Kap. II 3.4.
6
X e n . mem. 1.6.6, 7.
218
II. Sophisten als Systemkritiker
den beschwerlichen und damit richtigen Weg wählen lassen1. Antiphons Vorstellung liegt jedoch ein streng und konsequent verfolgter utilitaristischer Gedanke zugrunde. Die meisten Gesetze, so hatte Antiphon behauptet, widersprächen der Natur 2 , womit die nomos-physis-Antithese eine Einschränkung erfährt. Einige Gesetze stehen demnach im Dienste der Natur, schützen oder sichern das Zuträgliche, wobei die Übereinstimmung unbewußt besteht3. Daher stellt sich die Frage, welche nomoi nicht völlig feindlich zur Natur stehen, aber die notwendige natürliche Entfaltung einschränken. Dabei kann es sich nur um Gesetze gehandelt haben, die den Menschen selbst und seine Freiheiten schützten sollen. So stehen Körperverletzung und Mord unter Strafe. Antiphon kann nicht als ein Immoralist bezeichnet werden, der die Anwendung von Gerechtigkeit gänzlich ablehnte 4 . In seinen Gerichtsreden charakterisiert Antiphon die Gesetze zur Ahndung von Tötungsdelikten als die ältesten im Lande, als Erbe der Götter und Vorfahren. Tötungsgesetze weisen demnach weder eine zeitliche noch eine räumliche Beschränkung a u f . Dennoch finden sie Antiphon zufolge in der attischen Gesetzgebung eine der Natur widersprechende Differenzierung, die er in der fiktiven Situation der Tetralogien durch ein absolutes Tötungsverbot außer Kraft setzt6. Obwohl manche nomoi ,zufällig' auch Aspekte des Zuträglichen beinhalten, schränken sie doch absolut gültige, naturgegebene Grundätze unzulässig ein. Daher gelten schließlich die nomoi in Περί 'Αληθείας generell als nicht mit der Natur vereinbar 7 . Neben den körperlichen Bedürfnissen ist außerdem die geistige Freiheit zu berücksichtigen. So gewährte die isegoria allen Bürgern die gleiche Chance, in der Volksversammlung zu sprechen. Doch Redefreiheit bedeutete nicht gleichzeitig
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Vgl. Kap. II 3.4. P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. III 25-33], Hoffmann argumentiert überzeugend gegen die Vermutung Wiesners, neben dem „nach dem Gesetz Gerechten" bestehe ein „nach der Natur Gerechtes", daß δ ί κ α ι ο ν ausschließlich auf Seiten des ν ό μ ο ς genannt werde. Vgl. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 194; Wiesner, Antiphon, ein oder zwei Autoren?, 133. So lautet die These Furleys. Furley, Antiphon's Case against Justice, 86 (wie 202, Anm. 6). Vgl. dagegen auch Wiesner, Antiphon, ein oder zwei Autoren?, 233. So auch Wiesner, der Antiph. Mordfall Herodes (or. 5) 15 und Choregen (or. 6) 2 als Beispiele nennt. Wiesner, Antiphon, 232-4. Vgl. auch Antiph. gegen die Stiefmutter (or. 1) 3. Die Bemerkung, bei den Tötungsgesetzen handele es sich um die schönsten und heiligsten, entspricht Hoffmann zufolge einem Topos. Vgl. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 181, Anm. 26. Auch Wiesner bemerkt, daß aufgrund der Übereinstimmungen zwischen den Auffassungen in den Reden und der Schrift Über die Wahrheit die These Kerfeids widerlegt ist. Kerfeld geht davon aus, daß der Sophist nicht seine eigene Meinung, sondern die Thesen anderer aufgegriffen habe. P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. IV 1-8], Hoffmann wendet sich gegen die Interpretation Wiesners, daß manche nomoi mit der physis konform gehen. Gemeint seien nur einige, die zufällig nicht feindlich zur Natur seien. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 179, 195. Fesseln der Natur bedeuten die vorteilhaften nomoi insofern, „als sie zwar wahrhaft Zuträgliches mit sich bringen, aber zugleich entweder einen höheren .natürlichen' Nutzen einschränken, bzw. verhindern oder dem Eigeninteresse in irgendeiner Weise schaden." Hoffmann nennt zur Erläuterung die Erhebung von Steuern. Die oben genannte Tötungsgesetzgebung bietet dazu ein weiteres Beispiel. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 196f.
6. Der Urzustand als Maßstab der Gegenwart - Antiphon
219
Meinungsfreiheit, denn gegen verfassungswidrige Anträge ging die graphe paranomon vor'. Als eine der ersten Verfügungen der Vierhundert wurde das demokratische Regulativ der graphe paranomon vielleicht auf Rat des Antiphon außer Kraft gesetzt 2 . Mag auch Antiphon mit dieser Maßnahme eine idealistische Verwirklichung uneingeschränkter Freiheit intendiert haben, so scheiterte das Vorhaben an der politischen Realität3. Für den Sophisten war das Erkennen des naturgemäß Richtigen entscheidend und nicht der νόμος-Gehorsam 4 . In Περί 'Αληθείας fordert er, die nomoi den Regeln der physis anzupassen und somit den natürlichen Urzustand als Richtschnur anzuerkennen 5 . Das bedeutet nicht etwa, die Uhr auf ein primitives, vorzivilisatorisches Entwicklungsstadium zurückzudrehen. Aus den bisherigen Beobachtungen ergibt sich zunächst, daß an der jetzigen δ ι ά θ ε σ ι ς der Welt und Polisordnung nicht festgehalten werden kann. Es besteht keine Verpflichtung, sich an die bestehenden gesellschaftlichen Normen und das positive Recht gebunden zu fühlen, sofern sie das Naturrecht verletzen. Im Gegenteil, es erscheint sogar vorteilhafter, die nomoi zu mißachten. Antiphon stürzt damit einen, wenn nicht den wichtigsten Grundpfeiler der attischen Demokratie 6 . Verband der Autor in den Tetralogien noch die Ebene der traditionellen religiösen Vorstellungen mit dem Naturrecht, kommt den Göttern in der Schrift Περί 'Αληθείας kein Stellenwert mehr in der Weltordnung zu. Die Götter werden hier offenbar durch die elementare Kraft der Natur ersetzt. Im ersten Buch seiner Περί 'Αληθείας thematisiert der Sophist den Eingriff des Menschen in die naturgegebene Ordnung der Dinge. Der zweite Teil des Werkes unternimmt schließlich eine Beschreibung des kosmos und damit eine Vervollständigung der Kosmologie Antiphons, indem beispielsweise die Natur der Sonne, des Mondes und einiger Naturerscheinungen erklärt wird7. Die Regeln für das Zusammenleben nach einer naturgegebenen Ordnung beinhalten vorrangig das Prinzip der Nützlichkeit. Der Mensch darf in keiner Weise in seinen na' 2
Hansen, Demokratie, 213-220. Nach der Analyse der Rede für Polykratos nimmt Hefter eine neue Chronologie der Ereignisse vor. Die Ergebnisse der Rede und der Parallelüberlieferung erlauben, das Geschehen des Verfassungsumsturzes von 411 in zwei Phasen zu teilen. In der ersten faßte die Volksversammlung den Beschluß, die graphe paranomon aufzuheben und die Regierung den Fünftausend zu überantworten. Auf Druck der Oligarchen habe die Volksversammlung in einer zweiten Phase die Regierung den Vierhundert überlassen. Vgl. Hefter, Die Rede für Polystratos ([Lysias] XX), 68-94 (wie 200, Anm. 1).
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Thuk. 8.67.2. Vgl. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 197. Vgl. P.Oxy. 1364 [DK 87 Β 44 A col. V 25-VI 3]: „Wenn nun denen, die solche Grundsätze sich aneignen, eine Unterstützung von seiten der Gesetze zuteil würde und denen, die sie sich nicht aneignen, sondern sich widersetzen, ein Schaden, (6) so wäre der Gehorsam gegen die Gesetze nicht unvorteilhaft." Aristot. Pol. 1275a24; vgl. Kap. II 2.3, 106, Anm. 1. Die These Hoffmanns, Antiphon habe nicht die attische Demokratie, sondern die allgemeinen menschlichen Rechtsinstanz kritisiert, kann meiner Ansicht nach nicht überzeugen. Er wendet sich im allgemeinen, aber auch einschließlich der attischen Demokratie, von dem Polisdenken ab. Vgl. Antiphons Abhandlungen zur Physik und Anthropologie: Μ Β 93-116; DK 87 Β 22-43.
II. S o p h i s t e n als Systemkritiker
220
türlichen A n l a g e n , E m p f i n d u n g e n und B e d ü r f n i s s e n eingeschränkt w e r d e n , auch nicht innerhalb g r u n d l e g e n d e r sozialer Institutionen, w i e z u m B e i s p i e l der Familie 1 . A n t i p h o n fordert s o m i t die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach den natürlichen V o r g a b e n . D i e s e stehen einer e g o z e n t r i s c h e n L e b e n s w e i s e und auch der Realisierung d e s R e c h t e s d e s Stärkeren j e d o c h entgegen 2 . Gerecht sei, s o definierte e s der Sophist, kein U n r e c h t zu tun und selbst k e i n e s z u erleiden 3 . A u c h ist e s n i e m a n d e m erlaubt, m e n s c h l i c h e s L e b e n z u vernichten. Eine skrupellose D u r c h s e t z u n g der Herrschaft nur nach d e m Prinz i p der körperlichen Stärke ist damit a u s g e s c h l o s s e n . D a s W o h l b e f i n d e n und die Intere s s e n e i n e s j e d e n Individuums stehen im Vordergrund 4 . D e m H a n d e l n d e s e i n z e l n e n fehlt der traditionelle
Bezugsrahmen,
d e n n die P o l i s g r e n z e n
sind irrelevant 5 .
Die
traditionelle Vorstellung, sich im Krieg z u g u n s t e n der Polis a u s z u z e i c h n e n , ist in j e d e m Fall a b z u l e h n e n . Jede Form v o n körperlicher G e w a l t verletzt das absolute R e c h t d e s M e n s c h e n a u f Leben 6 .
1 2
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6
Vgl. dazu 214; Kap. III 2. Auch an dieser Stelle fallt die Parallelität mit den Auffassungen des Hippias auf. Vgl. Kap. II 5.4. Moulton weist daraufhin, daß es sich um eine grundsätzlich ethisch und nicht etwa anarchistisch zu verstehende nomos-Kritik handelt. Moulton, On Truth, 331, vgl. auch 348. Vgl. auch Reesor, The Truth of Antiphon, 204; Nili bemüht sich, die Argumente Moultons gegen die unmoralische Haltung des Autors zu widerlegen, daß nämlich Antiphon auch nachteilige Aspekte der Natur nenne. Jede Handlung, die im eigenen Interesse durchgeführt wird, stehe im Einklang mit der Natur. Nili, Morality and Self-interest, 60f. Vgl. auch Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III, 11 If.; Taureck, Sophisten, 6Iff. Häufig wurde Antiphon mit Kallikles in Piatons Gorgias verglichen. Weitere Literaturangaben vgl. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 184f. Roßner betont meiner Ansicht nach zu sehr den utilitaristischen Gedanken, auf den sich das ethische Denken des Sophisten beschränke. Antiphon lehne alle Formen von Recht und Gerechtigkeit ab. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß der Sophist das zeitgenössische Rechtssystem an den von ihm aufgestellten Grundsätzen mißt, die in dem Postulat „kein Unrecht tun und keines erleiden" münden. Das Argument Roßners, es handele sich hierbei nur um einen kritischen Unterton, dem jede ethische Bedeutung fehle, kann nicht überzeugen. Vgl. Roßner, Recht und Moral, 246. Dreher stimmt der Interpretation Guthries zu, der in der genannten Definition der Gerechtigkeit nicht wie Bignone eine Idealvorstellung sieht, sondern eine einfache Umkehrung der Forderung, selbst kein Unrecht zu tun. Dreher betont das utilitaristische und hedonistische Prinzip Antiphons, ohne die Einschränkungen zu akzeptieren. Aus der Ansicht Antiphons, daß das Gesetz nicht vor Unrecht schütze, folgert Dreher, jeder einzelne solle seinen Vorteil auch auf Kosten anderer durchsetzen. Vgl. Dreher, Sophistik und Polisentwicklung, 72, 158, Anm. 119, 157, Anm. 154. Vgl. auch Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 205. Bilik weist auf eine „sehr private Form der Anarchie" hin: „Der Autor argumentiert hier nicht als Staatstheoretiker, sondern als Praktiker, der in der Zuträglichkeit, welche anscheinend auch mit der Hedone identifiziert wird, das wesentliche Kriterium für die menschlichen Handlungsweisen sieht ..." Bilik, P.Oxy. XI 1364 + LH 3647 und XV 1797,39. Darin sieht Müller den Unterschied zu den Nützlichkeitserwägungen des Protagoras bei Piaton, die in bezug auf die Polis zu verstehen seien. Plat. Theaet. 167. R. Müller, Sophistique et démocratie, in: Cassin, Positions de la sophistique, 191. Vgl. auch Moulton, On Truth, 344f.; Reesor, The Truth of Antiphon, 210. Vgl. außerdem Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 185.
6. Der Urzustand als Maßstab der Gegenwart - Antiphon 6.4 D a s
221
Homonoia-Modell
Als „sophistischste" Arbeit Antiphons bezeichnet Philostrat das Werk über die Περί 'Ομονοίας. Es enthalte viele geistreiche Sprüche (γνωμολογία) und sei auch sprachlich sehr ausgefeilt 1 . Eine Reihe von Fragmenten ist in Form von Lehrsätzen und erläuternder Beispiele erhalten geblieben 2 . Laut Xenophon leisteten in ganz Griechenland alle Bürger einen Eid auf die Eintracht der Polis, womit sie sich zum Gehorsam gegenüber den Gesetzen verpflichteten. Homonoia sollte im Staat wie im Hauswesen gelten3. Ein anonymer Autor, der vermutlich dem ausgehenden 5. Jahrhundert angehörte und dessen Gedanken ansatzweise bei Iamblichos überliefert sind4, geht von der moralischen Verfassung des Individuums aus. Der Tugendhafteste nutze den meisten Menschen, und die Gesetzlichkeit, das am nomos orientierte Verhalten, komme der Gemeinschaft und auch den einzelnen zugute5. Möglicherweise reagierte der Autor damit auf die Thesen Antiphons. Bezieht sich der Terminus ομόνοια direkt auf die Polis und ihre bestehende Verfassung, wie es beispielsweise Xenophon erläutert, ergibt sich die Frage, welche Gedanken Antiphon mit dem Terminus verband. Die zeitgenössische Polisordnung besaß für ihn keine Legitimation und Gültigkeit. Um dennoch Eintracht unter den Menschen zu erzielen, formulierte er in Περί Αληθείας eine eigene Definition des Gerechten: Zueinander gerecht sein bedeutete, Gewalt zu vermeiden, um das von der physis vorgegebene Vorteilhafte zu bewahren. Die hohen Anforderungen an jeden einzelnen setzen eine in Περί. 'Ομονοίας geforderte Erziehung, eine entsprechende psychische Verfassung und gesellschaftliche Normen voraus. Die Fragmente lassen sich den genannten drei Themen, der Erziehung, der Psychologie und der Soziologie, zuordnen 6 . Folgende von Stobaios, einem Autor des 5. Jahrhunderts n.Chr.7, in seiner Anthologie wiedergegebenen Zeilen aus Περί 'Ομονοίας Antiphons gehören vielleicht sogar direkt an den Anfang der Schrift: Das Erste, glaube ich, unter den menschlichen Dingen ist die Erziehung. Wenn man nämlich von irgendeiner beliebigen Sache den Anfang richtig macht, so ist es wahrscheinlich, daß auch das Ende richtig wird. Was für einen Samen man in die Erde sät, dementsprechend ist ja auch die Ernte, die man erwarten darf. Und wenn man in einen jungen Leib hinein die echte Bildung
1
Philostr. V. Soph. 1.15.4 [DK 87 Β 44a],
2
Vgl. M 117-145; DK 87 Β 45-71.
3
Xen. mem. 4.4.16 [DK 87 Β 44a].
4
Vgl. Capelle, 380.
5
6
Vgl. Anonym. lambì. 3.3, 7.1 [DK 89], Vgl. Ps.-And. or. 4. und dazu: Hefter, Ps.-Andokides' Rede gegen Alkibiades, 89f. Vgl. dazu die Einteilung Morrisons [M 117-122, 123-128, 129-145], Furley sieht in ihnen die wesentlichen Belege für Antiphons psychotherapeutische Tätigkeit. Erziehung und Lebensstil wirken sich auch auf die Psyche und die Physiognomie des Menschen aus. Furley, Sophist als Psychotherapeut?
7
Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Zitaten zahlreicher Prosaautoren und Dichter, bei der bereits vorliegende Zusammenstellungen benutzt wurden. Vgl. Lesky, Griechische Literatur, 955.
222
II. Sophisten als Systemkritiker
sät, so lebt das und sproßt das ganze Leben hindurch, und weder Regen noch Dürre kann es vernichten1.
Eine entscheidende Bedeutung für den künftigen Lebensweg k o m m e der Erziehung in frühster Kindheit zu. Wichtig sei außerdem, auf den richtigen U m g a n g zu achten 2 . Worin die edle Erziehung ( π α ί δ ε υ σ ι ς γ ε ν ν α ι ή ) bestehen soll, bleibt hier offen, wird aber durch ein weiteres Zitat des Stobaios deutlicher: Nichts ist schlimmer für die Menschen als die Herrschaftslosigkeit. Weil die früheren Menschen das erkannten, gewöhnten sie die Kinder vom ersten Anfang an daran, beherrscht zu werden und auf Befehl zu handeln, damit sie nicht als erwachsene Männer, wenn sie in eine große Veränderung geraten, verwirrt werden3.
Nichts sei schlimmer für den Menschen als die Anarchie ( α ν α ρ χ ί α ) . Deshalb sei die A u s ü b u n g von Herrschaft f ü r die Erziehung der Kinder - zu ergänzen ist: f ü r die menschliche Gemeinschaft insgesamt - zwingend notwendig. N a c h dieser allgemeinen Aussage folgt ein Blick in die Vergangenheit. Damals hätten die Menschen die Notwendigkeit erkannt, Kinder frühzeitig zu Gehorsam und A n passungsfähigkeit zu erziehen. Denn anpassungsfähig ist der Mensch offenbar in j e d e r Beziehung und von Natur aus, so könnte die Erklärung Antiphons lauten. Dann dienten seine E r w ä h n u n g e n der sogenannten „Schattenfüßler" ( σ κ ι ά π ο δ ε ς ) , der „Großköpfig e n " ( μ α κ ρ ο κ έ φ α λ ο ι ) und der Menschen, „die unter der Erde lebten" ( ύ π ό γ ή ν ο ί κ ο ΰ ν τ ε ς ) , sicher als illustrierende Beispiele 4 . Morrison verweist auf einen A u s z u g aus dem zeitgenössischen Werk des Hippokrates, in dem ebenfalls auf körperliche Eigentümlichkeiten hingewiesen wird. Der Autor erklärte diese als Resultate des Lebensstils 5 . Und auch Herodot bemerkte, daß die unter der Erde lebenden Aithiopier die schnellsten der Erde seien und wie Fledermäuse zwitscherten 6 . Der M e n s c h paßt sich auch physisch den Sitten, Gebräuchen und U m w e l t b e d i n g u n gen des Kulturkreises an, in den er hineingeboren wird. Sein Verhalten und sein Cha-
1
Stob. 2.31.39 p. 208, 13 [Μ Β 117; DK 87 Β 60]: πρώτον, οιμαι, τών έν ά ν θ ρ ώ π ο ι ς έ σ τ ί π α ί δ ε υ σ ι ς · οταν γ α ρ τις π ρ ά γ μ α τ ο ς κ ά ν ότουοΰν την ά ρ χ ή ν ορθώς π ο ι ή σ η τ α ι , ε ι κ ό ς κ α ί την τ ε λ ε υ τ ή ν ορθώς γ ί γ ν ε σ θ α ι - κ α ι γ α ρ τήι γήι οίον α ν τις το σ π έ ρ μ α έ ν α ρ ό σ η ι , τ ο ι α ύ τ α κ α ι τ α εκφορά δει π ρ ο σ δ ο κ ά ν κ α ι έν νέωι σ ώ μ α τ ι οταν τις την π α ί δ ε υ σ ι ν γ ε ν ν α ί α ν έναρόσηι, ζήι τούτο κ α ί θ ά λ λ ε ι δια π α ν τ ό ς του βίου, κ α ί α ύ τ ό ούτε όμβρος ούτε α ν ο μ β ρ ί α α φ α ι ρ ε ί τ α ι .
2
Stob. 2.31.41[Μ Β 119; DK 87 Β 62]. Stob. 2.31.40 [ M B 118; DK 87 Β 61] (die Übersetzung weicht etwas ab von DK): α ν α ρ χ ί α ς δ' ο ύ δ έ ν κ ά κ ι ο ν άνθρώποις· τ α ύ τ α γ ι ν ώ σ κ ο ν τ ε ς οί πρόσθεν άνθρωποι ά π ό της ά ρ χ ή ς είθιζον τους π α ΐ δ α ς ά ρ χ ε σ θ α ι κ α ί το κ ε λ ε υ ό μ ε ν ο ν ποιείν, ί ν α μη έ ξ α ν δ ρ ο ύ μ ε ν ο ι ε ί ς μ ε γ ά λ η ν μ ε τ α β ο λ ή ν ίόντες έ κ π λ ή σ σ ο ι ν τ ο . Harpokr. s.v. Σ κ ι ά π ο δ ε ς , Μακροκέφαλοι, ύ π ό γήν οίκούντες [Μ Β 120-122; DK 87 Β 4547], Eine andere Deutung der Fragmente vertritt Bignone. Er sieht in der Erwähnung der Skiapodes, der Makrokephaloi und der Völker, die unter der Erde wohnen, eine Anspielung auf die Barbarenvölker, die doch mit den Griechen gleich seien. Darauf beziehe sich die geforderte homonoia. Vgl. Bignone, Die ethischen Vorstellungen, 508. Vgl. Morrison, 226; Heinimann, Nomos und Physis, 15f. Hdt. 4.183.4.
3
4
5 6
6. Der Urzustand als Maßstab der Gegenwart - Antiphon
223
rakter werden dabei von den Mitmenschen seiner unmittelbaren Umgebung geprägt 1 . Der Geist des Menschen und damit seine natürlichen Anlagen müssen somit durch die Erziehung geformt werden 2 . Sieht Piatons Protagoras in der πολιτική άρετή das Hauptziel seiner Erziehung, stellt für Antiphon der Gehorsam gegenüber den Herrschenden die wichtigere Basis dar3. Die Aussage des kurzen und natürlich aus dem Zusammenhang gerissenen Textauszuges erinnert an eine frühere Zeit, in der eine Gruppe von Herrschenden einer an Gehorsam gewöhnten Menge gegenüberstand. Auch Umwälzungen, womit etwa ein Wechsel der Regierung gemeint sein könnte, sollten die Menge nicht aus der Ruhe bringen. Eine politische Hierarchisierung erscheint der Schrift des Antiphon zufolge als unvermeidlich. Diese müsse aber Grundsätzen folgen, die der Natur gerecht werden, was bei den bestehenden nomoi nicht der Fall sei. Unter diesen Gesichtspunkten ist eine Beteiligung aller Bürger an der Herrschaft ausgeschlossen, denn aus der Sicht Antiphons sind die attische Demokratie und ihr Rechtswesen nicht geeignet, die homonoia in der menschlichen Gemeinschaft zu erzielen. Der in der Forschung oft konstatierte Widerspruch zwischen der vermeintlich anarchistischen Lehre in der Schrift Über die Wahrheit und den hier vorgestellten Fragmenten besteht in der Tat überhaupt nicht4. In der Schrift Über die Wahrheit stellt der Sophist fest, daß die Natur fur den Menschen auch Dinge bereithält, die ihm nicht zugute kommen. Dennoch fördere die physis nicht das Schmerzvolle und Betrübliche. Zu der Problematik psychischer Konflikte bietet Antiphon in seinem Werk zum Thema „Eintracht" einige Ratschläge für zwiespältige Situationen. Demnach sollte jeder einzelne Besonnenheit (σωφροσύνη) zeigen, um eine innere Ausgeglichenheit zu finden5. Im Widerspruch zu seinen in Περί 'Αληθείας formulierten Thesen folgt Antiphon in der Praxis jedoch den auch von Sokrates genannten Einsichten, auch wenn er sie selbst nicht propagierte. So stellt er nämlich im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Ehe fest, daß Schmerz immer mit Freude verbunden und ohne Fleiß und Anstrengungen keine Belohnung zu erwarten sei6. Die Frau könne sich als ungeeignet erweisen oder aber das Angenehmste für den Mann sein. Von einer Scheidung rät Antiphon ab, denn dann stehe man Verwandten, Gleichgesinnten und Freunden feindlich gegenüber 7 . Wenn es die richtige Frau sei, 1
Stob. 2.31.41 [ M B 119; DK 87 Β 62],
2
Vgl. H o f f m a n n , Recht im Denken der Sophistik, 227. Vgl. Plat. Prot. 323f. Vgl. dazu u.a. Müller, Das Menschenbild der sophistischen Aufklärung, in: R.
3
Müller (Hrsg.), Der Mensch als Maß der Dinge. Studien zum griechischen Menschenbild in der Zeit der Blüte und Krise der Polis, Berlin 1976, 260-263. 4
So auch Bignone, Die ethischen Vorstellungen, 509; H o f f m a n n , Recht im Denken der Sophistik, 229; Bringmann, Rhetorik, Philosophie und Politik, 502; eine kritische Einschätzung vertreten: S. Luria, Eine politische Schrift des Redners Antiphon aus Rhamnus, Hermes 61, 1926, 343-348. Kerfeld verfolgt die These, der Sophist habe eben nicht seine eigenen, sondern fremde Ansichten referiert. G.B. Kerfeld, The Moral and Political Doctrines of Antiphon the Sophist. A Reconsideration, P C P S 184, 1957, 26-32.
5
Stob. 3.20.66 [Μ Β 124; DK 87 Β 58],
6
Vgl. dazu die davon abweichende Charakterisierung des Sophisten bei Xenophon. Vgl. Xen. mem.
7
Vgl. P.Oxy. 1797 [DK 87 Β 44 Β 2 col. I 15-30],
1.6; dazu oben 194, 196.
224
II. Sophisten als Systemkritiker
dann plage den Mann besonders die Sorge um ihre Gesundheit, den Lebensunterhalt, den guten Ruf und die Ehrbarkeit. Mit der Geburt von Kindern sei die jugendliche Unbeschwertheit endgültig vorbei'. Die Sichtweise und die Schwierigkeiten der Frauen sind hier völlig ausgeklammert. Frauen erscheinen als Besitz des Mannes. Für einen jungen Mann, der im Griechischen schlicht als Mensch bezeichnet ist, kann eine Frau etwas ,Süßes' sein. Dies macht deutlich, daß die Frau hier lediglich als ein Objekt betrachtet wird 2 . Antiphon beschreibt die Ehe als ein Schicksal des Mannes, das sich zum Guten wie zum Schlechten wenden kann. Er plädiert fur eine sehr gemäßigte hedonistische Lebensweise, denn er mahnt zur Besonnenheit 3 . Im „richtigen Denken" (το κ α λ ώ ς φρονεΐν) liegt für ihn die Stärke, auch Krisensituationen zu meistern und ομόνοια zu erreichen 4 . Es kann leichter werden, kein Unrecht zu begehen, indem man zögert und von seinen Plänen abläßt. Besonnenheit besteht besonders darin, die Nachteile zu bedenken und nicht seinen augenblicklichen Bedürfnissen und Lüsten spontan nachzugeben, sondern diese zu überwinden 5 . Dabei bedeutet Besonnenheit nicht Enthaltsamkeit, sondern die Fähigkeit, sich den Widrigkeiten des Lebens auszusetzen und ihnen zu widerstehen 6 . Die ethische Einstellung des Individuums ist für sein Handeln entscheidend 7 . Es folgen weitere Ratschläge, das Leben zum gegenwärtigen Zeitpunkt möglichst zu genießen und nicht auf eine ferne Zukunft zu warten 8 . Mit einem sehr pessimistischen Blick auf die Realität beklagt er das Kleine, Schwache und mit Schmerzen Verbundene im menschlichen Dasein. Das Leben sei kurz wie ein Tag, und nichts könne rückgängig
'
Stob. 4 . 2 2 , 2 . 6 6 [ M B 123; D K 87 Β 49],
2
V g l . Taureck, Sophisten, 69f.
3
B i g n o n e nennt vergleichend die L e b e n s p h i l o s o p h i e Demokrits und Epikurs. V g l . B i g n o n e , D i e ethischen Vorstellungen, 506.
4
Stob. 3 . 1 6 . 3 0 [Μ Β 133; D K 87 Β 54]; „ D e n n w e n n Gott einem M a n n e nicht lauter Gutes g e b e n will - indem er ihm nämlich nur Reichtum an Geld gewährt, ihn aber am rechten D e n k e n arm macht - dann beraubt er ihn beider D i n g e dadurch, daß er ihm das eine entzieht."
5
Stob. 3 . 2 0 . 6 6 [Μ Β 124; D K 87 Β 58], D i e Parallele zu P . O x y 1797 [ D K 8 7 Β 4 4 Β 2 col. I] ist deutlich. Auch hier spielt das Eigeninteresse eine wichtige Rolle. V g l . H o f f m a n n , Recht im D e n k e n der Sophistik, 2 1 8 . Dreher schließt aus dem Hinweis, die eigenen N a c h t e i l e vor der Tat zu überlegen, daß eine S c h ä d i g u n g anderer durchaus nicht verurteilt werde. Nur der e i g e n e Schaden solle vorher a u s g e s c h l o s s e n sein. Sofern kein Nachteil zu erwarten sei, solle man sogar s e i n e m N ä c h s t e n schaden. Vgl. Dreher, Sophistik und Polisentwicklung, 72f. Der Schwerpunkt der Argumentation liegt m e i n e s Erachtens j e d o c h auf d e m Faktor „Zeit". Wer zögert, ungerecht zu sein, ist s c h o n auf e i n e m guten Weg. D e n n jeder erleidet Übles, der einem anderen Schaden zufügt.
6
Stob. 3 . 5 . 5 7 [ M B 125; D K 87 Β 59],
7
In X e n o p h o n s Memorabilia
antwortet Sokrates d e m Hippias, der Wille, kein Unrecht zu tun, sei ein
ausreichender B e w e i s fur eine gerechte Gesinnung. B i g n o n e bemerkt, das Fragment gehöre inhaltlich zu den oben vorgestellten Papyrusfragmenten. Es k o m m e auf die innere Einstellung an, ob sich j e m a n d richtig verhalte. Daher könne auch Gerechtigkeit nicht gleich Gesetzlichkeit sein. V g l . Big n o n e , D i e ethischen Vorstellungen, 503. 8
S t o b a i o s 3 . 1 6 , 2 0 [Μ Β 132; D K 87 Β 53a]; vgl auch im Politikos 77],
Plut. Ant. 2 8 [Μ Β 151; D K 8 7 Β
6. Der Urzustand als Maßstab der Gegenwart - Antiphon
225
gemacht werden 1 ; daher sollte nicht nur das Geldverdienen Spaß machen, sondern auch das Investieren 2 . Auch gelte es, die wahren Freunde von Schmeichlern und Bewunderern des Reichtums zu unterscheiden 3 . Die Lebensweisheiten Antiphons können durchaus aus einer Beratertätigkeit als ,Psychologe' gewachsen sein. Es stellt sich außerdem die Frage, welche Bedeutung den Sentenzen im Hinblick auf die homonoia zukommt: In dem Werk Über die Eintracht geht es Antiphon wie in seiner Schrift Über die Wahrheit um die Anordnung ( δ ι ά θ ε σ ι ς ) des menschlichen Zusammenlebens 4 . Das positive Recht, die Verfassung, spielt im Gegensatz zu der zeitgenössischen homonoia-Vorstellung ebensowenig eine Rolle wie die Entwicklung einer eigenen Gerechtigkeitsauffassung. Es gilt vor allem, Vor- und Nachteile des Handelns abzuwägen 5 . „Eintracht" meint, durch Besonnenheit, durch το κ α λ ώ ς φρονεΐν, sowohl im Einklang mit sich selbst als auch mit den Mitmenschen zu sein und das von der Natur als zuträglich Vorgesehene zu bewahren. Piaton verbindet die von Antiphon herausgestellten Aspekte der ομόνοια, wenn Sokrates in der Politeia feststellt, daß die Gerechtigkeit Eintracht und Freundschaft hervorbringt. Piaton kommt mit seiner Auffassung von Gerechtigkeit der „Besonnenheit" Antiphons als Lebensgrundsatz nahe 6 .
6.5 Zusammenfassung Auch die Werke Antiphons lassen sich nur vor dem Hintergrund des Peloponnesischen Krieges und der seit 413 in der Öffentlichkeit verstärkt einsetzenden Verfassungsdiskussion erklären. In Περί 'Αληθείας mißt Antiphon die zeitgenössische Gegenwart kritisch an dem natürlichen Urzustand. Legte der Sophist die in seinen Schriften Über die Wahrheit und Über die Eintracht erläuterten Maßstäbe seiner Lebens- und Staatsphilosophie auch für die Praxis zugrunde, dann ist seine Verteidigung, keine Oligarchie in Athen geplant zu haben, nicht als reine Verzweiflungsstrategie zu deuten 7 , sondern durchaus ernst gemeint. Er bezieht sich nicht auf das ihm zur Last gelegte Vergehen, Kontakte zu Sparta aufge-
1
Stob. 4.34.56 [Μ Β 139; DK 87 Β 51]; Stob. 4.34.63 [Μ Β 129; DK 87 Β 50],
2
Stob. 3.10.39 [Μ Β 131; DK 87 Β 53]; Stob. 3.16.30 [Μ Β 133; DK 87 Β 54], Es geht sicherlich nicht um eine Soziallehre gegenseitiger Hilfe, denn der Schaden steht hier im Mittelpunkt der Argumentation. Es zielt nicht darauf ab, den Armen zu helfen, wie es Demokrit fordert. Vgl. Stob. 4.46 [DK 68 Β 255], Vgl. auch Anonym. lambì. 7.2. Die Aussagen der beiden Fragmente passen durchaus zu den oben besprochenen Papyrusfragmenten. Vgl. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 220-226.
3
Sud. s.v. θ ω π ε ί α [Μ Β 138; DK 87 Β 65]; Exc. Vindob. 44 (Stobaios 4.293.17) [Μ Β 137; DK 87 Β 64],
4 5
Vgl. Harpokr. s.v. δ κ χ θ ε σ ι ς [Μ Β 136; DK 87 Β 63], Hoffmann findet eine dem Fragment aus Π ε ρ ί ' Ο μ ο ν ο ί α ς , Stob. 3.20.60 [Μ Β 124; DK 87 Β 58], sehr ähnliche Formulierung im Ion des Euripides. Eur. Ion 1247-9. Die Gegenüberstellung verdeutlicht, daß Antiphon Gerechtigkeitsvorstellungen übernimmt, ohne sie als gerecht zu bezeichnen. Vgl. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 232f.
6 7
Plat. Pol. 35 ld; vgl. dazu auch Bignone, Die ethischen Vorstellungen, 509f. Vgl. dazu auch oben Kap. II 6.1.
226
II. Sophisten als Systemkritiker
nommen und damit Hochverrat begangen zu haben, sondern bringt zum Ausdruck, daß seine Intentionen nicht mit denen des oligarchischen Regimes der Vierhundert übereinstimmten. Das in den theoretischen Schriften entwickelte Weltmodell und seine Lebensphilosophie zielten nicht auf die Einrichtung einer Oligarchie ab, denn es hatte sich von jeglicher Polisordnung gelöst. Möglicherweise sah er in dem Rat der Vierhundert ein zeitweilig in Kauf zu nehmendes Übergangsregime 1 . Der Theoretiker hatte den „Revolutionären" lediglich die Schwachpunkte des bestehenden Systems aufgedeckt. Als Feind jeglicher Aggression setzte er sich mit allen Mitteln für einen Frieden mit Sparta ein. Vermutlich hatte er mit Schrecken beobachtet, wie die Vierhundert gewaltsam ihre Herrschaft zu sichern versuchten und schließlich in einem innenpolitischen Machtkampf dem oligarchischen Regime der Fünftausend unterlagen. Vergeblich hoffte der Sophist auf das Verständnis seiner ehemaligen Mitstreiter, wenn er nur seine wirklichen Ambitionen und sein neues Konzept von Staat und Gesellschaft erläuterte 2 . Das würde außerdem erklären, warum Antiphon trotz Gelegenheit nicht die Flucht ergriffen hatte. Die Auffassung des Sophisten von einem idealen Staat konnte die Interpretation der Fragmente näher bringen: In der Vorstellung Antiphons kam den Grenzen der griechischen Poleis und der Staaten insgesamt keine Bedeutung mehr zu. Damit fehlte der traditionelle Bezugsrahmen für das staatliche und individuelle Handeln, was jedoch keine Befürwortung anarchistischer Zustände bedeutete. Kriegsmüde und demokratieverdrossen wie viele Bürger Athens, suchte der Rhamnusier nach neuen Werten. Die traditionellen Vorstellungen, sich im Krieg für die Polis auszuzeichnen und dabei die Kräfte zu messen, lehnte er ebenso ab wie die simple Propagierung des Rechtes des Stärkeren. Die wichtigsten Anregungen für sein Staats- und Gesellschaftskonzept fand der Sophist wohl bei Gorgias. Antiphon stand der Idealvorstellung des Gorgias sehr nahe, der sich ebenfalls vom Polisdenken abgewandt und seine eigene Staatsvorstellung formuliert hatte. Die Kritik Antiphons an den traditionellen Wertvorstellungen und die Überwindung der Polis ist wie bei dem Leontiner nicht rein destruktiv. In Περί 'Ομονοίας entwickelt er eine positive Ethik, deren Grundlagen in der Natur vorgegeben sind. Die Besonnenheit hilft dem Individuum, die Regeln der Natur zu erkennen und in einer hedonistischen Lebensweise Maß zu halten3. Es liegt in der Eigenverantwortung des Menschen, Schaden, Nachteil oder Lustgewinn und Vorteil zu erlangen, womit die utilitaristische Ethik Antiphons umrissen ist. Die spärlichen Fragmente seines Politikos geben leider keine Auskunft über seine Vorstellungen von einem idealen Staat und seiner Verfassung. Auch eine Rückkehr zur patrios politela im Sinne der Ausführungen des Thrasymachos und der Propaganda des
Dabei bietet sich ein Vergleich mit den Vorstellungen der Neuzeit an. M a r x ' Revolutionstheorie sah in der „Diktatur des Proletariats" eine Übergangsphase vor der Verwirklichung des Vollkommunismus. 2
Auch Thukydides schätzte Antiphon als einen Mann des radikalen Flügels ein. Vgl.Thuk. 8.68.2.
3
Unter Hedonismus verstand er ein Vermeiden von Unlust. Vgl. Bignone, Die ethischen Vorstellungen, 506f., 514. Es handelte sich um eine gemäßigte Form des Hedonimus, vergleichbar mit der Ethik des Demokrit. Stob. 3.484.22-485,2; 485,13 [DK 68 Β 229, 230],
6. Der Urzustand als Maßstab der Gegenwart - Antiphon
227
Jahres 411 konnten dem Rhamnusier nicht genügen'. Denn die Gruppe von Menschen, die seinen Erziehungsmaximen zufolge die Herrschaft ausüben sollte, war nicht durch die nach kleisthenischer Ordnung vorgegebenen Zensusklassen definiert. Antiphon lobte zwar die Absichten der Vorfahren, doch nicht ihre nomoi. In seiner Idealvorstellung einer „Weltgemeinschaft" waren die hohen moralischen Anforderungen an alle Menschen und an die Gruppe der führenden Persönlichkeiten natürlich im besonderen entscheidend 2 . Prädestiniert für die verantwortlichen Positionen konnten nur diejenigen Menschen sein, die das höchste Maß an σωφροσύνη erreicht hatten 3 . Nur diese verfügten über ausreichende Lebenserfahrung und wußten der Situation angemessen und der physis folgend zu handeln 4 . Die ideale Verfassung entspricht demnach ganz bewußt und nicht zufallig der physis und schützt die Vorteile aller Individuen. Das sophistische Staatsmodell Antiphons ist mit keiner der bestehenden Regierungsformen vergleichbar und bleibt ein theoretisches Konzept. Eine Gesellschaft ohne die herrschende soziale oder politische Hierarchisierung, ein Leben in friedlichem Einvernehmen ohne Aggression, muß ein Ideal bleiben.
1
Anders Wiesner, Antiphon, ein oder zwei Autoren?, 235. Er vertritt die These, Antiphon habe durchaus die Oligarchie befürworten können. Aber auch die These Hoffmanns, daß die Vorstellungen Antiphons am ehesten mit einer Demokratie zu vereinbaren seien, mit dem Grundsatz der isonomia, ist meines Erachtens nicht zu halten. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 245.
2
Vgl. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 229. Vielleicht sind die Herrschenden gemeint, wenn er im Politikos das Wort , , ε ύ σ ύ β α λ ο ς " gebrauchte, was „einer, der gut kombinieren kann" bedeutet. Harpokr. s.v. [Μ Β 148; DK 87 Β 74].
3
4
Phot. [Μ Β 126; DK 87 Β 55]: „Man darf nicht ?> zaudern, wo zaudern nichts zu tun hat." Vgl. auch Sud. s.v. ό κ ν ώ [Μ Β 127; DK 87 Β 56],
7. Kritias und das Recht des Stärkeren 7.1
Zur P e r s o n
Kritias wurde vor allem in seiner Funktion als attischer Politiker bekannt, war er doch einer der dreißig Tyrannen im Jahre 404/403. Obwohl Philostrat Kritias in die Sophistenviten aufgenommen hatte, kann er nicht generell als ein Sophist bezeichnet werden, zumal er keine unmittelbare Lehrtätigkeit ausübte. Da er sich neben seiner politischen Tätigkeit auch literarischen Studien widmete und die ihm zugeordneten Schriften deutlich von sophistischem Gedankengut geprägt sind, wird er hier zumindest als „Sonderfall" aufgenommen 1 . Kritias war ein Sohn des Kallaischros und zählte schon Solon zu seinen Vorfahren2. Seine Familie hegte aristokratisch-oligarchische Ansichten; so hatte sich Kallaischros im Jahre 411 an dem Sturz der Demokratie beteiligt3. Trotz der Aktivitäten seines Vaters trat Kritias zu diesem frühen Zeitpunkt, der ersten Phase der Oligarchie, noch nicht ins politische Rampenlicht 4 . Nach der Machtübernahme der Fünftausend bewirkte er jedoch die nachträgliche Anklage und Verurteilung des Phrynichos, der auf der Rückreise von Sparta ermordeten worden war5. Phrynichos hatte sich deutlich gegen die Rückkehr des Alkibiades und für eine Einigung mit Sparta eingesetzt. Der Prozeß ging allen weiteren von Theramenes initiierten politischen Prozessen voraus, denen auch Antiphon und Archeptolemos zum Opfer fallen sollten 6 . Kritias stellte sich somit offen 1
Philostr. V. Soph. 1.16. [DK 88 A 1]; Schol. zu Plat. Tim. 20a-21a [DK 88 A 3]; Xen. mem. 1.2.12 [DK 88 A 4]; Xen. Hell. 2.3.1, 2; 2.3.15; 2.4.8 [DK 88 A 9, 10, 12]; Lys. 12.43 [DK 88 A 11]; Schol. Aeschin. 1.39 (Schulz, 261).
2
Plat. Tim. 21a [DK 88 A 3]. Im Timaios schildert Kritias beispielsweise den Atlantis-Mythos, den Solon angeblich in Ägypten gehört hatte.
3
Lys. Gegen Eratosth. 66; Xen. Hell. 2.3.2. In der pseudodemosthenischen Rede gegen Theokrines verbindet Epichares irrtümlich die N a c h richt zu den Ereignissen von 411/410 mit denen des Jahres 404/403. [Demosth.] Gegen Theokrines 6.58, 67 [DK 88 A 6]: „Aristokrates, der Sohn des Skelias, ... vollbrachte viele große und schöne Taten, als die Stadt gegen die Lakedaimonier Krieg führte. Indem er die Eetioneia niederriß, in die Kritias und seine Genossen die Lakedaimonier aufnehmen wollten, zerstörte er das Bollwerk. So führte er den D e m o s wieder zurück." Nemeth sieht darin einen Beleg für die Teilnahme des Kritias an dem Regime der Vierhundert. G. Nemeth, Metamorphosis Critiae?, Z P E 74, 1988, 171f. Vgl. auch G.A. Lehmann, Die revolutionäre Machtergreifung der „Dreißig" und die staatliche Teilung Attikas (404-401/0 v.Chr.), in: Festschrift für H.E. Stier 1972, 210. Bleckmann weist noch einmal überzeugend nach, daß Kritias im Herbst 411 auf der Seite des Aristokrates und Theramenes stand. Vgl. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 359, 382.
4
5
Phrynichos hatte an den vergeblichen Friedensverhandlungen teilgenommen. Zur Ermordung des Phrynichos vgl. Thuk. 8.92; Plut. Alk. 25; Lys. Contr. Ages. 70ff. Lykurg. Cont. Leocr. 113 [DK 88 A 7]: „Das Volk stimmte dafür, unter dem Einfluß des Kritias, die Mannschaft (des Phrynichos im Jahre 411) vor Gericht zu stellen. Als man erkannte, daß er, obwohl er ein Verräter war, in der Region beerdigt worden war, exhumierten sie seine Knochen und verbannten sie jenseits der Grenze Attikas."
