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German Pages 586 [608] Year 1998
ORDO Band 49
ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Band 4 9
Begründet von Walter Eucken und Franz Böhm
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Herausgegeben von Hans Otto Lenel Helmut Gröner Walter Hamm Erich Heuß Erich Hoppmann Ernst-Joachim Mestmäcker Wernhard Möschel Josef Molsberger Peter Oberender Alfred Schüller Viktor Vanberg Christian Watrin Hans Willgerodt
Lucius & Lucius · Stuttgart
Schriftleitung Professor Dr. Hans Otto Lenel Universität Mainz, Haus Recht und Wirtschaft, D-55122 Mainz Professor Dr. Dr. h. c. Josef Molsberger Wirtschaftswissenschaftliches Seminar der Universität Tübingen Nauklerstr. 47, D-72074 Tübingen Professor Dr. Helmut Gröner Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Professor Dr. Alfred Schüller Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme der Universität Marburg, Barfüßertor 2, D-35037 Marburg Professor Dr. Peter Oberender Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth, Universitätsstr. 30, D-95440 Bayreuth
© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart • 1998 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Druck und Einband: Druckhaus »Thomas Müntzer», Bad Langensalza/Thüringen ISBN 3-8282-0093-1 ISSN 0048-2129
Inhalt Hauptteil
Erich Hoppmann Die Interdependenz der Ordnungen I. Einführung: Das Konzept II. Die Wirtschaftstheorie III. Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik als Wissenschaft IV. Zusammenfassung und Ausblick Literatur Zusammenfassung Summary: The Interdependence of Economic and Social Order
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Helmut Leipold Die große Antinomie der Nationalökonomie: Versuch einer Standortbestimmung... I. Wie aktuell ist die große Antinomie der Nationalökonomie? II. Das Werk von A. Smith als Ausgangspunkt der großen Antinomie III. Die Bemühungen der Historischen Schule zur Überwindung der großen Antinomie IV. Die Ordnungstheorie von W. Eucken V. Die Theorie des institutionellen Wandels von D.C. North VI. Ansatzpunkte zur Überwindung der großen Antinomie Literatur Zusammenfassung Summary: The Great Antinomy in Economic Science: An Attempt to determine the Status Quo
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Herns Willgerodt Die Liberalen und ihr Staat Gesellschaftspolitik zwischen Laissez-faire und Diktatur I. Das Problem II. Aufgaben des liberalen Staates ΙΠ. Kann es eine liberale Gesellschaftspolitik geben? IV. Der Platz der Sozialpolitik im liberalen System V. Anmerkungen zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Kritik an Alfred MüllerArmack Literatur Zusammenfassung Summary: The Liberals and their State Society between Laissez-faire and dictatorship
43 43 44 55 64 68 74 77 77
VI · Inhalt
Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner Die Soziale Marktwirtschaft Alfred Müller-Armacks und der Ordoliberalismus der Freiburger Schule - Zur Unvereinbarkeit zweier Staatsauffassungen 79 I. Einleitung 79 II. Die Soziale Marktwirtschaft Alfred Müller-Armacks 81 ΠΙ. Der Ordoliberalismus der Freiburger Schule 91 IV. Vergleich von Sozialer Marktwirtschaft und Ordoliberalismus 95 V. Schlußfolgerungen und Ausblick 98 Literatur 100 Zusammenfassung 103 Summary: Alfred Müller-Armack's 'Social Market Economy' and Walter Eucken's 'Ordoliberalism' - On the incompatibility of their political philosophies. 104
Alfred Schüller Der wirtschaftspolitische Punktualismus: Triebkräfte, Ziele, Eingriffsformen und Wirkungen I. Einleitung II. Die Triebkräfte des punktuellen Interventionismus im politischen Prozeß ΙΠ. Zu den Zielen des punktuellen Interventionismus IV. Eigendynamik des angestrebten Wirkungsbereichs V. Eingriffsformen VI. Auswirkungen Literatur Zusammenfassung Summary: Selective Interventions in Economic Policy: Driving Forces, Aims, Methods and Consequences
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Claudius Christi Die Ordnungstheorie Walter Euckens in einer offenen Gesellschaft. Eine konstruktivistische Anmaßung von Wissen? I. Einführung in die Problemstellung II. Der Ordnungsbegriff III. Die Wettbewerbsordnung Walter Euckens aus marktprozessualer Sicht IV. Fazit Literatur Zusammenfassung Summary: Walter Eucken's Theory of Economic Order in an Open Society. A Constructivistic Pretence of Knowledge?
127 127 129 133 137 138 139 140
Inhalt · VII
Heiko Geue Sind ordnungspolitische Reformanstrengungen mit Hayeks Evolutionismus vereinbar? I. Ordnungspolitische Prinzipien im evolutionären Prozeß Π. Hayeks Theorie der kulturellen Evolution III. Ist Ordnungspolitik immer auch Konstruktivismus? IV. Fazit Literatur Zusammenfassung Summary: Is institutional reform compatible with Hayek's evolutionary theory?....
141 141 143 150 159 160 163 163
Lüder Gerken Die Grenzen der Ordnungspolitik I. Einleitung II. Die marktwirtschaftliche Ordnung III. Das wirtschaftspolitische Dogma und ein fundamentales Problem der Ordnungsökonomik IV. Freiheit V. Die Unzulässigkeit von Prozeßpolitik in der freiheitlich verfaßten Gesellschaftsordnung VI. Ergebnis Literatur Zusammenfassung Summary: The Limits of „Ordnungspolitik"
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Artur Woll Adam Smith - Gründe für ein erneutes Studium seiner Werke I. Die Smith-Renaissance und ihr wissenschaftlicher Ertrag Π. Diskussion über die Funktionen des Staates III. Diskussion über die Wirkungsweise des Marktes Literatur Zusammenfassung Summary: The concept of Adam Smith is as relevant today as it was two centuries ago
191 191 194 201 206 208 209
Vili · Inhalt
Friedrich L. Sell Max Weber - der Nationalökonom: Zur Neuinterpretation seines Werkes durch Wilhelm Hennis I. Einleitung II. Was hat Max Weber interessiert? III. Woran und wie sollten Max Weber folgend Nationalökonomen arbeiten? IV. Zur 'Anethik' des globalen Kapitalismus Literatur Zusammenfassung Summary: Max Weber, the Economist: A Sythesis of the new interpretation of his work by Wilhelm Hennis
211 211 212 214 223 225 226 226
Hartmut Berg und Gabriele Brandt Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung I. Historischer Überblick zur Unternehmertheorie II. Der Schumpetersche Unternehmer als funktionales Konstrukt III. Das Schumpetersche System IV. Bedeutung der Schumpeterschen Theorie heute Literatur Zusammenfassung Summary: The Schumpeterian Entrepreneur: Some Critical Remarks
229 229 231 242 247 249 250 251
Wolfgang Kerber Erfordern Globalisierung und Standortwettbewerb einen Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik? I. Einleitung II. Das traditionelle Paradigma staatlicher Wirtschaftspolitik: Staat als Monopolist III. Probleme des bisherigen Paradigmas in zunehmend globalisierter Welt IV. Staaten als Wettbewerber als neues Paradigma für die Wirtschaftspolitik ?.... V. Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik ? VI. Zur Notwendigkeit einer übergeordneten Wettbewerbsordnung VII. Zwei Arten von Wirtschaftspolitik: zur Notwendigkeit der Differenzierung... VIII. Folgerungen für die Wirtschaftspolitik: Das Beispiel der Europäischen Integration IX. Perspektiven Literatur Zusammenfassung Summary: Do Globalization and Competition among States require a new Paradigm in the Theory of Public Policy?
253 253 254 254 255 258 258 260 262 265 266 267 267
Inhalt · IX
Lüder Gerken Der globale Wettbewerb als Anreiz- und Entdeckungsverfahren I. Einleitung II. Der Wettbewerb als Anreiz- und Entdeckungsverfahren auf der einzelstaatlichen Ebene III. Der Wettbewerb als Anreiz- und Entdeckungsverfahren auf der globalen Ebene IV. Ergebnis Literatur Zusammenfassung Summary: Global Competition as a Discovery Procedure
269 269 270 274 277 278 280 280
Peter Thuy 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Anspruch und Wirklichkeit einer ordnungspolitischen Konzeption I. Faszination einer ordnungspolitischen Idee II. Grundzüge der ordnungspolitischen Konzeption III. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Sozialer Marktwirtschaft IV. Herausforderungen für die Zukunft V. Umsetzungsprobleme Literatur Zusammenfassung Summary: 50 Years Social Market Economy: Pretension and Reality of an Economic Order
281 281 282 288 295 302 307 312 312
Gerd Habermann Unternehmer und Ordnungspolitik I. Unternehmer sind keine Ordnungstheoretiker II. Die Ordnungstheorie ignorierte den Unternehmer lange III. Unternehmer gegen Ordnungspolitik IV. Ordnungspolitik rechnet sich unmittelbar nicht V. Mißtrauen der Unternehmer gegen eigenes Unternehmertum VI. Die Unabkömmlichkeit der Unternehmer VII. Unternehmer in die Parlamente? VIII. Unternehmer als Sponsoren der Ordnungspolitik Literatur Zusammenfassung Summary: Entrepreneurs and liberal regulative policy
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Χ · Inhalt
Walter Hamm Zu Lasten der kommenden Generationen I. Einleitung II. Formen und Ausmaß der intergenerativen Lastenverschiebung III. Ansatzpunkte für eine langfristig orientierte, das Generationenproblem beachtende Politik IV. Schlußbemerkung Literatur Zusammenfassung Summary: The burden of future generations
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Dirk Meyer Das System der Freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht I. Einleitung II. Zur volkswirtschaftlichen Bedeutung der freien Wohlfahrtspflege ΙΠ. Korporatismus als prägendes Strukturelement IV. Problemlagen und ordnungspolitische Kritik V. Internes und externes Kontrollversagen VI. Wettbewerbsbeschränkungen VII. Reformansätze Literatur Zusammenfassung Summary: The German Charitable Welfare System A Criticism from the Viewpoint of Ordnungspolitik
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Andreas Freytag Geldpolitische Regelbindung als Teil der wirtschaftlichen Gesamtordnung: Der argentinische Currency Board I. Einleitung II. Inflation als ordnungspolitisches Problem III. Das Currency Board System als Teil der Wirtschaftsordnung IV. Der argentinische Currency Board als Teil einer neuen Wirtschaftsordnung V. Fazit Literatur Zusammenfassung Summary: Monetary Commitment as Part of the Economic Order: The Argentine Currency Board
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Inhalt · XI Uwe Mummert Ordnungswechsel und politisch-ökonomische Prozesse Das Beispiel der monetären Transformation Ostdeutschlands I. Einleitung II. Politisch-ökonomische Prozesse in der Transformation ΠΙ. Politisch-ökonomische Analyse der deutschen Währungsunion von 1990 IV. Schlußbemerkung Literatur Zusammenfassung Summary: The Change of Economic Order and Political Economy The Case of East-German Monetary Transition
Andreas Knorr Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr - eine Zwischenbilanz I. Einfuhrung II. Verkehrswirtschaftliche Grundlagen III. Die amerikanische Luftverkehrspolitik im Wandel der Zeit IV. Erfolge und Mißerfolge der Deregulierung V. Wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf Literatur Zusammenfassung Summary: Airline Deregulation in the US Twenty Years on An Interim Assessment
Norbert Eickhof Die Forschungs- und Technologiepolitik Deutschlands und der EU: Maßnahmen und Beurteilungen I. Problemstellung II. Begriffsbestimmungen und Förderungsarten III. Niveau und Struktur der Fördermaßnahmen IV. Generelle volkswirtschaftliche Rechtfertigungsversuche der FuT-Politik V. Ökonomische Würdigung der einzelnen Maßnahmen VI. Ausweitung der europäischen FuT-Politik? Literatur Zusammenfassung Summary: R&D-policy in Germany and in the European Union: Measures and valuations
401 401 402 405 413 414 416 416
419 419 421 426 440 458 460 463 464
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XII · Inhalt Frank Daumann und Ulrich Hösch Freiheitssichernde Regeln und ihre Justiziabilität dargestellt am Beispiel des § 1 UWG I. Problemstellung II. Anthropologische Spezifika und die Forderung nach individueller Freiheit III. Die Eigenschaften der freiheitssichernden Regeln IV. § 1 UWG als freiheitssichernde Regel? V. Änderungsvorschlag VI. Ergebnis Literatur Zusammenfassung Summary : The rule of law and its application examplified on § 1 UWG (German law against unfair competition)
Markus Fredebeul-Krein und Angela Schürfeld Die Deregulierung des deutschen Handwerks als ordnungspolitische Aufgabe I. Einleitung II. Regulierung des Marktzutritts im Handwerk III. Zur Notwendigkeit des Abbaus von Marktzutrittsbarrieren IV. Handlungsbedarf in Richtung Deregulierung Literatur Zusammenfassung Summary: Deregulating the German Crafts Industry: a Challenge for Economic Policy
489 489 490 492 498 506 507 509 512 513
515 515 516 523 535 537 538 539
Besprechungen Hans Otto Lenel Die Wirtschaftsordnung als Gestaltungsaufgabe Zu dem Buch von Heinz Grossekettler mit dem gleichen Titel
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Arne Heissel Konsumethik in der Wohlstandsgesellschaft Zum gleichnamigen Buch von Karl-Georg Michel
547
Egon Tuchtfeldt Bildungspolitik im Umbruch Zum gleichnamigen, von Hans Giger herausgegebenen Buch
553
RalfL. Weber Neue Arbeitsmarkttheorien Zu dem gleichnamigen Buch von Thomas Wagner und Elke J. Jahn
557
Inhalt · XIII JörgRissiek Die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union Besprechung des von Paul Klemmer herausgegebenen Handbuchs Europäische Wirtschaftspolitik
563
Namenregister Sachregister Anschriften der Autoren
569 579 583
Hauptteil
ORDO · Jahrbuch fìlr die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Erich Hoppmann
Die Interdependenz der Ordnungen'
I. Einführung: Das Konzept Unter .Interdependenz' versteht man eine wechselseitige oder gegenseitige Abhängigkeit. In der Wirtschaftswissenschaft wird zwar der Gedanke der Interdependenz fur selbstverständlich gehalten und es wird angenommen, daß die Phänomene interdependent sind. Aber im Schlagwortverzeichnis der meisten Lehrbücher, Reader und Monographien findet sich das Wort .Interdependenz' kaum. Walter Eucken befaßte sich allerdings intensiv und ausführlich mit der Interdependenz, weil er es damals -er starb 1950- für nötig zu halten schien. Zunächst sprach er schlechthin von "der Interdependenz aller ökonomischen Größen" (Eucken 1990, 378). Er sprach auch von der vollständigen Interdependenz aller wirtschaftlichen Erscheinungen, aller Bewertungen, aller Handlungen. Dabei zeigte sich, daß .Interdependenz' verschiedenes bezeichnet. Er sprach von der Interdependenz der Märkte (Eucken 1965, 147), der Interdependenz der Ordnungen, der Interdependenz der Wirtschaftsordnung und der Interdependenz wirtschaftspolitischer Maßnahmen {Eucken 1990, 275). Er sah sehr wohl die Unterschiede. Erst nach dem wissenschaftlichen Einblick, daß die Wirtschaft nicht nur separat irgend einem Wandel unterliegt, sondern daß die Gesellschaft insgesamt evolutorisch ist, konnte das Problem präziser gefaßt werden. Welcher Art sind also nach dem heutigen Stand des Wissens die verschiedenen Interdependenzen? Dazu befassen wir uns zunächst mit der Wirtschaftstheorie.
II. Die Wirtschaftstheorie 1. Nur "qualitative" Aussagen Als Ausgangspunkt fragen wir uns, welche Art von Aussagen in der Wirtschaftstheorie wissenschaftlich überhaupt möglich sind. Dazu rufen wir uns in Erinnerung, daß das wirtschaftliche Problem darin besteht, das Handeln vieler Individuen zur Lösung einer gemeinsamen Aufgabe zu lenken. Das ist eine Koordinationsaufgabe. Allerdings hat sich diese Aufgabe in der Geschichte als eine Quelle steter Konflikte erwiesen. Wir kommen der Lösung näher, wenn wir Michael Polanyi folgen und verschiedenartige Koordinati-
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Vortrag an der Universität Bayreuth am 23. Juni 1998.
4 - Erich Hoppmann
onsaufgaben unterscheiden (Polanyi 1951, 170 ff). Er machte diese an einem polaren Gegensatz deutlich. Der eine Pol sei eine Koordinationsaufgabe, die ,unformalisierbar' ist. Dazu gehören etwa die künstlerischen Tätigkeiten, wie das Malen eines Gemäldes, das Komponieren eines Musikstücks oder das Handeln eines Arztes. Hierbei wird die Lösung des Lenkungsproblems dadurch erreicht, daß eine Person auf alle Impulse reagiert, die von allen Elementen ausgehen. Die Person stellt die Impulse zusammengefaßt in Rechnung. Zur Lösung einer solchen Koordinationsaufgabe muß angegeben werden, welcher Künstler das Kunstwerk schaffen soll. Es kann die Lösung derartiger Koordinationsaufgaben prognostisch nicht im einzelnen genau vorhergesagt werden. Insofern sind sie unformalisierbar. Als anderen Pol unterschied er Koordinationsaufgaben, die .vollständig formalisierbar' sind. Das sind nahezu sämtliche Ingenieuraufgaben, wie der Bau einer Brücke, eines Hauses oder eines Satelliten, also zahlreiche Probleme der Technik. Die Lösung derartiger Aufgaben wird erreicht, indem man sie mathematisch in Gleichungen formuliert und dann die genauen Werte konkret errechnet. Derartige Aufgaben können unabhängig davon definiert werden, welche Person die Koordinationsaufgabe ausfuhrt. Sie sind vollständig formalisierbar. Dazwischenliegende Aufgaben nannte er etwas unglücklich .theoretisch formalisierbar', besser hätte er von ,nur allgemein oder abstrakt formalisierbar' gesprochen. Die hier gemeinten Koordinationsaufgaben liegen zwischen den beiden erst genannten. Einerseits sind sie zwar .formalisierbar'. Denn das Zusammenspiel der einzelnen Elemente bringt eine Gesamtstruktur hervor, die sich rekonstruieren läßt. Es ist aber lediglich möglich, bestimmte allgemeine und in hohem Maße abstrakte Grundzüge, also ihre .qualitativen Aspekte' zu wiederholen. Sie sind nämlich alles, was sämtliche Strukturen eines bestimmten Typs gemeinsam haben. Anderseits sind diese Aufgaben aber ,unformalisierbar'. Denn sie sind nicht in ihren Einzelheiten numerisch zu beschreiben, sie sind abstrakt. Die abstrakten Gleichungen, die solche Koordinationsaufgaben beschreiben, sind dennoch wertvoll, weil sie das Problem zeigen, auf das sie bezogen sind. Wir können deshalb lediglich ihre allgemeinen Züge voraussagen, jedoch nicht ihre genaue Dauer oder Größe. Die Einzelheiten bilden sich jeweils spontan. Friedrich A. von Hayek sprach von "pattern prediction" (yon Hayek 1996, 7), da das durch sie gestellte Problem prognostisch nur als Muster (pattern), aber nicht vollständig lösbar ist. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Darstellung dessen, wie eine Koordinationsaufgabe zu lösen ist, unterschiedlich sein muß, ob die Lösung .vollständig formalisierbar', ,unformalisierbar' oder .nur abstrakt bzw. allgemein formalisierbar' ist. Die nach Walter Eucken entstehende Ordnung im Bereich der Wirtschaft ist in diesem Sinne nur allgemein formalisierbar, es sind nämlich nur allgemeine Muster vorhersagbar. Die individuellen Einzelheiten bilden sich im Rahmen der allgemeinen Muster spontan und sind nicht vorausehbar. Was können wir mit derartigen Muster-Prognosen über die Interdependenzen aussagen? Befassen wir uns also mit den Interdependenzen.
Die Interdependenz der Ordnungen - S 2. Die Interdependenzen Die Wirtschaftswissenschaften haben versucht, die Interdependenzen genauer faßbar zu machen. Was erbrachten diese Untersuchungen bisher? Erleichtert wird die Beantwortung dieser Frage, wenn wir drei Ebenen betrachten. 1. Die älteste beschriebene Interdependenz ist die .Interdependenz der Preise'. Sie stammt von Leon Walras (1926), dem Begründer der sogenannten Lausanner Schule. Jede Preisänderung hat andere Preisänderungen zur Voraussetzung beziehungsweise zieht andere Preisänderungen nach sich. Es ist das Preissystem, das diese Verknüpfung zeigt. Es beschreibt die Interdependenz der Preise und zeigt sich als Resultante einer wechselseitigen Koordination. So entsteht als das Preissystem eine gewisse abstrakte Ordnung. Diese Ordnung kommt ohne Befehle zustande. Sie kann nur als allgemeines Muster, und zwar mathematisch, erfaßt werden. Das Preissystem ist die zentrale Ebene. Sobald die Preise und ihre Relationen konkret werden, informieren sie die Marktteilnehmer über den genauen Wert, der den Gütern von den Tauschpartnern zugemessen wird. An den sich tatsächlich herausstellenden Preisen und Preis-Relationen kann sich dann jeder orientieren. Die tatsächlichen Preise und ihre Relationen sind somit Signale. Beim Walrasianischen System spricht man zwar von einer Totalanalyse, aber die Wirtschaft nimmt man als vorgegeben an und die Institutionen in Form einer Konstanz der Daten als exogen determinen. So gehören zur Konstanz der Daten etwa die Konstanz der Technik gegebener Güter, die Qualität der Arbeit und so weiter. So wird vom Forscher die Ebene der Interdependenz der Preise gedanklich isoliert und in Form eines geschlossenen Modells analysiert, er nennt das Isoliermethode. Das menschliche Denken liebt nämlich geschlossene Systeme. Die Isolierung der Wirtschaft und der Institutionen erfolgt durch die vom Forscher gesetzte Klausel .ceteris paribus', das heißt durch die Annahme, daß die Wirtschaft und die Institutionen gedanklich unverändert bleiben. Wir nennen eine Untersuchung auf Grund des Walrasianischen Modells auch neoklassische Preistheorie. Sie zeigt die logischen Beziehungen der Interdependenz der Preise auf, mehr jedoch nicht. Vor allem entwickelte sich zusätzlich durch weitere Konstanzannahmen abhängiger Variabler, sogenannte Isolierungen, eine Partialanalyse einzelner sogenannter relevanter Märkte. Dabei müssen einzelne Güter und deren Märkte identifiziert werden. Dies ist sehr problematisch. Ist denn beispielsweise die Energie der relevante Gütermarkt, ist es die Kohle, die Steinkohle, die Kohle aus dem Saarland? Ist es Kohle als Investitionsgut oder als Konsumgut? Was ist überhaupt ein Konsumgut, was ein Investitionsgut? Wo liegen etwa die Grenzen eines Agrarmarktes, eines Kartoffelmarktes oder eines Wohnungsmarktes? Was ist vor allem der Arbeitsmarkt? Was Arbeit ist, wird etwa in Deutschland vom Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit entschieden, nicht von'der jeweils zuständigen Wissenschaft. Beispiele fur die gängige Vorstellung isolierter Märkte liefern zahlreiche wirtschaftspolitische Eingriffe wie etwa spezielle Subventionen, viele arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, für marktbeherrschende Unternehmen spezielle Verhaltensbeschränkungen und so weiter.
6 · Erich Hoppmann In der Wirklichkeit existiert die .ceteris paribus' Klausel aber nicht. Wer beispielsweise ins Wasser springt, bleibt unter der Klausel .ceteris paribus' zwar ,im übrigen' gleich, in Wirklichkeit jedoch nicht. Eine .ceteris paribus' Analyse ist zwar wichtig, aber es handelt sich lediglich um eine Vorstufe der endgültigen Analyse. Das wird oft vergessen und man läßt diese Klausel oft ganz weg. Es ist jedoch falsch, wenn man die mit Hilfe der Isoliermethode gefundenen Aussagen wirtschaftspolitisch unmittelbar anwendet, weil nämlich die Interdependenzen vernachlässigt werden. Es entsteht ein grober Fehler. 2. Eine zweite, höhere Ebene ergibt sich, wenn wir untersuchen, wieso das Preissystem entsteht. Es entsteht, wenn die Menschen gewisse Spielregeln befolgen. Wir nennen sie Verhaltensregeln oder Institutionen. In diesem Sinne soll im folgenden das Wort Institutionen verwendet werden. Gehört zu diesen Institutionen die persönliche Freiheit, so gehört dazu die Freiheit, Verträge zu schließen, die Freiheit, Privateigentum zu besitzen, das moralische Prinzip, ehrlich zu sein, und anderes mehr. Sehen wir genauer hin, so werden den Menschen durch diese Institutionen auch gewisse Beschränkungen auferlegt. So besteht die Vertragsfreiheit nur, wenn es nicht erlaubt ist, Verträge zu brechen. Es besteht die Freiheit zum Privateigentum nur, weil der Einbruch in das Privateigentum als verboten angesehen wird. Als Folge dieser Institutionen entsteht dann ein Tauschverkehr und damit ein Preissystem, wie bei Anwendung der Spielregeln jeweils ein konkretes Spiel entsteht. Die Marktteilnehmer müssen aber auch erfolgreich in ihrer Außenwelt bestehen bleiben. Da sie sich an den jeweiligen Institutionen orientieren, sind die Institutionen auch auf die Außenwelt bezogen, also nicht beliebig. Zwar ist die Außenwelt als Ganzes den einzelnen Marktteilnehmern prinzipiell unbekannt, dennoch stehen sie mit dieser Ganzheit in Wechselbeziehung. Man kann sich dieses an einem räumlichen Beispiel in der Natur verdeutlichen. So wird etwa der auf der Jagd befindlichen Löwin durch den Löwen die Beute zugetrieben. Dabei folgen beide (genetisch) tradierten Verhaltensweisen. So läßt sich ihr allgemeines Jagdmuster prognostizieren. Unter den verschiedenen konkreten Umständen wird ihr konkretes Verhalten aber sehr verschieden sein. Sie passen ihre Koordination jeweils den besonderen Umständen der Savanne, der Bäume, der Sonne an, ohne jedoch das Jagdmuster preiszugeben. Auch an einem anderen räumlichen Beispiel der Natur läßt sich diese Erweiterung anschaulich machen, der Pfeilformation der fliegenden Gänse. Die (genetisch tradierten) Verhaltensregeln fuhren zu einer Koordination des Verhaltens der Gänse untereinander, so daß laufend eine Pfeilformation entsteht. Aber es muß sich diese Pfeilformation als Ganzes auch der unbekannten Außenwelt anpassen, die sich durch Regen, Böen, Wind, Temperaturen laufend ändert. Das Muster der Pfeilformation läßt sich prognostizieren, obwohl das jeweilige, konkrete Verhalten der einzelnen Gänse nicht voraussagbar ist. Analog erfolgt auch beim Preissystem eine nicht räumliche Anpassung an seine Außenwelt, hier durch das System der Institutionen. Deshalb sind die Institutionen eine zweite, dem Preissystem übergeordnete Ebene. Sie werden nicht nur genetisch, sondern auch kulturell tradiert. Jedoch sind sie nicht nur hoheitlicher und rechtlicher Art. Es han-
Die Interdependenz der Ordnungen · 7 delt sich auch um Institutionen, die gesellschaftlich und die religiös oder moralisch tradiert werden oder die einfach der Überlieferung folgen. Die Interdependenz bezieht sich also nicht nur auf die Preise, sondern umfaßt auch die Institutionen. Wenn einzelne dieser Institutionen sich gesellschaftlich ändern oder etwa staatlich geändert werden, können auch vorhandene, andere Institutionen nicht so wie bisher wirken. So wird etwa die moralische Institution der Ehrlichkeit beeinflußt, wenn strafrechtlich Warenhausdiebstähle nicht mehr geahndet werden. Institutionen passen sich an. Sie sind auf die Außenwelt bezogen. Sie sind aber zugleich auch wegen der Preise interdependent. Da auf diese Weise die Interdependenz der Institutionen auch abhängig vom Preissystem ist, bilden sie mit diesem zusammen eine Gesamtordnung. Von dieser betrachten wir auch gewisse Teilordnungen, etwa die Geldordnung, die Verwaltungsordnung, die Außenwirtschaftsordnung, die Sozialordnung, die also ebenfalls interdependent sind. Die Beziehungen zur Außenwelt und die Interdependenzen der Institutionen werden von einer eigenen Disziplin, der New Institutional Economics, untersucht. Sie wird in Deutschland Neue Institutionenlehre genannt. 3. Als dritte Ebene enthält das Preissystem als die zentrale Ebene neben der übergeordneten Ebene der Institutionen einzelne Kollektive als Subsysteme. Sie handeln wie Individuen. Das sind beispielsweise Unternehmungen, Verbände oder andere organisierte Gruppen. Es gibt also auch noch Elemente einer untergeordneten Ebene. Nach ihrem Verhalten werden sich jeweils Monopole, Teilmonopole, Oligopole, Polypole bilden. Dieses wird erforscht von der Marktformenlehre. Aber die Marktformen sind nicht das Ende der wissenschaftlichen Bemühungen, denn auch die Marktformen verändern sich, und zwar sowohl bei gegebenen Institutionen, als auch durch ihre Veränderungen. Bei den Kollektiven sind vor allem zwei Arten von Institutionen zu unterscheiden. Einerseits sind jeweils einzelne Individuen Elemente bei den Subsystemen. Sie müssen den von der Spitze des Kollektivs gegebenen Anordnungen folgen. Es handelt sich insofern um eine angeordnete Ordnung, eine sogenannte Organisation. Andererseits muß die Spitze des Kollektivs extern agieren und sich dabei auch den übergeordneten Institutionen unterwerfen. Hier handelt es sich um die Einpassung in das Preissystem. Dieser Sachverhalt läßt sich räumlich etwa am Verkehr mit Seeschiffen deutlich machen. Die Matrosen eines Schiffes müssen internen, vom Kapitän gegebenen Anordnungen gehorchen. Der Kapitän folgt ferner als Teilnehmer am Seeverkehr auch ganz anderen Institutionen, nämlich solchen, die laufend zu einer Anpassung an seine Außenwelt und zu einer Koordination des Verhaltens der verschiedenen Kapitäne untereinander fuhren. Die Befehle des Kapitäns an die Matrosen sind also nicht beliebig, sie sind durch die Außenwelt des Kapitäns bestimmt. Als weiteres räumlich sichtbares Beispiel diene etwa ein Omnibus. Der Fahrer muß nach außen die Verkehrsregeln beachten und sich dem Verkehr laufend anpassen. Im Innern darf er durch die Mitfahrer nicht behindert werden, er muß ihnen Befehle erteilen können und jeder Mitfahrer muß dann seinen Befehlen folgen. Die an die Mitfahrer erteilten Befehle hängen jedoch von der Verkehrssituation und von den Verkehrsregeln ab, die der Fahrer zu befolgen hat.
8 · Erich Hoppmann Mit diesen Beispielen sollte illustriert werden, daß die einzelnen Kollektive, nämlich Unternehmungen und sonstige Organisationen, eine weitere, untergeordnete Ebene darstellen. Die Analyse dieser Subsysteme erfolgt im akademischen Bereich durch eine spezielle Disziplin, die Betriebswirtschaftlehre. Sie hat also zwei Aufgaben, einerseits die interne Struktur der Unternehmungen zu untersuchen, andererseits das Verhalten der Unternehmungen nach außen. Beide Aufgaben sind aber, wie die Beispiele zeigen sollten, nicht beliebig lösbar, sondern sie sind interdependent. Sie werden durch die Gesamtordnung mitbestimmt, die aus den sich bildenden Preisen und den allgemeinen Institutionen besteht. Als Zwischenergebnis läßt sich festhalten: Die Ordnung zeigt sich uns als ein System aus mindestens drei Ebenen, das Preissystem als zentrale Ebene, das übergeordnete System der Institutionen und die untergeordneten Subsysteme. Kulturelle Evolution wirkt aber in allen drei Ebenen zugleich. Die übliche gedankliche Trennung jeder einzelnen Ebene und die Untersuchung von Interdependenzen in geschlossenen Modellen zeigt lediglich logische Beziehungen zwischen den betreffenden Variablen auf. Eine Theorie, die mehr zeigen will als nur rein logische Beziehungen, darf diese Ebenen auch nicht gedanklich trennen, sie sind nämlich selbst wieder interdependent. Denn die Gesellschaft als Ganzes, also in allen ihren drei Ebenen, unterliegt zugleich der gesellschaftlichen, selektiven kulturellen Evolution. Wir nennen dieses Gesamtsystem die Katallaxie. Diese allumfassende Interdependenz meinte offenbar Walter Eucken, als er von der "Interdependenz der Ordnungen" {Eucken 1990, 14 ff.) sprach. Allerdings untersuchte er Interdependenzen der Wirtschaft. Wirtschaft ist jedoch bereits eine Abstraktion, denn sie besteht nicht gesondert. Wirtschaftliche Beziehungen sind ein Aspekt der gesellschaftlichen Beziehungen. Ferner dachte W. Eucken im nationalen Rahmen. Die Interdependenz bezieht sich aber auch auf Aktivitäten im Zuge der Globalisierung. So werden der Standortwettbewerb (durch das Sinken der internationalen Transaktionskosten) und die internationale Angleichung gewisser Institutionen (durch den internationalen Institutionenwettbewerb) zunehmen. 3. Die Zeitdauer und die Interdependenzen Alle Interdependenzen benötigen aber Zeit. Was läßt sich über die Zeitdauer sagen? Um die Zeit in die Theorie einzuführen, hat man die reine, ideale Zeit als bloße Dimension und die Kalenderzeit als historische, reale Zeit unterschieden. Da dieser Unterschied im Bereich der Wirtschaftswissenschaften eine große Rolle spielt, wollen wir uns kurz damit befassen. Wenn Modelle auf die gleiche Zeitperiode bezogen sind, könnte man den beispielsweise den Index t an alle Variablen anhängen. Die Modelle sind statisch. Die durch den gleichen Zeitindex t bezeichnete Periode ist dabei zeitlich unbestimmt, sie kann lang oder kurz, ja einen Zeitpunkt darstellen. Die Zeit ist bloße Dimension. Man kann dann die Variablen in Perioden gliedern, etwa x^.j, Χ(_2· Man verwendet auch Ableitungen dieser Perioden. Man spricht dann davon, daß die Modelle dynamisiert werden. Doch lediglich das Modell wird dynamisch genannt, die evolutorisch-
Die Interdependenz der Ordnungen · 9
dynamische Wirklichkeit wird nicht erfaßt. Die Zeit ist nämlich auch hier ideale Zeit, also eine bloße Dimension der Variablen. Solche Modelle bleiben auch nach dem Anhängen von Zeitindices geschlossen. Es werden durch sie deshalb zwar die logischen Implikationen geschlossener Modelle aufgezeigt, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die Variablen können sich nicht an die evolutorische Außenwelt anpassen, weil von Aktivitäten abstrahiert wird, die sich auf Grund von Interdependenzen ergeben. Beispielsweise läßt sich das an einzelnen Märkten (Cobweb-Theorem) ebenso zeigen wie etwa an Konjunkturmodellen (Lundberg-Lag; Robertson-Lag). Das sogenannte dynamische Modell ist also ein geschlossenes System. Es beschreibt den Verlauf von gewissen Variablen in einer Zeit, in der sonst nichts geschieht. Wie lang die reale Zeit ist, läßt sich auf Grund des Modells nicht sagen. Deshalb ist das sogenannten dynamische Modell keine Theorie der gesamtwirtschaftlichen Dynamik. Diese muß evolutorisch sein. Es handelt sich einfach - wie so oft - um eine Wortverdrehung. Anders ist es mit der Kalenderzeit, sie ist historische Zeit, sie haftet an Geschehnissen. Alle ökonomischen Erscheinungen benötigen Kalenderzeit. Die Kalenderzeit wird folglich an Geschehnissen gemessen, etwa an dem Umlauf des Uhrzeigers (Stunde), am Erdumlauf um die Sonne (Tage), an der Sanduhr, auch an der Dauer des Rauchens einer Zigarette (Zigarettenlänge). Es handelt sich bei den genannten Messungen aber um technische, also um formalisierbare Ereignisse. Die ökonomischen Geschehnisse sind jedoch nicht technischer, sondern gesellschaftlicher Art. Sie sind daher nur allgemein formalisierbar. Die historische Zeitdauer von gesellschaftlichen Geschehnissen ist nicht genau vorhersehbar. Deshalb lassen sich der Beginn und die Dauer der interdependenten Aktivitäten nicht exakt prognostizieren.
III. Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik als Wissenschaft Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die wissenschaftliche Wirtschaftspolitik? Zunächst seien deren Aufgaben charakterisiert. 1. Die Aufgaben der wissenschaftlichen Wirtschaftspolitik Die wissenschaftliche Wirtschaftspolitik gibt, im Gegensatz zur Wirtschaftstheorie, Werturteile ab. Sie ist normativ. Sie hat vor allem zu zeigen, wie die Güterversorgung möglichst groß wird. Das bedeutet, daß das, was wir Wirtschaftswissenschaftler als Wirtschaft bezeichnen, effizent ist. Dabei werden die Umweltbedingungen natürlich als Güter angesehen. Man verlangt von der wissenschaftlichen Wirtschaftspolitik aber auch Detailaussagen. Die Wirtschaftstheorie ermöglicht uns diese jedoch nicht. Sie macht es lediglich möglich, allgemeine Strukturen und ihre Interdependenzen in Form von qualitativen Prognosen vorauszusagen. Da praktische Wirtschaftspolitik immer auch die allgemeinen Strukturen beeinflußt, gibt es auch eine allgemeine Interdependenz wirtschaftspolitischer Maßnahmen (Euchen 1990, 275). Insofern setzt wissenschaftliche Wirtschaftspolitik eine Anwendung gesicherter Erkenntnisse der Wirtschaftstheorie voraus.
10 · Erich Hoppmann Anders ist es mit den genauen zeitlichen und den größenmäßigen Ergebnissen der Aktivitäten auf Grund von Interdependenzen. Das läßt sich prognostisch im Voraus nicht sagen. Gibt man jedoch genaue Werte an, so maßt man sich ein Wissen an, das man nicht hat. Beispielsweise ist wegen der allgemeinen Interdependenz etwa bei einem Lohnkartell die Voraussage möglich, daß eine Arbeitslosigkeit eintritt. Wann sie genau eintritt, wie lange sie dauert und wie groß sie sein wird, ist jedoch nicht prognostizierbar. Bei den zeitlichen und größenmäßigen Auswirkungen wird die Wirtschaftspolitik deshalb zu einer Kunst. Alle gesellschaftlichen Erscheinungen benötigen also historische Zeit und die historische Zeitdauer ist nicht exakt vorhersehbar. Deshalb muß der wissenschaftliche Wirtschaftspolitiker auch Künstler sein, er muß aber die Wirtschaftstheorie ebenfalls richtig anwenden. Welche Struktur der Institutionen liefert jedoch Fortschritt? Da wir nur die allgemeine Struktur der Institutionen und ihre Interdependenzen prognostizieren können, zeigt sich das Ausmaß des Fortschrittes in der Fähigkeit, den Gesellschaftsmitgliedern laufend genau zu zeigen, in welche Richtung sie ihre Aktivitäten entfalten sollten. Sie sollen aber zugleich dazu motiviert werden, dieser Richtung zu folgen. Ein fortschrittsförderndes System hat deshalb dafür zu sorgen, daß beides geschieht. Fortschritt betrifft immer die ungewisse Zukunft. Ein absolutes Maß für Fortschritt gibt es deshalb nicht. Es kann also auch keine bestimmte maximale oder optimale Effizienz geben, wie uns die sogenannte Wohlfahrtsökonomie Glauben machen wollte. Evolution ruft nämlich nicht irgendwelche utopisch-beste Varianten hervor. Sie sondert vielmehr nur Varianten mit geringeren Überlebenschancen aus, so daß Varianten mit größeren Überlebenschancen übrig bleiben. Es bleibt deshalb unbekannt, ob Evolution die beste Problemlösung liefert. Wir können lediglich alternativ bei praktisch möglichen Systemen abstrakte Muster des Fortschrittes vergleichen und die Gründe dafür analytisch herausarbeiten. Den Begriff der .ökonomischen Rationalität' möchte ich vermeiden, weil man weithin darunter versteht, mit gegebenen Mitteln einen höchstmöglichen Ertrag zu erzielen. Eine solche Begriffsverwendung würde aber voraussetzen, daß der zu erzielende Ertrag vorher konkret bekannt ist. Das ist aber nicht der Fall. Zwar kann man vergangenes statistisches Wissen und auch nomologisches Wissen über die Gesellschaft in Lehrbüchern oder in einer Zentrale für die Menschen zusammenfassen und ihnen bekanntgeben, bei konkreten Tatsachen ist dies jedoch nicht der Fall. Jeder verfügt bei diesen nur über ein unbekanntes Stück des Gesamtwissens. Diese einzelnen Wissensstücke vermögen manchmal großen Nutzen zu stiften. Wir könnten sie aber nur nutzen, wenn wir diejenigen Personen kennen würden, die sie vorteilhaft nutzen würden. Ferner müßten wir wissen, welche Wissensstücke das sind, welchen Zwecken sie dienen könnten und welche Personen über jene Wissensstücke verfugen. Dies ist aber - wie unmittelbar einsichtig ist - nicht möglich, sogar die betreffenden Personen wissen oft selbst nichts davon. Deshalb gibt es eine sogenannte konstitutionelle Unwissenheit der Menschen.
Die Interdependenz der Ordnungen · 11
2. Fortschritt durch Allgemeine Institutionen Wie kann hier eine Vermittlung erfolgen, die außerdem dem Fortschritt dient? Die Problembehandlung deute ich im folgenden an: Wenn es Fortschritt geben soll, kann der soziale Prozess, in dem sich der Verstand entwickelt, nicht von einem Verstand beherrscht werden, der die einzelnen Handlungen der Individuen vorher festlegt. Hans Albert nannte es das .Münchhausen-Syndrom'. Der menschliche Verstand ist der kulturellen Evolution also nicht vorgegeben, sondern er entwickelt sich mit ihr. Der kulturelle Prozess beruht auf Freiheit menschlichen Handelns und der Unvoraussagbarkeit seiner konkreten Ergebnisse. Das geschilderte Fortschrittsproblem läßt sich deshalb durch hoheitliche Zuweisung an bestimmte Personen nicht lösen, denn wer kennt sie. Das Fortschrittsproblem ist nur dadurch lösbar, daß allen gleicherweise persönliche Handlungsfreiheit gewährt wird. Der Maßstab für Fortschritt ist also nicht der utopische Maximumzustand eines wohlfahrtsstaatlichen Modells, sondern die allgemeine Handlungsfreiheit und die mit ihr verknüpften Interdependenzen. Handlungsfreiheit für alle setzt voraus, daß gewisse universale Institutionen beachtet werden. Wer in welcher Weise von dieser regelgebundenen persönlichen Freiheit Gebrauch machen wird, wissen wir nicht. Aus ihr entstehen dann aber Marktprozesse. Sie sind gekennzeichnet durch offene Märkte, welche die Staatsgewalt zu respektieren und zu garantieren hat. Ein System, das Fortschritt bringt, ist also zugleich wettbewerblich. Der Wettbewerb liefert ein umfassendes Verfahren fur den Wissenstransfer zwischen unbekannten Personen über unbekannte Wissensstücke und bewirkt dabei nicht nur eine Nutzung von Wissen, das in seiner Gesamtheit niemand kennt, sondern auch in einem Ausmaß, das von keinem anderen bekannten Verfahren bisher erreicht wird. Diese Eigenschaft ist wohl der entscheidende Grund für den vergleichsweise großen Fortschritt des wettbewerblichen Systems und der Interdependenzen, aus denen es erwächst. Das wettbewerbliche System erwächst aus persönlicher, regelgebundener Freiheit. Dabei kommen solche Personen ebenfalls in den Genuß der Früchte der Freiheit, die von ihr selbst keinen unmittelbaren Gebrauch machen. Wenn Wettbewerb also auch keinen spezifischen, konkreten Zweck verfolgt, so dient er allgemein dennoch dem Fortschritt und der persönlichen Freiheit und zwar beidem zugleich. Wir nennen diese Institutionen deshalb auch freiheitssichernd. Wie sehen sie aus? Freiheitssichernde Institutionen und die entstehenden Interdepenzen sind in breitem Umfang Gegenstand einer hoheitlichen Wirtschaftspolitik. Hoheitliche Wirtschaftspolitik erfolgt aber immer mit Mitteln des Rechts. Die Institutionen des Rechts bilden mit allen übrigen Institutionen zusammen ein System. Deshalb sprach E.-J. Mestmäcker als Jurist zutreffend von einer .strukturellen Parallelität' von Wirtschaft und Recht. Das System entwickelt sich in Wechselwirkung mit einem besonderen Preissystem und dessen Subsystemen im Wege kultureller Evolution. Die konkreten Auswirkungen eines besonderen Set freiheitssichemder Institutionen und deren Interdependenzen lassen sich deshalb erst ex post aufgrund der Empirie beurteilen. Die Menschen bedienen sich ex ante der Institutionen und der entstehenden Interdependenzen, ohne ihre konkreten Ergebnisse vorher genau zu wissen. Es gleicht einer Reise ins Unbekannte. Zwar befassen sich die Wirtschaftswissenschaften mit dieser Reise; sie geben Wahrscheinlichkeitsurteile
12 · Erich Hoppmaiin ab. Jedoch findet ein Wettbewerb der Institutionen unter dem Namen der .Globalisierung' und des , Standortwettbewerbs zwischen den Staaten' statt. Der Wettbewerb ist hier das Entdeckungsverfahren fur die relevanten Interdependenzen. Es ist also offen, wie die allgemeinen, universalen Institutionen und die relevanten Interdependenzen genau und im Detail aussehen sollen. Wir wissen zwar, daß Fortschritt allgemeine, universale Institutionen und Aktivitäten auf Grund von den relevanten Interdependenzen voraussetzt. Wir wissen aber auch, daß ihre konkrete Form und ihr jeweiliger genauer Set uns unbekannt bleiben wird. 3. Die Interdependenzen bei politischer Opportunität Verallgemeinern können wir jedoch die Verneinung. Wir können nämlich verneinend generell sagen, daß nicht-universalisierbare Institutionen fortschrittswidrig wirken. K. R. Popper (1969) nannte sie .personelle (direkte) Interventionen'. Sie ändern nicht allgemein die Institutionen, sondern regeln die Sachverhalte isoliert und im Detail. Es werden auf Grund der Interdependenzen zusätzlich unnötige wettbewerbliche Aktivitäten hervorgerufen. Wirtschaftspolitisch bedient man sich oft solcher personeller Interventionen, sie sind nicht regelgebunden. Wenn sie gesetzlichen Charakter haben, sprechen wir Ökonomen von ,Maßnahmegesetzen'. Sie fuhren zu entsprechender Verwaltungstätigkeit. Auch wird dem wettbewerblichen Fortschritt Widerstand geboten, der wegen der Interdependenzen zu neuartigen und unnötigen Formen des Wettbewerbs fuhrt. Da Wirtschaftspolitik von Politikern betrieben wird, subsumiert man die Interventionen auch unter politische Opportunität. Sie fuhrt zur Privilegierung oder Diskriminierung bestimmter Personen oder Personengruppen und beschränkt persönliche Freiheiten anderer und den Fortschritt zugleich. Zusammenfallend damit beschränkt sie notwendigerweise den Wettbewerb. Wettbewerbsbeschränkungen zeigen deshalb immer, wenn Fortschritt gehemmt wird. Wenn es etwa zu den Genehmigungen für die Herstellung eines neuen Autos in Frankreich vier Monate dauert, in Deutschland (Rastatt) statt dessen aber fünfeinhalb Jahre, dann liegt eine massive Wettbewerbsbeschränkung vor. Die wettbewerbliche Interdependenz fuhrt dann zum sogenannten ,Standortwettbewerb'. Es ist unzutreffend, solche isolierte Maßnahmen als .rational' zu bezeichnen. Bei spezifischen Interventionen ergeben sich nämlich neuartige wettbewerbliche Aktivitäten, die auf teils unbekannten Interdependenzen beruhen. Derartige Interventionen fußen also auf der konstruktivistischen Fehl-Annahme, daß die konkreten Interdependenzen und die relevanten wettbewerblichen Aktivitäten bekannt, vorhersehbar und beherrschbar seien. Spezifische Maßnahmen sind aber ungeeignet und verfehlen auf Dauer ihr Ziel, wir nennen sie systemwidrig. Uns fehlt das Wissen darüber, was von unbekannten Personen alles hätte bewirkt werden können. Was man nicht wissen kann, kann man aber auch nicht planen. Daß derartige Maßnahmen den Fortschritt hemmen, falsche Signale setzen und damit langfristige Investitionen und Lebensentscheidungen fehlleiten, sei lediglich erwähnt. Diese Art politischer Opportunität zerstört jedenfalls den für eine freiheitliche Ordnung konstitutiven gesetzlichen Rahmen universaler Rechtsgesetze und ruft wegen
Die Interdependenz der Ordnungen · 13 der Interdependenz eine Aktivität hervor, die wettbewerblich ist und dem Fortschritt dient, aber überflüssig ist.
IV. Zusammenfassung und Ausblick Genauer gesehen besteht eine isolierte Wirtschaft nur in unserer Vorstellung, denn die Gesellschaft entsteht aus einem einheitlichen Prozess. Mit dem Hinweis auf die Interdependenz der Ordnungen ist deshalb offenbar gemeint, daß freiheitliche Ordnung als Ganzes unteilbar ist. Eine separate .Wirtschaft' ist ein gedankliches Konstrukt. Die Freiheit des Wettbewerbs ergibt, daß Aktivitäten wegen der allgemeinen Interdependenzen ein Ausdruck des Fortschrittes sind. Eine genaue Voraussage, welche Aktivitäten jeweils auftreten und wie sie sich im Detail auswirken, ist uns nicht möglich. Negativ können wir jedoch generell sagen, daß Beschränkungen des Wettbewerbs den Fortschritt hemmen und wegen der bestehenden Interdependenzen in Form des Wettbewerbs überflüssige Aktivitäten hervorrufen. Schließlich möchte ich auch noch einen Ausblick wagen: Ökonomische Laien, wozu auch viele Parlamentarier, Juristen, Pastoren, Lehrer und so weiter gehören, haben Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Viele gehen deshalb von banalen ceteris-paribus Zusammenhängen aus, die sie zu beobachten glauben. Sie vernachlässigen dabei aber die Interdependenz der Ordnungen und die mit ihr gegebene Interdependenz wirtschaftspolitischer Maßnahmen, weil sie diese nicht kennen können. Solche Fehlvorstellungen für ein isoliertes Wirken von Preisen sind weit verbreitet, sie sind aber verfehlt und fuhren uns auf den Weg in die Knechtschaft, wie ihn Friedrich A. von Hayek schilderte (von Hayek 1994). Ferner gehen viele bei ihren isolierten Vorschlägen davon aus, daß Wirtschaftspolitik ausschließlich Kunst sei. Die hoheitlichen Gewalten könnten also alles machen, wenn sie sich nur energisch bemühen oder wenn sie sich politisch durchsetzen könnten. Auch dieses fuhrt zu teilweise erheblichen Fehlern. Es gibt nämlich Sachzusammenhänge, die man nicht ungestraft vernachlässigen darf. Einige solcher Fehler deutlich zu machen, sollte der Gegenstand dieses Referates sein. Literatur Eucken, Walter, (1965), Die Grundlagen der Nationalökonomie, 8. Auflage, Berlin, Heidelberg und New York. Eucken, Walter (1990), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage, Tübingen. Hayek, Friedrich August von (1994), Der Weg zur Knechtschaft, München. Hayek, Friedrich August von (1996), Die Anmaßung von Wissen, in. Friedrich August von Hayek, Die Anmaßung von Wissen: Neue Freiburger Studien, Tübingen, S. 3-15. Polanyi, Michael (1951), The Logic of Liberty, London. Popper, Karl (1969), Das Elend des Historizismus, 2. Auflage, Tübingen. Walras, Leon (1926), Eléments d'économie politique pure ou théorie de la richesse social, Paris.
14 · Erich Hoppmann Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den komplexen Interdependenzen gesellschaftlicher Subsysteme in der Tradition Walter Euckens. Die wirtschaftstheoretische Analyse geht dazu von einer konsequent evolutorischen Perspektive aus. Dabei wird insbesondere die Problematik nicht antizipierbarer Wirkungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen behandelt. Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß vor der Nichtbeachtung komplexer sozialer Zusammenhänge durch ceteris-paribus-Annahmen in der Wirtschaftstheorie und praktischen Wirtschaftspolitik eindringlich zu warnen ist. Summary The Interdependence of Economic and Social Order This article deals with the complex interdependence of social subsystems in the tradition of Walter Eucken. The theoretical analysis is based on an evolutionary perspective. Especially the unintended results of political decisions are emphasised. The main result of this paper is, that ceteris-paribus-aigaments can lead to invalid results, because they neglect the complexity of social phenomena.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Helmut Leipold
Die große Antinomie der Nationalökonomie: Versuch einer Standortbestimmung
I. Wie aktuell ist die große Antinomie der Nationalökonomie? Der Stein des Anstoßes fur die lange Diskussion unter Ökonomen über die große Antinomie der Nationalökonomie sei an einigen einfachen fiktiven Vergleichsmodellen veranschaulicht. Man stelle sich zwei etwa gleich große Länder mit nahezu identischer Faktorausstattung vor, von denen eines ein europäisches, das andere ein außereuropäisches Land sei. Beide Länder sollen annahmegemäß eine nahezu identische Wirtschaftsordnung, z. B. eine marktwirtschaftliche Ordnung, aufweisen. Zudem sei angenommen, daß in dem außereuropäischen Land als koloniale Erbschaft die gleiche formale Rechtsund Staatsordnung wie in dem europäischen Land gelte. Trotz nahezu identischer Wirtschafts- und Ordnungsbedingungen sei nun angenommen, daß der wirtschaftliche Entwicklungsstand, wie er anhand der Höhe und Verteilung des Pro-Kopf-Einkommens indiziert wird, in beiden Ländern signifikant verschieden ist. Wie läßt sich dieser Unterschied erklären? Das Gedankenexperiment läßt sich auch umdrehen, indem man annahmegemäß zwischen zwei Ländern einen gleichen wirtschaftlichen Entwicklungsstand unterstellt, obwohl sich die Wirtschafts- und Ordnungsbedingungen deutlich unterscheiden. Auch dieser Unterschied ist erklärungsbedürftig. Das fiktive Szenario sei mit dem Beispiel abgerundet, in dem ein an wirtschaftlichen Ressourcen reiches Land im Laufe der Zeit stagniert und relativ zu einem ressourcenarmen Land gleicher Größe zurückfällt und von diesem schließlich überholt wird. Auch für diese über die Zeit ablaufende divergente Entwicklung der Wirtschafts- oder Ordnungsbedingungen stellt sich die Frage nach der Leistungsfähigkeit des ökonomischen Erklärungsansatzes. Die Beispiele sind weniger irreal, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Die Wirtschaftsgeschichte liefert ein reiches Anschauungsmaterial, das die Modellfälle bestätigt (Zu analogen Fragen und historischen Belegen siehe North 1992). Einzelne Länder, z. B. viele Entwicklungsländer, stagnieren wirtschaftlich trotz reichlicher Faktorausstattung über lange Zeiträume, während andere ungeachtet der vergleichsweise spärlichen Voraussetzungen prosperieren. Als aktuellstes Beispiel sei die wirtschaftliche Entwicklung der Transformationsländer angeführt. Überraschend ist, daß ungeachtet der wirtschaftlichen Ressourcenausstattung und der nahezu identischen ordnungspolitischen Reformen die mitteleuropäischen Reformländer deutlich erfolgreicher als die ost- und südosteuropäischen Länder waren {Leipold 1997a). Gerade diese irritierende Erfahrung war für den Autor der Anlaß, sich erneut mit der großen Antinomie der Nationalökonomie zu beschäftigen.
16 - Helmut Leipold Deren harter Problemkern hat Euchen (1950, 15 ff.) in klassischer Form mit der Frage auf den Punkt gebracht, ob und inwieweit angesichts der gewaltigen Vielgestaltigkeit und geschichtlichen VielfÖrmigkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse der Anspruch der Nationalökonomie einlösbar ist, allgemeine wirtschaftliche Gesetze formulieren und wirtschaftliche Zusammenhänge angemessen erklären zu können. Es geht also um das Spannungsverhältnis zwischen historisch-individuellen Besonderheiten des wirtschaftlichen Geschehens einerseits und dem Erfordernis der abstrakt-theoretischen Erklärung andererseits. Der geschichtliche Charakter verlangt nach Euchen Anschauung und Verstehen der individuellen Verhältnisse, während der allgemeine Erklärungsanspruch eine abstrakttheoretische Analyse erfordert. Die von Euchen thematisierte Antinomie hat eine längere Vorgeschichte. Außerhalb der Nationalökonomie fand sie ihr Pendant in der Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Philosophierichtungen über die angemessenen Erkenntnismethoden in den Geistes· und Naturwissenschaften. Diese Frage erschien relevant, weil sich die Welt der Kultur und Geschichte einschließlich der Wirtschaft durch einen Varianten Gesamtstil darstelle, während die physikalisch-chemische Natur universal gleichförmigen Bewegungen und Reaktionen, damit allgemeinen Gesetzen folge. Von daher lag die Schlußfolgerung nahe, für beide Wissenschaftsbereiche unterschiedliche Erkenntnismethoden zu fordern. So sahen etwa Richert (1899) oder Dilthey (1910) in der Methodik des Erlebens und Verstehens die adäquate Methode zur Erfassung und Erklärung der geschichtlichen Vielfalt, die ja stets auch Individualität bedeute. Wo es an Regelmäßigkeit fehle, dort bleibe auch kein Platz für allgemeine Theorien. Die Methodik wurde von den Vertretern der Historischen Schule aufgegriffen und sowohl für die Kritik an der als abstrakt gebrandmarkten klassischen Ökonomie als auch als Fundament für die eigene Forschungsarbeit benutzt. Das Vorhaben, historische Besonderheiten mittels der Methode des Verstehens und Erlebens zu erfassen, verleitete zur theorielosen Beschreibung und Sammlung realer Fakten, von deren induktiver Verdichtung man theoretische Aussagen erhoffte. Damit war methodisch die Auseinanderentwicklung zwischen abstrakt-theoretischen und historisch-verstehenden und beschreibenden Schulrichtungen der Nationalökonomie vorbereitet, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Diese Entwicklung eskalierte in den 80er Jahren im Methodenstreit zwischen Schmoller und Menger. In der nachfolgenden Beurteilung der beiden Kontrahenten wurde Menger nach vorherrschender Meinung zum Punktsieger erklärt. Indirekt hat dieses Urteil durch den weltweiten Siegeszug der abstrakten Nationalökonomie neoklassischer Prägung eine gewisse Bestätigung erfahren. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, von denen Euchen herauszuheben ist, scheint jedenfalls seitdem für die meisten Ökonomen die Frage der großen Antinomie erledigt zu sein. Es dominiert das Vertrauen in die universale Anwendbarkeit des ökonomischen Erklärungsansatzes, der einen imperialen Rang in den Sozialwissenschaften beansprucht. Die nachfolgenden Ausführungen sollen diesen Anspruch in Frage stellen, zumindest relativieren. Die große Antinomie der Nationalökonomie hat ungeachtet aller Erkenntnisfortschritte der ökonomischen Theorie kein Gran an Aktualität verloren. Die Ausführungen sollen zweitens zeigen, daß die Antinomie noch immer einer überzeugenden Auflö-
Die große Antinomie der Nationalökonomie • 17 sung harrt. Beide Thesen sollen durch die vergleichende Bewertung der methodischen und analytischen Leistungsfähigkeit der Historischen Schule (III), der Euckenschen Ordnungstheorie (IV) und der zur Neuen Institutionenökonomik gehörenden Theorie des institutionellen Wandels von North (V) entfaltet und begründet werden. Die kritische Durchsicht der Theorieansätze soll letztlich Ansatzpunkte für die Überwindung der großen Antinomie aufzeigen (VI). Zum besseren Verständnis dieser Theorieansätze ist ein knapper Rückblick auf die klassische Nationalökonomie geboten, da sie deren gemeinsamer Ausgangs- und Bezugspunkt bildet (II).
II. Das Werk von A. Smith als Ausgangspunkt der großen Antinomie Nach Euchen (1950, 24 fF.) nimmt die große Antinomie ihren Ausgang in der klassischen Nationalökonomie und hier insbesondere im Werk von Smith. Als großes Verdienst der Klassiker würdigt er die theoretische Analyse ökonomischer Gesamtzusammenhänge. Gleichwohl konstatiert er ein Scheitern, weil die Theorien nicht der historischen Vielfalt des Wirtschaftens gerecht wurden. Den wesentlichen Schwachpunkt erkennt er in der einseitigen Ausrichtung der theoretischen Analyse auf die Konkurrenzordnung, die zudem als „natürliche" Ordnung überhöht wurde. In der Tat hat Smith ungewollt der nachfolgenden Auseinanderentwicklung der Nationalökonomie Vorschub geleistet. Verantwortlich dafür ist das von Euchen bereits benannte Bestreben, die Konkurrenzwirtschaft als natürliche Ordnung auszuzeichnen, die sich ab einem gewissen wirtschaftlichen Entwicklungsstand spontan und damit zwangsläufig durchsetzt. Der häufige Verweis auf natürliche Kategorien und Ergebnisse ist kein Zufall. So spricht Smith (1984) von der natürlichen Neigung zum Tausch, wobei bei Konkurrenzbedingungen der Marktpreis um den natürlichen Preis schwankt, der wiederum den Lohn, die Rente und den Kapitalgewinn in Höhe ihrer natürlichen Sätze deckt. Die unsichtbare Hand des Marktes führt schließlich ein System der natürlichen Freiheit herbei. „Natürlich" versteht Smith dabei als Synonym für gerecht im ursprünglichen Sinne. Die Konkurrenzwirtschaft wird sowohl den menschlichen Anlagen als auch den ethischen Prinzipien des Christentums gerecht. Sie wird also als menschen- und gottesgerechte Ordnung interpretiert. Rüstow (1961) spricht deshalb von der Numinosierung der Konkurrenzordnung und deren Gesetze, die bei Smith aufgrund normativer Bestrebungen das Prädikat der universalen Gültigkeit erhalten sollen. Diese verdeckte normative Überhöhung der Marktwirtschaft, die sich aus dem Anliegen von Smith erklärt, einen liberalen Gegenentwurf zu den merkantilistischen Herrschaftspraktiken seiner Zeit zu entwickeln, hatte ambivalente Konsequenzen. Viele Epigonen übersahen oder vergaßen seine zeitgebundene Intention und identifizierten Nationalökonomie mit der abstrakten Theorie der Marktgesetze, die den gleichen Status wie Naturgesetze erhalten sollten. Diese einseitige Ausrichtung mußte wiederum Gegenreaktionen provozieren, deren Forderungen von der gebotenen Erweiterung bis hin zur Ablehnung der klassischen Nationalökonomie reichten. Die Auseinanderentwicklung der Nationalökonomie ist von Smith wahrscheinlich noch stärker dadurch befördert worden, daß er im „Wohlstand der Nationen", seinem eigentlichen Hauptwerk, die moralischen
18 · Helmut Leipold (ethischen) Voraussetzungen einer funktionierenden Marktwirtschaft nicht explizit, sondern nur implizit thematisiert hat. Hier unterstellt er bekanntlich das Eigeninteresse der Wirtschaftssubjekte als allgemeine Verhaltensprämisse. Damit ist das sog. ,J.dam SmithProblem" angesprochen. Es resultiert aus der unterschiedlichen Akzentuierung der moralischen und rechtlichen Voraussetzungen eines wohlgeordneten Gemeinwesens. Während Smith in der „Theorie der ethischen Gefühle" die moralischen Bindungen für das Zustandekommen geordneter Verhältnisse vorbildlich herausgearbeitet hat, drängt sich bei der Lektüre des „Wohlstands der Nationen" der Eindruck auf, solche Bindungen seien entbehrlich. Diese Interpretation haben sich die Vertreter der abstrakt-theoretischen Nationalökonomie zu eigen gemacht und zum Menschenbild des vielbeschworenen Homo oeconomicus perfektioniert. Die Erforschung des Gesamtwerks von Smith hat mittlerweile überzeugend dokumentiert, daß die abstrakt-theoretische Richtung der Nationalökonomie nicht als legitimes Erbe von Smith gelten kann1. So wird darauf verwiesen, daß die beiden erwähnten Hauptwerke als komplementäre Teile seiner Politischen Ökonomie zu begreifen und zu lesen sind, die Smith mit einer Abhandlung über Recht und Politik abrunden wollte, wobei er das unfertige Manuskript kurz vor seinem Tode verbrannte. Ferner gibt es unübersehbare Belege dafür, daß Smith im „Wohlstand der Nationen" ein Bild des Menschen seiner Zeit und seines Raumes zugrunde legt, der als Bürger in die Gesellschaft eingebunden ist. Wenn er vom wohlverstandenen Eigeninteresse spricht, meint er das Interesse von Individuen, die moralische Normen der bürgerlichen Gesellschaft befolgen und unter rechtsstaatlichen Bedingungen mit verläßlichem Schutz der Bürgerrechte leben und handeln. Es sind Individuen, die als Wirtschaftssubjekte an eigeninteressierten, wechselseitig jedoch vorteilhaften Marktgeschäften und als Bürger ebenso an solidarischen Beziehungen in der Familie und im politisch organisierten Gemeinwesen aktiv teilnehmen. Im nachhinein mag man es bedauern, daß Smith die impliziten Verhaltensprämissen nicht deutlicher akzentuiert hat. Das verdeckte Nebeneinander von historisch eingebundenen Individuen einerseits und anonymen sowie eigeninteressierten Individuen andererseits hat Salin (1967, 73) treffend als „Doppelseitigkeit" der Smithschen Theorie bezeichnet. Sie erwies sich insofern als verhängnisvoll, als sie im Nachlauf zu Smith wenig dazu beitrug, die große Antinomie der Nationalökonomie zu entschärfen oder gar zu überwinden. Smith hat - wohlgemerkt ungewollt - die Entstehung von zwei ökonomischen Methodenrichtungen der Ökonomie begünstigt. Die abstrakt-theoretische Richtung hat maßgeblich Ricardo eingeleitet. Sie führte zur Trennung der Nationalökonomie von Raum und Zeit, die in der neoklassichen Gleichgewichtstheorie und der Wohlfahrtsökonomik ihren vorläufigen Höhepunkt fand (Krüsselberg 1969, 96). In diesen Theorien werden die Individuen bekanntlich als Akteure modelliert, die unter der Annahme je eigener Präferenzen bei gegebenen Restriktionen räum- und zeitlos ihre Entscheidungen zu optimieren suchen. Diese Theorierichtung, der jedes Bewußtsein für die Antinomiefrage abgeht, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Der praktische Menschenverstand in Verbindung mit den unübersehbaren raum-zeit-bezogenen Problemen und VielfÖrmigkeiten des wirtschaftlichen Alltags mußten früher oder später konträre Theorieansätze auf den 1 Vgl. Lange (1983), Krüsselberg (1984), Meyer-Faje und Ulrich (1991), Bürgin (1993).
Die große Antinomie der Nationalökonomie · 19 Plan rufen. Den ersten Anlauf dazu unternehmen die Vertreter der Historischen Schule in Deutschland.
III. Die Bemühungen der Historischen Schule zur Überwindung der großen Antinomie 1. Das Forschungsprogramm der Historischen Schule Die Arbeiten der frühen Vertreter der Historischen Schule erwuchsen aus dem Unbehagen an der Entwicklung der Nationalökonomie hin zu einer abstrakten Theorie, die im Gefolge von Ricardo versuchte, für Marktgesellschaften allgemeine Produktions- und Verteilungsgesetzmäßigkeiten zu formulieren, die analog zu den naturwissenschaftlichen Gesetzen universale Gültigkeit beanspruchten. Dieser Anspruch war nur über den Preis restriktiver Prämissen einlösbar, mit deren Hilfe jegliche Besonderheiten von Raum und Zeit eliminiert wurden. Das Streben nach einer abstrakten Theorie mit einem weitestgehenden allgemeinen Erklärungsgehalt war zwar methodisch anspruchsvoll, praktisch jedoch nicht immer hilfreich. Die Vertreter der Historischen Schule forderten deshalb eine Wirtschaftstheorie, die der Vielfalt realer wirtschaftlicher Verhältnisse besser gerecht werden sollte. Roscher (1843, IV), der originäre Gründer der Historischen Schule, sah den Hauptzweck der Wirtschaftstheorie gemäß der geschichtlichen Methode darin, die Zwecke, die Völker in wirtschaftlicher Hinsicht verfolgt haben, zu beschreiben und zu erklären. Diese Erkenntnis erfordere die Verbindung der Ökonomie mit anderen Wissenschaften, insbesondere der Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaft. Roscher wollte also nur eine geschichts- und länderbezogene Ergänzung der allgemeinen Theorien. Erst Hildebrand (1848) forderte eine vollständige Erneuerung der Nationalökonomie, die eine Lehre von den ökonomischen Entwicklungsgesetzen der Völker zu sein habe. Später ging er gar so weit, die Existenz allgemeiner ökonomischer Gesetze zu bestreiten. Hildebrand postulierte damit ein Kontrastprogramm zur klassischen Nationalökonomie, das die weitere Entwicklung der Historischen Schule prägte und in eine methodische Sackgasse leitete. Diese Entwicklung kann hier nur angedeutet werden (Leipold 1998). Sie lenkte die Forschungsanstrengungen von Generationen von Gelehrten dahin, die Existenz geschichtsund kulturspezifischer Verhaltensweisen und damit auch ökonomischer Gesetze nachweisen zu wollen. Der erste methodische Zugriff dazu war die Konstruktion von Wirtschaftsstufen, wie sie von List, Hildebrand oder Bücher als den Hauptvertretern der älteren Historischen Schule präsentiert wurden. Sämtliche Stufentheorien, deren Einzelheiten hier nicht interessieren, basierten auf der Idee der Aszendenz von primitiven Zuständen mit geringer Arbeitsteilung und Spezialisierung über Zwischenstufen hin zu wirtschaftlich und zivilisatorisch höherentwickelten Zuständen, die in nationalstaatlich organisierten Volkswirtschaften ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. Die Stufentheorien waren also das wirtschaftshistorische Spiegelbild der maßgeblich von Hegel inspirierten idealistischen Ent-
20 · Helmut Leipold Wicklungsphilosophie, die ja auch Pate der materialistischen Geschichtstheorie von Marx war. Die Lehre von den Wirtschaftsstufen erwies sich als Fehlschlag. Die offenkundigen Diskrepanzen zwischen den unterstellten Stufeneigenarten und deren Abfolgen einerseits und den realen Entwicklungen und Verhältnissen andererseits wurden früh von Wirtschaftshistorikern nachgewiesen. Deshalb wurde diese Lehre von den Vertretern der jüngeren Historischen Schule aufgegeben. Sie bemühten sich statt dessen darum, wirtschaftliche und soziale Gesetzmäßigkeiten für historisch-konkrete und auch nebeneinander existierende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen zu formulieren, die sie mittels der Methode der Induktion, also der Beschreibung und Auswertung von konkreten Daten ermitteln wollten. Dabei bedienten sie sich der Kategorien des Wirtschaftssystems und später des Wirtschaftsstils, um die Vielfalt historischer und kultureller Realitäten ordnen und als relative Entitäten erfassen zu können. Der einflußreichste Konzeptualisierungsversuch stammt von Sombart (1916). Unter einem Wirtschaftssystem verstand er die als geistige Einheit erfaßte spezifische Wirtschaftsweise, in der erstens eine bestimmte Wirtschaftsgesinnung mit eigenen Wertvorstellungen herrscht, die zweitens eine bestimmte Ordnung des arbeitsteiligen Geschehens hat und die drittens eine spezielle Wirtschaftstechnik anwendet. Diese drei Grundelemente hat Sombart weiter untergliedert, indem er denkmögliche Gestaltungen dichotomisch gegenüberstellte. Als Gegensatzpaare der verschiedenen Wirtschaftsgesinnungen werden z. B. das Bedarfsdeckungs- und Erwerbsprinzip, der verschiedenen Ordnungen die Privat· und Gemeinwirtschaft und der Techniken die unreflektierten und wissenschaftlichrationellen Fertigkeiten unterschieden. Sombart wollte also auch außerökonomische Faktoren des Wirtschaftens mittels der Kategorie des Wirtschaftssystems erfassen, woraus sich seine Auffassung erklärt, daß die Nationalökonomie die Lehre von den Wirtschaftssystemen sei. Damit verbindet sich die These, daß nur im Rahmen spezieller Wirtschaftssysteme das von den Klassikern als allgemeine Prämisse unterstellte rationale Wirtschaftsverhalten Geltung habe. Von daher bedurfte es nur noch eines kleinen Schrittes zur Kategorie des Wirtschaftsstils, sprach doch Sombart (1916, 19) bereits von besonderen Kulturstilen. Hier sei lediglich das von Spiethoff (1933) entwickelte Konzept des Wirtschafisstils erwähnt, worunter er den Inbegriff der Merkmale verstand, die eine arteigene Gestalt des Wirtschaftslebens verkörpern. In Erweiterung der Wirtschaftssystemelemente von Sombart unterschied Spiethoff als stilprägende Faktoren den Wirtschaftsgeist, die natürlichen und technischen Grundlagen, die Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung und den jeweiligen Wirtschaftslauf. Jede dieser Faktorengruppen hat er weiter untergliedert, wobei er die von der Historischen Schule über Jahrzehnte angesammelten Fakten kategorisch verdichtete. Auch dieser Ansatz war von der Idee beherrscht, mittels des Wirtschafisstils die kulturspezifischen Merkmale des Wirtschaftens zu erfassen und damit die Geltungsbedingungen der rein ökonomischen Gesetzeshypothesen zu relativieren. Allerdings konnten sowohl Spiethoff als auch andere Stiltheoretiker ihrem selbstgesetzten Anspruch nicht gerecht werden.
Die große Antinomie der Nationalökonomie * 21 2. Kritische Anmerkungen Das Forschungsprogramm der Historischen Schule ist aus verschiedenen Gründen lehrreich. Es ist ein paradigmatischer Versuch, die Kluft zwischen geschichtlicher Vielfalt des Wirtschaften und der Erklärung mit Hilfe einer allgemeinen ökonomischen Theorie zu überwinden. Bekanntlich ist dieses Vorhaben mißlungen, woraus sich die Frage nach den Gründen dafür ableitet. Bereits Euchen (1950, 42 ff.) hat das Scheitern aller Stufen-, Wirtschaftssystem- und Wirtschaftsstilkonzepte festgestellt. Die wesentliche Ursache dafür sah er in dem Anspruch, für jeden der verschiedenen Ordnungstypen räum- und zeitgebundene ökonomische Theorien ableiten zu wollen. Dieses Vorhaben sei bis dato keinem Theoretiker gelungen, weil es sich um ein verfehltes und unerfüllbares Erkenntnisziel handele. Das einzige Ergebnis sei die Konstruktion wirklichkeitsfremder Begriffsgebilde gewesen, in deren Prokustesbett man die Fakten willkürlich gezwängt habe. Dieses bittere Fazit bedarf allein wegen des ambitionierten Forschungsprogramms, an dem sich mehrere Forschergenerationen beteiligt haben, noch einer weiteren Erläuterung. Das Gespür der Vertreter der Historischen Schule für die Antinomie erwuchs aus der kritischen Auseinandersetzung mit der klassischen Nationalökonomie. Als zentraler Kritikpunkte erwies sich deren meist vereinfacht interpretierte Vorstellung, die Konkurrenzordnung sei eine natürliche, zeitlose Ordnung, die sich aufgrund ihrer überlegenen Leistungsfähigkeit universal durchsetze. Schmoller (1874, 260) bezeichnet die Idee „einer konstanten, über Raum und Zeit erhobenen Normalform der volkswirtschaftlichen Organisation" als absolut falsche Vorstellung, die schon List, Roscher, Hildebrand und Knies widerlegt hätten. Als zweite, ebenso absolut falsche Vorstellung bewertet er die abstrakte Analyse, die eigeninteressierte Individuen unterstelle und die einseitig auf die Ableitung natürlich-technischer Gesetze der Wirtschaftsentwicklung gerichtet sei. Eine „richtige" Auffassung der Nationalökonomie erachtet demgemäß Schmoller (1874, 253) nur als möglich, wenn die Volkswirtschaft als „ethische Lebensordnung" begriffen und das fur die jeweilige Ordnung spezifische „sittlich-geistige Gemeinbewusstsein" in den Mittelpunkt der ökonomischen Analyse gestellt werde. Der so anvisierte Umbau der Volkswirtschaftstheorie zur Geistes- und Kulturwissenschaft mußte jedoch aufgrund methodisch-theoretischer Defizite mißlingen. Die Historische Schule benutzte bevorzugt die Methode des Verstehens und Erlebens, die von den damals einflußreichen Erkenntnistheoretikern als die für die Geistes- und Kulturwissenschaften angemessene Methode empfohlen wurde, um das Besondere des Objektbereichs erfassen zu können, während allgemeine Theorien für naturwissenschaftliche Erklärungen reserviert wurden. Diese methodische Trennung gilt mitttlerweile als überholt {Popper 1987, 102 ff.). Das Erleben oder Verstehen der Realität bleiben ohne eine Theorie, die Zusammenhänge aufklärt und die Stellung und Wirkung der einzelnen Elemente erklärt, zwangsläufig orientierungslos. Über eine eigenständige allgemeine Wirtschaftstheorie verfügte die Historische Schule jedoch nicht. Sie sollte ja erst auf induktivem Weg durch die Sammlung und Auswertung der für spezielle Stufen, Wirtschaftssysteme oder Wirtschaftsstile ermittelten Daten gewonnen werden. Die Abstraktionsbemühungen beschränkten sich auf die Definition und Konstruktion von Begriffen oder Typen, wobei allein die beobachtbare Vielfalt der konkurrierenden Wirtschaftsstufen- und Wirtschaftssystemkonzepte deren
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Beliebigkeit indiziert. Die vorhandenen allgemeinen Theoriestücke der klassischen Nationalökonomie wurden aus den erwähnten Einwänden entweder ignoriert oder nur rudimentär genutzt. Das ganze Forschungsbemühen war ja daraufgerichtet, die klassischen Theorien zu modifizieren oder gar zu widerlegen. Diese Intention in Verbindung mit dem eigenständigen Theoriedefizit der Historischen Schule erklärt deren Anfälligkeit fur Ideologien. Gerade in Deutschland hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die nationale und nachfolgend die sozialistische Bewegung ihre hohe Zeit. Beiden Bewegungen gemeinsam ist die Beschwörung des Gemeinschafts-, Volks- oder Klassengeistes. Der Einfluß dieser Bewegungen und insbesondere der nationalen Zeitströmung auf das Forschungsprogramm der Historischen Schule ist unübersehbar. Er findet sich in dem freilich wissenschaftlich verklausulierten Ziel wieder, das „sittlich-geistige Gemeinbewußtsein", den „Volks- oder Gemeingeist", die „Wirtschaftsgesinnung", den „vorherrschenden Wirtschaftsgeist", die „raumzeitbezogene Sinneinheit" oder einfach die „epochen- oder arteigene Gestalt des Wirtschaftslebens" zum zentralen Erkenntnisobjekt der Nationalökonomie zu erheben (Beispielhaft dafür siehe Weippert 1967). Im Rückblick handelt es sich dabei um wolkige, ja leicht anrüchige Erkenntnisobjekte, die nur verständlich sind, wenn sie im Kontext des Zeitgeistes der Historischen Schule gesehen werden. Wichtiger ist die zugrundeliegende forschungsstrategische Intention, die darauf aus war, die klassische Verhaltensannahme eigeninteressiert und rational handelnder Menschen zu widerlegen oder wenigstens zu modifizieren. Die Versuche, den Gemein- oder Wirtschaftsgeist einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Raumes mitsamt den wirtschaftlichen Konsequenzen zu erfassen, fallen nicht überzeugend aus. Die wenigen Ausnahmen wie etwa die berühmte Studie von Max Weber über „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" bestätigen den Eindruck. Der Großteil der historischen Studien über den Zusammenhang zwischen Wirtschafisgeist und wirtschaftliche Entwicklung besteht aus Einzelstudien, die jedoch nicht zu einer schlüssigen allgemeinen Wirtschaftstheorie verdichtet werden konnten. Die Versuche, den vorherrschenden Gemein- oder Wirtschaftsgeist zu erfassen, erwiesen sich meist als zu vage, um daraus spezifische Markt- oder Wirtschaftsgesetze ableiten zu können. Der Erkenntnisgewinn beschränkte sich wie etwa bei Schmoller (1904, 104 f.) auf die Feststellung, daß die Ordnung der Güternachfrage oder des Angebots auch die jeweilige Ordnung der Lebensführung widerspiegelt. Dabei bleiben jedoch die maßgeblichen Determinanten für die Ordnung der Lebensführung unklar. Wie noch auszuführen ist, sind diese Determinanten in dem Gefüge der moralischen Bindungen des selbstinteressierten Verhaltens der Wirtschaftssubjekte zu vermuten und zu systematisieren. Diese naheliegende Einsicht blieb den Vertretern der Historischen Schule wahrscheinlich deshalb versperrt, weil sie von der ideologischen Vorstellung besessen waren, den Gemeingeist als Gegenpart zum Selbstinteresse herzustellen und historisch nachweisen zu wollen. Dieses Vorgehen ist etwa charakteristisch für das Wirtschafissystemkonzept von Sombart (1916, 14 f.), der unter dem Merkmal des Wirtschaftsgeistes (Wirtschaftsgesinnung) den von der klassischen Nationalökonomie unterstellten Verhaltensprämissen des Erwerbsprinzips und des individuellen Rationalverhaltens das Bedarfs-
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deckungsprinzip, den Traditionalismus und den Solidarismus dichotomisch gegenüberstellt. Diese Gegensatzpaare würden dann einen Sinn machen, wenn sie als Idealtypen verstanden würden. Tatsächlich haben Sombart wie auch andere Vertreter der Historischen Schule sie als Realtypen interpretiert und auch empirisch zu belegen versucht, daß das Wirtschaftsleben in raum-zeit-bezogenen Systemen oder Stufen vom reinen Geist der Bedarfsdeckung und des solidarischen Verhaltens beseelt gewesen sei. Solche Einfalt ist wohl nur durch Ideologiebefangenheit zu erklären. Deshalb sollte es auch nicht verwundern, daß ein so gelehrter Mann wie Sombart vom anfänglichen Sympathisanten von Marx später nahtlos zu einem Befürworter des Nationalsozialismus konvertieren konnte. Insgesamt vermittelt das Forschungsprogramm der Historischen Schule lehrreiche Aufschlüsse für eine mögliche Lösung der großen Antinomie der Nationalökonomie. Das Programm stellte erklärungsträchtige Fragen. Die mangelnde theoretische Anleitung und die ideologische Fehlleitung führten die Forschung jedoch in eine falsche Richtung, an deren Ende sich Berge von Papier anhäuften, die nicht dazu taugten, die große Antinomie zu lösen (Zur analogen Bewertung des älteren amerikanischen Institutionalismus siehe Coase 1984).
IV. Die Ordnungstheorie von W. Eucken 1. Das Forschungsprogramm Eucken hat mit seiner Ordnungstheorie eine eigenständige Lösung der großen Antinomie geliefert, die hier in der gebotenen Kürze vorgestellt werden soll. Von der Historischen Schule, in der er seine akademische Ausbildung erfuhr, übernahm er als das Beste nicht nur den „Drang zur Wirklichkeit", sondern auch das Bewußtsein für das Spannungsverhältnis zwischen Geschichte und allgemeiner Theorie {Lutz 1952, VIII). Aufgrund seiner kurz skizzierten kritischen Einwände konnte er in der bloßen Modifikation sowohl der klassischen Nationalökonomie als auch der Historischen Schule keine befriedigende Lösung sehen. Er entwickelte vielmehr ein neues, originäres Forschungsprogramm, eben jenes der Ordnungstheorie. Deren methodische Eigenart ist darin zu sehen, daß Eucken die Methodik des Erlebens und Verstehens zur Erfassung des Besonderen mit der abstrakt-theoretischen Methode zur Erklärung allgemeiner ökonomischen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten verknüpfte. Im Unterschied zur Historischen Schule erkannte Eucken, daß sich die Vielfalt des wirtschaftlichen Geschehens nicht dadurch auszeichnet und erfassen läßt, indem man raum-zeitgebunde Gemeinsamkeiten, etwa in Gestalt eines vorherrschenden Gemein- oder Wirtschaftsgeistes, vermutet und zu Realtypen stilisiert. Statt dessen war er darauf aus, mit Hilfe der pointierendhervorhebenden Abstraktion das Besondere historisch-konkreter Verhältnisse herauszuarbeiten und zu reinen Ordnungsformen des Wirtschaftens zu destillieren. Er strebte mit der isolierenden Abstraktion also verstehende Einzelbeschreibung und -erfassung der Wirklichkeit an, die von allgemein theoretischen Problemstellungen angeleitet sein sollten. Den Leitfaden dafür erkannte Eucken im Grundproblem der Nationalökonomie,
24 - Helmut Leipold nämlich im universalen Tatbestand der Güterknappheit, deren Bewältigung sich durch eine allgemeine Theorie der Wirtschaftsrechnung erschließe. Da Wirtschaften stets planvolles Handeln der Wirtschaftseinheiten sei, das eine knappheitsbezogene Rechnung und Abstimmung der Tätigkeiten erfordere, mußte sich ihm die Zahl der planenden Wirtschaftseinheiten und das Zustandekommen eines Planund Rechnungssystems als objektives Kriterium zur Erfassung und Ordnung der historischen VielfÖrmigkeit des Wirtschaften geradezu aufdrängen. Von daher gelangte Euchen zur Unterscheidung der beiden Wirtschaftssysteme der zentralgeleiteten Wirtschaft einerseits und der Verkehrs- oder Marktwirtschaft andererseits. Im erstgenannten System erfolgen die Planung und Lenkung der Wirtschaftsprozesse durch eine Zentralinstanz, im zweitgenannten durch viele dezentrale Wirtschaftseinheiten, also durch die Unternehmen und Haushalte. Je nach Größe und der davon abhängigen Existenz eines Verwaltungsapparates wird das erste Wirtschaftssystem in die kleine autarke Eigenwirtschaft und die große Zentralverwaltungswirtschafi mit Varianten der Konsumgüterverteilung untergliedert. Da im zweiten Wirtschaftssystem die dezentral aufgestellten Wirtschaftspläne über Märkte und Preise zu koordinieren sind, wird die Verkehrswirtschaft nach Maßgabe der Marktformen und der Verwendung des Geldes als Recheneinheit und/oder als Tauschmittel sowie der Entstehung und Vernichtung des Geldes weiter unterteilt. Die Zahl der so gewonnenen reinen Ordnungsformen ist nach Eucken begrenzt. Er verglich sie mit den zwei Dutzend Buchstaben, aus denen eine gewaltige Vielfalt von Worten und Sätzen gebildet werden kann. Analog dazu erklärte er die Mannigfaltigkeiten historisch-konkreter Wirtschaftsordnungen damit, daß die Zusammensetzung der Ordnungsformen außerordentlich verschieden sei. Wo die Vertreter der Historischen Schule nach Einheit der Ordnungen suchten, fand Eucken also Verschiedenheit. Jedenfalls sah er in der Morphologie das adäquate Instrument zur Beschreibung und Erfassung der Wirtschaftsordnung einer jeden Zeit und eines jeden Landes, womit für ihn auch die erste wichtige Frage der Nationalökonomie beantwortet war. Erst auf dieser Grundlage erachtete Eucken die Lösung der zweiten Hauptfrage der Nationalökonomie, nämlich die Gewinnung und Anwendung allgemeiner ökonomischer Gesetze zur Analyse der Wirtschaftsprozesse, als möglich. Die analytische Verbindung von geschichtlichen Ordnungen mit allgemeiner Theorie hat Eucken an zahlreichen historischen Fallbeispielen demonstriert. Die mit dem morphologischen Apparat identifizierte Existenz bestimmter Marktformen, z. B. eines Angebotsmonopols, erlaube es, durch Anwendung der Preis- und speziell der Monopoltheorie die spezifischen Preise und Mengen, damit die Marktprozesse zu erklären. Analoge Anwendungs- und Erklärungsmöglichkeiten bieten sich bei anderen Ordnungsformen, z. B. bei konkreten Geldordnungen für die Geldtheorie, oder bei Zentralverwaltungswirtschaften für die Theorie der zentralen Planung, wie sie von seinem Schüler Hensel (1954) entwickelt worden ist. 2. Kritische Anmerkungen Die Ordnungstheorie von Eucken ist ein originelles Theorieprogramm, das der geschichtlichen Vielfalt des Wirtschaftslebens gerecht werden will und sie durch Anwen-
Die große Antinomie der Nationalökonomie · 25 dung abstrakter ökonomischer Theorien zu erschließen sucht. Die geschichtliche Vielfalt wird in Form des variablen und stets individuellen Gefuges der wirtschaftlichen Ordnungsformen erfaßt, deren prozessualen Wirkungen durch die Anwendung der relevanten ökonomischen Theorien analysiert werden. Indem Eucken die Individualität jeglicher Wirtschaftsordnung herausstellt, vermeidet er die einseitige theoretische Ausrichtung der Nationalökonomie, die in der klassischen Schule auf der Analyse der Konkurrenzordnung, in der Historischen Schule auf die Analyse epochen- und arteigener Ordnungsgefüge fixiert war. Dadurch eröffnet er zugleich neue historische Dimensionen fur die Anwendung abstrakt formulierter ökonomischer Theorien. Ist damit die Verschmelzung zwischen geschichtlicher Anschauung und theoretischem Denken gelungen? Nur bedingt, denn der morphologische Apparat weist unübersehbare Schwächen bei der geschichtlichen Anschauung auf, die auch die theoretische Erklärung der Wirkungen von Ordnungen beeinträchtigen. Es sei daran erinnert, daß Eucken die reinen Ordnungsformen im Wege der pointierend-hervorhebenden Abstraktion gewinnt. Um die Urformen aus der realen Vielfalt herausdestillieren zu können, müssen sie von allen historisch-konkreten Bezügen isoliert werden. Diese rigorose Abstraktion von jeglichem Raum-Zeit-Bezug bedingt ein rigoroses Geschichtsverstännis, das nur dann nachvollziehbar ist, wenn Geschichte als Wiederkehr gleicher Probleme und gleichartiger Zusammenhänge der Tatbestände verstanden wird. Es ist zu vermuten, daß dieses spezifische Geschichtsverständnis das Denken und damit das Theorieprogramm von Eucken geprägt hat {Eucken 1950, 204; Schefold 1995, 11). Der morphologische Apparat, der ja nur um den Preis der rigorosen Abstraktion gewonnen werden konnte, weist deshalb einen Geburtsmakel auf, der bei der Erfassung realer Wirtschaftsordnungen deutlich zutage tritt. Diesen Makel hat Eucken nicht verkannt. Er stellt zwar stets die Eignung der Morphologie heraus, den Aufbau und die Eigenart der Wirtschaftsordnung eines jeden Volkes und einer jeden Zeit erkennen zu können. Zugleich konzediert Eucken (1950, 169), daß eine volle geschichtliche Anschauung erst dann gelingen könne, wenn die „Einfügung der Wirtschaftsordnung in die jeweilige natürlich-geistige-politisch-soziale Umwelt" berücksichtigt werde. Zur Erfassung der „gesamtwirtschaftlichen Umwelt" empfiehlt er die Methode der generalisierenden Abstraktion, die „das Ganze der Wirtschaft einer Zeit und eines Volkes" ins Auge zu fassen habe. Die Erläuterung dieser Methode fällt wohl nicht zufällig etwas spärlich aus. Allein die unbestimmte Forderung, das „Ganze der Wirtschaft" zu berücksichtigen, müßte selbst spezialisierte Wirtschaftshistoriker hoffnungslos überfordern, die ja stets nur aufgrund problem- und theoriegeleiteter Fragestellungen historische Besonderheiten erfassen und erforschen können. Die problemadäquate Forschungsanleitung wäre von einer Theorie der Entstehung und des Wandels von Wirtschaftsordnungen zu erwarten, die jedoch die Ordnungstheorie von Eucken aufgrund werkimmanenter Prämissen und Bedenken nicht bieten kann. Verantwortlich für die Skepsis von Eucken gegenüber einer dynamischen Ordnungstheorie sind wohl erstens sein eigenes spezielles Geschichtsverständnis, zweitens seine Kenntnis der eher stümperhaften Versuche, geschichtliche Vielfalt und Entwicklungen in Gestalt von Wirtschaftsstufen oder -Stilen einzufangen und drittens seine Bedenken, daß eine
26 · Helmut Leipold seriöse Theorie der Entwicklung von Wirtschaftsordnungen die ökonomische Theorie überfordere. Das mag erklären, weshalb er historische Entwicklungsfaktoren in den Datenkranz verweist, worunter er alle Tatsachen subsumiert, die den ökonomischen Kosmos beeinflussen, ohne selbst von ökonomischen Faktoren bestimmt zu sein. Neben den Bedürfnissen und dem räum- und zeitgegebenen Bestand an ökonomischen Faktoren werden dazu die Gesamtheit der jeweiligen politischen, rechtlichen und sozialen Ordnungen gezählt. Eucken erkennt und demonstriert an vielen historischen Fallbeispielen, daß Veränderungen der Daten den wirtschaftlichen Wandel beeinflussen. Gleichwohl erklärt er den Datenkranz zur Tabuzone, weil er mit der ökonomischen Theorie nicht erklärt werden könne. Diese methodische Selbstbeschränkung hat jedoch entsprechende analytische Beschränkungen bei der eingeforderten vollen geschichtlichen Anschauung zur Konsequenz. Denn die Morphologie liefert kein Rüstzeug, um die historisch-konkrete Einbettung der Ordnungsformen adäquat erfassen zu können. Diese Schwäche ist vor allem von Weippert (1941) als zentraler Kritikpunkt herausgestellt worden. Die volle geschichtliche Anschauung könne nur dann gelingen, wenn die jeweiligen Ordnungsformen in ihrer Gebundenheit an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gesehen werde. Weil der morphologische Apparat aufgrund der rigorosen Abstraktion ungeschichtlich sei, konstatiert Weippert (1941, 55) sogar ein Scheitern von Eucken bei dem Vorhaben, die große Antinomie zu überwinden. Diese Kritik ist überzogen. Man wird Eucken wohl gerechter, wenn man ihm eine originelle, aber noch unvollständige Lösung der Antinomie attestiert. Die analytische Unfertigkeit der Ordnungstheorie deutet Eucken (1950, 268) selbst an, wenn er feststellt, daß man zu einer richtigen Erkenntnis des wirtschaftenden Menschen erst durch eine gelungene Synthese von gleichbleibender Individualität und geschichtlicher Gebundenheit gelangen wird. Eine Synthese erscheint möglich, wenn der Datenkranz entflochten und in eine Theorie der Entstehung und des Wandels von Ordnungen eingewebt wird. Gefordert ist also die Dynamisierung der Ordnungstheorie (Herrmann-Pillath 1991; Meyer 1989). Diese Forderung ist von der Neuen Institutionenökonomik aufgenommen und insbesondere von North in Gestalt der Theorie des institutionellen Wandels partiell eingelöst worden.
V. Die Theorie des institutionellen Wandels von D.C. North 1. Das Forschungsprogramm der Neuen Institutionenökonomik Die ökonomische Institutionentheorie, auch Neue Institutionenökonomik genannt, ist in den 60er und 70er Jahren entwickelt worden. Sie umfaßt so verschiedene theoretische Ansätze wie die Property Rights-Theorie, die ökonomische Analyse des Rechts, die ökonomische Theorie der Verfassung (Constitutional Economics), die Transaktionskostenökonomik, die Theorie des institutionellen Wandels sowie partiell auch Theoriestükke der Public Choice-Theorie (vgl. als Übersicht Leipold 1989; Richter 1998). Gemein-
Die große Antinomie der Nationalökonomie · 27 sam ist diesen Ansätzen, daß sie Institutionen als wichtige Einflußgröße des Wirtschaftens berücksichtigen und analysieren. Im Mittelpunkt stehen die Fragen nach der Entstehung und dem Wandel von Institutionen (choice of rules) sowie nach den Wirkungen von Institutionen (choice within rules). Das Prädikat „neu" bezieht sich nicht auf diese Fragen, die ja auch die Hauptfragen der älteren Ordnungs- oder Institutionentheorien waren, sondern auf die Methodik. Institutionen werden als ökonomische Güter interpretiert, deren Wahl und Wirkungen mit dem mikroökonomischen Instrumentarium, also mit dem rationalen ökonomischen Erklärungsansatz analysiert werden. Die Renaissance der Institutionentheorie erwuchs aus dem Unbehagen darüber, daß Institutionen in der herrschenden neoklassischen Lehrbuchökonomie weitgehend ausgeklammert wurden und bis heute werden. Kritisiert wurden also die Annahmen der Institutionenneutralität und der Irrelevanz von Transaktionskosten. Explizit oder implizit wird mit diesen Annahmen vorausgesetzt, daß Eigentumsrechte eindeutig spezifiziert und übertragbar sind, Verträge vollständig formuliert und deren Erfüllung notfalls von neutralen Staats- oder Richterinstanzen erzwungen werden können, Unternehmen, Märkte und andere Produktions- und Austauscheinrichtungen einschließlich der Rechtsformen gegeben sind oder wirtschaftlich-technisches Wissen bekannt und allgemein zugänglich ist. Die Kritik an dieser idealen Welt der neoklassischen Gleichgewichtstheorie weist viele Ähnlichkeiten mit jener der Historischen Schule und des älteren Institutionalismus amerikanischer Prägung an der klassischen Nationalökonomie auf. Die Vertreter der ökonomischen Institutionentheorie teilen jedoch nicht deren Skepsis an der universalen Erklärungskraft des rationalen ökonomischen Entscheidungsansatzes, der vielmehr durch die Einbeziehung der Institutionen erweitert werden soll. Die maßgebliche Inspiration fur die ökonomische Institutionentheorie hat Coase geliefert. In seiner Arbeit über die „Natur der Firma" stellte Coase (1937) die Frage, weshalb Transaktionen von Gütern im beträchtlichen Umfang innerhalb von Unternehmen per Anweisung durch die Unternehmensleitung und nicht über Märkte und Preise abgewickelt werden. Als Ursachen erkannte er die Kosten des Preismechanismus, die er mit den Kosten der unternehmensinternen Transaktionen verglich. Damit lenkte er den Blick auf die Transaktionskosten als ursächliche Einflußgröße für die Wahl alternativer institutioneller Abwicklungsformen. Nicht minder einflußreich war die zweite Arbeit von Coase (1960), in der er die Frage nach den Bedingungen einer effizienten Zurechnung externer Effekte zwischen Schädigern und Geschädigten stellte. Die Antwort war das postum benannte Coase-Theorem. Vereinfacht formuliert besagt dieses Theorem, daß es in einer Welt mit vollkommener Information und damit ohne Transaktionskosten zu einer paretooptimalen Allokation der Güter einschließlich der externen Effekte kommt, und zwar unabhängig von der ursprünglichen Zuordnung der Eigentums- bzw. Emissionsrechte. Die Einsicht, daß Transaktionen in der realen Welt mit Kosten verbunden sind, lenkte erneut die Aufmerksamkeit der Ökonomen auf die Institutionen. Die Theorieentwicklung sei im folgenden exemplarisch an der Theorie des institutionellen Wandels von North verdeutlicht.
28 · Helmut Leipold 2. Die Theorie des institutionellen Wandels Die Theorie der institutionellen und wirtschaftlichen Entwicklung von North ist relativ einfach gestrickt. Das Gnindmuster bilden die erwähnten Basisaussagen von Coase, die für die Erklärung langfristiger wirtschaftlicher Entwicklungen variiert werden. Die erste Aussage, daß die Abwicklung von Marktprozessen Kosten verursacht, benutzt North (1984, 1987) zur Modifikation der wirtschaftlichen Entwicklungstheorie von Smith. Er stimmt mit Smith überein, daß die Teilung und Spezialisierung der Arbeit die Grundlage des wirtschaftlichen Wohlstandes sind. Sie erhöhen die Arbeitsproduktivität, senken die Produktionskosten und verbessern sowohl angebots- als auch nachfrageseitig die Gelegenheiten zu wechselseitigen Tauschgewinnen. Die Expansion der Tauschprozesse geht jedoch mit steigenden Transaktionskosten einher. Damit diese Kostenzunahme nicht die Ausweitung der Arbeitsteilung behindert, sind institutionelle Neuerungen erforderlich. Diese Einsicht wird zur These verallgemeinert, daß die Wahl und der Wandel von Institutionen vom Kriterium der Transaktionskostenminimierung bestimmt werden. Der Bezug zu Coase und dessen Unternehmenserklärung ist unübersehbar. Der Einfluß von Coase spiegelt sich auch in anderen Theorieansätzen der Neuen Institutionenökonomik wider, die sämtlich die These der effizienten, d.h. kostenminimalen Institutionenwahl unterstellen. Aufgrund der Einsicht, daß die Minimierung der Transaktionskosten in Marktwirtschaften kein eigenständiges Entscheidungsziel bildet, wird neuerdings die Effizienzthese dahingehend modifiziert, daß die Wahl der Institutionen von der Maximierung des Nettoertrages der Transaktionen bestimmt werde (Kreps 1990; Richter 1998). Losgelöst davon, ob die kostenminimale oder aber ertragsmaximale Erklärungsvariante gewählt wird, hält man an der Effizienzthese fest. Sie liegt der Transaktionskostenökonomie von Williamson (1990) zugrunde, nach der sich die Wahl alternativer Abwicklungs- und Beherrschungsformen von Transaktionen an der Kostenminimierung orientiert. Das gleiche Muster gilt auch für Wahl der Eigentumsrechte, die gemäß der These von Demsetz (1967, 347 f.) von den relativen Preisen (Kosten) und damit den relativen Güterknappheiten und deren Veränderungen bestimmt wird. Selbst die ökonomischen Erklärungen des Staates variieren nur das einfache Kosten-Ertrags-Kalkül (Buchanan 1984). Wie erwähnt, sind auch die ersten Arbeiten von North von der These beeinflußt, daß die Wahl und damit de¡r Wandel von Institutionen vom Bestreben der Wirtschaftssubjekte bestimmt werden, die Transaktionskosten zu minimieren. Das erklärt sein Bemühen, die eher vage Kategorie der Transaktionskosten zu präzisieren und deren reales Gewicht in der Wirtschaftsgeschichte empirisch zu belegen. Hier sei nur auf die gemeinsam mit Wallis durchgeführte Studie verwiesen, in der die Entwicklung der Transaktionskosten in den Vereinigten Staaten für den Zeitraum von 1870 bis 1970 untersucht wird. Wallis und North (1986) ermitteln im Jahr 1870 einen anteiligen Wert der Transaktionskosten am Bruttosozialprodukt von 26,1 v.H., der bis 1970 kontinuierlich auf 54,7 v.H. anstieg. Demgemäß haben sich die Transaktionskosten im Zeitraum eines Jahrhunderts verdoppelt. Dieses Ergebnis soll die Relevanz der zweiten Basisaussage von Coase erhärten, wonach in einer Welt hoher Transaktionskosten Institutionen und speziell Eigentumsrechte
Die große Antinomie der Nationalökonomie · 29 für die Güterallokation von Belang sind. Das Coose-Theorem ist im Rahmen der Property Rights-Theorie dahingehend spezifiziert worden, daß die Gestaltung und Zuordnung der Eigentumsrechte die Allokation und Nutzung von Gütern systematisch beeinfiußt (.Furubotn und Pejovich 1972, 1139). North hat diese These dazu benutzt, die wirtschaftlichen Wirkungen von Institutionen und insbesondere von verschiedenen eigentumsrechtlichen Arrangements aus wirtschaftshistorischer Sicht aufzuzeigen und zu belegen. Die Anwendung des ökonomischen Erklärungsansatzes hat ihm im Jahre 1993 den Nobelpreis der Wirtschaftswissenschaft beschert. Paradoxerweise kamen North jedoch im Laufe seiner historisch breit angelegten Vergleichsstudien immer mehr Zweifel an der Leistungsfähigkeit des ökonomischen Erklärungsansatzes. Seine Rede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises ist ein klassisches Beispiel dafür, daß North (1994) die Aktualität der großen Antinomie der Wirtschaftswissenschaft unbewußt wiederentdeckt hat. Die Ursachen und Stationen dafür sollen exemplarisch anhand seiner Theorieentwicklung rekonstruiert werden. Seine erste zusammen mit Thomas verfaßte Arbeit über die wirtschaftliche Entwicklung der westlichen Welt ist noch ganz dem ökonomischen Erklärungsmuster verhaftet, wonach Änderungen der relativen Preise, d.h. der Transaktionskosten die Wahl effizienter Eigentumsrechte induzieren (North und Thomas 1973). In der Tat entspricht der westliche Entwicklungspfad, der ab der beginnenden Neuzeit weltweit einzigartig war und in der industriellen Revolution seinen Höhepunkt fand, cum grano salis dem ökonomischen Erklärungsmuster. Gleichwohl mußte North bereits damals die unübersehbaren raumspezifischen Unterschiede der Wirtschaftsentwicklung etwa in den Niederlanden und England einerseits sowie in Frankreich und Spanien andererseits aufgefallen sein, die einer gesonderten Erklärung bedurften. Der relativ einfach strukturierte ökonomische Theorienansatz konnte für die räum- und zeitspezifische Besonderheiten keine plausible Erklärung liefern. North (1988) sah sich wahrscheinlich deshalb veranlaßt, in seiner „Theorie des institutionellen Wandels" die These der effizienten Institutionenwahl erstmals zu relativieren. Als Hauptursachen für dauerhafte ineffiziente Institutionen erscheinen nun staatliche Machthaber in Verbindung mit Unvollkommenheiten des politischen Marktes. Diese Ursachen werden mit einer neoklassischen Staatstheorie begründet. Der Staat erweist sich in seiner Funktion als Rechtsschutzinstanz als vorteilhaftes Komplement zur Ausweitung unpersönlicher Marktprozesse. Die ökonomischen Vorteile resultieren aus den steigenden Skalenerträgen und d.h. den sinkenden Kosten einer zentralen Instanz, die mittels des Monopols der physischen Gewaltanwendung Recht und Ordnung sichert und notfalls erzwingt. Der Staat wird also als natürliches Monopol modelliert, das als unparteiische Instanz die Eigentumsrechte der Wirtschaftssubjekte potentiell zu den kostengünstigsten Bedingungen sichern kann. Andererseits verführt das staatliche Monopol die eigeninteressierten Herrscher zum Mißbrauch der Monopolmacht. North unterstellt den staatlichen Herrschern als Basismotiv die Machtsicherung und die Maximierung der damit verbundenen Einkommen und Privilegien. Daraus sollte sich eigentlich auch das Interesse an der Durchsetzung effizienter Ordnungsbedingungen ergeben, weil eine produktive Wirtschaft die ergiebigste Quelle für staatliche Macht und Einkommen ist. Gegenüber diesem Vor-
30 · Helmut Leipold haben können jedoch macht- und kostenbedingte Restriktionen die Oberhand gewinnen. Die Macht kann entweder von externen oder internen Rivalen gefährdet werden, weshalb Herrscher bestrebt sind, externe Rivalen mit militärischen Mitteln abzuschrecken oder zu besiegen und interne Rivalen durch großzügige Privilegien zufriedenzustellen. Beide Formen der Machtsicherung erfordern Zwangsabgaben der Untertanen, beeinträchtigen also deren Eigentumsrechte und mindern die Leistungsbereitschaft. Dazu kommen kostenbedingte Beschränkungen. Denn die Eintreibung der Zwangsabgaben ist mit Kosten verbunden. Die Herrscher werden die für sie ergiebigsten Eintreibungsformen bevorzugen, wobei sich die Etablierung staatlicher und die Gewährleistung privater Monopole universal als billigste und vorteilhafteste Einnahmequelle erwiesen haben und bis heute erweisen. Die neoklassische Staatstheorie, die stark von der Theorie der Rentensuche inspiriert ist, nutzt North, um die angedeuteten divergenten Entwicklungen in den Niederlanden und England sowie in Frankreich und Spanien zu erklären. In den Niederlanden und in England wurden ab dem 16. Jahrhundert aufgrund eher zufälliger Umstände effiziente Eigentumsrechte etabliert. In den Niederlanden wurden die Grundlagen dafür unter der Herrschaft der Herzöge von Burgund, also vor der spanischen Interimsherrschaft geschaffen. Nach der Befreiung von der spanischen Herrschaft konnten in der neuen Unionsverfassung fiskalische Regeln zur Begrenzung der Staatseinnahmen geschaffen werden, die der Zustimmung aller Generalstände der Provinzen bedurften, womit es gelang, produktive Eigentumsrechte für die Privatinitiative zu sichern. In England entschied bekanntlich das Parlament den Machtkampf mit dem König zu seinen Gunsten, wodurch sich eine moderate Fiskalpolitik und liberale Ordnungsregeln entwickeln konnten. Dagegen wurde die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung im absolutistischen Frankreich und Spanien vom unersättlichen Finanzhunger der Monarchen und der monopolistischen Regulierung der Wirtschaft geprägt und gehemmt (North 1988, 148ff ). In den hier nur grob skizzierten historischen Vergleichsstudien wird die These vom Primat der Politik für den institutionellen Wandel deutlich. An dieser These hält North (1992, 167) fest, indem er unterstreicht, daß man effiziente Institutionen in einem Staatswesen erhält, das eingebaute Anreize zur Schaffung und Sicherung effizienter Eigentumsrechte hat. Die Frage, wie solche Anreize auszusehen haben und wie man sie erhält, bleibt jedoch offen. Der Grund dafür ist seine ökonomische Staatstheorie, in der North den Staat als „deus ex machina" einführt und als rationale und potentielle unparteiische Instanz modelliert. Damit sind Enttäuschungen vorprogrammiert, denn das Verhalten der staatlichen Souveräne ist so gut oder schlecht wie das in der jeweiligen Gesellschaft vorhandene Bewußtsein für Recht und Ordnung. Schlüssiger wäre es, den Staat als endogenen Teil der Entstehung und des Wandels von Institutionen zu modellieren, womit sich auch die Pfadabhängigkeit der Staatsentwicklung begründen ließe. Die These der pfadabhängigen Institutionenentwicklung steht im Mittelpunkt der zuletzt von North (1992, 1994, 1995) verfaßten Arbeiten und rundet die Theorie der institutionellen Entwicklung ab. Ausgangspunkt dafür war wohl die in den historischen Vergleichsstudien gewonnene Einsicht, daß ineffiziente Institutionen über lange Zeiträume bestehen können. Aufschlußreich war die Beobachtung, daß die wirtschaftlichen Unter-
Die große Antinomie der Nationalökonomie · 31 schiede etwa zwischen England und Spanien in deren Kolonien in Nord- bzw. Südamerika ihr Pendant fanden und selbst nach der Beseitigung der Kolonialherrschaft weiterbestanden. Das war deshalb irritierend, weil einige südamerikanische Länder nach ihrer Selbständigkeit die Verfassung der Vereinigten Staaten übernommen hatten. Die Einsicht, daß analoge formale Regeln mit beträchtlichen wirtschaftlichen Wachstumsunterschieden einhergingen und bis heute -gehen, mußte das analytische Augenmerk auf die informalen Regeln lenken, deren Vielfalt und Persistenz nach einer überzeugenden Erklärung verlangten. North fand sie in der Erkenntnis, daß der institutionelle Wandel pfadabhängig sei. Die Anregungen dafür lieferten die Arbeiten von Arthur (1989) und David (1985) über die Pfadabhängigkeit der Technikentwicklung. Diese Eigenart ist bei Netzwerkgütern beobachtbar, wo der Nutzen eines Anwenders auch von der Zahl vorhandener oder weiterer Anwender abhängt. Die steigenden Anwendungserträge können dazu fuhren, daß sich eine spezifische Technik aufgrund zufälliger Anfangsbedingungen gegenüber einer überlegenen Technik über einen längeren Zeitraum behauptet. North hat diese Grundidee für die Erklärung der Institutionenentwicklung übernommen und eigenständig modifiziert. Die Neufassung seiner Theorie des institutionellen Wandels, die eine Modifikation des ökonomischen Erklärungsansatzes einschließt, sei kurz erläutert (Leipold 1996b). Die wesentliche Theoriemodifikation besteht in der Aufwertung erstens der informalen Regeln, also der gewachsenen moralischen Werte und Sitten gegenüber den formalen Institutionen, zweitens der Organisationen gegenüber individuellen Akteuren und drittens der ideologie- oder kulturgeprägten Wahrnehmung der Realität und damit auch der Informationsverarbeitung gegenüber der Prämisse des Rationalverhaltens. Den institutionellen Wandel begreift North (1992, 1994) als das Resultat des raumund zeitbezogen divergenten Zusammenspiels von Organisationen und Institutionen. Institutionen definieren die Spielregeln des Zusammenspiels, wobei insbesondere die gewachsenen, informalen Regeln die wichtigen Restriktionen für angemessene oder unzulässige Verhaltensweisen vorgeben. Organisationen sind die für den institutionellen Wandel maßgeblichen Akteure oder Spieler. Sie bestehen aus Individuen, die gemeinsame Ziele anstreben und deshalb kooperieren. Dazu zählen Staaten, politische Parteien, wirtschaftliche Verbände, Unternehmen, Vereine und sonstige Korporationen. Deren Streben nach bestmöglicher Realisierung der je eigenen Ziele führt in einer Welt knapper Güter zum Wettbewerb, der wiederum die Lern-, Anpassungs- und Leistungsbereitschaft stimuliert. Die Intensität des Wettbewerbs hängt von der Beschaffenheit des Regelwerkes ab. Der Wettbewerb zwischen den Organisationen um politische Machtpositionen, Marktanteile oder Gewinne bewirkt auch einen Wettbewerb der Regelsysteme. Überkommene Regeln werden durch neue formale und informale Regeln ersetzt. Die Änderungen werden neben der regelabhängigen Wettbewerbsintensität von der wissensabhängigen Wahrnehmung neuer Gelegenheiten beeinflußt. Damit ist der Einfluß der kognitiven Modelle der Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen über die Realität als neue Erklärungsvariable angesprochen (Dernau und North 1993).
32 - Helmut Leipold North will mit Hilfe der kognitiven (mentalen) Modelle die räum- und zeitspezifischen Beschränkungen des Rationalverhaltens erfassen. Er interpretiert diese Modelle als ein Mixtum erstens des jeweiligen kulturellen Erbes, zweitens der lokalen Probleme und des Wissens von Raum und Zeit und drittens des zugänglichen nichtlokalen allgemeinen Wissens. Das kulturelle Erbe umfaßt die gewachsenen Werte und Sitten, also die kulturellen Regeln oder Weltbilder, die generationsübergreifend durch kollektives Lernen weitergegeben werden. Den Begriff des kollektiven Lernens übernimmt North von Hayek. Diese Art des Lernens vollzieht sich durch die meist unbewußte Befolgung geltender Regeln, die Hayek (1979) als das Ergebnis eines langen Siebungsprozesses interpretiert. In den Regeln speichert sich deshalb das Wissen früherer Generationen über vor- und nachteilige Verhaltensweisen in der Vergangenheit. Das erlernte Wissen ergibt in Verbindung mit dem lokalen und dem zugänglichen allgemeinen Wissen subjektive Wissensmodelle, wobei sich die räum- und zeitabhängige divergente Zusammensetzung der Wissensquellen nach North (1995) in verschiedenen Entscheidungen und Verhaltensweisen der Individuen widerspiegelt. Er konzediert zwar, daß unzulängliche Mentalmodelle bei korrekter Rückkoppelung der Entscheidungsfolgen revidiert werden, so daß sich die Entscheidungen von Individuen mit identischer Nutzenfunktion losgelöst von der Raum- und Zeitgebundenheit annähern könnten. Eine vollständige Annäherung unterbleibt jedoch, solange die institutionellen Regeln, die ja maßgebliche Bestimmungsfaktoren der kognitiven Modelle sind, verschieden bleiben. Damit ist aufgrund der Pfadabhängigkeit des institutionellen Wandels zu rechnen. Pfadabhängigkeit bedeutet die einfache Einsicht, daß historische Bedingungen aktuelle Entscheidungen und damit auch zukünftige Entwicklungen präformieren. Diese Eigenart gilt auch und gerade fur den institutionellen Wandel, bei dem die gewachsenen geltenden Regeln stets der Bezugspunkt fur deren Veränderungen sind. Der gegebene Regelbestand engt also die Möglichkeiten der potentiellen Änderungen ein und verbindet diese mit der Vergangenheit. Die Verhaltenseffekte isolierter Regeländerungen bleiben aufgrund der Interdependenz von formalen und informalen Regeln begrenzt, die North mit Hilfe der ökonomischen Konzepte der Netzwerkexternalitäten und der Verbundeffekte erläutert. Die historische Gebundenheit der Regelgeltung und befolgung ist der eigentliche Grund dafür, daß umfassende oder gar revolutionäre Veränderungen eines Regelsystems eher geschichtliche Ausnahmen geblieben sind. Die wenigen Revolutionen waren deshalb selten so revolutionär wie erhofft. North (1992, 167 f., 1994, 367) konzediert, daß das Phänomen der Pfadabhängigkeit in der Theorie des institutionellen Wandels bisher noch weitgehend ungeklärt sei. Gleichwohl sieht er darin den Schlüssel für ein angemessenes Verstehen und Erklären der unübersehbaren Vielfalt der politischen und wirtschaftlichen Ordnungen und der davon abhängigen Verschiedenheit der wirtschaftlichen Entwicklung. 3. Kritische Anmerkungen Die Theorie des institutionellen Wandels von North und deren Modifikationen sind vor allem aus methodischen Gründen interessant. North hat im Laufe seiner imposanten Forschungsarbeit wahrscheinlich ohne Kenntnis der einschlägigen deutschen Theoriedis-
Die große Antinomie der Nationalökonomie · 33 kussion die Existenz der großen Antinomie der Nationalökonomie aufs Neue entdeckt und bestätigt. Die von ihm präsentierten und ständig nachgebesserten Erklärungsversuche zur Überwindung der Antinomie bleiben bisher jedoch unvollständig. Die wesentlichen Stärken und Schwächen seiner Theorie sollen deshalb noch einmal kurz rekapituliert werden. Im Zuge seiner wirtschaftshistorischen Studien mußte North schon früh erkennen, daß die Wahl und der Wandel von Institutionen nicht universal dem Erklärungsmuster der Neuen Institutionenökonomik folgen. Das führte zur Einsicht, daß informale Institutionen, d.h. die gewachsenen Werte und Sitten als Faktoren des menschlichen und wirtschaftlichen Verhaltens, zu berücksichtigen sind. Informale Regeln sind jedoch im Unterschied zu formalen Institutionen nur bedingt der unmittelbaren Beobachtung zugänglich. Sie sind vielmehr theoretisch zu erschließen. Dieses Vorhaben ist deshalb schwierig, weil es sich um räum- und zeitspezifische, also um kulturspezifische Regeln handelt, die sich wiederum nur mit Hilfe einer abstrakt-theoretischen Erklärung identifizieren lassen. North erkannte, daß das ökonomische Erklärungsmuster dafür überfordert ist. Der Versuch etwa, religiöse Werte, moralische Regeln oder gewachsene Gewohnheitsrechte als Resultat transaktionskostenminimierender Kalküle interpretieren zu wollen, kann nur als naives Unterfangen bewertet werden. Die „Effizienz" dieser Regeln erwächst nicht aus der Anpassung an Änderungen der Güterknappheiten und damit der Preise, sondern im Gegenteil aus ihrer Stabilität und damit aus der Fähigkeit, verläßliche Verhaltensbindungen zu bewirken. In der Aufwertung der informalen Regeln und der Abwertung des imperialen ökonomischen Erklärungsanspruchs erfährt Eucken eine doppelte nachträgliche Bestätigung. Bestätigt wird einmal sein Einwand, daß der Wandel oder auch die Stabilität der Ordnungen mit dem ökonomischen Instrumentarium nicht angemessen erklärt werden können, weshalb er die damit verbundenen Faktoren und deren Erklärung in den Bereich des Datenkranzes verwiesen hat. Bestätigt wird zum anderen seine Einsicht, daß eine volle geschichtliche Anschauung des wirtschaftlichen Geschehens erst gelingen könne, wenn die Einfügung der Wirtschaft in die jeweilige geistige-natürliche-politischsoziale Umwelt berücksichtigt werde. Außer dem Verweis auf die Methode der generalisierenden Abstraktion konnte er für die Lösung dieser Aufgabe jedoch kein brauchbares Instrumentarium offerieren. North hat mit der Pfadabhängigkeit des institutionellen Wandels und mit der Rolle ideologiegeprägter Modelle der Weltsicht Erklärungsvariablen beigesteuert, die für die von Eucken eingeforderte Erfassung der geamtgeschichtlichen Umwelt des Wirtschaftsgeschehens aufschlußreich sein können. Die Northsche Theorie bleibt jedoch deshalb noch unzureichend, weil dessen Gerüst nach wie vor dem Erklärungsmuster der Neuen Institutionenökonomik verhaftet bleibt, das wiederum im Coase-Theorem seinen Ausgang hat. Dieses Theorem lenkt bei der Erklärung der Wahl und Wirkungen von Institutionen den Blick einseitig auf Transaktionskosten und Eigentumsrechte, was sich wiederum nur aus dem Umstand erklärt, daß diese Variablen in der neoklassischen Theorie keine gesonderte Beachtung finden (Leipold 1996b, 99f.). Da sich die These der effizienten Institutionenwahl in der Wirtschaftsgeschichte nur spärlich belegen ließ, mußte North nach weiteren Erklärungsvariablen suchen. Wie dar-
34 · Helmut Leipold gestellt, fand er sie in den Unvollkommenheiten des politisch-staatlichen Bereiches, in der Pfadabhängigkeit der Institutionenentwicklung und im Konzept ideologiegeprägter Modelle der Weltsicht, wobei der Verweis auf „falsche" Modelle die theorieimmanenten Erklärungsnotstände beheben soll. Seine Modifikationen des Theoriegerüsts sind geradezu ein Lehrstück für die Pfadabhängigkeit der Theorieentwicklung, die aufgrund des einmal eingeschlagenen Weges auf stetige Korrekturen angewiesen ist, um auf den richtigen Erkenntnispfad zu gelangen. Immerhin vermittelt die Entwicklung der Theorie des institutionellen Wandels, die der allmählichen Loslösung von den neoklassischen Wurzeln der Neuen Institutionenökonomik gleichkommt, Aufschlüsse darüber, wie die große Antinomie der Nationalökonomie methodisch erfolgversprechender angegangen werden sollte.
