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German Pages [552] Year 2003
ORDO Band 53
ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Band 53
Begründet von
Herausgegeben von
Walter Eucken
Hans Otto Lenel
und
Helmut Gröner
Fran2 Böhm
Walter Hamm Ernst Heuß Erich Hoppmann Ernst-Joachim Mestmäcker Wernhard Möschel Josef Molsberger Peter Oberender Alfred Schüller Viktor Vanberg Christian Watrin Hans Willgerodt
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Lucius & Lucius · Stuttgart
Schriftleitung Professor Dr. Hans Otto Lenel Universität Mainz, Haus Recht und Wirtschaft, 55122 Mainz Professor Dr. Dr. h.c. Josef Molsberger Wirtschaftswissenschaftliches Seminar der Universität Tübingen Nauklerstr. 47, 72074 Tübingen Professor Dr. Helmut Gröner Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Universitätsstr. 30, 95447 Bayreuth Professor Dr. Alfred Schüller Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme der Universität Marburg Barfüßertor 2, 35037 Marburg Professor Dr. Peter Oberender Universität Bayreuth Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth Universitätsstr. 30, 95440 Bayreuth
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
ISBN 3-8282-0209-8 ISSN 0048-2129 © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2002 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag. com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen.
Druck und Einband: Druckhaus: Druckhaus Thomas Müntzer, Bad Langensalza Printed in Germany
O R D O • J a h r b u c h f ü r die O r d n u n g von W i r t s c h a f t und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 2 ) Bd. 5 3
Vorwort Dieser 53. Band des Jahrbuchs Ordo setzt in den ersten fünf Beiträgen aktuelle ordnungspolitische Akzente. Ausgehend von den alarmierenden finanzpolitischen Fakten - hohe Fehlbeträge der öffentlichen Haushalte, ungeklärte Finanzierung der Sozialversicherung, Vernachlässigung der öffentlichen Investitionen - zeigt Walter Hamm Wege zu einer „Finanzpolitik für die kommende Generation" auf, die die Nachhaltigkeitslücke der bisherigen deutschen Finanzpolitik überwindet. Manfred E. Streit diskutiert die Hintergründe der wirtschaftspolitischen Krise im demokratischen Wohlfahrtsstaat. Egon Görgens analysiert die Gefährdungspotentiale für eine stabilitätsorientierte europäische Geldpolitik und die institutionellen Stützpfeiler, die ihr bisher Handlungsmöglichkeiten und Glaubwürdigkeit gesichert haben. Unter dem Titel „Markt und Wissenschaft" stellt Hans Willgerodt kritische Betrachtungen zur aktuellen deutschen Hochschulpolitik an. Er kommt zu dem Ergebnis: „Die deutsche Hochschulpolitik versucht mit untauglichen Mitteln, die Effizienz der Hochschulen zu steigern und bewirkt das Gegenteil." Alfred Schüller diskutiert das Konfliktpotential von Sozialansprüchen und individueller Eigentumsbildung. Er plädiert für eine Reform, die Sozialansprüche in die Institutionen des Marktsystems integriert. In dem mit der Riester-Rente verbundenen Regulierungskonzept sieht er dagegen die Gefahr desintegrierender Entwicklungen für das Marktsystem. Die weiteren Beiträge des Hauptteils behandeln grundsätzliche ordnungstheoretische Themen sowie ordnungspolitische Einzelprobleme. Ein umfangreicher Besprechungsteil rundet den Band ab. Zwei Herausgeber des Onio-Jahrbuchs, Ernst Heuß und Walter Hamm, haben im Jahre 2002 ihren achtzigsten Geburtstag feiern können. Zu Ehren von Ernst Heuß fand am 11. Juli 2002 eine akademische Feier an der Universität Bayreuth statt; eine erweiterte Fassung des Festvortrags von Alfred Schüller ist in diesem Band abgedruckt. Walter Hamm wird am 11. Januar 2003 mit einem Festcolloquium an der Universität Marburg geehrt. Friedrich A. Lutz (1901-1975) war seit Gründung von Ordo im Jahre 1948 bis zu seinem Tod Mitherausgeber dieses Jahrbuchs. Anläßlich seines 100. Geburtstags würdigt Verena Veit-Bachmann in diesem Band sein wissenschaftliches Werk und sein wirtschaftspolitisches Wirken. Wir danken Bernhard Duijm und Claudia Edel für redaktionelle Unterstützung sowie für die Erstellung der Register und die Herstellung der Druckvorlage, Jochen Fleischmann für die Bearbeitung und Koordination der Buchbesprechungen.
Die
Schriftleitung
O R D O · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 2 ) Bd. 5 3
Inhalt Hauptteil
Walter Hamm Finanzpolitik für die kommende Generation I. Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit Π. Alarmierende finanzpolitische Fakten 1. Reformbedarf auf der Einnahmenseite 2. Notwendige Korrekturen auf der Ausgabenseite ΙΠ. Die zu erwartende Zuspitzung der Finanzlage IV. Notwendige finanz-und sozialpolitische Reformen 1. Aufklärung über Nachhaltigkeitslücken 2. Schritte zur nachhaltigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte 3. Höhere Flexibilität auf den Arbeitsmärkten V. Schlußbemerkungen Literatur Zusammenfassung Summary: Fiscal Policy for the Coming Generation
Manfred E. Streit Wirtschaftspolitik im demokratischen Wohlfahrtsstaat - Anatomie einer Krise I. Vorbemerkung Π. Stabilisierungspolitik ΠΙ. Strukturpolitik IV. Arbeitsmarktpolitik V. Politisch-ökonomische Handlungsbedingungen VI. Konsequenzen für die wissenschaftliche Politikberatung VII. Auswege aus der Krise Literatur Zusammenfassung Summary: Economic Policy in a Democratic Welfare State - Anatomy of a Crisis
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Vili · Inhalt Egon Görgens Europäische Geldpolitik: Gefährdungspotentiale - Handlungsmöglichkeiten - Glaubwürdigkeit I. Einführung Π. Gefährdungspotentiale stabilitätsorientierter europäischer Geldpolitik 1. Herausforderungen durch die Lohn- und Sozialpolitik 2. Gefährdungen durch die Finanzpolitik ΙΠ. Institutionelle Stützpfeiler des Eurosystems 1. Zielbindung und Handlungsmöglichkeiten 2. Konfliktpotentiale auf der Entscheidungsebene IV. Glaubwürdigkeit des Eurosystems und geldpolitische Effizienz 1. Transparenz der Geldpolitik im Umfeld der Unsicherheit 2. Demokratische Legitimation und Verantwortlichkeit V. Abschließende Bemerkungen Literatur Zusammenfassung Summary: European Monetary Policy: Potential Risks - Margin of Action - Credibility
Hans Willgerodt Markt und Wissenschaft - kritische Betrachtungen zur deutschen Hochschulpolitik I. Die Hochschulen in den Stürmen der Zeit Π. Die hochschulpolitische Wende ΠΙ. Die Hochschule und ihre Marktvorgänge 1. Die Marktprobleme der Lehre an Hochschulen 2. Die Marktprobleme der Forschung an wissenschaftlichen Hochschulen IV. Hochschulorganisation und Hochschulautonomie V. Die Behandlung der Wissenschaftler: Gleichberechtigung oder Hierarchie VI. Der wissenschaftliche Nachwuchs VII. Rückblick und Ausblick Literatur Zusammenfassung Summary: The University and the Market: A Critique of German Policy for Higher Education
Alfred Schüller Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem
31 31 32 33 37 40 41 44 46 47 51 53 54 56 57
59 59 64 70 70 76 81 84 93 103 106 109 109
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Inhalt • I X
I. Vorgehensweise Π. Sozialansprüche versus individuelle Eigentumsbildung: Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts ΙΠ. Zwei Arten von Sozialansprüchen IV. Sozialansprüche in der geistigen Auseinandersetzung 1. Umfassende staatliche Daseinsvorsorge als Notwendigkeit: Die marxistische Sicht 2. Die liberale Bewegung und das Denken in Sozialansprüchen 3. Umfassende staatliche Daseinsvorsorge als entwicklungsgeschichtliche Unvermeidlichkeit: Die Lehre von Forsthoff 4. Der Konflikt zwischen Sozialansprüchen und individueller Eigentumsbildung: Die Sicht des demokratischen Sozialismus V. Sozialansprüche und individuelle Eigentumsbildung im Vergleich 1. Aus der Perspektive der Handlungsmotivation 2. Aus der Perspektive des Handlungspotentials 3. Aus der Perspektive der Handlungskontrolle VI. Individuelle Eigentumsbildung - Schlüsselelement der menschlichen Anpassungsfähigkeit und Zukunftsvorsorge in einer freien Gesellschaft 1. Die Bedingung: Individualisierung und Marktorientierung von Sozialansprüchen 2. Wird die deutsche „Riester-Rente" der Bedingung gerecht? Literatur Zusammenfassung Summary: Social Rights, Individual Asset Building and the Market System
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Wernhard Möschel Funktionen einer Eigentumsordnung I. Eigentum in der Rechtsordnung 1. Im bürgerlichen Recht 2. Ähnliche Rechtspositionen 3. Eigentum im Verfassungsrecht Π. Zur rechtsethischen Legitimation von Privateigentum ΙΠ. Zur ökonomischen Begründung von Privateigentum 1. Die Wertentscheidungen 2. Transaktionskosten IV. EG-rechtliche Implikationen Literatur Zusammenfassung Summary: Functions of Private Property
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Χ · Inhalt
Verena Veit-Bachmann Unsere Aufgabe Friedrich A. Lutz ( 1901 - 1975) zum hundertsten Geburtstag I. Einleitung Π. Das Programm 1. Tatsachen 2. Theorie 3. Interdependenz und Ordnung 4. Gestaltung m . Schluß Literatur Zusammenfassung Summary: Our Task: On the Occasion of the 100th Birthday of Friedrich Α. Lutz (1901 - 1975)
Gerd Habermann Ordnungsdenken - eine geistesgeschichtliche Skizze I. Über Ordnungen Π. Chinas Beitrag: Die Ökonomie der Sitte ΙΠ. Indiens düstere Ordnungslehre IV. Aristoteles und Piaton: Urmuster des Ordnungsdenkens V. Die Entnationalisierung der Ordnungslehre VI. Fall und Wiederaufstieg der „natürlichen" Ordnung VE. Das Verständnis der „spontanen" Ordnung Literatur Zusammenfassung Summary: Philosophy of Order - a Historical Sketch
Guido Bünstorf Über den Wettbewerb als allgemeines Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungsverfahren I. Einleitung Π. Aufdeckungs- und Ordnungswirkung des Wettbewerbs ΠΙ. Die Erkundungswirkung des Wettbewerbs IV. Wettbewerb in der Wissenschaft V. Wettbewerb in der Politik VI. Wettbewerb als allgemeines kulturelles Phänomen VII. Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren - ein generalisierbares Konzept? Literatur Zusammenfassung
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Inhalt • XI Summary:
On Competition as a Procedure of Disclosure, Ordering, and Exploration
Roland Vaubel „Das Wunder der europäischen Musik" und der Wettbewerb I. Einführung Π. Politiche Fragmentierung und die Entwicklung der Musik ΙΠ. Der Wettbewerb in der Musik zur Zeit des Barock: Ein internationaler Vergleich IV. Der Musik-Wettbewerb in anderen Epochen V. Die europäische Musik als Ausdruck des Wettbewerbs? Literatur Zusammenfassung Summary: The "Miracle of European Musik" and the Role of Competition
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Roland Kirstein und Dieter Schmidtchen Eigennutz als Triebfeder des Wohlstands - die invisible hand im HörsaalExperiment sichtbar gemacht I. Eigennutz und allgemeiner Wohlstand Π. Das Experiment Dil. Der Ablauf des Handels IV. Auswertung des Experiments V. Wettbewerb als Entdeckungsverfahren VI. Fazit Literatur Zusammenfassung Summary: Self Interest and Public Interest: A Classroom Experiment that Makes the 'Invisible Hand' Visible
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Sven L. Eisenmenger Der Netzzugang als Blockademittel in der Stromwirtschaft - zugleich ein Diskussionsbeitrag zur Einführung einer staatlichen Regulierungsbehörde in der Elektrizitätswirtschaft I. Einführung und Problemstellung Π. Der Netzzugang und die Durchleitungsverweigerung 1. Ökonomische Qualifizierung der Netze 2. Der deutsche Netzzugang im europäischen Vergleich 3. Durchleitungsverweigerungsrechte als Wettbewerbshindernis 4. Ein zentraler Netzbetreiber als Generallösung?
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ΧΠ · Inhalt 5. Empfehlungen ΠΙ. Durchleitungskonditionen - Notwendigkeit staatlicher Regulierung? 1. Schwächen der Verbändevereinbarung und der Mißbrauchsaufsicht 2. Netzzugangsverordnung und Regulierungsbehörde als Alternative? 3. Stärkung der allgemeinen Wettbewerbsbehörden Literatur Zusammenfassung Summary: The Denial of Accessing the Mains: Pros and Cons of Introducing a Regulatory Agency in the Electricity Industry
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Dieter Fritz-Aßmus und Egon Tuchtfeldt Insolvenzen in Deutschland: Entwicklung und ordnungspolitische Perspektiven I. Unternehmensinsolvenzen aus ökonomischer Sicht Π. Die neue Insolvenzordnung in Deutschland 1. Mängel der alten Konkurs- und Vergleichsordnung 2. Erstes Ziel: Geordnetes Insolvenzverfahren 3. Zweites Ziel: Einheitliches Insolvenzverfahren ΙΠ. Entwicklung der Insolvenzen in Deutschland 1. Insolvenzmeldungen 2. Finanzieller Gesamtverlust 3. Wirtschaftsbereiche, Rechtsformen und Alter der Unternehmen IV. Insolvenzen aus ordnungspolitischer Sicht 1. Insolvenzen im marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen 2. Partieller oder totaler Marktaustritt bei Insolvenzen 3. Das Insolvenzverfahren auf dem Prüfstand V. Wirtschaftspolitischer Ausblick Literatur Zusammenfassung Summary: Business Bankruptcies in Germany: Development and Constitutional Perspectives
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Frank Daumann und Mathias Langer Zur staatlichen Förderung von Sport-Großveranstaltungen I. Problemstellung und Vorgehensweise Π. Formen und Ausmaß staatlicher Unterstützung ΠΙ. Ansätze zur Rechtfertigung staatlicher Unterstützung IV. Analyse der Notwendigkeit staatlicher Unterstützung 1. Charakteristika von Sport-Großveranstaltungen
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Inhalt · XIII
2. Sport-Großveranstaltungen als öffentliches Gut 3. Sport-Großveranstaltungen und technologische Externalitäten 4. Regionale Begrenztheit der Effekte von Sport-Großveranstaltungen 5. Zwischenergebnis V. Unterstützung von Sport-Großveranstaltungen als Aktionsparameter im Tiebout-Wettbewerb VI. Fazit Literatur Zusammenfassung Summary: On Public Subsidies for Mega-Events in Sports
Cornelia Storz Zum Wandel der japanischen Unternehmensorganisation: Innovationsfähigkeit zwischen Diskontinuität und Stabilität I. Einführung Π. Wandel durch Stabilität 1. Kultur: Kognitive Modelle, Emotionen, Präferenzen 2. Unsicherheit, Investitionen, Interessen 3. Der Einfluß des räumlichen Kontextes - das Beispiel Japan ΙΠ. Prozesse institutionellen Wandels - Die japanische Industrie- und Arbeitsmarktorganisation als Anwendungsbeispiel 1. Industrieorganisation 2. Arbeitsmarktorganisation IV. Fazit: Wandel und Wandlungsfähigkeit von Institutionen Literatur Zusammenfassung Summary: Institutional Change in Japanese Company Organization: Innovative Capacity at Crossroads between Discontinuity and Stability
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Besprechungen
Carl Christian von Weizsäcker Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkung im vormodernen Deutschland 1000- 1800 Anmerkungen zu dem Buch von Oliver Volckart
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XIV
Inhalt
Michael Wohlgemuth Eucken, Hayek, Pies: zwei Klassiker und ein Rekonstrukteur ordnungsökonomischen Denkens im Vergleich Anmerkungen zum Buch von Ingo Pies „Eucken und von Hayek im Vergleich"
335
Fritz Söllner Ökonomie und Theologie Bemerkungen zur Neuauflage eines ordoliberalen Klassikers
343
Peter Oberender Neue Entwicklungen in der Wirtschaftswissenschaft Anmerkungen zu dem von Klaus F. Zimmermann herausgegebenen Sammelband mit gleichem Titel Charles B. Blankart Ökonomische Theorie der Politik Zu dem von Dennis C. Mueller herausgegebenen Buch „The Economics of Politics"
355
Friedrich L. Sell Neidökonomie: Wirtschaftspolitische Aspekte eines Lasters Anmerkungen zu dem gleichnamigen von Gerhard Schwarz und Robert Nef herausgegebenen Werk
3 61
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Nils Goldschmidt Grundlagen des Ökonomischen Denkens Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Wilhelm Meyer Andrea
367
Fibelkorn-Bechert
Institutionen und Erkenntnis - Eine Analyse im Lichte der Popperschen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Thomas Schaffer
373
Jochen Fleischmann Pfadabhängigkeit, Institutionen Regelreform Zu dem gleichnamigen Buch vonund Rolf Ackermann
377
Carl Christian von Weizsäcker Die Schatten der Globalisierung Besprechung des Buches von Joseph Stiglitz
385
Heinz Hauser Zur Bedeutung von Wissen und Institutionen in Niedrigeinkommensländern Anmerkungen zu dem von Renate Schubert herausgegebenen Buch Entwicklungsperspektiven von Niedrigeinkommensländern Alexander Roitinger Ordnungspolitik im Zeitalter der Globalisierung Anmerkungen zu dem von Lüder Gerken und Otto Graf Lambsdorff herausgegebenen Buch Ordnungspolitik in der Weltwirtschaft Indira Gurbaxani Globalisierung der Wirtschaft Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Eckart Koch Jürgen Zerth Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft Eine Betrachtung des gleichnamigen Buches von Udo di Fabio aus ökono mischer Perspektive Matthias Ross Direktinvestitionen Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Anton Fischer Theresia Theurl Institutionenökonomik und internationale Rechnungslegungsordnungen Zum gleichnamigen Buch von Jens Wüstemann Marcus Mittendorf Selbstverpflichtungen der Wirtschaft Anmerkungen zum gleichnamigen Werk von Walter Frenz Justus Haucap Kollektive Marktbeherrschung im europäischen Wettbewerbsrecht Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Marc Amstutz Frank Fichert Die Finanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland im interessengelei teten Reformprozeß Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Matthias Schoder
XVI · Inhalt Indira Gurbaxani Erweiterung der EU Besprechung des von Lutz Hoffmann herausgegebenen Sammelbandes
443
Paul Marschall Möglichkeiten und Grenzen einer nationalen Sozialpolitik in der Europäischen Union Bemerkungen zu dem von Winfried Schmähl herausgegebenen Buch
447
Manfred Hilzenbecher Effizienz durch Wettbewerb im Gesundheitswesen Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Stephan Binder
455
Torsten Sundmacher Soziale und demographische Herausforderungen Zu dem Sicherungssysteme gleichnamigen Sammelband von Ulrich und Schmähl
459
Thomas Pfahler Migration im 21. Jahrhundert Zu dem gleichnamigen Buch von Thomas Straubhaar
465
Urban Mauer Ökonomik des Arbeitsmarktes Zu dem gleichnamigen Buch von Hans Schmid
469
Brit S. Albers Humanvermögensbildung durch Genossenschaften Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Cornelia Schädel Gunther
475
Schnabl
Alan Greenspan: vorausschauender Geldpolitiker oder Getriebener der Aktienmärkte? Zu dem Buch von Bob Woodward „Greenspan: Dirigent der Weltwirtschaft"
481
Kurzbesprechungen
485
Namenregister
509
Sachregister
519
Anschriften der Autoren
525
Hauptteil
O R D O · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 2 ) Bd. 53
Walter
Hamm
Finanzpolitik für die kommende Generation I. Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit Bundesfinanzminister Eichel wirbt für seinen Sparkurs mit dem ständig wiederholten Argument, er denke an die kommende Generation, der nicht noch höhere öffentliche Schulden zugemutet werden dürften. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Finanzen spricht dagegen in seinem Gutachten über „Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik" (2001, 2 f.) von einer dramatischen Zuspitzung in der Finanzpolitik: „Die geltende Haushaltsplanung bildet den sich abzeichnenden Problemdruck nur ansatzweise ab"; und weiter: „Der haushaltspolitische Handlungsbedarf (wird) viel zu einseitig unter kurz- und mittelfristigen Konsolidierungsaspekten und vor allem im Hinblick auf die Einhaltung der fiskalischen Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages diskutiert". Es fehle „an einer geordneten und zusammenfassenden Berichterstattung, auf deren Grundlage sich die finanzpolitisch Verantwortlichen systematisch mit den vorliegenden Problemen auseinandersetzen" könnten. Schärfer kann der Widerspruch zwischen politischem Anspruch und harter Wirklichkeit kaum ausfallen. Die deutsche Finanzpolitik ist in der Tat nicht auf die bereits deutlich erkennbaren enormen Herausforderungen der Zukunft eingestellt, ja es fehlen sogar alle notwendigen Informationen über das volle Ausmaß der sich klar abzeichnenden Überforderung der kommenden Generation. Die bisher erzielten Fortschritte in der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte sind unzureichend. Die Haushaltsstruktur ist geradezu zukunftsfeindlich. Das strukturelle Haushaltsdefizit ist unverantwortlich hoch. Die Sozialversicherung, in der immer noch fast ausschließlich auf das Umlagensystem und auf noch mehr Umverteilung gesetzt wird, ist den demographischen Veränderungen in keiner Weise gewachsen. Dasselbe gilt für die Beamtenpensionen. Ausgehend von einer aktuellen Tatbestandsaufnahme (Abschnitt Π) und ausgehend von den zu erwartenden künftigen Veränderungen (Abschnitt ΙΠ) werden im folgenden erstens die Ansatzpunkte für notwendige finanz- und sozialpolitische Reformen auf der Einnahmen- und der Ausgabenseite sowie zweitens die unerläßliche wirtschafts- und ordnungspolitische Neuorientierung skizziert (Abschnitt IV).
4 · Walter Hamm
II. Alarmierende finanzpolitische Fakten 1. Reformbedarf auf der Einnahmenseite Die Steuer- und Abgabenschraube ist in den Augen vieler Steuerpflichtiger überdreht. Schwarzarbeit - der mit weitem Abstand expansivste Bereich der deutschen Wirtschaft - , Leistungsverweigerung, Steuerflucht, Standortverlagerung ins Ausland und das Ausweichen in steuerbegünstigte Kapitalanlagen (mit erheblichen Kapitalfehlleitungen) sind einige der Folgen übermäßiger Abgabenbelastung. Beim Schließen von „Steuerschlupflöchern" ist ein ständiger Wettlauf zwischen findigen Beratern und dem vergleichsweise schwerfällig reagierenden Gesetzgeber (Verordnungsgeber) im Gange. Die unmittelbare Folge ist eine kaum noch zu überbietende Komplizierung des Steuer- und Abgabenrechts, was den Unmut der Steuerpflichtigen zusätzlich vergrößert. Nur noch wenige Sachverständige kennen sich mit den Vorschriften aus. Sowohl bei den Abgabepflichtigen als auch in der öffentlichen Verwaltung steigen infolgedessen die Erhebungskosten, was auf eine weitere mittelbare Erhöhung der Abgabenlast hinausläuft. Mit der Komplizierung des Steuer- und Abgabenrechts ist außerdem eine Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen verbunden. Wer sich teure Berater leisten kann, bezahlt weniger Steuern als derjenige, der solchen Rat nicht zu kaufen vermag. Lohnsteuerpflichtige haben oft geringere Möglichkeiten, steuersparende Ausgaben abzusetzen als Einkommensteuerpflichtige oder Unternehmer. Nicht nur das im internationalen Vergleich überhöhte Belastungsniveau (vor allem für die Bezieher mittlerer und hoher Einkommen), sondern auch die Abgabenstruktur führt zu falschen Anreizen und unerwünschten gesamtwirtschaftlichen Ergebnissen: Sparer werden bestraft (Doppelbelastung des neu gebildeten Sparkapitals und der daraus erwirtschafteten Verzinsung). Den Sparerfreibetrag hat die rot-grüne Koalition noch dazu halbiert, obgleich sie andererseits mehr private Vorsorge für das Alter fordert und zum Teil fördert. Die wirtschaftliche Lebensdauer von Anlagegütern übersteigende Abschreibungsfristen schmälern die Kapitalbildungsmöglichkeiten und die Insolvenzgefahren für Unternehmer. Steuerbegünstigungen für einige Anlagen (in Seeschiffen, in Windkraftanlagen, in Spielfilme etc.) führen verbreitet zu Fehlinvestitionen. Die Einkommensumverteilung über Steuern und Abgaben zu Lasten der „Besserverdienenden" dämpft die Leistungsbereitschaft gerade der Hochqualifizierten und begünstigt deren Abwanderung ins Ausland. Obwohl Spitzenkräfte gerade für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland einen besonders wichtigen Standortfaktor darstellen, wird alles getan, diese kleine Schicht zu demotivieren und zu vertreiben, zugleich aber mit „green cards" ausländische Spezialisten anzulocken. Den regierenden Parteien nahestehende Wählergruppen werden mit finanziellen Leistungen aus öffentlichen Kassen bedacht, auch wenn damit als hochrangig erklärten politischen Zielen entgegengehandelt wird (z.B. Entlastung der Fernpendler von Ökosteuern entgegen umweltpolitischen Zielen). Die Reihe solcher Beispiele ließe sich erheblich verlängern.
Finanzpolitik f ü r die k o m m e n d e Generation · 5
2. Notwendige Korrekturen auf der Ausgabenseite Der Staat beansprucht derzeit rund 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Sowohl die Höhe der Staatsausgaben als auch deren Struktur wird mit guten Gründen kritisiert. Erstens ist darauf zu verweisen, daß die öffentlichen Haushalte nach wie vor fast durchweg erhebliche Fehlbeträge aufweisen, die durch Neuverschuldung gedeckt werden. Es werden ständig steigende Schulden aufgetürmt, weil die politische Kraft fehlt, die Ausgaben mit den niedrigeren Einnahmen in Übereinstimmung zu bringen. Zweitens reicht ein Haushaltsausgleich unter Status-quo-Bedingungen nicht aus. Wegen der übermäßigen Abgabenbelastung und wegen bereits beschlossener Steuersenkungen müßten die Gesamtausgaben eigentlich noch weit fühlbarer reduziert werden, als es derzeit geschieht. In welcher Weise dies vor sich gehen soll, bleibt ungesagt. Das Versprechen, die Einkommensteuer im Jahre 2005 fühlbar zu senken (es handelt sich um den mit Abstand größten Schritt der in mehreren Stufen vor sich gehenden Steuerminderung), erscheint aus heutiger Sicht uneinlösbar, wenn die zur Abwehr des „blauen Briefs" aus Brüssel (zu hohes Haushaltsdefizit) gemachte Zusage eines nahezu ausgeglichenen Haushalts ab dem Jahr 2004 eingehalten werden soll. Schon im Jahre 2002 kommt Deutschland nach Schätzungen der Deutschen Bundesbank dem höchstzulässigen Haushaltsfehlbetrag von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts bedenklich nahe. Die Absicht der Europäischen Kommission, Deutschland wegen des hohen Haushaltsdefizits zu verwarnen, ist am Widerstand des Ministerrats gescheitert - entgegen Wortlaut und Sinn der vertraglichen Vorschriften. Nicht nur die Europäische Kommission, sondern auch die Europäische Zentralbank hat die Schuldenpolitik Deutschlands und die wenig konsequente Bekämpfung der Haushaltsfehlbeträge kritisiert (Monatsbericht Dezember 2001, 59). Die Bundesregierung setzt dennoch nach wie vor auf noch mehr Einkommensumverteilung, also auf steigende konsumtive, die Sozialleistungen weiter erhöhende Staatsausgaben, die auf erhebliche Zusatzbelastungen künftiger Haushalte hinauslaufen. Hierzu paßt die Relativierung des ohnehin vage formulierten Ziels, im Jahre 2004 „einen nahezu ausgeglichenen Haushalt" vorlegen zu wollen: Dieses Ziel sei nur erreichbar, wenn das Wirtschaftswachstum über den von der Bundesregierung bisher prognostizierten Werten liege. Ähnlich wie bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wird nicht auf notwendige strukturelle Reformen und auf Abstriche bei den öffentlichen Ausgaben gesetzt. Vielmehr wird darauf gehofft, daß allein die konjunkturelle Belebung alle offenen Fragen lösen werde. Diese Erwartung ist nach inzwischen jahrzehntelangen Erfahrungen unrealistisch. Die Notwendigkeit von Sparprogrammen des Bundes und von strukturellen Reformen auf der Ausgabenseite hat die rot-grüne Koalition ausdrücklich verneint (Hort 2002, 1 f.). Daß die Struktur des Bundeshaushalts an die langfristigen Veränderungen des Altersaufbaus der Bevölkerung angepaßt werden muß und daß dafür frühzeitig vorzusorgen ist, bleibt noch immer außerhalb des finanzpolitischen Denkens und Handelns.
6 · Walter Hamm
Ein weiterer struktureller Mangel des Bundeshaushalts besteht darin, daß die realen investiven Ausgaben seit vielen Jahren bedenklich sinken. Nicht einmal die Substanz des öffentlichen Vermögens wird gesichert, weil an der Unterhaltung und Instandsetzung sowie an fälligen Erneuerungsausgaben gespart wird. Ähnliches gilt für die Haushalte der meisten Länder und Gemeinden. In einigen Bereichen werden zudem Ausgaben für den bedarfsgerechten Ausbau öffentlicher Einrichtungen und Anlagen unterlassen. Das gilt vor allem für die Verkehrsinfrastruktur. Zahl und Dauer der Engpässe nehmen auf zahlreichen Verkehrswegen seit Jahren beträchtlich zu. Vermeidbare Energievergeudung mit nachteiligen Folgen für die Umwelt ist die Folge. Außerdem wirken die Transportengpässe kostentreibend für die deutschen Unternehmen und wachstumsschmälernd für die Wirtschaft insgesamt. Weite Teile Ostdeutschlands, die noch immer unter ihrer schlechten Verkehrserschließung leiden, werden benachteiligt. Die besonders hohe Arbeitslosigkeit in einigen Gebieten Ostdeutschlands ist nicht zuletzt das Ergebnis verzögerter oder unterlassener Wegeinvestitionen. Die Investitionen in die schulische Bildung und in die berufliche Ausbildung haben viele Bundesländer seit Jahrzehnten vernachlässigt. Das zeigt sich jetzt auf den Arbeitsmärkten in Form nicht zu vermittelnder junger Bewerber ohne Hauptschulabschluß (derzeit jährlich gut 9 Prozent der Schulabgänger, das sind rund 90 000 Kinder) und ohne abgeschlossene Lehre. Auch aus ideologischen Gründen (gleichmacherische, leistungsdemotivierende Schulpraxis) ist es lange Zeit vor allem in norddeutschen Ländern des alten Bundesgebiets zu schweren Versäumnissen gekommen. Diese Mängel wirken wegen der Knappheit an gut ausgebildeten Lehrern und wegen des Stellenmangels noch immer nach. Auch den Universitäten wird seit Jahrzehnten zugemutet, mit immer weniger öffentlichen Mitteln immer mehr schlecht vorgebildete, nur bedingt studierfähige Schulabgänger auszubilden. Nur geringe Fortschritte sind beim Abbau von Subventionen erzielt worden. Ein hoher Anteil der Subventionszahlungen entfällt auf strukturkonservierende Erhaltungssubventionen, von denen wachstumsbremsende Wirkungen ausgehen (Beispiele: Eisenbahnen; Steinkohlenbergbau). Es werden mehr ökonomische Werte verbraucht als neu geschaffen. Zwar werden auf kurze Sicht unrentable Arbeitsplätze gesichert. Mittel- und langfristig erweisen sich solche staatlichen Hilfen jedoch als erfolglos. Obsolete Faktorkombinationen müssen nämlich früher oder später doch aufgegeben werden, weil die Konservierung veralteter oder nicht mehr nachfragegerechter Strukturen immer teurer und schließlich unbezahlbar wird. Sträflich vernachlässigt wird seit mehreren Jahren die Bundeswehr. Sowohl beim Einsatz auf dem Balkan als auch in Afghanistan haben sich die schweren Versäumnisse gezeigt, die von den Mittelkürzungen für die Bundeswehr ausgehen. Internationale Verpflichtungen zur Friedenssicherung kann die Bundeswehr kaum noch erfüllen - entgegen politischen Ambitionen und Zusagen. Insgesamt gesehen sind die Prioritäten in der Finanzpolitik in den letzten Jahren falsch gesetzt worden. Es ist zu Widersprüchen in der Politik gekommen, weil es an einer ordnenden Hand - ressortübergreifend - und an ordnungspolitischer Orientie-
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rung offensichtlich fehlt. Eine das Wirtschaftswachstum und damit die Beschäftigung fördernde Politik ist weithin unterblieben mit der Folge, daß Deutschland zum Wachstumsschlußlicht in der Europäischen Union geworden ist. Im Gegenteil hat die Finanz- und Sozialpolitik kontraproduktive Wirkungen entfaltet (siehe hierzu das Jahresgutachten 2001/02 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, passim). Der Umwelt wird - entgegen den politischen Zielsetzungen - durch eine den Verkehrswegebau vernachlässigende Investitionspolitik ein vermeidbar schwerer Schaden zugefügt. Soziale Ansprüche an öffentliche Kassen werden vergrößert, obwohl damit dem Ziel der finanzpolitischen Entlastung für die kommende Generation klar zuwidergehandelt wird, üppige Zahlungen an arbeitsfähige Arbeitslose - als Solidarleistungen gepriesen und erhöht - wirken in die gleiche Richtung. Dasselbe gilt für öffentlich finanzierte, aber weithin am Bedarf vorbeizielende Qualifizierungs-, Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen für Arbeitslose sowie für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Europäische Zentralbank (Monatsbericht März 2002, 59) hat die Defizite der deutschen Finanzpolitik in prägnanter Weise formuliert: „Die Begrenzung und Umstrukturierung der Ausgaben ist das an erster Stelle stehende und wichtigste Element" einer auf Beschäftigung und Wachstum gerichteten Finanzpolitik. Zur Tatbestandsaufnahme gehört schließlich ein Hinweis darauf, daß überfällige Reformen der Arbeitsmarktpolitik und der sozialen Sicherungssysteme so gut wie vollständig unterblieben sind. Neue Belastungen sind hinzugekommen. Auch deswegen ist das Ziel des Haushaltsausgleichs und der damit verbundenen Entlastung der kommenden Generation verfehlt worden. Mit dem Aufschieben dringlicher Reformen sind die ungelösten Probleme weiter verschärft worden: Unvermeidbare Einschnitte in Sozialleistungen müssen auf einen kürzeren Zeitraum zusammengepreßt werden, was den Übergang für die Betroffenen noch härter spürbar werden läßt und was den Widerstand vergrößert. Wertvolle Zeit für Reformen ist mit der „ruhigen Hand" von Bundeskanzler Schröder vertan worden.
III. Die zu erwartende Zuspitzung der Finanzlage Es widerspricht dem finanzpolitischen Grundsatz der intergenerativen Gleichbehandlung, wenn - wie es noch immer geschieht - Ausgaben zur gegenwärtigen Bedürfnisbefriedigung kreditär finanziert und damit auf die kommende Generation abgewälzt und wenn heute verbindliche Zahlungsverpflichtungen für die Zukunft ohne entsprechende finanzielle Vorsorge eingegangen werden (z.B. umlagenfinanzierte Leistungen der Sozialversicherung). Dies gilt um so mehr, als diese Lasten einer künftig stark schrumpfenden Erwerbsbevölkerung zugemutet werden und als eine zunehmend vergreisende Nation mit steigenden Alterslasten konfrontiert sein wird. Langfristige Analysen der Ausgaben- und Einnahmenströme öffentlicher Haushalte und der Sozialversicherung sind mit erheblichen Schwierigkeiten und Unsicherheiten belastet. Beispielsweise sind Prognosen der künftigen Geburtenraten, der
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(Netto-)Zuwanderung, der steigenden Lebenserwartung, der Erwerbsneigung, der Arbeitslosigkeit, der Lohnsteigerungen, des Wirtschaftswachstums, der Sozialausgaben, der öffentlichen Neuverschuldung (Bund, Länder und Gemeinden) und der Pensionszahlungen erforderlich. Jede dieser Größen ist wiederum von der Entwicklung zahlreicher anderen Variablen abhängig. Im folgenden kann es nur darum gehen, auf einige Anhaltspunkte für die künftigen Belastungen öffentlicher Kassen hinzuweisen. Methodische Bemerkungen über die Ermittlung künftiger Ausgabenlücken in öffentlichen Haushalten unterbleiben.' Die in vollem Gange befindlichen demographischen Veränderungen wirken sich besonders schwerwiegend auf die öffentlichen Finanzen aus. Das Verhältnis der nicht mehr arbeitenden Alten zu den Erwerbstätigen verschlechtert sich dramatisch: 1960 sorgten etwa drei Erwerbstätige für einen Rentner, heute sind es nur noch zwei, und 2030 kommt voraussichtlich auf einen Rentner nur noch ein Erwerbstätiger. Nicht nur die Rentenversicherung ist von diesen Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur betroffen. Auch die Gesetzliche Krankenversicherung und die Pflegeversicherung werden erheblich höhere Leistungen für die schnell wachsenden Jahrgänge über 65 zu finanzieren haben. Die Rentenreform 2001 hat die meisten Zukunftsprobleme der umlagefinanzierten Rentenversicherung ungelöst gelassen - trotz des Einstiegs in die (freiwillige) kapitalgedeckte private Rentenversicherung mit hohen staatlichen Zuschüssen. Die Annahmen über die künftige Entwicklung der Beitragseinnahmen und der Ausgaben waren viel zu optimistisch und sind schon nach einem Jahr überholt. Der „Rentnerquotient" des früheren Bundesarbeitsministers Blüm (das sich im Zeitablauf verschiebende Verhältnis der Anzahl von Rentnern zur Anzahl der Beitragszahler) ist von der rot-grünen Koalition abgeschafft und durch eine Rentenformel ersetzt worden, die angeblich ein Standardrentenniveau von mindestens 63 Prozent des Nettoeinkommens bei einem Beitragssatz von maximal 22 Prozent des Bruttolohns bis zum Jahre 2030 ermöglichen soll. Auch diese Berechnungen sind von unabhängigen Experten als völlig unrealistisch beurteilt worden (Schmäing 2001, 7 f.; Wahl 2002, 22 ff.). Entweder müssen also die Beitragssätze für die Rentenversicherung beträchtlich erhöht oder es müssen die Renten gesenkt oder es müssen die Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt wesentlich gesteigert werden. Wie die Entscheidung aussehen wird, ist nicht prognostizierbar. Weitere dauerhafte Belastungen des Bundeshaushalts, der schon jetzt 35 Prozent der Rentenzahlungen mit rasch steigender Tendenz finanziert, sind nicht auszuschließen. Von einer zukunftsorientierten, nachhaltigen Finanzpolitik kann insoweit keine Rede sein. In der Gesetzlichen Krankenversicherung wird die Illusion gehegt, mit unveränderten Beitragssätzen ließen sich von einer sinkenden Anzahl von Versicherten die beträchtlichen zusätzlichen Ausgaben für die wachsende Anzahl alter Menschen und für den medizinischen Fortschritt im Umlageverfahren finanzieren. An Abstriche bei 1
Siehe hierzu das Gutachten des Wissenschaftlichen 2001, insbesondere 15 ff. und 45 ff., sowie Deutsche 29 ff.
Beirats beim Bundesminister für Finanzen, Bundesbank, Monatsbericht Dezember 2001,
Finanzpolitik für die kommende Generation · 9 den Versicherungsleistungen brauche nicht gedacht zu werden. Offensichtlich werden dabei die zu erwartenden Größenordnungen verkannt. Weder die zunehmende staatliche Reglementierung des Gesundheitssystems (die Bundesgesundheitsministerin Schmidt rühmt sich damit, allein im Jahre 2001 15 neue Gesetze erlassen zu haben), noch die geplante Ausweitung der Zwangsversicherung auf Gutverdienende (Erhöhung der Pflichtversicherungsgrenze von 3.375 auf 4.500 Euro im Monat) werden eine dauerhafte Beitragssatzstabilität ermöglichen. Wie in der Rentenversicherung werden die Versicherten zu einer (freiwilligen) privaten Zusatzversicherung veranlaßt werden müssen, was zugleich wirksame Anreize für einen sparsamen Umgang mit den Mitteln der Solidarkasse bewirkte. Solidarität legen manche Politiker in einer merkwürdig verzerrten und einseitigen Weise aus: Der Subsidiaritätsgrundsatz, wonach jeder einzelne zunächst die Ausgaben tragen sollte, die er aus eigener Kraft übernehmen kann, wird vollständig ausgeblendet. Solidarität sollte jedoch allein insoweit gefordert werden, als die individuellen finanziellen Möglichkeiten nicht ausreichen. Von langfristigem, nachhaltigem Denken und Handeln der verantwortlichen Politiker ist auch insoweit nichts zu spüren. In der Arbeitslosenversicherung ist die unsolidarische Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld weit verbreitet. Selbst (oder gerade) in der Rezession boomt die Schwarzarbeit (die auf 16,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt wird). Viele Arbeitslose (Schätzungen gehen von 1,2 Millionen Arbeitslosen aus) suchen keine geregelte Arbeit und gehen allen Vermittlungsbemühungen geschickt aus dem Weg. Eine große Gruppe von Arbeitslosen stünde sich finanziell schlechter, wenn sie arbeitete (Alleinverdiener mit vielen Kindern, von Lohnpfändung bedrohte Unterhaltspflichtige und Hochverschuldete als Beispiele). Zahlreiche Arbeitsplatzwechsler vermeiden den nahtlosen Übergang aus einer Arbeitsstelle auf die nächste und nehmen „Urlaub" zu Lasten der Arbeitslosenversicherung. Reformen der Arbeitslosenversicherung, die einen zeitlichen Selbstbehalt (Arbeitslosengeld erst nach einer Karenzzeit) oder eine zeitliche Kürzung der Bezugsdauer (wie in fast allen anderen hochindustrialisierten Ländern) vorsehen könnten, werden jedoch abgelehnt. Zwar sollen die Lohnzusatzkosten gesenkt werden, weil dadurch der Produktionsfaktor Arbeit billiger würde und Anreize für eine höhere Nachfrage nach Arbeitskräften entstünden. Aber eine Kürzung von Sozialleistungen - auch zum Schutz vor unsolidarischem Mißbrauch - wird einstweilen entschieden verweigert. Die Tatsache, daß es bei rund 1,2 Millionen offenen Stellen rund vier Millionen Arbeitslose gibt, spricht dafür, daß die Arbeitsmarktpolitik wenig effizient ist, auch wenn zu beachten ist, daß viele beruflich schlecht Qualifizierte, darunter viele Langzeitarbeitslose, zu den derzeitigen lohntarifpolitischen und gesetzlichen Bedingungen nur geringe Chancen haben, einen Arbeitsplatz zu finden. In den letzten Jahren sind die Zugangsbarrieren für Arbeitslose sogar eher noch erhöht worden. Die „Sozialstaatsfalle" (hohe Sozialleistungen machen geregelte Arbeit unattraktiv) schnappt bei immer mehr Arbeitslosen zu. Von einer langfristig orientierten, die finanziellen Lasten der Unternehmen senkenden Politik ist wenig zu spüren. Dabei gäbe es gerade in der Arbeitsmarktpolitik
10 · Walter Hamm zahlreiche Möglichkeiten, brachliegende Produktivkräfte zu mobilisieren, dadurch das Wirtschaftswachstum anzuregen, die öffentlichen Kassen besser zu füllen und Abgabenlasten zu senken. Eine nachhaltige Finanzpolitik müßte darauf setzen, die konsumtiven Ausgaben der öffentlichen Hand nachhaltig zu reduzieren und Arbeitskräfte und Kapital verstärkt in produktiven Bereichen der Wirtschaft einzusetzen (personalsparende Deregulierung und Entbürokratisierung; keine öffentliche Neuverschuldung mehr). Auch mit dem Rückzug des Staates aus Tätigkeitsgebieten, die Privaten überlassen werden können, würde ein wesentlicher Beitrag zur langfristigen Entlastung der kommenden Generation geleistet. Wenn privatwirtschaftliches unternehmerisches Handeln auf bisher der öffentlichen Hand überlassenen Gebieten ermöglicht wird, führt dies regelmäßig zu besserer Vorausschau und sorgfältigerer Beachtung langfristiger Chancen und Risiken (Dönges u.a. 1994, 11). Einstweilen stekken solche Veränderungen und Anstrengungen noch in den ersten Anfängen, vor allem in vielen oft hochverschuldeten Ländern und Gemeinden. Bei sinkender Anzahl von Erwerbspersonen und zunehmender Überalterung der Bevölkerung wird sich die wachsende Alterslast nur dann tragen lassen, wenn Produktionsreserven (nicht oder schlecht genutzte Produktivkräfte als Folge von Arbeitslosigkeit und politisch verzögertem Strukturwandel) besser genutzt werden und die Arbeitsproduktivität erhöht wird. Letzteres ist vor allem eine unternehmerische Innovations- und Investitionsaufgabe, aber auch eine Bildungsaufgabe. Das deutsche Schulsystem erfüllt, wie die Pisa-Studie der OECD gezeigt hat, einstweilen nicht die dafür erforderlichen Voraussetzungen. Im internationalen Wettbewerb werden sich jedoch nur jene Länder dauerhaft behaupten und einen hohen Lebensstandard sichern können, die für eine überlegene Leistungskraft der Arbeitenden sorgen - durch eine gute Qualität der Schulbildung und der beruflichen Aus- und Fortbildung. Ein Hauptübel der gegenwärtigen Finanzpolitik besteht darin, daß sie, wie der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen mit Nachdruck hervorhebt, viel zu einseitig auf den kurzfristigen Haushaltsausgleich setzt und die langfristigen Ausgabenzuwächse und die Mindereinnahmen infolge des Schrumpfens der Bevölkerung und des rasch anwachsenden Anteils alter Menschen unbeachtet läßt. Auch die Europäische Zentralbank (Monatsbericht März 2002, 59) kritisiert, daß „nur geringe Fortschritte" bei der „langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte" erzielt worden sind. Allein das Umlagesystem bei den Beamtenpensionen (die laufenden Zahlungen werden aus den zeitgleich erzielten Einnahmen finanziert, ohne nennenswerte Bildung von Rücklagen für zugesagte spätere Zahlungsverpflichtungen) ist ein Sprengsatz vor allem für die Haushalte der Länder, in geringerem Maße auch für den Bund (Hamm 1998, 325 f.). In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist die öffentliche Verwaltung beträchtlich ausgeweitet worden, ohne daß an die spätere Belastung durch Pensionszahlungen gedacht worden wäre. Jegliche finanzielle Vorsorge für die künftige Pensionslast ist lange Zeit vollständig unterblieben. Erst seit kurzem wird in bescheidenem Umfang - durch Kürzung der Gehaltserhöhungen für Beamte um einen Beitrag zur Bildung eines Kapitalfonds - ein kleines finanzielles Polster gebildet, mit
Finanzpolitik für die kommende Generation · 11 dem später die Spitzen der Pensionszahlungsverpflichtungen gekappt werden sollen. Dennoch bleibt diese Vorsorge bescheiden im Vergleich zu den Belastungen, die der kommenden Generation auf diesem Gebiet zugemutet werden. Die Bildung einer Rückstellung aus laufenden Einnahmen (etwa in Höhe des Arbeitgeberbeitrags zur Rentenversicherung) unterbleibt vollständig. Im Gegenteil gibt es öffentliche Instanzen (vor allem Gemeinden), die bewußt Angestellte zu Beamten machen, um den Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung zu sparen. Dies ist ein Paradebeispiel für kurzfristiges Denken. An die späteren Pensionslasten wird nicht gedacht. Was zählt, ist allein die aktuelle Entlastung des Haushalts. An warnenden Stimmen und Beispielen fehlt es wahrlich nicht: Die Privatisierung öffentlicher Unternehmen läßt stets die Frage entstehen, auf welche Weise die eingegangenen Pensionsverpflichtungen aufgebracht werden sollen. Im Falle der Lufthansa, der Deutschen Post, der Telekom und der bisher nur formal privatisierten Deutschen Bahn ist diese Frage stets zu Lasten der Steuerzahler entschieden worden. Das Bundeseisenbahn-"Vermögen" ist in Wahrheit ein riesiger Schuldtitel des Bundes. Dieses „Vermögen" hat vor allem die enorme Pensionslast für ehemalige und frühpensionierte Eisenbahner zu tragen. Aus den Erlösen eines wesentlichen Teils der Aktien der Deutschen Post AG werden die Pensionslasten der ehemaligen Bundesbehörde bezahlt. Ähnlich ist bei der Privatisierung anderer Bundesunternehmen verfahren worden. Die erschreckend hohen Verpflichtungen, die sich bei Privatisierungsmaßnahmen gezeigt haben, waren jedoch offensichtlich kein Anlaß, für die weit höheren Lasten vorzusorgen, die von den in der öffentlichen Verwaltung tätigen Beamten verursacht werden. Die kommende Generation mag sehen, wie sie mit dieser kostspieligen Hinterlassenschaft fertig wird. Das Umlagesystem erweist sich auch in der Sozialversicherung als Instrument zur massiven intergenerativen Einkommensumverteilung zu Lasten der kommenden Generation. „Das Umlageverfahren verführt dazu, in guten Zeiten (viele Beitragszahler, wenige Anspruchsberechtigte) großzügig Geld auszugeben und Ansprüche festzuschreiben, nicht bedenkend, daß sich diese Leistungen in schlechten Zeiten (wenige Beitragszahler, viele Anspruchsberechtigte) nicht durchhalten lassen" (Hamm 2000, 129). Zwar ist die umlagefinanzierte Rentenversicherung durch eine freiwillige private Zusatzversicherung nach dem Kapitaldeckungsprinzip (aus einem angesammelten Kapitalstock samt Zinsen werden die späteren Leistungen finanziert) ergänzt worden. Der bei weitem überwiegende Teil der Rentenzahlungen wird jedoch weiterhin nach dem Umlageverfahren aufgebracht. Die öffentlichen Haushalte beteiligen sich mit hohen Zuschüssen (vermutlich im zweistelligen Milliardenbereich) an der freiwilligen privaten Zusatzversorgung. Diese ständige Belastung schränkt die Beweglichkeit der öffentlichen Haushalte weiter ein und erschwert die notwendige Konsolidierung. Zu fragen wäre, ob die privaten Haushalte nicht auch ohne die massive Förderung durch den Staat ausreichend für das Alter vorsorgten. Auch in der Gesetzlichen Krankenversicherung werden die Ausgaben mit der zunehmenden Überalterung der Bevölkerung erheblich steigen. Ausreichende Vorsorge hierfür ist bisher nicht getroffen worden. In den letzten Lebensjahren wachsen die
12 · Walter Hamm Ausgaben für die Krankenbehandlung alter Menschen regelmäßig sprunghaft an. Zugleich treibt der medizinische Fortschritt die Ausgaben nach oben. In der privaten Krankenversicherung wird diesem Umstand durch die frühzeitige Bildung von Altersrücklagen Rechnung getragen. Schon für junge Mitglieder der Krankenversicherung wird zu diesem Zweck ein Zuschlag auf den Beitragssatz erhoben. In der Gesetzlichen Krankenversicherung belassen es die Politiker dagegen beim reinen Umlagensystem. Für die Zukunft wird nicht vorgesorgt. Die mit dem steigenden Anteil alter (oft chronisch kranker) Menschen einhergehenden Belastungen werden von einer sinkenden Anzahl von Beitragszahlern getragen werden müssen. Wer sich der immer teurer werdenden Zwangsversicherung entziehen kann, wird es tun (z.B. durch Selbständigmachen, Schwarzarbeit, Auswanderung etc.). Vor diesem sich seit langem ankündigenden Problem schließen viele Politiker beharrlich die Augen. Sie sorgen auch nicht für „Anreize zu einem gesundheitliche Risiken meidenden Verhalten". „Schritte, sowohl die verbreiteten Mißstände als auch die Überregulierung und ihre schädlichen Folgen zu beseitigen, unterbleiben" (Dönges u.a. 1994, 31). In der Pflegeversicherung sieht es nicht besser aus. „Obwohl alle Politiker über die Schwächen des Umlagenverfahrens unter demographisch ungünstigen Bedingungen aufgeklärt worden sind, ist auch die erst vor wenigen Jahren eingeführte gesetzliche Pflege Versicherung nach dem Umlagen verfahren organisiert worden" (Hamm 2000, 129). Die Belastung der kommenden Generation ist infolgedessen zusätzlich vergrößert worden. Zunächst können auf diese Weise die Beitragssätze niedriggehalten werden. Aber die Quittung für dieses leichtfertige, die künftige Entwicklung ausblendende Verhalten der Politiker werden unsere Kinder und Enkel unweigerlich präsentiert bekommen. Kurzsichtige Finanzpolitik bestimmt auch insoweit die politischen Entscheidungen. Von fehlendem Verantwortungsbewußtsein gegenüber der kommenden Generation zeugt ferner die Investitionspolitik der öffentlichen Hand. Zu dem - ungeschriebenen - Generationenvertrag gehört die Pflicht jeder Generation, die übernommenen öffentlichen Einrichtungen und Anlagen in gutem Zustand zu erhalten, also Reparaturen, Instandsetzungsarbeiten und notwendige Erneuerungen vorzunehmen, und außerdem diese Vermögenswerte in bedarfsgerechtem Umfang auszubauen. Nur so kann der kommenden Generation eine voll funktionsfähige öffentliche Infrastruktur (Schulen, Verwaltungsgebäude, Verkehrsanlagen und Abwassernetze als Beispiele) übergeben werden. Solchen Verpflichtungen kommen Bund, Länder und Gemeinden so gut wie durchweg auch nicht annähernd nach. Mit anderen Worten: Die heutige Generation lebt weit über ihre Verhältnisse. Ein wesentlicher Teil des öffentlichen Konsums (gewucherte Bürokratie, üppige Sozialleistungen als Beispiele) wird auf Kredit zu Lasten der kommenden Generation finanziert, und obendrein werden auch noch die notwendigen Investitionsausgaben sträflich vernachlässigt. Die Prioritäten in der Finanzpolitik werden bewußt zu Lasten der Kinder und Enkel gesetzt. Der politische Machterhalt durch subtile Formen der Wählerbeeinflussung und -bestechung heute gilt mehr als die Rücksicht auf die intergenerative Gleichbehandlung. Die Verantwortung gegenüber der kommenden Generation müßte eigentlich dazu veranlas-
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sen, die Öffentlichkeit über die künftigen Finanzierungsprobleme umfassend zu informieren. Das Denken in weiten Zeithorizonten unterbleibt jedoch, obwohl seit langem deutliche Kritik an diesem unverantwortlichen staatlichen Handeln geübt wird (.Dönges u.a. 1994; Hamm 1998, und die dort zitierten Quellen). Die Vernachlässigung künftiger, sich deutlich abzeichnender Finanzierungsprobleme öffentlicher Haushalte ist deshalb schwer verständlich, weil in anderen Politikbereichen besonderer Wert auf nachhaltige, der kommenden Generation gerecht werdende Dispositionen gelegt wird. Das gilt vor allem für die Umweltpolitik. Eine konsequente Übertragung dieses Nachhaltigkeitsprinzips auf die öffentlichen Finanzen unterbleibt jedoch, und zwar kurioserweise auch dort, wo öffentliche Investitionen in den Dienst einer nachhaltigen Umweltpolitik gestellt werden müßten, beispielsweise auf dem Gebiet der Altlastensanierung und maroder, hohe Ausgaben erfordernder Entsorgungseinrichtungen. Solche akuten Aufgaben werden unbekümmert auf eine ungewisse Zukunft verschoben und damit auf eine Generation übertragen, der ohnehin schon viele andere Lasten aufgebürdet werden (Hamm 1998, 333). Selbst von engagierten Verfechtern einer nachhaltigen Umweltpolitik wird dieses Fehlverhalten der öffentlichen Hand selten oder nie kritisiert.
IV. Notwendige finanz- und sozialpolitische Reformen 1. Aufklärung über Nachhaltigkeitsliicken Die Öffentlichkeit wird derzeit über das volle Ausmaß der intergenerativen Einkommensumverteilung im unklaren gelassen. Dahinter steht offensichtlich das politische Ziel, notwendige Reformen auf eine ungewisse Zukunft zu verschieben und so auf das weit verbreitete Besitzstandsdenken Rücksicht nehmen zu können. Die notwendige Durchforstung der Sozialleistungen würde, so wird befürchtet, Wählerstimmen kosten. Also beschränken sich viele Politiker darauf, nichts zu tun und Zukunftsprobleme zu bagatellisieren oder ganz zu verdrängen. Die Stimmen mehren sich, die einen Einstellungswandel fordern. Die Europäische Zentralbank, der die Haushaltsungleichgewichte in großen Mitgliedstaaten zunehmend Sorgen bereiten, verlangt mit wachsendem Nachdruck „umfassende strukturelle Reformen hin zu beschäftigungsfreundlichen Steuer- und Sozialleistungssystemen, niedrige Schuldenstände und tragfähige Renten- und Gesundheitssysteme" (Monatsbericht Dezember 2001, 61). Steuern und Abgaben müßten „der Schaffung von Arbeitsplätzen und wirtschaftlichem Wachstum zuträglich" sein. Die Deutsche Bundesbank (Dezember 2001, 42) kommt zu dem Ergebnis, daß „Deutschland im Jahre 2000 von langfristig tragfähigen öffentlichen Finanzen noch deutlich entfernt war". Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2001, Textziffer 397) hat auf die „Nachhaltigkeitslücke" in der Finanzpolitik hingewiesen, in der die "Versäumnisse der Vergangenheit bei der Konsolidie-
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rung der öffentlichen Haushalte" zum Ausdruck komme. Auch die „Nachhaltigkeitslücke" in der Rentenversicherung ist moniert worden (Textziffer 244). Am deutlichsten hat sich der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Finanzen (2001, 3) zur weithin fehlenden Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik (langfristige Finanzierbarkeit staatlicher Ausgaben) geäußert. Er kritisiert das Fehlen „einer geordneten und zusammenfassenden Berichterstattung, auf deren Grundlage sich die finanzpolitisch Verantwortlichen systematisch mit den vorliegenden Problemen auseinandersetzen müßten". Methoden der „haushaltspolitischen Langfristanalyse" blieben im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland ungenutzt. Es fehle „an einer kontinuierlichen Erfassung des Gesamtkomplexes, verbunden mit einer entsprechenden Berichterstattung gegenüber der Öffentlichkeit" (S. 52). Haushaltspolitik werde „viel zu einseitig unter kurz- und mittelfristigen Konsolidierungsaspekten" betrieben (S. 3). Da „auf der Basis der heutigen Regelungen Jahr für Jahr neue Ansprüche geschaffen werden, die in den künftigen Jahrzehnten erfüllt werden müssen" (S. 52), sei es „eine der zentralen Aufgaben", den „bisher allzu zögerlich verfolgten Konsolidierungs- und Reformprozeß energisch voranzutreiben" (S. 57). Der Wissenschaftliche Beirat bezieht sich auf Berechnungen der OECD über „Nachhaltigkeitslücken" in den Haushalten von acht Mitgliedsländern. Danach hat Deutschland von allen untersuchten Ländern die höchsten Nachhaltigkeitslücken (S. 27). Die Abgabenquote müsse um 3 bis 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht oder die Ausgabenquote entsprechend gesenkt werden, wenn die zu erwartenden Finanzierungslücken geschlossen werden sollen (S. 52 f.). Als erstes Ergebnis ist danach festzuhalten, daß über die viel zu kurze mittelfristige Finanzplanung hinaus unverzüglich die Daten für eine langfristig orientierte Finanzpolitik erarbeitet und regelmäßig Jahr für Jahr veröffentlicht werden sollten. In diese Berechnungen wären die Haushalte der Länder, der Gemeinden und der Sozialversicherung einzubeziehen. Die „beträchtlichen Nachhaltigkeitslücken", die auf diese Weise sichtbar werden, würden nach Ansicht des Wissenschaftlichen Beirats dazu beitragen, „die Chancen für eine langfristig orientierte Finanzpolitik zu verbessern" (S. 3 der Kurzfassung). Der Druck der Öffentlichkeit, die enorme Belastung der kommenden Generation zu senken, würde den Handlungszwang für die Politiker erhöhen. Auch wenn langfristige Prognosen von Einnahmen- und Ausgabenströmen, von Wachstumsraten und Produktivitätszuwächsen, von Wanderungsbewegungen und Veränderungen der Lebenserwartung, von Erwerbstätigenquoten und Lohnerhöhungen, von Korrekturen an Sozialleistungsgesetzen und vom Personalabbau in der öffentlichen Verwaltung (um nur einige Variable zu nennen) mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sind, ist es doch möglich, pauschale Schätzungen anzustellen, die den Handlungsbedarf in Größenordnungen kennzeichnen.
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2. Schritte zur nachhaltigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte Welche Schritte sollten getan werden, damit die Nachhaltigkeitslücken nicht noch weiter steigen, sondern systematisch vermindert werden? - Zwar gibt es Vorschriften, wonach die Haushaltsbelastungen von Gesetzesvorhaben zu dokumentieren sind. Diese Informationspflicht ist jedoch auf einen viel zu kurzen zeitlichen Horizont begrenzt. Künftig sollten auch die langfristigen Folgen (Belastung der kommenden Generation) ermittelt und veröffentlicht werden. - Die fühlbarsten langfristigen Entlastungswirkungen lassen sich dann erzielen, wenn an den großen Ausgabenposten der Haushalte angesetzt wird. Es sollten deshalb Prioritäten für das finanzpolitische Handeln gesetzt werden, die auch die Beeinflußbarkeit zukünftiger Zahlungsverpflichtungen berücksichtigen. Die Anzahl der Pensionäre und Rentner in zwanzig Jahren liegt beispielsweise heute bereits im wesentlichen fest. Allerdings gibt es Stellschrauben, mit denen die künftigen Haushaltsbelastungen gesenkt werden können, etwa späteres Ausscheiden aus dem Berufsleben, die Höhe von Abschlägen bei vorzeitiger Pensionierung, demographisch begründete Kürzungen der Altersbezüge etc. Solche Ausgabenkürzungen sind vertretbar, wenn sie frühzeitig angekündigt werden und wenn dadurch ausreichende Zeit für selbstverantwortliche Vorsorge für die Betroffenen geschaffen wird. - Äußerste Zurückhaltung ist bei der Einstellung neuer Mitarbeiter im öffentlichen Dienst geboten. Deregulierung, Entstaatlichung und Durchforstung des Gesetzesdschungels, vor allem im Steuerrecht, sind notwendige Voraussetzungen für die Senkung des Personalbestands und der Verwaltungsausgaben. - Zu den großen Ausgabenblöcken gehört weiterhin die Arbeitslosenversicherung und die Gesetzliche Krankenversicherung. Internationale Vergleiche zeigen, daß in beiden Bereichen falsche Anreize gesetzt werden, die zur vermeidbaren Aufblähung der Ausgaben führen. Leistungskürzungen und mehr Selbstbeteiligung sind geeignet, den unsolidarischen Mißbrauch von Solidarmitteln deutlich zu vermindern. - Die enormen Ausgaben für die öffentliche Schuld werden sich nur in kleinen Schritten senken lassen. Zunächst kommt es darauf an, die Neuverschuldung vollständig abzubauen. Daß die Schuldentilgung ein realistisches Ziel ist, zeigt sich in einigen kleineren Ländern der Europäischen Union - Nachhaltigkeitslücken lassen sich auch mit der Steuer- und Abgabenpolitik bekämpfen. Vieles spricht dafür, daß die Steuerschraube in den Augen vieler Abgabenpflichtigen überdreht ist und daß nachhaltige Steuersenkungen und Steuervereinfachungen mittelfristig zu Einnahmenzuwächsen der öffentlichen Hand führten. Das Steuerrecht ist in den letzten Jahren ständig weiter verkompliziert worden, was der Finanzverwaltung und den Steuerzahlern erhebliche zusätzliche Kosten verursacht. Die Beseitigung von Ausnahmeregelungen und niedrigere Steuersätze auf das höhere steuerpflichtige Einkommen würden die Steuermoral heben, zur Gleichbehandlung der Bürger beitragen und die Steuergesetze für den Staat ertragreicher werden lassen.
16 · Walter Hamm - Damit ist ein weiteres Maßnahmenbündel berührt, das gesamtwirtschaftlich positive Wirkungen hervorzurufen geeignet ist und das mittelbar die langfristige Finanzierungslücke vermindern könnte: Die systematische Förderung des Wirtschaftswachstums durch einen klaren, langfristig angelegten, ordnungspolitisch widerspruchsfreien Kurs des staatlichen Handelns ist sträflich vernachlässigt worden. Investoren werden durch ständig neue, unprognostizierbare („pragmatische") Interventionen verunsichert, vor allem in der Steuer-, Sozialabgaben- und Arbeitsmarktpolitik. Meist handelt es sich um nationale Alleingänge, die Standorte in Deutschland gegenüber dem Ausland diskriminieren und den Export von Arbeitsplätzen anregen. Jede einzelne Maßnahme mag für sich allein noch relativ geringe zusätzliche Kosten verursachen. In der Summe wiegen jedoch die Belastungen schwer. Auch die Aussicht auf ständige Fortsetzung der investitionsfeindlichen Politik, die Uneinsichtigkeit vieler Politiker und die Nutzlosigkeit kritischer Hinweise dämpfen das Wirtschaftswachstum und die Nachfrage nach Arbeitskräften. Damit werden die Steuereinnahmen geschmälert und die Finanznöte der Sozialkassen nachhaltig vergrößert. „Die mit der Alterung der Bevölkerung verbundene finanzpolitische Belastung" könnte besser aufgefangen werden, wenn sich die Regierungen zu „entschlossenen Reformen im Hinblick auf die Höhe und die Struktur der öffentlichen Ausgaben und Einnahmen" durchrängen (Europäische Zentralbank, Monatsbericht Januar 2002, 7): „Zusammen mit anhaltender Lohnzurückhaltung werden diese Reformen die Beschäftigung und die Investitionstätigkeit dauerhaft fördern". In Deutschland dominiert dagegen nach wie vor das kurzsichtige Denken. Je länger es anhält, desto schwerer lösbar werden die demographischen Probleme, weil sich der Anpassungsbedarf vergrößert und weil die finanziellen Anpassungsschwierigkeiten in der kürzer werdenden Übergangsfrist zunehmen. Gleichwohl setzen verantwortliche deutsche Politiker noch immer darauf, die Lösung dringlicher Fragen in die Zukunft zu verschieben, sich einer „ruhigen Hand" zu rühmen und auf diese Weise die kommende Generation in unverantwortlicher Weise zu belasten. Indem der Öffentlichkeit Informationen über das volle Gewicht dieser künftigen finanziellen Traglast vorenthalten werden, wird zugleich einer deutlichen und weitverbreiteten Kritik an diesem die kommende Generation schädigenden Verhalten vorgebeugt. Dementsprechend fehlen auch energische Anstrengungen, eine Mehrheit der Wähler durch systematische Überzeugungsarbeit für ein Umdenken (weniger öffentlicher Konsum, Vorrang für den Haushaltsausgleich, Durchforstung der Sozialleistungen, Vorsorge für künftige Belastungen) zu gewinnen. Von „einer an langfristigen Perspektiven ausgerichteten Konsolidierungspolitik" (Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen 2001, 53) ist Deutschland einstweilen weit entfernt. Da die Bundesregierung sogar noch den sozialpolitischen Gegenwartskonsum nachhaltig vergrößert, Zukunftsinvestitionen vernachlässigt und überfällige Korrekturen an den sozialen Sicherungssystemen hinausgezögert hat, wächst die Nachhaltigkeitslücke ständig weiter an.
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3. Höhere Flexibilität auf den Arbeitsmärkten Zu den dringlichen und eilbedürftigen Reformen gehört die Schaffung von mehr Flexibilität auf den Arbeitsmärkten. Die internationale Arbeitsteilung wird auch infolge der Osterweiterung der Europäischen Union rasch voranschreiten. Die Schwellen- und Entwicklungsländer fordern aus überzeugenden Gründen, den Protektionismus in den reichen Ländern zu beseitigen. Die fortschreitende Internationalisierung des Waren- und Dienstleistungsverkehrs wird nur dann ohne schwerwiegende Folgen für die deutschen Arbeitsmärkte bleiben, wenn ein hohes Maß an Flexibilität gewährleistet ist. Viele Beschäftigte werden ihren Arbeitsplatz verlieren und sich eine neue Tätigkeit suchen müssen. Zahlreiche Unternehmen werden gezwungen sein, sich umzustellen oder aufzugeben. Alles, was den Strukturwandel erschwert (staatliche Regulierungen, Mitbestimmungsregelungen, lohntarifpolitische Vorschriften, Kündigungsschutz- und Sozialplanbestimmungen, umständliche bürokratische staatliche Investitionsgenehmigungen, defizitäre öffentliche Unternehmen, strukturkonservierende Subventionen etc.), verschlechtert die Chancen der Unternehmer, in Deutschland wettbewerbsfähige Arbeitsplätze anbieten zu können, und damit zugleich die Chancen der Beschäftigten auf einen neuen Arbeitsvertrag. Zu der notwendigen Flexibilität gehört auch ein weit höheres M a ß an lohntarifpolitischer Beweglichkeit als derzeit. Besonders harter internationaler Konkurrenz werden sich beruflich schlecht qualifizierte Arbeitskräfte ausgesetzt sehen. Ihre Fähigkeiten werden in den Beitrittsländern sowie in den Entwicklungs- und Schwellenländern zu weit günstigeren Lohnsätzen angeboten. Die Weiter- und Fortbildungsmöglichkeiten sind bei einem hohen Prozentsatz der deutschen Arbeitslosen aus Begabungsgründen begrenzt. Deshalb wird dafür gesorgt werden müssen, daß die gesetzlichen Lohnzusatzkosten deutlich gesenkt und auch die lohntariflichen Voraussetzungen für die Einstellung beruflich schlecht Qualifizierter in den Produktionsprozeß verbessert werden. Die Probleme einer überalterten Bevölkerung dürfen nicht auch noch durch ein hohes Maß an Dauerarbeitslosigkeit verschärft werden. Dazu gehört auch, daß Lohnersatzzahlungen aus öffentlichen Kassen weniger attraktiv sein müssen als die Bezahlung gering qualifizierter Arbeit.
V. Schlußbemerkungen Von allen Ländern der Europäischen Union weist Deutschland die höchste Neuverschuldung der öffentlichen Hand auf. Die hohen Belastungen durch die Wiedervereinigung sind keine dauerhafte Entschuldigung für die viel zu hohe öffentliche Neuverschuldung. Mehrere andere Länder erzielen Haushaltsüberschüsse (u.a. Dänemark, Finnland, Irland, die Niederlande und Schweden). Auch die Ausgabenstruktur zeigt, daß Deutschland finanzpolitisch miserabel für die Zukunft vorsorgt. Die O E C D stuft Deutschland als Land mit der höchsten Nachhaltigkeitslücke ein.
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Energische Anstrengungen, diese bedenkliche und für die kommende Generation geradezu desaströse Tatsache von Grund auf anzugehen und zu korrigieren, fehlen bisher. Nur in der Rentenversicherung werden Zwangsmitglieder aufgefordert, freiwillig für eine (hochsubventionierte) Zusatzversicherung auf Kapitaldeckungsbasis zu sorgen. Im übrigen wird versucht, die Rentenversicherung mit den Einnahmen aus der Ökosteuer zu subventionieren. Der Sozialkonsum wird dadurch nicht gesenkt, sondern nur anders finanziert, was der kommenden Generation nicht wirklich hilft. Es fehlt den verantwortlichen Politikern der Mut, den Wählern unmißverständlich zu verdeutlichen, daß der öffentliche Konsum drastisch gesenkt werden muß, wenn die kommende Generation nicht hoffnungslos überfordert werden soll, und daß zugleich die öffentlichen Investitionen zur Entlastung der Kinder und Enkel beträchtlich erhöht werden müssen - das alles nach den Vorschriften des Vertrags von Maastricht bei ausgeglichenen öffentlichen Haushalten über einen Konjunkturzyklus hinweg. Es stimmt, daß die Masse der Wähler auf die unabweisbare radikale Kürzung sozialer Wohltaten derzeit ablehnend reagiert. Aber diese Haltung ist die unmittelbare Folge fehlender Aufklärung über die bestehende Nachhaltigkeitslücke in den öffentlichen Finanzen. Wenn der Bundesfinanzminister von der Rücksicht auf die kommende Generation spricht, meint er damit einstweilen nur den notwendigen aktuellen Ausgleich der öffentlichen Haushalte ohne Neuverschuldung. Abgesehen davon, daß selbst dieses bescheidene Ziel noch in weiter Ferne liegt und der W e g dorthin durch unbekanntes Land führt, löst die Beseitigung der aktuellen Haushaltsfehlbeträge das Problem der intergenerativen Einkommensumverteilung zugunsten der heutigen Generation auch nicht annähernd. Nur langfristige Analysen der Einnahmen- und Ausgabenströme, die von Jahr zu Jahr zu aktualisieren wären, könnten die desolate Lage und das volle Ausmaß der Nachhaltigkeitslücke aufdecken. Diese Aufklärung der Öffentlichkeit unterbleibt jedoch ebenso wie eine konsequent auf Wirtschaftswachstum und auf Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gerichtete, langfristig angelegte Politik, die dazu beitrüge, die künftigen Lasten erträglicher zu gestalten. Die Rücksicht auf aktuelle Gruppeninteressen gilt mehr als die Verfolgung langfristiger Sanierungspläne. Das allein auf kurzfristige, politisch vorteilhafte Wirkungen bedachte Handeln vergrößert oft genug noch die künftigen Finanzprobleme und die Nachhaltigkeitslücke. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2001, 57) sieht „eine der zentralen Aufgaben" der künftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik darin, „den bisher allzu zögerlich verfolgten Konsolidierungs- und Reformprozeß energisch voranzutreiben". Dazu gehört die Sensibilisierung einer breiten Öffentlichkeit für die derzeit betriebene einseitige intergenerative Einkommensumverteilung zu Lasten der kommenden Generation. Die meisten Menschen handeln im Privatleben nach dem Motto: Unseren Kindern soll es einmal besser gehen als uns. Die Devise der verantwortlichen Politiker heißt dagegen: kurzfristig denken und die Wiederwahl sichern. Dieses unverantwortliche Fehlverhalten im Denken und Handeln von Politikern muß breiten Wählerschichten eindringlich vermittelt werden. Dann werden Er-
Finanzpolitik für die kommende Generation · 19 folge in der Bekämpfung von Nachhaltigkeitsliicken in den öffentlichen Haushalten nicht ausbleiben.
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Zusammenfassung Deutschland lebt seit vielen Jahren weit über seine Verhältnisse. Die kommende Generation wird die finanziellen Folgen zu tragen haben. Es geht dabei nicht nur um die hohen Fehlbeträge in den öffentlichen Haushalten, sondern auch um die Finanzierung der Sozialversicherung und der Beamtenpensionen. Obendrein werden die öffentlichen Investitionen sträflich vernachlässigt. Die intergenerative Einkommensumverteilung hat ein dramatisch hohes Ausmaß erreicht und überfordert zweifelsfrei die Kinder und Enkel. Deutsche Politiker tun im Gegensatz zu Regierungen in anderen Ländern so gut wie nichts, die Bevölkerung darüber aufzuklären, geschweige denn Schritte einzuleiten, diesen Mißstand zu beseitigen. Deutschland ist nach einer OECD-Studie das Land mit der höchsten Nachhaltigkeitslücke. Unentwegt werden neue Belastungen in der Zukunft ohne finanzielle Vorsorge eingegangen. In dem vorstehenden Aufsatz werden die finanzpolitische Ausgangslage, die sich deutlich abzeichnende weiterhin steigende Belastung der kommenden Generation und zweckmäßige Maßnahmen zum Abbau der Nachhaltigkeitslücke in den öffentlichen Finanzen dargestellt.
20 · Walter Hamm
Summary Fiscal Policy for the Coming Generation For many years G e r m a n y has been living beyond her means. T h e c o m i n g generation will have to bear the financial consequences. Not only the high budget deficits of the Federal G o v e r n m e n t but also the financial crisis of the social security system and the uncertain financing of public officials' pensions are at issue. M o r e o v e r , public investment is inexcusably neglected. Intergenerational i n c o m e redistribution has assumed alarming proportions and will undoubtedly overcharge our children and grand-children. U n l i k e governments of other countries G e r m a n politicians d o practically nothing to inform people of these problems, much less to take steps to solve them. According to an O E C D report Germany has the highest sustainability gap of all countries. G o v e r n m e n t continues to put new burdens on the f u t u r e generation without m a k i n g financial provisions. T h e article outlines the present situation of public finance in G e r m a n y and discusses the ever increasing burden on the c o m i n g generation and ways and means to o v e r c o m e the sustainability gap in public finance.
O R D O · J a h r b u c h f ü r die O r d n u n g von W i r t s c h a f t und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 2 ) Bd. 5 3
Manfred
E. Streit
Wirtschaftspolitik im demokratischen Wohlfahrtsstaat Anatomie einer Krise The curious task of economics to demonstrate
to men how little
know about what they imagine can
is they they
design. (F. A. Hayek
1988)
I. Vorbemerkung Die Wirtschaftspolitik in einem demokratischen Wohlfahrts- oder Sozialstaat wie der Bundesrepublik, so lautet der hier zu erläuternde Befund, ist durch Ratlosigkeit gekennzeichnet. Ratlosigkeit äußert sich in Aktionismus, der unter dem Einfluß der Interessengruppen eine Überdehnung der wohlfahrtsstaatlichen Instrumente Recht und Geld (Luhmann 1981, 94 ff.) hervorruft. Eine freiheitsbeschränkende Regelungsdichte und eine lähmende Staatsverschuldung sind die typischen Folgen. Ratlosigkeit gilt insbesondere für die zentralen wirtschaftspolitischen Entscheidungsfelder Stabilisierungspolitik, Strukturpolitik und Arbeitsmarktpolitik. Eine wesentliche Ursache für die Ratlosigkeit ist das unbefriedigende Wissen über die Funktionsweise des ökonomischen Systems auf den genannten Entscheidungsfeldern. Dem Wissensmangel entsprechen Erklärungsdefizite der ökonomischen Theorie, die durch das neoklassische Paradigma geprägt ist. Mit dem daraus resultierenden unzureichenden Steuerungswissen ist nicht nur die wirtschaftspolitische Beratung belastet. Sie leidet auch unter dem, was als Endogenisierung der Politik bezeichnet werden kann, d.h. ihr Rat gilt Entscheidungsträgern, deren Verhalten, wie die Theorie des Public Choice treffend belegt, mit den Eigengesetzlichkeiten des demokratischen Entscheidungsprozesses beschrieben werden kann. Das läßt erwarten, daß sich die Entscheidungsträger i.d.R. einem Rat zuwider laufend opportunistisch, auf Wiederwahl bedacht, verhalten werden. Die zuvor skizzierte Problemlage soll nachstehend erläutert werden. Dabei werde ich wie folgt vorgehen: Zunächst (Teil II) wird die Stabilisierungspolitik betrachtet. Es folgt (Teil ΙΠ) die Strukturpolitik. Sodann (Teil IV) geht es um die Arbeitsmarktpolitik. Danach (Teil V) stehen politisch-ökonomische Überlegungen im Vordergrund. Sie bilden den Ausgangspunkt zur Erörterung der Konsequenzen, welche die bis dahin erörterten Problemlage für die wissenschaftliche Politikberatung hat (Teil
22 · Manfred E. Streit VI). Abschließend (Teil VE) sollen mögliche Auswege aus der Krise diskutiert werden.
II. Stabilisierungspolitik1 Institutionalisiert wurde die Stabilisierungspolitik in der Bundesrepublik mit dem Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8.6.1967. Nach § 1 des Gesetzes haben Bund und Länder in ihrer Finanzpolitik die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Sprache des Gesetzes verrät eine makroökonomische Gleichgewichtsorientierung. Stabilitätsprobleme werden als Abweichungen von diesem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht gesehen. Die Abweichungen selbst spiegeln, wenn auch unausgesprochen, das wider, was um die Wende des 19. Jahrhunderts und danach als Konjunkturzyklus CSchumpeter), periodische Krisen {Marx, Juglar, Aftalion), wirtschaftliche Wechsellagen (z.B. Spiethojf), industrielle Fluktuationen (z.B. Pigou) bzw. Geschäfts- oder Handelszyklen (z.B. Mitchell bzw. Harrod) bezeichnet wurde. Auch heute existiert keine allgemein anerkannte Theorie, die dieses Phänomen erklären könnte. In der stabilisierungspolitischen Diskussion wird auf mehr oder weniger starke zeitliche Veränderungen in gesamtwirtschaftlichen Aggregaten Bezug genommen, die der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung entnommen wurden. Obgleich das Phänomen unerklärt ist, werden die Veränderungen in den makroökonomischen Aggregaten als Konjunkturphänomene interpretiert, gewissermaßen ein Grinsen ohne Katze, frei nach Alice im Wunderland. Ihre Interpretation erfolgt durch Rückgriff auf die neoklassische Synthese der keynesianischen Theorie (Hicks). Unabhängig von ihrem Erklärungswert dient sie seit 1967 als Grundlage für eine als nachfrageorientiert beschriebene Stabilisierungspolitik. Die Fixierung auf Veränderungen makroökonomischer Aggregate führt zu permanentem politischem Druck gegenzusteuern und verleitet zu dem genannten fiskalpolitischen Aktionismus. Soweit er sich auf die keynesianische MakroÖkonomik stützt, ist er nicht mehr als eine Anmaßung von Wissen im Sinne von Hayek (1975). Dies zumindest dann, wenn man seinem Räsonnement über die „Irrtümer der MakroÖkonomik" 2 folgt. Es läßt sich auf drei Einwände reduzieren (Streit 1995, 174f.): (1) Das Konzept der Gesamtnachfrage ist als grobe Vereinfachung irreführend, hat bei seiner beschäftigungspolitischen Anwendung inflatorische Folgen und ist bestenfalls in der Depression von begrenztem Wert, (2) das Problem der Arbeitslosigkeit ist in erster Linie eine Folge verstellter Signale, Folge einer Manipulation von Reallohnniveau und Lohnstruktur durch die Kartelle auf dem Arbeitsmarkt, (3) das statistische ex post Konstrukt des Preisniveaus ist geeignet, die Geldpolitik zu verleiten, die Preis- und Lohnstrukturen als Signale in ihrer unterschiedlichen Flexibilität bis hin zur Rigidität zu negieren oder gar
1
Zu einer kritischen Darstellung und Analyse der theoretischen Grundlagen der Stabilisierungspolitik vgl. Streit ( 2 0 0 0 , Kap. 4, 159 ff.).
2
S o lautet eine Zwischenüberschrift in einer der Ludwig von M i s e s - V o r l e s u n g e n von Hayek
(1968).
Wirtschaftspolitik im demokratischen Wohlfahrtsstaat · 23 den Versuch zu unternehmen, sie zu überspielen. Das dürfte Hayeks Vermutung unterstreichen, daß die Sätze der Makrotheorie wissenschaftliche Eigenschaften im strengen Sinn überhaupt nicht besitzen (Hayek 1968, 253). Insofern dürfte die Wissensgrundlage der Stabilisierungspolitik sehr bescheiden sein.
III. Strukturpolitik Eine unzureichende Wissensgrundlage ist auch für die Strukturpolitik zu konstatieren. Nach ihrer Zielsetzung kann zwischen einer strukturerhaltenden und einer strukturgestaltenden Politik unterschieden werden. Abschreckendes Beispiel für die Strukturerhaltung in der Bundesrepublik ist die jahrzehntelange Subventionierung der Montanindustrie und der Landwirtschaft. 3 Sie wird überdies flankiert durch tarifäre und nichttarifäre Handelshemmnisse. Soweit Strukturschwächen kleinere Bundesländer plagen, dient der horizontale Finanzausgleich dazu, die allfälligen Strukturerhaltungssubventionen zu finanzieren. Sichtbar wird damit eine fiskalische Haftungsgemeinschaft der Länder für eine verfehlte Strukturpolitik des Bundes (Berthold 2000, 243). Ein Beispiel hierfür ist das Saarland. Seine marode Montanindustrie wurde seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Pressionen seiner politischen Vertreter durch die Strukturkonservierung des Bundes gestützt mit der Folge, daß es zum Kostgänger des Finanzausgleichs wurde. Aufgrund dieses Beispiels wenig ermutigend dürfte die intervenierende Industriepolitik im Sinne einer Strukturgestaltung sein; denn sie setzt Wissen über den Wettbewerbsprozeß voraus, der den Strukturwandel hervorbringt, und damit mehr, als jemals erworben werden kann. Vor und nach dem Vertrag von Maastricht gehörte die Strukturgestaltung zu den bevorzugten Interventionsabsichten der EU-Kommission, obwohl diese einräumen mußte, daß ihre interventionistischen („vertikalen") Politiken nach den Erfahrungen der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts darin versagt haben, Industrien wettbewerbsfähig zu machen, und daß sie zu einer Fehlallokation von Ressourcen führten (Kommission 1990, 19). Das hinderte sie nicht daran, die alte Politik unter dem Druck der Mitgliedstaaten und der Industrielobby fortzuführen, und eine „horizontale" Politik zu propagieren, welche gezielt bestimmte Technologien fördern soll. 4 Parallelen zur Förderung der Informationstechnologie in der Bundesrepublik zeichnen sich ab. Es geht um die Selektion und Förderung eines vermuteten zukunftsträchtigen „Gewinners" im Strukturwandel. Sie entspricht in besonderem Maße dem Hayekschen Verdikt einer Anmaßung von Wissen. Aus der Sicht des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren (Hayek 1968, 249-265) wird bei solchen Interven-
3 4
So lassen sich 1993 rund 4 0 v.H. aller Subventionen in der Bundesrepublik dem Ziel der Strukturerhaltung zurechnen (Stille und Teichmann 1995). Zur europäischen Industriepolitik und ihren Folgen für die Wirtschaftsverfassung der EU, die aufgrund des Vertrages von Maastricht und der bisherigen Erfahrungen erwartet werden können, vgl. Srreit (1993).
24 · Manfred E. Streit tionen argumentiert, (1) daß eine „rationale Koordination" von Staat und Wirtschaft 5 Richtung und Geschwindigkeit technischen und ökonomischen Fortschritts bestimmen sollte, statt häufig „verschwenderische" Anstrengungen der einzelnen Wettbewerber und (2) daß das vereinte Wissen überlegen und besser geeignet ist, die Wettbewerbsfähigkeit einer Nation oder gar eines Handelsblocks zu sichern. Dementsprechend empfiehlt und betreibt die EU-Kommission eine korporatistische Industriepolitik im Sinne „einer aktiven Partnerschaft zwischen allen Beteiligten (Firmen, Sozialpartnern, wissenschaftliche Einrichtungen und regionale, nationale und gemeinschaftliche Instanzen" (Kommission 1990, 8).
IV. Arbeitsmarktpolitik Mit einer Verfestigung der Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau spiegelt die Entwicklung auf den Arbeitsmärkten der Bundesrepublik negative Nebenwirkungen von Fehlentwicklungen wider, die in anderen Politikbereichen zu verzeichnen sind: (1) die Dominanz einer auf Erhaltung bedachten sektoralen und regionalen Strukturpolitik 6 sowie (2) die lähmenden Folgen einer über Jahrzehnte verursachten institutionell bedingten Verkrustung in den übrigen Teilen des ökonomischen Systems. Die Fehlentwicklungen sind der Einflußnahme auf wirtschaftspolitische Entscheidungen durch die Interessenverbände zuzuschreiben. Das gilt für die Gütermärkte wie für die Arbeitsmärkte. Letztere werden von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden kontrolliert, die ebenfalls zu den Befürwortern einer auf Erhaltung gerichteten Strukturpolitik gehören und die damit und mit den Fördermitteln der von ihnen beaufsichtigten Bundesanstalt für Arbeit eine makabre Folgenbewältigung betreiben möchten; denn strenge Regeln des Kündigungsschutzes, teure Sozialplanpflichten, hohe gesetzliche und tarifvertragliche Mindestlöhne und eine expansive Auslegung des Günstigkeitsprinzips fordern ihren Tribut in Form von Anpassungsschwächen im permanenten, wettbewerblich induzierten Strukturwandel. Unerwünschte Neben- und Fernwirkungen verfehlter Politiken in anderen Bereichen sind in ihren Ursachen schwer identifizierbar. Lernen aus Steuerungsfehlern wird daher unmöglich, eine Kontrolle und Sanktionierung der wirtschaftspolitischen Akteure sehr erschwert (was den Betroffenen nur recht sein kann). Insofern dürften Anmaßung von Steuerungswissen und politisch-ökonomisch erklärbare, kurzatmige Steuerungsversuche wesentliche Bestandteile der beobachtbaren wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten auf den Arbeitsmärkten sein.
