ORDO 9783110505566, 9783828202467


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German Pages 468 [480] Year 2003

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Hauptteil
Friedrich A. Hayek und die Freiburger Schule
Wilhelm Röpke - Werk und Wirken in Marburg: Lehren für Gegenwart und Zukunft
Wie der Vater, so der Sohn? Neuere Erkenntnisse zu Walter Euckens Leben und Werk anhand des Nachlasses von Rudolf Eucken in Jena
Wettbewerb als Entdeckungsverfahren
Wettbewerb als Reformperspektive für die Hochschulen
Menschliches Wissen - Dimensionen eines komplexen Phänomens
Die Folgen pervertierter Anreize
Eine effiziente Arbeitslosenversicherung für Deutschland
Betriebliche Bündnisse für Arbeit - Gratwanderung zwischen Tarifbruch und Tariftreue
Ökonomische Aspekte der Kinderarbeit
Handeln wider besseres Wissen
Staatlicher Handlungsbedarf bei Doping im Hochleistungssport?
Basel II als internationaler Standard zur Regulierung von Banken
Eine Europäische Verfassung aus polit-ökonomischer Sicht
Anmerkungen zu „Eigennutz als Triebfeder des Wohlstands – die invisible hand im Hörsaal-Experiment sichtbar gemacht“ von Roland Kirstein und Dieter Schmidtchen, ORDO, Bd. 53,2002, S. 227-240
Replik auf Ernst Helmstädter
Besprechungen
Inhalt
Hayeks Aufsätze zur Ordnungsökonomik sowie zur politischen Philosophie und Theorie
Entstehung und Vermächtnis ordoliberalen Denkens
Das Staatsbild Franz Böhms
Macht und Wohlstand
Responsive Regulierung
Institutionenökonomik
Vorteile und Anreize: Zur Grundlegung einer Ethik der Zukunft
Der Mensch als Ziel der Wirtschaftsethik
Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb
Die markttheoretische Erklärung der Konjunktur
Studien zur Evolutorischen Ökonomik V
Ökonomie für jedermann
Ökonomische Analyse des Arbeitsrechts
Arbeitsmärkte und soziale Sicherungssysteme unter Reformdruck
Steuerreform und Gewinnbeteiligung
Gesundheitspolitik in der Sozialen Marktwirtschaft
Konsumentensouveränität als Leitbild im deutschen Gesundheitswesen
Key Issues in Introducing Pre-Funded Pension Schemes
Generationengerechtigkeit im Zeitalter der Gentechnik
International Economics
Medien im Systemvergleich
Osterweiterung und Transformationskrisen
Kurzbesprechungen
Personenregister
Sachregister
Anschriften der Autoren
Recommend Papers

ORDO
 9783110505566, 9783828202467

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ORDO Band 54

ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Band 54 Begründet von

Herausgegeben von

Walter Eucken

Hans Otto Lenel

Wernhard Möschel

und

Helmut Gröner

Josef Molsberger

Franz Böhm

Walter Hamm

Peter Oberender

Ernst Heuss

Razeen Sally

Erich Hoppmann

Alfred Schüller

Wolfgang Kerber

Viktor Vanberg

Martin Leschke

Christian Watrin

Ernst-Joachim Mestmäcker

Hans Willgerodt

Lucius & Lucius • Stuttgart

Schriftleitung Professor Dr. Hans Otto Lenel Universität Mainz, Haus Recht und Wirtschaft, D-55099 Mainz Professor Dr. Dr. h.c. Josef Molsberger Wirtschaftswissenschaftliches Seminar der Universität Tübingen Mohlstr. 36, D-72074 Tübingen Professor Dr. Helmut Gröner Universtität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Professor Dr. Alfred Schüller Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme der Philipps-Universität Marburg Barfüßertor 2, D-35037 Marburg Professor Dr. Dr. h.c. Peter Oberender Universtität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre IV - Wirtschaftstheorie Universitätsstr. 30, D-95440 Bayreuth Professor Dr. Martin Leschke Universtität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre V - Institutionenökonomik Universitätsstr. 30, D-95440 Bayreuth

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart • 2003 Gerokstraße 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Rechte vorbehalten Satz: Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme, Marburg Druck und Einband: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza/Thüringen ISBN 3-8282-0246-2 ISSN 0048-2129

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2003) Bd. 54

Vorwort Der 54. Band dieses Jahrbuchs wird im Hauptteil mit drei Beiträgen über das wissenschaftliche Programm und die ideellen Grundlagen von drei Klassikern der Idee des ORDO eingeleitet. Die ordnungspolitischen Auffassungen Walter Euckens und Friedrich A. von Hayeks über die Bedingungen und Gefahrdungen einer freiheitlichen Ordnung und Staatsverfassung sind nach Viktor Vanberg („Friedrich Hayek und die Freiburger Schule"), entgegen anderer Meinungen, nicht nur miteinander vereinbar, sondern ergänzen sich in wichtigen Punkten. Wie Alfred Schüller in seinem Beitrag („Wilhelm Röpke - Werk und Wirken in Marburg: Lehren für Gegenwart und Zukunft") belegt, hat Röpke sich zwischen 1919 und 1933 in Marburg schon in jungen Jahren das breite wirtschaftstheoretische Fundament geschaffen, auf dem eine große Zahl für die Praxis richtungweisender Schriften zur Pathologie und Therapie von gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Problemen entstanden ist, die uns vielfach auch heute noch bedrükken. Röpke war in den 20er Jahren wohl bekannter als Eucken; dessen große Zeit begann in den 30er Jahren. Beide einte der Gedanke einer metaphysisch-religiösen Besinnung als Voraussetzung für die Gestaltung einer menschenwürdigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Sie hielten es später für ihre Pflicht, dem Gedanken des ORDO Geltung zu verschaffen, auch wenn die Zeitumstände noch so ungünstig waren. In dem Beitrag „Wie der Vater, so der Sohn? Neuere Erkenntnisse zu Walter Euckens Leben und Werk anhand des Nachlasses von Rudolf Eucken in Jena" versuchen Uwe Dathe und Nils Goldschmidt die Gedanken Walter Euckens anhand neuer Quellen genauer auszuleuchten und so Erkenntnisse über die Grundlagen des ordoliberalen Forschungsprogramms und die Bedingungen seiner Aktualisierungsfahigkeit zu gewinnen. Drei weitere Beiträge behandeln wettbewerbsökonomische Fragen. Dieter Schmidtchen und Roland Kirstein zeigen, wie durch Experimente geprüft werden kann, ob und wie gut Hayeks Idee vom „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" funktioniert. Die Autoren folgern, daß Wettbewerbsergebnisse als Musteraussage, nicht als Resultate für den Einzelfall vorhergesagt werden können. In dem Beitrag „Wettbewerb als Reformperspektive für die Hochschulen" führen Peter Oberender und Jochen Fleischmann die Krise der deutschen Universitäten auf ordnungspolitische Fehlentscheidungen zurück, die auf unangemessenen staatlichen Wissensanmaßungen beruhen. Der Staat solle sich auf eine Wettbewerbs- und wissensfordernde Rahmensetzung und auf eine Studienfinanzierung als Subjektförderung beschränken. Vor einer undifferenzierten Übertragung amerikanischer Konzepte auf das deutsche System sei zu warnen. In seinen grundlegenden Gedanken über „Menschliches Wissen - Dimensionen eines komplexen Phänomens" folgert Manfred E. Streit aus neurologischen Forschungsergebnissen, die traditionelle Mikrotheorie sei eine unangemessene Wissensanmaßung. Um so mehr müsse die Bedeutung von Hayeks Konzept des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren unterstrichen werden.

V I • Vorwort

Es folgen aktuelle wirtschaftspolitische Beiträge, die sich mit ordnungspolitischen Ursachen und gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen individueller Fehlanreize beschäftigen. Walter Hamm fuhrt in seinem Beitrag „Die Folgen pervertierter Anreize" das vielfach beklagte gemeinwohlschädigende wirtschaftliche Verhalten vieler Menschen in Deutschland auf eine orientierungslose Politik zurück. Es wird gezeigt, wie von Politikern veranlaßte Fehlanreize ordnungspolitisch verhindert und beseitigt werden können. Beschäftigungshindernde Fehlanreize gehen auch von der bestehenden Arbeitslosenversicherung aus. Deren Existenz wird üblicherweise damit begründet, das Einkommensrisiko bei Arbeitslosigkeit sei nicht versicherbar. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Einschätzung, die bisher auch eine beschäftigungsfördernde Reform verhindert hat, nehmen Hans H. Glismann und Klaus Schräder zum Anlaß, die Möglichkeiten und den Regulierungsbedarf für „Eine effiziente Arbeitslosenversicherung in Deutschland" auf der Grundlage privater Versicherungen aufzuzeigen. Beschäftigungshindernde Fehlanreize, die von überbetrieblichen Tarifregelungen ausgehen, könnten - wie Norbert Berthold, Marita Brischke und Oliver Stettes zeigen - durch „Betriebliche Bündnisse für Arbeit" beseitigt werden, wenn die Arbeitsmarktordnung Unternehmensleitungen und Belegschaften eine entsprechende Gestaltungsfreiheit einräumen würde. Die weiteren Beiträge des Hauptteils behandeln spezielle ordnungsökonomische Themen: So fragen Harald Großmann und Andreas Knorr („Ökonomische Aspekte der Kinderarbeit"), ausgehend von den ökonomischen Ursachen und Wirkungen der Kinderarbeit, nach den ordnungspolitischen Möglichkeiten der Eindämmung dieses Phänomens. Willi Meyer befaßt sich in dem Beitrag „Handeln wider besseres Wissen" mit wirtschaftswissenschaftlichen Grundfragen der gesundheitlichen Folgen des Rauchens. Der Autor versucht u. a. zu zeigen, daß es „Formen der Versklavung gibt, nämlich mentale und psychische, die Beschränkungen der Handlungsfreiheit im Interesse der Bewahrung individueller Autonomie ,nützlich' erscheinen lassen". Mit Argumenten, die sich mit dem Thema „Staatlicher Handlungsbedarf bei Doping im Hochleistungssport" befassen, setzt sich Frank Daumann kritisch auseinander. Bei begründetem Handlungsbedarf empfiehlt der Autor, eine Anti-Doping-Politik durch die Sportverbände finanziell zu unterstützen. Dieter Fritz-Aßmus und Egon Tuchtfeldt („Basel II als internationaler Standard zur Regulierung von Banken") stellen fest, daß die Baseler Empfehlungen in vieler Hinsicht nicht einer „marktwirtschaftlich ausgerichteten Ordnungspolitik" entsprechen. Kritisiert werden willkürliche Eingriffsmöglichkeiten, vor allem aber der Verzicht auf eine stärkere Betonung der marktlichen Risikolenkung und der Marktdisziplinierung. Der Hauptteil schließt mit dem Beitrag „Eine Europäische Verfassung aus polit-ökonomischer Sicht". Darin geht Lars P. Feld der Frage nach, wie die politischen Entscheidungskompetenzen in einer zukünftigen Europäischen Verfassung angemessen und wirksam beschränkt und Kompetenzkonflikte gelöst werden könnten. - Ein umfangreicher Teil von längeren und kürzeren Buchbesprechungen rundet den Band ab. Die Herausgeber des Jahrbuchs haben zu Beginn des Jahres 2003 beschlossen, Wolfgang Kerber (Philipps-Universität Marburg), Martin Leschke (Universität Bayreuth) und Razeen Sally (London School of Economics) neu als Herausgeber von ORDO zu berufen. Martin Leschke gehört zugleich der Schriftleitung an. Weiterhin wurde, ebenfalls mit dem vorliegenden Band 54 beginnend, ein Referee-System auf der Grundlage

Vorwort • VII

des „Doppelblindverfahrens" eingeführt. An dieser Stelle sei den zahlreichen Gutachtern herzlich gedankt, die der Schriftleitung mit ihren Stellungnahmen außerordentlich behilflich waren. Die Schriftleiter danken Frau Dr. Hannelore Hamel und Frau Christel Dehlinger für die redaktionelle Mitarbeit, die Herstellung der Druckvorlage und die Anfertigung des Sach- und Personenregisters. Die Schriftleitung

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2003) Bd. 54

Inhalt

Viktor J. Vanberg Friedrich A. Hayek und die Freiburger Schule

3

Alfred Schüller Wilhelm Röpke - Werk und Wirken in Marburg: Lehren für Gegenwart und Zukunft

21

Uwe Dathe und Nils Goldschmidt Wie der Vater, so der Sohn? Neuere Erkenntnisse zu Walter Euckens Leben und Werk anhand des Nachlasses von Rudolf Eucken in Jena

49

Dieter Schmidtchen und Roland Kirstein Wettbewerb als Entdeckungsverfahren

75

Peter Oberender und Jochen Fleischmann Wettbewerb als Reformperspektive für die Hochschulen

93

Manfred E. Streit Menschliches Wissen - Dimensionen eines komplexen Phänomens

113

Walter Hamm Die Folgen pervertierter Anreize

123

Hans H. Glismann und Klaus Schräder Eine effiziente Arbeitslosenversicherung für Deutschland

143

Norbert Berthold, Marita Brischke und Oliver Stettes Betriebliche Bündnisse für Arbeit - Gratwanderung zwischen Tarifbruch und Tariftreue

175

Harald Großmann und Andreas Knorr Ökonomische Aspekte der Kinderarbeit

195

Wilhelm Meyer Handeln wider besseres Wissen

219

Frank Daumann Staatlicher Handlungsbedarf bei Doping im Hochleistungssport?

243

Dieter Fritz-Aßmus und Egon Tuchtfeldt Basel II als internationaler Standard zur Regulierung von Banken

269

X • Inhalt

Lars P, Feld Eine Europäische Verfassung aus polit-ökonomischer Sicht

289

Ernst Helmstädter Anmerkungen zu „Eigennutz als Triebfeder des Wohlstands - die invisible hand im Hörsaal-Experiment sichtbar gemacht" von Roland Kirstein und Dieter Schmidtchen, in: ORDO, Bd. 53, S. 227-240....

319

Roland Kirstein und Dieter Schmidtchen Replik auf Ernst Helmstädter

327

Besprechungen: Inhaltsverzeichnis

333

Namensregister

445

Sachregister

459

Anschrift der Autoren

465

Hauptteil

O R D O • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 3 ) Bd. 54

Viktor J. Vanberg

Friedrich A. Hayek und die Freiburger Schule* Inhalt

I. Einleitung II. Gemeinsamkeiten und Unterschiede III. Privilegienfreiheit und Privilegiensuche IV. Freiheitliche Ordnung und Staatsverfassung V. Schluß Literatur Zusammenfassung Summary: Friedrich A. Hayek and the Freiburg School

3 4 10 14 17 18 19 20

I. Einleitung In seiner Antrittsvorlesung, die Friedrich A. Hayek am 18. Juni 1962 vor der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg hielt,1 betonte er ausdrücklich seine persönliche und geistige Verbundenheit mit den Vertretern der Freiburger Schule, insbesondere mit Walter Eucken,2 und stellte fest: „Sie wissen besser als ich, was Eucken in Deutschland geleistet hat. Und ich brauche Ihnen darum nicht weiter zu erklären, was es bedeutet, wenn ich heute hier sage, daß ich es als eine meiner vornehmsten Aufgaben betrachten werde, die Überlieferung aufzunehmen und fortzuführen, die Eucken und sein Kreis in Freiburg und in Deutschland geschaffen haben" {Hayek 1969, S. 2). Es ist verschiedentlich die Frage gestellt worden, inwieweit man in dieser Feststellung Hayeks eher eine höfliche Geste sehen sollte als ein Anzeichen dafür, daß Hayek seinen eigenen Denkansatz in der Tat völlig bruchlos in die Freiburger Tradition glaubte einordnen zu können. 3 Die in dieser Frage anklingende Skepsis hat ihren Grund darin, *

Dieser Aufsatz ist eine leicht modifizierte Fassung meines Beitrages zur Tagung „Friedrich A. von Hayek und die Österreichische Schule der Nationalökonomie" an der Università di Milano-Bicocca, 11. April 2002. Für hilfreiche Anmerkungen zum ursprünglichen Text bin ich Hans Otto Lene! zu Dank verpflichtet. 1 Abgedruckt unter dem Titel „Wirtschaft, Wissenschaft und Politik" in Hayek (1969, S. 1-17). 2 Hayek (1969, S. 2) bemerkt dazu: „Weitaus am wichtigsten für mich war aber meine langjährige Freundschaft, gegründet auf völlige Übereinstimmung in theoretischen wie in politischen Fragen, mit dem unvergeßlichen Walter Eucken. Während der letzten vier Jahre seines Lebens war aus dieser Freundschaft eine enge Zusammenarbeit entstanden." 3 Watrin (2000, S. 326); Woll (1989, S. 88).

4 • Viktor J. Vanberg

daß es zwar zwischen den Auffassungen Walter Euckens und der von ihm begründeten Freiburger Schule auf der einen Seite und den Vorstellungen Hayeks auf der anderen Seite ganz offenkundige und grundlegende Gemeinsamkeiten gibt, daß aber auch charakteristische Unterschiede unverkennbar sind.4 In meinem Beitrag möchte ich auf diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede etwas näher eingehen.

II. Gemeinsamkeiten und Unterschiede Hayek und Eucken waren, durch Wilhelm Röpke vermittelt, seit den dreißiger Jahren in freundschaftlichem persönlichen Kontakt, der auf ihren gemeinsamen liberalen Grundüberzeugungen beruhte. Nachdem Hayek 1932 einem Ruf an die London School of Economics gefolgt war, machte er bei Reisen zwischen London und seiner Heimatstadt Wien manchmal in Freiburg Station, um über ihren brieflichen Austausch hinaus den persönlichen Kontakt mit Walter Eucken zu pflegen. Als Hayek 1947 eine Gruppe von liberalen Ökonomen, Juristen und Historikern in der Schweiz zur Gründungstagung der Mont Pelerin Society zusammenbrachte, war Eucken als einziger Teilnehmer aus Deutschland dabei, und er trug, wie Hayek in seiner Freiburger Antrittsvorlesung erinnert, durch sein Auftreten viel dazu bei, „den Glauben an das Bestehen freiheitlicher Denker in Deutschland wiederherzustellen" {Hayek 1969, S. 2). Eucken seinerseits hatte für das von ihm und Franz Böhm begründete Jahrbuch Ordo von Beginn an die Mitwirkung Hayeks gesucht,5 und die Bedeutung, die er dessen Werk beimaß, kann man wohl daran ermessen, daß Hayeks Aufsatz „Wahrer und falscher Individualismus" im ersten Band an der ersten Stelle der wissenschaftlichen Beiträge steht (Hayek 1948), gefolgt von einem Beitrag Euckens über „Das Ordnungspolitische Problem". Auf Veranlassung Hayeks wurde Eucken zu einer Vorlesungsreihe an der London School of Economics eingeladen, die er allerdings zu einem Zeitpunkt, nämlich im März 1950, hielt, als Hayek London bereits verlassen hatte, um eine Professur an der University of Chicago anzutreten. Tragischerweise verstarb Eucken in London noch bevor er die Vorlesungsreihe beenden konnte.6 Diese wenigen Bemerkungen zu den persönlichen Beziehungen zwischen dem 1899 geborenen Hayek und dem acht Jahre älteren Eucken mögen hier ausreichen,7 um zu dokumentieren, wie sehr sich die beiden Ökonomen in ihrem Bemühen um eine Wiederbelebung der geistigen Grundlagen einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verbunden wußten. Dennoch, bei aller Gemeinsamkeit in ihren liberalen Überzeugungen beruhten die Argumente, mit denen sie ihre jeweiligen Auffassungen vortrugen, aus ihren unterschiedlichen Lebensumwelten und persönlichen Biographien 4 5

6

7

Watrin (2000, S. 323) spricht von „teils harmonierenden, teils aber auch konfligierenden Ansichten". Neben Hayek werden als zusätzlich zu den Herausgebern Eucken und Böhm an dem Jahrbuch mitwirkende genannt: Karl Brandt, Constantin von Dietze, Friedrich A. Lutz, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow. Von den fünf vorgesehenen Vorträgen konnte Eucken die ersten drei halten, der vierte wurden wegen seiner Erkrankung von Alan Peacock verlesen (Peacock 2000, S. 541), vor dem Termin des fünften verstarb Eucken. Die Vorträge sind veröffentlicht in Eucken (1951). Siehe ausführlicher dazu Klinckowstroem (2000, S. 100 ff.).

Friedrich A. Hayek und die Freiburger Schule • 5

heraus auf durchaus unterschiedlichen Einschätzungen der primären Gefahren, die den Ordnungsprinzipen einer freiheitlichen Gesellschaft drohen.8 Ich möchte dies im folgenden näher erläutern. Walter Eucken, der seine wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung in der Tradition der deutschen historischen Schule erhalten hatte, sich von ihr aber später kritisch distanzierte (Eucken 1938, 1940), begründete Mitte der dreißiger Jahre an der damaligen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg mit den Juristen Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth jene Forschungstradition, die später unter dem Name „Freiburger Schule" bekannt geworden ist.9 In gemeinsamen Seminaren beschäftigten sich die drei Wissenschaftler mit einem Problem, an dem sie - wenn auch von unterschiedlichen Seiten herkommend - gleichermaßen interessiert waren, nämlich der Frage nach den institutionellen Voraussetzungen einer funktionsfähigen marktlichen Wettbewerbsordnung. Ihr Problembewußtsein war durch eine Umwelt geprägt, in der der marktliche Wettbewerb in weiten Bereichen des Wirtschaftslebens ausgeschaltet, verfälscht oder erheblich behindert war, und zwar vor allem durch zwei Entwicklungen. Auf der einen Seite war dies die verbreitete Herausbildung von Kartellen und anderer wirtschaftlicher Machtkonzentrationen, eine Entwicklung, die vor allem durch ein Urteil des Reichsgerichts von 1897 befördert worden war, das Kartellverträge zu rechtsgültigen Verträgen erklärte und damit die staatliche Rechts- und Vertragsdurchsetzungsmacht bereitstellte, um das notorische Instabilitätsproblem bei Kartellvereinbarungen zu lösen.10 Auf der anderen Seite war dies eine sich ständig ausweitende, punktuell und diskretionär in den Wirtschaftsablauf eingreifende interventionistische Politik, die weder willens noch in der Lage war, sich den immer neuen Forderungen von Interessengruppen nach Sonderbehandlung in der Form von Subventionen, Protektionismus, Steuererleichterungen oder sonstigen Privilegien zu widersetzen. Wie Eucken und seine juristischen Mitstreiter 1937 im programmatischen Vorwort (Böhm, Eucken und Großmann-Doerth 1937) zu der von ihnen begründeten Schriftenreihe „Die Ordnung der Wirtschaft" darlegten, war es ihr Anliegen, Anstöße für eine intellektuelle Rückbesinnung auf die grundlegenden Prinzipien einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung zu geben und insbesondere deutlich zu machen, daß es bei der Entscheidung für eine solche Wirtschaftsordnung um die Entscheidung für eine bestimmte Wirtschaftsverfassung geht, deren Grundprinzipien sowohl den privaten Wirtschaftssubjekten als auch der Regierung bestimmte Spielregeln vorgeben, die ihren Handlungsspielraum in einer dem Gemeinwohl dienlichen Weise einschränken sollen.11 Darin, daß ihr der Sinn für die verfassungsmäßigen Grundlagen einer marktlichen Wett8

So auch die Diagnose von Woll (1989, S. 94). Siehe auch Watrin (2000, S. 327 f.) und Streit und Wohlgemuth (2000, S. 474,489). 9 Siehe dazu Böhm (1960a). 10 Die Begründer der Freiburger Schule sprechen von „der richtunggebenden und verhängnisvollen Entscheidung vom 4. 2. 1897" (Böhm, Eucken und Großmann-Doerth 1937, S. XI). Siehe dazu auch ausführlich Böhm (1948). 11 Böhm, Eucken und Großmann-Doerth (1937, S. XVIII): „Die Behandlung aller konkreten rechts- und wirtschaftspolitischen Fragen muß and der Idee der Wirtschaftsverfassung ausgerichtet sein." - Zum Argument filr eine regelgebundene, nicht diskretionäre Wirtschaftspolitik siehe auch Eucken (1990 [1952], S. 195).

6 • Viktor J. Vanberg

bewerbsordnung gänzlich abhanden gekommen war, sahen sie einen entscheidenden Mangel der Tradition der Historischen Schule, der sie vorwarfen, aus ihrem Theorieskeptizismus und historischen Relativismus heraus einem prinzipienlosen wirtschaftspolitischen Pragmatismus das Wort geredet und damit die Entwicklung hin zum interventionistischen Wirtschaftsstaat gefordert zu haben.12 Versäumnisse in der intellektuellen Auseinandersetzung lasteten die Begründer der Freiburger Schule aber auch der liberalen Tradition an, der sie sich selbst zurechneten. In der Form des Laissez-faireLiberalismus habe sie, so ihre Kritik, aus dem Vertrauen auf die Selbstorganisation spontan zusammenwirkender wirtschaftlicher Interessen heraus zu wenig beachtet, daß das wohltätige Wirken der „unsichtbaren Hand" nur unter einer geeigneten institutionellen Rahmenordnung erwartet werden kann, einer Rahmenordnung, die das eigeninteressierte Handeln der Beteiligten in dem gemeinsamen Wohl dienliche Bahnen lenkt. Diese institutionellen Voraussetzungen sind aber, so betonten sie, nicht selbst ein naturwüchsiges Produkt des spontanen Zusammenwirkens eigeninteressierter Bestrebungen, sondern bedürfen der bewußten und dauerhaften Anstrengung staatlicher Ordnungsmacht.13 So sehr die Freiburger das liberale Vertrauen in die wünschenswerte Dynamik marktlicher Wettbewerbsprozesse teilten, sofern diese Prozesse in einem geeigneten Ordnungsrahmen ablaufen, so legten sie den Nachdruck doch darauf, daß man die Herausbildung und den Bestand einer solchen geeigneten Rahmenordnung nicht allein vom Wirken spontaner Kräfte erhoffen kann, sondern daß hier die ordnungsgestaltende Verantwortung der Politik gefragt ist.14 Der Politik kommt in diesem Sinne aus Sicht der Freiburger Schule eine bedeutende Rolle als Ordnungspolitik zu, also bei der Gestaltung und Pflege eines Regelrahmens, der die Dynamik eigeninteressierter Bestrebungen mit den gemeinsamen Interessen aller Beteiligten in Einklang zu bringen vermag.15 Ihr Leitmotiv dabei ist, daß ein solcher Regelrahmen eine Ordnung des Leistungswettbewerbs sichern soll, in dem Sinne, daß wirtschaftlicher Erfolg möglichst nur dadurch zu erzielen ist, daß man sich im Wettbewerb um die bessere Befriedigung von Konsumentenwünschen auszeichnet, und nicht etwa dadurch, daß man Konkurrenten behindert oder für sich staatliche Vergünstigungen erwirkt.16 Als Hayek 1974 mit dem Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaft ausgezeichnet wurde, wählte er für den Vortrag, den er bei dieser Gelegenheit zu halten hatte, den Titel „Die Anmaßung von Wissen"17. Dieser Titel spiegelt das Kernthema des Hayekschen Forschungsprogramms wider, nämlich die Frage, wie Menschen angesichts ihres unvermeidlich begrenzten Wissens über die Tatbestände und Wirkungszusammenhänge,

12 Böhm, Eucken und Großmann-Doerth (1937, S. XIII ff.). 13 Eucken (1990 [1952], S. 360): „Die .unsichtbare' Hand schafft nicht ohne weiteres Formen, in denen Einzelinteresse und Gesamtinteresse aufeinander abgestimmt werden." 14 Eucken (1989 [1940], S. 240): „Denkende Gestaltung der Ordnung ist nötig." 15 Eucken (1990 [1952], S. 365): „Den spontanen Kräften der Menschen zur Entfaltung zu verhelfen und zugleich dafür zu sorgen, daß sie sich nicht gegen das Gesamtinteresse richten, ist das Ziel, auf das sich die Politik der Wettbewerbsordnung richtet." 16 Siehe dazu Vanberg (1997, S. 720 ff.). 17 Wiederabgedruckt in Hayek (1996, S. 4-15).

Friedrich A. Hayek und die Freiburger Schule • 7

von denen das komplexe Gefiige sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen abhängt, 18 zu einer wünschenswerten Ordnung ihres Zusammenlebens kommen können. Und dieser Titel drückt aus, worin Hayek die Hauptbedrohung einer freiheitlichen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung sieht, nämlich darin, daß Menschen in Anmaßung eines Wissens, das sie nicht haben und nicht haben können, Projekte rationaler Gesellschaftsgestaltung in Angriff nehmen, die die gewachsene Regelordnung einer freiheitlichen Gesellschaft zerstören. 19 Anders als die Freiburger Schule mit ihrer Kritik an der Tradition der Historischen Schule, hat Hayek bei seinen Argumenten als intellektuelle Gegenpositionen vor allem die formale neoklassische Gleichgewichtstheorie mit ihrer Annahme vollkommen informierter Marktakteure im Auge sowie marktkritische interventionistische und planwirtschaftliche Konzepte, die ihrerseits mit ähnlich großzügigen Annahmen über das den politischen Akteuren verfügbare Wissen arbeiten. 20 Die unaufhebbare Begrenztheit unseres Wissens bedingt, dies ist Hayeks Kemthese, daß wir unser Zusammenleben nur dadurch in einer für alle wünschenswerten Weise ordnen können, daß wir uns auf die Steuerungsleistung allgemeiner Regeln verlassen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. 21 Dies zu verkennen ist, aus seiner Sicht, der grundlegende Irrtum einer Auffassung, die er mit dem Namen „konstruktivistischer Rationalismus" belegt. 22 Die eine Spielart dieses konstruktivistischen Irrtums sieht Hayek in dem Glauben, daß wir durch konkrete Einzelanordnung eine wünschenswerte Gesellschaftsordnung schaffen können, ein Glaube, der seine Extremausprägung in den Vorstellungen gesellschaftlicher Totalplanung gefunden hat und in moderaterer Ausprägung in den verschiedenen Varianten interventionistischer Konzeptionen zu finden ist. Diese Form eines konstruktivistischen Rationalismus verkennt, so Hayek, daß einer planenden und intervenierenden Instanz nie das Wissen zur Verfügung stehen kann, das notwendig wäre, um in einem so komplexen Gefiige, wie es die menschliche Gesellschaft darstellt, die gesamten Auswirkungen von Einzelmaßnahmen verläßlich vorhersehen zu können. Und sie verkennt das Potential zur Nutzung verstreuten Wissens und die darin liegende Anpassungsflexibilität, wie sie eine dezentrale soziale Ordnung auszeichnen, in der es den Einzelnen überlassen bleibt, im Rahmen allgemeiner Spielregeln die Handlungen zu wählen, die ihnen aufgrund ihrer spezifischen Kenntnisse am zweckmäßigsten erscheinen, statt den Anweisungen einer Planungsinstanz folgen zu müssen. Die zweite Spielart des konstruktivistischen Irrtums sieht Hayek in Vorstellungen von der Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Ordnung, die zwar die Bedeutung allgemeiner 18 Hayek (1971, S. 30) spricht von der „Grundtatsache der unvermeidlichen Unkenntnis des Menschen von einem Großteil dessen, worauf das Funktionieren einer Zivilisation beruht." 19 Hayek (1971, S. 30): „Viele utopische Konstruktionen sind wertlos, weil sie den Theoretikern in der Annahme folgen, daß wir vollkommenes Wissen besitzen." 20 Grundlegend dazu sind Hayeks Aufsatz „Wirtschaftstheorie und Wissen" (erstmals veröffentlicht 1937, wiederabgedruckt in Hayek 1976a, S. 49-77) und sein Aufsatz „Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft" (erstmals veröffentlicht 1945, wiederabgedruckt in Hayek 1976a, S. 103-121). 21 Hayek (1971, S. 191): „(D)as Wesentliche an den abstrakten Rechtsregeln ist, daß sie ... eines der Mittel sind, durch die der Mensch gelernt hat, mit seiner ihm innewohnenden Unwissenheit fertig zu werden." 22 Ausführlicher zum folgenden siehe Vanberg (1981, S. 12 ff.).

8 • Viktor J. Vanberg

Regeln für die Koordination menschlichen Zusammenlebens anerkennen, aber in intellektueller Anmaßung die Grenzen menschlichen Wissens bei der Gestaltung sozialer Regelordnungen verkennen. Die Anmaßung von Wissen zeigt sich hier in dem Anspruch, überlieferte Traditionen beiseite schieben und eine wünschenswerte Regelordnung rational neu entwerfen zu können. Diese Form eines konstruktivistischen Rationalismus verkennt, so Hayek, daß die Beurteilung der gesamten Steuerungswirkungen, die bestimmte Regeln oder Regelsysteme im komplexen Gefuge der menschlichen Gesellschaft entfalten, die Kräfte des menschlichen Verstandes bei weitem übersteigt und daß wir in dieser Frage darauf angewiesen sind, die Erfahrungen früherer Generationen zu nutzen, die in überlieferten Traditionen aufgespeichert sind. Aus diesen Überlegungen heraus kommt Hayek zu einer eher skeptischen Einschätzung der Rolle, die man der Politik bei der Gestaltung der institutionellen Rahmenordnung zutrauen kann.23 Was Hayeks Kritik der ersten Variante eines konstruktivistischen Rationalismus anbelangt, so befinden sich die Vertreter der Freiburger Schule zweifelsohne mit ihm in völliger Übereinstimmung. Hinsichtlich der zweiten Variante eines konstruktivistischen Rationalismus ist jedoch von Kommentatoren immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob Hayeks Skepsis gegenüber rational planender Regelgestaltung sich nicht auch gegen die Freiburger Vorstellung von der Rolle von Ordnungspolitik richten muß und ob in dieser Hinsicht der Hayeksche Denkansatz nicht doch in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Freiburger Tradition steht. In der Tat könnte es so scheinen, als ob der Nachdruck, mit dem die Freiburger Schule die ordnungspolitische Verantwortung des Staates betont, und die Hayeksche Kritik der zweiten Variante eines konstruktivistischen Rationalismus miteinander in Konflikt geraten. Bei näherer Prüfung läßt sich jedoch, wie ich meine, zeigen, daß es hier keineswegs um einander widersprechende Vorstellungen geht, sondern um zwar unterschiedliche, aber miteinander durchaus kompatible, ja einander ergänzende Sichtweisen.24 Während die Vertreter der Freiburger Schule die Hauptbedrohung einer marktlichen Wettbewerbsordnung und einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung darin erblicken, daß verkannt wird, wie sehr ihre verfassungsmäßigen Grundlagen der dauernden bewußten Pflege und wirksamen Durchsetzung bedürfen, hat Hayek primär die Bedrohung im Auge, die einer freiheitlichen Ordnung aus der Anmaßung von Wissen erwächst, die verkennt, wie sehr wir für die wünschenswerte Ordnung unseres Zusammenlebens auf das Wissensnutzungspotential spontaner Koordination und auf in Traditionen aufgespeicherte Erfahrungen angewiesen sind. Kommt die Freiburger Schule aus ihrer Problemsicht dazu, die Rolle des Staates als Hüter und Gestalter zweckmäßiger Spielregeln zu betonen und die Aussichten für die spontane Herausbildung einer geeigneten Regelordnung skeptisch zu beurteilen, so kommt Hayek aufgrund seiner Problemsicht dazu, vor allem zu betonen, wie sehr wir angesichts der Grenzen unseres Wissens auf die Koordinationskräfte spontaner Ordnung und auf den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren

23 Für eine ausführliche Erörterung der diesbezüglichen Überlegungen Hayeks, Theorie der kulturellen Evolution, siehe Vanberg (1994). 24 So auch die Einschätzung von Strei und Wohlgemuth (2000, S. 489 f.).

insbesondere seiner

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angewiesen sind, auch bei der Gestaltung des Regelrahmens selbst. Auch hier können wir, so Hayek, nicht im vorhinein wissen, welche Regelungen menschlichen Bedürfnissen am besten dienen, sondern sind auf die Erfahrungen angewiesen, die der Wettbewerb zwischen alternativen Regelungen in der bisherigen Geschichte menschlicher Ordnungsexperimente ergeben hat, wie wir auch in Zukunft in diesen Dingen nicht auf den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren werden verzichten können. Nun unterscheiden sich die beiden genannten Gesichtspunkte zwar deutlich voneinander, man wird sie aber nicht sinnvoll als einander ausschließende Sichtweisen betrachten können. Beide machen auf ein wichtiges Problem aufmerksam, und eine angemessene Vorstellung von den Problemen einer wünschenswerten Gestaltung menschlichen Zusammenlebens wird keine von beiden vernachlässigen können. Man kann denn auch weder den Vertretern der Freiburger Schule noch Hayek vorwerfen, daß sie bei aller Betonung ihres primären Anliegens den jeweils anderen Gesichtspunkt völlig ausgeblendet hätten. So haben die Freiburger nicht nur nachdrücklich die bedeutende soziale Funktion herausgestellt, die dem Wettbewerb als Entmachtungs- und Leistungsanreizmechanismus zukommt, sie haben auch keineswegs die von Hayek betonte Rolle des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren verkannt.25 Ihnen ging es aber vor allem darum, deutlich zu machen, daß die wünschenswerten Eigenschaften, die die liberale Tradition der marktlichen Wettbewerbsordnung zuschreibt, darin begründet und davon abhängig sind, daß ein geeigneter Rahmen von Spielregeln vorgegeben ist, der die wettbewerblichen Anstrengungen der Marktakteure in sozial produktive Bahnen lenkt.26 Bei aller Betonung der Rolle, die dem Wettbewerb für die Nutzung verstreuten Wissens und die Entdeckung neuen Wissens zukommt, hat auch Hayek seinerseits nicht verkannt, daß nicht jegliche Form von Wettbewerb sozial wünschenswerte Eigenschaften aufweist, sondern nur ein unter geeigneten Regeln stattfindender Wettbewerb. In diesem Sinne hat auch er keinen Zweifel daran gelassen, daß marktlicher Wettbewerb ein an bestimmte Spielregeln gebundener Wettbewerb ist und daß seine wünschenswerten Funktionseigenschaften von der Eignung des Regelrahmens abhängen. Und er hat in Formulierungen, die denen der Freiburger Schule recht nahekommen, ebenfalls moniert, daß ein Laissez-faire-Liberalismus dazu neigt, die Probleme zu vernachlässigen, die dem Staat mit der Aufgabe der Pflege und Sicherung eines angemessenen Regelrahmens in einer sich ständig wandelnden Welt gestellt sind.27 In Der Weg zur Knechtschaft lesen wir dazu etwa: „Der Liberalismus lehrt, daß wir den bestmöglichen Gebrauch von den Kräften des Wettbewerbs machen sollen, ... er lehrt aber nicht, daß wir die Dinge sich selbst überlassen sollen. ... Er leugnet nicht, sondern legt sogar be-

25 Siehe dazu etwa die Bemerkungen Euckens (1951, S. 17 ff.) zum Zusammenhang von technologischer Entwicklung und Wettbewerb. 26 Daß unser Wissen darum, welche Spielregeln „geeignet" sind, begrenzt ist, hätten die Begründer der Freiburger Schule sicherlich bereitwillig eingeräumt, und sie hätten Hayek gewiß auch darin zugestimmt, daß ordnungspolitische Gestaltungsbemühungen deshalb mit angemessener Vorsicht und dem Respekt vor in bewährten Traditionen akkumulierten Erfahrungen erfolgen sollten. 27 Zu den ordnungspolitischen Argumenten bei Hayek siehe etwa Hayek (1952, S. 36 f., 37 f., 58 f., 60 f., 62, 66). Für eine ausführlichere Erörterung siehe Vanberg (1990, S. 52 ff.; 2001b, S. 55 ff.).

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sonderen Nachdruck darauf, daß ein sorgfältig durchdachter rechtlicher Rahmen die Vorbedingung für ein ersprießliches Funktionieren der Konkurrenz ist" (Hayek 1952, S. 58). Man muß freilich einräumen, daß entsprechende Äußerungen eher in Schriften Hayeks zu finden sind, die aus den vierziger und frühen fünfziger Jahren stammen.28 In seinen späteren Schriften tritt zunehmend der Gedanke der kulturellen Evolution als einem spontanen Prozeß der wettbewerblichen Auslese von Regeln und Regelordnungen in den Vordergrund und verdrängt die Vorstellung von der Rolle planvoller Ordnungsgestaltung.29 In diesem Teil seines Werkes setzt Hayek in der Tat deutlich andere Akzente als die Freiburger Schule mit ihrem ordnungspolitischen Impetus.30

III. Privilegienfreiheit und Privilegiensuche Nachdem ich im vorhergehenden versucht habe, einen allgemeinen Überblick über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Liberalismus Hayeks und dem Ordoliberalismus der Freiburger Schule zu geben, möchte ich im verbleibenden Teil meines Beitrages etwas näher auf einen wesentlichen Gedanken eingehen, der in beiden Ansätzen eine gleichermaßen zentrale Rolle spielt und in dem sie sich in völliger Übereinstimmung befinden. Es geht dabei um den Gedanken, daß das Ideal einer privilegienfreien Ordnung den Kern der liberalen Konzeption ausmacht, daß dieses Ideal ständig gegen die Privilegieninteressen einzelner Gruppen verteidigt werden muß und daß die Chancen seiner Realisierung davon abhängen, wie wirksam der politische Prozeß gegen den Einfluß privilegiensuchender Gruppeninteressen abgeschirmt werden kann. 28 Auch in seiner Freiburger Antrittsvorlesung betonte Hayek (1969, S. 13), daß die „Hauptaufgabe der Wirtschaftspolitik" darin liege, „ein Rahmenwerk zu schaffen", innerhalb dessen die einzelnen frei entscheiden können. - Siehe ebenfalls Hayeks Bemerkungen zur „positiven Aufgabe der Verbesserung unserer Einrichtungen" in Hayek (1971, S. 5,40, 80, 87 f., 139, 296 f.). 29 Dies gilt insbesondere für Hayeks letzte Buchveröffentlichung The Fatal Conceit (erschienen 1988), zu der man freilich anmerken muß, daß sie deutlich durch die Handschrift von W. IV. Bartley geprägt ist, der ein Rohmanuskript Hayeks, das dieser nicht mehr fertigstellen konnte, für die Publikation bearbeitet hat. - Trotz der genannten Akzent Verlagerung in Hayeks Werk lassen sich allerdings auch durchaus in seinen späteren Schriften Argumente finden, die die Notwendigkeit planvoller Ordnungsgestaltung anerkennen, so etwa in Hayek (1976b, S. 42): „In the abstract order in which we live and to which we owe most of the advantages of civilization, it must thus in the last resort be our intellect and not intuitive perception of what is good which must guide us." 30 Bezeichnend ist in dieser Hinsicht die unterschiedliche Bewertung des Werkes von F. C. von Savigny bei den Begründern der Freiburger Schule einerseits und bei Hayek andererseits. Die Freiburger warfen dem juristischen Historismus Savignys vor, durch sein „Blankovertrauen in die still wirkenden Kräfte der Rechtserzeugung" (Böhm 1960a, S. 170) einem ,jurstischen Fatalismus" Vorschub zu leisten, und sie hielten dem entgegen: „Die inneren, stillwirkenden Kräfte, welchen nach Savignys Ansicht die Rechtsbildung zukommen sollte, haben im Laufe des 19. Jahrhunderts ihren Charakter gründlich geändert: Massive wirtschaftliche Machtgruppen größten Ausmaßes entstanden und gestalteten Recht in höchst einseitiger Weise" {Böhm, Eucken und Großmann-Doerth 1937, S. X). - Hayek führt demgegenüber Savigny als Hauptrepräsentanten der Tradition einer evolutionären Sozialtheorie an, in die er sich selbst einordnet: „After the beginnings made by the Scottish philosophers, the systematic development of the evolutionary approach to social phenomena took place mainly in Germany through Wilhelm von Humboldt and F. C. von Savigny" (Hayek 1973, S. 22; siehe auch S. 74).

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In besonders eindrücklicher Weise hat Franz Böhm in seinem Aufsatz „Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft" 31 die ordoliberale Vorstellung von der marktlichen Wettbewerbsordnung als einer privilegienfreien Ordnung beschrieben, die auf für alle Beteiligten gleichen Spielregeln beruht. 32 In diesem Aufsatz treten die grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen dem Freiburger Ansatz und dem Denken Hayeks besonders deutlich zutage, und es wird denn auch berichtet, daß Hayek, der von 1963 bis 1970 dem Vorstand des Freiburger Walter Eucken Instituts angehörte und der zugegen war, als Böhm vor dem Eucken Institut die Gedanken seines Aufsatzes vortrug, Böhm am Ende seines Vortrages in einer spontanen Geste der Zustimmung umarmt habe. Das Thema, das Franz Böhm in diesem Aufsatz behandelt, ist der Gedanke, daß die marktliche Wettbewerbsordnung als integraler Bestandteil einer Privatrechtsordnung verstanden werden muß. Das „marktwirtschaftliche System und die privilegienlose Zivilrechtsgesellschaft" sind, so betont er (Böhm 1980, S. 164), historisch und systematisch untrennbar verbunden im Sinne einer verfassungspolitischen Grundentscheidung zugunsten einer Gesellschaft, in der J e d e r die gleichen Rechte und den gleichen Status, nämlich den Status einer Person des Privatrechts" (S. 107) hat, im Gegensatz zu einem privilegienrechtlichen System, wie es etwa für die Feudalgesellschaft charakteristisch war. Die theoretische Erkenntnis, daß eine solche Ordnung der Privilegienfreiheit und Rechtsgleichheit in ihrem produktiven Potential anderen Ordnungen überlegen ist, war, wie Böhm hervorhebt, die große Entdeckung der klassischen Nationalökonomie. 33 Sie erbrachten den „Nachweis, daß die wirtschaftenden Individuen sogar in einer raffiniert arbeitsteiligen Gesellschaft vom Markt sehr viel vernünftiger und wirksamer gelenkt, aufeinander abgestimmt und kontrolliert werden als von der besten Regierung" {Böhm 1980, S. 197). In einer auf für alle gleichen allgemeinen Spielregeln beruhenden marktlichen Ordnung, so schreibt Böhm in einem Beitrag aus dem Jahre 1957, in dem er rückblickend über die Anfänge der Freiburger Schule berichtet, ist jeder einzelne „zwar von der Gesamtheit aller individuellen Pläne seiner Mitmenschen abhängig, aber er ist nicht abhängig von dem Willen einzelner Mitmenschen, auch nicht von dem Willen einer politischen Obrigkeit" (Böhm 1960a, S. 173). Die Koordination der Einzelbestrebungen wird vermittelt „durch eine Verfahrensordnung, durch ein auf allgemeine Prinzipien gegründetes Reglement" (S. 174). Und erläuternd fügt Böhm hinzu: „Dieses Unterworfensein von Individuen ... unter ein für alle gleiches, nur die Prozedur regelndes Gesetz ist aber identisch mit dem, was politisch, sozial und rechtsstaatlich als Freiheit bezeichnet wird. Es ist das eine Freiheit, die ihre Grenze findet in der gleichen Freiheit aller übrigen Mitglieder der Gesellschaft. Ein solches Freiheitssystem nannten die Griechen ,Isonomia"'.

31 Böhm (1966), im folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck in Böhm (1980, S. 105-168). 32 Für eine ausführlichere Erörterung der diesbezüglichen Argumente von Franz Böhm siehe Vanberg (1997, S. 715 ff.). 33 Böhm (1980, S. 197): „Fragt man, worin der Beitrag der klassischen Nationalökonomie zum politischen Freiheitskampf des 18. Jahrhunderts bestand, so lautet die Antwort: in der Entdeckung des Marktmechanismus." Siehe dazu auch Böhm (1973, S. 30 ff.; 1980, S. 238, 255).

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Mit gleichem Nachdruck wie Franz Böhm, in dessen Konzept der privilegienfreien Privatrechtsgesellschaft er eine treffende Kennzeichnung für eine liberale Gesellschaftsordnung sah (Hayek 1969, S. 116), hat auch Hayek betont, daß das Ideal einer privilegienfreien Ordnung den Kern des liberalen Plädoyers für die marktliche Wettbewerbsordnung ausmacht.34 Ähnlich wie Böhm stellt Hayek den Unterschied zwischen dem liberalen Ideal einer privilegienfreien Ordnung und einer Ordnung heraus, die auf an den Status gebundenen Sonderrechten beruht. „Der eigentliche Gegensatz zu einer Ordnung durch Status", so stellt er fest, „ist die Herrschaft durch allgemeine und gleiche Gesetze, durch Regeln, die für alle dieselben sind, oder ... die Herrschaft von ,leges' im ursprünglichen Sinne des lateinischen Wortes für Gesetz, im Gegensatz zu privi-leges (wörtlich die .Sonderrechte')" (Hayek 1971, S. 185 f.). Im Vorwort zu einer Neuauflage von „The Road to Serfdom" (Hayek 1972, S. ix f.) bekräftigt Hayek dies mit den Worten: „Der Kern der liberalen Position ist die Ablehnung jeglichen Privilegs, wenn man unter einem Privileg im eigentlichen und ursprünglichen Wortsinne versteht, daß der Staat einigen Rechte gewährt und für sie durchsetzt, die andere nicht unter gleichen Bedingungen erlangen können."35 So sehr die Freiburger Ordoliberalen ebenso wie Hayek davon überzeugt waren, daß die privilegienfreie marktliche Wettbewerbsordnung eine für alle Beteiligten wünschenswerte Ordnung ist, 36 so haben sie doch mit großer Klarheit gesehen, daß daraus nicht ohne weiteres folgt, daß alle Beteiligten sich auch bereitwillig den Spielregeln dieser Ordnung unterwerfen werden. Zu groß ist die Versuchung, sich dort, wo dies möglich erscheint, Sonderrechte zu erwirken, die es einem erlauben, an den allgemeinen Vorteilen einer Wettbewerbswirtschaft zu partizipieren, sich selbst aber die Belastungen des Wettbewerbs zu ersparen. Die produktive Dynamik und das Wohlstandsschaffungspotential des marktlichen Wettbewerbs hat darin seine Grundlage, daß seine allgemeinen Spielregeln es den einzelnen freistellen, durch bessere Leistung jederzeit die Position etablierter Leistungsanbieter angreifen zu können, und daß sie die unternehmerische Initiative deijenigen prä34 Über die Regeln einer solchen Ordnung von Rechtsgleichen stellt Hayek (1969, S. 50) fest: „Weil diese Regeln gleichermaßen für alle ... gelten ..., ist es höchst unwahrscheinlich, daß durch sie die Freiheit je eine ungebührliche Beschränkung erfahren sollte. Sie würden Regeln darstellen, die wohl mehr oder minder zweckmäßig sein können, aber nie jemandem etwas verbieten, was jemand anderem unter den gleichen Bedingungen erlaubt ist. Sie mögen wohl gewisse Handlungsweisen - etwa gefährliche Produktionsmethoden - allgemein verbieten oder nur unter bestimmten Bedingungen zulassen. Was sie ausschließen, ist jede Art vom Staat geförderter Privilegien oder von Diskriminierung. Sie würden ein für alle gleiches Rahmenwerk bieten, innerhalb dessen jeder weiß, daß er das gleiche tun darf wie jeder andere." 35 Hayek (1976a, S. 45 f.): „Der [liberale, V.V.] Individualismus ist gegen verbriefte Vorrechte und lehnt jeden Schutz von Rechten, ob durch Gesetz oder Gewalt, entschieden ab, die nicht auf Gesetzen beruhen, die auf alle Personen gleichermaßen anwendbar sind." - Siehe auch Hayeks Bemerkungen zum klassischen Ideal der „Isonomia" (1976a, S. 201 f.). 36 Zur Frage, was eine „wünschenswerte" Ordnung auszeichnet, stellt Hayek (1976b, S. 132) fest: „The conclusion to which our considerations lead is thus that we should regard as the most desirable order of society one which we would choose if we knew that our initial position in it would be decided purely by chance. ... (T)he best society would be that in which we would prefer to place our children if we knew that their position in it would be determined by lot." - Siehe auch Hayek (1973, S. 33), wo Hayek von dem Bemühen spricht, „to make society good in the sense that we shall like to live in it".

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mieren, die es verstehen, durch innovatives Handeln Konsumentenwünsche besser zu befriedigen, als dies zuvor geschah.37 Der Preis, den die einzelnen für diese produktive Seite des „Katallaxie-Spiels" zu zahlen haben, liegt aber darin, daß die ständigen Veränderungen, die durch das innovative Handeln anderer Marktteilnehmer induziert werden, einen dauernden Anpassungsdruck erzeugen, der als belastend empfunden wird.38 Als belastend empfunden wird insbesondere der Umstand, daß der eigenen Kontrolle völlig entzogene Veränderungen im marktlichen Nexus die eigenen Einkommensmöglichkeiten und den Wert eigenen Real- und Humankapitals merklich beeinträchtigen können, mit der Folge, daß man gezwungen sein mag, die gewohnte wirtschaftliche Tätigkeit aufzugeben und neue Möglichkeiten des Einkommenserwerbs zu suchen. Nun wird dieser Anpassungsdruck zwar als Belastung empfunden, er ist aber ein Preis, der es wert ist, gezahlt zu werden, wenn man sich dadurch die Vorteile sichern kann, die eine dynamische Wettbewerbswirtschaft auf der anderen Seite zu bieten vermag. Dort, wo es möglich erscheint, erspart man es sich aber natürlich gern, diesen Preis zu zahlen, wenn man dies kann, ohne ansonsten auf die Vorteile einer marktlichen Ordnung verzichten zu müssen.39 Eben darin liegt der Anreiz, beim Staat um das Privileg nachzusuchen, gegen Wettbewerbsdruck abgeschirmt oder gegen wettbewerbsbedingte Einkommensminderungen geschützt zu werden. Die Festlegung auf eine wettbewerbliche Wirtschaftsverfassung bedeutet aus der Sicht der Freiburger Schule in diesem Sinne eine gemeinsame Selbstbindung, ein wechselseitiges Versprechen aller Beteiligten, sich um der dadurch zu sichernden allgemeinen Vorteile willen den wettbewerblichen Zwängen zu unterwerfen.40 Die Vertreter der Freiburger Schule haben dabei, wie im übrigen Hayek auch, durchaus deutlich gemacht, daß das liberale Ideal privilegienfreier Ordnung keineswegs Vorkehrungen ausschließt, durch die sich die Mitglieder eines politischen Gemeinwesen wechselseitig gegen gewisse Einkommensrisiken absichern, die ein dynamischer Marktprozeß mit sich bringt. Es verbietet der Regierung und dem Gesetzgeber jedoch, privilegierende Regelungen zu 37 In der Metapher des fairen wettbewerblichen Spiels, das nach für alle gleichen Spielregeln ausgetragen wird, spricht Hayek vom Markt als dem „game of catallaxy" (Hayek 1976b, S. 115) und bemerkt dazu: „It is a wealth-creating (and not what game theory calls a zero-sum game), that is, one that leads to an increase of the stream of goods and of the prospects of all participants to satisfy their needs". 38 Zum Konflikt zwischen der Dynamik der Wettbewerbsordnung und dem Wunsch nach „Stabilität der sozialen Lebensverhältnisse" siehe Böhm (1937, S. 17 f., 22 ff., 42 ff.). 39 Hayek (1979, S. 77) kommentiert das hier erörterte Problem mit den Worten: „To those with whom others compete, the fact that they have competitors is always a nuisance that prevents a quiet life; and such direct effects of competition are always much more visible than the indirect benefits which we derive from it. In particular, the direct effects will be felt by the members of the same trade who see how competition is operating, while the consumer will generally have little idea to whose actions the reduction of prices or the improvement of quality are due." 40 Hayek hat zwar nicht wie die Freiburger von einer „verfassungsmäßigen Grundentscheidung" für die marktliche Wettbewerbsordnung gesprochen, in der Sache stimmt er aber mit der Freiburger Sicht überein, wenn er feststellt: „All the benefits we receive from the spontaneous order of the market are the results of such changes. But every change of this kind will hurt some organized interests; and the preservation of the market order will therefore depend on those interests not being allowed to prevent what they dislike. All the time it is thus the interest of most that some be placed under the necessity of doing something they dislike (such as changing their jobs or accepting a lower income)" (Hayek 1979, S. 94).

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erlassen, die nur für bestimmte Gruppen und nicht für alle Bürger in gleicher Weise gelten.41 Der Test für die Wünschbarkeit von Absicherungsregelungen liegt in diesem Sinne darin, daß sie auch dann noch mit guten Gründen empfohlen werden können, wenn sie diskriminierungsfrei für alle gelten sollen.42 Die allgemeine Problematik, die daraus resultiert, daß Interessengruppen den politischen Prozeß nutzen, um für ihre Mitglieder eine privilegierte Stellung im Wettbewerbsspiel des Marktes zu sichern, haben die Vertreter der Freiburger Schule ausführlich unter dem Stichwort der „Refeudalisierung der Gesellschaft" (Böhm 1980, S. 258) erörtert. Sie haben damit den Kern dessen vorweggenommen, was in der modernen politischen Ökonomie oder Public Choice Theorie unter dem Begriff des Rent-Seeking thematisiert wird.

IV. Freiheitliche Ordnung und Staatsverfassung Offenkundig stellt sich für Hayek ebenso wie für die Vertreter der Freiburger Schule ein grundlegendes Problem. Einerseits sind sie davon überzeugt, daß die von ihnen empfohlene liberale Ordnung eine für die Menschen wünschenswerte Ordnung ist, eine Ordnung, die die Menschen vorziehen würden, wenn sie sich zwischen ihr und alternativen realisierbaren Ordnungen entscheiden müßten. Andererseits sehen sie, daß die Dynamik der Privilegiensuche im politischen Prozeß systematisch dazu führt, die Grundlagen einer solchen Ordnung zu untergraben. Durch ihr Bestreben, je für sich das Privileg zu erwerben, vom Druck des Wettbewerbs oder seinen Auswirkungen verschont zu bleiben, bringen die Beteiligten unintendiert eine von Privilegien durchsetzte Ordnung hervor, die für alle von Nachteil ist und die sie nie wählen würden, wenn sie sich zwischen ihr und einer privilegienfreien Wettbewerbsordnung entscheiden müßten. Gerade für die Freiburger Schule tut sich damit ein Dilemma auf, zeigt sich hier doch, daß der Staat, bei dem sie die Verantwortung für die pflegerische Gestaltung der Rahmenordnung angesiedelt sieht, selbst eine Hauptquelle der Probleme ist, die er kurieren soll 43 Dies wirft die Frage auf, welcher Ausweg sich aus diesem anscheinenden Dilemma finden läßt. - Auch in dieser Frage besteht zwischen den Vertretern der Freiburger Schule und Hayek grundsätzliche Übereinstimmung dahingehend, daß der Schlüssel zur Sicherung einer wünschenswerten Regelordnung in der angemessenen Gestaltung 41 Hayek (1976b, S. 129): „Every act of interference thus creates a privilege in the sense that it will secure benefits to some at the expense of others, in a manner which cannot be justified by principles capable of general application." - Hayek (1971, S. 68): „Das Argument für die Freiheit ist letztlich tatsächlich ein Argument für Prinzipien und gegen Zweckmäßigkeit im kollektiven Handeln." 42 Zur Bedeutung von Zustimmung als Kriterium für die Abgrenzung von Privilegien siehe Hayek (1971, S. 186). 43 Eucken (1990 [1952], S. 338): „Die Interdependenz von Staatsordnung und Wirtschaftsordnung zwingt dazu, den Ordnungsaufbau von beiden in einem Zug in Angriff zu nehmen. ... Ohne Wettbewerbsordnung kann kein aktionsfähiger Staat entstehen und ohne einen aktionsfUhigen Staat keine Wettbewerbsordnung." - und (S. 334): „Weil aber diese allgemeine Interdependenz besteht, kann die Frage nach dem Aufbau des Staates, der die neufeudalen Abhängigkeiten überwindet, nur so gestellt werden, daß die Probleme der Staatsordnung und der Wirtschaftsordnung in Zusammenhang gebracht werden."

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der politischen Verfassung liegt. Und als entscheidend betrachten sie gleichermaßen die Beschränkung staatlicher Macht zur Privilegienvergabe. Eucken hat das hier in Frage stehende Problem mit der oft mißverstandenen Formel vom „starken Staat" angesprochen. Mit dieser Formel wollte er sich keineswegs für einen autoritären, mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten Staat aussprechen. Es ging ihm vielmehr um den Gedanken einer Staatsverfassung, die geeignet ist, die Privilegiensuche von Interessengruppen abzuwehren. Und was diese Frage anbelangt, so machte er eindeutig klar, daß ein in seinem Sinne „starker" Staat gerade ein in seinen Kompetenzen strikt beschränkter Staat ist. Gerade die „Politisierung der Wirtschaft" (Eucken 1932, S. 303) und die durch sie herbeigeführte „Umwandlung des liberalen Staates zum Wirtschaftsstaat" (S. 307) bedeute, so das Urteil Euckens, keineswegs „eine Stärkung, sondern im Gegenteil eine Schwächung des Staates".44 Der „weitaus wichtigste Wesenszug staatlicher Entwicklung im 20. Jahrhundert" ist aus Euckenscher Sicht „die Zunahme im Umfange staatlicher Tätigkeit und die gleichzeitige Abnahme der staatlichen Autorität (.Eucken 1990 [1952], S. 327). Der „interventionistische Wirtschafitsstaat" (S. 309) wird, so Euckens Diagnose, unvermeidlich zur Zielscheibe der Anforderungen verschiedenster Gruppen. Und nur in dem Maße, in dem die Macht des Staates zur interventionistischen Privilegienvergabe beschränkt werden kann, nur in dem Maße kann den Interessengruppen der Anreiz genommen werden, den politischen Prozeß zur Erlangung von Privilegien beeinflussen zu wollen. 45 Was man der Euckenschen Formel vom starken Staat kritisch vorhalten kann, ist wohl eher, daß noch nicht sehr viel Inhaltliches zu den Charakteristika eines solchen Staates gesagt ist, wenn man einerseits feststellt, daß es eines starken Staates bedarf, um die Privilegiensuche von Sonderinteressen abzuwehren, und man andererseits einen starken Staat dadurch kennzeichnet, daß er in der Lage ist, solche Privilegiensuche abzuwehren.46 Was offenkundig näher zu bestimmen wäre, sind die verfassungsmäßigen 44 Eucken (1997 [1932], S. 13): „Die Umwandlung des liberalen Staates zum Wirtschaftsstaat bedeutet für das staatliche, wie ftlr das wirtschaftliche Leben sehr viel. Daß mit diesem Prozeß die Größe des Staatsapparates außerordentlich wächst, daß sein Etat mächtig anschwillt, daß er mit seinen Subventionen, Zöllen, Einfuhrverboten, Kontingenten, Moratorien usw mit seinen stark gesteigerten Steuerungsansprüchen ... eine entschiedene Expansion der Staatstätigkeiten vollzieht, ist oft geschildert worden. Solche Tatsachen dürfen aber nicht eine andere Seite der Sache übersehen lassen; diese Expansion nämlich ... bedeutete nicht etwa eine Stärkung, sondern ganz im Gegenteil eine Schwächung des Staates .... Seine Handlungen werden abhängig von dem Willen der wirtschaftlichen Gruppen, denen er mehr und mehr als Werkzeug dient." - Im Hinblick auf das Problem der „Refeudalisierung der Gesellschaft" durch staatliche Privilegienvergabe stellt auch Böhm (1980, S. 258) fest: „Was sich ereignen wird, ist... nämlich der schwache Staat, der sich in alles mischt, der schwache Staat, der zum Spielball rivalisierender organisierter Interessen wird." 45 Daß dies einen anders verfaßten Staat als den vorhandenen erfordert, war für Eucken selbstverständlich: „So falsch es ist, im vorhandenen Staat einen allwissenden und allmächtigen Betreuer allen wirtschaftlichen Geschehens zu erblicken, so unrichtig ist es auch, den faktisch vorhandenen, von Machtgruppen zersetzten Staat als Datum hinzunehmen und dann - folgerichtig - an der Möglichkeit der Bewältigung des wirtschaftlichen Ordnungsproblems zu verzweifeln" (Eucken 1990 [1952], S. 338). 46 Näher heißt es dazu bei Eucken (1990 [1952], S. 337): „Die beiden Grundsätze der Staatspolitik, die darauf zielen, den Staat als ordnende Potenz wirksam werden zu lassen, harmonisieren aber auch vollständig mit den Prinzipien, die für den Aufbau einer zureichenden Wirtschaftsordnung gelten." - Die „beiden Grundsätze", auf die Eucken verweist, sind: „Erster Grundsatz: Die Politik des Staates sollte

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Charakteristika eines Staates, der seiner Rolle „als Hüter der Wettbewerbsordnung" {Eucken 1990 [1952], S. 327) gerecht wird, und in dem die Chancen erfolgreicher Privilegiensuche wirksam eingeschränkt sind. Daß sich hier das Problem einer zweckmäßigen Gestaltung der Staatsverfassung stellt, sozusagen einer Ordnungspolitik für den politischen Bereich, wurde von Eucken und Böhm klar gesehen,47 wenn sie diese Frage auch nur in Ansätzen explizit behandelt haben. Eine Arbeit zu diesem Thema hatte Eucken geplant, doch verhinderte sein früher Tod, daß er diesen Plan ausfuhren konnte. Hayek hat sich dieser Frage ausfuhrlicher gewidmet, und seine Vorschläge zur Reform demokratischer Institutionen sind explizit als mögliche Lösung fur das Problem gedacht, wie man den politischen Prozeß gegen den Einfluß privilegiensuchender Interessengruppen abschirmen kann.48 Auch für ihn steht, ganz im Sinne der Euckenschen Formel, außer Frage, daß der allzuständige, in den Wirtschaftsablauf dauernd eingreifende Staat ein „schwacher Staat" ist49 und daß seine Widerstandskraft gegenüber dem Einfluß von Interessengruppen nur dadurch gestärkt werden kann, daß seine Macht wirksam begrenzt ist.50 Den wesentlichen Konstruktionsfehler der vorherrschenden demokratischen Verfassungen sieht Hayek darin, daß ein und dieselbe repräsentative Körperschaft mit zwei grundlegend verschiedenen Aufgaben betraut ist, die irrefuhrenderweise beide unter dem Namen „Gesetzgebung" zusammengefaßt zu werden pflegen. Ihr obliegt einerseits die Gesetzgebung im eigentlichen Sinne, d. h. die Änderung und Anpassung des Rahmenwerks von allgemeinen Regeln, auf denen die Organisation des Staates und die spontane Ordnung der Gesellschaft beruhen. Andererseits ist sie damit befaßt, die laufenden Regierungsgeschäfte zu überwachen und über konkrete Regierungsmaßnahmen zu beschließen. Eine solche Konstruktion muß aber, so die Diagnose Hayeks, zwangsläufig dazu fuhren, daß die ordnungspolitische Aufgabe der wünschenswerten Gestaltung des allgemeinen Regelrahmens zu sehr unter dem Gesichtspunkt tagespolitischer Opportunität wahrgenommen wird statt unter dem dafür allein angemessenen Gesichtspunkt der langfristigen Steuerungswirkung von Regeln. Diese institutionelle Konstruktion muß zwangsläufig dazu fuhren, so Hayeks Diagnose, daß Regierungen um der Sicherung der sie tragenden Mehrheiten willen gezwungen sind,

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darauf gerichtet sein, wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen oder ihre Funktion zu begrenzen" (S. 334). „Zweiter Grundsatz: Die wirtschaftspolitische Tätigkeit des Staates sollte auf die Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftprozesses." Eucken (1990 [1952], S. 327): „Und so wird man wieder auf die Frage zurückgeworfen: Wie kann der moderne Staat eine Potenz werden, die eine brauchbare Wirtschaftsverfassung verwirklicht?" - und (S. 331 f.): „Die Ordnung des Staates ist ebenso eine Aufgabe wie die Ordnung der Wirtschaft. ... Denn es ist auch die ordnungspolitische Frage zu stellen: Wie kann ein leistungsfähiger Rechtsstaat aufgebaut werden? ... Und so bedarf der Aufbau des Staates abermals von Grund auf ordnungspolitischer Durchdenkung." Ausführlicher zum folgenden siehe Vanberg (2001, S. 83 ff.). Hayek (1979, S. 99): „(A)ll government, specially if democratic, should be limited. The reason is that democratic government, if nominally omnipotent, becomes as a result of unlimited powers exceedingly weak, the playball of all the separate interests it has to satisfy to secure majority support." Hayek (1979, S. 128): „(T)he very omnipotence conferred on democratic representative assemblies exposes them to irresistable pressure to use their power for the benefit of special interests, a pressure a majority with unlimited power cannot resist if it is to remain a majority. This development can be prevented only by depriving the governing majority of the power to grant discriminatory benefits to groups or individuals."

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den Forderungen von Interessengruppen nach sie begünstigenden Eingriffen nachzugeben, da der kurzfristige Wert der dadurch erlangten Unterstützung im Konkurrenzkampf um Wählerstimmen für sie schwerer wiegt als die verhängnisvollen längerfristigen Schädigungen, die aus der Erosion des Regelrahmens erwachsen.51 Entsprechend seiner Diagnose kann eine Lösung des beschriebenen Problems nach Hayek nur in einer geeigneten Reform demokratischer Institutionen gefunden werden, einer Reform, die insbesondere eine strikte Trennung zwischen den beiden erwähnten Funktionen, also der eigentlichen Gesetzgebung und der Überwachung des konkreten Regierungshandelns, sichert. Hayeks Reformvorschlag läuft in diesem Sinne darauf hinaus, voneinander unabhängige und durch unterschiedliche Wahlverfahren gebildete Vertretungskörperschaften vorzusehen, die jeweils ausschließlich mit einer der beiden Aufgaben betraut sind. Dabei ist durch die Regelungen für die Wahl der Vertreter sowie durch die sonstigen Spielregeln vor allem sicherzustellen, daß die eigentliche Gesetzgebungskörperschaft eine möglichst große Gewähr dafür bietet, daß sie ihre Aufgabe der Gestaltung des Regelrahmens, sowohl der Regeln für den politischen Prozeß wie auch der Spielregeln der Privatrechtsordnung, ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Wünschbarkeit langfristiger Steuerungswirkungen und nicht unter dem Einfluß tagespolitischer Opportunität wahrnimmt. Hayeks Überlegungen zur Reform demokratischer Institutionen {Hayek 1979, S. 105 ff.) sind vielfach auf Kritik gestoßen, wobei sich die Kritiker vor allem an seinen spezifischen Vorschlägen für die Zusammensetzung der und die Wahl zur eigentlichen gesetzgebenden Vertretungskörperschaft gestoßen haben, insbesondere an seinen Ideen zur Rolle von Alterskohorten. So sehr man über diese recht konkreten Vorschläge auch sicherlich streiten kann, so bleibt doch auch ein Großteil der Kritik nach meiner Auffassung unbefriedigend, da sie allzu leicht das grundsätzliche Problem aus dem Auge verliert, um das es Hayek ging, die Frage nämlich, durch welche institutionellen Vorkehrungen man dem Problem entgegenwirken kann, das die Freiburger Schule mit dem Begriff der „Refeudalisierung" umschreibt, ein Problem, das in der Tat eine der Hauptbedrohungen funktionsfähiger Regelordnungen darstellt. Es wäre zu wünschen, daß diejenigen, die Hayeks konkrete Vorschläge kritisch werten, es nicht bei der Kritik belassen, sondern sich auch der Mühe unterziehen, ihrerseits das eigentliche Problem anzugehen und aufzuzeigen, welche angemesseneren Lösungsmöglichkeiten sie sich vorstellen können.

