ORDO 9783110504644, 9783828203273

Das Jahrbuch ORDO wurde 1949 von einigen der wichtigsten Wegbereiter der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft gegründ

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German Pages 407 [420] Year 2005

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Hauptteil
Hayeks Theorie einer freiheitlichen politischen Ordnung
Entartung des politischen Wettbewerbs
Freiheitlicher Wettbewerb und staatliche Autonomie - Solidarität
Auch Staaten tut der Wettbewerb gut: Eine Replik auf Paul Kirchhof
Der Staat tut dem Wettbewerb gut: Eine gedankliche Begegnung mit Viktor Vanberg
Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitische Baustelle. Die Verbindung von „Freiburger Imperativ“ und „Keynesianischer Botschaft“ - ein nationalökonomischer Irrweg
Warum Evolutorische Ökonomik?
Hayek und Keynes: Eine Synthese
Die Soziale Marktwirtschaft - Zur Erosion einer wirtschaftspolitischen Konzeption
The Anarcho-Libertarian Utopia - A Critique
Exit-Option, Staat und Steuern
Vertikaler Regulierungswettbewerb und europäischer Binnenmarkt - die Europäische Aktiengesellschaft als supranationales Rechtsangebot
Das Papsttum und der politische Wettbewerb in Europa
Lokale Solidarität - die Zukunft der Sozialhilfe?
Langfristorientierung in der Arbeitsmarktpolitik
Mehr Markt im Hochschulbereich: Zur Effizienz und Gerechtigkeit von Studiengebühren
Flächendeckende Versorgung im Gesundheitswesen: eine Antwort aus liberaler Perspektive
Zur Bestreitbarkeit von Märkten: Low-Cost-Carrier als neue Anbieter auf dem EU-Luftverkehrsmarkt
Buchbesprechungen
Inhalt
Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik. Besprechung des Bandes von Karl Heinz Ladeur
Die Gesellschaftstheorie des Kritischen Rationalismus. Bemerkungen zu der von Hubert Kiesewetter besorgten Neuedition der sozialphilosophischen Werke Karl Poppers
Meisterdenker der Wirtschaftsphilosophie. Besprechung einer Brevierereihe der Hayek-Gesellschaft
Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Das gleichnamige Buch von Ralf Ptak kritisch betrachtet
Wissenschaft und Sozialismus: Aufsätze zur Sozialismuskritik. Anmerkungen zu dem gleichnamigen Band aus v. Hayeks Gesammelten Schriften
Ordnung in einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Stephan Markt
Dezentrale Finanzpolitik und Modellunsicherheit. Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Jan Schnellenbach
Prinzipale, Agenten und ökonomische Methode. Besprechung des gleichnamigen Werks von Matthias Meyer
Entstehung von Verfassungen. Besprechung des gleichnamigen Buches von Ivan Baron Adamovich
Schattenwirtschaft und institutioneller Wandel. Besprechung des gleichnamigen Buches von Dominik H. Enste
Investition in Verkehrsinfrastruktur unter politischer Unsicherheit. Besprechung des Buches von Henning Tegner
Innovationsmärkte in der Fusionskontrolle. Anmerkungen zum gleichnamigen Werk von Uli Barth
Wettbewerb im Hörfunk in Deutschland. Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Marco Czygan
Wettbewerb in der Versorgungswirtschaft. Besprechung des von Peter Oberender herausgegebenen Bandes
Fünf Millionen und kein Ende? Anmerkungen zum Buch „Neue Arbeitsmarkttheorien“ von Thomas Wagner und Elke J. Jahn
Wechselwirkungen zwischen Arbeitsmarkt und sozialer Sicherung. Besprechung des gleichnamigen Sammelbandes, herausgegeben von Winfried Schmähl
Wirtschaftspolitik: Allokation und kollektive Entscheidung. Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Joachim Weimann
Kurzbesprechungen
Personenregister
Sachregister
Anschriften der Autoren
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ORDO
 9783110504644, 9783828203273

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ORDO Band 56

ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und

Gesellschaft

Band 56 Begründet von

Herausgegeben von

Walter Eucken

Hans Otto Lenel

Wernhard Möschel

und

Helmut Gröner

Josef Molsberger

Franz Böhm

Walter Hamm

Peter Oberender

Ernst Heuss

Razeen Sally

Erich Hoppmann

Alfred Schüller

Wolfgang Kerber

Viktor Vanberg

Martin Leschke

Christian Watrin

Ernst-Joachim Mestmäcker

Hans Willgerodt

®

Lucius & Lucius • Stuttgart

Schriftleitung Professor Dr. Hans Otto Lenel Universität Mainz, Haus Recht und Wirtschaft, D-55099 Mainz Professor Dr. Dr. h.c. Josef Molsberger Wirtschaftswissenschaftliches Seminar der Universität Tübingen Mohlstr. 36, D-72074 Tübingen Professor Dr. Helmut Gröner Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Professor Dr. Alfred Schüller Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme der Philipps-Universität Marburg Barfüßertor 2, D-35037 Marburg Professor Dr. Dr. h.c. Peter Oberender Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre IV - Wirtschaftstheorie Universitätsstr. 30, D-95440 Bayreuth Professor Dr. Martin Leschke Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre V - Institutionenökonomik Universitätsstr. 30, D-95440 Bayreuth

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart • 2005 Gerokstraße 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Rechte vorbehalten Druck und Einband: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza/Thüringen ISBN 3-8282-0327-2 ISSN 0048-212

O R D O • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2005) Bd. 56

Vorwort Der vorliegende ORDO-Band enthält grundsätzliche Beiträge zur Weiterentwicklung des ordnungsökonomischen Denkens und zu aktuellen Fragen der politischen Ordnung. In guter liberaler Tradition versteht sich ORDO dabei als ein Diskussionsforum. Nicht alle Beiträge finden hinsichtlich ihrer politischen Schlußfolgerungen allerdings die ungeteilte Zustimmung der Schriftleitung. Der Band beginnt mit zwei grundsätzlich gehaltenen Aufsätzen zur Ausgestaltung der politischen Ordnung. Christian Watrin setzt sich in einer ausformulierten Fassung seines bei den Hayek-Tagen 2005 in Tübingen gehaltenen Vortrags mit Hayeks Vorschlägen zur Verbesserung der Demokratie auseinander. Walter Hamm befaßt sich mit Erscheinungsformen und Ursachen eines entarteten politischen Wettbewerbs in Deutschland und fragt nach Reformmöglichkeiten. Am 1. Dezember 2004 hat Paul Kirchhof in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Beitrag mit dem Titel „Recht gibt es nicht zum Niedrigpreis" veröffentlicht. Darin kritisiert er die Übertragung des Wettbewerbsgedankens auf Staatengebilde. Viktor Vanberg erwidert in diesem Jahrbuch auf diesen Beitrag und verdeutlicht, was mit Systemwettbewerb gemeint ist. Unter dem Titel „Der Staat tut dem Wettbewerb gut" kommentiert Paul Kirchhof nochmals die Gegenargumente Vanbergs. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit hat sich die Schriftleitung entschlossen, auch den ursprünglich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Beitrag von Kirchhof in diesem Band in gekürzter Form abzudrucken. In den 1960er Jahren wurde in Deutschland der Versuch unternommen, Walter Euchens Konzeption der Wettbewerbsordnung mit dem post-keynesianischen Instrument der makroökonomischen Steuerung zu versöhnen. Daß dieser Weg in die Irre fuhrt und auch keine Antwort auf aktuelle Probleme ist, weist Alfred Schüller in seinem Aufsatz nach. Ulrich Fehl widmet sich der Frage, warum es einer evolutorischen Ökonomik bedarf. Der evolutorischen Ökonomik stellt er die Gleichgewichtsorientierung der Neoklassik gegenüber und lotet Möglichkeiten sowie Grenzen dieses Ansatzes aus. Eine Verknüpfung von Hayek und Keynes unternimmt Carl Christian von Weizsäcker. Er bedient sich dabei eines Modells der unvollständigen Konkurrenz. Die Politik verwendet immer wieder gerne die Bezeichnung „Soziale Marktwirtschaft", um bestimmte Vorschläge zu rechtfertigen. Manfred Streit weist nach, daß es sich bei dieser Begriffsverwendung häufig um eine „wohlklingende Worthülse" handelt. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft sei in Deutschland mittlerweile stark verwässert und entspreche nicht mehr seiner ursprünglichen Idee. Die aus den USA kommende Strömung der sogenannten anarcho-libertären Denker findet auch im deutschen Sprachraum immer mehr Anhänger. Daß bei dieser Denkrichtung allerdings Vorsicht geboten ist und der Liberalismusgedanke überstrapaziert wird, zeigt Drieu Godefredi auf. Er setzt sich mit ausgewählten Denkern dieser Richtung auseinander und arbeitet den utopischen Charakter ihrer Gedankengebäude heraus.

VI

Vorwort

Der Gedanke des Systemwettbewerbs nimmt in der aktuellen ordnungspolitischen Diskussion eine zentrale Stellung ein. Der vorliegende Band enthält daher mehrere Beiträge, die Aspekte des Systemwettbewerbs diskutieren. Wolf Schäfer fragt nach der Tragfähigkeit der Besteuerung bei Systemwettbewerb. Katarina Röpke und Klaus Heine beschäftigen sich mit der Europäischen Aktiengesellschaft und ihrer Bedeutung im Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen. Eine Neuinterpretation der Rolle des Papsttums in der europäischen Geschichte nimmt Roland Vaubel vor. Seiner Ansicht nach haben die Päpste die Rolle eines europäischen Amtes für Systemwettbewerb gespielt. Die weiteren Beiträge thematisieren aktuelle Politikfelder. Norbert Berthold und Sascha von Berchem diskutieren die Neuregelung der Sozialhilfe im Rahmen der Hartz IV-Reform. Sie argumentieren, daß im Zuge dieser Reformen die Gelegenheit verpaßt wurde, entscheidende Regelungs- und Finanzierungskompetenzen an die dezentrale, kommunale Ebene abzugeben. Die Innovationskraft dezentraler Experimente bleibe daher größtenteils ungenutzt, die erforderliche sozialpolitische Vielfalt werde verhindert. Andreas Freytag und Simon Renaud schlagen zur Überwindung der Unterbeschäftigung vor, die Arbeitslosenversicherung vollständig in die Hände der Tarifpartner zu geben und wettbewerbliche Elemente einzuführen. Damit soll an der eigentlichen Ursache der Arbeitslosigkeit angesetzt werden. Dieter Schmidtchen und Roland Kirstein zeigen, daß sich Effizienz und Gerechtigkeit im Universitätssystem verwirklichen lassen, wenn Studiengebühren eingeführt und angemessene Finanzierungsmöglichkeiten angeboten werden. Liberale Entwürfe zur Umgestaltung des Gesundheitswesens haben häufig mit dem Vorwurf zu kämpfen, daß damit eine angemessene medizinische Versorgung für alle nicht mehr gewährleistet sei. Ausgehend von diesem Vorwurf zeigt Jürgen Zerth Möglichkeiten auf, wie Freiheit und flächendeckende Versorgung miteinander vereinbart werden können. Die Luftverkehrsmärkte befinden sich durch Liberalisierungsschritte und das Auftreten von Billigfluglinien im Umbruch. Vor diesem Hintergrund untersuchen Hartmut Berg und Stefan Schmitt, ob sich auf den Luftverkehrsmärkten ein funktionierender Wettbewerb abspielt und welche wettbewerbspolitischen Vorkehrungen angemessen sind. Ein umfangreicher Teil mit Besprechungen und Kurzbesprechungen aktueller ordnungsökonomischer Werke schließt den Band ab. Die Schriftleitung dankt Herrn Jochen Fleischmann für sein großes Engagement und die Umsicht bei der Durchführung der redaktionellen Arbeiten. Frau Dr. Hannelore Hamel gilt der Dank für die sorgfaltige Schlußdurchsicht der Beiträge. Die Schriftleitung

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2005) Bd. 56

Inhalt

Christian Watrin Hayeks Theorie einer freiheitlichen politischen Ordnung

3

Walter Hamm Entartung des politischen Wettbewerbs

19

Paul Kirchhof Freiheitlicher Wettbewerb und staatliche Autonomie - Solidarität

39

Viktor Vanberg Auch Staaten tut der Wettbewerb gut: Eine Replik auf Paul Kirchhof

47

Paul Kirchhof Der Staat tut dem Wettbewerb gut: Eine gedankliche Begegnung mit Viktor Vanberg

55

Alfred Schüller Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitische Baustelle. Die Verbindung von „Freiburger Imperativ" und „Keynesianischer Botschaft" - ein nationalökonomischer Irrweg 61 Ulrich Fehl Warum Evolutorische Ökonomik?

77

Carl Christian von Weizsäcker Hayek und Keynes: Eine Synthese

95

Manfred E. Streit Die Soziale Marktwirtschaft - Zur Erosion einer wirtschaftspolitischen Konzeption

113

Drieu Godefridi The Anarcho-Libertarian Utopia - A Critique

123

Wolf Schäfer Exit-Option, Staat und Steuern

141

Vili

Inhalt

Katarina Röpke und Klaus Heine Vertikaler Regulierungswettbewerb und europäischer Binnenmarkt - die Europäische Aktiengesellschaft als supranationales Rechtsangebot

157

Roland Vaubel Das Papsttum und der politische Wettbewerb in Europa

187

Norbert Berthold und Sascha von Berchem Lokale Solidarität - die Zukunft der Sozialhilfe?

193

Andreas Freytag und Simon Renaud Langfristorientierung in der Arbeitsmarktpolitik

217

Dieter Schmidtchen und Roland Kirstein Mehr Markt im Hochschulbereich: Zur Effizienz und Gerechtigkeit von Studiengebühren

237

Jürgen Zerth Flächendeckende Versorgung im Gesundheitswesen: eine Antwort aus liberaler Perspektive

261

Hartmut Berg und Stefan Schmitt Zur Bestreitbarkeit von Märkten: Low-Cost-Carrier als neue Anbieter auf dem EU-Luftverkehrsmarkt

287

Buchbesprechungen Personenregister Sachregister Anschriften der Autoren

308 393 401 409

Hauptteil

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2005) Bd. 56

Christian

Watrin

Hayeks Theorie einer freiheitlichen politischen Ordnung* Inhalt I. Demokratieversagen - heute 3 II. Hayeks Vorschlag zur Wiedereinführung eines Drei-Gewalten-Systems 7 1. Die Demokratie als Ideal und Hayeks Kritik der „Schacher-Demokratie"..7 2. Hayeks Zwei-Kammer-Vorschlag 8 III. Politikkontrolle - das Prinzipal-Agenten-Modell 10 1. Politiker als Beauftragte der Bürger - das Überwachungsproblem 10 2. Kontrollmöglichkeiten der Wähler-Prinzipale 11 IV. Sind Demokratien reformfähig? 14 Literatur 16 Zusammenfassung:

17

Summary: F. A. Hayek on the Political Order of a Free Society

17

„Wenn das Tätigwerden des modernen Staates insgesamt Ergebnisse zeitigt, die wenige Menschen gewollt oder auch nur vorhergesehen haben, so gilt das für gewöhnlich als unvermeidliche Begleiterscheinung der Demokratie." Hayek (2003, S. 307).

I. Demokratieversagen - heute In deutschen Medien wird die politische Situation in der Mitte des Jahres 2005 zunehmend mit Begriffen der Enttäuschung beschrieben. Die großen Themen der Zeit angefangen vom demographischen Problem bis hin zur Globalisierung - werden zwar wortreich in zahllosen Talkshows, Zeitungskommentaren, Gutachten und Schriften erörtert. Die Hoffnung auf einen den Problemen angemessenen Wandel wird jedoch als gering eingeschätzt - und das trotz pausenloser politischer Beschwörungen der Notwendigkeit von Reformen unserer politischen und wirtschaftlichen Ordnung an Haupt und Gliedern. Die einen klagen, daß Reformbemühungen von den wetterwendischen Wählern mit der Abwanderung von Stimmen entgolten würden, die anderen bleiben aus

*

Überarbeitete Fassung eines Vortrages anläßlich der Hayektage am 30.06. und 01.07.2005 in Tübingen.

4

Christian Watrin

genau derselben Überlegung in Deckung. Eine den Ideen der Demokratie entsprechende große Debatte findet nicht statt. Man könnte auch von Demokratieversagen sprechen. Als Erklärung für solche Fehlentwicklungen der Demokratie wird häufig das Argument herangezogen, daß die Logik des Wettbewerbs um Wählerstimmen zwar der Logik des Marktes gleiche, aber im Ergebnis doch anders sei als letzterer. Das stimmt teilweise. So gleichen sich Demokratie und Markt darin, daß Wählerstimmen ähnlich wie Geldstimmen als eine Art von „Währung" aufgefaßt werden können, um welche die Anbieter konkurrieren. Dieser Wettbewerb wird auch mit den typischen Methoden des Marketing gefuhrt. Dessen äußere Formen haben sich vielfach so weit angeglichen, daß die Werbung auf Straßen und Plätzen für die eine oder andere Sache nicht leicht auseinander zu halten ist. In der wissenschaftlichen Literatur schließlich wird vom „politischen" und vom „Markt"-Unternehmer in einer Weise gesprochen, als bestünde eine weitgehende Parallelität zwischen beiden sozialen Rollen. „Politik" kann also in Analogie zu Märkten gesehen werden (Buchanan 1988, pp. 107 f . ) Diese eher auf äußerliche Merkmale abstellende Sicht vernachlässigt jedoch weitreichende Unterschiede zwischen den beiden sozialen Mechanismen. Märkte, so sie wettbewerblich verfaßt sind, unterscheiden sich vom politischen Wettkampf dadurch, daß sie die Anbieter dazu zwingen, sich nach den Präferenzen der Nachfrager - und nicht nach eigenen Vorlieben - zu richten. Die Nachfrager wiederum bestimmen ihre Zahlungsbereitschaft autonom. Beides zusammen bewirkt, daß sich auf Märkten eine große Zahl von Angeboten herausbildet, die auch Minoritäten berücksichtigt (Weede 2003, S. 19 f.). In der Summe aber bewirken Tauschhandlungen auf Märkten, daß alle Beteiligten, die Armen und die Reichen, bessergestellt werden. Gleiches gilt nicht für den politischen Wettbewerb unter den Regeln der Mehrheitsabstimmung. Denn im politischen Prozeß werden Zwangsabgaben eingefordert, über deren Verwendung - anders als auf Märkten - Politiker praktisch ohne jede Haftung und persönliche Verantwortung entscheiden. Zwar wird gesagt, daß diese die ihnen zufließenden Mittel nicht für sich, sondern zur Finanzierung sog. „öffentlicher Güter" einsetzten. Aber abgesehen von den großen Schwierigkeiten der Definition „öffentlicher Güter", bestimmen nicht die Marktkräfte, sondern die jeweiligen Regeln und parteipolitischen Präferenzen darüber, wer Nutznießer der jeweiligen Ausgaben wird. Weder erbringen Empfänger staatlicher Leistungen ein unmittelbares Konsumopfer, noch gehen die Anbieter-Politiker für die von ihnen veranlaßten Zuweisungen knapper Ressourcen irgendwelche Risiken ein. Was die Verteilungswirkungen angeht, so hat die Mehrheitsregel eine Wirkung, die zwar nicht immer und überall zum Zuge kommt, die jedoch große praktische Bedeutung hat, denn sie erlaubt es, im demokratischen Prozeß zu diskriminieren. Anders als auf Märkten, auf denen ein Anbieter sich durch Diskriminierungen selbst schadet, ist Ungleichbehandlung im Reiche der Politik eine Strategie, die sich im Hinblick auf das Erlangen von Mehrheiten auszahlt. Der politische Wettkampf ist infolgedessen keine Veranstaltung, die alle besser stellt (Buchanan and Congleton 1998, p. XI). Es liegt auf der Hand, daß unter solchen ordnungspolitischen Bedingungen auf Seiten der Politiker dabei das persönliche Interesse am Gewinn von Mehrheiten ins Spiel kommt. Denn anders als auf Märkten, wo die Akteure ständig gezwungen sind, die vollen Kosten ihres Handelns, einschließlich der Opportunitätskosten, zu beachten, sind

Hayeks Theorie einer freiheitlichen politischen Ordnung

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politische Prozesse dadurch gekennzeichnet, daß sie die Entscheidungsträger von ökonomischen Überlegungen, wie der Abwägung der wirklichen Kosten und Nutzen, weitgehend freistellen. Selbst die von Beratern gerne feilgebotenen Kosten-NutzenAnalysen staatlichen Handelns ändern daran in der Sache nichts. An dieser Stelle setzt die Kritik politischer Prozesse an, vor allem wenn es sich um Fehlverwendungen knapper Ressourcen infolge von Stimmentausch, rentensuchendem Verhalten, Befriedung von Sonderinteressen oder um die Gleichheit unter den Bürgern verletzende Privilegierung einzelner Gruppen handelt. Wettbewerbsmärkte sanktionieren Abweichungen von den Präferenzen der Konsumenten verhältnismäßig schnell. Bei politischen Entscheidungen fehlt ein vergleichbarer Sanktionsmechanismus. Unter solchen Bedingungen entfernt sich der mehrheitliche Wählerwillen nicht selten weit von den Entscheidungen der politischen Repräsentanten. Findet, wie im Fall der Europäischen Verfassung, die Wählermeinung in Volksabstimmungen Ausdruck und wird die anstehende Vorlage zurückgewiesen, dann kann die Reaktion der häufig als „politische Klasse" bezeichneten Abgeordneten bestürzend sein. Statt eine Niederlage einzugestehen, wird, in geringer Achtung vor dem eigentlichen Souverän, bevormundend behauptet, die Bürger seien unzureichend oder falsch informiert oder sie hätten in Wahrheit ihrem Unmut über andere Fragen als denjenigen, die auf der Tagesordnung standen, Luft verschafft. Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Handelns kommen den verantwortlichen Politikern dann ebensowenig wie Skrupel, daß sich die betreffenden Maßnahmen vielleicht einmal als großer Fehler erweisen und die ablehnenden Bürger weitsichtiger gewesen sein könnten als sie selbst. Stellen Politiker in solchen Situationen Überlegungen an, wie sie am Ende doch ihre Absichten durchsetzen könnten, dann wandelt sich die demokratische Ordnung unter der Hand in Richtung einer Herrschaftsordnung - eine in politikwissenschaftlichen Traktaten nicht selten anzutreffende Sicht. Daß in Demokratien vor allem parlamentarische Mehrheiten zählen und Einstimmigkeit meist nur auf Nebenschauplätzen erzielt wird, ist sicher ein weiterer Kritikpunkt heutiger demokratischer Ordnungen. Einstimmigkeit als Regelfall ist nur in Diktaturen üblich und dort auch ein beliebtes Herrschaftsmittel. Der große Vorteil demokratischer Verfahren wird deswegen weniger in den demokratischen Prozessen der Willensbildung, sondern - so bei Popper (1992, S. 188 f.) - in der unblutigen Abwahlmöglichkeit des regierenden Personals mittels freier Wahlen gesehen. Diese Freiheit ist ohne Zweifel ein hohes Gut, und zwar nicht nur für jene, die unter diktatoriellen Verhältnissen leben oder in jüngerer Zeit leben mußten, sondern auch für jene, die unter inkompetenten Politikern und Parteien leiden. In mancher Hinsicht ist jedoch die Poppersche Demokratie-Interpretation eine Resignationslösung. Sie hat zwar implizit den Vorteil, daß sie den Anspruch der Regierenden zurücknimmt, stets uneigennützig dem Wohl des Volkes zu dienen. Aber sie reduziert gleichzeitig auch das Gewicht freiheitlich orientierter Kritik an Fehlentwicklungen des demokratischen Prozesses. Denn die Repräsentanten können mit dem Hinweis auf ihre Abwahlmöglichkeit jenen entgegentreten, die ihnen vorwerfen, sie würden statt der Vertretung allgemeiner Interessen in erster Linie eine Klientelpolitik betreiben. „Mehrheit ist Mehrheit" hat ein verstorbener Parlamentarier formuliert, und ein deutscher Bundeskanzler hat der Kritik an eindeutig wohlstandsschädigenden Maßnahmen seiner Regierung, d. h. an Maßnahmen, deren gesellschaftliche Gesamtkosten höher waren als

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Christian Watrin

die Gewinne für einige, entgegengehalten, er bewerbe sich nicht um die Ehrung einer bekannten ordnungspolitisch profilierten Stiftung. Seine Aufgabe sei es vielmehr, Wahlen zu gewinnen. Die Orientierung an machtpolitischen Gesichtspunkten und die Vernachlässigung ordnungspolitischen Denkens sind jedoch auf lange Frist kein guter Ratgeber. Hinzu kommt die Pfadabhängigkeit der von politischen Instanzen betriebenen Politik (Gerecke 1998, S. 203 f.). Danach können nicht nur Regierungen, sondern auch Großgesellschaften mehrheitlich auf Meinungen und Anschauungen fixiert sein, die sich auf Dauer als Sackgassen erweisen. Diese können in der Regel nur mit hohen politischen Kosten wieder verlassen werden. Das starre Festhalten an den eingefahrenen Bahnen des Sozialstaates ist hier zu nennen. Solche Entwicklungen werden um so problematischer, je mehr sich die politischen Standorte der Regierungs- und Oppositionsparteien unter dem Druck der öffentlichen Meinung so weit einander annähern, daß sie in alternativloses Konsensdenken einmünden. Ein Wechsel des politischen Personals dürfte dann nur wenig bewirken. Wohlklingende Versprechen, nicht alles, aber vieles besser zu machen als die jeweiligen Vorgänger, mögen zwar Wähler betören, werden nach Wahlen aber meist schnell vergessen. Aus ordnungspolitischer oder - moderner ausgedrückt - institutionenökonomischer Sicht ist deswegen zu fragen, ob nicht eine kritische Durchsicht des politischen Regelsystems eher angezeigt ist als eine seit Jahrzehnten in immer gleichen Bahnen verlaufende Erörterung, welche Konjunktur-, Innovations- oder Kostensenkungspolitik angemessen sein könnte, um eine lange währende Wachstumsschwäche zu überwinden. Zu fragen ist auch, ob Aufrufe zu einem Mehr an Bürgerschaftsengagement (Papier 2005, S. 39) oder moralische Ermahnungen wirklich hilfreich sind. Strukturelle ordnungspolitische Reformen, also Änderungen eines Regelsystems, welches gesellschaftsschädigende Maßnahmen hervorbringt, könnten sich als wichtiger erweisen als wirtschaftspolitische Handlungsvorschläge. Wenn es daher zutrifft, daß unsere politische Ordnung Resultate hervorbringt, die, wie Hayek im Eingangsmotto andeutet, nur wenige Menschen gewollt oder vorhergesehen haben und die weder aus freiheitlicher noch aus demokratischer Perspektive wünschbar sind, dann ist es nicht zuletzt Aufgabe einer //oyeA-Gesellschaft, ihren Namensgeber daraufhin zu befragen, ob es sich hier wirklich um eine „unvermeidliche Begleiterscheinung der Demokratie" handelt oder ob durch Regeländerungen Abhilfe geschaffen werden könnte. Handelt es sich z. B. im deutschen Fall um eine wenn auch lange, so doch temporäre Stagnation oder um ein primär ordnungspolitisches Problem, also eine regelbedingte Blockade, die nur durch Änderungen der politischen Ordnung überwunden werden könnte? Ist dies der Fall, dann ist aus institutionenökonomischer Sicht zu fragen, wie falsch gesetzte Handlungsanreize korrigiert werden können. Es wäre allerdings zuviel verlangt, von einer Beschäftigung mit Hayek eine Antwort speziell auf die heutige deutsche Malaise zu erwarten. Sein Anliegen war es, die Grundstrukturen moderner Gesellschaften zu analysieren. Er will diese mit seinem Leitbild einer Großen Gesellschaft vergleichen - einer Gesellschaft, die im Unterschied zur überschaubaren klassischen griechischen Mikropolis vor zweieinhalb Jahrtausenden heute meist eine anonyme Makropolis ist - mit Millionen von Bürgern, die ihrerseits in Freiheit und Wohlstand leben wollen.

Hayeks Theorie einer freiheitlichen politischen Ordnung

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Vor diesem Hintergrund sei, anknüpfend an Hayeks Demokratieanalyse und seinen weithin abgelehnten Verbesserungsvorschlag (II.), erörtert, ob möglicherweise eine mit seinem Denken kompatible Alternative in Betracht gezogen werden könnte (III.).

II. Hayeks Vorschlag zur Wiedereinführung eines Drei-GewaltenSystems 1. Die Demokratie als Ideal und Hayeks Kritik der „Schacher-Demokratie" Hayek gehört ohne Zweifel zu den Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, die dessen totalitäre und autoritäre Verstrickungen schon frühzeitig erkannten. Sein Buch „The Road to Serfdom" (1944) und seine an Ludwig von Mises anschließende Kritik der wirtschafts- und erkenntnistheoretischen Grundlagen des Sozialismus (Hayek 2004) sind aus heutiger Sicht Meilensteine in der öffentlichen und in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um politische und wirtschaftliche Freiheit und Gerechtigkeit. Hayek betont in vielen seiner Schriften, daß „wir zu Recht an das Grundideal der Demokratie glauben". Er fährt fort, daß dieser Glaube an das Ideal der Demokratie „uns für gewöhnlich verpflichtet, die besonderen, seit langem als ihre Verkörperung geltenden Institutionen zu verteidigen". Wir üben daher „nur ungern Kritik (an jenen C.W.), weil das die Achtung vor einem Ideal mindern könnte, das wir gerne erhalten wollen" (2003, S. 307 f.). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß der Begriff „Demokratie" heute eine Sammelbezeichnung für eine große Zahl politischer Ordnungen ist. Sie reichen allein im vergangen Jahrhundert von der „Volksdemokratie" sozialistischer Prägung - ohne Zweifel trotz Wahlen eine Pseudodemokratie - bis hin zum System der „checks and balances" amerikanischer Provenienz. Sie schließen die Präsidialdemokratie französischer Prägung, die direkte schweizerische Demokratie, die nicht durch eine Verfassung gebundene Parlamentsdemokratie englischer Prägung, die durch eine Neigung zu überstarken Präsidenten geprägten südamerikanischen Systeme ebenso ein wie die eher korporatistisch geprägte bundesdeutsche Ordnung. Hayeks Sicht der Demokratie orientiert sich vor allem an der Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert. Am Ende der absoluten Monarchien war die Beschränkung aller staatlichen Gewalt das große Ziel der allmählich entstehenden konstitutionellen Staaten (2003, S. 406). Die wichtigsten Institutionen, die dieser Prozeß hervorbrachte, waren „die Gewaltentrennung, die Herrschaft des Gesetzes, der Rechtsstaat, die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht sowie das Verfahrensrecht" 1 (2003, S. 406). Diese Vorkehrungen „dienten dazu, die Bedingungen zu definieren und einzuengen, unter denen die Anwendung von Zwang gegenüber dem einzelnen zulässig war. Zwang galt nur dann als gerechtfertigt, wenn er im allgemeinen Interesse angewendet

1

Einen historischen Anwendungsfall für das politisch ungewollte Entstehen liberaler Strukturen behandeln Streissler (1996) und Watrin (1996).

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Christian Watrin

wurde. Und nur Zwang gemäß einheitlichen, für alle gleichermaßen geltenden Regeln galt als im allgemeinen Interesse" (2003, S. 406). Die weitere historische Entwicklung dieser „großen liberalen Prinzipien" aber war, laut Hayek, das Aufkommen des Irrglaubens, daß durch „die demokratische Kontrolle des Staates ... jede andere Maßnahme zum Schutz vor willkürlicher Gewaltanwendung entbehrlich" geworden sei (2003, S. 406). War dieser Schritt einmal getan, so war es nicht mehr weit, daß Recht zu einem zweiten Weg wurde, um Politik zu betreiben (vgl. Satori 1992, S. 203). Es galt nicht länger - wie noch bei den Juristen des 19. Jahrhunderts - als ein Schutzrecht des Einzelnen gegenüber dem Staat, sondern Gesetze - im Sinne langfristig stabiler Verhaltensregeln im Verkehr der Bürger untereinander und gegenüber dem Staat - wurden, wie Hayek und andere (z. B. Satori) ausführen, zu „Anweisungen", wie sich die Gesetzesunterworfenen zu verhalten hätten. Paart sich diese Auffassung mit der Überzeugung, daß alles, was die Mehrheit einer gesetzgebenden Körperschaft billigt, Recht sei, so ist - nach Hayek - die Freiheit des Einzelnen ebenso in Gefahr, wie das, was er sein eigen nennt. Von hier aus entwickelt Hayek seine Kritik an jener Form der Demokratie, die er als „Schacher-Demokratie" (bargaining democracy) bezeichnet. In ihr spielen Gruppeninteressen und deren Befriedung zu Lasten allgemeiner Belange und die Stimmenmaximierung der Parteien die Hauptrolle in jenem merkwürdigen Spiel, das häufig als „Politik" bezeichnet wird. Buchanan and Congleton (1998, p. XI) charakterisieren es als „politics by interest". Der Gegenentwurf ist für sie „politics by principle", d. h. eine Politik der Gleichbehandlung aller Bürger einer staatlichen Gemeinschaft, wo - idealerweise wie in der Strafjustiz jedes Delikt gleichbehandelt wird.

2. Hayeks Zwei-Kammer-Vorschlag Hayeks Antwort auf den Verfall des demokratischen Ideals geht in eine andere Richtung, und zwar den Entwurf eines Zwei-Kammer-Systems, in dem eine Kammer die Legislative bildet. Sie ist quasi ein auf Dauer tagender Verfassungs- bzw. Gesetzgebungskonvent. Die andere Kammer hingegen ist nur für die Regierungsgeschäfte zuständig, aber sie verfugt im Gegensatz zur heutigen Praxis über keinerlei Gesetzgebungsbefugnisse. Um zu vermeiden, daß sich die politischen Parteien der gesetzgebenden Körperschaft bemächtigen, soll diese zwar demokratisch gewählt werden, aber abweichend vom Üblichen durch die Altersgruppe der jeweils Vierzigjährigen. Jeder Jahrgang soll einmal in seinem Leben das Recht haben, seine Vertreter in die gesetzgebende Versammlung zu entsenden. Die Gesetzgeber selbst werden für fünfzehn Jahre (ohne Wiederwahlmöglichkeit, aber mit einer angemessenen Altersversorgung) gewählt. Auf diese Weise hofft Hayek ein Gremium unabhängiger Persönlichkeiten gewinnen zu können, dem eine unparteiische Gesetzgebung anvertraut werben kann. Im Kern ist sein

Hayeks Theorie einer freiheitlichen politischen Ordnung

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Vorschlag an der Gewaltentrennungskonzeption Montesqieus orientiert. 2 Exekutive und Legislative sollen klar voneinander getrennt werden. Hayeks Analyse des Verfalls des demokratischen Ideals und besonders seine Kritik an der Rolle von Gruppeninteressen werden - zumindest in liberalen Kreisen - vielfach geteilt. Sein ordnungspolitischer Vorschlag zur Umstrukturierung des demokratischen Staatsaufbaus 3 hat jedoch keinen besonderen Widerhall gefunden, auch nicht in den zahlreichen Verfassungsdiskussionen der jungen Demokratien, die aus der Asche des sozialistischen Zusammenbruchs hervorgegangen sind. Legt man jedoch die Zähmung der Staatsgewalt als zentralen Gesichtspunkt einer freiheitlichen Staatsordnung zugrunde, so dürfte das Zwei-Kammer-System eine sehr nützliche Maßnahme sein. Dies vor allem, weil es den liberalen Grundsatz der Gewaltentrennung zwischen Legislative und Exekutive, der im Übergang vom Konstitutionalismus zum Parlamentarismus auf ein Zwei-Gewalten-Prinzip verkürzt wurde, wieder neues Gewicht verschaffen würde {Blankart 2003, S. 207). Damit würde jene Fehlentwicklung seit dem politischen Ende der Monarchien korrigiert, durch die nicht mehr das Parlament als Ganzes die vom Monarchen bestellte Regierung kontrolliert, sondern faktisch nur noch die oft schwache Opposition. Diese sieht sich jedoch zwei mächtigen Gegnern gegenüber, der Regierung und der sie stützenden Mehrheitsfraktion. Die voraussehbare Folge der Verschmelzung von Legislative und Exekutive sind die Figur des Politiker-Gesetzgebers und die Öffnung der Schleusen für eine Expansion der Staatsaufgaben. Sie kommt im rasanten Anstieg der Staatsquoten seit Beginn des vorigen Jahrhunderts zum Ausdruck (Blankart 2003, S. 621). Im Gefolge des Übergangs zum Modell des Politiker/Gesetzgerbers und der Zwei-Gewalten-Verfassung oder - wie auch gesagt wird - zum „Gewaltenverbund" (Jantz 1980, S. 125) wird auch die Gesetzgebung politisiert. Die Abgeordneten sind einerseits Politiker mit exekutiven Aufgaben und andererseits Gesetzgeber, welche als Mitglieder der Mehrheitsfraktion im Zusammenspiel mit der Regierung die Rechtsordnung bestimmen. Gerade das aber will der Hayeks che Vorschlag verhindern. Um die Wiedereinführung einer unabhängigen dritten Gewalt ist es gegenwärtig schlecht bestellt: Sie hat sich auch nicht spontan im Prozeß der vielen Neugründungen von Staaten in ehemals sowjetisch kontrollierten Regionen herausgebildet, und die dort neugeschriebenen Verfassungen haben nicht dazu gefuhrt, daß Hayeks Vorschlag aufgegriffen wurde. Es soll deswegen nach Alternativen im Rahmen der gegenwärtigen Situation gefragt werden. Dabei geht es vor allem um die Beseitigung jener Fehlanreize im politischen System der Demokratie, die dazu führen, daß Partialinteressen ein größeres Gewicht haben als gemeinsame Anliegen. Die theoretische Basis dieser Entwicklung hat zuerst Mancur Olson (1968/2004) dargestellt.

2

Eine kurze und klare Skizze des Hayekschen Vorschlags aus staatstheoretischer Sicht findet sich bei Rupp (1979, S. 97 f.), der auch die Frage erörtert, ob und inwieweit das deutsche Bundesverfassungsgericht Funktionen übernimmt, die möglicherweise im Hayeks chen Vorschlag einer unabhängigen Legislative besser aufgehoben wären. 3 Für Details (Verfassungsgericht etc.) siehe Hayek (2004, Teil 3).

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Christian Watrin

III. Politikkontrolle - das Prinzipal-Agenten-Modell 1. Politiker als Beauftragte der Bürger - das Überwachungsproblem Ein mit dem Denken Hayeks kompatibler Weg zur Korrektur demokratischer Fehlentwicklungen könnte die Einbeziehung des in neuerer Zeit entwickelten PrinzipalAgenten-Modells in die Analyse demokratischer Ordnungen sein. Jüngere Erörterungen4 nehmen ihren Ausgang vom „Corporate Governance"-Ansatz, der ohne Schwierigkeiten auch auf die Beziehungen zwischen Wählern und Gewählten übertragen werden kann. Das Grundmodell ist die Prinzipal-Agenten-Beziehung oder - in anderen Worten - die Beziehung zwischen Auftraggebern (z. B. den Eigentümern einer klassischen Kapitalgesellschaft) und den von ihnen bestellten Treuhändern (vor allem dem Management). In jedem Unternehmen, das nicht vom Eigentümer-Unternehmer geführt wird, stellt sich ja die Frage, wie dessen Agenten, das sind neben dem Vorstand alle, die zum Erfolg des Unternehmens beitragen, veranlaßt werden können, so zu handeln, daß sie möglichst effektiv zum Unternehmenserfolg beitragen. Gesucht werden Regelwerke, deren Anreizstrukturen so beschaffen sind, daß alle Akteure ihren Beitrag leisten und nicht die Position des Drückebergers oder Trittbrettfahrers einnehmen, d. h. statt zweckdienlicher Leistungen Kosten erzeugen, welche alle übrigen mittragen müssen. Sieht man die Inhaber von Regierungsmacht - anders als in der Tradition von Hegels Gesellschaftsphilosophie mit ihrer Überhöhung des Staates - mit ökonomischen Augen nüchtern als in der Regel selbstinteressierte Akteure an, die sich in ihren jeweiligen Stellungen und Ämtern ähnlich verhalten wie wirtschaftende Personen auf Märkten, dann steht dem Gedanken, daß die Prinzipal-Agenten-Perspektive Anwendung finden kann, nichts mehr im Wege. Die Bürger sind dann die Prinzipale, die sich ihrer Agenten, das sind die Politiker, bedienen, um in den Genuß jener Güter und Dienstleistungen zu gelangen, welche die spontanen Kräfte des Marktes - aus welchen Gründen auch immer - nicht hervorbringen. An die Stelle von „Corporate Governance" tritt dann „Public Governance", an die Stelle von Unternehmenskontrolle die Politikkontrolle (vgl. Richter und Furubotn 2003, S. 516; ferner Blankart 2003, S. 620 und Weede 2003, S. 35 ff.). Das Verständnis der Bürger-Politiker-Beziehung als Austauschprozeß widerspricht vielen normativen Interpretationen des politischen Prozesses, so der Sichtweise, daß die Politiker als auf Zeit gewählte Repräsentanten die eigentlichen Souveräne seien, welche die Bürger führen müßten - eine Vorstellung, die mehr der unseligen FührerGefolgschafts-Konzeption entspricht als dem liberalen Denken. Letzteres beruht auf der im klassischen Griechenland entstandenen Idee, daß nicht Monarchen oder Aristokraten, sondern alle Bürger, einschließlich der Armen, die Polis regieren sollten (Meier 1993, S. 1089). - Eine ähnliche Ablehnung erfährt auch die Meinung, daß Politiker ihre Wähler auf dem Wege in die (offene?) Zukunft mitzunehmen hätten - ein Anspruch, der sich leicht dahingehend wandelt, daß eine Avantgarde der Gesellschaft die politische

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Zu den historischen Vorläufern des Prinzipal-Agenten-Ansatzes im ökonomischen Denken siehe Meyer (2004, S. 65 ff.).