5
6
Repräsentiert durch Interessenverbände. Eine beunruhigende Beschreibung des Umfangs und der Tätigkeit von Interessenverbänden auf der Ebene der EU sowie ihrer Einflußnahme mit wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen liefert Vaubet (2001, 136 ff.). Vgl. FN 3.
Wirtschaftspolitik im demokratischen Wohlfahrtsstaat · 25
V. Politisch-ökonomische Handlungsbedingungen Die beschriebenen Fehlentwicklungen sind aus einem politischen Willensbildungsprozeß hervorgegangen, der durch die Theorie des Public Choice mit robusten Hypothesen überzeugend erklärt werden konnte. Danach handeln die wirtschaftspolitischen Akteure unter der Beschränkung, wiedergewählt zu werden. Das macht sie zugänglich für Pressionen von organisierten Interessengruppen. Ihre Reaktion ist die Gewährung von gruppenspezifischen Privilegien. Gezielte Subventionen, Steuererleichterungen und wettbewerbshemmende Regulierungen sind die probaten Mittel. Auch die systemwidrige Ausnutzung von Handlungsoptionen, die wirtschaftspolitische Strategien eröffnen, gehört dazu. Der ständige Mißbrauch keynesianischer Nachfragepolitik zur vorgeblichen Konjunkturpolitik gehört dazu. Er erlaubt eine mit Scheinbegründungen legitimierte expansive Fiskalpolitik mit unangenehmen Verschuldungsfolgen. Die Geschichte strukturpolitischer Interventionen in Deutschland, allen voran die Kohlepolitik, belegt, wie politisch sensibel die Akteure auf Pressionen reagieren, die aus den Bergbauregionen kommen und durch organisierte Interessengruppen, wie die Arbeitsmarktkartelle, gebündelt werden. Eine naheliegende Strategie für die politischen Akteure wäre es, wenn sie die Interessengruppen in ihre Entscheidungen einbezögen. Dazu bieten sich „runde Tische", „Bündnisse" und „konzertierte Aktionen" an. Solche korporatistischen Arrangements sind nicht nur verfassungspolitisch bedenklich, sondern auch aus guten Gründen erwiesenermaßen als Problemlösung untauglich 7 und deshalb von der Selbstauflösung bedroht. Die Geschichte der „konzertierten Aktion" in der Bundesrepublik in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts sowie der „Bündnisse" in der laufenden Legislaturperiode spricht eine beredte Sprache. Unabhängig von ihrer grundsätzlichen Bedenklichkeit waren es untaugliche Versuche, angepriesen mit wohlklingenden Worten und lediglich geeignet zur Selbstdarstellung der beteiligten politischen Akteure und Verbandsfunktionäre.
VI. Konsequenzen für die wissenschaftliche Politikberatung Das bisher Dargelegte hat frustrierende Konsequenzen für die wissenschaftliche Politikberatung. Ob es sich um Gremien, Forschungsinstitute oder Einzelpersonen handelt, die Frustrationen beruhen einmal darauf, daß das dem Rat zugrundeliegende Wissen über die in Rede stehenden ökonomischen Teilsysteme notorisch unbefriedigend ist. Es nimmt dem abgeleiteten Rat die analytische Überzeugungskraft, was die beratenen politischen Akteure wohl bemerken. Außerdem muß der erteilte Rat durch den Filter der Bürokratie der Beratenen. Dabei bleibt unklar, ob selbst veröffentlichter Rat auf Resonanz trifft und korrekt im Sinne der Berater interpretiert wird.
7
Vgl. hierzu Streit ( 1 9 8 8 ) und Gäfgen ( 1 9 8 8 ) . A u c h der Wissenschaftliche Beirat ( 2 0 0 0 ) beim Bundesministerium für Wirtschaft und T e c h n o l o g i e machte in seinem Gutachten zu „Aktuelle Formen des Korporatismus" (Teilziffern 4 und 5 ) Bedenken geltend.
26 · Manfred E. Streit Schließlich werden die Beratenen in ihren Aktionen durch den W u n s c h beschränkt, wiedergewählt zu werden. Die Folge ist, daß z.B. gutachtlich geäußerter und veröffentlichter Rat von den Adressaten rundheraus abgelehnt werden kann, wenn er politisch inopportun erscheint. Für die Berater ergeben sich unter den aufgezeigten Beratungsbedingungen mehrere Optionen, wenn sie bewirken wollen, daß sich die Realisierungschancen ihres Rats erhöhen; das setzt voraus, daß die Berater von ihrem Rat analytisch überzeugt sind. D i e erste Option besteht darin, die mögliche Veröffentlichung des Rats z.B. durch Pressekonferenzen zu unterstützen. Auf diese W e i s e könnte Druck auf den beratenen A k t e u r ausgeübt werden, sich z u m Rat mehr oder weniger bindend zu erklären. Allerdings besteht das Risiko, daß die Reaktion auf den Rat in der Flut medienwirksamer Politik Verlautbarungen untergeht. Die zweite Option besteht darin, daß mit d e m Rat die politischen Opportunismen des Beratenen antizipiert werden. Dabei geht es u m eine Einschätzung der politischen Durchsetzbarkeit der mit d e m Rat verbundenen H a n d l u n g s e m p f e h l u n g e n . Sie dürfte am ehesten in einer Diskussion mit d e m Akteur auszuloten sein mit d e m Ziel, ihn zu überzeugen. Auch hier besteht das Risiko des Scheiterns, z.B. in der politischen G e m e n g e l a g e von Kabinettsentscheidungen. Im Ergebnis spricht viel dafür, daß auch gut begründbarer Rat im politischen Willensbildungsprozeß nur dann z u m Tragen k o m m t , wenn er von vielen Entscheidungsträgern als opportun beurteilt wird. Das verschlechtert seine Realisierungschancen nochmals. W a s bleibt ist die frustrierende Ausgangslage der Berater.
VII. Auswege aus der Krise A u s w e g e aus der eingangs umrissenen kritischen Lage der Wirtschaftspolitik im demokratischen Wohlfahrtsstaat sollten ihren A n f a n g bei den Ursachen der Krise nehmen. Nach d e m bisher Dargelegten können drei Ursachen identifiziert werden: (1) der notorische Wissensmangel der Beteiligten, (2) die politisch-ökonomisch bedingten Beschränkungen der Entscheidungsträger und damit verbunden (3) der systemschädigende E i n f l u ß der Interessenverbände. Der notorische Mangel an Wissen über die Funktionsweise des
komplexen
marktwirtschaftlichen Systems ist nur behebbar durch verstärkte F o r s c h u n g s b e m ü hungen. Sie dürften in erster Linie durch die Vorherrschaft des neoklassischen Paradigmas behindert oder gar fehlgeleitet werden. Seine A b l ö s u n g ist ein langfristiger, im Z u s a m m e n w i r k e n der Forschenden angelegter Prozeß, der nur durch verstärkten W e t t b e w e r b unter den Forschenden begünstigt werden kann. Diesen W e t t b e w e r b zu fördern, ist eine wissenschaftspolitische A u f g a b e von Rang. Ihre Realisierung dürfte wiederum durch den notorischen Wissensmangel und die V e r k l e m m u n g e n behindert sein, die der bundesdeutsche Föderalismus mit sich bringt.
Wirtschaftspolitik im demokratischen Wohlfahrtsstaat • 27 Die politisch-ökonomisch erklärbare Beschränkung der Entscheidungsträger (Teil V) bewirkt für sie nichts anderes, als einen Verlust an Autonomie. Dieser resultiert daraus (Hayek 1979, 15 ff.), - daß die Parlamentsmehrheit und die sie tragenden Parteien ständig versucht sind, die Unterstützung durch Interessengruppen mittels Gewährung von Privilegien mit systemschädigenden Folgen zu gewinnen, und - daß politische Entscheidungsträger auf kein demokratisch legitimiertes Verfassungsorgan oder ein sie bindendes Verfahren verweisen können, welches das Parlament daran hindern könnte, dem Drängen der Interessengruppen auf Privilegien nachzugeben. Danach käme es darauf an, die Autonomie der wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger wieder herzustellen. Es geht um nichts anderes, als um die Restitution eines starken, von der Einflußnahme durch Interessengruppen freien Staates. Als radikaler Lösungsvorschlag bietet sich die Realisierung des ersten staatspolitischen Grundsatzes von Walter Eucken (1990, 334) an. Danach käme es darauf an, wirtschaftliche Machtgruppen - und Interessenverbände dürften dazu zählen - aufzulösen oder in ihren Funktionen zu begrenzen. Den Grundsatz zu realisieren, würde schwer fallen, verstößt dies doch gegen die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG). Ferner wäre zu einem weiteren Ausweg an dem zweiten o.g. Befund anzusetzen, dem Verfassungsorgan oder Verfahren, auf das sich ein Entscheidungsträger zur Abwehr von Pressionen durch Interessenverbände berufen könnte. Es geht darum, das Parlament davor zu bewahren, zum „Sklaven" von Interessenverbänden (Hayek 1979, 11) zu werden. Das könnte durch Einrichtung einer unabhängigen, mit Kassationsrechten ausgestatteten zweiten Kammer zur Kontrolle von Parlament und Regierung geschehen (Hayek 1979, 105 ff.). 8 Eine derartige Reform des Wohlfahrtstaates dürfte zunächst dadurch behindert werden, daß die Verfassung neu ausgehandelt werden müßte. Das Schicksal der Verfassungskommission in der Bundesrepublik vor einem Jahrzehnt stimmt pessimistisch. Darüber hinaus bestünde eine Schwierigkeit, die Hayek selbst erkannte. Würde sein Vorschlag realisiert, so bedeutete dies, daß sich das Parlament mit der veränderten Verfassung in seinen Handlungsmöglichkeiten selbst beschneiden müßte. Er bezeichnet es als Illusion, zu glauben, daß das Parlament seine Hände im politischen Wettbewerb selbst binden würde (Hayek 1979, 27 u. 31). Ähnlich dürften die Vorschläge der Virginia School um Buchanan zu beurteilen sein, die eine Selbstbeschränkung fiskalpolitischer Handlungsmöglichkeiten durch die Verfassung beinhalten (Leipold 1988, 277 ff.). Nachdem sich verfassungspolitische Vorschläge als Sackgasse erwiesen haben, bliebe abschließend zu fragen ob noch andere Auswege aus der Krise offen stehen. Es wäre zu prüfen, ob die spontanen Kräfte des Wettbewerbs in seinen verschiedenen Formen disziplinierende Wirkungen auf das wirtschaftspolitische Geschehen haben könnten. Zu denken wäre zunächst an die Schattenwirtschaft. Sie reicht von Aktivitä8
Zur Diskussion dieses Vorschlags vgl. Rupp (1979); Vanberg (1988).
(1981); Nienhaus
(1982);
Leipold
28 · Manfred E. Streit ten für graue und schwarze Märkte über marktnahe Haushaltsproduktion bis zur privaten Wohltätigkeit (Streit 1984). Unabhängig von der rechtlichen Beurteilung im einzelnen ist sie in vielen Wohlfahrtsstaaten zu einem Wachstumssektor aufgestiegen. 9 Sie ist ein Protest- und Krisensignal. Die darin zum Ausdruck kommende Abwanderung aus der offiziellen Wirtschaft besteht nicht nur aus vielfältigen Versuchen, sich der wachsenden wohlfahrtsstaatlichen Abgabenlast zu entziehen oder sie zu vermeiden. Sie signalisiert auch, daß die Arbeitsmärkte funktionsfähiger sein könnten, wenn die Arbeitsmarktkartelle und der sie absichernde Staat dies nur zuließen. Ferner spiegeln Teile der Schattenwirtschaft eine Reaktion auf vorangegangene Verdrängungswirkungen auf private Initiativen wider, die aus dem wohlfahrtsstaatlichen Anspruch auf Allzuständigkeit erwachsen: Die unvermeidlichen Lücken im standardisierten, bürokratischen Angebot der großen Fremdversorgungssysteme (Sozialversicherungen, Wohlfahrtseinrichtungen) werden durch freiwillige soziale Dienste geschlossen. Diese Dienste sind also ein Zeichen dafür, daß es auch weiterhin Bereitschaft zu privater Wohltätigkeit gibt. Ein weiterer Ausweg aus der Krise, bei dem auf spontane Kräfte vertraut werden kann, wird durch den Systemwettbewerb und seine disziplinierenden Wirkungen auf das Verhalten wirtschaftspolitischer Entscheidungsträger vorgezeichnet. Wie bei der Schattenwirtschaft ist auch hier das Prinzip der Abwanderung wirksam. Dort handelt es sich um die Abwanderung von der offiziellen in die inoffizielle Wirtschaft mit negativen Wirkungen auf die Haushalte des Staates und der Sozialversicherungen. Hier, im Falle des Systemwettbewerbs, geht es um die Abwanderung von als unvorteilhaft beurteilten institutionellen Systemen (Wirtschaftsverfassungen) in solche, die als vorteilhaft gelten, durch Abzug mobiler Ressourcen. 10 Letzterer wird eher verschleiernd als Folge der sog. Globalisierung identifiziert. Dabei bleibt unerwähnt, daß das Zurückfallen im internationalen System- bzw. Standortwettbewerb wirtschaftspolitisch selbstverschuldet ist, und darauf vertraut, daß das diffuse, Protest auslösende Unbehagen gegenüber Wettbewerbswirkungen sich nicht gegen die Verursacher der Wettbewerbsschwäche, die politischen Akteure und Verbandsfunktionäre, richtet. Dann entstünde nämlich wirksamer politischer Druck, wettbewerbskonforme institutionelle Reformen einzuleiten und den durch die Interessengruppen organisierten Reformwiderstand zu brechen. So bleibt auch dieser Ausweg im Nebel dumpfer, halbverstandener Vermutungen über ein komplexes Wettbewerbsphänomen, die Globalisierung, verborgen. Schlimmer noch, das Unbehagen läßt sich politisch zur Ablenkung vom wirklichen Sachverhalt und zur Beschränkung der internationalen Mobilität von Gütern und Faktoren im Namen des wohlfahrtsstaatlichen Wieselwortes soziale Gerechtigkeit nutzen. Dennoch bleibt zu hoffen, daß jede Krise, auch die der Wirtschaftspolitik im Wohlfahrtsstaat, ihre Katharsis, die Läuterung zum Besseren, in sich birgt.
9
Schneider und Enste (1999, 19) schätzen ihren Anteil am Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik für den Durchschnitt der Jahre 1996/97 auf 14,8 %. 10 Zum Systemwettbewerb vgl. Kiwit und Streit (1999/2001).
Wirtschaftspolitik im demokratischen Wohlfahrtsstaat • 29
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30 · Manfred E. Streit Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2000), Aktuelle Formen des Korporatismus, Gutachten vom 26J27. Mai 2000, BMWi, Dokumentation 479, Juni 2000.
Zusammenfassung Die kritische Lage, in der sich die Wirtschaftspolitik in einem demokratischen Wohlfahrtsstaat wie Deutschland befindet, wird durch drei Faktoren erklärt: (1) durch den notorischen Mangel an Lenkungswissen, (2) die Beschränkungen, denen die politisch Handelnden durch das Erfordernis der Wiederwahl unterliegen und (3) durch die frustrierende Situation der wissenschaftlichen Politikberatung. Zunächst (Teil Π) wird das Beispiel der Stabilisierungspolitik betrachtet. Darauf folgt (Teil ΙΠ) eine Analyse der Strukturpolitik. Sodann (Teil IV) wird die Arbeitsmarktpolitik aufgegriffen. D a n a c h (Teil V) werden die bisherigen Ergebnisse aus d e m Blickwinkel des Public C h o i c e betrachtet. Sodann (VI) werden Schlußfolgerungen f ü r die Politikberatung gezogen. Schließlich (Teil VII) werden mögliche W e g e aus der kritischen Lage der Wirtschaftpolitik offengelegt.
Summary Economic Policy in a Democratic Welfare State - Anatomy of a Crisis T h e critical position of e c o n o m i c policy in a democratic welfare state like Germany will be explained by three factors: (1) the notorious lack of steering knowledge, (2) the constraints imposed on political actors by the requirement of b e c o m i n g re-elected, and (3) by the frustrating position of scientific policy advice, suffering f r o m the t w o aforementioned handicaps. T h e plan of the paper is as follows: T o begin with (part Π), the e x a m p l e of stabilisation policy will be considered. This will be followed (part ΠΙ) by an examination of structural policy. Then (part IV) labour market policy will be taken up. Thereafter (part V) the findings m a d e so far will be considered f r o m the point of view of political e c o n o m y or public choice. Then (part VI) conclusions will be drawn regarding policy advice. Finally (part VII) possible ways out of the critical situation of economic policy will be exposed.
O R D O · J a h r b u c h f ü r die O r d n u n g von W i r t s c h a f t und Gesellschaft ( L u c i u s & Lucius, Stuttgart 2 0 0 2 ) Bd. 5 3
Egon
Görgens
Europäische Geldpolitik: Gefährdungspotentiale - Handlungsmöglichkeiten - Glaubwürdigkeit I. Einführung Seit dem 1. Januar 1999 besteht die Europäische Währungsunion (EWU) mit zunächst elf und ab 1. Januar 2001 durch Aufnahme Griechenlands mit zwölf Mitgliedsländern. Von den fünfzehn EU-Ländern blieben Dänemark, Großbritannien und Schweden der EWU (bislang) fern. Gemeinsame Währung der EWU ist der Euro (€), der ab dem 1. Januar 2002 auch als Zahlungsmittel in der Form von Münzen und Banknoten fungiert. Zuständig für die einheitliche Geldpolitik im Euro-Währungsraum ist das Eurosystem, das von der Europäischen Zentralbank (EZB) und den nationalen Zentralbanken der EWU-Mitgliedstaaten gebildet wird. Das Eurosystem trägt die alleinige Verantwortung für die Geldpolitik in der Währungsunion. Herzstück des Eurosystems ist die EZB. Sie ist verantwortlich dafür, daß alle Aufgaben des Eurosystems entweder durch ihre eigene Tätigkeit oder durch die nationalen Zentralbanken erfüllt werden. Zentrales Entscheidungsorgan des Eurosystems ist der EZB-Rat. Er besteht aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB, also dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten der EZB sowie den (vier) weiteren Mitgliedern des Direktoriums der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der EWU-Länder. Die kurze Charakterisierung von Aufbau und Zuständigkeit des Eurosystems mag vorläufig als Hintergrund für die Frage genügen, ob mit der Einführung einer europäischen Geldpolitik im Rahmen der EWU ein Stück auf dem Weg zu einer europäischen Marktwirtschaft zurückgelegt oder ob nicht möglicherweise ein ordnungspolitischer Holzweg eingeschlagen wurde. Aus der Sicht von von Hayeks (1977) Vorschlag einer Währungskonkurrenz scheint es sich um kaum mehr als eine rhetorische Frage zu handeln. Denn statt Konkurrenz der Währungen haben wir es beim Euro mit einem wettbewerbsbeschränkenden Zusammenschluß zu tun. Anstatt vorher prinzipiell möglicher - wenn auch nicht wirklich existenter - Konkurrenz zwischen elf bzw. zwölf nationalen Zentralbanken gibt es nur noch eine Währung, eine Geldpolitik und eine ausschließlich zuständige geldpolitische Instanz. Wenn von Hayek Staaten das Recht nehmen will, die Zahlungsmitteleigenschaft des Geldes gesetzlich festzulegen, so fußt diese Forderung auf der empirisch begründeten Erfahrung, daß alle bekannten Hyperinflationen Staatsinflationen gewesen sind (Fricke 1981, 34). Von der Münzverschlechterung bis zur massiven Geldmengenexpansion reichten die Techniken, deren sich Regierungen mittels ihrer Monopolmacht bedienten. Und da
32 · Egon Görgens selbst „gesetzliche oder andere institutionelle Begrenzungen ... sich gegen einen entsprechenden Machtanspruch des Staates nicht halten" können (Fricke 1981, 34), erscheinen von Hayeks grundsätzliche Zweifel an der Bereitschaft von Staaten zu konsequenter Stabilitätspolitik nicht unangebracht. Die Frage ist allerdings, ob diese Feststellungen auch unter den Bedingungen der E W U noch ihre Berechtigung haben. Das Vorstellungsbild einer Zentralbank, die dem politischen Willen der nationalen Regierung unterworfen ist, galt bereits in der Vergangenheit nicht uneingeschränkt, so daß - wie etwa im Falle der Deutschen Bundesbank - eine Bezeichnung ihrer Geldpolitik als „staatliche Geldpolitik" zumindest interpretationsbedürftig wäre. 1 Die Übertragbarkeit des Vorstellungsbildes von staatlicher Geldpolitik auf das Eurosystem unterliegt noch weiteren Einschränkungen schon allein deshalb, weil es in der E W U eine (gegenüber dem Eurosystem oder der EZB möglicherweise weisungsbefugte) Zentralregierung gar nicht gibt. Dies schließt freilich nicht aus, daß über verschiedene politische Wirkungskanäle der Instabilitäts-Bias im Vergleich zur Hayeks,chen Konkurrenzlösung dennoch besteht. Oder anders: Kann in der Zentralisierung der Geldpolitik und den eingebauten institutionellen Arrangements ein Stück Ordnungsmacht zur Beförderung einer europäischen marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung gesehen werden? Im folgenden soll zunächst kurz auf zwei wichtige äußere Gefahrenherde eingegangen werden, und zwar die Lohn- und Sozialpolitik einerseits und die Finanzpolitik andererseits. Für diese Politiken sind bekanntlich die einzelnen Mitgliedstaaten der E W U weiterhin zuständig. Nationale Kompetenzen auf diesen Politikfeldern können mit der zentralisierten geldpolitischen Kompetenz in erheblichen Konflikt geraten, der zu Lasten des Stabilitätsziels „gelöst" werden kann. Deshalb soll in einem nächsten Schritt untersucht werden, ob die institutionellen, personellen und konzeptionellen Ausgangsbedingungen des Eurosystems hinreichend Gewähr bieten, den zu erwartenden Pressionen standzuhalten.
II. Gefährdungspotentiale stabilitätsorientierter europäischer Geldpolitik2 Mit der Einführung der E W U entfällt in den Mitgliedsländern in zwei wichtigen Politikbereichen, der Geldpolitik und der Wechselkurspolitik, die nationale Kompetenz, auf abweichende Wirtschaftsentwicklungen oder auf asymmetrisch wirkende Angebots- und Nachfrageschocks einzuwirken: Innerhalb der Währungsunion kön-
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Issing erwähnt eingangs seiner Hayek Memorial Lecture (2000, 10) einen diesbezüglichen Dissens mit von Hayek. Er wollte Hayeks Beitrag zur Währungskonkurrenz in einen Readings-Band zur Geldpolitik aufnehmen und dem Text eine deutsche Übersetzung des folgenden Zitats voranstellen: „Inflation is made by government and its agents. Nobody else can do anything about it." Trotz langer Korrespondenz hätten sie sich jedoch nicht über die deutsche Übersetzung für „government" einigen können, so daß es schließlich bei der englischsprachigen Formulierung blieb. Zu einer ausführlichen Erörterung von Störpotentialen für die europäische Geldpolitik siehe Görgens, Ruckriegel und Seitz (2001).
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nen realwirtschaftliche Divergenzen, vor allem Produktivitätsunterschiede, nicht mehr durch Wechselkurs- und Zinsänderungen abgepuffert oder für eine gewisse Zeit überspielt werden. Sollte beispielsweise infolge inflatorischer Entwicklungen die Auslandsnachfrage nach Produkten des inflationierenden Landes spürbar abnehmen, geht auch die Nachfrage nach seiner Währung zurück. Bei flexiblen Wechselkursen würde diese Währung tendenziell abgewertet, wodurch der ursprüngliche Nachfrageeinbruch und die nachgelagerten negativen Produktions- und Beschäftigungsfolgen gedämpft werden. In einer Rezession konnte bislang die nationale Zentralbank eine Zinssenkungspolitik betreiben, um - neben der unmittelbaren binnenwirtschaftlichen Ankurbelung - über zinsbedingte Abwertungseffekte die Nachfrage zu stimulieren. Auch im Falle prinzipiell fester Wechselkurse hatte ein solches Land faktisch immer die Möglichkeit der Abwertung, um dem Nachfrageeinbruch zu begegnen.
1. Herausforderungen durch die Lohn- und Sozialpolitik Wenn in einzelnen EWU-Mitgliedsländern die Lohn- und Sozialpolitik nominelle Einkommensverbesserungen durchgesetzt hat, die über den gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfungszuwachs hinausgehen, eine geld- und wechselkurspolitische Abfederung auf nationaler Ebene aber nicht mehr möglich ist, wird die erhöhte beschäftigungspolitische Verantwortung unmittelbar deutlich. Werden beispielsweise die Lohn- und Sozialkosten je Stunde stärker angehoben als der zu erwartende reale Produktivitätszuwachs je Stunde, steigen die entsprechenden Arbeitsstückkosten. Bei fehlender monetärer Alimentation durch das Eurosystem können diese nicht allgemein in den Preisen weitergewälzt werden - jedenfalls nicht über die der Geldpolitik vom EZB-Rat vorgegebene Preisnorm von bis zu 2 % hinaus. Die erhöhten Arbeitsstückkosten werden deshalb zu Arbeitslosigkeit führen, beziehungsweise diese erhöhen. 3 Es ist zwar damit zu rechnen, daß erhöhte Freizügigkeit auf den Güter-, Finanzund Arbeitsmärkten und verstärkter Wettbewerb in dem gemeinsamen Wirtschaftsund Währungsraum Produktivitäts- und Einkommensunterschiede zwischen den Mitgliedsländern verringern. Angesichts der noch bestehenden großen Produktivitätsabstände und deren Ursachen wie Unterschiede im Humankapital, in der Sachkapitalausstattung der Arbeitnehmer, der sektoralen Strukturen und der innovatorischen Aktivitäten steht eine Konvergenz aber noch in weiter Ferne (Sachverständigenrat 1998, 195 f.). Bis dahin müßten in den EWU-Ländern entsprechend den jeweiligen nationalen Gegebenheiten unterschiedliche Lohn- und Sozialpolitiken betrieben werden. 3
Dieser Produktivitätskalkül für die Lohn- und Sozialpolitik kann freilich nur als grobe Daumenregel gelten, da außer der Ausgangsarbeitslosigkeit noch die Entwicklung etwa der Kapitalkosten, Verbrauchsteuern und Importgüterpreise zu berücksichtigen wären. Z u d e m darf nicht der durch Entlassungen bedingte Produktivitätsanstieg, sondern nur der bei Beschäftigungskonstanz bzw. Vollbeschäftigung zugrunde gelegt werden.
34 · Egon Görgens Ob die Sozialpartner diese Beschäftigungsverantwortung, die durch die Restriktion für die Lohn- und Sozialpolitik gestiegen ist, wahrnehmen werden, ist umstritten. Optimistische Einschätzungen gehen davon aus, daß angesichts der Stabilitätsfortschritte im Vorfeld der E W U und der Kenntnis der eben skizzierten negativen Beschäftigungsfolgen stabilitätswidriger Verhaltensweisen die Lohnpolitik die erforderliche Zurückhaltung quasi automatisch üben würde. Die Disziplinierungserwartungen gründen vor allem auf eine konsequente Stabilisierungspolitik des Eurosystems sowie den Ausschluß innereuropäischer Solidarhaftung für Staatsschulden („no bail out") und/oder den Verzicht auf einen innereuropäischen Finanzausgleich. Da die geldpolitisch gesetzten monetären Bedingungen für den gemeinsamen Währungsraum einheitlich sind, werden die beschäftigungspolitischen Verantwortlichkeiten transparenter. Unter solchen Bedingungen könnten die negativen Beschäftigungsfolgen, die auf überzogene Lohnabschlüsse oder Sozialabgabenerhöhungen zurückgehen, nicht mehr anderen wirtschaftspolitischen Akteuren wie etwa der nationalen Zentralbank zugewiesen werden. Da die Tarifparteien wissen, daß nominale Wechselkursänderungen zur Kompensation - international wettbewerbsrelevanter - Arbeits· und Sozialkosten entfallen, werden sie von vornherein Zurückhaltung praktizieren. Die Gewerkschaften können bei überzogenen Lohnabschlüssen weder auf abpuffernde Abwertungen hoffen, noch müssen sie bei lohnpolitischer Zurückhaltung kompensierende Aufwertungseffekte befürchten. Zudem werden EWU-weite Substitutionsprozesse durch geringere Transaktionskosten und höhere Preis- und Lohntransparenz infolge der gemeinsamen Währung erleichtert. Verstärkte grenzüberschreitende Substitution der Unternehmen beim Faktoreinsatz schwächt die Macht der Gewerkschaften, das Arbeitsangebot zu monopolisieren. Schließlich werden auch Anreize zu (beschäftigungsstimulierenden) Arbeitsmarktreformen im Sinne vermehrter Flexibilität vermutet: Da in der E W U auf länderspezifische Schocks nicht geldpolitisch reagiert werden kann, wäre mit größeren Beschäftigungsschwankungen zu rechnen. U m dies zu vermeiden, seien in den einzelnen Mitgliedsländern gleichsam aus einem Vorsichtsmotiv heraus verstärkte Arbeitsmarktreformen zu erwarten 0Calmfors 1998, 3). Skeptiker hingegen befürchten, daß die Währungsunion eine aggressivere Lohnpolitik der nationalen Gewerkschaften und Forderungen nach einer Sozialunion mit Anpassungen der Sozialstandards nach oben begünstigt. Auch wenn die nationalen Gewerkschaften relativ große Organisationen bleiben, so haben sie doch, bezogen auf den Eurowährungsraum, kleinere „Marktanteile". Stabilitätswidrige Lohnsteigerungen in einem Land gehen in die gemeinsame Inflationsrate der 12 Mitgliedsländer - und diese ist Richtschnur für die Geldpolitik des Eurosystems - nur entsprechend dem Gewicht des betreffenden Landes ein. Der Inflationseffekt wird also geringer sein als (bislang) auf nationaler Ebene. Unterstellt man als Folge verstärkten Wettbewerbs innerhalb der E W U Preisangleichungstendenzen, würden die inflationären Effekte aggressiver Lohnpolitik gedämpft. Selbst inflationsaverse Gewerkschaften werden dann wenig Lohnzurückhaltung üben. Die geringere Inflationswirkung bedeutet bei gegebener Nominallohnerhöhung eine höhere Reallohnsteigerung - und
Konturen einer europäischen Geldpolitik • 35 damit zunehmende Arbeitslosigkeit. Diese Effekte werden in den einzelnen Mitgliedsländern um so ausgeprägter sein, je geringer die Wettbewerbsintensität auf den nationalen Arbeitsmärkten ist und je weniger inflationsavers die Gewerkschaften sind (Cukierman und Lippi 2000, 8 f., 35 f.). Doch auch wenn man davon ausgeht, daß die inflationären Folgen stabilitätswidriger Lohnpolitiken zunächst im Entstehungsland durchschlagen, ist zu bedenken, daß die geldpolitische Disziplinierung der Tarifparteien weitgehend unterbleibt, weil als Maßstab für die Zielrealisierung der Geldpolitik die (niedrigere) EWU-Inflationsrate gilt. Ein anderer Argumentationsstrang hebt darauf ab, daß die Sozialpartner, vor allem die Gewerkschaften, die Exogenität der Geldpolitik ihren lohnpolitischen Strategien nicht zugrunde legen werden, sondern entweder direkt oder mit Hilfe der Politik Druck auf das Eurosystem auszuüben versuchen, um den vertraglich vorgegebenen Stabilitätskurs zu lockern. Als empirische Stütze hierfür kann gelten, daß selbst die grundsätzlich stabilitätsorientierte Deutsche Bundesbank, die als maßgebliches Vorbild für das Eurosystem gelten kann, zusätzliche Lohnkostensteigerungen monetär alimentierte (Belke 1996, 198 f.). Ein direkter Weg von Gewerkschaften zum Eurosystem erscheint zur Zeit allerdings wenig wahrscheinlich. Regionale Gewerkschaften (etwa deutsche, belgische oder französische) dürften als Einzelgewerkschaften kaum in der Lage sein, genügend Einfluß auf den Kurs des Eurosystems auszuüben. Für die Gesamtheit der Gewerkschaften der EWU-Mitgliedsländer ist dies schon eher vorstellbar. Die Lohnfindungssysteme, Handlungsfähigkeiten und die jeweiligen Interessenlagen sind jedoch (noch) zu heterogen, als daß ein europäisches Lohnkartell absehbar wäre. 4 Vorläufig gewichtiger könnte die politische Hilfe sein. Auf ihrem Amsterdamer Gipfeltreffen im Juni 1997 haben (auf Druck Frankreichs) die Staats- und Regierungschefs der EU beschlossen, in den EG-Vertrag ein neues Kapitel über Beschäftigungspolitik aufzunehmen. In Artikel 2 des neuen Beschäftigungskapitels heißt es: „Die Mitgliedstaaten betrachten die Förderung der Beschäftigung als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse." Art. 3 gibt der EU die Befugnis, die nationalen Beschäftigungspolitiken der Mitgliedsländer zu unterstützen und zu ergänzen. Diese neue Gemeinschaftskompetenz könnte es den Tarifparteien ermöglichen, die Beschäftigungsverantwortung der EU zuzuweisen. Im Anschluß an den Amsterdamer Gipfel sind mehrere Versuche („Luxemburg-Prozeß", November 1997; „Cardiff-Prozeß", Juni 1998; „Köln-Prozeß", Juni 1999 sowie der Beschäftigungspakt von Lissabon im März 2000) unternommen worden, die gemeinsame Beschäftigungspolitik voranzutreiben. Für die europäische Geldpolitik von besonderer Relevanz ist der Kölner EU-Gipfel, auf dem beschlossen wurde, einen „Makroökonomischen Dialog" zwischen Politik, Europäischer Zentralbank und Tarifparteien in Gang zu setzen. Die Beteiligten sollen im Gespräch „am runden Tisch" ihre Politik aufeinander abstim-
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Gleichwohl verweist der Sachverständigenrat ( 1 9 9 8 , 198 f.) warnend auf bereits beobachtbare B e m ü h u n g e n um eine Europäisierung der Lohnpolitik (und der Sozialpolitik). Kämen diese Bemühungen zum Tragen, würde der beschäftigungspolitisch notwendigen räumlichen Differenzierung der Lohnstruktur entgegengewirkt.
36 · Egon Görgens men. Daß die hierin angelegten Konfliktpotentiale für die europäische Geldpolitik manifest werden, ist angesichts des aktuellen „Stabilitätsbewußtseins" weniger kurzfristig, wohl aber auf mittlere und längere Sicht wahrscheinlich. Eine Konditionierung der Autonomie der Tarifparteien im Sinne einer Berücksichtigung des Beschäftigungsziels findet sich im europäischen Vertragswerk, den Maastrichter Vertrag eingeschlossen, nicht. Die beschäftigungsschädlichen Folgen überhöhter Löhne, inflexibler Lohnstrukturen und sozialpolitisch motivierter Regulierungen am Arbeitsmarkt könnten nun in Richtung E U verlagert werden, was anstatt zu höherer Lohnflexibilität schließlich in „gemeinschaftliche" Forderungen an das Eurosystem einmünden kann, die Finanzierung staatlicher Beschäftigungsprogramme sicherzustellen. Die Wahrscheinlichkeit dieser Entwicklung ist um so größer, j e mehr es einzelnen Politikern und Vertretern von Interessengruppen gelingt, weite Teile der Bevölkerung davon zu überzeugen, daß die hohe Arbeitslosigkeit nicht vornehmlich ein institutionelles Problem, nämlich Folge rigider Arbeitsmärkte, sondern (angeblich) der Preis für Preisstabilität und zu niedrige Lohnabschlüsse ist. Ohne Rückhalt in der Bevölkerung aber wird das Eurosystem einen Stabilitätskurs nicht dauerhaft durchhalten können. Das Ausbleiben von Arbeitsmarktreformen erhöht wiederum den „Transferbed a r f ' . Hieraus kann sich ein Teufelskreis entwickeln: „Die finanzielle Unterstützung durch die Europäische Union ermuntert zu weiteren überzogenen Lohnabschlüssen und großzügigen Sozialleistungen; da die Arbeitslosigkeit dadurch nochmals erhöht würde, würden weitere Finanzmittel von der Europäischen Union verlangt werden, usw." (Feldmann 1998, 43). Werden einerseits Transfer-Begehrlichkeiten durch die Existenz der E W U vor allem mit Verweis auf Beschäftigungsprobleme eher zunehmen, ist andererseits aber mit Widerständen der Bevölkerung gegen innereuropäische Umverteilung zu rechnen. Im politisch-ökonomischen Prozeß, in den auch das grundsätzlich unabhängige Eurosystem eingebunden ist, dürfte es jedenfalls dann nicht unwahrscheinlich sein, daß allgemein der Ruf nach geldpolitischen Lockerungen laut wird. 5 Kommt das Eurosystem den Forderungen nicht nach, ist die Schuldfrage politisch schnell geklärt. Wie immer die einzelnen Argumente möglicher (De-)Stabilisierung durch die Lohn- und Sozialpolitik eingeschätzt werden, Dreh- und Angelpunkt bildet das Verhalten des Eurosystems: Wird es (auf Dauer) auch gegen eine konterkarierende Lohn- und Sozialpolitik eine stabilitätsorientierte Geldpolitik durchhalten (können)? Diese Frage stellt sich um so dringlicher, j e stärker stabilitätswidrige Lohn- und Sozialpolitiken durch die (nationale) Finanzpolitik abgestützt werden, von einem Politikbereich also, von dem in historischer Sicht - auch unabhängig von beschäftigungs- und sozialpolitischen Intentionen - die größten Stabilitätsgefährdungen ausgingen.
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D i e s e Entwicklung kann auch einen anderen W e g nehmen: Einzelne nationale Regierungen „verstecken" sich hinter - von ihnen d e facto mitgetragenen - Entscheidungen des E Z B - R a t s zugunsten expansiverer Politik, indem sie auf nationale geldpolitische Unzuständigkeit verweisen.
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2. Gefährdungen durch die Finanzpolitik Die Geldpolitik des Eurosystems kann sowohl durch die nationalen Haushaltspolitiken innerhalb des Euroraums als auch durch (supranationale) Maßnahmen auf der EU-Ebene unter Druck geraten. Die Spannungen zwischen Geldpolitik und öffentlicher Haushaltspolitik lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Mit einem steigenden Anteil des Schuldendienstes (Zins- und Tilgungszahlungen) am gesamten Staatshaushalt wird der Handlungsspielraum der staatlichen Entscheidungsträger immer mehr eingeschränkt. Allein durch die Zinszahlungen entsteht eine Ausgabendynamik, die eine Rückführung der Schuldenquote erschwert. Die Verschuldung nährt sich gewissermaßen aus sich selbst heraus. Da die Staatsverschuldung in der Regel nominal fixiert ist, entsteht für die Regierung ein Anreiz, sich durch inflationäre Politik dieser zunehmenden Belastung zu entledigen. Die einfachste Technik einer Inflationssteuer besteht in der Monetarisierung der Staatsschuld, also in der unmittelbaren Verschuldung des Staates bei der Zentralbank. Allerdings besteht nach Art. 101 des EG-Vertrags ein Verbot der monetären Finanzierung von Haushaltsdefiziten und des unmittelbaren Erwerbs von Staatsschuldtiteln. Auch darf öffentlichen Haushalten kein bevorrechtigter Zugang zum Kapitalmarkt verschafft werden. Die einzelnen Staaten sehen sich somit „harten Budgetbeschränkungen" gegenüber, wobei zu berücksichtigen ist, daß der Maastricht· Vertrag den Status eines völkerrechtlichen Vertrages besitzt und nur einstimmig von allen EU-Mitgliedsländern geändert werden kann. Zudem haftet nach Art. 103 EG-Vertrag kein Land für die Verbindlichkeiten eines anderen Landes („Nobail-out"-Klausel). Durch die institutionellen Vorkehrungen erscheint das Eurosystem also gegen finanzpolitische Durchkreuzungen einer auf Preisstabilität ausgerichteten Geldpolitik relativ gut abgesichert. Ob diese Vorkehrungen ein hinreichendes Bollwerk gegen eine expansivere Ausrichtung der Geldpolitik bilden, ist aber angesichts der in einigen Mitgliedsländern weiterhin zu erwartenden hohen Verschuldung und der bei Regierungen verbreiteten Beliebtheit von Inflationssteuern keineswegs sicher. Der Staatsverschuldung als solcher ist in der Währungsunion mit gemeinsamer Geldpolitik noch keine Barriere errichtet. Es können sogar gegenteilige Wirkungen erwartet werden. Zwar muß zur Finanzierung der öffentlichen Verschuldung verstärkt auf die Kapitalmärkte ausgewichen werden, was Zinssteigerungen auslöst. Im Falle eines einzelnen Landes sind die Zinswirkungen auf europäischer Ebene jedoch geringer als früher auf nationaler Ebene, woraus ein allgemeiner Verschuldungsanreiz für einen Großteil der EWU-Mitgliedsländer ausgelöst werden kann, verstärkt auf die Kapitalmarktfinanzierung zurückzugreifen. Dies gilt um so mehr, je weniger die Finanzmärkte an die „No-bail-out"-Klausel ernsthaft glauben. Geht man von einem im politischen Prozeß bestimmten positiven Primärdefizit (laufende Staatsausgaben abzüglich Steuereinnahmen) aus und ist die reale Wachstumsrate des BIP kleiner als der (auf die Staatsschuld zu entrichtende) Realzins, steigt die Staatsverschuldung relativ zum BIP ständig an. Befindet sich eine Regie-
38 · Egon Görgens rung in einer Situation sich selbst verstärkender Schuldendynamik (sog. Schuldenfalle) und würde eine Zentralbank eine restriktive Geldpolitik betreiben, um Preisstabilität zu erreichen bzw. die Inflation in den Griff zu bekommen, wird die Konfliktsituation verschärft: Die restriktive Politik treibt über höhere Zinsen und niedrigere Inflationsraten den Schuldenstand in die Höhe, wodurch wiederum eine inflationär wirkende Geldmengenexpansion „nötig" wird, die ihrerseits dann via verstärkte Inflationserwartungen problemverschärfend wirkt. Den Realitätsgehalt dieser Wirkungskette mag man mit dem Hinweis relativieren, daß es selbst in Ländern mit extrem hohem Schuldenstand (Belgien, Italien) in den vergangenen Jahren gelungen ist, ein explosionsartiges Wachstum der Staatsschulden zu vermeiden. Gleichwohl macht sie die potentiell schädlichen Konsequenzen unkoordinierter Wirtschaftspolitiken bei rationalen Erwartungen deutlich. Je höher die Verschuldung in der Gegenwart ausfällt, desto weniger Spielraum besteht in der Zukunft, mit den entsprechenden (potentiellen) Folgen für die Geldpolitik. Ist eine Senkung des Realzinses wegen übermäßiger Beanspruchung des Kapitalmarktes durch den Staat nicht hinreichend möglich, bleibt nur der Weg über die Überraschungsinflation. Ohne Koordination von Geld- und Finanzpolitik und bei Ausschluß des Staatskonkurses wird eine an Preisstabilität orientierte Geldpolitik zunehmend illusorisch, wenn öffentlichen Haushaltsdefiziten keine institutionellen Schranken gesetzt werden. „Je höher die Staatschuld, desto größer das Gefährdungspotential, das auf der Stabilität des Landes wie der Geldpolitik lastet. Der Verdacht, zumindest die stille Befürchtung, am Ende könnte doch die Versuchung für die Politik zu groß werden, sich der Schuld „schmerzlos" durch Inflation zu entledigen, wächst quasi proportional zum (relativen) Schuldenstand. Die Unabhängigkeit der Notenbank ist kein ein für allemal wirksames Bollwerk gegen diesen Zusammenhang" (Issing 1999, 13). Die Koordinationsproblematik von Geld- und Finanzpolitik erhält mit der E W U eine besondere Dimension dadurch, daß neben eine gemeinsame Geldpolitik nun prinzipiell zwölf nationale Finanzpolitiken treten können. Zunehmende Budgetdefizite eines Landes können die Inflationsrate im gesamten Euro-Gebiet erhöhen. Sollte sich dieses Land weigern, diesen Effekt durch zukünftige Budgetkonsolidierungsmaßnahmen zu kompensieren, müssen entweder andere Länder ihre Budgetdefizite entsprechend nach unten fahren oder durchsetzbare Regelungen zur Defizitbegrenzung eingeführt werden. Es geht in der Währungsunion letztlich um die fiskalpolitische Position aller zwölf Länder zusammen. Entstünde also bei einigen Ländern eine Tendenz, sich auf die finanzpolitischen Stabilisierungsanstrengungen anderer zu verlassen, könnte durch dieses „Free-rider"-Verhalten die Funktionsfähigkeit der E W U auf dem Prüfstand stehen. Zudem nehmen die positiven Auswirkungen staatlicher Konsolidierungspolitik in einer Währungsunion den Charakter eines öffentlichen Gutes an. V o m Nutzen dieses Gutes kann kein Mitgliedsland ausgeschlossen werden, auch wenn es keinen Beitrag dazu leistet. Vor diesem Hintergrund sind Vereinbarungen, die die Kontrolle von Haushaltsdefiziten bezwecken, grundsätzlich positiv zu bewerten.
Konturen einer europäischen Geldpolitik · 39 Nun ist bekanntlich mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zwischen den E W U Ländern der Gefahr, daß hohe Staatsverschuldung in eine inflationär wirkende Geldpolitik einmündet, vorzubeugen versucht worden. Der Fiskalpolitik wurde gewissermaßen eine Anpassungsrolle zugewiesen, indem eine auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik vorausgesetzt wird und die Regierungen ihre Ausgaben- und Einnahmenpolitik über die verabredeten fiskalpolitischen Regeln darauf abzustimmen haben. Kern des auf den EU-Gipfeln in Dublin und Amsterdam 1996/97 beschlossenen Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist die Überwachung der Haushaltsdisziplin und die Sanktionierung von Verstößen. Referenzwerte für Verstöße sind dabei 60 % für die Schuldenquote und 3 % für die Defizitquote. 6 Wird ein übermäßiges Defizit festgestellt, wird ein abgestuftes Verfahren in Gang gesetzt, das zu einer Korrektur des stabilitätswidrigen Verhaltens führen soll. Auf Einzelheiten der komplexen Regelungen und die daran anknüpfende wissenschaftliche Diskussion soll hier nicht eingegangen werden (siehe hierzu Seil 1998; Smeets und Vogl 2001). Erinnert sei jedoch an die Mißachtung dieser Konvergenzkriterien im Vorfeld der E W U in besonders krasser Weise bei der Aufnahme Belgiens und Italiens und später wiederum bei der A u f n a h m e Griechenlands. Mit Einmalaktionen und Verschiebungen haben (auch) andere Länder (Frankreich, Deutschland) mehr oder weniger erfolgreich eine Scheinerfüllung des Defizitkriteriums zu erreichen versucht. Trotz Verletzungen der Vertragsvorgaben in einzelnen Mitgliedsländern (speziell Italien) ist eine konsequente Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes bislang nicht zu erkennen. Vielmehr wurden von einigen EU-Finanzministern Versuche zur Aufweichung des Paktes unternommen und vorgeschlagen, das Defizitkriterium zu lokkern, investive Staatsausgaben herauszunehmen oder das Defizitkriterium durch Ausgabenkriterien zu ersetzen. 7 Kurioserweise mußte Irland massive Rügen wegen der Folgeerscheinungen des Booms hinnehmen, obwohl keinerlei Verstöße gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt vorlagen. Berechtigte Kritik an der Haushaltspolitik Deutschlands (und Portugals) im Frühjahr 2002 wurde hingegen durch massiven politischen Widerstand der betroffenen Regierung(en) zurückgedrängt. Nicht übersehen werden sollten inhärente Probleme des Paktes wie etwa seine hoch aggregierte Ebene, bei der interne Umsetzungsprobleme und -möglichkeiten in föderal verfaßten Mitgliedstaaten, d. h. die Aufteilung des Verschuldungsrahmens zwischen Bund, Länder und Gemeinden, ausgeblendet bleiben (siehe hierzu Söllner 2000). Erwähnt seien noch die paradoxen Konsequenzen des sog. Doppelkriteriums von Schulden- und Defizitquote, die darin bestehen, daß der finanzielle Spielraum des Staates mit zunehmender Schuldenquote wächst: Bei einer Schuldenquote von
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Diese verbreitete Interpretation ist genau genommen nicht korrekt. Söllner (2000, 9) erinnert zu Recht daran, daß eine ständige Ausschöpfung der 3-%-Grenze dem Stabilitäts- und Wachstumspakt widerspricht. Mittelfristig soll vielmehr ein ausgeglichener Haushalt erreicht werden. Kritisch hierzu der Präsident der Landeszentralbank in Bayern, Franz-Christoph Zeitler (2001, 7 f.), der neben grundsätzlichen Bedenken gegen solche Umdefinitionen der finanzpolitischen Zielsetzung auf Manipulationsmöglichkeiten bei Ausgabenkriterien hinweist. So sei das Kindergeld in Deutschland von fast 60 Mrd. DM früher auf der Ausgabenseite, seit einigen Jahren aber als Abzugsposten auf der Einnahmeseite erfaßt worden.
40 · Egon Görgens 100 % ändert sich diese bei einer Wachstumsrate des BIP von 3 % und einer Defizitquote von ebenfalls 3 % nicht. Beträgt die Schuldenquote hingegen 60 %, bleibt sie bei einer Wachstumsrate des BIP von 3 % nur unverändert bei einer Defizitquote von 1,8 %. Daß dieses Doppelkriterium mit zunehmender Inflationierung geringere disziplinierende Wirkung entfaltet, in Phasen der Wachstumsschwäche aber strenger wirkt, kann für weiteren Zündstoff sorgen und die Geldpolitik des Eurosystems belasten. Gewiß sind mit dem Verbot der monetären Alimentierung von Haushaltsdefiziten, dem Haftungsausschluß der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten und schließlich dem Stabilitäts- und Wachstumspakt wichtige Stabilitätsdämme errichtet worden. Ob diese auf längere Sicht halten werden, ist angesichts der oben erwähnten Erfahrungen ungewiß. Gegen eine optimistische Einschätzung spricht auch das anhaltende Interesse nationaler Regierungen an der Inflationssteuer einerseits und ein grundsätzlicher Konstruktionsfehler des Stabilitäts- und Wachstumspaktes andererseits. So wird die Überprüfung möglicher Verstöße nicht von einem unabhängigen Gremium vorgenommen, sondern vom Europäischen Rat, also einer Gemeinschaft, die aus aktuellen und potentiellen Sündern besteht (Dluhosch 1999, 106; Homburg 1999, 124). Und schließlich sollte eine weitere Instabilitätsquelle nicht unterschätzt werden: die zunehmende „Vergemeinschaftung" etwa steuerpolitischer und arbeitsmarktpolitischer Kompetenzen und das gleichzeitige verstärkte Abrücken vom Einstimmigkeitserfordernis zugunsten von Mehrheitsentscheidungen (Vaubel 2000, 15). Kann man beim Einstimmigkeitserfordernis noch darauf bauen, daß stabilitätsorientierte Minderheiten, die ja recht groß sein können, erfolgreich Widerstand gegen stabil itätsgefährdende Maßnahmen der Mehrheit leisten, wird dieses Disziplinierungselement des Einstimmigkeitsprinzips zukünftig mehr und mehr entfallen. Angesichts der vielfältigen Instabilitätsherde sind die Anforderungen an das Eurosystem als einer Ordnungsmacht, die der EWU den Status einer Stabilitätsgemeinschaft erhält und mittels der gemeinsamen Währung im Binnenmarkt die wettbewerbliche Vernetzung dauerhaft sichert, extrem hoch. Ist Raum für Optimismus, daß die institutionellen Grundlagen und das Vertrauenskapital vorhanden sind, daß der Euro seine „Ordnungspotenz" (Schüller 2000) ausspielen kann?
III. Institutionelle Stützpfeiler des Eurosystems Mit institutionellen Stützpfeilern sind die Regeln und Ausgangsbedingungen für das geldpolitische Handeln des Eurosystems und seines Beschlußorgans, des EZBRats, gemeint. Diese betreffen vor allem die geldpolitische Zielsetzung, die Kompetenzen, interne Abstimmungsverfahren und die Kommunikation mit der Öffentlichkeit.
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1. Zielbindung und Handlungsmöglichkeiten Das vorrangige Ziel des Eurosystems ist, Preisstabilität zu gewährleisten. Der Begriff Preisstabilität findet sich explizit in Art. 105 EG-Vertrag. Gemeint ist nicht die Stabilität von Einzelpreisen, sondern die einer gewichteten Durchschnittsgröße, also Preisniveaustabilität. Der gewogene Durchschnitt bezieht sich auf den gesamten Euroraum, nicht auf einzelne Mitgliedsländer. Nur soweit es ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist, soll das Eurosystem die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EU unterstützen (Art. 105 EG-Vertrag und Art. 2 der Satzung des ESZB und der EZB). Die Zielvorgabe ist somit deutlicher als etwa die des Federal Reserve Systems der USA, das neben der Preisstabilität zugleich auch Beschäftigungs-, Wachstums- und Zinsziele zu verfolgen hat. Besteht in bezug auf die Vorgabe des Ziels Preisstabilität Abhängigkeit, so ist das Eurosystem in instrumenteller Hinsicht unabhängig. Die EZB und die nationalen Zentralbanken sind in ihren Entscheidungen von Weisungen der sonstigen Träger der Wirtschaftspolitik auf nationaler wie auch auf Gemeinschaftsebene unabhängig. Bei der Wahl der Mittel ist jedoch einschränkend zu berücksichtigen, daß das Eurosystem nach Art. 105 EG-Vertrag im Einklang mit den Grundsätzen einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb zu handeln hat. Marktwidrige Instrumente wie etwa quantitative Beschränkungen der Kreditvergabe dürfen somit nicht eingesetzt werden (Schwarze 2000, 1294). Ökonomisch läßt sich die langfristige Vorteilhaftigkeit einer unabhängigen Zentralbank mit ihrer Ordnungsfunktion begründen. Dies läßt sich leicht mit Rückgriff auf die von der /Vz/////«-Kurven-Diskussion her geläufige Annahme eines kurzfristigen „trade-off zwischen Inflation und Beschäftigung verdeutlichen. Inflation bewirkt nach diesen Vorstellungen über vorübergehend sinkende Reallöhne kurzfristig positive Beschäftigungseffekte (Nutzenvorteile). Mittel- bis langfristig kommt es hingegen zu negativen Beschäftigungseffekten, da einerseits der Reallohnvorteil verloren geht, andererseits die Kosten der Inflation in Form von Wachstums- und damit auch Beschäftigungseinbußen zur Geltung kommen (Nutzeneinbußen). Solche Kosten können etwa in Form von Verzerrungen der relativen Preise entstehen, die zu einer Beeinträchtigung der Informations- und Lenkungsfunktion der Preise und damit der marktwirtschaftlichen Ordnung führen. Kosten können auch in Form von hohen Inflationsrisikoprämien anfallen, die ein entsprechend hohes langfristiges (Real-)Zinsniveau und damit tendenziell eine niedrigere Investitionstätigkeit nach sich ziehen. Zu denken ist schließlich an den realen Ressourcenverbrauch zur Absicherung gegen Inflation, an anreizschädliche Verzerrungseffekte durch das Steuer- und Sozialsystem sowie an Umverteilungseffekte. Welche Politik in einem Land betrieben wird, hängt davon ab, wie die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger und letztendlich die Wähler die Nutzenvorteile in der Gegenwart und die Nutzeneinbußen in der Zukunft gewichten. Bei politisch abhängigen Zentralbanken ist die Haltung der jeweiligen Regierung bestimmend. Ausschlaggebend für deren Verhalten sind neben parteipolitisch motivierten Sicht-
42 · Egon Görgens weisen vor allem die Wiederwahl-Interessen, was eher eine Kurzfristorientierung nahe legt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil (NJW 1993, 3056) in bemerkenswerter Deutlichkeit damit die Beschneidung staatlicher Hoheitsgewalt begründet: „Die Verselbständigung der meisten Aufgaben der Währungspolitik bei einer unabhängigen Zentralbank löst staatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parlamentarischer Verantwortlichkeit, um das Währungswesen dem Zugriff von Interessengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandatsträger zu entziehen." Überläßt man geldpolitische Entscheidungen Politikern (oder einer dem Finanzministerium unterstellten Zentralbank), werden sie zu diskretionären Maßnahmen greifen und dabei kaum der Versuchung widerstehen können, durch eine Überraschungsinflation Wachstums- und Beschäftigungserfolge zu erzielen - auch wenn am Ende nur die Kosten der Inflation bleiben. Bei politisch unabhängigen Zentralbanken tragen diese selbst die Verantwortung für die Geldpolitik. Da - der Theorie des Verhaltens von Bürokratien folgend - auch Zentralbanken ihren Nutzen maximieren, der Nutzen hier aber im wesentlichen in Ansehen und Macht besteht, wird die Anreizstruktur für Zentralbanker eher auf das (mittel- bis langfristige) Ziel der Preisniveaustabilität ausgerichtet sein. Reputationsgewinne bei Geldwertstabilität, lange Amtsperioden sowie finanzielle Anreize wirken hier tendenziell auf eine Langfristorientierung, d. h. auf eine Politik der Inflationsvermeidung hin. 8 Empirische Untersuchungen zeigen einen engen Zusammenhang zwischen Unabhängigkeit und Preisstabilität (siehe etwa Alesina und Summers 1993; Brumm 2000). Dies läßt den Schluß zu, daß in der Vergangenheit die Gesellschaften, die der Geldwertstabilität eine hohe Priorität beigemessen haben, die Verfolgung des Ziels der Inflationsvermeidung in die Hände einer unabhängigen Zentralbank gelegt haben. Wie bereits erwähnt, ist die gesellschaftliche Verankerung entscheidend: Die Zentralbank kann eine auf Geldwertstabilität zielende Politik auf Dauer nur dann betreiben, gegebenenfalls also auch auf Konfliktkurs zur Finanz-, Lohn- und Sozialpolitik gehen, wenn sie dabei von der Bevölkerung unterstützt wird, wenn also in breiten Kreisen der Bevölkerung eine Präferenz für stabiles Geld besteht. Die formale Unabhängigkeit des Eurosystems reicht nicht. Hinzukommen muß eine Stabilitätskultur in den einzelnen Teilen des Euroraumes. Wesentliche Erfolgsbedingungen wurden mit der institutionellen, personellen, finanziellen und funktionellen Unabhängigkeit des Eurosystems geschaffen. Kernstück der institutionellen Unabhängigkeit ist die Freiheit der nationalen Zentralbanken sowie der EZB und ihrer Beschlußorgane von Weisungen Dritter (ζ. B. von der Regierung und vom Parlament). Die personelle Unabhängigkeit soll nicht zuletzt durch die Amtszeit abgestützt werden: So beträgt die Amtszeit des Präsidenten der EZB acht Jahre. Grundsätzlich gilt dies auch für die übrigen Mitglieder des Direktoriums der 8
Dieser in der Literatur (siehe etwa Bofinger et al. 1998, 146-150; Caesar 2000, 79, 83 f.: Mishkin und Eakins 2000, 198 f.) vorherrschenden und als Tendenzaussage durchaus zutreffenden Ansicht soll dennoch eine einschränkende Fußnote hinzugefügt werden. Auch eine unabhängige Zentralbank kann - wie die Deutsche Bundesbank Ende der siebziger Jahre - dem Reiz kurzfristiger Konjunkturpolitik erliegen. Um so wichtiger ist deshalb der eindeutige Zielvorrang der Preisstabilität.
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EZB. Die Präsidenten der nationalen Zentralbanken werden von den jeweils in den einzelnen Ländern dafür zuständigen Stellen, die Mitglieder des EZB-Direktoriums durch die Staats- und Regierungschefs der teilnehmenden Mitgliedstaaten einvernehmlich ernannt. In finanzieller Hinsicht sollen die Zentralbanken in der Lage sein, sich selbst mit den erforderlichen Mitteln auszustatten, um die ordnungsgemäße Erfüllung ihrer Aufgaben im Rahmen des Eurosystems sicherzustellen. Funktionelle Unabhängigkeit schließlich besagt, daß die Zentralbanken des Eurosystems vorrangig auf das Ziel der Preisstabilität ausgerichtet sind. Sonstige Funktionen dürfen sie nur insoweit wahrnehmen, als sie nicht mit dem Ziel der Preisstabilität unvereinbar sind. Mit diesen vier Säulen der geldpolitischen Autonomie des Eurosystems sind also wichtige Barrieren gegen (wirtschafts-)politische Durchkreuzungsversuche einer stabilitätsorientierten Geldpolitik errichtet worden. Erfolgsgarant ist die Unabhängigkeit freilich nicht. Weder ist völlig klar, was das vorgegebene Ziel Preisstabilität genau bedeutet, noch kann (auf Dauer) stabilitätskonformes Verhalten der Mitglieder der Beschlußorgane als gesichert gelten. Und schließlich: Es genügt nicht, daß das Eurosystem einen Stabilitätskurs verfolgen will, ihm muß diese uneingeschränkte Zielsetzung auch geglaubt werden. Fehlt diese Glaubwürdigkeit, werden sich selbstbestätigende Inflationserwartungen aufbauen. Die mit der Zielabhängigkeit des Eurosystems verbundene Vorstellung eines der Geldpolitik vertraglich klar vorgegebenen Ziels wäre eine Vereinfachung, denn die Operationalisierung der Zielgröße obliegt dem Eurosystem selbst. Sie wurde dergestalt vorgenommen, daß ein Anstieg des harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) in der E W U von unter 2 % gegenüber dem Vorjahr noch als mit Preisstabilität vereinbar gilt. Diese Quantifizierung ist zwar theoretisch nicht ohne Willkür, sie entspricht aber einer unter Zentralbanken mittlerweile „üblichen" Zielbestimmung. Die Definition des Eurosystems bezieht sich auf den allgemeinen Verbraucherpreisindex. Es werden nicht bestimmte Teile zur Berechnung einer Kerninflationsrate („Core Inflation") herausgerechnet. In diese Richtung gehende Forderungen zur Relativierung der Zielgröße (etwa Bereinigung um Rohölpreissteigerungen und Nahrungsmittelpreissteigerungen im Gefolge von Rinderwahnsinn und Maul- und Klauenseuche), um damit Raum für eine Lockerung der Geldpolitik zu gewinnen, wurden bislang abgelehnt. 9 Sondereinflüssen wird jedoch dadurch Rechnung getragen, daß Preisstabilität mittelfristig eingehalten werden soll. Temporäre Verfehlungen der Bandbreite von 0 % bis 2 % sind also zulässig. Aufweichungstendenzen des aggregierten Preisstabilitätsziels könnten auch durch regional unterschiedliche Entwicklungen begünstigt werden. Nach dem BalassaSamuelson-Effekt können j e nach nationaler Produktivitätsentwicklung im Sektor der handelbaren und nicht-handelbaren Güter mehr oder weniger deutliche Inflationsunterschiede bestehen. Für ärmere Länder würde danach gleichsam im Sinne eines
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Allerdings hat die E Z B im Monatsbericht Juli ( 2 0 0 1 c ) Berechnungen zur Kerninflation vorgelegt. O b sich damit ein Konzeptionswandel hin zur A u f w e i c h u n g der Stabilitätsnorm andeutet, bleibt abzuwarten.
44 · Egon Görgens Aufholprozesses mit höheren Inflationsraten als in den fortgeschritteneren Ländern zu rechnen sein. 10 Ob Inflationsunterschiede zwischen Irland (5,3 %) und Frankreich (1,8 %) im Jahre 2000 von 3,5 Prozentpunkten dem Balassa-Samuelson-Effckt zuzuschreiben und/oder Niederschlag unterschiedlicher konjunktureller Entwicklung sind, ändert nichts an dem grundsätzlichen Problem: Die einheitliche Geldpolitik des Eurosystems kann sich nur auf die Inflationsrate in der gesamten EWU beziehen. Sie kann nicht zugleich regionale Preisentwicklungen berücksichtigen oder sogar versuchen, diese zu beeinflussen. Solange die nationalen Inflationsraten einiger Länder deutlich über 2 % liegen, müssen andere zur Kompensation Preissteigerungsraten unter 2 % aufweisen. Damit stellt sich die Frage, ob nicht die EWU-Inflationsrate von 2 % zu ehrgeizig ist, da sie für einige (fortgeschrittenere) Länder Deflationsgefahren heraufbeschwören könnte. Über die Relevanz einer Deflationsgefahr soll hier nicht spekuliert werden. Die großen Inflationsunterschiede - weitaus größer als Simulationsrechnungen im Vorfeld der EWU vermuten ließen (siehe etwa Alberola-Ila und Tyrväinen 1998) - machen jedoch auf mögliche Auseinandersetzungen bei den geldpolitisch verantwortlichen Instanzen sowie auf einen von der politischen Ebene ausgehenden Druck auf das Eurosystem aufmerksam (Remsperger 2001, 6). Dieser Druck, das Stabilitätsziel aufzuweichen, könnte im Zuge der Erweiterung der EWU um die aufholenden Volkswirtschaften Mittel- und Osteuropas noch an Brisanz zunehmen. Eindeutigkeit und Vorrangigkeit des Ziels Preisstabilität erweisen sich bei näherem Hinsehen als durchaus anfälliger, als vordergründige Hinweise auf seine Verankerung in Statuten suggerieren. Sicher ist keineswegs, daß auf mittlere und längere Sicht durch inhaltliche Neuinterpretation der Zielgröße und Änderung des Zeithorizonts die Geldpolitik nicht andere Ziele der Wirtschaftspolitik zu Lasten der Preisstabilität verfolgt.
2. Konfliktpotentiale auf der Entscheidungsebene Selbstverständlich kann dieser skeptischen Einschätzung die Frage entgegengehalten werden, warum das Eurosystem durch weiche Stabilitätsinterpretationen (die Schaffung von) Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen sollte. Eine der Ursachen hierfür kann in der - anders als bei nationalen Zentralbanken - größeren Heterogenität der Entscheidungsträger des Eurosystems gesehen werden. Geldpolitische Beschlüsse des EZB-Rates benötigen die einfache Mehrheit der persönlich anwesenden Mitglieder, wobei jedes Mitglied über eine Stimme verfügt. (Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Präsidenten der EZB den Ausschlag). Zur Zeit besteht der EZB-Rat aus den sechs Mitgliedern des Direktoriums sowie den zwölf Präsidenten der nationalen Zentralbanken. Im Übergewicht der nationalen Zentralbanken kommt eine starke re10 In den ärmeren Ländern mit typischerweise geringerer Produktivität und niedrigeren Preisen kommt es im g e m e i n s a m e n Währungsraum im Sektor handelbarer Güter zu (aufholenden) Produktivitäts- und Lohnsteigerungen. Letztere schlagen auf den Sektor nicht-handelbarer Güter durch. Da die Lohnkostenerhöhung hier nicht durch einen entsprechenden Produktivitätsanstieg gedeckt ist, kommt es zu Preissteigerungen.
Konturen einer europäischen Geldpolitik · 45 gionale Verankerung zum Ausdruck. Hierfür sprechen durchaus gewichtige Gründe. Gerade weil die Geldpolitik nicht regionalisierbar ist, sondern sich an gewogenen Durchschnittsgrößen zu orientieren hat, ist die Einspeisung von Informationen auch über die „Gewichte", also über die ökonomische Entwicklung in den Mitgliedsländern, für den Entscheidungsprozeß erforderlich. Zugleich dienen die nationalen Zentralbanken - und ihre Unterorganisationen - als Mittler geldpolitischer Entscheidungen auf regionaler Ebene. Schließlich kann von der Einbindung der nationalen Zentralbanken ein „Wettbewerb der Ideen" erwartet werden, der Effizienz und innovatives Denken des Eurosystems begünstigt (Padoa-Schioppa 2000, 36). Gleichwohl ist zu fragen, ob mit dem starken Übergewicht der nationalen Zentralbankpräsidenten gegenüber dem Direktorium die gemeinsame europäische Perspektive nicht zu kurz kommen wird. Zudem dürfte die bisherige Konstruktion des EZBRates im Zuge der EU-Erweiterung und damit wohl später auch einer entsprechenden Ausweitung des Euro-Währungsraumes schon größenbedingt bald an Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit stoßen. Für eine spätestens dann anstehende Reform dieses Gremiums dürfte die Zusammensetzung des Federal Open Market Committee (FOMC), des geldpolitischen Entscheidungsgremiums des Federal Reserve Systems (FED) in den USA, aufschlußreich sein." Dem F O M C gehören die sieben Mitglieder des Board of Governors (etwa vergleichbar mit den Mitgliedern des Direktoriums der EZB) und der Präsident der Federal Reserve Bank von New York an. Von den restlichen elf Präsidenten der Federal Reserve Banks haben nur jeweils vier Stimmrecht, wobei ein Wechsel in jährlichem Rhythmus erfolgt. Unbeschadet der Frage des Stimmrechtes nehmen aber alle Präsidenten der Federal Reserve Banks an den Sitzungen und an den Diskussionen des F O M C teil. Diese Kompetenzregelung des FED gilt seit der Reform von 1935. Um die Geldpolitik zu vereinheitlichen und gesamtstaatlich auszurichten, wurde mit der Reform zugleich die Offenmarktpolitik in die Verantwortung des F O M C gelegt und der Einfluß der Federal Reserve Banks im F O M C beschnitten, so daß nun die Mitglieder des Board of Governors die Mehrheit haben. Im Gegensatz zum FED, bei dessen Gründung im Jahre 1913 die einzelnen Federal Reserve Banks-Distrikte wirtschaftlich - gemessen am BIP-Anteil - in etwa gleich groß waren, bestehen im Eurosystem gravierende Unterschiede in der wirtschaftlichen Bedeutung der einzelnen Mitgliedstaaten. Wirtschaftliches Gewicht in den EWU-Durchschnittsgrößen und Stimmengewicht fallen weit auseinander. Man kann die Regelung des Stimmrechts im EZB-Rat im Interesse einer „Entnationalisierung der Geldpolitik" als Vorteil ansehen. Man sollte jedoch den Zündstoff nicht übersehen, der aus dem gleichen Stimmengewicht etwa Luxemburgs und Deutschlands erwachsen kann, wenn zugleich eine Landeszentralbank wie beispielsweise die Landeszentralbank im Freistaat Bayern über die Deutsche Bundesbank allenfalls ei-
11 Zu einer instruktiven vergleichenden Analyse von Eurosystem und Federal Reserve System in institutioneller, geldpolitisch-strategischer und instrumentell-operativer Hinsicht siehe Ruckriegel und Seitz (2002).
46 • Egon Görgens nen marginalen Einfluß auf die europäische Geldpolitik hat. 12 Diesem Konflikt ließe sich gewissermaßen mit einer Flucht nach vorn dadurch begegnen, daß im Zuge der bevorstehenden Erweiterung der Mitgliedstaaten der Währungsunion auch eine Änderung des Abstimmungsverfahrens im EZB-Rat eingeführt wird. Das Abstimmungsverfahren ließe sich so umgestalten, daß im EZB-Rat die Stimmen der Vertreter des Direktoriums der EZB dem Stimmengewicht der übrigen Mitglieder entsprechen. Damit könnte bereits institutionell eine Ausrichtung der Geldpolitik am Euroraum insgesamt stärker verankert werden. 1 3 Zu entscheiden wäre dann über die Anzahl der stimmberechtigten Präsidenten der nationalen Zentralbanken. Zwangsläufig stellt sich dann auch die Frage, ob manche Länder ständig einen stimmberechtigten Vertreter im EZB-Rat haben, ob ein Rotationsverfahren nach US-amerikanischem Muster eingefühlt wird oder ob Ländergruppen mit jeweils nur einem stimmberechtigten Vertreter im EZB-Rat gebildet werden. Im EZB-Rat scheint das Rotationsmodell favorisiert zu werden (Deutsche Bundesbank 2001b, 20).
IV. Glaubwürdigkeit des Eurosystems und geldpolitische Effizienz Im Vorfeld der E W U ist eine Reihe von institutionellen, personellen und konzeptionellen Vorkehrungen geschaffen worden, um das Eurosystem durch eine konsequent auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik zu einem marktwirtschaftlichen Ordnungsfaktor werden zu lassen: Außer den bereits behandelten Schwachstellen soll hier noch ein Punkt näher erörtert werden, und zwar die Glaubwürdigkeit des Eurosystems, und was es selbst dazu beizutragen vermag. Es bedarf keiner näheren Begründung, daß eine Zentralbank, deren Glaubwürdigkeit, elementare Funktionsbedingungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung sicherzustellen, in Frage gestellt wird, kaum als verläßliche Stütze eben dieser Ordnung anerkannt werden dürfte. Für die Glaubwürdigkeit ist Transparenz im geldpolitischen Handeln maßgeblich. Ohnedies unvermeidliche Informationsunvollkommenheiten würden noch gesteigert, wenn das Eurosystem statt einer grundsätzlich an Regeln orientierten Geldpolitik einen rein diskretionären Kurs verfolgte. Unstetigkeit verursacht Mißtrauen des privaten Sektors und kann deshalb den „normalen" Transmissionsprozeß monetärer Impulse verzerren. Wenn das Eurosystem z.B. auf kurzfristige Geldmengenänderungen, die aus (verbreiteten) kurzfristigen Schwankungen der Geldnachfrage resultieren, zinspolitisch gegensteuernd reagiert, so wäre dies der Transparenz nicht nur nicht 12 Es erscheint keineswegs sicher, daß nationale Sichtweisen im EZB-Rat stärker hintangestellt werden als regionale auf nationaler Ebene. Zu letzteren sei an den erbitterten Kampf der (meisten) Landeszentralbankpräsidenten um Erhalt ihres Einflusses auf die Deutsche Bundesbank erinnert (siehe beispielsweise Eggert 2001). 13 In Nizza (Dezember 2000) wurde vereinbart, eine Ermächtigungsklausel für eine vereinfachte Änderung des Abstimmungsverfahrens im EZB-Rat aufzunehmen. Die Entscheidung über eine Änderung des Abstimmungsverfahrens trifft der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs einstimmig auf Empfehlung der EZB bzw. der EU-Kommission. Sie muß von den Mitgliedstaaten gemäß ihren nationalen verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert werden (Deutsche Bundesbank 2001a, 18).
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dienlich, sondern könnte selbst Instabilitäten erzeugen, die zur Verfehlung der Preisstabilität führen. Ein Beitrag zur Transparenz der Geldpolitik des Eurosystems und darüber zu seiner Glaubwürdigkeit kann daher in der quantitativen Definition von Preisstabilität, der Ankündigung eines Referenzwertes für das Geldmengenwachstum (derzeit 4ιΛ % für M3) und der gleichzeitigen Zusage gesehen werden, die Ursachen möglicher Abweichungen der tatsächlichen Entwicklung in monatlichen Bulletins und Pressekonferenzen zu begründen. Bei den personellen Entscheidungen schließlich vermag die persönliche Unabhängigkeit der Mitglieder des EZB-Rats bereits ein Stück Glaubwürdigkeit zu begründen. Nicht zu vernachlässigen ist auch eine Kontinuität sichernde Gestaltung der Amtszeit der Mitglieder des EZB-Rats. Mit diesen Entscheidungen scheinen also wesentliche Vorbedingungen für ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit des Eurosystems und insoweit auch für eine erfolgreiche stabilitätsorientierte Geldpolitik erfüllt zu sein. Gleichwohl zählt zu den wichtigsten Kritikpunkten an der bisherigen Tätigkeit der EZB der der unzureichenden Transparenz in informationeller und konzeptioneller Hinsicht, aber auch hinsichtlich des Entscheidungsprozesses. Erinnert sei beispielsweise an die heftige Auseinandersetzung zwischen Buiter{ 1999) und Issing (1999) sowie an die kritische Kommentierung der Geldpolitik des Eurosystems durch die sog. „ECB-Watcher". Auch wenn die verschiedenen Kritiker keineswegs eine homogene Gruppe bilden, so gibt es doch einen gemeinsamen Nenner: Die geldpolitische Effizienz (Sicherung der Preisstabilität) wird durch Glaubwürdigkeitsdefizite beeinträchtigt, die ihrerseits auf unzulänglicher Transparenz und unklarer Verantwortlichkeit beruhen.
1. Transparenz der Geldpolitik im Umfeld der Unsicherheit Allgemein wird davon ausgegangen, daß Offenheit und Nachvollziehbarkeit geldpolitischer Entscheidungen im Interesse der Beteiligten liegen. Elementare Bestandteile einer transparenten Geldpolitik sind neben der eindeutigen Definition des Endziels Klarheit über die geldpolitische Konzeption und Strategie, Veröffentlichung von entscheidungsrelevanten Informationen und die schlüssige Begründung der Entscheidung (Deutsche Bundesbank 2000, 15). Abgesehen von den oben bereits vorgenommenen Abstrichen an der Eindeutigkeit von Preisstabilität, besteht Transparenz über die Zielgröße insoweit, als dem Eurosystem die Sicherung der Preisstabilität zweifelsfrei als Primärziel vorgegeben ist. Unklarheiten wegen einer fehlenden Rangordnung von Preisstabilitäts-, Beschäftigungs- und Zinszielen wie in den USA gibt es nicht. Weniger Klarheit besteht hingegen über die Strategie. So läßt sich bemängeln, daß an Stelle eines Geldmengenziels ein weniger bindender Referenzwert bekannt gegeben wird. Andererseits wurde allerdings auf das „Sicherheitspolster" eines Korridors für das angestrebte Geldmengenwachstum verzichtet. Gewichtiger erscheint, daß mit der Zwei-Säulen-Strategie die Geldmengenorientierung durch eine zweite Säule relativiert wurde. Diese zweite Säule beruht auf einer Beurteilung der Inflationsaussich-
48 · Egon Görgens ten anhand mehrerer Indikatoren. Intransparenz kann daraus erwachsen, daß Geldmengenentwicklung einerseits und Inflationsaussichten andererseits widersprüchliche Signale in sich bergen können. Daß, wie in der Vergangenheit geschehen, ein Überschreiten des Referenzwertes der Geldmengenentwicklung in einem Falle restriktive geldpolitische Maßnahmen auslöst, in einem anderen Falle aber nicht, ist für die Öffentlichkeit in der Tat schwer nachvollziehbar. Zudem sind für die Öffentlichkeit die Inflationsprojektionen, die dem EZB-Rat mit als Informationsgrundlage dienen, kaum transparent. Diese Projektionen werden von Experten des Eurosystems erstellt und kombinieren ökonometrische Modelle mit nicht modellgestützten Expertenurteilen. Mit der Berücksichtigung einer Vielzahl ökonometrischer Modelle, institutioneller Faktoren sowie spezifischer sektoraler oder regionaler Informationen ergibt sich jedoch eine wenig durchschaubare, wenn auch schwerlich vermeidbare, Komplexität. Hinzu kommt die unbestimmte geldpolitische Rolle der Projektionen. Sie sollen „nur" Expertenschätzungen des Eurosystems, nicht aber eine Inflationsprognose des geldpolitisch verantwortlichen Gremiums, also des EZB-Rats sein. Da den Expertenurteilen unveränderte Zinssätze und Wechselkurse zugrunde liegen, handelt es sich um bedingte Prognosen. Die tatsächliche Preisentwicklung, die Gegenstand einer Inflationsprognose wäre, kann aber durch geldpolitische Maßnahmen, die Zinssätze und Wechselkurse direkt oder indirekt verändern, einen anderen Verlauf nehmen. Da die Projektionen in der Verantwortlichkeit der Experten von EZB und nationalen Zentralbanken, nicht aber des EZB-Rats stehen, können sie auch deshalb nicht im Sinne eines geldpolitischen Inflationsziels wie im Rahmen der Strategie des „inflation targeting" interpretiert werden. Inwieweit die Projektionen über die Bedeutung lediglich einer von vielen anderen Informationsquellen für die geldpolitische Entscheidungsfindung hinausgehen, bleibt unklar. Nach dem Konzept der EZB sollen für sich genommen weder die Geldmengenentwicklung im Sinne eines Zwischenziels noch die Beurteilung der Inflationsaussichten die Geldpolitik bestimmen (EZB 2000, 45, 51). Die Geldpolitik soll vielmehr auf der Gesamtschau beider Säulen beruhen. Auch wenn die EZB die Eigenständigkeit und Adäquanz der Zwei-Säulen-Strategie hervorhebt, ergeben sich aus der Kombination von Geldmengen- und Inflationsprognoseelementen naturgemäß Intransparenzen. Befürworter einer an Geldmengenzielen ausgerichteten Geldpolitik werden die Hinnahme von Abweichungen vom Referenzwert bei der Zwei-SäulenStrategie für intransparent halten. Entsprechendes gilt für Anhänger von Inflationszielen, denen deren „inkonsequente" Verfolgung bei der Zwei-Säulen-Strategie als intransparente Geldpolitik erscheint. Abhängig von der jeweils favorisierten Strategie und den spezifischen Informationsinteressen werden die Informationen der EZB über die Zwei-Säulen-Strategie einerseits als unzureichend und andererseits als zu komplex kritisiert (Winkler 2000, 8). Die Klage über Intransparenz ist hier letztlich Folge eines Dissenses auf der theoretischen Ebene. Gegenüber der im Kern verständlichen Kritik mangelnder Transparenz ist jedoch zu bedenken, daß sie teilweise kaum behebbar ist. So weist die EZB (2001a, 47-61) zu Recht darauf hin, daß die geldpolitischen Entscheidungen in einem Umfeld erheb-
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licher Unsicherheit über die aktuelle und zukünftige Wirtschaftslage und über ihre Wirkungsweise zu treffen sind. Diese Unsicherheiten betreffen die Qualität und Verfügbarkeit von Informationen über die wirtschaftliche Entwicklung, die für Transmissionsmechanismen der Geldpolitik relevanten strukturellen Beziehungen und schließlich die aus den wechselseitigen Beziehungen zwischen Zentralbanken und privaten Akteuren resultierenden Erwartungen und Verhaltensweisen. Angesichts solcher Daten-, Parameter- und Modellunsicherheiten ist festzuhalten, daß die der Intransparenz geziehenen geldpolitischen Handlungsträger offenbar selbst einem Transparenzproblem gegenüberstehen. Das Eurosystem müßte mithin Transparenz für etwas schaffen, was es selbst nur unzureichend kennt. Transparenz bei der Durchführung der Geldpolitik mittels Publikation von mehr Informationen durch die Zentralbank kann durchaus ein zweischneidiges Schwert sein (siehe Morris und Shin 2000). Möchte die Zentralbank bestimmte Verhaltensweisen induzieren und ist sie alleinige Quelle der Informationen, wird deren Publikation für die privaten Akteure handlungsleitend sein. Je präziser diese Informationen, desto wirksamer die Geldpolitik. Bestehen jedoch - wie in der realen Welt - mit Finanzmarktanalysten und Wirtschaftskommentatoren auch private Informationsquellen, konkurrieren diese mit den „amtlichen" (der Zentralbank). Möglicherweise werden letztere durch - genauere - private sogar verdrängt. Je besser der private Sektor bereits aus privaten Quellen informiert ist, desto höher sind die Genauigkeitsanforderungen an weitergehende „amtliche" Informationen. Besteht kein Verlaß auf höhere Genauigkeit, können weitergehende Informationen durch die Zentralbank kontraproduktiv sein. Allen Kritikern, die ein Transparenzdefizit bemängeln, wird es der EZB-Rat nicht Recht machen können. Einerseits steigert höhere Transparenz nicht notwendigerweise die Effizienz der Geldpolitik. Andererseits ist das Verständnis von Transparenz und den Zwecken, denen sie dienen soll, sehr heterogen. Perfekte Informationen sind nicht möglich und diesbezügliche Transparenzforderungen deshalb nicht einlösbar. Zudem ist zu beachten, daß mehr Information nicht notwendigerweise mehr Transparenz bedeutet. Informationen sind immer zu interpretieren im Lichte bestimmter Theorien. Solange kein Konsens über die „richtige" ökonomische Theorie besteht, sind Informationen immer mehr oder weniger intransparent. Mehr Informationen und höherer Präzisierungsgrad garantieren angesichts eines unterschiedlichen theoretischen Vorverständnisses und unterschiedlicher nationaler Erfahrungen keineswegs ein allgemein besseres Verstehen des Kurses der für die Mitgliedsländer der EWU einheitlichen Geldpolitik. Bei diesen Heterogenitäten erscheint es sinnvoll, daß die Zentralbank Transparenz in dem Sinne schafft, daß sie das Publikum von der Angemessenheit ihrer Entscheidungen zu überzeugen versucht (siehe hierzu Winkler 2000). Transparenz bezieht sich hier „nur" auf die wirksame Kommunikation über den geldpolitischen Entscheidungsprozeß. Ebensowenig wie sich im Detail die Komplexität der Entscheidungsgrundlagen (schriftlich) vermitteln läßt, kann auch keine vollständige Transparenz über den geldpolitischen Entscheidungsprozeß geschaffen wer-
50 · Egon Görgens den. Angesichts der Vielfalt von Daten, Beurteilungen, Präferenzen und Entscheidungsverfahren ist ein Rest von „black box" oder „grey box" unvermeidbar. Dies gilt für das Verstehen durch das Publikum gleichermaßen wie für das Entscheiden durch die Zentralbank. Transparenz kann hier als Ergebnis eines Kommunikationsprozesses angesehen werden und meint letztlich gemeinsames Verstehen, „eine gemeinsame Sprache", von Publikum und Zentralbank. Klarheit und Ehrlichkeit 14 in der Präsentation und Interpretation von Informationen sind hierzu unerläßlich. Wenn Zentralbanken generell und das Eurosystem angesichts der spezifischen Ausgangsbedingungen im besonderen in einem Umfeld der Unsicherheit handeln (müssen), stellt sich die Frage nach der unter solchen Bedingungen optimalen Geldpolitik. Empirische Beobachtungen zeigen, daß Zentralbanken bei Zinsänderungen weithin zu vorsichtigem Vorgehen in kleinen Schritten neigen (Goodhart 1999, 108). Bei Unsicherheit ist ein derartiges Verhalten intuitiv plausibel. Modelltheoretische Analysen zeigen jedoch die Möglichkeit auf, daß aggressivere anstatt vorsichtiggraduelle Reaktionen der Geldpolitik auf beispielsweise Nachfrageschocks dem Optimalitätsanspruch eher gerecht werden können (siehe etwa Söderström 2000). Wenn die Zentralbanken im allgemeinen gleichwohl den (theoretisch) „suboptimalen" Weg beschreiten, kann hierfür verantwortlich sein, daß zu den Daten-, Modell- und Parameterunsicherheiten noch eine weitere Unsicherheit tritt: die durch die Geldpolitik selbst erzeugte Unsicherheit. Auch wenn nicht auszuschließen ist, daß entschlossenere Zinsschritte in bestimmten Situationen (etwa im Falle andauernder Inflationserfahrungen) Unsicherheit über Kurs und Folgen der Geldpolitik besser abzubauen vermögen als vorsichtig-graduelle Zinsänderungen, aus der Sicht der Zentralbanken erscheint die Befürchtung nicht unbegründet, daß aggressiveres Vorgehen mehr zur Verunsicherung beiträgt. Hinzu kommt ein möglicher Glaubwürdigkeitsverlust. Vorsichtig-graduelles Vorgehen kann sich als zu spät und zu schwach, aggressives Vorgehen als überzogen erweisen. Im ersten Falle müßte in kleinen Schritten „nachgebessert", im zweiten Falle eine Richtungsänderung eingeschlagen werden. (Häufige) Richtungswechsel können von den Marktteilnehmern jedoch als Zeichen verstanden werden, die Zentralbank habe die Geldpolitik nicht unter Kontrolle, was der Glaubwürdigkeit abträglich ist. Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig die Kommunikation mit der Öffentlichkeit über die Angemessenheit des geldpolitischen Kurses ist. Zu den angemahnten Defiziten im Kommunikationsprozeß gehört auch die (unerfüllte) Forderung nach Veröffentlichung der Protokolle der EZB-Ratssitzungen. Diese Forderung, die auch eine Folge der Unabhängigkeit ist, die vielen Zentralbanken in den letzten Jahren zugestanden wurde, wird von einzelnen Zentralbanken durchaus erfüllt (siehe Deutsche Bundesbank 2000; Eijffinger und Hoeberichts 2000, 8). Der EZB-Rat hat jedoch, auf die Besonderheiten des Eurosystems als supranationale Institution verweisend, dagegen entschieden. Es wird befürchtet, daß mit der Veröffentlichung des Abstimmungsverhaltens einzelner Mitglieder Interessen einer Renationalisierung der Geldpolitik Vorschub geleistet werden könnte. Die nationalen 14 „Eine Zentralbank sollte sagen, was sie tut, und tun, was sie sagt" (EZB 2 0 0 1 b , 67).