6
Vgl. Kap. II 6.1; [Plut.] V.or. 10.832b23 [M A 3; DK 87 A 6], Vgl. auch Krateros FGrHist 342 F 5.
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
229
gegen die Vierhundert. Es gelang ihm, auf diese Weise zu verdeutlichen, daß das Machtstreben politischer Emporkömmlinge wie Phrynichos selbst über den Tod hinaus Strafe verdiene und ein Friedensschluß mit Sparta indiskutabel sei. Im Verlauf des Prozesses kamen die Intrigen des Hauptgegners des Alkibiades zur Sprache', womit Kritias seine Loyalität gegenüber dem unter den Fünftausend rehabilitierten Feldherrn beweisen konnte2. Geschickt Schloß er sich der im politischen Aufwind befindlichen Gruppierung um Theramenes an. Diese hatte sich von den unpopulären Friedensplänen verabschiedet, berücksichtigte die Kampfbereitschaft des Volkes 3 und bemühte sich um den Kontakt zur Flotte vor Samos 4 . Die außenpolitischen Erfolge der Flotte unter den Demokraten Thrasybulos und Thrasyllos trugen schließlich entscheidend zur Wiederherstellung der Demokratie im Jahre 410 bei5. Kritias bewegte sich in einem Umfeld streng aristokratisch und oligarchisch gesinnter Hetairien, zu denen Andokides und auch Alkibiades zählten. Im Jahre 414/13, hatten ihn nur die Bemühungen seines Verwandten Andokides von der Schuld an der Zerstörung der Hermen und der Mysterienprofanation freisprechen können 6 . Eine enge Verbundenheit zu Alkibiades brachte Kritias in der von ihm selbst verfaßten Elegie zum Ausdruck. So berichtet Plutarch: Der Beschluß, der ihn zurückrief, war schon vorher gefaßt worden auf Antrag des Kritias, des Sohnes des Kallaischros, wie er selbst in seinen Elegien gedichtet hat, wo er Alkibiades an den ihm erwiesenen Dienst erinnert mit folgenden Versen: „Jenen Beschluß, der heim dich gefuhrt, Thuk. 8.92.2; Lys. 13.71. „Daß dieser Prozeß allen anderen vorausging, ergibt sich daraus, daß in dem noch von Theramenes betriebenen Prozeß gegen Antiphon und Archeptolemos in der Urteilsbegründung bereits auf die Sanktionen gegen Phrynichos verwiesen wurde (Bleckmann, Athens W e g in die Niederlage, 379f.)." 1
Thuk. 8.50, 54.3; Krateros FGrHist 342 F 17 (Schol. Aristoph. Lys. 313); Plut. Alk. 25; vgl. Bleckmann, Athens W e g in die Niederlage, 382.
2
Phrynichos hatte bald erkannt, daß Alkibiades sich keineswegs ernsthaft fur die Oligarchie der Vierhundert einsetzen würde: „... aber die Verfechter der Adelsherrschaft prüften, nachdem sie die M e n g e ins Vertrauen gezogen, noch einmal untereinander und mit dem Großteil der Bürgerbünde, was Alkibiades anbot. Die meisten fanden es hilfreich und vertrauenswürdig, nur Phrynichos, der noch Feldherr war, wollte nichts davon wissen: dem Alkibiades sei, was j a auch stimmte, an einer Adelsherrschaft so wenig gelegen wie am Volk, er habe gar kein andres Ziel, als die bestehende O r d n u n g der Stadt so zu verändern, daß er, von seinen Bundesfreunden berufen, heimkehren könne." (Thuk. 8. 47.3, 4).
3
Vgl. Thuk. 8.92.9; 8.93; Lehmann, Oligarchische Herrschaft, 40f.
4
Z u m Beschluß der Fünftausend vgl. Thuk. 8.97.3. Die Soldaten auf Samos hatten Alkibiades bereits zu ihrem Feldherrn gewählt. Thuk. 8.82. Nach der Wiederherstellung der Demokratie bestätigte die Volksversammlung praktisch die Wiedereinsetzung des Alkibiades zum Strategen. Xen. Hell. 1.4.8-11. Vgl. Untersteiner, Sophists, 314; Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 382; von Ungern-Sternberg, ,Die Revolution frißt ihre eigenen Kinder' Kritias vs. Theramenes, in: Burckhardt/von Ungern-Sternberg, Große Prozesse, 147.
5
Vgl. Bleckmann, Athens W e g in die Niederlage, 389.
6
And. Myst. (or. 1) 47 [DK 88 A 5]: „Nun werde ich die N a m e n der Männer verlesen, die im Register aufgenommen sind. ... Kritias: Er ist auch der Cousin meines Vaters (Leogoras). Unsere Mütter waren Schwestern. Diokleides ist als Ankläger genannt." Zum Hermen- und Mysterienfrevel vgl. oben, Kap. II 1.2; Welwei, Athen, 206.
230
II. Sophisten als Systemkritiker
ich hab' ihn vor allem Volke erwirkt und erreicht, daß zur Vollendung er kam. Also ward diese Tat durch meine Zunge besiegelt" 1 .
Während im Jahre 406 in Athen der Arginusenprozeß stattfand, hielt Kritias sich in der Verbannung, in Thessalien auf 2 . Wann und aus welchem Grund er sich dorthin begeben mußte, ist nicht überliefert. Es steht jedoch wahrscheinlich mit dem Sturz des oligarchischen Regimes im Jahre 411 im Zusammenhang. In der Darstellung des Xenophon erinnert Theramenes ihn im Verlauf seiner im Jahre 403 gehaltenen Verteidigungsrede, daß er dort zusammen mit einer Person namens Prometheus die Penesten gegen die Regierung gerüstet und die Einrichtung der Demokratie linterstützt habe 3 . Bei den Penesten handelte es sich um eine der ursprünglichen Bevölkerungsgruppen des Landes, die von den Thessalern unterworfen und in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht worden waren 4 . Schon im Jahre 413 hatte der spartanische König Agis den Versuch unternommen, die Achaier in der Phthiotis und andere Untertanen der Thessaler zu einem Bündnis zu zwingen 5 . Während des zum Ende des 5. Jahrhunderts ausgebrochenen Bürgerkrieges, in dem Lykophron von Pherai eine fuhrende Rolle spielte 6 , dürfte die Aufwiegelung der Penesten bei den mächtigen thessalischen Familien für Unruhe gesorgt haben. Theramenes nutzte das Argument, Kritias habe dort eine Demokratie einführen wollen, um zu betonen, daß er auch in Athen angesehenen Bürgern nur Schaden zufüge. Der Redner beabsichtigte in erster Linie, die Glaubwürdigkeit und Integrität seines Kontrahenten vor den Augen der übrigen Tyrannen in Zweifel zu ziehen 7 . Der Begriff „Demokratie" hat hier eine sehr spezifische, polemische Bedeutung und bezeichnet den Aufstand der unterdrückten Masse gegen die aristokratische Oberschicht Thessaliens. An anderer Stelle berichtet Xenophon, Kritias habe dort Umgang mit gesetzlosen, ungerechten Menschen gehabt 8 . Eine gegenteilige Version bietet Philostrat, wonach Kritias sich in Thessalien eifrig für ein Forcieren der Oligarchie eingesetzt habe: 1
Plut. Alk. 33.1 [DK 88 Β 5]: Tò μεν οΰν ψήφισμα της καθόδου πρότεροι/ έκεκΰρωτο, Κριτίου του Καλλαίσχρου γράψαντος, ώς αύτός έν ταις Έλεγείαις πεποίηκεν ύπομιμνήσκων τον Άλκιβιοίδην της χάριτος έν τούτοις· Γνώμην δ' ή σε κατήγαγ', έγώ ταΰτην έν άπασιν εΐπον και γράψας τοΰργον έδρασα τόδε. σφραγίς δ' ήμετέρης γλώττης έπί τοΐσδεσι κείται· Beispiele weiterer politischer Flugschriften nennt Engels. Vgl. Engels, Der Michigan-Papyrus über Theramenes, 148, Anm. 51. Nach der Niederlage bei Notion und dem mißglückten Versuch einer neuen Seeschlacht wurde Alkibiades von den Athenern abgesetzt. Xen. Hell. 1.5.16. Vgl. Lehmann, Die revolutionäre Machtergreifung der „Dreißig", 210.
2
Xen. Hell. 2.3.15, 36. Aristoteles zufolge ging er auf Betreiben des Demagogen Kleophon in die Verbannung. Aristot. Rhet. 1375b32.
3
Xen. Hell. 2.3.15, 36. Vgl. auch Xen. Mem. 1.2.24; Aristot. Rhet. 1375b32; Philostr. V. Soph. 1.16.
4
Vgl. Thuk. 4.78.6; 8.3.1; vgl. Sprawski, Jason ofPherae, 17.
5
Vgl. Thuk. 8.3.
6
Vgl. dazu Sprawski, Jason ofPherae, u.a. 30ff. Kritias beschreibt Theramenes dagegen als einen rücksichtslosen und opportunistischen Politiker. Xen. Hell. 2.3.30.
7
8
Xen. mem. 1.2.24. Zu dem zwiespältigen Theramenes-Bild bei Xenophon vgl.: Engels, Der Michigan-Papyrus über Theramenes, 128f.
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
231
Tatsächlich aber setzte er bei ihnen eine noch niederdrückendere Oligarchie durch, indem er sich mit der Führungsschicht auseinandersetzte und jegliche Demokratie verunglimpfte. Er verleumdete die Athener, er klagte, daß sie von der ganzen Menschheit am meisten irrten. So hat Kritias die Thessaler eher korrumpiert, als sie ihn'.
Philostrat wendet sich in seiner Darstellung der Ereignisse gegen die ihm wohl noch vorliegenden Erklärungen, die thessalischen Sitten hätten Kritias negativ beeinflußt. Genau das Gegenteil sei der Fall gewesen. Die widersprüchlichen Quellenaussagen lassen sich dennoch zu einer logischen Erklärung zusammenfügen: Kritias geriet während seines Exils in den gewaltsamen Machtkampf innerhalb der thessalischen Oberschicht. Dieser Führungsschicht gehörte vermutlich auch Prometheus an, bei dem es sich möglicherweise um einen Proxenos des Kritias handelte. Den Gedanken, das Potential unterdrückter Bevölkerungsgruppen zu nutzen, hatten schon vor Kritias und Prometheus die Spartaner verfolgt 2 . Die Penesten zu mobilisieren versprach außerdem den Vorteil, sich nicht in eine gefahrliche Abhängigkeit zu den großen äußeren Machthabern wie beispielsweise Makedonien oder Sparta zu begeben. Generell befürwortete Kritias ein oligarchisches Regime und ein bei weitem strengeres, als das in Thessalien bestehende 3 . Eine Grundvoraussetzung für eine neue politische Ordnung des Landes bestand aus Sicht des Kritias in einem strengerer Lebenswandel. So kritisierte er in der „Politela der Thessaler" insbesondere den ausschweifenden und allzu luxuriösen Lebensstil der Thessaler, den er auf persische Einflüsse zurückführte: Die Verfassung der Thessaler: Nach allgemeiner Ansicht aber haben sich die Thessaler zu den verschwenderischsten aller Hellenen entwickelt ebenso hinsichtlich der Kleidung wie der Lebensweise. Das wurde für sie auch die Ursache, die Perser gegen Griechenland herbeizuholen, da sie deren Üppigkeit und Verschwendung voller Eifer nachahmten4.
Inwiefern der moralisierende Tadel ihm darüber hinaus zur Rechtfertigung seines aktiven Eingreifens in die thessalische Politik diente, sei dahingestellt. Wahrscheinlich verfaßte er die „Politeia der Thessaler" während seines Thessalienaufenthaltes, oder sammelte vor Ort die entsprechenden Informationen. Der Bürgerkrieg war noch in vollem Gange als Kritias im Jahre 404 nach der Niederlage Athens in seine Heimatstadt zurückkehrte. Weitere Exilierte, darunter Mitglieder des Rates der Vierhundert, trafen in Athen ein. Die Hetairien reaktivierten sich und stellten ein geheimes Komitee aus fünf „Ephoren" zusammen, in dem auch Kritias aktiv wurde 5 . Ihr Ziel bestand 1
2 3
4
5
Philostr. V. Soph. 1.16, 24-27 [DK 88 A 1]:... β α ρ υ τ έ ρ α ς δ' α ύ τ ο ί ς έ π ο ί ε ι τ ά ς ο λ ι γ α ρ χ ί α ς δ ι α λ ε γ ό μ ε ν ο ς τοις έ κ ε ΐ δ υ ν α τ ο ί ς κ α ί κ α θ α π τ ό μ ε ν ο ς μ έ ν δ η μ ο κ ρ α τ ί α ς ά π ά σ η ς , διαβάλλων δ' Αθηναίους, ώς πλείστα ανθρώπων άμαρτάνοντας, ώστε έ ν θ υ μ ο υ μ έ ν ω ι τ α ύ τ α Κ ρ ί τ ι α ς α ν ε ί η Θ ε τ τ α λ ο ύ ς διεφθορώς μ ά λ λ ο ν ή Κ ρ ι τ ί α ν Θετταλοί. Vgl. 230, mit Anm. 5. Vgl. auch Untersteiner, Sophists, 315. Lehmann bezeichnet Kritias als einen „Berufsrevolutionär". Lehmann, Die revolutionäre Machtergreifung der „Dreißig", 210. Ath. 14.662f. [DK 88 Β 31]: ΠΟΛΙΤΕΙΑ Θ Ε Τ Τ Α Λ Ω Ν : ' ο μ ο λ ο γ ο ύ ν τ α ι δ' oí Θ ε τ τ α λ ο ί π ο λ υ τ ε λ έ σ τ α τ ο ι των Ε λ λ ή ν ω ν γ ε γ ε ν ή σ θ α ι π ε ρ ί τ ε τ ά ς έ σ θ ή τ α ς κ α ί την δ ί α ι τ α ν δ π ε ρ α ύ τ ο ί ς α ί τ ι ο ν έ γ έ ν ε τ ο κ α ί τ ο ύ κ α τ ά της Ε λ λ ά δ ο ς έ π α γ α γ ε ί ν τ ο ύ ς Π έ ρ σ α ς , έ ζ η λ ω κ ό σ ι τήν τούτων τρυφήν κ α ί π ο λ υ τ έ λ ε ι α ν ' . Lys. Gegen Eratosth. 43 [DK 88 A 11]; And. Myst. (or. 1) 77, 80.
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II. Sophisten als Systemkritiker
offensichtlich darin, Einfluß auf die demokratischen Gremien auszuüben und die Demokratie von innen her aufzulösen'. Die Ekklesia faßte schließlich den Entschluß, eine Gruppe von dreißig Bevollmächtigten einzusetzen, die eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Kritias, Charikles, und Theramenes, letzterer in einer zunächst fuhrenden Rolle, lenkten jetzt die Geschicke des attischen Staatswesens und sorgten für eine grundsätzliche Revision der Gesetze 2 . Gleich zu Beginn setzte eine Welle von Hinrichtungen ein, der neben anderen unliebsamen Gegnern die gesamte „demokratische" Widerstandsbewegung zum Opfer fiel, die sich nach der Kapitulation Athens gebildet hatte 3 . Die „Säuberung" der attischen Bürgerschaft ging auf eine zwischen Theramenes und Kritias mit dem spartanischen Befehlshaber Lysander ausgehandelte „schwarze Liste" zurück 4 . Nach Verfolgungen und Hinrichtungen setzte zwangsläufig eine Massenflucht ein. An der Frage, wie groß die „Gefolgschaft" als Basis des neuen Regimes sein sollte, entzündete sich der Machtkampf zwischen Theramenes und Kritias. Letzterer setzte sich mit seinem Vorschlag der Begrenzung der Bürgerschaft auf Dreitausend, der Entwaffnung und Ausweisung aller übrigen Bürger Attikas durch 5 . Nicht etwa einer Rückkehr zur ποίτριος π ο λ ι τ ε ί α galten die nachfolgenden Maßnahmen, sondern einer mit brutalster Gewalt verwirklichten Herrschaft nach dem Vorbild der Siegermacht Sparta 6 . Die Begeisterung des Kritias für Sparta und die lakonische Lebensform kommt auch in seinen π ο λ ι τ ε ΐ α ι sowie in der von Xenophon wiedergegebenen Rede gegen Theramenes deutlich zum Ausdruck 7 . Xenophon läßt Theramenes in seiner Apologie die Verbannung vieler fähiger Männer kritisieren. Thrasybulos, Anytos und auch Alkibiades stärkten seiner Ansicht nach nur die demokratisch gesinnte Gegenseite 8 . Plutarch zufolge tröstete das Volk in der Zeit
1 2
Vgl. Lehmann, Die revolutionäre Machtergreifung der „Dreißig", 211. Xen. Hell. 2.3.11; Lys. Gegen Eratosth. 44. Vgl. 232, Anm. 1.
3
Es handelte sich keineswegs um Gruppierungen mit einheitlichen politischen Vorstellungen, sondern um Interessengemeinschaften, die an der Erhaltung des noch bestehenden Systems interessiert waren. Sie setzten sich aus Strategen und Bürgern hohen sozialen Status' zusammen, die sich gegen die Friedensbedingungen Spartas wandten. Vgl. u.a. Xen. Hell. 2.3.12, 28; vgl. Welwei, Athen, 247; zu den Quellenangaben und dem Forschungsstand: Lehmann, Die revolutionäre Machtergreifung der „Dreißig", 21 lf. Lehmann weist außerdem daraufhin, daß bei der Machtübernahme der Dreißig die Zustimmung eines nicht unbeträchtlichen Teiles der Bürgerschaft zu den Gewaltakten vorauszusetzen ist. Lehmann, Oligarchische Herrschaft, 27, Anm. 23.
4
Xen. Hell. 2.3.51; Isokr. Gegen Kallim. (or. 18) 16.9; Gegen Euthyn. (or. 21) 2.5. Vgl. Lehmann, Die revolutionäre Machtergreifung der „Dreißig", 215.
5
Laut Isokrates mußten mehr als fünftausend Stadtbewohner Athen verlassen. Isokr. Areopag. (or. 7) 67.4. Vgl. Xen. Hell. 2.3.2, 51; Lys. Gegen Eratosth. 73f.; Aristot. Ath. Pol. 29.2; Lehmann, Die revolutionäre Machtergreifung der „Dreißig", 215-217; Welwei, Athen, 250; Ungern-Sternberg, Kritias vs. Theramenes, 150.
6
Vgl. Lehmann, Oligarchische Herrschaft, 28f„ Anm. 24. Vgl. Kap. II 4.2.2.
7
Xen. Hell. 2.3.25, 34; vgl. u.a. Momigliano, Lebensideale in der Sophistik, 473; Lehmann, Oligarchische Herrschaft, 51, Anm. 60.
8
Xen. Hell. 2.3.42. Bleckmann zeigt, daß es sich um eine authentische Stellungnahme handelt, die ein keineswegs konsequent, sondern stets opportunistisch handelnder Politiker lediglich zu seiner eigenen Verteidigung vorbrachte. Vgl. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 341. Weniger
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
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der Unterdrückung die Gewißheit, daß Alkibiades noch lebe und dem oligarchischen Treiben in Athen nicht tatenlos zusehe. Doch auch die Dreißig zeigten sich wegen Alkibiades besorgt, woraufhin Kritias sich bemühte, Lysander von der Notwendigkeit der Beseitigung des ehemaligen Strategen zu überzeugen'. Alkibiades unterstützte keineswegs die demokratische Seite, wie es Plutarch hier vermuten läßt2. In der Darstellung des Thukydides bezeichnet Alkibiades die Demokratie als unbestrittenen Unsinn3. Thukydides läßt sich nicht von der charismatischen Persönlichkeit des Alkibiades blenden, sondern stellt heraus, daß dieser trotz aller politischer und strategischer Brillanz selbstsüchtig seine eigenen Machtinteressen verfolgte 4 . In den Rahmen seiner Alkibiadesgeschichte fügt er bezeichnenderweise den Peisistratidenexkurs ein - formal als Exkurs, inhaltlich als historisches Exempel - um die Angst des Demos vor der Tyrannis zu demonstrieren5. Eine ähnliche Charakteristik des Kritias findet sich in den Memorabilia des Xenophon, wenn er ihn und Alkibiades als „stolz auf ihre Herkunft und ihren Reichtum, berauscht von der Macht, umschmeichelt von vielen Menschen und insgesamt verdorben" beschreibt6. Kritias vergaß seine Freundschaft zu Alkibiades und opferte ihn zugunsten seiner persönlichen Herrschaftsambitionen. Den Machtkampf innerhalb der Regierung der Dreißig gewann der „brutalere Revolutionär"7 und sorgte fur die Hinrichtung seines Konkurrenten Theramenes8. Kritias zeigte sich um so mehr als einer der radikalsten Vertreter der Dreißig und ging skrupellos gegen alle nicht zur „Bürger-Krieger-Gruppe" der Dreitausend Gehörenden vor.
1
2 3 4
überzeugend deutet von Ungern-Sternberg die Rede des Theramenes als ein Plädoyer fur eine gemäßigte Oligarchie. Von Ungern-Sternberg, Kritias vs. Theramenes, 154. Plut. Alk. 38. Schon im Jahre 405 wurde die Frage der erneuten Riickberufung des Alkibiades diskutiert. Vgl. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 586-589. Vgl. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 387, Anm. 4, und 466-472. Thuk. 6.89.6. Thukydides schildert beispielsweise die Kontakte des Alkibiades zu dem persischen Satrapen Tissaphernes. In einer Doppelstrategie arbeitete er an seiner Rückkehr nach Athen und der Wiedererlangung von Macht und Ansehen. Thuk. 8.82.2: „So gelang es Alkibiades, mit Tissaphernes die Athener und mit diesen Tissaphernes zu schrecken." Zur Persönlichkeit des Alkibiades vgl. auch seinen Auftritt im Symposion Piatons. Plat. Symp. 212cff. Vgl. zu Alkibiades bei Thukydides: Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 443-508, bes. 505; Welwei, Athen, 197-201; W. Schuller, Alkibiades, in: K. Brodersen (Hrsg.), Große Gestalten der griechischen Antike. 58 historische Portraits von Homer bis Kleopatra, München 1999, 337-346.
5
Thukydides verkürzt die Darstellung der historischen Entwicklung auf die Antithese Tyrannis oder Isonomie. Vgl. Barceló, Thukydides und die Tyrannis, 407f. Der übertriebene aristokratische Lebensstil mußte auf den Demos anstößig wirken und ihn in Verruf bringe, nach der Tyrannis zu streben. Thukydides gelangt zu einem ausgewogenen Urteil, obwohl eine Reihe von Flugschriften seiner Anhänger im Umlauf waren. Vgl. dazu Engels, Der Michigan-Papyrus über Theramenes, 148, Anm. 51.
6
Xen. mem. 1.2.25. Vgl. Lehmann, Die revolutionäre Machtergreifung der „Dreißig", 216; ders., Oligarchische Herrschaft, 52. Vgl. Kap. II 4.2.2, 167. Welwei, Athen, 251.
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II. Sophisten als Systemkritiker
Die Überlieferung schreibt viele der radikalen Maßnahmen und Verfügungen, wie etwa die Verurteilung der dreihundert Eleusinier, dem despotischen und grausamen Machtstreben des Kritias zu 1 . Auf die Widerstandsbemühungen des Thrasybulos reagierte er mit dem Ausbau von Eleusis zu einem Stützpunkt der Oligarchen und der Befürworter der Tyrannenherrschaft 2 . Philostrat erzählt eine Anekdote zu weiteren angeblichen Absichten des Kritias: In seiner Grausamkeit und Blutrünstigkeit übertraf er die Dreißig. Er arbeitete ebenso mit den Spartanern zusammen, mit der absurden Entscheidung, daß Attika, seiner Herden von Menschen beraubt, eine Fläche zum Grasen der Schafe werden könnte. So scheint er mir der übelste von all diesen Männern gewesen zu, die einen Ruf wegen ihrer Bosheit erlangt hatten 3 .
Die hier geschilderten absurden Pläne des Kritias sollen ein eindrucksvolles Beispiel für den menschenverachtenden Zynismus eines Tyrannen liefern. Dennoch ist ein historischer Kern der „Schafzucht-Anekdote" nicht auszuschließen. Kritias bewunderte die Verfassung und die Lebensform der Spartiaten, die hauptsächlich von den Erträgen der Landwirtschaft lebten. Vielleicht dachte er daran, die ohnehin am Boden liegende Seeherrschaft, die zusammen mit der Entwicklung der attischen Demokratie ihre Größe erlangt hatte, auch in Zukunft zugunsten einer verstärkten Land- und Viehwirtschaft, eines aristokratischen Agrarstaates ganz aufzugeben 4 . Über zweitausendfünfhundert Menschen, darunter mehr als eintausend attische Bürger, fielen dem Terrorregime der Dreißig zum Opfer 5 . Schließlich starb Kritias im Kampf um Munichia, und noch im Jahre 403 konnte die Demokratie wieder eingerichtet werden 6 . Die Nachricht, ihm sei ein Denkmal mit folgender Inschrift errichtet worden, ist vor dem Hintergrund der Ereignisse kaum glaubhaft: Das ist das Denkmal für die guten Männer, die das verruchte Volk von Athen für eine kurze Zeit von der Zügellosigkeit fernhielten" 7 .
Nestle, der etwas befremdlich von dem „ruhmreichen Heldentod" des Kritias spricht, bemerkt dennoch treffend, daß ein solches Denkmal nur in der Phantasie enttäuschter Oligarchen existieren konnte. Wer es jedoch als ein „charakteristisches Stimmungsbild
1
Xen. Hell. 2.3.15, 50.
2
Xen. Hell. 2.4.8, 9; Lys. Gegen Eratosth. 12.52; Lehmann, Oligarchische Herrschaft, 53, Anm. 61.
3
Philostr. V. Soph. 1.16 [DK 88 A 1], Schon in der Athenaion Politeia des unbekannten Oligarchen wird die Seeherrschaft als Ursache der Mißstände in Athen bezeichnet. Ps.-Xen. Ath. Pol. 1.2.2; 2.7.11. Zur Begeisterung des Kritias f ü r Sparta vgl. Stob. 3.29.11 [DK 88 Β 9]; Ath. 14.662f. [DK 88 Β 31]; Clem. Alex, ström. 6.9 [DK 88 Β 32]; Ath. 11.463 [DK 88 Β 33],
4
5
Zu den Zahlen vgl. Aristot. Ath. Pol. 35.4; außerdem Xen. Hell. 2.4.21; Isokr. Panegyr. (or. 4) 113; weitere Quellenangaben bei Lehmann, Oligarchische Herrschaft, 53, Anm. 62. Die Frage der absoluten Zahlen der Bevölkerung Attikas und ihrer Bürger ist umstritten. Bleicken bemerkt, daß in der Mitte des 5. Jahrhunderts die Zahl der wehrfähigen Bürger zwischen 30000 und 5 0 0 0 0 betrug, die Athener aber im Verlauf des Krieges über zwei Drittel ihrer Bürger verloren. Vgl. Bleicken, Demokratie, 99f. und dazu die Forschungsdiskussion 546-549.
6
Xen. Hell. 2.4.8, 10, 11, 19 [DK 88 A 12], Schol. Aeschin. 1.39 (Schulz, 261) [DK 88 A 13]: μ ν ή μ α τ ό δ ' έ σ τ ' α ν δ ρ ώ ν α γ α θ ώ ν , ο'ν τ ο ν κ α τ ά ρ α τ ο ν δήμον Α θ η ν α ί ω ν ολίγον χρόνον ύβριος έσχον.
7
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
235
jener wildbewegten Zeit" interpretiert, übersieht die unsichere Überlieferung des Textes in einem Scholion'. Die bald nach der Wiedereinführung der Demokratie erfolgte Amnestiegesetzgebung verdeutlicht, daß ein Regieren ohne die oligarchisch-aristokratischen Kreise nicht möglich war. Danach bestanden die Spannungen weiter, wie zahlreiche Gerichtsverfahren und Verfügungen zeigen 2 . Am Beispiel des Kritias zeigt sich der unterschwellige und sich dann, vor dem Hintergrund der außenpolitischen Niederlage, entladende Widerstand der Angehörigen der alten Aristokratie und weiterer Systemkritiker gegen die Demokratie. Die Struktur der Hetairien bot den Mitgliedern aristokratischer Familien eine geeignete Ausgangsbasis zum Sturz der Demokratie. Die nicht unbedingt miteinander verwandten Mitglieder trafen sich ursprünglich zur Ausübung gemeinsamer Kulte, zum Essen und zu Gesprächen. Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts gehörte es dazu, Sophisten einzuladen, mit ihnen über ihre neuen Thesen und Lehren zu diskutieren oder auch selbst literarisch aktiv zu werden 3 . Daß sich der Hörerkreis der Sophisten jedoch nicht etwa nur auf Angehörige alter aristokratischer Familien beschränkte, demonstriert der neureiche Politiker Kleon, den Thukydides eine in sophistischer Rhetorik formulierte Rede vortragen läßt". Der üble Charakter des Kritias und sein unrühmlicher Lebensweg veranlaßte die Griechen, seine Weisheit und seine Gedanken wenig ernst zu nehmen, resümiert Philostrat. Erst durch Herodes Atticus seien seine Werke wieder bekannt geworden 5 . Kritias zeichne sich durch eine klare, prägnante Sprache aus und argumentiere gern mit Paradoxien 6 . Die Redegewandtheit habe er wie auch Thukydides von Gorgias gelernt 7 . Somit steht er einem der Hauptlehrgebiete der Sophistik nahe, nämlich der Rhetorik. Das widerspricht scheinbar dem von dem ,Tyrannen' Kritias verhängten Rhetorikverbot 8 . Xenophon zufolge sollte dieses Verbot die Kritik des Sokrates an dem Regime der Dreißig unterbinden. Abgesehen von der sicher tendenziösen Erklärung Xenophons handelt es sich um eine, aus der Sicht eines Tyrannen, gar nicht so unverständliche Maßnahme eines Realpolitikers: Kritias hegte offenbar keine Bedenken, sich rhetorisch auszubilden, das Lehrangebot dann jedoch nicht allen zugänglich werden zu lassen. Der ,Tyrann' befolgte die Regeln der skrupellosen Machtpolitik in eigenem Interesse, der ,Gelehrte' zeigte sich offen gegenüber dem Bildungsangebot und den Theorien seiner
Unbehagen bereitet es dem Leser besonders, wenn der Autor - in den 40er Jahren - viel Verständnis für das Recht des Stärkeren zeigt, oder Kritias als den „geborenen Herrenmenschen' 1 bezeichnet. Vgl. Nestle, V o m Mythos zum Logos, 341 und 401. 2
Vgl. Kap. II 2.4, 127, Anm. 2.
3
Zu den Hetairien vgl. jetzt McGlew, Politics on the Margins, 1-22; vgl. Kap. II 1.2, 51.
4
Thuk. 3.37-40. Vgl. dazu die Mysterienrede des Andokides. Andokides gibt sich wie Kleon betont konservativ, widerlegt aber rhetorisch geschickt die Anklagepunkte in mehreren Stufen.
5
Philostr. V. Soph. 2.114.
6
Philostr. V. Soph. 1.16 [DK 88 A 1],
7
Philostr. Ep. 73 [DK 88 A 16], Möglicherweise traf Kritias ihn während seines Aufenthaltes in Thessalien. Xen. mem. 1,2.30ff.
8
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Zeit, insofern er sie für seine Zwecke nutzen konnte. Xenophon zeichnet ein insgesamt sehr düsteres Charakterbild des Kritias: Also, so sagte der Ankläger, sowohl Kritias wie Alkibiades, die mit Sokrates vertrauten Umgang hatten, haben dem Staat größten Schaden zugefügt. Denn Kritias war von allen Oligarchien der habsüchtigste, gewalttätigste, mordlustigste, Alkibiades andererseits war von allen Demokraten der zügelloseste, übermütigste und gewalttätigste 1 .
In seinen Bemühungen, Sokrates zu rechtfertigen, berichtet Xenophon von einem Bruch des Lehrer-Schüler-Verhältnisses: Kritias habe seinen Lehrer später gehaßt, weil er ihn wegen seiner homosexuellen Beziehung zu Euthydem lächerlich gemacht habe. Aus Rache habe er seine Funktion als Gesetzgeber der Dreißig genutzt und den Rhetorikunterricht und schließlich die Redefreiheit verbieten lassen 2 . Überhaupt seien Kritias und Alkibiades nur Schüler des Sokrates gewesen, um dessen Fähigkeiten im Interesse ihrer Machtgier zu mißbrauchen 3 . Der Verdacht, daß die aktive Beteiligung des Kritias an der Tyrannis der Dreißig für die Diffamierung der Sophistik und schließlich seines Lehrers Sokrates einen entscheidenden Anstoß gab, liegt nahe 4 . Sicher liegt darin auch die Hauptursache, weshalb Piaton und Aristoteles, als Schüler Piatons, Kritias nicht im Zusammenhang mit der Herrschaft der Dreißig nennen. Dennoch distanzieren sie sich zumindest indirekt von ihm 5 . Im Protagoras-Dialog begegnet uns Kritias zusammen mit seinem Altersgenossen Alkibiades im Hause des reichen Kallias 6 . Piaton charakterisiert ihn als begabt und vielseitig, wenn auch als etwas zu ehrgeizig 7 . Das positive Urteil ist sicher sowohl auf ihre verwandtschaftliche Beziehung zueinander 8 , als auch auf die enge Verbindung Piatons zu seinem Lehrer Sokrates zurückzuführen. Thukydides erwähnt Kritias in seinem Werk überhaupt nicht. Daß der Historiker nicht nur Alkibiades, sondern auch Kritias persönlich gekannt hat, ist kaum zu bezweifeln. Thukydides und Kritias waren Mitglieder reicher und angesehener Familien Athens und 1
Xen. mem. 1.2.12 [DK 88 A 4]: ά λ λ ' έφη γε ò κατήγορος, Σωκράτει όμιλητά γενομένω Κριτίας τε κ α ι 'Αλκιβιάδης π λ ε ί σ τ α κ α κ ά την πόλιν έποιησάτην. Κριτίας μεν γ α ρ των έν τη ο λ ι γ α ρ χ ί α πάντων πλεονεκτίστατος τε κ α ι βιαιότατος κ α ί φονικώτατος έγένετο, 'Αλκιβιάδης δέ α ΰ των έν τη δημοκρατία πάντων ά κ ρ α τ έ σ τ α τ ό ς τε κ α ί ύβριστότατος κ α ι βιαιότατος.
2
Xen. mem. 1.2.29-31, 33f. Xen. mem. 1.2.47. Vgl. Kap. II 2.4, 127, Anm. 3. Vgl. Plat. Epist. 7.324d: „... und dreißig setzten sich als Leiter mit höchster Vollmacht ein. Von denen waren einige mir verwandt oder bekannt." Auch wenn Piaton Kritias nicht nennt, distanziert er sich zumindest indirekt von ihm. Vgl. auch Aristot. Ath. Pol. 34-38; Aristot. Pol. 1305b25; Scholz, Der Philosoph und die Politik, 77f. Sie treffen gemeinsam unmittelbar nach Sokrates im Hause des Kallias ein. Plat. Prot. 316a. Zum Geburtsdatum des Kritias ist nicht näheres bekannt. Alkibiades wuchs nach dem Tod seines Vaters, der in der Schlacht bei Koroneia im Jahre 446 gefallen war, im Hause seines Onkels Perikles auf. Vgl. Xen. mem. 1.2.40; Plut. Alk. 3. Im Charmides berichtet er, Kritias sei in einer Atmosphäre aufgewachsen, in der Philosophieren und Dichten zum Tagesablauf gehörte. Vgl. Plat. Charm. 154e, 155a, 157e, 162c; Tim. 20a. Kritias war ein Cousin ersten Grades der Periktione, der Mutter Piatons. Zur Familie: Plat. Charm. 154b [DK 88 A 2]; Diog. Laert. 3.1 [DK 88 A 2],
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gehörten wie Alkibiades zu den Schülern des Gorgias1. Es bleibt ungewiß, ob er bewußt vermied, bei der Überarbeitung seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges zur Persönlichkeit des Kritias Stellung zu beziehen. Eine deutliche Distanzierung hätte ihn nach dem Tod des Tyrannen im Jahre 403 zum Opportunisten stempeln können, während eine positive Beurteilung zumindest vor der Umsetzung der Amnestiegesetzgebung im Jahre 403 unmöglich und auch später schwierig gewesen wäre2. Die Textfragmente des Kritias entstammen in Poesie und Prosa verfaßten Abhandlungen, darunter befinden sich Studien über die Verfassung von Thessalien, Sparta und Athen3. Einige Parallelen lassen vermuten, daß seine Verfassung der Spartaner der Schrift des Xenophon zum Vorbild diente4. In jedem Fall handelte es sich um einen weiteren Beleg für die im letzten Viertel des 5. Jahrhunderts stattfindende Verfassungsdebatte in Athen5. Kritias machte aus seiner Befürwortung des spartanischen Modells keinen Hehl. Erhalten blieben kulturgeschichtliche Schriften in elegischem Maß, Fragmente philosophischer Schriften und ein Bruchstück, das einen Angriff auf den Lyriker des 7. Jahrhunderts und sprichwörtlichen Feigling Archilochos enthält6. Kritias beschäftigte sich
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4
5 6
Vgl. Thuk. 4.105; Kap. II. 2.1. Vgl. Kap. II 2.4, 127, Anm. 2. Thessalien: Ath. 14.662e [DK 88 Β 31]; zu Sparta: Clem. Alex, ström. 6.9 [DK 88 Β 32]; Ath. 11.463e, 483b, 486e [DK 88 Β 33, 34, 35]; Eustath. 376 p. 1601, 25 [DK 88 Β 36]; Liban, or. 25.63 [DK 88 Β 37]; Athen: Poll. 2.58, 122; 3.116; 4.64, 165; 6.31, 38, 152, 153, 194, 195; 7.78, 91, 108, 154, 177, 179, 196, 197; 8.25; 9.17, 161 [DK 88 Β 53-73], Seit Anfang des vorigen Jahrhunderts wurde die unter den Schriften des Xenophon überlieferte Verfassung der Athener von einigen Forschern Kritias zugeschrieben. Zur Forschungslage vgl. Treu, Ps.-Xenophon, 1959-1962. Treu beurteilt die unterschiedlichen Zuweisungen kritisch und kommt zu dem Ergebnis, daß der Verfasser ein Anonymus bleibt. Vgl. auch A. Thierfelder, Pseudo-Xenophon und Kritias, in: Steinmetz, Politela und Res Publica, 1968, 79-82. Degani hält dagegen eine Zuschreibung an Kritias für wahrscheinlich. Vgl. Degani, Griechische Literatur, 213. Der Text wurde während des Peloponnesischen Krieges verfaßt. Nach den unterschiedlichen Datierungsversuchen zeichnet sich meines Erachtens eine Eingrenzung des Abfassungszeitraumes zwischen 426/5 und vor dem Nikiasfrieden im Jahre 421 als wahrscheinlich ab. Vgl. Ps.-Xen. Ath. Pol. 1.16 mit IG I2 65; D. Lotze, Marginalien zu einer neuen Datierungsvariante für Ps.-Xenophons Athenaion Politeia, Helikon 10, 1970, 707; vgl. M. Treu, RE IX A, 1967, 1947-1959, s.v. Ps.-Xenophon D. Π ο λ ι τ ε ί α Α θ η ν α ί ω ν mit der älteren Literatur. Der oligarchisch gesinnte Autor kritisiert in aggressiver Form das demokratische Regierungssystem. Vgl. Clem. Alex, ström. 6.9 [DK 88 Β 32] und Xen. rep. Lac. 1.3. Beide Texte beginnen mit der Erschaffung des Menschen; vgl. Ath. 10.432d [DK 88 Β 6]; Ath. 11.463e [DK 88 Β 33] und Xen. rep. Lac. 5.2. Vgl. dazu Kap. II 4.2; II. 6.5. Vgl. u.a. auch Engels, Der Michigan-Papyrus über Theramenes, 149. Ael. var. hist. 10.13 [DK 88 Β 44]: „Außerdem wüßten wir weder, daß er ein Wüstling war, wenn wir es nicht von ihm erfahren hätten, noch daß er wollüstig und frech war, noch was noch schändlicher als dies und das Schändlichste ist, daß er seinen Schild verlor. Also wahrlich kein guter Zeuge war Archilochos sich selbst, da er sich solchen Ruf hinterließ und solche Kunde." Nicht ich, sondern Kritias hinterließ eine solche Kritik des Archilochus."
II. Sophisten als Systemkritiker
238
ferner mit der Rhetorik und der griechischen Grammatik, wobei er Wortstämme und Wortbildungen untersuchte 1 . Die Reste einer Tragödien-Trilogie Rhadamanthys, Tenues und Peirithoos und des Satyrstückes Sisyphos werden jedoch auch Euripides zugeschrieben 2 . Kerfeld bemerkt, wenn das Sisyphos-Fragment Kritias eindeutig abgesprochen würde, gebe es keinen Grund mehr, ihn unter den Sophisten aufzuführen 3 . Kritias nimmt, wie bereits bemerkt, in jedem Fall einen Sonderstatus in der Reihe der Sophisten ein. Doch auch ohne den Sisyphos bekunden zahlreiche kleinere Fragmente sein Interesse an der griechischen Sprache und an der Rhetorik 4 .
7.2
Nomos und physis - Die Sozialtheorie im Sisyphos-Fragment
a) Die Verfasserfrage Das Sisyphos-Fragment beinhaltet eine von sophistischem Gedankengut geprägte Sozialtheorie, die ohne Berücksichtigung technischer Errungenschaften das größte Gewicht auf eine anthropologische Erklärung des Ursprungs des Götterglaubens legt. Der Titel des Satyrstücks ist nicht bekannt, lediglich der Sprecher der Verse ist als Sisyphos identifiziert 5 . Bevor der Text im einzelnen vorgestellt wird, ist die Problematik der Autorschaft zu erörtern. Sextus Empiricus, ein Autor des 3. Jahrhunderts n.Chr., überliefert die zweiundvierzig Trimeter des Satyrspiels Sisyphos unter dem Namen des Kritias: Auch Kritias, einer von den dreißig Tyrannen in Athen, scheint zur Gruppe der Atheisten zu gehören; sagt er doch, daß die alten Gesetzgeber Gott als Aufseher über die menschlichen Tugenden und Laster erfunden hätten, damit keiner seinem Nächsten Unrecht tue, sondern sich vor der Strafe der Götter in acht nehme 6 . [Es folgt das Sisyphos-Fragment.]
Schwierigkeiten bereitet die Tatsache, daß das Satyrstück von Aëtius, und damit bereits im 1. Jahrhundert n.Chr., Euripides zugeschrieben wurde 7 . Eine Notiz in den Euripides-
1
Vgl. Poll. 2.122 [DK 88 Β 54]: „In den Werken des Kritias ist ein Rhetoriker ( ρ ή τ ω ρ ) ebenso ein Redner" ( λ ο γ ε ύ ς ) . Er sammelt Begriffe: für Lebensmittel sorgen, mit Lebensmitteln versorgen,
Koch sein: Poll. 6.38 [DK 88 Β 60]: Κ. δέ κ α ι όψωνίας κ α ι όψωνείν έφη, τό δέ όψωνείν κ α ι όψονομείν ώνόμασεν. Poll. 7.196, 197 [DK 88 Β 70]: „Kritias nennt viele der Reihen, viele wurden gewählt wegen ihres Wohlklangs: Bronzehändler, Eisenhändler, Gemüsehändle, ... Käsehändler, ... Brechmittelhändler, Werghändler (Werg= Abfallfasern bei Herstellung von Flachs), Wollhändler, Weihrauchhändler, ... Wurzelhändler, Silphiumhändler, Kohlhändler, Rüstungshändler, Schrottsammler, Samenhändler, Topfhändler, ..." 2
Anom. V. Eur. 135, 33 [DK 88 Β 10]; vgl. DK 88 Β 10-24.
3
Kerfeld, Sophistic Movement, 53. Die Frage muß nach einer Analyse der übrigen Fragmente noch einmal aufgegriffen werden.
4
Vgl. 238, Anm. 1.
5
Aët. Plac. 1.7.2, 1.6.7 (Doxogr. P. 294, 298) [DK 88 Β 25], Sext. Emp. adv. math. 9.54 [DK 88 Β 25 (TrGF 1, 43 F 19)]. Übersetzung nach P. Barié, Die Religion - eine Erfindung der Herrschenden? Kritias TrGF 43 F 19 Snell, AU 27, 1984, 20.