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Führung zu übernehmen habe (Watrin 1979, S. 83). Derartige Ansichten gehen auf den Frühsozialismus zurück, haben aber intellektuelle Nachkommen bis hin in die Gegenwart hinein. Im Prinzipal-Agenten-Ansatz wird das Bürger-Politiker-Verhältnis als eine Beziehung auf gleicher Augenhöhe verstanden, mit der Maßgabe, daß die Agenten zwar nicht durch Kündigung, wohl aber durch Wahlen entlassen werden können. Abweichend von älteren politikwissenschaftlichen Entwürfen, werden vor allem die Prinzipale hier als vollwertige Partner definiert (siehe hierzu auch Meyer 2004, S. 2). In einer Demokratie ist das Volk der Souverän - vielleicht ein sehr schwacher. Diese Vorstellung schließt nicht aus, daß die Agenten mit Erfolg die Rollen wieder umkehren und sich zum Souverän aufschwingen, so wie es im Absolutismus der Fall war. Daß sich die Herrscher damals als erste Diener ihres Volkes ausgaben, verdanken sie möglicherweise einer Sicht der realen Machtverhältnisse, die wenig mit den tatsächlichen Machtverhältnissen zu tun hatte. In jüngerer Zeit wird jedoch die dienende Funktion der Politiker erneut als Wahlkampfargument verwendet. Das schafft Raum dafür, in der Zeit zwischen den Wahlen über die ordnungspolitischen Konsequenzen einer solchen Auffassung nachzudenken. In freiheitlicher Sicht ist dies ein Teil des ordnungspolitischen Problems der Demokratie. Versteht man den „Public Governance"-Ansatz als eine Art Marktbeziehung zwischen „Anbietern" und „Nachfragern" nach öffentlichen Gütern, dann kommen zahlreiche Elemente - wenn auch unter anderem Namen - zum Zuge, die aus der Markt- und Vertragstheorie bekannt sind, so die asymmetrischen Informationen zwischen Politikern und Bürgern, das „Moral hazard"-Problem und das Auftreten verdeckter Handlungen. Die im Zuge von „Public Governance"-Problemen auftretenden ordnungspolitischen Fragen unterscheiden sich im Prinzip nicht von jenen, die auch in klassischen Publikumsaktiengesellschaften auftreten. Im Detail gibt es allerdings wichtige Unterschiede, so beim Haftungsproblem, das auf Märkten vertraglich abgesichert ist und gerichtlich durchgesetzt werden kann. Vergleichbares fehlt im Bereich der Politik, auch wenn die „Übernahme der politischen Verantwortung" oft als ein Substitut für fehlende Haftung der Politiker beschworen wird. Hingegen sind Unternehmensleitsätze, die dazu dienen, Mitarbeiter eines Unternehmens auf bestimmte Handlungsweisen zu verpflichten und sie nach außen an diese zu binden, durchaus denkbar. Ihre Wirksamkeit ist eine andere Frage.

2. Kontrollmöglichkeiten der Wähler-Prinzipale Wechsel der Perspektive haben Folgen, allein schon weil, wie Hayek in seinen erkenntnistheoretischen Studien betont, die menschlichen Fähigkeiten zur Aufnahme von Tatbeständen eng begrenzt sind (Hayek 2005; Streit 2003, S. 115). Im vorliegenden Fall geht es primär um die Ausgestaltung der Bürgerkontrolle über die Politik. Sie ist - im Vergleich zu Märkten - schon deswegen wesentlich schwieriger, weil in der Regel mehrjährige Zeitintervalle zwischen den Wahlen liegen. Demsetz (1982, S. 82) bemerkt hierzu treffend, daß allein schon dadurch auf Seiten der Politiker Anreize zu opportuni-

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stischem Verhalten entstehen. Zu fragen ist deswegen, ob neben der Überwachung durch Wahlen überhaupt noch sinnvolle Kontrollmöglichkeiten bestehen? Begreift man, wie Spiecker (2005, S. 2) den Staat als den „Steuernden der Wirklichkeit", so dürfte der Spielraum, wenn überhaupt, minimal sein. Denn unter solchen Bedingungen können den Wählern kaum Einwirkungsmöglichkeiten auf die staatliche Planung eingeräumt werden, und zwar weder in der ex ante- noch in der ex postPlanungsphase. Ex ante wären die in einer freien Gesellschaft divergierenden individuellen Vorstellungen zu harmonisieren - ein nicht lösbares Problem in einer offenen Gesellschaft; ex post würde jede Intervention in einmal beschlossene Pläne die Gefahr heraufbeschwören, daß der Staat von seinem Planungspfad Abstand nehmen müßte. Das könnte schwer einschätzbare Konsequenzen haben, und zwar nicht nur bei gesamtgesellschaftlichen, sondern auch bei lokalen Planungen, die über abgrenzbare Projekte hinausgehen. In letzter Konsequenz liefe deswegen ein solches Vorgehen auf die Umkehrung des hier vorgeschlagenen normativen Prinzipal-Agenten-Verhältnisses hinaus. Wie im Absolutismus wären jene, die den Staat steuern, der Souverän. Eine quasi entgegengesetzte Variante dieser Ansicht waren die Bestrebungen der Neuen Linken in den siebziger Jahren, sogenannte „Vollversammlungen" zum Instrument der Bürgerpartizipation zu machen. In der Praxis deutscher Hochschulen wurden aus diesen - angeblich die Interessen von zehntausenden Studenten vertretenden Einrichtungen - kleine zusammengewürfelte Häuflein, die sich nicht um die eigentlichen Anliegen der vermeintlich von ihnen Vertretenen kümmerten, sondern sich in ideologischen Debatten zerfleischten. Ebensowenig sind Massenmobilisierungen, wie sie geschickte Politiker in den zwanziger und dreißiger Jahren in Europa, aber auch in Südamerika, organisierten, ungeeignet, dem im Prinzipal-Agenten-Ansatz enthaltenen Anspruch auf Politikkontrolle durch die Bürger in irgendeiner Weise zu genügen. Das angeblich Gewollte verkehrte sich schell in sein Gegenteil: diktatorische Herrschaft in Form totalitärer oder autoritärer Regierungen. Die politische Ordnung, in der das Prinzipal-Agenten-Denken seine eigentliche Heimat hat, ist demgegenüber die liberale Demokratie. Historisch ist an den langen Kampf gegen Könige und Fürsten zu erinnern, in dem es um die Durchsetzung freiheitlicher Institutionen ging. Der Sieg der freiheitlichen Ideen ist jedoch nicht so auszulegen, daß angesichts von Parlamentarismus und demokratischem Regelsystem die Überwachung der Inhaber staatlicher Ämter auf Zeit überflüssig geworden sei oder allein den ordentlichen Gerichten überlassen bleiben könnte. Die ökonomische Analyse der Politik hat hinlänglich gezeigt, daß auch in demokratischen Ordnungen nicht von der Prämisse benevolenter Amtsinhaber ausgegangen werden kann. Das heißt nicht, daß laufend Gesetze gebrochen werden, wohl aber daß das Eigeninteresse der Amtsinhaber ebenso eine Rolle spielt, wie es allgemein für Akteure auf Märkten gilt. Hinzu kommt noch, daß die Repräsentanten in den Parlamenten die Regeln, nach denen sie agieren, weitgehend selbst bestimmen. In Verbindungen mit dem Mehrheitsprinzip sind deswegen die Anreize für selbstinteressiertes Handeln beachtlich. Wendet man sich rechtsstaatlich und freiheitlich verfaßten Demokratien zu, dann ist zunächst festzuhalten, daß Politiker angesichts hoher Abwanderungskosten der Bürger nicht so leicht wie Marktanbieter durch die Exit-Alternative sanktioniert werden kön-

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nen. Firmen mögen leichter abwandern, als es den Politikern lieb ist. Damit eine Abwanderung der Bürger politisch Aufmerksamkeit erzeugt, bedarf es schon beachtlicher Wanderungsströme. In föderal verfaßten Staaten wie der Schweiz mag die Binnenwanderung schon von größerer Bedeutung sein, in der Regel ist sie jedoch nicht so wirksam wie auf Märkten, auf denen schon marginale Veränderungen Anpassungen der Leistungsanbieter hervorrufen. Im vorliegenden Zusammenhang stellt sich die Frage, ob nicht allein schon die Presse- und Meinungsfreiheit genügt, um das Überwachungsproblem zu bewältigen? So wichtig diese Freiheitsrechte im täglichen Leben sind, sie alleine sind kein Substitut der Bürgersouveränität. In den deutschen Printmedien wurde jüngst heftig darum gerungen, inwieweit lokale Monopolisierungen, die sich immer auch zu politischen entwickeln können, erlaubt sein sollten. Ein in diesem Zusammenhang wenig beachteter Aspekt ist das Eigentum großer politischer Parteien an Printmedien und die daraus folgende Frage nach der Unabhängigkeit der Redaktionen. - Private Fernsehanstalten gerieren sich im Vergleich dazu als hauptsächlich der Unterhaltung zugeneigte Medien, die werbefinanziert sind. Das gilt nicht für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit seinem de facto zwangsfinanzierten Programm. Das ursprüngliche Argument, daß aus technischen Gründen Abwanderer die Trittbrettfahrerposition wählen könnten, ist seit der Erfindung des Bezahlfernsehens nicht mehr gültig. Die Einschränkung der Konsumwahlfreiheit kann nur noch mit paternalistischen Argumenten verteidigt werden. In einer Gesellschaft, die frei sein will, ist das keine überzeugende Haltung. In einem Land, das wissenschaftliche Qualität - oder wie neuerdings gesagt wird: „Exzellenz" - durch private Akkreditierungs- und Evaluationsfirmen feststellen will (Lege 2005, S. 7), bedarf es eines kritischen Hinweises darauf, daß solche bürokratischen Verfahrensweisen nicht auf die politische Ebene einer freien Gesellschaft übertragbar sind. Hier entscheiden - wie übrigens auch in der Wissenschaft - der Wettbewerb der Ideen und Argumente sowie die erzielten Ergebnisse. Weder im einen noch im anderen Bereich gibt es Endgültiges. Erst im Zuge der freien Meinungsbildungsprozesse entstehen Auffassungen darüber, welche Resultate oder Leistungen die besseren sind und ob und wann Revisionen angezeigt sein könnten. Diese von Einzelnen oder Mehrheiten gefällten Urteile müssen nicht von jedermann für richtig befunden werden. In der Welt des politischen Handelns gibt es keine endgültigen Wahrheiten. Angesichts der Irrtumsanfälligkeit unseres Wissens muß die Welt vielmehr ständig für Korrekturen offengehalten werden. Was bedeutet das für das Überwachungsproblem, dem sich die Bürger-Prinzipale im Hinblick auf die von ihnen zu kontrollierenden Politiker-Agenten gegenübersehen? In Deutschland ist manches, was in Nachbarländern längst erprobt ist, nicht möglich. Der Schweizer Ökonom Blankart (2003, S. 62) empfiehlt z. B. die Rückkehr zur klassischen Gewaltenteilung in der Weise, daß Parlament und Exekutive - ähnlich wie in den USA - getrennt bestellt werden. Das würde in Deutschland die von den Wahlen zum Bundestag getrennte Wahl des Bundeskanzlers zur Folge haben. Die Stellung des Parlamentes gegenüber der Exekutive könnte so gestärkt werden, da dann das Parlament als Ganzes - und nicht nur die Opposition - die Aufgabe hätte, die Regierung zu kontrollieren. Das wäre zwar nur indirekt eine Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten der Wähler-

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Prinzipale, aber es könnte deren Einflußmöglichkeiten verstärken, da jetzt der einzelne Abgeordnete näher an die Wähler heranrückte. Die Einführung von Vorwahlen zur Bestimmung der Kandidaten für einen Wahlkreis und damit die Ersetzung der problematischen Delegiertenversammlungen für die Bestimmung der jeweiligen Bewerber durch das Votum von Bürgern wäre ebenfalls als ein Fortschritt in Richtung demokratischer Verfahrensweisen zu bezeichnen. Dem steht zwar das Argument entgegen, daß die Vorwahl durch die Parteivorstände zu ausgewogeneren Listen führe. Die praktische Erfahrung bestätigt das jedoch kaum. Die Bürgersouveränität könnte nachhaltig in unserem Land gestärkt werden, wenn es zur Einführung von Referenden nach schweizerischem Modell käme. Das würde es möglich machen, Gesetzesbeschlüsse der gesetzgebenden Körperschaften von der Bevölkerung abstimmen zu lassen, mit der Folge, daß sie angenommen oder verworfen werden könnten - ein Verfahren, das auf allen staatlichen Ebenen anwendbar wäre. An die in Deutschland so häufig praktizierten Änderungen des Grundgesetzes könnten strengere Anforderungen der Art angelegt werden, daß nicht nur Bundestag und Bundesrat mit qualifizierter Mehrheit abstimmungsberechtigt wären, sondern daß zwingend eine Volksabstimmung hinzuträte. Das würde das Vertrauen der Bürger-Prinzipale in die Verfassung stärken und langfristig Lebensplanungen sicherer machen. Auf der Blankartschen Liste (2003, S. 624) wird ferner ein Föderalismus empfohlen, in dem der Steuerverbund von Bund und Ländern weitgehend aufgelöst und die Steuerautonomie an die Bundesländer zurückgegeben würde. In Verbindung mit Referenden würde ein solches Vorgehen wahrscheinlich das Bürgerinteresse an politischen Angelegenheiten verstärken und die „Aktivbürgerschaft" - wie die Politikwissenschaftler sagen - stärken, da besonders in einem echt föderalen Gemeinwesen die Zusammenhänge zwischen politischen Entscheidungen und ihren Folgen deutlicher wären, als im heutigen Verbundsystem. Andere Vorschläge glauben zwar das rentensuchende Verhalten der Interessenverbände nicht völlig austrocknen, wohl aber erschweren zu können, wenn für die Gewährung von Subventionen oder vergleichbaren Zuwendungen nicht einfache, sondern qualifizierte Mehrheiten erforderlich wären (Weede 2003, S. 132 und die dort angegebenen Literatur). Es stehen mithin viele Wege offen, die ohne ordnungspolitische Revolution gangbar sind - Wege, die nicht nur andernorts bereits begangen werden, sondern auch verbessert werden könnten. Bewährtes zu übernehmen, ist das normale Verfahren in offenen Gesellschaften. Daß diese Möglichkeiten, wenn sie in Richtung der direkten Demokratie gehen, überdies noch ressourcensparend sind, bestätigen ökonometrische Untersuchungen (Weede 2003, S. 132).

IV. Sind Demokratien reformfahig? Wie immer man die Verwirklichungschancen der hier skizzierten Programme einschätzt, die heutige Krise der Sozial- und Steuerstaaten mit ihren hohen Staatsquoten, permanent wachsender öffentlicher Verschuldung und Regulierungsflut auf allen staatlichen (einschließlich der europäischen) Ebenen hat mittlerweile eine Situation geschaf-

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fen, in welcher der Staat zur Wachstums- und Wohlstandsbremse geworden ist. Seitens der Politiker wird versucht, dem ein Entlastungskonzept entgegenzusetzen, dessen Kernpunkt der Vorsitzende Richter des Bundesverfassungsgerichtes als „strategische(n) ... Rückzug des Staates aus den verschiedensten Aufgabenbereichen" umschreibt (Papier 2005, S. 40). Angesichts des globalen Wettbewerbs und der mit ihm verbundenen Konkurrenz der politischen Systeme ist ein solcher Rückzug nicht - wie die Globalisierungsgegner empfehlen - in Richtung einer „geschlossenen Volkswirtschaft" zu suchen, wie es noch in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts möglich war. Die beim gegenwärtigen Stande der internationalen Arbeitsteilung damit verbundenen Wohlstandseinbußen wären untragbar. Entfallt diese Alternative, die im primären Interesse mancher machtbewußter Politiker läge, dann tritt an ihre Stelle der oben empfohlene Abbau der Macht der Politiker in vielen Sektoren. Die Rückverlagerung vieler staatlicher Zuständigkeiten in den gesellschaftlichen Bereich und damit in die Verantwortung des Einzelnen würde weit über den Prinzipal-Agenten-Ansatz hinausgehen. Aus der Sicht einer Gesellschaft freier Menschen würde eine solche Entwicklung jedoch - wie Hayek (1971, S. 195) in anderem Zusammenhang treffend bemerkt - ein weiterer Fall dafür sein, daß Freiheit stets ein „Nebenprodukt des Kampfes um Freiheit" und nicht etwa „das Ergebnis einer versuchten Zielsetzung" ist. Das Problem unseres Landes liegt im Fehlen einer breiten, von privaten Initiativen getragenen Kultur der öffentlichen Debatten. Talkshows der öffentlichen-rechtlichen Sender sind kein Ersatz für diese. Der tief verankerte Glaube an den paternalistischen Staat wirkt sich hier behindernd aus. Trotzallem: Der gegenwärtige Zeitpunkt für tiefgreifende ordnungspolitische Korrekturen einer korporatistisch geprägten Gesellschaft ist günstig. Dabei kann die Beziehung zwischen Prinzipalen-Wähler und Agenten-Politikern notfalls auch als Herrschaftsvertrag aufgefaßt werden - Herrschaft allerdings nicht als unbeschränkte Machtausübung der Agenten, sondern als ein Lehen auf Zeit für jene Fälle, in denen das friedliche Zusammenleben der Menschen gesichert werden muß (Bracher 1979, S. 133). Ein solcher Herrschaftsvertrag wurde in der Geschichte des politischen Denkens lange Zeit so verstanden, daß er als ein Angebot an die Beherrschten - also „Schutz" gegen „Steuerzahlung" - verstanden wurde. Das mag für die Vergangenheit tatsächlich so gewesen sein. Die dem Prinzipal-Agenten-Ansatz entsprechende Sicht ist jedoch die Umgekehrte. Die Prinzipale bieten ihren Agenten - den Managern für kollektiv zu erstellende Güter Handlungsmöglichkeiten und Bezahlung dafür an, daß sie sich der allgemeinen Aufgaben annehmen. Im Prinzipal-Agenten-Denken sind die Politiker also nicht wohlwollende oder weniger wohlwollende Herrscher, sondern angestellte Manager. Entsprechend sollten ihre Anstellungsverträge und Abberufungsmöglichkeiten ausgestaltet werden. Die Prinzipal-Agenten-Perspektive aber hat vielleicht den Vorteil, daß sie die sozialen Beziehungen zwischen den Vertragspartnern schärfer akzentuiert und nüchterner sieht als manche Staatslehren.

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Literatur Blankart, Charles B. (2003), Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 5. Aufl., München. Bracher, Karl Dietrich (1979), Demokratie und Gewaltenteilung - ein Schlüsselproblem des liberalen Staatsverständnisses, in: Willy Linder, Hanno Helbling und Hugo Büttner (Hg. im Auftrag der Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung), Liberalismus - nach wie vor: Grundgedanken und Zukunftsfragen, Zürich, S. 123-134. Buchanan, James M. (1988), The Constitution of Economic Policy, in: James D. Gwartney and Richard Wagner (eds.), Public Choice and Constitutional Economics, London, pp. 103-114. Buchanan, James M. and Congleton, Roger D. (1998), Politics by Principle not Interest: Towards Nondiscriminatory Democracy, Cambridge. Demsetz, Harold (1982), Economic, Legal, and Political Dimensions of Competition, F. De Vries Lectures in Economics, Vol. 4, Amsterdam, New York and Oxford. Gerecke, Uwe (1998), Soziale Ordnung in der modernen Gesellschaft, Tübingen. Hayek, Friedrich A. von (1944/2004), Der Weg zur Knechtschaft, hg. v. Manfred E. Streit, Tübingen. Englisches Original: The Road to Serfdom, London 1944. Hayek, Friedrich A. von (1971), Die Verfassung der Freiheit, Tübingen. Englisches Original: The Constitution of Liberty, London 1960. Hayek, Friedrich A. von (1979), Liberalismus, hg. v. Walter Eucken Institut, Vorträge und Aufsätze, Heft 72, Tübingen. Hayek, Friedrich A. von (1996), Die verhängnisvolle Anmaßung: Die Irrtümer des Sozialismus, Tübingen. Englisches Original: The Fatal Conceit: The Errors of Socialism, ed. by W. Bartley III, The University of Chicago Press, 1988. Hayek, Friedrich A. von (2003), Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Tübingen. Englisches Original in drei Bänden: Law, Legislation and Liberty, London 1973, 1976, 1979. Hayek, Friedrich A. von (2004), Wissenschaft und Sozialismus, hg. v. Manfred E. Streit, Tübingen. Hayek, Friedrich A. von (2005), Die sensorische Ordnung, übers, und hg. v. Manfred E. Streit, Tübingen. Englisches Original: The Sensory Order, London 1952. Jantz, Kurt (1980), Artikel „Gewaltenteilung", in: Peter Gutjahr-Löser und Klaus Hornung (Hg.), Politisch-Pädagogisches Handwörterbuch, München. Lege, Joachim (2005), Der Hochschul-TÜV, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 194, S. 7. Meier, Christian (1993), Athen: Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin Meyer, Mathias (2004), Prinzipale, Agenten und ökonomische Methode, Tübingen. Olson, Mancur (1968/2004), Die Logik des kollektiven Handelns, 5. Aufl., Tübingen. Papier, Hans-Jürgen (2005), Bürgerengagement und Staatsverantwortung, Rotary-Magazin, Heft 8, S. 39-43. Popper, Karl R. (1992), Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, Tübingen. Rupp, Hans Heinrich (1979), Zweikammersystem und Bundesverfassungsgericht: Bemerkungen zu einem verfassungspolitischen Reformvorschlag F.A. von Hayeks, ORDO, Bd. 30. S. 95104. Richter, Rudolf und Eirik G. Furubotn (2003), Neue Institutionenökonomik. 3. Aufl., Tübingen. Satori, Giovanni (1992), Demokratietheorie, Darmstadt. Spiecker, Indra gen. Döhman (2005), Staatliche Informationsgewinnung im Mehrebensystem ein Überblick, in: Preprints of the Max Planck Institute for Research on Public Goods, Bonn 2005/13. Streissler, Erich W. (1996), Der Wirtschaftsliberalismus in Mitteleuropa: Umsetzung einer wirtschaftspolitischen Grundkonzeption?, in: Emil Brix und Wolfgang Mantl (Hg.), Liberalismus: Interpretationen und Perspektiven, Wien, Köln und Graz, S. 135-179. Streit, Manfred E. (2003), Menschliches Wissen - Dimensionen eines komplexen Phänomens, ORDO, Bd. 54, S. 113-122. Watrin, Christian (1979), Vom Wirtschaftsdenken der Klassiker zu den neoliberalen Ordnungsvorstellungen, in: Willy Linder, Hanno Helbling und Hugo Büttner (Hg. im Auftrag der Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung), Liberalismus - nach wie vor: Grundgedanken und Zukunftsfragen, Zürich, S. 81-102.

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Zusammenfassung: In den letzten Jahrzehnten ist die liberale klassische Theorie der Gewaltenteilung in Demokratien, wie Hayek in seinem berühmten Werk über „Recht, Gesetzgebung und Freiheit" zeigt, weitgehend in Vergessenheit geraten. Montesqieus Konzeption mündete in eine Entwicklung ein, die zur unbegrenzten Macht demokratisch gewählter Körperschaften führte. Für Hayek ist dieser Prozeß der Hauptgrund dafür, daß sich demokratische Institutionen heutzutage weniger um allgemeine Interessen kümmern, sondern eher jene politischen Kräfte stützen, welche Partialinteressen verfolgen. Hayeks Vorschlag einer Modell-Verfassung, die auf zwei Körperschaften mit unterschiedlichen Funktionen (eine fiir die Gesetzgebung und die andere für die ausführende Gewalt) beruht, ist weder in den Jahren nach dem Zusammenbruch des Sozialismus (1989-1992) noch in einem der alten westlichen Länder verwirklicht worden. Folglich ist nach Alternativen zu fragen, die mit dem Hayekschen Programm kompatibel sind und vielleicht leichter verwirklicht werden könnten. Der Autor meint, daß die PrinzipalAgenten-Theorie, die zuerst für die Analyse der großen Kapitalgesellschaften entwickelt wurde, hier wichtige Hilfe leisten könnte. Es gibt viele Wege, welche den Einfluß der Bürger-Steuerzahler auf die Prozesse der demokratischen Willensbildung verstärken und so das politische Geschehen in demokratischen Gesellschaften stärker auf das Lösen gemeinsamer Probleme lenken könnten.

Summary: F.A. Hayek on the Political Order of a Free Society As Hayek points out in his famous treatise on Law, Legilation and Liberty the classical theory of the division of powers in a true democracy has been largely forgotten during the last two hundred years. Montesquieu's idea was replaced by a development towards giving unlimited powers to democratically elected assemblies. For Hayek, this is the main reason why contemporary democracies do not further primarily common interests of their people but focus on supporting special special interest groups. Hayek's model constitution is based on the establishment of two distinctive government bodies, one which has solely the task to legislate and the other which is entrusted exclusively with the direction of government. Hayek's model was not accepted in any of the new democracies which came out of the revolution against socialism nor did any of the older Western societies follow Hayek's suggestions. This poses the question whether there are any alternatives which are compatible with Hayek's views but at the same time easier to carry out in today's democratic societies. According to the author the principal-agent-theory which was developed first in the economic analysis of corporations, lends itself to a renewed discussion about the

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effectiveness of current democratic processes. There are many ways to strengthen the power of the citizen-taxpayers in the political decision-making process thereby improving the effectiveness of modern democracies in serving the interest of all citizens.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2005) Bd. 56

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Entartung des politischen Wettbewerbs Inhalt I. Einleitung II. Grundlagen des Parteienwettbewerbs in Deutschland III. Parallelen zwischen politischem und ökonomischem Wettbewerb

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1. Wettbewerbsregeln 2. Suche nach effizienten Lösungen

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3. Herstellung und Sicherung von Markttransparenz 4. Die Rolle von Innovationen

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5. Unterschiedliche Zeithorizonte 6. Voneinander abweichende Prioritäten

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7. Fairneß im Wettbewerb 8. Das Scheitern im Wettbewerb

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9. Die Bedeutung der Markttransparenz IV. Ein Sündenregister

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1. Belastung der kommenden Generation 2. Gefahrdung der Geldwertstabilität

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3. Abwertung des Investitionsstandorts Deutschland 4. Steigende Arbeitslosigkeit 5. Wachsende Subventionen

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6. 7. 8. 9.

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Beschränkungen des Wettbewerbs Steigende Abgabenlasten Fata-morgana-Politik Schuldenfinanzierte Ausgabenprogramme

10.Die Bremswirkung des wirtschaftspolitischen Aktionimus 1 l.Die Folgen enttäuschter Erwartungen V. Schlußfolgerungen Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Degenerating Political Competition

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„Der Wettbewerb, auf dem der Auswahlprozeß beruht, muß im weitesten Sinne verstanden werden. Er schließt Wettbewerb zwischen organisierten und zwischen unorganisierten Gruppen ebenso ein wie den Wettbewerb zwischen Individuen" (von Hayek 1971, S. 46).

I. Einleitung Die verbreitete Politikverdrossenheit, die sich auch in stetig sinkender Wahlbeteiligung und der wenig schmeichelhaften öffentlichen Einschätzung des Politikerstandes niederschlägt, hat eine ihrer Wurzeln unzweifelhaft in der Art und Weise, in der politische Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit geführt werden. Im Wettbewerb um die Wählergunst werden häufig Mittel eingesetzt, die auf Unbeteiligte abstoßend wirken und zur Ansicht fuhren, Politik sei „ein schmutziges Geschäft". Gelegentlich bekannt werdende, in Deutschland sicherlich als seltene Ausnahmen einzustufende Fälle von Mißbrauch politischer Macht zu eigennützigen finanziellen Zwecken verfestigen diese Ansicht ebenso wie der ruppige, mit oft vagen Behauptungen arbeitende, manchmal die Grenzen der Anständigkeit überschreitende Umgang mit dem politischen Gegner. Der Unmut und das Mißtrauen der Wähler gegenüber Politikern sind weit verbreitet. Im folgenden wird allein ein Merkmal des politischen Wettbewerbs aufgegriffen, nämlich das Bemühen, mit zweifelhaften, unfairen, gelegentlich sogar unzutreffenden Argumenten neue Wähler zu gewinnen oder angestammte Wählerschichten vom Abwandern zum politischen Gegner abzuhalten. Alle anderen Dimensionen des Parteienwettbewerbs (siehe hierzu etwa Lehmbruch 2000) bleiben außerhalb der Betrachtung. Nach einfuhrenden Bemerkungen über Grundlagen und Regeln der Parteiendemokratie wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich Parallelen zwischen dem politischen und dem ökonomischen Wettbewerb herstellen lassen und welche Schlußfolgerungen daraus zu ziehen sind. Danach wird ein „Sündenregister" propagandistischer Aussagen präsentiert, die Irreführung oder Täuschung von Wählern bewirken (sollen). Daraus werden Schlußfolgerungen für ein besseres Funktionieren des politischen Wettbewerbs abgeleitet.

II. Grundlagen des Parteienwettbewerbs in Deutschland „Die Konkurrenzdemokratie läßt sich idealtypisch mit zwei Merkmalsdimensionen beschreiben: erstens der Intensität des Wettbewerbs der Parteien um das Monopol der zeitlich befristeten Machtausübung und zweitens der programmatischen Distanz zwischen den Parteien" (Lehmbruch 2000, S. 20).

Auf den zwischen zwei Großparteien konzentrierten politischen Wettbewerb in Deutschland treffen diese Merkmale unzweifelhaft zu. Ein drittes Merkmal kommt hinzu: Mehrheiten und damit politische Macht lassen sich nur gewinnen, wenn der Wettbewerb auch „auf die Wähler gerichtet ist, die ideologisch-programmatisch in der Mitte des Parteienspektrums angesiedelt sind" (ebenda). Das bedeutet, daß politische Aussagen und Programme häufig einen erheblichen Unschärfebereich aufweisen. Auf diese

Entartung des politischen Wettbewerbs

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Weise sollen sowohl die Stammwähler als auch die umworbenen Mittelschichten zufriedengestellt werden (vielseitig auslegbare Formulierungen). Im Wettbewerb um die politische Mitte wird es bei geringen Abweichungen von Teilen der Parteiprogramme zunehmend wichtig, (vermeintliche) Erfolge der Politik plakativ hervorzuheben. Diesem Ziel können sowohl propagandistische Übertreibungen als auch Fehlinformationen dienen. Die Suche nach und das Umwerben von Bundesgenossen in gut organisierten Interessengruppen versprechen ebenfalls Erfolge. Auf die Gefahren, die für die demokratische Willensbildung infolge zunehmenden Einflusses mächtiger Interessentenorganisationen drohen, hat Wilhelm Röpke schon sehr früh in seinem erstmals 1942 erschienenen Werk „Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart" (6. Aufl. 1979, S. 34) hingewiesen. Er spricht von „wachsenden Schwierigkeiten im Funktionieren der demokratischen Einrichtungen", von der „Auflösung der Autorität, Unparteilichkeit und Einheit des Staates" sowie von „einer Schwächung des Staatswillens" und warnt davor, „daß Wirtschaft und Staat zum Spielball und zur Beute der Interessenten werden" (S. 210). Es drohe die „Zersetzung des Staates" (S. 211). Im Einfluß von Interessenorganisationen auf die Politik hat Mancur Olson wesentlich später als Röpke eine maßgebliche Ursache des „Aufstiegs und Niedergangs von Nationen" gesehen (erste englische Auflage 1982; 1991, S. 99, 174, 191, 294 f. und passim). Konsequenzen sind aus solchen Warnungen vor dem Einfluß starker Interessentengruppen allenfalls unzureichend gezogen worden, wie insbesondere-die Stagnation in Deutschland zeigt (Großbritannien als Gegenbeispiel). Politiker, die sich aus Gründen der Machterhaltung mit Interessenorganisationen verbünden, schaden der Allgemeinheit und sich selbst, sofern die Wähler die Fehlentwicklung erkennen. Kennzeichnend für den Parteienwettbewerb ist es, daß feste Normen fehlen. Spielregeln sind nicht schriftlich fixiert, „sondern sind in einem funktionierenden Gemeinwesen Bestandteil eines gelebten Einverständnisses, das den gegenseitigen Beziehungen der politischen Akteure zugrunde liegt" {Lehmbruch 2000, S. 14). Erst recht gibt es keine normierten Sanktionen bei Verstößen gegen die „politische Kultur". Allenfalls die Wähler können bei Verletzung der ungeschriebenen Regeln mit dem Entzug ihrer Stimme bei den nächsten Wahlen reagieren. Da politische Parteien mittels ständiger demoskopischer Untersuchungen jedoch auch zwischen den Wahlterminen Veränderungen des Wählerwillens sorgfältig registrieren, ist bei Regelverstößen, die von breiten Wählerschichten als unziemlich und ungehörig empfunden werden, auch zeitnah mit der Heilung und Unterlassung von Regelverstößen zu rechnen. Verläßlichen Informationen, die gleichermaßen als Aufgabe von Regierung und Opposition anzusehen sind, kommt fiir die „politische Kultur" eines Landes erhebliche Bedeutung zu.

III. Parallelen zwischen politischem und ökonomischem Wettbewerb 1. Wettbewerbsregeln Aus der Normierung des ökonomischen Wettbewerbs in Wettbewerbsgesetzen lassen sich einige Regeln auch fiir den politischen Wettbewerb ableiten. Zu denken ist insbesondere an den Institutionenschutz und an den Schutz der Allgemeinheit. In einer par-

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lamentarischen Demokratie sollte unter allen politischen Akteuren Einigkeit darüber bestehen, daß alles zu unterlassen ist, was das Funktionieren der demokratischen Ordnung gefährdet. Was dies im einzelnen bedeutet, welche Verhaltensweisen zu unterlassen sind, darüber besteht freilich alles andere als Einmütigkeit, was sich aus der Diskussion über das Verbot extremistischer Parteien entnehmen läßt. Daß die Gewaltenteilung beschädigt wird, wenn Richterstellen in den obersten Gerichten nicht primär nach fachlichen, sondern vor allem nach parteitaktischen Gesichtspunkten besetzt werden, wird keineswegs immer beachtet. Zum Schutz der Allgemeinheit gehört die Verläßlichkeit von Informationen und der Verzicht auf willkürliche, meist stillschweigende Änderungen ursprünglich verkündeter Erfolgsmaßstäbe der Politik. Der Mißbrauch politischer Macht ist eine weitere Versuchung, der sich die Regierungsparteien erwehren müssen. Sofern Ämterpatronage inkompetenten Parteigängern zu wichtigen Funktionen verhilft, kann der Allgemeinheit schwer geschadet werden. Verstöße gegen das Verbot, Steuermittel für parteipolitische Zwecke zu verwenden, kommen immer wieder vor. Die allzu einseitige Begünstigung von Stammwählergruppen birgt ebenfalls Gefahren. Bei Cicero heißt es hierzu: „Wer aber einen Teil der Bürger begünstigt und einen anderen vernachlässigt, schleppt das verderblichste Übel in das Gemeinwesen ein: Spaltung und Zwietracht" (zitiert nach Röpke 1979, S. 200).

Ähnliches gilt für Politiker, die systematisch den Neid auf diejenigen schüren, die wirtschaftlich erfolgreich sind. Die Nivellierung von Einkommen und Vermögen schadet der Allgemeinheit, weil mit dem Leistungsanreiz auch das Wirtschaftswachstum, das Arbeitsplatzangebot und die Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards stagnieren. 2. Suche nach effizienten Lösungen Politischer Wettbewerb soll ebenso wie der ökonomische Wettbewerb diejenigen Kräfte belohnen, die effiziente Lösungen für offene Fragen versprechen. Ob dieses Ziel erreicht wird, hängt maßgeblich vom Vertrauen in die Kompetenz und Handlungsbereitschaft von Politikern sowie vom Urteilsvermögen, von der Lernfähigkeit und dem Erinnerungsvermögen der Wähler ab (vier- und fünfjährige Wahlperioden). Ein wesentlicher Unterschied zwischen politischem und ökonomischem Wettbewerb besteht insofern, als auf dem politischen Markt stets nur Pakete von Zielen und Lösungswegen zur Wahl stehen. Im ökonomischen Wettbewerb stehen sich dagegen Anbieter und Nachfrager auf Hunderttausenden von Märkten gegenüber. Ständige Innovationen und wettbewerbliche Vorstöße sorgen für ein hohes Maß an Dynamik und an Wettbewerbsintensität. Die Parteiendemokratie reagiert wesentlich schwerfalliger und bürokratischer auf Änderungen des Umfelds als die große Anzahl von Akteuren auf ökomomischen Märkten.

3. Herstellung und Sicherung von Markttransparenz Parteienwettbewerb kann nur dann funktionieren, wenn die Wähler Klarheit über alternative Angebote gewinnen können. Dazu gehören vor allem verläßliche Informatio-

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nen mit möglichst konkretem und unzweideutigem Inhalt. Es genügt nicht, allgemein gehaltene Ziele ohne Prioritätensetzung zu benennen. Es reicht auch nicht aus, die Mittel zur Zielerreichung mit allgemeinen Wendungen zu umschreiben („intelligente Lösungen"; „vernünftige Schritte"). Vielmehr müssen die geplanten Maßnahmen im einzelnen genannt und ihre Auswirkungen auf die Wähler dargelegt werden. Mit Schlagworten wie etwa „Bürgerversicherung" können Wähler nichts anfangen, wenn sie beispielsweise im unklaren gelassen werden über die Beitragsbemessungsgrundlage, den voraussichtlichen Beitragssatz, die Belastung von Familien und einkommensschwachen Haushalten und geplante Zuzahlungen zu Leistungen der Krankenversicherung. Die Realität des Parteienwettbewerbs sieht ganz anders aus. Das Streben nach politischer Macht führt häufig dazu, daß vor der Wahl gegebene Versprechen nicht eingehalten werden (falsche Informationen). Tatsächlich verfolgte Ziele bleiben nicht selten ungenannt. Es wird mit „Tricks und Täuschungen" (Schmidtchen 1983) gearbeitet. Gelegentlich gibt es auch „Scharlatane, die nur über Scheinwissen verfügen und die Massen zu selbstsüchtigen Zielen mißbrauchen" {Piaton o.J., S. 15).

4. Die Rolle von Innovationen Viele Politiker lassen sich in ihrem Handeln davon leiten, wie sie die errungene Macht erhalten oder Macht gewinnen können. Oft wider besseres Wissen verfolgen sie eine der Mehrheit genehme politische Linie, die dem Gemeinwesen schadet. „Ein Politiker, der ein geistiger Führer ist, wäre beinahe eine contradictio in adjecto" (von Hayek 1971, S. 136). Aber es gibt zweifellos auch unter Politikern mutige Innovatoren und langfristig denkende Staatsmänner, die es freilich schwer haben, in ihrer Partei und im Gemeinwesen eine Mehrheit von der Richtigkeit ihrer Ideen zu überzeugen. Beispiele hierfür sind Ludwig Erhard (in Westdeutschland) und Margret Thatcher (in Großbritannien). Auch in anderen europäischen Ländern, in den USA und in Neuseeland gibt es Beispiele für Politiker, die mutig und erfolgreich einem verbreiteten verderblichen Zeitgeist entgegengetreten sind. Auf lange Sicht sind es ohnehin „Ideen und daher die Männer, die neue Ideen in die Welt setzen, die die Entwicklung bestimmen" (von Hayek 1971, S. 137). Für Unternehmer ist es jedoch zweifellos leichter als für Politiker, zunächst in einem kleinen Marktsegment Neuerungen zu testen und durchzusetzen.

5. Unterschiedliche Zeithorizonte Politischer und ökonomischer Wettbewerb unterscheiden sich regelmäßig wesentlich hinsichtlich des Zeithorizonts der Akteure. Unternehmer müssen zur Verfolgung ihrer Pläne häufig Kapitalbindungen von zehn, zwanzig oder mehr Jahren eingehen und können deshalb ohne langfristiges Denken nicht erfolgreich sein. Politiker denken meist in Legislaturperioden und zielen mit ihren Maßnahmen auf für die Wähler kurzfristig spürbare Erfolge (.Dönges u.a. 1994, S. 11 ff.; Lehmbruch 2000, S. 23). Politiker rechnen damit, daß sie vor der nächsten Wahl danach beurteilt werden, was sie in der ablaufenden Legislaturperiode geleistet haben, und daß sie auf sieht- und fühlbare Fortschritte verweisen müssen. Dieses Kurzfristdenken bewirkt, daß längerfristige Aufgaben,

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etwa Ersatz- und Neuinvestitionen in die Infrastruktur, die seit Jahrzehnten überfällige Reform der Sozialversicherung und grundlegende Reformen in der öffentlichen Verwaltung, vernachlässigt werden. Nur in ideologisch besetzten Bereichen staatlicher Tätigkeit wie im Umweltschutz gelten Abweichungen von der Regel des Kurzfristdenkens. Da oft schon im letzten Jahr vor allgemeinen Wahlen ein politischer Entscheidungsstau festzustellen ist und da während einer Legislaturperiode im Bund Jahr für Jahr Wahlen in Ländern und Kommunen stattfinden, ist die Entscheidungsbereitschaft von Politikern fast ständig beeinträchtigt, jedenfalls in Zeiten, in denen keine staatlichen Wohltaten mehr zu verteilen sind, sondern Einschränkungen der öffentlichen Ausgaben unabwendbar geworden sind.