Konturen einer europäischen Geldpolitik • 51 Regierungen könnten im Sinne nationaler Interessen Druck auf „ihre" EZB-Ratsmitglieder auszuüben versuchen. Ob die Effizienz der Geldpolitik durch eine Veröffentlichung der Einzelvoten anstatt des Mehrheitsvotums steigt, ist unsicher. Einerseits wird die individuelle Zurechenbarkeit als vorteilhaft herausgestellt (Buiter 1999), weil in diesem Falle die individuelle geldpolitische Kompetenz deutlich würde. Dies könnte zugleich als Ansporn wirken, da die beruflichen Aussichten nach Ablauf der Amtszeit hierdurch maßgeblich beeinflußt werden. Wettbewerbsdruck durch Veröffentlichung des Abstimmungsverhaltens kann die Kompetenz des Zentralbankrats insgesamt erhöhen. Andererseits wird befürchtet, daß weniger sachkundige Zentralbanker, um nicht als solche erkannt zu werden, geldpolitische Vorschläge machen, die sie von besonders sachkundigen Zentralbankern erwarten. Da - wegen ihrer Unkenntnis - die Irrtumswahrscheinlichkeit 50 Prozent beträgt, steigt die Wahrscheinlichkeit schlechter geldpolitischer Entscheidungen im Vergleich zur kollektiven Verantwortlichkeit, wo die weniger fähigen Mitglieder des Zentralbankrats der Abstimmung fernbleiben könnten (Gersbach und Hahn 2001, 3).
2. Demokratische Legitimation und Verantwortlichkeit Beim bislang erörterten Ast der Transparenzdiskussion stand die Effizienz der Geldpolitik im Vordergrund. Ein anderer Strang der Kritik betrifft die demokratische Rechenschaftslegung, deren Reichweite und die Frage nach der endgültigen Verantwortung für die Geldpolitik. Die Ausprägung der institutionellen Arrangements ist allerdings nicht nur eine Frage des demokratischen Selbstverständnisses, sondern hat ihrerseits wiederum Folgen für die Effizienz der Geldpolitik im Sinne der Erreichung des Primärziels der Preisstabilität in der EWU. 15 Mit der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und der nationalen Zentralbanken von Weisungen Dritter sehen nicht wenige Kritiker in der Denktradition politisch abhängiger Zentralbanken demokratische Prinzipien verletzt. Diese pauschale Kritik einer Unvereinbarkeit von Unabhängigkeit und Demokratieprinzip wäre jedoch nur berechtigt, wenn die Zielbestimmung ins Ermessen des Eurosystems fiele. Mit der politischen Vorgabe des Primärziels der Preisstabilität trifft dies offenkundig nicht zu, wenn auch die erwähnten Unschärfen bei der Zielinterpretation nicht übersehen werden dürfen. Eine demokratische Rechenschaftspflicht hat sich deshalb auf die betriebene und zukünftig zu verfolgende Geldpolitik zu beziehen. Nach der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank sind der EZB Informationspflichten auferlegt. Mindestens vierteljährlich hat die EZB Tätigkeitsberichte über ihre Aktivitäten vorzulegen. Hinzu kommt ein Jahresbericht über die Geld- und Währungspolitik und andere Tätigkeiten. Nähere inhaltliche Festlegungen bestehen nicht. Allerdings hat die EZB von Anfang an im Interesse größerer Transparenz ihre externe Kommunikation über das rechtlich notwendige Maß ausgedehnt. Sie publiziert 15 Siehe hierzu auch Schich und Seitz (2000).
52 · Egon Görgens anstatt eines Quartalsberichts einen Monatsbericht und gibt zudem regelmäßig Pressekonferenzen. Die Pressekonferenzen finden normalerweise unmittelbar im Anschluß an die erste EZB-Ratssitzung im Monat statt und dienen neben der Erläuterung der Ratsentscheidungen der direkten Kommunikation mit Medienvertretern. Darüber hinaus werden die Inhalte der Pressekonferenzen sofort ins Internet gestellt und sind damit allgemein zugänglich. Wöchentlich oder alle zwei Wochen publizierte Pressemitteilungen über die geldpolitischen Beschlüsse und über die monetäre Entwicklung ergänzen die Kommunikationspolitik des Eurosystems. 1 6 Wenn auch keineswegs allgemein praktiziert, so kann gleichwohl eine Rechenschaftspflicht (Erläuterung und Rechtfertigung der betriebenen Geldpolitik) der Zentralbank gegenüber dem Parlament als Ausdruck demokratischen Selbstverständnisses angesehen werden. Anders als früher die Deutsche Bundesbank hat die EZB gegenüber dem Parlament Informationspflichten, und zwar in der Form der obligatorischen Vorlage des Jahreswirtschaftsberichts. Darüber hinaus kann das Europäische Parlament Mitglieder des Direktoriums einbestellen. Zur Berichterstattungspflicht gehört auch, daß der Präsident der EZB einmal im Vierteljahr dem Ausschuß für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments Rede und Antwort steht. In demokratisch verfaßten Staaten rührt die letzte geldpolitische Verantwortung des Parlaments daher, daß es für die gesetzliche Basis der Zentralbank zuständig ist. Daß demokratisch gewählte Politiker in diesem Sinne die Geldpolitik kontrollieren, gilt allerdings nicht für das Europäische Parlament. Diese Kompetenz liegt auch nicht bei einzelnen nationalen Parlamenten. Auf europäischer Ebene wäre eine Änderung des Gemeinschaftsrechts erforderlich, der alle nationalen Parlamente zustimmen müßten. Wegen der (bislang) begrenzten Kompetenz des Europäischen Parlaments besteht auch keine Möglichkeit politischer Intervention gegenüber erfolgloser Geldpolitik (= mangelnde Zielerreichung). Auch eine vorzeitige Entlassung des EZBPräsidenten wegen geldpolitischer Erfolglosigkeit 1 7 ist nicht vorgesehen. Geht man vom Eigenwert demokratischer Prinzipien aus und zählt man zu diesen Prinzipien Informations- und Rechenschaftspflichten einer Zentralbank gegenüber dem Parlament und der allgemeinen Öffentlichkeit, so sind deutliche Defizite des Eurosystems im Vergleich zu anderen Zentralbanken (ζ. B. der englischen und kanadischen) vorhanden. Diese Unterschiede werden jedoch minimal, wenn man die
16 S o sehr die intensive Öffentlichkeitsarbeit als Versuch zur Transparenzerhöhung zu würdigen ist, so kann dieser „gute W i l l e " j e d o c h auch die E f f i z i e n z der Geldpolitik beeinträchtigen. Der Vierzehn-Tage-Rhythmus der Ratssitzungen zur Festlegung d e s geldpolitischen Kurses und der anschließenden Veröffentlichungen ist angesichts „normaler" geldpolitischer Handlungszeiträume sehr kurz. W e n n w e g e n der sehr kurzen Zeiträume nichts wirklich geldpolitisch W i c h t i g e s und N e u e s zu entscheiden und zu berichten ist, können gleichwohl erfolgende Veröffentlichungen eher zu Fehlinterpretationen und -Spekulationen beitragen - also der Transparenz abträglich sein. Aus d i e s e m Grunde erscheint es angemessen, wenn der EZB-Rat ab N o v e m b e r 2001 nur noch einmal im Monat den geldpolitischen Kurs festlegt. 17 D i e s e Möglichkeit besteht in Neuseeland, w o der Zentralbank-Gouverneur unter vorab festgelegten Bedingungen w e g e n unzureichender Zielrealisierung vorzeitig entlassen werden kann.
Konturen einer europäischen Geldpolitik • 53 freiwilligen Informations- und Rechenschaftsaktivitäten der EZB einbezieht. 1 8 Ein großer Unterschied bleibt jedoch insoweit, als die Möglichkeit der Einflußnahme von demokratisch legitimierten Instanzen durch Anweisungen oder Gesetzesänderungen auf das Eurosystem vergleichsweise sehr gering ist. Dies ist teilweise Folge der noch schwachen politischen Integration in Europa, teilweise aber auch Folge konfligierender Zielsetzungen zwischen Demokratieprinzip einerseits und Unabhängigkeit der Zentralbank andererseits. Hinter der Entscheidung im Maastricht-Vertrag und den ESZB-Statuten zugunsten der Unabhängigkeit stehen jedoch empirisch begründete Erfahrungen eines positiven Zusammenhangs zwischen Unabhängigkeit von Zentralbanken und stabilitätsorientierter Geldpolitik. Geht man von diesem empirischen Sachverhalt aus, wären steigende Inflationserwartungen der Preis für stärkere demokratische Einflußnahme. Dies aber würde die Glaubwürdigkeit des Eurosystems möglicherweise mehr beschneiden als der Glaubwürdigkeitsgewinn beträgt, den die EZB durch - teilweise freiwillige - Informations- und Rechenschaftsbemühungen zu erzielen trachtet. Die eigentümliche mit der anderer Zentralbanken nicht vergleichbare Rechtsstellung des Eurosystems kann aus ordnungspolitischer Sicht als Beitrag zur Entschärfung des eingangs erwähnten „//¿rye^-Problems" angesehen werden.
V. Abschließende Bemerkungen Nach rund drei Jahren Erfahrung mit der Geldpolitik des Eurosystems wird man vordergründig bei einem zumindest zeitweiligen deutlichen Überschreiten der Stabilitätsnorm von maximal zwei Prozent Zuwachs gegenüber dem Vorjahr für den HVPI (harmonisierter Verbraucherpreisindex) und einer Abwertung des € von 1,17 US-$ auf 83 US-Cents schwerlich von einer „Erfolgsstory" sprechen können. Eine einfache Schuldzuweisung an das Eurosystem ist jedoch unangemessen, denn sie würde Entwicklungen ausblenden, deren Entstehung außerhalb des Einflußbereichs des Eurosystems lagen. Hierzu zählen die in die Startzeit fallende Asienkrise ebenso wie die Verdreifachung des Ölpreises nach seinem Tiefstand im Februar 1999 und die preistreibenden Effekte der Tierseuchen seit Ende 2000. Nicht unerwähnt bleiben darf auch die Beschädigung der Glaubwürdigkeit der neuen Währung und der geldpolitisch Verantwortlichen durch den Versuch Frankreichs, die Amtszeit des ersten Präsidenten der EZB (rechtswidrig) zu halbieren. Bei der Kritik am Eurosystem und der EZB bilden die Deutsche Bundesbank und die US-Zentralbank vielfach den Vergleichshintergrund. Vor einer Legendenbildung oder gar mystischen Verklärung dieser Zentralbanken und ihrer Führungsspitzen ist jedoch zu warnen. Ob oder inwieweit das lang anhaltende Wachstum in den USA während der neunziger Jahre der Geldpolitik zuzurechnen ist, bedarf noch eingehen18 Siehe hierzu Schick und Seitz (2000) sowie die tabellarische Übersicht bei Eijffinger und Hoeberichts (2000, 8). Nach einer Zusammenstellung verschiedener Transparenzindikatoren gelangen Gros et al. (2001, 68) zu dem Ergebnis, daß das Eurosystem hinsichtlich der (formalen) Transparenz knapp hinter der Bank of England, aber deutlich vor den Zentralbanken Kanadas, der USA, Deutschlands und Japans rangiert.
54 · Egon Görgens der Analysen. Von einer konzeptionellen Klarheit, deren Fehlen der EZB häufig vorgehalten wird, kann im Falle der F E D angesichts der Vielfalt ihr vorgegebener wirtschaftspolitischer Ziele nicht gesprochen werden. Zudem sind die sehr häufigen Zinsschritte mit einer Stetigkeit der Geldpolitik unvereinbar, was um so schwerer wiegt, weil solche Maßnahmen ihre gesamtwirtschaftliche Wirkung erst mit einer Verzögerung von ein bis zwei Jahren entfalten. Das Geldmengenkonzept der Deutschen Bundesbank war gewiß leichter durchschaubar als die Zwei-Säulen Strategie des Eurosystems. Die Deutsche Bundesbank hat jedoch ihre Geldmengenziele nur in der Hälfte der Fälle eingehalten. Zielabweichungen hat sie teilweise aus Gründen in Kauf genommen, die sich in der zweiten Säule der EZB wiederfinden. Wählt man als Maß für eine Geldpolitik der ruhigen Hand die Häufigkeit von Zinsschritten, fällt der Vergleich mit der Deutschen Bundesbank allerdings nicht zugunsten des Eurosystems aus. Bis Ende 2001 wurden zehn Zinsänderungen vorgenommen. Die Deutsche Bundesbank hat in den letzten drei Jahren (1996-1998) ihrer geldpolitischen Autonomie nur dreimal Zinsänderungen durchgeführt. Wenn auch bislang insgesamt der Eindruck besteht, daß das Eurosystem die Rolle als stabilisierender Ordnungsfaktor erfolgreich gespielt und den vielfältigen Pressionen der für Finanz-, Lohn- und Sozialpolitik Verantwortlichen, aber teilweise auch den Ratschlägen aus dem wissenschaftlichen Bereich, den Stabilitätskurs zu lockern, widerstanden hat, so ist doch nicht auszuschließen, daß der Bazillus konjunkturpolitischer Ungeduld auch auf die europäische Geldpolitik überspringen könnte. Diesen Vorbehalt vor Augen wird man ihr aber nicht absprechen können, daß ihr eine positive Verankerung in den Mitgliedsländern der E W U gelungen ist. Dies gelang trotz (oder wegen?) eines Mißtrauens im Vorfeld und einer kritischen Begleitung von Außen in einem Maße, das kaum eine andere Zentralbank bislang erfahren haben dürfte.
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Zusammenfassung M i t der B i l d u n g der E u r o p ä i s c h e n W ä h r u n g s u n i o n ( E W U ) im Jahre 1999 ging die geldpolitische K o m p e t e n z f ü r den E u r o - W ä h r u n g s r a u m auf das E u r o s y s t e m über. K a n n v o m E u r o s y s t e m die Rolle einer m a r k t w i r t s c h a f t l i c h e n O r d n u n g s m a c h t erwartet w e r d e n , die der E W U den Status einer S t a b i l i t ä t s g e m e i n s c h a f t u n d mittels der g e m e i n s a m e n W ä h r u n g die w e t t b e w e r b l i c h e V e r n e t z u n g d a u e r h a f t sichert? Im Lichte von von Hayeks
V o r s c h l a g , W ä h r u n g s k o n k u r r e n z z u m M o t o r der Geldwertstabili-
tät zu m a c h e n , besteht eigentlich kein R a u m f ü r O p t i m i s m u s , handelt es sich doch
Konturen einer europäischen Geldpolitik · 57 beim Euro geradezu um einen wettbewerbsbeschränkenden Zusammenschluß. Mit der vertraglichen Vorgabe der Priorität der Preisstabilität und der rechtlichen und politischen Unabhängigkeit des Eurosystems bei der Ausführung der geldpolitischen Aufgaben sind jedoch wichtige Vorkehrungen zur Vermeidung des //eryefc-Problems getroffen worden. Solange eine europäische Zentralregierung nicht existiert, besteht für diesen institutionellen Unterbau insoweit auch kein Gefährdungspotential. Es bleiben jedoch mögliche Pressionen durch nationale Wirtschaftspolitiken und dahinter stehende Interessengruppen. Bislang kann man dem Bemühen des Eurosystems und der EZB - , solchem Druck standzuhalten und in den Mitgliedsländern der E W U ein Stabilitätsbewußtsein zu verankern, einen Erfolg nicht absprechen.
Summary European Monetary Policy: Potential Risks - Margin of Action - Credibility With the beginning of E M U in 1999 the Eurosystem is responsible for the single monetary policy in the Euro-area. But will the Eurosystem take over the role as a power that ensures the market order by giving E M U the status of a stability community with an Euro underpinning a competitive network? In the light of von Hayek's proposition of a currency competition there seems little space for optimism, because the introduction of the Euro virtually is a restriction of currency-competition. With the priority of price stability and the political and legal independence of the Eurosystem important prerequisites are established to avoid the ifa;ye£-problem. Because a European central government does not exist the danger of corresponding pressures cannot arise. But pressures from national economic policies and from interest groups behind them will remain. Until now the Eurosystem altogether with the ECB was successful in defending its monetary policy and anchoring a piece of stability culture in the member countries of EMU.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2002) Bd. 53
Hans
Willgerodt
Markt und Wissenschaft - kritische Betrachtungen zur deutschen Hochschulpolitik* I. Die Hochschulen in den Stürmen der Zeit Am 25. März 1890 schrieb der berühmte Baseler Historiker Jacob Burckhardt unter dem frischen Eindruck der Entlassung Bismarcks an seinen Freund Friedrich von Preen einen besorgten Brief über politische Veränderungen. Er fügte aber hinzu: „Über das weitere Schicksal unserer Universität, welches wohl auch einmal wieder auf das hohe Meer hinaus geraten könnte, mache ich mir geflissentlich keine Gedanken: hat die Alte gegen so viele Stürme standgehalten, so hält sie wohl auch noch länger. Solch ein Wesen hat ein zäheres Leben als der größte Staatsmann..." (1935, 490). Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte scheinen dies zu bestätigen. An Belastungen und Stürmen auch für die deutschen Hochschulen hat es nicht gefehlt - im Osten anderen als im Westen. Aber die Universität hat standgehalten. Der sich über Jahre hinziehenden westdeutschen Studentenrevolte nach 1968 haben Politik, Staatsverwaltung, Wirtschaft und Publizistik untätig, teilweise schadenfroh und meist herablassend zugesehen (hierzu im einzelnen: Willgerodt 1989). Der Politik, gegen die im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung und anderen Ereignissen die Revolte eigentlich zielte, kam der Aufruhr insoweit gelegen, wie er sich gegen die Universität richtete und damit vom eigenen Bereich abgelenkt war. Die Freiheit der Wissenschaft wurde von Staat und Öffentlichkeit nicht als etwas angesehen, das energisch verteidigt werden mußte. Vielmehr wurden und werden auch heute noch die Hochschulen als erstarrte und reformunfähige Gebilde dargestellt, denen eine aufweckende Destabilisierung zu gönnen ist. Was die Universitäten aus eigenem Antrieb praxisnah, gelegentlich aber auch unüberlegt, hektisch und jedenfalls experimentierfreudig seit vielen Jahren reformiert haben und reformieren, wird nicht zur Kenntnis genommen, weil das organisatorische Innenleben von Hochschulen nicht einmal allen Hochschulmitgliedern, geschweige denn den Hochschulkritikern und der Öffentlichkeit genügend bekannt ist.1 *
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Zahlreichen Lesern des Manuskripts bin ich für Anregungen dankbar. Mein besonderer Dank gilt Oliver Zierold vom Institut für Deutsches und Europäisches Wissenschaftsrecht der Universität zu Köln für die Beschaffung von Unterlagen. Ich habe vergeblich versucht, Vertreter der über die Universität urteilenden Wirtschaft über die konkreten Abläufe des Universitätsalltags und die zugehörigen Verwaltungsvorgänge zu informieren. Vielfach wird nach folgender Maxime verfahren: Man greife einige Mißstände heraus, führe sie ad hoc ohne genauere Prüfung auf angebliche Reformunfähigkeit und Reformunwilligkeit der Hochschulen zurück und ignoriere im übrigen alles, was in dieses Bild nicht hineinpaßt und was in
60 · Hans Willgerodt Die Belastung durch eine Lawine von Studierenden kam hinzu. Von 1960 bis 1997 hat die Zahl an Studierenden, die in Deutschland im Durchschnitt auf einen Professor entfielen, von 23 (alte Bundesländer) auf 44 (alle Länder) zugenommen (Monopolkommission 2000, 19). 2 An der Universität zu Köln hat sich diese Relation von 101 im Jahre 1990 auf 125 im Jahre 2001 verschlechtert; es sollen dort weitere Stellen für wissenschaftliches Personal abgebaut werden (Kölner Universitätsjournal 4/2001,2). Mitten im Strom ihrer Überlastquoten werden seit 1970 obendrein die deutschen Hochschulen im Westen und nun auch im Osten des Landes ohne jede Unterbrechung mit neuen, sich teilweise widersprechenden Reformgesetzen und bürokratischen Interventionen unter Einschluß von Haushaltskürzungen überschwemmt. 3 Was die ständigen Umstellungen ihrer Organisation für die Hochschulen an Zusatzaufwand und für ihr Personal an Zeit kosten, die für Lehre und Forschung verloren gehen, kümmert offenbar niemanden, auch nicht die Rechnungshöfe. 4 Die Studierenden scheinen diese neue Unübersichtlichkeit klaglos hinzunehmen. Bei den immer wieder neuen Gesetzes vorlagen wird jeweils vermerkt, es gebe dazu keine Alternativen.
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den letzten drei Jahrzehnten an Organisationsreformen mit den Hochschulen veranstaltet worden ist. Die auf den ersten Blick günstiger erscheinende Relation von Studierenden zu hauptamtlichen Lehrpersonen ( S c h r a m m 2002, 33) ist weniger aussagekräftig, weil dazu viele Personen gerechnet werden, deren Lehrverpflichtungen und Verantwortung in Forschung und Lehre wesentlich geringer sind als diejenigen der Professoren. Zum wissenschaftlichen Personal werden auch Personen gerechnet, die nur in der Forschung oder Krankenpflege beschäftigt sind und überhaupt keine Lehraufgaben wahrnehmen. Wenn die Lehre mit Vorrang auf weisungsgebundene und dauerhaft angestellte Mitarbeiter mit hohem Lehrdeputat verlagert wird, kann sich der Charakter des wissenschaftlichen Unterrichts in der W e i s e ändern, daß der unmittelbare Bezug zu der den Professoren aufgegebenen Forschung beeinträchtigt wird. Man käme der staatlichen Tendenz weiter entgegen, die Universitätslehre obrigkeitlich-hierarchischen Weisungen und Kontrollen des Lehrinhaltes zu unterwerfen. Käme die Leistung dieser Mitarbeiter in Forschung und Lehre jedoch derjenigen der Professoren dauerhaft gleich, dann würde eine Schlechterstellung gegenüber den Professoren eine Diskriminierung darstellen. Sie käme einerseits dem Streben entgegen, die Hochschulen zu abhängigen Behörden zu machen, und andererseits dem fiskalischen Interesse an Herabstufung des Lehrpersonals an Hochschulen, also dem Übergang zu Billigprofessoren minderen Rechts. Einer der Mitwirkenden und Mitverantwortlichen (unter anderem als früherer Wissenschaftssenator in Berlin) hat jetzt das hochschulpolitische Chaos der vergangenen Jahrzehnte eindrucksvoll dargestellt ( T u r n e r 2001), allerdings ohne auch die eigene Position ausreichend kritisch zu überprüfen. Inzwischen haben die Hochschulen den Stil der überbordenden bürokratischen Veränderungen, Planungen, Berichtspflichten und Evaluationen übernommen: Ständig werden Prüfungsund Studienordnungen sowie deren Ausführungsbestimmungen kurzfristig geändert, Bezeichnungen von Fächern umgeändert und neue Hochschulgrade eingeführt; der damit verbundene Sitzungsaufwand dürfte sich vervielfacht haben und sich weiter vervielfachen, wenn den Hochschulen unter dem Schlagwort der Autonomie weitere in Wahrheit unselbständige Verwaltungsaufgaben von den Ministerien übertragen werden. Es handelt sich um ein Verfahren, das gerade für besonders wichtige Bereiche der Staatsverwaltung üblich geworden ist. Eine politisch bestimmte Oberbürokratie versieht ohne detaillierte Prüfung der Folgen die an der Front der Staatsleistungen stehenden Staatsdiener mit ständig neuen rechtlichen Regeln und Organisationsreformen. Während dieser Reformen ist die Verwaltung stärker mit sich selbst beschäftigt und daher weniger handlungsfähig. Mit den damit entstehenden Mängeln werden weitere Organisationsreformen begründet (Willgerodt 1979, 210 f.). Weitere aktuelle Beispiele sind die Bundeswehr, die Schulen und das Gesundheitswesen. Innerhalb von Großunternehmungen wird Ähnliches beobachtet.
Deutsche Hochschulpolitik · 61 Darauf folgen alsbald neue Gesetze, mit denen die alten geändert oder aufgehoben werden, teilweise weil sie wie das Vorschaltgesetz für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz vom 26. Oktober 1971 verfassungswidrig gewesen sind (Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 29. Mai 1973). Ein Ende dieser destabilisierenden Organisationsreformen ist nicht abzusehen, weil sich die maßgebenden Politiker und die auf sie einwirkenden Kräfte aus Gesellschaft und Wirtschaft mit den Grundlagen und Eigenarten wissenschaftlicher Tätigkeit nicht befassen wollen und es deswegen an einem wirklich weitsichtigen Konzept fehlt. Wissenschaft erscheint nur noch als Instrument für politische Zwecke oder als unmittelbarer Erzeuger von Produktionsmitteln, deren baldige Verwendung man mit Ungeduld erwartet. Daß Revolutionen des Wissens nicht mit ständigen Revolutionen des Organisationsrahmens der Wissenschaft verwechselt werden dürfen, scheint unbekannt zu sein. Der zu regelnde Sachverhalt „Universität" ändert sich aber in seiner grundsätzlichen Struktur nicht so schnell, daß dafür unablässig nach neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen gesucht werden müßte. Alfred Müller-Armack hat hierauf eindringlich hingewiesen und vor „Holzwegen der Universitätsreform" (1977/1980) gewarnt. Er hat in diesem Zusammenhang zugleich auf die Gefahr zunehmender Verengung von Fachgebieten und einer zu weit gehenden Spezialisierung von Lehrstühlen hingewiesen. In einem breiter angelegten Betätigungsfeld können sich die Wissenschaftler entsprechend den ständigen Neuerungen ihres Faches immer wieder anderen Aufgaben zuwenden, ohne daß deswegen fundamentale organisatorische Strukturveränderungen notwendig werden. Es gibt jedoch heute zum Beispiel innerhalb des Gebietes der Volkswirtschaftslehre Professuren für MakroÖkonomik oder für Internationale Wirtschaftsbeziehungen, und die häufig personenbezogene Aufspaltung in spezielle Betriebswirtschaftslehren geht so weit, daß die Einheit des Faches immer schwerer zu erkennen ist. Juristen entschuldigen sich bei konkreten Fragen, sie seien nur Öffentlichrechtler oder Privatrechtler oder keine Arbeitsrechtler und wollten sich daher im anderen Bereich kein abschließendes Urteil erlauben. Ähnliches gilt in der Medizin bei der Spezialisierung der Fachärzte. Der Patient stellt aber eine Einheit dar, so daß es nun notwendig geworden ist, als Synthetiker den Facharzt für Allgemeinmedizin zu schaffen. Anderenfalls muß der Patient von Facharzt zu Facharzt gehen und sich die nötige Synthese laienhaft selbst zumuten. „Dann hat er die Teile in seiner Hand, fehlt leider nur das geistige Band." Für die Wirtschaftswissenschaften entsteht das gleiche Problem, denn die Unternehmung kann nicht nur in ihren Teilen, sondern muß auch im ganzen betrachtet werden, und eine rationale Wirtschaftspolitik ist nicht möglich, ohne die Interdependenzen zwischen den Teilen der Gesamtwirtschaft zu betrachten. Gewiß vollziehen sich in der schon von Max Weber (1919/1951, 572 f.) als notwendig und unvermeidlich bezeichneten Spezialisierung viele Pionierleistungen der Wissenschaft. Sie setzen aber einen Horizont des Wissenschaftlers voraus, der über sein Spezialgebiet weit hinausgeht. Viele Neuigkeiten lassen sich keiner der etablierten Spezialdisziplinen zuordnen und nicht wenige von ihnen bestehen geradezu in der Verbindung bisher scheinbar getrennter Wissensgebiete.
62 · Hans Willgerodt Die moderne Hochschulpolitik sieht nun ihre Aufgabe darin, jeweils neu aufkommende Gebiete mit neuen Organisationen, Sonderforschungsbereichen, Schwerpunkten, Lehrstühlen und Instituten zu versehen, die aber nach getaner Arbeit wieder aufgelöst und einem anderen Gebiet zugeschlagen werden sollen. Als alleiniges und beherrschendes Prinzip ist dieses Vorgehen unzweckmäßig. Die innere Organisation der Universitäten wird dabei ständig mit erheblichen Reibungen umgeschichtet. Bis Staat und Hochschulpolitik begriffen haben, was sich als Neuigkeit herausgestellt hat, ist die Front der Forschung längst mit anderen Problemen beschäftigt. Es wäre zweckmäßiger, den Mantel der jeweiligen Wissenschaftsgebiete wieder weiter zu schneidern und den Fachvertretern die Spezialisierung und den Wechsel ihrer Forschungsgebiete innerhalb dieses weiten Rahmens zu überlassen. Die sachlichen Umwälzungen, von denen die Wissenschaft lebt, vollziehen sich dann innerhalb der weiter definierten Fachgebiete und erfordern keine oder jedenfalls weniger Änderungen der allgemeinen Hochschulorganisation. Die nicht zu enge Definition der Fächer erleichtert auch fachliche Synthesen. In einer Zeit zunehmender Orientierungslosigkeit der einzelnen Wissensgebiete werden solche Synthesen immer notwendiger. In allen Wissensgebieten erklärt sich ein Teil der Spezialisierungen daraus, daß sie eher zu am Markt verwertbaren Ergebnissen führen können. Aber das rechtfertigt nicht die Preisgabe einer allgemeineren organisatorischen Struktur. Beschäftigung mit Wissenschaft als Investition besonderer Art bedeutet Suche nach Erkenntnis. Der Ertrag soll unmittelbar nur ein Zuwachs an Wissen sein. Ob er auch mittelbar zu einem wirtschaftlichen Ertrag führt, ist ebenso unsicher wie die Möglichkeit, daß dieser Ertrag von einzelnen unter Ausschluß anderer privatwirtschaftlich angeeignet werden kann. Der unsichere, aber indirekt oft sehr hohe Ertrag liegt ebenso wie bei anderen Investitionen in der Zukunft und wird um so unsicherer, je mehr während der Suche ihre äußeren Rahmenbedingungen wechseln. 5 Walter Eucken hat für die Wirtschaftspolitik eine Konstanz, das heißt Berechenbarkeit gefordert (1990, 285 ff.). Dies ist auch für die Wissenschaftspolitik zu verlangen, denn Wissenschaft braucht einen langen Atem und dauerhafte Rahmengesetze. Die Hektik der modernen Hochschulgesetzgebung erklärt sich nicht zuletzt aus dem Modewechsel des politischen Zeitgeistes, zu dem auch einige Professoren unbekümmert beitragen. Nach 1968 ging es in Westdeutschland zunächst um eine fälschlich so genannte „Demokratisierung" der Hochschulen und ihre Öffnung für politische Kämpfe. Sie richteten sich vor allem gegen die Professoren, die man als unmoderne Vertreter eines elitären Eigennutzes, einer klassengebundenen „bürgerlichen Wissenschaft" und der bekämpften politischen Ordnung der Republik überhaupt ansah. Den in ihrem Widerstand allein gelassenen Hochschulwissenschaftlern gelang es jedoch, den Vorrang der Logik von Forschung und Lehre wieder zur Geltung zu 5
D i e s e r Ertrag besteht im übrigen nicht nur in einem Zuwachs an käuflichen Gütern, sondern auch in anderweitigem Nutzenzuwachs, dem man den Charakter von öffentlichen Investitions- oder Konsumgütern beilegen kann. Es handelt sich zum Beispiel um eine bessere Erkenntnis und D e u tung des kulturellen U m f e l d e s durch Disziplinen der Philosophischen Fakultät. W e n n man deren Leistungen formal als N u t z e n z u w ä c h s e bezeichnet, ist damit inhaltlich noch nichts darüber gesagt, welcher Nutzen den einzelnen Leistungen zuerkannt werden soll.
Deutsche Hochschulpolitik · 63 bringen und die Gruppeninteressen einigermaßen einzubinden. Der Gesetzgeber trat während dieses Konsolidierungsprozesses in zahlreichen Novellierungen der Hochschulgesetze zunächst den Rückzug an. Die schweigende Mehrheit der Studierenden stand ohnehin immer auf der Seite sachbezogener wissenschaftlicher Arbeit und begann, die Revolutionäre so sehr zu ignorieren, daß ihnen auch die vorher bestehende publizistische Meinungsführerschaft entglitten ist. Während dieser Periode haben die deutschen Universitäten unter erschwerten Bedingungen partieller Rechtlosigkeit eine Zusatzleistung erbracht, unter der jede andere staatliche und private Institution zusammengebrochen wäre. Von 1975 bis 1995 hat die Zahl der Universitätsprofessoren im alten Bundesgebiet von 22 200 auf 22 400 nur unwesentlich zugenommen und war 1999 für ganz Deutschland trotz des Zuwachses durch die neuen Länder mit 22 176 absolut geringer 6 , die Zahl der Studierenden an Universitäten und vergleichbaren Hochschulen ist jedoch von 675 200 auf 1 241 700 gestiegen (Monopolkommission 2000, 19) und betrug im Jahre 1999 1 300 700 für ganz Deutschland (Bundesministerium für Bildung und Forschung, Strukturdaten 2000/2001, 154). Diese Tendenz setzt sich seitdem mit einigen Schwankungen fort. Anerkannt wird diese bis heute andauernde Leistung nicht. Insbesondere gelten Professoren ohne Beweis als schlechthin rückständig und leistungsscheu. Selbst in Wissenschaftsministerien und von Wissenschaftsfunktionären wird diese Klischeevorstellung gepflegt. Zum Beispiel hat ein als „Pressesprecher im Wissenschaftsministerium Nordrhein-Westfalen" bezeichneter Autor in der Zeitung „Die Zeit" vom 13. Januar 1989 über den Universitätsprofessor bemerkt: "Acht Wochenstunden während des laufenden Semesters (das gottlob nie lange dauert) muß er in der Regel der Lehre widmen. Worüber und auf welche Art, ist fast vollständig ihm überlassen. In der restlichen Zeit forscht er wahrscheinlich." Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß sich der durchschnittliche Kenntnisstand der Hochschulpolitiker und Hochschulkritiker seitdem wesentlich gebessert hätte. Offenbar gibt es für Bedienstete der Wissenschaftsministerien auch keine Einstellungsvoraussetzungen, wonach sie mit dem genauen Ablauf von Lehre, Vorbereitung von Lehre, Forschung, Veröffentlichungen, öffentlichem Auftreten, Prüfungen, akademischer und allgemeiner Verwaltung und vielen anderen Aufgaben der Hochschullehrer aus persönlicher Erfahrung vertraut sein müssen. Sie müssen anscheinend nicht einmal durch den Erwerb des Doktorgrades mit der Natur wissenschaftlichen Arbeitens in Berührung gekommen sein. Während die Leitung der Justizministerien so gut wie immer Juristen anvertraut wird, ist für die Leitung eines Wissenschaftsministeriums keine besondere fachliche oder gar wissenschaftliche Qualifikation vorgesehen, es genügt die jeweils aktuelle parteipoli6
Für 1999 wird eine Zahl von 24 205 Professoren unter Einschluß der Kunsthochschulen angegeben. Für die Universitäten allein ergibt sich eine Zahl von 22 176 Professoren in diesem Jahr (Bundesministerium für Bildung und Forschung, Grund- und Strukturdaten 2000/2001, 224). Wenn die Zahl der Professoren trotz des Zuwachses durch die ostdeutschen Universitäten im Jahre 1999 für das gesamte Bundesgebiet geringer war, als sie im Jahre 1995 für Westdeutschland allein gewesen ist, dann bedeutet das, daß insgesamt in Westdeutschland mehr Professuren eingespart worden sind, als dem Zuwachs aus den neuen Bundesländern entspricht.
64 · Hans Willgerodt tische Orientierung, die jetzt (2002) im Land Berlin eine ganz besondere Eigentümlichkeit angenommen hat. Wenn die Betreffenden dies durch zurückhaltende und gut beratene Amtsführung ausgleichen, mag dies immerhin besser sein als das heute verbreitete dilettantische Sendungsbewußtsein hochschulpolitischer Aktivisten. Jedenfalls werden aber die offenkundigen Mängel der staatlichen Wissenschaftsverwaltung niemals diskutiert. Denn die in dieser Frage sachkundigen Opfer, nämlich die Hochschulen, müssen bei Kritik mit Repressalien rechnen. Unabhängige Kritiker waren aber bisher nicht bereit, sich mit diesem Thema zu befassen und die dafür nötige Sachkunde zu erwerben. Statt dessen wird ausschließlich den Hochschulen eine lange Liste von Mängeln vorgehalten: - zu lange Studienzeiten, - zu große Zahlen von Studienabbrechern, - ein zu geringes Engagement der Professoren in der Lehre, die nicht praxisgerecht genug sei, - zu geringe Möglichkeiten des wissenschaftlichen Nachwuchses zu selbständiger Forschung und Lehre, - ein zu hohes Alter bei Habilitationen und Erstberufungen von Professoren, - nicht ausreichende Forschungsleistungen der Hochschulen und nicht genügender Transfer von Wissen an die Wirtschaft. Nicht auf alle diese Thesen kann hier mit der gebotenen Ausführlichkeit eingegangen werden. Die Ursachen für solche Mängel, soweit sie überhaupt nachgewiesen sind, hat man nicht einwandfrei ermittelt, sondern so gut wie ausschließlich in der Organisation der Universitäten und bei den Professoren gesucht.
II. Die hochschulpolitische Wende Seit einigen Jahren hat sich die deutsche Hochschulpolitik in ihren Zielvorstellungen um 180 Grad gewendet. Nicht mehr sollen die Hochschulen Veranstaltungen sein, bei denen die Mitwirkung sich nach Gruppeninteressen richtet, und sie sollen auch nicht mehr zu politischen Kampfplätzen werden, wie es den widerstrebenden Professoren abverlangt worden war. Die Universitäten sollen aber immer noch staatliche, wenn auch dem ersten Anschein nach weniger politisierte Zweckveranstaltungen sein. Zweckfreie Suche nach Wahrheit wird nach wie vor zurückgedrängt. Vielmehr wird nun von den Universitäten erwartet, in ihrer Lehre lediglich unmittelbar auf Berufe vorzubereiten und in der Forschung Ergebnisse abzuwerfen, die sich umgehend wirtschaftlich verwerten lassen. Immanuel Kant hatte in seiner Schrift „Der Streit der Facultäten" (1789/1964) noch gemeint, der Staat sei vorwiegend an den von ihm so genannten „oberen" Fakultäten interessiert, nämlich den Theologischen, Juristischen und Medizinischen Fakultäten, weil er über sie den stärksten Einfluß auf das Volk erlangen könne. Theologische Fakultäten erscheinen der Regierung jedoch heute nicht mehr wichtig genug, um staatliche Eingriffe zu veranlassen. Soweit die Juristische Fakultät ihren Un-
Deutsche Hochschulpolitik · 65 tersuchungsgegenstand auch als Moralwissenschaft versteht, müßte sie den Staat interessieren, doch hat dieser Aspekt der Rechtswissenschaft an Einfluß verloren. Staat und Politik nutzen juristische Techniken „positivistisch" als Gestaltungsmittel und behandeln meist das Recht als bloßen Werkzeugkasten, aus dem man sich nach politischer Opportunität für beliebige Z w e c k e bedienen kann. D e s w e g e n ist dem Staat nach w i e vor wichtig, was an den Juristischen Fakultäten geschieht. Er bindet sie durch Prüfungsordnungen, greift aber bisher kaum in die juristische Forschung ein, zumal ihm das Mittel zur Verfügung steht, Gesetze zu erlassen, die dieser Forschung gegenüber in der praktischen Anwendung das letzte Wort haben. Obersten Rang in der staatlichen und öffentlichen Beachtung nehmen
heute
Fakultäten ein, bei denen vermutet wird, daß bei ihnen die direkte Verwertbarkeit ihrer Forschung und Lehre im Vordergrund steht. Dazu gehören zunächst unmittelbare
Nützlichkeit
ausgerichtete
Teile
der Natur- und
auf
Ingenieurwissen-
schaften. V o n jeher hat es auch für die Medizin gegolten, doch wird jetzt die medizinische Forschung durch das System der staatlichen Gesundheitspolitik und neuerdings auch durch eine unklare Rechtslage 7 eher behindert als gefördert. Bei den Wirtschaftswissenschaften steht heute die Betriebswirtschaftslehre im Vordergrund des Verwertungsinteresses, während Staat, Politik und wirtschaftliche Partialinteressenten die Volkswirtschaftslehre immer mehr als lästige Einengung ihrer B e w e gungsfreiheit ansehen und daher an den Universitäten zurückdrängen. 8 Ebenso wie die staatliche Forschungspolitik sollen sich nun auch die Universitäten auf die Gebiete der unmittelbaren
Nützlichkeit konzentrieren. D i e s erfordere der Wettbewerb
im Zeichen der Globalisierung. Bei Wirtschaftsmanagern und Politikern ist die Vorstellung verbreitet, es k o m m e allein auf das gegenwärtige Wirtschaftswachstum und den schnellen Wissenstransfer aus den Hochschulen in die Wirtschaft an. 9 7
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Die Hochschulgesetzgebung will nicht zuletzt aus fiskalischen Gründen die Forschung auf „Drittmittel" und Spenden verweisen. Auf der anderen Seite werden (z. B. in der Medizinischen Fakultät) Professoren gerichtlich belangt, die hierbei, ohne sich persönlich zu bereichern, besonders erfindungsreich sind. Es wird sogar die These aufgestellt, daß eine illegale Vorteilsnahme vorliegt, wenn ein Wissenschaftler durch von ihm eingeworbene Drittmittel Forschungen betreiben kann, die ihm ein höheres Ansehen und damit eine bessere Karriere verschaffen können. Daß dasselbe gilt, wenn der Forscher die Mittel vom Staat erhält, bleibt unbeachtet. Die Justiz scheint also für die Hochschulen allein die staatliche Finanzierung von Forschung für rechtlich unproblematisch zu halten. Andererseits will der Dienstherr der Professoren nach § 35 des neuen Professorenbesoldungsreformgesetzes vom 16.02.2002 denjenigen unter ihnen aus diesen Drittmitteln eine höhere Besoldung zuweisen, die solche Mittel einwerben. Auch die allgemeinen Leistungszulagen sollen unter anderem von der Höhe der beschafften Drittmittel abhängig gemacht werden. W e r sich nach der Justiz richtet und sich bei der Beschaffung von Drittmitteln zurückhält, erhält also vom Staat ein geringeres Gehalt, wer sich nach der ihn dabei belohnenden Hochschulgesetzgebung richtet und möglichst viel Drittmittel beschafft, kann strafrechtlich belangt werden. Die Vertreter der Volkswirtschaftslehre fördern diese Tendenz durch den Rückzug in formale Schwerverständlichkeit und den Abbruch von Brücken zur praktischen Politik. Immer mehr volkswirtschaftliche Professuren mit wirtschaftspolitischer Orientierung werden eingespart, auch zugunsten betriebswirtschaftlicher Lehrstühle. So z. B. folgende Äußerung von Nikolaus Schweikart, dem Vorsitzenden des Vorstandes der Altana AG: „Will Deutschland im internationalen Wettbewerb mithalten, müssen wir unser Universitätssystem radikal reformieren und privatisieren, um die Qualität und Schnelligkeit der Ausbildung zu erhöhen. Universitäten müssen wie Unternehmen geführt werden und Forschungsergebnisse in
66 · Hans Willgerodt Selbstverständlich haben die wissenschaftlichen Hochschulen stets auch die beiden Aufgaben der Ausbildung und der Zweckforschung wahrgenommen, aber ihr Horizont war immer weiter bemessen. Diese Hochschulen sollen in erster Linie nach Wahrheit auch dort suchen, wo der betriebswirtschaftliche oder Konsumnutzen nicht sofort zu erkennen ist. Bei der zunächst wirtschaftlich zweckfreien Suche nach Erkenntnis können sehr große, wenn auch oft nur mittelbare Vorteile für die Wohlfahrt des einzelnen entstehen. Aber darin erschöpfen sich Sinn und Kulturbedeutung solcher allgemeinen Horizonterweiterung nicht. 10 Von ihr kann später niemand ausgeschlossen werden, sofern er sich die Vorkenntnisse aneignet, die für die Anwendung neuen Wissens nötig sind. Die Mathematik ist hierfür eines von vielen Beispielen. Ein anderes Beispiel ist die wirtschaftspolitische Forschung, bei der richtige Ergebnisse jedenfalls in aller Regel nicht auf einen konkreten privaten Nutzer zugeschnitten sein können, der bereit ist, für solche Forschung einen Preis zu zahlen. Deswegen ist zum Beispiel eine sinnvolle unabhängige Forschung zur Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft oft nur schwer privatwirtschaftlich finanzierbar. 1 Die wirtschaftliche Gesamtordnung kann aber stärker über die persönliche Lebenslage und menschliche Schicksale entscheiden als manche sofort verwertbaren technologischen Neuerungen. Diese Ordnung ist nicht allein ein Produkt spontaner Prozesse, sondern auch abhängig, die durch wissenschaftliche Sachkunde beeinflußt sein können. Weil sich hierfür im allgemeinen nicht genügend uneigennützige Mäzene finden, ist für solche Grundlagenforschung die Finanzierung auch durch den Staat sinnvoll. Die heutige Tendenz der staatlichen Forschungsförderung, möglichst unmittelbar rentable Forschung zu subventionieren und die Hochschulen allein in diese Richtung zu drängen, enthält einen grundsätzlichen Irrtum: Zweckforschung dieser Art wird Form von Patenten und Unternehmensbeteiligungen an den Markt bringen können". In: trend Zeitschrift für Soziale Marktwirtschaft, III. Quartal 2001, 89. Entgegengesetzt ist eine Äußerung aus dem Zentralverband der Schweizerischen Unternehmen „economie suisse" (2001, 12): „Nachdem in den letzten Jahren die orientierte Forschung ( d.h. mit forschungsintensiven Vorgaben) und die nicht programmgebundene Ressortforschung, die heute rund die Hälfte der gesamten staatlichen F+E-Ausgaben von rund 2 Mrd. Franken beanspruchen, kräftig zulegen konnten, gilt es, in Zukunft den Anteil der freien Grundlagenforschung wieder stärker zu gewichten." 10 Zwei Kölner Seniorenstudenten (Dr. Gerd Schweitzer und Dr. Winfried Wingender), die bis 1998 in leitender Funktion im Bayer-Konzern tätig gewesen sind, haben an die Ministerin für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen einen Brief geschrieben, in dem sie die Notwendigkeit der Kulturwissenschaften auch aus wirtschaftlichen Gründen betonen. Mit ähnlichem beruflichem Hintergrund betont Herbert Offermanns (2002) die Notwendigkeit der nicht unmittelbar anwendungsbezogenen Grundlagenforschung. 11 Ein Anstieg der Kenntnisse über gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge kann aber das private Informationsbedürfnis und damit auch die Nachfrage nach wirtschaftspolitischer Forschung anregen, so daß sich insoweit ein vorangehendes Angebot an solchen Kenntnissen seine eigene spätere Nachfrage schafft. Außerdem können nichtstaatliche Kollektive wie Verbände aller Art objektive wirtschaftspolitische Aufklärung anstreben, wenn sie im Interesse ihrer Mitglieder liegt, zum Beispiel in der Konjunkturbeobachtung. Ähnliches gilt für Großunternehmungen, etwa Großbanken, deren privatwirtschaftliches Interesse sich in manchen Fällen dem gesamtwirtschaftlichen Interesse nähern kann. Auch eine firmen- und verbandsegoistische Planung kann an objektiver Information interessiert sein, selbst wenn man gegen das gesamtwirtschaftliche Interesse verstoßen will. An gesamtwirtschaftlich sinnvoller Forschung über ordnungspolitische Fragen sind alle diejenigen privatwirtschaftlich interessiert, die von einer verfehlten Ordnungspolitik geschädigt werden.
Deutsche Hochschulpolitik · 67 auch privatwirtschaftlich von Unternehmungen betrieben und finanziert, die keine Studierenden ausbilden. Fördert und subventioniert der Staat solche Forschung an seinen Hochschulen, so kann damit eine private und in privaten Unternehmungen vielleicht sogar erfolgreichere und wegen der Kosten sorgfältiger geprüfte Forschung dieser Art verdrängt werden. 1 2 Daß sich die private Wirtschaft gern von entsprechenden Forschungsaufwendungen zu Lasten des Steuerzahlers befreien möchte, ist verständlich. Wichtig ist jedoch im Gegenteil, daß der Staat vorwiegend solche Forschung fördert, die nicht unmittelbar zu kommerziell verwertbaren Ergebnissen führt, aber durch Entwicklung neuer Methoden und Instrumente und Erschließen neuer Felder des Wissens zur allgemeinen Kultur beiträgt, von der schließlich auch die wirtschaftliche Entwicklung im ganzen abhängt (Helmstädter 2000; Hoppe und Pfähler 2001). In ihrer Forschung sollten sich die wissenschaftlichen Hochschulen nicht vorwiegend oder gar ausschließlich an der kaufkräftigen Nachfrage der Einzelwirtschaften nach ihren Forschungsleistungen orientieren. Teilweise können sie das auch gar nicht. Zum Beispiel weist die naturwissenschaftliche Forschung Interdependenzen auf: Manche einzelwirtschaftlich am Markt verkäuflichen Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung können ohne nicht kommerziell verwertbare Grundlagenforschung überhaupt nicht zustande kommen. Es fehlen dann Komplemente, die man für die Fortentwicklung des anwendungsorientierten Spezialwissens braucht (Mittelstaedt 1971). Es kommt ein weiterer Grund hinzu, der es gar nicht erlaubt, Forschung allein an einem bestimmten technischen oder kommerziellen Zweck zu orientieren. Zwar beginnt alle Forschung mit einer möglichst genauen Erfassung dessen, was man wissen will, also mit der Präzision eines bisher ungelösten Problems, mindestens aber mit dem Abstecken des Untersuchungsgegenstandes und Überlegungen darüber, wie man vorgehen will. Insoweit gibt es immer Forschungsplanung, und zwar durch den Forscher selber. Abwegig ist jedoch die staatsplanwirtschaftliche Vorstellung, daß es ganz allgemein genügt, wenn eine übergeordnete Instanz Geld in die Hand nimmt, geeignete Forscher zusammenruft oder sie nach Art merkantilistischer Fürsten als Goldmacher zusammensperrt und ihnen konkrete Forschungsaufgaben stellt, um in voraussehbarer Zeit das gewünschte Ergebnis erzielen zu können. Ergebnisse der
12 D i e Meinung, es g e b e solche sinnvolle Forschung mit marktfähigem Ergebnis, bei der die privaten Mittel auch sehr großer Unternehmungen nicht ausreichen und das Risiko daher v o m Steuerzahler übernommen werden müsse, ist stärker begründungsbedürftig, als meist unterstellt wird. Gigantische einseitige Großforschung müßte einen Nutzen bringen, der denjenigen einer Fülle kleinerer Forschungen gleicher A u s g a b e n s u m m e deutlich übersteigt. Denn das Risiko ist bei breiterer Streuung niedriger und der Forschungsaufwand kann dabei eher aus den späteren Ergebnissen amortisiert werden. Außerdem fehlt bei einer vom Steuerzahler finanzierten Z w e c k f o r s c h u n g mit marktfähigem Ergebnis das individuelle, durch Zahlungsbereitschaft erkennbare Einverständnis des späteren Nutzers, e s sei denn, daß er für das Ergebnis soviel zahlen muß, daß der v o m Staat finanzierte Großforscher die aus der Staatskasse erhaltene S u m m e mit Zinsen zurückzahlt. D i e Staatssubventionierung der Zweckforschung erfordert den N a c h w e i s , daß dabei externe Vorteile entstehen, die der Subventionierte sich nicht aneignen kann und die außerdem den staatlichen A u f w a n d d e m Werte nach übersteigen.
68 · Hans WiUgerodt Forschung sind nicht genau vorauszusehen und zu planen. 13 Nicht selten findet man, was man gar nicht gesucht hat. „By definition new knowledge cannot be predicted in precise terms - if it were otherwise it would not be new knowledge" (Robbins 1966, 20). Daher kann auch nicht präzise vorausgesagt werden, ob bei einer Grundlagenforschung nicht auch anwendbares und außerdem kommerziell verwertbares Wissen entsteht. Umgekehrt können bei Zweckforschung neue Methoden und grundsätzliche Zusammenhänge entdeckt werden, die man der Grundlagenforschung zurechnen muß. Wissen und Wissenschaft enthalten in mehrfachem Sinn starke universale Komponenten: Durch Weitergabe von Einzelwissen verliert es der Gebende nicht, sondern verbreitet es nur. Ferner läßt sich die unentgeltliche Ausbreitung nur durch Geheimhaltung verhindern und die unentgeltliche Anwendung nur durch besondere Maßnahmen (Patente, Nutzungsrechte). Schließlich ist Einzelwissen ohne einen breiteren Hintergrund anderen Wissens und einen allgemeinen kulturellen Humus weder zu entdecken noch zu nutzen. In Abwandlung eines Spruches, den Lichtenberg auf einzelne Länder gemünzt hat, könnte man sagen: Wer nur seine eigene Wissenschaft kennt, kennt auch diese nicht eigentlich. Die Wissenschaft beruht also auf einer Mischung von Bildungs- und Wissensgütern, und zwar sind sie nicht nur nach verschiedenen nebeneinander oder hintereinander liegenden Disziplinen zu unterscheiden, sondern auch danach, ob sie öffentliche oder private Wissensgüter sind. 14 Besonders in der Grundlagenforschung können die Ergebnisse öffentliche Güter sein, wenn diese Ergebnisse unentgeltlich von jedermann genutzt werden können. Aber auch anwendungsbezogenes Wissen kann die Eigenschaft eines öffentlichen Gutes haben, wenn die Anwendung nicht genug durch Urheberschutz auf diejenigen beschränkt werden kann, die bereit sind, dafür einen Preis zu zahlen. Ebenso wie die Forschung kann auch die Qualität der Lehre an den wissenschaftlichen Hochschulen nicht allein an ihrem sofort verwertbaren wirtschaftlichen Direktnutzen für spätere Arbeitgeber gemessen werden. Diese Hochschulen sollen vielmehr vor allem die Fähigkeiten fördern, die für die Analyse von Sachverhalten notwendig sind, und die dabei anzuwendenden Methoden entwickeln und einüben. Gewiß muß dies auch anhand konkreter Einzelfälle geschehen. Aber sie haben mehr exemplarische Bedeutung. Wer nach mehr praxisbezogener Einengung und Speziali-
13 N a c h der deutschen Vereinigung hatte ich einmal eine Habilitationsschrift aus der Zeit der D D R über die Planung der Forschung für ein Kombinat zu begutachten. Der - sehr sorgfältige - Bearbeiter hatte große Schwierigkeiten, sein Ergebnis zu verbergen, daß eine solche Planung nicht mit der Genauigkeit möglich war, die der Gesamtplan und die Partei verlang! hatten. 14 D i e Unterscheidung von vorgelagertem und nachgelagertem W i s s e n deckt sich nicht mit der Unterscheidung v o n privaten und öffentlichen Wissensgütern. Vorgelagertes W i s s e n braucht man, um anwendungsorientiertes W i s s e n zu erzeugen. B e i d e Arten können aber die Eigenschaften entweder privater oder öffentlicher Güter aufweisen, selbst wenn vorgelagertes W i s s e n mit höherer Wahrscheinlichkeit den Charakter eines öffentlichen Gutes haben kann. D i e B e z i e h u n g e n können auch zirkulär sein, denn zum Beispiel kann der Computer mit seiner Software bei der Konstruktion von neuer Software und neuen Computern benutzt werden. B e i d e sind aber private Güter. Der Staat kann patentiertes und damit privatisiertes W i s s e n bei der Erzeugung neuen allgemein zugänglichen W i s s e n s in den v o n ihm finanzierten Hochschulen nutzen.
D e u t s c h e Hochschulpolitik · 6 9
sierung in der Lehre der Universitäten ruft, verkennt, daß nur auf spezielle Einzelfälle gerichtetes Wissen schneller veraltet als allgemeinere Kenntnisse über Methoden zur Lösung neuer Probleme. 1 5 Mit diesem Sachverhalt muß sich keine strenge organisatorische Dogmatik verbinden: Zur forschungsbezogenen Wissenschaft gehört auch das Nachvollziehen und Prüfen von Forschungsergebnissen anderer. Dies müßte im Prinzip allen möglich sein, die über wissenschaftliche Sachverhalte lehren, also nicht nur Professoren an Wissenschaftlichen Hochschulen, sondern auch Professoren an Fachhochschulen und Lehrern an Schulen. Im 19. Jahrhundert haben sich Lehrer an Gymnasien nicht selten durch eigene Forschungen wissenschaftlich betätigt. Eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Personen, die ausschließlich neues Wissen entwickeln, und solchen, die dieses Wissen nur rezipieren und anwenden, ist unrealistisch. Denn der Rezipierende muß immer auch mitdenken, was ihn zum Weiterdenken veranlassen kann. Außerdem baut jede Forschung immer zugleich auf dem Wissen anderer auf, das zuerst erlernt werden muß. Wenn es trotzdem einerseits Institutionen gibt, denen vorrangig Forschung und bestimmte Arten der Forschung als Aufgabe zugewiesen werden, während bei anderen Institutionen Aufnahme und Weitergabe von Forschungsergebnissen im Vordergrund stehen, so hat das den guten Sinn der Spezialisierung. Die Grenzen des Verhaltens sind aber nicht so scharf gezogen, wie es die Institutionen nahelegen. Jedenfalls dürfen wissenschaftliche Neuentdeckungen von Außenseitern nicht unterdrückt werden. Auch ist die jetzt propagierte scharfe Trennung zwischen einem ausschließlich rezipierenden berufsbezogenen Basisstudium und einem stärker forschungsnahen Aufbaustudium wenig durchdacht. Der Geist weht, wo er will. In vielen Fächern ist es zwar schwer zu vermeiden, daß Anfängern sehr viel Propädeutik und aufzunehmender Stoff zugemutet wird. Aber dabei darf es schon im Anfang des Studiums nicht bleiben. Wer nie einen Blick in das Reich neuer Erkenntnisse hat werfen können, wird für den Sinn von Forschung und Wissenschaft wenig Verständnis aufbringen. Er wird aber auch beruflich zurückbleiben, wenn er meint, ein für allemal ausgelernt zu haben. Vermittlung alten und Ermittlung neuen Wissens
15 So erklärt sich auch der vielfach anzutreffende berufliche Erfolg in Wirtschaft und Wissenschaft von Absolventen humanistischer Gymnasien, die ihre gedankliche und sprachliche Disziplin an den für nutzlos erklärten alten Sprachen und antiken Schriftstellern geschärft haben. Ein Ausschließlichkeitsanspruch der humanistischen Schulbildung, wie er im 19. Jahrhundert bestanden hat, ist natürlich ebensowenig gerechtfertigt wie der seit vielen Jahrzehnten geführte Ausrottungsfeldzug gegen diese Schulform. Zum Problem vgl. Röpke (1979). Der Kernphysiker Heinz MaierLeibnitz (1996) bemerkt: „Wenn Wissenschaftler und Politiker, Philosophen und Mathematiker miteinander reden, muß es eine gemeinsame kulturelle Basis und ein Minimum an gemeinsamem Wissen geben. Sonst entsteht keine Kommunikation. Ich selbst habe deshalb immer Griechisch und Latein propagiert - das schafft eine weltweite Basis des Verstehens. Ich bedauere sehr, daß das abnimmt." Eine Befragung über den „Nutzen" des Lateins wird einseitig ausgelegt von Sigrid Schöpper-Grabe (2001). Einst wurden neben Latein und Griechisch zwei weitere Fremdsprachen verlangt, und von den Theologen noch Kenntnisse in Hebräisch. Daß die Leistungen der deutschen Wissenschaft gerade in der Zeit der Vorherrschaft des humanistischen Gymnasiums am höchsten gewesen sind, hätte nachdenklich machen können.
70 · Hans Willgerodt lassen sich nicht so streng voneinander trennen, wie hochschulpolitische Modernisten mit dem Schlagwort meinen, Humboldts Universität sei tot. 16
III. Die Hochschule und ihre Marktvorgänge Soll die Weitergabe von Wissen marktfähig sein, müssen Nichtzahler so lange und in solchem Umfang von der Nutzung ausgeschlossen werden, daß sich Preise für Nutzungsrechte bilden können. Wenigstens für private Wissensgüter wie die Lehre oder viele Ergebnisse der Auftragsforschung ist das meist der Fall. Demnach könnte hier die Hochschulpolitik die rationalisierende Kraft der freien Preisbildung und des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs nutzen, um die jetzt meist ohne genaueren Beweis 1 7 behaupteten Mängel der deutschen Hochschulen zu bekämpfen.
1. Die Marktprobleme der Lehre an Hochschulen Der Erfolg wissenschaftlicher Lehre kommt den einzelnen Studierenden zugute. Die Lehre an der Universität ist insofern ein privates Gut und könnte privat finanziert werden. Das läßt sich, wie ausländische Beispiele zeigen, trotz aller Besonderheiten 18
16 Die frühere regierungsamtliche Ansicht von 1992 (Turner 2001, 135), der forschungsorientierte Ansatz der Universität sei nicht mehr zeitgemäß, hat keine sachliche Grundlage. Auch die Preisgabe des deutschen Diplomgrades, der ein bewährter Markenartikel ist, und verwandter vollwertiger Studiengänge zugunsten einer Teilung in ein rein rezeptives Bachelor-Studium und ein darauf aufbauendes stärker wissenschaftlich-forschungsbezogenes Master-Studium kann nicht damit begründet werden, die meisten Studierenden sollten und müßten nicht an Probleme der Forschung herangeführt werden. Das Schlagwort vom lebenslangen Lernen bedeutet für alle Akademiker, daß sie sich mit neuen Forschungsergebnissen vertraut machen müssen, die vom Forschungsprozeß selber nicht sauber zu trennen sind. 17 Internationale Kommissionen zur Beurteilung der deutschen Hochschulen bestehen in der Regel mehrheitlich aus hauptamtlichen Wissenschaftsfunktionären, die deutsche Universitäten aus eigener wissenschaftlicher Tätigkeit überhaupt nicht oder nicht mehr ausreichend kennen und dem Fach, das sie vertreten, durch ihre Funktionärstätigkeit entfremdet sind. Sie sind also auf Prüfung organisatorischer Merkmale konzentriert und können unmöglich einen zutreffenden Überblick über die Leistung sämtlicher Fächer deutscher Universitäten gewinnen, müssen sich also auf Schätzurteile anderer in- und ausländischer Wissenschaftler verlassen. Die Generalisierbarkeit und Zuverlässigkeit dieser Urteile ist zweifelhaft. 18 Die Abgrenzung zwischen Forschung, Lehre und Dienstleistungen, etwa an den klinischen Zweigen der Medizinischen Fakultäten, ist nicht vollständig möglich. Es handelt sich zum Teil um Kuppelproduktion, bei der die genaue Zurechnung der Kosten zu den verschiedenen Nutzern erschwert ist. Ferner kann ein Teil der Lehre ohne Bezahlung zugänglich sein, etwa durch Lehrbücher, die man in öffentlichen Bibliotheken unentgeltlich benutzen kann. Außerdem können die Leistungen der Lehrenden unterhalb der Kapazitätsgrenze wie in einer unterbesetzten Straßenbahn so auch in einem nicht gefüllten Hörsaal Grenzkosten von nahezu Null aufweisen, so daß bis dahin wie bei öffentlichen Gütern keine Rivalität zwischen den Nachfragern entsteht. Schließlich können die Studierenden voneinander lernen. Für den bei diesem Tausch möglicherweise entstehenden Importüberschuß an Wissen bei einem der Tauschpartner wird auch bei fehlendem Altruismus kein Entgelt gezahlt, solange die Ermittlung dieses Überschusses Kosten verursachen würde, die den Saldo übersteigen. Nur wenn wie bei einem Repetitor dem Studierenden mehr Nutzen zufließt,
Deutsche Hochschulpolitik • 71 auch an der Zahlungsbereitschaft der Studierenden ablesen. Für die Leistungen der Lehre müßten dazu allgemein Studiengebühren eingeführt werden. In Deutschland stößt dies auf erbitterten Widerstand. Der Bundestag hat sogar ein Gesetz zum Verbot von Studiengebühren verabschiedet, das einstweilen (Juni 2002) vom Bundesrat zurückgewiesen worden ist. Die Diskussion wird dadurch vergiftet, daß nicht ordnungspolitische Erwägungen im Vordergrund stehen, sondern nur das Streben, die staatlichen Ausgaben für die Hochschulen trotz ihrer Unterfinanzierung durch Studiengebühren zu ersetzen. Gleichzeitig wird der Zuwachs an Studierenden als Ziel und Erfolgssymbol der Bildungspolitik ausgegeben. Immerhin werden von Langzeitstudierenden schon in einigen Ländern Studiengebühren erhoben. 19 Die Gebührenfreiheit wird für sozialpolitisch treffsicher gehalten, weil sie Studierende begünstigt, deren Eltern niedrige Einkommen beziehen. Solche Studierenden haben einen Nettovorteil, weil sie eine Bildung von erheblichem Wert erhalten, ohne daß die Eltern entsprechend höhere Steuern zahlen. Später erzielen die Akademiker vielleicht ein höheres Einkommen, als sie ohne Studium erreicht hätten. Aus dem höheren Einkommen zahlen sie höhere Steuern. Ob das aber zur Deckung der staatlichen Ausgaben für das Studium ausreicht, ist fraglich. Durch Abwanderung in das Ausland oder durch ökonomische Nichtleistung (Studium als Bildungskonsum) kann man sich dieser Besteuerung des Humankapitals entziehen. Außerdem ist diese ganze Argumentation schief (anderer Ansicht Schramm 2002, 142 ff.). Danach soll der Akademiker zunächst eine für ihn kostenlose Gabe erhalten. Sie sei aber in Wahrheit ein Darlehen, das er später durch Steuern zurückzahle. Wenn das so wäre, könnte das System allgemein auf Darlehen umgestellt werden, die später zurückgezahlt werden müßten wie andere zur Investition verwendete Darlehen auch. Weshalb sollen nur akademische Bildungsinvestitionen vom Staat als Sonderbankier vorfinanziert werden und nicht auch alle anderen Bildungsinvestitionen oder Investitionen überhaupt? Mit demselben Argument höherer Steuerzahlungen in der Zukunft könnten unternehmerische Nichtakademiker die staatliche Vorfinanzierung ihrer Unternehmensgründung verlangen. Studium und Investitionen müssen aber aus dem gegenwärtigen Sozialprodukt finanziert werden. Wessen Gegenwartskonsum soll der Staat einschränken, um die Humankapitalinvestitionen der Studierenden heute zu alimentieren? Außerdem: Wer als zunächst Ärmerer ohne Studium durch Fleiß, Sparsamkeit, Ausbildung auf eigene Kosten und sonstige Umstände später ein Einkommen erzielt, das demjenigen eines Akademikers gleichkommt, muß dieselben Steuern zahlen, ohne in den Genuß eines primären staatlichen Geschenkes gekommen zu sein, für das er sich durch höhere Steuern erkenntlich zeigen müßte.
als er gleichzeitig abgibt, und dieser Nutzenüberschuß den Verwaltungsaufwand bei der Abrechnung fühlbar übersteigt, lohnt sich die Entgeltlichkeit. 19 Nach A u s s a g e des sozialdemokratischen niedersächsischen Wissenschaftsministers Oppermann ( 2 0 0 1 , 175) sind bei Sozialdemokraten des eher traditionell geprägten Arbeitnehmermilieus Studiengebühren k e i n e s w e g s so verpönt wie in anderen von der Studiengeldfreiheit stärker profitierenden Gruppen.
72 · Hans Willgerodt Da der Anteil von Studierenden aus Familien mittleren und höheren Einkommens wesentlich größer ist, als ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht, ergibt sich im ganzen eine Tendenz, wonach die Nichtakademiker und die Ärmeren das Studium der Reicheren finanzieren, vor allem bei nicht sehr progressivem Gesamtsteuersystem. 2 0 Gezielte Förderung Studierfähiger aus unteren Einkommensschichten wäre zweckmäßiger, ganz abgesehen von der Frage, ob sich eine Förderung nur auf den Berufsweg des Akademikers beziehen sollte. Sozialpolitik über künstlich erniedrigte Preise oder Nulltarife ist immer problematisch. Der Staat lenkt damit die Nachfrage bevormundend auf das künstlich verbilligte Gut und muß deswegen das Angebot subventionieren oder die Nachfrage rationieren. Daß auch für Kinder aus den oberen Einkommensschichten Gebührenfreiheit besteht, könnte mit dem oft mißverstandenen Gleichbehandlungsgrundsatz und einer bei der Volljährigkeit der Studierenden angeblich notwendigen Emanzipation vom Elternhaus begründet werden. 2 1 Sie bedeutet immer zugleich auch eine Emanzipation der Eltern von ihren Kindern und einen weiteren Schritt zur Verstaatlichung der Familie. Der Verzicht nur auf Studiengebühren löst im übrigen nicht das Problem, wie der Lebensunterhalt während des Studiums finanziert werden soll. Will man auch diese Last durch staatliche Stipendien für alle Studierenden kollektivieren, dann wird die Steuerlast entsprechend größer sein. Allgemein werden die Studierenden immer mehr zu Staatsrentnern, deren Leistung kontrolliert werden müßte. Politischer Opportunismus der deutschen Hochschulpolitiker hat dies bisher teilweise verhindert. Statt dessen werden die Hochschulen unter dem Stichwort „Entrümpelung der Studienpläne" bedrängt, ihre Anforderungen zu senken, um ein schnelleres Studium und höhere Erfolgsquoten zu erzielen. 22 Aber das ist kein Ausweg, weil der spätere Berufsalltag keine Niveausenkung honoriert. Nichts ist so wirksam und zugleich freiheitlich (das heißt: nicht fremdbestimmt) wie die Selbstkontrolle bei einer Finanzierung des Studiums aus eigenen Mitteln. W e r sich vom Steuerzahler aushalten läßt, wird im Gegensatz dazu früher oder später doch staatlichen Vorschriften unterworfen. Wird die persönliche finanzielle Verantwortung bei der Nachfrage nach Leistungen der Hochschulen ausgeschlossen, dann bleibt nur die staatliche Kontrolle und Lenkung der Nachfrage oder das Gedränge der Überfüllung, wie es immer entstehen muß, wenn ein knapp bleibendes Gut zum Nulltarif angeboten wird, ohne daß das Angebot entsprechend bis zur völligen Sättigung ausgedehnt werden kann. Die deutsche Hochschulpolitik hat bisher einen Mittelweg zwischen numerus clausus, zentra-
2 0 Zu den Einzelheiten: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 1998, Ziffern 439-459, insbesondere S. 251. 21 Turner (2001, 166) berichtet, die Bundesbildungsministerin Bulmahn habe im August 1999 zunächst das Konzept einer BAföG-Finanzierung für alle abgelehnt, die Meldung hierüber dann aber heftig dementiert und eine elternunabhängige Förderung der Studierenden befürwortet. 22 Eine sinnvolle Begrenzung von Studieninhalten ist von unzweckmäßiger Niveausenkung zu unterscheiden.
Deutsche Hochschulpolitik · 73 1er Studienplatzverteilung und Überfüllung gewählt 2 3 Man hofft vergeblich, das Problem werde infolge geringer besetzter Geburtenjahrgänge allmählich von selbst gelöst werden. Vorsorglich werden Stellen eingespart, mit der möglichen Folge, daß die Überfüllung auch bei sinkender Zahl von Studierenden erhalten bleibt. Von einem Rückgang der Nachfrage nach akademischer Lehre der deutschen Hochschulen ist außerdem bisher nichts zu spüren. Die Zahl der Studienanfänger betrug im Studienjahr 1993/94 279 600 (davon 184 400 an wissenschaftlichen Hochschulen einschließlich der Gesamthochschulen), 1999/2000 jedoch 291 400 (davon 195 500 an wissenschaftlichen Hochschulen einschließlich der Gesamthochschulen) 2 4 . Das Studium scheint ein superiores Gut zu sein, das mit steigendem Einkommen vermehrt nachgefragt wird. Angeblich steigt auch die Nachfrage nach Akademikern im Zeichen einer sogenannten „Wissensgesellschaft". Ob die Erhebung von Studiengebühren allein ausreichen würde, um bei Studienplätzen ein markträumendes und zugleich sinnvolles Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage herzustellen, ist fraglich. Deswegen haben in den angelsächsischen Ländern die Hochschulen trotz der dort erhobenen Studiengebühren das Recht, sich ihre Studierenden selbst auszuwählen. Das bedeutet einen numerus clausus für die jeweilige Hochschule so lange, wie sie ihre Kapazität nicht ausweiten will oder kann und die Nachfrage nach den örtlich vorhandenen Studienplätzen die Kapazität übersteigt. Man könnte dann die Studienplätze an die Meistbietenden versteigern. Aber das bedeutet, daß nicht unbedingt die Begabtesten, sondern die Zahlungswilligsten und Wohlhabendsten zugelassen werden. Daran haben die Hochschulen nur ein begrenztes Interesse, denn begabte, aber weniger zahlungsfähige Studierende steigern die Effizienz von Lehre und Forschung. Damit steigt das Ansehen der Hochschule. Von ihm hängt wieder ihre Marktposition bei der Einwerbung von Drittmitteln und die Möglichkeit ab, später zahlungsbereite und gute Studierende und vor allem gute Hochschullehrer zu gewinnen. 2 5 Werden die Studierenden wie in England durch eine Zulassungsprüfung nach ihren Fähigkeiten ausgesucht, dann kann dies die Zahl der Mißerfolge im Studium herabsetzen. Unproblematisch ist dieses Verfahren wegen des immer begrenzten Prognosewertes von Prüfungen und wegen der wahr-
23 Grundsätzliches zu den möglichen Verfahren: C.C. von Weizsäcker (1971). 24 Bundesministerium für Bildung und Forschung, Grund- und Strukturdaten 2000/2001, 152; zu weiteren Einzelheiten: Wirtschaft und Statistik 1/1995, 67; 7/2000, 513, Tab. 9 und 10. 25 Einen sinnvollen Kompromiß aus diesen gegenläufigen Tendenzen hat im 18. Jahrhundert bereits die damals modernste deutsche Universität Göttingen gefunden: Einerseits bemühte man sich intensiv, wohlhabende Prinzen und Grafen für das Studium zu gewinnen, die entsprechend zahlen mußten, andererseits gab es eine Art von Gebührenerlaß, der mit den jeweiligen Professoren ausgehandelt werden konnte. Es wurden auch Studentenheime gebaut. Zu den Einzelheiten: Johann Stephan Pütter (er war Hofrat und ordentlicher Professor des Staatsrechts in Göttingen) (1765, 318 ff.). Die Matrikelgebühren waren nach dem „Stand" gestaffelt, wobei Bürgerliche am wenigsten und Grafen am meisten zu zahlen hatten. Auf S. 327 f. werden „Freytische" und Stipendien aufgeführt. Es heißt ferner: „...so wird zur Erleichterung derer Kosten, welche das eigentliche Studieren in Ansehung der Honorarien für die Vorlesungen erfordert, sich nicht leicht ein Lehrer um deren Erlassung vergeblich bitten lassen." Die Universität soll auch in ihrer Frühzeit bis zu 20 % Studierende beherbergt haben, die ihren Lebensunterhalt und die Vorlesungen nicht bezahlen konnten und durch Stipendien unterstützt wurden (Hasse 2000, 268).
74 · Hans Willgerodt scheinlichen Verengung des Prüfungsstoffes trotzdem nicht. 26 Es werden auch diejenigen ausgeschlossen, die zwar bei der Zulassungsprüfung versagt haben, aber trotzdem im Studium Erfolg gehabt hätten. Für eine offene Gesellschaft mit freier Berufswahl ist deshalb die Zulassungsauslese nur erträglich, wenn es genügend Hochschulen gibt, die sich wegen der ihnen zufließenden Studiengebühren um Studierende bemühen, also ihr Angebot nicht künstlich zurückhalten, und wenn konkurrierende Neugründungen möglich sind. Außerdem muß es Nebenwege (zum Beispiel Möglichkeiten zu Fernstudien) geben, auf denen zunächst Ausgeschlossene doch noch zum Erfolg kommen und damit den Gegenbeweis antreten können. Vielfach wird unterstellt, daß die Universitätsprofessoren die Lehre vernachlässigen, weil sie dafür kein spezielles Entgelt erhalten, während sie durch Forschungsergebnisse ihr Ansehen erhöhen können und damit die Aussicht auf Gehaltssteigerungen durch Berufungen und Nebeneinnahmen. Das Problem darf nicht dramatisiert werden: Eine Hochschulforschung, deren Verfahren und Ergebnisse nicht mitgeteilt werden, ist auch für den Forscher selbst sinnlos. Professoren haben in aller Regel ein elementares Interesse daran, sich mitzuteilen, und zwar auch gegenüber Studierenden. Sie profitieren von deren unverbrauchtem kritischem Verstand und können sie als Mitarbeiter gewinnen. 27 Sehr viele Professoren sind zugleich vorzügliche Pädagogen, denn der Spruch hat vieles für sich, daß man als Forscher nicht verstanden hat, was man nicht anderen erklären kann. Einer trotzdem möglichen Gleichgewichtsstörung zwischen Forschung und Lehre hat früher das Kolleggeld entgegengewirkt. 28 Es soll nun wieder besondere Lehrvergütungen geben. Warum hat man sie vorher unter großem reformatorischem Trommelwirbel abgeschafft? Sie enthalten auch Probleme, die aber lösbar sind. 29 Darüber 26 Es kann zu einer extremen Spezialisierung schon auf der Schule kommen, wenn die Aufnahmeprüfung der Hochschulen auf die Anforderungen der gewählten Studienrichtung konzentriert wird; dazu kritisch der Robbins-Bericht ( P f e f f e r 1964, 10; Robbins 1966, 64). In Deutschland erlaubte es die frühere umfassende Reifeprüfung, die Studierfähigkeit auf einer breiteren Grundlage zu ermitteln. Außerdem konnten die Schulen ihre eingehendere Kenntnis der Prüflinge in die Gesamtbeurteilung mit einfließen lassen. 27 So schon Wilhelm von Humboldt (1810/1964, 262): „Denn der freie mündliche Vortrag vor Zuhörern, unter denen doch immer eine bedeutende Zahl selbst mitdenkender Köpfe ist, feuert denjenigen, der einmal an diese Art des Studiums gewöhnt ist, sicherlich ebenso an, als die einsame Muße des Schriftstellerlebens oder die lose Verbindung einer akademischen Gesellschaft." 28 In der gleichen Richtung wirkt das Verfassen von honorierten Lehrbüchern. Nicht selten kommt dabei sogar eine Inflation von Veröffentlichungen ohne großen Neuigkeitswert zustande. 29 Wenn Pflichtvorlesungen an einem Ort immer nur von einem bestimmen Professor gehalten werden, können die Studierenden ihm nicht ausweichen, und es besteht kein Wettbewerb unter den Dozenten. Es müßten also solche Monopolisierungen beschränkt werden, wo immer das möglich ist. Ein Gegengewicht könnten die Privatdozenten sein, die jetzt durch die am 16. Februar 2002 in Kraft getretene Änderung des Hochschulrahmengesetzes eliminiert werden sollen. Vor allem dürfen die ortsansässigen Wissenschaftler nicht allein darüber befinden, wieviel Professuren in ihrem eigenen Fach eingerichtet werden. Denn die ortsansässigen Dozenten profitieren von der Überfüllung durch hohe Kolleggeldeinnahmen. Andererseits könnten bei völliger Wahlfreiheit Dozenten mit anspruchsvollen Lehrveranstaltungen gemieden werden. Das von ihnen Gelehrte müßte also geprüft werden können. Es müßte aber auch einer monopolisierenden Spezialisierung von Lehrstühlen, Lehrinhalten und Fächern Einhalt geboten werden. Die Konkurrenz zwischen Lernen in Lehrveranstaltungen und Lernen aus Literatur müßte nach angelsächsischem Vorbild stark betont
Deutsche Hochschulpolitik • 75 muß sorgfältig nachgedacht werden. Sind zum Beispiel die jetzt eingeführten Bewertungen durch die Studierenden, „Evaluationen" genannt, für sich allein verläßlich genug, solange sie die Beurteiler nichts kosten und damit der Markt nicht zugelassen wird? Die ehrlichste Bewertung kann immer noch die Bezahlung sein, sofern dem Zahler der Erwerb des Gutes freisteht. Die jetzt wieder geplanten Entgelte für Lehrleistungen sollen aber nicht von den Studierenden bezahlt werden, sondern werden aus einem Fonds entnommen, der aus Kürzungen der Professorengehälter gespeist werden soll. 30 Ein marktähnlicher Vorgang liegt dann vor, wenn die Hochschule von den Studierenden pro Semester feste Beträge als Eintrittsgeld erhebt, das sie berechtigt, das Klubkollektivgut 3 ' Hochschule oder bestimmter Teile davon zu benutzen. Sofern das Aufkommen aus dieser Gebühr der Hochschule belassen wird, ist die Verteilung innerhalb der Hochschule allerdings kein Marktprozeß mehr, sondern ein Verwaltungsvorgang. Das gilt, es sei denn, die Mittel könnten auch innerhalb der Hochschule nach marktähnlichen Kriterien verteilt werden, etwa nach dem Muster der früheren Seminargebühren. Das ist schon allein wegen der nicht im einzelnen zurechenbaren Fixkosten der Gesamtuniversität nur beschränkt möglich.
werden. Andererseits wäre die Absatzförderung durch Prüfen allein aus einem Lehrbuch des Dozenten zurückzudrängen. Eine Vorschrift, es dürfe nur geprüft werden, was vorher in Lehrveranstaltungen gelehrt worden ist, verkennt die Natur eines wissenschaftlichen Studiums, dessen Sinn nicht zuletzt darin besteht, die Fähigkeit zu entwickeln, mit neuen Problemen umzugehen. Notwendig ist freilich, daß den Studierenden der Stoff, aus dem geprüft wird, vorher ausreichend bekannt gemacht worden ist. Die Zahl der Pflichtvorlesungen wäre stark zu begrenzen und durch mehr Wahlmöglichkeiten zu ergänzen. Die Abwanderung an andere Hochschulen wegen nicht zusagender Lehrqualität wird durch einen örtlichen numerus clausus oder durch Zulassungsprüfungen für spätere Semester erschwert und durch Vereinheitlichung der Lehre und der Studienpläne sinnloser gemacht. 30 Vgl. Gesetz zur Reform der Professorenbesoldung vom 16.02.2002, §§ 33 und 34. In § 33 Absatz 1 Ziffer 2 werden Leistungsbezüge für „besondere Leistungen" der Professoren auch in der Lehre vorgesehen, in § 34 wird ein Vergaberahmen festgelegt, der die durchschnittlichen Besoldungsausgaben begrenzt. Um Mittel für Leistungszulagen möglichst kostenneutral zu erhalten, werden die Grundgehälter gesenkt. Aus der Differenz zu den bisherigen durchschnittlichen Besoldungsausgaben sollen die Leistungsbezüge finanziert werden. Der Vergaberahmen kann nach Maßgabe des Landesrechts um jährlich 2 vom Hundert bis zu 10 % erweitert werden und nimmt an den regelmäßigen Besoldungsanpassungen teil. Es handelt sich also in der Hauptsache nur um eine Andersverteilung des Einkommens innerhalb der Professorengruppe. Einsparungen von Professorenstellen vermindern den Vergaberahmen. Die durchschnittliche Professorenbesoldung könnte nur dann real steigen, wenn die Anpassungen des Vergaberahmens nach Steuern den Inflationsverlust übersteigen. Die Inflationsrate liegt heute über oder in der Nähe von zwei Prozent. Die allgemeinen Besoldungsanpassungen der Beamten bleiben seit Längerem hinter denen der Wirtschaft zurück. Ob der Vergaberahmen über die allgemeinen Besoldungsanpassungen hinaus wirklich erweitert wird, liegt im Ermessen der Länder. Bei der Abschaffung des Kolleggeldes wurden seinerzeit die Gehälter der Professoren entsprechend angehoben. Es wurde also bei den Professoren nur eine Einkommensart durch eine andere ersetzt, während die übrigen Dozenten durch den ersatzlosen Wegfall des Kolleggeldes absolut schlechter gestellt wurden. Der Abstand der Professorengehälter zu den vergleichbaren Positionen außerhalb der Hochschulen ist also durch die einmalige Anhebung bei Abschaffung des Kolleggeldes nicht geringer geworden, so daß damit nicht das jetzige Verfahren begründet werden kann. 31 Zur Definition eines Klubkollektivgutes: Borchert
und Grossekeitler
(1985, 315).
76 · Hans Willgerodt
2. Die Marktprobleme der Forschung an wissenschaftlichen Hochschulen Deutlicher als in der Lehre können Verwaltungsvorgänge bei der staatlichen Finanzierung der Forschung hervortreten. Zwar gibt es in der Auftragsforschung einen wirklichen Markt, und die Hochschulen könnten ihre Erkenntnisse und die Erfindungen ihrer Arbeitnehmer in den verschiedensten Formen veräußern, sofern sich dies rechtstechnisch und zu Kosten (z.B. für Patentanmeldung) erreichen läßt, die hinter den Erlösen wesentlich zurückbleiben. Früher konnten die Professoren ihre Erfindungen auch selbständig verwerten. 3 2 Der Ausschluß dieser Möglichkeit reicht zur Finanzierung der gesamten Hochschulforschung nicht aus. Die wissenschaftlichen Hochschulen haben in erster Linie solche Forschung zu pflegen, die nicht überwiegend auf sofortige Vermarktung angelegt ist, also in der Hauptsache Grundlagenforschung. In ihr sollten sie einen besonderen Vorsprung haben, weil nur dann ihre staatliche Finanzierung ausreichend begründet werden kann. Ein weiteres Argument für die Besonderheit der Universitätsforschung ergibt sich aus dem folgenden Zusammenhang: Die bisherigen alten wissenschaftlichen Hochschulen, vor allem die größeren Universitäten, sind durch eine kaum noch überschaubare Fülle an Fächern gekennzeichnet, die miteinander mehr oder weniger vernetzt sind. Wie sollen sie die ihnen im Globalhaushalt zur Verfügung stehenden Forschungsmittel auf die einzelnen Fächer und Forscher verteilen? Bewährt hat sich hier seit j e eine Art von „piecemeal engineering", also das Vorgehen von Fall zu Fall. Das schließt größere gut begründete gemeinsame Projekte ein, begründet aber nicht ihren jetzt vielfach erhobenen Totalitätsanspruch. 3 3 Einzel- und Kollektivforschung sollten im Wettbewerb gleichberechtigt sein. Alle Fächer, wenn sie einmal an einer Hochschule mit einer bestimmten Ausstattung eingerichtet sind, sollten die Chance erhalten, sich weiter zu entwickeln. Dem begegnet man jetzt mit dem Schlagwort, es müßten in den Universitäten die Stärken gestärkt und die Schwächen abgebaut werden. Entweder könnte damit gemeint sein, es sollten Fächer, die man nach irgendwelchen Kriterien für an einem Standort weniger leistungsfähig hält, zugunsten angeblich wichtigerer und „besserer" Fächer eingespart, ausgemerzt und bestenfalls an andere Standorte verlagert werden. Oder man möchte gerade umgekehrt die für schwächer gehaltenen Fächer reformieren und dem erwünschten Standard der für besser gehaltenen Fächer anpassen. Von zentralplane32 Zur rechtlichen und wirtschaftlichen Problematik: Fahse (2001). Dieses sogenannte Privileg wird jetzt abgeschafft und wie bei anderen Arbeitnehmern durch Beteiligung an den Forschungserlösen ersetzt. Das läuft auf eine Kürzung des Einkommens für die Betreffenden hinaus, soweit sie wirklich bei selbständiger Verwertung ihrer Erfindungen mehr erlangt hätten. Dies könnte durch die geplanten Leistungszulagen ausgeglichen werden. Da diese Zulagen aus dem geplanten Vergaberahmen für die Gehälter der Hochschullehrer und nicht aus den Erträgen der Erfindungen gespeist werden sollen, würde die Summe der übrigen Professoreneinkommen insoweit gekürzt. 33 Verbreitet ist jedoch die unbegründete Meinung, mit wachsender Betriebsgröße und Zusammenballung von SpezialWissenschaftlern in großen Instituten mit größeren monetären Aufwendungen müsse überall schlechthin die Forschungsqualität steigen, so daß man kleinere Forschungsstätten auflösen müsse.