6
7
Doxographische Quellen, die Diels aus dem Werk des Aëtius, eines Autors des 1. Jahrhunderts n.Chr., hergeleitet hat, nennen Euripides als Verfasser, der in die Reihe der Atheisten aufgenom-
239
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
Viten erklärt, die Tragödientri logie Tenues, Rhadamanthys und Peirithoos stammten vermutlich nicht von dem Tragödiendichter 1 , und Athenaeus äußert seine Zweifel, ob Kritias oder Euripides Autor des Peirithoos gewesen sei 2 . In der heutigen Forschung glaubte erstmals Wilamowitz, die Frage der Autorschaft zugunsten des Kritias nachgewiesen zu haben, während Dihle etwa einhundert Jahre später die Diskussion erneut entfachte, indem er den Text aufgrund der unsicheren Überlieferung Euripides zusprach 3 . Die Frage der Zuverlässigkeit der beiden Autoren, Aëtius und Sextus Empiricus, entscheidet Winiarczyk zugunsten des letzteren. Sextus gebe recht genau den Atheistenkatalog des Kleitomachos wieder, der u.a. aus Epikur und Philochoros schöpfte, während Aëtius' Ausgangsquelle eine weniger vollständige Auflistung einer weiteren epikureischen Schrift biete 4 . Es ist jedoch zu bedenken, daß Sextus zwar das Sisyphos-Fragment als ein Beispiel des Atheismus des Kritias im Anschluß an seinen Atheistenkatalog zitiert, die Aufnahme des Kritias in die Atheistenkataloge Epikurs und Theophilos' aber auch aus anderen Gründen erfolgt sein kann. Vielleicht führten die Verwicklung in den Mysterienfrevel oder die politischen Aktivitäten als einer der dreißig Tyrannen dazu 5 . So listet Epikur Kritias zusammen mit Prodikos auf und kritisiert die Annahme des menschlichen Ursprungs der Religion 6 . Da dieser Vorwurf ebenso auf Prodikos' Religionstheorie zutrifft 7 , bedeutet er nicht zwangsläufig, Epikur vertrete die Ansicht, auch Kritias habe eine solche Lehre verfaßt. Der Hinweis Winiarczyks und Davies' bietet in diesem Zusammenhang kein überzeugendes Argument für die Autorschaft des Kritias. Für das Problem der Verfasserfrage ist damit nichts gewonnen.
men wird. Euripides als Verfasser des Sisyphos:
Aët. Plac. 1.6.7, 1.7.2 (Doxogr. P. 294, 298) [DK
88 Β 25]; [Gal.] hist. Philosoph. 34 (Doxogr. 617f.); Eus. praep. ev. 14.16.1. 1
Anom. V. Eur. 135, 33 [ D K 8 8 B 10],
2
Ath. 11.496a [DK 88 Β 17],
3
U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Analecta Euripidea, Berlin 1875, 161-172; vgl. dagegen A. Dihle, Das Satyrstück „Sisyphos", Hermes 105, 1977, 28-43. Auch Effe bezeichnet den Sisyphos
aller
Wahrscheinlichkeit nach als ein Stück des Euripides. Es illustriere die Radikalität der zeitgenössischen Religions- und Mythenkritik. Euripides nehme eine solche Traditions- und Mythenkritik offen und ausgiebig in seine Dramen auf, womit er das zeitgenössische Publikum verunsichert habe. Vgl. Effe, Zur Funktion des Mythos bei Euripides, 56-73; vgl. Zur Forschungskontroverse vgl. Winiarczyk, „Sisyphos", 35-45; M.R. Lefkowitz, Was Euripides an Atheist?, SIFC 80, 1987, 149ff; Davies, Sisyphus and the Invention of Religion, 16-32; Kahn, Sisyphos Fragment, 249; Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 273, Anm. 4. Zuletzt sprach Pechstein die Verse Euripides zu. N. Pechstein, s.v. Kritias, in: R. Krumeich/N. Pechstein/B. Seidensticker, Das griechische Satyrspiel, Darmstadt 1999, 553-555. 4
Winiarczyk, „Sisyphos", 40f.; ähnlich und unabhängig von Winiarczyk urteilt auch Roßner, der sich weitgehend auf die ältere Forschungsliteratur stützt. Roßner, Recht und Moral, 215f.
5 6
Vgl. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 273. Epicurus, Π ε ρ ί φ ύ σ ε ω ς 12 (ad. Philod., PHerc 1077, col. 82, 5-18), frg. 87 (Usener) = frg. 27,2 Arrighetti 2 ). Vgl. dazu Winiarczyk, „Sisyphos", 36f.; Davies, Sisyphus and the Invention of Religion, 25. Vgl. auch Cie. nat. deor. 1.118, [DK 84 Β 5], Kap. II 3.2, 136, Anm. 4.
7
Vgl. dazu Kap. II 3.3.
240
II. Sophisten als Systemkritiker
Bei der Berücksichtigung der Quellengattung erweist es sich außerdem als ausgesprochen problematisch, die sophistischen Gedanken des Sisyphos der historischen Person des Autors zuzuordnen, auch wenn Sextus das offensichtlich so handhabt'. Es entsprach den traditionellen antiken Vorstellungen, die Aussagen der Bühnenfiguren auf den Autor zurückzufuhren. Die im Sisyphos entwickelte atheistische Lehre wird von einer dramatis persona vertreten und muß nicht unbedingt mit der Überzeugung des Dichters übereinstimmen 2 . Folgende Varianten sind denkbar: Entweder gab der Autor eine ihm bekannte, vergleichbare sophistische Theorie wieder, um sie zu karikieren 3 , oder er entwickelte in der Auseinandersetzung mit den herrschenden traditionellen Vorstellungen auf ironische und zynische Weise eine eigene Theorie. Dazu schöpfte er alle künstlerischen Mittel eines Satyrstücks aus. Geht man davon aus, daß er seine Ideen dem „Schurken" Sisyphos in den Mund legte, handelte er vielleicht einfach vorsichtig 4 . Sisyphos, der tragische Held des Mythos, der sich über alle Konventionen hinwegsetzte und weder Zeus, noch den Tod scheute 5 , bot sich offenbar als ein gut geeignetes Thema für ein Satyrspiel an. Alle drei großen Tragödiendichter - und vielleicht auch Kritias? - griffen die Thematik a u f . Daß Kritias sich im Rahmen seiner vielseitigen literarischen Tätigkeiten auch als Dramaturg betätigte, belegen vier von Stobaios überlieferte Sentenzen tragischen Stils und Anspielungen bei Piaton 7 . Wie Theaterstücke, die unter dem Namen Kritias aufgeführt wurden, dann in das Corpus Euripideum gelangen konnten, bleibt unerklärlich 8 . Der Sisyphos des Euripides wurde im Jahre 415 zusammen mit den Tragödien Alexandros, Palamedes und den Troerinnen aufgeführt 9 . Ein Papyrusfragment aus dem 2. Jahrhundert n.Chr. belegt, daß der Text des Euripides damals noch bekannt war 10 . Aëtius oder Sextus Empiricus widersprechen sich, weshalb einem der beiden Autoren ein Irrtum unterlaufen sein muß.
1
Vgl. D. Sutton, Critias and Atheism, CQ 32, 1982, 33. Auch Euripides galt in der Antike als Atheist, auch wenn es aus seinen Tragödien kaum herzuleiten ist. Vgl. Dihle, Das Satyrstück „Sisyphos", 33f. Aristoph. Thesm. 272ff. Zur Nähe des Euripides zur Sophistik vgl. jetzt: D.J. Conacher, Euripides and the Sophists. Some Dramatic Treatments of Philosophical Ideas, London 1998.
2
Vgl. Sutton, Critias and Atheism, 34; Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 274 mit der Forschungsliteratur. Kahn bemerkt, wenn es sich um die Verse des Tyrannen handele, reflektierten sie die unmoralische Sicht des Autors, während es bei Euripides nicht zu klären sei, da in seinen Werken die unterschiedlichsten religiösen Vorstellungen von den Bühnencharakteren vertreten werden. Kahn, Sisyphos Fragment, 249f. Die Argumentation kann meiner Ansicht nach nicht überzeugen, stammen doch auch im Falle der Autorschaft des Kritias die Äußerungen aus dem Mund des Sisyphos.
3
So Sutton, Critias and Atheism, 33-38; Pechstein, Kritias, 554.
4
So Nestle, Vom Mythos zum Logos, 415; Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III, 243; Roßner, Recht und Moral, 216f.
5
Vgl. die Anspielungen bei Soph. Phil. 625; Eustath. 631, 1701; W. H. Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd. IV, Hildesheim 1965.
6
Aischyl. TrGF 3, 225-234; Soph. TrGF 4, 544; Eur. fr. 673, 674.
7
Plat. Krit. 108b; Charm. 162d.
8
Vgl. Musa tragica, 108f. Vgl. Dihle, Das Satyrstück „Sisyphos", 30. Ein Teil blieb in dem aus dem 2. Jahrhundert stammenden Papyrusfragment erhalten (P.Oxy. 2455
9 10
241
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
Das stichhaltigste Argument, an der Autorschaft des Euripides zu zweifeln, bietet ausgerechnet Dihle, wenn er auf die mit der Sprache des Euripides nicht übereinstimmenden Stilformen aufmerksam macht1. Damit erhält die „Waagschale" auf der Seite des Kritias etwas mehr Gewicht. Es erscheint außerdem verlockender, die zynischen Worte des Sisyphos auf den Charakter des skrupellosen Machtpolitikers zurückzufuhren2. Weder der Inhalt des Textes - aus dem Mund einer Bühnenfigur, die Überlieferungssituation, noch die Frage nach der atheistischen Überzeugung des Kritias bzw. des Euripides boten hinreichend Argumente zur Klärung der Verfasserfrage. Auch wenn die Zuordnung des Textes ungewiß bleibt, so handelt es sich doch um ein Beispiel einer sophistisch geprägten Sozialtheorie des 5. Jahrhunderts, die für die Frage nach der Systemkritik nicht außer Acht gelassen werden darf. b) Der Text Zunächst sei der Inhalt des Fragmentes kurz vorgestellt: Sisyphos beginnt seine Erzählung nach Art des Mythos mit „es gab eine Zeit", dem aus dem Märchen bekannten „es war einmal" 3 . Die ersten Zeilen behalten den klassischen Erzählstil im Imperfekt, denn es wird der lange zurückliegende menschliche Urzustand beschrieben 4 : 1 ή ν χρόνος, οτ' ήν ά τ α κ τ ο ς
4
1 Es gab eine Zeit, als ungeordnet war der
ανθρώπων βίος καί θηριώδης ισχύος θ'
Menschen Leben,
υπηρέτης,
Untertan,
οτ' ούδέν άθλον ούτε τοις έσθλοίσιν ήν ούτ' α ύ κόλασμα τοίς κακοΐς
gab
έγίγνετο.
dem der Tiere gleich und der Stärke als es keinen Kampfpreis für die Edlen 4 und auch nicht Züchtigung die
Schlechten traf.
Der Begriff ά τ α κ τ ο ς betont den Aspekt der Disziplinlosigkeit, der fehlenden Gesetze 5 , und paßt besser als das in seiner Bedeutung ähnliche άκοσμήτος ins Versmaß 6 . Das Leben der Menschen findet noch auf der Ebene des tierhaften Urzustandes statt -
1
Fr. 7). Vgl. Dihle, Das Satyrstück „Sisyphos", 30; Winiarczyk, „Sisyphos", 44. Dihle, Das Satyrstück „Sisyphos", 37; dagegen Winiarczyk, „Sisyphos", 43; Davies, Sisyphus and the Invention of Religion, 26f.; vgl. auch Sutton, Critias and Atheism, 34.
2
So auch Barié, Die Religion - eine Erfindung der Herrschenden?, 21.
3
Eine Parallele stellt der Beginn des Protagoras-Mythos dar:
ήν γάρ ποτε χρόνος ... (Plat.
Prot.
320c) - oder das Fragment des Tragödiendichters Moschion aus dem 3. Jahrhundert: ή ν γ ά ρ π ο τ '
αιών κείνος, ...
(fr.6, Musa Tragica 97). Weitere Beispiele nennt Davies, Sisyphus and the In-
vention of Religion, 18. Vgl. auch E. Pöhlmann, Sisyphos oder: Der Tod in Fesseln, Zu Kritias V S 88 Β 25, in: ders. (Hrsg.), Studien zur Bühnendichtung und zum Theaterbau der Antike, Studien zur klassischen Philologie Bd. 3 (Hrsg. von M. von Albrecht), Frankfurt a.M. u.a. 1995, 188; Pechstein, Kritias, 558, Anm. 13. 4
Sext. Emp. adv. math. 9.54 [DK 88 Β 25]. Die Übersetzung orientiert sich weitgehend an DK, an der mehr auf den poetischen Klang bedachten Version in Musa tragica und an der Pechsteins. Musa
5 6
Tragica, 121-123; Pechstein, 557-559. Vgl. Xen. Kyr. 7.2.6; Aristot. Pol. 1319bl5; Plat. Nom. 660b, 840e. Vgl. ά κ ο σ μ ή τ ο ς bei Plat. Prot. 321c: Hier verfügen die Menschen noch nicht über Verstand; es fehlt ihnen die Ordnung in ihren Gedanken, weshalb sie ratlos sind.
242
II. Sophisten als Systemkritiker
θηριώδης. Die Konturen zwischen Mensch und Tier bleiben undeutlich1. Es herrschen die Regeln des Tierreichs, die keinen Kampfpreis für die Edlen vorsehen. Ebensowenig mußten die Schlechten mit einer Strafe, einer Züchtigung rechnen. In der zivilisierten griechischen Welt bedeutete, im Wettkampf einen αθλον zu gewinnen, gesellschaftliche Anerkennung und Prestige2. In der ersten Phase des menschlichen Zusammenlebens herrschte jedoch das Recht des körperlich Stärkeren - ισχύς 3 , die wilde und ungebändigte Gewalt, die keine Regeln kennt. Ein Wettbewerbspreis, oder auch Strafen setzen ein Mindestmaß an gemeinschaftlichen Vereinbarungen, an nomoi voraus4. Die zweite Entwicklungsstufe leitet der Autor durch seinen eigenen Auftritt ein: 5 κ ά π ε ι τ ά μοι δοκούσιν άνθρωποι νόμους
5 Und da, so scheint mir, haben sich die Menschen die Gesetze
θέσθαι κ ο λ α σ τ ά ς , iva δίκη
als Zuchtmeister aufgestellt, damit das
τύραννος ήι
Recht Tyrann sei
< > 5 την θ' ύβριν δοΰλην έ χ η ι ·
ο . . . und die Hybris zur Sklavin habe,
έ ζ η μ ι ο ΰ τ ο δ' εί τις έ ξ α μ α ρ τ ά ν ο ι .
Es wurde bestraft, wann immer einer sich verging.
Die einzige Funktion der Gesetze besteht in der Drohung mit Sanktionen, womit die nomoi eine deutlich negative Kolorierung erfahren6. Der fiktive Urzustand der Menschheit ist mit der Festlegung von Gesetzen, einem „Gesellschaftsvertrag" verknüpft, der bereits vor den Göttern existierte7. Der Eindruck, daß der Autor die zweite Entwicklungsstufe nicht eben als einen Fortschritt beurteilt, erhärtet sich durch die Wortwahl, die Δίκη fungiere als τύραννος, und die ύβρις sei ihr δούλος.
'
Der Anfang des Textfragmentes erinnert an Evolutionstheorien des 19. Jahrhunderts. In der Antike wurde dagegen deutlich ein von Anfang an herrschender Kontrast zwischen Mensch und Tier betont. Das verdeutlicht beispielsweise die nomos-physis Debatte des 5. Jahrhunderts. Die nomoi zeichnen den Menschen vor den Tieren aus. Vgl. Davies, der auf die entsprechende Forschungsliteratur hinweist. Davies, Sisyphus and the Invention of Religion, 19, Anm. 8. Der Gedanke findet sich nicht erst im 5. Jahrhundert. So formuliert Hesiod in den Erga: „Denn ein solches Gesetz erteilt den Menschen Kronion: Fische zwar sollten und wildes Getier und gefiederte Vögel fressen einer den andern, weil unter ihnen kein Recht ist. Aber den Menschen gab er das Recht bei weitem als bestes Gut." (Hes. erg. 275-279). Vgl. C. Osborne, Boundaries in Nature: Eating with Animals in the Fifth Century B.C., BICS 37, 1990, 15-29.
2
Zur Adelsethik vgl. u.a. Pind. Ol. 9.105-113; Hdt. 8.26.2-27.1. ' Ι σ χ ύ ς meint die körperliche Kraft, die im Wettbewerb oder Krieg unter Beweis gestellt wurde. Nomoi stellen einen wichtigen Schritt des menschlichen Fortschritts dar und heben den Menschen aus der Tierwelt hervor. Vgl. Davies, Sisyphus and the Invention of Religion, 20. Diels schlägt als Ergänzung - vor. Grotius wählt die auch von Barié bevorzugte Möglichkeit < γ έ ν ο υ ς βροτείου> - α ί ε ι ο ν δ' έφασκε τους θεούς ebendort, wo ένταύθ' Ινα μάλιστ' ά έξέπληξεν er die Menschen wohl am stärksten ανθρώπους άγων, schrecken konnte, woher, wie er erkannt, den Sterblichen όθεν περ έγνω τους φόβους όντας die Schrecken kommen βροτοίς 30 und die Hilfen 2 für ihr mühevolles 30 και τάς όνήσεις τώι ταλαιπώρωι Leben, βίων, vom Umlauf über ihnen, wo die Blitze έκ της ύπερθε περιφοράς, ϊν' άστραπάς sie gewahrten κατείδεν ούσας, δεινά δέ und des Donners gewaltige κτυπήματα Schläge und den die sternäugige βροντής, τό τ' άστερωπόν Himmelgestalt, ούρανού δέμας, Chronos', des kundigen Baumeisters, Χρόνου καλόν ποίκιλμα τέκτονος schönes buntes Werk, σοφού, 35 wo strahlend des Gestirnes Glutball wandelt 35 όθεν τε λαμπρός αστέρος στείχει μύδρος und von wo das N a ß des Regens auf ο θ' ύγρός εις γήν όμβρος die Erde seinen Ausgang nimmt. εκπορεύεται. Der Betrug konnte nur gelingen, indem der „Erfinder" sich die urtümlichen Ängste der Menschen vor den Naturgewalten zunutze machte und die Götter als Erklärung dafür angab. Der Mensch sieht sich der Natur ausgeliefert. Aus dem menschlichen rationalen Blickwinkel wird jetzt die Welt beschrieben und gleichzeitig der irrationalen Furcht die Basis genommen: Die Erde bildet ein Fixum, über ihr ist der Umlauf der Gestirne und der Wandel der Naturphänomene zu beobachten. In einer poetisch klangvollen Sprache spricht der Verfasser von der sternäugigen Himmelsgestalt als einem Kunstwerk der „Zeit"3. τοίους π έ ρ ι ξ έ σ τ η σ ε ν άνθροόποις 1
Solche Schrecken stellte rings er um
Nach Piaton ist es zu billigen, wenn ein Wissender mit Worten täuscht, um Gutes zu bewirken. Es sei beispielsweise den Regierenden zugestanden, wenn es dem Allgemeinwohl diene. Vgl. Plat. Pol. 382b9-c6; Döring, Götterfurcht, 51.
2
Pechstein schlägt aus inhaltlichen Gründen vor, an der Stelle von ό ν ή σ ε ι ς (Hilfen) π ο ν ή σ ε ι ς (Mühen) zu lesen. Pechstein, 559, Anm. 17. Wenn schließlich im Text auch von der Sonne und dem Regen die Rede ist, handelt es sich jedoch aus der Sicht eines Menschen einer Agrargesellschaft durchaus um „Segnungen" - ό ν ή σ ε ι ς - des Himmels.
3
Piaton verwendet den Begriff π ο ί κ ι λ μ α
zur Bezeichnung eines Deckengemäldes und auch
metaphorisch f ü r die Sternbilder. Plat. Pol. 529b, c; Vgl. auch Pind. Pyth. 3.113; Barié, Die Religion - eine Erfindung der Herrschenden?, 22. Der personifizierte Χ ρ ό ν ο ς erscheint auch bei Aischyos, den Orphikern und den Pythagoreiern, so Dihle, Das Satyrstück „Sisyphos", 42; Pechstein, 559.
246
II. Sophisten als Systemkritiker
φόβους, δι' ους καλώς τε τώι λόγωι κατώικισεν τον δαίμον' ού έν πρέποντι χωρίωι, 40 την άνομίαν τε τοις νόμοις κατέσβεσεν.
die Menschen auf, mit ihrer Hilfe hat er schön in seiner Rede das Göttliche angesiedelt an einem gebührenden Ort, 40 und die Gesetzlosigkeit durch die Gesetze ausgelöscht.
Mit Hilfe des logos, der Rede, und nicht des mythos, siedelt er die Götter an. Die nomoi umfassen jetzt auch den Bereich der Götterverehrung. Die Zeit ohne Regeln und Gesetze, die ανομία, ist damit unwiederbringlich verloren'. Nach einer wohl nicht genau zu definierenden Lücke folgt die Feststellung: ούτω δέ πρώτον οίομαι πείσαί τινα θνητούς νομίζειν δαιμόνων είναι γένος.
So, mein ich, hat zuerst jemand die Sterblichen dazu gebracht, zu glauben, daß es das Geschlecht der Götter gibt.
Der Glaube an die Götter wird in die Sphäre des Scheines verwiesen und wird erst in der täglichen Kultpflege (νομίζειν) zur Realität. Der Autor geht über den Ansatz des Protagoras und Prodikos hinaus, indem er den Glauben als das Ergebnis eines Betruges erklärt. c) Nomos als Fortschritt der Menschheit? Der Autor des Sisyphos-Fragmentes entwickelt keine umfassende Kultur- und Zivilisationstheorie. Er konzentriert sich auf die Frage nach der Entstehung des Rechts und der Religion; damit ist eine normenbestimmte Gesellschaft und keine konkrete Staatsform gemeint. Die Ausbildung handwerklicher Fertigkeiten oder die Nutzung wichtiger Zivilisationsgüter2, wie auch ein ursprünglicher Kontrast zwischen Mensch und Tier3, sind gänzlich ausgeklammert. Das erste Stadium, das ungeordnete und tierhafte, kennt keine Vereinbarungen, Normen oder Werte: Nur der Starke setzt sich durch. Es gibt noch keine Götter, nur die Furcht vor den Naturerscheinungen.
1
Pechstein sieht in den Zeilen 37-40 zu viele inhaltliche und sprachliche Ungereimtheiten. Sie seien daher später in Prosa (von Sextus Empiricus?) hinzugefügt worden. Er wendet ein, daß die Gesetze schon vorher bestanden und die Götter ihnen lediglich Respekt verschaffen sollten. Pechstein, 560 Anm. 21. Doch zuvor herrschte doch zumindest im geheimen ein Zustand der anomia. Auch die kultische Verehrung der Götter gehört in den Bereich der nomoi, der jetzt erst vollständig ist. Der Hinweis auf die „ungenaue Wortwahl" des Begriffes δ α ί μ ω ν übersieht, daß der Autor den Terminus bereits in Zeile 17 nutzt. Das dritte Argument Pechsteins gegen die Originalität der Zeilen scheint gerechtfertigt. Natürlich baute der „kluge Erfinder" keine Ängste der Menschen auf, sondern er nutzte sie für seine neue Lehre. Der Autor greift den oben ausführlicher formulierten Gedankengang erneut auf, um ihn zusammenzufassen. Dabei ist mit der Formulierung π έ ρ ι ξ έ σ τ η σ ε ν nicht gesagt, daß er die Ängste der Menschen hervorgerufen habe. Vielmehr liegt die Betonung darauf, daß er sie praktisch institutionalisiert hat, indem er sie mit den imaginären Gottheiten künstlich in Verbindung brachte.
2
Vgl. Aischyl. Prom. 436-506; Soph. Ant. 332-375; Eur. Hik. 196-218. Vgl. 242, Anm. 1.
3
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
247
Damit liegt der früheste erhaltene Text vor, der den Übergang von dem natürlichen, tierhaften Lebensstadium zu einer menschlichen Gesellschaft beschreibt. Der oft zum Vergleich hinzugezogene „Mythos des Protagoras" bei Piaton1 weist einige eklatante Unterschiede auf, die im folgenden noch näher zu erläutern sind. Laut Diogenes Laertios beschäftigte sich Protagoras mit dem „Urzustand" - Περί της έν ά ρ χ ή καταστάσεως 2 . Mehr als der Titel des Werkes ist jedoch nicht bekannt und insbesondere Protagoras' Agnostizismus ist kaum mit einem „Mythos" zu vereinbaren 3 . Dennoch ist hier das Genre zu berücksichtigen, das der Sophist nur als äußere Form zur Bekräftigung seiner Auffassung wählt. Der bereits im Protagoras-Kapitel vorgestellte und hier kurz zusammengefaßte Mythos beginnt mit der Schöpfung des Menschen durch die - existierenden - Götter: Es gab einst eine Zeit, w o es Götter gab, sterbliche Geschlechter aber gab es noch nicht; nachdem aber auch für diese die vorherbestimmte Zeit ihrer Erzeugung gekommen war, bildeten die Götter sie innerhalb der Erde aus Erde und Feuer, ... 4
Zunächst ist der Mensch dem Tier unterlegen, erhält dann die göttliche Gabe des Feuers und der handwerklichen Begabung, die ihn von den Tieren unterscheidet - Προμηθεύς ... κλέπτει 'Ηφαίστου κ α ι 'Αθηνάς τήν έντεχνον σοφίαν συν πυρί 5 . Daraufhin entwickeln die Menschen die Handwerkstechnik (δημιουργική τέχνη) und üben den Götterkult aus. Sie haben die erste Entwicklungsstufe erreicht, leben aber noch nicht in der Polis. Was ihnen fehlt ist die bürgerliche Kunst (πολιτική τέχνη), womit das soziale Verhalten, das die Grundvoraussetzung des gesellschaftlichen Lebens bildet, und die Staatskunst gemeint ist6. Zeus verleiht daraufhin mit α ι δ ώ ς und δίκη - „Ehrgefühl" und „Recht" - allen Menschen die Fähigkeit, in einer politischen Gemeinschaft zu leben. Nach dem Gesetz (νόμος) des Olympiers soll derjenige, der sich nicht fügen kann, getötet werden 7 . Was dem Protagoras-Mythos zufolge den Menschen von den Tieren unterscheidet, ist seine Beziehung zu den Göttern. Jeder Mensch hat jetzt Anteil an αιδώς und δίκη, daraus entwickeln sich alle anderen Tugenden 8 . Er verfugt über ein göttliches Mandat, in der Natur zu dominieren9. Protagoras unterscheidet schließlich die von der Natur 1 2 3
4
Plat. Prot. 320c8-322d5. Vgl. zum Folgenden auch die Ausführungen in Kap. II 1, 43, 59. Diog. Laert. 9.55 [DK 80 Β 8b], Zur Frage nach dem historischen und platonischen Protagoras vgl. Kap. II 1,43, Anm. 2.
Vgl. Kap. II 1.1. Plat. Prot. 320d: "Ην γάρ ποτε χρόνος, οτε θεοί μέν ήσαν, θνητά δέ γένη
ούκ ήν. Επειδή δε και τούτοις χρόνος ήλθεν είμαρμένος γενέσεως, τυποΰσιν αυτοί θεοί γης ένδον έκ γης και πυρός ... 5 6
7 8
9
Plat. Prot. 32Id. Plat. Prot. 322b. Der Gedanke, daß der Mensch keine vollendeten τ έ χ ν α ι erhält, sondern die Begabung, diese zu entwickeln, ist dabei neu. Vgl. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 66. Der Aspekt der „schnellen" Entwicklung materieller Kulturtechniken wird hier bewußt heruntergespielt. Vgl. dazu Manuwald, Piaton oder Protagoras?, 115,118. Plat. Prot. 322c, d. Plat. Prot. 323c. Die Formulierung , α ι δ ώ ς und δ ί κ η ' ist sicherlich in Anlehnung an Hesiod gewählt. Hes. erg. 190ff. Vgl. Osborne, Boundaries in Nature, 21 (wie 242, Anm. 2); Manuwald, Piaton oder Protagoras?, 116-118.
248
II. Sophisten als Systemkritiker
gegebene Begabung von der πολιτική άρετή, die man erlernen müsse 1 . Nicht der Verfallsprozeß, ausgehend von der Zeit des „Goldenen Zeitalters" Hesiods hin zur düsteren Gegenwart 2 , bestimmt die Darstellung im Protagoras-Mythos, sondern dort ist eine aufsteigende Linie zu verzeichnen, die ihren kulturellen Höhepunkt in der Polis findet 3 . Ein grundlegender Gegensatz zu der These des Sisyphos-Fragmentes besteht in der Beziehung zwischen Göttern und Menschen. In der Regel ist der πρώτος εύρετής eine Gottheit in der Funktion eines Entdeckers nützlicher Zivilisationsgüter. So brachte zum Beispiel Demeter den Menschen das Getreide und die Kunst des Ackerbaus und Prometheus verlieh den Menschen die verschiedensten Künste und Fertigkeiten 4 . In einer spöttischen und ironisierenden Umkehrung der Verhältnisse erfindet jetzt ein Mensch die Götter 5 . Nur aufgrund einer menschlichen Erfindung, und damit nur in ihrer Phantasie existieren für „Sisyphos" die Götter 6 . Der Unterschied zwischen dem Sisyphos-Fragment, dem Agnostizismus des historischen Protagoras und dem Protagoras Piatons relativiert sich, wenn die Darstellungsform berücksichtigt wird. Die hier in der Form eines Mythos vorgelegte Kulturentstehungslehre berücksichtigt, der Textgattung entsprechend, die Welt der Götter und Teile bekannter mythischer Überlieferungen. Als Vorbild diente dem Autor sicher u.a. der Prometheus des Aischylos 7 . Der platonische Protagoras demonstriert, daß er auch in der klassischen, traditionellen Erzählform seine Thesen zu vermitteln versteht 8 . Auffallend ist die besondere Betonung der πολιτική τέχνη, die flir jeden zugänglich ist. Wer sich als unfähig erweist, sie auszubilden, den straft das Gesetz 9 . Insofern spielt auch im Protagoras-Mythos die Entstehung der politischen, der normenbestimmten Gemeinschaft eine zentrale Rolle. Insgesamt scheint eine theoretische Begründung des demo-
1
Vgl. Döring, Die politische Theorie des Protagoras, 109-115.
2
Hesiod beschreibt den Prozeß in seinem „Weltaltermythos". Hes. erg. 106-201.
3
Vgl. erstmals bei Xenophanes: Stob. 1, 94, 2f.; 3, 635, 11 f. [DK 21 Β18]; Aischyl. Prom. 442-468; Eur. Hik. 201-213; Isokr. Paneg. (or. 4) 28ff; Moschion (fr.6, Musa Tragica 97); Diod. 1.8. Dihle, Das Satyrstück „Sisyphos", 39; Döring, Götterfurcht, 44; Kerfeld, Sophistic Movement, 142-148; Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 64-71. Manuwald stellt meiner Ansicht nach überzeugend heraus, daß der Mythos eine Rechtfertigung der Demokratie enthält. Jedermann ist an der politischen Willensbildung beteiligt (Plat. Prot. 322d5-323a4) und die politike techne sei lehrbar. Manuwald, Piaton oder Protagoras?, 123f., Anm. 43.
4
Vgl. Horn. Hymn. Dem.; Aischyl. Prom. 436-506; Isokr. Paneg. (or. 4) 28.
5
Als Beispiele ließen sich Demeter, Dionysos, Prometheus oder Heroen wie Palamedes nennen. Davies, Sisyphus and the Invention of Religion, 21.
6
Auch die bereits vorgestellte Religionstheorie des Prodikos geht von einer rationalen Erklärung der Götterverehrung aus. Vgl. Kap. II 3.3.
7
Vgl. Kahn, Sisyphos Fragment, 256. Protagoras' Vorgehen erinnert an die Bemerkung des Gorgias, daß es sich bei einem Mythos um einen Logos in Versmaß handele. Vgl. Gorg. Hei. [fr. 11.8], Auch im platonischen Dialog ist die Textgattung beliebig, unabhängig vom Inhalt gewählt. Manuwald weist darauf hin, daß ein solches Vorgehen untypisch für Piaton sei und schon Philostrat vom protagoreischen Stil des Mythos spreche. Vgl. Manuwald, Piaton oder Protagoras?, 109, Anm. 15.
8
9
Strafe sollte aus Sicht des Protagoras bei Piaton eine pädagogische Funktion ausüben und nicht einfach der Vergeltung dienen. Vgl. Plat. Prot. 324b, 325a.
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
249
kratischen Systems in Athen vorzuliegen, die offenbar auf den historischen Protagoras zurückgeht 1 . Der Autor des Sisyphos-Fragments formt in drei Stufen ebenfalls eine Theorie zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und leistet damit einen außergewöhnlichen Beitrag zu der aktuellen Diskussion über die Theorien der zivilisatorischen und kulturellen Entwicklung der Menschheit 2 . Dem tierhaften Urzustand folgt der, auf einer rationalen Überlegung beruhende „Gesellschaftsvertrag", der schließlich die Erfindung des irrationalen Aspektes des Göttlichen erforderlich macht. Barié sieht darin eine Umkehrung der historischen Perspektive „vom Mythos zum Logos" 3 . Die hier implizierte Geradlinigkeit entspricht zwar kaum dem geschichtlichen Prozeß, insgesamt gesehen bestand aber nach der traditionellen Vorstellung eine mythische Eingebundenheit des nomos, die Verbindlichkeit beanspruchte, neben einer im ausgehenden 5. Jahrhundert zunehmend diskutierten rationalen Weltsicht. Letztere verlangt nach einer ideologischen Grundlage. „Sisyphos" greift verschiedene Ansätze der Naturphilosophen und weiterer Sophisten a u f und zeichnet ein sehr kritisches Bild seiner Gegenwart. Er leugnet den mythischreligiösen Ursprung der Gesetze und fuhrt diese auf eine rein sachliche Überlegung zurück. Nach dem in der ersten Phase beschriebenen Urzustand erfolgt auf der zweiten Ebene die Festlegung der nomoi, bevor die Götter hinzukommen. Somit erscheint δ ί κ η keineswegs als eine Göttin, sondern als eine Tyrannin. Die Gerechtigkeit als Tyrannin stellt ein Paradoxon dar und ist folglich keineswegs als Fortschritt der Menschheit zu interpretieren. Τυραννίς und ύβρις, Alleinherrschaft und Hochmut, bilden ein Begriffspaar 5 . Das zeigten die Verfassungsdebatte Herodots und der Sprachgebrauch des Thukydides, der die Kausalität der Macht thematisierte 6 . Seit dem Aufstieg Athens zur hegemonialen Macht Griechenlands wurde mit dem Terminus τυραννίς weniger die Angst vor der Wiederbelebung einer Herrschaft peisistratidischen Musters als vielmehr die Sorge um den Verlust der Freiheit verbunden. Die Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton 1
Vgl. Kap. I I I , 43, Anm. 2.
2
Vgl. Liv. 2.32; Barié, Die Religion - eine Erfindung der Herrschenden?, 25. Vgl. auch die ähnlichen Formulierungen bei Diod. 1.8; Moschion TrGF 6. Die Gedanken Diodors gehen wohl auf das 5. Jahrhundert zurück, müssen aber nicht mit den anderen Beispielen (vgl. 248, Anm. 3) auf eine einzige Ursprungsquelle zurückgeführt werden, so Kerfeld, Sophistic Movement, 142. Kahn betrachtet die seit ca. der Mitte des 5. Jahrhunderts kontrovers diskutierte nomos-physis
Problematik
als Basis der im Fragment dargelegten Thematik. Ch.H. Kahn, The Origins of Social Contract Theory, in: Kerfeld, Sophists and their Legacy, 99. 3
Barié, Die Religion - eine Erfindung der Herrschenden?, 26f.
4
Vgl. zu Protagoras, Gorgias und Prodikos: Kap. II 1.2.b; II 2.2.1; II 3.2.
5
Barceló, Thukydides und die Tyrannis, 422.
6
Herodot kommt zu dem Schluß, daß Macht und Reichtum des Alleinherrschers Selbstüberschätzung, Hybris, nach sich ziehe. Hdt. 3.80.2-5. Die insgesamt nicht eindeutige Verwendung des Terminus setzt erst zu Beginn des 5. Jahrhunderts ein, nachdem im 6. Jahrhundert bei Solon oder Alkaios eine deutlich negative Beurteilung vorlag. Vgl. dazu oben 243; J. Cobet, König, Anführer, Herr, Monarch, Tyrann, in: Welskopf, Soziale Typenbegriffe, 49-55. Barceló, Thukydides und die Tyrannis, 423, Welwei, Das Problem des „Präventivkrieges", 305.
250
II. Sophisten als Systemkritiker
waren zu Identifikationsfiguren und Freiheitskämpfern im Dienste der Demokratie aufgestiegen 1 - ein Mißverständnis, das Thukydides aufzuklären beabsichtigte 2 . Barceló weist auf die ambivalente Bedeutung des Tyrannenbegriffes am Ende des 5. Jahrhunderts hin. Diente das Gegensatzpaar Tyrannis und Freiheit zur ideologischen Rechtfertigung der attischen Demokratie, wurden mit zunehmender Systemkritik auch die Stimmen der Befürworter einer Tyrannis laut 3 . Die maßvolle Herrschaft des alten Peisistratos in der Darstellung Herodots und die Beurteilung der Tyrannis in Athen als eine Ära des Aufbruchs und Fortschritts durch Thukydides zeigen, daß in der historischen Realität auch die Möglichkeit einer ,guten Tyrannis' bestand 4 . Losgelöst von der hier genannten historischen Epoche in Athen stand der theoretische Verfassungsbegriff jedoch ftir eine auf Reichtum und Gewalt beruhende, unangemessene Machtausübung 5 . Der Autor des Sisyphos schaltet sich in die offene Debatte über die geeignete Regierungsform ein: Δ ί κ η hat ύ β ρ ι ς zur Sklavin, sie hat sie nicht besiegt, wie es beispielsweise Hesiod formuliert 6 , sondern dienstbar gemacht. Als Konsequenz daraus folgt die Bestrafung jeglichen Unrechts. Die Hybris fungiert offenbar als Exekutivgewalt. Spricht der Autor von der δ ί κ η als Tyrannin und von der ύ β ρ ι ς als deren Sklavin, spielt er sicher sehr publikumswirksam auf den populären Tyrannenbegriff der attischen Demokratie an. Die Mythisierung der Tyrannenmörder als Helden der Demokratie war allgegenwärtig. Das „Harmodioslied", die berühmte Statuengruppe und zahlreiche Abbildungen auf attischen Vasen geben davon ein beredtes Zeugnis 7 . Die zweite Entwicklungsstufe, die menschliche Satzungen ohne moralische Bindung kennt, weist eine deutliche Parallele zu der zeitgenössischen Überlegung des Sophisten Antiphon a u f , der feststellt: Es wird also ein Mensch für sich am meisten Nutzen bei der A n w e n d u n g der Gerechtigkeit haben, wenn er vor Zeugen die Gesetze hoch hält, allein und ohne Zeugen dagegen die Gebote der Natur; denn die der Gesetze sind willkürlich, die der Natur dagegen notwendig; und die der Gesetze sind vereinbart, nicht gewachsen, die der Natur dagegen gewachsen, nicht vereinbart 9 .
Den größten Raum in der Darstellung des Sisyphos nimmt schließlich die dritte Phase, die Erklärung des Ursprungs der Religion, ein. Sie stellt den Kern- und Angelpunkt seiner Argumentation dar, denn ohne den Götterglauben gebe es keine wirksame Befolgung der nomoi. Der Autor verknüpft den von Demokrit formulierten Grundgedanken 1
2
3 4 5
Vgl. B. Fehr, Die Tyrannentöter oder: Kann man der Demokratie ein Denkmal setzen?, Frankfurt a.M. 1984; Barceló, Thukydides und die Tyrannis, 410, 414, Anm. 60; ders., Basileia, 192. Vgl. Thuk. 6.54.1 : „Denn Aristogeitons und Harmodios' kühner Anschlag kam aus einer Liebesgeschichte, die ich ausführlich erzählen will, um zu beweisen, daß sowenig wie die andern die Athener selbst über ihre eigenen Tyrannen und den wirklichen Vorgang irgend etwas Genaues berichten." Vgl. Barceló, Thukydides und die Tyrannis, 417. Vgl. Hdt. 1.59.6; Thuk. 1.13.1; Barceló, Basileia, 162, 184f. Vgl. Thuk. 6.15.4; Aristot. Ath. Pol. 16.2; Aristot. Pol. 1279b. Vgl. dazu Cobet, König, 47-55.
6
Hes. erg. 216: δίκη δ' ύπέρ ύβριος ί σ χ ε ι .
7
Vgl. 250, Anm. 2, 3; Parker, Athenian Religion, 123.
8
Neben stilistischen Ähnlichkeiten besteht somit auch eine argumentative N ä h e zwischen den Schriften Antiphons und dem Satyrstück. P.Oxy. 1364 [Μ Β 90; D K 87 Β 44 A col 1, 12-33], Vgl. dazu ausführlich Kap. II 6.3.
9
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
251
der Furcht' mit der von Prodikos entwickelten Idee des Nutzenbringenden 2 . Der Gott ist der mit dem Geiste hörende und sehende Gott des Xenophanes 3 . Döring zufolge schätzte Kritias erstmals offen die Religion als ein Mittel der Politik ein 4 . Er fügte literarische Versatzstücke, entlehnt bei den Naturphilosophen und Dichtern, zu einer Gesamtkomposition zusammen, die sprachlich einen offenbar beabsichtigten Wechsel von Begriffen des mythisch-poetischen und des rational-prosaischen Sprachgebrauchs aufweist 5 . So spielten die Formulierungen περιφορά (Umlauf) und μύρδος (Glutball) auf die in der Mitte des 5. Jahrhunderts entwickelte Elementarlehre des Anaxagoras 6 und seine Vorstellung von der Sonne als Glutmasse an7. Anaxagoras verbindet eine primitive Erdvorstellung mit überraschend zutreffenden Vorstellungen von der Sonne und deren Verhältnis zu Mond und Erde 8 . Den Begriff μύρδος nutzte auch Gorgias zur Bezeichnung der Sonne 9 . Dem Verfasser des Satyrstückes geht es jedoch nicht um eine Kosmologie, sondern um den Entwurf einer Entstehungstheorie der Gesellschaft. In sophistischer Manier spiegelt die Sprache auch den Inhalt des Textes wider! So nutzt der Autor paradoxe Konstruktionen, wenn er zum Beispiel den so weisen und klugen Mann mit Hilfe eines rationalen logos einen auf Irrationalem basierenden Mythos erfinden läßt10, der nichts als eine Lüge darstellt. Der feine Spott offenbart sich zudem im Spiel mit dem Glauben an die mythische Überlieferung, wenn er gerade Sisyphos die Theorie zur Entstehung des Götterglaubens in den Mund legt. Sisyphos mußte als der beste Zeuge für die Frühzeit der Menschen gelten, denn der Urbewohner der Erde konnte die Menschen und die Götter noch beobachten". Der schlaueste unter den Menschen 12 widersetzte sich dem Willen der Götter und überlistete selbst den Tod 13 . Der dreiste und in keiner Weise gottesfurchtige Held des Mythos berichtet über den „klugen und weisen Erfinder" 14 . Mit der Behauptung, es 1
Sext. Emp. adv. math. 9.24 [DK 68 A 75],
2
Vgl. auch Döring, Götterfurcht, 45f.
3
Sext. Emp. adv. math. 9.144 [DK 21 Β 24; Mansfeld]: „Als ganzer sieht er, als ganzer versteht er, als ganzer hört er." Vgl. Burkert, Griechische Religion, 465.
4
Döring, Götterfurcht, 46.
5
Vgl. Barié, Die Religion - eine Erfindung der Herrschenden?, 22. Pechstein weist außerdem darauf hin, daß der Autor durch die „naturwissenschaftliche" Beschreibung der kosmologischen und metereologischen Phänomene gegen die Lehre des „weisen Mannes" argumentiert. Pechstein, Kritias, 559.
6
Plut. Vit. Lys. 12 [DK 59 A 12], Diog. Laert. 2.12; Sotion fr. 3 (Werli) [DK 59 A 1],
7 8
Vgl. Hippolytos Haer. 1.8.3-12 [DK 59 A 42],
9
Sopat.Rhet.gr. 8.23 [DK 82 Β 31], Auch Pöhlmann weist darauf hin, daß „Sisyphos" sich mit Hilfe des Weltbildes der Vorsokratiker von der mythischen Kosmologie distanziert. Vgl. Pöhlmann, Sisyphos oder: Der Tod in Fesseln, 189.
10
" Vgl. Paus. 2.5.1. 12
Horn. II. 6.153.