VI. Ansatzpunkte zur Überwindung der großen Antinomie In diesem Beitrag sind einige Forschungsprogramme nachgezeichnet worden, deren zentrale Intention darauf gerichtet war oder ist, der historischen Vielfalt der wirtschaftlichen Ordnungen und Prozesse mittels einer allgemeinen theoretischen Erklärung auf die Spur zu kommen. Alle angeführten Ansätze haben je eigene Verdienste, aber auch je eigene Erklärungsdefizte. Den Vertretern der Historischen Schule kommt das Verdienst zu, das Bewußtsein für die große Antinomie geschärft und dessen Klärung durch richtige Fragestellungen angegangen zu haben. Aufgrund der methodischen und theoretischen Defizite blieb der Ertrag der Anstrengungen jedoch mager. Euchen hat mit seiner Ordnungstheorie eine eigenständige Lösung zur Erklärung der historischen Vielfalt des wirtschaftlichen Geschehens beigesteuert, der leider die gebührende Anerkennung durch die internationale Forschungsgemeinschaft versagt blieb. Verantwortlich dafür ist jedenfalls nicht das in diesem Beitrag festgestellte Defizit des morphologischen Apparates bei der vollen Anschauung und Erfassung des gesamtgeschichtlichen Umfeldes von realen Wirtschaftsordnungen. Dieses Defizit läßt sich partiell beheben, wenn die gewachsenen informalen Regeln angemessen berücksichtigt werden, deren Einfluß auf die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung North erkannt hat. So aufschlußreich und verdienstvoll diese Bemühungen auch einzuschätzen sind, so haben sie gleichwohl keine überzeugende Lösung der großen Antinomie der Nationalökonomie geliefert. Da alle angeführten Theorieansätze ihren eigentlichen Ausgangspunkt in der überragenden Person und Theorie von Smith haben, sind auch hier die Ansatzpunkte für eine solche Lösung zu suchen. Das wissenschaftliche Werk von Smith kann zeitüberdauernd dem Anspruch einer umfassenden Gesellschafts- oder Ordnungstheorie gerecht werden. Es ist von dem Bemühen geprägt, die großen wirtschaftlichen und sozialen Probleme seiner Zeit mit den Mitteln einer allgemeinen Theorie im besten Verständnis einer Sozialökonomik zu klären und erforderliche ordnungspolitische Reformen zu begründen. Dennoch hat das Smithsche Werk unbeabsichtigt die nachfolgende Auseinanderentwicklung der ökonomischen Schulrichtungen befördert. Wie erörtert, erwies sich das sog. ,¿idam Smith-Problem" als der eigentliche Stein des Anstoßes, weil es zur einseitigen Interpretation der Theorie von Smith einlud. Das Problem erweist sich aus heutiger
Die große Antinomie der Nationalökonomie · 35 Sicht als ein Scheinproblem, das gegenstandslos wird, wenn beide Hauptwerke von Smith als komplementäre Bausteine seiner Theorie gelesen werden. Seine Epigonen haben diesen Rat nur ausnahmsweise beherzigt. Die „Theorie der ethischen Gefühle" ist als allgemeine Ordnungstheorie konzipiert, die sich mit der Basisfrage beschäftigt, wie unter eigeninteressierten Individuen ein Zustand der wechselseitig verläßlichen Regelbefolgung, damit ein Zustand der gesellschaftlichen Ordnung entstehen kann. Dieses Grundproblem ist postum als das Hobbessche Ordnungsproblem benannt worden, weil es Hobbes zuerst in radikaler Form formuliert hat (Parson 1937). Da jedes Volk zu jeder Zeit vor der elementaren Herausforderung stand und steht, das Zusammenleben friedfertig und produktiv zu ordnen, ist in den räum- und zeitspezifischen Lösungen des Hobbesschen Ordnungsproblems zugleich der Schlüssel für die Überwindung der großen Antinomie der Nationalökonomie zu vermuten. Diese Einsicht hat bereits das Forschungsprogramm von Smith bestimmt. Seine Antwort auf das Hobbessche Ordnungsproblem hat er in der „Theorie der ethischen Gefühle" gegeben, die ganz in der Tradition der Schottischen Moralphilosophie steht. Als deren geistiger Vater gilt Shaftesbury, dessen Einwände gegen Hobbes sein Schüler Hutcheson zur Theorie der moralischen Gefühle ausbaute, die wiederum die Moral- und Sozialtheorie von Hume, Ferguson und Smith prägte. Die Schottische Moralphilosophie entzündete sich vor allem an dem rigiden Menschen- und Gesellschaftsverständnis von Hobbes, der bekanntlich in der absoluten Herrschaft die Lösung des Ordnungsproblems erachtete. Das Menschenbild von Hobbes, wonach der Mensch des Menschen Wolf sei, karikierte Shaftesbury als Beleidigung der Wölfe, die bekanntlich einen ausgeprägten Sozialtrieb besitzen (Röpke 1942, 115). Von daher erklärt sich die Basisprämisse der Schottischen Moralphilosophie, daß die Menschen ein natürliches Gefühl dafür hätten, was moralisch gut oder schlecht sei, wobei dieses Gefühl durch Erziehung und Sozialisation ausgebaut werde. Das gehe mit der spontanen Entwicklung von moralischen und rechtlichen Regeln einher, die nicht das Resultat eines bewußten Entwurfs, sondern das unbeabsichtigte Ergebnis menschlicher Handlungen seien. Smith hat diese Moraltheorie übernommen und in der „Theorie der ethischen Gefühle" ausgebaut. Als elementare moral- und ordnungsstiftende Faktoren erkennt er das natürliche Mitgefühl (fellow-feeling bzw. sympathy) für das Wohlergehen der Mitmenschen, das gewachsene System an moralischen Regeln, das er weitgehend mit den Regeln der christlichen Moral identifiziert, das System der rechtlichen Regeln einschließlich der staatlichen Einrichtungen zur Durchsetzung des Rechts und schließlich die Kontrolle durch wettbewerbliche Marktprozesse, die systematisch im „Wohlstand der Nationen" begründet wird. Die „Theorie der ethischen Gefühle" ist als allgemeine Ordnungstheorie konzipiert, deren zentraler Gegenstand das Hobbessche Ordnungsproblem ist. Die Klärung dieses Problems erachtet Smith als notwendige Grundlage für die Begründung der speziellen Theorie der Marktwirtschaft, wie er sie im „Wohlstand der Nationen" präsentiert hat. Die intendierte Synthese zwischen allgemeiner und spezieller Ordnungstheorie ist Smith jedoch aus zwei Gründen nur unvollständig gelungen. Erstens wird seine „Theorie der ethischen Gefühle" nicht hinreichend den Anforderungen einer allgemeinen Ordnungstheorie gerecht. Zweitens gelingt die Verknüpfung zwischen seiner allgemeinen und
36 - Helmut Leipold speziellen Ordnungstheorie nur lückenhaft, weil sie meist nur in impliziter und verdeckter Form erfolgt und deshalb von den meisten Epigonen verkannt oder einseitig interpretiert wurde. Beide Einwände, insbesondere der zweite Einwand, sind bereits erläutert worden, um die Gründe für die Auseinanderentwicklung der Nationalökonomie zu verdeutlichen. Nun sollen jedoch die Ansatzpunkte für die Überwindung der großen Antinomie aufgezeigt werden. Dafür kann das Werk von Smith nur Hinweise, jedoch keine hinreichende Lösung vermitteln. Verantwortlich dafür ist der durchgängige Raum-Zeit-Bezug vor allem seiner „Theorie der ethischen Gefühle", der sich dann auch implizit in seiner Theorie der Marktwirtschaft niederschlägt. Wie dargestellt, unterscheidet Smith mit den moralischen Gefühlen, dem System moralischer Regeln, dem Rechts- und Staatssystem sowie dem Marktwettbewerb vier originäre moral- und ordnungsstiftende Faktoren. Dabei erläutert er in allgemeiner Weise lediglich den Ursprung und die Wirkungen der moralischen Gefühle, die im Zentrum der „Theorie der ethischen Gefühle" stehen. Dagegen werden die moralischen und rechtlich-staatlichen Regeln nur beiläufig erwähnt und - was entscheidend ist - mit den geltenden Regeln seiner Zeit und seines Raumes gleichgesetzt. Die Kontrollfunktion des Wettbewerbs erläutert er in extenso im „Wohlstand der Nationen". Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine allgemeine, sondern um eine systemspezifische Kategorie. Die eigentliche Schwachstelle im Werk von Smith resultiert deshalb aus der nur beiläufigen Behandlung der moralischen Regeln und vor allem des Rechts- und Staatssystems. Sofern sich Smith darauf bezieht, unterstellt er die zu seiner Zeit geltenden Bedingungen. Das waren jedoch relativ wohlgeordnete, keineswegs universal geltende Bedingungen. Erst aufgrund der Annahme dieser Bedingungen konnte Smith die produktiven Wirkungen der unsichtbaren Hand und d.h. wettbewerblicher Marktprozesse schlüssig begründen. Smith war sich dieser Begründungsschwäche bewußt, was seine Ankündigung in der „Theorie der ethischen Gefühle" belegt, diese Lücke schließen zu wollen. Wegen der Bedeutung dieser Einsicht sei die Ankündigung in der Originalfassung zitiert: „I shall in another discourse endeavour to give an account of the general principles of law and government, and of the different revolutions they have undergone in the different ages and periods of society, not only in what concerns justice, but in what concerns police, revenue, and arms, and whatever else is the object of law" {Smith 1781, 436). Bemerkenswert an der Ankündigung ist die Anerkenntnis der zeit- und raumbezogenen Verschiedenheit der Rechts- und Staatsordnungen und des Erfordernisses, diese Verschiedenheit in Form allgemeiner Prinzipien zu erfassen und zu erklären. Dieser Ankündigung hat Smith nur insoweit genügt, als er im „Wohlstand der Nationen" die normativen Voraussetzungen eines wohlgeordneten Rechts- und Staatswesens angedeutet hat. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, welche Wendung die ökonomische Theorie genommen hätte, wenn Smith sein Versprechen eingelöst hätte. Der Umstand, daß Smith seine unfertigen Manuskripte einschließlich einer längeren Abhandlung über die Entwicklung und Folgen verschiedener Rechts- und Staatssysteme kurz vor seinem Tod verbrannt hat, mag als Indiz dafür gelten, daß er sich der enormen Schwierigkeiten bewußt war, die Ursachen für die Verschiedenheit der moralischen und rechtlichen Regeln und der davon abhängigen Verschiedenheit der wirtschaftlichen Ordnungen und Prozesse
Die große Antinomie der Nationalökonomie * 37 adäquat und d.h. allgemein erklären zu können. Kant (1968, 22) sei als kongenialer Kronzeuge bemüht, der in der „Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft" das allerschwerste Problem der Menschengattung gesehen hat. Ganz im Einklang mit Smith und Kant ist also zuerst und systematisch nach den moralischen Voraussetzungen zu fragen, wie eine rechtsstaatliche bürgerliche Gesellschaft, die ja eher die geschichtliche Ausnahme verkörpert, Zustandekommen kann und welche Wirkungen sich aus der räum- und zeitbezogenen Verschiedenheit dieser Voraussetzungen für das Wirtschaften ergeben. In der analytischen Berücksichtigung der moralischen Voraussetzungen fur das Zustandekommen eines friedfertigen und produktiven Zusammenlebens der Menschen ist daher der entscheidende Ansatzpunkt für die Überwindung der großen Antinomie der Ökonomie zu sehen. Dieses Problem wird in den vorherrschenden ökonomischen Erklärungsansätzen systematisch unterschätzt. Auf das Defizit hat insbesondere Röpke (1942, 81 ff.) hingewiesen, der dem Ökonomismus Moralblindheit vorwarf. Die Forderung, dieses Defizit zu beheben, erwuchs bei Röpke (1959, 344) aus der Einsicht, daß sich ein angemessenes Verständnis einzelner Wirtschaftsordnungen einschließlich des Wirtschaftsgeschehens nur unter Berücksichtigung der „...juristischen, soziologischen, anthropologischen, politischen, moralischen, ja sogar der theologischen Basis" erschließe. Die Aktualität dieser Einsicht, die zugleich den Schlüssel fur die Überwindung der Antinomie liefert, wird durch die neuere Entwicklung der Institutionentheorie bestätigt. Der maßgebende Anstoß zur Wiederentdeckung der moralischen Dimension des Wirtschaftens kam dabei interessanterweise von der spieltheoretischen Analyse des Ordnungsproblems. Der besondere Vorzug der Spieltheorie ist methodischer Art. Sie offeriert ein Instrumentarium, mit dem sich soziale Interessen- und Interaktionsmuster in hochabstrakter und damit zugleich interdisziplinärer Weise modellieren lassen. Als die wichtigen ordnungsrelevanten Spiele haben sich das Koordinations- und das Gefangenendilemmaspiel herausgeschält (Ulimann-Margalit 1977; Vcmberg 1988) Implizit liegen beide Spielmuster allen seriösen Ordnungstheorien zugrunde. Die Schottische Moralphilosophie und die Österreichische Schule der Institutionentheorie (Menger, von Hayek) interpretieren und begründen die Entwicklung von Regeln aufgrund des impliziten Menschenbildes im Sinne der Koordinationsspiels, während die Ordnungstheorien von Hobbes, Kant oder aktuell von Buchanan von den Prämissen des Gefangenendilemmaspiels ausgehen. Unabhängig von Details lassen sich mit der spieltheoretischen Analyse selbstbindende und bindungsbedürftige Institutionen als die zwei Grundtypen unterscheiden. Dem ersten Regeltyp entsprechen konfliktarme oder konfliktlose Interessen- und Interaktionskonstellationen, deren Ordnung durch Konventionen und Sitten erfolgt, die sich meist spontan entwickelt haben. Davon unterscheiden sich bindungsbedürftige Regeln, deren Entstehung und Befolgung moralische Bindungen, also die Beschränkung des Eigeninteresses und die Wahrung der Interessen und Würde anderer Individuen verlangen (Mache 1981, 133). Damit wird wiederum die Frage nach den Ursprüngen und Arten solcher moralischer Beschränkungen oder Bindungen aktuell. An anderer Stelle habe ich rationale, natürliche (emotionale), ideologisch-religiöse und rechtlich-erzwingbare Bindungen
38 · Helmut Leipold unterschieden {Leipold 1996a, 1997a). Dabei handelt es sich um eine geringfügige Modifikation der angeführten moral- und ordnungsstiftenden Faktoren von Smith. Wichtiger ist die Einsicht, daß die Frage nach den Ursprüngen und der raum-zeitspezifischen Entwicklung und Kombination der moralischen Bindungen die Hauptfrage der Theorie und der Entstehung und des Wandels von Ordnungen ist. So wie Eucken mit dem morphologischen Apparat das historisch-konkrete Gefüge von wirtschaftlichen Ordnungsformen zu erfassen suchte, geht es darum, das historisch-konkrete Gefüge der institutionellen und speziell der moralischen Bindungen, in das die wirtschaftlichen Ordnungsformen und Prozesse eingebettet waren und sind, zu identifizieren. Methodisch ist das von Eucken benannte erste Hauptproblem der Nationalökonomie also um die moralisch-institutionelle Dimension zu erweitern. Die vielförmigen und wirtschaftlich relevanten Raum-ZeitBesonderheiten des weitergefaßten institutionellen Regelwerks seien hier nur exemplarisch angedeutet. So basieren sog. primitive, also vorstaatliche Gesellschaften auf weitverknüpften familiären und verwandtschaftlichen Regeln, in denen wirtschaftliche Tauschbeziehungen nach den Prinzipien der nach Verwandtschaftsnähe abgestuften Reziprozität erfolgen. Selbst in den nachkolonialen, ethnisch heterogenen Staaten Schwarzafrikas wird das gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenleben primär von Stammesbindungen bestimmt (Leipold 1997b). Ahnliche traditionelle Regelwerke lassen sich auch für den chinesischen Kulturraum nachweisen, in denen die patriarchalisch organisierte Familie und die breit geknüpften verwandtschaftlichen Beziehungsnetze ein tragender Stützpfeiler der Wirtschafts- und Unternehmensordnung sind. In anderen Gesellschaften kommt dagegen den religiösen und rechtlichen Regeln ein besonderes Gewicht zu, wobei die gewachsenen Beziehungen zwischen Religion und Recht außerordentlich verschieden sind. Das islamische Recht der Scharia ist religiöses Recht, das keine systematische Trennung zwischen privatem und öffentlichem Recht kennt. Die Rechtsregeln sind zudem zum Großteil in konkreter Form normiert und unterscheiden sich dadurch markant von dem abstrakten und allgemein verfaßten westeuropäischen Recht. Max Weber (1976, 349) hat das islamische Recht als religiös stereotypisiertes Recht bezeichnet und als eine der allerwichtigsten Schranken der wirtschaftlichen Entwicklung bewertet. Schließlich sei auf die unterschiedliche Rechtstradition in den mittel- sowie den ost- und südosteuropäischen Reformländern verwiesen, in der eine wichtige Ursache für die einleitend angeführten divergierenden Reformerfolge zu vermuten ist (Leipold 1997a, 62 ff). Erst wenn es gelingt, die hier nur exemplarisch angeführten Raum-ZeitBesonderheiten der Regeln des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Geschehens systematisch zu erklären, bestehen auch berechtigte Aussichten, die große Antinomie der Nationalökonomie zu entschärfen, wenn nicht zu überwinden. Gefordert ist also eine allgemeine Theorie der Entstehung und des Wandels von Wirtschaftsordnungen, die bisher erst in rudimentärer Form vorliegt. Deshalb sprechen gute Argumente dafür, die Dynamisierung der Ordnungstheorie aktiv voranzutreiben.
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4 2 · Helmut Leipold
Summary The Great Antinomy in Economic Science: An Attempt to determine the Status Quo The problematic relationship between the historical diversity of economic processes and their appropriate explanation by general and abstract economic theories was referred to by Eucken as the great antinomy in economic science. The relationship is problematic because the pecularities and different results of economic processes are only discernible if they are conceived of as part of the overall historical development and structure of particular societies. Since the complexity of economic processes is not directly perceivable an adequate understanding and explanation require the guidance of general economic theories. On the one hand, there is the diversity of reality with its tremendous historical and cultural characteristics, on the other, methodological abstraction and economic ratio. How is it possible to overcome this antinomy? This article tries to reconstruct the origins and the actuality of the antinomy and the different theoretical attempts to overcome it. In accordance with Eucken, it is assumed that the great antinomy finds its starting point in classical economic theory and especially in the work of Adam Smith. Despite all the considerable scienctific efforts, there has to date been no convincing solution of the problem. This hypothesis is based on the comparative evaluation of the explanatory ability of the German Historical School, Eucken's theory of economic order (Ordnungstheorie) and North's theory of institutional change. Critical examination of these theories will suggest approaches for overcoming the great antinomy.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Hans
Willgerodt
Die Liberalen und ihr Staat - Gesellschaftspolitik zwischen Laissez-faire und Diktatur
I. Das Problem Im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches „Die Grundlagen der Nationalökonomie" stellt Walter Euchen (1941/1950, IX) fest, daß „eine Wendung der wissenschaftlichen Arbeit von den Lehransichten zu den Sachen, von den Büchern zur wirklichen Wirtschaft" notwendig ist. Im Vorwort zur dritten Auflage dieses Buches (1942) beklagt er, daß man vielfach unter dem Eindruck großer Mannigfaltigkeit, nationalökonomischer Lehren „Unterschiede in der Formulierung für Gegensätze in der Sache" halte und fahrt fort: „Als Ergebnis der Lektüre haftet meist im Kopf ein angelerntes Nebeneinander verschiedener Lehrmeinungen, das mit der wirklichen Wirtschaft kaum in Verbindung steht." Man muß heute feststellen, daß dies in jüngster Zeit auch für die Beurteilung wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Konzeptionen gilt: Es wird weniger genau oder sogar überhaupt nicht mehr festgestellt, was eine Konzeption in der praktischen Anwendung wirklich bedeutet, sondern man befaßt sich mit ihren tatsächlichen oder vermeintlichen geistigen und ideologischen Hintergründen, sucht nach aufzuhellenden Querverbindungen und bemüht sich nicht selten, solche Konzepte gegeneinander auszuspielen, indem ihre Gemeinsamkeiten unter- und ihre Gegensätze übertrieben gezeichnet werden. Dies geschieht im übrigen immer häufiger in der Absicht, bestimmte Meinungen unausgesprochen oder ausgesprochen zu diskreditieren, ohne daß konkret und aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgeleitete Sachverhalte genau und unvoreingenommen hierzu herangezogen werden. Es genügt dieser Methode die Verwendung negativ besetzter Vokabeln wie „autoritär", „paternalistisch", „faschistisch"1, „undemokratisch", „holistisch" und dergleichen, um eine Entscheidung gegen bestimmte, oft einseitig ausgelegte Positionen nahezulegen. Gelegentlich scheint es auch zu genügen, ein Konzept als „liberal" oder „liberalistisch" zu bezeichnen, oder als „neoliberal", „ordoliberal", „manchesterlich", „pur marktwirtschaftlich", um eine nicht weiter zu begründende Ablehnung nahezulegen. Um nicht mißverstanden zu werden: Die Auseinandersetzung mit Lehrmeinungen ist nicht nur legitim, sondern notwendig, wie auch Eucken betont: „In der Arbeit am Objekt, an den Problemen der wirklichen Wirtschaft selbst fragt man die Denker der Vergangenheit, und in der gemeinsamen Anstrengung um die Lösung der Sachprobleme kommt 1 Das Wort „nationalsozialistisch", das den deutschen historischen Sachverhalt zutreffend bezeichnet, wird weniger häufig in abwertender Bedeutung verwendet.
44 · Hans Willgerodt man ihnen wirklich nahe" (1942/1950, XI). Dies gilt auch für wirtschaftspolitische Konzepte, bei denen wirklichkeitsnah zu fragen ist, welchen konkreten Inhalt sie haben und wie sie sich in der Gesellschaft tatsächlich auswirken, wenn man sie anwendet. Ein Objekt jener zuerst genannten Verfahrensweise, die mit abkürzender und eine Prüfüng an den Tatsachen vermeidender Dogmatik operiert, ist neuerdings die „Soziale Marktwirtschaft" geworden. Allerdings reicht die prinzipielle Kritik an diesem Konzept weiter zurück und konzentriert sich auf das Beiwort „sozial". Mit ihm ist in der Tat eine Fülle von Problemen und Abgrenzungsschwierigkeiten, aber auch inhaltlichen Unklarheiten verbunden. Der in diesem Band abgedruckte Beitrag von Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner befaßt sich kritisch insbesondere mit den Auffassungen, die Alfred Müller-Armack als der Namensgeber und einer der Begründer und Anwender dieses wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konzeptes vertreten hat. Im Mittelpunkt steht dabei das Problem der Staatsauffassung, die er, angeblich im vollen Gegensatz zu den Ordoliberalen, mit seiner Auffassung von „Sozialer Marktwirtschaft" vertreten haben soll. Inwieweit dies zutrifft, soll in einem späteren Abschnitt (V.) geprüft werden. Wichtiger ist das hinter dieser Kontroverse stehende Sachproblem, das durch mehrere miteinander verbundene Fragen zu kennzeichnen ist: - Liberale, insbesondere auch Ordoliberale, sind der Überzeugung, daß eine freiheitliche Ordnung einen Staat erfordert, der diese Ordnung sichert. Insofern unterscheiden sie sich von den Anarchisten und distanzieren sich von utopischen Konstruktionen einer staatsfreien Gesellschaft. Es bleibt aber die Frage: Welchen Umfang und welche Qualität soll die Staatstätigkeit in einer liberalen Ordnung haben? - Gibt es für die Liberalen die Notwendigkeit einer Gesellschaftspolitik oder kann der liberale Staat ohne jede gesellschaftspolitische Konzeption auskommen und sich auf eine nur formale Abgrenzung der individuellen Handlungssphären beschränken? - Gibt es eine Beziehung zwischen der Sozialstruktur der Bevölkerung und einer liberalen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung? Insbesondere: Welche Sozialstrukturen erleichtern oder erschweren das Entstehen oder den Fortbestand einer solchen Ordnung? - Ist in einer liberalen Ordnung jede Umverteilung vermeidbar? Hat Sozialpolitik in einerfreiheitlichenOrdnung eine Funktion? Diese Fragen, mit denen sich nicht nur die Nationalökonomie von jeher befaßt, sollen hier nach allgemeinen Erwägungen auch unter dem besonderen Aspekt diskutiert werden, inwieweit sie dazu beitragen, die Beziehung zwischen dem Ordoliberalismus der Freiburger Schule und dem Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft" aufzuklären. II. Aufgaben des liberalen Staates 1. Die liberalen Grundforderungen Der liberale Staat, wenn es ihn gibt, beruht auf einem Werturteil zugunsten der persönlichen Freiheit, die als Abwesenheit von willkürlichem Zwang definiert ist und zu-
Die Liberalen und ihr Staat * 45 gleich als die Möglichkeit, zwischen Alternativen zu wählen (Rowley und Peacock 1975, 78 ff.). Weil aber die Freiheit des einen auf Kosten anderer ausgenutzt werden kann, muß sie durch rechtsstaatliche Regeln begrenzt werden. Dies ist eine Leerformel, die im konkreten Fall mit Inhalt ausgefüllt werden muß. Dabei ergibt sich eine Fülle von Problemen: Was heißt konkret und genau: „auf Kosten anderer"? Hierzu muß ein Ausgangszustand mit einer bestimmten Verteilung von Rechten bekannt sein, der hingenommen wird. Dieser Status quo muß als legitim angesehen werden, etwa in der Vermögensverteilung und der Verteilung anderer Rechte und Ansprüche. Anderenfalls erhält das Postulat, die Freiheit des einen solle nicht auf Kosten anderer gehen, keinen konkreten Inhalt. Mit Gewalt erzwungene Veränderungen dieser Verteilung durch andere Private werden von den Liberalen als illegitim angesehen. Beim Übergang von auf solcher Gewaltanwendung und „Überlagerung" (Rüstow 1950) beruhenden Gesellschaften zu liberalen Ordnungen kann diese Anfangsverteilung entweder hingenommen oder revolutionär verändert werden. Da liberale und marktwirtschaftliche Systeme zur Erosion primärer Ungleichverteilungen und Privilegien neigen, spricht vieles für das nicht revolutionäre Verfahren. Aber es kann sich im Einzelfall um eine Frage der Abwägung handeln. Um überhaupt Umverteilungswünsche in Schranken zu halten, spricht vieles dafür, eine Ordnung zu fordern, in der das Verteilungsproblem entschärft wird. Die Frage, ob mindestens im Erbfall Regelungen für eine breitere Streuung großer Vermögen getroffen werden sollen, wird auch unter Liberalen kontrovers diskutiert. Dabei neigt sich die Waage nicht zugunsten von Verstaatlichungen durch Erbschaftssteuern, sondern zugunsten von Regelungen, bei denen solche Vermögen vom Erblasser breiter gestreut werden müssen. Aber auch andere Lösungen, die den liberalen Anforderungen genügen, sind vorstellbar (Rowley und Peacock 1975, 156). Auch beim Wechsel von einem System mit Zentralverwaltungswirtschaft und dominierendem Staats- und Kollektiveigentum zu einem liberalen und marktwirtschaftlichen System ergibt sich das Problem der Primärverteilung. Das zeigt der in vieler Hinsicht skandalöse Fall der deutschen Wiedervereinigung. Er ist durch gesetzgeberische Willkür und Ungleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte bei Enteignungen sowie eine zusätzliche Willkür der hierin ermunterten Verwaltung und Rechtsprechung, die nicht einmal rechtspositivistisch korrekt ist, gekennzeichnet (Willgerodt 1993; Rechberg 1996). In jedem Fall muß aber die Einführung eines liberalen Systems mit einer bestimmten Verteilung von Rechten beginnen, und es müssen Regeln für die Veränderung bestehender und die Entstehung neuer Rechte vorgesehen sein. Anderenfalls läßt sich das liberale Prinzip, die Freiheit des einzelnen sei durch die Freiheit anderer zu begrenzen, nicht anwenden. Damit ist aber keineswegs schon ausreichend konkretisiert, wie diese Begrenzung im einzelnen aussehen soll. Da die Menschen in Gesellschaft leben und deswegen niemals Einwirkungen vom einen zum anderen ausgeschlossen werden können, ist zu entscheiden, welche Einwirkungen zulässig sein sollen und welche nicht. Das gilt vor allem für solche Einwirkungen, die für andere mit Nachteilen verbunden sind. Sie sind nicht nur unvermeidlich, sondern sogar notwendig, wenn Freiheit zum Wettbewerb gewollt wird. Damit ist keine Preisgabe liberaler Grundsätze zugunsten ökonomischer Ergebnisse verbunden. Vielmehr wird
46 · Hans Willgerodt hierbei die Vertragsfreiheit höher eingeschätzt als der mögliche Nachteil für diejenigen, die im Wettbewerbsprozeß unterliegen und andere Chancen wahrnehmen müssen. Die Freiheit zum Wettbewerb zwischen Anbietern und Nachfragern und die gleichzeitige Freiheit der jeweiligen Marktgegenseite in der Wahl der Vertragspartner genießt Vorrang vor den Wünschen aller derjenigen, die im Wettbewerb nicht zum Zuge kommen. Anders lassen sich auch die wirtschaftlichen und sozialen Vorteile nicht erlangen, die mit dem Wettbewerb verbunden sind. Daraus folgt schon, daß der Wettbewerb kein absolutes und für alle Lebensbereiche gültiges Prinzip sein kann, weil zum Beispiel ständiger Partnerwechsel Ehe und Familie zerrütten muß und zu Lasten der Kinder geht, also liberale Grundsätze verletzt. Die Märkte müssen auch offen genug sein, um jenen, die in einer bestimmten Vertragsbeziehung das Nachsehen haben, anderweitige Möglichkeiten zu gewähren. Es ist aber festzuhalten: Die Freiheitsbeschränkungen, die notwendig wären, um alle negativen Folgen des Wettbewerbs für bestimmte Personen auszuschließen, werden von den Liberalen als zu groß angesehen, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, solche unmittelbaren oder mittelbaren Nachteile, die durch Wettbewerb entstehen, in rechtsstaatlich einwandfreier Weise festzustellen ( Willgerodt 1992). Die Anwendung des Paretokriteriums, wonach Maßnahmen gerechtfertigt sein sollen, durch die niemand schlechter und mindestens einer besser gestellt wird, ist schon aus diesem Grunde völlig unrealistisch. Hinzu kommen die übrigen prinzipiellen Einwendungen, die vom liberalen Standpunkt aus gegen die paretianische Wohlfahrtsökonomie zu erheben sind (Rowley und Peacock 1975). Es ist also unvermeidlich, daß es selbst bei prinzipieller Zustimmung zu dem liberalen Grundprinzip über den konkreten Abgrenzungsfragen zu Konflikten kommt, die von irgendeiner Instanz oder in irgendeinem Verfahren gelöst werden müssen. Aber nicht nur hierzu, sondern auch zur Durchsetzung des liberalen Grundprinzips ist ein Staat nötig. Oder kann man darauf vertrauen, daß sich in „spontanen Prozessen" irgendein Gleichgewicht zwischen den privaten Partnern bildet, das dann als eine Art von darwinistischem Gottesurteil auch von Liberalen hinzunehmen wäre? Ist eine Klage über die „kaiserlose, die schreckliche Zeit" und die Erleichterung, wenn „ein Richter war wieder auf Erden" (Friedrich Schiller, Der Graf von Habsburg), so ganz unverständlich? Muß es nicht eine rechtssichernde, mit Zwangsgewalt ausgestattete und dadurch private Gewaltanwendung verhindernde Instanz geben? Anarchistische Utopien in Philosophie und Nationalökonomie, aber auch praktische Revolten gegen jede Art von Ordnung überhaupt sind wieder einmal zahlreich. Vielfach handelt es sich um bloße Schreibtischkonstruktionen. Sie sind für praktische Zwecke uninteressant, so wenig der Spielraum für staatsfreie Selbstorganisation unterschätzt werden darf. Kategorische Ablehnungen oder Verherrlichungen des Staates sind in ihrer logischen Struktur einfacher als Abwägungen über legitime Staatstätigkeit nach Art und Umfang. Schwierig ist häufig schon die Entscheidung darüber, ob etwas eine Prinzipienfrage oder eine Frage des Maßes ist, so daß die Versuchung groß ist, es sich einfach zu machen, indem man die Existenz eines Staates überhaupt deswegen ablehnt, weil er unter bestimmten Bedingungen in den Dienst des Verbrechens gestellt werden kann. Auf der anderen Seite stehen allgemeine Relativierungen, wonach staatliches Handeln stets eine
Die Liberalen und ihr Staat · 4 7
Frage der Verhältnismäßigkeit sein soll und dem Staat alles erlaubt ist, was er tatsächlich erreichen kann, weil er ja souverän ist. Die Kapitulation des Staates vor dem Bürgerkrieg ist in dieser Relativiemng ebenso angelegt wie der Umschlag in die Diktatur. Gleichwohl ist die kategorische Ablehnung der Notwendigkeit eines Staates keine haltbare Position. Die heute in vielen Teilen der Welt herrschende Anarchie, die auch in die entwickelten Länder hineingetragen wird, müßte eigentlich alle Liberalen wieder in eine Übereinstimmung mit ihren Klassikern bringen, die gelehrt haben, daß ein rechtssichernder Staat notwendig ist und daß er funktionsfähig sein muß. Das Problem besteht für Liberale nicht darin, ob es einen Staat geben muß, sondern darin, daß ein schwacher und nicht funktionsfähiger Staat sich gegenüber der Anarchie und dem neuen Feudalismus mächtiger Gruppen und ihren Spezialinteressen nicht durchsetzen kann, während ein Staat, der stark und funktionsfähig genug ist, die liberale Schiedsrichterfunktion auszuüben, auch stark genug sein kann, die Freiheit aller aufzuheben (Briefs 1958, 88). 2. Das Pluralismusproblem Wenn demnach die umfassende staatsfreie Anarchie entweder Utopie bleibt oder bei dem Versuch, sie zu realisieren, zur Tragödie werden muß, bleibt doch die Frage zu beantworten, welchen Umfang die legitime staatsfreie Selbstorganisation im Rahmen einer vom Staat zu sichernden Gesamtordnung haben soll. Kann man etwa darauf vertrauen, daß der Zusammenschluß von Spezialinteressenten zu Verbänden grundsätzlich die Lösung von Konflikten in rechtsstaatlichen Bahnen auch dann erlaubt, wenn der Staat den rechtlichen Rahmen hierfür weit zieht oder überhaupt nicht zur Verfügung stellt? Die Erfahrung lehrt, daß Verbände oft, wenn auch nicht notwendig, miteinander nach einer Art von mehr oder auch weniger zivilisiertem Bürgerkrieg zu nur vorübergehenden Einigungen kommen. Diese Einigungen ähneln oft nur einem Waffenstillstand. Ohne einen gesellschaftlichen Friedenszustand, wie er etwa auf wettbewerblichen Märkten und bei gesicherten Rechtsregeln besteht, können aber die liberalen Rechte nicht wahrgenommen werden. Denn mit unberechenbarer Gewalt herbeigeführte Ergebnisse bedeuten immer, daß die Rechte des einen auf Kosten anderer nicht nur gegen deren Willen, sondern in einem rechtsfreien Akt erweitert werden. Die Verbände nehmen in diesem Falle, gelegentlich unter formaler, aber faktisch aufgehobener Privatautonomie, eine Zwangsgewalt auch gegenüber ihren Mitgliedern in Anspruch, die sonst nur dem Staat zusteht, nicht einzelnen oder als Gruppe auftretenden Privatpersonen. Der Arbeitsmarkt ist hierfür ein Beispiel unter vielen. Die dabei zustande kommenden Lösungen können auch auf Kosten Dritter gehen, etwa von Arbeitslosen oder, wie nach dem auf Verbandsdruck zurückgehenden Entsendegesetz, auf Kosten von Wettbewerbern in einem vorgeblich gemeinsamen europäischen Arbeitsmarkt. Ferner kann die "Einigung" auch auf Kosten von Verbandsmitgliedern gehen, etwa von Firmen, die durch die Übereinkunft aus dem Markt gedrängt werden, oder von Unternehmensteilen, die
48 · Hans Willgerodt sonst noch überlebt hätten.2 Der zu einer liberalen Gesellschaft gehörende Pluralismus kann also nicht sich selbst überlassen werden, ohne daß die liberalen Grundsätze verletzt werden, indem willkürliche Machtkonstellationen hingenommen und die Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten der einen auf Kosten anderer unberechenbar erweitert werden. Ein unbegrenzter Laissez-faire-Pluralismus (Briefs 1958) der Gruppen und Verbände ist deswegen für Ordoliberale keine Lösung der gesellschaftlichen Regelungsprobleme. Keine befriedigende Lösung ist es auch, wenn der Staat sich nur noch als Moderator, Hilfsorgan oder bloßer Notar von Verbandsabsprachen versteht oder in vorauseilendem Gehorsam gegenüber vermuteten Partialwünschen von wahltaktisch für wichtig gehaltenen Minoritäten interveniert. Goetz Briefs (1958, 88) kennzeichnet diesen Vorgang wie folgt: „Der Rückzug der öffentlichen Gewalt vor der Expansion der 'Privatregierungen', wie sie bei machtvollen Verbänden vorliegen, manifestiert sich deutlich darin, daß sie ihre fundamentale Funktion nicht mehr erfüllen kann: die Funktion, das öffentliche Interesse und besonders den öffentlichen Frieden gegen Gewalttat, Streik und physische Gewalt der Privatregierungen zu verteidigen." Das Prinzip, wonach die Freiheitsrechte des einzelnen ihre Grenze an den gleichartigen Freiheitsrechten anderer finden, wird damit aufgehoben. Landfriedensbruch wird unterschiedlich behandelt, je nachdem, wer ihn begeht. Nötigungen werden so definiert, daß diejenigen nicht belangt werden, die sie für einen „guten" Zweck und in einer bestimmten Form begehen. Ahnliches gilt für Beleidigungen, für die ein Verfassungsgericht sogar eine staatliche Einrichtung, nämlich die Bundeswehr, als Objekt ungeschützt läßt. Für den Schutz des Privateigentums läßt sich Ahnliches nachweisen und für vieles andere. Für die Wirtschaftsordnung bedeutet dies die Auslieferung des Staates an wirtschaftliche Gruppeninteressen und deren Verhandlungsergebnisse und Machtkämpfe. Walter Eucken hat schon im Jahre 1932 auf die Folgen dieser staatlichen Strukturwandlungen hingewiesen, bei denen ein zunächst autoritär in die Wirtschaft eingreifender Staatsinterventionismus die politische Aktivität der davon betroffenen Gruppen hervorruft, mit der Folge, daß der Staat selber von den Gruppeninteressen erobert wird. Wenn auf diesem Wege die Interessenten Privilegien zu Lasten anderer erlangen wollen, können sie jedenfalls nicht mit der Zustimmung der Ordoliberalen rechnen. Es wäre allerdings unrealistisch und außerdem nicht liberal, wenn die Koalitionsfreiheit aufgehoben und jede Beratung der Regierung und des Gesetzgebers mit auf ihrem Sachgebiet kenntnisreichen Verbandsvertretern unterbunden werden würde. Es geht also nicht um radikale Ablehnung des Pluralismus, sondern um die vom liberalen Standpunkt aus falsche Art der politischen Mitwirkung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Gruppen. Andererseits ist die liberale Gesellschaft sogar auf einen erheblichen Grad an Mitwirkung von Gruppen und Verbänden angewiesen, nicht nur, um den öffentlichen Meinungsstreit auszutragen, sondern auch um Aufgaben wahrzunehmen, die besser nicht einem allzuständigen Staat übertragen werden. (Zur Frage eines richtigen gegenüber einem problematischen Pluralismus-Verständnis: Hartmut Krüger 1976.) 2
Auch bei normalen Wettbewerbsprozessen werden Marktpartner aus dem Markt gedrängt, doch liegt die Entscheidung darüber nicht bei monopolistischen und die Privatautonomie beschränkenden Verbänden, sondern bei den einzelnen Marktteilnehmern.
Die Liberalen und ihr Staat · 49 3. Die liberale Staatsauffassung Es ergibt sich also, daß öffentliche Körperschaften, die alle Einwohner eines Gebietes umfassen, zur Ermittlung und Anwendung von Verhaltensregeln nicht entbehrt werden können. An die Qualität dieser Regeln stellt der Liberale weitere Anforderungen: Gleichheit vor dem Gesetz, Verbot der rückwirkenden Anwendung von Gesetzen auf Sachverhalte, bei denen die Betroffenen mit einer solchen Regelung nicht rechnen konnten, rechtsstaatliche Verfahren und Beachtung von Grundrechten als Freiheitsrechte, nicht als materielle Gewährleistungsrechte (Rowley und Peacock 1975, 78 ff). Zu diesen Rechten gehört auch die Teilhabe am politischen Meinungs- und Entscheidungsprozeß, die in einer Demokratie, wenn auch oft in unvollkommener Weise, möglich ist. Das Verhältnis des Liberalen zur Demokratie ist insofern ambivalent, als er seine liberalen Grundrechte auch gegenüber demokratischen Mehrheiten verteidigt. Im übrigen wird von den Liberalen meist anerkannt, daß es öffentliche Güter gibt, die mit komparativen Vorteilen von staatlichen Einrichtungen produziert werden. Diesen Vorteilen steht der antiliberale Nachteil der staatlichen Gewaltanwendung gegenüber, so daß im Grenzbereich der privaten Wirtschaft selbst dann der Vorrang gebührt, wenn ihre Leistungen etwas weniger vollkommen sind. Gegenüber einer Expansionstendenz des Staates auf diesem Gebiet besteht bei den Liberalen ein erhebliches und durch unbestreitbare Tatsachen gerechtfertigtes Mißtrauen. Es gilt vor allem den Gütern, von denen der Staat in gestaltender Absicht behauptet, sie müßten auch dann von ihm bereitgestellt werden, wenn sie keineswegs die Eigenschaft öffentlicher Güter aufweisen (meritorische Güter, vgl. Schmidt 1988; Tietzel und Müller 1998). Der liberale Staat des 19. Jahrhunderts hat sich, anders als der merkantilistische Staat, in seinen Aufgaben beschränkt und stärker auf die Gebiete konzentriert, in denen er komparative Leistungsvorteile aufzuweisen hatte. Daraus ergaben sich heilsame Folgen für die staatliche Verwaltung. Eine wirklich effiziente Staatsverwaltung hat erst der liberale Staat eingeführt. Der von den Liberalen gefesselte Leviathan erbrachte relativ gute Leistungen, jedenfalls im Vergleich zur merkantilistischen Vergangenheit und zur Gegenwart, in der der Staat wieder Allzuständigkeit beansprucht ( Willgerodt 1979). Dies alles sind keine Neuigkeiten. Wieviele Aufgaben der Staat erfüllen soll, ist auch zwischen den verschiedenen Arten des Liberalismus strittig, mit der Folge, daß man sich wechselseitig die liberale Rechtgläubigkeit abspricht und die Notwendigkeit in den Hintergrund tritt, die gemeinsamen liberalen Grundüberzeugungen zu vertreten. Allen Arten von Liberalismus werden nämlich wegen ihrer Staatsauffassung Vorwürfe gemacht, einerseits, weil von ihnen die Notwendigkeit einer Existenz des Staates überhaupt anerkannt wird, ferner daß dem Staat, wenn es ihn denn geben soll, zu viele und nicht die richtigen Aufgaben zugewiesen werden, andererseits daß dem Staat eine zu geringe Bedeutung zugemessen werde. Die autoritäre Kritik wirft den Liberalen vor, dem Staat nur eine Nachtwächterfünktion und gesellschaftliche Nebenrolle zu übertragen, so daß er zu schwach sei, im Interesse eines sehr verschiedenartig definierten „Gemeinwohls" aufzutreten. Das Ganze der Gesellschaft sei wichtiger als ihre Teile, deren Interessen notfalls geopfert werden müßten. Die Definition des Gemeinwohls nehmen dabei die jeweils Herrschenden für sich in Anspruch, mit oder ohne weltanschaulichen Hintergrund.
50 • Hans Willgerodt Diejenigen, die sich keinen im Sinne der liberalen Prinzipien funktionsfähigen Staat vorstellen können, finden vielfältige und sehr ernst zu nehmende Begründungen in einigen Arten der „Neuen Politischen Ökonomie". Allerdings geht man dabei vielfach von allzu vereinfachten oder sogar tautologischen3 Vorstellungen vom totalen Selbstinteresse des einzelnen aus. Das Menschenbild dieser Theorien kennt weder den ehrbaren Kaufmann noch den korrekten unbestechlichen Staatsbeamten. Der homo oeconomicus dieser Version strebt deshalb danach, Marktmacht zu erobern und sich der Disziplin des Wettbewerbs zu entziehen. Will man dies begrenzen oder vermeiden, dann muß angegeben werden, wer diese Begrenzungsaufgabe übernehmen soll und wie man ihn dazu motivieren kann. Als begrenzende Institution kommt der den Wettbewerb schützende Staat in Betracht. Wird dieser Staat aber von einer Art des homo politicus beherrscht, der ebenso ein sehr begrenztes (borniertes) Eigeninteresse verfolgt wie der homo oeconomicus der soeben geschilderten Art, dann kann der Staat diese Aufgabe kaum erfüllen. Welches persönliche Interesse sollte diese Art von Politikern daran haben, gegen Wettbewerbsbeschränkungen oder andere unlautere Verhaltensweisen in der Wirtschaft vorzugehen? Zunächst einmal haben diese Politiker ebenso das Bestreben, den politischen Wettbewerb auszuschließen und ihre Herrschaft zu zementieren, wie der homo oeconomicus zur Begrenzung des wirtschaftlichen Wettbewerbs neigt. Nur selten sind solche Politiker darauf angewiesen, gegen private Wettbewerbsbeschränkungen vorzugehen, um ihre politische Macht zu erhalten. Das gilt auch für die Demokratie. Denn die Notwendigkeit einer gegen Wettbewerbsbeschränkungen gerichteten Politik ist zwar gelegentlich, aber nur selten in der öffentlichen Meinung wählerwirksam zu vermitteln. Im übrigen sind beide Arten von Gesellschaftsmitgliedern, wenn sie so sind, wie ihre Modellkonstrukteure nahelegen, ständig in der Versuchung, in den jeweils anderen Bereich hineinzugreifen, also als Wirtschaftler nach der politischen Macht zu streben, um die eigene wirtschaftliche Position zu sichern und durch Privilegien auszubauen, und als Politiker die politische Macht durch ökonomische Macht zu ergänzen und zu zementieren. Es verschwinden damit Unterschiede zwischen Plutokraten und Kratopluten. Daß es immer wieder Tendenzen gibt oder gegeben hat, die in diese Richtung einer Karikatur der modernen Gesellschaft weisen, läßt sich kaum bestreiten. Trotzdem ist dieses Bild verzeichnet und wirklichkeitsfremd. Der Bürgerkrieg aller Egoismen gegeneinander ist keine Notwendigkeit, wie alle Erfahrung beweist. Das Verhalten des einzelnen hängt von den Umständen ab, unter denen er sich befindet, die er sich selbst schafft oder die ihm auferlegt werden, aber vor allem auch von seiner persönlichen Entscheidung. Infolge dessen ist der liberale und nach Art und Umfang seiner Befugnisse begrenzte Staat keine Utopie. Er ist dies jedenfalls weniger als ein sozialistischer Staat, der
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Wenn Motive des Altruismus oder auch nur der Gesetzes- und Regeltreue mit in den Begriff des Privatinteresses aufgenommen werden, etwa weil durch entsprechendes Verhalten Selbstwertgeflihle oder Anerkennung durch andere hervorgerufen werden, dann werden diese Egoismusvorstellungen zu bloßen inhaltsleeren Formeln, die über das tatsächliche Verhalten nichts aussagen. Es sind dann mit dem Denkmodell auch Verhaltensweisen vereinbar, bei denen der Wettbewerb weder im ökonomischen noch im politischen Bereich korrumpiert und der Anstand nicht aus der Gesellschaft verbannt ist.
Die Liberalen und ihr Staat · 51 die Freiheit des einzelnen dadurch erreichen soll, daß er einen unbeschränkten Gestaltungsauftrag in Anspruch nimmt. 4. Der Faschismusvorwurf Um so paradoxer sind Vorwürfe gegen den Liberalismus, insbesondere den Ordoliberalismus, bei denen Vertreter sozialistischer Konzeptionen den Liberalen autoritäre und obrigkeitsstaatliche Vorschläge und Verhaltensweisen unterstellen und sie in die Nähe des Nationalsozialismus oder Faschismus rücken oder umgekehrt dem Nationalsozialismus mindestens für den Wirtschaftsbereich marktwirtschaftliche, also liberale Sympathien unterschieben. Die Paradoxie solcher Lehren liegt darin, daß die Sozialisten für ihr eigenes Konzept vom marxistisch-utopischen „Absterben des Staates" allenfalls träumen können. In der konkreten Politik bedeutet jede Art von Sozialismus immer eine Expansion der Staatstätigkeit, die weit über alle liberalen Vorstellungen, einschließlich deijenigen der Sozialen Marktwirtschaft, hinausgeht. Der Eindruck drängt sich auf, daß sozialistische Kritiker des Liberalismus einer unbeschränkten sozialistischen Obrigkeit erlauben wollen, was sie einem beschränkten liberalen Staat verweigern, nämlich funktionsfähig zu sein und sich bei seinen Befugnissen durchzusetzen. In diesem Sinne „stark" darf demnach nur der sozialistische Staat sein . Es kann sich bei der Kritik an der ordoliberalen Staatsauffassung jedoch auch um den Versuch handeln, nur die eine Art des totalitären Kollektivismus, nämlich die marxistisch-leninistische, gegenüber der offenkundigen, aber peinlichen Verwandtschaft mit der anderen Art des totalitären Kollektivismus, nämlich dem Nationalsozialismus abzugrenzen. Der Nationalsozialismus wird ohne viel Federlesen dem „bürgerlichen" oder „kapitalistischen" Lager4 zugerechnet. Soweit dies nicht gelingen will, wird mindestens dem deutschen Neoliberalismus unterstellt, er habe entweder tatsächlich Sympathien für den Nationalsozialismus gehabt oder er hätte sie auf Grund seiner theoretischen Konzeption eigentlich haben müssen (statt vieler: Krohn 1981; Haselbach 1991). Auf der anderen Seite reagieren heutige Sozialisten und ihre Gönner mit höchster Empfindlichkeit, wenn das Übereinstimmende aller Arten von Totalitarismus, also auch des braunen mit dem roten (Röpke 1947a, 24 ff., 35 ff. ), nicht nur prinzipiell, sondern auch historisch nachgewiesen wird. Dies ist der Hintergrund des sogenannten deutschen Historikerstreits. Demjenigen, der als Zeitgenosse den Nationalsozialismus persönlich in Deutschland miterlebt hat, muß der Versuch, darin liberale Komponenten, geschweige denn irgendeine Variante von Liberalismus erkennen zu wollen, absurd erscheinen. In diesem Punkte wie bei ihren außenpolitischen und vom Rassenwahn diktierten Absichten und in vielem anderen, was sie vorhatten, waren die Nationalsozialisten ehrlich: Sie haben niemals be4 Die Tatsache, daß der Nationalsozialismus im Unterschied zum Kommunismus das rechtliche Gehäuse der bürgerlichen Marktwirtschaft formal beibehalten, aber inhaltlich ausgehöhlt hat, macht ihn nicht zu einer Abart des „Kapitalismus", außer für diejenigen, von denen jeder nicht marxistisch-leninistische Sozialimus mit dem Etikett „kapitalistisch" versehen wird. Vgl. aber z.B. Schweitzer (1962).
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hauptet, liberal zu sein. Vielmehr haben sie den Liberalismus mit ungezügeltem Haß nicht nur verbal, sondern auch im Alltag verfolgt und sich darin höchstens aus taktischen Gründen zurückgehalten, um Rücksicht darauf zu nehmen, daß der Bevölkerung zunächst noch nicht beliebiger Zwang zugemutet werden konnte. Das gilt auch für die Wirtschaftspolitik. Seit dem Preisstopp von 1936 war das Kernstück einer liberalen Marktwirtschaft, nämlich der Preismechanismus, praktisch lahmgelegt. Schon vorher hatte die seit 1931 bestehende und von den Nationalsozialisten immer mehr verschärfte Devisenzwangswirtschaft die Transformation der Wirtschaftsordnung zu einer Zentralverwaltungswirtschaft eingeleitet. Auch die Landwirtschaft als natürlicher Hort des vielzahligen Wettbewerbs war für die Zwangswirtschaft des Reichsnährstandes reif geworden. Denn in der Deflation war die Landwirtschaft in eine Schere zwischen ihren katastrophal einbrechenden Absatzpreisen und den monopolistisch überhöhten Preisen für ihre Bezugsgüter geraten. Bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wurden die marktwirtschaftlichen Elemente der deutschen Wirtschaftsordnung eliminiert, wenn auch das Privateigentum formal noch erhalten blieb. Schließlich wurde eine totale Zentralverwaltungswirtschaft eingeführt. War dies nur ein Tribut an die Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft und war zu erwarten, daß die Nationalsozialisten nach Kriegsende und bei Fortbestand ihrer Herrschaft zur Marktwirtschaft zurückgekehrt wären? Hätten sie mindestens für die Wirtschaft eine Art von rotchinesischer Transformation zugelassen? Das weiß man nicht. Neoliberale Autoren haben hierzu geraten, unabhängig vom Schicksal des Regimes, z.B. in einer von Schmölders (1942) herausgegebenen Schrift. Hieraus wird auf eine Komplizenschaft mit dem Regime geschlossen (Haselbach 1991, 113 und passim), weil sich die in Deutschland lebenden Autoren der Möglichkeiten bedient haben, die das Regime offen gelassen oder unzulänglich überwacht hatte.5 Nach dieser „Logik" solidarisiert sich jeder, der in einem Regime der organisierten Unvernunft zur Vernunft rät, mit dem Regime. Es ist aber wahrscheinlich, daß angesichts der ökonomischen Inkompetenz der höchsten Parteiorgane das Problem welche Wirtschaftsordnung nach einem gewonnenen Kriege bestehen sollte, überhaupt nicht erkannt oder für zweitrangig gehalten wurde. Jedenfalls haben aber die Nationalsozialisten nicht den geringsten Zweifel daran gelassen, daß sie einen absoluten Vorrang ihrer Politik gegenüber ökonomischen Erwägungen beanspruchten. Sie setzten diesen Anspruch durch und nahmen die damit verbundenen Nachteile bewußt oder aus Unwissenheit in Kauf. Das galt vor allem für die wirtschaftlichen Folgen ihrer Autarkiepolitik (über die wehrwirtschaftlichen Nachteile: Röpke 1938).6 Literarischer Widerstand gegen diese Politik wurde auch dann rigoros geahndet, wenn er wie im Falle Albrecht Forstmanns unter dem Deckmantel der Parteitreue und unter Verwendung 5 Über die administrative Funktionsfähigkeit des nationalsozialistischen Regimes bestehen häufig wirklichkeitsfremde Vorstellungen. Das gilt auch fur den Überwachungsappaiat. Die sogenannte Gleichschaltung aller staatlichen und anderen Institutionen gelang nur unvollkommen. Das galt sogar fur die während des Krieges eingeführte Zensur von Auslandsbriefen. Der von Hitler herbeigeführte Kompetenzwirrwarr trug zur Ineffizienz der Verwaltung bei. Vgl. Erich Weiter (1954). 6 Äußerungen des in wirtschaftlichen Fragen völlig inkompetenten Hermann Göring sind für den damaligen Regierungsstil symptomatisch: „Kosten spielen keine Rolle." „Das Wort 'unmöglich' kenne ich nicht." Goring war Beauftragter für den Vieijahresplan zum Aufbau der Wirtschaft.
Die Liberalen und ihr Staat · 53 von Hitlerzitaten geleistet wurde.7 Forstmann hat für diese Persiflage mit der Einweisung in ein Konzentrationslager bezahlt. Es war also keineswegs ungefährlich, sich für eine liberale freihändlerische Wirtschaft einzusetzen. Die Meinung, der Nationalsozialismus sei bloßes Produkt eines marktwirtschaftlichen Kapitalismus gewesen, steht nicht nur im Widerspruch zu allen seinen wirtschaftspolitischen Entscheidungen, sondern auch zu seinem rigorosen Vorgehen gegenüber Wirtschaftskreisen, die möglicherweise selbst der Illusion zum Opfer gefallen waren, das Regime von Machtpositionen der Wirtschaft aus beherrschen zu können (Röpke 1947a, 26 f.). Einige der neoliberalen oder ordoliberalen Wirtschaftswissenschaftler gehörten zum aktiven Widerstand gegen das Regime und sind deswegen verfolgt worden (z.B. von Dietze und Lampe), andere wie Eucken wurden als verdächtig angesehen (er wurde nach dem 20. Juli 1944 verhört), Böhm wurde wegen seiner gegen den Antisemitismus gerichteten Äußerungen seines Amtes enthoben und mit einem Lehrverbot belegt (zu den Einzelheiten: Wiethölter 1989). Neo- oder Ordoliberale sucht man unter den nationalsozialistischen Führungspersonen vergeblich. Beruht dies auf einem wechselseitigen Irrtum, wie einige nachgeborene Autoren nahelegen? Ist das Konzept der Ordoliberalen mindestens wirtschaftspolitisch eigentlich nationalsozialistisch, so daß der politische Widerstand von Anhängern dieses Konzeptes gegen den Nationalsozialismus höchstens mit anderen Motiven zu erklären ist? Euchens Buch „Die Grundlagen der Nationalökonomie" wurde von den damaligen deutschen Lesern als starker Kontrast zu dem herrschenden politischen Klima verstanden. Allein die von ihm verwendete Terminologie legte dies nahe. Zum Beispiel mußte das Wort „Zentralverwaltungswirtschaft" Assoziationen zu der immer drückender werdenden nationalsozialistischen Lenkungs-, Vergeudungs-, Antrags-, Genehmigungs- und Schalterbürokratie wecken, die mit den verwendeten Propagandavokabeln („Gemeinnutz geht vor Eigennutz", „Kampf dem Verderb", „Räder müssen rollen für den Sieg", „Kanonen sind wichtiger als Butter", „daß wir hier arbeiten, danken wir dem Führer", usw.) in einen immer größeren Gegensatz geriet Die von Eucken nahegelegte größere Rationalität der Marktwirtschaft konnte von dem Leser ohne weiteres mit geringerer Abhängigkeit von der Willkür der Ämter in Verbindung gebracht werden. Das Eintreten für marktwirtschaftliche Positionen bedeutete mit zwingender Notwendigkeit zugleich ein Plädoyer für ein Zurückdrängen der Staatsmacht und Staatswillkür. Der Zusammenhang zwischen Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, der die Ordoliberalen, insbesondere Franz Böhm (1950) immer wieder beschäftigt hat, ist gewiß zu komplex,um hier mit einfachen Wendungen beschrieben zu werden. Das ordoliberale Konzept einer gegen staatliche und private Macht durch rechtsstaatliche Regeln abgegrenzten Marktwirtschaft wäre aber in einen kaum aufzuhebenden Widerspruch zur nationalsozialistischen Totalpolitisierung aller Lebensbereiche geraten. Wirtschaftliche Teilfreiheit auf dem Markt bei gleichzeitiger persönlicher Unfreiheit und politischer Diktatur müssen miteinander in 7 Forstmann nutzte in seinem Buch „Der Kampf um den internationalen Handel" (1935) die Tatsache aus, daß die Nationalsozialisten unter anderem auch für ein freies Unternehmertum eingetreten waren, solange sie noch nicht regierten.
54 · Hans Willgerodt Konflikt geraten. Das nationalsozialistische System wäre in eine politische Krise geraten, wenn es den Zugriff auf die Wirtschaft so stark gelockert hätte, wie es dem ordoliberalen Konzept entspricht. Der Machtinstinkt der Nationalsozialisten hätte ihnen mindestens Vorsicht bei marktwirtschaftlichen Liberalisierungen nahegelegt. Denn es wäre nicht vorherzusehen gewesen, wie sich die von Eucken (1990, 180 ff.) betonte „Interdependenz der Ordnungen" auf das Regime ausgewirkt hätte. Es gibt zwar keinen strikten, aber doch einen auf die Dauer wirksamen Zusammenhang zwischen den einzelnen Freiheitsbereichen (Willgerodt 1989, 40 ff.); daß die Aufhebung der wirtschaftlichen Freiheit den Weg in die allgemeine Unfreiheit öffnet, ist oft beschrieben worden {von Hayek 1944). Es besteht aber auch die umgekehrte Beziehung, wonach freie Entscheidung am Markt die allgemeinè Unfreiheit begrenzt und in den politischen Bereich übergreifen kann. Es ist einigermaßen erstaunlich, daß dieser Zusammenhang heute in der Kritik am Ordoliberalismus unbeachtet bleibt und einfach unterstellt wird, ein marktwirtschaftlicher Rat, der in der nationalsozialistischen Zeit von Ordoliberalen gegeben worden ist, müsse den Herrschenden willkommen gewesen sein und beweise die Dienstbarkeit gegenüber dem Regime, sei jedenfalls nicht der Widerstandsliteratur zuzurechnen (Haselbach 1991, 20 und passim8). Die bloße Tatsache, daß unter der Herrschaft des Nationalsozialismus liberale Ratschläge gegeben worden sind, macht weder den Nationalsozialismus liberal noch die Ratgeber nationalsozialistisch. 5. Der Holismusvorwurf Allerdings wird insbesondere den Ordoliberalen vorgeworfen, sie wollten eine ordnungspolitische Grundentscheidung herbeifuhren, zu deren Sicherung sie einen entsprechend handlungsfähigen Staat fordern. Die Betonung des ordnungspolitischen Gesamtzusammenhanges, den man wegen der volkswirtschaftlichen Interdependenz aller Wirtschaftsbereiche nicht gut leugnen kann, wird als „holistisch" und damit vermeintlich illegitim verdächtigt. Der als Kronzeuge hierfür immer wieder angeführte Popper hat für seinen Stückwerk-Sozialtechniker jedoch verlangt, daß er „die Auswirkungen jeder Maßnahme auf das 'Ganze' der Gesellschaft nach besten Kräften abzuschätzen hat" {Popper 1965, 55; vgl. auch Willgerodt 1989, 52 f.). Eine derartige Grundentscheidung, wenn sie für ein liberales und marktwirtschaftliches System gefallt wird, ist allen denen ein Dorn im Auge, die gegen eine andersartige Grundentscheidung vermutlich nichts einzuwenden hätten. Oder ist es eine Entscheidung an sich, ohne Rücksicht auf ihren
8 Eine genauere Auseinandersetzung mit diesem Autor würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Die Lektüre seines in Teilen informativen Buches wird durch unausgewogene Polemik gestört. Er bringt es fertig, über die ordoliberale Position Walter Euchens zu berichten, ohne dessen wirtschaftspolitisches Hauptwerk „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" zu erwähnen. Bei Röpke, den als verkappten Nationalsozialisten auszugeben selbst ihm einigermaßen schwerfällt, verlegt er einen am 8. Februar 1933 gehaltenen und von ihm falsch interpretierten Vortrag auf die Jahreswende 1932/33, was ihn der Notwendigkeit enthebt, vor dem Mut den Hut zu ziehen, den dieser heftige Angriff auf den Nationalsozialismus nach dessen Machtübernahme darstellt (Röpke 1962, 105-124; Haselbach 1991, 245, Fußnote 89). Und so könnte man mit der Aufzählung von in sein Konzept passenden Ungenauigkeiten dieses Autors fortfahren.
Die Liberalen und ihr Staat · 55 materiellen Inhalt, die hier für anstößig gehalten wird, insbesondere mit dem Argument, auch Faschisten und Nationalsozialisten hätten ja eine solche Grundentscheidung gefällt CRiese 1972/1978, 416)? Die Hoffnung, daß „spontane Prozesse" völlig ausreichen, um in einem pluralistischen System gleichsam blind zu einem menschenwürdigen und liberalen Zustand zu gelangen, ist wirklichkeitsfremd. Gerade in Deutschland müßte man wissen, daß es spontane politische Prozesse gibt, die in den Abgrund fuhren und deswegen von einem Staat bekämpft werden müssen, der für diese Aufgabe stark genug ist. Dabei muß er, ein verfassungsrechtliches Leitbild kennen, das auch in die Wirtschaftspolitik ausstrahlt. Die gelegentlich noch vertretene Ansicht, man könne Verfassungsrecht und Wirtschaftsordnung voneinander völlig getrennt halten, ist ganz abwegig und wird durch die Rechtsprechung und Gesetzgebung täglich widerlegt (vgl. aber Willgerodt 1996). Es ist jedoch zu fragen, wie man zu einer Verfassung der Freiheit gelangen kann, die nicht nur private, sondern auch staatlich-politische Macht begrenzt.
III. Kann es eine liberale Gesellschaftspolitik geben? 1. Gesellschaftliche Prozesse und Ergebnisse Daß Demokratie allein, so notwendig sie ist, die staatlich-politische Macht nur unter bestimmten Bedingungen hinreichend beschränkt, müßte eigentlich zu den Binsenweisheiten gehören. Die Liberalen sind unverändert der Meinung, daß man die Herrschaftsform der Volkssouveränität nicht mit der Freiheit des Volkes verwechseln sollte. „Die Beschränkung der Regierungsmacht über einzelne verliert nichts von ihrer Wichtigkeit, wenn die Machtinhaber dem Volke, d.h. der stärksten Partei verantwortlich sind" (Mill, 1859/1945, 124 ; von Hayek 1969, 56-74). Dieses umfassende Thema soll uns nur insoweit beschäftigen, wie nach den gesellschaftlichen Bedingungen gefragt wird, unter denen eine Demokratie nicht im illiberalen Sinne entartet. Hierzu kann es verfassungsrechtliche Begrenzungen in Gestalt der Grundrechte, des Föderalismus, der direkten Demokratie, des Rechtsstaates und dergleichen geben, also von Institutionen, die der demokratischen Mehrheitsentscheidung entzogen oder nur unter restriktiven Bedingungen zu verändern sind. Die Restriktionen sollen dafür sorgen, daß eine größere Menge an Argumenten in den Entscheidungsvorgang einbezogen wird. Damit ist aber noch immer nicht geklärt, wie es denn zu solchen im Sinne des liberalen Konzeptes liegenden Beschränkungen der Mehrheitsentscheidungen oder der Staatsaktivität überhaupt kommen kann. Welche gesellschaftlichen Bedingungen müssen erfüllt sein, damit eine Demokratie entsteht und damit sie mit Begrenzungen versehen wird, die die persönliche Freiheit des einzelnen im Rahmen der Freiheit anderer sichern? Es gibt Liberale, die den Eindruck erwecken, sie hielten schon die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen einesfreiheitlichenSystems fìir unzulässig im Sinne der liberalen Grundsätze. Die Gesellschaftsstruktur und das materielle Ergebnis der persönlichen Entscheidungen der Privaten seien vom liberalen Standpunkt aus hinzunehmen, sofern es nur unter Beachtung der liberalen Prinzipien zustande gekommen sei. Diese sogenannten
56 · Hans Willgerodt „Prozeßliberalen" (.Barry 1989, 111 f.) lehnen jeden Versuch ab, durch die Politik bestimmte gesellschaftliche Zustände herbeizuführen oder zu begünstigen. Das gilt auch für gesellschaftliche Strukturen, unter deren Einfluß das Entstehen oder der Fortbestand einer liberalen Ordnung besser gesichert ist als unter anderen Ergebnissen und Zuständen. Jede Gesellschaftspolitik, die auf irgendwelche materiellen Ziele gerichtet ist, wäre damit vom liberalen Standpunkt aus abzulehnen. Als Gemeinwohl gilt nur eine „abstrakte Ordnung, die als Ganzes nicht an irgendwelchen konkreten Zielen orientiert ist, sondern lediglich jedem zufällig herausgegriffenen Individuum die beste Chance bietet, seine Kenntnisse erfolgreich für seine persönlichen Zwecke zu nutzen" (von Hayek 1969, 111). Wie diese abstrakte Ordnung zustande kommt, ist damit nicht beantwortet. Von Hayek setzt hierfür sein Vertrauen auf historische Entwicklungen, „die sich ganz unbeabsichtigt aus den Beschränkungen der Staatsgewalt ergeben hatten" (1969, 109) und betont den Wert der Tradition. Nach ihm ergab sich der Liberalismus „aus der Entdekkung einer sich selbst bildenden oder spontanen Ordnung gesellschaftlicher Erscheinungen" (1969, 110). Außerdem vertraut von Hayek auf einen Wettbewerb der Gesellschaftsordnungen und Institutionen, wonach die „erfolgreicheren Gewohnheiten und Praktiken sich durchsetzen" (1969, 142, wo er allerdings Mandeville interpretiert, wenn auch mit erkennbarer Zustimmung; in ähnlichem Sinne S.145). Demnach ist das schließlich entscheidende Kriterium der materielle Erfolg im Kampf der Systeme, nicht die Freiheit als liberale Norm. Es ist möglich, daß liberale Systeme auf die Dauer die größere Überlebenschance haben. Aber so sicher, wie von Hayek dem ersten Anschein nach in dieser Frage ist, kann man nicht sein. Völlig eindeutig durch die Erfahrung erwiesen ist es im übrigen, daß nichtliberale Systeme sowohl für sehr lange Zeit bestanden haben (etwa im alten Ägypten) als auch immer wieder neu entstehen und sich mindestens so lange halten können, daß sehr viele Menschen ihre Hoffnung auf eine liberale Wende begraben müssen, falls sie in solchen Systemen überhaupt solche Hoffnungen haben und nicht vielmehr in einer nicht liberalen Ordnung so eingeübt sind, daß sie sich mit den nichtliberalen Gegebenheiten abfinden. Auch von Hayek selber hat mindestens während des Zweiten Weltkrieges nicht so unbedingte Hoffhungen auf ein schnelles Ende nichtliberaler spontaner Prozesse gehabt. Sonst hätte er sein berühmtes Buch „The Road to Serfdom" (1944) mit seiner schneidenden Analyse des Sozialismus aller Parteien und Spielarten nicht zu schreiben brauchen. Er wollte damit einem spontanen Prozeß der Erosion liberaler Grundsätze im damaligen Großbritannien unter Hinweis auf die deutschen Erfahrungen entgegentreten. Man kann natürlich „spontane Prozesse" so definieren, daß sie zu einem liberalen Ergebnis führen, und andere gesellschaftliche Prozesse aus diesem Begriff ausschließen. Aber mit einer solchen begrifflichen Tautologie ist nichts gewonnen. Der Begriff des spontanen Prozesses muß ergebnisoffen definiert und im übrigen stärker präzisiert werden. Wenn von Hayek auf einen Bereich menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs hingewiesen hat, so ist damit dieser Bereich weder genau abgegrenzt noch seiner inneren Struktur nach ausreichend beschrieben. Daß eine liberale Ordnung spontan zustande kommt, aber von niemandem geplant ist, mag in manchen Fällen zutreffen. Daß sie aber niemand begreifen und daher auch nicht herbeiführen kann, weil sie zu komplex
Die Liberalen und ihr Staat * 57 sei, ist eine Übertreibung die von Hayek selbst mit seinem Wissen über freiheitliche und marktwirtschaftliche Prozesse widerlegt hat. Die Wirklichkeit hat im übrigen diese These überholt, indem in vielen Ländern Politiker eine liberale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung eingeführt oder wiederbegründet haben, weil sie die Prinzipien dieser Ordnung kannten. Dies gilt nicht nur für Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern für viele andere Länder. Auch an älteren Beispielen fehlt es nicht. Dabei hat sich gezeigt, daß liberale Politiker^ immer dann eine Chance haben, wenn eine Katastrophe eingetreten ist, die nichtliberale Systeme herbeigeführt haben. Ludwig Erhard hat nicht auf einen spontanen Prozeß gewartet, der die marktwirtschaftliche Ordnung hergestellt hätte, sondern er hat bewußt die Funktionsbedingungen herbeigeführt, unter denen sie zustande gekommen ist. Politiker der früher kommunistischen Länder gehen mehr oder weniger erfolgreich denselben Weg. Ist dieser Weg illiberal allein deswegen, weil hier Staatsfunktionäre „von oben herab" handeln und das Volk von der Richtigkeit dieses Handelns überzeugen? Nichtliberalen Politikern werfen ihre Anhänger niemals vor, daß sie handeln und Entscheidungen fällen; die marxistische Version, daß hier spontane Prozesse zum Umschlag vom Kapitalismus in den Sozialismus führen, ohne daß dabei bewußt handelnde Politiker notwendig sind, ist selbst dann abwegig, wenn diese Politiker glauben, damit einem von ihnen nicht zu verändernden Geschichtsgesetz zu folgen. Allerdings ist dieser Determinismus eher ein Propagandaargument, um Anhänger zu motivieren und Gegner zu entmutigen. Im übrigen ist die These unrichtig daß in den spontanen Prozessen, durch die sich Verhaltensregeln bilden können und das Recht von Richtern weniger auferlegt als gefunden wird, keine bewußten Zweck-Mittel-Erwägungen Platz haben, die über das Privatinteresse der unmittelbar beteiligten Personen oder zur Einzelfallentscheidung Berufenen hinausgehen.10 Wenn an die Entwicklung des common law gedacht ist, so werden die daran Beteiligten, insbesondere Richter und Juristen, wohl Präzedenzwirkungen ihres Tuns verständig mit einbeziehen, also die Folgen erwägen, die eine bestimmte Einzelfallentscheidung für das gesamte Rechtssystem und vielleicht sogar die Wirtschaftsordnung hat. Man wird dabei auch aus Erfahrungen lernen, also aus erwünschten oder unerwünschten Ergebnissen. Ebenso müssen Privatpersonen nicht völlig kenntnislos über die gesellschaftlichen Folgen ihres Tuns sein, und sie werden durch solche Kenntnisse zu veränderten Präferenzen gebracht. Wieder sind es Ergebnisse , die das Verhalten beeinflussen. Dabei spielt auch mit, daß illiberales, etwa die Freiheitsrechte anderer beeinträchtigendes Verhalten zu einem Verlust an Ansehen und zu anderen, auch wirtschaftlichen Nachteilen fuhren kann (zu den Rücksichten, die z.B. ein Anbieter auf einen festen Kundenstamm nehmen muß: Euchen 1950, 99). Schließlich kennt auch von Hayek noch 9 Häufig werden „Politiker" so definiert, wie es die vereinfachende Version der Neuen Politischen Ökonomie will, nämlich als Personen, die ein primitives und kurzfristiges Eigeninteresse durch Wählerbestechung und Konzessionen an den Gruppenegoismus bevorzugen. Demnach war Ludwig Erhard kein Politiker, wie gelegentlich mit leichtem Zynismus behauptet wird. Es handelt sich hier wieder um definitorische Tautologie. Zum Sachverhalt des liberalen Staatsfunktionärs: Willgerodt (1979). 10 Demgegenüber fordert von Hayek (1979, 156) für das Verständnis von Zivilisation und Kultur: „To understand this development we must completely discard the conception that man was able to develop culture because he was endowed with reason."
58 · Hans Willgerodt den regulären Gesetzgeber für die allgemeinen Gesetze, die er von den als Gesetze verkleideten Verwaltungsmaßnahmen unterscheidet (1969, 199 ff ). Beide, Richter und Gesetzgeber, sollen doch wohl den Verstand, soweit sie über ihn verfügen, nicht verlieren, sondern bei ihrer Tätigkeit anwenden. Insoweit sind die Prozesse, von denen von Hayek die Entwicklung von Recht und Verhaltensregeln erwartet, eben doch nicht nur unbewußt, sondern auch Ergebnis menschlichen Entwurfs. Insoweit gibt es auch in einer liberalen Ordnung immer Gesellschaftspolitik, die bestimmte Zustände fördern und andere vermeiden will. Hiergegen wird eingewandt, ein solcher sich auch an Ergebnissen orientierender Liberalismus sei nicht liberal. Mißverständlich bezeichnet man ihn als Endzustandsliberalismus, obwohl dabei lediglich verlangt wird, Ergebnisse von Handlungen zu berücksichtigen, nicht aber diese Ergebnisse ein für allemal festzuschreiben. Bei der intraliberalen Verurteilung des sogenannten Endzustandsliberalismus handelt es sich um ein unangemessenes Denken in Extremen: Einerseits würde ein allgemeines Nichthinnehmenwollen von Zuständen, die sich durch freie Entscheidung gebildet haben, die Freiheit aufheben. Insoweit haben die Prozeßliberalen recht. Aber das unbegrenzte Hinnehmen solcher Entscheidungen kann zur Sklaverei führen und damit ebenfalls die Freiheit aufheben. Daß freie Entscheidungen niemals freiheitsfeindlich sein können, ist eine derartig häufig widerlegte Tatsache, daß ein liberaler Optimismus in dieser Hinsicht völlig unberechtigt ist. Wie sonst wären die modernen illiberalen Massenbewegungen einschließlich des von ihnen ausgehenden Terrorismus zu erklären? Weder ist es illiberal, aus Ergebnissen zu lernen, zum Beispiel wie im Falle Deutschlands aus Schaden klüger zu werden, noch ist es illiberal, in erster Linie und als Vorbedingung auf freiheitlichen Methoden zu bestehen. Aber es gibt, wie nicht nur die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gezeigt haben, spontane Prozesse unter Ausnutzung freiheitlich-rechtsstaatlicher Spielräume, die der Freiheit selbst gefährlich werden und sie schließlich aufheben. Ob in diesem Falle der gewaltsame Staatsstreich vom liberalen Standpunkt aus legitim ist, mag strittig sein (vgl. Rowley und Peacock 1975, 87). Um so mehr empfiehlt sich eine vorbeugende Gesellschaflspolitik, die dazu beiträgt, ein solches Dilemma zu vermeiden. 2. Die Interdependenz der Ordnungen Walter Eucken und mit ihm die meisten Ordoliberalen haben grundsätzlich den Zusammenhang zwischen der Wirtschaftsordnung und der gesellschaftlichen Gesamtordnung hervorgehoben, deren Teil die Wirtschaftsordnung ist. Eucken selbst hat sich aber mit der Analyse dieser Beziehungen weniger intensiv befaßt als andere liberale Autoren und vor allem in seinem theoretischen Werk gemeint, die wirtschaftstheoretische Analyse müsse an dem von ihm näher bezeichneten Datenkranz enden, zu dem er die „rechtliche und soziale Organisation"11 rechnet (1950, 133, 156). Fr h?t jedoch keineswegs bestritten, daß der Wirtschaftsprozeß auf die gesamtwirtschaftlichen Daten einschließlich der 11 Unter „Organisation" versteht er hier nicht ein Gefüge, bei dem „die Teile nach einem vorgefaßten Plan in Beziehung zueinander gebracht werden" (von Hayek 1969, 34), sondern auch komplexe und deswegen mehr oder weniger spontane Ordnungen.
Die Liberalen und ihr Staat · 59 Gesellschaftsordnung zurückwirkt. In seinem wirtschaftspolitischen Buch hat er sogar die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaftsordnung und übriger Gesellschaftsordnung stark betont. Doch nehmen sich seine durch Beispiele unterlegten Appelle, diese Zusammenhänge genauer zu untersuchen, zum Teil mehr als Wegweisungen und Forschungsprogramme aus. Daß diese Zusammenhänge, so unscharf sie gegenüber einer volkswirtschaftlichen Modellanalyse sein mögen, einer wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich sind, war aber für ihn selbstverständlich (Krüsselberg 1989). Ebenso selbstverständlich war für ihn, daß nach Klärung solcher Zusammenhänge es möglich ist, unter Voraussetzung bestimmter Werturteile politische Folgerungen zu ziehen. Der „Vorwurf", dies verletze die „Wertfreiheit der Wissenschaft", beruht auf einem längst widerlegten Mißverständnis über den Bereich interpersonell überprüfbarer Sachverhalte. Um es an einem medizinischen Beispiel klarzumachen: Wenn vom Kranken akzeptierte Wert- und Zielvorstellungen über die eigene Gesundheit bestehen, ist die Aussage des Arztes, eine bestimmte Therapie stelle diese Gesundheit wieder her, eine wissenschaftlich überprüfbare Aussage. Im übrigen bewegt sich das menschliche Leben nicht in einem wertneutralen Raum staubtrockener Wissenschaft; dies ist eine wissenschaftlich überprüfbare Aussage. Wird die Prüfung von Beziehungen zwischen Werten und den daraus zu ziehenden Folgerungen aus dem Zuständigkeitsbereich der Wissenschaft ausgeschlossen dann wird sie zwar wertfreier, aber subaltern und widmet sich wertloseren Beziehungen minderen Ranges, weil der wichtigste Bereich der Wahrheitsfindung aus ihr ausgeschlossen wurde. In diesem Sinne hat sich Euchen in Auseinandersetzung mit dem - in dieser Hinsicht vielfach mißverstandenen - Max Weber geäußert (1990, 341). Die liberale Leerformel, wonach willkürlicher Zwang zu vermeiden ist, die Wahl zwischen Alternativen dem einzelnen möglich sein muß und er dabei nicht die gleichartige Freiheit anderer beschränken darf, bedeutet bei ihrer konkreten Ausfüllung immer eine Art von Gesellschaftspolitik. Dieser Tatsache kann auch nicht dadurch ausgewichen werden, daß nur durch Rahmenregeln festgelegt wird, was der einzelne nicht tun darf, nicht aber, was er positiv zu tun hat. Die in den Kirchen etwas in den Hintergrund geratenen zehn Gebote sind überwiegend negative Aussagen. Dabei ist es interessant, daß sich die meisten davon direkt oder indirekt auf den Schutz des Eigentums und der persönlichen Unversehrtheit beziehen. Der Ausschluß von Handlungen gegen andere bedeutet immer eine gesellschaftliche Veränderung gegenüber einem Zustand, in dem alles erlaubt ist. In einigen nicht einmal unwichtigen Bereichen lassen sich negative liberale Regeln in positive Handlungsgebote umwandeln. Zum Beispiel bedeutet die Vorschrift, Kinder nicht sich selbst zu überlassen und ihre Erziehung nicht zu vernachlässigen, zugleich eine positive Handlungsanweisung fur die Eltern, den Kindern Unterhalt zu gewähren und sie angemessen zu erziehen weil sonst die Freiheitsrechte anderer geschmälert werden, und zwar einerseits der Kinder, andererseits der öffentlichen Hand und der Steuerzahler, die sonst für die Kinder aufkommen müßten; zur Pflicht von Eltern hat sich der Erzliberale John Stuart Mill (1859/1945, 251 ff.; 255) eindeutig geäußert. Aus dem Bereich der Wirtschaftspolitik lassen sich ordnungspolitische Regeln anführen, die zugleich einen negativen wie einen positiven Inhalt haben: Wenn Minderheitsak-
60 · Hans Willgerodt tionäre gegen ihren Willen aus einer Aktiengesellschaft vom Mehrheitsaktionär ausgeschlossen und ausgezahlt werden können, so bedeutet dies negativ, daß die Minderheitsaktionäre dagegen nicht vorgehen können, und positiv, daß der „unternehmerische Gestaltungswille" des Mehrheitsaktionärs Vorrang erhält. Ohne Zweifel wird auf diese Weise die Sozialstruktur verändert, und zwar im Sinne von Konzentration und ungleichmäßiger Beteiligung an großen Unternehmungen. Zwar muß der Großaktionär die Kleinaktionäre nicht hinauswerfen, aber die „Ordnungsregel" eines derartigen Umwandlungsgesetzes bedeutet eine Einladung, dies zu tun . Unzählige andere Beispiele lassen sich anfuhren, die beweisen, daß sich eine Gesellschaftspolitik auch nicht dadurch vermeiden läßt, daß man eine angeblich stets neutrale Ordnungspolitik von einer Prozeßpolitik unterscheidet. Ordnungspolitik so zu definieren, daß sie neutral ist, wäre tautologisch; es muß vielmehr in jedem Einzelfall geprüft werden, ob und inwieweit dies für eine Regel zutrifft. Ist die Vorschrift, Häuser unter Denkmalschutz dürften nur mit behördlicher Genehmigung geändert werden, neutral, weil sie für alle Denkmäler gilt, oder nicht neutral gegenüber den Besitzern von Häusern, die nicht unter Denkmalschutz stehen? Handelt es sich um eine Ordnungsregel oder um eine Prozeßintervention? Jedenfalls ist der Denkmalschutz eine gesellschaftspolitische Maßnahme. Jede wirksame Ordnungsregel ändert das gesellschaftliche Ergebnis gegenüber einem Zustand ohne diese Regel. Es ist also immer gesellschaftspolitisch zu wählen, solange die Entstehung solcher Regeln nicht ausschließlich als naturwüchsiges Resultat in dieser Hinsicht unbewußten menschlichen Handelns erklärt werden kann. Aber auch in diesem, keineswegs allgemeingültigen Fall kann in der Regel noch entschieden werden, ob ein solches Ergebnis eines unbewußten Regelbildungsvorganges hingenommen werden soll oder nicht. Es gibt nicht nur gute, sondern auch schlechte Sitten, wie am Beispiel der Mafia zu erkennen ist. 3. Liberale Gesellschaftspolitik Besteht die Möglichkeit, Verhaltensregeln zu wählen, hinzunehmen oder abzulehnen, dann muß geklärt werden, wer diese Wahl treffen soll. Das Vertrauen, allein staatsfreie Kräfte könnten nach Art der früheren Börsenusancen solche Aufgaben vollständig lösen, ist unrealistisch. Diese Kräfte kommen nicht allgemein für ihre Wirksamkeit ohne den Hingrund staatlicher Existenz aus, etwa im Falle der Börsenusancen durch den Eigentumsschutz. Zwar besteht immer die Gefahr, daß sich der Staat gegenüber staatsfreien Kräften unnötige Kompetenzen anmaßt, wie das Beispiel der deutschen Orthographiereform gezeigt hat; es handelt sich aber bei der Abgrenzung zwischen staatsfreien Kräften und staatlicher Kompetenz mehr um eine Frage des Vorranges, die der Liberale mit der inhaltlich zunächst offenen Formel des Subsidiaritätsprinzips beantwortet, dabei aber die Beweispflicht für die Notwendigkeit seines Eingreifens dem Staat auferlegt. Es bleibt jedoch unbestreitbar, daß keine staatliche Maßnahme, auch keine Rahmenordnung, gesellschaftspolitisch völlig neutral ist. Daran ändert auch die liberale Forderung nichts, es solle bei Gesetzen in dem Sinne Allgemeingültigkeit verlangt werden, daß sie sich nicht gegen genau bekannte Personen richten, sondern nur Sachverhalte be-
Die Liberalen und ihr Staat - 61 treffen, die grundsätzlich von einer dem Gesetzgeber unbekannten Zahl von Personen erfüllt werden können. Es ist keineswegs illiberal, wenn die Ordoliberalen in diesem Zusammenhang fordern, mit den vom Staat gesetzten, legitimierten oder zugelassenen Ordnungsregeln sollten zugleich gesellschaftliche Strukturen gefördert werden, mit denen eine freiheitliche Ordnung politisch leichter möglich, stabiler und menschenwürdiger wird. Hierfür müssen auch Liberale ein gesellschaftspolitisches Leitbild haben und mindestens wissen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen eine freiheitliche Ordnung leichter bestehen kann als unter anderen. Die gesellschaftspolitische Zurückhaltung der Liberalen, eine Art von soziologischer Wasserscheu, ist jedoch verständlich. Für den Liberalen ist auch die Gesellschaftsstruktur in erster Linie ein Ergebnis der freien Entscheidung zahlloser gleichberechtigter Einzelner. Die Vorstellung, es gebe nur eine einzige menschenwürdige Gesellschaftsstruktur, die ohne jeden Spielraum aus „naturrechtlichen" Normen abzuleiten wäre, ist den Liberalen ebenso fremd wie die Forderung, der Staat müsse diese Normen mit Hilfe seiner Zwangsgewalt durchsetzen. Mit Recht wird der Staat eher als notwendiges Übel denn als Einrichtung zur Verwirklichung eines Gottesreiches angesehen. Wenn es gleichwohl einen Staat geben muß, ist es durchaus eine liberale und auch besonders den Ordoliberalen naheliegende Forderung, daß die vom Staat hingenommenen und geschützten Ordnungsregeln zugleich gesellschaftliche Strukturen fordern, die einem der verschiedenen historisch möglichen Leitbilder einer liberalen und menschenwürdigen Ordnung entsprechen. Müller-Armack (1976, 240) nennt die Marktwirtschaft „ein offenes System" und betont, das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft habe „nicht den Sinn, irgendeine rationale, religiöse, sozialistische oder liberale Idealordnung zu entwerfen" (1976, 303). Gleichwohl müssen Mindestforderungen erfüllt werden. Was im liberalen Sinne menschenwürdig ist, kann nicht ohne Werturteile festgestellt werden und mag in Einzelheiten umstritten sein. Es ist leichter negativ als positiv zu definieren, nämlich als Zustände, in denen es keine willkürliche Gewalt gegen andere gibt, sondern eine Friedensordnung besteht, die als liberale Mindestforderung zu gelten hat („Soziale Irenik" im Sinne Müller-Armacks, 1950/1959, 559-578). Innerhalb dieser noch weiter zu definierenden Ordnung mag Jeder nach seiner Façon selig werden". Das hindert niemanden daran, seine Überzeugung und Konfession als die allein richtige anzusehen und andere von dieser Ansicht zu überzeugen. Aber Gewaltanwendung ist dabei auszuschließen und Spielraum für das hinzunehmen, was der Gläubige „Sünde" nennt. Würde das Verhalten des einzelnen so sehr eingeengt, daß ihm keine Alternativen bleiben, mag von den Beherrschern eines solchen Systems der Tendenz nach Sündenfreiheit erreicht werden, aber, wie Stigler (1975, 291) bemerkt, es ist nichts Bewunderungswürdiges an einem unfreiwilligen Heiligen zu entdecken. Daß eine liberale Ordnung rein formalen und niemals inhaltlichen Charakter habe, ist empirisch widerlegt. Die Wirkung von der Form auf den Inhalt oder umgekehrt mag die Philosophen seit Jahrhunderten beschäftigt haben, es läßt sich aber konkret feststellen, welche Wirkungen eine Zentralverwaltungswirtschaft oder eine Marktwirtschaft auf die Präferenzen und das Verhalten der Menschen haben. Institutionen sind in diesem Sinne nicht neutral. Daß Märkte und ihre Offenheit in dieser Weise wirken, ist vielfach beob-
62 · Hans Willgerodt achtet worden: John Stuart Mill (Neudruck 1965, Book III, Chapter XVII,§ 5) hebt die Präferenz- und Verhaltensänderungen hervor, die sich durch den freien Außenhandel und die damit gegebene Berührung mit anderen Kulturen ergeben. Daß Wanderungen die Präferenzen sowohl der Wandernden wie der Bevölkerung des Zuwanderungsgebietes ändern können, ist erwiesen. Daß die Auskunftsbereitschaft gegenüber statistischen Behörden davon abhängt, welche Wirtschaftsordnung herrscht, ist bekannt (Willgerodt 1975): Ein System, in dem Angaben bei solchen Erhebungen zugleich zu Vor- oder Nachteilen für die Meldepflichtigen werden, wie das für Zentralverwaltungswirtschaften typisch ist, führt zur Lüge als Systembestandteil und gefährdet damit die Informationsgrundlage der Zentralverwaltung. Eingeübte Verhaltensweisen und Präferenzen, die innerhalb eines Systems gewachsen sind, leisten bei einem Systemwechsel unter Umständen erheblichen Widerstand, bei Ländern mit südlicher Mentalität etwa bei dem Versuch, ihnen das Zaumzeug einer strengen Bewirtschaftung aufzuerlegen, in anderen Ländern nach dem Versuch, zu einer funktionierenden Marktwirtschaft überzugehen. Länder ohne freiheitliche Tradition haben hier besondere Schwierigkeiten, wobei auch der religiöse Hintergrund mitspielen kann (Mtiller-Armack 1968). Daß der Markt nicht nur Präferenzen der Marktteilnehmer als Signale verarbeitet, sondern auch diese Präferenzen und Verhaltensweisen ändert, ist oft betont worden.12 Welche Regeln und Institutionen sind es nun, die eine freiheitliche Ordnung standfester machen? Dies ist ein unendliches Thema, bei dem wir uns auf Hinweise beschränken müssen. Es ist darüber schon viel, aber von den Ordoliberalen noch nicht genug nachgedacht worden. Konzepte hierzu haben Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Alfred Müller-Armack - dem das Recht hierzu aber in dem Beitrag von Lange-von Kulessa und Renner in diesem Band bestritten wird - und andere entwickelt. Auch bei Eucken finden sich viele Hinweise. Wiederum ist es leichter, negativ abzugrenzen, also Institutionen und Maßnahmen zu nennen, die gegen ein freiheitliches System gerichtet sind und deswegen vermieden werden sollten. Unter einem Anfangsverdacht in dieser Beziehung stehen hauptsächlich alle Zentralisierungen, etwa die Zusammenballung proletarischer Massen in Riesengebäuden und in Riesenstädten, auch riesigen Betrieben und Unternehmungen13, die Zentralisierung von Regierungsbefugnissen in immer größer werdenden staatlichen oder übernationalen Einheiten, die Konzentration und damit verbundene Erosion14 des Privateigentums und der damit gewährten Rechte, die Behinderung selbständiger Entscheidungen und der 12 Zur Ambivalenz des Marktes und des Wettbewerbs vgl. Röpke (1968b, 33 f.); Willgerodt (1968, 141-171). Besonders hervorgehoben sei die neue Studie von Samuel Bowles (1998) Endogenous Preferences: The Cultural Consequences of Markets and other Economic Institutions, die nur den Mangel hat, dem Markt entgegengesetzte Systeme nicht einzubeziehen und ein teilweise verzerrtes Bild vom Markt zu verwenden. 13 Solche hierarchisch strukturierten Großeinheiten könnten nach Coase (1937) ein Konkurrenzverhältnis zu Marktlösungen erfolgreich bestanden haben und wirtschaftlich effizienter sein. Wegen der damit verbundenen Wettbewerbsbeschränkungen handelt es sich oft um eine unrealistische Modellvorstellung. Es kommt vielmehr zu unfreiheitlichen Abhängigkeitsbeziehungen wie innerhalb der staatlichen Bürokratie. 14 Sei großen Aktiengesellschaften kann das Recht des Einzelaktionärs ebenso schrumpfen wie das des Wählers in einer großen, viele Millionen umfassenden Demokratie.
Die Liberalen und ihr Staat · 63 damit verbundenen Selbstverantwortung. Müller-Armack (1951/1976, 201-229) hat vom Standpunkt der Freiheit des einzelnen aus die Abhängigkeiten untersucht, die sich in verschiedenen Wirtschaftsordnungen und bei unterschiedlichen staatlichen Planungs- und Eingriffskompetenzen ergeben. Seine Analyse fuhrt zu der Folgerung, daß der moderne Staatsinterventionismus mit seiner faktischen Beschränkung des Aufstiegs zu neuer Selbständigkeit bei Privilegierung der bereits vorhandenen Selbständigen die Freiheit unzulässig beschränkt. Seine differenzierte Untersuchung betont auch die Gefahr von Interventionsketten (S.223), die es praktisch unmöglich machten, „das Wachsen der Abhängigkeit zu begrenzen". Andere, vor allem Wilhelm Röpke (1942/1979) haben auf die Gefahren einer besinnungslosen Bevölkerungsvermehrung für die persönliche Freiheit hingewiesen. Dadurch entsteht die Notwendigkeit zu einer immer weiter getriebenen wirtschaftlichen Arbeitsteilung, die um so störungsanfälliger wird, je mehr die Menschen durch eben diese Arbeitsteilung unter einer Horizontverengung leiden und das System, in dem sie leben, immer weniger durchschauen können. Das kann zur Folge haben, daß sie gegen dieses System revoltieren und es durch eine der zahlreichen modernen Massenbewegungen zertrampeln. Schon Adam Smith hat auf die soziologische Problematik einer weiter getriebenen Arbeitsteilung hingewiesen (1776/1904 Vol. 2, 302 f.). Von Zwiedineck-Südenhorst (1954) hat gemeint, daß die Freiheit des einzelnen deswegen mit wachsender Menschenzahl abnehmen müsse. Andererseits hat in den wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern eine Gegenbewegung das Pendel nach der anderen Seite ausschlagen lassen, indem Geburtenbeschränkung in der besonders abstoßenden Form der Abtreibung sozialpolitisch subventioniert und im übrigen der Zusammenhalt der Familie im Zeichen einer falsch verstandenen „Liberalisierung" proletarisierend mit staatlicher Hilfe gelockert wird. Von einer Beachtung der Grenzen, die der Freiheit des einen im Interesse der Freiheit anderer gesetzt werden müssen, kann hier nicht mehr die Rede sein. Das Problem ist auch nicht dadurch zu lösen, daß Geburtenprämien und Eltemgelder auf Kosten unbekannter, aber meist ebenfalls in Familien lebender Steuerzahler vervielfacht werden. Die Sozialisierung und Verstaatlichung der einst bürgerlichen Familie15 wird damit nur weiter fortgetrieben. In solchem sozialen Klima können liberale Gesinnungen nicht gedeihen. Denn sie bedeuten auch Rücksicht auf andere statt des modernen Vandalismus, und Anerkennung von Grenzen für das eigene Handeln. Bevor aus diesen und anderen Gründen die Sache des Liberalismus als verloren ausgegeben wird, müssen jedoch starke Gegenkräfte beachtet werden. Die Produktivität der modernen Wirtschaft hat Arbeitszeitverkürzungen erlaubt, wie sie früher nicht vorstellbar gewesen sind. Der damit vergrößerte Spielraum hat die Selbstverantwortung des einzelnen erheblich erweitert und auch einen neuen Raum der Selbstversorgung geschaffen. Wider Willen fördert ihn der Sozial- und Steuerstaat dadurch, daß er den gesellschaftswirtschaftlichen und arbeitsteiligen Prozeß mit erdrosselnden Abgaben zurückdrängt, 15 Von Hayek hat die Familie als Institution hervorgehoben, die am besten geeignet sei, die kulturelle Tradition, und das heißt auch: die rechtsstaatlich-liberale Tradition, weiterzugeben (1960, 89). Diese Funktion wird im Zeichen falscher Emanzipation von Eltern und Kindern immer weniger ausgeübt und anerkannt.
64 · Hans Willgerodt während die Selbstversorgung abgabenfrei bleibt. Im übrigen ist das Streben nach Hausbesitz und Eigentum bei den breiten Massen unverändert stark. Die Menschen lassen, wenn sie irgend können, die kollektivistischen Massensilos und Wohnregale der Monumentalarchitektur hinter sich. Die Revolte in den ehemals sozialistischen Ländern gegen ihr freiheitsfeindliches altes System zeigt mindestens, was die Menschen nicht mehr gewollt haben. Es ergibt sich, daß das Nirwana totaler gesellschaftspolitischer Enthaltsamkeit mancher Liberaler utopisch ist. Jede Ordnungsregel, und auch das Fehlen solcher Regeln, hat gesellschaftspolitische Folgen. In diesem Zusammenhang wird insbesondere den Ordoliberalen immer wieder der Vorwurf gemacht, sie hätten das Leitbild eines wohlwollenden Diktators (Kirchgässner 1988, 73). Im Grunde trifft dieser vermeintliche Vorwurf alle Liberalen, weil sie einen Staat voraussetzen und ihm ein bestimmtes Verhalten auf erlegen wollen, das von einem Leitbild, also normativen Vorstellungen über den Charakter dieses Staates und seines Verhaltens ausgeht. Im übrigen kann kein Staat solchen normativen Vorstellungen entgehen, sie mögen so abwegig sein, wie sie wollen, denn er muß ein bestimmtes Verhalten seiner Instanzen und der Bürger als legitim oder richtig bezeichnen und ein anderes als nicht legitim und falsch. Dies ist eine Aussage, die empirisch überprüfbar ist und von manchen „positiv" und deshalb wertfrei genannt wird. Den Ordoliberalen zu unterstellen, sie wollten eine Diktatur, sozusagen eine, mindestens wirtschaftspolitische, Tugendtyrannei herstellen, ist ziemlich kühn. Selbstverständlich sind ihre Vorschläge als politische Programme aufzufassen, für deren praktische Durchsetzung sie werben müssen, ohne dabei Gewalt anzuwenden. In Übereinstimmung mit Keynes sind sie aber der Meinung, daß Ideen auf die Dauer stärker den Gang der Geschichte bestimmen als bloße kurzfristige Interessen. Bei diesem Überzeugungsprozeß müssen sie auch ihre Vorstellungen über die Struktur der Staatsverfassung vertiefen, die zu dem liberalen Konzept paßt. Das Verhältnis der Liberalen zur Demokratie, die schließlich ihr - teilweise mißratener - Abkömmling ist, haben sie von jeher eingehend behandelt (von Hayek 1969, 56-74). Dabei ist das Prinzip der Machtverteilung neben das Demokratieprinzip zu stellen, also die klassische Gewaltenteilung zu ergänzen durch dezentralisierenden Föderalismus, Selbstverwaltung der Gemeinden, Möglichkeiten des Plebiszits und vieles andere (Röpke 1947b und 1950/1979, 19 ff ). Die Meinung, ein dem ordoliberalen Konzept nahekommender Zustand sei auf Grund der Erkenntnisse der Neuen Politischen Ökonomie über politische Prozesse nicht möglich, ist trotz des Diskonts, den die Wirklichkeit von allen Politischen Konzepten nimmt, empirisch widerlegt.
IV. Der Platz der Sozialpolitik im liberalen System Zum freiheitlichen System gehört Selbstbestimmung und deswegen auch Selbstverantwortung, das heißt persönliche Haftung für eigene Entscheidungen. Anderenfalls würde die Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung für andere, die für die Folgen fremder Selbstentfaltung aufkommen müssen. Allerdings kann diese Regel kaum allgemein aufrecht erhalten werden.
Die Liberalen und ihr Staat · 65 Das wird schon allein daran erkennbar, daß Eltern auch nach liberaler Auffassung für ihre Kinder haften sollen, weil die Kinder als von den Eltern fremdbestimmt angesehen werden. In vielen Gesellschaften müssen umgekehrt auch Kinder für frühere oder gegenwärtige Entscheidungen ihrer Eltern aufkommen, schon um die Kreditwürdigkeit einer Familie aufrecht zu erhalten, die bei kurzer Lebensdauer des Schuldners überhaupt keinen oder nur einen sehr teueren Kredit erhalten würde, wenn die nachgeborenen Familienmitglieder die Schuld nicht übernehmen würden. Wichtiger ist aber ein anderer Zusammenhang: Das Ergebnis des wirtschaftlichen Wettbewerbs beruht nicht allein auf persönlichem Verdienst, sondern kann auch sehr wesentlich von Faktoren abhängen, die selbst der Tüchtigste nicht vorhersehen kann (von Hayek 1958). Zufall und Unsicherheit gehören zu jeder Wirtschaftsgesellschaft auch außerhalb der Unberechenbarkeiten der Natur, die seit Jahrtausenden menschliche Schicksale bestimmt haben. Es liegt aber im Interesse der Allgemeinheit, daß sich viele auf die Suche nach besseren Lösungen machen, auch wenn dabei viele keinen Erfolg haben. Selbst der Mißerfolg kommt anderen zugute, die daraus die Information erhalten, solche falschen Wege zu meiden. Ohne Risiko sind viele günstige Neuerungen nicht zu erreichen, Fehlinvestitionen und Konkurse begleiten den marktwirtschaftlichen Ausleseprozeß oft jenseits des Spielraums, den der einzelne Disponierer noch beherrschen kann. Infolgedessen muß das im Gesamtinteresse, also im Interesse auch anderer Personen, übernommene Risiko so verteilt werden, daß es für den einzelnen tragbar bleibt (ähnlich Mestmäcker 1993, 877). Viele Risiken sind nicht durch eine private Versicherung abzudecken oder sollten, wie das allgemeine Unternehmensrisiko, nicht abzusichern sein, weil die Sozialisierung von Verlusten zu UnWirtschaftlichkeiten verleitet, bei denen andere als die Verursacher die Leidtragenden sind. Da unternehmerische Schuld und unternehmerisches Schicksal nicht einwandfrei voneinander zu trennen sind, besteht nicht oder nur begrenzt die Möglichkeit, unverschuldete Verluste von verschuldeten zu unterscheiden und etwa eine soziale Mindestsicherung nur an unverschuldete Verluste zu binden. Was für Unternehmer gilt, kann auf alle anderen, insbesondere Arbeitnehmer übertragen werden. Selbst von Hayek, einer der heftigsten Kritiker des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit und des Beiwortes „sozial" an der Sozialen Marktwirtschaft, hat deswegen zugestanden, daß der Staat ein Minimum an staatlicher Unterstützung für alle diejenigen vorsieht, die nicht imstande sind, sich selbst zu unterhalten (1960, 302 f.) und dies nachweisen. Es muß auch in jeder liberalen Gesellschaft Vorkehrungen geben, die man früher Armenpflege genannt hat. Das Problem besteht darin, daß in der modernen Demokratie das damit erreichbare Versorgungsniveau immer mehr wählerwirksam angehoben wird und der Antrieb nachläßt, sich anzupassen und wieder in die arbeitsteilige Produktion zurückzukehren, vor allem, wenn diese Sozialhilfe falsch konstruiert ist und am Arbeitsmarkt Bedingungen geschaffen werden, die eine solche Rückkehr im Interesse der Etablierten erschweren. Hiervon zu trennen ist die moderne Sozialpolitik für die Nichtbedürftigen, also die breite Mehrheit der Bevölkerung. Die Mehrheit der Bevölkerung mag vom Standpunkt ihrer Wünsche aus sich selbst als bedürftig oder gar arm ansehen, selbst in einer Volkswirtschaft wie der deutschen, die das höchste Durchschnittseinkommen ihrer Geschichte
66 · Hans Willgerodt aufzuweisen hat und in der selbst die Sozialhilfe über dem Normaleinkommen der unmittelbaren Nachkriegszeit und heute vieler anderer Länder liegt. Aber auf solche Wunschvorstellungen kann es für eine realistische Sozialpolitik nicht ankommen, denn niemand kann den breiten Massen einer Mittelstandsgesellschaft helfen als diese Massen selber. In einer solchen Volkswirtschaft sind auch die Reichen nicht reich genug, das Einkommen der mittleren und unteren Einkommensschichten durch Umverteilung steigern zu können. Denn die wirtschaftlichen Folgen einer solchen Umverteilung würden das Gesamteinkommen auch für die Empfanger dieser Umverteilung stärker senken, als sie dadurch an Vorteilen erlangen können. Jedenfalls ist die Größenordnung der für die Alterssicherung und Sicherung im Krankheits- und Pflegefall notwendigen Beträge unmöglich überwiegend oder gar ausschließlich durch Umverteilung aufzubringen. Deswegen werden die breiten Massen der Durchschnittsverdiener immer für die Versorgung bei Alter und Krankheit selbst aufkommen müssen. Es handelt sich dabei um ein wirtschaftliches Problem wie die Versorgung mit anderen Gütern, die der Normalbürger aus dem Leistungseinkommen finanzieren und am Markt erlangen muß. Dieser Markt kann, wenn man ihn zuläßt, ein Markt für Versicherungen und für Dienstleistungen sein. Die Umsätze auf diesem Markt mögen ihre Besonderheiten haben und deswegen besondere ordnungspolitische Regeln erfordern, sie gehören aber trotzdem in den Bereich des Geschäfts und nicht der umverteilenden Armenpflege. Dieses Geschäft ist im modernen Wohlfahrtsstaat kaum entwirrbar mit einer staatlich angeordneten Umverteilung im Rahmen staatlich erzwungener Sozialsicherungssysteme verbunden worden. Die Geschäftsleute dieses Systems sind daran interessiert, Umverteilungen und Umverteilungsillusionen darin unterzubringen, um eine ungehemmte Expansion seines Volumens und seines Apparates politisch möglich zu machen. Man nennt dies „Solidarität" und vermischt dabei diejenige Solidarität, die mit vertraglicher Zustimmung der Partner auch in normalen privaten Versicherungen üblich ist, mit einer umverteilenden Zwangssolidarität. Für den Liberalen kommt es darauf an, Geschäft und Umverteilung, Kauf und Geschenk, Selbstvorsorge und Armenpflege voneinander zu trennen und die Selbstvorsorge zum Normalfall für die breiten Massen zu machen. Anderenfalls gibt es keine berechenbare Abgrenzung der Rechte von Einzelpersonen gegeneinander, sondern die Mentalität, möglichst wenig zur Finanzierung des Systems beizutragen und möglichst viel von seinen Leistungen in Anspruch zu nehmen. Dieser organisierte Versicherungsbetrug ruft polizeistaatliche Kontrollen hervor, die auf einem normalen Markt überflüssig wären. Trotzdem ist staatliche Sozialpolitik innerhalb eines liberalen Systems nicht nur zulässig, sondern notwendig. Walter Eucken unterscheidet drei Arten der sozialen Frage: Erstens den im 19. Jahrhundert von Schmoller betonten Gegensatz „zwischen den Unternehmern und den industriellen Arbeitnehmern", zweitens „die Unsicherheit in der Form der lang dauernden Arbeitslosigkeit" und drittens die Abhängigkeit „von der Maschinerie des Staates und anderer öffentlicher Gewalten" (1990, 185 ff ). Die traditionelle, auf die erste soziale Frage gerichtete Arbeiterschutzpolitik lehnt er keineswegs pauschal ab (1990, 186) und wendet sich nicht generell gegen Gewerkschaften (1990, 186, 322 f.), betont aber, daß sich beides in den Rahmen der wirtschaftlichen
Die Liberalen und ihr Staat · 67 Gesamtordnung einfügen müsse, wenn nicht Nachteile für die Arbeiter selber durch verminderte Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft entstehen sollen. Auch lehnt er staatliche Wohlfahrtseinrichtungen keineswegs pauschal ab, sondern fordert nur eine Rangordnung: „Wenn Selbsthilfe und Versicherung nicht ausreichen, sind staatliche Wohlfahrtseinrichtungen notwendig. Aber der Akzent sollte, wo irgend angängig, bei der Stärkung der freien Initiative des einzelnen liegen" (1990, 319). Die erste soziale Frage sieht er "durch die wirtschaftlich-technische Entwicklung" und deswegen starke Reallohnsteigerung als gemildert an (1990, 185 f.) und erwähnt die von Gewerkschaften ausgehende Gewichtsverschiebung. Das Problem der Arbeitslosigkeit habe es „in der Form der lang dauernden Arbeitslosigkeit von Massen" vor 1914 nicht gegeben. Dieser zweite Typus der sozialen Frage sei gekennzeichnet durch die „Herausbildung großer sozialer Machtkörpef" und die Vollbeschäftigungspolitik ohne zureichende Lösung der Ordnungsfrage für die Gesamtwirtschaft (1990, 186, 140 ff.). Es habe nicht mehr genügt, „punktuell" einige sozialpolitische Maßnahmen alten Stils zu ergreifen, mit den ergriffenen Maßnahmen sei aber „eine mächtige Tendenz zur Transformation der Wirtschaftsordnung" ausgelöst worden. Damit sei die dritte soziale Frage in den Vordergrund gerückt, nämlich die staatlich-administrative Freiheitsberaubung, die allmählich das ganze Leben verstaatliche, während zugleich die Güterversorgung schlechter werde. Die erste soziale Frage ist ein Problem der Abgrenzung von persönlichen Handlungsspielräumen, die zweite ein typisches liberales Ordnungsproblem und die dritte ein Problem der unbegrenzten Staatsmacht. Vom liberalen, auch ordoliberalen Standpunkt aus ergibt sich das Problem, ob es zulässig ist, Privatpersonen daran zu hindern, keine persönliche Vorsorge für Alter, Krankheit, Unfall usw. zu treffen in der Erwartung und Hoffnung, die Allgemeinheit werde im Falle eines Versorgungsmangels aus öffentlichen Mitteln für den entstandenen Schaden aufkommen. Wenn eine öffentliche Mindestsicherung vom liberalen Standpunkt aus notwendig ist, ist es auch notwendig, den Mißbrauch dieser Möglichkeit zu verhindern und einen Versicherungs- und Vorsorgezwang auszuüben, damit nicht die Rechte anderer, hier: der Steuerzahler, unzulässig beeinträchtigt werden. Daraus folgt keine staatliche Zwangsversicherung. Euchen ergänzt aber seine sozialpolitischen Forderungen noch weiter, indem er eine maßvolle Steuerprogression für richtig hält, um die Einkommensverteilung zu korrigieren (1990, 300 f., 365 f.). Im Gegensatz zu einem gesellschafts- und sozialpolitischen Laissez-faire betont er, es gebe „keine wirtschaftspolitische Maßnahme, die nicht zugleich auch, sei es direkt oder indirekt, soziale Auswirkungen und soziale Bedeutung hätte" (1990, 313). Es solle aber durch die allgemeine Ordnungspolitik versucht werden, die Entstehung sozialer Fragen zu verhindern. Man kann dies auch in folgender Form ausdrücken: Die sozialpolitischen Lazarette sollen so weit wie irgend möglich von Bedürftigen entleert werden, indem ihnen die Möglichkeit gegeben wird, sich selbst zu helfen. Soweit dies nicht gelingt, mag eine spezielle Sozialpolitik hinzukommen, die aber „im Sinne der ordnungspolitischen Gesamtentscheidung zu erfolgen hat" (1990, 313).
68 · Hans Willgerodt
V. Anmerkungen zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Kritik an Alfred Miiller-Armack Das Beiwort „sozial" in der Sozialen Marktwirtschaft ist nach mehreren Richtungen hin unklar, so daß es von Liberalen wie von Hayek überhaupt abgelehnt wird. Walter Euchen verwendet es im Sinne der von ihm unterschiedenen drei „sozialen" Fragen, geht aber bei seiner Behandlung der „Einkommenspolitik" (1990, 300 f.) noch darüber hinaus, indem er eine Korrektur der Einkommensverteilung für richtig hält. Sie habe in der Form der Steuerprogression „einen sozialen Sinn", dürfe aber nicht so weit gehen, „daß die Neigung zu investieren nachläßt" (1990, 301). Müller-Armack, der grundsätzlich eine Einkommensumleitung ebenso wie Euchen für notwendig hält, vergißt aber nicht: „Gewiß kann bei der Einkommensumleitung für soziale Ausgaben leicht die Schwelle überschritten werden, an der die Störung des Marktes beginnt." (1976, 246). Doch war er bei dieser Äußerung aus dem Jahre 1956 noch optimistischer. 1975 wendet er sich jedoch in einem heftigen Angriff gegen Tendenzen, die er als demokratischen Sozialismus bezeichnet. Dort (1975, ll)warnt er vor einer Steuerreform, „deren erklärtes Ziel, die Entlastung der unteren Einkommen, durch eine radikale Mehrbelastung der höheren Einkommen erreicht werden soll".16 Zu der Frage, ob der Staat einen Versicherungszwang gegen Versorgungslücken im Alter, bei Krankheit und in anderen Fällen analog zu der Kraftfahrzeugversicherung auferlegen soll, gibt es weder bei Eucken noch bei Müller-Armack präzise Aussagen. Müller-Armack fordert einerseits „ein vielgestaltiges und vollständiges System sozialen Schutzes"(1976, 245), andererseits „Konzentration der sozialpolitischen Maßnahmen auf bestimmte Schwerpunkte, um Selbstverantwortung und wirksame Hilfe in eine bessere Relation zu bringen" (1976, 290), sowie „in gewissen Bereichen" mehr Selbstverantwortung und „Konzentration der sozialen Hilfe auf die wirklich hilfsbedürftigen Fälle" (1976, 313). Die älteren Ordoliberalen teilen mit MüllerArmack eine erhebliche Vorläufigkeit in den sozialpolitischen Aussagen17, denen es an Detail fehlt, mit einer weitgehenden Übereinstimmung in den Grundaussagen. Von beiden wird die soziale Frage mit Vorrang als eine Frage der Wirtschaftsordnung angesehen; in der immer auch sozialpolitisch motivierten18 Einzelkritik am marktwirtschaftsfeindlichen Dirigismus und Interventionismus wird Müller-Armack in seiner 1946 erschienenen Schrift „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft" sogar wesentlich konkreter als Eucken. Jeder der damaligen Leser mußte diese Schrift als Abrechnung mit der bis dahin betriebenen und von den Besatzungsmächten fortgesetzten Wirtschafts- und Sozialpolitik auffassen. Das Soziale an der Sozialen Marktwirtschaft hat also viele Facetten und kann daher zum Einfallstor für eine Transformation der liberalen Ordnung werden, indem das Verhältnis von freiheitlicher Selbstverantwortung und beweispflichtiger staatlicher Interven-
16 Zur Kritik an Progressivsteuern: Kurt Schmidt 1960. 17 In einem Seminar Mliller-Armacks hat der Verfasser dieses Aufsatzes seinerzeit ein Referat Wilfried Schreibers zum Umlageverfahren in der Alterssicherung („dynamische Rente") heftig angegriffen. Soweit ich mich erinnere, blieb Müller-Armack weitgehend unparteiisch. 18 Eucken (1990, 313): „Es gibt nichts, was nicht sozial wichtig wäre."