Deutsche Hochschulpolitik • 77 risch denkenden Technokraten wird die erste Version einer Ausmerzung „Schwächerer" für richtig gehalten. Insbesondere Ingenieuren ist aber die Vorstellung geläufig, daß zum Beispiel bei Versagen der Zündung eines Motors nicht gerade dieser schwächere Teil ausgemerzt, sondern vielmehr repariert werden sollte. Es kommt also auf die jeweiligen Umstände an. Der isolierenden Beurteilung einzelner Teile der Universitäten liegt die Auffassung zugrunde, alle Fächer einer Universität bestünden völlig unabhängig voneinander als separate Fachschulen und seien nicht aufeinander angewiesen, sondern nur zufällig und rein organisatorisch in einer Hochschule zusammengefaßt worden. Die Universität als eine auch organisatorische Einheit aller Wissenschaften mag eine nicht ganz realisierbare Vorstellung sein. Die prinzipielle Borniertheit (im Wortsinne als Beschränkung auf ein abgegrenztes Gebiet) widerspricht jedoch der Logik der modernen Wissenschaft, so unterschiedlich die Entfernung mancher Einzelwissenschaften voneinander auch sein mag. Die Anstöße für die Einwerbung und Zuteilung weiterer Mittel sollten von unten aus den einzelnen Disziplinen kommen. Sie müssen sich bemühen, den Entscheidenden ihre Vorhaben und deren Vorzüge klarzumachen, und sollten dabei nicht von vornherein durch zentrale Hochschulplanungen diskriminiert werden. Was künftig ein neues Feld des Wissens von brennender Aktualität sein wird, ist den Hochschulpolitikern und auch einer Hochschul- oder Fachbereichsleitung schon auf mittlere Sicht völlig unbekannt. Sie können nur von Vergangenheit und Gegenwart her urteilen. Projektionen in die Zukunft bleiben in erheblichem Umfang bloße Spekulation. Was bedeutet zum Beispiel ein Abbau der Orientalistik, der Indologie oder der Japanologie angesichts der möglichen Einflüsse, die von diesen Regionen ausgehen können? Ist es wirklich ausgemacht, daß die bisher zuschußbedürftige Magnetschwebebahn im Ruhrgebiet wichtiger sein wird? Die Entscheidenden, etwa ein Ministerialbeamter, Vertreter einer Stiftung oder Mitglied der Hochschulleitung, sollten mit der allgemeinen Natur von Wissenschaft aus eigener wissenschaftlicher Tätigkeit vertraut sein. Sie sind aber bestenfalls nur auf ihrem engeren Fachgebiet wirklich sachverständig. Sie können Gutachter heranziehen, möglichst solche, die nicht gleichzeitig Konkurrenten bei dem Ansturm auf die zu verteilenden Mittel sind. Das spricht übrigens für die Beibehaltung von Zuständigkeiten der Hochschulkanzler als Sachbearbeiter des Haushalts, außerdem für Kompetenzen unparteiischer sachkundiger Instanzen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft und sogar eines Ministeriums alter Art mit seiner Betonung der Fachkompetenz, wie sie vor dem ersten Weltkrieg zum Beispiel in Preußen unter Leitung Friedrich Althoffs vorherrschend gewesen ist (Vereeck 2001). 34 Dort werden Anträge
3 4 Es handelt sich um den Sonderfall eines hervorragend sachkundigen, umfassend gebildeten, diplomatisch geschickten, in der Hochschulverwaltung erfahrenen Wissenschaftlers mit Entscheidungskompetenzen, die er zwar autoritär, aber in dem Sinne wahrgenommen hat, daß die Freiheit der Wissenschaft und der wissenschaftliche Wettbewerb gefördert wurden. Der w o h l w o l l e n d e und sachkundige Diktator kann heute schon allein deshalb nicht mehr zum Leitbild der Hochschulpolitik erhoben werden, weil es bei den entscheidenden politischen Instanzen an der Urteilsfähigkeit und Bereitschaft fehlt, die Kulturbedeutung der Wissenschaft in ähnlicher W e i s e anzuerkennen, w i e das im 19. Jahrhundert üblich g e w e s e n ist.
78 · Hans Willgerodt aus allen Wissenschaftsgebieten entgegengenommen und bei der Aufteilung von Mitteln gegeneinander abgewogen. Je mehr jedoch die Wissenschafts- und Technologieministerien politisiert sind und mit eigenen groß angelegten Forschungsplanungen auf die Universitäten Einfluß nehmen, desto problematischer wird die Entscheidungsbefugnis dieser Instanzen in Forschungsfragen der Universitäten. Es könnte nach englischem Vorbild erwogen werden, eine nicht weisungsgebundene Zwischeninstanz zwischen Ministerium und Hochschule vorzusehen. Ob diese Lösung zweckmäßig ist, richtet sich nach der Organisation und wissenschaftlichen Urteilsfähigkeit dieser Instanz. Sofern sie wissenschaftsfremd mit Vertretern von politischen und wirtschaftlichen Interessengruppen oder Weltanschauungen besetzt ist, kann die Objektivität stärker gefährdet sein als bei einem Ministerium, das immerhin parlamentarisch kontrolliert werden kann. Die bisherigen Erfahrungen mit sogenannten Hochschulräten sind im Gegensatz zu den bewährten früheren Kuratorien zwiespältig. Es wäre völlig abwegig, ihnen umfassende diktatorische Kompetenzen zuzuweisen und damit womöglich die Universitäten wissenschaftlichen Dilettanten auszuliefern, die nicht vom Vertrauen der Betroffenen oder überhaupt nicht von dem Urteil von Wissenschaftlern abhängig sind. 35 Die bei der Beurteilung von Forschungsprojekten getroffenen Entscheidungen sind unvollkommen, nicht nur wegen begrenzter Kenntnisse der Beurteiler, sondern vor allem wegen der Unsicherheit von Prognosen über Forschungsergebnisse. Es wird mit bloßen Anträgen versucht, eine Instanz zu überzeugen, die einen schwer objektiv eingrenzbaren Ermessensspielraum hat und bei lückenhafter Information entscheiden muß. Das Problem entschärft sich, wenn die einzelnen Professoren zwingend eine Grundausstattung erhalten, mit der sie auch ohne zusätzliche Mittel nach neuen Erkenntnissen suchen können. Wenn und soweit durch Leitungsorgane der Hochschulen oder durch die Selbstverwaltungsgremien diese Grundausstattung in Frage gestellt werden kann, ergibt sich eine Tendenz, diesen Instanzen gegenüber unterwürfig zu sein und ständig um die eigene Möglichkeit zu wissenschaftlicher Betätigung mit Methoden zu kämpfen, die aus der Politik bekannt sind. Auf der anderen Seite entschärft sich das Problem weiter, wenn bei einem Projekt nach abschlägigem Bescheid der einen Instanz andere staatliche oder nichtstaatliche Geldgeber umworben werden können und außerdem weder der Hochschulleitung noch einem Ministerium hierbei ein allgemeines Vetorecht zusteht, das nicht durch die normale Gesetzgebung begründet ist Insofern ist § 25 des Hochschulrahmengesetzes erfreulich, der ein solches Veto ausschließt. Während der Revolte von 1968 wurde die Forschung mit Drittmitteln (die eigentlich Zweitmittel heißen müßten 36 ) als Gefahr für die Unabhängigkeit der Forschung angesehen, vor allem, wenn es sich um private Geldgeber gehandelt hat. Bei Gerichten scheint dieses Mißtrauen noch immer zu dominieren. Assistenten und Studieren-
35 Zum vieldiskutierten Hochschulrat in Vechta: Fink ( 2 0 0 1 ) . 3 6 Historisch wurden Mittel, die der Träger der Hochschule zur Verfügung stellte, und Mittel, die von den Studierenden stammten, durch sonstige Einnahmen ergänzt. D i e Einnahmen durch Studiengebühren sind weggefallen.
Deutsche Hochschulpolitik · 79 de forderten damals eine gesellschaftspolitische Kontrolle der Wissenschaft. Der nordrhein-westfälische Gesetzgeber folgte dieser Tendenz ein wenig, indem Drittmittelprojekte meldepflichtig gemacht wurden (Besch 1970, 27 f.). Allerdings wurden die Nebentätigkeiten der Hochschulwissenschaftler stärker beschränkt und kontrolliert. Im neuen Hochschulrahmengesetz begünstigt der Gesetzgeber nunmehr die Forschung mit Hilfe von Drittmitteln. Diese Mittel sollen der Hochschule zufließen und von ihr verwaltet werden. Aus diesen Mitteln kann eine Zulage vergeben werden. Die forschenden Hochschulmitglieder sollen sich als eine Art von abgabepflichtigen Unternehmern betätigen, indem sie sich die für ihre öffentliche Aufgabe notwendigen Mittel selbst beschaffen und damit den Fiskus entlasten. Diese Möglichkeit wurde auch bisher schon genutzt, setzt aber voraus, daß die Forschenden private Mäzene finden oder Auftragsforschung betreiben. Solche Wissenschaften, an deren Leistungen kein privates oder privatwirtschaftliches Interesse besteht, werden benachteiligt. Die Beschaffung von Drittmitteln soll in Zukunft nicht nur aus diesen Mitteln belohnt werden, sondern auch aus den allgemeinen Leistungszulagen, die durch Kürzung der Professorengehälter gespeist werden. Da diese Drittmittel vor allem, wenn sie aus privater Hand stammen, überwiegend für angewandte und Zweckforschung bewilligt werden, wird die Grundlagenforschung als Hauptaufgabe der Universität zusammen mit allen jenen Fächern benachteiligt, für die sich keine Mäzene finden. Die Fähigkeit, Mäzene und Auftraggeber für Zweckforschung zu finden, setzt zum Teil ganz andere Begabungen voraus als diejenigen, die zu Forschung und Lehre besonders befähigen. Ein weiteres Wettbewerbselement für die Forschung, aber auch für die damit verbundene Lehre, kann hinzukommen, wenn die einzelnen Hochschulen bei der Behandlung der einzelnen Fächer Spielraum haben. Sie können dann deren Förderungswürdigkeit unterschiedlich beurteilen. Das ist ausgeschlossen, wenn ein übergeordnetes Ministerium, u.a. zur Vermeidung obrigkeitlich für überflüssig gehaltener sogenannter „Doppelforschung", die ganze Forschung nach einem Gesamtplan mit „strategischen" Zielen und der Zuweisung von Forschungsaufgaben planwirtschaftlich durch als „Verträge" ausgegebene Anweisungen festlegt, mit denen in der Regel einseitig nur die Hochschulen gebunden werden. Soweit damit der Entscheidungsspielraum der Hochschulen und ihrer Mitglieder aufgehoben wird, können sie nicht mehr durch ihr Verhalten Wettbewerb mit anderen Hochschulen treiben. Neuerdings gilt das bewährte und für den Fortschritt aller Fächer offene System der Hochschulen als rückständig. Man möchte aktuelle Strömungen aus der Unternehmenspolitik nachahmen. Einst galt dort die Fusion zu diversifizierten Konzernen als Mittel zur Abschwächung von Risiken. Nach zahlreichen Fehlschlägen besinnt man sich inzwischen wieder auf Kernkompetenzen. Dazu nicht mehr passende Unternehmensteile werden abgestoßen. Ähnlich sollen Hochschulen Schwerpunkte bilden und „Profil" zeigen. Aber das Profil kann doch nach dem Muster der großen alten Universitäten gerade in ihrer Vielfalt und den dadurch erleichterten interdisziplinären Kontakten bestehen. Nirgendwo ist ein überzeugender Beweis geführt worden, daß die Teile der umfassenden Universitäten ganz allgemein mit spezialisierten
80 · Hans Willgerodt Hochschulen nicht konkurrieren könnten. Warum sollen hier Vielfalt und Wettbewerb der Strukturen schlechthin zugunsten von stärkerer Einseitigkeit aufgehoben werden? Eine sinnvolle Diskussion kann also nur darüber geführt werden, ob im Einzelfall eine Hochschule für ein bestimmtes Fach noch eine wettbewerbsfähige Betriebsgröße bieten kann. In bestimmten naturwissenschaftlichen Disziplinen können zum Beispiel sehr teuere Apparate wegen im Vergleich zu ihrer Auslastung zu hoher Kosten nicht an allen Universitätsstandorten zugleich angeschafft werden. Aber der Regelfall ist das nicht. Auch in der Wissenschaft gibt es den umtriebigen und vielseitigen Kleinbetrieb, der durch seine unbürokratische Beweglichkeit wettbewerbsfähig ist. Außerdem ist die Spezialforschung sowohl auf eine weniger spezialisierte Grundlagenforschung angewiesen als auch auf die Ergebnisse der Nachbarfächer. Für die Medizin und die Wirtschaftswissenschaft ist das offenkundig, gilt aber auch für viele andere Wissenschaftsgebiete. Heute wird die Konzentration von Vertretern bestimmter Fächer an wenigen Standorten unter Preisgabe anderer Standorte gefordert, weil man sich davon Vorteile durch Kontakte der spezialisierten Fachleute untereinander verspricht. Solche an sich unbestreitbaren Vorteile sind gegen einen Nachteil abzuwägen: Durch diese „Profilbildung" 3 7 kann es zu einer Vereinseitigung von Hochschulen und zu Verlusten in der Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften, kommen. Das Optimum an Konzentration ist hier jedenfalls vom Maximum zu unterscheiden. Würden alle Vertreter eines bestimmten Faches an einem Ort konzentriert, dann wäre Wettbewerb nur noch zwischen den Ortsansässigen möglich. Dem steht der oft beobachtete Effekt entgegen, daß bei örtlicher Konzentration eines Faches der Wettbewerb der Ansichten abnimmt und sich sogenannte „Meinungen des Hauses" herausbilden. 3 8 Dies wird unterstützt, wenn die Wissenschaftler einer Hochschule die Tendenz haben, gleich orientierte Kollegen zu berufen. Die jetzt im neuen Hochschulrahmengesetz begün-
3 7 Dieser jetzt häufig verwendete Ausdruck ist e b e n s o wie andere hochschulpolitisch moderne Worte außerordentlich nebelhaft. W e n n die Mitglieder einer Hochschule etwas B e s o n d e r e s geleistet haben, so kann man dies als Veränderung des Profils der H o c h s c h u l e bezeichnen. D i e s e Besonderheit kann aber durch Wettbewerb anderer Hochschulen wieder aufgehoben werden. Sofern sie dauerhaft wird, kann man von Spezialisierung sprechen. Besteht die Besonderheit einer Hochschule aber darin, daß sie in j e d e r Hinsicht überragend ist, dann ist die B e z e i c h n u n g „Profil", die ja Differenzierungen gegenüber einer gedachten Durchschnittsebene bedeutet, unangebracht. Wird ferner durch Staatsplanung oder Kartellabsprache z w i s c h e n den Hochschulen eine Spezialisierung in der W e i s e erreicht, daß andere Hochschulen sich in einem bestimmten Gebiet nicht betätigen dürfen, dann handelt es sich um erzwungene oder freiwillige Wettbewerbsbeschränkung mit gegenseitiger Schließung d e s Marktzuganges. Der Ausdruck „Profil" wird auch nicht dadurch klarer, daß man davon spricht, mit der Profilbildung solle ein „Alleinstellungsmerkmal" angestrebt werden ( H e i m e r und Schneider 2 0 0 0 , 4 7 3 ) . 38 S o schon Wilhelm von Humboldt in seiner Schrift über die Organisation der wissenschaftlichen Anstalten ( 1 8 1 0 / 1 9 6 5 , 2 5 9 ) : „Was nun aber das Aeussere des Verhältnisses zum Staat und seiner Thätigkeit dabei betrifft, s o hat er nur zu sorgen für Reichthum (Stärke und Mannigfaltigkeit) an geistiger Kraft durch die Wahl der zu versammelnden Männer und für Freiheit ihrer Wirksamkeit. Der Freiheit droht aber nicht bloss Gefahr von ihm, sondern auch von den Anstalten selbst, die, w i e sie beginnen, einen g e w i s s e n Geist annehmen und gern das A u f k o m m e n eines anderen erstikken. Auch den hieraus m ö g l i c h e r w e i s e entstammenden Nachtheilen muss er vorbeugen."
Deutsche Hochschulpolitik · 81 stigte Hausberufung erleichtert dies. Damit wird der Wettbewerb innerhalb der Fächer eingeschränkt, den man doch fördern will. Ob die moderne Nachrichtentechnik genügt, um solche Einseitigkeiten auszugleichen, ist fraglich. Gewiß schafft diese Technik die Möglichkeit, aber nicht ohne weiteres die Bereitschaft, sich über Meinungen auswärtiger Wissenschaftler schneller zu informieren. Ob zum Beispiel Studierende davon hinreichend Gebrauch machen, hängt auch davon ab, wie sie von den ortsansässigen Wissenschaftlern beraten werden. Im Zweifel wird man sich an der Lehre der ortsansässigen Prüfer orientieren.
IV. Hochschulorganisation und Hochschulautonomie Leistung, Wettbewerb und Kooperation in der Wissenschaft hängen in erster Linie von den einzelnen Wissenschaftlern ab. Demgegenüber wird heute in der Hochschulpolitik die Vorstellung genährt, die Hochschulen als ganze sollten miteinander konkurrieren und kooperieren, oder ihre Fachbereiche als eine Art wissenschaftlicher Fußballmannschaften, weniger die einzelnen Wissenschaftler, deren Individualismus ohnehin zu weit gehe. Der wissenschaftliche Wettbewerb und auch die wissenschaftliche Kooperation finden jedoch nicht zwischen Hochschulen als ganzen statt. Allenfalls gibt es darin Arbeitsgruppen, die mit entsprechenden Gruppen anderer Hochschulen konkurrieren oder zusammenarbeiten. Letztlich kommt es auch in solchen Fällen immer auf die persönliche Kompetenz und die Impulse an, die von Einzelpersonen ausgehen. Infolgedessen ist es auch fragwürdig, in erster Linie Hochschulen im ganzen oder deren Fakultäten, Fachbereiche oder Institute als Kollektive zu „evaluieren" und nach einer solchen Kollektivbewertung finanziell abzustrafen oder zu belohnen. Es ist zwar möglich, daß hohe oder mindere Qualität in Forschung und Lehre auch für ganze Gruppen von Wissenschaftlern festgestellt werden kann, wenn sie ein Selbstergänzungsrecht besitzen und das Leistungsergebnis von der Zusammenarbeit innerhalb der Gruppe beeinflußt wird. Aber dieser Zusammenhang ist gegenüber der Leistung der Einzelpersonen zweitrangig. Hochschulen als ganze sollen außerdem keine wissenschaftliche oder gar politische Meinung haben, mit der sie Profile bilden können. Hätten sie eine solche, dann würden sie über die Meinung derjenigen ihrer Mitglieder hinweggehen, die anderer Ansicht sind, und der Wettbewerb wäre insoweit aufgehoben. 39 Davon bleibt unbe39 Die amerikanischen Universitäten werden jetzt häufig wegen ihrer angeblich stärker hierarchischen Organisation als Vorbild herangezogen. Schon im Jahre 1971 hat jedoch der Präsident der Pennsylvania State University Dr. John W. Oswald folgendes ausgeführt: „If the present world seems to be full of wrong, injustice and hypocrisy... why does not the university speak out?...The circumstance is, of course, that persons at a university do say so, do speak out, but „the university" itself is not a single entity nor the voice for any one group. Thus the university as an institution must not attempt to speak with a single voice even in obvious and simplistic matters lest that voice be misused in matters where less consensus exists. It is vital to our freedom of inquiry that we hold fast not to one idea but to the privilege of finding out and evaluating many ideas." (Oswald, 1972, 20). Hierzu paßt eine Äußerung von Götz Briefs (1958, 59): „...in der Tat gelangt kein Kollektiv zu
82 · Hans Willgerodt rührt, daß es trotz aller ständig stattfindenden schöpferischen Zerstörung bisher bestehender wissenschaftlicher Meinungen durch neue Erkenntnisse und der prinzipiellen Möglichkeit, alle wissenschaftlichen Aussagen wieder neu zu überprüfen, wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die gegenüber solchen Prüfungen resistent sind und als unbestrittene Wahrheiten gelten müssen. Hinter Kopernikus dürfte die Astronomie kaum zurückfallen. Kritiker und Hochschulplaner sprechen im übrigen oft von mangelhafter Kooperation zwischen Hochschulen und ihren Teilen. Dabei ergeben sich viele Mißverständnisse. Arbeiten die Hochschulen in dem Sinne zusammen, daß sie untereinander die Gebiete aufteilen, auf denen sie sich betätigen wollen, dann beschränken sie nach Art von Spezialisierungskartellen den Wettbewerb. Ganz anders ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu beurteilen, die sich aus den Anforderungen des Wettbewerbs von selbst ergibt. Sie erfordert keine Kartellverträge und festen Fachgrenzen mit beschränkenden Absprachen. 40 . Wo diese Zusammenarbeit organisatorisch behindert wird, kann man dagegen vorgehen. Wenn sie aber obrigkeitlich erzwungen werden soll, kommt es zu überflüssigen Konferenzen, unklaren und künstlichen Konzepten sowie Berichtspflichten mit entsprechendem bürokratischem Leerlauf. Die kollektivistisch denkende moderne Hochschulpolitik kann sich nicht mehr vorstellen, daß es ebenso fruchtbar sein kann, wenn sich ein Gelehrter in seinem Zimmer einschließt und in Einsamkeit über ein Problem nachdenkt, ohne eine andere als die geistige Kooperation, die in seinem Kopf mit dem Wissen seiner Zeit stattfindet. Die jüngsten deutschen Hochschulreformen, soweit sie überhaupt leistungsorientiert sind, möchten nicht vorrangig die Freiheit des Wettbewerbs oder der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Wissenschaftlern fördern. Im Vordergrund steht vielmehr eine neue Art der Wissenschaftsplanung. Es sollen dem einzelnen Wissenschaftler Forschungsziele vorgegeben und besondere fachliche Spezialisierungen auferlegt werden, die seine wissenschaftliche Bewegungsfreiheit über das Maß hinaus einengen, das sich aus der allgemeinen Definition seines Faches ergibt. Die Wissenschaftsministerien sind mit der Detailplanung von Forschungen natürlich überfordert und wollen die angestrebte Lenkung dadurch erreichen, daß sie die Detailregulierung an die Leitungsorgane der Hochschulen delegieren. Sich selbst behalten sie jedoch die strategische Planung vor. Sie nennen dies Förderung der Hoch schul autonomie. Wenn die Ministerien Aufgaben an die Hochschulen delegieren und die Hochschulleitungen mit neuen Zuständigkeiten versehen, so geschieht das heute weniger mit liberalisierender, als vielmehr mit disziplinierender Absicht. Auch bleibt die neue Scheinautonomie der Hochschulen insofern Stückwerk, als sie nicht das Recht erhalten, Studiengebühren zu erheben oder sich allgemein ihre Studierenden auszuwählen. den Rechten und Würden einer Person, ohne seine Mitglieder ihrer persönlichen Rechte und Würden zu berauben." 4 0 D i e alte Verfassung der Universität zu Köln v o m 1 8 . 1 2 . 1 9 6 8 sah in § 8 Absatz 3 vor, daß Professoren Vorlesungen über alle Wissenschaftsgebiete halten durften und nur dann möglichst das Einverständnis einer anderen Fakultät herzustellen war, wenn eine Vorlesung ausschließlich in deren Lehrgebiet fiel.
Deutsche Hochschulpolitik · 83 Wie erklärt sich diese beschränkte Verlagerung von Kompetenzen? Soeben war es noch zu einer Vielzahl undurchdachter und wenig erfolgreicher administrativer Lenkungs- und Kontrolleingriffe der Ministerien in die Abläufe an den Hochschulen gekommen. Enttäuscht schiebt nun die Staatsverwaltung eigene Verantwortung den Hochschulen zu, ohne die entscheidenden Hebel wirklich aus der Hand zu legen. Das wird an den sogenannten „Zielvereinbarungen" deutlich, die von den Ministerien mit den Hochschulen abgeschlossen werden. Wie soll eine Hochschulleitung Vereinbarungen über Forschungsziele, die sie unterschrieben hat, in der Hochschule durchsetzen, ohne die Freiheit der Hochschulmitglieder bei der Wahl ihrer Forschungsziele und Untersuchungsmethoden zu beeinträchtigen? Entweder handelt es sich bei den Vereinbarungen um eine Sammlung von Versprechungen über das, was die einzelnen Fächer ohnehin vorhaben, oder um als kollektive Selbstverpflichtungen getarnte Anweisungen nach Art der ehemaligen sozialistischen Planwirtschaften. Das Verhältnis der an den Hochschulen Forschenden und Lehrenden kann nicht einfach nur nach der Principal-Agent-Theorie beurteilt werden, wonach der Auftraggeber, hier der Staat, den Professoren bestimmte Aufträge erteilt und nach Mitteln, etwa Kontrollen und Anreizen, sucht, um die Beauftragten zu auftragsgemäßem Verhalten zu veranlassen (in diesem Sinne Ingo Liefner 2001 und 2002). Das hinter dieser Vorstellung stehende hierarchische Denken verkennt, daß das zugrunden liegende Denkmodell mindestens sehr stark modifiziert werden muß: Der Staat als Hochschulträger und die Hochschulleitung geben im Normalfall keine konkreten Forschungsaufträge; vielmehr gehörte es bisher noch zu den Rechten der nicht weisungsgebundenen Wissenschaftler, im Rahmen ihres Faches die Untersuchungsziele frei zu wählen, sich also insoweit ihre Aufträge selbst zu erteilen. Publikations- und Berichtspflichten der Wissenschaftler begründen nicht ein allgemeines inhaltliches Zensurrecht von Wissenschaftsverwaltung und Hochschulleitung gegenüber der Tätigkeit der Hochschulwissenschaftler. Daß sie sich in der Lehre an bestimmte Studienpläne halten müssen, ist unvermeidlich, legt aber nicht den Inhalt des Gelehrten und schon gar nicht der Forschung bindend fest. Es sind in erster Linie die jeweiligen Fachgenossen, die Leistungen von Wissenschaftlern im Rahmen der nationalen und internationalen wissenschaftlichen Diskussion gegenseitig beurteilen.
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V. Die Behandlung der Wissenschaftler: Gleichberechtigung oder Hierarchie Die Ministerien entlasten sich vor allem von arbeitsintensiven und unangenehmen Aufgaben wie der Entscheidung über die Aufteilung der Haushaltsmittel und der „Leistungszulagen" sowie über die Höhe der Professorengehälter in Berufungsverhandlungen. Wer innerhalb der Hochschulen soll die neuen Aufgaben, insbesondere Kompetenzen bei der Besoldung des wissenschaftlichen Personals, wahrnehmen? Soll die Verteilung von Leistungsprämien und das Aushandeln von Berufungszusagen den akademischen Gremien übertragen werden? Wer das stets gefährdete kollegiale Einvernehmen zwischen den Hochschullehrern zerstören und damit das Klima in den Hochschulen vergiften will, muß so verfahren. Wollen die Hochschulmitglieder im Interesse einer Kräfte sparenden und damit produktiven Konfliktvermeidung eine solche Entwicklung verhindern, dann können sie kartellartig schematisch vorgehen und die vom Staat gewünschte wettbewerbliche Differenzierung im Interesse Ruhe stiftender Mittelmäßigkeit umgehen. Ist es im übrigen sinnvoll, wenn sich heute schon Professoren und ihre Mitarbeiter in ihren akademischen Gremien sogar mit der Aufteilung von Telefongebühren und Reisemitteln auf die einzelnen Lehrstühle beschäftigen? Bei dieser Konstruktion und feststehender Verteilungssumme entsteht bei den zuteilungsberechtigten Wissenschaftlern eine Tendenz, ihre Zahl möglichst klein zu halten und Kollegen zu berufen, die nicht einen solchen Rang haben, daß sie hohe Ansprüche stellen können. 4 1 Die neue Verteilungsautonomie könnte im übrigen für die akademischen Gremien bedeuten, daß sich Professoren und anderes Personal zeitaufwendig um Leistungsentgelte und Ausstattungen streiten wie Hunde um einen hingeworfenen Knochen. Denn soweit Märkte fehlen, dürfte es schwer sein, rechtsmittelfeste, keinen wesentlichen Spielraum offen lassende und leistungsbezogene Kriterien dafür zu entwickeln 4 2 , so sehr man sich auch darum bemühen muß. Subjektive Elemente kommen vor allem dann ins Spiel, wenn die Qualität der wissenschaftlichen Leistungen beurteilt werden soll und nicht nur quantitative Merkmale herangezogen werden. Wenn man die Entscheidung den persönlich am Ergebnis interessierten konkurrierenden Mitgliedern akademischer Gremien überlassen will, müßte 41 Ein ähnliches Problem bestand bei den früheren Produktivgenossenschaften, bei denen im Prinzip die Arbeit der G e n o s s e n nicht nach ihrer Grenzproduktivität entlohnt wurde, sondern das Gesamte i n k o m m e n auf die G e n o s s e n nach ihrer höheren Durchschnittsproduktivität verteilt wurde, in der auch die Kapitalverzinsung mit enthalten war. Es lohnte sich nur, neue G e n o s s e n zuzulassen, wenn sie mehr als die Durchschnittsproduktivität beitragen konnten. Nicht zuletzt an d i e s e m Problem ist die frühere „sozialistische Marktwirtschaft" Jugoslawiens gescheitert, denn überdurchschnittlich produktive G e n o s s e n sind selten, und die übrigen, die noch nicht in einer G e n o s s e n s c h a f t tätig sind, bleiben arbeitslos. D i e Neugründung solcher Genossenschaften durch die Arbeitslosen ist aber erschwert, wenn die Kapitalbildung benachteiligt wird, weil das Kapital nicht angemessen verzinst wird. Im einzelnen: Wittelsberger ( 1969, 9 6 f.). 4 2 Zu der Z w e c k m ä ß i g k e i t Ieistungsbezogener Entgelte anhand nur quantitativer Kriterien: BackesGellner ( 2 0 0 1 ) . Zum Problem der Beurteilung des Forschungs- und Lehrerfolgs von Hochschulen: Liefner ( 2 0 0 1 und 2 0 0 2 ) , Kuhlmann und Β uhrer ( 2 0 0 0 ) s o w i e Heimer und Schneider ( 2 0 0 0 ) und die in beiden Quellen angegebene Literatur.
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es Regeln geben, bei deren Anwendung es auf die subjektive Einschätzung durch einen Beurteiler nicht ankommt, also auch nicht auf seine ausreichende wissenschaftliche Sachkunde und sein persönliches Interesse an dem Ergebnis. Es sind aber mindestens teilweise Ermessensentscheidungen unvermeidlich, etwa bei dem Urteil über die Qualität von Veröffentlichungen und Forschungsergebnissen. Deswegen kann man das Urteil nicht allein solchen akademischen Gremien übertragen, deren Mitglieder persönlich betroffen sind. Diese Aufgabe wird nun an Stelle des Ministeriums die Universitäts- und Fakultäts- oder Fachbereichsleitung übernehmen müssen. Bisher bestand sie noch überwiegend aus Professoren. Um diese aus der Schar gleichberechtigter Professoren herauszuheben, läßt man nun solche Funktionen im Hauptamt oder mindestens für längere Zeit wahrnehmen, vielleicht sogar die Amtsinhaber von außen bestimmen und nicht mehr von den akademischen Gremien aus der Gruppe der Professoren wählen. Der Tendenz nach soll die auf Kollegialität und Wettbewerb unter Gleichberechtigten beruhende Gelehrtenrepublik aufgehoben werden. Anderenfalls befürchtet man, daß die Leitungspersonen entweder einseitig oder nicht so rigoros vorgehen, wie das neue Konzept es möchte, obwohl man ihnen verstärkte Weisungsbefugnisse gegenüber dem wissenschaftlichen Personal zuteilen will. Zu solchen Ämtern können sich jedoch auch Professoren drängen, die ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit eine geringere Bedeutung beimessen, sich aber zutrauen, die Tätigkeit anderer Wissenschaftler zu regulieren, zu „evaluieren" und zu kontrollieren. In solchen Positionen können Professoren durchaus Herrschaftsinstinkte entwickeln, zumal wissenschaftliche Arbeit an sich schon zu eindeutigen Aussagen drängt und nicht auf Kompromisse angelegt ist. Es war deshalb weise, bisher die Leitungsämter unter den Professoren in nicht zu langen Fristen wechseln zu lassen. Vielleicht auch, um solchen Problemen zu entgehen, wird jetzt vorgeschlagen, „Manager" für umfassende Leitungsaufgaben in den Hochschulen heranzuziehen, möglichst solche, die selber keine Wissenschaftler sind, also einerseits an der Mittelvergabe nicht persönlich interessiert sind, auf der anderen Seite aber von den Eigenheiten der Sache, die sie zu verwalten haben, und dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion nichts verstehen, sondern bestenfalls von allgemeiner Organisation. Entspricht die Verstärkung von Hierarchie im Zeitalter der Vernetzung von stärker selbstverantwortlichen Unternehmensteilen wirklich dem modernsten und vor allem dem richtigen betriebswirtschaftlichen und organisationspraktischen Erkenntnisstand für eine Einrichtung, deren Erfolg in erster Linie von der Motivation und dem Entscheidungsspielraum einzelner Wissenschaftler abhängt? Oder wäre dies nicht eher, um mit Friedrich Schiller zu sprechen, „ein Bonmot von vorgestern, die Mode vom vorigen Jahr"? Wer die Vorstellung hat, Professoren seien strukturell lebensfremd und könnten jedenfalls nicht wie moderne Manager die Großorganisation Hochschule leiten, muß sich die Frage gefallen lassen, weshalb die Universitäten seit Jahrhunderten sehr erfolgreich von Professoren geleitet worden sind und auch heute noch geleitet werden. Müssen die Professoren bei der Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten entmündigt werden? Es ist kaum jemand zum Rektor gewählt worden, der nicht sein Ver-
86 • Hans Willgerodt waltungsgeschick für die Gesamtuniversität vorher als Dekan oder Senator und in zahllosen Kommissionen geübt hätte. Professoren als Direktoren großer Institute und Kliniken dürften meist mehr Verwaltungserfahrung haben, als ihnen lieb ist. Will man Juristen und Ökonomen, von denen Verwaltungsbeamte und Manager ausgebildet werden, die Befähigung zur Leitung einer Hochschule absprechen? Wenn die alten Universitätsleitungen so schlecht waren, wie jetzt ohne Beweis behauptet wird, weshalb haben dann die Universitäten auch bei hohen Belastungen noch funktioniert? Die alte Universitätsleitung war der Tendenz nach im Umfang ihrer Anordnungen sparsam, auch weil ihre Mitglieder ihre durch Wahlen legitimierte Leitungstätigkeit nicht als Lebensaufgabe, sondern eher als notwendiges Übel betrachtet haben. Im Prinzip kam man zwischen Professoren mit einer ziemlich flachen Hierarchie aus, selbst wenn immer wieder ohne formale Grundlage nicht immer gerechtfertigte Einflußunterschiede zu bemerken waren und sind. Nichts hat im übrigen der Universität mehr geschadet als eine immer wieder zum Vorschein kommende Tendenz, formelle und beamtenrechtliche Rangordnungen zwischen den Professoren zu verfestigen, darüber hinaus informell steilere Hierarchien zu schaffen und von dem Grundsatz abzuweichen, daß die Richtigkeit wissenschaftlicher Argumente nicht davon abhängt, wer sie vorbringt. Aus gutem Grund waren die rein rechtlichen Befugnisse von Dekanen und Rektoren begrenzt, ihre informellen und tatsächlichen Möglichkeiten aber durch den Respekt erweitert, den man den Inhabern der Ämter entgegengebracht hat. Ihren Anordnungen hat sich einst kaum jemand ohne sehr zwingende Gründe entzogen. Wenn die Universitätsleitungen jetzt nicht nur von den Ministerien Kompetenzen übernehmen, sondern, wie es die Absicht ist, überhaupt mit weiteren neuen und umfassenden Befugnissen ausgestattet werden, kommt es innerhalb der Hochschulen zu einer Umkehrung des Subsidiaritätsprinzips. Im Zweifel ist die übergeordnete Instanz zuständig. Symbolisch dafür ist eine Bestimmung des nordrhein-westfälischen Hochschulgesetzes, wonach dem Rektorat alle Angelegenheiten der Hochschule obliegen, „für die nicht ausdrücklich eine andere Zuständigkeit festgelegt ist." 43 Dem einzelnen Universitätsbürger ist nur gestattet, was ihm ausnahmsweise von der Obrigkeit erlaubt wird. In freiheitlichen Verfassungen darf demgegenüber umgekehrt die Regierung nur tun, wozu sie ausdrücklich ermächtigt worden ist. Ferner soll der hierarchische Zentralismus durch außenstehende Hochschulräte verstärkt werden. Sie sollen „strategische" Konzepte entwickeln, die energisch durchgesetzt werden sollen. Hat man in den Jahren des Aufruhrs noch aus politischen Gründen eine gegen die Professoren und die Logik wissenschaftlichen Arbeitens gerichtete Disziplinlosigkeit wenn nicht gefördert, so doch wohlwollend zugelassen, so will man jetzt die Zügel anziehen. Nicht nur die Mitwirkung der Professoren bei Angelegenheiten der akademischen und allgemeinen Verwaltung wird stark zurückgedrängt, sondern auch diejenige aller anderen Gruppen. In Nordrhein-Westfalen (§ 22 des Hochschulgesetzes vom 14. März 2000) ist die Funktion des Senats stark einge43 § 2 0 Absatz 1 Satz 2 des Gesetzes vom 14. März 2000 über die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen.
Deutsche Hochschulpolitik · 87 schränkt worden. Zugleich wurde die Gelegenheit benutzt, die Paritätsschlüssel zu Lasten der Professoren in Viertelparitäten oder einen ähnlichen Schlüssel (2:1:1:2) zu verändern. Damit wurde eine obsolete Ideologie bedient. Die Umwandlung der früheren Gelehrtenrepublik in eine zentral istische Monarchie findet den Beifall mancher Führungskräfte der Wirtschaft, die ihre autoritären Vorstellungen auf die Hochschulen übertragen. Sie verbünden sich ungewollt mit den ergrauten Anhängern der Aufruhrperiode nach 1968 mindestens insoweit, als beide ihr Hauptziel darin sehen, die Professoren zu kontrollieren und deren Rechte einzuschränken. Man könnte von einem hochschulpolitischen Bündnis zwischen Big Business und Karl Marx sprechen. Es ist viel, allzu viel von „Führung" und „Strategie" die Rede. Vergessen wird dabei, daß schon einmal an den deutschen Hochschulen das nationalsozialistische „Führerprinzip" geherrscht hat und unter dem realen Sozialismus Ähnliches geschehen ist. Wissenschaft erfordert durchaus eine hohe Disziplin. Sie besteht aber in der Regeltreue rationaler wissenschaftlicher Diskussion und vielen in Vergessenheit geratenen ungeschriebenen Gesetzen der Loyalität. Die in den Hochschulen notwendige äußere und fachliche Disziplin kommt zwar nicht gänzlich ohne formelle Rangordnung aus. Dies ist aber eher ein notwendiges Übel und muß in wissenschaftlichen Fragen gegenüber der Gleichberechtigung der Wissenschaftler so weit wie möglich zurückgedrängt werden. In der alten Universität ließ sich äußere Disziplin oft leichter durchsetzen als heute, nachdem die Hochschulreformer für längere Zeit die Universität zum rechtsfreien Raum haben verkommen lassen. Auch „Strategie" ist ein verräterisches Wort und stammt aus der Kriegführung, die gehorsame Soldaten voraussetzt. In das Zivile gewendet bedeutet es zentrale Planung durch eine übergeordnete Instanz. In der Hochschulpolitik ist sie bei der Aufteilung staatlicher Mittel und für die Gründung und den Ausbau von staatlichen Hochschulen nicht zu vermeiden. Wenn aber die Strategen der Wissenschaftspolitik nicht mit den einzelnen Wissenschaftlern kooperieren, sondern ohne deren Zustimmung inhaltliche Auflagen machen, geraten sie in Konflikt mit der Freiheit der einzelnen Wissenschaftler, ohne die es keinen leistungsfördernden wissenschaftlichen Wettbewerb gibt. Für diesen Wettbewerb ist nichts gewonnen, wenn lediglich Teile der überdehnten Lenkungsbefugnis der Ministerien nach unten auf die Leitungsorgane der Hochschulen verlagert und obendrein verstärkt werden. Von welcher Instanz die einzelnen Wissenschaftler Anordnungen erhalten, dürften sie als weniger wichtig ansehen. Zwar können bei einer größeren Autonomie die heterogenen Kollektive, Hochschulen genannt, miteinander stärker konkurrieren, sofern sie nicht zentralplanwirtschaftIich gefesselt werden. Aber sie könnten dies allenfalls mit ihrem Standort, ihrer Ausstattung und Fächerstruktur tun, wenn diese Merkmale nicht von der Hochschulpolitik festgelegt wären. Diese Faktoren sind wichtig, aber dennoch zweitrangig gegenüber dem Geist, der in den Hochschulen herrscht. Dieser Geist kann nur von den vielen einzelnen und selbständig denkenden Wissenschaftlern und den Regeln bestimmt werden, die sie entwickeln. Von Personen und ihrem Umgang miteinander hängt der
88 · Hans Willgerodt Erfolg ab. Er wird nur zu erzielen sein, wenn neue Leitungsorgane, deren Bewährung noch aussteht, behutsam vorgehen. Die Freiheit der Wissenschaft darf jedenfalls nicht mit der Autonomie der Hochschule als Kollektivorganisation verwechselt werden. Die vielen Professoren verschiedener Fachrichtungen sind an den überwiegend staatlichen Hochschulen in der Regel Beamte, die ebenso wie die Richter nicht nach Gutdünken versetzt werden können. Damit sollen sie gegen Pressionen der Politik, der Wirtschaft und auch ihrer Kollegen geschützt sein. Im Rahmen ihres jeweiligen Faches haben sie erhebliche Pflichten, aber bisher noch Dispositionsfreiheit bei der Wahl ihrer Forschungsziele und bei den dabei anzuwendenden Forschungsmethoden. Sie haben zwar keine fachlich weisungsbefugten Vorgesetzten, sind aber einer umfassenden internationalen Öffentlichkeit der Wissenschaft ausgesetzt, also einem starken Wettbewerb der Ideen und einer sachlich erbarmungslosen Kontrolle durch die Fachgenossen. Da diese Fachgenossen oft zugleich auch Konkurrenten oder persönliche Sympathisanten sind, kann die Kontrolle in beiden Richtungen von der Objektivität abweichen. Sie ist trotzdem der Beurteilung durch Vorgesetzte weit überlegen. Insoweit gibt es eine marktähnliche Institution zur Bewertung wissenschaftlicher Leistungen. Die Marktübersicht wird dabei allerdings selbst in Spezialfächern durch die unübersehbare Fülle an Veröffentlichungen getrübt, so daß die vielgerühmte Wissensgesellschaft an der begrenzten Aufnahmefähigkeit des einzelnen Wissenschaft betreibenden Menschen leidet. 44 An der grundsätzlichen Funktionsfähigkeit dieses auf der Meinungsfreiheit der Fachleute beruhenden Kontrollsystems ändert das jedoch nichts. Das Marktelement in der Hochschulforschung wird außerdem verstärkt, wenn erfolgreiche Forscher durch Berufungen an andere Hochschulen ihre Arbeitsbedingungen und ihr Gehalt verbessern können. Diesen Wettbewerb haben die deutschen Wissenschaftsminister durch Kartellabsprachen aller Art massiv eingeschränkt (Monopolkommission 2000, Ziffer 67). In vielen Bereichen sind die Professorengehälter gegenüber vergleichbaren Positionen außerhalb der Hochschulen nicht wettbewerbsfähig. Wie wichtig ist diese Tatsache? Hochschullehrer üben in aller Regel ihren Beruf nicht oder nicht vorrangig aus Gründen des Gelderwerbs aus. Es sind vor allem die Möglichkeit, Wissenschaft als Beruf auszuüben, und die fachliche Dispositionsfreiheit, die den Hochschullehrerberuf anziehend gemacht haben. Professoren konnten bisher auch nicht wie politische Spitzenbeamte wegen mißliebiger fachlicher Ansichten in den Ruhestand versetzt oder wie Leiter von privaten Großunternehmungen wegen Meinungsverschiedenheiten über die Geschäftspolitik entlassen werden. So konnten die Hochschulen manche Spitzenkräfte gewinnen, die besser dotierte Positionen hätten erlangen kön-
4 4 Bei Berufungen wird in Deutschland häufig mehr auf die Zahl und Fremdsprachlichkeit von Veröffentlichungen der Bewerber und den Ort der Publikation geachtet als auf den wissenschaftlichen Gehalt, den aufzunehmen die unter Zeitdruck gesetzten Mitglieder von Entscheidungsgremien oft nur noch selektiv in der Lage sind. Daß ein W e n i g e r an Publikationen oft sachlich mehr wäre, kann in e i n e m Zeitalter technisch erleichterter Massenproduktion von Druckwerken kaum noch verständlich gemacht werden.
Deutsche Hochschulpolitik · 89 nen oder erlangt haben. 4 5 Seit vielen Jahren werden aber die immateriellen Bedingungen des Professorenberufs verschlechtert. Politik, Wissenschaftsverwaltung, Medien und Wirtschaftsverbände sind sich darin einig, daß die Professoren allgemein zu wenig leisten und von einer Kontrollhierarchie diszipliniert werden müssen. Einige Professoren meinen das auch von ihren Kollegen, wobei dieses Urteil von einer Tendenz zur prinzipiellen Höherschätzung der eigenen Leistung beeinflußt sein kann. Das früher einmal hohe Ansehen der Professoren wird weniger durch ihre gestiegene Zahl beeinträchtigt als durch diese Kampagne. Neben der nicht anerkannten Überbelastung der Hochschullehrer bedeutet das eine geringere Anziehungskraft des Professorenberufs für Spitzenbegabungen. Sie wird weiter vermindert, wenn Professoren allgemein nur noch auf Zeit eingestellt werden. 4 6 Ihr Gehalt soll ferner auch bei fester Anstellung in regelmäßigen Abständen nach kaum ausreichend objektivierbaren Leistungskriterien neu festgelegt werden. Sind alle diese Maßregeln sinnvoll? Jedenfalls wird dadurch das materielle und immaterielle Risiko des Professorenberufs erhöht. Die Professoren werden dort, wo das möglich ist, diese Unsicherheit ausgleichen wollen. Wenn sie nicht vermögend sind, werden sie sich um Auffangstellungen in der Praxis und um Nebentätigkeiten bemühen müssen. Beabsichtigt ist, die Hochschulwissenschaftler gegenüber vergleichbaren und in Dauerstellungen gesicherten anderen Beamten und Angestellten in ihrem Vertragsverhältnis deutlich schlechter zu stellen. Dies könnte durch eine Risikoprämie ausgeglichen werden. Bei Vorstandsmitgliedern von Aktiengesellschaften wird das Risiko, das in den kürzerfristigen Anstellungsverträgen besteht, in der Regel durch höhere Besoldung mehr als aufgewogen. Für Professoren aber soll jetzt nur das Risiko erhöht werden. Wegen der ständig betonten Kostenneutralität der neuen Besoldungsreform ist mit einer Kompensation nicht zu rechnen. Solange den Professoren ein mittlerer Lebensstandard möglich ist, könnte man das Problem ihrer Besoldung für durchaus zweitrangig halten. Entscheidend für die Leistungsfähigkeit derjenigen, die Wissenschaft als Lebensberuf ausüben sollen, ist 4 5 Erich Gutenberg, einer der großen Männer der deutschen Betriebswirtschaftslehre, erzählte mir einmal über ein verlockendes Angebot aus einem großen Industriekonzern. Zunächst unschlüssig habe er auf d e m Flur der Konzernzentrale die Namenschilder an den Türen betrachtet und plötzlich darüber nachgedacht, welche Intrigen wohl zwischen den leitenden Mitarbeitern gesponnen würden und wieviel Zeit sie damit verbrächten, die Intrigen anderer abzuwehren und mit gleicher M ü n z e heimzuzahlen. Daraufhin habe er sich für den Professorenberuf entschieden. D i e Intrigen an Hochschulen haben w e g e n der Intelligenz der Beteiligten oft ein besonderes Raffinement, konnten aber bisher nicht in einen gesicherten Bereich der persönlichen Zuständigkeit der Professoren für die selbständige Wahrnehmung eines Faches eindringen. Wußte der Gesetzgeber nicht, daß er dies durch die von ihm angestrebte verstärkte Hierarchisierung nun ändert? 4 6 Sogenannte politische Beamte hohen Ranges können ohne A n g a b e von Gründen, also nach Belieben der Regierung, pensioniert werden. D a s Prinzip, leitende Beamte nur noch befristet zu ernennen, soll jetzt verallgemeinert werden. Damit wird die Vorstellung aufgegeben, daß es einen von den Regierungswechseln unabhängigen Sachbereich des öffentlichen Dienstes gibt. Auch die W i s senschaft an staatlichen Hochschulen verliert an Unabhängigkeit, wenn politische Instanzen über die Fortsetzung eines Anstellungsverhältnisses entscheiden. A u f der anderen Seite ist für A n g e stellte im öffentlichen Dienst der Kündigungsschutz bis zur faktischen Unkündbarkeit ausgedehnt worden.
90 · Hans Willgerodt weniger ihre Besoldung an sich, sondern die Aussicht, daß sie nach einer Ausbildungs- und Bewährungsphase einen physisch gesicherten Bereich erhalten, der von anderen nicht zerstört werden kann. Es müssen ihnen langfristig angelegte wissenschaftliche Reifeprozesse und Forschungen möglich sein, die nicht mit der Elle der Quartalsberichte von Aktiengesellschaften gemessen werden und auch nicht von politischen Wahlen oder Wechseln von Ministern, Rektoren oder Dekanen abhängig sein dürfen. Der neuen Hochschulgesetzgebung liegt eine völlig andere Vorstellung zugrunde. Man meint, man könne aus den vorhandenen Professoren mehr Leistung herausholen, indem man nicht nur ihre Arbeitsbedingungen regelmäßig zur Disposition stellt, sondern auch den Wettbewerb zwischen ihnen verstärkt. Sie sollen wie selbständige Unternehmer behandelt werden, freilich mit dem gravierenden Unterschied, daß über ihre Leistung weniger ein wirklicher Markt entscheidet, sondern mehr eine übergeordnete Hierarchie. Ausweichen könnten sie dieser Tendenz, indem sie sich mit Konkurrenten wie in einem Kartell mit Gewinnpoolung einigen. Der Staat wird das vermutlich nicht zulassen. Denn im Ergebnis sollen einige von ihnen besser und dafür andere schlechter bezahlt werden. Für herausragende Wissenschaftler sollen höhere Gehälter möglich sein. Also bleibt aus einem vorgegebenen Gesamtbetrag für die Professorenbesoldung nur noch weniger für die anderen Professoren übrig. Alle Professoren zusammen sollen eine gegebene Gesamtsumme an Grundgehältern und solchen Leistungszulagen erhalten, die durch Kürzung ihrer bisherigen Gehälter aufgebracht werden. U m den durch Kürzungen aufgebrachten Betrag sollen die Professoren durch Leistung konkurrieren, ohne insgesamt mehr zu erhalten als bisher. W e r nach Ansicht der neuen Beurteilungsinstanzen durch höhere Leistung herausragt, erhält Zulagen auf Kosten seiner Kollegen, die sich deswegen ebenfalls in ihrer Leistung anstrengen sollen. Je mehr Zuckerbrot der eine erhält, desto mehr wird über den anderen die Peitsche geschwungen. Man könnte dies das Prinzip der Tretmühle nennen: Je schneller darin der einzelne vorwärts geht, desto mehr müssen ihm die anderen folgen. Aber alle zusammen kommen keinen Schritt weiter, sondern es soll sich nur die Mühle der Leistung schneller drehen. Ist das nicht sogar die Logik des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs, wie ihn Wirtschaftsprofessoren sonst so loben? Auch dabei konkurrieren doch die Anbieter um die Gesamtausgabe der Nachfrager. 4 7 Sollte an einem Markt bei tatsächlich feststehender Gesamtausgabe das Angebot im Wettbewerb spontan zunehmen, dann würde der Preis für das Einzelprodukt entsprechend sinken (Preiselastizität von eins, 47 Bei wachsender Wirtschaft nehmen allerdings eben wegen dieser Konkurrenz das Gesamtprodukt und damit bei entsprechenden wirtschaftspolitischen Bedingungen die Gesamtnachfrage und das Gesamteinkommen zu. Eine Einkommenselastizität der Nachfrage mit dem Wert Null nach Erreichen eines bestimmten Ausgabeniveaus weicht daher vom Durchschnitt nach unten ab, der bei störungsfreiem Ablauf unter Einschluß der Investitionsnachfrage bei 1 liegen muß. Wer wie die Hochschulpolitiker behauptet, daß sich der Zuwachs an wissenschaftlichen Leistungen und ein wachsendes Einkommen gegenseitig bedingen, kann kaum von einer konstanten Gesamtausgabe für diese Leistungen und dafür von einer unter eins liegenden Einkommenselastizität der Nachfrage ausgehen. Einfacher ausgedrückt: Man kann nicht auf die Dauer wie ein Zechpreller höhere Leistungen der Universität nachfragen, ohne dafür zu bezahlen.
Deutsche Hochschulpolitik · 91 constant outlay curve). In einem marktwirtschaftlichen System ist es durchaus möglich, daß gesamtwirtschaftlich die Nachfrager auch bei steigendem Gesamteinkommen für einen bestimmten nachrangigen Zweck nur eine konstant bleibende Summe ausgeben. Ferner ist es für ein einzelnes Haushaltsjahr selbstverständlich, daß im staatlichen Haushaltsplan ein gegebener Betrag für die Hochschulen ausgewiesen wird. Angeblich ist aber der Bedarf an Universitätsleistungen nicht nachrangig sondern hat hohe Priorität. Es ist deswegen keineswegs selbstverständlich, daß die in einem Haushaltsjahr ausgewiesene Summe für die Hochschulen in den folgenden Jahren unverändert fortgeschrieben oder sogar wie heute im Interesse anderer Zwecke gekürzt wird. Denn von einer spontanen Zunahme des Angebots an wissenschaftlichen Leistungen bei unveränderter Nachfrage kann keine Rede sein. Es gilt vielmehr als ausgemacht und wird von den Hochschulpolitikern auch unablässig betont, daß eine dringende Nachfrage nach zusätzlichen wissenschaftlichen Leistungen der Hochschulen bestehe. Dies sei, so wird gesagt, unabweisbar in einer „Wissensgesellschaft", in der wir angeblich leben werden. Eine deswegen erhöhte Nachfrage nach diesen Leistungen müßte also eigentlich zu einer höheren Gesamtausgabe für dieses Gut führen. Um das Angebot anzuregen, müßte sogar die Einzelleistung höher entlohnt werden. Dies soll vermieden werden. Um sein Ziel eines höheren Angebots bei unveränderter oder fallender Ausgabe zu erreichen, hält der Staat nach dem Muster der alten Lohnfondstheorie 48 seine Gesamtausgabe fest und möchte ein höheres Angebot erzwingen, indem er auf die Anbieter wie ein Nachfragemonopolist mit Optionsfixierung Druck ausübt. Das Verfahren ist aus anderen Bereichen bekannt: In der sozialen Krankenversicherung hat man bei steigender Nachfrage nach medizinischen Leistungen versucht, die Gesamtausgaben einzufrieren. Hierzu wird die Entlohnung der Einzelleistungen gesenkt und der Wettbewerb nach dem Tretmühlenprinzip verschärft (Prinz und Vogel 2001). Auch die Bundeswehr soll mit unveränderten und sogar herabgesetzten Mitteln zusätzliche und neuartige Leistungen erbringen. In den von Streiks bedrohten Bereichen einschließlich des öffentlichen Dienstes gilt demgegenüber der genau entgegengesetzte Grundsatz, die Entlohnung von Einzelleistungen müsse bei
48 In ihrer einfachsten Version besagte diese im 19. Jahrhundert erörterte Theorie, daß der für Lohnzahlungen verfügbare Fonds gegeben sei, so daß ein höheres Arbeitsangebot zu sinkenden Lohnsätzen führen müsse (Krelle 1961, 3 f.). Für die Hochschulen soll jetzt ein solcher Effekt herbeigeführt werden, indem das Angebot bei gleicher Arbeiterzahl und unverändertem Lohnfonds durch Druck und intensiveren Wettbewerb zwischen den Arbeitern erhöht wird. Denkbar wäre auch, daß der für Wissenschaftler verfügbare Lohnfonds verringert wird, um eine „antikonjunkturelle Reaktion" (von Dietze 1937, 37) hervorzurufen. Danach steigt bei rückläufiger Nachfrage und Wettbewerb das Angebot und sinkt deswegen bei preisunelastischer Nachfrage die Gesamtausgabe noch einmal zusätzlich. Voraussetzung dafür ist fehlende Abwanderungsmöglichkeit der Anbieter und Dominanz des Einkommensziels trotz verringerter Entlohnung. Angeblich will der Bundestag für sich selbst anders vorgehen. Die Zahl an Abgeordneten wird verringert. Die dadurch eingesparten Mittel für Mitarbeiter sollen den übrigen Abgeordneten zur Verfügung gestellt werden (Kölnische Rundschau v. 27.11.2001).
9 2 · Hans Willgerodt
den alljährlichen Tarifrunden erhöht werden. Zunächst wurde dabei das Gesamtangebot durch Arbeitszeitverkürzung der noch Beschäftigten verringert. Inzwischen wird dies vor allem durch die Nichtarbeit der Arbeitslosen erreicht. Man befindet sich bei den Erwerbsfähigen in einer neuen Dreiklassengesellschaft, nämlich der Mehrleistenden, der Minderleistenden und der Nichtleistenden (an Leistung Gehinderten und Arbeitsunwilligen). Durch das neue System können jedoch nur diejenigen Wissenschaftler nach dem Tretmühlenprinzip unter Druck gesetzt werden, die sich bereits auf das sehr hohe Risiko einer wissenschaftlichen Laufbahn eingelassen haben. Auch müssen sie weniger Alternativen haben, sei es wegen der Hindernisse des Orts- und Berufswechsels, sei es wegen ihrer außerhalb der Hochschulen nicht verwendbaren Spezialisierung, in die sie früher einmal durch günstige Bedingungen und Aussichten hineingelockt worden sind. Aber nur die ersten Nachwuchskräfte werden in solche Fallen gehen. Ein steigendes Angebot bei zurückgedrängter Gesamtausgabe entsprechend dem Tretmühlenprinzip kann vorübergehend nur von denen erzwungen werden, die schon beruflich fixiert sind und daher unelastisch oder sogar antikonjunkturell auf herabgesetzte Entlohnungssätze reagieren. Die deutsche Hochschulpolitik sieht das jedoch anders. Das neue System schaffe endlich die Möglichkeit, wissenschaftliche Spitzenkräfte aus anderen Bereichen, etwa dem Ausland oder der Wirtschaft, für deutsche Hochschulen zu gewinnen. Dazu müssen Anreize bestehen, denn man wird solche Personen auch durch höhere Bezahlung in ihren bisherigen Tätigkeiten festhalten wollen. Sehr viele können das außerdem nicht sein. Sonst wäre der fixierte Vergaberahmen bald erschöpft und die nicht ganz so herausragenden Professoren müßten empfindliche Gehaltskürzungen hinnehmen. Die Ansicht, man könne ihnen dies beliebig zumuten, verkennt, daß auch weniger prominente Professoren Alternativen haben und ebenso der zunächst noch weniger prominente, aber vorzügliche wissenschaftliche Nachwuchs sich von der Universität abwenden kann. Auch von Einwanderungen ist nicht allzuviel zu erwarten. Man will trotz erhöhter Nachfrage nach wissenschaftlichen Leistungen dafür um keinen Preis eine höhere Bezahlung. Es sollen auch keine neuen Dauerstellen für Hochschullehrer eingerichtet werden. Jedoch sollen Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter in Stellen für auf Zeit angestellte Juniorprofessoren umgewandelt werden. Diese neuen Lehrkräfte müssen zwar als eine Art von geringer bezahlten Billigprofessoren gleichberechtigt mit den dauerhaft angestellten Professoren forschen und lehren, erhöhen aber wegen des Wegfalls von Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter nicht die Gesamtkapazität der Hochschulen, sondern ändern nur ihre Struktur. Es bleibt also dabei: Die Hochschulen sollen für denselben Gesamtbetrag höhere Leistungen erbringen, denn die geforderte Haushaltsneutralität bedeutet konstante Gesamtausgaben. Daß die Gehälter der Professoren nach Leistungsunterschieden differenziert werden sollten, hat einiges für sich, soweit es für solche Unterschiede sinnvolle und eindeutige Maßstäbe gibt. W a r u m hat man dann bisherige Differenzierungsmöglichkei-
Deutsche Hochschulpolitik · 93 ten abgeschafft? Denn bei Berufungen sind sie beschränkt worden, Kolleggelder und Prüfungsgebühren gibt es nicht mehr. Die Kürzung der Grundgehälter und die Unsicherheit, die bei den Leistungszulagen entsteht, wird abschreckend wirken. Je mehr viel leistende Kollegen berufen werden, desto mehr sinkt die eigene Leistungszulage. Wird dies nicht ausgeglichen, dann wandern auch weniger prominente Hochschullehrer ab, und die Spitzenkräfte werden sich zurückhalten. Im übrigen sind aber die Abwanderungsmöglichkeiten kein zuverlässiger Leistungsmaßstab. Ob man dies und andere Ungereimtheiten durch andere, hinreichend objektive Leistungskriterien ausgleichen kann, bleibt offen. Nicht mehr offen ist aber die Meinung der Regierung, die Leistungen der Professoren könnten dadurch gesteigert werden, daß man sie schlechter behandelt. 49
VI. Der wissenschaftliche Nachwuchs Ein besonders umstrittenes Projekt der neuen deutschen Hochschulpolitik ist die Neuregelung des Zugangs zum Professorenberuf an den wissenschaftlichen Hochschulen. Durch das neue Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes vom 16.02.2002 werden als Zugangsvoraussetzung zum Hochschullehrerberuf neben der Promotion weitere wissenschaftliche Leistungen gefordert. Sie sollen aber nicht Gegenstand eines Prüfungsverfahrens gewesen sein (§ 44 Absatz 2 Satz 3). Die Habilitation war bisher ein solches Verfahren. Der Sinn der neuen Vorschrift ist es also, die Habilitation abzuschaffen. (Zur rechtlichen Problematik Detmer 2001.) Ob damit ein ausdrückliches Verbot der Habilitation verbunden ist, bleibt zunächst offen, ihr Verschwinden ist jedenfalls das ausdrücklich verkündete Ziel der Reform. Begründet wird dies mit der Behauptung, der bisherige wissenschaftliche Assistent oder wissenschaftliche Mitarbeiter, der sich habilitieren wolle, sei zu stark von einem Professor abhängig gewesen. Dies habe eine frühzeitige Selbständigkeit des wissenschaftlichen Nachwuchses in Forschung und Lehre verhindert. Wie unselbständig die Habilitanden tatsächlich gewesen sind, blieb ebenso ungeprüft wie die Möglichkeit, daran bei nachgewiesenen Mängeln etwas zu ändern. Außerhalb der Hochschule berufstätige Habilitanden, die sich jenseits des Habilitationsverfahrens überhaupt nicht in dem behaupteten Abhängigkeitsverhältnis befunden haben können, wurden nicht in die Überlegungen des Gesetzgebers einbezogen. Wer in Zukunft Hochschullehrer werden will, soll einen anderen Weg gehen. Er soll in der Regel nach einer herausragenden Promotion eine Postdoktoratphase von maximal zwei bis drei Jahren durchlaufen, deren Charakter unklar bleibt. Anschließend soll er zunächst für drei Jahre ein mit den anderen Professoren gleichberechtigter Juniorprofessor werden, allerdings mit niedrigerem Gehalt. Bewährt er sich dabei, kann diese Frist um maximal weitere drei Jahre verlängert werden. Innerhalb dieser
4 9 D i e Meinung, w e m erlaubt werde, Wissenschaft als Beruf auszuüben, müsse zu Opfern bereit sein, verkennt, daß diese Opfer kaum in dem erwünschten U m f a n g erbracht werden, wenn sie nicht von Staat und Öffentlichkeit anerkannt werden.
94 · Hans Willgerodt Gesamtfrist von sechs Jahren muß der Juniorprofessor als Voraussetzung für eine zeitlich unbegrenzte normale Professur zusätzliche, aber von seiner eigenen Hochschule nicht zu prüfende wissenschaftliche Leistungen erbringen, sich um eine reguläre Professur bewerben und berufen werden. Ihn kann auch die eigene Hochschule berufen, sofern er nach der Promotion die Hochschule gewechselt hat oder mindestens zwei Jahre außerhalb der Hochschule wissenschaftlich tätig gewesen ist (§ 42 Abs. 3 Satz 2 HRG). Das vom Gesetzgeber sonst so sehr betonte Prinzip, nicht die abgebende, sondern einzig und allein die aufnehmende Universität dürfe die Qualifikation des Hochschullehrernachwuchses prüfen, ist insoweit durchbrochen, wie im Falle der jetzt ausdrücklich begünstigten Hausberufung beide Hochschulen identisch sind. Wie ist diese Neuregelung zu beurteilen? Der bisher am meisten beschrittene, wenn auch keineswegs alleinige Weg zur Professur begann mit einer Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter oder wissenschaftlicher Assistent. Beide bereiteten sich während ihrer Tätigkeit entweder auf die Promotion oder die Habilitation vor, lernten aber den Berufsalltag des Professors unmittelbar kennen und wurden darin einbezogen. Eine bessere Vorbereitung auf den Professorenberuf gibt es nicht. Eine solche Vorbereitung soll künftig für den Juniorprofessor entfallen. 5 0 Jedenfalls ist nicht erkennbar, wo sie der Gesetzgeber angesiedelt haben könnte. Die Doktoranden sollen zwar in Zukunft einen regulierten Status erhalten, die Pflicht zu Dienstleistungen ist damit aber nicht verbunden. Es wird im Gegenteil eine stärkere Betreuung durch die Hochschulen in besonderen Lehrveranstaltungen vorgeschrieben. Auch für die mögliche Postdoktorphase im Anschluß an die Promotion ist nicht vorgesehen, daß der Anwärter (die Anwärterin) auf eine Juniorprofessur mit den Aufgaben eines Professors einschließlich der akademischen Selbstverwaltung vertraut gemacht wird. Der künftige Juniorprofessor ist nur promoviert. Die für eine Tätigkeit als Professor notwendigen Erfahrungen und Kenntnisse, die über die Promotion hinausgehen, hat er (oder sie) nicht sammeln können. Es ist auch nicht erkennbar, wie die nach § 47 Absatz 1 Ziffer 2 des Gesetzes für die Ernennung zum Juniorprofessor erforderliche pädagogische Eignung festgestellt werden soll, wenn der Bewerber (die Bewerberin) vorher nicht an der wissenschaftlichen Lehre beteiligt gewesen ist und eine entsprechende Prüfung, wie sie die Habilitation darstellen kann, nicht zugelassen wird. Sofort nach ihrer (seiner) Ernennung zur Juniorprofessorin (zum Juniorprofessor) muß sie (er) jedoch ohne Einschränkung die Pflichten eines Professors auch in der Lehre erfüllen. Die für eine Dauerprofessur geforderten zusätzlichen wissenschaftlichen Leistungen hat sie (er) noch nicht erbracht. Diese Leistungen sind auch noch nicht daraufhin geprüft, ob sie Grundlage einer Berufung sein können. Im wesentlichen lernt die Juniorprofessorin (der Juniorprofessor) ihre Tätigkeit ohne formale Verbindung mit einem erfahrenen Hochschullehrer erst „on the job", mit allen damit verbundenen Risiken nicht nur für sie selbst, sondern auch zum Beispiel 50 Zu den Einzelheiten: Regierungsentwurf vom 30.05.2001 eines 5. Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes und anderer Vorschriften.
Deutsche Hochschulpolitik · 95 für von ihr zu prüfende Kandidaten. Wie sie das Promotionsrecht ausüben soll, wenn sie zunächst nur drei Jahre amtiert, ist unerfindlich. Kann sie zum Beispiel auch nach ihrer termingebundenen Entlassung noch als Gutachter und Prüfer ihrer Doktoranden im Promotionsverfahren bestellt werden? Es ist möglich, daß die Hochschulen aus allen diesen Gründen nur ganz besonders befähigte Ausnahmebewerber für eine Juniorprofessur akzeptieren werden, also die bisher in der Habilitation bestehende Auslese verschärfen und vorverlegen. Ob das den Zugang erleichtert, ist fraglich. Möglich ist es aber auch, daß die Hochschulen zunächst begierig nach den Anfangssubventionen greifen, die von der Bundesministerin für Bildung und Forschung für Juniorprofessoren zur Verfügung gestellt werden. Daß die Hochschulen später diese Stellen durch Einsparungen an anderem Ort, insbesondere bei Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter alimentieren müssen, nimmt man in Kauf, vielleicht in der trügerischen Hoffnung, nachher im Falle der Not die Juniorprofessuren wieder zurück umwidmen zu können. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter nehmen zum Teil schon heute unter Anleitung und Verantwortung durch einen Professor Lehraufgaben wahr. Soweit ihre Stellen nun in Juniorprofessuren umgewandelt werden, entfallen solche Anleitung und Verantwortung sowie Begrenzungen, die sich aus der Natur des Dienstverhältnisses und dem Rechtsanspruch des wissenschaftlichen Mitarbeiters ergeben, genügend Zeit für eigene wissenschaftliche Tätigkeit eingeräumt zu bekommen. Die bisherigen Professoren könnten sich von der Umwandlung der Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter in Juniorprofessuren eine Entlastung bei besonders wenig beliebten Aufgaben versprechen, die sie bisher nicht oder nicht vollständig an die Mitarbeiter delegieren konnten. Dazu gehören manche Massenprüfungen, Lehrveranstaltungen mit hohem Vor- und Nachbereitungsaufwand und manche notwendigen oder überflüssigen, jedenfalls zeitraubenden und wissenschaftlich unproduktiven, aber vorgeschriebenen Tätigkeiten in der akademischen Selbstverwaltung. Das alte Mittelbaukonzept mit seiner übertriebenen Delegation von Lehrtätigkeiten durch die regulären Professoren und mit den entsprechenden Unzufriedenheiten könnte wieder aufleben, vor allem, wenn das Gesetz in Kraft tritt, wonach Studiengebühren überhaupt und vor allem in der Form der den Dozenten zufließenden Kolleggelder verboten werden. Daß sich die regulären Professoren von der Aufgabe entlasten, die Juniorprofessoren wissenschaftlich zu fördern, ist offenbar ausdrücklich gewollt. Die andere, als Ausnahme weiterhin vorgesehene Möglichkeit des Zugangs zu einer Dauerprofessur besteht darin, zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter zu werden, in dieser Position promoviert zu werden und dann die für die Berufung erforderlichen zusätzlichen wissenschaftlichen Leistungen zu erbringen. Dieser W e g wird aber vom Gesetzgeber nicht gern gesehen. Er begründet dies damit, Doktorandinnen und Doktoranden in einem Beschäftigungsverhältnis zur Hochschulé würden „mit promotionsfremden Hilfstätigkeiten weit über das zumutbare Maß hinaus belastet" (S. 22/66 der Begründung zu der 5. Änderung des Hochschulrahmengesetzes). Diese Hilfstätigkeiten gehören aber bei pflichtgemäßer Handhabung zum Professorenberuf oder bereiten darauf vor. Der Professor betreibt nicht nur reine Forschung, sondern
96 • Hans Willgerodt muß sie und die Lehre auch technisch und administrativ vorbereiten, er muß Prüfungen abnehmen, Gutachten erstatten, Doktoranden, andere Examenskandidaten und Studierende beraten oder betreuen, Institute verwalten, Personalfragen entscheiden, Literatur lesen, auswerten und anschaffen, eigene Veröffentlichungen abfassen und redigieren, Zeitschriften und Bücher betreuen und herausgeben, auf Tagungen auftreten, als Mediziner Kranke versorgen, an zahllosen Gremiensitzungen teilnehmen, einschließlich der mühseligen Beratungen über die Umsetzung von ständig geänderten Hochschulgesetzen, und muß noch vieles andere tun. Wissenschaftliche Mitarbeiter lernen diese Tätigkeiten kennen und arbeiten dabei mit. Sie werden im allgemeinen auch an der Lehre beteiligt. Es ist nicht zu erkennen, wie dieser aus wissenschaftlicher Mitarbeit entstehende Lernvorgang in einem Graduiertenkolleg vor der Promotion untergebracht werden könnte. Würde man ihn darin unterbringen, dann liefe das darauf hinaus, einen Status geringer bezahlter wissenschaftlicher Mitarbeiter einzuführen, die man Doktoranden nennt. Ähnliches gilt, wenn die Postdoktorphase dazu benutzt werden würde, nachzuholen, was der wissenschaftliche Mitarbeiter von Anfang an neben seiner Promotion und seinen sonstigen wissenschaftlichen Leistungen an vielseitigen Erfahrungen sammelt. Es ist im übrigen nicht zu erkennen, welchen Charakter diese Postdoktorphase haben soll. In vielen Fächern ist die Erwartung völlig illusorisch, jemand werde nach der für Juniorprofessoren vorgeschriebenen herausragenden Promotion eine nicht oder schlecht bezahlte Postdoktorphase absolvieren in der vagen Hoffnung, anschließend auf die unsichere, provisorische, arbeitsreiche und mäßig bezahlte Position eines Juniorprofessors wechseln zu können. In den Ingenieurwissenschaften und den Wirtschaftswissenschaften übersteigen die Anfangsgehälter in der Wirtschaft sogar bei nicht promovierten Spitzenkräften das Gehalt von Juniorprofessoren erheblich. Will man solche Kräfte an die Universität binden, muß ihnen mindestens das normale Gehalt eines wissenschaftlichen Mitarbeiters geboten werden. Welche Vorteile die Einführung des Juniorprofessors als Vorbereitung auf eine endgültige Professur bringen soll, ist unklar. Die Verkürzung von Studien-, Promotions- und Qualifikationszeiten für Bedienstete der Hochschulen ist für wissenschaftliche Mitarbeiter in derselben Weise vorgesehen wie für Juniorprofessoren. Nur dürfen die für beide Gruppen vorgeschriebenen zusätzlichen wissenschaftlichen Leistungen nicht Habilitation heißen und nicht außerhalb von Berufungsverfahren in einem formellen und rechtsstaatlichen Verfahren wie der Habilitation geprüft werden. Im Hintergrund steht, daß man die Bindung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters an einen Professor als Vorbereitung auf den Hochschullehrerberuf für unzweckmäßig hält, weil sie angeblich den Mitarbeiter zu lange in Unselbständigkeit festhalte. Die Behauptung, wissenschaftliche Mitarbeiter könnten bisher nicht selbständig wissenschaftlich arbeiten, ist vor allem dann unzutreffend, wenn sich ein Mitarbeiter (eine Mitarbeiterin) habilitieren will. Denn gerade für die Habilitation wird in besonderem Umfang Selbständigkeit verlangt. Die Möglichkeit eines Professors, einen wissenschaftlichen Mitarbeiter unangemessen zu behandeln, steigt nur geringfügig, wenn der Mitarbeiter den Wunsch äußert, sich zu habilitieren. Bei außenstehenden Habiii-
Deutsche Hochschulpolitik · 97 tanden besteht diese Möglichkeit überhaupt nicht. W o es wie in den naturwissenschaftlichen, ingenieurwissenschaftlichen und medizinischen Fächern Probleme bei der selbständigen Nutzung der technischen Einrichtungen gibt, können und müssen dafür wie in der Regel bisher schon gezielt praktische Lösungen gefunden werden. Nachdem eine sehr große Zahl von deutschen Privatdozenten und Nachwuchskräften sowie Wissenschaftlern aller Ränge gegen das neue Hochschulrahmengesetz protestiert haben, sind im Ausland lebende deutsche Wissenschaftler zugunsten dieser Gesetzesänderung mobilisiert worden. 51 Von 464 Votanten gehörten nur 18 geisteswissenschaftlichen, juristischen und ökonomischen Fächern an, während Mediziner dominierten und im übrigen Naturwissenschaftler das größte Kontingent stellten. Immerhin sollten die Mediziner, Naturwissenschaftler, Ingenieurwissenschaftler und Vertreter verwandter Fächer (Mathematik und Informatik) darüber nachdenken, ob sie nicht W e g e finden können, zu einer flacheren Hierarchie überzugehen und einer offenbar bestehenden Unzufriedenheit vorzubeugen. Ob die Votanten allerdings den neuen Gesetzestext gekannt und seine Folgen durchdacht haben, ist zweifelhaft. Offenbar wissen sie nicht, daß das neue Gesetz die Hierarchie nicht abbaut, sondern massiv verstärkt. Was wird durch die jetzige Neuregelung gebessert? Bis zu seiner plötzlichen Beförderung auf eine Juniorprofessur soll der Bewerber Doktorand bei einem als Betreuer vorgesehenen Professor sein, der ihn intensiver betreuen soll als bisher üblich. Soweit für bestimmte Berufswege eine Promotion vorgeschrieben ist, gerät die paternalistische Vorschrift, einen Betreuer zu finden, in Konflikt mit der Freiheit der Berufswahl. Hatte der in absentia von der Universität Jena promovierte Karl Marx einen Doktorvater? W a r u m darf man nicht auch ohne Betreuer eine Dissertation einreichen, wie das noch nach 1950 an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn möglich gewesen ist? 52 Auch in einer Postdoktorperiode werden, soweit das zu erkennen ist, künftige Juniorprofessoren nicht gerade auf eine Selbständigkeit als Professor vorbereitet. In beiden Perioden sollen sie nämlich intensiver als bisher üblich betreut werden. Was die Neuerer also der bisherigen Habilitation wissenschaftlicher Mitarbeiter vorwerfen, nämlich daß sie diese Mitarbeiter in Unselbständigkeit festhalte, wird nun erst eingeführt und potenziert. Der Schlüssel zum Zugang in den Professorenberuf liegt künftig bei der Promotion und einer unklaren Anschlußphase, die beide in erhöhter Abhängigkeit vollbracht werden sollen. Die Neuerer meinen, die für einen wissenschaftlichen Mitarbeiter vermutete Servitut könne dadurch aufgelöst werden, daß der wissenschaftliche Nachwuchs künftig von dem Fachbereich als Kollektiv herangebildet wird. Ein Kollektiv ist aber solange niemand, wie es nicht festlegt, wer konkret etwas tun soll. 51 Offener Brief von 4 6 4 deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an die Bundesministerin für Bildung und Forschung und die Kultusminister der Länder v o m 27. März 2001 (internet: http:// www.geocities.com/hochschuIreform/Hochschulreform 1 htm v o m 3 1 . 0 8 . 0 1 . ) 5 2 D i e Furcht der Fakultäten, daß dann zahllose schlechte Dissertationen eingereicht werden, ist unbegründet, wenn bei der Bewertung die üblichen strengen Maßstäbe angelegt werden und dies allgemein bekannt ist. Allerdings kann die Kontrolle erschwert sein, o b die Dissertation von d e m Einreichenden stammt. D a s ist aber kein sehr großer Unterschied zu betreuten Dissertationen.
98 · Hans Willgerodt
Bei einem wissenschaftlichen Mitarbeiter werden die betreuenden Professoren zu einem wesentlich stärkeren Engagement in der Diskussion und Förderung bereit sein, weil ihr Verhältnis zu dem Mitarbeiter auf einem gegenseitigen Austausch von Leistungen beruht. Es ist deswegen wahrscheinlich, daß der als Ausnahme nach wie vor erlaubte Weg zur Professur über die Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter allgemein vorgezogen wird, es sei denn, daß man ihn besonders diskriminiert. Eine indirekte Diskriminierung kann in folgendem Zusammenhang bestehen: Die künftigen Planstellen für Juniorprofessuren sollen haushaltsneutral aus den Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter gewonnen werden. Das bedeutet, daß die bisherige Arbeit solcher Mitarbeiter, deren Stellen nun umgewandelt werden, auf die geringere Zahl der übrig bleibenden wissenschaftlichen Mitarbeiter umgelegt und außerdem durch die Anforderungen der Juniorprofessoren vermehrt wird. Denn diese sollen eine Ausstattung erhalten. Der Zusatzbelastung einer verminderten Zahl wissenschaftlicher Mitarbeiter sind allerdings theoretisch arbeitsrechtliche Grenzen gesetzt, mindestens, was die Arbeitszeiten angeht. Die Arbeitszeit von Professoren kann wie üblich beliebig verlängert werden. Für ihre Mitarbeiter besteht rechtlich diese Möglichkeit nicht. Gleichwohl ist es nicht ausgeschlossen, daß man sich daran nicht halten kann. 53 Mit dem Übergang von den die Professoren stärker belastenden Abschlußprüfungen zum Credit-point-System und weiteren Korrekturarbeiten kann die Arbeitsbelastung der wissenschaftlichen Mitarbeiter stark ansteigen. Der oben für die Professoren beschriebene Tretmühleneffekt wird dann auch bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern herbeigeführt. Der bisher übliche Weg zur Professur über die Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter soll ja Ausnahme bleiben. In Zukunft wird der wissenschaftliche Nachwuchs abwägen, ob er eher über den unpersönlichen Weg des Juniorprofessors oder über den Weg eines wissenschaftlichen Mitarbeiters die Qualifikation für eine Dauerprofessur erwerben will. Die Konkurrenz dieser beiden Wege kann wie jede Konkurrenz die Qualität beider erhöhen. Weshalb soll die Juniorprofessur privilegiert werden? Der wissenschaftliche Mitarbeiter kann bei einem Professor oder einer Professorengruppe, in deren Bereich er Leistungen erbringt, stetiger und intensiver auf eine Professur vorbereitet werden als jemand, der nach viel kürzerer Zeit als Doktorand sofort als Juniorprofessor ohne Partner die vollen ihm nur teilweise bekannten Professorenaufgaben übernehmen muß. Daß dies durch eine höhere Besoldung des Juniorprofessors ausgeglichen wird, ist bei dem Streben nach Haushaltsneutralität eher unwahrscheinlich. Es gibt im üb53 Nach § 53 Abs. 2 Satz 2 des neuen H R G soll den wissenschaftlichen Mitarbeitern im Rahmen ihrer Dienstaufgaben ausreichend Gelegenheit zu eigener wissenschaftlicher Arbeit gegeben werden. Diese Vorschrift muß insoweit leer laufen, wie diese Mitarbeiter nun wegen ihrer verminderten Zahl einen größeren Teil ihrer Arbeitszeit für unselbständige Hilfstätigkeit verwenden müssen. Daß hier die Professoren wie bisher pragmatisch vorgehen können, wird durch anderweitige Vorschriften über Dienst- und Anwesenheitszeiten und Regulierungen erschwert. Die Professoren müssen einen Teil des ihnen jetzt auferlegten zusätzlichen Bürokratie- und Berichtsaufwands an die Mitarbeiter delegieren, um ihre eigenen wissenschaftlichen Aufgaben erfüllen zu können. Soeben hat ein Professor einer Universitätsklinik auch für seine ihm darin zustimmenden Mitarbeiter längere Arbeitszeiten gefordert, weil bei nur 48 Wochenstunden die Forschung in Gefahr gerate (Walsroder Zeitung vom 19. M ä r z 2002).