13
Vgl. 240, Anm. 5. Dreher stellt dagegen keinen ironischen Unterton fest und hält den Autor fur einen Befürworter des
14
252
II. Sophisten als Systemkritiker
gebe keine Götter, entzieht „Sisyphos" jedoch seinem eigenen Mythos die Existenzgrundlage. Handelte es sich bei dem vorliegenden Text tatsächlich um ein Fragment eines Satyrstücks, ist auch die durch das Genre erforderliche komische Wirkung zu berücksichtigen 1 . Damit boten sich dem Autor mehr Möglichkeiten, paradoxe und ironische Effekte zu erzielen, als in einer ernsthaften, in Form der Prosa verfaßten „wissenschaftlichen" Theorie. Deshalb ist nicht an der Ernsthaftigkeit der Kernaussage zu zweifeln. Wie die Komödiendichter verfugte der Verfasser eines Satyrstücks über die weitgehende künstlerische Freiheit, zeitgenössische Themen aufzugreifen, in ihnen mehr oder weniger versteckt Kritik zu üben, oder sie einfach der Lächerlichkeit preiszugeben. Im oft vergleichend hinzugezogenen Satyrstück Kyklops des Euripides fungiert der „grobe Kerl" Polyphem als Sinnbild des Unzivilisierten und spricht sich gegen jegliche Form von vereinbarten Regeln aus. Parodiert Euripides im Kyklops sophistische Lehren2, greift der Autor des Sisyphos Ansätze sophistischer Theorien auf und kombiniert sie mit naturwissenschaftlichen Studien zu einer, in ihrer Radikalität nahezu einmaligen Theorie. Der Zustand der anomia stellt ohne mythisch-religiöse Verklärung die zu erkennende und zu befürwortende Realität dar. Die von Davies und Sutton vertretene Ansicht, die Textzeilen repräsentierten kaum die Sicht des Verfassers, sei ein Satyrspiel doch ebensowenig wie die mythische Figur des Sisyphos dazu geeignet, ernsthafte Theorien über den Ursprung der Religion zu entwickeln 3 , verkennt meines Erachtens die komplexe Vorgehensweise des Autors. Die
'
2
3
nomos. Dreher, Sophistik und Polisentwicklung, 64-66. Die Einordnung des Sisyphos als Satyrstück ist auf das Diminutiv (Z. 39) zurückzuführen, so Dihle (Das Satyrstück „Sisyphos", 37). Zum Genre vgl. Davies, Sisyphus and the Invention of Religion, 29f. Eur. Kykl. 316ff. Vgl. H. Patzer, Der Tyrann Kritias und die Sophistik, in: Studia Platonica. Festschrift für Hermann Gundert zu seinem 65. Geburtstag, Amsterdam 1974, 16. Anders Pechstein, Kritias, 554. Vgl. Davies, Sisyphus and the Invention of Religion, 30; Sutton, Critias and Atheism, 33-38. Auch Pöhlmann, der einen interessanten Versuch unternimmt, das Fragment in den Sisyphos-Mythos einzuordnen, hält die Aufführung eines Stückes mit vorliegendem Inhalt bei einer Autorschaft des Kritias für unmöglich. Seine Begründung, Sextus Empiricus habe den Text als ein poetisches Manifest der Gottlosigkeit des Oligarchen eingestuft, während es sich hier um die Trugrede des Lügners Sisyphos handele, kann nicht überzeugen. Es bleibt ungewiß, ist aber nicht ausgeschlossen, daß Aussagen von Bühnenfiguren die Ansichten des Autors widerspiegeln. Kritias wie Euripides bleiben gleichermaßen als mögliche Verfasser bestehen. Auch das zweite Argument Pöhlmanns, Kritias aus der Philosophiegeschichte zu streichen, ist nicht haltbar. Die „Sophistik" ist nicht auf eine „bestimmte Denkrichtung" zu reduzieren, sondern bezeichnet tatsächlich eine Reihe von Denkansätzen des 5. Jahrhunderts. So greifen beispielsweise Protagoras, Gorgias und Prodikos Ideen der Eleaten auf und setzten sich damit auseinander. Vgl. oben Kap. II 1.2 a, 55; II 2.3, 102; II 3.3, 139, Anm. 6. Schließlich ordnet Pöhlmann Kritias zusammen mit Kallikles und Thrasymachos dem „Radikalen Flügel der Sophistik" zu. Kallikles lasse sich jedoch nicht als historische Person nachweisen und die Aussagen des Rhetoriklehrers aus Chalkedon ließen sich kaum mit denen des platonischen Thrasymachos vereinbaren. Die Aussagen des Thrasymachos in der Darstellung Piatons sind differenzierter zu betrachten. Vgl. Kap. II 4.3. Die Schlußfolgerung Pöhlmanns, die radikale
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
253
S c h l u ß f o l g e r u n g H o f f m a n n s , das Sisyphos-Fragment beurteile die m e n s c h l i c h e G e s e l l schaft als erstrebenswertes Ziel und die G e s e t z e als ein Mittel, die Anarchie z u überw i n d e n , verkennt die bissige Ironie und den negativen Unterton der entscheidenden Passagen'. Sein Spiel mit sprachlichen Stilformen, alten und neuen Erklärungsansätzen reiht ihn ein in die Gruppe der Sophisten, den Zweiflern an der Religion 2 . Der Götterglaube als Garant für die Gerechtigkeit verliert j e g l i c h e Basis, und damit die v o n H o m e r und H e s i o d geprägten traditionellen Vorstellungen. D i e Grundsätze in den Erga H e s i o d s erfahren eine vermeintlich neue Interpretation. D i e letzte Stufe des Weltaltermythos H e s i o d s entspricht der elenden Gegenwart des Dichters, in der sich der M e n s c h zurecht finden muß. B e v o r H e s i o d Perses seine Lebensweisheiten und praktis c h e n Bauernregeln mit auf den W e g gibt, erzählt er ihm die Fabel v o n d e m Habicht und der Nachtigall. Der Habicht w e n d e t sich an sein Opfer: Was denn, Verblendete, schreist du? Ein Stärkerer hält dich gefangen. Dorthin mußt du, wohin ich dich bringe, und bist du auch Sänger. Fressen tu ich dich, ganz wie ich Lust hab, oder ich laß dich. Nur einen Narren verlockt es, mit stärkeren Gegnern zu kämpfen. Sie ist ihm versagt, und zur Schande leidet er Qualen 3 . Bei den Tieren herrsche das Recht des Stärkeren. H e s i o d mahnt Perses, δ ί κ η zu achten, denn das Recht unterscheide den M e n s c h e n v o n den Tieren und garantiere das B e s t e h e n der Gemeinschaft 4 . Über das Recht wachten dreißigtausend D ä m o n e n , D i k e und Zeus 5 .
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3 4 5
Sichtweise der Sophisten sei lediglich eine Erfindung Piatons, tatsächlich handele es sich um Befürworter des nomos - des ,contrât social', ist nach der hier vorliegenden Untersuchung der Fragmente der Sophisten abzulehnen. Pöhlmann, Sisyphos oder: Der Tod in Fesseln, 187-198. Hoffmann folgt in seiner positiven Beurteilung Patzer. Laut Patzer verurteilt der „Sprecher" die Gewalt und betrachtet die Einfuhrung von Gesetzen als einen großen menschlichen Fortschritt. Vgl. Patzer, Der Tyrann Kritias, 17. Vgl. auch Dihle, Das Satyrstück „Sisyphos", 38: „ ... steht hinter den Worten des Sisyphos die auch bei Protagoras oder beim Anonymos περί νόμων (Ps. Dem. 25,25) lebendige Einsicht in die Segnung des „unnatürlichen" νόμος." Auch Döring sieht in dem Autor einen der extremsten Befürworter des nomos. Vgl. Döring, Götterfurcht, 44; Dreher, Sophistik und Polisentwicklung, 64-66; Ostwald, From Popular Sovereignty to Sovereignty of Law, 282f.; Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 279. Roßner beurteilt die Einführung der nomoi als positiv, weil sie die „tierhafte Natur" des Menschen bezwingen. Kritias hege keine große Meinung von der Masse, die eine Anleitung durch Vorschriften benötige. Der Nutzen sei dabei der Wahrheit vorzuziehen. Vgl. Roßner, Recht und Moral, 220, 223f. Die Interpretation Roßners setzt voraus, daß der Text entweder der Masse des Volkes nicht zugänglich gemacht wurde oder aber, daß das Volk den Ausführungen des „Sisyphos" keine große Beachtung geschenkte. Die zuletzt genannte Annahme geht von einer Unmündigkeit der Menge aus, die dem, etwa für das Verständnis der Komödien des Aristophanes vorauszusetzenden, hohen Abstraktionsniveau widersprechen. Außerdem ist das Fragment als Teil eines Satyrstücks überliefert, woran Roßner selbst nicht zweifelt. Vgl. Romilly, Sophists, 110. Thrasymachos bemerkt beispielsweise, daß die Götter der Gerechtigkeit nicht zum Sieg verholfen haben. Vgl. Hermias, Komm, zu Plat. Phaedr. (Couvreur, p. 239, 21) [zu σ θ έ ν ο ς p. 267c s. Β 6] [DK 85 Β 8]; Kap. II 4.3. Hes. erg. 206-210. Hes. erg. 212f.; 276-280. Hes. erg. 247-254, 255-261, 266, 272.
254
II. Sophisten als Systemkritiker
Die Götter seien den Menschen nahe und ahndeten das Unrecht mit kollektiven Strafen 1 . Auch „Sisyphos" bietet ein absolut negatives Menschen- und Weltbild, das auf Furcht, Nutzen und Betrug beruht. Es stellt eine zynische Beurteilung der Zivilisation dar, die in der Polis Athen ihren kulturellen Höhepunkt gefunden hatte. Der Polis-Gedanke fehlt in dem Textfragment völlig. Der Autor des Sisyphos-Fragmentes geht weit über den Agnostizismus des Protagoras und den mehr philosopisch-soziologisch geprägten Atheismus des Prodikos hinaus, indem er eine politisch motivierte Religionsentstehungslehre schafft. Der Götterglaube dient der Einschüchterung der Masse und der Vermeidung des Schlechten 2 . Er hat seinen Ursprung in der nationalen' Erfindung eines schöpferischen Geistes. Wie Hippias spricht der Sisyphos-Autor somit dem menschlichen Verstand den höchsten Stellenwert zu3. Rationales Denken, die hohe Bewertung des Verstandes und Atheismus fallen im Denken des Autors zusammen 4 . Die auf den ersten Blick scheinbar positive Beurteilung der Aufhebung der anomia hat keinen Bestand, denn die gern akzeptierte Lehre ist als Betrug an der Menschheit enttarnt. Götter existieren nicht, den nomoi fehlt jegliche „sakrale" Stütze. Die Annahme einer göttlichen Gerechtigkeit, der göttlichen Allmacht ist ein basisloser Mythos. Nomoi bleiben damit menschliche Satzungen ohne tieferen moralischen Gehalt. Daraus folgt, daß sie jeder Zeit neu vereinbart werden können 5 . Nur in der ersten Stufe menschlicher Entwicklung bestand ein Gleichgewicht der Kräfte: Das einzig Bestehende ist das Naturrecht, das Recht des Stärkeren 6 .
1 2
3
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Hes. erg. 239f. So auch Nestle, Vom Mythos zum Logos, 419. Untersteiner, Sophists, 334f. Auch Davies sieht die Einführung der nomoi in einem negativen Licht dargestellt. Davies, Sisyphus and the Invention of Religion, 20. Anspielungen und unausgesprochene Kritik als Beleg dafür heranzuziehen, die Gesetze als Fessel der Menschen zu beurteilen, sieht Sutton als eine zu unsichere Argumentationsbasis. Doch die neue Beurteilung des Inhalts durch Patzer hat auch bei ihr keinen Bestand. Auch wenn scheinbar bewundernd ein kultureller Fortschritt beschrieben wird, ist doch die Konsequenz nicht weg zu deuten, daß die Götter selbst nur menschliche Erfindungen darstellen. Sutton, Critias and Atheism, 34. Vgl. auch Kahn, Social Contract Theory, 99; ders. The Sisyphos Fragment, 259. Vgl. Kap. II 5.3; Momigliano weist außerdem daraufhin, daß Kritias und Hippias in unterschiedlicher Weise von dem «ous-Gedanken des Anaxagoras beeinflußt waren und liefert damit ein Argument für die Autorschaft des Kritias. Momigliano, Lebensideale in der Sophistik, 475f. Vgl. Momigliano, Lebensideale in der Sophistik, 475; Roßner, Recht und Moral, 222f. Vgl. Xen. mem. 4.4.14. Kap. Vgl. Kap. II 5.4, 188. Genau darin sah auch Piaton die Gefahr der kritischen Götterbetrachtung, die zu einer Verwerfung der nomoi führen müßten. Plat. Nom. 10.889e-890a; Vgl. Döring, Götterfurcht, 50. War Kritias tatsächlich der Autor, dann fand er die theoretische Grundlage der Lehre vom Recht des Stärkeren bei seinem Lehrer Gorgias. Vgl. Nestle, Vom Mythos zum Logos, 420. Vgl. auch die Äußerungen, die Piaton den Sophisten Hippias im Protagoras machen läßt: „Das Gesetz, das Tyrann der Menschen ist, erzwingt vieles gegen die Natur." (Plat. Prot. 337d) [DK 86 C I]; vgl. Kap. II 5.4, 186. Auch ein Kontakt zu Antiphon ist sehr wahrscheinlich.
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
7.3
255
Das Recht des Stärkeren - Theorie und Praxis
Die Frage der Autorschaft des Sisyphos läßt sich auch nach einer eingehenden Textanalyse nicht zweifelsfrei beantworten. Das gleiche gilt für das oben genannte Fragment aus der Tragödie Peirithoos, das eine deutliche Kritik am nomos enthält: Ein rechtschaffener Charakter ist standhafter als das Gesetz; denn diesen kann kaum eine Rede je vom Weg abbringen, jenes aber richtet ein Redner zugrunde, indem er das Oberste nach unten wirbelt 1 .
Handelt es sich bei dem Autor des Peirithoos um Kritias, dann greift er auf die Ideen seines Lehrers Gorgias zurück2, indem er auf die dynamis der Rede hinweist. Diese stoße nur bei einem rechtschaffenen Charakter an ihre Grenzen. Die Verwendung des Begriffes τρόπος - zum Beispiel anstelle von νους - beinhaltet die Formbarkeit der Gesinnung. Einer guten Erziehung, so kann man folgern, kommt eine höhere Wertschätzung als den Gesetzen zu, die sich durch eine geschickte Argumentation jeder Zeit außer Kraft setzen lassen. Die hier zugrunde liegende nomos-Vorstellung ist durchaus mit der Bloßstellung der nomoi im Sisyphos als rein menschliche Satzungen, ohne religiöse oder ethische Verankerung, gut zu vereinbaren3. Sisyphos und Peirithoos enthalten eine deutliche Absage an die Gültigkeit der herrschenden Satzungen und Normen, die sich auch auf den Bereich der Religion erstrecken. Es bleibt die Frage zu erörtern, ob auch die für Kritias gesicherten Textfragmente ähnliche Gedanken enthalten. Götter oder Heroen finden auch in ihrer traditionellen Funktionen keine Erwähnung, nämlich als Kultur- und Zivilisationsförderer: ... die Phoenikier erfanden die Buchstaben als Helfer der Gedanken; Theben fugte als erste den Wagenkorb zusammen, die lastentragenden Kähne aber die Karer, des Meeres Verwalter. Aber das Töpferrad und der Erde und des Ofens Sprößling, das hochberühmte Tongeschirr, nützlich im Dienste des Hauses erfand sie, die das schöne Siegeszeichen in Marathon errichtet hat 4 . 1
Eur. Fr. 597 (Stob. 3.37.15) [DK 88 Β 22] (die Übersetzung weicht etwas von der Seecks ab):
Εύριπίδου Πειρίθωι· τρόπος δέ χρηστός ασφαλέστερος νόμου· τον μέν γάρ ουδείς αν διαστρέψαι ποτέ λόγος δύναντο, τον δ' άνω τε και κάτω ρήτωρ σφαράσσων πολλάκις λυμαίνεται. 2
3
4
Gorgias hatte sich intensiv mit der psychagogischen Wirkung des logos beschäftigt, die es zu erkennen gelte, um sich vor Mißbrauch zu schützen. Vgl. oben Kap. II 2.2.1. Vgl. auch Guthrie, Greek Philosophy, Vol. III, 69. Dreher vergleicht die Aussagen des Sisyphos mit dem Peirithoos und kommt zu dem Ergebnis, daß der Autor „Recht und Gesetz zur Beendigung eines unkontrollierten Gewaltzustands begrüßt", die „Unvollkommenheit der staatlichen Zwangsmittel bedauert, die Religion jedoch für ungeeignet halte, die Lücke zu schließen". Dreher, Sophistik und Polisentwicklung, 66. Hoffmann sieht zwar in beiden Fragmenten eine Unbeständigkeit des nomos, lehnt es aber ab, einen gemeinsamen Autoren anzunehmen. In Anlehnung an Patzer stellte er fest, Sisyphos betone im Gegensatz zu dem Zitat im Peirithoos die Gültigkeit der Gesetze. Hoffmann, Recht im Denken der Sophistik, 288f. Lex. BEKK. VI Anecd. I 382, 19 [Phot. A 73, 3 Reitzenst.] [DK 88 Β 2\. ... Φ ο ί ν ι κ ε ς δ' εύρον
256
II. Sophisten als Systemkritiker
Eine inhaltliche Ergänzung der Gesellschaftstheorie des Sisyphos bieten die in Pentameter verfaßten Elegien. Kritias zählt eine Fülle technischer und kultureller Errungenschaften auf und fuhrt sie ausschließlich auf menschliche Ursprünge zurück: Nicht Palamedes oder Prometheus, sondern den Phönikern verdanken die Griechen ihr Alphabet und den Athenern die Töpferkunst. Aber nicht nur die verschiedenen Erfindungen der Poleis weckten das Interesse des Autors, sondern auch deren Verfassungen und Lebensgewohnheiten'. Kritias nennt in den erhaltenen Auszügen zur Politeia der Lakedaimonier oder zur Politela der Thessaler weder Gesetze, noch Institutionen. Seine Staatsauffassung schließt offensichtlich die korrekte Lebensweise als ein wichtiges Beurteilungskriterium mit ein. Eine herausragende Rolle innerhalb seiner vergleichenden Verfassungsstudien, ob in elegischem Versmaß oder in Prosa, nehmen die begeisterten Schilderungen der lakedaimonischen Lebensart ein. In der im Jahre 413 einsetzenden aktuellen politischen Diskussion über die geeignete Verfassung Athens beabsichtigte Kritias zugunsten des spartanischen Modells zu wirken 2 : Im Vergleich zu Athen und Thessalien herrsche in Sparta keine Dekadenz und kein Schwelgen in Luxus: Der Chier und Thasier trinkt aus großen Bechern rechts herum, der Attiker aus kleinen rechts herum, der Thessaler kommt mit großen Trinkgefäßen jedem beliebigen vor; bei den Lakedämoniern dagegen hat jeder seinen eigenen Becher zum Trinken neben sich und der Schenkknabe gießt zu, soviel man abgetrunken hat3.
Übermäßiges Trinken schwäche den Körper und ruiniere das Haus. Die Spartaner dagegen hielten in jeder Hinsicht das rechte Maß 4 . Körperliche Überlegenheit und Tüchtigkeit bildeten die Basis ihrer Herrschaft, und schon die Eltern beeinflußten die natürliche Stärke des Kindes. Von Geburt an stehe die körperliche Stärke im Vordergrund: Ich beginne natürlich mit der Entstehung der Menschen. Wie kann er körperlich am tüchtigsten werden und am stärksten? Wenn der Erzeuger Gymnastik treibt, kräftig ißt und sich körperlich abhärtet und die Mutter des künftigen Kindes körperlich stark ist und Gymnastik treibt5.
γράμματ' άλεξίλογα· Θήβη δ' άρματόεντα δίφρον συνεπήξατο πρώτη, φορτηγούς δ' ακάτους Κάρες άλός ταμίαι. τον δέ τροχόν γαίας τε καμίνου τ' έκγονον εύρεν κλεινότατον κέραμον, χρήσιμον οίκονόμον, ή τό καλόν Μαραθώνι καταστήσασα τρόπαιον. '
Die Gemeinschaft der Bürger macht die Polis aus. So ist es nicht ungewöhnlich, auch die Sitten und Gebräuche in Betracht zu ziehen. Zum Politeia-Begriff vgl.: Treu, 1937-1943; Raaflaub, Politisches Denken, 15, Anm. 39; Demandt, Der Idealstaat, 10.
2
Er stellte sich gegen die von Theramenes vertretene Auffassung eines boiotischen Hoplitenstaates. Vgl. auch Engels, Der Michigan-Papyrus über Theramenes, 149.
3
Ath. 11.463e [DK 88 Β 33]: ,ö μέν Χίος καί Θάσιος έκ μεγάλων κυλίκων έπί δεξιά, ό δ' Αττικός έκ μικρών έπί δεξιά, ó δέ Θετταλικός έκπώματα προπίνει ότωι αν βοΰλωνται μεγάλα. Λακεδαιμόνιοι δέ την παρ' αύτώι έκαστος πίνει, ò δέ παις ό οινοχόος όσον άν άποπίηι.'
4
Ath. 10.432d [DK 88 Β 6.10-22],
5
Clem. Alex, ström. 6.9 (2.428, 12) [DK 88 Β 32] ΠΟΛΙΤΕΙΑ ΛΑΚΕΔΑΙΜΟΝΙΩΝ...: Κ. γρήφει· άρχομαι δέ τοι άπό γενετής άνθρωπου· πώς άν βέλτιστος τό σώμα γένοιτο καί ισχυρότατος; ει ό φυτεύων γυμνάζοιτο και έσθίοι έρρωμένως καί ταλαιπωροίη τό σώμα καί ή μήτηρ του παιδίου του μέλλοντος έσεσθαι ίσχύοι τό
7. Kritias und das Recht des Stärkeren
257
Die Wahl des richtigen Lebensweges erfordert „Übung", und so stellt er abweichend von der alten Adelsethik fest: Durch Übung sind mehr Leute tüchtig als von Natur 1 . Dem Aspekt der körperlichen Stärke kommt in den politischen Schriften des Kritias, sowie in den nicht sicher zuzuordnenden Tragödienfragmenten eine wichtige Rolle zu. Die körperlichen und auch geistigen Anlagen des Menschen sind ihm zufolge von Grund auf und von Anfang an zu trainieren. Keinen Platz finden darin Mythen, Götter und auf dem Boden des Irrationalen begründete nomoi. Die Sozialtheorie des Sisyphos-Autors läßt sich gut mit den Maßnahmen des Tyrannen' Kritias vereinbaren. Ihm galt das „lakedaimonische Modell" als eine ideale Lebensform. Die Verwirklichung seiner sophistisch geprägten Theorien hoffte er in einer Umwandlung der attischen Demokratie in einen aristokratischen Staat spartanischen Musters zu verwirklichen 2 . Die literarische Überlieferung des Tyrannen dokumentiert somit die theoretische Grundlegung des Staatssturzes von 404. Trotz aller Schwierigkeiten der Textzuweisungen bieten auch die wenigen Informationen der „gesicherten" Fragmente die seltene Gelegenheit, sophistisch geprägte Gedanken eines aktiven Politikers in ihrer politischen Wirkung zu beobachten.
1
σώμα καί γυμνάζοιτο. Stob. 3.29.11 [DK 88 Β
9]:
Κριτίου· έκ μελέτης πλείους ή φύσεως αγαθοί.
Auch
Protagoras ermahnte zur „Übung", meinte jedoch nicht die körperliche Stärke, sondern die „Tech2
niken" seines Unterrichtsangebotes. Vgl. Stob. Anth. 3.29.80.1 [DK 80 Β 10]; vgl. Kap. II 1.1, 46. Smarczyk weist außerdem darauf hin, daß die Athener auch im Bereich der Außen- und Bündnerpolitik durch „sophistisches Gedankengut" beeinflußt die „Idee" der Herrschaft zu stark betonten. Smarczyk, Religionspolitik und politische Propaganda Athens, 632, 634, Anm. 38.
8. Zusammenfassung Athen bildete zur Zeit des Peloponnesischen Krieges den Hauptschauplatz der „sophistischen Bewegung". Die Demokratisierung, die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung und der Ausbau der hegemonialen Machtstellung in Griechenland ließen die Polis eine Dynamik auf dem künstlerischen und technischen Gebiet entwickeln. Es herrschte nicht nur ein florierender Handel mit materiellen Gütern, sondern auch ein reger Austausch von Ideen, womit ein ausgesprochen günstiger Nährboden für unkonventionelle und kreative Denker gegeben war. Die Sophisten trugen entscheidend zu der Entwicklung bei, die in ganz Griechenland einsetzte, sich in Athen konzentrierte und von Meier als das „Könnens-Bewußtsein" bezeichnet wird'. Das Vertrauen auf individuelle Fähigkeiten, die vom Verstand bestimmte Erklärung der Welt und der Rolle des Menschen darin, führten zu neuen von den Sophisten dargelegten Erkenntnissen. Die Spanne zwischen den Intellektuellen Athens und dem Demos insgesamt wurde dabei zusehends größer 2 . Alte und neue Wertvorstellungen überschnitten sich, wobei religiöse und ethische Normen Wandlungsprozessen gegenüber recht widerstandsfähig waren 3 . Es stellte sich die Frage, ob die traditionell von Mythos und Götterglauben gelenkte Moral und die aristokratischen Werte angesichts der Geschwindigkeit des Wandels in Politik, Wirtschaft und Kultur noch ihre Gültigkeit besaßen. Schon für den Sommer 430 berichtet Thukydides über den Sittenverfall anläßlich einer Epidemie in der Stadt: Da war keine Schranke mehr, nicht Götterfurcht, nicht Menschengesetz ... 4 .
Doch das Volk kehrte bald wieder zu Götterglaube, Tradition und Aberglaube zurück 5 . In den zwanziger Jahren des 5. Jahrhunderts lassen sich unterschiedliche parallele Entwicklungen in Athen beobachten, die zum Teil lange bestehende Konfliktpotentiale offenlegen. Im Zuge der Kleisthenischen Reformen und der weiteren Entwicklungen unter Perikles und Ephialtes hatte sich keine neue Ethik geformt 6 . Ein Spannungsverhältnis bestand ferner zwischen dem institutionellen Ausbau der Demokratie und der Stärkung einer individuellen Machtbildung. Raaflaub weist zu Recht darauf hin, daß der Konkurrenzkampf zwischen „kraftvollen Individuen" nach einer Phase relativer Stabilität unter Perikles offen aufbrach und an Radikalität noch zunahm 7 . Das demokratische Athen bot seinen Adligen genügend politischen Entfaltungs1
Meier, Die Entstehung des Politischen, u.a. 478, 491; ders. Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 39.
2
Vgl. auch Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 40f.
3
Das politische Handeln orientierte sich an den in der Gegenwart wahrgenommenen Ereignissen und wurde als zentraler Faktor der historischen Veränderungen wahrgenommen. Das Denken war an gegenwärtigen Erfahrungen und weniger an die Zukunft gebunden, weshalb gesellschaftlicher Wandel kaum wahrgenommen wurde. Vgl. Meier, Die Entstehung des Politischen, 497f.; Neumann, Gegenwart und mythische Vergangenheit, 20.
4
Thuk.
5
Vgl. Thuk. 2.54.4, 5; Welwei, Athen, 160. Vgl. Kap. 1 1 , 1 ; Ehrenberg, Staat der Griechen, 107f.; Meier, Die Entstehung des Politischen, 256. Vgl. Raaflaub, Politisches Denken, 49.
6 7
2.53.4:... θεών δέ φόβος ή ανθρώπων νόμος ούδεις άπείργε.
8. Zusammenfassung
259
Spielraum, ebenso ergaben sich für die „neureichen" Aufsteiger Chancen, in die politische Führung einzugreifen. Im Kriegsgeschehen zeichnete sich unter dem zunehmenden Einfluß des Gerbereibesitzers Kleon eine Eskalation der Gewalt auch auf attischer Seite ab1. Der Zugriff auf die individuelle Macht entsprach offenbar dem allgemeinen Empfinden, denn nicht der Demos, sondern einzelne wurde für Erfolg belohnt oder für Mißerfolg zur Verantwortung gezogen2. Gleichzeitig geriet der Gemeinsinn - die homonoia - immer mehr ins Hintertreffen. In seiner „Pathologie des Krieges" beklagt Thukydides bei den Athenern und den Spartanern die fehlende eusebeia. Das pietätvolle, von Respekt voreinander gelenkte Handeln, werde durch Haß ersetzt3. Der Begriff εύσέβεια schließt ebenso die von der Tradition vorgegebene Verehrung der Götter ein4. Thukydides weist somit auf einen weiteren Mißstand seiner Zeit hin, denn die Pflege des Götterkultes und die Achtung des Mythos als Vermittler traditionell aristokratischer Werte wirkten identitätsstiftend und bildeten zusammen einen wichtigen Pfeiler für das Gleichgewicht des gesamten Systems5. So wußte die demokratische Polis Kult und Mythos gezielt und mit zunehmender Kritik an der Seebundpolitik verstärkt zur sakralen Fundierung sowohl der Innen- wie der Außenpolitik einzusetzen. Beispielsweise wurden 426/25 die Großen Panathenäen durch die Teilnahmeverpflichtung aller Bündner zu einem zentralen Fest für den gesamten attischen Herrschaftsbereich . Dem gleichen Zweck diente offensichtlich das Bestreben Athens, das Heiligtum von Eleusis und die dort stattfindenden Mysterienfeiern zu einer^panhellenischen Institution aufzuwerten und der attischen Hegemonie unterzuordnen . Auch in der Baupolitik kommt diese Form der Religionspolitik zum Ausdruck - zum Beispiel in der Errichtung des um 448 geplanten und ca. zwischen 421 und 415 fertiggestellten Niketempels auf
1
2
3 4 5
6
7
Vgl. u.a. Thuk. 3.37-40. Thuk 3.82.3, 4: „Und den bislang gültigen Gebrauch der Namen fur die Dinge vertauschten sie nach ihrer Willkür: unbedachtes Losstürmen galt als Tapferkeit...." Vgl. Raaflaub, Politisches Denken, 55. Dabei ist vor allem an die Strategenprozesse zu denken, unter denen der Arginusenprozeß ein besonders unrühmliches Beispiel darstellt. Vgl. dazu Mossé, Die politischen Prozesse, 168f.; A. Mehl, Für eine neue Bewertung eines Justizskandals. Der Arginusenprozeß und seine Überlieferung vor dem Hintergrund von Recht und Weltanschauung im Athen des 5. Jh. v.Chr., ZRG 99, 1982, 38-80; Kulesza, Die Bestechung, u.a. 23f.; Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 572-604. Thuk. 3.82.8. Vgl. Burkert, Griechische Religion, 408-412. Das natürlich nur theoretische Gleichgewicht besteht in einer Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Teilbereichen, dem ökonomischen, politischen, kulturellen und dem Wertesystem. In der Realität ist stets Bewegung und damit ein Reagieren auf Wandlungsprozesse vorauszusetzen. Vgl. zu dem für die heutige Zeit formulierten theoretischen Ansatz beispielsweise die Zusammenstellung älterer Forschungen bei Zapf. W. Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Hanstein 1979. Vgl. auch V. Bornschier u.a. (Hrsgg.), Diskontinuität des sozialen Wandels. Entwicklung und Abfolge von Gesellschaftsmodellen und kulturellen Deutungsmustern, Frankfurt/New York 1990. IG I3 71, Z. 55f.; vgl. Smarczyk, Religionspolitik und politische Propaganda Athens, 549, 562; Welwei, Athen, 181. Vgl. IG I3 78; Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg, 57; Smarczyk, Religionspolitik und politische Propaganda Athens, 167-298; Parker, Athenian Religion, 143f.
260
II. Sophisten als Systemkritiker
der Akropolis'. Beides demonstriert ein bewußtes Festhalten an Tradition und Religion zur sakralen Legitimation und Repräsentation des attischen Herrschaftsanspruchs. Eine der attischen Religionspolitik zuwiderlaufende Entwicklung zeichnete sich ab, wenn dem Volk laut Thukydides die notwendige „eusebeia " fehlte. Diesem Wandlungsprozeß unterlagen auch die Sophisten, und sie leisteten gleichzeitig ihren Beitrag dazu. Protagoras und wohl auch Gorgias erhoben Zweifel an der möglichen Verbindung zwischen Göttern und Menschen, während Prodikos sogar die Existenz der Götter gänzlich bestritt. Götter und Mythen, aber auch die bestehenden Verfassungen und Rechtsvorstellungen Griechenlands standen in den letzten beiden Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts auf dem Prüfstand und schließlich das Polisdenken überhaupt. Die Polisgemeinschaft war zugleich eine Kultgemeinschaft, so stand die Achtung vor den Göttern auch für das Bekenntnis zur Polis. Die Aussagen der Sophisten stellten nachweislich eine Bedrohung für die Religion und Politik der Polis dar. Hier stellt sich die Frage, wen die Sophisten mit ihren neuen, gefährdenden Auffassungen erreichten. Die Tatsache, daß sie ihren Unterricht gegen Bezahlung anboten, zeigt, daß sie lediglich den begrenzten Kreis der Polisbürger ansprachen, der über ausreichend Geld und Zeit verfügte, um ihren Unterricht wahrnehmen zu können 2 . Bei den Honorarforderungen handelt es sich um einen grundsätzlich antidemokratischen Aspekt, weil nur die Vermögenden so in den Genuß einer zusätzlichen Ausbildung kamen. Daß beispielsweise die jetzt angebotene Kunst der Rhetorik ihre Wirkung nicht verfehlte, dokumentieren zahlreiche Bemerkungen und Anspielungen in den Quellen 3 . Die Einführung der Diätenzahlungen durch Perikles erlaubte prinzipiell jedem Bürger, ob arm oder reich, politisch aktiv zu werden; Tausende betätigten sich in der Politik, sei es in den großen Geschworenengerichten oder in der Volksversammlung. Mit Ausnahme der Strategen handelte es sich dabei um politisch aktive Laien, aber nur eine kleine vermögende Schicht der alten Aristokratie oder der homines novi erlangte das Ansehen und Vertrauen der Masse. Die sozial- und ökonomisch Bessergestellten behielten, wie oben dargelegt, ihren politischen Einfluß und konkurrierten um die Entfaltung ihrer eigenen Macht 4 . Demokratie bedeutete für jene, die Massen zu mobilisieren, daher setzte hier die Rhetorikausbildung an. Die rhetorische Schulung bot den politisch Aktiven ein effektives Instrument, die Wortgewalt gezielt auszuspielen. Die ausgefeilte Rede eines einzelnen allein reichte jedoch nicht aus, Interessen und Ziele erfolgreich in den politischen Gremien durchzusetzen. So trafen sich politisch führende Persönlichkeiten in den Hetairien nicht nur zum geselligen Beisammensein, sondern auch zur Absprache des politischen Kurses. Daß die Hetairien effizient hinter den Kulissen wirkten, trat beispielsweise im Jahre 417 beim Ostrakismos des Hyperbolos zutage 5 . Aber auch die zwei Jahre später Athen in Aufruhr versetzende Zerstö1
Vgl. IG I2 24; weiteres bei V.M. Strocka, Athens Kunst im Peloponnesischen Krieg, in: G. Alföldy (Hrsg.), Krisen der Antike, Düsseldorf 1977, 48.
2
Vgl. Kap. I 3.2; II 1.1, II 2.1; Welskopf, Sophisten, 1930f. Vgl. Thuk. 3.82.3, 8; und Aristophanes' Wolken-, Kap. III 2.
3 4 5
Vgl. Raaflaub, Politisches Denken, 48f. Zu den Hintergründen ausführlich: Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg.
8. Zusammenfassung
261
rung der Hermen ging auf das Konto der Hetairien, die in dieser gemeinsamen Aktion ihren Zusammenhalt festigten und ihren Unmut gegenüber der Polis zum Ausdruck brachten1. Diese traditionellen Zirkel gehörten ebenso zu den Wirkungskreisen der Sophisten wie private Symposien. Das im Hause des Kallias stattfindende Symposion Xenophons vermittelt einen Eindruck von der Atmosphäre eines geselligen Unterhaltungsprogramms und intellektueller Gespräche. Ein weiteres Mal bot dieses Haus des reichen attischen Bürgers den Rahmen für die Darstellung des Protagoras-Dialoges durch Piaton. In diesem Kreis trugen die Sophisten Protagoras, Prodikos und Hippias ihre Thesen vor2, und die Anwesenheit des Alkibiades und Kritias zeigt, daß fuhrende Politker den Sophisten zuhörten. Aber auch in öffentlichen Gebäuden wie beispielsweise in den Gymnasien boten die professionellen Lehrer Kostproben ihres Könnens3 und nahmen Stellung zu den aktuellen Fragen der Zeit sowie zu den bereits umrissenen Spannungsverhältnissen. Kritische Äußerungen über die Frage der Kriegsschuld, über die Unzulänglichkeit des politischen Systems und über die traditionellen Vorstellungen, bewegten die Bürger der Polis. Das Lehrangebot der Sophisten enthielt viele Ansätze zur Lösung der drängenden Probleme der Zeit und bemühte sich auch um Orientierungshilfen für die eigenverantwortlichen Menschen4. Die Sophisten boten kritische Analysen und neue ethische Maßstäbe für die sozio-politische Gemeinschaft allgemein und speziell für die attische Polis. Ein professioneller Unterricht, die Höhe der Honorare und insbesondere das Lehrangebot waren aus Sicht der Mehrheit der Bevölkerung anrüchig5. Die Analyse der vorliegenden Textfragmente zeigt die unterschiedlich stark ausgeprägte Ablehnung der Sophisten gegenüber dem Götterglauben, den Mythen und dem Polissystem. Im folgenden werden noch einmal die wichtigsten Ergebnisse der Einzelinterpretationen in Verbindung mit ihrem historischen Kontext vorgestellt. Dabei soll nicht der Eindruck erweckt werden, die Sophisten seien in ihrem Wirken nur für Athen relevant. Insgesamt betrachtet gehen ihre Überlegungen weit über Attika und sogar über das Polissystem hinaus. Die Sophisten bereisten weite Regionen Griechenlands. So konnte Hippias von Elis während des Peloponnesischen Krieges aufgrund der wechselhaften Bündniskonstellationen seiner Heimatstadt Vorträge in Athen und in Sparta halten. Sizilien, aber auch das neutrale Thessalien gehörten zu den bevorzugten Aufenthaltsorten der Sophisten. Neben dem angenehmen Lebensstandard dürften der intellektuelle Austausch und geistige Anregungen eine hohe Anziehungskraft ausgeübt haben6. Gorgias und Thrasyma1 2 3 4 5 6
Vgl. Kap. II 1.2,51. Plat. Prot. 314e-316d. Vgl. Kap. II 3.1. Vgl. Kap. II 2.2.2 b. Vgl. dazu ausführlich Kap. III 2. Zum Reichtum Siziliens: Thukydides nennt als ein ausschlaggebendes Motiv des Alkibiades, sich für die Sizilische Expedition einzusetzen, nach der Eroberung des Landes seinen hohen Lebensstil weiter finanzieren zu können. Thuk. 5.15.2, 3. Die Eroberung Siziliens ermögliche die Macht über ganz Hellas, so läßt der Autor den ehrgeizigen Politiker argumentieren. Thuk. 5.18.4. Vgl. auch M. Finley, Das antike Sizilien. Von der Vorgeschichte bis zur arabischen Eroberung, München 19792,
262
II. Sophisten als Systemkritiker
chos fanden durch ihre rhetorischen Studien die Anerkennung der Thessaler. Thrasymachos nahm in seiner Rede an die Larisäer direkt zur politischen Situation des Landes Stellung 1 . Auch Kritias hielt sich in Thessalien auf, wo er Anstoß an den dekadenten Lebensgewohnheiten der Aristokraten nahm. Er scheute sich ferner nicht, direkt in den innenpolitischen Machtkampf zugunsten einer radikaleren Oligarchie einzugreifen. Möglicherweise hegte seine Familie gastfreundschaftliche Kontakte zu thessalischen Aristokraten, weshalb er das Land zum Aufenthaltsort während seines Exils wählte 2 . Auf Gorgias oder Thrasymachos dürfte eher der große Reichtum des Landes verlockend gewirkt haben. Athen blieb aber das Zentrum der sophistischen Bewegung. Bereits vor 443 traf Protagoras in der Polis ein. Vermutlich entwickelte Protagoras im Auftrag des Perikles die Gesetze der panhellenischen Gründung von Thurioi im Jahre 443. Trifft die Datierung der Handlung des Protagoras-Dialoges zu 3 , befand sich Protagoras auch im Jahre 432 in Athen. Anspielungen in den Komödien belegen weitere Aufenthalte des Sophisten zwischen 423 und 421 in der Stadt 4 . Ist die Rahmenhandlung des platonischen Dialoges weitgehend authentisch, bestanden enge Kontakte der Sophisten Protagoras, Prodikos und Hippias zu den Politikern Athens 5 . Nach dem Hermenfrevel und dem Bekanntwerden der Mysterienparodie im Jahre 415 herrschte in Athen eine äußerst angespannte Atmosphäre. Der Vorfall verletzte das religiöse Empfinden der Bevölkerung. Die sich seit den zwanziger Jahren abzeichnende Abneigung gegen Naturphilosophen und Sophisten fand jetzt einen Höhepunkt 6 . Anzeigen und Verdächtigungen gehörten zur Tagesordnung, ganze Hetairien, wie die Gruppierung um Alkibiades, sahen sich Mißtrauen oder gar Klagen ausgesetzt. Gerade jetzt mußten die Vorstellungen des Protagoras über die Götter als gefährlich angesehen werden. Seine agnostische Sichtweise allein reichte nicht aus, ihn als für die Polis Athen untragbar und gefährlich einzustufen; zu lange trug er ungehindert seine Lehren vor. Möglicherweise wurde Protagoras der Kontakt zu Alkibiades und seinem Freundeskreis zum Verhängnis 7 . Im
u.a. 89. Z u m Reichtum Thessaliens vgl. Kap. II 2.1, 68, Anm. 6; II 4.1, 156-158; II 7.1, 23 lf. Die Herrscherfamilien in Larisa und Krannon, später auch die Tyrannen von Pherai und Syrakus umgaben sich gern mit den Gelehrten ihrer Zeit. Larisa nahm im 5. Jahrhundert in Thessalien eine f ü h r e n d e Stellung ein, bis das dort ansässige Herrschergeschlecht der Aeuaden von Lykophron von Pherai besiegt wurde. Xen. Hei. 2.3.4. Vgl. Kap. II 2.1, 69. Vgl. Diog. Laert. 2.25. Sokrates konnten die Angebote des Königs von Makedonien oder der Familien Thessaliens nicht dazu bewegen, seine Heimatstadt zu verlassen. Vgl. auch Sprawski, Jason of Pherae, 55. 1 2
Clem. Alex. Strom. 6.16 [DK 85 Β 2], Kap. II 4.1. Xen. Hell. 2.3.15, 36; Xen. mem. 1.2.24; Philost. V. Soph. 1.16 [DK 88 A 1]; Ath. 14.662f. [DK 88 Β 31], Vgl. Kap. II 7.1.
3
Kap. II 1 . 1 , 3 9 .
4
Ath. 5.218b; Eustath. Od. 1447, 53 (Eup. P C G 157) [DK 80 A 11]; Kap. II 1 . 1 , 4 4 .
5
Neben Protagoras finden sich auch die Sophisten Prodikos und Hippias als j ü n g e r e Vertreter ein. Auch der noch jugendliche Alkibiades und Kritias gehören zu den interessierten Zuhörern. Plat. Prot. 315c, d; 316a.
6
Vgl. Kap. II 1.2, 50. Die Möglichkeit besteht aufgrund seiner durch den Protagoras-Dialog zu erschließenden Kontakte zu Kallias, der wiederum mit Alkibiades verwandt war und ihn zu sich einlud. Vgl. Kap. II 1.1.
7
8. Zusammenfassung
263
Alter von siebzig Jahren starb Protagoras auf der Flucht aus Athen. Vieles spricht dafür, seinen Tod in das Jahr 415 zu datieren und damit in eine Zeit der offen zutage tretenden Krise der attischen Demokratie'. Der aufflackernde religiöse Fanatismus richtete sich gegen die rationalen Ansätze der Sophisten und gegen Protagoras als ihren Vorreiter. Der von Protagoras formulierte Gedanke des Homo-Mensura-Satzes, den Menschen in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken und nur noch von seiner Warte aus die Welt zu betrachten und zu erklären, bedeutet zunächst eine erhebliche Einschränkung der Erkenntnismöglichkeiten: Die objektive Wahrheit bleibt dem Individuum wie der Gesellschaft unzugänglich. Alles Irrationale, so zum Beispiel die Götter selbst und auch die Mythen, entziehen sich der Wahrnehmung und somit der Erkenntnis. Wertvorstellungen, Normen können sich niemals auf die absolute Wahrheit stützen, womit den für alle verbindlich definierten nomoi die Basis fehlt. Aufgrund stetiger Wandlungsprozesse kann der Mensch nur aus der Situation heraus eine Entscheidung fällen. Ein Festhalten an bestehenden traditionellen Vorstellungen entbehrt jeglicher Legitimation 2 . Eine notwendige Konsequenz dieses rational bestimmten Denkens ist die Eigenverantwortung der Menschen. Daher entwickelte sich jetzt ein neues, von Mythen und Göttern befreites, politisches Bewußtsein und die Identität des Bürgers mußte neu definiert werden. Die Tatsache, daß Sophisten insbesondere junge Aristokraten unterrichteten, trug in besonderem Maße zu ihrer Ablehnung bei. Wie der Unterricht in den privaten Zirkeln aussah, darüber konnte die große Masse nur spekulieren. Sicher ging man aber davon aus, daß dort die Mysterien veralbert wurden und die „Initiation" junger Leute in eine Gruppe von „Atheisten" und Skeptikern an allem, was bislang galt, erfolgte. Und tatsächlich wandte sich eine Reihe junger Männer von den herkömmlichen Auffassungen und Traditionen ab, wenn sie im Jahre 415 die alten Götter, nicht nur bildlich gesprochen, respektlos mit Füßen traten 3 . Protagoras fiel dem Willen der breiten Masse, die traditionellen Glaubensvorstellungen zu wahren, zum Opfer 4 . Gorgias vertrat ähnliche Vorstellungen wie Protagoras. Im Jahre 427 traf er als Gesandter seiner Heimatstadt Leontinoi in Athen ein. Vermutlich nahm er auch an den Verhandlungen des folgenden Jahres teil, ohne daß Thukydides ihn namentlich erwähnte. Thukydides gehörte wie Isokrates, aber auch Alkibiades und Kritias zu seinen Schülern. Während der mehrfachen Aufenthalte des Leontiners in der Stadt sorgte der neuartige Redestil des Rhetoriklehrers für Aufsehen 5 . Das Enkomion auf Helena (fr. 11), die Apologie des Palamedes (fr. I I a ) und der Epitaphios (fr. 6) dienten Gorgias dabei nicht als einfache rhetorische Schulbeispiele. Gorgias nutzte den Bekanntheitsgrad der Mythen, um seine wesentlichen Aussagen zu vermitteln. Angesichts des Schicksals des Protagoras und der Stimmung um 415 versteckte er seine Kritik möglicherweise aus taktischen Überlegungen in einer mythischen Erzählung. Dabei griff er Vgl. oben Kap. II 1.2, bes. 53. Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg. 2
Vgl. Kap. II 1.2 b.
3
Vgl. Kap. II 1.2, 53. Vgl. Kap. II 1.2. Vgl. Kap. II 2.1.