Die Liberalen und ihr Staat · 69 tion umgekehrt wird, außerdem die Grenze nicht beachtet wird, von der an die Quantität sozialpolitischer Maßnahmen in freiheitsfeindliche Lösungen umschlägt. Für die erste soziale Frage des Verhältnisses von Arbeitnehmern und Unternehmern sieht Miiller-Armack wie Eucken das Hauptproblem in einer Ordnung der Wirtschaft, die nur einefreiheitlich-marktwirtschaftlichesein kann (1948/1976, 171-199). Später (1975, 10) warnt er jedoch vor einer „paritätischen Mitbestimmung, in welcher Form und mit welchen Nuancen sie auch wirksam werden mag". Für die zweite soziale Frage, nämlich eine anhaltende Arbeitslosigkeit, sieht MiillerArmack wie Eucken keine Lösung in einer Preisgabe der Geldwertstabilität, sondern fordert geradezu, sie wiederzuerlangen, weil sonst eine Stagflation als Verbindung von erhöhter Arbeitslosigkeit und erhöhter Geldentwertung drohe. Gleichzeitig sei die Arbeitslosigkeit auf Grund struktureller Prozesse gestiegen, nicht zuletzt wegen vieler von ihm im einzelnen genannter Maßnahmen im Zuge des demokratischen Sozialismus (1975, 10 ff., 1978, 15 ff.). Miiller-Armack hält im Unterschied zu Eucken (1990, 311) eine Konjunkturpolitik neben einer Politik zur Ordnung der Wirtschaft für notwendig; diese vorbeugende Kreislaufpolitik hat er in seiner amtlichen Tätigkeit mit sparsamen Mitteln und gutem Erfolg betrieben. Sie war etwas ganz anderes als die spätere Globalsteuerung. Aber es dürfte die Mehrheit der Ordoliberalen19 wohl mehr die Ansicht Müller-Armacks teilen, daß es wie im menschlichen Blutkreislauf auch im wirtschaftlichen Kreislauf Störungen geben kann, denen man nicht tatenlos zusehen kann. So perfekt funktioniert auch die beste Wettbewerbsordnung nicht, daß solche Störungen ganz auszuschließen sind. Im übrigen läßt sie sich in perfekter Form kaum herstellen. Um es mit einem medizinischen Vergleich zu sagen: Mit Hygiene und „gesunder" Lebensweise allein kann man nicht auskommen, weil selbst der Gesundeste erkranken kann. Auch in der Wirtschaft kann es immer zu Störungen mit konjunkturellen Folgen kommen. Die Selbstheilungskräfte sind dafür durch Ordnungspolitik zu stärken, aber nicht immer reicht dies aus. Bei der dritten von Eucken genannten sozialen Frage gibt es zwischen ihm und Miiller-Armack keinen Dissens: Beide verurteilen die neuen Unsicherheiten und Abhängigkeiten, die durch zentrale Lenkung des Wirtschaftsprozesses entstehen. Gegen Miiller-Armack wird jedoch argumentiert, (1) er wolle soziale Ziele im Konfliktfall nicht ökonomischen Zielen unterordnen; (2) sein primäres Ziel sei auch nicht der Schutz der individuellen Freiheit der Bürger; (3) er wolle „gesellschaftliche - d.h. kollektive - Ziele" durch den Staat von oben herab formulieren lassen; (4) sein Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wolle auf die gesellschaftliche Entwicklung als Ganzes Einfluß nehmen; (5) er wolle den Parteien und anderen nichtstaatlichen Gruppen nicht die Funktion zuweisen, Bürgerinteressen zu artikulieren, sondern sie zu Erfüllungsgehilfen der Staatsorgane machen; (6) eine strikte Begrenzung staatlicher Einflußnahme lehne er ab, sondern befürworte diskretionäre Handlungsspielräume der Politik zur Verfolgung politischer Ziele, (7) verfolge also in dieser Hinsicht eine zeitbedingte Offenheit und rufe 19 Müller-Armack distanziert sich von einer Vollbeschäftigungspolitik, die auf eine Lenkung der Einzelaibeitskraft nicht glaubt verzichten zu können (1976, 217). Eine Konjunkturpolitik innerhalb des liberalen Systems halten Gottfried von Haberler (1974, 49 ff.) und Wilhelm Röpke (1979, 292 ff.)für sinnvoll; sie betonen aber wie Müller-Armack die institutionellen Faktoren, durch die die Konjunkturprobleme gemildert (oder verschärft) werden.
70 · Hans Willgerodt (8) dadurch ungewollte Interventionsspiralen hervor; (9) sobald Bürgerinteressen seinem kollektiven Endziel widersprechen, falle der Interessenkonflikt zu Lasten der Bürger aus, individuelle Ziele gerieten dabei aus dem Blickfeld, die individuelle Freiheit sei fur Miiller-Armack kein übergeordneter, sondern nur ein nebengeordneter Wert (Lange-von Kulessa und Renner, 1998, 90, 96f ). Zu (1): Wie von Hayek (1976, 113) gezeigt hat, gibt es letztlich keine „ökonomischen" Ziele: „The economic efforts of the individuals as well as the services which the market order renders to them, consist in an allocation of means for the competing ultimate purposes which are always non-oconomic." Wenn man trotzdem von „ökonomischen Zielen" spricht, so liegt dem eine wertende und zum Teil willkürliche Betrachtungsweise zugrunde. Es kann sich einmal um das vorgelagerte und also vorläufige Ziel handeln, Einkommen und Sozialprodukt zu erzielen. Zum anderen könnte die Sorge für Ernährung, Kleidung, Wohnung und dergleichen Basisbedürfnisse gemeint sein, von der sich gehobene kulturelle Bedürfnisse aristokratisch absetzen. Was aber sind dann „soziale" Ziele? Ist Hilfe für andere gemeint? Der einzelne ist dazu nur fähig, wenn er einen Überschuß über den eigenen Bedarf hinaus erwirtschaftet. Ist vom Staat erzwungene Umverteilung gemeint, dann kann sie wie alle Leistungen aus öffentlichen Kassen nur aus dem „ökonomisch" erzielten Sozialprodukt schöpfen. Immer stehen hinter dem angeblich nur „ökonomischen" Einkommensziel die eigentlichen Ziele, die durch das Wirtschaften erreicht werden sollen. Die Ökonomie und die dazu getriebene Wirtschaftspolitik wirken immer auch auf die Möglichkeiten der einzelnen, Ziele zu wählen und zu erreichen. In diesem Sinne gibt es keine für den „außerökonomischen" Bereich neutrale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, und es gibt auch keine solche Politik ohne Einfluß auf die Verteilung der Lebenslagen, also ohne „soziale" Wirkungen. Nach Eucken gibt es nichts, was nicht sozial wichtig wäre (1990, 313). Ökonomie als der Umgang mit knappen Mitteln und die Wirtschaftspolitik, die ihn beeinflußt, sind im Wortsinne subaltern, sie dienen immer übergeordneten Zwecken, die man als gesellschaftspolitisch oder „sozial" bezeichnen kann. Die umgekehrte Rangordnung, wonach sich Instrumente des Wirtschaftens und der auf dieses Wirtschaften wirkenden Wirtschaftspolitik verselbständigen und die letzten Ziele bestimmen, sehen Miiller-Armack und mit ihm wohl die meisten Liberalen als problematisch an, so sehr es auch richtig ist, daß die wirtschaftlichen Vorgänge die Wahl der Ziele mit bestimmen, denn wirtschaftlich nicht erreichbare Ziele bleiben utopisch. Eine von den Liberalen immer wieder betonte menschenwürdige Ordnung räumt aber den Zielen Jenseits von Angebot und Nachfrage" (so der charakteristische Buchtitel Röpkes 1958/1979) den obersten Rang ein. Der Mensch lebt nicht, um „der Wirtschaft" - was immer das genau heißen mag - zu dienen, sondern das Wirtschaften hat den nichtökonomischen Zielen des Menschen zu dienen. Eine andere Frage ist es, ob Zwecke der sozialpolitischen Umverteilung stets Vorrang vor dem Ziel haben sollen, das Sozialprodukt und damit die Grundlage jeder Sozialpolitik zu vermehren. Im Konflikt solcher Zwischenziele handelt es sich fur Müller-Armack, wie gezeigt, ebenso wie für Eucken nicht um eine Frage des kategorischen Vorrangs, sondern des Maßes und des Gleichgewichts. Dabei sind, was die sozialpolitischen Möglichkeiten angeht, Eucken und mit ihm die meisten Liberalen wesentlich zurückhaltender als Miil-
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ler-Armack. Aber dieser hat in seinen beiden letzten Aufsätzen (1975, 1978) seinen ursprünglichen Optimismus über die Tragfähigkeit des marktwirtschaftlichen Systems soweit zurückgenommen, daß man geradezu von einer Anklage gegenüber dem sozialpolitischen Interventionismus sprechen kann. Zu (2): Die Behauptung, Müller-Armack gehe es nicht primär um den Schutz der persönlichen Bürgerfreiheit, hat in seinen Veröffentlichungen zur Sozialen Marktwirtschaft keine Grundlage. Die diese These widerlegenden Textstellen sind so zahlreich, daß sie hier nicht vollständig wiedergegeben werden können. In seinem letzten Aufsatz über die fünf großen Themen der künftigen Wirtschaftspolitik aus dem Jahre 1978 hat er an die erste und oberste Stelle die „geistige Sicherung einer freiheitlichen Ordnung gegenüber dem vordringenden Sozialismus" gerückt. Er wendet sich dort gegen „kollektive Freiheit, auf die selbst Diktatursysteme Anspruch erheben, oder in mehr westlicher Wendung im Sinne der Freiheit bestimmter Gruppen durch kollektive Sicherungen". Es gehe stattdessen „um die volle Selbstbestimmung der menschlichen Person im Rahmen einer freien marktwirtschaftlichen Verfassung und im Sinne der Ordnung einer Sozialen Marktwirtschaft"; die freiheitliche Demokratie sei in den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft eingeschlossen (1978, 10 f.). Einer im Wohlstand aufgewachsenen Generation, die weder den Druck eines totalitären Regimes noch Krieg, Hunger und Not am eigenen Leibe kennen gelernt hat, mag es schlechthin freiheitsfeindlich erscheinen, wenn Müller-Armack auch den sozialen Ausgleich anstrebt, also auch in diesem Sinne Sozialpolitik betreiben will. Nach 1945 sind Millionen Vertriebene in das westdeutsche Trümmerfeld eingeströmt, und es gab zahllose andere Kriegsopfer aller Art. Glaubt man im Ernst, ohne Umverteilung und einen sozialen Ausgleich hätten die Probleme der täglichen Not allein mit den Grundsätzen einer reinen wettbewerblichen Rahmenordnung gelöst werden können, so notwendig die Besinnung auf solche Grundsätze gewesen ist? Zu (3): „Gesellschaftliche - d.h. kollektive - Ziele" sind bei Müller-Armack in erster Linie Ordnungsziele, nicht quantitative Vorgaben für den wirtschaftlichen Prozeß, wie sie für eine von ihm bekämpfte Planwirtschaft typisch sind. Das gilt auch für die von ihm geforderte zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft, bei der er bereits im Jahre 1960 eine neue Umweltpolitik; Währungsstabilität; Selbständigkeit in allen Formen, auch für formal unselbständige Tätigkeiten; Unfallschutz; Entlastung der öffentlichen Haushalte „von allen entbehrlichen Begünstigungen der privaten Wirtschaft"; „Konzentration der sozialpolitischen Maßnahmen auf bestimmte Schwerpunkte, um Selbstverantwortung und wirksamere Hilfe in eine bessere Relation zu bringen", fordert. Allerdings verlangt er auch eine andere Raumpolitik und das, was man Infrastrukturpolitik nennen könnte. Dabei legt er besonderes Gewicht auf die Förderung „geistiger Investitionen". Seine Kritiker räumen ein, viele der von Müller-Armack vorgeschlagenen Einzelmaßnahmen stünden nicht im Gegensatz zu ordoliberalen Vorstellungen. Welche aber im Gegensatz dazu stehen sollen, erfährt man nicht. Vielmehr wird Anstoß daran genommen, daß Müller-Armack bei seinen Vorschlägen eine gesellschaftspolitische Gesamtvorstellung habe. Dieser Kontroverse fehlt es an Wirklichkeitsnähe: Es ist z.B. nicht möglich, die Entstehung von Verkehrswegen, Infrastruktur und Siedlungen allein einer
72 · Hans Willgerodt wettbewerblichen Selbstregulation zu überlassen, ohne daß dabei ein Chaos entsteht. Wenn hier die öffentliche Hand oder jedenfalls eine planende Hand eingreifen muß, so muß sie irgendwelche Optimalvorstellungen davon haben, wie die wohnende Gesellschaft zusammen leben soll. Dahinter kann nur eine gesellschaftspolitische Konzeption stehen; wenn dies Anhänger des totalen gesellschaftspolitischen Laissez-faire nicht wissen sollten: Ulbricht, Honecker und alle anderen Kommunisten haben dies sehr wohl gewußt und die Menschen deshalb in großen Plattenbauisiedlungen zusammengefaßt, während man zugleich alte „bürgerliche" Quartiere bewußt verfallen ließ, weil darin der politische Zugriff erschwert war. Zu (4): Das Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft" wolle auf die gesellschaftliche Entwicklung als Ganzes Einfluß nehmen, ist zutreffend, aber vom liberalen Standpunkt aus keineswegs ein Mangel. Ein Mangel liegt höchstens in der Bezeichnung, denn gemeint ist das, was Eucken die Interdependenz der Ordnungen genannt hat. Dabei hat Wirtschaft in einem populären engeren Sinne nur einen Rang als Mittel und Instrument, nicht als Ziel. Es geht um eine freiheitliche und menschenwürdige Ordnung, die - das ist wichtig - von der Gesellschaft angenommen und verteidigt wird. Daß es spontane Prozesse gibt, die dem entgegenstehen, braucht hier nicht wiederholt zu werden. Leider wissen die Gegner der Freiheit meist besser als ihre Anhänger, wie eine freiheitliche Ordnung untergraben wird und an welchen Stellen sie deswegen verteidigt werden müßte. Zu (5): Wenn Müller-Armack soziale Gruppen auffordert, sich für die von ihm geforderte Gesellschaftspolitik einzusetzen, und dabei auch die staatlichen Ressorts dazu bringen will, sich in diesem Sinne abzustimmen, so ist zu fragen, was daran anstößig sein soll. Auf welchem Wege wollen denn die Ordoliberalen ihr Konzept an die Frau und den Mann bringen? Sie müssen sich ebenso wie Müller-Armack darum bemühen, in einer freiheitlichen Ordnung die öffentliche Meinung und die politischen Entscheidungsträger für sich zu gewinnen. Da nicht in demselben Gebiet gleichzeitig verschiedene Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen nebeneinander bestehen können, ist für eine von ihnen zu werben. Jenseits kollektivistischer Massenbewegungen stößt auf den geringsten politischen Widerstand ein System, das dem einzelnen möglichst große Entscheidungsspielräume läßt, ohne in die gleichartigen Rechte anderer einzugreifen. Das ist auch die Grundlage für die von Müller-Armack geforderte „soziale Irenik", denn Konflikte und Friedensstörungen werden um so wahrscheinlicher, je mehr Gegenstände es gibt, über die man sich einigen muß. Eine ordnungs- und gesellschaftspolitische Grundentscheidung ist aber trotzdem notwendig. Ist sie einmal getroffen, etwa durch eine Verfassung, so ist nicht einzusehen, weshalb sich nicht alle Regierungsressorts danach richten sollen. Gerade die von den Ordoliberalen geforderte Grundentscheidung ist heute überall in Frage gestellt und einem Relativismus der Opportunität zum Opfer gebracht. Zu (6): Es wird nicht mitgeteilt, worin konkret die „strikte Begrenzung staatlicher Einflußnahme" nach dem Konzept Walter Euckens im einzelnen bestehen soll. Die Unterscheidung zwischen erlaubter Ordnungspolitik und unerlaubter Prozeßpolitik gibt weniger her, als früher einmal vermutet worden ist (Hoppmann 1973, 38 f.; Hartwig 1988, 31 f. mit weiteren Angaben). Die Ordnung wirkt auf den Prozeß und der Prozeß kann
Die Liberalen und ihr Staat · 73 auf die Ordnung zurückwirken. Es mag sein, daß Miiller-Armack zu Beginn seiner aktiven Tätigkeit im Bundesministerium für Wirtschaft dem Staat mehr an Aufgaben zugetraut hat als die meisten Ordoliberalen. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das in der deutschen politischen Praxis längst der Vergangenheit angehört und nur noch als irreführende Bezeichnung fur den jetzigen Zustand verwendet wird, ist jedenfalls in der Zeit außerordentlich erfolgreich gewesen, in der es sich bei Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack praktisch bewähren mußte. Schon damals wurden die Keime für die heutige Degeneration dieses Systems gelegt. Diese Entwicklung zu einem demokratischen Sozialismus (man muß hinzufügen :aller Parteien) hat jedenfalls Müller-Armack heftig angegriffen. Hier betonte er im einzelnen die Grenzen der Staatstätigkeit (1975). Zu (7): Der Grundsatz, daß staatliche, auch ordnungspolitische Regelungen in ihren Einzelheiten auf ihre Zeitsituation bezogen sein müssen und insoweit offen sind, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Oder glaubt jemand im Ernst, eine Ordnung des Luftverkehrs hätte schon entstehen sollen, bevor es Flugzeuge gab? Walter Eucken meint nichts anderes als Müller-Armack, wenn er den historischen „Moment" betont, auf den neben den Prinzipien bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen zu achten sei (1990, 250 f.). Zu (8): Die Gefahr von Interventionsspiralen, auf die Müller-Armack immer wieder hingewiesen hat (z.B. 1976, 223), hängt nicht davon ab, daß in einer bestimmten historischen Situation andere wirtschaftspolitische Maßnahmen getroffen werden müssen als in einer anderen (Offenheit im Sinne Müller-Armacks), sondern von Qualität und Quantität dieser Maßnahmen. Die Anpassungsinterventionen {Röpke, 1942/1979, 296 ff.), die Müller-Armack befürwortet, haben eine Tendenz entwickelt, zu Dauersubventionen zu werden, und die Begehrlichkeit aller Wirtschaftszweige hervorgerufen, in den Genuß ähnlicher Vorteile zu kommen ( Willgerodt 1984). Deswegen jede wirtschaftspolitische Maßnahme zu unterlassen, die auf bestimmte Notstände reagiert, käme aber dem Vorschlag gleich, wegen der Möglichkeit einer Medikamentensucht niemals zum Arzt zu gehen und sich ein Medikament verschreiben zu lassen. Es handelt sich hier um ein Problem der Abwägung und der „intelligenten Dosierung" (Niehaus 1957, 253). Oder zweifelt jemand daran, daß bei einer Überschwemmungskatastrophe der Staat (oder sogar die Armee) eine Aufgabe zu erfüllen hat und den Opfern helfen muß, selbst wenn es noch gescheiter wäre, solche Katastrophen durch Vorbeugung und wasserbautechnische staatliche Maßnahmen zu verhindern, also auch Ordnungspolitik. Zu (9): Der von Müller-Armack an einer Stelle verwendete Ausdruck „Endziel" (1976, 306) ist mißverständlich und bezeichnet weder ein ahistorisch fixiertes Resultat, denn das würde seinem Postulat der historischen Offenheit widersprechen, noch schließt sein Konzept die Vernachlässigung von Bürgerinteressen ein. Es umfaßt sie im Gegenteil. Allerdings kann in dem Bereich staatlicher Zuständigkeit nicht jedes Bürgerinteresse zur Geltung kommen. Die Ordoliberalen lehnen z.B. das Interesse von Kartellgründern an der Beschränkung des Wettbewerbs ab. Müller-Armack tritt gerade für die Entfaltung der Einzelinteressen ein, ist aber nicht kurzsichtig genug, um die Grenzen nicht zu kennen, die hier gesetzt werden müssen. Was ihm wohl verübelt wird, ist sein Eintreten
74 · Hans Willgerodt fur eine gesellschaftspolitische Konzeption überhaupt. Es wurde aber gezeigt, daß eine freiheitliche Ordnung einen sozialen Humus erfordert, ohne den sie nicht gedeihen kann. Wie sonst erklären sich relativ günstige Entwicklungen im katholischen Polen und protestantischen Estland im Vergleich zum orthodoxen Rußland der Gegenwart? Neben vielen anderen Kräften wirken auch religiöse Einflüsse bei der Festigung oder Zerstörung gesellschaftlicher Grundlagen der Freiheit. Sie ist nur in einem kulturellen Klima möglich, wie es teilweise im europäischen Kulturkreis in einer langen Entwicklung entstanden ist. Darum ging es Müller-Armack20
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Die Liberalen und ihr Staat · 77 Zusammenfassung Der Autor betrachtet die liberale Staatsauffassung unter dem Blickwinkel ihrer konkreten Anwendung und kommt zu dem Ergebnis, daß es eine gesellschaftspolitische Neutralität des liberalen Staates nicht geben kann, weil auch jede Rahmenregelung und Verbotsnorm den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozeß materiell beeinflußt und verändert. In diesem Zusammenhang befaßt er sich mit dem Problem der Primärverteilung in einem liberalen System, mit der Frage des Gruppenpluralismus und der Frage, ob ein nicht korrumpierter liberaler Staat überhaupt möglich ist, wenn die Annahmen der Neuen Politischen Ökonomie über den totalen „Egoismus" als richtig unterstellt würden. Gelten diese Annahmen ohne jede Einschränkung? Sind ferner Behauptungen berechtigt, die Ordoliberalen und vor allem die Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft setzten mit ihrem Konzept einen autoritärdiktatorischen Staat voraus und gerieten damit in die Nähe von Nationalsozialismus und Faschismus? Ist die ganzheitliche Betrachtungsweise sowohl der Ordoliberalen als auch insbesondere Miiller-Armacks (Holismus-Vorwurf) vom liberalen Standpunkt aus abzulehnen? Anschließend wendet sich der Verfasser der Frage zu, ob es eine liberale Gesellschaftspolitik geben kann oder ob sie einen Widerspruch in sich selbst darstellt. Er zweifelt daran, daß allein spontane Prozesse eine liberale Gesellschaft herbeiführen und sichern, hält das alleinige Festhalten an liberalen Prozessen ohne Rücksicht auf deren Ergebnis für wirklichkeitsfremd und betont, daß die Ordoliberalen und vor allem Walter Euchen keineswegs freiheitsfeindliche Rückwirkungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesses auf die liberale Gesamtordnung ausgeschlossen haben. Die von Euchen betonte „Interdependenz der Ordnungen" fuhrt nach Ansicht des Autors mit Notwendigkeit zu einer liberalen, insbesondere ordoliberalen Gesellschaftspolitik, bei der die Gestaltung der Rahmenordnungen und Verbotsnormen die Sicherung der persönlichen Freiheit anzustreben hat, aber hierzu passende gesellschaftliche Strukturen fordern muß. In diesem Zusammenhang werden der Platz der Sozialpolitik, ihre Notwendigkeit und ihre Grenzen im Rahmen des liberalen Systems diskutiert. Den Abschluß bildet eine Auseinandersetzung mit den Abgrenzungen, die in einer anderen Abhandlung dieses Bandes zwischen der Staatsauffassung der Ordoliberalen und deijenigen des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft, insbesondere Müller-Armachs, vorgeschlagen wird. Summary The Liberals and their State - Society between Laissez-faire and Dictatorship The concept that in a liberal system(in the European sense) there should be no intention of the state to influence the structure of society and that the state should be absolutely neutral against spontaneous social processes is rejected for two reasons: 1. The liberal state influences social structures and processes anyway when shaping or admitting the social and legal framework of society. 2. There could be spontaneous processes which destroy the liberal system. Several problems of the sacial structure are discussed in this
78 · Hans Willgerodt connection: the primary distribution of- resources, pluralism of groups, extreme „egoism" of „homo oeconomicus" und „homo politicus" according to the assumptions of the „New Political Economy", assertions that German Ordo-Liberals and especially the adherents of the „Social Market Economy" require an omnipotent state for their „end-state" liberal intentions. The thesis that German Neo-Liberals had been sympathizers, at least on principle, to the national-socialist regime is shown to be absurd. The fact that German Neo-Liberals include in their analysis and proposals relationships of the economic order with other parts of the social system does not justify the assertion that their approach is „holistic" as defined by Popper. The interdependence of the economic, legal and other institutions leads some German Neo-Liberals to the conclusion that there should be a general political cancept for society as a whole, intended to stabilize a humane society with personal freedom. They are convinced that a liberal system can only exist or continue to exist in a special cultural environment which at least requires a minimum of loyalty to the liberal principles. The author discusses also whether and how far a system of social security is compatible with the liberal system. He concludes by examining whether the concept of a „Social Market Economy" as proposed by Müller-Armack is really incompatible with the concept of Ordo-Liberals of the „Freiburgschool" founded by Walter Euchen and Franz Böhm.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Jürgen Lange-von Kulessa / Andreas Renner
Die Soziale Marktwirtschaft Alfred Miiller-Armacks und der Ordoliberalismus der Freiburger Schule Zur Unvereinbarkeit zweier Staatsauffassungen
I. Einleitung Die wirtschaftspolitische Konzeption der Freiburger Schule und die Alfred MiillerArmacks werden oftmals unter dem Begriff des Neoliberalismus bzw. Ordoliberalismus zusammengefaßt und gleichermaßen als eine Antwort auf den Laisser-faireWirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts verstanden.1 Euchen, Böhm und andere Freiburger sowie Miiller-Armack werden somit der gleichen Denkschule zugerechnet. Weithin gilt die Auffassung: Während die Ordoliberalen um Walter Euchen in den dreißiger und vierziger Jahren die geistigen Grundlagen für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung schufen, haben Müller-Armack und Ludwig Erhard seit Mitte der vierziger Jahre auf Grundlage des ordoliberalen Ansatzes2 das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft entwickelt und in die praktische Politik umgesetzt. Ordoliberalismus und Soziale Marktwirtschaft sind jedoch keineswegs zwei austauschbare Begriffe für ein und dasselbe Konzept. Vielmehr handelt es sich um zwei eigenständige Konzeptionen, welche der „Freiburger Schule" einerseits und MiillerArmack andererseits zuzuordnen sind. Miiller-Armack hat die Idee der Wettbewerbsordnung als ein wesentliches Element der Freiburger Schule übernommen und zu einer eigenen Konzeption weiterentwickelt, für die er den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft geprägt hat {Müller-Armack 1946/76; 1956/76). Aus der Feststellung, daß Teile des Ordoliberalismus in die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft Eingang gefunden haben, darf jedoch nicht vorschnell der Umkehrschluß gezogen werden, daß letztere noch ohne weiteres dem Ordoliberalismus zuzuordnen sei.3 1 Unterschieden wird bisweilen zwischen einem Neoliberalismus der „Freiburger Schule" (bezogen auf die Ordoliberalen um Walter Euchen und Franz Böhm) und einem Neoliberalismus der „Kölner Schule" (bezogen auf die Müller-Armacksche Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft). Eine solche Gegenüberstellung zweier „Schulen" riskiert, daß das Werk weiterer bedeutender (neo)liberaler Ökonomen aus dem Blick gerät, so etwa das von Wilhelm Röpke oder das von Alexander Rüstow. Aus der großen Zahl der Wegbereiter für die Soziale Marktwirtschaft greift dieser Beitrag das Werk Alfred Müller-Armacks sowie die Arbeiten von Walter Eucken und Franz Böhm heraus, da anhand deren Arbeiten Unterschiede in der Staatsauffassung aufgezeigt werden können, die bislang in der Wissenschaft kaum thematisiert wurden. 2 Dieser Eindruck wird zudem dadurch bestärkt, daß Müller-Armack schon frühzeitig in ORDO publiziert hat (Müller-Armack 1948). 3 Zu ähnlichen Schlußfolgerungen kommt auch Pies ( 1998).
80 · Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner
Mit seiner Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft rückte Müller-Armack - bewußt - vom ordoliberalen Fundament der Freiburger Schule ab. Das Hauptanliegen Müller-Armacks bestand darin, soziale und wirtschaftliche Ziele miteinander in Einklang zu bringen, oder um es in seinen Worten auszudrücken: „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden" (Müller-Armack 1956/76, 243). Während die Freiburger Ordoliberalen sowohl wirtschaftliche als auch soziale Ziele über Wirtschaftsordnungspolitik, d.h. durch Gestaltung eines in sich konsistenten institutionellen Rahmenwerkes bzw. einer ordnungspolitischen Gesamtentscheidung, zu erreichen suchten, setzte Müller-Armack die Sozialpolitik als einen zweiten Pfeiler neben die Ordnungspolitik. Die Schaffung einer Wettbewerbsordnung wird von ihm als Grundlage für den materiellen Wohlstand einer Gesellschaft gesehen, die Sozial- bzw. Gesellschaftspolitik dient der Erreichung gesellschaftspolitischer Ziele, allen voran: der Aussöhnung unterschiedlicher Weltanschauungen innerhalb der Gesellschaft („Soziale Irenik"). Durch diesen zweiten Pfeiler soll sichergestellt werden, daß soziale Zielsetzungen im Konfliktfalle nicht ökonomischen Zielen untergeordnet werden, sondern gleichrangig neben ihnen stehen. Mit der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland entbrannte ein bis heute andauernder Streit um die Interpretation des Attributes „sozial" in diesem Begriff.4 Dabei gingen die Wissenschaftler, die sich der Tradition des Freiburger Ordoliberalismus verpflichtet fühlten, allen voran Franz Böhm und Friedrich August von Hoyel·?, schon frühzeitig auf kritische Distanz zu Müller-Armacks Interpretation dessen, was er unter „sozialer" Marktwirtschaft verstand. Die Ordoliberalen sehen in der sozialen Säule der Konzeption Müller-Armacks eine offene Flanke, ein „Einfallstor für Interventionen".6 Daß die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft von Müller-Armack und der Ordoliberalismus der Freiburger Schule dennoch immer wieder in einem Atemzug genannt werden, ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß ein solcher Schulterschluß zwischen zwei marktwirtschaftlichen Ansätzen die Abwehr anti-marktwirtschaftlicher Kritik erleichtert, zumal eine Differenzierung aufgrund der verschiedenen Bedeutungsinhalte der Begriffe Ordoliberalismus, Neoliberalismus und Soziale Marktwirtschaft ohnehin ein nicht ganz leichtes Unterfangen ist. Die Zusammenfassung der beiden Konzeptionen unter einem Titel setzt implizit voraus, daß die Gemeinsamkeiten beider Konzeptionen überwiegen, die Differenzen folglich
4
Vgl. hierzu Hayek (1957; 1976) versus Müller-Armack (1962/76) bzw. Jasay (1993) versus Starbatty (1993); siehe auch Streit (1992, S.20); Gröner (1992, 85). 5 Eucken war bereits 1950 verstorben. 6 Hayek (1979/96, 277) bezeichnet das Wörtchen „sozial" auch als „weasel word": „So wie das kleine Raubtier, das auch wir Wiesel nennen, angeblich aus einem Ei allen Inhalt heraussaugen kann, ohne daß man dies nachher der leeren Schale anmerkt, so sind die Wiesel-Wörter jene, die, wenn man sie einem Wort hinzufügt, dieses Wort jedes Inhalts und jeder Bedeutung berauben. Ich glaube, das Wiesel-Wort par excellence ist das Wort 'sozial'. Was es eigentlich heißt, weiß niemand. Wahr ist nur, daß eine soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen, soziale Gerechtigkeit keine Gerechtigkeit - und ich fürchte auch, soziale Demokratie keine Demokratie ist".
Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus - 81 nur von nachgeordneter Bedeutung sind.7 Diese Grundannahme soll in dieser Arbeit hinterfragt werden. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den einzelnen Positionen ist unverzichtbare Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Ordnungsökonomik. Es wird hier die These vertreten, daß zwischen den beiden Konzeptionen Unterschiede bestehen, die von grundsätzlicher Bedeutung sind, so daß eine Zuordnung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft Müller-Armacks zum Ordoliberalismus nicht sinnvoll erscheint. Der eigentliche Wesensunterschied der beiden Konzeptionen wird dabei nicht darin gesehen, daß Müller-Armack den ordoliberalen Ansatz zu einer umfassenderen Konzeption ausgebaut hat, sondern darin, daß er ihn fur eine Konzeption instrumentalisiert hat, die von einem anderen Staatsverständnis beherrscht wird. Denn nicht der Schutz der individuellen Freiheit der Bürger ist das primäre Ziel Müller-Armacks, sondern, so die These dieses Beitrags, die Erfüllung gesellschaftspolitischer Ziele, die durch die Politik „von oben" herab zu bestimmen sind. Die Entwicklung von Müller-Armacks Vorstellungen bezüglich der Rolle des Staates und deren Bedeutung für sein Konzept der Sozialen Marktwirtschaft werden im zweiten Kapitel anhand seiner Frühschriften sowie seiner späteren Werke näher erläutert. Die Auffassungen der Freiburger Schule von der Rolle des Staates in der Gesellschaft und ihre wirtschaftspolitischen Aussagen werden im dritten Kapitel skizziert. Kapitel IV nimmt eine direkte Gegenüberstellung von Sozialer Marktwirtschaft und Ordoliberalismus vor und versucht Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Kapitel V enthält einige Schlußfolgerungen.
II. Die Soziale Marktwirtschaft Alfred Müller-Armacks 1. Müller-Armacks Frühwerke Müller-Armacks Vorstellung von einer durch die Soziale Marktwirtschaft geprägten Gesellschaftsordnung erschließt sich erst dann im vollen Umfang, wenn sie im Lichte seiner Staatsidee gesehen wird, wie er sie bereits in den dreißiger Jahren entwickelt hat. Seine im Grundsatz gleichbleibende Auffassung von der Rolle des Staates in der Gesellschaft bildet auch später den Ausgangspunkt für die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Im folgenden werden drei seiner Frühwerke betrachtet, die über sein Staatsverständnis Aufschluß geben: die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus (1932), die Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich (1933) und die Genealogie der Wirtschaftsstile (1941/81).8
7 So etwa Schlecht (1990, 15) und Grossekettler (1989, 61), der Muller-Armack als „Ordoliberalen im weiteren Sinne" klassifiziert. 8 Die konjunkturpolitischen Arbeiten aus den zwanziger Jahren, in denen Müller-Armack sich schon vor Keynes für eine aktive Konjunkturpolitik des Staates ausgesprochen hatte (MüllerArmack 1929/81) werden nicht weiter berücksichtigt, da sie nur wenige Anhaltspunkte für das Staatsverständnis Müller-Armacks geben.
82 · Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner (1) Die Monographie Entwicklungsgesetze des Kapitalismus {Müller-Αrmack 1932) enthält eine umfassende Analyse des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft in der Moderne. Müller-Armack beschreibt die Entwicklungsbedingungen des Kapitalismus im Rahmen einer positiven Analyse. Er distanziert sich sowohl von Marx, der eine innere Entwicklungslogik des Kapitalismus identifizieren zu können glaubt, als auch von der Position, daß die politischen Kräfte autonom Einfluß auf die Entwicklung des kapitalistischen Systems nehmen können (ebd., 99). Seine Kritik lautet: „In beiden Fällen unterstellt die Argumentation die Annahme, daß wir eine wirtschaftliche und eine politische Sphäre deutlich gegeneinander abheben können. Sie macht damit das Bild einer Sonderung der ökonomischen von der politischen Ordnung, das einzig die Situation im liberalen Staat wiedergibt, zu einem auch für andere Zeiten passenden Grundschema" (ebd., 99) und betont, „daß der Wirtschaftsprozeß seine konkrete Form immer jeweils nur durch eine historisch wechselnde Relation des Wirtschaftlichen zum Politischen erhält" (ebd., 101). Müller-Armack faßt die zunehmende Interventionstätigkeit des Staates als eine geschichtliche Konstellation auf, die hingenommen werden müsse, obwohl er die Defizite eines interventionistischen Systems erkennt: „(E)s ist ein Fehler des Interventionssystemes, daß es mit der Überbeanspruchung sich selbst in einen scheinbar zwangsläufigen Prozeß hineinmanövriert, in dem die Situation immer weiteres Intervenieren erforderlich macht" (ebd., 217). Es obliege jedoch der Nationalökonomie, sich an die herrschenden (geschichtlichen) Bedingungen anzupassen: „Der nationalökonomischen Wissenschaft erwächst die Aufgabe, diese Theorie des Interventionsstaates als zentrale Aufgabe in Angriff zu nehmen. Nachdem die Tatsache der Durchstaatlichung des Wirtschaftsprozesses unverrückbar feststeht, ist eine Theorie der Wirtschaftspolitik, die die optimalste Gestaltung dieses Eingriffssystemes zu ermitteln hat und die sich voll auf die neue Situation einstellt, nicht mehr zu entbehren" (ebd., 218). Auch schon in seinem Frühwerk stellt Müller-Armack die Belastungsfähigkeit des kapitalistischen Systems heraus, das sich in den verschiedensten historischen Bedingungen wieder von selbst einstelle. Müller-Armack spricht hier von „Selbstrealisierung" und „offene Form" (ebd., 101). „Die Selbstrealisierung bedeutet ... die Fähigkeit des kapitalistischen Austauschprozesses, sich durch sich selbst aufrecht zu erhalten. Er bedarf zu seiner Realisierung weder des imperialistischen Vorstoßes, noch ist seine Realisierung in der politischen Einengung seines Aktionsfeldes gefährdet. In dieser Tatsache liegt die Plastizität des Systems gegenüber der politischen Gestaltung begründet. Die kapitalistische Methodik verträgt sich ebensogut mit weltwirtschaftlicher Arbeitsteilung wie mit stärkster nationaler Abschließung. In der Offenheit des Prozesses liegt sowohl die Bedingung seiner möglichen Autonomie wie die, von politischen Kräften erfaßt und umgelenkt zu werden" (ebd., 101). (2) Im Gegensatz zu den Entwicklungsgesetzen behandelt Müller-Armack die Rolle des Staates in seiner Monographie Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich
Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus · 83 {Müller-Armack 1933)9 aus normativer Perspektive. Er entwirft ein wirtschaftspolitisches Programm, in dem kollektive Zielsetzungen bestehen, die eine Unterordnung der Bürgerinteressen verlangen. Müller-Armack kennzeichnet in seinem Werk von 1933 als Aufgabe des Staates, die bisher zwischen Liberalismus und Sozialismus und zwischen Individualismus und Kollektivismus bestehenden Gegensätze aufzuheben. Die Verwendung des Begriffs „Sozialismus" im Titel der „neuen Staatsidee" sei gerechtfertigt, da er mit „frischem Inhalt" versehen worden sei und mit diesem „Bedeutungswandel auf das Werden einer anderen Gesamtanschauung der Geschichte" hinweise (ebd., 9). „Unerbittlich ist diesem Wort jetzt der Inhalt von Klassenhaß und engstirniger Wirtschaftspolitik genommen worden, um es wieder fähig zu machen, den sozialen Willen des nationalen Staates auszudrücken" (ebd., 9f ). Damit könne die neue Bewegung eine Vermittlerrolle zwischen den gegensätzlichen Gesellschaftsgruppen einnehmen. Das Wesentliche der „neuen Staatsidee" sieht Müller-Armack in der Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft, wie sie vom Liberalismus propagiert worden war. „Mehr denn je sehen wir heute im Staate eine universale Lebensmacht. Die von der liberalen Demokratie sorgsam aufgerichteten Hemmungen gegen die Erweiterung der staatlichen Macht sind gefallen. ... Kulturelles Leben und staatliche Form wachsen zu einer offenbaren Einheit zusammen. Damit wird ohne weiteres der der Lehre vom Staate künstlich aufgezwungenen Beschränkung auf eine bloß juristische und verwaltungstechnische Betrachtung der Boden entzogen", die konzeptionelle Trennung von Staat und Gesellschaft also aufgehoben (ebd., 11). Der Staat habe eine aktive, gestalterische Rolle zu übernehmen, um so auf die Gesellschaft und den Verlauf der Geschichte Einfluß zu nehmen: „Der Staat ist vom geschichtlichen Werden her zu begreifen. Das bedeutet erstens, daß alle Lebensgebiete geschichtlich getragen sind und insofern mit dem Träger der historischen Gestaltung in einem unlösbaren Zusammenhange stehen" (ebd., 20). Der Staat wird so zur „'Totalität' der menschlichen Dinge" (ebd.) und ist nicht als „ruhender Zustand zu begreifen ..., sondern als eine Form geschichtlicher Verwirklichung. ... Der Staat ist primär ein Prozeß, der Geschichte schafft und Geschichte erleidet. Er ist nicht ein Mittel, Rechtssphären der Individuen untereinander abzugleichen" (ebd., 21). Im Liberalismus bestehe eine Abneigung gegen politische Zielsetzungen des Staates, womit er sich vom „Geschichtsaktivismus" unterscheide, welcher die offene Entwicklung
9 Ober die Motivation, dieses Werk zu schreiben, liegen keine Informationen vor. Müller-Armack hat sich später dazu nie geäußert. Nach seiner Habilitation 1926 in Köln hatte Müller-Armack noch die „Entwicklungsgesetze" (1932) publiziert. 1934 wurde Müller-Armack außerordentlicher Professor in Köln und 1938 ordentlicher Professor in Münster. Im Rahmen seiner Forschungstätigkeit an der Forschungsstelle für Allgemeine und Textile Marktwirtschaft sowie an der Forschungsstelle für Siedlungs- und Wohnungswesen an der Universität Münster verfaßte er einige Schriften, u.a. „Wissenschaft und Wirtschaftspraxis" (1941a), „Die Marktforschung in der gelenkten Wirtschaft" (1941b), „Zur volkswirtschaftlichen Problematik des Texülmarktes" (1943) sowie die unter Alfred Müller veröffentlichte Studie „Die gewerblichen Umsiedlungsmöglichkeiten in Westfalen - Voruntersuchung zur künftigen West-Ostsiedlung". Diese wurde 1942 im Auftrag der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung herausgegeben und untersucht, in welchem Umfang es möglich ist, bäuerliche sowie gewerbliche Betriebe in den „neuen deutschen Ostgebieten" anzusiedeln.
84 - Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner
der Geschichte zu beeinflussen suche. Im Gegensatz zum Liberalismus halte die neue Staatsidee „politische Führung" für geboten. Deren Sinn zeige sich, „wenn man politische Führung als geschichtliche Gestaltung begreift, die über die bloße Durchführung gegenwärtiger Aufgaben und Ziele hinausgreift und deutend umgestaltend dem Volkswillen neue Richtungen gibt" (ebd., 34). Aus dieser Einschätzung des Staates und seiner Aufgaben leitet Miiller-Armack einige Schlußfolgerungen für die Wirtschaftsordnung ab: Die Wirtschaftsordnung solle vor allem „die Bedingungen für die weitere Entwicklung des Volkes sichern" (ebd., 40). Die Trennung von Staat und Wirtschaft bzw. Gesellschaft, wie sie im Liberalismus vertreten werde, sei untauglich, die neuen Ziele zu erreichen. Vielmehr habe der Staat die ökonomische Entwicklung zu formen. „Wie die Geschichte überhaupt kann auch die wirtschaftliche Entwicklung nicht optimistisch sich selbst überlassen werden" (ebd.). Dies widerspreche aber nicht einer grundsätzlichen Zulässigkeit von Privateigentum und privaten Unternehmen. „Der Wert unternehmerischer Initiative ist klar anerkannt" (ebd., 54). Die Wirtschaftsordnung habe die Aufgabe, „Staat und Wirtschaft in einen Prozeß gegenseitiger innerer Festigung zu bringen" (ebd., 42). Einerseits könne die Wirtschaftsordnung die Handlungen der wirtschaftenden Menschen und Unternehmen so koordinieren, daß die Verfolgung der vom Staat festgelegten Ziele begünstigt werde. Andererseits müsse die Stärke des Staates für die Wirtschaft dienstbar gemacht werden, indem derselbe unterstützend in sie eingreift. Notwendig sei eine einheitliche Verfolgung der kollektiven Ziele, indem alle Aktivitäten auf diese Ziele ausgerichtet werden. „Der Wirtschaftspolitik des liberalen Zeitalters fehlte eine innere Gesamtrichtung" (ebd., 55). Dies gelte auch für die Behandlung der Wirtschaftspolitik in unterschiedlichen Teilgebieten. „Mit dem Aufkommen des totalen Staates wird diese ressortmäßige Aufteilung der Wirtschaftspolitik hinfällig" (ebd). Mittels eines korporativen Aufbaus der Wirtschaft könne diese auf den Staat abgestimmt werden (ebd., 49). Dabei seien die bestehenden Interessengruppen durch „staatlich privilegierte Einheitsorganisationen" zu ersetzen, die von Einzelnen gefuhrt werden sollen (ebd., 49). Der korporative Aufbau der Wirtschaft schließe jedoch freies Unternehmertum nicht aus, solange dasselbe - und dies ist entscheidend - sich den Staatszielen unterordne. Zweck des korporativen Aufbaus sei „die einheitliche Willensbildung und Hinordnung des gesamten arbeitenden Volkes auf den Staat" (ebd., 51). „Im korporativen System vereinigt sich so der Wille, die politisch-sozialen Spannungen, die das vorige Jahrhundert erzeugte, zu überwinden" (ebd., 53). Außenwirtschaftspolitik sei als Autarkiepolitik und mit dem „Ziel einer Minderung der Konjunkturempfindlichkeit" durchzuführen (ebd., 59). „Die Konjunkturpolitik entspricht aber auch darin der Haltung des neuen Staates, als sie die schon in der korporativen Organisation aufgezeigte elastische Einheit von Staat und Wirtschaft verwirklicht. Sie schaltet den Staat in den Gang der Wirtschaft ein, ohne diese zu verstaatlichen und dadurch der privaten Initiative den Lebensraum zu nehmen. Sie läßt die wirtschaftliche Entwicklung frei, unterstellt aber ihren Gesamtrhythmus der staatlichen Lenkung" (ebd., 62). Insgesamt vertritt Müller-Armack also die Auffassung, daß es Aufgabe des Staates
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sei, gesellschaftliche - d.h. kollektive - Ziele zu formulieren und diese durch Einflußnahme auf die Handlungen der Wirtschaftsbeteiligten zu erreichen. (3) Den religions- und kultursoziologischen Arbeiten Müller-Armacks vom Beginn der vierziger Jahre - der Monographie Genealogie der Wirtschaftsstile {Müller-Armack 1941/81) und dem Aufsatz Religionssoziologie des europäischen Ostens (1945/81) lassen sich nur wenige Aussagen zum Staatsverständnis entnehmen. Es sind historische Analysen, die sich vorwiegend mit der Entwicklung der verschiedenen Wirtschaftsstile in West- und Osteuropa befassen. Zwei Punkte seien dennoch hervorgehoben: Zum einen knüpft Müller-Armacks Wirtschaftsstilforschung unmittelbar an seine Entwicklungsgesetze (1932) an. Auch hier wendet sich Müller-Armack gegen die Vorstellung eines Geschichtsgesetztes bzw. einer autonomen Steuerbarkeit der Entwicklung durch die Politik: „Auch die Wirtschaftssysteme der Vergangenheit sind nicht aus einem naturhaften Prozeß zu verstehen, der über die Köpfe der Menschen hinweg seinen Gang nimmt, sondern [sie sind] selbst Resultate der Gestaltung durch die Menschen ihrer Zeit. ... Nur aus der Erforschung der in den einzelnen Epochen lebendigen, leitenden Werte läßt sich begreifen, was man erstrebte und warum dieser oder jener Stil entstehen mußte" (ebd., 60f.). „Die Idee, daß sich das menschliche Wirtschaften in geschichtlich grundverschiedenen Formen vollzieht, ja Stilepochen kennt, wie sie uns aus der Kunstgeschichte geläufig sind, ist dem Denken früherer Zeiten keineswegs so selbstverständlich erschienen. Man war eher geneigt, auch die sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen fur ebenso dauerhaft und zeitlos zu halten wie die Natur" (1941/81, 48). Zum anderen lassen sich - zumindest andeutungsweise - auch Parallelen zu seiner Staatsidee (1933) aufzeigen. So spielt der Wille zur Gestaltung der Wirtschaftsordnung anhand einer übergeordneten „Sozialidee" in beiden Werken eine herausragende Rolle: „Der gegenwärtige Wille, einen neuen Wirtschaftsstil zu gestalten, der in allem Ausdruck unserer heutigen inneren Überzeugungen ist, findet erst darin seine tiefste Erklärung und Rechtfertigung, daß unser überliefertes Wirtschaftssystem aus Kräften entstanden ist, die sehr anderes zum Ziel hatten als wir heute" (1941/81, 243). „Damit wurde der Gegenwart die Aufgabe überlassen, die ungestümen Kräfte der modernen Unternehmungswirtschaft so zu formen, wie es dem heutigen Wollen und Denken entspricht" (ebd., 244). Bislang wäre dies daran gescheitert, daß „in der deutschen Geschichte die Läuterung durch eine soziale Idee" fehlte (ebd., 243). Die Berücksichtigung von Müller-Armacks Friihschriften zeigt, daß wichtige Elemente seiner Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft auf diese Frühwerke zurückgehen. In den Entwicklungsgesetzen {Müller-Armack 1932) interpretiert er die Durchdringung des Wirtschaftsprozesses durch staatliche Einflußnahme als ein unabänderliches Phänomen, ohne daraus die Notwendigkeit einer Beschränkung staatlicher Interventionen abzuleiten. In der Staatsidee {Müller-Armack 1933) erhalten seine Aussagen zur Rolle des Staates stark normativen Charakter. Der Staat hat demnach die legitime Aufgabe, richtungsweisend auf den Wirtschaftsprozeß Einfluß zu nehmen und die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen für ein einheitliches Vorgehen zu gewinnen. Staatliche Institutionen werden als eine Instanz zur Versöhnung von Interessenunterschieden und zur Herstellung gesamtgesellschaftlicher Harmonie betrachtet. Wie noch zu zeigen sein wird (Kapitel
86 · Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner II.2.) finden sich diese Elemente als Grundüberlegungen auch im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Die Bedeutung der Genealogie der Wirtschaftsstile (Müller-Armack 1941/81) für die spätere Ausarbeitung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft liegt weniger in den dort (vereinzelt) enthaltenen Aussagen zur Rolle des Staates als vielmehr in den dort gelegten inhaltlich-konzeptionellen Grundlagen: So ist die in dem Werk dargelegte Lehre der Wirtschaftsstile Voraussetzung für das Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft als „offenen Stilgedanken". Darüber hinaus hat Müller-Armack in seinen kultur- und religionssoziologischen Schriften die Fundamente gesellschaftlicher Konfliktpotentiale aufgedeckt, zu deren Beseitigung seine Politikkonzeption der Sozialen Marktwirtschaft als „einer die Weltanschauungen verbindenden Sozialidee" („soziale Irenik"; 1950/81) beitragen soll. In seinem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, so die im folgenden weiter auszuführende These, verarbeit Müller-Armack alle drei seiner Frühwerke. Abgesehen von den religionssoziologischen Arbeiten, die als inhaltliche Vorarbeiten zum Leitbild der „sozialen Irenik" angesehen werden können, beziehen sich alle im folgenden erörterten Kontinuitäten im Werk Müller-Armacks ausschließlich auf die formale Rolle des Staates in der Gesellschaft, also auf den Umfang und die Struktur staatlichen Handelns beziehen. Es ist zu betonen, daß daraus keine Kontinuität der politischen Inhalte abgeleitet werden kann. 2. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft Müller-Armacks wirtschaftspolitische Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft ist stark von seinen soziologischen Arbeiten geprägt.10 In diesen identifiziert er gegensätzliche Weltanschauungen, die aus verschiedenen religiösen und politischen Überzeugungen resultieren, wodurch ständige gesellschaftliche Konflikte entstehen. Aufgabe der Politik sei es, die gegensätzlichen Positionen miteinander zu versöhnen. Die Versöhnung der Gegensätze solle durch die Schaffung eines gemeinsamen Leitbildes erreicht werden, das Elemente aller widerstreitenden Ansätze enthalten müsse und damit zu einer „übergreifenden Sozialidee" werde (,Müller-Armack 1950/81, 575). Diesen Ansatz der Aussöhnung der Interessenunterschiede nennt Müller-Armack „Sozialhumanismus" (1949/81, 276f.) bzw. „Soziale Irenik" (1950/81; auch Starbatty 1986, 16; Tuchtfeldt 1982). Mit seinem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft entwickelt er einen eigenen Vorschlag zur Konkretisierung dieser Perspektive. Mittels der Sozialen Marktwirtschaft soll gesellschaftliche Harmonie realisiert werden. Bestehende Konflikte zwischen Gesellschaftsbereichen sollen durch Nivellierung materieller Unterschiede, Herstellung einer gleichmäßigen Wirtschaftsentwicklung und die Beeinflussung der Strukturen in Wirt-
10 Vgl. hierzu Müller-Armack·. „..aber gegenüber einem den Wettbewerbsmechanismus als ausschließliches Gestaltungsprinzip betrachtenden Neoliberalismus ist der Gedanke der Sozialen Marktwirtschaft aus anderen Wurzeln entstanden. Sie liegen in der dynamischen Theorie und der philosophischen Anthropologie, die beide in den zwanziger Jahren entwickelt wurden, in einer anderen Auffassung vom Staat und in einer Weiterfuhrung des vom Neoliberalismus meist abgelehnten Stilgedankens" (1962/76, 297).
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schaft, Kultur und den übrigen Lebensbereichen aufgelöst werden. Dazu sei eine „Gesamtvorstellung vom Ganzen der Gesellschaft" (Müller-Armack 1962/76, 305) zu formulieren, der sich die gesellschaftlichen Gruppen anschließen sollen, indem sie in ihren spezifischen Wirkungskreisen zur Erreichung des Ziels beitragen. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ist damit mehr als ein Versuch, eine Wirtschaftsordnung auf marktwirtschaftlicher Grundlage zu beschreiben. Es beabsichtigt, auf die gesellschaftliche Entwicklung als Ganzes Einfluß zu nehmen und sie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die Konzeptualisierung einer umfassenden „Gesellschaftspolitik", die über die Gestaltung der Wirtschaftsordnung hinausgreift, nimmt Müller-Armack besonders in der von ihm so bezeichneten „zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft" ab Ende der 50er Jahre vor (,Müller-Armack 1959/76). Vorher (1946 - 1958) galt sein Engagement primär der Einfuhrung einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit funktionierendem Preismechanismus, um die durch Krieg und zentrale Planwirtschaft entstandenen Mängel in Deutschland zu beseitigen (Müller-Armack 1946/81). Hier, wie auch später, beruft sich Müller-Armack auf das Konzept der Wettbewerbsordnung der Freiburger Schule, dem er, zumindest soweit es die Schaffung der materiellen Lebensgrundlagen betrifft, zustimmt (ebd., 47). Eine explizite Definition des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft" liefert Müller-Armack 1956 im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (Müller-Armack 1956/ 76).11 Er erwähnt hier, daß sein Konzept eine Synthese der Wirtschaftsordnungstheorie von Eukken und anderen Neoliberalen mit der Idee des sozialen Ausgleichs sei. Durch eine marktwirtschaftliche Rahmenordnung seien der Wettbewerb und damit effiziente Produktionsbedingungen institutionell zu sichern. Umverteilungsmaßnahmen des Staates hätten fur sozialen Ausgleich zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen zu sorgen. Deren Ausgestaltung sei an dem Kriterium der Marktkonformität auszurichten:12 „Sie [die Wirtschaftspolitik] versteht darunter Maßnahmen, die den sozialen Zweck sichern, ohne störend in die Marktapparatur einzugreifen. Der Begriff 'marktkonform' mag in Grenzfällen unbestimmt sein, dürfte jedoch in der praktischen Wirtschaftspolitik zur Kennzeichnung von Verfahren genügen, bei denen auf die Funktion des Marktes Rücksicht genommen wird" (1956/76, 246). An früherer Stelle formuliert er das Prinzip „marktgerechter Maßnahmen" als Beurteilungskriterium: „Wir können als marktgerecht alle jene wirtschaftspolitischen Maßnahmen bezeichnen, die die Funktion einer variabel gehandhabten Wirtschaftsrechnung nicht gefährden" (Müller-Armack 1946/76, 115). Es wird deutlich, daß Müller-Armack durch seine einschränkende Definition kein Prinzip postuliert, sondern lediglich auf eine Tendenz hinweist, der Interventionen folgen sollten. Nach Müller-Armack gibt es „zwischen Antimarktwirtschaftlichkeit und völliger Marktkonformität ... eine Zwischenschicht noch mit der Marktwirtschaft verträglicher 11 Der Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft" erscheint erstmals in (Müller-Armack 1946/76), allerdings ohne dort explizit definiert zu werden. 12 Dabei orientiert sich Müller-Armack an der Definition von Röpke, wonach „Interventionen, die die Preismechanik und die dadurch bewirkte Selbststeuerung des Marktes nicht aufgeben, sondern sich ihr als neue Daten einordnen und von ihr assimiliert werden" (Röpke 1942/79, 259) als „marktkonform" gelten.
88 · Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner Maßnahmen" (Müller-Armack 1950a, 266). Dadurch zeigt sich auch sein „Belastungsoptimismus" bezüglich der Einschränkungsfähigkeit der Marktwirtschaft. „Unbestreitbar ist jedoch, daß ein expandierendes Marktsystem erhebliche Lasten der Einkommensumleitung zu tragen vermag, so daß über die grundsätzliche Vereinbarkeit einer sozialen Einkommenssicherung mit einer Marktwirtschaft kein Zweifel bestehen sollte" (1956/76, 246). Im Gegensatz zur Ordnungstheorie der Freiburger Schule, die die öffentliche Aufgabe vornehmlich in der Ausgestaltung der Wettbewerbsordnung sehe, sei „das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft ein umfassender Stilgedanke, der nicht nur im Bereiche des Wettbewerbs, sondern im gesamten Raum des gesellschaftlichen Lebens, in der Wirtschaftspolitik wie im Staate Anwendung findet" (Müller-Armack 1959/76, 252). Diese Haltung Müller-Armacks ist Ausdruck seiner Kritik am Ordoliberalismus bzw. am Liberalismus insgesamt, der zur Aufrechterhaltung der Trennung staatlicher und privater Einflußbereiche eine strikte Begrenzung staatlicher Tätigkeiten vorsehe (Müller-Armack 1952/76, 237; 1959/76, 252).13 In der bereits erwähnten „zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft" spricht sich Müller-Armack für eine Neuformulierung ihrer Inhalte aus, da er eine Verschiebung der Staatsaufgaben sieht: Das „gleichsam statische Problem der Produktion und der Güterversorgung kann als grundsätzlich gelöst oder in naher Zukunft lösbar angesehen werden" (Müller-Armack 1959/76, 262). Es gelte jetzt, neue gesellschaftliche Probleme jenseits einer primären materiellen Versorgung zu lösen. Mit einem umfassenden gesellschaftspolitischen Programm sei zukünftigen Herausforderungen zu begegnen, aber auch eine Beseitigung der negativen Folgen der Industrialisierung, Verkehrsentwicklung und des Abbaus traditioneller Bindungen anzustreben {Müller-Armack 1960/76, 267-291). „Wir vollziehen damit in der Deutung der Sozialen Marktwirtschaft eine Wendung. Während bisher ihr Inhalt im wesentlichen durch die in ihr zu betreibende Wirtschaftspolitik bestimmt wurde, wird es sich künftig darum handeln, die nunmehr durch diese Wirtschaftspolitik geschaffene wirtschaftliche Basis zum Fundament einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu machen" (ebd., 275).14 Umfassende staatliche Maßnahmen in allen gesellschaftlichen Bereichen hätten auf einem gesellschaftspolitischen Gesamtprogramm zu beruhen. Bei der Durchführung der „Gesellschaftspolitik" solle eine Vielzahl von Entscheidungsträgern auf vielen Entscheidungsebenen einheitlich vorgehen: „Was sich bisher in der Zuständigkeit weniger Ressorts vereinigen ließ, muß als Gesellschaftspolitik auf einer weiteren Ebene fortgeführt werden, auf der sich neben Bund, Ländern und Gemeinden öffentliche und private Kräf13 „Die soziale Marktwirtschaft ist keine ausschließliche Wettbeweibstheorie; sie mag am ehesten als Stilbegriff bezeichnet werden in dem Sinn, daß in der Sozialen Marktwirtschaft eine stilhafte Koordination erstrebt wird zwischen den Lebensbereichen des Marktes, des Staates und der gesellschaftlichen Gruppen" (Müller-Armack 1962/76, 297). 14 Viele der von Müller-Armack vorgeschlagenen Einzelmaßnahmen stehen dabei nicht im Gegensatz zu ordoliberalen Vorstellungen, so zum Beispiel die Förderung unternehmerischen Handelns. Kontrovers ist, wie im folgenden näher ausgeführt wird, die Gesamtidee von der Identifizierung und Realisierung konkreter Maßnahmen. Stets sind es die politischen Institutionen, die die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung vorbestimmen und deren Realisierung organisieren sollen. Den einzelnen Bürgern bleibt dabei nur die Rolle deijenigen, die sich an die als richtig erkannten Inhalte anpassen.
Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus * 89 te, Verbände und Unternehmungen im gleichen Sinne betätigen müssen" (Müller-Armack 1960/76, 275). Alle gesellschaftlichen Gruppen, wie Verbände, Kirchen und Gewerkschaften, sollten ihre Handlungen an einem gemeinsamen Ziel, dem „Leitbild", orientieren, „in dem jedem an seiner Stelle konkrete Verpflichtungen zur Aufrechterhaltung einer sinnvollen Gesamtordnung erwachsen" (ebd., 288). Den Parteien weist Müller-Armack dabei eine Transmissionsfunktion zu, die jedoch nicht als Artikulation der Bürgerinteressen, also von unten nach oben, verstanden wird, sondern im Sinne eines Erfüllungsgehilfen der Staatsorgane: „Es wird insbesondere die Aufgabe der politischen Gruppen sein, dieses Leitbild den Menschen so deutlich und einprägsam nahezubringen, daß sie es als erstrebenswertes Ziel innerlich bejahen" (ebd., 288). Der entscheidende Träger der „Gesellschaftspolitik" bleibt aber der Staat, der die Richtung vorgibt und eingreift, sobald Abweichungen von der Zielvorstellung auftreten. Müller-Armack spezifiziert nicht, welche Institutionen des Staates genau die Ziele und die Mittel der „Gesellschaftspolitik" bestimmen sollen. Er darf aber so verstanden werden, daß der Regierung der wesentliche Anteil an der Gestaltung und Ausführung des Programms zukommt. Die Träger der „Gesellschaftpolitik" scheinen dabei einen Wissensvorsprung zu haben. Erstens kennen sie die langfristig anzustrebende „Gesamtform unseres Gesellschaftslebens", das „gesellschaftliche Endziel" (Müller-Armack 1962/76, 305f.). Zweitens ist es ihnen möglich, die laufenden Veränderungen der Gesellschaft zu identifizieren und „in einer vernünftigen Lenkung der Prozesse, die wir voraussehen und in ihrem Ablauf spannungsloser gestalten können", zu beeinflussen (ebd., 305). Die Unterschiede zur Theorie der Wettbewerbsordnung werden besonders deutlich, wenn nach einer möglichen Umsetzung der einzelnen gesellschaftspolitischen Felder gefragt wird. Hier zeigt sich, daß die Ablehnung einer strikten Begrenzung staatlicher Einflußnahme weitgehende Folgen hat. Müller-Armack befürwortet diskretionäre Handlungsspielräume der Politik zur Verfolgung der gesellschaftspolitischen Ziele15 und verzichtet auf eindeutige Abgrenzungskriterien, die zulässige von unzulässigen Maßnahmen unterscheiden könnten. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft gerät durch den Verzicht auf klare Begrenzungen staatlichen Handelns in das Dilemma, ungewollte Interventionsspiralen zu begünstigen. Die positive Formulierung staatlicher Aufgaben jenseits der Wettbewerbsordnung eröffnet immer neue Politikfelder, die mit öffentlichen Aktivitäten ausgefüllt werden und folglich zu einem steigendem Finanzierungsbedarf des Staates fuhren. Müller-Armack warnt verschiedentlich selbst vor einem übermäßigen Sozialstaat und den Gefährdungen der marktwirtschaftlichen Ordnung: „Jeder dieser einzelnen Schritte, das erschwert die Beurteilung des Ganzen, mag ein Stück Vernünftigkeit enthalten, die Summe der kleinen Schritte bedeutet jedoch eine zunehmende Belastung der Wirtschaft, eine immer größere Verstrickung der Staatsfinanzen, der Sozialversicherungen in ein 15 Diese Offenheit seiner Konzeption begründet Müller-Armack folgendermaßen: „Wirtschaftspolitische Leitbilder können nicht von ihrer Zeitsituation abgelöst werden. Sie erfüllen dann ihre Aufgabe am besten, wenn sie die zwingende Antwort auf die Frage einer bestimmten Zeitlage sind" (1960/76, 267).
90 - Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner Netz dirigistischer Politik, das am Ende praktisch auf einen Systemwechsel hinausläuft, zumindest in eine Ordnungsform, die auch politisch nicht mehr regulierbar und steuerbar ist" {Müller-Armack 1977/81, 319; vgl. auch 1972/81, 161ff). Trotz dieser Warnungen besteht Müller-Armack auf seiner Idee einer „Gesellschaftspolitik", bei der der Staat mehr zu leisten habe, als die Funktionsfähigkeit der Wettbewerbsordnung sicherzustellen. Er gerät so in die „Falle" eines Steuerungsoptimismus bezüglich des Umfangs der Staatstätigkeit. Damit die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft nicht eingeschränkt werde, sei das Ausmaß staatlicher Tätigkeit jeweils dann zurückzuführen, wenn die Belastungsgrenzen überschritten würden und Dirigismus drohe (Müller-Armack 1972/81, 150 und 1956/76, 246). Diese Art diskretionärer Politikgestaltung übersieht jedoch, daß einmal gewährte Staatsleistungen aus rechtlich-institutionellen Gründen, aber auch wegen der Tätigkeit von Interessengruppen nur schwer reduziert werden können. Eine konsequente Anwendung dieser Form der Sozialen Marktwirtschaft muß außerdem regelmäßig zu Konflikten zwischen individueller Zielverfolgung und staatlichem Handeln fuhren. Sobald Bürgerinteressen dem kollektiven „Endziel" widersprechen, fällt der Interessenkonflikt zu Lasten der Bürger aus. Politische Überzeugungsarbeit (z.B. durch die Parteien) und legislative Maßnahmen müssen dann eine Unterordnung der Individualziele unter die kollektiven Ziele der Gesellschaftspolitik erzwingen. Hiermit zeigt sich Müller-Αrmacks holistische Perspektive, die die Entwicklung des Ganzen durch prozeßorientierte Maßnahmen gemäß der Zielsetzung des gesellschaftspolitischen Programms gestalten möchte (Müller-Armack 1962/76, 301fF.). Individuelle Anliegen und Zielsetzungen geraten bei dieser Fokussierung auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung aus dem Blickfeld. Die persönlichen Interessen der Wirtschaftssubjekte werden also nicht auf ihre Vereinbarkeit mit den allgemeinen Regeln des Zusammenlebens hin überprüft, sondern in bezug auf ihre Übereinstimmung mit dem von der Politik angestrebten Zustand beurteilt. In dieser unterschiedlichen Gewichtung von individuellen und kollektiven Interessen innerhalb des gesellschaftspolitischen Programms der Sozialen Marktwirtschaft zeigt sich erneut die Kontinuität seines Staatsverständnisses. Vor 1945 wie danach hält er eine durch staatliche Maßnahmen begünstigte harmonische Entwicklung der Gesellschaft für wünschenswert. Zur Erreichung der Kollektivziele schlägt Müller-Armack eine Ausrichtung aller einzelwirtschaftlichen Aktivitäten am Gesamtkonzept vor. Besonders die gesellschaftlich relevanten Gruppen sollen hier aktiv werden und ebenso wie die Parteien für das gesellschaftliche Endziel werben. Eine weitere Kontinuität betrifft seine Liberalismuskritik. Im Werk von 1933 wie in seinen Schriften zur Sozialen Marktwirtschaft argumentiert er gegen die liberalen Positionen, die die Macht des Staates begrenzen wollen, um so individuelle Freiheitsräume zu sichern. Diese Vorstellung einer restriktiven Behandlung staatlicher Einflußmöglichkeiten auf gesellschaftliche Bereiche lehnt er in den Frühschriften ebenso wie in den späteren Werken ab. Die Beachtung der Kontinuitäten im Werk Müller-Armacks ist wichtig, da sie verdeutlicht, welche Rolle er grundsätzlich staatlichem Handeln zuerkennt. Der Staat erhält innerhalb seines Weltbildes die paternalistische Funktion einer Harmonie und Interessenausgleich stiftenden Instanz, die das Verhalten der Bürger durch die Vorgabe kollektiver Ziele anleitet.
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III. Der Ordoliberalismus der Freiburger Schule Das dem ordoliberalen Ansatz der Freiburger Schule zugrunde liegende Staatsverständnis läßt sich - analog zu den Ausführungen zum Staatsverständnis MüllerArmacks - am besten dadurch erschließen, daß die Ursprünge des Ansatzes nachgezeichnet werden. Unter der „Freiburger Schule" wird die Forschungs- und Lehrgemeinschaft um den Nationalökonomen Walter Euckert (1891-1950) sowie den Rechtswissenschaftlern Franz Böhm (1895-1977) und Hans Großmann-Doerth (1894-1944) verstanden, die sich in den dreißiger und vierziger Jahren an der Universität Freiburg mit den Grundfragen einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung befaßten und die geistigen Grundlagen für die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland legten.16 Die Arbeiten der Freiburger Schule fallen gleichermaßen in die Zeit vor und nach 1945: Die vier Hefte der von Eucken, Böhm und Großmann-Doerth herausgegebenen Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft" - Heft 1 {Böhm 1937), Heft 2 (Lutz 1936), Heft 3 (Gestrich 1936), Heft 4 (Miksch 1937) -, Euckens „Staatliche Strukturwandlungen" (1932/97), seine „Nationalökonomie - wozu?" (1938), seine „Grundlagen der Nationalökonomie" (1940) sowie Böhms „Wettbewerb und Monopolkampf' (1933) - fallen in die Zeit vor 1945, das von Eucken und Böhm herausgegebene ORDO-Jahrbuch (seit 1948), Euckens „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" (posthum 1952/90), Böhms „Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung" (1950), seine Artikel „Der Rechtsstaat und der soziale Wohlfahrtsstaat" (1953/60) und „Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft" (1966) in die Zeit danach. Die Leitfrage der ordoliberalen Freiburger Schule lautet. „Wie muß die Wirtschafisund Sozialordnung beschaffen sein, in der sich ein menschenwürdiges und wirtschaftlich erfolgreiches Leben entwickeln kann?" (Eucken und Böhm 1948, VII; auch Eucken 1940/89, 240; 1952/90, 14).17 Das Hauptargument Euckens und Böhms ist, daß ein
16 Ihren Ursprung findet die Freiburger Schule in einer Reihe interdisziplinärer Seminare, die Eukken, Böhm und Großmann-Doerth ab dem Wintersemester 1933/34 regelmäßig an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg durchführten. An diesen nahmen zahlreiche weitere Dozenten teil, die im weiteren Sinne der Freiburger Schule zugerechnet werden können, unter ihnen Adolf Lampe, Constantin von Dietze, Friedrich A. Lutz, Bernhard Pflster, Rudolf Johns, K. Paul Hemel und Karl Friedrich Maier (Böhm 1957, 162). Die fi/e/ten-Schüler Leonhard Miksch und Fritz W. Meyer sind ebenfalls der Freiburger Schule i.w.S. zuzurechnen. Zudem bestanden Kontakte zu damals im Ausland lebenden liberalen Ökonomen wie Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow (Böhm 1957, 162; Lenel 1991, Hayek 1983/92, 187-192). Enge Verbindungen bestanden auch zwischen dem Freiburger Professorenkreis und politischen Widerstandsbewegungen. So waren Eucken, von Dietze und Lampe aktiv im sogenannten „Freiburger Kreis" involviert, der das „Freiburger Konzil", den „Arbeitskreis 'Freiburger Denkschrift'" (auch „Freiburger Bonhoeffer Kreis" genannt) und die „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath" umfaßte (Stadt Freiburg 1990). 17 Was unter einer solchen Ordnung zu verstehen ist, erläutert Eucken in seinen Grundlagen der Nationalökonomie·. „In ihr soll die Knappheit an Gütern, die sich Tag für Tag in den meisten Haushaltungen drückend geltend macht, so weitgehend wie möglich und andauernd überwunden werden. Und zugleich soll in dieser Ordnung ein selbstverantwortliches Leben möglich sein"
92 · Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner
menschenwürdiges und wirtschaftlich erfolgreiches Leben nur in einer freiheitlichen Ordnung verwirklicht werden kann. Individuelle Freiheit gewährt die fur die Verfolgung persönlicher Lebensziele notwendigen Handlungsspielräume. Die Rechtsregeln bilden einen Koordinationsrahmen für die Einzelinteressen, der den Mißbrauch von Freiheitsrechten zu Lasten anderer Menschen verhindern soll {Euchen 1952/90, 179; Böhm 1953/60, 95f.). Da Freiheit sowohl durch private als auch durch staatliche Macht bedroht werden kann, muß der Staat zwei gegenläufige Anforderungen miteinander vereinbaren. Auf der einen Seite ist er der Garant der individuellen Freiheit gegenüber dem Mißbrauch privater Macht. Auf der anderen Seite benötigt er hierzu eine hoheitliche Befugnis, also seinerseits Macht, die die Freiheit der Individuen gefährden kann. Über die Forderung nach einer Begrenzung privater und staatlicher Macht schlagen die Ordoliberalen die Brücke zur Wettbewerbsordnung: Der Wettbewerb verbürge „bei höchstmöglicher Leistung die weitestgehende Entmachtung der Wirtschaft, sowohl von privater als auch von staatlicher Wirtschaftsmacht" (Eucken und Böhm 1948, X). „Wie der Rechtsstaat so soll auch die Wettbewerbsordnung einen Rahmen schaffen, in dem die freie Betätigung des einzelnen durch die Freiheitssphäre des anderen begrenzt wird und so die menschlichen Freiheitsbereiche ins Gleichgewicht gelangen" (Eucken 1949, 27). Die geschichtliche Erfahrung habe gezeigt, daß Wettbewerb sich nicht von alleine einstellt. „Das war der Fehler des Gedankens und der Politik des Laissez Faire oder der freien Wirtschaft alten Stils: Sie überließ sowohl den Kampf um die Spielregeln, um das Rahmenwerk oder die Formen, in denen gewirtschaftet wurde, als auch den alltäglichen Kampf um Menge und Preis den Einzelnen" (ebd., 6). Dies habe zu einer Monopolisierung der Wirtschaft und - in Folge - zu einer Einflußnahme von Interessenverbänden auf die Politik, d.h. zu einer übermäßigen Machtansammlung bei den Unternehmen und beim Staat, gefuhrt. Eine hoheitliche Lenkung des Wirtschaftsprozesses, wie sie totalitäre Reihrer sogenannten gime aber auch moderne Demokratien mit „Vollbeschäftigungspolitik" (Eucken 1948, 87-90; 1952/90, 140-144) - mit wenig Erfolg versuchen, stelle allerdings ebensowenig eine brauchbare Alternative dar: „So unerträglich es ist, die Gestaltung der Wirtschaftsordnung im Zeitalter der Industrie, der modernen Technik, der großen Städte und der Massen sich selbst zu überlassen, so unfähig ist der Staat zur Führung des Wirtschaftsprozesses selbst" {Eucken 1952/90, 336). Die Antwort auf das „Ordnungsproblem" der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft sieht Eucken in der „Politik der Wettbewerbsordnung": „Der Staat hat die Formen, das institutionelle Rahmenwerk, die Ordnung, in der gewirtschaftet wird, zu beeinflussen, und er hat Bedingungen zu setzen, unter denen sich eine funktionsfähige und menschenwürdige Wirtschaftsordnung entwickelt" (Eucken 1949, 93). Aufgabe der staatlichen Ordnungspolitik ist die Wahrung des Wettbewerbs.18 Eucken leitet verschiedene Prinzipien her, die - wie die Erfahrung lehre - unverzichtbare Elemente einer funktionsfähigen (,Eucken 1940/89, 240). Zur Übereinstimmung dieser Konzeption mit dem Subsidiaritätsprinzip vgl. Eucken (1952/90, 348). 18 Dieser Gedanke wird trefflich durch die Titel folgender Bücher von Miksch (1937) und Böhm (1937) wiedergegeben: „Wettbewerb als Aufgabe - Die Grundsätze einer Wettbewerbsordnung" und „Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung".
Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus * 93 Wettbewerbsordnung seien und an denen sich die Politik orientieren solle.19 Böhm definiert in seiner Habilitationsschrift Wettbewerb und Monopolkampf das wettbewerbspolitische Leitbild des „Leistungswettbewerbs" als ein Kriterium zur Abgrenzung wünschenswerter von nicht-wünschenswerten Wettbewerbsparametern (Böhm 1933, 210317); nur wenn Leistungswettbewerb herrscht, konkurrieren die Unternehmen um die Gunst der Konsumenten. Echten Leistungswettbewerb kann es nur geben, wenn die Wirtschaftsordnung allein auf für alle Teilnehmer gleichermaßen geltenden Rechtsregeln beruht {Böhm 1953/60, 103f ). Diskretionäre Eingriffe in die Marktordnung, etwa zur Verfolgung konkreter sozialpolitischer Ziele, verändern die Strategien der Marktteilnehmer nach vorab festgelegten politischen Faktoren und schränken wettbewerbliche Suchprozesse nach erfolgreichen Lösungen ein. Leistungswettbewerb und Privilegienvergabe schließen sich gegenseitig aus.20 Eine Festlegung der Gesellschaft auf ein von der Politik vorgegebenes Gesamtziel ist im Rahmen dieser Konzeption nicht möglich. Es stellt sich die Frage, wie die ordoliberale Konzeption, die den Wettbewerb in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt, soziale Probleme zu lösen sucht. Zu klären ist, ob hier nicht wirtschaftliche Aspekte zu Lasten sozialer Aspekte einseitig in den Vordergrund gerückt werden. Die Ordoliberalen verneinen dies ausdrücklich. Es sei möglich, „die soziale Frage mit freiheitlichen Mitteln zu lösen" {Böhm 1950, 70)21. Die Politik der Wettbewerbsordnung werde nicht nur den materiellen, sondern insbesondere auch den sozialen Belangen der Bürger gerecht: „Es ist... nur die eine Seite der Wettbewerbsordnung, daß sie auf die Durchsetzung der ökonomischen Sachgesetzlichkeit dringt. Ihre andere Seite besteht darin, daß hier gleichzeitig ein soziales und ethisches Ordnungswollen verwirklicht werden soll. Und in dieser Verbindung liegt ihre besondere Stärke" {Eucken 1952/90, 370, auch 1, 323, 370). Daher treten die Ordoliberalen für „Wettbewerb in einem möglichst umfassenden Bereich" {Eucken und Böhm 1948, IX) ein: „Unsere Forderung beschränkt sich auf die Schaffung einer Wirtschafts- und Sozialordnung, in der wirtschaftliche Leistung und menschenwürdige Daseinsbedingungen gleichermaßen gewährleistet sind. Weil der Wettbewerb diesem Ziel dienstbar gemacht werden kann, das ohne ihn sogar unerreichbar bleibt, deshalb fordern wir ihn" (ebd., XI). In der ordoliberalen Konzeption Euckens und Böhms ist Sozialpolitik grundsätzlich als Teil der Politik der Wettbewerbsordnung zu sehen. „Wer soziale Interessen vertreten 19 Eucken unterscheidet dabei zwischen sieben „konstituierenden Prinzipien" - funktionsfähiges Preissystem („Grundprinzip"), stabile Geldverfassung („Primat der Währungspolitik"), offene Märkte, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Haftung und Konstanz der Wirtschaftspolitik (Eucken 1952/90, 254-289; auch 1949, 32-64) - und vier „regulierenden Prinzipien" - Monopolkontrolle, Einkommenspolitik (im Sinne der Festlegung einer - gemäßigten - Steuerprogression), Internalisierung externer Kosten („Wirtschaftsrechnung") sowie Korrektur anomaler Angebotskurven auf dem Aibeitsmarkt (Eucken 1952/90, 291-304; auch 1949, 64-76). Bei den konstituierenden Prinzipien „geht es um die Herstellung der Wettbewerbsordnung" (Eucken 1949, 32), bei den regulierenden Prinzipien geht es „darum die Wettbewerbsordnung funktionsfähig zu erhalten" (ebd.). 20 Das Kriterium des Leistungswettbewerbs ist daher eng verbunden mit dem Prinzip der Universalisierbarkeit von Rechtsregeln, das ebenfalls die allgemeine und gleiche Anwendung von Gesetzen auf alle Marktteilnehmer fordert. Vgl. hierzu Vanberg (1997, Kap. V. und VI.). 21 Ähnlich auch Euckens Vorstellung: „die soziale Frage im Geiste der Freiheit zu lösen" (1952/90, 370).
94 · Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner will, sollte daher sein Augenmerk vor allem auf die Gestaltung der Gesamtordnung richten. Durch die allgemeine Ordnungspolitik muß versucht werden, die Entstehung sozialer Fragen zu verhindern. Entstehen sie doch, so ist zuerst zu prüfen, ob es sich nicht um Sekundärwirkungen irgendwelcher, auf ganz anderem Gebiete liegende(r) Maßnahmen handelt" (Euchen 1952/90, 313). Diese müßten dann wiederum durch ordnungspolitische Entscheidungen korrigiert werden, also eine Anpassung bzw. Fortentwicklung der Wettbewerbsordnung, die eine Lösung der Probleme ermöglicht. Diese Idee wird insbesondere in den Ausführungen Euchens zu den - teils sozialpolitisch motivierten - regulierenden Prinzipien deutlich, die er als „die Wirtschaftsordnungspolitik innerhalb der Wettbewerbsordnung" (Euchen 1949, 64) bezeichnet.22 Die regulierenden Prinzipien können keinesfalls zur Legitimation prozeßpolitischer Interventionen herangezogen werden.23 Vielmehr leiten sie die Politik an, stets zu überprüfen, ob die konstituierenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung auch tatsächlich erfüllt sind.24 Euchen wendet sich somit konsequent gegen (sozialpolitisch motivierte) prozeßpolitische Eingriffe in den Wirtschaftsprozeß.25 . Er plädiert für eine wohldurchdachte Ordnungspolitik für die Wettbewerbsordnung. Die durch die Ordnungspolitik ausgestaltete institutionelle Rahmenordnung bestimmt - modern formuliert - Allokation und Verteilung simultan und löst-somit ökonomische und soziale Probleme. Euchen betont immer wieder, daß eine wünschenswerte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist nicht durch punktuelle26 Maßnahmen zu erreichen ist, sondern immer nur durch eine „ordnungspolitische Gesamtentscheidung" (Euchen, Böhm und Großmann-Doerth 1937, XIX) gemäß dem Grundsatz: „Nie eine Maßnahme - ohne in Übereinstimmung mit dem Ganzen der gewollten Ordnung zu bleiben" (Euchen 1952/90, 345). Dies begründet Euchen damit, daß alle Teilbereiche der Gesellschaft miteinander zusammenhängen. „Alle wirtschaftspolitischen Akte beeinflussen deshalb den Gesamtprozeß. Sie sollten deshalb alle aufeinander abgestimmt sein" (Euchen 1949, 33). 22 Eucken empfiehlt die Errichtung einer unabhängigen Monopolbehörde (1952/90, 294), eine gemäßigte Progression der Einkommensteuer (ebd., 300Í), das Verbot umweltzerstörender Produktionsweisen (ebd., 302), das Verbot von Kinderarbeit und die Begrenzung der Arbeitszeit für Erwachsene (ebd., 304) und - notfalls - auch die Festlegung von Minimallöhnen. 23 Ähnlich auch die Ausführungen zur Sozialpolitik (1952/90, 312-324): Auch hier betont Eucken, „daß die Sozialpolitik nicht als Anhängsel der übrigen Wirtschaftspolitik betrachtet werden sollte, sondern in erster Linie Wirtschaftsordnungspolitik zu sein hat" (ebd., 313). 24 In einer wettbewerblichen Ordnung ist es viel weniger wahrscheinlich, daß Monopole entstehen, die dann im nachhinein durch eine - dem Druck der wirtschaftlichen Interessensverbände ausgesetzte - Monopolaufsicht aufgelöst werden müßten. Gleiches gilt für das Problem anomaler Angebotskurven im untersten Segment des Arbeitsmarktes. Unter Wettbewerbsbedingungen hätten die Unternehmen keine Machtposition, die Löhne unter das Existenzminimum zu drücken. „Nicht die Konkurrenz, sondern die fehlende Konkurrenz ist insoweit Ursache der Mißstände gewesen" (Eucken 1952/90, 302). 25 Es kann nur darüber spekuliert werden, wie Eucken das Kapitel zur „speziellen Sozialpolitik" (Eucken 1952/90, 318-324), das nach dem Tode Euckens durch K. Paul Hensel rekonstruiert wurde, selbst ausgestaltet hätte. Die Festlegung eines Versicherungszwanges anstelle einer Zwangsversicherung, um nur ein Beispiel zu nennen, wäre eine Ausgestaltung der Rahmenordnung im Sinne des Freibuger Ansatzes. 26 Die Kritik an der „Punktualität des heutigen Denkens" (Eucken 1952/90, 330, auch 306, 312f„ 331) zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk Euckens.
Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus • 95 Des weiteren weist Eucken immer wieder darauf hin, daß nicht nur eine ökonomische Interdependenz, sondern auch eine Interdependenz der Wirtschaftsordnung mit der politischen Ordnung besteht CEucken 1952/90, 14, 183; 1938/61, 54). Eine Politik, die das Entstehen privater Machtgruppen zulasse, werde zwangsläufig mit dem Problem politischer Einflußnahme konfrontiert werden. „Die Monopolbildung kann durch den Staat selbst provoziert werden, etwa durch seine Patentpolitik und seine Handelspolitik, seine Steuerpolitik usw. ... Erst begünstigt der Staat die Entstehung privater wirtschaftlicher Macht und wird dann von ihr teilweise abhängig" {Eucken 1952/90, 183). Die Prinzipien der Wettbewerbsordnung gelten daher nicht nur der Begrenzung privater Macht, sondern vor allem auch der Begrenzung staatlicher Macht. „Macht bleibt Macht, von wem auch immer sie ausgeübt wird. Und sie erreicht ihre höchste Gefahrenstufe nicht einmal in privater, sondern gerade in öffentlicher Hand" (Miksch, zitiert nach Eucken 1952/90, 174). Eucken warnt davor, der Politik die Verfolgung moralischer Ziele zu unterstellen (ebd., 330f.). Es sei ordnungspolitisch verfehlt, unbeschränkt Aufgaben an den Staat zu übertragen. Die Aufgabe des Staates sei auf die Schaffung und Erhaltung der Rahmenordnung zu begrenzen.
IV. Vergleich von Sozialer Marktwirtschaft und Ordoliberalismus Die Ausführungen zur Sozialen Marktwirtschaft Müller-ArmacL· und zum Ordoliberalismus der Freiburger Schule sollten folgendes deutlich gemacht haben: Beide Konzeptionen betonen die Vorteilhaftigkeit marktlicher Wettbewerbsprozesse, die es über eine geeignete Ordnungspolitik zu sichern gilt. Zudem betonen beide Konzeptionen, daß nicht nur ökonomische, sondern auch soziale Belange beachtet werden müssen.27 Aufgrund gegensätzlicher Staatsauffassungen fuhren die beiden Konzeptionen jedoch zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen, wie eine solche - sowohl ökonomischen als auch sozialen Belangen gerecht werdende - Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auszusehen habe. Im folgenden werden anhand einer Gegenüberstellung der beiden Konzeptionen die wesentlichen Unterschiede systematisch herausgearbeitet (siehe Übersicht 1): In der ordoliberalen Konzeption der Freiburger Schule nimmt der Schutz der Bürger vor wirtschaftlicher Macht und staatlicher Willkür einen zentralen Stellenwert ein. Die individuelle Freiheit umfaßt dabei nicht nur die in der Wettbewerbsordnung verwirklichte Freiheit im Markt, sondern auch die Freiheit zur Führung eines selbstverantwortlichen Lebens nach selbst gewählten individuellen Zielen. Eucken und Böhm vertrauen auf die Selbstorganisationsfähigkeit der Gesellschaft. „Von unten nach oben soll der Aufbau der Gesellschaft erfolgen. ... Und der Staat soll nur da eingreifen, wo seine Mithilfe in keiner Weise zu entbehren ist" (Eucken 1952/90, 348). In dieser „Bottom-up"-Perspektive28 27 Damit liegt der Forschungsansatz der Ordoliberalen wie auch von Müller-Armack ganz im Trend der Zeit. Die heute intensiv diskutierte Frage einer nachhaltigen Entwicklung thematisiert annähernd das gleiche Problem: Welche Konsequenzen ergeben sich fur die Gestaltung der Wirtschafìs- und Gesellschaftsordnung, wenn dem Umstand Rechnung getragen werden soll, daß ökonomische, soziale - und nunmehr auch ökologische - Belange miteinander in Einklang gebracht werden sollen? (Gerken und Renner 1996) 28 Zu den Begriffen der „Top-down"- und der „Bottom-up"-Perspektive siehe auch Renner (1997).
96 · Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner der Gesellschaft kommen keine durch den Staat vorgegebenen gesellschaftlichen Ziele vor; die Entwicklung der Gesellschaft ist offen; sie wird lediglich durch die Rechtsordnung, welche die Freiheitsrechte der Bürger untereinander abgrenzt, in wünschenswerte Bahnen kanalisiert. Dem Staat fällt die Rolle des Ordnungshüters zu. Die Politik hat sich an den ordnungspolitischen Prinzipien zu orientieren, die darauf abzielen, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit auf den Bereich der Wirtschaftsverfassung auszuweiten. Die „Politik der Wettbewerbsordnung" hat folglich auf punktuelle Maßnahmen zugunsten der Sicherung einer kohärenten Gesamtordnung zu verzichten. In der ordoliberalen Konzeption, die wirtschaftliche wie soziale Zielsetzungen über die Gestaltung der Rechtsordnung des institutionellen Rahmenwerkes - zu verfolgen sucht, ist Sozialpolitik notwendigerweise immer Ordnungspolitik. Die Vorschläge Euchens zu sozialen Fragen beziehen sich daher stets auf die ordnungspolitische Rahmensetzung; diskretionäre Interventionen in den Wirtschaftsprozeß lassen sich sozialpolitisch nicht rechtfertigen. Soziale Probleme werden in der ordoliberalen Konzeption nicht als Folge fehlender Korrektur der Marktergebnisse, sondern als Folge eines nicht-kohärenten ordnungspolitischen Regelwerks gesehen. Sie lassen sich durch eine wohldurchdachte Ordnungspolitik beheben, die vorrangig darauf abzielt, das Wettbewerbsprinzip möglichst umfassend zu verwirklichen. Politik wird daher nach ihrer Konformität mit den Prinzipien der Wettbewerbsordnung, d.h. nach ihrer Konformität mit der Gesamtordnung - ihrer Ordnungskonformität29 -, bewertet. Eine Politik der Wettbewerbsordnung, die das Aufkommen wirtschaftlicher Machtgruppen verhindert, löst zudem das Problem politischer Einflußnahme durch Interessengruppen. Euchen fordert einen „aktionsfähigen Staat" (Euchen 1952/90, 334, 338) im Sinne eines Staates, der aufgrund der Beschränkung seiner Aufgaben auf die Ordnungspolitik handlungsfähig bleibt, d.h. nicht durch partikulare Interessengruppen beeinflußt wird. Demgegenüber fällt in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft Müller-Armachs dem Staat die Rolle zu, ein wünschenswertes Leitbild und den dazugehörigen Gesellschaftsstil30 zu definieren und deren Umsetzung aktiv zu verfolgen. Der Umsetzung des Leitbilds auf der kollektiven Ebene kommt Gestaltungscharakter zu. Es ist Aufgabe des Staates, die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen mit ihren jeweiligen Weltanschauungen miteinander zu versöhnen. Die „soziale Irenik" ist das Leitbild der Politik. MüllerArmach betrachtet die Gesellschaft holistisch, in einer „Top-down"-Perspektive. Für ihn ist es Aufgabe der Politik, die gesellschaftspolitischen Ziele zu bestimmen und - gegebenenfalls - auf die Präferenzbildung der Bürger Einfluß zu nehmen. Den Parteien und organisierten Gruppen (Verbände, Kirchen, Gewerkschaften) kommt dabei die Aufgabe zu, das Leitbild an die Bürger weiterzuvermitteln. Auf diese Weise fugen sich sodann idealiter - die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen mit ihren jeweils eigenen Wertvorstellungen unter der Moderation der Politik in die gesellschaftliche Konzeption ein, 29 Eucken verwendet diesen Begriff nicht; er verwendet hingegen an einer Stelle den Begriff der Wettbewerbskonformität (1952/90, 179). Den Begriff der Marktkonformität wird von Eucken gar nicht gebraucht. 30 Diese Vorstellung eines wünschenswerten Gesellschaftsstils kritisiert Böhm als Haltung der Befürworter des Wohlfahrtsstaates und stellt ihr die Idee einer wünschenswerten Ordnimg, wie sie im Denken des liberalen Rechtsstaates verankert ist, gegenüber (Böhm 1953/60, 84f.)
Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus * 97 und die Soziale Marktwirtschaft fungiert als „Versöhnungsidee". Die individuelle Freiheit ist in der Konzeption Müller-Armacks kein übergeordneter sondern nur ein nebengeordneter Wert. Sie ist notwendiger Bestandteil der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung und dient der Erreichung von materiellem Wohlstand. Da die Wettbewerbsordnung jedoch Teil der übergeordneten Gesellschaftspolitik ist, findet die individuelle Freiheit dort ihre Grenze, wo sie in Konflikt mit gesellschaftspolitischen Zielen steht. Der Politik verbleibt ein erheblicher diskretionärer Entscheidungsspielraum zur Verfolgung der von ihr gesetzten gesellschaftlichen Ziele. Dieser ist notwendig, da die zukünftigen Probleme heute nicht bekannt sind, die Politik sich daher situativ auf die jeweils vorherrschenden Problemlagen einstellen und die Schwerpunkte und Richtung staatlichen Handelns daran ausrichten muß. Diese Offenheit ist gemeint, wenn für Müller-Armack die Soziale Marktwirtschaft ein „der Ausgestaltung harrender, progressiver Stilgedanke" (MüllerArmack 1976, 12) ist.31 Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft Müller-Armacks geht über die Setzung allgemeiner Regeln hinaus. Dem Staat wird eine fursorgende Rolle zugewiesen; er wird somit zum Wohlfahrtsstaat. Politik ist damit nicht regelorientiert wie im (reinen) Rechtsstaat, sondern zunehmend ergebnisorientiert.32 Bei Müller-Armack erfolgt die Bewertung der Politik nach zwei verschiedenen Kriterien, die unterschiedlich stark gewichtet sind. Primär geht es um die Zielkonformität einer Maßnahme, d.h. um deren Effektivität bei der Realisierung der gesetzten gesellschaftspolitischen Ziele. Darüber hinaus sollten die Maßnahmen marktkonform sein. Das Kriterium der Marktkonformität ist bei Müller-Armack insofern nachgelagert, als es nicht als verbindlich angesehen wird, wenn es im Konflikt mit dem übergeordneten gesellschaftspolitischen Ziel steht. Seine Unverbindlichkeit verhindert deshalb auch die Begrenzung staatlicher Einflußnahme in die Privatsphäre und läßt erkennen, daß für Müller-Armack letztendlich das Primat der Politik vor Individualinteressen gilt.
31 Vgl. dazu auch Starbatty (1984, 200; 1986, 15, 23). 32 Barry (1989, 120) unterscheidet in dem Zusammenhang „procedural-liberals" und „end-statetheorists". Vgl. dazu auch Vemberg (1988, 22).
98 • Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner Übersicht 1:
Rolle des Staates
Perspektive Ausrichtung der Politik
Gegenüberstellung der Konzeptionen Ordoliberalismus der Freiburger Schule Sicherung der individuellen Freiheit (Schutz der Bürger vor privater und staatlicher Macht) individualistisch (,,Bottom-up"-Perspektive) Regelorientierung dabei: Vorgabe ordnungspolitischer Prinzipien
starker Ordnungshüter Ordnungspolitik Instrumente der Politik (als ordnungspolitische Gesamtentscheidung) Universelles Prinzip zur ErreiWettbewerb chung von Interessenausgleich in Wirtschaft und Politik Beurteilungs-krite- Ordnungskonformität (Konformität mit der rium für Gesamtordnung) politische Maßnahmen Staat als
Soziale Marktwirtschaft Alfred Müller-Armacks Erfüllung gesellschaftlicher Ziele: Aussöhnung verschiedener Weltanschauungen (soziale Irenik) holistisch (,,Τορ-down''-Perspektive) Zielorientierung dabei: diskretionärer Entscheidungsspielraum zur situativen Anpassimg an gesellschaftliche Anforderungen starker gesellschaftspolitisch aktiver Staat Gesellschaftspolitik mit Ordnungspolitik als Teilaspekt Instrument zur Steigerung der materiellen Wohlfahrt (Effizienz) 1. Zielkonformität (Konformität mit den gesellschaftspolitischen Zielen) 2. Marktkonformität (Preismechanismus)
V. Schlußfolgerungen und Ausblick Die Gegenüberstellung zeigt grundsätzliche Unterschiede zwischen Ordoliberalismus und Sozialer Marktwirtschaft, die vor allem aus den gegensätzlichen Staatsauffassungen resultieren. Deshalb sollten - entgegen der weitverbreiteten Praxis - das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft nicht unter dem Begriff des Ordoliberalismus subsumiert werden. Aus dem fundamentalen Unterschied in den Staatsauffassungen, mit dem freiheitlichen Rechtsstaat einerseits und der paternalistischen Staatsvorstellung andererseits, resultieren voneinander abweichende wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen. Von besonderer Bedeutung sind insbesondere die Lehren, die sich aus der Verwendung unterschiedlicher Beurteilungskriterien für politische Maßnahmen gewinnen lassen: Müller-Armacks Verwendung des Marktkonformitätsbegriffs ist mit zwei Schwierigkeiten behaftet. Erstens wird es nicht als prinzipiell verbindlich für staatliche Entscheidungen betrachtet. Er darf durchbrochen werden, falls gesellschaftspolitische Interessen dem entgegenstehen. Hieraus resultiert die Gefahr von (ungewollten) Interventionsspiralen und einer Umformung der marktwirtschaftlichen Ordnung in eine wohlfahrtsstaatliche Ordnung. Zweitens birgt das Kriterium der Marktkonformität selbst Schwierigkeiten in sich, die zu Widersprüchen mit der Wettbewerbsordnung führen können. Es gibt nämlich keine einheitliche Interpretation dessen, was unter dem Begriff der Marktkonformität zu
Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus · 99 fassen ist. Die „klassische" Definition von Röpke, an der sich auch Müller-Armack orientiert, verengt den Blick auf die alleinige Frage, ob eine Intervention den Preismechanismus für ihre Zwecke instrumentalisiert oder außer Kraft setzt. Diese Definition ist jedoch auf die neoklassische Wohlfahrtsökonomik zugeschnitten.33 Der Aspekt der Konsistenz einer Maßnahme mit der Gesamtordnung gerät dabei aus dem Blick.34 Ein überdosierter Einsatz eines im Rahmen des neoklassischen Modells „marktkonformen" Instrumentes, etwa einer CCh-Steuer oder eines CCVZertifikats, mag durchaus die Entwicklungsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung gefährden. Umgekehrt gilt, daß ein im Rahmen der neoklassischen Modellanalyse markt/wkonformes Instrument, etwa ein Verbot der Verwendung von FCKWs, keineswegs die Entwicklungsfähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung gefährden muß (Wegner 1996).35 Diese Schwierigkeiten, mit denen das Kriterium der Marktkonformität behaftet ist, zeigen, daß die innerhalb des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft zwangsläufig auftretenden Interventionsspiralen auch bei konsequenter Anwendung des Marktkonformitätsprinzips nicht verhindert werden können. Die Absicherung der marktwirtschaftlichen Ordnung vor einer Umwandlung in ein wohlfahrtstaatliches System bedarf deshalb einer alternativen Grundlage. Eine solche bietet der Ordoliberalismus der Freiburger Schule. Politische Vorhaben sollen demnach mit dem Kriterium der „Ordnungskonformität" beurteilt werden. Zu diesem Zweck hat Böhm das Kriterium des „Leistungswettbewerbs" entwickelt und Eucken seinen Prinzipienkatalog entworfen, anhand dessen sich die Konformität einer Maßnahme mit der Wettbewerbsordnung prüfen läßt. Die Konzeption der Wettbewerbsordnung berücksichtigt somit - im Gegensatz zu dem auf ökonomische Aspekte begrenzten Kriterium der Marktkonformität - mehr als nur die materiellen Belange des Lebens und begrenzt dennoch - im Unterschied zur Konzeption MiillerArmacks - das Ausmaß staatlichen Handelns. Da die Einhaltung der Prinzipien der Wettbewerbsordnung keineswegs im Eigeninteresse der Politiker liegt - diese müßten auf wesentliche politische Handlungsparameter freiwillig verzichten -, scheint eine konstitutionelle Verankerung der Prinzipien unverzichtbar. Diese konstitutionenökonomische Weiterentwicklung der Ideen der Freiburger Schule ist im Werk Euckens bereits angelegt. Eucken betont stets, daß aus „der Interdependenz von Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung folgt, daß die Staatsordnung eine ebenso wichtige Aufgabe ist wie die Ordnung der Wirtschaft" {Eucken 1952/90, 331).36 33 Demnach sind „ökonomische" Instrumente (Steuern, handelbare Zertifikate) grundsätzlich marktkonform, „ordnungsrechtliche" Instrumente (insbesondere Gebote) marktinkonform. Für eine kritische Bestandsaufnahme des Standes der Diskussion um das Kriterium der Marktkonformität (mit weiteren Quellenhinweisen) siehe Gerken und Renner (1996, 75f.), Starbatty (1984 198f.) und Wegner (1996, 16). 34 Röpke war sich der Schwierigkeit der Beurteilung marktkonformer Maßnahmen sehr wohl bewußt und wies darauf hin, daß die Beurteilung der Marktkonformität allein noch nicht ausreiche, um eine politische Maßnahme zu empfehlen. 35 Insofern ist Müller-Armack durchaus Recht zu geben, daß er das Kriterium der Marktkonformität nicht verabsolutiert. Nur verfügt seine Konzeption über kein alternatives Kriterium zur Eingrenzung staatlicher Macht. 36 Jedoch kam Eucken nicht dazu, vertieft in die Thematik einzusteigen. Der Leser der Grundsätze der Wirtschaftspolitik erhält lediglich einige bruchstückhafte Hinweise auf dieses weite Forschungsfeld: Der „Aufbau des Staates [bedarf] von Grund aus ordnungspolitischer Durchden-
100 · Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner
Insofern bestehen enge Verbindungen zwischen dem Ordoliberalismus der Freiburger Schule und der Ökonomischen Theorie der Verfassung, die seit den 1960er Jahren maßgeblich von James Buchanan erarbeitet wurde (Vanberg 1988). Das Problem der Wirtschaftsmacht wurde von den Ordoliberalen theoretisch durch das Konzept der Wettbewerbsordnung gelöst. Um das Problem der Ausuferung staatlicher Macht zu lösen, müßten verbindliche Regeln auf der konstitutionellen Ebene geschaffen werden, die staatliches Handeln wirksam begrenzen. Die Verfassungsökonomik befaßt sich mit der Entwicklung und Umsetzung wechselseitig vorteilhafter Ordnungsreformen, d.h. solchen konstitutionellen Reformen, die allen betroffenen Bürgern Vorteile versprechen und denen die Bürger daher - idealiter - freiwillig zustimmen können (.Buchanan 1975). Eine solche Einigung der Bürger läßt sich insbesondere über allgemeine Rechtsregeln (Verfahrensregeln) erzielen, sofern diese keine Nullsummenspiele darstellen (Homann und Pies 1996). Ein solches Konsenspotential sehen die Ordoliberalen insbesondere in der Nutzbarmachung der sozialen Produktivität von Wettbewerbsprozessen, d.h. der Ausweitung der Wettbewerbsordnung auf einen möglichst umfassenden Bereich. Die Müller-Armacksche Idee einer Aussöhnung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen durch die Politik formuliert die Verfassungsökonomik - ganz im Sinne der Freiburger Schule - aus einer liberalen Perspektive: An die Stelle eines politisch vorgegebenen Leitbildes tritt die Suche nach gemeinsamen konstitutionellen Interessen der Bürger im Sinne eines - unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Weltanschauungen übergreifenden - Konsenses hinsichtlich der grundlegenden Ordnungsregeln der Gesellschaft. Die Prinzipien der Wettbewerbsordnung von Euchen und Böhm stellen somit auch einen wichtigen Beitrag für eine anstehende Verfassungsdiskussion dar. Literatur Barry, Normann P. (1989), Political and Economic Thought of German Neo-Liberals, in: Alan Peacock und Hans Willgerodt (Hrsg.), Germany's Social Market Economy: Origins and Evolution, London, S. 105-124. Böhm, Franz (1933), Wettbewerb und Monopolkampf, Berlin. Böhm, Franz (1937), Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, Heft 1 der Schriftenreihe Ordnung der Wirtschaft, hrsg. von Franz Böhm, Walter Eucken und Hans Großmann-Doerth, Stuttgart und Berlin. Böhm, Franz (1950), Die Idee des Ordo im Denken Walter Euckens, ORDO, Jg. 3, S. XV-LXIV. Böhm, Franz (1953/60), Der Rechtsstaat und der soziale Wohlfahrtsstaat, in: Franz Böhm, Reden und Schriften, Karlsruhe, S. 82-150. Böhm, Franz (1957/60), Die Forschungs- und Lehrgemeinschaft zwischen Juristen und Volkswirten an der Universität Freiburg in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Franz Böhm, Reden und Schriften, Karlsruhe, S. 158-175. Böhm, Franz (1966), Marktwirtschaft und Privatrechtsgesellschaft, ORDO, Bd. 17, S. 75-151. Buchanan, James (1975), The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago und London. Eucken, Walter (1940/89), Die Grundlagen der Nationalökonomie, 9. Aufl., Berlin. kung" (Eucken 1952/90, 332). Das Problem ist noch offen. Auch gedanklich ist seine Bewältigung kaum begonnen" (Eucken 1952/90, 331).
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Zusammenfassung Die wirtschaftspolitischen Konzeptionen Walter Euckem und Alfred Müller-Armacks werden oftmals unter der Rubrik Ordoliberalismus (bisweilen auch: Neoliberalismus) subsumiert. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß die Arbeiten Müller-Armacks - vor wie nach 1945 - auf einer StaatsaufFassung beruhen, die der ordoliberalen Konzeption der Freiburger Schule entgegen steht. Müller-Armack weist der Politik einen umfassenden Gestaltungsauftrag zur Formulierung und Umsetzung gesellschaftspolitischer Ziele zu. Eucken hingegen möchte die Aufgabe des Staates auf die Setzung der Rahmenordnung beschränkt sehen. Während Müller-Armack die Sozialpolitik als einen zweiten Pfeiler neben die Ordnungspolitik setzt, damit im Konfliktfalle soziale Ziele wirtschaftlichen nicht untergeordnet werden, sondern gleichrangig neben diesen stehen, geht
104 - Jürgen Lange-von Kulessa und Andreas Renner Euchen davon aus, daß die Politik der Wettbewerbsordnung auch die soziale Frage einer Lösung zufuhrt. Damit besteht zwischen Miiller-Armacks eher paternalistischer Staatsauffassung und dem Freiburger Leitbild eines auf seine Ordnungsfunktion beschränkten Staates ein nur schwer zu vereinbarender Gegensatz. Summary Alfred Müller-Armack's 'Social Market Economy' and Walter Eucken's 'Ordoliberalism' - On the incompatibility of their political philosophies Walter Eucken's and AlfredMiiller-Armack's concepts of economic policy are often subsumed under the same term Ordoliberalism'. In this paper it is shown, however, that on a closer glance the political philosophies underlying Miiller-Armack's Social Market Economy and Euckens Ordoliberalism actually differ substantially. While Miiller-Armack assigns to the state broad competences including the definition and realization of collective objectives, Eucken calls for a limited government in order to saveguard individual liberty; state activity should be limited to „Ordnungspolitik", i.e. the installation of an institutional framework. While Miiller-Armack views the benefits of „Ordnungspolitik" merely in the achievement of economic wealth and therefore pleads for an additional social policy, Eucken argues that both economic and social objectives may be reached via „Ordnungspolitik". It therefore has to be acknowledged that Miiller-Armack's plea for a paternalistic state and Eucken's idea of limitated government are incompatible.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Alfred Schüller
Der wirtschaftspolitische Punktualismus: Triebkräfte, Ziele, Eingriffsformen und Wirkungen
I. Einleitung Der wirtschaftspolitische Punktualismus (im folgenden auch punktueller Interventionismus genannt) ist durch privilegierende oder diskriminierende Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen gekennzeichnet. Der isolierte Charakter der Interventionen widerspricht der grundlegenden Erkenntnis von der Interdependenz aller wirtschaftlichen Erscheinungen, Bewertungen und Handlungen (Euchen 1948, 56 ff ). Nur dann, wenn dieser Zusammenhang gewahrt bleibt, können die knappen Ressourcen hinsichtlich der gegebenen oder denkbaren Verwendungsalternativen dorthin gelenkt werden, wo sie am besten zur Knappheitsminderung beitragen können. Allerdings setzt dies eine Wirtschaftsrechnung als Grundlage fur die Bewältigung folgender Aufgaben voraus: 1. Die Information über die Knappheitsverhältnisse. 2. Die Motivation, entsprechende Informationen zu beschaffen und von diesen im Hinblick auf alternative wirtschaftliche Handlungsmöglichkeiten bestmöglich Gebrauch zu machen. 3. Die Koordination dieser Handlungsmöglichkeiten und ihre Anpassung an veränderte Knappheitsverhältnisse. 4. Die Kontrolle als notwendige Überprüfung dessen, was bei den knappheitsmindernden Bemühungen erreicht wurde und was dafür aufzuwenden war. Die Wirtschaftsrechnung zeigt nach Ludwig von Mises „einen Weg durch die erdrükkende Fülle" allokativer Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten. Damit macht sie nicht nur die Werte, sondern auch ein Wirtschaften auf unterschiedlich langen Produktionswegen rechenbar: ,.Hätten wir keine Wirtschaftsrechnung, dann wäre alles Produzieren mit weiter ausholenden Prozessen ein Tappen im Dunkeln" (von Mises 1920/1921, 97). Seit 1917 ist mit höchstem Machteinsatz der Versuch unternommen worden, mit Hilfe der Zentralverwaltungswirtschaft, d. h. einem alle wirtschaftlichen Erscheinungen, Bewertungen und Handlungen umfassenden (vom Anspruch her systematischen) wirtschaftspolitischen Punktualismus, der sog. Arbeiterklasse eine Welt von wirtschaftlichen und sozialen Privilegien zu schaffen und diese als „sozialistische Errungenschaften" zu garantieren. Dieser Versuch ist bekanntlich daran gescheitert, daß unter diesen Ordnungsbedingungen eine Wirtschaftsrechnung praktisch unmöglich ist (von Mises 1932, 188; Watrin 1996, 48 ff). Auf seinem Rückzug hat der systematische Punktualismus nach 1989 absurde Zustände von wirtschaftlicher und sozialer Desintegration und Verarmung hinterlassen. Seitdem hat der ORDO-Gedanke, also die Idee, die mannigfachen wirtschaftlichen Erscheinungen, Handlungen und Bewertungen sinnvoll zu einem Ganzen zusammenzufügen, zumindest konzeptionell wieder an Einfluß gewonnen. Ohne Kennt-
106 · Alfred Schüller nis des institutionellen Aufbaus und der Funktionsweise von Gesamtordnungen, ohne eine entsprechend anspruchsvolle ordnungspolitische Meßlatte stehen die politischen Bemühungen, den Übergang zur marktwirtschaftlichen Ordnung zu organisieren, in der Gefahr, den Gesamtzusammenhang der wirtschaftlichen Erscheinungen, Handlungen und Bewertungen zu verkennen und die Frage der Vereinbarkeit der verschiedenen Teilordnungen - vor allem der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung (Schüller und Weber 1998, 409) - zu verdrängen. Demgegenüber ist an den umfassenden .Systemcharakter einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung zu erinnern, der in den konstituierenden, regulierenden und staatspolitischen Grundsätzen für eine „Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs" prägnant zum Ausdruck kommt. In Verbindung mit den Institutionen einer Zivilrechtsgesellschaft ermöglichen diese Prinzipien, wie Walter Euchen (1950/1990, 241-324 und 334-337) gezeigt hat, in dem Maße soziale Gerechtigkeit, wie sich eine Rechts-, Tausch-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft - frei von Privilegien - entwickeln kann. Diese Gemeinschaft bildet auf der Grundlage der gesetzlichen Gleichbehandlung der Menschen und der Allgemeingültigkeit der Handlungsrechte (von Hayek 1971, 264 ff.) einen gemeinsamen preisgesteuerten Wettbewerbs- und Rechnungszusammenhang. Die gesetzliche Gleichbehandlung der Individuen sichert den freien Marktzugang für jedermann. Auf diese Weise können unbekannte Personen, die über geeignetes Wissen für bestimmte Aufgaben verfügen, um die besten Lösungen konkurrieren und dabei neues ineinandergreifendes, auf die Knappheitsminderung bezogenes Wissen hervorbringen und ungewollt im Marktgeschehen verbreiten. Die Allgemeingültigkeit der Regeln stellt sicher, daß die Anpassungserfordernisse im Strukturwandel nicht privilegierend wirksam werden, daß die Unternehmen und ihre Verbände nicht selbst die Regeln, nach denen sie am Wettbewerb teilnehmen, festlegen und zu wettbewerbsbeschränkenden Absprachen mit Sondervorteilen mißbrauchen können, daß der potentielle Wettbewerb nicht ausgeschaltet werden kann, daß Staatsunternehmen im Wettbewerb wie Privatunternehmen behandelt werden (was streng genommen allerdings ihre Privatisierung erfordert). Die Allgemeingültigkeit der Gesetze setzt - allgemein gesprochen - voraus, daß die vom Staat zu normierenden Wettbewerbsregeln zur Herstellung und Sicherung der Wettbewerbsfreiheit sich in gleicher Weise gegen staatliche wie private Wettbewerbsbeschränkungen richten. Erst auf der Grundlage des preisgesteuerten Wettbewerbs- und Rechnungszusammenhangs, also der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsrechnung, kann aus bilateralen Vertrags- und Tauschbeziehungen ein offenes multilaterales Marktsystem entstehen. In ihm beruht die Erfolgsrechnung des einzelnen auf Informationen, Anreizen und Kontrollen, die zugleich bestmöglich zur Minderung der wirtschaftlichen Knappheit in der Gesellschaft beizutragen vermögen. Im Widerspruch zu dem Sys/e/wcharakter der marktwirtschaftlichen Ordnung steht der wirtschaftspolitische Punktualismus, der die praktische Wirtschaftspolitik unsystematisch - nicht selten in großer Vielfalt - durchdringt. Die nachkommunistischen Transformationsländer berufen sich - angesichts schwieriger politischer Manöver, die auf dem Rückzug vom systematischen Punktualismus zu bewältigen sind - gerne darauf. So vermittelt die Soziale Marktwirtschaft in ihrem heute verbreiteten Verständnis den Eindruck unzu-
Wirtschaftspolitischer Punktualismus · 107 sammenhängender und widerspruchsvoller, ja chaotischer staatlicher Eingriffe. Diese werden von den Befürwortern vielfach als „soziale Errungenschaften" verteidigt und als Qualitätsmerkmal einer modernen Sozialen Marktwirtschaft ausgewiesen. Indem bestimmten Personengruppen, Branchen und Regionen wettbewerbswidrige Sonderstellungen eingeräumt werden, entsteht eine „Verinselung" der Wirtschaftspolitik. Der volkswirtschaftliche Rechnungszusammenhang wird verdunkelt und brüchig. Die Bruchstücke müssen dann notdürftig durch bürokratische Bindungsglieder verknüpft werden. Diese Ersatzverfahren der Koordination sind mit der Entwicklung abgesonderter Rechts- und Verwaltungssysteme verbunden. Die Frage, ob der unsystematische wirtschaftspolitische Punktualismus - etwa in Deutschland - ebenfalls auf dem Rückzug ist, wird im folgenden im größeren Zusammenhang des Versuchs behandelt, die entsprechenden Eingriffe systematisch zu erfassen und ihre ordnungspolitische Problematik unter fünf Gesichtspunkten zu behandeln: Im Hinblick auf die treibenden Kräfte im politischen Prozeß (Kapitel II); hinsichtlich der damit verfolgten Ziele (Kapitel III); mit Blick auf die Eigendynamik des angestrebten Wirkungsbereichs (Kapitel IV), die Eingriffsformen (Kapitel V) und die Auswirkungen auf den Marktprozeß und die Wirtschaftspolitik (Kapitel VI).
108 · Alfred Schüller
Übersicht 1: Triebkrfift« des PI Im politischen ProzeB L - Verbfinde - Parteien - Staatliche Bürokratie - Kirchen - Medien
Punktueller Interventionismus (PI) Ziele des PI
II. - Politische Machtsicherung - Positionssichening im Marktprozefi •Strukturanpassung (Milderung des Anpassungszwangs Helping the Losers) * Strukturerhaltung (Sicherung "Industrieller Kerne", der "Bürgerpost" usw.) * Strukturgestaltung (Förderung von "zukunftsträchtigen" Produktionsbereichen, "Schlüsseltechnologien", Industriepolitik - Picking the Winners) - Soziale Gerechtigkeit Zur Sicherung sozialer Positionen für bestimmte Personen (Einzelfallgerechtigkeit) oder Gruppen (Gruppengerechtigkeit) hinsichtlich Einkommen ("Einkommensparität" zwischen vergleichbaren Wirtschaftsgruppen), Beschäftigung ("Insider"-Schutz), Wohnung usw. ("Recht auf..."), hinsichtlich bestimmter Interventionsstrukturen - Förderung von Entwicklung»-, Integrations- und Transformationsprozessen
Angestrebter Wirkrnifs be reich
Formen des Eingriffs in den Marktprozefi
Auswirkungen des PI
III. IV. V. - Marktzutritts- Sektorale MaßnahAuswirkungen auf den Marktprozefi beschränkungen men für bestimmte • Marktsystem wird von unproduktiven (verschwenderischen) "Ersatzverfahren Branchen und Be- Aus-und Einfuhrverbote der Koordination" verdrängt oder überrufe • Investitionsbezogene Einlagert (Landwirtschaft, griffe Bergbau, Schiffbau, - Verzerrung des marktwirtschaftlichen Verkehr, Stahl, * Direkte Rechnungszusammenhangs mit der (InvestitionsgenehEnergie, "Freie Folge von Fehl anreizen und einer wirtmigungen) Berufe") schaftlichen und sozialen Desintegrati• Regionale Maßnahon. * Indirekte men zugunsten (Investitionsauflagen, - Wirtschaftliche Diskriminierung der "strukturschwacher Finanzierungshilfen) (Verbands-) politisch Schwachen und der Gebiete" Konsumenten. • Mengenbezogene Eingriffe - Faktorspezifische - Vordringen der Staatskontrolle, verbun* Produktionsquoten, Eingriffe in den mit einer "institutionellen ZersplitAnbau* Arbeitsmärkte terung" und mit umfangreichen und flächenbegrenzung, Allgemein unzusammenhängenden DetailregulieBeimischungszwang (Lohnrungen. •Lagerhaltung?· regulierunge - Das Bewußtsein für die Erfordernisse Vorschriften η durch der wettbewerblichen Gesamtordnung * Importkontingente staatlich gegeht in der Bevölkerung verloren (Sucht stützte Tarif* Selbstbeschränkungsabnach Umverteilung). kaitelle) kommen - Insgesamt verliert das Marktsystem mit * Speziell (Ent- Preisbezogene Eingriffe dem Ausmaß des PI an Innovations-, sendegesetz, Anpassungs-, und Wettbewerbsfähig* Preisdirigismus EU-weite keit. (Höchst-, Mindest-, EntsendeFestpreise, Preisrichtlinie zuAuswirkungen auf die Wirtschaftsleitlinien) gunsten der politik Bauarbeiter) - Wirtschaftspolitik wird von Interventi* Preisbelastungen * Kapitalmärkte onsressorts und politisch mächtigen - Direkte (Zölle, Verbänden ("Korporatismus") domiAllgemein zollähnliche Einniert Diese wirtschafts- und sozialpoliti(Zins-und fuhrbeschränkunschen Machtkörper bilden Regierungen Wechselkursgen, Abschöpfunin der Regierung. Die Belange der Geregulierung gen, Antidumpingsamtordnung werden nachrangig. im Sinne von zölle) - Der PI als selektiv-diskriminierend Höchst-und Indirekte Mindestwirkende Wirtschaftspolitik ist anfällig (Produktspezifische preisen, für Korruption, Subventionskriminalität Steuerbelastungen, multiplen und Mißbrauch von staatlichen LeistunLuxussteuern) Wechgen. Verfall der Geschäftsmoral. Erhöh* Preisentlastungen selkursen, ter Moralverzehr. Direkte (Prämien, Devi• Der Kampf um die Durchsetzung und Subventionen für senbewirtsch Sicherung von Sonderinteressen und um bestimmte Exporte, aftung) die Macht im Staat verschmelzen zu Branchen Speziell einer Einheit; Schwächung des Rechts[Landwirtschaft], (Kapitalstaats. Unternehmen, Länverkehrsder und Regionen • Der wirtschaftspolitische Punktualismus beschränk[Zollpräferenzen, ist eine Quelle der Unterentwicklung ungen, Regustaatliche Absichelation von und Unregierbarkeit rung von ExportTeilzahlungsFolgerungen: kreditrisiken], Lebanken usw.) - Wehoffene Güter-und Finanzmärkte, bens- und Verkehrs* Bodenmärkte entsprechende Formen der internationamittel, Wohnungen, len Arbeitsteilung und der grenzüberGrundrentenärztliche Versorschreitenden Unternehmenstäiigkeit regulierung gung) engen spontan den Spielraum für eine Indirekte erfolgreiche rentensuchende Politik ein. (Produktspezifische - "Wir können die Macht organisierter Steuervergünstigungen, z.B. für BüInteressen nur begrenzen, wenn die cher, den WohMacht der Regierungen begrenzt wird" nungsbau) (Friedrich A. von Hayek).