Deutsche Hochschulpolitik · 99 rigen schon heute für wissenschaftliche Mitarbeiter Beamtenstellen des höheren Dienstes, die für die Inhaber wesentlich vorteilhafter sind als eine Juniorprofessur. Die Einrichtung der Juniorprofessuren könnte höchstens den Vorteil haben, daß der Wettbewerb um Spitzenkräfte innerhalb der Universität belebt wird und die Professoren gezwungen sind, den Umstand zu beachten, daß ihre Mitarbeiter auf Juniorprofessuren abwandern könnten. Für wissenschaftliche Mitarbeiter besteht der einzige Unterschied zu der bisherigen Regelung darin, daß die nach der Promotion zu erbringenden zusätzlichen wissenschaftlichen Leistungen nicht mehr in der Habilitation bestehen dürfen. Begründet wird dies zunächst damit, die Habilitation sei international nicht üblich. Dies ist unzutreffend, sie besteht nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch in Osteuropa. In Frankreich kennt man ähnliche Verfahren. Ob etwas im Ausland üblich ist oder nicht, spricht weder für noch gegen diesen Sachverhalt. Ebenso irrelevant ist der ständig wiederholte Versuch, eine Änderung allein damit zu begründen, daß die alte Regelung aus dem 19. Jahrhundert oder einer noch früheren Zeit stamme. Damit könnte man auch die Abschaffung der Universität überhaupt „begründen". Die These, das Habilitationsverfahren zehre das Selbständigkeitspotential der Habilitanden auf, unterstellt allen bisherigen Habilitierten und nach der Habilitation berufenen Professoren einen irreparablen Defekt. Dies verlangt nach genaueren Beweisen. Formell bedarf es für die Habilitation keines weiteren Einverständnisses oder einer Betreuung durch irgend jemanden, wenn ein Promovierter sich habilitieren will. Er muß nur nach Erfüllung der notwendigen Voraussetzungen einen Antrag auf Habilitation stellen, der nur aus formalen Gründen zurückgewiesen werden kann. Daß sich Habilitanden informell über die Aussichten eines Habilitationsverfahrens erkundigen und dabei besondere Kontakte pflegen, ist verständlich. Das wird aber auch bei der Bewerbung um eine Juniorprofessur der Fall sein und ist für die vorgeschriebene Spitzenpromotion jetzt sogar in verstärkter Form ausdrücklich vorgeschrieben. Es könnte höchstens gesagt werden, diese Habilitationsleistungen würden im Kontakt mit einem oder mehreren Professoren und unter dem Eindruck vielseitiger Kritik und Diskussion erbracht. Das hat sich bei allen wissenschaftlichen Leistungen bewährt. Das Hauptargument scheint zu sein, das Alter bei der Habilitation betrage durchschnittlich vierzig Jahre und sei zu hoch. Zahlreiche Fälle wesentlich jüngerer Habilitierter sprechen gegen die These, es liege an der Habilitation an sich, wenn das Durchschnittsalter der Habilitierten die genannte Höhe hat. Die Gründe für spätere Habilitationen sind zahlreich. Die Dauer der Ausbildungszeit vor der Habilitation wäre dabei genauer zu betrachten, insbesondere die Dauer des Studiums und die Zeit der Promotion, für die noch 1952 in Nordrhein-Westfalen bei Verwaltern der Stelle eines wissenschaftlichen Assistenten eine Höchstzeit von 2 Jahren vorgeschrieben war. Heute ist die doppelte Zeit zulässig. Für das volkswirtschaftliche Diplom waren 3 Jahre vorgesehen und wurden eingehalten, heute sind es 4 Jahre, die nicht eingehalten werden. Einst gab es eine Reifeprüfung nach 12 Schuljahren auf einem Niveau, das eher höher war als das heutige. Es gibt im übrigen gute Gründe dafür, nicht den
100 · Hans Willgerodt Markt für die Qualifikation zum Professorenberuf dadurch zu schließen, daß dafür eine Altersgrenze festgelegt wird. Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, daß sich die Fakultäten gegen den Eindruck zur Wehr setzen werden, der Zugang zu einer Dauerprofessur solle nun mit der Abschaffung der Habilitation wissenschaftlich leichter werden. Jedenfalls ist es möglich, daß das Niveau der für die Berufung geforderten zusätzlichen wissenschaftlichen Leistungen insgesamt nicht hinter dem einer Habilitation zurückbleibt. Ob dies aber der Fall ist, erfährt der Juniorprofessor allenfalls, wenn er sich um eine Professur bewirbt. Ein Rechtsanspruch, mitgeteilt zu bekommen, ob man in eine Berufungsliste aufgenommen worden ist, scheint bisher nicht zu bestehen. § 48 Absatz 5 des nordrhein-westfälischen Hochschulgesetzes vom 14. März 2000 schließt das Recht aus, „Einsicht in die Akten des Berufungsverfahrens" zu nehmen, „soweit sie Gutachten über die fachliche Eignung enthalten oder wiedergeben". Wenn ein Bewerber aber nicht in eine Berufungsliste aufgenommen wird, besagt das nicht, daß er für den Professorenberuf schlechthin ungeeignet ist. Denn bei Berufungen spielen zahlreiche Zufälligkeiten mit, etwa des Freiwerdens einer Professorenstelle oder einer verlangten Spezialität bei der Ausschreibung. Den Juniorprofessoren wird zwar schon vor ihrer endgültigen Berufung auf eine normale Professur das volle Amt eines Professors sozusagen auf Probe übertragen. Wenn sie sich bewähren, dürfen sie endgültig berufen werden, wenn sie versagen, müssen sie nach einer Frist von einem weiteren Jahr ausscheiden. Auch wenn sie 6 Jahre erfolgreich amtiert haben, aber nicht auf eine Professur berufen werden, müssen sie ausscheiden. Das Ausscheiden ähnelt einer nicht bestandenen Habilitation vor allem dann, wenn in Zukunft die Hausberufung zum Regelfall erhoben werden soll. Der Druck zur Hausberufung wird jedenfalls potenziert, wenn der Juniorprofessor im Gegensatz zum Habilitierten sonst die Hochschule ohne jede formale Berechtigung verlassen muß. Bei der Habilitation geht die Qualifikation der Berufung auf eine Professur voraus, bei dem neuen Verfahren der Juniorprofessur wird die volle Qualifikation erst in Gestalt der Aufnahme in eine Berufungsliste bestätigt und damit nachgeschoben. Wer nicht berufen wird, mag noch so hervorragende wissenschaftliche Leistungen erbracht haben und sich während einer hauptamtlichen, aber zeitlich begrenzten Professorentätigkeit als Juniorprofessor bewährt haben, seine Leistung bleibt ohne jede formale Anerkennung. Nach einer ersten Dreijahresperiode als Juniorprofessor entscheiden vermutlich in erster Linie die anderen Professoren derselben Fakultät darüber, ob sie oder er sich bewährt hat und für weitere drei Jahre bleiben darf. Der Gesetzgeber hat hier eine ganz besondere Absurdität in das neue Gesetz eingebaut: Die für eine Berufung auf eine endgültige Professur nachzuweisenden zusätzlichen wissenschaftlichen Leistungen dürfen „ausschließlich und umfassend" erst in Berufungsverfahren bewertet werden, vorher nicht (§ 44 Abs. 2 Satz 4 des neuen HRG). Wenn es also um die Verlängerung einer Juniorprofessur geht, darf genau genommen die Heimatfakultät umfassend nur die Lehre bewerten und muß Forschungsergebnisse außer Betracht lassen, wollte man diese unsinnige Vorschrift wirklich ernst nehmen.
Deutsche Hochschulpolitik · 101 Dem Juniorprofessor soll also um keinen Preis irgendeine formale Bestätigung darüber zuteil werden, daß die abgebende Fakultät mit seinen Leistungen nach Ablauf von 3 oder 6 Jahren zufrieden gewesen ist. Denn man fürchtet, daß hiermit wiederum ein habilitationsähnliches Prüfungsverfahren verbunden sein würde. Man wird sich jedoch mit einem zeugnisähnlichen Gutachten behelfen, das die Heimatfakultät ausstellt. Wie wäre die Rechtslage zu beurteilen, wenn diese Fakultät zusätzlich ausgeschiedene Juniorprofessoren zu Lehrbeauftragten ernennt? Sollen diese Auswege verboten werden und dürfen sie überhaupt verboten werden? Für Bewerbungen außerhalb der Hochschulen dürften solche Bestätigungen unentbehrlich sein. Man will doch angeblich dafür sorgen, daß solche Wissenschaftler, für die es an den Hochschulen keine Dauerstellen gibt, rechtzeitig und möglichst reibungslos in andere Bereiche abwandern. Die erwähnte Vorschrift erschwert dies unnötig. Die Juniorprofessoren erhalten also nach ihrer Tätigkeit nicht nur keinerlei Rechte an ihrer bisherigen Universität, sondern auch keinen formalen Nachweis ihrer Qualifikation. Demgegenüber haben bisher Habilitierte als Privatdozenten das Recht zur selbständigen Forschung und Lehre an der Hochschule, an der sie sich habilitiert oder an die sie sich umhabilitiert haben. Die Juniorprofessoren erhalten in den Selbstverwaltungsgremien volles Stimmrecht. Das erhöht den Druck auf Hausberufungen weiter. 54 Wird die Zahl der Juniorprofessuren im Verhältnis zu den neu zu besetzenden Dauerstellen gering gehalten und werden andere Wege der Berufung entsprechend dem Willen des Gesetzgebers zurückgedrängt, dann spielt sich der Wettbewerb praktisch nur noch bei der Besetzung der Stellen für Juniorprofessoren ab oder vorher bei den Bewertungen von Dissertationen und anderen Promotionsleistungen. Denn nach § 47 des neuen Hochschulrahmengesetzes muß als Einstellungsvoraussetzung die besondere Befähigung zu wissenschaftlicher Arbeit „in der Regel durch die herausragende Qualität einer Promotion" nachgewiesen werden. Es steht nicht fest, daß die Zahl der frei werdenden Professorenstellen ausreicht, um alle geeigneten Juniorprofessoren auf Dauerprofessuren zu berufen. Man wird danach streben, zwischen verschiedenen Personen wählen zu können. Juniorprofessoren und übrigens auch wissenschaftliche Mitarbeiter, die sich bewährt haben, aber nicht berufen sind, sollen offenbar ihre wissenschaftliche Tätigkeit einstellen. Damit ist der Privatdozent abgeschafft und also auch die Möglichkeit, sich in dieser Position an der eigenen Hochschule weiter durch selbständige Forschung und Lehre zu betätigen und zu qualifizieren. Auch eine nebenberufliche Tätigkeit als Hochschullehrer ist in dieser Position nicht mehr möglich. Sie ist besonders in der Medizin verbreitet und kann nach einer Tätigkeit als Privatdozent mit der Verleihung des Titels eines außerplanmäßigen Professors verbunden sein.
5 4 Zwar hat ein zu berufender Juniorprofessor bei seiner eigenen Berufung auf eine Dauerstelle vermutlich kein Stimmrecht, es ist aber wahrscheinlich, daß sich andere Juniorprofessoren in der H o f f n u n g auf Gegenleistung für die Hausberufung einsetzen und ihr übriges Abstimmungsverhalten an der Geneigtheit der Gremienmitglieder orientieren, solchen Hausberufungen zuzustimmen.
102 · Hans Willgerodt Das neue System schafft irrationale Privilegien. Trotz bester Leistungen können vorzügliche Wissenschaftler durch die Zufälligkeiten von Berufungen aus den Hochschulen verdrängt werden. Die Beschränkung von Forschung und Lehre auf berufene Professoren erinnert an mittelalterliche Verhältnisse im Handwerk, wo die Zulassung zur Meisterwürde an das Freiwerden einer Stelle gebunden war. Daß die Zahl der Professorenstellen begrenzt ist, solange kein Wettbewerb durch Neugründungen von Hochschulen zu erwarten ist, erscheint unvermeidlich. Es wäre aber fatal, wenn deswegen die Zahl derjenigen, die sich über eine Juniorprofessur, als wissenschaftlicher Mitarbeiter oder nach einer sonstigen qualifizierenden Tätigkeit auf eine Professorenstelle bewerben dürfen, der Zahl der freiwerdenden Professorenstellen genau angepaßt würde. Der numerus clausus würde sich nach unten fortpflanzen, übrigens auch die Freiheit der Berufswahl stark eingeschränkt werden. Auch die A u f n a h m e in eine Berufungsliste ist kein Ersatz für den Status des Privatdozenten. Bei wissenschaftlichen Mitarbeitern befreit sie allerdings vom Verbot der problematischen Hausberufung. 5 5 Bei näherer Prüfung ergibt sich im übrigen, daß der jetzt eingerichtete neue W e g zur Professur keineswegs wesentlich verkürzt ist. Das gilt für die Medizin ebenso wie für die Rechtswissenschaft oder die Erziehungswissenschaften. Es wird die Qualifikation zum Facharzt, die zweite Staatsprüfung für Juristen und Philologen und dergleichen nach wie vor verlangt werden. Für die Bewerbung um eine Juniorprofessur ist keine Altersgrenze vorgesehen. Ob ein promovierter Facharzt schon als Juniorprofessor in einer Universitätsklinik für drei Jahre auf Bewährung oder für sechs Jahre völlige Selbständigkeit mit eigener Ausstattung erhalten sollte, hätte wohl etwas sorgfältiger geprüft werden können. In der klinischen Medizin lassen sich Lehre und Forschung in der Regel nicht von der Krankenversorgung trennen. Universitätskliniken befassen sich aber nicht zuletzt mit den besonders schwierigen Fällen, die von erfahrenen Ärzten behandelt werden müssen. Das Problem ließe sich, wenn überhaupt, nur im Rahmen einer Gesamtreform der ärztlichen Ausbildung und der Krankenhausorganisation lösen. Gerade Universitätskliniken dürften sich am wenigsten für den Übergang zum Belegarztprinzip eignen. Auf welche Weise sonst könnte den Juniorprofessoren der Zugang zu Patienten gesichert werden? Ingenieurwissenschaftler dürften, wenn sie aus der Praxis berufen werden, schon eine längere berufliche Laufbahn hinter sich haben. Selbst wer dies alles nicht anerkennen will, sollte sich fragen, ob es nicht viel einfacher gewesen wäre, die Promotion und Habilitation selber zu reformieren. Bei Promotionen mit Höchstnote könnten zum Beispiel weitere Aufsätze die Habilitationsschrift ersetzen, wie das j a meist heute schon zulässig ist. Man könnte darauf drängen, den U m f a n g von Dissertationen und Habilitationsschriften zu vermindern. Für Bedienstete der Hochschulen hätten die Fristen für Promotion und Habilitation ebenso begrenzt werden können, wie das jetzt nach dem neuen Hochschulrahmengesetz geschehen ist. 55 Regierungsentwurf vom 30.05.2001 eines 5. HRG-Änderungsgesetzes, Seite 42/66, Zu Nummer 25 (§ 45) Absatz 2, 2. Punkt über Hausberufungen.
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Die Habilitation hätte insofern aufgewertet werden können, als sie zum Beispiel als Befähigung zum höheren Verwaltungsdienst in dem Fach des Habilitierten anerkannt oder mindestens dabei mit bewertet wird. Das neue Verfahren löst das altbekannte „Nichtordinarienproblem", also der Unsicherheit Habilitierter über ihre Berufungsaussichten, in keiner Weise, sondern ersetzt es nur durch das Problem nicht berufener Juniorprofessoren und wissenschaftlicher Mitarbeiter. Der Wechsel zwischen Hochschule und anderen Bereichen wird nicht durch allseitige Marktöffnung erleichtert, sondern man entläßt qualifizierte Wissenschaftler in die Arbeitslosigkeit. Die früheren Diätendozenturen, auf denen Habilitierte mit nachweisbaren Berufungsaussichten einen Ruf abwarten konnten, sind abgeschafft. Warum sperren sich Staatsverwaltung und Wirtschaft gegen die Zuwanderung von Habilitierten, erwarten aber, daß die Hochschulen ihre Professuren auch nicht habilitierten Praktikern und sogar Politikern zur Verfügung stellen? Das neue Hochschulrahmengesetz will in seinem § 45 Absatz 2 Satz 4 Voraussetzungen für Berufungen außerhalb einer Vorschlagsliste schaffen, also zum Beispiel die Universität für Seiteneinsteiger aus Politik und Wirtschaft gegen den Willen der Universität öffnen. Müßte dies nicht an Bedingungen und Widerspruchsrechte der Hochschule gebunden sein? Die Offenheit darf jedenfalls nicht länger einseitig sein. Warum sollen im übrigen die Hochschulen ohne Not auf die Lehr- und Forschungstätigkeit nebenberuflicher Hochschullehrer wie der Privatdozenten und außerplanmäßigen Professoren verzichten? Sie sind doch wissenschaftlich höher qualifiziert als die nach wie vor beibehaltenen Lehrbeauftragten. Könnte man die Privatdozenten nicht im Zeichen der Verbindung von Wissenschaft und Praxis insofern wieder in den alten Stand versetzen, als man ihnen wie früher Unterrichtsgeld zubilligt? Der Wettbewerb in der Lehre könnte damit belebt werden. Das setzt aber Studiengebühren voraus.
VII. Rückblick und Ausblick Vor dem ersten Weltkrieg war die deutsche Universität ein international bewundertes Vorbild. Sie kam, gemessen an heutigen Verhältnissen, mit wenigen Satzungen aus. Hochschulgesetze gab es nicht, schon gar nicht des Reiches, das hier keine übergeordnete Zuständigkeit besaß. Unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkrieges trat nach einem Bericht meines Lehrers Fritz W. Meyer in der britischen Besatzungszone eine Kommission zusammen, die über eine Reform der deutschen Universitäten beraten sollte. Die Hochschulen waren zu ihren alten und vom Nationalsozialismus verschütteten Prinzipien zurückgekehrt. Auch Ingenieure und Naturwissenschaftler betonten nun den Wert eines Studium generale, um verführbare Einseitigkeit zu bekämpfen, die man in der jüngsten Vergangenheit kennen gelernt hatte. Jüngere britische education officers meinten aber, das deutsche Universitätssystem sei für den Nationalsozialismus mit verantwortlich und müsse aufgegeben werden. Sie verwechselten das politische Versagen vieler Professoren vor 1933 mit einem
104 • Hans Willgerodt Versagen der Institution. Darauf habe ein angesehener älterer britischer Professor eingegriffen und mitgeteilt, er habe vor dem ersten Weltkrieg in Deutschland studiert und könne nur sagen, ein liberaleres und erfolgreicheres System habe er nicht kennen gelernt. Damit war damals die Diskussion zu diesem Thema zunächst beendet. Die Rückkehr der deutschen Universität zu ihren überkommenen liberalen Prinzipien wurde von der aus dem Krieg heimkehrenden Studentengeneration als befreiende Normalisierung angesehen. Nachgeborene haben behauptet, es habe sich um einen bloßen restaurativen, unpolitischen und ungeistigen Rückzug einer schuldig gewordenen Generation in das Private und in bloße materielle Diesseitigkeit gehandelt. Dies kann nur meinen, wer die ungewöhnliche geistige Dichte der Diskussionen an den deutschen Universitäten unmittelbar nach Kriegsende weder miterlebt hat noch die dazu vorhandenen Belege zur Kenntnis nimmt. Übrigens war die weit überwiegende Mehrheit der aus dem Krieg heimkehrenden Studierenden 1933 nicht wahlberechtigt und insoweit für den Nationalsozialismus nicht verantwortlich. Man wußte im übrigen sehr wohl, daß sich für die Universitäten das System der Großväter nicht unbesehen wiederbeleben ließ. Es hatte manche Mängel. Gegenüber dem diktatorischen Führerprinzip des Nationalsozialismus, das den Universitäten übergestülpt worden war, bedeutete aber das Anknüpfen an bewährte ältere Organisationsformen zunächst eine Rückkehr zur Vernunft. Nach zwölf Jahren ideologischer Indoktrination kehrte endlich wieder Nüchternheit ein. Heute wird behauptet, die Grundsätze der früher bestehenden akademischen Freiheit, die j a keineswegs disziplinlos gewesen ist und noch viel weniger disziplinlos sein muß, seien im Zeitalter des Massenstudiums nicht mehr anwendbar. W e i ß man, was man damit sagt? Man sagt damit, in einer angeblich freiheitlichen Demokratie seien persönliche Verantwortung und Freiheit ausgerechnet auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Bildung für die immer breiter werdenden Massen des akademischen Volkes unzweckmäßig. Die Universitäten, und das kann doch nur heißen Studierende, Professoren und ihre Mitarbeiter, müßten stärker kontrolliert werden. Man hat zwar zunächst die für unterdrückt gehaltenen Studierenden von den Disziplinierungen ausgenommen. Die Studierenden stellen j a auch ein höheres Wählerpotential. Also übertrug man ihnen Kontrollrechte ohne entsprechende Pflichten, um politische Unruhe abzufangen. Die Kontrolle richtete sich in erster Linie gegen das wissenschaftliche Personal, vor allem die Professoren. Die dadurch entstandenen rechtsfreien Räume riefen aber schließlich stärkere staatliche Kontrollen hervor, zumal solche Beliebigkeit unerträglich werden konnte, wenn die Universitäten gleichzeitig ohne entsprechende Ausweitung ihrer Kapazität mit einer Überlast an Studierenden überschwemmt wurden. Mit mehr staatlicher Bürokratie sollte der Zustand gebessert werden. Der Adressat waren wiederum hauptsächlich die Professoren und ihre Mitarbeiter. Nachdem die politische Unruhe an den Hochschulen verebbt ist und sich die Folgen bürokratischer Eingriffe und der Überlastung der Hochschulen bemerkbar machen, rufen diejenigen, die glauben, etwas von Wirtschaftlichkeit zu verstehen, abermals nach Kontrollen, und zwar wiederum gegenüber den Professoren und ihren Mitarbeitern. Mehr Hierarchie soll für bessere Effizienz der Hochschulen sorgen. Dieses Streben wird durch den Ruf nach mehr
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Dieses Streben wird durch den Ruf nach mehr Autonomie der Hochschulen getarnt. In Wahrheit ist aber keine größere Handlungsfreiheit der Wissenschaftler gemeint, sondern Verlagerung von arbeitsintensiven und konfliktträchtigen Kontroll- und Entscheidungsbefugnissen an die Hochschulen und Konzentration dieser Befugnisse bei den Universitäts- und Fakultätsleitungen. Diese neue und verstärkte Hierarchie soll die bisherige Gelehrtenrepublik ersetzen. Forschung und Wissenschaft sollen stärker an Aufträge gebunden werden. Bei der Tendenz zur Überbetonung der Zweckforschung verliert man die indirekte Produktivität der Freiheit des Denkens aus den Augen. Dies ist nicht nur Kulturlosigkeit, sondern zugleich falsche Ökonomie. Vieles an den Hochschulen ist wie bei allen menschlichen Einrichtungen unvollkommen. Besserung ist nur zu erwarten, wenn man nicht die eine Unvollkommenheit durch eine andere, möglicherweise größere ersetzt. Um die besten Lösungen zu finden, sollte man auch hier Wettbewerb zulassen, in diesem Falle einen Wettbewerb der Institutionen. Weder den Universitäten noch den Ländern wird jedoch heute größerer Spielraum gewährt. Damit offenbart sich ein allgemeines Prinzip der modernen deutschen Hochschulpolitik: Offiziell beklagt man, es herrsche an den deutschen Hochschulen und zwischen ihnen kein hinreichend Ieistungsfördernder Wettbewerb. Um dies zu ändern, werden jedoch Maßnahmen ergriffen, die den Wettbewerb beschränken: - Die „strategische" Hochschul- und Forschungsplanung will Schwerpunkte setzen, also bestimmte Bereiche der wirtschaftsnahen oder anderweitig für progressiv gehaltenen Forschung und Lehre auf Kosten anderer Gebiete begünstigen, ohne die Entwicklungsmöglichkeiten aller Fächer unparteiisch abzuwägen. - Innerhalb der Hochschulen soll die Hierarchie verstärkt werden. Vermehrte Lenkungsbefugnisse der Hochschulleitungen ersetzen den Wettbewerb prinzipiell Gleichberechtigter innerhalb der bisherigen Gelehrtenrepublik durch zentrale Steuerung. - Staatlich angeordnete „Profilbildung" von Hochschulen mit Konzentration von Fächern an bestimmten Standorten auf Kosten anderer Standorte kann nicht nur die Zusammenarbeit und den Wettbewerb zwischen verschiedenen Fächern mindern, sondern auch den Wettbewerb innerhalb eines Faches. - Numerus clausus und zentrale Studienplatzvergabe in Verbindung mit uniformierten Studiengängen verzerren und beschränken den Wettbewerb der Studierenden um die Studienplätze und beseitigen weitgehend den Wettbewerb der Dozenten um die Studierenden. - Die Abschaffung der Habilitation erschwert den Zugang zum Hochschullehrerberuf für Bewerber, die nicht Bedienstete der Hochschulen sind. Die fachwissenschaftliche Herabstufung des Lehrerberufs, wie sie jetzt geplant ist, behindert, abgesehen vom Niveauverlust der Schulen, den bisher häufiger beschrittenen Zugang von Lehrern zum Hochschullehrerberuf. - Das Hochschulrahmengesetz mindert den Wettbewerb institutioneller Regelungen zugunsten freiheitsbeschränkender Uniformität. Die zu weit gehende Zuständigkeit
106 · Hans Willgerodt des Bundes auf diesem Gebiet erlaubt es, die wettbewerbsbeschränkende und zentralplanerische Politik von Absprachen der Kultus- und Wissenschaftsminister durch den Bundesgesetzgeber zu zementieren. Der Versuch, bei unveränderter Gesamtausgabe für die Hochschulen durch mehr zentrale Regulierungen und erhöhten hierarchischen Druck bei erhöhtem Risiko der wissenschaftlichen Tätigkeit aus den Wissenschaftlern höhere Leistungen herauszupressen, verspricht auf die Dauer keinen Erfolg. Die angeblich größere Autonomie, die man den Hochschulen einzuräumen behauptet, ist nur eine taktische Autonomie im Rahmen zentraler staatlicher Wissenschaftsplanung. Sie erweitert nicht die Entscheidungsfreiheit der einzelnen Wissenschaftler und den Wettbewerb zwischen ihnen, von denen die Leistung der Hochschulen abhängt. Jede institutionelle Änderung, selbst die beste, erfordert zu ihrer Umsetzung und Einübung Aufwand und Zeit. Diese Zeit läßt man den Hochschulen nicht. Gäbe es wohldurchdachte und dauerhafte Hochschulgesetze, dann müßte sich nach dem Inkrafttreten einer Neuregelung die staatliche Regulierungsbürokratie anderen Aufgaben zuwenden. Sie glaubt statt dessen, immer wieder neue Tätigkeitsnachweise auf dem Gebiet der Hochschulorganisation erbringen zu müssen, weil angeblich schon wieder reformbedürftig ist, was soeben erst „reformiert" worden ist. So gut wie jede neue Wissenschaftsministerin und jeder neue Wissenschaftsminister verstehen sich als Winkelriede einer neuen Zeit, mit der die hochschulpolitische Vernunft erst anfängt. Es ist notwendig, daß sich diejenigen Politiker, professoralen Ratgeber, Bürokraten und Publizisten, die für die letzten dreißig Jahre einer verfehlten Hochschulreform verantwortlich sind, einmal eingehend über ihre Irrtümer und Fehler Klarheit verschaffen, anstatt weiter von einer „längst überfälligen" Universitätsreform zu sprechen. Will man es nicht zu einer solchen Besinnung kommen lassen, sondern im Stil der bisherigen Hochschulpolitik fortfahren, dann ist eines sicher: Bald kommt die nächste „Hochschulreform".
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Deutsche Hochschulpolitik • 109
Zusammenfassung Die deutsche Hochschulpolitik: hat in der Zeit des Aufruhrs nach 1968 zunächst mit teilweise verfassungswidrigen Mitteln eine Politisierung der Hochschulen zugelassen und gefördert. Gegen die Folgen ging man während einer Beruhigungsphase mit ständig geänderten Hochschulgesetzen und bürokratischen Eingriffen vor. Gleichzeitig sind die Hochschulen mit einer vervielfachten Zahl an Studierenden überschwemmt worden, ohne daß die Kapazitäten hinreichend ausgedehnt wurden. Inzwischen hat sich eine Wende vollzogen, indem die Hochschulen nur noch als Zweckveranstaltungen für die Berufsbildung und für die Lieferung wirtschaftlich sofort verwertbarer Forschungsergebnisse angesehen werden. In allen drei Phasen richtete und richtet sich die Politik gegen die Professoren und ihre Mitarbeiter, die jetzt bei unveränderter oder herabgesetzter Ausstattung zu höheren Leistungen gezwungen werden sollen. Die hinter dieser Politik stehenden Irrtümer werden im einzelnen dargestellt. Die Universitäten sind weder unmittelbar politische Gebilde noch mit Vorrang Produktionsstätten für marktfähige Forschungsergebnisse. Ihre indirekte Produktivität über die Entwicklung neuer Methoden und die Grundlagenforschung ist jedenfalls wichtiger. Die Lehre muß nach wie vor so forschungsnah wie möglich sein, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll. Die deutsche Hochschulpolitik versucht mit untauglichen Mitteln, die Effizienz der Hochschulen zu steigern und bewirkt das Gegenteil.
Summary The University and the Market: A Critique of German Policy for Higher Education During the so-called student movement after 1968 German governments accepted and promoted the partial transformation of German universities into political organizations. Some of the new regulations proved to be unconstitutional. During a phase of consolidation a continuous flow of ever-changing and contradictory bureaucratic interventions was intended to combat the outcome of the first destabilizing period. At the same time universities with their not sufficiently adapted capacity had to accept heavily growing numbers of students. In the meantime policy-makers changed their mind by stressing now only the economic functions of the universities as professional schools and producers of directly marketable new knowledge. The working conditions of professors and other scientists deteriorated more or less in all three phases, while they were pressed to improve their efficiency. The errors behind this policy are analyzed in detail: universities are neither political institutions nor firms only selling products on the market. At least much more important is their capacity to develop new methods and to find new basic knowledge. The resulting indirect growth of productivity is the main contribution of the universities also from an economic point of view. Teaching at universities should remain
110 • Hans Willgerodt connected with research as far as possible. German policy tries to improve the efficiency of universities by unsuitable methods.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2002) Bd. 53
Alfred
Schüller
Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem* I. Vorgehensweise Um den komplexen Gegenstand in den Griff zu bekommen, möchte ich mich auf einige Punkte beschränken, die miteinander zusammenhängen: Erstens geht es um das Verhältnis von Sozialansprüchen und individueller Eigentumsbildung in der Sicht des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Zweitens wird nach den Zusammenhängen gefragt, in denen Sozialansprüche zum Marktsystem stehen können. Hierzu werden zwei Arten von Sozialansprüchen unterschieden: Solche, die Freiheit, individuelles Eigentum und ein wettbewerbliches Marktsystem ermöglichen, und solche, die auf Konflikt mit den grundlegenden Institutionen des Marktsystems hin angelegt sind. Drittens interessieren die geistigen und politischen Kräfte, die ein explosives Wachstum der Sozialansprüche in Deutschland ermöglicht und damit tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Fehlentwicklungen ausgelöst haben. Für erfolgreiche Reformen ist es unumgänglich, Sozialansprüche wieder in einen systematischen Zusammenhang mit den Institutionen des Marktsystems zu bringen. Deshalb werden viertens die beiden alternativen Methoden der Vermögensbildung im Hinblick auf die Handlungsmotivation, das Handlungspotential und die Handlungskontrolle der Menschen vergleichend analysiert. Die Ausgangsthese lautet: Handlungsmotivation, Handlungspotential und Handlungskontrolle als Aspekte der individuellen Eigentumsbildung stehen im Bewertungs- und Wirkungszusammenhang der Güter-, Kapital- und Immobilienmärkte; sie sind damit Teil der Evolutions-, Informations-, Selektions- und Revisionskapazität des gesamten Marktsystems. Sie gewinnen an Anpassungsfähigkeit, wenn der Geltungsbereich des Marktsystems ausgedehnt wird, und bilden die Grundlage für eine Fülle von verläßlichen positivmateriellen Sicherheiten, die sich aus freivertraglichen Vereinbarungen ergeben. Damit ist die Meßlatte für die vergleichende Beurteilung von Sozialansprüchen genannt, wobei zu berücksichtigen ist, daß der Bevorzugung der einen oder anderen Methode der Vermögensbildung konkurrierende Wertorientierungen zugrunde liegen.
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Erweiterte Fassung des Vortrags im Rahmen einer akademischen Feier aus Anlaß des 80. Geburtstags von Prof. Dr. Ernst Heuß am 11. Juli 2002 in der Universität Bayreuth.
112 · Alfred Schüller
Der letzte Punkt handelt von der individuellen Eigentumsbildung als Schlüsselelement der menschlichen Anpassungsfähigkeit und Zukunftsvorsorge in einer freien Gesellschaft. Das Anspruchskonzept wird mit der Wirklichkeit der in Deutschland als „Riester-Rente" eingeführten Reform konfrontiert.
II. Sozialansprüche versus individuelle Eigentumsbildung: Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts Geht es um soziale Sicherheit und um Handlungsrechte (Property Rights), die die Daseinsgestaltung der Bürger, vor allem der Arbeitnehmer in Gegenwart und Zukunft beeinflussen, werden Sozialansprüche mit materiellem Inhalt vielfach den Chancen der individuellen Eigentumsbildung vorgezogen. Das BVerfG schließt sich dieser Sicht mit folgender Einschätzung an: - Das klassische Eigentum ist eher Voraussetzung einer funktionierenden Wettbewerbsordnung denn Mittel zur Sicherung des individuellen Daseins (Hämisch 2001, 202). - Grundlage der wirtschaftlichen Existenzsicherung, die eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung des einzelnen ermöglicht, ist für die große Mehrzahl der Staatsbürger heute weniger privates Sachvermögen als der Arbeitsvertrag und die daran anknüpfende „solidarisch getragene Daseinsvorsorge". Demzufolge sind „die Anrechte des einzelnen auf Leistungen der Rentensicherung an die Stelle privater Vorsorge und Sicherung getreten" (Bundesverfassungsgericht - BVerfG 1980, 53. Band, S. 290). Dies läuft darauf hinaus, mit den Institutionen des Marktsystems und den Institutionen der Daseinsvorsorge zwei voneinander unabhängige Ordnungsbereiche zu unterscheiden. Tatsächlich ist das staatliche Rentensystem nach dem Umlageprinzip dem Kapitalmarktgeschehen als wesentlicher Bedingung eines erfolgreichen Marktsystems entzogen. Immerhin betrifft dies das Gesamtalterseinkommen eines typischen Rentnerhaushalts in Westdeutschland zu etwa 85 %, in Ostdeutschland in noch höherem Maße (Döring 2002a, 109). Im politischen Prozeß im allgemeinen und in der Rechtsprechung des BVerfG im besonderen besteht darüber hinaus die Neigung, die sozialen Bezüge des Eigentums zugunsten von Sozialansprüchen zu relativieren 1 (siehe Kapitel IV. 3). Dies hat Konsequenzen für den Geltungsbereich privatautonomen Handelns und für die daraus entstehenden Triebkräfte des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs 2 , wenn die inneren Handlungsanreize, das immanente zukunftsorientierte Handlungspotential und die Handlungskontrollen des Marktsystems im Rahmen einer Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs (Eucken 1952/1990, 241 ff.; von Hayek 1971) bedacht werden. Im
1 2
Im Falle des BVerfG ist dies deshalb bemerkenswert, weil dieses in Deutschland als „Instanz des letzten Wortes" (Josef Isensee) gilt. Gemeint ist damit das Zusammenspiel von Innovation, Investition und Arbitrage im Prozeß wettbewerblicher Vorstöße und Nachahmungen (siehe Fehl 1983, 74 ff.).
Sozialanspriiche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem • 113 Hinblick auf Inhalt und Reichweite der Wettbewerbswirkungen, die vom Kapitalmarkt auf die Gütermärkte ausgehen (von Delhaes und Fehl 1997), kann es jedenfalls nicht gleichgültig sein, in welchem Ausmaß den Mitteln der Daseinsvorsorge - etwa den Vermögensansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung - die Kapitalmarktbindung fehlt.
III. Zwei Arten von Sozialansprüchen Kein akzeptables Freiheitskonzept kommt ohne staatlich gesicherte Sozialansprüche aus, vor allem im Hinblick auf die Geltung und Durchsetzung der Grundregeln freiheitlicher Staats- und Rechtsordnungen (von Hayek 1971, 285 ff.). Im einzelnen sind dies: -
-
-
-
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4
Schutz vor Gewalt, Raub, Diebstahl und Betrug, auf Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit; Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit als Voraussetzung der Vertragsfreiheit und der Vertragstreue sowie der individuellen Eigentumsbildung, die insoweit „ein Geschöpf des Rechts und der Politik" ist (Willgerodt 1980, 175); Recht auf allgemeine Schulbildung als Grundlage der Humanvermögensbildung; Recht auf gesetzliche Vorkehrungen, die im Falle von Dauerbindungen (etwa bei Arbeits-, Miet- und Schuldner-Gläubigerverhältnissen 3 ), für die es nicht leicht oder nicht schnell gleichwertigen Ersatz gibt, Anspruch auf entgeltabhängige Kündigungschutzvereinbarungen gewähren; Recht auf Schutz vor moralischem Fehlverhalten anderer Gesellschaftsmitglieder durch geeignete Vorkehrungen wie einen allgemeinen Zwang zur Mindestversicherung für den Fall der Krankheit, des Unfalls, der Alters- und Pflegevorsorge oder der Haftpflicht 4 ; Recht auf einen Kontrahierungszwang der (Kranken-)Versicherer, auf Beschränkung ihres Kündigungsrechts, auf Schutz gegen bestimmte Leistungsausschlüsse, Anspruch bedürftiger Menschen auf staatliche Beihilfen zu den Versicherungsbeiträgen, auf öffentliche Fürsorge und Unterstützung. Nach von Hayek (1981, 122) gibt es „keinen Grund, warum in einer freien Gesellschaft die Regierung nicht allen Personen in der Form eines garantierten Mindesteinkommens oder eines Minimums, unter das niemand zu sinken braucht, Schutz gegen empfindlichen Mangel gewähren sollte. Eine derartige Versicherung gegen extremes Unglück mag sehr wohl im Interesse aller liegen; oder es mag eine klare moralische Pflicht aller empfunden werden, denjenigen innerhalb der organisierten Gemeinschaft, die sich selbst nicht helfen können, beizustehen". Wer absolute Unkündbarkeit beansprucht, dürfte deshalb nur ein erfolgsabhängiges Residualeinkommen beziehen und wie Beamte und Soldaten kein Streikrecht haben (siehe Willgerodt 1980, 178). Bei der Bestimmung des Mindestversicherungsumfangs ist freilich darauf zu achten, daß „nicht aus der Fürsorge für einige wenige die Bevormundung der Mehrheit wird" (Oberender und Okruch 1998, 546).
114 · Alfred Schüller Bei dieser ersten Gruppe von Sozialansprüchen geht es darum, durch einen möglichst niedrigen Transaktionskostenpegel die Entfaltung und die gesellschaftliche Akzeptanz des Marktsystems zu ermöglichen. Als freiheitsgewährleistende Regeln des Marktsystems haben diese Sozialansprüche im Verhältnis zum Marktsystem integrierenden Charakter und zählen zum gesellschaftlichen Kapital an wohlfahrtsstiftenden Institutionen. Andererseits gibt es eine zweite Gruppe von Sozialansprüchen (und diese interessieren im folgenden vor allem), die Konflikte mit der individuellen Eigentumsbildung herbeiführen und darauf angelegt sind, das Marktsystem und die freie Gesellschaft zu unterdrücken oder gar zu zerstören. Sie konkurrieren mit dem Marktsystem um die Vorherrschaft, haben in diesem Zusammenhang also einen desintegrierenden Charakter (siehe Kapitel ΙΠ). Sozialansprüche der zweiten Gruppe, die sich an den Staat richten, sind in Deutschland vor allem das Recht auf - lebensstandardsichernde Beteiligung an staatlich organisierten und garantierten Sozialversicherungen, - gesetzlich geförderte private Altersversorgung, - ein gebührenfreies erstes berufsqualifizierendes Hochschulstudium, - gebührenfreie Arbeitsvermittlung, - finanziell zumutbaren Wohnraum, - eine „Grundversorgung" mit öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehprogrammen. In der Diskussion sind das Recht auf - eine Familienunterstützung, die sich an politisch vorgegebenen „wirklichen Bedürfnissen" der Familie orientiert, etwa mit einem Rechtsanspruch auf ein b e darfsgerechtes Angebot" von Ganztagsbetreuung in Kindergärten und Schulen jedweder Form, - ein Erziehungsgehalt, - neue Formen bezahlter Beschäftigung außerhalb der Erwerbswirtschaft, - ein steuerfinanziertes einheitliches Grundeinkommen für Arbeitnehmer, die zwei oder drei Jahre aus dem Berufsleben ausscheiden wollen, - ein Designerbaby. Zu den Sozialansprüchen der zweiten Gruppe, die von Unternehmen einzulösen sind, zählen vor allem das Recht auf - einen Ausbildungsplatz, - Bereitstellung zumutbarer Arbeitsmöglichkeiten (Teilzeitarbeit), - Übernahme der halben Sozialversicherungskosten der Arbeitnehmer, - „existenzsichernde" Arbeitsverhältnisse, unabhängig von der Produktivitäts- und Wettbewerbssituation der Unternehmen, - Kündigungsschutz, - Lohnanspruch im Krankheitsfalle, innerhalb der Mutterschutzfrist und bei anderen privaten Anlässen (Hochzeit, Niederkunft der Ehefrau, Vorladung zu Behörden usw.),
Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem • 115 -
Fortbildungsurlaub, einheitliche Tarif- und Arbeitszeitgestaltung, haftungsfreie Mitbestimmung, Beteiligung am Unternehmensvermögen über Anwartschaften auf Kündigungsabfindungen, Sozialplanabfindungen der Arbeitnehmer im Falle der Sanierung, des Vergleichs und des Konkurses. In der Diskussion sind: - das Recht auf erweiterte Kontrolle der Tariftreue, - ein Anspruch von Minderheiten auf den Abschluß von Miet-, Arbeits- und Dienstverträgen nach dem „Zivilrechtlichen Antidiskriminierungsgesetz". Die keineswegs vollständige Liste von Sozialansprüchen zeigt in Deutschland seit Jahrzehnten ein explosives Wachstum. Darin spiegelt sich ein offensichtlich weit verbreiteter Glaube an die staatliche Machbarkeit und Leistungsfähigkeit hinsichtlich der Ziele wider, die mit Sozialansprüchen angestrebt werden. Wie ist diese gesellschaftliche Disposition zu erklären?
IV. Sozialansprüche in der geistigen Auseinandersetzung Der Konflikt zwischen Sozialansprüchen der zweiten Gruppe und der individuellen Eigentumsbildung, bei dem es um den Geltungs- und Einflußbereich der Institutionen des Marktsystems und der freien Gesellschaft geht, war seit jeher und ist nach wie vor Gegenstand einer kontrovers geführten Diskussion.
1. Umfassende staatliche Daseinsvorsorge als Notwendigkeit: Die marxistische Sicht Um die wirtschaftliche Ungleichheit der Menschen zu beseitigen, streben marxistische Sozialisten die absolute Vorherrschaft von Sozialansprüchen an, und zwar durch den Versuch, die grundlegenden Institutionen einer freien Gesellschaft und des Marktsystems abzuschaffen oder zu entleeren: die Privatautonomie auf der Grundlage von Familie, Privateigentum (vor allem an Unternehmungen), Vertrags- und Gewerbefreiheit sowie der Grundrechte schlechthin. Nach Friedrich Engels ist die Familie eine durch das Privateigentum bestimmte Begleiterscheinung der bürgerlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Der bürgerlichen Familie werden nicht Liebe und Zuneigung als das eigentliche Band der Ehe, sondern ökonomische Interessen zugeschrieben. Erst von der Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Schaffung sozialistischer Produktionsverhältnisse wird die Überwindung der wirtschaftlichen Ungleichheit der Menschen und die Entstehung höherer Formen von Ehe und Familie erwartet, nicht mehr auf ökonomischen Interessen, sondern auf der Zuneigung der Partner beruhend.
116 · Alfred Schüller Aus dieser grundsätzlich feindlichen Einstellung zur bürgerlichen Familie ist etwa in der D D R - ein bewußter Funktionsabbau der Familie betrieben worden, vor allem hinsichtlich der materiellen Vorsorge- und der geistigen Erziehungsaufgabe. Deren Ausübung wurde weitgehend von staatlichen Stellen und Betrieben beansprucht sowie parteigesteuerten Institutionen und Organisationen übertragen (Kinderkrippen, Kindergärten, Schulen, Massenorganisationen wie den Jungen Pionieren, der Freien Deutschen Jugend und der Gesellschaft für Sport und Technik). Diese Instrumente der Erziehungs- und Lerndiktatur der SED waren Teil eines umfassenden Systems von bevormundenden Sozialaufgaben und -ansprüchen, die den Charakter von Befehlen und Zuteilungen hatten. Dem dienten neben der Verstaatlichung der Produktionsmittel die Einschränkung des materiellen und geistigen Freiheitsraums der Familie und der individuellen Vertragsfreiheit schlechthin sowie die zentrale Festlegung der Wirtschaftsstruktur und des Wirtschaftsablaufs. Diese Vorgaben leiten sich vom Anspruch der parteipolitischen Ordnungsmacht ab, allein legitimiert und in der Lage zu sein, die „wahren Bedürfnisse" der Menschen zu kennen und die Güter auf der Grundlage des staatlichen Verfügungsmonopols über die Produktionsmittel und des staatlichen Lenkungsmonopols in die „richtigen" Bahnen zu zwingen. Mit der Beseitigung der Privatautonomie, von Freiheit und Eigentum, mit der staatlichen Kontrolle der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen der Menschen, der Beschränkung ihrer Möglichkeiten zur Selbstzwecksetzung, Selbsthilfe und freiwilligen Solidarität versiegten die Quellen des Wohlstands. Trotzdem ist bis heute die Auffassung verbreitet, diese radikale Sozialisierung mit einem System von bevormundenden Sozialansprüchen habe in der DDR dazu geführt, daß die Güter „gerechter" verteilt wurden und eine höhere soziale Sicherheit und W ä r m e bestanden habe.
2. Die liberale Bewegung und das Denken in Sozialansprüchen Im 19. Jahrhundert wurde die Frage des Eigentums vielfach als Konflikt zwischen (Gewerbe-)Freiheit und Verelendung der Arbeiterschaft thematisiert. Hierbei ist, wie Ernst Heuß (1969) gezeigt hat, die Stellung des Arbeiters in einer Marktwirtschaft verzeichnet worden - vor allem unter dem Einfluß der pessimistischen Lohntheorie von David Ricardo5 und der daraus von Karl Marx gefolgerten Verurteilung der grundlegenden Institutionen der Marktwirtschaft. Hierdurch hat sich nach Heuß dem allgemeinen Bewußtsein die elementare Tatsache weitgehend entzogen, daß erst die Industriewirtschaft westlicher Prägung dem Arbeiter wie auch dem Angestellten die Möglichkeit gab, einen Beruf frei zu wählen und vermehrte Arbeits- und Einkommensgelegenheiten zu nutzen. Vor der Industria5
Danach k o m m e n die Arbeitnehmer in ihrer Einkommensentwicklung nicht über das Existenzminimum hinaus. D i e s e pessimistische Einkommensperspektive ist die K o n s e q u e n z der zugrundeliegenden (nicht haltbaren) Annahmen von Ricardos Theorie der Einkommensverteilung, insbesondere des abnehmenden Ertragszuwachses in der Landwirtschaft, der Entwicklung der Bevölkerung in Abhängigkeit v o m sinkenden oder steigenden Reallohn und der Geltung der Arbeitswertlehre.
S o z i a l a n s p r ü c h e , individuelle E i g e n t u m s b i l d u n g und M a r k t s y s t e m
·
117
lisierung war die Mehrzahl der Arbeitnehmer auf den jeweiligen Gutsherrn oder den Handwerksmeister als einzigen Arbeitgeber angewiesen. „Der Tatsache, daß die moderne Technik mit ihren beträchtlichen Produktivitätssteigerungen, die zwar durch die liberale Wirtschaftsverfassung nicht verursacht, aber durch sie erst ermöglicht worden sind, den gordischen Knoten von Existenzminimum und Bevölkerungszunahme durchschnitt, ist man sich in liberalen Kreisen zu spät bewußt geworden" (Heuß
1966, Sp. 1482). So wird der wirtschaftliche Liberalismus in der Vorstel-
lungswelt breiter Bevölkerungsschichten als „Ideologie der Unternehmer" empfunden. Dies ist bis heute so geblieben. Es ist insbesondere in Deutschland nicht gelungen, freiheitliche Denk- und Handlungskonzepte auf die Probleme im Bereich der sozialen Sicherung anzuwenden. Dabei hätten viele der neuen sozialen Aufgaben systematisch in die Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs - bei Erweiterung der Selbstund Mitverantwortung der Arbeitnehmer - integriert werden können. So wurde seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts durchaus erfolgreich mit Möglichkeiten einer marktmäßigen Bewältigung von Risiken der fraglichen Art experimentiert - mit betrieblichen, überbetrieblichen und anderen privatwirtschaftlichen Einrichtungen der sozialen Sicherung. Es entstanden betriebliche Kranken- und Pensionskassen; Werkswohnungen und Erholungsheime wurden gebaut, Konsumvereine, Fabriksparkassen, private Lebensversicherungen gegründet. Die Ausformung der marktwirtschaftlichen Ordnung in sozialer Hinsicht vollzog sich dezentral in vielfältigen freivertraglichen Institutionen und Organisationen unter Berücksichtigung des jeweiligen Problemverständnisses und verfügbaren Wissens, zunächst vielfach in Ergänzung zu herkömmlichen familienbezogenen Vorsorgeformen. Parallel zur Ausdehnung des wirtschaftlichen Wettbewerbs als Verfahren zur Entdeckung leistungsfähiger Vertragstypen vollzog sich auf den deutschen Versicherungsmärkten vielfach eine nachholende Entwicklung dessen, was sich in den U S A und in Großbritannien auf der Grundlage des selbstgeschaffenen Rechts der Wirtschaft - ergänzt durch zwingendes Recht des Staates - herausgebildet hatte. Die Entwicklung lief auf wettbewerbliche Einrichtungen im Versicherungswesen hinaus. Daß es zu einer Wende in dieser Entwicklung kam, hatte mehrere Gründe. So wird von Klagen darüber berichtet, daß die Ansprüche aus den betrieblichen Sozialeinrichtungen von den Arbeitgebern auch als Mittel eingesetzt wurden, um PrincipalAgent-Kosten zu senken und die Arbeitnehmer an das Unternehmen zu binden. Auch seien die seit dem 18. Jahrhundert stark aufgekommenen privaten Lebensversicherungen vielfach auf Mißtrauen gestoßen, wie aus kirchlichen Äußerungen und aus einem als unzureichend empfundenen Schutz der Rechte der Versicherten gefolgert wird (siehe die Nachweise in Hartig
2002). Nicht zu übersehen war auch, daß die li-
beralen Parteien, aber auch maßgebliche Unternehmerkreise, die mit höheren Beamten und Literaten 1844 den Centraiverein
für
das Wohl der arbeitenden
Klassen
gründeten 6 , marktorientierte Konzepte nicht mit überzeugenden Argumenten vertraten und weiterzuentwickeln versuchten. Dies lassen jedenfalls die Vorstellungen des 6
Der Verein sollte als „Ideenbörse" für Lösungen der sozialen Fragen dienen.
118 · Alfred Schüller Centraivereins aus dem Jahre 18487 vermuten. Hinzu kam die Praxis einer Wettbewerbs- und entwicklungsfeindlichen Methode der Konzessionierung privater Lebensversicherungen durch staatliche Stellen. Ausschlaggebend dürfte aber gewesen sein, daß mit dem Abstieg der liberalen Bewegung in Deutschland Ende der 1870er Jahre auch der institutionelle Wandel stärker von Bestrebungen bestimmt war, die Lösung der sozialen Frage in zentralisierten staatlichen Einrichtungen zu sehen. Der schließlich eingeschlagene Weg der zentralen staatlichen Vorsorge war im Kern vom politischen Interesse Bismarcks und seiner Anhänger bestimmt, die Arbeiter zu Rentenempfängern des Staates zu machen, um sie an den Staat zu binden und als sozialverwaltete Wähler für die Machtsicherung der Regierung zu gewinnen. Es ist nicht gelungen, dieser Entwicklung mit alternativen marktorientierten Lösungen zu begegnen. Die staatlichen Versorgungseinrichtungen, zum Teil steuerfinanziert (im Falle der Hinterbliebenen"versicherung" durch Zolleinnahmen gedeckt), lösten in der Konkurrenz zu marktmäßigen Vorsorgemöglichkeiten und dem Vordringen eines gewohnheitsrechtlichen Denkens in Ansprüchen gegenüber dem Staat eine starke institutionelle und bürokratisch-organisatorische Bindungsbereitschaft der Arbeitnehmer an die staatliche Vorsorge aus. Wie kommt es, so fragt schließlich Forsthoff ( 1938/1959), „daß die Menschen des 20. Jahrhunderts mit Betonung und Bewußtsein die individuellen Freiheiten, die ein Zeitalter als die höchsten und unverlierbaren Errungenschaften feierte, zurückweisen und sich in Bindungen begeben, welche diesem Zeitalter unerträglich gewesen wären?" Die Antwort von Forsthoff besteht in der These: Es gibt für die überholten Sicherungen durch Freiheit und Eigentum einen Ersatz mit unausweichlicher Notwendigkeit und überlegener Leistungsfähigkeit: die umfassende staatliche Daseinsvorsorge als das allein in Frage kommende Rezept für eine gerechte Sozialgestaltung. Daran gemessen erscheinen Forsthoff àie. Grundrechte als eine überholte bürgerliche Erfindung - mit erschreckender Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen für die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.
3. Umfassende staatliche Daseinsvorsorge als entwicklungsgeschichtliche Unvermeidlichkeit: Die Lehre von Forsthoff Nach Forsthoffs Lehre von der Daseinsvorsorge ist mit der technisch-industriellen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts und der Verstädterung der individuell „beherrschte" Lebensraum immer kleiner geworden, bei immer breiteren Schichten der Bevölkerung sogar völlig verschwunden; der „effektive" Lebensraum, als Bereich, in 7
In der „Beantwortung der Fragen betreffend Altersversorgung... (und) in der Lösung dieser Fragen (Hegt) auch die Lösung der großen socialen Frage überhaupt. Wenn es möglich zu machen wäre, die große Mehrzahl der Arbeiter-Bevölkerung durch Gewährung gesicherter Ansprüche auf eine Staats-Pension im Alter an der Erhaltung des bestehenden Staats-Organismus solidarisch zu beteiligen, so würde hierin die sicherste, die einzig sichere Garantie eines nur reformatorischen, nicht revolutionären Fortschreitens begründet sein" (Mittheilungen des Centraivereins 1849/1850, 502; siehe Hartig 2002, 116).
Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem
• 119
dem sich das Leben tatsächlich entfalten kann, ist zugleich durch moderne Verkehrsmittel ständig gewachsen. Privatautonome Alternativen der Daseinsvorsorge nehmen ab, die soziale Bedürftigkeit des einzelnen steigt. Die Verantwortung zur Daseinsvorsorge verlagert sich (als existenznotwendige Reaktion auf die „reale Lebenssituation" moderner Völker) von den Individuen auf Formen der kollektiven und schließlich - als höchste Form der Solidarität - der politisch-staatlichen Daseinssicherung und Verantwortung. Sozialansprüche 8 - Forsthoff (1938/1959, 35) spricht von der juristischen Befestigung der „Teilhabe an den Leistungen der Verwaltung" treten an die Stelle der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, der Vorsorge durch individuelle Eigentumsbildung und andere privatwirtschaftliche Alternativen: „Aus den Trümmern der entleerten Privatautonomie und den öffentlichen Gestaltungsnotwendigkeiten entsteht eine hoheitliche Ordnung" ( F o r s t h o f f 1938/1959,37). Die Vorrangigkeit einer nach rationalen Regeln arbeitenden staatlichen Daseinsvorsorge wird als eine geschichtliche Unvermeidbarkeit gedeutet. In der eingangs zitierten Auffassung des BVerfG klingt der Denkansatz an, den Forsthoff (1938/1959, 23) sinngemäß so umschreibt: Eine Dogmatik, die sich an freiheitlichen Tauschverträgen und einer darauf aufbauenden individuellen Vermögensbildung, kurz an Freiheit und Eigentum, orientiert, wird den Leistungen, auf welche der moderne Mensch lebensnotwendig angewiesen ist, nicht gerecht. Bei der damit unterstellten größeren Leistungsfähigkeit staatlicher Daseinsvorsorge ist zu berücksichtigen, daß die Sicherheit von freivertraglichen Vermögensansprüchen immer wieder politischen und sozialen Wünschen geopfert worden ist. Ansprüche aus gesetzlichen Sozialversicherungen haben größere politische und wirtschaftliche Umbrüche besser überstanden als Geldvermögensanlagen und kapitalgedeckte Leistungen aus Privatversicherungen. Diese hatten nach dem I. und Π. Weltkrieg Mühe, den Vertrauensbruch zu überwinden, den der Staat durch Gewaltanwendung, Diskriminierung, Betrug und Enteignung (vor allem durch Inflation) begangen hat. Denn damit war ein weitgehender, wenn nicht totaler Verlust der Ansprüche aus betrieblichen Pensionskassen, privaten Lebensversicherungen und Sparguthaben verbunden - in einem für den Rechtsstaat unerträglichen Widerspruch zu den Sozialansprüchen der ersten Gruppe. Damit und nicht mit entwicklungsgesetzlicher Unwiderstehlichkeit steigt die soziale Bedürftigkeit des einzelnen. -
8
Der Lehre von Forsthoff ist entgegenzuhalten: Mit dem Währungsverfall und der Zerstörung der institutionellen Grundlagen des Marktsystems wird das marktwirtschaftliche Tausch- und Äquivalenzprinzip verletzt. Hierbei handelt es sich um ein Kernstück der privatautonomen Vorsorge durch Kapitalbildung. Diese Entwicklung ist Ausdruck eines Versagens von Politik und Staat, wäre also vermeidbar gewesen. Im Hinblick darauf müßte die Annahme, nur der Staat könne über alle politischen und wirtschaftlichen Um- und Zusammenbrüche hinweg mit Hilfe seiner Steuerhoheit notfalls die Altersvorsor-
Gemeint sind das Recht auf Versorgung mit Wasser und Energie, Verkehrs- und Kommunikationsmitteln jeder Art, das Recht auf Arbeit, auf Vorsorge für Alter, Invalidität, Krankheit, Arbeitslosigkeit „und vieles andere mehr" (Forsthoff \ 938/1959, 28).
120 · Alfred Schüller ge sicherstellen, auch auf nicht-staatliche Vorsorgeeinrichtungen ausgedehnt werden. Freilich wären diese Fälle eng nach strikten Regeln zu begrenzen, um ein naheliegendes moralisches Fehlverhalten auszuschließen (Glismann und Horn 1995, 337 ff.)· - Die Idee eines Vorsorgestaates, der nach rationalen Regeln funktioniert, übersieht, daß die Träger der Daseinsvorsorge (Parteien und staatliche Organisationen) ökonomischen und politischen Beschränkungen unterliegen, die sie zwingen, „nur nach Maßgabe der im politischen Prozeß definierten Leistungsfähigkeit zu handeln. Der soziale Leistungen produzierende Staat ist weder unabhängiger Richter noch Vertragspartner im üblichen Sinne" (Watrin 1977, 984), sondern folgt der ordnenden Hand von Kräften, deren Eigeninteressen durchaus rational darauf gerichtet sein können und es häufig auch sind, die Aufgabe der Daseinsvorsorge als Mittel der Herrschaftssicherung zu mißbrauchen - nicht selten unter Inkaufnahme unermeßlicher Kollektivschädigungen. - Angesichts der erhöhten Anforderungen an die Internationalisierung des Wirtschaftsgeschehens und eines dramatischen demographischen Wandels ist der sozialstaatliche Gestaltungsraum der Daseinsvorsorge im bisherigen Verständnis in Frage gestellt. Eine höhere soziale und internationale Mobilität der Erwerbtätigen erfordert soziale Vorkehrungen, die immer weniger nach Maßstäben sozialstaatlicher Einheitsnormen erreichbar, sondern auf Handlungsspielräume und Anreize für privatautonomes Handeln angewiesen sind. Das Marktsystem erfordert mit zunehmender Offenheit, Differenziertheit und Wettbewerblichkeit eine die Freizügigkeit fördernde internationale Orientierung des Angebots an sozialen Sicherungseinrichtungen - mit einer zunehmenden kapitalmarktfähigen Verbriefung von Versicherungsrisiken. Konkurrierende sozialpolitische Leitbilder und Handlungsmuster werden damit der internationalen Beurteilung zugänglich.
4. Der Konflikt zwischen Sozialansprüchen und individueller Eigentumsbildung: Die Sicht des demokratischen Sozialismus Die private Eigentumsbildung in Verbindung mit der bürgerlichen Ehe und Familie, mit dem selbständigen Unternehmertum, mit Vertragsfreiheit und wettbewerblichem Marktsystem gilt in sozialistischer Sicht als Hauptquelle sozialer Spannungen und als größtes Hindernis für egalitäre Gerechtigkeitsbestrebungen. Demokratische Sozialisten wollen mit den Mitteln der plebiszitären Demokratie „den privaten Reichtum aus der Welt haben, hängen aber dabei doch fest an der Vorstellung, daß dieser Reichtum als ein Objekt zur Plünderung stets vorhanden sein muß" (Gustav Cassel 1929). Die marxistische Feindschaft zwischen Privateigentum und Kollektiveigentum lebt in der Konkurrenz zwischen Sozialansprüchen und individueller Eigentumsbildung bis heute fort. Gegenüber der radikalen Sozialisierung bilden Sozialansprüche einen Schleichweg, um das Privateigentum und die Privatautonomie auszuhöhlen - über die Ver-
Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem • 121 staatlichung des Sozialen durch Zwangsversicherung und Zwangsmitgliedschaft, über eine Verdrängung des dispositiven Rechts durch zwingendes Recht. Demzufolge wird die Vertragsfreiheit im Bereich der privaten Eigentumsbildung und -nutzung beschränkt, die Wahlmöglichkeiten im Bereich der sozialen Sicherung, des Arbeits-, Gesellschafts- und Mietrechts werden vermindert oder beseitigt. Die Unternehmen werden für die Erfüllung eines erheblichen Teils der Sozialansprüche (siehe Kapitel Π bzw. IV. 3) in Dienst genommen. Schließlich wird die Aufzucht der Kinder als Familiendienst im Interesse „der" Gesellschaft gedeutet. Darauf sei hier noch etwas näher eingegangen. Für das Denken von der Gesellschaft her reduziert sich die Familie auf eine Einrichtung, die im Auftrag der Gesellschaft Kinder aufzieht. Nach diesem kollektivistischen Familienkonzept erhält Familienarbeit den Charakter einer „gesellschaftlich notwendigen Arbeit"; nichteheliche Lebensformen werden neben der Ehe, dem konstitutiven Element der bürgerlichen Familienauffassung, als gleichwertig betrachtet, um Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsleistungen zu erbringen. Diesem Familienverständnis entspricht es auch, wenn dessen Anhänger in der Familienpolitik der D D R (vor allem für die Lösung des Vereinbarkeitsproblems, also für die Herstellung einer „gesellschaftlichen Gleichrangigkeit" von Familien- und Erwerbsarbeit) ein Vorbild sehen. Deshalb wird im öffentlichen Dienst, so wie er sich in Westdeutschland seit den 70er Jahren entwickelt hat, und im Auf- und Ausbau von Einrichtungen der Kinderganztagsbetreuung und von Ganztagsschulen die gesellschaftliche Orientierungsnorm gesehen, um das Vereinbarkeitsproblem zu lösen. Der Gedanke, in Kindern - statt einen Selbstwert - einen gesellschaftlichen Dienst zur Reproduktion der Arbeitskraft zu sehen und entsprechende „Dienstleister" gleichsam zu entschädigen, ist in Deutschland - abgesehen von der Zeit des Nationalsozialismus und der SED-Herrschaft in der D D R - mit der umlagefinanzierten Rentensicherung von 1957 vorgedrungen und hat sich mehr und mehr zu einem handlungsbestimmenden Konzept entwickelt. Die Berufung auf das Bewußtsein der „allgemeinen Volkssolidarität" 9 bzw. auf die Fiktion vom Generationenvertrag unterstreicht den zwangskollektivistischen Denkansatz. So mag es zu erklären sein, daß die Übernahme der in den Familien anfallenden Betreuungs- und Erziehungsaufgaben gleichsam als ein gesellschaftliches Ressourcenproblem angesehen wird, für dessen Losung die „Gesellschaft als Ganzes" aufzukommen hat. Kinder werden dann einerseits unter dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Gewinns, den andere sich 9
Diese Denkweise hat in Deutschland eine lange Tradition. Bei der Diskussion über „Grundzüge der Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter" berief sich Bismarck (1887), der eine ausschließliche Finanzierung durch den Staat befürwortete, auf die Fabel des Menenius Lanatus Agrippa von der Wechselbeziehung zwischen Magen und Gliedern: „Wie jeder lebendige Organismus an der Erhaltung und dem Wohlbefinden eines jeden seiner Glieder ein vitales Interesse hat, so hat auch die zum Staat gefügte Gesamtheit aller Stände und Berufszweige ein Interesse daran, daß jeder einzelne - insbesondere auch Industrie und Landwirtschaft - gedeihe, und darf sich nicht scheuen, dafür Opfer zu bringen... Die Alters- und Invalidenversicherung ist ein allgemeines und nationales Bedürfnis, welches daher aus dem Nationalvermögen befriedigt werden sollte."
122 · Alfred Schüller aneignen können, und andererseits als Quelle individueller Wohlfahrtsverluste und belastender Konflikte betrachtet. In dieser Sicht erscheint die Gesellschaft als eine fordernde und belohnende Instanz. Geht man von einer anderen Perspektive aus, beruhen Ehe und Elternschaft, Familie und privater Haushalt (als wirtschaftlicher und organisatorischer Träger von Ehe und Familie) auf individuellen Entscheidungen. Zum Familienunterhalt tragen die Ehegatten nach den einschlägigen familienrechtlichen Bestimmungen (siehe etwa die §§ 1360 ff. BGB) durch ihre Arbeit und mit ihrem Vermögen nach besten Kräften bei. Wer entsprechend der freiwilligen ehelichen Absprache den privaten Haushalt verantwortlich leitet, ist damit zwar nicht erwerbstätig, jedoch sehr wohl voll berufstätig, durchaus unternehmerähnlich.' 0 In einem realen Sinne wird diese Arbeit tatsächlich auch bewertet, und zwar durch eine Wertschöpfung, die allen Familienangehörigen in Form von Gütern und Dienstleistungen (auch denjenigen, die sie erbringen) direkt zugute kommt und häufig auch hinsichtlich der Betreuungs- und Erziehungsleistungen eine Bedürfnisbefriedigung ermöglicht, die in anderer Form nicht oder nicht in vergleichbarer Qualität erreicht werden kann. Dieses in der Familie erwirtschaftete Realeinkommen wird individuell von den Familienmitgliedern angeeignet und ist mit dieser Exklusivität ein wesentlicher Aspekt der je spezifischen Privatheit der Familie. Und aus der Dauerhaftigkeit der Familie und deren verbindlicher Begründung durch die eheliche Gemeinschaft resultiert nach wie vor eine Human-, Sach- und Geldvermögensbildungskapazität, wie sie von alternativen Lebenspartnerschaften regelmäßig nicht erreicht wird (Habisch 2002, 8). Wenn der Gesetzgeber also den besonderen Schutz der Ehe durch Artikel 6 GG dadurch ideell und materiell relativiert, daß er Partnerschaftsformen, die nicht auf Elternschaft hin angelegt sind, mit einem großzügigen Schutz ausstattet und dazu beiträgt, Ehe und Familie zu entkoppeln, läuft er Gefahr, auf einen wohlstandsbestimmenden institutionellen Vorteil im Wettbewerb der Systeme zu verzichten. Der Grundsatz der freiwilligen Übereinkunft, also der prinzipiellen Privatheit der Familie, steht nicht im Widerspruch zu der Erkenntnis, daß das, was von Familien mit lebens- und berufstüchtigen Kindern geleistet wird, anderen Gesellschaftsmitgliedern einen vielfältigen Nutzen stiftet. Der hohe soziale Wert, der in dieser Hinsicht auf dem Spiel steht, ist unbestreitbar. Daraus kann eine Verpflichtung der Allgemeinheit gegenüber der Familie gefolgert werden. Dies wird auch in Deutschland anerkannt, wie die direkten und indirekten Leistungen des Staates zugunsten von Kindern und Jugendlichen zeigen - in Form von Realtransfers wie dem kostenlosen Studium, steuerlichen Vergünstigun-
10 Werden diejenigen, die den privaten Haushalt zeitweilig oder dauerhaft in eigener Verantwortung leiten, als Freiberufler angesehen und wird versucht, opportunistisches Verhalten des erwerbstätigen Partners möglichst auszuschließen, liegt es nahe, demjenigen, der die Hausarbeit - aus welchen Gründen und für welche Zeit auch immer - leistet, rechtlich einen Anspruch gegenüber dem erwerbstätigen Partner auf angemessene Teilhabe an dessen Arbeitseinkommen zu seiner freien Verfügung zu sichern. Auf diese Weise wird Familienarbeit in das Marktsystem integriert.
Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem · 123
gen, monetären Transfers und Sozialversicherungsleistungen." Freilich werden die Form und die Angemessenheit der Entlastung von Familien mit Kindern je nach Leitbild und Zielsetzungen der Familienpolitik immer umstritten bleiben (Krüsselberg und Reichmann 2002), aber auch mit Blick auf die weitere Entwicklung einer Sozialleistungsquote von heute schon weit über 40 % (Heuß 1997) zu beurteilen sein; deren negative (arbeitsmarktpolitische) Konsequenzen sind bei Würdigung der positiven bevölkerungspolitischen Effekte, die von einem verstärkten Ausbau der Familienförderung vielfach erwartet werden, zu bedenken. Jenseits dieser Frage gibt es seit einigen Jahren Vorschläge, etwa der ChristlichDemokratischen Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA) und der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, für ein Erziehungs- oder Familiengehalt. Damit sollen die Erziehungsleistungen, die die Familien für die Gesellschaft erbringen, „gerecht" entgolten werden. Mit diesen und ähnlichen Plänen anderer politischer sowie sozialethischer Gruppierungen wird versucht, das Prinzip der Privatheit von Ehe und Familie zugunsten der Idee der „gesellschaftlichen Familienarbeiter" aufzugeben und diese zeitweise wirtschaftlich zu Staatsbeamten zu machen. Damit würde die staatliche Ausgabenexpansion noch zunehmen, denn das Vorhaben soll durch kostspielige Maßnahmen flankiert werden: Weiterentwicklung des Erziehungsurlaubs, berufliche Weiterqualifizierung während der Erziehungsphase, Förderung der beruflichen Fortbildung, Umschulung und Wiedereingliederung nach der Erziehungsphase. Die von „der" Gesellschaft einzurichtende „Arbeitsstelle" soll bis zur „relativen Selbständigkeit" des Kindes finanziert werden. Die Unternehmen sollen bei der Personaleinstellung den Nachweis von Familienarbeit als „qualifizierende Leistung" anerkennen. Was wird die Sozialbehörden, die den Zeitpunkt der relativen Selbständigkeit und den Wert der häuslichen Qualifikation zu bestimmen hätten, daran hindern, im Zweifelsfalle großzügig zu verfahren? Mit diesem Vorhaben soll zugleich dem „Vereinbarkeitsanspruch" genügt und die „Gerechtigkeitslücke"' 2 zwischen den Geschlechtern geschlossen werden. Überlegungen und Erfahrungen, wonach Kinder für die Eltern eine Freude und ein wichtiges Lebens- und Handlungsmotiv sind, bleiben unberücksichtigt, wenn Familienpolitik primär unter dem Gesichtspunkt einer gesellschaftlichen Finanzierungsaufgabe angesehen wird. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß der Vereinbarkeitsanspruch vielfach einseitig aus der Perspektive der Außenverlagerung der Erziehungs- und Betreuungsaufga11 Rosenschon (2001) ermittelt eine Nettoförderung von Familien in Höhe von etwa einem Drittel der Kinderkosten, womit eher die Untergrenze bestimmt sein dürfte. 12 Das Gerechtigkeitsproblem wird vor allem darin gesehen, daß derjenige, der sich auf „Familienarbeit", und sei es auch nur zeitweise, einläßt, im Vergleich zur alternativen Entscheidung für Erwerbsarbeit eine systematische Schlechterstellung auf dem Arbeitsmarkt erleidet und den modernen geistigen, beruflichen, zeitlichen und räumlichen Mobilitätsanforderungen nicht gerecht werden kann. Die tiefere Ursache wird in der traditionellen „geschlechterspezifischen Arbeitsteilung" gesehen, als Ausweg wird eine staatliche und betriebliche Sozialpolitik empfohlen, die eine dauerhafte, ausreichend vergütete Erwerbsbeteiligung für beide Geschlechter ermöglicht, ohne daß sich durch gleichzeitige oder zeitweise Übernahme familialer Aufgaben tiefgreifende Nachteile ergeben. Im „Erziehungsgehalt" wird eine zielgerechte Lösung gesehen.
124 · Alfred Schüller be erhoben wird. Dies läßt jedenfalls die Forderung vermuten, das Familiengehalt nach der Höhe der „Betriebskosten" der außerhäuslichen Kinderbetreuungseinrichtungen zu bemessen. Wenn der Staat dafür Sorge tragen soll, daß es allen Eltern möglich ist, Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden, dann ist es nur folgerichtig, wenn das Familiengehalt mehr oder weniger weitgehend dazu dient, externe Betreuungseinrichtungen zu finanzieren. Und aus Sorge, die Qualität der Betreuungsangebote könne nicht ausreichen, liegt die weitergehende Forderung nahe, die Leistungsfähigkeit dieser Einrichtungen mit staatlichen Mitteln in jeder Hinsicht zu verbessern. So werden dann immer neue sozialpolitische Lücken aufgerissen. Und mit dem hierdurch bedingten Weniger an privater Einkommensverfügbarkeit und dem Mehr an sozialbürokratischer Regulierung und Kontrolle verhalten sich die Mitglieder von Familien rational, wenn sie - anstatt persönliche Hilfe in der Familie zu leisten oder von der Familie zu erbitten - immer mehr Sozialleistungen des Staates nachfragen. Die Erfahrungswelt von Kindern, die von der Wahrnehmung einer sozialverwalteten Familienexistenz geprägt ist, wird für Neigungen anfällig sein, im Sozialen eher „eine politische Idealqualifikation" zu sehen als „einen bloßen Untergrund und eine dauernde Randaufgabe für das Ziel einer Gesellschaft der Selbständigkeit" (Schelsky 1977, 11). Die in Kapitel ΠΙ genannten Begründungen und Bestrebungen für ein explosives Wachstum von Sozialansprüchen lassen sich auf eine Orientierung an jener kollektivistischen Perspektive zurückführen, die von Hayek (1976, 9 ff.) als „falschen" Individualismus bezeichnet. Soziale Erscheinungen werden nicht aus dem Verständnis des Handelns von Personen als Privatrechtssubjekte, sondern von Kollektiven als Rechtssubjekte gedeutet und gestaltet. Sozialansprüche richten sich demzufolge an Kollektive (Gesellschaft, Volk, Staat, Unternehmen, Verbände usw.), die primär unter Verteilungsgesichtspunkten beurteilt werden. Das hat Konsequenzen für die Handlungsmotivation, das Handlungspotential und die Handlungskontrolle der Menschen.
V. Sozialansprüche und individuelle Eigentumsbildung im Vergleich 1. Aus der Perspektive der Handlungsmotivation Die individuelle Eigentumsbildung bietet Anreize zu arbeiten, zu sparen, also nicht von der Hand in den Mund zu leben, mit dem spitzen Bleistift zu rechnen, in das Wissen über rentable Vermögensarten zu investieren, neue Wissenshorizonte zu erschließen, die intertemporalen Alternativen und Konsequenzen der Eigentumsbildung im Lichte von Opportun i tätskosten zu bedenken, immer wieder konsumtive und vermögenswirksame Ansprüche vergleichend zu prüfen und zu revidieren. Wer privates Eigentum bildet, denkt an die Erfüllbarkeit der daran geknüpften Erwartungen, interessiert sich mit der eigenen Vermögensbildung für die Kapitalbildung der Volkswirtschaft im allgemeinen und der Haushalte und Unternehmen im besonderen.
Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem • 125
Zukunftsorientierte D e n k - und Handlungsmuster herrschen vor - über die Zeit der e i g e n e n Erwerbstätigkeit hinaus. Im Anreiz, durch Sparen für die Kinder vorzusorgen, in der Betrachtung v o n Erb- und Generationenfolgen als V e r m ö g e n s g e m e i n schaften, i m W u n s c h , in Stiftungen „fortzuleben", liegt e i n e der stärksten Triebkräfte der individuellen V e r m ö g e n s b i l d u n g . V i e l e s von all d e m nützt u n b e w u ß t und ungewollt auch anderen. W e r die Kapitalbildung besteuert, n i m m t e i n e S c h w ä c h u n g dieser Triebkraft in Kauf. Sozialansprüche d a g e g e n m a c h e n die M e n s c h e n blind für materiale Selbstbes t i m m u n g s c h a n c e n , weil sie die Externalisierung v o n privat beherrschbaren (versicherbaren und in anderen Formen kommerzialisierbaren) Risiken begünstigen, behindern
zukunftsorientiertes
Denken
und
Handeln,
vermindern
die
präventive
m e n s c h l i c h e Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit, vergrößern die Zahl der M e n schen, die d e m Markt fremd, w e n n nicht feindlich gegenüberstehen, erschweren oder verhindern also die E i n ü b u n g in die „ k o m m e r z i e l l e Moral", den Markt und seine Regeln (von Hayek
1979; Hoppmann
1990).
2. Aus der Perspektive des Handlungspotentials D a s Handlungspotential
der privaten E i g e n t u m s b i l d u n g entsteht aus
freiwilligen
S o z i a l b i n d u n g e n im R a h m e n des wettbewerblichen Marktsystems. Zu den freiwilligen v e r m ö g e n s w i r k s a m e n S o z i a l b i n d u n g e n zählen formale und informale Verträge, Familien, U n t e r n e h m u n g e n , „friendly societies" (Verbände, Vereine), private und verbändeeigene Versicherungen, die mit Hilfe von Marktverträgen Schutz vor versicherbaren V e r m ö g e n s r i s i k e n (Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit 1 3 ) bieten. D i e S o z i a l b i n d u n g e n entstehen aus d e m Interesse, auf der B a s i s von 13 Die Arbeitslosenversicherung könnte auf der Grundlage von Marktverträgen geordnet werden. Die „älteste und wohlwirkendste Tätigkeit der Gewerkschaften (war), als „friendly societies" die Aufgabe (zu) übernehmen, ihre Mitglieder in der Vorsorge gegen spezielle Risiken ihres Berufs zu unterstützen" (von Hayek 1971, 351). Aus diesem Akt der freiwilligen Solidarität sind die Arbeitslosenversicherungen in der Regie der Gewerkschaften entstanden. Dieses System erwies sich erst im Gefolge der politisch verursachten hohen Arbeitslosigkeit und Inflation nach dem I. Weltkrieg als nicht mehr funktionsfähig; es wurde durch die Kriegswohlfahrtspflege abgelöst, die Vorstufe der umfassenden staatlichen Reichsarbeitslosenversicherung von 1927 und ihrer Nachfolgeorganisation. Die seit Jahrzehnten zu verkraftenden Kosten des moralischen Fehlverhaltens der Tarifparteien mit erheblichen Kollektivschädigungen, wie sich an einer beklagenswerten Beschäftigungslage, der Entwicklung der Aufgaben und Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit und der Krise der Sozialversicherungen zeigt, sind das Ergebnis der Möglichkeit, die Tarifautonomie für Verteilungszwecke zu mißbrauchen. Würde man die Verantwortung für die Arbeitslosenversicherung auf der Grundlage eines geeigneten Ordnungsrahmens wieder auf die Gewerkschaften übertragen und damit auch von dieser Seite her die Ebene der freiwilligen Solidarität neu beleben, könnte die Verantwortlichkeitslücke zwischen Entscheidung und Haftung im Bereich der heutigen Praxis der Tarifautonomie beseitigt werden. Wie sonst könnten die Tarifparteien an beschäftigungssichernden und -fördernden Reformen der Tarifautonomie interessiert werden? Die Gewerkschaften könnten damit an ihre „älteste und wohlwirkendste Tätigkeit" anknüpfen und mit der prinzipiellen Übernahme des Personals der Bundesanstalt neue zeitgemäße Einrichtungen der Minderung von Risiken im Bereich des Humanvermögens schaffen, was zugleich die Chance böte, dem heute bestehenden Trend des Mitgliederschwunds entgegenzuwirken.
126 · Alfred Schüller Preis- und Kostenvergleichen sowie von konkurrierenden Anstrengungen anderer Menschen Gelegenheiten für vorteilhafte Vermögensentscheidungen entsprechend den individuellen Zielen und Präferenzen zu entdecken und vertraglich zu sichern. Freilich ist die grundrechtlich verbürgte Möglichkeit, durch individuelle Eigentumsbildung in freier Entscheidung die eigene Vermögensposition zu verbessern, stets mit Unsicherheit behaftet. Menschliches Wissen und Tun sind fehlbar. Informations-, Aushandlungs- und Vermögenssicherungskosten sind unausweichlich, wenn auch durch eine hohe Qualität von Sozialansprüchen der ersten Gruppe in Grenzen zu halten. Geschieht das nicht, können die genannten Transaktionskosten der Eigentumsbildung eine Höhe erreichen, daß der Bereich lohnender individueller Vermögensbildung erheblich schrumpft. Damit ist bei mangelnder Rechtssicherheit zu rechnen, besonders aber bei Neigungen des Staates, Ansprüche aus der privaten Eigentumsbildung direkt oder indirekt zu entwerten. In der durch politisches und staatliches Versagen entstehenden sozialen Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit liegt - wie in Kapitel ΠΙ ausgeführt - eine nicht unwesentliche Ursache für die Entstehung und Expansion von Sozialansprüchen. Auch Sozialansprüche beruhen auf Sozialbindungen, allerdings sind sie in der Regel das Ergebnis eines „politischen Tauschs" (James M. Buchanan) zwischen Wählergruppen, Verbänden, Parteien, sozialen Bewegungen. Die Vertreter des Denkens in Sozialansprüchen bedienen sich häufig einer wählerwirksamen Rhetorik (Sozialansprüche als „Ausdruck der sozialen Gerechtigkeit und Solidarität", als „moralischer Wert an sich", als „konkreter Ausdruck der Nächstenliebe", als Mittel zur Schließung von „Gerechtigkeitslücken"). Dies erleichtert eine Ausuferung, auch wenn sich der ursprüngliche Anlaß (Wohnungsnot, miserable Arbeitsverhältnisse, mangelnde Leistungsfähigkeit von Zukunftsmärkten usw.) längst erschöpft hat: - Sozialansprüche werden als „soziale Errungenschaften" dogmatisiert, Fragen der erneuten Begründung werden zurückgewiesen, Erkenntnisfortschritte geleugnet; Revisionen folgen - wenn überhaupt - politischen Kalkülen mit wahltaktischen Wissens-, Denk- und Handlungsblockaden. - Sozialansprüche auf der Grundlage einer leistungsunabhängigen „weichen" Finanzierung unterliegen regelmäßig dem Prinzip der Selbstverstärkung und Selbstbeschleunigung, weil die politischen und bürokratischen Betreuungsinstanzen ihre Legitimation durch verfeinerte und neue Sozialansprüche zu sichern versuchen. Vielfach geht es hierbei um die Korrektur von Fehlanreizen, weil ζ. B. auch diejenigen beteiligt werden wollen, die durch ihre Steuerleistung zur Finanzierung beitragen. 14 Ausdruck hierfür sind die ständige Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze und die Erweiterung der Zwangsmitgliedschaft, die Einführung der „gesetzlich geförderten privaten Altersversorgung", Versuche, die Einkommensabhängigkeit der Sozialversicherungsbeiträge über Löhne und Gehälter hinaus auf andere Einkommensarten auszudehnen, die Erweiterung von Sozialansprüchen bei
14 S o ist es verständlich, wenn Selbständige durch Beitritt Nutznießer des B u n d e s z u s c h u s s e s für die gesetzliche Rentenversicherung werden wollen, um an der subventionierten Rente beteiligt zu werden.
S o z i a l a n s p r ü c h e , i n d i v i d u e l l e E i g e n t u m s b i l d u n g und M a r k t s y s t e m · 127
gleichzeitiger Einschränkung der Rechte aus der privaten Eigentumsbildung 1 5 , die Sicherung der Tariftreue durch erweiterte Kontrollen (etwa der illegalen Beschäftigung und der Schwarzarbeit), die den Charakter der Religionspolizei in islamischen Staaten annehmen können. -
Auch der unverzichtbare Schutz der Schwachen vor materieller Not durch ein Mindesteinkommen (siehe Kapitel Π) gerät unter den Bedingungen eines verbreiteten Denkens in Sozialansprüchen in den Sog der Maßlosigkeit und Selbstbeschleunigung. Mit der Höhe und Sicherheit der Transferzahlungen steigt regelmäßig die Zahl der „Bedürftigen" und damit statistisch auch die Zahl der Armen. In diese sog. „Armutsfalle" ist Deutschland seit den siebziger Jahren immer tiefer hineingeraten. Die Ursache liegt in der Logik der Expansion des Sozialanspruchsdenkens im politischen Prozeß, in dem es für die Politiker Anreize gibt, dem Wunsch nach Anhebung der Armutsgrenze wählerwirksam nachzukommen und gegen das „Lohnabstandsgebot" als unverzichtbares Prinzip der Sozialhilfe zu verstoßen 1 6 . Hierdurch geraten dann die Tarifparteien unter Druck, das Mindestlohnniveau anzuheben. Die daraus folgende höhere Arbeitslosigkeit treibt wiederum die Sozialansprüche gegenüber einschlägigen Einrichtungen (etwa der Bundesanstalt für Arbeit, der Städte und Gemeinden) hoch.
-
Sozialansprüche erzeugen bei den Begünstigten Vermögens- und Sicherheitsillusionen, wenn es um eine vorsorgliche Gestaltung des Verhältnisses von Konsumieren, Sparen und Investieren geht, verleiten zu einer Daseinsvorsorge ohne Rücksicht auf die wirklichen Bestimmungsgründe des wirtschaftlichen Wachstums und die Lebensperspektiven künftiger Generationen. Im konkreten Fall der gesetzlichen Altersversorgung verschlechtert sich mit steigender Zahl von Zwangsversicherten nach dem Umlageverfahren die finanzielle Kapazität der Sparer für die individuelle Eigentumsbildung, weil nach aller Erfahrung das Maß der möglichen Steigerung der Beiträge schwer zu begrenzen ist. 17 Empirische Untersuchungen zeigen: Umlagefinanzierte Rentensysteme verringern die gesamtwirtschaftliche Sparquote. Mit dem Übergang zu kapitalgedeckten Formen der Altersvorsorge nimmt die Sparquote zu, die Wachstumsperspektiven verbessern sich (Mackenzie, Gerson, Cuevas 1997).
-
15 Beispielhaft sei auf die Ausdehnung der Förderungsprogramme für den Wohnungsbau bei gleichzeitigem Ausbau eines investitionsfeindlichen Mieterschutzrechts verwiesen ( H a m m 1997, 309 ff.). 16 Danach sollte der Abstand zwischen Sozialhilfe und Erwerbslohn genügend hoch sein, damit ein Anreiz besteht, den Lebensunterhalt aus eigener Kraft auf dem Arbeitsmarkt zu verdienen. 17 Die Lebensversicherer erkannten schon 1890: „Von vornherein verstößt das Umlage-Verfahren gegen jede gesunde Wirtschaftspolitik, welche überall die Forderung erhebt, daß Aufwendungen, welche lediglich die gegenwärtige Generation treffen, ohne irgendwelchen bleibenden Nutzen für die zukünftige Generation, auch ganz von der gegenwärtigen zu decken sind. Das erheblichste Bedenken gegen das Umlage-Verfahren aber, ein Bedenken, welches geradezu ernste für die ganze ferne Entwicklung der Industrie Deutschlands überhaupt, wie der einzelnen Industriezweige in sich schließt, liegt darin, daß bei dem Umlage-Verfahren das Maass der möglichen Steigerung der Höhe der Beiträge unbegrenzt ist" (o. V., 1890, Umlage- und Deckungs-Verfahren, Zeitschrift für Versicherungswesen, S. 502 f.; zitiert nach Hartig 2002).
128 · Alfred Schüller Insgesamt fehlt den Sozialansprüchen der Bewertungs- und Handlungszusammenhang mit den Güter-, Kapital- und Immobilienmärkten. 1 8 Den Begünstigten werden auch in Fällen, in denen die Risiken marktmäßige Ursachen haben und als solche auch zu bewältigen sind, mehr oder weniger leistungsunabhängige, dem Wettbewerb entzogene Einkommens- und Vermögenspositionen versprochen. Die Folgen sind Belastungs- und Anpassungsrigiditäten, Fehlanreize und Verzerrungen auf den Güter-, Arbeits-, Kapital- und Immobilienmärkten. 1 9 Zu nennen ist etwa die vom deutschen Sozialrecht ausgehende Magnetwirkung auf Zuwanderer. Eine auf privater Eigentumsbildung aufgebaute soziale Sicherung wäre den damit verbundenen Herausforderungen und Belastungen nicht ausgesetzt. Kurz gesagt: Die institutionellen Restriktionen, die mit Sozialansprüchen der zweiten Gruppe angestrebt werden, verengen die unternehmerischen Handlungsspielräume und verschlechtern die Evolutions-, Informations-, Selektions- und Revisionskapazität des Marktsystems in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht.
3. Aus der Perspektive der Handlungskontrolle Mehr Sozialansprüche heißt mehr Politisierung und Verstaatlichung des Sozialen, der Solidarität und des gesamten Wirtschaftslebens. Dieser Vorgang ist begleitet von einer Kürzung der verfügbaren Einkommen im Gefolge einer wachsenden Steuerbelastung. Mit dieser erlahmt der Leistungswille, der Spielraum für die individuelle Eigentumsbildung und Vorsorge schrumpft. Die wirtschaftlichen und sozialen Krisenerscheinungen des Beschäftigungssystems und der Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland, die zur Symptomatik des vorherrschenden Denkens in Sozialansprüchen gehören, lenken den Blick auf mögliche Kontrollverfahren.
a. Demokratische
Kontrolle
Wer in den freiheitssichernden Regeln des Marktsystems ein Privileg sieht, das primär den Unternehmern zugute kommt, wird im politischen Prozeß der Auffassung Nachdruck zu geben versuchen, wonach die Arbeitnehmer als die Mehrzahl der Wähler um so mehr auf konkurrierende Sozialansprüche angewiesen sind. Und ist
18 M ö g e n auch die Beitragszahler ihre Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung als Vermögenswert ansehen, gesamtwirtschaftlich ist damit bei d e m zugrundeliegenden Umlageprinzip der Finanzierung - abgesehen von der Mindestrücklage - keine Kapitalbildung verbunden. Aus der fehlenden Kapitalmarktbindung der Vermögensansprüche aus der Rentenversicherung folgt, daß diese Art der Vermögensbildung (bei Verzicht auf staatliche Zuschüsse) sehr viel empfindlicher auf demographische Veränderungen reagiert als Finanzierungsmethoden mit Kapitaldeckungscharakter. Zur Qualität d e s individuellen Eigentumsschutzes der Ansprüche siehe Kapitel IV. 3. c. 19 D i e Belastung der Unternehmen mit Sozialansprüchen wirkt wie ein Anreiz für Investitionen, die Produktivitätsfortschritte durch Lohnkosteneinsparungen ermöglichen.