4 5
264
II. Sophisten als Systemkritiker
gleichzeitig auf die traditionelle Vermittlung von Bildung und Verhaltensnormen zurück. Indem er die mythische Überlieferung als bekannt voraussetzte, lenkte er die Aufmerksamkeit des Publikums unmittelbar auf den Inhalt und die Argumentationsstrategie: Nach logischem Abwägen des Wahrscheinlichen zeigt sich die Unverbindlichkeit des Mythos, die er am Beispiel der bislang vorwiegend negativ beurteilten Helena widerlegt. Mit der Helena-Thematik als einem Aition für den Krieg verbanden die Zeitgenossen sicher die seit 431 geführte Debatte über die Kriegsschuld 1 . Gorgias nimmt dazu indirekt Stellung, indem er bis in die letzte Konsequenz nachweist, daß niemals eine Person allein für eine politische Misere zur Verantwortung zu ziehen ist. Damit ist der Widerspruch in der Politik aufgegriffen, daß der gesamte Demos eine Entscheidung trifft, Fehler dagegen nur einzelnen angelastet werden. Außerdem hält es Gorgias in jedem Fall für absurd, Götter zu nennen und den Menschen die Schuld zuzuschreiben. Hinzu kommt, daß die Sprache nicht als Medium fungieren kann, etwas über die Götter zu vermitteln. Gorgias steht somit dem Agnostizismus des Protagoras nahe, denn die Götter gehören der Welt des Scheins an, weshalb kein Kontakt zu ihnen hergestellt werden kann. Damit verloren die mythische Überlieferung, ebenso die Orakel und Vorzeichen jegliche Relevanz 2 . Die Götter zu Rate zu ziehen, sie durch Weihegaben gnädig zu stimmen oder aber den göttlichen Willen als Legitimation der Macht zu beanspruchen, galten nach den Auffassungen des Gorgias als abwegig. Für Athen bedeuteten diese Vorstellungen, daß einer Religionspolitik zur Propagierung der hegemonialen Stellung innerhalb des Seebundes, welche sich auf Mythen oder Orakelsprüche stützte, jede Basis fehlte 3 . Lediglich eine unterhaltende Wirkung auf der Bühne gestand Gorgias dem Mythos zu. Die Handlung sollte den Zuschauer in ihren Bann ziehen und ihn in eine Welt der Fiktion und Illusion entführen. Für Gorgias sind hier nur die Vermittlungstechniken interessant 4 . Die psychagogische Wirkung von Worten und Reden lenkte sein Interesse sicherlich auf die unterschiedlichen Literaturgattungen. Ist die emotionale Wirkung von Worten erkannt, ist als ein weiterer Schritt die Psychotherapie denkbar. Auf diesem Gebiet betätigte sich Antiphon, den die Lehren des Gorgias nachhaltig beeinflußten 5 . Ferner weihte Gorgias seine Schüler in die Sprachtheorie und -psychologie ein und lehrte sie damit die zum Guten wie zum Schlechten einzusetzenden Techniken. Gorgias lehnte dabei eine inhaltslose Rhetorik und vor allem ihren Mißbrauch ab, denn er propagierte ein an der Wahrheit orientiertes Reden 6 . Im Weltmodell des Sophisten bilden nicht die guten Gesetze (εύνομία), sondern die guten Männer ( ε ΰ α ν δ ρ ί α ) die Grundlage. Neben den aristokratischen Werten und Tugenden der guten Herkunft, des Reichtums und der kriegerischen Fertigkeiten ergänzte der Sophist als ein weiteres Kriterium die neu erworbene Weisheit. 1
Vgl. Kap. II 2.2.2 a.
2
Vgl. Kap. II 2.2.2 b.
3
Vgl. 264, Anm. 2.
4
Vgl. das .Tragödienfragment': Plut. De gloria Atheniensum 5, mor. 348c [fr. 23]; Kap. II 2.2.2 c, 79. Vgl. Kap. II 6.1.
5 6
Vgl. Kap. II 2.2.2 d.
8. Zusammenfassung
265
Ob bereits die Mytilene-Debatte im Sommer 427 oder die Ereignisse des Jahres 415 ihn veranlaßten, in versteckter Form die Rechtspraxis Attikas zu kritisieren, ist ungewiß. Kleon propagierte in der Darstellung des Thukydides unter Berufung auf das Recht des Stärkeren die Aburteilung einer ganzen Polis, um für weitere Seebundstaaten, die sich von der Hegemonialmacht lossagen wollten, ein Exempel zu statuieren 1 . Er stützte sich auf die Gültigkeit der Gesetze und kritisierte die Intellektuellen, die glaubten, den Gesetzen durch ihre Klugheit überlegen zu sein 2 . Das Widersprüchliche in der Persönlichkeit des Kleon besteht darin, daß er als „Neureicher" die neue soziale Entwicklung demonstriert und selbst in „sophistischer" Manier „konservativ" argumentiert. Thukydides gelang es auf diese Weise, in der Figur des Kleon die Negativwirkung der sophistischen Lehren in ihrer politischen Umsetzung zu demonstrieren. Gorgias vertrat jedoch nicht das „Recht des Stärkeren", wenn er im Palamedes die Unzulänglichkeit der nomoi aufzeigte. Die Argumente der Anklage erwiesen sich als haltlose Meinung (δόξα), denn nur dem Individuum sei die Wahrheit zugänglich. Die Privatisierung der Wahrheit ( ά λ ή θ ε ι α / δ ί κ η ) entzog dem Richtergremium die Legitimationsgrundlage. Für Gorgias bestand die Konsequenz der Relativierung der Erkenntnis, der Wahrheit, der herrschenden Werte in der Formulierung einer neuen Orientierungshilfe. Die Kriterien, welche jetzt für das Handeln des einzelnen ausschlaggebend sein sollten, definierte Gorgias im Epitaphios. Die wenigen Zeilen unterscheiden sich in einigen Punkten von den bei offiziellen Staatsbegräbnissen gehaltenen Reden. Als wesentlichste Abweichung ist hier vor allem der fehlende Polisbezug zu nennen. Üblicherweise sollte das Lob der Verdienste der Gefallenen für die Polisgemeinschaft den Hinterbliebenen den größten Trost spenden 3 . Für Gorgias erzielen dagegen diejenigen Unsterblichkeit in der Erinnerung, die dem allgemeinsten und göttlichsten Gesetz gerecht werden. Es handelt sich dabei um ein Gesetz der Entsprechung, was bedeutet, daß jeder einzelne seine Reaktion stets auf die konkrete Situation abstimmt 4 . Auf die Krise eines Staates angewandt - und nicht nur auf Athen begrenzt - sieht Gorgias ihre tiefere Ursache auf der moralischen und individuellen Ebene. War bislang die Erziehung der Jugend zu Tugend und Moral dem Erhalt der Polis gewidmet 5 , sollte in der idealen Gemeinschaft des Gorgias das Gesetz der Entsprechung vermittelt werden. Das der jeweiligen Situation Angemessene - und nicht etwa unflexible, streng formulierte Gesetze - sollte in seinem Modell Geltung finden. In Gorgias' Augen war somit das Polisdenken und das System der Polis überholt, denn es konnte seinen hohen Anforderungen nicht genügen. Erst eine Überwindung des allzu begrenzten Denkens führte somit zu einer idealen Gemeinschaft und
' 2 3
Vgl. Thuk. 3.37-40; Kap. II 2.3, bes. 102. Thuk. 3.37.3, 4. Vgl. Thuk. 2.42.3; Kap. II 2.4, 119, Anm. 5.
4
Vgl. Plan. Komm, zu Hermog. id. (Bd. V, 548, 8-551, 1, ed. Walz) = Gorg. Epit. [fr. 6]; Kap. II 2.4.
5
Vgl. u.a. Eur. Hik. 911-917. Euripides sah die Lösung der Misere des Volkes, von eigensinnigen Politikern ins Unglück gestürzt zu werden, in der Bildung der Jugend, in ihrer Erziehung zu Moral und Tugend. Raaflaub stellt von Euripides ausgehend fest, daß im 5. Jahrhundert das politische Denken immer auch ein moralisches Denken implizierte. Vgl. Raaflaub, Politisches Denken, u.a. 8f.,12f.
266
II. Sophisten als Systemkritiker
zur Verwirklichung der ersehnten homonoia. Die Eintracht sollte nicht nur innerhalb der Gemeinschaft erzielt werden, sondern auch zwischen den Staaten 1 . Das Ideal des eigenverantwortlich denkenden Menschen, die Überwindung des Polisdenkens hin zu einer idealen Gemeinschaft und die Propagierung des Panhellenentums bestimmten das kritische Konzept des Gorgias. Seine Lehren und Thesen prägten und beeinflußten das Denken des ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jahrhunderts v.Chr. Vor dem Hintergrund der politischen Wandlungsprozesse in Athen kann er den theoretischen Wegbereitern der politischen Umwälzungen im Jahre 411/10 und 404/03 zugerechnet werden, auch wenn er selbst die Polis als Maßstab in seinem Denken längst überwunden hatte. Wie bei Gorgias gehen die Vorstellungen des Universalgelehrten Hippias von Elis weit über das Polisdenken hinaus. Sein umfassendes Bildungskonzept forderte die Kenntnis des bekannten und das Ermitteln neuen Wissens. Neben der Zeitordnung nach Olympioniken schuf er eine Philosophiegeschichte, in deren Interesse er die bei den Naturphilosophen begonnene allegorische Mythendeutung fortsetzte 2 . In Götter- und Heroenmythen sah er die frühen Kenntnisse der Menschheit verschlüsselt. So behandelten die „Troischen Dialoge" die charakteristischen Eigenschaften bekannter Persönlichkeiten des Mythos und Epos 3 . Als Ziel seines Strebens kann die absolute Autarkie des Menschen in intellektueller wie in praktischer Hinsicht genannt werden. Hippias scheint auch unter den Sophisten ein Sonderling gewesen zu sein. Gesellschaftliche Konventionen standen seiner Autarkie-Vorstellung im Wege. Er rühmte sich, sogar seine Kleidung selbst herzustellen, einer Aufgabe, die in der Regel Sklaven übernahmen. Die nomoi faßte er als für die Entfaltung der Persönlichkeit hinderliche Schranken auf. Nicht traditionelle soziale und moralische Konventionen spielten in seiner Vorstellung eines zumindest panhellenischen Zusammenlebens eine Rolle, sondern Verstand, Vernunft und größtmögliches Wissen sollten das Individuum lenken und damit zu einer neuen Gemeinschaft fuhren 4 . Als Bürger von Elis hielt Hippias sich sicher erst nach 420 in Athen auf 5 . Er bereiste weite Regionen Griechenlands und erzielte besondere Anerkennung in Sparta 6 . Häufig vertrat er als Gesandter die Interessen seiner demokratisch gesinnten Heimatstadt und auch in seinen Lehrmeinungen stand er der Demokratie näher als der Oligarchie. In ihrer Funktion als Gesandte ihrer Heimatstädte mußten Gorgias, Hippias und auch Prodikos von Keos den Anforderungen der aktuellen Politik entsprechen und zwischen ihren theoretischen Konzepten und der Realpolitik differenzieren. Das gleiche galt auch für die Teilnahme an Kulthandlungen, die sie kaum verweigern konnten, ohne sich ins soziale Abseits zu manövrieren oder sich sogar der Asebie schuldig zu machen. In ihrer 1
V g l . Philostr. V. Soph. 1.9.5 [Test. 1], D i e an die Athener gerichtete M a h n u n g zur panhellenischen Einheit g e g e n die Perser ließ sich mit großer Wahrscheinlichkeit in die erste Phase des Korinthischen Krieges ( 3 9 5 - 3 9 2 ) datieren. V g l . Kap. II 2.4.
2
V g l . zu den Σ υ ν α γ ω γ ή Kap. II 5.3.
3
V g l . Kap. II 5.3.
4
V g l . Kap. II 5.5.
5
V g l . dazu Kap. II 5.1.
6
V g l . Kap. II 5.1, 177.
8. Zusammenfassung
267
Lehrmeinung kam dagegen den religiösen Bräuchen nur noch eine gesellschaftliche Funktion zu. Diese Auffassung vertrat explizit Prodikos, der eine Theorie entwickelte, in der Religion nur noch als soziales Phänomen erklärt wird 1 . Aber selbst er mußte nach außen hin die Form wahren, fungierte er doch gleichfalls als Gesandter. Anspielungen in den Komödien des Aristophanes belegen seine Anwesenheit in Athen für die Jahre 423, 414 und 410 2 . Wie Protagoras verließ auch er die Stadt wohl um 415. Die Vorwürfe begründeten sich sicher auf den Atheismus des Sophisten und nicht auf seine Studien zur griechischen Grammatik und Synonymik. Prodikos leugnete nicht nur eine Wahrnehmung des Göttlichen und damit eine mögliche Verbindung zwischen Göttern und Menschen, sondern sogar die Existenz der Götter 3 . In seiner Theorie waren sie lediglich Produkte des menschlichen Denkens und der Sprache, womit dem Götterkult jegliche Basis fehlte. Götter und Mythen konnten demzufolge den für ihr Handeln allein verantwortlichen Menschen keine Hilfe mehr bieten. Dennoch steht im Zentrum der Kulturenstehungstheorie des Prodikos der Mythos „Herakles am Scheideweg", jedoch ohne auf die bekannten Heldentaten einzugehen 4 . Wie Gorgias und vermutlich auch Hippias nutzte Prodikos das Wissen um die berühmten Figuren der Mythologie. Mit Herakles erreichte er die Hauptklientel der Sophisten, nämlich die jungen Männer. Sie identifizierten sich mit der Heroengestalt, denn die Epheben verehrten ihn als ihren Heros. Der neu geschaffene Mythos zeigt den „Heros" an dem entscheidenden Wendepunkt in seinem „menschlichen" Leben und formuliert die ethischen Grundlagen in einer Welt ohne Götter. Der traditionelle Mythos hat somit seine Verbindlichkeit eingebüßt. Die Helden werden aus den Rahmen ihrer Handlungsschemata gelöst und zur Vermittlung einer neuen, den sozialen, politischen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen der Zeit entsprechenden, Ethik eingesetzt 5 . Die Sophisten waren die „Zerstörer des Mythos" - insofern sie die Verbindlichkeit der Mythen als traditionelle Vermittler von Werten ablehnten und die festgelegten Handlungsschemata änderten oder mit neuen Inhalten versahen. Daß die „Zerstörung" nicht nachhaltig zersetzend wirkte und auch künftig kein strenges rationales Denken überwog, zeigt ein kurzer Blick in die Reden des Isokrates. Noch im 4. Jahrhundert war ein traditionelles Argumentieren mit dem Mythos im Dienste politischer Interessen üblich und somit erfolgversprechend 6 . Auch wenn Gorgias oder Prodikos dem Mythos jede Verbindlichkeit absprachen, wurden die mythischen Stoffe nach wie vor von Sophokles oder Euripides auf der Theaterbühne in Szene gesetzt. Wie die Tragödien des Euripides dokumentieren, haben
1 2
Vgl. Kap. II 3.3. Aristoph. nub. 360 [DK 84 A 5]; av. 688, 691 ; Tagenistae PCG IIP 506 [DK 84 A 5]; vgl. dazu Kap. II 3.1, 133f.; Kap. III 2, 288.
3 4 5
Vgl. Kap. II 3.2. Xen. mem. 1.2.21 ff. [DK 84 Β 2]; Kap. II 3.4. Mit Most kann die gezielte Nutzung der Mythen auch als eine „Mythisierung" (mythification) des logos bezeichnet werden. Vgl. Most, From Logos to Mythos, 42.
6
Damit soll keineswegs behauptet werden, daß Isokrates generell als ein Traditionalist aufzufassen ist. Vgl. dazu E. Alexiou, Ruhm und Ehre. Studien zu Begriffen, Wertungen und Motivierungen bei Isokrates, Heidelberg 1995, 88-131.
268
II. Sophisten als Systemkritiker
aber auch dort die neuen Ideen Einzug gehalten 1 . So wird er als ein Schüler des Prodikos bezeichnet und Gerüchte, er habe Protagoras in seinem Haus empfangen, kursierten offenbar ebenfalls 2 . Dennoch deutet meines Erachtens die Tatsache, daß Euripides weiterhin Tragödien und keine „neuen Mythen", Kulturentstehungslehren oder politische Schriften verfaßte, zumindest auf eine gewisse Distanz hin 3 . Der Handlungsablauf seiner Tragödien bleibt im traditionellen Muster, während die Charaktere jetzt in einem Konflikt zwischen Eigenverantwortung und göttlicher Macht die neuen Thesen ansprechen. Gorgias bezeichnete diesen Zwiespalt als unsinnig und ließ nur den Unterhaltungseffekt gelten. Der konkrete Einfluß der Sophisten auf die Bürger und die Politik der Polis ist erst in einer Zeit der inneren Anspannung und Konflikte greifbar. Die Vorstellungen eines Protagoras, Gorgias, Prodikos oder Hippias schürten die ohnehin schon bestehenden Zweifel an der Gültigkeit bestehender Normen und der Effizienz des demokratischen Systems. Die Athenaion Politeia des sogenannten „Alten Oligarchen" spricht diese Zweifel vermutlich bereits vor den sophistischen Denkern offen aus 4 . Eine Reform der Demokratie hält der Autor nicht fur möglich, bliebe es doch zwangsläufig nur bei kleineren, die Misere des Staates nicht wirklich verbessernden Änderungen. Die wenigen zur Atimie Verurteilten reichten seiner Einschätzung nach zur Beseitigung der Demo-
1 2 3
4
Vgl. unten Kap. III 4. Vgl. Kap. II 1.1, 38; II 3.1, 135. Conacher interpretiert es als einen inneren Konflikt des Euripides, die verschiedenen sophistischen Theorien auf die Theaterbühne zu bringen. Conacher, Euripides and the Sophists, 111. Es ist überhaupt zwischen der Kritik an den Sophisten, ihren Lehren selbst und an der Wirkung ihres Unterrichts in Rhetorik, ihren Überlegungen zu den Göttern, Mythen, der herrschenden Moralvorstellung, Recht und Gesetz sowie der geeigneten Verfassung zu unterscheiden. Auch der Geschichtsschreiber Thukydides gehörte zu den Schülern des Gorgias (vgl. Kap. II 2.1, 70, Anm. 2) und wurde deshalb nicht gleich selbst ein Sophist. Zur Datierungsfrage läßt sich festhalten, daß etwa ein Unternehmen wie der Zug des Brasidas durch Thessalien nach Thrakien im Jahre 424 ist Pseudo-Xenophon zufolge noch undenkbar. Ps.Xen. Ath. Pol. 2.5 Für eine frühe Datierung in die perikleische Zeit vor Ausbruch des Krieges spricht der noch nicht von sophistischer Kunstprosa beeinflußte Stil. Vgl. Lesky, Griechische Literatur, 512; Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg, 59f. Zur Datierung vgl. auch E. Hermann-Otto, Das andere Athen: Theorie und politische Realisation eines „antidemokratischen" Oligachenstaates, in: Volk und Verfassung im vorhellenistischen Griechenland. Beträge auf dem Symposion zu Ehren von K.-W. Welwei, Bochum 1996, Stuttgart 1997, 134, Anm. 6 und weiterer Literatur; Leppin, Thukydides, 40. Häufig wurde die in der Athenaion Politeia (1.16) erwähnte Verpflichtung der Bündner, sich vor den Dikasterien in Athen verantworten zu müssen, als ein Datierungshinweis gedeutet und mit dem Kleinias-Dekret in Verbindung gebracht. Spricht nach der Interpretation Smarczyks auch einiges für eine Datierung der Inschrift um 426/25, ist es immerhin möglich, daß eine solche Gerichtshoheit Athens auch schon vorher praktiziert wurde. Vgl. W. Schuller, Wirkungen des Ersten Attischen Seebunds auf die Herausbildung der Demokratie, in: ders. (Hrsg.), Studien zum Attischen Seebund, (Xenia. Konstanzer Althistorische Vorträge und Forschungen 8), Konstanz 1984, 95. Zur Datierung vgl. auch Kap. II 7.1, 237, Anm. 3.
8. Zusammenfassung
269
kratie nicht aus 1 . Die Schrift ist vor 425 zu datieren, denn sie erwähnt noch nicht die Wahl Kleons zum Strategen. Der „Oligarch" hätte den politischen Aufstieg eines „Mannes aus dem demos" in das hohe Staatsamt sicher als weiteres Verfallsindiz kommentiert 2 . Der militärische Erfolg Kleons bei Pylos 3 war ausschlaggebend fur seine Wahl und zeigt, daß Leistungskriterien höher bewertet wurden als die soziale Herkunft. Alte Maßstäbe gerieten zusehends ins Wanken, nicht zuletzt durch die Lehren der Sophisten. Nach der gescheiterten sizilischen Expedition brachen die politischen Streitigkeiten in Athen erneut aus. Mit der Einrichtung eines Gremiums von πρόβουλοι im Jahre 413 reagierte der Demos bereits auf Vorwürfe wegen zu schnell getroffener und wenig überlegter Aktionen 4 . Das Vertrauen in die Effizienz der demokratischen Institutionen des Rates und der Volksversammlung war gebrochen. Zwischen 413 und 411 setzte eine intensive Verfassungsdebatte ein, die unter anderem durch die Aktivitäten des Alkibiades ausgelöst wurde 5 . Im Umfeld der Ereignisse von 411/10 lassen sich jetzt Prodikos und Thrasymachos von Chalkedon historisch fassen. Zu den Schülern des Prodikos gehörte außerdem Theramenes, der oligarchische „Revolutionär" des Jahres 411/10, der von den Zeitzeugen als skrupelloser Politiker diffamiert wurde 6 . Hier ist die negative Wirkung der sophistischen Ausbildung durch Prodikos greifbar, die zu hohe moralische Anforderungen an ihre Schüler stellte 7 . Zur gleichen Zeit betrat der Rhamnusier Antiphon die politische Bühne, während sich der spätere Tyrann Kritias erst bei den anschließenden Prozessen einschaltete 8 . Einen wesentlichen Beitrag zu den Überlegungen über eine besser geeignete Staatsordnung leistete Thrasymachos. In einer politischen Flugschrift propagierte er die patrios politeia und damit die Rückkehr zu der Kleisthenischen Ordnung vor den Reformen des Perikles und Ephialtes 9 . Der ihm nahestehende Athener Kleitophon stellte den Antrag, die patrios politeia wieder einzuführen 10 . Im Jahre 411 beschloß die Volksversammlung de facto die Aufhebung der attischen Demokratie und die Einberufung 1
Ps.-Xen. Ath. Pol. 3.13: ταΰτα χρή λογιζόμενον μή νομίζειν ειναί τι δεινόν άπό των ά τ ι μ ω ν Ά θ η ν η σ ι ν . Vgl. auch 3.8, 9, 12; Hermann-Otto, Das andere Athen, 139 (wie 268, Anm. 4); Leppin, Thukydides, 34-41.
2
Ps.-Xen. Ath. Pol. 1.3. Dafür spricht außerdem die ablehnende Haltung des Autors zur Demokratie, die Leppin herausstellt. Der Autor erklärt die Demokratie nicht als eine Herrschaft des gesamten Volkes, sondern nur des „gemeinen" Volkes zu Lasten der „Besseren". Vgl. Leppin, Thukydides, 34-41. Zuletzt wandte sich W. Lapini gegen die Auffassung, es habe sich bei dem Autor um einen „gemäßigten" Oligarchen gehandelt. Der Begriff δ ί κ α ι ο ι in §1.2 ist nicht im Sinne einer objektiven Gerechtigkeit zu verstehen, denn dafür findet sich kein Hinweis im Text. Vgl. W. Lapini, Fi-
3 4
lologia ciclica: Il caso dell' Athenaion Politeia dello Pseodo-Senofonte, Klio 80, 1998, 325-335. Thuk. 4.39.3; Aristoph. equ. 280f. Thuk. 8.1.4; vgl. Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg, 35.
5
Vgl. Kap. II 2.5; II 4; Raaflaub, Politisches Denken, 4f.
6
Vgl. Kap. II 3.1.
7
Vgl. Kap. II 3.5.
8
Lykurg. Cont. Leocr. 113 [DK 88 A 7]; vgl. Kap. II 6.1; II 7.1.
9
Vgl. Thrasymachos' Rede an die Athener; Kap. II 4.2. Aristot. Ath. Pol. 29.3; vgl. Kap. II 4.2.2.
10
270
II. Sophisten als Systemkritiker
des Rates der Vierhundert 1 . Mit seiner „Rede an die Athener" bot Thrasymachos der Gruppierung um Kleitophon zwar ein hilfreiches Reformmodell, es wurde jedoch nicht umgesetzt. Mehr als zehn Jahre zuvor hatte der anonyme Verfasser der Athenaion Politela eine Reformierung der Demokratie als unmöglich bezeichnet, und die Entwicklungen in den Jahren 411 und 410 zeigten, wie recht er hatte. Thukydides schildert eindringlich die höchst angespannte Situation in Athen, die sich mehrmals in einem Bürgerkrieg zu entladen drohte 2 . Angesichts des Krieges, seiner Schrecken und vielleicht aufgrund des Geschehens in Athen um 411/10 fragte Thrasymachos kritisch und resigniert nach der Theodizee. Der Mensch könne in der empirischen Wirklichkeit nicht mehr auf die Götter hoffen, daher regiere nur die Macht der Stärke 3 . Diese pessimistische Sichtweise entwickelte er möglicherweise, nachdem er die von persönlichen Interessen und Machtgier bestimmte Herrschaft der Vierhundert und der Fünftausend beobachtet hatte, die weit von der Umsetzung der von ihm vorgeschlagenen patrios politela entfernt waren 4 . Als attischer Bürger stand Antiphon schließlich direkt zu den Ereignisse von 411 in Beziehung 5 . Mit der Identifikation des logographos von Rhamnus und dem Sophisten Antiphon ergibt sich jetzt eine konkrete Verbindung zwischen den neuen Gedanken der Sophisten und der Tagespolitik. Neben seinen allgemeineren theoretischen Studien und seiner Tätigkeit als Rhetoriklehrer fungierte Antiphon gleichzeitig als logographos, was seinen Bezug zur Praxis und damit zu den realen politischen Möglichkeiten zeigt. Schon 422 rechnet Aristophanes ihn zur „Bande des Phrynichos" 7 . Offensichtlich hatte der Rhamnusier mit dem Sturz der Demokratie große Hoffnungen verbunden, denn nach dem Scheitern der Vierhundert zog er es vor, nicht zu fliehen, sondern seine Motive vor Gericht darzulegen. Nachdrücklich versicherte er dabei, daß er keine Oligarchie bezweckt habe 8 . Antiphon verfolgte wie Gorgias und Hippias Überlegungen, die weit über den Polisrahmen hinausgingen. Schon in den wohl vor Beginn des Peloponnesischen Krieges verfaßten Tetralogien legte er das Recht auf Leben als universal geltend zugrunde. Jede Form der Tötung bedeutete einen Verstoß und gleichzeitig einen Frevel ( ά σ έ β η μ α ) . Mit der religiösen, schon im ausgehenden 5. Jahrhundert altertümlichen Vorstellung des μ ί α σ μ α verband der Autor die sogar in der heutigen Zeit ungewöhnliche Betonung der kompromißlos gültigen Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens 9 .
1 2 3 4
5 6 7 8
9
Thuk. 8.67.2, 3. Thuk. 8.75f„ 82, 86, 92f. Plat. Pol. 338e; Kap. II 4.3. Auch Thukydides sah nicht nur in den Auseinandersetzungen der Poleis untereinander, sondern auch innerhalb der Polis eine Eigendynamik der Macht. Vgl. Welwei, Das Problem des „Präventivkrieges", 303. Raaflaub, Politisches Denken, 42. Thuk. 8.68.1-3. Vgl. Kap. II 6.1. Vgl. Kap. II 6.1, 197, Anm. 4; Aristoph. vesp. 1301 f. Antiphons Verteidigungsschrift: Harpokration s.v. stasiotes; Genfer Papyros (J. Nicole, L'Apologie de Antiphon, Genf 1907, Thalheim Ia) [Morrison Β 18, 19], Kap. II 6.1, 200, Anm. 2. Vgl. Kap. II 6.2.
8. Zusammenfassung
271
Vermutlich eher zum Ende seines Schaffens behandelte Antiphon in seinem umfassenden Werk „Über die Wahrheit" den Eingriff des Menschen in die von der Natur vorgegebene Ordnung. Die in den fiktiven Gerichtsreden zutage kommende religiöse Komponente ist jetzt durch die physis und ihre Regeln ersetzt. Antiphon entwickelte eine Kosmologie, die über rein naturphilosophische Ansätze hinausgehend den Menschen in seinem sozio-politischen Umfeld betrachtete. Mit wenigen Ausnahmen stehen die νόμοι der φ ύ σ ι ς entgegen. Von der kosmopolitischen Ebene wandte Antiphon sich schließlich der Polisebene zu. Wie „Palamedes" sprach er den Richtern die Urteilsfähigkeit ab, da sie sich nur auf die δόξα und nicht auf die α λ ή θ ε ι α stützten. Das gesamte bestehende Rechtssystem konnte seiner Vorstellung von Gerechtigkeit in keiner Weise genügen 1 . Vielleicht hatte Antiphon tatsächlich eine Verfassung geplant, die seinen idealen Staatsvorste II ungen nahekommen sollte und vor ihrer Verwirklichung eine Interimsregierung vorsah. Die attische Demokratie entsprach nicht dem von ihm idealisierten natürlichen Urzustand. Ein Leben im Einklang mit der Natur bedeutete für ihn das Vermeiden jeglicher Aggression und künstlicher sozialer oder politischer Hierarchisierung. Polis- wie Völkergrenzen lehnte er ebenso ab wie die Durchsetzung des Rechts des Stärkeren. Seine in der 'Ομόνοια formulierte positive Ethik bezeichnet das Erreichen von Besonnenheit (σωφροσύνη) als höchstes Ziel 2 . Das Angenehme, die Freude, kurz das von der Natur aus Zuträgliche (συμφέρον) galt es zu bewahren. Die physis als Naturrecht bildete hier den Maßstab für alle Individuen. Die hohen moralischen Anforderungen Antiphons an die Menschen und in besonderem Maße an die fuhrenden Persönlichkeiten in der „sophistischen Weltgemeinschaft" mußten ein Ideal bleiben. Kritisch läßt sich auch aus der heutigen Perspektive anfuhren, daß in Konfliktsituationen immer wieder die „aggressive Natur" des Menschen zum Ausbruch kommt. Möglicherweise sah Antiphon in der Gewaltherrschaft der Vierhundert seine Ideale verletzt und verraten. Nach dem Sturz des Regimes stellte er sich somit dem Gericht und verteidigte sich vor seinen ursprünglichen Weggefährten bei der Beseitigung der Demokratie. Als sein Hauptgegner ist Theramenes zu nennen, dessen persönliche Machtambitionen das Scheitern der Vierhundert zu zugunsten der Fünftausend bewirkte. Auch Theramenes war als Schüler des Prodikos zumindest mit den sophistischen Lehransätzen vertraut und beteiligte sich später an dem zweiten Verfassungssturz im Jahre 404. Nach der Wiederherstellung der Demokratie wurde die Prozeßwelle fortgesetzt. In der Eisangelie-Gesetzgebung und dem Demophantos-Dekret äußerte sich die Verschärfung der Gesetzgebung zum Schutz der Demokratie 3 . Die rigorosen Maßnahmen deuten auf eine weiter bestehende Gefahr im Innern 4 . Zahlreiche Atimie-Verurteilungen, eine ' 2
3 4
Vgl. Kap. II 6.2. Die Homonoia nimmt hier keinen Bezug auf die Polis, sondern auf die Eintracht in einer idealen menschlichen Gemeinschaft. Raaflaub sieht die Frage der Umsetzung der Eintracht nicht beantwortet und geht dagegen vom Polisdenken aus. Vgl. Raaflaub, Politisches Denken, 36f. Vgl. And. Myst. (or. 1) 96-98; Kap. II 2.3, 105, Anm. 2. Vgl. E. Carawan, Apophasis and Eisangelia: The Rôle of the Areopagus in Athenian Politics Trials, GRBS 26, 1985, 115-140; Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 45f.
272
II. Sophisten als Systemkritiker
harte Gesetzgebung trugen allerdings keinesfalls zu einer größeren und geschlossenen Identifikation aller Bürger mit der Polis bei. Die Spannungen zwischen dem Demos und den antidemokratischen Kräften bestanden weiter. Zu einem offenen Streit kam es beim Arginusenprozeß, der mit der Hinrichtung der unterlegenen Strategen endete 1 . Die Analyse Bleckmanns belegt den Machtkampf zwischen kurzfristig gebildeten Fraktionen. Die Gruppierung um Theramenes behielt durch eine „geschickte Steuerung des Gesamtverfahrens die Oberhand." 2 Die Liquidierung der erfahrenen Militärs wirkte sich zwangsläufig auf den Kriegsverlauf aus. Mit der katastrophalen Niederlage Athens bei Aigospotamoi sahen Theramenes und Kritias eine weitere Chance, das demokratische System zu beseitigen. Die Studien des Atheners Kritias zur Verfassung der Thessaler, Spartaner und Athener dokumentieren seinen Beitrag zur nach 413 einsetzenden Verfassungsdiskussion. Er verfaßte als sophistisch zu bezeichnende Schriften, in deren Reihe sich das SisyphosFragment nicht zweifelsfrei einordnen läßt; die Autorschaft des Kritias ist aber wahrscheinlich. Sisyphos teilte darin die Vorstellung Antiphons, in den nomoi lediglich die Natur einschränkende, künstliche Barrieren zu sehen. In einer rationalen und fast zynischen Kulturentstehungslehre belächelt und ironisiert Sisyphos die Gesetzestreue und den Götterglauben. In drei Stufen zeichnet er eine Entwicklung vom tierhaften Urzustand zum auf einer rationalen Übereinkunft geschaffenen „Gesellschaftsvertrag" und zu den gegenwärtigen Verhältnissen. Der vorherrschende Götterglaube, der zur sakralen Legitimierung der menschlichen Satzungen von einem „weisen Mann" erfunden wurde, ist folglich als eine Lüge entlarvt. Gültigkeit kann demnach nur das seit der Urzeit bestehende Recht des Stärkeren beanspruchen 3 . Entspricht der Inhalt des Sisyphos-Fragmentes tatsächlich den Gedanken des Kritias, vermittelt er einen Eindruck von der moralischen und politischen Haltung des Politikers. Seine Vorstellungen lassen sich schließlich insgesamt gut mit den Terrormaßnahmen der Dreißig vereinbaren, die gewaltsam eine Verfassung nach dem Vorbild der Siegermacht Sparta durchsetzen wollten 4 . Kritias fand bei Munichia den Tod, die übrigen der Dreißig und ihre Schergen wurden nach der Wiederherstellung der Demokratie hingerichtet 5 . Spätestens die Aktivitäten und Studien Antiphons und die auf Thrasymachos zurückzuführenden Vorschläge des Kleitophon zeigen, daß die kritischen Analysen und Ideen der Sophisten auch eine konkrete Bedrohung fur das religiöse und eng damit verknüpfte politische System der Polis darstellten. Bei Kritias ließen sich - im Gegensatz zu Antiphon - die theoretischen Überlegungen zum Recht des Stärkeren mit der von ihm selbst mitgetragenen politischen Umsetzung vereinbaren. Die Gefahr für die Polis bestand hiermit in der unmittelbaren Verbindung der sophistischen Ideen zur Tagespolitik.
1
Xen. Hell. 1.7.35.
2
Vgl. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage, 571.
3
Vgl. Kap. II 7.3.
4
Zur Begeisterung des Kritias für Sparta vgl. Stob. 3.29.11 [DK 88 Β 9]; Ath. 14.662Í [DK 88 Β 31]; Clem. Alex, ström. 6.9 [DK 88 Β 32]; Ath. 11.463 [DK 88 Β 33]. Kap. II 7.1; vgl. Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, 51.
5
Xen. Hell. 2.4.8, 10, 11, 19 [DK 88 A 12],
8. Zusammenfassung
273
Mit den agnostischen oder gar atheistischen Sichtweisen, mit der Zerstörung der traditionellen Funktionen der Mythen fielen wichtige „systemstabilisierende" Faktoren weg und überließen dem einzelnen die Verantwortung für sein Handeln. Kulthandlungen, Orakelsprüchen oder beispielsweise der „religiösen" Begründung der attischen Seebundpolitik wurde die Legitimationsbasis entzogen. Jeder einzelne mußte seinen Weg vor sich selbst rechtfertigen, ohne den vertrauten Halt in der griechischen Religion oder in den traditionellen sozialen und politischen Institutionen. Die neuen, im Widerspruch zur Kollektivethik stehenden, Vorstellungen mußten den Anspielungen in den Komödien zufolge über die intellektuellen Kreise hinaus bekannt gewesen sein 1 . Sich an traditionelle Vorstellungen nicht mehr gebunden zu fühlen, verunsicherte die einen, während sich die anderen befreit und offen mit den sozio-politischen Bedingungen ihrer Umgebung auseinandersetzten. Die Abwendung vom Polisgedanken bei Gorgias, Hippias und Antiphon konnte leicht eine Verminderung der Loyalität der Bürger und somit eine geringere Identifikation mit dem herrschenden System zur Folge haben 2 . Eine einfache Zuordnung der Sophisten zu den Gegnern der Demokratie bedeutet dagegen eine unzulässige Vereinfachung und eine verfälschte Beurteilung der Lehren der Sophisten und ihres Wirkens. Die sophistischen Staatskonzepte eines Gorgias oder Antiphon gingen weit über die bestehenden politischen, geographischen und ethnischen Grenzen hinaus. Das Geschehen in den Jahren 415, 411/10 und 404/03 in Athen hatte die enge Verbindung sophistischer Lehren oder gar ihrer Vertreter selbst zu den innenpolitischen Umwälzungen gezeigt. Sicher ist, daß führende Kräfte Athens wie Perikles, aber auch erklärte Gegner der attischen Demokratie wie Alkibiades oder Theramenes bei den Sophisten in die Schule gegangen sind. Antiphon und Kritias nehmen als Sophisten, als Schüler, und als Politiker beim Sturz der Demokratie auf beiden Seiten wichtige Positionen ein. Mit der Wiederherstellung der Demokratie 410 und 403 zeigen die Reformen nicht nur eine Reorganisation der entmachteten Institutionen und Gesetze, sondern sogar eine Radikalisierung 3 . Zwischen 403 und 399 beginnt eine Kodifizierung der Gesetze. Weitere Maßnahmen dienen einer Perfektionierung in der Verwirklichung demokratischer Grundsätze. So sollte ein noch weiter detailliertes Lossystem, die Bestechlichkeit der Richter und andere Einflußnahmen auf ihre Entscheidungen weitgehend unmöglich machen und die Gleichheit der Bürger garantieren 4 . Die Amnestiegesetzgebung von 403 zeigt, daß die Polisgemeinschaft trotz der erlebten Greueltaten nicht auf die aristokratisch-oligarchisch gesinnten Teile der Bürgerschaft
'
Vgl. u.a. Kap. III. 1.1. Möglicherweise läßt sich auf diese Weise schon der von Thukydides beklagte Sittenverfall im Jahr nach dem Ausbruch der großen Epidemie in Athen erklären. Im Mythos galten Seuchen als Zeichen der Strafe oder Rache der Götter. Vgl. z.B. Horn. II. 1.18-22.
2
Vgl. Raaflaub, Politisches Denken, 43.
3
Vgl. Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg, 40, Anm. 14-16; Raaflaub, Politisches Denken, 52f. Dabei handelt es sich um einen fließenden Prozeß und ein Reagieren auf geänderte Verhältnisse, aber um keine bewußte Auseinandersetzung mit Theorien oder Konzepten. Vgl. Welwei, Athen, 258f.
4
Vgl. And. Myst. (or. 1) 81f.; Aristot. Ath. Pol. 41; Bleicken, Demokratie, 338-351; Hansen, Demokratie, 128-299; Welwei, Athen, 258.
274
II. Sophisten als Systemkritiker
verzichten wollte oder konnte 1 . Ein Konsensus mußte daher gefunden werden, um wieder Ruhe und Stabilität einkehren zu lassen. Eine Verfolgung der Sophisten oder ihrer Schüler kann ausgeschlossen werden. Gorgias oder Hippias lebten und lehrten weiterhin; so wandte sich Gorgias wahrscheinlich zu Beginn des Korinthischen Krieges (395-392) mit einem Appell zum panhellenischen Denken an die Athener 2 . Die Frage nach der Aussöhnung unter den Bürgern, das Bemühen um mehr Stabilität und Sicherheit und die neuen außenpolitischen Machtkonstellationen mit Sparta als Hegemon Griechenlands dämpften sicherlich vorerst das Interesse an rein theoretischen Diskussionen. Wenn wohl auch kein Verfolgen der „Andersdenkenden" stattfand, so konnten die Bürger doch mit Blick auf Antiphon und Kritias zu Recht die Sophisten für ihre Misere mitverantwortlich machen.
1
2
Vgl. Kühn, Die Amnestie von 403 v.Chr., 3Iff.; Lehmann, Die revolutionäre Machtergreifung der „Dreißig", 232f. Vgl. 266, Anm. 1.
III. Die von den Sophisten ausgehenden Gefahren in der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen: Das Beispiel der Komödien des Aristophanes Die Sophisten trugen durch ihre kritischen Betrachtungen des ,menschlichen Kosmos' zum intellektuellen Wandel bei, aber sie boten den Menschen auch Orientierungshilfen, sich in der ,neuen Zeit' zurechtzufinden. Ob ihre Lehrtätigkeit, ihre Intentionen und ihre systemkritischen Ansätze, wie sie sich in den Textfragmenten darstellen, in dieser Form auch von den Zeitgenossen wahrgenommen wurden, sei am Beispiel der Komödien des Aristophanes untersucht. Die umfassende Thematik rechtfertigt eine eigene Studie und kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Daher wird sich das Hauptaugenmerk auf die Wolken des Aristophanes richten, ein Werk, dem bei der Frage nach der Wirkung der σοφισταί in Athen eine zentrale Bedeutung zukommt. Was kennzeichnete die Gruppe der „Sophisten" oder einzelne ihrer Vertreter, und welches Bild boten sie? Aber auch die Vögel und die Frösche sowie einige weitere Textstellen verdienen eine genauere Betrachtung, wenn es um die Frage nach den polisgefährdenden Konsequenzen der sophistischen Lehrmeinungen geht. Vorab werden der sozio-politische Rahmen der Komödienauffuhrungen und die wenigen biographischen Daten zur Person des Aristophanes kurz skizziert.
1. Einführung 1.1
Komödie und Polis
Theaterauffuhrungen gehörten in Athen zu den wesentlichen Programmteilen der mehrtägigen Dionysosfeste, denn sie galten als Weihegaben fur den Gott 1 . Den kultischen Rahmen bildeten die beiden im Dionysostheater am Südhang des Akropolishügels stattfindenden Frühjahrsfeste, die Lenäen im Monat Gamelion (Januar/Februar) und die Großen oder Städtischen Dionysien im Elaphebolion (März/April) 2 . Neben den
'
Daher durften die Dramen auch nur einmal aufgeführt werden, bis ein Volksbeschluß im Jahre 386 die Wiederaufführung erlaubte. Vgl. B. Zimmermann, Aristophanes, in: Brodersen (Hrsg.), Große Griechen, 157.
2
Zu Dionysos vgl. E. Simon, Die Götter der Griechen, München
198 5 3 , 23 3-25 4; Burkert,
Griechische Religion, 2 5 I f f . ; Parker, Athenian Religion, 92f. Das Dionysos-Theater des 5. Jahrhunderts, f u r das alle erhaltenen Stücke des Aristophanes oder auch des Aischylos, Sophokles und Euripides geschrieben wurden, unterscheidet sich deutlich von dem heute vorliegenden Steinbau aus der Zeit Lykurgs. Ein festes, steinernes Bühnengebäude, steinerne Sitzstufen und eine
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
276
Großen Panathenäen waren die Städtischen Dionysien das Polis-Fest Athens schlechthin. Die Großen Dionysien öffneten sich dabei einem überregionalen Publikum. Das Meer war fur die Schiffahrt wieder zugänglich, und es durften auch Griechen ohne attisches Bürgerrecht, wohl auch Frauen , Sklaven und die zahlreichen Fremden in der Stadt teilnehmen 2 . Darunter waren sicher auch die Abgesandten aus den Apoikien, die für den Festzug Phalloi spendeten 3 , sowie einige der Symmachoi mit ihren Tributzahlungen. Mehr als zehntausend Menschen konnten die in der Orchestra nach Talenten sortierten Beiträge bestaunen 4 und die Ehrungen fur besonders verdienstvolle Bürger, für die Gefallenen und den feierlichen Einzug der jetzt mündig gewordenen Kriegswaisen verfolgen. Die Festleitung oblag dem ersten Amtsträger der Polis, dem Archon Eponymos 5 . Den Auftakt des so repräsentativen, politisch bedeutenden Festes
runde Orchestra gab es damals nicht. Bislang stützten sich die Vermutungen gänzlich auf die Überlegungen Dörpfelds und die runde Orchestra wurde meist nicht in Frage gestellt. So auch zuletzt nicht von J.M. Hurwit, The Athenian Acropolis. History, Mythology, and Archaeology from the Neolithic Era to the Present, Cambridge u.a. 1999, 217f. Archäologischen Forschungen zufolge handelte es sich jedoch um einen Zuschauerraum in der Form des Thorikos-Theaters, d.h. um ein rechteckiges Theatron mit einer rectiliniearen, steinernen Prohedrie und einigen weiteren bevorzugten Sitzreihen aus Stein. In den oberen Reihen saß die große Masse wohl noch auf Holzbänken (vgl. Aristoph. Thesm. 395; Kratinos fr. 323 Kock). Der Spielraum war damit mehr breit als tief, möglicherweise wie in Thorikos ca. 25 mal 12 Meter. Das „ B ü h n e n g e b ä u d e " selbst ist als ein Kastenzelt aus Holzrahmen und Leinwand zu denken und bedeutet für die Aufführungspraxis größere Möglichkeiten der Flexibilität. Vgl. dazu ausführlich E. Pöhlmann, Die Prohedrie des Dionysos-Theaters im 5. Jahrhundert und das Bühnenspiel der Klassik, in: ders. (Hrsg.), Studien zur Bühnendichtung und zum Theaterbau der Antike, Frankfurt a.M. 1995, 48-62; H. Lohmann, Zur baugeschichtlichen Entwicklung des antiken Theaters: Ein Überblick, in: G. Binder/B. Effe, Das antike Theater. Aspekte seiner Geschichte, Rezeption und Aktualität, Trier 1998, bes. S. 218f. 1
Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 71. Der Ausschluß von Frauen von einem so wesentlichen Bestandteil des Kultes ist unwahrscheinlich und außerhalb Athens sogar zu widerlegen. Vgl. Ch. Schnurr-Redford, Frauen im klassischen Athen: sozialer Raum und reale Bewegungsfreiheit, Berlin 1996, 225-227.