V. Schluß In diesem Beitrag ging es mir darum, das so häufig kommentierte Gemisch von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Vorstellungen Hayeks und dem Ansatz der Freiburger Schule einmal etwas näher zu beleuchten. Mein Ziel war es, deutlich zu machen, daß die zwischen beiden bestehenden Unterschiede keineswegs Ausdruck ein51 Hayek (1979, S. 102): „An omnipotent sovereign parliament, not confined to laying down general rules, means that we have ... a government which ... must maintain itself by handing out special favours to particular groups."

18 • Viktor J. Vanberg ander widersprechender Auffassungen, sondern vielmehr eine Frage unterschiedlicher Akzentsetzungen sind. Bei den Freiburgern liegt der Akzent darauf, daß die produktive marktliche Wettbewerbsordnung eines geeigneten Regelrahmens bedarf und daß eine in diesem Sinne geeignete Wirtschaftsverfassung nicht aus dem spontanen Zusammenspiel der Einzelinteressen heraus entsteht und durchgesetzt wird, sondern daß dies bewußtes und verantwortliches staatliches Handeln erfordert. Bei Hayek liegt der Akzent darauf, daß wir uns angesichts der unaufhebbaren Begrenztheit unseres Wissens bei unseren Bemühungen um eine wünschenswerte Ordnung unseres Zusammenlebens auf die Koordinationsleistung allgemeiner Regeln und auf das Entdeckungspotential des Wettbewerbs stützen müssen. Wie ich zu zeigen versucht habe, sind diese beiden Gesichtspunkte nicht nur kompatibel miteinander, sie ergänzen einander in bedeutsamer Weise.

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Friedrich A. Hayek und die Freiburger Schule • 19

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Zusammenfassung Gegenstand dieses Beitrages ist das häufig kommentierte Gemisch von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Vorstellungen F. A. Hayeks und dem Ansatz der Freiburger Schule. Es wird gezeigt, daß die durchaus bestehenden Unterschiede keineswegs Ausdruck einander widersprechender Auffassungen sind, sondern vielmehr unterschiedliche Akzentsetzungen widerspiegeln. Bei den Freiburgem liegt der Akzent darauf, daß der für einen produktiven marktlichen Wettbewerb erforderliche Regelrahmen nicht aus dem bloßen Zusammenspiel der Einzelinteressen heraus spontan entsteht, sondern daß er der bewußten Pflege durch verantwortliches staatliches Handeln bedarf. Bei Hayek liegt der Akzent darauf, daß wir uns angesichts der unaufhebbaren Begrenztheit unseres Wissens bei unseren Bemühungen um eine wünschenswerte Ordnung unseres Zusammenlebens auf die Koordinationsleistung allgemeiner Regeln und auf das

2 0 • Viktor J. Vanberg

Entdeckungspotential des Wettbewerbs stützen müssen. Es wird gezeigt, daß beide Gesichtspunkte nicht nur kompatibel miteinander sind, sondern einander in bedeutsamer Weise ergänzen. Summary Friedrich A. Hayek and the Freiburg School The subject of this paper is the often noted mixture of commonality and differences between F. A. Hayek's theoretical outlook and the research paradigm of the Freiburg School. It is argued that the differences that indeed exist do not indicate contradictory views but reflect, instead, differences of emphasis only. The emphasis of the Freiburg School approach is on the fact that the institutional framework, required for a beneficial working of the competitive market process, cannot be expected to emerge spontaneously, from the pursuit of individual self-interest alone, but requires the deliberate cultivation by collective, political action. Hayek's emphasis, by contrast, is on the fact that, because of our „constitutional ignorance," we need to rely in all our problem-solving efforts on the guidance of general rules and on competition as a discovery process. The paper demonstrate why both aspects are not only compatible with each other but complement each other in important ways.

ORDO • Jahrbuch fiir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2003) Bd. 54

Alfred

Schüller

Wilhelm Röpke - Werk und Wirken in Marburg: Lehren für Gegenwart und Zukunft Inhalt I. Die Marburger Studentenjahre II. Röpke als junger Ökonom und jüngster Professor im deutschen Sprachraum (1919-1928) III. Röpke als Ordinarius der Philipps-Universität Marburg (1929-1933): Über die Theorie zur wirtschaftspolitischen Beratung IV. Röpke als Theoretiker, Publizist und Berater: Folgerungen aus seinem schöpferischen Aufbruch in Marburg 1. Durchbruch zum anerkannten Wirtschaftstheoretiker 2. Röpke und die Denkschulen seiner Zeit 3. „Convertibility begins at home" 4. Kampf gegen kollektivistische Denk-und Handlungskonzepte 5. Röpkes Verbannung aus Marburg 6. Wissenschaft als geistiges Gewissen der Politik 7. Klarheit ist schwerer als Dunkelheit 8. Erfolgreiche Wirtschaftspolitik erfordert „sachkundige Hände" 9. Röpkes Weitsicht V. Die Marburger Universität und Röpke nach 1945 VI. Wilhelm Röpke - A Man for the Twenty-first Century Literatur: Zusammenfassung Summary: Wilhelm Röpke - His Work and Times in Marburg: Lessons for the Present and the Future

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Was rechtfertigt hier und heute* die Erinnerung an Röpkes Werk und Wirken in Marburg? Es sind vor allem folgende Gründe: Im Frühjahr 1933, also vor 70 Jahren, beendeten die Nationalsozialisten das Wirken von Wilhelm Röpke in Marburg. Er durfte seinen Lehrstuhl nicht mehr wahrnehmen und mußte mit seiner Familie Deutschland verlassen." Die Türkei bot Röpke die Möglichkeit, von Konstantinopel aus, „seinem inneren Kompaß folgend, für eine menschenwürdige Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft zu wirken" (Briefe, in: Eva Röpke 1976, S. 8), bevor er 1937 Professor für internationale Wirtschaftsfragen am Institut Univer*

Erweiterte Fassung eines Vortrags anläßlich der Hayek-Tage am 26./27. Juni 2003 in Marburg. 1 Zu den näheren Umständen der Flucht und der Zwangspensionierung siehe Röpke (1945/1948, S. 89).

2 2 • Alfred Schüller

sitaire de Hautes Etudes Internationales in Genf wurde.2 Hier lehrte er bis zu seinem Tod im Februar 1966.3 In einer jüngst in den USA erschienenen Biographie wird Röpke „A man for the Twenty-First Century" genannt (Zmirak 2001, S. 1 ff.). Und in der Tat ist das, was Röpke uns heute als politischer Ökonom, als christlicher Sozialethiker und Verfechter einer menschenwürdigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, als Ratgeber für die ordnungspolitische Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg und für gesellschaftsund wirtschaftspolitische Gegenwartsfragen zu sagen hat, nach wie vor richtungweisend. Davon zeugen zuletzt die Beiträge eines Kolloquiums, das in Marburg am 28. Oktober 1999 aus Anlaß von Röpkes 100. Geburtstag veranstaltet wurde.4 Sein viel beachtetes öffentliches Wirken nach 1933 und dann vor allem nach 1945 hat ein theoretisches Fundament. Dieses hat Röpke in der Zeit vorher geschaffen - in Marburg. Von der Vielfalt und Eigenständigkeit seines wissenschaftlichen und publizistischen Wirkens in dieser Stadt und von seinem Heranreifen zu einem „geistigen Führer" (Friedrich A. von Hayek) soll deshalb im folgenden ebenso die Rede sein wie von seinem Verhältnis zur Marburger Universität und den Lehren seines Werkes für Gegenwart und Zukunft.

I.

Die Marburger Studentenjahre

Röpke muß Marburg sehr ins Herz geschlossen haben, denn er schreibt in seinen Erinnerungen über die Marburger Studentenjahre: „Es gibt keinen Fleck auf Erden, mit dem mich so einzigartige und unvergeßliche Beziehungen verbinden wie mit Marburg, keine Etappe meines Lebens, die so entscheidend, inhaltsvoll und reich an Gefühlswerten ist wie die Reihe der Jahre, die ich in Marburg verbracht habe, keinen Ort, an den ich mich auch heute noch nicht anders als mit tiefer Bewegung erinnere ..." (Röpke 1963/1964).

An Marburg mag Röpke das fasziniert haben, was er selbst verkörperte: eine Persönlichkeit mit starker geistiger Ausstrahlung, von der „etwas Junges und Stürmisches" ausging.5 So habe ich ihn selbst auch nach 1958 als Bonner Student bei Vortragsveran-

2

Es handelt sich um ein der Genfer Universität angegliedertes Forschungs- und Lehrinstitut für juristische und nationalökonomische Graduierte. 3 Während des Zweiten Weltkrieges lehnte Röpke das Angebot ab, an einer US-amerikanischen Universität zu lehren. Nach 1945 lehnte er Berufungen an die Universitäten Tübingen und München ab. 4 Das Kolloquium wurde vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Philipps-Universität Marburg zusammen mit der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) veranstaltet. Die Beiträge von Hans-Günter Krüsselberg, Walter Hamm, Michael Zöller, Hans-Peter Schwarz, Razeen Sally, Wolfgang Ockenfels und Patrick M. Boarman sind erschienen in: ORDO, Bd. 50, 1999. 5 So hatte sich übrigens das Bild von Marburg bei der Schriftstellerin Ricarda Huch (1929, S. 141) eingeprägt: „Die ganze Stadt ... hat etwas von einer gotischen Kirche. Von allen Seiten her hebt sie sich aus dem Tal herauf, rückt und klettert, schwingt und stemmt sich und bezeichnet die erkämpften Stellen mit Giebeln und Türmen, bis sie endlich mit der Krone zusammenwächst. Auch die einzelnen Häuser sind von dem Geist des Aufschießens ergriffen: sie sind besonders schlank und hoch und müssen es ja auch sein, damit eines über das andere hinwegsehen kann. Die Schlankheit der Häuser und die Schwungkraft der Straßen, deren Stelle oft Treppen vertreten, geben der Stadt etwas Junges und Stürmisches."

Wilhelm Röpke - Werk und Wirken in Marburg • 2 3

staltungen der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) in Bad Godesberg erlebt. Röpke wuchs in Schwarmstedt in einem Familien-, Schul- und Kirchenmilieu auf, das dem sprachlich Begabten eine vorzügliche christlich-humanistische Bildung bot und ein durch Festigkeit im christlichen Glauben bestimmtes Welt- und Menschenbild vermittelte. Hier kann der Ursprung dessen gesehen werden, was mein Marburger Kollege Wilhelm Meyer (2000, S. 165) die Röpke-These genannt hat: „Die Fundamente der Anständigkeit werden nicht im Markt gelegt." Immer wieder sieht er in späteren Arbeiten in einer Religion eine unschätzbare Quelle des Wohlstands und der Wohlstandsmehrung, wenn sie es vermag, den Menschen viele ethoshafte Selbstbindungen wie Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit und Fairneß mitzugeben. Das Studium der Jurisprudenz führte ihn von Tübingen über Göttingen nach Marburg. Hier fand er schließlich zur Nationalökonomie. In Marburg konnte er, wie er sich später erinnert, „als blutjunger Student seine Anlagen reifen lassen" (1963/1964, S. 1), seinen Beruf aus innerer Berufung finden (Briefe, in: Eva Röpke 1976, S. 101), seinen Hunger nach menschlicher Wärme, nach Beziehungen der gegenseitigen Sympathie, nach Gemeinschaft stillen. Hier hat er 1921 in Eva Fincke (einer Studentin der Philologie) die Gefahrtin seines Lebens gefunden. 6 Zusammen mit ihr hatte er ein Sonderkolleg des Marburger Philosophen und Psychologen Erich Jaensch (1883-1940) über Pragmatismus gehört, das in beiden den Wunsch auslöste, „mit dem Pragmatismus ernst zu machen, das Kolleg zu schwänzen und sich auf dem Lahnberg zu verloben ..." (Briefe, in: Eva Röpke 1976, S. 62). Aus der 1923 geschlossenen Ehe gingen drei Kinder hervor. Unter seinen Freunden und Kommilitonen ragen hervor: der spätere Bundesminister Ernst Lemmer, Karl Theodor Bleek (der spätere Marburger Oberbürgermeister und Staatssekretär des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss), Wilhelm Gülich, der Schöpfer des berühmten „Kieler Katalogs" des Instituts für Weltwirtschaft, der politisch einflußreiche Marxist und Gewerkschaftler Viktor Agartz, vor allem aber sein Freund Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident. Es waren, wie sich Röpke (1963/1964) erinnert, „politische Neigungen ,linker' Art, die uns zusammengeführt hatten", vor allem aber - soeben dem Krieg entronnen 7 - die Bereitschaft, „mit größtem Ernst, aber auch mit einer erstaunlichen Toleranz die Kriegsgeschehnisse und die politischen und sozialen Fragen zu studieren, auf die uns die Erfahrungen der Katastrophe Deutschlands und Europas gestoßen hatten". Wenn Röpke zunächst eher „links" eingestellt war, so aus Protest gegen das alte Regime; den Marxismus hat er von Anfang an abgelehnt. Sein Streben nach einer Ordnung, die eine Gesellschaft freier Menschen möglich macht, führte Röpke schon bald zu einer Gruppe von in- und ausländischen Gelehrten, die der Wiederherstellung nationaler und weltweiter marktwirtschaftlicher Strukturen den „entschiedenen Vorzug" (Böhm 1977, S. 430) gaben und hierfür persönliche Opfer in Kauf nahmen. In dieser Gruppe wie auch in anderen Gruppierungen wird Röpke als einer der aktivsten und leidenschaftlichsten Sprecher geschildert.

6 7

Eva Röpke hat später Friedrich A. von Hayeks „The Road to Serfdom" ins Deutsche übertragen. Röpke wurde im März 1918 in der Schlacht bei Arras (Nordfrankreich) verwundet.

2 4 • Alfred Schüller

II.

Röpke als junger Ökonom und jüngster Professor im deutschen Sprachraum (1919-1928)

Als eine in den gedanklichen Fundamenten des christlichen Humanismus früh gefestigte Persönlichkeit und als eigenwilliger junger Wissenschaftler entfaltete Röpke eine hohe, rastlose Wirksamkeit: -

1921 schloß er mit 22 Jahren in Marburg das Studium mit einer Doktorarbeit bei Walter Troeltsch über das Thema ab: „Die Arbeitsleistung im deutschen Kalibergbau, unter besonderer Berücksichtigung des hannoverschen Kalibergbaus". Als einer der ersten wurde Röpke mit Auszeichnung zu dem 1920 in Marburg eingeführten Dr. rer. pol. promoviert. - In der folgenden Assistentenzeit am Staatswissenschaftlichen Seminar habilitierte er sich bereits 1922 mit der Arbeit „Die Konjunktur. Ein systematischer Versuch zur Morphologie der Verkehrswirtschaft". Die Konjunkturprobleme haben ihn später immer wieder beschäftigt. - Die Lehrtätigkeit als Privatdozent nahm Röpke erst im Wintersemester 1923/24 auf, nachdem er in Berlin im Auswärtigen Amt als Experte für Reparationsfragen tätig gewesen war; auch dies war ein Thema, das analytische Genauigkeit, Realitätssinn und wirtschaftspolitisches Engagement erforderte und ihn mit den zahlungsbilanztheoretischen Aspekten des Transferproblems nicht mehr losließ. - Im Jahre 1924 wurde die Marburger Zeit mit dem Ruf nach Jena zum planmäßigen außerordentlichen Professor für fünf Jahre unterbrochen. Er war damit zum jüngsten Professor im deutschen Sprachraum geworden. Von Jena aus nahm Röpke 1926 eine Einladung der Rockefeiler-Stiftung zum Studium des Agrarproblems der USA an. Daraus sind Zeitungsartikel und zwei größere Aufsätze (1927/1928) über das Agrarproblem der Vereinigten Staaten hervorgegangen. Röpke hat im übrigen gegen den agrarpolitischen Protektionismus in Deutschland seit Bismarck Stellung genommen und sich für eine prinzipiell marktwirtschaftliche Agrarpolitik ausgesprochen (1934a, S. 51 f.), eine Haltung, die er später aus gesellschaftspolitischen Gründen zugunsten einer mittelstandsorientierten Förderung der Landwirtschaft eingeschränkt hat (1942/1979, S. 329 ff.). Den außenwirtschaftlichen Agrarprotektionismus, wie er sich mit Bismarcks Zollpolitik von 1879 in Deutschland und mit der gemeinsamen Agrarmarktordnung von 1958 auch in der Europäischen Gemeinschaft durchgesetzt hat, lehnte Röpke strikt ab. - Nach seiner Rückkehr aus den USA wollten die Universitäten Graz und Marburg beide Röpke als ordentlichen Professor berufen. Wie damals üblich, wurden bei der jeweiligen Heimatuniversität Auskünfte über den zu Berufenden eingeholt. Eva Röpke (1977, S. 419) berichtet, daß Graz aus Jena einen sehr günstigen Bescheid erhielt, Marburg zugleich aber aus Jena ein vernichtendes Urteil übermittelt bekam. Der Grund hierfür sei klar gewesen: Wer wie Röpke den neuen Staat, die demokratische und liberale Republik bejahte, sei in „tonangebenden Universitätskreisen Jenas fast nicht gesellschaftsfähig" gewesen. Um Röpke bis an sein Lebensende von der „deutschen Szene" fernzuhalten, habe man ihn nach Graz „abzuschieben" versucht. Die Marburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät habe sich freilich dennoch

Wilhelm Röpke - Werk und Wirken in Marburg • 2 5

ein eigenes Urteil gebildet und Röpke als Nachfolger von Prof. Koppe berufen. In Graz hat Röpke nur ein Semester gelehrt.

III. Röpke als Ordinarius der Philipps-Universität Marburg (19291933): Über die Theorie zur wirtschaftspolitischen Beratung Am 1. April 1929 nahm Röpke in Marburg seine Tätigkeit als Ordinarius für Wirtschaftliche Staatswissenschaften auf. In seiner vom preußischen Kultusminister Becker unterschriebenen Berufungsurkunde vom 4. März 1929 heißt es zur Lehrverpflichtung des neuen Professors: „Er ist verpflichtet, sein Lehramt in Vorlesungen und Übungen angemessen wahrzunehmen und in jedem Semester mindestens eine private, alle zwei Jahre eine öffentliche Vorlesung zu halten." In Marburg entfaltete Röpke wieder eine ungewöhnlich hohe wissenschaftliche und publizistische Wirksamkeit - unter anderem mit Lehrbüchern. Hierin sah er eine didaktisch lockende und wirtschaftspolitisch wichtige Möglichkeit, mit eigenen Gedankengängen ein Gesamtbild wirtschaftlicher Zusammenhänge zu vermitteln und grundlegenden sozialökonomischen Einsichten den Weg zum breiteren Publikum zu bahnen. Seine Arbeitsgebiete waren vor allem: Theorie der Wirtschaftspolitik. Exemplarisch zu nennen ist der Artikel „Staatsinterventionismus" (1929b)8, eine nach wie vor meisterhafte Analyse der Ursachen, Formen, und Wirkungen einer weltweit verbreiteten naiven wirtschaftspolitischen Regierungspraxis. Röpke skizziert die innen- und außenpolitischen Gründe für den verhängnisvollen Auftrieb des Staatsinterventionismus nach dem Ersten Weltkrieg äußerst gedankenreich mit den Stichworten „Demokratisierung, Nationalismus, Militarismus, Verwirtschaftlichung der Politik und Politisierung der Wirtschaft". Röpkes Analyse und Kritik des wirtschaftspolitischen Interventionismus, dessen treibende Kräfte, der damit verfolgten Ziele und der davon ausgehenden deformierenden Wirkungen auf marktwirtschaftliche Ordnungen sind von höchster Aktualität. So vermittelt heute die Soziale Marktwirtschaft in ihrem in der praktischen Politik vorherrschenden verzerrten Verständnis den Eindruck unzusammenhängender und widerspruchsvoller, ja chaotischer staatlicher Eingriffe. Diese werden von den Befürwortern vielfach als „soziale Errungenschaften" und als Qualitätsmerkmal einer modernen Sozialen Marktwirtschaft ausgewiesen (kritisch hierzu Schüller 1998); ,J)ie Theorie der Kapitalbildung" (1929d)9. Darin gibt Röpke einen gedrängten Überblick über den damaligen Stand der Behandlung des Problems der Variierung des 8

9

1929 erschien auch von Mises ' „Kritik des Interventionismus", eine nicht minder scharfsinnige Auseinandersetzung mit dem Staatsinterventionismus, wie er damals vorherrschte und von führenden deutschen Fachvertretem befürwortet wurde (Mises 1929/1976). Ihr folgte (1931b, S. 289 ff.) eine empirische Arbeit über die „Die Quellen der deutschen Kapitalbildung 1908-1913 und 1924-1929" mit wiederum lesenswerten kurzen theoretischen Vorerwägungen, in denen die Offenheit der Kapitalmärkte als Bedingung für eine hohe volkswirtschaftliche „Verwendungsqualität" der Kapitalbildung mit der Feststellung hervorgehoben wird: Die volkswirtschaftlich rationelle Verwendung des Kapitals ist um so mehr gewährleistet, ,je mehr eine Kapitalquelle mit dem großen Becken des nationalen und internationalen Kapitalmarktes kommuniziert" (S. 294).

26

• Alfred Schüller

Verhältnisses von Konsumtion und Akkumulation. Dies geschieht im Hinblick auf die naturalwirtschaftlichen, geld- und kreditwirtschaftlichen, zeitlichen, räumlichen sowie institutionellen Bedingungszusammenhänge der Kapitalbildung und -Verwendung. In den abschließenden Überlegungen zur Gefahr der Überakkumulation gibt Röpke zu bedenken, daß der Lehre von der Kapitalbildung logischerweise eine Theorie des Kapitalverzehrs entsprechen müsse, und zwar als wichtiges Kapitel einer „Nationalökonomie des Verfalls", dem Gegenstück zur „Nationalökonomie des Aufstiegs". Die geistigmoralischen und institutionellen Bedingtheiten dieser Prozesse tauchen bei Röpke in der Folge in vielen Veröffentlichungen auf und finden schließlich eine systematische Behandlung in seinem Buch „Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart" (1942/1979). In dieser „Nationalökonomie des Verfalls" wird der ursprüngliche Gedanke des Kapitalverzehrs in den ursächlich tiefergehenden Kontext des „Kulturverzehrs" gestellt und erstmals systematisch analysiert. Hierbei betont Röpke ausdrücklich, daß sich das Schicksal der Kultur einer Gesellschaft zu einem erheblichen Teil mit der Qualität der Wirtschaftsordnung entscheidet. Damit gelingt Röpke ein großer Schritt in Richtung eines Forschungsprogramms, das Eucken (1939/1950, S. 222) für wünschenswert und möglich hielt, nämlich „geschichtliches Verstehen religiöser, geistiger, politischer, moralischer und seelischer Wandlungen ... mit exakter Erkenntnis der Wirkungen solcher Wandlungen auf den konkreten Wirtschaftsprozeß zu verbinden". Der Verfallsgedanke von Röpke wird dann später im Werk von Maticur Olson (1982/1985) aus einer international viel beachteten politisch-ökonomischen Perspektive wieder aufgegriffen, und zwar mit dem Hinweis auf Lobbies und Kartelle, die sich in demokratischen Gesellschaften im Zeitablauf aufbauen und ihnen die wirtschaftliche und soziale Dynamik rauben können. Olsons Diagnose der „institutionellen Sklerose" kommt dem nahe, was Röpke (193 ld) die „monopolistisch-inerventionistische Erstarrung" der deutschen Volkswirtschaft genannt hat. Die dahinter stehenden kulturell-moralischen Verfallserscheinungen werden bei Olson nicht näher untersucht. ^inanzwissenschaft (1929c). Bemerkenswert an diesem Buch ist neben einer unmittelbar nachvollziehbaren Systematik die Verbindung von historischen Tatbeständen mit theoretischen Einsichten. In einem besonderen Kapitel wird die Inflation als Mittel der Einnahmenbeschaffung kurz und differenziert unter Berücksichtigung des fortschreitenden Prozesses der Geldentwertung abgehandelt, wie er in der großen Inflation nach dem Ersten Weltkrieg zu beobachten war. Der von Röpke herausgearbeitete Steuercharakter der Inflation wird in modernen Lehrbüchern vielfach nicht mehr als solcher thematisiert, obwohl diese „hinterhältige Weise" der Mittelbeschaffung des Staates nach wie vor Beachtung verdient. Außenwirtschaftslehre. 1925 erschien in Jena das Buch „Geld und Außenhandel" (1925a). Darin werden die geld-, konjunktur- und finanzpolitischen Fragen internationaler Wirtschaftsbeziehungen ausgeleuchtet. Es folgte „Weltwirtschaft und Außenhandelspolitik" (1931a). Auch dieses Lehrbuch ist mit einer entschiedenen Kritik des handelspolitischen Protektionismus heute für Studien-Anfänger noch ebenso lesenswert wie das Buch „Der internationale Handel" von Gottfried von Haberler aus dem Jahre 1933. Als wichtiger Beitrag zur monetären Außenwirtschaftslehre ist Röpkes Analyse des Reparationsproblems (1929a, S. 329 ff.; 1930a, S. 225 ff.) anzusehen. Das in diesem Zu-

Wilhelm Röpke - Werk und Wirken in Marburg • 2 7

sammenhang meines Wissens erstmals präsentierte entwicklungsökonomische Zahlungsbilanzschema („werdendes Gläubigerland", „reines Gläubigerland", „werdendes Schuldnerland", „reines Schuldnerland") hat Samuelson (leicht abgewandelt) in sein international weit verbreitetes Lehrbuch aufgenommen (1952, S. 422 f.; 1998, S. 773 f.) - ohne auf Röpke zu verweisen. Außerdem hat Röpke hierbei die Unterscheidung von provisorischen, definitiven, freiwilligen und zwangsläufigen Kapitalübertragungen im Verschuldungs- und Entschuldungsprozeß eines Landes eingeführt. Diese Differenzierung ist für die Gesamtbeurteilung der Wirkungen von internationalen Kapitalbewegungen auch heute noch unverzichtbar (siehe hierzu Weber 1995, S. 160 ff.). - Hochbeachtlich gerade für deutsche Leser ist auch das wahrscheinlich in Marburg konzipierte, nahezu unbekannt gebliebene Buch „German Commercial Policy" (1934a), das von Istanbul aus in London, New York und Toronto herausgegeben wurde. Die von Jacob Viner durchgesehene Studie bietet einen vorzüglichen Überblick über die deutsche Handelspolitik ab 1833/1834, dem Beginn des deutschen Zollvereins. Dargestellt wird das Hineinwachsen Deutschlands in die Weltwirtschaft und sein Rückfall in den wirtschafts- und handelspolitischen Nationalismus, der - beginnend mit Bismarcks Zollpolitik - mit Deutschlands Desintegrationspolitik in den 1930er Jahren seinen Höhepunkt fand. Röpke versteht es meisterhaft, den Prozeß der Internationalisierung und der Nationalisierung der deutschen Volkswirtschaft im Spannungsfeld von liberalen und protektionistischen Bestrebungen für diesen Zeitraum zu veranschaulichen. Konjunktur-, Krisen- und Beschäftigungslehre. Zehn Jahre nach seiner konjunkturtheoretischen Habilitationsschrift erschien 1932 in Leipzig das Buch „Krise und Konjunktur" (eine erweiterte englische Fassung erschien 1936 in London unter dem Titel „Crises and Cycles"). Das Buch berücksichtigt zur systematischen Erklärung von „Störungsquellen" neben sozialpsychologischen und monetären Einflüssen vor allem politisch-institutionelle Ansätze und grenzüberschreitende Interdependenzen. In ihrer Verständlichkeit und Klarheit der Argumentation ist die Schrift gerade heute wieder eine nützliche Analyse prinzipieller konjunktureller Zusammenhänge. Es bezieht sich auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 und Möglichkeiten, darauf wirtschaftspolitisch angemessen zu reagieren, enthält aber auch die Darstellung elementarer Zusammenhänge, die heute oft vergessen werden, die man aber nicht ungestraft mißachtet (wie etwa die rhythmische Dynamik des Wirtschaftslebens, die internationale Konjunkturverknüpfung, das Verhältnis zwischen Konsumtion und Realkapitalbildung oder die monetäre Verzerrung des Wirtschaftsprozesses). In einem engen Zusammenhang mit seiner wissenschaftlichen Arbeit steht Röpkes Beratungstätigkeit. Darin spiegeln sich einige der brennenden theoretischen und praktischen Probleme seiner Marburger Zeit wider: 10 Deutschlands Reparationsfrage. Dieses Problem sah Röpke weniger in Deutschlands grundsätzlicher Fähigkeit der inneren und äußeren Aufbringung der Reparationen. Hierzu muß man wissen, daß er fest in der Denktradition von Böhm-Bawerks Erkenntnis

10 Dazu gehört auch der sozialökonomische Nationalismus, in dem Röpke eine „Art von geistiger Umnachtung" und einen Wegbereiter des politischen Nationalismus und Kollektivismus sieht (1929d, S. 9).

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(1919/1924) stand, wonach die Kapitalbilanz die Leistungsbilanz „regiert" (und nicht umgekehrt). Röpke kämpfte sein Leben lang gegen die konfuse Vorstellung von der strukturellen Passivität der Leistungsbilanz. Diese wurde in den 20er Jahren unter anderem auch von dem damals politisch einflußreichen Hjalmar Schacht (1931) vertreten. Dieser leugnete die selbstmörderische Zerstörung der Währung durch eine völlig verfehlte geldpolitische Orientierung der Reichsbank an der Bankinglehre. Er hing vielmehr der innenpolitisch äußerst populären Auffassung an, das Ausland habe Deutschland durch den Versailler Vertrag und durch außenpolitische Druckausübung ausbluten lassen, und in diesem Zusammenhang schob er die Verantwortung für die deutsche Hyperinflation und für die angeblich schädliche passive Leistungsbilanz ausschließlich dem Ausland zu (1931, S. 24). Zugleich unterlag er dem nicht minder verhängnisvollen Fehlschluß", wonach die Fähigkeit zur Reparationszahlung einen entsprechenden Leistungsbilanzüberschuß voraussetze. Hätte, so Schacht, Deutschland „nach Inkrafttreten des Dawesplans keine ausländischen Anleihen aufgenommen ..., so würde es nicht in der Lage gewesen sein, die Reparationszahlungen zu leisten, die aus einem natürlichen Überschuß unserer Zahlungsbilanz nicht angefallen sind" (S. 37). Es ist bemerkenswert, wie Auffassungen dieser Art, die auch heute vielerorts in anderen Zusammenhängen vertreten werden (kritisch hierzu siehe Willgerodt 1978, S. 215), von Röpke als grob dilettantisch entlarvt werden: „Das Maß also, in dem eine aktive Handelsbilanz erzielt werden kann, soll nach dieser so außerordentlich populären Transfertheorie über das Maß entscheiden, in dem transferiert werden kann. Man mag im Innern alle Anstrengungen zur Aufbringung der Kapitalsumme machen, - sind aber die Winde, die die Götter den über die Grenzen flutenden Waren schicken, nicht günstig, so muß die Summe ruhen und warten, wie das Heer der Achäer in Aulis, während die Hohenpriester der Oekonomie mit allerlei Hokuspokus das Wunder der Aktivität der Handelsbilanz vom Himmel herabzuflehen hätten. Soll man diese Theorie ernst nehmen und die Geduld aufbringen, sich ausführlich mit ihr auseinanderzusetzen? Mir scheint, daß in diesem Kreis die einfache Feststellung genügt, daß die Handelsbilanztheorie den Zusammenhang einfach auf den Kopf stellt und vergißt, daß ein Ausfuhrüberschuß erst pari passu mit der Durchfuhrung einer von keiner Nettokapitaleinfuhr mehr begleiteten Übertragung entstehen kann, keinen Augenblick früher. Es entscheidet also nicht die Handelsbilanz über die Übertragung, sondern die Übertragung über die Handelsbilanz..." (1930a, S. 232).

Daß Deutschlands Transferfähigkeit durch den vordringenden Protektionismus der Gläubigerländer, durch eine selbstverschuldete schlechte Verwendungsqualität der Auslandskredite und andere ordnungspolitische Umstände erschwert war, steht auf einem anderen Blatt. Als verhängnisvoll erwies sich auch die mangelnde Bereitschaft vor allem Frankreichs, die Reparationen nach 1930 im Hinblick auf die innenpolitisch vergiftete Situation Deutschlands vorzeitig zu beenden, wie es auch Röpke forderte. Das Problem der Krisenbekämpfung. Als einer der wenigen Professoren, die sich damals intensiv mit Fragen der Konjunktur-, Geld- und Beschäftigungspolitik sowie der 11 Beide Fehldeutungen zielten auf eine Revision des Versailler Friedensvertrages hin, mußten insoweit für die fehlende Transferwilligkeit herhalten. Freilich stehen die Torheiten des Versailler Friedensvertrages, die für die politische Entwicklung der Weimarer Republik in vieler Hinsicht verhängnisvoll waren, außer Zweifel. Sie sind von Keynes (1919/1921) - wie von kaum einem anderen - frühzeitig, scharfsinnig und weitsichtig kritisiert worden. Doch sind hierdurch „die deutschen Zerstörer dieser Republik in keiner Weise entlastet. Eine noch größere Torheit war es aber, wenn Deutschland glaubte, deswegen seine Währung zerrütten zu müssen" (Willgerodt 1978, S. 217).

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Kapitalbildung im weltwirtschaftlichen Zusammenhang befaßt hatten, wurde Röpke im Januar 1931 von Reichskanzler Brüning in die Reichskommission zur Krisenbekämpfung (Brauns-Kommission, benannt nach dem Vorsitzenden, dem früheren Reichsarbeitsminister Brauns) berufen. Als einziger Theoretiker unter vielen „Sozialpraktikern" hat Röpke die volkswirtschaftlichen Vorschläge maßgeblich bestimmt. Wenn andere Kommissionsmitglieder dazu neigten, das Übel durch symptomatische Mittel (Arbeitsstreckung im Sinne der Arbeitszeitverkürzung in Verbindung mit einem Zwang zur Neueinstellung, Kampf gegen das „Doppelverdienertum", Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen12, Verlängerung der Schulpflicht, Minderung der Einwanderung und Förderung der Auswanderung und dergleichen) an der Stelle zu heilen, wo es zum Vorschein kommt, kümmerte sich Röpke um eine sachgerechte Diagnose des Übels, also um jenen Punkt, wo das Übel seinen Ursprung nahm.13 Die einflußreiche These von der krisenverursachenden allgemeinen Überproduktion und Unterkonsumtion und die davon hergeleitete „Angst vor der Produktion" bezeichnete er als absurd: — Zur Überproduktionsthese stellt Röpke fest: Solange der Punkt der Sättigung der menschlichen Bedürfnisse „unabsehbar fern" liegt, gibt es keine Grenze der lohnenden Produktion im ganzen. Für ebenso absurd hielt er das (bis heute verbreitete) Denken in gegebenen Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten, in sichtbaren statt in unsichtbaren Arbeitsgelegenheiten.14 Demgegenüber argumentiert Röpke mit der These von der „Disproportionalitätskrise". Nur ein Teil der Produktion habe sich vor allem unter dem Einfluß von Fehlentwicklungen des Kreditsystems - disproportional entwickelt und den anderen Teil „kraft des Prinzips der Wechselwirkung in die Disproportionalität mit hineingerissen", also die arbeitsteilige Volkswirtschaft in ein Ungleichgewicht gestürzt (1931 d). — In seiner Auseinandersetzung mit der Unterkonsumtionstheorie der Krise bezieht sich Röpke auf den Gesichtspunkt, den er unter der Bezeichnung „Einkommensverteilungstheorie" für diskutabel, wenn auch nicht überzeugend hält, daß nämlich im Aufschwung der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen zu klein und der Anteil der Untemehmereinkommen zu groß werden könnte, um das (Beschäfti12 Das Argument gegen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, das die Brauns-Kommission anführt, beruht auf einem (auch heute noch beachtenswerten) Analogieschluß, wie ihn nur Röpke gezogen haben kann: „... jede Arbeitsbeschaffung, die die Mittel nur an anderer Stelle der Volkswirtschaft fortnimmt, ohne die Gesamtsumme der zur Verfügung stehenden Mittel zu vermehren, (ist) ebenso sinnlos wie die Bluttransfusion von einer Stelle des Körpers zur anderen ..." (193 lc, S. 442 f.). 13 Das Gutachten löste in der Frage von Ursache und Wirkung heftige Kontroversen aus. Darüber berichtet Röpke in dem Aufsatz „Praktische Konjunkturpolitik: Die Arbeit der Braunskommission" (1931c). In der Einleitung vermutet Röpke, daß die Reichsregierung von der Beauftragung der Kommission „eine gewisse politische Stützung" erwartete; die Kommission sollte als „Reichstagsersatz" wirken (S. 424). Parallelen zur Hartz-, Rürup- und //erzog-Kommission drängen sich auf. Auch für einen Vergleich mit den heutigen Kommissionsberichten sind die Brauns-Gutachten wieder sehr lesenswert. 14 Siehe Röpke (193 ld). Zu welch kuriosen Anordnungen dieses Denken führen kann, zeigt ein Erlaß des Kurators der Philipps-Universität Marburg vom 19. September 1933, in dem den Bediensteten untersagt wird, möblierte Zimmer an Studierende zu vermieten. Wer ein Einkommen habe, dürfe denjenigen nichts wegnehmen, die auf Mieteinnahmen angewiesen seien. Auch der zwangsbeurlaubte Röpke erhielt diese Verfügung in die alte Marburger Wohnung Bismarckstraße 16a zugestellt.

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gungs-)Gleichgewicht der Volkswirtschaft zu gewährleisten (1932, S. 66 ff.). Der daraus vor allem von den Gewerkschaften gefolgerten Notwendigkeit, die Masseneinkommen im Sinne der „Kaufkrafttheorie der Löhne" (1927, Sp. 624 ff.) zu erhöhen, hält Röpke entgegen, daß der Krise regelmäßig ein Aufschwung mit steigenden Masseneinkommen vorangehe. Und selbst wenn das Gegenteil nachweisbar wäre, bliebe die Frage zu beantworten, wie es denn zu der Aufschwungbewegung kommen konnte. Änderungen der Einkommensverteilung seien nicht Ursache, sondern Begleiterscheinung des Konjunkturverlaufs. Die Unterkonsumtionstheorie könne den „Kern der volkswirtschaftlichen Bewegungserscheinungen" nicht erfassen und ursächlich erklären. Im übrigen hat Röpke bereits 1925 einer „Kaufkrafttheorie der Löhne", die im Aufschwung eine möglichst frühzeitige Lohnerhöhung nahelegt, entgegengehalten, daß ihr während der Depression eine Politik der Lohnherabsetzung entsprechen müßte, die aber um so schwieriger sei, je energischer vorher die Löhne heraufgesetzt wurden. Röpke (1925b/1962, S. 28) sieht in der Kaufkrafttheorie des Lohnes ein Beispiel für die Fata Morgana einer reizvollen „Kaufkraft"-spiegelung, bei der an die Anekdote von jenem Diebe zu erinnern sei, der, bei der Leerung der Ladenkasse eines Kaufmanns ertappt, entschuldigend bemerkt, der Kaufmann habe keinen Grund sich zu beklagen, da ja das gestohlene Geld durch den Einkauf von Waren wieder an ihn zurückfließen würde. Die entscheidende Krisenursache sah Röpke - abgesehen von fatalen innen- und außenpolitischen Vertrauenskrisen und einem rigorosen währungspolitischen Nationalismus - in der „monopolistisch-interventionistischen Erstarrung" als Ausdruck einer hochgradigen Vermachtung der Wirtschaft, also in der „Verwirtschaftlichung der Politik". In einer wirksamen Politik der Wettbewerbsordnung sah Röpke die langfristig entscheidende Voraussetzung, um die Selbstheilung der Krise in Gang zu setzen und zu halten, wobei er wirtschaftliche Krisen immer als Teil einer geistigen Totalkrise in Gesellschaft, Politik und Staat auffaßte. Angesichts der innenpolitischen Hysterie und einer hochgradig pessimistischen Massenstimmung, die im Gefolge der wirtschaftlich vernichtenden Wahlen vom 14. September 193015 und der rasch fortschreitenden Deflationsentwicklung entstanden war, empfahl Röpke mit der Brauns-Kommission (1931c), die Arbeitslosigkeit mit dem damals völlig unorthodoxen Mittel einer sofortigen Expansionspolitik zu bekämpfen. An Stelle der offensichtlich höchst verunsicherten Privatinitiative sollte mit Hilfe eines öffentlichen Investitionsprogramms16 eine „Art organi-

15 Die NSDAP hatte in dieser Wahl ihre Stimmenzahl auf 6,4 Millionen (gegenüber 810.000 im Jahre 1929) erhöhen können. Mit 107 Abgeordneten war die NSDAP zweitstärkste Partei nach der SPD geworden. Dieses erdrutschartige Wahlergebnis hat den Lebensnerv der bürgerlich-marktwirtschaftlichen Ordnung zutiefst getroffen. Deshalb gilt der 14. September 1930 als einer der Wendepunkte in der Geschichte der Weimarer Republik (siehe Fest 1973, S. 401 ff.). 16 Als förderungswürdige Arbeitsgebiete wurden der Ausbau des rückständigen deutschen Straßennetzes und der deutschen Energiewirtschaft, die Wohnungswirtschaft und landwirtschaftliche Meliorationen angesehen.

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sierter Gemeinschaftsinitiative" gesetzt werden. 17 Diese Schocktherapie beruht im Kern auf der Annahme, daß „... in diesem Augenblick allein der Staat, den man so oft am unrechten Orte einsetzt, und dessen wirtschaftliche Intervention zweifellos viel Schuld an der gegenwärtigen Krise trägt, imstande ist, durch sein Beispiel den lähmenden Bann zu brechen. Nicht die Straßen, nicht die Elektrizitätswerke sind es, auf die es dabei in erster Linie ankommt, sondern der Impuls, der sich von hier aus durch Entbindung des deutschen Investitionswillens und durch Lösung des deutschen Kreditsystems aus der totenähnlichen Erstarrung ... dem gesamten Wirtschaftsleben mitteilen wird" (Röpke 1931c, S. 448).

Dabei hat - wie angedeutet - Röpke nie einen Zweifel gelassen, daß eine solche Schocktherapie von einer tiefgreifenden ordnungspolitischen Therapie begleitet sein müsse. Hinsichtlich der erforderlichen Stärke der „Initialzündung" müsse auf Erfahrung als Ergebnis von Versuch und Irrtum gesetzt werden. Bei diesem Hilfsplan, der zum Teil durch die Aufnahme langfristigen Auslandskapitals finanziert werden sollte, war Röpke frei von jener „etatistischen Romantik", die dem inflationstreibenden Fiskalsozialismus Keynes'scher Prägung zugrunde liegt.18 Man könnte durchaus mutmaßen: Wäre Brüning nicht seinem mus", sondern Röpkes Idee von der „Initialzündung" gefolgt, „so Geschichte vermutlich anders verlaufen" (Eva Röpke 1977, S. 420). nicht zu dem „Fehdehandbrief Hitlers" (Wilhelm Röpke) gekommen, 1933 in Marburg zugestellt wurde.

„Durchhaltenihiliswäre die deutsche Es wäre dann auch der Röpke im April

IV. Röpke als Theoretiker, Publizist und Berater: Folgerungen aus seinem schöpferischen Aufbruch in Marburg 1. Durchbruch zum anerkannten Wirtschaftstheoretiker In Marburg hat Röpke mit zehn Büchern und vierzehn Aufsätzen, mit einer ebenso rastlosen Vortrags- und Gutachtertätigkeit die Grundsteine für seine herausragenden wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Konjunktur-, Krisen- und Beschäftigungstheorie, der Außenwirtschaftstheorie und -politik und der Wirtschaftspolitik gelegt. Hierbei hat er Wissenschaft als Aufgabe empfunden, gegen „einen technischspezialistischen Szientismus, Intellektualismus und moralischen Indifferentismus" anzukämpfen. 19 Die anzuwendende Theorie als Grundlage der Therapie hat sich nach der Diagnose der jeweiligen Krankheit und der jeweiligen historischen Situation zu richten. An ihr hat sich die jeweils angemessene Methode der Behandlung zu bewähren. Heute würde man 17 Dabei stützte sich Röpke auf eine Therapie, die auf einer sorgfältigen Diagnose der Gegebenheiten beruhte. Die Inflationsgefahr, die mit der Politik der „Initialzündung" in Verbindung gebracht wurde, war in der gegebenen Konstellation der Depression und Deflation auch nicht im Keim vorhanden. 18 Röpke ist damit keineswegs zum Keynesianer geworden, er war sich - bei aller Achtung vor dem theoretischen Scharfsinn von Keynes und wichtigen Dingen, die er gesagt hat - darüber im klaren, daß dieser mit seiner Konjunktur- und Krisenlehre sowie mit seiner Beschäftigungspolitik die Ursachenanalyse vernachlässigt und mit seiner Verallgemeinerung „leichtfertig mit Dynamit hantiert" hat. Siehe Eva Röpke (Briefe, in: 1976, S. 26). 19 Mehr zum menschlichen Hintergrund siehe Röpke (1963a, S. 190-202).

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Röpkes Hilfsplan für eine konjunkturpolitische „Initialzündung" als situationsrationale Politik bezeichnen. Ob zu deren Erarbeitung die heutige ökonometriebasierte angewandte Konjunkturforschung, die auf konstanten Modellannahmen beruht, damals viel hätte beitragen können, darf ernsthaft bezweifelt werden. Röpkes wissenschaftliches Wirken in Marburg ist das eines modernen Wirtschaftstheoretikers mit nachhaltiger Wirkung.20 Begriffe, die auf Röpke zurückgehen, sind: marktkonforme und marktinkonforme Interventionen, sekundäre Depression, zurückgestaute Inflation, importierte Inflation, Anpassungs- und Erhaltungsinterventionen, Initialzündung, Weltwirtschaft als internationale Markt-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft, Preismechanismus als laufendes Konsumentenplebiszit, Angst vor der Produktion, Angst vor der Weltwirtschaft und viele andere treffende kurze Ausdrücke für massenpsychologische Aspekte der Konjunkturentwicklung. Sie zeigen, daß Röpkes Lebenswerk entschieden zu kurz gesehen wird, wenn man ihn „nur" als Kulturphilosophen, Gesellschaftskritiker und politischen Schriftsteller betrachtet. 2. Röpke und die Denkschulen seiner Zeit Röpkes Dissertation stand noch in der Tradition der Historischen Schule. Mit der Habilitationsschrift über Konjunkturprobleme hat sich Röpke davon gelöst. In internationalen Fachkreisen wurde Röpke in seiner Marburger Zeit frühzeitig vor allem mit seinen Arbeiten zur Konjunkturtheorie bekannt. Er wurde zum Mitbegründer einer wissenschaftlichen Konjunkturpolitik, die das sozialpsychologische Geschehen berücksichtigt und - über das vorherrschende krisenpolitische Verständnis eines Spiethoff hinausgehend - Konjunkturpolitik als staatliche Aufgabe auffaßt, wobei er als Ansatzpunkt für eine „Reiztherapie" im allgemeinen der Einnahmeseite, also Steuerentlastungen, vor der Ausgabenseite, also staatlichen Investitionen, den Vorzug gab. Röpkes Habilitationsschrift wurde 1927 sogar in russischer Sprache in Moskau veröffentlicht. Seit Anfang der 30er Jahre erschien eine Reihe konjunkturtheoretischer Arbeiten in Englisch. Damit erregte er damals international großes Aufsehen. In der theoretischen Orientierung spielten die Österreichische Schule21 wie auch die Skandinavische Schule eine hervorragende Rolle. Die theoretischen Fundamente, auf denen Röpke wirtschaftspolitisch argumentierte, entsprachen dem damals neuesten Stand der internationalen Forschung. Röpke und Hayek kannten sich schon in den 20er Jahren. Hayek hat keinen Zweifel daran gelassen, daß seinerzeit allein Röpke in Deutschland sein Interesse an Wirtschaftstheorie geteilt habe. In vielen Büchern ist Röpke von Hayek immer wieder zitiert worden.22 Beide teilten die Kritik an der Historischen Schule.23 In einer Besprechung 20 Die innere Logik der Dinge war für Röpke eine wichtige Hoffnung. Hierbei berief er sich auf eine Feststellung des Marburger Philosophen Friedrich Albert Lange: „Der Realpolitiker behält für den Augenblick recht, den großen Ideen aber folgen die langen Zeiträume" (Röpke 1930a, S. 240). 21 Hier ist vor allem Ludwig von Mises mit seinen Werken „Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel" (1912), „Nation, Staat und Wirtschaft" (1919) und „Die Gemeinwirtschaft" (1922) zu nennen. 22 In der Einführung zu Röpkes englischer Fassung seines Buches „Die Deutsche Frage" (The German Question, London 1946, S. 7; eine amerikanische Ausgabe „The Solution of the German Problem" ist

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von Werner Sombarts „Die drei Nationalökonomien: Geschichte und System der Lehre von der Wirtschaft" (1930/1967) bezeichnet Röpke (1930b) die Historische Schule als „reichsdeutsche Nationalökonomie", sie sei ein „auf der Stelle getretener Parademarsch". Diese „terminologisch-methodologische" Schule sei unfruchtbar, sie könne nichts zur Klärung und zum Aufkommen brennender Probleme des verwickelten Getriebes einer modernen Wirtschaft beitragen. Den wissenschaftlichen und persönlichen Beziehungen, in denen Röpke und Hayek standen, und den Fragen, in denen ihre Meinungen voneinander abwichen, müßte gesondert nachgegangen werden, etwa in ihrer Krisenerklärung, in ihren Konzepten des Liberalismus, in der Beurteilung des Verhältnisses von Wirtschaftssystem und internationaler Ordnung, von Moral und Markt bzw. der Bedeutung des Gemeinschaftssinns für den inneren Zusammenhalt einer freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Röpke und Eucken kannten sich ebenfalls schon in den 20er Jahren - durch Begegnungen (etwa in der List-Gesellschaft mit gutachtlichen Äußerungen zum Reparationsproblem), durch Gedankenaustausch und durch ihr Schrifttum. In „Weltwirtschaft und Außenhandelspolitik" (1931a) zitiert Röpke zustimmend und als Beleg Euckens Schrift „Kritische Betrachtungen zum deutschen Geldproblem" (1923). Röpke dürfte in den 20er Jahren in der Wissenschaft bekannter gewesen sein als Eucken-, dessen große Zeit begann in den 30er Jahren. Röpke (1960/61, S. 4) schreibt über sein persönliches und wissenschaftliches Verhältnis zu Eucken: „Bis zum Erscheinen der ,Euckenschen Grundlagen' (1939) war unser Verhältnis - abgesehen von vielem, was ich von Eucken in der Reinen Theorie zu lernen hatte - ein solches der geistigen Parallelität und der gegenseitigen Ermunterung und Anregung. Als dann freilich 1939 die ,Grundlagen' erschienen, bedeutete dies für mich einen außerordentlichen Zuwachs an Klarheit und Einsicht und damit die Begründung eines Verhältnisses, in dem ich auf der Bahn, die wir parallel den gleichen Zielen entgegengegangen waren, eine ständige Kräftigung, Vertiefung und Bereicherung meines geistigen Bildes erfuhr...."

3. „Convertibility begins at home" In seinen außenwirtschaftlichen Arbeiten entwickelte Röpke, wie oben angedeutet, frühzeitig ein besonderes Interesse für internationale Ordnungsfragen, und zwar in der Tradition der klassisch-liberalen Einsicht, nach der eine freiheitliche internationale Ordnung ,von unten' entsteht - als Konsequenz verfassungsgemäßen Handelns innerhalb 1947 in New York erschienen) schreibt von Hayek'. „Long known to his professional colleagues in all countries as an economist of unusual brilliance and versatility, he has become known on the Continent in recent years far beyond these circles as one of the outstanding leaders of liberal thought." 23 Röpke beklagte den verhängnisvollen Einfluß der Neuen Historischen Schule, die „unter der despotischen Führung Schmollers - eines Schwaben wie seinerzeit Hegel - von Berlin aus die Universitäten monopolisierte" und eine Bürokratie im Geiste der preußischen Wirtschaftskonzeption (wie sie sich nach 1879 durchgesetzt hatte) erzog, einer Bürokratie, die „noch zu Beginn des Jahrhunderts bei Adam Smith in die Schule gegangen war". Während Röpke (1945/1948, S. 214 ff.) die international viel beachtete liberale Ära Preußens von 1818-1879 ausdrücklich würdigte, setzte er das „großpreußische Wirtschaftssystem" nicht nur mit Etatismus, Monopolismus, Subventionismus und Politisierung der Wirtschaft gleich, sondern auch mit „hierarchischer Organisation und Zentralismus" (S. 228 f.).

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nationaler Ordnungen. Auf dieser Grundlage baute Röpke dann später seine bis heute beachtenswerte Theorie der internationalen Ordnung auf, und zwar in folgendem Erklärungszusammenhang: Mit räumlicher Ausdehnung, zunehmender Intensität und Anonymität der Arbeitsteilung und mit der Überschreitung von Währungsgrenzen wachsen die wirtschaftliche Abhängigkeit der Individuen und mit ihr die Unsicherheit der Entscheidungen. Mit den Risiken - so sagen wir heute - steigen die Transaktionskosten. Um diese zu begrenzen, müssen sich die Tauschpartner mit ihren wechselseitigen Ansprüchen in einem „formell und materiell schützenden Rahmen moralisch-rechtlichinstitutioneller Art geborgen fühlen können, und zwar soweit, daß sie bereit sind, die mit dem wohlstandssteigernden Austausch verbundenen Risiken auf sich zu nehmen" (.Röpke 1945/1979, S. 105). Wirtschaftliche Integration, die Röpke als Preis-, Tauschund Zahlungsgemeinschaft versteht, erfordert im Interesse einer austauschfordernden Gestaltung der Transaktionskosten international einen Kodex von Normen, Prinzipien, Verhaltensregegeln und Wertvorstellungen, also eine Art von Gegenstück zu dem, was Röpke auf nationaler Ebene „soziale Integration" nennt24. Mangels internationalem Rechtsschutzstaat sei das Problem der internationalen Ordnung „unendlich schwieriger zu lösen als innerhalb der einzelnen Nation mit einem festen staatlichen Gefuge und ihrem politisch-moralischen Zusammenhalt (Röpke 1945/1979, S. 106 f.). Die mißlungenen Integrationserfahrungen in den zwanziger Jahren dürften Röpke zu der Überzeugung gebracht haben, daß es zur Etablierung einer internationalen Ordnung eines dominierenden Staates oder einer dominierenden Mächtegruppe bedarf, wobei das Dominieren und Führen nur dann auf Dauer erfolgreich ausgeübt werden könne, wenn dabei die Einsicht vorherrscht, „die Welt im Sinne der Freiheit und der Gleichberechtigung und

24 Hierzu gehöre zunächst einmal ein freier Staat, in dem Röpke (1944/1949, S. 173) deshalb das „höchste Kunstwerk menschlicher Zivilisation" sieht, weil es hierbei um die Verbindung von „Gehorsam, Disziplin, Ordnung und Zwang mit der freien und willigen Zustimmung der Regierten" gehe. Diese integrierende Leistung könne nur eine „legitime Regierung" mit einem „inneren moralischen Rechtstitel" vollbringen. Das Gewissen und das Rechtsgefühl der Gehorchenden seien die „wahre Rechtsquelle einer Regierung", nicht der Wille oder der Befehl des Gesetzgebers. Hinzu kommen müsse die Bereitschaft der Regierung, nach dem Subsidiaritätsprinzip zu handeln, nur dann sei „wahre Gemeinschaft im überschaubaren Kreise" als Voraussetzung für die Entfaltung wirklicher Mitbestimmung in der Gesellschaft im Sinne von Mitwissen, Mitwirken und Mitverantworten möglich. Zweite Bedingung der „sozialen Integration" ist für Röpke eine Demokratie, die - wenn sie nicht zur Machtanhäufung des Staates, j a zur „schlimmsten Despotie und Intoleranz" führen soll - durch staatspolitische Grundsätze der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sowie durch Institutionen der Selbstbindung beschränkt sein müsse. Grundlegende Fragen des Gemeinschaftslebens, vor allem der Sicherung der vorstaatlichen Rechte der Person, der Familie und der kleineren Gemeinschaften, könnten nicht per Majoritätsentscheidung gelöst werden. Als unverzichtbar sei vielmehr ein gemeinsames Fundament des Zusammenlebens mit einem „Mindestmaß an nationalem Gemeinschaftsgefühl sowie an Gleichförmigkeit des Denkens und Empfindens" erforderlich, aber auch die Dezentralisierung der Staatsführung und deren Beschränkung auf Aufgaben, in denen ein Maximum an Einigkeit erwartet werden kann. „Soziale Integration" erfordere eine entsprechende Tradition und Kultur {Röpke, 1942/1979 S. 139 ff.). Im Ergebnis kann darin eine Vorwegnähme von Buchanans (1975/1984) Ökonomik des Rechtsschutzstaates gesehen werden. Nachdrücklich sind auch Röpkes hochaktuelle Gedanken zur Bedeutung des Gemeinschaftssinns in Erinnerung zu bringen, wenn - wie etwa von Buchanan (1999, S. 13 ff.) - Hayeks Nachfolgern eine Auseinandersetzung mit den Ideen des Kommunitarismus und deren Fragen nach gemeinsamen Wertüberzeugungen empfohlen wird, die eine moralische Neubegründung und Aufrechterhaltung freiheitsverbürgender Institutionen ermöglichen könnten.

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des alten Grundsatzes ,suum cuique' (zu ordnen) und ihre Aufgabe als treuhänderische Mission (aufzufassen), die ihr in einem der kritischsten Augenblicke der Menschheitsgeschichte zugefallen ist" (Röpke 1942/1979, S. 385). Dies hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen wie im Osten auf je andere Weise eindrucksvoll bestätigt (Schüller und Fey 2002, S. 7 ff.). Röpke hat früh erkannt, daß es zum liberalen zivilrechtlich fundierten Typ der internationalen Ordnung keine konkurrenzfähige Alternative gibt. So haben sich sowohl die UdSSR als auch der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) als internationale Ordnungskonzeptionen herausgestellt, die Röpke treffend als „Dach ohne Haus" bezeichnet hat, unter dem ein geschäftiger Pseudo-Internationalismus von Reisekadern vorherrscht. Diese müssen ihre Zeit und Kraft in konfliktreichen Kommissionssitzungen vergeuden, um Verhandlungsergebnisse zu erzielen, die schließlich doch nur den wirtschaftspolitischen Nationalismus stärken, d. h. desintegrierend wirken. Solche Tendenzen waren und sind auch außerhalb des Sowjetblocks verbreitet. Der europäische Agrardirigismus ist hierfür ein aktuelles Beispiel. Von den industrie-, sozialund beschäftigungspolitischen Ambitionen der EU nach dem Vertrag von Maastricht drohen ebenfalls desintegrierende Wirkungen.

4. Kampf gegen kollektivistische Denk- und Handlungskonzepte Schon in seiner Empörung über den Ersten Weltkrieg prangerte Röpke die „überwuchernde Staatlichkeit (und) losgelassene Kollektivität" an (1945/1979, S. 8 f.): „Es war der Krieg, der uns lehrte, was Freiheit in einem ganz elementaren Sinn bedeutete, und uns dadurch zu Antimilitaristen machte. Wir folgten auch hier der allgemeinen Gedankenlosigkeit, wenn wir unseren Protest dadurch zum Ausdruck brachten, daß wir uns zum Sozialismus bekannten. Erst allmählich konnte in uns die Erkenntnis reifen, daß wir damit ein Gesellschaftsideal gewählt hatten, dessen Wesen gerade darin bestehen muß, die Militarisierung zum Dauerzustand zu machen."

Ebenso wie den braunen und roten geißelte er den syndikalistischen Kollektivismus, die Diktatur der Interessentenwirtschaft auf der Seite der Arbeitgeber und der Gewerkschaften: Anfang der dreißiger Jahre griff er in einer Artikelserie der Frankfurter Zeitung (1931e) jene verantwortungslosen Intellektuellen an, die in der Zeitschrift „Die Tat" unter der Meinungsfiihrerschaft von Ferdinand Fried und Hans Zehrer25 (nach dem Zweiten Weltkrieg Redakteure bei der evangelischen „Sonntagszeitung") für eine neomerkantilistisch-nationalistische Wirtschaftspolitik, eine Art von geschlossenem Handelsstaat (Fichte), warben. Was den Charakter des Nationalsozialismus anbelangt, hatte Röpke von Anfang an keinen Zweifel. In Voraussicht der realen Bedrohung begann er frühzeitig, den braunen Kollektivismus in Wort und Schrift kompromißlos zu bekämpfen. Daß der Kampf gegen den braunen Sozialismus mit den Kommunisten geführt werden könne oder solle, was damals die meisten Nazigegner ernsthaft glaubten, hielt Röpke für eine „unheilvolle Idee" (Briefe, in: Eva Röpke 1976, S. 25) - wegen der großen Gemeinsamkeiten beider Ideologien, wobei er den Bolschewismus wegen „seines universellen und rationalisti25 Diese geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus haben nach Kriegsende „in der westdeutschen Publizistik, auch unter dem schützenden und hoffentlich läuternden Mantel der evangelischen Kirche, wieder eine Rolle gespielt" (Willgerodt 1999).

36 • Alfred Schüller sehen Charakters" und w e g e n der Sympathien, die er weltweit bei vielen Wissenschaftlern und Intellektuellen fand, für gefährlicher hielt als den Nationalsozialismus. 2 6 Im A u f k o m m e n des Nationalsozialismus sah Röpke

einen Aufstand gegen die

abendländische Kultur. Dieser dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, die internationale Liquiditätskrise von 1931 auszulösen: Man kann nicht, so lautete am 8. Februar 1933 sein letztes öffentliches Wort auf deutschem Boden {Röpke 1962, S. 106 f.), „... Massenverdummung predigen und einen Sturm zerstörender und zuchtloser Gefühle entfachen, während der Apparat unserer Massenversorgung immer komplizierter geworden ist und immer höhere Ansprüche an die Intelligenz und an die Disziplin der Menschen stellt... Die Möglichkeit besteht, daß sich das alte traurige Schauspiel des Untergangs einer blühenden Kultur mit uns wiederholt, aber diese Möglichkeit sollte nicht die Kräfte des Widerstandes lähmen, sondern zu unüberwindlicher Stärke entfesseln."

5. Röpkes Verbannung aus Marburg Diesen Gedanken des Kulturniedergangs in Deutschland griff Röpke am 27. Februar 1933 in seiner Marburger Gedenkrede für seinen - w i e er schreibt ( 1 9 6 5 / 1 9 6 6 , S. 21) ihm „sehr nahestehenden Lehrer, Freund und Kollegen Walter Troeltsch" auf. Die hier interessierenden Ausführungen der Gedenkrede lauten: „Ein volles Menschenalter lang hat dieser vollsaftige Mensch, der ebenso stark zu lieben wie ehrlich zu verabscheuen verstand, auf dem kleinen Raum seiner äußeren Existenz ins Weite und Tiefe gewirkt: auf dem Räume zwischen seinem Heim dort oben auf dem Rotenberg, von wo der weite Blick nach dem Süden ihn mit der Heimat verbinden mochte, zwischen der Universität und dem alten Klosterbau am Plan, in dem er das Staatswissenschaftliche Seminar aus bescheidensten Anfängen emporentwickelt hat. In seiner Klarheit, in seiner Skepsis, in der Unbestechlichkeit seines Urteils und in seiner Lebensklugheit hatte er etwas vom Geiste Voltaires, und vielleicht war ihm jener Satz bekannt, den Voltaire an der Schwelle seines Greisenalters an einen Freund geschrieben hat: „II faut finir par cultiver le jardin." In der Tat war die liebevolle Sorgfalt, mit der er seinen Garten betreute, symbolisch für sein ganzes Wesen: Er war ein Gärtner in des Wortes umfassendster Bedeutung, der unbekümmert um den Lärm der Welt sich liebevoll in seine Aufgabe versenkt, ein Gärtner im Garten der Wissenschaft, ein Menschengärtner für seine Freunde und Schüler, ein Gärtner in der eckenreinen Kleinarbeit, im unbarmherzigen Kampf gegen alles, was er für Unkraut und Ungeziefer hielt, ein Gärtner selbst in seiner ebenso disziplinierten wie graziösen Handschrift." Röpke schloß mit dem „selbstmörderischen" Satz: „Und als ein solcher Gärtner paßte er schließlich nicht mehr in die Gegenwart, die sich anschickt, den Garten der Kultur wiederaufzuforsten und in den alten Urwald zurückzuverwandeln." Damit war der Anlaß gegeben, den die Nationalsozialisten suchten, um den unbequemen Kritiker loszuwerden. Die Beurlaubung mit sofortiger Wirkung erfolgte durch Erlaß des Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung v o m 25. April 1933. In der Frankfurter

Zeitung

wird am 13. Oktober 1933 (S. 2) die am 28. September 1933 angeordnete Versetzung in den Ruhestand von Wilhelm Röpke w i e folgt mitgeteilt: 26 „Man konnte keinen Hottentotten zum Nationalsozialisten machen, weil man ihn unmöglich von dieser wirren Theorie des ,Herrenvolkes' überzeugen konnte; aber man kann ihn im Handumdrehen zum Kommunismus bekehren. Gerade weil der Bolschewismus als ein rationalistisch-universeller Islam einen verführerischen Appell an die geistigen und charakterlichen Schwächen aller Menschen richtet, verfügt er über eine .Fünfte Kolonne', mit der verglichen diejenige des Nationalsozialismus lächerlich wirkt..." (Röpke 1945/1948, S. 53).

Wilhelm Röpke - Werk und Wirken in Marburg • 3 7 „Uns wird geschrieben: Prof. Dr. Wilhelm Röpke (der den Lesem der „Frankfurter Zeitung" auch aus mannigfachen Aufsätzen bekannt ist, Red.) hat jetzt die Mitteilung erhalten, daß er nach § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums pensioniert wurde, also mit allen Ehren und Rechten, da es sich bei diesem Paragraphen um eine Pensionierung „zur Vereinfachung der Verwaltung" und nicht um eine Maßregelung oder Säuberung irgendwelcher Art handelt. Die Pensionierung erfolgte, um Herrn Prof. Röpke für eine Mission in der Türkei, die im deutschen Interesse liegt, freizumachen. Prof. Röpke wird in der Türkei als Reorganisator des dortigen nationalökonomischen Vorlesungswesens tätig sein."

Mit diesem Artikel, von interessierter Seite lanciert, wurde offensichtlich eine Verschleierungstaktik verfolgt, um die wahren Beweggründe für die Amtsentfernung von Röpke vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Röpke hat sich an diesem Verschleierungsspiel beteiligt und schreibt am 23. Oktober 1933 von Istanbul an die PhilippsUniversität, daß er die ihm „übertragene Mission der Reorganisation der nationalökonomischen Abteilung der Universität Stambul übernommen habe, nachdem mir durch meine Pensionierung dazu die Möglichkeit verschafft worden war .,.".27 Die bittere Wahrheit der Zwangsentfernung von Röpkes Marburger Lehramt hat der stellvertretende Gaudozentenfuhrer in einem Schreiben vom 27. Juni 1944 an den Rektor der Philipps-Universität noch einmal unmißverständlich zum Ausdruck gebracht: „Röpke hat sich ... durchaus politisch unerwünscht betätigt, sonst wäre seine Entfernung vom Amt und aus Marburg nicht erfolgt. Die ... Rede Röpkes am Grabe von Prof. Troeltsch war ein scharfer Angriff gegen den Nationalsozialismus. Sie legte folgenden Vergleich zugrunde: Troeltsch sei zur rechten Zeit abberufen worden; er habe sich früher an manchen Blumen erfreuen können (Troeltsch hatte viel Freude an seinem Garten), und es sei ihm nun erspart geblieben, gegen das Dornengestrüpp (gemeint war der Nationalsozialismus) ankämpfen zu müssen, das sich jetzt in Deutschland ausbreite. So ist Röpke durchaus als Gegner des Nationalsozialismus zu beurteilen".

Hintergrund der Stellungnahme des Gaudozentenführers war eine Einbestellung Röpkes beim deutschen Konsulat in Genf, bei der es um einen Antrag ging, Röpke und seine Familie auszubürgern. Bei dieser Unterredung hat Röpke keinen Hehl aus seiner politischen Einstellung gemacht, wohl aber eine gewisse Zurückhaltung zugestanden, die er ohnehin im Interesse seines schweizerischen Gastlandes geübt hätte. Die Rechtsund Staatswissenschaftliche Fakultät der Philipps-Universität hat sich mit einer Begründung gegen die Ausbürgerung ausgesprochen, der sich letztendlich auch der Dozentenführer angeschlossen hat. Röpke war sich, wie er später schreibt, der Tragweite seiner Gedenkrede für Walter Troeltsch und der davon drohenden Gefahr bewußt (1945/1948, S. 20 ff.; 1965/1966, S. 22). Tatsächlich befand er sich schon bald auf einer der ersten Listen der von Hitler zwangsweise beurlaubten Professoren: „Das Leben eines als politisch mißliebig abgesetzten Professors war eine neue Erfahrung für mich und durchaus keine erbauliche. Je mehr man von mir abrückte, um so höher trug ich meinen Kopf, und als der damalige Rektor mir nahelegte, einem Maifest der Universität fernzubleiben, legte ich um so mehr Gewicht darauf, daran mit fröhlicher Unbefangenheit teilzunehmen."