Sozialanspriiche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem • 129 der demokratische Gedanke nicht durch Tradition oder Verfassung beschränkt (von Hayek 1971, 142), können die politischen Kräfte Neigungen zum Ausbau von sozialbetreuerischen Systemen vergleichsweise locker „ausleben". Von beiden verwandten Denktraditionen scheint das demokratische Handeln in Deutschland weithin be20
stimmt zu sein. Dies begünstigt ein Subsidiaritätsverständnis, nach dem die Gesellschaft bzw. der Staat verpflichtet ist, alles Tun darauf auszurichten, den Gliedern Beistand zu leisten, ihnen jede mögliche Förderung und Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Hierbei wird die Fähigkeit zur Selbständigkeit und Selbsthilfe der Menschen als schwach veranschlagt, zugleich werden die Wissensvorsprünge und Hilfsmöglichkeiten höherer Zuständigkeitsebenen als überlegen angesehen. Die Wähler aufzufordern, Sozialansprüche geltend zu machen und maximal auszuschöpfen, gilt dann als politisch legitim.
b. Eigenkontrolle
der Bürger aus
Selbstinteresse
Die Bürger für eine verstärkte Eigenkontrolle aus Selbstinteresse zu gewinnen, dürfte nur gelingen, wenn sie die Unmöglichkeit bisheriger Betreuungserwartungen erkennen; etwa wenn sich nicht länger verbergen läßt, daß zum Beispiel die Absenkung des Rentenniveaus im Umlagesystem bei Vermeidung weiterer Beitrags- und Steuererhöhungen unausweichlich ist. Die Parteien scheinen dem einerseits Rechnung tragen zu wollen (siehe Kapitel IV. 3), zumal jüngere Erwerbstätige bei ihrer offensichtlichen Benachteiligung durch das bestehende Umlagesystem verstärkt in der privaten Altersvorsorge eine alternative Problemlösung erkennen. Insoweit verändert sich auf dem politischen Markt das Nachfrageklima für einschlägige Sozialansprüche. Andererseits bemühen sich viele Politiker verstärkt darum, eine rasch expandierende neue Nachfrage nach Sozialansprüchen zu kreieren, wie der Wettlauf um die Familienförderung und die damit angekündigte Opulenz neuer Sozialansprüche zeigen. Der Ausgang dieses Wettstreits wird von der Einsicht abhängen, daß in
20 Es ist daran zu erinnern, daß nach der Wiedervereinigung von starken politischen Kräften gefordert wurde, aus den grundrechtlichen Freiheitsverbiirgungen soziale Grundrechte mit materiellen Aufgaben und einklagbaren Sozialansprüchen gegen den Staat und andere Kollektive zu machen. Uber einen Volksentscheid sollten die Sozialansprüche In der neuen Verfassung des vereinigten Deutschland verankert werden. Die Volkswirtschaft bedürfte freilich im Hinblick auf diese Ansprüche, soll es sich nicht um leere Versprechungen handeln, einer direkten oder indirekten staatlichen Planung und Lenkung der entsprechenden Leistungsbereiche. Sozialansprüche mit Verfassungsrang ließen sich im politischen Prozeß wohl noch weniger revidieren, als es ohnehin möglich ist. „Wer Freiheitsrechte inhaltlich definiert und die Gewährleistung dieses Inhalts dem Staat oder gesellschaftlichen Gruppen überträgt, hebt die Freiheit auf, um deren Schutz es geht. Inhaltlich definierte Freiheiten können zum höchsten Grad von Unfreiheit führen. Das gilt unabhängig davon, ob man sie im Namen des Wahren, des Schönen oder des Guten definiert. Wir haben keine Mühe, in der deutschen Geschichte dafür die Belege zu finden" (Mestmäcker 1990, 291). Wenn neuerdings von den beiden großen Parteien unter dem Schild „Vereinbarkeit von Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit" den Eltern suggeriert wird, für die Arbeit im Dienste der Gesellschaft einen Gehaltsanspruch zu haben, erscheint die Bereitschaft keineswegs abwegig, diesem Anspruch den Rang eines sozialen Grundrechts zu verleihen.
130 · Alfred Schüller einer Welt der Knappheit die Begünstigten die öffentlichen Zuschüsse selber in Form von Steuern aufbringen müssen, wenn der Staat nicht andere Ausgaben und damit vielfach Sozialansprüche beschränken soll.
c. Verfassungsgerichtliche
Kontrolle
Die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist eine Errungenschaft moderner Rechtsstaaten. Die Rolle des BVerfG im Wettbewerb der beiden alternativen Vermögensmethoden wird im folgenden aus der eigentumsökonomischen Sicht des Gerichts beurteilt. Hierzu wird mit Rentenansprüchen und -anwartschaften sowie mit dem gewerkschaftlichen Mitbestimmungsanspruch j e ein Beispiel aus der Gruppe von Sozialansprüchen herausgegriffen, die sich an den Staat richten bzw. von Unternehmen einzulösen sind. Das BVerfG reduziert inzwischen 2 1 seine Eigentumsbetrachtung auf drei Formen, in denen Vermögensobjekte Arbeitnehmern zugeordnet sein können (BVerfG 1980, 53. Band, 257,292): -
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Vermögen als Mittel der „persönlichen Existenzsicherung": Dem Anteilseigentum an Kapitalgesellschaften wird diese Qualität nicht zugestanden. Wirtschaftliche Risiken würden den Aktionär nicht „als Person", sondern mit einem „eingegrenzten Teil seiner Vermögenssphäre" treffen. Für den Arbeitnehmer stehe dagegen bei der Gestaltung der unternehmensbezogenen Vermögensobjekte die „persönliche Existenzgrundlage" auf dem Spiel. Vermögen in einem „sozialen Bezug": Dieser entsteht nach Auffassung des BVerfG in dem Maße, wie der personale Bezug in das solidarische Leistungssystem des Generationenvertrags eingebettet ist bzw. wie die Nutzung des Vermögensobjektes auf die Belange anderer Rechtsgenossen ausstrahlt (im Falle des Aktienvermögens vor allem auf die Arbeitnehmer).
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Vermögen in einem „personalen Bezug": Davon geht das Gericht aus, wenn die Vermögensbefugnisse unmittelbar und ungeteilt wahrgenommen werden können, wenn also die funktionale Einheit von Verfügung, Nutzung und Haftung in einer Person besteht oder - im Forsthojfschen Verständnis des „beherrschten Lebensraums" - wenn die Objekte dem Menschen derart eng zugeordnet sind, daß sie als ihm allein gehörend eingestuft werden. Die Folgerung aus dieser Eigentumsbetrachtung, die auf eine Arbeitnehmerperspektive verengt wird, ist: Die eigentumsrechtliche Eingriffsbefugnis des Gesetzgebers geht um so weiter, j e mehr das Vermögensgut „in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion steht". Gesetzliche Rentenansprüche und -anwartschaften standen lange Zeit unter dem Eigentumsschutz von Artikel 14 GG. Diese Rechtsposition wurde mit dem „Äquivalent eigener Leistung" als Ausdruck des personalen Bezugs begründet. Mit der Verdünnung des Versicherungsprinzips ist dieser Schutzgedanke erheblich relativiert 21 Zum Wandel d e s Eigentumsschutzes unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten seit den 60er Jahren siehe Friauf(
1973, 4 3 8 ff.) und Harnisch
(2001).
Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem · 131 worden. Die Beitragsleistung sichert nur noch ein Recht an den Leistungen des Umlageverfahrens nach Maßgabe der jeweils geltenden Rentenformel. Für die gesetzliche Rentenversicherung bedeutet dies: Je mehr Politiker meinen, für die Durchsetzung bestimmter Ziele auf die Aushöhlung des Versicherungsprinzips angewiesen zu sein, desto stärker dringt der soziale Bezug vor, desto ungenierter kann der Gesetzgeber fortwirkend eingreifen, etwa nach dem Grundsatz: Regelungen, „die dazu dienen, die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherungen im Interesse aller zu erhalten, zu verändern oder veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen" (BVerfG 1980, 53. Band, 257, 293), stehen dem Gesetzgeber zu Gebote. Auch hinsichtlich des Aktienvermögens vertritt das BVerfG - im Urteil vom 1.3.1979 über die Verfassungsmäßigkeit des Mitbestimmungsgesetzes vom 4.5.1976 - eine ähnliche Eigentumsauffassung. 22 Der Gebrauch des Eigentums und die Verantwortung für diesen Gebrauch fallen, so das BVerfG, „in der für die Kapitalgesellschaft typischen Weise" auseinander. Bei Kapitalgesellschaften bleiben die Wirkungen aus der Verfügung über Anteilseigentum „nicht lediglich innerhalb der Sphäre des Eigentums". Sie berühren vielmehr Belange anderer Rechtsgenossen, die zur Freiheitssicherung und verantwortlichen Lebensgestaltung „auf die Nutzung des Eigentumsobjektes angewiesen sind". Bei großen Aktiengesellschaften, so meint das BVerfG, tritt das „personale Element bis zur Bedeutungslosigkeit zurück". Daraus wird nun aber keine besondere Schutzbedürftigkeit dieser Vermögensform, sondern das Gegenteil gefolgert. Offenbar geht das Gericht davon aus, daß individuelles Eigentum an Unternehmungen nur solange „die Belange von anderen Rechtsgenossen" unberührt läßt, als Produzent und Eigentümer identisch sind bzw. mit anderen (etwa im Familienverbund) eine Produktions- und Konsumgemeinschaft bilden. Deutlich erinnert diese Vorstellung an die Marxs,che Lehre (1957, 81 f.) von der sozial höherwertigen „einfachen Warenproduktion". Und in der Tat sieht das Gericht auch die Dispositionen des Unternehmer-Eigentümers, der mit seinem Vermögen „unmittelbar wirkt und volle Verantwortung trägt", als sozial unproblematisch an. Dagegen hält es die bei Marx als „kapitalistische Warenproduktion" bezeichnete Wirtschaftsform, bei der nicht unmittelbar produzierende Menschen über Produktionsmitteleigentum verfügen, als besonders anfällig für eine sozial mißbräuchliche Nutzung. Daß auch unter den Bedingungen der „einfachen Warenproduktion" die Eigentumsobjekte in einem „sozialen Bezug" stehen, zeigt allein schon ein Blick auf Eigentümer-Unternehmer, die Arbeitnehmer beschäftigen und in mehr oder weniger weitläufigen Beziehungen zu Kunden, Lieferanten, Banken, „friendly societies" und staatlichen Einrichtungen stehen. Hier wie auch bei der Eigentumsqualität von Rentenansprüchen hat sich das BVerfG auf ein Beurteilungsverfahren eingelassen, mit dem es sich herausgefordert sieht, den Punkt zu bestimmen, von dem an die „Privatnützigkeit" vom „sozialen Bezug" verdrängt wird. Zu Ende gedacht, dürften nach dieser eigentumsökonomischen 2 2 Z u r Kritik d i e s e r Sicht u n d zu den v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e n W i r k u n g e n siehe
Schüller ( 1980,
1 10 ff.).
132 · Alfred Schüller
Betrachtung nur die Gegenstände des häuslichen und persönlichen Gebrauchs, das Familienhaus und die durch Arbeit erworbenen Ersparnisse den vollen Schutz des Grundgesetzes genießen. Die genannten Gegenstände decken sich mit dem Verständnis der Kategorie des „persönlichen Eigentums" in der sozialistischen Eigentumstheorie, wie sie in der DDR praktiziert worden ist, was nichts daran ändert, daß für die genannten Vermögensobjekte eine Fülle von sozialen Bezügen aufgezeigt werden kann. Die Eigentumsauffassung des BVerfG erleichtert die Ausdehnung des Prinzips der unbeschränkten Demokratie auf das, was im Rechtsstaat unantastbar sein sollte die Privatrechtsautonomie. Aus dieser - und nicht aus dem Eigentum an den Produktionsmitteln, also „dem" Kapital - resultieren die Freiheit des einzelnen zur unternehmerischen Initiative und das Recht, selbst und mit Hilfe eines Arrangements von formalen und informalen Verträgen mit Arbeitnehmern, Lieferanten, Kunden, Kreditnehmern usw. ein Unternehmen zu betreiben (Böhm 1967, 11 ff.; Heuß 1970, 193 ff.). Das BVerfG übersieht die sozialen Bezüge, die in der gesicherten Freiheit des Eigentümers liegen, nach den produktivsten Funktionenteilungen zwischen Verfügung, Nutzung und Haftung Ausschau zu halten und durch Nutzung und Nachahmung im Wettbewerb nicht nur den Beschäftigten, sondern auch der Allgemeinheit ein höheres Realeinkommen zu verschaffen. Mit seiner Eigentumsauffassung versperrt sich das Gericht den für die Dynamik des Marktsystems entscheidenden Einblick in die Entstehungsgründe und Entfaltungsbedingungen von Unternehmungen und öffnet damit der staatlichen Beschränkung der Unternehmensfreiheit hinsichtlich der Willensbildung und der Entscheidungsinhalte Tür und Tor (Schüller 1984, 124 ff.). Insgesamt erscheint die verfassungsgerichtliche Kontrolle für Eigentumsbeschränkungen durch Sozialansprüche in der Perspektive der vorherrschenden Eigentumsbetrachtung in höchstem Maße unsicher. 23
VI. Individuelle Eigentumsbildung - Schlüsselelement der menschlichen Anpassungsfähigkeit und Zukunftsvorsorge in einer freien Gesellschaft 1. Die Bedingung: Individualisierung und Marktorientierung von Sozialansprüchen Die Möglichkeit der individuellen Vermögensbildung hat den Willen und die Fähigkeit, als Person frei und selbstverantwortlich leben zu können, in ganz außerordentlich hohem Maße gefördert. Auch in Deutschland mangelt es nicht so sehr am Sparvermögen und an der Sparbereitschaft. Dies zeigt auch der ungebrochen starke
23 So machen nicht selbstgenutzte Immobilien in Deutschland weit über 6 0 Prozent der Gesamtanlagen vermögender Privatpersonen aus. Der soziale Bezug im Verständnis des Bundesverfassungsgerichts wäre in diesem Zusammenhang auch wegen vielfältiger staatlicher Anlagevergünstigungen leicht konstruierbar, um diese Eigentumsform sozialen Sonderwünschen dienstbar zu machen.
Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem · 133
Drang in breiten Schichten der Bevölkerung zur Geldvermögensbildung und zum Eigenheim. Woran es mangelt, ist das Vertrauen in die Bürger, mit ihrem Einkommen und Vermögen hinreichend eigenverantwortlich umgehen zu können. Ein erheblicher Teil des Einkommens und des Sparpotentials wird ihnen dadurch entzogen, daß sie letztlich für die Sozialansprüche, die sich gegen Staat und Unternehmen richten, finanziell und mit dem Verzicht auf Handlungsfreiheit aufkommen müssen. Das vorherrschende Denken in Sozialansprüchen hat vor allem auch die gesetzliche Altersvorsorge in eine schlechte Gesellschaft gebracht. Das bestehende Umlageverfahren als Basis der Alterssicherung hat neben starken Politisierungs- und Umverteilungsdefekten vor allem zwei wunde Punkte. Es erfordert einerseits Arbeitsmarktbedingungen, die eine ständig hohe Beschäftigung ermöglichen, wobei sich die Lebensarbeitszeit nicht völlig unabhängig von der Lebenserwartung der Erwerbstätigen entwickeln darf. Hinzu kommt die Erwartung einer reich genug mit Kindern ausgestatteten Gesellschaft. Wie in Kapitel IV gezeigt, versucht nun aber der Gesetzgeber, mit Sozialansprüchen die jeweils beschäftigten Arbeitnehmer direkt oder indirekt zu begünstigen. Hierdurch entzieht er aber wiederum einem Teil der Arbeitnehmer die Beschäftigung - mit entsprechenden Einnahmeverlusten und Belastungen der sozialen Sicherungssysteme. Auf der anderen Seite wird ein erheblicher Teil des volkswirtschaftlichen Sparvermögens der bewußten individuellen Eigentumsbildung entzogen. Die Kapitalbildungsfeindlichkeit des Umlageverfahrens, so wie es in Deutschland praktiziert wird, kann auch längst nicht mehr durch das neutralisiert werden, was in den 50er Jahren zur Zeit der Einführung der dynamischen Rente das „gesellschaftliche ,Soll' der Kinderzahl" genannt wurde. Damit bestätigt sich immer unabweisbarer jene Auffassung, nach der die „Alterslast leichter zu tragen (ist), wenn sie einer reichen, d. h. reich mit Kapital ausgestatteten Volkswirtschaft auferlegt wird" (Willgerodt 1957, 194). Das vorrangige Denken in Sozialansprüchen erschwert dies nicht nur, sondern begünstigt eine Fehllenkung der Triebkräfte des Wettbewerbs. Die Folge ist zum Beispiel eine Präferenz für betriebliche Investitionen in solchen Anlagen, die es ermöglichen, auf Arbeitskräfte mit überzogenen Sozialanspruchsbelastungen zu verzichten. Es bleibt nicht aus, daß die Arbeitnehmer über die Geldvermögensbildung und die Finanzierungsmittel aus der betrieblichen Altersversorgung indirekt an diesen Bemühungen beteiligt sind. Nun unterzieht die wettbewerbsintensivierende Öffnung der Güter- und Finanzmärkte mit den Bildungs- und Arbeitsmärkten auch die Sozialansprüche einer internationalen Kontrolle, mögen diese auf nationaler Ebene noch so sehr der Eigenkontrolle aus Selbstinteresse, der Wettbewerbskontrolle und der Kontrolle durch die oberste Gerichtsbarkeit entzogen sein. Wenn die Ergebnisse eines freien internationalen Wettbewerbs gesichert werden sollen, kann die Antwort auf den verstärkten Wettbewerbsdruck von außen und die darin liegenden wirtschaftlichen Chancen weder in einem freiheitsbeschränkenden Protektionismus noch in einem staatlich verfügten Abbau der sozialen Vorsorge gesehen werden. Wenn Parteien im politischen Prozeß in dieser Hinsicht erfolgreich sein wollen, müssen sie versuchen, den wirtschaftlichen und den sozialen Fortschritt
134 · Alfred Schüller in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Denn die Menschen sehen in der sozialen Vorsorge die Grundlage ihrer Freiheit und menschlichen Würde, das Kernstück einer freiheitlichen Lebensordnung. Wer der Angst vor Arbeitslosigkeit, vor wirtschaftlichen und sozialen Leistungseinschränkungen entgegenwirken oder zuvorkommen will, muß auf die Herausforderung eine Antwort finden, wie wirtschaftliche Freiheit und soziale Vorsorge in ein Verhältnis der produktiven Gleichrichtung gebracht werden können. Die Perspektiven einer weltweiten Arbeitsteilung sind Voraussetzung dafür, daß wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt nicht mehr ein Privileg für vergleichsweise wenige Länder ist. Politiker, die dem nicht zuletzt im Interesse einer breiten Akzeptanz der freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in der Bevölkerung Rechnung tragen wollen, kommen an der Aufgabe nicht vorbei, bisherige Sozialansprüche in das weltoffene Marktsystem zu integrieren: Erstens als Ergebnis einer Transformation von Kollektivansprüchen in knappheitsorientierte risikoteilende Austauschbeziehungen - wie etwa die Sicherung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle oder der Arbeitslosigkeit auf privatversicherungs- und verbandswirtschaftlicher Grundlage, die Verknüpfung unterschiedlicher Grade des Kündigungsschutzes mit flexiblen Einkommensvereinbarungen, der Übergang von der Zwangsversicherung zur Mindestversicherungspflicht, die Entlastung der Systeme der sozialen Sicherung von Umverteilungsansprüchen mit - soweit dies aus sozialpolitischen Erwägungen gewünscht wird - entsprechender Belastung des Steuersystems. 24 Zweitens als Ergebnis der Beteiligung breiter Schichten der Bevölkerung an der volkswirtschaftlichen Kapitalbildung im Rahmen globaler Finanz- und Kapitalmärkte: - einmal als Grundlage für die Deckung eines hohen, langfristig verfügbaren Bedarfs an Risikokapital, auch in Form von Direktinvestitionen. Dies erfordert eine generelle Entlastung der Unternehmen von den „Teilhabern" ohne Eigentümerstatus bzw. deren Umwandlung in eigentümergleiche oder -ähnliche Beteiligungsformen. Aus dieser Sicht kommt es darauf an, die sozialen Dimensionen und Sicherungspotentiale der individuellen Eigentumsbildung stärker in der Öffentlichkeit bewußt zu machen; - zum anderen als Basis einer individuellen Vermögensbildung im Dienste einer Altersvorsorge, die heute mehr denn je notwendigerweise eine rasch expandierende Ergänzung zur Alterssicherung durch die Kinderzahl und ein staatliches Lösungskonzept sein müßte, das Leistungseinschränkungen nur um den Preis erheblicher zusätzlicher Kollektivschädigungen vermeiden kann. Während der zuerst genannte Weg der Individualisierung und Marktorientierung von Sozialansprüchen in Deutschland und in der Europäischen Union weiterhin auf erhebliche Verbands- und parteipolitische Blockaden stößt, ist in den letzten Jahren mit wachsendem Mißtrauen der Bevölkerung in die Sicherheit und Leistungsfähigkeit der ersten Säule der (staatlichen) Alterssicherung im politischen Prozeß die Be24 Zu diesen und anderen Möglichkeiten der Individualisierung und Marktorientierung bisheriger Sozialansprüche siehe Schüller (1999, 201 ff.).
Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem • 135 reitschaft erkennbar, mit der betrieblichen und privaten Altersvorsorge die zweite und dritte Säule der Alterssicherung zu stärken. Von der Zunahme der privaten Altersversorgung nach dem Kapitaldeckungsprinzip kann erwartet werden, daß die institutionellen Anleger (Lebensversicherungen, Kapitalanlagegesellschaften, Pensions- und Investmentfonds) prinzipiell einen größeren Einfluß auf die Kapitalmarktentwicklung und über diese auf die Dynamik des Marktsystems gewinnen. Dies setzt freilich Institutionen der internen und externen Kontrolle der Unternehmensleitungen voraus, die geeignet sind, auch in Kapitalgesellschaften die Interessen der Beteiligten (der Eigentümer und aller Unternehmensorgane) so aufeinander abzustimmen, daß als Ergebnis eine verbesserte Allokationsfähigkeit des Kapitalmarktes 25 entstehen kann. Im Hinblick auf die Bedeutung, die dem Kapitalmarkt für den Wettbewerb auf den Gütermärkten eingeräumt wird (von Delhaes und Fehl 1997, 1 ff.), sind Ordnungsvorkehrungen vorteilhaft, die institutionellen Anlegern Anreize bieten, sich als nüchterne, informationshungrige und gewinnorientierte Kapitalmarktakteure zu verhalten. Dies wird erleichtert, wenn auf die Ausübung eines direkten Kontrolleinflusses auf die Unternehmensleitungen weitgehend verzichtet wird. Mit dieser Orientierung am Shareholder-Value-Konzept und am Prinzip der Abwanderung würden die institutionellen Anleger unbewußt und ungewollt die Evolutions-, Informations-, Selektions- und Revisionskapazität des Marktsystems stärken. Erforderlich ist hierzu allerdings eine substantielle Aufwertung der Property Rights der Eigentümer (etwa der Aktionäre) mit Gewinn- und Stimmrechtsansprüchen, die eine wettbewerbsfördernde Kapitalmarktkontrolle ermöglichen (Schüller 1979, 329 ff.). Die besondere ordnungs- und gesellschaftspolitische Aufgabe, um die es hierbei geht, liegt auf der Hand: Von Erwerbstätigen, die nicht nur Einkommen aus Arbeitsvermögen und mehr oder weniger volkswirtschaftlich schädlichen Sozialansprüchen, sondern einen erheblichen und wachsenden Teil auch aus individualvertraglich fundiertem Kapitalvermögen beziehen, ist im politischen Prozeß eher mit der Einsicht in die Zusammenhänge des Arbeits- und Kapitalmarktgeschehens und mit der Zustimmung zu notwendigen Bestrebungen zu rechnen, den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in ein Verhältnis der produktiven Gleichrichtung zu bringen. Auf diesem Weg zum „popular capitalism" könnte sich entscheiden, ob und wie weitgehend das Denken in Kategorien der individuellen Eigentumsbildung in der Konkurrenz zum Denken in Sozialansprüchen Pluspunkte sammeln kann. Aus der Perspektive der geschilderten Integrationsaufgabe folgt, daß das, was die meisten Sozialansprüche der zweiten Gruppe bezwecken, auf Erwartungen beruht, die in einer freien Gesellschaft „nur ein freiwilliges System erfüllen kann" {von Hayek 1980, 145). Sozialansprüche als Gegenstück und Ersatz der Freiheitsgarantie, etwa gemäß dem Forsthoffschen
25 Hierzu müßte die Kapitallenkung die leistungsfähigsten Produktionsstätten in einer Weise begünstigen, daß im Ergebnis die Evolutions-, Informations-, Selektions- und Revisionskapazität des Marktsystems gestärkt wird. Zu den instiutionellen, vor allem eigentumsrechtlichen Bedingungen hierfür siehe Schüller (1979, 325 ff.).
136 · Alfred Schüller Verständnis von der Daseinsvorsorge, erweisen sich dagegen als Quelle verhängnisvoller Kollektivschädigungen.
2. Wird die deutsche „Riester-Rente" der Bedingung gerecht? Im politischen Raum dominieren bisher ziemlich unangefochten die Sonderinteressen der betrieblichen „Teilhaber" mit einem gesetzlich dekretierten oder faktisch angemaßten Eigentümerstatus. Gemeint sind damit Vorstände und Aufsichtsräte, Gewerkschaften und Banken, die auf der Grundlage einer Art von Gruppeneigentümerverfassung an unternehmerischen Finanzierungsmöglichkeiten interessiert sind, die der strengen wettbewerblichen Kontrolle des Kapitalmarktes nach Bedarf entzogen werden können. Kann das Konzept eines staatlich geförderten kapitalgedeckten Altersvermögensaufbaus (bekannt als „Riester-Rente") nach dem „Altersvermögensgesetz" bzw. dem „Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz" (seit 1. Januar 2002 in Kraft), daran etwas ändern? Zunächst einmal ist festzustellen, daß seit längerem zwischen 22 und 24 % des Geldvermögens der privaten Haushalte auf die „institutionelle Altersicherung" entfallen (Deutsche Bundesbank 2001, 45 ff.). Hierbei nimmt der Anteil der individuellen Lebensversicherungen gegenüber Pensionsrückstellungen, anderen Formen der betrieblichen Altersversorgung und der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst stetig zu. Um die Tragfähigkeit der institutionellen Alterssicherung gegenüber der brüchig gewordenen ersten Säule der Alterssicherung erheblich zu stärken, herrscht in der deutschen Politik die Auffassung vor, dies sei nur erreichbar, wenn die private Zusatzvorsorge durch direkte Subventionen und Steuervergünstigungen weit über das bisherige Maß hinaus gefördert wird. Von der Möglichkeit der Riester-Rente" auf privatversicherungswirtschaftlicher Grundlage wird bislang nur zögernd Gebrauch gemacht. Vielfach wird dies auf zu komplizierte Anlagebedingungen (Deutsche Bundesbank 2002, 28) zurückgeführt. Freilich scheinen die Initiatoren der „Riester-Rente" die Absicht zu haben, die betriebliche Altersversorgung, vor allem in Form betrieblicher und überbetrieblicher Pensionsfonds, in eine Vorzugsposition zu bringen. Dies läßt jedenfalls die erheblich stärkere abgabenrechtliche Begünstigung dieser Spielart der „Riester-Rente" vermuten. So ist es nicht unwahrscheinlich, daß sich der Vermögensaufbau, der aus der Riester-Rente" entsteht, zu 60 bis 70 % auf betriebliche Pensionsfonds oder Branchenpensionsfonds stützen wird (Döring 2002b). Mit einer systematischen Integration in das allgemeine Kapitalmarktgeschehen könnte das Aufkommen aus der „Riester-Rente" die Grundlage für die individuelle Vermögensbildung verbreitern und - mit Hilfe eines verstärkten Einflusses der institutionellen Anleger - die Allokationskapazität des Kapitalmarktes verbessern. Wirkt also die neue betriebliche Altersvorsorge der bisherigen politischen Neigung entgegen, den Unternehmen mit Hilfe von Sozialansprüchen immer mehr soziale, staatliche und gesellschaftliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten aufzuzwingen?
Sozialanspriiche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem · 137 che und gesellschaftliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten aufzuzwingen? Bei einer entsprechenden Wirkungsanalyse sind vor allem zwei Punkte kritisch hervorzuheben: Erstens: Die Vermutung, daß die staatliche Förderung der schätzungsweise 32 Millionen Anspruchsberechtigten überwiegend von diesen selbst zu finanzieren sein wird, ist nicht unbegründet. Auch ist zu fragen, ob damit nicht weitgehend auf Kosten bestehender Vermögensanlagen gespart wird und die Steuererleichterungen, Prämien und Zulagen nicht lediglich mitgenommen werden. Es ist auch möglich, daß die staatliche Renditeverbesserung durch eine zusätzliche Steuerbelastung und vergleichsweise hohe Transaktionskosten aufgezehrt wird, die durch die Erfüllung der gesetzlichen Anlageauflagen entstehen. Fehlgelenkte Ressourcen schaden hier wie auch sonst der Dynamik wettbewerblicher Marktprozesse. Zweitens: Hinsichtlich der Frage, wie eine erfolgreiche Vermögensbildungs- und Anlagepolitik gesichert werden kann, konkurriert das Prinzip der Eigen- und der Wettbewerbskontrolle, das für das Marktsystem im allgemeinen und für das Finanzmarktsystem mit ergänzenden Regeln im besonderen gilt, mit einer zusätzlichen Staatskontrolle. So haben die Anbieter von betrieblichen und überbetrieblichen Pensionsfonds (wie auch von staatlich zertifizierten privaten Altersvorsorgeverträgen) künftig jährlich darzulegen, daß sie bei ihren Anlageentscheidungen ethische, soziale und ökologische Kriterien, also wie auch immer bestimmte Marktverhaltens- und Marktergebniskriterien berücksichtigt haben. Der Gesetzgeber will offensichtlich erreichen, daß sich die in Frage stehenden Anbieter von Produkten der ,,/?¿esfer-Rente" bei ihren Anlageentscheidungen nicht so verhalten, wie es üblicherweise nüchtern kalkulierende, informationshungrige und erfolgsorientierte Kapitalmarktakteure tun. Dies dürfte sogar weitgehend ausgeschlossen sein, wenn betriebliche Pensionsfonds, wie etwa das Versorgungswerk der Metallbranche, im Einflußbereich der Gewerkschaften und ihrer Sonderinteressen stehen. Das Renditedenken ist also bei der Suche nach und der Wahrnehmung von Anlagemöglichkeiten durch neue Sozialansprüche zu relativieren, die im Hinblick auf die Kapitalnachfrager bei Anlageentscheidungen zu berücksichtigen sind. Hierzu gehören (siehe etwa Döring 2002b, 46): - Sozialpolitische Ansprüche: Gestaltung der Arbeitsbeziehungen im Hinblick auf die Stabilität, Qualität und Wahlmöglichkeiten, die Arbeitsverhältnisse bieten können (etwa hinsichtlich der Arbeitszeit, der Möglichkeiten zur Weiterbildung und zum Aufstieg, der Anstellung von Älteren). - Ansprüche, die sich auf das unternehmerische Umfeld beziehen, insbesondere auf die Frage: Was tut das Unternehmen für die soziale und kulturelle Infrastruktur der Region? Welche Wirkungen gehen von dem Unternehmen auf die Umwelt aus? - Weltanschauliche und gesellschaftspolitische Ansprüche: Hiermit soll verhindert werden, daß Mittel in die Rüstungsproduktion und „bestimmte Einzelproduktionen" fließen oder „moralisch verwerfliche Verhaltensweisen" begünstigen können.
138 · Alfred Schüller -
Politische Anforderungen: Unternehmen, Länder und Ländergruppen sollen boykottiert werden können, wenn sie im Widerspruch zum Interesse an der Unterstützung von Demokratisierungs- und Befreiungsbewegungen stehen. „Too many objectives are no objectives." Es ist nicht erkennbar, wie dieses Konglomerat von meist nur politisch definierbaren Ansprüchen widerspruchsfrei umrissen und realisiert werden kann. Die Fondsmanager könnten die vielfältigen Sozialansprüche als Beitrag zur „political correctness" wortreich als erfüllt ausweisen und sich im übrigen an den wettbewerbsrelevanten Erfolgsmaßstäben orientieren. Hinsichtlich der Anlagepolitik könnte aber auch eine Einstellung wie bei jenen Schulreformen! der 60er und 70er Jahren vorherrschen, die der Meinung waren: Der Leistungsbegriff ist ein hypothetisches Konstrukt und ist als solches völlig irrelevant. Schließlich könnte mit den genannten Sozialansprüchen versucht werden, gleichsam auf verdeckter Flamme erneut das aufzukochen, was in den 70er Jahren die jungsozialistischen „Neuen Linken" mit der Vergesellschaftung des nationalen Kreditapparates und einem Programm der interventionistischen Investitionslenkung (vergeblich) versucht haben, nämlich die Ersetzung einer weltoffenen renditeorientierten Kapitallenkung durch politisch vorgegebene Zielsetzungen und Kontrollen zugunsten von Sonderinteressen. Das Projekt des „langen Marsches durch die Institutionen" ist weiterhin aktuell und kennt viele neue Varianten und Schleichwege 26 . Die negativen Konsequenzen einer politisierten Lenkung der Kapitalströme (mit dem Charakter einer Kapitalverkehrskontrolle) für die Evolutions-, Informations-, Selektions- und Revisionskapazität des Marktsystems hängen davon ab, welches Gewicht die neuen Sozialansprüche im Vergleich zu den üblichen Renditezielen der Anlagegeschäfte gewinnen können und welches Volumen die staatlich geförderte kapital gedeckte Altersvorsorge im Verhältnis zum übrigen Finanzvermögen erreichen wird. 27 Insgesamt läßt das Regulierungskonzept der „Riester-Rtnte." die Absicht erkennen, unter der vieldeutigen Bezeichnung „ethische", „soziale" und „ökologische" Anlageentscheidungen ein neues Kapitel der tarifvertraglichen Bevormundung der Arbeitnehmer aufzuschlagen, zumal wenn der Gesetzgeber - von der freiwilligen betrieblichen Zusatzvorsorge ausgehend - schließlich den Weg für die betriebliche
26 Dazu gehören die Ausdehnung der Mitbestimmung auf der betrieblichen Ebene durch das Betriebsverfassungsgesetz und Bestrebungen zu einer Stärkung des Einflusses mitbestimmter Aufsichtsräte auf den Geschäftsbereich des Vorstands, beispielsweise im Hinblick auf normale Investitions- und Personalentscheidungen (kritisch hierzu Bernhardt 2002). 27 Bis 2030 wird hiervon ein Vermögensaufbau von 1,5 Billionen Euro erwartet. Was damit auf die Waagschale der Altersicherung kommt, wird deutlich, wenn berücksichtigt wird, daß der Kapitalstock im Rahmen der genannten „institutionellen Alterssicherung" bis heute auf etwa 800 bis 850 Mrd. Euro angewachsen sein dürfte und daß die Unternehmen in Deutschland - vor allem im klein- und mittelbetrieblichen Bereich - in ungewöhnlich hohem Maße auf die Fremdfinanzierung angewiesen sind. Mit dem Ausmaß der Fremdfinanzierung der privaten Investitionen und dem Anteil, der davon auf das Aufkommen aus der „Riester-Renlc" entfällt, nimmt aber der Einfluß der politischen Kreditlenkung zu.
S o z i a l a n s p r ü c h e , i n d i v i d u e l l e E i g e n t u m s b i l d u n g und M a r k t s y s t e m · 139
Zwangsrente freimachen und die dann zu erwartende Renditeverschlechterung durch erhöhte staatliche Zuwendungen ausgleichen wird. 28 Unter Berufung auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit dürfte mit folgender Argumentation zu rechnen sein: Bei den Mitteln der betrieblichen Altersversorgung handelte es sich um akkumuliertes Kapital der Arbeiter, das dem Einfluß ihrer Interessenvertreter zustehe. Hiervon ist eine Bindung von Finanzierungsmitteln an die Einlösung der jeweils (gewerkschafts-)politisch im Vordergrund stehenden Sozialansprüche oder eine kartellförmige Abwehr negativer Sanktionswirkungen zu erwarten, die von freien Finanzmärkten auf leistungsschwache Unternehmen ausgehen können. Das Ergebnis wird sein: Neben den schon bestehenden firmeninternen Kapitalmärkten, die außerhalb der Kontrolle des freien Kapitalmarktes dem Management und den Mitbestimmungsträgern zu Diensten sind, werden neue Sonder-Kapitalmärkte entstehen, um eine Krückenfunktion für die Erhaltung von bisherigen Arbeitsplätzen und Einkommenschancen zu übernehmen, Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen und Arbeitserleichterungen durchzusetzen. Hierbei werden diejenigen Arbeitnehmer mit Sondervorteilen rechnen können, für die besonders rücksichtslos geführte Gewerkschaften die Zuständigkeit beanspruchen. Die von den Tarifpartnern gemeinsam verwalteten Fonds werden hierfür am stärksten anfällig sein. Ökologische und ethische Ansprüche können dabei leicht als Verhüllung der wirklichen Interessen dienen. Für das Anliegen, die Allokationsfähigkeit des Kapitalmarktes zu verbessern, läßt die gestärkte Verfügungsmacht von Verbandsfunktionären über die angesparten Alterseinkünfte nichts Gutes erwarten. Im Gegenteil: Das Regulierungskonzept der „Äiesier-Rente" kann für eine kreditwirtschaftliche Flankierung der Mitbestimmung mißbraucht werden. Die Bereitschaft eines in sozialverwaltungswirtschaftlichen Kategorien denkenden Gesetzgebers, den Beitrag der Beschäftigten durch einkommensabhängige staatliche Zulagen oder durch steuerliche Abzugsmöglichkeiten zu stützen, hat offensichtlich einen hohen Preis. Dieser besteht darin, die neue Form der Eigentumsbildung von vornherein mit neuen Sozialansprüchen zu überziehen und damit in einen Widerspruch zu den Anforderungen eines wettbewerblichen Marktsystems zu bringen. Insgesamt können mit dem Regulierungskonzept der „Ä/ei/er-Rente" neue Teilhaber ohne Eigentümerstatus mit einer beträchtlichen, dem Wettbewerb entzogenen Konzentration von Verfügungsmacht auf den Plan treten. In diesem Falle würde es auf dem eingeschlagenen W e g der staatlich geförderten kapitalgedeckten Altersvorsorge nicht entscheidend gelingen, das zurückzudrängen, was von Anfang an die staatliche Alterssicherung wie auch die hinzugekommenen Zweige der Sozialversicherung kennzeichnet, nämlich die Instrumentalisierung für Posititions- und Machtsicherungen im Parteien- und Verbändewettbewerb. 28 Die privaten Anbieter von entsprechenden „Mé^íí/--Produkten" dürften dann mit „ausgezeichneten politischen Rahmenbedingungen" für eine sichere gewinnbringende Kapitalanlage werben, wie es heute die Fonds für Windkraftbeteiligungen unter Berufung auf eine hohe Investitionssicherheit „durch gesetzlich garantierte Einspeisevergütung", also auf das Recht tun, an einem dem Wettbewerb entzogenen Energiepreisdiktat beteiligt zu werden.
140 · Alfred Schüller Wer zum Schluß meiner Ausführungen kritisch aus der Perspektive der Neuen Politischen Ökonomie nach den Möglichkeiten fragt, wie in der politischen Realität wieder aus individuellen Eigentumsrechten ein sozialökonomischer Ordnungsfaktor ersten Ranges wird, wie also aus dem Wissen ein starkes Wollen und Können hervorgehen kann, dem antworte ich mit Ernst Heuß (1998, 345): „Vielleicht zeigt sich nirgends so deutlich, wie der geistesgeschichtliche Bezug zu den Handlungen der Menschen und damit auch zur ökonomischen Realität verloren gegangen ist. An sich sollte jedem Nationalökonomen von der Geistesgeschichte seiner Disziplin vertraut sein, wie theoretische Vorstellungen die Wirtschaftspolitik bestimmen. Bevor aber theoretische Vorstellungen in die Wirklichkeit umgesetzt werden können, müssen sie in den Köpfen der Menschen sein, und hier sieht der Ordoliberalismus seine eigentliche Aufgabe, und zwar denkt er vor allem an die heranwachsende Generation."
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Zusammenfassung Der Autor untersucht die wirtschaftlichen Konsequenzen, die von Sozialansprüchen auf die individuelle Eigentumsbildung und die Leistungsfähigkeit des Marktsystems ausgehen. Hierzu werden zwei Arten von Sozialansprüchen unterschieden: Solche, die Freiheit, individuelles Eigentum und ein wettbewerbliches Marktsystem ermöglichen, und solche, die mit den grundlegenden Marktinstitutionen um die Vorherrschaft konkurrieren. Diese zweite Gruppe steht im Mittelpunkt des Beitrags. Sie zeigt seit Jahrzehnten in Deutschland ein explosives Wachstum. Dieses hat den Bereich, in dem das Fähigkeits- und Ressourcenpotential der Menschen zur Geltung kommen kann, verengt. Die geistigen und politischen Kräfte, die dies ermöglicht haben, werden im einzelnen in ihrem Verhältnis zum Marktsystem dargestellt und im Hinblick auf die damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Fehlentwicklungen kritisiert. Erfolgreiche Reformansätze erfordern es nach Auffassung des Autors, Sozialansprüche in einen systematischen Zusammenhang mit den Institutionen des Marktsystems zu bringen. U m hierfür den Blick zu schärfen und den Erkenntnisstand zu ver-
Sozialanspriiche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem • 143 bessern, werden individuelle Eigentumsbildung und Sozialansprüche einer vergleichenden Betrachtung unterzogen. Dies geschieht im Hinblick auf die Handlungsmotivation, das Handlungspotential und die Handlungskontrolle der Menschen. Erkenntnisziel sind die je spezifischen Wirkungen, die hiervon auf die Fähigkeit des Marktsystems ausgehen, veränderten Anforderungen der Umwelt gerecht zu werden. Bei der Handlungskontrolle wird - wie auch schon an anderer Stelle des Aufsatzes die Eigentumsbetrachtung des Bundesverfassungsgerichts und die „Lehre von der Daseinsvorsorge", auf die sie sich im Kern stützt, besonders kritisch beleuchtet. Abschließend befaßt sich der Beitrag mit den Vorzügen einer Integration von Sozialansprüchen in das Marktsystem und fragt nach Perspektiven hierfür. Diese werden in Deutschland vor allem in der verstärkten Individualisierung und Marktorientierung der Alterssicherung durch die sog. „Riester-Rente" gesehen. In dem hiermit verbundenen Regulierungskonzept sieht der Verfasser allerdings einen Ausgangspunkt der Politik, um neue Sozialansprüche mit desintegrierender Wirkung für das Marktsystem zu etablieren.
Summary Social Rights, Individual Asset Building and the Market System The author analyses the economic consequences of social rights on the effectiveness of private asset building and the viability of the market system. He distinguishes two types of social rights: those which allow freedom, individual property and a competitive market system, and those which compete with the major market institutions for prime position. It is the second type on which this article focuses. Social rights of this type have been expanding at a tremendous rate for decades in Germany. This in tum has restricted the field in which human ability and resources can prosper. The intellectual and political forces that have made this possible are examined critically under the aspect of their relationship to the market system and in the context of the associated economic and social failures. Successful approaches to reform require that social rights are seen in connection with the institutions of the market system. The author therefore compares individual asset building and social rights with a view on their respective effects on human motivation, potential and control of action, thus on the specific effects which enable the market system to adjust to the changing requirements of the environment. In examining control of action special attention is paid to the Federal Constitutional Court's position on property and the „Doctrine of Provision for Life", on which this position is primarily based. In the final section the author examines the advantages of integrating social rights into the market system. In Germany suitable perspectives are seen especially in the growing individualisation and market orientation of the old age pension scheme connected with the name of the Federal Minister of Labour, Herr Riester. However, the
144 · Alfred Schüller author sees in the accompanying regulatory concept a starting point to establish new social rights which would have a disintegrative effect on the market system.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2002) Bd. 53
Wernhard
Möschel
Funktionen einer Eigentumsordnung* Im Vordergrund der folgenden Ausführungen steht die normative Frage nach den Funktionen eines durchaus differenzierten Eigentumsbegriffs innerhalb unserer Rechtsordnung. Sodann wird an verschiedene normative Konzepte erinnert, welche privates Eigentum legitimieren mögen. Überlegungen zu den wirtschaftsordnungspolitisch-ökonomischen Aspekten der Fragestellung schließen sich an.
I. Eigentum in der Rechtsordnung 1. Im bürgerlichen Recht Im bürgerlichen Recht stellt Eigentum ein absolutes Herrschaftsrecht dar, dessen Gegenstand nur eine Sache sein kann, sei es eine bewegliche, sei es eine unbewegliche. In § 903 BGB heißt es: „Der Eigentümer einer Sache kann ... mit der Sache beliebig verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen." Dieses Herrschaftsrecht umschließt den Substanzwert einer Sache, das uti, frui, habere, possidere der römischen Juristen ebenso wie ihren Tauschwert. Die Möglichkeit des Tausches ist Grundlage einer jeden verkehrswirtschaftlichen Ordnung. Schon Aristoteles hat diese Funktionen des Privateigentums am Beispiel eines Schuhs verdeutlicht. Mag die Formulierung „nach Belieben verfahren", heute für manche Ohren leicht provozierend wirken, so war dies in historischer Perspektive einmal eine revolutionäre Position, nämlich die Zurückweisung eines gespaltenen Eigentumsbegriffes in Ober- und Untereigentum bzw. Nutzungseigentum. Diese Aufspaltung war verbunden mit feudalistisch-politischer Herrschaftsmacht, die grosso modo im Zuge der französischen Revolution überwunden wurde (Papier 1994, Rdnr. 24 ff.; Fischer 1993, 16 ff.). § 903 BGB enthält freilich eine Einschränkung im Sinne eines Regel-AusnahmeVerhältnisses: Der Eigentümer kann mit der Sache nach Belieben verfahren, aber nur, „soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen." Daran knüpft sich die übliche Bandbreite juristischer Probleme und Abgrenzungsnotwendigkeiten. Welches Ausmaß an Emissionen wie Staub, Lärm und dergleichen darf ein Eigentümer verursachen, welches Ausmaß hat er seinerseits hinzunehmen? Gehört dazu das Froschgequake im Bioteich des Nachbarn? Muß man ästhetische Beeinträchtigungen wie die Nutzung eines benachbarten Baugrundstücks als Schrottplatz akzeptieren? *
Vortrag auf einer Veranstaltung der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft am 1 4 . 6 . 2 0 0 2 in Salzburg.
146 · Wernhard Möschel Kann man sich gegen die Verwendung einer Nachbarwohnung als Bordell mit der Begründung wehren, das eigene Eigentum werde dadurch beeinträchtigt? Wenn jemand vom Schloß Tegel in Berlin vom Privatgrundstück des Schlosses aus ein Foto macht und es als Postkarte verwerten will, verletzt er Eigentum. Nahm er das Bild von einem öffentlichen Weg aus auf, so ist dies nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu verneinen {BGH NJW 1975, 778 und NJW 1989, 2251). Andererseits knüpfen sich an das Eigentum mögliche Haftungsfolgen zu Lasten des Eigentümers. Zivilrechtlich am wichtigsten ist die sog. Verkehrssicherungspflicht: Gefahren, die vom Zustand einer Sache ausgehen, muß der Eigentümer im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren ausschließen. Solche Pflichten können auch öffentlichrechtlich begründet sein, etwa die Zustandshaftung eines Eigentümers nach den Polizei- und Ordnungsgesetzen. So war z.B. in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg der Eigentümer einer Hausruine dafür verantwortlich, daß Dritte dadurch nicht verletzt werden konnten. Auf ein Verschulden kam es nicht an. Auch für rechtsgeschäftliches Handeln eines Eigentümers bestehen Grenzen. So kann nach § 137 S. 1 BGB die Befugnis zur Verfügung über ein veräußerliches Recht nicht durch Rechtsgeschäft ausgeschlossen oder beschränkt werden. Eine Sache kann sozusagen nicht extra commercium gestellt werden. Die Perpetuierung von Eigentum zu Gunsten eines Familienvermögens ist durch das Verbot von Fideikomissen in der Weimarer Reichsverfassung ausgeschlossen worden. Auch testamentarische Verfügungen stoßen insoweit auf zwingende zeitliche Begrenzungen. Als sich während des 19. Jahrhunderts juristische Personen nach Art einer Aktiengesellschaft zu verbreiten begannen, entstand eine Diskussion, ob solche „unsterbliche" Vermögensballungen in eine verkehrswirtschaftliche Ordnung passen (Reuter 1973, 37 ff.; Großfeld 1968, 86 ff.). Mit Rücksicht auf Effizienzüberlegungen wurde dies bejaht. Für externes, nicht für internes Unternehmenswachstum wurden erst in verhältnismäßig junger Zeit wettbewerbsorientierte Grenzen geschaffen (Fusionskontrolle in Deutschland seit 1973, in der EG seit 1990).
2. Ähnliche Rechtspositionen Zum Eigentum im technischen Sinne des bürgerlichen Rechts tritt eine Vielzahl eigentumsähnlicher Rechtspositionen. Sie werden sehr differenziert behandelt. Eine wichtige Gruppe bilden die sog. Immaterialgüterrechte wie Patente, Gebrauchsmuster, Geschmacksmuster, Urheberrechte, Markenrechte. Ihre Schutzvoraussetzungen sind höchst unterschiedlich, z.B. Notwendigkeit einer Erfindung bei Patenten, das Erfordernis einer persönlichen geistigen Schöpfung bei Urheberrechten. Der Schutzumfang ist ebenso unterschiedlich. Ich erinnere pars pro toto nur an die Schranken des Urheberrechts unter dem Aspekt des fair use. Dies gilt namentlich auch unter zeitlichem Aspekt: Schutz bei Patenten nur für 20 Jahre ab Anmeldung, bei Urheberrechten bis zu 70 Jahre nach dem Tode des Urhebers; der Schutz einer eingetragenen Marke ist demgegenüber zeitlich auf 10 Jahre befristet, kann freilich
Funktionen einer Eigentumsordnung · 147
unbegrenzt häufig um jeweils weitere 10 Jahre verlängert werden. Einschränkungen ergeben sich aus der Notwendigkeit, daß eine eingetragene Marke auch tatsächlich benutzt wird. Dahinter stehen meist unterschiedlich bewertete Zielkonflikte zwischen underproduction bei fehlendem Rechtsschutz einerseits und underutilisation bei zu ausgedehntem Rechtsschutz andererseits (Bechtold 2002, 282 ff.). Beim Sacheigentum mit seinem gegenständlich und örtlich begrenzten Schutz ist die Gefahr einer underutilisation demgegenüber zu vernachlässigen, jedenfalls für den Regelfall, der das institutionelle Muster prägt. Eine weitere eigentumsähnliche Gruppe sind sog. Persönlichkeitsrechte, z.B. das Recht am eigenen Bild. Es hat den Charakter eines Ausschließlichkeitsrechts. Es kann kommerziell verwertet werden. Doch bestehen bekanntlich Einschränkungen u.a. bei Personen der Zeitgeschichte. In die Kategorie von Rechten in der Nachbarschaft des Sacheigentums gehört das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, in der Nachbarschaft deshalb, weil es in einer Wettbewerbsordnung einen Schutz von Unternehmen tel quel nicht geben kann. Wenn ein Grenzbetrieb aus dem Markt ausscheidet, besteht keinerlei Indikation dafür, dies beruhe auf rechtswidrigen Aktivitäten Dritter. Das Recht am Gewerbebetrieb umschreibt vielmehr ein Bündel spezifischer, betriebsbezogener Handlungen, die unerlaubt sein sollen und insofern zum Schadensersatz verpflichten. Der Urfall ist die sog. Patentberühmung: Ein Dritter beruft sich zu Unrecht auf ein Patent und bringt damit einen Gewerbebetrieb, der die tatsächlich patentfreie Erfindung benutzt, zum Erliegen. Nicht betriebsbezogen ist z.B. die Unterbindung der allgemeinen Stromzufuhr eines Betriebs. Wenn die Maschinen nicht laufen können, ist dies auch keine Eigentumsverletzung. Dies wäre anders, wenn z.B. Kükeneier in einer Hühnerzucht als Folge des Stromausfalles verderben. In der Institutionenökonomie rechnet man auch schuldrechtliche Beziehungen, meist Vertragsbeziehungen, zu den Verfügungsrechten, als deren wichtigster Fall das Sacheigentum gilt. Man spricht dann von relativen Verfügungsrechten und analysiert diese Rechtsbeziehungen unter dem Aspekt ihrer Unvollständigkeit und der sich daraus ergebenden Opportunismusgefahr (Richter und Furubotn 1999, 92 ff.). Diese durchaus wichtigen Problemstrukturen scheinen mir freilich auf einer etwas anderen Ebene zu liegen. Sie haben mehr mit der allgemeinen Vertragsfreiheit zu tun, die als Freiheitsposition inhaltlich denknotwendig offen ist, als mit der ausschließlichen Zuordnung von Rechtspositionen, wie dies beim Sacheigentum und bei ähnlichen Rechten der Fall ist.
3. Eigentum im Verfassungsrecht Eine wiederum andere Ebene ist mit der Gewährleistung des Eigentums nach Art. 14 Grundgesetz erreicht (umfassend Depenheuer 2002, 109 ff.). Die Verfassungsnorm regelt in erster Linie das Verhältnis Eigentümer - Staat, während § 903 BGB oder ähnliche Rechte das Verhältnis zwischen Privatrechtssubjekten betreffen.
148 · Wernhard Möschel Art. 14 Grundgesetz enthält eine Institutsgarantie, i.e. ein Verbot für den Gesetzgeber, das Rechtsinstitut Eigentum ganz zu beseitigen oder in seinem Wesensgehalt einzuschränken, sowie eine Individualgarantie. Letztere schützt subjektive Rechte des Einzelnen gegen hoheitliche Eingriffe. Die Norm unterscheidet dabei zwischen Inhalts- und Schrankenbestimmungen einerseits, die durch die Gesetze bestimmt werden, und Enteignungen im technischen Sinne nach Art. 14 Abs. 3 Grundgesetz andererseits. Letztere ist nur gegen Entschädigung zulässig. Dies gewährleistet, daß in einer von Mehrheitsentscheidungen bestimmten Gesellschaftsordnung die jeweilige Mehrheit nicht ungeniert ihre Hände in die Taschen der Minderheit hält und sich beliebig bedient. Die praktischen Probleme liegen heute eher bei ungezielten enteignungsgleichen Eingriffen: In Folge des Baus einer U-Bahn ist der Zugang zu einem Laden für fast zwei Jahre nur noch ganz eingeschränkt möglich. Hält sich dies noch innerhalb der Sozialpflichtigkeit des Eigentums mit der Folge, daß der Ladeninhaber dies einfach zu erdulden hat? Eine Bauplanungsentscheidung einer Gemeinde macht einige Grundstückseigentümer über Nacht zu Vermögensmillionären. Für einen Eigentümer gilt das nicht; sein Grundstück wurde als Teil von Grünland ausgewiesen. M u ß er das entschädigungslos hinnehmen? Aufgrund einer Entwicklung, die schon mit der Weimarer Reichsverfassung begann, ist der Eigentumsbegriff des Art. 14 Grundgesetz weiter als der bürgerlichrechtliche. Er umfaßt sämtliche Vermögenswerten privaten Rechte und - insbesondere - auch einzelne subjektiv-öffentliche Rechte. Unter bestimmten Voraussetzungen gehören zu letzteren namentlich Rentenanwartschaften, die auf eigenen Beitragszahlungen beruhen. In Korrektur seiner früheren Rechtsprechung legt das Bundesverfassungsgericht seit seinem Beschluß zur Vermögensteuer aus dem Jahre 1995 Art. 14 Grundgesetz als Prüfmaßstab für die Zulässigkeit von Steuerbelastungen an. Es hat daraus seinen sog. Halbteilungsgrundsatz entwickelt ( B V e r f G E 93, 121). Ähnlich wichtig sind die Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums, die Art. 14 Abs. 1 Grundgesetz ermöglicht. Trotz hier bestehender rechtlicher Grenzen - es besteht eine Wechselwirkung zwischen Eigentum und einschränkendem Gesetz, es gilt ein Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - ist die realistische Gefahr diejenige einer Aushöhlung des Eigentums: Der ganze Komplex des Wohnmietrechts ist hier zu nennen, die Frage der Unternehmensmitbestimmung gehört hierher, die Zurückdrängung von shareholder-Interessen bei den Regelungen des Übernahmegesetzes ist ein weiteres Beispiel. Der vorläufig letzte Höhepunkt, ein unrühmlicher, ist der Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Verhinderung von Diskriminierung im Zivilrecht aus dem Bundesjustizministerium ( B M J 2001). In Hypostasierung einer EG-Richtlinie würde es in soziale Näheverhältnisse in einer Weise eingreifen, daß man praktisch nicht mehr Herr oder Frau darüber ist, wer Mieter in der Einliegerwohnung des eigenen Hauses werden soll. Vom Fundamentalsatz der Privatautonomie: stat pro ratione voluntas bleibt dann nicht einmal mehr ein Anschein übrig. Die Behandlung des Entwurfs ist mit Rücksicht auf die bevorstehenden Bundestagswahlen in die nächste Legislaturperiode verschoben worden.
Funktionen einer Eigentumsordnung • 149 Bei Art. 14 Grundgesetz ist die Frage nach der Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes berührt. Kennzeichnend ist die aus dem Investitionshilfeurteil des Jahres 1954 herrührende Formel des Bundesverfassungsgerichts von der „wirtschaftspolitischen Neutralität" des Grundgesetzes ( B V e r f G E 4, 7 ff.). Diese Formel ist ebenso zutreffend wie sie zugleich mißverständlich ist. Sie besagt nur: Bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung einer staatlichen Maßnahme nach den Maßstäben des Grundgesetzes gibt es keine vorgreifliche, selbständige Prüfkategorie „Wirtschaftsverfassung", anhand derer man Konformität oder Nichtkonformität einer Maßnahme bewerten wollte. Es gelten demgegenüber unmittelbar die Maßstäbe der einzelnen Grundrechte selbst, darunter Art. 14 Grundgesetz. Daß sich aus der Zusammenschau von Gewährleistung des Eigentums in Art. 14 Grundgesetz, der Berufsfreiheit in Art. 12 Grundgesetz, der Vereinigungsfreiheit in Art. 9 Grundgesetz und der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Grundgesetz ein faktischer Regelzusammenhang ergibt, der zu den Voraussetzungen einer verkehrswirtschaftlichen Ordnung gehört, ist schlechterdings nicht zu bestreiten. Doch muß man relativierend sehen, daß zu diesem Regelzusammenhang auch die Schrankengewährleistungen und Regelungsermächtigungen bei den einzelnen Grundrechten gehören. Selbst der Sozialisierungsartikel des Art. 15 Grundgesetz ist immer noch geltendes Recht, wenngleich nie angewandtes.
II. Zur rechtsethischen Legitimation von Privateigentum Die Frage nach der rechtsethischen Legitimation von Privateigentum interessiert in erster Linie den Gesetzgeber, etwa bei der Schrankenziehung nach Maßgabe von Art. 14 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz und bei der Ausfüllung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums nach Art. 14 Abs. 2 Grundgesetz (Engel 2002, 9 ff.; Streißler 1993, 50 ff.). Der Rechtsanwender ist berührt, soweit er als Ersatzgesetzgeber auftritt. Dafür gibt es Grenzen, die aus seiner Bindung an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz herrühren. Insbesondere ist der Rechtsanwender nicht zu Systementscheidungen berufen, etwa ob das geltende System der gesetzlichen Alterssicherung oder das System der gesetzlichen Krankenversicherung durch ein anderes ersetzt werden sollen. Für das hier in Frage stehende Spannungsverhältnis zwischen Ungleichheit in der Güterverteilung und individueller Freiheit steht ein berühmtes Zitat von PierreJoseph Proudhon aus „Les confessions d'un révolutionnaire" (1850): „La propriété, c'est le vol." Er fügte die weniger bekannte Wendung hinzu: „ ... la propriété, c'est la liberté" (Proudhon 1850, 138). Das Problem wurde traditionell als eines der Verteilungsgerechtigkeit diskutiert (iustitia distributiva). Ausgehend von einem gedachten Naturzustand sah John Locke (Zwei Abhandlungen über die Regierung, 1698) die Legitimationsquelle in einem einseitigen Eigentumserwerb kraft persönlicher Arbeitsleistung (Locke 1698 (1973), 121 ff.; Zimmerli 1993, 267 ff.). Kant hielt die Inbesitznahme des Gegenstandes unter gleichzeitiger Annahme eines vernünftigen
150 · Wernhard Möschel Konsenses über die eigentumsschaffende Kraft einer solchen Verhaltensweise für maßgeblich: Wenn Eigentum als Recht eines Einzelnen mit dem gleichen Recht aller anderen auf verallgemeinerungsfähige Weise vereinbar ist, dann sollte diese Möglichkeit gemäß der Idee des Rechts als eines verallgemeinerungsfähigen Systems größtmöglicher Freiheit aller gegeben sein (Kant 1797 (1907/14), 203 ff.; Zimmerli 1993, 273 ff.). Marx hat dem bekanntlich seine Kritik an den realen Produktions- und Distributionsverhältnissen seiner Zeit entgegengesetzt, die für die Masse der Bevölkerung wenig Raum für Eigentumserwerb kraft persönlicher Arbeitsleistung oder gar kraft Okkupation ließen. Sein Korrekturvorschlag, Privateigentum an Produktionsmitteln durch Verstaatlichung derselben abzuschaffen, schüttete freilich das Kind mit dem Bade aus. Bezüglich dieser drei hier nur selektiv in Erinnerung gerufenen Klassiker mag auf einer Tagung der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft ein Hinweis auf von Hayek trösten: Privateigentum hat sich Uber Jahrhunderte hindurch im Wettbewerb der Systeme als das überlegene institutionelle Arrangement erwiesen. Dies bleibt ein vorläufiger Trost.
III. Zur ökonomischen Begründung von Privateigentum Aus dem vorläufigen Trost wird ein tendenziell endgültiger, wenn man die ökonomisch-funktionale Begründung von Privateigentum miteinbezieht (Diekmann und Fels 1993; Engel 2002, 33 ff.).
1. Die Wertentscheidungen Es ist dies ein Vierklang, den wir als Freiheits-, Effizienz-, Demokratie- und Rechtsstaatsargument zusammenfassen können: - Eigentum ist sozusagen der Schutzschild, mit Hilfe dessen individuelle Handlungsfreiheiten im Bereich des Wirtschaftlichen möglich werden. Es ist die Tauschfunktion, die, wie erwähnt, schon Aristoteles anhand eines Schuhes demonstriert hat. - Eigentum schafft eine Handlungsmotivation (Anreiz- und Allokationsfunktion), welche über die Aktivierung des Eigeninteresses zu einem wirtschaftlichen Umgang mit Gütern und damit zu einer wohlstandsmehrenden Entwicklung führt. Es sollte möglichst eindeutig zuordenbar sein, sonst wird der geeignete Umgang mit Knappheit erschwert. Hier siedelt die Problematik der Allmendegüter und der öffentlichen Güter. Es sollte im Grundsatz dauerhaft sein. „Das betrifft Knappheit heute versus Knappheit morgen, das betrifft den optimalen Umgang mit Kapitalgütern, die Maximierung der Rentabilität von Investitionen" (Sievert 1993, 210). Ein Landwirt pflanzt heute einen Baum, der erst in 120 Jahren so gewachsen sein wird, daß er gefällt werden kann, nur wegen der Dauerhaftigkeit seines Eigentums. Er vermehrt schon am Tage des Pflanzens den Wert seines Grundstückes. Denn der Wert der Sache ist der Barwert eines zukünftigen Nutzenstroms. Die Eigentums-
Funktionen einer Eigentumsordnung · 151 Ordnung sollte schließlich möglichst verläßlich sein, damit Unsicherheit des Wirtschaftens, vor allem des in die Zukunft weisenden Teils, möglichst vermieden wird. Nur dann kann ein Gegenstand zum wirklich besten Wirt wandern. Dies bleibt ein Denken in Kategorien der Paretoeffizienz, einer vertragstheoretisch begründeten Vorstellung von Handlungsfreiheit, Recht und Effizienz zugleich. Es ist kein Denken in Kategorien reiner Wohlfahrtsökonomik, ein Denken in ergebnisorientierten utilitaristischen Vorstellungen. - Von Demokratieargument kann man insoweit sprechen, als Eigentum das zentrale Instrument ist, um eine Gewaltenteilung im Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu stabilisieren, auf daß die eine Seite nicht zum Herrn und die andere Seite zum Knecht wird. - Rechtsstaatsargument meint: Das Eigentum ist der inhaltlichen Konkretisierung in Rechtsregeln fähig. Das führt zu dezentralen Konfliktsentscheidungen nach abstrakt-generellen Kriterien, nicht nach diskretionärer Einzelfallmeinung.
2. Transaktionskosten All dies ist ebenso bekannt wie es hochabstrakt bleibt. Die heutige Vielfalt von Erscheinungsformen des Eigentums und von eigentumsähnlichen Rechten läßt sich damit nicht genau genug analysieren. Einen Versuch in diese Richtung macht die moderne Institutionenökonomie (Schüller und Krüsselberg 2002, 94 ff.). Die rechtliche Ordnung gehört nicht mehr zum feststehenden Datenkranz, sie wird selbst Teil der ökonomischen Analyse. Eine wichtige Facette dabei sind Orientierungen an den Transaktionskosten verschiedener Optionen von rechtlichen Ausgestaltungen. Zu diesen Optionen kann auch die Alternative zwischen private ordering und public ordering gehören. Aus dieser Sicht geht es weniger um die Frage des „Ob". Ohne wirtschaftliche Güter, die dem Einzelnen zugeordnet sind, unter ihnen neben der Arbeitskraft als wichtigstes das Privateigentum, kann es von vornherein nicht zu Transaktionen auf einem Markt kommen. Es geht eher um die Frage des konkreten „Wie". Dies führt zu den Problemen, welche die Praxis beherrschen: Zielkonflikte sind möglich, z.B. beim Patent unter dem Aspekt Anreizvorteil versus Ausschlußnachteil. Vielfach ist der Rechtsanwender auf die Entscheidung von Maß- und Gradfragen verwiesen, mit fließenden Übergängen und wenig eindeutigen Ergebnissen. Die Feststellung von Wettbewerbsbeschränkungen gehört vielfach hierher. Wichtig scheint mir bei solchem Erkenntniszweck: Folgt man einem freiheitsorientierten, kurz: einem paretianischen Ansatz, dann kann Beurteilungsmaßstab nicht ein als exogen vorgegebenes Wohlfahrtskriterium sein. Die Frage müßte vielmehr lauten: Welches institutionelle Arrangement erleichtert die Durchführung von Transaktionen? Ich ziehe zur Verdeutlichung des Gedankens eine Analogie: Eine Ampel z.B. kann eine Einrichtung sein, welche bei starkem Straßenverkehr den Durchfluß, d.h. die Transaktionen, erleichtert. Wird die Straße, etwa nachts bei spärlichem Verkehr, zum freien Gut, schaltet man die Institution Ampel besser aus.
152 · Wernhard Möschel
IV. EG-rechtliche Implikationen Es mag überrascht haben, daß keine EG-rechtlichen Implikationen entfaltet werden (Von Danwitz
2002, 2 6 0 ff.). Dies hat Gründe: Art. 295 EG-Vertrag läßt die
Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt. Seit Maastricht ist die Tätigkeit der Gemeinschaft zwar ausdrücklich „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet" (so u.a. Art. 4 Abs. 1 EGVertrag). Doch ist dies nach der Rechtsprechung des EuGH kein unmittelbar justiziabler Prüfmaßstab (EuGH 2000, Rdn. 25 ff.). Es gelten vielmehr die je einschlägigen Regeln des EG-Rechts, insbesondere diejenigen der vier Grundfreiheiten. D i e Frage nach einer Wirtschaftsverfassung der EG beantwortet sich damit methodisch ganz ähnlich wie diejenige nach der Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes.
Literatur Bechtold, Stefan (2002), Vom Urheber- zum Informationsrecht: Implikationen des Digital Rights Management, München. Bundesgerichtshof, Urt. v. 20. September 1974 - 1 ZR 99/73, Neue Juristische Wochenschrift 1975, S. 778. Bundesgerichtshof, Urt. v. 9. März 1 9 8 9 - 1 ZR 54/87, Neue Juristische Wochenschrift 1989, S. 2251. Bundesministerium der Justiz (2001), Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht. Bundesverfassungsgericht, Beschl. v. 22. Juni 1995 - 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, S. 121. Bundesverfassungsgericht, Urt. v. 20 Juli 1954 - 1 BvR 459/52 u.a., BVerfGE 4, S. 7. Depenheuer, Otto (2002), Entwicklungslinien des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes in Deutschland 1949-2001, in: Thomas von Danwitz, Otto Depenheuer und Christoph Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, Berlin, S. 109-213. Dichmann, Werner und Gerhard Fels (1993), Gesellschaftliche und ökonomische Funktionen des Privateigentums, Köln. Engel, Christoph (2002), Die soziale Funktion des Eigentums, in: Thomas von Danwitz, Otto Depenheuer und Christoph Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, Berlin, S. 9-107. Fischer, Wolfram (1993), Eigentum und Wirtschaftsordnung in historischer Perspektive, in: Werner Dichmann und Gerhard Fels (Hrsg.), Gesellschaftliche und ökonomische Funktionen des Privateigentums, Köln, S. 16-46. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Urt. v. 3. Oktober 2000 - Rs. C -9/99, Slg. 2000,1-8207. Großfeld, Bernhard (1968), Aktiengesellschaft, Unternehmenskonzentration und Kleinaktionäre, Tübingen. Kant, Immanuel (1907/14), Die Metaphysik der Sitten (1797), in: Kants Werke, Akademieausgabe Band VI, Berlin. Locke, John (1973), Two Treatises of Government (1698), New York. Papier, Hans-Jürgen (1994), Artikel 14, in: Theodor Maunz und Günter Dürig, Grundgesetz: Kommentar, München. Proudhon, Pierre Joseph (1850), Les confessions d'un révolutionnaire, Paris. Reuter, Dieter (1973), Privatrechtliche Schranken der Perpetuierung von Unternehmen, Frankfurt am Main.
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Zusammenfassung Schon als Rechtsbegriff ist der Begriff Eigentum äußerst differenziert zu verstehen. Er reicht vom Eigentum des bürgerlichen Rechts als eines absoluten Herrschaftsrechts über eine Sache über das intellektuelle Eigentum bis hin zum spezifischen Eigentumsbegriff der Verfassung. Dem entsprechen ebenso differenzierte Handlungsmöglichkeiten einerseits und Schutzansprüche andererseits. Die Frage nach der rechtsethischen Legitimation von Privateigentum wurde traditionell als ein Problem der Verteilungsgerechtigkeit diskutiert. Die Stellungnahmen reichen vom einseitigen Eigentumserwerb kraft persönlicher Arbeitsleistung (John Locke) und der strikt freiheitsorientierten Auffassung Kants (Okkupationstheorie) bis hin zur Fundamentalkritik von Karl Marx an den Produktions- und Distributionsverhältnissen seiner Zeit. Im Sinne Hayeks hat sich das institutionelle Arrangement Privateigentum im Wettbewerb der Systeme jedenfalls als überlegen herausgestellt. Die ökonomisch-funktionale Begründung von Eigentum fußt auf Wertentscheidungen. Diese lassen sich als Freiheits-, Effizienz- , Demokratie- und Rechtsstaatsargument zusammenfassen. Dies ist ein Denken in Kategorien der Paretoeffizienz, einer vertragstheoretisch begründeten Vorstellung von Handlungsfreiheit, Recht und Effizienz zugleich. Die Vielfalt von vorzufindenden Erscheinungsformen des Eigentums und der eigentumsähnlichen Rechte läßt sich nur mit genaueren Theorieansätzen analysieren. Der wichtigste dürfte derjenige der Transaktionskosten sein. Folgt man einem freiheitsorientierten Ansatz, kann Beurteilungsmaßstab nicht ein exogen vorgegebenes Wohlfahrtskriterium sein. Die Frage sollte vielmehr lauten: Welches institutionelle Arrangement erleichtert die Durchführung von Transaktionen?
154 · Wemhard Möschel
Summary Functions of Private Property Even in its legal meaning, the term "property" has several distinguishable facets. The spectrum of possible concepts comprises property as an absolute right with respect to an object in private law, intellectual property and the distinct concept of property of the Constitution. The possibilities of using property on the one hand, and of legal protection of this property on the other hand, are correspondingly manifold. The question of the ethical legitimacy of private property was traditionally discussed as a problem of distributional justice. The viewpoints range from the unilateral acquisition of property through personal achievement (John Locke) and the freedom-oriented position of Immanuel Kant ("Occupational Theory") to Karl Marx' fundamental critique of the contemporary conditions of production and distribution. In von Hayek's terms, the institutional arrangement of private property has in any event proven to be superior in the intersystem competition. The economic-functional foundation of property is based on value judgments. They can be summarized as the freedom argument, the efficiency argument, the democracy argument and the rule of law argument. This is a concept which simultaneously integrates Pareto efficiency, a contractually founded concept of freedom of action, law and efficiency. The variety of existing types of property and property rights can only be analysed by using more detailed theoretical approaches. The most important one is presumably the transaction cost approach. If a freedom-oriented approach is followed, the yardstick cannot consist in an exogenously posited welfare criterion. The question instead should be: Which institutional arrangement facilitates the realization of transactions?
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2002) Bd. 53
Verena
Veit-Bachmann
Unsere Aufgabe Friedrich A. Lutz (1901 - 1975) zum hundertsten Geburtstag I. Einleitung Als das Walter Eucken Institut zum siebzigsten Geburtstag von Professor Friedrich A. Lutz unter dem Titel „Politische Überzeugungen und nationalökonomische Theorie" eine Sammlung seiner Zürcher Vorträge - allgemein verständliche kleine Meisterwerke mit weitem geistesgeschichtlichem Horizont - zum Druck vorbereitete, äußerte er den Wunsch, einen Text aus der Feder Walter Euckens und dessen Freunden Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth mit aufzunehmen, der 1937 als Geleitwort der drei Herausgeber zur Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft" erschienen war mit dem Titel „Unsere Aufgabe" 1 . Dieser Text, so seine Begründung, gebe in deutlicher Weise wieder, in welchem Geiste in der damaligen Forschungsund Lehrgemeinschaft von Juristen und Volkswirten an der Universität Freiburg im Breisgau gearbeitet worden sei. In dieser Forschungs- und Lehrgemeinschaft, die sich 1933 gebildet hatte, wirkte Lutz als Privatdozent von Anfang an mit. 2 Als Schüler und späterer Freund Euckens war Lutz mit dessen Werdegang und Gedankenwelt vertraut. Er hat sich - aus Hochachtung und Dankbarkeit - mehrmals dazu geäußert. Eine Besprechung der „Grundlagen der Nationalökonomie" (Eucken 1940) für englischsprachige Leser erschien - kriegsbedingt - 1944 in Economica (Lutz 1944). In der Einleitung zur zweiten Auflage der „Kapitaltheoretischen Untersuchungen" (Lutz 1954a) ordnete er Euckens Beitrag in den Entwicklungsgang der Zinstheorie seit Böhm-Bawerk ein. Das Lebenswerk Euckens hat er mit der ihm eigenen Sachlichkeit dargestellt im Geleitwort zu dessen postum erschienenem Buch „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" (Lutz 1952) und, noch knapper, im Artikel über Eucken im Handwörterbuch der Sozial Wissenschaften (Lutz 1961). Daß Lutz zum Zeitpunkt seines altersbedingten Rücktritts vom Lehramt, in der Rückschau auf sein Leben, Vorträgen seiner reifen Jahre den oben erwähnten Text Euckens und seiner Freunde im Anhang beigefügt haben wollte, läßt darauf schließen, daß ihm die darin geäußerten Gedanken mehr bedeuteten als eine bloße Erinnerung an seine frühen Freiburger Jahre. Ihm ging es um einen Vergleich des Erreichten mit dem Erstrebten. Tatsächlich zieht sich das damals erarbeitete Forschungsprogramm wie ein roter Faden durch sein Wirken und Werk. Vielleicht verknüpfte Lutz 1 2
Böhm, Eucken und Großmann-Doerth (1937). Zur Entstehungsgeschichte und Zielsetzung dieser Forschungs- und Lehrgemeinschaft vgl. Böhm (1957, 95-113)
156 · Verena Veit-Bachmann mit dem Wiederabdruck dieses Textes auch die Hoffnung, die Aufgabe, der er seine Lebenskraft gewidmet hatte, an jüngere Leser weiterzugeben.
II. Das Programm Der Text Euckens und seiner Freunde hebt an mit der Klage, „daß Rechtswissenschaft und Nationalökonomie hinter den Ereignissen herhinken, daß sie nicht gestalten helfen, daß ... in Deutschland beide Wissenschaften die grundsätzlichen Entscheidungen rechts- und wirtschaftspolitischer Art nicht mehr wesentlich beeinflussen. " 3 Den Grund sahen die Autoren in der Vorherrschaft der historischen Schule der Nationalökonomie und des Rechtspositivismus mit ihrer einseitigen Betonung und Erforschung des geschichtlichen Werdens und Wandels. Beide Wissenschaften „verlieren mit vordringender Historisierung ihren Halt, Rechtsidee und Wahrheitsidee werden relativiert, den wechselnden Tatsachen und Meinungen passen sie sich bereitwillig an. ... Um so erfolgreicher konnten wirtschaftliche Machtgruppen ihre Interessen zur Geltung bringen. "4 Beiden Wissenschaften ihre Rolle als gestaltende Kräfte zurückzugewinnen, war das erklärte Ziel der Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft", zu der Lutz als Heft 2 seine erste größere Arbeit nach der Habilitation, „Das Grundproblem der Geldverfassung" (1936a) beisteuerte. Die Nachfolge dieser Reihe übernahm nach dem Zweiten Weltkrieg ORDO, das Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, an dessen Herausgabe Lutz bis zu seinem Tode mitwirkte.
1. Tatsachen „... Tatsachen sind zu untersuchen. Konkrete Probleme sind es, die bewältigt werden müssen. "5 Die historische Schule der Nationalökonomie hatte mit dem Sammeln historischer Tatsachen und von statistischem Material einen nicht mehr wegzudenkenden Beitrag zum Erfahrungsschatz der Wirtschaftswissenschaften geleistet. Wie Eucken, der überwiegend im Geiste dieser Schule ausgebildet worden war, stand auch Lutz mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit. Er hatte eine stets wache Neugierde dem alltäglichen wirtschaftlichen Geschehen gegenüber. „... ein Nationalökonom [muß] imstande sein ..., die konkreten, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort sich abspielenden wirtschaftlichen Geschehnisse zu erklären; ja ich gehe sogar so weit, zu behaupten, daß dies ... der Endzweck seiner Bemühungen sein soll" (Lutz 1971b, 57).
3 4 5
Böhm, Eucken und Großmann-Doerth Böhm, Eucken und Großmann-Doerth Böhm, Eucken und Großmann-Doerth
(1937, VII). ( 1937, XVI). (1937, XIX).
Unsere Aufgabe - Friedrich A. Lutz zum hundertsten Geburtstag • 157
Viele Arbeiten von Lutz galten drängenden Problemen seiner Zeit, von der Bankenkrise der frühen dreißiger Jahre bis zu den chronischen Zahlungsbilanzungleichgewichten der Nachkriegszeit, den Ursachen der Geldentwertung ebenso wie der Neugestaltung der internationalen Währungsordnung nach dem Zusammenbruch der Goldwährung. Ein Beispiel seiner Hinwendung zu den Tatsachen ist sein Buch „Corporate Cash Balances 1914-1943, Manufacturing and Trade" (1945), geschrieben im Auftrag des amerikanischen National Bureau of Economic Research. Anlaß der Untersuchung war der starke Anstieg der Sichtguthaben bei den amerikanischen Banken seit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, von denen der überwiegende Teil von Unternehmungen gehalten wurde. Diese Kassenhaltung war als übermäßig in die öffentliche Kritik geraten mit dem Argument, diese Beträge würden der Kriegsfinanzierung entzogen, aber auch mit Blick auf die bevorstehende Umstellung der Wirtschaft auf Friedenszeiten, in deren Zuge die Auflösung von Geldhorten die Steuerung der effektiven Nachfrage mittels der Geldpolitik zu erschweren drohte. Anhand der Rechnungslegungen einer Auswahl von Produktions- und Handelsunternehmungen verschiedener Größe untersuchte Lutz deren Kassenbestände einschließlich anderer liquider Mittel in Kriegszeiten, Hochkonjunktur und Depression daraufhin, ob sie tatsächlich schwankten und, wo dies der Fall war, aus welchen Gründen. Sein Realitätssinn und ein erstaunlich sicherer gesunder Menschenverstand, auf den er sich bei der Erfassung wirtschaftlicher Probleme und bei der Beurteilung eigener und fremder Forschungsergebnisse stützen konnte, bewahrten ihn vor Irrwegen. Fein gesponnene Theorien wie etwa die Wohlfahrtstheorie mochten als Gedankenspiele intellektuell faszinierend sein, hatten in seinen Augen jedoch keinen Wert, schadeten eher, weil sie durch ihre Realitätsferne das ganze Fach in Mißkredit zu bringen drohten (1971b, 50-51, 63). Selbst die Ergebnisse rein theoretischer Forschung sollten seiner Meinung nach wieder möglichst nahe an die Wirklichkeit herangeführt werden, was vor allem dann wichtig ist, wenn wirtschaftspolitische Folgerungen gezogen werden sollen (1956a, 176-177). Lutz hat denn auch in der zweiten Auflage seiner „Zinstheorie" im Bestreben, die Theorie wirklichkeitsnäher zu gestalten, die Vorgänge am Geld- und Kapitalmarkt, die dort sich bildende Zinsstruktur und den Einfluß des Banksystems auf die Zinssätze einer eingehenden Untersuchung unterzogen (1967b, 199-248). Das Bestreben, seine Kenntnis des alltäglichen wirtschaftlichen Geschehens zu erweitern, war sicherlich mit ein Grund, daß Lutz sich in den fünfziger Jahren der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel als Berater zur Verfügung stellte. Er verfaßte jeweils im Frühjahr den allgemeinen Teil des Geschäftsberichts der Bank und nahm an den regelmäßigen Zusammenkünften der Zentralbankleiter teil. Hier bot sich Gelegenheit, mit Fachleuten der Geld- und Währungspolitik in Kontakt zu kommen und so neben deren Ansichten und Denkweisen auch die praktische Seite des internationalen Zahlungsverkehrs und der Geld- und Währungspolitik kennenzulernen.
158 · Verena Veit-Bachmann
2. Theorie „... Schmoller [wußte] nichts mit dem abstrakten Denkapparat der nationalökonomischen Theorie anzufangen. Er sah nicht, daß ohne dessen Verwendung keine wahren Erkenntnisse Uber die Zusammenhänge der wirtschaftlichen Wirklichkeit erzielbar sind. " Lutz mußte das Versagen der Vertreter der historischen Schule der Nationalökonomie dem Problem der deutschen Inflation 1918-1923 gegenüber als Student am eigenen Leibe erfahren, vernichtete sie doch das Vermögen auch seiner Mutter, die Witwe war. Diese Erfahrung trieb ihn zur Theorie (Lutz 1971b, 62-63). In Walter Eucken, damals junger Privatdozent in Berlin, begegnete er einem Lehrer, der, ebenfalls aus Anlaß dieser Währungskatastrophe, sich von der historischen Methode abund der Geldtheorie zuwandte. Lutz promovierte 1925 bei ihm in Tübingen und folgte nach dreijähriger praktischer Tätigkeit seiner Aufforderung, als sein Assistent in Freiburg sich zu habilitieren. Er tat dies 1932 mit einer Darstellung und Kritik verschiedener Konjunkturtheorien, deren Bemühen um eine allgemein gültige Erklärung der Konjunkturzyklen er als der Idee des wirtschaftlichen Gleichgewichts zuwiderlaufend ablehnte (Lutz 1932). Seine Tätigkeit als Privatdozent in Freiburg unterbrach er mit je einem Studienjahr als Rockefeiler Stipendiat in England und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Da ihm im nationalsozialistischen Deutschland seiner liberalen Haltung wegen die Erlangung eines Lehrstuhls verwehrt war, übersiedelte er 1938 in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er an der Universität Princeton (New Jersey) Aufnahme fand. So wurde er mit der zeitgenössischen Theorie in den führenden angelsächsischen Ländern vertraut, zu deren Durchsetzung im deutschen Sprachgebiet er nach dem Zweiten Weltkrieg an den Universitäten Freiburg im Breisgau und Zürich wesentlich beitrug. Lutz verfügte über ein scharfes analytisches Denkvermögen. Frei von Interessenbindungen ging es ihm einzig um die Erkenntnis der Wahrheit. Sein theoretisches Wissen befähigte ihn, bei der Analyse wirtschaftlicher Probleme die im konkreten Fall wichtigen Fakten aufzuspüren und sie zu einem sinnvollen Ganzen von Ursache und Wirkung zusammenzufügen oder, mit seinen Worten, „die Ereignisse am Band der Kausalität aufzureihen" (1971b, 57). Die Gedankenführung war stets klar und verständlich. Bis ins Alter blieb er offen für neue Erkenntnisse. Seine Lehrverpflichtung nahm er ernst. Eine gründliche Ausbildung der Studenten in ökonomischer Theorie war ihm wichtig, weil sie nach seiner Erfahrung zu vernünftigen Urteilen auch in wirtschaftspolitischen Fragen befähige (1967c, 8). Ein Hauptgebiet seiner theoretischen Forschung waren die Investitions- und die Zinstheorie. Es ist hier nicht der Ort, die Ergebnisse im einzelnen darzustellen. Die wichtigsten Beiträge von Lutz sind eine Theorie der Zinsstruktur (1940), eine Theorie der Investition der Unternehmung, verfaßt in vieljähriger Arbeit zusammen mit seiner Frau Vera C. Lutz (1951), und sein Hauptwerk „Zinstheorie" (1956a, 1967b), 6
Böhm, Eucken und Großmann-Doerth
(1937, XV).