2
Bleicken, Demokratie, 177.
3
Vgl. IG Großen großen Athens,
4
Aristoph. Ach. 500ff.; IG I 3 34. A u s dem Beschluß über den M o d u s der Tributzahlungen des Jahres 448/7 geht hervor, daß die Bündner ihre Zahlung zu den Großen Dionysien darbrachten, denn das Frühjahrsfest feierte auch die Ö f f n u n g des Meeres für die Schiffahrt. Nach den Dionysien sollten die Prytanen die Volksversammlung einberufen, um die Höhe der Zahlungen bekannt zu machen. Smarczyk weist außerdem darauf hin, daß die Zählung der Beiträge sicherlich vor Festbeginn erfolgte und ein Teil der Abgesandten möglicherweise schon abgereist war. Für eine Teilnahmepflicht finden sich keinerlei eindeutige Hinweise. Vgl. Smarczyk, Religionspolitik und politische Propaganda Athens, 155-61; Parker, Athenian Religion, 142f.
5
Aristot. Ath. Pol. 56.3; vgl. K. Treu, Zur Wirkungsgeschichte der griechischen Tragödie in Athen, in: H. Kuch (Hrsg.), Die griechische Tragödie in ihrer gesellschaftlichen Funktion, Berlin 1983,
I 3 46; Parker, Athenian Religion, 142; Welwei, Athen, 396, Anm. 181. Auch anläßlich der Panathenäen nahmen die Bündner mit ihren Weihegaben tur die Göttin Athena an der Festprozession teil. Vgl. dazu Smarczyk, Religionspolitik und politische Propaganda 549, 619; Welwei, Athen, 182f.
1. Einfuhrung
277
bildeten Dithyramben 1 , am zweiten Tag traten fünf, in der Zeit des Peloponnesischen Krieges aus Kostengründen vermutlich nur drei Komödiendichter gegeneinander an2. Die letzten drei Festtage gehörten der Tragödie 3 . Komödie wie Tragödie standen dabei im Dienste der Repräsentation der Macht Athens 4 . Die sicher urtümlicheren Lenäen feierten die Athener nur im Kreise der Bürger, selbst die Metöken waren nicht zugelassen 5 . Hier standen die Komödien im Mittelpunkt, und erst seit 430 erhielten auch die Tragödien ihren Platz im Festprogramm. Während des Festes war der Alltag für einen begrenzten Zeitraum aufgehoben und das Theater schuf den Rahmen für Schauspieler in Masken von Heroen, Helden oder Satyrn6. Die Kostümierung in der Komödie bot ihr eigenes Bild: Die Schauspieler trugen merkwürdige Masken, gepolsterte Hinterteile, ausgestopfte Bäuche und riesige Phalloi 7 . Je größer ein Phallos, um so lächerlicher wirkte er. Die „sexuelle Drohgeste" und die zum Teil anzüglichen Scherze standen im Gegensatz zur kriegerischen Aggression und lösten Spannungen durch ein befreiendes Lachen 8 . Konventionelle Schranken fielen, und offene Kritik an Autoritäten wie auch Spott und Hohn über Außenseiter waren für den Festzeitraum erlaubt9. Die Feierlichkeiten dienten dabei nicht nur dem
144; Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 62f.; W. Kraus, Aristophanes' politische Komödien, Acharner. Ritter, Wien 1985, 14; Bleicken, Demokratie, 177. 1
Sie waren aus den Riten des attischen Dionysoskultes entstanden. Es handelte sich um einen Chorwettbewerb der Phylen, die mit j e einem Chor aus fünfzig Männern und fünfzig Knaben auftraten. Zimmermann, Griechische Komödie, 20.
2
H.-J. Newiger, Die griechische Komödie, in: ders., Drama und Theater. Ausgewählte Schriften zum griechischen Theater, Stuttgart 1996, 228; Zimmermann, Griechische Komödie, 21.
3
Pro Tag stellte ein Dichter eine Tetralogie, bestehend aus drei Tragödien und einem Satyrstück vor. Heroenmythen und darunter vorwiegend die Geschichten über die Helden von Troja bildeten die Themen. Sie kamen den sozialen Funktionen des Stadtfestes entgegen, indem sie zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls beitrugen. Graf, Griechische Mythologie, 140; Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 62-74; B. Effe, Das Theater als politische Anstalt: Aristophanes' .Ritter' und Euripides' ,Schutzflehende', in: Binder/Effe, Das antike Theater, 49.
4
Vgl. u.a. J. Henderson, The Demos and the Comic Competition, in: E. Segal (Hrsg.), Oxford Readings in Aristophanes, Oxford/New York 1996, 80; Smarczyk, Religionspolitik und politische Propaganda Athens, 166f.
5
Aristoph. Ach. 500ff. Vgl. Bleicken, Demokratie, 177; Zimmermann, Griechische Komödie, 19.
6
Dionysos symbolisierte als ein Gott, der von draußen kam, die wilde Natur und die Fruchtbarkeit. Bremmer stellt heraus, daß Dionysosfeste Merkmale der A u f h e b u n g der Gesellschaftsordnung aufwiesen. Bremmer, Götter, Mythen, Heiligtümer, 24-28. Dionysos forderte keine Askese oder bot ein freundlicheres Jenseits, sondern mit ihm erfolgte die Flucht in eine andere, fiktive Welt. Doch im offiziellen Kult wurde dann die mania des Gottes, sein „Wahnsinn", in recht geordnete Bahnen gelenkt. Zur Verbindung der Tragödie mit dem Dionysoskult vgl. u.a. Burkert, Griechische Religion, 251-260; Graf, Griechische Mythologie, 138-140; Vernant, Mythos und Religion (13, Anm.
5). 7 8
9
Vgl. Zimmermann, Griechische Komödie, 29-35. Vgl. Aristoph. Ach. 163ff. Vgl. Kraus, Aristophanes' politische Komödien, 15f.; Zimmermann, Griechische Komödie, 29-35. Zu den Ursprüngen des Phalloskultes vgl. Burkert, H o m o Necans, 80-85. Z i m m e r m a n n fuhrt den treffenden Vergleich mit den „Fastnachts- und Karnevalsbräuchen vom
278
III. D a s B e i s p i e l der K o m ö d i e n d e s A r i s t o p h a n e s
R a u s c h , der reinen Erholung und A b l e n k u n g v o m politischen G e s c h e h e n , auch die zeitg e n ö s s i s c h e Politik präsentierte sich o f t in k o m i s c h e r V e r z e i c h n u n g und V e r f r e m d u n g 1 . D i e D r a m e n entführten ihr P u b l i k u m in e i n e W e l t des M y t h o s und der Illusion oder sie z e i g t e n e i n k o m i s c h e s , o f t grotesk verzerrtes B i l d der Realität. D i e P o l i s v e r f u g t e über g e n ü g e n d S e l b s t b e w u ß t s e i n , die kritische A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d e m „ P o l i t i s c h e n " in ihrer Mitte und sogar im Kreise einer überregionalen Ö f f e n t l i c h k e i t z u fuhren, w a s darüber hinaus als ein w i c h t i g e r Bestandteil d e s politischen S e l b s t v e r s t ä n d n i s s e s A t h e n s zu interpretieren ist. Mit d e m w a c h s e n d e n S e l b s t b e w u ß t s e i n d e s demos
der politisch
und kulturell führenden M e t r o p o l e G r i e c h e n l a n d s bot sich den Dichtern der T r a g ö d i e und der „ A l t e n K o m ö d i e " e i n e recht w e i t g e h e n d e Freiheit d e s Wortes 2 . V o r a l l e m d i e K o m ö d i e g r i f f in phantasievoll k o m i s c h e n G e s c h i c h t e n politische Fragen auf, mit d e m Vorteil, nicht w i e die T r a g ö d i e an ein durch den M y t h o s v o r g e g e b e n e s H a n d l u n g s s c h e m a g e b u n d e n z u sein 3 . D i e Forschungsliteratur z u den e i n z e l n e n K o m ö d i e n , z u D e t a i l f r a g e n oder der Problematik, inwiefern v o n einer „politischen K o m ö d i e " g e s p r o c h e n w e r d e n kann oder w i e ernst A n s p i e l u n g e n a u f Z e i t g e n o s s e n oder Ereignisse a u f g e n o m m e n w e r d e n sollten, ist kaum überschaubar 4 . V e r s u c h e , die K o m ö d i e n d e s Aristophanes als reine P o s s e n s t ü c k e zu deuten, ü b e r z e u g e n dabei kaum und w i d e r s p r e c h e n deutlich d e m antiken Verständnis des „Politischen" 5 . R e i n e Phantasieprodukte hätten a u f die B e n e n n u n g
' 2 3
4
5
historischer
Mittelalter bis zur Gegenwart" an. Zimmermann, Griechische Komödie, 61. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 58. Zu Euripides vgl. Neumann, Gegenwart und mythische Vergangenheit. Vgl. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 57f. Anstelle des deus ex machina der Tragödie schwebt beispielsweise im Frieden des Aristophanes ein Mensch am Bühnenkran, jedoch nicht um die Situation gerade noch rechtzeitig zu bereinigen. Trygaios reitet auf einem Mistkäfer zum Olymp und leitet damit die Handlung erst ein. Aristoph. Pax 80ff. Zur politischen Funktion der beiden Genres und ihren verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten vgl. Effe, Das Theater als politische Anstalt, 49. Zur älteren Literatur vgl. die kleine Bibliographie bei Geizer. Th. Geizer, Aristophanes der Komiker, Sonderausgaben der RE, Stuttgart 1971, 1393-95. Einige weitere Beispiele: V. Ehrenberg, Aristophanes und das Volk von Athen. Eine Soziologie der altattischen Komödie, Zürich (u.a.) 1968; H.-J. Newiger, Aristophanes und die alte Komödie, Darmstadt 1975; M. Heath, Political Comedy in Aristophanes, Göttingen 1987; O. Reverdin/B. Grange (Hrsg.), Entretiens sur L'Antiquité Classique, Aristophane, Genf 1991; A.M. Bowie (u.a.), Aristophanes. Myth, Ritual and Comedy, Cambridge 1993; D. Konstan, Greek Comedy and Ideology, New York [u.a.] 1995; D.M. MacDowell, Aristophanes and Athens. An Introduction to the Plays, Oxford (u.a.), 1996; E. Segal (Hrsg.), Oxford Readings in Aristophanes, Oxford/New York, 1996; M. Vickers, Pericles on Stage. Political Comedy in Aristophanes' Early Plays, Austin 1997; G.W. Dobrov (Hrsg.), The City as Comedy. Society and Representation in Athenian Drama, London 1997. Chapman etwa wendet sich gegen die Auffassungen Ste Croix' und Ehrenbergs. Die Anspielungen in den Komödien blieben laut Chapman fur historische Auswertungen zu vage. Es sei paradox, einen komischen Dichter ernst nehmen zu wollen. Sicherlich könne nicht jeder Bemerkung und damit dem Rohmaterial insgesamt ein Realitäts- und Wahrheitsbezug abgesprochen werden. Ebensowenig dürfe man alle Anspielungen für wahrheitsgetreu halten. G.A.H. Chapman, Aristophanes and History, AClass. 21 1978, 59-70; vgl. auch M. Heath, Political Comedy in Aristophanes, Göttingen 1987, 18. Carey setzt sich bei seiner Untersuchung beispielsweise mit den Forschungen Ehrenbergs
1. Einführung
279
Personen verzichtet und jedem Spott die Spitze und jedem Ulk die Würze genommen. Die teilweise scharfe Ironie der Komödie mußte dabei einen bekannten Bürger vor einem Publikum von mehr als zehntausend Menschen besonders hart treffen 1 . Dem Dichter jegliche politische Absicht abzusprechen oder eine mögliche Beeinflussung der Zuschauer in einer solchen Umgebung zu leugnen, bedeutet meiner Ansicht nach, ihm eine allzu große Naivität zu unterstellen. Das Vergessen der alltäglichen Zwänge durch die respektlose Verspottung bekannter Autoritäten schließt eine gleichzeitig damit einhergehende Kritik an den bestehenden Verhältnissen und deren Wahrnehmung keinesfalls aus 2 . Im Gegenteil - die Komik diente gerade dazu, auf Mißstände hinzuweisen 3 . Für Aristophanes galt es daher, den Geschmack des Publikums zu treffen und es somit zum Lachen zu bringen. Eine wichtige Voraussetzung stellte dabei der Wiedererkennungseffekt dar. Die Zuschauer sollten sich in vielen Einschätzungen bestätigt fühlen, die sie jetzt in zotiger Übertreibung in Szene gesetzt sahen. Für den heutigen Leser verwischen die Konturen zwischen Komik und indirekter Kritik, zwischen den persönlichen Ansichten des Dichters und den in der Komödie aufgegriffenen, vorherrschenden Meinungen der Menge 4 . Daher müssen die verwendeund MacDowells auseinander und kommt zu dem Ergebnis, es handele sich bei Komödien nur um Klamauk und Spaß. Die zum Teil mißverständliche Interpretation Careys übersieht die oben näher erläuterte Bedeutung der Feste für die Polis, in deren Rahmen die Dramen eng eingebunden waren. Ch. Carey, The Purpose of Aristophanes' Acharnians, R h M 136, 1993, 245-263. Dagegen G.Ε.M. de Ste Croix, The Political Outlook of Aristophanes, The Origins of the Peloponnesian War, Ithaca/New York 1972, App. 29, jetzt in: Segal, Oxford Readings, 42-64. Unter vielen anderen seien als Beispiele erwähnt: E.-R. Schwinge, Kritik und Komik. Gedanken zu Aristophanes' Wespen, in: J. Cobet (Hrsg.), Dialogos. Festschrift H. Patzer, Wiesbaden 1975, 35; H.-J. Newiger, Gedanken zu Aristophanes' Vögeln, in: ders., Drama und Theater, 335; D.M. MacDowell, Aristophanes and Democracy, in: M. Sakellariou, Démocratie athénienne et culture, Athen, 1996, 189-197; Effe, Das Theater als politische Anstalt, 49. Zur Forschungsdiskussion vgl. außerdem Kraus, Aristophanes' politische Komödien, 25-30. Der Terminus des .Politischen' umfaßt ein viel weiter reichendes Spektrum als es die moderne Bedeutung erfassen kann. Neben den Aktivitäten der Polis in der Funktion als Stadtstaat insgesamt schließt das „Politische" auch das religiöse und kulturelle Leben in der Stadt mit ein und damit alles, was den polites betrifft. Vgl. Newiger, Die griechische Komödie, 222; Zimmermann, Griechische Komödie, 57. 1
In einer bald erscheinenden Studie weist I. Starke auf den typologischen Charakter der Bühnenfiguren hin. Nicht Perikles oder Kleon, sondern ein bestimmter Poltiker-Typus sei kritisiert worden. N u r so lasse es sich erklären, daß sie weiterhin in Amt und Würden blieben. I. Starke Soziale und mentale Dimensionen des Lachens der griechischen Komödie, München 2002 (?). Dennoch werden die ,prominenten' Personen namentlich genannt und vor dem in etwa gleichen Personenkreis lächerlich gemacht, der sich auch auf der Pnyx zur Volksversammlung einfand - mit dem Unterschied, daß dort nur ca. sechstausend Bürger Platz fanden. Vgl. Geizer, Aristophanes, 153If.; Heath, Political Comedy, 13; Smarczyk, Religionspolitik und politische Propaganda Athens, 166; Welwei, Athen, 167; Ch. Auffarth, Ein seltsamer Priester und seine Jünger. Typisches und Charakteristisches im Bühnen-Sokrates des Aristophanes, in: K. Pestalozzi (Hrsg.), Der fragende Sokrates, Colloquium Rauricum Bd. 6, Stuttgart/Leipzig 1999, 83, Anm. 21.
2
Vgl. Effe, Das Theater als politische Anstalt, 51 mit Literatur.
3
Vgl. auch Schwinge, Wespen, 35. Ste Croix sieht in Aristophanes einen patriotischen Athener, der als Vertreter einer traditionell
4
280
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
ten Vorurteile, Witze, Spötteleien und Übertreibungen auf ihren historischen Gehalt geprüft werden. Die Komödien bieten in jedem Fall ein Stimmungsbild fur die Zeit des ausgehenden 5. Jahrhunderts, das geprägt ist von sozialen Spannungen und politischen Kontroversen 1 . Die ökonomische, soziale und politische Situation der Polis Athen in der Zeit des Peloponnesischen Krieges und in den Jahren unmittelbar nach der Niederlage bilden den historischen Hintergrund für die Komödien des Aristophanes.
1.2
Leben und Werk des Aristophanes
Über die Person des Aristophanes und seine Familie ist nur wenig bekannt. Die wichtigsten Informationen bieten die Komödien selbst. Geboren um 450 als Sohn eines Philippos in dem städtischen Demos Kydathen, der heutigen Plaka, war er selbst Vater dreier Söhne, die ebenfalls als Komödienautoren bezeugt sind2. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts bekleidete der Dichter das Amt eines Prytanen3. Die gesellschaftliche Stellung seiner Familie und seine persönlichen Kontakte bleiben trotz aller Versuche, ihn in eine Beziehung zu den in den frühen Stücken teilweise namentlich genannten Personen aus Kydathen zu setzen, ungewiß 4 . Gegenüber seinem Demengenossen Kleon hegte er eine tiefe Abneigung und Feindschaft, aus der er auch zu Lebzeiten des hochrangigen Politikers keinen Hehl machte 5 . Einer der Gründe dafür lag seinen eigenen Aussagen zufolge in einer nicht näher beschriebenen Verleumdung, die Kleon gegen ihn um 427 im bouleuterion erhoben habe6. Die rechtliche Grundlage der Klage Kleons gegen Aristophanes beruhte möglicherweise auf dem Verbot, sich abschätzig über die Tributzahlungen der Symmachoi zu äußern7. Die wenigen Fragmente der 426
konservativen Sichtweise keineswegs als Oligarch aufzufassen ist, sondern den Zustand vor der „radikalen Demokratie" befürwortete. Ste Croix, Political Outlook of Aristophanes, 45. Anders G o m m e , der darauf hinweist, daß Aristophanes kein Politiker, sondern Komödiendichter war, der auf die Sympathie des Publikums angewiesen ist und in die Stimmung hineinhorchen muß. A.W. G o m m e , Aristophanes and Politics, in: Segal, Oxford Readings, 29-42. 1
So auch M. Heath, Aristophanes and the Discourse of Politics, in: Dobrov, City as Comedy, 230: „Aristophanic comedy contains echoes and representations of contemporary political discourse." Es ist j e d o c h meiner Ansicht nach nicht zu bezweifeln, daß Aristophanes neben aller Ausgelassenheit und Obszönität seinem Publikum eine ernst gemeinte Botschaft vermittelte und dabei durchaus bedacht vorging.
2
Vgl. Geizer, Aristophanes, 1396f. mit Quellenangaben. IG II 2 1740, 1 40; Geizer, Aristophanes, 1396.
3 4 5
Vgl. dazu Geizer, Aristophanes, 1398. Aristophanes betont, er wende sich im Gegensatz zu anderen Autoren gegen noch lebende Politiker. Vgl. Aristoph. nub. 548-560. Daß er damit einfach nur komisch sein wollte, ist meiner Ansicht nac unwahrscheinlich - denn wozu dienten ihm die wiederholten Angriffe gegen Kleon, hätte er sich über den praktischen Wert seiner K o m ö d i e keine Illusionen mehr gemacht, wie Lenz annimmt? L. Lenz, Komik und Kritik in Aristophanes' Wespen, Hermes 108, 1980, 18.
6
Aristoph. Ach. 376-382; vesp. 1284-1291; Aristoph. nub. 581-594. Kleon gehörte im Jahre 4 2 7 zu den Prytanen, 427/26 zu den Hellenotamiai. Thuk. 3.36.6.
7
IG F 34. Kleon war im Jahre 427 Ratsherr. Thuk. 3.36.6. Vgl. Geizer, Aristophanes, 1398f.; Henderson, The D e m o s and the Comic Competition, 81; H. Foley, Tragedy and Politics in
281
1. Einführung
aufgeführten Babylonier zeigen, wie offen die Kritik des Aristophanes an der Behandlung der Bündner durch Athen war1. Ob tatsächlich ein Prozeß stattgefunden hat, bleibt ungewiß. Sicher ist, daß Aristophanes weiter ungehindert dichten und an den Festen teilnehmen konnte. Gestorben ist er schließlich nach 386 2 . Aristophanes verfaßte zahlreiche Komödien, von denen sich siebenunddreißig Titel benennen lassen 3 . Neben zahlreichen Fragmenten der Stücke des älteren, um 480 geborenen Kratinos 4 oder des etwa gleichaltrigen Eupolis blieben elf Komödien des Aristophanes vollständig erhalten 5 . Zum Teil dokumentieren Inschriften das Fest, das Auffuhrungsjahr, den Didaskalos und die jeweiligen Sieger des Agons 6 . Mit seinen Daitales erlangte Aristophanes im Jahre 427 schon als junger Dichter unter der Regie des Kallistratos den zweiten Rang und an den Großen Dionysien des folgenden Jahres mit den Babyloniern vermutlich den ersten Platz. An den Lenäen der Jahre 425 und 424 verwies er jeweils mit den Acharnern und den selbst inszenierten Rittern den bekannten Komödiendichter Kratinos auf den zweiten Platz 8 . Angesichts seiner spektakulären Karriere mußte ihn der Mißerfolg seiner an den Großen Dionysien des Jahres 423 unter eigener Regie aufgeführten Wolken besonders hart treffen. Kratinos' Pytine erreichte den ersten und Ameipsias' Konnos den zweiten Rang vor dem vermutlich letzten Platz für Aristophanes. Dieser reagierte empört und zutiefst verletzt auf das von ihm später angeprangerte Unverständnis des Publikums 9 . Wie sehr ihm das Stück und damit auch das Leitmotiv „Die Sophistik und ihre Wirkung" am Herzen lag, zeigt seine zweite Überarbeitung, die sich nur schwer datieren läßt1 . Immer noch sehr enttäuscht, überließ er die Regie der Wespen dem Philonides. Die Wespen erzielten an den Lenäen des Jahres 422 den zweiten Platz. An den Großen Dionysien des folgenden Jahres verwiesen Eupolis' Schmeichler den Frieden auf den zweiten Rang, und auch die im Jahre 414
1
Aristophanes' Acharnians, in: Segal, Oxford Readings, 117. Vgl. Aristoph. Babyl. 67-100.
2
Vgl. 280, Anm. 2.
3
Vgl. die Liste bei Geizer, Aristophanes, 1403.
4
Zu Kratinos vgl. Nesselrath, Griechische Philologie, 233f. Zwischen dem ersten Komödienagon anläßlich der Städtischen Dionysien des Jahres 486 und dem Ende des Peloponnesischen Krieges wirkten rund fünfzig Dichter. Vgl. Newiger, Die griechische Komödie, 228.
5
6
A. Pickard-Cambridge, The Dramatic Festivals of Athens, revised by J. Gould/D.M. Lewis, Oxford 1968 2 , 101-125; Geizer, Aristophanes, 1405.
7
Aristoph. equ. 507-514. ' 8 Der erste Platz für die Babylonier sche Komödie, 68-70. 9 10
ist wahrscheinlich aber nicht sicher. Vgl. Zimmermann, Griechi-
Vgl. Aristoph. vesp. 1044-1059. Der Umfang und die Datierung der Neubearbeitung sind nach wie vor umstritten. In der Antike lagen noch beide Fassungen vor. Vgl. M. Montuori, Socrates between the first and second clouds, Atti della Accademia di Scienze Morali e Politiche della Società Nazionale di Scienze, Lettre ed Arti o f N e a p l e s , Vol. LXXVII, 1966, jetzt in: ders., Socrates: An Approach, Amsterdam 1985, 87147. Geizer bemerkt, daß die Parabase (518-561), der Redeagon (889-1104) und der Schluß des Stückes (1483-1509) neu gestaltet wurden. Geizer, Aristophanes, 1434f. Vgl. zuletzt E.Ch. Kopff, The Date of Aristophanes' Nubes II, AJPh 111, 1990, 318-329.
282
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
beim großen Polisfest aufgeführten Vögel blieben hinter den Schwärmern des Ameipsias. Die Plazierung der ebenfalls erhaltenen Thesmophoriazusen und der Lysistrate des Jahres 411 ist nicht bekannt. Besonders erfolgreich waren offenbar die 405 an den Lenäen gezeigten Frösche, denen sogar eine Wiederaufführung gestattet wurde 1 . In das beginnende 4. Jahrhundert gehören die um 393-391 datierenden Ekklesiazusen und der Reichtum aus dem Jahre 388 2 . In den Wolken, den Vögeln und den Fröschen wird die neue Intelligenz und die Wirkung ihrer Lehren in Athen zwar unterschiedlich behandelt, was aber auch zeigt, daß die Sophisten in den letzten zwanzig Jahren des 5. Jahrhunderts ein Gesprächsthema blieben. Daß Aristophanes mit seiner Einschätzung der Relevanz der Thematik keineswegs allein stand, dokumentieren Anspielungen in den Komödienfragmenten seiner Kollegen 3 . So erzielte im Jahre 421 der Spott des Eupolis über den reichen Sophistenfreund Kallias in den Schmeichlern einen größeren Erfolg als die phantastische Friedenskomödie des Aristophanes 4 . Auch im Jahre 423 kann nicht der Gegenstand der Handlung zur Niederlage der Wolken geführt haben, denn Ameipsias' Konnos, benannt nach dem Musiklehrer des Sokrates, beschäftigte sich ebenfalls mit dem attischen Gelehrten und den Wirkungen der neuen Lehren 5 . Das Jahr 424 muß Aristophanes ebenso wie Ameipsias, auch in der Hoffnung auf das Interesse des überregionalen Publikums, zur Wahl des Themas inspiriert haben. Die fragmentarische Überlieferung erlaubt leider keinen direkten Vergleich der Theaterstücke. Daher bleiben Antworten auf die Frage, welche Aspekte der Wolken beim Publikum auf Unverständnis stießen, rein hypothetisch. Dennoch bieten sie ein zeitgenössisches Bild der „modernen Intellektuellen", und diese stehen im Mittelpunkt der im folgenden ausführlich vorgestellten Komödienhandlung.
Zimmermann, Griechische Komödie, 22. 2
Zur Chronologie vgl. Geizer, Aristophanes, 1405ff.
3
So wandten sich schon die Panoptai des älteren Kratinos gegen die Sophisten. Vgl. Krat. PCG 158170; Lesky, Griechische Literatur, 474. Vgl. auch Krat. fr. 2.1 (Clem. Alex. Strom. 1.24.1-2) [PCG 2]; Eup. fr. 352.1 [PCG 386]; 447.1 [PCG 483]; Pherekr. 233.1 [PCG 267]; Phrynich. fr. 69.2 [PCG 74]; Plat. Sophistai fr. 134-137 [PCG 154-151], Vgl. dazu Patzer, Sokrates in den Fragmenten, 50-
4
Vgl. Kap. II. 1.1, 44; Ath. 5.218b, c [DK 80 A 11]; Eup. PCG 174, 176.
5
Ameips. Konnos fr. 9 [PCG 9], Vgl. Plat. Menex. 235e; Euthyd. 272c. Patzer weist auf die in den beiden Dialogstellen enthaltene Ironie hin, die auf den Konnos des Ameipsias anspielt. Vgl. Patzer, Sokrates in den Fragmenten, 65f.
81.
2. Die Wolken In den Wolken des Aristophanes betreten nicht Protagoras oder Gorgias als Prototypen komischer Intellektueller die Bühne, sondern mit dem Athener Sokrates eine stadtbekannte Persönlichkeit. Sokrates als einen Sophisten mit einer „Schule" in Athen darzustellen, ist mit dem heutigen, von Piaton geprägten Sokrates-Bild nicht zu vereinbaren. Sicher zur Ehrenrettung seines Lehrers differenziert Piaton zwischen „Sokratik" und „Sophistik" 1 . Im 5. Jahrhundert bezeichnete σοφισταί, wie bereits erwähnt, noch keine klar umrissene Gruppe, sondern erfaßte Naturphilosophen und Gelehrte jeder Art 2 . In den Wolken bringt Aristophanes erstmals den Terminus σοφίσματα mit den neuen Bildungsvorstellungen in Verbindung und bezeichnet Sokrates als Hauptvertreter der Sophisten in Athen 3 . Nur wenn dieser Gedanke dem attischen Publikum nicht völlig abwegig erschien, konnte der Bühnen-Sokrates bei den Großen Dionysien erfolgversprechend sein 4 . An dieser Stelle können nicht die in zahlreichen Arbeiten behandelten Argumente zur Frage nach dem historischen Sokrates diskutiert werden, die sich auf die Darstellungen des Aristophanes, Xenophon und Piaton stützen 5 . Dennoch ist hier die Funktion des Bühnen-Sokrates zu erörtern. Diente er in seiner Eigenschaft als stadtbekannter Intellektueller lediglich als Spottfigur, oder repräsentierte er gar den ,Idealtypus' eines Sophisten aus dem Blickwinkel des Aristophanes und der Öffentlichkeit? Besondere Aufmerksamkeit erfordert die oben formulierte Frage nach der Wahrnehmung der von den Sophisten ausgehenden negativen Wirkungen auf die Polisgemeinschaft. Aufgrund der zahlreichen fur die Thematik relevanten Anspielungen bietet es sich an, den Inhalt des Textes ausführlich kommentiert vorzustellen: Die fünf Szenen der Wolken lassen sich dazu in drei Abschnitte gliedern: Im ersten Teil erhofft sich der Bauer Strepsiades 6 , im neuen Bildungsangebot des Sokrates unlau1
Vgl. Kap. I 3.2, 27.
2
Vgl. Kap. 1.2.
3
Vgl. Kap. I., 21 f.
4
s
Dafür spricht außerdem, daß im selben Jahr Ameipsias Sokrates im Konnos karikierte. Frg. 9 (Seeger, Aristophanes, 732). Bei der „Suche" nach dem historischen Sokrates ist die Darstellungsabsicht der Autoren im Kontext zu berücksichtigen und miteinander zu vergleichen. Vgl. die Einführung der Textausgabe Dovers (S. XXXI-LVII). Zur These der Unvereinbarkeit der Darstellungen vgl. J. Tomlin, Socratic Gymnasium in the Clouds, SO 62, 1987, 25-32; Κ. Kleve, Did Socrates exist?, GB 14, 1987, 123137. Auffarth, Bühnen-Sokrates des Aristophanes, 85. Häufig wird Piatons Symposion
als Beleg für
die eher freundschaftlichen Beziehungen zwischen Aristophanes und Sokrates angeführt (Plat. Symp. 223c-d). Marianetti weist zu Recht darauf hin, daß die Darstellungen Piatons und Xenophons Sokrates idealisieren und nicht den Wolken und damit der einzigen Primärquelle vorzuziehen sind. Vgl. M.C. Marianetti, Religion and Politics in Aristophanes' Clouds, Hildesheim u.a. 1992, u.a. S. 110. 6
Die hier vereinfachte Bezeichnung des Strepsiades als ,Bauer' betont den ländlich geprägten Charakter seiner Familie. Die Einheirat in die städtische Aristokratie zeigt, daß er durchaus kein .einfacher Bauer' war. Vgl. auch Bowie, Myth, Ritual and Comedy, 102f. Die Ursache der Span-
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
284
tere, aber doch erfolgversprechende Methoden zur Beruhigung seiner Gläubiger zu finden1. Den mittleren, zweiten Abschnitt stellt der später verfaßte Agon der ,guten' und der schlechten Rede' 2 , der eine zentrale Stelle einnimmt und zum dritten und letzten Teil überleitet, in dem sich die fatalen Folgen der Ausbildung des Sohnes Pheidippides durch die Sophisten zeigen 3 . Den Schluß bildet die Abrechnung des alten Bauern mit den neuen Lehrern4. Im Prolog erscheint der von Sorgen geplagte, durch die Pferdeleidenschaft und den Lebenswandel seines Sohnes hoch verschuldeten Strepsiades. Der Bauer plant, seinen Sohn zur Belehrung in die mit den folgenden Worten beschriebene „Denkerwerkstatt" (φροντιστήριον) zu geben: St. Das ist die Werkstatt tiefgelehrter Denker, D a wohnen Männer, die beweisen dir: Der Himmel sei ein mächtiger Backofen, Der uns umgibt, und wir die Kohlen drin; Die lehren dich fürs Geld die Kunst, mit Worten Recht oder Unrecht glücklich zu verfechten 5 .
Die Verse lassen sich vielfältig deuten: Sie verweisen auf die naturphilosophisch-kosmologischen Spekulationen des bekannten zeitgenössischen Pythagoreers Philolaos von Kroton, der im Mittelpunkt des Kosmos ein zentrales Feuer und nicht die Erde vermutete6. Die Innen-Außen-Dichotomie ist aber auch typisch für Mysterienkulte, und im weiteren Handlungsverlauf findet sich eine Reihe parodisierender Vergleiche mit den
nungen innerhalb seiner Familie ergeben sich f ü r ihn vor allem durch die Vernachlässigung der ländlichen Tugenden in der Erziehung seines Sohnes. Der N a m e des Sohnes, Φ ε ι δ ι π π ί δ η ς , „Sparpferd", verbindet die beiden Familientraditionen, die Sparsamkeit des Bauern und die Pferdeliebe des reichen Aristokraten. Aristoph. nub. 65-80. Der redende N a m e Σ τ ρ ε ψ κ χ δ η ς („Verdreher") deutet gleich auf die betrügerischen Pläne des „Rechtsverdrehers". Vgl. Geizer, Aristophanes, 1437. 1
Aristoph. nub. 126-888.
2
Aristoph. nub. 889-1104. Zur späteren Abfassungszeit des Agons vgl. Geizer, Aristophanes, 1435.
3
Aristoph. nub. 1321-1471. Die vierte Szene ist in der groben Einteilung ausgespart, denn in ihr bahnt sich das Unheil bereits an, obwohl sich die Situation scheinbar zur Zufriedenheit des Strepsiades entwickelt. Ihm gelingt es, die Gläubiger abzuwenden. Vgl. Aristoph. nub. 121 Off.
4
Aristoph. nub. 1471-1510.
5
Aristoph. nub. 94-99:
ψυχών σοφών τοΰτ' έστί φροντιστήριον. ένταύθ' ένοικοΰσ' άνδρες, οϊ τον ούρανόν λέγοντες άναπείθουσιν ώς έστιν πνιγεΰς, κάστιν περί ήμάς ούτος, ήμείς δ' άνθρακες, ούτοι διδάσκουσ', άργύριον ήν τις διδώ λέγοντα νικάν και δίκαια κάδικα. Die Übersetzungen werden nach Seeger zitiert; auf Abweichungen wird gesondert hingewiesen. 6
Aët. 2.7.7 [DK 44 A 16] (Mansfeld 55): „Philolaos sagt, es gebe in der Mitte um das Zentrum ein Feuer, das er Herd des Weltalls nennt und Haus des Zeus und Mutter der Götter und Altar und Zusammenhalt und M a ß der Natur. Das Firmament sei ein zweites Feuer; es liege am höchsten." Vgl. auch Nesselrath, Griechische Philologie, 511.
2. Die Wolken
285
Eleusinischen Mysterien 1 . Der Beschreibung der menschlichen Außenwelt als Inneres liegt außerdem ein mit dem Homo-Mensura-Satz des Protagoras verwandtes Denken zugrunde, kommt es doch auf den Blickwinkel des Betrachters an2. Neben der Kosmologie oder der Erkenntnistheorie lernt der Schüler gegen ein entsprechendes Entgeld die Anwendung sprachlicher Mittel. Danach kann er nach Belieben das Gerechte oder das Ungerechte durchsetzen, was wiederum an das rhetorische Lehrangebot des Protagoras erinnert. Die Kunst des Sophisten, das schwache Argument zum starken zu machen, wird hier eindeutig negativ ausgelegt 3 . Von den Lehren, die aus dem geheimnisvollen Inneren des Phrontisterions nach außen gedrungen sind, erscheint dem Strepsiades die Rhetorik als das für seine Zwecke nützlichste Mittel. Er erklärt, Pheidippides solle die dort vermittelte Kunst erlernen, mit Worten Recht oder Unrecht gleichermaßen siegreich zu vertreten4. Denn dann vereinige sich die ,gute' (κρείττων) und die schlechte (ήττων) Rede' und von beiden siege die schlechte und ungerechte 5 . Empfiehlt Strepsiades seinem Sohn die „sorgenvollen Grübler aus den vornehmsten Kreisen" (καλοί τε κάγαθοί), erkennt dagegen Pheidippides in ihnen Sokrates und Chairephon als lästige Schurken (πονηροί), die von „schlechtem Geist befallen" (κακοδαίμων) seien 6 . Allein getrieben von der Sorge, sich nach der Schulung vor den Rittern wegen der blaß gewordenen Haut zu blamieren, kommt er dem Wunsch seines Vaters nicht nach. Was hier als Nebensächlichkeit anklingt, deutet bereits auf das Abnorme, das Marginale in der Ausbildung im Phrontisterion hin. Die blasse Haut beschreibt den effeminierten Charakter der Schüler, die das Gebäude offenbar selten verlassen. Das Leben im Phrontisterion steht dabei ganz im Gegensatz zu der traditionellen Schulung der männlichen Jugend und der Epheben 7 . Barfuß und, was später anklingt, ungewaschen und unrasiert widmen sich die Schüler der Sophisten den geistigen Studien, und schon durch
Vgl. Marianetti, Aristophanes' Clouds, 11. Patzer spricht von der orphisch-pythagoreischen Mystik, der naturphilosophischen Spekulation einerseits und der sophistischen Rhetorik andererseits, welche im Denkgehäuse betrieben werden, und grenzt damit den Beschäftigungsrahmen der Sophisten unzulässig ein. Vgl. A. Patzer, Die Wolken des Aristophanes als philosophiegeschichtliches Dokument, in: P. Neukam (Hrsg.), Dialog Schule & Wissenschaft. Motiv und Motivation. Klassische Sprachen und Literatur, München 1993, 75. 2
Seel verweist in seinem Textkommentar auf ein ähnliches Denken in der etwa im Höhlengleichnis veranschaulichten Ideenlehre Piatons. Seel, 100. Die erkenntnistheoretischen Überlegungen bauen hier sicherlich aufeinander auf. Im Jahre 423 liegt eine Anspielung auf protagoreisches oder pythagoreisches Denken nahe.
3
Vgl. Kap. II 1.2 a, 58, Anm. 4, 5; Aristot. Rhet. 1402a23 [DK 80 Β 6b]; vgl. dazu D.E. O'Regan, Rhetoric, Comedy and the Violence of Language in Aristophanes' „Clouds", Oxford 1992, 27-30.
4
Vgl. Aristoph. nub. 94-99.
5
Aristoph. nub. 112-115, zitiert Kap. II 2.2 a, 58, Anm. 5.
6
Aristoph. nub. 100-104.
7
Aristoph. nub. 199f.; equ. 103, 119f.; ran. 1092; Thesm. 191; Ekkl. 62-64, 699. Vgl. Bowie, Myth, Ritual and Comedy, 106.
286
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
ihr äußeres Erscheinungsbild sondern sie sich sektenhaft von der „normalen" Gesellschaft ab1. Nach der Weigerung seines Sohnes begibt sich Strepsiades nun selbst zum Phrontisterion, voller Zweifel, ob er als alter, langsamer und vergeßlicher Mann noch die Feinheiten der präzisen Rede lernen könne 2 . In der auf die Riten der Mysterien von Eleusis anspielenden Empfangsszene 3 stellt ihm ein Schüler die unterschiedlichen Forschungsgebiete vor. Die sich fortsetzende Parodie der Mysterienriten bildet dabei eine die gesamte Komödie durchlaufende Handlungsebene. Aristophanes arbeitet mit einem Verfremdungseffekt, indem er dem Zuschauer Elemente des eleusinischen Kultes auf einen profanen Bereich angewandt präsentiert. Es handelt sich aber nicht um eine blasphemische Profanierung der Mysterien, denn sein Vorwurf richtete sich gegen den, einer mystischen Kultgemeinschaft gleichenden, geschlossenen Zirkel „moderner" Intellektueller 4 . Daß alle Zuschauer die ,Usurpation' der geheiligten Riten für eine Komödienhandlung tolerierten, ist zu bezweifeln. Viele von ihnen gehörten selbst zu den mystai und blieben im Gegensatz zu den Pythagoreern im Polisleben integriert 5 . Gerade in einer Zeit, in der Athen zusehends die Mysterien zur Stärkung der inneren Herrschaft und zur religiösen Legitimation der Hegemonialmacht vereinnahmte, mußte die Parodie in führenden politischen Kreisen auf Ablehnung stoßen 6 . Möglicherweise lag hierin eine der Ursachen, weshalb die Komödie bei ihrer Uraufführung nicht begeistert aufgenommen worden war. Aristophanes machte sich aber trotz aller Anspielungen nicht des Verrats an den Mysterien schuldig, denn das Phrontisterion/Telesterion barg seine eigenen Geheimnisse: So hört Strepsiades noch vor den Toren ehrfürchtig von Sokrates' „wichtigen" Studien über Flohfüße und Mückenhintern. Ein Blick in das düstere Innere des Gebäudes zeigt die Schüler bei Forschungen zu dem, „was die Erde betrifft", so zum Beispiel bei der Suche nach dem Tartaros im Unterirdischen, der Astronomie und Geometrie 7 . Der naive Bauer beurteilt alles aus der Warte seines auf die Landwirtschaft begrenzten Ho-
1
Aristoph. nub. 200-217, 835-387. Die abgesonderte, asketische Lebensweise deutet auf die Pythagoreer hin. Vgl. Marianetti, Socratic Mystery-Parody and the Issue of α σ έ β ε ι α in Aristophanes' Clouds, SO 68, 1993, 14; Patzer, Wolken, 1993, 76f.; Auffarth, Biihnen-Sokrates des Aristophanes, 86.
2
Aristoph. nub. 129f.
3
Der nach Wissen Strebende ist der Initiand, die Ideen und Lehren sind die Mysterien. Vgl. u.a. Aristoph. nub. 140-143. Vgl. den Kommentar zum Text bei Dover, 112; Janko, The Physicist as Hierophant, 69; Marianetti, Socratic Mystery-Parody.
4
Vgl. dazu die überzeugende Studie Marianettis. Marianetti, Socratic Mystery-Parody. Marianetti, Socratic Mystery-Parody, 30f.
5 6
Vgl. dazu den Beschluß Athens zur Abgabenpflicht der Bündner zu Ehren der Göttinnen aus dem Jahre 422. Er ist als eine wichtige religionspolitische M a ß n a h m e zur Stärkung der attischen Herrschaft im Innern zu werten und zeigt das Bestreben der Integration der Seebundstaaten durch eine religiöse Anbindung. Vgl. IG I3 78; dazu Smarczyk, Religionspolitik und politische Propaganda Athens, 167-298, bes. 265f.; Marianetti, Socratic Mystery-Parody, 10.
7
Aristoph. nub. 143-217.
287
2. Die Wolken
rizontes und drängt in das Innere des Hauses. Dort erblickt er den Meister Sokrates, der in einem Korb an der Decke hängt. St. N e i n , aber sag, w a s machst du denn da oben? So. In Lüften s c h w e b e ich und spekuliere über die Sonne. St. Dann spekulierst du v o m Korb aus über die Götter, aber nicht v o n der Erde aus? So. N i e könnte ich anders die himmlischen D i n g e richtig herausfinden, w e n n nicht s c h w e b e n d den Verstand und das D e n k e n die Luft zu e i n e m ähnlichen Element mischte'.
Am Ende der Komödie werden die Zeilen im selben Wortlaut mit vertauschten Rollen wieder aufgegriffen und stecken somit den Rahmen der Handlung fest 2 . Der gesamte Kosmos gehört zu den Forschungsgebieten der „Denkerwerkstatt", darunter befinden sich naturphilosophische Überlegungen, Jenseitsforschung, Astronomie, Mathematik und Geometrie, aber auch die Frage nach den Göttern und der menschlichen Erkenntnis wird gestellt. Damit scheint die gesamte Spannbreite des menschlichen Wissens durch Sokrates und seine Schule vertreten zu sein. Strepsiades legt Sokrates jetzt den Grund seines Kommens dar und schwört bei den Göttern, für die Ausbildung gleich zu zahlen. Sokrates verwickelt ihn daraufhin in ein Gespräch: So. Bei w e l c h e n Göttern schwörst du? Zuerst einmal sind Götter bei uns nämlich gar nicht anerkannt 3 .