27 Personalakte der Philipps-Universität, Hessisches Landesarchiv 305a, Acc. 1992/55, NM 4395, Nr. 9.

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6. Wissenschaft als geistiges Gewissen der Politik Röpke ließ nie einen Zweifel daran, daß sich die Wissenschaft mit den bedrückenden Gegenwartsnöten zu beschäftigen und als geistiges Gewissen der Politik zu bewähren hat. Nach seiner Beobachtung wurde die Wiederherstellung einer nationalen und internationalen Wettbewerbsordnung nach dem Ersten Weltkrieg von der Wissenschaft und Publizistik nicht mit hinreichendem Nachdruck und mit der notwendigen Überzeugungskraft betrieben. Er selbst versuchte immer wieder, auch dem NichtÖkonomen und einer breiten Öffentlichkeit den Einblick in elementare Zusammenhänge der Marktwirtschaft zu erleichtern und sich ein Urteil zu bilden, z. B. über Freiheit, Freihandel und Wettbewerb als eine wirtschaftlich sinnvolle und zugleich moralische Angelegenheit. Er wußte, daß dies eine besondere geistige Anstrengung und vor allem den Mut zur Vereinfachung verlangt (193 ld). Aber auch Röpke konnte seinerzeit nicht verhindern, daß die Krisenerscheinungen nach 1918 und 1929 dem marktwirtschaftlichen System schlechthin angelastet wurden und die Neigung zur Flucht in den staatlichen Interventionismus verstärkten, so wie dies auch heute geschieht, wenn selbst bescheidenste Reformansätze als neoliberal diffamiert werden. In den 30er Jahren schrieb Röpke: „Es ist ... erheiternd zu sehen, welches Zerrbild die Unwissenheit, und empörend zu sehen, welches Zerrbild die Böswilligkeit von jenen Idealen des Gemeinschaftslebens entworfen hat, die wir als liberale bezeichnen. Es scheint, als brauche jede politische Massenbewegung gewisse massive Gegner, gegen die man die Massen zum Haß entflammt, Schießbudenfiguren, auf die man nach Herzenslust schießen läßt" (Röpke 1962, S. 108).

Immer wieder nahm Röpke die Intellektuellen, besonders auch die akademischen, als geistige Vorbereiter des braunen und des roten Kollektivismus ins Kreuzfeuer der Kritik. In Bemühungen, sich gegen den moral- und wohlstandsverzehrenden kollektivistischen Zeitgeist mit überzeugenden Argumenten zur Wehr zu setzen, hätte Röpke nie die Gefahr der Selbstüberschätzung der Intellektuellen gesehen. Im Gegenteil: „Verzweiflung und Resignation sind das letzte, dem wir uns hingeben dürfen, um so weniger, je mehr sie um sich greifen. Aber wir dürfen auch nicht optimistisch erwarten, daß die Massen schon von selbst wieder zu den verlassenen Altären der Freiheit und der Humanität zurückkehren werden" (Briefe, in: Eva Röpke 1976, S. 17).

7. Klarheit ist schwerer als Dunkelheit Röpke ist nicht dem Rat eines Jenaer Rektors gefolgt, Vorträge so zu halten, „daß ein Drittel des Vortrages alle verstünden, ein weiteres Drittel nur wenige und ein letztes Drittel nicht einmal diese, dann würde man den Ruf eines verständlichen Redners mit demjenigen eines tiefen aufs glücklichste verbinden" (Röpke 1965/1966, S. 21). Schwierige Sachverhalte versuchte Röpke so verständlich wie möglich auszudrücken. Zuweilen hat er die Anschaulichkeit so weit getrieben, daß es Hörer gab, die ihm dies wegen der Direktheit und Schärfe eines Verdikts übelnahmen. „Daß Klarheit schwerer

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ist als Dunkelheit, wird selten begriffen", meinte Röpke.29 Freilich ist Röpke nicht jener Gruppe fachökonomischer Esoteriker zuzuordnen, die sich - wie es Franz Böhm (1954, S. 85) formuliert hat „... in die modellgerechte marktwirtschaftliche Ordnung aus gar keinem anderen Grunde verliebt haben als deshalb, weil diese Ordnung so ungemein interessante technische Probleme aufgibt, an denen theoretisch herumzubasteln und einen nicht gewöhnlichen Scharfsinn zu wetzen eine wahre Götterspeise für philosophiefremde Interdependenz- und Gleichgewichtsvirtuosen ist".

Dagegen sah Röpke das Entscheidende „auch im Wirtschaftsleben in Dingen, die so vertrackt sind wie ein Liebesbrief oder eine Weihnachtsfeier ..." (1958/1961, S. 369).

8. Erfolgreiche Wirtschaftspolitik erfordert „sachkundige Hände" Diese müßten geleitet sein von dem „Verständnis, der Zustimmung und der Mithilfe der breiten Masse, die begreift, worum es sich handelt. Diese Voraussetzung zu erfüllen, ist die große praktische Aufgabe der Wissenschaft vom Wirtschaftsganzen, die wir Nationalökonomie nennen" (1937/1990, S. 333 f.). Aus dieser Einsicht und wegen des geschilderten Versagens vieler Wissenschaftler nach dem Ersten Weltkrieg hat Röpke nach dem Zweiten Weltkrieg von Genf aus zusammen mit einer ganzen Reihe liberaler Gelehrter die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und Deutschlands „Sprung in die Marktwirtschaft publizistisch und wirtschaftswissenschaftlich" vorbereitet und begleitet (Böhm 1977, S. 431) - mit Zivilcourage und Nonkonformismus. Er haßte verwaschene Standpunkte, denn man dürfe vernünftige Konzepte nicht von vornherein aufweichen, sondern müsse um ihre Durchsetzung ringen. Röpke hielt es für fatal, wenn Wissenschaftler den Politikern ein ruhiges Gewissen verschaffen, indem sie diese mit Vorschlägen verschonen, die nicht für durchsetzbar erachtet werden. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten der Unvernunft blieben unbekannt. Diese Feststellung ist höchst aktuell: Es gibt in der neueren institutionenökonomischen Forschung die Neigung, die Analyse von gesellschaftlichen Konflikten auf die Entstehung und den Verlauf von politischen Machtspielen und die Frage der Durchsetzbarkeit von Reformen auf das (scheinbar) „politisch Machbare" zu beschränken, ohne auf die damit verbundenen Nachteile bzw. auf die Vorteile hinzuweisen, die für alle entstehen, wenn auf diese Machenschaften verzichtet wird. Eine so verstandene wirtschaftspolitische Beratung ist der Gefahr der politischen Vereinnahmung der Wissenschaft ausgesetzt.

9. Röpkes Weitsicht Mit seinen kritisch-nüchternen, bisweilen sogar pessimistischen Prognosen sollte er leider nur zu oft recht behalten. Hierzu einige Beispiele: 28 Als ich im Februar 2003 in einer Konferenz über Ordnungsfragen der Europäischen Integration einem jüngeren Kollegen sagte, daß viele Erkenntnisse der fast ausschließlich zitierten angelsächsischer Autoren eigentlich sehr viel früher und verständlicher bei Röpke zu finden seien, erhielt ich zur Antwort: „Röpke versteht jeder Steppke."

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- Mit seiner Kritik am braunen und roten Sozialismus ist er seiner Zeit weit vorausgeeilt. Er selbst war das, was er von Churchill sagte: ein „geistiger Frühaufsteher". Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß er nach dem Zweiten Weltkrieg die Pläne britischer, französischer und deutscher Kräfte für eine umfassende Sozialisierung und staatsdirigistische Wirtschaftslenkung geißelte.29 1951 wandte er sich in einer Debatte mit Alfred Weber gegen dessen Vorstellung, die in Trümmer gegangene Volkswirtschaft und Weltwirtschaft könne nur mit einer Notsteuerung mittels Zwangseingriffen saniert werden (siehe Rittershausen 1951). - Die verbreitete Auffassung, nach Kriegsende werde es zu einer Depression kommen, hat Röpke (1942) für eher unwahrscheinlich gehalten. - Die Westintegration Deutschlands im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung sah Röpke frühzeitig als Bedingung für die Wiedervereinigung an.30 - Röpke (1934b) hat vor den verhängnisvollen Konsequenzen einer Wirtschaftstheorie gewarnt, wie sie dem Rooseveltschen „New Deal" in den dreißiger Jahren und der Wiederaufnahme dieses Kurses durch Kennedys „New Frontier" zugrunde lag. In beiden Fällen lag Röpke (1963b, S. 107) mit seiner Vorhersage richtig, daß der „Weg von einer falschen Wirtschaftstheorie unmittelbar zu einer Weltpolitik führen (kann), die in schweren Enttäuschungen enden muß". - Das Aufkommen des schleichenden Sozialismus und des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg und die damit verbundenen „monopolistischinterventionistischen Erstarrungen" von Gesellschaft und Wirtschaft (heute „soziale Dilemmata" genannt) wurden von Röpke zutreffend vorhergesagt. Seine Beiträge über die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konsequenzen der „wohlfahrtsstaatlich-kollektivistischen Infizierung" des Staates sind wie für die Gegenwart geschrieben (Schüller 2000, S. 181 f.). - Er sprach von der Unausrottbarkeit der „Kaufkrafttheorie der Löhne" {Röpke 1932, S. 68). Die seit den zwanziger Jahre vor allem von gewerkschaftlicher Seite vertretene Meinung, Lohnerhöhungen - losgelöst aus wirtschaftlichen Wettbewerbszusammenhängen - seien ein probates Mittel gegen Arbeitslosigkeit, leuchtet immer noch vielen Zeitgenossen ein: Steigen die Einkommen der Arbeitnehmer, wird der private Konsum angekurbelt, die Anbieter von Konsumgütern können mehr produzieren, investieren und beschäftigen. Davon profitieren die Hersteller von Investitionsgütern,

29 Hierzu konnte er auf seine ausgewogene Analyse, wenn auch im Ergebnis vernichtende Kritik der „Sozialisierung" aus dem Jahre 1926 zurückgreifen. 30 „Haben die Westmächte erst einmal den Deutschen wie den Russen gezeigt, was sie in ihrem Gebiet zu leisten vermögen, so werden die Folgen nicht ausbleiben. Rußland wird dabei um so rascher ins Hintertreffen geraten, als der gesamte russische Großraum dank seines Wirtschaftssystems ... dazu verurteilt sein wird, ein Hunger- und Elendsgebiet zu bleiben ... So überlegen es dem Westen in der Handhabung der tückischen Waffen ... ist, so brauchte man die Lage des Westens doch nicht so ungünstig anzusehen, wenn er dem Sowjetbereich zeigen würde, daß sein Prinzip der Freiheit zugleich ein solches des Wohlstands, der Ordnung und des Rechtes sein kann. Es ist Sache des Westens, sich dieser wahrhaft edlen Waffe, deren Geheimnis ihm Rußland nicht rauben kann, zu bedienen, unbehindert durch entgegengesetzte Ideologien und durch selbstsüchtige Interessen. Für die Westmächte gilt es nun, in Deutschland eine Politik durchzuführen, die es ihnen erlaubt, es den Deutschen zu überlassen, zwischen Ost und West zu vergleichen und ihre Wahl zu treffen" (Röpke 1945/1948, S. 337).

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so daß auch sie mehr produzieren, investieren und beschäftigen können. Einmal in Gang gekommen, ziehen sich Löhne, Konsum, Investitionen und Beschäftigung gegenseitig hoch. Eine solche Perspektive muß Sozialtechnologen verlockend erscheinen. Freilich wird übersehen, daß die Kostenerhöhungen direkt und - wegen der Lohnnebenkosten - verstärkt, die Einkommenseffekte aber nur eingeschränkt entstehen. Zudem wird die erwartete Einkommenssteigerung auch dadurch reduziert, daß die Mehrbelastung der Wirtschaft durch Lohnerhöhungen wie eine Prämie wirkt, Arbeitskräfte einzusparen und die Produktion ins Ausland zu verlagern. Das Rezept der Kaufkrafttheorie des Lohnes hat damals krisenverschärfend gewirkt und tut es auch heute. — Röpke war skeptisch gegenüber einer europäischen Integrationspolitik, die „mehr von politischem Enthusiasmus als von wirtschaftlicher Vernunft" (Briefe, in: Eva Röpke 1977, S. 427) getragen sei. Er bevorzugte das, was man heute offenen Regionalismus nennt. Frühzeitig erkannte er die Problematik eines supranationalen Staates oder eines noch strafferen staatsrechtlichen Gebildes auf europäischer Ebene.

V.

Die Marburger Universität und Röpke nach 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Röpke erst 1947 wieder nach Marburg kommen - vierzehn Jahre nach seiner Verbannung. In einem Vortrag vor den Studenten des Staatswissenschaftlichen Seminars sprach er über die Vorzüge einer freien, gerechten und humanen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Ein Jahr zuvor, also 1946, hatte der amerikanische Kommissar der hessischen Universitäten, Prof. Hartshorne, Röpke in Genf aufgesucht, um ihn aufzufordern, an die Marburger Universität zurückzukehren. Verständlicherweise wollte Röpke nicht unter dem Druck der Besatzungsmacht der Fakultät aufgezwungen werden. Deshalb gab Röpke zu bedenken, er könne eine Rückkehr nur in Betracht ziehen, wenn die Fakultät ihn selber zurückberufen würde. „Was aus diesem Beweise meines guten Willens geworden ist", schreibt Röpke (1965/66, S. 23), „habe ich nie erfahren." Die Marburger Fakultät hat von sich aus letztlich wohl emsthaft nichts unternommen, ihr zwangsweise in den Ruhestand versetztes Mitglied nach Marburg zurückzuholen.31 Erst 1956, elf Jahre nach Kriegsende, wurde er in Deutschland wieder in die vollen Rechte des Hochschullehrers eingesetzt. „Wilhelm Röpke mochte jedoch nun seinen Wirkungskreis in Genf, wo er inzwischen (seit 1937 A. S.) mit seiner Familie Wurzeln geschlagen hatte, nicht mehr aufgeben. Gleichwohl hätte er gerne zugleich wieder ein 31 Dagegen hat der Rektor der Philipps-Universität Marburg, Gerhard Albrecht, in einem Schreiben vom 8. August 1949 Walter Eucken (mit der Bitte um Weiterleitung einer Abschrift des Briefes an Wilhelm Röpke) unter anderem mitgeteilt: „Sollte Herr Röpke jetzt doch Interesse daran haben, seine frühere Lehrtätigkeit in Marburg wieder aufzunehmen, wäre ich für eine möglichst umgehende Benachrichtigung dankbar. Da wir demnächst einen freiwerdenden Lehrstuhl zu besetzen haben, würde ich gern in meine Vorschläge an die Fakultät die Kandidatur Röpkes aufnehmen." Der Hintergrund dieses Briefes war ein vorangegangenes Gespräch, das Eucken mit dem Marburger Rektor über Röpke bei einem Treffen in Bad Königstein hatte. Die letztlich entscheidende Tatsache ist, daß es die Marburger Fakultät versäumt hat, Röpke auf eine Berufungsliste zu setzen.

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gewisses Maß an Lehrtätigkeit in Deutschland ausgeübt. Eine derartige Kombination betrachtete er als ideal. Die Lösung dieses Problems blieb ihm jedoch versagt" {Hoppmann 1968, S. 7). Sozialisten und Kommunisten haben ihn als einen überragenden intellektuellen Kritiker gefurchtet. Als der rote Kollektivismus Ende der 60er Jahre in Westdeutschland wieder aufbrandete, konnte es nicht ausbleiben, daß der 1966 verstorbene Röpke wieder zu einem Brennpunkt der geistigen Auseinandersetzung wurde. Am 17. Mai 1983 (50 Jahre nach Röpkes denkwürdiger Marburger Grabrede auf Troeltsch und seiner Zwangsbeurlaubung und Ausweisung) fand in der Alten Aula der Universität Marburg eine akademische Feier statt - in Anwesenheit von Frau Eva Röpke und Tochter Ilse. Der Anlaß bestand darin, das zentrale Gebäude der Wirtschaftswissenschaften, das Dekanats- und Bibliotheksgebäude (die frühere westdeutsche Landesbibliothek), „nach ihrem großen liberalen Denker, nach ihrem gebildeten und nach ihrem die Grenzen des eigenen Fachs weit übergreifenden Wissenschaftler Wilhelm Röpke zu benennen", wie der damalige Präsident Professor Dr. Walter Kröll (1983) die Feier einleitete, um dann fortzufahren: „Wilhelm Röpke... war zweifellos einer der bedeutenden Wissenschaftler dieser Universität. Sein Werk hat internationale Anerkennung und Beachtung gefunden. Er war über den wissenschaftlichen Bereich hinaus einer der bedeutenden Denker und Anreger für eine freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Und auch dieses ... ist aller Anlaß für die Philipps-Universität, sich mit Wilhelm Röpke zu identifizieren ... Neben der wissenschaftlichen Brillanz ehrt die Philipps-Universität den gebildeten Wilhelm Röpke, denn Bildung wird von Menschen gemacht, und eine Universität kann ihrem Bildungsauftrag nur in dem Umfange gerecht werden, wie ihre Angehörigen im guten Sinne des Wortes gebildet sind. ... Indem der Fachbereich Wilhelm Röpke mit der Namensgebung ehrt, erweist sie sich selbst, der Institution und den Wissenschaften einen Dienst."

Die Veranstaltung wurde von Studenten, vor allem des Fachbereichs Theologie, massiv gestört. Die Aula wurde belagert, die Türen wurden versperrt, die Gäste beim Einlaß in die Alte Aula stark behindert. Die Rede des damaligen Dekans Walter Hamm (1983), der die Beweggründe darlegte, die den Fachbereich veranlaßt haben, seinem Dekanats- und Bibliotheksgebäude den Namen „ Wilhelm-Röpke-Haus" zu geben, wurde ebenso gestört wie der Festvortrag von Tuchtfeldt (1983), in dem das damals wie heute höchst aktuelle Thema der Arbeitslosigkeit im Lichte der Röpke sehen Ideen behandelt wurde. Die unwissenden studentischen und teils auch akademischen Weltverbesserer ignorierten die herausragenden wissenschaftlichen Leistungen und den unerbittlichen Kampf Röpkes gegen den Nationalsozialismus. Sie wußten z. B. nichts von dessen mutiger Entschiedenheit, mit der er nationalsozialistischen, vor allem antisemitischen Tendenzen, die innerhalb der Philipps-Universität Anfang der 30er Jahre vordrangen 32 , in einer allgemeinen Professorenversammlung entgegengetreten war. 33 32 Bei den Wahlen zur Kammer der Allgemeinen Marburger Studentenschaft vom 8. Juli 1931 (Wahlbeteiligung 74 %) erhielt der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund 50 % der Stimmen. Siehe Stifterverband (1967, S. 206). 33 Röpke beklagte, daß „die wenigsten eine Vorstellung davon hätten, in welchem Maße gerade das Judentum in ganz Ost- und Südosteuropa eine Hauptstütze des Einflusses der deutschen Kultur und Sprache sei" (1965/1966, S. 21). Freilich scheint sich die Jüdische Gemeinde Marburg noch Ende März 1933 nicht der nationalsozialistischen Gefahr bewußt gewesen zu sein, wenn die folgende Erklä-

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Die Polemik, mit der die nachachtundsechziger Kulturrevolutionäre gegen Röpke zu Felde zogen 34 , erinnert an den Inhalt des Briefes vom 7. April 1933, mit dem Hans Krawielitzki, Marburger Kreisleiter und Stadtverordneter, Wilhelm Röpke beim Reichskommissar für das Preußische Ministerium für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung zu verunglimpfen suchte: „Herr Prof. Röpke ist ein sehr geschäftiger, reklametüchtiger Mann, aber kein deutscher Universitätsprofessor ... Die Studentenschaft wird sich das Verhalten des Prof. Röpke nicht mehr länger gefallen lassen" (Nagel 2000). Ein nicht unerheblicher Teil der Randalierer von 1983 gehörte dem Marburger Fachbereich an, an dem jener Johannes Schade Theologie studiert hatte, der in Schwarmstedt eine Privatschule betrieb, die Röpke von 1908 bis 1913 besucht hatte. Von diesem außergewöhnlichen Humanisten und Pädagogen ist Röpke in seiner Gymnasialausbildung nachdrücklich geprägt worden. Mit der Schrift „Cicero auf dem Dorfe" hat Röpke seinem Lehrer ein literarisches Denkmal gesetzt und ihm „für die echte Bildung im lebendig Menschlichen" gedankt {Pries 2002, S. 16).

VI. Wilhelm Röpke - A Man for the Twenty-first Century Röpke war mit seinem Werk und Wirken seiner Zeit vielfach voraus. Er hat als Wirtschaftstheoretiker, als viel gesuchter Berater der Politik und als brillanter Publizist und Redner in vielen Belangen weiter gesehen als viele andere. Hierfür hat er sich zwischen 1919 und 1933 in Marburg schon in jungen Jahren ein ungewöhnlich breites wissenschaftliches Fundament geschaffen und hierbei ein sicheres Gespür für die Bedeutung einer gleichgeordneten Wechselwirkung des „Moralischen und Institutionellen" entwikkelt. In Marburg reifte seine Erkenntnis heran, daß die Nationalökonomie nur dann zu einer geistigen und gestaltenden Macht werden kann, wenn sie sich um die Einbeziehung der Erkenntnisquellen der Soziologie, Philosophie, Geschichte, Religion und Politik bemüht und sich einer einfachen lebendigen Sprache bedient, mit der intelligente Leser aus allen Berufskreisen erreicht werden können. Es macht auch heute noch viel Sinn und Freude, Röpkes Werke zu lesen. Ungewöhnlich plastisch und lebendig, ja funkelnd in der Sprache, immer von der konkreten Anschauung des Alltags ausgehend, findet der Leser, wie insbesondere die Ausführungen zu den Kapiteln III. und IV. belegen sollen, in den Büchern wie auch in den unzähligen Aufsätzen und Zeitungsartikeln unbestechliche, eminent praktische Beiträge zur Pathologie und Therapie brennender gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Probleme unserer Zeit, in der beängstigende ordnungspolitische Wahrnehmungsdefizite vorherrschen und eine unbedachte Reformankündigung die andere jagt. In der Politik wird vielfach die medienwirksame Schau für

rung im Hessischen Tagblatt vom 30. März 1933 nicht erpreßt wurde: „Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde Marburgs haben mit Abscheu davon Kenntnis genommen, daß im Auslande Greuelnachrichten über Mißhandlung Deutscher Juden verbreitet und zum Boykott Deutscher Waren aufgefordert wird. Wir rücken sämtlich weit ab von all diesen durchsichtigen Lügen ... Wir wissen, daß die nationale Regierung jedem Anständigen Gerechtigkeit widerfahren läßt und protestieren mit ihr gegen jegliche Ächtung und Verkleinerung Deutschlands." Schon einen Tag später rief die N S D A P zum Boykottjüdischer Geschäfte auf. 34 Mit Plakaten wie „Die Reichen reicher machen, vorwärts mit Wilhelm Röpke".

44 • Alfred Schüller die Wirklichkeit gehalten, der gute soziale Wille wird für das ordnungspolitisch Gebotene genommen. Bedrückende Gegenwartsfragen und erkennbare Zukunftsnöte werden zynisch verharmlost oder mit leeren Redensarten verdrängt. Wenn es richtig ist, daß auch die anhaltende Krise des Beschäftigungssystems, des Sozial- und Fiskalstaats Ausdruck einer geistig-moralischen Krise ist, so ist zu fragen: Was lehrt Röpke, wenn vom Aktuellen zum Prinzipiellen übergegangen wird? In einer Würdigung Röpkes hat Friedrich A. von Hayek (in: Röpke 1959, S. 27) hierzu Bedenkenswertes gesagt: „Wie oft hat gerade Wilhelm Röpke frisch und lebendig ausgesprochen, was uns anderen noch graue Theorie war, oder wenn wir zumindest noch nicht den Weg vom allgemeinen Prinzip zur schlagenden Antwort auf das Problem des Moments gefunden hatten! Jüngere werden einmal darstellen, was sie von Röpke gelernt haben, wie er auf das Denken einer neuen Generation eingewirkt hat und welche Gaben ihn zu einem geistigen Führer gemacht haben ... Röpkes Rolle in der intellektuellen Entwicklung unserer Zeit wird erst die Nachwelt beurteilen können. Aber eine Gabe darf ich hervorheben, für die wir, seine Kollegen, ihn besonders bewundern - vielleicht weil sie unter Gelehrten die seltenste ist: Es ist sein Mut, die Zivilcourage. Damit meine ich nicht so sehr, sich bewußt Gefahren auszusetzen, obwohl Röpke auch dies nicht gescheut hat. Der Mut, den ich meine, ist der Mut, populären Vorurteilen entgegenzutreten, die im Augenblick als die Ideale aller gutgesinnten, fortschrittlichen, patriotischen oder idealistischen Menschen gelten."

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Wilhelm Röpke - Werk und Wirken in Marburg • 4 5

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Wilhelm Röpke - Werk und Wirken in Marburg • 4 7

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Summary Wilhelm Röpke - His Work and Times in Marburg: Lessons for the Present and the Future 70 years ago Wilhelm Röpke was dismissed from his professorship at Marburg University after repeatedly publicly criticising National Socialism. In Istanbul and, from 1937 onwards, in Geneva, Röpke continued his work as an acclaimed academic, political adviser, author and orator. Much of his exceptionally comprehensive knowledge of economic theory, which served as a foundation for his work in later years, was develo-

4 8 • Alfred Schüller

ped between 1919 and 1933, during Röpke 's tenure in Marburg. The objective of this article is to highlight Röpke 's achievements during his time in Marburg, which currently often fail to achieve the respect they deserve. For this reason, the focus of this article rests not on Röpke1 s relationship with Marburg University before and after the Second World War, but rather on Röpke's creative development, the variety, originality and independence of his academic work in Marburg; the city in which he developed into a far-sighted "intellectual leader " (F. A. von Hayek). Röpke 's breakthrough to an internationally acclaimed economic theorist is not only of interest in terms of the history of economic thought. Analysing his work it becomes obvious that in many aspects Röpke was far ahead of his time. Many of his theories continue to be highly relevant, not only for the present but also for the future.

ORDO

Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2003) Bd. 54

Uwe Dathe und Nils Goldschmidt

Wie der Vater, so der Sohn? Neuere Erkenntnisse zu Walter Euckens Leben und Werk anhand des Nachlasses von Rudolf Eucken in Jena Inhalt I. Die Aktualität biographischer Forschung zu Walter Eucken II. Der Nachlaß Rudolf Euckens in Jena III. Einzelne Bestände - Darstellung, Systematisierung und Interpretation 1. Erste Zeugnisse: Materialien bis zur Tübinger Professur 2. Kunst im Hause Eucken und intellektuelle Wegbegleiter 3. Walter Eucken und der Euckenbund 4. Briefe aus Freiburg IV. Zusammenfassung und Ausblick Literatur Zusammenfassung Summary: Like father like son? New insights on Walter Eucken's life and work on the basis of Rudolf Eucken's literary estate in Jena

I.

49 51 52 52 55 57 63 68 69 73

74

Die Aktualität biographischer Forschung zu Walter Eucken

In der neueren Literatur zu Walter Eucken und dem ordoliberalen Forschungsprogramm kommt der Person des Freiburger Nationalökonomen und der Genese seines Werkes vermehrt Beachtung zu. Hervorzuheben ist hierbei vor allem die von Wendula Gräfin von Klinckowstroem (2000) ausgearbeitete biographische Skizze, in der die wesentlichen veröffentlichten bzw. bisher bearbeiteten Quellen zu Leben und Werk Walter Euckens aufgeführt und in einer chronologischen Studie dargestellt sind. Eine umfassende wissenschaftliche Biographie steht freilich noch aus. Jedoch ist die biographische Forschung zu Eucken nicht nur aus historischen bzw. dogmengeschichtlichen Gründen von aktueller Bedeutung, sondern rückt neuerdings auch aus konzeptionellen Erwägungen in das Zentrum des Interesses. Die Debatte ist dabei insbesondere durch die Diskussion zu den Arbeiten von Ingo Pies geprägt. Dieser zielt auf eine „re-aktualisierte Auseinandersetzung" (Pies 2001, S. 1) mit Eucken und dem ordoliberalen Programm, wie er in der Einleitung zu seiner Studie „Eucken und von Hayek im Vergleich" angibt. Seine Interpretation fußt dabei auf der These, daß

5 0 • Uwe Dathe und Nils Goldschmidt

Walter Euchen zwar zunächst von der Philosophie des Vaters beeinflußt war, sich aber ab 1932 - mit der Abhandlung „Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus" (Eucken 1932b) - von der väterlichen Vorstellungswelt gelöst und eine andere argumentative Stoßrichtung verfolgt habe. Pies (2001, S. 24) interpretiert Euckens Einstellung folgendermaßen: „Das Problem der Wirtschaftsordnung soll nicht durch Religion, sondern vielmehr durch Wissenschaft gelöst werden". Statt einer „ursprünglich lebensphilosophischen Ausgangsfrage" sei nunmehr eine Transformation in eine „einzelwissenschaftliche Problemstellung" (S. 23) gelungen, man finde eine „metaphysikfreie! - Ausrichtung der Euckenschen Ordnungstheorie und Ordnungspolitik" (S. 8). Auf diese Weise könne die Euckensche Konzeption „als ein Denkwerkzeug, als ein ,problem solving tool'" dienen, wie Andreas Renner (2002, S. 25) in Übernahme der Denkweise von Pies formuliert. Zwar hat die Sichtweise von Pies viel Zustimmung erfahren, doch finden sich zugleich auch kritische Stimmen. 1 Der Einfluß der väterlichen Philosophie 2 , die Bedeutung von normativen Grundlagen und religiösen Elementen in der Konzeption Euckens (Blümle und Goldschmidt 2000) sowie die Relevanz einer spezifisch ethischen Ausrichtung der geforderten Wirtschafts- und Sozialordnung 3 stehen dabei in der Diskussion und können als Schlüsselelemente in der Weiterentwicklung des Freiburger Programms für eine moderne Ordnungsökonomik angesehen werden. 4 Die folgende Darstellung und Interpretation der Materialien zu Walter Eucken, die sich im Nachlaß Rudolf Euckens in Jena finden, sollen helfen, neue Argumente für diese Debatte zu generieren und die Entstehung des ordoliberalen Forschungsprogramms sowie die Bedingungen seiner Aktualisierungsfähigkeit vertieft zu erörtern. Zugleich geben die bisher unveröffentlichten und bestenfalls kursorisch ausgewerteten Quellen einen umfassenden Einblick in die Biographie der beeindruckenden Persönlichkeit Walter Euckens und in die wissenschaftliche und intellektuelle Lebenswelt vom Ende des 19. Jahrhunderts an bis hinein in die 40er Jahre. 1

Zu den unterschiedlichen Positionen siehe den von Pies und Leschke (2002) editierten Sammelband. Eine kritische Einschätzung zu Pies bieten auch die Rezensionen von Anter (2002), Wohlgemuth (2002) und Goldschmidt (2003a). 2 Eine recht ausführliche Erörterung des Einflusses der Philosophie Rudolf Euckens auf den Ordoliberalismus findet sich bereits bei Dörge (1959). Dörge zieht eine enge Parallele zwischen dem Ordnungsbegriff Walter Euckens und dem Terminus „Syntagma" bei Rudolf Eucken. Zur Kritik an Dörgen Interpretation vgl. Goldschmidt (2002a, S. 100 f.). 3 Siehe hierzu insbesondere die neueren Arbeiten von Schlecht (2000, S. 62 f.) und Lampert (2001). Die sozialpolitische Konzeption Euckens - insbesondere auch in Abgrenzung zu den Vorstellungen von Müller-Armack - wird dabei ebenfalls anhand des Kriteriums „Wertfreiheit" geführt; vgl. Homann und Pies (1996), Lange-von Kulessa und Renner (1998), Blümle und Goldschmidt (1999). 4 Eine gewisse programmatische Funktion in dieser Diskussion kommt dabei der von Stefan Voigt (1996, S. 160) geäußerten Ansicht zu, daß „die Idee des Ordo von Eucken letzten Endes metaphysisch legitimiert wird" und somit kaum für eine werturteilsfreie, ordnungsökonomische Konzeption taugt. Zahlreiche andere Autoren hingegen sehen die Möglichkeit, die Euckensche Ordnungstheorie in eine (wertfreie) Institutionenökonomik zu überführen. Vgl. z. B. Müller und Tietzel (2000), Leipold (1989) und (1990), Grossekettler (1997, insb. S. 93-103) sowie Oberender und Christi (2000). Eine moderierende Position bietet Viktor Vanberg (1997), der mögliche naturrechtliche Argumente in Euckens Konzeption zwar zubilligt, ihnen aber keine systematische Bedeutung zukommen läßt. Ähnlich auch Renner (2000, S. 17 f.). Zur Debatte siehe auch Goldschmidt (2003b).

Wie der Vater, so der Sohn? • 5 1

II.

Der Nachlaß Rudolf Euckens in Jena

Der Nachlaß des Philosophen Rudolf Eucken, den die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB) aufbewahrt, enthält eine große Fülle dokumentarischen Materials zu Walter Eucken. Der Nachlaß Rudolf Euckens unterscheidet sich stark von den Nachlässen anderer deutschsprachiger Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts. Zu den üblichen Nachlaßbeständen (Korrespondenz, Werkmanuskripte, Lebensdokumente und Sachakten, wissenschaftliche Materialsammlungen) kommen Teilnachlässe von Familienangehörigen sowie das Archiv eines Vereins. Wichtige Quellen zu Walter Eucken gehören zu allen Nachlaßgruppen. 5 Hierbei bilden die Familienbriefe von Walter Eucken und Edith Eucken-Erdsiek den wichtigsten biographischen Quellenbestand. Sie erhellen das familiäre Umfeld Euckens, geben Aufschluß über seine politischen Einstellungen, weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen, beleuchten sein intellektuelles Umfeld, seine Freundschaften mit Edmund Husserl, Gerhard Ritter, Franz Böhm und Ricarda Huch, seine Begegnungen mit José Ortega y Gasset, Martin Heidegger, Erik Wolf und Willibald Gurlitt und sein Verhältnis zur modernen Kunst. Die Briefe der Jahre 1929 bis 1938 ermöglichen außerdem faszinierende Einblicke in das Freiburger Universitätsgeschehen, die Geschichte der Bekennenden Kirche in Baden und die Herausbildung der „Freiburger Schule". Da Walter Eucken vor seiner Mutter keine Geheimnisse hatte, zeugen die Briefe an sie von der tiefen Religiosität des Nationalökonomen. Alle Familienbriefe von Edith und Walter Eucken wurden von den Empfangern in einem Karton abgelegt. Das Ehepaar Eucken bildete eine innige Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die von der Familie in Jena als Einheit wahrgenommen wurde. Die 427 Briefe (554 Blatt) bilden heute zwei Konvolute. Konvolut I (Nachlaß Eucken V, 11) enthält 224 Schreiben von Edith bzw. Walter Eucken aus dem Zeitraum 1896 bis 1927. Adressaten sind Euckens Großmutter Äthenäa Passow, sein Onkel Adolf Passow, die Eltern Irene und Rudolf Eucken und seine Schwester Ida Eucken. Konvolut II (Nachlaß Eucken V, 12) enthält 203 Schreiben aus dem Zeitraum 1929 bis 1938 an Irene bzw. Ida Eucken. Da die meisten Briefe an Irene bzw. Ida Eucken gerichtet sind, haben die Nachlaßbearbeiter beide Konvolute dem „Kryptonachlaß Irene und Ida Eucken" (Nachlaß Eucken V) zugeordnet und die vorgefundene Ordnung beibehalten. Der Briefwechsel ist lückenhaft; wann welche Briefe verlorengegangen sind, läßt sich nicht mehr überprüfen. Die Familienbriefe Walter Euckens sowie die dazugehörigen Gegenbriefe, in denen es vor allem um Angelegenheiten des Euckenbundes ging, legten bereits die Empfanger im Archiv des Bundes ab. Dort liegen sie auch heute noch. Zum persönlichen Nachlaß Rudolf Euckens gehören zwei Briefwechsel Walter Euckens mit Verlagen. Walter Eucken unterstützte in den zwanziger Jahren seinen Vater bei Verlagsverhandlungen 6 , diskutierte mit ihm aber auch philosophische Fragen. 7 Dem

5 6 7

Zum Bestand des Nachlasses und zur Geschichte seiner Überlieferung siehe Dathe (1998) und (2002). Die Briefe gehören zur Korrespondenz Rudolf Euckens, Korrespondenz zwischen Dritten, Nachlaß Eucken I, 28. Siehe Rudolf Euckens handschriftliche Notiz „Gespräch mit Walter 26/4", Nachlaß Eucken II, 24.

5 2 • Uwe Dathe und Nils Goldschmidt

Vater schenkte er ein Fotoalbum mit Aufnahmen aus seiner Militärzeit im Ersten Weltkrieg (Nachlaß Euchen, Lebensdokumente und Sachakten III, 5). Die Dokumente zu Walter Euchen, die zum Nachlaßbestand „Material zum Euckenbund" gehören, stellen wir in dem Abschnitt über den Euckenbund (III.3) vor.

III. Einzelne Bestände - Darstellung, Systematisierung und Interpretation 1. Erste Zeugnisse: Materialien bis zur Tübinger Professur Die zeitlich ersten im Nachlaß erhaltenen Briefe umfassen vor allem die Korrespondenz des jungen Walter Eucken mit seiner Großmutter, der Schriftstellerin Athenäa Passow. Neben Berichten über das Ende der Schulzeit, Studienwahl8 und über die ersten Studiensemester9 finden sich dort auch immer wieder Erwägungen Euchens zur Literatur. Seine Schreiben geben Auskunft über seine Liebe zu Jean Paulw, seine Kritik an Henrik Ibsen11, seine Vertiefung in Goethe und seine gründliche Beschäftigung mit Stefan Georges Werken. Nach bestandenem Doktorexamen 1913 leistete Eucken seinen Militärdienst und wurde anschließend zum Kriegsdienst einberufen. Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg empfand Walter Eucken als Schande für Deutschland. Bereits im Juli 1918 schimpfte er über die deutschen „Jammerlappen" und schämte sich, Deutscher zu sein (Brief vom 20. Juli 1918). Seine grenzenlose Wut über den Kriegsausgang und die Novemberrevolution schlug nicht in politische Apathie um. Obwohl er nach dem Kriegsende intensiv an seiner Habilitation arbeitete, engagierte er sich politisch. Aus dem Januar 1919 ist ein Wahlaufruf zugunsten des bürgerlichen Lagers überliefert (Nachlaß Eucken, V, 11, Bl. 55). Im Juni 1919 nahm er Kontakt zur Deutschnationalen Volkspartei auf (Brief vom 12. Juni 1919).12 Im schnellebigen Jahr 1919 änderte auch Eucken seine Haltung zu politischen Erscheinungen. Erst wurden die Regierung und ganz besonders Noske für ihr „schneidiges Auftreten" gelobt (Brief vom 12. März 1919), dann wurde dieselbe Regierung verdammt (Brief vom 27. März 1919). Den Vertrag von Ver8

„Diese Wissenschaft - die Nationalökonomie - zog mich nun so an, daß ich mich ganz in ihre Entwicklung - die ja von der Aufklärung an beginnt - vertiefte. Also habe ich als mein Studium angegeben: Geschichte (und zwar neuere) und Staatswissenschaften." (Brief vom 14. März 1908) 9 Überschwenglich schreibt Eucken über Bernhard Harms: „Der Professor für Nationalökonomie Harms, ist ein sehr junger Mann. Er ist erst 32 (oder 33) Jahre alt. Er spricht sehr faszinierend und eindringlich ... ." (Brief vom 3. April 1909) 10 Seiner Großmutter teilte er am 19. Februar 1912 mit, daß er ihre Ausgabe des „Siebenkäs" im „Berliner Tageblatt" besprochen habe. In der Besprechung kommt bereits die väterliche Forderung nach einer einheitlichen Gedankenwelt zum Tragen, wenn Walter £wc£ewschreibt: „Denn den Jean Paulschen Roman im Urtext zu lesen, ist für uns fast unmöglich, da wir jetzt einen einheitlichen Gedankeninhalt, einen sicher durchgeführten Aufbau des Ganzen verlangen." (Eucken 1912) Siehe auch den Brief vom 29. November [1911] (Nachlaß, V, 11, Bl. 41). 11 „Am schlimmsten ist, daß Ibsens Gestalten ganz der eigene Wille fehlt." (Brief vom 17. Januar 1908) 12 Auch die Jenaer Euckens standen der DNVP nahe. Walter Euckens Schwester ¡da gehörte in Jena zu den Gründungsmitgliedern der Partei; Glückwunschschreiben der DNVP gehören zum Briefhachlaß Rudolf Euckens.

Wie der Vater, so der Sohn? • 5 3

sailles lehnte Eucken ab; der Wunsch nach Revanche und die Hoffnung, bald wieder zu den Waffen greifen zu können, wurden mehrfach geäußert (Briefe vom 11. Mai und 26. Juni 1919). Damit „Ruhe im Lande bleibt", meldete er sich schließlich „zeitfreiwillig" (Brief vom 26. Juni 1919). Nachdem sich die politischen Wogen etwas geglättet hatten, begann auch Eucken im Lager seiner politischen Gegner zu differenzieren. Marxisten lehnte er weiterhin ab, befand jedoch, daß man ruhig Sozialist sein könne (Brief vom 27. März 1922). Euckens politischer Enthusiasmus versiegte im Verlauf der zwanziger Jahre; die Suche nach Mitteln zur geistigen Erneuerung verdrängte das permanente Nachdenken über politische Umwälzungen. Die chauvinistischen Töne verschwanden, philosophischweltanschauliche Überlegungen nahmen ihren Platz ein. Eucken ging es nun nicht mehr um eine Änderung des politischen Systems durch Parteien oder paramilitärische KampfVerbände. Mit dem Euckenbund und auf der Grundlage der Ideen seines Vaters sollte eine „Gesamtumwälzung" angestrebt werden. Diese „höchst revolutionäre Aufgabe" sei kein nationales Anliegen, der Bund kein nationaler Verein (Brief vom 20. Juni 1926). Mit dem Ende des Krieges wechselt Eucken auch wieder in die akademische Lebenswelt, und zwar als Assistent seines Doktorvaters Hermann Schumacher, der - als Nachfolger Adolph Wagners - mittlerweile in Berlin lehrte.13 Aus zahlreichen Briefen an die Eltern, aber auch aus denen an das Sekretariat des Euckenbundes geht hervor, daß die gesamte Familie Eucken eine sehr gute Beziehung zu Hermann Schumacher hatte. Entsprechend schreibt Eucken bereits im September 1919: „Mein Verhältnis zu Schumacher gestaltet sich immer netter." Seine Aufgaben beschreibt Eucken folgendermaßen: „Meine Tätigkeit hier ist recht interessant. Einerseits - und das ist die Hauptbeschäftigung - ist mancherlei als Redaktionssekretär von Schmollers Jahrbüchern zu tun. Vielerlei Manuskripte sind zu lesen, Aufforderungen zu schreiben u.s.w. Als Assistent andererseits ist vorläufig noch nicht viel zu tun. Aber ich glaube, dies wird noch etwas mehr werden. Sehr erfreulich ist das Verhältnis zu Schumacher. Wir kommen gut miteinander aus und ich lerne viel von ihm. Es ist eben das Glücklichste, dass sich wissenschaftliche Bedeutung und persönliche Vorzüge in so ungewöhnlichem Maße bei ihm verbinden." (Brief vom 23. Februar 1919) 14

Der durch die Briefe im Nachlaß belegte enge persönliche und wissenschaftliche Kontakt zwischen Schumacher und Eucken läßt auch einen weitergehenden Einfluß des 13 Bereits im November 1918 suchte Eucken wieder den Kontakt zu Schumacher. „Die Zwischenzeit benutze ich jetzt zu ordentlicher Arbeit, vor allem Nachholen der im Kriege versäumten in der Bibliothek des Seminars. Sollte mich Herr Geheimrat aber brauchen können, so stehe ich natürlich stets zur Verfügung." (LB Oldenburg, HS 362, 341:1). Der wissenschaftliche Nachlaß von Hermann Schumacher, der in der Landesbibliothek Oldenburg archiviert ist, wurde - obwohl er einen reichen Einblick in die damalige Wissenschaftslandschaft bietet - bisher kaum bearbeitet. Siehe hierzu und zur Bedeutung Schumachers,: Goldschmidt (2002b). 14 Zeitweilig greift Walter Eucken wohl auch auf die Kenntnisse seines Vaters für seine redaktionelle Tätigkeit zurück. In einem undatierten Brief an seine Mutter (vermutlich von 1919) heißt es: „Bitte besprich doch mal mit Vater, ob er nicht einige, womöglich jüngere Kräfte namhaft machen kann, die sociologische Schriften für unser Jahrbuch besprechen können." Wenige Briefe später schreibt Walter dann seinem Vater: „Es ist uns natürlich sehr wichtig, Deine Ansichten über die Sociologen zu hören. Schumacher wollte sie auch gerne wissen." (Brief vom 23. Februar 1919)

5 4 • Uwe Dathe und Nils Goldschmidt

Berliner Ordinarius auf seinen Schüler vermuten als bisher angenommen wird.15 Zwar wird man kaum Schumacher als „ersten Ordoliberalen" bezeichnen können, doch finden sich bei ihm Linien zum ordoliberalen Forschungsprogramm vor allem in seinen Aussagen zur Wirtschafts- und Sozialordnung und in seinem Bestreben, die Theoriefeindlichkeit der deutschen Nationalökonomie zu überwinden. Diese bei Schumacher zumeist noch appellativen Forderungen konnten von Eucken aufgegriffen und systematisch bearbeitet werden (Goldschmidt 2002a, S. 163-186). 16 Aus dieser Perspektive wird auch die von Eucken mit der Schrift „Kritische Betrachtung zum deutschen Geldproblem" (.Eucken 1923b) selbst postulierte wissenschaftliche Trennung von Schumacher, wie er sie ausfuhrlich in einem Brief vom 30. August 1923 an seinen Vater beschreibt, etwas anders eingeordnet werden müssen. Es geht keineswegs um einen Bruch Euckens mit der Historischen Schule (zu der auch Schumacher nur begrenzt gezählt werden kann), sondern (lediglich) um die divergierende Beurteilung des damals drängenden Problems der „großen Inflation" aus inflationstheoretischer (Eucken)17 bzw. zahlungsbilanztheoretischer (Schumacher) Erklärung heraus (Goldschmidt 2002a, S. 164-166). 18 Unzweifelhaft ist jedenfalls, daß die Bekanntschaft auch nach der wissenschaftlichen Trennung Walter Euckens von seinem Lehrer bestehen blieb.19 Wichtige Gesprächspartner Euckens in Berlin waren neben Schumacher der Religionsphilosoph und Schriftsteller Theodor Kappstein und der Philosoph Isaak Benrubi. Nach 1923 fanden Eucken und Hans Gestrich zueinander. Gestrichs Briefe an Rudolf Eucken20 bezeugen eine sehr enge Beziehung der beiden Schumacher-Schüler. Am 20. März 1924 dankte Gestrich Rudolf Eucken für dessen „Anteilnahme an dem Schwei s Eine solche Einschätzung legt auch ein Brief Euckens

an Schumacher

vom August 1943 nahe: „An

die Zeit gemeinsamer Arbeit, die nun schon über 20 Jahre zurückliegt, denke ich oft zurück. In ihr habe ich sehr viel gelernt und viele wichtige Anstöße empfangen." (Germanisches Nürnberg,

Nationalmuseum

Nachlaß H. Schumacher, I, C 72). Im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg findet sich

der private Nachlaß Hermann

Schumachers.

Ebenso ist dort seine unveröffentlichte Autobiographie

„Ein Leben in der Weltwirtschaft" als Typoskript aufbewahrt. 16 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Eucken in einem frühen (und in den einschlägigen Bibliographien bisher nicht angeführten) Artikel für „Der Euckenbund" über „Lage u. Aufgaben der Volkswirtschaftslehre" bereits zu einer Überwindung der Verkrustungen der historischen Schule aufruft: „Aber die historische Schule hat ... sich immer mehr in Einzelforschungen zersplittert und die Behandlung der grundsätzlichen Fragen zurückgeschoben. Daß sie nicht mehr genügt, liegt offen zu Tage, wenn man ihre Ergebnisse überschaut. ... So erwächst die Aufgabe, neue Wege für die Volkswirtschaftslehre zu suchen." (Eucken 1920, 14). Dieser Beitrag ist in Übersetzung wiederabgedruckt in „The Eucken Review", dem englischsprachigen Organ des Euckenbundes. 17 Pointiert findet sich die Position Euckens auch in einem Zeitungsartikel („Gegen vorzeitige Währungsexperimente") aus dem Jahr 1923 (Eucken 1923a), der in der kürzlich publizierten umfassenden Walter-Eucken-Bibliographie (Gerken 2000, S. 133-166) noch nicht nachgewiesen ist. 18 Man wird wohl mit Helge Peukert (2000, S. 100) sogar folgern können: „His book [die „Kritischen Betrachtungen"] is a prime example of Schmoller's ... claim of the combination of induction and deduction." 19 Vgl. die im Jenaer £ u c f e « - N a c h l a ß liegenden Briefe Schumachers an Rudolf Eucken vom 5. Januar 1926 und an Irene Eucken vom 24. April 1919, 16. September 1926, 20. September 1926. Daß sich das Verhältnis zwischen Walter Eucken und seinem Lehrer in den 30er Jahren wieder entspannt hat, belegen die Briefe Walter Euckens an seine Mutter vom 12. Juni 1936 und 12. März 1937. 20 Briefe von Hans Gestrich an Rudolf Eucken vom 20. März 1924 und 2. Januar 1925 [1926], Nachlaß Eucken I, G 145-146.

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ren Unglück, das durch den Tod meiner geliebten Frau über mich gekommen ist" und teilte mit, daß Walter ihm „in diesen schweren Tagen stets als treuer, lieber, verständnisvoller Freund zur Seite gewesen" sei. Mit Walter ständig über gemeinsame wissenschaftliche Probleme sprechen zu können, sei ihm eine große Freude, er hoffe deshalb, „dass unsere Lebenswege nun noch lange beieinander halten". Gestrichs Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Sein Buch „Liberalismus als Wirtschaftsmethode" {Gestricki 1930) zeigt, daß er schon sehr früh ordnungspolitische Ideen vertrat.21 In den „Grundlagen" (Eucken 1940, S. 300, Anm. 69) wird der Freund zu den wenigen auswärtigen Mitgliedern des „in Freiburg entstandenen Arbeitskreises" gezählt.22 Ab 1921 wirkte Eucken als Privatdozent in Berlin23, 1925 folgte der Ruf nach Tübingen. Knapp die Hälfte des im Nachlaß erhaltenen Briefwechsels stammt aus dieser Tübinger Zeit, wobei die meisten Schreiben persönlicher Natur sind oder Einzelfragen des Euckenbundes betreffen, auf die weiter unten eingegangen wird (III.3). Über die wissenschaftliche Forschung oder das Leben in Tübingen (1925-1927) erfahrt man hingegen wenig. 24 Einen weiteren Schwerpunkt des gesamten Konvoluts bis 1927 bilden zumindest in seiner systematischen Rekonstruktion - die Bezüge der Familie Eucken zur künstlerischen Szene jener Jahre, die im folgenden kurz dargestellt werden sollen.

2. Kunst im Hause Eucken und intellektuelle Wegbegleiter Walter Eucken kam aus einer kunstsinnigen Familie, die Rudolf Eucken in seinen „Lebenserinnerungen" als „einen Mikrokosmos geistigen Lebens" (R. Eucken 1921, S. 118) umschreibt.25 Seine Mutter war Künstlerin, talentierte Modegestalterin und Gründerin der „Gesellschaft der Kunstfreunde von Jena und Weimar"26. So überrascht es nicht, daß zahlreiche, im Nachlaß befindliche Briefe von Walter Eucken an seine 21 In der von Böhm, Eucken und Großmann-Doerth herausgegebenen Reihe „Ordnung der Wirtschaft" ist überdies Gestrichs „Neue Kreditpolitik" (1936) als Band 3 erschienen. 22 Erwähnt sei auch Eva Flügge, die Walter Eucken in einem Brief vom 11. Juni 1920 als „Freundin von Edith" bezeichnet. Flügge hat ebenfalls bei Schumacher promoviert, und zwar 1922 mit einer Arbeit über die „Bedeutung William Thompsons fur die Wirtschaftswissenschaft". Später beschäftigte sie sich - sicherlich eine Ausnahme in den deutschen Wirtschaftswissenschaften jener Jahre - mit dem ,„Institutionalismus' in der Nationalökonomie der Vereinigten Staaten" (Flügge 1927). 23 Neben einem Lehrauftrag an der Arbeiter-Akademie in Frankfurt am Main ( H ü f n e r 1995, S. 55), scheint Eucken auch eine Stelle in Riga in Aussicht gehabt zu haben („Schumacher ist auch gegen Riga. Er meint, es liege zu abseits und bringe mich aus dem akademischen Beruf heraus"; Brief vom 2. September 1921). 24 Fast verzweifelt klingen - vor allem wenn man Euckens spätere Präsenz im Wissenschaftsbetrieb bedenkt - folgende Zeilen aus einem Brief vom 27. September 1925: „Ich habe ja wenige wissenschaftliche Freunde und persönlich kenne ich kaum jemanden." 25 Die Schilderungen und Zusammenstellung der Quellen bei Klinckowstroem (2000, S. 57-60) sind zu diesem Thema besonders ergiebig. Im folgenden wird - neben den Belegen aus dem Nachlaß - insbesondere auf dort nicht genannte Quellen verwiesen. 26 Zur Biographie siehe Neuland (2001). Irene Euckens Rolle im Jenaer Kunstleben schildert Wahl (1988). Das kulturell-künstlerische und lebensreformerische Klima im Fin de Siècle Jena analysiert Werner (2003). Einen zeitgenössischen Bericht über Irene Eucken und Abbildungen ihrer Modeentwürfe findet man bei Grute (1917). Zur „Gesellschaft der Kunstfreunde von Jena und Weimar" und zur Rolle, die Irene und Rudolf Eucken in ihr spielten, siehe Wahl (1995b).

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Mutter Bezug auf deren künstlerische Fähigkeiten und auf die von ihr betriebene Stickstube nehmen. Seine Schwester Ida war Sängerin und trat u.a. gemeinsam mit Max Reger auf. Berühmte Maler und Bildhauer (Ferdinand Hodler21, Ernst Ludwig Kirchner**, Edvard Münch29, Gerhard Mareks, Richard Engelmann30, Hans Olde, Ludwig von Hofmann, Walter Dexel), Musiker und Musikwissenschaftler (.Max Reger x, Hugo Daffner) und Schriftsteller (Stefan George, Theodor Däubler) verkehrten in der Jenaer Eucken-Villa. Walter Eucken und seine Geschwister32 wuchsen also nicht nur unter den Augen eines Philosophieprofessors und Literaturnobelpreisträgers auf, sie begegneten schon als Jugendliche bedeutenden Künstlern. Die Briefe im Jenaer Nachlaß dokumentieren, daß Walter Eucken auch nach dem Auszug aus dem Elternhaus der Kunst und Künstlern verbunden blieb. In seinen Studienjahren verband Eucken eine enge Freundschaft mit Macke, dessen Kunstverständnis insbesondere auch in seiner Nähe zur Phänomenologie - Euckens Vorstellungen geprägt haben wird. Anläßlich einer Mac&e-Retrospektive schreibt Eucken in einem Brief vom November 1935 an seine Mutter: „In der Ausstellung wurde mir die schöne Bonner Zeit so recht lebendig wieder. Das war doch ein großes Glück, daß ich damals gerade nach Bonn ging."33 In anderen Briefen beschrieb Eucken die Freie Berliner Sezession 34 , berichtete über Henry van der Velde35 und Gerhard Mareks. Auch schilderte er Begegnungen mit Elisabeth Förster-Nietzsche36.

27 Zu den Jenaer Begegnungen zwischen Hodler und Walter Eucken siehe neben den Erinnerungen von Eucken (1992) vor allem Dunker (1996). 28 Die engen Beziehungen zwischen der Familie Eucken und Kirchner sind ausführlich dokumentiert in Wahl (1993). 29 In einem Brief vom 24. Juli 1919 schreibt Walter Eucken an seine Mutter: „Dann möchte ich auch noch mal an Münch erinnern. Vater soll doch mal an ihn schreiben und ihn auffordern Dich zu malen. Hinter die Sache muß nun mal Dampf gesetzt werden." Zu Münch in Jena siehe Wahl (1995a). 30 Der Bildhauer Richard Engelmann stand in freundschaftlicher Verbundenheit zur gesamten Familie Eucken. Aufschlußreich hierzu ist die Rede, die Walter Eucken anläßlich einer Ausstellungseröffnung Engelmanns 1945 in Freiburg gehalten hat (Eucken 1945). Siehe auch Opitz (2000, S. 86 f.). 31 Zum Wirken Max Regers in Jena siehe Low (1989). 32 Zu seinen Geschwistern Ida und Arnold hatte Walter Eucken ein inniges Verhältnis, wie die zahlreichen Briefe an Ida im Nachlaß, aber auch die mannigfaltigen indirekten Bezüge in den Briefen an seine Mutter belegen. Zwar zeigen die Briefe auch, daß es punktuell Spannungen zwischen Walter und Arnold gegeben hat, doch verband beide eine lebenslange Freundschaft. Möglicherweise war der frühe Tod seines Bruders auch ein Grund für den Suizid von Arnold im Jahr 1950, wie Becke-Goehring und Eucken (1995, S. 58) vermuten. In diesem Band über Arnold Eucken finden sich auch zahlreiche, weitere Hinweise auf das Leben und das Umfeld der Familie. Einen Einblick in das familiäre Umfeld bietet auch der Nachruf Edith Eucken-Erdsieks auf Irene Eucken (Eucken-Erdsiek 1941). 33 Daß die Freundschaft zu Macke weit mehr als nur anekdotischen Charakter besitzt, sondern auch für die Konzeption Euckens von Bedeutung gewesen ist, zeigt auch ein Zeitungsartikel Euckens, den er zur einer MacAe-Ausstellung 1935 verfaßt hat (Eucken 1935). Siehe zur Interpretation: Klump (2003, S. 161) und Goldschmidt (2002a, S. 64 f.). 34 „Gestern war ich hier in der Ausstellung der freien Secession. Ein typisches Zeichen unserer Zeit: einfach ein Chaos. Ein wüstes Durcheinander. Der eine hat starke Formen, der andere überhaupt keine, der eine ist ein Naturalist, der andere will Ausdruck, der dritte reinen R[h]ythmus. Und das schlimmste, dass eigentlich keiner wirklich gut ist, ausser etwa Marc. Mir wurde klar, dass doch der ganze Kubismus, Expressionismus u.s.w. alte Werte zerstört hat. Etwas positives hat er eigentlich

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3. Walter Eucken und der Euckenbund Walter Eucken verehrte und liebte seinen Vater. Die Kerngedanken Rudolf Euckens schätzte er zeitlebens37, sein wissenschaftliches Werk kann theoriegeschichtlich sowohl in seiner Methode als auch in seiner (ethischen) Ausrichtung erst auf dieser Grundlage adäquat rekonstruiert werden (Goldschmidt 2002a, Kap. 3 und 4). Die Ausschweifungen, ständigen Wiederholungen und platten Erläuterungen im Alterswerk des Vaters hingegen bereiteten Walter Eucken Sorge. Der Vater verflache die eigenen Ideen und gefährde die Rezeption der wertvollen Grundgedanken.38 Man müsse Rudolf Eucken vor seiner unkritischen Jüngerschaft bewahren und sein Werk den kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Eliten nahebringen.39 Die geistige Entwicklung Rudolf Euckens kann mit drei Stichworten beschrieben werden: Suche nach einem philosophischen Ansatz zur geistigen Systematisierung der zerrissenen Welt - Verweltanschaulichung des philosophischen Ansatzes - Institutionalisierung der Weltanschauung.40 Die Gründung des Euckenbundes im Herbst 1919 war nur der Schlußpunkt in einer Reihe von Versuchen, die „Gesinnungsgenossen" zu organisieren.41 Der Euckenbund war eine der vielen weltanschaulich ausgerichteten Vereini-

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kaum, d. h. nichts Einheitliches. Deshalb müssen solche Ausstellungen ein Chaos sein." (Brief vom 29. Mai 1919). Zwar hat die Familie Eucken van der Velde als Künstler immer geschätzt, menschlich war Walter Eucken aber wohl von ihm enttäuscht: „Daß er jetzt wieder ankommt, ist an sich sachlich natürlich erfreulich, denn solche Leute brauchen wir. Aber menschlich ist er für mich erledigt. Im entscheidenden Moment, als Not am Mann war, da hat er ausgelassen." (Brief vom 6. Juli 1919). Hintergrund ist van der Veldes Verhalten im Ersten Weltkrieg, in der er die Rolle des neutralen Ausländers gespielt hat und nicht wie von vielen erwartet die „deutsche Sache" unterstützte. Zum Wirken van der Veldes in Jena siehe Weigel-Schieck (1996). In einem Brief vom 5. Januar 1911 an seine Großmutter berichtet Walter Eucken über eine NeujahrsMatinöe u.a. folgendes: „Frau Foerster-Nietzsche erzählte dabei übrigens, daß Ihre Familie mit Kotzebues, also auch mit uns verwandt sei." Auch Rudolf Eucken stand bereits in Briefkontakt mit Elisabeth Förster-Nietzsche; siehe die Briefe von Elisabeth Förster-Nietzsche an Rudolf Eucken, Nachlaß Eucken und die Gegenbriefe R. Euckens im Nachlaß E. Förster-Nietzsches, Goethe-Schiller-Archiv, Weimar. Noch 1950 verfaßte Walter Eucken das Vorwort zur Neu-Herausgabe (20. Auflage) der väterlichen Schrift „Die Lebensanschauungen der großen Denker". Im Vorfeld hierzu suchte Eucken die Abstimmung mit Benno von Hagen, der zur Jenaer Bundesleitung des Euckenbundes gehörte. Siehe den Brief Euckens vom 1. April 1948 (ThULB, Nachlaß Eucken, VII, Euckeniana aus dem Nachlaß Benno von Hagens). Hinzu kam die Sorge in der Familie, daß der Vater langsam der Senilität anheim fallen würde. Dies bestreitet Walter Eucken jedoch vehement in einem Brief vom 1. August 1919: „Ein Ding ist vorauszuschicken: Klar ist Vater, dafür stehe ich. Sonst bin ich es auch nicht." Briefe vom 20. März 1919, 1. August 1919, 17. September 1925, 18. September 1925, 29. Dezember 1925,28. Mai 1926,20. Juni 1926. Einen sehr guten Überblick über Euckens Werk bietet Gra/(1997). Zur Biographie siehe Rudolf Euckens „Lebenserinnerungen" (1921). Zu Euckens kulturpolitischem Engagement und seinen Institutionalisierungsbestrebungen siehe Düfel (1993). Zum Euckenbund gibt es keine neueren Arbeiten. Eine Selbstdarstellung des Bundes, seiner Ziele und der Organisationsstruktur sind abgedruckt in: Der Euckenbund 6 (1925), S. 1-10. Vorgestellt wird der Bund in der zeitgenössischen Übersicht „Die philosophischen Journale in Deutschland", in: Reichls Philosophischer Almanach auf das Jahr 1924, Darmstadt, S. 302-458, zum Euckenbund: S. 406-409.

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gungen, in denen und mit denen das deutsche Bildungsbürgertum auf die nach dem Ersten Weltkrieg sich verstärkende kulturelle Enteignung reagierte.42 Von anderen Gruppierungen aus dem Spektrum der vordergründig bloß weltanschaulich werbenden und appellierenden, im Kern jedoch eindeutig politische Ziele verfolgenden Opposition zur Weimarer Republik unterschied sich der Euckenbund durch den geistigen Bezug auf den deutschen Idealismus. Das war zwar kaum noch der Idealismus der klassischen Periode, sondern ein vor allem von Rudolf Eucken hergestelltes Konstrukt aus abgeschliffenen Versatzstücken von Luther, Kant, Fichte, Hegel und Goethe-, es war aber doch ein Idealismus des geistigen Lebens und keine irrationalistische Lebensphilosophie. Walter Eucken war Mitglied des Euckenbundes43, veröffentlichte in der vom Bund herausgegebenen Zeitschrift (Ende 1920 bis 1924 „Der Euckenbund. Nachrichtenblatt für die Mitglieder des Euckenbundes", Januar bis März 1925 „Der Euckenbund. Organ für ethischen Aktivismus", April 1925 bis Ende 1942 „Die Tatwelt. Zeitschrift für Erneuerung des Geisteslebens")44 und trat als Redner auf Bundestagungen auf. Seine Mitarbeit im Bunde war weitaus intensiver als bislang angenommen. Obwohl das Archiv des Euckenbundes nur sehr lückenhaft überliefert wurde, belegen die Nachlaßdokumente Euchens Engagement in dem Weltanschauungsbunde.45 Während der Erschließung des Nachlasses rekonstruierten die Bearbeiter die ursprüngliche Ordnung des Vereinsarchivs. Papiere von und zu Walter Eucken liegen deshalb an verschiedenen Stellen. Wir folgen in unserer Quellenanalyse der Nachlaßordnung. Zur Korrespondenz des Bundes (ca. 5200 Briefe) gehört der allgemeine Schriftverkehr des Sekretariats mit einzelnen Mitgliedern, Anhängern, Förderern und Freunden des Bundes (3095 Briefe). Vor allem die Korrespondenz der Jahre 1922 bis 1925 ist fast lückenlos überliefert; aus den Zeiträumen 1919 bis 1921 und 1926 bis 1942 fehlen hingegen die meisten Briefe.46 Zu dieser Korrespondenz (Nachlaß Eucken VI, 1-6)47 gehö42 Zum Konzept der kulturellen Enteignung siehe Langewiesche (1989) und Dibelius (1932/1997). 43 Walter Eucken war bereits in die Gründung des Bundes einbezogen. Zum Nachlaß Eucken, Material zum Euckenbund (Nachlaß Eucken VI, 12 (10.2)), gehört ein Typoskript von Rudolf Eucken aus dem Spätherbst 1919 „Zur Rechtfertigung der Begründung einer £ucfo;n-Gesellschaft". Das Typoskript weist handschriftliche Korrekturen Irene Euckens auf, in ihrer Handschrift gibt es Bemerkungen, daß Walter zustimme oder Änderungen vorschlage. Walter Eucken kannte also den Text seines Vaters und hat seiner Mutter seine Ideen zukommen lassen. 44 Euckens Veröffentlichungen in der „Tatwelt" sind - bis auf Eucken (1920) - in der genannten WalterEucken-Bibliographie (Gerken 2000, S. 133-166) nachgewiesen. Unberücksichtigt in der Bibliographie ist darüber hinaus die Schrift „Zur Kritik des modernen Sozialismus" (Eucken 1925c), die als Heft 19 der „Schriften aus dem Euckenkreis" unter dem Pseudonym Dr. K. Heinrich veröffentlicht wurde. Es handelt sich hierbei aber lediglich um die Zusammenstellung zweier Aufsätze in „Die Tatwelt" aus demselben Jahr (Eucken 1925a und 1925b). 45 Zum Bestand und zur Gliederung der Nachlaßgruppe „Material zum Euckenbund" vgl. Dathe (2002, S. 294-300). 46 Zu welchem Zeitpunkt der Euckenbund aufgelöst wurde, ist nicht genau auszumachen. Die Dokumente reichen bis in das Jahr 1942, spätere Dokumente im Gesamtbestand des Euckenbundes gibt es nicht. Dieser Zeitpunkt fällt zusammen mit dem Tod von Irene (1941) bzw. Ida Eucken (1943), die seit 1940 fast die ganze Arbeit im Bund und in der Redaktion der Zeitschrift übernommen hatten. Möglicherweise hat aber auch die ideologische Ausrichtung des Bundes zur Auflösung beigetragen. In einer Akte des Universitätsarchivs Jena (Bestand U, Abt. II, Nr. 13 „Akademische Auslandsstelle Rudolf Eucken-Haus betr. 1928-1945") liegen einige Briefe nationalsozialistischer Organisationen, die

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ren sechs Briefe des Sekretariats an Edith Eucken-Erdsiek (1923-1925) sowie 29 Briefe an Walter Eucken und 33 von ihm. Eucken wickelte seinen Briefwechsel mit dem Sekretariat nicht nur über den Sekretär bzw. die Sekretärin des Bundes ab, sondern auch über seine Mutter. Aus den Briefwechseln mit Edith, Walter und Arnold Eucken geht hervor, daß das Sekretariat nicht über das Pseudonym ,J)r. K. Heinrich"' informiert war. Walter Euckens Pseudonym blieb ebenso ein Familiengeheimnis wie Edith Euckens Pseudonym ,Janus". Die Pseudonyme der Euckens hatten vor allem einen Zweck: Es sollte der Eindruck vermieden werden, daß die Zeitschrift des Euckenbundes ein reines Familienblatt sei. Der Briefwechsel zwischen Walter Eucken und dem Bundessekretariat zeigt, daß er 1924 und 1925 der fuhrende Kopf des Euckenbundes war. Bis 1924 erledigte Eucken kleinere Verlagsgeschäfte für den Bund und empfahl dem Sekretariat Redner und Autoren. Der Euckenbund und die Zeitschrift gerieten 1924/25 in eine ernste Krise. In jenen Jahren begann die Stabilisierung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Immer mehr Sinnsucher fanden Halt in der äußeren Realität; Bünde, die inneren Halt und weltanschauliche Orientierung versprachen, gerieten zeitweilig aus der Mode. Der Euckenbund verlor viele Mitglieder, die Zeitschrift Leser. Sie verschwanden aber nicht aus dem öffentlichen Leben der Weimarer Republik. Die Familien- und Bundesbriefe der Jahre 1924 bis 1926 dokumentieren die Rolle Walter Euckens bei der Umwandlung des Bundes aus einer Gemeinschaft von „Euckenjüngem" in einen zeitgemäßen philosophisch-religiösen Weltanschauungsverein. Warum arbeitete Eucken 1925 so intensiv für den Bund, daß die Beschäftigung mit Angelegenheiten des Euckenbundes zeitweilig gleichberechtigt neben seine wissenschaftliche Arbeit rückte? 48 Für die Krise des Bundes machte er nicht nur die äußeren Verhältnisse verantwortlich. Der Bund selbst und einige seiner führenden Mitglieder trugen seiner Meinung nach die Hauptschuld an der Krise. Die Zeitschrift sei zu einseitig, als bloßes Nachrichtenblatt für die Mitglieder erreiche sie die geistigen und wirtschaftlichen Eliten nicht. 49 In einem Brief an seinen Vater vom 29. Dezember 1925 schreibt Walter Eucken dazu: „Was zunächst die Tatwelt anbelangt, so bin ich der Auffassung, daß sie zu einer vielgelesenen Zeitschrift entwickelt werden muß. Inhaltlich muß sie sich nur von anderen Zeitschriften dadurch unterscheiden, daß sie eine einheitliche Gedankenrichtung vertritt, nämlich die Deinige. Die Hauptaufgabe ist es also, der Tatwelt ein hohes Niveau zu bewahren und sie weit zu verbreiten. ... Ohne die Tatwelt kann der Euckenbund sich nicht halten."