Unsere Aufgabe - Friedrich A. Lutz zum hundertsten Geburtstag · 159 in d e m er die seit Böhm-Bawerk
entwickelten Zinstheorien anhand ihrer wichtigsten
Vertreter einer eingehenden Darstellung und Kritik unterzog, darunter auch die Keyrcessche Theorie und die ihr folgenden Auseinandersetzungen. In der zweiten, auch ins Englische übersetzten Auflage (1967b) zeigt Lutz die Zinsbildung im allgemeinen Gleichgewicht am Modell einer sich entwickelnden Wirtschaft, das bei aller gebotenen Vereinfachung den aus der Geschichte der Zinstheorien g e w o n n e n e n Einsichten R e c h n u n g trägt. Nur wenige Jahre nach der deutschen Währungskatastrophe zerstörte die Bankenkrise der frühen dreißiger Jahre das Vermögen und die Arbeitsplätze von Millionen von M e n s c h e n und demonstrierte, „welche Bedeutung ein geordnetes und sicher funktionierendes Geldsystem f ü r die Volkswirtschaft hat..." (Lutz 1936a/1962, 28). Die Frage, wie ein solches Geldsystem verwirklicht werden kann, ließ Lutz ein Leben lang nicht mehr los. In seiner Schrift „Das G r u n d p r o b l e m der G e l d v e r f a s s u n g " (1936a) deckte er in den Geldverfassungen der beiden von der Bankenkrise besonders stark betroffenen Länder Deutschland und Vereinigte Staaten von A m e r i k a Mängel auf hinsichtlich der Kontrolle der G e l d m e n g e und der Sicherheit des Geldes. Als mögliche Lösung stellte er den damals von Forschern an der Universität Chicago entwickelten Plan des 100 %-Geldes vor (1936a/1962, 95ff.). W i e die
Peelsche
Bankakte von 1844 f ü r das Notengeld sah dieser Plan f ü r das seither vorgedrungene Buch- oder Giralgeld eine organisatorische T r e n n u n g der G e l d s c h a f f u n g von der Kreditgewährung vor, wie sie Lutz f ü r richtig hielt: staatliche Aufsicht über das Geld, das ausschließlich von der Zentralbank geschaffen werden kann, freier W e t t b e w e r b zwischen den Privatbanken bei der Kreditvergabe. Die tatsächliche E n t w i c k l u n g ging in Richtung auf einen Ausbau des geld- und fiskalpolitischen Instrumentariums, mit dessen W i r k u n g s w e i s e und Grenzen sich Lutz in späteren Publikationen eingehend auseinandersetzte. Den Vorschlag von Hayek
(1976), daß sicheres, wertbeständiges
Geld eher Wirklichkeit würde, wenn private Banken im W e t t b e w e r b miteinander jede ihr eigenes Geld ausgeben, weil die Befriedigung der K u n d e n w ü n s c h e nach stabilem Geld sie zur Zurückhaltung in der G e l d s c h a f f u n g zwinge, hat er nicht m e h r erlebt. Lutz verfaßte zahlreiche Aufsätze zur Geldtheorie: Z u r Theorie des Geldmarktes (1935b), Über die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes (1936b und 1939), Kostenund nachfrage-induzierte Inflation (1958a), Die N a c h f r a g e nach Geld (1960), Über neutrales Geld (1969), G e l d s c h a f f u n g durch die Banken (1970). Für ein geplantes z u s a m m e n f a s s e n d e s Buch zur Geldtheorie war ihm die Lebenszeit nicht m e h r vergönnt. Auf d e m Gebiet der internationalen W ä h r u n g s o r d n u n g , deren viele während seiner Lehr- und Forschungstätigkeit v o r k o m m e n d e Spielarten - Eucken
(1952, 55 ff.)
sprach diesbezüglich von einem Zeitalter der Experimente - Lutz i m m e r von neuem durchleuchtete und auf ihre Vor- und Nachteile hin prüfte, erlangte er den Ruf eines der besten Kenner. D a v o n wird im folgenden Abschnitt zu sprechen sein.
160 · Verena Veit-Bachmann
3. Interdependenz und Ordnung „Dem Historismus ... setzen wir das grundsätzliche Denken gegenüber. Es besteht darin, die Einzelfragen der Wirtschaft als Teilerscheinungen einer höheren Einheit zu sehen. Da sämtliche Gebiete der Wirtschaft aufs engste miteinander verknüpft sind, ist diese grundsätzliche Betrachtung die einzige, die der Sache gerecht wird. "7 Punktuelles Denken und Handeln, nur auf das Nächstliegende gerichtete wirtschaftspolitische Maßnahmen, wie sie von Praktikern und Interessenten immer wieder gefordert, von den Politikern in der Regel ergriffen werden, lehnte Lutz - wie auch Eucken - entschieden ab, weil sie die Rückwirkungen vernachlässigen (1971b, 29, 67). „... wesentlich ist, zu erkennen, daß nicht geholfen ist, wenn man auftauchende Schäden jeweils im Einzelfall durch zweckmäßige Maßnahmen zu beseitigen sucht. Alle Einzelmaßnahmen müssen getragen sein von einem Grundprinzip, von dem aus sie ihren tieferen Sinn erst erhalten" (1936a/1962, 101). Auch den Schöpfern der internationalen Währungsordnung von Bretton Woods warf er Prinzipienlosigkeit vor: „Anders als die Klassiker begünstigen die meisten heutigen Ökonomen nicht solche Lösungen wirtschaftlicher Probleme, die auf Grundsätzen beruhen. Stattdessen reden sie in jedem konkreten Fall Maßnahmen das Wort, die ad hoc entworfen werden und die, auch wenn sie aus technischer Sicht geistreich sein mögen, anderen Maßnahmen auf anderen Gebieten widersprechen. Im Ergebnis ist das Gesamtbild der Wirtschaftspolitik heutiger Regierungen weit davon entfernt, ein Muster logischer Übereinstimmung zu sein. (Der Einfluß von Interessentengruppen verstärkt dieses Resultat.) Die Wirtschaftspolitik ist tatsächlich so widersprüchlich geworden, daß sie den Wirtschaftsablauf mehr hemmt als fördert" (1943, 20-21). 8 Im Bemühen, nach grundsätzlichen Lösungen zu suchen, behielt Lutz vor allem in seinen Arbeiten zur internationalen Währungsordnung den Zusammenhang zwischen Währungsordnung und Wirtschaftsordnung stets im Auge. Lutz hatte sich in jungen Jahren ein liberales Weltbild erarbeitet, an dem er trotz starker planwirtschaftlicher Strömungen seiner Zeit unverrückbar festhielt. Es jemandem aufdrängen zu wollen, lag ihm fern, missionarischen Eifer kannte er nicht. Jürg Niehans, sein langjähriger Fachkollege an der Universität Zürich, charakterisierte ihn zutreffend: „A gentle man, he combined firmness in his convictions with respect for those of others" (Niehans 1987). Im Aufsatz „Goldwährung und Wirtschaftsordnung" (1935a) ging Lutz den Bedingungen nach, die erfüllt sein müssen, wenn die Goldwährung zufriedenstellend funktionieren soll: Verzicht auf autonome einzelstaatliche Konjunkturpolitik und auf protektionistische Handelspolitik, Beweglichkeit von Preisen und Löhnen und Vertrauen in die Stabilität der Verhältnisse. Anhand dieser Bedingungen zeigte er, daß die Grundidee der Goldwährung die gleiche war wie die der Wirtschaft des freien Wettbewerbs. „Der freien Wirtschaft ist die Idee der volkswirtschaftlichen Planung seitens einzelner Länder genau so fremd wie der Goldwährung. Wie die Zentralbank7 8
Böhm, Eucken und Großmann-Doerth ( 1937, XVIII). Übersetzung der Verf.
Unsere Aufgabe - Friedrich A. Lutz zum hundertsten Geburtstag · 16 i leiter grundsätzlich nur Rücksicht nehmen sollen auf ihre privatwirtschaftlichen Möglichkeiten, so sollen auch auf dem Gebiete der 'Wirtschaft' die Individuen nur ihrem Interesse nachgehen, nationalen oder internationalen Handel treiben, wie dieses Interesse es verlangt, mit dem Resultat, daß hier wie dort ein volkswirtschaftlich sinnvolles Ergebnis erzielt wird. Wie die Goldwährung auf der Idee eines sinnvollen Mechanismus beruht, so auch die Wirtschaftsordnung des freien Wettbewerbs. Und wie dem System der freien Marktwirtschaft der weise Pessimismus Adam Smiths zugrunde liegt, der ein funktionierendes Wirtschaftssystem erstrebte, ohne dem einzelnen mehr zuzumuten, als seinem Interesse zu folgen, so wird auch den Zentralbankleitern nicht allzuviel zugemutet: Sie haben in Übereinstimmung mit ihren Interessen dem Goldmechanismus nicht zu befehlen, sondern zu gehorchen, so wie das einzelne Wirtschaftssubjekt im freien Wettbewerb die Preisbewegung nicht bestimmt, sondern nur darauf reagiert" (1935a/1962, 21). Lutz schätzte an der Goldwährung vor allem die Tatsache, daß sie eine strenge, auf festen Regeln beruhende Ordnung und gleichzeitig eine sinnvolle Ordnung des internationalen Geldwesens war, deren Vernunft in diesen Regeln beschlossen lag und durch sie wirkte (1935a/1962, 9, 10, 13; 1958b/1962, 214). Das in Bretton Woods vereinbarte Währungssystem befriedigte ihn von Anfang an nicht, weil es als ein zwischen unterschiedlichen Interessen ausgehandelter Kompromiß „keine klare, auf eindeutigen Prinzipien beruhende Lösung schaffte" (1958b/1962, 215) und deshalb auch wenig Aussicht auf Erfolg habe ( 1943, 21 ). Auf der Suche nach einer internationalen Ordnung des Geldwesen, „die 1. intensive Depressionen vermeidet, oder, anders ausgedrückt, einen durchschnittlich hohen Beschäftigungsgrad garantiert, die 2. auf durchsichtigen, klaren Prinzipien beruht und die 3. den Gedanken eines automatischen Mechanismus, wie er der Goldwährung zugrunde lag, verwirklicht" (Lutz 1949, 226), diskutierten die Liberalen in den vierziger Jahren den in den Vereinigten Staaten von Amerika entwickelten GrahamPlan. Dieser Plan einer Waren-Reserve-Währung wurde damals von Hayek (1943) und Eucken (1952, 261-264) unterstützt. Lutz verfolgte ihn nicht weiter. Er blieb näher bei der Realität. Die seit den zwanziger Jahren vordringende autonome einzelstaatliche Vollbeschäftigungspolitik, weil unvereinbar mit festen Wechselkursen, verlangt nach Lutz als Gegenstück bewegliche Wechselkurse. „Das Währungssystem, das einer nationalen Geldpolitik, die auf Vollbeschäftigung zielt, angemessen ist, ist zweifellos die unabhängige Währung mit freiem Wechselkurs" (1949, 213). Lutz wurde denn auch zu einem ihrer beharrlichen Vorkämpfer. Als vorübergehende Maßnahme hielt er flexible Wechselkurse schon deshalb für nötig, weil nur der Markt die Wechselkursstruktur finden konnte, die es ermöglichte, die im Gefolge der Depression der dreißiger Jahre und des Zweiten Weltkrieges eingeführten mengenmäßigen Handelsbeschränkungen und Devisenkontrollen ohne Beschäftigungseinbruch abzubauen und zu einem freien internationalen Güter- und Kapitalverkehr zurückzufinden (1954c/ 1962, 170-171). Lutz befürwortete bewegliche Wechselkurse aber auch auf längere Sicht. Bei einer fortwährenden weltweiten Geldentwertung, wie sie die Vollbeschäf-
162 · Verena Veit-Bachmann tigungspolitik in Verbindung mit starken Gewerkschaften erwarten ließ und wie sie auch tatsächlich eintrat, erlauben es nur flexible Wechselkurse einem einzelnen stabilitätswilligen Land, diese Politik auf Dauer durchzuhalten (1954c/1962, 175). Diesen Standpunkt begründeten Lutz und Egon Sohmen auch in ihrem im Auftrag des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 1964 gemeinsam erstatteten Gutachten (Lutz und Sohmen 1965).
4. Gestaltung „Die Männer der Wissenschaft sind durch ihren Beruf und ihre Position außerhalb der wirtschaftlichen Interessen die einzigen objektiven, unabhängigen Ratgeber, die der staatlichen Wirtschaftspolitik und der öffentlichen Meinung einen zutreffenden Einblick in die schwierigen Zusammenhänge des Wirtschaftslebens geben und damit die Grundlage für die wirtschaftspolitische Urteilsbildung liefern können. Sie sind auch die einzigen, welche auf Grund einer genauen Kenntnis dieser Zusammenhänge, die durch dauernd neue theoretische Durchdringung sich ständig erweitert und verfeinert, sich ein sachliches, von eigenen unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen unabhängiges Urteil über zweckmäßige wirtschaftliche Maßnahmen bilden und solche in Vorschlag bringen können. "9 Unmittelbar nach Kriegsende war Lutz im Auftrag des Twentieth Century Fund Mitverfasser eines Buches mit dem Titel „Rebuilding the World Economy" (Lutz und Buchanan 1947). Ziel der Untersuchung war es, Mittel und Wege aufzuzeigen, aus den Behinderungen und Verzerrungen des internationalen Güter- und Zahlungsverkehrs zu einer Weltwirtschaftsordnung zurückzufinden, die einen freien multilateralen Handel ermöglicht. In Amerika hatte sich Lutz als Theoretiker einen Namen gemacht und war 1947 an der Universität Princeton, wo er sich nach eigenem Zeugnis sehr wohl fühlte, zum Full Professor aufgerückt. Dennoch kehrte er in das kriegsversehrte Europa zurück. Erstmals zur Zeit der deutschen Währungsreform 1948 und in den folgenden Jahren hielt er jeweils gegen Ende des Sommersemesters mehrere Wochen Vorlesungen in Freiburg im Breisgau und vertrat dort 1951/52 nach Euckens frühem Tod dessen Lehrstuhl. 1953 folgte er dem Ruf an die Universität Zürich, wo er bis zu seiner Emeritierung 1972 Theoretische Sozialökonomie und Geschichte der Sozialökonomie lehrte. Lutz hatte 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben und damit seine angestammte deutsche verloren. Als Folge verschärfter amerikanischer Gesetze betreffend Einwanderung und Staatsbürgerschaft wurde er bereits während seines ersten Zürcher Semesters staatenlos, was ihn in eine fast zwei Jahre anhaltende Bedrängnis brachte, die schließlich mit der Wiedereinbürgerung in der Bundesrepublik Deutschland ein Ende fand. In dem dieserhalb geführten Briefverkehr wehrte sich Lutz dagegen, seine Übersiedlung in die Vereinigten Staaten von Amerika als Aus9
Böhm, Eucken und Großmann-Doerth
(1937, VII).
Unsere Aufgabe - Friedrich A. Lutz zum hundertsten Geburtstag • 163 Wanderung gelten zu lassen. Nur unter d e m Druck der damaligen U m s t ä n d e habe er diesen Schritt getan. Als einen seiner B e w e g g r ü n d e zur R ü c k k e h r nach Europa nennt er den „ W u n s c h , als deutscher Gelehrter an den deutschen Dingen teilzunehmen." 1 0 W e r Lutz kannte, weiß u m seine beeindruckende Bescheidenheit. D e r zitierte Satz m u ß deshalb in der W o r t w a h l seinem verzweifelten B e m ü h e n u m Wiedererlangung einer Staatsbürgerschaft zugeschrieben werden. Im Willen zur Mitgestaltung enthält er einen wahren Kern, den Hans Otto Lenel, einer seiner jüngeren W e g g e f ä h r t e n der Freiburger Schule, im Nachruf hervorgehoben hat: „Er war eben nicht nur ein hervorragender Kenner der ökonomischen Theorie, sondern hatte auch eine klare Konzeption von der Wirtschaftspolitik und den Willen, f ü r deren Durchsetzung zu arbeiten. Z w a r äußerte er sich zurückhaltender als Eucken.
Aber das lag lediglich an d e m
verschiedenen T e m p e r a m e n t " (Lenel 1976, 5). Lutz selber sprach von sich als einem Wissenschaftler, „ d e m daran liegt, seine Wissenschaft z u m Nutzen der Nation zu gebrauchen, sie zu einer gestaltenden Kraft zu machen..." (1971b, 65). Dieser Wille tritt in seinen Beiträgen zu O R D O zutage. Darin analysierte er drängende wirtschaftliche Probleme, denen sich die Bundesrepublik Deutschland stellen mußte. 1954 war es die Frage, welche Art von Konvertibilität der W ä h r u n g e n zunächst anzustreben sei, welches die Konsequenzen f ü r die Bundesrepublik und andere Länder und f ü r die Europäische Zahlungsunion sein werden und auf welchem W e g e das angestrebte Ziel eines multilateralen Handels zu erreichen sei (1954b). Mit den „ B e m e r k u n g e n z u m M o n o p o l p r o b l e m " (1956b) bezog Lutz Stellung z u m u m strittenen Erlaß eines Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Er p r ü f t e die aus Kreisen der W i s s e n s c h a f t und von Politikern vorgebrachten A r g u m e n t e gegen die von den Neoliberalen geforderte staatliche Antimonopolpolitik und verteidigte diese, wobei er der monopolistischen Konkurrenz ihrer D y n a m i k wegen den Vorzug gab gegenüber der von Eucken
erstrebten vollständigen Konkurrenz im Sinne eines „Lei-
stungs Wettbewerbs". Die lange Reihe von Jahren, in denen die Deutsche B u n d e s b a n k als Folge ihrer auf Geldwertstabilität ausgerichteten Geldpolitik Devisenreserven anhäufte, Deutschland also, o b w o h l damals noch ein relativ kapitalarmes Land, in Form von Gütern und Leistungen Kapital exportierte, veranlaßte Lutz zu einem Beitrag über das Problem der internationalen W ä h r u n g s o r d n u n g (1958b). Darin befürwortete er einmal mehr den Ü b e r g a n g zu beweglichen Wechselkursen. Gleichzeitig äußerte er sich pessimistisch zu alternativen Vorschlägen einer übernationalen Koordination der einzelstaatlichen Wirtschafts- und Geldpolitik, wie sie auch der Vertrag über den G e m e i n samen M a r k t vorsah. „Ich ... kann an eine ... erfolgreiche Koordinierung der W ä h rungs- und Wirtschaftspolitik nicht glauben. Es m u ß zuviel koordiniert werden - die Lohnpolitik, die Sozialpolitik, die Geldpolitik und auch die Budgetpolitik. D e r Erfolg eines solchen Versuches m u ß als äußerst zweifelhaft erscheinen ..." (1958b/1962, 223). Das Hauptanliegen, das er Lesern und Zuhörern i m m e r wieder verständlich zu machen suchte, war seine anhaltende Sorge um die Stabilität des Geldwertes. Nur 10 U n v e r ö f f e n t l i c h t e r Brief.
164 · Verena Veit-Bachmann mit einem sicheren, wertstabilen Geld, so war er wie Eucken überzeugt, kann sich die Marktwirtschaft, deren Lenkungsinstrument die Preise sind, auf Dauer behaupten (1971b, 31-32; 1967c, 5-7). „Diejenigen, die als Liberale die Marktwirtschaft bejahen, haben deshalb alles Interesse, selbst wenn sich die Inflation zunächst zu ihren Gunsten auswirkt, wie das für Schuldner zutrifft, den Kampf gegen die Inflation zu unterstützen" (1971a, 853). Auch in diesem Kampf suchte Lutz nach allgemeinen Regeln, an denen sich Geld- und Lohnpolitik ausrichten müßten (1958a, 1967a, 1971b, 36). Lutz stellte an die beratende Tätigkeit eines Wissenschaftlers hohe Anforderungen. Nicht bloß das politisch Machbare, worüber er kein besseres Urteil habe als jeder andere Gebildete auch, sondern die vom wissenschaftlichen Standpunkt aus beste Lösung solle er vertreten, auch wenn ihm solche Ratschläge leicht den Ruf eintrügen, unrealistisch zu sein. „... Mangel an Realismus ist der Vorwurf, der ihn in der öffentlichen Meinung am härtesten trifft, mit dem Resultat, daß er von Staat und Öffentlichkeit auf ein Abstellgleis geschoben wird, wo er dann in Ruhe, aber vielleicht doch unzufrieden, den Rest seiner Tage verbringen kann" (1971b, 66). Lutz sprach aus eigener Erfahrung. Als Verfechter flexibler Wechselkurse stieß er trotz des Ansehens, das er als Theoretiker genoß, bei Fachkollegen, hauptsächlich aber bei Unternehmern und Bankpraktikern auf Unverständnis und Ablehnung. Es dauerte mehr als zwei Jahrzehnte, bis die tatsächliche Entwicklung sich der Logik seiner - und seiner Mitstreiter - Argumentation beugen mußte. Dennoch: In der Wirtschaftspolitik wurde sein Rat gehört. Von 1965 an war er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft in Bonn.
III. Schluß Die Aufgabe, die sich die Freiburger Forschungs- und Lehrgemeinschaft gestellt hatte, war Lutz Richtschnur seines Tuns. Sie entsprach wohl seiner Neigung. Das Werk belegt, wie weit ihn seine Fähigkeiten und beharrlicher Fleiß trugen. Was er zur Entstehung des Forschungsprogramms beigetragen hat, läßt sich kaum noch ermitteln. Darauf kam es ihm nicht an. Lutz lag wenig an persönlicher Geltung. Sein Denken galt den Fragen der Wirtschaft und der Wissenschaft von ihr. Jede Zeit hat ihre eigenen wirtschaftlichen Probleme, deren Durchdringung neue oder verbesserte theoretische Werkzeuge erfordert. Auf die Frage, wie die in der Vergangenheit geleistete Denkarbeit für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden kann, hätte Lutz wohl ähnlich geantwortet wie Eucken im Vorwort zur dritten Auflage der „Grundlagen der Nationalökonomie": „In der Arbeit am Objekt, an den Problemen der wirklichen Wirtschaft selbst fragt man die Denker der Vergangenheit, und in der gemeinsamen Anstrengung um die Lösung der Sachprobleme kommt man ihnen wirklich nahe. So versteht man die Probleme, die sie beschäftigten, die Methoden, die sie entwickelten, und die Tragweite ihrer Lösungen" (Eucken 1943).
Unsere Aufgabe - Friedrich Α. Lutz zum hundertsten Geburtstag · 165
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166 · Verena Veit-B achmann Lutz, Friedrich Α. (1952), Geleitwort, in: Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Bern und Tübingen, S. VIII-XIII. Lutz, Friedrich A. (1954a), Die Entwicklung der Zinstheorie seit Böhm-Bawerk, in: Walter Eucken, Kapitaltheoretische Untersuchungen, 2. Aufl., Tübingen und Zürich, S. IXXXVII. Lutz, Friedrich A. (1954b), Das Problem der Konvertibilität europäischer Währungen, Ordo, Bd. VI, S. 79-131. Lutz, Friedrich A. (1954c), The Case for Flexible Exchange Rates, Banca Nazionale del Lavoro Quarterly Review, vol. VIII, S. 175-185. Deutsche Übersetzung unter dem Titel: Eine Lanze für flexible Wechselkurse, in: Friedrich A. Lutz (1962), Geld und Währung: Gesammelte Abhandlungen, Tübingen, S. 167-184. Lutz, Friedrich A. (1956a), Zinstheorie, Zürich und Tübingen. Lutz, Friedrich A. (1956b), Bemerkungen zum Monopolproblem, Ordo, Bd. VIII, S. 19-43. Lutz, Friedrich A. (1958a), Cost- and Demand-Induced Inflation, Banca Nazionale del Lavoro Quarterly Review, vol. XI, S. 3-18. Deutsche Übersetzung unter dem Titel: Kostenund nachfrage-induzierte Inflation, in: Friedrich A. Lutz (1962), Geld und Währung: Gesammelte Abhandlungen, Tübingen, S. 197-211. Lutz, Friedrich A. (1958b), Das Problem der internationalen Währungsordnung, Ordo, Bd. X, S. 133-147. Abgedruckt in: Friedrich A. Lutz (1962), Geld und Währung: Gesammelte Abhandlungen, Tübingen, S. 212-224. Lutz, Friedrich A. (1960), Die Nachfrage nach Geld, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 172, S. 93-125. Lutz, Friedrich A. (1961), Artikel Eucken, Walter, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Stuttgart, Tübingen und Göttingen. Lutz, Friedrich A. (1962), Geld und Währung: Gesammelte Abhandlungen, Tübingen. Lutz, Friedrich A. und Egon Sohmen (1965), Wie kann sich ein Land der importierten Inflation entziehen?, in: Stabiles Geld - Stetiges Wachstum: Jahresgutachten 1964/1965 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Stuttgart und Mainz, S. 169-179. Lutz, Friedrich A. (1967a), Lohn, Inflation und Zahlungsbilanz, Tübingen. Lutz, Friedrich A. (1967b), Zinstheorie, 2. neu bearbeitete und stark erweiterte Aufl., Zürich und Tübingen. Lutz, Friedrich A. (1967c), Aufgaben im Kampf um eine freiheitliche Wirtschaftsordnung, Ordo, Bd. XVIII, S. 3-10. Lutz, Friedrich A. (1969), On Neutral Money, in: Erich Streissler (Hrsg.), Roads to Freedom: Essays in Honour of Friedrich A. von Hayek, London, S. 105-116. Lutz, Friedrich A. (1970), Geldschaffung durch die Banken, Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 104, S. 3-17. Lutz, Friedrich A. (1971a), Wirtschaftsordnung und Geldpolitik, Schweizer Monatshefte, 50. Jahr, S. 853-857. Lutz, Friedrich A. (1971b), Politische Überzeugungen und nationalökonomische Theorie: Zürcher Vorträge, Tübingen. Niehans, Jürg (1987), Artikel Lutz, Friedrich August, in: The New Palgrave: A Dictionary of Economics, London, New York und Tokio.
Unsere Aufgabe - Friedrich Α. Lutz zum hundertsten Geburtstag · 167
Zusammenfassung Friedrich A. Lutz, Schüler von Walter Eucken, gehörte in den dreißiger Jahren als Privatdozent an der Universität Freiburg der dortigen Forschungs- und Lehrgemeinschaft von Juristen und Volkswirten an, die später als Freiburger Schule bekannt wurde. Von 1938 bis 1953 lehrte er an der Universität Princeton (New Jersey), von 1953 an in Zürich. Der Beitrag gibt anhand des Forschungsprogramms der Freiburger Schule, das 1937 unter dem Titel „Unsere Aufgabe" erschienen ist, einen Überblick über das wissenschaftliche Werk und das wirtschaftspolitische Wirken von Lutz. Seine Forschungsgebiete waren Investitions- und Zinstheorie, Geldtheorie und internationale Währungsordnung.
Summary Our Task: On the Occasion of the 100th Birthday of Friedrich Α. Lutz (1901 1975) Friedrich Α. Lutz, a student of Walter Eucken and a lecturer at the University of Freiburg in the thirties was a member of the group of scholars - lawyers and economists - who later became known as the Freiburg school. From 1938 to 1953 he taught at Princeton University (New Jersey) and from 1953 on at the University of Zürich (Switzerland). The research program of the Freiburg school was published in 1937 under the heading „Our Task". The article surveys along the lines of this program the contributions Lutz made to economic theory and policy. The objects of his study were the theory of investment, of interest and of money and the international monetary order.
ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2002) Bd. 53
Gerd
Habermann
Ordnungsdenken - eine geistesgeschichtliche Skizze1 I. Über Ordnungen Wenn „Ordnung" als die Zusammenfügung einer Vielfalt von Teilen zu einem koordinierten Ganzen definiert wird, so ist Ordnungsdenken ein Diskurs über die Regeln oder Prinzipien, nach denen dies geschieht. Ordnungsdenken ist im sozialen Bereich das Nachdenken über die Koordination von individuellen Handlungen der selbständigen Teile, die das Ganze erhält. Als solches ist es so alt wie die überlieferte Kulturgeschichte, denn auch wenn dieses Nachdenken im mythologischen Gewand verläuft - das Kernanliegen ist dasselbe: die Erklärung von vorgefundenen Ordnungsmustern (Regelmäßigkeiten). Dies gilt für die natürlichen wie die sozialen Ordnungen. Ob nun anonyme Mächte oder persönliche Götter diese Regeln in Natur und Gesellschaft „erfunden" haben oder sie darstellen oder schützen wie die Göttin Justitia die Regeln der Gerechtigkeit, der Kriegsgott Mars die Regeln der organisierten Gewalt oder Merkur die Erfolgsregeln des Handels, ob es „die Alten", ein Prophet oder ob es die „Vernunft" einzelner Menschen oder Beschlußgremien oder die „Natur" oder „Evolution" sind: im Kern geht es immer um die Darstellung und Erklärung von Regelsystemen, die Gruppen (ob nun die kleine Horde oder Imperien) vorfinden oder sich gegeben haben. Ohne Regeln, die Koordination möglich machen, ist die Existenz sozialer Einheiten, somit die Selbsterhaltung einer Gruppe, unmöglich. Man kann schlechthin nicht außerhalb sozialer Regelsysteme handeln, der Mensch ist durch und durch ein durch soziale Regeln (als sein „Sozialkapital") geprägtes Wesen und stellt als Teil der Natur ja selber auch, physisch betrachtet, ein Regelsystem dar. Auch „Anarchisten", denen das populäre Vorurteil manchmal eine Vorliebe für „Unordnung" oder Chaos unterstellt, glauben an strenge Ordnungsprinzipien und Regelsysteme - es soll nur eine Ordnung ohne staatlichen Zwang, eine spontane Ordnung von unten her, allein durch die individuell sanktionierte Eigentumsregel sein. Ob nun absolute, individuelle Eigentumsrechte oder freie Verträge oder informelle Einverständnisse und freie Traditionen - in jedem Fall sollen auch
1
Diese Skizze versucht zu zeigen, daß es ohne „Ordnungsdenken" nicht geht, daß von jeder Hochkultur hinsichtlich des Ordnungsproblems etwas zu lernen ist und die Märkte nur ein Teilbereich übergreifender Ordnungssysteme sind, ohne die sie nicht existieren können. Diese Skizze soll zu einem „Büchlein von der Ordnung" ausgebaut werden. Darin werden auch Abschnitte über die von der liberalen Ordnungstheorie stark vernachlässigte Frage nach der positiven Rolle des Staatsmannes und Politikers in einer freien Gesellschaft sein, ebenso eine liberale Theorie der Staatsraison und die Frage nach der nicht nur betriebswirtschaftlich optimalen Betriebsgröße eines Staates: Groß- oder Kleinstaat? Erste Überlegungen dazu in Habermann (1999, 2000, 2002).
170 · Gerd Habermann sie sich zu einer „spontanen" oder „natürlichen" Ordnung zusammenfügen (Habermann 1996). Anliegen dieser Skizze ist es, die interessante Ordnungstypologie von Friedrich August von Hayek - den Dualismus von „Kosmos" und „Taxis" - einmal geistesgeschichtlich zu erproben. Hayek (1980, Abschnitt Π) definiert Kosmos als eine spontane Ordnung, die nicht durch zentralen Befehl, bewußte Koordination der individuellen Ratio, sondern durch selbständige Reaktionen der einzelnen Elemente nach bestimmten Regeln erfolgt. Er definiert „Taxis" als „gemachte" Ordnung, in der die Koordination durch bewußte Lenkung von einem einzelnen Zentrum her erfolgt. Dabei schließt er an das klassische Griechisch an, „da es verschiedene einzelne Wörter für die beiden Arten von Ordnung zur Verfügung hatte, nämlich Taxis für eine gemachte Ordnung wie etwa eine Schlachtordnung und Kosmos für eine gewachsene Ordnung, ein Ausdruck, der ursprünglich ,eine richtige Ordnung in einem Staat oder in einer Gemeinschaft' bedeutet" (Hayek 1980, 59). Als Beispiel für eine Taxis führt von Hayek die Familie, den Hof, den Betrieb, die Firma, die Aktiengesellschaft und die verschiedenen Verbände und alle öffentlichen Einrichtungen einschließlich der Regierung an. Diese seien ihrerseits in eine umfassendere spontane Ordnung integriert, die Hayek „Gesellschaft" nennt (1980, 70). Spontane Ordnungen nennt er auch Sinngebilde wie die Sprache oder das System von moralischen Regeln. Für den engeren ökonomischen Bereich entspricht der Hayekschc Dualismus Walter Euckens Einteilung in die Markt- und die zentral geleitete Wirtschaft und als deren Unterform die Eigenwirtschaft (Eucken 1965, 78).
II. Chinas Beitrag: Die Ökonomie der Sitte Übergehen wir einmal das Ordnungsdenken in einfachen Gesellschaften, die nach dem Ideal einer urtümlichen Taxis geordnet sind, die zur Horde oder zum Stamm erweiterte „Taxis" der Familie mit nur geringen individuellen Freiheitsspielräumen und, wenn auch ohne formelle Staatsorganisation, strenger Verbindlichkeit allgemeiner Ziele. Wenden wir uns gleich jener Hochkultur zu, die bis heute gemessen an Dauer und „Nachhaltigkeit" die erfolgreichste und lange Zeit auch die führende der Welt war: die chinesische.2 Auch hier gab es eine zentrale Diskussion um den „richtigen" Ordo, die „natürliche Ordnung", die Bestimmung von Natur und Sozialleben nach erkennbaren Regeln, wenn man auch eine streng wissenschaftliche Erörterung in der Art von Aristoteles vermissen muß. Die Chinesen suchten nicht anders als die antiken Griechen die „richtigen" Erfolgsregeln in Natur und Gesellschaft zu erfassen, welche Harmonie und damit die Selbsterhaltung des Ganzen durch geglückte Koordination möglich machen. Es war das entscheidende Glück der chinesischen Kultur, daß sich dabei die „kosmische" 2
Zu China besonders Max Weber (1963); Weede (2000); Landes (1999); Needham (1977a, 1977b, 1984); Granet (1985); Gernet (1979); Schleichen (1980); Debon und Speiser (1987); Bauer (1974); Lin Yutang (1981) und jüngstens Schefold (2002).
Ordnungsdenken · 171 Ordnungsvariante eines Konfuzius im offiziellen Denken durchsetzte, die Schule des autoritären Gesetzes und des Maschinenstaates, die einige „Legalisten" wie Shang Yang oder Han Fei Tse darstellten, dagegen unterlag. Konfuzius vertrat das Ideal der frei intemalisierten, von niemandem je zentral erfundenen und zwangsweise durchgesetzten Sitte. Sitten sind evolutorisch - durch geschichtliche Erfolgsprobe und Auslese - legitimierte Regeln des Zusammenhandelns. An sie schließt das Denken des Konfuzius an. Er formuliert in Regeln, was er historisch vorfindet. Diese Ordnungsregeln scheinen der „Natur der Sache" oder dem Gesetz kosmischer Selbsterhaltung („Weg des Himmels") zu entsprechen. Konfuzius will keine „neue" Ordnung, sondern eine freiwillig befolgte, die sich durch individuelles Lernen von unten her aufbaut und deren Quelle die idealisierten Lebensmuster der alten Könige oder der Ahnen, römisch gesprochen: die mos maiorum sind. Es ist darum eine Ordnung, die sich nach dem Subsidiaritätsprinzip, von unten nach oben aufbaut. So entwickelte er die Lehre von den fünf zentralen sozialen Beziehungen, das sind Regeln der Unter-, Über- und Gleichordnung, die eine Gesellschaft aufbauen und die er nicht konstruieren muß. 3 Zu diesem Zusammenspiel innerhalb der Regeln braucht es Einsichten und innere Qualitäten der Beteiligten, die er als „Tugenden" in ähnlicher Weise wie die antiken Griechen beschreibt (Menschlichkeit, Rechtlichkeit usw.). Eine harmonische Gesellschaft, das ist eine wohlkoordinierte, beginnt nach Konfuzius mit der Ordnung des eigenen Selbst, und von da an politisch hoch bis zur Ordnung des Staates, der nur auf Basis der Kardinalsitten der Gesellschaft sich erhalten kann (wobei erstaunlicherweise Familien- vor Staatsloyalität rangiert). An einer berühmten Stelle der „Großen Wissenschaft" heißt es: „Indem die Alten auf der ganzen Erde die klaren Geisteskräfte klären wollten, ordneten sie zuerst ihren Staat; um ihren Staat zu ordnen, regelten sie zuerst ihr Haus; um ihr Haus zu regeln, bildeten sie zuerst ihre Persönlichkeit; um ihre Persönlichkeit zu bilden, machten sie zuerst ihr Bewußtsein recht; um ihr Bewußtsein recht zu machen, machten sie zuerst ihre Gedanken wahr; um ihre Gedanken wahr zu machen, brachten sie zuerst ihre Erkenntnis aufs Höchste" (Li Gi 1981, 46). Konfuzius spricht in diesem Zusammenhang von der „Richtigstellung der Begriffe". Die Grundlage der Moral ist die Selbsterziehung. Das Ideal des erzogenen Menschen, der vollkommene Gentleman (der kaloskagathos des Piaton und Aristoteles, aber ohne dessen heroisch-kriegerische Züge), wird bei der konfuzianischen Schule in Bildern des „Edlen" festgehalten und mit dem Bild des unerzogenen Menschen, des „Gemeinen", konstrastiert (Habermann, 1988, 1995). Die wichtigsten Sitten sind die Regeln des Umgangs, der Anstand, die Bräuche von Tanz und Fest, die musikalischen Konventionen, das „gute Benehmen" bei Tisch, die gesellschaftliche Etikette. Der festliche Tanz, die Geselligkeit dienen zum „Einüben des guten Einverständnisses", wie das Li Gi schön sagt (1981, 71). Der Vorteil der Sitten gegenüber den Ge-
3
Es sind archaische soziale Regeln oder Urbeziehungen, die, wenn auch weniger akzentuiert, im Prinzip unverändert unserem sozialen G e f ü g e zugrunde liegen. Auch für den W e s t e n ist die Familie die Basisgruppe, sie gehört eben zu den sozialen „Universalien".
172 · Gerd Habermann setzen ist ihre Anpassungsfähigkeit: Sie schmiegen sich den Bedürfnissen an, sie tyrannisieren sie nicht. Das macht ihre evolutionistische Überlegenheit aus. Der deutsche Chinakenner und Übersetzer klassischer chinesischer Schriften, Richard Wilhelm, schreibt: „Die Sitte unterscheidet sich vom Gesetz dadurch, daß während das Gesetz durch Einschüchterung fordert, also höchst widerwilligen Gehorsam erzwingt, die Sitte immer auf Gegenseitigkeit, immer auf Geben und Nehmen, auf einem Ausgleich der Ansprüche und Leistungen beruht, der freiwillig erfolgt, weil er von anderen auch freiwillig erboten wird" (Einleitung zum Li Gi 1981, 14). Sitten, sich spontan wandelnde Regeln, helfen, die Gefühle zu meistern, mildern die Leidenschaften und geben Halt; sie schlichten Streit durch Interessenausgleich; sie machen das Handeln für die Mitmenschen vorhersehbar und verbessern so den Zusammenhang und die Überlebenschancen einer sozialen Gruppen. Sie spielen die Erfahrungen von Generationen wider, sind ein Kondensat des sozialen „know how". Sie dienen so, ökonomisch gesprochen, der Senkung der sozialen Transaktionskosten durch Bildung von Sozialkapital. Sehr schön bezeichnet ein anderer Kenner Chinas, Joseph Needham (1977a, 285), die Sitte als „dynamisches Muster", das sich in allem Lebendigen verkörpert, in sozialen Beziehungen genauso wie in den höchsten menschlichen Werten: „So entstehen universelle Harmonien nicht durch ein Fiat irgendwelcher Herrscher, sondern durch freiwillige Zusammenarbeit aller Wesen im Universum, die aus dem Befolgen der inneren Notwendigkeit ihrer Naturen resultieren". In der Realität hat sich China nicht rein konfuzianisch als Ultraminimalstaat konstituiert. Die Politik ging einen Kompromiß mit den Vertretern der Taxis, den Legalisten, ein. Es ging bei der Reichseinigung unter Schi Huang-Ti nicht ohne „Blut und Eisen" ab. Brutal wurde gegen die konfuzianischen Literaten, die politischen Zwang verwarfen und dem Herrscher Autorität durch Vorbild empfahlen, vorgegangen. Vorübergehend verwirklichte sich unter diesem Reichseiniger das Ideal eines literatenfreien Krieger- und Bauernstaates. Nach Shang Yangs brutalen Ansichten sollte nicht der „Edle", sondern der „Böse" herrschen - nicht durch Vorbild und Sitte, sondern durch Gesetz und Strafe, nicht moralische Motive, nicht Vorstellungen von Menschlichkeit oder anderen „Tugenden", sondern die Furcht vor Sanktionen sollten den Gehorsam bestimmen. „Ein Staat, in dem ein Jahr lang eine einheitliche Zielsetzung aufrechterhalten wird, bleibt zehn Jahre lang stark. Bleibt das Ziel hundert Jahre lang das gleiche, so ist der Staat tausend Jahre lang stark" (zitiert nach Debon und Speiser 1987, 94). Dies ist das klar formulierte Ideal einer Taxis: Gemeinsamkeit der Ziele. Aber schließlich und auf Dauer wurde der Konfuzianismus zur Staatsdoktrin und die Bürokratie zur rational aufgeklärtesten der Geschichte: mit philosophisch und ästhetisch geschulten Humanisten an der Spitze, keine Fachbeamten, sondern Literaten, die schöne Gedichte fabrizieren konnten: der Dr. phil. als herrschende Elite. Insoweit, als hier tatsächlich gebildete, im Staatsexamen rational ausgelesene „Philosophen" herrschten, war hier ein Stück des platonischen Idealstaates realisiert, freilich ohne dessen totalitären Charakter.
Ordnungsdenken · 173 Die minimalstaatlichen Ideale eines Konfuzius
wurden noch überboten von Lao
Tse, dessen Schüler ein liberales Manchestertum nach Art Bastiats
vertraten. Das be-
rühmte „ W u W e i " der K o n f u z i a n e r und Taoisten entspricht d e m abendländischen Laissez-faire-Prinzip. M e h r noch als Konfuzius
k ä m p f t e Lao Tse gegen staatliche
Reglementierung; ihm schwebt das Ideal eines ländlichen selfgovernment mit dezentraler Taxis, nämlich Eigenwirtschaft auf Sippenbasis vor: „Je m e h r Verbote es gibt im Reiche, desto ärmer wird das Volk.... Je mehr Gesetze und Erlasse verkündet werden, desto m e h r Räuber und Diebe gibt es. D a r u m sagt der v o l l k o m m e n e Mensch: ... ich habe keine Geschäfte, und das Volk wird von selber reich" (Laotse,
1978, 100).
Auf Basis solcher Lehren konnte das konfuzianische, überwiegend durch Sitten geordnete C h i n a mit erstaunlich wenigen Soldaten und Polizisten a u s k o m m e n , wenn wir es mit den konkurrierenden europäischen Staaten der Neuzeit vergleichen. W e n n es j e - trotz einiger zentralistischer Zwischenspiele - einen Minimalstaat, wenn auch nicht von Humboldtscher
(individualistischer) Prägung gegeben hat, dann im klassi-
schen C h i n a vor seinem Niedergang. Ein Lehrstück z u m T h e m a „wahrer und falscher Individualismus"! Ähnliches gilt von Japan mit seiner noch heute niedrigen Staatsquote,
seinen
niedrigen
Scheidungs-
und
Kriminalitätsziffern
und
einer
geringen „Anwaltsdichte". Mit dieser „organischen" Staats- und Gesellschaftslehre verschaffte Konfuzius
der
chinesischen Kultur ein Fundament, das sie zur B e w u n d e r u n g von Sozialdarwinisten wie Schallmayer
(1903) dazu instandsetzte, die vergänglichen Großreiche der Perser,
Griechen, R ö m e r , Engländer oder Deutschen zu überdauern und f r e m d e „Besatzer" zu assimilieren. D e r Konkurrenz des „modernen Kapitalismus" mit seiner rationalen Kriegstechnik ( K e e g a n 2001; Landes
1999, 345) war dieses historische C h i n a mit
seiner Führungsschicht aus moralisierenden und dichtenden Akademikern freilich nicht gewachsen. Es ist viel darüber diskutiert worden, w a r u m C h i n a trotz seiner großartigen Kulturleistungen hierzu nicht imstande war 4 Aber: Technische Überlegenheit und „moderner Kapitalismus" m u ß natürlich nicht der M a ß s t a b für die Bewertung einer Kultur sein. Joseph
Needham
(1977a, 38) beispielsweise bewertet
China ganz anders als die soziologischen Erfolgsethiker - als Vorbild f ü r den technokratisch verirrten „Westen", und so war es schon beim deutschen Philosophen Leibniz
(Hsia
1985). Heute, w o China sich nach d e m schrecklichen Irrtum seines
Taxis-Experiments wieder auf seine Wurzeln besinnt, könnte ihm das überlieferte Sozialkapital seiner konfuzianischen Sitten nutzen, den W e t t b e w e r b der Kulturen und Nationen u m so besser zu bestehen. Intaktes Sozialkapital könnte z u m entscheidenden Wettbewerbsvorteil des konfuzianisch geprägten Asien werden ( F u k u y a m a 1995), so d a ß C h i n a auf modernisierter Basis langfristig doch wieder triumphieren könnte. Es ist nach allem nicht erstaunlich, daß hervorragende Intellektuelle Europas im 17. und 18. Jahrhundert von Chinas sozialer Weisheit beeindruckt waren und eine W e l l e der „Chinoiserie" schwärmerisch durch die europäischen Oberschichten ging. In der konfuzianischen Philosophie fand man eigene Ideale realisiert: ein auf eine 4
Weber (1963); Jones (1991); Landes (1999); Weede (2000).
174 • Gerd Habermann Humanitätsphilosophie gestütztes Reich - ohne organisierte Priesterklasse, ohne Vergewaltigung der Gewissensfreiheit, auf die harmonische Gestaltung des Diesseits und auf das Glück des Volkes gerichtet; eine Ethik, die nicht der Stütze einer Theologie bedurfte, da sie auf der „Religion des guten Bürgers" aufruhte (Ku Hung Ming 1921). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß - geistesgeschichtlich heute fast vergessen (Habermann 1995) - die chinesische Philosophie direkt auch auf die ökonomische Doktrin Europas einwirkte. Der Schöpfer der Physiokratie, Francois Quesnay - von Mirabeau der „Konfuzius Europas" genannt - importierte wesentliche Gedanken seiner einflußreichen Lehren aus China und verleibte sie so dem europäischen Liberalismus ein. So die Idee einer „natürlichen Ordnung", die Idee sozialer Harmonie aus wohlverstandenen Einzelinteressen, schließlich das Vertrauen in die Koordinationskraft einer unsichtbaren Hand und ein positives Menschenbild: Frieden und Glück der Bürger durch Laissez-faire (Wu Wei). Quesnay schrieb ein Buch über den „chinesischen Despotismus" - der nach seiner Meinung nicht ein Despotismus der Willkür, sondern allgemeiner Regeln war, denen der Herrscher sich selber als Vollzugsorgan unterordnete. Der absolut regierende Staatschef hatte bei Quesnay keine andere Funktion, als den höheren Gesetzen einer spontanen Ordnung nachzuhelfen, deren Regeln er durch Vernunft erfassen konnte und sie gegen den Ansturm von Interessengruppen zu sichern (darum war Quesnay gegen die Demokratie). Zweifellos läßt sich von seinen Idealen her eine Brücke zur Staatsauffassung des modernen Ordoliberalismus schlagen. Andererseits gibt es auch Linien, die von dieser Philosophie zum Konstruktivismus führen (siehe Kapitel VII).
III. Indiens düstere Ordnungslehre5 Haben Indiens Ordnungslehren der allgemeinen Ordnungstheorie etwas zu bieten? Auch Indiens soziale Ordnung ist von großer Stabilität, wenn freilich am Ende ebenfalls dem Ansturm des okzidentalen Rationalismus politisch erlegen. Auch Indiens Weise suchten die Regeln des natürlichen und sozialen Geschehens zu erfassen, wobei sie freilich den Preis des Spiels dieser Regeln und Ordnungssysteme - Schiwas Tanz schöpferischer Zerstörung - als moralisch zu „hoch" taxierten. Sie lehrten darum nicht eine nach ihrer Ansicht utopische individuelle Glücksmaximierung, sondern die Leidensminimierung mit dem Ziel schließlicher Erlösung aus dem grausamen Zirkel von Schöpfung und Vernichtung. Sie empfahlen für die Konsequenten, die Asketen, den „Ausstieg" aus den irdischen Ordnungen, für den Alltag des Durchschnittsmenschen aber jene organische Sozialethik, die sich in der Kastenordnung kristallisierte. Sie rieten für die Alltagsethik, sich fraglos den naturgegebenen Regelund Pflichtenkreisen einzuordnen, in die man nach moralischem Verdienst im Vorleben hineingeboren ist. Dies sei die beste Voraussetzung für eine schließliche Erlösung aus den kosmischen Zyklen von Geburt und Vernichtung. Dieses Ordnungs5
Zu Indien: siehe besonders Max Weber (1966); Weede (2000); Glasenapp Mensching (o. J.).
(1958); Mylius (1983);
Ordnungsdenken · 175 denken konnte so wenig wie die kulturfreundlichen Lehren Chinas „modernen Kapitalismus" hervorbringen - aber es brachte, wie Max Weber (1966) eindrucksvoll gezeigt hat, die Sachlogik der einzelnen Pflichtenkreise in eine Konsequenz, die dem christlich gebrochenen Abendland fremd blieb: Man lese etwa das irritierend sachliche Kamasutram oder die brutal-pragmatische Herrschaftslehre der Arthashastra des Kautilya, mit der verglichen der europäische Machiavelli harmlos wirkt. So konnte sich in Indien die innere Logik jedes Standes bis zur Virtuosität entwickeln. Nirgends wurden die spezifischen Berufsethiken so deutlich herausgearbeitet. Was kann abendländische Ordnungstheorie von Indiens Ordnungslehren lernen? Vielleicht das eine: daß jeder „Stand", jeder Beruf als Teil allgemeiner Weltgesetzlichkeit eine innere Sachlogik hat, gegen die sich aufzulehnen sinnlos ist. Daß auch die Hetäre, auch der Staatsmann, der mit Zwangsmitteln operieren muß, ebenso der Unternehmer, je ihre besondere Rolle, ihr spezielles Ethos haben, die ihre moralische Würde begründen: Spiele deine Rolle in der Gesetzlichkeit der Welt! Selbst das blutige Geschäft des Staatsmannes, der seine „Staatsraison" durchsetzen muß, gewinnt dadurch eine moralische Legitimation, 6 und wenn die Dienste der Kurtisanen eine nützliche, ja unentbehrliche Funktion ausüben, warum sie moralisch heruntersetzen statt ihren besonderen Pflichtenkreis, ihr Ethos zu beschreiben und auch dieses fragwürdige Gewerbe zu einer Kunst mit einer „Berufsordnung" zu entwickeln? Trotz seiner metaphysisch pessimistischen Ordnungslehren hat auch Indien eine große Stabilität seiner sozialen Institutionen hervorgebracht. Basisinstitutionen wie Eigentum und Familie wurden von der Alltagsethik (vgl. das Gesetzbuch des Manu) nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Das im Abendland übliche Moralisieren gegen das Ethos des Unternehmers oder des Staatsmannes ist nach indischer Logik einfach naiv. Die metaphysisch begründete starre Kastenordnung freilich mußte modernen Kapitalismus, eine bewegliche Arbeitsteilung, eine freie Verwertung von Wissen, Kapital und Arbeitskraft ein für allemal ausschließen. Es hing schließlich das persönliche Seelenheil an der strikten Einhaltung ihrer traditionellen Regeln (Max Weber 1966) - zweifellos insoweit eine religiös sanktionierte „Taxis".
IV. Aristoteles und Piaton: Urmuster des Ordnungsdenkens Eine klare Linie läßt sich vom Ordnungsdenken der europäischen Antike zur modernen Ordnungstheorie ziehen, wie Wilhelm Hasbach (1891) in seiner bis heute nicht überholten Publikation zeigte (vgl. auch Schinzinger 1994; Schef old 1999). Aristoteles und Piaton sind die beiden entscheidenden, noch heute unverändert aktuellen Denker. Arbeitsteilung und Tausch werden bei beiden zum Thema - allerdings kam es für Aristoteles vor allem auf den „richtigen" Konsum (das „gute Leben") als Bürger an - und dies im Rahmen der gegebenen Polis. Ökonomie heißt ja „//awswirtschaftslehre". Sein Interesse gilt vor allem einer ständisch qualifizierten Lebensfüh6
Vgl. Max Webers Interpretation der Bhagavadgita (Dialog zwischen Krishna und Arjuna: Notwendige!"), Max Weber( 1958, 543).
„Tue das
176 · Gerd Habermann rung, für die ordinäre Erwerbsarbeit lediglich Mittel ist. Sie wird keiner eingehenderen Beschäftigung für würdig befunden. Der Händler rangiert bei Aristoteles noch unterhalb des Handwerkers. Erwerbsmäßiges Streben nach „Gewinn" fand sogar seine folgenschwere Mißbilligung. Insoweit hat Aristoteles wenig Interesse an einer „Theorie der marktwirtschaftlichen Entwicklung". Wichtig ist in unserem Zusammenhang seine Theorie der „richtigen" politischen Regeln, der Verfassungsregeln einer Polis, und seine grundsätzliche Bejahung und Begründung von Eigentum und Familie (in seiner Kritik am platonischen Kommunismus; Aristoteles 1965, Buch Π). Nicht so entscheidend ist dabei seine berühmte Staatsformenlehre als solche, sondern das Kriterium, nach denen er die „gute" von der „schlechten" Staatsform unterscheidet. Für ihn ist weniger wichtig die Frage, wer herrscht (ob ein Monarch, eine privilegierte Gruppe oder das Volk), als die ganz andere, ob diese Herrschaft nach allgemeinen Regeln oder nach Willkür ausgeübt wird. In den abstrakten allgemeinen Regeln, in der Isonomie, spiegelt sich das Gemeinwohl wider, während im anderen Fall - der schlechten Variante - die Herrschaft nur zum Nutzen von einzelnen oder Gruppen oder auch der Mehrheit des Volkes ausgeübt wird. Das Gesetz als allgemein abstrakte Regel nennt er „Vernunft ohne Wünsche" (Aristoteles 1965, ΙΠ, 16). „Demokratie" bezeichnet bei Aristoteles die entartete Variante der Volksherrschaft - und so würde er wohl auch unsere heutige Staatsform nennen und sie kaum anders als Friedrich August von Hayek („Schacherdemokratie") charakterisieren. „Mit Recht nun darf man dieser Art von Demokratie vorwerfen, daß sie gar keine Verfassung ist. Denn wo nicht die Gesetze regieren, da ist auch keine Verfassung. Denn das Gesetz muß über das Ganze gebieten, die Regierenden dagegen über die einzelnen Fälle, und nur wo dies geschieht, kann die Rede von einer Verfassung sein. Wenn also auch die Demokratie eine von den Verfassungen sein soll, so ist offenbar ein solcher Zustand, in welchem alles durch Volksbeschlüsse regiert wird, eigentlich auch keine Demokratie. Denn kein Volksbeschluß kann allgemeiner Natur sein." {Aristoteles 1965, IV, 4) Wichtig für die Ordnungslehre ist ferner seine bis heute aktuelle Theorie der Gerechtigkeit (im Buch V der Nikomachischen Ethik). Er unterscheidet als erster die kommutative Gerechtigkeit des Tausches und des Marktes und die distributive Gerechtigkeit, die wir heute „soziale" Gerechtigkeit nennen. Das erste ist das Gerechtigkeitsverständnis eines „Kosmos", das zweite einer „Taxis". Piaton ist der erste Vertreter einer (aristokratisch verstandenen) Taxis in der Antike, des „Staates größtmöglicher Einheit" (Aristoteles). Die platonische Polis ist ein Staat, in der „Jedem das Seine" von der maßgebenden Elite, die (um der Korruption vorzubeugen!) familien- und eigentumslos lebt, zugeteilt wird und das Ideal der „Chancengleichheit" (die Frauen nicht ausgenommen) bis zu einem eugenischen Zuchtstaat (einer biologisch begründeten „Meritokratie") durchgeführt wird. Abkömmlinge nicht genehmigter Ehen und Krüppel sollen ausgesetzt und dem Tode überlassen werden. Bemerkenswert ist bei Piaton freilich, daß er im Unterschied zu den Vertretern des modernen Sozialismus die ethisch disqualifizierte „gemeine Masse" Familie und Privateigentum haben und Handel treiben läßt. Es war ihm klar,
Ordnungsdenken • 177 daß Eigentums- und Familienlosigkeit nur für die ethisch in seinem Sinn Höchstqualifizierten taugt. Will Durant hat gezeigt, daß dieses platonische Ideal in der christlichen Theokratie des Mittelalters tatsächlich verwirklicht worden ist: die Klasse der eigentums- und familienlosen Priester (Philosophen) an der Spitze, darunter die gleichfalls „kollektivierte" Kriegerklasse (geistliche Ritterorden: „Wächter") und darunter das gewöhnliche Volk mit Privateigentum und Familie seinen traditionellen Erwerb suchend und die herrschenden Oberklassen ernährend. „Tausend Jahre hindurch wurde Europa von einer Wächterklasse beherrscht, die der Vision unseres Philosophen recht ähnlich sah" (Durant 1982, 69). Der platonische Staat ist das Urbild für das Ideal der „sozialen" Gerechtigkeit, der Auslese nach „Verdienst", die von der Elite organisiert wird. In der sozialen Realität der griechischen Antike finden sich die Ideale eines „Kosmos" annähernd in Athen, die einer „Taxis" in Sparta realisiert. Es lohnt sich, hierüber Friedrich Schillers schönen Essay („Die Gesetzgebung des Lykurg und SoIon") nachzulesen. In der Moderne fand sich dieser Gegensatz zwischen dem konkurrierenden „Westen" (Amerika) und dem kommunistischen Sowjetimperium wieder.
V. Die Entnationalisierung der Ordnungslehre Mit diesen „Klassikern" erschöpfte sich der Beitrag der Antike zum sozialen Ordnungsdenken nicht. Die Stoa und Epikur fügten weitere wichtige Elemente hinzu CHasbach 1891). Wie die Chinesen stellten die Stoiker die sozialen Regeln in das gesamtkosmische Geschehen, in eine „natürliche Ordnung". Dem „Weg des Himmels" und „Tao" entspricht das pantheistische Konzept der Stoiker von „Nous" und „Logos", von Weltvernunft und Natur, die sich in den sozialen Spielregeln der Selbsterhaltung und des Gelingens offenbaren und die wir mit unserer an der „Weltvernunft" partizipierenden Einzelvernunft entdecken können. Von größter Bedeutung ist, daß die Polisperspektive der Klassiker auf die Kosmopolis erweitert, von geographischen und sogar ständischen Gebundenheiten befreit wird: Nicht länger Griechen- oder Römerrechte, sondern allgemeine Menschenrechte, die sogar die Sklaven einschließen, werden konzipiert: Ein entscheidender Schritt auf die universalisierte Ordnungstheorie der Moderne. Es entsteht das Konzept von gleichen Eigentums- und Freiheitsrechten von jedermann, auch der Sklaven. Epikur reduziert den Staatszweck auf eine universelle Vertragsordnung mit dem Ziel gegenseitiger NichtSchädigung, läßt im übrigen die Staatsformen auf sich beruhen, wenn nur das Privatleben gesichert ist: eine erste Konzeption des „Nachtwächterstaates" (Theimer 1973; Marcuse 1972); das „gute Leben" wird nicht mehr im Sinne des Aristoteles, sondern hedonistischrelativistisch definiert. Cicero wird zum einflußreichen Theoretiker des naturrechtlich begründeten Rechtsstaats als „Herrschaft der Gesetze und nicht der Menschen". Der Zweck des Staates ist der Schutz des Eigentums, der gemeinsame Nutzen ergibt sich aus der Gegenseitigkeit der Leistungen. Die Unverletzlichkeit des Eigentums vertritt Cicero
178 • Gerd Habermann mit einer solchen Konsequenz, daß ihn ein moderner Wirtschaftshistoriker (Paul Mombert 1927, 46) als antiken „Manchestermann" bezeichnet hat. So argumentiert er gegen den Schuldenerlaß: „Von einer derartigen Schenkensfreude also, daß dem einen gegeben, den anderen genommen wurde, werden diejenigen, die den Schutz des Gemeinwesens im Auge behalten, nichts wissen wollen und im besonderen sich Mühe geben, daß bei Gleichheit in Recht und vor Gericht ein jeder das Seine behalte und weder die sozial Schwächeren wegen ihrer geringeren Stellung hintergangen werden, noch den Begüterten Neid entgegentrete, wo es darum geht, das Ihre zu behalten oder wiederzugewinnen ..." (Cicero 1976, 2, 24). Enteignung oder Umverteilung sei keine Wohltat, sondern bedeute eine Auflösung der moralischen Grundlagen des Gemeinwesens. Zur Weiterentwicklung der ökonomischen Theorie der spontanen Ordnung lieferten diese Schulen keine (überlieferten) besonderen Beiträge (Schinzinger 1977). Man blieb bei der Erörterung der politischen Rahmendaten oder der grundlegenden Wertprämissen (Naturrecht) stehen. In der geschichtlichen Realität spiegelte sich dieses Denken in den zunächst weitgehend frei-marktwirtschaftlichen Strukturen des „kosmopolitischen" Römischen Reiches wider - bis sich mit dem Triumph der Staatsbürokratie das Taxismodell (mit Ägypten als Urbild) voll durchsetzt. Ein dramatischer Rückgang der Arbeitsteilung läßt Städte, damit auch Wissenschaft und Kunst verfallen. Die Bevölkerung der Stadt Rom sinkt von ein bis zwei Millionen im zweiten Jahrhundert (der Circus Maximus bot Platz für ca. 350.000 Menschen!) auf etwa 10.000 Bewohner im Frühmittelalter ab (Gregorovius 1859/1988). Man sieht eine armselige Bevölkerung verängstigt zwischen den monumentalen Zeugnissen einer größeren Zeit leben. Auf dem Forum Romanum weidete das Vieh. Dieser bestürzende Niedergang ist ein eindrucksvoller Beleg für den von Adam Smith und von Hayek wiederholt hervorgehobenen elementaren Zusammenhang zwischen dem Grad der arbeitsteiligen Differenzierung, der Produktivität der Volkswirtschaft und der Bevölkerungszahl, die auf dieser Basis unterhalten werden kann. Auf die Unkenntnisse dieser ökonomischen Zusammenhänge seitens der politischen Führung wird (mit Ludwig von Mises 1981) die Katastrophe dieses Reiches gewiß ebenso mit zurückzuführen sein wie der Sturz der größten modernen Taxis - der Sowjetunion - auf das Hängen der Staatsleitung an „konstruktivistischen" Irrtümern (Habermann 1995; Feldmann 1997).
VI. Fall und Wiederaufstieg der „natürlichen" Ordnung Das Christentum, das schließlich in Rom zur Herrschaft gelangte, war in seinem Anfang, vor seiner Zähmung durch die Kirche, eine kulturfeindliche Aussteigerbewegung. Friedrich Paulsen hat in seinem „System der Ethik" (1921, 33, 62, 102) die Lebensanschauung der Griechen und des Christentums gegenübergestellt. Die „natürliche Ordnung" wurde von den Christen als moralisch verwerflich bewertet, nicht auf Selbsterhaltung, sondern Selbstverleugnung, nicht auf die Liebe des persönlichen Nächsten, sondern der nächstbesten Schwachen und Armen sollte es ankommen.
Ordnungsdenken · 179 Über der verworfenen natürlichen Ordnung erhebt sich eine geoffenbarte „göttliche" Ordnung. Eine vollständige Umwertung der Werte! Damit wurde verneint, was antiken Menschen von Wert gewesen war: Politik, Wirtschaft, Sport, Unterhaltung, Kunst, Wissenschaft und das Streben nach einem angenehmen Leben in wunderschönen, von Statuen und strahlenden Tempeln geschmückten Städten. Als das erwartete Weltende ausblieb, wird die civitas terrena mit Privateigentum, Familie und Krieg „naturrechtlich" als Provisorium, als vorläufiges Gehäuse bis zur Heraufkunft der civitas dei toleriert 7 Unter diesen Umständen wurde für den Fortgang der ökonomischen Theorie jahrhundertelang wenig oder nichts geleistet. Für die liberalmarktwirtschaftliche Ordnungslehre ist das Mittelalter in der Tat auf Jahrhunderte „finster". Es ist nun ein faszinierendes Kapitel abendländischer Geistesgeschichte, wie sich das intellektuelle Denken von der Dominanz der Mythologie Schritt für Schritt befreit. Steht die Vernunft zunächst unter dem Glauben, so avanciert sie nach und nach zu deren Konkurrenten und gewinnt schließlich die Oberhand, wie in jeder Philosophiegeschichte zu verfolgen ist. Die umfassende Rezeption von Aristoteles ist eine wichtige Station auf diesem Wege. Ein erster Höhepunkt sind die Schriften von Thomas von Aquin {Kaufer 1999; Beutter 1989; Klein 2000). Er wiederholt vielfach die Lehren des Aristoteles, aber als christlicher Egalitarier fügt er dem Ordnungsdenken der Antike doch ein wichtiges neues Element hinzu: die Emanzipation der „Arbeit" - jeder Arbeit - von ständisch-aristokratischer Geringschätzung. In ihr drücke sich, sagt Thomas u. a. die menschliche Mitwirkung an der göttlichen Schöpfung aus. Selbst Sklavenarbeit ist „Christusdienst". Freilich hält Thomas an der ständischen Bestimmung eines „gerechten Preises", namentlich beim Faktor Arbeit, fest: gerecht in dem Sinne, daß er den Familien ein auskömmliches Leben erlauben muß und wenigstens die Selbstkosten erwirtschaftet werden. Auch in der Zinstheorie gibt es Auflockerungen, indem nunmehr zwischen Konsumtiv- und Produktivkredit unterschieden wird. Als unmoralisch gilt nur noch die Verzinsung eines Notdarlehens „unter Brüdern". Die erstaunlich wenig beachtete spanische Spätscholastik der Schule von Salamanca (Rothbard 1995; Wilhelm Weber 1959; Fehl 1989) bringt dann einen Durchbruch zur modernen Theorie der spontanen, gleichwohl moralisch akzeptablen Ordnung: der „gerechte" Preis ist in Salamanca der Marktpreis bei Wettbewerb (Ausbeutung liegt nur noch bei Monopolpreisbildung vor). Die subjektive Wertbestimmung des Preises erhält eine erste Ausformulierung (er bilde sich aus „utilitas, raritas, communis aestimatio"). Die Unternehmerfunktion wird entdeckt und erklärt, der Zins bereits aus der Zeitpräferenz hergeleitet, der Handel als Institution gilt moralisch nicht länger als bedenklich: „Vitia sunt negotiantum, non vero negotionis" (Ludwig Molina, zitiert nach Wilhelm Weber 1959, 97). Demgegenüber ist die Wirtschaftslehre der Reformatoren, namentlich Luthers mit seiner Drei-Stände-Lehre, ein Rückschlag. Jedoch wird die Arbeit durch die prote7
Vgl. zur Gesellschaftslehre des für diese Wandlungen maßgebenden Augustinus: leman (1988).
Bosl (1993); Co-
180 · Gerd Habermann stantische Berufsidee weiter aufgewertet und erhält im Rahmen der Heilsökonomie eine religiös-ethische Legitimation, die im protestantischen Amerika als (unbeabsichtigte) Förderung des kapitalistischen Geistes bis heute nachwirkt (Max Weber 1963). Auch das Taxisdenken erlebt in jener Zeit neue Entwürfe: Thomas Morus „Utopie", ein planwirtschaftlicher Wohlfahrtsstaat mit - im Unterschied zu Piaton - auch in den Unterschichten durchgeführtem Kollektiveigentum, liefert die Vorlage für den modernen Sozialismus und andere durchgängig konstruktivistische Staatsromane (Swoboda 1975; Starbatty 1989). Fast alle seine Elemente finden sich hier schon vor: die Diktatur der Wissenschaftler (Intellektuellen), eine geometrische Durchorganisation des Landes, zentrale Bedarfs-, Arbeitskräfte- und Investitionsplanung, politisiertes Privatleben (also gar keines), Aufhebung der familiären Einzelhaushalte, zentrale Fütterung in Volksküchen usw. Diese Literatur geht mit dem Wiederaufstieg des bürokratischen Staates parallel. In der historischen Realität bildet damals das von Europäern entdeckte und zerstörte Inka-Reich den Inbegriff einer vollendeten großen Taxis, auch ohne rationale Wirtschaftsrechnung funktionierend, da die Bedürfnisse standardisiert und so für die zentrale Planwirtschaft auf Basis einer wenig entwickelten Arbeitsteilung und primitiver Statistik berechenbar gemacht wurden. Vergleichbar in seinen Strukturen ist der Jesuitenstaat von Paraguay, der Voltaire so begeisterte. Die plötzliche Katastrophe des Inka-Reiches zeigte aber schon damals die Labilität zentralwirtschaftlicher Ordnungen. Eine Handvoll Spanier, einige Pferde, wenige Kanonen genügten, um dieses Reich zu zerstören, von dem Louis Baudin (1957, 144) sagte: „Mit dem Neid war zugleich auch der fruchtbare Ehrgeiz verschwunden, mit dem Stolz die Würde, mit dem Geist der Auflehnung die Erfindungsgabe. Der Bewohner des Hochlandes hatte das Denken nicht nötig, die Elite dachte für ihn. Wie sollten solche Automaten sich auch nur einen gewissen Unternehmungsgeist erhalten, wenn sie nicht einmal das Recht hatten, ein Gericht nach eigenem Wunsch zu kochen? Wie sollten sie sich noch um irgendwelche Vorsorge bemühen, wenn der Staat selbst das Unvorhergesehene noch zu berechnen schien, indem er ungeheure Reserven anlegte?" Dem ähnlich zentralisierten Aztekenreich erging es nicht anders - und der Physiokrat Mirabeau kommentierte dieses Ereignis entsprechend.
VII. Das Verständnis der „spontanen" Ordnung Die volle Rehabilitation der „natürlichen" Ordnungen bietet in französisch-rationalistischer Variante die physiokratische, im evolutionistischen Ansatz die schottische Schule. Mandeville hat als erster gezeigt, wie sich aus der Arbeitsteilung eine spontane Ordnung ergibt, unabhängig von den Motiven und Absichten der daran Beteiligten, wenn sie nur allgemeinen moralischen Regeln folgen. Die großen Schotten (David Hume, Adam Smith, Adam Ferguson) zeigten, daß der „natürliche" Zustand der Menschen der historische Sozialzustand ist und daß sich aus Eigeninteresse, unvermeidbarer, ständiger Sozialbezogenheit menschlichen Handelns und historischer Erfahrung (Versuch und Irrtum) in Verbindung mit der fortschreitenden
Ordnungsdenken · 181 Erfahrung (Versuch und Irrtum) in Verbindung mit der fortschreitenden Arbeitsteilung ein von niemandem so geplantes und eingerichtetes Netz gegenseitigen Nutzens ergibt; eine spontane Koordination, welche die Anhänger der Taxis übersehen. Der Staat, der diese spontanen Handlungsmuster vorfindet, muß nur jene Regeln durchsetzen, die als Urteil des „unparteiischen Zuschauers" {Adam Smith) in jedem Menschen verankert sind, d. h. als sein „Gewissen" sprechen. Die Marktwirtschaft ruht auf exakten „Regeln der Gerechtigkeit", die sich aus langer Sozialerfahrung ergeben haben und als moralisches Gefühl in den Menschen lebendig sind. Rechtverstandenes Eigeninteresse und Gemeinwohl sind keine Gegensätze. Das „Adam-SmithProblem" existiert nicht. 8 Die Politiker überschätzen ihr Wissen, so sagen diese großen Schotten, wenn sie die gewachsenen Handlungsordnungen und Regelsysteme, die historischen Koordinationssysteme, durch bewußtes Gestalten nach den Maximen einer überschätzten Vernunft gänzlich „neu" machen wollen. Ferguson verglich den konstruktivistischen Staatsmann mit einer „Fliege auf dem Rade", die sich einbilde, sie sei es, die das Rad bewege (Ferguson 1988, 283). Großartig ist auch das Bild, das Adam Smith für die Grenzen der Politik findet: „Der Mann des Systems ... scheint sich vorzustellen, daß er die verschiedenen Mitglieder einer großen Gesellschaft ebenso leicht anordnen kann wie die Hand die verschiedenen Figuren auf einem Schachbrett anordnet. Er zieht nicht in Betracht, daß die Figuren auf dem Schachbrett kein anderes Bewegungsprinzip haben, als das, welches die Hand ihnen auferlegt; daß aber auf dem großen Schachbrett der menschlichen Gesellschaft jede einzelne Figur ihr eigenes Bewegungsprinzip hat, das völlig verschieden von jenem ist, das die Gesetzgebung ihnen aufzuerlegen wünschen mag" (Smith 1985, 395/396). In der freien Gesellschaft ergibt sich die Koordination eben durch allgemeine abstrakte Regeln, Preise und arbeitsteiligen Tausch. Die Gesellschaft ist, so sagt Ferguson mit einem gewachsenen Korallenstock, nicht mit einer Maschine vergleichbar. Von daher ist das Wüten physiokratischer Rationalisten gegen Traditionen und historisch gegebene Gliederungen der Gesellschaft zerstörerisch und verödend, so viel sie auch sonst zur Theorie der spontanen Ordnung beigetragen haben. Sie vertraten einen „ordre naturel", der als neue, künstliche Ordnung der Freiheit und Gleichheit aufgefaßt wird (Tocqueville 1952; Krüsselberg 2002). Diese zwei Arten des Rationalismus spiegeln sich in dem grundverschiedenen Charakter der amerikanischen „Bill of Rights" (12. Juni 1776) und der „Déclaration des Droits" (26. August 1786) wider. Die „Bill of Rights" war ein Dokument zur Beschränkung staatlicher Macht zugunsten des mit unveräußerlichen Rechten ausgestatteten Individuums. Das Prinzip der Gewaltentrennung und der Kontrolle von Macht wurde verankert, der Rechtsschutz des Individuums vor den Übergriffen staatlicher Macht festgeschrieben. Die Presse8
Das S p e z i f i s c h e der schottischen Schule ist besonders gut dargestellt bei Jonas ( 1 9 6 8 ) . D i e A u f fassung, z w i s c h e n Smiths Moralphilosophie und seiner Markttheorie bestehe eine erklärungsbedürftige Lücke, ist unhaltbar. Das individuelle Handeln am Markt steht immer unter den vorgegebenen R e g e l n der Gerechtigkeit, und jeder Mensch handelt nicht nur am Markt, sondern auch innerhalb seiner g e g e b e n e n Gemeinschaften. Siehe hierzu die ausgezeichneten Darlegungen von Jodl ( 1 9 2 9 , 3 6 3 - 3 6 9 , Ethik und Volkswirtschaftslehre).
182 · Gerd Habermann freiheit war unangreifbar, die Prinzipien der Gerechtigkeit, Mäßigung, Sparsamkeit und Tugend galten als Voraussetzung für die Wahrung der Segnungen der Freiheit, die jedem freie Religionsausübung garantierte (Dippel 1986, 21). Bei der französischen Déclaration hatte die Manifestation einer durch nichts behinderten politischen Souveränität Vorrang. Die Nation ist Träger eines Mandats, das durch keine Grundsätze eingeschränkt wird als die Mehrheitsabstimmung: nicht durch Gewaltenteilung, nicht durch historisch gegebene Untergliederungen, nicht durch die Selbstverwaltung der Gemeinden und Provinzen oder sonstige gewachsene religiöse oder kulturelle Traditionen. Eine „natürliche" Ordnung muß nicht mit egalisierendem Staatszwang erst herbeigeführt werden, sie ist (nach der „schottischen Schule") bereits latent da - nur vielfach behindert und verdeckt durch „falsche" Gesetze, als sozusagen „naturpsychische Ordnung" (Edgar Salin), d. h. der seelischen Natur der Menschen und damit dem „natürlichen Lauf der Dinge" (Streminger 1995) entsprechend. Mit dem Beitrag der österreichischen Schule von Carl Menger bis Friedrich A. von Hayek wurde Schritt für Schritt das Wesen dieser spontanen Ordnung, speziell auf den Märkten, besser erfaßt, d. h. immer verständlicher gemacht, wie sich aus individuellen Wahlakten unter marktwirtschaftlichen Bedingungen als „unbeabsichtigte Resultante" ein wohlabgestimmtes Ganzes ergeben kann. Die subjektive Wertlehre der Österreicher gab - nach Vorarbeit der Schule von Salamanca - allen objektivistischen Wertlehren den Todesstoß, wenigstens in der Theorie. Von der immer besser verstandenen spontanen Ordnung her wurde auch die „Unmöglichkeit" des dauerhaften Funktionierens einer konsequenten Taxis in der komplexen Gesellschaft immer klarer. Ludwig von Mises (Kalkulationsproblem) und Friedrich August von Hayek (Wissensproblem) waren hier die großen Meilensteine. Der deutsche Ordoliberalismus, von Walter Eucken bis Wilhelm Röpke, hat das Verdienst, die sich ausschließenden Ordnungsmuster der geplanten und der gewachsenen Variante morphologisch konsequent konzipiert und deren jeweilige institutionelle Voraussetzungen (wieder) ins Bewußtsein gehoben zu haben (besonders Wilhelm Röpke, Alexander Riistow). Die neuere (besonders amerikanische) Institutionenökonomie hat weitere Teilaspekte hinzugefügt, verlor aber dabei das Ganze aus den Augen (Feldmann 1995, 1999; Schüller und Krüsselberg 2002). Seltsamerweise wird gegenwärtig eine besondere „Wirtschaftsethik" für nötig gehalten, um die angeblich moralfreie Marktlehre zu korrigieren. 9 Bei recht verstandener Ordnungstheorie ist diese Korrektur nicht notwendig, da die moralischen Grundregeln bereits als Basis der Märkte vorausgesetzt sind. Die übertriebene Spezialisierung der Ökonomen und die Abstraktionen von Ökonometrie und Makroökonomie machen auch verständlich, daß eine sogenannte kommunitarische Lehre die Gruppen- und Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen gegenüber dem „Markttotalitarismus" (Michael Walzer) betonen zu müssen glaubt (Habermann 1997). Der Kommunitarismus hat nur ins Normative gehoben, was die neuere Institutionenlehre schon empirisch analysiert hat (Öko9
Die Ambition eines vierbändigen, von Wilhelm Korff u. a. herausgegebenen voluminösen Handbuchs der Wirtschaftsethik (1999).
Ordnungsdenken · 183 nomie der Moral, der Sitte usw.)· Daß es nicht nur die isolierten einzelnen und die Märkte gibt, war den Vertretern der schottischen Schule und ihren heutigen Nachfahren wie von Hayek oder auch besonders de Jouvenel10 selbstverständlich. Die kleine oder große (nationale) Gemeinschaft und die „Große Gesellschaft" des Marktes stehen nebeneinander. Eines ist so existentiell unentbehrlich wie das andere, auch ihre jeweiligen ethischen Systeme. Man muß sich nur davor hüten, das Regelsystem des einen (z. B. der Taxis einer „Familie") auf das andere (den Markt) zu übertragen." Der Mensch lebt nicht primär in Märkten (oder komplexen Ordnungen), sondern in kleinen, weniger umfassenden Gruppen und Gemeinschaften mit dem Charakter einer Taxis. Diese Spezialisierung des Wissens und die konstruktivistischen Anmaßungen einer wissenschaftlichen Vernunft haben die Katastrophen des 20. Jahrhunderts gefördert. In den niedergehenden Wohlfahrtsstaaten des Westens dominieren sie intellektuell und politisch bis heute (Baader 2002). Sie erzeugen jene Labilität der sozialen Verhältnisse, die ein Abgleiten in Integrationsformen eines neuen Totalitarismus im Falle wirtschaftlich-sozialer Krisen wieder möglich machen könnte. Der Chor intellektueller Katastrophentheoretiker in Europa schwillt wieder an, besonders in Form der Globalisierungskritik. Der 11. September 2001 war ein Symbol für die Tatsache, daß marktwirtschaftliches Denken und alle ökonomischen Globalisierungserfolge im internationalen Wettbewerb der Kulturen und Religionen nicht genug sind, sondern die entscheidenden Fragen „jenseits von Angebot und Nachfrage" liegen. Trotz aller Zeitgebundenheit vieler seiner Aussagen macht dies insbesondere Wilhelm Röpke wieder aktuell (Zmirak 2001).
Literatur Aristoteles (1965), Politik (nach der Übersetzung von Franz Susemihl), Reinbek b. Hamburg. Baader, Roland (2002), Totgedacht - Wie Intellektuelle unsere Welt zerstören, Gräfelfing. Baudin, Louis ( 1956), Der sozialistische Staat der Inkas, Hamburg. Bauer, Wolfgang (1974), China und die Hoffnung auf Glück, München. Beutter, Friedrich (1989), Thomas von Aquin, in: Joachim Starbatty (Hrsg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, Bd. 1, München, S. 56-75.
10 „Wir erleben heute die Folgen eines Denkens, das im gesamten Sozialmechanismus nur Elementarteile anerkennen will, die Individuen und ein Zentralressort, den Staat; das alles andere vernachlässigen und die Rolle der geistigen und gesellschaftlichen Autoritäten leugnen will" (de Jouvenel 1972,444). 11 „Die kleine Gesellschaft als die ursprüngliche Welt des Menschen bleibt für ihn unendlich wünschenswert. Es ist wahr, daß er aus ihr neue Kräfte schöpft. Aber jeder Versuch, einer Großgesellschaft den gleichen Charakter zu verleihen wie einer Kleingesellschaft, (ist) utopisch und führt zur Tyrannei. Wenn wir dieses zugeben, müssen wir erkennen, daß das Gemeinwohl gegenseitigen Vertrauens nach dem Vorbild der kleinen geschlossenen Gesellschaft desto weniger angestrebt werden kann, je mehr sich die Sozialbeziehungen erweitern und vermannigfaltigen. Ein solches Vorbild kann uns vielmehr bloß in die Irre führen" (de Jouvenel, 1963, 165).
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Zusammenfassung Diese geistesgeschichtliche Skizze zeigt die Unvermeidlichkeit des O r d n u n g s d e n kens: alle Hochkulturen haben hierzu Wichtiges beizutragen. Menschliches Handeln ist überall an Regeln gebunden, die eine Koordination erst ermöglichen. Ü b e r diese Regeln haben die „ W e i s e n " aller Zeiten reflektiert. Zur näheren Unterscheidung der Regelsysteme können die Hayekschcn
Begriffe von „ K o s m o s " und „ T a x i s " (sponta-
ner und zentral konstruierter Ordnung) nützliche Pfadfinderdienste leisten. Die Entdeckung der „ s p o n t a n e n " Ordnung, speziell der Marktordnung, ist eine besondere Errungenschaft des Abendlandes. Nach antiken Ansätzen und mittelalterlichem Rückfall entfaltet sich die Theorie der spontanen O r d n u n g zuerst voll in der schottischen Schule, u m in der österreichischen Schule dann auf einen H ö h e p u n k t zu gelangen. Daneben stand auch immer die Linie des „Taxis"-Denkens, das im 20. Jahrhundert nicht seine erste Katastrophe erlebte, wenn es die Grenzen seiner Nützlichkeit überschritt.
Summary Philosphy of Order - a Historical Sketch This sketch of historical ideas shows the inevitability of the philosophy of order: all advanced civilisations have something important to contribute to this. H u m a n behaviour is bound everywhere to rules which enable a certain co-ordination. T h e "wise m e n " of all periods have reflected on these rules. For close differentiation of the various rule systems, Hayek's
notions of " C o s m o s " and " T a x i s " (spon-
taneously and centrally constructed order) can provide a useful pioneering service. T h e discovery of the " s p o n t a n e o u s " order, especially the market order, is a particular achievement of the Occident. A f t e r antique beginnings and medieval relapses, the
Ordnungsdenken · 187 theory of spontaneous order fully developed for the first time in the Scottish School to reach a climax then in the Austrian School. Alongside this, there was always the line of "Taxis" thinking which did not experience its first catastrophe in the 20 , h century when it exceeded the limits of usefulness.
ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2002) Bd. 53
Guido
Bünstorf
Über den Wettbewerb als allgemeines Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungsverfahren1 I. Einleitung 1968 hielt Friedrich August von Hayek seinen Vortrag „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" (Hayek 1968/1994). Wenige Jahre später kam unter kalifornischen Hippies ein neuer Freizeitsport auf: Sie begannen, auf Vorkriegsfahrrädern vom Schrottplatz steile Forststraßen herunterzurasen. Mit der Zeit wurden die Fahrräder immer weiter entwickelt, Eigenentwicklungen und speziell angefertigte Komponenten ersetzten nach und nach die wiederverwendeten Gebrauchtteile. Zugleich legten die kalifornischen Hippies mit ihren Entwicklungen die Grundlage für das, was unter dem Namen „Mountainbike" später ein weltweiter kommerzieller Erfolg werden sollte. Der liberale Ökonom und die Hippies, die das Mountainbike erfanden, hätten vermutlich wenig voneinander und vom Gedankengut des oder der jeweils anderen gehalten. Und während Hayeks Vortrag sich mit dem wettbewerblichen Marktprozeß befaßte, lief die Entwicklung des Mountainbikes außerhalb des Marktes ab; kommerzielle Interessen spielten zunächst keine Rolle. Aber dennoch waren Wettbewerbsprozesse, wie ich weiter unten ausführen werde, ein wichtiges Element bei der Entstehung des Mountainbikes. Die Entstehung des Mountainbikes ist nur ein Beispiel dafür, daß Wettbewerbsprozesse auch in „marktfernen" gesellschaftlichen Bereichen wie Wissenschaft, Politik und Kultur von zentraler Bedeutung sind. Um den Einfluß von Wettbewerb in diesen gesellschaftlichen Bereichen hervorzuheben, insbesondere auch seine Wirkung auf die Hervorbringung von Neuerungen, wird häufig von Hayeks Formulierung des „Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren" Gebrauch gemacht. Die Bezugnahme auf Hayek und die Verallgemeinerung des „Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren" ist jedoch nicht ohne Probleme. Denn: wesentliche Bestandteile dieses Konzepts, wie es von Hayek vorgedacht wurde, sind in marktfernen Sphären kaum aufzufinden. Dagegen blendet Hayek selbst in seinem gleichnamigen Aufsatz gerade diejenigen Wirkungen des Wettbewerbs aus, die abseits der Märkte besonders bedeutsam sind. Es ist daher durchaus fraglich, ob die Generalisierung des Wettbewerbs
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Eine frühere Version dieses Essays wurde beim Hayek-Essay-Wettbewerb 2 0 0 2 der von Hayek-Gesellschaft mit d e m ersten Preis ausgezeichnet. Den Teilnehmern der 2 0 0 2 sei an dieser Stelle herzlich für ihre Kommentare und Anregungen zu den hier Überlegungen gedankt. A l l e verbleibenden Unzulänglichkeiten gehen allein zu meinen
Friedrich A. Hayek-Tage dargestellten Lasten.
190 · Guido Bünstorf „als Entdeckungsverfahren" - wohlgemerkt: nicht des Wettbewerbskonzepts an sich - dem Ansinnen Hayeks gerecht wird. Die Zielsetzung dieses Essays ist eine doppelte. Erstens sollen Parallelen und Unterschiede zwischen Wettbewerbsprozessen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen herausgearbeitet werden. Zu diesem Zweck werde ich zunächst drei verschiedene Wirkungen des Wettbewerbs auf Güter- und Faktormärkten unterscheiden - seine Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungswirkung. Danach werde ich anhand der unterschiedenen Wettbewerbswirkungen untersuchen, ob und in welcher Weise Wettbewerb in anderen gesellschaftlichen Bereichen dieselben Wirkungen entfalten kann wie auf Märkten. Konkret beschäftige ich mich mit dem Wettbewerb in der Wissenschaft, mit dem politischen Wettbewerb und mit dem Wettbewerb als allgemeinem kulturellen Phänomen. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Wirkungen des Wettbewerbs in den verschiedenen Bereichen. Der Vergleich der tatsächlichen Wettbewerbsprozesse mit dem Hayekschcn „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" verdeutlicht darüber hinaus die Schwierigkeiten, die bei der Verallgemeinerung dieses Konzeptes auftreten.