Wirtschaftspolitischer Punktualismus · 109
II. Die Triebkräfte des punktuellen Interventionismus im politischen Prozeß Treibende Kräfte sind vor allem Verbände, Parteien, die Kirchen und die Staatsbürokratie. (1) Organisierte Wirtschaftsgruppen (Verbände) versuchen, auf dem Weg des „politischen Tauschs" (James M. Buchanan) mit den Parteien den Geltungsbereich der allgemeinen wettbewerblichen Marktkontrolle einzuschränken oder zu beseitigen und damit ihren Mitgliedern einen Einkommensvorteil, eine wirtschaftliche Rente, zu verschaffen. Mit der Hilfe der Staatsbürokratie, der publizistischen und moralischen Unterstützung der Medien und der Kirchen läßt sich das Rentenstreben leichter durchsetzen und auf Dauer behaupten. Es wäre jedoch verfehlt, Verbandspolitik und die Verfolgung von Sonderinteressen einfach gleichzusetzen. Es gibt Verbände, die im punktuellen Interventionismus den Grund für die Entstehung nicht-wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstrukturen sehen und sich öffentlich für ein Gesetz zur Begrenzung und zum Abbau des punktuellen Interventionismus im allgemeinen und von Subventionen im besonderen einsetzen. Ein Beispiel ist der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDAÍA). Die Ursachen für die Ausbreitung des punktuellen Interventionismus liegen letztlich in der gelebten Verfassung der parlamentarischen Demokratie (siehe Kapitel VI). (2) Wenn Parteien versuchen, mit dem Angebot von punktuellen Interventionen ihre Position im Wettbewerb auf dem Wählerstimmenmarkt zu verbessern, so kommt dem auf der Nachfrageseite entgegen, daß der Nutzen und die Kosten des wettbewerblichen Marktsystems in der Bevölkerung vielfach asymmetrisch wahrgenommen werden: Der Nutzen fällt in einem breit gestreuten Komplex von wirtschaftlichen Handlungsund Wahlmöglichkeiten an. Davon profitieren die Nachfrager, aber auch vor allem diejenigen Anbieter, die sich im Wettbewerb durchsetzen und Leistungen erbringen, die von den Käufern begehrt werden. Einerseits sind die Triebkräfte des Wettbewerbs „Innovation, Investition und Arbitrage" (Ulrich Fehl) die leistungsstimulierende und -kontrollierende Bedingung für ein effizientes Marktsystem. Andererseits erzeugt der Wettbewerb im Entwicklungsprozeß der Märkte Anpassungszwänge, die von denjenigen als unangenehm empfunden werden, die weniger erfolgreich sind, um die sich bietenden Gelegenheiten zu nutzen und deren Einkommens- und Beschäftigungsperspektiven sich deshalb verschlechtern. Diese „Kosten" des Wettbewerbs fallen im Wandel des Marktgeschehens häufig branchen- und unternehmensspezifisch, nicht selten auch regional oder örtlich konzentriert an. Sie sind deshalb bestimmten Personengruppen direkt zurechenbar. Eine Marktwirtschaft kann aber auf Dauer nur funktionieren, „wenn die Enttäuschten eines Marktes mit dem Ergebnis auf anderen Märkten zufrieden gestellt werden oder zumindest von der - in der Praxis offenkundigen - ökonomischen Überlegenheit einer dezentralen Lenkung im Vergleich zur zentralen Planwirtschaft überzeugt sind oder werden können. Es ist eine Existenzfrage für das Fortbestehen einer von staatlichen Eingriffen in den Markt freien dezentralen Lenkung und einer Demokratie, daß dieser Zusammenhang von der Mehrheit gesehen, trotz gelegentlich entgegenstehender Einzelwünsche
110 · Alfred Schüller akzeptiert und - soweit die Mehrheit dazu außerstande ist - nicht von Politikern in demagogischer Weise ausgenutzt wird. Zu den Schwächen von Demokratien scheint es zu gehören, daß die Realisierung dieser Voraussetzungen auf Schwierigkeiten stößt" ( Woll 1981, 204). Die asymmetrische Empfindung von Vor- und Nachteilen des wettbewerblichen Marktsystems ist nämlich einem politischen Klima forderlich, in dem sich unter den Bedingungen einer Verbands- und medienpolitisch beeinflußten Praxis der „unbeschränkten Demokratie" (von Hayek 1971, 142) emotionale Betroffenheit („Mitleidsethik") mobilisieren und Eingriffsbereitschaft zu Gunsten der Verlierer „kaufen" läßt. Hierfür sind vor allem solche Politiker empfänglich, die in einer großzügigen Interpretation von § 1 Abs. 2 des Parteiengesetzes Zuständigkeiten "auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens" beanspruchen und sich davon im Wettbewerb der Parteien Vorteile versprechen. Politiker mit Präferenzen für wohlfahrtsstaatliche Eingriffe neigen ohnehin dazu, wirtschaftliche Ungleichheit mit Unrecht gleichzusetzen und in wettbewerblichen Marktprozessen die Ursache für eine fortschreitende Vertiefung von Ungleichheiten zu sehen. Das Rentenstreben in der Verkleidung von Postulaten einer gruppenorientierten sozialen Gerechtigkeit verbindet sich hierbei mit dem Versprechen, konkrete (wählerwirksame) soziale und wirtschaftliche Zustände unabhängig von den Funktionsbedingungen eines marktwirtschaftlichen Wettbewerbs- und Rechnungszusammenhangs zu sichern. Entsprechende Bedarfs- und Versorgungsansprüche lassen sich in der Öffentlichkeit leichter erheben und durchsetzen, wenn auch die Kirchen und deren Einrichtungen in einem egalitären Verständnis von sozialer Gerechtigkeit das übergeordnete Leitbild gesellschaftlichen Handelns sehen, etwa mit folgender Begründung: „Angesichts real unterschiedlicher Ausgangsvoraussetzungen ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, bestehende Diskriminierungen aufgrund von Ungleichheiten abzubauen und allen Gliedern der Gesellschaft gleiche Chancen und gleichwertige Lebensbedingungen zu ermöglichen" (Gemeinsames Wort der Kirchen 1997, Abschnitt 111). Die damit geforderte Einzelfallgerechtigkeit ist Ausgangspunkt und moralische Legitimation für einen punktuellen Interventionismus mit einem kaum zu begrenzenden Eingriffs"bedarf*. Die politischen Kräfte und bürokratischen Einrichtungen, die dieses Gerechtigkeitspostulat unter den Bedingungen der „unbegrenzten Demokratie" mit Leben zu erfüllen haben, dürfen sich mit dieser Rückendeckung auch moralisch legitimiert betrachten, der Neigung zu einem wählerwirksamen Punktualismus nachzugeben. Von diesem Denkansatz des redistributiven Interventionismus her („Ungleiches ist ungleich zu behandeln") sind die in Spalte IV aufgelisteten Eingriffsformen bestimmt. 3) Der praktische Vollzug des punktuellen Interventionismus erfordert ein von der Art des Eingriffs abhängiges spezialisiertes Interventionsmanagement mit spezifischem Wissen. Mit diesem Expertenwissen verbinden sich ein Einkommensstatus und Karriereerwartungen sowie ein besonderes Interesse, die Eingriffe - unter Berufung auf das öffentliche Wohl - beizubehalten und auszubauen. Diese staatsbürokratische Triebkraft des punktuellen Interventionismus wird verstärkt, wenn hinter den Eingriffen Verbände stehen, die über ihren Einfluß auf die Regierungspartei die Personalpolitik der Interventionsinstanzen mitbestimmen können. So stehen die Minister für Arbeit und Soziales sowie
Wirtschaftspolitischer Punktualismus · 111 für Ernährung und Landwirtschaft in Deutschland regelmäßig den gewerkschaftlichen und landwirtschaftlichen Spitzenverbänden nahe und vertreten grundsätzlich deren Politik. Generell unterliegt die Interventionsbürokratie der Gefahr, den Eingriff zum eigenen Programm zu erheben und sich zum wichtigsten Anwalt derjenigen Bereiche zu machen, die sie eigentlich überwachen soll.
III. Zu den Zielen des punktuellen Interventionismus Die mit punktuellen Interventionen verfolgten Ziele (siehe Spalte II der Übersicht 1) sind meist vage oder gar verdeckt formuliert; sie erschweren damit eine wissenschaftlich anspruchsvolle Überprüfung der Frage, ob der Eingriff zielgerecht ist. Die speziellen Ziele sind letztlich auf wirtschaftliche und soziale Endergebnisse gerichtet, von denen angenommen wird, daß sie in einem wettbewerblichen Marktsystem nicht, nicht so sicher oder so schnell wie im politischen Prozeß erreichbar sind. In Verbindung mit den Triebkräften des punktuellen Interventionismus liegt folgende Ordnung der Ziele nahe: 1. Interventionismus der Staatsräson, etwa im Sinne der Schutzzoll- und Sozialpolitik von Bismarck. Mit der 1879 begonnenen Schutzzollpolitik versuchte Bismarck (noch bis zur Mitte der siebziger Jahre ein überzeugter Freihändler), machtpolitische Ziele zu erreichen: - Schutz der ostelbischen Agrarier und des sie repräsentierenden Junkertums, der politisch mächtigsten Schicht im Staate, aus der sich das höhere Beamtentum und das Offizierskorps rekrutierte, vor der aufkommenden ausländischen Getreidekonkurrenz. - Erschließung einer staatlichen Einnahmequelle, um der Reichszentralgewalt eine größerefinanzielleUnabhängigkeit von den Bundesstaaten zu verschaffen. - Politische Beschwichtigung der Arbeiterschaft durch Ausdehnung der Schutzzollpolitik auf die Industrie im Sinne des Gedankens vom Solidarschutzzoll („Bündnis zwischen Roggen und Stahl"). Diese strukturkonservierende Agrarpolitik wurde nach dem I. Weltkrieg, verstärkt zwischen 1933 und 1945, und nach dem II. Weltkrieg mit den Marktordnungsgesetzen von 1950/1951 und schließlich mit dem Landwirtschaftsgesetz von 1955 fortgesetzt. Auch die Bismarck" sehe Sozialpolitik als Konzept einer mit ständisch-korporativen Elementen versehenen staatsmonopolistischen Versicherungslösung war machtpolitisch motiviert. Als „Komplement zum Sozialistengesetz" sollte sie das von Bismarck gegründete Reich institutionell zusammenhalten (Vaubel 1991, 176 ff ). Auch für Adenauer war die Rentenreform von 1956/1957 ein Mittel, die Regierungsmacht zu sichern; in der Auseinandersetzung mit der Opposition wird diese Rentenreform als das Ergebnis eines „regelrechten Wettlaufs in den Wohlfahrts- und Versorgungsstaat" betrachtet (siehe Koerfer 1998, 8). Diese und ähnliche Eingriffe stehen im Widerspruch zur Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs; zugleich sind es Beispiele dafür, mit welch ungeheurer Beharrungs-, Expansions- und Verschwendungskraft solche Eingriffe fortwirken können (für die interventionistische Alterssicherung siehe insbesondere Glismann und Horn 1997, 505 ff ).
112 · Alfred Schüller 2. Interventionismus der Verbands- und Parteiräson, und zwar im Zusammenwirken von Unternehmer- und Arbeitnehmerverbänden einerseits und von Parteien und staatlichen Stellen andererseits. Bei diesem Zielkomplex lassen sich folgende Teilaspekte unterscheiden: a. Interventionismus der Strukturerhaltung und -anpassung mit dem Ziel, sich dem marktwirtschaftlichen Strukturwandel entziehen oder sich mit geringeren Kosten an diesen anpassen zu können. b. Interventionismus der Strukturgestaltung mit dem Ziel, Neuerungen zu begünstigen und damit potentielle Wachstumsbereiche zu fordern. c. Interventionismus der Sozialstaats- oder Wohlfahrtsstaatsräson. Im Sozial- und Wohlfahrtsstaat wird ein „eigenständiger moralischer Wert", im Extremfall „ein Religionsersatz" oder „ein übermenschliches, alles vermögendes Wesen" {Euchen 1932/1997, 12) mit der Aufgabe gesehen, die gesamte Bevölkerung staatlich zu fördern und zu betreuen. Dieses Ziel wird in Verbindung mit dem Postulat der sozialen (materialen) Gerechtigkeit als Rechtfertigung für weitreichende Eingriffe angesehen: „Grenzpreise" als Höchst-, Mindest- und Spannenpreise (Woll 1981,202 ff.) und andere Formen der Beeinflussung des Marktgeschehens im Hinblick auf Ergebnisse, die bestimmten Personengruppen, Branchen und Regionen zugute kommen sollen. 3. Interventionismus der Entwicklungsräson, etwa nach dem am Konzept der "Befriedigung von Grundbedürfnissen" orientierten (welt-)marktfeindlichen nationalistisch-egalitären Entwicklungsinterventionismus (Schüller 1989, 411 ff.; Jungfer 1991), wie er lange Zeit vor allem in Lateinamerika praktiziert wurde. Dagegen bevorzugt der ostasiatische Entwicklungsinterventionismus mehr weltoffene Formen der Förderung und Sicherung der Triebkräfte des Wettbewerbs. 4. Interventionismus der Integrationsräson, wie von der EG mit Formen des sektoralen Interventionismus (Montan- und Agrarunion) begonnen, seit 1973 mit jeder Erweiterung intensiviert. Dies gilt vor allem für den Agrarbereich, der 1998 mit 40 Mrd. ECU 50 % des Gesamthaushalts der Europäischen Union verschlingt. Dieser Punktualismus wird jetzt von der EU mit einer neuen strukturpolitischen Stoßrichtung vor allem in der Außenhandelspolitik (etwa mit Anti-Dumping-Verfahren; siehe Gröner 1994, 55 ff.), in der Wettbewerbspolitik (etwa hinsichtlich der Fusions- und Beihilfekontrolle; Oberender und Okruch 1994, 507 ff.) sowie in der Technologie- und Industriepolitik (mit sektoralen und regionalen Schwerpunktsetzungen und entsprechenden Kapitaltransfers) fortgeführt. 5. Interventionismus der Transformationsländer beim Übergang vom systematischen Punktualismus, also von der Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs, zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Weil hierbei die politischen Freiheitsrechte (der Demokratie) schneller und leichter erfüllbar sind als die wirtschaftlichen und sozialen Wohlstandserwartungen, ist im Hinblick auf die Ziele 1. bis 3. mit starken Triebkräften zu rechnen, einen umfangreichen unsystematischen Punktualismus beizubehalten (Schüller 1992, 35 ff.; Gutmann 1997, 157 ff ). Dementsprechend chaotisch kann dann, wie etwa in Rußland zu beobachten ist, der Transformationsprozeß verlaufen. Im politischen Prozeß wird nicht nur versucht, die Zielberechtigung mit Hilfe eines punktuellen Verständnisses von sozialer Gerechtigkeit, sondern auch mit verbalen Be-
Wirtschaftspolitischer Punktualismus · 113 schönigungen der Zielfolgen („im Dienste des sozialen Friedens") zu vernebeln. Hierfür werden auch Argumente des Marktversagens oder einer überlegenen staatlichen Interventionskompetenz gegenüber Marktlösungen bemüht. Dabei ist die Diagnose von Marktversagen um so problematischer, je weniger die Lenkungsschwächen der staatlichen Eingriffsinstanzen und der von ihnen verursachten negativen externen Effekte (siehe Kap. VI.) berücksichtigt werden. Unbestritten ist, daß punktuelle Interventionen des Staates durch externe Effekte gerechtfertigt sein können, wie in den Bereichen Bildung und Grundlagenforschung zur Sicherung von positiven und beim Umweltschutz zur Vermeidung von negativen Externalitäten. Die Widersprüchlichkeit der Ziele des Punktualismus offenbart sich nicht ohne weiteres; sie zu erkennen, setzt vielmehr die Bereitschaft und Fähigkeit zu einer komplexen Analyse der Problemlage voraus, wobei die Konsequenzen alternativer Lösungsmöglichkeiten zu bedenken sind. So lassen Marktängste und mangelndes Systemwissen leicht übersehen, daß dem Eingriffsbegehren Interventionen vorausgegangen sind; würde auf diese verzichtet, brauchte nicht erneut eingegriffen zu werden. Häufig wird auch außer acht gelassen, daß die Kräfte der Selbsthilfe und der freiwilligen Solidarität wirkungsvollere Problemlösungen bieten. Auch werden die Ziele „Anpassung" und „Gestaltung" in der politischen Rhetorik der Eingriffsbegründung - sachlich bisweilen ununterscheidbar vorgeschoben, um mit der Rückendeckung einflußreicher Verbände und Bürokratien Mitnahmegelegenheiten und dauerhafte Einkommensvorteile zu sichern. Je weiter die Praxis der Eingriffe fortgeschritten ist, desto mehr gehen die verschiedenen Ziele ohnehin ununterscheidbar ineinander über. Der Versuch einer Grenzziehung wird im Interventionschaos schließlich illusorisch. In Verbindung mit dem zweiten Zielkomplex ist auch nicht auszuschließen, daß mit dem vorgegebenen Eingriffsziel eigentlich beabsichtigt wird, die marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung als solche im Kern auszuhöhlen und zu überwinden.
IV. Eigendynamik des angestrebten Wirkungsbereichs Auch bei dem Versuch, den punktuellen Interventionismus bestimmten Wirkungsbereichen (Branchen, Regionen, Einzelfällen) zuzuordnen (siehe Spalte III der Übersicht 1), treten diffuse Schnittstellen auf: Eingriffe, die als sektorspezifisch ausgewiesen werden, konzentrieren sich häufig auf wenige Unternehmen (Werften, Berg- und Stahlwerke, „industrielle Kerne"). Auch branchenübergreifende Interventionen beziehen sich meist auf bestimmte Unternehmen, Branchen und „strukturschwache" Regionen. Nicht selten reflektiert die Auswahl Verbands- und parteipolitische Machtverhältnisse, die Bindungswirkung vorausgegangener Interventionen und den Umstand begrenzter Hilfsmittel. So reduzieren sich Maßnahmen der Regional- und Strukturpolitik häufig auf maßgeschneiderte Einzelaktionen, womit der Punktualismus auf die Spitze getrieben wird. Nicht selten dürften Finanzhilfen, die bestimmten (unteren) Einkommensschichten zugedacht sind (etwa in Form von Wohnbau- und Mietkostenbeihilfen), letztlich andere Empfänger (Bauunternehmen) begünstigen. Wenn die Schnittstellen ineinander übergehen, wächst
114 · Alfred Schüller auch das Risiko, daß mehrfach oder überlappend interveniert wird - etwa mit Finanzhilfen des Bundes, der Länder, der Gemeinden, der Bundesanstalt für Arbeit, der EU. Das mit der „Verinselung" der Wirtschaftspolitik verfolgte Sonderinteresse ruft - wie schon angedeutet - Wirkungen hervor, die sich nicht isolieren lassen; häufig laufen sie nicht nur dem beabsichtigten Zweck zuwider, sondern lösen bei fortschreitender Verzerrung der Anreizwirkungen im Gefolge der Zielverfehlung erhöhten verbandspolitischen und gesellschaftlichen Druck aus, um den Eingriff zu verstärken. Die Expansion des Wirkungsbereichs fuhrt über eine Interventionsspirale zu einem sich verfestigenden Kern von Subventionen. Typisch für die spiralförmige Entwicklung des punktuellen Interventionismus sind das Arbeits- und Sozialrecht, die Arbeitsverwaltung und Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland; die Beschäftigungswirkung der einseitigen sozialpolitischen Instrumentalisierung dieser Aufgabengebiete der Wirtschaftspolitik ergibt sich aus folgendem Erklärungszusammenhang: Die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeit leitet sich strukturell von den Anforderungen der Produktmärkte ab. Auf diesen sind heute mehr denn je Entscheidungen gefordert, die von den Triebkräften des internationalen Wettbewerbs- und Rechnungszusammenhangs beeinflußt sind: Vorstoßende und nachahmende Handlungen in Form von spontanen Innovationen, Investitionen und von Bemühungen, aus Preisunterschieden im Marktsystem einen (Arbitrage-)Vorteil zu ziehen. In diesem Prozeß der ständigen Differenzierung, der sich heute im Rahmen einer weltweiten Arbeitsteilung vollzieht, verschiebt sich immer wieder auch die Erwerbsstruktur. Schrumpfende Produktionszweige verlieren, expandierende Bereiche gewinnen Beschäftigungsmöglichkeiten. Eine Wirtschaftspolitik, die die Gleichrichtung der Arbeitsmärkte mit den kalkulatorischen Anforderungen der Produktmärkte erleichtert, ist die Bedingung dafür, daß der Strukturwandel eine Quelle des Wohlstands für alle bleibt, die arbeiten wollen und können. Beschäftigungskrisen drücken im Normalfall einen tiefgreifenden Bruch im Wettbewerbs- und Rechnungszusammenhang der Produkt-, Finanz- und Arbeitsmärkte aus. Wer dies anerkennt und die gegenwärtige Beschäftigungskrise als Konsequenz einer jahrzehntelang betriebenen marktwidrigen „Verinselung" des Arbeitsmarktgeschehens betrachtet, folgert daraus: Die Arbeitsmärkte sind in einer Weise in die Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs zu integrieren, daß auf ihnen die Knappheitsverhältnisse für verschieden qualifizierte und nachgefragte Arbeit mit Hilfe des Preissystems wieder sichtbar und wirksam werden können. Wer dagegen die Ursache der Beschäftigungskrise in einem unzureichenden Ausmaß von Interventionen sieht, wird darauf drängen, die bisherigen Schutzmauern mit weiteren punktuellen Maßnahmen des Staates zu stützen und zu stärken, etwa mit folgenden Mitteln: - Ausbau der Mitbestimmung, um die Unternehmen daran zu hindern, auf Lohnerhöhungen mit arbeitssparenden Rationalisierungsanstrengungen und Produktionsverlagerangen ins Ausland zu reagieren. - Erweiterung der Möglichkeiten der Frühverrentung, ohne die Abschläge hierfür versicherangsmathematisch genau zu bestimmen, das heißt auf Kosten der Gemeinschaft aller Versicherten und Steuerzahler.
Wirtschaftspolitischer Punktualisitius · 115 - Durch eine Verkürzung der gesetzlichen Arbeitszeit und der Ewerbsarbeitszeit (ohne vollen Lohnausgleich), durch Vorschriften zum Abbau oder Verbot von Überstunden (in Verbindung mit einer „gerechteren" Verteilung der verbliebenen Erwerbsarbeit „auch zwischen den Geschlechtern"). Das Konzept soll durch das „Instrument der öffentlich geförderten Arbeit" und eine solidarische Einkommenspolitik flankiert werden, um ein „den kulturellen Standards gemäßes Leben zu ermöglichen" 0Gemeinsames Wort der Kirchen 1997, Abschnitte (151) - (160) und (172); Lafontaine 1989, 9-52). Auf die Frage, wie entsprechende Teilungsverfahren (unter Wahrung der Freiheitsrechte unseres Grundgesetzes) organisiert und im Hinblick auf die in Aussicht gestellten „Chancen für einen gesicherten Lebensunterhalt...unabhängig von der Erwerbsarbeit" finanziert werden könnten, vermißt man solide Antworten. Auch wird die Gefahr der Entstehung einer bürokratischen Arbeitszwangswirtschaft nicht gesehen. - Verstärkte Absicherung marktwidriger Tariflöhne und Arbeitsbedingungen mit Hilfe von gesetzlichen Mindestlöhnen für die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer im Sinne des deutschen Entsendegesetzes vom 1. März 1996. - Durch den Versuch, die wettbewerbsbeschränkende Abschottung des nationalen Arbeitsmarktes zu internationalisieren. Auf diesem Gedanken beruht die EU-weite Entsenderichtlinie und die Forderung nach einer international abgestimmten Sozialpolitik. - Durch Vorschrift von Ausbildungsquoten. - Durch Ergänzung nicht produktivitäts- und marktgerechter Löhne durch staatliche Subventionen im Sinne des Kombi-Lohns für bestimmte Personengruppen. - Durch den Versuch, die wettbewerbsintensivierende Globalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte, die auch von den Arbeitsmärkten schmerzhafte Anpassungen verlangt, wenn diese nicht rechtzeitig vorgenommen werden, zu beschränken. Wer der Meinung ist, die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (oder auch die nationale Geld- und Fiskalpolitik) müsse überwiegend „eigenständig" gestaltet und nicht als Teilaspekt der Wettbewerbsordnung und des internationalen Wettbewerbs der Systeme behandelt werden, wird dazu neigen, im freien Devisen- und Kapitalverkehr einen destabilisierenden Einfluß auf den angestrebten Punktualismus zu sehen und dessen Ausweitung - etwa durch Erhebung einer nach James Tobin (1988) benannten Steuer auf bestimmte Finanzmarkttransaktionen, vor allem auf kurzfristige Devisengeschäfte - zu fordern und notfalls zur Vermeidung von Umgehungen - auf alle internationalen Finanzmarktgeschäfte auszudehnen. Das Vorhaben, mit einer Steuer die Rendite-Differenz, die eine Umschichtung von Währungen und anderen Finanztiteln im internationalen Finanzverkehr (etwa durch Zinsarbitrage) attraktiv machen kann, wegzusteuern, damit übertriebene und destabilisierende Spekulationen auszuschließen und darüber hinaus das Sparvermögen überwiegend für langfristige Investitionen zu reservieren, setzt am Symptom des Problems an, nicht an den institutionellen Handlungsbedingungen, die Voraussetzung dafür sind, daß spekulative Devisengeschäfte überwiegend stabilisierende Wirkungen auf die Wechselkursentwicklung haben. Vor allem das Festhalten an falschen Wechselkursen, an Kapitalverkehrskontrollen und an leichtfertigen Verschuldungsmöglichkeiten, die der Internationale Währungsfonds und die staatlichen Exportkreditsicherungssysteme viel-
116 · Alfred Schüller fach bieten, erweisen sich - in Verbindung mit anderen staatlichen Eingriffen und ordnungspolitischen Versäumnissen - als die Hauptursachen für Wechselkurs- und Devisenmarktkrisen. Soweit die private Wirtschaft daran beteiligt ist, läßt sich dieser Effekt durch Maßnahmen der Banken- und Börsenaufsicht und durch Publizitätsvorschriften eindämmen. Die ursächliche Problemlösung setzt demzufolge bei den Regeln an, unter denen die Marktteilnehmer handeln, nicht bei den Transaktionen selbst {Schüller 1997, 183 ff.; Willgerodt 1998, 119 ff). Über solche und andere "Ausläufer" dehnt sich der angestrebte Wirkungsbereich des punktuellen Interventionismus immer weiter aus. Auf diesem Vormarsch des punktuellen Interventionismus hat Deutschland in den letzten Jahren ein beschleunigtes Tempo eingeschlagen und steht in der Gefahr, dieses weiter zu verschärfen. Die massive tarifliche und gesetzliche Regulierung des Sondereigentums der Menschen an ihrem individuellen „Recht auf Arbeit", also an ihrem Humanvermögen, beeinträchtigt eine wesentliche Voraussetzung kalkulierbaren Handelns und begünstigt damit die Entstehung des „grundlegenden und herausragenden Problems des Sozialismus" - das wirtschaftliche Chaos (VOM Mises 1966, 689 ff). Hierfür gibt es in Deutschland unübersehbare Anzeichen (,Schüller 1996, 38 ff.).
V. Eingriffsformen Die Politik der Wettbewerbsordnung nimmt typischerweise indirekt und generell über die Gestaltung des institutionellen Rahmens Einfluß auf die Marktergebnisse. In diesem Wettbewerbs- und Rechnungszusammenhang versuchen die Marktteilnehmer, mit der freien Gestaltung der wetttbewerbsrelevanten Aktionsparameter (Marktzugangsbedingungen, Investitions-, Mengen-, Preis-, Konditionen- und Qualitätspolitik) attraktive Tauschbeziehungen (Transaktionen) herzustellen und damit eine möglichst starke Marktposition zu gewinnen. Der punktuelle Interventionismus setzt hingegen im vermeintlichen Interesse garantierter Ergebnisse direkt und selektiv bei den Transaktionen und den wettbewerbsrelevanten A£fro«.sparametern an. Die in Spalte IV der Übersicht 1 aufgelisteten Parameterbeschränkungen sind nach ihrer Eingriffsintensität geordnet: Marktzutrittsbeschränkungen - etwa im Hinblick auf bestimmte Qualifikationsnachweise und gesundheitspolizeiliche Zulassungs- oder Einfuhrverbote - stehen nicht im Widerspruch zum Recht der freien Berufswahl, (der Gewerbefreiheit, der ursprünglichen Bedingung für eine Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs), solange die Entscheidungen gegen negative externe Effekte gerichtet sind (Schutz des Lebens, der Gesundheit, der Menschenwürde), auf allgemeinen Prinzipien beruhen, also nicht von der Einsicht von Behörden und ihrem Wohlwollen abhängig sind. Erst der punktuelle Charakter des Eingriffs verfälscht den Marktzutrittswettbewerb oder schließt diesen aus, wie im Falle einer Verstaatlichung der Banken oder anderer Wirtschaftszweige. Auch punktuelle Interventionen, die bei der Investitionstätigkeit und der Angebotsmenge ansetzen, stellen einen Frontalangriff auf die Entstehung und Entfaltung einer marktwirtschaftlichen Tauschgemeinschaft dar. Abgesehen davon, daß die genannten Eingriffe häufig die damit bezweckte Wirkung verfehlen, haben sie - jedenfalls längerfri-
Wirtschaftspolitischer Punktualismus • 117 stig - ungewollte Folgen wie wachstumshemmende Investitions- und Produktionsstrukturen, ungünstige Verteilungswirkungen für Arbeitnehmer und Konsumenten. Mit dem Preisdirigismus, dem gezielten Ausschluß der Marktfünktionen der Preise, wird der volkswirtschaftliche Bewertungszusammenhang zu anderen Gütern, Anbietern und Nachfragern unterbrochen. Der entgangene Vorteil aus alternativen Verwendungen kann nicht nach einem einheitlichen Opportunitätskostenkalkül eingeschätzt werden. Damit werden auch knappheitsbezogene Preisprognosen und entsprechende Investitionsrechnungen als Grundlage für künftige Produktionsentscheidungen unmöglich. Es entstehen rechnungsmäßige Trockeninseln, auf denen sich ein von der Umwelt unabhängiges Preis- und Kostenbewußtsein entwickelt. Vom volks- und weltwirtschaftlichen Rechnungszusammenhang her gedacht bedeutet Preisdirigismus - auch im Hinblick auf die erforderlichen bürokratischen "Ersatzverfahren der Koordination" und Schutzmauern eine Auflösung der gesellschaftswirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die internationale Dimension dieser Desintegrationserscheinung wird besonders an dem Versuch deutlich, den Wechselkurs zu regulieren. Dieser isolierte Eingriff in einen für den Außenhandel besonders wichtigen Preis vermag allein schon weitreichende Verzerrungen der internationalen Arbeitsteilung auszulösen und zu verhindern, daß die einzelwirtschaftliche und die gesamtwirtschaftliche Nützlichkeit der Außenwirtschaftsbeziehungen übereinstimmen (Meyer und Willgerodt 1980, 159-168). Preisbe- und Preisentlastungen verzerren den Rechnungszusammenhang, wobei Entlastungen in Form von direkten Subventionen in der Regel selektiv eingesetzt werden und damit stärkere Verzerrungs- und Diskriminierungseffekte auslösen als z.B. Entlastungen durch Steuervergünstigungen. Es wird deshalb auch angenommen, daß Subventionen volkswirtschaftlich ungünstigere allokative und distributive wirtschaftspolitische Auswirkungen haben als steuerliche Vergünstigungen. Unter dem Gesichtspunkt der Eindämmung und Überwindung des punktuellen Interventionismus ist allerdings zu berücksichtigen, daß Subventionen häufig jedes Jahr neu beschlossen werden müssen, steuerliche Vergünstigungen dagegen nicht. Freilich ändert dies häufig nichts an ihrem Beharrungsvermögen und Expansionsdrang (VDAÍA 1996). Punktuelle Interventionen im internationalen Austausch stehen im Widerspruch zu den Prinzipien der GATT-Ordnung (unbedingte Meistbegünstigung und NichtDiskriminierung) und damit zu den Bedingungen einer internationalen Rechts-, Tauschund Preisgemeinschaft. Vor allem sektorale Sonderregelungen und produktspezifische Handelsbeschränkungen für den Agrar-, Textil- und Bekleidungshandel oder für den Import von Bananen, neuerdings auch für den Austausch anderer Güter (bis hin zu Automobilen), wirken dahin, den internationalen Preiszusammenhang durch einen offenen oder versteckten mengenbezogenen Punktualismus mehr oder weniger weitgehend brüchig zu machen. Diesen und anderen Tendenzen zu einem verstärkten Punktualismus versucht seit 1994 die Welthandelsorganisation (WTO), die Weiterentwicklung des GATT, entgegenzuwirken. Hierzu ist vorgesehen, die offenen und mengenmäßigen Handelshemmnisse (vor allem auch im Agrarsektor) in preisbezogene Einfuhrbeschränkungen (Zölle) umzurechnen. Die mit dieser sogenannten „Tarifizierung" angebahnten globalen Preiskontakte sollen dann - wenn auch mit Ausnahmen - durch sukzessiven Tarifabbau
118 · Alfred Schüller verstärkt werden. Parallel dazu ist die Verringerung von Exportsubventionen und sektoralen Subventionen vereinbart worden (Molsberger und Duijm 1997, 549-572). Fraglich ist nach wie vor, ob freiwillige Exportselbstbeschränkungsabkommen entscheidend zurückgedrängt werden können. Es ist auch nicht endgültig gelungen, dem neuen Tarifierungs- und Liberalisierungsregime einen allgemeinen (verbindlichen) Rechtscharakter zu verleihen. Vor allem ist offen, ob die vielfach als Ersatz für protektionistische Maßnahmen dienenden nationalen Subventionen generell und verläßlich abgebaut werden können. In dieser und anderer Hinsicht hat die EG-Kommission mit ihrem Konzept zur Vollendungs des Binnenmarktes erfolgreich damit begonnen, dem punktuellen Interventionismus, vor allem in einigen besonders hartnäckigen Erscheinungsformen (Telekommunikation, Luftverkehr, Straßengüterverkehr, Energie, Banken und Versicherungen) den Garaus zu machen. Freilich gibt es eine Fülle von punktuellen Eingriffen im neuen Gewand: - Rasch expandierende Anti-Dumping-Maßnahmen, die in der EU verstärkt und gezielt wettbewerbsbeschränkend eingesetzt werden. - Bestrebungen zu punktuellen Formen der wettbewerbsbeschränkenden und verzerrenden Kooperation von Staat und Wirtschaft im Sinne von "Strategischen Allianzen" und einer "Aggressiven Handelspolitik". Hierdurch werden die allgemeinen Bestimmungsgründe des Preis- und Qualitätswettbewerbs mit dem Ziel außer Kraft gesetzt, bestimmte F&E-Gebiete zu subventionieren und monopolistisch zu ordnen. Die entsprechenden Fördermaßnahmen sind branchen- und unternehmensbezogen (Beispiel "Airbus") und weisen schon wegen den damit entstehenden gesonderten Rechts- und Verwaltungszentren eine starke Bindungskraft auf: In Japan gilt dies für das Instrument der "administrative guidance", in den USA für eine betont militär- und raumfahrtbezogene Ausrichtung der staatlichen F&E-Maßnahmen. Die strategische Forschungs- und Technologiepolitik der EU beruht im Kern auf dem Versuch, den traditionellen nationalen Punktualismus zu europäisieren - mit Schwerpunktsetzungen nach politischen Kriterien, der einseitigen Bevorzugung von Großunternehmen, einer strukturkonservierenden Investitionsförderung, einer Institutionalisierung von Mitnahmeeffekten (Rent-Seeking) und Protektionismus. Über eskalierende Vergeltungsmaßnahmen des Auslands können erneut Interventionsketten hervorgerufen werden. Hierdurch entstehen dann wieder neue Trennbrüche im internationalen Wettbewerbsund Preiszusammenhang mit eingebauter Ausbreitungstendenz. Dies allein schon deshalb, weil mit den industriepolitischen Kompetenzen der EU, die der Maastrichter Vertrag einräumt, die Gefahr wächst, daß die Anti-Dumping-Verfahren mehr und mehr auch punktuell für industriepolitische Schutzzwecke eingesetzt werden. Bei all diesen Maßnahmen wird übersehen, daß der angestrebte Wirkungsbereich nicht isoliert werden kann, etwa im Sinne der gezielten Schaffung von wettbewerbsfähigen Industriestrukturen und Arbeitsplätzen. Angesichts der international diversifizierten Produktions- und Forschungsstandorte multinationaler Unternehmen und der steigenden Mobilität der fraglichen Produktionsfaktoren ist auch nicht sicher, wem die Forschungsförderung letztlich zugute kommt.
Wirtschaftspolitischer Punktualismus • 119 - Auch die mit umweltpolitischen Zielen begründeten Vorgaben von bestimmten internationalen Produktnonnen und Produktstandards sind im Gegensatz zu einer wettbewerbskonformen Besteuerung der Umweltnutzung anfällig für einen rasch expandierenden punktuellen Interventionismus: Schon auf nationaler Ebene ist die Auswahl der im Hinblick auf umweltpolitische Effekte zu prüfenden Produkte anfallig fur willkürliche Bewertungen. Erst recht lassen sich Umweltschutznormen im internationalen Wettbewerb dazu mißbrauchen, bestimmte im Ausland hergestellte Güter gegenüber Inlandsangeboten zu diskriminieren. Wenn Umweltschützer und ihre protektionistischen Verbündeten das Recht erhalten, den ökonomisch schwächeren Handelspartnern bestimmte Produktionsmethoden einseitig aufzuzwingen, dann würde dies eine rasche internationale Ausbreitung des punktuellen Interventionismus zur Folge haben. Denn nur ganz selten sind die Produktionsmethoden eines Wirtschaftszweiges in zwei Ländern identisch und unveränderlich. Wenn es nicht zu einer "ökologisch" motivierten weitreichenden Verformung des internationalen Tausch- und Preiszusammenhangs kommen soll, bedarf es einer neuen Verhandlungsrunde der WTO. Ziel müßte es sein, für die durch Umweltprobleme entstandenen Fragen ein Regelwerk zu schaffen, dessen Maßnahmen möglichst wenig Spielraum für einen willkürlichen und diskriminierenden punktuellen Interventionismus lassen (Knorr 1997).
VI. Auswirkungen 1. Auswirkungen auf den Marktprozeß (1) Die Lobby-Ausgaben für rentenbegründende und -sichernde Handlungsrechte und für die in ihrem Gefolge expandierenden Verbände- und Staatsbürokratien stellen aus volkswirtschaftlicher Sicht eine Vergeudung dar; denn diese Aufwendungen dienen nur der Umverteilung, nicht der Wertschöpfung. Auch marktwirtschaftliche Ausleseverfahren, wie zum Beispiel der Verkauf von Einfuhrlizenzen oder Devisenkontingenten im Wege der Versteigerung an die Meistbietenden, beseitigen nicht die Rente an sich, sondern führen lediglich zu einer anderen Aufteilung. Das wettbewerbliche Marktgeschehen, das einen Mehrwert erzeugt, wird in jedem Fall verdrängt oder überlagert von einem Nullsummenspiel, "das Kräfte verzehrt, die an anderer Stelle fehlen" (Giersch 1986, 19), ja das immer wieder Anreize schafft, in die Sicherung punktueller Interventionen zu investieren oder Möglichkeiten zu schaffen, sich gegen Benachteiligungen zu schützen. Eine naheliegende Möglichkeit liegt für viele darin, auf den informellen Sektor, die Schattenwirtschaft, auszuweichen. In (Fehl-)Anreizen dieser Art liegt der eigentliche soziale Verlust des punktuellen Interventionismus, die Ursache dafür, daß aus dem Nullsummen- ein Negativsummenspiel wird. (2) Hinzu kommt die aus der Verzerrung und Auflösung des marktwirtschaftlichen Rechnungszusammenhangs entstehende Vernebelung der individuellen Kosten-NutzenKalküle. Die Folge ist die Erschwerung einer knappheitsorientierten Koordination der Tauschhandlungen mit Erscheinungen einer - gemessen an der integrierenden Kraft einer
120 · Alfred Schüller Tausch-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft - wirtschaftlichen und sozialen Desintegration. (3) Typischerweise konzentriert sich die Eingriffsbereitschaft der Politiker heute auf folgende Bereiche: - In Europa auf Branchen, Unternehmen und Regionen, die im Prozeß der Markt- und Einkommensentwicklung zurückgeblieben sind und über wählerwirksame Verbandsmacht verfugen (Landwirtschaft, Bergbau, Schiffsbau, Eisen- und Stahlindustrie). Die ostasiatische Interventionspraxis hat weniger strukturerhaltenden (marktabgewandten) als vielmehr strukturgestaltenden (marktzugewandten) Charakter. Freilich werden in beiden Fällen die einheimischen Konsumenten benachteiligt. - Die „Versorgung" der Bevölkerung mit bestimmten Maßnahmen der Arbeitsförderung und Arbeitsbeschaffung, mit gezielten Leistungen der Wohnungswirtschaft, der sozialen Sicherung, des Gesundheitsschutzes, der Verkehrsteilnahme. - Die sog. Versorgungswirtschaft („Public Utilities") wie Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwirtschaft, das Bildungswesen; mit rückläufiger Tendenz auf den Verkehrs- und Telekommunikationsbereich, die Bank- und Versicherungswirtschaft als Ausnahmebereiche von der Wettbewerbsordnung. In diesen Bereichen der Wirtschaft wird die wettbewerbliche Marktkontrolle vom Prinzip der Staatskontrolle mit einer weitreichenden „institutionellen Zersplitterung" (Gröner 1983, 236 ff.) verdrängt. Die Staatskontrolle ist schon wegen der typischen Politisierung des Interventionismus für sich wieder ein Ausgangspunkt für ökonomische Fehlentwicklungen. (4) Die Erfahrungen mit diesen Eingriffen lassen sich wie folgt verallgemeinern: Wenn der Staat punktuelle "Schutzengeldienste" und die Verantwortung fur die Bereitstellung von bestimmten Versorungsleistungen übernimmt, gewöhnen sich die Begünstigten an die Sonderbehandlung. Mit dem Grad und der Dauer der Isolierung vom allgemeinen Wettbewerbsgeschehen entwickeln sich die Interventionsbereiche zu einer Art von "Trockeninseln", die sich durch eine von der Umgebung abweichende Vegetation auszeichnen. Unter diesen Bedingungen lassen Kraft und Bereitschaft der Begünstigten nach, den Erfordernissen des wettbewerblichen Marktsystems Rechnung zu tragen. Die Wahrscheinlichkeit einer Revision des Eingriffs hängt üblicherweise negativ von der Dauer und der Entfernung der Intervention vom (Welt-)Marktgeschehen ab. Damit geht auch das Bewußtsein für die Bedeutung einer marktwirtschaftlichen Rechts-, Tausch-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft verloren, in der die materiellen Voraussetzungen für die Erfüllung der Sonderansprüche erarbeitet werden müssen. Dieser Bewußtseinsverlust kann so weit gehen, daß der Staat gerade von denjenigen zum Gespött gemacht wird, die ihn für die eigenen Zwecke am nachhaltigsten beansprucht haben. In einer Art von Bunkermentalität greifen die Geschützten den Staat mit medienwirksamen erpresserischen Demonstrationen an, wenn er die bisherigen Ansprüche nicht mehr erfüllen kann. Hierbei ist in dem Maße mit der Mißachtung des rechtlichinstitutionellen Rahmens des Marktsystems, der Verfassung des Rechtsstaats, zu rechnen, in dem prominente Politiker, Kirchenleute und die Massenmedien den Anspruch moralisch aufwerten und legitimieren (siehe den 1997er Aufruf der Gewerkschaft Berg-
Wirtschaftspolitischer Punktualismus • 121
bau und Energie, ein "Band der Solidarität" zu spannen und mit einer Menschenkette zwischen Neukirchen-Vluyn bis Lünen für den Erhalt der Steinkohleförderung zu demonstrieren). Der Staat wird mit Nötigungen dieser Art in die Rolle des Schuldigen gedrängt und gefugig gemacht. In dem Maße, wie die Triebkräfte des Wettbewerbs von den Triebkräften des punktuellen Interventionismus verdrängt und überlagert werden, verliert das Marktsystem insgesamt an Fähigkeit, die eingangs genannten grundlegenden volkswirtschaftlichen Aufgaben zu bewältigen. 2. Wirtschaftspolitische und sozialethische Auswirkungen (1) Je mehr die Wirtschaftspolitik dem Einfluß einer übergeordneten Idee, der "Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs", und eines übergeordneten Ressorts mit einer eindeutigen Haltung zur marktwirtschaftlichen Ordnung (in Deutschland ist dies traditionell das Bundesministerium für Wirtschaft) entzogen ist und von Arbeits-, Sozial-, Familien-, Wohnungs-, Agrar-, Umwelt-, Verkehrs- und Industrieministern oder von autonom agierenden Datenschutz-, Ausländer-, Frauen- oder Schwerbehindertenbeauftragten beeinflußt wird, desto stärker wird das Verhältnis zwischen diesen Sonderinstanzen von einem Streben nach Kompetenz- und Budgetexpansion ausgesetzt sein, das von einer isolierten Zielverfolgung bestimmt ist. In diesem „Wettbewerb" drängt der Ressortegoismus dazu, jene Triebkraft des punktuellen Interventionismus zu stärken, die von rentenstrebenden Verbänden und Parteien ohnehin ausgeht. In konkreten Tagesfragen läuft dies auf eine mehr oder weniger ausgeprägte Minderschätzung der Belange der Gesamtordnung und ihrer gemeinsamen Regeln der Gerechtigkeit hinaus. Im Neben- und Gegeneinander der Eingriffe erhalten die Interventionsressorts im Zusammenspiel mit den jeweiligen Verbänden den Charakter von eigenständigen wirtschafts- oder sozialpolitischen Machtkörpern, von Regierungen in der Regierung, die wie wirtschaftspolitische Besatzungsmächte bestrebt sind, ihren Einflußbereich der Aufgabe überzuordnen, an das Wohl des Ganzen zu denken. (2) Der Punktualismus gibt den wirtschaftspolitischen Akteuren diskretionäre Handlungsspielräume für Entscheidungen mit selektiv-diskriminierendem Charakter. Die Anfälligkeit für Korruption, Subventionsmentalität und -kriminalität sowie für eine mißbräuchliche Inanspruchnahme von staatlichen Versorgungsleistungen nimmt zu; die Chancen für eine präventive Korruptionsbekämpfüng verschlechtern sich. Man wird erwarten dürfen, daß offene Volkswirtschaften mit eingeschränkten Spielräumen und Neigungen zum punktuellen Interventionismus auch weniger anfällig fiir Korruption und Bestechlichkeit der Politiker, der Parlamentarier und Beamten sind. Soziale Gerechtigkeit im Verständnis der "Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs" dürfte deshalb auch einen strukturell geringeren Moralverzehr verursachen als soziale Gerechtigkeit im Sinne des wirtschaftspolitischen Interventionismus. (3) Das Zusammenspiel der in Spalte I genannten Triebkräfte des punktuellen Interventionismus kann in Verbindung mit der Bindungskraft der Eingriffe den begünstigten Gruppen im politischen Prozeß ein solches Eigengewicht und ein solches Beharrungsvermögen verleihen, daß deren Kampf um Sonderinteressen und um die Macht im Staat
122 · Alfred Schüller zu einer Einheit verschmelzen (Eucken 1932, 304 f.). Es ist schwer, eine erfolgversprechende parlamentarische Opposition zu Parteien aufzubauen, die davon ausgehen, daß punktuelle Eingriffe ein Mittel sind, die Regierungsmacht zu sichern oder zu erringen. Aus der Sicht der rentenstrebenden Interessenorganisationen erhält dann die Frage, wer die Regierung beeinflussen kann, eine überragende Bedeutung. Sie wird - wie sich traditionell in manchen Entwicklungsländern und neuerdings auch in einigen Transformationsländern zeigt -"eine Angelegenheit von Leben und Tod für Millionen" (Peter Bauer). (4) Die Härte des politischen Kampfes in Ländern mit einem hochentwickelten punktuellen Interventionismus wird deshalb nur vor dem Hintergrund der damit verbundenen Politisierung des Wirtschaftslebens verständlich. Die volkswirtschaftlichen Begleiterscheinungen sind häufig Dauerarbeitslosigkeit und krisenhafte Staatsverschuldung, Mangel an Unternehmungsgeist in der offiziellen Wirtschaft, eine rasch expandierende Schattenwirtschaft, hohe Korruptionsanfälligkeit, permanente soziale Konflikte, institutionelle Erstarrung. Was vielfach als prägende Merkmale der Unterentwicklung und der Unregierbarkeit von Gesellschaften angesehen wird, erweist sich bei näherem Hinsehen als Konsequenz eines tief und breit verwurzelten Interventionismus und der daraus entstehenden chaotischen Wirtschaftspolitik. Ein untrügliches Anzeichen hierfür ist, wenn immer mehr Bereiche der Wirtschaftspolitik zur „Chefsache" gemacht werden. Vor allem der hohe Grad der Isolierung des Arbeitsrechts und der Wirtschaftspolitik für die neuen Bundesländer von der Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs hat - unter dem Einfluß dynamischer internationaler Produkt- und Finanzmärkte - vielfach einen kaum noch überbietbaren Charakter angenommen. Die weltoffenen Güter- und Finanzmärkte, neue Formen der internationalen Arbeitsteilung und der grenzüberschreitenden Unternehmenstätigkeit haben spontan den Spielraum für eine einseitige nationale oder europäische Arbeitsschutzpolitik eingeengt. Um so stärker ist die Versuchung, dieser Situation mit außenwirtschaftlichem Protektionismus entgegenzuwirken. Daran wird deutlich, welche Bedeutung den Bemühungen zukommt, im Rahmen einer internationalen Wettbewerbsordnung, des GATT und der WTO, eine weltwirtschaftliche Integration als Rechts-, Preis-, Tausch- und Zahlungsgemeinschaft dauerhaft zu ermöglichen (Biskup 1996) und damit auch die Gefahr zu bannen, daß die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu einer handelspolitischen Festung ausgebaut wird. Nur dadurch wird es möglich sein, die Parteien im Wettbewerb um die Regierungsmacht von der Versuchung fernzuhalten, den Eingriffswünschen von Interessenorganisationen entgegenzukommen. Nach von Hayek (1979, 16 f.) ist „die einzige Verteidigung, die ein Politiker gegen den Druck organisierter Interessen hat, in der Unausweichlichkeit zu sehen, auf ein bestehendes Prinzip zu verweisen, das ihm ein Nachgeben verwehrt, und das er nicht verändern kann". Die Erkenntnis, daß die Macht organisierter Interessen nur über die Beschränkung der Macht der Regierungen begrenzt werden kann, gibt Anlaß, über grundlegende gesetzgeberische Beschränkungen der „unbeschränkten Demokratie" nachzudenken ( Tietzel, 1997, 679 ff ). Mit oder ohne Verfassungsänderung sind hierzu staatsmännische Politiker notwendig, die nicht von den Schwächen der Demokratie und in demagogischer Weise vom Beifall deijenigen zu profitieren versuchen, die von den jeweiligen Ergebnissen des freien Marktverkehrs - meist in der Rolle des Produzenten - enttäuscht sind und
Wirtschaftspolitischer Punktualismus · 123 erfahrungsgemäß mit weiteren Forderungen und Wünschen auftrumpfen, sobald ihnen einmal „geholfen" worden ist. Staatsmännische Politiker versuchen demgegenüber die Wähler davon zu überzeugen, daß es vorteilhafter ist, die marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung zu stärken und auf dieser Grundlage die Kräfte für höheres Wachstum, mehr Beschäftigung und solide Staatsfinanzen zu mobilisieren. Ausländische Beispiele zeigen eindrucksvoll, daß mit der systematischen Bekämpfung des wirtschaftspolitischen Punktualismus auch Wahlen zu gewinnen sind. Literatur Biskup, Reinhold (Hrsg.), (1996), Globalisierung und Wettbewerb, 2. Auflage, Bern. Eucken, Walter (1932 11/1997): Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. XXXVI, S. 297-321; wieder abgedruckt in: ORDO, Bd. 48, S. 5-24. Eucken, Walter (1948), Das ordnungspolitische Problem, ORDO, Bd. I, S. 56-90. Eucken, Walter (1952/1990). Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. durchgesehene Auflage mit einem Vorwort zur Neuausgabe 1990 von Ernst-Joachim-Mestmäcker, Tübingen. Giersch, Herbert (1986): Die Ethik der Wirtschaftsfreiheit, in: Roland Vaubel und Hans D. Barbier (Hrsg.), Handbuch Marktwirtschaft, Pfullingen, S. 12-22. Glismann, Hans H. und Emst-Jürgen Horn (1997), Alterssicherung in Deutschland: Primat des Interventionismus, ORDO, Bd. 48, S. 505-527. Gröner, Helmut (1983): Property Rights-Theorie und staatlich regulierte Industrien, in: Alfred Schüller (Hrsg.): Property Rights und ökonomische Theorie, München, S. 219-239. Gröner, Helmut (1994), Dumping - Ein Störfall der Wettbewerbsordnung, in: Wernhard Möschel, Manfred E. Streit und Ulrich Witt (Hrsg.), Marktwirtchaft und Rechtsordnung. Festschrift zum 70. Geburtstag von Erich Hoppmann, Baden-Baden, S. 55-66. Gutmann, Gemot (1997), Der Stellenwert der Ordnungspolitik bei der deutschen Wiedervereinigung, ORDO, Bd. 48, S. 147-163. Hayek, Friedrich A. von (1979): Law, Legislation and Liberty. Vol. 3: The Political Economy of a Free People, London. Jungfer, Joachim (1991): Grundbediirfhisstrategie oder Ordnungspolitik als Wege zur Überwindung wirtschaftlicher Unterentwicklung, Bern und Stuttgart. Knorr, Andreas (1997): Umweltschutz, nachhaltige Entwicklung und Freihandel, Stuttgart. Koerfer, Daniel (1998), „Nicht für die Ewigkeit". Ein Rückblick auf die Rentenreform von 1956/1957, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 25. vom 30. 1. 1998, S. 8. Küng, Emil (1956): Interventionismus, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HdSW), Bd. 5, Stuttgart, S. 321-329. Meyer, Fritz W. und Hans Willgerodt (1980), Artikel „Devisenbewirtschaftung", in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW), Bd. 2, Stuttgart, Tübingen, Göttingen, S. 159168.
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zichtbar für eine moderne Wirtschaftspolitik aufgefaßt. Die Transformationsländer berufen sich gerne darauf. Dies ist angesichts schwieriger politischer Manöver, die auf dem Rückzug vom systemtischen Punktualismus zu bewältigen sind, verständlich. Allerdings steht dadurch die Transformationspolitik frühzeitig in der Gefahr, den Gesamtzusammenhang aller wirtschaftlichen Erscheinungen, Handlungen und Bewertungen zu verkennen und eine Frage zu verdrängen, die für den Erfolg der Transformationsbemühungen wichtig ist - nämlich die Vereinbarkeit der verschiedenen Teilordnungen im institutionellen Gefüge der Gesamtordnung. Dieser Aufsatz geht von der Annahme aus, daß die vielbeklagten Krisenerscheinungen der Sozialen Marktwirtschaft und anderer Marktwirtschaften, die stark von der Idee des Wohlfahrtsstaats geprägt sind, entscheidend auf den verbreiteten wirtschaftspolitischen Punktualismus zurückzuführen sind. Deshalb steht im Mittelpunkt der Darstellung der Versuch, die entsprechenden Eingriffe systematisch zu erfassen und ihre Problematik im Hinblick auf die dahinter stehenden treibenden Kräfte, die damit verfolgten Ziele und die damit verbundenen volkswirtschaftlichen Wirkungen zu behandeln.
Summary Selective Interventions in Economic Policy: Driving Forces, Aims, Methods and Consequences Selective state interventions in the economy are contradictory to the concept of a market economy as a system in which the separate elements are all closely interrelated. Market economies are based on decentralised price-oriented economic planning that leads to the interdependency of all economic phenomena, evaluations and activities. Since 1989 systematic economic interventions in the form of Soviet-type centrally planned economies are in retreat. Economic and social disintegration and impoverishment are often the remnants of this system. Overcoming these effects will still require a lot of efforts. One obstacle for this is the tendency to adhere to unsystematic selective interventions. The bad example is often set by market economies in the West. The social market economy in Germany today, for instance, is characterised by a multitude of selective and inconsistent state interventions in the day-to-day running of the economy. These interventions are often praised as "social achievements" and are said to be indispensable for modern economic policy. Transition countries often refer to such examples in order to justify their policies. The tendency to use unsystematic selective interventions in order to stabilise the political and social situation in transition countries is understandable. Nevertheless this policy poses a threat to the success of the transformation process. At the very heart of the transformation efforts lies the challenge to devise a comprehensive economic system in which the compatibility of the different economic subsystems is assured. Under no circumstances should the close interrelation of all economic phenomena, evaluations and activities be neglected. This article assumes that the frequently lamented symptoms of the crisis of the social market economy and other types of market economies that are strongly influenced by the idea of the welfare state are very much due
126 · Alfred Schüller to unsystematic selective state interventions. Because of this the author tries to categorise these interventions systematically in order to analyse the driving forces behind their adoption, their aims and their economic consequences.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Claudius
Christi
Die Ordnungstheorie Walter Euckens in einer offenen Gesellschaft. Eine konstruktivistische Anmaßung von Wissen?
I. Einführung in die Problemstellung Das marktwirtschaftliche System hat sich als die leistungsfähigste Koordinationsform des wirtschaftlichen Handelns vieler verschiedener Wirtschaftssubjekte mit unterschiedlichen Interessen erwiesen. „Systembegründendes Prinzip ist der Wettbewerb" (Hoppmann 1988, 298). Dieser Wettbewerb kann als ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen betrachtet werden, „die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden." (von Hayek 1969d, 249). Dabei stellt der Wettbewerb nicht nur ein Entdeckungsverfahren von sich wandelnden Präferenzstrukturen und ökonomischen Knappheitsrelationen sowie von Produkt- und Verfahrensinnovationen dar. Vielmehr sind oftmals gerade innovative Aktivitäten Kennzeichen wettbewerblicher Handlungen. Ein Beispiel dafür ist der Einsatz vorher unbekannter Aktionsparameter im Wettbewerbsprozeß. Diese Zukunftsoffenheit marktprozessualer Vorgänge fuhrt dazu, daß sich a priori eine positive Definition des Wettbewerbs als unmöglich erweist. Da jedoch im Rahmen dieses Beitrags eine nähere Konkretisierung des Begriffs „Wettbewerb" auf der semantischen Ebene unumgänglich erscheint, soll darunter fortan jenes komplexe System von Marktprozessen verstanden werden, das aufgrund der Freiheit entsteht, an Marktprozessen teilzunehmen und innerhalb dieser nach eigenem Plan tätig werden zu können (Hoppmann 1988, 298). Es stellt sich das Problem, innerhalb welchen ordnungspolitischen Rahmens dieser Wettbewerb stattfinden soll (Oberender 1996, 75 f.). Dies ist die Frage nach der Wettbewerbsordnung. Unter liberalen Ökonomen herrscht weitestgehende Einigkeit darüber, daß die Funktionsfähigkeit eines marktwirtschaftlichen Systems die Existenz einer solchen Ordnung voraussetzt (Woll 1989, 90), ja sogar, daß deren Sicherung das zentrale Ziel wirtschaftspolitischer Aktivität sein muß (Bartling 1980, S. 5). Dagegen divergieren die Meinungen stark voneinander, wenn die Frage gestellt wird, auf welche Weise und in welcher Konkretheit ihrer Nonnen eine Wettbewerbsordnung geschaffen werden soll. So tritt Walter Euchen als einer der einflußreichsten Vertreter der Freiburger Schule dafür ein, daß jene vom Staat normativ gesetzt wird (Woll 1989, 92), „denn die moderne industrialisierte Welt läßt das Wachsenlassen ihrer Ordnungen nicht mehr zu." {Euchen 1989, 53). Im Gegensatz dazu fordern Österreichische Schule und der systemtheoretische Ansatz der Wettbewerbsökonomik, daß sich eine derartige Ordnung selbst spontan entwickeln solle (VOM Hayek 1981, 26; Hoppmann 1977, 29).
128 · Claudius Christi
Damit existieren innerhalb der liberalen Ordnungsökonomik zwei scheinbar unvereinbare Positionen bei der Beantwortung der Frage, ob darauf vertraut werden kann, daß eine Freiheit und Wettbewerb sichernde Ordnung sich im evolutorischen Prozeß als selektionsresistent erweist (Lenel 1989, 7; Woll 1989, 94), oder ob die Evolution ohne staatliche Normsetzung negative Ergebnisse hervorbringt und letztlich in eine Sackgasse fuhrt, wie Euchen früher vermutete (Euchen 1990, 241). Sowohl für die wissenschaftliche Ordnungstheorie als auch fur die praktische Wettbewerbspolitik erwächst aus diesem Gegensatz folgendes Problem: Die Gesellschaft stellt ein offenes System von ausgesprochen hoher Komplexität dar, in dem kein einzelnes Individuum alles das wissen kann, was notwendig wäre, um dieses System zu steuern. Auch treten laufend und spontan Sachverhalte auf, die zu einer neuen Situation fuhren, in der eine vorher noch situationsadäquate Ordnung suboptimal sein könnte. Der Wettbewerb kann dabei einer raschen Anpassung an Situationsänderungen dienen. Es ist zu prüfen, ob in einem solchen dynamischen und offenen Gesellschaftssystem das Setzen einer Wettbewerbsordnung überhaupt legitim ist, denn dadurch könnte ex ante ein Ergebnis präjudiziert werden, welches zu finden gerade Aufgabe des Wettbewerbs ist. Die offene Gesellschaft würde dann geschlossen und statisch werden. Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren einer den Bedürfnissen der Wirtschaftssubjekte gerecht werdenden Wettbewerbsordnung wäre ausgeschaltet. Damit könnte die Funktion des Suchens, Entdeckens und Aggregierens von Wissen vom Wettbewerb nicht mehr erfüllt werden und das Setzen einer Wettbewerbsordnung wäre so als „Anmaßung von Wissen" (von Hayek 1996, 3) zu betrachten. Diese soll im Rahmen dieses Beitrags dann diagnostiziert werden, wenn bei ordnungspolitischen Entscheidungen das Vorhandensein jeglichen entscheidungsrelevanten Wissens impliziert wird und dieses Wissen aufgrund der Komplexität der Realität unmöglich bei dem entscheidenden Subjekt zentralisiert werden kann. Andererseits darf aber nicht daran gezweifelt werden, daß in einer Gesellschaft bestimmte elementare Regeln für das Zusammenleben und ökonomische Handeln kodifiziert sein müssen, da eine hinreichende Vorstellung über die Reaktion anderer auf eigene Handlungen und die Einklagbarkeit von Verträgen notwendige Voraussetzungen für das Zustandekommen ökonomischer Aktivitäten darstellen1. Damit stehen Wirtschaftstheorie und Gesetzgebung bei der Formulierung wettbewerbspolitischer Normensysteme vor einem Dilemma. Einerseits müssen justiziable Normen gesetzt werden, um gesellschaftlich unerwünschte, anarchische Entwicklungen zu verhindern, andererseits besteht sehr schnell die Gefahr, daß staatlicher konstruktivistischer Rationalismus bei der Wettbewerbsgesetzgebung zu kontraintentionalen Ergebnissen führt. Im Rahmen dieses Beitrags soll nun die Frage geklärt werden, wo sich die Wettbewerbsordnung Walter Euckens innerhalb dieses Spektrums befindet und ob sie auch beim heutigen Stand der wettbewerbstheoretischen Forschung geeignet erscheint, als Leitbild einer konkreten Wettbewerbspolitik zu dienen. Dazu wird im zweiten Abschnitt der Ord1 So muß z. B. der Verkäufer einer Sache die Zahlung des Kaufpreises erwarten dürfen. Die Zusicherang des Staates, bei Zahlungsverweigerung des Käufers die Befriedigung des Verkäufers auf zivilrechtlichem Wege sicherzustellen, erleichert in diesem Falle das Zustandekommen der Transaktion.
Die Ordnungstheorie Walter Euckens in einer offenen Gesellschaft · 129
nungsbegriff näher konkretisiert sowie das der folgenden Analyse zugrunde liegende Verständnis marktprozessualer Vorgänge offengelegt. Im dritten Abschnitt erfolgt eine knappe Darstellung der zentralen Thesen von Euchens Wettbewerbsordnung, bevor deren konstruktivistische Elemente analysiert werden. Ebenso wird aufgedeckt, an welchen Stellen die Existenz nicht vorhandenen Wissens impliziert wird. Der vierte Abschnitt bietet schließlich ein Fazit der vorangehenden Überlegungen. II. Der Ordnungsbegriff 1. Definitorische Grundlagen Am Anfang dieser Untersuchung erweist es sich als notwendig, den Begriff „Ordnung" näher zu konkretisieren, da mit ihm in der Literatur unterschiedliche Sachverhalte beschrieben werden2. So kann „Ordnung" zum einen ein System kodifizierter Rechtsnormen bezeichnen, die vorschreiben, wie Wirtschaftssubjekte in bestimmten Situationen zu handeln haben. Zugleich sind unter Ordnung aber auch die konkreten institutionellen Beziehungen zwischen den Elementen eines sozialen Systems zu verstehen, welche sich ergeben, wenn diese Rechtsnormen konkret angewandt werden (von Hayek 1969b, 161 f.). Unter diese Vorstellung einer gesetzten Ordnung soll hier der Begriff der Wettbewerbsordnung eingeordnet werden. Wettbewerbsordnung in diesem Sinne seien also sowohl die gesetzlichen Regelungen, die den Ablauf wettbewerblicher Vorgänge positiv normieren, als auch die Art der durch sie determinierten Beziehungen der Individuen innerhalb einer Volkswirtschaft. Von solchen gesetzten Ordnungen sind unintendiert und spontan entstandene Strukturen des Soziallebens abzugrenzen, welche dann auf evolutorischem Wege entstehen, wenn sich die Gesellschaftsmitglieder an abstrakte Spielregeln halten, die lediglich gewisse Handlungen verbieten, aber keine bestimmten Handlungsergebnisse anstreben oder gar vorschreiben (vow Hayek 1969a, 38). Auf diese Ordnungsvorstellungen wird im folgenden näher eingegangen. Dabei orientiert sich die Argumentation zunächst an den ordnungstheoretischen Überlegungen Friedrich August von Hayeks. 2. Ordnungstheoretische Grundlagen wettbewerblicher Prozesse Von Hayek versteht unter Ordnung das Bestehen von Beziehungen zwischen wiederkehrenden Elementen, die es ermöglichen, aufgrund der Kenntnis eines Teiles eines Gan2 Allgemeingültige Definitionen abstrakter Begriffe wie „Wettbeweibsordnung" erweisen sich als äußerst schwierig, da jeder Autor - abhängig vom eigenen Standpunkt und Eifahrungshorizont dem sprachlichen Begriff einen anderen Bedeutungsinhalt zuordnet. Allen in diesem Beitrag gebrauchten Definitionen liegt dabei ein nominalistisches Begriffsverständnis zugrunde. Somit dient die Sprache lediglich der Beschreibung realer Gegebenheiten, ohne daß Begriffen eine eigene Wesenseigenschaft zuerkannt wird. Zu diesem wissenschaftstheoretischen Problem der Essentialismus-Nominalismus-Kontroverse siehe Schmidtchen (1989, 162) sowie Popper (1987, 21ff).
130 · Claudius Christi zen Erwartungen über das Ganze zu bilden (von Hayek 1969b, 164). Es ist für eine Gesellschaft lebensnotwendig, eine Ordnung zu besitzen, da nur so der Einzelne eine Vorstellung darüber haben kann, wie die Mitmenschen auf sein Handeln reagieren. Erst dadurch werden Arbeitsteiligkeit und wirtschaftliche Austauschprozesse möglich 0Schmidtchen 1989, 162). Ausgangsposition der folgenden Überlegungen ist die Annahme konstitutioneller Unwissenheit, was bedeutet, daß das Individuum nie alle in einer bestimmten Situation entscheidungsrelevanten Dinge kennen kann (von Hayek 1969b, 171). Infolge individueller menschlicher Handlungen bilden sich in einer Gesellschaft - ebenso wie in der Physik und Biologie - spontane Ordnungen, die von niemandem intendiert oder geschaffen worden sind. Eine ihrer wichtigsten Eigenschaften besteht darin, daß sie ein hohes Maß an Komplexität aufweisen können. Solche hochkomplexen Ordnungen, die mehr Wissen umfassen, als bei irgendeinem Individuum zentralisierbar ist, können nur durch Kräfte geschaffen werden, welche zur Bildung spontaner Ordnungen fuhren (von Hayek 1980, 61). Wie bereits angedeutet, entwickeln sich diese immer dann evolutorisch weiter, wenn die handelnden Individuen gewissen allgemeinen Regeln folgen, ohne daß dabei verschiedene Personen unter ähnlichen Umständen dasselbe tun müßten (von Hayek 1969a, 39; Mantzavinos 1994, 117 f.). Die allgemeinen Regeln dürfen einem Individuum nicht einen bestimmten Platz zuweisen (Hume 1962, 158), sondern sie müssen so gehalten sein, daß der einzelne selbst entscheiden kann, welche Position er in der Gesellschaft einnehmen will {von Hayek 1969a, 41 f.). Da die Art der spontanen Ordnung von der Beschaffenheit der Verhaltensregeln abhängig ist, wird es möglich, durch die Ausgestaltung der allgemeinen Regeln Einfluß auf ihre Entwicklung zu nehmen ( Vanberg 1984, 83; von Hayek 1980, 65 ff). Die spontane Ordnung wird durch drei Merkmale charakterisiert (Mantzavinos 1994, 134): - Erstens kann sie als enger, dynamischer Prozeß verstanden werden, welcher gleichgewichtstendierend ist. - Zweitens fuhrt dieser Prozeß hin zu einem fiktiven Gleichgewicht, das aber nie erreicht wird. - Wenn man schließlich diesen Prozeß für einen infinitesimal kurzen Zeitraum stoppen und beobachten würde, könnte man feststellen, daß ein reales Ungleichgewicht herrscht. Im ökonomischen Bereich nennt von Hayek die auf Basis allgemeiner, negativ formulierter und freiheitssichernder Verhaltensregeln evolvierende spontane Ordnung Katallaxie (von Hayek 1969c, 224 ff; 1981, 150 f.). Innerhalb der Katallaxie können die verschiedenen Wirtschaftssubjekte ihre unterschiedlichen Ziele frei verfolgen. Gerade Freiheit und Unterschiedlichkeit der Ziele und Pläne sind die Stärken der Katallaxie, weil dadurch Austausch und Diffusion von Wissen optimal gefördert werden. In einer solchen katallaktischen Ordnung ist das gesellschaftliche Wissen über alle Individuen dezentral verstreut sowie gleichsam durch die Art der Beziehungen zwischen den verschiedenen Elementen der Ordnung gespeichert. Die Ordnung ist ihrerseits in einem historischen evolutorischen Prozeß gewachsen und kann sich schneller an Situationsänderungen anpassen als dies eine Zentralinstanz durch Anweisungen erreichen könnte. Diese Situati-
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onsänderungen brauchen nicht der gesamten Gesellschaft oder der in einer Organisation Ordnung setzenden Person bekannt sein. Aufgrund der Existenz von Arbitrageprozessen genügt es völlig, wenn Neuerungen einzelnen Gesellschaftsmitgliedern bekannt sind. Aus diesem evolutorischen Prozeß entwickelte sich die heute existierende arbeitsteilige Gesellschaft. Als eines ihrer wichtigsten Wesensmerkmale ist das Auftreten von Wissensdiffusionsprozessen zu betrachten (Lachmann 1984, 142 ff). Eine herausragende Rolle bei der dazu notwendigen Entdeckung und makroökonomischen Nutzung individuellen Wissens, das bei keiner Instanz zentralisiert sein kann, spielt der Wettbewerb und die allgemeinen Regeln, welche ihn gewährleisten (von Hayek 1981, 100 ff). Die Frage geht nun dahin, wie die einzelnen Regeln der Rechtsordnung auszusehen haben, damit eine Handelnsordnung evolviert, die sowohl den individuellen Wissensschaftungsprozeß als auch die gesamtgesellschaftliche Nutzung des weit verstreuten individuellen Wissens begünstigt. In beiden Fällen hat sich ein hohes Maß an individueller Freiheit als forderlich erwiesen (von Hayek 1991, 37). Um diese Freiheit zu gewährleisten, sollen die Regeln allgemein-abstrakt, negativ formuliert und auf alle Individuen gleich anwendbar sein. Es sollen keine bestimmten Ziele des Handelns in sie aufgenommen werden, sondern sie dürfen den Individuen lediglich mitteilen, „was sie unter bestimmten Umständen nicht tun dürfen" (Hoppmann 1991, 6). Ebenso müssen die Regeln gewiß sein, was bedeutet, daß sie nur von Umständen abhängen dürfen, welche die Betroffenen wissen oder voraussehen können {Hoppmann 1974, 14). Schließlich erweist es sich als notwendig, daß Systeme von Regeln in sich konsistent sind. Wenn nun eine Gruppe von Menschen dieselben Regeln anwendet, besitzt ein einzelnes Individuum Informationen darüber, was es von seinen Mitmenschen in bestimmten Situationen erwarten oder nicht erwarten kann, ohne explizit deren Intentionen zu kennen. Dadurch ergibt sich als Folge regelgebundenen wechselseitigen menschlichen Handelns die spontane Handelnsordnung {Hoppmann 1992, 5). Da nur die allgemeinen Charakterzüge dieser Ordnung festgelegt werden können, ist Rationalität im Sinne eines „konstruktivistischen Rationalismus" {von Hayek 1981, 49) unmöglich. Es erweist sich daher auch als nicht machbar, ein komplettes Regelsystem neu zu entwerfen. Vielmehr muß eine Verbesserung der Rechtsordnung im Sinne der Popperschen „StückwerkSozialtechnik" durch kleine Eingriffe versucht werden {Popper 1995, 298; von Hayek 1981,43). Um die Befolgung dieser Regeln, welche der Entwicklung einer spontanen Ordnung dienen, zu gewährleisten, bedarf es einer Organisation. Diese stellt eine vom Menschen bewußt und zielgerichtet geschaffene Ordnung dar. In vorliegenden Fall ist die Organisation der Staat {von Hayek 1969a, 40; Mantzavinos 1994, 118). Innerhalb einer Organisation wird mit Befehlen operiert. Der Entscheider steht vor dem Problem, nicht alles zu wissen, was zu einer sachgerechten Entscheidung notwendig wäre. Je komplexer nun ein System wird, desto mehr muß die Ordnung mit Regeln, nicht mit Befehlen geschaffen werden, da die Informationsgewinnung für einen Befehlsgeber mit zunehmender Größe des Systems schwieriger wird. Auf der Ebene der gesamten Volkswirtschaft ist es somit unmöglich, eine Ordnung als Organisation aufzubauen. Vielmehr sind die dargestellten
132 · Claudius Christi allgemeinen Regeln anzuwenden, die auf die Schaffung der Bedingungen zielen, unter denen sich eine spontane Ordnung von selbst bilden wird. 3. Entwicklung einer Referenzbasis für die nachfolgende Analyse Im vorangehenden Abschnitt wurden gesetzte und spontane Ordnungen voneinander abgegrenzt. Dabei zeigte sich die Überlegenheit spontaner gegenüber gesetzter Ordnungen als Rahmen ökonomischer Prozesse. Nun wird ein Referenzsystem entwickelt, anhand dessen später die konstruktivistischen Elemente in Euckens Wettbewerbsordnung identifiziert werden können. Dazu soll noch einmal daraufhingewiesen werden, daß auch spontane Ordnungen auf gesetzten allgemeinen Regeln fußen können. „Der spontane Charakter der sich ergebenden Ordnung muß daher von dem spontanen Ursprung der Regeln unterschieden werden, auf denen sie beruht, und es ist möglich, daß eine Ordnung, die immer noch als spontan beschrieben werden müßte, auf Regeln beruht, die zur Gänze das Ergebnis eines bewußten Entwurfs sind" (von Hayek 1980, 68 f.). Es müssen also zwei Ebenen unterschieden werden. Die Ebene der Ordnung und die der Regeln, welche bei ihrer Einhaltung zu einer spontanen Ordnung fuhren. Dieses Vorgehen ermöglicht eine Reduktion des Gegensatzes geplante versus spontane Ordnung auf folgende Frage: Will eine gesetzliche Regelung eine konkrete Ordnung setzen, d. h. schreibt sie positives Handeln und ex ante definierte Handlungsergebnisse vor oder will sie lediglich Regeln setzen, welche die Rahmenbedingungen für eine sich spontan entwickelnde Ordnung schaffen? Diese allgemein formulierte Antinomie kann nun auf das konkrete Problem der Analyse einer Wettbewerbsordnung angewandt werden. Letztere betrifft das Verhalten sämtlicher Wirtschaftssubjekte in dem offenen System Volkswirtschaft. Dieses befindet sich nicht in einem stationären Zustand, sondern es kommt laufend zu Inventionen und Innovationen, und zwar auf der Ebene von Produkten, Prozessen, Organisationsformen, sozialen Verhältnissen, Moral- und Wertvorstellungen und vielen anderen Ebenen. Es wäre somit eine Anmaßung von Wissen, normativ und positiv vorzuschreiben, wie der Wettbewerbsprozeß abzulaufen hat, da das legislative Organ niemals alles das wissen kann, was zum Zeitpunkt der Entscheidung für diese relevant ist. Darüber hinaus weiß das gesetzgebende Organ erst recht nicht, welche Entwicklungen in der Zukunft zu erwarten sind und wie diesen Rechnung getragen werden muß. Da gerade der Wettbewerb das Mittel ist, Wissen, das nur einzelnen Individuen bekannt ist, für die gesamte Gesellschaft zu erschließen und nutzbar zu machen, wird der Wettbewerb durch eine gesetzte Wettbewerbsordnung gerade seiner ureigenen Aufgabe beraubt, nämlich der Entdeckung von Wissen über eine den Bedürfnissen der einzelnen Wirtschaftssubjekte entsprechenden Wettbewerbsordnung3. 3 Diese Aussage impliziert freilich eine instrumentalistische Auffassung von Wettbewerb, da dieser hier als Mittel zum Zweck einer schnellen makroökonomischen Wissensdiflusion angesehen wird. Damit gibt die österreichische Schule in der Tradition von Hayeks eine wirtschaftspolitische Handlungsempfehlung aufgrund vorher identifizierter positiver Ursache-
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Andererseits ist es notwendig und legitim, allgemeine, abstrakte, gewisse, negativ formulierte und konsistente Verhaltensregeln zu setzen, die im folgenden Wettbewerbsregeln genannt werden sollen. Deren Aufgabe ist es, die freiheitliche Ordnung vor einer Gefahrdung durch willkürliches Handeln zu schützen (Oberender 1998, 12). Hierbei kommt es zu keiner Anmaßung von Wissen, da diese weder positives Handeln vorschreiben noch auf konkrete Handlungsergebnisse zielen. Damit ist auch gesichert, daß die Gesellschaft ein offenes System bleibt, das sich stets an neu auftretende Sachverhalte anpassen kann. Bei der folgenden Analyse der Euckenschert Wettbewerbsordnung können nun dessen normative Aussagen dahingehend geprüft werden, ob sie imstande sind, eine bestimmte Ordnung a priori festzulegen. Dann müßte die im Titel dieses Beitrags gestellte Frage bejaht werden. Wäre hingegen das, was in der Öffentlichkeit gesetzte Wettbewerbsordnung genannt wird, vor dem Hintergrund dieser Referenzbasis nur ein System von Wettbewerbsregeln, welches die Gesellschaft in die Lage versetzt, eine Ordnung evolutorisch zu entwickeln, dann wäre Euckens Wettbewerbsordnung mit der hier vertretenen Hayekianischen Sichtweise durchaus vereinbar4.
III.
Die Wettbewerbsordnung Walter Euckens aus marktprozessualer Sicht
Nach der Offenlegung des diesem Beitrag zugrunde liegenden Verständnisses über den Ablauf marktprozessualer Vorgänge kann nun Euckens Wettbewerbsordnung näher betrachtet werden. Wenn auch diese nicht mehr den state of the art der wettbewerbstheoretischen Forschung darstellt, können doch interessante Einblicke in die Abgrenzungsproblematik zwischen allgemeinen Regeln und rationalistischen Konstrukten gewonnen werden. 1. Darstellung Walter Eucken hat in seinem Werk, das zu einem Großteil in der Zeit des Nationalsozialismus entstanden und von dessen negativen Auswirkungen beeinflußt ist, die Idee der Wettbewerbsordnung geprägt, welche ihrerseits Grundlage für das war, was Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard später Soziale Marktwirtschaft nannten (Oberender Wirkungszusammenhänge und der normativen Implikation, daß eine starke Wissensdiffusion wünschenswert sei. Bei einer konsequent evolutorischen Position dürfte aber auch dieses normative Ziel nicht vorgegeben werden, denn der Wettbeweib könnte ja auch als Entdeckungsverfahren einer den Wirtschaftssubjekten am meisten gerecht werdenden Wissensdifiiisionsgeschwindigkeit dienen. Auf dieses gerade im wirtschaftspolitischen Kontext wichtige Problem evolutorischer Methodik kann hier nicht näher eingegangen werden. 4 Die hier vorgenommene Differenzierung wettbewerbspolitischer Normen in Wettbewerbsordnimg und Wettbewerbsregeln soll ein beinahe allenthalben auftretendes semantisches Problem vermeiden helfen. So schreibt z. B. Lambsdorff (1994, 12), daß der Staat laut von Hayek eine Wettbewerbsordnung setzen müsse, was nur dann richtig sein könnte, wenn von Hayek unter gesetzter Wettbewerbsordnung lediglich ein System allgemeiner Wettbewerbsregeln verstanden hätte.
134 · Claudius Christi 1989, 321 ff). Er vertritt die Auffassung, daß eine Politik, die das Entwickeln einer Wettbewerbsordnung den Privaten überläßt, zum Scheitern verurteilt sei. Als Beleg dafür nennt er das Scheitern des Laissez-faire (Euchen 1990, 241 f.). Deshalb geht Euchen von der Notwendigkeit aus, daß der Staat nach einer Wettbewerbsordnung sucht und diese dann setzt. Er findet sie in der Marktform der vollständigen Konkurrenz (,Euchen 1990, 244 ff). Durch diese werden alle Teile des Wirtschaftsprozesses sinnvoll integriert. Dies sichert individuelle Freiheiten und Auswahlmöglichkeiten im Wirtschaftsprozeß. „Aber es besteht nicht die Freiheit, die Spielregeln oder die Formen, in denen sich der Wirtschaftsprozeß abwickelt, die Marktformen und Geldsysteme, nach Willkür zu gestalten." (Euchen 1990, 246). Hauptanliegen Euchens ist die Gefahr wirtschaftlicher Macht. Er vertritt die Auffassung, daß die Industrialisierung zu einer Gefahr für die Freiheit geführt hat (Woll 1989, 92). Freiheit zu wirtschaftlicher Betätigung ohne eine vom Staat gesetzte Wettbewerbsordnung kann eben diese Freiheit zerstören. Dies geschieht durch die Entwicklung von Kollektivgebilden und Machtblöcken wie Kartellen. Durch die Prinzipien der vollständigen Konkurrenz, die vom Staate überwacht werden, soll das Problem ungleicher Marktmacht infolge privatwirtschaftlicher Konzentrationsprozesse verhindert werden. Somit bedingen Freiheit und Ordnung einander {Euchen 1990, 179). Auch erweist es sich als unmöglich, individuelle Freiheiten auf bestimmte Teilbereiche des Lebens zu beschränken. „Freiheit ist unteilbar." (Oberender 1998, 12). Die Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen des Staates wird dadurch verhindert, daß der Staat nur die Wettbewerbsordnung setzt, sich aber aus dem Wirtschaftsprozeß herauszuhalten hat. Diese Ordnung soll zwar gesetzt werden, aber sie richtet sich auch nicht gegen die geschichtliche Entwicklung. Es werden nämlich nur Ordnungsformen eingesetzt, die in der Wirklichkeit wiedergefunden werden können und die dem Wesen des Menschen und der Sache entsprechen (Euchen 1990, 239). Deshalb oktroyiert der Staat mit der Politik der Wettbewerbsordnung nicht eine Wirtschaftsordnung, sondern er bringt nur das zur Geltung, was sonst aufgrund negativer Einflüsse zurückgedrängt würde (Euchen 1990, 373 ff). Zentrales Element sind die konstituierenden Prinzipien {Euchen 1990, 254 ff; Oberender und Christi 1998, 232). - Das Grundprinzip: Jede wirtschaftspolitische Maßnahme muß auf die Herstellung eines funktionsfähigen Preissystems vollständiger Konkurrenz zielen. Das Prinzip ist nicht nur negativ; so sollen etwa nicht nur Kartelle verboten werden, sondern es ist positive Wirtschaftsverfassungspolitik notwendig, welche das Bestehen einer Marktform der vollständigen Konkurrenz sichern soll. - Primat der Währungspolitik: Der Geldwert muß stabil gehalten werden. Um dies zu erreichen, schlägt Eucken die Einführung einer Waren-Reserve-Währung vor. - Offene Märkte: Der Staat muß es einerseits unterlassen, durch Einfuhrverbote, Privilegien, Zulassungssperren und Investitionsverbote Märkte zu schließen {Gröner und Schüller 1989, 432). Andererseits müssen auch private Machtgruppen daran gehindert werden, Märkte zu schließen. So sind zum Beispiel Kampfpreise gegen Außenseiter mit dem Ziel der Vernichtung oder Abschreckung zu verbieten. Auch soll Inhabern von Patenten ein Kontrahierungszwang auferlegt werden.
Die Ordnungstheorie Walter Euckens in einer offenen Gesellschaft · 135 - Privateigentum: Das Privateigentum muß mit Verfugungsmacht und Verfugungsfreiheit einhergehen. Ebenso muß es wettbewerbskonform sein, was bedeutet, daß monopolistische Gebilde unerwünscht sind. - Vertragsfreiheit: Grundsätzlich ist die Vertragsfreiheit eine Voraussetzung für die Konkurrenz, da sonst der Vertragspartner nicht ausgewählt werden kann. Formale Vertragsfreiheit kann aber wertlos sein, falls die Marktgegenseite eine überragende Machtposition besitzt. Damit muß Vertragsfreiheit an zwei Stellen eingeschränkt werden. Verträge dürfen nicht geschlossen werden, um die Vertragsfreiheit einzuschränken und die Vertragsfreiheit darf im Wirtschaftsprozeß nur dort gewährt werden, wo vollständige Konkurrenz vorhanden ist. - Haftung: Persönliche Haftung ist eine Voraussetzung der Wettbewerbsordnung und deshalb sind Haftungsbeschränkungen und die Entpersönlichung der Wirtschaft kritisch zu betrachten. - Konstanz der Wirtschaftspolitik: Wirtschaftspolitische Maßnahmen müssen langfristig angelegt sein, um den Unternehmen Planungssicherheit zu geben. Selbst bei Einhaltung der konstituierenden Prinzipien ist für Euchen das Überleben der konkreten Wettbewerbsordnung noch nicht gesichert. Es können vielmehr Schwächen und Mängel auftreten, die der Korrektur bedürfen. Deshalb bedarf es der regulierenden Prinzipien (Euchen 1990, 291 ff ): - Das Monopolproblem in der Wettbewerbsordnung fuhrt danach zur Notwendigkeit einer Wettbewerbsbehörde, die bestehende Monopole entflechtet oder überwacht. - Ferner erweist sich eine Einkommensredistribution aus sozialen Gründen als notwendig. Ein dafür geeignetes Instrument ist die progressive Einkommensteuer. Allerdings darf die Progression nicht so stark sein, daß Investitionsanreize zunichte gemacht werden. - Ferner soll der Staat überall dort regulierend tätig werden, wo negative externe Effekte nicht in die Planungsrechnung der einzelnen Unternehmen eingehen. - Schließlich gilt auch anomales Verhalten des Angebots als Rechtfertigungsgrund staatlicher Interventionen. Falls nämlich sinkende Löhne aufgrund der Not der Arbeiter zu einem steigenden Arbeitsangebot fuhren, sollte der Staat die Einfuhrung von Mindestlöhnen erwägen. Euchen vertritt die Auffassung, daß die Konsequenzen, die sich aus der Realisierung dieser gesetzten Wettbewerbsordnung ergeben, genau feststellbar sind und daß somit bei der Auslese der Ordnungsformen die Subjektivität überwunden werden kann (Euchen 1990, 379). 2. Würdigung Am Anfang der Würdigung des Euchenschen Paradigmas soll dessen eigene Einschätzung seiner Ideen stehen. So fordert er zwar das Setzen der Wettbewerbsordnung, aber diese „stellt sich nicht der geschichtlichen Entwicklung entgegen. Indem sie Ordnungsformen systematisch realisiert, die in der Wirklichkeit vorgefunden werden und die
136 · Claudius Christi gleichsam zu weiterer Verwirklichung drängen, nähert sich diese Ordnung den gewachsenen Ordnungen an. [...] Wir erfinden die Wettbewerbsordnung nicht; sondern wir finden ihre Elemente in der konkreten Wirklichkeit vor. Wir erzwingen nichts, sondern wir bringen zur Entfaltung, was - neben anderen Formen - in der Wirklichkeit da ist." (Eucken 1990, 373 f.). Daraus wird ersichtlich, daß es nicht die Intention Euchens ist, auf rein rationalistischkonstruktivistischem Wege eine künstliche Ordnung zu schaffen. Vielmehr ist er der Ansicht, daß sich unter den verschiedensten Ordnungen, die sich in der Realität finden lassen, diejenige der vollständigen Konkurrenz als überlegen erwiesen hat. Insofern benutzt er bei der Konzeptionierung seiner Wettbewerbsordnung den evolutorischen Prozeß der Vergangenheit, denn die vollständige Konkurrenz existiert als eine von vielen Ordnungsformen in der Realität, ohne daß sie explizit auf konstruktivistische Weise geschaffen worden wäre. Dies wird von Eucken auch betont. Nun will er aber für die Zukunft diese Ordnungsform festschreiben: „Es genügt nicht, gewisse Prinzipien des Rechts zu verwirklichen und im übrigen die Entwicklung der Wirtschaftsordnung sich selbst zu überlassen." {Eucken 1990, 373). Mit dieser Aussage nimmt er implizit an, daß eine bestimmte Wettbewerbsordnung auf Dauer die beste sei. Hier offenbart sich die ganze Ambivalenz der Euckenschen Ordnungstheorie, die in ihrem harten Kern auch auf die gesamte Freiburger Schule übertragbar ist. Einerseits kann aufgrund der großen Wichtigkeit der wirtschaftlichen Wirklichkeit für die ökonomische Theorienbildung Euchens diesem nicht der Vorwurf gemacht werden, ein konstruktivistischer Rationalist zu sein (Eucken 1989, 69). Ganz im Gegenteil war Eucken mit der Hervorhebung der Bedeutung marktprozessualer Vorgänge und evolutorisch gewachsener Institutionen für die Wettbewerbsordnung dem zeitgenössischen Stand der Wirtschaftstheorie weit voraus. Sowohl im angelsächsischen als auch im deutschsprachigen Raum war die statische, ahistorische und die institutionellen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens vernachlässigende Preistheorie dominant (Oberender und Christi 1996, 369). Eucken dagegen hebt die Wichtigkeit der Historizität evolutorischer Prozesse bei der Entwicklung von Ideal- und Realtypen des Wirtschaftens hervor, ohne in einen bloßen Historismus oder gar Historizismus zu verfallen. Doch dann blieb es freilich anderen, wie seinen Nachfolgern an der Universität Freiburg, von Hayek und Hoppmann, vorbehalten, diese Überlegungen konsequent zu Ende zu fuhren. So ist es bei Eucken schwer nachvollziehbar, warum er zwar einerseits immer wieder die Erfahrungen des historisch-evolutorischen Prozesses bemüht, um die empirischen Vorteile des Preissystems der vollständigen Konkurrenz hervorzuheben, dann aber gerade für die Zukunft diese Ordnung festschreibt. Wenn er auch darauf hinweist, daß die Planung der Wettbewerbsordnung nicht im Gegensatz zur historischen Entwicklung steht und sich diese daher an gewachsene Ordnungen annähert, dann klammert er aus seinen Überlegungen dennoch die zirkulären Interdependenzen zwischen Wettbewerbsordnung und zukünftiger wirtschaftlicher Entwicklung aus (Eucken 1990, 374). Durch sein Festhalten an der vollständigen Konkurrenz wird die Anzahl der möglichen Entwicklungspfade für eine zukünftige Evolution der Ordnung stark reduziert. Die Marktform kann sich nicht mehr verändern, obwohl unvorhersehbare, zukünftige Ereig-
Die Ordnungstheorie Walter Euckens in einer offenen Gesellschaft · 137 nisse vielleicht eine andere vorteilhafter erscheinen ließen. Deshalb herrscht heute auch weitgehende Einigkeit darüber, daß die starke Hervorhebung der vollständigen Konkurrenz als Schwäche Euckens anzusehen ist (Lenel 1989, 11). Ungleich positiver sind dagegen aus evolutionsökonomischer Perspektive die konstituierenden Prinzipien zwei bis sieben zu beurteilen. Diese sind sehr wohl als Regeln aufzufassen, die lediglich einen Rahmen setzen, innerhalb dessen sich dann eine Wettbewerbsordnung spontan entwickeln kann. Es werden darin nämlich keine konkreten Handlungen vorgeschrieben. Vielmehr sichern diese Prinzipien die Funktionsfähigkeit des pretialen Lenkungssystems und die individuelle Freiheit, ökonomisch tätig zu werden. Somit sind sie eine notwendige Voraussetzung fur das Entstehen der Katallaxie. Freilich schränkt Eucken diese Regeln immer dergestalt ein, daß er ihre Funktionsfähigkeit nur dann für gewährleistet hält, wenn keine monopolistischen Machtpositionen existieren. Damit geht die in Abschnitt II. 2. postulierte Allgemeingültigkeit von abstrakten Regeln verloren. Blendet man aber Euckens Abneigung gegenüber Monopolen aus, so können die Forderungen nach einer stabilen Währung, offenen Märkten, Schutz des Privateigentums, Vertragsfreiheit, persönlicher Haftung und konstanter Wirtschaftspolitik als eine Forderung nach Wettbewerbsregeln gesehen werden, welche die individuelle Freiheit zu wettbewerblichem Handeln sicherstellen und keine konkreten Marktstrukturen, Marktverhaltensweisen oder Marktergebnisse ex ante fordern. Somit ermöglichen die konstituierenden Prinzipien mit Ausnahme des Grundprinzips eine Evolution der wettbewerblichen Handelnsordnung in der Zukunft und stellen daher keine Anmaßung von Wissen dar. Anders verhält es sich mit den regulierenden Prinzipien, die massive konstruktivistische Eingriffe in den Wettbewerbsprozeß fordern. Zwar greifen sie nur, wenn eine unerwünschte Entwicklung eintritt. Allerdings ist Eucken dann bereit, zu Maßnahmen wie der Festsetzung von Mindestlöhnen zu greifen, die in der Lage sind, den Wettbewerb ganz auszuschalten, was strikt abzulehnen ist. Interessanterweise folgt aus der Tatsache, daß die regulierenden Prinzipien überhaupt notwendig erscheinen, daß die konstituierenden Prinzipien aus der Sicht Euckens Raum für eine evolutionäre Entwicklung lassen und keine exakt definierte Ordnung setzen.
IV. Fazit Am Ende dieser Überlegungen ist festzustellen, daß Euckens Ordnungskonzeption in vielen Punkten Freiräume für den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren einer Wettbewerbsordnung läßt. Sie stützt sich auf zahlreiche Erfahrungen des historischen kulturellen Evolutionsprozesses. Damit kann sie nicht als rationalistisches Konstrukt angesehen werden, als das sie in der wissenschaftlichen Diskussion, insbesondere aus libertärer Sicht, bisweilen gebrandmarkt wird. Diese Aussage bedarf jedoch zweier Einschränkungen. Zum einen ist Euckens kompromißloses Festhalten am Prinzip der vollständigen Konkurrenz in einer sich dynamisch wandelnden Wirtschaft weder theoretisch haltbar noch praktisch durchsetzbar. Für ein besseres Verständnis seiner Position sollten allerdings die negativen persönlichen Erfah-
138 · Claudius Christi rangen Euchens mit Kartellen in der Weimarer Republik gewürdigt werden. Damit wird auch dessen beinahe hypertrophe Abneigung gegenüber jeglichen Machtkonzentrationen klarer. Zum anderen muß davor gewarnt werden, die regulierenden Prinzipien als Rechtfertigung diskretionärer wirtschaftspolitischer Eingriffe seitens des Staates aufzufassen. Obwohl sie nur für das Auftreten bestimmter Sonderfälle konzipiert wurden, zeigt die moderne Marktprozeßtheorie doch, daß scheinbar ziel-, aber nicht wettbewerbskonforme Interventionen zu kontraintentionalen wirtschaftlichen Ergebnissen fuhren und damit die Wettbewerbsordnung unterminieren können. Literatur Bartling, Hartmut (1980), Leitbilder der Wettbewerbspolitik, München. Eucken, Walter, (1989), Die Grundlagen der Nationalökonomie, 9. Auflage, Berlin, Heidelberg und New York. Eucken, Walter (1990), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage, Tübingen. Gröner, Helmut und Alfred Schüller (1989), Grundlagen der internationalen Ordnung: GATT, IWF und EG im Wandel - Euckens Idee der Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs als Prüfstein, ORDO, Bd. 40, S. 429-463. Hayek, Friedrich August von (1969a), Arten der Ordnung, in: Friedrich August von Hayek, Freiburger Studien: Gesammelte Aufsätze von F. A. v. Hayek, Tübingen, S. 32-46. Hayek, Friedrich August von (1969b), Rechtsordnung und Handelnsordnung, in: Friedrich August von Hayek, Freiburger Studien: Gesammelte Aufsätze von F. A. v. Hayek, Tübingen, S. 161-198. Hayek, Friedrich August von (1969c), Die Sprachverwirrung im politischen Denken, in: Friedrich August von Hayek, Freiburger Studien: Gesammelte Aufsätze von F. A. v. Hayek, Tübingen, S. 206-231. Hayek, Friedrich August von (1969d), Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Friedrich August von Hayek, Freiburger Studien: Gesammelte Aufsätze von F. A. v. Hayek, Tübingen, S. 249-265. Hayek, Friedrich August von (1980), Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 1: Regeln und Ordnung, München. Hayek, Friedrich August von (1981), Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, Landsberg am Lech. Hayek, Friedrich August von (1991), Die Verfassung der Freiheit, Tübingen. Hayek, Friedrich August von (1994), Der Weg zur Knechtschaft, München. Hayek, Friedrich August von (1996), Die Anmaßung von Wissen, in: Friedrich August von Hayek, Die Anmaßung von Wissen: Neue Freiburger Studien, Tübingen, S. 3-15. Hoppmann, Erich (1974), Volkswirtschaftliche und Wirtschaftspolitische Bedeutung des Kartellund Monopolrechts, in: Erich Hoppmann und Ernst-Joachim Mestmäcker (Hrsg.), Normenzwecke und Systemfunktionen im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, Tübingen, S. 5-19. Hoppmann, Erich (1977), Marktmacht und Wettbewerb. (Beurteilungskriterien und Lösungsmöglichkeiten), Tübingen. Hoppmann, Erich (1988), Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, 1. Auflage, Baden-Baden. Hoppmann, Erich (1991), Freiheit, Ordnung und Moral, Jena. Hoppmann, Erich (1992), Freiheitliche Wirtschaftspolitik und Verfassung, Jena. Hume, David (1962), Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage von 1929, Hamburg. Lachmann, Ludwig (1984), Marktprozeß und Erwartungen: Studien zur Theorie der Marktwirtschaft, München und Wien.
Die Ordnungstheorie Walter Euckens in einer offenen Gesellschaft · 139 Lambsdorff, Otto Graf (1994), Einführung zur Neuauflage: Der Weg in die Freiheit, in. Friedrich August von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München. Lenel, Hans Otto (1989), Walter Euckens „Grundlagen der Nationalökonomie", ORDO, Bd. 40, S. 3-20. Mantzavinos, Chrysostomos (1994), Wettbewerbstheorie: Eine ieri tische Auseinandersetzung, Berlin. Oberender, Peter (1989), Der Einfluß ordnungstheoretischer Prinzipien Walter Euckens auf die deutsche Wirtschaftpolitik nach dem zweiten Weltkrieg, ORDO, Bd. 40, S. 321-350. Oberender, Peter (1996), Ordnungsökonomik - quo vadis? in: Wolfgang Gitter (Hrsg.), Diesseits und jenseits von Geldangebot und Geldnachfrage: Akademische Feierstunde zu Ehren von Prof. Dr. Otmar Issing aus Anlaß der Verleihung der Ehrendoktorwürde am 9. Februar 1996, Baden-Baden, S. 75-84. Oberender, Peter (1998), Interdependenz der Ordnungen im Prozeß der Transformation, in: Peter Oberender unter Mitwirkung von Frank Daumann und Stefan Okruch (Hrsg.), Theorie und Praxis der Transformation von Wirtschaftssystemen, Bayreuth, S. 9-17. Oberender, Peter und Claudius Christi (1996), Heinrich von Stackelberg: Nur ein Pionier der Preistheorie? Jahrbücher fur Nationalökonomie und Statistik, Band 215, S. 363-376. Oberender, Peter und Claudius Christi (1998), Führt ein Fixkostenanstieg zwangsläufig in den Korporatismus? Die volkswirtschaftlichen Arbeiten Schmalenbachs, Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis, 50. Jahrgang, S. 222-235. Popper, Karl (1987), Das Elend des Historizismus, 6. Auflage, Tübingen. Popper, Karl (1995), Stückwerk-Sozialtechnik, in: Karl Popper, Lesebuch: Ausgewählte Texte zur Erkenntnistheorie, Philosophie der Naturwissenschaften, Metaphysik, Sozialphilosophie, Tübingen, S. 293-308. Schmidtchen, Dieter (1989) Evolutorische Ordnungstheorie oder: Die Transaktionskosten und das Unternehmertum, ORDO, Bd. 40, S. 161-182. Vanberg, Viktor (1984), Evolution und spontane Ordnung: Anmerkungen zu F. A. von Hayeks Theorie der kulturellen Evolution, in: Hans Albert (Hrsg.), Ökonomisches Denken und soziale Ordnung: Festschrift für Erik Boettcher, Tübingen, S. 83-112. Woll, Artur (1989), Freiheit durch Ordnung: Die gesellschaftspolitische Leitidee im Denken von Walter Eucken und Friedrich A. von Hayek, ORDO, Bd. 40, S. 87-97. Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob Walter Euckens Konzept einer Wettbewerbsordnung geeignet erscheint, als wettbewerbspolitisches Leitbild in einer sich evolutorisch weiterentwickelnden und zukunftsoffenen Gesellschaft zu dienen. Dazu wird zunächst in Anlehnung an von Hayek ein ordnungstheoretisches Referenzsystem geschaffen, mit Hilfe dessen spontan evolvierende und rationalistisch konstruierte Ordnungen unterschieden werden können. Es zeigt sich, daß einerseits allgemeine, abstrakte, negativ formulierte, gewisse und konsistente Wettbewerbsregeln notwendige Voraussetzung der Evolution einer Wettbewerbsordnung sind. Andererseits sind Normen, welche die Beziehungen zwischen den Elementen einer Ordnung deterministisch festlegen, als Anmaßung von Wissen abzulehnen. Mit Hilfe dieses analytischen Rahmens können dann die konstituierenden und regulierenden Prinzipien Euckens auf ihre Eignung geprüft werden, dem evolutorischen Charakter einer spontanen Wettbewerbsordnung gerecht zu werden. Eucken bedient sich des ursprünglich offenen, historisch-evolutorischen Prozesses, um empirisch gehaltvolle Aussagen über die Funktion gesellschaftlicher Ordnungen treffen zu können. Aber dann ex-
140 · Claudius Christi trapoliert er seine Ergebnisse deterministisch in die Zukunft. Dies fuhrt zu einem ambivalenten Bild. Während das Grundprinzip der vollständigen Konkurrenz und die regulierenden Prinzipien dem prozessualen Charakter des Wettbewerbs nicht gerecht werden können und daher abzulehnen sind, stellt die Einhaltung der übrigen konstituierenden Prinzipien eine notwendige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Katallaxie dar. Dies sind Geldwertstabilität, offene Märkte, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Zusammenhang von Handlung und Haftung sowie Konstanz der Wirtschaftspolitik. Schließlich ist trotz der hier vorgebrachten partiellen Kritik zu würdigen, daß Eucken mit der Hervorhebung institutioneller Rahmenbedingungen des Wirtschaftens dem wissenschaftlichen Stand seiner Zeit weit voraus war. Summary Walter Eucken's Theory of Economic Order in an Open Society. A Constructivistic Pretence of Knowledge? This article deals with the question, whether Walter Eucken's theory of a competitive market system is a suitable model for economic policy in an evolving and open society. In line with von Hayek 's concept of social order, an analytic framework is developed that allows to distinguish between spontaneous and constructed market orders. It is argued that on the one hand general, abstract, negating, concise and consistent rules of conduct are necessary requirements for the evolution of a competition order. On the other hand rules that determine the relations between elements of an economic system have to be rejected as pretence of knowledge. By applying this analytical framework, Eucken's constituting and regulating principles of an economic order can be tested on their suitability to meet evolutionary preconditions of a spontaneous market order. Originally Eucken uses the evolutionary historical process to develop empirical sentences about the functions of social orders. Furthermore and in contrast to that he extrapolates his results into the future and his assumptions become deterministic. This leads to an ambiguous situation. While the basic principle of perfect competition and the regulating principles seem to be unsuitable to deal with the evolutionary character of market processes and therefore have to be rejected, carrying out the other constituting principles is a necessary precondition for the workability of the catallaxy. Namely these basic principles are stable money, open markets, private property, freedom of contracting, dualism of action and responsibility for its results and the absence of discretionary economic policy. Despite these elaborate critique, Eucken's work is appreciated, since he was ahead of his profession at that time by emphasising the institutional restrictions of economic action.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Heiko Geue
Sind ordnungspolitische Reformanstrengungen mit Hayeks Evolutionismus vereinbar?'
I. Ordnungspolitische Prinzipien im evolutionären Prozeß Sobald die Evolutionstheorie Hayeks zur Kenntnis genommen wird, stellen sich dem Ordnungstheoretiker folgende Fragen, denen im folgenden nachgegangen wird: „Wo verläuft die Grenze zwischen sinnvollen und nützlichen Verbesserungsvorschlägen einerseits und Organisationsentwürfen im Sinne des konstruktivistischen Rationalismus andererseits? In welchem Sinn kann man sicher sein, daß sich durch die beschriebenen Evolutionsprozesse die besseren Regelungen durchsetzen werden?" (Blankart und Stoetzer 1991, 170). Die Ordnungstheorie lehrt, daß Märkte erst funktionieren können, wenn ein entsprechender institutioneller Rahmen existiert. Zum einen ermöglicht dieser die gesellschaftliche Aufgabe der Koordination, zum anderen beeinflußt er aber auch die Anreize zu lernen, neue Ideen zu entwickeln und Innovationen durchzusetzen (Kerber 1992, 188). Euchen hat ordnungspolitische Anforderungen an den „Marktrand" mit Hilfe seiner konstituierenden Prinzipien umschrieben. Er nennt sechs Prinzipien: „Primat der Währungspolitik, Offenheit der Märkte, Privateigentum, Haftung, Vertragsfreiheit sowie Konstanz der Wirtschaftspolitik" (Euchen 1952/1990, 254 ff). Dabei wendet sich Eukhen gegen die Vorstellungen eines institutionellen „laissez-faire" und entwickelt die Idee der Ordnung als Ordo. Er sieht als ordnungstheoretische Aufgabenstellung, kluge institutionelle Reformen denkend vorzubereiten: „Die Ordnung ist zu suchen, welche der Sache, der historischen Situation und dem Menschen entspricht" {Euchen 1961, 66), denn: „Die Wettbewerbsordnung verwirklicht sich nicht von selbst" {Euchen 1952/1990, 373).
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Für die kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich Dr. Peter Engelhard. Prof. Dr. Streit und seinen Mitarbeitern danke ich für die instruktive Diskussion im Rahmen des Forschungsseminars im Sommersemester 1997 am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen in Jena. Für alle verbleibenden Fehler trage ich die Verantwortung.
142 · Heiko Geue Abbildung: Konstituierende Prinzipien einer Wettbewerbsordnung
/ Konstanz \ der Wirtschaftspolitik
Quelle: Schüller 1992, 57.
Wie aber ist der institutionelle Rahmen für eine funktionsfähige, sich wandelnde Wettbewerbsordnung festzulegen? Ist dies eine Aufgabe konsistenter Ordnungspolitik oder muß auf den Mechanismus der Evolution von Institutionen1 gesetzt werden, durch den nach Hayek gesellschaftlich mehr Wissen genutzt werden kann, als dies mittels konstruktivistischer Politikvorhaben jemals der Fall sein könnte? Dabei ist zu beachten, daß evolutionäre Prozesse irreversibel und offen sind. Dafür sorgt in erster Linie die nicht-antizipierbare Kreativität menschlichen Verhaltens. Neuerungen fließen in den Prozeß ein, die ex ante nicht bekannt sein können. Nach Hayek ist die Evolution von Institutionen im Sinne des methodologischen Individualismus als Ergebnis des Austauschprozesses von Individuen zu erklären. Dabei ist zu untersuchen, ob eine sich selbst überlassene gesellschaftliche Entwicklung einen Prozeß der Ausscheidung von Institutionen auslöst, der automatisch dazu führt, daß sich immer superiore institutionelle Arrangements durchsetzen. Insbesondere ist zu klären, ob Hayek eine solche Theorie vertritt. Hayek selbst formuliert nämlich den Gedanken der kulturellen Regelentstehung teilweise so mißverständlich - wie das sogleich folgende Beispiel zeigt -, daß er sich der Kritik aussetzt, gewachsene spontane Ordnungen automatisch mit erfolgreichen Ordnungen gleichzusetzen, ohne auf die Bedingungen hinzuweisen, die dafür erfüllt sein müssen: „In diesem Entwicklungsprozeß [der kulturellen Entwicklung] überlebte das, was sich als nützlich erwies, um die menschlichen Bestrebungen erfolgreicher zu verwirklichen, und das weniger Erfolgreiche wurde verdrängt" (Hayek 1969h, 237). Im folgenden ist deshalb zu untersuchen, ob Hayek eine Position des „laissez faireEvolutionismus" einnimmt. Insgesamt soll diese Abhandlung klären, ob Hayeks Evolutionstheorie notwendig zu der wirtschaftspolitischen Schlußfolgerung führen muß, daß ordnungspolitische Re1 Es besteht keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs der Institution. Aus methodischen und inhaltlichen Gründen werden im Sinne der österreichischen Schule sowie Norths unter Institutionen lediglich kodifizierte und nicht-kodifizierte Regeln verstanden (siehe auch Geue 1997).
Ordnungspolitische Reformen und Evolutionstheorie · 143 fomanstrengungen als Anmaßung von Wissen und damit als Konstruktivismus zurückzuweisen sind. Dazu wird zunächst den Bestimmungsgründen für die Evolution von Institutionen nachgegangen. Insbesondere wird der Prozeß der unintendierten Entstehung von Regeln analysiert und die „Zwillingsidee von Evolution und spontaner Ordnung" systematisch ausgearbeitet. Dazu wird auf Hayeks Theorie der spontanen Ordnungen ebenso eingegangen wie auf seine Theorie der Selektion von Regeln (Kapitel 2). Daran anschließend wird erläutert, welche Art von Ordnungspolitik mit Hayeks Evolutionismus vereinbar ist und welche nicht (Kapitel 3).