6. Voneinander abweichende Prioritäten Jahrzehntelang konkurrierten politische Parteien in Deutschland hauptsächlich auf dem Gebiet der Verteilungspolitik. Die Sozialausgaben in den öffentlichen Haushalten sind weit schneller gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt - trotz zunehmenden Massenwohlstands. Mit dem Griff in fremde Geldbeutel verschafften sich Politiker die Möglichkeit, immer neue und höhere staatliche Leistungen zu finanzieren. Diese Rechnung ist lange Zeit aufgegangen. Die Anzahl der Empfänger staatlicher Wohltaten überwog zunächst bei weitem die Anzahl der Abgabepflichtigen. Die Zustimmung einer Mehrheit der Wähler war sicher. Mit dem wachsenden Abgabendruck, dem auch in immer höherem Maße die Mittelschichten ausgesetzt sind, drehte sich jedoch das Blatt. Der Widerstand gegen die stetig weiter steigenden Abgabenlasten ist gewachsen. Der Wohlfahrtsstaat hat gemeinschaftsschädigende Formen angenommen (Schwarzarbeit, Schattenwirtschaft, sinkende Leistungsbereitschaft, Auswanderung von Eliten). Gleichwohl wird das Denken von Politikern auch jetzt noch im wesentlichen von verteilungspolitischen Zielen bestimmt („soziale Gerechtigkeit", „keine Einschnitte in das soziale Netz", kein „Sozialabbau"; Mehrbelastung Gutverdienender durch höhere Erbschaftsteuersätze und die Wiedererhebung der Vermögensteuer als Beispiele). Über eine wachsende öffentliche Neuverschuldung und mit dem Verkauf öffentlichen Vermögens werden die finanziellen Mittel beschafft, die ein Hinausschieben eigentlich unabweisbar gewordener Ausgabenkürzungen ermöglichen. Das Blickfeld von Unternehmern ist dagegen primär auf Produktion und Absatz, auf die Schaffung neuer Werte, gerichtet. Im ökonomischen Wettbewerb geht es um die Überflügelung von Konkurrenten hinsichtlich der Kosten, der Produktqualität und der Preise, somit um eine effiziente Steuerung der Produktion und um den Markterfolg. Der politische Wettbewerb, der zu einem wesentlichen Teil mit immer neuen Abgaben der Steuerpflichtigen ausgetragen wird, schädigt den ökonomischen Wettbewerb im Binnenland und kostet Arbeitsplätze, weil Arbeitskräfte im internationalen Wettbewerb (unter Berücksichtigung der gesetzlichen Lohnnebenkosten und der Arbeitsproduktivität) zu teuer geworden sind und weil der Standort Deutschland immer unattraktiver wird. Aus diesen klar zutageliegenden Tatsachen werden im politischen Wettbewerb einstweilen nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen.

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7. Fairneß im Wettbewerb Der ökonomische Wettbewerb verläuft in gesetzlich geregelten Bahnen, was die Auseinandersetzung mit Konkurrenten angeht. Die Verleumdung von Konkurrenten, deren persönliche Herabsetzung oder Verunglimpfung, erst recht wahrheitswidrige Behauptungen sind unzulässig. Im politischen Wettbewerb sollten zwar auch ethische Regeln gelten („politische Kultur"). Aber es fehlen rechtliche Normen und Sanktionen bei Verstößen. Oft genug werden politische Gegner verdächtigt, gegen allgemeine Gesetze verstoßen zu haben. Erweisen sich die Anschuldigungen als falsch, wird bestenfalls der Irrtum in knapper Form eingestanden. Zu förmlichen Entschuldigungen reicht es meist nicht. Es wird damit gerechnet, daß publikumswirksam vorgetragene Verdachtsmomente - mit gespielter Empörung ständig wiederholt - ausreichen, den politischen Gegner in den Augen der Wähler herabzusetzen. Auch wenn später dementiert werden muß, wird nach dem Motto verfahren: „Es wird schon etwas hängenbleiben." Der Verfall von Moralregeln pflegt dann zu eskalieren, wenn zwei politische Lager etwa gleich stark sind und wenn der Kampf um die Macht deshalb besonders erbittert geführt wird. Der Führer eines Lagers hält sich dabei meist zurück und überläßt die Schmutzarbeit nachgeordneten Parteifunktionären. Vieles spricht dafür, daß dieser Verfall ethischer Regeln des politischen Wettbewerbs wesentlich zum Vertrauensverlust breiter Wählerschichten und zum schlechten Erscheinungsbild vieler Politiker beiträgt. Die Politiker haben es in der Hand, für mehr Fairneß im politischen Wettbewerb zu sorgen.

8. Das Scheitern im Wettbewerb Grundlegende Unterschiede zwischen politischem und ökonomischem Wettbewerb bestehen hinsichtlich der Folgen eines Versagens im Wettbewerb. EigentümerUnternehmer setzen ihre wirtschaftliche Existenz aufs Spiel oder erleiden zumindest Vermögensverluste. (Angestellte Unternehmer pflegen dagegen mit „goldenem Handschlag" ihrer Tätigkeit enthoben zu werden.) Politiker verlieren zwar Macht und Einfluß in der Politik, können aber - dank ihrer politischen Beziehungen und ihres Bekanntheitsgrades - in vielen Fällen gut dotierte Aufgaben in der Wirtschaft übernehmen. Oder sie begnügen sich mit Parteiämtern und bereiten sich auf die nächste Wahl vor. Für das Versagen im politischen Wettbewerb werden meist mehr oder weniger glaubhafte Entschuldigungen vorgebracht, die erneute Anläufe im Kampf um politische Macht erlauben und aussichtsreich erscheinen lassen. Im ökonomischen Wettbewerb läßt das Urteil des Marktes wenig Raum für erfolgreiche Exkulpationsbemühungen; das Konkursrecht eröffnet kaum Chancen für einen erneuten Anlauf. Bei Mißerfolgen pflegen Politiker weicher zu fallen als selbständige Unternehmer.

9. Die Bedeutung der Markttransparenz Im ökonomischen wie im politischen Wettbewerb bemühen sich die Akteure darum, die Öffentlichkeit von den Vorzügen ihrer „Produkte" zu überzeugen, allerdings mit

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grundverschiedenen Strategien. Im ökonomischen Wettbewerb erlauben die Wettbewerbsgesetze keine wahrheitswidrigen Aussagen über die Qualität und die Eigenschaften der angebotenen Produkte. Potentielle Kunden müssen mit möglichst genauen und verläßlichen Beschreibungen der angebotenen Waren unter Nennung der Preise von der Vorteilhaftigkeit eines Kaufes überzeugt werden. Im politischen Wettbewerb herrschen ganz andere Regeln. In den Aussagen von Politikern wimmelt es von Schlagworten und vieldeutigen Begriffen („soziale Gerechtigkeit" als Beispiel). Ganz bewußt werden Ziele und Instrumente der Politik so umrissen, daß jeder Wähler darunter die von ihm gewünschten Aktivitäten subsumieren kann. Auf diese Weise sollen möglichst breite Wählerschichten gewonnen werden. Oft werden zudem Ziele proklamiert, die entweder nicht ernsthaft verfolgt werden oder mangels finanzieller Mittel unerreichbar sind. Es wird mit dem kurzen Gedächtnis vieler Wähler gerechnet. Enttäuschungen der Wähler werden dennoch nicht ausbleiben. Da so gut wie alle Parteien nach ähnlichen Mustern verfahren, ist das schwindende Vertrauen in politische Versprechungen verständlich. Auf andere Parteien, die aufrichtiger und verläßlicher arbeiten und werben, können die Wähler meist nicht ausweichen. Müssen Fehlentwicklungen (wie wohlfahrtsstaatliche Übertreibungen) aus finanziellen Gründen aufgehalten und umgekehrt werden, müßten also eigentlich Zahlungen aus öffentlichen Kassen eingeschränkt werden, fehlt Politikern weithin der Mut, die unerläßlichen Abstriche bei den öffentlichen Ausgaben den Wählern als notwendig und unvermeidbar nahezubringen. Die Scheu vor der „Markttransparenz" ist groß. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich Politiker und politische Parteien gegenseitig mit immer neuen und höheren Leistungsversprechungen zu überbieten bemüht. Heute steht Deutschland - im Gegensatz zu anderen europäischen und außereuropäischen Ländern vor dem Scherbenhaufen dieser Politik. Der politische Wettbewerb ist entartet und macht die Wahl zwischen den nicht klar erkennbaren Alternativen für die Wähler weithin zu einem Glücksspiel.

IV. Ein Sündenregister 1. Belastung der kommenden Generation Worte und Taten von amtierenden Politikern klaffen oft weit auseinander. Eine besonders folgenreiche Diskrepanz dieser Art ist in der Finanzpolitik zu registrieren. Bundesfinanzminister Eichel hat in den ersten Jahren seiner Amtszeit mehrfach betont, die schrumpfende kommende Generation dürfe durch öffentliche Neuverschuldung nicht über das ohnehin schon bestehende Maß hinaus (demographische Veränderungen) zusätzlich belastet werden. Eine Verschiebung finanzieller Lasten in die Zukunft müsse unterbleiben. Die Tatsachen sehen anders aus: Die öffentliche Neuverschuldung steigt seit vielen Jahren ständig und in großen Schritten an. Öffentliches Vermögen wird verkauft und der Gegenwert zur Finanzierung konsumtiver Ausgaben verwendet. Notwendige Investitionen in die Infrastruktur (Ersatz- und Neuinvestitionen) werden zunehmend gekürzt und fällige Unterhaltungs- und Instandsetzungsarbeiten auf eine ungewisse Zukunft

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verschoben. Mittel, die für künftige Pensionszahlungen an frühere Bundespost- und Bundesbahnbeamte zurückgestellt worden waren, werden für laufende Ausgaben des Bundes verwendet, was zu Lasten der kommenden Generation geht. Von einer nachhaltigen Finanzpolitik und von Rücksichtnahme gegenüber der kommenden Generation kann entgegen den Ankündigungen keine Rede sein (Hamm 2002).

2. Gefährdung der Geldwertstabilität Die Bundesregierung hält am Ziel der Geldwertstabilität fest, wie sie in der Diskussion über den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 mehrfach versichert hat. Dennoch trägt sie maßgeblich dazu bei, daß die Geldwertstabilität gefährdet wird. Es geht dabei um die von der Bundesregierung massiv geforderte Lockerung jener Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts, die eine obere Grenze für die jährliche Neuverschuldung in Höhe von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts festlegen. Solide finanzierte öffentliche Haushalte sind „eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß die Zentralbank dauerhaft Preisstabilität bei niedrigen Zinsen sicherstellen kann" (Deutsche Bundesbank 2005, S. 44). Die Bundesregierung, der es nicht gelingt, steigende Haushaltsdefizite zu verhindern, behauptet ohne Begründung das Gegenteil: Ihre Vorschläge zur Änderung des Paktes gefährden danach angeblich das Stabilitätsziel nicht. In einer Stellungnahme zu den von der Europäischen Kommission und einigen Regierungen von Mitgliedstaaten geplanten Änderungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts hat die Deutsche Bundesbank detailliert begründet (Deutsche Bundesbank 2005, S. 43-49), warum die Ansicht der Bundesregierung falsch ist: Eine wachsende öffentliche Verschuldung führe zu steigendem politischem Druck auf die Zentralbank, die Geldpolitik zu lockern und über die dadurch zunehmende Geldentwertungsrate „den realen Wert der Staatsschulden zu reduzieren" (S. 44). „Tatsächliche oder erwartete Konflikte zwischen Geld- und Finanzpolitik können zu Vertrauensverlusten führen, die die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen" (S. 44). „Das Versprechen der europäischen Regierungen, mit dauerhaft soliden öffentlichen Finanzen zur Stabilität der gemeinsamen Währung beizutragen", sei „die Geschäftsgrundlage der Währungsunion" gewesen (S. 48). Mit allen Änderungsvorschlägen - auch denen der Bundesregierung - werde der Stabilitäts- und Wachstumspakt „entscheidend geschwächt". In der Tat lassen sich mit den vorgesehenen länderspezifischen Ausnahmetatbeständen Haushaltsdefizite in beliebiger Höhe rechtfertigen. Folgen für die Geldwertstabilität könnten nicht ausbleiben. Die Bundesregierung läßt die Bedenken der Deutschen Bundesbank und nahezu aller politischen und wissenschaftlichen Institutionen unbeachtet. Sie bleibt bei ihrer durch Tatsachen widerlegten These, gelockerte Haushaltsdisziplin sei für den Geldwert unerheblich. Daß eine dauerhaft hohe öffentliche Neuverschuldung die Zinssätze auf den Kapitalmärkten nach oben treibt und damit den staatlichen Schuldendienst vergrößert, wird ebenso aus den Augen verloren wie die höhere Zinsbelastung privater Investoren mit den damit verbundenen nachteiligen Folgen für das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung.

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Die Staats- und Regierungschefs der EU haben am 22. März 2005 alle vorgetragenen Bedenken übergangen und die faktische Aushöhlung des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts beschlossen. Ein umfassender, mit unbestimmten Formulierungen und Begriffen gespickter Ausnahmekatalog macht es jedem Land möglich, im Falle der Überschreitung der Haushaltsdefizitgrenze von drei Prozent Entschuldigungsgründe zu finden, die Sanktionen verhindern. Treibende Kraft war der deutsche Bundesfinanzminister, der seine „Wunschliste" durchsetzen konnte. Zu dem letztlich einstimmigen Votum dürfte maßgeblich beigetragen haben, daß bereits 10 der 25 Mitgliedstaaten zu hohe Defizite aufweisen und andere Länder unmittelbar vor der kritischen Schwelle stehen. Kein Finanzminister setzt sich gern der Kritik und bisher möglichen Sanktionen aus Brüssel aus und läßt sich von dort Fesseln anlegen. Obwohl die Argumente der Reformbefürworter unmittelbar vor der politischen Entscheidung in Brüssel nochmals widerlegt worden sind (siehe auch Dönges u.a. 2005), sind die gemeinschaftlichen, maßgebend von deutscher Seite geprägten Beschlußvorlagen unverändert angenommen und sogar noch als vorteilhaft hingestellt worden: Der Pakt sei „wachstumsfreundlicher" geworden (dazu Dönges u.a. 2005, S. 12 ff.). Er sei weiterhin stabilitätsorientiert (dazu Dönges u.a. 2005, S. 11 f.). Die Nachhaltigkeit der Finanzpolitik (so behauptet Bundesfinanzminister Eichel) werde „gestärkt" (dazu Dönges u.a. 2005, S. 12 f f ) . Alle diese und andere Argumente stehen im Widerspruch zu den von den Zentralbanken angeführten Tatsachen, werden der Öffentlichkeit aber gleichwohl als Begründung für politische Beschlüsse zugemutet. Kritikern - und damit auch der Deutschen Bundesbank - hält der Bundesfinanzminister entgegen: „Das, was in Deutschland abläuft, ist schlicht unerträglich". Zinsängste im Zusammenhang mit einer ausufernden öffentlichen Verschuldung seien nur „ein Stückchen Kampfgeschrei". Bundeskanzler Schröder wirft den Kritikern sogar „Kenntnislosigkeit ökonomischer Zusammenhänge" vor.

3. Abwertung des Investitionsstandorts Deutschland Die Bundesregierung lobt ihre Politik überschwenglich mit der Behauptung: „Deutschland ist Europameister - als attraktivster Investitionsstandort 2004 " (Bundesregierung 2005). Diese Behauptung ist falsch, wie sich aus der Tatsache ergibt, daß Deutschland zu den Schlußlichtern des Wirtschaftswachstums in der EU zählt, daß die Anzahl der voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten seit Jahren rückläufig ist, daß die Investitionsgüternachfrage in Deutschland im Vergleich zur ausländischen Nachfrage gering ist und daß international tätige Unternehmen in Deutschland immer mehr Arbeitsplätze abbauen und ins Ausland verlagern. Die Deutsche Bundesbank stellt hierzu fest: „Die Sachkapitalbildung hierzulande hat offensichtlich im Vergleich zu Auslandsinvestitionen (einschließlich deutscher Finanzinvestitionen im Ausland) erheblich an Attraktivität verloren. In den letzten Jahren ist es in Deutschland jedenfalls zu einem Einbruch der Investitionstätigkeit auf breiter Front gekommen."

Die Netto-Investitionsquote sei auf nur noch 3,5 Prozent des verfugbaren Einkommens gefallen und liege damit extrem niedrig (Deutsche Bundesbank 2004, S. 26).

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Daß der Investitionsstandort Deutschland nach dem Urteil vieler Unternehmer vergleichsweise ungünstig ist, hat entscheidend mit Maßnahmen der Bundesregierung zu tun (Hamm 2005): Die Abgabenlasten für Unternehmen liegen im internationalen Vergleich hoch. Die hohe öffentliche Neuverschuldung schürt die Angst vor weiteren Steuererhöhungen in naher Zukunft. Insbesondere die Erfolgreichen müssen mit steigenden Belastungen rechnen (höhere Erbschaftsteuersätze, Wiedererhebung der Vermögensteuer, Einbeziehung der Kapitaleinkünfte in die Berechnung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge). Der unvorhersehbare sich sprunghaft ändernde politische Kurs vergrößert die Investitionsrisiken. Die Energiepolitik belastet deutsche Energieverbraucher wesentlich stärker als ausländische Konkurrenten. Die fortschreitende Einschränkung der öffentlichen Investitionen trifft die Bauindustrie und ihre Zulieferanten hart. Innovationen in wichtigen Wachstumsbranchen (Gen- und Kernkrafttechnik, Pharmaindustrie) werden erschwert oder finanziell uninteressant gemacht. Arbeitsmarktreformen bleiben aus. Nichts geschieht, um einen Niedriglohnsektor zu schaffen. Die Lohnnebenkosten verharren trotz zahlreicher politischer Absichtserklärungen, diese Kosten zu senken, über der 40 Prozent-Grenze. Sie sind sogar auf knapp 42 Prozent gestiegen. Deutschland trotz dieser und anderer Investitionshindernisse als attraktivsten Investitionsstandort in der EU zu bezeichnen ist in den Augen sachverständiger Unternehmer unverständlich und verstärkt das Mißtrauen in die Urteilsfähigkeit der Bundesregierung. Mit solchen verbalen Fehlgriffen schwächt die Bundesregierung - entgegen ihrer Absicht den Investitionsstandort Deutschland und vermindert zugleich die Hoffnung auf Reformen, die politische Einsicht in die Notwendigkeit der Beseitigung von Investitionshindernissen voraussetzen. Zu den bewußten Täuschungen der Öffentlichkeit gehört auch die ständig wiederholte These des Bundesfinanzministers, die Steuerbelastung in Deutschland liege im europäischen Mittelfeld und behindere im Gegensatz zu den ständigen Klagen von Unternehmern nicht die privaten Investitionen in Deutschland. Eichel beruft sich in diesem Zusammenhang auf Berechnungen der OECD über gesamtwirtschaftliche Steuerquoten, wonach Deutschland mit einer Steuerquote von 19 Prozent tatsächlich einen Mittelplatz in der EU einnimmt. Was Eichel verschweigt, ist die Tatsache, daß die - Lohn- und Gewinneinkommen kombinierende - gesamtwirtschaftliche Steuerquote ungeeignet ist, die steuerliche Belastung allein der Unternehmertätigkeit zutreffend wiederzugeben. Wegen der im internationalen Vergleich hohen deutschen Steuersätze verlagern international tätige Unternehmen zudem Gewinne ins Ausland. Nicht niedrige, sondern im Gegensatz international hohe heimische Steuersätze führen zu geringen Steuerzahlungen großer Unternehmen an deutsche Finanzämter. Obwohl die vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim berechnete „effektive Steuerbelastung" deutscher Unternehmen mit rund 36 Prozent ein zutreffendes Bild der tatsächlichen Steuerbelastung - und damit einen europäischen Spitzenplatz - ausweist, bleibt Bundesfinanzminister Eichel bei seiner irreführenden Behauptung.

4. Steigende Arbeitslosigkeit Bundeskanzler Schröder hat zu Beginn seiner Amtszeit 1998 versprochen, die Arbeitslosigkeit in den nächsten vier Jahren zu halbieren. Hieran wolle er seine Leistung

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messen lassen. Nach vier Jahren war die Arbeitslosigkeit nicht gefallen, sondern gestiegen, obwohl die Anzahl der statistisch erfaßten Arbeitslosen durch Aussteuerung, Vorruhestandsregelungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Frühverrentung und Teilzeitarbeit erheblich gesenkt worden war. Trotz dieser und anderer Maßnahmen steigen die offiziell genannten Arbeitslosenzahlen ständig weiter an. Bundeskanzler Schröder behauptet, alles ihm Mögliche getan zu haben, um die Arbeitslosigkeit nicht weiter steigen zu lassen. Mit solchen Äußerungen wird die Öffentlichkeit getäuscht. Es gibt eine breite Palette von Maßnahmen, mit denen die Anzahl der Arbeitslosen gesenkt werden könnte. Der Bundesregierung fehlt lediglich der Mut, diese wirtschafts- und sozialpolitischen Instrumente einzusetzen und die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit solcher Reformen zu überzeugen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, die Deutsche Bundesbank, die OECD, der Internationale Währungsfonds, wirtschaftswissenschaftliche Institute und zahlreiche Wissenschaftler haben seit vielen Jahren einen umfangreichen Katalog von strukturellen Maßnahmen zur Senkung der Arbeitslosigkeit präsentiert - ohne nennenswerte Resonanz bei der Bundesregierung zu finden. Stattdessen sind Maßnahmen ergriffen worden, die am Kern des Problems - zu hohe Arbeitskosten, zu starre Rahmenbedingungen für Arbeitsverträge, zu geringe Investitionsneigung - vorbeigehen: Umbenennung der Arbeitsämter in Arbeitsagenturen, Intensivierung der Vermittlung trotz fehlender Nachfrage nach Arbeitskräften, Einführung der hochsubventionierten „Ich-AG", nachdem dieselbe Regierung noch vor wenigen Jahren die unsubventionierte „Schein"-Selbständigkeit rigoros bekämpft hatte, hochsubventionierte 1 Euro-Jobs, die den Weg in den ersten Arbeitsmarkt nicht öffnen; Ausweitung der kostentreibenden Mitbestimmung in Unternehmen; geplantes Antidiskriminierungsgesetz, das zur Verunsicherung einstellungswilliger Unternehmen und zu gerichtlichen Auseinandersetzungen bei der Neueinstellung von Arbeitskräften führen wird. Die Bundesregierung hat sich aktionistisch auf Gebieten betätigt, die keine dauerhafte Mehrbeschäftigung erwarten lassen, und versucht damit ihr Versagen in der Beschäftigungspolitik zu entschuldigen. Andere Länder in der EU haben bewiesen, daß erfolgreiche Instrumente der Beschäftigungspolitik in demokratisch regierten Ländern durchsetzbar sind. Der Fatalismus des Bundeskanzlers, er habe alles in seiner Macht Stehende getan, ist irreführend, unangemessen und verantwortungslos gegenüber den rund sieben Millionen Arbeitslosen (einschließlich der nicht oder nicht mehr registrierten Arbeitslosen).

5. Wachsende Subventionen Die Bundesregierung hat mehrfach die Absicht bekundet, die Subventionen zu kürzen und über eine Senkung der Ausgaben zur Konsolidierung des Bundeshaushalts beizutragen. Zwar ist es gelungen, einige Subventionen zu reduzieren oder ganz zu streichen, zum Beispiel in der Landwirtschaft. Gleichzeitig sind jedoch neue Subventionstatbestände geschaffen worden, so daß sich die Finanzhilfen des Bundes und die Steuervergünstigungen auf hohem Niveau stabilisiert haben. Werden auch die subventionsartigen Belastungen berücksichtigt, die von den Verbrauchern über höhere Preise (z.B. für

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elektrischen Strom - ohne Einschaltung staatlicher Haushalte) zu tragen sind, haben sich die Subventionen beträchtlich erhöht. Vor allem die Ausnahmen von der Ökosteuer zugunsten von Energie-Großverbrauchern haben einen erheblichen Zuwachs von Subventionen bewirkt. Dasselbe gilt für die überhöhten Preise, die für Strom aus Anlagen für erneuerbare Energien (z.B. Solar- und Windkraftanlagen) bezahlt werden müssen. Außerdem hat die Bundesregierung damit begonnen, ihre industriepolitischen Ambitionen auf breiter Front voranzutreiben. Gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien hat sie die Europäische Kommission aufgefordert, der Industriepolitik eine größere Bedeutung als bisher beizumessen. Unter Industriepolitik versteht die Bundesregierung die Förderung (Subventionierung) einzelner Unternehmen auf Teilgebieten ihrer Tätigkeit. Auch durch Fusionen (Großbanken) und Wettbewerbsbeschränkungen (Deutsche Post AG) geförderte „Nationale Champions" sollen den Ruf und die Bedeutung einzelner deutscher Unternehmen in der Welt festigen und stärken. Die Monopolkommission hat in ihrem 15. Hauptgutachten „Wettbewerbspolitik im Schatten .Nationaler Champions'" die Bestrebungen der Bundesregierung ungewöhnlich scharfund deutlich kritisiert (Monopolkommission 2005, S. 80): „Maßgebliche Untersuchungen kommen zu dem Schluß, daß das Verfolgen einer solchen Politik sich in der Praxis überwiegend als schädlich erwiesen hat." „Woher weiß der Wirtschaftspolitiker, welche Sektoren und welche Unternehmen sich als Gegenstand strategischer Außenhandelspolitik eignen? Woher weiß er, welche Technologien zu entwickeln sind und wer sich dafür am besten eignet? Wie stellt er sicher, daß die finanzielle Förderung oder der Schutz vor Wettbewerb, die er den Unternehmen angedeihen läßt, von diesen nicht zum Anlaß genommen wird, sich auf die faule Haut zu legen?"

Nach einem Überblick über deutsche, französische und japanische industriepolitische Aktivitäten kommt die Monopolkommission (S. 82) zu dem Ergebnis: „Wettbewerb als Innovationsanreiz und Wettbewerb als Entdeckungsverfahren für neue Technologien kommen in diesem Konstrukt nicht vor ... Das klassische Dictum, eine aktive Wettbewerbspolitik sei die beste Form der Industriepolitik, wird durch die genannten Erfahrungen voll bestätigt."

Es gehört wenig Prophetie dazu vorauszusagen, daß sich die Bundesregierung trotz berechtigter heftiger Kritik nicht von ihrem teuren industriepolitischen Ehrgeiz abbringen lassen und auf der „Anmaßung von Wissen" bestehen wird (siehe hierzu: Willgerodt 2004, S. 27 ff.). Ähnliche Erfahrungen sind bereits früher mit der einzelfallbezogenen Forschungsförderungspolitik sozialdemokratisch geführter Bundesregierungen gesammelt worden (Hamm 1979, S. 423 ff.). Es besteht aller Anlaß, an die folgende Erkenntnis zu erinnern: „Nirgends ist die Freiheit wichtiger als dort, wo unsere Unwissenheit am größten ist - mit anderen Worten an den Grenzen des Wissens, wo niemand voraussagen kann, was einen Schritt vor uns liegt" (von Hayek 1971, S. 480).

Alles in allem kann nicht davon gesprochen werden, daß die Subventionen des Bundes nachhaltig gesenkt worden sind. Dennoch versucht die Bundesregierung, diesen Eindruck zu erwecken.

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6. Beschränkungen des Wettbewerbs An Lippenbekenntnissen zu einer wettbewerblichen Ordnung der Wirtschaft fehlt es in Äußerungen der Bundesregierung nicht. Die Wirklichkeit sieht auch auf diesem Feld staatlicher Politik anders aus. Bundesunternehmen werden vor Wettbewerb durch rechtliche Monopole auf Teilgebieten ihrer Tätigkeit geschützt (Beförderung von Standardbriefen; Personenfernverkehr auf der Schiene). Administrierte Preise, etwa für Arzneimittel, beschränken den Wettbewerb zwischen innovativen Pharmaunternehmen massiv. Die bis in Details gehende Regulierung des Gesundheitswesens schließt den Wettbewerb zwischen Leistungsanbietern, aber auch zwischen den gesetzlichen Krankenkassen nahezu vollständig aus. Die industriepolitischen Bestrebungen der Bundesregierung fuhren zur Vorzugsbehandlung „Nationaler Champions" und zur Diskriminierung aktueller und potentieller Konkurrenten. Die Subventionierung einiger - politisch als aussichtsreich eingestufter - Aktivitäten lenkt die Innovationsbemühungen um, benachteiligt nicht geförderte Konkurrenten, bewirkt eine Vernachlässigung staatlich nicht subventionierter innovativer Anstrengungen und beeinträchtigt das wettbewerbliche Klima. Die zunehmende Politisierung der Wettbewerbspolitik, wie sie mit der engen Verknüpfung von Wirtschafts-, Industrie- und Wettbewerbspolitik in der EU beabsichtigt ist, birgt noch andere Gefahren. Die Monopolkommission (2005, S. 26) sieht in der Politisierung der Wettbewerbspolitik mit Recht „das Risiko einer deutlichen Änderung der Wirtschaftsordnung, weg von einer Wettbewerbsordnung, die der Staat nur mit gewissen, eng umgrenzten Verboten steuert, hin zu einer staatlichen Lenkung der Entwicklungen."

7. Steigende Abgabenlasten Der Bundesfinanzminister brüstet sich damit, die größte Steuersenkung seit dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt zu haben. Bei näherem Hinsehen erweist sich diese Behauptung als Täuschung. Zwar sind die Einkommensteuersätze fühlbar gesenkt worden. Gleichzeitig sind jedoch die Bemessungsgrundlage und der Tarifverlauf zum Nachteil der Steuerpflichtigen verändert worden. Steuerausnahmetatbestände wurden gestrichen oder eingeschränkt. Abschreibungsfristen sind - zum Teil in wirtschaftlich nicht vertretbarer Weise - verlängert worden. Wegen der Geldentwertung hat die progressive Einkommensteuer für viele Steuerzahler keine nennenswerte reale Entlastung gebracht. Höhere Zuzahlungen zur Gesetzlichen Krankenversicherung, steigende Sozialversicherungsbeiträge und die Notwendigkeit, wegen der sinkenden Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung selbstverantwortlich für das Alter vorzusorgen, schmälern zusätzlich das verfügbare Einkommen. Gesamtwirtschaftlich ist die Abgabenlast in den letzten Jahren trotz der Einkommensteuersenkung daher nicht gesunken. Knapp 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fließen in öffentliche Kassen. Dazu haben auch Erhöhungen von Verbrauchsteuern beigetragen (insbesondere Mineralöl- und Tabaksteuer). Ehrlich wäre es, wenn den zweifellos eingetretenen Steuerentlastungen die gleichzeitig auferlegten Mehrbelastungen der Bürger gegenübergestellt würden. Aber dann fiele die Möglichkeit weg, die Einkommensteuersenkung als phänomenalen politischen Erfolg zu preisen.

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Solche einseitigen und isolierten Leistungsnachweise von Politikern pflegen kurze Beine zu haben. Jeder Haushalt spürt es am eigenen Geldbeutel, daß die behaupteten Senkungen der Abgabenlast gar nicht eingetreten sind. Erfolgsmeldungen dieser Art schüren das Mißtrauen in Äußerungen von Politikern.

8. Fata-morgana-Politik Die Methode ist von Regierungen früherer sozialistischer Länder im Ostblock zur Genüge bekannt: Die Unzufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen wurde damit zu dämpfen versucht, daß ein in rosaroten Farben gemaltes Bild der Zukunft im Sozialismus gemalt wurde. Bekannt ist die Ankündigung der DDR-Regierung, sie wolle mit ihrer Politik Produktionsvolumen und Einkommensniveau Westdeutschlands innerhalb einiger Jahre erreichen. Heute bedienen sich deutsche Politiker gern derselben Methode: Die Haushaltsdefizite sollen innerhalb einiger Jahre nicht nur gesenkt, sondern ganz beseitigt werden. Die Beiträge zur Sozialversicherung sollen auf unter 40 Prozent des Bruttoeinkommens gesenkt und alle Sozialversicherungsbereiche sollen gründlich reformiert werden. Bisher ist das Entgegengesetzte des Versprochenen eingetreten: Das Haushaltsdefizit des Bundes ist von Jahr zu Jahr gestiegen. Dasselbe gilt für die Beiträge zur Sozialversicherung. Die Reform der Sozialversicherung steckt noch in ersten Anfangen und ist weit von einer nachhaltigen Lösung des demographischen Problems entfernt. Im Falle der Gesetzlichen Krankenversicherung wird seit über zwei Jahrzehnten an der Neuregelung gearbeitet - ohne nachhaltigen Erfolg. Am Zustand chronischer Finanznot hat sich nichts geändert. Mit den Arbeitsmarktreformen Hartz I bis IV soll die Anzahl der Arbeitslosen um zwei Millionen gesenkt werden, allerdings erst nach einer Übergangszeit, wenn die Reformen voll greifen. Wann dies der Fall sein wird, bleibt offen. Schon jetzt ist überdeutlich, daß das angestrebte Ziel nicht einmal annähernd erreicht werden wird. Die Pflegeversicherung ist selbst zum Pflegefall geworden. „Das macht nichts", versichern Politiker. Wann die versprochene Sanierung eingeleitet wird und wie sie aussehen soll, steht in den Sternen. Da politische Versprechungen oft für eine künftige Wahlperiode gemacht werden, ist die amtierende Regierung nicht mehr betroffen. Und an die Zusagen der Vorgänger braucht sich eine neue Regierung nicht gebunden zu fühlen. Diese Art einer Fatamorgana-Politik läuft auf eine Täuschung der Wähler hinaus und beschädigt das Vertrauen in demokratische Institutionen und in jene Politiker, die sich solcher zweifelhaften Methoden bedienen.

9. Schuldenfinanzierte Ausgabenprogramme Die hohe, stetig zunehmende Massenarbeitslosigkeit verleitet Politiker dazu, den Wählern nutzlose, kostspielige Aktivitäten als erfolgversprechende Gegenmaßnahmen zu präsentieren und an Symptomen zu kurieren, anstatt die eigentliche Krankheit zu heilen. Zu dieser Kategorie von Instrumenten gehören schuldenfinanzierte staatliche Ausgabenprogramme, mit denen zusätzliche Aufträge und steigende Beschäftigung

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ausgelöst werden sollen. Da die hohe Dauerarbeitslosigkeit in Deutschland fast durchweg strukturelle Ursachen hat, können Konjunkturbelebungsprogramme allenfalls ein kurzes Strohfeuer entfachen. Dauerhafte Beschäftigungserfolge lassen sich auf diese Weise nicht erzielen. Im Gegenteil wird die zusätzliche staatliche Verschuldung die Sorgen vor künftig wachsenden Abgabenlasten und tendenziell steigenden Zinssätzen (mit drosselnden Wirkungen auf private Investitionen) steigern. Obwohl erwiesen ist, daß zusätzliche staatliche Investitionsprogramme in Deutschland bisher erfolglos gewesen sind (dazu Welter 2005), suchen Politiker immer wieder Zuflucht bei solchen letztlich nutzlosen Strategien der Beschäftigungspolitik und täuschen damit die Öffentlichkeit. Verführerisch sind solche Ausweichhandlungen für Politiker deswegen, weil wirksame Gegenmaßnahmen, insbesondere die Deregulierung auf den Arbeitsmärkten, auf harte Kritik einflußreicher Interessenverbände, der Gewerkschaften, stoßen, die ihrerseits mit besonderem Nachdruck schuldenfinanzierte staatliche Ausgabenprogramme fordern.

10. Die Bremswirkung des wirtschaftspolitiscben Aktionimus Von dem früheren Bundeskanzler Kohl ist der Ausspruch bekannt, er wolle mit seiner Politik nicht den Ludwig-Erhard-Preis gewinnen, sondern er wolle wiedergewählt werden. Wie diese Äußerung zeigt, war sich Kohl bewußt, daß es eine Alternative zum wirtschaftpolitischen Aktionismus gibt, der mit zahlreichen punktuellen Interventionen - ohne Beachtung der Neben- und Fernwirkungen - Wählerstimmen bei hofierten Interessentengruppen zu gewinnen versucht. Diese Alternative ist in ordnungspolitischen Rahmenregelungen zu sehen, die dem einzelnen ein breites Feld wirtschaftlicher Entscheidungsfreiheit sichern. Daß sich Kohl fiir wirtschafte- und sozialpolitischen Aktionismus des Staates entschied und gegen die erfahrungsgemäß mittelfristig erfolgreiche Mobilisierung der Marktkräfte, hat maßgeblich mit der unterschiedlichen Wahrnehmung staatlichen Handelns durch organisierte und nicht organisierte Wählergruppen zu tun. Der Verzicht auf staatliche Regulierung und Sonderbestimmungen zugunsten starker Interessenverbände, die Öffnung von Märkten für Konkurrenten, die Beseitigung von Wettbewerbsbeschränkungen, das Eintreten für weniger Einkommensumverteilung über öffentliche Kassen (und damit geringere Abgabenlasten) und mehr individuelle Verantwortlichkeit - dies alles fallt Politikern schwer: Die gesamtwirtschaftlichen Erfolge ordnungspolitischer Reformen treten nicht sofort ein, lassen sich regelmäßig nicht unmittelbar staatlichem Handeln zuordnen und haben oft zunächst nachteilige Folgen für die Betroffenen. Die Wirkungen des („pragmatischen") staatlichen Aktionismus zeigen sich dagegen meist kurzfristig in persönlichen geldwerten Vorteilen und geben Politikern die Chance, ihre „Verdienste" plakativ herauszustellen. Daß für die finanziellen Vorteile weniger regelmäßig viele Bürger (oft nur indirekt spürbar) belastet werden, wird kaum registriert. Einer breiten Öffentlichkeit ist nicht bewußt, daß Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit maßgeblich auf den hohen Staatsanteil am Bruttoinlandsprodukt, auf die stetig wachsenden Sozialausgaben und die übermäßige Regulierung, etwa des Arbeitsmarktes und des Gesundheitswesens, zurückgehen.

Entartung des politischen Wettbewerbs

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Es läuft auf eine Täuschung der Wähler hinaus, wenn die Fortsetzung einer gesamtwirtschaftlich schädlichen Politik als unvermeidbar bezeichnet wird, wie es Bundeskanzler Schröder für den Arbeitsmarkt behauptet. Entweder erkennt Schröder die bestehende Alternative nicht - was unwahrscheinlich ist. Oder er verzichtet bewußt aus egoistischen Gründen (Wiederwahl) auf ordnungspolitische Reformen, weil er sich nicht den Zorn von Interessengruppen (insbesondere der Gewerkschaften) zuziehen will und sich nicht zutraut, die Notwendigkeit eines Kurswechsels einer breiten Öffentlichkeit überzeugend darzulegen („Anmaßung von Unwissen"; Willgerodt 2004, S. 29). Freilich könnte auch die Opposition mehr zur Aufklärung der Öffentlichkeit beitragen. Beispielsweise wäre darauf zu verweisen, daß Sonderinteressengruppen die Aufmerksamkeit von der Produktion auf den Verteilungskampf lenken (Olson 1991, S. 218), daß ein Zusammenhang zwischen erfolgreichen Verteilungskoalitionen und stagnierendem Pro-Kopf-Einkommen besteht (Olson 1991, S. 61) und daß die von aktionistischer Wirtschaftspolitik notwendig ausgehende Unsicherheit Investitionen verhindert, die Kapitalflucht begünstigt, Innovationen im Inland verhindert, das Einkommensniveau senkt (Olson 1991, S. 5) und die Arbeitslosigkeit vergrößert.

11. Die Folgen enttäuschter Erwartungen Allen im oben angeführten Sündenregister genannten Tatbeständen ist ein Merkmal gemeinsam: Wer auf die häufig propagandistisch aufgemachten Äußerungen vertraut, wird sich früher oder später getäuscht sehen und Nachteile erleiden. Zwar werden Lernprozesse ausgelöst. Das Vertrauen in Äußerungen von Politikern wird abnehmen. Das wird nach allen Erfahrungen Politiker jedoch nicht davon abhalten, auf sich selbst erfüllende Voraussagen zu hoffen und mit immer neuen Tricks die öffentliche Meinung in der erwünschten Weise zu beeinflussen. Diese Hoffnung von Politikern wird freilich um so ausgeprägter enttäuscht werden, je häufiger die Wähler frühere Ankündigungen und Voraussagen als unzutreffend erlebt haben. Beispielsweise haben sich die (zweckoptimistischen) Prognosen von Politikern in den letzten vier Jahren, ein kräftiger konjunktureller Aufschwung mit positiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt stehe unmittelbar bevor, immer wieder als falsch erwiesen. Wer seine Dispositionen nach politischen Voraussagen richtete, hatte auf das falsche Pferd gesetzt. „Am stärksten schließlich dürfte auf Dauer der Schaden zu Buche schlagen, der mit der Zerstörung des Produktionsfaktors Vertrauen zwangsläufig verbunden ist" (Schmidtchen 1983, S. 98). Wer das Vertrauen von Konsumenten und Unternehmern beschädigt, fördert die Zurückhaltung bei Kauf- und Investitionsentscheidungen.