Indem Sokrates hier offen bekennt, die Götter nicht dem Kult entsprechend zu verehren, macht er sich der Asebie schuldig. Er verspricht, Strepsiades in sein Wissen einzuweihen, wenn dieser die göttlichen Angelegenheiten (τα θεια π ρ α γ μ α τ ' ) deutlich sehen (είδέναι σαφώς) möchte, wie sie tatsächlich (ορθώς) sind. Nach dem Bekenntnis des
1
A r i s t o p h . n u b . 2 2 4 - 3 0 ( d i e Ü b e r s e t z u n g w e i c h t v o n der S e e g e r s ab):
Στ. πρώτον μέν ö τι δρα ς άντιβολώ κάτειπέ μοι. Σω. άεροβατώ κ α ι περιφρονώ τον ήλιον. Στ. έπειτ' άπό ταρροΰ τους θεούς ύπερφρονείς, ά λ λ ' ούκ άπό της γης, είπερ; Σω. ού γαρ αν ποτε έξηΰρον όρθώς τα μετέωρα πράγματα, εί μή κρεμάσας το νόημα κ α ι την φροντίδα λεπτήν κ α τ α μ ε ί ξ α ς ές τον ομοιον αέρα. E s h a n d e l t s i c h o f f e n b a r u m d i e P a r o d i e der L e h r e d e s D i o g e n e s v o n A p o l l o n i a : T h e o p h r a s t , V o n der S i n n e s w a h r n e h m u n g 3 9 [ D K 6 4 A 19; C a p e l l e , 3 1 3 , 11]: „ W i e L e b e n u n d D e n k v e r m ö g e n , s o s c h r i e b D i o g e n e s der L u f t a u c h d i e S i n n e s v e r m ö g e n z u ..." V g l . d a z u G e i z e r , A r i s t o p h a n e s , 1 4 3 8 ; Janko, T h e P h y s i c i s t as H i e r o p h a n t , 8 0 , 87. 2
Aristoph. nub. 1503.
3
Aristoph. nub. 2 4 7 - 2 4 8 (die Übersetzung weicht von der Seegers ab):
Σο. ποίους θεούς όμει σύ; πρώτον γαρ θεοί ήμϊν νόμισμ' ούκ έστι. S c h o n in den Rittern 31-34.
des Vorjahres klingen die Z w e i f e l an der Existenz der Götter an. Aristoph. equ.
288
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
Bauern zu den Wolken setzt er das Initiationsritual fort, denn erst danach ist es dem Initianden möglich, mit den neuen Göttern (δαίμονες) in Kontakt zu treten 1 . Jetzt erscheint der Wolkenchor und lobt voller Ironie Athen als Wahrer des Eleusinischen Mysterienkultes. Damit kritisiert Aristophanes indirekt die zeitgenössische Religionspolitik 2 . Die lobenden Worte lassen sich auch nicht mit der Benutzung der Riten des Mysterienkultes durch Sokrates vereinbaren. Damit ergeben sich erste Zweifel an der im folgenden beschriebenen Natur der Wolken durch den „Hierophanten" Sokrates: So. ..., die himmlischen Wolken sind's, der Müßigen göttliche Mächte, Die Gedanken, Ideen, Begriffe, die uns Dialektik verleihen und Logik, und den Zauber des Worts, und den blauen Dunst, Übertölpelung, Floskeln und Blendwerk 3 .
Ό άνήρ άργός meint hier sicher nicht einfach einen „Faulpelz", sondern in erster Linie einen Mann, der über Zeit und damit in der Regel über Geld verfügt, den Unterricht wahrzunehmen 4 . Auch die weitere Erläuterung erhält einen negativen Beigeschmack, wenn Sokrates erklärt, daß die Wolken Verstand, Debattierkunst und Geist bereithalten, aber auch Tricks, Blendwerk und Floskeln. Mit Ideen und Lehren zu allen Dingen nähren sie die Sophisten und somit die Quacksalber, die Langhaarigen mit Siegelringen, die Lügenastronomen und faulen Nichtsnutze 5 . Allein die phantasievollen Wortschöpfungen dokumentieren deutlich die Ironie der Verse. Der Höhepunkt der .Mysterien' vollzieht sich, indem die Wolken Gestalt annehmen, in die Orchestra strömen und sich dem Strepsiades zeigen. Eine solche Gunst gewährten sie außer Sokrates und Prodikos keinem anderen „Meteorsophisten": Ch. Denn der Überschwenglichen keinem, fürwahr, von der Zunft der Sophisten verleihen wir Gehör, als etwa dem Prodikos, der es verdient durch Weisheit und Tiefsinn, und dir, weil du breit durch die Straßen stolzierst und die stierenden Augen umherwirfst, stets barfuß gehst und den Leib kasteist und die Nas' als der Unsre - so hoch trägst6.
' 2 3
Vgl. Aristoph. nub. 153. Aristoph. nub. 299-313. Aristoph. nub. 316-18:
Σο.... ούράνναν Νεφέλαν μεγάλαι θεαί άνδράσνν άργονςανπερ γνώμην καν δνάλεξνν καί νουν ήμνν παρέχουσιν καί τερατείαν καί περίλεξνν καί κροΰσνν καί κατάληψνν. 4
Vgl. Welskopf, Sophisten, 1930.
5
Aristoph. nub. 331-334, zitiert in Kap. I 2, 21, Anm. 2.
6
Aristoph. nub. 359-363 [DK 84 A 5]:
Xo. ού γαρ αν ά λ λ ω γ ύπακοΰσανμεν των νυν μετεωροσοφνστών πλην ή Προδίκω, τω μέν σοφίας καί γνώμης ούνεκα, σον δε, οτν βρενθΰεν τ' έν τανσνν όδονς καί τώφθαλμώ παρα-
289
2. Die Wolken
Das Sokratesbild der Wolken unterscheidet sich von dem der übrigen Komödienhandlung, wenn sie ihn als barfuß durch die Straßen stolzierend beschreiben und nicht etwa als den „abgehobenen" im Phrontisterion verborgenen Gelehrten, denn hier trägt er seine asketische Lebensweise in eitler Selbstdarstellung zur Schau. Auch Xenophon oder Piaton zeigen ihn - wenn auch anders dargestellt - auf dem Weg zum Gymnasium oder der Agora, womit an dieser Stelle fern von aller Polemik ein kurzer Blick auf den „historischen Sokrates" gestattet ist1. Der weitere Handlungsverlauf wird zeigen, daß es sich bei dem scheinbaren Lob der Weisheit und des Verstandes des Prodikos und des Sokrates um reine Ironie und Spott handelt. Doch zunächst zurück zu der Debatte zwischen Sokrates und seinem alten Schüler: St. Wer treibt sie (Wolken) denn aber? Das ist doch Zeus, der sie nötigt, sich fortzubewegen? So. Nein, Mensch! Der ätherische Wirbel ist's! 2
Sokrates erklärt mit den Argumenten der Naturphilosophie, es gebe keinen Zeus - ούδ' εστί Ζευς 3 . Bestehen blieben nur drei Gottheiten, nämlich das Chaos, die Wolken und die Zunge - Χάος ... Νεφέλας ... γλώτταν 4 . Aristophanes stellt hier eine enge Verbindung zwischen Sokrates, Prodikos und an späterer Stelle Diagoras von Melos her5. Gemeinsam ist ihnen das Verleugnen der von den Menschen verehrten Götter6. Der utilitaristischen Religionstheorie des Prodikos zufolge hielten die Menschen in einer ersten Entwicklungsphase die nützlichen Dinge aus der Natur für göttlich7. Auf diese Stufe stellt der Dichter den naiven Bauern Strepsiades, der sogleich die positiven Wirkungen der Wolken auf die Landwirtschaft bemerkt 8 . Sokrates bezeichnet dagegen die Wolken als Hüter der Ideen, des Denkvermögens und damit als die einzigen Götter. Darin folgt er offensichtlich den βάλλεις, κάνυπόδητος κακά πόλλ' άνέχει κάφ' ήμΐν σεμνοπροσωπείς. Vgl. Kap. II 3.1, 133. 1
Aristoph. nub. 362f.
2
Aristoph. nub. 379f.:
Στ. ó δ' άναγκάζων έστί τίς αύτάς, ούχ ö Ζεύς, ώστε φέρεσθαι; Σω. ήκιστ' άλλ' αιθέριος Δίνος. Sokrates spielt auf eine von Anaximander vermutete ,Rotationstheorie' zur Evolution des Universums an, die auch Anaxagoras aufgriff: Aët. 2.13.3 [DK 59 A 71]. Kritias setzte die Idee eines rotierenden
Δίνος
in seinem Kosmosentwurf voraus. Vgl. Kap. II 7.2c, 251.
3
Aristoph. nub. 367.
4
Aristoph. nub. 422.
5
Aristoph. nub. 830.
6
Vgl. Kap. II 3.2.
7
Möglicherweise konnten einige der Zuschauer Assoziationen zu der Theorie des Prodikos herleiten,
8
der seiner Theorie zufolge in den Wolken natürlich keine Gottheiten sah. Vgl. Kap. II 3.3. Aristoph. nub. 330.
290
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
Vorstellungen des Diogenes von Apollonia, für den die Luft der ,Stoff ist, der das Denkvermögen beinhaltet'. Die Wolken versprechen schließlich dem Strepsiades, das Erwünschte zu bekommen, und übergeben ihn in die Hände ihrer „Priester" . Zum Abschluß der ersten Szene mahnen sie die besonders Weisen unter den Zuschauern, sie künftig mit Opfern zu ehren und ihre Zeichen zu deuten 3 . Entgegen ihrer eben vorgestellten „sophistischen" Natur rufen sie aber schließlich die Götter Zeus, Poseidon, Äther und Helios an. Diese scheinbare Inkonsequenz der Handlung ist an dieser Stelle entweder mit dem Recht der Komödie zu erklären, nicht immer logisch und folgerichtig sein zu müssen 4 , oder aber als Hinweis auf einen sich abzeichnenden Wandel der „neuen Wolken-Gottheiten" zu verstehen 5 . Wahrscheinlich bieten sie mit der Anrufung der olympischen Götter und des Äthers als dem in der Naturphilosophie anerkannten Grundstoff einen Blick auf ihre am Ende offenbarte wahre Natur 6 . Die zweite Szene beschreibt die verzweifelten Versuche des Sokrates, dem alten Strepsiades sprachliche Formen und Rhythmen beizubringen. Die folgenden komischen Erläuterungen zum korrekten sprachlichen Gebrauch des Genus lassen abermals an das Lehrangebot des Protagoras denken 7 . Schließlich erweisen sich alle Bemühungen des Sokrates als vergeblich, und Strepsiades folgt dem Rat der Wolken, den jungen Pheidippides zum Phrontisterion zu schicken. Zuvor erläutert der Vater seinem Sohn die Vorstellungen des „Meliers" Sokrates 8 . Diese ironische Spitze richtet sich gegen den Atheismus und den respektlosen Umgang mit den Mysterienriten, die für den mit dem Bühnen-Sokrates gleichgesetzten Diaogoras von Melos belegt sind9. Den zweiten großen Abschnitt der Handlung bestimmt der Agon der logoi - ein antilegeirt, für das vielleicht Protagoras' Antilogion ein Vorbild war . Beide logoi bieten 1
Diogenes von Apollonia: Simpl. phys. 151, 28 [DK 64 Β 5]; vgl. dazu Capelle, 312, 9. Anaxagoras übte neben Leukippos und Heraklit einen besonderen Einfluß auf Diogenes aus. Vgl. dazu Janko, The Physicist as Hierophant, 84, 92.
2
Aristoph. nub. 434-437. Bei einer entsprechenden Deutung könne sich alles noch zum Guten wenden. So lautet der Rat der Wolken, Kleon aus der Stadt zu verweisen. Aristoph. nub. 590ff.
3
4 5
6 7
Vgl. Seel, 111. Vgl. Marianetti, Aristophanes' Clouds, 100. Marianetti interpretiert den Wolkenchor als einen Teil der nomos-physis Antithese. Vgl. Segal, Aristophanes' Cloud-Chorus, 162-182. Aristoph. nub. 641-694; vgl. Kap. II 1.1, 46.
8
Aristoph. nub. 830.
9
Diagoras vertrat u.a. wohl die Ansicht, daß der Glaube an die traditionellen Götter aus der Ionischen Naturphilosophie erwachsen sei. Vgl. dazu Janko, The Physicist as Hierophant, 87, 91. Zu Diagoras, vgl. auch Aristoph. av. 1072ff.; ran. 320. Kap. II 1.2, 52; 1.2 b, 61, Anm. 8. Diagoras galt nach dem antiken Verständnis als Atheist, weil er die Götter nicht dem Kult entsprechend verehrte. Es ist dagegen durchaus nicht eindeutig zu belegen, ob seine Haltung auch nach dem modernen Verständnis als atheistisch gelten kann. Vgl. Smarczyk, Religionspolitik und politische Propaganda Athens, 281 f.
10
Aristoph. nub. 889-1105. Vgl. Kap. II 1.1,46.
2. Die Wolken
291
sich Pheidippides als die jeweils besseren Lehrer an1. Zuerst ruft die ,gute (κρεάτων) Rede' ihren Gegner auf die Bühne und stellt ihn als die schlechte (ήττων) Rede' vor. Die schlechte Rede' gibt sich siegesgewiß und antwortet auf die Frage nach ihrem Vorgehen, sie decke neue Erkenntnisse auf - γνώμας καινοίς έξευρίσκων 2 . An die Stelle des , Sophisten' Sokrates tritt jetzt mit der schlechten Rede' die negativ überzeichnete Personifikation der neuen Erziehung und Bildung. Die ,gute Rede' tritt dagegen als Fürsprecherin der alten Erziehung und des Rechts auf. Dem erwidert die schlechte Rede', das Recht sei leicht zu widerlegen, schließlich existiere es gar nicht. Der Einwand, es sei aber göttlich legitimiert, wird mit dem Mythos, Zeus habe sogar seinen eigenen Vater erschlagen, negiert3. Auf den Vorwurf, durch solche Argumentation werde die Jugend verdorben4, folgt ein Schlagabtausch mit diversen Beschimpfungen, in den die Chorfuhrerin mit der Forderung eingreift, jeweils das Pro- und ContraArgument für die alte und fur die neue Erziehung vorzubringen. Die .schlechte Rede' überläßt ihrer Gegnerin zuerst das Wort, weil sie sich besser auf das Widerlegen versteht. Die ,gute Rede' preist die Gerechtigkeit (δίκαια), die Mäßigung (σωφροσύνη) in der Vergangenheit, als die Jungen noch folgsam zum Musik- und Sportunterricht gegangen, sittsam und bescheiden gewesen seien5. Die traditionelle Erziehung und die alten Tugenden manifestierten sich in der Heroisierung der Marathonkämpfer6. Dem hält sie nun den beklagenswerten Zustand der „modernen" Jugend entgegen, die schamlos und verweichlicht sei und keine Achtung vor dem Alter oder den Eltern hege. Statt im Gymnasium zu üben, vertrieben die jungen Männer schwatzend auf dem Markt die Zeit oder stritten über Nichtigkeiten vor Gericht7. Und auch ihre äußere Erscheinung sei von solch üblem Lebenswandel geprägt, denn Folge seien die bleiche, gelbe Gesichtsfarbe, schmächtige Schultern, ein großer Mund, ein großes Geschlechtsorgan und ein kleines Gesäß8. - Damit ist die Karikatur des komischen Intellektuellen geschaffen. Die .schlechte Rede' dagegen verspricht als Bildungsmaxime, die Gesetze und das Recht stets zu widerlegen und den schlechten Argumenten zum Sieg verhelfen zu können9. Was in der Gegenwart zähle, sei nicht mehr, wie einst der Heros Peleus ein Schwert zu erlangen, sondern wie der Lampenhändler Hyperbolos viel Geld zu verdienen und ein angenehmes Leben zu führen10.
1
2 3 4 5 6 7 8 9 10
Aristoph. denken. Aristoph. Aristoph. Aristoph. Aristoph. Aristoph. Aristoph. Aristoph. Aristoph. Aristoph.
nub. 929-931. Pheidippides und Sokrates sind hier als stumme Zuhörer auf der Bühne zu nub. nub. nub. nub. nub. nub. nub. nub. nub.
896. 904f. 916-919, 927f. 961-982. 986f. 1003f. 1015-1018. 1040-1042. 1061-1076.
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
292
Zugunsten der neuen Gesetzmäßigkeiten des wirtschaftlichen und politischen Lebens in der Polis geraten in dem neuen Erziehungsmodell mythische Vorbilder, Götterglaube, Sitte oder Moral ins Hintertreffen. Zum Ende folgt somit der Aufruf, nicht sittsam und prüde, sondern triebhaft zu leben: Folg deinen Trieben, spring und lach und halte nichts für Sünde! Und trifft der Mann bei seiner Frau dich an, dann widersprich ihm: Du seist dir keiner Schuld bewußt, er soll' an Zeus nur denken, der selbst der Lieb' und schönen Frau'n nicht widerstehen konnte: Wie solltest du, der Sterbliche, mehr als der Gott vermögen? 1
Die schlechte Rede' zieht abermals einen Mythos heran, um die Abkehr von traditionellen moralischen und gesellschaftlichen Normen zu rechtfertigen. Eine Vorbildfunktion durch die Verbindlichkeit der mythischen Überlieferung erscheint völlig absurd. Aristophanes verknüpft hier eine Mythenkritik mit dem in Gorgias' Helena ähnlich verwandten Argument der göttlichen Stärke, dem ein Mensch naturgemäß unterliegen müsse 2 . Für den Agon der logoi als Gesamtkonzept konnten dem Komödienautor neben den Werken des Gorgias auch die des Protagoras oder der von Prodikos neu geschaffene Mythos „Herakles am Scheideweg" zum Vorbild dienen 3 . Zwar lassen sich die Hören nicht präzise datieren, aber die unterschwelligen Hinweise in den Wolken auf die Religionstheorie zeigen, daß Aristophanes vermutlich das Gesamtwerk des Sophisten kannte. Die in der Komödie beschriebene Beziehung des Sokrates zu der Lehrmeinung des Prodikos hat möglicherweise einen realen Hintergrund, findet sie doch in den Memorabilien des Xenophon ihre Bestätigung 4 . In den Wolken steht Pheidippides wie Herakles an einem Wendepunkt in seinem Leben und trifft seine Entscheidung. Nicht jeder kann wie ein ,Heros', der natürlich den richtigen Weg wählt, mit einer von Mythos und Religion gelösten Lebensplanung umgehen, so könnte der Vorwurf des Dichters gegen das atheistische Moralkonzept des Sophisten lauten. 1
Aristoph. nub. 1078-1082 (die Übersetzung weicht von der Seegers ab):
έμοί δ' ομιλών χρω τη φΰσει, σκίρτα, γέλα, νόμιζε μηδέν αίσχρόν. μοιχός γαρ ήν τ ύ χ η ς άλούς, τάδ' άντερεις προς αύτόν, ώς ούδέν ήδίκηκας· ειτ' ές τον Δί' έπανενεγκείν, κά κείνος ώς ήττων έρωτος έστι κ α ι γυναικών· καίτοι σ ύ θνητός ων θεού πώς μείζον αν δύναιο; 2
Schon Xenophanes kritisierte, wie bemerkt, das unmoralische Vorgehen der Götter. Vgl. Sext. Emp. adv. math. 9.193 [DK 21 Β 11]; Kap. II 1.2 b, 60f. Vgl. Gorg. Hei. [fr. 11.6]; dazu Kap. II 2.2.2 d, 95. Vgl. auch Aristoph. Ach. 514-519.
3
So auch Bowie, Myth, Ritual and Comedy, 109; vgl. Kap. II 1.1, 46; Kap. II 3.4. Vgl. auch Moulton, On Truth, 359f. Die lehrreiche Herakles-Geschichte fügt sich gut in die Kulturentstehungslehre des Sophisten Prodikos ein, den Aristophanes auch namentlich erwähnt.
4
Vgl. Xen. mem. 2.1.21-33 [DK 84 Β 2], Kap. II 3.4.
2. Die Wolken
293
In den Wolken siegt die schlechte Rede', die den Reichtum und das angenehme Leben empfiehlt. Sie stützt sich auf rhetorische Ausbildungsprogramme und die amoralische Welt der ,Natur', denn die Argumentation beruht auf der bekannten nomos-physis Antithese1. Aufgrund dieser Argumentation der .schlechten Rede' gibt sich die ,gute Rede' geschlagen, legt ihr Kostüm ab und verläßt schließlich die Szene2. Mit der Bemerkung, Pheidippides werde schon ein rechter Sophist - άμέλει κομιέί τούτον σοφιστήν δεξιόν - wendet sich die ήττων λόγος dann an den begeisterten Strepsiades, während Pheidippides sich - wenig begeistert - schon als blaß und von üblem Geist befallen sieht - ώχρόν μεν οΰν οίμαί και κακοδαίμονα 3 . Der Sohn lehnt zunächst noch das von der schlechten Rede' vertretene Bildungsangebot ab4; die Chorführerin ergreift in dieser Situation Partei und wendet sich mahnend an Strepsiades, er werde seine Entscheidung für die neue Erziehung noch bereuen5. Schließlich fordern die Wolken in der Parabase am Ende der Szene abermals die gebührende Verehrung ihrer Göttlichkeit und drohen mit ihrer Naturgewalt6. Die folgende Szene setzt voraus, daß Pheidippides sich am Ende doch einer sophistischen Ausbildung durch Sokrates unterzogen hat, denn bereits zu Beginn entlohnt Strepsiades den Lehrer Sokrates für die erfolgreiche Ausbildung seines Sohnes7. Zunächst leugnet der sprachgewandte und im Argumentieren frisch geschulte Pheidippides 1
Vgl. Segal, Aristophanes' Cloud-Chorus, 177; O'Regan, Language in Aristophanes' „Clouds", 103. Moulton bemerkt, daß die Antithese kaum einem der bekannten Sophisten direkt zuzuordnen sei. Bei dem adikos logos könne es sich zwar um eine Parodie der Schrift Antiphons „Über die Wahrheit" handeln, ebenso gut könne es aber auf Schriften des Protagoras, Hippias oder Prodikos hinweisen. Vgl. Moulton, On Truth, 359f. Vickers sieht in dem Agon der logo i eine mögliche Vorlage des Thukydides fur den Melierdialog. Die Wolken dienten laut Vickers zur Charakteristik des Perikles, der wie Strepsiades der älteren Generation angehöre und wie die „gute Rede" für die traditionellen Werte eintrete. Die „schlechte Rede" habe ein Vorbild fur die Charakteristik des Alkibiades geboten, der ihr als junger Mann wie Pheidippides folgte. M. Vickers, Alcibiades and Melos: Thucydides 5.84-116, Historia 48, 1999, bes. S. 269-272. Die Interpretation Vickers geht meines Erachtens zu weit. Beide Autoren, der Dichter und der Historiker, behandelten ähnliche Themen, wenn sie sich mit den inneren gesellschaftlichen Spannungen ihrer Zeit auseinandersetzten.
2
Aristoph. nub. 1102-1104. Aristoph. nub. H i l f . Die vierte Szene setzt jedoch voraus, daß er sich dennoch einer sophistischen Ausbildung durch Sokrates unterzogen hat. Aristoph. nub. 1114. Aristoph. nub. 1115-1130. Seeger und Seel nennen eine Regieanweisung, die auf eine Bezahlung in Naturalien hinweist. Danach erhielt Sokrates einen Sack voller Mehl. Xenophon und Piaton betonen, daß Sokrates niemals Geld von seinen Schülern genommen hat. Dem widerspricht jedoch eine mögliche Honorierung in Naturalien keineswegs. Wahrscheinlich unterstützten ihn auf diese Weise seine Freunde. Vgl. u.a. Xen. mem. 1.2.5; 1.2.60; Plat. Apol. 33b. Diogenes Laertius berichtet zum Beispiel aus einer Schrift der Grammatikerin Pamphile, Alkibiades habe Sokrates ein großes Baugrundstück angeboten, welches er dankend mit einem Hinweis auf seine Genügsamkeit abgelehnt habe. Diog. Laert. 2.24. Aus den Schilderungen Xenophons ist zu schließen, daß er über einen kleinen Besitz verfügte, der ihm ein bescheidenes Auskommen sicherte. Xen. mem. 1.2.14.
3 4
5 6 7
294
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
noch ganz im Sinne seines Vaters die Götter, während Strepsiades selbst erfolgreich Gläubiger abschüttelt1. Doch schon bahnt sich das Unheil des dritten und letzten Teiles der Komödie an. In der Schlußszene wendet sich das Blatt gegen Strepsiades: Er zeigt sich den folgenden Wortgefechten nicht gewachsen und stürzt, von seinem Sohn geprügelt, aus dem Haus. Bitter erlebt Strepsiades nun am eigenen Leib die Konsequenzen der neuen Lehren und wendet sich vorwurfsvoll an die Wolken: St.
... Und das verdank' ich alles euch, ihr Wolken,
auf die ich leider all mein Sach' gestellt! Chf.
An allem bist du selber schuld! Warum
Hast du aufs Schlechte deinen Sinn gestellt? St. Warum habt ihr mir das nicht gleich gesagt? Warum mich alten Esel noch angestachelt? Chf.
Das tun wir immer, wenn wir einen sehn,
der blind dem Trieb zu bösen Werken folgt, bis wir ihn endlich ins Verderben stürzen, auf daß der Tor die Götter fürchten lerne 2 .
An dieser Stelle lassen die Wolken gleichsam ihre Masken fallen. Sie bekennen, daß sie stets diejenigen ins Verderben stürzten, die Schlechtes planten, denn die Menschen sollten die Götter fürchten lernen. Damit ist die Mysterienhandlung wirklich vollzogen und Strepsiades erkennt als „Epoptes" bestürzt sein Vergehen gegen die Götter und bereut sein Handeln 3 . Auf Rat des Hermes brennt er als letzte Konsequenz das Phrontisterion nieder4. Damit findet die Komödienhandlung ihr recht drastisches Ende. 1
Aristoph. nub. 1214-1320. Plötzlich versteht der naive Strepsiades zu argumentieren, obwohl doch sein Sohn unterrichtet wurde. Bowie löst das offensichtliche Mißverhältnis als ein weiteres mythisches Motiv auf. Der Tatbestand sei, daß ein j u n g e r Mensch .geopfert' werde (zu Sokrates in die Schule zu gehen), damit ein anderer davon profitiere. Bowie, Myth, Ritual and Comedy, 108f. Natürlich ist auch zu berücksichtigen, daß eine Komödie nicht immer völlig logisch sein mußte und Pheidippides seinen entscheidenden Auftritt wohl erst vor Gericht haben sollte.
2
Aristoph. nub. 1452-1461:
Στ. ταυτί δι ύ μ ά ς ώ Ν ε φ έ λ α ι πέπονθ' έγώ, ύμίν ά ν α θ ε ί ς ά π α ν τ α τ ά μ α πράγματα. Χο. αύτός μεν οΰν σ α υ τ φ σ ύ τούτων αίτιος, σ τ ρ έ ψ α ς σεαυτόν ές πονηρά πράγματα. Στ. τί δήτα ταΰτ' ού μοι τότ' ήγορεύετε, ά λ λ ' άνδρ' άγροικον κ α ί γέροντ' έπήρετε; Χο. ή μ ε ΐ ς ποιοΰμεν ταύθ' έκάστοθ' οταν τινά γνώμεν πονηρών δντ' έραστήν πραγμάτων, έως ά ν αύτόν έ μ β ά λ ω μ ε ν ές κακόν, όπως ά ν είδη τους θεούς δεδοικέναι. 3
4
A m Ende der Mysterien ist der Myste zum „Schauenden" (Epoptes) und damit zum Wissenden geworden. Vgl. Burkert, H o m o N e c a n s , 292-297. Er hatte die Herme vor seinem Haus zu Rate gezogen. Aristoph. nub. 1478-1482, 1483-1485, 14951508. Auffarth weist außerdem auf die Bedeutung der Fackel als eine weitere Parallele zu den Eleusinischen Mysterien hin. Auffarth, Bühnen-Sokrates des Aristophanes, 94.
2. Die Wolken
295
Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Komödien insgesamt und besonders für die hier behandelte Thematik ist die Interpretation des Wolkenchores, der als eine der Handlungsebenen die oben unterschiedenen drei Abschnitte verbindet. Schon frühzeitig hatten die Wolken Strepsiades versprochen, ihm das zu geben, was er verlange. Er solle sich nur guten Mutes ihren Dienern (πρόπολοι) anvertrauen1. Jetzt erhalten die Worte eine bittere ironische Bedeutung, denn die Wolken kennen schon von Anfang an die Folgen seines Ansinnens und offenbaren dem Menschen erst zum Ende ihre wahre und umfassende Natur2. Der Mensch trägt folglich während der gesamten Handlung selbst die Verantwortung fur sein Tun, womit abermals der besonders bei Gorgias formulierte Gedanke der Eigenverantwortlichkeit angesprochen wird. Die Wolken haben eine dreifache Funktion - erstens fungieren sie als Naturgewalten, zweitens verkörpern sie die Welt des rationalen Wissens und drittens die irrationalen Mächte. Die Existenz der Götter gehört zu der von ihnen verkörperten Wahrheit und damit zu ihrem allumfassenden Wissen. Zum Ende offenbaren sie wieder den von Sokrates abgelehnten olympischen Götterhimmel. In der Komödie greift Sokrates nur auf das rationale Wissen zurück3, während ihm die zweite Komponente verschlossen bleibt, enthält sie doch das Irrationale, das Über- und Unterirdische, das er und seine Schüler mit ihren lächerlichen Methoden nicht erreichen können. Aber selbst das rationale Wissen verstehen die „Sophisten" nicht anzuwenden, denn keiner von ihnen erlangt die Wohlberatenheit (ευβουλία) 4 . Wer nicht die Interessen und Normen der Gemeinschaft über seine eigenen persönlichen Bedürfhisse stellen kann, wer die elementarsten sozialen Strukturen aufbricht und die traditionellen religiösen Vorstellungen, somit die Ordnung der Polis mißachtet, der soll auch - wie am Ende demonstriert - die irrationale Macht der Götter zu spüren bekommen. Indem Aristophanes die sophistischen Ideen und Lehren als Wolken verkörpert, bietet er mit den „luftigen Wesen" eine gelungene plastische Umsetzung der Gedankenwelt. Die Wolken enthalten Anspielungen auf die Lehren des Protagoras, des namentlich genannten Prodikos und vielleicht auch des Gorgias und Antiphon. Des weiteren lassen sich Hinweise auf die Pythagoreer, auf Anaxagoras, Xenophanes, Diogenes von Apol1 2
3
4
Aristoph. nub. 435f. Vgl. dazu Segal, Aristophanes' Cloud-Chorus, 174f. Landfester sieht dagegen in der Schlußszene eine überraschende Wandlung der Wolken. M. Landfester, Handlungsverlauf und Komik in den frühen Komödien des Aristophanes, (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 17), Berlin 1977, 116. Dagegen interpretieren Segal, Köhnken und Bowie die Bedeutung der Wolken als Gottheiten des Phrontisterions und gleichzeitig als traditionelle Rächer der Götter als nur scheinbar widersprüchlich. Sie greifen damit jedoch nur einen Aspekt ihrer Natur auf, den der traditionellen mythischen Überlieferung. Vgl. Segal, Aristophanes' Cloud-Chorus, 162-182; Α. Köhnken, Der Wolken-Chor des Aristophanes, Hermes 108, 1980, 154-169; Bowie, Myth, Ritual and Comedy, 125-127; zuletzt kritisch F. Gaertner, Der Wolken-Chor des Aristophanes, RhM 142, 1999, 272-279. Meines Erachtens ist die Natur der Wolken viel umfassender zu verstehen, womit sich die angeblichen Widersprüche in der Handlung schlüssiger erklären und auflösen lassen. Segal sieht dagegen eine Opposition der Wolken gegen Sokrates, die dieser nicht erkennt. Vgl. Segal, Aristophanes' Cloud-Chorus, 174. Aristoph. nub. 581-94; Segal, Aristophanes' Cloud-Chorus, 171.
296
III. D a s B e i s p i e l der K o m ö d i e n d e s A r i s t o p h a n e s
Ionia
und
Diagoras
von
Melos
herausstellen'.
Ob
dabei
alle
Anspielungen
auf
D e n k r i c h t u n g e n der Zeit erfaßt sind, bleibt unerheblich für die Feststellung, daß das v o n Sokrates g e l e i t e t e Phrontisterion alle d i e s e unter e i n e m D a c h vereinigt. D a s G e b ä u d e bildet ein K o n g l o m e r a t der kursierenden Ideen und Lehren und präsentiert s i c h s o m i t „Gedankengebäude"2.
als
Nur
in
der
Komödie
ist
es
möglich,
diese
durchaus
unterschiedlichen D e n k - und Lehrrichtungen a u f nur eine Person, d.h. a u f Sokrates, zu konzentrieren. D i e n e g a t i v e Beurteilung weiter Kreise der attischen und g r i e c h i s c h e n Ö f f e n t l i c h k e i t war ihnen offenbar g e m e i n s a m : E s handelt sich d e m n a c h um n e u e Lehren, die im Verdacht standen, atheistisch zu sein, die Jugend zu verderben, alte Traditionen über Bord z u w e r f e n und schließlich P e r s o n e n übelster D e m a g o g e n a r t w i e z u m B e i s p i e l K l e o n auszubilden 3 . Steht das Phrontisterion für das n e u e B i l d u n g s a n g e b o t insgesamt, so e r s c h e i n e n die W o l k e n - getreu nach D i o g e n e s v o n A p o l l o n i a - als die Grundsubstanz d e s D e n k e n s 4 . D a s theatererfahrene P u b l i k u m verknüpfte mit den W o l k e n als B ü h n e n g e s t a l t e n vermutlich zunächst m y t h i s c h e Erzählungen über W o l k e n als rächende H e l f e r für die göttliche
Gerechtigkeit 5
und
erst
in
einem
zweiten
Schritt
die
physikalischen
N a t u r e r s c h e i n u n g e n . D i e W o l k e n , s o erklärt Sokrates in der Darstellung des Aristopha-
1
2
Pythagoreer: Aët. 2.7.7 [DK 44 A 16]; Anaxagoras: Aët. 2.13.3 [DK 59 A 71]; Xenophanes: Sext. Emp. adv. math. 9.193 [DK 21 Β 11]; Diogenes von Apollonia: Simpl. phys. 151, 28 [DK 64 Β 5]; Janko, The Physicist as Hierophant, 67-70. Vgl. S. 291 f., 295f. Patzer sieht dagegen in der Vielzahl der Lehren eine Inkohärenz, die eine komische Wirkung erzielen sollte. Er stützt seine Interpretation auf eine begriffliche Differenzierung der naturphilosophischen, sophistischen und sokratischen Richtung. Patzer, Wolken, 83. Seine anachronistische Verwendung der Terminologie vermittelt den Eindruck einer strikten Trennung, die angesichts der Gemeinsamkeiten, des Austauschs und des aufeinander Aufbauens eine künstliche ist. So belegt etwa der Derveni-Papyrus eine allegorische Deutung der orphischen Mystik. Heraklit oder Diogenes von Apollonia verbanden Gedanken der ionischen Naturphilosophie mit religiösen Vorstellungen, etc. Vgl. Janko, The Physicist as Hierophant, 67f.; Kap. II 1.2, 52, Anm. 5, 61; 1.2 b Anm. 8.
3
Kleon gehörte zu den homines novi, die es sich leisten konnten, den Unterricht der Sophisten wahrzunehmen, und die, nicht zuletzt aufgrund ihrer rhetorischen Fähigkeiten, zu beträchtlichem Einfluß gelangten. Vgl. Thuk. 3.36.6; Aristot. Ath. Pol. 28.3. Vgl. Kraus, Aristophanes' politische Komödien, 181-183; Effe, Das Theater als politische Anstalt, 50; Henderson, The Demos and the Comic Competition, 72-75. Landfester sieht in den Rittern einen Beleg dafür, daß Aristophanes für die Demokratie in ihrer „Reinform" eintrat. Einzelpersönlichkeiten, Sykophanten und Demagogen widersprechen der Forderung nach der Identität von Regierenden und Regierten. Der Dichter habe nicht nur beabsichtigt, ein freies Urteil der Zuschauer zu erreichen, sondern regulierend in die politische Entwicklung einzugreifen. Landfester, Politische Krise Athens, 30-34 (wie 295, Anm. 2). Die Interpretation Landfesters wird meiner Ansicht nach der Vielschichtigkeit der einzelnen Charaktere nicht gerecht. So revidiert beispielsweise Ste Croix eine ähnliche Deutung Dovers, wonach Aristophanes als Geist des einfachen Mannes zu verstehen sei. Der Dichter sei eher ein gemäßigter Demokat gewesen. Ste Croix, Political Outlook of Aristophanes, 47. Die politische Position des Aristophanes ist mit letzter Sicherheit kaum zu bestimmen.
4
Vgl. oben S. 290, Anm. 1; 295. Vgl. dazu ausführlicher Köhnken, Wolken-Chor, 162; Bowie, Myth, Ritual and Comedy, 124, 127130.
5
2. Die Wolken
297
nes, passen ihr Äußeres immer dem an, dem sie erscheinen 1 . Nach der traditionellen Auffassung des Mythos umhüllten sie Zeus zur Tarnung seiner erotischen Abenteuer oder fungierten wie im Helena-Mythos als Trugbilder 2 . Der Zuschauer fühlte sich somit zu Beginn dem Sokrates überlegen, denn nur er leugnet die Existenz der olympischen Götter. Das von ihm offenbarte Mysterium besteht in der Erkenntnis von der Göttlichkeit der Wolken. Sie verkörpern das Denken in einer rationalen und allgemeingültigen Ausgestaltung, wobei der Mythos jegliche Bedeutung verliert. Am Ende offenbart sich der fatale Irrtum, denn die Wolken fungieren im traditionell mythischen Sinne als Rächerinnen im Dienste der Götter. Sie haben die Menschen getäuscht. Ihre wandelbare Gestalt symbolisiert zwar die sophistischen Lehren und Ideen, die zu einer Relativierung und sogar zum Verleugnen bestehender Wertvorstellungen fuhren. Doch auch hierin behalten sie paradoxerweise ihre vom Mythos vorgegebene täuschende Natur. Aristophanes arbeitet dabei geschickt mit beiden Vorstellungen und nimmt noch eine dritte, nämlich die Wolken als Naturgewalten, hinzu 3 . So variiert Aristophanes von Beginn an die verschiedenen Naturen der Wolken, die mythische, die physikalische und die sophistische. Letztere überwiegt im Hauptteil des Stückes, wenn die moralischen Werte mit Mitteln der Rhetorik zur Disposition gestellt werden. Trifft die bisherige Interpretation zu, so fehlt der Komödie der Überraschungseffekt am Ende und damit die komische Pointe 4 . Doch es ist zu bedenken, daß der Zuschauer nicht den Text vor Augen hatte, sondern von der Handlung auf der Bühne gefesselt und mitgerissen werden sollte 5 . Das zeitgenössische Theaterpublikum war zudem in der Lage, eine bildhafte Sprache zu verstehen und sich mittels ihrer zu verständigen; auf dieser Ebene fungierte der Mythos. Einige Hinweise mußten dem Zuschauer dabei die traditionell täuschende Funktion der Wolken in Erinnerung rufen 6 . Zudem lag es gewiß in der Absicht des Aristophanes, auch die Theatergäste durch den weiteren Handlungsverlauf zu täuschen. Für sie war es naheliegend, in den Wolken eine der fur Aristophanes typischen Personifikationen, eine bildliche Umsetzung von Ideen zu sehen. Die Wolken fuhren die Zuschauer in den Wettkampf der Argumentationen ein und damit in die Welt der Sophisten, ihrer προπολοί. Sie hüllen das Publikum ein, um dann den 1
Aristoph. nub. 3 4 8 - 3 5 0 . Vgl. dazu Köhnken, Wolken-Chor, 1 5 5 - 1 6 0 . Zu Aristoph. nub. 343f.: Gaertner geht m e i n e s Erachtens überzeugend auf die Interpretation K ö h n k e s zum äußeren Erscheinungsbild der Wolken ein, denn vermutlich sollten die „Nasen" der W o l k e n tatsächlich nur witzig sein. Strepsiades drückt in den sehr tiefgründig gedeuteten Zeilen d o c h vor allem sein Erstaunen über die m e n s c h l i c h e Gestalt der Naturmächte aus. Gaertner, Wolken-Chor, 2 7 7 .
2
Bei H o m e r trägt Z e u s sogar den B e i n a m e n
νεφεληγερέτης -
,der die W o l k e n versammelt'. V g l .
Kerényi, M y t h o l o g i e , Bd. 2, 93. A l s Trugbild fungieren die Wolken zum Beispiel im Ixion- und im H e l e n a - M y t h o s . Vgl. Köhnken, Wolken-Chor, 1 6 2 - 1 6 5 ; B o w i e , Myth, Ritual and C o m e d y , 125128. Gaertner hält die m y t h o l o g i s c h e A n k n ü p f u n g für weniger überzeugend und bemerkt, die W o l k e n seien die idealen Weggefährten des betrogenen Betrügers. Gaertner, Wolken-Chor, 2 7 4 . 3 4
Aristoph. nub. 2 2 9 - 3 1 3 . Vgl. Gaertner zu der Interpretation Segais. Segal geht ebenfalls von e i n e m durchgängigen Charakter der W o l k e n aus, ohne den mythischen Aspekt gebührend zu berücksichtigen. Gaertner, W o l k e n Chor, 2 7 3 , A n m . 8; Segal, Aristophanes' Cloud-Chorus, 1 6 2 - 1 8 2 .
5
Vgl. auch Gaertner, Wolken-Chor, 277.
6
Aristoph. nub. 5 6 3 f f „ 5 9 5 - 6 0 6 ; vgl. Segal, Aristophanes' Cloud-Chorus, 171.
298
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
„Nebelschleier" fallen zu lassen und zu zeigen, daß sie nicht zuletzt das sind, was sie nach mythischer Tradition immer waren: rächende Helfer der Götter. Insgesamt verkörpern sie in ihren „drei Naturen" dieses allumfassende Wissen 1 . Das Publikum sieht letztlich, daß die Ordnung wiederhergestellt ist und die „Alleswisser" nichts wissen. Tatsächlich erkennen gerade Sokrates und seine Schüler nicht die wahre Natur der Wolken. Ihre „Mysterien" sind wertlos und sogar schädlich - für ihre Hybris finden sie jetzt ihre Strafe, und das Phrontisterion, das „Gedankengebäude", wird niedergebrannt. Insgesamt gesehen wendet sich Aristophanes nicht grundsätzlich gegen die neuen Ideen und Lehren. Das ebenfalls von den Wolken propagierte rationale Wissen ist keinesfalls abzulehnen, es ist richtig anzuwenden, und die irrationalen Mächte dürfen nicht ausgeklammert werden. Als Angehöriger der gebildeten Oberschicht identifizierte Aristophanes sich nicht mit naiven anthropomorphen Göttervorstellungen eines Bauern wie Strepsiades, noch hielt er selbst das traditionelle Erziehungs- und Bildungsprogramm aus der Zeit der Marathonkämpfer weiterhin für zeitgemäß. Der Dichter zeigt sich beispielsweise in den Acharnem und Rittern gegenüber den Vorstellungen der Sophisten und ihren rhetorischen Argumentationsweisen und Techniken 2 so ,offen', daß er sie für die Umsetzung seiner Ideen nutzt. Andererseits schreibt er in den Rittern dem Wirken der Sophisten einen Großteil der Verantwortung für die innere Misere des Staates zu3. Die rhetorische Ausbildung befähigte die neue ,Politiker'-Generation, ihre 1
Die „wahre Natur" besteht der Ansicht Gaertners zufolge in ihrer bis zum Schluß nicht erkannten trügerischen Funktion. Als dramatis personae stehen sie im Dienste der olympischen Götter. Das Publikum hat in den Wolken von Beginn an die geeignetsten Weggefährten von Betrügern gesehen. Die Enthüllung am Ende sollte komisch wirken, denn die Zuschauer werden schließlich getäuscht und sehen jetzt den „betrogenen Betrüger". Gaertner bezeichnet es als eine „Unstimmigkeit", daß Sokrates nichts davon weiß und Strepsiades auf den falschen Weg führt. Gaertner, Wolken-Chor, 278f. Dabei handelt es sich jedoch meines Erachtens nicht um eine Unstimmigkeit, sondern es zeigt sich darin die Umsetzung des Handlungskonzeptes. Die Wolken offenbaren ihre allumfassende Natur und fordern eine gebührende Verehrung.