II. Hayeks Theorie der kulturellen Evolution Hayek unterscheidet drei Ebenen der Evolution menschlicher Gesellschaften. Während sich die erste Ebene auf die biologische Evolution der menschlichen Spezies bezieht, besteht die nächste Ebene aus der Evolution von Wissen infolge des individuellen Lernens von Menschen. Die dritte Ebene bezieht sich schließlich auf den Tatbestand der soziokulturellen Evolution, das heißt der Entstehung und Entwicklung von Institutionen (Vanberg 1994, 19 f.; Witt 1989, 143). Im Rahmen der vorliegenden Abhandlung interessiert vor allem die dritte Ebene. Hier stellt sich die Frage, warum der Prozeß der unintendierten Evolution von Institutionen gesellschaftlich wertvoll sein soll. Nach Hayek ist die dritte Ebene durch einen kulturellen Lernprozeß gekennzeichnet, in dem sich die Erfahrungen und Lernergebnisse von Individuen zu Verhaltensregeln verdichten (Geue 1997, 131-133, 186 ff; Vanberg 1994, 16 f.; Witt 1989, 144). Die zu überindividuellen Erfahrungen verdichteten individuellen Lernprozesse der Gesellschaftsmitglieder fuhren - so eine exemplarische Textstelle aus den Schriften Hcryeks schließlich zu dem Ergebnis, das „die Summe von Erfahrungen darstellt, die zum Teil als explizites Wissen von Generation zu Generation weitergegeben wird, zum größten Teil aber in Werkzeugen und Institutionen verkörpert ist, die sich überlegen zeigten ..." (Hayek 1991, 74). Das Wissen, das in diesem Prozeß in Institutionen einfließt, ist deshalb so wertvoll, weil es eine große Menge an im Evolutionsprozeß kritisch getestetem Wissen darstellt. Genau in diesem Sinne wirken Institutionen als „interpersonal stores of knowledge". Die Aufbewahrung des Wissens und der Erfahrung findet demnach nicht nur in menschlichen Gehirnen statt. Institutionen entlasten Individuen kognitiv, da letztere bei Geltung der abstrakten Regeln mit relativ persistenten Verhaltensmustern anderer Menschen kalkulieren können. Damit ermöglichen Institutionen als Sammelstellen des in der Vergangenheit im Evolutionsprozeß kritisch getesteten Wissens intentionales Handeln selbst unter echter Unsicherheit. In diesem Sinne stellen sie einen Teil des Vermögens einer Gesellschaft dar (iGeue 1997, 137). Deswegen ist auch die Unterscheidung zwischen gewachsenen und gesetzten Institutionen so wichtig. In gewachsenen Institutionen ist die enthaltene Menge an Wissen größer als in vernunftmäßig am „Reißbrett" entstandenen Institutionen. Der Grund besteht darin, daß in erstere das im Prozeß getestete Wissen von mehr Individuen eingeflossen ist, als dies aufgrund der mangelnden Zentralisierbarkeit von Wissen im politi-
144 · Heiko Geue sehen Prozeß der Schaffung von Institutionen jemals der Fall sein kann (Hayek 1969b, 86; Hayek 1969f, 177; 1969g, 223; 1975, 13; Streit 1992, 18; Vanberg 1981, 8 f.). Insgesamt zielt die Idee des kulturellen Lernprozesses damit auf die Interdependenzen zwischen individuellen Lernprozessen und den Wirkungen sowie Veränderungen von Institutionen ab. Dieser ko-evolutive Prozeß ist im folgenden noch näher zu untersuchen. 1. Arten der Ordnung und ihre Evolution Regeln begründen Ordnungen. Wirtschaftssubjekte handeln unter Beeinflussung durch Regeln. Dadurch entstehen komplexe Systeme, deren relative Persistenz und Komplexität den Begriff der Ordnung nahelegt. Nach Hayek stellen Regeln die bestimmenden Ordnungskräfte dar. Es „sind die Regeln, die das Verhalten der Elemente beherrschen, aus denen die Ordnungen gebildet sind" (Hayek 1969a, 37). Die Elemente, also in menschlichen Gesellschaften die Individuen, bestimmen jedoch die Art der Entwicklung. Weist ihr Handeln aufgrund des institutionellen Rahmens eine gewisse Regelmäßigkeit auf, resultiert daraus eine Handelnsordnung (Hayek 1980, 62, 66). Dabei müssen weder die Institutionen den einzelnen Individuen vollständig bekannt sein, noch ist es notwendig, daß die Regelgerichtetheit ihres Verhaltens das gewollte Ergebnis ihrer überlegten Planung ist. Nicht das Wissen fuhrt zur Ordnungsentstehung, sondern die Regelmäßigkeit des Verhaltens der Gesellschaftsmitglieder aus der sich die Gewohnheit entwickelt (Hayek 1969a, 38 f., 45; Langlois 1992, 176; Machlup 1977, 60). In diesem Sinne fließt in Institutionen nicht-zentralisierbares Wissen ein. Trotzdem fuhrt nicht jede Regel bei entsprechendem Verhalten zu einer Ordnung. Hayek erläutert dies in Analogie zum Entropiegesetz. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik stellt nämlich das physikalische Beispiel für eine Situation dar, in der die Einhaltung der Verhaltensregeln der Elemente zu einem Zustand der Unordnung anstatt zu einer Ordnung fuhrt. Ebenso verhält es sich mit Regeln, die eine Regelmäßigkeit von Verhalten verhindern, sie begründen Unordnung statt Ordnung (.Hayek 1969f, 172; 1980, 67). Bestimmte Institutionen begründen also Ordnungen. Für den Ordnungstheoretiker erwachsen aus dieser Erkenntnis sofort weitere Fragen. Welche Institutionen begründen die gewollte Ordnung und können Institutionen ordnungspolitisch so gesetzt werden, daß eine funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung tatsächlich auch entsteht? Nach Hayek stellen Ordnungen entweder das intendierte Ergebnis geplanter Institutionen dar (Organisationsregeln oder geplante Gesellschaftsentwürfe) oder sind die Konsequenz unbeabsichtigter institutioneller Folgen intentionalen Handelns der Wirtschaftssubjekte (spontane Ordnungen) (Böhm 1994b, 298; Fehl 1994, 197; Hayek 1980, 57, 59). Im wesentlichen begründen konkrete Regeln wie zum Beispiel direkte Anweisungen (thesis) Organisationen, während die Befolgung von abstrakten Regeln (nomos) zu spontanen Ordnungen fuhren kann. Dies gilt auch für große Organisationen. Es bestehen nämlich zwei wichtige Unterschiede zwischen den Regeln komplexer Organisationen und denen spontaner Ordnungen. Zum einen kann selbst eine sehr große Organisation, die auf einer Vielzahl abstrakter Regeln beruht, nie den Komplexitätsgrad einer spontanen Ordnung erreichen. Der Grund hierfür
Ordnungspolitische Reformen und Evolutionstheorie · 145 liegt in der Ordungsentstehung. Komplexe, nicht zweckgebundene spontane Ordnungen wie moderne Gesellschaften können sich lediglich dann bilden, wenn Menschen abstrakte Regeln befolgen. Organisationen sind dagegen - zumindest im Rahmen ihrer ursprünglichen Entstehung - das Ergebnis eines bestimmten Plans und Zwecks. Diese Komplexitätszuordnung ergibt sich in erster Linie aus der erkenntnistheoretischen Annahme Hayeks, daß der menschliche Geist lediglich eine begrenzte Erkenntnisfähigkeit besitzt und sein Planungsvermögen nicht ausreicht, um so komplexe spontane Ordnungen wie die Sprache oder den Markt zu entwerfen und umzusetzen (Hayek 1980, 23 f.; Bouillon 1991, 21; Witt 1989, 141). Zum anderen besteht ein weiterer mit der Problematik der Entstehung von Ordnungen eng verbundener Unterschied der Arten der Ordnung darin, daß in großen Organisationen die abstrakten Regeln lediglich eine notwendige Ergänzung zu den konkreten Anordnungen darstellen, um ein bestimmtes Ziel(bündel) zu erreichen. Sie füllen die offen gelassenen Lücken, um das verfugbare Wissen sowie die Fähigkeiten der Organisationsmitglieder im Hinblick auf das Organisationsziel(bündel) besser zu koordinieren (Hayek 1969g, 212 f.; 1980, 72 f.; Vanberg 1981, 19). Abstrakte Regeln werden eingeführt, um den Organisationszweck zu erfüllen, während die Existenz konkreter Regeln die notwendige Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit von Organisationen darstellt. Auch in großen komplexen Organisationen gilt somit das Primat der direkten Anweisungen. Komplexe geschaffene Ordnungen beruhen folglich sowohl auf konkreten (thesis) als auch auf abstrakten Regeln (Hayek 1969g, 211-213), während spontane Ordnungen durch die unintendierte Evolution abstrakter Regeln (nomos) entstehen. In spontanen Ordnungen dienen die abstrakten Regeln nicht nur einem Zweck, sondern haben die Aufgabe, unzählige individuelle Pläne in verschiedenen, sich ständig wandelnden Situationen zu koordinieren (Hayek 1980, 73). Dies ist auch der Grund, warum Hayek die spontane Ordnung mit Verweis auf Polanyi und anderen polyzentrische Ordnung nennt (Hayek 1969e, 151). Deutlich wurde also, daß sich die beiden grundlegenden Arten der Ordnung bezüglich ihres Komplexitätsgrads, der Anzahl der verfolgten Ziel(bündel) sowie der Art und Entstehung der sie begründenden Institutionen unterscheiden. Gemeinsam ist allen Ordnungen hingegen, daß sie das Ergebnis menschlicher Planung sind. Der konstitutive Unterschied zwischen intendiert geschaffenen und evolutionär gewachsenen Ordnungen besteht deshalb auch nicht im Element der Planung, sondern in der Qualität ihrer Anwendung und damit der Ait der Entstehung der jeweiligen Ordnung (Geue 1997, 194 ff.). Entworfene Ordnungen stellen das Ergebnis einer zielorientierten Planung dar. Dagegen sind spontane Ordnungen zwar auch das Ergebnis menschlichen Handelns und Planens, aber „die Intentionen sind nicht auf das dann unbeabsichtigt entstehende System gerichtet" (Bouillon 1991, 25). Hayek favorisiert die Evolution spontaner Ordnungen. Er spricht von der „Zwillingsidee von Evolution und spontaner Ordnung" (Hayek 1969e, 156; 1981, 215). Spontane Ordnungen unterliegen als unintendierte Ergebnisse intentionalen Handelns einem „natürlichen Ausscheidungsprozeß" der ihnen zugrunde liegenden abstrakten Re-
146 · Heiko Geue geln, mit anderen Worten, einem sozio-kulturellen Prozeß von Versuch und Irrtum, der sich im „passing the test of time" ausdrückt (Hayek 1988, 75; 1991 78). Vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse mag es überraschen, daß Hayek, der die Erklärung der Entwicklung spontaner Ordnungen für die Sozialwissenschaften als bedeutende Aufgabe ansieht, trotzdem zugesteht, daß intendiert geschaffene Ordnungen (taxis) wichtig für die Evolution von Gesellschaften waren und sind, denn „viele Errungenschaften der Menschheit beruhen auf diesem Verfahren" (.Hayek 1969a, 34). Diese Aussage ist vor dem Hintergrund des bislang Gesagten bemerkenswert und muß im Hinblick auf die Beurteilung ordnungspolitischer Reformen im Lichte der Konstruktivismuskritik im Gedächtnis behalten werden. Ihren Implikationen wird im nächsten Kapitel nachgegangen. 2. Zur Evolution von Regeln Bisher wurde deutlich: Um mittels ordnungspolitischer Reformen funktionsfähige, superiore Ordnungen zu schaffen, ist an den Institutionen anzuknüpfen, die eben diese Ordnungen begründen. Genau dieser Aufgabe stellte sich Eucken, als er nach den (gewachsenen) Institutionen suchte und sie in den konstituierenden Prinzipien fand, die eine menschenwürdige Ordnung begründen sollten. Auf der anderen Seite sind die Möglichkeiten von Ordnungspolitik begrenzt, da niemand in der Lage ist, mittels durchdachter institutioneller Reformen spontane Ordnungen von Grund auf neu zu schaffen. Es stellt sich die Frage, ob in diesem Fall nicht doch besser politische Abstinenz geübt und auf die unintendierte Evolution von Institutionen vertraut werden sollte. Der Wettbewerbsprozeß könnte systematisch die besten ordnungspolitischen Ergebnisse hervorbringen. Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, den Mechanismus des evolutionären Ausscheidungsprozesses von Institutionen zu kennen. Erst dann kann beurteilt werden, ob sich im wettbewerblichen Evolutionsprozeß immer superiore Regelsysteme herausbilden. Hayek setzt sich in seiner Theorie der Evolution von Institutionen inhaltlich mit diesem Themenkomplex auseinander. Als Methode verwendet er den methodologischen Individualismus. Nach Hayek verändern sich Institutionen nicht primär aufgrund des exogenen Wandels der Umwelt, sondern in erster Linie aufgrund des menschlichen Verhaltens, insbesondere aber des Lernverhaltens. Im Sinne des methodologischen Individualismus wird speziell der Wandel von nicht-kodifizierten Regeln endogen aus den Lernprozessen der Individuen erklärt (Geue 1997, 199 ff.). Nach Hayek werden kulturelle Regeln in erster Linie durch Imitation übertragen. Individuen imitieren bewußt und unbewußt das erfolgreiche regelgeleitete Handeln anderer Individuen, ohne daß der Zusammenhang zwischen der Regelbefolgung und dem Erfolg der Handlung erkannt werden müßte. „Kultur" stellt somit eine Tradition erlernter Verhaltensregeln dar, deren Funktionen von den planenden und handelnden Individuen nicht verstanden werden müssen und oft tatsächlich auch nicht werden (Hayek 1969e, 145; 1980, 66; 1981, 211). Dabei entwickelt Hayek die Vorstellungen von Mises weiter. Nach Mises konnten diejenigen Gruppen überleben, die es am besten geschafft haben, ihr Handeln an die objektiv gegebenen Gesetzmäßigkeiten der realen Welt anzupassen: „In the
Ordnungspolitische Reformen und Evolutionstheorie · 147 same way in which the evolutionary process eliminated all other groups whose individuals, because of specific properties of their bodies, were not fit for life under the special conditions of their environment, it eliminated also those groups whose minds developed in a way that made their use for the guidance of conduct pernicious" (Mises 1962, 15 f.).2 Nun ist Imitation ohne Innovation nicht denkbar. Damit neue Regeln entstehen können, muß es Menschen geben, die neue Verhaltensweisen erfolgreich erproben, die sich dann im Imitationsprozeß zu Regeln verdichten können. Jedoch riskieren innovative Gruppenmitglieder wegen ihres abweichenden Verhaltens immer, durch Ausschluß aus der Gruppe „bestraft" zu werden. Ist das neue Vorgehen jedoch erfolgreicher als das traditionelle, ist es möglich, daß die übrigen Gruppenmitglieder das Verhalten imitieren und sich so eine neue Regel etabliert. Die Erklärung des Einfließens neuer Regeln in gegebene institutionelle Rahmenbedingungen weist Parallelen zur ökonomischen Innovationstheorie auf, wie sie seit Schumpeter weiterentwickelt worden ist. Abweichendes Regelverhalten erscheint als „Prozeß der schöpferischen Zerstörung", als kultureller Lernprozeß (Geue 1997, 200). Die Mustervorhersage zum Prozeß der Regelevolution lautet dabei wie folgt. Innovative Gruppenmitglieder verfolgen nutzen- und gewinnorientiert neue Pläne. Wenn sich im Zeitablauf, der durch den Wettbewerb der unterschiedlichen Verhaltensweisen charakterisiert ist, herausstellt, daß das neue Verhalten erfolgreicher ist als das traditionelle, bestehen auch für die übrigen Giuppenmitglieder Anreize, die überlegene Strategie des innovativen Gruppenmitglieds zu imitieren, wodurch schließlich neue Regeln entstehen oder alte Regeln verändert werden können. Nach Hayek ist gewachsenes „Recht" den „gesetzlichen Regelungen" prinzipiell überlegen. Wie bereits einleitend erläutert, vertritt er die These, daß sich im wettbewerblichen Prozeß von Versuch und Irrtum als unintendiertes Ergebnis intentionalen Verhaltens lediglich die Regeln durchsetzten, die sich im Ausscheidungsprozeß bewährt haben. Der „Test der Zeit" führt dazu, daß die Evolution des Rechts effiziente Ergebnisse hervorruft (Arnold 1980, 346; Vaughn 1994, 231), wie zum Beispiel die Anerkennung von Privateigentum oder den Geldverleih gegen Zins {Hayek 1981, 219). Das nicht-wissenschaftliche Wissen über die Nutzung der kulturell beeinflußten Umstände von Ort und Zeit fließt im Laufe des Evolutionsprozesses in diese Regeln ein; in gewachsenen Regeln ist nicht-zentralisierbares Wissen involviert (Leipold 1996, 101). Insgesamt ist die kulturelle Evolution als wettbewerblicher (Lern-)Prozeß zu verstehen. Der evolutionäre Wettbewerb fuhrt - unter bestimmten Voraussetzungen - systematisch zum Überleben erfolgreichen Verhaltens (Hayek 1991, passim, 34, 69). Zu beachten ist nun, daß ohne obigen Einschub immer die Gefahr besteht, tautologisch zu argumentieren und in einen wissenschaftlich unangebrachten ,fanglossismus" zu verfallen (O'Driscoll und Rizzo 1985, 40). Wird nämlich lediglich der Mechanismus des Wettbewerbs bezüglich der im Evolutionsprozeß stattfindenden Ausschaltung weniger bewährter Institutionen betrachtet, ergibt sich immer die Gefahr, die existierende Welt als die 2 Zur Kritik an der Verwendung des Kriteriums des Gnippenzuwachses als Effizienzkriterium siehe Geue (1997), S. 205.
148 · Heiko Geue beste aller möglichen Welten ansehen zu müssen. Die Regeln, welche anderen überlegen sind, haben sich im Evolutionsprozeß durchgesetzt. Und: Weil sie sich durchgesetzt haben, sind sie überlegen. Tautologie oder Pangloss ' beste Welt - die Ergebnisse der Analyse sind gleichermaßen unbefriedigend. Das Problem ergibt sich jedoch nur, wenn die Möglichkeit von Evolutionsblockaden sowie die Pfadabhängigkeit evolutionärer Prozesse nicht berücksichtigt wird. Im Evolutionsprozeß besteht immer die Gefahr von Evolutionsblockaden. Es existiert ein inneres Spannungsverhältnis zwischen dem für die Ordnungsentstehung notwendigen Verhalten der Mehrheit der Gruppenmitglieder und dem für den Entwicklungsprozeß kultureller Regeln unerläßlichen „innovativen" Verhalten einzelner Gruppenmitglieder. So ist es durchaus möglich, daß sich innerhalb der Gruppe Widerstände bilden, die dazu fuhren können, daß sich das überlegene, innovative Verhalten gegenüber dem traditionellen nicht durchsetzt (Vaughn 1994, 232). Hierbei ist insbesondere der Faktor der Gruppenhierarchie zu berücksichtigen. Die Chance dafür, daß erfolgreiches innovatives Verhalten imitiert wird, hängt nicht nur von dem Verhalten an sich ab, sondern auch von der Stellung des Innovators innerhalb der Gruppe (Hayek 1969e, 157 f.; 1981, 225; Vanberg 1984, 90-92).3 Aus dem Phänomen der Knappheit der Mittel, verbunden mit der begrenzten Informationsverarbeitungskapazität von Menschen, ergibt sich, daß gerade die Furcht vor neuen Ideen und Verhaltensweisen im Menschen angelegt ist.4 So haben auch die widerstrebenden Kräfte gegenüber kreativem Handeln einen Sinn, denn zu schneller Wandel kann die kognitiven Fähigkeiten der Menschen überfordern {Geue 1997, 201). Wann jedoch der Widerstand sinnvoll ist und wann er notwendige Veränderungsprozesse zum Nachteil der Gesellschaft mit hohen Kosten blockiert, kann ex ante in den seltensten Fällen einwandfrei benannt werden. Festzuhalten bleibt jedenfalls, wenn die widerstrebenden Kräfte schließlich überwunden werden, wird das ursprünglich innovative Verhalten im Laufe der Zeit zu traditionellem Verhalten. Es bilden sich schubartig neue „Regeln des Verhaltens" (Horwitz 1994, 282 f.; Vaughn 1994, 230), da wegen der unterschiedlich starken Widerstände gegen institutionelle Veränderungen der Evolutionsprozeß in der Regel nicht in einem gleichmäßigen Rhythmus verläuft. Aber nicht nur Evolutionsblockaden, sondern insbesondere auch die Pfadabhängigkeit institutioneller Entwicklungen fuhren dazu, daß Evolutionsprozesse nicht reversibel sind. So fuhrt das gemeinsame kulturelle Erbe in Gesellschaften dazu, daß sich in diesem Kulturkreis die Erfahrungen der Menschen ähneln und damit auch die subjektiven Modelle, mit denen sie versuchen, ihre Umwelt zu erklären und neue Problemlösungsmöglichkeiten zu suchen. Darüber hinaus zeichnet sich der Regelrahmen dadurch aus, daß einige Aktionsparameter verboten sind, der Gebrauch anderer dagegen erwünscht ist und schließlich eine dritte Gruppe von Aktionsparametern noch keine gesetzliche Berücksichtigung erfahren hat. Dadurch werden je nach Regelrahmen verschiedene Akti3 Besonders schwer werden es in der Regel Neulinge haben. Auf Märkten sind die Nachteile einer solchen Diskriminierung seit langem bekannt und die politische Aufgabe mit Euckens konstituierendem Prinzip der Offenheit der Märkte skizziert. 4 Anthropologisch ist sie begründet durch die Angst vor der Orientierungslosigkeit, die im Angesicht einer feindlichen Natur den Tod bedeuten kann (Hayek 1969e, 159 f.).
Ordnungspolitische Reformen und Evolutionstheorie · 149 onsparameter von den Wirtschaftssubjekten eingesetzt und weiterentwickelt. Der Wirtschaftsprozeß als offener, historischer und irreversibler Prozeß entwickelt sich in eine Richtung, wobei die Entwicklung pfadabhängig ist (Kerber 1992, 188-192).5 Wenn nun aber Pfadabhängigkeiten die Evolution der gesellschaftsspezifischen formalen Gesetze und der informellen Regeln des Verhaltens beeinflussen sowie Evolutionsblockaden die institutionelle Entwicklung zumindest temporär hemmen, ist es nicht mehr sinnvoll, das Resultat von Evolutionsprozessen als das beste aller möglichen Ergebnisse zu interpretieren. Weder bezüglich des eingeschlagenen Pfades, noch bezüglich der Chance, alternative Pfade einzuschlagen, ist gesichert, daß sich im Evolutionsprozeß langfristig immer superiore institutionelle Arrangements durchsetzen (Geue 1997, 203). Es bleibt die Frage zu beantworten, ob Hayek diese Hemmnisse berücksichtigt, oder ob er den Fehler einer tautologischen Argumentation begeht und einem „laissez-faireEvolutionismus" anhängt. Um es vorweg zu nehmen, die Lektüre seiner Schriften offenbart, daß er diesen Fehler nicht begeht. Deutlich wird beispielsweise in seiner - allerdings nicht zutreffenden - Kritik an Smiths vermeintlicher Gleichsetzung spontaner Ordnungen mit den besten aller möglichen Ordnungen, daß Hayek diesen Standpunkt selbst nicht vertritt (siehe auch Geue 1997, 30): Smith „schien die Ordnung, die sich spontan von selbst gebildet hatte, zu selbstverständlich auch als die beste aller möglichen Ordnungen anzusehen" (Hayek 1969c, 102). Hayek spricht zwar nicht explizit von dem Phänomen der Pfadabhängigkeit, berücksichtigt aber in seiner Analyse individuellen (Regel-) Verhaltens die Furcht des Menschen vor neuen Ideen und Verhaltensweisen (Hayek 1969e, 159 f.). Dieser individuell unter Umständen rationale Widerstand kann bewirken, daß ein sich selbst überlassener institutioneller Wandel traditionelle Bahnen nicht verläßt oder sogar „stecken bleibt".6 Die Konzepte der Pfadabhängigkeit und der Evolutionsblockade stehen zwar nicht im Mittelpunkt der Hayekschen Theorie der kulturellen Evolution, sie werden von ihm aber berücksichtigt. Damit kann festgehalten werden, daß Hayek die 5 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang außerdem die Idee der Hierarchie von Institutionen. So unterscheidet Lachmann zwischen stabileren äußeren Institutionen einer Gesellschaft, womit er marktordnungsbegründende Regeln der Verfassung, aber auch kulturell gewachsene Nonnen meint, und sich schneller wandelnden inneren Institutionen - wie etwa standardisierten Haftungsregeln und Qualitätsgarantien, vielfältigen Vertragstypen oder unterschiedlichen Unternehmensformen; die sich im Marktprozeß herausbilden (Geue 1997, S. 183). Obwohl die äußeren Regeln selbst dem (pfadabhängigen) Wandel unterliegen, beeinflussen sie nachhaltig die Evolution der inneren Institutionen. Der Möglichkeitsraum fur die Veränderung der inneren Institutionen ist eingegrenzt. Die Entwicklung verläuft pfadabhängig, obwohl auch die Evolution der äußeren Institutionen von der Entwicklung der inneren Institutionen beeinflußt wird. Aufgnmd der größeren Stabilität der äußeren Institutionen bestimmen diese jedoch wesentlich, wenn eben auch nicht alleine, die Richtung des Evolutionsprozesses (Geue 1997, S. 203; Engelhard, Fehl und Geue 1997, S. 756 f.). 6 Leipold meint dazu: "Obwohl der Begriff der Pfadabhängigkeit bei Hayek nicht auftaucht, basiert die Erklärung der sozialen Evolution implizit auf diesem Gedanken" (1996, S. 101). Hier sei noch bemerkt, daß im vorliegenden Text aus gutem Grund keine transaktionskostentheoretische Prinzipal-Agent-Erklärung von Evolutionsblockaden und Pfadabhängigkeiten gewählt worden ist. Zum einen ist eine solche Theorie Hayek nicht nur aus methodischen Gründen fremd und zum anderen rückt selbst North als einer der prominentesten Begründer der transaktionskostentheoretischen Erklärung des institutionellen Wandels von dieser ab und entwickelt seine Theorie hin zu einem institutionell/ kognitiven Ansatz im Sinne Hayeks (Geue 1997, 226 ff.).
150 · Heiko Geue Grenzen des Evolutionsprozesses nicht übersehen, sondern allenfalls nicht immer gebührend betont hat. Im gesellschafts-historischen Vergleich kann der evolutionäre Prozeß von Versuch und Irrtum unter Berücksichtigung des Phänomens der Pfadabhängigkeit zu unterschiedlichen Ergebnissen fuhren. Im Extremfall kann der Prozeß der institutionellen Veränderung selbst langfristig behindert werden. Zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung stellt sich deshalb die Frage nach sinnvollen institutionellen Reformen, die dazu dienen sollen, Evolutionsblockaden zu überwinden, um superiore Pfade einzuschlagen oder aber den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Dabei besteht jedoch immer auch die Gefahr der „Anmaßung von Wissen", die selbst wieder zur Entstehung institutioneller Evolutionsblockaden fuhren kann (Geue 1997, 203). Ob deswegen ordnungspolitische Reformen zur Gestaltung funktionsfähiger und menschenwürdiger Ordnungen in jedem Fall eine Form von Konstruktivismus darstellen, wird das nächste Kapitel zeigen.
III. Ist Ordnungspolitik immer auch Konstruktivismus? „Die Möglichkeit aber, Institutionen zu manipulieren, sie zu Instrumenten der Politik zu machen, ist möglicherweise die folgenschwerste gesellschaftliche Entdeckung, die die Menschen in der Neuzeit gemacht haben" (Watrin 1992, 212). Die Beachtung der Evolutionstheorie Hayeks schärft den Blick für das Problem, daß die Gestaltung einer bestimmten institutionellen Ordnung nicht die Lösung zukünftiger Herausforderungen garantiert, die sich durch die Integration neuen Wissens in entwickelten Gesellschaften ergeben. Ordnungspolitik ist deshalb immer der Gefahr der „Anmaßung von Wissen" ausgesetzt: „Weil die Evolution des Marktsystems fortlaufend neue, nicht vorhersehbare Probleme hervorruft, läßt sich ein konsistentes System von Verhaltensregeln, das Funktionsbedingung fur Wettbewerb ist, nicht ausarbeiten. Jedoch sind Aussagen über Anpassungen möglich" {Hoppmann 1981, 230). Es besteht immer die Gefahr, daß selbst durch „gut gemeinte" Ordnungspolitik die Leistungsfähigkeit des Marktsystems vermindert, anstatt verbessert wird. Das bedeutet, „daß sich die Chancen für Freiheit und Wettbewerb eben nicht automatisch erneuern, sondern daß im Gegenteil ständig die Gefahr besteht, daß eine oder mehrere der marktlichen Triebkräfte Arbitrage, Akkumulation und Neuerung geschwächt oder gar stillgelegt werden" (Fehl 1988, 165). 1. Das Konstruktivismus-Problem Hier wird vorausgesetzt, daß der „Wohlstand für alle" als ständiges Ziel und als Herausforderung für ordnungspolitische Maßnahmen sowohl von der Menge und Art neu einfließenden Wissens (Aspekt der Innovation) als auch von der volkswirtschaftlichen Nutzung dieses Wissens (Aspekt der Diffusion) abhängig ist. Daran schließt sich sofort die Frage an, wie komplementäres Wissen zu dem bisher über den Marktmechanismus genutzten Wissen in den Prozeß eingespeist werden kann.
Ordmingspolitische Reformen und Evolutionstheorie · 151
Wichtigster Mechanismus für die Diffusion gegebenen Wissens sowie fur die „Produktion" neuen Wissens ist der Wettbewerb auf der Marktebene. Der Wettbewerb besitzt sowohl „wissensschaffenden" als auch „wissensverbreitenden" Charakter (Fehl 1990b, 305; Hoppmann 1981, 222-224; Kerber 1989, 67 f.). Die Funktionsfähigkeit von Märkten ist durch den entsprechenden Ordnungsrahmen zu gewährleisten. Es gilt jedoch, den Wettbewerb ebenso auf der institutionellen Ebene wie auf der marktlichen Ebene zuzulassen, um durch das „passing the test of time under competition" negativen Entwicklungen (rechtzeitig) gegensteuern zu können. Der institutionelle Rahmen muß „eine wettbewerbliche Umwelt sicherstellen, in der etablierte Praktiken stets der potentiellen Herausforderung durch überlegenere Innovationen ausgesetzt sind" (Vanberg 1994, 45). Dies bedeutet aber, daß der Regelrahmen so ausgestaltet werden muß, daß das dezentrale Testen neuer Pfade auf der Marktebene nicht verhindert wird. Innovatives Lernverhalten muß demnach tendenziell belohnt werden, ohne daß die Kosten deijenigen Innovationen, deren negative Effekte sich ex posi herausgestellt haben, „sozialisiert" werden. Dazu müssen auf der Ebene der Institutionen Mechanismen installiert werden, die garantieren, daß eine Ko-Evolution des institutionellen Rahmens und der Ergebnisse innovativen Lernverhaltens stattfindet (Geue 1997, 245). Sind solche Mechanismen aber ordnungspolitisch durchsetzbar? Hayek wendet sich jedenfalls gegen die Vorstellungen der französischen Aufklärung und den darauf aufbauenden reformoptimistischen Ansätzen, daß vernunftbegabte Menschen in der Lage sind, die Struktur und die Veränderungsnotwendigkeiten gesellschaftlicher Institutionen quasi am „Reißbrett" zu konstruieren. Insbesondere dem Vorschlag, die unintendiert gewachsenen Institutionen durch „vernünftig" geplante Regeln zu ersetzen, begegnet er mit Mißtrauen: „Der Grundgedanke des Konstruktivismus läßt sich am einfachsten in der zunächst unverfänglich klingenden Formel ausdrücken, daß der Mensch die Einrichtungen der Gesellschaft und der Kultur selbst gemacht hat und sie daher auch nach seinem Belieben ändern kann" (Hayek 1975, 4).7 Nach Hayek besteht die Idee des konstruktivistischen Rationalismus in der Vorstellung, daß alle oder zumindest viele der existierenden Institutionen einer Gesellschaft nach dem Modell eines rationalen Gesellschaftsentwurfs zu ersetzen sind: „Rationalismus in diesem Sinn ist die Doktrin, die unterstellt, daß alle Institutionen, in deren Genuß die Menschheit steht, in der Vergangenheit erfunden worden sind und in der Zukunft erfunden werden sollten im klaren Wissen um die wünschenswerten Wirkungen, die sie hervorbringen" (Hayek 1969b, 79). Hayek sieht hierin eine „Anmaßung von Wissen", da Menschen aufgrund der Nichtzentralisierbarkeit relevanten Wissens nicht in der Lage seien, so komplexe Ordnungen auf der Basis gesetzter Regeln zu schaffen, wie spontane Ordnungen als Ergebnis eines historischen Prozesses von Versuch und Irrtum entstehen können. Konstruktivistische Illusionen schlügen aufgrund der Komplexität der Aufgabe fehl (Hayek 1975, 4; 1980, 61, 63 f.; 1981, 220, 222; Bouillon 1991, 21 f.; Fehl 1994, 204; Rockwell 1995, 6). Die Komplexität ergibt sich dabei in erster Linie aus dem Phänomen der unintendierten Ergebnisse des intentionalen Handelns der Menschen. Deshalb ist die Forderung des Konstruktivismus, daß funktionierende Institutionen geschaffen werden, wenn sich vernunft7 Zur Entwicklung des Konstruktivismus siehe Hayek (1975, S. 17 f.; 1952a, S. 17 f.).
152 · Heiko Geue begabte Gesellschaftsplaner dabei nur von ihrer „Einsicht in die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung" leiten lassen, verfehlt {Hayek 1975, 8): „Wir haben unser Wirtschaftssystem nicht entworfen, dazu waren wir nicht intelligent genug*' (Hayek 1981, 222, im Original alles hervorgehoben). Sobald die Funktionsweise marktlicher Prozesse betrachtet wird, tritt die Unmöglichkeit der Zentralisierbarkeit von Wissen deutlich hervor. Die Koordinationsebene des Marktes ist mit der Entscheidungsebene des Individuums über die Diffusion von Informationen mittels existierender und erwarteter Marktpreise verbunden. Dabei müssen die Informationen, die in Marktpreisen enthalten sind, vom Wirtschaftssubjekt immer auch interpretiert werden. In diesem Sinne sind Preise Signale (Garrison 1986, 439). Da in die gegenwärtigen Preise auch die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte über die Zukunft eingehen, stellen Preise unter anderem Gegenwartssymbole der in die Zukunft gerichteten Erwartungen dar. Damit sind in den Gegenwartspreisen Informationen darüber enthalten, welche Knappheiten die Wirtschaftssubjekte bezogen auf ihre zukünftigen Bedürfnisse erwarten. In diesem Sinne müssen im Marktprozeß Ungleichgewichtspreise interpretiert werden. Das Ergebnis dieser Interpretation bildet zusammen mit den individuellen Erwartungen die Entscheidungsbasis für weitere ökonomische Pläne. Das neue Verhalten, das nicht unterschiedlich zu dem ursprünglichen sein muß, fließt in die neuen Preise ein. Dabei bilden die neuen Preisinformationen die Entscheidungsbasis für andere Wirtschaftssubjekte. Dieser Prozeß läuft simultan ab. Das Besondere des Wissens, das in Marktpreisen „transportiert" wird, besteht nun darin, daß es erst durch das Handeln der Marktteilnehmer entsteht. In diesem Sinne handelt es sich um „soziales" Wissen, das heißt Wissen, das sich nur im sozialen Prozeß ergibt, welches jedoch niemandem in seiner Gesamtheit gegeben ist. Aus diesem Grund ist es auch nicht voll zentralisierbar (Hoppmann 1981, 224; Böhm 1994a, 169 f.; Gray 1986, 38). Die Ordnungstheorie muß sich deshalb auf die Entwicklung von verfahrenseffizienten Kriterien konzentrieren, die sichern, daß sich die institutionellen Rahmenbedingungen mit den aus dem kreativen Testen von Hypothesen ergebenden Anforderungen an die Ordnung mitentwickeln. Wie aber können solche ordnungspolitischen Reformen vorgenommen werden, ohne der beschriebenen Gefahr der „Anmaßung von Wissen" zu verfallen? 2. „Stückwerk-Sozialtechnik" als fallibilistische Methode der Ordnungspolitik? Popper hat sich ausfuhrlich mit dem Problem der rationalen Durchführung institutioneller Reformen unter Berücksichtigung des von Hayek thematisierten Problems des verstreuten und begrenzten Wissens auseinandergesetzt. Um der Komplexität offener evolutionärer Prozesse Rechnung zu tragen, favorisiert er fur institutionelle Reformen die sogenannte „Stückwerk-Sozialtechnik" („piecemeal social engineering") gegenüber der utopischen Sozialtechnik, die er als Platonische Methode bezeichnet (Popper 1992a, 187, 193; siehe auch Geue 1997, 354 ff). Im Gegensatz zu utopischen Reformentwürfen drückt der Terminus „Stückwerk-Technik" aus, daß private und öffentliche Akteure zur Verwirklichung der angestrebten Ziele nur das Wissen benützen (können), das ihnen zur
Ordnungspolitische Reformen und Evolutionstheorie • 153 Verfugung steht - einschließlich des Wissens über die Grenzen des Wissens (Popper 1944/1995, 297; 1992a, 31). Für den politischen Reformer bedeutet dies, daß gesellschaftliche Institutionen so entwickelt, verbessert und erhalten werden, daß dem grundlegenden - ausfuhrlich diskutierten - Phänomen des begrenzten Wissens auch tatsächlich Rechnung getragen wird, nämlich daß „nur eine Minderheit sozialer Institutionen bewußt geplant wird, während die große Mehrzahl als ungeplantes Ergebnis menschlichen Handelns einfach 'gewachsen' ist". Und: „Wie Sokrates weiß der Stückwerk-Ingenieur, wie wenig er weiß. Er weiß, daß wir nur aus unseren Fehlern lernen können" (Popper 1944/1995, 297 f.). Nach Popper ermöglicht diese Methode des Fallibilismus in Verbindung mit der kritischen Analyse der Reformschritte das Herausfiltern nicht-konstruktivistischer Resultate. Durch das schrittweise Vorgehen kann in einem kritischen Verfahren von Versuch und Irrtum festgestellt werden, ob die politische Handlungsweise erwartete und erwünschte Folgen nach sich zieht (Popper 1944/1995, 293; 1987, 47; Ritter 1991, 177 f.; Vaughn 1994, 238 f.). Die fallibilistische Methode von Versuch und Irrtum, verbunden mit der Bereitschaft, aus den begangenen Fehlern zu lernen, stellen die Voraussetzung für erfolgreiche Reformen dar (Popper 1987, 69; 1992a, 194) - seien sie grundlegender ordnungspolitischer Art oder partieller Natur. Das schrittweise Vorgehen dient dem ständigen Vergleich der erwarteten Resultate mit den tatsächlichen und bei dem Auftreten unerwünschter Nebenwirkungen der Fehlerkorrektur. Dabei darf das schrittweise Vorgehen jedoch nicht mit einem punktualistischen Vorgehen gleichgesetzt werden. Auch beim „piecemeal social engineering" ist die Interdependenz der Ordnungen zu berücksichtigen. In dieser Weise verstandenes „piecemeal social engineering" bedeutet außerdem nicht, daß in bestimmten historischen Situationen keine ordnungspolitischen Grundsatzentscheidungen getroffen werden könnten. Diese sind vielmehr notwendig, um ungewünschte Entwicklungspfade verlassen zu können. Sowohl die Transformation Westdeutschlands nach 1945 von der Kommandowirtschaft hin zur Sozialen Marktwirtschaft als auch die Transformation ehemals sozialistischer Länder hin zu Marktwirtschaften seit den späten 1980er Jahren mußten auf einer verfassungsmäßigen Grundsatzentscheidung beruhen, damit die neuen Ordnungen Aussicht auf Erfolg besitzen. Auch hier gilt der Leitgedanke von Eucken. „Die Ordnung ist zu suchen, welche der Sache, der historischen Situation und dem Menschen entspricht" (Eucken 1961, 66). Wahrscheinlich stellt die von Popper hervorgehobene Bedingung, Ursachen und Wirkungen unter Berücksichtigung der Interdependenz der Ordnungen zuordnen zu können, auch die harte Grenze für erfolgreiche ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen im Transformationsprozeß der ehemaligen Zentralverwaltungswirtschaften des Ostblocks dar. Sie können bei der verfassungsmäßigen und gesetzlichen Fixierung ihrer Institutionen zwar auf Erfahrungen westeuropäischer Länder zurückgreifen, müssen jedoch auf die Kohärenz mit den übrigen in ihren Gesellschaften gewachsenen Institutionen achten, die in ihrer Gesamtheit die Kultur des Landes ausmachen. Ziel der bewußten Gestaltung von Institutionen ist es, im politischen Prozeß als schädlich eingestufte gesellschaftliche Entwicklungen abzubrechen bzw. positive Prozesse zu lenken und gegebenenfalls zu beschleunigen - immer unter Berücksichtigung der
154 · Heiko Geue Restriktion des begrenzten Wissens {Popper 1987, 36, 51 f.).8 Die Komplementaritätsanforderungen des institutionellen Rahmens können nur durch einen ständigen, naturgemäß weder kostenlosen noch einfachen sozio-kulutrellen Prozeß von Versuch und Irrtum erforscht werden (Popper 1992a, 194). Dabei ist insbesondere auf die Komplementarität zwischen gewachsenen moralischen sowie sittlichen Verhaltensnormen und dem gesetzlichen Rahmen zu achten (Popper 1992b, 110 f.). Insgesamt kann demnach nicht die Rede davon sein, daß aus evolutionstheoretischer Perspektive unter Berücksichtigung des Wissensproblems lediglich eine Politik des „laissez-faire" rational ist. Es müssen jedoch Kriterien entwickelt werden, die, wenn sie additiv (nicht alternativ!) angewendet werden, einen Leitfaden für institutionelle Reformen auch im evolutionären Prozeß liefern, ohne daß die Gefahr des Konstruktivismus besteht. 3. Kriterien für eine nicht-konstruktivistische Ordnungspolitik Vor dem Hintergrund der skizzierten Evolutionstheorie ergibt sich die Herausforderung, reformleitende Kriterien in die Ordnungstheorie zu integrieren, die es ermöglichen, konstruktivistische Neuordnungen von solchen institutionellen Reformen zu unterscheiden, die nicht dem Vorwurf der „Anmaßung von Wissen" ausgesetzt sind. Nicht vereinbar mit den Vorstellungen Euckens und Hayeks ist die Ablehnung jeglicher institutioneller Reformen {von Delhaes 1993, 314; Streissler 1993, 39). Wie bereits diskutiert, sieht Hayek zwar die Analyse der Evolution spontaner Ordnungen für die Sozialwissenschaften als vornehmste Aufgabe an. Trotzdem berücksichtigt er in der Tradition Mengers die Bedeutung intendiert geschaffener Ordnungen (taxis) fur die Entwicklung von Gesellschaften {Hayek 1969a, 34). Nicht nur wegen Pfadabhängigkeiten und institutionellen Evolutionsblockaden stellt sich zu jedem Entwicklungszeitpunkt einer Gesellschaft die Frage nach gestaltender Ordnungspolitik, die unter Rückgriff auf bisherige Erfahrungen dazu dienen kann, als superior eingeschätzte Pfade einzuschlagen bzw. bereits eingeschlagene Pfade zu verbessern {Vanberg 1981, 16; Watrin 1992, 210; und aus der Verfassungsperspektive Krüsselberg 1995, 89, 101). Bei Eucken hört sich das folgendermaßen an: „Die meisten Wirtschaftsordnungen der Geschichte sind 'gewachsene' Ordnungen. ... Die Planung der Ordnung geschieht also nicht im Gegensatz zum geschichtlichen Werden, sondern die Setzung der Ordnung geschieht, indem aus den geschichtlichen Tendenzen, die da sind, Ordnungsprinzipien gewonnen werden. Mit der Politik der Wettbewerbsordnung oktroyiert der Staat nicht eine Wirtschaftsordnung, sondern er bringt zur Geltung, was sonst durch andere Tendenzen zurückgedrängt würde" {Eucken 1952/1990, 374). Zum einen ist also Ordnungspolitik notwendig, um institutionelle Evolutionsblockaden aufzubrechen. Zum anderen sind die Ergebnisse des politischen Prozesses ebenso wie die der unintendierten Evolution von Institutionen selbst wieder der Gefahr
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Auf die Probleme, diese Aufgabe in Demokratien politisch durchzusetzen, kann hier nicht eingegangen werden.
Ordnungspolitische Reformen und Evolutionstheorie · 155 ausgesetzt, in Evolutionssackgassen zu enden. Es gibt kein gesellschaftliches Entwicklungsverfahren für Institutionen, das diese Gefahr vollständig ausschließt. Wie bereits angedeutet, kann außerdem das Kriterium „mangelnde Zentralisierbarkeit von Wissen" auch nicht implizieren, den ordnungspolitischen Entwurf von Verfassungen als mögliche Form des Konstruktivismus abzulehnen, der Entwicklung von Regeln auf der Gesetzesebene dagegen zuzustimmen. Dies stimmt schon nicht mit Hayeks eigener Vorgehensweise überein, der selbst zwei Entwürfe für Verfassungsänderungen präsentiert hat {Streit 1992, 20, 24 f.).9 Zum einen entwirft er ein Zwei-Kammern-System zur Kontrolle der - sich nach Hayek in Richtung der unbeschränkten Demokratie entwickelnden - westeuropäischen Gesellschaften. Zum anderen entwickelt er die Idee vom Wettbewerb der Währungen als überlegene Alternative zu monopolistischen Notenbankverfassungen (Geue 1998). Hayek selbst schätzt die Chancen und Risiken institutioneller Reformen folgendermaßen ein: „Denn aus jenen Überlegungen ergibt sich keineswegs, daß wir das Alte, Überkommene unbesehen hinnehmen dürfen, ja nicht einmal, daß es irgendwelche Werte oder Moralprinzipien gibt, die die Wissenschaft nicht gelegentlich in Frage stellen darf. (...) Was aus dem bisher Gesagten folgt, ist nur, daß wir nie gleichzeitig alle Werte unserer Gesellschaft anzweifeln können, daß ein 'absolutes In-Frage-Stellen aller Werte' nur zur Zerstörung unserer Kultur - und, bei den heutigen Bevölkerungszahlen, zum extremsten wirtschaftlichen Elend und zur Not führen würde" (Hayek 1975, 21f., Hervorhebung im Original). Im folgenden werden vier additive, nicht alternative Kriterien aus den vorstehenden Überlegungen abgeleitet - in erster Linie aus dem für evolutionäre Prozesse konstitutiven Wissensproblem unter Unsicherheit -, die bei ihrer Einhaltung verhindern sollen, daß intendierte institutionelle Reformen der „Anmaßung von Wissen" ausgesetzt sind, ohne daß damit allerdings gleichzeitig schon ihr jeweiliger Erfolg gesichert ist (siehe auch Geue 1997, 250 ff). Mittels der Integration der Kriterien in die Ordnungstheorie soll zum einen die Vereinbarkeit von ordnungspolitischen Reformanstrengungen mit Hayeks Evolutionismus demonstriert und zum anderen ein Beitrag zur Weiterentwicklung der Theorie geleistet werden. Ziel ist es, die evolutionstheoretischen Erkenntnisse auch für die Ordnungstheorie zu sichern. Indem nämlich die Grenzen der ordnungspolitischen Gestaltungsfreiheit so exakt wie möglich erfaßt werden, wird gleichzeitig der Raum für gestaltende Ordnungspolitik theoretisch abgesichert. ( 1 ) Setzung abstrakter Regeln Nach Hayek entstehen spontane Ordnungen auf der Grundlage abstrakter Regeln (siehe Kapitel 2.1). Im Gegensatz zur konkreten Anweisung beeinflussen abstrakte Regeln das Handeln der Individuen durch ihren Charakter der Allgemeingültigkeit, der negativen Formulierung und der Geltung unabhängig von individuellen Zielen, das heißt also ihrer Universalisierbarkeit. Sie lassen den Menschen genügend Freiraum, um ent9 Deshalb ist es auch für Hayek kein Problem, die Leistung des Entwurfs der amerikanischen Verfassung als Muster einer "Verfassung der Freiheit" zu würdigen. Die Kritik von Vanberg in dieser Frage ist unberechtigt (Vanberg 1981, S. 22).
156 · Heiko Geue sprechend den eigenen Präferenzen zu handeln und um zu lernen. Das erste Kriterium lautet demnach, daß institutionelle Reformen die Setzung abstrakter Regeln, nicht konkreter Anordnungen zum Ziel haben müssen, wollen sich politische Unternehmer nicht dem Vorwurf der 2Anmaßung von Wissen" aussetzen (siehe etwa Hayek 1952a, 31-33; 1969a, 42). Die Begründung hierfür ergibt sich daraus, daß die allgemeinen, abstrakten Regeln, die eine spontane Ordnung begründen können, dazu fuhren, daß im Vergleich zu gesetzten Ordnungen mehr Wissen genutzt werden kann. Es gilt, die Prinzipien, die hinter den gewachsenen Institutionen stehen, welche den „Test der Zeit" erfolgreich überstanden haben, zu verstehen und diese zur Ausgestaltung legislativer Akte zu nutzen. Ordnungspolitische Reformen sollten darauf gerichtet sein, durch die Setzung abstrakter Regeln, durch allgemeine, nicht-diskriminierende und vorhersehbare Maßnahmen, Raum für die Evolution spontaner Ordnungen zu schaffen (siehe auch von Delhaes und Fehl 1997, 16). Damit stehen wichtige politische Regelungsbereiche, wie zum Beispiel das Wettbewerbsrecht, das Steuerrecht, das Arbeitsrecht usw., dem Gesetzgeber weiterhin offen, soweit die Regelungen eben universalisierbar und vorhersehbar sind. Da das Planungsvermögen von Menschen auf die Schaffung von Ordnungen mit einem relativ geringen Komplexitätsgrad beschränkt ist, sind Reformen, welche der Intention folgen, über die Formulierung konkreter Anweisungen komplexe Ordnungen zu entwickeln, abzulehnen. So ist beispielsweise der Primat der Währungspolitik gesetzlich durch die Institutionalisierung von Geldwertstabilität abzusichern, ohne daß im Gesetz die konkrete Methode zur Erreichung dieses Ziels festgelegt werden sollte. Auch ist es historisch nicht gesichert, daß lediglich eine monopolistische Notenbankverfassung dem Primat der Währungspolitik entspricht (Geue 1997, 290 ff; 1998). (2) Anwendung des Subsidiaritätskriteriums Aus dem Wissensproblem unter Unsicherheit ergibt sich als weiteres Kriterium zur Beurteilung ordnungspolitischer Reformen das der Subsidiarität,10 Aus der Kostenperspektive ist das dezentrale Testen von Hypothesen dem zentralen Testen von Hypothesen vorzuziehen. Vor dem Hintergrund eines föderativen Staatsaufbaus können die positiven Ergebnisse dezentral vorgenommener Tests gegebenenfalls auch auf der zentralen Ebene verwirklicht werden. Sowohl auf Märkten als auch auf der Ebene von Institutionen sind die volkswirtschaftlich erwünschten unbeabsichtigten Ergebnisse des beabsichtigten Verhaltens der Wirtschaftssubjekte zu nutzen und die unerwünschten Ergebnisse zu ändern. Dabei kann - vor dem Hintergrund der evolutionstheoretischen Erkenntnisse - als Kriterium der Wünschbarkeit der Zuwachs an Humanvermögen im Sinne der Erhöhung des Handlungspotentials der Menschen in der Gesellschaft dienen {Geue 1997, 245 f.). Ordnungspolitische Reformen beinhalten immer auch die Gefahr des Fehlschlagens. Die Kosten für die Gesellschaft sind dabei um so größer, je zentraler und umfassender der politische Plan angesetzt ist. Reformen sind gesellschaftliche Experimente, bei denen bestimmte politische Vorstellungen umgesetzt werden. Ob diese gesamtwirtschaftlich 10 Zur ordnungspolitischen Rolle des Subsidiaritätsprinzips siehe Schüller (1997).
Ordnungspolitische Reformen und Evolutionstheorie · 157 positiv wirken, entscheidet sich immer erst ex post. Aus der Kostenperspektive erscheinen dezentrale Experimente attraktiver, da das Fehlschlagen individueller Pläne aufgrund der geringeren Menge an fehlgeleiteten Ressourcen volkswirtschaftlich wesentlich weniger Kosten verursacht als die negativen Ergebnisse konstruktivistischer institutioneller Reformen:,.Decentralization of experiments serves to limit the consequences of a failed vision" (Vaughn 1994, 236). Stellen sich Pläne bezüglich möglicher Alternativen als inferior heraus, werden, unter Voraussetzung eindeutig und vollständig definierter property rights, die damit verbundenen Kosten von den dezentralen Einheiten getragen, nicht von der gesamten Volkswirtschaft. Als Extremfall stellt sich dagegen die umfassende zentrale Planung seitens des Staates in Zentralverwaltungswirtschaften dar. Nicht nur, daß gesellschaftlich deutlich weniger Wissen genutzt werden kann als in Marktwirtschaften - hierauf weisen bereits Mises und Hayek hin -, auch Fehler in der Planung haben aufgrund quantitativ bedeutender Fehlallokationen von Ressourcen volkswirtschaftlich extrem negative Auswirkungen (Geue 1997, 252). Das Testen von Hypothesen durch die Wirtschaftssubjekte am Markt oder durch die Politiker und Bürokraten im Wettbewerb föderaler Gebietskörperschaften ist jedoch nicht nur aus der Kostenperspektive als überlegen anzusehen. Die erhöhte Flexibilität sowie die Fähigkeit, mehr Wissen zu nutzen, sprechen dafür, den gesellschaftlichen Raum für die Evolution von Institutionen infolge von privaten Austauschprozessen staatlich nicht zu weit zu begrenzen (Vaughn 1994, 234-236). Insbesondere bei Akzeptanz der Existenz von Pfadabhängigkeiten auch bei individuellen Lernprozessen liegt die Annahme nahe, daß die „Produktion" neuen Wissens von der Anzahl der entdeckten und verfolgten Pfade abhängig ist (Langlois und Everett 1994, 30): „Wir brauchen Dezentralisation, weil wir nur so erreichen können, daß die Kenntnis der besonderen Umstände von Zeit und Ort sofort ausgenützt wird" (Hayek 1952b, 112). Institutionell bedeutet die Umsetzung des Subsidiaritätskriteriums, daß je nach kulturellem Hintergrund einer Gesellschaft ein möglichst föderaler Staatsaufbau anzustreben ist, bei dem auf den unteren Staatsebenen Wettbewerb zwischen den Gebietskörperschaften herrscht. Dazu müssen die Reformanstöße nicht von „oben", also von einer der Ebenen der Staatsgewalt entwickelt werden, sondern können durchaus auch von „unten", also von der Ebene der lokalen Selbstverwaltung oder anderen freiwilligen Verbindungen kommen {Hayek 1952a, 36)." Wie dezentral institutionelle Reformen getestet werden können, ist außerdem abhängig von der Art der Reform. Die „Testebene" ist demnach fallweise unter Einhaltung der additiven Kriterien zu bestimmen. (3) Berücksichtigung der Kohärenzproblematik im Sinne der Interdependenz der Ordnungen Als weiteres Kriterium ist die Struktur der bestehenden Ordnung bei der Planung institutioneller Reformen zu berücksichtigen (Argument der Kohärenz). Nur wenn die Wirkungen der geltenden Regeln einkalkuliert werden, kann bei der Gestaltung einzelner 11 Von Delhaes spricht in diesem Zusammenhang von der föderalen Zuordnung öffentlicher Aufgaben nach dem Subsidiaritätsprinzip (1993, 316).
158 · Heiko Geue Regeln die Kohärenzproblematik der gesellschaftlichen Struktur der Institutionen entschärft werden. Angesprochen ist damit das Interdependenzproblem. Nach Lachmann ist die Problematik der Kohärenz durch vier Merkmale gekennzeichnet: das der Dauerhaftigkeit (Permanenz), der Widerspruchsfreiheit, der Einheit und der umfassenden Komplementarität (Lückenlosigkeit) der Institutionenstruktur (Lachmann 1973, 68 ff und 119 ff). Unter Berücksichtigung der Merkmale dieses Kriteriums stehen nicht alle möglichen Regeln zur Gestaltung frei, sondern in erster Linie diejenigen, welche die Kohärenz der Institutionenstruktur gefährden. Insbesondere ist hiermit die Vereinbarkeit von kulturell gewachsenen Normen mit verfassungsrechtlichen Bestimmungen und gesetzlichen Regelungen angesprochen (von Delhaes 1993, 309, 311). Dabei äußert sich die kulturelle Basis vor allem in ihrer Beeinflussung des Entscheidungsverhaltens der Gesellschaftsmitglieder. Sie fuhrt dazu, daß sich die problemlösungsrelevanten Hypothesenkerne der Wirtschaftssubjekte ähneln (Geue 1997, 253). Wie bereits diskutiert, ergeben sich hieraus wiederum Pfadabhängigkeiten, die es bei der intendierten Reform von Institutionen zu beachten gilt: „Soweit er [der Mensch] die bestehende Ordnung verbessern wollte, hatte er so nie freie Hand, willkürlich irgendeine beliebige Regel niederzulegen, sondern immer eine Aufgabe zu lösen, die ihm zwar durch die Unvollkomenheit der bestehenden Ordnung gestellt wurde, aber durch die Unvollkommenheit einer Ordnung, die als Ganzes zu schaffen er völlig unfähig gewesen wäre" (Hayek 1975, 13 f., Hervorhebung im Original). Die Kohärenz der institutionellen Ordnung ist jederzeit sowohl durch den intendierten Wandel von Institutionen als auch durch die evolutionäre Veränderung von Regeln gefährdet. Die von Lachmann angeführten interdependenten Probleme, die sich aus der Vielfalt der Interessen der Befürworter ordnungspolitischer Reformen, der notwendigen Anpassung an bestehende Institutionen sowie der Zukunftsgerichtetheit der Reformmaßnahmen ergeben, rücken wieder einmal das Wissensproblem für den Ordnungspolitiker in den Mittelpunkt. Unter Berücksichtigung der Komplexität der zu reformierenden Sachverhalte ergibt sich daraus das Postulat der vorsichtigen Zurückhaltung umfassender Reformvorhaben sowie der Berücksichtigung der Interdependenzen zwischen den Ordnungen gesellschaftlichen Zusammenlebens (Fehl 1988, 166; Engelhard, Fehl und Geue 1997, 756 f.). (4) Zulassung des Wettbewerbs zwischen Regelsystemen Auch wenn die bisher fomulierten Kriterien bei ordnungspolitischen Reformen eingehalten werden, ist damit noch nicht garantiert, daß gesellschaftlich superiore Lösungen realisiert werden. Deshalb ist es schließlich notwendig, daß sich die institutionellen Rahmenbedingungen in einer Umgebung des Wettbewerbs ständig behaupten (siehe auch von Delhaes und Fehl 1997, 19-23; Fehl 1990a, 17-24). Wettbewerb auf den Märkten sowie auf der Ebene der Institutionen ist notwendig, damit der Schaden begrenzt wird, der entsteht, wenn Wirtschaftssubjekte und Ordnungspolitiker Fehler machen. Da Fehler einen elementaren Bestandteil von Lernprozessen darstellen, ist der institutionelle Rahmen aus evolutionärer Perspektive danach
Ordnungspolitische Reformen und Evolutionstheorie · 159
zu beurteilen, ob sozio-kulturelle Lernprozesse möglich sind und belohnt werden {Ritter 1995, 234 f., 238 f.; Kirzner 1992, 191). Der institutionelle Rahmen muß dezentrales Testen von Hypothesen unter Wettbewerb innerhalb komplexer Wirtschaften zulassen. Hypothesen, die von Unternehmen auf der Marktebene getestet werden oder politische Pläne, die von Gemeinde- sowie Landesbehörden umgesetzt werden, die untereinander im Wettbewerb (etwa um Industrieansiedlungen) stehen, stellen ein Verfahren dar, mit dem Vermutungswissen relativ schnell getestet und ausgewählt werden kann (Vaughn 1994, 233-236; Hayek 1988, 103). Deshalb ist die Zulassung des Wettbewerbs der Regelsysteme so wichtig {Schmidt und Moser 1992, 202; Kerber und Vanberg 1994, 15). Institutionelle Reformen, die zunächst auf dezentraler föderaler Ebene durch konkurrierende Gebietskörperschaften kritisch getestet wurden, stehen nach Anwendung der Ergebnisse auf der zentralen Ebene innerhalb der Volkswirtschaft zunächst kaum mehr unter Wettbewerbsdruck. Die politische Opposition wird zwar mittels Alternatiworschlägen eine potentielle Konkurrenz entwickeln. Erst wenn diese vom Wähler den Gestaltungsauftrag erhält, besitzt sie jedoch auch die politische Macht, institutionelle Reformen wieder rückgängig zu machen. Daneben fuhrt vor allem der Wettbewerb der Regelsysteme dazu, daß institutionelle Evolutionsblockaden auf der zentralen Ebene negativ sanktioniert und Anreize fur institutionelle Reformen geschaffen werden. Der Wettbewerb auf allen Ebenen fuhrt dazu, daß Alternativen ausprobiert und kritisch getestet werden. Wettbewerb ist der Mechanismus, der auch auf den unterschiedlichen institutionellen Ebenen dazu fuhrt, daß zum einen Wissen geschaffen und verwertet wird und zum anderen das Streben der organisierten Gesellschaftsmitglieder nach Renten kontrolliert wird {Fehl 1988, 165; Geue 1997, 254): „Entscheidend für die evolutorische Natur des übergeordneten Prozesses ist nicht, daß die experimentellen Inputs ungeplant sind, sondern daß diese Inputs einer wettbewerblichen Selektion unterworfen werden" {Vanberg 1994, 40). Nicht zuletzt deswegen entwirft Vanberg „das Bild eines mehrfach abgestuften Systems von Regeln, in welchem die Regeln auf jeder einzelnen Stufe wettbewerblichen Beschränkungen unterworfen sind, die von den Regeln einer anderen Ebene bestimmt werden" (1994, 43 f.).
IV. Fazit In der Analyse konnte gezeigt werden, daß sich gestaltende Ordnungstheorie und -politik im Sinne Euchens und Evolutionstheorie im Sinne Hayeks nicht ausschließen - ihre Erkenntnisse müssen nur komplementär genutzt werden. Als anwendungsorientierter Leitfaden wurden vier additive, nicht alternative Kriterien zur Umsetzung nichtkonstruktivistischer ordnungspolitischer Reformen in Übereinstimmung mit Hayeks Überlegungen entwickelt. Auch unter Berücksichtigung des Problems des begrenzten Wissens ist es nicht notwendig, in politische Untätigkeit zu verfallen und auf die Ergebnisse des „passing the test through time" zu warten. Hayeks Warnungen vor dem Konstruktivismus „sind keine Argumente gegen Experimente, sondern Argumente gegen jede ausschließliche monopolistische Macht, auf einem bestimmten Gebiet zu experimentieren - Macht, die keine Alternative verträgt und den
160 · Heiko Geue Anspruch erhebt, überlegenes Wissen zu besitzen - und gegen die daraus folgende Ausschließung von Lösungen, die besser sind als die, auf die sich die an der Macht befindlichen festgelegt haben" (Hayek 1991, 88; siehe auch 46 f.). Literatur Arnold, Roger A. (1980), Hayek and Institutional Evolution, The Journal of Libertarian Studies, Vol. IV, S. 341-352. Blankart, Charles Beat und Matthias-Wolfgang Stoetzer (1991), ökonomische Theorien des Staates, WiSt, Heft 4, S. 164-170. Böhm, Stephan (1994a), Hayek and knowledge: some question marks, in: M. Colonna, H. Hagemann und O.F. Hamouda (Hrsg.), Capitalism, Socialism and Knowledge. The Economics of F.A. Hayek - Vol. II, Aldershot, S. 160-177. Böhm, Stephan (1994b), Spontaneous Order, in: Geoffrey M. Hodgson, Warren J. Samuels und Marc R. Tool (Hrsg.), The Elgar Companion to Institutional and Evolutionary Economics L-Z, Aldershot, S. 296-301. Bouillon, Hardy (1991), Ordnung, Evolution und Erkenntnis: Hayeks Sozialphilosophie und ihre erkenntnistheoretische Grundlage, Tübingen. Delhaes, Karl von (1993), Aktive Ordnungspolitik in der Transformation: Konstruktivismus oder Voraussetzung freiheitlicher Entwicklung?, ORDO, Bd. 44, S. 307-318. Delhaes, Karl von und Ulrich Fehl (1997), Dimensionen des Wettbewerbs: Problemstellungen, in: Karl von Delhaes und Ulrich Fehl (Hrsg.), Dimensionen des Wettbewerbs. Seine Rolle in der Entstehung und Ausgestaltung von Wirtschaftsordnungen, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Band 52, Stuttgart. Engelhard, Peter, Ulrich Fehl und Heiko Geue (1996), Praxeology as a 'Quasi-Formal' Science, in: Cultural Dynamics, Vol. 8, S. 271-293. Engelhard, Peter, Ulrich Fehl und Heiko Geue (1997), Konzertierte Aktionen, Runde Tische, Aktionsbündnisse: Machtbeteiligung und Machtkontrolle organisierter Interessen durch korporatistische Politikbeteiligung?, in: Dieter Cassel (Hrsg.), 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Ordnungstheoretische Grundlagen, Realisierungsprobleme und Zukunftsperspektiven einer wirtschaftspolitischen Konzeption, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Band 57, Stuttgart 1998, S. 741-768. Eucken, Walter (1961), Nationalökonomie - Wozu?, 4. unveränderte Auflage, Düsseldorf und München. Eucken, Walter (1952/1990), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage, Tübingen. Fehl, Ulrich (1988), Freiheit, Wettbewerb, Politik und die Rolle des Wirtschaftswissenschaftlers, ORDO, Bd. 39, S. 163-167. Fehl, Ulrich (1990a), Wachsende internationale Interdependenz und Transmission von Effekten binnenwirtschaftlicher Politik auf das Ausland, in: Erhard Kantzenbach (Hrsg.), Probleme der internationalen Koordination der Wirtschaftspolitik, Berlin, S. 9-43. Fehl, Ulrich (1990b), Innovation, Wettbewerb und Evolution. Zu dem gleichnahmigen Buch von Alexander Gerybadze, ORDO, Bd. 41, S. 305-308. Fehl, Ulrich (1994), Spontaneous order, in: Peter J. Boettke (Hrsg.), The Elgar Companion to Austrian Economics, Aldershot, S. 197-205. Geue, Heiko (1997), Evolutionäre Institutionenökonomik. Ein Beitrag aus der Sicht der österreichischen Schule, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Band 55, Stuttgart 1997. Geue, Heiko (1998), Laissez-faire-Banking: Free Banking, Währungswettbewerb und New Monetary Economics, erscheint in: Jörg Thieme (Hrsg.), Moderne Entwicklungen der Finanzmärkte, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Stuttgart 1998. Garrison, Roger W. (1986), Hayekian Trade Cycle Theory. A Reappraisal, Cato Journal, Vol. 6, S. 437-453. Gray, John (1986), Hayek on Liberty, 2. Edition, Oxford.
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Ordnungspolitische Reformen und Evolutionstheorie · 163 Zusammenfassung Euchen wendet sich gegen die Vorstellung des institutionellen "laissez-faire". Ordnungstheoretische Aufgabe ist es, kluge institutionelle Reformen gedanklich vorzubereiten. Daraus ergibt sich aber die im vorliegenden Beitrag untersuchte Frage, ob diese Position mit Hccyeks Evolutionismus vereinbar ist. Zur Beantwortung der Frage wird Hayeks Theorie der spontanen Ordnungen sowie seine Theorie der Regelselektion herangezogen, um den Bestimmungsgründen für die Evolution von Institutionen nachzugehen. Insbesondere wird der Prozeß der unintendierten Evolution von Regeln untersucht. Hierbei wird deutlich, daß das in gewachsenen Institutionen eingeflossene Wissen deshalb signifikant ist, weil es im Evolutionsprozeß kritisch getestetes Wissen darstellt. Trotz der Betonung der Bedeutung von gewachsenen Ordnungen wird insgesamt deutlich, daß Hayek keinen "laissez-faire"-Evolutionismus vertritt. Gewachsene Ordnungen sind nicht automatisch immer auch funktionsfähiger als geplante Ordnungen. Dafür sorgen Pfadabhängigkeiten sowie institutionelle Evolutionsblockaden. Hieraus ergibt sich aber die Notwendigkeit von Ordnungspolitik, die allerdings selbst der Gefahr der Anmaßung von Wissen ausgesetzt ist. Um nicht-konstruktivistische Politikvorhaben zu verfolgen, bedarf es reformleitender Kriterien. Diese werden im vorliegenden Text aus den Thesen Hayeks abgeleitet. Die so ermittelten Kriterien stellen die Vereinbarkeit der Ordnungstheorie im Sinne Euckens mit der Evolutionstheorie im Sinne Hayeks sicher und stellen einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Ordnungstheorie dar. Summary Is institutional reform compatible with Hayek's evolutionary theory? Eucken opposes institutional "laissez-faire". According to him, it is the task of "Ordnungstheorie" to prepare institutional reforms theoretically. Starting from this concept the question raises: is Eucken's position compatible with Hayek's theory of cultural evolution? It is this problem which is to be solved in the present paper. Thus, the author examines Hayek's theory of spontaneous order and his theory of the selection of rules. It is concluded that the unintended evolution of institutions is valuable for any society. Though Hayek emphasizes the importance of spontaneous orders he does not opt for a theory of institutional "laissez-faire". Unintended orders are not automatically superior orders. First of all the phenomenon of path dependence and even institutional "lock-ins" preclude this automatism. Hence the necessity of'Ordnungspolitik" is derived. But it has also to be remembered that even this kind of economic policy may be constructivistic. To solve this problem it is necessary to define reform-leading criteria. In the present text they are deduced from Hayek's own work. It is the opinion of the author that the established criteria guarantee the compatibility of Eucken's "Ordnungstheorie" with Hayek's theory of cultural evolution.
ORDO · Jahrbuch fìlr die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart, 1998) Bd. 49
Lüder Gerken
Die Grenzen der Ordnungspolitik
I. Einleitung Nach allgemeiner Auffassung ist nicht jede ordnungspolitische Maßnahme mit den Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung vereinbar. Die allgemeine Abschafiung der Vertragsfreiheit etwa würde diese Ordnung schlichtweg zerstören. Es existieren jedoch bislang keine Kriterien, mit denen beurteilt werden könnte, welche ordnungspolitischen Maßnahmen mit den marktwirtschaftlichen Grundsätzen vereinbar sind und welche nicht. Im folgenden wird dargelegt, daß sich ein solches Kriterium nicht aus den Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung gewinnen läßt. In einem zweiten Schritt wird gezeigt, daß indessen das allgemeinere Recht auf individuelle Freiheit ein solches Abgrenzungskriterium liefern kann.
II. Die marktwirtschaftliche Ordnung 1. Das Problem des Wissens im Bereich der Wirtschaft Wirtschaften ist das Unterfangen, die Knappheit der Güter zu verringern. Entsprechend befaßt sich der normative Zweig der Wirtschaftswissenschaft mit der Frage, wie die wirtschaftliche Knappheit am effektivsten verringert werden kann. Die neoklassische Allokationstheorie unterstellt dabei in ihren Standardmodellen1, daß sämtliche Wirtschaftsteilnehmer von sämtlichen wirtschaftsrelevanten Umständen vollständige Kenntnis besitzen. Bei der Untersuchung der realen wirtschaftlichen Prozesse ist es jedoch relativ uninteressant, in welchem Zustand sich eine Volkswirtschaft befände, wenn sämtliche Individuen alles wüßten. Denn in der Wirklichkeit ist die Zahl der in einer Volkswirtschaft wirkenden Einflußgrößen so hoch und ihre Verflechtung derartig komplex,2 daß
1 Zwar sind im Gefolge der Untersuchung von Knight (1921) auch in der neoklassischen Gleichgewichtslehre Modelle entwickelt worden, die die Standardannahme des vollkommenen Wissens aufgeben. Im Regelfall wird in ihnen jedoch lediglich unterstellt, daß irgendwelche Umweltvariablen existieren, deren Wert außerhalb des wirtschaftlichen Systems bestimmt wird, so daß die Individuen dieselben nicht beeinflussen können. Diese Umweltvariablen werden durch einen stochastischen Prozeß dargestellt, der das deterministische Gleichungssystem des Standardmodells ersetzt. Anstelle des Nutzens maximieren die Individuen den Erwartungswert des Nutzens. Statt vieler Arrow (1971), Drèze (1974) und Machina (1987). 2 Die Volkswirtschaft ist mit anderen Worten ein komplexes Phänomen. Zur Theorie komplexer Phänomene Hayek (1964/1967).
166 · Lüder Gerken das Wissen um deren Auftreten und jeweilige konkrete Ausprägung und Größe niemals auch nur annähernd vollständig erworben werden kann.3 Das gilt zum einen fur den Wissenschaftler, der die Volkswirtschaft von außen betrachtet. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht können für komplexe Systeme keine konkreten Zustände als Ergebnis von Ursache-Wirkung-Zusammenhängen vorausgesagt werden, da es unmöglich ist, sämtliche Einflußvariablen auch nur annähernd vollständig zu spezifizieren. Die Wissenschaft ist beschränkt auf die Herleitung von Mustervoraussagen, also von Hypothesen der Art, daß bestimmte Muster auftreten werden, wenn bestimmte allgemeine Bedingungen gegeben sind.4 Es gilt zum anderen fur den einzelnen Wirtschaftsteilnehmer. Dieser ist unter keinen Umständen in der Lage, vollständige Kenntnis über sämtliche wirtschaftsrelevanten Umstände in Raum und Zeit zu besitzen oder zu erwerben. Nicht oder nur unvollständig ausgenutzte Potentiale der Effizienzsteigerung und Arbitragemöglichkeiten treten zu unterscheidlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten neu auf und vergehen wieder. Nur sehr wenige und stets andere Individuen besitzen oder erlangen in einer Volkswirtschaft Kenntnis von solchen wirtschaftsrelevanten Umständen; viele derselben bleiben vollständig unentdeckt. 2. Die Bewältigung des Wissensproblems in der marktwirtschaftlichen Ordnung Das Wissen um die marktrelevanten Umstände in einer Volkswirtschaft ist sowohl auf die verschiedenen Wirtschaftsteilnehmer verteilt als auch insgesamt unvollständig. Das Problem des konstitutiven Wissensmangels umfaßt mithin zwei Aspekte: Erstens ist das in einer Volkswirtschaft vorhandene Wissen weder bei einem Individuum zentralisiert noch bei allen Individuen in gleichem Umfang vorhanden, sondern in hohem Maße zersplittert. Ein Wirtschaftsteilnehmer hat Kenntnis über einen Umstand, ein anderer Wirtschaftsteilnehmer über einen anderen. Die wirtschaftlichen Pläne und Handlungen der verschiedenen Individuen sind daher zunächst nicht aufeinander abgestimmt. Folglich bedarf es eines Verfahrens, mit welchem die wirtschaftlichen Handlungen koordiniert werden. Dies ist auf zwei grundsätzliche Arten möglich: zentral von oben oder dezentral durch Interaktion zwischen den Individuen. Aus beiden Arten resultiert jeweils eine bestimmte soziale Ordnung, eine Handelnsordnung („order of actions"; Hayek 1967, 66; 1967/1969).5 Eine Handelnsordnung zeichnet sich dadurch aus, daß die Individuen in einer konkreten Situation Erwartungen über die Handlungen anderer Individuen bilden können und diese Erwartungen mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit auch erfüllt 3 Zur Frage des konstitutiven Wissensmangels Hayek (1937/1948, 44-56; 1945/1948; 1948, 92104). Vgl. auch Hayek (1968/1969; 1976/1978; 1979/1982, 65-70). 4 Dies bedeutet, daß sich ein Wirtschaftssystem zwar - abstrakt - durch ein Walrasianisches Gleichungssystem (Walras 1874, 248-250, 312-315) darstellen lassen mag, daß es jedoch nicht möglich ist, dieses Gleichungssystem numerisch zu konkretisieren (Hayek 1964/1967, 34-36). 5 Zur Thematik der Handelnsordnung und insbesondere zur Konzeption der spontanen Ordnung Polanyi (1951, 114-122, 154-168) und Hayek (1963/1969; 1967; 1967a; 1967/1969; 1968/1978, 72-80; 1973/1982, 35-54; 1976/1982, 8-11, 67-70, 107-132).
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werden {Hayek 1967/1969, 164; 1973/1982, 36). In Abhängigkeit von dem jeweils zugrundeliegenden Koordinationsverfahren lassen sich zwei Gattungen von Handelnsordnungen unterscheiden: Organisationen (Taxis) und spontane oder polyzentrische Ordnungen (Kosmos).6 Auf der volkswirtschaftlichen Ebene entspricht diese Unterscheidung der zwischen der zentralverwaltungswirtschaften und der marktwirtschaftlichen Ordnung. Während in der zentralverwaltungswirtschaftlichen Ordnung eine übergeordnete Instanz die Handlungen der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer koordiniert und sie auf ein vorgegebenes Ziel ausrichtet, werden in der marktwirtschaftlichen Ordnung die Pläne und Handlungen nicht zentral, sondern durch Rückkopplungen über das Preissystem dezentral zwischen den Individuen koordiniert.7 Das Preissystem übermittelt marktrelevantes Wissen über Daten oder Datenänderungen, die im Plan eines Individuums zu einer Anpassung gefuhrt haben, an sämtliche anderen Marktteilnehmer, mit denen jenes Individuum unmittelbar oder auch nur mittelbar in Austauschbeziehungen steht. Aus der dezentralen Natur dieses Koordinationsprozesses folgt auch, daß die marktwirtschaftliche Ordnung anders als die zentralverwaltungswirtschaftliche nicht durch planvolle menschliche Gestaltung geschaffen wird, sondern sich endogen in einem evolutorischen Prozeß herausbildet. Hayek (1967/1978, 250) nannte dies die „twin ideas of evolution and of the spontaneous formation of an order". Zweitens ist das in einer Volkswirtschaft vorhandene Wissen in hohem Maße begrenzt. Dieser konstitutive Wissensmangel läßt sich nicht einmal annähernd beseitigen. In der marktwirtschaftlichen Ordnung allerdings existiert mit dem Wettbewerb zwischen den Individuen ein Anreiz- und Entdeckungsverfahren zur Schaffung neuen Wissens über marktrelevante Umstände. Der Wettbewerb bewirkt, daß immer wieder marktrelevantes Wissen entdeckt und im Marktprozeß eingesetzt wird, so daß das Problem zumindest relativiert wird.8
6 Der Begriff der spontanen Ordnung stammt nicht, wie Hayek (1960, 160) meinte, von Polanyi (1951, 114f, 154), sondern von Comte (1839, 430). Er wurde von Röpke (1937/1979, 19) in die Wirtschaftswissenschaft eingeführt. Bereits zwei Jahre zuvor hatte allerdings Hayek (1935/1948, 137) hinsichtlich der „Phänomene", die eine Wettbeweibsordnung auszeichnen, festgestellt, daß „the interaction of independent activities of the individuals produced these phenomena spontaneously". Lediglich der Begriff der polyzentrischen Ordnung stammt von Polanyi (1951, 170f). Auch die Bezeichnung des Marktsystems als Kosmos geht bereits auf Röpke (1937/1979, 18) und nicht erst, wie Hayek (1968/1978, 73) glaubte, auìSchumpeter (1954, 467 [sic!]) zurück. 7 Zur Funktionsweise des Preissystems Hayek (1945/1948, 84-89; 1976/1982, 71f, 76-78, 116f). Zur Bedeutung negativer Rückkopplungen Hayek (1973/1982, 102-104; 1976/1982, 93-96, 124f, 127f). 8 Der Begriff des Wettbewerbs als eines Entdeckungsverfahrens wurde erst in den sechziger Jahren geprägt {Hayek 1967/1969, 167-169; 1968/1969), wenngleich die Grundzüge der Theorie bereits zwanzig Jahre zuvor entstanden waren (Hayek 1948). Zu den Eigenschaften des globalen Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren Gerken (1998).
168 · Lüder Gerken 3. Die Effektivität der marktwirtschaftlichen Ordnung gegenüber der Zentralverwaltungswirtschaft Die Effektivität einer Wirtschaftsordnung wird in aller Regel danach bemessen, in welchem Umfang die wirtschaftliche Knappheit verringert (Euchen 1952/1990, 155f, 370) oder, etwas anders ausgedrückt, in welchem Umfang das Problem des konstitutiven Wissensmangels bewältigt werden kann (Hayek 1945/1948, 83f). In der Zentralverwaltungswirtschaft existieren praktisch keine Wettbewerbsprozesse, die zur Schaffung neuen Wissens fuhren. Auch kann sich das einzelne Individuum nicht eigenständig an neue wirtschaftsrelevante Daten anpassen, sondern muß die Anordnungen der Planbehörde befolgen beziehungsweise abwarten. Das Preissystem fällt als Koordinationsmechanismus (weitgehend) aus.9 In der marktwirtschaftlichen Ordnung dagegen schafft der Wettbewerb als Anreiz- und Entdeckungsverfahren unentwegt neues Wissen. Jedes Individuum kann seine Pläne ohne Einengung auf ein übergeordnetes Ziel an neu erworbenes Wissen anpassen. Über das Preissystem wird dieses Wissen statt lediglich an eine zentrale Planungsbehörde unmittelbar an alle davon betroffenen Individuen vermittelt. Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich die grundsätzliche Feststellung, daß bei idealtypischer Betrachtung in der marktwirtschaftlichen Ordnung das wirtschaftsrelevante Wissen effektiver verarbeitet und umfassender erweitert wird, als dies in der Zentralverwaltungswirtschaft der Fall ist. 4. Die Zielneutralität der marktwirtschaftlichen Ordnung Die marktwirtschaftliche Ordnung wird nicht durch planvolle Handlung geschaffen, sondern evolviert endogen. Hieraus folgt, daß sie auch nicht auf ein Ziel oder eine Zielhierarchie ausgerichtet sein kann. Im Gegenteil verfolgen die Marktteilnehmer ihre eigenen - regelmäßig unterschiedlichen, häufig auch konfligierenden - Zielsetzungen. Die Leistung der marktwirtschaftlichen Ordnung besteht gerade darin, daß die Handlungen der Menschen koordiniert werden, obwohl die Wirtschaftsteilnehmer ihren individuellen Zielen nachgehen können. Die Feststellung, daß es in der marktwirtschaftlichen Ordnung eine übergeordnete Bewertung der Ziele im Sinne einer hierarchischen Rangfolge nicht geben kann, hat erhebliche Konsequenzen. So besitzt das Anliegen des Hungernden, eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, keinen Vorrang vor dem Anliegen des Milliardärs, sich den fünften Palast zu bauen. Es hat deshalb keinen Vorrang, weil in der marktwirtschafltichen Ordnung keine Instanz existiert, die den Menschen vorschreibt, welchen Zielen sie nachzugehen haben.10 Unbeschadet der Frage, ob es für reiche Menschen eine individuelle ethische Verpflichtung gibt, sich um den Hungernden zu sorgen, würde eine hoheitlich vorgeschriebene Verpflichtung zu solchem Verhalten die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit der Betroffenen beseitigen und damit die marktwirtschaftliche Ordnung 9 So bereits Pareto (1909/1927, 233f) und Mises (1920, 97-105; 1922/1932, 110-117, 188-197). 10 Dies bedeutet nicht, daß es dem Staat verwehrt sei, den Bürgern außerhalb der spontanen Ordnung des Marktes das Existenzminimum zu garantieren (Hayek 1966/1967, 175; 1976/1982, 87; 1979/1982, 55).
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durch Verletzung einer ihrer zentralen Funktionsprinzipien beschädigen, wenn nicht gar zerstören.11 5. Die Regelgebundenheit der marktwirtschaftlichen Ordnung 12 Voraussetzung dafür, daß eine marktwirtschaftliche Ordnung überhaupt entsteht, ist, daß die Verhaltensweisen der Individuen eine Strukturähnlichkeit besitzen. Sie müssen mit anderen Worten gewisse Regelmäßigkeiten aufweisen. Regelmäßigkeiten in den Verhaltensweisen reduzieren die Unsicherheit des überaus komplexen sozialen Umfeldes der Wirtschaftsteilnehmer und stabilisieren auf diese Weise deren Erwartungsbildung (Hume 175 la/1777/1875, 278): Auf der Grundlage solcher Regelmäßigkeiten können die Individuen Erwartungen über die Handlungen der anderen Wirtschaftsteilnehmer und damit über Kausalitätszusammenhänge zwischen ihren eigenen Handlungen und dem angestrebten Erfolg bilden, ohne daß ihnen sämtliche Umstände, die diesen Erfolg bestimmen, bekannt sein müssen. Je mehr Menschen und je öfter diese sich in den unterschiedlichen konkreten Situationen von Raum und Zeit an Regelmäßigkeiten halten, desto höher ist der Grad der Ordnung. Im theoretischen Grenzfall vollkommenen Wissens entspricht jedes Verhalten jedes Individuums in jeder denkbaren Situation einer Regelmäßigkeit. Unter dieser Voraussetzung ist die Wahrscheinlichkeit, daß die individuellen Erwartungen der Wirtschaftsteilnehmer in Erfüllung gehen, gleich eins. Das Spektrum erwartungsstabilisierender Regelmäßigkeiten ist umfassend. Das Bedürfnis, im Winter wärmere Kleidung zu tragen, fällt ebenso darunter wie eine Erhöhung der Verkaufspreise, wenn der Verkäufer erkennt, daß die nachgefragte Menge das verfügbare Angebot übersteigt. Vor allem treten Regelmäßigkeiten in den Verhaltensweisen der Menschen auch dadurch auf, daß diese im Rahmen der sozialen Interaktion Regeln befolgen, denn Regeln stabilisieren die Erwartungsbildung durch eine Begrenzung des individuellen Handlungsspielraums (Polanyi 1951, 185).13 Beispiele für derartige Regeln im Bereich der Wirtschaft sind der Grundsatz, das Eigentum anderer Menschen nicht zu verletzen, oder das Prinzip der Verschuldenshaftung, aber auch Wettbewerbsnormen und Verbotsvorschriften über die Ableitung von Schadstoffen in die
11 Entsprechend sind auch die Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit" oder die Behauptung, daß ein bestimmtes Phänomen „sozial unausgewogen" sei, inhaltsleere Konstrukte, wenn sie sich auf die marktwirtschaftliche Ordnung beziehen (Hayek 1976/1982, 62-100; 1978; 1996). 12 Zur Problematik des Regelsystems, das eine marktwirtschaftliche Ordnung erst ermöglicht und prägt, Hayek (1960, 220-233; 1963/1969, 37-46; 1973/1982, 43-52, 106-110; 1976/1982, 1-17, 123-131). Allgemein zu den grundsätzlichen Fragestellungen, wie Regeln entstehen, welche Typen von Regeln welche Aufgaben erfüllen und wie das Regelsystem einer offenen Gesellschaft zu beschaffen sein habe, Hayek (1960, 133-249; 1973/1982, 72-144; 1976/1982, 1-61). 13 Auch im Rahmen der traditionellen Wiitschaftstheorie wurden in jüngerer Zeit Überlegungen zur Regelgebundenheit der wirtschaftlichen Handlungen angestellt. Sie beruhen vor allem auf der Annahme, daß die Marktteilnehmer bestrebt sind, wegen ihrer begrenzten Fähigkeit zur Informationsgewinnung (Heiner 1983) die Komplexität der sozialen Interaktion zu reduzieren und die Transaktionskosten zu senken ( Williamson 1975; 1985).
170 · Lüder Gerken Umwelt. Allgemein läßt sich von den Rahmenbedingungen für die marktwirtschaftliche Ordnung sprechen. Regeln können auf zweierlei Weise entstehen, nämlich durch künstliche Schaffung als Produkt des menschlichen Verstandes oder durch einen evolutorischen Prozeß. Beispiele für evolutorisch entstandene Regeln sind die traditionellen, moralischen oder religiösen Verhaltensnormen und ungeschriebene gewohnheitsrechtliche kaufmännische Regeln. Die vom menschlichen Verstand geschaffenen Regeln sind meist in parlamentarische Gesetze oder in eine ähnliche Form gekleidet. In der Realität wird das Regelsystem, das eine marktwirtschaftliche Ordnung hervorbringt, teilweise evolutorischen und teilweise gedanklich geplanten Ursprungs sein. Indem sich die marktwirtschaftliche Ordnung dadurch auszeichnet, daß die Wirtschaftsteilnehmer ihre individuellen Zielen verfolgen können und nur die Mittel zur Zielerreichung, nicht aber die Ziele selbst koordiniert werden, können die Regeln, die die Entstehung einer marktwirtschaftlichen Ordnung erst ermöglichen, nicht auf eine bestimmte Situation zugeschnitten sein (Hume 1751a/1777a/1875, 274). Vielmehr müssen sie auf eine unbekannte Zahl von Personen und von Fällen in der Zukunft anwendbar, folglich allgemein und abstrakt sein. Zudem dürfen sie den Individuen nicht positiv etwas vorschreiben, sondern ihnen lediglich bestimmte Verhaltensweisen untersagen; sie müssen folglich negativ formuliert sein.
III.
Das wirtschaftspolitische Dogma und ein fundamentales Problem der Ordnungsökonomik
1. Das wirtschaftspolitische Dogma der Ordnungsökonomik In tatsächlicher Hinsicht besitzt der Staat nicht nur in der zentralverwaltungswirtschaftlichen Ordnung, in der er systembedingt den Wirtschaftsprozeß kontrollieren muß, sondern auch in der marktwirtschaftlichen Ordnung umfassende und vielfältige Möglichkeiten, auf die Koordination der individuellen wirtschaftlichen Handlungen der Marktteilnehmer einzuwirken. Dies ist als solches noch nicht problematisch. Denn aus der grundsätzlichen Feststellung, daß bei idealtypischer Betrachtung die marktwirtschaftliche Ordnung der zentralverwaltungswirtschaftlichen überlegen ist, folgt nicht, daß in realen marktwirtschaftlichen Ordnungen der Staat jeder Einflußnahme auf die wirtschaftlichen Koordinationsprozesse zu entsagen habe. Vielmehr stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls welche staatliche Einflußnahme als vertretbar oder gar als wünschenswert anzusehen ist. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es eines Rechtfertigungsmaßstabes.
Grenzen der Ordnungspolitik · 171 Vor dem Hintergrund, daß das allgemeine Ziel der wirtschaftlichen Koordination darin besteht, die wirtschaftliche Knappheit möglichst umfassend zu verringern, verwundert es nicht, daß die Wirtschaftswissenschaft die verschiedenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen an ihrer Eignung und Effektivität mißt, diesem Anliegen gerecht zu werden. Das gilt zumal für die wohlfahrtsökonomische Gleichgewichtslehre mit ihrem Postulat der Allokationseffizienz, wie es vor allem von Pareto (1896, 19-28, 44-49; 1897, 84-95) entwickelt wurde Aber auch die traditionelle Ordnungsökonomik zieht den Effizienzmaßstab für die Bewertung wirtschaftspolitischer Maßnahmen heran (Euchen 1952/1990, 155f, 370; Lenel 1975, 56-58). Wirtschaftspolitik in der marktwirtschaftlichen Ordnung ist demnach so zu gestalten, daß sie die individuellen Wirtschaftsteilnehmer möglichst effektiv in die Lage versetzt, die Güterknappheit zu reduzieren. Die traditionelle Ordnungsökonomik unterscheidet hinsichtlich der Wirtschaftspolitik in der marktwirtschaftlichen Ordnung zwischen Ordnungspolitik und Prozeßpolitik (Euchen 1952/1990, 242; Tuchtfeldt 1957, 55-57). Ordnungspolitik gestaltet die Wirtschaftsordnung durch allgemeine Regeln, Prozeßpolitik dagegen greift zielgerichtet in den Wirtschaftsprozeß ein. Diese Klassifizierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen ist zu Recht immer wieder kritisiert worden (statt vieler Hoppmann 1973, 38f). In der Tat greift auch jede ordnungspolitische Maßnahme in den Wirtschaftsprozeß ein; es ist geradezu ihr Zweck. Lediglich die Art der Einwirkung variiert. Vor diesem Hintergrund läßt sich leicht nachvollziehen, daß viele wirtschaftspolitischen Maßnahmen - wie etwa die Erhebung einer Sondersteuer auf den Erwerb bestimmter Produkte - nicht eindeutig entweder der Prozeß- oder der Ordnungspolitik zugeordnet werden können. Im folgenden kann allerdings diese Unterteilung, die sich für Illustrationszwecke als vorteilhaft erweist, trotz der genannten Schwäche beibehalten werden. Denn wie die späteren Ausführungen deutlich machen werden, ist die Klassifizierung in Prozeß- und Ordnungspolitik für die Frage der Zulässigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen gänzlich irrelevant. In Analogie zu der Erkenntnis, daß die zentralverwaltungswirtschaftliche Ordnung das Knappheitsproblem nicht angemessen löse, stellt die traditionelle Ordnungsökonomik im Hinblick auf die Prozeßpolitik fest, daß in der marktwirtschaftlichen Ordnung jeder lenkende Eingriff des Staates in den Wirtschaftsprozeß ineffizient sei. Begründet wird dies unter anderem mit der Feststellung, daß ein staatlicher Eingriff in den Wirtschaftsprozeß das Koordinationsgefüge störe (Böhm 1950, XXXIVf; Maier 1953, 57f), etwa die Funktionsfahigkeit des Preissystems herabsetze (Euchen 1952/1990, 140-145), oder auch mit der Feststellung, daß ein staatlicher Eingriff aufgrund der komplexen Struktur des Wirtschaftsprozesses nicht kontrollierbare Nebenwirkungen zur Folge habe (Euchen 1952/1990, 142f, 144f, 254f). Danach hat der Staat jeden Eingriff in den Wirtschaftsprozeß, etwa in Gestalt von lenkenden Subventionen (Euchen 1952/1990, 159), zu unterlassen. In Entsprechung der Erkenntnis, daß eine marktwirtschaftliche Ordnung ohne bestimmte Regeln nicht existieren kann, vertritt die traditionelle Ordnungsökonomik dagegen im Hinblick auf die Ordnungspolitik die Auffassung, daß der Staat die Aufgabe habe, die Rahmenbedingungen für den Wirtschaftsprozeß so zu gestalten, daß der
172 · Lüder Gerken marktwirtschaftliche Koordinationsprozeß gestützt und gewährleistet wird (Euchen 1952/1990, 254-259, 264-291). Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es demnach etwa, sicherzustellen, daß das Preissystem möglichst reibungslos fiinktioniert und der Wettbewerb geschützt wird. Wirtschaftspolitik ist nach dieser Vorstellung allein Wirtschaftsordnungspolitik. Der Staat hat die Regeln für den Wirtschaftsprozeß aufzustellen und im übrigen den Wirtschaftsteilnehmern freie Hand zu lassen, also ihre Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit im Wirtschaftsprozeß umfassend zu gewähren. 2. Ein fundamentales Problem der Ordnungsökonomik: Welche Ordnungspolitik ist ordnungskonform? Die im vorherigen Abschnitt dargelegte Auffassung der Ordnungsökonomik ließe sich, wie es scheint, auch folgendermaßen zusammenfassen (Hoppmann 1973, 39): Ordnungspolitik ist mit den Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung vereinbar, also ordnungskonform; Prozeßpolitik dagegen verstößt gegen diese Prinzipien, ist also ordnungsinkonform. Eine derartige Feststellung würde jedoch wesentliche Zusammenhänge übergehen. Wie bereits Euchen (1952/1990, 372f) darlegte, besitzt der Begriff der Ordnung im deutschen Sprachgebrauch zwei unterschiedliche Bedeutungsinhalte. Zum einen steht er positiv-wissenschaftlich für jede wie auch immer geregelte Form der wirtschaftlichen Koordination, zum anderen normativ-wissenschaftlich für diejenige Form der wirtschaftlichen Koordination, die den Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung gerecht wird. Von Bedeutung ist dabei, daß im Regelfall die Unterscheidung zwischen Ordnungspolitik und Prozeßpolitik eine positiv-wissenschaftliche ist, die Unterscheidung zwischen ordnungskonformen und ordnungsinkonformen Maßnahmen dagegen eine normativ-wissenschaftliche. Aus dieser Begriffsdualität ergibt sich, daß nicht jede ordnungspolitische Maßnahme ordnungskonform, also mit den Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung vereinbar sein muß. Offensichtlich ist dies etwa im Falle der Beseitigung der Vertragsfreiheit durch ein allgemeines und abstraktes Verbotsgesetz. Folglich ist weiter zu differenzieren. Nach den Vorstellungen der Ordnungsökonomik verstößt Prozeßpolitik ausnahmslos gegen die Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung und ist deshalb stets (im normativen Sinne) ordnungsinkonform. Ordnungspolitik (im positiven Sinne) ist nach dieser Auffassung dann (im normativen Sinne) ordnungsinkonform, wenn sie gegen die Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung verstößt (Tuchtfeldt 1960, 206f)14. Die Abschaffung der Vertragsfreiheit etwa wäre Ordnungspolitik, aber eine ordnungsinkonforme. 14 Letztlich stellte Tuchtfeldt (1960, 220-234) nicht auf den Idealtypus der marktwirtschaftlichen Ordnung ab, sondern auf die in der Wirklichkeit existierenden „Mischsysteme", um der Schwierigkeit zu entgehen, daß es die idealtypische Form in der Realität nicht gibt. Dadurch ist freilich sein Katalog der Konformitätsgrade - systemnotwendige, -förderliche, -adäquate, verschlechternde und -zerstörende politische Maßnahmen - der relativistischen Willkürlichkeit
Grenzen der Ordnungspolitik · 173
Mit dieser definitorischen Begriffsklärung ist aber nicht viel mehr gewonnen als eine gewisse Blickschärfung für das eigentliche Problem. Denn die grundlegende Frage lautet: Welche ordnungspolitischen Maßnahmen sind ordnungskonform? Auch wenn sich einige Beispiele dafür anführen lassen, daß Ordnungspolitik gegen die Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung verstoßen kann, so ist damit noch kein allgemeines Kriterium gefunden, mit dem eine grundsätzliche Antwort auf die Frage gegeben werden kann, welche Ordnungspolitik ordnungskonform ist und welche nicht. Bei genauerem Hinsehen offenbart sich hier ein fundamentales Problem des wirtschaftspolitischen Dogmas der Ordnungsökonomik: Aus den Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung läßt sich bereits aufgrund der inneren Struktur dieses Prinzipienbündels kein allgemeines Kriterium für die Ordnungskonformität ordnungspolitischer Maßnahmen ableiten. Denn sobald die skizzierte Frage aufgeworfen wird, geraten zwei Funktionsprinzipien miteinander in Konflikt: Das Dilemma besteht darin, daß die marktwirtschaftliche Ordnung zum einen durch die Regelgebundenheit, zum anderen allerdings auch durch die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit gekennzeichnet ist. Der Zweck deijenigen Regeln, die eine marktwirtschaftliche Ordnung erst hervorbringen, besteht nun aber gerade darin, bestimmte Verhaltensweisen zu unterbinden, also die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit der Menschen einzuschränken. Die Instrumente der Ordnungspolitik - allgemeine, abstrakte und negativ formulierte Regeln - schränken somit zwangsläufig die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit der Menschen ein. Wenn der Staat es den Unternehmen untersagt, gesundheitsschädliche Gase zu emittieren, beschränkt er die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit der Unternehmer. Wenn der Staat im sogenannten „sozialen Mietrecht" bestimmte vertragliche Kündigungsklauseln untersagt, beschränkt er die Zielsetzungs- und Handlungfreiheit der Vermieter. Vordergründig verstößt somit auf der einen Seite jede ordnungspolitische Maßnahme gegen die Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung, indem sie die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer auf diese oder jene Weise beschränkt, obgleich auf der anderen Seite jede ordnungspolitische Maßnahme ex deñnitione dem Anliegen gilt, allgemeine Rahmenbedingungen zu schaffen, ohne die die marktwirtschaftliche Ordnung nicht existieren kann. Das Problem läßt sich an folgendem Gedankengang noch deutlicher machen: Die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit der Menschen kann durch ein Regelsystem allgemeiner Verbote letztlich auch vollständig beseitigt werden. Das Regelsystem muß nur umfassend genug gestaltet werden. Denn logisch gesehen ist eine positiv gefaßte Anordnung - die die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit auf Null reduziert - äquivalent formulierbar als eine unendliche Zahl von negativ gefaßten Verbotsgesetzen. Die vollständige Beseitigung der Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit ist ohne Zweifel mit den Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht vereinbar, denn sie ist konstituierendes Merkmal der idealtypischen Form der Zentralverwaltungswirtschaft. Welche Verbotsintensität, welche Beschränkungen der Zielsetzungs- und Handlungspreisgegeben, ganz zu schweigen von dem von ihm selbst eingeräumten Problem, daß das für eine solche Bewertung erforderliche Wissen über die Funktionsbedingungen der verschiedenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen nicht vorhanden ist.
174 · Lüder Gerken freiheit durch Ordnungspolitik sind nun aber noch marktwirtschaftskonform und welche nicht? Die Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung verfugen über keinen Bewertungsmaßstab, mit dem sich dies feststellen ließe. Insbesondere fuhren hier auch die sonstigen Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung zu keiner Lösung. Ein Verbot bestimmter Abgasemissionen dürfte die Funktionsfahigkeit des Preismechanismus und des Wettbewerbsprozesses genauso stark oder genauso wenig beeinträchtigen wie ein Verbot bestimmter Kündigungsklauseln in Mietverträgen. Im übrigen lassen sich derartige Auswirkungen weder quantitativ messen noch auf eine andere Weise feststellen. Man mag nun einwenden, daß in Analogie zu dem idealtypischen Vergleich zwischen der Effektivität der marktwirtschaftlichen und der Effektivität der zentralverwaltungswirtschaftlichen Ordnung auch hier Effizienzüberlegungen angestellt werden könnten. Danach wäre nur diejenige Ordnungspolitik ordnungskonform, durch die am umfangreichsten die wirtschaftliche Knappheit verringert oder das verstreute Wissen am besten koordiniert und neues Wissen entdeckt wird (Hayek 1960, 231). Derartige Effizienzüberlegungen sind jedoch als Kriterium untauglich, wenn es nicht um eine Gegenüberstellung von Idealtypen, sondern um operationale und konkrete Handlungsvorgaben für die Wirklichkeit geht. Denn das für die jeweilige Optimierung erforderliche Wissen ist gerade nicht vorhanden. Die marktwirtschaftliche Ordnung besitzt eine äußerst komplexe Struktur, über deren konkrete Gestalt die Wissenschaft und damit auch die Politik nur in sehr geringem Maße Kenntnisse besitzen. Was fur die Ebene der Handelnsordnung gilt, gilt ebenso für die Ebene des Regelsystems: Die Wirklichkeit ist durch einen umfassenden konstitutiven Wissensmangel gekennzeichnet. Niemand weiß, ob in einer konkreten Ausgangslage mit diesem oder mit jenem Bündel ordnungspolitischer Maßnahmen das Knappheitsproblem am effektivsten bewältigt oder das meiste Wissen geschaffen wird.15 Wird dieses Problem des konstitutiven Wissensdefizits übergangen, läßt sich mit Effizienzüberlegungen letztlich auch eine Beschränkung der Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit auf nahezu Null rechtfertigen, wie es die wissenschaftlichen Vertreter des planwirtschaftlichen Konzeptes bis in die achtziger Jahre vorexerzierten. Mit Effizienzkriterien können daher nicht mehr als vage Spekulationen angestellt werden. Effizienzerwägungen taugen im übrigen ebensowenig zur Ablehnung prozeßpolitischer Maßnahmen. Denn keinesfalls läßt sich mit Bestimmtheit sagen, daß wirklich jede prozeßpolitische Maßnahme die Fähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung beeinträchtige, die wirtschaftliche Knappheit zu verringern. So kann zum Beispiel die Aussage, daß die staatliche Subventionierung eines in eine Liquiditätskrise geratenen Großunternehmens prinzipiell - also unabhängig von sämtlichen konkreten Einflußfaktoren in Raum und Zeit - der Effizienz in der Volkswirtschaft mehr schade als nutze, nicht mit der wissenschaftlich gebotenen Sicherheit getroffen werden. Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten: Der ordnungsökonomische Zweig der Wirtschaftswissenschaft muß sich von der Vorstellung verabschieden, daß die Herleitung von Handlungsvorgaben für 15 Dieses Problem wird auch nicht durch den Wettbewerb der Staaten gelöst, wie der Autor in einem derzeit in Vorbereitung befindlichen Beitrag darlegen wird.
Grenzen der Ordnungspolitik · 175 die Wirtschaftspolitik über die Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung gerechtfertigt werden könne. Auch die Heranziehung von Effizienzerwägungen kann diese Vorstellung nicht retten. Auf derartige Weise kann weder „gute" von „schlechter" Ordnungspolitik noch „gute" Ordnungspolitik von „per se schlechter" Prozeßpolitik in der gebotenen Präzision geschieden werden. Die Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung sind somit nicht operational. Auf ihrer Grundlage lassen sich keine belastbaren konkreten Handlungsvorgaben für die Wirtschaftspolitik aufstellen. Nicht zuletzt auch hieran dürfte es liegen, daß die Ordnungsökonomik bislang der Willkür der realen Wirtschaftspolitik nicht sonderlich wirkungsvoll entgegenzutreten vermochte. Vor welchem Hintergrund lassen sich aber dann unterschiedliche wirtschafts- und insbesondere unterschiedliche ordnungspolitische Maßnahmen bewerten? Die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit der Wirtschaftssubjekte in der marktwirtschaftlichen Ordnung ist Ausfluß des sehr viel umfassenderen Freiheitsrechts der Menschen. Es liegt daher nahe, der Frage nachzugehen, ob sich aus dem allgemeinen Freiheitsprinzip Kriterien ableiten lassen, welche eine Bewertung unterschiedlicher wirtschaftspolitischer und insbesondere unterschiedlicher ordnungspolitischer Maßnahmen ermöglichen.16 Das Freiheitsrecht ist daher im folgenden einer näheren Betrachtung zu unterziehen.
IV. Freiheit 1. Der Inhalt des Freiheitsrechts Freiheit ist das Recht des Menschen, über sich sowie über seine Güter und Produktionsfaktoren selbst zu bestimmen, also sich eigene Ziele setzen und diese mit den zur Verfugung stehenden eigenen Mitteln verfolgen zu können. Dieses Recht kann ein Mensch nur ausüben, wenn er bei seinen Handlungen nicht durch andere Menschen behindert wird, wenn mit anderen Worten Dritte keinen Zwang auf ihn ausüben. Das positive Freiheitsrecht, sich eigene Ziele setzen und diese verfolgen zu können, läßt sich somit äquivalent ausdrücken als negatives Freiheitsrecht: Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang durch andere Menschen.17 16 Es sollte nicht übersehen werden, daß auch die Vertreter der traditionellen Ordnungsökonomik ihr Eintreten für die marktwirtschaftliche Ordnimg nicht ausschließlich mit deren Effektivität bei der Verringerung der wirtschaftlichen Knappheit begründeten, sondern auch damit, daß nur in der marktwirtschaftlichen Ordnung das Recht auf individuelle Freiheit umfassend verwirklicht werde (Eucken 1952/1990, 177-179; Lenel 1975, 51). Damit ist freilich noch keine Aussage darüber getroffen, welche ordnungspolitischen Maßnahmen ordnungskonform sind und welche nicht. Zur Freiheitskonzeption der Ordnungsökonomik auch Woll (1989) und Hoppmann (1995). 17 Die positive Definition von Freiheit geht auf Hobbes (1651/1839, I xiv 117f, II xxi 198) und Locke (1690/1698/1988, II ii §4 269, II iv §§22-23 283f; 1690/1700/1975, II xxi §§8-16 237-241) zurück. Vgl. auch Montesquieu (1748/1956, XI iii 162), Hume (1748/1777/1875, 78) und Smith (1776/1789/1904, V ix 184). Die negative Definition von Freiheit wurde von Montesquieu (1748/1956, XI iii 162) aufgestellt. Vgl. auch Bentham ([1782/]1945, II 59), Ferguson (1792 VI viii 459) und Knight (1940; 1943; 1953). Die Identität beider Betrachtungsweisen findet sich andeutungsweise bereits bei Locke (1690/1698/1988, II ix §128 352; 1690/1700/1975, II xxi §13
176 · Lüder Gerken Das Freiheitsrecht erstreckt sich grundsätzlich auf alle Lebensbereiche, hat also auch für die wirtschaftliche Sphäre Bestand. In dieser existieren vielfältige konkrete Ausprägungen des Freiheitsrechts, etwa das Recht, Verträge mit Menschen eigener Wahl zu schließen, oder das Recht, das Einkommen, das Eigentum und das sonstige Vermögen so zu verwenden, wie es den individuellen Vorstellungen entspricht. Das Freiheitsrecht ist in vielen Gesellschaften, insbesondere in den abendländischen, anerkannt, in anderen dagegen nicht. Hieraus ergibt sich, daß es nicht als ein jedem Menschen auf der Erde zustehendes Naturrecht angesehen werden sollte, sondern stets im gesellschaftsspezifischen Zusammenhang zu betrachten ist. Dies bedeutet nicht, daß das Freiheitsrecht (nur) rechtspositivistisch verwurzelt sei. Im Gegenteil hat es sich im Evolutionsprozeß der Gesellschaften - in jeweils unterschiedlicher Weise - herausgebildet. 2. Die Grenzen des Freiheitsrechts Das Freiheitsrecht steht in aller Regel nicht nur einem einzigen Individuum in einer Gesellschaft zu, sondern zumindest einer bestimmten Personengruppe, in den modernen westlich geprägten Gesellschaften sogar allen Bürgern. Es kann daher nicht unbeschränkt sein. Denn wäre es unbeschränkt, so würde es auch solche Handlungen decken, mit denen ein Individuum in die Freiheit anderer eingreift (Montesquieu 1748/1956, XI iii 162; Ferguson 1792, VI vii 458f). Wenn aber das Freiheitsrecht auch für andere Menschen gilt, haben diese einen Anspruch auf die Unterlassung einer derartigen Zwangseinwirkung. Das Freiheitsrecht des einzelnen stößt mithin dort an seine Grenzen, wo das Freiheitsrecht anderer Menschen berührt wird. Die Begrenzung des positiven Freiheitsrechts des einen Menschen entspricht insoweit dem negativen Freiheitsrecht des anderen Menschen. Diese Feststellung ist freilich inhaltsleer, solange nicht die Grenzen der individuellen Freiheitssphären bestimmt werden, solange also nicht festgelegt wird, was als unzulässiger Zwang anzusehen ist und was nicht. Eine solche Festlegung kann nur negativ durch Verbote bestimmten Verhaltens und niemals positiv durch Anweisungen zu bestimmtem Verhalten erfolgen, denn Anweisungen reduzieren im Gegensatz zu Verboten die Freiheit der Menschen auf Null und sind daher mit dem Grundsatz der individuellen Freiheit von vornherein unvereinbar. Jedenfalls engt Zwang die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit ein, denn ein dem Zwang ausgesetzter Mensch kann sich nicht so verhalten, wie er es will. Freilich kann nicht jede Form der Zwangseinwirkung von vornherein als unzulässig angesehen werden. Dies folgt bereits aus dem Umstand, daß die Untersagung von Handlungen, mit denen in die Freiheit anderer eingegriffen wird, ihrerseits in das Freiheitsrecht des Handelnden eingreift, so daß die Unterbindung derartiger Handlungen ebenfalls unterbunden werden müßte. In derartigen Fällen kollidiert eine konkrete Ausprägung des Freiheitsrechtes 240). Präzise herausgearbeitet wurde sie von Montesquieu (1748/1956, XI iii 162). Hayek hatte zunächst (1960, 11-13, 16f) die negative Definition betont, verwandte aber später (1973/1982, 55; 1976/1982, 8f) die positive.
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eines Individuums mit einer konkreten Ausprägung des Freiheitsrechtes eines anderen Individuums. Hier tritt die Frage auf, welche von zwei oder mehreren kollidierenden Ausprägungen des Freiheitsrechts vorzugehen habe, die Frage also, welche sozialen Verhaltensweisen als unzulässige Zwangsausübung auf andere Menschen zu gelten haben und daher zu untersagen sind. Indessen läßt sich fur diese Fälle keine grundsätzliche Feststellung treffen, die für sämtliche freiheitlich verfaßten Gesellschaften Gültigkeit beanspruchen könnte. Die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Ausprägungen des Freiheitsrechts ist von den in der jeweiligen Gesellschaft herrschenden Sitten, Traditionen und Vorstellungen abhängig, kann also von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich ausfallen. Ebenso gilt, daß die Konkretisierungen der Freiheitssphäre in den Kollisionsfällen in einer bestimmten Gesellschaft nicht dauerhaft festgelegt sein müssen und auch nicht dauerhaft festgelegt sein werden (Hume 1751/1777/1875, 191). Offene Gesellschaften evolvieren und mit ihnen die Vorstellungen darüber, wo die Grenze zwischen (noch) zulässigen freiheitsbeschränkenden und (bereits) unzulässigen freiheitsbeschränkenden Verhaltensweisen liegt, was mit anderen Worten als unzulässiger Zwang anzusehen ist und was nicht. Illustrieren lassen sich diese Zusammenhänge an der möglichen Kollision des Rechts eines Grundstückseigentümers, sein Grundstück nach den eigenen Vorstellungen zu nutzen, mit dem Recht des Nachbarn auf Nichtbeeinträchtigung der Nutzbarkeit seines Grundstücks. Es hängt von den jeweiligen Vorstellungen in der Gesellschaft ab, ob dem Eigentümer das Recht zusteht, auf seinem Grundstück einen Gewerbebetrieb, ein Hochhaus, ein zweistöckiges Haus oder gar nur ein einstöckiges Haus zu bauen, wenn auf dem Nachbargrundstück ein einstöckiges Wohnhaus steht. Daß sich das Freiheitsrecht in den Kollisionsbereichen weder für sämtliche Gesellschaften noch für alle Zeiten in identischer und allgemeinverbindlicher Weise inhaltlich ausgestalten läßt, ist ein weiterer Beleg dafür, daß es ein gesellschaftsspezifisches, also gerade nicht ein jeder Zivilisation vorgelagertes Recht ist. Es soll hier nicht abgestritten werden, daß es Handlungen gibt, die in sämtlichen freiheitlich verfaßten Gesellschaften als unzulässige Zwangsausübung angesehen werden. Hierzu zählen etwa die Kapitalverbrechen und viele Eigentumsdelikte. Auch Handlungen, mit denen die Entscheidungsund Handlungsfreiheit anderer Menschen zielgerichtet und vorsätzlich gebeugt wird, so daß dieselben zu einem Werkzeug für die Verfolgung fremder Ziele gemacht werden, wird man hierunter fassen können. Auch derartige Kongruenzen haben sich jedoch in der Evolution der Zivilisation eingestellt und entstammen keinem meta-gesellschaftlichen Prinzip. Sie ändern daher nichts an dem Grundsatz, daß jede Gesellschaft für sich selbst die Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen Ausprägungen des Freiheitsrechts vornehmen muß und allgemeingültige Aussagen über das Ergebnis nicht möglich sind.18
18 Wollte man den verschiedenen Gesellschaften in ausgewählten Bereichen eine bestimmte Ausgestaltung des Freiheitsrechts exogen vorschreiben, so bedürfte es im übrigen nicht zuletzt eines belastbaren, nicht willkürlichen Kriteriums fur die Grenzziehung zwischen exogen festgelegten und von der Gesellschaft festlegbaren Ausgestaltungen des Freiheitsrechts. Ein solches Kriterium existiert jedoch nicht. Es gibt keinen Grund, der Gesellschaft etwa die
178 · Lüder Gerken 3. Freiheit und Gleichheit In aristokratischen und in Sklavenhaltergesellschaften herrschte über eine lange Zeit die Vorstellung, daß unterschiedliche Freiheitsräume für verschiedene Gruppen oder Klassen von Menschen legitim oder gar naturgegeben seien. Mit dem Beginn der Neuzeit wurde diese Vorstellung allmählich abgelöst durch die heute nahezu selbstverständliche Auffassung, daß das Freiheitsrecht kein bestimmten Personengruppen vorbehaltenes Recht sei, sondern daß es in einer dem Freiheitsprinzip verpflichteten Gesellschaft allen Bürgern in gleicher Weise und in gleichem Umfang zustehe. Aus diesem Gleichheitsgrundsatz folgt erstens, daß das Freiheitsrecht keines Bürgers im Bereich von solchen Handlungen eingeschränkt werden darf, mit denen in die Freiheit anderer Menschen nicht eingegriffen wird. Aus dem Gleichheitsgrundsatz folgt zweitens, daß in den Kollisionsfallen die Abgrenzung zwischen unterschiedlichen Ausprägungen des Freiheitsrechtes weder personen- noch gruppenbezogen vorgenommen werden darf, sondern für alle Mitglieder der Gesellschaft in gleicher Weise zu erfolgen hat. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, verfügen alle Individuen über die gleiche Freiheitssphäre. Allerdings besteht für den Gleichheitsgrundsatz das Problem, daß die Verhaltensweisen verschiedener Menschen oder - allgemeiner - daß bestimmte Sachverhalte niemals vollständig identisch sind. Vielmehr lassen sich immer Unterschiede feststellen, und seien sie auch noch so geringfügig. Man mag deshalb einwenden, der Gleichheitsgrundsatz sei ein inhaltsleeres Prinzip, welches sich der Operationalisierung entziehe, da man selbst für praktisch identische Sachverhalte stets auf bestehende Unterschiede hinweisen könne, um eine unterschiedliche Behandlung der jeweils betroffenen Individuen vordergründig doch zu rechtfertigen. Diesem Problem muß in der Tat Beachtung geschenkt werden. Es bedarf daher eines Abgrenzungskriteriums in Gestalt eines Prinzips, das vorgibt, welcher Art die Unterschiede zwischen zwei ähnlichen Sachverhalten zu sein haben, damit sie eine ungleiche Behandlung der handelnden Menschen rechtfertigen. Ein solches Kriterium liefert das Freiheitsrecht selbst: In der freiheitlich verfaßten Gesellschaftsordnung ist eine Ungleichbehandlung dann und nur dann gerechtfertigt, wenn die Unterschiede zwischen zwei Sachverhalten freiheitsrelevant sind, wenn mithin die fragliche Handlung des ersten Individuums das Freiheitsrecht Dritter in einer anderen Weise berührt als die Handlung des zweiten Individuums. Diese Voraussetzung ist jedenfalls nicht erfüllt, wenn mit beiden Handlungen nicht in das Freiheitsrecht anderer Menschen eingegriffen wird. In diesem Fall dürfen die Freiheitsräume der betroffenen Individuen überhaupt nicht eingeschränkt werden. Schon gar nicht dürfen sie daher auf unterschiedliche Weise eingeschränkt werden. Dagegen ist eine Ungleichbehandlung dann gerechtfertigt, wenn die eine Handlung das Freiheitsrecht Dritter berührt und die andere nicht.
Ausgestaltung des Freiheitsrechts im Bereich der körperlichen Unversehrtheit vorzuenthalten und jene im Bereich des Eigentumsschutzes nicht.
Grenzen der Ordnungspolitik · 179 Problematischer sind die Fälle, in denen beide fraglichen Handlungen das Freiheitsrecht Dritter berühren. Hier ist danach zu unterscheiden, ob sie auf verschiedene Weise in dasselbe eingreifen oder nicht. Dies hängt allerdings nicht zuletzt davon ab, wie differenziert in der fraglichen Gesellschaft das Freiheitsrecht im Bereich der Überschneidungen von Freiheitsrechtsausprägungen ausgestaltet ist. Je detaillierter hier die Vorgaben sind, desto eher ist eine mit dem Freiheitsrecht und dem Gleichheitsgrundsatz vereinbare Ungleichbehandlung denkbar. Wenn etwa die Auffassung besteht, daß das Recht auf Gesundheit als einer Ausprägung des Freiheitsrechts stets dem Recht auf Betreibung eines schadstoffemittierenden Unternehmens als einer anderen Ausprägung vorgeht, so sind sämtliche Unternehmen unabhängig von der Art der Emission gleich zu behandeln. Wenn dagegen die Auffassung besteht, daß das Recht auf Gesundheit nur bei bestimmten, für besonders gefährlich erachteten Emissionen vorzugehen habe, ist eine Ungleichbehandlung der Unternehmen in Abhängigkeit von der Art der emittierten Stoffe nicht nur zulässig, sondern geboten.19 Da die Ausgestaltung des Freiheitsrechts insgesamt und damit auch die Differenziertheit derselben eine gesellschaftsspezifische Angelegenheit ist, sind weitergehende Feststellungen zur Frage des Gleichheitsgrundsatzes auf wissenschaftlicher Basis nicht möglich. 4. Freiheit und das Zwangsmonopol des Staates20 Auch eine freiheitliche Gesellschaft, in der die Menschen nicht in unzulässiger Weise Zwang auf ihre Mitmenschen ausüben dürfen, kommt nicht vollständig ohne Zwangsmittel aus. Denn der Schutz der individuellen Freiheitsräume muß durchgesetzt werden können, wenn ein Individuum sich nicht an dieses Verbot hält. Dies erfordert allerdings die Möglichkeit, Zwang auszuüben oder anzudrohen. Offensichtlich kann nicht jedem Menschen zu dem Zweck der Zwangsabwehr das Recht auf Zwangsausübung eingeräumt werden kann. Wenn andererseits einem Bürger oder einer Gruppe von Bürgern die 19 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gleichheitsgrundsatz des Artikel 3 des Grundgesetzes muß eine Ungleichbehandlung verhältnismäßig sein und einen legitimen Zweck verfolgen. Diese Rechtsprechung ist nur im Grundsatz mit den hier entwickelten Anforderungen vereinbar. Denn ein bedeutsamer Unterschied liegt in der Interpretation des Gerichts, was unter einem „legitimen Zweck" zu verstehen sei. Nach den oben abgeleiteten Prinzipien der freiheitlichen Gesellschaftsordnung kann es nur einen legitimen Zweck fur eine Ungleichbehandlung verschiedener Menschen geben: die freiheitsrechtliche Berücksichtigung des Umstandes, daß die Handlungen der betroffenen Individuen in die geschützte Freiheitssphäre Dritter auf unterschiedliche Weise eingreifen. Die ungleiche Beschränkung der Freiheitsräume zu anderen Zwecken kann nicht legitim sein, denn entweder verletzt sie das Freiheitsrecht unmittelbar - wenn beide Handlungen nicht in die Freiheitssphäre Dritter eingreifen und nur die eine untersagt wird - oder sie verletzt das Freiheitsrecht mittelbar über die Nichtbeachtung des Gleichheitsgrundsatzes - wenn beide Handlungen auf identische Weise in die Freiheitssphäre Dritter eingreifen und nur die eine untersagt wird. Dies sieht das Bundesverfassungsgericht offensichtlich anders (vgl. BVerfGE 85, 238, 244-247). 20 Die erste systematische Abhandlung der Frage findet sich bei Locke (1690/1698/1988, II iv §22 283f, II ix §131 353, II xi §§134-142 355-363, II xiii §151 368). Vgl. auch Hume (1741/1777/1875, 161), Ferguson (1767/1966, III vi 156, VI ν 263) und Hayek (1960, 133-249).
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ausschließliche Zwangsgewalt zum Schutz der Freiheitssphären aller Bürger eingeräumt würde, so erhielten dieser Bürger beziehungsweise diese Gruppe von Bürgern eine erhebliche Machtfulle, die fur eigene Zwecke mißbraucht werden könnte. In nahezu allen freiheitlich verfaßten Gesellschaften wird versucht, dieses Dilemma dadurch zu lösen, daß eine hoheitliche Instanz, der Staat, mit der Durchsetzung der Grenzen der individuellen Freiheitsräume betraut und ihm zu diesem Zweck unter strengen Auflagen das Gewaltmonopol eingeräumt wird. Allerdings ist dies nicht die einzige Aufgabe des Staates in freiheitlichen Gesellschaften. Obwohl keineswegs zwangsläufig, hat die Evolution der Gesellschaftordnungen dazu geführt, daß der Staat nicht nur für die Durchsetzung der Grenzen der individuellen Freiheitssphäre zuständig ist, sondern auch für die Festlegung dieser Grenzen. In einer demokratischen Gesellschaft hat der Staat dabei indessen die Präferenzen der Bürger umzusetzen; idealtypisch entscheiden folglich die Bürger über die Abgrenzung zwischen unterschiedlichen Ausprägungen des Freiheitsrechts. Die Monopolisierung der Zwangsgewalt beim Staat ist gerade auch angesichts dieser zweiten Zuständigkeit allein dann erträglich, wenn derselbe sein Gewaltmonopol nicht mißbraucht. Das Verbot des Mißbrauchs staatlicher Macht umfaßt drei zentrale Punkte: - Erstens darf der Staat die Freiheit der Bürger nur in denjenigen Bereichen beschränken, in denen unterschiedliche Ausprägungen des Freiheitsrechtes kollidieren. Jede darüber hinausgehende Reduzierung der Freiheitsräume - etwa für eigene Zwecke oder für Zwecke Dritter - ist unzulässig. - Zweitens gebietet der Grundsatz der Gleichheit aller Bürger, daß der Staat die Ausgestaltung des Freiheitsrechts für sämtliche Bürger in der gleichen Weise vornimmt. Jede Diskriminierung und jede Privilegierung bestimmter Personengruppen ist ein unzulässiger Eingriff in das Freiheitsrecht, das allen Bürgern in gleichem Maße zusteht.21 - Drittens schließlich darf der Staat in einer demokratischen Gesellschaft sein Gewaltmonopol nicht dazu nutzen, das Freiheitsrecht dort, wo Ausprägungen desselben kollidieren, anders zu gestalten, als es den Präferenzen der Bürger entspricht.22 21 Der Staat kann die Bürger nicht nur durch Gesetze diskriminieren oder privilegieren, sondern auch durch eine willkürliche, nicht dem Gleichheitsgrundsatz folgende Eintreibung von Steuergeldern. Wenngleich dieses Problem heutzutage immer weiter um sich zu greifen scheint, so ist es doch keinesfalls neu, sondern beschäftigte vor über 300 Jahren bereits Locke (1690/1698/1988, II xi §§138-140 360-362). Ähnlich auch Ferguson (1792, VI ν 435). 22 Hier stellt sich nicht zuletzt auch die Frage, welche Abstimmungsquoren für die Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen Ausprägungen des Freiheitsrechts erforderlich sind. Da in diesen Fällen das Freiheitsrecht zwangsläufig in mindestens einer Ausprägung eingeschränkt wird, kann ein auf Einstimmigkeit beruhender Konsens der gesamten Bevölkerung praktisch nicht zustande kommen. Es muß der zukünftigen Forschung überlassen bleiben, ob und gegebenenfalls auf welche Weise das Prinzip der Mehrheitsabstimmung für den Bereich der Kollisionsfälle aus dem Freiheitsrecht abgeleitet werden kann. Jedenfalls nicht über Mehrheitsabstimmungen legitimieren lassen sich Beschränkungen des Freiheitsrechts in Bereichen, in denen das Freiheitsrecht in einer anderen Ausprägung nicht berührt wird, und Beschränkungen des Freiheitsrechts, die in Abhängigkeit von der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen in verschiedenartiger Weise vorgenommen werden. Beides ließe sich nur rechtfertigen, wenn sich die Bevölkerung einstimmig dafür ausspricht.
Grenzen der Ordnungspolitik · 181
V.