V. Schlußfolgerungen Das schlechte Image von Politikern und politischen Parteien, die Wählerverdrossenheit und die geringen Wahlbeteiligungen kommen nicht von ungefähr. Eine der Hauptursachen ist in der Art und Weise zu sehen, wie der politische Wettbewerb ausgetragen wird. Ethische Regeln für diesen Wettbewerb fehlen zwar. Aber auch ethische Normen,

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die im täglichen Umgang mit Mitmenschen sonst selbstverständlich sind, werden oft nicht eingehalten. Das Verhalten der Konkurrenten wird von dem Kalkül bestimmt, wie dem Gegner in den Augen der Wähler am meisten geschadet werden kann, selbst wenn dabei unfaire Mittel, ja Täuschungen und Lügen eingesetzt werden. Der politische Wettbewerb läßt sich nicht - ähnlich dem ökonomischen Wettbewerb - kodifizieren. Aber es sollte möglich sein, der Einsicht Geltung zu verschaffen, wie verheerend die derzeit üblichen Formen politischer Auseinandersetzungen auf das Wählerverhalten und auf die demokratischen Institutionen wirken. Die Wähler können zur Verbesserung der politischen Sitten beitragen, wenn sie auf Verstöße gegen ungeschriebene Regeln nicht mit Wahlenthaltung reagieren, sondern mit Stimmenentzug zugunsten anderer Bewerber um politische Ämter. Dann würden Politiker und politische Parteien erkennen, daß sie sich selbst schaden, wenn sie sich im politischen Wettbewerb irreführender, unsauberer und unfairer Methoden bedienen. Bewußte Täuschung der Öffentlichkeit, Lügen und Unfairness gegenüber dem politischen Gegner würden sich dann nicht auszahlen.

Literatur Bundesregierung (2005), Agenda 2010: Deutschland bewegt sich, Anzeigenkampagne im März 2005 in verschiedenen deutschen Tageszeitungen, S. 5. Deutsche Bundesbank (2004), Monatsberichte, Dezember 2004. Deutsche Bundesbank (2005), Monatsberichte, Januar 2005. Dönges, Jürgen B. u.a. (Kronberger Kreis) (1994), Mehr Langfristdenken in Gesellschaft und Politik, Schriftenreihe des Frankfurter Instituts, Bd. 28, Bad Homburg. Dönges, Jürgen B. u.a. (Kronberger Kreis) (2005), Den Stabilitäts- und Wachstumspakt härten, Stiftung Marktwirtschaft - Frankfurter Institut, Schriftenreihe, Bd. 43, Berlin. Hamm, Walter (1979), Freiheitsbeschränkung durch staatliche Struktur- und Forschungspolitik, ORDO, Bd. 30, S. 423-431. Hamm, Walter (2002), Finanzpolitik für die kommende Generation, ORDO, Bd. 53, S. 3-20. Hamm, Walter (2005), Staatlich verschuldete Investitionsschwäche, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 17 vom 21.1.2005. Hayek, Friedrich A. von (1971), Die Verfassung der Freiheit, Tübingen. Lehmbruch, Gerhard (2000), Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 3. Aufl., Wiesbaden. Monopolkommission (2005), Hauptgutachten 2002/2003: Wettbewerbspolitik im Schatten „Nationaler Champions ", Baden-Baden. Olson, Mancur (1991), Aufstieg und Niedergang von Nationen, 2. Aufl., Tübingen. o.V. (2005), Gipfel lockert Stabilitätspakt, Oberhessische Presse vom 23.3.2005. Piaton (o.J.), Der Staat, eingeleitet von H. M. Endres, Goldmanns Gelbe Taschenbücher Nr. 891/892, München. Röpke, Wilhelm (1979), Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, 6. Aufl., Bern. Schmidtchen, Dieter (1983), Tricks und Täuschungen als Mittel der Wirtschaftspolitik? Die Sicht der Theorie rationaler Erwartungen, in: Otmar Issing (Hg.), Aktuelle Wege der Wirtschaftspolitik, Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF Bd. 130, Berlin, S. 79-125. Welter, Patrick (2005), Schröders Wachstumsimpulse zündeten noch nicht einmal ein Strohfeuer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 55 vom 7.3.2005, S. 15. Willgerodt, Hans (2004), Die Anmaßung von Unwissen, ORDO, Bd. 55, S. 25-35.

Entartung des politischen Wettbewerbs

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Zusammenfassung Der politische Wettbewerb wird in Deutschland häufig mit unsauberen Mitteln, mit der Täuschung von Wählern und mit unzutreffenden Behauptungen über den politischen Gegner ausgetragen. Zunächst wird in diesem Beitrag geprüft, inwiefern sich politischer und ökonomischer Wettbewerb unterscheiden und inwieweit Regeln für den ökonomischen Wettbewerb auf das politische Ringen um Macht übertragen werden können. Danach wird ein - unvollständiges - Sündenregister von Lügen und gebrochenen politischen Versprechungen präsentiert. Daraus werden Schlußfolgerungen dahingehend gezogen, ob Reformen des unbefriedigend funktionierenden, die demokratische Ordnung gefährdenden politischen Machtkampfs möglich sind.

Summary Degenerating Political Competition Political competition in Germany is often carried out with unfair means, by systematic deception of the voters and with unfounded statements about the political opponent. This contribution shall first examine in what respect the political competition differs from economic competition and to what extent the rules for economic competition can be applied to the struggle over political power. This part will be followed by a presentation of an - incomplete - "transgression index", containing political lies and broken political promises. Hence it will be ascertained, whether reforms of the unsatisfactorily functioning political power struggle, also threatening the democratic system, are feasible.

ORDO • Jahrbuch fiir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2005) Bd. 56

Paul Kirchhof

Freiheitlicher Wettbewerb und staatliche Autonomie - Solidarität* Wenn wir gegenwärtig erwägen, Staat und Gesellschaft in Bildung, Wissenschaft, Wirtschaftswachstum, und Rechtskultur zu erneuern, begegnen wir immer wieder dem Stichwort „Wettbewerb", der Ermüdung überwinden, Besitzstände lockern, Neugierde, Erfindergeist und Wagemut entfalten soll. Der Wettbewerb bietet die Freiheit, einem anderen selbstbestimmt eine Leistung anzubieten und ihn zu überzeugen, daß diese Leistung im Vergleich mit dem Mitbewerber die bessere sei. Wenn mehrere Wettbewerber nach demselben Ziel streben, das nur einer erreichen kann, beginnt das Bemühen um die bessere Lösung, werden Einsatzfreude, Tatkraft, Gestaltungswille gefordert. Allerdings ist auch die Rede vom Standortwettbewerb unter den Gemeinden, vom Bildungswettbewerb unter den Ländern, vom Steuerwettbewerb unter den Staaten. Damit wird der Anwendungsbereich des Wettbewerbs überschätzt. Wettbewerb ist Ausdruck individueller Freiheit, also eine Handlungsform der freiheitsberechtigten Gesellschaft, nicht des freiheitsverpflichteten Staates. Der Staat muß als Garant des Rechts aus dem Wettbewerb herausgehalten und von Erwerbsmotiven freigestellt werden. Er folgt nicht dem wettbewerblichen Prinzip der Gewinnmaximierung, sondern pflegt eine Kultur des Maßes. Er bietet seine Leistungen auch dem Bedürftigen, handelt also unabhängig von einer Gegenleistung. I. Der Staat bietet vor allem Sicherheit, Frieden im Recht, finanzielle Existenzsicherung, Infrastruktur. Diese Staatsleistungen werden nach Rechtsprinzipien, insbesondere nach dem Gleichheitssatz zugeteilt, nicht dem meistbietenden Nachfrager vorbehalten. Der wirtschaftliche Wettbewerb hingegen sucht in aller Welt nach Geld. Dabei entdeckt er auch den Staat, der über große Etats verfügt und deshalb die Geldsucher anlockt. Steuerpflichtige suchen unter dem Stichwort „Steuerwettbewerb" die Gleichheit aller vor dem Gesetz aufzubrechen und in der Wahl unter verschiedenen nationalen Steuerrechtsordnungen einen Steuervorteil zu erreichen. Sie wählen ihren Sitz in dem Staat, der ihnen die meisten Vergünstigungen bietet. Dadurch wird der Staat nicht zum Akteur eines Wettbewerbs, sondern zum Objekt fluchtbereiter Wirtschaftsmacht. Der Steuerpflichtige erzielt seinen Gewinn nicht mehr am Markt, sondern beim Finanzamt. Sein wirtschaftlicher Vorteil ergibt sich nicht aus der Qualität seiner Leistung und der Überzeugungskraft seines Angebots, sondern aus der Mehrbelastung anderer Steuerpflichtiger, die den durch die Steuervergünstigungen bedingten Ertragsausfall durch höhere Steuerlasten zu finanzieren haben. Der Kampf um die Steuervergünsti-

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Gekürzte Fassung eines Beitrags in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. Dezember 2004.

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gung verfremdet das Freiheitsinstrument des zivilrechtlichen Vertrages, das nicht dem privaten Leistungstausch, sondern der Herstellung steuerlicher Ungleichheiten dient. Wird der Staat mehr als Geldquelle denn als Rechtsgarant verstanden, verengt sich auch die Perspektive des Rechts. Eine von der Jedermannsfreiheit und Jedermannsgleichheit bestimmte Gerechtigkeit wird in verschiedene - „soziale", „demokratische", „liberale" - Teilgerechtigkeiten aufgeteilt und führt in dieser Blickverkürzung ins Unrecht. Eine „soziale" Gerechtigkeit beobachtet nur den Sozialbeamten, der in der ersten Reihe des Staatsdienstes steht, Gelder an Bedürftige verteilt und sich ständig wachsenden Leistungserwartungen ausgesetzt sieht. Der Finanzbeamte hingegen, der das zu verteilende Geld nach Maßstäben des Steuerrechts einsammelt, bleibt außerhalb dieses Blickfelds des Sozialen. Damit schwächt sich das Bewußtsein, daß der freiheitliche Staat nur das geben kann, was er vorher steuerlich genommen hat. Wenn die Finanzbeamten sodann auch noch in die erste Reihe vortreten und Steuervergünstigungen verteilen, fehlt der Politik das Geld und sie sucht Zuflucht in der Staatsverschuldung. Bund, Länder und Gemeinden haben gegenwärtig eine Gesamtverschuldung von 1,4 Billionen Euro angesammelt. Würde der Staat diese Schuld in jährlichen Raten von Hundert Millionen Euro abzahlen - ein Vorhaben, das bei einem jährlichen Steueraufkommen von rund 450 Milliarden Euro schlechthin unmöglich ist -, so brauchte er bei einem Zinssatz von 6% für die Rückzahlung 30 Jahre. Der Zugriff auf das Staatsbudget zerstört den Verfassungsstaat, ist das Gegenteil vom eigenverantwortlichen Wettbewerb. II. Der Staat wahrt als Garant des Rechts - der Wettbewerbsregel - Distanz zum Wettbewerb, muß stärker sein als die Wettbewerber, um das Recht gegen sie durchsetzen können, bleibt unabhängig und wird deshalb von anderen als Erwerbsmotiven geleitet. Den Gedanken des Wettbewerbs auf Staaten anzuwenden, ist völlig verfehlt. Der Staat ist freiheitsverpflichtet, nicht freiheitsberechtigt, nimmt also nicht am Wettbewerb teil, sondern gewährleistet den Wettbewerb. Die Staaten und ihre Untergliederungen - die Länder und die Gemeinden - beanspruchen Autonomie, nicht Freiheit. Die praktischen Folgerungen liegen auf der Hand: Ein demokratischer Staat richtet sein Handeln auf seine Staatsbürger aus, die gesetzlich durch die Staatsangehörigkeit gleichbleibend definiert sind, nicht wie die Kunden je nach Leistungsangebot des Staates wechseln. Der Staat wirbt nicht um Nachfrager, sondern verantwortet sich als Demokratie vor seinen Wählern, als Garant der Menschenrechte vor den ihm innerhalb seiner Gebietshoheit anvertrauten Menschen. Staatliche Tätigkeit ist nicht darauf angelegt, die Bürger anderer Staaten abzuwerben und für die eigene Leistung zu gewinnen. Der innere Zusammenhalt des Staatsvolkes als Ausgangsbefund der Demokratie verlangt nicht wettbewerbliche Differenzierung, sondern bedarf der Integration und gemeinsamer Institutionen, ist gegen wettbewerbliche Konkurrenz und Differenzierung abzuschirmen. Der Wettbewerber strebt nach Wachstum, sucht seine Ertrags- und Einflußsphäre möglichst auszudehnen. Der Verfassungsstaat wirkt auf Deregulierung, Privatisierung, den „schlankeren Staat" hin. Eine feindliche Übernahme des Konkurrenten - des anderen Staates - ist nach dem UN-Statut schlechthin ausgeschlossen. Der private Wettbe-

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werber kann bei Mißerfolg durch Insolvenz aus dem Markt ausscheiden, der Staat ist insolvenzunfähig und wird mit der Finanzkraft anderer Staaten oder staatlicher Untergliederungen - der „Konkurrenten" - aufgefangen. Das Wettbewerbsrecht verbietet ein Kartell, sichert also immer wieder eine Gleichheit in der freiheitlichen Ausgangschance und beugt marktbeherrschenden Zusammenschlüssen vor. Staaten oder staatliche Untergliederungen hingegen sind auf bewußte und transparente Zusammenarbeit angelegt. Wenn die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Umsatzsteuer gemeinsam regeln, die deutschen Bundesländer in ARD und ZDF marktbeherrschend oder in der ZVS marktregulierend Unternehmen betreiben, der Bund beim Hochschulbau Kapitalmacht bündelt, Kommunen in Zweckverbänden ihre Aufgaben gemeinsam wahrnehmen, braucht keine Kartellbehörde in Aufregung zu geraten, weil diese marktbestimmenden Zusammenschlüsse rechtlich erwünscht sind, das Wettbewerbsrecht gerade nicht gilt. Vor allem aber täuscht der Wettbewerber Leistungen im Gewinnstreben, während der Verfassungsstaat Rechte einseitig zuteilt. Wenn der Staat Freiheit, Markt und Wettbewerb ermöglicht, indem er Recht, ein Währungssystem, Bildung und Infrastruktur anbietet, läßt er sich diese Leistung nicht individuell entgelten. Er bewahrt vielmehr seine Unbefangenheit und Unabhängigkeit, indem er sich gegen Kommerzialisierung abschirmt, seinen Finanzbedarf durch Besteuerung deckt und jedem Amtsträger die Entgegennahme von Vorteilen in Straftatbeständen der Bestechung verbietet. Allerdings erscheint auch hier die Grenze zwischen staatlicher Rechtsgebundenheit und freiheitlicher Erwerbswirtschaft nicht mehr klar und unübersteigbar. Wenn das Gesetz dem Bundesfinanzminister erlaubt, UMTS-Lizenzen gegen Höchstgebote zu versteigern, die Bundesregierung eine Gesetzesinitiative zur Reform des Arzneimittelrechts nach Millionenzahlungen eines Verbandes zurücknimmt, das Abstimmungsverhalten eines Bundeslandes von vorherigen Zuwendungen abhängt, stellt sich die Frage, warum hier ein Leistungstausch zulässig sein soll, während ein ähnlicher Tausch bei Baugenehmigung oder Führerschein strafbar wäre. Ein Wechsel vom Verfassungsstaat zum käuflichen Leistungsstaat würde unsere Rechtskultur um Jahrhunderte zurückwerfen: Müßte der Staat für die gewährte polizeiliche Sicherheit monatlich bei allen Haushaltungen eine Sicherungsgebühr verlangen, der Staat für die rechtlich gewährte Vertragsfreiheit bei jedem Vertragsschluß eine entgeltähnliche Vertragssteuer - wie heute noch in Polen - fordern, für jeden Hochschulabsolventen vom zukünftigen Arbeitgeber für die Bereitstellung einer qualifizierten Arbeitskraft ein Ausbildungsentgelt verlangen, von jedem Benutzer einer Gemeinde-, einer Landes- oder Bundesstraße eine Maut erheben, so würde das Gemeinwohlkonzept unbefangenen und rechtsverpflichteten Verwaltens durch eine Individualisierung und eine Parzellierung staatlichen Handelns allein in Dienst des Zahlungsbereiten und Zahlungsfähigen abgelöst. So bleibt es bei dem für jeden Verfassungsstaat strukturgebenden Wettbewerb, dem Prinzip der Differenzierung, Solidarität des Zusammenhalts. Wettbewerb fördert den Starken, Solidarität treibt zur Erneuerung, Solidarität bewahrt Bewährtes. Ausgangsbefund: Der Bürger ist frei, deswegen zum freiheitlichen Wettbewerb berechtigt. Der Staat hingegen ist autonom, zur Selbstgesetzgebung befugt, im Handlungsmittel des Gesetzes auf die Allgemeinheit ausgerichtet. Wettbewerb differenziert,

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Autonomie hält zusammen. Wettbewerb fördert den Starken, Autonomie versteht auch den Schwachen als zugehörig. III. Freiheitsrechte sind definierte, aber begrenzte Berechtigungen. Die staatstheoretische Grundsatzfrage, ob Freiheit vom Staat vorgefunden oder gewählt werde, ist sicherlich im Sinne der vorgefundenen Freiheit beantworten. Dennoch lenkt diese Frage von dem staatsrechtlichen Ausgangsbefund ab, daß Freiheitsrechte, also die mit den Gemeinschaftsinteressen abgewogene, staatlich durchsetzbare Freiheit, staatlich gewährt werden, sie ohne einen starken Staat verloren gingen. Aus der ursprünglichen Freiheit eines Kampfes aller gegen alle, aus einem ungeformten Wettbewerb wird erst durch das staatliche Recht eine Kultur der Freiheit, in der jeder eine Friedensordnung findet, existentielle Sicherheit im Elementaren beanspruchen darf, auf dieser Grundlage seine Freiheiten nutzen kann. Die Wahrnehmung dieser Freiheit zum Wettbewerb braucht auch Maßstäbe, die ihren Anwendungsbereich begrenzen. Vielfach ist das Freiheitsrecht auf ein Zusammenwirken unter Freiheitsberechtigten angelegt. Die Wissenschaftsfreiheit findet zwar einen wesentlichen Antrieb im Wettbewerb des Ehrgeizes, braucht aber im Umgang mit der Ungewißheit und im Entstehen einer neuen Mächtigkeit des Wissens vielfach die Zusammenarbeit. Stünden wir heute vor der wissenschaftlichen Frage, ob die Erde eine Scheibe oder vielleicht doch eine Kugel sei, und hätten wir zwei Schiffe, die in See stechen könnten, um diese Frage zu beantworten, so wären wir wissenschaftlich klug beraten, wenn wir nicht beide Schiffe in den Wettbewerb um die früheste Erkenntnis in die Unsicherheit der Meere entsendeten, wir vielmehr das eine Boot vorausschickten, das andere in hinreichendem Sicherheitsabstand - mit dem ersten durch ein Seil verbunden - hinterherfahren ließen, damit es das erste beim etwaigen Sturz in den Abgrund zurückhalten möge. Und wenn wir heute vor der ersten Atomspaltung stünden und dafür 100 Forscher zur Verfügung hätten, sollten wir 95 naturwissenschaftlich einsetzten, 5 aber an einem Atomwaffensperrvertrag arbeiten lassen, damit die Atomspaltung für die Menschen Segen und nicht auch Fluch sein werde. Der Wettbewerb drängt auf das schnell greifbare Ergebnis und damit in die Spezialisierung, die Wissenschaft verlangt eher den ganzheitlich denkenden Forscher. Andererseits krankt der wirtschaftliche Wettbewerb daran, daß er wesentliche Leistungen aus dem Wettbewerb um die Einkommensverteilung ausnimmt, insbesondere die Mütter nicht berücksichtigt, denen wir die wertvollste Leistung verdanken, der wir bedürfen, nämlich die Zukunftsfähigkeit in unseren Kindern. Wir verweigern der Leistung der Eltern Einkommen, Sicherheit im Alter und in der Not, auch die im selbsterworbenen Euro angelegte Anerkennung und wirtschaftliche Gestaltungsmacht, obwohl wir nichts dringlicher brauchen als Geburten und eine gute Kindererziehung. Die Folgen dieser Fehlgewichtung sind verheerend. Deutschland steht im OECD-Vergleich des Kindermangels an letzter Stelle. Wenn wir in einigen Jahren ein Viertel weniger Kinder haben werden, wird die Kultur unserer Sprache und unseres Verfassungsstaates geschwächt, das Staatsvolk verringert. Dem Generationenvertrag bricht der eine Vertragspartner, die Jugend, zu einem wesentlichen Teil weg. Das im Geldwert angelegte Einlösungsversprechen, wir könnten für einen gesparten Euro in zwanzig Jahren etwas ähnliches kaufen, verliert ein wesentliches Stück seiner Vertrauensgrundlage. Der Wirtschaft-

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liehe Markt wird abwandern, weil er dorthin geht, wo Menschen sind, Produzenten und Arbeitnehmer, Erfinder und Konsumenten. Wir drohen im Erwerbswettbewerb zu sterben, statt im Kind Vitalität zu gewinnen. IV. Wettbewerb braucht als Ausdruck der Freiheitsrechte einen Garanten dieses Rechts, der die Freiheit gewährt, sie aber auch in Grenzen von Redlichkeit und Fairneß hält. Wettbewerb ereignet sich deshalb in einem Staat, der das unabdingbare Recht vorgibt, im Recht die Chancengleichheit im Ausgangsbefund, die Offenheit des Werbens und Tauschens, die Lauterkeit der Auseinandersetzung garantiert. Diese Voraussetzungen des unausweichlichen, deshalb gleichen, staatlich gewährten Rechts sind in einer weltoffenen Gesellschaft und Wirtschaft oft nicht mehr gegeben. Ein Unternehmer, dem das deutsche Mitbestimmungsrecht zu weitgehend, das deutsche Steuerrecht zu verwirrend, die Lebensmittelprüfting zu anspruchsvoll oder der Umweltschutz zu strikt erscheint, weicht dem Recht des deutschen Staates aus und verlegt Firmensitz oder Wohnsitz in einen anderen Staat, in dem er ein ihm genehmeres Recht erwarten darf. Das Recht ist nicht mehr unabdingbar und ftir jedermann gleich vorgegeben, sondern scheint im Arsenal der unterschiedlichen staatlichen Rechtsordnungen wählbar. Diese freie Wahl des Staates und seines Rechts ist im Pluriversum der 200 Staaten dieser Erde ein Freiheitsgewinn, soweit den Menschen die freie Entscheidung über Lebensmittelpunkt und Erwerbsort einschließlich der dazugehörigen Rechtsordnung eröffnet ist. Elementarer Ausdruck dieser Freiheit sind das Recht aus- und einzuwandern, bei Verfolgung Asyl zu beanspruchen. Die Rechtswirklichkeit erlaubt jedoch oft ein formales Auswandern bei tatsächlichem Verbleiben im Inland, gestattet damit die Wahl eines anderen Rechts ohne Standortwechsel. Der Unternehmer verlegt seinen Firmensitz ins Ausland, definiert sich damit legal als Steuerausländer, erzielt seinen Gewinn aber weiterhin im Inland, nutzt also Recht, Infrastruktur und Kaufkraft im Inland, ohne steuerlich zur Finanzierung dieser seiner Erwerbsgrundlage beizutragen. Er verlegt in Konzemstrukturen die Entscheidungen über das Wirtschaften im Inland in eine nicht mitbestimmte ausländische Gesellschaft, organisiert so für eine inländische Kapitalgesellschaft eine Untemehmensfiihrung ohne inländische Legitimation. Der Lebensmittelproduzent läßt ein Produkt in einem europäischen Land mit niedrigerem Verbraucherschutz für den dortigen Markt zu, beansprucht dann aber über den europäischen Binnenmarkt auch den inländischen Markt und hat damit die deutschen Schutzstandards unterlaufen. Der Produzent verlegt seine Fabrik zur Herstellung von im Inland abzusetzenden Gütern an einen Standort jenseits der Grenze, weicht damit den inländischen Umweltschutz- oder atomrechtlichen Rechtserfordernissen aus, ohne daß die Umweltbelastung oder atomrechtliche Gefahrdung für das Inland sich durch diese Verlegung ändert. Wer in diesen Fällen von „Wettbewerb" spricht, beansprucht die Befugnis, dem Recht als der Bedingung seiner Freiheit auszuweichen, in der Entscheidung über die jeweils für ihn wirksame Rechtsordnung gleichsam sein eigener Gesetzgeber zu sein. Die Fehlerhaftigkeit dieser „Wettbewerbsvorstellung" zeigt sich insbesondere bei der Steuer. Das Stichwort des „Steuerwettbewerbs" meint nicht die um den größtmöglichen

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Steuerertrag konkurrierenden Staaten; insoweit würde der Begriff gegen die Prinzipien einer maßvollen Besteuerung verstoßen. Vielmehr wird unter dem Stichwort des „Wettbewerbs" ein Wettstreit um niedrige Steuersätze entfacht, die dem Steuerpflichtigen die Standortwahl unter den Ländern mit der günstigeren Steuerbelastung läßt. Das Ziel eines solchen Wettbewerbs wäre illegitim: Es drängte zu immer niedrigeren Steuern, idealtypisch zu einer Nullbelastung, damit zur Vernichtung der steuerfinanzierten Staaten, also des freiheitlichen Verfassungsstaates. Vor allem aber dürfte der wettbewerblich veranlaßte Vergleich nicht auf die Steuerlast beschränkt werden. Wie der Autoverkäufer nicht nur die Autopreise vergleicht, sondern auch in seine Erwägungen einbezieht, ob er für den jeweiligen Preis einen Kleinwagen oder eine Luxuskarosse erwerben kann, müßte beim Vergleich der Steuerstaaten die mit der Steuerlast verbundene Infrastruktur des jeweiligen Staates einbezogen werden. Wer in Deutschland die hier gewährte innere und äußere Sicherheit, die hier angebotenen gut ausgebildeten Arbeitskräfte, unser Vertragsrecht und Währungswesen, die bei uns erreichbare, wirtschaftsoffene Freiheitskultur, vor allem aber auch unsere Nachfragekraft in Anspruch nimmt, muß zur Finanzierung dieses Markt- und Rechtssystems beitragen. Deswegen darf die Steuer nicht an den formalen Sitz anknüpfen. Würde nach dem Betriebsstättenprinzip jeder, der den deutschen Markt in Anspruch nimmt, auch in Deutschland Steuern zahlen müssen, wäre eine Steuerflucht nur bei Verzicht auf den deutschen Markt möglich. Damit wäre der Spuk eines „Wettbewerbs der Steuersysteme" bald beendet. V. Wettbewerb bedeutet ein Stück Ungebundenheit, Bindungslosigkeit. Der Wettbewerber verläßt Vertragspartner, Erwerbsgemeinschaft und Region, wenn sich etwas Besseres findet, löst sich aus dem Bisherigen und sucht den Vorteil des Neuen. Deswegen sind zwei Inhalte der Freiheit zu unterscheiden: Die kurzfristige Gegenwartsfreiheit gibt dem Berechtigten ein Recht zu Beliebigkeit. Er darf heute schweigen und morgen ein Gespräch fuhren, heute philosophieren und morgen Sport treiben; heute nach Norden und morgen nach Süden reisen. Für diese Gestaltung seines Lebens ist er niemandem verantwortlich. Diese Beliebigkeit ist ein wesentliches Fundament unserer freiheitlichen Ordnung. Das Gelingen der individuellen Biographie und der staatlichen Gemeinschaft hängt aber von der langfristigen Zukunftsfreiheit ab, deren Wahrnehmung auch andere betrifft und die deshalb ein Recht zur Bindung gründet. Der Freiheitsberechtigte gründet eine Firma, baut ein Haus, entwickelt aus einem langjährigen Studium einen Lebensberuf, begründet eine unkündbare und unscheidbare Elternschaft, vertritt jahrelang eine wissenschaftliche These, gehört seinem Staat auf immer an. Bei der Wahrnehmung dieser Freiheiten ist der Berechtigte im ersten Schritt frei, im zweiten Schritt gebunden. Bindungslosigkeit wäre hier Freiheitsverzicht. Wer im Vorraum der langfristigen Zukunftsfreiheiten verharrt und niemals in einen Garten dieser Zukunftsfreiheiten eintritt, schlägt sich viele Türen zur Freiheit zu, verzichtet auf die für das einzelne Leben wie für die Rechtsgemeinschaft wesentlichen Freiheiten.

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Eine freiheitliche Gesellschaft braucht beides: Den Freien, der seine Freiheit zur Beliebigkeit im Wettbewerb ausübt; ebenso aber auch den Freien, der in langfristiger Zukunftsfreiheit sich in Solidarität binde

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2005) Bd. 56

Viktor Vanberg

Auch Staaten tut der Wettbewerb gut: Eine Replik auf Paul Kirchhof Sollte der Föderalismus in Deutschland in Richtung auf mehr fiskalischen Wettbewerb reformiert werden, und sollte das Verhältnis zwischen den Mitgliedsstaaten der EU eher durch Steuerharmonisierung als durch Steuerwettbewerb bestimmt sein? Dies sind höchst aktuelle und für unsere zukünftigen Lebensverhältnisse äußerst bedeutsame Fragen. Aus der Sicht des Verfassungsrechtlers hat Paul Kirchhof in einem in der Franlrfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Beitrag („Recht gibt es nicht zum Niedrigpreis", FAZ Nr. 281, 1. Dez. 2004) Vorstellungen kritisiert, die den aus der Sphäre des Marktes vertrauten Wettbewerbsgedanken auf Staaten bzw. sub-nationale Gebietskörperschaften (Gemeinden, Länder) übertragen. „Den Gedanken des Wettbewerbs auf Staaten anzuwenden" sei, so sein Verdikt, „völlig verfehlt." Die „Rede vom Standortwettbewerb unter den Gemeinden, vom Bildungswettbewerb unter den Ländern, vom Steuerwettbewerb unter den Staaten" überschätze den Anwendungsbereich des Wettbewerbs. Zwar setzt Kirchhof in seinem Beitrag auch einige andere Akzente, doch kann seine Argumentation in ihrem Grundtenor wohl nur dazu angetan sein, Wasser auf die Mühlen deijenigen zu leiten, die in Fragen der inner- und zwischenstaatlichen Ordnung Harmonisierung statt Wettbewerb das Wort reden. Nun lassen sich jedoch für die Idee des Standortwettbewerbs, die Kirchhof als „Zauberformel der Reformdebatte" abzutun geneigt scheint, durchaus gewichtige Gründe anfuhren, und für viele Vorbehalte, die ihr entgegengebracht werden, läßt sich bei näherem Hinsehen zeigen, daß sie auf irrigen Annahmen oder Mißverständnissen beruhen. Um dies deutlich zu machen, möchte ich hier die von Kirchhof vorgetragene wettbewerbskritische Sicht (alle Zitate im Text sind seinem Beitrag entnommen) einer kritischen Prüfung unterziehen, und zwar im Lichte der Argumente und Überlegungen, auf die sich Wirtschaftswissenschaftler stützen, wenn sie auf die wohltätigen Wirkungen verweisen, die Wettbewerb nicht nur im Markt sondern auch zwischen Gebietskörperschaften (Gemeinden, Ländern, Staaten) entfalten kann. Wettbewerb ist der Zwilling der Freiheit, oder wie Kirchhof es formuliert: „Wettbewerb ist Ausdruck individueller Freiheit". Dort, wo Menschen die Freiheit haben, unter mehreren Anbietern von Gütern und Leistungen ihres Bedarfs zu wählen, dort gibt es Wettbewerb unter den Anbietern. Dies gilt für Brot und andere Güter des alltäglichen Bedarfs ebenso wie für das Gut „Recht" und sonstige Leistungen, die der Staat als Leistungserbringer besonderer Art zur Verfügung stellt. Wo Menschen einem Monopolanbieter von Brot gegenüberstehen oder in einem Staat leben, der ihnen, wie die ehemalige DDR, den Zugang zu Alternativen mit Waffengewalt verwehrt, dort ist ihnen die Freiheit der Wahl genommen. Die wesentliche Erkenntnis, die wir der Wirtschaftswissenschaft verdanken, ist die Einsicht in die positiven Funktionen, die der Wettbewerb

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im menschlichen Zusammenleben in dreifacher Hinsicht, nämlich als ,4nrazinstrument, als Entmachtungsmstmment und als Entdeckungsinstmment erfüllen kann. Er stiftet Anbietern, die um die Gunst von Kunden werben müssen, Anreize, um die Versorgung anderer Menschen bemüht zu sein. Da Wettbewerb Zugänglichkeit von Alternativen bedeutet, wirkt er Abhängigkeiten und damit den Möglichkeiten der Machtausübung entgegen. Indem er die Wettbewerber anhält, durch Produkt- und Verfahrensinnovationen einen Vorsprung vor den Konkurrenten zu gewinnen, wirkt der Wettbewerb als ein Wissen schaffender Entdeckungsprozeß, in dem neue Möglichkeiten der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche erprobt werden. A u f die positiven Funktionen, die der Wettbewerb als Anreiz-, Entmachtungs- und Entdeckungsinstrument erfüllen kann, wird man nur dort verzichten wollen, wo man glaubt, es mit einem Leistungsanbieter zu tun zu haben, bei dem eine Garantie auf ausreichendes Wohlwollen gegenüber den Leistungsempfängern besteht, bei dem die Gefahr eines Machtmißbrauchs völlig ausgeschlossen ist, und bei dem man vollkommenes Wissen über die bestmögliche Versorgung der Leistungsempfänger unterstellen kann. Die im vorliegenden Zusammenhang entscheidende Frage ist, ob ein solcher Glaube in Hinblick auf den „Staat" als Leistungserbringer berechtigt ist, oder ob man nicht vielmehr auch hier auf Wettbewerb als Anreiz-, Entmachtungs- und Entdeckungsinstrument setzen muß. Beim Nachdenken über diese Frage sollte man sich bewußt halten, daß staatliche Macht nicht von einer dem Irdischen enthobenen wohlwollenden, unparteiischen und allwissenden Autorität ausgeübt wird, wie dies ein von Hegel inspiriertes Staatsverständnis vielleicht nahelegen könnte, sondern von Menschen aus Fleisch und Blut, die gegen Machtmißbrauch und Fehlentscheidungen nicht allein schon dadurch gefeit sind, daß ihr Amt sie dem Gemeinwohl verpflichtet. Damit Wettbewerb in der genannten Weise als zivilisierter Leistungswettbewerb und nicht als zügelloser Kampf ausgetragen wird, bedarf es freilich gewisser Voraussetzungen. So ist denn auch marktlicher Wettbewerb alles andere als ein rein naturwüchsiger Prozeß. Er findet vielmehr unter bestimmten Spielregeln statt, die sicherstellen sollen, daß wirtschaftlicher Erfolg nur durch bessere Bedienung von Konsumentenwünschen und nicht etwa durch betrügerische Manipulationen erzielt werden kann. Die Durchsetzung solcher Spielregeln kann in großen Gesellschaften nur durch den Staat gewährleistet werden, ein Umstand, auf den Kirchhof mit der Feststellung hinweist, aus „der ursprünglichen Freiheit eines Kampfes aller gegen alle, aus einem ungeformten Wettbewerb (werde) erst durch staatliches Recht ... eine Friedensordnung." Kirchhof glaubt, aus diesem Umstand folgern zu müssen, daß „der Staat als Garant des Rechts aus dem Wettbewerb herausgehalten" werden müsse, daß er den Wettbewerb gewährleistet, „nicht am Wettbewerb teil(nimmt)". Eben diese Folgerung gilt es, kritisch zu prüfen. Kirchhof weist zu Recht darauf hin, daß der Staat als „Garant des Rechts" und der Wettbewerbsordnung innerhalb seines Hoheitsgebiets eine Monopolstellung einnimmt und in dem Sinne dem Wettbewerb entzogen ist. Sein Gewaltmonopol soll den Staat ja gerade instand setzen, das in seinem Zuständigkeitsbereich geltende Recht gegenüber allen dort Tätigen wirksam durchzusetzen. Und auch bei anderen Leistungen, die er über die Rechtsetzung und -durchsetzung hinaus erbringt (Verkehrsinfrastruktur, Geldwesen u.a.), ist der Staat innerhalb seines Hoheitsgebiets als Monopolanbieter dem Wettbewerb entzogen. Daß Staaten oder, allgemein, Gebietskörperschaften in diesem Sinne innerhalb ihres jeweiligen Zuständigkeitsbereiches dem Wettbewerb entzogen

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sind, entzieht sie freilich nicht dem Wettbewerb, der zwischen Staaten oder Gebietskörperschaften besteht, einem Wettbewerb, der in dem Maße wirksam wird, in dem Menschen die Freiheit haben, als Bürger oder „Standortnutzer" zwischen alternativen Hoheitsgebieten und deren jeweiligen „Angebotspaketen" zu wählen. Offenbar sind Kirchhofs Vorbehalte gegenüber dem zwischenstaatlichen „Standortwettbewerb" in der Befürchtung begründet, daß dieser die Fähigkeit des Staates beeinträchtigt, seine innerstaatliche Ordnungsfunktion und seine Verantwortung gegenüber den Bürgern angemessen wahrzunehmen. So verweist er etwa auf die Gefahr, daß ein solcher Wettbewerb „die Geldsucher anlockt", daß „der Staat mehr als Geldquelle denn als Rechtsgarant verstanden" werde, daß es zur „Herstellung steuerlicher Ungleichheiten" komme und Staatsleistungen nicht „nach Rechtsprinzipien, insbesondere nach dem Gleichheitsgrundsatz" zugeteilt werden, sondern „dem meist bietenden Nachfrager" vorbehalten bleiben. Abgesehen von gewissen Untertönen, die in solchen Worten wie „Geldsucher" mitschwingen, ist zu bezweifeln, ob die von Kirchhof befürchteten negativen Erscheinungen in der Tat, wie von ihm unterstellt, dem Standortwettbewerb anzulasten sind. Daß sie vielmehr ganz andere Ursachen haben dürften, wird deutlich, wenn man die Unterscheidung zwischen zwei Ebenen beachtet, auf denen Wettbewerb um bzw. zwischen staatlichen Leistungsangeboten stattfindet. Dies ist zum einen der hier zur Debatte stehende Wettbewerb zwischen Staaten, bei dem es darum geht, daß Menschen zwischen den Leistungsangeboten verschiedener Staaten oder Gebietskörperschaften wählen, indem sie - sei es als Bürger und Einwohner, als Investoren, als Arbeitnehmer oder in anderer Hinsicht - eine Jurisdiktion A verlassen, um sich in einer Jurisdiktion B niederzulassen oder zu betätigen. Und dies ist zum anderen der Wettbewerb um staatliche Leistungsangebote, der innerhalb von Gebietskörperschaften ausgetragen wird, auf dem Wege der Einflußnahme auf politische und administrative Entscheidungsprozesse. Wie im folgenden näher zu zeigen sein wird, haben die Nachteile, die Kirchhof dem zwischenstaatlichen Wettbewerb anlasten zu müssen glaubt, ihre Ursache in Wirklichkeit in Ordnungsmängeln des innerstaatlichen politischen Wettbewerbs oder sind darauf zurückzuführen, daß der zwischenstaatliche Wettbewerb unter ungeeigneten Rahmenbedingungen stattfindet. Statt einer Aufhebung des Wettbewerbs das Wort zu reden, sollte man das Augenmerk daher auf die notwendigen Korrekturen innerstaatlicher Ordnungsmängel und ungeeigneter Rahmenbedingungen des Standortwettbewerbs richten. Man wird Kirchhof vorbehaltlos zustimmen können, wenn er meint, ein „Wechsel vom Verfassungsstaat zum käuflichen Leistungsstaat würde unsere Rechtskultur um Jahrhunderte zurückwerfen", und wenn er den Anspruch betont, daß im demokratischen Gemeinwesen „Staatsleistungen nach Rechtsprinzipien, insbesondere nach dem Gleichheitsgrundsatz, zugeteilt, nicht dem meistbietenden Nachfrager vorbehalten" werden. Man wird ihm ebenfalls fraglos beipflichten, wenn er auf die Notwendigkeit verweist, daß sich der Staat „gegen Kommerzialisierung abschirmt... und jedem Amtsträger die Entgegennahme von Vorteilen in Straftatbeständen der Bestechung verbietet." Und man mag auch sein Unbehagen gegenüber einem Staat teilen, der „für die gewährte polizeiliche Sicherheit monatlich bei allen Haushalten eine Sicherungsgebühr" eintreiben und sich auch sonstige Leistungen (wie Verkehrsinfrastruktur oder universitäre Ausbildung) „individuell entgelten" lassen müßte. Man fragt sich jedoch, wie diese Dinge mit der Frage des Wettbewerbs zwischen Gebietskörperschaften zusammenhängen sollen. V o m