Der Bund - so die Überzeugung von Walter Eucken - sei zu ethisch, d. h. „einige Leute setzen sich zusammen, die sich gegenseitig erzählen, man solle anständig sein". sich beim Rektor der Universität Jena über den offenen, internationalistischen Geist des Hauses beklagen, der so sehr im Gegensatz zu den nationalsozialistischen Ideen stünde. 47 Dieser Bestand ist noch nicht foliiert. Da die Korrespondenz alphabetisch geordnet ist, lassen sich einzelne Briefe leicht finden. 48 Wir geben hier eine Zusammenfassung der Korrespondenz zwischen Walter Eucken und dem Euckenbund aus dem Jahre 1925. Diese Korrespondenz beläuft sich auf 27 Briefe von Eucken und 22 an ihn. 49 Dabei waren Walter Eucken insbesondere die Lehrer ein Dorn im Auge, wie er in einem Brief vom 17. September 1925 an seine Mutter schreibt: „Jedoch würde ich die Tatwelt an Lehrervereinigungen keinesfalls abgeben. Man entwertet dadurch die Zeitschrift. Die Lehrer haben ja ftlr geistige Bewegungen erstaunlich wenig Interesse, sind ja überhaupt einer der unerfreulichsten Stände in Deutschland."

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Demgegenüber forderte Eucken eine metaphysisch-religiöse Besinnung als Bedingung geistigen Eingreifens in die Gesellschaft.50 Er wollte mit dem Bund geistig wirken, die Fühlungnahme zu rein politischen Verbänden und Zeitschriften lehnte er strikt ab, da „wir natürlich nicht ins politische Fahrwasser kommen dürfen". Euckens Auffassung von den Aufgaben, Zielen und Strukturen des Bundes repräsentieren eine Weltanschauungskultur, die von konfessioneller Ungebundenheit, verweltlichter protestantischer Religiosität und politischer Neutralität lebt.51 Sah Eucken zu Beginn des Jahres 1924 seine Aufgabe vor allem darin, die zerstrittene Berliner Ortsgruppe zu reformieren52, so griff er in der zweiten Jahreshälfte immer massiver in die allgemeinen Bundesangelegenheiten ein. Er sorgte dafür, daß sich sowohl der Bund als auch die Zeitschrift Ideen öffneten, die nicht nur im Werk Rudolf Euckens wurzelten, und konnte somit bedeutende Persönlichkeiten als Redner auf Bundesveranstaltungen und Mitarbeiter der „Tatwelt" gewinnen. Obwohl seine Frau erst ab 1928 (bis Ende 1934) Herausgeberin der Zeitschrift war, entschied das Ehepaar EuckenErdsiek schon seit 1925 über die Aufnahme oder Ablehnung von Beiträgen. Die Briefe zeigen, daß die meisten Manuskripte nach Berlin oder Tübingen geschickt wurden und das dort die Entscheidung über die Veröffentlichung fiel.53 Edith und Walter Eucken akzeptierten nur solche Beiträge, die argumentativ in die Diskussionen über eine geistig-gesellschaftliche Erneuerung Deutschlands eingriffen; bloße Huldigungen Rudolf Euckens und schwammige Aufrufe zur Umkehr wiesen sie zurück. Aus dem „Euckenbund" wurde die „Tatwelt". Die Anregungen für die inhaltliche Neuorientierung und für die Änderung des Titels kamen von Walter Eucken. Wäre ihm der Bund nicht gefolgt, so hätte er seine Mitarbeit eingestellt. An den jährlichen Haupttagungen nahm Walter Eucken nur gelegentlich teil. Die Akten belegen seine Teilnahme an den Tagungen der Jahre 1925, 1929, 1931, 1938. Diese Tagungen bereitete er konzeptionell vor. Im Jahre 1925 beschäftigten sich die Euckenbündler mit der deutschen Jugendbewegung. Das Thema war aktuell. Zahlreiche Bünde und Vereine suchten, die Jugend zu sammeln und weltanschaulich zu fuhren. Rudolf Eucken und sein Bund begrüßten das Gemeinschaftsstreben vieler junger Menschen, monierten aber den fehlenden metaphysischen Halt in der Jugendbewegung.54 50 „Solange der Euckenbund nicht eine metaphysisch-religiöse Bewegung wird, wird nichts daraus, schadet nur der Verbreitung von Vaters Ideen" (Brief vom 27. Januar 1925). Diese Auffassung, zu der er in den Weltanschauungskämpfen der Weimarer Republik gelangt war, gab Eucken nie auf. Im Jahre 1943 schrieb er an Alexander Rüstow: „Nicht dadurch verfiel m. E. der Liberalismus, daß er religiösmetaphysisch fundiert war. Im Gegenteil. Sobald er seinen religiös-metaphysischen Gehalt verlor, verfiel er - was sich nun genau historisch und systematisch erweisen läßt." Zit. nach Lenel (1991, S. 13). 51 Zu dieser Art von Weltanschauungskultur vgl. Plessner (1974, S. 163 ff.). Die Erstausgabe erschien 1935 unter dem Titel „Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche". 52 Handschriftliche Anmerkungen auf Briefen und Berichten der Berliner Ortsgruppe zeigen, daß ihm diese Dokumente zur Durchsicht vorgelegen haben. Nachlaß Eucken VI, 26 (OG Berlin). 53 Hierzu stellt Eucken in einem Brief vom 26. März 1926 klar, daß die Annahme und Ablehnung von Aufsätzen sowie die Korrespondenz mit den Autoren allein Sache der „Tübinger" sei: „Es darf daher in diesen Fragen von Jena aus nichts selbständig unternommen werden." 54 Rudolf Euckens Rede „Die Unentbehrlichkeit eines metaphysischen Haltes für die Jugendbewegung" wurde in „Die Tatwelt" veröffentlicht (Eucken, R. 1925). Die Diskussionsbeiträge zu Euckens Rede sind ebenfalls dort publiziert.

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Walter Eucken führte im Vorfeld der Tagung rege Briefwechsel mit dem Bundessekretariat und prominenten Mitgliedern der Jugendbewegung.55 Er schlug Bünde vor, die unbedingt teilnehmen sollten; Vertreter katholischer Bünde wollte er in Jena sehen, die Teilnahme eindeutig politisch ausgerichteter Verbände lehnte er ab. Bei der Auswahl der Vereine folgte Eucken den Ratschlägen Hermann Buddensiegs56 und Siegfried Wendts.51 An der Jenaer Tagung nahm Eucken teil, ihm oblag die Redaktion des Tagungsprotokolls (Nachlaß VI, 24). Nach Rudolf Euckens Tod im September 1926 wurde der Bundesleitung langsam klar, daß die langgehegte Hoffnung, den Bund in eine Bewegung umzuwandeln, kein Fundament mehr hatte und sie bereitete statt dessen die Gründung des Rudolf-EuckenHauses vor. Die Eröffnung des £tau eines Finanzierungssystems für Bildungsinve24 Dieser Grund spricht auch dafilr, nicht unbedingt privatwirtschaftliche Organisationsformen der Universität, sondern eher die Stiftungsform oder die öffentlich-rechtliche Form zu wählen. 25 Vgl. z. B. Straubhaar (1998); Hansjürgens (1999); Wigger und Weizsäcker (1999).

Reform der Hochschulen • 109

stitionen, das in Deutschland nur in Ansätzen ausgebaut ist. Gleichzeitig sollte die Gründung und Zulassung privater Hochschulen erheblich erleichtert werden (Straubhaar 1998). Diese sollten gleichberechtigt neben den öffentlichen Hochschulen stehen. Studiengebühren für diese Einrichtungen sollten bereits unter Inanspruchnahme des entstehenden Finanzierungssystems getragen werden können. Den öffentlichen Hochschulen müßte schrittweise mehr Autonomie gegeben werden; sie müssen sich an ihre neue Rolle im Wettbewerb gewöhnen können. Wesentlich dabei ist zunächst die Möglichkeit, sich Studierende selber auszuwählen. Gleichzeitig sollten moderate Studiengebühren den Schritt zu einem weitgehend marktorientierten Modell vorbereiten. Der Staat sollte dabei mit Einführung von Studiengebühren beginnen, sich schrittweise aus der direkten Finanzierung der Universitäten (also Finanzierung von Infrastruktur, Personal und Lehrmitteln) zurückziehen. Zu vermeiden sind dabei aber Einheitslösungen. Vielmehr sollte den Universitäten die Möglichkeit zu Experimenten gegeben werden, insbesondere durch die Einfuhrung einer Experimentierklausel ins Hochschulrahmengesetz.

V. Fazit Hochschulbildung wird derzeit vom Staat im Stile einer Objektförderung für alle Zugangsberechtigten praktisch kostenfrei zur Verfugung gestellt. Diese Verzerrung der wahren Kosten eines Studiums, verbunden mit einem immensen staatlichen Regulierungsapparat, fuhrt zu schwerwiegenden Störungen der Funktionen der universitären Hochschulbildung (Investition in Humankapital, Signalfunktion). Das deutsche Universitätswesen leistet nicht das, was es eigentlich leisten könnte und sollte. Das wiegt um so schwerer, als die aktuell verwirklichten Strukturen mit einer Entmündigung sowohl der Studierenden als auch der universitären Lehrpersonen einhergeht. Eine Reform muß auf eine konsequente Entstaatlichung der Universitäten hinarbeiten. Sowohl den Studierenden als auch den Lehrenden muß ihre Entscheidungssouveränität zurückgegeben werden. Der Staat muß einen wettbewerbsfördernden Regelrahmen setzen, sollte allerdings keine konkreten Lösungen vorschreiben. Insbesondere ist vor einer einseitigen und undifferenzierten Übertragung amerikanischer Modelle auf das deutsche System zu warnen (Oberender 2002, S. 353 f.). Vielmehr sollte sich ein fruchtbarer Wettbewerb um eine tragfahige und zukunftsfahige Organisation der universitären Ausbildung entfalten.

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ORDO

Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 3 ) Bd. 54

Manfred E. Streit

Menschliches Wissen - Dimensionen eines komplexen Phänomens* Inhalt I. Prolegomena II. Kognition: Bewußtsein, Vernunft III. Kommunikation: Sprache, Schrift IV. Interaktion: Tausch, Markt V. Epilog Literaturverzeichnis Zusammenfassung Summary: Human Knowledge - Dimensions of a Complex Phenomenon

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I. Prolegomena Wissen im Sinne von Informationen über Gegebenheiten der Außenwelt des Menschen (Lorenz 1997, S. 38) beschäftigte und beschäftigt Philosophen, Psychologen, Biologen, Kognitionstheoretiker und Neurophysiologen. Am wenigsten haben Ökonomen als Sozialwissenschaftler das Phänomen als solches aufgegriffen. Dem stand die Annahme im Wege, daß der von ihnen betrachtete repräsentative Akteur im Grunde alles wußte, was es zur Lösung seines charakteristischen Optimierungsproblems zu wissen gab, und daß er in der Lage war, sein auch einem externen Beobachter zugängliches Wissen perfekt zweckrational zu verarbeiten. Selbst die neuere Informationsökonomik versperrte sich den Problemzugang dadurch, daß das subjektive Element des Wissens, die Verbindung zur individuellen Wahrnehmung, ausgeklammert wurde. Das machte Wissen und mit ihm Information zu einem objektivierbaren, einfachen Phänomen, dessen analytisch-deduktive Handhabung bisweilen zu paradoxen Ergebnissen führte.1

*

1

Für Anregungen danke ich meinem Mitarbeiter Dr. Sven Pinkert. Im Falle der Informationsbeschaffung erfordert die neoklassische Optimierung einen Informationsgrad, bei dem Grenzkosten und Grenzertrag der zu beschaffenden Information ausgeglichen sind (Stigler 1962, S. 66). Das fuhrt allerdings zu einem fundamentalen Paradoxon; denn der Wert (Grenzertrag) einer zusätzlichen Information ist dem Informationsnachfrager nicht bekannt, bevor er die Information erworben hat. Dann aber hat er sie ohne Kosten erworben. Zu diesem Ergebnis kommt Arrow (1971, S. 148), ohne jedoch sein neoklassisches Räsonnement im Lichte dieser Erkenntnis zu überprüfen oder gar zu revidieren. Eine Optimierung des Suchaufwands wird unmöglich (vgl. hierzu Streit und Wegner 1995, S. 39 f.).

1 1 4 - Manfred E. Streit

Die Verbindung zwischen Wissen im obigen Sinn und menschlicher Wahrnehmung ist so subjektiv und individuell wie das Gehirn des einzelnen Menschen. In ihm wird Information als von außen kommender, afferenter Impuls sensorisch erfaßt und verarbeitet. Dieser Vorgang ist Gegenstand der Neurowissenschaft oder Hirnforschung. Er beinhaltet ein Zusammenwirken von Milliarden vemetzter Neuronen im cerebralen Kortex. Das macht die Komplexität des Phänomens des menschlichen Wissens, seiner Entstehung und Verarbeitung aus.2 Kognitionstheoretisch sind die sensorischen Rezeptoren oder Sinne (das Sehen, Hören, Fühlen) gewissermaßen „die Tore des Gehirns zur Welt" {Roth 1987, S. 229 ff.); durch sie strömt Information in Form von Impulsen, die von einem Wahrnehmungsmuster gefiltert und auf Übereinstimmung mit dem bisher vorherrschenden Muster immer wieder überprüft und zur Korrektur des Musters genutzt wird {Lorenz 1997, S. 149 f.). Philosophisch betrachtet und das Leib-Seele- oder psychophysische Problem aufgreifend, spiegelt der zuvor geschilderte Vorgang der Informationsaufhahme und -Verarbeitung die Wechselwirkung zwischen Poppers Welt der physikalischen Gegenstände und Zustände (Welt 1) und der Welt der psychischen Zustände oder Bewußtseinszustände und der subjektiven Kenntnisse sowie der Inhalte des Denkens (Welt 3) wider.3 Im Zentrum der Welt der Produkte menschlichen Geistes (Welt 3) steht die Sprache {Popper und Lorenz 1993, S. 75). Sie stellt die Mittel bereit, Elemente der Welt 1 abstrakt zu repräsentieren und sie hypothetisch mit dem Verstand zu manipulieren. Sprache dient nicht der Übertragung von Informationen über Zustände oder Gegenstände einer der beiden anderen Welten, sondern sie überläßt es dem Adressaten einer Botschaft, diese kognitiv einzuordnen bzw. selbständig Bedeutungszuweisungen vorzunehmen.4 Kodiert und übertragen werden die Botschaften durch das Mittel der Schrift. Sie folgt den gleichen Regeln der Syntax wie die Sprache. Eine Botschaft wird nicht grammatikalisch analysiert und bewußt synthetisiert. Vielmehr werden die Regeln der Syntax unbewußt genutzt.5 Die Kenntnis der Sprache ist nicht etwa angeboren, wohl aber die Fähigkeit, sie zu lernen6 im Verlauf eines neuronalen Adaptionsprozesses, der in identifizierbaren Regionen des Gehirns stattfindet.7 2

3

4 5 6 7

Ein Verständnis von komplexen Phänomenen wie Bewußtsein und Gesellschaft vertritt Hayek (1967, S. 25) in Anlehnung an Weavers (1967, S. 168) Probleme organisierter Komplexität. Eine neurophysiologische Analyse der Komplexität unter Informationsaspekten liefern Edelman und Tononi (2000, Kap. 11). Vgl. hierzu Eccles (1976, S. 236) in Übereinstimmung mit Popper (in Popper und Eccles, 1987, S. 62 f.). Eccles (ebenda) unterscheidet den äußeren Sinn (Welt 1), den inneren Sinn (Welt 2) und das reine Selbst (Welt 3) als Bestandteile des Bewußtseins. Popper (in Popper und Eccles, 1987, S. 63) unterscheidet 1. das Universum physikalischer Gegenstände, 2. die Welt psychischer Zustände einschließlich der Bewußtseinszustände und 3. die Welt der Inhalte des Denkens und der Erzeugnisse menschlichen Geistes. So etwa die Interpretation einschlägiger Überlegungen des chilenischen Kognitionstheoretikers Humberto R. Maturana durch Schmidt (1987, S. 28). Neuropsychologisch sind sie unbewußtes Wissen im Sinne von Ryle (1987) oder implizites Wissen im Sinne von Polanyi (1990). Auch Hayek (1952, S. 19) bezieht sich auf diese Wissenskategorie. A. Friderici (zit. nach Schnabel und Sentker 1999, S. 51). Ähnlich auch Roth (1996, S. 108). Vgl. Eccles (1976, S. 247 f.).

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Interaktion als Dimension menschlichen Wissens ist ökonomisch durchaus zugänglich. Entdeckt und zur Erklärung ökonomischer Phänomene genutzt, wurde sie vor allem von Hayek und Mises. Sie analysierten menschliches Zusammenwirken im Tausch und im Markt unter Wissensaspekten und gelangten damit zu neuen Einsichten in arbeitsteiliges Wirtschaften. Für sie ging Arbeitsteilung mit Wissensteilung einher (Hayek 1937, Kap. II). Ihre erkenntnisleitende Frage war, wie Wissen über die Gegebenheiten in Raum und Zeit, welches über die arbeitsteilig wirtschaftenden Akteure verstreut ist, von ihnen kommuniziert und wirtschaftlich nutzbar gemacht wird. Hayeks Antwort war, daß dieses Wissen in der „kodierten Form von Preisen" (Hayek 1976, S. 117) signalisiert wird, ohne daß etwa ein Walrasianischer Auktionator benötigt würde, der das Gesamtgeschehen überblickte und eine Gleichgewichtslösung für das Allokationsproblem vorgeben könnte.

II. Kognition: Bewußtsein, Vernunft Wie erwähnt, stellen die Sinnesorgane oder die sensorischen Rezeptoren die Tore des Gehirns zur Welt dar. Sie sind Teil des neurosensorisch begründbaren Wahmehmungsapparates des Menschen. Seine Komplexität ergibt sich aus der Wechselwirkung von Abermilliarden von Nervenzellen bis hin zum cerebralen Kortex als „dem höchsten und komplexesten von verschiedenen Brücken, die die afferenten Nervenfasern verbinden, welche die Impulse von den peripheren Rezeptoren leiten" (Hayek 1952, S. 56, eig. Übers.). Das bedeutet nicht, daß der Wahrnehmungsapparat ein passiver Empfanger von Empfindungen aus der Außenwelt ist. Vielmehr handelt es sich um einen aktiven Mechanismus, der die Fähigkeit zu haben scheint, die Phänomene einzuordnen, auf die die sensorischen Rezeptoren stoßen. In Anlehnung an Hayek läßt sich behaupten, daß „wir nicht zuerst Empfindungen haben, die dann durch das Gedächtnis bewahrt werden, sondern daß es das Ergebnis physiologischen Gedächtnisses ist, daß physiologische Impulse zu Empfindungen umgeformt werden. Die Verbindungen zwischen physiologischen Elementen sind somit das primäre Phänomen, das die mentalen Phänomene schafft" (Hayek 1952, S. 53, eig. Übers.). Diese Behauptung trifft sich im wesentlichen mit Kant, der in seiner Kritik der theoretischen Erkenntnis zu dem Ergebnis kommt: „Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstände und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen" {Kant 1960, S. 139). Die Bearbeitung des Stoffes der Anschauung führt zu nichts anderem als dem, was man Bewußtsein nennt, d. h. zur Entstehung und Entwicklung von Inhalten handlungsleitender menschlicher Wahrnehmung (Streit 2001, S. 3). Seine Funktion ist es, unseren jeweiligen Standort in der Welt durch den Entwurf einer Art schematischen Modells oder einer schematischen Landkarte laufend zu überwachen. „Diese Karte oder dieses Modell - ist eine von zahlreichen mutmaßlichen Theorien über die Welt, die wir haben und fast ständig zu Rate ziehen" {Popper in Popper und Eccles 1987, S. 124). Der Kant'sehe Stoff der Anschauung oder die Bewußtseinsinhalte bestehen, so gesehen, aus Theorien über die Welt, die durch die Vernunft handlungsrelevant genutzt werden.

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Die Nutzung selbst kann durch Verwendung einer Verfahrensnorm, der Zweckrationalität, erfolgen (vgl. hierzu Streit 2000, S. 270 ff.). Da Theorien grundsätzlich irrtumsanfallig sind, ergibt sich schon daraus ein wesentlicher Vorbehalt gegenüber dem für die Ökonomik so charakteristischen Verständnis von zweckrationalem Handeln. Ein weiterer Vorbehalt bezieht sich auf die Wahrnehmung oder Anschauung. Das, was die sensorischen Rezeptoren signalisieren, ist so subjektiv wie das individuelle Gehirn, das die von den Rezeptoren ausgehenden Impulse verarbeitet. Dem steht entgegen, daß in der Ökonomik von einer objektiven Zweckrationalität ausgegangen wird, nach der die Gegenstände oder Zustände der für den Akteur relevanten Handlungssituation objektivierbar sind. Wird zudem noch unterstellt, daß der betrachtete Akteur in einer vollständig aufbereiteten Handlungssituation leidenschaftslos seinen subjektiven Erwartungsnutzen maximiert, so würde, beliebige Wiederholbarkeit der Entscheidung vorausgesetzt, nichts anderes getan als einem „olympischen Modell" von objektiver Zweckrationalität {Simon 1983, S. 23) entsprochen; olympisch deshalb, weil es nur durch die Bewohner des Götterbergs realisierbar wäre.

III. Kommunikation: Sprache, Schrift Wie erwähnt, steht die Sprache im Zentrum der Welt 3, der Welt der Produkte menschlichen Geistes. Neurophysiologisch lassen sich die Sprachzentren in der linken Großhirnhemisphäre des Menschen lokalisieren. Gemeint sind das vordere Sprachfeld von Broca und das große hintere Sprachfeld von Wernicke (Eccles in Popper und Eccles 1987, S. 359). Aus der Lokalisation im Gehirn ergibt sich bereits, daß die Fähigkeit, eine Sprache zu lernen und zu nutzen, Teil der genetischen Ausstattung des Menschen ist. Als Mittel zur Kommunikation hat die Sprache Werkzeugcharakter. Wegen ihrer neurophysiologischen Begründung läßt sich folgern, daß Sprache das einzige Werkzeug ist, das eine genetische Grundlage zu haben scheint (Popper in Popper und Eccles 1987, S. 75 f.). Diese Grundlage reicht so weit, daß das Gehirn mit einer speziellen Sprachfahigkeit ausgestattet ist. Diese phylogenetische Ausstattung bestimmt die Grundstrukturen von allen menschlichen Sprachen.8 Sie erleichtert den Erwerb einer Sprache ebenso wie die angeborene Disposition zum begrifflichen Denken, zur Symbolbildung und zum Symbolverständnis.9 Damit sind auch die kognitiven Grundlagen für die symbolorientierte Übertragung von Wissen durch die Schrift gelegt. Die Entwicklung der Schrift alter Kulturen10 verdeutlicht, so steht zu vermuten, eine enge Beziehung zu den dargelegten neurophysiologischen Befunden. Die Symbolbildung, dokumentiert durch die Knotenschrift der Inka (das „Quipu") sowie die Bilderschrift der Maya und Azteken, stützt sich vermutlich auf die Mustererkennung im Wahrnehmungs8 9

Das entspricht der These vonNoam Chomsky und seiner Schule (vgl. hierzu Vollmer 1990, S. 146 ff.). Der auffälligste Beleg hierfür ist der von A. M. Sullivan berichtete Fall ihrer von Geburt an taubstummen und blinden Schülerin Helen Keller, die erstaunliche Leistungen beim Spracherwerb und Sprechen leistete, obwohl sie durch den totalen Entzug von Erfahrung durch die genannten Rezeptoren behindert war (vgl. hierzu Lorenz 1997, S. 231 ff.). 10 Zur Entwicklung der vor rund 5000 Jahren entstandenen Schrift vgl. Kuckenburg (1996, Teil II, S. 135 ff.).

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prozeß. Auch die Hieroglyphen im alten Ägypten lassen sich so interpretieren. Die Chinesen bedienten sich zunächst einer von den Ureinwohnern übernommenen Bilderschrift. Durch Verkürzung der Bilder, ihre Verbindung mit Strichen und vielfache Zusammensetzung entstand aus der schon im 3. Jahrtausend bestehenden Schrift nach und nach eine Wortschrift, bei der jedes Wort ein besonderes Zeichen hatte. Der Entwicklungsschritt zum Alphabet läßt sich am griechischen Alphabet nachvollziehen, das phönizischen Ursprung hatte und aus Bezeichnungen und Symbolen für Haustiere sowie Dingen des Alltags hervorging. Funktional betrachtet, dienen Sprache und Schrift dazu, Wissen des Menschen, gewonnen in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt, zu kommunizieren und diesem Wissen zeitlichen Bestand zu verleihen. Wenn dieses Wissen formuliert und weitergegeben wird, läßt es sich auch von anderen verstehen und überprüfen. Nur so entsteht für viele ein Erkenntnisgewinn (Vollmer 1990, S. 141), der sich tradieren läßt und damit zum Bestandteil einer Kultur wird. In ihrer wechselseitigen Beziehung sind Sprache und Schrift somit Artefakte kultureller Evolution.

IV. Interaktion: Tausch, Markt Wie bereits erwähnt, stehen für Hayek der Wissenserwerb und die Wissensverwertung im Zentrum der Analyse von gesellschaftlichen Systemen der Arbeitsteilung, in denen autonome Akteure mittels Tausch kooperativ interagieren. Unter Wissensaspekten sind folgende wissensorientierte Fragen zu stellen (Streit 1995, S. 199): 1. Wie werden die Akteure dazu angeregt, Wissen zu beschaffen, das sich für sie als nützlich erweisen könnte? 2. Wie wird derart subjektives Wissen über ökonomische Umstände verbreitet, das auch für Dispositionen anderer nützlich sein könnte? 3. Wie wird die Verwertung subjektiven Wissens kontrolliert, um Irrtümer aufzudecken? 4. Wie werden Irrtümer aufgegriffen und ihnen so entgegengewirkt, daß ihre Folgen für die Funktionsfahigkeit des Systems als Ganzes begrenzt bleiben? Hayek 's vielzitierte Antwort war: durch die Anreiz- und Kontrollwirkungen des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren. Das Verfahren liefert nicht nur Anreize, Wissen zu erwerben und zusammen mit persönlichem Geschick als Mittel zum ökonomischen Überleben zu nutzen. Zugleich gibt es Informationen an andere weiter, und zwar, wie zitiert, in der „kodierten Form" {Hayek) von Preisen. Werden diese Signale von anderen aufgespürt und unter Berücksichtigung der eigenen wirtschaftlichen Umstände rational verwertet, so können sie wiederum Anlaß zu vorteilversprechenden Tauschhandlungen oder Transaktionen sein. Der Vorteil kann durchaus auch auf Irrtümern anderer beruhen. Dann geraten jene durch die Transaktionen unter Anpassungsdruck, der auf eine Korrektur des Irrtums hinwirkt. Auf diese Weise werden nachteilige Konsequenzen für die Funktionsfähigkeit des Systems de facto begrenzt. Das System korri-

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giert sich gewissermaßen selbst. Ein Organisator, der das Systemgeschehen überblicken und korrigierend eingreifen könnte, wird nicht benötigt. Wissen kann weder perfekt sein, noch ist es kostenlos zu haben. Im Falle von Transaktionen sind Kosten aufzuwenden, um in Erfahrung zu bringen (1) wer mögliche Transaktionspartner sind, (2) zu welchen Bedingungen eine Transaktion durchgeführt werden kann, sowie (3) ob die Transaktion auch vertragsgerecht vollzogen wird. Solche Kosten der Anbahnung, Aushandlung und Kontrolle von Transaktionen beziehen sich auf das zu einer Transaktion erforderliche Wissen. Es sind Transaktionskosten (vgl. hierzu Coase 1960, S. 148; Streit und Wegner 1995, S. 38 ff.). Ökonomisch bedeutsam ist, daß der Aufwand an solchen Kosten, z. B. der Suche nach Transaktionspartnern, nicht optimiert werden kann, denn das setzte voraus, daß der Wert des Wissens (über diese Partner und ihre Tauschangebote) bereits bekannt ist. Der betrachtete Akteur wüßte bereits wonach er sucht. Er könnte sich nur dafür entscheiden, zu suchen, doch könnte er den Suchaufwand nicht optimieren.

V. Epilog Wissen entsteht aufgrund von Wahrnehmungen. Diese können sich auf die drei genannten Welten beziehen. Akte der Wahrnehmung werden durch das menschliche Gehirn vollzogen. Sie sind Erkenntnisziele neurowissenschaftlicher Bemühungen.11 Vorherrschender Bezugspunkt ist die Vorstellung von einem Wahrnehmungsprozeß, in dem die laufende Überprüfung und Korrektur von Mustern in der Außenwelt des Menschen steht, das bereits erwähnte „pattern-matching" (Lorenz 1997, S. 150). Die Mustererkennung ist ein Akt der Reduktion der Komplexität der Außenwelt, eine Abstraktion. Kognitionstheoretisch spiegelt sie das wider, was Hayek den „Primat des Abstrakten" (Hayek 1996, S. 114-129) nennt. Zunächst gibt es die „vorsensorische Erfahrung" (Hayek 1952, S. 179 f.), welche in abstrakten Mustern gerinnt, die mit konkreten Sinneseindrücken abgeglichen werden und zur Entwicklung neuer Muster als Grundlage zukünftiger Erkenntnisleistungen führen. Dieser Abgleichungsprozeß ist verwandt mit dem, was Hayek als multiple Klassifikation (Hayek 1952, S. 50 f.) beschreibt. Neurosensorisch läßt er sich so vorstellen, daß im Verlauf seiner Entwicklung und als Folge unterschiedlicher Sensitivität einzelner Neuronen oder Neuronenfelder auf unterschiedliche Reize aus der Außenwelt sich ein System von sensorisch bestimmten, neuronalen Verknüpfungen oder „linkages" {Hayek) herausbildet.12 Es ist in der Lage, die relative Häufigkeit zu registrieren, mit der Teile des sensorischen Systems mit afferenten Impulsen, zum Beispiel visueller Art, zusammengewirkt haben. Auf einer höheren sensorischen Ebene läßt sich mit diesem Klassifikationsapparat auch registrieren, welche Neuronen bei afferenten Impulsen zugleich angesprochen werden und wie häufig dies in gleicher

11 Einen populärwissenschaftlichen Überblick über die Fragestellungen und Forschungsansätze geben Schnabel und Sentker (1999). 12 Hayek kommt mit seinen Überlegungen der Theorie neuronaler Netze (hierzu Grauel 1996) und zu entsprechenden Modellierungsversuchen (vgl. Rosenblatt 1962) nahe.

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oder ähnlicher Weise geschah. 13 Das bedeutet, daß das Gehirn alle Klassifikationsprozesse aus sich selbst heraus entwickeln muß. Als System ist es selbstreferenziell und selbstexplikativ, d. h. „es weist seinen eigenen Zuständen Bedeutungen zu, die nur aus ihm selbst genommen sind". 14 Wollten wir den menschlichen Verstand erklären, so erforderten beide Eigenschaften, daß unser Verstand gewissermaßen neben sich selbst treten müßte, um sich bei der Arbeit zu beobachten. Mit allgemein gültigen und naturnotwendigen Axiomen kann er nicht erklärt werden. Damit bleibt auch der Zugang zum Wissen und zur Wissensverwertung als neuronalem Prozeß versperrt, trotz aller Fortschritte in der medizinischen Analysetechnik. In Anlehnung an Sokrates können wir nur konstatieren: Wir wissen, daß wir nichts wissen. Was kann aus den bisherigen Ausfuhrungen für die Ökonomik als sozialwissenschaftliche Disziplin gefolgert werden? Eine erste Konsequenz bezieht sich auf den repräsentativen Akteur, der im Zentrum der konventionellen (neoklassischen) MikroÖkonomik steht.15 Sein Wissen gilt als handlungsrelevant. Nach dem bisher Dargelegten besteht es aus Theorien über seine Außenwelt, die irrtumsanfällig sind. Es sind keine unabweisbaren, problemgerecht zugeschnittenen Daten, die einem externen Beobachter zur Verfugung stehen. Sie handlungsrelevant zu verarbeiten ist kein Problem der Entscheidungslogik. Vielmehr geschieht die kognitive Handlungsvorbereitung in einem äußerst komplexen, vielschichtig vernetzten neuronalen Prozeß. Seine Ergebnisse überraschen manchmal den Akteur selbst wegen ihrer Neuartigkeit. Lapidar geht es dabei um die blendende Idee, den Geistesblitz oder die Fulguration im Sinne von Lorenz (1997, S. 49 f.). Infolgedessen kann Wahrnehmung durchaus kreativ sein und zu innovativen Handlungen verleiten. Damit wird allerdings der konventionellen MikroÖkonomik der analytische Boden entzogen. Das Optimierungskalkül bezieht sich auf allen Akteuren bekannte, problemrelevante Tatsachen oder Daten. Neuerungen können wegen ihrer Unvorhersehbarkeit nicht Gegenstände einer Entscheidungslogik sein. Die zweite Folgerung zielt auf die Subjektabhängigkeit des Wissens und darauf, wie die ökonomische Außenwelt von einem Akteur wahrgenommen wird. Sein Gehirn leistet ständig aus sich selbst heraus eine Reduktion der Komplexität der Außenwelt. Erfaßt werden weder alle noch die wirklichen Eigenschaften von Teilen der Außenwelt, sondern nur Aspekte davon. Diese werden zu früheren neurosensorischen Erfahrungen in Form von Mustern in Beziehung gesetzt und zu deren Korrektur genutzt. Der Vorgang des „pattern-matching" ist alles andere als eine Konfrontation mit handlungsrelevanten Daten, die aus der Sicht eines externen Beobachters für alle Akteure Lösungselemente eines stabilen mikroökonomischen Gleichgewichts sind. Hier wird eine Kolli-

13 Hier ergibt sich eine interessante Parallele zu Foersters „Prinzip der undifferenzierten Codierung" (Foerster 1985, S. 43): „In den Erregungszuständen einer Nervenzelle ist nicht die physikalische Natur der Erregungsursache codiert. Codiert wird lediglich die Intensität dieser Erregungsursache, also ein .wieviel', aber nicht ein ,was"'. Dem entspricht auch das „Prinzip der Neutralität des neuronalen Codes" (Roth 1996, S. 93 ff.). 14 So Roth (1987, S. 241) in Anlehnung an die kognitionstheoretische Tradition des radikalen Konstruktivismus, wie sie von Maturana und Varela (1980) geprägt wurde. 15 Eine kritische Betrachtung des repräsentativen Akteurs lieferte Kirman (1992).

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sion von Ökonomik und neurophysiologisch gestützter Kognitionstheorie ganz im Sinne von Hayeks „Sensory Order" erkennbar. Die dritte Folgerung betrifft die Systemebene und die Frage, wie das auf alle Akteure verteilte und von ihnen generierte Wissen zu einer Koordination ihrer Handlungen genutzt und zugleich korrigiert wird. Die Antwort wurde bereits mit dem Hinweis auf den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren gegeben. Er ist ein Verfahren, in dem Wissen unter Aufwand von Transaktionskosten erworben und in seiner Verwertung kontrolliert wird. Insofern weicht es beträchtlich von konventionellen Wettbewerbsvorstellungen ab (vgl. hierzu Streit 2001a, S. 29 f.). Das gilt insbesondere für den Fall, in dem modelltheoretisch die Position eines externen Beobachters eingenommen wird, der davon ausgeht, (1) daß ein zweckrationales Verhalten möglich ist, welches sich an objektiven, allgemein zugänglichen Gegebenheiten orientiert, und (2) daß der evolutorische Charakter der marktlichen Interaktion, repräsentiert durch Neuerungen, ausgeblendet werden kann, um das Koordinationsproblem transparenter zu strukturieren. In besonders ausgeprägter, wenn nicht paradigmatischer Form geschieht dies bei der Modellierung des allgemeinen Konkurrenzgleichgewichts. Da die Preissignale Gleichgewichtspreise sind, enthalten sie alle für das stationäre Konkurrenzsystem relevanten Informationen. In diesem Fall wären alle in der ökonomischen Außenwelt der Akteure bestehenden Allokationsprobleme arbeitsteiligen Wirtschaftens gelöst. Ihnen bliebe nur die automatengleiche Anpassung an diese Signale der Außenwelt, eine relativ einfache und im Hinblick auf das ökonomische Überleben rationale Reaktion. Zugleich würde mit solchen Reaktionen in diesem Modell eine objektiv gedachte Effizienz im Hinblick auf das Gesamtsystem erreicht; denn im Grenzfall bedeutete sie, daß auch die letzte noch lohnende Transaktions- bzw. Substitutionsmöglichkeit wahrgenommen würde. Unter Wissensaspekten läßt sich bei Konkurrenzgleichgewichtsmodellen folgern, daß das Gesamtergebnis von einem umfassend informierten Beobachter gewissermaßen planerisch vorweggenommen sein muß und durch einfache, einfallsarme Anpassungsreaktionen der arbeitsteilig Wirtschaftenden realisiert wird. Mit einer wissensgenerierenden und kontrollierenden wettbewerblichen Interaktion hat dies wenig zu tun. Es wird nicht gezeigt, wie eine Lösung des Allokationsproblems durch das Zusammenwirken von Menschen hervorgebracht wird, von denen jeder nur Teilkenntnisse besitzt (Hayek 1945/76, Kap. IV, S. 120).

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Zusammenfassung Der vorliegende Aufsatz bezieht sich auf ein Phänomen, mit dem sich Philosophen, Psychologen und Erkenntnistheoretiker beschäftigt haben: dem menschlichen Wissen. Merkwürdigerweise haben es Ökonomen als Sozialwissenschaftler weitgehend ignoriert, in dem sie unangemessene Annahmen machten. In diesem Aufsatz werden drei Dimensionen nach einigen Prolegomena (Teil 0) betrachtet: Kognition, die Bewußtsein und Vernunft umfaßt (Teil I), Kommunikation, die sich auf Sprache und Schrift bezieht (Teil II) und schließlich Interaktion, bei der es um Tausch und Markt geht (Teil III). In einem Epilog (Teil IV) werden die Ergebnisse zusammengefaßt und ihre Implikationen für die Ökonomik als Sozialwissenschaft betrachtet.

Summary: Human Knowledge - Dimensions of a Complex Phenomenon The present paper deals with a phenomenon which has attracted philosophers, psychologists, biologists and theoreticians dealing with cognition: human knowledge. Curiously enough, economists as social scientists have largely ignored it by making inadequate assumptions. In this paper, three dimensions of the phenomenon will be considered after some prolegomena (part 0): cognition, comprising mind and reasoning (part 1), communication, referring to language and writing (part 2) and, finally, interaction, dealing with exchange and markets (part 3). In an epilogue (part 4), the findings will be summarised and brought into perspective by looking into their implications for economics as a social science.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2003) Bd. 54

Walter Hamm

Die Folgen pervertierter Anreize Inhalt I. Verkannte Bedeutung von Antriebskräften II. Die Bedeutung einzelwirtschaftlicher Anreize für den gesamtwirtschaftlichen Erfolg des Wirtschaftens III. Ursachen fehlleitender individueller Anreize 1. Falsche politische Rahmenbedingungen für individuelles Handeln 2. Falsche Anreize im Sozialsystem 3. Schädliche Anreize durch noch mehr Umverteilung 4. Fehlleitende Antriebe in der Steuerpolitik 5. Fehlentwicklungen in der staatlichen Ausgabenpolitik 6. Leistungsdemotivierende Einflüsse auf den Arbeitsmärkten 7. Falsche Anreize als Folge von Wettbewerbsbeschränkungen 8. Mißachtung des internationalen Politikwettbewerbs IV. Korrektur von Fehlanreizen Literatur Zusammenfassung Summary: The Conséquences ofPerverted Incentives

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„In der Tat droht die im einzelnen und seiner Selbstverantwortung liegende geheime Triebfeder der Gesellschaft zu erschlaffen, wenn die Ausgleichsmaschine des Wohlfahrtsstaates sowohl die positiven Folgen einer Mehrleistung wie die negativen einer Minderleistung abstumpft."

(Wilhelm Röpke 1979, S. 240)

I. Verkannte Bedeutung von Antriebskräften Die gleiche Ursache, die maßgeblich zum Scheitern der sozialistischen Befehlswirtschaft beigetragen hat, lähmt zunehmend auch die mehr und mehr entartende Marktwirtschaft in Deutschland: Die Fehllenkung und Schwächung der individuellen Antriebskräfte bewirken zurückbleibende Raten des Wirtschaftswachstums und steigern die Arbeitslosigkeit. Die Wurzeln dieser Fehlentwicklung werden von Politikern weithin verkannt. Scheinbar soziale Regulierungen und Vorschriften pervertieren individu-

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eile Verhaltensweisen - zum Nachteil des Gemeinwesens - , ohne daß die Ursachen dieser unerwünschten Neben- und Fernwirkungen registriert und abgestellt werden. Warum verlassen jährlich rund 100 000 hervorragend ausgebildete, aktive, schöpferisch begabte und leistungsmotivierte junge Menschen für immer Deutschland? Warum wächst der „Bodensatz" an Arbeitslosen von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus und warum sind vor allem ältere Arbeitskräfte weit überproportional von Dauerarbeitslosigkeit betroffen? Weshalb sind die Studienzeiten in Deutschland im internationalen Vergleich extrem lang? Worauf ist es zurückzuführen, daß Investoren ihre Aktivitäten in wachsendem Maß ins Ausland verlagern? Wieso steigt die Produktion in der Schattenwirtschaft - trotz lahmender Konjunktur - mit hohen Wachstumsraten? Warum verstößt die deutsche Finanzpolitik eklatant gegen den Grundsatz der Generationengerechtigkeit? Weshalb ist Deutschland mit seinem Wirtschaftswachstum innerhalb der Europäischen Union (EU) auf den letzten Platz zurückgefallen? Was veranlaßt staatliche Organe insbesondere in der Gesundheitspolitik zu massiven Eingriffen in die freie Preisbildung auf Märkten? Warum wandert die Forschung in der pharmazeutischen Industrie vor allem nach Großbritannien und den USA aus? Weshalb ist es zu einer Krise im Mietwohnungsbau gekommen? Aus welchen Gründen ist die Bereitschaft von Rentenversicherungspflichtigen, zusätzlich privat für das Alter vorzusorgen, trotz hoher staatlicher Zuschüsse gering? Ein Merkmal ist allen diesen und vielen ähnlichen Fragen gemeinsam: Staatliche Interventionen verändern die individuellen Verhaltensweisen und Triebkräfte in einer für das Gesamtinteresse des Gemeinwesens nachteiligen Weise. Es entwickelt sich eine „dysfunktionale Moral" (.Molitor 1990, S. 27). Im folgenden wird erstens der Bedeutung individueller Anreize für die Steuerung des Wirtschaftsprozesses nachgegangen. Zweitens werden die Ursachen fehlleitender individueller Anreize analysiert, und drittens wird nach Strategien gefragt, die zur Reaktivierung von Antriebskräften und zur Korrektur von Fehlanreizen führen.

II. Die Bedeutung einzelwirtschaftlicher Anreize für den gesamtwirtschaftlichen Erfolg des Wirtschaftens Welche Funktionen müssen einzelwirtschaftliche Anreize erfüllen, damit es zur nachhaltigen Verbesserung der Güterversorgung und zu einem hohen Beschäftigungsgrad kommt? Offensichtlich sind vor allem zwei Anforderungen zu erfüllen: Erstens müssen die Antriebskräfte einzelwirtschaftlichen Handelns wirksam in dem Sinne sein, daß sowohl Unternehmer als auch unselbständig Tätige zur ständigen Verbesserung ihrer Leistungen angeregt werden. Zweitens müssen die Antriebskräfte so ausgestaltet und die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens so gesetzt sein, daß die Ziele einzelwirtschaftlichen Handelns mit den gesamtwirtschaftlichen Zielen harmonieren; einzelwirtschaftliche Ziele dürfen nur dann erreicht werden, wenn zugleich ein Beitrag zur Verfolgung gesamtwirtschaftlicher Ziele geleistet wird. Einige Beispiele mögen zeigen, daß in der politischen Praxis oft fundamental gegen Grundregeln für die Konstruktion einzelwirtschaftlicher Anreize verstoßen wird.

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In den staatssozialistischen Ländern des ehemaligen Ostblocks wurde systematisch an die „materielle Interessiertheit", also an den Eigennutz als Leistungsstimulans appelliert. Geldprämien für herausragende Leistungen einzelner Mitarbeiter und ganzer Betriebe galten als geeignete Instrumente, die Produktion zu steigern. Der Erfolg solcher Anreize war jedoch bescheiden: Geldprämien stand nur ein quantitativ unzulängliches und qualitativ wenig attraktives Konsumgüterangebot gegenüber. Wozu sich anstrengen, so werden sich viele gefragt haben, wenn sich der Lebensstandard nicht fühlbar verbessern ließ? Im Deutschland des 21. Jahrhunderts sind die Leistungsanreize für Hochmotivierte, Kreative und Erfolgreiche aus anderen Gründen gering. Der durch höhere Leistung erzielbare Mehrverdienst wird mit Sozialabgaben und direkten Steuern bis zu 70 Prozent belastet. Viele unselbständig Tätige sind nicht bereit, sich zusätzlich anzustrengen, nur damit vor allem die Sozialkassen und die Staatskasse besser gefüllt werden,. Der Wert der Freizeit wird meist höher eingeschätzt als der bescheidene Zugewinn durch mehr Leistung. Ständig neue Pläne und Maßnahmen mit dem Ziel, die Einkommensumverteilung über öffentliche Kassen noch weiter voranzutreiben, und die Verschiebung von Einkommensteuersenkungen für die Empfanger mittlerer und hoher Einkommen auf eine ungewisse Zukunft lähmen die Leistungsbereitschaft. In den volkseigenen Betrieben der staatssozialistischen Länder war es gängige Praxis, die staatlichen Zentralplaninstanzen systematisch über die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Betriebe zu täuschen. Über „weiche Pläne" konnten ohne große Mühe Prämien für die Übererfüllung des Plansolls einkassiert werden. Die einzelwirtschaftlichen Ziele standen in klarem Widerspruch zu den gesamtwirtschaftlichen, auf Produktionssteigerung gerichteten Zielen. Aber auch die marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung weist derzeit leistungsdemotivierende Lücken auf. Die Deregulierung kommt auf einigen Gebieten wegen des massiven Widerstands der begünstigten Unternehmen nur zögerlich voran (Telekommunikation im Ortsbereich; Wettbewerb im Schienenverkehr; Gewerbefreiheit im Handwerk; Auflockerung kommunaler Monopole). Die Anzahl der Verstöße gegen Wettbewerbsvorschriften ist hoch (Kartellabsprachen über Preise, Liefermengen und Absatzgebiete). Wettbewerbsbeschränkende Fusionen nehmen zu, Ministergenehmigungen tragen dazu bei. Deutlich ergibt sich daraus, daß die unternehmerischen Ziele auch in einer Marktwirtschaft nicht mit den gesamtwirtschaftlichen Zielen übereinstimmen und daß eine Zielharmonie mühsam hergestellt werden muß. Leistungsstimulierung durch Wettbewerb empfinden viele Unternehmen - auch zahlreiche öffentliche Unternehmen - als unbequem. Die aufgeführten Fälle zeigen exemplarisch, daß es in allen Wirtschaftsordnungen zu Konflikten zwischen einzel- und gesamtwirtschaftlichen Zielen kommen kann und daß staatliche Unterlassungen oder Interventionen in vielen Fällen die Moral verderben. Diejenigen Staaten, die sich besonders gravierende Verstöße gegen den wünschenswerten Gleichklang von einzel- und gesamtwirtschaftlichen Zielen leisten, bezahlen dafür mit stagnierendem Wirtschaftswachstum, hoher Arbeitslosigkeit und Wohlstandseinbußen. Hierauf wird im folgenden einzugehen sein.

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Welcher Art die Anreize für wirtschaftliches Handeln sein sollten, läßt sich aus den oben genannten Fällen ableiten. „Das Motivationssystem umfaßt die Gesamtheit der rechtlich-institutionellen Regelungen, die Antriebe oder Anreize für wirtschaftliche Leistungen setzen" (Leipold 1988, S. 39). Privates Eigentum an den Produktionsmitteln, freier Zugang zu Märkten, Vertragsfreiheit, Sicherung wettbewerblichen Verhaltens, verbunden mit strengen Haftungsregeln, Verhinderung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht (auch auf den Arbeitsmärkten), stabiler Geldwert und Konstanz der Wirtschaftspolitik - das sind die notwendigen Rahmenbedingungen für die gesamtwirtschaftlich vorteilhafte Entfaltung „spontaner Kräfte" {Euchen 1952, S. 119) und zugleich die für die Marktwirtschaft konstituierenden Prinzipien, auf die Eucken (1952, S. 254 ff.) mit Nachdruck hinweist (S. 254 ff.). „Die wirtschaftliche Gesamtordnung ist", wie es Röpke (1953/1997, S. 40 f.) formuliert, „ein System von Ordnungs- und Antriebskräften." Unter den benutzten Anreizen nimmt die materielle Besserstellung eine zentrale Stellung ein. Die Aufgabe, die Anreize richtig zu konstruieren und zu dosieren, ist damit zugleich „eine moralische Frage" (Röpke 1953/1997, S. 41). Es ist anzustreben, „daß ein Maximum an wirtschaftlicher Ergiebigkeit und Störungsfreiheit ohne Verletzung elementarer Gebote der Gerechtigkeit und ohne erstickende Übermacht erreicht und mit Wahrung und Förderung der wesentlichen Grundlagen unseres abendländischen Staatsund Gesellschaftslebens verbunden wird" {Röpke 1953/1997, S. 41). So wichtig die von Röpke im einzelnen behandelte moralische Facette der ökonomischen Anreize ist, sie soll im folgenden nicht im Zentrum der Überlegungen stehen. Freilich muß sie bei der Kritik an der Ausgestaltung ökonomischer Anreize stets mitbedacht werden. Insbesondere ist im Auge zu behalten, daß demokratisch gewählte Regierungen aus guten Gründen nicht bereit sein werden, einen Teil der Bevölkerung von Beschäftigungs- und Wohlstandszielen auszunehmen und auszugrenzen. Individuelle Leistungserfolge, die bei zweckmäßig ausgestalteter Wirtschaftsordnung zugleich den Nutzen aller mehren {Willgerodt 1975, S. 693 ff.), sind als Anreiz unentbehrlich. Aber ihr instrumenteller Einsatz hat unter Beachtung allgemeiner Zielsetzungen, insbesondere sozialer Aufgaben und Ziele, zu geschehen. „Nur diejenige wirtschaftliche Ordnung kann also befriedigen, die sich in die höhere und allgemein als wünschenswert vorauszusetzende Gesamtordnung einfügt, sie fordert und erhält und mit ihrer Struktur übereinstimmt" {Röpke 1953/1997, S. 41). Es wird zu zeigen sein, daß viele in Deutschland derzeit benutzte Anreize diesen Anforderungen nicht genügen, sondern vielmehr dem Funktionieren der Gesamtordnung schaden.

III. Ursachen fehlleitender individueller Anreize 1. Falsche politische Rahmenbedingungen für individuelles Handeln Es ist üblich geworden, mit moralischer Entrüstung das Fehlverhalten vieler Menschen zu beklagen: Unternehmer werden als Unterlasser oder als regierungsfeindlich beschimpft, weil sie nicht oder zuwenig (in Deutschland) investieren und viele Arbeitsplätze im Ausland schaffen. Zahlreiche Sozialhilfeempfanger und Arbeitslose werden

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als Faulenzer bezeichnet, weil sie sich Arbeitsangeboten geschickt entziehen und weiterhin der Allgemeinheit zur Last fallen. Viele der rund 7 Millionen Arbeitsplatzwechsler jährlich werden kritisiert, weil sie in vermeidbarer Weise die Arbeitslosenversicherung belasten, indem sie vor Aufnahme der neuen Tätigkeit einige Monate Urlaub zu Lasten der Versicherung machen. Die Neigung, weit vor der gesetzlichen Altersgrenze in Rente oder in Pension zu gehen, greift um sich und erhöht die Alterslast in einer ohnehin schon überalterten Gesellschaft in vermeidbarer Weise. Die geschickte und schwer nachweisbare Ausbeutung der Gesetzlichen Krankenversicherung durch Zwangsmitglieder hat bedenkliche Formen angenommen. Auch Leistungserbringern, insbesondere Ärzten, wird vorgeworfen, sich zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung zu bereichern. Die Kapitalflucht und die NichtVersteuerung im Ausland angelegter Guthaben (nach Schätzungen der Bundesregierung ein dreistelliger Milliardenbetrag) werden als moralisch verwerflich verurteilt. Die Schwarzarbeit blüht zu Lasten der legal und steuerehrlich Arbeitenden. Den Studenten wird vorgeworfen, übermäßig lange zu studieren. Mit scharfen Worten wird beanstandet, daß die Unternehmen zuwenig Lehrstellen für Schulabgänger anbieten. Allen diesen und vielen anderen ähnlichen Vorwürfen gemeinsam ist die Tatsache, daß die kritisierten Menschen durchaus rational - ihren materiellen Vorteilen folgend handeln. Die Anreize sind jedoch derart konstruiert und ausgestaltet, daß die individuellen Vorteile im Widerspruch zu den Gesamtinteressen stehen. Diese gemeinwohlschädlichen Reaktionen auf staatlich gesetzte Rahmenbedingungen für individuelles Handeln sind unerwünscht. Aber nicht das Verhalten der Menschen ist in diesen Fällen zu beanstanden, sondern der Gesetz- und Verordnungsgeber, der Vorschriften erläßt, die zum Konflikt zwischen den persönlichen Antrieben und dem Gesamtwohl führen. Die Ursachen dieser Konflikte sind der Bundesregierung und den sie unterstützenden Parteien offensichtlich meist nicht bewußt oder die Politiker agieren wider besseres Wissen. Anders ist es wohl nicht zu erklären, daß das politische Handeln vor allem auf das Kurieren an Symptomen konzentriert wird. Die Ursachen des kritisierten Fehlverhaltens werden trotz zahlreicher Klagen über den unbezahlbar gewordenen Wohlfahrtsstaat nicht bekämpft. Das bedeutet, daß falsche Anreize weiterhin wirksam bleiben. An staatlichen Kontrollen und Abwehrmaßnahmen mogeln sich die Betroffenen durch noch geschickteres Lavieren vorbei. Interventionsspiralen sind die Folge, weil sich Regierungen ungern Fehlschläge ihrer Politik vorwerfen lassen. Hierzu seien einige Beispiele angeführt: Gegen die Kapitalflucht werden immer weiter verfeinerte und intensivierte Personenkontrollen an den nationalen Grenzen und immer schärfere Überwachungsmaßnahmen in den Geschäftsbanken eingesetzt. Ein Heer von Kontrolleuren sucht in Betrieben nach Schwarzarbeitern. Erwischte Unternehmer werden immer härter bestraft. Mit etatbelastenden Anreizen verschiedener Art, etwa mit Zinssubventionen, sollen Unternehmer veranlaßt werden, mehr in Deutschland zu investieren. Mit green-card-Regelungen werden hochbezahlte ausländische Spezialisten ins Land gelockt, während gleichzeitig ein Mehrfaches an deutschen Spezialisten auswandert. Mit hohen Subventionen (etwa ein Drittel aller laufenden Rentenzahlungen) werden die maroden Rentenkassen alimentiert, gleichzeitig jedoch Anreize zur

128 • Walter Hamm Frühverrentung geschaffen. Damit die Krankenkassenbeiträge nicht sprunghaft weitersteigen, werden nicht etwa die falschen Anreize beseitigt, sondern es werden die Arzneimittelpreise staatlich reglementiert, und es wird der gesetzlich festgelegte Leistungskatalog gekürzt; Vorschriften und Kontrollen der Leistungserbringer werden intensiviert. Gegen den Lehrstellenmangel soll mit Ausbildungsplatzabgaben zu Lasten der nicht ausbildenden Unternehmen vorgegangen werden. Warum das Lehrstellenangebot zurückgeht, bleibt ungeprüft. Die Massenarbeitslosigkeit soll mit verbesserten Vermittlungsmethoden der Arbeitsämter bekämpft werden, während nur am Rande gefragt wird, warum sich die Unternehmen bei der Einstellung neuer Mitarbeiter zurückhalten. Wenn die Nachfrage weithin fehlt oder sogar zurückgeht, nützen auch zusätzliche Vermittlungsanstrengungen wenig. Gegen die vermeidbare Arbeitslosigkeit beim Arbeitsplatzwechsel geschieht nichts. Im Falle arbeitsunwilliger Sozialhilfeempfanger wird immerhin an den falschen Anreizen angesetzt: Durch Kürzung der Sozialhilfe sollen künftig arbeitsfähige, aber Arbeitsgelegenheiten ablehnende Hilfeempfanger zur Änderung ihres die Allgemeinheit schädigenden Verhaltens veranlaßt werden. Mit diesen Beispielen sind einige Felder abgesteckt worden, auf denen mit fehlleitenden Anreizen gearbeitet wird. Die wichtigsten dieser Fälle von Politikversagen werden im folgenden vertieft daraufhin analysiert, auf welche Ursache das politische Fehlverhalten und das Festhalten daran zurückgeht.

2. Falsche Anreize im Sozialsystem Trotz überforderter Sozialkassen und trotz übermäßig hoher Beitragslasten für die Sozialversicherung leistet sich Deutschland nach wie vor gesetzliche Regelungen, die zur - vermeidbaren - Ausbeutung von Sozialkassen als Folge falscher Anreize fuhren (umfassend dazu Hamm 2000, S. 138 f f ) . Die Konstruktionsfehler sind stets gleicher Art: Den Versicherten werden geradezu verführerische Ansprüche zugebilligt. Sanktionen beim Mißbrauch von Sozialkassen fehlen weitestgehend, und die Verhaltenskontrollen sind ungenügend. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die Ausgaben der Kassen und damit die Beitragslast in bedenklicher und gesamtwirtschaftlich nachteiliger Weise steigen. Private Versicherungen bedienen sich wirksamer Kontrollen, um die Ausbeutung der Versichertengemeinschaft durch Betrüger zu verhindern, und sie schaffen Anreize, die für eine maßvolle Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen sorgen. Derartige Anreize, etwa Selbstbeteiligungen oder Selbstbehalte mit sozialen Härtefallregelungen, gelten in der gesetzlichen Sozialversicherung als unzumutbar und werden als „Sozialabbau", als „Einschnitte in das soziale Netz" oder als „sozialer Kahlschlag" verketzert. Politiker pflegen daher dem Mißbrauch von Sozialkassen meist mit Engelsgeduld zuzusehen, oder sie behaupten, es gebe solche Mißbräuche nicht. Jahrzehntelang wurde beispielsweise nicht nur von Gewerkschaftsführern übel beschimpft, wer es wagte, auf das Phänomen der freiwilligen (vermeidbaren) Arbeitslosigkeit und auf die gesetzlich geschaffenen Anreize zur Verweigerung zumutbarer Arbeit hinzuweisen. Erst seit kurzem bemühen sich nun Politiker darum, das verbreitete Leben vieler freiwillig Arbeitsloser auf Kosten der Allgemeinheit zu erschweren. Ob die Plä-

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ne zur Eindämmung des Mißbrauchs von Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld eine parlamentarische Mehrheit finden, ist im Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeiten an diesem Manuskript noch durchaus offen. Notwendig wäre vor allem ein fühlbarer Abstand zwischen Lohnersatzleistungen und den auf den Arbeitsmärkten erzielbaren Nettoeinkommen. Fehlende Selbstbehalte in der Arbeitslosenversicherung verursachen vermeidbar hohe Lasten für diesen Versicherungszweig und überhöhte Arbeitslosigkeitszahlen. Der Gesetzgeber schafft Anreize, Arbeitslosengeld auch dann zu beanspruchen, wenn vorübergehende Arbeitslosigkeit vermeidbar ist. Viele der etwa sieben Millionen Arbeitsplatzwechsler pro Jahr treten nicht nahtlos die neue Beschäftigung an, sondern schalten einige Monate Freizeit ein und nehmen Arbeitslosengeld in Anspruch. Auf diese Weise entsteht ein beträchtlicher „Bodensatz" an freiwillig Arbeitslosen. Würde das Arbeitslosengeld erst nach einer Karenzzeit von etwa einem Monat nach Beginn der Arbeitslosigkeit einsetzen, wäre der Anreiz, Zahlungen des Arbeitsamts zu beantragen, wesentlich geringer. Soziale Härtefallregelungen wären möglich. Auch die langfristige Arbeitslosigkeit fördert der Gesetzgeber offenbar unwissentlich. Im internationalen Vergleich erweist sich, daß Höhe und Dauer des Arbeitslosengeldes in Deutschland großzügig bemessen werden. Arbeitslose beginnen oft erst kurz vor dem Ende der Bezugszeit von Lohnersatzleistungen mit energischen eigenen Anstrengungen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Weil Unternehmen langjährig Arbeitslose ungern einstellen (Verlust von Kenntnissen und Fähigkeiten), sinken freilich die Chancen, eingestellt zu werden, drastisch. Der Gesetzgeber dämpft die Anreize und die Eigeninitiative der Arbeitslosen. Soziale Absichten haben unsoziale Folgen. Auch in staatlich finanzierten Beschäftigungsgesellschaften arbeitet der Gesetzgeber mit widersinnigen Anreizen. Arbeitslose werden in solchen Gesellschaften zu Tariflöhnen bezahlt (bei geringer produktiver Leistung zu Marktwerten) und haben daher keinen Anreiz, sich um einen Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt zu bemühen. Vermeidbare Belastungen öffentlicher Kassen sind die Folge. Mit gemeinschaftsschädigenden Anreizen wird auch in der Gesetzlichen Krankenversicherung gearbeitet, und zwar sowohl auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite (siehe hierzu Europäische Zentralbank 2003, S. 59). Sind die Leistungserbringer finanziell daran interessiert, möglichst umfassende und teure Leistungen abzurechnen, ist es nicht verwunderlich, wenn die Ausgaben der Krankenkassen übermäßig steigen. Seit Jahrzehnten kämpft der Gesetzgeber mit Ausgabendeckelungen, Preisinterventionen und exzessiven bürokratischen Vorschriften gegen die Wirksamkeit falscher Anreize mit mäßigen Erfolgen bei enormen Zusatzkosten für das gesamte Gesundheitssystem. Auf den naheliegenden Gedanken, nicht an Symptomen zu kurieren, sondern die Ursachen des Fehlverhaltens zu beseitigen, kommt der Gesetzgeber nur zögernd (sofern Reformpläne verabschiedet werden). Ganz unbehelligt sollen offenbar die Versicherten bleiben, die mit Fehlanreizen die Krankenkassenausgaben in die Höhe treiben. Fühlbare Zuzahlungen der Patienten bei allen Gesundheitsleistungen werden offenbar wegen der nachteiligen Wirkung auf die Stimmung der Wähler abgelehnt. Die Gesetzliche Krankenversicherung ist oft - übertreibend - mit einem Selbstbedienungsladen ohne Kasse am Ausgang verglichen wor-

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den. Zum Nulltarif sind nahezu alle gewünschten (und verordneten) Leistungen erhältlich. Es ist verständlich, wenn die Versicherten unter diesen Umständen umfassende Forderungen stellen. Auch hinsichtlich des Leistungskatalogs der Krankenkassen sind die Weichen falsch gestellt. Die Versicherten können nicht bestimmen, welche Leistungen in welcher Qualität sie versichern möchten. Die Politiker behaupten, daß die Gesetzliche Krankenversicherung alle „notwendigen Gesundheitsleistungen" bezahlt; was „notwendig" ist, bestimmen sie kraft Gesetzes. Was versichert ist, wird von den Versicherten auch in Anspruch genommen, selbst wenn sie einzelne Leistungen als überflüssig oder zu teuer beurteilen. Besonders verhängnisvoll sind die Verhältnisse in der Rentenversicherung. Die miserable Finanzlage dieser Versicherung wird zwar nicht geleugnet. Gleichwohl sind die Anreize so gesetzt, daß enorme zusätzliche Rentenzahlungen ausgelöst werden (beispielsweise Grundsicherung auch für diejenigen, die nur geringe Beiträge gezahlt haben, was die Bereitschaft zu beitragspflichtiger Tätigkeit mindert). Da die versicherungsmathematischen Abschläge von der Rente für Frührentner viel zu niedrig sind und da viele Erwerbstätige mit Arbeit über das Mindestrentenalter hinaus ihre Rentenansprüche nur geringfügig erhöhen können, lohnt sich die Frühverrentung. Infolgedessen liegt das effektive Renteneintrittsalter (unter Einbeziehung der Erwerbsminderungsrenten) nur bei etwa 60 Jahren. Die politische Diskussion über eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre ist selbst auf längere Sicht widersinnig, sofern nicht die Anreize zum vorzeitigen Rentenbeginn entschieden beseitigt werden und solange nicht das tatsächliche dem gesetzlichen Renteneintrittsalter angenähert wird. Notwendig wäre aus demographischen Gründen und wegen der sich klar abzeichnenden Notlage der umlagefinanzierten Rentenversicherung eigentlich eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Statt dessen schafft der Gesetzgeber aus kurzfristigen arbeitsmarktpolitischen Gründen (Senkung der Arbeitslosenzahlen) eine Fülle von Anreizen, vorzeitig aus dem Arbeitsleben auszuscheiden: Beschäftigte werden mit staatlichen Hilfen in den Vorruhestand geschickt. Die Bundesanstalt für Arbeit finanziert die Frühverrentung, und die Rentenversicherungen bewilligen 20 Prozent der Neurenten aus Gründen der Entlastung des Arbeitsmarktes. Unternehmen schieben ältere Mitarbeiter mit staatlichen Hilfen in die Altersteilzeit ab. Die finanziellen Lasten für die öffentlichen Kassen steigen auf diese Weise erheblich und erschweren zusätzlich die Bekämpfung der Haushaltsdefizite und der Arbeitslosigkeit (vermeidbar hohe Lohnzusatzkosten).