2
Die Studie Heaths zeigt außerdem eine Beeinflussung des Komödiendichters durch die Rhetorik seiner Zeit, was ebenfalls auf die Nähe zu sophistischen Thesen und vielleicht speziell zu Gorgias hindeutet. In den Fröschen lassen sich die Parallelen weiter ergänzen. Vgl. Heath, Political Comedy. Aristoph. equ. 1375-1380:
3
Δη. τά μ ε φ ά κ ι α ταυτί λέγω τάν τω μύρω, α στωμυλείται τοιαδί καθήμενα· ' σοφός γ' ό Φαίαξ δεξιώς τ ούκ άπέθανεν. συνερτικός γαρ έστι και περαντικός, και γνωμοτυπικός και σαφής και κρουστικός, καταληπτικός τ' άριστα του θορυβητικοΰ.' Bei Phaiax handelt es sich um einen bekannten Redner, über den sich auch Eupolis lustig machte. Vgl. Eup. PCG 116; vgl. Aristoph. equ. 1320-1327, 1375-1382f. Verweichlichte und nur auf eine ausgefeilte Rhetorik bedachte Männer sollten in der Volksversammlung kein Gehör finden. Die „bartlosen" und damit wohl jungen Leuten sollten nicht ihrer Vorliebe für neue Wortbildungen und geschicktes Argumentieren nachgehen und über Gesetze debattieren, sondern sich besser in der Jagd üben. Damit hält Aristophanes dem neuen intellektuellen Lehrangebot der Sophisten die alt
299
2. Die Wolken
Position in der Volksversammlung oder vor Gericht geschickt vorzutragen und durchzusetzen. Aristophanes hält dem neuen intellektuellen Lehrangebot der Sophisten die altbewährten Traditionen entgegen 1 und erhebt den Vorwurf, die sprachtheoretischen Übungen verweichlichten die Jugend und bildeten sie höchstens für Spiegelgefechte mit Worten aus. Die Komik lebt natürlich auch von Gegensätzen, von Kontrasten. Im Agon der logoi verkörpert die s c h l e c h t e Rede' die ins Extreme gesteigerte negative Einschätzung der neuen Bildung, die abzulehnen ist. Ihre Kontrahentin bildet den ebenfalls überzogen und nicht frei von Ironie dargestellten Gegenpol 2 , indem sie den traditionellen Erziehungsidealen einer idealisierten Vergangenheit die ernüchternde Gegenwartsskizze entgegenhält. Die verdorbene, degenerierte junge Generation gilt hier als das charakteristische Merkmal. In der Komödienhandlung wird diese von Pheidippides in zweifacher Weise verkörpert: Einerseits steht er für die jungen, aber verwöhnten Epheben, die nur an ihr Vergnügen denken und sich nicht um die Interessen der Familie oder gar des Gemeinwesens kümmern. Andererseits gehört er der Alters- und Personengruppe an, aus der die Sophisten ihre Anhänger rekrutieren, und „verwandelt" sich schließlich trotz aller Widerstände in einen Sophistenschüler. Als solcher setzt er sich - jetzt zum Schaden der Polisgemeinschañ - nur noch fur seine eigenen Angelegenheiten ein. Er mißachtet nicht nur das Rechtswesen durch spitzfindige Argumente, sondern er bricht auch die fundamentalsten der sozialen Strukturen auf, nämlich die der Familie. Der Generationenkonflikt bildet hier ein weiteres bei Aristophanes angesprochenes Grundproblem 3 und fuhrt schließlich zu einer Eskalation. Dies alles deutet darauf hin, daß die Familie als soziale Institution und Trägerin der Sozialisation der Heranwachsenden in der Wertediskussion intellektueller Zirkel schon in den zwanziger Jahren des 5. Jahrhunderts kein Tabuthema war. Die vielleicht erst nach 415, somit etwas später zu datierende Schrift Antiphons Περί 'Αληθείας ließ die Achtung der Eltern nicht mehr als grundsätzliche Norm bestehen 4 . Pheidippides begründet die Rechtfertigung seiner Gewalttätigkeit gegen seinen Vater jedoch allein durch die neu erworbene Kunst des sprachlichen Argumentierens, indem er die .schlechte Rede' zur g e r e c h t e n ' macht. Es ist durchaus möglich, daß dem Komödiendichter bei der Überarbeitung der Wolken die Schrift Antiphons vorlag und sie ihn unmittelbar beeinflußte 5 . Diskussionen über die Rolle des Individuums in der Polis und die Aufgaben einer neuen Erziehung erfolgten aber auch in weiteren intellektuellen Kreisen, im Umfeld der
bewährten
Traditionen
entgegen.
Vgl.
Lehmann,
Krise
der
attischen
Demokratie
im
Peloponnesischen Krieg, 63, Anm. 68. Z u m Reformprogramm vgl. Kraus, Aristophanes' politische Komödien, 164f. 1
Aristoph. equ. 1381-1382. Vgl. Lehmann, Krise der attischen Demokratie im Peloponnesischen Krieg, 63, Anm. 68. Zum Reformprogramm vgl. Kraus, Aristophanes' politische Komödien, 164f.
2
Vgl. die ironischen Untertöne, wenn es etwa um die Fragen der Sittsamkeit geht. Aristoph. nub. 974-978.
3
Vgl. beispielsweise Aristoph. av. 755-759; unten Kap. III 3, 306, Anm. 5.
4
Vgl. Kap. 116.3,214.
5
Bei
dem
umfassenden
Konzept
Antiphons
ist
eine
längere
Auseinandersetzung
gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten Athens vorauszusetzen Vgl. Kap. II 6.
mit
den
300
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
Sophisten 1 . Aber auch innerhalb der Familien sorgte die sophistische Ausbildung für Gesprächsstoff und übte den Wolken zufolge eine zerstörerische Wirkung aus. Für die ältere Generation und gleichzeitig für die naiven, von Sophisten manipulierbaren Menschen steht hier die Figur des Bauern Strepsiades. Der rechtschaffene, aber durch die falsche Wahl der Ehefrau etwas aus der Bahn geworfene Bauer erweist sich als Einfaltspinsel gegenüber dem stadtbekannten „Weisen" Sokrates, der alles erforscht und scheinbar auf alle Fragen eine Antwort hat. Das Bild des Sokrates erinnert an Hippias, der sogar seine Kleidung selbst herstellte 2 . Das Sokrates-Bild in den Wolken prägte in Zukunft das Klischee des abgehobenen Gelehrten, des typischen Intellektuellen 3 . Theorien eines Protagoras, Gorgias, Prodikos und Antiphon gehören zum Repertoire des von Sokrates geleiteten Phrontisterions. In der Realität unterscheiden sich allerdings die Lebensumstände des Bühnen-Sokrates von denen der genannten Sophisten. Letztere verkehrten nachweislich in den vornehmsten Kreisen, am Hofe griechischer Tyrannen und in Häusern der reichsten Bürger. Sie traten gegen ein entsprechendes Honorar in Privathaushalten, Gymnasien und auch anläßlich von Feierlichkeiten wie beispielsweise den Olympischen Spielen auf. Askese gehörte dabei kaum zu ihren Grundsätzen, auch wenn Gorgias zum Maßhalten auffordert oder Prodikos in seinem Herakles-Mythos den „steilen Lebensweg" empfiehlt 4 . Dem Gros der Bevölkerung blieb das jeweilige Bildungsangebot verschlossen, denn bis auf wenige Ausnahmen standen den Bürgern weder ausreichend Zeit noch Geld zur Verfügung. Die zu Beginn der Komödie angesprochene Honorarforderung des Sokrates 5 und die vielseitigen neuen Lehren und Theorien gehören zum Sophisten-Bild der Zeit, während für die asketische und ungepflegte Erscheinung wohl die Pythagoreer und ihr Verhalten ein Vorbild boten 6 : Pythagoras galt zur damaligen Zeit als Sekten- wenn nicht sogar als ein Religionsstifter. Nach der Einweihung unterwarf sich der pythagoreische Myste einer strengen Reglementierung seines Lebens, was ihn in mancher Hinsicht von der Polisgemeinschaft absonderte. Das Leben mußte mühevoll ertragen werden, wenn es einen Sinn ergeben sollte. Ihr Heiligtum betraten die Pythagoreer nur barfuß 7 . Vergleichbar legen die Schüler des Sokrates vor Betreten des Phrontisterions den Mantel, vielleicht auch die Schuhe ab 8 und widmen sich in dem Gebäude ausschließlich ihren Studien. Damit kommt es offenkundig zu einer Vermischung zwischen sophistischen und pythagoreischen Lebensweisen. Das Phrontisterion kann schließlich im übertragenen Sinn als ein „Gedankengebäude" aufgelöst werden, und die Mysterienparodie kennzeichnet die für die Menge des Volkes verschlossenen und ,mysteriös' bleibenden Zugänge zu den neuen Lehren. 1
Vgl. Piatons Protagoras-Dialog.
2
Vgl. Kap. II 5.2.
3
Zimmermann, Griechische Komödie, 127; ders. Aristophanes, 254f.
4
Vgl. dazu oben Gorg. Pal. [fr. l l a . 1 5 ] ; Kap. II 2.3, 100; Kap. II 3.4.
5
Aristoph. nub. 98. Auch für die Entwicklung von Piatons Akademie spielte die pythagoreische Philosophie eine wichtige Rolle. Aristot. metaph. 9 8 7 a 2 9 f f ; Marianetti, Aristophanes' Clouds, u.a. S. 121 f.
6
7 8
Burkert, Griechische Religion, 447-451. Aristoph. nub. 498.
2. Die Wolken
301
Nicht im Verborgenen agierend, sondern durchaus in der athenischen Öffentlichkeit dozierend, zeigt die Darstellung Xenophons und Piatons jeweils ihren Sokrates. Obwohl er in gehobenen gesellschaftlichen Kreisen verkehrte, legte er keinen besonderen Wert auf seine Körperpflege und lebte eher bescheiden 1 . Demnach darf nicht nur das Komödien-Porträt Berücksichtigung finden, soll der historische Sokrates mit seinen individuellen Zügen, die in den Wolken greifbar erscheinen, erfaßt werden. Als problematisch galt in den Wolken der Einfluß der im Phrontisterion angebotenen neuen Erziehung auf die jungen Männer Athens. Obgleich Sokrates während des Agons der logoi im Hintergrund bleibt und die Entscheidung für den guten oder den schlechten Weg dem Schüler/Initianden obliegt, so leistet doch Sokrates die Vorarbeiten, indem er die traditionellen Götter verleugnet. Schließlich erhält Sokrates ein Honorar für die Ausbildung des Sohnes des Bauern, die das gesamte Spektrum naturphilosophisch-sophistischer Lehren 2 umfaßte und an deren korrumpierenden Wirkung kein Zweifel blieb. Sokrates war dabei als der offensichtlich bekannteste der „modernen" Intellektuellen in Athen prädestiniert für die Rolle eines Sophisten und wurde so zur Zielscheibe der Karikatur wie auch der Angriffe auf die intellektuellen Neuerungen in Athen 3 . Laut Piaton bezog Sokrates folgendermaßen Stellung: ... so muß ich ihre beschworene Klage ablesen: „Sokrates frevelt und treibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge untersucht und Unrecht zu Recht macht und dies auch andere lehrt." Solcherlei ist sie etwa: Denn solcherlei habt ihr selbst gesehen in des Aristophanes Komödie, wo ein Sokrates vorgestellt wird, der sich rühmt, in der Luft zu gehen und andere Albernheiten vorbringt, wovon ich weder viel noch wenig verstehe 4 .
Die Sophisten und ihre Schüler galten offenbar in Athen als Plagegeister (πονηροί) von übler Gesinnung ( κ α κ ο δ α ί μ ω ν ) und als Nichtstuer (άργοί), die sich mit windigen Dingen beschäftigten . Die oben vorgestellten Lehren der Sophisten zur Rhetorik, Religion oder zum Kosmos blieben weiten Teilen des Volkes unbekannt und wurden in den Wolken nicht nur als überflüssig eingestuft, sondern entscheidend war ihre fatale Wirkung auf die jüngere Generation. Sokrates und später auch Strepsiades betonen, daß eine umfassende Ausbildung in kosmologischen Theorien die Grundlage der Rhetorik sei. 1
Vgl. auch Eupolis' Schmeichler
PCG 386 (Seeger, 741): „Ich hasse auch den Sokrates, den Habe-
nichts, den Schwätzer, der über vieles sonst sinniert, doch wie er was zu essen kriegt, das hat ihn nie gekümmert." Vgl. auch Ameipsias' Konnos
frg. 9; Plat. Symp. 174a; Patzer, Sokrates in den
Fragmenten, 61 f. 2
Natur- und Himmelsphänomene, mathematische Wissenschaften, Erkenntnis- und Religionstheorie, Sprache und Rhetorik, Recht und Moral gehörten zu den behandelten Themengebieten. Vgl. Marianetti, Aristophanes' Clouds, 131.
3
Die Fragmente der zeitgenössischen Komödienautoren zeigen, daß es in den zwanziger Jahren üblich war, Sokrates auf die Bühne zu bringen. Nicht nur seine neuen Gedanken, sondern auch seine exzentrische Lebensweise und sein auffälliges Äußeres trugen dazu bei. Vgl. auch Marianetti, Aristophanes' Clouds, 108-132, bes. 112f. Auffarth betont dagegen, die Komödie richtete sich gegen die, die Sokrates und seiner Lehre nicht folgen konnten. Auffarth, Bühnen-Sokrates des Aristophanes, 96.
4
Plat. Apol. 19b, c; vgl. dazu auch Plat. Apol. 18b-d.
5
Vgl. B. Zimmermann, Aristophanes und die Intellektuellen, in: O. Reverdin/B. Grange (Hrsg.), Entretiens sur L'Antiquité Classique, Aristophane, Genf 1991, 262f.
302
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
Erst die rationale Weltanschauung fuhrt schließlich zur Verwerfung jeglicher Moral und ermöglicht damit, dem Unrecht zum Sieg zu verhelfen 1 . Was die Menge von der sophistischen Bildung mitbekam, war das Agieren gewandter Rhetoriker in Gerichtsund Volksversammlungen. Die Angst vor dem Unbekannten mag ebenfalls eine Rolle in der Einschätzung der Sophisten gespielt haben. Abgeschirmt in kleineren Zirkeln übten sie auf die heranwachsenden Aristokraten und die jungen reichen Bürger eine Anziehungskraft aus, die von der Mehrheit der Bevölkerung skeptisch beobachtet wurde. Diskussionen über Götter, Mythen und Werte hielten die jungen Männer im Ephebenalter vom Training im Gymnasium und von der Verwirklichung traditioneller Tugenden ab. Das Fehlen jeglicher moralischer Grundwerte mußte zwangsläufig zu Streitgesprächen innerhalb der Familie fuhren. Der Komödie zufolge vertiefte die verantwortungslose Darbietung neuer Ideen und Vorstellungen den sich schon längere Zeit abzeichnenden Riß bis in die attische Gesellschaft hinein und konnte schlimmstenfalls zu einem völligen Bruch führen. Mit dem Niederbrennen des Phrontisterions signalisierte Aristophanes auf der Bühne das Ende der professionell angebotenen neuen Bildung. Sicher ist, daß die Wolken nicht den Erfolg erzielten, den Aristophanes sich erhofft hatte. Ob er die Theaterbesucher mit den zahlreichen Anspielungen und der vielschichtigen Handlung überforderte, wie es in den Wespen anklingt 2 , bleibt ungewiß. Vielleicht stieß aber auch die Mysterienparodie auf Ablehnung, oder aber der Handlungsverlauf war nicht gänzlich nachvollziehbar 3 . Dennoch hoffte Aristophanes wahrscheinlich, die ablehnende Grundstimmung gegenüber den neuen Lehren und Theorien in der attischen Bevölkerung bestätigt zu finden. Zum Ende der zwanziger Jahre des 5. Jahrhunderts verstärkte sich offenbar das allgemeine öffentliche Mißtrauen gegenüber dem sophistischen Bildungsangebot und dessen Wirkungen auf die Jugend. Ein direkter Bezug auf den historischen Kontext des Jahres 424/423 ist in dem Text der Wolken nicht gegeben. Alle drei fur die Großen Dionysien des Jahres 423 belegten Komödien dokumentieren in unterschiedlichem Maße ein Interesse des Publikums an den Sophisten. Als Problem mußte Aristophanes zufolge die von der Sophistik ausgehende Gefährdung der traditionellen Ausbildung der Jugend angesichts einer sich verschlechternden außenpolitischen Situation betrachtet werden. Eine solche war durch die Eroberungen des Spartaners Brasidas in Thrakien gegeben 4 . Die Präsenz attischer Streitkräfte bei Pylos stellte zwar nach wie vor einen strategischen Vorteil dar, konnte aber die Verluste in Thrakien nicht wettmachen. Im Winter 424/423 bekundeten beide Seiten ihre Verhandlungsbereitschaft; dies wurde im Frühjahr 423 durch einen einjährigen Waffenstillstand besiegelt 5 . Im Zuge dieses außenpolitischen Quasi-Erfolges war 1
Vgl. auch O ' R e g a n , Language in Aristophanes' „Clouds", 30f.
2
Vgl. S. 282f.; Aristoph. Vesp. 1044-1059.
3
Die Überlegung Patzers, daß Aristophanes scheiterte, weil seine Sokrates-Figur mißlungen war, überzeugt meines Erachtens nicht. Sie stützt sich zu sehr auf spätere Beurteilungen eines Piaton oder Xenophon. Vgl. Patzer, Wolken, 92f.
4
Athen erlitt mit dem Verlust von Amphipolis eine der schwersten Niederlagen: Thuk. 4.90-96, 102108. StV I I 2 1 8 5 ; vgl. Welwei, Athen, 188f.
5
2. Die Wolken
303
offenbar das Bedürfnis nach derber Unterhaltung größer, als das nach einer Abrechnung mit der sophistischen Bildung. Vermutlich siegte an den großen Dionysien des Jahres 423 deshalb Kratinos' Pythine, die zwar Anspielungen auf Sokrates und Chairephon enthält, in der aber der Dichter selbst und seine komische Kunst die Hauptfiguren darstellten und dionysische Zechfreuden priesen 1 .
Vgl. Beispielen der Fragmente in Übersetzung bei Seeger, 700ff.
3. Die Vögel Die in den beiden folgenden Jahren aufgeführten Wespen und der Frieden nehmen keinen direkten Bezug mehr auf die verderbliche Wirkung der sophistischen Bildung. Erst im Jahre 414 greifen die Vögel die Thematik am Rande der Haupthandlung wieder auf. Angesichts der politisch angespannten Situation wählten Aristophanes und seine Konkurrenten Ameipsias und Phrynichos für die Großen Dionysien Themen, die auf den ersten Blick unpolitisch waren 1 . In den Vögeln verzichtet Aristophanes fast völlig auf politische Anspielungen und offenen Spott gegen fuhrende Persönlichkeiten; mehr Gewicht erhalten dadurch die Spottlieder gegen Sokrates und Gorgias, die Anspielungen auf Prodikos und der Auftritt von Meton und Kinesias als die beiden einzigen realen Personen unter den Akteuren der Komödie 2 . Der Mathematiker und Astronom Meton sowie der Dithyrambendichter Kinesias stehen stellvertretend für ihr Forschungsgebiet und ihre Technik, die in den Wolken mit den Sophisten in Verbindung gebracht worden sind. Wenn Aristophanes mit solcher Akzentuierung einen besonderen Grund verfolgte, schenkte er den Sophisten erneut eine größere Aufmerksamkeit. Oder ergibt sich hier ein eher zufälliges, verzerrtes Bild, weil bei allzu direkten politischen Stellungnahmen im Jahre 414 Vorsicht geboten war? Auch der Name des neuen Vogelstaates, Νεφελοκοκκυγία (Wolkenkuckucksheim) 3 , könnte auf sophistische Vorstellungen verweisen. Die in der Literatur viel diskutierten Fragen, ob es sich um einen Idealstaat, ein Gegenbild Athens oder einfach ein phantasievolles Märchenland handelt, können hier nur am Rande berücksichtigt werden 4 . Die Handlung der Vögel erweist sich, wie bereits angedeutet, wenn man sie nur oberflächlich betrachtet, als unpolitisch und harmlos. Das verdeutlicht schon die Ausgangssituation, in der die beiden attischen Bürger, Peisetairos und Euelpides, angewidert von der Prozeßwut ihrer Landsleute, ihrer Stadt den Rücken kehren. Auf der Suche nach einem Land, in dem sie ,untätig' (άπράγμων) sein dürfen, im Gegensatz zu ihren Verpflichtungen (πολυπράγμων) als Bürger einer demokratischen Polis wie Athen 5 , gelangen sie zu den Vögeln. Nicht etwa die mit großer Begeisterung und Elan begonnene sizilische Expedition 6 veranlaßt „Ratefreund" und „Hoffegut", sich von Athen abzuwenden, sondern die im
'
Phrynichos' „Einsiedler" hatte sich aus Ärger über die Demagogen Athens in die Einsamkeit zurückgezogen. Vgl. Phrynichos Monotropos frg. 18-20. B. Zimmermann, Utopisches und Utopie in den Komödien des Aristophanes, WJA N.F. 9, 1983, 71.
2
Aristoph. av. 689-92 (Prodikos); 992-1020 (Meton); 1333-1409 (Kinesias); 1553-1569 (Sokrates); 1694-1705 (Gorgias).
3
Aristoph. av. 819.
4
Vgl. dazu u.a. Zimmermann, Utopisches, 57-77; D. Konstan, The Greek Polis and Its Negations: Versions of Utopia in Aristophanes' Birds, in: Dobrov, City as Comedy, 3-23; Th.K. Hubbard, Utopianism and the Sophistic City in Aristophanes, in: Dobrov, City as Comedy, 23-51.
5
Aristoph. av. 34-45. Sie wird kaum angedeutet; vgl. zu Alkibiades: Aristoph. av. 146f., 1204 und zu Nikias: av. 362,
6
3. Die Vögel
305
Gefolge des Hermenfrevels und der Mysterienprofanation einsetzende Prozeßwelle, die Thukydides ebenfalls äußerst kritisch beschreibt 1 . Seit der Flucht des Alkibiades nach Sparta schwand die Hoffnung auf einen erfolgreichen Abschluß des sizilischen Unternehmens. Der Name „Ratefreund" deutet vielleicht auf die Befürworter der Expedition hin, und „Hoffegut" steht stellvertretend für die euphorische Zustimmung des attischen Demos 2 . Bei beiden handelt es sich aber nicht um Atimoi, d.h. um Flüchtlinge infolge des Hermenfrevels und der Mysterienparodie, wie Hubbard vermutet 3 . Beide sehnen sich lediglich nach einem ruhigen, vor unberechenbaren Verdächtigungen und Prozeßverfahren geschützten Platz4. Die Auswanderer Peisetairos und Euelpides zeigen sich sogleich begeistert von dem unbeschwerten Leben bei den Vögeln, wo materielle Dinge keine Rolle spielen 5 . Doch schnell ist der Wunsch nach Muße (απραγμον) vergessen, denn Peisetairos erkennt die strategisch günstige Lage zwischen Göttern und Menschen, zwischen Himmel und Erde und plant sofort die Gründung eines Vogelreiches. Aristophanes zufolge offenbarte sich hier das Charakteristikum des typischen Atheners, sein „imperialistisches" Denken 6 . Wie einem inneren Zwang folgend, macht Peisetairos seinem Namen alle Ehre, indem er zuerst den Vogelkönig Tereus 7 , dann das ganze Vogelvolk von seiner Idee überzeugt. Auf die Frage des Chorführers, ob der Ratgeber denn klug sei, charakterisiert ihn der Wiedehopf Tereus folgendermaßen: Er ist ein überaus schlauer Fuchs, Von Winkelzügen und Beutefang getriebener Mensch, Ein ganz abgefeimter Kerl 8 .
Peisetairos versteht es, sophistisch geschult zu argumentieren und den Göttern schließlich jeglichen Herrschaftsanspruch über die Vögel abzusprechen: Den Vögeln und nicht
640. 1
Vgl. Thuk. 6.53.2; 6.60.2; Kap. II 1.2, 50f.; Geizer, Aristophanes, 1463.
2
Vgl. Zimmermann, Griechische Komödie, 148f. Peisetairos ist meiner Ansicht nach nicht, wie Vickers vermutet, mit Alkbiades gleichzusetzen. Alkibiades befand sich auf der Flucht nach Sparta, während sich Peisetairos als ehemaliger Ratgeber aus der Politik zurückzog. Er gehörte außerdem der älteren Generation an. Vgl. M. Vickers, Alcibiades at Sparta: Aristophanes „Birds", CQ 45, 1995, 339-354.
3 4
Hubbard, Sophistic City in Aristophanes, 33. Ein ähnlicher Gedanke zum Gerichtswesen findet sich bereits in den Acharnern
des Jahres 425.
Aristoph. Ach. 676-719. 5 6
Aristoph. av. 156f. Vgl. Newiger, Gedanken zu Aristophanes' Vögeln, 336f. Der Begriff „Imperialismus" meint hier allgemein ein herrschaftsbezogenes Denken auch über Fremdstaaten. Zimmermann, Utopisches, 71.
7
Zu Tereus vgl. Sophokles TrGF 582-595b; Thuk. 2.29.3; Apollod. 3.14.8; Paus. 1.41.8; Ov. met. 6.424-674; Geizer, Aristophanes, 1461; Kerényi, Mythologie, Bd. 2, 226-230; Bowie, Myth, Ritual
8
and Comedy, 166-168. Aristoph. av. 430f. (die Übersetzung weicht von der Seegers ab):
Επ. πυκνότατον κίναδος, σόφισμα κΰρμα τρίμμα παιπαλημ' όλον. Vgl. die ähnliche Wortwahl in den Wolken: Aristoph. nub. 2 6 0 , 4 4 4 - 4 5 1 .
306
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
den Göttern komme in der Evolution der erste und ursprünglichste Rang zu. So wandeln sich die Machtverhältnisse, und die Vögel nehmen die Rolle der Götter ein 1 . Die erste Szene endet mit einer umfangreichen Parabase, in der die Vögel ihre Kosmologie und Theogonie im Stil der Orphiker 2 zum Besten geben: Damit ihr von uns die Wahrheit erfahrt über alle himmlischen Dinge: Den Ursprung der Vögel, der Götter Entstehen, der Ströme, der Nacht und des Chaos, Auf daß ihr dann wisset alles genau und dem Prodikos, von mir beweint, das Übrige nennt 3 .
Die Unwissenheit des „Meteorsophisten" Prodikos wird hier als bemitleidenswert dargestellt, denn er konnte seine Religionstheorie nur auf Spekulationen stützen. Die Vögel dagegen seien älter als die Unsterblichen und könnten „aus erster Hand" berichten. Nur sie erweisen sich als wirklich nützlich für den Menschen, denn lernen die Bauern und Seeleute ihre Dienste zu schätzen und ihre Zeichen zu deuten, werden alle voller Vergnügen und Lust im Reichtum schwelgen 4 . Die gleichen Versprechungen hatte auch die schlechte Rede' in den Wolken oder die ,Kakia' im Mythos des Herakles gegeben. Nach einem kleinen Lied des Halbchores spricht der Chorführer die Zuschauer direkt an und fordert sie auf, bei den Vögeln zu leben: Denn was in der Stadt hier schimpflich ist und durch Gesetz verpönt, Dieses alles gilt für löblich und erlaubt im Vogelreich. Wenn's zum Beispiel hier für schändlich gilt, den Vater durchzubleun, so gilt es bei uns für rühmlich, wenn man seinen Vater packt und ihn prügelt und verhöhnt: „Heb den Sporn auf, willst du Kampf." 5 1 2
3
Aristoph. av. 562-564. Aristoph. av. 676-800. Vgl. auch Hubbard, Sophistic City in Aristophanes, 32, Anm. 44. Moulton weist darauf hin, daß sich hinter der langen Parabase nicht nur eine Parodie der Theogonie Hesiods verbirgt. Es handele sich vielmehr um einen kainos logos, denn die Parodie reiche von Homer, Hesiod bis hin zu philosophischen Spekulationen über die Anfänge des Universums aus dem fünften Jahrhundert. C. Moulton, Comic Myth-Making and Aristophanes' Originality, in: Segal, Oxford Readings, 220-223. Aristoph. av. 689-692 (die Übersetzung folgt mit Ausnahme der letzten Zeile der Voigts):
ίν' ά κ ο ύ σ α ν τ ε ς π ά ν τ α παρ' ήμών όρθώς περί των μετεώρων, φύσιν οιωνών γένεσίν τε θεών ποταμών τ Ερέβους τε Χάους τε είδότες όρθώς, Προδίκω παρ' έμοΰ κλάειν είπητε το λοιπόν. Vgl. Kap. II 3.1, 133. 4 5
Aristoph. av. 71 Of., 734-736. Aristoph. av. 755-759 (Übersetzung: Voigt):
οσα γ ά ρ έστιν ένθάδ' α ι σ χ ρ ά τώ νόμω κρατούμενα, τ α ϋ τ α πάντ' έστίν παρ' ήμίν τοΐσιν δρνισιν κ α λ ά .
3. Die Vögel
307
Galt es in den Wolken noch als erschreckende Folge der sophistischen Erziehung, wenn die Söhne ihre Väter schlagen, ist dies im Vogelreich gern gesehen. Auch Verbannte, Fremde und Sklaven finden Einlaß, denn es gelten die Normen der Natur und es ist erlaubt, menschliche Grenzen zu überschreiten . Doch es bleibt nicht allein bei der Wiedereinführung der Gesetze der physis, wie es in der zeitgenössischen nomos-physis Debatte diskutiert wurde2. Mit der Einführung der neuen Vogelgötter geht sogar eine Umkehrung der traditionellen Regeln und Werte einher, wenn jetzt alles Schändliche als ehrenhaft gilt und jeder Vogel eine der olympischen Gottheiten zum Attribut erhält3. Aristophanes konzipierte kein zur Nachahmung empfohlenes oder als Ideal verstandenes utopisches Staatsmodell4, denn dann würden die in den Wolken herausgestellten negativen Auswirkungen der sophistischen Bildung wohl kaum in den Vögeln lobend hervorgehoben. Auch der Beginn der zweiten Szene knüpft an die Wolken bzw. an die Wolken-Metapher an. Auf die Frage, wie denn der neue Staat heißen solle, folgt die Empfehlung, etwas ganz aus den Wolken und der himmlischen Sphäre Bestehendes zu wählen: Νεφελοκοκκυγία - „Wolkenkuckucksheim" - bezeichnet ein luftiges, schwer faßbares Gebilde5. Die Vögel verfügen jedoch im Gegensatz zu den Bewohnern des Phrontisterions, die sich nur mit „windigen" Theorien befassen, als die urtümlichsten aller Wesen über das tatsächliche Wissen. Bei dem Gründer des neuen Vogelreiches handelt es sich jedoch um einen Menschen, und Peisetairos avanciert jetzt mit neuen Flügeln ausgestattet zum Archon im Wolkenkuckucksheim6. Sein alter Freund Euelpides steht jetzt nur noch in seinem Dienst und verschwindet schließlich ganz von der Bildfläche. Der neue Staat der Vögel ähnelt Athen, denn der Mauerbau wird sofort beschlossen. Ein Unterschied besteht jedoch in der geographisch günstigeren Insellage und der Einführung der Vogelgötter als neue Gottheiten7. Dem Staatsgründer bietet sich nun die Chance, unliebsamen Störenfrieden den Zugang zur Stadt zu verwehren. Während der Opfer für die Vogelgötter erscheinen nacheinander ein Bettelpoet, ein Wahrsager und
εί γαρ ένθάδ' εστίν αίσχρόν τον πατέρα τΰπτειν νόμω, τοΰτ' έκεΐ καλόν παρ' ήμίν έστιν, ήν τις τω πατρί προσδραμών εϊπη πατάξας, 'αιρε πλήκτρου, ει μαχεί.' 1
2
3
4
5 6 7
Aristoph. av. 760-768, 785-800. Vgl. Dunbar, Birds, 469f.; N.W. Slater, Performing the City in Birds, in: Dobrov, City as Comedy, 81. Vgl. Moulton, Comic Myth-Making, 223 (wie 306, Anm. 2); zur sophistischen Auseinandersetzung vgl. Kap. II 4.2.2; 5.4; 6.3; 7.2. Aristoph. av. 565-570: Der Sperling steht damit an der Seite der Aphrodite, die Ente an der des Poseidon, die Kropfgans an der des Herakles. Vgl. zu den Utopiemodellen in der Forschung: Zimmermann, Utopisches, S 57f. In den Vögeln ist ein entscheidendes Kriterium der .eigentlichen Utopie' zu schwach ausgeprägt, nämlich der staatstheoretische Aspekt. Vgl. Zimmermann, Utopisches, 71 f. Aristoph. av. 819. Aristoph. av. 1123. Aristoph. av. 837-850. Vgl. dazu Zimmermann, Griechische Komödie, 150.
308
III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
der Mathematiker Meton. Obwohl Meton nichts für sich erbittet oder ergaunert, sondern nur an wissenschaftlichen Dingen Interesse zeigt, wird er wie die Bittsteller zuvor aus der Stadt vertrieben, denn: Einstimmig ist beschlossen, alle Windbeutel zu vertreiben'.
Peisetairos bringt kein Verständnis für die Pläne Metons auf, mit Hilfe von Instrumenten den Himmel zu vermessen, und nennt ihn abfällig einen zweiten Thaies 2 . - Der Definition der Wolken zufolge war Meton somit Sophist. - Danach folgen mit dem ,Episkopos' und dem ,Psephismatopolos' zwei Personen, die das attische Gerichtswesen, vor allem die Organisation des Seebundes und die „Gesetzesmühlen" ihrer Ekklesia repräsentieren. Auch sie werden schnell des Landes verwiesen 3 . Die Schlußparabase richtet den Blick auf das zeitgenössische Athen, wo auf Diagoras von Melos ein Kopfgeld ausgesetzt wird und eine übertriebene Tyrannenfurcht herrscht 4 . Dem wird der Beschluß, statt dessen den Vogelhändler Philokrates zu verfolgen und in Zukunft die Freiheit aller Vögel zu garantieren, entgegengehalten. Den Schluß bilden Spott und Mahnungen an die korrupten Richter Athens 5 . Die folgende Szene beginnt mit dem Bericht eines Boten über das Ende des Mauerbaus, ein zweiter meldet das unerlaubte Eintreffen eines Gottes. Iris erscheint und droht mit der Rache des Zeus. Doch auch sie wird verjagt, und der Chor gelobt, niemals mehr den olympischen Göttern zu opfern. Die neuen Vogelgötter übernehmen als die ,Stärkeren' die Herrschaft 6 . Die Nähe zur Handlung in den Wolken wird an dieser Stelle besonders deutlich. In den Wolken hatte der sophistische Atheismus noch zum Brand des Phrontisterions und zur Wiederherstellung der alten Ordnung geführt. Die Erwartung einer bevorstehenden Strafe für Frevel und Hybris drängt sich an dieser Stelle förmlich auf, bleibt aber am Ende des Stückes unerfüllt. Auffarth bietet für den ungestraft bleibenden Frevel eine überzeugende Erklärung, indem er die Verbindung der Komödien zu den Anthesterien hervorhebt. Opferstreik, Thronverlust der olympischen Götter und die Aufhebung der alten Ordnung entsprechen der , Verkehrten Welt' während der Anthesterien, die solange andauert, bis der , Vorhang fällt' und der Spuk vorbei ist 7 . So bilden Opferstreik-
1
Aristoph. av. 1015f. (die Übersetzung weicht von der Seegers ab):
ομοθυμαδόν σ π ο δ ε ί ν ο ί π α ν τ α ς τους α λ α ζ ό ν α ς δοκεΐ. 2
Aristoph. av. 1009.
3
Aristoph. av. 1021-1034, 1035-1057. Aristoph. av. 1073-1075. Vgl. Kap. II 1.2, 51f.; III 2, 290; 293, Anm. 1, 7. Die Einschätzung der Lage deckt sich mit der Darstellung des Thukydides, der in die Schilderung der A b b e r u f u n g des Alkibiades den Tyrannenexkurs einfügt. Thuk. 6.53-61; 6.54-59. Vermutlich kursierten Gerüchte über derartige Pläne des Alkibiades. Vgl. dazu P. Barceló, Thukydides und die Tyrannis, 401-425, bes. 417.
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5
Aristoph. av. 1076-1087, 1102-1117.
6
Aristoph. av. 1226-1228, 1263-1266. Ch. Auffarth, Der Opferstreik: Ein altorientalisches „Motiv" bei Aristophanes und im homerischen Hymnus, G B 20, 1994, 69; vgl. auch Bowie, Myth, Ritual and Comedy, 177.
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3. Die Vögel
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und Stadtgründungsmythen eine Basis für die Neuordnung des Staates, der ideale Bedingungen zu verheißen scheint. So meldet ein dritter Bote die große Begeisterung der Menschen: Der berühmten Luftstadt hoher Gründer, Weißt du nicht, wie dir die Menschen huldigen, Wie viele Verehrer du im Land hast? Bevor du nämlich diese Stadt gegründet hast, Waren alle Menschen Lakonomanen, langhaarig, Hungrig und schmutzig, und sokratisierend Trugen sie kleine Stäbe. Jetzt haben sie sich dagegen in Ornithomanen verwandelt, Alle ahmen voller Begeisterung die Vögel nach'.
Der Rückblick des Herolds bietet einen verzerrten Spiegel der athenischen Gesellschaft. Sicher waren nicht alle Menschen „spartabesessen" (λακωνομανέοντες) und von ungepflegter äußerer Erscheinung. Aristophanes lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine im Stadtbild Athens auffällige Gruppe - auf Sokrates und seine Schüler. Während diese in den Wolken noch in der Isolation lebten, fehlt in den Vögeln dieser Aspekt völlig. Sie erhalten sogar als Attribut ein σ κ υ τ α λ ώ ν , die kleinere Ausführung eines typisch spartanischen Wanderstocks, das auch zur Übermittlung geheimer Botschaften diente 2 . Als „Lakonomanen" werden Sokrates und seine Anhänger hier deutlich auf die Seite der Spartafreunde gerückt. Seine nach spartanischem Vorbild gestaltete Lebensweise 3 könnte eine Ursache dafür sein. Vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse des Winters 415/414, nämlich der Flucht des Alkibiades nach Sparta, sind die Anspielungen auf Kontakte dorthin politisch brisant. Alkibiades gehörte zwar nicht zum „schmutzigen" Gefolge des Sokrates, war aber dennoch einer seiner prominentesten Schüler 4 . Sokrates und seine Schüler werden somit als Staatsfeinde abgestempelt 5 .
1
Aristoph. av. 1277-1285 (die Übersetzung weicht von der Seegers ab):
Κη. ώ κλεινοτάτην αιθέριον οίκίσας πάλιν, ούκ όΐσθ' όσην τιμήν παρ' άνθρώποις φέρει, δσους τ' έραστάς τήσδε της χώρας έχεις, πριν μέν γαρ οίκίσαι σε τήνδε τήν πόλιν, έλακωνομάνουν άπαντες άνθρωποι τότε, έκόμων έπείνων έρρύπων έσωκράτουν σκυτάλι' έφόρουν, νυνί δ' ύποστρέψαντες α ύ όρνιθομανοΰσι, πάντα δ' ύπό της ηδονής ποιοϋσιν άπερ όρνιθες έκμιμούμενον 2
Dazu wurde der Stock mit einem beschrifteten Lederband umwickelt, das nur bei der Verwendung eines Gegenstücks gleicher Stärke gelesen werden konnte. Vgl. Thuk. 1.131.1; Xen. Hell. 3.3.8; vgl. die Textausgabe Sommersteins. Sommerstein, Birds, 283.
3
Vgl. Dunbar, Birds, 636. Sokrates hat, auch Piaton zufolge, Sparta stets gelobt und nach spartanischem Vorbild seinen Körper abgehärtet. Eine Ausnahme machte er aber offenbar, wenn es um den Weingenuß ging. Dennoch zeigte er sich niemals betrunken. Vgl. Plat. Krit. 52e; Symp. 220a-c.
4
Vgl. beispielsweise Xen. mem. 1.2.24. Das gleiche gilt für Kritias, dessen Schriften noch von seiner Begeisterung für die spartanische Lebensweise zeugen. Vgl. Kap. II 7.2 c.
5
Von einer Trennung zwischen der philosophischen Theorie und der politischen Praxis konnte zu
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III. Das Beispiel der Komödien des Aristophanes
In der Komödie verwandeln sich jetzt alle in Ornithomanen (όρνιθομανέοντες) und wünschen die Aufnahme ins Vogelreich. Schon erscheint ein junger Mann, der seinen Vater prügelt und sich dabei auf die genannte Erlaubnis dazu beruft 1 . Offenbar gehörte er wie Pheidippides zu den sophistisch geschulten jungen Männern. Doch Peisetairos argumentiert .sophistisch' geschickt mit weiteren nomoi der Vögel und überzeugt ihn, seine Aggressionen besser auf dem Schlachtfeld auszuleben 2 . Nach dem typischen Sophistenschüler strebt jetzt der Dichter Kinesias nach den Flügeln. Dieser bezieht wie Ion im Frieden seine Kunst aus den Wolken und ist als Wortkünstler ebenfalls den Intellektuellen zuzurechnen. Auch ihn weist der eher sachlich orientierte Peisetairos spöttisch ab 4 . Dem Schönredner folgt schließlich ein professioneller Ankläger, ein Sykophant, den Peisetairos wortgewandt in die Flucht schlägt 5 . Weder prozeßwütige Sykophanten, Episkopoi, Psephismahändler noch Sophisten, zu denen als Vertreter der neuen Bildung wie in den Wolken Mathematiker, Astronomen oder auch „moderne" Dichter gehörten, fanden Einlaß in das neue Reich. Peisetairos entscheidet bereits allein über die Aufnahmekriterien. Dennoch scheinen bisher ideale Bedingungen gegeben zu sein, ganz im Gegensatz zur Polis Athen. Dies unterstreichen die folgenden Spottlieder: In der Mitte der dritten Szene finden sich zwei Chorlieder über ferne Länder. Im ersten Land wächst ein „Kleonymos-Baum", und bei dem zweiten handelt es sich um das im Norden liegende, mythische Land der Hyperboreer, wo Menschen und Heroen miteinander Kontakt haben 6 . Die Verse sind auf die Verhältnisse in Athen gemünzt, wo Kleonymos, der Sykophant und Denunziant im Hermokopidenprozeß 7 , sein Unwesen treibt und nachts die Straßen nicht vor Orest, einem Wegelagerer mit dem Namen eines Heroen, sicher sind 8 . Im vierten Akt berichtet Prometheus in seiner Eigenschaft als alter Freund der Menschen über die Hungersnot der olympischen Götter, denen keine Opfer mehr dargebracht wurden. Die Götter schickten bald Gesandte, und Peisetairos sollte auf Rat des Prometheus das Zepter des Zeus fordern und Basileia zur Frau 9 . Den Abschluß bildet diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein. Diese hatte sich erst nach dem Tod des Sokrates und als eine Reaktion auf die Todesumstände vollzogen. Vgl. Scholz, Der Philosoph und die Politik, lf. 1
Aristoph. av. 1337ff.
2
Aristoph. av. 1368f.
3
Aristoph. pax 828ff. Aristoph. av. 1372ff., 1405f. Vgl. Zimmermann, Aristophanes und die Intellektuellen, 271.
4 5 6
Aristoph. av. 1410-1469. Aristoph. av. 1470-1481, 1482-1493. Vgl. H. H o f m a n n , Mythos und Komödie: Untersuchungen zu den , V ö g e l n ' des Aristophanes, (Diss. 1972) Hildesheim 1976, 203.
7
Kleonymos ist oft Zielscheibe des Spotts wegen seiner Feigheit. Aristoph. equ. 1369f.; nub. 353; vesp. 15ff., 592, 823; pax 4 4 4 f „ 670, 1295; av. 290.
8
Vgl. H o f m a n n , Mythos und Komödie, 205; M.J. Alink, De vogels van Aristophanes: structuuranalyse en interpretatie, Amsterdam 1983, 216-218.
9
Aristoph. av. 1535-1537. Es handelt sich bei der β α σ ί λ ε ι α um die Königin der Stadt und nicht um die personifizierte Herrschaft β α σ ι λ ε ί α . Vgl. Zimmermann, Utopisches, 69f.; Auffarth, Opferstreik, 71, Anm. 43 (wie 308, Anm. 7).
een
3. Die Vögel
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wiederum ein kleines Chorlied über ein fernes Land, das nicht im Norden lokalisiert ist, sondern Libyen meint: Nah beim Land der Schattenfiißler Liegt ein See, w o Sokrates Ungewaschen Seelen h e r a u f b e s c h w ö r t . Dorthin kam auch Peisandros, U m seine verlorene Seele zu sehen, Die jenen schon lebend verlassen hatte Und als Opfer bracht er ein Kamel Wie ein L a m m dar, dessen Kehle er durchtrennte Und wie Odysseus zurücktrat Dann stieg zu ihm aus der Tiefe, Zur Kehle des Kamels - Chairephon, die Fledermaus! 1
Der Sage nach lebten im Land der Schattenfiißler Menschen mit riesigen Füßen, die ihnen Schatten spendeten 2 . Aristophanes siedelt Sokrates an diesem entlegenen Ort an, wo er, wie in den Wolken den Schatten bevorzugend, Seelen beschwört. Der attische Politiker Peisandros opfert dort ein Kamel, um seine Seele zurückzubekommen. Doch diese ist unwiderruflich verloren, denn das Blut des Tieres lockt nur Chairephon, die Fledermaus (ή νυκτερίς), wie aus dem Totenreich empor. Das von ihm dargebrachte merkwürdige Opfer war offenbar das Honorar an den Sophisten Sokrates. Die mit schwarzem Humor gedichteten Spottverse des Aristophanes erinnern an die Nekyia der Odyssee3 und lassen in der Phantasie der Zuschauer ein unheimliches und zugleich komisches Bild des Sokrates entstehen, das sich leicht auf die Realität übertragen läßt. Auch in Athen zieht Sokrates der Komödie zufolge die Seelen der Menschen unwiderruflich in seinen Bann (ψυχαγωγεί), und zu seinem Gefolge gehören Demagogen wie Peisandros. Dieser galt wie Kleonymos als ungemein feige und war 415/14 Mitglied der Kommission zur Untersuchung des Hermenfrevels 4 . Die erwartete 1
Aristoph. av. 1553-1564 (die Übersetzung weicht von der Seegers ab):
Xo. προς δε τοις Σκιάποσιν λίμνη τις έστ' άλουτος ού ψ υ χ α γ ω γ ε ί Σωκράτης ένθα κ α ι Πείσανδρος ήλθε δεόμενος ψυχήν ίδειν ή ζώντ' έκεΐνον προύλιπε, σφάγι' έχων κάμηλον άμνόν τιν', ης λαιμούς τεμών ώσπερ