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Staat erbrachte Leistungen bei Leistungsinanspruchnahme „individuell entgelten" zu lassen (etwa durch Straßenmaut oder Studiengebühren) statt durch pauschale Steuern zu finanzieren, mag unpraktisch sein und andere Nachteile haben. Es ist aber schwer zu ersehen, was die Regelung dieser Frage mit der Frage der Nachteile oder Vorzüge des Wettbewerbs zwischen Staaten zu tun hat. Und ohne Zweifel sind die Käuflichkeit von Politikern und die Korruption von Staatsbediensteten äußerst ernstzunehmende Probleme. Doch ist auch hier schwer auszumachen, wieso der Wettbewerb zwischen Staaten ein Hindernis dafür darstellen sollte, derartigen Problemen durch geeignete innerstaatliche Regelungen vorzubeugen. Kirchhofs Unmut gilt speziell dem Steuerwettbewerb, den er dafür verantwortlich macht, daß Steuerpflichtige „die Gleichheit aller vor dem Gesetz aufbrechen und in der Wahl unter verschiedenen nationalen Steuerordnungen einen Steuervorteil erreichen", mit der Folge der „Mehrbelastung anderer Steuerpflichtiger, die den durch die Steuervergünstigungen bedingten Ertragsausfall durch höhere Steuerlasten zu finanzieren haben." Bevor man sich darüber empört, daß der Staat „zum Objekt fluchtbereiter Wirtschaftsmacht" wird, sollte man zunächst einmal fragen, was denn eigentlich so verwerflich daran ist, wenn Menschen oder Unternehmen „ihren Sitz in dem Staat (wählen), der ihnen die meisten Vergünstigungen bietet." Wem tun sie Unrecht, wenn sie von der Freiheit Gebrauch machen, sich dort niederzulassen oder dort tätig zu werden, wo ihnen die staatlich gestalteten Rahmenbedingungen am attraktivsten erscheinen? Mit gutem Grund beklagt Kirchhof den Verstoß gegen „die Gleichheit aller vor dem Gesetz", der darin liegt, daß bestimmten Personen oder Unternehmen steuerliche oder sonstige Sondervergünstigungen zu Lasten anderer gewährt werden. Aber solche Vorrechte oder Privilegien werden ja gerade im innerstaatlichen politischen Wettbewerb erstritten, nicht im Wettbewerb zwischen Staaten. Wenn Personen oder Unternehmen ihren Sitz oder bestimmte Tätigkeiten aus einer Gebietskörperschaft A in eine Gebietskörperschaft B verlagern, weil sie dort günstigere Rahmenbedingungen vorfinden, so ist dies etwas völlig anderes, als wenn sie sich in Gebietskörperschaft A durch offene politische Einflußnahme oder versteckte Korruption Privilegien (Steuervergünstigungen, Subventionen etc.) sichern, die anderen nicht gewährt werden. Im letztgenannten Fall kann man zu Recht von einem Verstoß gegen das rechtsstaatliche und demokratische Gleichheitsgebot und von Bereicherung auf Kosten anderer sprechen. Die Abwanderung aus Staat A nach Staat B, und allein um diesen Fall geht es beim Wettbewerb zwischen Staaten, hat mit solcher Privilegiensuche aber überhaupt nichts zu tun. Hier geht es um das ganz normale Phänomen, daß ein Nachfrager Leistungen - in diesem Fall die Leistung des Staates als Gestalter der in seinem Hoheitsgebiet geltenden Rahmenbedingungen - dort zu nutzen sucht, wo er insgesamt die günstigste Kombination von Steuerpreis und Leistungsqualität findet. Der Vorwurf, der anklingt, wenn von den „Geldsuchem" die Rede ist, die den Staat „als Geldquelle" entdecken, kann zwar mit Recht auf den innerstaatlichen Prozeß der Privilegiensuche gemünzt werden, trifft aber nicht auf die Standortwahl zu, die den Wettbewerb zwischen Staaten bestimmt. An dem „Kampf um Steuervergünstigungen" beteiligt sich, wer über den politischen Prozeß Sondervergünstigen anstrebt und den „Zugriff auf das Staatsbudget" sucht, nicht aber derjenige, der sich aus einer Gebietskörperschaft zurückzieht, um anderswo tätig zu werden. Über die Gefahr von Verstößen gegen „die Gleichheit aller vor dem Gesetz" hinaus diagnostiziert Kirchhof im Wettbewerb zwischen Staaten eine verhängnisvolle Tendenz

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zu ruinöser Konkurrenz. Es werde, so mahnt er in seinem Beitrag, „ein Wettstreit um niedrigere Steuersätze entfacht, der dem Steuerpflichtigen die Standortwahl unter den Ländern mit der günstigeren Steuerbelastung überläßt", und er kommt zu dem Urteil: „Das Ziel eines solchen Wettbewerbs ist illegitim: Er drängt zu immer niedrigeren Steuern, idealtypisch zu einer Nullbelastung, damit zur Vernichtung der steuerfinanzierten Staaten, also des freiheitlichen Verfassungsstaates." Als Mittel zur Verhinderung solch katastrophaler Auswirkungen schwebt Kirchhof wohl eine Kartellösung vor, die darauf hinausläuft, daß Staaten (Gebietskörperschaften) sich durch Preis- bzw. Steuerabsprachen dem Wettbewerb zu entziehen suchen. Während das vom Staat durchzusetzende Wettbewerbsrecht, so stellt er fest, darauf angelegt sei, Kartelle zu verbieten und „marktbeherrschenden Zusammenschlüssen" vorzubeugen, seien Staaten oder staatliche Untergliederungen gerade „auf bewußte und transparente Zusammenarbeit angelegt", und wenn etwa „die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Umsatzsteuer gemeinsam regeln, ... (so brauche) keine Kartellbehörde in Aufregung zu geraten, weil diese marktbeherrschenden Zusammenschlüsse rechtlich erwünscht" seien. Nun sollte man jedoch, bevor man die Wettbewerbs- und freiheitsbeschränkende Karteilösung ins Auge faßt, eingehender prüfen, ob das Problem, zu dessen Lösung diese Medizin dienen soll, überhaupt in der unterstellten Art besteht, und ob die verordnete Kur nicht möglicherweise weit nachteiliger ist als die vermeintliche Krankheit. Das Leben als Monopolist oder im Kartell ist ohne Zweifel bequemer, als wenn man den Leistungsanforderungen des Wettbewerbs ausgesetzt ist. Aber der Sinn des Wettbewerbs liegt ja auch nicht darin, uns das Leben als Produzenten zu erleichtern. Er soll uns vielmehr als gegenseitiger Ansporn dienen, einander zu Diensten zu sein. Der Wunsch, sich die Mühen des Wettbewerbs zu ersparen, war auch im privatwirtschaftlichen Bereich oft genug ein Motiv, mit dem Hinweis auf angeblich drohende ruinöse Konkurrenz auf staatlichen Wettbewerbsschutz oder die Erlaubnis zur Kartellbildung zu drängen. Ebenso werden Regierungen gewiß nur allzu gerne jede Entschuldigung, die man ihnen bietet, nutzen, um sich durch Kartellbildung oder andere Strategien dem Wettbewerbsdruck zu entziehen, der aus der freien Standortwahl von Personen und Unternehmen resultiert. Hier wie dort steht das Argument der ruinösen Konkurrenz aber auf schwachen Füßen. Es unterstellt, daß die Leistungsnachfrager sich ausschließlich nach dem Preis richten, ohne die Qualität der angebotenen Leistung in Rechnung zu stellen. Würden etwa die Gäste von Restaurants ihre Wahl nur nach dem Preis treffen, müßte man in der Tat befürchten, daß der Wettbewerb „idealtypisch zu einer Nullbelastung" führen und damit das Restaurantgewerbe zum unweigerlichen Aussterben verurteilen würde. Ebensowenig wie wir aber ein Aussterben dieser Branche beobachten, werden wir eine „Vernichtung der steuerfinanzierten Staaten" befurchten müssen, da wir auch hier darauf rechnen können, daß Menschen und Unternehmen ihre Standortwahl klugerweise nicht nur nach dem Steuerpreis, sondern unter Berücksichtigung der Leistungsqualität treffen werden. Daraufweist auch Kirchhof hin, wenn er feststellt: „Wie ein Autokäufer nicht nur die Autopreise vergleicht... müßte beim Vergleich der Steuerstaaten die mit der Steuerlast verbundene Infrastruktur des jeweiligen Staates einbezogen werden." - Gute Autos gibt es nicht zum Billigpreis, und so gibt es auch gutes Recht „nicht zum Billigpreis". Aber so wie der Wettbewerb im Automobilmarkt dafür sorgt, daß wir unsere Automobile preisgünstiger und in besserer Qualität erwerben können als dies bei Monopolisten oder Kartellen zu erwarten wäre, so kann auch der Wettbewerb zwischen Staaten dafür sor-

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gen, daß Bürger und Standortnutzer ihnen zusagende rechtliche Rahmenbedingungen zu günstigeren Konditionen nutzen können als dies bei einem Monopolstaat oder einem Staatenkartell zu erwarten wäre. Traut man Personen und Unternehmen die Weisheit zu, daß sie bei ihrer Standortwahl nicht nur Steuersätze sondern Steuer-Leistungs-Pakete miteinander vergleichen, so fragt sich, worauf sich die Befürchtung noch stützen kann, daß der Steuerwettbewerb „zur Vernichtung ... des freiheitlichen Rechtsstaates" fuhren könnte. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich denn auch, daß Kirchhofs Unmut im Grunde nicht so sehr Personen oder Unternehmen gilt, die sozusagen „mit allen Konsequenzen" ihren Sitz oder bestimmte Aktivitäten von Standort A zu Standort B verlagern, sondern „Trittbrettfahrern", die durch rein formale Sitzverlagerung (z.B. „Briefkastenfirma") nach Staat B die dort geltenden niedrigeren Steuersätze in Anspruch nehmen, für ihre substantielle Untemehmenstätigkeit aber weiterhin die attraktiveren Rahmenbedingungen in Staat A nutzen, ohne zu deren Finanzierung einen Steuerbeitrag zu leisten. Eine solche Konstellation bietet ohne Frage Grund zur Verärgerung, und von einem unter solchen Vorzeichen ablaufenden Standortwettbewerb wird man in der Tat nichts Gutes erwarten können. Die Wurzel des Problems liegt aber nicht darin, daß Unternehmen die Freiheit der Standortwahl haben, sondern darin, daß Staaten Besteuerungsregelungen wählen, die nicht geeignet sind, eine angemessene Entsprechung zwischen Steuerbeitrag und den am Standort in Anspruch genommenen öffentlichen Leistungen sicherzustellen. Sie liegt, wie Kirchhof zutreffend feststellt, in einer „Rechtswirklichkeit", die „ein formales Auswandern bei tatsächlichem Verbleib im Inland" erlaubt. Um es mit einer Analogie zu verdeutlichen. Würden Golfclubs die Möglichkeit zulassen, daß man in einem Club A seine Beiträge zahlt, aber die Einrichtungen anderer Clubs nutzen kann, so wäre Trittbrettfahren schwerlich zu vermeiden, also die Tendenz, sich im „billigsten" Club als Mitglied zu registrieren, aber die Infrastruktur des bestausgestatteten Clubs zu nutzen. Wenn wir den unter solchen Bedingungen unvermeidlichen ruinösen Wettbewerb in der Realität nicht beobachten, so deshalb, weil die Regelungen für die Nutzung von Golfclubs ausreichend klug gestaltet sind, um solche Konsequenzen zu verhindern. Wenn Staaten diese Klugheit in der Gestaltung ihrer Steuersysteme vermissen lassen, und die Nutzung der von ihnen bereitgestellten Rahmenbedingungen ohne entsprechendes Entgelt zulassen, so sollte man ihnen geeignete Korrekturen in den steuerlichen Regelungen, nicht eine Flucht in Steuerkartelle empfehlen. Ebenso wie Golfclub-Kartelle als Heilung ungeeigneter Nutzungsregelungen wohl kaum zur besseren Bedienung der Wünsche von Golfspielern führen dürften, so sind auch Steuerkartelle nicht dazu angetan, Regierungen zu mehr Rücksichtnahme auf die Wünsche von Bürgern und Standortnutzern anzuhalten. In beiden Fällen empfiehlt es sich, nicht den Wettbewerb zu unterbinden, sondern für Bedingungen zu sorgen, unter denen seine positiven Funktionen genutzt werden können. Daß die angemessene Lösung der von ihm beklagten Mängel des Steuerwettbewerbs in dieser Richtung zu suchen sein dürfte, scheint auch Kirchhof einzuräumen, wenn er feststellt: „Wer in Deutschland die hier gewährte innere und äußere Sicherheit... in Anspruch nimmt, muß zur Finanzierung dieses Markt- und Rechtssystems beitragen. Deswegen muß die Steuer nicht an den formalen Sitz anknüpfen. Würde nach dem Betriebsstättenprinzip (besteuert)..., wäre eine Steuerflucht nur bei Verzicht auf den deutschen Markt möglich." Wenn auch die Formulierung vom „Verzicht auf den deutschen

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Markt" zu Mißverständnissen einlädt, so kann man der in diesen Worten zum Ausdruck gebrachten Forderung nach einer wettbewerbstauglichen Steuerregelung nur voll zustimmen. Der Realisierung dieser Forderung kommt man aber nicht durch Diffamierung abwandernder Unternehmen und auch nicht durch Steuerkartelle näher, sondern allein durch geeignete Reformen in der Finanzverfassung der wettbewerbenden Staaten und gegebenenfalls durch Änderung internationaler Abkommen, die steuerlichem „Trittbrettfahren" Vorschub leisten. Wie für den privatwirtschaftlichen Wettbewerb im Markt so gilt auch für den Wettbewerb zwischen Staaten oder Gebietskörperschaften, daß er nur dann als Leistungswettbewerb im Interesse der betroffenen Menschen funktioniert, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Statt darauf zu sinnen, wie wir dem, was Kirchhof als den „Spuk eines Wettbewerbs der Steuersysteme" umschreibt, ein Ende bereiten können, sollten wir eher darum bemüht sein, durch geeignete Korrekturen von Defiziten in nationalen Steuersystemen und internationalen Steuerabkommen sicherzustellen, daß auch der Wettbewerb zwischen Staaten seine wohltätigen Wirkungen als Anreiz-, Entmachtungs- und Entdeckungsinstrument erfüllen kann. Die Erfahrungen des durch totalitäre Regime geprägten 20. Jahrhunderts sollten uns für die freiheitssichernden Leistungen des Wettbewerbs besonders sensibel machen, von denen Kirchhof in seinem Beitrag schreibt: „Auch die freie Wahl des Staates und seines Rechts ist im Pluriversum der zweihundert Staaten dieser Erde ein Freiheitsgewinn, soweit den Menschen die freie Entscheidung über Lebensmittelpunkt und Erwerbsart einschließlich der dazugehörigen Rechtsordnung eröffnet ist." - Diese Wahlfreiheit und der Wettbewerb zwischen Staaten sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.

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Der Staat tut dem Wettbewerb gut: Eine gedankliche Begegnung mit Viktor Vanberg Der Verfassungsstaat und sein Recht tut dem Wettbewerb gut. Seine Garantie von Frieden und äußerer Ordnung, sein Rechts- und Währungssystem, seine Regeln gegen unlauteren Wettbewerb und gegen Kartellbildung machen aus dem ungeformten Kampf ein Anreiz-, Entmachtungs-, Lern- und Entdeckungssystem. Diese Aufgabe des Wettbewerbsgaranten kann der Staat aber nur erfüllen, wenn er selbst nicht am Wettbewerb teilnimmt. Er beansprucht das Monopol der Rechtsetzung und der Anwendung körperlicher Gewalt, überläßt die Bewirtschaftung der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit aber grundsätzlich privater Hand und verzichtet strukturell auf das Staatsunternehmen. Er wahrt in Distanz zu Wirtschaft und Wettbewerb rechtsstaatliche Unbefangenheit und Unparteilichkeit. 1. Viktor Vanberg und ich stimmen überein, daß Wettbewerb Wahrnehmung von Freiheit ist. Nur wenn Menschen die Freiheit haben, unter mehreren Anbietern von Leistungen zu wählen, und ebenso frei unter mehreren Nachfragern entscheiden dürfen, gibt es Wettbewerb. Dieses Freiheitsprinzip unterscheidet die Handlungsmaßstäbe für Wirtschaft und Staat grundlegend: Die Wirtschaft ist freiheitsberechtigt, der Staat freiheitsverpflichtet. Dieses habe ich als Richter immer wieder erlebt. Uns war stets bewußt, daß der Richter mit dem Anziehen seiner Robe seine Freiheit aufgibt, er der Freiheit der Rechtsuchenden zu dienen hat, und er erst mit dem Ausziehen der Robe wieder in den Kreis der Freiheitsberechtigten zurückkehrt. Der Richter darf unter dem Kreis der Rechtssuchenden nicht auswählen, sondern bietet jedem ein faires Verfahren. Er darf nicht dem Nobelpreisträger, der viel für dieses Gemeinwesen geleistet hat, mehr Recht geben als dem Taugenichts, sondern schuldet jedermann gleiches Recht. Er darf nicht den finanziell unergiebigen Asylprozeß liegen lassen und sich vorrangig dem steuerrechtlichen Millionenprozeß zuwenden. Brot ist käuflich, Recht nicht. 2. Der Staat ist Menschenwerk, deswegen gegen Selbstgerechtigkeit, Machtmißbrauch und Trägheit nicht gefeit. Das Instrument, den Staat um die Gunst seiner Bürger werben zu lassen, ist jedoch das Erfordernis demokratischer Legitimation, das Prinzip der Macht auf Zeit, das jedem Mächtigen bewußt macht, auf Wiederwahl angewiesen zu sein. Das Gegenmittel gegen die Abhängigkeit und den Machtmißbrauch bietet die rechtsstaatliche Gewaltenteilung, die sich heute vor allem zwischen labiler Regierung und stabiler Beamtenschaft, zwischen Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, zwischen Bund und Ländern, zwischen Budgetgewalt und Rechnungshof ereignet. Das Entdekkungs- und Erneuerungsprinzip dieses Staates ist der Parlamentarismus. Die Demokratie baut unbeirrt darauf, daß die Neuwahl eines Parlaments zu besserer Gesetzgebung und besserer Politik führt.

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Der Staat steht für eine Kultur des Maßes, Wettbewerb dient der Gewinnmaximierung, erlaubt also die Maßstablosigkeit und damit die Maßlosigkeit. Erscheinungen des Neuen Marktes, bei dem die Nutzung von Gütern (Filmen, Nachrichten, Urheberrechten, Patenten) entgeltlich überlassen werden, also das Mäßigungsinstrument der Knappheit der Güter fehlt, aber auch stark in die Anonymität drängende Finanzmärkte veranlassen selbst für das Wirtschaftswesen die Frage, ob hier die Antriebsfunktion des Wettbewerbs gemäßigt werden soll. Selbstverständlich verdanken wir die Entwicklungs- und Erneuerungskraft unserer Gesellschaft der Freiheit, dem Wettbewerb. Dieser ist aber in die Ordnung des Rechts eingebettet. Zudem wird aus Freiheit Getriebensein, wenn der Chef einer großen Kapitalgesellschaft sich im strengen Rahmen vom Margen, Benchmarking und Quartalsberichten mit seinen Kapitalgebern, optionsberechtigten Angestellten, Banken, Verbänden und einer verdeckten Bereitschaft zur feindlichen Übernahme auseinandersetzen muß. Deshalb ist der Staat gegenwärtig besonders veranlaßt, Gefahrdungen des Wettbewerbs als Freiheitsprinzip abzuwehren. 3. Vanberg unterscheidet streng zwischen zwei Ebenen: Dem Staat, der innerhalb seines Zuständigkeitsbereiches dem Wettbewerb entzogen sei, und dem Wettbewerb zwischen den Staaten, der in dem Maße wirksam wird, als Menschen auswandern und einwandern können. Nun ist es allerdings ein erheblicher Unterschied, ob ein Käufer frei unter dem Warenangebot seines Marktes wählen kann, oder ob seine Wahlmöglichkeit davon abhängt, daß er seinen gegenwärtigen Lebensmittelpunkt aufgibt und in einen anderen Staat verlegt. Hier geht es um die Rechtsgüter der Seßhaftigkeit, Zugehörigkeit, demokratischen Mitverantwortlichkeit. Wer eine Familie gegründet, ein Haus gebaut, eine Firma eröffnet hat, fühlt sich seinem konkreten Umfeld - der Nachbarschaftslage, dem inneren Frieden, der Schule und Infrastruktur - mehr verantwortlich, als der vermeintliche Wettbewerber, der sich vorspiegelt, seinen Wohnsitz täglich unter den 200 Staaten dieser Erde wählen zu können. Noch wichtiger ist die Seßhaftigkeit in der eigenen Kultur. Wer in der Sprache Goethes und Schillers aufwächst, in der Musik Bachs und Mozarts sich entfaltet, in der Verfassungstradition von Paulskirche und Grundgesetz Freiheit erlebt, mag seinen suchenden Blick auf bessere Kulturen richten, braucht aber nicht Anreiz und Verlockung, in eine andere Kultur einzutreten, sich auch nicht gegen die Einbindung und Abhängigkeit durch diese Kultur wehren. Er wird den Wissen schaffenden Lern- und Entdeckungsprozeß in Öffnung und Weite seiner Kultur befördern, ohne diese seine Biographie prägende Kultur hinter sich zu lassen. Die Demokratie baut auf ein Staatsvolk, das sich in seiner historischen, kulturellen, ökonomischen und rechtlichen Prägung seiner Zusammengehörigkeit bewußt ist und sich deshalb Organe gibt, die Recht setzen und durchsetzen. Sie denkt die Staatsangehörigkeit systematisch als lebenslängliche Zugehörigkeit und Mitverantwortlichkeit. In den Biographien weltoffener Unternehmer, Entdecker und Erfinder lesen wir den Begriff Heimat. 4. Ein Staat löst sich nicht von seinen verfassungsrechtlichen Bindungen, wenn er Angehörigen fremder Staaten begegnet. Bestechung bleibt strafbar, mag der Beamte das Geld von einem inländischen oder einem ausländischen Investor entgegen nehmen. Das Steuerprivileg bleibt gleichheitswidrig, mag es der inländischen oder der ausländischen Muttergesellschaft zugesprochen werden. Der Zugriff auf den Staatshaushalt bleibt

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dreist, mag dabei die inländische oder die ausländische Lobbyistengruppe ihren Vorteil suchen. Der Staat wahrt sein Gesicht als verfaßter Rechtsstaat nur, wenn er gegenüber jedermann nach gleichen Maßstäben handelt. Die Kernideen moderner Verfassungsstaaten wurzeln in universalen Menschenrechten, der Gleichheit jedes Menschen in Freiheit, die - nach der idealistischen Vorstellung dieses Verfassungskonzeptes - in allen Staaten der Welt gleichermaßen gelten sollen. Dieses Verfassungsverständnis sieht die Staaten nicht strukturell in einem Wettbewerb um das bessere Recht, die Menschen und insbesondere die demokratischen Bürger nicht strukturell als wettbewerbende Nachfrager nach dem besseren Recht. 5. Nun gehört es selbstverständlich zur Rechtswirklichkeit und auch zum Gedanken der Autonomie von Staaten, daß jeder Staat diese Elementarprinzipien eigenverantwortlich formt und entfaltet, die rechtliche Qualität der verschiedenen Staaten sich deshalb unterscheidet. Der weltoffene Bürger erhält dadurch die Gelegenheit, die Qualität verschiedener Rechtsordnungen zu vergleichen und seinen Wohnsitz und Lebensmittelpunkt nach dem Ergebnis dieses Vergleichs zu wählen. Diese Freiheit ein- und auszuwandern - bei einem Extremgefalle der Rechtsordnungen: Asyl zu suchen - gehört zu den Elementargewährleistungen der Menschenrechte. Unsere Freiheit wäre elementar verkürzt, hätten wir den Weltenstaat, dessen Macht der Mensch in keinem Winkel der Erde entrinnen könnte. Diese Verschiedenheit der Staaten und ihres Rechts begründet jedoch keinen Wettbewerb. Wettbewerb meint Angebot und Nachfrage, Verhandeln in gegenseitigem Geben und Nehmen, vertragliche Verständigung im Konsens der Freien, nicht in der Vorbestimmung durch ein allgemeines und gleiches Gesetz. Für die wechselseitige Annäherung, die einen Leistungszuschlag und einen Preisnachlaß im Einzelfall erlaubt, ist das Recht nicht zugänglich. Der vereinbarte Vorteil wird bei der Setzung von Recht zu Privileg, Ungleichheit, Korrumpierung. Dementsprechend unterliegt der Staat nicht den Prinzipien wettbewerblicher Freiheit, sondern rechtsstaatlicher Bindung. Seine „Kunden" sind in der Staatsangehörigkeit gesetzlich definiert, können dem staatlichen „Angebot" nur durch den Elementarakt des Auswandems ausweichen. Der Staat erbringt seine Leistungen nach Gesetz und Haushaltsplan, unterliegt dabei den Prinzipien der Gleichheit in einer Kultur des Maßes. Seine „Preise" sind im Steuergesetz vorgeschrieben. In Europa und innerhalb eines Bundesstaates ist die Gebietskörperschaft zum Finanzausgleich verpflichtet, muss also die Schwäche des „Konkurrenten" mittragen und auffangen. Eine feindliche Übernahme des Konkurrenten ist nach UN-Statut schlechthin ausgeschlossen. Viele staatliche Initiativen sind auf gemeinschaftliche Wahrnehmung unter den Gebietskörperschaften angelegt, das Umsatzsteuerrecht im Rahmen der EG, das Bildungsrecht innerhalb der Kultusministerkonferenz, staatliche Fernsehangebote in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Selbstverständlich bemühen sich auch Staaten im Vergleich untereinander um die bessere Lösung. Dabei suchen sie aber nicht wettbewerblich in Annäherung und Entgegenkommen gegenüber dem einzelnen Menschen den vertraglichen Konsens, sondern beanspruchen Autonomie. In diesem Begriff der Autonomie klingt die Verallgemeinerungsfähigkeit der Regel an (handle so, daß die Maxime deines Willens stets zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden können), wird die innere Bindung der

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autonomen, zur Sittlichkeit fähigen Persönlichkeit vorausgesetzt, eine Unabhängigkeit von Fremdbestimmung gefordert, die Selbstgesetzgebung ins Werk gesetzt. 6. In der Beurteilung des sogenannten „Steuerwettbewerbs" stimmen Viktor Vanberg und ich überein. Das Problem liegt nicht in der Standortwahl je nach Steuerlast, sondern in der gesetzlichen Gewähr von Vorrechten und Privilegien, die Investoren und Unternehmen anlocken sollen. Der Jahrzehnte im Kampf gegen diese Privilegien streitende Steueijurist wehrt sich nur dagegen, diese Vorrecht und Gleichheitswidrigkeiten als Ergebnis eines „Wettbewerbs" zu rechtfertigen. Die Tatbestände von Freiheit und Wettbewerb sind auf Verschiedenheit in der Begegnung angelegt und setzen dabei voraus, daß der Vertragspartner zu Begünstigung oder Benachteiligung berechtigt ist. Diese Voraussetzung ist beim Bemühen um ein begünstigendes Recht aber gerade nicht gegeben. Der Verfassungsstaat ist nicht berechtigt, dem Investor einen Steuervorteil zu geben, den dann der nicht investierende Erwerbstätige (Einkommensteuer) oder Käufer (Umsatzsteuer) zu finanzieren hat. Deswegen ist das Anliegen, die im Weltvergleich niedrigste Steuerlast zu tragen, nicht als Ergebnis eines Wettbewerbs gerechtfertigt. Der Kampf um das Steuerprivileg im Vergleich verschiedener Staaten ereignet sich im Übrigen weniger unter Menschen als unter juristischen Personen. Die kulturelle Errungenschaft der juristischen Person, die Arbeitsteilung erlaubt, Wirtschafts- und Organisationskraft bündelt, Unternehmungen verstetigt, hat die Schwäche, nicht in gleicher Weise wie der Mensch oder der Bürger in seinem Rechtsstatus einem Staat zugeordnet zu sein. Juristische Personen sind staatenlos, oft auch heimatlos. Diesen Befund verstärkt das Steuerrecht, wenn es ein Unternehmen dem Staat nach dem Firmensitz, nicht nach der Betriebsstätte zuordnet, ihm also erlaubt, steuerrechtlich ins Ausland zu wechseln, ohne die Teilhabe am Inlandsmarkt und damit die Nutzung der dort verfügbaren Wirtschafts- und Rechtsstruktur aufzugeben. Die Gegenwehr gegen dieses formale Auswandern bei tatsächlichem Verbleib im Inland liegt nicht in einem Kartell unter Staaten - das wäre eine Kategorie des nicht einschlägigen Wettbewerbsrechts - , sondern dem sachgerechten gesetzlichen Anknüpfungspunkt. 7. Im Ergebnis ist zu unterscheiden zwischen der wettbewerblich wahrzunehmenden Freiheit und anderen Freiheiten. Freiheitlicher Wettbewerb herrscht im Wirtschaftsleben, im Sport, in der politischen Alternativität von Parteien, im Ehrgeiz der Forscher und Künstler. Der Wettbewerb ist hingegen verfehlt, wenn die Startgleichheit fehlt, der Mensch unmündig, krank, arbeitslos, altersgebrechlich ist, deshalb auf Fürsorge und Beistand angewiesen ist. Eine Verallgemeinerung des Denkens im Wettbewerb zu einem Organisationsprinzip menschlicher Freiheit wäre nicht menschlich, wäre unmenschlich. Wer die Leiden des jungen Werther als Wettbewerb deutet, hat menschliches Leben nicht erfaßt. Wer die Schönheit eines Bildes in Markt- und Steuerwerten ausdrücken muß, verabschiedet sich vom Erleben der Kunst. Wer Universitäten allein nach dem Prinzip eines Exzellentwettbewerbs erneuern will, verkennt die Erfordernisse gedanklichen Atemholens, der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, verantwortlicher Bestimmung der Publikationsreife, pädagogischen Bemühens um den schwachen Student. Viele freiheitliche Lebensbereiche wehren sich gegen Konkurrenz, Rivalität, Verdrängen, Übervorteilen, schirmen Vertrauen, persönliche Verantwortlichkeit, Erziehung und Lebensbegleitung gegen den Wettbewerb ab. Dies gilt vor allem für Ehe und El-

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ternschaft. Haben beide Ehegatten die Ehe geschlossen, ist der Wettbewerb beendet. Bei Religion und Kirchlichkeit stellen die Menschen gemeinsam die Frage nach Ursprung und Ziel ihrer Existenz und finden die Antworten gerade in der ihnen allen eigenen Kulturtradition, ziehen daraus Folgerungen für Caritas und Diakonie, um die Härten eines Wirtschaftswettbewerbs zu mäßigen. Schule und Erziehung will jeden Bürger in die Normalität des Wissens, des Wertens, der Urteilskraft heranführen, nutzt dabei den Wettbewerb als didaktisches Teilprinzip, ist aber grundsätzlich eher auf das gemeinsame als das rivalisierende Erreichen des Ziels angelegt. Die verfassungsrechtliche Statusgleichheit jedermanns als Mensch, Person und Persönlichkeit steht nicht zur Verfügung eines Anderen, ist deshalb nicht wettbewerblich veränderbar. Demokratie baut auf ein Staatsvolk, das sein demokratisches Gemeinwesen grundsätzlich ein Leben lang entwickelt und kulturell trägt. Sozialstaatlichkeit sichert auch dem wettbewerblich Erfolglosen eine Zugehörigkeit, eine Teilhabe an den jeweils erreichten kulturellen, freiheitlichen und ökonomischen Standards. Die Friedensgemeinschaft des Staates kennt kein individuelles Abweichen von den Elementarerfordemissen des menschlichen Zusammenlebens, muß sich insoweit Anreizen, Entmachtungen, Neuentdeckungen versagen. Wettbewerb ist ein faszinierender Ausdruck von Freiheitsrechten. Rechte sind aber jeweils definiert, also begrenzt. Bei aller Faszination der Freiheit muß jedes Recht in den Grenzen seiner Freiheit bleiben.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2005) Bd. 56

Alfred Schüller

Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitische Baustelle. Die Verbindung von „Freiburger Imperativ" und „Keynesianischer Botschaft" - ein nationalökonomischer Irrweg Inhalt I. Die ordo-liberale Vorstellung von der Sozialen Marktwirtschaft II. Soziale Marktwirtschaft - Eine verlassene ordnungspolitische Baustelle

61 62

III. Die „Keynesianische Botschaft" - Eine Nationalökonomie der Illusionen... 67 IV. Schlußfolgerungen

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: The Social Market Economy as an institutional economic construction site - The combination of "Freiburger Imperative" and the "Keynesian Message" as an economic aberration 75

In diesem Beitrag wird folgende Auffassung vertreten: Der in den 60er Jahren unternommene Versuch, die Politik der Wettbewerbsordnung der „Freiburger Schule" (Eukkert 1952/1990, S. 241 ff.) mit dem post-keynesianischen Konzept der makroökonomischen Steuerung zu versöhnen, hat entscheidend zur Transformation der ordo-liberalen Idee der Sozialen Marktwirtschaft (Typ I) in ein wohlfahrtsstaatlich-kollektivistisches Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft (Typ II) beigetragen. Erst jetzt beginnt sich unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs notgedrungen die Erkenntnis durchzusetzen, daß man von einem falschen zum richtigen Weg zurückfinden muß. Hierzu ist es unverzichtbar, den kollektivistischen Atavismus aufzugeben. Dessen Wiederaufleben und Ausbreitung lassen sich in Westdeutschland seit den 60er Jahren in Verbindung mit der verlockenden /Teyneiianischen Botschaft verstärkt in Form des „Ordnungstyps des Korporatismus" (Streit 2005, S. 291 f.) beobachten.

I.

Die ordo-liberale Vorstellung von der Sozialen Marktwirtschaft

In der ordo-liberalen Vorstellung von Sozialer Marktwirtschaft steht der Mensch als sinnbestimmendes Element im Mittelpunkt einer Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, die darauf gerichtet ist, einen rechtlichen Rahmen für eine freiheitliche Ordnung zu konstituieren und zu sichern, in der sich ein menschenwürdiges und wirtschaftlich erfolgreiches Leben entwickeln kann. Dies setzt voraus, daß die Freiheitsrechte der Zivilrechtsordnung nicht zu Lasten anderer Menschen mißbraucht werden können. Hierzu ist private und staatliche Macht zu verhindern oder zu bekämpfen. Das wirksamste Ent-

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machtungsinstrument wird im Wettbewerb und in bestimmten Prinzipien für die Ordnung des politischen Prozesses gesehen. Deshalb steht eine bewußte Politik der Wettbewerbsordnung im Mittelpunkt der Prinzipien staatlichen Handelns. Die Regeln für die Ordnung des politischen Bereichs sind erstens darauf gerichtet, wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen und ihre Funktionen zu begrenzen. Zweitens sollte die wirtschaftspolitische Tätigkeit des Staates auf die Ordnungspolitik gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses (Eucken 1952/1990, S. 241-338). Die Regeln für die Ordnung des politischen Bereichs beruhen auf der Vorstellung, daß die „Option für das marktwirtschaftliche System und die privilegienlose Zivilrechtsgesellschaft" als eine verfassungspolitische Grundentscheidung zugunsten einer Gesellschaft zu werten ist, in der, jeder die gleichen Rechte und den gleichen Status, nämlich den Status einer Person des Privatrechts" innehat (Böhm 1980, S. 107 und S. 164; Vanberg 1997, S. 707 ff.). Die Wertorientierung dieses Konzepts besteht erstens im Vertrauen in die kreativen Fähigkeiten der menschlichen Person, deren Kraft und Bereitschaft zu einem selbstverantwortlichen Leben und zur freiwilligen Solidarität, zweitens in der Funktions- und Evolutionsfähigkeit der Zivilrechtsgesellschaft. Hierzu ist dem Bürger Spielraum für Eigenverantwortung und kreative Entfaltung seines Wissens - kurz für Such- und Entdeckungsprozesse, für Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten auf der Grundlage eines freiheitssichernden dispositiven Rechts - zu geben. Je weiter die Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs greift, desto mehr wirtschaftliche Aspekte der Zivilrechtsgesellschaft stehen in einem marktwirtschaftlichen Funktions- und Bewertungszusammenhang. Die Politik der Wettbewerbsordnung wird deshalb auch zugleich als der entscheidende Ansatzpunkt für eine soziale Ordnungspolitik betrachtet: erstens für Ordnungsbedingungen, die geeignet sind, im Standortwettbewerb einen leistungsfähigen, beschäftigungsfreundlichen Produktionsbereich zu ermöglichen und so die Entstehung sozialer Fragen soweit wie möglich zu verhindern; zweitens für wettbewerbsorientierte Systeme der sozialen Sicherung auf der Grundlage des Versicherungsprinzips mit Kontrahierungszwang und Diskriminierungsverbot; drittens für eine kostengünstig einlösbare Pflicht zu einer Mindestversicherung für den Fall der Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit und für das Alter; viertens für eine zahlungskräftige, staatlich organisierte Solidarität für jene, die vorübergehend oder dauerhaft daran gehindert sind, von den Möglichkeiten des Marktsystems und der freiwilligen Solidarität menschenwürdig zu leben, und deshalb auf öffentliche Vor- und Fürsorge angewiesen sind.

II.

Soziale Marktwirtschaft - Eine verlassene ordnungspolitische Baustelle

Dieses Ordnungskonzept, das ich an anderer Stelle Soziale Marktwirtschaft vom Typ I genannt habe (Schüller 1997, S. 729 ff.), ist über eine Baustelle nicht hinausgekommen. Trotzdem sind die damit erzielten wirtschaftlichen und sozialen Erfolge unbestreitbar, vor allem der beachtliche Grad an Geldwertstabilität, die Währungskonvertibilität und die bis 1970 andauernde hohe Beschäftigung, allgemeine Einkommenssteigerungen, die Integration von 10 Mill. Flüchtlingen und Vertriebenen, der Wiederaufbau

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Westdeutschlands ohne Staatsverschuldung, die außenwirtschaftliche Deutschlands im Rahmen der EWG und der Weltwirtschaft.

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Integration

Damit hat sich zugleich die häufig vertretene Auffassung, die marktwirtschaftliche Ordnung neige strukturell zu Unterbeschäftigung, Depression und monetärer Instabilität, als empirisch nicht zutreffend erwiesen. Widerlegt wurde auch die von Keynes (1936/1966) inspirierte Finanz- und Kreditpolitik, die im Banne der Deflationsgefahr stand und alle Ziele der Wirtschaftspolitik dem Ziel der Vollbeschäftigung unterordnete. Die teilweise katastrophalen wirtschaftlichen Ergebnisse, die damit im Ausland erzielt worden sind, änderten nichts daran: Auch in Deutschland hat die post-keynesianische Lehre allmählich die geistige und politische Führerschaft übernommen. Zwar hatte die Sozialdemokratie mit dem Godesberger Programm vom November 1959, also zehn Jahre nach den „Düsseldorfer Leitsätzen" der CDU von 1949, Abschied von ihren kommandowirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen genommen'. Doch hielt sie sich nach der Leitregel „Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig", mit der die zitierte Stelle schließt, alle Wege der Ordnungspolitik offen. Im übrigen setzte sich Schillers Partei (Schulter an Schulter mit den Gewerkschaften) für einen verstärkten ordnungspolitischen Einfluß machtvoller Verbände der Wirtschaft ein. Die Industrieverbände hatten vorher schon eine weitgehende Kartell- und Konzentrationsfreiheit gefordert und widersetzten sich den Bemühungen der Ordoliberalen, die Soziale Marktwirtschaft (unter Einbeziehung der Systeme der Sozialen Sicherung) im Hinblick auf die Erweiterung und Vertiefung des Geltungsbereichs der Wettbewerbsordnung auszubauen. Erst 1957 entstand nach zähem Ringen das „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen" (GWB) mit zahlreichen Durchbrechungen, Umgehungstatbeständen und Ausnahmebereichen. Hierzu gehört auch die Möglichkeit, zwischen ökonomisch nützlichen und schädlichen Wettbewerbsbeschränkungen zu unterscheiden und damit die freiheitlichen Ziele der Sozialen Marktwirtschaft zu relativieren und strukturpolitischen Zwecken unterzuordnen. Für die Strukturpolitik wurde bei den Bürgern mit ganz bestimmten wirtschaftlichen und sozialen Ergebnissen des Marktgeschehens geworben - vor allem mit dem Versprechen, Vollbeschäftigung bei steigenden Einkommen und verbesserten Arbeitsbedingungen zu garantieren. Die Arbeitsverfassung sollte den Regeln der Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs möglichst weitgehend entzogen werden. Hierzu wurde fortschreitend versucht, die Unternehmen zu Einrichtungen der Systeme der Sozialen Sicherung auszubauen und entsprechend zu belasten sowie die Arbeitsmarktpolitik autonom zu gestalten. Diese und andere Wahlgeschenke haben - unter Mißachtung der institutionellen Voraussetzungen für ein günstiges Beschäftigungsverhalten der Unternehmen - zu einer

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Darin findet sich eine Passage, die deutlich macht, in welchem Ausmaß es Karl Schiller gelungen ist, seine Partei an das ordoliberale Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft heranzuführen: „Freie Konsumwahl und freie Arbeitsplatzwahl sind entscheidende Grundlagen, freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative sind wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik. Die Autonomie der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberverbände beim Abschluß von Tarifverträgen ist ein wesentlicher Bestandteil freiheitlicher Ordnung. Totalitäre Zwangswirtschaft zerstört die Freiheit. Deshalb bejaht die Sozialdemokratische Partei den freien Markt, wo immer wirklich Wettbewerb herrscht. Wo aber Märkte unter die Vorherrschaft von einzelnen oder von Gruppen geraten, bedarf es vielfaltiger Maßnahmen, um die Freiheit in der Wirtschaft zu erhalten ...".