Die Unzulässigkeit von Prozeßpolitik in der freiheitlich verfaßten Gesellschaftsordnung
Mit den Grundsätzen der freiheitlich verfaßten Gesellschaftsordnung unvereinbar sind jedenfalls selektive Eingriffe in den Marktprozeß. Dies läßt sich leicht an einer industriepolitischen Maßnahme wie der Gewährung von Subventionen verdeutlichen. Die Subventionierung von Unternehmen in einer bestimmten Branche, etwa der Hochtechnologie, ist im Grunde nichts anderes als eine Sondersteuer auf alle anderen Wirtschaftstätigkeiten. Jede Subventionierung ist daher ein staatlicher Eingriff in die Freiheit der übrigen, nicht in den Genuß der Förderung kommenden Marktteilnehmer, die sowohl die Subventionen finanzieren müssen als auch über die Interdependenz der Preise nicht das Einkommen am Markt erzielen, welches sie ohne die Subventionierung einer anderen Branche erzielt hätten. Eine Beschränkung der Freiheitssphäre von Marktteilnehmern darf der Staat nur vornehmen, wenn dieselben mit ihren wirtschaftlichen Handlungen in die Freiheit anderer eingreifen. Das ist hier indessen nicht der Fall. Die Unternehmen der Textilindustrie greifen nicht in die Freiheitsräume der Werften ein, die Gartenbaubetriebe nicht in die Freiheitsräume der Bauunternehmen und die Existenzgründer im Friseurhandwerk nicht in die Freiheitsräume der Existenzgründer im Hochtechnologiebereich. Es gibt daher keinen Grund, warum die Werftenindustrie subventioniert wird und die Textilindustrie nicht, warum die Arbeitsplätze in der Bauindustrie subventioniert werden und im Gartenbau nicht, warum der Existenzgründer im Hochtechnologiebereich subventioniert wird und der Existenzgründer im Friseurhandwerk nicht. Das Anliegen der Politiker, bestimmte Wirtschaftsaktivitäten zu begünstigen, und erst recht das Bestreben der fraglichen Branche, Steuermittel abzuschöpfen, sind Sonderinteressen, die einen Eingriff in die Freiheit anderer Wirtschaftssubjekte gerade nicht rechtfertigen. Eine Subventionierung der Unternehmen einer bestimmten Branche begünstigt zudem zielgerichtet ausgewählte Wirtschaftssubjekte und ist daher eine diskriminierende Ungleichbehandlung. Zum einen werden diejenigen inländischen Unternehmen diskriminiert, die nicht der fraglichen Branche angehören; zum anderen werden diejenigen inländischen Individuen diskriminiert, die überhaupt keinen unternehmerischen Tätigkeiten nachgehen. Da es dem Staat hier mangels Kollision zwischen unterschiedlichen Ausprägungen des Freiheitsrechts verwehrt ist, die Freiheitsräume der Wirtschaftsteilnehmer überhaupt einzuschränken, kann er sie erst recht nicht fur verschiedene Personengruppen beziehungsweise Branchen in unterschiedlichem Maße einschränken dürfen. 1. Die Grenzen der Ordnungspolitik in der freiheitlich verfaßten Gesellschaftsordnung Mit den Grundsätzen der freiheitlich verfaßten Gesellschaftsordnung unvereinbar können unter bestimmten Voraussetzungen auch allgemeine, abstrakte und negativ formulierte Regeln sein, die Bestandteil der Rahmenbedingungen für die marktwirt-
182 · Lüder Gerken schaftliche Ordnung sind. Das ist dann der Fall, wenn dieselben nicht der Abgrenzung unterschiedlicher Ausprägungen des Freiheitsrechts gelten, sondern das Freiheitsrecht einschränken, ohne daß die fraglichen Handlungen eine andere Ausprägung des Freiheitsrechts verletzen. Auch die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit in der marktwirtschaftlichen Ordnung darf folglich nur dann durch eine allgemeine, abstrakte und negativ formulierte Regel beschränkt werden, wenn die fragliche Verhaltensweise in das Freiheitsrecht anderer Menschen eingreift. Diese Bedingung ist das Grundprinzip für die Bestimmung der Grenzen der Ordnungspolitik. Die Konsequenzen sollen im folgenden beispielhaft am Vertragsrecht, am Wettbewerbsprinzip und an den Eigentumsrechten dargelegt werden. 2. Die Grenzen der Ordnungspolitik im Bereich des Vertragsrechts Das Freiheitsrecht umfaßt insbesondere auch das Recht, sich auf der Basis der Freiwilligkeit durch Verträge zu binden. Aus Verträgen resultierende Verpflichtungen stellen daher grundsätzlich keinen Eingriff in das Freiheitsrecht der vertragschließenden Wirtschaftsteilnehmer dar.23 Soweit durch den Vertragsschluß unbeteiligte Dritte nicht in ihrer Freiheitssphäre betroffen werden,24 ist es daher dem Staat verwehrt, das Freiheitsrecht in der Ausprägung der Vertragsfreiheit in irgendeiner Weise durch zwingende Vorschriften einzuschränken.25 Auch der Hinweis auf ungleiche Machtpotentiale auf der Anbieter- und Nachfragerseite rechtfertigt ein solches Vorgehen nicht. Denn die Marktteilnehmer auf der vermeintlich „schwächeren" Marktseite werden durch niemanden gezwungen, Verträge zu schließen, mit deren Bedingungen sie nicht einverstanden sind. Im übrigen zeugt das Argument der ungleichen Machtpotentiale von einem grundsätzlichen Unverständnis über die Systemeigenschaften sowohl der freiheitlich verfaßten Gesellschaftsordnung als auch der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung. Denn zum einen ist nicht nachvollziehbar, warum einem Vertragspartner Vorschriften gemacht werden sollen, wie er einen Vertrag zu gestalten hat, wenn er gleichzeitig nicht dazu verpflichtet sein soll, den Vertrag überhaupt zu schließen. Die negative Vertragsfreiheit, also das Recht, einen Vertrag nicht abzuschließen, ist aber mindestens ebenso grundlegender Bestandteil des 23 Aus dem gleichen Grunde ist auch in der Durchsetzung vertraglicher Ansprüche im Falle von Vertragsbrüchen der anderen Partei kein unzulässiger Zwang zu sehen. 24 Es sollte hier nicht übersehen werden, daß die Frage der Drittwirkung von Verträgen eine Achillesferse für das Prinzip der Vertragsfreiheit darstellen kann. Denn durch eine extreme Berücksichtigung der Interessen Dritter ließe sich die Vertragsfreiheit zumindest in einigen Bereichen faktisch beseitigen. Denkbar wäre zum Beispiel, daß das Interesse der Menschen, in einem angenehmen Wohnumfeld mit ihnen sympathischen Nachbarn zu leben, als freiheitsrelevant angesehen wird. Dies hätte zur Folge, daß ein Immobilieneigentümer zunächst die Zustimmung sämtlicher Anwohner einholen müßte, wenn er sein Haus oder seine Wohnung veräußern oder vermieten will. Auf der Basis wissenschaftlicher Erwägungen könnte gegen eine solche Ausgestaltung des Freiheitsrechts nicht einmal etwas eingewandt werden. In den freiheitlich verfaßten Gesellschaften der Realität wird freilich eine derart weitgehende Berücksichtigung der Interessen Dritter, die die Vertragsfreiheit in einigen Bereichen faktisch beseitigen würde, - zumindest noch - nicht hingenommen. 25 Durch die Vertragsparteien abdingbare Normen verletzen diesen Grundsatz hingegen nicht.
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Freiheitsrechts wie die positive Vertragsfreiheit. Zum anderen ist die ungleiche Stärke der Marktparteien konstitutives Merkmal einer dynamischen Wirtschaft, in der schöpferische Unternehmer dadurch einen monopolartigen Vorteil, also ein Machtpotential erlangen, daß sie sich neue, zuvor unbekannte Potentiale und Arbitragemöglichkeiten erschließen. Preissystem und Wettbewerb fuhren, wenn sie denn nicht staatlicherseits in ihrer Funktionsfähigkeit behindert werden, dazu, daß derartige Machtpotentiale relativ rasch erodieren. Diese Ausführungen gelten wohlgemerkt auch für Arbeitsverträge und Mietverträge. 3. Die Grenzen der Ordnungspolitik im Bereich des Wettbewerbs Wesensmerkmal des Wettbewerbs in der marktwirtschaftlichen Ordnung ist, daß einige Konkurrenten zumindest zeitweise erfolgreicher sind als andere. Letztere erleiden auf diese Weise gegen ihren Willen materielle Verluste oder müssen gar aus dem Markt ausscheiden. Böhm (1933) und Euchen (1952/1990) unterschieden hinsichtlich der verschiedenen Handlungsalternativen im Wettbewerb zwischen Leistungs- und Behinderungswettbewerb. Leistungswettbewerb zeichnet sich aus durch den Versuch der Konkurrenten, das Ziel „in paralleler Richtung" (Euchen 1952/1990, 247) und „in paralleler Anstrengung" (Euchen 1952/1990, 42) durch Verbesserung der eigenen Leistung zu erreichen; Behinderungswettbewerb dagegen ist der Versuch, die Konkurrenten im Sinne eines Kampfes „Mann gegen Mann" (Euchen 1952/1990, 247) in ihren Anstrengungen zu behindern. Handlungen des Leistungswettbewerbs sind folglich auf die Marktgegenseite ausgerichtet, Handlungen des Behinderungswettbewerbs auf die eigene Marktseite.26 Im Gegensatz zum Behinderungswettbewerb, in dem die Konkurrenten eine Reduktion oder gar Beseitigung der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Konkurrenten bezwecken, wird die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Konkurrenten im Leistungswettbewerb folglich nicht vorsätzlich, sondern allenfalls mittelbar als faktische Folge des wettbewerblichen Strebens eingeschränkt. Auf den ersten Blick scheint allerdings nicht nur beim Behinderungswettbewerb, sondern auch beim Leistungswettbewerb eine Konstellation vorzuliegen, in der zwei unterschiedliche Ausprägungen des Freiheitsrechts - die Freiheit zu unternehmerischer Betätigung und der Anspruch auf Schutz vor (hier mittelbaren) wirtschaftlichen Schäden durch Konkurrenten - miteinander in Konflikt stünden und somit jede Gesellschaft für sich festlegen müsse, ob sie Handlungen des Leistungswettbewerbs zuläßt oder nicht. Bei näherer Betrachtung trifft dies jedoch nicht zu. Im Gegenteil wäre die Forderung, daß der Wettbewerb abzuschaffen sei, damit die Freiheitsräume der durch ihn Geschädigten geschützt würden, mit dem Freiheitsrecht unvereinbar: Wettbewerbsprozesse entspringen dem Umstand, daß die individuelle Freiheit, sich eigene Zielen setzen und diese verfolgen zu können, unlöslich mit dem Problem konfrontiert ist, daß die wirtschaftlichen Mittel, die für die Erreichung der individuellen Ziele benötigt werden, knapp sind. Hieraus folgt 26 Trotz der theoretischen Prägnanz dieser Differenzierung ergeben sich in der Praxis erhebliche Abgrenzungsprobleme, wie die Rechtsprechung zu dem in § 26 Absatz 2 GWB geregelten Verbot behinderungswettbewerblicher Handlungen verdeutlicht. Dazu Markert (1992, 1228-1362).
184 · Lüder Gerken zwingend und unabdingbar, daß die Menschen um diese Mittel konkurrieren müssen. Der Wettbewerb ließe sich daher nur unterdrücken, indem man es den Menschen verwehrte, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Dadurch aber würde die Freiheit selbst beseitigt, denn das Recht, eigene Ziele zu verfolgen, ist die konstitutive Eigenschaft des Freiheitsrechts. Folglich ist der Leistungswettbewerb nicht nur keine Beschränkung der individuellen Freiheit, sondern im Gegenteil deren notwendige Konsequenz und auf diese Weise ein Wesensmerkmal der freiheitlich verfaßten Gesellschaftsordnung. Mit leistungswettbewerblichen Handlungen wird nicht auf unzulässige Weise in die Freiheitssphäre anderer Menschen eingegrifFen. Hieraus ergibt sich, daß im Bereich des Wettbewerbs eine systemimmanente Ausnahme von jenem Grundsatz existiert - und existieren muß -, dem zufolge im Falle einer Kollision unterschiedlicher Ausprägungen des Freiheitsrechts keine Festlegung über die Ausgestaltung dieses Rechts Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Eine andere Situation liegt dagegen beim Behinderungswettbewerb vor, der gegenüber dem Leistungswettbewerb eine zusätzliche Qualität besitzt. Bei ihm geht es nicht allein um die Erwirtschaftung von Mitteln für die Verfolgung eigener Ziele, sondern außerdem um den vorsätzlichen und zielgerichteten Eingriff in das geschützte Freiheitsrecht eines anderen Menschen. Ein solcher Eingriff wird bereits aus sich heraus in praktisch allen freiheitlichen Gesellschaften als unzulässig angesehen. Es spricht nichts dagegen, daß er auch als unzulässig angesehen werden kann, wenn er gemeinsam mit dem - für sich allein - legitimen Ziel auftritt, Mittel für die Verfolgung eigener Ziele zu erwirtschaften. 4. Die Grenzen der Ordnungspolitik im Bereich der Eigentumsrechte Das Freiheitsrecht umfaßt auch das Recht des einzelnen Individuums, über die ihm gehörenden Güter frei verfugen zu können. Voraussetzung ist allerdings, daß mit einer Verfugung nicht auf unzulässige Weise in das Freiheitsrecht Dritter eingegrifFen wird. Der Staat darf daher die Nutzung des Eigentums nur beschränken, wenn mit derselben eine solche Drittwirkung verbunden ist. In derartigen Fällen, in denen zwei verschiedene Ausprägungen des Freiheitsrechts kollidieren, läßt sich keine allgemeine Aussage darüber treffen, wie die Ausgestaltung des Freiheitsrechts vorzunehmen ist. Sie ist eine gesellschaftsspezifische Angelegenheit. Ein Beispiel für Kollisionen zwischen unterschiedlichen Ausprägungen des Freiheitsrechts besteht in der bereits erwähnten Nachbarproblematik im Immobilienbereich. Ein weiteres Beispiel besteht in der Umweltschutzproblematik, in der das Recht auf freie unternehmerische Betätigung auf das Recht trifft, von gesundheitlichen Risiken durch Umweltverschmutzungen verschont zu werden. Vom wissenschaftlichen Standpunkt läßt sich auch nichts gegen eine äußerst rigide, einseitige Ausgestaltung des Freiheitsrechts sagen, etwa eine solche, die die Emission von Schadstoffen vollständig untersagen würde. Daß dies erhebliche negative Auswirkungen auf den Lebensstandard eines Landes hätte, mag zutreffen. EfBzienzerwägungen sind jedoch kein belastbares Kriterium für die Festlegung des Umweltschutzniveaus. Dies wird bereits daran deutlich, daß niemand eine Aussage darüber treffen kann,
Grenzen der Ordnungspolitik · 185 in welchem Umfang sich der Lebensstandard jeweils verringern würde, wenn der Schadstoffausstoß alternativ um 25, 50, 75 oder 100 Prozent zu senken wäre. Vor allem aber steht es der Wissenschaft nicht zu, einer Gesellschaft die eigene Auffassung über die „angemessene" Ausgestaltung des Freiheitsrechs zu oktroyieren. Selbst ein von der Bevölkerung gewolltes vollständiges Verbot von Schadstoffemissionen wäre daher von der Wissenschaft - und zwar gerade auch von Wissenschaftlern, die sich der freiheitlichen Gesellschaftsordnung verpflichtet fühlen - hinzunehmen.
VI. Ergebnis Nach allgemeiner Auffassung ist nicht jede ordnungspolitische Maßnahme mit den Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung vereinbar. Die allgemeine Abschaffung der Vertragsfreiheit etwa würde diese Ordnung schlichtweg zerstören. Es existieren jedoch keine Kriterien, mit denen beurteilt werden könnte, welche ordnungspolitischen Maßnahmen mit den marktwirtschaftlichen Grundsätzen vereinbar sind und welche nicht. Ein solches Kriterium läßt sich auch nicht aus den Funktionsprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung gewinnen. Denn die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit ist ebenso konstitutives Merkmal der marktwirtschaftlichen Ordnung wie die Regelgebundenheit, also wie die Existenz eines Systems von allgemeinen Rahmenbedingungen, das ebenjene Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit einschränkt. Auch Effizienzerwägungen helfen hier nicht weiter, denn aufgrund des konstitutiven Wissensmangels läßt sich nicht sagen, ob in einer konkreten Ausgangslage mit diesem oder mit jenem Bündel ordnungspolitischer Maßnahmen das Knappheitsproblem am effektivsten bewältigt oder das meiste Wissen geschaffen wird. Indessen liefert das allgemeinere Recht auf individuelle Freiheit ein Abgrenzungskriterium: Es sind nur solche ordnungspolitischen Maßnahmen mit den Grundsätzen der freiheitlichen Gesellschaftsordnung vereinbar, die der Abgrenzung unterschiedlicher Ausprägungen des Freiheitsrechts gelten. Unvereinbar mit diesen Grundsätzen sind dagegen Maßnahmen, die das Freiheitsrecht einschränken, ohne daß die fraglichen Handlungen eine andere Ausprägung des Freiheitsrechts verletzen. Auch die Zielsetzungs- und Handlungsfreiheit in der marktwirtschaftlichen Ordnung darf folglich nur dann durch eine allgemeine, abstrakte und negativ formulierte Regel beschränkt werden, wenn die fragliche Verhaltensweise in das Freiheitsrecht anderer Menschen eingreift. Diese Bedingung ist das Grundprinzip für die Bestimmung der Grenzen der Ordnungspolitik. Aus ihm ergibt sich, daß im Bereich des Vertragsrechts und im Bereich des Leistungswettbewerbs staatliche Eingriffe in das individuelle Freiheitsrecht unzulässig sind, während im Bereich der Eigentumsrechte dann eine Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten gerechtfertigt ist, wenn mit der Inanspruchnahme des Eigentums in die Freiheitssphäre Dritter eingegriffen wird. Allerdings sind nicht von vornherein sämtliche derartigen Eingriffe als Verstoß gegen das Freiheitsrecht anzusehen. Unter welchen Voraussetzungen ein solcher Eingriff hingenommen werden muß und unter
186 · Lüder Gerken welchen Voraussetzungen nicht, läßt sich nicht allgemein beantworten, sondern hängt von den in einer Gesellschaft bestehenden Traditionen, Sitten und Vorstellungen ab.
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190 · Lüder Gerken Summary The Limits of „Ordnungspolitik" Not all policy measures, that are applied to shape the economic order, are compatible with the principles of the market economy. For instance, the elimination of the freedom of contract would plainly eliminate the structures which generate the market economy. However, no criteria exist, by which it can be judged, what type of policy is compatible with those principles and what type is not. It is demonstrated that such criteria cannot be derived from the functional principles of the market economy. However, the more general right of individual freedom does furnish such a criterion.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Artur
Woll
Adam Smith - Gründe für ein erneutes Studium seiner Werke
I. Die Smith-Renaissance und ihr wissenschaftlicher Ertrag 1. Anlaß fur die Renaissance Das berühmte Buch von Adam Smith (1723-1790), die Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, erschien erstmals im Jahr 1776. Das zweihundertjährige Jubiläum dieser Publikation war weltweit Anlaß, des Autors zu gedenken und sich mit seinem Werk auseinanderzusetzen. Eine kaum überschaubare, bis heute nicht völlig abgeebbte Flut von Veröffentlichungen1 rechtfertigt es, von einer Sm/YA-Renaissance zu sprechen. Über die Wissenschaft hinaus fanden Person und Werk großes Interesse, als Ende der achtziger Jahre die Sowjetunion zerfiel und ihre Beherrschung anderer Länder endete, weil Smith vielen - vor allem den Marxisten - als der Erzvater des „Kapitalismus" gilt. Die herausragende wissenschaftliche Veröffentlichung dieser Jahre ist die von der University of Glasgow besorgte „Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith", die - nach jahrelangen sorgfältigen Vorbereitungen - den gesamten schriftlichen Nachlaß von Smith, seine Korrespondenz sowie Vorlesungsnachschriften umfaßt und definitiven Charakter trägt (Smith 1976 - 1987/ Als Begleitwerke sind ein Essayband (Skinner und Wilson 1975) und jüngst die erste Biographie (Ross 1995) erschienen, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.2 Durch die Glasgow Edition wurden insbesondere später entdeckte Nachschriften der Vorlesungen von Adam Smith über Rechts- und Staatswissenschaften, ein früher Entwurf der Wealth of Nations, zwei Fragmente zur Arbeitsteilung sowie etliche bisher unveröffentlichte Briefe in das Gesamtwerk integriert und leicht zugänglich gemacht. Betrachtet man das vorliegende Werk von Adam Smith in seiner Gesamtheit, läßt sich zunächst konstatieren, daß einigen dogmenhistorischen Debatten der Boden entzogen worden ist. Hier sei nur eine erwähnt, weil sie besonders intensiv gefuhrt wurde. Die aus verschiedenen Quellen stammenden, in wichtigen Punkten übereinstimmenden Vorlesungsnachschriften aus der Zeit kurz nach 1760 und der aus der gleichen Zeit stammende 1 2
Eindrucksvoller Beleg für die Veröffentlichungsflut sind diverse Aufsatzsammlungen, z. B. Wood (1983, 1994) und Blaug (1994). Die bisherigen biographischen Veröffentlichungen über Adam Smith können nur wenig befriedigen. Sie sind entweder zu knapp geraten - meist auch ohne biographischen Anspruch -, wie der oft zitierte Bericht von Dugald Stewart (1794) oder genügen nicht wissenschaftlichen Anforderungen, wie das Werk des Journalisten John Rae (1895).
192 · Artur Woll frühe Entwurf der Wealth of Nations zeigen ganz eindeutig, daß der Vorwurf, Adam Smith habe wesentliche Teile seines ökonomischen Hauptwerkes später von französischen Autoren übernommen, unhaltbar ist.3 Daß Smith auf das vorhandene Wissen seiner Zeit zurückgegriffen hat, wie jeder Autor also auch auf den Schultern anderer steht, ist kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit. Seinem Werk kann jedoch genau so wenig Originalität abgesprochen werden, wie etwa einem Beethoven, der sich bei seinen Kompositionen vorhandener Noten bediente.4 Diese Originalität des Werkes von Smith wird weiter unten noch verdeutlicht. Im folgenden interessieren primär jedoch nicht dogmenhistorische Aspekte, sondern die ordnungspolitischen Aufgaben und Probleme der Wirtschaftspolitik, mit denen sich Smith befaßt hat und die bis heute von ihrer Bedeutung nichts verloren haben. 2. Wissenschaftlicher Ertrag der Renaissance Die internationale Diskussion hat nicht zu einem völlig veränderten Verständnis des Werkes von Adam Smith gefuhrt, aber zu bemerkenswerten Akzentverschiebungen bei der Einschätzung von wichtigen Teilen seines Werkes. Ökonomen galt Smith als Verfasser eines fundamentalen Buches ihres Faches ( The Wealth of Nations), der überdies eine selten zur Kenntnis genommene oder gar gelesene Abhandlung zur Moralphilosophie {The Theory of Moral Sentiments) geschrieben habe. Umgekehrt betrachteten Philosophen Smith als einen der ihren - im englischen Sprachraum wohl eher als in Kontinentaleuropa -, der im Schatten von David Hume (1711-1776) stehe und berühmt geworden sei mit einem ökonomischen Werk. Von diesem Smith-Verständnis war es nicht mehr weit zu der vor allem im deutschen Schrifttum vertretenen Auffassung, Smith habe in den 17 Jahren, die zwischen den Veröffentlichungen seiner beiden Bücher liegen, seine Ansichten gründlich geändert: In seiner zunächst publizierten Moralphilosophie sei menschliches Verhalten von Sympathie und Altruismus bestimmt, in seiner Wirtschaftslehre dagegen vom Egoismus und Materialismus. Dieser „Umschwung" seiner Ansichten gehe vor allem auf den Einfluß französischer Denker zurück, denen Smith in Paris begegnet sei.5 Auch wenn die „Umschwungtheorie" auf Kritik gestoßen ist, so scheint sie gleichwohl symptomatisch für das bisher vorherrschende Smith-Verständnis. Ein wichtiges Ergebnis der neueren Diskussion ist die begründete Auffassung, daß Smith neben Hume zu den ersten bedeutenden Sozialwissenschaftlern gehört und vielleicht mit größerem Recht für diese Disziplin statt für die Nationalökonomie als Begründer zu gelten habe. Eine sorgfältige Lektüre seiner Werke, insbesondere der neuerdings erstmals veröffentlichten Lectures, ergibt zweifelsfrei, daß von einer veränderten Grundeinstellung bei ihm keine Rede sein kann. Diese ist vielmehr in allen Publikationen erstaunlich konsistent - gestützt von einer profunden Kenntnis der Geschichte. Smith 3
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Den Vorwurf des Plagiats hat insbesondere Karl Marx (1961, 581) erhoben, dem bis in die Gegenwart andere gefolgt sind, wie z. B. Erich Streißler (1981, 31). Schon Dugald Stewart (1794, 319 ff.) hat sich im Jahr 1793 mit diesem Thema relativ ausführlich befaßt. In diesem Sinne unter anderen Salin (1951, 83). Vgl. Smith 1976a, Introduction, 20 ff, wo auch die „Umschwungtheorie" kritisch diskutiert wird.
Adam Smith - Gründe fur ein erneutes Studium seiner Werke · 193 lehrte von 1751 bis 1763 an der Universität Glasgow. Seine Vorlesungen, die er zu halten hatte, umfaßten vier Teile: Natürliche Theologie, Ethik, Rechts- und Staatswissenschaften sowie Politische Ökonomie (Stewart 1794, 274 ff). Von seinen Vorlesungen zur natürlichen Theologie, deren Gegenstand Gottesbeweise und göttliche Attribute waren, ist nichts überliefert, wohl dagegen von allen übrigen. Ethik, Rechts- und Staatswissenschaften sowie Wirtschaftswissenschaft werden von Smith als separate, aber miteinander verknüpfte Teile eines breiter gefaßten Systems von Sozialwissenschaften verstanden (,Muller 1993, 8). Dieses Verständnis wird beispielsweise klar erkennbar im Vorwort zur sechsten Auflage der Theory of Moral Sentiments. Smith wiederholt an dieser Stelle wenige Monate vor seinem Tod seine schon in der Erstauflage bekundete Absicht (1976a, 342), eine Darstellung der allgemeinen Prinzipien des Rechts und der Regierung zu schreiben. Diese Absicht hätte er mit seiner Wealth of Nations nur teilweise eingelöst. Angesichts seines sehr vorgerückten Alters gebe es jedoch nur wenig Hoffnung, daß er seinen Plan noch verwirklichen könne (1976a, 3). Man kann davon ausgehen, daß wesentliche Aspekte des geplanten Werkes in den Vorlesungen vorgetragen wurden, über die Nachschriften vorliegen. Die Hervorhebung der sozialwissenschaftlichen Ausrichtung von Adam Smith hat dazu geführt, daß heute diesen Nachschriften in seinem Gesamtwerk ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Der Erfolg seiner Wealth of Nations hat zwar gezeigt, daß die Wirtschaftswissenschaft als eigene Disziplin tragfähig ist - und bald nach Smith kam es in Großbritannien an den Universitäten zur Einrichtung solcher Lehrstühle. Diese Implikation lag jedoch nicht in der Absicht von Smith, der stets an der Einbettung der Wirtschaftswissenschaft in den breiteren intellektuellen Rahmen der Sozialwissenschaften festgehalten hat (Robertson 1987, 271 f.). Die Betonung der sozialwissenschaftlichen Ausrichtung von Adam Smith durch die neuere Diskussion hat auch den Blick geschärft für das wesentliche, letztlich ordnungspolitische Anliegen seiner rechts-, staats- und wirtschaftswissenschaftlichen Schriften, vor allem der Wealth of Nations und der Lectures. Dieses Anliegen ist früher häufig verkannt oder nicht adäquat gewürdigt worden, wozu vielleicht der beträchtliche Umfang der Wealth of Nations, insbesondere auch längere Passagen, die nur für das Zeitalter von Smith einen Sinn ergeben, beigetragen hat. Ferner mag der Titel seines ökonomischen Hauptwerkes manchen in die Irre gefuhrt haben. Zwar ist es richtig, daß Smith - ausgehend von den Wirkungen der Arbeitsteilung - Natur und Ursachen des Wohlstandes der Nationen untersucht. Was er aber darüber hinaus und wohl letztlich zu zeigen versucht und was zu seiner Zeit oft besser verstanden wurde als gegenwärtig -, sind die einfachen und universalen Elemente, Prinzipien, die das Wirken komplexer Phänomene bestimmen (Hayek 1991, 119 f.). Deshalb träfe auch ein Titel wie Principles of Political Economy, der im Großbritannien des 19. Jahrhunderts für solche Werke zum Standard wurde, den Inhalt des Buches besser als der von Smith gewählte.6
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Vermutlich hat das Erscheinen des Buches von James Steuart (1767) Smith daran gehindert, einen solchen Titel zu wählen. Das Buch von Steuart ist ein „Klassiker" fur Interventionismus und Merkantilismus. Smith schreibt in einem Brief (1987, 164), daß er die Prinzipien von Steuart für falsch halte und sich schmeichele, diese zu widerlegen. Dabei werde er es vermeiden, Steuart zu erwähnen.
194 · ArturWoll Bei der Erklärung der Prinzipien geht Smith in einer bestimmten Weise vor. Er verfolgt soziale Institutionen - wie Regierung, Markt, Eigentum - in ihrer historischen Entwicklung. Mit anderen Vertretern der schottischen Aufklärung7 vertritt er die Vierstadientheorie, nach der sich die historische Entwicklung in vier Stufen vollzogen hat: Am Beginn steht eine Gesellschaft der Jäger und Sammler (1.), gefolgt von der der Hirten (2.) und der seßhaften Landwirte (3.) bis zur heutigen der Händler (4 ), diese im weiten Sinne verstanden, weil in einer arbeitsteiligen Wirtschaft jeder tauschen müsse.8 Im Hinblick auf häufige Mißverständnisse sei angefügt, daß die Vierstadientheorie als ein von Smith generell verwendetes heuristisches Verfahren zu verstehen ist (Stewart 1794, 293 und Smith 1983, Introduction, 24), allenfalls als politische und ökonomische Interpretation von historischen Ereignissen. Sie ist jedenfalls keine erschöpfende eingleisige Geschichtsdeutung, etwa mit dem Anspruch des historischen Materialismus (Skinner 1996, 76 ff.). Smith zeigt, wie sich Institutionen entwickeln und ändern, verursacht von der Erschöpfung wirtschaftlicher Ressourcen und - damit zusammenhängend - vom Bevölkerungsdruck, also von den entscheidenden Faktoren der ökonomischen Versorgung. Im folgenden sei den aus ordnungspolitischer Sicht wichtigen Prinzipien nachgegangen, die Smith zu seiner Zeit für die Funktionen des Staates (II.) und die Wirkungsweise des Marktes (III.) entwickelt hat.
II. Diskussion über die Funktionen des Staates 1. Staatsverständnis In der Äw/iA-Literatur ist es üblich, bei der Erörterung der Aufgaben des Staates auf das fünfte Buch der Wealth of Nations zurückzugreifen, in dem in drei Kapiteln die Ausgaben, die Quellen der Einnahmen und die Schulden eines Staates behandelt werden. Smith legt dar, welche öffentlichen Aufgaben zu Ausgaben fuhren, somit eine Finanzierung über einen Staatshaushalt erfordern. Bei dieser Art des Vorgehens bleibt ein wesentliches Element des Staatsverständnisses von Smith unbeachtet, das er in seiner Wealth of Nations impliziert, in seinen Lectures jedoch ausdrücklich anspricht. Dieses wesentliche Element ist die Frage nach dem Zweck des Staates: Wozu braucht man einen Staat? Es scheint sinnvoll, zunächst auf diese Frage einzugehen, weil erst dann voll verständlich werden dürfte, warum Smith dem Staat ganz bestimmte Aufgaben zuweist und die meisten von dessen Aktivitäten, die wir gegenwärtig beobachten, überhaupt nicht erwähnt. In der europäisch geprägten Staatstheorie oder -philosophie lassen sich im wesentlichen zwei Strömungen unterscheiden (Oakeshott 1975, 199 ff ). Nach einer ersten Auffassung, die auf das griechische Altertum zurückgeht, ist der Staat nur ein Treuhänder
7 Genannt seien hier Adam Ferguson (1767), John Miliar (1771) und Henry Kames (1774). 8 Die systematische Ausarbeitung der Vierstadientheorie findet sich in den Lectures (Smith 1978, 14 ff.), Anwendungen in der Wealth of Nations, insbesondere bei der Erklärung vom Untergang des Römischen Reiches (III. Buch) und bei der Begründung von Staatsausgaben (V. Buch).
Adam Smith - Gründe fur ein erneutes Studium seiner Werke · 195 des Rechts. Er strebt keine eigenen Ziele an, auch keine abstrakten, wie soziale Wohlfahrt. Seine Funktion besteht darin, die Verfolgung individueller Ziele zu sichern und zu fördern: Der Mensch ist - wiewohl auf Gemeinschaft angewiesen - in seiner personellen Würde Selbstzweck. Der Staat ist niemals Selbstzweck, sondern nur ein Mittel, dem Wohl des Einzelnen zu dienen. Das Gemeinwohl ist die Summe der Wohlfahrt der Individuen. Im Gegensatz dazu steht eine zweite Auffassung mit einer jüdisch-christlichen Tradition. Nach ihr setzt der Staat das Recht für eigene Ziele ein, insbesondere für eine Gesetzgebung im moralischen und ökonomischen Bereich: Der Staat besitzt eigene Substanz, ist Selbstzweck. Das Ganze hat Vorrang vor dem Einzelnen, dessen Leben und Eigentum der Staat in Anspruch nimmt und dessen Aufopferung er fordert. Auf der ersten Sicht gründet das Staatsverständnis von Adam Smith (1978, 207 ff.) und David Hume (1988, 301 ff ), ebenso das von Friedrich Schiller (Isensee 1989, 147 ff.) und Wilhelm von Humboldt (1967), denen die Veröffentlichungen von Smith vertraut waren. Die zweite Sicht bestimmt das Staatsverständnis z. B. des bis heute im deutschen Sprachraum einflußreichen finanzwissenschaftlichen „Dreigestirns" (Beckerath 1952, 416) Lorenz von Stein (1815-1890), Adolph Wagner (1835-1917) und Albert Schaffte (1831-1903), die sich vor allem auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), aber auch auf Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) berufen - ob mit vollem Recht, sei dahingestellt. Das Staatsverständnis von Adam Smith - Ausfluß seines Menschenbildes - gründet in der tiefen Überzeugung, daß die Menschen selbst am besten wüßten, was ihnen nützt (,Smith 1976a, 219) und daß die Befriedigung ihrer Bedürfnisse dem Markt überlassen werden kann: Wenn der Staat alle Systeme der Begünstigungen und Beschränkung aufgebe, so stelle sich ganz von selbst das einsichtige und einfache „System der natürlichen Freiheit" ein. Solange der Einzelne keine Gesetze verletze, solle man ihm völlige Freiheit lassen, seinen Interessen zu folgen. Der Souverän würde damit völlig von der Pflicht entbunden, die Tätigkeit privater Leute zu überwachen - eine Pflicht, bei deren Ausübung er ungezählten Enttäuschungen ausgesetzt sein müsse (Smith 1976b, 687 f ). Diese Einstellung fuhrt unmittelbar zu der Konsequenz , die Staatstätigkeit auf das Unvermeidliche zu beschränken. Was Smith für unvermeidlich hält, wird noch auszufuhren sein. Zuvor sei angefugt, daß Fragen und Antworten zum Staatsverständnis das Ergebnis normativer oder empirischer Überlegung sein können. Geht man von der Tatsache aus, daß es bestimmte kollektive Bedürfnisse gibt - wie etwa das Schutzbedürfnis vor inländischen Banden oder auswärtigen Angreifern -, die vom Einzelnen nicht befriedigt werden können, läßt sich der Staat als Produzent von Gütern verstehen, die solchen individuellen Wünschen entsprechen. Eine normative Antwort erfordert die Frage: Soll der Staat diese Güter produzieren? Weitaus die meisten Autoren neigen dazu, diese Frage zu bejahen. Von einer Minderheit wird sie verneint, weil sie der Meinung sind, daß aus verschiedenen Gründen eine private Produktion von solchen Gütern einer staatlichen vorzuziehen sei (Rothbard 1985, 215 ff). Adam Smith dagegen stellt die Frage: Wie entsteht ein Staat, historisch gesehen? Die Antwort auf diese Frage ist empirischer Natur. Das normative Element seines Staatsverständnisses liegt in seinem Menschenbild, das am Einzelnen ori-
196 · Artur Woll entiert ist, der zwar dem Gesetz unterworfen, aber niemandem untergeordnet ist. Bei der Beantwortung dieser Frage greift Smith auf die Vierstadientheorie zurück, nach der Individuen existierten, noch bevor es einen Staat gab. Erst mit der Herausbildung ungleichen Besitzes in der Hirtengesellschaft entstand Bedarf für eine Regierung, deren Aufgabe es war, den Reichen vor dem Armen zu schützen, so daß der Arme nur die Möglichkeit besaß, entweder arm zu bleiben oder den friedlichen Weg der anderen einzuschlagen, um zu Besitz zu gelangen (Smith 1978, 208 f.).
2. Aufgaben des Staates Die Aufgaben des Staates in einer freiheitlichen Gesellschaft folgen aus seinem Zweck, den Status des Einzelnen zu sichern und dessen Ziele zu fördern. Nach Smith hat in einem „System der natürlichen Freiheit" der Souverän nur drei Aufgaben zu erfüllen, die von großer Bedeutung, aber einfach und leicht einzusehen sind: erstens die Verteidigung der Gesellschaft gegen Angriffe von außen, zweitens den Schutz des Einzelnen vor Ungerechtigkeit und Unterdrückung durch Mitbürger und drittens die Einrichtung und den Unterhalt von gewissen öffentlichen Institutionen. Die erste und zweite Staatsaufgabe (Landesverteidigung und Justiz) ist in der Nachfolge von Smith auf weitgehende Zustimmung gestoßen,9 die dritte dagegen hat Kontroversen ausgelöst, weshalb ihre Begründung wörtlich zitiert sei: „thirdly, the duty of erecting and maintaining certain publick works and certain publick institutions, which it can never be for the interest of any individual, or small number of individuals, to erect and maintain; because the profit could never repay the expence to any individual or small number of individuals, though it may frequently do much more than repay it to a great society" (Smith 1976b, 687 f.). Diese Formulierung der dritten Staatsaufgabe hat vor allem dazu gefuhrt, daß sich eine Reihe von wissenschaftlichen Autoren und nicht zuletzt Politiker bei der Begründung von allen möglichen Staatseingriffen auf Smith berufen. Dies kann jedoch nicht die Intention des Autors der Wealth of Nations gewesen sein, der an anderer Stelle ausführt, was er mit gewissen öffentlichen Anstalten und Einrichtungen konkret meint: neben denen für die erste und zweite Staatsaufgabe vor allem solche, die den Handel erleichtern (z.B. gute Straßen, Brücken, schiffbare Kanäle und Häfen) und die Ausbildung der Bevölkerung fördern (Smith 1976b, 723). Auch wenn Smith bei der dritten Staatsaufgabe die öffentlichen Einrichtungen nicht abschließend aufzählt, wird der Sinn seiner Ausführungen jedoch ins Gegenteil verkehrt, wenn fehlender individueller Profit bei gesellschaftlichem Nutzen zum generellen Anlaß für Staatseingriffe herhalten muß, wie dies tatsächlich geschehen ist. Es war wohl der größte intellektuelle Fehler auf diesem Gebiet, daß man glaubte, sogenanntes Marktversagen oder externe Effekte - die modernen Be9
Daß diese Aussage nicht für die zahlreichen Gegner von Smith gilt, versteht sich. Zu diesen rechnen im deutschen Sprachraum die meisten Vertreter der historischen Schule, neben Friedrich List vor allem die „Kathedersozialisten" sowie Karl Marx und seine Anhänger, die weniger durch eine sorgfältige Analyse der Untersuchungen von Smith als durch eine verunglimpfende Wortwahl - wie „schrankenloser laissez faire" oder „Nachtwächterstaat" - von sich reden gemacht haben. Vgl. die umfassende Aufarbeitung resistenter Vorurteile über Adam Smith durch Wille und Gläser (1977, 34 ff.).
Adam Smith - Gründe fur ein erneutes Studium seiner Werke · 197 gründungsformeln für Staatseingriffe - könnten durch einen ideal gedachten Staat korrigiert werden. Es ist nicht nur methodisch unhaltbar, eine Realität mit einem Idealzustand zu vergleichen, sondern auch empirisch falsch, generell anzunehmen, daß Marktdefizite schädlicher seien als Staatsdefizite, der regelmäßigen Begleiterscheinung von Interventionen (Friedman 1976, 12). Der Interventionismus stützt sich, soweit er auf Smith zurückgreift, nicht nur auf seine Begründung der dritten Staatsaufgabe, sondern auch auf eine Reihe von wirtschaftspolitischen Vorschlägen und Anregungen, die sich verstreut in allen fünf Büchern der Wealth of Nations und teilweise auch in den Lectures finden. Werden diese Vorschläge und Ansichten zusammengestellt, so erhält man eine lange Liste (Skinner 1996, 183 ff.), die zu den eben genannten wenigen Staatsaufgaben in Widerspruch zu stehen scheinen. Es wird jedoch oft übersehen, daß die Staatsaufgaben, die dem Souverän verbleiben, nur für ein System der natürlichen Freiheit gelten (Smith 1976b, 687). Dieses System ist das Smith vorschwebende Konzept einer Marktwirtschaft, nicht die Realität zu seiner Zeit, die viele Parallelen zur Gegenwart in Europa aufweist. Im Hinblick auf diese Realität lassen sich die im einzelnen genannten wirtschaftspolitischen Vorschläge und Ansichten fast ausnahmslos entweder den von Smith für notwendig erachteten Reformen überkommener Vorschriften zuordnen (Deregulierungen) oder den Rahmenvorschriften, die für funktionierende Märkte unerläßlich oder nützlich sind (Regulierungen). Zur Gruppe der Deregulierungen gehören z. B. die Ermöglichung einer freien Verwendung von Arbeitskraft (Smith 1976b, 138), die Beseitigung von Monopolen (1976b, 78) und internationalen Handelsbeschränkungen (1976b, 516). Aus der Gruppe der marktfördernden Regulierungen seien als Beispiele Rechtsvorschriften genannt, die eine Vertragserfüllung erzwingbar machen (1976b, 112) und Grundbücher für die Rechte an Immobilien und Hypotheken vorschreiben (1976b, 863). Beide Gruppen von wirtschaftspolitischen Maßnahmen oder Anregungen sind ordnungspolitisch positiv zu bewerten. Sie können keinesfalls die verbreitete, früher wohl auch herrschende Auffassung begründen, Adam Smith habe unbesehen eine Reihe von Interventionen befürwortet. Ordnungspolitisch bedenklich ist allein seine Verteidigung von Höchstzinsen (1976b, 356 f.), die für sein Werk uncharakteristisch ist und schon bei seinen Zeitgenossen auf heftige Kritik stieß .10 Ein wichtiger Bestandteil des Menschenbildes von Smith ist die Koppelung von individuellen Entscheidungsrechten und -folgen, von Vorteilen und deren Lasten, die für die dauerhafte Existenz einer freien Gesellschaft und eines funktionierenden Marktes unverzichtbar sein dürfte. Dieses Prinzip gilt auch für das Verhältnis des Einzelnen zum Staat. Wer vom Staat angebotene Leistungen in Anspruch nimmt, soll im Einzelfall auch dafür zahlen. Für dieses Verfahren spricht auch und nicht zuletzt, daß die ökonomische Effizienz der knappen Ressourcen bei Anbietern und Nachfragern dabei höher ist, als bei einer individuell kostenlosen Inanspruchnahme. Diese läßt sich nur dann vertreten, wenn staatliche Leistungen der ganzen Gesellschaft gleichermaßen zugute kommen, wie der Auf10 Eine glänzende Kritik stammt von Jeremy Bentham, der Smith deswegen im Jahr 1787 von Rußland einen Brief schrieb. Vgl. Smith 1987, 386 ff., wo auch über Vermutungen berichtet wird, daß Smith seine Auffassung geändert und nur sein Tod eine Korrektur der Wealth of Nations verhindert habe.
198 · Artur Woll wand fur die Landesverteidigung und fur die Repräsentation der Staatsspitze. Steuern lassen sich nach Smith nur rechtfertigen, wenn eine unmittelbare Zurechnung der staatlichen Kosten auf den Nutzer nicht möglich ist. Wer dagegen Gerichte, Einrichtungen der Infrastruktur - wie Straßen, Kanäle oder Häfen - und des Erziehungswesens in Anspruch nimmt, soll für die staatliche Leistung eine Gebühr entrichten, auch dann, wenn diese Einrichtungen von allgemeinem Nutzen sind. Staatliche Zuschüsse, die aus allgemeinen Staatseinkünften stammen, sollten nur zum Ausgleich sonst entstehender Defizite dienen (Smith 1976b, 814 ff.). Eine Beschränkung der Staatsausgaben auf wenige Zwecke hat zur Folge, daß ihr Anteil am Volkseinkommen gering bleibt. Tatsächlich lag die Staatsquote in vielen Ländern im 18. Jahrhundert bis zum Beginn dieses Jahrhunderts unter zehn Prozent.11 Das sollte sich gründlich ändern, als der Staat daran ging, eine neue Aufgabe zu übernehmen: die Umverteilung. 3. Staatliche Umverteilung Die Einkommensverteilung ist ein wesentlicher Gegenstand der ökonomischen Analyse von Smith, gültig bis auf den heutigen Tag. In verschiedenen Kapiteln des ersten Buches behandelt er - nach den Güterpreisen - die Faktorpreise Arbeitslohn, Kapitalgewinn und Bodenrente, die am Markt durch Angebot und Nachfrage gebildet werden. Ausschließlich Marktvorgänge bestimmen die funktionelle („primäre") Einkommensverteilung innerhalb eines Landes. Da der Staat zur Bewältigung seiner Aufgaben Mittel benötigt, die er sich mangels hinreichend eigener Verkäufe am Markt überwiegend durch Zwangseinnahmen bei den Bürgern beschaffen muß, wird die „primäre" durch eine „sekundäre" Einkommensverteilung, eine Umverteilung korrigiert. Smith behandelt dieses staatliche Handeln eingehend im fünften Buch seiner Wealth of Nations. Die Umverteilung hat Folgen insbesondere für die Allokation, weil der Staat andere Güter als der Steuerzahler nachfragt, und für die Effizienz in der Ressourcennutzung, weil die Privaten im Wettbewerb stärker wirtschaftlich orientiert sind und - wegen der Knappheitsfunktion des Marktes - auch sein können als staatliche Stellen. Eine Umverteilung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor eines Landes ergibt sich aus der Existenz des Staates. Von dieser Umverteilung zwischen privatem und öffentlichem Sektor ist die innerhalb des privaten Sektors, zwischen Individuen, scharf zu trennen. Zur Verwirrung trägt häufig bei, daß beide Formen der Umverteilung mit dem selben Ausdruck belegt werden, obwohl ihre jeweiligen Begründungen und ökonomischen Wirkungen im Hinblick auf Allokation und Effizienz völlig verschieden sind. So ist der Grund für die zuerst genannte Umverteilung die objektive Tatsache, daß es einen Staat gibt, für die andere die subjektive Ansicht, daß es zu den Aufgaben eines Staates gehört, Unterschiede im Einkommen und Vermögen seiner Bürger zwangsweise abzugleichen.
11 Zahlen für Großbritannien zu Zeiten von Smith haben Hollander (1973, 323 ff.) und Musgrave (1975, 297 ff.) zusammengestellt.
Adam Smith - Gründe fur ein erneutes Studium seiner Werke · 199 Smith sieht es nicht als Aufgabe des Staates an, Einkommen und Vermögen zwischen den Privaten umzuverteilen. Daß es enorme Unterschiede zwischen Reichen und Armen gibt, ist ihm nicht nur geläufig, sondern auch verschiedentlich Anlaß, näher darauf einzugehen. So könnten ohne einen staatlichen Schutz die Besitzer wertvoller Vermögen Frucht der Arbeit vieler Jahre oder vielleicht mehrerer Generationen - nicht eine einzige Nacht sicher schlafen (Smith 1976b, 709 f.). Auch ist ihm klar, daß eine Besteuerung die Einzelnen oft unterschiedlich trifft. Im Zusammenhang mit Wegezöllen fuhrt er beispielsweise aus, daß eine Belastung der Fahrzeughalter für den Straßenverschleiß die Konsumenten einfacher, schwerer Produkte stärker belaste als wohlhabende Leute, die sich kostbare, leichte Güter leisten könnten (1976b, 728). Umgekehrt würde eine Steuer auf Mieteinkünfte die Wohlhabenden stärker treffen als ärmere Leute, was vielleicht nicht ganz unvernünftig sei (1976b, 842). Trotz oft unterschiedlicher Steuerwirkungen für den Einzelnen vertritt Smith die Auffassung, daß die Steuern in Proportion zum Einkommen erhoben und der Finanzierung des Staatshaushalts dienen sollten (1976b, 825). Gelegentliche Ausnahmen von dieser Regel für Steuerzweck und Steuersatz rechtfertigen es nicht, wie häufig geschehen, Smith generell für nichtfiskalische Steuerzwecke oder eine progressive Einkommenssteuer in Anspruch zu nehmen.12 Eine Umverteilung unter Privaten auf freiwilliger Basis - nicht durch Zwang - wird von Smith, wie er in seinem moralphilosophischen Werk darlegt, positiv bewertet (1976a, 78 f.). Die Reichen würden, von einer „unsichtbaren Hand" dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die bei einer Aufteilung der Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner zustande gekommen wäre (1976a, 183 ff.).13 Aus heutiger Sicht und insbesondere im Licht einer hundertjährigen Erfahrung mit der progressiven Einkommensteuer14 wird deutlich, daß die von Smith abgelehnte zwangsweise Umverteilung innerhalb des privaten Sektors eine freiheitliche Ordnung in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft untergraben muß. Die progressive Einkommensteuer wurde in der Zeit nach Smith ein Gegenstand heftiger wissenschaftlicher und politischer Kontroversen. Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) forderten eine scharfe progressive Einkommensteuer, um die Bourgeoisie zu enteignen. Die in der Tradition von Smith stehenden Ökonomen John Ramsay McCulloch (1789-1864) und John Stuart Mill (1806-1873) dagegen lehnten sie ab. Als überaus weitsichtig sollte sich das Argument von McCulloch erweisen, daß sich eine proportionale Einkommensteuer rational begründen und begrenzen lasse, eine progressive jedoch nicht. Werde das Prinzip
12 Hier seien zwei solcher Ausnahmen angeführt, die einige Autoren ohne nähere Begründung verallgemeinert und zu weitreichenden Schlüssen veranlaßt haben: Smith spricht sich wegen der Folgen des Alkoholkonsums für die Gesundheit und die Moral der einfachen Leute für eine höhere Steuer auf Destillate als auf Bier aus (Smith 1976b, 891). Bei Mieteinkünften hält er eine etwas über dem Durchschnitt liegende Einkommenssteuer für vertretbar (1976b, 842). 13 Die „unsichtbare Hand" taucht auch im ökonomischen Kontext auf (Smith 1976b, 456). Angemerkt sei, daß Smith eine Besteuerung lebensnotwendiger Güter nicht fur vertretbar hält. 14 Es wird im folgenden unterstellt, daß das Kompensationstheorem von Jean-Baptiste Say (17671832) nicht gilt, daß also die Progression der Einkommenssteuer die Regression indirekter Steuern übersteigt.
200 · Artur Woll der Proportionalität erst einmal aufgegeben, gäbe es kein Ausmaß an Ungerechtigkeit und Torheit, das nicht begangen werden würde.15 Eingeführt wurden die progressiven Steuern in wichtigen Ländern um die Jahrhundertwende, zunächst in Preußen (1891), dann in Großbritannien (1910), schließlich in den Vereinigten Staaten (1913). Bei der Einfuhrung war die Progression sehr mild. So betrugen die Steuersätze in Preußen zwischen knapp ein bis vier Prozent, explodierten jedoch innerhalb einer Generation auf das Zehnfache. Unter den fatalen Wirkungen einer exzessiven Progression seien hier nur zwei festgehalten: Erstens läßt sich die angestrebte Umverteilung zwischen Reichen und Armen mit Sicherheit nicht feststellen.16 Zweitens können die Bezieher hoher Einkommen, die von der Progression erfaßt werden sollen, der Belastung in der Regel leichter entgehen als die Bezieher niedriger Einkommen, so daß diese häufig mehr als vorgesehen betroffen werden. In der wissenschaftlichen Literatur ist das Fehlen einer staatlichen Umverteilung innerhalb des privaten Sektors bei Smith bemängelt worden, vor allem - was naheliegt von Finanzwissenschaftlern, die einer solchen Politik das Wort reden. Das Standardargument lautet, die Lehre von den Staatsaufgaben bei Smith sei insofern defizitär, als sie nicht zukunftsträchtig und nicht ausgereift sei. So hätte im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung der Staat eine private Umverteilung betreiben müssen, weil mit einem wachsenden Sozialprodukt das Interesse an seiner Verteilung stärker gestiegen sei, als Smith sich vorgestellt habe (Musgrave 1975, 310). Weiter noch geht die Behauptung, das Gemeinwohlverständnis von Smith - Gemeinwohl als Summe individueller Wohlfahrt - enthalte bereits den Kern des Benthamschen Satzes, daß die Maximierung des Gemeinwohls durch Maximierung des Glücks der größten Zahl erfolge (Mann 1956, 291). Bentham hatte - ausgehend von dieser Auffassung - eine staatliche Umverteilung innerhalb des privaten Sektors befürwortet (Robbins 1952, 61 ff.). Demgegenüber ist festzuhalten, daß das Werk von Smith, wenn man es insgesamt betrachtet, für solche Mutmaßungen keinen Raum läßt. Das Fehlen einer staatlichen Umverteilung ist in seinem Konzept, wie oben dargelegt, generell kein Defizit oder speziell kein Mangel an Zukunflsträchtigkeit, sondern das bewußte und logisch konsequente Ergebnis seines Staatsverständnisses und seiner Moralphilosophie. Eine staatliche Einebnung von Unterschieden bei Einkommen und Vermögen, die Bentham in Grenzen befürwortet, wird von Smith ebenso abgelehnt wie die utilitaristische Philosophie. Man mag sich für das alternative Staatsverständnis entscheiden, das eine zwangsweise Umverteilung unter Privaten nicht bloß als mögliche, sondern verpflichtende Staatsaufgabe einschließt. Doch kann dem System von Smith weder Vollständigkeit noch Konsistenz abgesprochen werden. 15 Vgl. zu Einzelheiten Seligman (1908) und Hayek (1971, 387 ff.). Zu den vergeblichen Versuchen, die progressive Steuer wissenschaftlich zu begründen vgl. Schmidt (1960). 16 Vgl. für das deutsche Schrifttum Zimmermann und Henke, nach denen eine generelle Aussage über die Inzidenz einer Einkommenssteuer auf unvollkommenen Märkten nicht möglich sei (1994, 254). Noch deutlicher argumentieren bedeutende angelsächsische Autoren, welche die Auffassung vertreten, daß die Wirkungen der öffentlichen Finanzen auf die Verteilung der disponiblen Einkommen nicht bekannt sein kann. Das Problem selbst sei sinnlos ( Shoup 1969, 577) - eine Auffassung, der angesichts der methodischen Schwierigkeiten (Shoven 1987, 609 ff.) uneingeschränkt zuzustimmen ist.
Adam Smith - Gründe fur ein erneutes Studium seiner Werke • 201 Damit ist nicht ausgeschlossen - was nicht ausgeführt sei -, daß dieses System den Bedürfnissen und Möglichkeiten der heutigen Zeit angepaßt wird, ohne seine Prinzipien zu verletzen.17 Eine Orientierung der Fiskalpolitik an der Staatslehre von Smith hätte vielen Ländern erspart, was unter dem Regime einer maßlosen Politik der Umverteilung und Daseinsvorsorge tatsächlich geschehen ist: Im Zuge dieser Politik entwickelte sich eine unproduktive, meist hypertrophe Bürokratie, die erhebliche Teile der Verteilungsmasse aufzehrt, daneben eine private, im Parlament verankerte Lobby zur Erlangung und Verteidigung von Vorteilen für bestimmte Gruppen oder Regionen - die geborenen Gegner jeglicher Beschränkung des Wohlfahrtsstaates. Von politischen Unternehmern wird, obwohl ihnen die gravierenden Folgen eines ausgeuferten Wohlfahrtsstaates bekannt sind, die Umverteilung - oft in demagogischer Weise - als Mittel zum Stimmenkauf in breiten, unwissenden Bevölkerungsschichten eingesetzt. Da sich die tatsächlichen Ergebnisse der Umverteilung, die sich nur selten mit ihrem erklärten Ziel decken, auf Dauer nicht kaschieren lassen, wird die Glaubwürdigkeit der Politiker im Laufe der Zeit mehr und mehr untergraben. Die teilweise verheerenden Wirkungen eines exzessiven Wohlfahrtsstaates für Gesellschaft und Wirtschaft sowie nicht zuletzt für die Individuen haben in den letzten Jahren selbst seine ursprünglichen Protagonisten gezwungen, eine Beschneidung zu verlangen und - wie z. B. im einst wohlfahrtsstaatlichen Musterland Schweden - auch durchzusetzen. Was von einer progressiven Besteuerung im besonderen befürchtet wurde, gilt für die staatliche Umverteilungspolitik im allgemeinen: Wird erst einmal damit begonnen - meistens im gelinden Ausmaß -, fehlt ihr bald jede Rationalität, Mäßigung und Begrenzung, wahrscheinlich wegen der Eigendynamik, die allen politischen Auseinandersetzungen in Demokratien über die private Umverteilung inhärent zu sein scheint.
III. Diskussion über die Wirkungsweise des Marktes 1. Spontane Ordnung Smith befaßt sich in seiner Wealth of Nations ausführlich und systematisch mit dem Staat, seinem Zweck und seinen Aufgaben, die er aus bestimmten Stufen der historischen Entwicklung ableitet. Eine ähnliche Darstellung für den Markt sucht man bei ihm vergeblich. Weder in der Wealth of Nations noch in anderen Werken, die gelegentlich über die dort behandelten Gegenstände hinausgehen - wie z. B. die Darlegung zu den natürlichen Bedürfnissen der Menschen in den Lectures {Smith 1978, 487 ff.) -, findet sich eine systematische Behandlung der Marktwirtschaft, weshalb dieser Begriff auch nicht in den Registern seiner Bücher auftaucht. Andererseits sind im Werk von Smith alle Merkmale, die eine Marktwirtschaft ausmachen, deutlich enthalten. Nur muß das Konzept, von dem Smith ausgeht, aus seinen Ausführungen über Marktvorgänge in verschiedenen, manchmal unvermuteten Zusammenhängen erschlossen werden. Bei dieser Suche scheint es 17 So dürfte mit den Prinzipien von Smith eine subsidiäre staatliche Existenzsicherung fur Personen vereinbar sein, die ohne diese Unterstützung ihr Leben nicht erhalten könnten.
202 · Artur Woll unvermeidlich, daß die Botschaft seines vielschichtigen Werkes unterschiedlich gesehen wird. So vertreten einige Autoren die Ansicht, die Wealth of Nations sei im Kern ein Ratgeber für die Entwicklungspolitik (Robbins 1968, 9) - was sich durch Titel und wichtige Passagen des Buches rechtfertigen läßt -, während andere, wohl die Mehrheit, die Analyse der Allokation knapper Ressourcen für die Essenz des Werkes halten (Hollander 1973, 19). Im folgenden sei das ordnungspolitische Konzept von Smith skizziert, soweit es in der Diskussion der letzten Zeit stärker als früher betont und - jedenfalls überwiegend - als seine originäre Leistung angesehen wird. Die marktwirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen von Smith sind eine Komposition von drei interdependenten Elementen: der Art einer Ordnung, ihrem Steuerungsideal und dem Verfahren zu dessen Verwirklichung. Die Art der marktwirtschaftliche Ordnung folgt aus dem Staatszweck, der oben erörtert wurde. Wenn der Staat dem Einzelnen zu dienen habe und nicht Selbstzweck sei, wie Adam Smith und David Hume nachdrücklich vertreten, so kommt ein Herrscher - gleichgültig in welcher Staatsform - nicht in Betracht, der individuelle Interessen seinen Vorstellungen unterordnet. Smith hat sich zu dieser ordnungspolitischen Grundfrage klar geäußert, allerdings nicht in der Wealth of Nations, sondern in der Theory of Moral Sentiments, weshalb diese Stelle selbst von Kennern der klassischen Ökonomie lange übersehen wurde (Robbins 1952, 127). Dort heißt es: „The man of system ... seems to imagine that he can arrange the different members of a great society with as much ease as the hand arranges the different pieces upon a chess-board. He does not consider that the pieces upon the chess-board have no other principle of motion besides that which the hand impresses upon them; but that, in the great chess-board of human society, every single piece has a principle of motion of its own, altogether different from that which the legislature might chuse to impress upon it. If those two principles coincide and act in the same direction, the game of human society will go on easily and harmoniously, and is very likely to be happy and successful. If they are opposite or different, the game will go on miserably, and the society must be at all times in the highest degree of disorder" {Smith 1976a, 233 ff). Smith fügt hinzu, daß ein Staatsmann, der seine Vorstellungen von einer Gesellschaft mit Gewalt durchsetzt, sein eigenes Urteil als obersten Maßstab für das Recht ansehe und damit höchst anmaßend sei (1976a, 234). Das Gegenteil eines rücksichtslosen Herrschers ist jener, der sich von Humanität und Wohlwollen leiten läßt, die Rechte des Einzelnen achtet und deren Vorurteile durch Vernunft und Überredung, niemals jedoch durch Gewalt zu überwinden trachtet (Smith 1976a, 233). Angesichts der im Zuge der Änz/A-Renaissance betonten gedanklichen Einheit seiner Werke dürfte es unerheblich sein, daß die Fundstelle für diese ordnungspolitisch fundamentale Ansicht die Theory of Moral Sentiments ist. Die ökonomischen Überlegungen von Smith basieren eindeutig auf einem dezentralen Wirtschaftssystem (Verkehrswirtschaft) im Sinne von Walter Euchen (1950, 78 ff). In der Literatur vor Smith sucht man vergeblich nach dieser klaren Unterscheidung von Wirtschaftssystemen, die sich bis in die Gegenwart hinein als fruchtbringend erwiesen hat. Entscheidende Ursache für die hochgradige Unordnung einer Gesellschaft ist nach Smith, daß „the man of system" bei der Durchsetzung seiner Pläne auf die individuellen
Adam Smith - Gründe fur ein erneutes Studium seiner Werke • 203 Bewegungs- oder Handlungsnormen (law of motions) keine Rücksicht nimmt. Smith hat der Arbeitsweise von institutionellen Arrangements und von Handlungsnormen besondere Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie die Operationen von Institutionen und Individuen bestimmen (Skinner 1996, 183). Als Handlungsnorm gilt ihm, daß die Kontrolle knapper Ressourcen dem Markt überlassen werden kann und die Regierung nicht in Märkte eingreifen soll. Für die Herausarbeitung dieser Norm, die er frühzeitig vorgetragen hat, macht er den Anspruch auf Originalität geltend (Stewart 1794, 321). Sie ist Ausfluß der auch bei anderen schottischen Aufklärern anzutreffenden Idee einer spontanen Gesellschaft. Diese sei, wie Smith wiederholt unterstreicht, das Ergebnis menschlichen Handelns, nicht jedoch menschlichen Entwurfs (Hayek 1969, 97 ff ). Ein wichtiges und unverzichtbares Element einer spontanen Gesellschaft ist das Institut Eigentum, dessen Entstehungsformen Smith in den Lectures eingehend behandelt (Smith 1978, 10 ff. und 459 ff.) und dessen Bedeutung er fur die Entstehung des Staates im Rahmen der Vierstadientheorie würdigt (1976b, 709 ff), das er in seinen ökonomischen Darstellungen jedoch stillschweigend voraussetzt. In der Anwendung der Idee einer spontanen Gesellschaft ist Smith viel weiter gegangen als andere Vertreter der schottischen Aufklärung. Gleich zu Beginn der Wealth of Nations weist er darauf hin, daß durch Tausch am Markt die Pläne der einzelnen Teilnehmer, die sich vom Einzelinteresse und nicht vom zwischenmenschlichen Wohlwollen leiten lassen, abgestimmt werden - weitaus besser als in Organisationen, die auf menschlicher Planung beruhen. In der heutigen Sprache des Faches ausgedrückt zeigt Smith. Die abstrakten Preise eines Marktes - Niederschlag von Angebot und Nachfrage - signalisieren die relative Knappheit und liefern damit Informationen für die individuellen Entscheidungen. Trotz der Begrenztheit des individuellen Wissens entsteht auch gesamtwirtschaftlich ein Ergebnis, das die knappen Ressourcen besser nutzt und deshalb zu einem höheren Sozialprodukt fuhrt, als in allen uns bekannten Wirtschaftsordnungen (Hayek 1969, 167). Das „natural system of perfect liberty and justice" (Smith 1976b, 606), ökonomisch gesehen das gesamtwirtschaftliche Optimum, ist das ungeplante Ergebnis individueller Entscheidungen. Mit anderen schottischen Aufklärern nimmt Smith einen Gedanken auf, den BernardMandeville (1670-1733) popularisiert hat (1924, 17 ff.), nämlich daß „das Allerschlechteste sogar fürs Allgemeinwohl tätig war" (Hayek 1969, 128). Durch die Verfolgung des Eigeninteresses fördere der Einzelne, wie von einer „unsichtbaren Hand" geleitet, das Allgemeinwohl nachhaltiger, als wenn er beabsichtigt hätte, dies zu tun (Smith 1976b, 456). Der vielzitierte und vielkritisierte Ausdruck „unsichtbare Hand" taucht in der Wealth of Nations - ebenso wie in der Theory of Moral Sentiments - zwar nur einmal auf, der Zusammenhang, in dem er steht, jedoch häufiger, wenn es Smith darum geht, die Verfolgung des Eigeninteresses als wesentlichen Beitrag zum Allgemeinwohl zu würdigen und darzulegen, daß trotz zahlreicher Einzelentscheidungen ein sinnvolles gesamtwirtschaftliches Ergebnis ohne zentrale Planung zustande kommt - vorausgesetzt, die individuellen Entscheidungen werden weder vom Staat noch von Privaten behindert. Dies deckt sich bis heute mit der beobachteten Wirklichkeit, so daß der vage und leicht irreführende Ausdruck „unsichtbare Hand" zutreffend einen wirklichen, aber
204 · ArturWoll schwer zu erklärenden Vorgang beschreibt. Aus analytischer Sicht bleibt bei Smith insbesondere im Dunkeln - auch wenn er die Interdependenz von Märkten kennt und in seinen Überlegungen berücksichtigt -, wie das allgemeine Gleichgewicht aus Entscheidungen an Einzelmärkten abzuleiten ist. Es bedurfte eines vollen Jahrhunderts bis zur Entwicklung einer allgemeinen Gleichgewichtstheorie durch Léon Walras (1954), in der dieser Zusammenhang analytisch aufgezeigt werden konnte, allerdings bis heute auf Kosten der Realitätsnähe. 2. Konsumentensouveränität In einer spontanen marktwirtschaftlichen Ordnung, die keinen zentralen Planer kennt, stellt sich die Frage nach dem Steuerungsprinzip. Gäbe es ein solches Ordnungsprinzip nicht, wäre nicht klar, was der Zweck des Wirtschaftens ist und vor allem, woran staatliche Entscheidungen zu orientieren sind. Das Steuerungsprinzip einer marktwirtschaftlichen Ordnung wird von Smith in seinen Darlegungen zwar durchgängig impliziert. Ausdrücklich und wie ihm scheint ganz überflüssig genannt wird es jedoch an einer unvermuteten Stelle seiner Wealth of Nations, an der er zusammenfassend das merkantile System kritisiert. Dort heißt es: „Consumption is the sole end and purpose of all production; and the interest of the producer ought to be attended to, only so far as it may be necessary for promoting that of the consumer. The maxim is so perfectly self-evident, that it would be absurd to attempt to prove it" (Smith 1976b, 660). Die Steuerung einer Marktwirtschaft hat nach Smith vom Verbraucher auszugehen. Für diesen Sachverhalt oder diese Norm - je nach Sichtweise - ist von Londoner Ökonomen vor einigen Jahrzehnten der heute allgemein gebräuchliche Ausdruck Konsumentensouveränität geprägt worden (Rothenberg 1968, 327).18 Smith hält die Konsumentensouveränität für eine so selbstverständliche Maxime, daß ihm absurd erscheint, sie noch beweisen zu wollen. Das hat einige Autoren nicht von weiteren Überlegungen abgehalten, in denen sie ζ. B. die Konsumentensouveränität im Rahmen der staatsphilosophischen Vertragslehre zur Gruppe der konstitutionellen Prinzipien rechnen (Vanberg 1997, 721) oder als normatives Element einer sozialen Wohlfahrtsfunktion betrachten (Rothenberg 1968, 329). Deshalb sei festgehalten, worauf es Smith ankommt: In einer Welt der Knappheit ist der Zweck des Wirtschaftens die Befriedigung von Konsumentenwünschen. Unternehmen, die sich im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung gebildet haben, produzieren - auch bei ausgeprägter Arbeitsteilung innerhalb der Produktions- und Absatzwirtschaft - letztlich Güter für den Konsum, arbeiten also gleichsam im Auftrag der Konsumenten. Dieser Sachverhalt ist in einer spontanen Ordnung evident, sofern der Zweck des Wirtschaftens nicht in Frage gestellt wird. Folgerichtig darf deshalb nach Smith in einer marktwirtschaftlichen Ordnung das Wohl der Konsumenten nicht - wie im Merkantilismus - dem Interesse der Produzenten geopfert werden. 18 Rothenberg schreibt die Begriffsprägung William H. Hütt (1899-1991) zu, doch schon dessen akademischer Lehrer und herausragende Smith-Kenner Edwin Cannan (1861-1935) hat ihn wohl verwendet.
Adam Smith - Gründe für ein erneutes Studium seiner Werke · 205 Die eminente Bedeutung der Konsumentensouveränität für die marktwirtschaftliche Ordnung ist von deren Kritikern schon früh erkannt worden. Deshalb wird von ihnen Konsumentensouveränität als kontrollbedürftig, aber auch als irreal angesehen. Die Notwendigkeit einer Kontrolle der Konsumentensouveränität ergebe sich daraus, daß die Verbraucher häufig Güter kaufen würden, die „wertlos", „sinnlos" oder „verschwenderisch" im Vergleich zu Alternativen seien. Es liegt auf der Hand, daß sich diese Auffassung von Konsumentensouveränität mit einer auf individueller Freiheit begründeten Ordnung nicht vereinbaren läßt. Die Kritiker setzen an die Stelle autonomer individueller Entscheidungen ihre angeblich höhere Einsicht, die jedoch nichts anderes als eine Urteilsanmaßung ist. Dem Einwand, die Konsumentensouveränität sei irreal, kann in einem bestimmten, aber nur in diesem Sinne beigepflichtet werden: Konsumentensouveränität ist eine Maxime, ein Prinzip oder ein Ideal, das insbesondere den Entscheidungen staatlicher Stellen als Richtschnur dienen sollte, sich aber nicht von allein einstellt und angesichts menschlicher Unvollkommenheit - niemals voll zu verwirklichen ist. Hier liegt eine wesentliche Aufgabe auch und gerade für den Staat in einer freiheitlichen Ordnung (II.). 3. Wettbewerbsfreiheit Smith genügt es nicht, daß ein Herrscher auf eine zentrale Planung verzichtet und Konsumentensouveränität als Richtschnur wirtschaftspolitischer Entscheidungen dient. Unerläßlich ist ein Verfahren oder ein Instrument, das die Durchsetzung der Verbraucherwünsche gewährleistet. Als ein solches Instrument sieht er den Wettbewerb an, der zwei Anforderungen erfüllen muß, damit er die ihm zugedachte Aufgabe übernehmen kann: Wettbewerb muß fair und frei sein. Diese Anforderungen spiegelt Erfahrungen wider, auf die Smith in verschiedenen Zusammenhängen, vor allem im vierten Buch seiner Wealth of Nations häufig eingeht. Ein Verstoß gegen fairen Wettbewerb liegt vor, wenn die Marktteilnehmer die Spielregeln nicht beachten. Für Smith ist diese Frage ethischer Natur, weshalb er in seinem moralphilosophischen Werk The Theory of Moral Sentiments schreibt: „In the race for wealth, and honours, and preferments, he may run as hard as he can, and strain every nerve and every muscle, in order to outstrip all his competitors. But if he should justle, or throw down any of them, the indulgence of the spectators is entirely at an end. It is a violation of fair play, which they cannot admit of' ÇSmith 1976a, 83). Schützenswert ist nach Smith demnach nicht Wettbewerb an sich, sondern nur faire Konkurrenz. Dieser Auffassung entspricht die Wettbewerbsgesetzgebung in vielen Ländern. So gibt es in Deutschland seit dem Jahr 1909 ein noch heute geltendes Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, mit dem Auswüchse des Konkurrenzkampfes verhindert werden sollen. Das Problem eines solchen Gesetzes besteht allerdings darin, daß durch eine weite Auslegung der Unlauterkeit, über die es höchst unterschiedliche subjektive Meinungen geben kann, das Ausmaß des schützenswerten Wettbewerbs beschnitten wird. Bei Smith findet sich keine Wettbewerbstheorie im heute üblichen Sinn dieses Wortes. Diese ist auch nicht sein Anliegen. Ihm kommt es darauf an, die Bedingungen aufzuzei-
206 · Artur Woll gen, die vorliegen müssen, damit sich Wettbewerb überhaupt entwickelt. Sind diese Bedingungen erfüllt, vertraut er darauf, daß der Wettbewerb die gewünschten Ergebnisse zeitigt, das heißt vor allem, den Wohlstand breiter Schichten soweit wie möglich hebt. Das Studium der Geschichte und seiner Gegenwart hat Smith gelehrt, daß diese notwendigen Bedingungen für Wettbewerb häufig nicht vorliegen und dieser deshalb seine wohltätigen Wirkungen nicht entfalten kann. Was sind notwendige Bedingungen aus seiner Sicht? Smith schreibt dazu: Das „einsichtige und einfache System der natürlichen Freiheit" läßt sich nur verwirklichen, wenn alle einseitigen Begünstigungen und alle Beschränkungen des Wettbewerbs aufgegeben werden {Smith 1976b, 687). Unerläßlich für die Entfaltung von Wettbewerb ist die Freiheit von Beschränkungen und Abbau einseitiger Begünstigungen. Freier Wettbewerb stellt sich jedoch - ebenso wie Konsumentensouveränität - nicht von selbst ein. Eine Regierung muß durch Deregulierungen und Regulierungen dafür sorgen, daß das „System der natürlichen Freiheit" soweit wie möglich realisiert wird. Es dürfte deutlich geworden sein, daß der zentrale Begriff für die ordnungspolitischen Vorstellungen von Smith die Freiheit ist: Eine spontane Gesellschaft ist frei von einem Herrscher, der ohne Rücksicht auf individuelle Interessen seine Vorstellungen durchsetzt, und frei von unnötigen staatlichen Interventionen. Die Individuen können über Eigentum frei verfügen, am Markt frei wählen und am freien Wettbewerb teilnehmen. Diese individuellen Handlungsfreiheiten sind nach Smith aber nicht unbeschränkt, sondern an Grenzen gebunden, die durch unabweisbare Staatsaufgaben und darüber hinaus - was hier nicht ausgeführt wurde - durch die Moral gesetzt werden. Im Hinblick auf ein unterschiedliches Verständnis von Freiheit (.Berlin 1995, 197) sei angemerkt, daß Smith einen negativen Freiheitsbegriff verwendet, im Sinne von „frei von ...", näherhin „frei von unnötigen Beschränkungen". Im Gegensatz zur positiven Freiheit - „frei für ..." - bleibt bei Smith offen, was die Individuen mit ihrer Freiheit tun. In diesem Sinne ist sein „System der natürlichen Freiheit" auch wertfrei. Literatur Beckerath, Erwin von (1952), Die neuere Geschichte der deutschen Finanzwissenschaft (seit 1800), in: Wilhelm Gerloff und Fritz Neumark (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, 1. Bd., Tübingen, S. 416-468. Berlin, Isaiah (1995), Freiheit: Vier Versuche, Frankfurt am Main. Blaug, Mark (Hrsg.) (1991), Adam Smith (1723 -1790), Aldershot. Eucken, Walter (1950), Die Grundlagen der Nationalökonomie, 6. Auflage, Berlin, Göttingen und Heidelberg. Ferguson, Adam (1767), An Essay on the History of Civil Society, Edinburgh. Friedman, Milton (1976), Adam Smith's Relevance for 1976, Los Angeles. Hayek, Friedrich August von (1969), Freiburger Studien: Gesammelte Aufsätze, Tübingen. Hayek, Friedrich August von (1971), Die Verfassung der Freiheit, Tübingen. Hayek, Friedrich August von (1991), Adam Smith (1723-1790): His Message in Today's Language, in: William Warren Bartley und Stephen Kresge (Hrsg.), The Collected Works of F. A. Hayek, Vol. III: The Trend of Economic Thinking: Essays on Political Economists and Economic History, Chicago und London 1991. Hollander, Samuel (1973), The Economics ofAdam Smith, London.
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Zusammenfassung Das zweihundertjährige Jubiläum der Wealth of Nations löste eine Äwz'/Ä-Renaissance aus, die bis heute andauert. In der Bewertung des Werkes von Smith hat die weltweite Diskussion zwar nicht zu einer Revolution, aber zu deutlichen Akzentverschiebungen gefuhrt. Stärker als in der Vergangenheit wird das Werk von Smith als Ganzes gewürdigt und dessen sozialwissenschaftliche Ausrichtung betont. Bei den Funktionen des Staates wird über die bisher übliche Betrachtung von Staatsaufgaben und -ausgaben auch die Frage nach dem Staatszweck gestellt. Smith versteht den Staat als Treuhänder des Rechts, der keine eigenen Ziele anstrebt und die Funktion hat, die Individuen bei der Verfolgung ihrer Ziele zu sichern und zu fördern. So lange der Einzelne keine Gesetze verletze, solle man ihm völlige Freiheit lassen, seine eigenen Ziele zu verfolgen. In einem „System der natürlichen Freiheit" obliegt dem Staat der Schutz gegen Übergriffe von außen und innen sowie die Bereitstellung der Infrastruktur. Zur Erreichung dieses Systems sind angesichts der Realität staatliche Deregulierungen und Regulierungen angezeigt. Nach Smith gehört es nicht zu den Aufgaben des Staates, Einkommen und Vermögen zwischen den Privaten umzuverteilen - eine Auffassung, die angesichts der wohlfahrtsstaatlichen Exzesse in vielen Ländern von großer aktueller Bedeutung ist. Insgesamt entwirft er ein Konzept für die ordnungspolitische Funktion des Staates, das konsistent ist und auch modernen Anforderungen zu genügen vermag. Bei der Wirkungsweise des Marktes werden deutlicher als bisher drei wesentliche, interdependente Elemente im System von Smith betont, die spontane Ordnung mit Privateigentum, die Konsumentensouveränität und die Wettbewerbsfreiheit. An einer früher unbeachteten Stelle der Theory of Moral Sentiments fuhrt Smith aus, daß nur in ungeplanten, nicht zentral gelenkten Gesellschaften die Einzelnen ihren Interessen nachgehen können. Die Produktion von Gütern sei nicht Selbstzweck, sondern für den Konsum bestimmt. Daraus folge, daß die Interessen der Konsumenten Priorität gegenüber denen
Adam Smith - Gründe fur ein erneutes Studium seiner Werke · 209 der Produzenten und Händler besäßen. Damit sich diese Interessen auch durchsetzen ließen, sei freier Wettbewerb nötig, der allerdings fair sein sollte. Summary The concept of Adam Smith is as relevant today as it was two centuries ago The bicentennial anniversary of Wealth of Nations has marked a 5/n/iA-Renaissance which continues today. The worldwide discussion of the value of the work of Adam Smith has not led to a revolution, but rather to a clear shift of emphasis. More predominantly than in the past, scholars acknowledge the work of Smith as a whole and emphasize its importance for the social sciences. At present, economists tend to extend the examination of state responsibilities and expenditures to include the inquiry into the purpose of the state. Smith perceives the state to be the trustee of law. It does not have its own separate goals, and its function lies in securing and supporting the individuals pursuing their interests. As long as the individual does not violate a law, he ought to have complete freedom of action. In a "system of natural liberty" the state is responsible for protecting against attacks, external or internal, as well as providing the infrastructure. Reality makes deregulation and regulation necessary for the achievement of these goals. According to Smith, it is not the responsibility of the state to redistribute income and wealth inside the private sector - an understanding that has grown in its importance because of the excessive welfare state in many countries. In sum, Smith develops a concept of state functions that is consistent as well as capable to meet the challenges of modern society. The system of Smith contains three essential and interdependent functions of the market: a spontaneous order which admits private property, the sovereignty of the consumer, and the freedom of competition. In a previously unnoticed elaboration in Theory of Moral Sentiment, Smith explains that the individual can only pursue his interest in a spontaneous, not centrally planned society. For Smith, the sole end and purpose of all production is consumption. Consequently, the interests of consumers, which require free competition, take priority over the interests of producers and traders. Moreover, competition ought to be fair.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart, 1998) Bd.49
Friedrich L. Seil
Max Weber - der Nationalökonom Zur Neuinterpretation seines Werkes durch Wilhelm Hennis1
I. Einleitung Im Abstand von neun Jahren hat der bekannte Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis zwei Werke vorgelegt, die zu einem weitgehend erneuerten, ja neuen Bild von Max Weber fuhren können. In „Max Webers Fragestellung" {Hennis 1987) und in "Max Webers Wissenschaft vom Menschen" {Hennis 1996) hat er, der Politologe, u. a. versucht, Max Weber als einen wichtigen Nationalökonomen (wieder) zu entdecken. Die Prinzipien, mit denen Hennis arbeitet, sind einfach und zwingend zugleich: er versucht, „unbefangen" an das Werk heranzugehen; dies bedeutet zu allererst den mainstream der heutigen Weberforschung nur als ein Angebot, als eine Lesart zu begreifen, die möglicherweise verbesserungs- zumindest aber stark ergänzungsbedürftig ist. Nicht mehr und nicht weniger. Im Zentrum der Analyse von Hennis stehen zuerst Max Webers Texte selbst (textimmanente Methode); diese Vorgehensweise wird auch von einem anderen bedeutenden Weber-Exegeten der Gegenwart, Friedrich Tenbruck, seit langem gefordert. Zweitens versucht Hennis, Webers Botschaft, dort, wo sie anerkanntermaßen auslegungsbedürftig ist, durch zwei methodisch höchst interessante und zugleich angemessene Verfahren „einzukreisen". Einmal durch Max Webers Briefwechsel und zum anderen durch seinen schriftlichen Disput mit Kritikern, Interpreten etc. Schließlich befragt Hennis drittens das Werk (in einem entsprechend umfassenden Sinn) neugierig danach, was Webers wissenschaftliche Leidenschaft (immer wieder) hervorgerufen hat. Aus alledem ergeben sich für einen „verstehenden Nationalökonomen" - zu dem uns Hennis gewissermaßen im Sinne Webers erziehen möchte - drei rote Fäden, die Webers gesamtes Werk durchziehen und die Wilhelm Hennis sozusagen „freigelegt" hat. Die Themen dieser roten Fäden bestimmen zwangsläufig auch die Gliederung dieses Beitrags: „Was hat Max Weber interessiert?" - „Woran und wie sollten Max Weber folgend Nationalökonomen arbeiten?" - „Gibt es eine 'Anethik' des modernen globalen Kapitalismus (und wenn ja, wie kann diese überwunden werden)?"
1
Ich widme diesen Beitrag meinem Vater, dem Schriftsteller Hans Joachim Seil, der mir mit seinem Rat, (auch) Politikwissenschaft zu studieren, viele (mir) verborgene Türen aufgestoßen hat.
212 · Friedrich L. Sell
II. Was hat Max Weber interessiert? Hennis gibt dem mainstream in der Weber-Forschung zunächst das Wort: „Die heute vorherrschende Auffassung geht dahin, Weber habe die für die Entstehung des modernen Kapitalismus 'adäquaten* Geisteshaltungen herausarbeiten wollen, also die von ihm immer wieder betonte 'Wahlverwandtschaft' zwischen dem 'Geist des Kapitalismus' und der 'Puritanischen Ethik'" {Hennis 1987, 11). In dieser Auslegung schwingen implizit mehrere Behauptungen mit, welche nicht zu Weber hin, sondern von ihm wegfuhren: Weber war es nämlich nicht „um religiöse 'Inhalte' (oder gar um den Vergleich mit 'kapitalistischen Inhalten', der Verfasser) gegangen, sondern um die die Lebensführung beeinflussende Kraft verschiedener Formen religiöser 'Vergemeinschaftung'" (Hennis 1987, 32). Dabei beschäftigte Weber „nicht irgendein Rationalisierungsprozeß 'überhaupt', sondern der Prozeß der Rationalisierung der 'praktischen Lebensführung'" (Hennis 1987, 34). Ihn interessierten dabei auch nicht die eine ganze „ 'Gesellschaft', sondern eben: den einzelnen Menschen prägenden Faktoren" (Hennis 1996, 71). „Einen prägenden Faktor, ein 'plastisches Element' der modernen Lebensführung - den asketischen Protestantismus in seiner Auswirkung auf die Berufsidee - hatte Weber in der 'Protestantischen Ethik' untersucht" (Hennis 1987, 33). Dabei ist der Protestantismus für Weber zunächst einmal nichts anderes als das, was sonstige Weltreligionen auch sind: „Als 'Systeme der Lebensreglementierung' sind sie, die 'Weltreligionen', zu verstehen, nicht anders als in den älteren Arbeiten die 'Ethiken' des asketischen Protestantismus"(Hennis 1987, 30; Weber 1972, 237 f.). Der Protentantismus hat „... die für den Westen ... entscheidend gewordene 'Rationalisierung der Lebensführung' (hervorgebracht, der Verfasser), ohne die vor allem die 'schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens', der neuzeitliche Kapitalismus, nicht hätte entstehen können" (Hennis 1987, 36; Weber 1972, 4). Die Weber interessierende Thematik ist demzufolge nur eine „Fallstudie" für einen sehr viel grundsätzlicheren Zusammenhang. Es geht im Grunde genommen um die Frage - „welche gesellschaftliche Ordnung (zu der jede Religionsgemeinschaft einen konstitutiven Beitrag leistet, der Verfasser) gibt welchem menschlichen Typus - sagen wir: welcher Art von Mensch - welche Chance, zum herrschenden zu werden, im Rahmen menschlich innerweltlicher Wissenschaft kann ein solches Thema an Gewicht ja kaum überboten werden" (Hennis 1987, 130). Hennis legt Wert auf die Feststellung, „wie sehr diese Frage in der Linie der zentralen Frage aller politischen Wissenschaft seit Aristoteles bis hin zu Rousseau und Tocqueville liegt: welche Chance bietet der Charakter der politischen Ordnung welchem Typus Mensch zum herrschenden, will heißen nicht statistisch, sondern zum ethisch vorbildlichen, zum Repräsentanten, zum maßgebenden Typus werden zu können" (Hennis 1987, 130). Ja, Weber macht aus dieser Sichtweise fast einen „kategorischen Imperativ" der modernen Sozialwissenschaft, wenn er feststellt, woraufhin bei sozialwissenschaftlichen Untersuchungen jede wie auch immer geartete Ordnung letztlich zu prüfen sei: „welchem menschlichen Typus sie, im Wege der Auslese die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden" (Weber 1973a, 33; Hennis 1987, 206).
Max Weber - der Nationalökonom · 213 Hennis bemüht sich gleichermaßen darum, vorhandene oder denkbare Irrtümer, die sich um das Werk Max Webers „ranken", auszuräumen, wie auch Mißdeutungen, zu denen Max Weber selbst Anlaß gegeben hat, richtig zu stellen. Als Beweis möge die folgende Passage dienen: „Wie viele Mißverständnisse hätte er sich und seinen Lesern durch eine kleine Titeländerung ersparen können: „Die protestantische Ethik und der 'kapitalistische' Habitus" (Hennis 1987, 17). Noch einmal: „Wenn Worte irgend etwas besagen, so ist es uns jetzt jedenfalls eindeutig erlaubt festzuhalten, worauf Webers 'zentrales' Interesse in den Aufsätzen zur Protestantischen Ethik gegangen war: auf die 'Entwicklung des Menschentums', wie es durch eine bestimmte 'Verkettung von Umständen': das 'wahlverwandte' Sich-Finden des 'asketischen Protestantismus' und seines Niederschlags in der Berufsidee mit dem frühbürgerlichen Kapitalismus im neuen Stil rationaler 'Lebensführung' vom Typ des 'Berufs- und Fachmenschen' zutiefst beeinflußt worden war. Die Askese hatte mitgeholfen, 'jenen mächtigen Kosmos der modernen Wirtschaftsordnung' zu 'erbauen', der 'heute den Lebensstil aller einzelnen ... mit überwältigendem Zwange bestimmt'" CHennis 1987, 23; Weber 1972, 203). Weber hat glasklar gemacht, worum es ihm ging: um die Herausarbeitung eines Stranges in der Geschichte des modernen Typus Mensch, der gelernt hat, sein Alltagsleben, sein Berufsleben insbesondere diszipliniert und methodisch zu fuhren, um damit - ohne es zu wollen - dem modernen Fach- und Berufsmenschentum den Weg zu bahnen. „Dieses war Voraussetzung (Hervorhebung durch den Verfasser) für die Entstehung des modernen Kapitalismus; Webers vorrangiges Interesse galt nicht der kapitalistischen Wirtschaftsform, sondern dem 'Menschentum', das der bürgerliche Erwerbskapitalismus für seinen Sieg voraussetzte" CHennis 1987, 177). Also nicht der „Geist oder die Geisteshaltung des Kapitalismus" - was könnte diese(r) wohl schon sein: das Streben nach Gewinn- und Nutzenmaximierung?, die Nutzung von Privateigentums- und Verfügungsrechten (auch von bzw. über Produktionsmittel) zum eigenen Vorteil?, eine hinreichend große Sparneigung zur Alimentierung einer hohen Akkumulation von physischem Kapital?2 etc. - sondern der Zusammenhang zwischen einer durch innerweltliche, christliche Askese beförderten „'rationale(n) Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee' als einem der 'konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes und nicht nur dieses, sondern der modernen Kultur'"(/fe«ms 1987, 12; Weber 1972, 202) auf der einen Seite und dem bürgerlichen Erwerbskapitalismus auf der anderen Seite; „Das Thema der Protestantischen Ethik von 1905 wie der von 1920 wäre (demzufolge, der Verfasser), durch 'historische Darstellung' einen Herkunftsstrang der modernen 'rationalen Lebensführung' freizulegen"(//e««/5 1987, 12) , welche der kapitalistischen Produktionsweise in besonderer Weise entgegenkommt. Deutliche Parallelen sind hier zu F. A. v. Hayek zu vermerken: hat dieser doch in seinen Schriften der 80er Jahre herausgearbeitet, warum die bürgerliche Kleinfamilie ein im Hinblick auf die Funktionsweise des Marktsystems optimales soziales Arrangement darstellt; sie löst den Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach maximaler Flexibilität und Be-
2 Hier werden Erinnerungen an das Lewis-Modell (1954) wach.
214 · Friedrich L. Sell wegungsfreiheit auf der einen Seite und dem Bedürfnis nach maximaler Geborgenheit, Sicherheit etc. andererseits in besonderer Weise (v. Hayek 1985, 170).
III.
Woran und wie sollten Max Weber folgend Nationalökonomen arbeiten?
Wie Hennis teilen wir Max Webers Grundauffassung, „wonach nicht 'die sachlichen Zusammenhänge der Dinge', sondern die 'gedanklichen Zusammenhänge der Probleme' den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde liegen" {Hennis 1987, 10; Weber 1973, 166). Ein schöner Seitenhieb auf den feinen modischen Begriff der (neuen?) Sachlichkeit, der sogenannten Sachzwänge, etc. Wenn dies also fur alle Wissenschaften zutrifft, dann gilt es doch wohl auch für die Sozialwissenschaften. „Da Webers Begriff der Wirklichkeitswissenschaft zu den gröbsten ('empirizistischwertfreien') Mißverständnissen geführt hat, (Hennis 1996, 18 f.; Albert 1971, 84 ff.) sollte man diese, durchaus auf der Linie von Webers Sprache, besser 'Wesentlichkeits'oder 'Bedeutungswissenschaften' nennen, geht es ihnen doch um das für uns (als Menschen, dann erst als Wissenschaftler) Wichtige und Wesentliche" (Hennis 1996, 18 f.; Weber 1973a, 173, 180 und 195). Hennis verdeutlicht uns mit dieser wunderbar klaren Feststellung, was Weber von uns Sozialwissenschaftlern fordert: wir sollen uns (nur) jener Themen annehmen, welche echte Probleme darstellen, und wir sind gehalten, uns zu vergewissern, daß es sich dabei auch wirklich um wichtige Probleme handelt. Bleibt hinzuzufügen, daß wir eine eigene Forschungsarbeit wohl erst dann beginnen sollten, wenn wir (ziemlich) sicher sein können, daß wir zu als wichtig identifizierten Problemen auch tatsächlich selbst etwas beitragen können! „Es sei ... nur ganz am Rande daraufhingewiesen, daß der für Weber so wichtige Begriff der 'Rationalisierung', der bekanntlich eine 'Welt von Gegensätzen' enthält, im Kern, wo Weber ihn vor allem gebraucht, nicht das Rechnen, sondern das Grübeln über den Sinn von Erfahrungen meint, die dem Menschen als Erfahrungen, als 'Erlebnis' 'zustoßen'" (Weber 1973a, 191). Aus unseren Erfahrungen und Erlebnissen leiten wir ab, was uns wichtig ist. „Daß alles Leben 'Kampf, Kampf des Menschen mit dem Menschen, des Liebsten mit dem Liebsten ist, ist, gleichgültig ob dies nun eine richtige oder verzerrte Sicht der Wirklichkeit menschlicher Existenz ist, niemanden so verbunden wie Nietzsches Vorstellung vom Leben als dem Willen zur Macht. Es gibt bei Weber keine menschliche Beziehung, keine 'Lebensordnung', die nicht durch Kampf bestimmt wäre. Leben ist Kampf, Kampf ist Leben" (Hennis 1987, 186 f.). So schließt sich der Kreis: wenn wir das Leben als - im Kern - Auseinandersetzung mit Ideen, Menschen etc. erfahren, dann scheint es nur angemessen, die Wissenschaft dem Leben gegenüber nicht zu entfremden. Wir „sollen" einen kühlen Kopf bewahren, gewiß. Aber wir haben unseren Verstand gefälligst mit solchen Dingen zu beschäftigen, die uns innerlich aufgewühlt haben: „Nur Rechte, die man sich nimmt, die man sich ständig neu erkämpfen muß, für die nicht nur das Kalkül des Verstandes, sondern die Leidenschaft der Seele einmal wenig-
Max Weber - der Nationalökonom · 215 stens in Anspruch genommen werden mußte, können vor Webers Kritik bestehen" (Hennis 1987, 216). Wie das folgende Weber-Zitat beweist, hat wissenschaftliche Arbeit, bevor sie ihre „eigentliche" Aufgabe wahrnimmt, gewissermaßen mit einem Werturteil zu beginnen. Diese von Hennis ins Licht gerückte Betrachtung Webers ist tatsächlich für die Werturteilsproblematik entscheidend: „Wir haben in bezug auf alle Objekte zwei Arten von Fragestellungen zu unterscheiden: 1. die Frage nach ihrer Wesensbeschaffenheit und ihrem Ursprung, und 2. die Frage nach dem Wert und der Bedeutung, die sie für uns selbst haben. Die erste Frage wird durch ein Tatsachen-Urteil beantwortet. Die Antwort auf die zweite Frage ist ein WertUrteil. Diese beiden verschiedenen Urteile lassen sich nicht ohne weiteres voneinander ableiten. Sie entstehen aus verschiedenen intellektuellen Betätigungen. Der menschliche Geist verbindet sie nur, indem er sie zunächst getrennt bildet und dann zueinander in Beziehung setzt" (Hennis 1996, 59 f.; Baumgarten 1964, 313). Hier sind wir nun bei des Pudels Kern: „strafbar" ist nicht das Äußern von als solchen kenntlich gemachten Werturteilen; verwerflich ist eine unzulässige Vermischung von positiver und normativer Analyse; damit ist die eine Hauptsäule des WerturteilsfreiheitsPostulats abgesteckt; es handelt sich um das Einstreuen von versteckten Werturteilen in die vermeintlich positive Analyse. Hennis hat durch seine Forschungsarbeiten eine zweite, mindestens ebenso wichtige „Säule" bei Max Weber „aufgetrieben": hier geht um den (natürlich zum Scheitern verurteilten) Versuch, aus reinen „Beschreibungen", „Erklärungen", etc. irgendwelche Handlungsanweisungen, Wertvorstellungen abzuleiten; hierfür gibt Max Weber das folgende anschauliche Beispiel: „Für die Forschung sei der fortwährende Vergleich der Entwicklungsstadien der einzelnen Völker untereinander und die Aufsuchung von Analogien ein heuristisches Mittel, das 'bei vorsichtiger Verwendung in hohem Maße geeignet (sei), die historische Eigenart jeder einzelnen Entwicklung in ihrer ursächlichen Bedingtheit zum Bewußtsein zu bringen'. 'Aber ein schweres Mißverständnis des Forschungszieles der Kulturgeschichte' sei es, 'wenn man die Konstruktion von Kulturstufen für mehr hält, als ein Darstellungsmittel'" (Weber 1924, 517; Hennis 1987, 204 f.). Wieder ist dies der Hinweis, das (vorläufige) Auffinden von Gesetzmäßigkeiten nicht mit dem Feststellen von verschiedenen Wertigkeiten zu verwechseln. Dieses Monitum gilt für alle Wissenschaften. Weber hält den Nationalökonomen aber einen besonderen Spiegel entgegen: „So habe sich in den Köpfen der aufwachsenden Generation auch die Vorstellung gebildet, 'als sei dank der Arbeit der nationalökonomischen Wissenschaft nicht nur die Erkenntnis des Wesens der menschlichen Gemeinschaften gewaltig erweitert, sondern auch der Maßstab, an welchem wir in letzter Linie die Erscheinungen bewerten, ein völlig neuer geworden, als sei die politische Ökonomie in der Lage, ihrem eigenen Stoff eigenartige Ideale zu entnehmen'. Da aber, wo man ein spezifisch 'ökonomisches' Prinzip der Beurteilung zu formulieren suche, falle man in vage Unbestimmtheiten. In Wahrheit seien es 'keine eigenartigen selbstgewonnenen, sondern die alten allgemeinen Typen menschlicher Ideale, die wir auch in den Stoff" unserer Wissenschaft hineintragen'" (Weber 1958, 12 f.; Hennis 1987, 138).
216 · Friedrich L. Sell Die „dritte Säule" des Werturteilsfreiheits-Postulats könnte man umschreiben mit der Forderung nach Entschleierung von angeblichen Harmonien und nach dem Aufdecken von tatsächlich bestehenden Konflikten, gerade in der Wertsphäre: „Weber sah die spezifische Aufgabe der Wissenschaft darin, 'daß ihr das konventionell Selbstverständliche zum Problem wird' - eine wundervolle Definition von dem, was Aufklärung genannt werden könnte" (Hennis 1996, 152 f.). „Was aber kann Wissenschaft leisten? Nun nichts anderes, als mit äußerster Schärfe und Klarheit den Konflikt der Werte vor Augen zu fuhren" (Hennis 1996, 160). „Ent-Täuschung wird zur akademischen Aufgabe erhoben" (Hennis 1996, 166). Man würde sich wünschen, daß diese von Hennis verwendet Wendung der „EntTäuschung", die den umgangssprachlich eindeutig negativ besetzten Vorgang in vorzüglich Hegelscher Manier „aufhebt", uns Nationalökonomen zuflösse; könnten wir damit nicht zum Beispiel die moderne MakroÖkonomik der rationalen Erwartungen neu beleben? Noch einmal Weber und der ihn „verstehende" Hennis: „'... Ja - eben diese selben Durchschnittsurteile zu kritisieren, um zu zeigen, was dahinter für Probleme stecken, das wäre doch die Aufgabe für die Wissenschaft.' In diesem einen Satz steckt - ... - der ganze Sinn wertfreien Herangehens an 'Probleme' und eben auch an Begriffe, die, wenn nicht als 'Idealtypen' gefaßt, allzu leicht zu Worthülsen zur Verdeckelung von 'Problemen' werden" ( Weber 1924a, 417fHennis 1996, 156). Weber hat die Implikationen dieser dritten Säule verdeutlicht am scheinbar deskriptiven, konfliktfreien Begriff der Produktivität und damit während der Tagung des Vereins für Socialpolitik 1909 in Wien für Furore gesorgt; „die anschaulichsten Darstellungen des 'Problems' der Kornproduktivität finden sich im Schlüsseltext für jedes Verständnis der Grundprobleme Webers, seinem Korreferat anläßlich der 'Verhandlungen des 5. Evsozialen Kongresses' in Frankfurt/M. am 16. u. 17. Mai 1894" (Hennis 1996, 158). Zusammengefaßt lautet Max Webers These: „Der Begriff der Produktivität unterschlägt den Wertkonflikt, den jede Steigerung der Produktivität unausweichlich gebiert " (Hennis 1996, 160). In „moderner Ausdrucksweise" bezieht sich der von Weber angesprochene Wertkonflikt im Kern auf den Gegensatz zwischen Wachstum und Verteilung. Die moderne Volkswirtschaftslehre kennt hier (mindestens) zwei Zusammenhänge, die von Bedeutung sind: (i) Zum einen geht es um die Relevanz der sogenannten Kuznets-Kurve, welche auch als „umgekehrtes U" beschrieben wird. Dabei wird behauptet, daß sich die personelle Einkommensverteilung im Zuge des Entwicklungsprozesses, genauer: bei wachsendem Prokopfeinkommen, zunächst verungleichmäßigt, um sich aber später wieder stärker zu egalisieren (Seil 1993, 288). Hierfür sind zahlreiche Erklärungsmuster angeboten worden, etwa wird argumentiert, daß die Einkommensverteilung im Agrarsektor - welcher anfangs in jeder Ökonomie dominiert - gleichmäßiger ausfalle als im Industriesektor. Dehnt sich nun im Verlauf des Strukturwandels der industrielle Sektor gegenüber der Landwirtschaft aus, so kommt es zu einer größeren Streuung der Einkommen in der Gesamtwirtschaft. Gleichzeitig wird gesagt, daß die Einkommensverteilung innerhalb des industriellen Sektors anfangs sehr ungleich ist, weil die Unternehmer Arbeitskräfte billig
Max Weber - der Nationalökonom · 217 aus der Landwirtschaft abwerben können. Sobald Arbeit nur noch zu steigenden Reallöhnen bereit ist, abzuwandern, kehrt sich die Entwicklung um und die Einkommensverteilung wird wieder stärker egalitär. Wie die folgende Abbildung 1 demonstriert, fällt die empirische Evidenz unter Verwendung sorgfaltig ausgewählter Querschnittsdaten für über 50 Entwicklungs- und Industrieländer durchaus überzeugend aus. Wir haben es vielleicht nicht mit einem „ehernen Gesetz" zu tun, aber doch mit einer häufigen Regelmäßigkeit im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung. (ii) Ein zweiter Aspekt besteht u. a. in der von Gerold Bliimle und dem Verfasser vertretenen These, daß es zur Erreichung einer maximalen Wachstumsrate des Prokopfeinkommens einer Mindeststreuung in der personellen Einkommensverteilung bedürfe (.Bliimle und Seil 1997, 4 f.). Eine zu egalitäre Verteilung lähmt u. U. die Anreize zur Leistungssteigerung, verhindert wachstumsträchtige Nachahmungseffekte im Konsumverhalten der unteren gegenüber den höheren Einkommensschichten und fuhrt die Gesellschaft möglicherweise sogar in eine Neidfalle. Eine zu hohe Streuung der Einkommen ist ebenfalls mit Wachstumseinbußen verbunden, weil die Gesellschaft leicht in soziale Unruhen, ja sogar in revolutionäre Prozesse gestürzt werden kann, statt Nachahmungsverhalten eher Snobeffekte und Statusgehabe im Konsum derer, die unerreichbar erscheinen, die potentiellen Nachahmer frustriert und schließlich nicht leistungsgerechte Einkommens- bzw. Gehaltssprünge auf die unteren Einkommensschichten demotivierend wirken - und das um so mehr, je undurchlässiger das System ist - während die oberen Einkommensschichten teilweise unverdiente Renten erhalten. Die empirische Evidenz scheint auf den ersten Blick (vgl. Abbildung 2) lediglich die ,.Hälfte" der Wahrheit zu bestätigen, daß nämlich eine zu ungleichmäßige Einkommensverteilung (gemessen am Gini-Koeffizienten des Jahres 1975) mit Wachstumseinbußen beim Prokopfeinkommen (fur den Zeitraum von 1975-1990) verbunden ist; dabei muß aber beachtet werden, daß im Ländersample so gut wie keiner der heutigen Transformationsstaaten verteten ist. Dies ist deshalb bedeutsam, weil man vermuten kann, daß diese Länder tendenziell den „linken Rand" im Hinblick auf die Gini-Koeffizienten besetzen werden. Eine solche Vermutung wird durch aktuellere Datensätze bestätigt. Für einen kürzeren Zeitraum zwischen 1985 und 1994 liegen nunmehr auch entsprechende Angaben für die ehemaligen sozialistischen Planwirtschaften vor (vgl. Abbildung 3); in diesem größeren Ländersample (78 gegenüber 53) erweist sich ein nicht-lineares Modell als sehr geeignet für den „Fit" mit dem Datensatz. Demzufolge gibt es hinreichend viele Länder, für die sich zunehmende Wachstumsraten bei einer sich verungleichmäßigenden Einkommensverteilung beobachten lassen. Wir können also zusammenfassend festhalten, daß die Empirie durchaus die Hypothese eines „lokalisierbaren" Konflikts zwischen Verteilungsgerechtigkeit einerseits und einem hohen Wachstum des Prokopfeinkommens andererseits bestätigt.
218 · Friedrich L. Sell
Abbildung 1:
Reales Pro-Kopf-Einkommen und Personelle Einkommens Verteilung
0,6
In (Pro-Kopf-Einkommen des Jahres 1975) Quelle: World Development Report (verschiedene Ausgaben); PWT 5.6
Multiples Bestimmtheitsmaß R2 Korrigiertes R2 Standardfehler
,54620 ,29834 ,27235 ,07079
Varianzanalyse: Freiheitsgrad Regression 2 Residuen 54 F-Test 11,48013 SignifF =
,0001
Variablen in der Gleichung: Variable Β LNPKE75 ,616847 LNPKE75*«2 -.040593 Konstante -1,926378
SE Β ,155146 ,009836 ,603664
Beta 7,659350 -7,950784
Τ 3,976 -4,127 -3,191
SigT ,0002 ,0001
,0024
Max Weber - der Nationalökonom
Abbildung 2:
Verteilung und Wachstum (1975-90) - lineares Modell -
0,4 Gini-Koeffizient Quelle: World Development Report (verschiedene Ausgaben); PWT 5.6
Multiples Bestimmtheitsmaß R Korrigiertes R2 Standardfehler
,37448 ,14024 ,12370 ,02101
Varianzanalyse: Regression Residuen F-Test
Freiheitsgrade 1 52 8,48171 SignifF =
,0053
Variablen in der Gleichung Variable GINI75 Konstante
Β -,100709 ,055243
SE Β ,034580 ,012942
Beta -,374481
Τ -2,912 4,269
SigT ,0053 ,0001
219
220 · Friedrich L. Sell
Abbildung 3:
Verteilung und Wachstum (1985-94) - nicht-lineares Modell -
Gini-Koeffizient Quelle: World Development Report 1996
Multiples Bestimmtheitsmaß R2
,07512
Korrigiertes R2
,05078
,27408
Standardfehler 3,30926 Varianzanalyse: Freiheitsgrade Regression
2
Residuen
76
F-Test
3,08650
Signif F =
,0514
Variablen inder Gleichung: Variable
Β
SE Β
Beta
Τ
Sig Τ
GINI96
67,78451131
,514554
1,781161
2,151
,0347
GINI96**2
-87,80923644
,662690
-1,628093
-1,966
,0529
Konstante
-11,826083
5,304527
-2,229
,0287
Max Weber - der Nationalökonom · 221 Damit sind wir aber unmittelbar wieder bei Max Weber, den diese Konfliktlage am Beispiel der Getreideproduktion (s. o.) außerordentlich interessiert hat: „Von den verschiedenen 'Gesichtspunkten' - ... -, unter denen man eine Agrarverfassung beurteilen könne, kämen zunächst drei in Betracht, 'nämlich: (1) das Produktionsinteresse: möglichst viel Erzeugnisse von einer gegebenen Fläche, (2) das populationistische Interesse: viele Menschen auf einer gegebenen Fläche, (3) das ... sozialpolitische: möglichst umfassende und gleichmäßige Verteilung des Besitzes an einer gegebenen Fläche'. Im allgemeinen seien die beiden letzten Interessen in bester Harmonie miteinander, während wenigstens in Bezug auf die Getreideproduktion beide mit dem Produktionsinteresse vielfach kollidierten. Es bestünde nicht der mindeste Zweifel, 'daß, wenn es um die Erzeugung von möglichst viel Getreide von der gegebenen Fläche handelt, mindestens alle mittleren und kleineren bäuerlichen Besitz- und Betriebseinheiten schlechterdings von Übel' seien und wer die Deckung des deutschen Getreidebedarfs durch inländische Produktion anstrebe, müsse für deren Beseitigung, 'damit aber für die Schärfung der sozialen Gegensätze auf dem Lande und für die numerische Schwächung der Landwirtschaft eintreten'" (Weber 1924a, 323 f.; Hennis 1996, 158). „Mit dem Produktivitätsinteresse (der Großgrundbesitzer) konkurriert nämlich das bevölkerungspolitische, schließlich das sozialpolitische 'Dislokationsinteresse' des Staates" ( Weber 1924a, 323 f.; Hennis 1996, 158). Wir wollen in den folgenden Überlegungen einmal das „ bevölkerungspolitische Interesse" des Staates - auch wenn es sich auch hier um einen sehr interessanten Aspekt handelt - ausklammern; was Weber in dem obigen Zitat ausdrückt, ist, produktionstheoretisch formuliert, das Problem der optimalen Betriebsgröße (bzw. des optimalen Bodeneinsatzes) in der Landwirtschaft. Anders als bei Turgot (1727-1781) - welcher die Bodenfläche konstant hielt und den Arbeits- sowie Betriebsmitteleinsatz variierte - wird der Produktionsfaktor Boden als Variable betrachtet. Unterstellen wir einmal einen Produktionszusammenhang, bei dem sowohl (zunächst) zunehmende Grenz- und Durchschnittserträge des Bodens als auch (später) abnehmende zu beobachten sind. Wird die Pacht als Preis für die Nutzung des Bodens bezeichnet, so läßt sich zeigen, daß ein Teilpächter (im Gegensatz zum Fixpächter) den Anreiz hat, die Bodennutzung bis dorthin auszudehnen, wo der Grenzertrag des Bodens null ist; dies liegt daran, daß für ihn auch die Grenzkosten des Bodens null sind. Zahlreiche Untersuchungen zur Rationalität des Teilbaus haben jedoch ergeben, daß bei Teilbau (variable Pacht) weniger variable Faktoren zum Einsatz kommen als bei einer Festpacht (Seil 1989, 85 f.). Damit verläuft aber auch die Grenzertragskurve des Bodens vergleichsweise niedriger; umgekehrt gilt für die Festpacht: „consequently, there would be a larger total product and a greater share (residual) available for payment to land" (Johnson 1950, 116). Zudem gibt es einen leicht nachvollziehbaren Bias zugunsten von Fixpächtern bei vergleichsweise großen Pachtböden; anders als bei Teilbauern, verlangen die Grundbesitzer von Fixpächtern in aller Regel Sicherheiten, die mit der Größe des verpachteten Bodens und damit auch mit dem erwarteten physischen Ernteertrag unter normalen Witterungsbedingungen positiv korrelieren. Teilbauem werden allerdings kaum in der Lage sein, Sicherheiten zu stellen; sie wählen ja die variable Pachtform nicht zuletzt deshalb, weil sich die bei einer Mißernte geschuldete
222 · Friedrich L. Sell Pachtzahlung im Fixpachtvertrag in eine Schuld gegenüber dem Grundbesitzer wandelt, die sie aus dem eigenen Vermögen (welches selten vorhanden ist) bzw. aus zukünftigen Ernteeträgen (deren Eintreten unsicher ist) zu bedienen haben. Daher sind es typischerweise Fixpächter, die bei großen Anbauflächen zu Vertragspartnern der Grundbesitzer werden. Geht man von einer linkssteilen bzw. rechtsschiefen Verteilung des Vermögens aus, wie sie etwa durch eine Log-Normalverteilung beschrieben wird, dann ergibt sich in der Tat ein „Konflikt" zwischen Produktivität und Bodenverteilung (in unserer Analyse bezogen auf die Pächter), wie ihn Weber wohl vor Augen gehabt haben muß. Die Beachtung von Max Webers drei Säulen des Werturteilsfreiheits-Postulats ist aber nicht etwa das Ende, sondern sie ermöglicht vielmehr geradezu den Beginn jeder Wertdiskussion; so auch Hennis. „Die Wertungsfreiheit der Wissenschaft ist eine Voraussetzung für die Möglichkeit von Wertdiskussionen, und nur darum geht es Weber" (Hennis 1996, 161). Die moderne Volkswirtschaftslehre hat sich - und das entspricht dem Selbstverständnis vieler Kollegen - zusehends zu einer Methodenlehre entwickelt. Über die Chancen, welche damit verbunden sind, ist schon viel geschrieben worden. Es ist wiederum ein Verdienst von Weber, sehr früh auf die damit verbundenen Risiken hingewiesen zu haben und es ist ein Vorzug, den uns Hennis gewährt, wenn er Webers Mahnungen so deutlich noch einmal herausstellt: „..., man kann Webers sogenannte Wissenschaftslehre, ..., nur verstehen, wenn man sieht, daß sie ein einziger Kampf für die Rettung der wirklichen Probleme, der entscheidenden sachlichen Fragestellungen und gegen die Überschätzung der Methodologie sind, insbesondere gegen die Versuchung, 'wirkliche und angebliche Forschungsmethoden und - ergebnisse empirischer Disziplinen zum Aufbau von 'Weltanschauungen' zu benützen, was 'ja nachgerade ein trivial gewordener Vorgang' sei" (Hennis 1996, 163; Weber 1973, 63). Was Weber mit seiner „dritten Säule" des Wertfreiheitspostulats im Sinne hatte, wird noch einmal sehr deutlich dort zum Ausdruck gebracht, wo Hennis Webers Verhältnis zur Wettbewerbswirtschaft untersucht: „Weber hat nie bestritten, daß eine freie Konkurrenzwirtschaft rein wirtschaftlich die effektivste Form des erwerbswirtschaftlichen (!) Wirtschaftens sei. Wogegen er anging, war die ideelle, oder sagen wir ruhig ideologische Interpretation der Sache. Was der Liberale 'friedlichen Wettbewerb' nennt, sei es der Nationen miteinander, der Menschen, der Liebenden, war für ihn Kampf, Konflikt, Kampf des Menschen mit dem Menschen" (Hennis 1987, 210). Wiederum geht es um die Entdeckung von vorhandenen Konfliktlagen, das Vermeiden von falschen Harmonievorstellungen. Wer sich zum Beispiel die Szenerie von Tarifverhandlungen, insbesondere von Schlichtungen oder der Konferenzen zum Abbau internationaler Handelshemmnisse vor Augen hält, versteht unmittelbar, was gemeint ist.
Max Weber - der Nationalökonom · 223
IV. Zur 'Anethik' des globalen Kapitalismus Die Entwicklung hin zum modernen Kapitalismus kennzeichnet Weber insbesondere durch die folgenden Merkmale bzw. Prozesse: Zum einen ist in den Unternehmen ein permanenter Trend zur Effektivitäts- und Effizienzsteigerung zu beobachten: „im konkreten Fall ζ. B. die 'Industrieentwicklung gänzlich als eine Funktion einzelner Gesetze der psychologischen Kräfteökonomie zu deuten' -, kann daran festgehalten werden, 'daß die Industrie als solche nicht Kraftersparnis, sondern Kostenersparnis erstrebt' und daß 'die Wege, auf denen sie diese erreichen kann, keineswegs immer mit der Entwicklung zum physiologisch Rationalen zusammenfallen' (Weber 1924a, 17) - ein schönes Beispiel fur die Heterogonie der Zwecke" (Hennis 1996, 27). Die Anforderungen, die an global agierende Unternehmen gestellt werden, sind damit durchaus zutreffend angesprochen, auch wenn im Zeitalter vornehmlich heterogener Konkurrenz auf den Produktmärkten Kostensenkungen allein die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit wohl kaum garantieren können. Bei der Analyse volkswirtschaftlicher Wachstumsprozesse hat man feststellen können, daß die beobachtete anhaltende Kapitalintensivierung der Produktion von einem permanentem Anstieg der Arbeitsproduktivität (bei verhältnismäßig geringen Veränderungen des Kapitalkoeffizienten) begleitet ist. Damit bestätigt sich indirekt, daß der auftretende technische Fortschritt tendenziell Harrod-neutral, also arbeitsvermehrend ist. Demzufolge müssen wir annehmen, daß die Unternehmen (jedenfalls reifer Industrienationen) vor allem dem Kostenanstieg beim Faktor Arbeit entgegenzuwirken versuchen. Die Suche nach Effizienzsteigerungen bzw. Kostensenkungen ist durch den Prozeß der Globalisierung eher noch beschleunigt worden. Zweitens: Das moderne Berufsbild ist durch Einkommensmaximierung bei zunehmender Spezialisierung und Steigerung der Arbeitsproduktivität (s. o.) gekennzeichnet: „Max Webers Aufsätze mit dem Titel „Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus" behandelten ja einen Ausschnitt der Geschichte der Ablösung der „traditionalistischen" (mittelalterlich-katholischen) Haltung zur Arbeit durch die moderne Berufsethik. „Traditionalismus" wird von Weber so definiert: '[...] der Mensch will 'von Natur' nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben, wie er zu leben gewohnt ist, und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist. Überall, wo der moderne Kapitalismus sein Werk der Steigerung der 'Produktivität' der menschlichen Arbeit durch Steigerung ihrer Intensität begann, stieß er auf den unendlich zähen Widerstand dieses Leitmotivs präkapitalistischer wirtschaftlicher Arbeit, und er stößt noch heute überall um so mehr darauf, je 'rückständiger'(vom kapitalistischen Standpunkt aus) die Arbeiterschaft ist, auf die er sich angewiesen sieht' (Hennis 1996, 78 f.; Weber 1972, 44 f.). Dabei fuhrt das Gewinnmaximierungsverhalten der Arbeitgeber zu einer produktivitätsorientierten Entlohnung des Faktors Arbeit: „Der jahrhundertelange 'Glaubenssatz, daß niedere Löhne produktiv seien, d.h. daß sie die Arbeitsleistung steigerten', stoße auf Schranken. Da, wo es um die Herstellung von Produkten gehe, die qualifizierte Arbeit, 'oder überhaupt ein irgend erhebliches Maß scharfer Aufmerksamkeit und Initiative erfordere', rentiere der niedere Lohn nicht..." (Hennis 1996, 79; Weber 1972, 46 f.).
224 · Friedrich L. Sell Auch hier trifft Weber durchaus den Nerv der Diskussion im Zeitalter der Globalisierung. Im Rahmen der Standortdiskussion in Deutschland gibt es wohl mittlerweile keinen ernstzunehmenden Kollegen mehr, der eine allgemeine, undifferenzierte Lohnsenkung zur Verbesserung der Angebotsbedingungen empfiehlt. Rund 70 - 80 % des deutschen Außenhandels findet nämlich mit ähnlichen Partnern als intraindustrieller Handel statt. Als Erklärung für diesen Handel stehen als wichtigste Motive das Ausnutzen von steigenden Skalenerträgen, eine erhebliche Produktdiversifizierung sowie der unvollkommene Wettbewerb zwischen global agierenden Unternehmen zur Verfügung. Im Rahmen dieses Wettbewerbs müssen die Unternehmen eine hohe Innovationsfahigkeit und Willigkeit aufweisen, die sie immer neue und ausgeklügeltere Prozeß-/Produktvarianten (Produktzyklus) erfinden läßt. Für diese Fähigkeit(en) braucht es wiederum erstklassige Mitarbeiter, die aber nur zu vergleichsweise hohen Löhnen zu bekommen sind. Dort, wo hohe Arbeitsproduktivitäten (allerdings auch nur dort) vorliegen, können auch angemessene Löhne bezahlt werden. Ein dritter Aspekt des modernen Kapitalismus wird von Weber ausgebaut zu einer skeptischen Beurteilung der zunehmend universellen Tauschbeziehungen auf Märkten oder - in moderner Ausdrucksweise - der Globalisierung des Marktsystems: „die Massenhaftigkeit des Tausches, der unpersönlichsten Art menschlicher Beziehung, erschien ihm als das eigentlich Bemerkenswerte der kapitalistischen Wirtschaftsordnung" {Hennis 1987, 182). „Der Inbegriff einer anethischen Institution war für ihn der Markt" (Hennis 1987, 112). Der Markt enthält dabei „... die 'ethische Konsequenz eines jeden Kosmos', jeder sachlich voll durchrationalisierten Lebensordnung. Sie ist nicht nur, kraft ihrer rationalen Eigengesetzlichkeit, ethisch nicht zu beherrschen" (Hennis 1987, 106). Haben wir es hier nicht mit gerade heute allzu gegenwärtigen Befürchtungen zu tun? Welche Antworten können aus Sicht der ordoliberalen Schule darauf gegeben werden? Einer ihrer zeitgenössischen Vertreter, Erich Hoppmann (Freiburg i. Br.), hat bemerkenswerterweise eben diesen Begriff des „Kosmos" für eine marktwirtschaftliche Ordnung verwendet: „Soweit wir ihre Arbeitsweise bis heute entdeckt haben, läßt sich der Charakter der Marktordnung am besten als eine Art Kosmos beschreiben. Er besteht aus einem Netz vieler miteinander verwobener Einzelwirtschaften. Sie werden nicht von gemeinsamen Zielen beherrscht und nicht von einem Plan gelenkt und dirigiert. Die einzelnen Marktteilnehmer folgen nur ihren eigenen Interessen. Allerdings - sie müssen in ihrem eigenen Interesse möglichst genau diejenigen Güter und Leistungen zum Tausch anbieten, die ihren Tauschpartnern am besten gefallen" (Hoppmann 1995, 231). Der Markt selbst ist keine moralische Institution oder Veranstaltung und insofern ist er anethisch im Sinne von Weber, allerdings „zwingt" er die Teilnehmer im Hoppmannschen Sinne „sich mit den Nöten und Wünschen der Nächsten zu befassen" (Hoppmann 1990 103). Die „Beherrschbarkeit" des Marktes ergibt sich nicht aus dem Einhalten ethischer Normen - auch insoweit können wir uns Weber anschließen - aber eine freiheitliche Marktordnung ist auf das Befolgen abstrakter Regeln im Sinne v. Hayeks angewiesen: Die Menschen sind gehalten, „zweckunabhängigen Verhaltensregeln zu gehorchen, durch die ihnen lediglich allgemeine Handelnsverbote auferlegt sind" (Hoppmann 1995, 233).