3. Schädliche Anreize durch noch mehr Umverteilung Falsche Anreize sorgen auch für eine geringe Neigung breiter Bevölkerungsschichten, auf einen kleinen Teil der bisher kollektiv finanzierten Sozialausgaben zu verzichten und sich mit mehr Eigenvorsorge einverstanden zu erklären. Starke und einflußreiche politische Kräfte verbreiten die Ansicht (und finden damit Resonanz), daß noch mehr Umverteilung (Wiedereinführung der Vermögensteuer, Erhöhung der Erb-

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schaftsteuer, Erhebung einer Wertzuwachssteuer, Ausdehnung der Sozialversicherungspflicht auf Selbständige, Beamte und Gutverdienende bei Deckelung der Rentenansprüche, drastische Heraufsetzung der Versicherungspflichtgrenze und der Beitragsbemessungsgrenze) alle Finanzprobleme der Sozialversicherung bei unverändertem Leistungsvolumen lösen werde; was in der Kasse fehle, müsse eben den Reichen abgenommen werden. Mit solchen Maßnahmen würden die Leistungsanreize vollends verschüttet. Der geringe Zuspruch, den die „Riester-Rente" findet, ist auch auf diese Grundströmung zurückzuführen. Die Grenzbelastung schon mittlerer Einkommensbezieher durch Steuern und Sozialabgaben liegt derzeit bei rund 70 Prozent. Weitere Steigerungen zeichnen sich ab. Die Finanzlage der Krankenkassen und der Rentenversicherung wird sich wegen ausbleibender grundlegender Reformen weiter verschlechtern und zu steigenden Beitragssätzen führen. Die radikale Erhöhung der Versicherungspflicht ab 2003 von 4 500 auf 5 100 Euro monatlich in Westdeutschland und von 3 750 auf 4 250 Euro in Ostdeutschland hat auch Einkommensbezieher in die Sozialversicherung hineingezwungen, die sich in Notlagen weithin selbst helfen könnten. Die Beitragslasten der Spitzenzahler stehen in krassem Mißverhältnis zu den im Notfall geltend zu machenden Ansprüchen. Die massive und ständig weiter ansteigende Einkommensumverteilung über die Sozialkassen wird mit dem Hinweis verteidigt, der Grundsatz der Solidarität erfordere die Zusatzbelastung der Besserverdienenden. Diese pauschale Rechtfertigung ist vor allem aus zwei Gründen fragwürdig. Erstens müßte nachgewiesen werden, daß die Begünstigten nicht aus eigener Kraft entstandene Notlagen meistern könnten. Und zweitens wäre darzulegen, daß die zunehmende Umverteilung über Sozialkassen das Gemeinwesen nicht schädigt. Beide Anforderungen sind beim derzeitigen Stand der Umverteilung nicht erfüllt. Der Lebensstandard der weit überwiegenden Anzahl privater Haushalte ist in den letzten Jahrzehnten beträchtlich gestiegen, ohne daß deswegen die Umverteilungsaktivitäten der Politiker aller Parteien reduziert worden wären. Auf dieses Paradoxon hat Wilhelm Röpke schon vor Jahrzehnten hingewiesen (Röpke 1953/1997, S. 230 ff.). Viele scheinbar Begünstigte erkennen nicht, daß sie selbst viel Geld in den überaus kostspieligen staatlichen Umverteilungsapparat bezahlen müssen und sehen nur die finanziellen Vorteile. Kaum jemand ist in der Lage, für sich selbst verläßlich auszurechnen, welche Vor- und Nachteile ihm per saldo aus dem Gewirr von Einzahlungen und Leistungen entstehen. Dieser Schleier der Unwissenheit und Ungewißheit macht es Politikern leicht, sich als soziale Wohltäter darzustellen, wenn sie sich für den weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates einsetzen. Die Anreize für die Betroffenen wirken gemeinschaftsschädigend. Einer Mentalität der persönlichen Verantwortungslosigkeit und des rücksichtslosen Forderns kollektiver Hilfen wird Vorschub geleistet. Der Grundsatz der Solidarität wird überdehnt mit der Folge, daß die übermäßige Belastung der Fleißigen und Erfolgreichen zunehmend die Leistungsbereitschaft lähmt und daß Umgehungshandlungen vielfaltiger Art ausgelöst werden (beispielsweise Ausweichen in die boomende Schattenwirtschaft, Wiederaufleben der einst als Scheinselbständigkeit verketzerten Unternehmertätigkeit, Auswandern eines Teils der schöpferischen, hochmotivierten geistigen Elite, Verlagerung von Un-

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ternehmen und Betriebsteilen ins Ausland). Die legal tätigen Fleißigen erkennen, daß sich Mehrarbeit nicht lohnt, sondern eher bestraft wird. Woher sollen Impulse zu mehr Leistung Selbständiger wie Unselbständiger kommen, wenn finanzielle Anreize weitgehend ausgeschaltet werden? Ein Vergleich mit anderen erfolgreicheren Nationen mit steigendem Lebensstandard, hoher Beschäftigung und befriedigenden Raten des Wirtschaftswachstums zeigt, daß es durchaus Wege zu mehr Massenwohlstand und Beschäftigung gibt, daß gleichmacherische Umverteilung allen schadet und zu einem sich ausbreitenden sozialen Mißstand in Form wachsender Arbeitslosigkeit (trotz demographisch bedingter erheblicher Entlastung der Arbeitsmärkte) fuhrt. Es besteht freilich Hoffnung auf ein Umdenken. „Immer weniger Menschen können sich der Einsicht entziehen, daß zwischen einem Gesellschaftsund Wirtschaftssystem, das sich auf die Ordnungs- und Antriebskräfte des Marktes und der freien Unternehmung verläßt und damit außerordentliche Erfolge erzielt hat, und einer ständigen Umverteilung der Einkommen und der Vermögen zur Herstellung der Gleichheit ein Widerspruch klafft, der auf die Dauer unerträglich ist. Eines von beiden wird früher oder später weichen müssen: das freie Gesellschafts- und Wirtschaftssystem oder der heutige Wohlfahrtsstaat" (Röpke 1953/1997, S. 229).

4. Fehlleitende Antriebe in der Steuerpolitik Viele Finanzpolitiker haben den Ehrgeiz, Marktprozesse nach ihrem Gutdünken zu verändern und in andere Richtungen zu lenken. Fehlleitende Antriebe liegen insbesondere dann vor, wenn auf diese Weise Überkapazitäten entstehen oder konserviert werden und wenn Widersprüche mit anderen Zielen der Wirtschafts- und Sozialpolitik hervorgerufen werden. Eines von vielen Beispielen aus den letzten Jahrzehnten sind steuerliche Anreize zu Investitionen in Binnenschiffen. Die Folge waren Überkapazitäten, die dann durch staatlich mitfinanzierte Abwrackaktionen beseitigt worden sind. Die dem Schweinezyklus ähnlichen Schwankungen im privaten Wohnungsbau gehen maßgeblich auf ständige Änderungen steuerlicher Anreize zurück {Hamm 1994, S. 39 ff.). Da zwischen dem Entschluß, in langlebige Wirtschaftsgüter zu investieren, und den davon ausgehenden angebotsvergrößernden Wirkungen oft Jahre vergehen, wachsen die Kapazitäten auch dann noch, wenn sich erste Anzeichen eines Angebotsüberhangs bemerkbar machen. Besonders schmerzlich hat sich dieser Vorgang bei der massiven steuerlichen Förderung von Bauinvestitionen in Ostdeutschland ausgewirkt. Viele Investoren sitzen auf „Halden" unvermieteter Immobilien. Die Mieten sind generell auf ein Niveau gefallen, das den Investoren hohe laufende Verluste einbringt. Die ostdeutsche Bauindustrie leidet unter der durch überzogene staatliche Förderung verursachten Strukturkrise und muß sich gesundschrumpfen. Oft erwecken staatliche Interventionen und Anreize den Eindruck, daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. Die Bundesregierung bemüht sich um eine Sanierung der Rentenversicherung in der Form, daß absehbare Rentenkürzungen in der Zukunft durch verstärktes privates Vorsorgesparen ausgeglichen werden. Unter anderem wird die hochsubventionierte „Riester-Rente" lebhaft propagiert. Andererseits ist jedoch der steuerliche Sparerfreibetrag um die Hälfte gekürzt worden, und Kapitaleinkünfte

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sollen in die Bemessungsgrundlage der Gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen werden, was auf eine finanzielle Bestrafung der Sparer hinausläuft. Auch über die im „Steuervergünstigungsabbaugesetz" geplante Besteuerung von Veräußerungserlösen mal dementiert, dann wieder beabsichtigt - würden Sparer und Eigenheimeigentümer, Aktionäre und Privatsammler erheblich belastet. Sparen lohnt sich nicht, werden viele private Haushalte bei den Plänen zur Dreifachbesteuerung denken (Sparen aus versteuertem Einkommen, Besteuerung der laufenden Kapitalerträge und Besteuerung des Veräußerungserlöses). Die im internationalen Vergleich hohe Besteuerung von Einkommensteuerpflichtigen (einschließlich Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer bis zu 60 Prozent) verursacht Anreize, die beträchtliche gesamtwirtschaftliche Nachteile auslösen. Die Bundesregierung schätzt, daß rund 100 Milliarden Euro privates Sparkapital illegal im Ausland angelegt worden sind - Kapital, das nicht der heimischen Wirtschaft zugute kommt und Steuerausfälle bewirkt. Vieles spricht dafür, daß moderatere Steuersätze für den Bundeshaushalt ergiebiger wären. Aber ideologisch motivierte Ansichten über Steuergerechtigkeit verhindern einstweilen Korrekturen des Einkommensteuertarifs. Statt dessen setzt die rot-grüne Koalition ihre Hoffnungen auf eine Amnestie für Steuersünder, die ihr Kapital undeklariert im Ausland angelegt haben. Die Ursachen der Steuerflucht, nämlich die hohen Spitzensteuersätze, sollen dagegen erst in einer ungewissen Zukunft gesenkt werden. Auch deswegen wird die Steueramnestie nur geringe Erfolgschancen haben. Vorerst bleibt es bei den gesamtwirtschaftlich schädlichen Anreizen. In seiner jetzigen Form ist das deutsche Einkommensteuerrecht nicht nur für den Laien unverständlich. Es ist auch überaus kompliziert, weil der Gesetzgeber bestrebt ist, ständig neu entdeckte Steuerschlupflöcher zu schließen. Obendrein ist es extrem leistungsfeindlich und damit wachstumshemmend, also letztlich unsozial, weil die Bildung von legalem Vermögen in Deutschland, das Investieren und damit das Entstehen neuer Arbeitsplätze (vor allem in mittelständischen Unternehmen) weithin reizlos gemacht werden. Obwohl auf diese Zusammenhänge, insbesondere auf die Folgen einer einseitigen Steuerlastverteilung, seit vielen Jahren nachdrücklich hingewiesen wird, bleiben Korrekturen aus. Hier sei lediglich auf die Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2000-2002), aber auch auf Äußerungen der Deutschen Bundesbank (2002, S. 33) verwiesen: „Darüber hinaus sollte das Steuersystem durch weitere Reformen vereinfacht, gesamtwirtschaftlich neutraler und letztlich auch leistungsfreundlicher gestaltet werden. Eine vorrangige Aufgabe ist dabei eine weitere Senkung der auch im internationalen Vergleich immer noch hohen Grenzbelastung des Faktors Arbeit."

Verfolgt die Steuerpolitik gleichmacherische Ziele, so setzt sie damit Anreize, die allen schaden. 5. Fehlentwicklungen in der staatlichen Ausgabenpolitik In zahlreichen Fällen verursachen staatliche Ausgaben private Verhaltensweisen, die gewollt oder unbeabsichtigt gesamtwirtschaftlich nachteilig sind. Gewollt sind beispielsweise strukturkonservierende Wirkungen von Subventionen in schrumpfenden

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Branchen (etwa im Steinkohlenbergbau und im Schienenverkehr). Mit solchen Staatshilfen werden mehr ökonomische Werte vernichtet als neu geschaffen. Produktivkräfte, die an anderer Stelle der Wirtschaft produktiv eingesetzt werden könnten, werden in unrentablen Faktorkombinationen gebunden. Das gesamtwirtschaftliche Wachstum und die Produktivitätsentwicklung werden nachteilig beeinflußt. Es stehen weniger Güter für die Verteilung zur Verfügung. Dennoch haben sich die Bundesregierungen der letzten Jahrzehnte nicht zu einem energischen Subventionsabbau entschließen können. Nach unterschiedlichen Berechnungsmethoden werden - unter Einbeziehung steuerlicher (also einnahmenvermindernder) Vorteile - 65 bis 150 Milliarden Euro jährlich fiir die Subventionierung der unterschiedlichsten wirtschaftlichen Aktivitäten bereitgestellt. Viele Vergünstigungen existieren seit Jahrzehnten und werden nicht regelmäßig daraufhin überprüft, ob sie noch als notwendig und dringlich anzusehen sind. Der florierende Teil der Wirtschaft muß die hohen finanziellen Lasten tragen. Dort fehlen infolgedessen die Mittel, die fiir eine wachstumsbelebende Expansion benötigt werden. Strukturelle Verwerfungen sind die Folge. Außerdem wird die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen reduziert - mit nachteiligen Folgen für den Arbeitskräftebedarf. Das gegenüber Subventionswünschen nachgiebige Verhalten von Politikern ist zwar insofern verständlich, weil sie mit Beifall für die „Rettung" von Arbeitsplätzen rechnen. Klarer und einleuchtender als bisher müßte jedoch einer breiten Öffentlichkeit verdeutlicht werden, daß strukturkonservierende Hilfen nur vorübergehenden Aufschub struktureller Veränderungen bewirken und daß auch hier falsche Anreize zum Nachteil der Allgemeinheit wirksam sind. Die milliardenschwere Steuerbefreiung der Lohnzuschläge für die Feiertags- und Nachtarbeit bedeutet - wohl unbeabsichtigt - eine massive Subventionierung jener Unternehmen, die solche Tätigkeiten anbieten. Vieles spricht dafür, daß die Beschäftigten im Falle der Beseitigung der Steuerbefreiung einen Lohnausgleich fordern. Die betroffenen Branchen sind keineswegs durchweg außerstande, einen solchen Lohnausgleich zu bezahlen. Der Subventionssegen ergießt sich über Bedürftige und Nichtbedürftige. Steuermittel werden verschwendet. Mögliche Steuersenkungen unterbleiben. Unbeabsichtigt sind auch die gesamtwirtschaftlich nachteiligen Wirkungen, die von der überaus großzügigen steuerlichen Regelung für Fahrten zur Arbeitsstätte ausgehen. Auch ohne Nachweis der entstandenen Ausgaben werden pauschale Ansätze entsprechend der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte steuerlich anerkannt. Betriebsferne Wohnungen auf dem Land sind meist wesentlich billiger als Stadtwohnungen inder Nähe des Arbeitsplatzes. Deshalb entstehen Anreize, lange Pendelfahrten in Kauf zu nehmen, was insbesondere ökologischen Zielen widerspricht. Es wird vermeidbarer Verkehr vor allem auf den ohnehin überlasteten Verkehrswegen in den Ballungsgebieten erzeugt. Der hochsubventionierte öffentliche Personennahverkehr muß sich der künstlich erzeugten Nachfrage anpassen, wodurch weitere Steuermittel gebunden werden. Falsche Anreize gehen auch vom Verzicht auf Studiengebühren an deutschen Universitäten aus. Die Überbelastung der Hochschulen hängt auch damit zusammen, daß keine Anreize bestehen, ein Studium zügig zu absolvieren. Selbst diejenigen, die kaum mit einem erfolgreichen Abschluß rechnen können, beginnen ein vom Steuerzahler fi-

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nanziertes Studium. Der hohe Prozentsatz von Studienabbrechern dürfte nicht zuletzt auf den Nulltarif der deutschen Universitäten zurückgehen. Wenn zu viele zu lang Studienplätze in Anspruch nehmen, leidet die Qualität der universitären Ausbildung. Öffentliche Mittel werden verschwendet. Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen wird beeinträchtigt.

6. Leistungsdemotivierende Einflüsse auf den Arbeitsmärkten Widersprüche zwischen einzel- und gesamtwirtschaftlichen Interessen sind auch auf den Arbeitsmärkten zuhauf zu registrieren. Ausgelöst werden solche Gegensätze meist durch sozial gut gemeinte, aber oft unsozial wirkende staatliche Interventionen oder durch marktwidrige Vereinbarungen der TarifVertragsparteien. Auch auf diesem Gebiet seien nur wenige Beispiele für falsche Anreize und ihre bedenklichen gesamtwirtschaftlichen Folgen angeführt (umfassend hierzu Berthold 2000, S. 27 ff. und S. 51 ff.). Die mit den Gewerkschaften vereinbarten Tariflöhne sind der Höhe und der Struktur nach durchweg marktwidrig. Die Lohnunterschiede nach Qualifikationen sind zu gering, was den beruflichen Aufstieg finanziell wenig attraktiv macht und die Ausschöpfung von Begabungen erschwert. Da die unteren Tariflohngruppen entweder weggefallen oder in den Genuß besonders fühlbarer, die Arbeitsproduktivität übersteigender Lohnerhöhungen gekommen sind (Sockelzuschläge), haben die Unternehmen diese Tätigkeiten in großem Umfang wegrationalisiert. Auch die Unterschiede zwischen den regionalen Arbeitsmärkten spiegeln sich in den Tariflöhnen nur unzureichend wider, was vor allem strukturschwache Regionen in Form hoher Arbeitslosigkeit zu spüren bekommen. Mit der Parole „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" bemühen sich die Gewerkschaften darum, regionale Lohnunterschiede vollständig einzuebnen. Besonders verhängnisvoll wirkt sich das insgesamt überhöhte Lohnniveau auf die Beschäftigung aus. Viele Gewerkschaftsführer verstehen die Lohnpolitik vor allem als verteilungspolitisches Instrument. Unternehmensgewinne - und nicht die Marktlage sind die Meßlatte für Lohnforderungen. Lohnpolitik wird nach gewerkschaftlichen Vorstellungen für diejenigen gemacht, die - noch - Arbeit haben, und nicht für die Arbeitslosen, die wieder einen Arbeitsplatz zu finden hoffen. Wäre es anders, müßten die Lohnerhöhungen hinter dem Produktivitätszuwachs zurückbleiben. Diesem gesamtwirtschaftlich schädlichen Treiben der Tarifvertragsparteien schauen gewählte Politiker tatenlos zu, obwohl die Folgen für die öffentlichen Kassen ruinös und für die Allgemeinheit skandalös sind. Immer mehr Arbeitsplätze gehen verloren, weil das Tarifkartell marktwidrige Preise festsetzt und damit Anreize schafft, das Arbeitsplatzangebot in Deutschland weiter einzuschränken. Arbeit gibt es zwar genug, aber nicht zu den überhöhten Tariflöhnen. Von Staats wegen wird wesentlich dazu beigetragen, daß sich die TarifVertragsparteien gemeinschaftsschädlich verhalten können. Der Rechtsschutz für das Tarifkartell, die staatliche Allgemeinverbindlicherklärung von Tariflöhnen und die Erschwerung betriebsindividueller Lohnvereinbarungen vernichten Arbeitsplätze, die bei flexiblen Lohnabschlüssen zwischen Unternehmensleitungen und Betriebsräten gerettet werden

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könnten. Die einseitige Auslegung des Günstigkeitsprinzips wirkt in dieselbe Richtung. Der zu geringe Abstand zwischen der Sozialhilfe und den untersten Lohntarifen veranlaßt viele Arbeitslose, Beschäftigungsangebote auszuschlagen und weiter auf Kosten der Allgemeinheit zu leben. Das Arbeitsrecht ist derart kompliziert und unflexibel, daß viele (vor allem kleine) Unternehmen Neueinstellungen möglichst vermeiden. Die finanziellen Risiken sind unkalkulierbar geworden (Sozialplanrecht, Abfindungen). Allein der Kündigungsschutz ist für viele Unternehmen ein nicht mehr überschaubares Rechtsgebiet (ein Großkommentar allein zum Kündigungsschutz umfaßt 3 200 Seiten). Steigende Belastungen durch neue Mitbestimmungsvorschriften schaffen ebenfalls Anreize, auf Neueinstellungen zu verzichten oder gar den Personalbestand zu vermindern, wenn auf diese Weise Schwellenwerte des Mitbestimmungsgesetzes unterschritten werden können. Staatliche Instanzen haben ferner einen wesentlichen Teil der steigenden Arbeitskosten, nämlich die wachsenden Beiträge zur Sozialversicherung, zu vertreten. Hinsichtlich der Lohnzusatzkosten ist Deutschland Weltmeister. Die Jahresarbeitszeit ist in keinem Land der Erde so niedrig wie in Deutschland. Die Anreize, Arbeitsplätze zu exportieren, steigen ebenso wie die Neigung, den staatlichen Abgabelasten durch Flucht in die Schwarzarbeit zu entgehen, was die Notlage der Sozialkassen vergrößert. Die Arbeitsmärkte gehören zu den am stärksten regulierten. Der Preis, den die Allgemeinheit dafür bezahlen muß, ist hoch. Überall werden Anreize geschaffen, möglichst wenig menschliche Arbeit in Produktionsprozessen einzusetzen. Das Schicksal der Arbeitslosen ruft bei den Verursachern - im Gegensatz zu ständigen gegenteiligen Beteuerungen - offensichtlich wenig Skrupel hervor. Die Minderung des Wirtschaftswachstums durch brachliegende Produktivkräfte ist die Folge falscher politischer Weichenstellungen. 7. Falsche Anreize als Folge von Wettbewerbsbeschränkungen Ein Widerspruch zwischen dem Einzel- und dem Gesamtinteresse ergibt sich stets auch dann, wenn die staatliche Wettbewerbspolitik und die Wettbewerbsaufsicht versagen. Wettbewerbsbeschränkende Praktiken verschlechtern oder verteuern regelmäßig die Marktversorgung, schaden also den Kunden, verschaffen aber den Anbietern finanzielle Vorteile. Auch gesamtwirtschaftlich entstehen Nachteile, wenn der Wettbewerb als nichtautoritäres System sozialer Anreize und Kontrollen nur noch eingeschränkt funktioniert. Deswegen verbieten Wettbewerbsgesetze Kartellvereinbarungen und das Entstehen marktbeherrschender Unternehmen durch Fusionen. Auch dort, wo Marktmacht vermeidbar wäre, wird sie oft staatlich geduldet. So werden staatliche und kommunale Unternehmen (insbesondere Versorgungs-, Entsorgungs- und Verkehrsunternehmen) häufig vor privater Konkurrenz geschützt. Das Briefbeförderungsmonopol der Deutschen Post ist noch nahezu unangetastet. Ein Omnibusfernlinienverkehr wird von Staats wegen zum Schutz der Deutschen Bahn unterbunden. Von Kartellbehörden untersagte Fusionen kommen mit Ministererlaubnissen

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doch noch zustande. Subventionen, die oft nur öffentlichen Unternehmen gewährt werden, diskriminieren private Konkurrenten (insbesondere im schienengebundenen Verkehr). Staatliche Marktzugangsbeschränkungen (wie im Handwerk) reduzieren die Wettbewerbsintensität. Staatliche Vorschriften für die Gesetzliche Krankenversicherung verhindern weithin den Wettbewerb zwischen verschiedenen Krankenkassen und eine Wahl der Versicherten zwischen verschiedenen Leistungskatalogen und Versicherungsformen (zum Beispiel unterschiedlich hohe Selbstbehalte oder Kostenbeteiligungen). Welche Arzneimittel zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden dürfen, bestimmen staatliche Organe; der Markteintritt für Pharmaunternehmen ist insoweit beschränkt. Staatliche und kommunale Instanzen, die den Wettbewerb beschränkende Privilegien einräumen, schaffen damit falsche Anreize. Die vehementen Forderungen der Begünstigten, ihre wettbewerbliche Ausnahmestellung nicht zu beseitigen, und das Verlangen, weitere wettbewerbsbeschränkende Sonderregelungen zuzulassen oder bestehende abzusichern, sind eine Folge allzu nachgiebigen früheren Eingehens auf Sonderwünsche. Mit längst widerlegten, oft ideologisch befrachteten Argumenten, etwa die kommunalen Unternehmen seien für die „Daseinsvorsorge" zugunsten der Bürger unentbehrlich (ablehnend Schüller 2002a, S. 118 ff.) oder Besonderheiten des jeweiligen Wirtschaftszweigs machten Wettbewerbsbeschränkungen unentbehrlich (dagegen Hamm 1989, S. 46 f f ) , wird für das Weiterbestehen von Privilegien gefochten. Bei allen wettbewerbspolitischen Sonderregelungen und staatlichen Regulierungen sollte klarer als bisher der Widerspruch zwischen dem Allgemeininteresse und den Sonderinteressen einzelner Branchen oder Unternehmen beachtet werden. Aufgabe der Wettbewerbspolitik muß es sein, Fehlanreize zu neutralisieren und das allgemeine Interesse vor die Wahrung von Sonderinteressen zu stellen.

8. Mißachtung des internationalen Politikwettbewerbs Falsche Anreize beeinflussen erheblich auch die internationale Wanderung von Menschen, Kapital und Gütern. Der deutsche Wohlfahrtsstaat übt eine unwiderstehliche „Magnetwirkung auf Zuwanderer" (Schüller 2002a, S. 128) aus. Da Deutschland nur eine begrenzte Anzahl von Armen aus Ländern außerhalb der EU aufnehmen kann, muß die schwierige Frage gelöst werden, in welchen Fällen Immigranten aus humanitären Gründen aufgenommen werden sollen. Andere Länder, die Armutsflüchtlinge erst gar nicht einreisen lassen oder sie von sozialen Leistungen weitestgehend ausschließen, werden mit dem Flüchtlingsproblem besser fertig als Deutschland. Die hohe öffentliche Verschuldung, die dadurch hervorgerufenen zukünftigen Finanzlasten, die rasch zunehmende Überalterung der Bevölkerung und die auf die sinkende Anzahl der beitragszahlenden Menschen nicht eingerichteten Sozialsysteme (umlagefinanzierte Leistungen) veranlassen vor allem bewegliche, vorausschauend denkende, gut ausgebildete, intelligente und kreative Menschen dazu, in Länder auszuwandern, die gute berufliche Entfaltungsmöglichkeiten bieten und die sich besser auf die Bewältigung künftiger Finanzlasten eingestellt haben als Deutschland. Dieser

138 • Walter Hamm „brain drain" wird Deutschland, das wegen seiner hohen Arbeitskosten besonders auf einen Innovationsvorsprung gegenüber anderen Industrie- und Schwellenländern angewiesen ist, schwer zu schaffen machen. Die falschen Anreize, die von einer Politik zu Lasten der kommenden Generation ausgehen, werden von verantwortlichen Politikern zwar gesehen. Aber es fehlt offensichtlich die Kraft wie die Bereitschaft, die jetzige Generation von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß alle den Riemen enger schnallen müssen und nicht länger auf Pump leben dürfen. Internationale Vergleiche der Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik zeigen, daß Deutschland auch insoweit zu den Schlußlichtern in Europa zählt (Hamm 2002, S. 13 ff.), die Abwahl Deutschlands durch eine wanderungsbereite Elite also gut begründet ist. Die erheblichen Unterschiede in der Einkommensbesteuerung sind ein weiterer Grund für Gutverdienende, ihren Wohnsitz ins Ausland zu verlegen oder zumindest Ersparnisse illegal im Ausland zu deponieren (Kapitalflucht). Die unerwünschten Anreize, die von dem Steuergefalle ausgehen, werden mit unzulänglichen Mitteln (Grenzkontrollen, Steueramnestieangebot) bekämpft, ohne die Ursachen wirksam anzugehen. Die Regelungswut des deutschen Gesetzgebers (vor allem im Steuerrecht, im Arbeitsrecht, im Mitbestimmungsrecht, im Umweltschutzrecht und im Gewerberecht) sowie die davon ausgehenden finanziellen Belastungen schaffen Anreize für Unternehmer, Standorte ins Ausland zu verlagern. Allein die Ökosteuer verursacht ein Preisgefälle zu Lasten Deutschlands, das Unternehmen mit energiekostenintensiver Produktion ins Ausland vertreibt, was im Weltmaßstab umweltschutzpolitisch absurd ist, weil in anderen Ländern meist viel laschere Umweltschutzregeln gelten als in Deutschland. Die ursprüngliche Absicht der rot-grünen Koalition, weitere Stufen der ÖkosteuerErhöhung von gleichartigen Steuererhöhungen in der EU abhängig zu machen, ist stillschweigend fallengelassen worden. Falsche Anreize gehen auch von der unzulänglichen Verkehrswegepolitik aus. Die rot-grüne Politik setzt auf die systematische Vernachlässigung von Investitionen im Straßennetz und auf die Forcierung der Investitionen in den obendrein noch hochsubventionierten Schienenverkehr. Infolgedessen verschlechtert sich der Unterhaltungszustand des Straßennetzes bedenklich. Wegen des nicht nachfragegerechten Ausbaus des Straßennetzes nehmen die Verkehrsstauungen dramatisch zu. Der Treibstoffverbrauch und damit die Umweltbelastungen vergrößern sich. Der Widerspruch zu politischen Umweltschutzzielen wird stoisch hingenommen. Da der Schienenverkehr für die verladende Wirtschaft nur in einer begrenzten Anzahl von Fällen als Alternative zum Straßentransport wählbar ist, nehmen die Belastungen des Straßennetzes und die Verkehrsverstopfungen künftig weiter zu. Deutsche Standorte verlieren, da immer schlechter und nur zu steigenden Kosten sowie mit Zeitverzögerungen erreichbar, an Attraktivität. Auch von der einseitigen, ideologisch verzerrten Infrastrukturpolitik gehen daher nachteilige Wirkungen auf die deutsche Wirtschaft aus. Die nationalen Märkte wachsen immer enger zusammen. Länder, die im Wettbewerb um eine wachstumsfreundliche und -anregende Politik zurückbleiben, müssen zunehmend mit der Abwahl durch Unternehmer und Hochbegabte rechnen. Deutschland ist in den letzten Jahren auf einen der letzten Plätze in der EU zurückgefallen ähnlich wie Großbritannien in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

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Eine grundlegende Neuorientierung der Politik mit dem Ziel, wieder für wirksame Leistungsanreize zu sorgen, ist überfallig.

IV. Korrektur von Fehlanreizen Werden die Anreize für private Haushalte, zu arbeiten, zu sparen, Vermögen zu bilden, zu investieren, die beruflichen Fähigkeiten zu verbessern und möglichst für sich selbst zu sorgen, durch staatliche Maßnahmen nachhaltig abgeschwächt oder gar beseitigt, so hat dies schwerwiegende gesamtwirtschaftliche Folgen (siehe hierzu auch Schüller 2002a, S. 124 ff.). Die individuellen Handlungsmöglichkeiten werden beschränkt oder in gesamtwirtschaftlich nachteilige Richtungen gelenkt. Die Wachstums*, Beschäfitigungs- und Einkommenschancen verschlechtern sich. Die „unternehmerischen Handlungsspielräume" werden eingeengt, und „die Evolutions-, Informations-, Selektions- und Revisionskapazität des Marktsystems (wird) in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht" verschlechtert {Schüller 2002a, S. 128). Daß gleichwohl in zahlreichen Fällen mit großem gesamtwirtschaftlichem Gewicht unbekümmert falsche Anreize gesetzt werden, läßt sich wohl nur mit beträchtlichen Lücken im ordnungspolitischen Denken und Handeln von Politikern erklären. Die Neben- und Fernwirkungen staatlicher Maßnahmen werden meist nur unzureichend bedacht. Es mutet absurd an: Die hohe Arbeitslosigkeit und die Schwäche des Wirtschaftswachstums werden beklagt. Dennoch greifen die klagenden Politiker zu Interventionen, die unerwünschte Fehlentwicklungen zusätzlich verschlimmern. In den vorangegangenen Abschnitten sind zahlreiche Beispiele für ein solches Fehlverhalten angeführt worden. Mit kritischen Anmerkungen ist die Richtung angegeben worden, in die ein Politikwandel fuhren müßte. Deshalb wird darauf verzichtet, für jedes angeführte Beispiel notwendige Korrekturen staatlicher Interventionen nach Art und Ausmaß zu bestimmen, zumal da häufig gleichartige Vorgehensweisen naheliegen. Statt dessen werden einige generelle Aussagen getroffen. Zwar sind die angeführten Abhilfen alles andere als neu. Es soll jedoch belegt werden, warum die Abwendung von wohlfahrtsstaatlicher Gleichmacherei unabdingbar ist, wenn die Remobilisierung individueller Anreize gelingen soll. Notwendig sind: — die Abwendung von bildungspolitischer Nivellierung in den Schulen und von der Verketzerung des Leistungsstrebens schon bei Schülern als unerwünschte Ellenbogenmentalität; — die Stärkung der Anreiz- und Kontrollwirkungen, die von Eigentumsrechten (property rights) ausgehen (Schüller 2002b); — die Überwindung einer einkommensnivellierenden Steuerpolitik, die mehr und bessere Leistungen bestraft, jedenfalls reizlos werden läßt; — die Beseitigung einer politischen Mentalität, die zwar von mündigen Bürgern spricht, aber die Verfugung über rund die Hälfte des privaten Bruttoeinkommens politischen Instanzen vorbehält und dabei individuelle Wahlmöglichkeiten fast durchweg ausschließt;

140 • Walter Hamm — die umfassende Korrektur der Arbeitsmarktregulierung, die es den Tarifparteien ermöglicht, gegen die Interessen der Allgemeinheit zu handeln und flexible einzelbetriebliche Vereinbarungen zu be- oder verhindern; — die drastische Durchforstung des unüberschaubar gewordenen Wustes staatlicher Reglementierungen und Vorschriften, die durchweg der Entfaltung innovativer Aktivitäten entgegenstehen; — der Verzicht auf staatliche Preisinterventionen (etwa Höchstpreisvorschriften), die die Informations- und Anreizfunktionen des Preissystems beeinträchtigen {Fehl und Oberender 2002, S. 49) und die tendenziell zur Unterversorgung von Märkten führen; — die entschiedene Durchsetzung wettbewerbspolitischer Grundsätze, damit Gruppenund Einzelinteressen nicht zu Lasten der Allgemeinheit die Oberhand gewinnen können (zu den vom Wettbewerb ausgehenden Anreizen siehe Fehl 2002); — der Abbau strukturkonservierender Subventionen, die die Anpassung an die sich ständig ändernden Markt- und Wettbewerbsverhältnisse behindern und die sich auch im internationalen Wettbewerb als höchst schädlich erweisen; — die Bereitschaft der politischen Kräfte, sich dem internationalen Politikwettbewerb zu stellen und künftig alles zu vermeiden, was Deutschland ins Hintertreffen geraten läßt; — das Bemühen der staatlichen Instanzen, langfristige Ziele zu setzen und konsequent zu verfolgen, damit politische Aktivitäten wieder berechenbar werden; — die Eindämmung der Macht von Interessenverbänden (speziell von Gewerkschaften), die sich - vom rot-grünen Streben nach konsensualer Politik ermutigt - anmaßen, gesetzgeberische Absichten zu verhindern und statt dessen eigene Vorstellungen durchzudrücken. Alles in allem ist notwendig: die entschiedene Abwendung von wohlfahrtsstaatlicher Bevormundimg und die Ermutigung selbstverantwortlichen Denkens und Handelns.

Literatur Berthold, Norbert (2000), Mehr Beschäftigung, Frankfurt am Main. Deutsche Bundesbank (2002), Monatsbericht Dezember. Eucken, Walter (1952), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Bern, Tübingen. Europäische Zentralbank (2003), Monatsbericht April. Fehl, Ulrich und Peter Oberender (2002), Grundlagen der MikroÖkonomie, 8. Aufl., München. Fehl, Ulrich (2002), Ein Plädoyer für mehr Wettbewerb imrussischen Transformationsprozeß, in: Alfred Schüller (Hg.), Wettbewerb und weltwirtschaftliche Integration: Triebkräfte des Transformationsprozesses, Stuttgart, S. 1-24. Hamm, Walter (1989), Deregulierung im Verkehr als politische Aufgabe, München. Hamm, Walter (1994), Zeit zum Umsteuern: Wohnungspolitik im Spannungsfeld von Wirtschaft und Gesellschaft, Bad Homburg. Hamm, Walter (2000), Das Ende der Bequemlichkeit, Frankfurt am Main. Hamm, Walter (2002), Finanzpolitik für die kommende Generation, ORDO, Bd. 53, S. 3-20. Leipold. Helmut (1988), Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme im Vergleich, 5. Aufl., Stuttgart. Molitor. Bruno (1990), Wirtschaftspolitik, 2. Aufl., München.

Die Folgen pervertierter Anreize • 141 Röpke, Wilhelm (1979), Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Aufl., Bern. Röpke, Wilhelm (1953/1997), Kernfragen der Wirtschaftsordnung, ORDO, Bd. 48, S. 27-64. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2000 bis 2002. Schüller Alfred (2002a), Sozialansprüche, individuelle Eigentumsbildung und Marktsystem, ORDO, Bd. 53, S. 111-144. Schüller, Alfred (2002b), Theorie der Property Rights, in: Alfred Schüller und Hans-Günter Krüsselberg (Hg.), Grundbegriffe zur Ordnungstheorie und Politischen Ökonomie, 5. Aufl., Marburg, S. 115-125. Willgerodt, Hans (1975), Die gesellschaftliche Aneignung privater Leistungserfolge als Grundelement der wettbewerblichen Marktwirtschaft, in: Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, Festschrift für Franz Böhm, Tübingen, S. 687-705.

Zusammenfassung Das Verhalten vieler Menschen in Deutschland schadet dem Gemeinwohl: Die Schattenwirtschaft wächst in großen Schritten. Arbeitslose weigern sich, ihnen angebotene bezahlte Tätigkeiten zu übernehmen. Die illegale Kapitalflucht greift um sich. Leistungen der Sozialversicherung werden zu Lasten der Solidargemeinschaft in vermeidbaren Fällen in Anspruch genommen. Unternehmer investieren nicht in Deutschland, sondern im Ausland und exportieren Arbeitsplätze. Beschäftigte gehen viel zu früh in Rente und treiben damit die Beiträge zur Rentenversicherung in die Höhe. Diese und viele andere Verhaltensweisen werden weithin als moralisch verwerflich verurteilt. Die Kritiker übersehen jedoch, daß die Menschen in allen diesen Fällen rational - ihren materiellen Vorteilen folgend - handeln und daß es vom Staat falsch gesetzte Anreize sind, die das individuelle Fehlverhalten hervorrufen. Es liegt mithin Staats- oder Politikversagen vor. In dem vorstehenden Beitrag wird den Gründen nachgegangen, die Politiker veranlassen, oft unwissentlich Fehlanreize zu setzen. Die schwerwiegenden gesamtwirtschaftlichen Nachteile einer ordnungspolitisch orientierungslosen Politik werden dargelegt, und es wird ein Katalog von Maßnahmen präsentiert, die geeignet sind, Fehlanreize zu verhindern und zu beseitigen. Summary The Consequences of Perverted Incentives The social behaviour of many people in Germany is detrimental to the public interest. The shadow economy is in the process of expanding in giant strides. Unemployed persons refuse to accept available jobs and paid work. There is a proliferation of illegal capital outflow. In avoidable cases social welfare benefits are claimed at the expense of the general public. Instead of investing in Germany, employers prefer to transfer their

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investment activities to foreign countries, thereby exporting workplaces. Employees retire much too early, and thus increase the contributions of others to pension schemes. These and many other behavioural patterns are criticised to a large extent as morally objectionable. But it is overlooked that the persons condemned are behaving rationally in assuring their material advantage. This individual behaviour is the result of false incentives provided by the state, which is a clear indication of governmental or political failure. This article deals with the reasons which prompt politicians, often unknowingly, to provide false incentives. The serious disadvantages of a disoriented order policy concerning the national economy as a whole are elucidated, and a package of measures aimed at preventing or removing false incentives is presented.

O R D O • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 3 ) Bd. 54

Hans H. Glismann und Klaus Schräder

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung für Deutschland Inhalt I. Einleitung II. Die Argumente gegen eine private Arbeitslosenversicherung 1. Zur mangelnden Unabhängigkeit der Arbeitslosigkeitsrisiken 2. Zum unbekannten Ausmaß des Arbeitslosigkeitsrisikos 3. Zur prohibitiven Höhe der Prämien 4. Das Moral hazard-Problem 5. Das Adverse selection-Y>rob\em III. Arbeitslosenversicherung und Abbau von Arbeitslosigkeit: ein Konzept 1. Vorbemerkungen 2. Das Trennsystem: Die Arbeitnehmerseite 3. Das Trennsystem: Die Arbeitgeberseite IV. Zum Regulierungsbedarf eines Systems privater Arbeitslosenversicherung 1. Vertragsfreiheit 2. Das Problem der Zwangsmitgliedschaft und des Kontrahierungszwangs V. Zusammenfassung und Einordnung Literatur Zusammenfassung Summary: An Efficient Unemployment Insurance for Germany

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Einleitung

Die Arbeitslosigkeit in Deutschland hat seit den neunziger Jahren ein bisher in der Nachkriegszeit nicht gekanntes Niveau erreicht. Schon seit Ende der sechziger Jahre ist ein steigender Trend der Arbeitslosenquote zu beobachten, bei dem jeder Konjunkturzyklus eine höhere durchschnittliche Arbeitslosenquote aufwies als der vorherige. Zwar gab es nach der Wiedervereinigung einen Niveausprung der Quote für das gesamte Bundesgebiet, der Trend zeigte aber auch für die alten Bundesländer unverändert nach oben. Vor diesem Hintergrund spiegelt die Diskussion zur Reform der Arbeitslosenversicherung seit den achtziger Jahren ein Unbehagen mit dem herrschenden System der Arbeitslosenversicherung wider. Dennoch haben sich die bisherigen Reformvorschläge durchweg als wenig radikal herausgestellt (Glismann und Schräder 2000): Es ging meist um marginale Korrekturen des bestehenden Systems, wie Änderungen im Niveau und in der Laufzeit der Arbeitslosenunterstützung, schärfere Zugangsbedingungen zum Arbeitslosengeld und zur Arbeitslosenhilfe etc., bei denen abzusehen war, daß sie eben-

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so wie die tatsächlich erfolgten Anpassungen nur unwesentlich zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen würden. Kaum einer dieser Vorschläge setzte sich mit der Frage auseinander, wie die Arbeitslosenversicherung systematisch und auf Dauer als Instrument zur Verringerung der Arbeitslosigkeit einzusetzen sei. Dies gilt prinzipiell auch für die Vorschläge der sogenannten ,Hartz-Kommission' {Kommission 2002).1 Die wissenschaftliche und auch politische Vernachlässigung der Frage eines beschäftigungsfördernden Umbaus der Arbeitslosenversicherung hat in Deutschland Tradition. Seit den ersten Ansätzen einer allgemeinen Arbeitslosenunterstützung zu Beginn der Weimarer Republik steht bis heute der Fürsorgegedanke im Vordergrund. Vorschläge, systemimmanente Anreize zur Vermeidung oder Verkürzung der Arbeitslosigkeit zu schaffen, spielten bisher kaum eine Rolle. Die Konsequenz daraus war, daß die Arbeitslosenversicherung selbst zu keiner Zeit Teil des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums wurde. Zwar gab es seinerzeit spezifische Beschäftigungsprogramme Notstandsarbeiten, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, berufliche Weiterbildung doch waren dies Maßnahmen der Wirtschaftspolitik, fern vom Instrumentarium einer Versicherung.2 Versicherungsverträge enthalten im allgemeinen Klauseln, die die Vermeidung des Versicherungsfalls bei den Versicherten sinnvoll erscheinen lassen. Die Frage ist, ob man die typischen Parameter einer Versicherung so in das System der Arbeitslosenversicherung integrieren kann, daß auf allen Seiten - bei Versicherungsnehmern, Versicherungsgebern und Arbeitgebern - Anreize entstehen und fortbestehen, die auf einen Rückgang der Arbeitslosigkeit abzielen. Diese Parameter sind vor allem Versicherungsprämien, die auf einer individuellen Risikoeinschätzung basieren, und die zu vereinbarende Versicherungsleistung, wie sie bei allen privaten Versicherungen üblich ist. Doch gibt es in der wissenschaftlichen Diskussion erhebliche Einwände gegen das Versicherungsprinzip im Bereich der Arbeitslosenversicherung; diese Einwände standen bislang jeder durchgreifenden Reform entgegen. Darauf ist einzugehen, bevor das Konzept eines effizienten Systems der Arbeitslosenversicherung entworfen wird.

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Der ,Hartz-Kommission' zufolge soll die staatliche Arbeitslosenversicherung im Rahmen des deutschen Sozialversicherungssystems in ihren wesentlichen Teilen erhalten bleiben, aber zukünftig über effizientere Vermittlungs- und Förderinstrumente sowie weitergehendere Sanktionsmöglichkeiten verfugen. Ergänzend sollen Führungsinstrumente und organisatorische Strukturen eingeführt werden, wie sie sich nach Ansicht der .Hartz-Kommission' in Privatuntemehmen bewährt haben. Der Kem des bisherigen Systems wird nur dort berührt, wo von einer langfristig zu entwickelnden „Beschäftigungsversicherung" und dem Ende der einkommensabhängigen Arbeitslosenhilfe die Rede ist. Im Rahmen der „Beschäftigungsversicherung" sollen nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch Phasen der Umorientierung am Arbeitsmarkt finanziell abgesichert werden. Da zu diesem Zweck spezielle Sparkonten gebildet werden sollen, die an die „Sparmodelle" angelsächsischer Autoren erinnern - zu nennen sind Grubel (1995), Orzag und Snower (1997) sowie Feldstein und Altmati (1998) - , wird hier zumindest die Möglichkeit eines künftigen Systemwechsels angedeutet. Vgl. hierzu ausführlich Glismann und Schräder (2002).

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung flir Deutschland • 1 4 5

II.

Die Argumente gegen eine private Arbeitslosenversicherung

Zahlreiche Wirtschaftswissenschaftler, vor allem im deutschsprachigen Raum, begründen ihre skeptische Einschätzung der Versicherbarkeit des Arbeitslosigkeitsrisikos versicherungstheoretisch. 3 Als Argumente werden insbesondere die mangelnde Unabhängigkeit der Arbeitslosigkeitsrisiken, die mangelnde Quantifizierbarkeit des Arbeitslosigkeitsrisikos und die prohibitive Höhe der Prämienleistung genannt. Die Skepsis in bezug auf die Versicherbarkeit des Einkommensrisikos bei Arbeitslosigkeit ist freilich nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. In der angelsächsischen Literatur zur Versicherungsökonomie werden jedoch andere Schwerpunkte genannt. Zum Beispiel stehen bei Rejda (1992) die Probleme des Moral hazard und der Adverse selection im Vordergrund, die nicht nur unmittelbar den Kern der Versicherbarkeit berühren, sondern auch bei Detailfragen der Regulierung - wie etwa einer möglichen Versicherungspflicht - herangezogen werden.

1. Zur mangelnden Unabhängigkeit der Arbeitslosigkeitsrisiken Wenn Risiken nicht voneinander unabhängig sind, bedeutet dies, daß von Zeit zu Zeit die Arbeitslosigkeit gehäuft auftritt; die Versicherungskosten sind - von Zeit zu Zeit - pro Zeiteinheit höher, als es bei voneinander unabhängigen Risiken der Fall wäre. Vier Fälle von verbundenen Risiken sind bei der Arbeitslosigkeit bedeutsam: (1) Typischerweise wird hier die konjunkturelle Arbeitslosigkeit genannt; ein Extremfall dürfte die saisonale Arbeitslosigkeit sein. Unterstellt man einmal die Richtigkeit des Vorgetragenen, so bedeutet dies zunächst, daß die Versicherungsprämie von Zeit zu Zeit - das heißt im Konjunkturtal - aufgrund gestiegener Kosten höher sein müßte und im Konjunkturhöhepunkt niedriger. Eine private Versicherung würde durch einen intertemporalen Ausgleich eine konstante Prämie erreichen können. Wenn das konjunkturdurchschnittliche Kostenniveau der Arbeitslosigkeit aufgrund der unterstellten Verbundenheit der Risiken höher wäre als bei unabhängigen Risiken, wären demnach die konjunkturdurchschnittlichen Prämien höher 4 (ähnlich auch Knappe 1995). (2) Eine zweite Art von verbundenen Risiken wird als „Infektionsrisiko" (Schönbäck 1980, S. 57 f.) bezeichnet. Es ist ebenfalls intertemporaler Natur und besagt, daß ein Risiko in ti beeinflußt wird vom gleichen Risiko in to; als Beispiel wird ein schädlingsbedingter Ernteausfall in to genannt, dessen Ursachenbekämpfung in to auch die Ernte in ti beeinträchtigt. Dieser Fall ist für die Arbeitslosigkeit nicht ohne Relevanz: Wenn etwa die Arbeitslosigkeit in to die Tarifparteien veranlaßt, durch die Vereinbarung

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In erster Linie ist hier Schönbäck (1980; 1988) zu nennen, aber auch Berthold und Külp (1987), Berthold (1988; 2000) und der Sachverständigenrat (1996). Sie alle übernehmen Teile der Argumentation von Schönbäck. Hartmann (1998) fuhrt zusätzlich die (mögliche) Asymmetrie der Konjunkturzyklen an, die einer Versicherungslösung im Wege stünde; auch sei die Startfinanzierung für die nötigen „Schwankungsfonds" zu teuer. Beides ist wenig überzeugend, solange die Asymmetrie - einmal unterstellt, sie bestünde - systematisch auftritt und die Versicherungsleistungen an eine bestimmte Dauer der vorherigen Laufzeit des Vertrages geknüpft werden.

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ungewöhnlich niedriger Löhne die Beschäftigung zu stimulieren, und wenn dann im anschließenden Aufschwung die Gewerkschaften zur Kompensation der vorangegangenen Lohnzugeständnisse einen Lohnzuschlag verlangen, der dann die nächste Arbeitslosigkeit einleitet, könnte man von einem verbundenen Risiko sprechen. Ein solches i n fektiöses Verhalten' der Tarifpartner ist freilich nur möglich, wenn die Vertragsfreiheit auf den Arbeitsmärkten eingeschränkt ist; denn sonst wäre ein Arbeitslosigkeit induzierender Lohnaufschlag nicht durchsetzbar. Bei diesem Infektionsrisiko handelt es sich also nicht ursächlich um ein die private Versicherbarkeit ausschließendes Wesensmerkmal der Arbeitslosigkeit, sondern um vom Staat zwangsweise aufrechterhaltene Regeln. Sofern die Vertragsparteien für Risiken verantwortlich gemacht werden, deren - hier durchaus mögliche - Vermeidung die Rechtslage untersagt, kann man in der Tat von nicht-versicherbaren Risiken sprechen. Die Pareto-optimale Lösung des Problems wäre allerdings sicher nicht die steuerfinanzierte Kompensation der Arbeitslosen, sondern die Herstellung von Vertragsfreiheit (vgl. auch Knappe 1995).5 (3) Die Risiken der Arbeitslosigkeit können auch derart verbunden sein, daß die Arbeitslosigkeit einer Person im Zeitpunkt t0 direkt zur Arbeitslosigkeit einer zweiten Person in t 0 fuhrt. Dies ist kein (intertemporales) Konjunktur- und auch kein Infektionsproblem, wie oben beschrieben, sondern typischerweise ein Problem, das mit der Produktionsfunktion der Unternehmen (oder der Volkswirtschaft) zusammenhängt. Es beschreibt die Auswirkungen des Strukturwandels, wenn zum Beispiel Vorlieferanten arbeitslos werden, weil der internationale Wettbewerb oder der technische Fortschritt oder der langfristige Wandel der Nachfrage die Abnehmer ihrer Produkte arbeitslos macht. Eine Versicherung wird auch in diesem Falle nicht unmöglich gemacht, vielmehr können strukturelle Eigenschaften, wie sie in den Produktionsfunktionen zum Ausdruck kommen, durchaus in das individuelle Risikoprofil für jeden Arbeitnehmer eingehen und damit in die Höhe der von ihnen zu zahlenden Prämien (vgl. ähnlich Barr 1987, S. 114 f., anders Schönbäck 1988, S. 52 ff.). (4) Der äußerste Grad an Verbundenheit der Arbeitslosigkeitsrisiken tritt im Rahmen von großen Wirtschaftskrisen (Schönbäck 1988, S. 55) auf. Das Argument der Nicht-Versicherbarkeit würde besagen, daß derartige einmalige Spitzenrisiken von Versicherungen nicht abgedeckt werden könnten, weil dazu die Prämien nicht ausreichten (und weil es an der Vorhersehbarkeit derartiger Krisen mangele). Dieses Argument entspricht demjenigen in der Alterssicherung, dem zufolge ein Umlageverfahren bei exogenen Störungen ineffizient sei: Wenn Beitragszahler ausfallen oder Transferempfänger aufgrund von Änderungen der Gesetzeslage mehr Geld erhalten, gerät das Umlageverfahren in Schwierigkeiten. Die Arbeitslosenversicherung ist einem Umlageverfahren vergleichbar; auch hier müssen auf mittlere Sicht die Prämien-Einnahmen die Versicherungsauszahlungen decken. Doch ist die große Wirtschaftskrise kein überzeugendes Argument gegen die Möglichkeit privater Versicherungen:

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Beenstock (1986) etwa ist der Auffassung, daß verbundene Risiken eine Versicherbarkeit nur ausschließen, wenn die Risiken vollkommen positiv korreliert sind („perfectly positively correlated"; S. 11), und das sei bei der Arbeitslosigkeit nicht der Fall.

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung für Deutschland • 1 4 7 „... insurers ... should be more wary of saying that risks are uninsurable when the scale of the damage is extremely high ... there are enough insurance techniques to provide coverage for high risks ..." (Faure 1995, S. 459).

Der Hinweis auf die „techniques" ist treffend. Es gibt keine Vorschrift, der zufolge alle Risiken der Arbeitslosigkeit für alle Betroffenen zu 100 vH abzudecken sind. Auch eine staatliche Zwangs-Arbeitslosenversicherung wäre damit in großen Wirtschaftskrisen überfordert und müßte auf „externe Ressourcen" (Steuermittel) zurückgreifen (Schäfer 2003, S. 45). Sowohl das Beispiel der Weimarer Republik als auch die heute üblichen Anpassungen auf verschlechterte wirtschaftliche Rahmenbedingungen in der Alterssicherung wie in der Arbeitslosenversicherung zeigen, daß es gerade staatliche Zwangsversicherungen sind, die regelmäßig mit Leistungskürzungen und Prämienerhöhungen reagieren (Glismann und Horn 1997, S. 50 ff.; Glismann und Schräder 2002, S. 17 f.).

2. Zum unbekannten Ausmaß des Arbeitslosigkeitsrisikos Als unbekannt werden hier die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Arbeitslosigkeit angesehen sowie die zu erwartende Höhe des damit verbundenen Schadens bezeichnet. Es ist keine Frage, daß ein Risiko, das solchermaßen nicht kalkulierbar ist, nicht versichert werden kann. Ein privater Versicherungsanbieter würde ein »unkalkulierbares' Risiko nicht eingehen wollen. Allerdings sollten die beiden Argumente auseinandergehalten werden: (1) Was die unbekannte Wahrscheinlichkeitsverteilung der Risiken anlangt, so stellt sich die Frage, ob dieser Einwand gegen die Versicherbarkeit für sich genommen trägt. Sollte die personelle Verteilung gemeint sein, so ist die Unbekanntheit des Risikos die grundlegende Voraussetzung für eine Versicherung; wäre bekannt, welches individuelle Risiko wann eintritt, würde eine Versicherung nicht Zustandekommen - allenfalls ein Sparvertrag. Auch werden die statistischen Informationsmöglichkeiten und - wiederum - die Techniken des Versicherungsgewerbes unterschätzt. Über Arbeitslosigkeit gibt es für alle entwickelten Volkswirtschaften ausführliche Statistiken und lange Zeitreihen; zahlreiche staatliche und nichtstaatliche Organisationen erstellen ständig Prognosen der wirtschaftlichen Entwicklung, zu der auch die Arbeitslosenquote gehört. Außerdem ist die Arbeitslosigkeit nach zahllosen Risikomerkmalen disaggregiert bekannt, etwa nach Branchen oder Berufsgruppen, nach Regionen oder Qualifikationen. Und nicht zuletzt muß, wer eine Versicherung abschließen möchte, dem Versicherungsanbieter seine persönliche Erwerbsbiographie offenlegen. Insgesamt dürfte ein privater Versicherungsanbieter in jedem Einzelfall eines zu Versichernden eine recht präzise Prognose der individuellen Risiken, arbeitslos zu werden, machen können. (2) Was das unbekannte Ausmaß der Versicherungsleistungen anbelangt, so ist zumindest zu prüfen, ob darüber hinaus die vertragliche Gestaltung der Versicherung nicht ein hinreichend absichernder Aktionsparameter ist. In der praxisnahen Literatur wird darauf verwiesen, daß dieses Ausmaß durchaus quantifizierbar ist (Beenstock 1986, S. 11) und daß Versicherungsleistungen durch Vertrag relativ einfach zu definieren sind CKohlmann 1996, S. 382).

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3. Zur prohibitiven Höhe der Prämien Es wird gesagt, daß eine zu große Zahl potentieller Nachfrager einer Versicherung gegen Arbeitslosigkeit über ein zu geringes Einkommen verfuge, um die erforderlichen Prämien zu zahlen (Schönbäck 1988, S. 49). Was hier gemeint ist, ist sicherlich nicht die absolute Prämienhöhe der Bezieher niedriger Einkommen; denn um ein niedriges Einkommen abzusichern, bräuchte es auch nur eine absolut niedrige Prämie. Gemeint ist wohl vielmehr, daß die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Arbeitslosigkeit signifikant negativ mit der Einkommenshöhe korreliert, so daß selbst die Absicherung geringer Einkommen relativ teuer ist. Hinter diesem Einwand von der zu hohen Prämie steckt die Vorstellung, daß die Versicherung gar keine sein soll, vielmehr wird eine Einkommensumverteilung verlangt. Für Einkommensumverteilungen aber ist gemeinhin der Staat zuständig. Umverteilung hat weder mit Versicherung noch mit der Versicherbarkeit zu tun: Sie ist eine (staatliche) Leistung ohne Gegenleistung. Versicherungen dagegen bieten Dienstleistungen gegen Bezahlung an. Das Argument prohibitiv hoher Prämien besagt letztlich, daß die Zahl der Versicherungsnachfrager kleiner sein wird als die Zahl der Erwerbspersonen insgesamt. Die Versicherbarkeit bleibt für diese Versicherungsnachfrager unberührt. Zu vermuten ist, daß nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung der staatlichen Umverteilung durch Sozialhilfe bedarf und daß die Mehrzahl der Erwerbstätigen tolerable Prämien für eine private Arbeitslosenversicherung zahlen würde, zumal diese keine Umverteilungselemente zugunsten sozial Schwacher mehr enthielte. So ist dieses Argument ebenso wie die zuvor genannten Argumente gegen die Versicherbarkeit des Risikos der Arbeitslosigkeit eher abstrakter Natur. Ein Ökonom würde vermuten, daß eine Versicherung stets dann zustande kommt, wenn ein Versicherungsanbieter und ein Nachfrager sich über Leistung und Gegenleistung einigen können. Versicherungen selbst sehen das ähnlich: Borch (1990, S. 316) berichtet von einem Versicherungsabschluß in England, dessen Gegenstand das Einfangen des Ungeheuers von Loch Ness war.6 Der Fall zeigt, daß sogar Katastrophenfalle versicherbar sind und daß das fehlende Wissen über die Höhe des Risikos den Versicherungsabschluß nicht verhindert. Das Loch-Ness-Beispiel und viele andere Beispiele aus der Versicherungswirtschaft scheinen zu belegen, daß Faure (1995, S. 459) recht hat: Jedes Risiko ist versicherbar, solange es nur einen Anbieter und einen Nachfrager dieser Versicherung gibt. Allerdings dürfte sich die Einigung beider über die zu zahlenden Prämien schwierig gestalten, wenn der Preis zu hoch wird. Das kann dann der Fall sein, wenn Moral hazard und Adverse selection eine bedeutsame Rolle spielen. Diese beiden Argumente sind letztlich die einzigen unter allen genannten, die den Kern der Versicherbarkeit berühren.

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Eine Whisky-Brennerei hatte 1971 eine Million britische Pfund für das Einfangen des Ungeheuers von Loch Ness ausgelobt. Offenbar hielt sie das Risiko, eine Million Pfund zu verlieren, für so hoch, daß sie eine Versicherung (für eine Prämie von £ 2500) abschloß.

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung für Deutschland • 1 4 9

4. Das Moral

hazard-Problem

Eine einfache und empirisch angelegte Erläuterung besagt: Moral hazard liegt vor, wenn nach Abschluß eines Versicherungsvertrages die Zahl der Schadensfalle zunimmt, der durchschnittliche individuelle Schadenswert steigt oder beides geschieht (Grübet 1971, S. 99 f.). Dem Moral hazard liegt ein Nutzenkalkül zugrunde (Schlesinger 1994, 5. 123): Solange Schadensverhütung etwas kostet, lohnt es sich für den Versicherungsnehmer, weniger Schadensverhütung zu betreiben, wenn eine Versicherung den etwaigen Schaden abdeckt; und: Je höher die Versicherungssumme (und damit die Prämie) ist, desto weniger lohnt sich die Prävention für den Versicherungsnehmer. Arnott und Stiglitz (1988) bezeichnen dies als „Substitutionseffekt". Gleichzeitig steigen mit sinkenden individuellen Anstrengungen zur Schadensprävention die Ausgaben der Versicherung und entsprechend die Prämien. 7 Das ist der Grund, warum Rejda (1992) meint, daß Moral hazard potentiell in der Lage sei, aufgrund „zu hoher" Prämien das Entstehen einer Versicherung zu verhindern. Schlüssiger argumentiert Faure (1995, S. 456), der die mangelnde Kontrollmöglichkeit des Moral hazard durch die Versicherungen als Ursache für eine existenzbedrohende Diskrepanz zwischen Schadenshöhe und Prämienleistung ausmacht. Damit gewinnt allerdings die Diskussion um das Moral hazard eine neue Dimension: Es ist die NichtVerifizierbarkeit des Verhaltens von Versicherungsnehmern, die eine Versicherung unmöglich machen kann. Diese Gedanken entsprechen weitgehend dem Stand der Literatur. Es fallt auf, daß es in allen Überlegungen zum Moral hazard und zur Informationsasymmetrie der Versicherungsnehmer ist, der die Rolle des (potentiellen), Schurken' spielt. Doch was ist mit den übrigen Teilnehmern am System? a. Moral hazard bei den Versicherungsnehmern Welche Aufwendungen zur Schadensverhütung wird ein durchschnittlicher Arbeitnehmer unterlassen, sobald er eine Arbeitslosenversicherung abgeschlossen hat? Die unterlassene oder verringerte Schadensprävention kann darin bestehen, daß der beschäftigte Versicherungsnehmer — verstärkt auf Lohnanhebung pocht, — in seinem Arbeitseifer nachläßt oder — sich unangemessene Freiheiten am Arbeitsplatz herausnimmt.

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Oft wird cheating, das heißt Betrug, als wesentliches Merkmal des Moral hazard bezeichnet (Borch 1990, S. 317). Das freilich - weil Betrug strafbewehrt und damit teuer ist - dürfte nur dann eine entscheidende Rolle für das Moral hazard spielen, wenn mögliche Strafen nicht als Kosten in das Nutzenkalkül eingehen. Gemeint ist wohl eher, daß bei den Selbstauskünften des Versicherten gegenüber dem Versicherer die Bandbreite zulässiger Antworten zum eigenen Vorteil ausgeschöpft wird. Mit anderen Worten: Der Versicherungsnehmer nutzt Informationsasymmetrien zu seinen Gunsten aus, und das Beseitigen dieser Asymmetrien durch die Versicherung verursacht Kosten. Das Argument der asymmetrischen Information und ihrer Vermeidung unterliegt wiederum einem Nutzenkalkül und berührt im Regelfall nicht den Betrugstatbestand.

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Ob diese Verhaltensänderungen wahrscheinlich sind, ist eine offene Frage. Man darf wohl vermuten, daß sie für die große Mehrheit der Arbeitnehmer keine Rolle spielen würden. Leider gehen die Vertreter der Moral hazard-These nicht näher auf die verringerten Aufwendungen zur Schadensvermeidung durch die Versicherungsnehmer ein. Von ökonomischer Bedeutung mag sein, daß einzelne, nicht tarifgebundene Arbeitnehmer, mit der Gewißheit von Arbeitslosengeld im Hintergrund, riskantere und höher bezahlte Tätigkeiten anstreben. In diesem Fall hätte die Arbeitslosenversicherung womöglich positive gesamtwirtschaftliche Produktivitätseffekte - dann nämlich, wenn das Kalkül dieses Versicherungsnehmers aufgeht (vgl. auch Rürup 1990). Die Versicherung hätte höhere Kosten als ohne den Wechsel des Arbeitnehmers auf riskantere Tätigkeitsfelder. Zu fragen ist allerdings, ob auch arbeitslose Versicherungsnehmer einem Moral hazard ausgesetzt sind (Schäfer 2003, S. 46 f.). Ein Arbeitsloser muß bei Aufnahme einer neuen Beschäftigung wegen seiner vergangenen Arbeitslosigkeit mit einer höheren Prämie rechnen; steigt damit der Akzeptanzlohn, dann kann die Bereitschaft zur Aufnahme von Arbeit sinken. Zwei Fragen stellen sich hier: Können die Versicherungsprämien durch vergangene Arbeitslosigkeit prohibitiv hoch werden? Und steigt der Akzeptanzlohn wirklich? Zunächst: Vergangene Arbeitslosigkeit ist nur eine unter vielen Determinanten der Prämienhöhe. Selbst wenn dieser Effekt erheblich wäre, könnte er durch gegenläufige Bewegungen bei anderen Determinanten korrigiert werden.8 Was die Entwicklung des Akzeptanzlohns bei Arbeitslosigkeit anlangt, so mag dieser mit der Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld ansteigen. Am Ende der vereinbarten Versicherungszeit ist jedoch nicht mehr das Arbeitslosengeld die relevante Bezugsgröße des Akzeptanzlohns, sondern die Sozialhilfe, die restriktivere Bezugsbedingungen und ein geringeres Niveau aufweist. Damit sinkt der Akzeptanzlohn abrupt und spürbar. Mit anderen Worten: Der Arbeitslose wird bei rationalem Verhalten von Beginn an ein Barwertkalkül vornehmen, das den prämieninduzierten Anstieg des Akzeptanzlohns wirksam dämpft. Es zeigt sich, daß das Moral hazard-Vro\Aem, zumindest was die Versicherten angeht, von geringer Bedeutung sein dürfte. Die in der Literatur geäußerten Bedenken wegen dieser Art der Kostensteigerung erscheinen übertrieben. Hinzu kommt, daß jede Versicherung von sich aus die individuelle Neigung zur Schadensvermeidung stärken würde, etwa durch Rückkopplung der Prämien an vergangene Schadensverläufe. b. Moral hazard bei den Arbeitgebern In den Vereinigten Staaten mag ein Moral hazard bei den Arbeitgebern den Gesetzgeber bewogen haben, das Experience rating einzuführen (vgl. dazu ausfuhrlich Glismann und Schräder 2001a). Es sieht vor, daß die von Arbeitgebern zu zahlenden Prämien an die Inanspruchnahme der Arbeitslosenversicherung durch ihre (ehemaligen) Mit8

Das Versicherungsmodell, das unten (Kapitel III.2.a.) entworfen wird, sieht zum Beispiel Selbstbindungsindikatoren vor, die aufgrund vergangener Arbeitslosigkeit steigende Prämien (mehr als) kompensieren können.

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung für Deutschland • 1 5 1

arbeiter gekoppelt sind; das Entlassungsverhalten schlägt sich mit kurzer zeitlicher Verzögerung in (relativ) niedrigen beziehungsweise hohen Prämien zur Arbeitslosenversicherung nieder. Das Beispiel der Vereinigten Staaten zeigt, daß das Moral hazard bei den Arbeitgebern eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit nicht notwendig überteuert und damit ausschließt. Es zeigt auch, daß es durchaus möglich ist, Anreize zu mehr Beschäftigung in ein System zur Einkommensabsicherung für Arbeitslose einzubauen. c. Moral hazard bei der Arbeitslosenversicherung Daß die Schadenshäufigkeit nach Abschluß eines Vertrages aus Gründen steigt, die bei der Arbeitslosenversicherung zu suchen sind, ist, solange Wettbewerb besteht, kein sehr naheliegender Gedanke. Die Versicherung wird immer bestrebt sein, die Zahl der Schadensfalle so klein wie möglich zu halten, um - bei gegebener und vereinbarter Prämienhöhe - ihren Gewinn zu maximieren und um - bei variabler Prämienhöhe durch Preissenkungen ihre Wettbewerbsposition zu verbessern. Häufig gibt es auf Versicherungsmärkten jedoch keinen hinreichenden Wettbewerb. Ist der Zugang zum Markt für Arbeitslosenversicherungen behördlich kontrolliert, kommt dies einer Wettbewerbsbeschränkung gleich, die die Zahl der Anbieter und wegen der damit einhergehenden Preis(Prämien-)erhöhung - die Zahl der Versicherungskontrakte verringert. Da dies die Produzentenrente erhöht, sind behördlich kontrollierte (Versicherungs-)Märkte oft durch gesetzliche Gewinnbeschränkungen gekennzeichnet: Diese Gewinnbeschränkungen fuhren ihrerseits weniger zu den erwarteten Preissenkungen, als vielmehr erfahrungs- und theoriegemäß zu künstlichen Kostensteigerungen. 9 Unter diesen Bedingungen gibt es ein Moral hazard der Versicherungsanbieter, das sich in überhöhten Prämien ausdrückt und sich damit, ähnlich wie das Moral hazard der Versicherungsnehmer, in prämienwirksam erhöhten Kosten wiederspiegelt. Anders als beim oft genannten Moral hazard der Versicherungsnehmer liegen diesem Fall allerdings keine realen Zuwächse der Schadensfalle zugrunde.

d. Moral hazard bei den Tarifvertragsparteien Die Tarifvertragsparteien könnten auf die Einführung privater Arbeitslosenversicherungen mit einer Zunahme der Schadensfälle reagieren: Sie haben dann weniger Anlaß, die Folgen ihrer Tarifpolitik auf den Arbeitmärkten zu berücksichtigen. Das Besondere an diesem Moral hazard besteht darin, daß es nicht die Versicherungsnehmer sind, die 9

Die Mikrotheorie der Wirtschaftswissenschaften sagt für diesen Fall einen Rückgang der nachgefragten Menge an Versicherungsverträgen voraus. Sind die Prämien allzu deutlich gestiegen oder überhöht, wird die Öffentlichkeit mit Forderungen nach Zwangsabschlüssen oder, in einem Vorstadium, mit Forderungen nach dem Verbot ausländischer Versicherungsangebote zu rechnen haben. Denn ausländische Anbieter unterlägen fremden Rechtsordnungen und überhaupt einem Währungsrisiko und seien daher dem Verbraucher nicht zuzumuten; außerdem sei das Versicherungswesen eine so komplizierte und für die Daseinsvorsorge der Menschen bedeutsame Materie, daß ihm die Freiheit der Auswahl nicht zugemutet werden könne.