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raschen und nachhaltigen Expansion der Anspruchshaltung der Bevölkerung gegenüber den Unternehmen und dem Staat geführt. Dem kam entgegen, daß mit der verspäteten und unzureichenden Aufwertung der D-Mark seit Ende der 50er Jahre eine wechselkursbedingte Expansion und Gewinnentwicklung in der Exportwirtschaft entstanden ist, die im politischen Raum dem Ruf nach „sozialer Symmetrie" (Karl Schiller) zum Durchbruch verhalf. Einen Ansatz hierfür bot der Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre beginnende Mißbrauch der Tarifautonomie für die Durchsetzung von Lohnabschlüssen, die im Widerspruch zum Ziel der Geldwertstabilität standen. Die Gefahren für die Beschäftigungsentwicklung waren frühzeitig erkennbar, zumal der internationale Wettbewerbsdruck zunahm und Deutschland seit 1959 in der Lohnentwicklung der EWG an die Spitze gerückt war. 1960/1961 wurden die Löhne - ohne Rücksichtnahme auf die Arbeitszeitverkürzung - um weitere 21 % erhöht. Das Gefühl für das, was die Unternehmen verkraften konnten, ging verloren. Die Gefahr einer rückläufigen Investitionsbereitschaft, eines abnehmenden Steueraufkommens und einer aufkommenden Krise der Sozialen Sicherungssysteme wurde unterschätzt. Unsere Sozialleistungen, so mahnte Erhard (1962/1988, S. 734) nachdrücklich, beruhen entscheidend „auf der Voraussetzung einer absoluten Vollbeschäftigung". Wie wird es, so fragte er, „um unsere soziale Sicherheit bestellt sein, wenn wir nicht endlich wieder Vernunft und Verantwortung obwalten lassen? Wir schicken uns an, Fehler zu machen, die anderen Völkern zum Verhängnis geworden sind". Mitte der 60er Jahre zeigten sich erste Konsequenzen der fehlenden politischen Einsicht und Fähigkeit, die marktwirtschaftliche Selbststeuerung auf deY Grundlage der ordoliberalen Prinzipien für eine umfassende Politik der Wettbewerbsordnung auszubauen. Stattdessen begann sich allmählich im politischen Prozeß jenes wohlfahrtsstaatlich-kollektivistische Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft durchzusetzen, das davon ausgeht, daß die Privatrechtsordnung mit ihren wirtschafts- und staatspolitischen Prinzipien keine hinreichende verfassungspolitische Grundlage für eine funktions- und menschenwürdige Ordnung ist. Orientierungspunkte des ordnungspolitischen Denkens und Handelns sind vielmehr Kollektive, vor allem Verbände, die im politischen Prozeß der Demokratie dazu neigen, sich immer mehr Personenrechte anzueignen und „das Volk, nach Gruppen- und Klasseninteressen organisiert, zum Druckmittel in der Hand von Funktionären" zu machen (Briefs 1952, S. 42). Frühe Ausdrucksformen für den damit eingeschlagenen Weg zur Sozialen Marktwirtschaft vom Typ II (Schüller 1997) waren unter anderem: — Die zu späte und zu schwache Aufwertung der D-Mark im Rahmen des BrettonPFoods-Systems. Dies hat seit Ende der 50er bis Mitte der 70er Jahre die Deutsche Bundesbank daran gehindert, die Stabilität des Geldwertes zu sichern. Die Spitzenverbände der Wirtschaft hatten in der Wechselkursfrage Bundeskanzler Adenauer auf ihrer Seite, der - ähnlich wie die SPD - dazu neigte, die Währungs- und Geldpolitik sozialen und politischen Zwecken unterzuordnen. Erhards weitsichtige Gegenargumente haben Adenauer nicht beeindruckt. - Die Politik der „sozialen Symmetrie". Sie begünstigte das Bestreben der Gewerkschaften, die Tarifautonomie systematisch für Verteilungszwecke zu mißbrauchen auf der Grundlage allgemeinverbindlicher FlächentarifVerträge. Die unterschiedli-

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chen Entwicklungen der Knappheitsverhältnisse auf den Faktormärkten, vor allem aber der Produktivitäts- und Wettbewerbsbedingungen der Unternehmen auf den Produktmärkten blieben immer häufiger unberücksichtigt. — Die verstärkte Bindung der sozialen Sicherungssysteme an die Arbeitsverhältnisse. Sie war der Versuch, Unternehmen einseitig unter Gesichtspunkten der Verteilung zwischen „Kapital" und „Arbeit" als handelnde gesellschaftliche Komplexe zu regulieren - als Ausdruck eines für unüberbrückbar gehaltenen Klassengegensatzes. — Der Versuch, soziale Sicherheit jenseits der Freiheitssphäre wettbewerblicher Märkte zu organisieren. Er machte sie zum Gegenstand einer weitgehend staatlich dekretierten und verbandspolitisch organisierten „Solidarität". — Die Entbindung der Tarifparteien von der Verantwortung für die Folgen ihres lohnund preispolitischen Handelns. Die Drehkraft der damit entstandenen Lohn-PreisSpirale wurde durch zwei Umstände verstärkt: Einmal durch die Antizipation der Lohn- und Preissteigerungen, zum anderen durch das wählerwirksame Regierungsversprechen, am Ziel der erreichten Vollbeschäftigung unbedingt festzuhalten - in völliger Verkennung der Tatsache, daß es in einer Marktwirtschaft keine autonome Arbeitsmarktpolitik geben kann. Indem darauf verzichtet wurde, der maßlosen Entwicklung der Arbeitskosten und Güterpreise systematisch durch Ausbau der Sozialen Marktwirtschaft vom Typ I2 entgegenzuwirken, wurde der „Boden der Tatsachen" betreten - mit der resignierenden Feststellung: Märkte funktionieren halt unvollkommen. Marktmacht, starre und verzerrte Preise sind ein nicht wirklich bestreitbares Faktum und Ursache hartnäckiger Arbeitslosigkeit und Krisenerscheinungen. Dabei wurde übersehen, daß inflexible Löhne und Preise nicht etwas Unabänderliches, gleichsam vom Himmel Fallendes, sondern etwas Relatives, Änderbares sind: Monopolistische private oder staatliche bzw. staatlich tolerierte Preissetzungen, Marktordnungen, Subventionen sowie Handelshemmnisse zu verhindern, ist nach dem ordoliberalen Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft Aufgabe der Regierung. Die Aussichten, daß allgemeine Kostenerhöhungen an die Käufer weitergegeben werden konnten, hatten sich bereits innerhalb der EWG und mit zunehmender Weltoffenheit der Märkte immer mehr verschlechtert. Schon Anfang der 60er Jahre zeichnete sich ab, daß es keine nationalen Märkte mehr gab. Wo z. B. bei wettbewerbsbedingt erhöhter Erlösunsicherheit die Arbeitskosten quasi in einer Einheitsfront, also unabhängig von den unterschiedlichen Knappheits- und Produktivitätsverhältnissen auf den Arbeits- und Gütermärkten, nur noch nach oben flexibel waren, entstanden mit rückläufigen Gewinnraten wirtschaftliche Anreize und Notwendigkeiten, in arbeitssparende Produktionsverfahren, also in Sachkapital zu investieren, das in der Lage ist, zu teure Arbeitskräfte zu ersetzen. Auch war schon in den Anfangsjahren der EWG zu erkennen, daß es von Vorteil sein kann, Teile der Wertschöpfimg in Länder mit niedrigeren (knappheitsgerechten) Arbeitskosten zu verlagern, zu teure Arbeitsplätze also in Länder zu exportieren, in denen die Belastung der Betriebe mit Arbeitskosten niedriger ist und

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Wechselkursfreigabe, Subventionsabbau, Ausdehnung des Geltungsbereichs des GWB auf die Tarifpolitik der Sozialpartner und auf die zahlreichen Ausnahmebereiche.

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Hindernisse für Auslandsinvestitionen abgebaut werden. Wenn zugleich über eine Art von Quersubventionierung auch in Deutschland Stellen gehalten oder sogar geschaffen werden konnten, mag dies den Rückfall Deutschlands im internationalen Arbeitskostenwettbewerb gemildert haben, es hat ihn aber auf Dauer nicht verhindern können. Versuche, die Selbststeuerungsfähigkeit des Marktsystems ordnungspolitisch zu verbessern und auf diese Weise Konjunktur- und Beschäftigungskrisen zu vermeiden oder zu mildern, wurden nur teilweise unternommen. — Das galt zunächst einmal für die Aufhebung des Soll- und Habenzins-Abkommens zum 1. April 1967. An die Stelle der bis dahin geltenden staatlich dekretierten Zinssätze traten unverbindliche Empfehlungen der Spitzenverbände des Kreditgewerbes. Von diesen Empfehlungen konnte jedoch, wenn es die Marktlage erforderte, abgewichen werden. Mit der Zinsfreigabe hat sich trotz der fortbestehenden Empfehlungspolitik der Konditionenwettbewerb der Kreditinstitute verstärkt. Im Monatsbericht vom Januar 1969 stellte die Deutsche Bundesbank fest: „Im Endeffekt hat sich die Zinsspanne der Banken vermindert, und damit haben sich - volkswirtschaftlich betrachtet - die Kosten der Kapitaltransformation über den Bankenapparat entsprechend verbilligt ...". Die damit einhergehende Intensivierung des Preiswettbewerbs im Massengeschäft und im Großgeschäft der Banken dürfte allerdings von der Novellierung des Kreditwesen-Gesetzes im Jahre 1974 im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Herstatt-Bank gedämpft worden sein. Diese Reform begünstigte die Großen der Branche, die ihre Einlagen und ihre Bilanzsummen ab 1974 sprunghaft auf Kosten der kleineren Konkurrenten erhöhen konnten. Profitiert haben davon auch jene öffentlich-rechtlichen Girozentralen, die, wie im Falle der Hessischen Landesbank (Helaba), faule Großkredite und verfehlte Bauspekulationen zu beklagen hatten. Im Helaba-Fall gingen die Verluste über eine Milliarde DM hinaus. Da es sich aber um öffentliche Institute handelte, hatten die Einleger dieser Bankengruppe keinen Schaden. Sie trugen diesen Banken das „Mißgeschick" nicht nach. Der Gesetzgeber hat aus dem Herstatt-Fall einen Schluß gezogen, der eine erhebliche Bankenkonzentration begünstigt haben dürfte (siehe Brestel 1974; Seuss 7975). — Die Preisbindung der 2. Hand wurde erst zum 1.1. 1974 auch für Markenartikel verboten, nachdem die faktische Durchbrechung weit fortgeschritten war. Hierbei bestätigte sich die Auffassung von Meyer (1954, S. 134 ff.), daß es sich bei der Auffassung, die Preisbindung auf der Handelsstufe trage in den Augen der Käufer zur Qualitätssicherung bei, um eine Interessentenideologie handelte. Im übrigen aber wurde marktwirtschaftliche Ordnungspolitik seit Anfang der 60er Jahre entweder nicht für durchsetzbar gehalten, als Ausbau der korporatistischen Strukturen mißverstanden oder als Ergebnis einer seit langem überholt geltenden Denkweise abgetan. In großen Teilen der Wissenschaft und in der Politik wurde die Versöhnung von Euckens Konzepts der Wettbewerbsordnung („Freiburger Imperativ") mit der „/Teywasianischen Botschaft" der Globalsteuerung und der Einbeziehung der Sozialpartner („konzertierte Aktion") als Vollzug des modernsten wissenschaftlichen Erkenntnisstandes und des politisch Gebotenen gefeiert. Dabei bezogen sich die „/Teynerianische Botschaft" auf die Steuerung der Makrorelationen durch das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" von 1967 und der „Freiburger Imperativ" auf die Steuerung des Mikrogesche-

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hens durch das „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen". Dieses fand - wie gesagt - bei weitem nicht auf die gesamte Volkswirtschaft Anwendung, so nicht auf die Landwirtschaft und Montanindustrie, das Verkehrs- und Nachrichtenwesen, die Energie-, Bank-, Versicherungs- und Wohnungswirtschaft, auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Freien Berufe usw. Die Kritiker des Gedankens einer Synthese, der von Karl Schiller initiiert und im politischen Prozeß von Franz Josef Strauß unterstützt wurde, erkannten: Auf diese Weise sollte aus der Politik der Resignation vor der Marktmacht der organisierten Wirtschaft und vor der wählerwirksamen Subventionsmentalität des Staates die Tugend einer aufgeklärten „Neuen Wirtschaftspolitik" gemacht werden - auch durch systematische Versuche, ausgewählte Verbände in den Kreis der ordnungsbestimmenden Kräfte einzubeziehen. 3 In der Sache wurde im Zweifelsfalle meist das Konzept der Freiheitlichkeit der Sozialen Marktwirtschaft aufgegeben; dem „Modell einer aggregierten, gruppenhaft organisierten Wirtschaftsgesellschaft" (Karl Schiller) wurde der Vorzug zugunsten der Gruppen gegeben, die sich schon vorher in den beiden großen Volksparteien breit gemacht hatten. Die Baustelle „Soziale Marktwirtschaft" wurde von großen Teilen der Wissenschaft und der Politik geschlossen; die Eröffnung der Baustelle „globalgesteuerte Marktwirtschaft" wurde als Aufbruch in eine neue Zeit der Konjunkturbeherrschung („Der Zyklus ist tot"), des „Wachstums nach Maß" und der Vollbeschäftigung gefeiert.

III. Die „Keynesianische Botschaft" - Eine Nationalökonomie der Illusionen Mit der Globalsteuerung wurden die Tarifparteien Teil einer „konzertierten Aktion" mit dem Ziel, Fiskal-, Geld- und Lohnpolitik widerspruchsfrei abzustimmen. Für einen solchen Dialog der autonomen sozialen Gruppen und für einen Pluralismus der Steuerungsformen verfuge die Wissenschaft über die angemessene Wissensbasis. Die gesellschaftlichen Kräfte, die den Interessenpluralismus verkörpern könnten, seien zudem reif für entsprechende Problemlösungen. Bei diesen Annahmen wird die wahre Natur des Problems schlichtweg außer Acht gelassen: — Verkannt wurden die Repräsentations- und Legitimationsfragen der „konzertierten Aktion", die sich daraus ergaben, daß nur organisierbare Interessen zum Zuge kommen konnten. Demgegenüber beruht das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft im Verständnis der „Freiburger" auf dem Anspruch, „vom politischen Willen des ganzen Volkes getragen zu werden ... Diese den eigentlichen politischen Wert der Sozialen Marktwirtschaft bestimmende Fähigkeit zur Integration des Ganzen hat die Neue Wirtschaftspolitik mit der konzertierten Aktion nicht nur verloren, sondern bewußt eliminiert. Sie hat die Gesellschaft auf ein Aggregat organisierbarer Gruppen reduziert und damit diejenigen der politischen Repräsentation im wirtschaftlichen Bereich beraubt, die nicht organisierbar sind" {Biedenkopf 1969, S. 18).

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Zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln dieses „rationalistischen Konstruktivismus" siehe (1973, S. 184 ff.).

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Ignoriert wurde die Unmöglichkeit, ein konsistentes Maßnahmen- und Zielbündel für die Makrodezisionen mit bindender Kraft für die sozialen Gruppen zu entwickeln.

— Das Problem, die verschiedenen autonomen Gruppen und wirtschaftspolitischen Instanzen der jeweiligen wirtschaftlichen Lage angemessen zu koordinieren, wurde verniedlicht, jedenfalls als eher lösbar betrachtet als die Aufgabe, das Selbststeuerungsvermögen des Marktsystems zu verbessern - etwa durch den Ausbau der Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs unter dem Primat einer soliden Geld- und Finanzordnung. Wie vorher in den USA, in Großbritannien oder in Lateinamerika wurde seit Ende 1966/Anfang 1967 verstärkt auch in der Bundesrepublik versucht, die zyklischen Expansions- und Kontraktionsbedingungen, die wahrscheinlich in der Natur einer ausgedehnten marktwirtschaftlichen Arbeitsteilung begründet und deshalb unvermeidlich sind, im Interesse einer ständig hohen Beschäftigung systematisch aus dem Marktgeschehen zu verbannen. 4 Der Versuch einer fiskalpolitischen („antizyklischen") Nachfragesteuerung lief auf die Begründung einer Politik wachsender Staatsverschuldung hinaus. Die von Anfang an vorgebrachten Einwände gegen das Keynesscht Denkschema, das dem deutschen Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1968 zugrunde lag, und gegen den Glauben an seine therapeutische Kraft wurden in verhängnisvoller Weise mißachtet; die Bedeutung der Reaktion der Unternehmen auf Lohnhöhe und -struktur für die Beschäftigung wurde verkannt. Der Versuch, den „makroökonomischen Formalismus", wie Lachmann (1975, S. 16 ff.) die schematische Übertragung der /^eynesschen Doktrin auf die völlig anders gelagerten Beschäftigungsprobleme der Nachkriegszeit und - so wäre hinzuzufügen auf die späteren Herausforderungen bezeichnet, hat in der wirtschaftspolitischen Praxis verhängnisvoll gewirkt. Man glaubte sich auf diesem Wege der ordnungspolitischen Aufgabe und Notwendigkeit entziehen zu können, den Geltungsbereich der Wettbewerbsordnung zu erweitern und im Interesse eines höheren Wettbewerbsgrades dem organisierten Mißbrauch der Wirtschaftspolitik entgegenzuwirken. Albert Hahn hat die Keynessche Theorie bereits 1945 (S. 28 ff.) als „Nationalökonomie der Illusionen" bezeichnet und in der Festschrift zum 75. Geburtstag von Edgar Salin die Konsequenzen für die Lösung der praktischen Probleme unserer Epoche als "Keynesscte Demoralisation" charakterisiert (Hahn 1967, S. 270 ff.). Gemeint sind damit tiefgreifende Verhaltensänderungen, die der Vollbeschäftigungsinterventionismus im Prozeß des kollektiven Lernens der wirtschaftlich handelnden Personen auslöst. Eine solche Politik provoziert beschäftigungspolitische Demoralisationen auf fünf Ebenen:

4 In der Regierungserklärung der großen Koalition nannte Bundeskanzler Kiesinger am 13. Dezember 1966 eine „expansive und stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik" das Gebot der Stunde. Er meinte damit ein Konjunkturprogramm zur Belebung der Investitionstätigkeit im Umfang von 2,5 Mrd. DM und die „konzertierte" Aktion von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden für eine „freiwillige und gemeinsame" Bemühung um einen stabilitätsgerechten und beschäftigungsfördemden Aufschwung, zu dem die Bundesbank mit der „Lockerung der Kreditrestriktionen" beitragen sollte. Das im September 1967 folgende zweite Konjunkturprogramm des Bundes im Umfang von 2,7 Mrd. DM wurde schon bald auf 5,3 Mrd. DM erhöht.

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(1) Auf der Ebene der Bevölkerung. Mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 sowie mit dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 19695 ist eine rasche Expansion der Erwartungs- und Anspruchshaltung gegenüber dem Staat entstanden, die - neben einer Reihe anderer Einflüsse - den Wettbewerbsgeist und die Anreize für ein eigenverantwortliches beschäftigungssicherndes Präventiwerhalten in der Bevölkerung geschwächt haben dürfte. Es handelt sich um eines jener Heilmittel, die leichter und nachhaltiger politischen Einfluß gewinnen können als die bisweilen bittere, aber letztlich nur wirksame Medizin der Politik der Wettbewerbsordnung. (2) Auf der Ebene der Politiker. In der Vorstellungswelt einer „unbeschränkten Demokratie" (F. A. von Hayek), die in der Politik seit den 60er Jahren in Deutschland vorherrschend geworden ist, bietet die Keynessche Lehre einen populären Ansatzpunkt für ein optisch schnelles Hilfsmittel, um eine Lücke in der Gesamtnachfrage zu schließen, die aufgrund einer als unzureichend eingeschätzten privatwirtschaftlichen Güternachfrage bei nach unten starren Preisen und Löhnen entsteht. Mit der Beschäftigungssicherung, die von der kompensierenden staatlichen Nachfrageexpansion erwartet wird, kann aber nur gerechnet werden, wenn die Preise steigen und sich damit ein Preis-KostenVerhältnis einstellt, das bei nachgiebigen Preis- und Kostenstrukturen die Entstehung von Arbeitslosigkeit verhindert hätte - ohne Deficit spending und Geldwerteinbuße, die ihrerseits wiederum Lohnerhöhungen nach sich zieht. Daß man auf diesem Wege Gefahr läuft, Staatskredit und Geldwert zu ruinieren, ohne „beschäftigungsschöpfend" wirken zu können, hat Albert Hahn schon 1949 (S. 189) überzeugend dargelegt: "Wenn ein Privatunternehmer nicht imstande ist, Investitionen vorzunehmen, so deshalb, weil die Investition keinen Gewinn, vielleicht sogar einen Verlust erwarten läßt. Wenn in einer solchen Situation der Staat zu Investitionen schreiten kann, so nur deshalb, weil er Verluste im Wege der Steuer auf die Glieder der Wirtschaft umzulegen vermag. Steuern aber bedeuten geringere Nettogewinne. Die künstlich hergestellte Fähigkeit des Staates zu Investitionen bringt also zwangsläufig eine verringerte Investitionstätigkeit der steuerbelasteten Privatwirtschaft mit sich ... Nur während kurzer Zeitspannen, in denen jeder Unternehmer meint, daß ein anderer die Zeche zahlen wird, wie z. B. in Kriegszeiten, bedeuten Staatsinvestitionen eine absolute Vergrößerung der Gesamtinvestition einer Wirtschaft."

Die Einwände gegen den Versuch, die Beschäftigungsfrage als ein Problem der Kompensation anzusehen, erwiesen sich als berechtigt: Erstens mangelt es an zureichendem Wissen über die Wirkungszusammenhänge zwischen den Handlungsbedingungen der Unternehmen, den Handlungsinteressen der organisierten Gruppen und den Handlungsmöglichkeiten der fiskal- und geldpolitischen Instanzen. Zweitens ist es politisch verlockend, „zugunsten der sog. Optik schnelle und sichtbare Scheinerfolge den ordnungspolitisch gebotenen Lösungen (vorzuziehen)" (Meyer 1959, S. 16). Die Globalsteuerung schwächte die Informations-, Anreiz- und Kontrollfunktion der Preise und damit die Selbststeuerungskraft der Märkte zusätzlich.6 Die Konjunkturprogramme nach

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Das Arbeitsförderungsgesetz sollte - ganz der Intention des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes folgend - nicht nur die Folgen saisonaler und konjunktureller Arbeitslosigkeit bekämpfen, sondern mit einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik die Entstehung von Arbeitslosigkeit verhindern. Hierfür wurde als Antwort aufzunehmende Enttäuschungen ein immer größeres Maßnahmebündel entwickelt. 6 Dies gilt auch für Versuche einer aktivistischen geldpolitischen Feinsteuerung, wie Thieme (1989, S. 10 ff.) im Anschluß an Lucas (1973, S. 326 ff.) feststellt und damit die These von der Vorteilhaftigkeit einer regelgebundenen Geldpolitik unterstreicht, wie sie von Walter Eucken, Milton Friedman und Karl Brunner empfohlen wird. In der Verstetigung geldpolitischen Handelns, die eine sorgfaltige Be-

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1966, mit denen Wissenschaft und Politik die Vollbeschäftigung sichern wollten, schufen gerade in dieser Hinsicht neue Unsicherheiten, weil es Gewerkschaften und Arbeitgebern unter Hinweis auf unterschiedliche Konjunkturverläufe und offenkundige prognostische Irrtümer ein Leichtes war, sich von den Vereinbarungen in der „konzertierten Aktion" loszusagen und die lohnpolitischen Orientierungsdaten zu ignorieren. Die als staatlich machbar unterstellte Belebung von Konjunktur und Beschäftigung erwies sich nach 1967 als Strohfeuer. 1970 schwächte sich die Beschäftigungsentwicklung im Marktbereich deutlich ab. Dies wurde in der Öffentlichkeit zunächst kaum wahrgenommen. Denn der gleichzeitig erweiterte Staatssektor (im Sinne des von der Regierung beklagten Mißverhältnisses von „privatem Reichtum und öffentlicher Armut") war mit einer Ausdehnung der staatlichen Beschäftigung verbunden. Wurde Anfang der siebziger Jahre bei steigender Erwerbspersonenzahl die Beschäftigungsschwäche noch überdeckt, ging dieser staatliche Beschäftigungsausgleich bei wachsenden Finanzierungsschwierigkeiten der öffentlichen Hände bereits Mitte der siebziger Jahre verloren. Obwohl auch zwischen 1973 und 1978 die staatliche Beschäftigung nochmals um 500.000 erhöht wurde, 7 ist die Zahl der privatwirtschaftlich Tätigen in dieser Zeit um rund 1 Million gesunken. Die bis dahin verborgene privatwirtschaftliche Beschäftigungsschwäche wurde in einer deutlich steigenden Arbeitslosigkeit offenbar, die mehr und mehr strukturellen Charakter annahm. 8 Erkennbar war die privatwirtschaftliche Beschäftigungsschwäche freilich auch schon seit 1970 an einer dramatisch abnehmenden Zahl der Selbständigen {Schüller und Weber 1998, S. 137 ff.). (3) Auf der Ebene der Gewerkschaften. Schon bei den ersten Versuchen mit einer globalgesteuerten Lohnpolitik konnten die Gewerkschaften die autonome Sozialpartnerschaft - ab 1969 mittels wilder Streiks - dazu mißbrauchen, die Löhne schneller zu erhöhen als die Preise folgen konnten. Gewerkschaften, einmal an ein weitgehend von ihnen bestimmbares Lohnverhandlungsklima gewöhnt 9 , haben sich anschließend kaum zu der Erkenntnis bereit gefunden, daß zur Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Produkt- und Faktormärkten bei hoher Beschäftigung in allen Sektoren Änderungen der relativen Preise und der Einsatz der Arbeit nach Maßgabe ihrer Knappheit notwendig sind. Mit dem Konzept der Globalsteuerung wurde ja die Bedeutung der Gestaltung der institutionellen Voraussetzungen und der Möglichkeiten einer Beeinflussung des Beschäftigungsverhaltens der Unternehmen - in Abhängigkeit von Lohnhöhe und Lohnstruktur - heruntergespielt. (4) Auf der Ebene der Arbeitnehmer. Sie erfreuen sich als Insider seitdem eines zunehmenden Bestandsschutzes ihrer Arbeitsverhältnisse; als Outsider sind sie bei vergleichsweise hohem Anspruch auf Lohnersatzleistungen der Arbeitslosenversicherung und auf Eingliederungsmaßnahmen des „Arbeitsförderungsgesetzes" unzureichend mo-

obachtung und Einschätzung der Entwicklung der volkswirtschaftlichen Prozesse erfordert, ist deshalb nach wie vor der entscheidende beschäftigungspolitische Beitrag der Geldpolitik zu sehen. 7 Dies geschah aufgrund zahlreicher Verbeamtungen bzw. einer praktischen Unkündbarkeit im öffentlichen Dienst mit langfristigen staatlichen Budgetbelastungen (siehe Harne! 1989). 8 Dies hat sich in dem Maße verstärkt, wie sich die Differenz zwischen Mindestlohn und Arbeitslosenunterstützung verringert hat, also gegen das Lohnabstandsgebot verstoßen wurde. 9 Zeitweilig stand das nachgiebige Verhandlungsklima ganz im Zeichen der Lohnfuhrerschaft der öffentlichen Hand.

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tiviert, ihr „Recht auf Arbeit" im ursprünglichen Verständnis selbst durchzusetzen. Die Erfahrung, daß Beschäftigte besser wissen als Staats- und Gewerkschaftsfunktionäre, was gut für sie und ihr Unternehmen ist, hat seitdem an Einfluß verloren. (5) Auf der Ebene der Unternehmer. Ihnen wurde durch eine "easy money policy" das Wirtschaften zu leicht gemacht: -

Um des „lieben (sozialen) Friedens" willen haben die Arbeitgeber als Tarifpartei unter dem Eindruck der Verheißungen der „Neuen Wirtschaftspolitik" 10 auf zu hohe Lohn- und Sozialleistungsansprüche der Gewerkschaften mehr und mehr mit Nachgiebigkeit reagiert. Diesem Fehlverhalten kommt bis heute entgegen, daß die daraus resultierenden Kosten der Arbeitslosigkeit auf die Sozialen Sicherungssysteme und zuletzt auf den Staat abgewälzt werden können. Dies mußte fortgesetzt moralisches Fehlverhalten hervorrufen.

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Die Perspektive einer vorsorglichen Steuerung der Gesamtnachfrage durch den Staat erschwert die Einsicht in die Notwendigkeit, dem Strukturwandel durch Entdeckung und Nutzung neuer gewinnversprechender Innovations- und Investitionschancen rechtzeitig zu begegnen und alles zu tun, um den leistungsfähigsten Stand der Investitionen, der Produktionstechnik und des organisatorischen Wissens zu erreichen. Im übrigen ist beim Versuch einer makroökonomischen Steuerung der Gesamtnachfrage bei vielfach gespaltener Konjunktur mit ganz unterschiedlichen Auslastungsgraden der Produktion zu rechnen. Dabei ist nicht auszuschließen, daß sich die geld- und fiskalpolitische Nachfrageexpansion verstärkt in den Branchen bemerkbar macht, die ohnehin den höchsten Auslastungsgrad aufweisen. Um so mehr spricht für eine regelgebundene Geldpolitik, die nicht (wie eine diskretionäre Steuerung) in der Gefahr steht, den Informationsgehalt der Preise zu reduzieren und damit die marktwirtschaftliche Allokation zu beeinträchtigen (siehe Fußnote 6).

IV. Schlußfolgerungen Das Konzept der Globalsteuerung ist in Deutschland beim ersten Bewährungstest gescheitert. ' 1 Die Erfahrungen in den USA und in Großbritannien waren ebenfalls negativ. Während diese Länder, wenn auch erst Ende der 1970er Jahre, zur Wirtschaftspolitik als ordnungspolitische Aufgabe zurückgefunden haben, hat sich in Deutschland die staatliche Anmaßung von Wissen und Können fortgesetzt und bis heute in einer „wohlfahrtsstaatlich-kollektivistischen Infizierung" des politischen Denkens und Handelns erhalten (Wilhelm Röpke). Das Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft ist seitdem von einer wettbewerbsscheuen verbandsgesteuerten Vereinbarungsgesellschaft und von einer Art von Sozialverwaltungswirtschaft geprägt.

10 Die gewünschten Wachstums- und Beschäftigungsergebnisse seien durch staatliche Marktsteuerung im Sinne der sektoralen und regionalen Strukturpolitik und durch die Globalsteuerung in Verbindung mit „konzertierten Aktionen" machbar. 11 Zur Erklärung der Fehlschläge und zu den Alternativen der Konjunkturpolitik siehe auch Lenel (1974, S. 93 ff.).

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Diese und andere Merkmale einer Sozialen Marktwirtschaft v o m Typ II, zu der sich unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung entwickelt hat, steht im Widerspruch zum ordoliberalen Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft, nicht aber zu den ordnungspolitischen Ansichten von Keynes, die freilich häufig widersprüchlich sind. Darauf haben Euckett und Röpke frühzeitig hingewiesen. Euckens kritische Äußerungen zu Keynes seien beispielhaft mit folgendem Zitat belegt: ,JCeynes und andere haben geglaubt, daß in der Anerkennung halbautonomer Körperschaften im Rahmen des Staates ein Fortschritt besteht. Er glaubte mit anderen, daß diese Körperschaften oder Gruppen das Gemeinwohl fordern könnten. - Die deutsche Erfahrung hat diese Hoffnung nicht bestätigt. ... Der Gruppenegoismus neigt zur Wucherung, weil die Gruppen Macht besitzen. Die Funktionäre vertreten im Kampf mit anderen Gruppen und mit dem Staat das Interesse ihrer Gruppe oder das, was sie dafür halten, nicht aber das Interesse des Ganzen. ... Der Fehler dieser Lösung war: Die Gefahr der Gruppenanarchie wurde nicht erkannt. Die Entwicklung in Deutschlapji sollte viel Gelegenheit geben zu lernen, was Gruppenanarchie heißt" (Eucken 1952/1990, S. 171). Es widerspricht dem Ordnungsverständnis der Freiburger, wenn von den privaten Investoren erwartet wird, daß sie sich wie Vollzugsorgane der Regierung verhalten. Keynes hat bekanntlich für England die Verstaatlichung der Produktionsanlagen in Erwägung gezogen, um eine Annäherung an Vollbeschäftigung zu erreichen. Allerdings meinte Keynes (1936/1966, S. 319) auch, ein solch umfassendes System des Staatssozialismus sei gar nicht erforderlich, da die Herrschaft über die Nutzung des Eigentums an den Produktionsmitteln der Herrschaft über den Besitz gleichkomme. 1 3 Unbestritten ist, daß extreme Kreislaufzusammenbrüche mit einer rasch fortschreitenden Arbeitslosigkeit und Panikstimmung des Publikums ausnahmsweise das unkonventionelle Mittel einer staatlichen Expansionspolitik erforderlich machen können, wie es schon Röpke (1931, S. 423 ff.) erkannt hat, ohne sich die Keynes'sehe Diagnose und Therapie von Deflation und Arbeitslosigkeit zu eigen zu machen. Hierzu sei an die besondere historische Situation von damals erinnert: Im Gefolge der wirtschaftlich verhängnisvollen Wahlen vom 14.9.1930 1 4 und der rasch fortschreitenden Deflationsentwicklung entstand in Deutschland eine hochgradig

12 Auch der Versuch, Hayek mit Keynes zu versöhnen, dürfte schwierig sein, wie Tuchtfeldt (1973, S. 187 f.) an einigen Zitaten von Keynes verdeutlicht; siehe auch Streit 1992, S. 12 ff. Nach Hayek (1975, S. 12 ff.) ist mit der Globalsteuerung eine Politik hervorgebracht worden, „die die meisten Ökonomen empfohlen haben und die zu verfolgen sie die Regierungen sogar nachdrücklich gedrängt haben. ..Als Fachleute haben wir Schlimmes angerichtet". Hayek sieht im makroökonomischen Beschäftigungsinterventionismus deshalb einen der „schwersten Fehler der jüngsten Wirtschaftspolitik", weil er vom Ansatz her auf einem unkritischen staatlichen Wissensanspruch beruht. Dieser besteht in dem Glauben, daß bei einer Beeinflussung der Makrorelationen das Prinzip der Selbststeuerung der Mikrorelationen über das System der relativen Preise weitgehend mit der Fähigkeit erhalten bleibt, im schnellen unerwarteten wirtschaftlichen Wandel die tatsächlichen Knappheitsverhältnisse anzuzeigen und Anreize hervorzubringen, auf diese Signale zu reagieren. 13 „Es ist nicht der Besitz der Erzeugungsgüter, deren Aneignung wichtig für den Staat ist. Wenn der Staat die der Vermehrung dieser Güter gewidmete Gesamtmenge der Hilfsmittel und die grundlegende Rate der Belohnung an ihre Besitzer bestimmen kann, wird er alles erfüllt haben, was notwendig ist." Was passieren soll, wenn es unter dieser Herrschaft des Staates über die Nutzung des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln nicht zur Vollbeschäftigung kommt, kann man wohl aus dem Satz folgern, mit dem das vorstehende Zitat schließt: „Die notwendigen Maßnahmen der Verstaatlichung können ... allmählich eingeführt werden ..." (ebenda). 14 Die NSDAP hatte in dieser Wahl ihre Stimmenzahl auf 6,4 Millionen (gegenüber 810.000 im Jahre 1929) erhöhen können. Mit 107 Abgeordneten war die NSDAP zweitstärkste Partei nach der SPD ge-

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pessimistische Massenstimmung. Nur vor dem Hintergrund dieser politisch gefahrlichen Entwicklung ist zu verstehen, wenn Röpke mit der Braunskommission 1931 empfahl, die Arbeitslosigkeit mit dem damals völlig unorthodoxen Mittel einer sofortigen Expansionspolitik zu bekämpfen. Dabei hat Röpke nie einen Zweifel daran gelassen, daß eine solche Schocktherapie von einer tiefgreifenden ordnungspolitischen Therapie begleitet sein müsse. Röpke ist damit keineswegs zum Keynesimtr geworden, er war sich - bei aller Achtung vor dem theoretischen Scharfsinn von Keynes und wichtigen Dingen, die er gesagt hat - darüber im klaren, daß dieser mit seiner Konjunktur- und Krisenlehre sowie mit seiner Beschäftigungspolitik die Ursachenanalyse vernachlässigt und mit seiner Verallgemeinerung „leichtfertig mit Dynamit hantiert" hat. Die entscheidende Krisenursache sah Röpke - abgesehen von fatalen innen- und außenpolitischen Vertrauenskrisen und einem rigorosen währungspolitischen Nationalismus (dem übrigens Keynes zeitweilig durchaus zuneigte) - in der „monopolistisch-interventionistischen Erstarrung" als Ausdruck einer hochgradigen Vermachtung der Wirtschaft. Es gab für Röpke keinen Ersatz für eine wirksame Politik der Wettbewerbsordnung - als entscheidende Voraussetzung zur Wiederbelebung der Selbstheilung der Krise, wobei er wirtschaftliche Krisen immer als Teil einer geistigen Totalkrise in Gesellschaft, Politik und Staat auffaßte (zu den Nachweisen siehe Schüller 2003, S. 29 ff.). Durch den in den 1960er Jahren eingeschlagenen ordnungspolitischen Irrweg ist in Deutschland der Ausbau des liberalen Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft um Jahrzehnte hinausgeschoben worden. Mit der Unausweichlichkeit des Wettbewerbs der Systeme müßten nun endlich die Aufgaben höchste Priorität gewinnen, die nicht zuletzt aus einer elastizitätspessimistischen Grundhaltung (Meyer 1959, S. 7 ff.) heraus auf der „Baustelle Soziale Marktwirtschaft" liegen geblieben sind. Dem werden sich auch die Anhänger des wohlfahrtsstaatlich-kollektivistischen Verständnisses von Sozialer Marktwirtschaft nicht entziehen können, wenn sie dem Krankheitszustand unserer Gesellschaft beikommen und den Weg zur Heilung frei machen wollen.

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worden. Dieses erdrutschartige Wahlergebnis hat den Lebensnerv der bürgerlich-marktwirtschaftlichen Ordnung zutiefst getroffen.

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Zusammenfassung In den 1960er Jahren wurde in Deutschland der Versuch unternommen, Walter Euckens Konzeption der Wettbewerbsordnung mit dem post-keynesianischen Instrument der makrökonomischen Steuerung zu versöhnen. Der Beitrag zeigt, wie und warum dieser Versuch, unterschiedliche Ordnungsvorstellungen zu kombinieren, gescheitert ist und zur heutigen Krise von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft geführt hat. Jahrzehnte später beginnt sich unter dem unausweichlichen Druck des internationalen Wettbewerbs die Erkenntnis durchzusetzen: Deutschland muß von einem wohlfahrtsstaatlichen Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft (Typ II) zum liberalen Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft (Typ I) zurückfinden.

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Summary The Social Market Economy as an institutional economic construction site - The combination of "Freiburger Imperative" and the "Keynesian Message" as an economic aberration In the 1960s attempts were made in Germany to develop and economic system which reconciled both Walter Eucken's concept of an economic order for competitive markets and the use of post-Keynesian instruments to control macroeconomic developments. This article shows why and how this attempt to combine different concepts of economic systems failed and how it contributed to the current economic, social and political crisis in Germany. Today, decades after the beginning of the experiment, the unavoidable pressure of international competition has lead increasingly to the realization that Germany will have to find it's way back from a welfare state concept of Social Market Economy (Type II) to a more liberal concept of Social Market Economy (Type I).

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2005) Bd. 56

Ulrich Fehl

Warum Evolutorische Ökonomik?* Ein Vergleich mit der Neoklassik: Prozeßorientierung versus Gleichgewichtsorientierung Inhalt I. Abgrenzungen II. Das Denken in Gleichgewichten III. Das Denken in Markt- und Wettbewerbsprozessen

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IV. Unternehmertum und Marktprozeß V. Die Bedeutung der Heterogenität für den Wettbewerbsprozeß

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VI. Trial-and-error-Verhalten versus Optimierungsstrategie

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VII. Wissen und Marktprozeß

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VIII. Der Stellenwert der Institutionen IX. Die spontane Ordnung als Selektionsordnung

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X. Evolutionsökonomik als der umfassendere Ansatz

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Why Evolutionary Economics? A Comparison with Neoclassical Economics: Process or Equilibrium?

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Die Frage kann - so scheint es - nur beantwortet werden, wenn man sich zunächst vergewissert, was unter Evolutorischer Ökonomik verstanden werden soll. Dies ist indessen keineswegs einfach, weil es die Evolutorische Ökonomik nicht gibt oder - vorsichtiger ausgedrückt - noch nicht gibt. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die einzelnen Vertreter einer evolutorisch ausgerichteten Ökonomik unterschiedliche Schwerpunkte setzen und damit unterschiedliche Abgrenzungen nahelegen. Gewisse Gemeinsamkeiten innerhalb der Evolutorischen Ökonomik ergeben sich aber in der Auseinandersetzung mit der herrschenden Theorie, der Neoklassik. Daher muß diese Diskussion im folgenden skizziert werden. Dies nicht nur deshalb, um zu verstehen, was mit Evolutorischer Ökonomik gemeint ist, sondern vor allem deswegen, weil sich in dieser Auseinandersetzung zugleich zeigt, warum Evolutionsökonomik betrieben werden sollte.