Max Weber - der Nationalökonom · 225 Damit nicht genug. Noch mehr als die Massenhaftigkeit des Tauschs hat Weber (s. o.) das Bild des modernen Berufsmenschen oder, im Sinne von Hennis, des Berufsmenschentums im kapitalistischen System interessiert: „Weber bezeichnete, auf eine Formel Adolph Wagners zurückgreifend, den Kapitalismus gerne als 'herrenlose Sklaverei'. Immer wieder betonte er, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung auf formal freier Arbeit beruhte. Das hieß, der Arbeiter hatte keinen Herrn mehr mit der Folge, daß die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ethisch nicht mehr ausdeutbar war" (Hennis 1987, 103). Und schließlich, zugespitzt: „Es ist also die Nichtethisierbarkeit, die Unmöglichkeit, die Beziehungen zwischen Kapitaleigner und Arbeiter in irgendeiner denkbaren Weise psychologisch-ethisch zu regeln, in der Weber das zentrale Problem der modernen Wirtschaftsordnung sieht" {Hennis 1987, 182). Auch hier besteht im Grunde genommen (weitgehend) Konsens mit der ordoliberalen Auffassung: nur in kleinen Gruppen (ähnlich der Familie) können Gefühle wie Solidarität, Mitgefühl und ähnliches mehr Platz greifen. In der offenen, abstrakten Großgesellschaft sind die Beziehungen unter den Menschen nicht ethisierbar: „moralische Grundlage der offenen Gesellschaft ist Toleranz. Der Versuch, Solidarität durchzusetzen, muß die offene Gesellschaft zerstören" (Hoppmann 1995, 235). Warum? In einer Großgesellschaft liefe Solidarität darauf hinaus, die Ziele einer bestimmten Gruppe zu unterstützen, wobei man die Spaltung der Gesellschaft und die offene Gegnerschaft zu anderen Gruppen in Kauf nähme (Hoppmann 1995, 234). Andererseits geht es Weber - wie wir oben sahen - nicht so sehr allgemein um die moderne Gesellschaft, sondern noch konkreter um einen wichtigen Teil von ihr: um die moderne Berufs- und Arbeitswelt. Mit dem Wegfall des „Herren" ist für den „Sklaven" im modernen Kapitalismus auch ein persönlich ausdeutbares „Feindbild" verloren gegangen. Auf den Aktionärsversammlungen und Vorstandspräsentationen großer Aktiengesellschaften werden mittlerweile häufig weitreichende Rationalisierungsmaßnahmen - Pressekonferenzen gleich - angekündigt, welche wenig später in konkretem Arbeitsplatzabbau münden. Auch noch so „basisnahe" Betriebsräte tun sich mitunter schwer, solche Beschlüsse an die Belegschaft „weiterzugeben". Reflex dieser Entwicklung ist im Wissenschaftsbetrieb der Ökonomen das zunehmende Interesse an einem Fach „Wirtschaftsethik bzw. Ethik im Unternehmen". Bis heute scheint aber noch unklar, ob hier ein vorübergehender Modetrend vorliegt, oder ob man sich ernsthaft (im Sinne von Max Weber) als „verstehende Sozialwissenschaftler" mit diesem Themenkreis auseinandersetzen will. Literatur Albert, Hans (1971), Plädoyer für kritischen Rationalismus, München Baumgarten, Eduard (1964), Max Weber. Werk und Person, Tübingen (Mohr) Blümle, Gerold und Friedrich L. Seil (1997), A Positive Theory of Optimal Personal Income Distribution and Growth, Dresdner Beiträge zur Volkswirtschaftslehre Nr. 1. Dresden. Brandt, Karl (1976), Volkswirtschaftliche Vorlesungen, Bd. II, Freiburg.
226 · Friedrich L. Sell Hayek, Friedrich August von (1985), Die freie Marktwirtschaft und ihre moralischen Grundlagen, Carl Menger Institut. Hennis, Wilhelm (1987), Max Webers Fragestellung, Tübingen. Hennis, Wilhelm (1996), Max Webers Wissenschaft vom Menschen, Tübingen. Hoppmann, Erich (1990), Moral und Wirtschaftssystem, in: Th. Dams, (Hrsg.), Beiträge zur Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, Grundlagen-Empirie-Umsetzung, Berlin, S. 99 -113. Hoppmann, Erich (1990), Moral und Marktsystem, ORDO, Bd. 41, S. 3 - 26. Hoppmann, Erich (1995), Zwei Arten der Moral, in: H.-H Francke. (Hrsg.), Ökonomischer Individualismus undfreiheitliche Verfassung, Freiburg, S. 227 - 238. Johnson, D. Gale (1950), Resource Allocation Under Share Contracts, Journal of Political Economy,Vol 58, S. I l l - 123. Lewis, W. Arthur (1954), Economic Development with Unlimited Supplies of Labour, The Manchester School of Economic and Social Studies, Vol. 22, S. 139 -191. Penn World Tables (1995, 1996), Verschiedene Ausgaben, Washington, D.C. Sell, Friedrich L. (1993), Ökonomik der Entwicklungsländer. Frankfurt, Bern u. a. Seil, Friedrich L. (1989), Zur ökonomischen Rationalitat des Teilbaus, Agrarwirtschaft, Jg. 38., S. 8 4 - 9 1 Weber, Max (1924), Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftgeschichte, Tübingen. Weber, Max (1924a), Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen. Weber, Max (1958), Gesammelte Politische Schriften, Tübingen. Weber, Max (1972), Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band I. Tübingen. Weber, Max (1973), Soziologie - Universalgeschichtliche Analysen - Politik. Stuttgart. Weber, Max (1973a), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen. Weltbank (1995, 1996), World Development Report, Washington, D.C.
Zusammenfassung Wir haben in diesem Beitrag versucht, die große Leistung, die Wilhem Hennis mit seiner Neuinterpretation Max Webers vollbracht hat, zu würdigen. Aber es genügt nicht, Komplimente auszusprechen. Es kommt darauf an, die Botschaften Webers an die Nationalökonomen zu überdenken, und, wie ich meine, zu beherzigen. Worin bestehen sie? Die Volkswirtschaftslehre sollte sich nicht nur als eine Methodenlehre begreifen. Sie hat die Pflicht, wichtige Konflikte und Problemstellungen, so wie sie uns auch im Leben widerfahren, aufzugreifen und wissenschaftlich zu deuten. Auch eine Wertediskussion ist der Volkswirtschaftslehre zugänglich und selbige kann durchaus wertfrei gefuhrt werden!
Summary Max Weber, the economist: A synthesis of the new interpretation of his work by Wilhelm Hennis In this contribution, our aim was at recognizing the great piece of work presented by Wilhelm Hennis who has given a new interpretation to Max Weber. However, it is not enough to make compliments. Moreover, we economists should rethink Webers message to our profession, and, I guess take it more seriously. What was Webers message? Economics as a scientific discipline should have a self-understanding that goes beyond being a school of methods. Economics has the duty to address important (social and economic)
Max Weber - der Nationalökonom · 227 conflicts and/or problems such as we are confronted with them in our daily life. A discussion of norms is suitable to economics and such a discussion itself can be conducted fairly without drawing on prejudice and/ or valuations.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Hartmut Berg und Gabriele Brandt
Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung
I. Historischer Überblick zur Unternehmertheorie Die Erklärung von wirtschaftlichem Wachstum ist ein zentrales Anliegen der Ökonomie. Die Bedeutung, die dem Unternehmer im Rahmen der hier relevanten Konzepte zuerkannt wird, ist dabei sehr unterschiedlich. So versteht die traditionelle Gleichgewichtstheorie den Unternehmer als Instrument zur Herbeiführung einer ex ante feststehenden optimalen Allokation. Hat die Wirtschaft nach einem exogenen Schock ihren Gleichgewichtszustand verlassen, kommt dem Unternehmer die Aufgabe zu, in Wiederholung bereits bekannter Anpassungsprozesse Angebot und Nachfrage in Übereinstimmung zu bringen, so daß alle Wirtschaftssubjekte erneut ihr Nutzenmaximum realisieren. Gleichzeitig sinken die Marktpreise durch diesen Vorgang auf Grenzkostenniveau. Der Unternehmer des statischen Modells ist entrepreneur ne faisant ni bénéfice ni perte. Da alle relevanten Wirtschaftsdaten als gegeben und bekannt angenommen werden, bedarf es zur Wahrnehmung seiner Funktion keiner besonderen Fähigkeiten. Die statische Theorie des Unternehmers ist mechanistischer Natur und damit nicht geeignet, diskontinuierliche, endogene Veränderungen der Wirtschaft zu erklären. Andere Ansätze berücksichtigen dieses Defizit und modellieren den Unternehmer als kreatives Agens der Veränderung in einer dynamischen Umwelt. Ein wesentlicher Beitrag zu diesem Paradigma stammt von Joseph Alois Schumpeter, der in fast fünf Jahrzehnten wissenschaftlicher Forschung die Theorie des Unternehmers zum zentralen Bestandteil seiner Analyse von wirtschaftlichem Wachstum und gesellschaftlicher Veränderung ausgebaut hat. Zur Erklärung des Auftretens von Unternehmern und zur Verdeutlichung ihrer Funktion bemüht er dabei ein umfassendes Forschungsprogramm aus Theorie, Statistik, Geschichte und Soziologie. Schon vor Schumpeter haben Ökonomen die Rolle des Unternehmers in einer marktlichen Wirtschaft untersucht. So beschreibt Richard Cantillon in seinem „Essai sur la nature du commerce général" aus dem Jahre 1755 den Unternehmer als einen zentralen Akteur der Wirtschaft, dessen Aufgabe es ist, unter Bedingungen der Unsicherheit Entscheidungen zu treffen, die in der nächsten Periode Gewinn oder Verlust in ex ante unbekannter Höhe bewirken. Da der industrielle Sektor Ende des 18. Jahrhunderts noch wenig entwickelt ist, erläutert Cantillon unternehmerisches Handeln am Beispiel von Pächtern in der Landwirtschaft. Der Unternehmer betreibt nicht allein quantitative Anpassung an sich wandelnde Rahmenbedingungen, sondern er trifft auch auf bisher unbekannten Gebieten qualitative Entscheidungen, die ihn mit Ungewißheit konfrontieren.
230 - Hartmut Berg und Gabriele Brandt Durch sein Verhalten steuert er in einer marktlich organisierten Wirtschaft Produktion, Warenumlauf und Warenaustausch. Der Unternehmer wird dabei nicht als Person, sondern als Träger einer spezifischen Funktion verstanden. Seine Aufgabe besteht darin, die wirtschaftliche Entwicklung unter Bedingungen der Unsicherheit voranzutreiben. Sein Risiko ist jedoch nicht zwingend finanzieller Natur. Da der landwirtschaftliche Unternehmer mittellos ist, wird das finanzielle Risiko vom Landbesitzer getragen (Cantillon 1755/1931, 32). Johann Heinrich von Thünen fuhrt Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorstellung vom Unternehmer als Träger von Risiko entscheidend fort. Im Vergleich zum „besoldeten Stellvertreter" zeichnet sich der Unternehmer in seinem Konzept durch größere Leistungsfähigkeit und eine starke emotionale Bindung an den Betrieb aus. In schlechten Zeiten verbringt er um diesen „schlaflose Nächte", bis er schließlich zu innovativen Lösungen gelangt. Als Vergütung erhält er den Unternehmergewinn, der sich aus den Erlösen abzüglich Kapitalzinsen, Lohnkosten und Prämien für versicherbare Unternehmerrisiken zusammensetzt (von Thünen 1875/1966, 83 ff ). Im Jahre 1855 erscheint die erste Monographie über die Natur des Unternehmergewinns. Analog zu den unterschiedlichen Funktionen des Unternehmers gliedert Hans Karl Emil von Mangoldt den Unternehmergewinn in drei Bestandteile: Der Unternehmer erhält zunächst eine „Gefahrprämie" für die Übernahme nicht versicherbarer Risiken. Daneben fließen ihm Zinsen auf das eingesetzte Kapital und eine Entschädigung für die von ihm erbrachte Arbeitsleistung zu (Unternehmerzins und Unternehmerlohn). Schließlich zieht der Unternehmer einen finanziellen Vorteil aus der „relativen Seltenheit der unternehmungsfahigen Subjecte" in Form einer Unternehmerrente (VOM Mangoldt 1855/1966, 80 ff). Diese kann als eine personenbezogene Prämie für spezifische sowie knappe Fähigkeiten und Eigenschaften verstanden werden. Sie entspricht damit weitgehend dem Schumpeterschen Verständnis des Unternehmergewinns. Von Mangoldt und von Thünen haben Schumpeters Theorie des Unternehmers stark beeinflußt: So hat von Thünen die bereits bei Cantillon ausgeführte unternehmerische Funktion der qualitativen Entscheidungsfindung unter Ungewißheit weiterentwickelt und damit die Innovationsfünktion des Unternehmers bei Schumpeter antizipiert. Die Unterscheidung der einzelnen Aufgaben des Unternehmers bei von Mangoldt kehrt bei Schumpeter wieder in der Gliederung der wirtschaftlichen Tätigkeit in Unternehmerfunktion, Kapitalistenfunktion und die Aufgaben des angestellten Direktors. Ein weiterer Baustein der Schumpeterschen Theorie - die Unterscheidung ökonomischer Theorie in Statik und Dynamik - geht auf John Bates Clark zurück. In einer statischen Wirtschaft wird im Gleichgewicht die bestmögliche Allokation der Produktionsfaktoren realisiert. Alle Unternehmer bieten zu Grenzkostenpreisen an. Störungen des Gleichgewichts können durch eine Veränderung der traditionellen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, aber auch durch neue Produktionsmethoden, Organisationsformen und einen Wandel der Konsumentenbedürfnisse entstehen. Dieser Entwicklung liegt ein kontinuierlicher Prozeß der Neuerung zugrunde (Clark 1907/1968, 195 ff). Der Unterschied von Statik und Dynamik liegt für Clark in der Natur des zu beobachtenden Risikos - unabhängig vom eigentlichen Risikoträger. Unternehmer schaffen wirt-
Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung · 231
schaftliche Dynamik, indem sie Risiken eingehen, die sie selbst nicht zu tragen haben. Die Aufgabe der ihnen zur Seite gestellten Manager liegt darin, diese Risiken zu reduzieren. Dies kann etwa durch den Abschluß einer geeigneten Versicherung geschehen. Wirtschaftliche Dynamik beinhaltet nach Clark jedoch stets einen nicht versicherbaren Teil des Risikos, der in Anlehnung an Cantillon, von Thiinen und von Mangoldt als Ungewißheit zu deuten ist. DasfinanzielleRisiko einer Unternehmung, die unter Ungewißheit handelt, liegt stets beim Kapitalgeber (Clark 1892, 45 f.). Das persönliche Risiko - soweit dies überhaupt thematisiert wird - ist dagegen vom Unternehmer zu tragen. Schumpeters Theorie des Unternehmers vereinigt die zuvor skizzierten Elemente. Er entwickelt somit einen Ansatz, dessen Bestandteile nicht neu sind, deren spezifische Kombination jedoch den Innovationsanspruch seiner Theorie begründet. Schumpeters Theorie des Unternehmers ist von Beginn an stark beachtet worden. Sie wird in einer Vielzahl von Publikationen zitiert. Die kritische Auseinandersetzung bezieht sich dabei zumeist auf das Unternehmerbild, wie es Schumpeter in seiner 1911 erschienenen „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" sowie in seinem Beitrag „Unternehmer" im Handwörterbuch der Staatswissenschaften aus dem Jahre 1928 zeichnet. Schumpeters Vorstellung von wirtschaftlicher Entwicklung ist hier noch stark individualistisch geprägt. Der Unternehmer als Typus sui generis ist der alleinige Initiator und Träger wirtschaftlicher und sozialer Veränderung. In seinem Spätwerk „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" aus dem Jahre 1942 sowie in drei Aufsätzen aus dem gleichen Jahrzehnt1 nimmt Schumpeter umfangreiche Modifizierungen des ursprünglichen Konzeptes vor, die jedoch nicht die ihnen angemessene Beachtung gefunden haben. Schumpeters Werk ist eben über gut fünf Jahrzehnte hinweg gewachsen. Es hat dabei immer wieder Überarbeitungen und Korrekturen erfahren. Es ist folglich durchaus nicht so präzise und eindeutig, wie es bei Durchsicht der Sekundärliteratur den Anschein hat. Unter dem Eindruck der wachsenden Bedeutung von Großunternehmen beschränkt Schumpeter in seinen späten Werken die Unternehmerfunktion nicht länger auf den individualistischen Pionier. Auch ein Team von Managern kann diese Funktion wahrnehmen; ja, selbst der Staat kann als Unternehmer auftreten, sofern es ihm gelingt, Innovationen durchzusetzen (Schumpeter 1949/1969, 255 f.). II. Der Schumpetersche Unternehmer als funktionales Konstrukt 1. Zur Bedeutung des Unternehmers in einer dynamischen Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die theoretische Nationalökonomie vom traditionellen Ansatz der Statik geprägt. Eine statische Theorie, die den Mechanismus der wirtschaftlichen Entwicklung nicht zu erfassen vermag, kann keine befriedigende Erklärung 1 Hierbei handelt es sich um folgende Beiträge: „The Creative Response in Economic History" (1947a), „Theoretical Problems of Economic Growth" (1947b) sowie „Economic Theory and Entrepreneurial Histoiy" (1949/1969).
232 · Hartmut Berg und Gabriele Brandt der kapitalistischen Wirtschaft bieten. Für Schumpeter liegt die Aufgabe der theoretischen Nationalökonomie daher in der Entwicklung einer dynamischen Theorie. Dennoch will er die bestehende neoklassische Theorie nicht vollständig ersetzen. Vielmehr ist es sein Ziel, eine dynamische Ergänzung zu schaffen, die die traditionelle Theorie der Realität anzunähern vermag. Fortschritt als Auslöser diskontinuierlicher Entwicklung setzt in einer geschlossenen Wirtschaft die Verfügung über exklusives Wissen voraus. In einer dynamischen Theorie ist daher zu zeigen, wie dieses Neuerungswissen entsteht und wie es im Übergang von der Statik zur Dynamik in das Wirtschaftssystem gelangt. Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung modelliert die „Schaffung" und Diffusion von Neuerungswissen dabei auf eine Weise, die nicht mit den Annahmen der walrasianischen Gleichgewichtstheorie bricht. Ausgehend von einer „entwicklungslosen", stationären Wirtschaft fragt Schumpeter nach dem Mechanismus, der einen Zyklus von wettbewerblichem Vorstoß und Verfolgung initiiert, an dessen Ende sich auf höherem Niveau ein neues Gleichgewicht einstellt. Im Gleichgewicht der stationären Wirtschaft verfugen alle Wirtschaftssubjekte über den gleichen Stand des für sie handlungsrelevanten Wissens. Technischer Fortschritt in Form von Neuerungswissen existiert in diesem System nur als exogener Faktor. Es ist allen Wirtschaftssubjekten gleichermaßen zugänglich. Doch verfugen nur wenige Individuen über die Fähigkeit, die ökonomische Verwertbarkeit dieses Neuerungswissens zu erkennen. Nur sie haben zudem die Durchsetzungskraft, gegen den Widerstand ihrer Umwelt einen wettbewerblichen Vorstoß zu wagen und ihn zum Erfolg zu führen. Diese Individuen sind im Schumpeterschen Sinne Unternehmer. Sie verlassen den Raum des Gewohnten und nehmen qualitative Veränderungen vor (Schumpeter 1947a, 150 ff ). Da die Verfügbarkeit von Wissen annahmegemäß nicht beschränkt ist, hängt die beobachtbare zeitliche Verteilung der Innovationen vom Vorhandensein entsprechend qualifizierter Unternehmer ab. Der statische Anpasser als „Wirt schlechtweg" hingegen reagiert auf Veränderungen seiner Umwelt lediglich durch quantitative Anpassung in bewährten Bahnen. Innovationen wirken für ihn wie periodisch wiederkehrende exogene Schocks (Choi 1995, 57). 2. Innovation und Imitation Wirtschaftliche Entwicklung als evolutorischer und endogener Prozeß besteht für Schumpeter nur in Veränderungen, die die Wirtschaftssubjekte selbst durch die innovatorische Neukombination gegebener Produktionsfaktoren hervorbringen. In der traditionellen Gleichgewichtsökonomik werden als Produktionsfaktoren Boden und Arbeit unterschieden. Schumpeter (1911/1993, 24) fügt mit der Differenzierung des Faktors Arbeit in ausführende Arbeit und schöpferischen Geist, mithin also das Erkennen von Neuerungswissen, seiner Theorie ein drittes, höchst individualistisches Moment hinzu. Von exogenen Veränderungen abgesehen, ist die vorhandene Menge an Boden und ausführender Arbeit gegeben. Das endogene Entwicklungsmoment des Schöpferischen besteht nun darin, auf der Basis entdeckten Neuerungswissens bestehende Produktions-
Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung · 233 faktoren aus früheren Verwendungen abzuziehen und sie zu neuen Kombinationen zusammenzufügen. Gelingt in einem nächsten Schritt die erfolgreiche Durchsetzung im marktlichen Wettbewerb entgegen bestehender Widerstände, wird die neue Kombination zur Innovation. Das Tätigen von Innovationen ist dabei die genuine Aufgabe des Schumpeterschen Unternehmers. Schöpferische Neukombinationen gegebener Produktionsmittel können auf unterschiedliche Weise entstehen. Schumpeter (1911/1993, 100 f.) unterscheidet fünf Möglichkeiten: 1. die Herstellung eines neuen Gutes, 2. die Herstellung eines alten Gutes in neuer Qualität, 3. die Einfuhrung einer neuen Produktionsmethode, 4. die Erschließung eines neuen Absatz- oder Beschaffungsmarktes sowie 5. die Neuorganisation bestehender Industrien. Das Kriterium der Neuheit, das Schumpeter zur Kennzeichnung von Innovationen verwendet, wird von ihm nicht näher erläutert. Auch über die inhaltliche Abgrenzung der einzelnen Kategorien wird nichts gesagt. Die Identifikation und Zuordnung von Innovationen kann sich somit zumindest in Einzelfällen als schwierig erweisen. Diese mangelnde Präzision und der Verzicht auf Konkretisierung können als Ausdruck der Intention Schumpeters verstanden werden, nur das Wesen seines Erkenntnisobjektes zu erklären. Damit kann sich seine Theorie auf Typisierungen beschränken, präzise Abgrenzungen werden entbehrlich. Eine Innovation entsteht häufig auf der Grundlage einer neuen Erfindung. Sie kann aber auch ohne jede Neuerung in der Vergangenheit auskommen: „Es ist völlig bedeutungslos, ob eine Innovation wissenschaftliche Neuheit beinhaltet oder nicht. Obwohl sich viele Innovationen auf irgendeine Eroberung im Reiche des theoretischen oder praktischen Wissens, wie sie in jüngster oder entfernterer Vergangenheit vorgekommen sind, zurückfuhren lassen, gibt es viele Innovationen, bei denen das nicht zutrifft" {Schumpeter 1939/1961, 91). Zudem wird eine Invention nicht zwangsläufig zur Innovation. So ist denkbar, daß das in einer Invention verkörperte Neuerungswissen ökonomisch nicht verwertbar ist oder daß die Innovation die Kosten des Anwendens einer Erfindung nicht wieder einzubringen verspricht. Eine Innovation setzt sich in einer Volkswirtschaft nicht automatisch durch, sondern sie bedarf der gezielten Plazierung durch den Pionier. Erweist sich eine neue Kombination aus der Sicht der Konsumenten als überlegen, wird sie dem überkommenen Angebot vorgezogen. Der Pionier erhält daraufhin zusätzliche Ressourcen, die anderen Wirtschaftssubjekten entzogen werden. Diesen wiederum verbleiben nur zwei Handlungsmöglichkeiten: Sie können das erfolgreiche Produkt imitieren oder sie werden untergehen. Durch Imitation können Anbieter den ihnen widerfahrenden Entzug von Ressourcen beenden. Auch verschafft Imitation ihnen die Möglichkeit, an den Pioniergewinnen zu partizipieren. Dieses setzt jedoch voraus, daß auf den Vorstoß des Pioniers nicht sofort und zudem unterschiedlich rasch reagiert wird. Würden alle Wettbewerber unverzüglich und zugleich in den Imitationszyklus eintreten, würden die Pioniergewinne sofort
234 · Hartmut Berg und Gabriele Brandt verlorengehen. Handeln Wettbewerber dagegen überhaupt nicht oder nicht schnell genug, scheiden sie nach dem Verlust ihrer Ressourcen aus dem Markt aus. Ist die Innovation erfolgt und hat sie sich bewährt, treten weitere Individuen auf den Plan, die das Neuerungswissen, wie es sich in dem wettbewerblichen Vorstoß des Unternehmers manifestiert, ebenfalls ökonomisch verwerten. Ihnen fehlen jedoch die Eigenschaften und Fähigkeiten, die für einen originären wettbewerblichen Vorstoß Bedingung sind. Die nachziehende Reaktion ist quantitativer Natur. In strikter Abgrenzung sind Imitatoren daher der Gruppe der statischen Wirte zuzurechnen. Schumpeter (1911/1993, 339 f.) bezeichnet sie allerdings dennoch als Unternehmer. Der Begriff des Imitators ist dabei erst später geprägt worden. Von Schumpeter stammt weder der Terminus noch die ihm heute anhaftende Konnotation. Der zuvor erwähnte Widerspruch in der Schumpeterschen Theorie des Unternehmers ist übrigens bereits von Eugen von Böhm-Bawerk aufgezeigt worden: „Angesichts eines so starken Kontrastes zwischen beiden Schilderungen legt sich unwillkürlich eine Zwischenfrage nahe: ist es denn ganz sicher, daß Schumpeter wirklich beide Male genau dasselbe Objekt, einen einheitlich von ihm konstruierten Unternehmertypus im Auge hatte? Oder wollte er vielleicht den Titel und die von ihm entworfene glänzende Charakteristik des 'Unternehmers' jenem engen Kreise der wirklich bahnbrechenden 'Ersten im Felde' vorbehalten, und den Troß der Nachfolgenden 'fast von selbst in die Strömung gezogenen', 'fast nur Kopierenden' begrifflich davon abtrennen? - Das hätte gewiß manches für sich gehabt, ist aber ebenso gewiß nicht von Schumpeter gewollt gewesen; denn er zählt die 'fast nur Kopierenden' ausdrücklich als einen Bestandteil der sich entwickelnden 'allgemeinen Unternehmertätigkeit' und er muß ja die Nachfrage dieses Trosses als einen - und zwar sogar sehr unentbehrlichen! - Teil derjenigen Nachfrage rechnen, die einen Teil der erzielten 'Unternehmergewinne' als Kapitalzins abzugeben bereit ist" CBöhm-Bawerk 1913/1968, 555). Unter Wissensaspekten nehmen Imitatoren eine bedeutende, gleichwohl mechanistische Aufgabe wahr: Sie verbreiten das Neuerungswissen der Innovation, bis es zu einem Allgemeingut geworden ist. Ein Risiko tragen sie bei Schumpeter nicht: Hat der idealtypische Unternehmer exogenes Wissen als ökonomisch verwertbar erkannt und den Widerstand seiner Umwelt überwunden, ist er nach Schumpeter ex definitione erfolgreich. Der Unternehmer handelt intuitiv richtig. Er hat „die Fähigkeit, die Dinge in einer Weise zu sehen, die sich dann hinterher bewährt" (Schumpeter 1911/1993, 125). Einen gescheiterten Vorstoß kann es unter diesen Annahmen nicht geben. Somit können auch die Imitatoren in ihrer Entscheidung, dem Pionier zu folgen, nicht irren. Im modelltheoretischen Ablauf entscheidet lediglich die unterschiedliche Geschwindigkeit ihrer quantitativen Anpassungsreaktion darüber, ob sie im Markt verbleiben oder zum Ausscheiden gezwungen werden. Wie sind unterschiedliche Geschwindigkeiten der Anpassungsreaktion zu begründen, wenn doch der Pionier mit seinem Vorstoß stets erfolgreich ist, so daß sich die Imitatoren ihm eigentlich alle zum selben Zeitpunkt - nämlich unverzüglich - an die Fersen heften müßten? Bei Schumpeter bleibt diese Frage unbeantwortet. Es erweist sich hier als Schwäche seiner Theorie, daß er nicht explizit trennt zwischen der Beobachter- und der
Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung · 235 Akteursebene. Aus der Perspektive des allwissenden Beobachters, die Schumpeter in der Beschreibung des modellgerechten Ablaufs von Innovation und Imitation einnimmt, ist der Unternehmer ex definitione erfolgreich. Auf der Akteursebene der Theorie hingegen ist nicht bestimmt, ob die Imitatoren die Erfolgschancen einer Innovation stets sogleich erkennen. Ist auch hier vollkommenes Wissen verfügbar, so ist verzögerte Anpassung allein durch unterschiedliche Fähigkeiten zu erklären, verbliebene Widerstände der Umwelt zu überwinden. Mit zunehmender Anzahl nachziehender Imitationsakte nimmt der Widerstand gegen das Neue ab, so daß schließlich auch „Unternehmer" mit vergleichsweise geringer Durchsetzungskraft zur Reaktion befähigt werden. Diese Interpretation ist jedoch kaum mehr als eine Verlegenheitslösung. Wissen die Imitatoren auf der Akteursebene hingegen nicht, daß der Pionier mit seinem Vorstoß erfolgreich sein wird, können unterschiedliche Reaktionsgeschwindigkeiten dadurch erklärt werden, daß manche statische Wirtschaftssubjekte die ökonomische Verwertbarkeit des aufgezeigten Neuerungswissens nicht erkennen oder Widerstände der Umwelt nicht zu überwinden vermögen. Diese Erklärung mag einleuchten, ist aber mit den Annahmen Schumpeters nicht konsistent. Sieht dieser doch die Möglichkeit des Scheiterns eines innovatorischen Vorstoßes explizit nicht vor. Folglich kann er auch nicht überzeugend begründen, warum ein nachziehendes Wirtschaftssubjekt den Erfolg des Pioniers bezweifeln und nicht auch zum Erfolg befähigt sein sollte, wenn er denn schon als Unternehmer angesehen wird. In seiner Theorie der Abfolge von Innovation und Imitation geht Schumpeter offenbar implizit von einer Situation aus, in der frühere Erfahrungen der Marktteilnehmer bei Erreichen eines neuen Gleichgewichts verlorengehen. Dies würde erklären, warum manche statische Wirtschaftssubjekte den erfolgreichen Vorstoß des Unternehmers erst spät oder gar nicht erkennen und ihm nicht sofort nachfolgen, obwohl er doch in praxi nicht scheitern kann. Wird der Erfolg einer Innovation durch den Pionier glaubwürdig nachgewiesen, werden auch vorsichtigere Wirtschaftssubjekte zu Innovationen ermutigt. Im Gefolge einer originären Innovation ergeben sich häufig Möglichkeiten ähnlicher neuer Kombinationen. Da der soziale Widerstand bereits exemplarisch durchbrochen wurde, folgen einer Pionierinnovation stets Scharen nachziehender „Unternehmer" mit Innovationen in Nachbarbereichen. Diese wellenförmige Entwicklung des Anschwellens und Abnehmens der innovatorischen Tätigkeit bildet zusammen mit den ihr folgenden Sekundärinnovationen die Grundlage eines Konjunkturzyklus {Schumpeter 1911/1993, 339 ff). Eine Innovationswelle setzt sich nicht unbegrenzt fort. Je weiter sich die Wirtschaft durch eine Innovation vom Gleichgewichtszustand entfernt, desto geringer wird die Planungssicherheit der Wirtschaftssubjekte. Eine Innovation impliziert damit „notwendig jene Unsicherheit über die neue Gestaltung aller Daten, die das Kalkulieren neuer Kombinationen unmöglich macht" {Schumpeter 1911/1993, 356). Das Durchsetzen weiterer Innovationen wird dadurch erschwert. Die erhöhte Nachfrage nach Produktionsmitteln fuhrt zudem zu einem Anstieg der Faktorpreise. Da Innovationen durch Kredite finanziert werden, kommt es zu einem Anstieg des Zinssatzes. Dadurch ergibt sich ein dämpfender Effekt auf die Innovationstätigkeit. In der nun folgenden Phase der Depression kommt es zu Anpassungsreaktionen der Individuen, bis die Wirtschaft erneut einen ent-
236 · Hartmut Berg und Gabriele Brandt wicklungslosen Zustand erreicht hat. Dieser bildet den Ausgangspunkt eines neuen Innovationszyklus. Das in der Realität zu beobachtende Überholen des Pioniers durch den Imitator ist damit ausgeschlossen. Schumpeters Entwicklungstheorie postuliert einen endogenen, sich selbst steuernden Prozeß, der bestimmte Phasen durchläuft, bevor ein neuer Ruhezustand erreicht wird {Witt 1987, 40 ff). Am Ende dieses Prozesses erlösen alle Unternehmer erneut nur den Grenzkostenpreis. Es hat sich ein neues Gleichgewicht auf höherem Niveau gebildet. Der durch eine Innovation eingeleitete Prozeß der schöpferischen Zerstörung bewirkt eine unwiderrufliche Änderung der sozialen und wirtschaftlichen Daten. Innovatorische Anbieter haben zusätzliche Ressourcen an sich gezogen. Langfristig passive Wirtschaftssubjekte mußten den Markt verlassen. Der Innovationsprozeß selektiert auf diese Weise die wirtschaftlich überlebensfähigen Individuen. Innovation wird damit zu einem grundlegenden Bestimmungsfaktor der historischen Entwicklung. Parallelen zu biologischen Selektionsmodellen stoßen jedoch rasch an ihre Grenzen: In der Wirtschaft übersteht den kapitalistischen Ausleseprozeß nach Schumpeter (1911/1993, 353 f.) nämlich nicht das Individuum mit der besten „Anpassung", sondern das mit den größten finanziellen Reserven. Unter Wissensaspekten ist auch ein gescheiterter Pionier für die wirtschaftliche Entwicklung bedeutsam. Hat sich eine Innovation nicht ausgezahlt, werden die anderen die Gründe dieses Mißerfolgs sorgfältig analysieren, um die daraus gezogenen Lehren bei eigenen innovatorischen Vorstößen zu berücksichtigen (Cauthorn 1989, 14). Dadurch kann die Gefahr einer Fehllenkung von Ressourcen vermindert werden. In seiner Theorie kann Schumpeter den Fall eines gescheiterten Pioniers indes nicht zulassen, da dies mit seiner Innovationstheorie unter Wissensaspekten konfligieren würde. 3. Eigenschaften und Fähigkeiten des Schumpeterschen Unternehmers Nach Schumpeter wird das Innovationspotential einer Wirtschaft primär durch das vorhandene Humankapital und die Güte individueller Entscheidungen bestimmt. Ökonomische Entwicklung wird nicht von Organisationen vorangetrieben, sondern sie ist untrennbar mit einem in bestimmter Weise handelnden Individuum verbunden. Dieses Paradigma des methodologischen Individualismus ist für Schumpeters Unternehmerbegriff konstitutiv (1908/1970, 88 ff). Will ein Wirtschaftssubjekt die Unternehmerfunktion übernehmen, muß es als Person über spezifische Fähigkeiten verfügen. Der Unternehmerbegriff bezeichnet jedoch niemals die Person als Ganzes, sondern immer nur gewisse funktionale Eigenschaften. Der Unternehmer ist ein funktionales Konstrukt - ein „Typus" im soziologischen Sinne und als solcher nur eine temporäre Erscheinung, die auch unabhängig vom Eigentum an einer Unternehmung auftreten kann. Schumpeters Unternehmer wird damit allein durch seine Handlungen charakterisiert: Er ist nur solange Unternehmer, wie er Innovationen tätigt. Vollzieht er nur noch quantitative Anpassung, degeneriert er zum hedonistischen Wirt. Die Unternehmerfunktion ist temporärer Natur und folglich weder Beruf noch Arbeit. Sie kann nicht Beruf sein, da dies eine permanent betriebene Innovationstätigkeit erfordern
Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung · 237 würde. Ebensowenig ist die Unternehmerfunktion Arbeit, da dieser ein repetitives Moment der Routine inhärent ist, während den Unternehmer eben gerade das originär und nicht wiederholbar Geniale kennzeichnet. Der Unternehmer ist auch nicht Erfinder. Er ist auf die Durchsetzung neuer Kombinationen gegebener Produktionsmittel spezialisiert, während dem Erfinder nur deren Veränderung obliegt. Der Unternehmer übernimmt die wirtschaftliche Verwertung verfugbarer Inventionen und erhebt diese dadurch in den Rang einer Innovation. Dabei wird dem Erfinder zumeist der ökonomische Wert seiner Erfindung vorenthalten. Den Unternehmer zeichnet daher in seinem Verhalten gegenüber anderen Wirtschaftssubjekten ein gewisses Maß an Skrupellosigkeit aus {Bude 1997, 871). Insbesondere ist der Unternehmer auch nicht Träger des finanziellen Risikos seiner Projekte. Diese Aufgabe kommt vielmehr dem Kapitalisten zu. Gesellschaftlich bilden Unternehmer keine eigene soziale Klasse. Temporäre Träger der Unternehmerfunktion können vielmehr aus jeder sozialen Klasse hervorgehen. Durch den Zufluß von Gewinnen als Entlohnung unternehmerischen Erfolgs kann der Träger der Unternehmerfunktion Mitglied der Bourgeoisie werden oder in dieser Klasse aufsteigen. Vor dem historischen Hintergrund starrer Klassenstrukturen wird Schumpeters Betonung der individualistischen Konzeption des Unternehmers verständlich. Der Unternehmer kann sich aus eigenem Antrieb und durch eigenes Geschick aus einer mißlichen wirtschaftlichen Lage befreien. Diese bedingte Durchlässigkeit von Klassengrenzen schafft im Industriezeitalter einen zusätzlichen Handlungsanreiz, da der Einzelne seine Klassenlage nunmehr aus eigener Kraft verbessern kann: „Jede Klasse gleicht während der Dauer ihres Kollektivlebens oder der Zeit, während welcher ihre Identität angenommen werden kann, einem Hotel oder einem Omnibus, die zwar immer besetzt sind, aber von immer anderen Leuten" (Schumpeter 1927, 25). Dem Schumpeterschen Unternehmer sind besondere Eigenschaften und Fähigkeiten zu eigen, die es ihm ermöglichen, über den Mechanismus der Innovation Gewinn und Prestige und damit eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Sonderstellung zu erlangen. Zugleich eröffnet sich dem Unternehmer auf diese Weise eine „Freiheit der Wahl", durch die er den die Schumpetersche Welt kennzeichnenden Determinismus zu überwinden vermag.2 Dieses Privileg erhebt ihn über andere Individuen. Mit seinem selbstbestimmten Handeln setzt er sodann jene Rahmenbedingungen, die die Möglichkeiten der anderen Wirtschaftssubjekte für diese unausweichlich determinieren (Schumpeter 1942/1993, 212). Schumpeters Theorie des Unternehmers ist eine Elitetheorie. Sie betrachtet nicht durchschnittliche Charaktere, sondern besondere Ausprägungen menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften in einer Gesellschaft. Im Unterschied zu anderen Eliten ist der Unternehmer jedoch nicht politisch legitimiert. Auch verfugt er über keine direkten Sanktionsmöglichkeiten. Dennoch bestimmen seine Entscheidungen das Verhalten der anderen Wirtschaftssubjekte, die nach dem Niedergang der Aristokratie einer neuen Führung bedürfen: „Aber ohne Schutz irgendeiner nicht-bourgeoisen Gruppe ist die Bourgeoisie politisch hilflos und unfähig, nicht nur die Nation zu fuhren, sondern auch für ihr 2 Zu einer ausführlichen Diskussion von Schumpeters Geschichtsdeterminismus Winterberger (1983).
238 · Hartmut Berg und Gabriele Brandt besonderes Klasseninteresse zu sorgen. Was soviel heißt wie, daß sie einen Herren braucht" {Schumpeter 1942/1993, 225). Mit den Unternehmern bildet sich eine Gruppe von Individuen heraus, die sich eine Veränderung der gegebenen Verhältnisse zum Ziel gesetzt haben. Sie werden angetrieben durch typisch elitistische und militärische Werte der früheren Aristokratie wie „Siegerwillen" und das Bestreben, „ein privates Reich zu gründen, das Raum gewährt und Machtgefühl" {Schumpeter 1911/1993, 138). In einer defätistisch geprägten Umwelt sind nur sie fähig, ihr Handeln selbst zu bestimmen. Da sie annahmegemäß jedoch weder auf die Naturausstattung noch auf die sozialen Rahmenbedingungen der Wirtschaft unmittelbar einwirken können, gilt ihre Aktivität einer für sie vorteilhaften innovatorischen Neukombination bestehender Produktionsmittel, durch die sie dann die gesellschaftlichen Bedingungen ihres zukünftigen Handelns beeinflussen können. Bei der Durchsetzung einer Innovation stößt der Unternehmer annahmegemäß auf den Widerstand seiner Umwelt: „Neuen Methoden widerstrebt der Arbeiter, neuen Produkten der Konsument, neuen Betriebsformen öffentliche Meinung, Behörden, Recht, Kreditgeber" {Schumpeter 1928, 483).3 Andere Produzenten sehen in der Innovation eine Bedrohung ihrer Marktposition. Auch Konsumenten scheuen häufig Anpassung und neue Entscheidungen. Banken betreiben Risikominimierung, indem sie bevorzugt bewährte Produkte und traditionelle Produktionsweisen finanzieren. In der Realität erscheint die Annahme von Widerstand plausibel. Ob sie im Schumpeterschen System haltbar ist, wird noch zu diskutieren sein. Dem Pionier obliegt die Übernahme von Führung in der Wirtschaft, indem er durch Initiative und Intuition neue Kombinationen schafft und durchsetzt. Der Unternehmer benötigt daher einen gewissen „Blick" dafür, wie eine erfolgreiche neue Kombination beschaffen sein könnte. Es mag trivial anmuten, doch muß der Unternehmer seine Aufgabe zunächst entdecken. Er muß Chancen bei gegebenen Möglichkeiten dort erkennen, wo andere sie nicht sehen. Er muß handeln, ohne daß „die Wirkungen und Rückwirkungen der geplanten Unternehmung ... erschöpfend erfaßt werden können" {Schumpeter 1911/1993, 125). Dies erfordert Wagemut, auch wenn der Unternehmer nach Schumpeter die finanziellen Folgen eines möglichen Scheiterns nicht selbst zu tragen hat. Unternehmer weisen in Einstellung und Verhalten spezifische Züge auf: Da es überkommene Routinen zu durchbrechen gilt, muß der Unternehmer progressiv und aufgeschlossen sein. Er braucht eine starke Persönlichkeit. Er muß durchsetzungsfahig und bereit zur Konfrontation sein. Nur so wird er dem Gegendruck standhalten, „mit dem die soziale Umwelt jedem begegnet, der überhaupt oder speziell wirtschaftlich etwas Neues tun will" {Schumpeter 1911/1993, 126). Im Gegensatz zu statischen Wirtschaftssubjek-
3 Die Annahme einer generellen Existenz von Widerständen gegenüber Neuerungen erscheint insgesamt plausibel. Nicht erklärt werden jedoch zwei Aspekte: Zunächst wird nicht deutlich, warum Innovationen per se auf Widerstand stoßen. Denkbar wäre hier eine gesellschaftlich allgemein wünschenswerte Innovation, wie etwa ein neues Heilmittel, deren Umsetzung in strikter Auslegung des Schumpeterschen Ansatzes paradoxerweise nicht als genuin unternehmerische Leistung zu qualifizieren wäre. Darüber hinaus bleibt ungeklärt, aus welchem Grund Schumpeter bestehende Widerstände stets für stärker hält als den innovatorischen Impuls einer Wirtschaft, so daß es für jede Innovation der außerordentlichen Durchsetzungskraft des Unternehmers bedarf.
Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung · 239 ten, die die Produktionsbedingungen als gegeben betrachten, verändert der Unternehmer mit dem innovatorischen Prozeß die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die dann auch sein künftiges Handeln bestimmen. Der Unternehmer wird so zu einer Determinante seines eigenen Handelns unter Unsicherheit. Diese Typisierung des Unternehmers entspringt einer dem Darwinismus nahekommenden Elitevorstellung, die in Schumpeters Werk immer wieder anklingt. Im Marktprozeß überleben nur die Kreativen, Schnellen oder hinreichend Anpassungsfähigen. Neben der Verfügbarkeit von Krediten und ungenutzten Erfindungen bedarf es zur Innovation einer spezifischen Persönlichkeit, Führerqualitäten, über die nur wenige Wirtschaftssubjekte verfugen. So muß der Unternehmer als Führer der Wirtschaft auf die Geführten in der Weise überzeugend Einfluß nehmen, daß sie ihm freiwillig aus einem Gefühl der Pflichterfüllung folgen (Schumpeter 1928, 482). Schumpeters Theorie des Unternehmers weist damit auffällige Parallelen zu Max Webers Konzeption der Führung auf. Der charismatische Führer verschafft sich Legitimation, persönliche Autorität und Gefolgschaft durch Vorbildlichkeit seiner Person und der durch ihn geschaffenen Ordnungen, und er leistet mit den von ihm angeregten und ergriffenen Maßnahmen einen Beitrag zur Veränderung sozialer Systeme ( Weber 1915/1972, 124). Auch der Schumpetersche Unternehmer erlangt Führerschaft durch persönliche Überzeugungskraft, er ist jedoch kein Führer sui generis. Der charismatische Führer tritt vielmehr immer dann in der Person des Unternehmers auf, wenn spezifische Formen sozialer Organisation vorliegen, die hinreichend lukrative Erfolgschancen in der Wirtschaft bieten. Das rationalistische System des Kapitalismus mit seinen freien Beschafiüngs- und Absatzmärkten, seinem unabhängigen Bankensystem und der Garantie von Vertragsfreiheit und Eigentum bietet hier die idealen Voraussetzungen (Carlin 1956, 35 ff ). Wie Webers charismatischer Führer ist auch der Schumpetersche Unternehmer in der realen Welt nicht in seiner methodischen Reinform zu beobachten. Die Aufspaltung des Wirtschaftssubjekts in einzelne funktionale Eigenschaften wirkt auf den Betrachter dabei ausgesprochen künstlich. Doch auf diese Weise gelingt es Schumpeter, in seiner Analyse wirtschaftlicher Entwicklung in besonderer Weise deutlich zu machen, welche persönlichen Merkmale und Motivstrukturen der Unternehmer als Träger wirtschaftlicher Entwicklung aufzuweisen hat. 4. Bedeutung des Unternehmergewinns Symbol der Führerschaft ist die Innovation, die den Unternehmer aus der Masse der Bourgeoisie temporär hervorhebt und langfristig das Überleben des kapitalistischen Systems sichert. Während in einer absolutistischen Gesellschaft politische oder gesellschaftliche Machtverhältnisse die Allokation der Produktionsmittel bestimmen, werden Entscheidungen des Unternehmers durch die kreditliche Bereitstellung von Produktionsmitteln de facto gesellschaftlich legitimiert. Die Aufgabe, dem Unternehmer Kredit zu verschaffen, kommt dem Kapitalisten zu. Kapital ist für den Unternehmer dabei mehr als ein Produktionsmittel. Es ist das Symbol seiner gesellschaftlichen Position. In einer egalitärrationalistischen Gesellschaft ist der Besitz von Kapital die einzige Möglichkeit einen
240 - Hartmut Berg und Gabriele Brandt elitären Status zu manifestieren. Die Pioniergewinne des Unternehmers sind daher ein Zeichen seiner führenden gesellschaftlichen Stellung und seiner überragenden Bedeutung im kapitalistischen System. In der Abfolge von wettbewerblichem Vorstoß und Verfolgung erlangt der Pionier eine vorübergehende Monopolposition. Er kann einen Preis durchsetzen, der über den Grenzkosten liegt. Er erhält Monopolgewinne, die sich von denen des CournotMonopols dadurch unterscheiden, daß sie nur temporären Charakter haben. Sobald die Innovation von den Mitbewerbern übernommen wird, schmelzen die Pioniergewinne ab, bis alle Marktteilnehmer wieder zu Grenzkostenpreisen anbieten. Dieses temporäre Einkommen als Folge eines innovatorischen Impulses bezeichnet Schumpeter als Unternehmergewinn. In seiner frühen Unternehmertheorie schreibt Schumpeter (1911/1993, 137) dem hedonistischen Kalkulus der Gewinnerzielung keine Anreizfunktion zu. Er bietet stattdessen eine soziologische und psychologische Analyse unternehmerischer Motivation: „Der typische Unternehmer frägt sich nicht, ob jede Anstrengung, der er sich unterzieht, auch einen ausreichenden .Genußüberschuß' verspricht. Wenig kümmert er sich um die hedonistischen Früchte seiner Taten. Er schafft rastlos, weil er nicht anders kann, er lebt nicht dazu, um sich des Erworbenen genießend zu erfreuen." Wenn diese intrinsische Motivation nach Vollzug der Innovation erlahmt, degeneriert der Unternehmer zum hedonistischen Wirt. Der Unternehmer kann seinen Erfolg nicht dadurch perpetuieren, daß er seinen innovatorischen Vorstoß in unveränderter Weise immer wieder repetiert. Die ursprüngliche Innovation wird ja durch den Imitationsprozeß zum Allgemeingut. Sie kann fur den Pionier folglich nicht eine Quelle weiterer Erfolge sein. Je rascher sich der Imitationsprozeß vollzieht, desto geringer werden die Gewinne des Pioniers sein. Wird der Unternehmer annahmegemäß nicht vom Gewinnmotiv geleitet, ist die Möglichkeit der zeitlichen Absicherung seiner Vorsprungsgewinne für ihn als Innovationsanreiz ohne Bedeutung. Doch kann der Pionier nicht einmal sicher sein, daß sich die zur Durchsetzung seiner Innovation getätigten Investitionen amortisieren werden. Erst in seinen späten Werken diskutiert Schumpeter diese Problematik. Hier befürwortet er eine temporäre Absicherung des Unternehmergewinns, um dadurch Anreize zur Innovation zu schaffen. Implizit wird die extrinsisch motivierende Wirkung des Unternehmergewinns damit von Schumpeter (1942/1993, 144) anerkannt: So „ist die langfristige Investition mit dem Schießen auf ein Ziel zu vergleichen, das nicht nur undeutlich ist, sondern sich auch bewegt. Deshalb muß man Zuflucht suchen bei solchen Schutzmitteln wie Patenten oder zeitweiligen Verfahrensgeheimnissen oder, in gewissen Fällen, langfristigen, im voraus abgeschlossenen Verträgen." Die Höhe der erzielbaren Vorsprungsgewinne wird wesentlich durch die Geschwindigkeit des nachfolgenden Imitationsprozesses bestimmt. Durch wirksame patentrechtliche Absicherung kann der Unternehmer den Beginn dieses Prozesses verzögern. Damit ist ihm der Gewinn für die Dauer des Patentschutzes garantiert. So wird ein zusätzlicher Innovationsanreiz geschaffen. Die temporäre Absicherung der Innovation gegen den nachziehenden Wettbewerb gewährt dem Unternehmen für die Laufzeit des Patents monopolistische Marktmacht. Unter Bedingungen konstitutioneller Unwissenheit können
Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung · 241 der Erfolg einer Innovation und die daraus erwachsende Marktmacht fur den Innovator ex ante nicht bekannt sein, da zu viele intervenierende Variablen auf diesen Erfolg einwirken wie etwa der Grad der Neuheit, die Höhe der Investition oder die Dauer des Imitationszyklus. Die angemessene Frist der patentrechtlichen Absicherung kann daher erst ex post bestimmt werden. Für die Wettbewerbsbehörde ist somit zu jedem Zeitpunkt unklar, ob die zu beobachtende Monopolisierung von Neuerungswissen noch als wünschenswerter Innovationsanreiz oder bereits als Wettbewerbsbeschränkung zu werten ist. Schumpeter selbst lehnt wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen nur ab, wenn sie zu einer dauerhaften Monopolisierung fuhren. So ist diese Maßnahme „unter Bedingungen des ewigen Sturms ... nicht paradoxer als die Aussage, daß Autos mit Bremsen schneller fahren als sie es sonst täten, weil sie mit Bremsen versehen sind" (Schumpeter 1942/1993, 146). Monopole verursachen in statischer Betrachtung Effizienzverluste. Schumpeter geht somit implizit davon aus, daß die Effizienzgewinne durch die Anreizfunktion temporärer Monopolgewinne in dynamischer Sicht die statischen Effizienzeinbußen des Monopols überwiegen. Wie industrieökonomische Analysen des Zusammenhangs von Innovation und Marktstruktur belegen, ist diese Annahme umstritten. So zeigen Gilbert und Newbery (1982, 1984), daß Patentschutz die Marktdominanz eines Monopolisten in unerwünschter Weise verfestigen kann. Die Ergebnisse der hier vorliegenden theoretischen und empirischen Untersuchungen sind zwar nicht eindeutig, doch begründen sie zumindest die Vermutung, daß temporäre Monopole im Innovationswettbewerb nicht per se wettbewerbspolitisch gutzuheißen sind. 5. Entstehung und Bedeutung von Banken und Zins In „Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie" versucht Schumpeter (1908/1970, 392 ff.) den Nachweis zu erbringen, daß es in einer stationären Wirtschaft das Phänomen des Zinses nicht geben kann. Dazu setzt er die rigiden Annahmen, daß die Wirtschaftssubjekte keine systematischen Zeitpräferenzen haben und daß die Grenzproduktivität des Kapitals mangels innovatorischer Aktivitäten zu jedem Zeitpunkt gleich Null ist. Im Kreislauf finanzieren die Unternehmen die notwendigen Produktionsmittel aus den Erlösen der vorhergehenden Periode. Es besteht mithin keine Nachfrage nach Krediten. Ein positiver Zinssatz kann nicht entstehen. Ein Bankensystem ist nicht erforderlich. Für Schumpeter fuhrt erst der dynamische Mechanismus einer Wirtschaft dazu, daß Investitionsprojekte verwirklicht werden, die sonst unentdeckt geblieben wären. Dadurch wird der Zinssatz über sein stationäres Niveau von Null steigen. In Schumpeter (1911/1993, 289 f.) Diktion kann allein der Unternehmer Kreditnehmer sein, da nur er durch den später erwirtschafteten Unternehmergewinn die Möglichkeit hat, den um den Zins erhöhten Kreditbetrag zurückzuzahlen: „Wenn ich nämlich eine neue Kombination der Produktivkräfte, die ich um hundert Geldeinheiten gekauft habe, durchsetze und ein neues höherwertiges Produkt auf den Markt bringe, so kann ich tatsächlich mehr erlösen. ... Hier also ist der Besitz einer Geldsumme das Mittel, sich eine größere Geldsumme zu verschaffen. ... Und darin liegt die Erklärung des Zinses."
242 · Hartmut Berg und Gabriele Brandt Erst in der dynamischen Wirtschaft kommt es somit zum Entstehen von Banken, deren originäre Aufgabe in der unabhängigen Bereitstellung von Krediten liegt. Schumpeter Ansatz folgt hier der von Weber formulierten Theorie der protestantischen Ethik: In den Vereinigten Staaten manifestiert sich der Geist des Kapitalismus demnach als ein System anerkannter Sekten, Klubs oder religiöser Gemeinschaften, in denen nur Personen mit tadelloser Lebensführung im Sinne der protestantischen Ethik die Mitgliedschaft gewährt wird. Diese bedeutet in dieser Zeit „ein ethisches, insbesondere ein geschäftsethisches Qualifikationsattest" (Weber 1919/1991, 283), das einen freien Zugang zu Kreditmitteln eröffnet. Da der Schumpetersche Unternehmer die hier gestellten Anforderungen an Persönlichkeit und spezifisch bürgerlichem Berufsethos ex definitione erfüllt, ist die Kreditbeschaffung für ihn ohne Schwierigkeiten möglich. Für Schumpeter ist das Problem der originären Finanzierung einer Innovation, ausgehend von einem statischen Gleichgewicht, durch diesen „Kunstgriff" zunächst befriedigend gelöst. Wie Böhm-Bawerk (1913/1968, 533 ff) indes treffend anmerkt, ignoriert Schumpeter durch seine heroischen Annahmen weitgehend die Realität. Die von ihm gewählte Erklärung der Existenz eines Banken- und Kreditsystems, das der Unternehmer zur Finanzierung seiner Vorhaben nutzen kann, gleicht einem deus ex machina, durch den er Erklärungsdefizite seines dynamischen Konzepts zu überwinden versucht.
III. Das Schumpetersche System 1. Risiko des Unternehmers Ansätze einer funktionalen Unterscheidung von Unternehmer und Kapitalgeber sind bereits bei Cantillon zu finden. Risiko wird dabei als Element wirtschaftlicher Aktivität verstanden, das in die Bestandteile der unternehmerischen Unsicherheit und des finanziellen Risikos zerlegt werden kann. DasfinanzielleRisiko trägt der Kapitalgeber, wohingegen der Unternehmer nur über Humankapital verfügt und damit ausschließlich das genuin unternehmerische Risiko der Bewältigung von Unsicherheit tragen kann. Diese Vorstellung geht auf die frühmittelalterliche wirtschaftliche Organisation der societas maris zurück. Hier ist die Unternehmerfunktion personell von der Kapitalgeberfunktion getrennt: Der unternehmerische Kaufmann bereist fremde Länder, um dort seine Waren gewinnbringend zu verkaufen. DiefinanziellenMittel für diese Reise erhält er von einem Kapitalgeber, der nach Abwicklung des Geschäfts den überwiegenden Anteil der Gewinne erhält (Hébert und Link 1988, 13 ff). Beide Wirtschaftssubjekte tragen unterschiedliche Formen des Risikos: Der unternehmerische Kaufmann akzeptiert in der Überwindung ihm weitgehend unbekannter Gefahren ein hohes persönliches Risiko. Der ihm dafür zufallende Anteil des Gewinns ist als genuiner Unternehmergewinn zu verstehen. Der geldgebende Partner hingegen trägt mit dem Einsatz von Geldmitteln ein ausschließlich finanzielles Risiko. Eine unternehmerische Leistung erbringt er nicht. Sein Gewinn ist daher nicht als Unternehmergewinn, sondern als Kapitalrente zu werten. Aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung und der damit verbundenen Marktmacht hat er
Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung · 243 jedoch die Möglichkeit, den überwiegenden Anteil des unternehmerischen Gewinns einzufordern. Diese Vorstellung liegt auch der Sichtweise von Cantillon zugrunde: Der Unternehmer trägt das persönliche Risiko der Ungewißheit, aber kein finanzielles Risiko, denn - so die Vorstellung Cantillons - wenn jemand nichts besitzt, kann er auch nichts verlieren. Frank Knight greift diesen Ansatz auf und entwickelt ihn entscheidend weiter: In seiner Risikotheorie unterscheidet er zunächst zwischen versicherbarem Risiko und nicht versicherbarer Unsicherheit. Die Höhe des Unternehmergewinns wird dabei durch den Zusammenhang von nicht versicherbarer Unsicherheit, unternehmerischer Leistung und wirtschaftlicher Entwicklung bestimmt. Risiko als objektive Wahrscheinlichkeit, daß ein Zustand eintreten wird, kann versichert und damit eliminiert werden. Risiko ist damit nicht Bestandteil genuin unternehmerischer Tätigkeit. Unsicherheit demgegenüber bezeichnet unbekannte Ergebniszustände, die nicht als Wahrscheinlichkeiten darstellbar und meßbar sind. Es ist die originäre Aufgabe des Unternehmers, Entscheidungen unter nicht versicherbarer Unsicherheit zu treffen.4 Als Gegenleistung realisiert er bei richtiger Entscheidung im Marktspiel einen Unternehmergewinn, aus dem er dem Kapitalgeber Zins und Tilgung zahlt. Die originär unternehmerische Aufgabe besteht damit nicht in der Bereitstellung von Kapital, sondern in der Bewältigung von Unsicherheit (Knight 1921/1971, 276). Schumpeter integriert diese Ansätze in seiner funktionalen Unterscheidung von Unternehmer und Kapitalgeber. Der Unternehmer ist stets mittellos. Zur Finanzierung seiner Projekte benötigt er daher ausreichendes Geschick, um den Kapitalisten von seiner Idee zu überzeugen. Dieser allein trägt sodann das wirtschaftliche Risiko der Innovation. Er erhält als Gegenleistung nur den Kreditzins, der Gewinn verbleibt beim Unternehmer: „Niemals ist der Unternehmer Risikoträger. ... Die Übernahme des Risikos ist in keinem Fall ein Element der Unternehmerfunktion. Mag er auch seinen Ruf riskieren, die direkte ökonomische Verantwortung eines Mißerfolgs trifft ihn nie" (Schumpeter 1911/1993, 217). Diese Behauptung klingt doch schon erstaunlich, da der Unternehmer zur Durchsetzung neuer Kombinationen auf allen Gebieten Neuland zu betreten und Entscheidungen mit ex ante unbekannten Ergebnissen zu treffen hat. Bei diesen Entscheidungen sind Ungewißheit und Risiko gleichsam die ständigen Begleiter des Unternehmers, dem es realiter wohl nie gelingen wird, das gesamte Risiko auf ein anderes Wirtschaftssubjekt zu überwälzen. Der Kapitalist trägt zwar den pekuniären Verlust eines gescheiterten Vorstoßes, dem Unternehmer erwachsen aber dennoch Opportunitätskosten aus entgangenem Kontrakteinkommen und er verliert Prestige und vermutlich auch die Chance eines erneuten Innovationsversuchs - Aspekte, die Schumpeter weitgehend unberücksichtigt läßt (Kanbur 1980, 493 f.).
4 Die Grenze zwischen versicherbarem Risiko und nicht versicherbarer Unsicherheit ist nicht eindeutig zu bestimmen. So gibt es heute etwa Versicherungen auf die Gesundheit von Sportlern oder Künstlern. Sogar Lösegeldzahlungen bei Erpressung und Entführung können in einigen Ländern versichert werden. Der Bereich des nicht versicheibaren Risikos verengt sich damit zunehmend (LeRoy und Singe II 1987).
244 · Hartmut Berg und Gabriele Brandt Schwerwiegender jedoch ist die Kritik, daß sich aus den von Schumpeter gesetzten Annahmen über Ungewißheit und Risiko ein Widerspruch zu seiner Theorie unter Wissensaspekten ergibt. So erkennt der Unternehmer qua persönlicher Eignung und Fähigkeit die ökonomische Verwertbarkeit exogenen Neuerungswissens und verwandelt dieses erfolgreich in eine Innovation. Damit kann es ex definitione keine Ungewißheit geben. Sobald der Unternehmer die ökonomische Verwertbarkeit von Neuerungswissen erkannt hat, ist er zwingend erfolgreich. Da der Fall des Scheiterns in der Anlage der Theorie ausgeschlossen ist, trägt der Unternehmer de facto kein Risiko. Der ex post erfolgreiche Pionier hat ex ante den richtigen Instinkt bewiesen. Dieser Befund birgt weitreichende Implikationen: Ist die Innovation des Unternehmers stets erfolgreich, erwächst auch dem Kapitalisten kein Risiko, da er von vornherein mit seiner Investition auf einen „Gewinner" setzt. In dieser Interpretation entbehrt auch die Annahme von Widerstand der Umwelt der Grundlage. Die Schumpetersche Theorie wird ihres fundamentalen Wirkungsmechanismus beraubt. Die zentrale Frage ist daher: Kann die Unternehmerfunktion überhaupt von der Kapitalistenfunktion getrennt werden, so daß der Unternehmer ex definitione kein Risiko zu tragen hat? Selbst wenn das Risiko des finanziellen Verlustes auf den Kapitalisten überwälzt werden könnte, so verbleiben das spezifische Unternehmerrisiko von Unsicherheit und Ungewißheit sowie die Opportunitätskosten unternehmerischer Tätigkeit. Schumpeter eliminiert mit der Annahme exklusiver Fähigkeiten beide Formen des Risikos nur scheinbar und schafft damit den beschriebenen Widerspruch. In der Analyse des Verhältnisses von Unternehmer und Risiko trennt Schumpeter erneut nicht ausreichend zwischen Beobachter- und Akteursperspektive. Wird aus der Perspektive eines allwissenden Beobachters die deterministische Aussage getroffen, daß der Unternehmer über den Blick verfügt, ökonomisch verwertbares Neuerungswissen unfehlbar zu erkennen, wird die Schumpetersche Theorie zur Tautologie. Die Verbindung von Beobachter- und Akteursperspektive bleibt dabei jedoch unberücksichtigt: Weiß der Unternehmer selbst, daß er über unfehlbares Innovationswissen verfugt? Ist diese Frage für die Akteursebene zu bejahen, trägt der Unternehmer subjektiv wie objektiv keinerlei Risiko. Weiß er es hingegen nicht, ist die aus Beobachterperspektive prädeterminierte Zukunft fiir ihn noch unbekannt. Auf der Akteursebene ist er mit eben der Ungewißheit konfrontiert, die auch Ccmtillon und Knight als das spezifische Charakteristikum des Unternehmers hervorheben. So modelliert, hat der Unternehmer tatsächlich die Aufgabe, ihm unbekannte Zustände der Natur zu meistern. Das Risiko der Ungewißheit kann von der Unternehmerfunktion zwar aus der Beobachterperspektive getrennt werden, niemals jedoch auf der Akteursebene. Dieses subjektiv empfundene Risiko des Scheiterns kann daher nicht auf andere Wirtschaftssubjekte überwälzt werden. Schumpeter vernachlässigt diesen Aspekt, da seine Argumentation einer allwissenden Beobachterperspektive verhaftet bleibt.
Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung · 245 2. Risiko des Kapitalisten Für die Durchsetzung neuer Kombinationen benötigt der Unternehmer finanzielle Mittel, deren Bereitstellung einem unabhängigen Geldgeber obliegt. Eine Analyse der Motivstruktur des Kapitalisten im Schumpeterschen System hat erneut die Wissensverteilung zwischen Beobachter- und Akteursperspektive zu betrachten: Wie gesehen, besteht auf der Beobachterebene das Wissen, daß der Pionier stets erfolgreich ist. Auf der Akteursebene hingegen bleibt unklar, ob der Pionier um seine Unfehlbarkeit weiß. Daher ist zu diskutieren, über welchen Wissensstand die Banken verfugen und wie sich dieser auf ihre Politik der Kreditvergabe auswirkt. Haben Banken die Beobachterperspektive, wissen sie, daß Unternehmer mit ihren Innovationsvorhaben stets erfolgreich sind. In diesem Fall ist die Finanzierung der erforderlichen Investitionen für sie mit keinerlei Risiko verbunden. Sie werden das notwendige Kapital zur Verfügung stellen. Der Unternehmer hat keinen Widerstand zu überwinden. Eine fundamentale unternehmerische Aufgabe wäre entfallen. Daneben besteht das Problem, daß der Unternehmer bei Beantragung des Kredites sein Vorhaben vermutlich erläutern muß. Banken würden als rationale Gewinnmaximierer in dieser Situation selbst als Unternehmer auftreten. Sie könnten sich so den gesamten Unternehmergewinn sichern, zumal viele Innovationen nicht wirksam zu patentieren sind. Die Annahme exklusiven Wissens auf Seiten der Banken erscheint daher mit der Schumpeterschen Theorie nicht konsistent. Wissen die Banken ex ante jedoch nicht um den zukünftigen Erfolg des Unternehmers, wird die Annahme zweifelhaft, daß sie ihr Kapital allein im Vertrauen auf dessen persönliche Fähigkeiten und unternehmerische Leistung bereitstellen. Banken können am Humankapital des Unternehmers kein Eigentum erwerben. Der Kredit ist somit allein durch die eingesetzten Produktionsmittel gesichert, die sich unter Bedingungen konstitutioneller Unsicherheit ex post als nicht liquidierbar erweisen können. Den Banken erwächst daher ein Risiko aus möglichen Informationsasymmetrien und dem daraus entstehenden Moral hazard auf Seiten des Unternehmers. Die Annahme, Banken würden allein auf die protestantische Ethik des Unternehmers vertrauen, dürfte folglich realitätsfern sein. Tatsächlich werden die Banken Einsicht in den Geschäftsablauf und möglicherweise auch ein Mitspracherecht bei Entscheidungen fordern. Diese Form der Einflußnahme kann den innovatorischen Vorstoß derart modifizieren, daß das Projekt scheitert. Schließlich haben Kapitalisten ex definitione nicht den Blick für erfolgreiche Kombinationen, der allein den Unternehmer auszeichnet. Dennoch verfugen sie über ausreichende Macht, um ihre Interessen durchsetzen zu können. In dieser Situation muß der Unternehmer die Banken vom wirtschaftlichen Wert seines Vorstoßes überzeugen. Dazu bedarf es der von ihm geforderten Durchsetzungsfähigkeit. Fehlt ihm diese, ist er nach Schumpeter kein wahrer Unternehmer und somit zum Scheitern verurteilt. In dieser Interpretation ist es denkbar, daß ein Wirtschaftssubjekt die ökonomische Verwertbarkeit von Neuerungswissen zwar erkennt, aber nicht über die Fähigkeit verfügt, seine Kapitalgeber von der Vorteilhaftigkeit seines Vorhabens zu überzeugen. Ebenso ist es möglich, daß der Pionier um Kredite nachsucht und nicht um seine Unfehlbarkeit weiß. Die Wis-
246 • Hartmut Berg und Gabriele Brandt sensverteilung bleibt bei Schumpeter letztlich unklar. In beiden Fällen ist jedoch das Vorhandensein besonderer persönlicher Fähigkeiten von Bedeutung. Auch im Innenverhältnis von Unternehmer und Kapitalist unterstellt Schumpeter damit offenbar ein Modell, in dem die Wirtschaftssubjekte die Erfahrungen früherer Wettbewerbsprozesse nicht bewahren können. Denn könnten sich die Marktteilnehmer an frühere Innovationszyklen erinnern, müßten sie wissen, daß innovatorische Unternehmer stets erfolgreich sind. 3. Widerstand der Umwelt Bei Schumpeter konstituieren die Entscheidungsprozesse der Banken und die Präferenzen der Konsumenten Eintrittsschranken, die der Unternehmer zu überwinden hat. Konsumenten und Banken leisten gegen jeden innovatorischen Vorstoß annahmegemäß Widerstand, den der Unternehmer durchbrechen muß. Diese Akteure fungieren so als eine Art Schiedsrichter, dessen Aufgabe es ist, unter den Individuen einer Gesellschaft superiore Persönlichkeiten zu selektieren. Interessant ist nun die Frage, aus welcher Gruppe von Wirtschaftssubjekten sich diese Schiedsrichter rekrutieren. Schumpeter unterscheidet bekanntlich nur zwischen statischen Anpassern und qualitativen Innovatoren. Da Konsumenten und Bankiers die Kriterien eines Unternehmers nicht erfüllen - schließlich verfugen sie nicht über deren exklusives Wissen -, zählen sie offenbar zur Gruppe der statischen Anpasser. Für diese ist jedoch kennzeichnend, daß sie nicht unabhängig agieren, sondern allein quantitative Anpassung an die vom Unternehmer geschaffene Selektionsumgebung betreiben. So ist „die Masse der Menschen nicht in der Lage ..., Alternativmöglichkeiten rational zu vergleichen" (Schumpeter 1942/1993, 212). Dieser Mangel an Initiative und Rationalität impliziert, daß Konsumenten zwangsläufig alles akzeptieren, was der Unternehmer für sie produziert: „Wenngleich die ökonomische Betrachtung von der fundamentalen Tatsache ausgeht, daß die Bedürfnisbefriedigung die Ratio allen Produzierens ist und der jeweilige Wirtschaftszustand von dieser Seite her verstanden werden muß, so vollziehen sich Neuerungen in der Wirtschaft doch in der Regel nicht so, daß erst neue Bedürfnisse spontan bei den Konsumenten auftreten und durch ihren Druck der Produktionsapparat umorientiert wird - wir leugnen das Vorkommen dieses Nexus nicht, nur bietet er uns kein Problem -, sondern so, daß neue Bedürfnisse den Konsumenten von der Produzentenseite anerzogen werden, so daß die Initiative bei den letzteren liegt" (Schumpeter 1911/1993, 99 f.). Widerstand der Konsumenten ist mit Schumpeters Theorie ebensowenig konsistent wie die Vorstellung, Banken könnten Unternehmern Kredite verwehren. Die Ablehnung einer unternehmerischen Initiative würde schließlich das Vorhandensein eines Entscheidungsmaßstabs voraussetzen, der über die Ansprüche einer lediglich quantitativen Anpassung erheblich hinausgeht. Seine Aufgabe als „Ephor der Verkehrswirtschaft" (Schumpeter 1911/1993, 110) kann der Bankier somit nicht wahrnehmen. Dieser Befund wird von Schumpeters deterministischem Geschichtsverständnis bestätigt, das ein selbstbestimmtes Handeln der Wirtschaftssubjekte als Regel nicht zuläßt. Allein der Unternehmer ist durch seine exklusiven Fähigkeiten und Eigenschaften in der
Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung · 247 Lage, die Rahmenbedingungen seines künftigen Handelns zu verändern. Würden die statischen Wirtschaftssubjekte ihrerseits die Handlungen des Unternehmers beeinflussen können, würden sie damit indirekt auch auf ihre eigenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einwirken. Dies ist aber ex definitione ausgeschlossen. So bleibt unklar, welchen Status diese Individuen in der gesellschaftlichen Hierarchie einnehmen. Widerstand setzt qualitatives Handeln von Akteuren voraus, die in der Schumpeterschen Theorie dazu als statische Wirte annahmegemäß nicht befähigt sind.
IV. Bedeutung der Schumpeterschen Theorie heute Schumpeters Vorstellung des Unternehmers orientiert sich an den Rahmenbedingungen der Blütezeit des Kapitalismus von 1870 bis 1914. Zeitgenössische Berichte und Biographien zeigen insbesondere für die USA, daß der Unternehmer hier noch als der individualistische Typus auftritt, der Schumpeters Vorstellung offenbar zugrunde liegt. Die Vanderbilts, Morgans, Harrimam, Carnegies und Fords der damaligen Zeit nutzten tatsächlich alle ihnen zur Verfugung stehenden Mittel, um das wirtschaftliche und rechtliche Umfeld zu ihrem persönlichen Vorteil zu verändern. Durch ihren Einfluß auf die Politik waren sie in der Lage, sich weitgehend ihre eigenen rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.5 Schumpeters Vorstellung einer elitistischen Minderheit, die sich durch einen gewissen Blick für die erfolgreiche Innovation auszeichnet und der so der gesellschaftliche Aufstieg gelingt, ist der Realität dieser Zeit durchaus angemessen. Die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren damals noch so formbar, daß innovatorische Unternehmer mit guten Ideen tatsächlich kaum scheitern konnten. Das Risiko einer Innovation war zwar insgesamt nicht zwingend geringer als in späteren Perioden oder als in unserer Gegenwart, doch war der Unternehmer damals weniger als heute abhängig von Expertenmeinungen und den Informationen Dritter. Die Unternehmung hatte vielmehr einen Umfang, der für ihn überschaubar war. Auch mit zunehmendem Größenwachstum werden Leistung und Initiative des Unternehmers nicht entbehrlich. Gesellschaftliche Werte und Regeln als Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns haben sich jedoch verändert. So wurden die Entscheidungsbefugnisse des Unternehmers durch Mitspracherechte von Arbeitnehmern und Banken eingeschränkt. Die Komplexität wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse macht es für den Unternehmer unumgänglich, auf Experten zu vertrauen und verstärkt Anpassung an sich wandelnde Rahmenbedingungen zu betreiben. Komplexe Systeme können nur selten durch die Initiative Einzelner verändert werden. Nur eine Minderheit ist daher noch Unternehmer im originären Sinne des Schumpeterschen Konzepts. Schumpeters Theorie des Unternehmers hat über die Jahrzehnte hinweg auf verschiedene wissenschaftlichen Disziplinen großen Reiz ausgeübt. In der Tat besticht seine Analyse wirtschaftlichen Wachstums und gesellschaftlicher Entwicklung durch Eingängigkeit der Sprache und Einfachheit der dargestellten Wirkungszusammenhänge. Einfachheit bedeutet dabei nicht notwendig unzulässige Simplizität. Alan Musgrave (1981) 5 Eindrucksvolle Belege dafür bieten etwa Myers (1916/1969) und Hughes (1973).
248 · Hartmut Berg und Gabriele Brandt zeigt etwa, daß scheinbar unrealistische Annahmen notwendig sein können, um komplexe Zusammenhänge in einer Theorie angemessen erfassen zu können. In den Naturwissenschaften ist diese Vorgehensweise häufig zu beobachten. Solange der zu illustrierende Wirkungsmechanismus nicht beeinträchtigt wird, erscheint diese Methode wenig problematisch. Auch in der Ökonomie werden vereinfachende Annahmen gesetzt, ohne daß das Ergebnis dadurch unzulässig verfälscht werden würde: So ist das Modell der vollkommenen Konkurrenz trotz seiner restriktiven und wenig realitätsnahen Annahmen sehr wohl geeignet, Preiswettbewerb zu veranschaulichen. Industrieökonomische Modellierungen verdeutlichen die Wirkungen verschiedener Anreizstrukturen, auch wenn zunächst vereinfachend nur zwei Marktteilnehmer interagieren. Die Theorie ist in diesem Falle nicht Abbild der gesamten Realität, sie kann aber das zu untersuchende Phänomen treffend darstellen. Auch Schumpeters Konzept des Unternehmers ist so zu verstehen: Die soziale Wirklichkeit ist ein komplexes Konstrukt gesellschaftlicher und ökonomischer Zusammenhänge, die in ihrer Gesamtheit bisher noch nicht angemessen erfaßt werden konnten. Schumpeters Ziel ist es nicht, eine abgeschlossene Theorie des Unternehmers sui generis zu liefern. Diese ist vielmehr erst von seinen Interpreten aus den in seinen Werken verstreuten Einzelelementen rekonstruiert worden. Eine Theorie kann stets nur Abbild der vergangenen oder der gerade zu beobachtenden Werte und Regeln einer Gesellschaft sein. Unter Bedingungen konstitutioneller Unwissenheit ist eine Extrapolation in die Zukunft oder eine Übertragung auf andere Gesellschaftsformen verläßlich nicht möglich. Eine Kritik an Schumpeter aus heutiger Sicht kann sich daher nicht auf einen angeblichen Mangel an Realitätsnähe berufen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts ist der erfolgreiche Unternehmer die individualistische Figur, die Schumpeter in seinen Werken beschreibt. Da primär wirtschaftliches Wachstum erklärt werden soll, erscheint die Vernachlässigung der Eigenschaften gescheiterter Unternehmer vor dem Hintergrund der vorliegenden Theorie als durchaus zulässige Vereinfachung. Problematisch hingegen ist, daß zentrale Annahmen der Schumpeterschen Theorie nicht nur vereinfachenden Charakter haben, sondern in wesentlichen Punkten widersprüchlich sind. Insbesondere Schumpeters Ausführungen zur Risikofunktion und sein deterministisches Geschichtsverständnis befremden: Schumpeters Ziel ist die Erklärung gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge, die sich als äußerst komplexes Phänomen darstellen. Aus Gründen der Komplexitätsreduktion kann es in einer Theorie angezeigt sein, von der Risikofunktion des Unternehmers zunächst zu abstrahieren, solange das eigentliche Phänomen durch diese Vereinfachung nicht verzerrt wird. Dieses Argument kann hier jedoch nicht geltend gemacht werden: In der Ökonomie kann Risiko nicht sinnvoll von der Figur des explorati ven Unternehmers getrennt werden. Der Unternehmer wird dargestellt als ein individualistischer Pionier, der gleich einem mittelalterlichen Freibeuter mit Entschlossenheit und Kühnheit die Wirtschaft revolutioniert. Schumpeters bewußt heroische Darstellung läßt auf ein hohes persönliches Risiko des Unternehmers schließen. Daher ist es als Bruch mit der übrigen Theorie zu werten, wenn gerade dieser Hasardeur annahmegemäß kein Risiko zu tragen hat.
Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung · 249 Nicht weniger problematisch sind unter Wissensaspekten die Schlußfolgerungen, die Schumpeter aus diesen Annahmen für den Ablauf des Imitationsprozesses und das Verhältnis von Unternehmer und Kapitalisten sowie für die Rolle der Konsumenten zieht. Sein Geschichtsdeterminismus und sein Weltbild, das neben unternehmerischen Übermenschen nur statische Herdentiere kennt, machen seine Ausführungen zum Widerstand der Umwelt unhaltbar. Der Befund auf theoretischer Ebene ist daher eher ernüchternd. Werden die einzelnen Elemente des Unternehmerkonzepts zu einer Theorie zusammengefügt, wirkt diese mechanistisch und häufig wenig durchdacht. Doch ihr Wert für die Praxis ist ein anderer. Schumpeters Unternehmerkonzept kann gerade durch seine griffige Terminologie und seine Einfachheit auf eine vielfach sklerotische Politik stimulierend wirken. Die zentrale Botschaft, daß günstige Rahmenbedingungen Innovationen und damit wirtschaftliches Wachstum hervorbringen, findet zunehmend Akzeptanz. Gerade in der jüngsten Zeit hat die Schumpetersche Theorie nicht von ungefähr eine Renaissance erfahren, die mit einer Förderung des individualistischen Unternehmers durch die Politik einhergeht, dem damit ganz im Sinne Schumpeters eine Führungsrolle zuerkannt wird.
Literatur Böhm-Bawerk, Eugen von (1913/1968), Eine 'dynamische' Theorie des Kapitalzinses, in: Franz X. Weiss (Hrsg.), Eugen von Böhm-Bawerks kleinere Abhandlungen über Kapital und Zins. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Frankfurt a.M., S. 520-585. Bös, Dieter und Hans-Dieter Stolper (1984), Schumpeter oder Keynes?, Berlin u.a. Bude, Heinz (1997), Der Unternehmer als Revolutionär der Wirtschaft, Merkur - Zeitschrift für europäisches Denken, 9./10. Jg., S. 866-876. Cantillon, Richard (1755/1931), Abhandlung über die Natur des Handelns im allgemeinen, Jena. Carlin, Edward A. (1956), Schumpeter's constructed type - the entrepreneur, Kyklos, 9. Jg., S. 27-42. Cauthorn, Robert C. (1989), Contributions to a theory of entrepreneurship, New York und London. Choi, Young Back (1995), The entrepreneur: Schumpeter vs. Kirzner, Advances in Austrian Economics, 2. Jg., Bd. A, S. 55-65. Clark, John B. (1892), Insurance and business profit, Quarterly Journal of Economics, 7. Jg., S. 40-54. Clark, John B. (1907/1968), Essentials of economic theory, New York. Gilbert, Richard J. und David M. Newbery (1982), Preemptive patenting and the persistence of monopoly, American Economic Review, 72. Jg., S. 514-526. Gilbert, Richard J. und David M. Newbery (1984), Uncertain innovation and the persistence of monopoly: a comment, American Economic Review, 74. Jg., S. 238-242. Hébert, Robert F. und Albert Ν. Link (1988), The entrepreneur: mainstream views and radical critiques, New York. Hughes, Jonathan (1973), The vital few, New York. Kanbur, Ravin S.M. (1980), A note on risk taking, entrepreneurship, and Schumpeter, History of Political Economy, 12. Jg., S. 489-498. Knight, Frank H. (1921/1971), Risk, uncertainty and profit, Chicago und London. LeRoy, Stephen F. und Larry D. Singell (1987), Knight on risk and uncertainty, Journal of Political Economy, 95. Jg., S. 394-406. Mangoldt, Hans K.E. von (1855/1966), Die Lehre vom Unternehmergewinn, Frankfurt a.M.
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Der Schumpetersche Unternehmer: Versuch einer kritischen Würdigung · 251 sich nur an eine neue Datenkonstellation anpassen, also in seiner Terminologie tatsächlich als „Wirte" anzusehen sind. Nach Schumpeter ist der Unternehmer nicht als Person, sondern als Wahrnehmer einer bestimmten Funktion aufzufassen, nämlich der, Innovationen durchzusetzen. Daraus folgt, daß Unternehmertätigkeit weder einen Beruf bezeichnet, noch als Arbeit aufzufassen ist, noch schließlich dauerhaft ausgeübt wird. Unternehmer denaturieren zu „hedonistischen Wirten", wenn sie ihre Innovationsaktivitäten nicht kontinuierlich fortsetzen. Schumpeters Verdienst ist es, die zentrale Relevanz von Innovationen für das Wachstum einer Volkswirtschaft verdeutlicht und zugleich gezeigt zu haben, daß es zur Durchsetzung von Innovationen im Wettbewerb spezieller Fähigkeiten bedarf. In der Ausarbeitung dieses zentralen Gedankens bleibt Schumpeter häufig unklar. Seine Argumentation ist nicht frei von Inkonsistenzen. In der wirtschaftspolitischen Diskussion ist Schumpeters Unternehmertheorie vor allem dann populär, wenn ein Mangel an Wachstumsdynamik und Beschäftigungschancen zu schaffen macht. Sie wird zumeist stark simplifiziert. Als Appell, unternehmerische Initiative zu fördern und fur Innovationen günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, bleibt sie trotz ihrer Mängel von Nutzen. Summary The Schumpeterian Entrepreneur: Some Critical Remarks The entrepreneur is a central component of the dynamic theory of economic development as submitted by Joseph Alois Schumpeter. More than Schumpeter himself, the interpreters of his works have combined the individual elements into a theory of the entrepreneur. This theory will be portrayed and made the subject of critical discussion. According to Schumpeter, the entrepreneurs task is to introduce innovations, i.e. new combinations of given production factors. The entrepreneur appears as a charismatic leader in the sense of Max Weber, whose task lies in the exploration of new economic grounds. As he has the "capacity of seeing things in a way which afterwards proves to be true", the entrepreneur cannot fail. Because the entrepreneur is always successful, one may assume that the capitalist will not bear any risk, either. True, Schumpeter does speak of the resistance which the innovator is confronted with, but since in his view the entrepreneur alone is able to act individually - in contrast to all other individuals of the economic body, who only adapt - there is noone, according to his theory, who would be able to thwart the entrepreneur's success. Schumpeter grants an imitator following the pioneer the status of "entrepreneur", although an imitator merely adapts to a new constellation of data and would actually have to be considered as "mere managers" (Wirt) in his terminology. According to Schumpeter, the entrepreneur must not be understood as a person but as someone who assumes a certain function, i.e. to introduce innovations. This means that entrepreneurial activity represents neither a profession nor work nor can it be done permanently. Entrepreneurs degenerate and become hedonistic and calculating managers if
252 - Hartmut Berg und Gabriele Brandt
they fail to pursue innovations continuously. Schumpeter can be credited with having illustrated the central relevance of innovations for the growth of an economy and with having shown that special abilities and skills are needed for successful innovations in a competitive society. Yet, in the elaboration of this central thought, Schumpeter often remains unclear. His arguments are not free of inconsistencies. In economics and politics Schumpeter's theory of the entrepreneur is especially popular where a lack of growth dynamics and employment opportunities is involved. It is often simplified. As an appeal to promote entrepreneurial initiative and to create favourable framework conditions for innovations, the theory remains valuable despite its shortcomings.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Wolfgang Kerber
Erfordern Globalisierung und Standortwettbewerb einen Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik?1
I. Einleitung "Globalisierung" und "Standortwettbewerb" sind zentrale Schlagworte einer immer unübersichtlicher werdenden öffentlichen Diskussion, die nicht nur im Wirtschaftsteil einschlägiger Zeitungen ausgetragen wird, sondern auch im Feuilleton mit seiner breiten intellektuellen Leserschaft eine zentrale Stellung gewonnen hat. Diese Diskussion ist von großen Unsicherheiten gekennzeichnet. Oft werden die wirtschaftlichen Probleme in vielen Industrieländern direkt auf die Auswirkungen der Globalisierung zurückgeführt, womit sie gleichzeitig je nach Standpunkt als Bedrohung oder als Chance fur Uberfällige Reformen begriffen wird. Aus ökonomischer Sicht sieht man diese Diskussion wesentlich nüchterner. Prozesse zunehmender Internationalisierung arbeitsteiligen Wirtschaftens mit den dabei auftretenden oft immensen Anpassungsproblemen sind in der Wirtschaftsgeschichte nichts Neues. Trotzdem soll hier die These vertreten werden, daß im Rahmen des stattfindenden Prozesses zunehmender Globalisierung mit dem Phänomen eines wesentlich gesteigerten Standortwettbewerbs eine qualitative Veränderung eintritt, die grundlegende Prämissen in der bisherigen Theorie der Wirtschaftspolitik in Frage zu stellen droht. Entscheidender Ausgangspunkt hierfür ist die wachsende Mobilität von Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren, die zu einem in dieser Form bisher nicht gekannten Wettbewerb zwischen Standorten und damit zwischen Wirtschaftspolitiken einzelner Staaten fuhrt. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob Wirtschaftspolitik von Staaten, die im direkten Wettbewerb um mobile Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren stehen, einen prinzipiell anderen Charakter erhält und es deshalb bei weiter zunehmender Mobilität erforderlich sein könnte, in der Theorie der Wirtschaftspolitik eine Neukonzeptualisierung staatlicher Wirtschaftspolitik vorzunehmen.
1 Hierbei handelt es sich um den leicht überarbeiteten und erweiterten Text der am 16. Juli 1998 gehaltenen Antrittsvorlesung des Autors am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der PhilippsUniversität Marburg.
254 · Wolfgang Kerber
II.
Das traditionelle Paradigma staatlicher Wirtschaftspolitik: Staat als Monopolist
Bezugspunkt in der bisherigen Auffassung von Wirtschaftspolitik ist zweifellos der Nationalstaat. Entscheidend für das Staatsverständnis in der bisherigen Theorie der Wirtschaftspolitik ist, daß der Staat als Monopolist verstanden wird, also als eine Instanz, der die inländischen Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren nicht ausweichen können. Dies bedeutet, daß in dieser Konzeption jedem Staat eineindeutig eine Menge von Individuen zugeordnet ist und mögliches Wechseln von Individuen zwischen Staaten bisher in wirtschaftspolitischen Konzeptionen nicht systematisch berücksichtigt worden ist. Aus ökonomischer Sicht wurde diese Monopolstellung mit der Notwendigkeit einer Selbstbindung von Individuen zur Überwindung von gesellschaftlichen Dilemmastrukturen begründet, um die Einhaltung der für die Ordnung notwendigen Regeln und die Bereitstellung öffentlicher Güter zu sichern (bspw. die Konzeptionen des Rechtsschutz- und Leistungsstaats von Buchanan 1975). Gleichzeitig aber hat die hieraus resultierende Machtfulle immer schon das Problem aufgeworfen, wie gesichert werden kann, daß ein solcher als Monopolist gedachter Staat seine Aktivitäten tatsächlich an den Präferenzen seiner Bürger und Bürgerinnen orientiert. In der Theorie der Wirtschaftspolitik ist deshalb das Problem des Mißbrauchs des Staates durch Interessengruppen herausgearbeitet worden (Rent seeking-Problem), sowie das Problem, daß der Staat sich oft ein nicht vorhandenes Wissen über die Lösung von Problemen anmaßt und insofern in zu großem Umfang in Märkte intervenierend und regulierend eingreift. Die in der Theorie der Wirtschaftspolitik entwickelte Forderung nach einer möglichst weitgehenden Beschränkung von Wirtschaftspolitik auf die Gestaltung eines institutionellen Rahmens, innerhalb dessen Markt- und Wettbewerbsprozesse ablaufen sollen (Ordnungspolitik), sowie Verfassungsvorschläge zur Beschränkung der Macht von Regierungen im Sinne der Konstitutionellen Ökonomik sind gerade als zentrale Antworten auf diese grundlegenden Probleme einer solchen monopolistischen staatlichen Wirtschaftspolitik entwickelt worden.2
III.
Probleme des bisherigen Paradigmas in zunehmend globalisierter Welt
Dieses Paradigma vom Territorialstaat als Monopolisten wird aber durch die zunehmende Ausweitung von Mobilität zwischen den Staaten in Frage gestellt. Zwar ist es richtig, daß die faktische Mobilität immer noch eine beschränkte ist, aber der längst beobachtbare Trend einer auch in Zukunft weiter wachsenden Mobilität, der von vielen gerade als zentrales Kennzeichen des Globalisierungsphänomens angesehen wird (Klodt 1998), macht die Frage nach deren Konsequenzen für das Verständnis des Staates und der von ihm zu betreibenden Wirtschaftspolitik hochrelevant.
2 Eucken 1952, Hayek 1979, Brennan und Buchanan 1985.
Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik · 255
Die sich aus der wachsenden Mobilität ergebenden Probleme haben sich in der aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussion längst niedergeschlagen. Eine Debatte dreht sich um das Problem der sich verringernden Steuerbasen, da das Kapital in diejenigen Länder mit geringeren Steuern abzuwandern droht, woraus sich wachsende Finanzierungsprobleme für staatliche Umverteilungen ergeben, sei es im Rahmen der sozialen Sicherungssysteme oder fur Rent seeking-Aktivitäten. Auch stellt sich bei vielen Regulierungen, z.B. Sozial- und Umweltstandards, die Frage, ob man sich diese noch leisten kann oder sich eventuell an niedrigere Standards im Ausland anpassen muß. Die Regierungen von Staaten sehen sich somit zunehmend gezwungen, bei der Gestaltung ihrer Wirtschaftspolitik auf die Möglichkeit der Abwanderung, d.h. des exits, insbesondere von Unternehmen und Kapital Rücksicht zu nehmen, mit der Folge einer zunehmenden Beschränkung der Spielräume nationalstaatlicher Wirtschaftspolitik. Durch diese Ausweitung der Mobilität verliert die nationalstaatliche Wirtschaftspolitik aber zunehmend ihren bisherigen monopolistischen Charakter und erscheint plötzlich als eine im Wettbewerb stehende Wirtschaftspolitik.
IV.
Staaten als Wettbewerber als neues Paradigma für die Wirtschaftspolitik ?
Insofern ist zu fragen, ob bei weiter wachsender Mobilität in der Theorie der Wirtschaftspolitik noch vom Paradigma "Staat als Monopolist" ausgegangen werden kann, oder ob es nicht notwendig wäre, zu einem grundsätzlich neuen Paradigma überzugehen, das die Wirtschaftspolitik von Staaten aus der Perspektive untersucht, daß "Staaten als Wettbewerber" zu verstehen sind, die ihre Leistungen in Konkurrenz zu anderen anbieten? Und welche Konsequenz hätte dies für die zu betreibende Wirtschaftspolitik? Vor dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, sollen zunächst kurz die Grundlinien eines solchen alternativen Paradigmas skizziert werden.3 Statt von "Staaten" soll hierbei bewußt von Gebietskörperschaften als staatliche Einheiten gesprochen werden, weil sich damit zusätzlich auch die verschiedenen Ebenen in einer föderalen staatlichen Struktur (also EU, Bund, Länder, Kommunen) einbeziehen lassen.4 Entscheidend ist die Mobilität. Mobilität zwischen Gebietskörperschaften heißt Freiheit der Wahl von Individuen und Unternehmen, in welcher Gebietskörperschaft sie leben, arbeiten und investieren möchten. Damit verliert eine solche Gebietskörperschaft zwangsläufig ihre Monopolstellung gegenüber "ihren" Einwohnern und Unternehmen. Gleichzeitig impliziert die Wahlfreiheit von Individuen und Unternehmen gleichzeitig das 3 Seit Anfang der neunziger Jahre werden solche Überlegungen in der Literatur unter verschiedenen Begrifflichkeiten diskutiert: Systemwettbeweib, institutioneller Wettbewerb, Wettbewerb zwischen Regieningen bzw. Gebietskörperschaften oder Jurisdiktionen, kompetitiver Föderalismus u.a. Siehe hierzu beispielsweise Siebert und Koop (1990), H.W. Sinn (1990), Kenyon und Kincaid (1991), Vcmberg und Kerber (1994), Frey und Eichenberger (1995), Streit (1996), Breton (1996), Vanberg (1996), Frey (1997), Kerber (1998a). Zentrale Grundideen gehen hierbei auf Tiebouts Konzept des wettbeweiblichen Angebots lokaler öffentlicher Güter zurück (Tiebout 1956). 4 Zu den folgenden Überlegungen siehe ausfuhrlicher Kerber ( 1998a).
256 · Wolfgang Kerber Bestehen einer Wettbewerbsbeziehung zwischen diesen Gebietskörperschaften. Was somit entsteht, ähnelt einem normalen Markt, nämlich einem Markt fur Standorte, wobei die verschiedenen Gebietskörperschaften als in Konkurrenz zueinander stehende Anbieter und die Individuen und Unternehmen als Nachfrager verstanden werden können, die sich für die relativ attraktivsten Standorte entscheiden. Das Produkt, das auf diesen Märkten gehandelt wird und das die Gebietskörperschaften diesen Nachfragern anbieten, sind Pakete von öffentlichen Leistungen (wie Recht, Infrastruktur, soziale Sicherung etc.) und Steuern (als Preise für diese Leistungen), so daß sich der Wettbewerb zwischen diesen Gebietskörperschaften auf Verbesserungen dieser Steuer-Leistungs-Pakete bezieht. Hierbei ist es sinnvoll, in Anlehnung an die Föderalismustheorie von einem föderal strukturierten Mehr-Ebenen-System von Gebietskörperschaften auszugehen, da aufgrund der unterschiedlichen räumlichen Reichweite von öffentlichen Leistungen, des Auftretens verschieden großer Skalenvorteile bei ihrer Bereitstellung sowie regional unterschiedlicher Präferenzen es sich als zweckmäßig erweist, staatliche Aufgaben von Gebietskörperschaften auf verschiedenen föderalen Ebenen erfüllen zu lassen. In diesem Paradigma wettbewerblicher Wirtschaftspolitik würde es somit auf jeder föderalen Ebene einen horizontalen Wettbewerb der entsprechenden Gebietskörperschaften in bezug auf die dieser Ebene zugewiesenen wirtschaftspolitischen Aufgaben geben. Von entscheidender Bedeutung ist folglich die in einem solchen wettbewerblichen System von Gebietskörperschaften vorgenommene vertikale Abgrenzung der Kompetenzen (einschließlich der Durchsetzung des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz), weil hiermit die den Gebietskörperschaften für ihren Wettbewerb auf den einzelnen Ebenen zur Verfügung stehenden Aktionsparameter festgelegt werden.5 In welcher Weise hat sich nun in diesem neuen Paradigma der Charakter des Staates verändert? Die einzelne Gebietskörperschaft erhält hier eher den Charakter eines Clubs, der über ein bestimmtes Territorium verfügt und für seine Mitglieder bestimmte Leistungen erbringt. Die Verfassung einer Gebietskörperschaft entspräche in diesem Modell der Clubsatzung und die durch Wahlen bestimmte Regierung dem von den Clubmitgliedern gewählten Clubvorstand, der über die vom Club zu erbringenden allen zur Verfugung stehenden Leistungen und die hierfür zu zahlenden Clubgebühren entscheidet, was wiederum den Steuer-Leistungs-Paketen der Gebietskörperschaften entspräche. Einwohner einer bestimmten Gebietskörperschaft zu sein, also Marburger oder hessischer Einwohner zu sein oder die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen, wäre dann als die Mitgliedschaft in den territorialen Clubs Stadt Marburg, Bundesland Hessen oder Bundesrepublik Deutschland zu interpretieren, wobei aus der jeweiligen Clubmitgliedschaft sowohl bestimmte Rechte wie Wahlrechte oder Ansprüche auf bestimmte Sozialleistungen als auch Pflichten wie insbesondere die Bezahlung von Steuern folgen würden. Durch die Möglichkeit der Individuen, den Club zu wechseln, entstünde dann ein Wettbewerb zwischen diesen Clubs um diese Individuen als Nachfrager.
S Noch weitergehend sind Konzepte, die über territorial definierte staatliche Einheiten hinausgehen und funktional definierte staatliche Einheiten berücksichtigen (funktionaler Föderalismus). In der aktuellen Diskussion ist hier das FOCI-Konzept ("functional, overlapping, competing jurisdictions") von Frey und Eichenberger zu nennen (Frey und Eichenberger 1995; Frey 1997).
Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik · 2 5 7
Zentral fur das Verständnis des Charakters dieser Gebietskörperschaften und der von ihnen zu betreibenden Wirtschaftspolitik ist, daß sie dann eher wie im Wettbewerb stehende Unternehmen zu begreifen wären, die ebenso wie andere Unternehmen auf Märkten wettbewerbsfähige Leistungen zu erbringen haben. Die Regierungen von Gebietskörperschaften müßten sich folglich ebenso wie Unternehmen Gedanken machen, welche Bündel von Leistungen sie anbieten sollten, um die Probleme ihrer Kunden möglichst gut zu lösen, und wie sie ihre Kosten senken könnten, um ihre Leistungen zu möglichst günstigen Steuersätzen anbieten zu können. Hierbei würde es ebenso wie bei Unternehmen im Wettbewerb sinnvoll sein, über ihre jeweils bestehenden Stärken und Schwächen im Vergleich zu ihren Wettbewerbern, d.h. anderen Standorten, nachzudenken und ihre Stärken weiter zu entwickeln bzw. ihre Schwächen zu verringern. In den von Städten und Regionen betriebenen Stadt- und Regionalentwicklungspolitiken wird dies zumindest ansatzweise längst betrieben (einschließlich Stadt- und Regionalmarketing), wobei sich dieser Wettbewerb am augenfälligsten in dem Wettbewerb um Industrieansiedlungen niederschlägt. Die Aufgabe der Wirtschaftspolitik solcher Gebietskörperschaften bestünde folglich darin, mit attraktiven Steuer-Leistungs-Paketen die Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Gebietskörperschaft auf dem Markt für Standorte zu sichern. Das Faszinierende an diesem Paradigma "Staat als Wettbewerber" besteht darin, daß sich die Perspektive eröffnen würde, die Vorteile des Wettbewerbs, wie wir sie auf normalen Gütermärkten kennen, nämlich die innovative Schaffung und Verbreitung neuer Problemlösungen, deren konsequente Ausrichtung an den Präferenzen der Nachfrager, ihre effiziente Produktion sowie die Kontrolle der Macht von Anbietern, jetzt auch bei der Erstellung kollektiver Problemlösungen im Sinne öffentlicher Leistungen realisieren zu können. Ein Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften würde folglich erstens die Möglichkeit eröffnen, daß in einem parallelen Prozeß des Experimentierens mit wechselseitigem Lernen neue, bessere Wirtschaftspolitiken, bspw. in Form neuer institutioneller Arrangements, kreiert und verbreitet werden (Wettbewerb als Entdeckungsverfahren).6 Zweitens könnte durch einen solchen Wettbewerb auch die Gefahr des Mißbrauchs staatlicher Macht durch Rent-seeking stark vermindert werden, weil die Verlierer staatlicher Umverteilungen die Möglichkeit haben, in weniger von Rent-seeking dominierte Gebietskörperschaften abzuwandern (Vanberg 1997). Ein funktionsfähiger Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften könnte folglich eine Möglichkeit sein, die gerade auch auf den Monopolcharakter zurückzuführenden zentralen Probleme staatlicher Wirtschaftspolitik, nämlich das Wissens- und das Rent seeking-Problem, lösen zu helfen.
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Von besonderer Bedeutung für dieses Paradigma ist, daß hierbei nicht von einem neoklassischen, sondern von einem evolutorischen Wettbewerbskonzept ausgegangen wird, das die Schaffung und Verbreitung neuen Wissens (Innovationen) in den Mittelpunkt stellt (Schumpeter 1952; Hayek 1968; Kerber 1997). Die Innovationsdimension bezieht sich hier aber auf die Leistungen von Gebietskörperschaften.
258 · Wolfgang Kerber
V. Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik ? Wenn man beide Paradigmen noch einmal kurz einander gegenüberstellt, so haben die Individuen und Unternehmen im bisherigen Paradigma "Staat als Monopolist" keine Ausweichmöglichkeit gegenüber ihrem Staat. Das zentrale Problem der Ausrichtung der staatlichen Aktivitäten mit ihrem erheblichen monopolistischen Mißbrauchspotential an den Präferenzen der Individuen kann lediglich über das schwerfällige politische System mit dem unvollkommenen Parteienwettbewerb sowie Verfassungsregeln gelöst werden, mit der Gefahr umfangreicher Rent seeking-Aktivitäten und staatlicher Anmaßung von Wissen. In dem hierzu alternativen Paradigma "Staat als Wettbewerber" würden die staatlichen Problemlösungen dagegen von als territorialen Clubs zu verstehenden Gebietskörperschaften wettbewerblich angeboten werden, womit durch die Möglichkeit des individuellen Wechsels zwischen den Gebietskörperschaften eine unmittelbare Kontrolle der Präferenzorientierung der Steuer-Leistungs-Pakete der Gebietskörperschaften durch die Individuen selbst stattfindet, d.h. die Selbststeuerungseigenschaften des Marktes ließen sich auch fur die adäquate Bereitstellung öffentlicher Leistungen nutzen. Würde nun eine wachsende Mobilität zwischen den Gebietskörperschaften zur Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels fuhren, d.h. daß man in einer globalisierten Welt in der Theorie der Wirtschaftspolitik zum Paradigma des "Staates als Wettbewerber" überzugehen und damit Wirtschaftspolitik nur noch als Mittel zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit von Standorten zu verstehen hätte? So einfach ist es natürlich nicht. Erstens wird die Mobilität vermutlich immer eine beschränkte sein, so daß zumindest gegenüber bestimmten Gruppen von Individuen die Monopolposition von Gebietskörperschaften erhalten bleiben wird. In diesen - wettbewerbspolitisch ausgedrückt - Teilmärkten wird es folglich weiter eine monopolistische Wirtschaftspolitik geben. Wesentlich zentraler aber ist die zweite Problematik, nämlich die naheliegende Frage, ob denn ein solcher Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften überhaupt funktionsfähig sein kann.
VI. Zur Notwendigkeit einer übergeordneten Wettbewerbsordnung Ebenso wie bei dem Wettbewerb zwischen Unternehmen auf normalen Gütermärkten können auch in bezug auf einen solchen Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften eine Reihe von Gründen angeführt werden, weshalb ein solcher Wettbewerbsprozeß nicht zu wünschenswerten Ergebnissen fuhren kann, d.h. daß ein Markt- oder Wettbewerbsversagen eintritt. Unter anderem sind in der Literatur folgende Probleme diskutiert worden:7 1) Kommt es bei einem solchen Wettbewerb dazu, daß sich die niedrigsten Regulierungsstandards durchsetzen (ein sog. "race to the bottom") ?
7 Hierzu gibt es durch die vielen inzwischen diskutierten Detailfragen eine recht breite Literatur. Vgl. neben der in Fn.2 angegebenen Literatur beispielsweise Sinn (1995), Feld und Kirchgüssner (1995), Dercks (1996) und Sun und Pelkmans (1995).
Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik · 259 2) Führt ein zwischen den Gebietskörperschaften stattfindender Wettbewerb mit niedrigeren Steuern dazu, daß die staatlichen Umverteilungssysteme zusammenbrechen oder daß es zu einer Unterversorgung mit öffentlichen Gütern kommt? 3) Kann ein solcher Wettbewerb beim Auftreten von grenzüberschreitenden technologischen externen Effekte zu ineffizienten Ergebnissen fuhren? 4) Kann es nicht auch bei einem Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften zu Wettbewerbsbeschränkungen kommen und wie werden immobile Individuen, die nicht die Vorteile dieses Wettbewerbs nutzen können, vor Ausbeutung geschützt? Auf diese Fragen kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Unbestritten ist aber, daß solche Probleme auftreten können. Im Gegensatz zu einem großen Teil der Literatur, die diese Problematik vorschnell dichotomisch auf die Alternativen Wettbewerb oder Harmonisierung bzw. Zentralisierung reduziert, soll hier die These vertreten werden, daß die adäquate wirtschaftspolitische Lösungsstrategie in der Suche nach institutionellen Arrangements besteht, die solche Wettbewerbsprozesse zwischen Gebietskörperschaften funktionsfähig machen könnten. Daß unter den gegenwärtigen institutionellen Bedingungen sowohl innerhalb Deutschlands als auch der Europäischen Union ein solcher Wettbewerb erhebliche Mängel aufweist und nur sehr begrenzt funktionieren kann, ist nicht überraschend. Dies kann jedoch nicht als ein Argument gegen die Möglichkeit eines Wettbewerbs zwischen Gebietskörperschaften verstanden werden, sondern verweist nur darauf, daß ein solcher Wettbewerb ebenso wie der Wettbewerb auf normalen Gütermärkten - ganz im ordnungsökonomischen Sinne - einen übergeordneten institutionellen Rahmen benötigt, der ein Marktversagen verhindern und damit die Funktionsfähigkeit dieses Wettbewerbs sichern kann. So besteht auch in der Literatur ein breiter Konsens darüber, daß es für einen funktionsfähigen Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften notwendig ist, daß er selbst wieder unter Regeln stattzufinden hat, die alle an diesem Wettbewerb beteiligten Gebietskörperschaften einzuhalten haben.8 Dies bedeutet, daß in einer globalisierten Welt ein Wettbewerb zwischen Standorten nicht regellos verlaufen darf, sondern regelgebunden innerhalb einer übergeordneten letztlich globalen - Wettbewerbsordnung stattzufinden hat. Notwendig wäre es folglich, durch eine geeignete Setzung von Regeln ein wettbewerbliches System von Gebietskörperschaften zu etablieren, innerhalb dessen die Gebietskörperschaften im Wettbewerb zueinander kollektive Problemlösungen wie rechtliche Regeln und öffentliche Güter anbieten würden. Aufgrund der unterschiedlichen räumlichen Reichweite dieser kollektiven Problemlösungen und der Heterogenität von Präferenzen wäre es dabei notwendig, ein sehr differenziertes föderales System von hierarchisch sich überlagernden Gebietskörperschaften mit geeigneten vertikalen Kompetenzabgrenzungen zu schaffen. Zur Verdeutlichung der realen Bedeutung dieser Idee eines wettbewerblichen Systems von Gebietskörperschaften ist darauf hinzuweisen, daß die von vielen liberalen Ökonomen als wünschenswert erachtete Dezentralität staatlicher Entscheidungen und die Mobilität von Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren nur innerhalb eines solchen wettbewerblichen Systems von Gebietskörperschaften simultan verwirklichbar ist. Ist 8
Vgl. beispielsweise Siebert und Koop (1990, 455 f.), Vanberg und Kerber (1994, 208 ff.), Breton (1996, 250 ff.).
260 · Wolfgang Kerber man der Ansicht, daß ein solcher Wettbewerb prinzipiell nicht funktionieren kann, so hat man nur die Optionen, entweder die Dezentralität staatlicher Entscheidungen zu beseitigen oder künstliche Mobilitätsbarrieren zwischen den Gebietskörperschaften aufzurichten. Eine solche Wirtschaftspolitik jedoch, die darauf abstellt, allgemein verbindliche Regeln für den Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften zu etablieren, muß nun aber eine Wirtschaftspolitik im Sinne unseres ersten Paradigmas, nämlich des "Staats als Monopolist" sein, d.h. eine Wirtschaftspolitik, der die Wettbewerber gerade nicht ausweichen können dürfen, wenn diese übergeordnete Wettbewerbsordnung ihre Funktion erfüllen soll. Damit also ein Wettbewerb zwischen Wirtschaftspolitiken im Sinne des Paradigmas "Staat als Wettbewerber" funktionieren kann, muß es seinerseits eine übergeordnete Wirtschaftspolitik im Sinne des "Staats als Monopolist" geben, die die Regeln für diesen Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften definiert. Die eigentliche Grundidee würde dann darin bestehen, daß bei hoher Mobilität durch Etablierung eines solchen wettbewerblichen Systems von Gebietskörperschaften der weitaus größte Teil staatlicher Wirtschaftspolitik wettbewerblich angeboten werden könnte, während das Ausmaß monopolistisch anzubietender Wirtschaftspolitik enorm reduziert und im wesentlichen auf die Gestaltung einer solchen übergeordneten Wettbewerbsordnung reduziert werden könnte.
VII. Zwei Arten von Wirtschaftspolitik: zur Notwendigkeit der Differenzierung Bereits aus diesen letzten Überlegungen ist klar zu folgern, daß es in der Theorie der Wirtschaftspolitik nicht um einen Paradigmenwechsel gehen kann. Vielmehr besteht die Grundthese dieses Beitrags darin, daß mit beiden Paradigmen der Wirtschaftspolitik gearbeitet werden muß - und zwar je nach dem zu lösenden Problem. Insoweit es um Wirtschaftspolitik für eine Gebietskörperschaft geht, mit der sie mit anderen in Wettbewerb steht, handelt es sich um Wirtschaftspolitik im Sinne des Wettbewerbsparadigmas. Ist die Gebietskörperschaft dagegen aufgrund von Mobilitätsbarrieren (eventuell auch nur für einzelne Gruppen von Individuen) weiter Monopolist oder geht es um Wirtschaftspolitik im Sinne der Gestaltung der übergeordneten Regeln für den Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften, um ein Marktversagen im Standortwettbewerb zu verhindern, so liegt Wirtschaftspolitik im Sinne des Monopolparadigmas vor.9 Entscheidend ist, daß beide Arten von Wirtschaftspolitik sehr sorgfältig voneinander differenziert werden müssen. Weshalb ist diese Unterscheidung so bedeutsam? Es soll hier die These vertreten werden, daß die Kriterien für die Beurteilung der Geeignetheit von Wirtschaftspolitik unterschiedliche sein können, je nachdem ob es sich um die Wirtschaftspolitik eines "Staats als 9
"Monopol" und "Wettbeweib" stellen natürlich selbst nur Extremfälle dar, zwischen denen es eine Fülle von Zwischenformen gibt, wodurch sich die Problematik zweifellos noch weiter stark verkompliziert. Insbesondere auch die in der Realität zu erwartende Mischung von Individuen mit sehr unterschiedlichen Mobilitätsgraden kann erhebliche Probleme auiwerfen.
Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik · 261 Monopolist" handelt oder um eine im Wettbewerb stehende Wirtschaftspolitik. Handelt es sich um Wirtschaftspolitik im Sinne des Monopolparadigmas, dann ist zu vermuten, daß alle Gefahren eines Mißbrauchs staatlicher Macht in Form von Interventionismus und Rent seeking-Verhalten in besonderem Maße auftreten können, weshalb es zweckmäßig sein könnte, strikt auf die in der Ordnungstheorie bzw. in der Konstitutionenökonomik entwickelten Prinzipien, bspw. des sich möglichst weitgehenden Beschränkens auf das Setzen allgemeiner Regeln sowie verfassungsmäßiger Beschränkungen der Macht von Regierungen, abzustellen. Geht es jedoch um die Wirtschaftspolitik von im Wettbewerb zueinander stehenden Gebietskörperschaften, so liegt eine prinzipiell andere Situation vor, weil aufgrund der dann bestehenden wettbewerblichen Kontrolle der Wirtschaftspolitik ähnliche Ineffizienzen oder Mißbräuche der Macht von Regierungen - zumindest langfristig - nicht in vergleichbarem Maße zu befurchten wären. Vielmehr würde ein funktionsfähiger Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften selbst dafür sorgen, daß sich ineffiziente oder von Rent seeking-Verhalten dominierte Wirtschaftspolitiken nicht auf Dauer halten könnten. Dies würde beispielsweise bedeuten, daß im Wettbewerb stehende Gebietskörperschaften - wie Kommunen oder Bundesländer - in ihrer Wirtschaftspolitik durchaus auch eine spezifische Politik der Entwicklung von Standortbedingungen, z.B. in Form des gezielten Ausbaus von vermuteten komparativen Standortvorteilen betreiben dürften, um ihre Wettbewerbsfähigkeit als Standort gezielt zu verbessern. Sie würden hierbei auch Maßnahmen durchführen dürfen, die - ausgehend vom Paradigma einer monopolistischen Wirtschaftspolitik - als sehr kritisch beurteilt würde, da es sichbeispielsweise um eine problematische Industriepolitik handeln könnte, bei der zu Recht nach dem erforderlichen Wissen des Staates und etwaigen Rent seeking-Hintergründen gefragt würde. Wenn aber eine solche Wirtschaftspolitik innerhalb eines funktionsfähigen wettbewerblichen Systems von Gebietskörperschaften betrieben würde, so bräuchte man gegenüber solchen spezifischen Standortpolitiken aus prinzipiellen Erwägungen wesentlich weniger kritisch zu sein, da diese spezifischen Wirtschaftspolitiken nicht mehr von einem Monopolisten betrieben werden, sondern vielmehr selbst wettbewerblich kontrolliert werden. Umgekehrt könnte es aus der Sicht des Wettbewerbs zwischen Gebietskörperschaften sogar positiv sein, wenn die Gebietskörperschaften mit verschiedenen wirtschaftspolitischen Strategien experimentieren, weil auf diese Weise der Innovationswettbewerb gefördert und im Standortwettbewerb schneller herausgefunden wird, mit welchen Arten von Wirtschaftspolitik, beispielsweise institutionellen Innovationen, Standorte attraktiver gemacht werden können.10 Die Frage, ob an eine im Wettbewerb stehende Wirtschaftspolitik prinzipiell andere Anforderungen zu stellen wären als an eine von einem monopolistischen Staat betriebene Wirtschaftspolitik, würde allerdings eine wesentlich gründlichere Analyse erfordern und 10 Voraussetzung hierfür wäre allerdings das Bestehen eines geeigneten übergeordneten Regelrahmens, der bspw. für einen Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften innerhalb Deutschlands nicht in adäquatem Maße existiert, bspw. durch die fehlende Durchsetzung des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz. Insofern sind diese Überlegungen sehr eng mit der aktuellen Diskussion um das deutsche System des Länderfinanzausgleichs verknüpft, dessen bisherige Ausgestaltung einen solchen Wettbewerb gerade systematisch zu verhindern droht.
262 · Wolfgang Kerber muß Wer folglich offen bleiben. Es sollte allerdings deutlich geworden sein, daß zwei sehr unterschiedliche Problemsituationen vorliegen, je nachdem ob die einzelne Gebietskörperschaft mit ihrer Wirtschaftspolitik Monopolist gegenüber den Individuen ist oder ob eine Gebietskörperschaft in einem rivalisierenden Wettbewerb mit anderen Anbietern von Steuer-Leistungs-Paketen steht und folglich in viel stärkerem Umfang gezwungen ist, ständig nach neuen, besseren kollektiven Lösungen für die Probleme von Individuen zu suchen. Für die Theorie der Wirtschaftspolitik besteht das entscheidende Problem aber insbesondere auch darin, daß bisher noch weitgehend unbekannt ist, wie ein adäquater übergeordneter Rahmen von Spielregeln im Sinne einer Wettbewerbsordnung auszusehen hätte, damit ein solcher Wettbewerbsprozeß zwischen Gebietskörperschaften seine Funktionen erfüllen kann. Diesbezüglich steht die Ökonomie noch am Anfang eines langfristigen und umfangreichen Forschungsprogramms.