II. Aufdeckungs- und Ordnungswirkung des Wettbewerbs Der „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" ist zum vielzitierten Allgemeinplatz des (ordnungs-)ökonomischen Diskurses geworden. Gerade deshalb ist es angebracht, zu Beginn dieses Essays einen genaueren Blick auf Hayeks Vortrag zu werfen und zu untersuchen, mit welchen Themen sich Hayek in diesem Vortrag beschäftigt und mit welchen er sich nicht beschäftigt. „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" nimmt eine Diskussion wieder auf, die Hayek bereits in „The Use of Knowledge in Society" (1945) und in „The Meaning of Competition" (1948) begonnen hatte. Im Mittelpunkt der Argumentation steht die Kritik an den Marktmodellen der mathematischen Ökonomik. Ihnen wirft Hayek vor, die eigentliche Leistung des Marktes nicht zu erfassen - und damit auch nicht den wahren Grund für die Überlegenheit marktwirtschaftlicher Systeme gegenüber der Zentralverwaltungswirtschaft. Die eigentliche Leistung des Marktprozesses besteht Hayek zufolge darin, mittels des Preissystems das dezentrale Wissen der Akteure über die „besonderen Umstände von Ort und Zeit" (Hayek 1952, 107) verfügbar zu machen: das Wissen darüber, welche Güter und Leistungen begehrt und knapp sind und wie sich die jeweiligen Knappheiten im Zeitablauf verändern. Diese „Nutzung des weit verstreuten Wissens in einer Gesellschaft mit fortgeschrittener Arbeitsteilung" (Hayek 1968/1994, 253) könnte kein zentralisierter Allokations- und Koordinationsmechanismus leisten, allein schon deshalb nicht, weil die Besitzer dieses Wissens es häufig selbst nicht artikulieren können und/oder es der zentralen Allokationsinstanz nicht zugänglich machen wollen. In der preisgeleiteten marktlichen Koordination müssen sie das auch gar nicht: Das Wissen der Akteure wird durch ihre Entscheidungen und durch ihr
Wettbewerb als Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungsverfahren · 191
Verhalten selbst aufgedeckt. Es tritt in den Preisen für Güter und Faktorleistungen zu Tage. Die Preise signalisieren die Höhe der individuellen Wertschätzungen (auf der Nachfrageseite) und der individuellen Leistungsfähigkeit (auf der Angebotsseite). Sie ermöglichen darüber hinaus Vergleiche zwischen verschiedenen Akteuren und Gütern. Für die Informationswirkung der Preise ist der Wettbewerb unerläßlich, denn das Wissen um Wertschätzungen und Leistungsfähigkeit wird erst im Wettbewerb selbst ermittelt. Es ist in diesem Kontext der preisgeleiteten marktlichen Koordination, daß Hayek (1968/1994, 249) den Wettbewerb als „ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen [...], die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden" charakterisiert. Ich möchte diesen informationsermittelnden Effekt im Folgenden als die Aufdeckungswirkung des Wettbewerbs bezeichnen. Der Begriff der „Aufdeckung" soll betonen, daß die durch den Wettbewerb ermittelten Tatsachen auch ohne ihn bestehen würden - aber eben unbekannt blieben. Der Wettbewerb entfaltet eine aufdeckende Wirkung auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite. Auf der Angebotsseite offenbaren die für Güter und Dienste verlangten Preise die Leistungsfähigkeit der Produzenten. Dabei zwingt der Wettbewerb jeden einzelnen Produzenten, seine Preise niedrig zu halten. Er begrenzt individuelle Marktmacht auf denjenigen Bereich der Preise, innerhalb dessen kein anderer Anbieter kostendeckend produzieren kann. Erhöht ein Produzent seine Preise über diesen Bereich hinaus, dann werden ihn konkurrierende Produzenten als „Kundschafter auf der ständigen Suche nach unausgenützten Gelegenheiten" (1968/1994, 260) - hier nimmt Hayek den findigen, arbitragierenden Unternehmer Kirznerschcr Prägung vorweg - vom Markt verdrängen. Auf der Nachfrageseite zeigen die Preise die Wertschätzung der Konsumenten an. Auch hier spielt der Wettbewerb eine zentrale Rolle für die Aufdeckung der Präferenzen. Der Wettbewerb mit anderen Nachfragern zwingt die Konsumenten dazu, die wahre Höhe ihrer Wertschätzung für ein Gut zu offenbaren. Denn wenn sie das nicht tun, dann laufen sie Gefahr, daß andere Konsumenten die begehrten Güter erwerben und sie selbst nicht zum Zug kommen. Der Wettbewerb begrenzt daher auf beiden Marktseiten den Spielraum für strategisches Verhalten und ermöglicht so die Informationsleistung der Marktpreise. Der preisgeleitete Marktprozeß führt zur Koordination individueller Pläne. Auch die Koordinationsfunktion des Marktes beruht auf dem Wettbewerb; der Marktprozeß nutzt das im Wettbewerb aufgedeckte Wissen. Man kann diese zweite Wirkung des Wettbewerbs als seine Ordnungswirkung bezeichnen. Diese Bezeichnung weist auf ein weiteres Hayeksches Leitmotiv hin: die spontane Ordnung, die „aus menschlichem Handeln, aber nicht menschlichem Entwurf" (Hayek 1967/1994, 98) in einem Prozeß der dezentralen Selbstorganisation entsteht und die Hayek von der „echten" Wirtschaft als zentral koordinierter Organisation abgrenzt. Natürlich kann marktlicher Tausch zwischen Anbietern und Nachfragern auch stattfinden, wenn kein Wettbewerb herrscht. Ohne Wettbewerb kommt aber jenes Charakteristikum der spontanen Ordnung, auf das Hayek verweist, bestenfalls zufällig zu Stande: daß die lei-
192 · Guido Bünstorf stungsfähigsten Anbieter zum Zuge kommen und die Gesellschaft die größtmögliche Menge der begehrten Güter produziert. Für die Entstehung der spontanen Ordnung ist der Wettbewerb zwischen den parallelen Aktivitäten der Akteure auf den jeweiligen Marktseiten zwar notwendig, nicht jedoch hinreichend. Eine weitere Voraussetzung besteht darin, daß Anbieter und Nachfrager selbst in einer Vielzahl von Transaktionen die Ordnung im Marktprozeß dezentral generieren. Nur in diesem dezentralen Selbstorganisationsprozeß können die vielfältigen und typischerweise widersprüchlichen Ziele der einzelnen Akteure alle in die entstehende Ordnung einfließen. Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage schlagen sich in Preisänderungen nieder, die bereits wieder den Anstoß zum Abbau der Diskrepanzen geben, so daß die Pläne von Anbietern und Nachfragern einander angepaßt werden. Das konkrete Ergebnis des Marktprozesses hängt dabei von dem jeweiligen institutionellen Rahmen ab (Hayek 1988, 19). Die Überlegenheit der marktlichen Koordination gegenüber der zentral geplanten Allokation tritt insbesondere in der Fähigkeit zu Tage, auf veränderte Umstände zu reagieren. Auch dieser Punkt ist bereits früher von Hayek aufgegriffen worden. Ökonomische Probleme, schreibt er 1945, entstünden überhaupt erst durch Änderungen in den Umständen (Hayek 1945, 82). Und wiederum ist der entscheidende Vorteil des Marktprozesses, daß die Marktteilnehmer wenig wissen müssen, um auf neue Bedingungen reagieren zu können. Unter Wettbewerbsbedingungen schlagen sich veränderte Umstände in Preisänderungen nieder, die den Marktteilnehmern die Notwendigkeit signalisieren, Ausmaß oder gar Richtung ihrer Bemühungen anzupassen. Diese Anpassung findet wiederum in einem dezentralen Selbstorganisationsprozeß statt, aus dem eine neue Ordnung hervorgeht. Dabei müssen die beteiligten Akteure weder wissen, warum sich die Preise geändert haben (obwohl das Wissen um die Gründe der Änderungen realiter hilfreich ist, um adäquat zu reagieren), noch muß die - wie auch immer begründete - „Richtigkeit" der neuen Preise bewiesen werden, wie es etwa in einem politischen Allokationsprozeß notwendig wäre, um die Preisänderungen zu legitimieren.
III. Die Erkundungswirkung des Wettbewerbs Die obige knappe Darstellung des Hayekschen Arguments verdeutlicht zugleich, was der „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" im gleichnamigen Vortrag nicht ist: ein Verfahren, das neue Tatsachen schafft. Ob sie nun bekannt sind oder nicht: Die vom Wettbewerb aufgedeckten ,,besondere[n] vorübergehendefn] Umstände" (Hayek 1968/1994, 251) bestehen unabhängig vom ihm. Hayek (1968/1994, 260) schreibt explizit, daß er sich nicht mit der Rolle des Wettbewerbs für den technischen Fortschritt beschäftigen möchte. Damit bleibt auch die Wirkung wettbewerbsinduzierter Anreize auf das Innovationsverhalten der Marktteilnehmer unerörtert. Die Charakterisierung des Wettbewerbsprozesses bei Hayek ist, in den Kategorien von Kerber (1997), eher eine koordinationstheoretische denn eine evolutorische, auch wenn der
Wettbewerb als Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungsverfahren · 193 „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" immer wieder im evolutorischen Sinn zitiert wird. Aus dieser Feststellung folgt natürlich nicht, daß Hayek die innovative Wirkung des Wettbewerbs nicht anerkannt und für relevant erachtet hätte, und der Rest seines Oeuvres spricht denn auch deutlich dafür, daß ihm diese Wirkung wichtig war (Buchanan und Vanberg 1991). Dennoch: expliziter Bestandteil seiner Argumentation in dem Vortrag ist die Generierung neuen, dauerhaften Wissens in Form neuartiger Produkte und Verfahren nicht. Der „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" beschäftigt sich mit anderen als innovationsökonomischen Fragen. Für eine allgemeinere Betrachtung von Wettbewerbsprozessen kann die Wirkung des Wettbewerbs auf die Hervorbringung von Neuerungen jedoch nicht ausgeblendet werden. Ich werde diese dritte Wirkung des Wettbewerbs, seinen Einfluß auf die Schaffung neuer Tatsachen, im Folgenden als Erkundungswirkung bezeichnen. Damit ist dasselbe beschrieben, was Buchanan und Vanberg (1991) als den „kreativen" Marktprozeß charakterisiert haben und was Kerber (1997) unter dem Begriff des „Wettbewerbs als Hypothesentest" erfaßt. Letztlich findet sich die Grundlage dieser Konzepte bereits bei Schumpeter ( 1912, Kapitel 4). In welcher Weise wirkt der Wettbewerb innovationsfördernd? Für die Beantwortung dieser Frage lassen sich mehrere Aspekte unterscheiden. Erstens, und sehr grundsätzlich, hat ein wettbewerbliches System bereits deshalb eine innovationsfördernde Wirkung, weil es als dezentral organisiertes System auf der Grundlage individueller Freiheit Experimente überhaupt zuläßt. Ähnlich wie die Aufdeckungswirkung des Wettbewerbs das dezentrale Wissen der Akteure über individuelle Wertschätzungen und Leistungsfähigkeiten nutzt, so kann (und darf) im Wettbewerb auch das verstreute Wissen aller Akteure über mögliche Neuerungen genutzt werden. Zweitens hat der Wettbewerb eine innovationsbewertende Wirkung. Die Ergebnisse des Wettbewerbs zeigen auf, welche Neuerungen tragfähig in dem Sinne sind, daß sie im Marktprozeß auf eine Nachfrage stoßen. Damit geben sie den Innovatoren zuverlässige Signale zur Anpassung des Ausmaßes und der Richtung zukünftiger Innovationsanstrengungen. Drittens gibt der Wettbewerb laufend Anreize zur Hervorbringung von Neuerungen. Die innovationsfördernde Anreizwirkung des Wettbewerbs entsteht in der Eigendynamik des Wettbewerbsprozesses selbst. Denn im Wettbewerb zählt letztlich nicht die absolute, sondern die relative Leistungsfähigkeit von Akteuren. Erhöht ein Marktteilnehmer durch Innovation seine Leistungsfähigkeit, so geht dies typischerweise zunächst einmal zu Lasten seiner Konkurrenten. Dank der menschlichen Kreativität müssen die Konkurrenten die Verschlechterung ihrer Wettbewerbsposition aber nicht passiv erleiden, sondern sie können mit gesteigerten Aktivitäten zur Erhöhung ihrer eigenen Leistungsfähigkeit reagieren. Sind diese Aktivitäten erfolgreich, dann verschlechtern sie wiederum die Wettbewerbsposition anderer konkurrierender Akteure. Auf diese Weise legt jede Neuerung bereits die Grundlage für weitere Neuerungen, so daß der Wettbewerbsprozeß nie endgültig zur Ruhe kommt (Witt 1985).
194 · Guido Bünstorf
IV. Wettbewerb in der Wissenschaft Die Unterscheidung zwischen Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungswirkung des Wettbewerbs erlaubt es nun, genauer nach der Übertragbarkeit des Wettbewerbskonzepts in andere Gesellschaftsbereiche als die Märkte für Güter und Produktionsfaktoren zu fragen. Was bedeutet Wettbewerb in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten? Welche der drei Wirkungen entfaltet er jeweils? Beginnen wir die Beantwortung dieser Fragen mit dem Bereich der Wissenschaft. 2 U m Wettbewerbswirkungen in der Wissenschaft zu identifizieren, muß man zunächst berücksichtigen, wie wissenschaftliche Aktivitäten finanziert werden. Insbesondere die Grundlagenforschung wird gemeinhin als legitime Staatsaufgabe akzeptiert, weil ihre Ergebnisse nicht direkt in marktgängige Produkte umgesetzt werden können. Die Finanzierung des Wissenschaftsbetriebs erfolgt daher weitgehend aus öffentlichen Mitteln. Höhe und Verteilung der Forschungsmittel werden durch den politischen Prozeß bestimmt. Diese Art der Finanzierung wissenschaftlicher Aktivitäten hat direkte Konsequenzen für die Aufdeckungswirkung des Wettbewerbs. Sie verhindert, daß die individuellen Wertschätzungen für Grundlagenforschung seitens der „Nachfrager" 3 ermittelt werden. Über die Finanzierung der wissenschaftlichen Forschung wird ohne Mitsprache derer entschieden, die sie bezahlen müssen. Ökonomen neigen dazu, sich alternative institutionelle Arrangements auszudenken, mit deren Hilfe erkannte Schwächen bestehender Institutionen behoben werden sollen. Derartige Überlegungen lassen sich auch für die Finanzierung der Wissenschaft anstellen. U m die individuellen Wertschätzungen für Grundlagenforschung aufzudecken, wäre es beispielsweise denkbar, alle Bürger mit Gutscheinen auszustatten, die diese nach eigenem Ermessen auf die einzelnen Disziplinen und Einrichtungen aufteilen können. Doch auch eine solche Gutscheinlösung würde die Aufdekkungswirkung des Wettbewerbs nur teilweise ersetzen können. Sie würde nur die Aufteilung der Mittel dezentralisieren; über die Höhe der Fördermittel (d. h. den Gesamtwert der Gutscheine) wäre immer noch kollektiv zu entscheiden. Eine genuin wettbewerbliche Ermittlung der individuellen Präferenzen für Wissenschaft kommt nur insoweit zustande, als Wissenschaft über Spenden und private Stiftungen finanziert wird, also auf der Grundlage einer tatsächlichen individuellen Zahlungsbereitschaft. Auf der Anbieterseite der Wissenschaft zeigt sich ein ganz anderes Bild. Hier entfaltet der Wettbewerb in der Tat eine aufdeckende Wirkung. Der Zweck von Ausschreibungen für Positionen und Projektfinanzierungen besteht darin, die leistungs-
2
D i e folgende Darstellung beschränkt sich auf die Wettbewerbswirkungen in der wissenschaftlichen Forschung. Der Wettbewerb in der wissenschaftlichen Ausbildung bleibt unerörtert. Insofern als Wissenschaftsinstitutionen neben Forschungs- auch Ausbildungsziele verfolgen, kommt über die Nachfrage nach Lehrinhalten eine zusätzliche Wettbewerbswirkung zu Stande. Allerdings sind Forschung und Lehre nicht notwendigerweise institutionell verknüpft, s o daß die Wettbewerbswirkungen der Lehre separat zu untersuchen wären.
3
Zur besseren Verständlichkeit der Argumentation werde ich in A n a l o g i e zu Güter- und Faktormärkten in allen behandelten Kontexten von „Angebots-" und „Nachfrageseite" sprechen.
Wettbewerb als Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungsverfahren • 195 fähigsten Anbieter zu ermitteln. Ausschreibungen lösen einen Bieterwettbewerb aus, der die Bewerber dazu zwingt, ihre Leistungsfähigkeit glaubhaft darzulegen. Der Vergleich mit dem preisgeleiteten Wettbewerb auf Gütermärkten zeigt jedoch auch auf der Anbieterseite der Wissenschaft Grenzen des Wettbewerbs auf. Für die Bewertung von Forschungsergebnissen existiert kein allgemeiner Maßstab, der so universal und objektiv ist wie das Preissystem im Marktprozeß. Statt dessen wird auf Behelfskriterien wie den peer review, Veröffentlichungslisten und die Zahl der Zitierungen zurückgegriffen. Die Unzulänglichkeiten dieser Kriterien sind wohlbekannt. Für ihre Aussagefähigkeit ist es notwendig, daß methodisch einwandfreies Vorgehen und Originalität der Ergebnisse mehr Einfluß auf die Bewertung haben als persönliche Netzwerke und wissenschaftsexterne Kriterien wie etwa die durch ein Forschungsprogramm ausgelösten positiven ökonomischen Effekte. Der wissenschaftliche Wettbewerb folgt einer „Wettbewerbsordnung", die weitgehend auf informellen Institutionen beruht und deren Funktionieren nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Auch in der Wissenschaft gibt es unerwünschte Wettbewerbsbeschränkungen - nicht umsonst spricht man von „Zitierkartellen" - und Kollusion der Anbieter zu Lasten derer, die sie finanzieren. Bei öffentlicher Finanzierung der Wissenschaft gemäß politischen Prioritäten hat der Wettbewerb auch keine Ordnungswirkung, die der selbstorganisierten Ordnung auf Gütermärkten gleichkommt. Nicht die individuellen Wertschätzungen, sondern die zentrale politische Entscheidung bestimmt, welche Institutionen und Projekte finanziert werden. Die oben angesprochene Gutschein-Finanzierung wäre insofern eine Annäherung an die marktliche Koordination, als sie nicht nur die individuellen Zielvorstellungen der Nachfrager aufdecken, sondern auch das Angebot an Forschung an die Nachfrage anpassen würde. (Ob die durch ein solches Verfahren zustande kommende Mittelverteilung wünschenswert wäre, ist eine andere Frage, die nicht ohne zusätzliche normative Kriterien beantwortet werden kann.) Eine gewisse Ordnungswirkung entfaltet jedoch auch bei herkömmlicher Steuerfinanzierung der Wettbewerb unter den Wissenschaftlern als Anbietern im Wissenschaftssystem. Die ordnende Wirkung beruht darauf, daß die Kriterien, anhand derer die Leistungsfähigkeit von Wissenschaftlern und ihren Forschungsprogrammen gemessen wird, die Wertschätzung anderer Anbieter widerspiegeln, entweder in Form von Kritik (im peer review) oder in Form der Weiterverwendung der Ergebnisse (durch Zitierungen). Insofern bestimmt die Gesamtheit der Anbieter über die gegenseitige Bewertung wissenschaftlicher Leistungen die Entwicklungsrichtung der Disziplin. Die daraus entstehende Dynamik läßt sich durchaus als eine Form von Selbstorganisation deuten. Allerdings ist diese Selbstorganisation auf die Entwicklung der einzelnen Disziplinen beschränkt. Sie ist außerdem abgekoppelt von der Bewertung durch die „Endnachfrager". Daher kann sie nicht verhindern, daß sich Disziplinen, obwohl intern kohärent, immer weiter von den gesellschaftlichen Erwartungen an ihre Forschung entfernen. Bleibt schließlich die Erkundungswirkung des wissenschaftlichen Wettbewerbs zu untersuchen. Neues Wissen zu schaffen ist eine zentrale Aufgabe - wenn nicht die
196 · Guido Bünstorf zentrale Aufgabe - wissenschaftlicher Forschung. Forschung, die nichts Neues hervorbringt, ist zu weiten Teilen überflüssig. Auch Hayek selbst hebt in seinem Vortrag die Hervorbringung neuer Erkenntnisse als Charakteristikum der Wissenschaft hervor. Zwar spricht er dabei - analog zu seiner Ausblendung der Erkundungswirkung des Wettbewerbs auf Güter- und Faktormärkten - nicht von „Wettbewerb", sondern stellt dem marktlichen Wettbewerb die nicht weiter spezifizierten „Entdeckungsverfahren der Wissenschaft" (Hayek 1968/1994, 250) gegenüber. Diese Entdeckungsverfahren enthalten jedoch wettbewerbliche Elemente, deren Wirkung der Erkundungswirkung des marktlichen Wettbewerbs entspricht. In welchem Ausmaß der Wettbewerb zwischen verschiedenen Forschern und Forschungsprogrammen Neuheit generiert, hängt von den institutionellen Rahmenbedingungen ab. Dabei deuten verschiedene Aspekte darauf hin, daß die Institutionen des Wissenschaftsbetriebs sich so entwickelt haben, daß die Erkundungswirkung gefördert wird - auch wenn diese Institutionen in der Praxis nicht immer so perfekt funktionieren, wie es die Theorie vermuten läßt. Zum einen ist Neuheit der zentrale Faktor für die Bewertung wissenschaftlicher Ergebnisse. Wer als erster ein bestimmtes Ergebnis vorweisen kann, dem gebührt die alleinige Reputation dafür. Indem sie der Neuheit und dem ersten Erreichen eines wissenschaftlichen Ziels große Bedeutung zumessen, schaffen die Institutionen der Wissenschaft einen starken Anreiz, Neuerungen hervorzubringen. Gleichzeitig wird ein Konkurrenzverhältnis zwischen den einzelnen Wissenschaftlern begründet. Zum anderen begünstigen die Kriterien, anhand derer wissenschaftliche Leistungsfähigkeit gemessen wird, die Erkundungswirkung des wissenschaftlichen Wettbewerbs. Die Norm der intersubjektiven Überprüfbarkeit verlangt die Offenlegung nicht nur der erzielten Ergebnisse, sondern auch der Methoden, mit deren Hilfe sie erreicht wurden. Dadurch wird das Wissen, das den Ergebnissen zu Grunde liegt, zumindest teilweise auch anderen Forschern zugänglich gemacht. Die Offenlegungsnorm der Wissenschaft fördert die Weiterverbreitung und -nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse, so daß die weitere Forschung auf dem bereits Erreichten aufbauen kann. Diese Form der Offenlegung von Ergebnissen steht im deutlichen Kontrast zum Wettbewerb auf Gütermärkten, wo der individuelle Anbieter versucht, sein Wissen weitgehend vor den Konkurrenten zu verstecken, und wo Institutionen wie das Patentrecht einen Schutz vor der Nachahmung durch andere gewährleisten. Man kann hier erkennen, wie Finanzierung und Erkundungswirkung voneinander abhängen: Die Offenlegungsnorm in der Wissenschaft setzt voraus, daß die Ergebnisse nicht direkt zur Finanzierung der weiteren Forschung verwendet werden müssen. Sind die Forschungsergebnisse erst einmal veröffentlicht, kann der Forscher über die Reputation hinaus keinen weiteren Nutzen aus ihnen ziehen. Wenn jedoch die Finanzierung der Wissenschaft den Forscher dazu zwingt, seine Ergebnisse auch ökonomisch zu verwerten, dann ist zugleich die Offenlegung der Ergebnisse in Frage gestellt.
Wettbewerb als Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungsverfahren • 197
V. Wettbewerb in der Politik Den demokratischen Prozeß als einen Wettbewerbsprozeß zu verstehen, ist nicht neu - schließlich bildet diese Sichtweise den Ausgangspunkt der ökonomischen Theorie der Politik. Dennoch ist es lohnend, die oben unterschiedenen drei Wirkungen des Wettbewerbs einmal für den politischen Wettbewerb durchzudenken und nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen dem Wettbewerb auf Gütermärkten und dem Wettbewerb auf politischen „Märkten" zu suchen. Auch für das Verständnis der Wettbewerbsprozesse in der Demokratie muß man sich zunächst die Besonderheiten von „Angebot" und „Nachfrage" in der Politik verdeutlichen. In den Kategorien der Ökonomik gedacht, begründet die Allgemeinverbindlichkeit der politischen Entscheidung eine Monopolstellung der Entscheidungsträger. Dabei zeichnet sich die repräsentative Demokratie gegenüber anderen Regierungsformen dadurch aus, daß die Monopolstellung für das Fällen politischer Entscheidungen und die Verwendung öffentlicher Mittel nur für einen begrenzten Zeitraum verliehen wird. Repräsentative Demokratie ist insofern einem Ausschreibungswettbewerb mit Vergabe zeitlich befristeter Lizenzen vergleichbar (Wohlgemuth 2000). Im Unterschied dazu wird in der direkten Demokratie (beziehungsweise bei plebiszitären Elementen innerhalb eines Systems der repräsentativen Demokratie) kein Monopol auf Zeit verliehen, sondern die Bürger selbst entscheiden fallweise über die alternativen politischen Angebote. Beide Formen der Demokratie haben jedoch gemeinsam, daß eine allgemeinverbindliche Entscheidung per Mehrheitsbeschluß herbeigeführt wird. Auch in der direkten Demokratie besteht daher ein (Gewalt-)Monopol für politische Entscheidungen. Es wird jedoch von ständig wechselnden Mehrheiten ausgeübt. Der demokratische Prozeß bezieht seine Rechtfertigung daraus, daß er die Zielvorstellungen der Wähler (und Wählerinnen) aufdeckt und ihnen Geltung verschafft. Allerdings unterscheidet sich die politische Wahlhandlung in wesentlichen Merkmalen von der Kaufentscheidung in einem Gütermarkt. Erstens ist die Wahl kostenlos, und das Gewicht der individuellen Stimmabgabe ist durch das demokratische Gleichheitspostulat vorgegeben. Im Wahlvorgang wird deshalb weder aufgedeckt, wie groß die Bedeutung einer bestimmten Entscheidung für einen individuellen Wähler ist, noch ist der Wähler gezwungen, die Stärke seiner individuellen Präferenz für ein bestimmtes Programm oder eine bestimmte Partei zu offenbaren. Die Wähler stehen nicht im Wettbewerb um ihren Einfluß. In repräsentativen Demokratien kommt zweitens hinzu, daß Wahlen nur in relativ langen Zeitabständen stattfinden und daß Wähler nur über ganze Pakete von politischen Konzepten, nicht aber über einzelne Projekte und Positionen abstimmen können. Die Aufdeckung der Wählerpräferenzen durch den politischen Prozeß ist demnach, vor allem in repräsentativen Demokratien, nur in sehr „grobkörniger" Form möglich. Auch bei der Aufdeckung der Leistungsfähigkeit verschiedener Anbieter tut sich der demokratische Wettbewerb schwer. Aufgrund des temporären Monopols wird in der repräsentativen Demokratie immer nur die Leistungsfähigkeit eines einzigen An-
198 · Guido Bünstorf bieters tatsächlich offenbart. Den übrigen Anbietern bleibt nur, die Wähler davon zu überzeugen, daß sie die anstehenden Probleme besser lösen könnten als der jeweilige Monopolist. Objektive Kriterien zur Überprüfung ihrer Leistungsfähigkeit bestehen kaum. Außerdem gibt es auch im politischen Wettbewerb ein Kartellproblem: Wo die Hürden für neue Anbieter hoch sind, können die bestehenden Anbieter häufig implizite oder gar explizite Wettbewerbsbeschränkungen in der Art durchsetzen, daß bestimmte Positionen nicht angeboten werden. Schließlich ist, wie in der Wissenschaft, das Funktionieren des politischen Wettbewerbs an die Akzeptanz bestimmter formaler und informeller Institutionen (wie etwa Meinungsfreiheit und tatsächliche Unabhängigkeit der Medien) gebunden. Die Bedeutung dieser Institutionen wird aus dem Versagen demokratischer Prozesse in der Geschichte, aber auch in vielen gegenwärtigen Demokratien deutlich. Eine Ordnungswirkung entfaltet der demokratische Wettbewerb dadurch, daß er die Handlungen der politischen Akteure in regelmäßigen Abständen mit den Präferenzen der Wähler abgleicht. Aufgrund der oben genannten Eigenschaften des Wahlprozesses ist aber die Koordination von Angebot und Nachfrage nach politischen Konzepten weit weniger präzise als die Koordination in Gütermärkten. Den Anbietern politischer Konzepte bleibt beträchtlicher diskretionärer Spielraum. Dieser Spielraum wächst mit der Länge der Wahlperiode und dem relativen Gewicht der repräsentativ gefällten Entscheidungen gegenüber den direkten. Darüber hinaus kann der politische Wettbewerb ein wesentliches Element des Marktprozesses nur in sehr eingeschränkter Form reproduzieren: die Möglichkeit, daß widersprüchliche Ziele der Individuen alle in die entstehende Ordnung einfließen. Der Berücksichtigung gegensätzlicher Ziele sind bereits durch die Allgemeinverbindlichkeit der politischen Entscheidung Grenzen gesetzt; sich gegenseitig ausschließende politische Positionen können nicht gleichzeitig realisiert werden. Zudem bestimmt in einer Demokratie die Mehrheit, und es ist häufig nicht in ihrem Interesse, die Präferenzen der Minderheit über das von den geltenden Verfassungsregeln erforderte Maß hinaus zu berücksichtigen. Allerdings kann es im praktisch politischen Prozeß durchaus opportun sein, Minderheitenpositionen bei der Entscheidung zu berücksichtigen, etwa wenn sich dadurch Möglichkeiten für einen Stimmentausch zwischen Akteuren mit unterschiedlichen politischen Schwerpunktsetzungen ergeben. Schließlich gilt es zu untersuchen, ob der politische Wettbewerb eine ähnliche Erkundungswirkung entfaltet wie der Wettbewerb auf Märkten und in der Wissenschaft. Wiederum ist hierfür die Art der politischen Entscheidung von zentraler Bedeutung. Das temporäre Monopol des politischen Anbieters bedeutet, daß auch nur die Konzepte des jeweiligen Monopolisten praktisch getestet werden. Konkurrierende Konzepte, etwa in Form von Gesetzentwürfen der Opposition, haben typischerweise nur geringe Chancen auf Realisierung und damit auf einen praktischen Test ihrer Brauchbarkeit. Das bedeutet, daß die Menge der praktisch getesteten politischen Konzepte klein ist und kein tatsächlicher Wettbewerb zwischen Konzepten stattfindet. Der Wettbewerb zwischen alternativen Politikentwürfen findet weitgehend auf
Wettbewerb als Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungsverfahren · 199 der diskursiven Ebene statt. Auf dieser Ebene läßt sich die Brauchbarkeit der konkurrierenden Konzepte häufig nicht überprüfen. Insgesamt zeigen die Überlegungen zum demokratischen Wettbewerbsprozeß, daß der Wettbewerb zwischen Politikern und Parteien innerhalb eines politischen Systems nur einen Teil der Wirkungen des Wettbewerbs auf Gütermärkten entfaltet. Nicht zuletzt deshalb hat die Diskussion des Wettbewerbs zwischen politischen Systemen und ihren Regelsystemen in den letzten Jahren große Bedeutung in der ökonomischen Debatte erlangt. Die Idee des institutionellen Wettbewerbs ist in Hayeks Theorie der kulturellen Evolution (Hayek 1967, 1988) bereits vorgedacht worden, auch wenn Hayek selbst den Begriff des Wettbewerbs in diesem Kontext nur selten verwendet. 4 Die Literatur zum institutionellen Wettbewerb ist umfangreich, und dem Konzept kann hier nicht Genüge getan werden. Ich will mich daher darauf beschränken, den institutionellen Wettbewerb schlaglichtartig auf die drei unterschiedenen Wettbewerbswirkungen hin zu untersuchen. Institutioneller Wettbewerb beruht darauf, daß mobile Produktionsfaktoren von einer Jurisdiktion in eine andere „abwandern", wenn die dort angebotenen politischen Konzepte besser ihren Präferenzen entsprechen. Dieser Weg der Bekundung politischer Präferenzen kann nur eine sehr grobe Aufdeckungswirkung entfalten. Individuen, aber auch die meisten Formen von Kapital sehen sich praktisch überall auf der Welt politischen, sozialen und technischen Mobilitätshemmnissen ausgesetzt, so daß ein Standortwechsel nur sporadisch und bei Erwartung großer Vorteile stattfinden wird. Die Aufdeckung der Präferenzen durch die Abwanderung von Produktionsfaktoren ist darüber hinaus verzerrt, weil sowohl Arbeitskräfte mit unterschiedlicher Qualifikation als auch verschiedene Formen von Kapital in sehr unterschiedlicher Weise mobil sind. Auf der Anbieterseite führt der institutionelle Wettbewerb dazu, daß Jurisdiktionen ihre Leistungsfähigkeit offenlegen müssen, wenn sie mobile Produktionsfaktoren anziehen wollen. Ebenso wie der Wettbewerb auf Gütermärkten entfaltet der institutionelle Wettbewerb eine disziplinierende Wirkung auf die politischen Akteure. Er schränkt den diskretionären Spielraum ein, der aus den Defiziten des demokratischen Wettbewerbs innerhalb von Jurisdiktionen entsteht. Zur Offenlegung ihrer Leistungsfähigkeit stehen den politischen Akteuren verschiedene Strategien zur Verfügung. Sie können sich sowohl allgemeingültiger politischer Maßnahmen bedienen als auch spezifischer Instrumente, die nur für die umworbenen Faktoren gelten. Im Extremfall kann der Wettbewerb der Jurisdiktionen in einen Subventionswettbewerb münden, in dem mobile Individuen und Firmen gegenüber eingesessenen Individuen und Firmen bevorzugt werden oder in dem sich einzelne Jurisdiktionen Vorteile zu Lasten ande4
Hayek spricht statt dessen von der „natürlichen Selektion" zwischen Gruppen. In der frühen Konzeption der Theorie der kulturellen Evolution ( H a y e k 1967) kommt der Begriff „Wettbewerb" gar nicht vor. In der späteren Darstellung bezieht sich Hayek zwar explizit auf Wettbewerb „as a procedure of discovery" (Hayek 1988, 19) als ein Element aller Evolutionsprozesse, das die effiziente Anpassung an veränderte Umstände erlaubt. Ein aktives, evolutorisches Verständnis d e s Wettbewerbs z w i s c h e n Gruppen (im obigen Sinne der Erkundungswirkung von Wettbewerb) läßt sich aus den wenigen und w e n i g klar formulierten B e z ü g e n zum Wettbewerb aber kaum herauslesen.
200 · Guido Bünstorf rer Jurisdiktionen verschaffen. Derartige Probleme legen auch für den institutionellen Wettbewerb die Bedeutung einer Wettbewerbsordnung nahe, in der die akzeptablen Mittel des Wettbewerbs festgelegt sind. Für einen wettbewerblichen Föderalismus innerhalb eines einzelnen Staates scheint eine solche Wettbewerbsordnung durchaus realistisch. Dagegen stellt sich auf der internationalen Ebene die Frage, mit welchen Mitteln eine Ordnung des institutionellen Wettbewerbs zwischen souveränen Staaten durchgesetzt werden kann. Soweit dies bei den gegebenen Einschränkungen durch Mobilitätshindernisse möglich ist, führt der Wettbewerb zwischen heterogenen Jurisdiktionen zu einer spontanen Ordnung, in der sich Individuen und Unternehmen gemäß ihren Präferenzen in die verschiedenen Jurisdiktionen sortieren. Hochtechnologiefirmen werden sich an anderen Standorten ansiedeln als Unternehmen, die primär auf billige Rohstoffe und Arbeitskräfte oder auf niedrige Emissionsstandards angewiesen sind. Ebenso präferieren hochqualifizierte Arbeitskräfte bestimmte Regionen und Nationalstaaten gegenüber anderen. Zugleich entsteht jedoch durch die unterschiedlichen Abwanderungsmöglichkeiten verschiedener Akteure, die auch unterschiedliche Einflußmöglichkeiten bedingen, ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen dem institutionellen Wettbewerb und dem Gleichheitspostulat demokratischer Systeme. Wie dieses Spannungsverhältnis aufgelöst werden kann, ist bislang nicht zufriedenstellend geklärt. Auf die Erkundungswirkung des politischen Wettbewerbs wirkt sich der institutionelle Wettbewerb positiv aus. Die Vielfalt verschiedener Jurisdiktionen ermöglicht es, trotz der politischen Gebietsmonopole verschiedene politische Konzepte gleichzeitig zu erkunden. Zugleich bildet der unterschiedliche Erfolg von Jurisdiktionen ein (wenn auch häufig nicht trennscharfes) Kriterium zur Bewertung politischer Maßnahmen und schafft so einen Anreiz zur Innovation. W i e die Anbieter auf Gütermärkten werden auch die weniger erfolgreichen politischen Akteure häufig mit eigenen Neuerungen oder mit der aktiven Imitation erfolgreicher Politik reagieren, anstatt die tatsächliche Abwanderung von Faktoren abzuwarten.
VI. Wettbewerb als allgemeines kulturelles Phänomen Zum Abschluß dieses Essays soll nun noch eine spezielle Art von Wettbewerbsprozessen erörtert werden, die abseits der Märkte stattfinden und die man im weiteren Sinne als ein kulturelles Phänomen betrachten kann: Wettbewerb in Gruppen innovativer Enthusiasten. Letztlich finden sich Wettbewerbselemente in den meisten menschlichen Interaktionen. Im Sport beispielsweise sind sie ganz offenkundig. Wettbewerb kann aber auch in verdeckterer Form stattfinden, etwa beim Ringen um Status innerhalb einer sozialen Gruppe. Der Wettbewerb in Gruppen innovativer Enthusiasten unterscheidet sich von anderen Formen des „kulturellen" Wettbewerbs dadurch, daß aus ihm technische Innovationen hervorgehen können. Und damit komme
Wettbewerb als Aufdeckungs-, Ordnungs-und Erkundungsverfahren · 201 ich auf das eingangs erwähnte Beispiel der kalifornischen Hippies und ihrer Erfindung des Mountainbikes zurück. Die Geschichte des Mountainbikes beginnt 1973, als eine Gruppe von Mitgliedern des Velo Club Tamalpais in Marin County damit anfängt, Abfahrtrennen auf den Forststraßen des Mount Tamalpais zu veranstalten. Ursprünglich benutzen sie für die Rennen robuste Vorkriegsräder mit Ballonreifen, wie sie zu dieser Zeit problemlos in Kellern und auf Schrottplätzen zu finden sind. Diese clunkers (in etwa: „Schrotthaufen") genannten Räder werden von ihren Nutzern sukzessive für die neue Nutzung modifiziert. Später beginnen die Rennteilnehmer, spezielle Rahmen und andere Einzelteile für ihre Fahrräder zu konstruieren. Auf diese Weise entwickeln sie das heutige Mountainbike mit allen seinen wesentlichen Bestandteilen. Kommerzielle Interessen kommen erst ins Spiel, nachdem das Produkt Mountainbike im wesentlichen fertig entwickelt worden ist. Zunächst werden handgefertigte Mountainbikes in kleinen Stückzahlen und zu hohen Preisen hergestellt. Etwa ab 1982 beginnt die industrielle Massenfertigung von Mountainbikes. Diese werden bald zu einem weltweiten ökonomischen Erfolg mit signifikanten Effekten auf die Fahrradindustrie selbst, aber auch auf die breitere Tourismus- und Freizeitindustrie. Die Hippies von Marin County waren nicht die ersten, die alte Fahrräder umbauten, um damit abseits der Straßen zu fahren. Die kalifornische Gruppe unterschied sich jedoch in einigen zentralen Aspekten von anderen Vorläufern der heutigen Mountainbiker. Erstens waren Gelände-Fahrräder zuvor meist von Einzelgängern ausgetüftelt worden. Die Gruppe in Marin County war dagegen relativ groß, und sie entstand aus einer homogenen Subkultur heraus. Zweitens waren die Mitglieder, ihrem alternativen Hintergrund zum Trotz, wettkampforientiert. Mehrere von ihnen hatten eine ernsthafte, teilweise internationale, Radsportvergangenheit. Von Anfang an veranstaltete die Gruppe Rennen und nahm sie ernst genug, um die Ergebnisse zu dokumentieren. Durch die Rennen wurde eine wettbewerbliche Einstellung unter den Mitgliedern gefördert; zum Nervenkitzel der rasanten Abfahrt trat der Anreiz zur ständigen Verbesserung der Fahrräder und der eigenen Leistung hinzu. Diese wettbewerbliche Einstellung stand im krassen Gegensatz zu anderen Gruppen mit ähnlichem Hintergrund, die zur gleichen Zeit Gelände-Fahrräder bauten und benutzten. Über ihre Wirkung auf die Einstellung in der Gruppe hinaus hatten die Rennen drittens einen direkten positiven Effekt auf die Verbreitung von Neuerungen. Bei Rennen kamen die Gruppenmitglieder zusammen, und auch externe Teilnehmer wurden angelockt. Dadurch entstanden Gelegenheiten, die technischen Neuerungen anderer Rennteilnehmer zu begutachten und zu imitieren. Beispielsweise begannen die Rennfahrer aus Marin County, Gangschaltungen an ihre Räder zu montieren, nachdem sie bei einem Rennen Gangschaltungen bei konkurrierenden Fahrern entdeckt hatten. Eine wesentliche Voraussetzung für die Förderung von technischen Neuerungen durch die Renn Veranstaltungen war dabei, daß die Regularien der Rennen alle beliebigen Veränderungen erlaubten. Die einzige technische Vorschrift bestand darin, daß der Fahrer ohne fremde Hilfe das Ziel erreichen mußte. Dadurch wurde dem Wett5
Für eine ausführlichere Diskussion vgl. Bünstorf
( 2 0 0 2 ) und die dort zitierte Literatur.
202 · Guido Bünstorf bewerb mittels Innovationen ein großer Spielraum gelassen. Und schließlich zeichnete sich die Gruppe in Marin County auch dadurch aus, daß einige Gruppenmitglieder genügend technische Kompetenz besaßen, um vom Umbau von Vorkriegsfahrrädern zur Konstruktion spezieller Mountainbikes überzugehen. Damit vollzogen sie den entscheidenden Schritt von der neuartigen Nutzung eines bestehenden Produkts hin zu einem auch technisch neuen Produkt. Die Entwicklung des Mountainbikes durch eine Gruppe von Enthusiasten, die zunächst keine kommerziellen Interessen verfolgten, ist kein skurriler Einzelfall. Auch die ersten Personalcomputer wurden von Hobbybastlern für ihr eigenes Amüsement produziert (Langlois 1992). Eine ähnliche Rolle spielten Enthusiasten bei der Entwicklung von tragbaren Radios ( S c h i f f e r 1993) und von Computerspielen ( J e p p e s e n 2001). Als ein weiteres aktuelles Beispiel für den Beitrag, den nicht-monetär motivierte Nutzer zu Innovationsprozessen leisten, drängt sich das Computer-Betriebssystem Linux auf, dessen Entwicklung bis heute auf nicht-kommerziellem W e g e vorangetrieben wird ( M c K e l v e y 2001). W i e läßt sich nun die Entstehung des Mountainbikes, oder allgemeiner die Rolle des Wettbewerbs zwischen enthusiastischen Nutzern um die Entwicklung immer besserer Produkte, in den oben unterschiedenen Kategorien von Wettbewerbswirkungen erfassen? Zunächst kann man in diesen Fällen nicht zwischen Angebot und Nachfrage unterscheiden. Das Fehlen eines wirtschaftlich motivierten Wettbewerbs ist gerade dadurch begründet, daß die Enthusiasten Produkte für das eigene Vergnügen entwickeln und daher eine nicht-monetäre Motivation mitbringen. Damit ist auch klar, daß der Wettbewerb keine Ordnungswirkung wie auf Gütermärkten zeitigen kann. Ähnlich wie in der öffentlich finanzierten Wissenschaft entsteht eine Ordnung nur insofern, als die Gruppe anhand der Festlegung von Leistungs- und Erfolgskriterien selbstorganisiert die weitere Entwicklungsrichtung bestimmt. Der Wettbewerb unter den Gruppenmitgliedern spielt aber eine zentrale Rolle für die Aufdeckung ihrer individuellen Leistungsfähigkeit. Dabei sind die Institutionen der Gruppe von großer Bedeutung. In allen genannten Fällen förderten die jeweiligen Institutionen die Aufdeckung des Erreichten. Bei der Entstehung des Mountainbikes erfolgte die Offenlegung über die Rennteilnahme. Bei den Computerspielen wird die Offenlegung durch Internet-Diskussionsforen unterstützt, bei denen ein Moderator die Diskussionsbeiträge der Teilnehmer nach Menge und Qualität bewertet. Und in der community der Linux-Entwickler stellt die Offenlegung der eigenen Veränderungen, so daß sie für alle anderen Nutzer zugänglich sind, die zentrale Norm dar. Die Erkundungswirkung des Wettbewerbs ist wesentlich für die Entstehung von Innovationen in den Nutzergruppen. Wiederum lassen sich Indizien für die Rolle der Gruppennormen finden. Beispielsweise waren die Regularien der frühen Mountainbike-Rennen innovationsfördernd, weil sie Experimentierfreude zuließen. In der Gruppe der Linux-Entwickler ist das individuelle Ansehen eng mit der Menge und Qualität der eigenen Programmierungen verknüpft. Fälle wie das Mountainbike oder Linux verdeutlichen, daß das kulturelle Phänomen Wettbewerb nicht gleichbedeutend sein muß mit Wettbewerb um finanziellen
Wettbewerb als Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungsverfahren · 203 Erfolg. Sogar das Gegenteil kann der Fall sein: Die Dynamik von Linux scheint weitgehend darauf zu basieren, daß die kommerzielle Nutzung der eigenen Leistungen verpönt ist und daß sich die Gruppe im dauernden Kampf gegen einen verhaßten kommerziellen Gegenspieler ( M i c r o s o f t ) sieht. Darüber hinaus zeigen sich in mancherlei Hinsicht, wie etwa bei der zentralen Rolle von Neuheit, der Bedeutung nichtmonetärer Belohnungen durch die Gruppe und dem Beitrag der Institutionen zur Offenlegung der erreichten Leistungen, erstaunliche Parallelen zwischen dem Wettbewerb in innovativen Nutzergruppen und dem wissenschaftlichen Wettbewerb. Daraus kann man eine Schlußfolgerung ableiten, die durchaus auch politische Implikationen hat: Eine wettbewerbliche Einstellung muß nicht auf monetären Anreizen beruhen, sie kann auch durch andere als finanzielle Motivation hervorgerufen werden. Die informellen Institutionen in Gruppen können zumindest zeitweise die monetären Anreize des Marktes ersetzen. Unter welchen konkreten Bedingungen dies möglich ist, darüber ist allerdings wenig bekannt.
VII. Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren - ein generalisierbares Konzept? Die Diskussion des Wettbewerbs in Wissenschaft, Politik und in den innovativen Nutzergruppen verdeutlicht: Wettbewerb ist ein allgemeines Verfahren zur Aufdekkung von Tatsachen, die ohne ihn unbekannt und/oder ungenutzt blieben - aber auch ein Verfahren zur Schaffung neuer Tatsachen, die es ohne ihn überhaupt nicht gäbe. Die Diskussion zeigt zudem, daß es häufig gerade die Erkundungswirkung des Wettbewerbs ist, die seine Bedeutung abseits der Güter- und Faktormärkte ausmacht. Damit ergibt sich ein paradoxes Ergebnis. Der von Hayek in „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" ausgeblendete Aspekt der Erkundungswirkung erweist sich als ein wichtiges Element für die Verallgemeinerung des Wettbewerbskonzepts über den Markt hinaus. Darf man den Wettbewerb in anderen gesellschaftlichen Bereichen dennoch als „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" bezeichnen, wie das häufig getan wird? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Vielleicht hätte Hayek selbst nichts dagegen. Zumindest scheint eine solche Verwendung des Konzeptes grundsätzlich vereinbar mit der allgemeinen Ausrichtung seiner Schriften. Zwei Argumente sprechen aber gegen die breite Interpretation des „Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren". Erstens steht diese Auslegung seines Konzepts im Widerspruch zu Hayeks eigener Begrifflichkeit. Wie weiter oben bereits angemerkt wurde, vermeidet Hayek selbst den Begriff Wettbewerb bei der Beschreibung der Erkundungsmechanismen in der Wissenschaft, und auch im Kontext seiner Theorie der kulturellen Evolution spricht er kaum von Wettbewerb. Zweitens, und dieser Punkt scheint mir von größerer Bedeutung, verliert die breite Auslegung des „Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren", insbesondere wenn sie die innovationsfördernde Wirkung des Wettbewerbs hervorhebt, Hayeks eigene Anliegen aus dem Sinn, die er in dem gleichnamigen Vortrag
204 · Guido Bünstorf verfolgt: die Betonung der Wichtigkeit des dezentralen Wissens für den Marktprozeß, die Kritik an der mathematischen Ökonomik und die Auseinandersetzung mit der Zentralverwaltungswirtschaft. Zwar ist die Zentralverwaltungswirtschaft mittlerweile Geschichte. Das allein rechtfertigt aber noch nicht die Umdeutung der
Hayek-
schen Argumentation.
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Wettbewerb als Aufdeckungs-, Ordnungs- und Erkundungsverfahren · 205 Wohlgemuth, Michael (2000), Democracy as an Evolutionary Method, Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen, Papers on Economics and Evolution, Nr. 0006.
Zusammenfassung Der Beitrag untersucht, ob Hayeks
Konzept des „Wettbewerbs als Entdeckungs-
verfahren" über den wettbewerblichen Marktprozeß hinaus auf den W e t t b e w e r b in anderen gesellschaftlichen Bereichen übertragbar ist. D a z u wird zunächst zwischen drei verschiedenen Wirkungen des W e t t b e w e r b s unterschieden. Es wird gezeigt, daß Hayek
in „Der W e t t b e w e r b als Entdeckungsverfahren" die A u f d e c k u n g s - und die
O r d n u n g s w i r k u n g des W e t t b e w e r b s betont, während er die E r k u n d u n g s w i r k u n g des W e t t b e w e r b s ausblendet. A n h a n d der verschiedenen W i r k u n g e n des W e t t b e w e r b s wird dann herausgearbeitet, wie sich Wettbewerbsprozesse in der W i s s e n s c h a f t , in der Politik und in innovativen Nutzergruppen vom marktlichen W e t t b e w e r b unterscheiden. Die identifizierten Unterschiede zwischen den von Hayek
betonten Wett-
bewerbswirkungen und den tatsächlichen Wirkungen des W e t t b e w e r b s außerhalb der Güter- und Faktormärkte sprechen gegen eine Übertragung des „ W e t t b e w e r b s als E n t d e c k u n g s v e r f a h r e n " auf andere gesellschaftliche Bereiche.
Summary On Competition as a Procedure of Disclosure, Ordering, and Exploration The article investigates whether Hayek's
concept of „competition as a discovery
procedure" can be generalized to apply not only to the competitive market process, but also to competition in other social spheres. T o this purpose, three distinct effects of competition are distinguished. It is shown that Hayek,
in his „Competition as a
Discovery Procedure", emphasizes the disclosure effect and the ordering effect of competition, while he abstracts f r o m the exploration effect of competition. On the basis of these different effects of competition, it is highlighted h o w competitive processes in science, in politics and in innovative user groups differ f r o m competition in markets. Given the differences between the effects of competition stressed by Hayek
and the actual effects of competition outside the markets for goods and pro-
ductive factors, the generalization of his „competition as a discovery principle" appears problematic.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2002) Bd. 53
Roland
Vaubel
„Das Wunder der europäischen Musik" und der Wettbewerb1 „Genius is fostered by emulation, and it is now envy, now admiration which enkindles imitation, and, in the nature of things, that which is cultivated with the highest zeal advances to the highest perfection", Velleius Paterculus,
30 n.Chr.2
I. Einführung Der Astronom Johannes Kepler schreibt 1619 in seinem Buch „De Harmonice Mundi": „Es gibt kein Wunder, das größer ist und erhabener als jene Gesetze, nach denen man (jetzt) mit mehreren Stimmen in Harmonien singt - Gesetze, die der Antike unbekannt waren, die aber nun endlich entdeckt wurden". 3 Kepler meinte die Polyphonie der Renaissance-Musik, deren Höhepunkt wohl das Werk des 1594 verstorbenen Palestrina war. Kepler konnte nicht ahnen, welchen Aufschwung die europäische Musik noch im Barock, der Klassik und der Romantik nehmen würde. In keinem anderen Teil der Welt - auch nicht in Hochkulturen wie China, Indien oder dem osmanischen Reich, die noch im ausgehenden Mittelalter auf einem ähnlichen kulturellen Entwicklungsniveau gewesen waren - ist eine Musik entstanden, die der europäischen vergleichbar wäre. Der Siegeszug der europäischen Musik in Ländern wie Japan oder Süd-Korea zeigt, daß man auch außerhalb des westlichen Kulturkreises so denkt. Wie ist es zu erklären, daß dieses „Wunder" gerade in Europa geschah? In seinem berühmten Buch „The European Miracle" (1981) hat der Wirtschaftshistoriker Eric Jones die These aufgestellt, daß die Aufklärung, die moderne Wissenschaft und Technik und schließlich die industrielle Revolution in Europa entstanden, weil sich dort - anders als im chinesischen Kaiserreich, unter den indischen Großmoguln oder im osmanischen Sultanat - ein intensiver Wettbewerb zwischen den
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Der Verfasser dankt Rudolf Adam, Herrmann Albeck, Peter Bernholz, Bruno S. Frey, Heinrich Nachtkamp, Rüdiger Soltwedel, Manfred E. Streit, Oliver Volkart und Ekkart Zimmermann, vor allem aber den Kollegen Musikhistorikern Jürgen Hunkemöller und Klaus Schweizer für hilfreiche Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Aufsatzes. Zitiert nach Kroeber (1944, 34). Kepler (1619, 212), zitiert in der Übersetzung von Karl Popper (1984, 265).
208 · Roland Vaubel Fürsten entfaltete. 4 Im kleinräumigen Europa konnten die Herrscher ihre Untertanen - vor allem die mobilen wirtschaftlichen und intellektuellen Eliten (Kaufleute, Juden, Protestanten und andere Minderheiten) - nicht beliebig ausbeuten und unterdrücken, denn es war möglich und nicht sehr schwierig, in andere Fürstentümer oder Länder auszuwandern. Je kleiner die Staaten waren, j e mehr Staaten es - vielleicht sogar innerhalb desselben Sprachgebiets - gab, desto geringer waren die Ausweichkosten. Diese Erklärung läßt sich schon bei Immanuel Kant finden. In seinem geschichtsphilosophischen Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" schreibt Kant 1784: „Jetzt sind die Staaten schon in einem so künstlichen Verhältnisse gegeneinander, daß keiner in der inneren Kultur nachlassen kann, ohne gegen die anderen an Macht und Einfluß zu verlieren ... Bürgerliche Freiheit kann jetzt auch nicht sehr wohl angetastet werden, ohne den Nachteil davon in allen Gewerben, vornehmlich dem Handel, dadurch aber auch die Abnahme der Kräfte des Staates im äußeren Verhältnisse zu fühlen ... So entspringt allmählich ... Aufklärung, als ein großes Gut, welches das menschliche Geschlecht sogar von der selbstsüchtigen Vergrößerungsabsicht seiner Beherrscher ziehen muß, wenn sie nur ihren eigenen Vorteil verstehen" (1959, 58 f.). Kant erwähnt zwar die „innere Kultur", aber es geht ihm vor allem um die Freiheit von Wissenschaft und Wirtschaft. Sucht man die Anwendung auf Kunst und Musik, so muß man einige Jahrzehnte zurückgehen - zu David Hume, der Kant immer wieder - vermutlich auch in diesem Fall - inspiriert hat. Hume schreibt in seinem Essay „On the Rise and Progress of the Arts and Sciences" (1742): „It is impossible for the arts and sciences to arise, at first, among any people unless that people enjoy the blessing of a free government ... Where a number of neighbouring states have great intercourse of arts and commerce, their mutual jealousy keeps them from receiving too lightly the law from each other, in matters of taste and reasoning, and makes them examine every work of art with the greatest care and accuracy" (1985, S. I l l , 120). Schon Hume sieht also das Erfolgsgeheimnis in der Rivalität der Staaten und der Freiheit, die sie gewähren 5 , aber - anders als später Kant - scheint er nicht zu erkennen, daß die Freiheit eine Folge dieser Rivalität ist, und er führt das Gedeihen der Künste daher auch nicht auf die freiheitsfördernden Wirkungen des Staatenwettbewerbs zurück, sondern auf die Vielfalt und die Vergleichsmöglichkeiten, die der Staatenwettbewerb bietet. Es geht ihm - in der Terminologie von Albert Hirschman (1970) - nicht um „exit", sondern um „voice", den kritischen Vergleich.
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Die These von Jones wurde anschließend in einer Vielzahl wirtschaftshistorischer Untersuchungen aufgegriffen. Einen Literaturüberblick bieten Bernholz, Streit, Vaubei (1998, 3-12). Eine spätere Veröffentlichung ist Weede (2002). Was den Fortschritt der Wissenschaft angeht, vergleicht Hume die Zentralisierung Chinas mit der Fragmentierung Europas und vor allem des klassischen Griechenlands (1985, 122 f.). Die Bedeutung des Wettbewerbsgedankens (Agon) im antiken Griechenland betont besonders Jakob Burckhardt in seiner „Griechischen Kulturgeschichte" (1898-1902).
Musik und Wettbewerb · 209 Ob die Kreativität einer Epoche positiv von der Anzahl der Staaten abhängt, die in einem Kulturkreis miteinander konkurrieren, haben die amerikanischen Sozialpsychologen Naroll, Benjamin, Fohl, Fried, Hildreth, Schaefer (1971) und Simonton (1975) empirisch untersucht. Naroll et al. betrachten vier verschiedene Weltkulturen (China, Indien, Islam und Europa) im Zeitraum von 500 v.Chr. bis 1899. Die zu erklärende Variable ist die Zahl der großen Wissenschaftler und Künstler, die für jedes Jahrhundert und jeden Kulturkreis in dem Standardwerk von Kroeber (1944) aufgeführt werden. Als erklärende Variablen werden neben der politischen Fragmentierung Kontrollvariablen wie das Vermögen, die geografische Ausdehnung des Kulturkreises, die Zentralisierung der politischen Kontrolle innerhalb der Staaten und die Kriegshäufigkeit für den größten Staat verwendet. Ergebnis der kombinierten Rangkorrelationsanalyse ist, daß nur die politische Fragmentierung einen signifikanten und zwar positiven - Effekt auf die Zahl der herausragenden schöpferischen Individuen ausübt. Simonton (1975) unternimmt „nur" eine reine Zeitreihenanalyse der westlichen Zivilisation von 700 v.Chr. bis 1839, unterscheidet dabei aber nicht Jahrhunderte, sondern Zeiträume von jeweils zwanzig Jahren. Wiederum erweist sich, daß die Zahl der großen schöpferischen Individuen am robustesten und signifikant durch die politische Fragmentierung erklärt wird und daß die Verzögerung in der Regel eine Periode - also zwanzig Jahre - beträgt. Eine signifikant negative Wirkung hat demgegenüber die politische Instabilität der Vorperiode. Ohne Verzögerungen ist die ideologische Vielfalt eine bessere Erklärung als die politische Fragmentierung, aber die ideologische Vielfalt hängt ihrerseits signifikant von der politischen Fragmentierung der Vorperiode ab (Simonton 1976). Ein politischer Zentralisierungsschub führt also erst zwanzig Jahre später zu einem Rückgang der Vielfalt und der Kreativität. Entscheidend für die schöpferischen Fähigkeiten eines Menschen sind die politischkulturellen Freiräume in seiner Entwicklungsphase, nicht die politische Fragmentierung und kulturelle Vielfalt in seiner Hauptschaffensphase. Diese Hypothese soll auch im folgenden speziell für den Bereich der Musik überprüft werden.
II. Politische Fragmentierung und die Entwicklung der Musik Die europäische Instrumental- und Konzertmusik erzielte ihren Durchbruch im 17. Jahrhundert - zur Zeit des Barock. Die wichtigsten Förderer der Musik waren die miteinander konkurrierenden Fürstenhöfe und Kirchen. Diese Förderung war wichtig, denn zur Zeit des Barock gab es noch keinen wirksamen musikalischen Urheberschutz (Cowen 1998, 132, 140). Die Kompositionen wurden in der Regel nicht gedruckt, sondern abgeschrieben, und sobald das Werk eines Komponisten von anderen aufgeführt wurde, stand es zumindest potentiell der Allgemeinheit zu sehr geringen Kosten zur Verfügung - es wurde zu einem „öffentlichen Gut". Das Werk eines Malers oder Bildhauers dagegen war schon damals ein privates Gut - der Ausschluß anderer war ohne weiteres möglich. Deshalb gab es - ganz unabhängig von der Förde-
210 · Roland Vaubel rung durch fürstliche oder kirchliche Mäzene - schon sehr früh einen florierenden Markt für die bildenden Künste (Cowen, 1998, 132). Es fällt auf, daß die größten Komponisten der Barockzeit aus den beiden Ländern hervorgingen, die die größte Zahl an unabhängigen Fürstentümern und die größte Vielfalt der politischen und kulturellen Bedingungen aufwiesen: Italien und Deutschland 6 . In Deutschland existierten nach dem Dreißigjährigen Krieg etwa 300 verschiedene Fürstentümer, und allein in Thüringen gab es zur Bach-Zeit 22 eigenständige Fürstenhöfe. Frankreich und England dagegen - beide hoch zentralisierte Staatswesen und Musterbeispiele einer zentralistischen Kunstpflege 7 - konnten in der Entwicklung nicht mithalten. Die politische Fragmentierung begünstigte die Entwicklung der Musik auf vielfältige Weise. Zum ersten entstand ein reger Wettbewerb unter den Fürsten, den Musiknachfragern, der die pekuniäre Verhandlungsposition und das Sozialprestige der Musikanbieter verbesserte. Das ist der statische Wettbewerbsaspekt. Zweitens erweiterte die politische Fragmentierung die Freiräume für Innovation. Das ist das Kantsche Argument. Während Palestrina noch mit den Vorbehalten kämpfen mußte, die die katholische Kirche - der allmächtige Nachfrager kirchenmusikalischer Kompositionen in Italien - gegenüber der zunehmend polyphonen Chormusik hatte, weil die Verständlichkeit der liturgischen Texte darunter litt, waren die Fürsten des Barock für neue Stilentwicklungen völlig offen. Man suchte sogar die Innovation, um sich damit profilieren zu können. Das ist ein dynamischer Wettbewerbsaspekt. Drittens wirkte die Vielfalt der Experimente als Entdeckungsmechanismus im Sinne Hayeks (1968/69). Auch dies ist ein dynamischer Wettbewerbsaspekt. Viertens schuf die Vielfalt mehr Spielraum für kritische Vergleiche {Hume). Auch diese dienten vor allem dem dynamischen Wettbewerb. Fünftens hatte die große Zahl der Fürstenhöfe in Norditalien und Deutschland wahrscheinlich eine höhere Gesamtnachfrage nach musikalischen Kompositionen zur Folge (Baumol und Baumol 1994). Jedenfalls bot eine Anstellung bei Hof dem Musiker und Komponisten einen höheren Lebensstandard und ein größeres Sozialprestige als die Enge des kirchlichen und bürgerlichen Musizierens. Sechstens erhöhte die politische Fragmentierung die Nachfrage nach Musik, weil sich die Freiheit der Bürger positiv auf die Wirtschaftsleistung und das Steueraufkommen auswirkte, so daß auch die Zahlungsfähigkeit der Herrscher zunahm. 8 Im Folgenden soll versucht werden, den ersten und zweiten Transmissionsmechanismus empirisch zu überprüfen.
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Auf diesen Zusammenhang haben schon Chant (1994, 126), Cowen (1998, 133), für die Zeit Mozarts Baumol und Baumol (1994) und für das 19. Jahrhundert Preussner (1954) hingewiesen. Vgl. Nestler (1962, 240), Cowen (1998, 133, 135). Die Finanzkraft der Fürsten betonen auch Baumol und Baumol (1994). Sie führen sie aber nicht auf politische Fragmentierung zurück.
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III. Der Wettbewerb in der Musik zur Zeit des Barock: Ein internationaler Vergleich Um den Wettbewerbsgrad auf der Nachfrageseite messen zu können, müßte man wissen, wie leicht damals ein Komponist, der mit seinem fürstlichen Arbeitgeber nicht mehr zufrieden war, eine andere Stelle finden konnte. Dabei geht es eigentlich um den „potentiellen Wettbewerb", also die Möglichkeit der Abwanderung. Meßbar ist jedoch nicht die Möglichkeit, sondern nur die tatsächliche Häufigkeit der Abwanderung. Sie muß im folgenden als Proxy dienen. Die Stichprobe ist auf die bekanntesten Komponisten der Barockzeit in den vier Ländern Italien, Deutschland, Frankreich und England beschränkt. Da es um den Wettbewerb der Herrscher geht, sind diejenigen Komponisten, die nie an einem Fürstenhof beschäftigt waren, in der Stichprobe nicht zu berücksichtigen. Dazu gehören in Italien Albinoni, Corelli, Gesualdo, Legrenzi, Locatelli, Marcello und Tortini, in Deutschland Buxtehude, Haßler und Prätorius und in Frankreich Charpentier. Eine weitere Komplikation ist die Tatsache, daß die Komponisten natürlich nicht alle gleich alt wurden, die Zahl der Stellenwechsel aber von der Dauer des Arbeitslebens abhängen dürfte. Wer wie Pergolesi mit 26 Jahren oder wie Purcell mit 36 Jahren starb, hatte weniger Gelegenheit, den Arbeitgeber zu wechseln, als Komponisten wie Schütz und Telemann, die das 87. bzw. 86. Lebensjahr erreichten. Die Zahl der Anstellungen soll deshalb in Relation zur Länge des unselbständigen Arbeitslebens gesetzt werden: Gemessen wird die durchschnittliche Verweildauer (in Jahren) pro Anstellung. Dabei gilt ein Stellenwechsel (Aufstieg) bei demselben Arbeitgeber nicht als zusätzliche Anstellung. Wenn ein Komponist jedoch nach dem Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber später wieder zu seinem ursprünglichen Arbeitgeber zurückkehrt, so wird die Neueinstellung einheitlich als zusätzliche Anstellung gewertet. Als Quelle dienen die 17 Bände der Reihe „Die Musik in Geschichte und Gegenwart" (Blume, 1989) und die fünf Bände der Reihe „Die Komponisten" aus der Propyläen „Welt der Musik" (Baumgartner 1989). Leider ist nicht immer ganz klar, ob es sich um Arbeitsverträge oder eine Serie von Werkverträgen mit demselben Auftraggeber handelt. Beginnen wir mit Italien. Der Höhepunkt der italienischen Barockmusik dürfte das Werk von Vivaldi sein, aber wir benötigen eine wesentlich größere Stichprobe, um den Wettbewerb der Nachfrager um einen Komponisten wie Vivaldi abschätzen zu können. Deshalb werden in Tabelle 1 die zehn bekanntesten und wohl auch wichtigsten Komponisten, die zeitweise im Dienste von Fürsten standen, in chronologischer Reihenfolge ihrer Geburtsdaten aufgeführt. Die durchschnittliche Verweildauer pro Stelle beträgt 10,9 Jahre. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse in Deutschland (Tabelle 2): für die fünf Komponisten Schütz, Pachelbel9, Telemann, Händel, J.S. Bach ergibt sich eine 9
Mit Pachelbel wird nur ein Komponist der zweiten Reihe berücksichtigt, da die anderen - wie erwähnt - nie im Dienst eines weltlichen Fürsten standen. Ohne Pachelbel beläuft sich die durchschnittliche Verweildauer auf 10,0.
212 · Roland Vaubel durchschnittliche Verweildauer von 9,1 Jahren. Daß sich die konkurrierenden Fürsten oft heftig um die Musiker stritten, zeigen in Deutschland vor allem die Beispiele Schütz und Bach. Als der Kurfürst von Sachsen Schütz 1616 als Hofkapellmeister nach Dresden holen wollte, entbrannte ein erbitterter Streit mit dessen bisherigem Arbeitgeber, dem Kasseler Landgrafen Moritz von Hessen, der aber schließlich nachgeben mußte. Und J.S. Bach, der seit 1714 Konzertmeister beim Herzog von Weimar gewesen, dann aber bei der Beförderung zum Kapellmeister übergangen worden war, kam 1717 für vier Wochen ins Gefängnis, weil er es gewagt hatte, seine Entlassung zu fordern, um Kapellmeister am Hof des Fürsten von Anhalt in Cöthen zu werden. Nun zum Vergleich Frankreich und Großbritannien. In Frankreich gab es - neben dem Kirchenmusiker Charpentier - nur drei bekannte Barockkomponisten. Alle standen zum Schluß im Dienst des Königs: Lully, Couperin und Rameau. Die durchschnittliche Verweildauer pro Stelle betrug 17,8 Jahre (Tabelle 3). England hat nur einen bekannten Barockkomponisten hervorgebracht: Henry Purcell. Deshalb werden außerdem die beiden bekanntesten englischen Madrigalisten des beginnenden 17. Jahrhunderts, William Byrd und Orlando Gibbons mit in die Stichprobe aufgenommen. Es ergibt sich eine durchschnittliche Verweildauer pro Stelle von 19,7 Jahren. Faßt man auf der einen Seite die italienischen und die deutschen Komponisten, auf der anderen die französischen und englischen zusammen, so beträgt die durchschnittliche Verweildauer für die dezentralisierten Länder 10,3 Jahre und für die zentralisierten Länder 18,7 Jahre. Der Unterschied zwischen diesen beiden Mittelwerten ist unter den üblichen Annahmen und unter Berücksichtigung der Standardabweichungen statistisch signifikant auf dem 5-Prozent-Niveau 10 . Zwischen dem 15. und dem 35. Lebensjahr ist die Verweildauer pro Anstellung in allen vier Ländern niedriger als über das gesamte Arbeitsleben". Wie andere Menschen auch sind die Musiker in jungen Jahren besonders mobil. Auch für diese Lebensphase gilt, daß die Verweildauer pro Anstellung in Italien und Deutschland (zusammen 5,0) signifikant kürzer als in Frankreich und England (zusammen 8,7) ist diesmal sogar auf dem 1-Prozent-Niveau. Die Relation zwischen den beiden Länderpaaren ist jedoch zwischen 15 und 35 Jahren ( 1,7) nicht größer als über das gesamte Arbeitsleben (1,8). Simontons Ergebnis, daß die Kreativität eines Menschen vor allem von der politischen Fragmentierung während der ersten zwanzig Jahre seiner beruflichen Entwicklung abhängt, wird daher für die Komponisten des Barock nicht bestätigt.
10 Der Test auf Gleichheit der Mittelwerte bei unabhängigen Stichproben wird zum Beispiel von Bortz (1993, 132 ff.) beschrieben. Die Unterschiede sind auch signifikant, wenn man nur Länderpaare (Deutschland versus Frankreich oder England, Italien versus Frankreich oder England) vergleicht. Der Unterschied zwischen Italien und Frankreich oder England ist sogar auf dem 1Prozent-Niveau signifikant, da die Stichprobe der italienischen Komponisten vergleichsweise groß ist. 11 Die Verweildauer pro Anstellung zwischen 15 und 35 Jahren wird nur für die Jahre berechnet, für die tatsächlich ein Arbeitgeber nachgewiesen werden kann.
Musik und Wettbewerb · 213 Zum Wettbewerb gehört untrennbar die Nachahmung der Erfolgreichen. Der Wettbewerb kommt sogar früher oder später auch denen zugute, die gar nicht daran beteiligt waren, denn die neuen Produkte und Fertigkeiten, die er hervorbringt, können schließlich von allen genutzt werden. So war es auch mit der Barockmusik. Die deutschen, französischen und englischen Komponisten lernten von den Italienern, aber auch von der deutschen Musik gingen positive externe Wirkungen aus. Zum Beispiel „exportierte" Deutschland 1714 Georg Friedrich Händel nach England, genauso wie Frankreich 1646 Jean-Baptiste Lully (ursprünglich Lulli) aus Italien „importiert" hatte. Der Wettbewerb der Fürsten war außerdem Ansporn für die Hersteller der Musikinstrumente. Man denke an die berühmten italienischen Geigenbauer (z.B. Stradivari) oder die berühmten deutschen Orgelbauer (z.B. Silbermann). Die Werke der Komponisten wurden nicht nur von den Fürsten, sondern auch von den Kirchen nachgefragt. Seit der Reformation gab es einen regen Wettbewerb zwischen den Konfessionen. Am schärfsten war er in Deutschland und am schwächsten in Italien. Das könnte erklären, weshalb die Verweildauer pro Anstellung in Deutschland noch kürzer als in Italien war. Aber die Tatsache, daß der italienische Durchschnitt viel näher am deutschen als am französischen oder englischen liegt, zeigt, daß der Wettbewerb zwischen den Kirchen für die Entwicklung der europäischen Musik nicht so wichtig gewesen sein kann wie der Wettbewerb zwischen den Herrschern. Der Wettstreit der Konfessionen hat sich in mehrerlei Hinsicht positiv auf das Musikschaffen ausgewirkt. Bei den Protestanten - genauer: den Lutheranern - entsteht ein wahrer Schatz von Kirchenliedern, Motetten, Kantaten, Passionen, Oratorien, aber auch Orgelwerken. Unter dem Druck dieses Wettbewerbs unternimmt die katholische Kirche zur Zeit der Gegenreformation die größten Anstrengungen im Bereich der Kirchenmusik. Vor allem unter den Jesuiten gelangt die katholische Kirchenmusik zu ihrer größten Entfaltung (Honigsheim 1961, 489). Instrumentalmusik in der Kirche ist nun nicht mehr verpönt. Die Kirche gibt ihre Zurückhaltung gegenüber der Orgelmusik auf, obwohl diese eine unliebsame Konkurrenz für den Mönchsgesang der katholischen Klöster ist. Die Orgelmesse ist ein Produkt der Gegenreformation. Auch die Tatsache, daß es Pales trina und seinen Bundesgenossen 1562 gelingt, den Papst und das Trienter Konzil von einem Verbot der Polyphonie abzuhalten, könnte zum Teil dem interkonfessionellen Wettbewerb zu verdanken sein.
IV. Der Musik-Wettbewerb in anderen Epochen Der Aufschwung der europäischen Musik, der sich in der Barockzeit vollzog, hatte sich schon im 16. und 15. Jahrhundert angebahnt. Er begann nicht im Zentrum eines großen Reiches, sondern am Hof der Herzöge von Burgund im wallonischen Hennegau (damals ein Grenzgebiet des deutschen Reiches), um sich dann in das hochdezentralisierte Italien der Renaissance zu verlagern. Schon damals war die Mo-
214 · Roland Vaubel bilität der Komponisten - ja, überhaupt der Künstler' 2 - sehr hoch. Betrachten wir erneut die Verweildauer pro Anstellung für die wichtigsten Komponisten, die in fürstlichem Dienst standen: Dufay, Ockeghem, Josquin Desprez und Orlando di Lasso (Tabelle 5). Der Durchschnitt von 11,7 Jahren ist nur geringfügig höher als der Mittelwert der italienischen Barockkomponisten (10,9). Ohne Ockeghem, der sich nicht nach Italien, sondern nach Frankreich orientierte, sinkt der Durchschnitt auf 9,6. Palestrina stand nie im Dienste eines weltlichen Fürsten, aber einer seiner Arbeitgeber - Kardinal Ippolito d'Esté II. - war zugleich Gouverneur von Tivoli. Außerdem war die Alternative, zu einem weltlichen Dienstherrn zu wechseln, auch für Palestrina stets präsent: 1567 verhandelte er mit dem Kaiserhof in Wien und 1583 sogar auf eigene Initiative - mit dem Herzog von Mantua. Beide Verhandlungen scheiterten lediglich an Palestrinas Gehaltsforderungen. Bezieht man deshalb Palestrina (anstelle von Ockeghem) in die Stichprobe mit ein, so sinkt die durchschnittliche Verweildauer sogar auf 9,3 Jahre. Die Mobilität der führenden Komponisten war also zur Zeit der Renaissance in Italien eher noch größer als im Barock. Dazu paßt, daß es in der Mitte des 15. Jahrhunderts in Norditalien etwa doppelt so viele Staaten gab wie zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Das „Wunder der Mehrstimmigkeit"' 3 , das die europäische Musik auszeichnet, trug sich noch viel früher zu - in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Schauplatz war Frankreich - vor allem die Schule von Notre Dame in Paris (Leonin, Perotin), die bis zur Vierstimmigkeit vordrang. Der Anstoß kam aus den Klöstern der Provinz, in erster Linie Limoges. Etwa zur gleichen Zeit entstand in Paris der gotische Baustil, wurde die erste französische Universität gegründet. Selten war die staatliche Zentralgewalt in Frankreich so schwach wie in jener Zeit. Mehr als die Hälfte Frankreichs besaß Heinrich II. von England. Von den großen Städten gehörten nur Paris und Orleans zum Kronland des Königs. Es folgte die Rivalität zwischen Philipp Augustus und Richard Löwenherz. Selten war zugleich die Kirche so mächtig wie im ausgehenden 11., dem 12. und der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Harold Berman hat in seinem berühmten Buch „Law and Revolution" (1983) dargelegt, daß die geistliche und rechtliche Autonomie der mittelalterlichen Kirche, die j a von außen (Rom) gesteuert wurde, aber auch das Fehlen einer Theokratie oder Priesterherrschaft wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung eines Pluralismus in den Ländern Europas war. Der Wettbewerb und das Gleichgewicht zwischen weltlicher und kirchlicher Macht boten dem Einzelnen Ausweichmöglichkeiten und Freiräume, wie sie in früheren Jahrhunderten oder anderen Kulturen - zum Beispiel in China oder im Islam - nicht existierten. Hatte Karl der Große noch den Gregorianischen Gesang - auch als Politikum zur Zentralisierung der Regierungsgewalt' 4 - in 12 Vgl. Burckhardt ( 1925, 127) und Nestler (1962, 147). 13 Nestler (1962, 95). Er fahrt fort: „Denn ein Wunder bleibt es auf jeden Fall, daß Musik zum ersten Mal nicht nur im Nacheinander, sondern auch durch ein Übereinander der T ö n e gehört wird. Ein Wunder ist es auch, daß dieser Vorgang auf die abendländische Musik beschränkt geblieben ist" (ibid.). 14 Engel (1989, Bd. 12, 956).
Musik und Wettbewerb • 215 seinem Reich durchgesetzt, so war gerade die Dezentralisierung Frankreichs im 12. Jahrhundert günstig für Innovation und Fortschritt in Wissenschaft, Kunst und Musik. Der institutionelle Wettbewerb hat in der Geschichte der europäischen Musik eine herausragende Rolle gespielt. Natürlich haben zugleich andere Ursachen - auch musikimmanente wie die Entwicklung der Notenschrift - das Wunder der europäischen Musik möglich gemacht. Aber ohne den Wettbewerb zwischen den Herrschern und Kirchen wäre es wohl schwerlich so weit gekommen.
V. Die europäische Musik als Ausdruck des Wettbewerbs?15 Die europäische Musik ist nicht nur durch den Wettbewerb entstanden, der Wettbewerb scheint sich auch in ihr auszudrücken. Was ist Mehrstimmigkeit, wenn nicht ein Wettbewerb der Stimmen? An der Schwelle zur Barockmusik wird daraus doppelchöriger Gesang (Gabrieli, Haßler, Schütz). Spielt sich der Wettbewerb der Stimmen bis Palestrina noch im geschlossenen Kollektiv ab - jede Stimme muß sich dem Ganzen, der Gemeinschaft der Stimmen, unterordnen 1 6 - , so ist der Wettbewerb im Konzert des Barock vor allem ein Widerstreit - aber auch Dialog - zwischen dem Solisten und dem Orchester. „Concertare" heißt j a „sich im Wettstreit messen" 1 7 . Bestimmend für den Barock ist auch sonst das Kontrastprinzip 1 8 : der Wechsel der Tempi, das Auf und Ab der Lautstärken und in der harmonischen Mehrstimmigkeit der Kontrapunkt. Die Klassik kontrastiert später im Sonatensatz sogar zwei oder noch mehr Themen. Die Geschichte der Sonate ist eine Geschichte des Kontrastprinzips in der Musik (Nestler 1962, 290). Im Streichquartett der Klassik und Romantik schließlich stehen vier Instrumente in regem Wettbewerb; alle „haben das gleiche Recht" (Nestler 1962, 415). 1 9 15 Ich handle hier einem methodischen Rat zuwider, den mir Alphons Silbermann, der bekannte, inzwischen verstorbene Musiksoziologe, 1999 in einem Brief gab. Er schrieb: „Auf ein ganz gefährliches Gebiet würden Sie sich begeben, wenn Sie Mehrstimmigkeit, ihren Ursprung und ihre Entwicklung in den Rahmen eines wettbewerblichen Verhaltens einbauen würden. Denn dann kommen Sie in die Fatalität, etwas in die Musik hineinzulesen oder aus ihr herauszulesen, ein Lieblingsspiel von Adorno und seinen Epigonen" (27.10.99). 16 „Polyphones Musizieren bedeutet... die Unterordnung des einzelnen ... unter das Ganze, unter die Gemeinschaft der Stimmen" (Nestler 1962, 260). 17 Diese Deutung findet sich ausdrücklich bei Michael Praetorius (Nestler 1962, 261). 18 Vgl. Nestler (1962, 289f.), Eggebrecht (1998, 324). Eggebrecht spricht auch von einem „Moment des aktionellen Sich-Hervortuns" und der Wirkung eines „Gegeneinander im Miteinander". 19 Ähnlich Adorno (1980): „Die Aktion derer, die Kammermusik spielen, hat man, nicht ohne Grund, immer wieder mit einem Wettkampf oder einem Gespräch verglichen ... Das sich Abnehmen der Stimmen, ihr wechselseitiges Hervortreten, die ganze Dynamik in der Struktur von Kammermusik hat etwas Agonales ... Die Spieler befinden sich so evident in einer Art von Konkurrenz, daß der Gedanke an den Konkurrenzmechanismus der bürgerlichen Gesellschaft nicht abzuweisen ist ..." ( 108). Da Adorno den Wettbewerb in der Wirtschaft ablehnt, muß er ihn nun als Prinzip der Musik entschuldigen: „Die Vergeistigung der Konkurrenz, ihre Versetzung in die Imagination, nimmt einen Zustand vorweg, in dem sie vom Aggressiven und Bösen geheilt wäre" (110).
216 · Roland Vaubel In der Klassik und Romantik verändert sich die Nachfrage nach Musik. An die Stelle der Herrscher und der Kirchen treten nach und nach Adel und Bürgertum. Der Wettbewerb um Musik nimmt damit eher noch zu, das Mäzenatentum aber ab. Die Komponisten stehen nicht mehr im Dienste von Institutionen - Herrschern oder Kirchen - , sondern sie arbeiten für eine wachsende Zahl privater, zahlender Auftraggeber. Als Künstler spielen sie zunehmend für ein zahlendes Publikum 2 0 . Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts entwickelt schließlich ein organisiertes Konzertwesen. An die Stelle des institutionellen Wettbewerbs tritt ein individualisierter, aber auch anonymer Markt für Musik.
Literatur Adorno, Theodor W. (1980), Einleitung in die Musiksoziologie, 3. Auflage, Frankfurt/Main. Baumgartner, Alfred (1989), Propyläen Welt der Musik: Die Komponisten, 5 Bände, Berlin u.a. Baumol, William J. and Hilda (1994), On the Economics of Musical Composition in Mozart's Vienna, Journal of Cultural Economics, Vol. 18, S. 171-198. Bernholz, Peter, Manfred E. Streit and Roland Vaubel (1998), Introduction and Overview, in: Peter Bernholz, Manfred E. Streit and Roland Vaubel (Hrsg.), Political Competition, Innovation and Growth: A Historical Analysis, Berlin u.a., S. 3-11. Blume, Friedrich (Hrsg.) (1989), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 17 Bände, München u.a. Bortz, Jürgen (1993), Statistik für Sozialwissenschaftler, 4. Auflage, Berlin u.a. Burckhardt, Jacob (1898-1902), Griechische Kulturgeschichte, Basel. Burckhardt, Jacob (1925), Die Kultur der Renaissance in Italien, 14. Auflage, Leipzig. Chant, Michael (1994), Musica Practica: The Social Practice of Western Music from Gregorian Chant to Postmodernism, London u.a. Cowen, Tyler (1998), In Praise of Commercial Culture, Cambridge, Mass. Eggebrecht, Hans Heinrich (1998), Musik im Abendland, 2. Auflage, München. Engel, Hans (1989), Soziologie der Musik, in: Friedrich Blume (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Band 12, S. 949-967. Hayek, Friedrich A. von (1968/69), Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Friedrich A. von Hayek, Freiburger Studien: Gesammelte Aufsätze, Tübingen, S. 249-265. Hirschman, Albert O. (1970), Exit, Voice and Loyalty, Cambridge, Mass. (dt. Übersetzung: Abwanderung und Widerspruch, Tübingen 1974). Honigsheim, Paul (1961), Musiksoziologie, Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band 7, Stuttgart u.a., S. 485-494. Hume, David (1742/1985), On the Rise and Progress of the Arts and Sciences, in: David Hume, Essays Moral, Political and Literary, Indianapolis. Jones, Eric L. (1981), The European Miracle, Cambridge (dt. Übersetzung: Das Wunder Europa, Tübingen 1991).
20 Auch dafür gibt es bereits Vorläufer im Barock - vor allem Händel und Telemann. Es folgten Philipp Emanuel Bach und Mozart in Wien. Vgl. Rebling (1935, 86 ff., 127) und Preussner (1954, 2933).
Musik und Wettbewerb • 217 Kant, Immanuel (1784/1959), Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kurt Rossmann (Hrsg.), Deutsche Geschichtsphilosophie von Lessing bis Jaspers, Birsfelden-Basel. Kepler, Johannes (1619), De Harmonice Mundi, Lincii Austriae. Kroeber, A.L. (1944), Configurations of Culture Growth, Berkeley, Ca. Naroll, Raoul, E.C. Benjamin, F.K. Fohl, M.J. Fried, R.E. Hildreth and J.M. Schaefer (1971), Creativity: A Cross-Historical Pilot Survey, Journal of Cross-Cultural Psychology, Vol. 2, No. 2, S. 181-188. Nestler, Gerhard (1962), Geschichte der Musik, Gütersloh. Popper, Karl (1984), Schöpferische Selbstkritik in Wissenschaft und Kunst, in: Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, München u.a. Preussner, Eberhard (1954), Die bürgerliche Musikkultur, Hamburg. Rebling, Eberhard (1935), Die soziologischen Grundlagen der Stilwandlungen der Musik um die Mitte des 18. Jahrhunderts, Diss., Berlin. Simonton, Dean Keith (1975), Sociocultural Context of Individual Creativity: A Transhistorical Time-Series Analysis, Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 32, No. 6, S. 1119-1133. Simonton, Dean Keith (1976), Ideological Diversity and Creativity: A Re-evaluation of a Hypothesis, Social Behaviour and Personality, Vol. 4, No. 2, S. 203-207. Simonton, Dean Keith (1984), Genius, Creativity and Leadership: Historiometric Inquiries, Cambridge, Mass., u.a. Weede, Erich (2000), Asien und der Westen: Politische und kulturelle Determinanten der wirtschaftlichen Entwicklung, Baden-Baden.
Zusammenfassung Abschnitt I bietet einen Überblick über verschiedene Theorien und empirische Untersuchungen, die geeignet sein könnten, das „Wunder der europäischen Musik" zu erklären. Abschnitt Π unterscheidet verschiedene Transmissionsmechanismen, über die der Wettbewerb der Herrscher die Entwicklung der Musik begünstigt haben könnte. Abschnitt ΠΙ zeigt, daß die großen Komponisten der Barockzeit in den führenden Ländern Italien und Deutschland signifikant häufiger den Arbeitgeber wechselten als in Frankreich und England. Dies wird als Indiz für einen schärferen Wettbewerb der Nachfrager interpretiert. Hinzu kommt der Wettbewerb zwischen den Konfessionen seit der Reformation. Abschnitt IV untersucht den Musik-Wettbewerb in anderen Epochen - auch den Wettbewerb zwischen Kirche und Staat im Mittelalter. Es wird gezeigt, daß der Wettbewerb in Italien zur Zeit der Renaissance sogar noch schärfer war als im Barock. Der letzte Abschnitt wirft die Frage auf, ob die europäische Musik nicht vielleicht sogar Ausdruck des Wettbewerbsgedankens sein könnte.
218 · Roland Vaubel
Summary The „Miracle of European Music" and the Role of Competition Section I contains a survey of various theories and empirical investigations which might be helpful in explaining the „miracle of European music". Section Π distinguishes various transmission mechanisms by which competition among the rulers may have promoted the development of musical composition. Section EI demonstrates that the famous composers of baroque music changed their employer more frequently in the leading countries, Italy and Germany, than in England and France and that this difference is statistically significant. It is interpreted as a difference in the degree of competition on the demand side. Another factor is increasing competition among the churches after the reformation. Section IV analyzes musical competition in other centuries - including competition between the church and the state in the middle ages. It is shown that competition in Italy was even more intensive during the renaissance than in baroque times. The last section suggests that the style of European music may even be an expression of Europe's competitive spirit.
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