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Der vorliegende Text ist die schriftliche Fassung der Abschiedsvorlesung, die der Verfasser am 5. 11. 2004 an der Philipps-Universität Marburg gehalten hat.

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I. Abgrenzungen Abgrenzungsschwierigkeiten zeigen sich freilich nicht nur im Hinblick auf die Evolutionsökonomik, sie treten ganz generell auf, wenn man ökonomische Schulen voneinander abzugrenzen versucht. So unterscheidet Birger P. Priddat (2002) in seinem Buch „Theoriegeschichte der Wirtschaft" zu Beginn des 21. Jahrhunderts vier „konkurrente oder zumindest nicht zugleich kompatible Theorieszenarien", wie er sie nennt: Neoklassik, Institutionenökonomik, Evolutionsökonomik und Österreichische Ökonomik. Abgesehen davon, daß er Schulen, die gegenwärtig einen geringeren Einfluß ausüben - wie etwa die Neoricardianische Schule - , bei dieser Klassifikation ausklammert, fallt auch die mangelnde Trennschärfe sofort ins Auge. So werden Institutionen inzwischen in allen ökonomischen Schulen berücksichtigt, insbesondere nehmen sie aber im Rahmen der Evolutionsökonomik einen prominenten Stellenwert ein. Nach meinem Dafürhalten kann man deshalb auf eine eigenständige Institutionenökonomik als Schule schlechthin verzichten. Wichtiger erscheinen mir die unterschiedlichen Aspekte, unter denen man Institutionen betrachten kann, und die unterschiedlichen Vorgehensweisen, mit denen man sie analytisch zu erfassen vermag. So kann man Institutionen eher gleichgewichtstheoretisch - wie in der Neoklassik - analysieren oder eher prozeßtheoretisch wie in der Österreichischen Ökonomik und eben auch in der Evolutionsökonomik. Damit aber bietet es sich aus meiner Perspektive an, die Österreichische Ökonomik als einen wesentlichen Bestandteil der Evolutorischen Ökonomik zu betrachten und dann diese so verstandene Evolutionsökonomik mit der Neoklassik zu vergleichen. Dies stimmt insofern mit der Priddatschen Klassifikation überein, als auch er die Neoklassik als Gleichgewichtsökonomik bestimmt und die Österreichische Ökonomik als Marktprozeßtheorie identifiziert. In der Tat scheinen die Gleichgewichtsorientierung der Neoklassik und die Prozeßorientierung der Evolutorischen Ökonomik die zentralen Elemente zu sein, die das Denken der beiden Schulen in ihrer Unterschiedlichkeit charakterisieren. Alle weiteren Unterschiede wie etwa der unterschiedliche Zeitbegriff, das unterschiedliche Menschenbild, der unterschiedliche Ordnungsbegriff usw. ergeben sich mit einer gewissen Folgerichtigkeit aus diesen unterschiedlichen Ansatzpunkten zur Erklärung der ökonomischen Realität. Es ist daher zweckmäßig, zuallererst dieses unterschiedliche Vorgehen zu analysieren und seine Vor- und Nachteile herauszuarbeiten.

II. Das Denken in Gleichgewichten Das Denken in Gleichgewichten, das in der Ökonomik eine lange Tradition hat, manifestiert sich darin, daß der Ökonom auf allen Ebenen des wirtschaftlichen Geschehens Gleichgewichtskonfigurationen ausfindig zu machen versucht oder etwas vorsichtiger formuliert, eine Tendenz zu gleichgewichtigen Konfigurationen. Letztere wird zumindest dann unterstellt, wenn bestimmte allgemeine Voraussetzungen gegeben sind. So thematisiert der Ökonom das Haushaltsgleichgewicht, das Unternehmensgleichgewicht, das Marktgleichgewicht, schließlich das Allgemeine Gleichgewicht. Hinzu kommt noch das Wachstumsgleichgewicht, wenn man eine expandierende Wirtschaft betrachtet. All diese Gleichgewichtsbegriffe bauen aufeinander auf, das heißt, sie stehen in einem be-

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stimmten Zusammenhang zueinander. Beim Haushalts- und beim Unternehmensgleichgewicht handelt es sich um sogenannte Dispositionsgleichgewichte. Sie beschreiben, wie die genannten Wirtschaftssubjekte ihre Zielfunktionen - beim Haushalt handelt es sich um Nutzenmaximierung, bei der Unternehmung um Gewinnmaximierung - unter jeweils zu beachtenden Nebenbedingungen maximieren. Zu den Nebenbedingungen gehören Gegebenheiten, wie die Präferenzfunktion im Falle des Haushaltes oder die Produktionsfunktion im Falle des Unternehmens, aber auch Budgets und Preise. Aus diesen Dispositionsgleichgewichten lassen sich dann die Angebots- und Nachfragemengen dieser Wirtschaftssubjekte auf den einzelnen Güter- und Faktormärkten, und zwar jeweils in Abhängigkeit von den dort gesetzten Preisen, bestimmen. Aus dem Zusammenspiel von Anbietern und Nachfragern lassen sich auch die Bedingungen ableiten, die erfüllt sein müssen, um ein Gleichgewicht auf dem einzelnen Produkt- oder Faktormarkt zu erhalten. Im Rahmen der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie fragt man schließlich nach den Bedingungen, unter denen ein simultanes Gleichgewicht auf allen Märkten gegeben ist, das heißt, man fragt nach einem ganz speziellen Preisvektor, bei dem kein Wirtschaftssubjekt mehr Veranlassung hat, seine Dispositionen zu ändern. Existiert ein solcher Preisvektor, so benötigen die Wirtschaftssubjekte zur Herstellung ihrer Dispositionsgleichgewichte nur ihr privates Wissen, sprich die Präferenz- und Produktionsfunktionen, und eben die diesem Preisvektor entsprechenden Güter- und Faktorpreise, um die Konstellation des Allgemeinen Gleichgewichtes zu realisieren, das heißt, eine Situation herbeizufuhren, in der alle Märkte geräumt werden. Mit anderen Worten, man erreicht dann eine perfekte Koordination der arbeitsteiligen Produktionsprozesse über den Markt, einen Zustand höchster Ordnung. Als Kommunikationsmedium fungieren hier also ausschließlich die Gleichgewichtspreise. So weit die Skizze der Vorgehensweise der Gleichgewichtsökonomik. Selbst als Skizze ist sie noch nicht vollständig genug. Daher zumindest noch der Hinweis, daß ein solches Allgemeines Gleichgewicht nur unter bestimmten Voraussetzungen über die Gestalt der Präferenz- und Produktionsfunktionen existiert. Außerdem zeigt sich, daß selbst dann, wenn diese Bedingungen erfüllt sind, der Gleichgewichtspreisvektor keineswegs eindeutig sein muß. Diesem Aspekt soll indessen hier nicht nachgegangen werden. Viel grundsätzlicher und wichtiger ist die Frage, wie es zu dem Vektor der Gleichgewichtspreise überhaupt kommt. Léon Walras, der Pionier der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie, behalf sich mit der Vorstellung des vom Auktionator vorgenommenen Tâtonnements. Dieser Auktionator verändert die Preise auf den einzelnen Gütermärkten so lange, bis auf allen Gütermärkten ein Zustand des Gleichgewichts erreicht ist. Das heißt, er tastet sich gleichsam an den Gleichgewichtspreisvektor heran. Erst wenn dieser bekannt ist, soll der eigentliche Tauschprozeß beginnen. Diese von Walras propagierte Vorstellung ist offenbar an der Börsenpreisbildung orientiert. In der Realität freilich sind die Märkte überwiegend nicht in dieser Weise organisiert. Hier sind es die einzelnen Anbieter und Nachfrager selbst, die die Preise verändern müssen, wenn sich zeigt, daß auf bestimmten Märkten eine Markträumung nicht stattfindet. Die Tauschakte werden deshalb aber nicht so lange aufgeschoben, bis man überall markträumende Preise erreicht hätte. Vielmehr kommt es zum sogenannten false trading, das heißt zum Tausch bei „falschen", also Nichtgleichgewichtspreisen. Damit aber befindet man sich bereits mitten in den Marktprozessen, die zumindest so lange anhalten, bis ein Allgemeines Gleichgewicht erreicht worden ist. In der Zwischenzeit aber

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besitzen die Preise eine verminderte Leistungsfähigkeit insofern, als sie die gleichgewichtige Koordination allein nicht herbeiführen können. Die Wirtschaftssubjekte können sich somit bei ihren Entscheidungen nicht mehr ausschließlich auf die Preise verlassen, sondern sie müssen Erwartungen im Hinblick auf die künftigen Preise bilden, wobei gegebenenfalls auch mit den Reaktionen der übrigen Wirtschaftssubjekte auf die ungleichgewichtige Situation zu rechnen ist. Mithin kommt nun die Zeit ins Spiel, kommt dem Wissen der Wirtschaftssubjekte, das ungleich verteilt sein kann, eine zentrale Rolle zu, sind außerdem subjektive Erwägungen zu berücksichtigen, sprich, es zeigt sich bereits hier eine gewisse Heterogenität bei den handelnden Akteuren. Es offenbaren sich also Faktoren, die in der Österreichischen Theorie bzw. in der Evolutionsökonomik akzentuiert, aber von der Neoklassik eher vernachlässigt werden. In der sogenannten Stabilitätsanalyse, also bei der Frage, wie ein Gleichgewicht zustande kommt, wenn es in der Ausgangssituation noch nicht existiert, behilft man sich in aller Regel mit einer mechanisch konzipierten Funktion der Preis- oder Mengenanpassung, in der individuelle Unterschiede des Verhaltens in aller Regel unterdrückt werden. Eine solche Vorgehensweise scheint dem Problem jedoch wenig angemessen zu sein. Man kann die soeben skizzierte Art und Weise, wie die Neoklassik der Frage nach der Existenz, der Eindeutigkeit und der Stabilität von Gleichgewichtslagen nachgeht, auch noch folgendermaßen charakterisieren. Es erfolgt eine scharfe Trennung nach Daten - z. B. Präferenz- und Produktionsfimktionen - auf der einen Seite und den Variablen - Preise und Mengen - auf der anderen Seite. Die Daten sollen sich dabei annahmegemäß im Prozeß nicht verändern. Selbst wenn diese Annahme erfüllt ist, kann der Gleichgewichtspreisvektor sich im Prozeß aber dadurch ändern, daß sich bei dem Tausch zu Nichtgleichgewichtspreisen die Verteilung der Anfangsausstattungen der Wirtschaftssubjekte im Hinblick auf Produktionsfaktoren wandelt. Bereits an diesem simplen Beispiel wird deutlich, was die Evolutionsökonomik später als generelles Charakteristikum von Markt- und Tauschprozessen herausstellen wird, nämlich ihre prinzipielle Offenheit im Hinblick auf die möglichen Marktergebnisse. Nun ist es eine offene Frage, ob man eine solche Trennung zwischen Daten und Variablen im Marktprozeß tatsächlich durchhalten kann. Friedrich von Hayek (1976) hat dies mit guten Gründen bezweifelt, weil es nämlich aufgrund der Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte Rückwirkungen der Variablen auf die Daten geben kann, so daß die neoklassische Absicht, einen Gleichgewichtszustand auf der Basis der Trennung von Daten und Variablen explizieren zu können, zweifelhaft wird. Empirisch gesehen ändern sich jene ökonomischen Größen, die man in den neoklassischen Modellen als Daten betrachtet, tatsächlich. Will man diese Änderungen berücksichtigen, sie aber nicht als das Ergebnis der Aktivität der Wirtschaftssubjekte selbst deuten, so muß eine Datenvariation als exogener Einfluß interpretiert werden, das heißt, man schreitet dann von der statischen zur komparativ-statischen Analyse voran. Auf diese Weise kann etwa auch ein technischer Fortschritt exogen eingeführt werden, indem die Produktionsfunktion sich im Zeitablauf ändert, das heißt, von einem ganz bestimmten Zeitpunkt an gilt dann eine neue, ergiebigere Produktionsfunktion. Geht man modelltechnisch in dieser Weise vor, so wird ein Teil des Geschehens gleichsam aus dem Marktprozeß ausgeblendet. Der exogene Einfluß muß gewissermaßen als eine Störung oder als ein Schock interpretiert werden, wie dies beispielsweise in der Konjunkturtheorie des real business cycle-Ansatzes in der Tat geschieht. Gerade an dieser Vorgehensweise der Neoklassik

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läßt sich nicht nur ihre Begrenztheit gegenüber der Evolutorischen Ökonomik aufzeigen, die sich eben auch für die Produktion von Neuerungen als Voraussetzung für technischen Fortschritt interessiert, es wird an dieser Stelle zugleich deutlich, daß die Neoklassik ein anderes Menschenbild impliziert. So liegt die Stärke der Neoklassik in der Beschreibung von Anpassungsleistungen des Marktsystems oder präziser ausgedrückt, in der Ermittlung der Ergebnisse von solchen Anpassungsleistungen - die eigentlichen Marktprozesse bleiben ja weitgehend ausgeblendet - , mit anderen Worten, es wird aufgezeigt, wie sich unter bestimmten Verhaltenshypothesen die Wirtschaftssubjekte an vorgegebene Daten oder Datenänderungen anpassen. Überspitzt formuliert kann man also sagen, daß die Neoklassik den Menschen mehr oder weniger als einen Anpassungsautomaten konzipiert. Im Vordergrund des Interesses steht vor allem das auf die geschilderte Weise ermittelte Marktergebnis.

III. Das Denken in Markt- und Wettbewerbsprozessen Die Evolutorische Ökonomik hingegen strebt danach, die Vorgänge im Markt in umfassenderer Weise einzufangen. Sie versucht, das Neuerungsverhalten gerade nicht als einen marktexogenen Vorgang zu begreifen. Deshalb muß sie aber zu einem reichhaltigeren Menschenbild Zuflucht nehmen. Mit anderen Worten, es kann der Mensch hier nicht als ein Anpassungsautomat konzipiert, sondern muß als schöpferisches Wesen aufgefaßt werden. Dies bedeutet insbesondere, daß der Mensch grundsätzlich in der Lage ist, die Dinge jederzeit neu zu interpretieren, neue Handlungsmöglichkeiten zu kreieren und diese dann auch im Markt um- und durchzusetzen. Nur auf diese Weise wird Neuerungsverhalten erklärbar. Berücksichtigt man die Fähigkeit der Wirtschaftssubjekte, Neuerungen im Marktprozeß hervorbringen zu können, so wird damit die andere, auch von der Neoklassik erfaßte Fähigkeit zur Anpassung an vorgegebene Daten bzw. Situationen keineswegs negiert. Bekanntlich wird diese Fähigkeit zum Anpassungsverhalten in der Markttheorie mit dem Begriff des Imitationsverhaltens weitgehend abgedeckt. Daraus ergibt sich zweierlei. Zum einen geht die Evolutorische Ökonomik nicht wie die neoklassische Preistheorie von einem halbierten Wettbewerbsbegriff aus. Spricht man dem Menschen nämlich die Fähigkeit zu, Neuerungen hervorbringen und bereits realisierte Neuerungen auch imitieren zu können, so ist der Bezug zur klassischen Wettbewerbstheorie im Schumpeferschen Sinne sofort zu erkennen. Spätestens seit Schumpeter (1952) ist nämlich bekannt, daß sich der Wettbewerbsprozeß als ein dynamisch-evolutorischer Vorgang von vorstoßenden und imitierenden Wettbewerbsakten darstellt. Dabei ist unter dem Begriff „evolutorisch" der Sachverhalt zu verstehen, daß sich der Raum möglicher Ereignisse also der Ereignisraum - zumindest in einer Dimension verändert oder erweitert, während unter „dynamisch" zu verstehen ist, daß sich diese Änderungen im Rahmen der sogenannten historischen Zeit ereignen. Damit ist der Sachverhalt der Irreversibilität angesprochen, auf den ich noch zurückkommen werde. Anders als im Schumpeterschcn Ansatz, bei dem sich die Aktivitäten des Pionierunternehmers und der Imitatoren gewissermaßen rhythmisch ablösen, wird im neueren Verständnis des Konzepts des dynamisch-evolutorischen Wettbewerbs davon ausgegangen, daß Neuerungs- und Imitationsverhalten prinzipiell gleichzeitig auftreten können und werden. Es ist wichtig festzu-

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halten, daß in dieser Sicht der Dinge „Neues" im Marktprozeß jederzeit auftreten kann, wobei freilich der Ort seines Auftretens im Markt und der Neuigkeitsgrad durchaus variieren werden. Das Neuartige kann sich auf Produkte oder Produktionsprozesse beziehen, es kann aber auch den Organisationsprozeß betreffen. Kurz, die Neuheit kann alle unternehmerischen Aktionsparameter verändern, in der Unternehmung und auf dem Markt.

IV. Unternehmertum und Marktprozeß Die zweite Bemerkung zum gegenüber der Neoklassik vervollständigten Menschenbild zielt auf die Theorie des Unternehmers (Hesse 1990). Das Schöpferische wurde oben definiert als die Möglichkeit, Situationen neu zu interpretieren, neue Handlungsmöglichkeiten zu kreieren und schließlich diese Handlungsmöglichkeiten auch durchzusetzen. Dies ist aber weitgehend gleichbedeutend mit dem, was in der ökonomischen Theorie dem Unternehmertum zugeordnet wird. Je nachdem nun, auf welche Komponente des Schöpferischen man den Akzent setzt, erhält man einen unterschiedlichen Typus des Unternehmers. Geht es primär darum, die Verhältnisse im Markt neu zu interpretieren, das heißt, Koordinationslücken aufzuspüren oder, anders ausgedrückt, findig zu sein, gelangt man zur Vorstellung des Mises'sehen Unternehmers im Sinne von Kirzner (1978). Die Berücksichtigung des Mises' sehen Unternehmers in der Evolutorischen Ökonomik weist auf einen ganz wichtigen Unterschied gegenüber der Neoklassik hin. Es wird dadurch nämlich hervorgehoben, daß das Handlungsfeld der wirtschaftlichen Akteure immer zuerst konstituiert werden muß, bevor gehandelt werden kann. Dieser Aspekt wird in der Neoklassik weitgehend ausgeblendet bzw. als bereits gelöst vorausgesetzt. Mit anderen Worten, Mittel und Zwecke sind jeweils den Akteuren von vornherein bekannt. Es geht nur noch um das sogenannte Ökonomisieren, das heißt darum, die Mittel auf die Zwecke hin optimal zu ordnen. Kirzner spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten Robbins'sehen Ökonomisierer. Dabei handelt es sich um eine äußerst reduzierte Form des Unternehmertums, denn die Ermittlung von Optima kann im Prinzip auch einer Rechenmaschine überantwortet werden. Damit wird noch einmal von einer etwas anderen Seite her die Ausdrucksweise des Anpassungsautomaten sinnfällig, von dem bereits früher die Rede gewesen ist. Dem Afoes'sehen Unternehmer wird Findigkeit zugesprochen, das heißt, man sieht ihn in der Lage, Koordinationslücken zu erspähen und sie dann auch prinzipiell durch den Einsatz geeigneter Aktionsparameter zu schließen. Man hat diese Art des Unternehmertums auch als Arbitragetheorie des Unternehmers bezeichnet. Dies bringt prägnant zum Ausdruck, daß man in dieser Theorie den Unternehmer durchaus im Dienste der Gleichgewichtskräfte des Marktprozesses sieht. Das macht deutlich, daß in der Evolutorischen Ökonomik die Kräfte des Gleichgewichts durchaus Berücksichtigung finden, ja diese infolge der Integration des Wahrnehmungsaspektes von Marktchancen überhaupt erst ein wirkliches Fundament erhalten. Dennoch aber bleibt es dabei, daß die Gleichgewichtskräfte nicht - wie in der Neoklassik - die Szenerie im Marktprozeß vollständig bestimmen. Dies liegt eben darin begründet, daß das Schöpferische auch auf andere Art und Weise Ausdruck finden kann als durch Findigkeit. So bestimmt Schumpeter den Unternehmer als denjenigen, der neue Kombinationen durchsetzt, wobei es

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gleichgültig ist, ob die Wissensgrundlagen fiir diese neuen Kombinationen von ihm selbst oder von anderen bereitgestellt werden. Entscheidend ist nun, daß die Durchsetzung dieser neuen Kombinationen das Aufbrechen eines alten Gleichgewichtszustandes bedeuten kann, oder - wenn wir auf einen bereits existierenden Marktprozeß abstellen es werden die bisherigen Lieferströme grundsätzlich in Frage gestellt oder gar revolutioniert, zumindest aber neu geordnet. Schumpeter selbst sieht jedenfalls seinen Unternehmer als eine gleichgewichtssprengende Kraft an. Es sind nun gerade diese vom Gleichgewicht wegführenden Kräfte des Marktprozesses, die der neoklassische Scheinwerfer nur schwer oder gar nicht zu erfassen vermag, so daß man sie in ihrer Wirkung als Schock interpretieren muß. Zugleich wird deutlich, warum die Bemühungen der Neoklassik, einen Gleichgewichtszustand im Sinne eines Ruhezustandes des Systems ausmachen zu können, vergeblich sein müssen: Es werden nämlich die Leistungen des Misesschen Unternehmers als gleichgewichtsbildende Kraft immer durch entgegengesetzte Schumpetersche Kräfte konterkariert. Mit anderen Worten, der anhaltende Marktprozeß ist das Ergebnis der simultanen Aktivitäten sowohl M i e s s c h e r als auch Schumpeterscher Unternehmer. Deshalb ist es problematisch, das Geschehen im Markt als Abfolge von Gleichgewichtszuständen zu deuten, zumal dabei oft zusätzlich eine zu einfache Zeitstruktur im Handlungsfeld unterstellt und modelliert wird. Anders ausgedrückt: Der Normalzustand im Markt ist nicht das Gleichgewicht, sondern der anhaltende Marktprozeß. Man kann den soeben dargestellten Sachverhalt auch noch aus einer etwas anderen Perspektive beleuchten. Werden nämlich die Gleichgewichtskräfte im Kirznersdhen Sinne wirksam, so werden Vorsprungsgewinne der Pioniere oder der frühen Imitatoren mit der Zeit erodieren, das heißt, einige Akteure werden im Wettbewerbszusammenhang Positionsverluste hinnehmen müssen, so daß ihre Anspruchsniveaus unterschritten werden. In einer solchen Situation des Marktdrucks aber werden sie ihre schöpferischen Potentiale besser zu nutzen versuchen, das heißt Innovationen hervorbringen. Somit erzeugen die Gleichgewichtskräfte auf diese Art und Weise dialektisch gleichsam selbst ihren Gegenpart, nämlich die Bewegungsrichtung weg vom potentiellen Gleichgewichtszustand. Allerdings wird dieser dialektische Gegenschlag auf der Theorie-Ebene nur dann darstellbar, wenn man den Menschen als ein schöpferisches Wesen voraussetzt, ihn nicht als reinen Anpassungsautomaten konzipiert. Das enthüllt noch einmal mit aller Deutlichkeit, daß die Neoklassik durch ihr Starren auf Gleichgewichtszustände - im Sinne von Ruhezuständen - die Gleichgewichtskräfte in ihrer Tragweite bei weitem unterschätzt; und darin liegt eine gewisse Ironie. Die Balance zwischen Gleich- und Ungleichgewichtskräften im Marktprozeß hat freilich zur Voraussetzung, daß die verschiedenen Unternehmertypen im Sinne von Kirzner und Schumpeter gleichzeitig im Markt auftreten. Davon aber kann man wohl zu Recht ausgehen, weil die menschliche Population - wie jede andere Population auch durch Heterogenität gekennzeichnet ist. Hier - wo es um das Verhalten geht - greift die Evolutorische Ökonomik auf die Erkenntnisse der allgemeinen biologischen Evolutionstheorie zurück. Bekanntlich setzt Darwin im Anpassungsprozeß ja gerade auf die Verschiedenartigkeit sowohl der Geno- als auch der Phänotypen einer bestimmten Spezies. Doch sieht die Evolutionsökonomik den Grund für die Heterogenität nicht ausschließlich in der biologischen Grundlage des Menschen. Sie hält darüber hinaus dafür, daß bestimmte Prinzipien der biologischen Evolutionstheorie sich auch im sozioökonomi-

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sehen Bereich manifestieren, was in gewisser Hinsicht zu einer Fortsetzung der Evolution mit anderen Mitteln fuhrt. So werden die Menschen eben nicht nur von der Natur mit unterschiedlichen Fähigkeiten ausgestattet, sie erfahren auch Unterschiede in den Sozialisationsprozessen. Beides zusammen aber dürfte bewirken, daß die Menschen unterschiedliche Erfahrungen machen und daher unter Umständen selbst die gleiche Umwelt anders interpretieren, so daß gleiche Impulse durchaus unterschiedliche Handlungen auslösen können. Unterschiede ergeben sich gegebenenfalls auch daraus, daß die einzelnen Menschen unterschiedlich optimistisch oder pessimistisch eingestellt sind. Unterschiedliche Einstellungen aus Erfolgs- oder Mißerfolgserlebnissen mögen hinzukommen. Dies mag an dieser Stelle zur Begründimg für heterogenes Verhalten genügen. Wie aufgezeigt, hat die Heterogenität Bedeutung für die Verteilung verschiedener Unternehmertypen in der Population der Unternehmer, und zwar im Hinblick auf die Balance von Gleich- und Ungleichgewichtskräften im Marktprozeß. Es sei noch angefügt, daß man die Unterschiede zwischen den Unternehmertypen in der Marktprozeßtheorie noch weiter auffächern kann, wie dies etwa Ernst Heuß (1965) in seiner „Allgemeinen Markttheorie" gemacht hat. Man kann sogar ein ganzes Kontinuum unterschiedlicher Unternehmertypen dadurch erreichen, daß man auf die unterschiedliche Kompetenzhöhe abstellt, wie das Jochen Röpke (1977) in seiner an das Leistungsmotiv anknüpfenden Unternehmertheorie tut. Schließlich kann man auch den Unternehmer im Sinne von Frank Knight (1921), nämlich als denjenigen, der die Ungewißheit im Marktprozeß absorbiert, in diese Verschiedenartigkeit unternehmerischer Rollen einbeziehen. Dabei sollte beachtet werden, daß die von Knight herausgestellte Ungewißheit letztlich entscheidend auf Innovationen und die dadurch ausgelösten Marktprozesse zurückzuführen ist. Mit diesen Bemerkungen sei die knappe Skizze zur Rolle des Unternehmertums im Marktprozeß zunächst abgeschlossen. Vermerkt werden sollte jedoch noch, daß das Schöpferische letztlich für alle Menschen in Betracht kommt, auch wenn es bei der Mehrheit der Menschen in geringerem Maße ausgeprägt sein wird. Festzuhalten bleibt jedenfalls, daß dieses Schöpferische vor allem in der Theorie der Marktprozesse adäquat berücksichtigt wird, und zwar im Unternehmertum als einem integralen Bestandteil der Evolutorischen Ökonomik.

V. Die Bedeutung der Heterogenität für den Wettbewerbsprozeß Es ist von zentraler Bedeutung zu erkennen, daß sich das Phänomen der Heterogenität im Rahmen der Evolutorischen Ökonomik keineswegs nur auf das Unternehmertum bezieht. Auch andere Heterogenitäten spielen im Marktprozeß eine bedeutsame Rolle. So kann man die Märkte nach Heuß (1965) danach unterscheiden, in welcher Marktphase sie im Laufe der Marktentwicklung angelangt sind, denn hiervon wird das Wettbewerbsverhalten in einem erheblichen Umfange mitgeprägt. Weiterhin können sich Groß- und Kleinuntemehmen unterschiedlich verhalten, insbesondere im Hinblick auf Nischenbildungen. Heterogenitäten spielen auch bei der Ausdifferenzierung der Produkte eine wichtige Rolle, weil eben nicht jedes Produkt für jedes Wirtschaftssubjekt das Gleiche bedeutet. Auch bei der Erwartungsbildung spielen Verschiedenartigkeit und gelegentlich auch die Gleichartigkeit eine entscheidende Rolle. Kurz, der Marktprozeß

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lebt von der Heterogenität. Dieser Gesichtspunkt wird in der Evolutorischen Ökonomik in viel höherem Maße als in der Neoklassik beachtet und trägt zu einem besseren Verständnis der Marktprozesse bei. Es ist nämlich die Verschiedenartigkeit, die dazu fuhrt, daß die Wirtschaftssubjekte unterschiedliche Wege einschlagen, also gleichsam experimentieren und auf diese Weise verschiedenartiges Wissen hervorbringen. Hayeks Rede vom Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (1969) bringt dies sehr schön auf den Begriff. Mögliche Fehler in der Antizipation künftiger Bedürfnisse werden auf diese Weise nicht von allen gemacht. Unterschiedliche Erwartungen und entsprechend unterschiedliche Wege zu unterschiedlichen Zielen können sich so in ihrer Wirkung ausgleichen und ergänzen. Kurzum: Das Unternehmertum und die Heterogenität sind Tatbestände, die in der Evolutorischen Ökonomik eine zentrale Rolle spielen, aber von der Neoklassik weitgehend vernachlässigt werden. Aus den Ausfuhrungen zum Unternehmertum dürfte klar geworden sein, daß es praktisch nicht möglich ist, das Unternehmertum in adäquater Form in den Modellen der Neoklassik unterzubringen. Auch die Heterogenität wird in verschiedener Hinsicht in der Neoklassik unterdrückt. Teils im Rahmen der MikroÖkonomik, vor allem aber im Bereich der MakroÖkonomik, geht man statt dessen vom sogenannten repräsentativen Individuum aus, das von der mikroökonomischen Basis zum makroökonomischen Überbau gleichsam eine Brücke schlagen soll. Durch diese Vorgehensweise wird aber der auf der Mikroebene ablaufende Prozeß geradezu verdeckt. Die Evolutorische Ökonomik arbeitet an dieser Stelle mit ihrem Populationsansatz. Es ist eine zentrale Aufgabe im Rahmen der Evolutorischen Ökonomik, die Zusammensetzung der einzelnen Populationen im Hinblick auf die verschiedenen Varianten festzustellen und zu erklären, wie eine Umschichtung veranlaßt wird. So hat etwa Frank Schohl (1999) erste Schritte einer evolutionsökonomisch ausgerichteten Konjunkturanalyse präsentiert: Dabei verzichtet er auf die in neoklassischen Analysen häufig verwendete repräsentative Unternehmung und greift dafür auf die Unternehmenspopulation insgesamt zurück. Es zeigt sich, daß die konjunkturelle Bewegung in Beziehung gesetzt werden kann zu bestimmten Veränderungen in der Zusammensetzung der Unternehmenspopulation, und zwar im Hinblick auf steigende, stagnierende oder rückläufige Umsatz- oder Gewinnzahlen. Als Motor der Umsetzung wirkt dabei die unterschiedliche wettbewerbliche Aktivität der Unternehmen. Freilich steht man erst am Beginn dieser Forschung, doch könnte es immerhin sein, daß sich hier eine wettbwerbstheoretische und damit zugleich evolutionsökonomische Theorie der Konjunkturen abzeichnet, die der rein neoklassisch-preistheoretischen und damit in gewissem Sinne verkürzten Konjunkturerklärung durchaus überlegen sein könnte. Das Denken in Populationen kann auch zur Erklärung der Bildung von Erwartungen herangezogen werden. Es spricht vieles dafür, daß die Erwartungen der Menschen im allgemeinen eher heterogen als homogen sind. Dies läßt sich schon den Überlegungen, die eben für die Heterogenität der Menschen ins Feld geführt worden sind, entnehmen. Dennoch kann sich die Häufigkeit bestimmter Erwartungsvarianten im Zeitablauf durchaus ändern. Gelegentlich kann es auch zu einem abrupten Umschlag in der Erwartungsbildung kommen, nämlich dann, wenn sich die Kräfte der Homogenität durchsetzen. In der Evolutorischen Ökonomik finden sich Ansätze aus der Chaos-Theorie und der Synergetik, um diese Fälle formal abzubilden. Solche Ansätze sind sicherlich geeignet, eine qualitative Vorstellung von den hier ablaufenden Prozessen zu vermitteln,

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doch besitzen diese Modelle oft nicht die notwendige Bodenhaftung in dem Sinne, daß sie mit Marktprozessen adäquat in Verbindung gebracht werden können. Die Verbindung zur Wettbewerbstheorie und die Integration der in solchen Fällen gegebenenfalls zu erwartenden Lernprozesse in den Erklärungszusammenhang bleiben gegenwärtig noch ein Desiderat.

VI. Trial-and-error-Verhalten versus Optimierungsstrategie Ein weiterer, ganz wichtiger Unterschied zwischen neoklassischem Gleichgewichtsdenken und dem prozeßorientierten Denken der Evolutorischen Ökonomik muß hier angeführt werden. Und dieser Unterschied hängt ebenfalls mit der Gleichzeitigkeit von vor- und nachstoßenden Wettbewerbsakten zusammen. Während die Neoklassik bestrebt ist, die Marktvorgänge eher als Optimierungsprozesse zu deuten, begreift die Evolutorische Ökonomik das Marktgeschehen eher als das Ergebnis eines trial-anderror-Verhaltens. Warum wird in der Evolutionsökonomik auf Letzteres abgestellt? Es ist bereits dargelegt worden, daß die Neoklassik von einer klaren Trennung zwischen Daten auf der einen Seite und Variablen auf der anderen Seite ausgeht. Gerade die Gegebenheiten oder „Daten" aber sind es letztlich, die eine Maximierungs- oder Minimierungsprozedur, zusammengefaßt also eine Optimierungsstrategie, überhaupt erst zulassen. Es ist bereits hervorgehoben worden, daß die Wirtschaftssubjekte unter ausschließlicher Orientierung an Güter- und Faktorpreisen nur dann ein Allgemeines Gleichgewicht zustande bringen, wenn es sich von vornherein um Gleichgewichtspreise handelt. Mit anderen Worten, befindet man sich außerhalb dieses Gleichgewichtes, so müssen neben den aktuell gültigen Preisen auch Preisveränderungen als Erwartungsgrößen mitberücksichtigt werden. Erwartungen sind aber ein unsicheres Geschäft, und wegen der Ausführungen über die Heterogenität der Menschen und der Unterschiedlichkeit der Situationen, in die sie gestellt sind, wird man im allgemeinen mit unterschiedlichen Erwartungen rechnen müssen. Da das Marktergebnis aber mit davon abhängig ist, wie die jeweils anderen Wirtschaftssubjekte Erwartungen bilden, fehlt in einem solchen Kontext den Wirtschaftssubjekten schlicht Wissen bzw. mangelt es ihnen an Informationen. Diese Feststellung gilt wohlgemerkt bereits für eine Situation, in der es nur Anpassungsprozesse, aber keine innovativen Vorstöße gibt. Existiert aber eine Gleichzeitigkeit von vorstoßenden und nachahmenden Wettbewerbsakten, so muß dieser Mangel an Wissen sich in einem noch viel höheren Maße geltend machen; denn nun befindet sich die Welt in einer permanenten Veränderung von Produkten, Produktionsprozessen, Organisationsstrukturen, Marktsituationen usw. In der Welt der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie sind die Produkte für die Nachfrager, sind die Produktionsprozesse für die Unternehmen hingegen wohlbekannt, weil sie als Gegebenheiten vorausgesetzt werden. Ein Wissensproblem tritt hier nicht auf. Dies ändert sich aber, wenn man von einem dynamisch-evolutorischen Kontext, wie er durch anhaltende Wettbewerbsprozesse erzeugt wird, ausgeht. Nun muß man es ernst nehmen, daß mit der zunehmenden Entfaltung der Arbeitsteilung auch eine entsprechende Wissensteilung Hand in Hand geht. Anders ausgedrückt, das Wissen ist über die Wirtschaftssubjekte gleichsam verstreut. Koordination bedeutet mithin nicht nur Koordination arbeitsteiliger Aktivitäten, sondern zugleich die Koordination des über die Köpfe der Gesellschaft verstreuten Wissens. Dieser letztere Koordinationsprozeß muß natürlich über die Koordination der arbeitsteiligen Aktivitä-

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ten gleichsam mitexekutiert werden. Das hat zur Folge, daß der wesentlich vom Innovationsprozeß getragene Wettbewerb zu einem Wissenswettbewerb wird. Um neue Ideen in die Tat umzusetzen, bedarf es ja nicht nur des Einfalles, sondern der Erarbeitung und Verwertung von Wissen in seinen verschiedenen Dimensionen, also im Hinblick auf Produktwissen, Verfahrenswissen, Wissen um Kunden und Lieferanten, allgemein um Marktwissen. Nun wäre es für das einzelne Wirtschaftssubjekt natürlich hervorragend, wenn es über so viel Wissen wie nur möglich verfügen könnte. Im Streben nach Wissen aber sind den Wirtschaftssubjekten in der Realität enge Grenzen gesetzt. Dafür sprechen schon zeitliche Restriktionen. Irgendwann muß die Informationssuche beendet werden bzw. muß das gesammelte Wissen verwertet werden. Außerdem sind die Wissensverarbeitungskapazitäten der Individuen beschränkt. Kurz, es liegt der Sachverhalt vor, den man mit dem etwas unglücklichen Ausdruck „beschränkte Rationalität" belegt hat. Die Folge hiervon ist, daß die Handlungen der Wirtschaftssubjekte nicht nur durch Wissen, sondern zugleich durch ein gewisses Ausmaß an Unwissen bestimmt werden. Anders ausgedrückt, die Wirtschaftssubjekte sind mit der Ungewißheit konfrontiert. Wo die Grenze zwischen Wissen und Unwissen im einzelnen verlaufen wird, ist aber letztlich eine Frage der subjektiven Einschätzung oder der Erwartung, wieviel Wissen man für die geplanten Handlungen, auch für ins Auge gefaßte Innovationen, benötigen mag. Aus dem Gesichtspunkt der Wissensteilung heraus aber liegt der Schluß nahe, daß auch wahrscheinlichkeitstheoretische Überlegungen dem einzelnen Handlungsträger hier nur sehr bedingt weiterhelfen werden. Somit ist jeder unternehmerische Akt, sei es im vorstoßenden, sei es im nachahmenden Wettbewerb, mehr oder weniger ein Vorstoß ins Ungewisse. Ein Versuch, den man mit Wolfgang Kerber (1997) auch Hypothesentest nennen kann. Bedenkt man noch einmal die Heterogenität der Menschen und der Unternehmer, so kann man folglich den Wettbewerb auch als Hypothesenwettbewerb bezeichnen. Erweist sich ein bestimmter Vorstoß als Irrtum, muß er korrigiert werden und durch einen anderen Versuch ersetzt werden. Auf diese Art und Weise kommt es durch die jeweilige Marktgegenseite zu einer Auslese von überlegenen Hypothesen, sprich von überlegenen Produkten, Produktionsverfahren, Organisationsmustern usw. Kurzum, die Unternehmen optimieren nicht, sondern tasten sich durch ein trial-and-errorVerfahren ins Ungewisse vor (von Delhaes und Fehl 1997). Um das Ganze noch einmal von einer etwas anderen Warte zu betrachten: Optimierung setzt voraus, daß die Funktionen, die dem Optimierungsprozeß zugrundeliegen, bereits gegeben sind. Dann schnurrt aber die unternehmerische Funktion auf die Rolle des Robbins'sehen Ökonomisierers zusammen. Aus diesem Sachverhalt speist sich letztlich auch der Haupteinwand der Evolutorischen Ökonomik gegen die sogenannte Endogene Wachstumstheorie, in der versucht wird, den technischen Fortschritt zu endogenisieren. Der technische Fortschritt ergibt sich dabei als das Ergebnis eines Optimierungskalküls, das in einen Investitionszusammenhang gestellt ist. Dabei geht es z. B. um die Frage, ob man stärker in Humanvermögen oder in Sachvermögen investieren soll, um die Wachstumsrate zu steigern. Mithin geht es nur um „Wahl" oder - um es neudeutsch auszudrücken - um „Choice". Da im Prinzip alles bereits gegeben ist - insbesondere eine Art von „Fortschrittsfunktion" - , braucht eben nichts wirklich Neues entdeckt zu werden, Kreativität wird nicht benötigt. Dies kann aus evolutionsökonomischer Sicht nicht überzeugen.