152 • Hans H. Glismann und Klaus Schräder

ihre Aufwendungen zur Schadensvermeidung aus guten ökonomischen Gründen verringern, sondern daß Dritte durch ihr Handeln zusätzliche Schäden für die Versicherten in Kauf nehmen. Daß diese Art des Moral hazard für bedeutsam gehalten wird, zeigen die Analysen Rischs (1980; 1983, S. 124 ff.). Dennoch ist auch hier die Frage nach der empirischen Relevanz dieser Variante des Moral hazard zu stellen. Und auch hier sind statistische Erhebungen, ebenso wie bei den vorgenannten hazards, nicht vorhanden. Zwar gibt es ökonometrische Schätzungen darüber, welchen Einfluß eine Lohnänderung auf die Zahl der Arbeitsplätze hat,10 doch dürfte Moral hazard nur einer von zahlreichen Einflußfaktoren der Tarifpolitik sein. Es ist zu vermuten, daß diese Art des Moral hazard von einem System der Arbeitslosenversicherung begünstigt wird, in dem es keine Rückkopplung zwischen individueller Schadenshäufigkeit und individueller Prämie gibt. Die von Hayek (1971, S. 351) beschriebene frühe Rolle der Gewerkschaften als „friendly societies" (zum Beispiel in Gestalt der Unterstützungskassen der Arbeiter) würde ebenfalls ein solches Moral hazard vermeiden helfen.11

e. Moral hazard bei den Politikern Politiker spielen dann eine Rolle bei der Arbeitslosenversicherung, wenn sie Regeln zur Ordnung des Marktes aufstellen oder Regeln andernorts festlegen, die auf die Arbeitslosenversicherung Einfluß haben. Es kommt zu , funktionslosen' Prämienerhöhungen, wenn die Anbieter auf diesen Märkten kontrolliert werden oder wenn Anreize gesetzt werden, die die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer einschränken. Anreize, die die Arbeitslosigkeit unmittelbar erhöhen, sind zum Beispiel eine gesetzliche Mindesthöhe (oder -dauer) von Arbeitslosengeld oder die Festlegung einheitlicher beziehungsweise ausschließlich einkommensabhängiger statt risikobestimmter Prämien. Das Moral hazard bei den Politikern besteht also eigentlich darin, Moral hazard bei den Versicherungsnehmern und Versicherungsanbietern zu provozieren, indem marktmäßige Reaktionen außer Kraft gesetzt werden. Daher ist der Ursprung des Hazardspiels in den genannten Fällen bei den Politikern zu suchen, die sich nicht ganz ohne Eigeninteresse einmischen. f. Schlußfolgerungen Grundsätzlich ist jede Art von Versicherung dem Moral hazard ausgesetzt. Allerdings zeigt sich, daß die Versicherungsnehmer von sich aus wenig Anlaß haben, nach Abschluß einer privaten Arbeitslosenversicherung die Aufwendungen zur Schadensvermeidung zu senken. Bei ihnen wie auch bei einem vorstellbaren Moral hazard der Arbeitgeber reichen die möglichen kostenträchtigen Rückkopplungen aus, um Moral hazard wirksam zu verhindern. Bei den anderen relevanten Akteuren sind es stets die 10 Zu nennen sind etwa neuere Arbeiten von Fitzenberger (1999) sowie Buslei und Steiner (1999). 11 Die gewerkschaftlichen Unterstützungskassen der Arbeiter im Deutschen Reich um 1890 boten ftlr ihre Mitglieder im Falle der Arbeitslosigkeit finanzielle Leistungen an, die allerdings nicht einklagbar waren (vgl. etwa Jastrow und Badtke 1918).

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung für Deutschland • 1 5 3

besonderen politisch zu verantwortenden Rahmenbedingungen, die Moral hazard hervorrufen; das bedeutet, daß Moral hazard bei entsprechenden Änderungen dieser Bedingungen kein Hindernis für private Arbeitslosenversicherungen darstellen muß.

5. Das Adverse

selection-Problem

Adverse selection beschreibt den Prozeß einer ständigen Verschlechterung des aggregierten Risikos je Versicherten, das in der Gesamtheit aller Versicherten inkorporiert ist. Die ,widrige Auswahl' beinhaltet, daß gute Risiken entweder gar keine Versicherung abschließen oder im Zeitablauf mehr und mehr gute Risiken die Versicherung aufkündigen (vgl. dazu auch Borch 1990, S. 322 ff.). a. Das Modell .optimaler Kohortenbildung' Adverse selection ist ein Problem aller Versicherungen, unabhängig von der Trägerschaft und von gesetzlichen Bestimmungen: Jede Versicherung umfaßt eine Bandbreite von Risiken, wobei grundsätzlich die guten Risiken die weniger guten subventionieren. Ein solches System ist auf Dauer nur funktionstüchtig, wenn die guten Risiken a priori nicht genau wissen, daß sie gute Risiken sind, Informationen also unvollständig sind (Faure 1995, S. 457 f.). Ex posteriori gute Risiken werden günstigere Versicherungsbedingungen verlangen 12 und, im Erfolgsfall, die eigenen Prämien verringern; falls sie keine günstigeren Bedingungen erhalten, werden sie diesen Versicherungsvertrag kündigen und vielleicht ein anderes Versicherungsunternehmen wählen - sofern Wettbewerb auf diesem Versicherungsmarkt herrscht. Gibt es keinen Wettbewerb, ersetzen diese guten Risiken ihren gekündigten Versicherungsvertrag durch Erspamisbildung. Das bedeutet, daß Versicherungen auf Dauer nur überleben können, wenn sie Kohorten unterschiedlicher Risiken bilden; das optimale Ausmaß der KohortenDifferenzierung wird dabei vom subjektiven Empfinden der Versicherten bestimmt: Es ist dann erreicht, wenn die Versicherten nicht mehr feststellen können, ob sie zu den guten oder den schlechten Risiken ihrer Kohorte gehören; dann ist auch der Prozeß der .widrigen Auswahl' beendet (was die Versicherung statistisch an der Entwicklung der Austritte der guten Risiken beobachten kann). b. Das Modell unterschiedlicher Deckungsgrade Anders als dieses Modell der optimalen Kohortenbildung, die bei Wettbewerb tendenziell von jedem Versicherungsunternehmen angestrebt wird, ist die Lösung des Pro12 Auch der Wechsel in eine günstigere Kohorte von Versicherten ändert nichts an dem Prinzip, daß innerhalb jeder Kohorte die guten Risiken die weniger guten finanzieren. Doch mag es sein, daß es nach dem Wechsel eine größere Ungewißheit über das eigene Risiko gibt. Mit anderen Worten: Das apriorische Risiko nähert sich mit zunehmender Risikodifferenzierung dem exposteriorischen, bis ein Gleichgewicht dort erreicht ist, wo der diagnostische und prognostische Unschärfebereich zumindest für die Versicherten hinreichend ausgeprägt ist.

1 5 4 • Hans H. Glismann und Klaus Schräder

blems der Adverse selection bei Rothschild und Stiglitz (1976): Versicherungen bieten volle Deckung zum Preis der schlechten Risiken an und eine partielle Deckung zum Preis der guten Risiken. Statt diesen Trick zu durchschauen, kaufen (bei Rothschild und Stiglitz) die schlechten Risiken die teurere Police mit voller Schadensdeckung und die guten Risiken die andere Police. Grund dafür sind die Modell-Annahmen: Der als „Seif selection" {Schlesinger 1994, S. 128) bezeichnete Prozeß bedeutet in der Tat, daß alle schlechten Risiken"... freiwillig den teuren Versicherungsvertrag mit voller Schadensdeckung [wählen] und alle guten Risiken ... den billigen Vertrag ... mit partieller Dekkung" (S. 128 ff.).

c. Das Modell der Pooling contracts Ein Pooling contract liegt vor, wenn beide Risikogruppen den gleichen Versicherungsvertrag erhalten und eine gleiche Prämie zahlen, die als (gewogener) Durchschnitt aus den Prämien der guten und der schlechten Risiken errechnet wird. Der Versicherungsanbieter kann dann die Verluste, die die schlechten Risiken mit sich bringen, durch die Gewinne aus den guten Risiken gerade ausgleichen (Schlesinger 1994, S. 130 ff.). Unausgesprochen steht hinter diesen Pooling contracts die Vorstellung einer Zwangsversicherung. Wie sonst ist es zu erklären, daß bei Wettbewerb zwischen Versicherungsanbietern die guten Risiken überhöhte Prämien zahlen? Mit anderen Worten: Solange es keinen Zwang zum Versicherungsabschluß gibt, verursacht dieses Modell Adverse selection, statt sie zu verhindern. Es funktioniert bei Schlesinger wohl nur deshalb, weil auch hier die Annahmen (zum Beispiel „Risikoaversion erster Ordnung" das heißt: strenge Risikoaversion) ökonomisch intelligente Reaktionen bei den Wirtschaftssubjekten ausschließen. d. Schlußfolgerungen Insgesamt gesehen ist Adverse selection ohne Frage ein strukturbestimmendes Merkmal aller Versicherungen: Sie fuhrt zur Bildung von Risikogruppen; dabei setzt sich die Ausdifferenzierung so lange fort, bis die Versicherungsnehmer zufrieden sind, das heißt der Meinung sind, daß die Schadenswahrscheinlichkeit, gewogen mit der Schadenshöhe, dem entspricht, was als Prämie zu zahlen ist. Für die Herstellung dieser optimalen Struktur ist Adverse selection geradezu die Voraussetzung; sie beseitigt sukzessive das Problem der unvollständigen ^asymmetrischen') Information, vor dem die Versicherungsanbieter stehen. Die Modelle von Rothschild, Stiglitz und Schlesinger sind dagegen kaum geeignet, das Verhalten von Versicherungsnehmern richtig zu antizipieren; ihre Schemata der Quersubventionierung sind bei Wettbewerb unwirksam. Dies gilt für alle Arten von Versicherungen, besonders aber für die Arbeitslosenversicherung. Denn die schlechten Risiken der Arbeitslosenversicherung sind wohl im Regelfall gerade solche Versicherungsnehmer, deren Budget relativ klein ist. Wieso es ausgerechnet diese schlechten Risiken mit obendrein begrenztem Budget sind, die vollen Versicherungsschutz nachfragen, bedarf einer besonderen Begründung. Auch ist

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung für Deutschland • 1 5 5

unerfindlich, wieso die guten Risiken - das sind im Falle der Arbeitslosenversicherung die relativ produktiven, gut verdienenden Arbeitnehmer - freiwillig eine überhöhte Prämie zahlen, die den schlechten Risiken zugute kommt.

III. Arbeitslosenversicherung und Abbau von Arbeitslosigkeit: ein Konzept 1. Vorbemerkungen Es zeigt sich also, daß die häufig angeführten Argumente gegen die Möglichkeit einer Arbeitslosenversicherung auf privater Basis wenig tragfahig sind. In der Tat finden sich in der Literatur Vorschläge, wie eine private Arbeitslosenversicherung konzipiert werden könnte; 13 zu nennen sind etwa Engelhard und Geue (1998), Pury et al. (1995), Beenstock und Brasse (1986), die ASU: Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (1984), Soltwedel (1983) sowie Risch (1980). 14 Einer ,richtigen' und wohlbegründeten Versicherungslösung kommen dabei Beenstock und Brasse am nächsten. Beenstock und Brasse (1986) nehmen die Arbeitslosenversicherung beim Wort: Sie beschreiben, wie im Vereinigten Königreich eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ausgestaltet werden könnte. Für das Vereinigte Königreich mit seinem undifferenziert kollektivistischen Sozialsystem 15 käme die Versicherungslösung einer Revolution gleich: (1) es würde erstmals eine spezielle Arbeitslosenversicherung eingeführt; (2) die Höhe der Versicherungsprämien wäre individuell risikoabhängig und nicht von politischen Gedanken an Einkommensumverteilung geprägt; (3) es würden die Arbeitsnachfrager dergestalt in die Arbeitslosenversicherung einbezogen, als sie - ähnlich wie in den Vereinigten Staaten - die Versicherungsprämie übernehmen würden, deren Höhe sich auch an ihrem Entlassungsverhalten orientiert.

13 Vorschläge zur Effizienzverbesserung der Arbeitslosenversicherung sind als „Sparmodell" (Feldstein und Altman 1998), als „Vouchermodell" (Snower 1994) und als „Darlehensmodell" (Feldstein 1975) bezeichnet worden. Eine optimale Zuordnung zwischen Instrumenten und Zielen („assignment") sieht für die Abdeckung von Risiken Versicherungslösungen vor, nicht jedoch Ersparnisbildung (Glismann und Schräder 2001b, S. 3 ff.). 14 Engelhard und Geue (1998) wollen einen großen Teil der finanziellen und sachlichen Verantwortung der Arbeitslosenversicherung an die Gewerkschaften übertragen; das knüpft an die Rolle der frühen deutschen Gewerkschaften als Unterstützungskassen der Arbeiter an (vgl. Fn. 11). Diesem Gedanken ist auch Risch (1980) nachgegangen, der freilich die sachliche Verantwortung nach wie vor beim Staat belassen wollte. Wie Risch setzt auch Soltwedel (1983) auf gewerkschaftliche Zuschußpflicht zur Arbeitslosenversicherung, will aber gleichzeitig durch Leistungsminderungen das Moral hazard der Versicherungsnehmer reduzieren. Pury et al. (1995) schlagen eine reine Risikoabsicherung mit individuellen Prämien nach versicherungstechnischen Kriterien vor, die von privaten Versicherungsunternehmen angeboten werden soll; in diesem System soll es eine obligatorische Mindestversicherung geben, wobei die Prämien Bedürftiger mit Steuermitteln subventioniert werden sollen. Die ASU (1984) will die staatliche Arbeitslosenversicherung ebenfalls abschaffen und durch ein Bündel von privaten Aktivitäten ersetzen (zum Beispiel Ersparnisbildung der Arbeitnehmer, Selbsthilfeeinrichtungen und private Versicherungen). 15 Zu den Grundzügen der Arbeitslosenversicherung des Vereinigten Königreichs vgl. Electronic val System on Employment Policies (1999).

Retrie-

1 5 6 • Hans H. Glismann und Klaus Schräder

Der entscheidende Schwachpunkt des Versicherungsmodells von Beenstock und Brasse liegt in der Finanzierung des Prämienaufkommens durch die Nachfrager nach Arbeit. Dies wird offensichtlich dann zum Problem, wenn die Prämienhöhe - wie bei Beenstock und Brasse gewollt - auch vom Verhalten der Arbeitnehmer abhängt. Denn mit dieser Finanzierung entfallt für die Arbeitsanbieter der unmittelbare Anreiz, die eigenen Risikofaktoren - wenigstens die leicht beeinflußbaren - zu verbessern und damit die individuellen Versicherungskosten zu senken. Der Arbeitgeber übernähme mit der Einstellung eines Arbeitssuchenden gewissermaßen die finanzielle Verantwortung für dessen künftige Lebensgestaltung (die letztlich die individuellen Risikofaktoren bestimmt). Die Vorteile des Beenstock/Brasse-Modells würde daher ein Versicherungsmodell nutzen, daß die Finanzierung nicht ausschließlich den Nachfragern nach Arbeit beläßt, und dennoch die Beschäftigungsanreize, die Beenstock und Brasse auf der Seite der Arbeitgeber schaffen, aufrechterhalten. Ein solches Modell soll im folgenden als Trennsystem bezeichnet werden: Es trennt zwischen den Arbeitsanbietern und den Arbeitsnachfragern. In ihm haben sowohl die Arbeitnehmer (über private Arbeitslosenversicherungen) als auch die Arbeitgeber (über einen Arbeitslosenversicherungsfonds) ein ökonomisch begründetes Interesse, Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder ihre Dauer zu senken.

2. Das Trennsystem: Die Arbeitnehmerseite a. Eine operationale Bestimmung des individuellen Arbeitslosigkeitsrisikos Eine Arbeitslosenversicherung versichert unselbständig Beschäftigte gegen das Risiko, die Kosten möglicher künftiger Arbeitslosigkeit in voller Höhe allein tragen zu müssen. Wie eben gezeigt wurde, hängt die Prämie, die von den Versicherten zu zahlen ist, vor allem von der Eintrittswahrscheinlichkeit der Arbeitslosigkeit und den vereinbarten Zahlungen im Schadensfall ab. Die Eintrittswahrscheinlichkeit von Arbeitslosigkeit ist eng mit den vielfaltigen Arten und Ursachen von Arbeitslosigkeit verknüpft. Auf die im ökonomischen Schrifttum - zum Teil kontrovers - diskutierten Arten der Arbeitslosigkeit ist hier nicht einzugehen. Für die Versicherbarkeit des Arbeitslosigkeitsrisikos scheint die individuelle Beeinflußbarkeit des Schadenseintritts bedeutsam zu sein: Wer schuldhaft seine Arbeitslosigkeit herbeiführt, wird keine private Institution finden, die die Kosten der darauf folgenden Arbeitslosigkeit übernimmt. Wer aus betrieblichen Gründen, zum Beispiel im Konkursfall, arbeitslos wird, dürfte regelmäßig individuell schuldlos an der Arbeitslosigkeit sein; er wäre versicherbar. Auf den ersten Blick müßten alle Fälle von Arbeitslosigkeit, die der Versicherte nicht schuldhaft herbeigeführt hat, versicherbar sein. Spurenelemente individueller Verantwortlichkeit mögen in beschäftigungsdämpfenden Lohnabschlüssen und Arbeitskämpfen gesehen werden, sei es aufgrund von Mitgliedschaft in Arbeitnehmerorganisationen oder sei es wegen eines TrittbrettfahrerVerhaltens bei Tarifabschlüssen. Doch sind diese Spurenelemente schwerlich als Moral hazard zu interpretieren, ebenso wie staatliches Handeln keine Verantwortlichkeit für

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung für Deutschland • 1 5 7

dieses Handeln bei dem einzelnen Bürger begründen kann. Selbst im Unternehmensbereich läßt sich aus dispositiven Entscheidungen keine Verantwortlichkeit der betroffenen Mitarbeiter herleiten. Versicherungstechnisch komplizierter sind die individuellen Risikofaktoren, das heißt die vom Versicherungsnehmer beeinflußbaren Risiken. In der Tat sind zum Beispiel die schuldhaften Ursachen von Arbeitslosigkeit nicht versicherbar: In diesen Fällen unterläge nämlich der Versicherte der Versuchung, den Schadensfall künstlich herbeizuführen. Allerdings ist zu beachten, daß die Einschätzung des Ausmaßes der individuellen Schuld im Zeitablauf Änderungen unterliegt. Heute ist in Deutschland weitgehend anerkannt, daß zum Beispiel auch Kosten der Immobilität kollektiv - das heißt hier: von einer Versichertengemeinschaft - getragen werden müssen, wenn diese Kosten individuell unzumutbare Höhen erreichen. Ähnliche Gedanken wie beim Mobilitätsverhalten gibt es im Falle unzureichender oder falscher Qualifikation: Ist die Qualifikation zum Beispiel im Rahmen eines anerkannten Ausbildungsgangs erfolgt (sei es als Kombination aus Lehre und Berufsschule, als Universitätsabschluß etc.) wird von individuell schuldhaftem Verhalten nicht die Rede sein können. Erst wenn in solchen Fällen eine Fehlqualifikation evident wird und keine Neuorientierung erfolgt, entsteht im Zeitablauf zunehmende individuelle Verantwortlichkeit für die Arbeitslosigkeit. Die nicht in der Person des Arbeitnehmers liegenden Ursachen der Arbeitslosigkeit, weisen in der Regel unterschiedliche Eintrittswahrscheinlichkeiten auf. So wird im Strukturwandel zunächst jener Beschäftigte arbeitslos, dessen Gewinnbeitrag am niedrigsten ist. Oder: Ein Einbruch in der Geschäftstätigkeit einer Branche trifft vor allem jene Regionen stark und zuerst, die bestimmte strukturelle Merkmale aufweisen, etwa einen hohen Anteil der in dieser Branche Beschäftigten. Wenn dies so ist, dann bedeutet das für eine Versicherung, daß die Eintrittswahrscheinlichkeit arbeitslos zu werden, von Qualifikationsstrukturen, Branchenbesonderheiten und regionalen Merkmalen abhängt. Letztlich müßte die Prämie in jenen Bereichen überdurchschnittlich sein, die — besonders ausgeprägten konjunkturellen oder saisonalen Einflüssen unterliegen (Baugewerbe, Gastronomie, Fremdenverkehrsgewerbe); — durch Tarifverträge geregelte Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft aufweisen; — besonderen staatlichen Schutz genießen, etwa durch Handelshemmnisse, Subventionen oder Regulierungen (Bekleidungsgewerbe, Bergbau, Landwirtschaft), die jederzeit abgebaut werden können; — besonders empfindlich auf Zinserhöhungen reagieren (Baugewerbe). Das bedeutet, daß Tätigkeiten mit diesen Merkmalen höhere Risiken der Arbeitslosigkeit beinhalten. Um wieviel daher die Versicherungsprämien dieser Gruppen über dem Durchschnitt liegen müßten, dürfte sich freilich erst im Prozeß des ,Versuchens und Irrens' herausstellen. Darüber hinaus werden sich in der Arbeitslosenstatistik weitere strukturelle Merkmale niederschlagen, die dann zu einer stärkeren Berücksichtigung einzelner Merkmale in der Prämiengestaltung fuhren. Zu ihnen zählen wohl die Fehlqualifikationen und das Mobilitätsverhalten. Daraus ergäben sich dann weitere berufliche, regionale oder branchentypische Merkmale erhöhten Arbeitslosigkeitsrisikos.

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Übersicht 1: Ein Schema zur Ermittlung des individuellen realen Arbeitslosigkeitsrisikos a ' b Allgemeine Merkmale •pTj> p i 2

Persönliche Merkmale

Durchschnitt

Risikoklassen nach Qualifikation i

Berufk

Region j

P i 3 Pj 1 C Ü 2 > p j 3 pk 1

p k 2 Cpk3)

Risikoklassen nach (z.B. letzte 1. Erfahrungsindikatoren 5 Jahre) a. Arbeitslosigkeit a - dreimal und mehr pa1 - ein- oder zweimal pa2 - keinmal (pTT) b. Fehltage b - viele pb 1 - durchschnittlich pb 2 - wenige c ® c. Qualifikationsmaßnahmen c (nach Qualität und Ergebnis) - schlecht pel - mittel TT) p c3 - gut II. Strukturindikatoren 1. Alter d - 55-65 Cüi> - Gesamt pd2 - unter 40 pd3 2. Geschlecht e - Frauen pel pe2 - Gesamt - Männer C P ^ III. Selbstbindungsindikatoren 3.Regionale Mobilitätsbereitschaft f pfl - gering - mittel CP£?> - hoch pf3 4. Berufliche Mobilitätsbereitschaft g - gering CpgJ) - mittel pg2 - hoch Pg3 5.Bereitschaft zum Einkommensverzicht h - gering - mittel - hoch

dB)

2,25 1,5 0,75

1,5 1,0 0,5

0,75 0,5 0,25

0,33

0,25

0,5

0,25

0,5

0,25

0,33

0,5

1,0

0,5

0,67

0,75

1,5

0,75

1,00

0,25

0,5

0,25

0,33

0,5

1,0

0,5

0,67

0,75

1,5

0,75

1,00

0,75

1,5

0,75

1,00

0,50

1,00

0,50

0,67

ph2 ph3

Durchschnitt a

p steht für die Höhe des Anteils an der Durchschnittsprämie, die jedes Merkmal impliziert (vgl. Text). Dabei ist p 1 > p 2 > p 3; im Beispiel ist p 1 = 1,5; p 2 = 1,0; p 3= 0,5. p 2 steht für das mit der Durchschnittsprämie abgesicherte durchschnittliche Risiko. Die mit Kreisen gekennzeichneten Merkmale weisen auf die im Text kommentierten und in dieser Übersicht ausgerechneten Kombinationen hin. - b Die Kombination aus allgemeinen und persönlichen Merkmalen ist jeweils multiplikativ verknüpft, die Durchschnittsbildung für die allgemeinen wie die persönlichen Merkmale ist additiv.

Quelle: Eigene Darstellung nach Glismann

und Schräder

(2001c: 13).

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung für Deutschland • 1 5 9

Übersicht 1 ist eine Umsetzung dieser Überlegungen. Sie enthält ein (ausbaufähiges) Muster des für jeden Versicherten anzustellenden Kalküls bei der Bestimmung des individuellen Risikos. Die Matrix umfaßt Risikoklassifizierungen, in der Kopfzeile nach allgemeinen Kriterien und in der ersten Spalte nach persönlichen Merkmalen des gegen Arbeitslosigkeit zu Versichernden. Der Einfachheit halber sind nur drei allgemeine Merkmale aufgeführt und drei - hier allerdings in zusammen acht Positionen untergliederte - persönliche Merkmale des Arbeitnehmers. Jede Versicherungsgesellschaft wird weitere Merkmale für wichtig, manche sogar für wichtiger halten als die genannten. 16 Zudem werden, ebenfalls aus Vereinfachungsgründen, für jedes Merkmal nur drei Risikoklassen gebildet, gewissermaßen als Hinweis auf überdurchschnittliche (p 1), unterdurchschnittliche (p 3) und durchschnittliche (p 2) zu erwartende Kosten der Arbeitslosigkeit. Im Beispiel wurde unterstellt, daß das überdurchschnittliche Risiko für sich allein genommen jeweils eine um 50 vH höhere Prämie erfordert als das durchschnittliche Risiko; entsprechend wurde linear das unterdurchschnittliche Risiko jeweils mit 50 vH der Durchschnittsprämie bewertet. Die Kombination aus persönlichen und allgemeinen Risikomerkmalen wurde multiplikativ ermittelt, weil das auf einfachere Art den jeweiligen Durchschnitt bei 1,0 beläßt, als es im additiven Verfahren der Fall wäre. Das graphisch hervorgehobene Kästchen rechts oben beschreibt einen kombinatorischen Möglichkeitsbereich für den Fall der beiden Merkmale ,Beruf und .Arbeitslosigkeit in den letzten 5 Jahren'. 17 Aus diesem Möglichkeitsbereich trifft für jeden zu versichernden Arbeitnehmer nur eine Zahl zu, hier im Beispiel: 0,25 als Kombination der (eingekreisten) Merkmalsausprägungen p a 3 und p k 3 . Die horizontalen und vertikalen Summierungen sind dann wieder additiv; bei den Summenspalten und Summenzeilen handelt es sich um arithmetische Durchschnitte. Die Übersicht für den MusterVersicherten der Übersicht 1 ergibt, daß dieser aufgrund der Kombination aus individuellen und generellen Merkmalen 67 vH der Durchschnittsprämie zahlen müßte, um bei Eintritt des Risikofalls Anspruch auf das durchschnittliche Arbeitslosengeld zu erhalten. Anzumerken bleibt noch, daß, insgesamt gesehen, die kleinste mögliche Prämie im Beispiel der Übersicht 1 ein Viertel (25 vH) der Durchschnittsprämie beträgt; die höchst mögliche Prämie in diesem Beispiel beträgt 225 vH des Durchschnitts. 18

16 Ebenfalls um eine Vereinfachung handelt es sich bei einer etwaigen, hier nicht vorgenommenen, Gewichtung der einzelnen Merkmale. Versicherungen werden im Wettbewerbsprozeß vermutlich feststellen, daß einige der persönlichen und der allgemeinen Merkmale kostenträchtiger sind als andere. Jedes einzelne Merkmal würde dann etwa in Übersicht 1 mit einem multiplikativen Faktor versehen, der größer (bei größerem Gewicht des Merkmals) oder kleiner (bei geringerem Gewicht des Merkmals) als 1 ist. 17 Zum Beispiel: p a 1 • p k 1 = 1,5 • 1,5 = 2,25; oder: p a 3 p k 2 = 0,5 1,0 = 0,5 etc. 18 Die Übersicht erlaubt es dem Versicherten wie der Versicherung, die arbeitsmarktlichen Schwachstellen des Versicherten deutlich zu machen. Der Muster-Versicherte der Übersicht 1 etwa leidet unter zu rigorosen Ansichten über die Bedingungen, denen ein neuer Arbeitsplatz genügen sollte.

1 6 0 • Hans H. Glismann und Klaus Schräder

b. Die Rückkopplungsmechanismen individueller Versicherungsverträge Die eingangs postulierte Notwendigkeit eines Systems der Arbeitslosenversicherung, kostenminimierend angelegt zu sein, verlangt positive Rückkopplungen zwischen der Höhe der Arbeitslosigkeit und den Anstrengungen aller Marktteilnehmer, die Arbeitslosigkeit zu senken oder zu vermeiden. Für die Arbeitnehmer wird dieser Zusammenhang im folgenden als ,Autoregressivität' bezeichnet. Unter Autoregressivität ist der wechselseitige Einfluß zwischen Schadenshäufigkeit und Budget des Versicherungsnehmers zu verstehen: Jeder gemeldete Schaden belastet in ti das Budget des Versicherungsnehmers durch steigende Prämien im Falle der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit und durch das im Regelfall relativ niedrige Einkommen bei Arbeitslosigkeit. Dies für sich genommen bedeutet lediglich, daß es sich finanziell nicht lohnt, den Risikofall vorsätzlich herbeizufuhren. Es bedeutet aber auch, daß es sich lohnt, den alten finanziellen Status wiederherzustellen. Je eher das gelingt, desto geringer sind die negativen Auswirkungen auf die neu festzusetzende Prämie der Arbeitslosenversicherung. Mit der Verbesserung der Budgetsituation in t2 - dem Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Arbeit - entsteht der Anreiz, die alte und günstigere Prämiensituation durch künftige Schadensfreiheit erneut herbeizufuhren. Die Versicherung hat noch eine weitere wichtige Variable, um letztlich die Schadenshäufigkeit zu beeinflussen: Rückzahlungszusagen. Bei diesen handelt es sich um die vertragliche Verpflichtung der Arbeitslosenversicherung, einen bestimmten Anteil der jährlichen Prämienleistung zu akkumulieren, zu verzinsen und am Ende der Vertragsdauer - das heißt im Regelfall spätestens mit dem altersbedingten Ausscheiden aus dem Erwerbsleben - die aufgelaufene Summe auszuzahlen, sofern der Versicherte nicht arbeitslos wurde.19 Die zurückgezahlte Summe verringert sich um etwaige während der Versicherungsdauer ausgezahlte Arbeitslosengelder. Für den einzelnen Versicherungsnehmer, der nach der Risikoeinstufung eine bestimmte Prämienzahlung zu leisten hat, bildet die Arbeitslosenversicherung verzinsliche Rücklagen, aus denen nach Vertragsende die Beitragsrückerstattungen geleistet werden beziehungsweise vor Vertragsende Zahlungen im Falle von Arbeitslosigkeit. Unter der Annahme, daß der Anteil der laufenden Rücklagen an der Prämie auch bei unterschiedlichen Risiken konstant ist, ergibt sich ein exponentieller Verlauf der Beitragsrückerstattungskurve, sofern der Arbeitnehmer nicht arbeitslos wird. Bei unterschiedlichen Risiken ergeben sich unterschiedliche Verläufe von Rücklagen und Beitragsrückerstattungen.

19 Die Prämie bleibt im Kern selbstverständlich der Preis für die Absicherung eines möglicherweise eintretenden Risikos. Die Erspamisbildung führt ceteris paribus zunächst zu einer höheren Prämie. Der Gedanke dabei ist jedoch, daß die von den Rückzahlungen ausgehenden Rückkopplungseffekte auf lange Sicht die Prämie unter das Niveau senken, das zuvor ohne diese Konstruktion bestand.

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung für Deutschland • 161

Schaubild 1: Der Zusammenhang zwischen Beitragsrückerstattung, Arbeitslosigkeit und Prämienzahlungen

BRE:

| WiBÄiiÄWIiäi M

ti t2 t3

U t5 t. tn+h

M

Beginn der Arbeitslosigkeit Zeitpunkt des Abbaus der Beitragsrückerstattung ohne Zinsen Beginn der Wiederbeschäftigung bei hoher Risikoprämie Zeitpunkt des Abbaus der Beitragsrückerstattung mit Zinsen Ende der Laufzeit der Zahlung von Arbeitslosengeld (Vertragsende bei Arbeitslosigkeit) Ende des Vertrags mit der Arbeitslosenversicherung im Regelfalle (hypothetischer) Schnittpunkt der BRE-Kurven "alt" und "neu" Änderungsrate der BRE-Kurve I (durchschnittliches Risiko) Änderungsrate der BRE-Kurve II (überdurchschnittliches Risiko)

Quelle: Eigene Darstellung.

Schaubild 1 gibt den Verlauf der Beitragsrückerstattungs-Kurve für ein durchschnittliches Risiko (BRE I) und für ein überdurchschnittliches Risiko (BRE II) wieder; auf die exponentielle Darstellung wurde verzichtet; man kann sich die Kurven der Beitragsrückerstattungen in einem halblogarithmischen Maßstab vorstellen. Der durchschnittliche Versicherte, der nicht arbeitslos wird, erhält am Ende der Versicherungszeit, in t n , den Betrag BREn von der Arbeitslosenversicherung rückerstattet. Alle vorherigen Werte auf der Beitragsrückerstattungskurve I sind für ihn lediglich fiktiver Natur: Sie werden erst konkret, wenn der Fall der Arbeitslosigkeit eintritt. Tritt er im Zeitpunkt ti ein, wird der bis dahin aufgelaufene Beitragsrückerstattungsanspruch mit den Zahlungen an Arbeitslosengeld verrechnet, woraus sich der Verlauf der Kurve BRE-AL ergibt, der die Zeitachse in t 4 schneiden würde. Danach würde die Zahlung von Arbeitslosengeld den Versicherten in die Verschuldung fuhren, wenn nicht sein

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Vertrag mit der Arbeitslosenversicherung eben dieses Risiko abdecken würde. Bei begrenzter Dauer dieser Zahlungen würde in der Anspruch auf (steuerfinanzierte) Sozialhilfe einsetzen. Nimmt der Arbeitslose jedoch im Zeitpunkt t3 eine neue Arbeit auf, so hat sich seine Risikoeinschätzung durch die Versicherung verschlechtert; er muß folglich höhere Prämien leisten und akkumuliert rascher als zuvor seine künftige Beitragsrückerstattung. Vom hypothetischen Zeitpunkt tn+h (der durchaus auch vor tn liegen könnte, das heißt h wäre negativ) an würde sein Beitragsrückerstattungsanspruch höher ausfallen, als wenn er nicht arbeitslos geworden wäre. Das Schaubild zeigt, daß die Arbeitslosenversicherung sowohl als Sparkasse' (bis l|) funktioniert, als auch als Versicherung (bis ts). Dabei bestehen Sparfunktion und Versicherungsfunktion nur zwischen to und t4 nebeneinander (wenn auch mit unterschiedlichen Gewichten), danach dominiert die Versicherungsfunktion. Die Autoregressivität, das heißt der Anreiz, nicht arbeitslos zu werden oder bei eingetretener Arbeitslosigkeit rasch einen neuen Arbeitsplatz zu finden, ist - wenn Arbeitslosigkeit eintritt - im gesamten Zeitbereich zwischen to und ts wirksam.

3. Das Trennsystem: Die Arbeitgeberseite Es ist dargelegt worden, wie ein System privater Arbeitslosenversicherung aufgrund von Rückkopplungen zwischen Arbeitnehmern und Versicherungen zu einer Verringerung oder Vermeidung der Arbeitslosigkeit und damit zu einer Verringerung der Kosten des Systems der Arbeitslosenversicherung beitragen könnte. Als ein Schwachpunkt mag gelten, daß ein derartiges System einseitig arbeitnehmerorientiert funktioniert. Denn auch die Arbeitgeber sind durchaus als eine eigenständige ,Ursache' von Arbeitslosigkeit anzusehen. Ist es möglich, die derzeit in Deutschland bestehende Beteiligung der Arbeitgeber an den Kosten der Arbeitslosenversicherung so zu gestalten, daß auch hier durch entsprechende Rückkopplungseffekte die Häufigkeit von Entlassungen sinkt?

a. Das Experience

rating

Grundgedanke des Trennsystems ist, daß auch die Arbeitgeber als Nachfrager nach Arbeit weiterhin eine Arbeitsmarktabgabe leisten sollten; da die reine Arbeitslosenversicherung im neuen System Angelegenheit der Arbeitnehmer ist, können die Erträge aus der Arbeitsmarktabgabe der Arbeitgeber zusätzlich eingesetzt werden, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Vorbild ist zunächst das System in den US-amerikanischen Bundesstaaten 20 , das hier am Beispiel des Bundesstaates Nebraska beschrieben werden soll: Jeder Unternehmer zahlt in Nebraska zwischen 0,05 vH und 5,4 vH des besteuerbaren Lohns - es gibt Beitragsbemessungsgrenzen - an einen Arbeitslosigkeits-Fonds; dieser Fonds zahlt das Arbeitslosengeld an die Arbeitslosen. Für jedes Unternehmen gibt es

20 Vgl. Anderson (1991); Anderson und Meyer (1998); Moomaw (1998); Card und Levine (1998); Glismann und Schräder (2001c, S. 4 ff.).

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bei dem Fonds ein Verrechnungskonto (Reserve Account), das die Beiträge jedes Unternehmens ständig mit den Auszahlungen saldiert, welche die von diesem Unternehmen Entlassenen beanspruchen. Die Höhe der ,Arbeitslosigkeitssteuer' jedes Unternehmens hängt von seiner Verrechnungsquote (Reserve Ratio) ab, die als Relation zwischen dem Saldo des Verrechnungskontos und der Lohn- und Gehaltssumme des Unternehmens definiert ist.21 In Nebraska wird jedes Unternehmen im Jahre 2003 mit dem Mindestsatz von 0,05 vH der besteuerbaren Lohn- und Gehaltssumme belastet, dessen Verrechnungsquote mindestens 9,5 vH beträgt. Den höchsten Steuersatz von 5,4 vH zahlt jedes Unternehmen, dessen Verrechnungsquote -10 vH beträgt oder noch niedriger ist. Zwischen diesen Extremen gibt es 12 Klassen von Verrechnungsquoten, denen linear Beitragssätze zugeordnet sind. Wenn das über Jahrzehnte etablierte System in den Vereinigten Staaten auch in Deutschland angewendet werden soll, dann hätten alle Arbeitgeber einen bestimmten Prozentsatz der Lohnsumme, der anfänglich dem bisherigen Arbeitgeberanteil am Arbeitslosenversicherungsbeitrag entsprechen könnte, als , Steuer' zu entrichten. Je nach der Häufigkeit von Entlassungen könnte dann ein Arbeitgeber seine individuelle , Lohnsummensteuer' auf Null reduzieren. b. Der Arbeitslosenversicherungsfonds Eine effiziente, anreizkompatible Arbeitslosenversicherung sollte es für jeden Marktteilnehmer attraktiv erscheinen lassen, das Seinige zu tun, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Das ist hier der Fall: Die Arbeitnehmer zahlen Prämien an eine Arbeitslosenversicherung, mit all den beschriebenen Rückkopplungen. Die Arbeitgeber zahlen eine Abgabe, die als Prozentsatz der Lohnsumme definiert ist und negativ mit ihrem Entlassungsverhalten korreliert. Diese Abgabe fließt in einen Arbeitslosenversicherungsfonds, der folgendermaßen beschaffen sein könnte: Zunächst zahlen alle Arbeitgeber den gleichen zu vereinbarenden vH-Satz an der Lohnsumme als .Arbeitslosigkeitsabgabe' an einen Fonds. Am Ende einer Abrechnungsperiode erhalten diejenigen Arbeitgeber Gutschriften auf die Arbeitslosigkeitsabgabe, die -gemessen etwa am gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt- unterdurchschnittlich zur Arbeitslosigkeit beigetragen haben. Im einfachsten Fall erhält ein Arbeitgeber die gesamte gezahlte Arbeitslosigkeitsabgabe zurück, wenn er nachweislich im Referenzzeitraum keine Entlassungen vorgenommen hat. Dies entspricht in Grundzügen dem amerikanischen Experience rating.22 Da, anders als in den Vereinigten Staaten, die Arbeitslosigkeitsabgabe nicht zur Finanzierung der Arbeitslosengelder benötigt wird 21 Der Nenner der Verrechnungsquote ist der Durchschnitt der besteuerbaren Löhne und Gehälter der vorherigen vier Jahre. Die Festlegung der Verrechnungsquote sowie der jeweiligen Zuordnung zu den Steuersätzen erfolgt für jedes Jahr im Dezember des vorangegangenen Jahres (DOL 2002). 22 Im Unterschied zum amerikanischen Experience rating sollte die Arbeitslosigkeitsabgabe nach oben begrenzt sein. In den Vereinigten Staaten zahlen Firmen, die überdurchschnittlich viele Entlassungen vornehmen - von Staat zu Staat unterschiedliche - Zuschläge auf die dortige Arbeitslosigkeitssteuer. Dies käme in manchen Fällen einer Strafsteuer für ohnehin in wirtschaftliche Bedrängnis geratene Firmen gleich.

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(dies ist Sache der anderen, oben beschriebenen Seite des Trennsystems), wird damit die Liquidität der Arbeitslosenversicherung nicht berührt. Doch welchem Zweck sollen die Einnahmen aus der Arbeitslosigkeitsabgabe dienen? Es liegt nahe, sie zur Sicherung des Systems privater Arbeitslosenversicherung zu verwenden und gegebenenfalls die Mittel für zusätzliche Anreize zum Abbau der Arbeitslosigkeit einzusetzen: - Einrichtung einer ,letzten Zuflucht' für jene Fälle, in denen aufgrund von Illiquidität einer Arbeitslosenversicherung Arbeitslosengelder ausfallen würden; - Wiederausschüttung der Einnahmen aus der Arbeitslosigkeitsabgabe in Form von Gutschriften für Arbeitgeber, die Arbeitslose einstellen. Als ein lender of last resort würde der Fonds für jene Notfalle in vertraglich vereinbarte Leistungen eintreten, die von einer in- oder ausländischen Arbeitslosenversicherung deshalb nicht mehr erfüllt werden können, weil sie zahlungsunfähig geworden ist. Es handelt sich dabei nicht um Zahlungen an die betroffene Arbeitslosenversicherung, sondern um Zahlungen an deren anspruchsberechtigte Versicherte.23 Sofern die zahlungsunfähige Arbeitslosenversicherung den Konkurs vermeiden kann, wird sie die vom Fonds gezahlten Arbeitslosengelder als Darlehen in ihre neue Eröffnungsbilanz einstellen müssen. Wenn sie ihn nicht vermeiden kann, ist die Arbeitslosigkeitsabgabe systemadäquat verwendet worden. Im letzteren Falle werden die so befriedigten Arbeitslosen, wenn sie eine neue Arbeit aufnehmen, eine neue Versicherung suchen. Komplizierter wird die Funktion des Fonds als eine letzte Zuflucht in jenen Notfallen, in denen die Rechtsordnung kein so eindeutiges Kriterium vorgibt, wie es die Insolvenz einer einzelnen Arbeitslosenversicherung wäre. Der größte anzunehmende Unfall des Systems privater Arbeitslosenversicherungen würde in der gleichzeitigen Insolvenz (fast) aller Anbieter von Arbeitslosenversicherungen bestehen. Wie die Geschichte zeigt - Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 ff., Weltkriege - sind große wirtschaftliche Katastrophen zwar selten, aber eben nicht auszuschließen. Eine Lösung dieses Problems bestünde darin, daß der Fonds, sobald seine Mittel zur Finanzierung mehrerer gleichzeitiger Insolvenzen nicht ausreichen, den ,Notstand' erklärt und damit seine Funktion als ,letzte Zuflucht' für diesen Fall außer Kraft setzt. In der gleichen Situation könnte übrigens auch das bestehende staatliche Arbeitslosenversicherungsmonopol die zusätzlichen finanziellen Belastungen nicht tragen; es wäre auf Zuschüsse aus dem öffentlichen Haushalt angewiesen. Die Rücklagenbildung zum Zwecke der Notfallvorsorge ist nicht die einzige Verwendungsart der Fondsmittel. Ihr dürfte Genüge getan sein, wenn die Einnahmen aus der Arbeitslosigkeitsabgabe etwa eines Jahres verzinslich angelegt würden. Der größte und wichtigste Teil der Ausgaben wird die Wiederausschüttung der Mittel als Prämie für die Einstellung von Arbeitslosen sein. Dies mag am einfachsten zu bewerkstelligen sein, wenn die jährlichen Einnahmen aus der Arbeitslosigkeitsabgabe in vollem Um-

23 Dies würde der Idee eines „Versichertenschutzfonds" entsprechen, der von Horsch (1998) vorgeschlagen wurde, wenn auch die Finanzierung durch Prämienleistungen der Versicherungsunternehmen an eine Art von .Konkursausfallversicherung' erinnert.

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fang 24 auf diejenigen Arbeitgeber verteilt werden, die Neueinstellungen vornehmen. Da das Ziel dieser Ausschüttungen wieder die Senkung der Arbeitslosigkeit ist, wären zweckmäßigerweise die Nettoeinstellungen eines Arbeitgebers das Maß für die Ausschüttung. Ein Arbeitgeber also, der zwar Neueinstellungen vornimmt, aber in gleicher Höhe Entlassungen, wird wegen der Entlassungen weiter den durchschnittlichen Satz der Arbeitslosigkeitsabgabe zahlen und keinen Anteil an der Ausschüttung für (Netto-) Neueinstellungen haben. Wie hoch die Gutschrift für jede (Netto-)Neueinstellung ausfallt, stellt sich erst heraus, wenn die entsprechenden Statistiken für das abgelaufene Kalender-(Rechnungs-) jähr vorliegen. Das bedeutet, daß ein Arbeitgeber, sofern er (Netto-)Neueinstellungen vornimmt, nur eine ungefähre Vorstellung darüber haben wird, wie hoch seine Gutschriften ausfallen werden. Zahlreiche Arbeitsmarkt- und Konjunkturexperten werden darum bemüht sein, hier für Prognoseschärfe zu sorgen. Es ist nicht auszuschließen, daß - vor allem in Zeiten von Rezessionen - die Gutschrift je (Netto-)Neueinstellung außerordentlich hoch sein wird. Dies würde für eine antizyklische Wirkung des Fonds sprechen. Hinzu kommt, daß die Gutschriften nicht nur für die Wiedereingliederung von gemeldeten Arbeitslosen gezahlt werden, sondern auch für die Einstellung von jenen, die bislang nicht zu den Erwerbspersonen zählten; eine große Gruppe davon sind die Berufsanfanger. Um die Mißbrauchsmöglichkeiten im System der Wiedereinstellungsprämien zu begrenzen, sollte an jede mit Gutschriften belohnte Neueinstellung die Bedingung geknüpft werden, den betreffenden Arbeitnehmer für eine Mindestzeit - zum Beispiel 2 Jahre - zu beschäftigen; andernfalls wäre die Gutschrift zurückzuzahlen. 25 Die Auswirkungen des Arbeitslosenversicherungsfonds werden gesamtwirtschaftlich und für die Arbeitnehmer vorteilhaft sein: Nicht nur werden aufgrund der Wiedereinstellungsgutschriften tendenziell die Arbeitslosenquote sinken und gleichzeitig Anreize für die Neugründung von Unternehmen gesetzt - schließlich erhält bei Neugründung der Arbeitgeber für jeden eingestellten Mitarbeiter (im ersten Jahr) die Gutschrift. Hinzu kommen die prämiensenkenden Auswirkungen des Fonds auf die Kosten der Arbeitslosenversicherungen: Die beschriebene ,Konkursausfallversicherung', die der Fonds bietet, senkt die Zinskosten der Versicherungsunternehmen für die Rücklagenbildung und schafft ein weiteres Potential für ein niedriges Prämienniveau.

24 Vorausgesetzt ist, daß die Rücklagenbildung für Notfälle abgeschlossen ist und keine weiteren Zuflüsse - von Zinserträgen abgesehen - in den Notfallfonds erfolgen. Vom Gründungsjahr an gerechnet, könnten etwa die Einnahmen des Jahres 1 voll in den Notfallfonds fließen und vom Jahre 2 an alle Einnahmen (ohne Zinseinnahmen) ausgeschüttet werden. Sofem es einmal zu Mittelabflüssen wegen eines Notfalls kommt, würden die laufenden Einnahmen aus der Arbeitslosigkeitsabgabe zunächst für die Wiederauffüllung des Notfallfonds und der Rest als Einstellungsgutschriften verwendet werden. 25 Einen Sonderfall stellt der öffentliche Dienst dar. Er ist auf der einen Seite einer der größten Arbeitgeber; auf der anderen Seite ist in den letzten Jahren, nicht ohne Grund, von der Politik selbst nach einem schlankeren Staat gerufen worden. Das könnte sich folgendermaßen in der Fondspolitik niederschlagen: Der öffentliche Dienst zahlt zwar die Arbeitslosigkeitsabgabe wie jeder andere Arbeitgeber auch, erhält aber keine Rückzahlungen entsprechend seinem Entlassungsverhalten. Vorstellbar wäre auch, daß der öffentliche Dienst für (Netto-)Neueinstellungen keine Gutschriften erhält.

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Angesichts der klar umrissenen Aufgaben des Fonds sollten die Möglichkeiten der politischen Einflußnahme institutionell auf ein Minimum reduziert werden. Worauf es bei der Verwaltung des Fonds ankommt, sind Seriosität und Kompetenz in Finanzfragen, insbesondere des Bank- und Versicherungswesens. Die notwendige Unabhängigkeit des Fonds und seine Festlegung auf das Ziel der Verminderung der Arbeitslosigkeit legen es nahe, das institutionelle Modell einer idealtypischen Zentralbank zu kopieren. Ein solches Modell erlaubte es, die Fondsmittel vor dem Zugriff von Regierungen und Parlamenten zu schützen.26 Denn die Wahrscheinlichkeit, daß ein abhängiger Fonds eine die Arbeitslosigkeit senkende Politik verfolgt, könnte zu gering sein. Abhängigkeit bedeutet, daß der Fonds ein Teil der Regierung beziehungsweise deren Erfüllungsgehilfe ist oder dem Einfluß der Tarifvertragsparteien ausgesetzt ist.

IV. Zum Regulierungsbedarf eines Systems privater Arbeitslosenversicherung Die Überlegungen zur institutionellen Gestaltung eines Trennsystems haben bereits deutlich gemacht, daß auch ein System privater Arbeitslosenversicherung nicht ohne feste Regeln und Regulierungen auskommt. Kern der Regulierungen sollte der Schutz der Vertragsfreiheit und des Wettbewerbs sein. Beide bedingen einander, und beide stellen letzten Endes sicher, daß das System privater Arbeitslosenversicherung kostenminimierend, das heißt effizient ist. Eine offene Frage bleibt hingegen, ob private Arbeitslosenversicherungen Zwangsversicherungen für die Arbeitnehmer sein solltenhierin ähnlich den deutschen Kfz-Haftpflichtversicherungen - und ob für die Versicherungen ein Kontrahierungszwang bestehen sollte. Im Grunde widersprechen Zwangsmitgliedschaft und Kontrahierungszwang dem Prinzip der Vertragsfreiheit; es müssen schon triftige Gründe für eine Einschränkung der Vertragsfreiheit in diesem Punkte sprechen.

1. Vertragsfreiheit In einem Wirtschaftssystem, das auf Vertragsfreiheit setzt und in dem Versicherungsverhältnisse Angelegenheit der privaten Versicherungsunternehmen und der Versicherten sind, gelten andere Spielregeln, als man sie bisher in der deutschen Sozialversicherung gewohnt ist. Angewandt auf den Bereich der Arbeitslosenversicherung konkretisiert sich Vertragsfreiheit folgendermaßen: — Die Versicherungsprämien sind nicht einkommensabhängig, sondern werden in ihrer Höhe vom vereinbarten Arbeitslosengeld und von der Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikofalls bestimmt; auch die Wahl des Versicherungsunternehmens wird für die Höhe der Gutschrift eine Rolle spielen. 26 Vgl. zu dem Modell einer idealtypischen Zentralbank, die personell instrumenteil, funktionell und finanziell unabhängig sein soll etwa Woll (1989, S. 283 ff.); Willms (1990, S. 552 ff.); Neumann (1991, S. 101 ff.); Fischer (1995a, b).

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Es gibt weder in der Höhe noch in der Dauer der Zahlungen von Arbeitslosengeld eine pauschale Gleichbehandlung aller Versicherten; vielmehr sind beide Parameter vertraglich zu regeln. — Es gibt keine Ausnahmen von der grundsätzlich versicherungsmathematischen Behandlung aller Versicherten: Alle Versicherten werden entsprechend ihrem individuellen Risiko eingestuft. — Die Vertragswährung ist frei wählbar, soweit es sich um konvertierbare Währung handelt; alternativ können die realen Versicherungsleistungen - nämlich die Prämien wie auch die Arbeitslosengelder - mit Indexklauseln festgeschrieben werden. - Die Wahl der Versicherung ist frei; dies gilt sowohl innerhalb eines Landes als auch innerhalb der Europäischen Union und grundsätzlich auch für jedes andere Sitzland der Versicherung außerhalb der Europäischen Union. Insgesamt bedeutet dies, daß die Arbeitnehmer eigenverantwortlich Art und Umfang der Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit bestimmen.

2. Das Problem der Zwangsmitgliedschaft und des Kontrahierungszwangs In der Literatur zur Organisation der Arbeitslosenversicherung wird durchweg die Zwangsmitgliedschaft mit entsprechenden Zwangsbeiträgen zur Finanzierung einer Absicherung gegen Arbeitslosigkeit beschrieben. Bemerkenswerterweise wird im Regelfall darauf verzichtet, den Zwang näher zu begründen. 27 Und wenn einmal eine Begründung gegeben wird, besteht diese in dem Hinweis auf Moral hazard- oder Adverse selectionProbleme, die sich ohne Zwangsmitgliedschaft ergeben oder einstellen würden (Berthold 1999; Giersch 1999). Als ursächlich für die Ausübung von Zwang wird in der Sozialpolitik vor allem das oben in anderem Zusammenhang diskutierte Moral hazard gehalten: Weil es Moral hazard gibt, müßten alle Arbeitnehmer in eine Arbeitslosenversicherung eintreten, denn sonst würden einige wenige die Gesellschaft insgesamt ausbeuten. Diese Ausbeutung fände deshalb statt, weil es das soziale Netz der Sozialhilfe gäbe und, möglicherweise, weil Arbeitslosigkeit für sich genommen der Gesellschaft - über die steuerfinanzierte Sozialhilfe (zu den Einzelheiten siehe zum Beispiel Boss 1999) hinaus - weiteren Schaden zufugen würde. Ganz offensichtlich ist das hier angeführte Moral hazard nicht identisch mit dem Versicherungs-Mora/ hazard (vgl. oben 11.4.): Jenes besagt, daß der Abschluß eines Versicherungsvertrags zu einem Anstieg der versicherten Schäden fuhrt, daß also ein Versicherungsnehmer die übrigen Versicherungsnehmer ,ausbeutet'. Es ist zu vermuten, daß diejenigen, die freiwillig keine Beiträge zu einer Arbeitslosenversicherung leisten würden, idealtypisch aus zwei Kohorten bestehen. Die eine Kohorte hat ein relativ hohes Grenzprodukt der Arbeit, oft auch Vermögen, ist leistungsbereit und schließt für sich selber ein Arbeitslosigkeitsrisiko aus; eine etwaige kurzfristige Sucharbeitslosigkeit stellt kein finanzielles Problem dar. Diese Gruppe zwangszuversichern würde bedeuten, sie mit einer Steuer zu versehen, um andere zu finanzieren. Die 27 Vgl. etwa Orzag und Snower (1997); Feldstein und Altman (1998); Berthold und Külp (1987); Burda (1997).

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andere Kohorte hat ein relativ niedriges Grenzprodukt, kaum Vermögen, eine geringere Leistungsbereitschaft und schließt ein Arbeitslosigkeitsrisiko für sich selber nicht aus. Sie wäre bereit, im Risikofalle Sozialhilfe zu beziehen, das heißt, sie wäre ebenfalls nicht bereit, freiwillig in die Arbeitslosenversicherung Beiträge zu zahlen. Ein weiteres kommt hinzu: Eine private Versicherung würde, wie oben beschrieben, aufgrund des Adverse se/ecfr'on-Problems sich über kurz oder lang gezwungen sehen, Risikoklassen für die Beitragszahler zu bilden. In diesen Klassen wären die Zwangsbeiträge für die beschriebene erste Gruppe außerordentlich niedrig - sofern die Selbsteinschätzungen richtig sind - und für die zweite Gruppe relativ hoch. In vH der jeweiligen Durchschnittseinkommen der Gruppen ausgedrückt, würden die Prämien der ersten Gruppe nahe Null liegen und in der zweiten Gruppe - vor allem bei mangelnder Mobilitätsbereitschaft und hohen Einkommenserwartungen - einen größeren Anteil des Einkommens ausmachen. Der Gedanke ist offenbar naheliegend, über Zwangsbeiträge die Beschäftigten aus der ersten Gruppe - wie auch diejenigen, die von sich aus freiwillig eine Arbeitslosenversicherung abschließen würden - zu verpflichten, einen Teil des Risikos für die zweite Gruppe zu übernehmen und damit die schlechten Risiken zu subventionieren. Das heißt: Eine Zwangsversicherung gegen die finanziellen Risiken der Arbeitslosigkeit würde dazu dienen, Einkommen von vielen Versicherten zu wenigen Versicherten (mit anderen strukturellen Merkmalen) umzuverteilen, ohne daß diese Umverteilung versicherungstechnisch geboten wäre. Es ist daher die Frage nach dem richtigen Assignment zu stellen, das heißt nach der richtigen Zuordnung von Politikvariablen zu bestimmten angestrebten Zielen. Es scheint unter Ökonomen gängige Auffassung zu sein, daß Verteilungsziele, die vom Verteilungsergebnis des Marktes abweichen, staatliche Korrekturen implizieren. Staatliche Verteilungsziele über private Institutionen erreichen zu wollen, kann jedoch außerordentlich kostspielig sein. Die Alimentierung derjenigen (der zweiten Gruppe), die keine freiwillige Arbeitslosenversicherung abschließen würden, die Moral hazard-Fä\\e sind und schlechte Risiken darstellen, ist eine Angelegenheit des Staates, der dieses Problem mit den ihm eigenen Mitteln lösen sollte, wie mit der Sozialhilfe.28 Hinzu kommt, daß die oben genannte Analogie mit der Kfz-Hafitpflichtversicherung nicht angemessen ist: Die möglichen Risiken in der Kfz-Hafitpflichtversicherung sind höher als bei der Arbeitslosenversicherung; auch gute Risiken wären oft bei der Beglei28 Die Sozialhilfe ist geeignet, die Zahl der freiwillig Versicherten in einer Arbeitslosenversicherung zu begrenzen. Statt aus diesem Grunde eine Zwangs-Arbeitslosenversicherung einzuführen, könnte es lohnen, über das System der Sozialhilfe erneut nachzudenken. Seit längerem wird wegen der negativen Leistungsanreize, die von der Sozialhilfe ausgehen, über das „Lohnabstandsgebot" diskutiert (Boss 2002). Angemessene „Lohnabstände" würden bedeuten, daß die Anreize, Arbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen und sich auf die Sozialhilfe zu verlassen, verringert würden. Es gibt zudem weitere Möglichkeiten, über eine sinkende Attraktivität der Sozialhilfe die Arbeit lohnender zu machen. In Dänemark etwa unterliegen Sozialhilfeempfänger dem ständigen Zugriff des Staates; verweigern sie die Teilnahme an einer „kommunalen Aktivierung", droht die Kürzung oder der Wegfall der Sozialhilfe (Schräder 1999). Im Vereinigten Königreich sind die „Zuschüsse für Arbeitssuchende" von vornherein auf dem Niveau der dortigen Sozialhilfe und können, bei „unkooperativem Verhalten" gegenüber der Arbeitsverwaltung, ausgesetzt werden (Glismann und Schräder 2001a, S. 6 f.).

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung filr Deutschland • 1 6 9

chung der möglichen Schäden überfordert. Die Zwangsmitgliedschaft der ,armen' Autofahrer ist - anders als bei einer Arbeitslosenversicherung - angebracht, weil im Bereich der Kfz-Haftpflichtversicherung die Versicherung der Schäden anders ist: Die Folgen fehlender Arbeitslosenversicherung treffen denjenigen, der keine Versicherung abschließt, bei der Kfz-Haftpflichtversicherung jedoch Dritte. Zudem gibt es im Vergleich zu einer privaten Arbeitslosenversicherung keine analoge Verteilung der guten und der schlechten Risiken auf die einzelnen Kohorten. Was die Verpflichtung der Arbeitslosenversicherungen zum Vertragsabschluß, den Kontrahierungszwang, betrifft, so mangelt es auch hier an triftigen Gründen, die Vertragsfreiheit aufzuheben. Ein Zwang wäre nur sinnvoll, wenn die Versicherungsprämie gesetzlich vorgeschrieben würde, denn andernfalls wären schlechte Risiken, bei kostendenkenden Prämien, versicherbar. Der Gesetzgeber muß sich daher auch in diesem Fall überlegen, ob er wirklich Einkommensumverteilung über die Versicherungsprämien vornehmen will. In einem freiheitlichen System wird die Gesamtheit der Versicherten dies nicht akzeptieren. Die Versicherungen, die aufgrund der Prämienfixierung zuerst in finanzielle Nöte kämen, würden kompensierende Subventionen vom Staat, der die Verantwortung für die Prämiengestaltung trüge, verlangen. Es ist von vornherein nicht zu sagen, wo die Regulierungsspirale enden würde. Letztlich ergäbe sich wohl wieder eine Zwangsversicherung für die Versicherten, mit Kontrahierungszwang für die Versicherungsanbieter, und damit ein System wie das bestehende, das „auf die Dauer das Übel verschlimmern [würde], zu dessen Abhilfe [es] geschaffen worden ist" (Hayek 1971, S. 382).

V.

Zusammenfassung und Einordnung

Die Analyse deutet daraufhin, daß eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit auf privater Basis nicht nur möglich ist, sondern einem staatlichen System der Arbeitslosenversicherung überlegen sein dürfte. Die Überlegenheit gründet sich auf die Etablierung eines Trennsystems, in dem sowohl die Arbeitnehmer über Arbeitslosenversicherungen als auch die Arbeitgeber über einen Arbeitslosenversicherungsfonds ein ökonomisch begründetes Interesse an der Vermeidung von Arbeitslosigkeit oder an der Senkung der Dauer der Arbeitslosigkeit haben. Auf der Arbeitnehmerseite gibt es Rückkopplungseffekte der Art, daß ein Versicherungsnehmer, der seine Beschäftigungschancen verbessert und ein hohes Maß an Flexibilität aufweist, nicht nur sein Arbeitslosigkeitsrisiko, vermindert, sondern auch von niedrigeren Prämien - aufgrund von günstigen Risikoeinschätzungen und von Beitragsrückerstattungen - profitiert. Bei bestehender Arbeitslosigkeit gehen von diesen Rückkopplungseffekten Anreize aus, die Arbeitslosigkeit so schnell wie möglich zu beenden. Zudem kann der Arbeitnehmer über die Wahl der Versicherungen und der Versicherungsleistungen Einfluß auf seine Prämienhöhe nehmen. Auf der Arbeitgeberseite beeinflußt zum einen ein variabler Satz bei der Arbeitslosigkeitsabgabe das Entlassungsverhalten des einzelnen Unternehmens: Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten senkt eine unterdurchschnittliche Zahl von Entlassungen die Steuerlast eines Unternehmens (Experience rating). Zum anderen geben Beschäftigungs-

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prämien den Arbeitgebern einen Anreiz, die Zahl der Beschäftigten per saldo zu erhöhen. Es wurde ebenfalls gezeigt, daß eine Zwangsversicherung gegen Arbeitslosigkeit ökonomisch nicht zu begründen ist. Dies entspricht der Vermutung, daß die Ausübung von Zwang in der Regel nicht zu einem Pareto-Optimum fuhren kann. Der Kontrahierungszwang für Versicherungsanbieter fuhrt ebenfalls in die Irre, weil er Preisregulierungen voraussetzt. Auch das gängige Argument vom Moral hazard ist kein überzeugender Grund für den Zwangscharakter einer Arbeitslosenversicherung. Naheliegender ist eine obligatorische Arbeitslosigkeitsabgabe auf der Arbeitgeberseite, die der Arbeitgeber allerdings in der Höhe beeinflussen könnte. Die Rolle des Staates ist im Trennsystem im Gegensatz zum gegenwärtigen System der deutschen Arbeitslosenversicherung stark reduziert: Die Aufgaben des Staates bestehen, wie in allen Bereichen der Volkswirtschaft, darin, die rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß ein wettbewerblich organisierter Markt entsteht und funktionstüchtig bleibt, hier eben für das Angebot privater Arbeitslosenversicherungen. In ähnlicher Weise hat er für den Arbeitslosenversicherungsfonds zu sorgen, ohne permanent Einfluß auf dessen Geschäftstätigkeit zu nehmen. Als ständiger Akteur tritt der Staat nur als Anbieter von Sozialhilfe auf, die den Arbeitslosen ohne Versicherungsschutz ein Existenzminimum sichert beziehungsweise nach Auslaufen der Versicherungsleistungen eine Mindestsicherung bereitstellt. Die Sozialhilfe selbst wäre allerdings vor einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme zu schützen; das Beispiel anderer Länder zeigt, wie das geschehen könnte. Sie ist schon im herrschenden System der sozialen Sicherung Ausgangspunkt für vielfaltige Formen des Moral hazard. So erfüllt das Trennsystem die Kriterien für eine effiziente Absicherung des Arbeitslosigkeitsrisikos: Es führt zur Einkommenssicherung für den Fall der Arbeitslosigkeit und sorgt gleichzeitig dafür, daß das Niveau der Arbeitslosigkeit auf einen möglichst niedrigen Stand gehalten wird. ,Möglichst niedriger Stand' bedeutet, daß es Bedingungen gibt, die Arbeitslosigkeit herbeiführen und von den beschriebenen Auswirkungen des Trennsystems nicht unmittelbar berührt werden. Zu diesen Bedingungen gehören unter anderem die Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt und auf anderen Märkten sowie das Steuer- und Abgabensystem. Da der Zugang zum Trennsystem wie auch der Austritt frei sind, da die Arbeitnehmer wie die Arbeitgeber in hohem Maße die vertraglichen Bedingungen wie auch die individuellen Kosten frei gestalten können, könnte das Trennsystem Pareto-optimal sein, weil jeder Teilnehmer am System versuchen kann, sein persönliches Nutzenmaximum zu realisieren. Allerdings gäbe es bei einem Wechsel vom bestehenden System der Arbeitslosenversicherung Verlierer, nämlich all jene, die vom herrschenden Zwangssystem profitiert haben. Diese sind vor allem in der Arbeitsverwaltung zu finden, in der Politik und in Interessenverbänden; zu nennen sind auch all jene, denen das bestehende System Renten zugespielt hat, indem es Mißbrauchsmöglichkeiten schuf. Müßten diese Verlierer nicht, einem Postulat von Hicks zufolge, für alle Umstellungsverluste kompensiert werden können? Dies wäre in vielen Fällen nicht erforderlich, etwa soweit es sich um Staatsdiener handelt und um Politiker, da diese dem Gemeinwohl verpflichtet sind; soweit es sich bei den Gewinnern aus dem herrschenden System um die Ergebnis-

Eine effiziente Arbeitslosenversicherung fiir Deutschland • 1 7 1

se einer mißbräuchlichen Ausnutzung handelt, wäre eine Kompensation sicher ebenfalls unangebracht.

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Eine effiziente Arbeitslosenversicherung filr Deutschland • 1 7 3

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Zusammenfassung Es wird untersucht, ob ein System privater Versicherungen gegen die finanziellen Risiken der Arbeitslosigkeit möglich ist und wie es beschaffen sein sollte. Die gängigen Argumente, die gegen die private Versicherbarkeit des Arbeitslosigkeitsrisikos sprechen, werden dargestellt, analysiert und zurückgewiesen. Alternativ zur bestehenden Arbeitslosenversicherung in Deutschland wird ein Trennsystem vorgeschlagen, das Arbeitnehmern und Arbeitgebern gleichermaßen Anreize zur Verminderung von Arbeitslosigkeit gibt. Für die Arbeitnehmer wird ein Modell zur Bestimmung des individuellen Risikos und der darauf basierenden individuellen Prämien bei alternativen Leistungen der Arbeitslosenversicherung entworfen. Für die Seite der Arbeitgeber wird vorgeschlagen, die Vorteile des amerikanischen Systems des Experience rating wahrzunehmen und unter Ausnutzung von Rückkopplungseffekten auszubauen. Schließlich wird auf den Regulierungsbedarf in diesem hypothetischen System privater Arbeitslosenversicherung eingegangen.

174 • Hans H. Glismann und Klaus Schrader Summary An Efficient Unemployment Insurance for Germany It is analysed whether a system of private unemployment insurance is feasible, and if so, what specific features it should have. According to the authors, the popular arguments against a private unemployment insurance, such as moral hazard and adverse selection, do not hold. The authors suggest a dual-system model of private unemployment insurance that includes incentives on the side of employees as well as on the side of employers to reduce unemployment. Each employee pays insurance premia according to his individual risk of becoming unemployed and according to his preference with respect to the individual level and duration of unemployment payments. On the employers' side, the US system of experience rating is elaborated in such a way as to increase, via autoregressive processes, the built-in tendencies to reduce unemployment. In addition, the regulation necessary to operate this dual system is analysed.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2003) Bd. 54

Norbert Berthold, Marita Brischke und Oliver Stettes

Betriebliche Bündnisse für Arbeit - Gratwanderung zwischen Tarifbruch und Tariftreue Inhalt I. Einleitung II. Betriebliche Bündnisse für Arbeit - Anpassung im strukturellen Wandel 1. Krisenbündnisse 2. Innovationsbündnis III. Wirtschaftspolitische Implikationen betrieblicher Bündnisse für Arbeit 1. Die Arbeitsmarktordnung in Deutschland: Möglichkeiten und Grenzen betrieblicher Bündnisse für Arbeit 2. Institutionelle Reformen für betriebliche Bündnisse für Arbeit IV. Schlußbemerkungen Literatur Zusammenfassung Summary: Social pacts at the workplace - a challenge to the system of collective bargaining in Germany?

I.

175 177 177 181 185 186 187 190 191 193 193

Einleitung

Die industriellen Beziehungen in Deutschland sind von der engen Verflechtung zwischen Tarifautonomie und Mitbestimmung gekennzeichnet (Kommission Mitbestimmung 1998, S. 7). Diesem institutionellen Arrangement wird nicht nur die geringe Konfliktintensität zwischen Kapital und Arbeit zugeschrieben, sondern auch die Stabilität der industriellen Beziehungen (Schmidt und Trinczek 1991). Angesichts einer persistent hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland ist dieses duale System in Mißkredit geraten, die Anpassungsfähigkeit von Unternehmen und Arbeitnehmern in einer Zeit zu beeinträchtigen, in welcher sich der Anpassungsdruck auf viele Betriebe und Belegschaften erhöht hat. Die Rahmenbedingungen im wirtschaftlichen Umfeld haben sich vieler Ortens in den letzten drei Jahrzehnten verändert. Die Märkte wachsen im Zuge der Globalisierung zusammen. Einerseits eröffnen sich dadurch neue Absatzmöglichkeiten, andererseits nimmt die Konkurrenz durch neue Anbieter zu. Kosten- und Standortwettbewerb werden forciert. Der intersektorale Strukturwandel reduziert die Beschäftigung in der Industrie sowohl absolut als auch relativ {Klodt et al. 1997). Die Arbeitsplätze im Produzierenden Gewerbe geraten dauerhaft unter Anpassungsdruck. Für bestimmte Beschäftigtengruppen, insbesondere Gering-

1 7 6 • Norbert Berthold, Marita Brischke und Oliver Stettes

qualifizierte, existieren unter den derzeitigen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt nur wenige Beschäftigungsalternativen, so daß das Interesse der Arbeitnehmer an dem Erhalt ihrer Beschäftigungsverhältnisse steigt. Im intrasektoralen Strukturwandel passen die Unternehmen ihre Organisationsform einem neuen Paradigma an.1 Differenzierte Kundenwünsche, Produkt- und Prozeßinnovationen sowie umfangreichere Qualifikationen und ein verändertes Selbstverständnis der Arbeitnehmer fuhren dazu, daß sich die relative Effizienz verschiedener Organisationsformen in vielen Industrien verschiebt. Hierarchisch und arbeitsteilig strukturierte Arbeitsprozesse, die im Zeitalter der Massenfertigung entwickelt wurden, sind den Anforderungen eines volatilen Umfelds nicht gewachsen. Eine erfolgreiche Ausrichtung an die veränderten Rahmenbedingungen erfordert statt dessen flexible Produktions- und Arbeitsmodelle. Zwischen den einzelnen Elementen innerhalb eines Organisationssystems existieren Komplementaritäten. Produktionsprozesse, Kommunikations- und Entscheidungswege, Arbeitsorganisation sowie Anreizsysteme müssen alle in konsistenter Weise modifiziert und auf die neuen Herausforderungen ausgerichtet werden. Vor diesem Hintergrund gefährdet das Festhalten an starren Tariflöhnen bestehende Arbeitsplätze mehr, als zu ihrer Rettung beizutragen. Der Differenzierungsbedarf bei der effizienten Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen und Entgeltstrukturen nimmt dramatisch zu, so daß es zunehmend schwieriger wird, auf überbetrieblicher Ebene einheitliche Regelungen festzulegen {Bickenbach und Soltwedel 1998, S. 495; Lindbeck und Snower 2001). Das System der industriellen Beziehungen ist deshalb spätestens seit Mitte der 80er Jahre von einem Dezentralisierungstrend erfaßt worden, bei dem die betriebliche gegenüber der tariflichen Regelungsebene an Bedeutung gewinnt (Trinczek 2002, S. 247). Die zunehmende Zahl betrieblicher Bündnisse für Arbeit (bBfA) ist Ausdruck für diese Entwicklung.2 BBfA zeichnen sich dadurch aus, daß sie eine betriebliche Abweichung von Tarifverträgen bei Löhnen und Arbeitszeiten mit Arbeitsplatzgarantien verknüpfen.3 Ihre wachsende Bedeutung wird zwar in der Literatur mittlerweile erkannt, eine Systematisierung auf theoretischer Grundlage ist bislang jedoch ausgeblieben. Aus den wenigen empirischen Untersuchungen4 kristallisieren sich zwei Bündnistypen heraus: 1. Krisenbündnisse sollen die Folgen einer eingetretenen Unternehmenskrise aufgrund von negativen Nachfrage- oder Technologieschocks abfedern. 2. Innovationsbündnisse richten die Arbeitsorganisation auf die Anforderungen eines dynamischen Umfeldes aus, in dem schnell wechselnde Produkt-, Markt- und Wettbewerbsbedingungen eine hohe Anpassungsflexibilität erfordern. Beiden Bündnistypen ist gemein, daß sie Beschäftigungszusagen gegen eine Verbesserung der innerbetrieblichen Anpassungsflexibilität tauschen, um einen Standort zu erhalten und die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu gewährleisten. BBfA im1 Bickenbach und Soltwedel (1998); Lindbeck und Snower (2000); Milgrom und Roberts (1995). 2 Die Bezeichnungen ftir derartige Bündnisse sind Legion, z. B. Vereinbarung zur Standortsicherung, Vereinbarung zur Beschäftigungssicherung, Beschäftigungspakt (Seifert 2000, S. 439). 3 DGFP (1998, S. 41); Seifert (2002, S. 65); Siebert (1996, S. 7); Zagelmeyer (2002, S. 187). 4 Siehe Mauer und Seifert (2001); Seifert (2002). Darüber hinaus finden sich ausgewählte Fallstudien in Ackermann und Kammüller (1999) sowie DGFP (1998).

Betriebliche Bündnisse für Arbeit • 1 7 7

plizieren daher eine Anwendung des CoaseFehler! Textmarke nicht definiert. Theorems bei einer Gefahrdung, Umverteilung und Generierung von Quasi-Renten. 5 Die verschiedenen ökonomischen Notwendigkeiten für ein Krisen- und für ein Innovationsbündnis schlagen sich in unterschiedlichen Vereinbarungen zwischen Belegschaft und Geschäftsführung nieder. Die Analyse gliedert sich in drei Teile. Abschnitt II analysiert Merkmale und Effizienzwirkungen von bBfA beiden Typs. In Abschnitt III werden aus den Ergebnissen der theoretischen Analyse wirtschaftpolitische Handlungsempfehlungen für die Zukunft der Arbeitsmarktordnung abgeleitet. Abschnitt IV faßt die wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammen.

II.

Betriebliche Bündnisse für Arbeit - Anpassung im strukturellen Wandel

1. Krisenbündnisse Krisenbündnisse werden in Unternehmen geschlossen, in denen die Arbeitsplätze durch einen negativen Technologie- oder Nachfrageschock dauerhaft unter Anpassungsdruck geraten. Das typische Reaktionsmuster in der Vergangenheit zielte in solchen Fällen darauf ab, bei einem permanenten Rückgang des Absatzes, einer sinkenden Kapazitätsauslastung und inflexiblen Löhnen die Arbeitskosten durch Entlassungen zu reduzieren. Der Abschluß eines bBfA impliziert ein neues Paradigma in der Personalpolitik (DGFP 1998, S. 51; Seifert 2002, S. 65). Mit der Beschäftigungsgarantie verzichten die Unternehmen auf Entlassungen. Das Management verfolgt im Einvernehmen mit den Mitarbeitern vorrangig Strategien, welche bereits auf mittel- und langfristige Zielsetzungen wie die Steigerung der Produktivität und eine nachhaltige Senkung der Arbeitskosten ausgerichtet sind. Die kurzfristige Reduzierung der Arbeitskosten durch eine Veränderung des Personalbestands rückt hingegen in den Hintergrund {Mauer und Seifert 2001, S. 493). Krisenbündnisse dienen der Absicherung gefährdeter Quasi-Renten, welche durch Investitionen in betriebsspezifisches Humankapital im Rahmen der betrieblichen Ausund Weiterbildung erzeugt worden sind. Die Spezifität der Qualifikation wandelt die Arbeitsbeziehung in eine beidseitige Abhängigkeitsbeziehung um (Williamson 1987, S. 70 und S. 211). 6 Zum Schutz ihrer Finanzierungsanteile streben beide Seiten eine verbindliche vertragliche Regelung zur Aufteilung der Quasi-Rente an (Becker 1993). Um opportunistisches Verhalten der anderen Vertragspartei zu verhindern, werden beide Seiten ex ante ein rigides Lohnarrangement gegenüber ex post-Verhandlungen mit einer offenen Aufteilungsrate vorziehen, solange die erwartete Einsparung an ex postTransaktionskosten die Wohlfahrtseinbußen durch ineffiziente Trennungen überkompensiert (Hashimoto und Yu 1980). Ineffiziente Trennungen erfolgen stets dann, wenn zwar die gesamte Quasi-Rente aus der Arbeitsbeziehung noch größer null ist, die Quasi5 6

Die Umverteilung von Quasi-Renten erzeugt einen negativen technologischen externen Effekt. Williamson spricht von der fundamentalen Transformation.

1 7 8 • Norbert Berthold, Marita Brischke und Oliver Stettes

Rente des Arbeitgebers oder des Arbeitnehmers jedoch einen negativen Wert annimmt (Berthold und Stettes 2001, S. 293). Abbildung: Betriebliche Bündnisse für Arbeit

Ausgangspunkt der Analyse ist der Punkt A auf der Arbeitsnachfragekurve (s. Abbildung). Der Lohnsatz Wo kann als Vorgabe eines Flächen- oder FirmentarifVertrages für die Vergütung eines Beschäftigten mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung interpretiert werden. Wir gehen davon aus, daß die Mitarbeiter transferierbares Humankapital in einem Umfang aufweisen, welches ihnen in einem anderen Unternehmen eine Vergütung in Höhe von WBasis verspricht.7 Die Differenz (W0 - WBasis) entspricht der Quasi-Rente, welche den Arbeitnehmern aus den betriebsspezifischen Humankapitalinvestitionen zufallt. Geht man zur Vereinfachung von zwei Perioden aus und abstrahiert von Zinskosten, entspricht (W0 -W Basis ) den Opportunitätskosten der 8 Ausbildung (^Basis D e r Lohnsatz WA entspricht der Ausbildungsvergütung und 7 8

Man kann Wß a s j s auch als Entgelt eines Ungelernten auffassen. Zur Vereinfachung gehen wir davon aus, daß die Arbeitnehmer die spezifische Qualifizierungsmaßnahme vollständig finanzieren und die gesamten Erträge erhalten.

Betriebliche Bündnisse für Arbeit • 1 7 9

liegt niedriger als WBasis- Kein spezifisch qualifizierter Facharbeiter wird in der PostAusbildungsperiode bei einer gegebenen Ausbildungsvergütung W A einen Lohnsatz unterhalb von Wo akzeptieren. Die Indifferenzkurve spezifisch ausgebildeter Mitarbeiter verläuft ab N 0 waagerecht. Der Lohn-/Beschäftigungs-Trade-off wird durch die betriebsspezifische Humankapitalinvestition gestört. Die tarifvertragliche Lohnstruktur W 0 für den Facharbeiter, W B a S i s für den Ungelernten oder einen allgemein ausgebildeten Arbeitnehmer und W A für den Auszubildenden - sichert den Anreiz der Beschäftigten ex ante, in spezifisches Humankapital zu investieren. Aus Sicht des Unternehmens maximiert die Belegschaftsgröße N 0 für den gegebenen Facharbeiterlohn W 0 den Unternehmensgewinn. Das Ertragsniveau beträgt n 0 , das Nutzenniveau der beschäftigten Facharbeiter UoDas ex ante als effizient angesehene rigide Lohnarrangement Wo kann sich jedoch ex post als ineffizient erweisen, wenn ein negativer Schock das Wertgrenzprodukt des spezifisch ausgebildeten Arbeitnehmers dauerhaft unter W 0 absenkt. verschiebt sich auf N ^ , und die Quasi-Rente des Arbeitgebers ist negativ. Die Geschäftsführung ist nicht mehr bereit, zu den tarifvertraglichen Konditionen die Beschäftigungsmenge No aufrecht zu erhalten und wird (A^-N,) Arbeitnehmer entlassen. Die Auflösung der Arbeitsverhältnisse ist jedoch aus volkswirtschaftlicher Sicht ineffizient, da die QuasiRente für jeden Mitarbeiter aus volkwirtschaftlicher Perspektive weiterhin positiv ist; (lVt - W B a s h ) ist größer null. Eine Anpassung des Vergütungsniveaus auf Wi könnte jedoch das Interesse des Arbeitgebers an der Aufrechterhaltung aller Arbeitsplätze bewahren. Die Arbeitnehmer tragen dann die gesamte Anpassungslast des negativen Schocks. Sie werden die Maßnahmen, welche ihnen die gesamte Anpassungslast auferlegen, als opportunistisches Verhalten der Geschäftsleitung interpretieren. Gelänge es dem Unternehmen, die Mitarbeiter zum Lohnverzicht in Höhe von (w0 -fV}) zu bewegen, ohne daß ein negativer Schock eingetreten ist, könnte die Geschäftsleitung den Gewinn um die eingesparten Lohnkosten ( ^ 0 - ^ 1 ) ^ 0 erhöhen. Die Beschäftigten beharren deshalb auf der Einhaltung des vereinbarten Lohnes W 0 und nehmen die Entlassungen in Kauf. Ihr Nutzenniveau liegt im Punkt B höher als im Punkt E. Der Blick auf die Abbildung verrät, daß die Lohn-/Beschäftigungskombination W 0 , Ni im Punkt B nicht Pareto-effizient ist. Die Indifferenzkurve Ui und die Iso-Profitlinie Iii schneiden sich, so daß sich innerhalb der Linse zwischen beiden Kurven jene Lohn/Beschäfitigungskombinationen befinden, welche gegenüber Punkt B die Nutzenposition einer Betriebspartei verbessern, ohne die andere schlechter zu stellen. Vor dem Hintergrund betriebsspezifischer Humankapitalinvestitionen verläuft die Kontraktkurve oberhalb der Pareto-optimalen Beschäftigungsmenge N 0 zwischen W 2 und W 3 . Arbeitnehmer und Unternehmensleitung können sich im Rahmen eines bBfA auf eine direkte Absenkung des Entgeltniveaus auf WbßfA verständigen. In der Realität erfolgen die Lohnanpassungen durch Abschmelzung übertariflicher Leistungen, Aussetzen von Tariflohnerhöhungen, Einstufung in niedrigere Lohn- und Gehaltsgruppen, Verzicht auf Überstundenzuschläge sowie Abstriche bei Sonderzahlungen (DGFP 1998; Mauer und Seifert 2001, S. 494). Die Arbeitskosten werden unmittelbar gesenkt, und die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebes wird wiederhergestellt. Beide Seiten profitieren vom

1 8 0 • Norbert Berthold, Marita Brischke und Oliver Stettes

bBfA, denn im Punkt C liegen sowohl Gewinn- als auch Nutzenniveau höher als im Punkt B. In vielen Fällen ziehen Geschäftsführung und Beschäftigte eine indirekte Reduzierung der Arbeitskosten durch eine Modifizierung der Arbeitszeit vor. Für Krisenbündnisse steht die flexible und kostenreduzierende betriebliche Umverteilung eines rückläufigen oder stagnierenden Arbeitsvolumens auf eine konstante Beschäftigtenzahl im Vordergrund. Die Vereinbarungen beinhalten deshalb häufig arbeitszeitverkürzende Maßnahmen. Dazu zählen die Reduzierung der Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich, Kurzarbeit, der Abbau von Überstunden, die Ausweitung oder Einrichtung von Teilzeitstellen sowie die Altersteilzeit (Mauer und Seifert 2001, S. 495). Unternehmensleitung und Mitarbeiter können ferner auch durch unbezahlte Überstunden und Streichung von Arbeitszeitguthaben das Entgelt faktisch vermindern, ohne das verfügbare Gesamteinkommen des Beschäftigten zu berühren. Eine Belegschaft ist jedoch nicht ohne weiteres bereit, Gehaltskürzungen oder Mehrarbeit ohne Gegenleistung hinzunehmen. Sie wird aufgrund der Informationsasymmetrie bei einer ex post-Änderung der ex ante vereinbarten Aufteilung der Quasi-Rente nur bedingt bereit sein, die faktische Lohnreduzierung zu akzeptieren (Berthold und Stettes 2001, S. 293). Die Gefahr opportunistischen Verhaltens der Geschäftsleitung, durch Vortäuschen einer schlechten Ertragslage lediglich eine Umverteilung der Quasi-Rente herbeizuführen, erfordert daher eine glaubwürdige Gegenleistung für die Belegschaft. Eine Beschäftigungsgarantie im Rahmen einer Bündnisvereinbarung impliziert eine solche glaubwürdige Selbstbindung des Arbeitgebers. Die Geschäftsleitung beraubt sich durch die explizite Festsetzung der Beschäftigungsmenge auf No der Möglichkeit, bei einem Lohnsatz WbßfA durch Entlassungen bis N2 einen zusätzlichen Gewinn in Höhe von CDE zu erzielen. Die Beschäftigungsgarantien werden in der Regel für eine Dauer von zwei Jahren und länger gewährt, in manchen bBfA sogar unbefristet {Mauer und Seifert 2001, S. 496). Sie umfassen nicht nur den Ausschluß von Kündigungen, sondern auch die Übernahme von Auszubildenden, die Garantie von Produktlinien oder den Verzicht auf Outsourcing. Die Ankündigung der Geschäftsleitung, ein negativer Schock verlange eine Anpassung der Löhne oder Arbeitszeiten, ist durch die Aufteilung der Anpassungslasten im Punkt C für die Belegschaft glaubhafter. Wenn auch die Mitarbeiter das vollständige Ausmaß des Schocks nicht verifizieren können, schließt die Konzession der Geschäftsleitung aus, daß sie ihren Spielraum für opportunistisches Verhalten auszuschöpfen versucht. Zudem schränkt der Unternehmer durch die Beschäftigungszusage seine Handlungsfreiheit in der Personalpolitik ein. Kündigt er Neueinstellungen an, werden die Beschäftigten zunächst auf einer Rückkehr zum alten Lohnniveau Wo bestehen und unter Umständen eine nachträgliche Kompensation für die Einkommenseinbuße während der Laufzeit des bBfA fordern. BBfA sind aus Sicht des Unternehmens auch ein Mittel, um hohe Kündigungsabfindungen zu vermeiden {Mauer und Seifert 2001, S. 494; Rehder 2002, S. 94). Die Kriterien der Sozialauswahl im Kündigungsschutz können in einem Betrieb die Belegschaftsstruktur verschlechtern. Das Unternehmen ist gezwungen, jene Arbeitskräfte zu entlassen, auf welche es zur Bewältigung des negativen Anpassungsschocks am meisten an-

Betriebliche Bündnisse für Arbeit • 1 8 1

gewiesen ist. Die Einfuhrung einer neuen Technologie beeinflußt das Wertgrenzprodukt der Beschäftigten in einem unterschiedlichen Ausmaß. Die Quasi-Renten von älteren Mitarbeitern erfahren eine stärkere Entwertung als die Quasi-Renten ihrer jüngeren Kollegen. Selbst wenn beide Mitarbeitergruppen formal die gleiche berufliche Ausbildung absolviert haben, stimmt das Anforderungsprofil für die Nutzung neuer Technologien nur selten mit dem Qualifikationsprofil älterer Beschäftigter überein. Die Verwertbarkeit der Kenntnisse und Fähigkeiten aus einer beruflichen Ausbildung nimmt im Zuge des technischen Fortschrittes ab ( P f e i f f e r 1997, S. 181; Violante 2002, S. 301). Die Arbeitnehmer können zwar durch die tägliche Arbeit ihr Anwendungs- und Erfahrungswissen aktualisieren. Mit steigendem Alter nimmt jedoch der Anreiz ab, in neues Humankapital zu investieren. Ferner sind die durch Leaming-by-doing oder Trainingon-the-job erworbenen Qualifikationen an die bisher genutzten Technologien gebunden (Violante 2002, S. 308).9 Die Kenntnisse und Fähigkeiten der jüngeren Kollegen entsprechen daher eher dem aktuellen Stand des technologischen Wissens (Mincer 1989, S. 6). Da sie zudem auch eine höhere Bereitschaft und Fähigkeit aufweisen, ihre Qualifikationsdefizite durch Fortbildungsmaßnahmen auszugleichen, werden sie in einem geringeren Ausmaß von den Folgen des qualifikationsentwertenden Strukturwandels betroffen sein. Die Geschäftsleitung ist vor diesem Hintergrund bestrebt, für ältere Mitarbeiter mit Änderungskündigungen das Vergütungsniveau an die dauerhaft verminderte Wertschöpfung anzugleichen. Die Konzessionsbereitschaft der älteren Generation hängt jedoch von ihrem individuellen Arbeitsplatzrisiko ab. Die Entlassungswahrscheinlichkeit sinkt aufgrund der Sozialauswahlkriterien mit zunehmender Dauer der Betriebszugehörigkeit, steigendem Alter, Familienstand und Höhe der Unterhaltsverpflichtungen. Der effektive Kündigungsschutz ist für ältere Arbeitnehmer deshalb rigider als für die jüngeren Kollegen, und die zu erwartenden Abfindungszahlungen bei einer Entlassung sind höher. Das Unternehmen kann in einer Krisensituation durch prohibitiv hohe Abfindungsansprüche seine Liquiditätsgrenzen erreichen (DGFP 1998, S. 51; Seifert 2002, S. 78). Angesichts der derzeitigen Rechtsprechung besteht die Gefahr, daß ein Unternehmen gezwungen ist, die Beschäftigungsverhältnisse für ältere Arbeitnehmer aufrechtzuerhalten und jüngere Mitarbeiter zu entlassen, um die Arbeitskosten zu senken. Die nachhaltige Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens gerät damit in Gefahr. Ein bBfA kann den Generationenkonflikt innerhalb der Belegschaft entschärfen und damit den betrieblichen Frieden gewährleisten. Die Aufteilung der Anpassungslasten auf alle Beteiligten mildert die negativen Folgen des besitzstandswahrenden Kündigungsschutzes für ältere Beschäftigte ab und verhindert ineffiziente Trennungen bei jüngeren Mitarbeitern.

2.

Innovationsbündnis

Differenzierte Kundenwünsche, Produkt- und Prozeßinnovationen stellen neue und wechselnde Herausforderungen an die Unternehmen, für die sie sich durch Abschluß 9

In diesem Fall spricht man von Vintage-Spezifität.

1 8 2 • Norbert Berthold, Marita Brischke und Oliver Stettes

eines Innovationsbündnisses wappnen. Mit dem bBfA verfolgen Geschäftsleitung und Belegschaft gemeinsam das Ziel, ohne Vorliegen einer betrieblichen Notlage die Wettbewerbsposition nachhaltig zu verbessern und dynamische Innovationsgewinne zu generieren. Die Verarbeitung eines einmaligen Schocks ist zweitrangig. Vielmehr soll das innerbetriebliche Innovationspotential gestärkt werden, um flexible und schnelle Anpassungen an permanent wechselnde Marktbedingungen zu ermöglichen. Eine hohe Anpassungsfähigkeit ist der entscheidende Wettbewerbsvorteil für ein Unternehmen. In einem derartigen Umfeld mit kurzen Produktlebenszyklen schaffen die Innovationen dynamische Quasi-Renten {Berthold und Stettes 2001, S. 297). Dabei handelt es sich um Kooperationsrenten, welche ex post in einem anderen Umfang anfallen können, als die Betriebsparteien ex ante erwarten. Die Innovationskapazität eines Betriebes beruht auf der Initiative und Kreativität der Mitarbeiter. Die Beschäftigten müssen bereit und fähig sein, sich aktiv an der Entwicklung und Einführung neuer Produkte und Produktionsverfahren zu beteiligen und sich selbst schöpferisch in den Innovationsprozeß einzubringen. Voraussetzung hierfür ist die enge und kooperative Zusammenarbeit der Mitarbeiter aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen. Arbeitnehmer können jedoch nur zu Prozeß- und Produktinnovationen beitragen sowie Probleme lösen oder vermeiden helfen, wenn ihnen ausreichend Freiraum für eigenverantwortliches Handeln eingeräumt wird. Die Geschäftsleitung ist gezwungen, Kompetenzen und Verantwortung an die Mitarbeiter zu delegieren. Hierarchien und arbeitsteilig organisierte Wertschöpfungsketten werden aufgebrochen, um Entscheidungswege und -zeiten zu verkürzen (Berthold und Stettes 2001, S. 296). Die Veränderung der Arbeitsorganisation versetzt die Mitarbeiter in die Lage, ihre Kreativität in den betrieblichen Innovationsprozeß einzubringen (Bickenbach und Soltwedel 1998, S. 499). Die Umstrukturierung der Arbeitsorganisation im Rahmen eines Innovationsbündnisses umfaßt nicht nur die Dezentralisierung und Delegation von Entscheidungskompetenzen, sondern auch die Erweiterung der Aufgabenbereiche einzelner Arbeitnehmer durch Job-enlargement und Job-enrichment, die Implementierung von (teil-)autonomen Arbeitsgruppen, eine intensivere horizontale Kommunikation und Koordination zwischen einzelnen Mitarbeitern sowie permanente Qualifizierungsmaßnahmen.10 Die Einrichtung von Arbeitszeitkonten, die Einführung von Wochenend- und Teilzeitarbeit flexibilisieren Arbeits- und Betriebsnutzungszeiten {Seifert 2 0 0 2 , S. 7 2 ; Rehder 2 0 0 2 , S. 9 8 ) . Diese Maßnahmen tragen nicht nur den Anforderungen eines dynamischen Umfeldes Rechnung, sondern auch den Präferenzen der Beschäftigten nach individueller Arbeitszeitgestaltung. Betrachten wir wieder den Punkt A in der Abbildung. Lediglich durch Abschluß eines bBfA verharrt die Arbeitsnachfragekurve auf Ndo. Verzichtet die Geschäftsleitung hingegen auf die Reorganisation der Arbeitsprozesse, sinkt die Arbeitsnachfrage auf N^, weil die Wettbewerbsfähigkeit auf volatilen Absatzmärkten gemindert wird. Der Verzicht auf ein Innovationsbündnis ist suboptimal, denn beim Fixlohn Wo wird die Beschäftigung auf Ni reduziert, und der Gewinn nimmt von I l o auf ü i ab. Für die Geschäftsführung existiert das Dilemma, daß eine Veränderung der Arbeitsorganisation und die Delegation der Entscheidungskompetenzen die Anreizproblematik 10 Bellmann et. al. (1996, S. 78); Mauer und Seifert (2001, S. 495); Rehder (2002, S. 98).

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verschärft. Mit der Erweiterung der Handlungsspielräume und Kompetenzen wächst die Gefahr, daß sich Beschäftigte opportunistisch verhalten können. Die Reorganisation der innerbetrieblichen Koordinations- und Entscheidungsstrukturen erfordert daher eine komplementäre Modifikation der Anreizsysteme. Bei einer Reorganisation ohne Anpassung des Vergütungssystems kann der Gewinn geringer ausfallen als FI], obwohl wir uns auf der alten Arbeitsnachfragekurve N^j befinden. Grund hierfür ist, daß in dem entstehenden Effizienzlohnumfeld die Entlassungsdrohung bei opportunistischem Verhalten des Mitarbeiters aufgrund sinkender Kontrolleffektivität und ansteigender Informationsasymmetrien unglaubwürdiger wird und mit der Abflachung der Hierarchien positive Leistungsanreize via Karriereleitern verloren gehen (Berthold und Stettes 2001, S. 303). Der optimale fixe Effizienzlohn befindet sich unter Umständen in einem Bereich der Arbeitsnachfrage N ^ (Punkt F), welcher aufgrund einer niedrigen Beschäftigungsmenge gegenüber dem Punkt B eine Gewinneinbuße impliziert. Die Geschäftsführung muß Vergütungsmodelle implementieren, welche die Mitarbeiter dazu anhalten, ihr Handeln auf den Erfolg des Unternehmens auszurichten, Informationen und Wissen mit ihren Kollegen oder dem Management zu teilen sowie ihre Qualifizierungsdefizite selbständig zu beheben. Selbst für den Fall, daß der Gewinn bei einer Umstrukturierung im Vergleich zum Gewinn in Punkt B ansteigt, ist nicht gewährleistet, ob das Management sein Vorhaben in einem Alleingang auch umsetzen kann. Die Anpassung der Arbeitsorganisation hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Mitarbeiter die Maßnahmen der Geschäftsleitung nicht sabotieren. Ein einseitiges Vorhaben durch die Geschäftsleitung wird stets am Widerstand der Belegschaft scheitern. Durch den Abbau von Hierarchien gehen monetäre sowie nicht-monetäre Privilegien verloren, und die für einzelne Tätigkeiten erforderlichen spezifischen Kenntnisse werden zumindest teilweise entwertet. Der Arbeitgeber hat daher einen starken Anreiz, die Kooperations- und Leistungsbereitschaft der Belegschaft bei der Umstrukturierung durch eine Kompensation für die eingebüßten Quasi-Renten zu gewinnen. Die Kriterien für eine adäquate anreizkompatible Entlohnung können bei komplexen und interdependenten Aufgaben häufig jedoch weder eindeutig bestimmt noch explizit in einem Vertrag festgeschrieben werden. Implizite Vereinbarungen zwischen Geschäftsleitung und Belegschaft ergänzen deshalb die schriftlichen Verträge (Bickenbach und Soltwedel 1998, S. 506). Die effiziente Steuerung des Mitarbeiterverhaltens über implizite Vereinbarungen ist nur möglich, wenn ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen im Betrieb vorherrscht {Appelbaum et al. 2000, S. 111; Bickenbach und Soltwedel 1998, S. 507; Freeman und Kleiner 2000, S. 221 f.). Vertrauen bildet die Basis für innovatives Verhalten (Nooteboom 2000, S. 107). Die Delegation von Entscheidungskompetenzen an den Mitarbeiter signalisiert das Vertrauen der Geschäftsleitung in dessen Kooperationsbereitschaft. Für den Beschäftigten ist dieser Vertrauensvorschuß ein Signal dafür, daß er nach Erzeugung der Kooperationsrente den in Aussicht gestellten Anteil erhält. Eine Anpassung des Vergütungssystems stabilisiert die reziproken Erwartungen von Arbeitnehmern und Arbeitgeber hinsichtlich der Kooperationsbereitschaft des Vertragspartners. Die herkömmlichen tätigkeitsbezogenen Entgeltmodelle werden durch qualifikations- und flexibilitätsfördernde Entlohnungskomponenten ersetzt oder ergänzt (Bi-

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ckenbach und Soltwedel 1998, S. 505). Der fixe Grundlohn orientiert sich weniger an einer Tätigkeitsbeschreibung, sondern vielmehr an der Qualifikation des Mitarbeiters. Angesichts der Interdependenz der Tätigkeiten, von Teamarbeit und Kooperation können die individuellen Beiträge zum Erfolg eines Unternehmens häufig nicht exakt quantifiziert werden. Eine kollektive Erfolgsbeteiligung erweist sich vor diesem Hintergrund gegenüber einem individuellen Leistungslohn als überlegen (FitzRoy und Kraft 1995, S. 150; MacLeod 1995, S. 10; Möller 2000, S. 567). In Form einer Gewinnbeteiligung stärkt sie das Interesse der Belegschaft an der Ertragslage des Unternehmens und trägt zu einer Interessenharmonisierung sowohl unter den Mitarbeitern als auch mit der Geschäftsleitung bei. Sie kann zu erheblichen Transaktionskosteneinsparungen fuhren, weil sie bei nicht antizipierten Schocks die bei Fixlöhnen erforderlichen Nachverhandlungen umgeht. Die Gewinnbeteiligung besteht aus einem fixen Basislohn in Höhe von WBasis und einen Beteiligungsparameter X. Die Lohnformel in Abhängigkeit der Beschäftigungsmenge lautet: W=W B a s i s +l{^ Die Lohnkurve LKQ spiegelt die Lohn/Beschäfitigungskombinationen für die gegebenen Bedingungen bei den Technologien und Produktmarktbedingungen wider. Während WBasis der Alternativentlohnung in anderen Unternehmen entspricht, entschädigt der Beteiligungsparameter X die Mitarbeiter für ihre Kooperationsbereitschaft und die verlorengegangenen Quasi-Renten aus betriebsspezifischen Humankapitalinvestitionen. Bei einer gegebenen Belegschaftsgröße No weist der Gesamtlohn eine Höhe von Wo auf. Die Kongruenz der Interessen bleibt gewahrt und ermöglicht die erfolgreiche Kooperation zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern sowie innerhalb der Belegschaft. Die Partizipation am unternehmerischen Erfolg ist die Grundlage für positive Motivations- und Produktivitätseffekte.12 Eine Erfolgsbeteiligung entschärft Rentenkonflikte und internalisiert positive externe Effekte, welche die Mitarbeiter aufeinander ausüben {Berthold und Stettes 2001, S. 295). Der Widerstand gegen innerbetriebliche Anpassungsmaßnahmen in einem volatilen Umfeld sinkt, wenn zur Disposition stehende Quasi-Renten auf Seiten der Arbeitnehmer durch eine Gewinnbeteiligung kompensiert werden. Für ihre Bereitschaft zum Abschluß eines bBfA erwarten die Mitarbeiter ähnlich wie bei einem Krisenbündnis eine glaubwürdige Gegenleistung. Solange die Mitarbeiter opportunistisches Verhalten der Geschäftsleitung befürchten müssen, daß eine Erschließung von Effizienzpotentialen zu Entlassungen fuhrt und der Einsatz ihrer Kreativität die eigenen Arbeitsplätze gefährdet, werden sie nur eine geringe Anpassungsbereitschaft aufweisen (Gerlach et al. 2001, S. 150). Ein Innovationsbündnis beinhaltet ebenfalls eine Beschäftigungsgarantie durch den Arbeitgeber. Im Unterschied zum Krisenbündnis ist sie jedoch implizit in der Gewinnbeteiligung enthalten. Die Auszahlung einer variablen, erfolgsabhängigen Entlohnungskomponente erhöht die Arbeitsplatzsicherheit in einem unsicheren Umfeld mit temporären Nachfrageschwankungen, da sich die Arbeitskosten flexibel der Ertragslage anpassen. Grundsätzlich hat das Management

11 R kennzeichnet den Erlös des Unternehmens und %

dementsprechend den Durchschnittserlös.

12 Freeman und Kleiner (2000); Möller (2000, S. 575 ff.); OECD (1995, S. 157 ff.).

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bei einer Gewinnbeteiligung den Anreiz, die Beschäftigungsmenge auszudehnen, bis der Grenzerlös der Arbeit dem Basislohn entspricht. Die Mitarbeiter votieren jedoch nur dann für den Beteiligungskontrakt, wenn die Neueinstellungen nicht mit einer Absenkung der Gesamtentlohnung unter Wo verbunden sind. Bei der Belegschaftsgröße No übersteigt der Grenzerlös der Arbeit Wo die Grenzkosten der Arbeit W Basis . Es entsteht eine Überschußnachfrage nach Arbeitskräften, welche nicht durch Neueinstellungen befriedigt werden kann. Sinkt nun aufgrund eines negativen Schocks die Arbeitsnachfragekurve auf N*1,, verschiebt sich auch die Lohnkurve von LKo auf LKi, denn der durchschnittliche Erlös pro Mitarbeiter nimmt ab. Solange W B a s i s kleiner ist als der Grenzerlös der Arbeit - hier Wi - , bleibt die gewinnmaximierende Beschäftigungsmenge konstant.

III. Wirtschaftspolitische Implikationen betrieblicher Bündnisse für Arbeit BBfA bewahren die Beschäftigungsverhältnisse in Unternehmen, deren QuasiRenten infolge permanenter negativer Schocks unter Anpassungsdruck geraten sind. Die Anpassung des Lohnsatzes vermindert das Risiko ineffizienter Trennungen ex post, und eine explizite Beschäftigungszusage fordert die Anpassungsbereitschaft der Belegschaft. Als Innovationsbündnis erhöhen sie die Anpassungsflexibilität und die Effizienz der Arbeitsbeziehung, indem die Interessen zwischen Arbeitnehmern und Geschäftsführung in einem volatilen betrieblichen Umfeld auf ein gemeinsam formuliertes Ziel ausgerichtet werden. Im Gegensatz zu den expliziten Beschäftigungsgarantien in Krisenbündnissen erhöht in Innovationsbündnissen eine Gewinnbeteiligung implizit die Arbeitsplatzsicherheit, da sich die Löhne flexibel der Ertragslage anpassen und exogene Schocks automatisch verarbeitet werden können. Die differenzierten Anforderungen von bBfA werfen die Frage auf, ob die Institution FlächentarifVertrag den notwendigen Spielraum für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Bewältigung der Folgen von Globalisierung, technischem Fortschritt und Strukturwandel eröffnet. Der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit" führt zu undifferenzierten Tarifregelungen und gefährdet vieler Ortens Arbeitsplätze. Die Möglichkeiten, unter dem Dach des Flächentarifvertrages die Arbeitskosten insbesondere durch Lohnkürzungen zu senken, sind relativ eingeschränkt. Trotz aller Hinweise der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände auf Öffnungs- oder Härtefallklauseln können die Arbeitskosten nicht hinreichend flexibel an die neuen Anforderungen angepaßt werden. Die Regelungskompetenz liegt weiterhin meist bei den Tarifvertragsparteien, nicht den Betriebspartnern (Berthold und Stettes 2001, S. 310). Gewerkschaften und Verbände verfügen aber nicht über die notwendigen Informationen bezüglich der Geschäftslage und des Ausmaßes der erforderlichen Arbeitskostenreduktion für jeden einzelnen Betrieb. Zudem verliert durch die Reorganisation der Produktions- und Arbeitsprozesse der traditionelle Arbeitsvertrag mit starren Entgelt- und Arbeitszeitregelungen, welche sich an den Funktionen und Tätigkeiten auf spezifischen Arbeitsplätzen orientieren, in vielen Betrieben zunehmend seine Bedeutung.

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1. Die Arbeitsmarktordnung in Deutschland: Möglichkeiten und Grenzen betrieblicher Bündnisse für Arbeit Die rechtlichen Grundlagen der Tarifautonomie sind im Tarifvertragsgesetz (TVG) geregelt. Tarifvertragsparteien sind Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände oder das einzelne Unternehmen (§ 2, 1 TVG). Die Tarifbindung (§ 3, 1 TVG) besteht nur für ihre Mitglieder, d. h. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sowie das Unternehmen, das einen FirmentarifVertrag vereinbart. Dies bedeutet, daß Betriebe, die Mitglieder eines tariffähigen Arbeitgeberverbandes sind, bei der Entlohnung ihrer gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer an die Lohnvereinbarungen des Tarifvertrages gebunden sind. Nun besteht grundsätzlich die Möglichkeit, daß mit den nicht gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten Regelungen über eine untertarifliche Entlohnung getroffen werden. Eine Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern derselben Qualifikationsgruppe ist jedoch aus betrieblicher Sicht nicht wünschenswert, da diese die Wanderungsbereitschaft der spezifisch ausgebildeten Arbeitnehmer fördert. Das Unternehmen verliert spezifisches Humankapital und erleidet Effizienzeinbußen. Zudem besteht für das Unternehmen das Risiko, daß die betreffenden Beschäftigten gegebenenfalls unmittelbar nach ihrer Einstellung durch einen nachträglichen Gewerkschaftsbeitritt in den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen (Fitzenberger und Franz 1999, 439). Die betriebliche Regelungssperre (§ 77, 3 BetrVG) und der Tarifvorrang (§ 87 BetrVG) schirmen den Flächentarifvertrag vor abweichenden Regelungen ab. Weder Löhne noch Arbeitszeiten können durch eine Betriebsvereinbarung festgelegt werden. Lediglich zwei Ausnahmefälle setzen die Regelungssperre außer Kraft: erstens, wenn eine tarifVertragliche Öffnungsklausel Möglichkeiten für abweichende Regelungen auf Betriebsebene vorsieht (§ 77, 3 BetrVG); zweitens, wenn die Bestimmungen auf betrieblicher Ebene aus Sicht der Arbeitnehmer günstiger ausfallen als die Vorgaben des Tarifvertrages (§ 4, 3 TVG). Die derzeitige Interpretation des Günstigkeitsprinzips durch die Arbeitsgerichte billigt jedoch nur zwei Fälle, in denen von Günstigkeit aus Sicht des Arbeitnehmers auszugehen ist: Die Vergütung wird bei konstanter Arbeitszeit über das Niveau des Tarifvertrages angehoben oder die Arbeitszeit bei gleichem Entgelt verkürzt. Eine nicht durch eine Öffnungsklausel sanktionierte Lohnminderung zur Sicherung des eigenen Arbeitsplatzes unterliegt daher stets dem Vorbehalt, bei Klage der Gewerkschaft als Verletzung des Günstigkeitsprinzips selbst für den Fall gewertet zu werden, daß die Belegschaft freiwillig eine Lohnkonzession einräumt. Eine Unternehmensleitung ist deshalb gezwungen, abweichende Vereinbarungen mit jedem einzelnen Beschäftigten individuell auszuhandeln. Diese Möglichkeit scheidet aber für die Mehrzahl der Betriebe schon allein aus Transaktionskostengründen aus. Zudem besteht aufgrund der Informationsasymmetrien die Gefahr eines wechselseitigen Opportunismus gerade dann, wenn spezifische Humankapitalinvestitionen vorgenommen werden. Vor allem der Arbeitnehmer sieht sich einer potentiellen Hold-up-Gefahr bezüglich seiner Quasi-Rente ausgeliefert. Demnach wird der Mitarbeiter einer individuellen Vertragslösung gegenüber mißtrauisch sein und kollektive Vereinbarungen bevorzugen. Verhandlungen mit dem Betriebsrat oder einer sonstigen Belegschaftsvertretung stehen jedoch die bestehenden Regelungen entgegen.

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Man könnte einwenden, daß sich Unternehmen den Fesseln der Tarifautonomie durch den Verbandsaustritt entziehen könnten. Der Handlungsspielraum ist auch hier durch die Laufzeit der Tarifbindung ( § 3 , 3 TVG) eingeschränkt, d. h. die Tarifgebundenheit bleibt solange bestehen, bis ein Tarifvertrag endet. Zudem bewirkt die Nachwirkungspflicht des Tarifvertrages (§ 4, 5 TVG), daß die tarifvertraglichen Regelungen trotz Ablaufs eines Tarifvertrages weitergelten, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Selbst für tarifungebundene Unternehmen versperrt § 77, 3 BetrVG die Möglichkeit, auf kollektiver Ebene im Betrieb die Löhne zu vereinbaren. Im Rahmen der Lohnfindung stehen dem einzelnen Betrieb nur zwei Alternativen offen. Erstens kann die Geschäftsführung im Rahmen von Einzelarbeitsverträgen die Löhne separat mit jedem Mitarbeiter aushandeln, wobei jedoch Transaktionskosten und potentielles opportunistisches Verhalten den Spielraum für diese Möglichkeit begrenzen. Einem einzelnen Unternehmen verbleibt dann zweitens nur die Option, mit der Branchengewerkschaft direkt zu verhandeln. In diesem Fall verschiebt sich die Verhandlungsmacht aber deutlich zugunsten der Gewerkschaft, gerade für kleine und mittlere Betriebe. Da eine Gewerkschaft im Gegensatz zu Belegschaftsvertretungen streikberechtigt ist, muß das Unternehmen damit rechnen, daß die Löhne des Firmentarifvertrages sogar höher ausfallen als im Flächentarifvertrag. Eine Eskalation verteilungspolitischer Konflikte auf betriebliche Ebene durch Streiks und Aussperrungen bedroht zudem eine vertrauensvolle Zusammenarbeit von Belegschaft und Geschäftsleitung in der Zukunft. Die Konfliktkosten der Arbeitskämpfe können deshalb mit einer zunehmenden Dezentralisierung der Tarifverhandlungen steigen (vgl. Rosdücher 1997, S. 464). Die derzeitige Ausgestaltung der Arbeitsmarktordnung forciert offensichtlich einen Trade-off zwischen betrieblicher Gestaltungsfreiheit und betrieblichem Verteilungsfrieden. Die Möglichkeiten zum Abschluß von bBfA werden unter den gegebenen Rahmenbedingungen zugunsten des Verteilungsfriedens eingeschränkt. Angesichts der andauernden Beschäftigungskrise ist diese Zielrichtung der deutschen Arbeitsmarktordnung nicht mehr zeitgemäß. Es stellt sich vielmehr die Frage, welchen Anforderungen die Arbeitsmarktordnung in Deutschland Genüge leisten muß, um beiden Zielen, betriebliche Gestaltungsfreiheit und betrieblicher Verteilungsfrieden, gleichermaßen zu dienen.

2.

Institutionelle Reformen für betriebliche Bündnisse für Arbeit

Die effizienzfördernde Wirkung von bBfA kann sich nur entfalten, wenn im einzelnen Unternehmen auf kollektiver Verhandlungsebene dezentral über Löhne und Arbeitszeiten verhandelt werden darf. Wenn die Betriebsparteien gemeinschaftlich im Rahmen eines bBfA von den tarifVertraglichen Regelungen abweichen wollen, sollten sie das auch verbindlich tun können. Ziel einer adäquaten Reform ist nicht, Koalitionen von Mitarbeitern auf oder unterhalb der Unternehmensebene die Tariffahigkeit zuzugestehen oder individuelle sowie kollektive Arbeitsverträge auf unterschiedlichen Ebenen rechtlich gleichzustellen, um die grundsätzliche Bindung an den Tarifvertrag aufzuheben. In diesem Fall drohen sich die Befürchtungen einer Verlagerung der Verteilungs-

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konflikte in die Betriebe zu bewahrheiten. Der Trade-off bliebe in seiner originären Form bestehen. Ziel einer Reform der Arbeitsmarktordnung sollte sein, eine kollektive Verhandlungsebene im Betrieb in ein verbindliches System einzubetten, damit die wechselseitigen Opportunismusgefahren unterdrückt bleiben. Dem arbeitnehmerseitigen Opportunismus kann auf kollektiver Ebene durch die Beibehaltung der Friedenspflicht der Betriebsparteien begegnet werden. Für die Gefahr, daß sich ein Betrieb der geballten Streikmacht einer Gewerkschaft ausgeliefert sieht, sollte der Flächentarifvertrag für den Arbeitgeber eine Ausweichoption bieten. Die Opportunismusgefahren durch den Arbeitgeber beziehen sich in erster Linie auf Informationsdefizite der Arbeitnehmer. Mit dem Betriebsrat haben die Arbeitnehmer jedoch ein Instrument in der Hand, mit dem die Informationsasymmetrien beseitigt werden können. Dennoch darf der Betriebsrat nicht zu einer Zwangsgewerkschaft degenerieren und die Koalitionsfreiheit soweit einschränken, daß eine potentielle Minderheit gezwungen wird, sich den Interessen der Mehrheit zu fugen. Der Flächentarifvertrag sollte also die wichtige Funktion übernehmen, beiden Verhandlungsparteien eine sichere Rückfallposition zu bieten, wenn eine asymmetrisch verteilte Verhandlungsmacht dem Abschluß effizienter betrieblicher Lohnvereinbarungen im Wege steht (Michaelis 1998). Weiterhin stellt sich die Frage, welcher Indikator für das Erfordernis dezentraler Lohnvereinbarungen herangezogen werden kann. Eine Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit auf betrieblicher Ebene könnte als Indiz für die Notwendigkeit einer Abweichung interpretiert werden. Eine betriebsnahe Lohnbildung und Gestaltung der Arbeitsbedingungen sollte sich nicht nur auf betriebliche Notsituationen beschränken, wie vielfach von Gewerkschaftsvertretern gefordert, sondern auch präventiv möglich sein. Die Reform des FlächentarifVertrages über eine Erweiterung der Regelungskompetenz der Betriebsparteien im Rahmen einer Betriebsvereinbarung wird aus Gründen der negativen Koalitionsfreiheit in der Regel verworfen. Nach § 77, 4 BetrVG bindet eine Betriebsvereinbarung alle Mitglieder des Betriebes unmittelbar und zwingend. Die Mehrheit der Vorschläge favorisiert daher den Weg einer betrieblichen Regelungsabrede, mit einer Anpassung des Günstigkeitsprinzips (Lesch 2000, S. 91). Einer Regelungsabrede fehlt allerdings die bindende Wirkung einer Betriebsvereinbarung. Ihre Umsetzung bedarf der Zustimmung des einzelnen Arbeitnehmers. Sie unterliegt deshalb nicht der Reichweite der tariflichen Regelungssperre, so daß eine Reform des § 77, 3 BetrVG nicht erforderlich ist. Die negative Koalitionsfreiheit bleibt gewahrt. Vereinbarungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung können vom Arbeitnehmer verworfen werden, so daß für ihn die existierenden tariflichen Bestimmungen Gültigkeit behalten. Die Arbeitsgerichtsbarkeit hat die Verwendungsmöglichkeiten der Regelungsabreden jedoch eingeschränkt. Verfolgt eine betriebliche Regelungsabrede das Ziel, normativ geltende Tarifbestimmungen zu verdrängen, sieht darin das Bundesarbeitsgericht eine Verletzung der kollektiven Koalitionsfreiheit. Ohne Neuinterpretation des § 4, 3 TVG ist ein Verzicht auf tarifvertragliche Standards zugunsten einer Beschäftigungszusage in Form einer betrieblichen Regelungsabrede nicht zulässig. Dieser Reformvorschlag stößt aus unserer Sicht jedoch an Grenzen. Es stellt sich die Frage, ob denn einzelne Mitarbeiter im Unterschied zu den Gewerkschaften ohne weitere Anpassung der gegenwärtigen institutionellen Rahmenbedingungen ein Interesse ha-

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ben, untertarifliche Regelungen gegen eine Beschäftigungszusage zu tauschen. Ein Arbeitnehmer sollte prinzipiell um so eher bereit sein, eine Lohnflexibilisierung oder einen temporären Lohnverzicht in Kauf zu nehmen, je mehr er durch eine höhere Arbeitsplatzsicherheit kompensiert wird. Ein rigider Kündigungsschutz insbesondere für ältere Arbeitnehmer steht dem jedoch im Wege. Er verklärt den Blick jener Arbeitnehmergruppen auf ihr individuelles Entlassungsrisiko, deren Humankapital von den Folgen des technischen Fortschritts und des strukturellen Wandels am stärksten betroffen ist. Ihr Bestandsschutz wird durch die Kriterien der Sozialauswahl und die Rechtsunsicherheit über den Ausgang gerichtlicher Auseinandersetzungen verstärkt.13 Er verschleiert für die betroffenen Mitarbeiter den Zusammenhang zwischen individueller Arbeitsplatzsicherheit und Lohnniveau. Deshalb sind sie weniger bereit, durch Zugeständnisse bei Lohnniveau und Lohnmodalitäten ihre Arbeitsplatzsicherheit zu erhöhen. Selbst für den Fall, daß besonders geschützte Mitarbeiter die Notwendigkeit einer Lohnkonzession erkennen, ist ihre Bereitschaft zu Zugeständnissen nicht gesichert, wenn sie die Anpassungslasten auf ihre Kollegen abwälzen können. Der Kündigungsschutz eröffnet ihnen die Möglichkeit zum Trittbrettfahren bei der Vereinbarung eines bBfA. Lohnzugeständnisse kann das Unternehmen lediglich bei jenen Mitarbeitern einfordern, welche aufgrund der Sozialauswahl zu jenen zählen, welche als erste entlassen werden können. Häufig sind dies aber gerade jene Personen, auf deren Weiterbeschäftigung ein Betrieb angewiesen ist. Eine Dezentralisierung der Lohnverhandlungen über die Regelungsabrede läuft selbst bei Neuinterpretation des Günstigkeitsprinzips beschäftigungspolitisch ins Leere. Ein effektiver Reformvorschlag muß gleichzeitig die Problematik eines ineffizienten Bestandsschutzes und des Trittbrettfahrens überwinden. Notwendige Voraussetzung hierfür ist zunächst, daß die betriebliche Regelungssperre durch eine gesetzliche Öffnungsklausel aufgehoben wird. Auf diese Weise wird der Flächentarifvertrag allen Unkenrufen zum Trotz nicht abgeschafft, sondern stellt für die Betriebsparteien einen verbindlichen Ordnungsrahmen für Pareio-effiziente Abweichungen bereit. Die Öffnungsklausel im § 77, 3 BetrVG sollte die Vereinbarung untertariflicher Regelungen zwischen den Betriebsparteien legitimieren, wenn sich eine qualifizierte Mehrheit in der Belegschaft für eine Abweichung ausgesprochen hat. Die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit auf betrieblicher Ebene zu einem Lohnverzicht im Tausch gegen eine Beschäftigungszusage sollte ausreichen, die resultierende Betriebsvereinbarung als günstiger einzustufen. Das Günstigkeitsprinzip ist dahingehend zu modifizieren. Um das Problem der Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit zu entschärfen, sollte den einzelnen Mitarbeitern weiterhin die Möglichkeit eingeräumt werden, auf die existierenden Bestimmungen des Tarif- oder Arbeitsvertrages auszuweichen. Die bindende Wirkung der Betriebsvereinbarung entfaltet sich nur für jene Arbeitnehmergruppe, die für ein bBfA votiert. Eine effiziente Ausgestaltung der Ausweichoption verlangt, daß jedoch lediglich solche Mitarbeiter auf die Einhaltung tarifVertraglicher Regelungen beharren dürfen, deren Quasi-Renten und Arbeitsplätze nicht gefährdet sind. Um das Anreizpro-

13 Insbesondere die erforderliche Einzelfallprüfung erhöht die Rechtsunsicherheit (vgl. Nolle S. 92).

2001,

190 • Norbert Berthold, Marita Brischke und Oliver Stertes

blem jener Belegschaftsgruppen zu lösen, deren Anpassungsbereitschaft durch einen hohen Kündigungsschutz reduziert wird, deren Arbeitsplätze jedoch von Strukturwandel und technischem Fortschritt am stärksten negativ betroffen sind, sollte die Wahl für die Bestimmungen des Flächentarifvertrages mit einer Einschränkung beim Kündigungsschutz verknüpft werden. Eine Entlassung ist zwar weiterhin nur zulässig, wenn neben den personen- oder verhaltensbedingten Gründen die wirtschaftliche Lage des Unternehmens eine Kündigung rechtfertigt. Die Kriterien der Sozialauswahl für betriebsnotwendige Kündigungen werden aber für abgeschlossene bBfA außer Kraft gesetzt. Für Mitarbeiter, welche einer Betriebsvereinbarung zustimmen, erhöht die explizite Beschäftigungsgarantie der Geschäftsführung die individuelle Beschäftigungssicherheit des regulären Kündigungsschutzes. Arbeitnehmer, welche hingegen ihren Besitzstand einfordern, können von der Geschäftsführung für den Fall eines nicht zu vermeidenden Arbeitsplatzabbaus unabhängig von ihren Merkmalen als erste entlassen werden. Negative externe Effekte in Folge des Trittbrettfahrens bei bBfA werden effizient und effektiv internalisiert. Die Beschäftigten werden sich entsprechend der Einschätzung ihres individuellen Beschäftigungsrisikos für die aus ihrer Perspektive günstigere Alternative entscheiden. Die Selbstselektion der Arbeitnehmer fördert die erforderliche Lohndifferenzierung, um Anpassungslasten abzufedern. Löhne oder Arbeitszeiten werden den individuellen Arbeitsplatzrisiken angepaßt, und Leistungsträger bleiben dem Unternehmen erhalten.

IV. Schlußbemerkungen Der Beitrag konnte zeigen, daß eine Dezentralisierung der Lohnverhandlungen positive Effizienz- und Beschäftigungseffekte mit sich bringen kann. Das Scheitern eines Bündnisses für Arbeit auf Bundesebene sollte die Einsicht erhellen, daß gleichzeitige Verhandlungen über Löhne und Beschäftigung nur auf Unternehmensebene erfolgreich geführt werden können. Es verdeutlicht den Korrekturbedarf des dualen Systems industrieller Beziehungen in Deutschland. Die zukünftige Form der Arbeitsteilung zwischen den Tarifvertragsparteien und den betrieblichen Akteuren muß sich differenzierten Lösungen öffnen, die dem Entdeckungsverfahren Wettbewerb entspringen. Diese Arbeitsteilung sollte daher zwei Bedingungen Genüge leisten. Gesetzliche Regelungen oder vertragliche Vereinbarungen auf einer übergeordneten, zentraleren Ebene müssen einen ausreichenden Grad an Verbindlichkeit einnehmen, so daß sie als Rückfallposition dienen und Arbeitnehmern und Arbeitgebern gleichermaßen einen Mindestschutz vor wechselseitigen Opportunismusgefahren bieten. Gleichzeitig müssen sie offen und flexibel für abweichende dezentrale Vereinbarungen sein und dem Subsidiaritätsgedanken Rechnung tragen. Notwendige Schritte in diese Richtung sind gesetzliche Öffnungsklauseln, welche die betriebliche Regelungssperre außer Kraft setzen, und die Konkretisierung des Günstigkeitsprinzips. Die volle Entfaltung der beschäftigungspolitischen Potentiale dezentraler Lohnverhandlungen drängt auch zu einer Reform des Kündigungsschutzes. Das gegenwärtige Ausmaß der individuellen Kündigungsschutzbestim-

Betriebliche Bündnisse für Arbeit • 191 mungen verschleiert den Zusammenhang zwischen Arbeitsplatzsicherheit und differenzierten Lohnvereinbarungen. Mehr Wettbewerb zwischen betrieblichen Vereinbarungen und dem Flächentarifvertrag würde in einem Prozeß lernender Rückkoppelung alle Akteure in eine größere beschäftigungspolitische Verantwortung nehmen. Kollektive Verträge würden keineswegs überflüssig, sie übernehmen die Funktion eines Wegweisers fur formelle betriebliche Abreden. Die Option abweichender Regelungen im Betrieb würde dazu beitragen, den Betriebsparteien den Zusammenhang zwischen Lohnsteigerungen und Arbeitsplatzrisiko zu verdeutlichen. Gleichzeitig hätten sie die Möglichkeit, in Eigenverantwortung darauf Einfluß zu nehmen.

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Betriebliche Bündnisse für Arbeit • 1 9 3

Zusammenfassung Betriebliche Bündnisse für Arbeit sind ein Kennzeichen des Dezentralisierungstrends in den industriellen Beziehungen in Deutschland. Durch einen Tausch von Lohnzugeständnissen der Arbeitnehmer gegen eine Beschäftigungszusage des Unternehmers erhalten oder erhöhen sie die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe in einem veränderten Umfeld. Krisenbündnisse sichern bei einem negativen technologischen oder nachfragebedingten Schock Quasi-Renten aus betriebsspezifischen Humankapitalinvestitionen und verhindern ineffiziente Entlassungen. Innovationsbündnisse erhöhen die Anpassungsflexibilität des Betriebes in einem volatilen Umfeld und entschädigen die Mitarbeiter durch eine Gewinnbeteiligung für ihre Kooperationsbereitschaft und den Verlust ihrer Quasi-Renten. Die derzeitige Arbeitsmarktordnung beschränkt den Spielraum der Betriebsparteien, betriebliche Bündnisse für Arbeit zu schließen. Gesetzliche Öffhungsklauseln im Verbund mit einer Konkretisierung des Günstigkeitsprinzips und einer Modifizierung der Sozialauswahl im Kündigungsschutz erhöhen die Gestaltungsfreiheit von Unternehmensleitungen und Belegschaften, ohne den betrieblichen Verteilungsfrieden zu gefährden.

Summary Social pacts at the workplace - a challenge to the system of collective bargaining in Germany? Social pacts at the workplace have become a spreading feature across contemporary German industrial relations. They involve wage-employment negotiations between the employer and her employees which improve the competitiveness of the firm in a changing environment. In case o f a crisis, social pacts can sustain quasi-rents and prevent inefficient dismissals. Moreover, social pacts encompassing profit-sharing can foster cooperative behaviour both between employer and employees and among the latter. In this respect, social pacts trigger reorganization of work and innovation-based growth of the firm. Legal institutions ruling collective bargaining in Germany restrict voluntary wage settlements at the firm level. Therefore, institutional reforms should centre on implementing legal opening-clauses.

O R D O • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 3 ) Bd. 54

Harald Großmann und Andreas Knorr

Ökonomische Aspekte der Kinderarbeit Inhalt

I. Einfuhrung II. Kinderarbeit: Definition(sprobleme) und geschätztes Ausmaß III. Ökonomische Ursachen und Auswirkungen der Kinderarbeit 1. Determinanten der Kinderarbeit 2. Auswirkungen der Kinderarbeit IV. Maßnahmen zur Überwindung der Kinderarbeit 1. Völkerrechtliche Regelungen 2. Ökonomische Analyse der einzelnen Instrumente V. Schlußbetrachtung Literatur Zusammenfassung Summary: Economic Aspects ofChild Labor

195 196 198 198 202 205 205 206 214 214 217 217

,The term .child labor' is a paradox, for when labor begins ... the child ceases to be."

Stephen Wise

I. Einführung Die eklatante Mißachtung grundlegender sozialer Rechte in zahlreichen Entwicklungs- und Schwellenländern ist seit langem Gegenstand öffentlicher Diskussionen in den Industrienationen. Dies betrifft in besonderem Maße die Kinderarbeit, die vor nicht allzu langer Zeit auch in Kontinentaleuropa und den USA noch alltäglich war und dort selbst bis heute nicht vollkommen beseitigt werden konnte. 2 Dabei wird es nicht nur als moralisch verwerflich angesehen, wenn Kinder arbeiten müssen. Befürchtet wird auch, daß die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des gesamten Landes Schaden 1 2

Zitiert nach Post (2001), S. 127. In der Textilindustrie Großbritanniens und Irlands arbeiteten beispielsweise noch 1875 annähernd 118 000 Kinder unter 13 Jahren (vgl. Walter 1995). Vgl. dazu auch die wirtschaftshistorischen Untersuchungen von Heywood (1988) und Nardinelli (1990). In der heutigen Zeit stellt Kinderarbeit in den Industrienationen keineswegs nur ein Randphänomen der Unterschicht dar. Für Deutschland siehe Seifert-Granzin (1999), für die USA Hindman (2002) sowie für die Industriestaaten generell Dorman (2001).

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erleidet und sich darüber hinaus - im Zuge der internationalen Arbeitsteilung - negative Auswirkungen auf andere Länder ergeben. Äußerst kontrovers verlaufen die Diskussionen vor allem im Hinblick auf die Frage, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden sollten, um das Los der betroffenen Kinder zu verbessern. Dieser Beitrag setzt sich jedoch nicht mit den diversen ethisch-moralischen Einwänden auseinander, deren Vertreter mehrheitlich jede Form von Kinderarbeit als verwerflich, weil ausbeuterisch, ablehnen und deren Thesen diese Debatte von Beginn an maßgeblich prägten. Statt dessen sollen hier, zur Versachlichung der Diskussion, zunächst die dem Phänomen Kinderarbeit zugrundeliegenden ökonomischen Ursachen offengelegt sowie deren Konsequenzen für die unmittelbar Betroffenen, das heißt die Kinder selbst, aufgezeigt werden. Zudem wird untersucht, welche Auswirkungen sich in den Volkswirtschaften, in denen Kinderarbeit an der Tagesordnung ist, und für deren Handelspartner ergeben. Auf dieser Grundlage wird schließlich überprüft, welche wirtschaftspolitischen und vor allem ordnungspolitischen Instrumente sich zur Eindämmung der Kinderarbeit eignen und welche Maßnahmen demgegenüber als ökonomisch inadäquat oder sogar kontraproduktiv einzustufen sind. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Frage eingegangen, ob Handelssanktionen zur Lösung des Problems Kinderarbeit beitragen können.

II. Kinderarbeit: Definition(sprobleme) und geschätztes Ausmaß Einer viel beachteten Untersuchung der International Labour Organization (ILO) aus dem Jahr 1996 zufolge mußten 1995 weltweit ca. 250 Millionen, also knapp ein Viertel aller Kinder im Alter zwischen fünf und vierzehn Jahren, regelmäßig arbeiten (vgl. ILO 1996). Der vor kurzem veröffentlichten Nachfolgestudie derselben Organisation zufolge sank deren Zahl seitdem auf geschätzte 211 Millionen. Dies entspricht einer Kinderwerbsquote von nur noch etwa 18 % (vgl. ILO 2002, S.15). Addiert man jedoch die in der jüngeren Studie ebenfalls berücksichtigte Altersgruppe der Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen hinzu, ergeben sich Werte von 352 Millionen respektive 42,4 %. Relativ am stärksten verbreitet ist Kinderarbeit in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Dort sind 29 % aller Kinder betroffen. Es folgen Asien (19 %), Lateinamerika einschließlich der Karibikstaaten (16 %) und die Region Nordafrika-Mittlerer Osten (15 %). Vergleichsweise selten tritt Kinderarbeit demgegenüber in den hochentwickelten westlichen Industrienationen (2 %), aber auch in den Transformationsländern des ehemaligen Ostblocks (4 %) in Erscheinung (vgl. ILO 2002, S. 17). Diese offiziellen Daten3 dürfen freilich nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß das genaue Ausmaß von Kinderarbeit nicht und vermutlich nicht einmal näherungsweise quantifizierbar ist.4 Insbesondere ist völlig offen, ob Kinderarbeit heute weltweit tatsächlich weit weniger verbreitet ist als noch 1995, wie der Vergleich der beiden Studien zumindest auf den ersten Blick suggeriert. Die geringe Aussagekraft aller empirischen Untersuchungen, welche die Verbreitung der Kinderarbeit zum Gegenstand haben, hat 3 4

Eine umfangreiche Datensammlung findet sich auf der ILO-Homepage (http://www.ilo.org/public/ enelish/standards/ipec/simpoc/index.html (Stand: 15. Februar 2003). Vgl. grundsätzlich dazu Hemmer, Sieger und Wilhelm (1997, S. 3 ff.).

Ökonomische Aspekte der Kinderarbeit • 1 9 7

im wesentlichen zwei Gründe: Angesichts des nicht selten illegalen Charakters der Kinderarbeit sowie in Anbetracht der überaus schlechten Qualität fast aller in den Ländern der Dritten Welt erhobenen Primärdaten und der erheblichen methodischen Differenzen bei ihrer Erhebung 5 existieren zum einen objektive Grenzen der statistischen Meß- und Erfaßbarkeit. Zum anderen mangelt es nach wie vor an einer einheitlichen und vor allem allgemein akzeptierten Definition der beiden Schlüsselbegriffe ,Kind' und ,Arbeit'. Aussagekräftige Ländervergleiche sowie wirtschaftshistorisch vergleichende Analysen über die Verbreitung der Kinderarbeit im Zeitablauf gestalten sich entsprechend schwierig.6 Dies gilt auch für die Evaluation der Treffsicherheit und Effektivität der zu ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen und Programme (vgl. dazu Anker 2000a, S. 265). Wie gravierend die Definitions- und Identifikationsprobleme sind (vgl. grundsätzlich dazu Anker 2000b und Jensen 2000), zeigt die sehr unterschiedliche Verwendung von Schlüsselbegriffen selbst innerhalb einzelner Organisationen. Verdeutlicht werden soll dies anhand dreier, für das Thema Kinderarbeit zentraler ILO-Dokumente. Es sind dies - die ILO-Konvention Nr. 138 (Mindestalterkonvention) 7 aus dem Jahr 1973, - die ILO-Konvention Nr. 182 von 1999 (zur Bekämpfung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit) 8 sowie - die jüngste ILO-Schätzung (vgl. ILO 2002) über das aktuelle Ausmaß und die weltweite Verbreitung der Kinderarbeit. ILO-Konvention Nr. 138 verlangt von jedem ratifizierenden Staat, ein Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung oder Arbeit festzulegen. Dieses Mindestalter, es wird in Artikel 2 der Konvention detailliert geregelt, darf dabei nicht unter dem Alter liegen, in dem die Schulpflicht endet, und es sollte auf keinen Fall weniger als 15 Jahre betragen. Nur Ländern, deren Wirtschaft und schulische Einrichtungen ungenügend entwickelt sind, ist es erlaubt, es zunächst bei 14 Jahren anzusiedeln. Grundsätzlich darf niemand vor Erreichen dieses Alters zur Beschäftigung oder Arbeit in irgendeinem Beruf zugelassen werden. Ausnahmeregelungen gelten lediglich für landwirtschaftliche Familien- und Kleinbetriebe, deren Erzeugnisse für den örtlichen Verbrauch bestimmt sind, für Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen sowie für die Teilnahme an künstlerischen Veranstaltungen. Unter gewissen Voraussetzungen ist es darüber hinaus zulässig, daß Personen im Alter von 13 bis 15 Jahren so genannte leichte Arbeiten verrichten, welche für ihre Gesundheit oder Entwicklung nicht schädlich sind und weder Bildung noch Ausbildung beeinträchtigen (im Fall von Ländern, deren Wirtschaft und schulische

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Erschwerend kommt hinzu, daß die methodischen Vorgehensweisen in der Regel als äußerst fragwürdig angesehen werden müssen. So basiert die Untersuchung der ILO aus dem Jahr 2002 überwiegend auf Befragungen privater Haushalte, die in lediglich 29 (angeblich) repräsentativen Staaten durchgeführt wurden (zu den Details vgl. ILO 2002, S. 37). In einer von Cunningham (2000, S. 411) zitierten Untersuchung zum Ausmaß der Kinderarbeit in der amerikanischen Stadt Indianapolis im Jahr 1880 betrug das Durchschnittsalter der darin erfaßten ,Kinder' 21,2 Jahre. Bis heute gelten übrigens in einigen Ländern der Dritten Welt Einundzwanzigjährige statistisch ebenfalls noch als Kind (vgl. US Department of Labor 1998, insbesondere Anhang B). Der volle Text der Konvention findet sich auf der ILO-Homepage (http://www.ilo.ore/public/english/ standards/ipec/publ/law/ilc/c 1381973/index.htm) (Stand: 15. Februar 2003). Der volle Text der Konvention findet sich auf der ILO-Homepage (http://www.ilo.org/public/english/ standards/ipec/ratification/convention/text.htm) (Stand: 15. Februar 2003).

1 9 8 • Harald Großmann und Andreas Knorr

Einrichtungen ungenügend entwickelt sind, beträgt das Mindestalter für leichte Arbeiten 12 Jahre). Während aus den Bestimmungen der ILO-Konvention Nr. 138 nicht eindeutig hervorgeht, bis zu welchem Alter Jungen und Mädchen als Kinder zu bezeichnen sind, wird der Ausdruck „Kind" in der ILO-Konvention Nr. 182 für alle Personen unter 18 Jahren verwendet. In ihrer jüngsten Bestandsaufnahme legte die ILO eine Altersspanne von 5 bis 17 Jahren zugrunde, wobei der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Gruppe der Fünf- bis Vierzehnjährigen lag (vgl. ILO 2002, S. 15 ff.). Uneinheitlich wird in den relevanten Konventionen und den diversen empirischen Studien zur Kinderarbeit aber vor allem der Begriff ,Arbeit' verwendet. Die erste Schwierigkeit resultiert aus der Notwendigkeit, sowohl definitorisch als auch statistisch zwischen sogenannter ,leichter' Arbeit einerseits und gefährlichen' Tätigkeiten andererseits exakt unterscheiden zu müssen.9 Diese Differenzierung ist deswegen so relevant, weil erstere nach internationalem Recht (ILO-Konvention Nr. 138) schon Kindern ab 13 beziehungsweise, in unterentwickelten Ländern, ab 12 Jahren erlaubt ist. Letztere ist dagegen erst Achtzehnjährigen10 gestattet. Darüber hinaus wird in den Statistiken häufig nicht hinreichend nach Dauer und Häufigkeit der Arbeitsleistung, also zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen, differenziert (vgl. dazu ILO 2002, S. 29 ff.). Anders gewendet, werden sowohl die Kinder erfaßt, die neben ihrer Schulausbildung während ihrer Freizeit lediglich eine bis zwei Stunden täglich erwerbstätig sind, als auch jene, die anstatt die Schule zu besuchen, den ganzen Tag arbeiten. Schließlich gilt es in diesem Zusammenhang noch zwischen Kinderarbeit - in der üblichen Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) also alle legalen Beschäftigungsverhältnisse - und allen anderen Formen wirtschaftlicher Betätigung von Kindern zu unterscheiden (,economic activities of children'). Nur letztere schließen die in der VGR nicht erfaßten, im Zusammenhang mit dem Problemkreis Kinderarbeit jedoch außerordentlich wichtigen Bereiche der unentgeltlichen Mitarbeit im Familienhaushalt sowie illegale und sonstige informelle Beschäftigungsverhältnisse mit ein.