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VII. Wissen und Marktprozeß Es ist bereits hervorgehoben worden, daß in einer Welt des anhaltenden Wettbewerbs und damit eines anhaltenden Innovationsprozesses die Preise nicht mehr jene potente Rolle übernehmen können, die sie im Kontext des Allgemeinen Gleichgewichts spielen, wenn es sich nämlich bereits um Gleichgewichtspreise handelt. Dennoch spielen gerade auch in einem evolutorischen Kontext die Preise eine zentrale Rolle als Übermittler von Wissen. Um Wissen zu nutzen, das an einer anderen Stelle des Marktsystems eingespeist wird, ist es nicht notwendig, dieses Wissen in einer konkreten Form zu besitzen, sondern es genügt, daß man es in einer abstrakten Form verwerten kann. Hierbei geht es natürlich in erster Linie um das Wissen um Knappheiten. Wissen in seinen konkreten oder inhaltlich bestimmten Aspekten kann auch in gleichsam geronnener Form weitergegeben werden, nämlich in der Form von Gütern. Doch die Verwertung des über die Gesellschaft verstreuten konkreten Wissens kann nicht ausschließlich in dieser Form vorgenommen werden. Wollen Wirtschaftssubjekte ihre Aktivitäten koordinieren, so ist hierzu im allgemeinen ein gewisses Maß an gemeinsamem Wissen erforderlich. Von Hayek (1976) hat in diesem Zusammenhang von „Überlappungswissen" gesprochen. Es ist somit keineswegs erforderlich, daß alle Wirtschaftssubjekte über alles informiert sein müssen, um das verstreute Wissen in der Gesellschaft nutzen zu können. Was allerdings existieren muß, ist ein Strang oder ein Geflecht von sich überlappendem Wissen. In einer Welt, in der sich die Produkte, die Verfahren, die Präferenzen usw. ständig ändern, muß dieser Wissensstrang ständig erneuert werden, was ohne eine anhaltende Kommunikation - und hier spielt das gemeinsame Wissen eine zentrale Rolle - nicht vorstellbar ist, wobei zusätzlich zu beachten ist, daß manche Wissenspartikel sich erst noch im Wettbewerbsprozeß zu bewähren haben. Nun darf man sich die angesprochenen Überlappungen von Wissen keineswegs als ein für allemal gegeben vorstellen, sondern sie unterliegen in der Zeit, bedingt durch den Wettbewerb, einer ständigen Veränderung. Um die Grenzen der jeweiligen Überlappung zu verstehen, muß die Funktion der Unternehmung im Wettbewerbsprozeß herangezogen werden, weil diese Grenzen nämlich etwas mit der Unternehmensgrenze zu tun haben. In der evolutorischen Theorie erklärt man die Existenz der Unternehmung nicht durch Transaktionskosten, sondern knüpft an ihre Funktion als Wissensmittler, Wissenserzeuger, Wissensverwerter und Wissensspeicher an. Auch diese Funktionen liegen wiederum nicht ein für allemal fest, sondern werden durch den Wettbewerb ständig verändert. Unter Berücksichtigung der Existenz von Unternehmen kann also gesagt werden, daß die Überlappung von Wissen sich zwischen Unternehmen in vor- und nachgelagerten Produktionsstufen ergeben muß. Was den Wissensnutzungszusammenhang im Inneren der Unternehmung anbelangt, so muß auch hier ein gemeinsames Wissen existieren, gleichsam eine Art von internem Überlappungswissen. Da es auch innerhalb der Unternehmung Arbeitsteilung gibt, gibt es hier ebenso Wissensteilung. Spezifische Vorteile der unternehmerischen Organisation als Form der Hierarchie bestehen nun darin, den Wissensproduktions- und Wissensnutzungsprozeß so zu organisieren, daß er ökonomisiert werden kann, so daß jedenfalls im Prinzip ein kohärentes Ganzes resultiert. Dies geschieht nicht zuletzt mit Hilfe von Routinen und durch Anweisungen, so daß die so Angewiesenen Wissen nutzen können, ohne selbst über alle Implikationen des Wissenszusammenhanges informiert zu sein. Auf diese Art und Weise werden in

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der Organisation nicht nur Fähigkeiten akkumuliert, sondern es wird in ihr als Ganzer auch Wissen gespeichert, wobei es hier vor allem um sogenanntes implizites Wissen geht oder - neudeutsch - um „tacit knowledge". Inwieweit das von der Unternehmung erzeugte Wissen in Form von Produktangeboten von dieser selbst auf dem Markt genutzt wird, das heißt, wo im einzelnen die Unternehmensgrenzen liegen, das entscheidet sich in Abhängigkeit von der Wettbewerbssituation auf den Absatzmärkten und ist in erster Linie von Verwertungsgesichtspunkten bestimmt, wobei die Aneigbarkeit von Quasi-Renten bzw. Innovationsrenten eine zentrale Rolle spielt. Analog werden die Grenzen auf der Beschaffungsseite der Unternehmung festgelegt. In diesem Kontext spielt auch das nationale Innovationssystem, das sich jeweils pfadabhängig entwickelt hat, eine wichtige Rolle, worauf ich aus Zeitgründen nicht näher eingehen kann. Soweit mit ganz wenigen Strichen die Evolutionstheorie der Unternehmung. Diese am Phänomen des Wissens ansetzende Erklärung der Unternehmung ist gerade in den letzten Jahren stark diskutiert worden und inzwischen zu einem Eckpfeiler der Evolutorischen Ökonomik geworden. Aus Zeitgründen kann dieser Komplex hier nicht ausgebreitet werden. Ich darf deshalb auf die Dissertation von Carsten Schreiter (1994) verweisen. Erwähnt seien jedoch noch in aller Kürze das sogenannte technologische Paradigma und, mit ihm verwandt, die technische Führerschaft im Rahmen einer Branche. In beiden Fällen geht es im Prinzip ebenfalls um das notwendige Überlappungswissen in vertikaler und in horizontaler Richtung. Unter dem technologischen Paradigma versteht man den Sachverhalt, daß die Firmen bei der Entwicklung neuer Techniken einem bestimmten technischen Leitbild folgen und nach Möglichkeit versuchen, bei ihren Neuerungen eine gewisse Kompatibilität ihrer „Problemlösungen" aufrechtzuerhalten. Dies kann auch durch technologische Führerschaft eines Unternehmens bewerkstelligt werden. Insofern bestehen hier enge Verbindungen zu der Bildung von Standards. Ein gewisser Nachteil der Koordination des Verhaltens durch technologische Paradigmata kann darin bestehen, daß die Nutzung neu gefundenen Wissens verhindert oder verzögert wird, was dann dem übergeordneten Begriff der Pfadabhängigkeit zugeordnet werden kann, wobei deren Wirkung bis zur Irreversibilität reichen kann.

VIII. Der Stellenwert der Institutionen Pfadabhängigkeiten spielen bekanntlich auch bei der Entwicklung von Institutionen eine wichtige Rolle, insbesondere bei den sogenannten informellen Institutionen. Aber nicht nur deshalb müssen einige Bemerkungen zu Institutionen gemacht werden, sondern vor allem deswegen, weil sie in einer evolutorisch ausgerichteten Betrachtungsweise eine ungleich größere Bedeutung erlangen müssen als im Kontext des neoklassischen Gleichgewichtsdenkens. Dies ergibt sich als eine unmittelbare Konsequenz unserer früheren Überlegungen. Denn gerade dann, wenn der anhaltende Wettbewerbsund damit Innovationsprozeß für die beteiligten Wirtschaftssubjekte eine Situation der Ungewißheit immer wieder erneuert, so benötigen diese zu ihrer Orientierung Normen und Regeln, die von allen Wirtschaftssubjekten akzeptiert und befolgt werden und dabei einen gewissen zeitlichen Bestand haben. Institutionen sind so gesehen Hilfsmittel, um Ungewißheit durch orientierte Erwartungsbildung absorbieren zu können. Hier ist in erster Linie an rechtliche Normen, jedoch keineswegs nur an diese zu denken. Wenn die

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Trennung zwischen Daten und Variablen unter den dynamisch-evolutorischen Entwicklungsbedingungen des Marktprozesses ihre Schwierigkeiten aufweist - wie von Hayek meint so übernehmen die Regeln und Normen, die von einiger Dauerhaftigkeit sind, nun die Rolle von „wirklichen Daten". In der Tat sind es diese Regeln und Normen, die man mit einigem Recht als relativ konstant voraussetzen kann. Sie kanalisieren daher den Marktprozeß und stellen zumindest einen Teil der längerfristigen Selektionsumgebung des Marktprozesses dar. Einen ähnlich langfristigen Charakter weist nur die Restriktion des Sonnenenergiestroms auf, die als Selektionsumgebung in der Industrialisierungstheorie Günter Hesses (1982; 1987) eine zentrale Rolle spielt. Diese Theorie stellt einen weiteren, wichtigen Pfeiler der Evolutionsökonomik dar. Es muß freilich sogleich wieder etwas Wasser in den Wein gegossen werden, weil sich ja zumindest die formalen Institutionen immer ändern lassen und im Marktprozeß auch öfter geändert werden. Daher liegt es nahe, daß sich die Evolutorische Ökonomik zwar insbesondere mit der Wirkung, zugleich aber auch mit der Veränderung von Institutionen zu beschäftigen hat. Nun hat allerdings die Institutionenökonomik in den letzten Dezennien ganz allgemein eine Renaissance erfahren. Dies trifft natürlich auch für die Berücksichtigung von Institutionen in der Neoklassik zu. Man hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, daß die Neoklassik einen großen Magen habe und deshalb neu aufkommende Fragestellungen gut aufgreifen und absorbieren könne. Sie könne daher auch die Institutionen „verdauen", also adäquat in ihre Modelle einbeziehen. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß die Verdauungssäfte, mit denen die Neoklassik arbeitet, gleichsam dieselben bleiben, das heißt, es bleibt bei Gleichgewichtsüberlegungen. Dies gilt nicht nur für Institutionen, sondern auch für die Analyse der ihnen korrespondierenden Informationsvorgänge. Es haben sich jedoch die Institutionen nicht nur in Gleichgewichtskonstellationen zu bewähren, sondern vor allem in den anhaltenden Marktprozessen mit ihren entsprechenden Ungleichgewichten. Deshalb scheint es mir problematisch zu sein, bei der Beurteilung institutioneller Regelungen lediglich auf statische Effizienzkriterien abzuheben, mit anderen Worten, die resultierenden Gleichgewichte mit wohlfahrtstheoretischen Normen zu bewerten. Eine so gemessene Effizienz bezieht sich auf Gleichgewichte, die wegen des anhaltenden Marktprozesses auf dem Markt aber nur die Ausnahmesituation darstellen. Hinzu kommt als weitere Frage, ob die Allokationsejfizienz im statischen Sinne überhaupt stark ins Gewicht fällt gegenüber der Wohlstandssteigerung durch wettbewerbliche Innovationsprozesse. Wenn letztere höher zu gewichten ist, müßte man bei einer anstehenden Änderung von Institutionen diesem Gesichtspunkt dadurch Rechnung tragen, daß man primär danach fragt, was Innovationsaktivitäten begünstigen könnte. Faßt man eine institutionelle Änderung ins Auge, so sollte man sich daher genauestens anschauen, wie institutionelle Änderungen in der Vergangenheit tatsächlich zustande gekommen sind und welche Wirkung sie dann entfaltet haben. Mit anderen Worten, wenn man die Bedeutung von Institutionen bejaht, muß man auch die Bedeutung der Wirtschaftsgeschichte für die ökonomische Theorie bejahen. Da Institutionen nicht vom Himmel fallen, sondern von Menschen gemacht werden - wenn dies auch nicht immer in bewußter Form geschieht - , bietet es sich an, auch die Dogmengeschichte zu Rate zu ziehen, weil man dort etwas über die theoretischen Vorstellungen erfährt, die in der Praxis bei der Änderung von institutionellen Regelungen herangezogen worden sein dürften. Wirtschaftsgeschichte und Theoriegeschichte enthüllen zugleich, daß institutio-

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nelle Änderungen immer oder zumindest oft unbeabsichtigte Konsequenzen zeitigen. Dies kann sich nicht zuletzt daraus ergeben, daß man bei der Änderung einer institutionellen Regelung in aller Regel auf Partialüberlegungen zurückgreift und infolgedessen das Zusammenwirken der geänderten Regel mit dem Kosmos der übrigen Regeln nicht genügend bedenkt. Ob sich nämlich eine neue Regel tatsächlich bewährt, kann daher nur im Kontext dieser anderen Regeln entschieden werden, letztlich also erst im Prozeß ihrer Anwendung. Außerdem sollte man bedenken, daß auch die formalen Institutionen eine nicht zu geringe Dauerhaftigkeit aufweisen sollten, um hierdurch den Menschen eine gewisse Sicherheit für die Orientierung bieten und somit eine gewisse Erweiterung ihrer Operationsbasis gewährleisten zu können.

IX. Die spontane Ordnung als Selektionsordnung Institutionen verleihen dem Marktprozeß Ordnung. Im Rahmen dieser institutionellen Ordnung kann sich dann die spontane Ordnung im Sinne von Hayeks aufspannen. Die Zustände, die sich im Rahmen der spontanen Ordnung darstellen können, implizieren keine perfekte Koordination im Sinne des Allgemeinen Gleichgewichtes. Der Ausdruck „spontane Ordnung" bringt jedoch zum Ausdruck, daß es sich dennoch um ein geordnetes System handelt. Um welche Ordnung aber handelt es sich dann? Nun, nach meiner Auffassung handelt es sich bei der spontanen Ordnung als der Ordnung evolutionärer Marktprozesse um eine Selektionsordnung. Anders ausgedrückt, in dem anhaltenden Wettbewerbs- und Innovationsprozeß bauen sich wegen der bereits erwähnten Heterogenität der Akteure und der daraus resultierenden heterogenen Angebotsvarianten gleichsam Selektionsstaffeln auf, an denen sich die Nachfrage als Marktgegenseite abarbeiten kann, ganz ähnlich, wie in der Biologie die Umweltbedingungen über die Auswahl bestimmter Varianten der Spezies entscheiden. Das Preissystem hat hierbei eine wichtige Orientierungsfunktion, wenngleich es nicht die Koordinationspotenz von Gleichgewichtspreisen wie im Allgemeinen Gleichgewicht besitzt. Kurzum, es bleibt nur der Allgemeine Preiszusammenhang, welcher allerdings nicht mehr derjenige von Gleichgewichtspreisen ist. Oder noch anders ausgedrückt, an die Stelle des Ruhezustandes im Sinne des Allgemeinen Gleichgewichts ist nun die spontane Ordnung als Selektionsordnung getreten, und diese bezieht sich auf ein System, das in Bewegung ist und daher gleichsam höhere Ansprüche an die Koordinationsleistung stellt. Hervorzuheben ist, daß die SelektionsstafTeln nicht statisch zu interpretieren sind, sondern aufgrund des in der Zeit anhaltenden Marktprozesses jeweils die laufenden InnovationsVorgänge reflektieren {Fehl und Schreiter 2000).

X. Evolutionsökonomik als der umfassendere Ansatz Fassen wir noch einmal kurz zusammen: Die Evolutorische Ökonomik unterscheidet sich von der Neoklassik durch eine andere Sicht auf die Welt (Fehl 2004a). Sie setzt das Marktprozeßdenken an die Stelle des Gleichgewichtsdenkens. Statt von Gegebenheiten auszugehen, betont sie die Ungewißheit, in welche die Akteure auf dem Markt gestellt sind. Deshalb ersetzt sie die Optimierung durch ein Denken in trial-and-errorProzessen. Daher arbeitet sie eher mit Populationen als mit der Hilfsfigur des repräsen-

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tativen Individuums. Sie hebt deshalb zu Recht die Heterogenität hervor, die in neoklassischen Überlegungen oft auf der Strecke bleibt. Weiterhin betont sie das Unternehmertum und geht nicht von einer verkümmerten Form des Unternehmers aus wie die Neoklassik. Institutionen erhalten in der Evolutorischen Ökonomik einen zentralen Stellenwert, der auf ihre Funktion in den Prozessen abstellt, auf die Entwicklung der Institutionen abhebt, also ihren historischen Entstehungsprozeß berücksichtigt, so daß die statische Effizienz stärker in den Hintergrund rückt. Die Evolutorische Ökonomik verallgemeinert schließlich den Ordnungsbegriff, indem sie dem Begriff der perfekten Koordination im Sinne des Allgemeinen Gleichgewichtes die Selektionsordnung gegenüberstellt. Das Gleichgewicht wird dabei gleichsam zu einem Spezialfall. Nach meinem Dafürhalten stellt die Evolutorische Ökonomik daher eine Verallgemeinerung der neoklassischen Betrachtung dar und verweist die Gleichgewichtsökonomik auf spezielle Fälle, wie sie etwa in der späten Ausreifungsphase eines Marktes relevant werden. Insgesamt sollte man jedoch mit einem gewissen Pragmatismus zu Werke gehen, das heißt, man sollte evolutorisch denken, aber bestimmte Aspekte der Marktentwicklung - soweit dies sinnvoll ist - durchaus mit dem gleichgewichtstheoretischen Instrumentarium, das ja über einen reichen Erfahrungsschatz verfügt, analysieren und dadurch dieses gleichsam in den Dienst der evolutorischen Theorie stellen: zumindest dann, wenn die Anwendungsbedingungen für die neoklassische Modellwelt wenigstens einigermaßen erfüllt sind. Zu beachten bleibt aber, daß die übliche neoklassische Betrachtungsweise dem sich entwickelnden Gegenstand nicht voll gerecht werden kann und es daher des umfassenderen Rahmens der evolutorischen Betrachtungsweise bedarf. Mit dieser Charakterisierung der Evolutionsökonomik ist zugleich die Frage nach dem „ Warum " beantwortet. Die Evolutorische Ökonomik stellt den generelleren Ansatz dar und vermag deshalb eine reichhaltigere Erklärung der Wirklichkeit zu liefern. Dies ließe sich an einigen Beispielen aus der Markttheorie, der Kapitaltheorie und der Konjunkturtheorie (Fehl 2004b) leicht im einzelnen aufzeigen. Leider reicht hierfür die Zeit nicht. Ich denke aber, daß meine allgemeinen Bemerkungen, bei denen es nur um die zentralen Prinzipien des evolutionsökonomischen Ansatzes gehen konnte, ausreichend deutlich gemacht haben, daß die Evolutorische Ökonomik im Hinblick auf die Marburger Universalia Ordnung, Wettbewerb und Entwicklung einiges zu bieten hat. Sie erklärt, wie aus einer guten Ordnung Wettbewerb entspringt und wie dieser zu Entwicklung führt.

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Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag wird versucht, den Begriff „Evolutionsökonomik" zu bestimmen. Dies geschieht durch einen Vergleich mit der neoklassischen Ökonomik. Während in der letzteren der Begriff des „Gleichgewichts" im Zentrum der Überlegungen steht, setzt die Evolutionsökonomik statt dessen auf den Begriff des „Marktprozesses". Ausgehend von diesem unterschiedlichen Blick auf ökonomische Beziehungen können die Hauptcharakteristika beider Ansätze bestimmt werden. Es wird die These vertreten, daß die Evolutionsökonomik zu einer umfassenderen Analyse der Ökonomie führt als die neoklassische Ökonomik, weil sie in stärkerem Maße die dynamischen Phänomene wie Unternehmertum, Innovationen, Wettbewerb und wirtschaftliche Entwicklung in ihre Überlegungen einbezieht.

Summary: Why Evolutionary Economics? A Comparison with Neoclassical Economics: Process or Equilibrium? The paper tries to identify "evolutionary economics", which is done by comparing it to neoclassical economics. While the notion of "equilibrium" is the central concept of the latter, evolutionary economics instead focuses on the notion of the "market process". Referring to this difference in view on economic relations the main features of both approaches can be derived. It is suggested that evolutionary economics leads to a more comprehensive analysis of the economy because it more fully than neoclassical economics takes into account the dynamics of entrepreneurship, innovations, competition and economic development.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2005) Bd. 56

Carl Christian von Weizsäcker

Hayek und Keynes: Eine Synthese* Inhalt I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI.

Hayeksche Philosophie, Keynesianische Analysetechnik 95 Sechzig Jahre „The Use of Knowlege in Society" 96 Das Preissystem ist selbst Teil des verstreuten privaten Wissens 97 Hayeks „The Meaning of Competition" und das Thema „unvollkommene Information" 98 Rückwirkungen des Koordinationssystems „Wettbewerb" auf das individuelle Wissen 99 Arbeitsteilung und die Asymmetrie der Märkte 101 Transaktionsgesättigte Konsumenten, transaktionshungrige Produzenten... 101 Transaktionskosten-Überlegungen verstärken die Asymmetrie 102 Die Quintessenz: „Sticky prices" und Reservekapazitäten 103 Der Weg zu Keynes: Reservekapazitäten und „Sticky prices" auch auf der Makro-Ebene 104 Das entpolitisierte Geld 106

Anhang: Ein lineares Modell der Monopolistic Competition

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Hayek and Keynes: A synthesis

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I. Hayeksche Philosophie, Keynesianische Analysetechnik In diesem Beitrag möchte ich keineswegs die fundamentalen Unterschiede in der „Philosophie" der beiden Autoren verwischen oder gar leugnen. Mein Anliegen ist der Versuch, gewisse Mißverständnisse auszuräumen, die ein Hemmnis im gegenseitigen Verständnis heutiger „Ä'ejwesianer" und heutiger ,Jiayekianer" darstellen. Ich möchte mich selber „philosophisch" weitgehend zu Hayek bekennen. Im mehr „technischen" Sinn allerdings neige ich sehr den Analyseinstrumenten zu, die man mit den ,JCeynesianern" identifiziert. Ich komme selbst aus einer methodischen Tradition, die man die

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Eine frühere Fassung dieser Arbeit lag einem Vortrag auf Einladung des Walter Eucken-Instituts an der Universität Freiburg im April 2005 zugrunde. Ich danke Herrn Privatdozent Dr. Ludger Linnemann, Universität zu Köln, für wertvolle Hinweise.

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axiomatische Methode oder auch die mathematische Methode nennt. Ich stelle aber fest, daß trotz der großen Vorläufer in der Österreichischen Schule wie Menger und BöhmBawerk die Hayek-Schule ebenso wie die „Neo-österreichische" Schule von der Mathematik wenig Gebrauch macht und in aller Regel nicht mit der axiomatischen Methode arbeitet. Dabei war doch Hayek selbst diesen Verfahren gegenüber sehr aufgeschlossen. Denken wir nur an sein Nachdenken über „The Sensory Order" (Hayek 1952), die er doch auch als Ausgangspunkt für seine weitere sozialphilosophische Arbeit ansah.

II. Sechzig Jahre „The Use of Knowlege in Society" Aber es geht mir heute nicht um Methodisches; es geht mir um ein genaues Hinsehen auf die Strukturen, die sich in der „spontanen Ordnung" wiederfinden, als die Hayek das marktwirtschaftliche Geschehen auffaßt. Es gibt den vielzitierten Aufsatz Hayeks aus der American Economic Review des Jahres 1945 „The Use of Knowlegde in Society" {Hayek 1945), dessen 60-jähriges Jubiläum wir heuer feiern können. Darin wird dem „Preissystem", wie Hayek es nennt, die Funktion zugeordnet, für die effiziente Koordination des über die Individuen verstreuten Wissens in der Gesamtgesellschaft zu sorgen. Wenn, um bei Hayeks Beispiel zu bleiben, eine neue Anwendung für das Metall Zinn gefunden wird und es daher - in einem vernünftigen Sinn dieses Wortes - „knapper" wird, so erfahren Zinnproduzenten und Zinnverbraucher dieses ökonomisch wichtige Faktum dadurch, daß der Zinnpreis steigt und sie alle zu vermehrter Zinnproduktion anhält oder zum sparsameren Umgang mit dem Metall Zinn veranlaßt. Das Preissystem übermittelt in bewundernswert knapper Form, das, was alle anderen Betroffenen von der neuen Anwendung einzig wissen müssen: daß Zinn nunmehr knapper geworden ist. Diese allgemeine - und unbestrittene - Aussage kann aber über das hinaus konkretisiert werden, was in demselben Aufsatz steht. Zum Teil hat Hayek das selbst später getan, worauf ich zurückkommen werde. Aber schon in demselben Aufsatz aus dem Jahre 1945 steht ein Satz, der uns auf die Fährte führt, welche ich in diesem Vortrag verfolgen möchte: „It is, perhaps, worth stressing that economic problems arise always and only in consequence of change. As long as things continue as before, or at least as they were expected to, there arise no new Problems requiring a decision, no need to form a new plan" (Hayek 1945,4. Abschnitt).

Mit anderen Worten: die eigentliche Funktion des Preissystems ist es, mit dem ständigen Wechsel der Bedingungen des Wirtschaftens fertig zu werden. In einem absolut erstarrten Wirtschaftskörper - bar jeder Veränderung - bedarf es keines Preissystems zur Koordination des Handelns der Individuen. Denn hier müßte nur jeder das tun, was er gestern schon getan hat. Es ist also „change", der Wechsel, die ständige Veränderung der Verhältnisse, die eine anspruchsvolle Koordinationsaufgabe stellt, für die das Preissystem eigentlich da ist. Nun stellen wir allerdings empirisch etwas fest, das wir mit dem eben Gesagten erst kompatibel machen müssen: Die meisten Preise, die wir beobachten können, verändern sich wesentlich langsamer als die dazugehörigen Transaktionsmengen. Als Durchschnittsaussage für die Volkswirtschaft kann diese Beobachtung unter anderem daran abgelesen werden, daß der Preisindex der Lebenshaltung der Wirtschaftskonjunktur hinterherhinkt, und zwar um beträchtliche Zeiträume in der Größenordnung von etwa

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einem Jahr. Die „sticky prices" sind ein nicht wirklich bestreitbares Faktum. Das Preissystem als Signalsystem zur Anzeige der relativen Knappheiten arbeitet somit nur langsam und unvollkommen (vgl. den Übersichtsartikel von Taylor 1999).

III. Das Preissystem ist selbst Teil des verstreuten privaten Wissens Das aber sollte einen Anhänger Hayeks nicht wirklich überraschen. In dem genannten Aufsatz aus dem Jahre 1945 sagt Hayek selbst, daß dieses System nur unvollkommen funktioniere. Und es wäre ja selbst ein Zeichen von zentralisierungshörigem „Konstruktivismus" wenn man des Glaubens wäre, die Walrasscbe Konstruktion eines Allgemeinen Gleichgewichts mit durchgehend an einem Punkt konzentrierten börsenartigen Märkten (und ohne bilaterale außerbörsliche Kaufverträge) sei ein strukturell getreues Abbild des tatsächlichen Preissystems. Die Chicago-Methode, mit der Als-ObHypothese zu arbeiten, nach der alle Märkte „perfect competition"-Märkte sind, mag ihren analytischen Charme haben und mag als Beispiel der Friedmanschen Methodologie - daß nicht Annahmen, sondern Ergebnisse dem empirischen Test ausgesetzt werden müssen - Furore machen; aber letztlich ist auch sie ein versteckter Zentralismus: Alle Preissignale sind quasi voll zentralisiert und immer allen Akteuren simultan bekannt. Es gibt in diesem Chicago-Modell kein individualisiertes Wissen über Preise. Tatsächlich aber bezieht sich das individuelle Wissen, um dessen Koordination vermittels des Preissystems es nach Hayek geht, auch auf das Preissystem selbst. Es ist eben nicht so, daß wir hier das individuelle Wissen und dort das Preissystem als öffentliches Wissen haben und daß nun durch das kollektiv „gewußte" Preissystem das individuelle Wissen effizient koordiniert wird. Eine solche Hayek-Interpretation wäre „Walrasianisch" und nicht ,flayekianisch". Wie aber kann das Preissystem seine Koordinationsfunktion überhaupt erfüllen, wenn es selbst auf der gleichen Ebene des individuellen, verstreuten Wissens steht, wie das von ihm zu koordinierende individuelle, verstreute Wissen? Ich denke, daß hier ein Forschungsfeld vor uns liegt, dessen Bearbeitung sowohl in der Theorie als auch in der Empirie höchst verdienstvoll wäre. Hierzu kann ich nur marginal beitragen. Ich tue dies aus einer bestimmten Erfahrungswelt heraus, die sich mir in einem speziellen Bereich der Ökonomie aufgetan hat, der Wettbewerbsökonomie oder des Gebiets, das heute als „Industrial Organization" bezeichnet wird. Veranlaßt wurde ich, über diese Fragen nachzudenken, weil ich in meinen eigenen Studien darüber, was Wettbewerb eigentlich ist, immer mehr zu der Überzeugung kam, daß eine bestimmte, häufig vertretene These oder Hypothese falsch ist. Viele Wettbewerbs-Ökonomen vertraten und vertreten teilweise noch heute die Meinung, daß der Wettbewerb auch eine bestimmte makroökonomische Funktion derart erfülle, daß auf Wettbewerbsmärkten die Preise flexibler reagierten als auf vennachteten Märkten und daß deshalb eine Politik der Stabilisierung des Geldwerts in einer Volkswirtschaft mit Wettbewerbsmärkten weniger schmerzhaft und schneller wirken werde als in einer Volkswirtschaft mit vermachteten Märkten. Die Monopolkommission hat um das Jahr 1980 herum empirische Studien in Auftrag gegeben, die diesen Befund bestätigen sollten. Ich war skeptisch - und in der Tat, die empirischen Studien haben ein derartiges Ergebnis nicht erbracht: Auf weniger konzentrierten Märkten ist die „price-stickiness" genau so groß wie auf hoch konzentrierten Märk-

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ten. Eine Dekonzentration der Märkte scheint nicht dazu zu führen, daß sich der Lag zwischen Konjunktur und Preisniveau verkürzt.

IV.

Hayeks „The Meaning of Competition" und das Thema „unvollkommene Information"

Dies kann man sehr wohl verstehen, wenn man auch in Wettbewerbsdingen HayekAnhänger ist. Ungefähr aus der gleichen Zeit wie der oben besprochene Aufsatz stammt ein Vortrag, den Hayek, ich denke auf Einladung Fritz Machlups, in Princeton hielt. Er trägt den Titel „The Meaning of Competition" (Hayek 1949). Nach Hayek ist der eigentliche Sinn des Wettbewerbs verkannt, wenn man sich auf den Allokationsprozess bei vollkommener Information konzentriert. Vielmehr ist es der Sinn des Wettbewerbs, die Gesellschaft über die Marktprozesse von einem Zustand geringen Wissens übereinander in einen Zustand größeren Wissens zu führen, der uno actu auch eine bessere Koordination des Verhaltens ermöglicht. Später spricht Hayek vom „Wettbewerb als Entdekkungsverfahren" (Hayek 1969c). Er nimmt hier die Thematik vorweg, die dann erst Jahrzehnte später zentrales Thema der orthodoxen Ökonomie wurde: Märkte mit unvollkommener Information. Die modelltheoretische Forschung auf diesem Gebiet wurde (nach Vorarbeiten etwas anderer Art von George Stigler 1961) von Akerlof eingeleitet mit seinem berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1969: „The Market for Lemons" {Akerlof 1970). Hier geht es um ein Modell, das beschreibt, wie Märkte funktionieren oder auch nicht funktionieren - , wenn die Käufer die Qualität der Ware vor der Kaufentscheidung nicht einschätzen können. Schon Hayek hat in seinem Princeton-Vortrag eine Antwort der Praxis auf dieses Problem gegeben: die Marke. Dahinter steht das Phänomen des Vertrauens. Ich spreche vom Extrapolationsprinzip (Weizsäcker 1981): Menschen haben die (vor-rationale) Gewohnheit, das bei anderen Menschen beobachtete Verhalten auch für die Zukunft zu erwarten, also zu extrapolieren. Diese Gewohnheit macht es vielfach lukrativ, die Erwartungen anderer in das eigene Verhalten nicht zu enttäuschen. Und so entstehen Anreize zu einer gewissen Verhaltenskonstanz, die die Gewohnheit der Extrapolation des Verhaltens bestätigen und damit stabilisieren. Diese Grundstruktur menschlicher Verhaltens-Interaktion wird nun auch genutzt, um das „Lemons-Problem" zu lösen und damit einen Zustand des NichtWissens in einen Zustand des vertrauensgetränkten Wissens über die Produktqualität zu transformieren. Dieser Vorgang der Transformation vom Nichtwissen zum Wissen ist für Hayek (und für mich) Wettbewerb. Damit ist die Marke als Institution und die damit zusammenhängende Markentreue der Kunden Begleiterscheinung des Wettbewerbs und nicht, wie viele quasi „vor-AßyeAianische", aber noch heute aktive Wettbewerbspolitiker meinen, ein Wettbewerbshemmnis. Sie ist aus der Sicht des Wettbewerbs und seiner Funktionen Problemlösung und nicht Problem (Weizsäcker 2005). Aber mit dieser Problemlösung geht einher, daß der Preis der so in den Markt gebrachten Ware oder Dienstleistung nicht täglich schwankt. Der Preis wird hier gesetzt, auch um als Signal für die „Wertigkeit" des Gutes, nicht nur seiner Knappheit zu dienen. Er wird gesetzt in dem Bewußtsein, daß der Kunde in aller Regel nur unvollkommen über die Preise von Konkurrenzprodukten informiert ist, daß Preise eben überwiegend „privates", in der Volkswirtschaft verstreutes Wissen sind. Vor allem aber wird

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der Preis so gesetzt, daß das Gut zu diesem Preis auch wirklich verfugbar ist, daß jeder, der bereit ist, diesen Preis zu bezahlen, das Gut auch jederzeit erhalten kann. Das Wissen, wo man ein bestimmtes Gut erwerben kann, ist ja ebenfalls privates, in der Volkswirtschaft verstreutes Wissen. Indem die Marke von ihrem Eigentümer nun so verwaltet wird, daß sich mit ihr auch das Wissen verbindet, daß das Markenprodukt in den dafür geeigneten Geschäften auch tatsächlich jederzeit erhältlich ist, wird ein weiteres Problem des Nicht-Wissens gelöst, kann die Koordination des menschlichen Handelns wesentlich verbessert werden. Die vergleichsweise große Preiskonstanz ist beim Markenprodukt aber nicht nur eine Folge davon, daß der Preis hier auch eine ganz andere Signalfiinktion hat als die der Knappheit. Sie ist auch bewußte Politik, um dem Käufer eine möglichst hohe Gewißheit über den Preis zu geben. Wenn der Käufer auch bei den Preisen ein Wissensproblem hat und wenn er nun vor der Wahl steht zwischen einem Produkt A, dessen Preis er zu kennen meint, und einem Produkt B, dessen Preis er nicht kennt, dann wird er sich vielfach fiir das Produkt A entscheiden, weil er im Falle des Gutes B sich erst über den aktuellen Preis mit Suchaufwand erkundigen muß. Preiskonstanz erlaubt es dem Kunden, den Preis, den er von früher kennt, zu extrapolieren. Sie erspart Suchaufwand und ist deshalb eine in vielen Fällen gute Marketing-Strategie. Der ist ein guter Verkäufer, der dem Kunden das Leben möglichst bequem macht.

V.

Rückwirkungen des Koordinationssystems „Wettbewerb" auf das individuelle Wissen

Hayeks Ansatz ist es, daß das Preissystem und der Wettbewerb lokales Wissen koordinationsfähig machen, daß Wissen an die koordinationsrelevanten Punkte transportiert wird. Wir können einen Schritt weiter gehen und damit ein empirisches Phänomen erklären: Die Menschen fällen ihre Kaufentscheidungen mit einem erstaunlich geringen Grad des Wissens. Sie haben meist eine nur schlechte Übersicht über die Verfügbarkeit von Konkurrenzprodukten, über deren Preise und über deren Qualität. Dennoch funktioniert, so scheint es mir, der Wettbewerb auf den meisten Märkten recht gut. Dennoch verfugen wir über ein leidlich funktionierendes Koordinationssystem der individuellen Entscheidungen in der Volkswirtschaft. Der Grund für diesen Befund ist meines Erachtens, daß über den Anbietern ständig das Damoklesschwert des wohlinformierten Kunden schwebt. Für den Wettbewerb kommt es weniger auf die Menge relevanten Wissens des einzelnen Käufers an als vielmehr auf die Menge relevanten Wissens der Summe aller Kunden. Der Wissensstand des imaginären „Gesamtkunden" ist ausschlaggebend. Es gibt hier eine Art „Wissensaggregation", eine Art „Vergesellschaftung" individuellen Wissens, um eine Anleihe bei Karl Marx zu machen, für den die „Bourgeoisieepoche" dadurch gekennzeichnet ist, daß die Warenwelt die menschliche Arbeit vergesellschaftet. Wenn auch nur eine kleine Minderheit bisheriger Kunden eines Anbieters A feststellt, daß die Preise von A einen Vergleich mit den Preisen von B oder C oder D nicht aushalten und sie deshalb zu einem anderen Anbieter übergeht, dann sinkt der Marktanteil von A. Die Erfahrung lehrt (und die Theorie kann es erklären), daß es dann „brennt" in den Vorstandsetagen des Anbieters A. Denn genau wegen der Kundentreue oder

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Kundenträgheit ist „Kundschaft" bei den meisten Anbietern ihr wertvollstes Aktivum ohne doch in der Regel in der Bilanz ausgewiesen zu sein. Ein kleiner Verlust an Kundschaft ist bei unvollkommenem Wissen der Kunden, bei Kundentreue und Kundenträgheit vermögensmäßig ein größeres Debakel als ein großer Verlust an Kundschaft bei voll informierten und voll flexiblen Kunden. Denn letztere sind durch kleine Preiskonzessionen zurückzugewinnen, erstere nicht. Der Wettbewerb ist somit auch bei Kunden mit geringem Wissen über Konkurrenten des Anbieters äußerst intensiv. Natürlich kann der neoklassisch geschulte Ökonom einwenden: Das mag ja so sein, aber je besser die Kunden informiert sind, desto niedriger ist der Preis in diesem Markt. Das ist richtig - und hieraus hat die Industrieökonomie seit Jahrzehnten den Schluß gezogen, daß Kundentreue und Markenbindung der Kunden Marktzutrittsschranken sind (so seinerzeit meinungsbildend Bain 1956). Aber alle Versuche der Wettbewerbspolitik und der Verbraucherpolitik, hier Remedur zu schaffen, können nicht überzeugen und sind ein ganz wesentlicher Teil der seit Jahrzehnten zu beobachtenden Bürokratisierung des Wirtschaftslebens. Denken wir nur an die bürokratischen Auswüchse des „Verbraucherschutzes", an all die diesbezüglichen Richtlinien, die aus Brüssel kommen. Denken wir an die Versuche der Antitrust-Behörden - etwa im Falle „Kellog" der siebziger Jahre - „Brand-Proliferation" als „Monopolizing", als Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu brandmarken und somit letztlich die Markenpolitik von großen Unternehmen der staatlichen Regulierung zu unterstellen. Dabei gibt es einen naheliegenden Einwand gegen das neoklassische Argument: Zwar kann die wohlinformierte Kundschaft zu besseren Preisen einkaufen als die Kundschaft mit geringem Wissen; aber die Kundschaft mit geringem Wissen spart sehr viel Zeit, indem sie auf eine gute Informiertheit verzichtet. Wenn es aber - ganz neoklassisch - einen Trade-off zwischen Zeit und Geld gibt, dann mögen letztlich die Gesamtkosten für die Volkswirtschaft bei geringer Informiertheit der Kunden geringer sein als bei hohem Informationsgrad. Wir können also in der Tradition von Hayek weiter extrapolieren: Der Wettbewerb (oder das Preissystem) sind nicht nur soziale Mechanismen, die verstreutes Wissen produktiv koordinieren; darüber hinaus ermöglichen sie es dem Einzelnen, das von ihm zu erwerbende Wissen zeitsparend zu beschränken, indem er sich auf das ihm über diese Mechanismen zugespielte indirekte Wissen verlassen kann. Wenn ich im Laden meine Lebensmittel einkaufe, ohne die Preise bei der Konkurrenz zu kennen, dann kann ich mich darauf verlassen, daß diese Preise deshalb Wettbewerbspreise sind, weil andere Kunden sich der Mühe dieses Preisvergleichs unterziehen. Wenn ich weiß, daß der Laden, in dem ich kaufe, Wettbewerb ausgesetzt ist, dann kann ich mich ohne eigene Nachprüfung auf die Qualität der Ware, die im Regal ist, verlassen; denn der Laden kann nur überleben, wenn er auf Dauer gute Ware anbietet und deshalb vor der Hereinnahme der Ware ins Regal eine Qualitätskontrolle durchfuhren läßt. Diese quasi gegenseitige Nutzung des Wissens der verschiedenen Kunden entlastet den Einzelnen, erlaubt dem Einzelnen, „faul" in der Akquisition von individuellem Wissen zu sein. Diese „Faulheit" im einzelnen Markt ermöglicht es dem Kunden erst, als Kunde in einer so großen Anzahl von Märkten tätig zu sein. Der individuell schlecht informierte Kunde ist das Korrelat für die Buntheit des Angebots.

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Es geht also nicht nur um die effiziente Koordination des Handelns der Individuen bei gegebenem verstreutem Wissen, sondern auch um die effiziente Generierung oder Nichtgenerierung dieses lokalen Wissens, wenn das Individuum in diese Koordinationsmechanismen Preissystem und Wettbewerb eingebettet ist. Und dabei sehen wir, daß Preise sehr weitgehend auch verstreutes Wissen sind mit der Folge, daß ihnen auch unter Bedingungen des Wettbewerbs eine gewisse Trägheit eigen ist. Und wir erkennen, daß Preise ja nur dann „echte" Preise sind, wenn die entsprechenden Güter für denjenigen leicht verfugbar sind, der bereit ist, deren Preis jeweils zu bezahlen.

VI. Arbeitsteilung und die Asymmetrie der Märkte Ich baue nunmehr die Brücke von Hayek zu Keynes. Der tragende Brückenpfeiler heißt Adam Smith. Ich zitiere: "The greatest improvement in the productive powers of labour, and the greater part of the skill, dexterity, and judgement with which it is anywhere directed, or applied, seem to have been the effects of the division of labour." {Smith 1776, Buch 1, Kapitel 1, Satz 1)

Ich denke, als //ay