III. Ökonomische Ursachen und Auswirkungen der Kinderarbeit 1. Determinanten der Kinderarbeit a. Einkommensarmut und mangelnder Altruismus Angesichts der regionalen Verteilung und historischen Entwicklung der Kinderarbeit liegt es nahe, Armut als deren wichtigste Ursache anzunehmen. Erzielen die Eltern nämlich nur ein geringes Einkommen, können die Arbeitsleistung beziehungsweise das Erwerbseinkommen der Kinder unverzichtbar sein, um das Überleben der übrigen Fa9

Dabei kann sich die Gefährlichkeit einer Beschäftigung entweder aus der Art der Tätigkeit selbst, aus dem Umgang mit gefährlichen Substanzen oder aus dem physischen Umfeld der Arbeitsstätte ergeben. Zahlreiche konkrete Beispiele für solche ,hazardous work' finden sich in: ILO (2002, S. 57 f.). 10 Gemäß Artikel 3 der ILO-Konvention Nr. 138 ist in Ausnahmefällen hierbei ein Mindestalter von 16 Jahren zulässig.

Ökonomische Aspekte der Kinderarbeit • 1 9 9

milienmitglieder zu sichern. Besonders häufig sind Kinder in Entwicklungsländern immer dann gezwungen, durch ihre Arbeit zum Unterhalt der Familien beizutragen, wenn ein Elternteil erkrankt oder arbeitslos wird, oder Eltern schicken ihre Kinder zur Arbeit, um solchen oder ähnlichen Einkommensrisiken vorzubeugen. Arme Familien sind von diesen Risiken besonders hart betroffen, da sie im allgemeinen nicht über ausreichende finanzielle Reserven verfugen, mit denen sie vorübergehende Einkommensausfalle kompensieren könnten. Kinderarbeit hat in diesem Zusammenhang folglich den Charakter einer Versicherung gegen familiäre Armut. Empirisch wurde dieses Elternverhalten inzwischen in zahlreichen Untersuchungen bestätigt. Sie zeigen, daß Kinder in den Entwicklungsländern aus diesem Grund oftmals in erheblichem Maße zum Familieneinkommen beizutragen haben. 11 Dennoch läßt sich die Existenz von Kinderarbeit nicht allein auf ein geringes Einkommen der Eltern zurückfuhren. Nicht immer ist nämlich die Armut so extrem, daß den Eltern nichts anderes übrigbleibt, als ihre Kinder arbeiten zu lassen. So spielt neben der Einkommenssituation der Eltern auch eine wichtige Rolle, wie altruistisch die Eltern ihren Kindern gegenüber eingestellt sind, das heißt, welche Bedeutung sie dem gegenwärtigen und vor allem dem zukünftigen Wohl ihrer Kinder im Vergleich zu ihrem eigenen beimessen. Zwar dürfte außer Frage stehen, daß die meisten Eltern ein großes Interesse am Wohlergehen ihrer Kinder haben. Gleichwohl bringen nicht alle Eltern ihren Kindern eine gleich hohe Opferbereitschaft entgegen. Eltern, denen das Wohl ihrer Kinder einen vergleichsweise hohen Nutzen stiftet, sind eher bereit, den eigenen Konsum zugunsten ihrer Kinder einzuschränken, als Eltern, deren Altruismus nur schwach ausgeprägt ist. Dies kann bewirken, daß einige Eltern bei gegebenem Einkommen keine Möglichkeit sehen, auf die Arbeit ihrer Kinder zu verzichten, während andere Eltern bei gleichem oder sogar geringerem Einkommen Mittel und Wege finden, zum Beispiel ihren eigenen Lebensstandard senken, um ihren Kindern die Arbeit zu ersparen. Auch ein starker Altruismus der Eltern beseitigt allerdings nicht zwangsläufig die latenten Interessenkonflikte innerhalb der Familie, die daraus herrühren, daß der Nutzen der Eltern sowohl von ihrem eigenen Konsum als auch von dem Nutzen ihrer Kinder abhängt.

b. Kosten und Qualität der Schulausbildung Eine weitere mögliche und in der Realität wichtige Ursache der Kinderarbeit besteht darin, daß Freizeit und Schulausbildung der Kinder aus Sicht der Eltern keine lohnenden Alternativen zur Arbeit darstellen. Dabei ist offensichtlich, daß die Freizeit der Kinder diesen selbst einen größeren Nutzen stiftet als den Eltern. Inwieweit es für die Eltern jedoch attraktiv ist, ihre Kinder zur Schule zu schicken, hängt unter anderem davon ab, welche Kosten der Schulbesuch - über die Opportunitätskosten entgangener

11 Einer empirischen Studie von Cartwright und Patrinos (1999) zufolge betrug der Einkommensanteil der Kinder in verschiedenen Städten Boliviens 1993 im Durchschnitt 21 %. Andere empirische Studien kommen für andere Regionen zu ähnlichen Ergebnissen. Vgl. dazu unter anderem Rosenzweig (1982) und Swaminathan (1998).

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laufender Einkommen hinaus - verursacht. Dabei stellen nicht zuletzt die direkten Kosten einer Schulausbildung (Schulgebühren, Kosten für Lernmittel und Schulkleidung, Transportkosten und so fort) für arme Familien häufig eine erhebliche finanzielle Belastung dar. Sie motivieren viele Eltern dazu, darauf zu verzichten, ihren Kindern einen regelmäßigen Schulbesuch zu ermöglichen oder zu gestatten. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang außerdem die Qualität der Schulausbildung. Je geringer sie ist (in den meisten Entwicklungsländern ist sie es trotz zum Teil hoher Schulgebühren 12 ), um so eher dürften Eltern, die prinzipiell vom hohen Wert einer fleißigen Kindheit überzeugt sind, die Auffassung vertreten, daß ihre Kinder lieber arbeiten sollten als die Zeit vergleichsweise unproduktiv in der Schule zu verbringen. Von Bedeutung ist auch, welche Relevanz die Schulausbildung für die künftigen Berufschancen der Kinder besitzt. So läßt sich beispielsweise ein spürbarer Rückgang der Kinderarbeit beobachten, wenn die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften in einem Land - etwa aufgrund technologischer Veränderungen - ansteigt (vgl. Heywood 1988 und Nardinelli 1990). Bietet der Arbeitsmarkt dagegen nur verhältnismäßig wenige Arbeitsplätze, die ein höheres Qualifikationsniveau erfordern, fallen die erwarteten Bildungserträge entsprechend gering aus. Dies kann dazu führen, daß Eltern weniger in die Schulausbildung ihrer Kinder investieren (vgl. Rosenzweig 1990). Die Ergebnisse zahlreicher empirischer Studien deuten allerdings darauf hin, daß die privaten Ertragsraten der Bildung im allgemeinen beträchtlich sind. Sie liegen zum Beispiel in Ländern mit einem niedrigen Pro-Kopf-Einkommen (weniger als 610 US-$ pro Jahr) im Durchschnitt bei über 11 % für jedes zusätzliche Schuljahr. Dabei fallen die Erträge einer fundierten Grundschulbildung erwartungsgemäß besonders hoch aus (vgl. Psacharopoulos 1994). Eltern, die ihre Kinder zur Arbeit statt zur Schule schicken, treffen somit, zumindest aus Sicht ihrer Kinder, nicht unbedingt eine effiziente Entscheidung (vgl. Anker 2000a, S. 272). Beeinträchtigt die Arbeit die Humankapitalbildung der Kinder, stehen den größeren Konsummöglichkeiten von Eltern und Kindern in der Gegenwart nämlich geringere Konsummöglichkeiten der Kinder in der Zukunft gegenüber. Doch auch für die Eltern selbst kann es von Nachteil sein, wenn sie die Humankapitalbildung ihrer Kinder in der Gegenwart vernachlässigen. So können Humankapitalinvestitionen der Eltern in ihre Kinder die Konsummöglichkeiten der Eltern im Alter verbessern, wenn es den Kindern - dank höheren Einkommens - möglich ist, für ihre Eltern aufzukommen, und dies rechtlich oder durch soziale Normen abgesichert ist.

c. Sonstige Determinanten Einige theoretische Arbeiten setzen sich, daran anknüpfend, mit der Frage auseinander, unter welchen Bedingungen Eltern eine effiziente Investitionsentscheidung im Hinblick auf das Humankapital ihrer Kinder treffen und welche Rolle Einkommensarmut

12 Vgl. dazu unter anderem US Department of Labor (1998), insbesondere Kapitel 4, sowie Hanushek und Luque (2002).

Ökonomische Aspekte der Kinderarbeit • 2 0 1

und Altruismus der Eltern dabei spielen. 13 Grundsätzlich müssen sowohl arme als auch reiche Eltern ihren Konsum einschränken, um in das Humankapital ihrer Kinder investieren zu können. Im Fall wohlwollender Eltern, die reich genug sind, um Ersparnisse bilden und ihren Kindern ein Erbe hinterlassen zu können, wird dieser Trade-off zwischen Konsum und Humankapitalinvestitionen allerdings nicht wirksam. Sie könnten ihre Ersparnisse reduzieren, um die Ausbildung ihrer Kinder zu finanzieren, und sie könnten ihre geplanten Erbschaftszahlungen verringern, um den Effekt geringerer Ersparnisse auf ihren Konsum im Alter auszugleichen. Von solchen Eltern ist zu erwarten, daß sie eine effiziente Investitionsentscheidung treffen. Andere Eltern haben dagegen nicht vor, ihren Kindern ein Erbe zu hinterlassen, weil ihr Altruismus zu schwach ausgeprägt ist. Sie bewerten den Nutzen, den ihnen der zusätzliche Konsum ihrer erwachsenen Kinder stiftet, geringer als den Nutzen, den sie daraus ziehen, wenn sie ihren eigenen Alterskonsum erhöhen. Deshalb würden sie ihren Kindern eher Schulden hinterlassen, sofern dies möglich wäre. Solche Eltern neigen dazu, zu wenig in die Ausbildung ihrer Kinder zu investieren, um mehr für die eigene Altersvorsorge sparen zu können. 14 Liegt der erwartete Grenzertrag des Humankapitals über dem Zinssatz der Ersparnisse, wäre es für beide Seiten attraktiv, eine intergenerative vertragliche Vereinbarung zu treffen. Die Eltern müßten sich dabei bereit erklären, mehr in die Ausbildung ihrer Kinder zu investieren. Im Gegenzug müßten sich die Kinder dazu verpflichten, die den Eltern dadurch entstehenden Kosten später wieder zurückzuzahlen. Wäre es Eltern und Kindern möglich, explizite und vollständige Verträge miteinander abzuschließen, könnten somit auch Eltern, die nur ein geringes Interesse am Wohlbefinden ihrer Kinder haben, eine effiziente Investitionsentscheidung treffen. Dies scheitert jedoch allein schon daran, daß Kinder aufgrund ihres Alters nicht in eigener Verantwortung handeln können. Becker und Murphy (1988) fordern deshalb neben staatlichen Eingriffen im Bereich der Bildung und der Schaffung von Humankapital den Aufbau einer staatlich organisierten Altersvorsorge, um den gemeinsamen Interessen von Eltern und Kindern Rechnung zu tragen. Soziale Nonnen können diese Funktion ebenfalls erfüllen. Sie bieten den Eltern in vielen Fällen ausreichende Sicherheit, im Alter von ihren Kindern angemessen entschädigt zu werden. Allerdings können sich soziale Normen im wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß auch ändern, so daß nicht alle Eltern gewillt sein müssen, sich auf das Wohlwollen ihrer Kinder zu verlassen. Was die Ausbildung von Kindern im Grundschulbereich betrifft, ist dieses Problem für die Entwicklungsländer zwar insofern weniger gravierend, als die Eltern damit rechnen können, zumindest einige Jahre von der höheren Arbeitsproduktivität ihrer Kinder zu profitieren. Dennoch ist im allgemeinen davon auszugehen, daß soziale Normen und staatlich organisierte soziale Sicherungssysteme die Investitionsentscheidungen der Eltern wesentlich beeinflussen können. Vor einem ungleich größeren Problem stehen Eltern, die aufgrund ihrer Armut nicht in der Lage sind, Ersparnisse zu bilden. Sie können keine eigenen Ressourcen auf13 Die meisten einschlägigen theoretischen Modellansätze bauen auf der Arbeit von Becker (1965) auf. Siehe dazu insbesondere auch Baland und Robinson (2000). 14 Diese Feststellung geht auf die Arbeiten von Becker und Murphy (1988) sowie Nerlove, Razin und Sadka (1988) zurück. Wir folgen hier der Darstellung von Becker und Murphy (1988).

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• Harald Großmann und Andreas Knorr

wenden, um Investitionen in die Ausbildung ihrer Kinder zu finanzieren, ohne daß sie auf lebensnotwendigen Konsum verzichten. Da die Kinder selbst keine eigenen Ressourcen besitzen, mit denen sie ihre Eltern dafür entschädigen könnten, daß diese ihnen in jungen Jahren die Arbeit ersparen und eine Ausbildung ermöglichen, müßten die Familien einen Kredit aufnehmen, den die Kinder später zurückzahlen. Dadurch könnten sich wiederum beide Seiten besserstellen. Der Zugang zu den Finanzmärkten ist deshalb im Hinblick auf die Kinderarbeit von großer Bedeutung. Aufgrund mangelnder Sicherheiten besitzen arme Familien oftmals keine Möglichkeit, Kredite zu annehmbaren Konditionen zu erhalten (vgl. Ranjin 2001), so daß die bloße Aussicht auf ein höheres Einkommen den Kindern armer Eltern nicht weiterhilft. Deshalb ist auch nicht zu erwarten, daß arme Eltern ohne fremde Hilfe in der Lage sind, effiziente Investitionen in die Ausbildung der Kinder vorzunehmen, wenn die Familien aus Gründen der Existenzsicherung auf das Einkommen der Kinder angewiesen sind.

2. Auswirkungen der Kinderarbeit a. Kinderarbeit und wirtschaftliche Entwicklung Kinderarbeit beeinflußt nicht nur die Lebensbedingungen von Eltern und Kindern, sondern wirkt sich auch auf das Wirtschaftswachstum aus. So ist zu erwarten, daß langfristig und vor allem dauerhaft die Humankapitalbildung eines Landes darunter leidet, wenn den Kindern durch eine frühzeitige Erwerbstätigkeit die Möglichkeit auf eine Schulausbildung genommen wird. Es ist wenig umstritten, daß Investitionen in Humankapital entscheidend zum Wirtschaftswachstum beitragen, auch wenn sie allein kein Wirtschaftswachstum garantieren können (vgl. für viele Wolf2002 sowie die dort angegebene Literatur). Arbeitnehmer, die mehr Humankapital besitzen, weisen im allgemeinen eine höhere Arbeitsproduktivität auf und erzielen auch ein höheres Einkommen. Grootaert und Kanbur (1995) machen darauf aufmerksam, daß die Grundschulausbildung von Mädchen häufig einen Rückgang der Geburtenhäufigkeit zur Folge hat, was aus gesellschaftlicher Sicht wünschenswert sein kann. Auch gibt es zahlreiche Hinweise darauf, daß sich die Bildung der Eltern, insbesondere der Mütter, positiv auf die Gesundheit, Ernährung und Bildung ihrer Kinder auswirkt (vgl. hierzu Michaelowa 2001 und die dort angegebene Literatur). Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, daß sich das Wissen einzelner Personen - zum Beispiel über bestimmte Anbaumethoden in der Landwirtschaft - auf andere Personen in der Umgebung ausbreitet. Um zu verhindern, daß die Bildungsinvestitionen aus gesamtwirtschaftlicher Sicht zu gering ausfallen, wenn solche positiven externen Effekte vorliegen, wird deshalb dem Staat in aller Regel die Aufgabe zugewiesen, ausreichende Qualifizierungsmöglichkeiten zur Verfugung zu stellen. Kinderarbeit muß sich allerdings nicht in jedem Fall schädlich auf die Humankapitalausstattung eines Landes auswirken. So gibt es durchaus Formen von Arbeit, welche die Gesundheit der Kinder nicht beeinträchtigen, die mit einer Schulausbildung vereinbar sind und die im Sinne eines ,learning by doing' sogar positive Auswirkungen auf das Humankapital haben. Nicht übersehen werden sollte nämlich, daß Kinder keines-

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wegs nur in der Schule, sondern gerade auch im Arbeitsprozeß wertvolle Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben können (vgl. Boyden, Ling und Myers 1998). Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, daß das Einkommen der Kinder für eine bessere Ernährung und medizinische Vorsorge sorgt. 15 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang außerdem, daß das Einkommen der Kinder häufig dazu beiträgt, die eigene Schulausbildung oder die ihrer jüngeren Geschwister zu finanzieren. Ob Kinderarbeit das Wirtschaftswachstum bremst, hängt deshalb wesentlich davon ab, welche Tätigkeiten die Kinder verrichten und zu welchen Zwecken das daraus resultierende Einkommen verwendet wird. In zahlreichen Ländern der Dritten Welt wird der wirtschaftliche Entwicklungsprozeß durch ein hohes Bevölkerungswachstum behindert. Die steigende Bevölkerungszahl und -dichte machen es zunehmend schwieriger, die Bevölkerung ausreichend zu ernähren und auszubilden. 16 Insofern kann sich Kinderarbeit negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirken, wenn sich dadurch für die Eltern größere Anreize ergeben, mehr Kinder in die Welt zu setzen. So erklärt zum Beispiel Galli (2001) die hohe Geburtenhäufigkeit in den Entwicklungsländern damit, daß die Kosten der Kindererziehung besonders gering ausfallen, wenn Kinder bereits in frühem Alter mit ihrer Arbeit zum Familieneinkommen beitragen. Bei dieser einfachen Argumentation wird allerdings vernachlässigt, daß Eltern im allgemeinen auch ein Interesse an der Qualität ihrer Kinder haben, 17 wobei Zahl und Qualität in Wechselwirkung zueinander stehen (vgl. Becker und Tomes 1976). Die Kinderzahl dürfte deshalb eher davon abhängen, wie hoch die Erträge aus einfacher Arbeit in Relation zu den Bildungserträgen ausfallen. 18

b. Kinderarbeit und internationale Arbeitsteilung Kinderarbeit beeinflußt nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung in den betreffenden Ländern, sondern wirkt sich über die internationale Arbeitsteilung auch auf deren Handelspartner aus (vgl. Großmann et al. 2002). Dabei sind häufig Äußerungen zu vernehmen, daß Importe aus Entwicklungsländern, die mit Hilfe von Kinderarbeit hergestellt werden, den Industrieländern wirtschaftlichen Schaden zufügen. Unter den Annahmen der traditionellen Außenhandelstheorie sind solche Befürchtungen allerdings völlig unbegründet. Demnach sind es gerade die Unterschiede zwischen den Ländern, welche die Quelle internationaler Handelsgewinne bilden. Dabei ist es von untergeordneter Bedeutung, warum und in welcher Weise sich die Länder voneinander unterscheiden. Entsprechend profitieren die Industrieländer vom freien Handel unabhängig davon, ob Kinder in den Entwicklungsländer arbeiten oder nicht.

15 Mehrere empirische Studien stellen beispielsweise fest, daß Unterernährung und Krankheit einen signifikant negativen Einfluß auf die Schulleistungen haben. Vgl. Boyden, Ling und Myers (1998). 16 Ausführlich zu den Auswirkungen des Bevölkerungswachstums auf die wirtschaftliche Entwicklung siehe Hemmer (2002). 17 Die in Punkt Ill.l.a. behandelten Modelle zum mangelnden Altruismus stellen u. E. einen Spezialfall dar. 18 Zu diesem Ergebnis kommt beispielsweise auch eine empirische Analyse von Rosenzweig und Evenson (1977). Arme Eltern setzen demnach mehr Kinder in die Welt, wenn die Erträge aus einfacher Arbeit in Relation zu den Bildungserträgen zunehmen.

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Es besteht sogar Grund zu der Annahme, daß die Industrieländer größere Handelsgewinne realisieren, wenn Kinder in den Entwicklungsländern zur Arbeit herangezogen werden - unter der Prämisse, daß ihre Teilnahme am Erwerbsleben das Arbeitskräfteangebot dort erhöht und die Lohnkosten deshalb entsprechend sinken. Legt man ein einfaches Heckscher-Ohlin-ModzW zugrunde, verstärken sich durch Kinderarbeit dann die komparativen Vorteile der Entwicklungsländer bei der Herstellung arbeitsintensiver Güter. Sie weiten deshalb die Produktion und den Export dieser Güter aus, während sich die Industrieländer stärker auf die Produktion kapitalintensiver Güter spezialisieren. Die Preissenkungen in den arbeitsintensiven Branchen sind für die Industrieländer von Vorteil, da sich ihre Terms of Trade verbessern, das heißt für jede importierte Einheit des arbeitsintensiven Gutes müssen weniger Einheiten des kapitalintensiven Gutes exportiert werden. Für die Entwicklungsländer verschlechtern sich dagegen die Terms of Trade. Da die Industrieländer von den Preissenkungen in den arbeitsintensiven Branchen profitieren, besteht für sie aus handelspolitischer Sicht wenig Anlaß, auf ein Verbot der Kinderarbeit in den Entwicklungsländern zu dringen. Schwierigkeiten wären allenfalls dann zu erwarten, wenn die Entwicklungsländer durch Kinderarbeit, wie häufig befürchtet wird, ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit in denjenigen Bereichen steigern könnten, in denen die Industrieländer bislang überdurchschnittlich hohe Renten erzielten. Dies ist allerdings angesichts der sehr großen Unterschiede bei den jeweiligen komparativen Vorteilen und vor allem aufgrund der großen Dynamik grenzüberschreitender Marktprozesse äußerst unrealistisch (vgl. ausführlich dazu Oberender 1988). Eher besteht die Gefahr, daß in den Bereichen, in denen vergleichsweise homogene Produkte mit einheitlicher Technologie hergestellt werden und sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit im wesentlichen auf die Lohn- und Lohnnebenkosten reduziert, zunehmende Importe aus den Entwicklungsländern einen gewissen Druck auf das Lohnniveau in den Industrieländern ausüben. Dabei dürften die allein durch Kinderarbeit ausgelösten Reallokations- und Verteilungswirkungen allerdings nur am Rande ins Gewicht fallen und die Industrieländer kaum vor eine unlösbare sozialpolitische Aufgabe stellen. Befürchtet wird darüber hinaus, daß Unternehmen aus den Industrieländern verstärkt Direktinvestitionen in denjenigen Ländern tätigen, in denen Kinder zur Arbeit herangezogen werden. Dies würde die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung aus Sicht der Industrieländer gefährden. Tatsächlich gibt es bislang allerdings keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß diese Befürchtungen berechtigt sind. Offensichtlich spielen bei den Investitionsentscheidungen der Unternehmen andere Faktoren eine weitaus größere Rolle. Dies bestätigt auch eine empirische Studie von Rodrik (1996). Er kommt zu dem Ergebnis, daß ausländische Investoren durch Kinderarbeit, möglicherweise aufgrund der damit einhergehenden schlechten Publicity in ihren Heimatländern, eher abgeschreckt denn angelockt werden. Für die Entwicklungsländer könnte es deshalb im Gegenteil sogar sehr attraktiv sein, Maßnahmen zur Beseitigung der Kinderarbeit zu ergreifen, um Investoren aus den Industrieländern anzuziehen.

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IV. Maßnahmen zur Überwindung der Kinderarbeit 1. Völkerrechtliche Regelungen a. ILO-Konventionen Im Mittelpunkt der Versuche, mit Hilfe des Völkerrechts Kinderarbeit einzudämmen beziehungsweise sie langfristig sogar völlig zu überwinden, stehen mehrere Konventionen der ILO. Hervorzuheben sind dabei die bereits erwähnten Übereinkommen über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung (ILO-Konvention Nr. 138, 1973) und über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit (ILO-Konvention Nr. 182, 1999). Zu nennen ist außerdem das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom November 1989, das sich im Gegensatz zu den beiden ILO-Konventionen nicht ausschließlich mit der Kinderarbeit befaßt. 19 Die ILO-Konvention Nr. 138 verpflichtet, wie bereits erwähnt, jeden Unterzeichnerstaat dazu, eine innerstaatliche Politik zu verfolgen, welche die tatsächliche Abschaffung der Kinderarbeit sicherstellt, indem dieser das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung oder Arbeit fortschreitend bis auf einen Stand anhebt, bei dem die volle körperliche und geistige Entwicklung der Jugendlichen gesichert ist. Demgegenüber verpflichtet die ILO-Konvention Nr. 182 die sie ratifizierenden Staaten, unverzüglich wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, daß die schlimmsten Formen der Kinderarbeit wie Sklaverei, Schuldknechtschaft und Kinderprostitution verboten und beseitigt werden. Die zuständigen nationalen Stellen haben alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, welche die wirksame Durchführung und Durchsetzung der Bestimmungen zur Umsetzung der Konvention garantieren. Hierzu zählen auch die Festsetzung sowie die Anwendung strafrechtlicher Maßnahmen oder gegebenenfalls anderer Zwangsmaßnahmen, für die es bislang jedoch keine Präzedenzfalle gibt. So sind die von den jeweiligen Unterzeichnerstaaten eingegangenen Verpflichtungen zwar völkerrechtlich verbindlich. Jedoch verfügt die ILO selbst über keine ausreichenden Sanktionsmechanismen, mit denen sie die Einhaltung der Konventionen erzwingen könnte. Dies wird als Ursache dafür angesehen, daß in zahlreichen Ländern zwischen Ratifizierung und Umsetzung der ILO-Konventionen eine erhebliche Diskrepanz besteht.

b. UN-Übereinkommen Im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom November 1989 beschäftigt sich Art. 32 mit der Kinderarbeit. Darin erkennen die Vertragsstaaten in Art. 32 (1) das Recht des Kindes an, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt und nicht zu Arbeiten herangezogen zu werden, die Gefahren mit sich bringen, die Erziehung des Kindes behindern oder die Gesundheit des Kindes oder seine

19 Der volle Text dieses Übereinkommens findet auf der UNICEF-Homepage (http://www.unicef.orp/ crc/crc.htm) (Stand: 15. Februar 2003).

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körperliche, geistige, seelische, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen könnten. Gemäß Art. 32 (2) treffen die Vertragsstaaten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozialund Bildungsmaßnahmen, um die Durchfuhrung dieses Artikels sicherzustellen. Zu diesem Zweck und unter Berücksichtigung der einschlägigen Bestimmungen anderer internationaler Übereinkünfte sollten die Vertragsstaaten insbesondere ein oder mehrere Mindestalter für die Zulassung zur Arbeit festlegen, eine angemessene Regelung der Arbeitszeit und der Arbeitsbedingungen vorsehen und angemessene Strafen oder andere Sanktionen zur wirksamen Durchsetzung dieses Artikels vorsehen. Der Verweis auf die Bestimmungen anderer internationaler Übereinkünfte zielt dabei eindeutig darauf ab, die Kompatibilität mit den erwähnten ILO-Konventionen im Bereich der Kinderarbeit herzustellen.

2. Ökonomische Analyse der einzelnen Instrumente a. Armutsbekämpfung durch Wirtschaftswachstum Da Kinderarbeit, wie weiter oben im Detail ausgeführt wurde, zu einem großen Teil durch Armut verursacht wird, kommt es bei der Bekämpfung der Kinderarbeit vor allem darauf an, eben diese ihr zugrunde liegende Armut zu überwinden. Dabei ist zunächst an Maßnahmen zu denken, die das Wirtschaftswachstum fordern. Wirtschaftswachstum spielt beim Abbau der Armut und damit auch der armutsbedingten Kinderarbeit schon deshalb eine bedeutende Rolle, weil der wirtschaftliche Wohlstand eines Landes im allgemeinen auch den ärmeren Bevölkerungsgruppen zugute kommt. So stellt zum Beispiel eine empirische Studie der Weltbank fest, daß „mit zunehmendem Reichtum eines Landes ... der Durchschnittsverbrauch des ärmsten Fünftels der Bevölkerung steigt und der durchschnittliche Anteil der Menschen, die von weniger als 1 US-Dollar pro Tag leben, abnimmt" (Weltbank 2001, S. 54). Andere empirische Studien weisen nach, daß mit zunehmendem Wohlstand eines Landes auch die Kinderarbeit zurückgeht (vgl. hierzu die Literaturangaben in US Department of Labor 2000, S. 17). Wirtschaftswachstum verbessert überdies die ökonomischen Voraussetzungen, sozialpolitische Maßnahmen ergreifen zu können oder auszuweiten. Allerdings kann es lange dauern, bis sich in den Entwicklungsländern wirtschaftlicher Wohlstand einstellt. Ob alle Bevölkerungsgruppen in der Übergangszeit von den Maßnahmen profitieren, die zur Förderung des Wachstums ergriffen werden, ist außerdem keineswegs sicher. Oftmals sind es gerade die ärmeren Bevölkerungsgruppen, welche zumindest kurz- und mittelfristig die Lasten der wachstumsfordernden Maßnahmen zu tragen haben, ohne in den Genuß der Vorteile des wirtschaftlichen Wohlstandes zu gelangen. In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus noch zu berücksichtigen, daß zwischen Wirtschaftswachstum und sozialem Fortschritt eine wechselseitige Beziehung besteht. So schafft Wirtschaftswachstum nicht nur die materiellen Voraussetzungen für jeglichen sozialen Fortschritt, sondern sozialer Fortschritt wirkt sich auch positiv auf das Wirtschaftswachstum aus. Deshalb ist es notwendig, die allgemeinen Strategien zur Förderung des Wirtschaftswachstums durch eine Politik zugunsten der ärmeren Bevölkerungsgruppen zu

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ergänzen, wobei die Wachstumswirkungen einer solchen Politik natürlich nicht außer acht gelassen werden dürfen. Entsprechend sind die entwicklungspolitischen Bemühungen insbesondere der Weltbank in jüngster Zeit verstärkt darauf gerichtet, integrierte Strategien zu verfolgen, welche Wirtschaftswachstum und sozialen Fortschritt miteinander in Einklang bringen. In ihrem Weltentwicklungsbericht 2000/2001 sieht sie hierfür beispielsweise geeignete Ansatzpunkte in drei sich gegenseitig ergänzenden Bereichen vor. Maßnahmen, die den ärmeren Bevölkerungsgruppen den Zugang zu Humankapital erleichtern, bilden einen zentralen Bestandteil der propagierten integrierten Strategien (siehe allgemein dazu Weltbank 2001). Im wesentlichen geht es darum, — sozial Schwachen Einkommensquellen zu erschließen (Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten), — sie bei der Risikobewältigung zu unterstützen (Verbesserung ihrer ökonomischen Sicherheit) sowie — darauf hinzuwirken, daß die staatlichen Institutionen bei ihren Handlungen stärker als bisher deren Bedürfnisse zu berücksichtigen haben (Förderung des sogenannten Empowerment). Konkret wäre im Rahmen der ersten Teilaufgabe dafür zu sorgen, daß sich die Einkommen der Armen (zum Beispiel durch Bildung) dauerhaft erhöhen und daß daraus zudem eigene Ersparnisse gebildet werden. Als besonders effektiv dürften sich dabei unter anderem diejenigen Maßnahmen erweisen, die den Zugang armer Familien zu Krediten und Finanzkapital verbessern und sie somit in die Lage versetzen, sich zu marktgerechten Konditionen zu verschulden. 20 Der Aufbau sozialer Sicherungssysteme — ein weiterer, jedoch nur auf lange Sicht und nur im Rahmen einer wachsenden Wirtschaft erfüllbarer Schwerpunkt der zweiten Teilaufgabe 21 welche insbesondere arme Bevölkerungsgruppen bei der Bewältigung existenzbedrohender sozialer Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Alter unterstützen, dürfte sich ebenfalls positiv auf die Humankapitalbildung auswirken, da die Familien dann in geringerem Maße auf die Mitarbeit der Kinder angewiesen wären, als sie es derzeit noch sind. 22 Die Forderung nach Empowerment läuft schließlich auf eine Verbesserung der staatlichen 20 In diesem Zusammenhang werden seit einiger Zeit Lösungsansätze diskutiert, die in ihrer Gesamtheit als Mikrofinanzierung bekannt sind. Vgl. hierzu Weltbank (2001, S. 88 ff.). 21 Bekanntlich kann das soziale Schutzniveau einer Volkswirtschaft nur im Zuge des Produktivitätsfortschritts angehoben werden. Dies zeigt auch die Entwicklung in den westlichen Industrienationen sowie in dynamischen Entwicklungs- und Schwellenländern wie etwa Taiwan, Malaysia, Mauritius und Südkorea, deren Sozialquoten - also der prozentuale Anteil der staatlichen Sozialausgaben bezogen auf das Volkseinkommen - als Folge ihres kontinuierlichen Wirtschaftswachstums anstiegen. Gleiches gilt für Deutschland, dessen Sozialquote derzeit etwa 30 % erreicht - im Vergleich zu knapp 15 % noch Anfang der fünfziger Jahre (vgl. Institut der Deutschen Wirtschaft, diverse Jahrgänge). 22 Engels (1996, S. 11 ff.) betont die zentrale Rolle der durch die fortschreitende Industrialisierung der Masse der privaten Haushalten erstmals in der Menschheitsgeschichte offen stehenden Möglichkeit zur Vermögensbildung als Alternative zur sozialen Absicherung im Rahmen der traditionellen Großfamilie (mitsamt ausgeprägter Kinderarbeit). Er stellt dazu plakativ fest, daß ,,[i]n den Armenhäusern früherer Jahrhunderte überwiegend alte Menschen [lebten], die keine Kinder hatten oder deren Kinder frühzeitig gestorben waren. Das Wort .Kinderreichtum' hatte damals eine ganz konkrete Bedeutung" (S. 16).

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und gesellschaftlichen Institutionen sowie eine stärkere Beteiligung der Armen am politischen Prozeß und die Beseitigung der Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen aufgrund persönlicher Merkmale wie Rasse, Religion oder Geschlecht hinaus.23 b. Verbot der Kinderarbeit Ob die vielfach geforderten Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung eines Mindestalters für die Zulassung zu einer Beschäftigung oder Arbeit hilfreich sind, die Lebensbedingungen der Kinder in den Ländern der Dritten Welt zu verbessern, erscheint demgegenüber höchst zweifelhaft. Vielmehr besteht die Gefahr, daß ein einfaches Verbot der Kinderarbeit nachteilige Auswirkungen auf das Einkommen armer Familien hat und somit die Existenzgrundlage der Kinder zerstört. Häufig lautet die Alternative zur Kinderarbeit nämlich nicht Schule oder Ausbildung, sondern Hunger und Krankheit. Anders verhält es sich, wenn Familien nicht am Rande des Existenzminimums leben und somit mangelnder Altruismus dafür verantwortlich ist, daß Kinder zur Arbeit herangezogen werden. Können es sich die Eltern aufgrund ihrer Einkommenssituation leisten, auf die Arbeit ihrer Kinder zu verzichten, lassen sich Zwangsmaßnahmen durchaus vertreten. So weisen Basu und Van (1998) in einer grundlegenden und viel zitierten Abhandlung darauf hin, daß die Arbeitsmärkte in den Entwicklungsländern unter bestimmten Modellannahmen multiple Gleichgewichte aufweisen können, die durch unterschiedlich hohe Löhne für Kinder und Erwachsene gekennzeichnet sind. Ein Verbot der Kinderarbeit könnte dann zu einem Arbeitsmarktgleichgewicht mit einem höheren Haushaltseinkommen als in einer Situation ohne ein derartiges Verbot fuhren. 24 Ob dieser Fall eintritt, hängt modellgemäß entscheidend von der jeweiligen Ausgangssituation der Länder ab. So existiert bei einer sehr geringen Arbeitsproduktivität nur ein Arbeitsmarktgleichgewicht, in dem es sich die Eltern nicht leisten können, auf das Einkommen ihrer Kinder zu verzichten. Ein Verbot der Kinderarbeit führt dann zu einem geringeren Haushaltseinkommen. Bei einer sehr hohen Arbeitsproduktivität existiert dagegen nur ein Gleichgewicht, bei dem die Eltern nicht auf das Einkommen ihrer Kinder angewiesen sind. Ein Verbot der Kinderarbeit ist in diesem Fall überflüssig. Basu und Van (1998) sprechen sich deshalb statt dessen für Maßnahmen aus, die geeignet sind, die Arbeitsproduktivität zu steigern. Für die Kinder selbst wäre ein Verbot der schlimmsten Formen der Kinderarbeit zwar grundsätzlich mit einem weitaus geringeren Risiko für Leib, Leben und Gesundheit verbunden als die Durchsetzung eines Mindestalters für die Zulassung zu Beschäftigung und Arbeit. Insbesondere Kinder, die von Sklaverei, Prostitution und ähnlich eklatanten Verstößen gegen grundlegende Menschenrechte betroffen sind und damit de facto keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen besitzen und in der Regel keine nen-

23 Klasen (1999) stellt fest, daß sich die zu beobachtenden Wachstumsdifferenzen zwischen den Entwicklungsländern zu einem großen Teil durch die teils beträchtlichen Unterschiede hinsichtlich der Diskriminierung von Frauen in der Ausbildung erklären lassen. 24 Kinderarbeit ist in diesem Fall als eine Erscheinungsform des inversen Arbeitsangebotes anzusehen, d. h. höhere Löhne gehen mit einem niedrigeren Arbeitsangebot einher (und umgekehrt).

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nenswerten Einkünfte erzielen, haben bei einem Verbot dieser schlimmsten Formen der Kinderarbeit mithin verhältnismäßig wenig zu verlieren. Doch selbst in diesen Extremfällen können gesetzliche Regelungen allein allerdings nicht sicherstellen, daß sich die Lebensbedingungen der Kinder entscheidend verbessern. 25 Auch hierfür wären wiederum Maßnahmen erforderlich, welche die Eltern in die Lage versetzen, in das Humankapital der Kinder zu investieren. Ein Verbot von Kinderarbeit, insbesondere der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, stellt insofern lediglich eine flankierende Maßnahme dar, die zur Lösung des Problems beitragen kann, zumal dessen Durchsetzung durch die lokalen Behörden durchaus nicht immer gewährleistet ist; an dieser Stelle möge der Hinweis auf Korruption sowie die oft fehlende personelle Ausstattung der Polizei und der Aufsichtsbehörden genügen. Nicht übersehen werden sollte an dieser Stelle schließlich, daß die Abschreckungswirkung eines derartigen Verbots zudem noch ganz wesentlich von der Schwere der drohenden Strafen abhängt und davon, ob sie in der Tat verhängt würden. In der wirtschaftshistorischen Diskussion der Ursachen des Rückgangs der Kinderarbeit in den westlichen Industrienationen wird derartigen Verbotsregeln just deswegen übrigens eine nur geringe Bedeutung zugemessen (vgl. Cunningham 2000, S. 415 ff.).

c. Einführung einer allgemeinen Schulpflicht Einen indirekten Ansatz zur Durchsetzung des Verbots von Kinderarbeit stellt die Einführung einer allgemeinen Schulpflicht dar (vgl. Weiner 1991). Diese Lösung hat zum einen den Vorzug, daß Ihre Einhaltung in der Praxis, ceteris paribus, wesentlich leichter zu kontrollieren ist als die Beachtung eines Kinderarbeitsverbots (vgl. Basu 1999, S. 1090). In der Tat zeigt sich in Länderquerschnittsanalysen ein recht enger inverser Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Kinderarbeit und der Zahl der eingeschriebenen Schülerinnen und Schüler; er ist um so ausgeprägter, je stärker die Einhaltung der Schulpflicht kontrolliert wird (vgl. US Department of Labor 2000, S. 4 ff.). Darüber hinaus, so das wichtigste Argument zugunsten einer allgemeinen Schulpflicht, begünstigt sie für die langfristige Armutsbekämpfung unabdingbare wachstumsfördernde und damit wohlstandsmehrende Humankapitalbildung. Wie bereits weiter oben ausführlich erläutert wurde (vgl. Abschnitt ffl.l.b.), stellt das Instrument Schulpflicht per se jedoch keineswegs eine hinreichende Bedingung für den Abbau von Kinderarbeit dar. Entscheidend für deren Effektivität sind zum einen letztlich, wie bereits erwähnt, die Qualität der vermittelten Schulbildung und die Zugangsmöglichkeiten für Kinder aus sozial schwachen Familien zum Schulwesen. Zum anderen müssen die betroffenen Familien in der Lage sein, die Kosten der Schulbildung selbst und des mit der Substitution von Kinderarbeit durch Schulbesuch zwangsläufig einhergehenden Verdienstausfalls zu finanzieren.

25 Eine Studie des US Department of Labor (1998) zeigt, daß auch Länder, in denen Kinderarbeit weit verbreitet ist, über gesetzliche Beschränkungen der Kinderarbeit verfügen.

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d. Verbesserter Zugang zu Bildungseinrichtungen Um arme Eltern in die Lage zu versetzen, mehr in die Bildung ihrer Kinder zu investieren, ist es über die formale Einfuhrung einer Schulpflicht hinaus allerdings noch erforderlich, vielerorts noch bestehende Benachteiligungen der ärmeren Bevölkerungsgruppen beim Zugang zu den von staatlicher Seite bereitgestellten schulischen Einrichtungen sowie zu den Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Verkehrsinfrastruktur zu beseitigen. Diese sind nicht selten in den Wohngebieten, in denen besonders viele Arme leben, nur von geringer Qualität oder überhaupt nicht vorhanden. Der Ausbau öffentlicher Leistungen bringt den Kindern und ihren Familien allerdings wenig, wenn sie nicht über die für deren Inanspruchnahme erforderlichen Finanzmittel verfugen.

e. Anreize in Form von Bildungssubventionen Immer mehr Länder der Dritten Welt versuchen daher, durch reale staatliche Transferzahlungen in Form kostenloser Schulspeisungen die ökonomischen Anreize zum regelmäßigen Schulbesuch zu erhöhen. Zu den wichtigsten dieser Ansätze zählen (vgl. dazu US Department of Labor 1998, Kapitel V) — das brasilianische Marenda escolar-Programm, das für etwa 460 Mio. € pro Jahr in ca. 3 300 Städten und Gemeinden des Landes ein kostenloses Schulfrühstück und -mittagessen garantiert, — das mexikanische Sistema para el Desarrollo Integral de la Familia (DIF) - auf deutsch etwa: Integriertes Familienentwicklungssystem - , in dessen Rahmen täglich knapp vier Millionen Schülerinnen und Schüler in ländlichen Regionen und städtischen Problemgebieten ein Gratisschulfrühstück erhalten sowie — das südafrikanische, etwa fünf Millionen Schulkinder versorgende, Primary School Nutrition Program. Da die zuvor genannten Programme die Familien jedoch nur um einen Teil der Ernährungskosten entlasten, sie jedoch nicht für den mit dem Schulbesuch verbundenen Verdienstausfall der Kinder materiell entschädigen, dürfte ihre Anreizwirkung für viele Familien allerdings nicht ausreichend sein. An diesem Konstruktionsfehler setzen neuere Hilfsprojekte, namentlich das brasilianische Bolsa esco/a-Programm sowie das mexikanische PROGRESA -Programm, an. Sie versuchen, eben diese Einkommenslücke durch anreizkompatibel ausgestaltete Transferleistungen zu schließen. Das Bolsa esco/a-Programm wurde 1995 von der brasilianischen Regierung kreiert. Es garantiert jeder bedürftigen Familie, deren sieben- bis vierzehnjährige Kinder allesamt an einer Grundschule eingeschrieben sind und in der ein erwachsenes Familienmitglied arbeitslos ist, unter zwei Voraussetzungen ein monatliches Mindesteinkommen: Die Kinder müssen nachweislich wenigstens 90 % aller monatlichen Unterrichtseinheiten besuchen, und das beschäftigungslose erwachsene Familienmitglied muß offiziell als Arbeitsloser registriert sein. Ergänzt wird das Bolsa escola- seit geraumer Zeit durch das Poupanca esco/a-Programm. Demnach erwirbt jede Familie, deren Kinder die Klassen eins bis elf

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erfolgreich absolviert haben, einen Anspruch auf eine Transferleistung von je einem Monatsgehalt (in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns) pro Schuljahr. Dieser wird von der Regierung auf ein individuelles Sparkonto einbezahlt und den Eltern erst nach Abschluß der Schulzeit ausbezahlt. Sie verwirken ihren Anspruch jedoch, falls ihr Kind eine Klasse zweimal hintereinander wiederholen muß beziehungsweise die Schule vorzeitig ohne Abschluß verläßt. Derzeit wird die Kombination aus Bolsa escola- und Poupanca esco/a-Programm nur im brasilianischen Bundesdistrikt um die Hauptstadt Brasilia, dem Pilotbezirk, praktiziert, das Bolsa esco/a-Programm alleine zudem noch in bislang weiteren fünfzehn Städten. Insgesamt gelang es im Pilotbezirk, die Abbrecherquote innerhalb eines Jahres von 11 auf 0,4 % zu senken (US Department of Labor 1998). Nicht übersehen werden sollte jedoch ein Konstruktionsfehler des Poupanca escolaAnsatzes. Da die begünstigten Familien nämlich keine Eigentumsrechte am angesparten Guthaben besitzen, bleibt es ihnen auch verwehrt, dieses als Sicherheit für Kredite zur Finanzierung kostenpflichtiger Bildungsangebote sowie von Lehrmitteln oder gar zur Deckung laufender Ausgaben zu verwenden. Damit ist das Programm, da es keinen unmittelbaren Beitrag zur Deckung der vielfaltigen direkten und indirekten Kosten der Schulausbildung leistet, ungeeignet, Kinderarbeit, in dem Maße wie sie überwiegend armutsbedingt ist, ursachenadäquat zu bekämpfen (vgl. Brown 2001, S. 13). Im Vergleich zu den soeben erörterten brasilianischen Ansätzen deutlich effizienter ist das im Jahr 1997 vom damaligen mexikanischen Staatspräsidenten Zedillo begründete PÄOGÄES^-Programm (zu deutsch etwa: Programm für Bildung, Gesundheit und Ernährung; zu den Einzelheiten siehe US Department of Labor 1998). Zielgruppe des mit umgerechnet ca. 250 Millionen € dotierten Programms ist die Reintegration der knapp zwei Millionen schulpflichtigen mexikanischen Kinder, die entweder nur unregelmäßig oder gar nicht mehr zum Unterricht erscheinen. Ähnlich dem brasilianischen Bolsa ejco/a-Programm beruht es auf der Vergabe vierzehntäglich ausbezahlter Bildungsstipendien an die Eltern derjenigen Schülerinnen und Schüler in den Klassen drei bis neun, die zumindest 85 % des Unterrichtspensums nachweisen können. Sie erreichen Beträge von umgerechnet ca. 8 bis 65 € und sind progressiv in Abhängigkeit von der (erfolgreichen) Verweildauer im Schulwesen gestaffelt; für Mädchen werden von der Sekundarstufe aufwärts geringfügig höhere Stipendien als für Knaben bereitgestellt. Schließlich sieht PROGRESA direkte zweckgebundene Transfermittel für die Beschaffung von Lehrmaterialien für bedürftige Schülerinnen und Schüler in den Klassen eins bis neun vor. Wenngleich bislang keine empirischen Untersuchungen zur Effektivität des PROGRESA-Programms vorliegen, besticht sein strikt ökonomischer Ansatz: So kompensiert der mexikanische Staat die Familien der von diesem Programm erfaßten Schülerinnen und Schüler für den durch deren Ausbildung eintretenden Rückgang des Familieneinkommens „by buy[ing] out the labor contract of the child from the parent" {Brown, Deardorff und Stern 2001, S. 38).

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f. Handelpolitische Sanktionen Weichen die arbeits- und sozialrechtlichen Vorschriften im Ausland sowie die dortigen Löhne von den im Inland üblichen Konditionen nach unten ab, wird dies von inländischen Gewerkschaftsvertretern und Sozialpolitikern oft als ,unfairer' Kosten- und Wettbewerbsvorteil der im Ausland produzierenden Unternehmen bei arbeitsintensiven Gütern kritisiert. Daran schließt sich regelmäßig die Forderung nach kompensatorischen handelspolitischen Gegenmaßnahmen, meist Einfuhrzöllen oder Importverboten, an. 26 Da gerade auch die Entlohnung von Kindern meist, vor allem aufgrund ihrer niedrigeren Produktivität und Qualifikation, sogar noch unterhalb derjenigen erwachsener (ausländischer) Arbeitnehmer liegt, werden von den oben genannten Akteuren entsprechend auch durchgreifende protektionistische Maßnahmen zur Eindämmung der Kinderarbeit gefordert. Ob Handelssanktionen ein geeignetes Mittel sind, soziale Mißstände zu beseitigen, ist jedoch äußerst zweifelhaft. Sie ergeben insbesondere dann wenig Sinn, wenn sich die Entwicklungsländer ein Verbot der Kinderarbeit ökonomisch nicht leisten können. 27 So schmälern auch sozialpolitisch motivierte Handelsbeschränkungen grundsätzlich den Wohlstand aller davon betroffenen Staaten und verschärfen damit das Armutsproblem in den Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländern noch. Letztlich induzieren sie also indirekt mehr statt weniger Kinderarbeit (vgl. Abschnitt M.l.a.). Anders formuliert, bestrafen sozialpolitisch motivierte Handelsbeschränkungen ärmere Volkswirtschaften mit deswegen zwangsläufig niedrigerem sozialen Schutzniveau für ihre wirtschaftliche Unterentwicklung, indem ihnen auf diese Weise perverserweise noch zusätzliche Wohlstandseinbußen aufgebürdet werden. Dies soll nicht heißen, daß ein Verbot der Kinderarbeit der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes zwangsläufig Schaden zufügt. Erweisen sich Regierungen als zu schwach, sich im eigenen Land gegen den Widerstand politischer Interessengruppen durchzusetzen, besteht kein Grund, den Einsatz von Sanktionen von vornherein auszuschließen. Auch in diesem Fall dürfte es allerdings kaum hilfreich sein, Kinderarbeit nur in Abhängigkeit von und ansetzend an deren Handelswirkungen zu bekämpfen. 28 So werden überhaupt nur etwa 20 % der Weltgüterproduktion international getauscht (vgl. WTO 2000). Somit dienen vier Fünftel des globalen Outputs ausschließlich der Befriedigung der Binnennachfrage. Um demonstrieren zu können, welche Implikationen dieses Faktum für die Effektivität handelspolitischer Sanktionen hat, empfiehlt es sich zunächst, die in einer Volkswirtschaft aktiven Leistungsanbieter wie folgt nach Sektoren zu klassifizieren: — Der Binnenwirtschaft, zu der auch der Großteil des informellen Sektors zählt, zuzurechnen sind alle Anbieter nicht grenzüberschreitend handelbarer bzw. gehandelter 26 Vgl. für viele Collingsworth, Goold und Harvey (1994, S. 8 ff.), Maskus (1997), Garg (1999) sowie Dessy (2000). 27 Dies ist dann der Fall, wenn der finanzielle Spielraum der Entwicklungsländer nicht ausreicht, ein Verbot der Kinderarbeit durch sozialpolitische Maßnahmen abzustützen. 28 Vgl. zu den Argumenten, die gegen den Einsatz von Handelssanktionen sprechen, unter anderem Krueger (1996), Golub (1997), Kuschnereit (2001) und Knorr (2002).

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Güter und Faktorleistungen (sogenannte ,non-tradables'). Mögliche Ursache der Nichthandelbarkeit sind vor allem im Verhältnis zum Wert der fraglichen Leistung prohibitive Raumüberwindungskosten. — Der dann noch verbleibende Sektor Außenwirtschaft läßt sich weiter unterteilen in die drei Subsektoren Exportgütersektor (ihm werden alle inländischen Anbieter zugerechnet, die ausschließlich für Auslandsmärkte produzieren), den Importersatzgütersektor (alle heimischen Anbietern, die auf dem Inlandsmarkt gegen ausländische Wettbewerber konkurrieren) sowie in die als Importeure tätigen inländischen Wirtschaftseinheiten. Wie unmittelbar einsichtig ist, wäre grundsätzlich nur der Exportgütersektor eines Landes unmittelbar von handelspolitischen Sanktionen des Auslands betroffen - im Fall von Sanktionen der Industrienationen gegen Kinderarbeit sogar nur diejenigen Exporteure, die Handelsbeziehungen zu eben diesen Industrienationen unterhalten. Nach Schätzungen von Experten der Weltbank arbeiten derzeit jedoch maximal 5 % aller Kinder in der industriellen Exportwirtschaft sowie weitere 1 bis 2 % in den exportorientierten Zweigen der Landwirtschaft (vgl. Fallon und Tzannatos 1998, S. 2 ff.). Die Hersteller nicht-handelbarer Güter und die Importersatzgüterindustrie könnten sich demgegenüber diesen Strafmaßnahmen mühelos entziehen. Das Ausmaß an Kinderarbeit in diesen beiden Subsektoren bliebe damit ceteris paribus unverändert. Unter normalen Elastizitätsbedingungen der Importnachfrage im sanktionierenden Land beziehungsweise generell im Fall eines Importverbots würden darüber hinaus die Kinder, die infolge des Einsatzes handelspolitischer Druckmittel bislang im Exportgütersektor beschäftigt wurden, freigesetzt. Sie müßten sich dann, um weiterhin wie bisher zum Familieneinkommen beitragen zu können, im Binnensektor verdingen. Falls sie dort jedoch nur niedrigere Löhne als in der Exportwirtschaft des fraglichen Landes erzielen können, bliebe es nicht bei einer bloßen Verlagerung. Im Gegenteil würde das Kinderarbeitsvolumen in der Binnenwirtschaft absolut zunehmen - mit allen negativen Rückwirkungen auf Schulbesuch und Gesundheitszustand der Betroffenen. Im Extremfall steht sogar eine Verlagerung von der Exportwirtschaft in den durch besonders niedrige Nominallöhne und besonders schlechte Arbeitsbedingungen sowie durch nicht selten überdurchschnittlich gefährliche Tätigkeiten gekennzeichneten informellen Sektor zu befürchten. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß eine protektionistische Handelspolitik als Instrument zur Eindämmung von Kinderarbeit schon ob ihrer ausgesprochen geringen Treffsicherheit - da sie nicht an den eigentlichen Ursachen der Kinderarbeit ansetzt als ineffizient und ineffektiv abzulehnen ist. Gegen sie spricht auch die mit jeder einseitig verhängten und von den betroffenen Staaten als ungerecht empfundenen Sanktion verbundene Gefahr handelspolitischer Vergeltungsmaßnahmen. Im Gegenteil ist der konsequente Abbau aller wachstumshemmenden und damit wohlstandsmindernden protektionistischen Maßnahmen unabdingbar, um (langfristig) dem Problem der Kinderarbeit in ärmeren Volkswirtschaften entgegenzutreten. Der Einsatz von Handelssanktionen ist allenfalls dann in Erwägung zu ziehen, wenn die Beseitigung der Kinderarbeit allein am mangelnden politischen Willen in den Entwicklungsländern scheitert.

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V. Schlußbetrachtung Kinderarbeit ist überwiegend armutsbedingt. Erfolgreiche Armutsbekämpfung muß deshalb die conditio sine qua non jeder Strategie zur Eindämmung der Kinderarbeit sein. Dies setzt die Bündelung einer Vielzahl wirtschaftspolitischer, insbesondere ordnungspolitischer Maßnahmen voraus, da sich andernfalls das unabdingbare nachhaltige Wirtschaftswachstum nicht einstellen würde. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Förderung der Humankapitalbildung zu. Kurzfristige Erfolge bei der Bekämpfung der Kinderarbeit sind somit eher unwahrscheinlich. Um so wichtiger ist es, während der Übergangszeit die ökonomische Attraktivität einer Schulausbildung durch eine Kombination aus Schulpflicht, qualitätssichernden Maßnahmen sowie monetären Anreizen in Form von Bildungssubventionen, etwa nach dem Vorbild des mexikanischen PROGRESAProgramms, nachhaltig zu steigern. Die wenigsten Entwicklungsländer dürften freilich, angesichts ihrer geringen Produktivität, kurz- bis mittelfristig in der Lage sein, die dafür erforderlichen Ressourcen aus eigener Kraft aufzubringen. Abhilfe schaffen könnten entweder zweckgebundene Transfers des reichen ,Nordens' zugunsten des ökonomisch unterentwickelten .Südens', vorzugsweise aber der konsequente Abbau des Industriestaatenprotektionismus bei Gütern wie namentlich Textilien und vielen landwirtschaftlichen Erzeugnissen, bei deren Herstellung die Entwicklungs- und Schwellenländer nachweislich über ausgeprägte komparative Vorteile verfugen. Handelssanktionen sind demgegenüber in höchstem Maße kontraproduktiv, wenn Kinderarbeit durch Armut verursacht wird. Nicht die Beseitigung der Armut, sondern im Gegenteil eine weitere Verschlechterung der Lebensbedingungen gerade der ärmsten Bevölkerungsschichten in den betroffenen Ländern wäre die unausweichliche Konsequenz. Erst wenn alle Möglichkeiten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ausgeschöpft sind und sichergestellt ist, daß sich die Entwicklungsländer ein Verbot der Kinderarbeit auch leisten können, kommen Handelssanktionen überhaupt in Betracht. Ein generelles Verbot ist, wie weiter oben nachgewiesen wurde, ebenfalls nur in Ausnahmefallen geeignet, um armutsbedingte Kinderarbeit substantiell zu reduzieren - beispielsweise als flankierende Maßnahme bei mangelndem Altruismus der Eltern. Dringend erforderlich erscheinen ergänzend auch ein internationales Verbot sowie ein entschiedenes Vorgehen, insbesondere auch mit den Mitteln des Strafrechts, gegen einige der „worst forms of child labor", allen voran Sklaverei, Kinderprostitution oder Kinderpornographie.

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Ökonomische Aspekte der Kinderarbeit • 2 1 7

Zusammenfassung In den Industrienationen seit Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend überwunden, gilt die in der Dritten Welt nach wie vor weit verbreitete Kinderarbeit als eines der zentralen sozialen Probleme der Gegenwart. Angesichts erheblicher Datenprobleme ist ihr genaues Ausmaß jedoch kaum zuverlässig abzuschätzen. Wie in der Abhandlung außerdem dargelegt wurde, hat Kinderarbeit ganz überwiegend ökonomische Ursachen, insbesondere Armut. Sie kann deshalb langfristig und auf Dauer nennenswert nur durch den gezielten Einsatz solcher ökonomischer Instrumente eingedämmt werden, die geeignet sind, das Armutsproblem zu lindern. Summary Economic Aspects of Child Labor Largely overcome in the industrialized world since the end of the 19th century, but still a widespread phenomenon in the Third World, child labor is commonly acknowledged to be one of the most serious social problems of our time. Due to the significant shortcomings of available data, its prevalence can impossibly be assessed in a halfway reliable manner. As was also demonstrated in this paper child labor is primarily caused by economic factors, in particular poverty. Hence, only the use of those economic instruments which tackle the underlying poverty problem at its very roots may, in the long run and permanently, help to substantially reduce the incidence of child labor.

O R D O • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2 0 0 3 ) Bd. 54

Wilhelm Meyer Handeln wider besseres Wissen* Inhalt I. Das Erklärungsproblem: Grenzen der Nutzentheorie... II. Das Wohlfahrtsproblem: Grenzen des Subjektivismus III. Das praktische Problem: Grenzen der Aufklärung IV. Das politische Problem: Grenzen der Freiheit V. Ceterum Censeo VI. Handeln wider besseres Wissen Literatur Zusammenfassung Summary: Acting Against one's Better Knowledge

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„Das alles macht noch kein gutes Buch. Aber es ist schön. Genau so schön wie die Frauen, die sich in ihm zu Tode rauchen."

Iris Radisch (2003)

Niemand handelt wider besseres Wissen! Das ist die Sokrates-These; sie beinhaltet eine bestimmte Beziehung zwischen Kognition und Motivation. Viele sagen: „Ich weiß, daß a am besten ist" und fuhren dennoch die Handlung b aus. Die Meinung der vielen steht zur SbÄrato-These im Widerspruch. Dieser Widerspruch könnte eine Falsifikation der sokratischen Verhaltenstheorie sein. In der Philosophie nennt man diesen Widerspruch das sokratische Paradox. 1 Mit einer Variante des sokratischen Paradoxes will ich mich in meiner Abschiedsvorlesung befassen, und zwar mit dem Problem: Rauchen und Rationalität.

I. Das Erklärungsproblem: Grenzen der Nutzentheorie Viele Verhaltensweisen erscheinen dem Betrachter nicht besonders vernünftig: Der Kauf eines sehr teuren Autos bei geringem Einkommen, die Verschuldung zum Erwerb eines Hauses mit Zins- und Tilgungszahlungen, die nur noch sehr wenig zum Leben * 1

Abschiedsvorlesung im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Philipps-Universität Marburg, am 5. Februar 2002. Ich habe die Vorlesung um Fußnoten ergänzt. Vgl. dazu Spitzley (1992).

2 2 0 • Wilhelm Meyer

übriglassen, Drachenfliegen, Extrembergsteigen, monatelanges Überlebenstraining in Grönland und so fort. Bei keinem dieser Beispiele wird man die Rationalität der Handelnden in Frage stellen müssen. Vielmehr kann man ihr Verhalten auf eine eher seltene Ausprägung ihrer Vorlieben zurückfuhren. Es gibt aber verbreitete Lebensstile, die für den neutralen Beobachter Züge der Irrationalität aufweisen, weil sie in der systematischen Selbstzerstörung zu bestehen scheinen. Dazu gehört zweifellos auch das regelmäßige Zigarettenrauchen. Im Gegensatz zu früheren Zeiten weiß heute fast jeder, daß Nikotin eine Sucht erzeugende Substanz ist und daß regelmäßiges Rauchen ein großes Gesundheitsrisiko beinhaltet. Trotzdem rauchen in Deutschland etwa 11,7 Mio. Männer und 8 Mio. Frauen.2 Von diesen sind anscheinend etwa 70 % nikotinabhängig und etwa 35 % deutlich nikotinabhängig.3 Handeln Raucher oder handeln Mußraucher - darunter verstehe ich Streßraucher und Suchtraucher4 - wider besseres Wissen? Die moderne ökonomische Theorie erhebt den Anspruch, das Verhalten von Drogenabhängigen und Nikotinabhängigen ebenso zu erklären wie das Verhalten von nichtabhängigen Konsumenten. Nach dieser Theorie handeln alle Subjekte immer rational: Sie setzen die verfugbaren Ressourcen über ihr gesamtes Leben so ein, daß sie dabei ihren Lebensnutzen maximieren. Danach handeln auch Raucher nicht wider besseres Wissen.

2 Junge und Thamm (2003, S. 47). - Diese Werte sind das Ergebnis des Mikrozensus 1999 und gelten für Männer und Frauen über 15 Jahre. Häufig wird die geschätzte Zahl der Raucher auf die Bevölkerung der 18- bis 59-Jährigen hochgerechnet. Dann erhält man für Deutschland die Schätzung von 16,7 Mio. Rauchern für das Erhebungsjahr 2000, siehe Kraus und Augustin (2001, S. 52) und Sucht- und Drogenbericht 2000 (2001, S. 24). 3 Die Angaben über den Anteil der nikotinabhängigen Raucher sind verschieden, je nach der Methode, die zur Feststellung der Abhängigkeit verwendet wird. Junge und Thamm (2003, S. 47) zitieren die Schätzung von Batra und Fagerström aus dem Jahre 1997. Diese haben die diagnostischen Kriterien der ICD 10 (International Classification of Diseases) verwendet, aufgrund deren eine Person als abhängig oder als nicht abhängig eingestuft werden kann. Danach sind etwa 8 bis 9 Mio. Männer und 5 bis 6 Mio. Frauen nikotinabhängig. - Der Fagerström Test hingegen erlaubt die Stärke der Nikotinabhängigkeit auf einer Skala von 0 bis 10 zu messen. Personen mit einem Skalenwert von 4 oder mehr Punkten gelten als deutlich abhängig. Nach diesem Test sind etwa 35 % der befragten Raucher (38,5 % der männlichen und 30 % der weiblichen Raucher) in der Altersklasse 18 bis 59 Jahre deutlich abhängig. Das sind etwa 3,7 Mio. Männer und 2,1 Mio. Frauen, der betreffenden Altersklasse (Kraus und Augustin 2001, S. 54). - Ein weiterer Ansatz versucht mit Hilfe des internationalen Klassifikationssystems DSM-IV psychische Störungen in der Gesamtbevölkerung zu diagnostizieren. Danach werden für 1999 8,2 % der 18- bis 59-Jährigen oder 3,9 Mio. als nikotinabhängig eingestuft. Das sind etwa 22,2% der Raucher (Kraus und Augustin 2001, 81). Die Gründe der unterschiedlichen Werte: 70 % Nikotinabhängige gemäß ICD 10 und 22,2 % Nikotinabhängige gemäß DSM-IV, sind mir unklar. 4 Man unterscheidet in der Literatur zahlreiche Motivationsschwerpunkte: Genußrauchen, Rauchen als Ritual, geselliges Rauchen, Streßrauchen, Rauchen bei gefühlsmäßigen Belastungen, Rauchen bei Unsicherheit, Suchtrauchen, automatisches Rauchen. Die acht Schwerpunkte kann man zusammenfassen zu drei Dimensionen: Genußrauchen, Belastungsrauchen und Suchtrauchen. Diese „Motive" scheinen aber nicht sehr erklärungskräftig zu sein, da die Antworten bei Befragungen in starkem Maße dem Effekt der (variablen) sozialen Erwünschtheit unterliegen (siehe Rieman und Gerber 1997, S. 51). Nach Shiffinan 1993 erfassen die durch Befragungen gewonnenen Rauchermotive nicht das tatsächliche Rauchverhalten der Befragten und liefern auch keine brauchbare Grundlage für eine Anti-RaucherTherapie.

Handeln wider besseres Wissen • 2 2 1

Die Anwendung der Nutzentheorie auf unseren Fall hat es zunächst mit einem theoretischen Problem zu tun: Suchterzeugende Produkte fuhren im Laufe der Zeit wegen Toleranzentwicklung zu Mehrkonsum. Das widerspricht dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens: Mehr dürfte nur konsumiert werden, wenn der Preis sinkt oder das Einkommen steigt. Aber die Nachfrage nach Suchtprodukten durch Süchtige steigt auch ohne Preissenkung oder Einkommenssteigerung. Dieses Problem hat Gary Becker gelöst. Nach seiner Hypothese hängt der Nutzen auch vom Niveau des jeweiligen Konsumvermögens ab. Dieses Vermögen ist eine Art Kapitalstock; es wächst im Zeitablauf mit den getätigten Konsumakten, also in unserem Falle mit der Anzahl der Inhalationen. Jede Erhöhung des Suchtkapitals hat zwei Effekte: Der Gesundheitszustand verschlechtert sich und der Grenznutzen des Konsums, hier: der Inhalationen, steigt. Trotz Minderung der Gesundheit durch den Konsum kann man den Anreiz des Süchtigen, mehr nachzufragen, erklären. Intertemporale Maximierung.5 Die genannten Eigenschaften machen den Konsum von Abhängigen mit der Nutzentheorie vereinbar, erklären das Niveau aber noch nicht. Dazu wird eine /tasiarrf-Nutzenfunktion für die Inputs C, S und Y formuliert.6 In jedem Zeitpunkt t gilt: U(t) = U[C(t), S(t), Y(t)];

C: Zigarettenkonsum, S: Suchtkapitalstock, Y: andere erwünschte Güter. Eigenschaften der Funktion:

Uc > 0, Ucc < 0: Us < 0, Uss < 0:

positiver und abnehmender Grenznutzens des Rauchens, negativer und abnehmender Grenznutzen des Suchtkapitals wegen der Toleranz- und Gesundheitseffekte, Ucs > 0: Zunahme des Grenznutzens des Rauchens durch Investition in Suchtkapital (Verstärkung). Rationales Verhalten bedeutet: Wahl von C, S und Y so, daß U ein Maximum erreicht. Im Nutzen-Maximum muß der Grenznutzen des Rauchens in jedem Zeitpunkt gleich dem vollen Preis sein. Der volle Preis ist die Summe aus Geldpreis und diskontiertem Nutzen der zeitverteilten Nachteile des Rauchens. Für das Nutzenmaximum gilt die folgende notwendige Bedingung: U c (t) = n (P c (t) - U e US(T) dx }, US < UA * G s < 07 I

Grenznutzen 5 6

I

I

I

= Preis + (Gewichte * Grenzschaden in T ) über alle T.

Meine Darstellung folgt hier Chaloupka (1991). Zum Unterschied zwischen der 5aitan/-Nutzenfunktion U( ) und der reinrassigen Nutzenfunktion u( ) siehe die nächste Fußnote. 7 UQ ist der Grenznutzen der Gesundheit gemäß der reinrassigen Nutzenfunktion U=u[E,G,X], mit E fllr Erholung und G für Gesundheit. G s ist das Gesundheitsgrenzprodukt des Suchtkapitals gemäß der Produktionsfunktion G=G[M,S], mit G für Gesundheit und M für ärztliche Behandlung und körperliche Betätigung. Die beiden partiellen Ableitungen Uc > 0 und G s < 0 stellen die MotivationsKomponente bzw. die kognitive Komponente der Gesundheitsfolgen des Rauchens dar. - In der Gleichung für die notwendige Bedingung wird implizit angenommen, daß der Kapitalmarktzins R gleich a ist und daß die Abschreibungsrate des Suchtkapitals 8 gleich null ist. Andernfalls müßte P c (t) mit (< +6,