VIII. Folgerungen für die Wirtschaftspolitik: Das Beispiel der Europäischen Integration Die Bedeutung dieser Überlegungen für die konkrete Wirtschaftspolitik läßt sich am besten anhand des Prozesses der Europäischen Integration verdeutlichen. Die staatliche Struktur innerhalb der Europäischen Union kann als ein hierarchisches Mehr-EbenenSystem von Gebietskörperschaften (EU, Mitgliedstaaten sowie in Deutschland Bundesländer und Kommunen) gekennzeichnet werden, wobei die staatlichen Einheiten auf jeder dieser föderalen Ebenen über bestimmte Kompetenzen für staatliche Aktivitäten verfügen. Trotz aller Zentralisierungstendenzen innerhalb der EU liegen zentrale Kompetenzen für die Wirtschaftspolitik aber immer noch auf der mitgliedstaatlichen Ebene (oder darunter), so daß die Dezentralität staatlicher Kompetenzen innerhalb der EU im wesentlich noch gegeben ist. Gleichzeitig gehört es zum Kern des europäischen Integrationsprozesses, daß alle noch bestehenden Mobilitätsbarrieren zwischen den Mitgliedstaaten systematisch abgebaut werden sollen, um einen einheitlichen Binnenmarkt zu schaffen. Im Mittelpunkt stehen dabei die vollständige Durchsetzung der vier Grundfreiheiten (Freiheit des Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital) über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Cassis de Dijon-Rechtsprechung) und das Binnenmarktprogramm der Kommission. Folge dieses gleichzeitigen Bestehens dezentraler Entscheidungskompetenzen in den Mitgliedstaaten und steigender Mobilität zwischen den Mitgliedstaaten ist, daß es nicht nur zu einer erheblichen Verstärkung des Wettbewerbs zwischen Unternehmen auf den sich entwickelnden europäischen Gütermärkten kommt, sondern auch zu einer enormen Intensivierung des Wettbewerbs zwischen Standorten und damit des Wettbewerbs zwischen den Gebietskörperschaften innerhalb der EU. Denn die Kombination von Dezentralität staatlicher Kompetenzen und räumlicher Mobilität führt zwangsläufig zu Wettbewerbsprozessen zwischen den Gebietskörperschaften. Im Zentrum der Wirtschaftsordnung der Europäischen Union steht die Durchsetzung des Wettbewerbsprinzips als konstitutives Element einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Insofern gehören die vier Grundfreiheiten und die Wettbewerbsregeln der EU, die nach
Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik • 263 Art. 3g EGV den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützen sollen, zum zentralen Kernbestand des europäischen Integrationsprozesses. Aus der Sicht eines wettbewerblichen Paradigmas staatlicher Wirtschaftspolitik besteht das zentrale Problem beim europäischen Integrationsprozeß nun darin, daß sich die Wettbewerbsregeln der EU bisher konzeptionell nur darauf beziehen, einen von Beschränkungen und Verzerrungen freien Wettbewerb zwischen Unternehmen auf den europäischen Gütermärkten zu sichern. Sowohl die Politik gegen private Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellverbot, Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen und Fusionskontrolle) als auch die Politik gegen einzelstaatliche Wettbewerbsbeschränkungen (öffentliche Unternehmen, Beihilfenkontrolle) beziehen sich ausschließlich auf die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs zwischen Unternehmen innerhalb des Gemeinsamen Marktes. Dagegen hat der innerhalb der EU stattfindende Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften bisher keinen systematischen Platz in der europäischen Wettbewerbsordnung gefunden. Ganz im Gegenteil besteht auf der EU-Ebene seit langem die Tendenz, diesen Wettbewerb dort, wo er konkret in Erscheinung tritt, wie den Wettbewerb um die Ansiedlung von Industrien, grundsätzlich negativ zu beurteilen und ihn durch Zentralisierung oder Harmonisierung zu unterbinden.11 Während jede Zentralisierung staatlicher Kompetenzen den Wettbewerb zwischen unteren Gebietskörperschaften ausschaltet, da man ihnen die Aktionsparameter für einen solchen Wettbewerb entzieht, stellt die Harmonisierung wiederum nichts anderes dar als die Kartellierung der Gebietskörperschaften durch horizontale Koordination dieser Aktionsparameter. Beides fuhrt zur Ausschaltung des Wettbewerbs zwischen den Gebietskörperschaften. Darüber hinaus kann gezeigt werden, daß selbst die Politik gegenüber einzelstaatlichen Wettbewerbsbeschränkungen, die den Wettbewerb zwischen Unternehmen vor Verfälschungen schützen soll, wie bspw. die Beihilfenkontrolle, den Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften innerhalb der EU beeinträchtigen kann, weil sie oft zu einer Homogenisierung der staatlichen Aktivitäten der unteren Gebietskörperschaften fuhrt (Kerber 1998b). Trotz der Subsidiaritätsdebatte sollte man sich keinen Illusionen hingeben: der Trend zur Zentralisierung und Vereinheitlichung scheint in der Europäischen Union ungebrochen. Selbstverständlich kann man der Meinung sein, daß die Europäische Union tatsächlich organisiert sein sollte, wie ein vergrößerter Nationalstaat, bei dem - analog wie bisher in den Mitgliedstaaten - alle wichtigen Kompetenzen auf der zentralstaatlichen Ebene angesiedelt werden sollten, was eine begrenzte föderale Struktur nicht ausschließt. In dieser naheliegenden Konzeption der Europäischen Integration würde man den "Staat als Monopolisten" - eventuell auch abgesichert durch Mobilitätsbarrieren nach außen - möglichst vollständig auf der EU-Ebene zu reinstallieren versuchen. Unbestritten ist, daß ein solcher letztlich stark zentralisierter europäischer Staat langfristig wesentlich größere 11 Die Einführung des Ursprungslandprinzips und damit des Prinzips der wechselseitigen Anerkennung bei Regulierungen durch den Europäischen Gerichtshof und später auch durch die Kommission scheint zwar die These der Förderung eines Regulierungswettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten zu stützen. Tatsächlich ist aber das Ursprungslandprinzip als übergeordnete Regel fiir einen Wettbewerb zwischen Regulierungen mit erheblichen Problemen verbunden, auf die hier allerdings nicht näher eingegangen werden kann.
264 · Wolfgang Kerber Gefahren bezüglich Rent-seeking, Inflexibilität, Ineffizienz und Bürgerferne heraufbeschwören würde, weshalb gerade dem Prinzip der Subsidiarität und damit der Forderung nach Dezentralität eine so starke Bedeutung zugemessen wird. Bisher weniger verstanden scheint jedoch die Konsequenz zu sein, daß eine Integrationskonzeption, in der nach dem Subsidiaritätsprinzip Dezentralität staatlicher Entscheidungen und gleichzeitig Mobilität innerhalb der EU verwirklicht werden sollen, die Notwendigkeit eines wettbewerblichen Systems von Gebietskörperschaften innerhalb der EU impliziert. Sollen also Dezentralität und Mobilität gleichzeitig realisiert werden, muß der Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften innerhalb der EU als konstitutives Element des europäischen Integrationsprozesses angesehen und entsprechend in der europäischen Wettbewerbsordnung verankert werden. Zentrale Vorteile eines solchen wettbewerblichen föderalen Mehr-Ebenen-Systems von Gebietskörperschaften ließen sich nochmals folgendermaßen zusammenfassen: 1) Hierdurch könnte - wie nach einem breiten Konsens in der EU gewünscht - die gleichzeitige Realisierung von Mobilität von Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren und die Dezentralität staatlicher Entscheidungen innerhalb der EU realisiert werden. 2) Die regional unterschiedlichen Präferenzen der Menschen könnten innerhalb der EU differenzierter und damit adäquater erfüllt werden. 3) Die von den einzelnen Gebietskörperschaften angebotenen Steuer-LeistungsPakete würden wettbewerblich angeboten, mit allen damit verbundenen Vorteilen bezüglich der innovativen Weiterentwicklung und effizienten Bereitstellung der von den Gebietskörperschaften erbrachten öffentlichen Leistungen. Der in einem solchen wettbewerblichen System von Gebietskörperschaften stattfindende Standortwettbewerb ließe sich dann als ein Binnenmarkt fur dezentral anbietbare öffentliche Leistungen interpretieren, womit das Wettbewerbsprinzip innerhalb der EU auch auf den Bereich staatlicher Leistungserstellungen angewendet werden würde. Voraussetzung hierfür wäre jedoch ein geeignetes übergeordnetes System von Wettbewerbsregeln, das für die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs zwischen den Gebietskörperschaften innerhalb der EU zu sorgen hätte. Aufgrund der fehlenden konzeptionellen Berücksichtigung dieses Wettbewerbs in der europäischen Wettbewerbsordnung existieren solche Regeln bisher aber nicht. Insofern erscheint es notwendig, die Konzeption einer umfassenderen Wettbewerbsordnung für die EU zu entwickeln, in der gleichzeitig der Wettbewerb zwischen Unternehmen für die Herstellung privater Güter und der Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften für die Erstellung öffentlicher Leistungen gesichert wird, so daß nicht nur der Wettbewerb zwischen Unternehmen, sondern auch der Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften als konstitutives Element der europäischen Integration anerkannt wird. Bezogen auf die beiden in diesem Beitrag herausgearbeiteten wirtschaftspolitischen Paradigmen "Staat als Monopolist" und "Staat als Wettbewerber" würde dies implizieren, daß versucht werden sollte, einen möglichst großen Teil konkreter Wirtschaftspolitik innerhalb der EU dezentral innerhalb eines solchen wettbewerblichen Systems von Gebietskörperschaften anzubieten, gleichzeitig aber ganz im ordnungsökonomischen Sinne
Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik - 265 einen verbindlichen - und damit an dem Paradigma "Staat als Monopolist" orientierten Regelrahmen für diesen Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften zu etablieren. Eine Konzeption für eine solche integrierte europäische Wettbewerbsordnung ist bisher aber noch nicht ausgearbeitet worden.
IX. Perspektiven Die Ausgangsfrage dieses Beitrags lautete, ob die mit der Globalisierung und dem Standortwettbewerb verbundene zunehmende Mobilität von Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren eine Neukonzeptualisierung von Wirtschaftspolitik und damit einen Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik erfordert. Hierauf wurde eine differenzierte Antwort gegeben. Einerseits führt die zunehmende Mobilität zwischen den Gebietskörperschaften tatsächlich zu dem bisher nicht systematisch in der Theorie der Wirtschaftspolitik reflektierten Phänomen einer direkt im Wettbewerb befindlichen Wirtschaftspolitik im Sinne der Verbesserung der Steuer-Leistungs-Pakete von als Standorten gedachten Gebietskörperschaften ("Staat als Wettbewerber"). Andererseits aber ist es zur Sicherung der Funktionsfähigkeit eines solchen Wettbewerbs zwischen Gebietskörperschaften notwendig, einen übergeordneten verbindlichen Regelrahmen zu etablieren, der wiederum in den Kategorien des bisherigen Paradigmas "Staat als Monopolist" zu denken ist, abgesehen von der aufgrund von noch bestehenden Mobilitätsbarrieren weiter monopolistisch angebotenen Wirtschaftspolitik. Eine zentrale These dieses Beitrags ist, daß beide Arten von Wirtschaftspolitik strikt voneinander differenziert werden müssen und je nach dem zu lösenden Problem jeweils mit dem Paradigma der monopolistischen oder der im Wettbewerb stehenden Wirtschaftspolitik gearbeitet werden sollte. Hintergrund dieser Überlegungen war, daß in einer von Globalisierung und Standortwettbewerb und folglich von zunehmender Mobilität gekennzeichneten Welt die Wirtschaftspolitik von Staaten (oder allgemeiner: Gebietskörperschaften) immer stärker den Charakter einer im Wettbewerb befindlichen Wirtschaftspolitik annimmt und damit von dem neuen Paradigma geprägt wird. Welche prinzipiellen Konsequenzen sich hieraus für die Konzeptualisierung einzelstaatlicher Wirtschaftspolitiken in der Theorie der Wirtschaftspolitik ergeben, wird weiter zu untersuchen sein. Mit dieser Zunahme von in direktem Wettbewerb stehenden staatlichen Einheiten wird aber auch die Notwendigkeit der Etablierung eines geeigneten übergeordneten Regelrahmens für einen solchen Wettbewerb in ihrer ganzen Schärfe deutlich. Die prinzipiellen Konsequenzen sind in bezug auf die Europäische Union bereits oben ausgeführt worden. Das Problem stellt sich aber in vergleichbarer Weise ebenfalls auf der globalen Ebene. Auch hier wäre eine sowohl den Wettbewerb zwischen Unternehmen als auch den Wettbewerb zwischen Staaten sichernde, integrierte Weltwettbewerbsordnung notwendig, wenn dezentrale staatliche Entscheidungen, die aufgrund der globalen kulturellen Vielfalt unabdingbar sind, und gleichzeitig die globale Mobilität von Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren verwirklicht werden sollen. Die Erarbeitung eines solchen Regelrahmens für eine übergeordnete, integrierte Wettbewerbsordnung - und zwar sowohl für die EU-Ebene als auch
266 · Wolfgang Kerber fur die globale Ebene - ist deshalb eine besonders dringende, zentrale Aufgabe zukünftiger wissenschaftlicher Forschung. Literatur Brennan, Geoffrey und James M. Buchanan (1985), The Reason of Rules. Constitutional Political Economy, Cambridge. Breton, Albert (1996), Competitive Governments. An Economic Theory of Politics and Public Finance, Cambridge. Buchanan, James M. (1975), The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago und London. Dercks, Achim (1996), Redistributionspolitik undföderale Ordnung, Köln. Eucken, Walter (1952), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen. Feld, Lars P. und Gebhardt Kirchgässner (1995), Fiskalischer Wettbewerb in der EU: Wird der Wohlfahrtsstaat zusammenbrechen?, Wirtschaftsdienst, Jg. 75, S. 562 - 568. Frey, Bruno S. und Reiner Eichenberger (1995), Competition among Jurisdictions: The Idea of FOCI, in: Lüder Gerken (Hrsg.), Competition among Institutions, Houndsmill und London, S. 209 - 229. Frey, Bruno S. (1997), Ein neuer Föderalismus für Europa: Die Idee der FOCI, Tübingen. Hayek, Friedrich A. von (1968), Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kiel. Hayek, Friedrich A. von (1979): Law, Legislation and Liberty, Vol. 3: Political Order of a Free People, London und Henley. Kenyon, Daphne Α. und John Kincaid (Hrsg.) (1991), Competition among States and Local Governments. Efficiency and Equity in American Federalism, Washington. Kerber, Wolfgang (1997), Wettbewerb als Hypothesentest: Eine evolutorische Konzeption wissenschaffenden Wettbewerbs, in: Karl v. Delhaes und Ulrich Fehl, U. (Hrsg.), Dimensionen des Wettbewerbs: Seine Rolle in der Entstehung und Ausgestaltung von Wirtschaftsordnungen, Stuttgart, S. 29 - 78. Kerber, Wolfgang (1998a), Zum Problem einer Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 17 (im Erscheinen) Kerber, Wolfgang (1998b), Die EU-Beihilfenkontrolle als Wettbewerbsordnung: Probleme aus der Perspektive des Wettbewerbs zwischen Jurisdiktionen, in: Dieter Cassel, (Hrsg.), Europäische Integration als ordnungspolitische Gestaltungsaufgabe, Berlin, S. 37 - 74. Klodt, Henning (1998), Globalisierung: Phänomen und empirische Relevanz, Jahrbuch fur Neue Politische Ökonomie, Bd. 17 (im Erscheinen). Schumpeter, Joseph A. (1952), Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 5.Aufl., Berlin. Siebert, Horst und Michael J. Koop (1990), Institutional Competition. A Concept for Europe?, Aussenwirtschaft, Jg. 45, S. 439 - 462. Sinn, Hans-Werner (1990), The Limits to Competition Between Economic Regimes, Empirica Austrian Economic Papers, Vol. 17, S. 3 - 14. Sinn, Hans-Werner (1995), Implikationen der vier Grundfreiheiten fur eine nationale Fiskalpolitik, Wirtschaftsdienst, Jg. 75, S. 240 - 249. Streit, Manfred E. (1996), Systemwettbewerb im europäischen Integrationsprozeß, in: Ulrich Immenga, Wernhard Möschel und Dieter Reuter (Hrsg.), Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäckerzum siebzigsten Geburtstag, Baden-Baden, S. 521 - 535. Sun, Jeanne-Mey und Jaques Pelkman, J. (1995), Regulatory Competition in the Single Market, Journal of Common Market Studies, Vol. 33, S. 67 - 89. Tiebout, Charles M. (1956), A Pure Theory of Local Expenditures, Journal of Political Economy, Vol. 64, S. 416 - 424. Vanberg, Viktor (1996), Subsidiarity, Responsive Government and Individual Liberty, in: Knut W. Nörr und Thomas Oppermann (Hrsg.), Überlegungen zur Subsidiarität, Tübingen, S. 255 -271.
Paradigmenwechsel in der Theorie der Wirtschaftspolitik · 267 Vanberg, Viktor (1997), Systemtransformation, Ordnungsevolution und Protektion: Zum Problem der Anpassung von Wirtschaftssystemen an ihre Umwelt, in: Dieter Cassel (Hrsg.), Institutionelle Probleme der Systemtransformation, Berlin, S. 11 - 41. Vanberg, Viktor und Wolfgang Kerber (1994), Institutional Competition Among Jurisdictions: An Evolutionary Approach, Constitutional Political Economy, Vol. 5, S. 193 - 219. Zusammenfassung In der bisherigen Theorie der Wirtschaftspolitik wurde der Staat als Monopolist konzipiert. Durch die mit der Globalisierung verbundene verstärkte Mobilität und den daraus folgenden Standortwettbewerb ergibt sich aber das Phänomen eines zunehmenden Wettbewerbs zwischen den Wirtschaftspolitiken verschiedener Staaten, so daß sich die Frage nach dem Übergang zu einem alternativen Paradigma stellt, in dem territorial definierte (als Clubs zu verstehende) staatliche Einheiten mit Steuer-Leistungs-Paketen im Wettbewerb um Nachfrager stehen. Auch im Bereich öffentlicher Leistungen könnte Wettbewerb somit für Effizienz sorgen, innovativ wirken und das Problem staatlicher Macht lösen helfen, wobei allerdings ein solcher Wettbewerb wiederum eine übergeordnete an dem Paradigma „Staat als Monopolist" orientierte Wettbewerbsordnung voraussetzt (Probleme des Marktversagens). Zwar bleibt das bisherige Paradigma einer vom Staat monopolistisch angebotenen Wirtschaftspolitik weiterhin von zentraler Relevanz, aber für die Wirtschaftspolitik von im Wettbewerb stehenden staatlichen Einheiten ist auf das neue Paradigma einer wettbewerblich angebotenen Wirtschaftspolitik überzugehen. Ob generelle Anforderungen an die Wirtschaftspolitik, die beispielsweise aufgrund des Rent seeking-Problems oder des Hayekschen Wissensproblems aus dem Monopolparadigma abgeleitet wurden, auch für eine wettbewerblich kontrollierte Wirtschaftspolitik gelten, ist eine noch genauer zu untersuchende Frage. Bei der Anwendung auf die Europäische Integration kann gezeigt werden, daß die gleichzeitige Verwirklichung von Dezentralität staatlicher Kompetenzen und Mobilität nur in einem solchen wettbewerblichen System von Gebietskörperschaften möglich ist. Eine europäische Wettbewerbsordnung sollte deshalb auch den Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften innerhalb der EU als konstitutives Element der europäischen Integration anerkennen und ihn durch entsprechende Wettbewerbsregeln schützen. Summary Do Globalization and Competition among States require a new Paradigm in the Theory of Public Policy? In economics the state has been conceived as a monopolist. But through the growing mobility in the process of globalization, an increasing competition among the public policies of different states can be observed. The question arises, if the transition to a new paradigm is necessary, in which states (as kind of clubs) compete with bundles of public goods and taxes for individuals, firms and resources. Its basic idea is that competition may help to achieve efficiency, innovations and the control of power also in the realm of
268 · Wolfgang Kerber public goods. But to ensure the proper working of such competitive processes among states (problems of market failure!), a set of rules (competitive order) is necessary, which still has to be conceptualized in the paradigm of the "state as monopolist". The paradigm of monopolistic public policy remains relevant, but for the public policy of competing states the new paradigm of the "state as a competitor" has to be applied. Intensive research has to be done, if the general criteria for an adequate public policy, which have been developed from the paradigm of monopolistic public policy (referring, e.g., to rent seeking problems or Hayek's knowledge problem), are still valid, if public policies are being controlled by competition. Applying these ideas to the process of European integration, the decentralization of public policy and mobility can only be achieved simultaneously in such a competitive system of states. Therefore the European system of competition should acknowledge also the competition among states as a constitutive element of the European integration and protect it through adequate rules of competition.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Lüder Gerken
Der globale Wettbewerb als Anreiz- und Entdeckungsverfahren
I. Einleitung Die definitorische, tautologische Konzeption der vollkommenen Konkurrenz beschreibt einen Zustand, in dem keine Wettbewerbshandlungen (mehr) stattfinden. Sie hat mit dem realen Phänomen des Wettbewerbs nichts zu tun.1 Dieser wird vielmehr geprägt durch einen dynamischen Prozeß, in dem die Marktteilnehmer fortwährend dazu angehalten werden, Wissen zu erwerben und anderen Individuen - meist unbewußt mitzuteilen. Diese Eigenschaft des Wettbewerbs als eines Anreizund Entdeckungsverfahrens ist bislang lediglich für die einzelstaatliche Ebene untersucht worden. Angesichts der immer stärkeren Globalisierungstendenzen, die die Frage aufwerfen, ob wirtschaftswissenschaftliche Probleme überhaupt noch angemessen in einem nationalökonomischen Analyserahmen untersucht werden können, ist in dieser Beschränkung ein Defizit zu sehen. Daher wird ein erster Versuch unternommen, die Konzeption des Wettbewerbs als eines Anreiz- und Entdeckungsverfahrens - nach einer Skizzierung von dessen grundlegenden Eigenschaften - auf die Ebene der globalen Wirtschaftsprozesse zu heben.
1 Freilich erkannte auch die neoklassische Wettbeweibstheorie, dafl in der Realität nicht vollständige Konkurrenz, sondern "Marktunvollkommenheiten" vorherrschen (Chamberlin 1933; Robinson 1933). Daher wurden die ursprünglichen Modelle durch weiterentwickelte Ansätze ergänzt: Die Theorie des funktionsfähigen Wettbeweibs (Clark 1940; 1954) verfolgte das Ziel, unter der Annahme einer kausalen Beziehung zwischen Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnis normative Second-best-Kriterien für Wettbeweib herzuleiten. Die empirischen Grundlagen wurden der frühen Industrieökonomik (Bain 1956; 1958/1968) entnommen, die die Bedeutung von Marktkonzentration und strukturellen Marktzutrittsschranken betonte. Nach Überzeugung der Chicago-Schule (Stigler 1968; Bork 1978; Demsetz 1973; 1976; 1982; Posner 1979) indessen treibt der Wettbeweib die Wirtschaft unentwegt und sehr zügig in ein sich stets neu bildendes Gleichgewicht. Die herkömmlichen neoklassischen Annahmen werden daher als unproblematisch angesehen. Auch der neuere industrieökonomische Ansatz der Harvard-Schule (Übersichten bei Shepherd 1979/1985; Scherer 1986; Tiróle 1988; Scherer und Ross 1990), der an die Theorie der Unternehmung von Coase (1937) und Williamson (1975; 1985) anknüpft und Ansätze strategischen Verhaltens in die Analyse einfuhrt, überwindet das neoklassische Paradigma nicht.
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Lüder Gerken
II.
Der Wettbewerb als Anreiz- und Entdeckungsverfahren auf der einzelstaatlichen Ebene2
Alles Wirtschaften dreht sich darum, wie knappe Ressourcen möglichst effektiv eingesetzt werden können, um Bedürfnisse möglichst umfangreich befriedigen zu können. Für dieses Problem ist von nachrangiger Bedeutung, welche Allokation sich ergäbe, wenn die Individuen sowohl über die Gegenwart als auch über die Zukunft alles wüßten. Vielmehr geht es in einer Welt stark unvollständigen Wissens um die Frage, wie das bekannte Wissen, etwa um eine möglichst ressourcensparende Allokation, am effektivsten genutzt wird und wie neues Wissen darüber entdeckt wird. Zwar vermittelt das Preissystem den übrigen Marktteilnehmern diejenigen Veränderungen in den Knappheitsrelationen, die daraus resultieren, daß Individuen das speziell ihnen zur Verfugung stehende Wissen im Marktprozeß einsetzen. Damit ist aber noch nicht gewährleistet, daß die Menschen auch tatsächlich bereit sind, dieses (nur) ihnen bekannte Wissen zu verwerten. Ebensowenig gewährleistet das Preissystem, daß die Individuen sich fortwährend darum bemühen, neues Wissen zu entdecken. In der marktwirtschaftlichen Ordnung, in der die Menschen ihren eigenen Zielen nachgehen können, veranlaßt vielmehr das Eigennutzstreben - im allgemeinsten Sinne des Wortes3 - die Menschen, das eigene Wissen umfänglich einzusetzen und auch zu erweitern. Die zugrundeliegende Anreizstruktur besteht, wenngleich die Übergänge fließend sind, aus zwei Komponenten: Zum einen sind die Menschen von sich aus bereit, vorhandenes Wissen einzusetzen und neues zu erwerben, zum anderen werden sie durch
2 Der Gedanke des Wettbewerbs als eines Entdeckungsverfahrens wurde von Hayek geprägt. Obwohl der explizite Begriff erst in den sechziger Jahren entstand (1967/1969, 167-169; 1968/1969), entwickelte Hayek die Grundzüge seiner Theorie bereits wenige Jahre nach dem Krieg (1948a) in unmittelbarer Anknüpfung an seine Untersuchungen über die Unvollkommenheit des Wissens in der Gesellschaft (1937/1948; 1945/1948). Eine erneute Würdigung der Wettbewerbsfrage mit Schwerpunkt auf dem - in "The Constitution of Liberty" (1960, 264-266) kurzerhand als nebensächlich abgefertigten - Monopolproblem findet sich im dritten Band von "Law, Legislation and Liberty" (1979/1982, 65-88). Dort näherte Hayek sich wieder etwas der Position der Freiburger Schule und insbesondere Böhms (1933) und Euckens (1952/1990, 30-55, 291-299) an, die das Problem der privaten wirtschaftlichen Macht für in hohem Maße relevant hielten. - Es kann hier offen bleiben, ob die Hayeksche Theorie vom Wettbewerb als Entdeckungsverfahren einem Gleichgewichtsansatz im Sinne von Kirzner oder einem evolutorischen Ansatz im Sinne von Schumpeter entspringt (dazu Kerber 1994, 143f, 147159). Kirzner (1973; 1979; 1992) betonte die Rolle findiger Unternehmer, die nach profitablen Koordinationsineffizienzen suchen und die Wirtschaft somit an ein Gleichgewicht heranfuhren, das in der Tat erreicht würde, wenn sich nicht das Umfeld - exogen - immer wieder änderte. Schumpeter (1911/1993, 110-139, 322, 334-348; 1928/1929, 312-315; 1942, 81-86) dagegen verstand Wettbewerb als einen Prozeß schöpferischer Zerstörung, in dem Innovation durch kreative Unternehmer vorangetrieben wird, die neue Produkte oder Produktionstechniken einfuhren und damit ein allenfalls theoretisch existierendes ökonomisches Gleichgewicht immer wieder - endogen - zerstören, was zu einer zyklischen Abfolge von Innovation und Imitation führt. 3 Eigennutzstreben als solches hat in der hier gewählten weiten Definition zunächst nichts mit Egoismus zu tun. Auch ein altruistischer Unternehmer strebt - ex definitione - nach eigenem Nutzen, wenn er seinen Gewinn einem Krankenhaus in Afrika zur Verfugung stellt. Zunächst muß er diesen Gewinn erzielen. Wie er ihn verwendet, ist davon unabhängig.
Der globale Wettbewerb als Anreiz- und Entdeckungsverfahren · 271 den Marktprozeß dazu gedrängt. Man kann von einer eigeninitiierten und einer fremdinitiierten Komponente sprechen. Zunächst sei die eigeninitiierte Komponente skizziert. Die Zielsysteme der Menschen umfassen nicht zuletzt folgende zwei Gattungen von Gütern: einerseits materielle Güter wie Lebensmittel, Wohnraum, Geräte der Unterhaltungselektronik und Urlaubsreisen, andererseits "Dolce-vita-Güter" wie Muße, Trägheit, Faulheit und der "Geschmack für Gemächlichkeit" (Sachs 1993; BUND und Misereor 1996, 155, 157). Beide Gattungen stehen miteinander in einem Zielkonflikt, denn die Menschen müssen, damit sie materielle Güter konsumieren können, Einkommen erzielen und zu diesem Zweck eine Leistung erbringen, was wegen des damit einhergehenden Arbeitsaufwandes regelmäßig negativen Nutzen stiftet, also das Niveau des Konsums von Dolce-vita-Gütern reduziert. Die Individuen werden ihre wirtschaftlichen Pläne so formulieren, daß die Zusammensetzung ihres Güterbündels bezüglich der relativen Anteile von materiellen Gütern und von Dolce-vita-Gütern ihren Nutzen maximiert. Die Fähigkeit, Einkommen für die Verwirklichung der eigenen Konsumwünsche zu erwirtschaften, hängt in einer Welt unvollkommenen und zersplitterten Wissens wesentlich von den eigenen Kenntnissen über spezifische marktrelevante Umstände, etwa über Marktnischen oder ressourcensparende Produktionsverfahren, ab. Wer über derartiges marktspezifisches Wissen verfügt und glaubt, mit demselben seine Produktivität erhöhen, also seinen Arbeitsaufwand bei der Leistungserbringung senken zu können, ohne eine Einkommenseinbuße hinnehmen zu müssen (beziehungsweise bei gleichem Aufwand ein höheres Einkommen erzielen zu können), wird dieses Wissen einsetzen, denn es ermöglicht einen zusätzlichen Konsum von materiellen oder Dolcevita-Gütern, also einen höheren Nutzen. Mit ebendiesem Ziel einer Steigerung des eigenen Nutzens mag ein Marktteilnehmer auch versuchen, gänzlich neues Wissen zu erwerben, selbst wenn ihm bewußt ist, daß er dabei nur im Wege von Versuch und Irrtum voranschreiten kann. Das Eigennutzstreben fuhrt somit dazu, daß die Individuen in einem gewissen Umfang von sich aus, also in eigener Initiative, vorhandenes Wissen einsetzen und neues erwerben. Hinzu tritt die fremdinitiierte Komponente der Nutzung vorhandenen und vor allem der Entdeckung neuen Wissens. Sie resultiert - nur scheinbar paradoxerweise - ebenfalls aus dem Eigennutzstreben der Menschen, nunmehr allerdings aus dem der anderen Marktteilnehmer. In der marktwirtschaftlichen Ordnung gehen nicht nur einzelne ausgewählte Individuen, sondern sämtliche Menschen ihren eigenen Zielen nach. Jeder einzelne plant ein für sich optimales Zielbündel aus materiellen und aus Dolce-vita-Gütern, und jeder einzelne muß für den Konsum der materiellen Güter Einkommen erzielen. Das Problem liegt nun darin, daß der Einkommenserzielung in einer Welt knapper Ressourcen Grenzen gesetzt sind. Dies fuhrt dazu, daß die Menschen miteinander konkurrieren müssen: Der einzelne muß seine Leistung besser oder preiswerter erbringen als andere, wenn er seine materiellen Konsumwünsche befriedigen können will. So kann der Unternehmer sein Produkt nur verkaufen, wenn er es in einer besseren Qualität oder zu einem günstigeren Preis als andere Unternehmer anbieten kann. Ebenso kann der
272 · Lüder Gerken Arbeitnehmer, der über eine ganz bestimmte Qualifikation verfugt, seine Arbeitskraft nur in Einkommen umsetzen, wenn er eine bessere Leistung als andere Arbeitnehmer mit der gleichen Qualifikation erbringt oder sich mit einem geringeren Lohn abfindet. Der einzelne Marktteilnehmer muß in diesem Wettbewerbsprozeß versuchen, eine Leistung zu erbringen, die besser ist als die der Konkurrenten. Er wird daher bemüht sein, neues, fur ihn nützliches Wissen zu entdecken. Allerdings werden seine Konkurrenten ähnliches unternehmen. Die Menschen können sich daher zu keinem Zeitpunkt mit ihren jeweiligen Kenntnissen zufriedengeben, sondern müssen sich, über das eigentlich von ihnen geplante, eigeninitiierte Maß hinaus, unentwegt darum bemühen, neues Wissen darüber zu entdecken, wie sie ihre Leistung verbessern, also die Produktivität erhöhen können. Gleichwohl können die Anstrengungen eines Marktteilnehmers unter Umständen durch das gleichgerichtete Bemühen anderer Marktteilnehmer neutralisiert werden. Wer in diesem Sinne über nicht mehr marktrelevante Kenntnisse verfugt und dadurch gegenüber seinen Konkurrenten ins Hintertreffen gerät, muß nochmals größere Anstrengungen unternehmen. Dies kann darin bestehen, daß er erfolgreichere Konkurrenten imitiert, oder darin, daß er versucht, gänzlich neues Wissen zu entdecken. Hinzu tritt, daß dem einzelnen Marktteilnehmer jederzeit grundsätzlich unbekannt ist, welche Anstrengungen zur Produktivitätssteigerung seine Konkurrenten im konkreten Augenblick unternehmen. Er kann sich daher nie sicher sein, daß seine auf den Erwerb neuen Wissens gerichteten Aktivitäten, die in der Vergangenheit für die Erzielung eines bestimmten Einkommens ausreichend waren, auch in der Zukunft noch genügen werden. Auch diese Unkenntnis zwingt die Marktteilnehmer regelmäßig dazu, über das geplante, eigeninitiierte Maß hinaus - prophylaktisch - nach neuen, den eigenen Wissensbestand erweiternden Möglichkeiten zu suchen. Außerdem unterliegen die Anstrengungen, neues Wissen über die Möglichkeiten einer Verbesserung der eigenen Leistung zu entdecken, grundsätzlich einem Prozeß von Versuch und Irrtum, in welchem erst der Markt die endgültige Bewertung vornimmt. Es ist daher keineswegs sicher, daß die individuellen Bemühungen stets mit dem erhofften Erfolg abgeschlossen werden können. Auch dies induziert noch einmal einen vermehrten Druck, möglichst umfangreich neues Wissen zu entdecken. Neben die eigeninitiierten Anstrengungen aus dem persönlichen Streben nach Nutzen treten somit fremdinitiierte Anstrengungen, die der Wettbewerbsprozeß erzwingt. Allerdings zwingt der Wettbewerb die Individuen nicht zur maximal möglichen Leistungssteigerung. Der Umfang des individuellen Einsatzes hängt vielmehr davon ab, wie intensiv der Wettbewerb im konkreten Zusammenhang von Raum und Zeit ist. Wenn ein Marktteilnehmer durch den Wettbewerb zu der Entdeckung und Einführung eines revolutionären Produktionsverfahrens veranlaßt wurde und dank diesem gegenüber seinen Konkurrenten einen Produktivitätsvorsprung von mehreren Jahren erzielt hat, so kann auch der Wettbewerbsprozeß nicht gewährleisten, daß dieser Marktteilnehmer seine Forschungsanstrengungen in unvermindertem Umfang aufrechterhält. Allerdings werden seine Konkurrenten um so intensiver nach Wegen suchen, den Produktivitätsrückstand möglichst rasch abzubauen.
Der globale Wettbewerb als Anreiz-und Entdeckungsverähren · 273 Das unentwegte Bestreben, bekanntes Wissen anzuwenden und neues Wissen zu entdecken, bewirkt, daß die Volkswirtschaft einem stetigen Wandel ausgesetzt ist. Im Gegensatz zur neoklassischen Wettbewerbskonzeption ist es also geradezu das Wesen des Wettbewerbs, daß bestehende Daten sich immer wieder ändern. In einem solchen dynamischen Umfeld kann es keine Datenkonstanz geben. Wettbewerb fuhrt zwangsläufig dazu, daß Individuen, die neues Wissen entdeckt haben, zunächst eine Monopolstellung erlangen, weil allein sie über dieses Wissen verfugen. Derartige Monopole sind, da sie ihre Stellung einer überlegenen Effizienz verdanken, in der Regel unbedenklich. Voraussetzung ist lediglich, daß der Wettbewerb fortbesteht und es Konkurrenten nicht verwehrt ist, die Monopolstellung durch Imitation oder durch eigene Innovation zu beseitigen und gegebenenfalls sogar selbst eine Monopolstellung zu erringen.4 Insbesondere muß deswegen der Marktzutritt frei sein.5 In diesem Zusammenhang problematisch sind vor allem institutionelle Vorkehrungen, die Monopolstellungen schützen.6 Bei freiem Marktzutritt sind auch monopolistische Vorsprungsgewinne unschädlich. Im Gegenteil enthalten sie Informationen für die anderen Marktteilnehmer über den relativen Erfolg unterschiedlicher Verhaltensweisen und Strategien am Markt und tragen folglich zu der raschen Verbreitung von neuem Wissen innerhalb einer Volkswirtschaft bei. Die Frage, ob der Wettbewerbsprozeß der Allgemeinheit zum Wohle gereiche, ist nicht beantwortbar, da bereits in ihrem Ansatz verfehlt. Erstens gibt es in der marktwirtschaftlichen Ordnung, in der jeder Wirtschaftsteilnehmer seinen eigenen Zielen nachgeht, kein von wem auch immer definiertes Allgemeinwohl. Zweitens ist der Wettbewerb kein Instrument, das der Politik als Alternative zu anderen politischen Instrumenten zur Verfügung stünde, um ein bestimmtes Ziel - im Interesse des vermeintlichen Allgemeinwohls - zu erreichen.7 Vielmehr tritt wegen der Knappheit der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung der Wettbewerb als Folge der Zielsetzungsfreiheit 4 Gibt es keine Wettbewerber, denen es gelingt, die Monopolstellung zu beseitigen, ist dies - bei völlig freiem Marktzutritt - ein Zeichen für die überlegene Effizienz des bestehenden Monopols. Wenn ein solcher Monopolist seine Stellung einem Produktionsverfahren verdankt, das im Vergleich mit dem seiner Konkurrenten eine Kostensenkung von zwanzig Prozent ermöglicht, und wenn er von diesem Kostenvorteil nur einen Prozentpunkt an die Konsumenten weitergibt, um die Wettbewerber vom Marktzutritt abzuhalten, so ist dies auch für die Konsumenten immer noch besser, als wenn der Monopolist das neue Verfahren nicht entdeckt oder nicht eingeführt hätte. 5 Vor Hayek (1948a, 104f; 1960, 264-266) ähnlich auch schon Schumpeter (1942, 85) sowie, über dreißig Jahre später, die Theorie angreifbarer Märkte (Baumol 1982; Baumol, Panzar und Willig 1982; Baumol und Willig 1986). Diese Theorie verallgemeinert die Implikationen des Modells der vollständigen Konkurrenz durch die Gedankenkonstruktion eines völlig unbeschränkten Marktzutritts und Marktaustritts als Referenzsystem. Ist das Kriterium der Angreifbarkeit, also das Nichtvorhandensein von irreversiblen Kosten (sunk costs), erfüllt, so sind steigende Skalenerträge und monopolistische Marktstrukturen aufgrund der disziplinierenden Wirkung potentiellen ("Hit-and-run"-)Wettbewerbs ohne Bedeutung. 6 Nach Hayek (1948, 113f; 1960, 43, 265) soll hierzu auch das Patentrecht zählen. Er überging allerdings sowohl den inhärenten Konflikt zwischen staatlichem Schutz einer Monopolstellung und staaüichem Schutz geistigen Eigentums als auch die Frage des Anreizes für die Entdeckung neuen Wissens. Dazu näher Weizsäcker (1981). 7 Dazu auch Streit (1992/1995; 1992a/1995, 85-88; 1993/1995, 202-206).
274 · Lüder Gerken zwangsläufig in Erscheinung. Der Begriff des Wettbewerbs als Anreiz- und Entdeckungsverfahren steht hier also nicht normativ für eine Methode zur Ausfüllung einer Ziel-Mittel-Konstellation etwa im Sinne der neoklassischen Wohlfahrtsoptimierung, sondern positiv für einen in der Realität zu beobachtenden zielneutralen Prozeß der Koordination menschlicher Handlungen. Der Umstand, daß der Wettbewerb den Politikern nicht als Instrument zur Verfügung steht, bedeutet nicht, daß seine Unterbindung durch politische Maßnahmen nicht Konsequenzen hätte. Der Wettbewerb führt, mehr als jedes andere bekannte Verfahren sozialer Interaktion, zu einer umfangreichen Nutzung vorhandenen und Schaffung neuen Wissens. Auf diese Weise bewirkt er tendenziell, daß Bedürfhisse, gerade auch latente, befriedigt, daß die Güter mit der jeweils effektivsten bekannten Faktorkombination hergestellt und daß diese Güter zu den jeweils niedrigsten Preisen angeboten werden. Diese Wirkungen werden beseitigt, wenn man den Wettbewerb beseitigt. Zudem ist der Wettbewerb wegen der Knappheit der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung untrennbar mit der Zielsetzungsfreiheit vernüpft und damit ein inhärentes Wesensmerkmal der freiheitlichen Gesellschaftsordnung (Gerken 1998, 189). Man kann ihn daher nur beseitigen, indem man die Zielsetzungsfreiheit und damit die freiheitliche Gesellschaftsordnung selbst beseitigt.
III.
Der Wettbewerb als Anreiz- und Entdeckungsverfahren auf der globalen Ebene
Der Wettbewerb zwingt als Anreiz- und Entdeckungsverfahren die Wirtschaftsteilnehmer dazu, nach immer neuen Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung zu suchen und dieselben auch einzusetzen. Dies gilt sowohl für den innerstaatlichen Wettbewerb zwischen ausschließlich inländischen Unternehmen als auch für den internationalen, über den Welthandel zum Tragen kommenden Wettbewerb zwischen inländischen und ausländischen Unternehmen. Allerdings ergibt sich für den internationalen Wettbewerb eine bedeutsame Qualifikation. Sie läßt sich auf zwei verschiedene Weisen darlegen. Die traditionelle Außenhandelslehre gelangt mit dem Theorem der komparativen (Real- oder Opportunitäts-)Kosten zu der - zutreffenden - Erkenntnis, daß es im internationalen Handel nicht auf absolute, sondern auf komparative, also relative Kostenoder Effizienzvorteile ankommt (Ricardo 1817/1821/1932, VII §47 113-117; Mill 1844, 7-14; 1848/1871/1909, III xviii §2 584-588). Allerdings liegt ihr eine gesamtwirtschaftliche Sichtweise zugrunde. Sie ignoriert die Interaktionen zwischen den handelnden Wirtschaftsteilnehmern im Wettbewerb. Dies führt zu dem mechanistischen Ergebnis, daß ein Land sich auf dasjenige Gut spezialisiert, welches es zu den geringeren komparativen Kosten herstellen kann, während sich das andere Land aus dem gleichen Grund auf das andere Gut spezialisiert. Die Spezialisierung, also die Umschichtung von Produktionsfaktoren von einer Branche in die andere, wird nicht weiter problematisiert. Daß in jeder Branche Unternehmer, also handelnde Menschen agieren, die sich gegen das Schrumpfen des eigenen Absatzes vehement sträuben werden, wird übergangen.
Der globale Wettbewerb als Anreiz- und Entdeckungsverfahren · 275
Wenn man diese Phänomene berücksichtigt, ergibt sich ein sehr viel komplexeres Bild. Jedes Unternehmen, das - durch eigene Exporte oder durch Importe ausländischer Konkurrenten - in den internationalen Handel integriert ist, steht im Wettbewerb mit inländischen und ausländischen Konkurrenten. Sowohl auf dem inländischen als auch auf dem ausländischen Markt kann das einzelne Unternehmen nur bestehen, wenn es seine Produkte günstiger als die inländischen und ausländischen Wettbewerber anbieten kann. Es wird daher durch den nationalen und internationalen Wettbewerb gezwungen, unentwegt die eigene Produktivität so zu verbessern, daß sie über der der Konkurrenten oder zumindest nicht darunter liegt. Indessen ist dies für den Erfolg auf den internationalen Märkten nicht ausreichend; denn das einzelne Unternehmen steht - regelmäßig ohne es zu bemerken, vor allem aber ohne es verhindern zu können - auf den internationalen Märkten nicht nur im Effizienzwettbewerb mit den inländischen und ausländischen Unternehmen der eigenen Branche, sondern gleichzeitig auch in einem Effizienzwettbewerb mit den inländischen Unternehmen aller anderen Industrien. Der Grund liegt darin, daß nie sämtliche inländischen Unternehmen über alle Branchen hinweg, sondern immer nur einige die internationalen Märkte bedienen können. Nur diejenigen Unternehmen setzen sich durch, deren Produktivitätsvorsprung vor den ausländischen Wettbewerbern - im Vergleich mit der Produktivitätssituation anderer inländischer Unternehmen gegenüber (denselben oder anderen) ausländischen Konkurrenten - besonders groß ist. Es geht folglich nicht um absolute Produktivitätsvorteile, sondern um komparative. Komparative Effizienzsteigerungen können - logisch zwingend - immer nur einige inländische Unternehmen erzielen. Selbst wenn im Zuge eines gesamtwirtschaftlichen Innovationsschubs sämtliche inländischen Unternehmen ihre Produktivität weit über die der Konkurrenten im Ausland steigern können, sind einige dabei erfolgreicher als der Durchschnitt und andere etwas weniger erfolgreich. Die Unternehmen mit dem größeren Produktivitätsvorsprung vor ihren ausländischen Konkurrenten besitzen einen komparativen Vorteil bei der Herstellung ihrer Güter. Sie erhöhen ihre Marktanteile. Diejenigen inländischen Unternehmen, deren relativer Produktivitätsvorsprung vor den ausländischen Konkurrenten nicht ganz so groß (oder gar negativ) ist, erfahren einen komparativen Nachteil und büßen Marktanteile ein oder treten sogar vollständig aus dem Markt. Die von ihnen zuvor beschäftigten Produktionsfaktoren werden freigesetzt und kommen auf kurz oder lang in den produktiveren und daher wachsenden inländischen Unternehmen unter. Ganz ähnlich ist die Situation, wenn nicht sämtliche inländischen Unternehmen in unterschiedlichem Maße, sondern ausschließlich die Unternehmen einer einzelnen Branche eine Effizienzsteigerung verzeichnen. Branchenspezifische Produktivitätsschübe, die den Unternehmen einer ganz bestimmten Industrie und nur ihnen zu einem komparativen Vorteil gegenüber den ausländischen Wettbewerbern verhelfen, fuhren zwangsläufig dazu, daß die inländischen Unternehmen anderer Branchen ihren vormaligen komparativen Vorteil verlieren und dadurch ihre Position auf den internationalen Märkten einbüßen.
276 · Lüder Gerken Für Unternehmen oder auch ganze Branchen, die vom internationalen Wettbewerb nicht an den Rand oder gar in den Untergang gedrängt werden wollen, genügt es daher nicht, nur im Wettbewerb mit ihren unmittelbaren ausländischen Wettbewerbern zu bestehen. Darüber hinaus haben sie sich auch in dem Effizienzwettbewerb mit den inländischen Unternehmen anderer Branchen zu bewähren. Das fuhrt dazu, daß sie sich noch verstärkt um die Entdeckung neuen marktrelevanten Wissens bemühen müssen. Dieser branchenübergreifende, inländische - mittelbare - Wettbewerb kennt nicht nur Sieger, sondern zwangsläufig ebenfalls Verlierer. Die beschriebenen Zusammenhänge lassen sich auch in einem monetären Argumentationsrahmen verdeutlichen. Der entscheidende Punkt ist hier, daß die Exportaktivitäten eines jeden inländischen Unternehmens die Wechselkurse mitbestimmen, sofern diese nicht fest sind. Das einzelne Unternehmen möge seine Güter im Ausland zu Preisen in der ausländischen Währung anbieten.8 Wenn es seinen Absatz im Ausland steigert, etwa weil es aufgrund eines neuen technischen Verfahrens erheblich verbesserte Produkte ohne Preisaufschlag verkaufen kann, erhält es als Erlös eine größere Geldsumme in der Auslandswährung, die es am Devisenmarkt in inländische Währung tauschen muß. Das größere Devisenangebot fuhrt indessen tendenziell zu einem Rückgang des Wechselkurses, also einer Aufwertung der inländischen Währung. Diese Aufwertung verschlechtert die Absatzchancen der übrigen inländischen Unternehmen und verbessert diejenigen der ausländischen Unternehmen, auch auf den Märkten im Inland. Die inländischen Unternehmen, die über eine im Vergleich mit anderen Unternehmen höhere komparative Produktivität verfugen, können sich unter diesen Umständen auf den Weltmärkten halten, die anderen nicht. Die Auswirkungen der Exportaktivitäten eines einzelnen Unternehmens auf den Wechselkurs sind selbstverständlich vernachlässigbar gering. Sie verdeutlichen indessen das Prinzip. Über den Wechselkursmechanismus werden diejenigen inländischen Unternehmen, die im Vergleich mit den ausländischen Konkurrenten über die komparativ geringere Produktivität verfugen, von den komparativ produktiveren inländischen Unternehmen aus den Märkten gedrängt.9 Man kann es auch neoklassisch ausdrücken: Die Absatzerfolge bestimmter inländischer Unternehmen auf den internationalen Märkten besitzen (pekuniäre) negative externe Effekte für die anderen inländischen Unternehmen. Die betroffenen Unternehmen werden die Verluste auf ihren nationalen und internationalen Absatzmärkten nicht bereitwillig hinnehmen und daher zusätzliche 8 Die folgenden Ausführungen gelten analog für den Fall, daß der inländische Exporteur in der Währung des Inlandes fakturiert. In diesem Fall bietet nicht der inländische Exporteur, sondern der ausländische Abnehmer die Währung des Auslandes am Devisenmarkt vermehrt an. An der Auswirkung auf den Wechselkurs ändert sich dadurch nichts. 9 In diesem Licht sind auch staatlich oder privat koordinierte aggressive Strategien zu sehen, mit denen die in einer bestimmten Branche tätigen Unternehmen eines Landes ihre Konkurrenten in einem anderen Land zu vernichten trachten, um deren Heimatmärkte zu erobern. Eine solche Vorgehensweise mag den Aggressoren in Anbetracht zu erwartender Umsatzzuwächse und Gewinnsteigerungen als rational erscheinen. Nicht berücksichtigen werden sie, daß im Erfolgsfall die resultierende Wechselkursanpassung dazu führt, daß die Absatzmöglichkeiten der anderen Unternehmen ihres Landes - nicht nur auf den Weltmärkten, sondern auch auf dem heimischen Markt - beeinträchtigt werden.
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Anstrengungen zur Effizienzsteigerung, also zum Erwerb neuen marktrelevanten Wissens unternehmen, um verlorengegangene Marktanteile zurückzuerobern. Sie befinden sich folglich in einem Produktivitätswettbewerb mit den anderen inländischen Unternehmen nicht nur der eigenen, sondern auch der anderen Branchen. Den Wettbewerb um Marktanteile auf den nationalen und internationalen Märkten können allerdings nie sämtliche inländischen Unternehmen gewinnen.10
IV. Ergebnis Der internationale Wettbewerb enthält im Vergleich mit seinem nationalen Gegenstück einen zusätzlichen Anreiz- und Entdeckungsmechanismus, der die Unternehmen zu noch einmal verstärkten Anstrengungen antreibt, neues marktrelevantes Wissen zu entdecken, das sie benötigen um auf den Weltmärkten zu bestehen. Nicht nur erhöht er die Wettbewerbsintensität über die größere Zahl miteinander konkurrierender Unternehmen. Vielmehr fuhrt er auch zu einem indirekten Wettbewerb der inländischen Unternehmen verschiedener Branchen, der zu weiteren Anstrengungen des Schaffens von Wissen zwingt. Ursache ist die Nichtexistenz einer globalen Rechnungseinheit, einer Weltwährung. Die wirtschaftspolitischen Konsequenzen müssen der zukünftigen Forschung überlassen bleiben. Sie sind bedeutsam. Insbesondere wirken sich sowohl staatliche Regulierungen als auch Erhöhungen der Sozialversicherungsbeiträge oder der Unternehmenssteuern dann sehr viel weniger auf die globale Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Branche oder des einzelnen Unternehmens aus, wenn sie nicht selektiv, sondern für die gesamte Volkswirtschaft vorgenommen werden. Ein gleiches gilt umgekehrt für die Rückführung staatlicher Eingriffe und die Senkung von Sozialabgaben oder Steuern. Für in den Welthandel integrierte Unternehmen und deren Verbände wäre es daher eine rationale Strategie, gerade nicht Deregulierungen oder Steuersenkungen zu fordern, welche der gesamten Volkswirtschaft zugute kommen, sondern im Gegenteil Deregulierungen und Steuersenkungen zu verlangen, die allein die eigene Branche entlasten.
10 Übersehen werden darf überdies nicht, daß die Wechselkurse nicht allein durch die Handelsströme bestimmt werden, sondern auch durch Kapital- und Finanztransaktionen. Kapitalimporte etwa führen zu einer Aufwertung der inländischen Währung und damit zu einer Verschlechterung der Absatzmöglichkeiten der inländischen Exportindustrien und Importkonkurrenzindustrien. Auf den internationalen Märkten können sich in diesem Fall nur die komparativ produktiveren inländischen Unternehmen halten. Der Wettbewerbsdruck für die inländischen Unternehmen untereinander wird daher noch höher. Umgekehrt führen Kapitalexporte über eine tendenzielle Abwertung der Währung zu einer Lockerung des Wettbewerbsdrucks für inländische Unternehmen. Wenn die Kapitalbilanz auch in der längeren Frist nicht ausgeglichen wird, hält über den gleichen Zeitraum der von den Kapitalströmen ausgehende Einfluß auf den Wechselkurs ebenfalls an. Freilich ändert sich dadurch nichts an den beschriebenen Wirkungszusammenhängen. Auch bei einer dauerhaft aktiven oder passiven Leistungsbilanz bewirken zusätzliche Exportanstrengungen inländischer Unternehmen und die daraus resultierende Veränderung des Exportvolumens über den Wechselkurs eine Verschlechterung der Absatzaussichten der anderen inländischen Unternehmen.
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ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Peter Thuy
50 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Anspruch und Wirklichkeit einer ordnungspolitischen Konzeption Zugleich eine Besprechung von Dieter Cassel (Hrsg.), 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft. Ordnungstheoretische Grundlagen, Realisierungsprobleme und Zukunftsperspektiven einer wirtschaftspolitischen Konzeption
I. Faszination einer ordnungspolitischen Idee Glaubt man den Vertretern nahezu aller politischen Parteien und der überwiegenden Zahl deutscher Wirtschaftswissenschaftler, so ist in der Bundesrepublik Deutschland die Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitisches Leitbild allgemein akzeptiert. Jedoch handelt es sich bei dieser Idee, welcher der Versuch zugrunde liegt, individuelle Freiheit mit sozialem Ausgleich zu verbinden, nicht um eine geschlossene ordnungstheoretische Konzeption, sondern um einen Entwurf fur die Praxis. Aufgrund der konzeptionellen Offenheit des Systems muß permanent überprüft werden, ob die Lippenbekenntnisse zu Gunsten der Sozialen Marktwirtschaft mit deren Umsetzung im politischen Prozeß übereinstimmen (.Müller-Armack 1972, 147). Rauhut und Cassel verweisen in diesem Zusammenhang darauf, daß gerade die zunehmende Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft zu ihrer Deformation gefuhrt hat {Cassel und Rauhut 1998, 5) und sie von daher in der ständigen Gefahr schwebt, weiter verfremdet zu werden und ihre Akzeptanz zu verlieren (S. 6). Dieser Befund deckt sich mit den Erkenntnissen von Delhaes-Günther (1998, 133fF), der einen weitgehenden Konsens bezüglich der Tatsache konstatiert, daß die Soziale Marktwirtschaft als Leitbild fur bundesdeutsche Wirtschaftspolitik fungieren soll. So wird festgestellt, daß die beiden großen Volksparteien CDU und SPD dem Konzept programmatisch positiv gegenüberstehen, wenn auch die CDU zeitlich deutlich vor der SPD ein Bekenntnis zur Marktwirtschaft abgelegt hat (Engels 1979, 54). Während nämlich die Union unter der Führung Ludwig Erhards und unter dem Eindruck erster wirtschaftspolitischer Erfolge seines Programms bereits 1948 dem Programm der Sozialen Marktwirtschaft folgte, „war das Gesellschaftsbild der Sozialdemokraten in der Aufbauphase durch das Denken in Klassengegensätzen und das tiefverwurzelte Mißtrauen gegen die kapitalistische Marktwirtschaft bestimmt" (Delhaes-Günther 1998, 139). Erst nach und nach öffnete sich die Partei dem marktwirtschaftlichen Denken ehe sie mit dem Godesberger Programm im Jahre 1959 zum freien Markt, der durch Wettbewerbspolitik zu erhalten ist, bekannte. Im Kern gilt dieses Bekenntnis noch immer, wenngleich der Staat in der Programmatik der SPD auch heute noch einen weitaus höheren Stellenwert * Erschienen 1998 im Verlag Lucius & Lucius, Stuttgart, 790 Seiten.
282 · Peter Thuy einnimmt als bei Erhard, insbesondere um, übrigens in vollständiger Übereinstimmung mit den Gewerkschaften, den Sozialstaat zu erhalten und auszubauen. Ihren weitgezogenen Kreis von Befürwortern, der neben den erwähnten Gruppen auch die Arbeitgeberorganisationen und - mit Einschränkungen - die Kirchen umfaßt, konnte die Soziale Marktwirtschaft also nicht zuletzt deshalb gewinnen, weil die Konzeption selbst „zugleich sperrig und sehr vieldeutig" (.Borchardt 1981, 34) ist. Damit, um mit Erhard zu sprechen, das Etikett nicht auf Flaschen geklebt wird, die einen ganz anderen Inhalt haben (Erhard 1976, 18), müssen zunächst die geistesgeschichtlichen Wurzeln freigelegt werden, um die Intentionen der ordnungspolitischen Konzeption Soziale Marktwirtschaft erkennen zu können.
II. Grundzüge der ordnungspolitischen Konzeption 1. Wurzeln des ordnungspolitischen Konzepts Den historischen Hintergrund für die Entwicklung dieses Konzepts bildeten die Erfahrungen aus der Zeit des Kapitalismus des frühen 19. Jahrhunderts, der letztlich an der Entstehung und Ausnutzung von Macht scheiterte, sowie die negativen Erkenntnissen aus der Zeit der nationalsozialistischen Planwirtschaft, die auch ökonomisch katastrophale Konsequenzen zeitigte und mit deren Grundgedanken sich der Beitrag von Reuter (1998, 67fF.) ausfuhrlich auseinandersetzt. In beiden Fällen war es letztlich der Faktor Macht, der eine effiziente Faktorallokation verhinderte. Böhm-Bawerk kritisiert in diesem Zusammenhang, daß „die egoistische Tauschkonkurrenz gewiß nicht zu der gesellschaftlich fruchtbarsten, mit dem größten reinen Nutzen für die Lebenserhaltung und Erhaltung des Volkes verbundenen Distribution ... geführt hat" (Böhm-Bawerk 1886, 480). Dies war nur möglich, weil es den einzelnen Wirtschaftssubjekten möglich war, ihr Machtpotential gegen andere einzusetzen und deren Handlungsspielraum auf diese Weise zu beschneiden. Sich selbst überlassene wirtschaftliche Freiheit erzeugt also Privatmacht, die die Freiheit des einzelnen beeinträchtigen kann {Böhm 1937, 47f.) Dem selben Ziel diente die Ausübung staatlicher Macht durch die Organe des NS-Regimes, das durch die weitgehende Regulierung des Wirtschaftslebens marktwirtschaftliche Strukturen weitgehend zerstört hatte. Freiheit für das Individuum wurde abgelehnt, Vertreter des Wirtschaftsliberalismus als „Gemeinschaftsfeinde" oder „Gegner völkischen Denkens", was sie in der Tat waren (!), abgelehnt (Reuter 1998, 76). Freiheit wurde nicht als Freiheit vom, sondern als Freiheit im Ganzen begriffen (Danielcik 1934, 129). Zwar blieb das Privateigentum an Produktionsmitteln weitgehend erhalten, doch war die wirtschaftliche Koordination der Produktionsmittel dem Primat der Politik unterstellt (Reuter 1998, 80f). Die Gestaltung des Wirtschaftsprozesses hatte sich hier freilich als ebenso untaugliches Mittel erwiesen wie die nahezu vollkommene wirtschaftspolitische Abstinenz während der Frühphase der Industrialisierung.
Anspruch und Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft · 283
a.
Ordoliberalismus
Insbesondere die Vertreter der Freiburger Schule kamen vor dem Hintergrund dieser historischen Erfahrungen zu dem Schluß, daß weder der ungezügelte Kapitalismus noch die zentral gelenkte Planwirtschaft zu einem funktionsfähigen und menschenwürdigen Ergebnis fuhren würden (Euchen 1990, 14). Vielmehr ist der Staat aufgefordert, einen Ordnungsrahmen zu setzen, der Freiheit und Wettbewerb zu sichern in der Lage ist, was einen starken Staat erfordert {Reuter 1998, 71ff). Dieser starke Staat ist freilich keine Institution, die in wirtschaftliche Abläufe eingreift wie der Interventionsstaat der Weimarer Republik oder der von völkischen Idealen geprägte NS-Staat, der zwar durch die Verwendung einer identischen Terminologie Nähe zum ordoliberalen Konzept von Euchen und Böhm suggeriert, jedoch inhaltlich diesem, wie Reuter überzeugend nachweist (1998, 82fif.), diametral entgegensteht. Diese griffen vielmehr auf die ursprünglichen Ideen des Liberalismus zurück, wobei weniger die individualistisch orientierten Varianten als vielmehr gesellschaftlich orientierte Denkrichtungen des Liberalismus die Grundlage für die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft bildeten.1 Danach ist es die Aufgabe der Wirtschaftspolitik, „die immer aktuellen Interessenkonflikte zu kanalisieren und die Herausbildung dauerhafter, einseitiger und unkontrollierter Machtpositionen einzelner oder einer Gruppe von Menschen zu vermeiden" (Thieme 1994, 16). Da sich diese Aufgabe permanent neu stellt, ist „Wettbewerb als Aufgabe" (Mihsch 1947) zu begreifen, die als staatliche Veranstaltung eingerichtet und erhalten werden muß, um die zur Selbstzerstörung neigende Wettbewerbsordnung zu sichern und zu erhalten, der aufgrund der Interdependenz der Ordnungen auch eine freiheitliche Gesellschaftsordnung zur Seite gestellt werden muß. Zur Realisierung dieser Wettbewerbsordnung stellte Euchen konstituierende Prinzipien (funktionsfähiges Preissystem, stabile Geldverfassung, offene Märkte, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Haftung und Konstanz der Wirtschaftspolitik) auf und ergänzte diese durch regulierende Prinzipien, „deren Anwendung geboten ist, um die Wettbewerbsordnung funktionsfähig zu halten" (Euchen 1990, 291). b. Wirtschafts- und Sozialhumanismus Während bei den Ordoliberalen eine eindeutige Fixierung auf den Marktmechanismus festzustellen ist, haben Alexander Rüstow und Wilhelm Röplce „immer wieder betont, daß der Marktmechanismus alleine nicht das A und O einer demokratisch freiheitlichen Gesellschaft sei" 0Schlecht 1989, 308). Zwar vereinigt nach Rüstow die Marktwirtschaft größtmögliche Freiheit mit höchstmöglicher Produktivität, doch gelte dies nur unter bestimmten, vom Staat zu schaffenden Bedingungen (Rüstow 1955, 63f.). Daraus leitet er die Forderung nach subsidiärer Solidarität innerhalb der Gesellschaft ab, die zu einem
1 Einen sehr instruktiven Übeiblick über die verschiedene Varianten des Liberalismus bietet der Beitrag von Gutmann (1998, 54ff.), der die Soziale Marktwirtschaft selbst neben die hier als Wurzeln des Konzepts beschriebenen Denkrichtungen des Wirtschafts- und Sozialhumanismus und des Ordoliberalismus stellt.
284 · Peter Thuy befriedigenden Funktionieren der Marktwirtschaft erforderlich ist, wenn diese „nicht zu einem ungeregelten, anarchischen Kampf aller gegen alle ausarten soll" (Rüstow 1955, 63f.). Auch Röpke leitet sein Menschenbild aus dem Christentum ab, wonach die Achtung vor dem Individuum es verbietet, „ihn zum bloßen Mittel zu erniedrigen" {Röpke 1947, 15). „Dieses Menschenbild bringt Röpke auch zur Ablehnung eines Verständnisses von Gesellschaft, wie es dem individualistischen Neoliberalismus eigen ist. Die Gesellschaft ist für ihn etwas anderes als die Summe aller Teile" (Gutmann 1998, 62). c. Christliche Soziallehre Die anthropolgische Grundposition von Röpke und Rüstow ist wie die von Alfred Müller-Armack eng verwandt mit dem Menschenbild der christlichen Sozialethik, welche, wie Gutmann (1998, 63) resümierend feststellt, sowohl in evangelischer wie auch in katholischer Denktradition eine der wichtigsten ideengeschichtlichen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft darstellt. Das Menschenbild der Sozialen Marktwirtschaft ist das des individuell einzigartigen und mündigen, jedoch nicht des omnipotenten, allwissenden Individuums. Gerade deswegen ist ihm aber die Möglichkeit einzuräumen, seine Anlagen zu entwickeln und sein Leben im Rahmen des durch die Rücksichtnahme auf andere möglichen Handlungsspielraumes eigenständig und selbstverantwortlich zu planen (siehe auch Tuchtfeldt 1995, 35f), woraus sich die Forderung nach der Subsidiarität staatlicher Eingriffe ableitet. Subsidiär jedoch fordert gerade die christliche Sozialethik die Hilfestellung der Gemeinschaft für den einzelnen, welche die Menschen gegenseitig verbindet und verpflichtet. Neben der Sicherung von Freiheitsrechten wird also auch die „Anteilnahme aller gesellschaftlichen Gruppen an den Früchten der Kooperation" (Gutmann 1990, 185) verlangt. 2. Grundzüge der Sozialen Marktwirtschaft Aus diesen Elementen haben Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zusammengefugt, deren Ziel es ist, „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden" (Müller-Armack 1956, 390). Die Entscheidung für die Marktwirtschaft ist also mehr als die Festlegung auf einen bestimmten Koordinationsmechanismus einzelwirtschaftlicher Pläne, sondern als übergeordnetes Konzept zur Versöhnung wirtschaftlicher, sozialer, gesellschaftlicher und weltanschaulicher Vorstellungen zu verstehen (Müller-Armack 1950, 417ff ). a. Koordination über Märkte als Regel Dabei kommt der Freiheit des Individuums in Form der Beschränkung jeglicher Art von Macht eine zentrale Rolle zu. Dies erfordert im persönlichen Bereich die Garantie von Freiheits- und Eigentumsrechten. Auf wirtschaftlichem Gebiet sichert der Wettbe-
Anspruch und Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft • 285 werb die Freiheit mit einem ungehinderten Ablauf des Marktprozesses. Nur auf dem Markt findet „eine selbsttätige Gleichschaltung zwischen Eigeninteresse und Gesamtinteresse statt..., da im Bereich der freien Leistungskonkurrenz der einzelne Produzent sein Interesse nur dadurch verfolgen kann, daß er seine Abnehmer besser und billiger beliefert als der Konkurrent, und solcher Wettlauf um immer bessere und immer billigere Produktion offensichtlich mit dem wirtschaftlichen Interesse der Gesamtheit zusammenfällt" (Riistow 1954, 217). Eine polypolistische Marktstruktur freilich, wie dies Eucken gefordert hatte,2 ist zur Realisierung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft freilich nicht erforderlich. Hier folgt die Ordnungstheorie heute eher Hayek als Eucken, der es zur Gewährleistung wettbewerblicher Strukturen als vollkommen ausreichend ansah, wenn „der freie Zugang zu keiner Branche behindert wird und der Markt Informationen über die sich bietenden Möglichkeiten liefern kann" (Hayek 1969, 122). Im Verein mit der Sicherung des Privateigentums und der Vertragsfreiheit formiert sich so der ordnungspolitische Grundsatz der Freiheit des Individuums, der einen der zentralen Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft darstellt. Hinzu kommt der ordnungspolitische Grundsatz des sozialen Ausgleichs, den MüllerArmack (1966, 243)mit der Freiheit der Märkte zu verbinden suchte. Beide sollten eine gleichrangige und komplementäre Verbindung eingehen. Soziale Marktwirtschaft verfolgt mithin das Ziel des sozialen Fortschritts durch marktwirtschaftliche Aktivität und ist damit, so Müller-Armack, aus sich selbst heraus sozial, weil die Schaffung der ökonomischen Voraussetzungen von „Wohlstand fur alle" (.Erhard 1957) zur Überwindung der alten, konservativen Sozialstruktur und der Ressentiments zwischen arm und reich maßgeblich beitrage {Erhard 1957, 7). Durch die prinzipielle Eignung des Marktes, am besten Produktivität und Einkommenswachstum hervorzurufen, wird der Wohlstand der Bevölkerung im ganzen gehoben. Eine Beschränkung der individuellen Freiheit darf daher nur dort erfolgen, wo jene zu sozial unerwünschten Ergebnissen fuhrt. Dies bedeutet: „Die Ergebnisse des Wirtschaftsprozesses sollen dann korrigiert werden, wenn sie nach den herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu einer dauerhaften Benachteiligung von Gesellschaftsmitgliedern fuhren würden" (Schönwitz 1983, 39). b. Staatliche Eingriffe als Ausnahmetatbestand „Wissenschaftliche Erkenntnis und praktische Erfahrung haben ... seit Einfuhrung der Sozialen Marktwirtschaft ergeben, daß das anerkanntermaßen effiziente und der menschlichen Entfaltungsfreiheit so dienliche System einer Marktwirtschaft nicht nur eines staatlichen Rahmens, sondern auch der wirtschafts- und sozialpolitischen Korrektur in einigen Bereichen bedarf, um das System anpassungs- und überlebensfähig zu halten" (Schlecht 1981, 10). Denn „eine freie Ordnung verbürgt als solche noch nicht, daß in ihr bestimmte 2 Krüsselberg (1998, 624f.) führt diese in der Literatur häufig angeführte Interpretation auf die sprachlich unglückliche Bestimmung des wettbewerbspolitischen Leitbildes Euckens zurück und stellt statt dessen das Leitbild der Substitutionskonkurrenz in den Vordergrund Euckenscher Wettbeweibsüberlegungen. Für die im Zusammenhang mit der Sozialen Marktwirtschaft geführte Diskussion ist diese Differenzierung freilich ohne Belang.
286 · Peter Thuy Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Wohlstand und Sicherheit erreicht werden. Sie bietet sich lediglich als Instrument an, möglichst viele dieser Werte zu realisieren, ohne den einen Wert dem anderen völlig opfern zu müssen" (Miiller-Armack 1948, 144). Es soll jedoch nicht in erster Linie das Ergebnis des Marktprozesses korrigiert werden, sondern der gesamtwirtschaftliche Wohlstand durch eine geeignete Wirtschaftspolitik gemehrt werden, die es dem einzelnen erlaubt, sich aus eigener Leistung zu versorgen. In der Sozialen Marktwirtschaft sei es dem Staat daher aufgetragen, Stabilitätspolitik zu betreiben, deren konkrete Ausgestaltung freilich zunächst offen bleibt und von den Annahmen über die Stabilität des privaten Sektors abhängt. Mit diesem Problemkreis befaßt sich der Beitrag von Michler und Thieme (1998, 243ff.), die Geld- und Fiskalpolitik als die wichtigsten Säulen der Stabilitätspolitik in der Marktwirtschaft benennen. Beide Politikbereiche sind aus einem modernen Gemeinwesen nicht wegzudenken, weil damit unmittelbar in die Angebots- und Nachfragebedingungen einer Volkswirtschaft eingegriffen wird. Von der ordnungspolitischen Ausgestaltung beider Bereiche hängen folglich die Erfolgschancen einer Marktwirtschaft entscheidend ab (Michler und Thieme 1998, 244). „Konsistente Hypothesensysteme über die UrsacheWirkungs-Zusammenhänge im monetären und realwirtschaftlichen Bereich einer Marktwirtschaft, die zudem empirisch gut abgesichert sein müssen, sind somit zentrale Bedingung für eine adäquate institutionelle Verankerung von Stabilitätspolitik" {Michler und Thieme 1998, 248). Interessanterweise lautet der Befund für die Bundesrepublik Deutschland, daß Kurswechsel in Geld- und Fiskalpolitik ohne wesentliche Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen bewerkstelligt werden konnten. Für die Geldpolitik erscheint dies plausibel, weil die gesetzlichen Rahmenbedingungen für das Wirken der Bundesbank relativ offen und damit flexibel gestaltet waren. So konnten ohne Schwierigkeiten sowohl das geldpolitische Ziel von der Zins- und Liquiditätssteuerung zur Geldmengensteuerung als auch die Bedeutungsgewichte der eingesetzten geldpolitischen Instrumente verändert und an veränderte theoretische Annahmen angepaßt werden (Michler und Thieme 1998, 251). Im Bereich der Fiskalpolitik erfolgten noch tiefergreifende Veränderungen. Hatte man sich in den sechziger Jahren, überzeugt von der keynesianischen Annahme von der Instabilität des privaten Sektors noch überzeugt davon gezeigt, daß der Staat durch antizyklische Konjunkturpolitik zur Steuerung des Wirtschaftsgeschehens in der Lage sei und 1967 das Stabilitätsgesetz verabschiedet, um die Werkzeuge zur Konjunkturglättung zu institutionalisieren, folgte schon in den frühen siebziger Jahren die Ernüchterung. Die Konjunkturpolitik hatte sich durch den Mißerfolg des Stabilitätsgesetzes, welches als die gesetzliche Verankerung des Versuchs einer Synthese von Euckenschem Ordnungsdenken und keynesianischer Nachfragesteuerung apostrophiert worden war, zum Teil selbst diskreditiert. Überdies griffen monetaristische Überzeugungen von der inhärenten Stabilität des privaten Sektors und neue Erkenntnisse über den Transmissionsmechanismus Platz. In der Folge wurden konsequenterweise stärker angebotsorientierte Elemente in die Wirtschaftspolitik eingebracht und das Stabilitätsgesetz, das de jure noch heute Gültigkeit besitzt, in seiner Bedeutung darauf reduziert, daß die dort genannten Ziele der Wirtschaftspolitik noch immer Leitcharakter für die Stabilitätspolitik aufweisen. Aus den Erfahrungen mit dem Erfolg und Mißerfolg des
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Einsatzes stabilitätspolitischer Instrumente und der Erkenntnis, daß durch gesichertes Wissen über die theoretischen Zusammenhänge in der Volkswirtschaft ein festes Fundament für eine stabilitätsorientierte Geld- und Fiskalpolitik bilden müssen, leiten Michler und Thieme Anforderungen für eine so geartete Politik ab, deren Inhalt am besten dadurch charakterisiert werden kann, daß diese so ausgestalten sind, daß die Euckenschen Prinzipien von der Konstanz der Wirtschaftspolitik und der Geldwertstabilität erfüllt werden, weswegen insbesondere diskretionäre Eingriffe des Staates abzulehnen sind und statt dessen eine langfristig wirkende Verbesserung der Angebotsbedingungen in das Zentrum der Stabilitätspolitik rücken soll. Darüber hinaus sind staatliche Eingriffe in den Marktprozeß dann legitim, wenn ein Marktergebnis nicht zustande kommt oder dieses gesellschaftlich nicht akzeptiert wird. Als Rechtfertigungsargumente für solche sozialpolitisch motivierten Eingriffe in den Markt dienen meritorischer Bedarf und Marktversagen. Unter meritorischen Gütern werden dabei diejenigen zusammengefaßt, die zwar grundsätzlich über Märkte gehandelt werden können, bei denen die individuelle Nachfrage aber geringer ausfällt als es - rein normativ - gesamtwirtschaftlich notwendig erscheint {Molitor 1992, 43). Durch diese allgemeine Form der Begründung läßt sich freilich nahezu jeder staatliche Eingriff rechtfertigen, so daß es der Heranziehung weiterer Kriterien bedarf, wobei eine Abwägung zwischen gegenwärtiger Freiheit und künftigem Freisein zu Grunde gelegt wird. Immer dann, wenn die zukünftige Freiheit gefährdet zu sein droht, rechtfertigt das Konzept der Meritorik Einschränkungen der Wahlfreiheit in der Gegenwart {Hackmann 1990, 110). Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der einzelne zukünftige Bedürfnisse in der Gegenwart unterschätzt, seine Entscheidung irreversibel ist und die Folgen einer Fehlentscheidung existenzgefährdend sind {Knappe, Funk und Jobelius 1996, 504). Andere Argumentationsmuster beruhen auf dem Schutz der Allgemeinheit vor Free-RiderVerhalten durch Verabsäumung individueller Vorsorge {Berthold 1988, 342). Auch Hayek spricht davon, daß staatlicher Vorsorge- oder Versicherungszwang ausgeübt werde, damit einzelne Menschen durch Verabsäumung der Vorsorge der Allgemeinheit nicht zur Last fallen {Hayek 1971, 362). Im Gegensatz zur Meritorik kommt bei Markt- oder Wettbewerbsversagen ein Koordinationsergebnis über den Markt erst gar nicht zustande oder es unterbleibt eine effizienzorientierte Unternehmensselektion oder eine Verbesserung der Marktergebnisse. Öffentliche Güter, externe Effekte und die Existenz prohibitiv hoher Transaktionskosten werden hier als Argumente genannt. Schließlich akzeptiert das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft auch distributives Marktversagen als Legitimationsgrundlage für staatliche Eingriffe. Dieses kommt zustande, wenn das Ergebnis, daß der Marktprozeß zeitigt, nicht mehr mit dem übereinstimmt, was die Menschen normativ als fair oder richtig anerkennen. In diesem Falle kommt es zur Umverteilung von Marktergebnissen. Freilich kommen solche Maßnahmen nur auf Grundlage des Subsidiaritätsprinzips unter Beachtung der Ordnungs- und der Zielkonformität in Frage, um den Vorrang des Individual- vor dem Sozialprinzip sicherzustellen {Cassel und Rauhut 1998, 12).
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III. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Sozialer Marktwirtschaft 1. Erfolg und Versagen in der Wirtschaftspolitik Aufgrund der Offenheit des Konzepts unterliegt die Soziale Marktwirtschaft einer ständigen Bewährungsprobe und wird, so Schlecht (1998, 36), nie vollendet sein. Dies liegt vor allem daran, daß in das Konzept ,je nach Standpunkt eigene Bedeutungsschwerpunkte hineininterpretieren lassen {Schlecht 1998, 36), was jedoch nicht nur als Nachteil begriffen werden darf. Bereits Franz Böhm (1960) hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, daß ein Wettstreit zwischen bürgerlichen und Arbeiterparteien um die beste Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft der Durchsetzung dieser Idee zum Vorteil gereichen könne. Ob und in welchem Umfang die in der fünfzigjährigen Geschichte der Sozialen Marktwirtschaft praktizierte Wirtschaftspolitik dem Leitbild entsprochen hat oder nicht, wird in dem von Cassel herausgegebenen Sammelband in einem Abschnitt untersucht, der mit Konzeptionsbewährung und Konzeptionsversagen überschrieben ist. Gröner und Knorr (1998, 203ff.)setzen sich in diesem Rahmen mit dem Kernbereich jeder marktwirtschaftlich orientierten Politik auseinander, der Wettbewerbspolitik. Dabei geht es insbesondere um die Beantwortung der Frage, inwieweit „Wettbewerb als Aufgabe" von den jeweiligen politischen Entscheidungsträgern in der Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen und in Angriff genommen worden ist. Obschon beispielsweise Erhard die Bedeutung einer wirkungsvollen Wettbewerbspolitik klar gewesen ist, kann es als ein Glücksfall für die Wettbewerbsordnung angesehen werden, daß durch den Einfluß der Alliierten, die mit dem Dekartellierungsgesetz noch 1948 ein Kartellverbot erlassen hatten, eine wettbewerbspolitische Weichenstellung vorgenommen worden war, die geeignet erschien, den Wettbewerb dauerhaft zu sichern. Bis es zu einem deutschen Wettbewerbsgesetz kam, sollte es noch neun Jahre dauern, ehe das GWB gegen den entschiedenen Widerstand etwa der im BDI organisierten deutschen Industrie verabschiedet wurde (Gröner und Knorr 1998, 208). Dieses bisweilen als „Grundgesetz der Marktwirtschaft" apostrophierte Gesetz, das durch fünf Novellen ergänzt und erweitert wurde, ist seitdem in seinen Grundzügen unverändert geblieben und orientiert sich nach wie vor am Leitbild der Wettbewerbsfreiheit. Es kann insofern durchaus als ein erfolgreicher Baustein zur Umsetzung des Konzepts Sozialer Marktwirtschaft verstanden werden. Allerdings wird das Leitbild der Wettbewerbsfreiheit von einer Fülle von Einzelvorschriften durchlöchert. Gröner und Knorr zählen dabei nicht nur die Existenz wettbewerbspolitischer Ausnahmebereich und das Vorhandensein einer Reihe von Ausnahmeregeln, z.B. der Ministererlaubnis, zu den Sündenfällen des GWB (1998, 214ff). Auch die 1973 in das Gesetz eingeführte Unterscheidung zwischen Leistungs- und Nichtleistungswettbewerb sowie Kooperationserleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen und die Existenz weiter Wirtschaftsbereiche unter öffentlicher Kontrolle stellen eine stetige Gefahr für die Wettbewerbsordnung dar, die durch die Integration in der europäischen Union noch weiter verstärkt wird. Dies liegt an einem grundsätzlich unterschiedlichen Verständnis von Wettbewerb. Während das GWB Wettbewerb als Leitbild begreift, ist er für
Anspruch und Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft • 289 die EU eher Instrument zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer Ziele und von daher allzu leicht für außerwettbewerbliche Ziele, insbesondere fur strukturkonservierende und strukturgestaltende Zwecke zu mißbrauchen (Gröner und Knorr 1998, 210). Das Problem der Strukturgestaltung stellt sich auch dann, wenn der Staat das für den Fortbestand des Wettbewerbs unentbehrliche Wissen lenkt oder die hierfür zuständigen Bereiche gesellschaftlichen Lebens lenkt oder monopolisiert, wie dies im Falle der Forschungs- und Bildungspolitik der Fall ist, mit der sich der Beitrag von Kerber (1998, 321ff.) auseinandersetzt. Im Bereich der Forschungspolitik dominiert sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der EU der Staat, indem er die Produktion neuen Wissens finanziert und über die Ausgestaltung der jeweiligen Förderprogramme damit oft genug auch lenkt. Als Begründung für staatliches Eingreifen wird hier die Marktversagensargumentation herangezogen, die davon ausgeht, neues Wissen sei ein öffentliches Gut, weswegen der Markt zur Unterproduktion neige (Arrow 1962). Kerber jedoch weist in diesem Zusammenhang eindringlich darauf hin, daß die Diöussion von Wissen letztlich eine Frage des institutionellen Arrangements sei, in dem sich ein Erfinder bewege, so daß letztlich nicht eindeutig entschieden werden könne, ob es in einem wettbewerblichen Umfeld zu Unter- oder gar Überproduktion von Wissen komme (Kerber 1998, 335) Dies ist überdies auch gar nicht feststellbar, da der Wettbewerbsprozeß Wissen hervorbringt, daß ohne Wettbewerb gar nicht bekannt wäre (Hayek 1968). Auch andere Begründungen für staatliche Forschungspolitik, wie sie das Problem der Verzerrung der Selektion von Innovationen, das Problem der internationalen Wettbewerbsfähigkeit oder das Problem der Ungewißheit und der „Kurzsichtigkeit des Marktes" darstellen, weisen laut Kerber nicht die zur Rechtfertigung wirtschaftspolitischer Eingriffe erforderliche empirische Evidenz auf. Demgegenüber scheinen die Probleme, die mit der Durchführung staatlicher Forschungspolitik verbunden sind, schwerer zu wiegen. Zentrales Argument ist hier das Wissensproblem, das immer dann auftritt, wenn der Staat direkte Projektforderung betreibt. Um tatsächlich positive Effekte hervorrufen zu können, müßte der Staat über marktrelevante Informationen verfügen, die den Unternehmen nicht zugänglich sind - eine Annahme, die sich nur schwer halten läßt. Umgehen läßt sich diese Problematik dadurch, daß eine Politik der indirekten Forschungsförderung betrieben wird, also Forschungsvorhaben ganz allgemein der staatlichen Unterstützung anheim gestellt werden. Auch hiergegen liefert Kerber eine Reihe von Argumenten. Zum einen stellt sich auch hier das Problem des Rent-seeking: Danach forschen Unternehmen nicht mehr, um am Markt Wettbewerbsvorteile zu erzielen, sondern verstärkt zu dem Zweck, Fördermittel zu erhalten. Infolgedessen lenken sie ihre Anstrengungen in die vom Staat durch Förderrichtlinien vorgedachten Bahnen, wo sie vom Informationsproblem wieder eingeholt werden. Zugleich bildet sich so eine Subventionsmentalität heraus, die auch im internationalen Wettbewerb immer stärker um sich greift, was dazu führt, daß (Forschungs-)Subventionen nur noch der einzigen Begründung bedürfen, andere Staaten würden ihre Wirtschaft ebenfalls unterstützen (Kerber 1998, 342). Die derzeit praktizierte Forschungspolitik geht also, so Kerber, fehl. An die Stelle von Subventionen zur Hervorbringung von Wissen setzt er auf eine Verbesserung der institutionellen Rahmenbedingungen für die Forschung, um die bessere Aneignung von Innovationsvorteilen zu
290 · Peter Thuy gewährleisten. „Von daher könnte es eine wesentliche Aufgabe einer einzelstaatlichen Forschungspolitik sein, sich darum zu bemühen, nach geeigneteren Regelungen für die private Aneignung der Vorteile neuen Wissens zu suchen und diese (auch auf internationaler Ebene) durchzusetzen" (Kerber 1998, 345). Ahnlich kritisch wird die bundesdeutsche Bildungspolitik beurteilt. Analog zur Argumentationsfuhrung für die Forschungspolitik zeigt Kerber hier zunächst auf, daß keines der zur Begründung von Marktversagen in diesem Bereich herangezogenen Argumente einer kritischen Überprüfung standhält, während Effizienz und Innovationsfähigkeit des bundesdeutschen Bildungssystems erheblich zu wünschen übrig ließen und auch hier eine Reihe von Anhaltspunkten für ein Staatsversagen ausgemacht werden könnten. Auf dieser Grundlage wird für eine weitreichende Deregulierung und Privatisierung des Bildungssystems plädiert, da ein wettbewerblich organisierter Bildungsmarkt den ständig sich wandelnden Erfordernissen dieses Bereiches wesentlich besser gerecht werden kann als das zentralistische und bürokratisch organisierte Bildungswesen derzeitiger Prägung. Mit dieser Forderung geht Kerber freilich deutlich über den Ordnungsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft hinaus. Betrachtet man den Bildungsbereich nämlich als einen integralen Bestandteil des Gesellschaftssystems, so läßt sich sehr wohl eine Reihe von Argumenten meritorischer Natur finden, die ein Eingriff des Staates in Marktprozesse hier rechtfertigen. Beispielsweise läßt sich das Argument nicht wohlwollender Eltern und der externen Effekte, wie von Kerber (1998, 350) durchaus konzediert wird, nicht ohne weiteres von der Hand weisen, so daß zumindest im Bereich der Elementarbildung gute Argumente für Regulierungen gefunden werden können. Kerber ist allerdings vorbehaltlos zuzustimmen, daß die Produktion, somit die Bereitstellung von Bildungsleistungen durch eine so geartete Argumentation nicht gerechtfertigt werden kann. Die Rechtfertigung des Staatseingriffes legitimiert also nicht zugleich die Rolle des Staates als Unternehmer, mit der sich der Beitrag von Hartwig (1998, 65 Iff.) beschäftigt. Zwar spricht, so Hartwig, formal nichts gegen die Tätigkeit von öffentlichen Unternehmen im weitesten Sinne, da Wohlfahrtssteigerungen durch deren Wirken a priori nicht auszuschließen seien. Dies gilt jedoch nur dann, wenn sie unter den gleichen Bedingungen agieren, wie ihre privaten Konkurrenten. In der Wirtschaftspraxis der Bundesrepublik Deutschland stellt dies allerdings eher die Ausnahme dar. Viel häufiger werden fühlbare Externalitäten, öffentliche Güter, Informationsasymmetrien und Subadditivitätsargumente ins Feld gefuhrt (Hartwig 1998, 658), um Ausnahmebereiche zu schaffen, in denen öffentliche Unternehmen ungestört von privater Konkurrenz wirken können und dabei neben dem (fraglichen) Nutzen für den Konsumenten in jedem Fall die Wohlfahrtsposition der mit Leitungs- und Kontrollbefugnissen ausgestatteten Politiker oder diesen nahestehenden Personen zu verbessern. Dazu besteht in der Bundesrepublik Deutschland, betrachtet man sich die Vielzahl öffentlicher Unternehmen, reichlich Gelegenheit, umfaßt dieser Bereich doch sieben Prozent der Erwerbstätigen und erbringt elf Prozent der Bruttowertschöpfüng, wobei Schwerpunkte in den Bereichen Versorgung und Verkehr, Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen liegen. „Bei aller gebotenen Vorsicht sprechen bereits einfache Überlegungen dafür, daß große Teile der öffentlichen Unternehmen in der Bundesrepublik keine ökonomische Legitimation besitzen, weil
Anspruch und Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft · 291 Marktversagen nicht zu vermuten ist" (Hartwig 1998, 663). Hier kann ein weitreichende Privatisierungspotential identifiziert werden. Ähnliches gilt für das Feld der Umweltpolitik {Karl 1998, 55Iff), deren konzeptionelle Ausrichtung in der Bundesrepublik „von Anfang an die ordnungspolitische Herausforderung nicht annahm und sich auf administrative 'Command-and-control'-Maßnahmen beschränkte" (Karl 1998, 553). Anstatt Umweltgüter als das zu begreifen, was sie sind, nämlich knappe Güter im Produktionsprozeß, und die Umweltpolitik in das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zu integrieren, schuf man einen Ausnahmebereich, der von planwirtschaftlicher Auflagen, Ver- und Gebotspolitik dominiert wird. Karl (1998, 559) führt dies auf den dominierenden Einfluß von „Nachhaltigkeitsökonomen" auf die politischen Akteure zurück. Diese sehen als Ziel der Umweltpolitik die Verhinderung einer irreversiblen Überbeanspruchung der Ökosysteme und damit der Beseitigung menschlicher Lebensgrundlagen (Vornholz 1995, 9ff.) und zeichnen sich trotz erheblicher Unterschiede im Detail durch eine große Portion Wachstumspessimismus aus.3 Überdies tragen einige dieser Konzepte, die ihre Zielsetzungen nicht zuletzt über die Etablierung normativ begründeter Managementregeln zur Sicherstellung der Nachhaltigkeit, interventionistisch-elitäre Züge {Karl 1998, 574) und widersprechen von daher eindeutig den Grundsätzen jeder marktwirtschaftlichen Ordnung. Ordnungstheoretisch besser abgesichert ist hingegen der Alternatiworschlag Karls, der einen Drei-Stufen-Plan zur Integration von Umweltgütem in die Marktwirtschaft vorschlägt. Zunächst sollten alle Güter, bei denen dies möglich ist, mit einem Preis belegt und gehandelt werden. Wo dies aufgrund von über den Marktpreis nicht internalisierbaren externen Effekten nicht möglich ist, plädiert er für den Einsatz marktkonformer Elemente wie Steuern oder Lizenzen. Und nur für den Fall öffentlicher Umweltgüter, falls es solche überhaupt gibt, wird dem Staat eine Versorgungsfunktion zugedacht, wobei hier „institutioneller Wettbewerb auf der Basis fiskalischer Äquivalenz" {Karl 1998, 575) Umweltschutz entsprechend der Präferenzen der Bürger sichert. Mit diesem Programm scheint es durchaus möglich, intra- und intergenerative Gerechtigkeit zu erzielen, welche zugleich als ein Anliegen Sozialer Marktwirtschaft deklariert werden können. Einen der wettbewerbspolitischen Ausnahmebereiche, fur dessen Legitimität breite Zustimmung signalisiert wird, ist der Arbeitsmarkt. Die Entwicklung von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit deuten freilich darauf hin, daß die für diesen Teilbereich der Wirtschaftsordnung gefundenen institutionellen Arrangements nicht den Erfordernissen genügen. In die Kritik gerät dabei in der jüngeren Vergangenheit immer wieder die Tarifautonomie. Dieses Kernstück der Arbeitsmarktordnung der Bundesrepublik Deutschland „trennt die Verantwortung der Wirtschafts- und Tarifpolitik strikt zwischen dem Gesetzgeber und der Regierung einerseits und den Tarifparteien andererseits" (Geue und Weber 1998, 299). Begründet wird dies zum einen mit Machtasymmetrien am Arbeitsmarkt, die sich ergeben, weil Arbeitnehmer, die zur Deckung ihres Lebensunterhalts auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, unter einem strukturellen Arbeitsangebotszwang stehen und somit einem Mindestschutz unterworfen werden müssen. Zum anderen 3 Zu den Grundlagen und den verschiedenen Ansätzen zur nachhaltigen Entwicklung siehe Knorr (1997a).
292 • Peter Thuy werden asymmetrische Informationsverteilung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Transaktionskostenargumente und die Existenz von Abwehrrechten des Staates zu Gunsten der Tarifautonomie ins Feld gefuhrt. Gern und Weber zeigen freilich schlüssig auf, daß keines dieser Argumente einer vermehrten Zulassung von Wettbewerbselementen auch auf dem Arbeitsmarkt entgegensteht, zumal die Tarifautonomie in fünfzig Jahren ihrer Gültigkeit Ergebnisse gezeitigt zu haben scheint, die der Vollbeschäftigung nachhaltig entgegenstehen und nicht nur eine absolute Zunahme der Arbeitslosenzahlen, sondern zudem eine in ihren Folgen weitaus problematischere Verfestigung dieses Mißstandes zugelassen, wenn nicht sogar mit verursacht hat. Letztgenanntes Argument wird näher belegt, indem die Entwicklung der Ausgestaltung der deutschen Tarifautonomie im Zeitlauf betrachtet wird. Dominierte in den fünfziger und sechziger Jahren noch der Ausbau der Schutzpolitik zugunsten vorhandener Beschäftigungsverhältnisse, so kam es mit dem wirtschaftspolitischen Strategiewechsel, der in die Verabschiedung des AFG unter dem damaligen Arbeitsminister Hans Katzer mündete, zu einer zunehmenden „Enthaftung des Tarifkartells." „Damit übernahm die Wirtschaftspolitik ein höheres Maß an Verantwortung für die Sicherung der Vollbeschäftigung. Sie mußte sich folglich an diesen Zielen messen lassen und eröffnete den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, sich ihrer Verantwortung für die Räumungskapazität der Arbeitsmärkte zu entziehen, ohne hierfür zu haften" (Geue und Weber 1998, 307). Als logische Konsequenz konnten die Tarifpartner fortan Lohnabschlüsse ohne Rücksicht auf die Folgen am Arbeitsmarkt vereinbaren, was sie zumindest in den siebziger und frühen achtziger Jahren auch nachhaltig taten. Dadurch stiegen die Lohnstückkosten kontinuierlich an, die Lohnentwicklung ging nicht mehr mit der Produktivitätsentwicklung einher und es entstand Arbeitslosigkeit oder diese verfestigte sich. Das gleiche Problem stellte sich ein, als im Jahre 1990 die deutsche Einheit realisiert wurde, deren wirtschaftspolitische Umsetzung, so Schüller und Weber (1998, 367fF.) „zwischen politischer und marktwirtschaftlicher Rationalität" umgesetzt wurde. Die Lösung des Einheitsproblems stand „vollständig im Magnetfeld einer Kombination des Individual- und Kollektivprinzips, die in vielen wirtschafts- und sozialpolitischen Aspekten auf dem Vorrang politischer Opportunitäten gegenüber Marktfreiheiten und auf der verbreiteten Überzeugung beruht, daß sich eine stärker am Individualprinzip ausgerichtete wirtschaftliche Ordnungspolitik auf dem Wählerstimmenmarkt nicht auszahlt" (Schüller und Weber 1998, 381). Der Einigungsvertrag ist daher von dem Bestreben gekennzeichnet, „sich von grundsätzlichen Erwägungen über die Gesamtordnung möglichst weit entfernt zu halten, während aus allen Ressorts eine Fülle teilweise absurder Einzelheiten mit Bienenfleiß zusammengetragen worden ist, um aus der Summe umfangreicher und umständlicher Detailregulierungen eine Gesamtordnung aufzuhäufen. So hat man dann lauter Teile in der Hand" (Willgerodt 1994, 37). Besonders deutlich wird dies, wenn man sich die Entwicklung am Arbeitsmarkt betrachtet. Hier konnten durch die unveränderte Übernahme der Arbeits- und Sozialordnung der alten Bundesrepublik Lohnabschlüsse getätigt werden, die im Verein mit der im Einigungsvertrag festgelegten Umstellung der Löhne im Verhältnis ein zu eins, zu einer dramatischen Lohnsstückkostenentwicklung führten und die Beschäftigung in den neuen Ländern nachhaltig reduzierten. Mannigfache
Anspruch und Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft · 293 Schwierigkeiten rechtlicher Natur und Finanzierungsprobleme der Unternehmen taten ein übriges, um die wirtschaftliche Genesung Ostdeutschlands zu verzögern. Damit ist die wirtschaftliche Gestaltung der Einheit, in der das Kollektivprinzip überstrapaziert wurde und die Übertragung von Verantwortlichkeit auf den einzelnen allenfalls eine subalterne Rolle spielte, ein Musterbeispiel fur ordnungspolitisches Fehlverhalten. Die Ergebnisse dieses Tuns sind freilich nicht der Ordnung als solcher anzulasten, sondern vielmehr der Übertragung ihrer Ergebnisse, ohne daß die Mindestvoraussetzungen hierfür gegeben gewesen wären (Schüller und Weber 1998, 389). Naturgemäß in der Gefahr, ordnungszerstörend zu wirken, sind die Maßnahmen der sozialen Sicherung und Umverteilung. In dem Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft, zugleich Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen, sieht Paraskewopoulos (1998, 223fF.) einen latenten Widerspruch angelegt (anders Pies 1998), den er anhand einer Reihe von Beispielen illustriert. Auch der empirische Befund für die Bundesrepublik Deutschland spricht offenbar dafür, „daß die realisierte Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft Deutschlands doch nicht konfliktarm ist" (Paraskewopoulos 1998, 230). Steigende Abgaben- und Sozialleistungsquoten deuten darauf hin, daß die Hoffnung Müller-Α rmacks, die aus sich selbst heraus soziale marktwirtschaftliche Ordnung würde soziale Eingriffe zu Ausnahmetatbeständen machen, sich nicht erfüllt hat. Vielmehr sind mit steigendem Wohlstand auch die sozialen Leistungen gestiegen. Es scheint so zu sein, daß die Bürger, je wohlhabender sie werden, immer mehr der staatlichen Unterstützung bedürfen. Dies ist jedoch, wie Paraskewopoulos (1998, 239) schlüssig erklärt, nicht dem Versagen der Sozialen Marktwirtschaft, sondern vielmehr der Eigenheit des parlamentarischen Systems anzulasten, das dazu neigt, aus Gründen der Wählerstimmenmaximierung immer weitere Bereiche der Daseinsvorsorge unter staatliche Fittiche zu nehmen. Damit hat ein Paradigmawandel in der staatlichen Sozialpolitik stattgefunden, der von der ursprünglichen Existenzsicherung durch den Staat hin zu einer umfassenden Lebensstandardsicherung für alle gefuhrt hat. Umfang und Unübersichtlichkeit dieses Systems aber fuhren dazu, daß dem die höchsten Prämien zugeschanzt werden, „der sich am fleißigsten durch den Dschungel sozial wohlgemeinter Sondergesetze durcharbeitet und sie am raffiniertesten auszunutzen versteht" (Stützel, 1978, 346). Aus der Leistungsgesellschaft wird eine Rent-Seeking-Society, die sich die „Ausbeutung aller durch alle" (Oberender 1994, 1) zum Ziel gesetzt zu haben scheint. 2. Gründe für das Abweichen vom Leitbild Die Gründe für ein Abweichen vom marktwirtschaftlichen Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft liegen zum einen in einer bewußten Abkehr von diesem Prinzip, wie sie in den siebziger Jahren vorgenommen wurde, als eine verstärkte Hinwendung zum Sozialstaat die Leitlinien der Politik bestimmte (Schlecht 1998, 41ff). Zum anderen sind Veränderungen in der Gewichtung häufig dergestalt vorgenommen worden, daß auf neue Entwicklungen in den Rahmenbedingungen nicht im Sinne des zu Grunde liegenden Leitbildes reagiert wurde, so daß sich die praktische Wirtschaftspolitik unbeabsichtigt von der Grundidee entfernte.
294 · Peter Thuy Für Pies (1998, 97ff.)) ist diese Abweichung vom Leitbild freilich schon in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft angelegt. Er zeigt auf, daß zwischen der theoretischen Fundierung der Entscheidung zu Gunsten der Sozialen Marktwirtschaft (konstitutionelle Heuristik) und ihrer Orientierungskraft in Folge dieser Grundsatzentscheidung (postkonstitutionelle Heuristik) ein Bruch zu verzeichnen ist. Während die Entscheidung für das Leitbild nämlich Freiheit und Sicherheit durch Wettbewerb und sozialen Ausgleich zu vereinen sucht, also einen integrativen Ansatz wählt, geht MiillerArmack bei der Umsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in die Praxis von einer prinzipiellen Inkompatibilität dieser Ziele, die ja eigentlich hätten vereint werden sollen, aus. Diese „dualistische Konzeptualisierung bricht also mit der Kontinuität ordnungstheoretischen Denkens. Sie akzeptiert einen prinzipiellen Gegensatz zwischen Freiheit und Sicherheit als empirisches Faktum" (Pies 1998, 103). Folglich scheint es fur Pies nur konsequent zu sein, daß Miiller-Armack (1974, 124)mit marktkonformen Interventionen eine Umverteilung des Marktergebnisses erreichen will. Damit kommt es, so Pies, zu einer Verschiebung der Akzente hin zu mehr Sozialpolitik und zu einer Kompetenzaufteilung zwischen Wettbewerbspolitik, die wirtschaftliche Freiheit sichert, und Sozialpolitik, die den sozialen Ausgleich herstellen soll. „Der Dualismus der Werte zieht einen Dualismus der Politikbereiche nach sich und bricht damit das ordnungstheoretische Programm einer integrativen Gesellschaftsordnungspolitik ab" (Pies 1998, 105). Es stellt sich hier jedoch die Frage, ob Pies nicht zu weit geht, wenn er Müller-Armack unterstellt, dieser verkürze die Argumentation zu Gunsten der Marktwirtschaft auf den Aspekt, daß diese ein vergleichsweise größeres Transfervolumen bereitstellen kann (Pies 1998, 105). Gerade Müller-Armack (1952, 30f.)hat immer wieder darauf hingewiesen, daß er zwischen der individuellen Freiheit auf dem Markte und dem sozialen Ausgleich eine Komplementärbeziehung sieht, daß beide nach eindeutigen Prinzipien innerhalb der Möglichkeiten, die der Marktprozeß bietet, umgeformt werden können. Freilich muß unumwunden zugestanden werden, daß das Kriterium der Marktkonformität allein wohl nicht ausreicht, um distributionspolitische Begehrlichkeiten wirkungsvoll und eindeutig zu begrenzen. Pies versucht, diesen konzeptionellen Mangel in einem Konzept zu beseitigen, daß er als normative Institutionenökonomik beschreibt. Er verneint einen Dualismus zwischen Sozialstaat und Marktwirtschaft und bezeichnet beide als alternative Instrumente zur Förderung gesellschaftlicher Kooperation, „die sich partiell ersetzen, vor allem aber wechselseitig ergänzen sollen" (Pies 1998, 117). Sozialpolitik soll für den Markt und nicht gegen den Markt gemacht werden. Damit befindet er sich in völliger Übereinstimmung mit der Ordnungsidee der Sozialen Marktwirtschaft. An die Stelle des Effizienzkriteriums zur Beurteilung politischer Maßnahmen tritt jedoch das Konsenskriterium, das Maßnahmen dann gut heißt, wenn sie mit unterschiedlichen normativen Referenzvorstellungen in der Gesellschaft vereinbar sind. Damit vermeidet Pies zwar die Probleme, die hinsichtlich der Effizienzbeurteilung wirtschaftspolitischer Maßnahmen entstehen, jedoch kann er, abgesehen von einzelnen Beispielen, auch mit seinem theoretisch interessanten Ansatz keine politisch handhabbaren Lösungswege zur Aufhebung der Denk- und Politikblockade in der Gegenwart aufzeigen.
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Während Pies die Fehlentwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland gleichsam als systemimmanent charakterisiert, sieht Leipold (1998,153ff.) eine Hauptursache für die Fehlentwicklungen der Gegenwart im geistigen moralischen Bereich. In Anlehnung an Müller-Armack bemerkt er (1998, 170), daß neben den Primat der Ordnungspolitik und das Prinzip der ordnungs- und marktkonformen Staatseingriffe einer möglichst einheitlichen geistig-moralischen Wertewelt tritt. Da ein Konsens in diesem Bereich aber nicht vorausgesetzt werden kann, muß er durch Aufklärung und gesellschaftspolitische Maßnahmen des Staates hergestellt werden. Damit sind jedoch, so Leipold, zwei Gefahren verbunden: Zum einen liegt es nahe, daß Politiker „den Wertekonsens durch wählerstimmenwirksame Indienstnahme der Wirtschafts- und insbesondere der Umverteilungspolitik sichern, was auf die Bedienung von Sonderinteressen hinausläuft" (Leipold 1998, 171) und ein Anspruchsdenken gegen den Staat hervorbringt. Zum anderen gefährdet der Sozialstaat selbst die moralische Grundlage, auf der er zunächst aufgebaut wird, weil Werte wie Solidarität, Nächstenliebe oder Hilfsbereitschaft mit zunehmender staatlicher Übernahme sozialer Aufgaben im privaten Bereich degenerieren. Darin, daß die Gründerväter Sozialen Marktwirtschaft diesen Zusammenhang nicht erkannt haben, wird das eigentliche Defizit der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft gesehen. Empirische Belege für einen Werteverfall in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in anderen westlichen Industriestaaten liefert Leipold zuhauf (1998, 158ff), so daß seine Forderung, neben einer Reform von Sozialstaat und sozialen Sicherungssystemen bedürfe es auch einer Überprüfung der gewachsenen Interessenansprüche, schlüssig ist. Dies erweist sich jedoch insofern als schwierig, als die Befriedigung gesellschaftlich artikulierter Interessen durchaus dem Eigeninteresse von Politikern entgegenkommt. Das hierdurch auftretende Principal-Agent-Problem fuhrt „mangels ausreichender Kontrollmöglichkeiten durch die Bürger dazu, daß die staatliche Wirtschaftspolitik auch für die Verfolgung von Sonderinteressen (z.B. bestimmter Gruppen) auf Kosten der Allgemeinheit benutzt werden kann (Rent-seeking)" (Kerber 1998, 326f ). „Aus alledem wird ersichtlich, daß die Chancen, die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft im gegebenen parlamentarisch-demokratischen System wirtschaftspolitisch 'lupenrein' umzusetzen, äußerst gering sind, weil sich eine konzeptionsgerechte Gestaltung der Wirtschaftsordnung nur schwer gegen verteilungs- und sozialpolitische Ansprüche durchsetzen läßt" (Cassel und Rauhut 1998, 23).
IV. Herausforderungen in der Zukunft Das Eigeninteresse der Politiker fuhrt also zunächst einmal nicht dazu, daß wirtschaftspolitische Fehlentwicklungen, die auf der Befriedigung von Partikularinteressen beruhen, korrigiert werden. Erst dann, wenn auch der Mehrheit der Bevölkerung der Zusammenhang zwischen erkennbaren Fehlentwicklungen (z.B. Arbeitslosigkeit) und wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen deutlich wird, werden sich Politiker veranlaßt sehen, ihr Verhalten zu ändern. Solche Zusammenhänge könnten dann klarer werden, wenn im Zuge zwei Entwicklungen, denen sich die deutsche Wirtschaftspolitik derzeit gegenüber sieht, Handlungsspielräume verengt werden und wirtschaftspolitisches Fehl-
296 · Peter Thuy verhalten deutlicher ans Licht gebracht wird. Im Zuge von Globalisierung und europäischer Integration schwindet einerseits der Handlungsspielraum der Regierung, andererseits werden, wie zu zeigen sein wird, wirtschaftspolitische Notwendigkeiten auch für die Bevölkerung schneller und eindeutiger identifizierbar. 1. Globalisierung In diesem Zusammenhang muß sich die Soziale Marktwirtschaft in immer stärkerem Umfang dem Wettbewerb mit anderen Systemen stellen, da sich aufgrund der zunehmenden Internationalisierung des Wirtschaftsgeschehens immer mehr externe Effekte namentlich aus der Finanzierung des Sozialstaates ergeben, durch die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gefährdet wird. Aus diesem Grund gehen Hillebrand und Weifens (1998, 403ff.) der Frage nach, ob und wenn ja, in welcher Form die Soziale Marktwirtschaft in der Zukunft weiter bestehen kann. Unstrittig ist dabei, daß die Globalisierung, die sich nicht nur in steigenden Güterim- und -exporten äußert, sondern auch in der Zunahme grenzüberschreitender Direktinvestitionen und in einer immer schnelleren und komplexeren internationalen Difïussion von technischem Wissen niederschlägt, die nationale Autonomie der Wirtschaftspolitik grundsätzlich beeinträchtigt. Insbesondere die Mobilität von Realkapital erzwingt Anpassungsvorgänge im sozialen Sektor und am Arbeitsmarkt, da der Einkommensvorsprung der Industriestaaten ansonsten in Gefahr gerät. Hillebrand und Weifens machen daraus folgend fünf Bereiche aus, in denen Handlungsbedarf besteht, freilich nicht nur in der Sozialen Marktwirtschaft. Zunächst wird auf mögliche Einkommens- und Beschäftigungsaspekte eingegangen. Die Argumentation zielt hier darauf ab, daß durch verstärkte Direktinvestitonen inländischer Unternehmer im Ausland sowohl Druck auf die Löhne als auch auf die Beschäftigung entstehen kann, wofür auch empirische Belege angeführt werden (Parisotto 1995). Die negativen Effekte der Globalisierung auf die heimische Wirtschaft dürften daher um so geringer ausfallen, je flexibler die Unternehmen auf den Strukturwandel reagieren können, je weniger also reguliert die Wirtschaft ist. Daraus leitet sich im internationalen Vergleich ein erheblicher Deregulierungsbedarf in der Bundesrepublik Deutschland ab. Dies gilt insbesondere auch für den Infrastrukturbereich, wo sich für den Staat ein Dilemma zwischen der grundsätzlich investitionsforderlichen subventionierten Bereitstellung von Infrastruktureinrichtungen und deren Finanzierung durch Steuern einstellt. Da eine Steuererhöhung die Nettorendite des investierten Kapitals verringert und sich damit schon aus Gründen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit verbietet, verbleibt nur die Hoffnung, über eine Privatisierung von Infrastrukturleistungen zu einer effizienteren und damit kostengünstigeren Bereitstellung dieser Güter gelangen zu können. Der Nationalstaat als Träger wirtschaftspolitischer Entscheidungen verliert folglich immer stärker an Bedeutung, was auch für Geld- und Fiskalpolitik gilt, wo Hillebrand und Weif ens (1998, 423) einer internationalen Koordination in der Fiskalpolitik zukünftig ein stärkeres Gewicht zuschreiben, eine Schlußfolgerung, die jedoch keinesfalls zwingend erscheint. Eindeutiger sind die Schlüsse, die aus den beiden letzten Problembereichen gezogen werden. So ist die Notwendigkeit von Umwelt- und Sozialpolitik in der Sozialen Marktwirtschaft
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unstrittig. Ebenso klar ist jedoch, daß staatliche Regulierungen in diesen Bereichen Kosten verursachen, durch die die Unternehmen eines Landes an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Hillebrcmd und Weifens weisen in diesem Zusammenhang zurecht darauf hin, daß dieses Argument statischen Überlegungen entspringt. Zumindest im Umweltbereich kann aber, eine innovationsfreundliche Umweltpolitik vorausgesetzt, durchaus auf die Findigkeit dynamischer Unternehmer vertraut werden, die dazu beitragen, Produkte und Produktionsprozesse an die ökologischen Erfordernisse anzupassen und durch den damit verbundenen Ressourcenverbrauch die Kosten zu senken, so daß insgesamt sogar günstiger produziert werden kann als ohne den umweltpolitischen Anstoß zur technologischen Fortentwicklung von Produktionskapazitäten. Weniger aussichtsreich erscheinen hingegen aufgrund der geringen Durchsetzungswahrscheinlichkeit und der schwierigen Kontrollen international einheitliche Umweltstandards. Gleiches wird grundsätzlich fur den Bereich der Sozialpolitik konstatiert. Hillebrand und Weifens (1998, 432) schlagen hier die Errichtung von Qualitätsklassen zur Messung der Sozialverträglichkeit von Produktionsprozessen vor. Diese Lösung hat den Vorteil, daß psychologische Externalitäten, die bei Konsumenten auftreten können, in deren Nutzenfunktion die sozialen Verhältnisse in den Herstellungsländern der gekauften Produkte enthalten sind, internalisiert werden können. Angesichts der Erfahrung, die hierzulande mit Öko-Labels (Grüner Punkt, Blauer Engel etc.) gemacht worden sind, ist es jedoch zumindest fraglich, ob solche Qualitätszeichen immer einen objektiv nachprüfbaren Sachverhalt anzeigen. Dies gilt selbst dann, wenn, wie vorgeschlagen, die Qualitätsstandards von einer international anerkannten Organisation wie der ILO vergeben werden und die Nachweispflicht beim Produzenten liegt. Zugleich aber würde durch ein solches Vorgehen der Einfluß internationaler Institutionen gestärkt, die nicht immer die Interessen der Nationalstaaten verfolgen, sondern sich überdies durchaus durch eigene bürokratische Interessen auszeichnen. 2. Europäische Integration Als ein Musterbeispiel hierfür kann die Europäische Union gelten, die im Zuge der europäischen Integration einen Kompetenzgewinn realisieren konnte. Da auch für die Zukunft - trotz des im Artikel 3b des Maastrichter Vertrages verankerten Subsidiaritätsprinzips - mit einer weiteren Verlagerung wirtschafts- und sozialpolitischer Entscheidungsbefugnisse auf die Organe der Union zu rechnen ist, stellt sich auch hier die Frage, „ob bzw. inwieweit die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland auch in Zukunft noch eigenständig konzeptionell entwickelt und durch entsprechende ordnungspolitische Weichenstellungen ausgebaut werden kann" (Kösters 1998, 443). Während nämlich die Vorteile der Marktintegration unter Ökonomen weitgehend unumstritten sind, herrschen recht unterschiedliche Auffassung über das wünschenswerte Maß an Politikintegration. Während etwa Vaubel (1993) dem bis jetzt erreichten Maß an Vereinheitlichung eher kritisch gegenübersteht, billigt etwa Sinn (1994) den Organen der EU weit mehr Kompetenzen zu. Kösters (1998, 445) merkt freilich zurecht an, daß bei der Kompetenzübertragung einzelner Politikbereiche auf die Gemeinschaft mehr allgemeinpolitische Überlegungen als ökonomische Effizienzgesichtspunkte ausschlaggebend waren. Die ökonomi-
298 · Peter Thuy sehe Erklärung hierfür liefert die Neue Politische Ökonomie, die Anreizsysteme aufdeckt, welche erklären können, warum Politiker entgegen ihrer allfalligen Neigung zur Erlangung von Kompetenzen diese abgeben (Kösters 1998, 451 f. unter Berufung auf Vaubel 1992). Wurden mit dem EWG-Vertrag von 1957 zunächst die Zuständigkeiten fur Agrarpolitik, Verkehrspolitik, Wettbewerbs- und Handelspolitik nach Brüssel verlagert, erstreckt sich die Kompetenz der EU durch die Einheitliche Europäische Akte und den Maastrichter Vertrag nun auch auf Forschungs-, Währungs- und Sozialpolitik, auf den Umweltschutz, sowie auf Visapolitik, Industriepolitik, transeuropäische Netze, Gesundheitsschutz, Bildung und Kultur, Entwicklungszusammenarbeit, Verbraucherschutz, Energie, Katastrophenschutz und Fremdenverkehr (Kösters 1998, 447). Kurzum, die EU reklamiert mittlerweile auf nahezu allen wirtschaftspolitischen Aktionsfelder Mitspracheoder gar Entscheidungsrechte, wobei angesichts der Vielzahl und der mangelnden Konkretheit derselben oft genug unklar ist, wie weit diese Rechte gehen. Als problematisch erweist sich eine weitreichende Kompetenzverlagerung vor allem deshalb, weil sich das Leitbild, daß der europäischen Integration zu Grunde liegt immer stärker von den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft unterscheidet. In der Frühphase der Gemeinschaft konnten wesentliche Elemente der Sozialen Marktwirtschaft, z.B. die „Freiheit auf dem Markte" auf die EWG übertragen werden. Die Wettbewerbswirtschaft diente, mit Ausnahme der Bereiche Landwirtschaft und Verkehr, als Referenzsystem. Mit der EEA und dem Maastrichter Vertrag und den dort fixierten, bereits beschriebenen Kompetenzausweitungen ging jedoch auch der Bezug zum Leitbild „Soziale Marktwirtschaft" zusehends verloren. Streit (1998, 191) geht dabei sogar so weit zu konstatieren, daß seit Maastricht der Schutz der Freiheit auf dem Markte nicht mehr zweifelsfrei gewährleistet ist und er fuhrt als besonderen Beleg hier die Industriepolitik an, die im vor allem in Deutschland stark umstrittenen Artikel 130 des EG-Vertrags die Möglichkeit eröffnet, interventionistisch und strukturgestaltend tätig zu werden. Auch dieses Problem könnte Kösters Vorschlag, der in der Aufstellung eines Kompetenzkatalogs besteht, lösen helfen, da dieser Transparenz bringt, Überschneidungen zu Tage fordert und aufzeigt, inwieweit die Regierungen der Mitgliedsstaaten der EU überhaupt noch über Gestaltungsspielraum in wirtschaftspolitischen Fragen verfugen. Dieser ist, bei Lichte besehen, aber noch größer als der lange Katalog von Zuständigkeiten andeuten mag. Dies liegt zum einen daran, daß der Großteil der genannten Bereiche nur ergänzend von den Organen der EU bearbeitet wird, zum anderen daran, daß diese schon angesichts ihrer Kapazität derzeit überhaupt nicht in der Lage sind, umfassende wirtschaftspolitische Regelungen fur die gesamte Union zu treffen und durchzusetzen. Dennoch kann nicht eindringlich genug darauf hingewiesen werden, daß es eine ständige Aufgabe der Regierungen der Nationalstaaten bleiben wird, die föderale Balance in der EU zu erhalten, um so einen hinreichend großen Spielraum für die nationale Wirtschaftspolitik zu sichern und auf diese Weise die Möglichkeit zur Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu sichern.
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3. Herausforderungen in einzelnen Politikfeldern Eine der zentralen Herausforderungen bei der Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft besteht in der Fortfuhrung der Politik der Privatisierung. Zwar ist in den letzten Jahren in nicht unerheblichem Umfang öffentliches Produktiwermögen privatisiert worden, jedoch besteht hier noch ein erhebliches Potential. Dies zum einen deshalb, weil die entsprechenden Aktivitäten vorwiegend das Vermögen des Bundes betroffen haben und sich überwiegend auf Beteiligungen, nicht aber auf Eigen- oder Regiebetriebe erstreckten. Zum anderen ist die Privatisierung oft genug in den Anfängen steckengeblieben. Oft wurde nur die Rechtsform gewechselt, wie bei Post oder Bahn, oder der Verkauf von Beteiligungen erfolgte an andere öffentliche oder öffentlich kontrollierte Unternehmen, um wie in Baden-Württemberg oder Bayern damit industrie- und strukturpolitische Ziele verfolgen zu können (Hartwig 1998, 668f). Eine weitreichende Privatisierung von Unternehmen und Aufgaben sowie die Einführung von Wettbewerb in diesen Bereichen kann nicht zuletzt dazu beitragen, mittelständische Strukturen hervorzubringen oder zu stabilisieren, die eine zentrale Rolle in der Sozialen Marktwirtschaft spielen. Hervorgehoben wird hier im Beitrag von Krüsselberg (1998, 605ff.) zunächst der gesellschaftliche Beitrag, den der Mittelstand zu leisten imstande ist, indem er Werte wie Freiheit und Selbstverantwortung verkörpert und somit eine Geisteshaltung repräsentiert, die für die Umsetzung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft unabdingbar ist. Überdies weist Krüsselberg (1998, 632) daraufhin, daß weder technische Gründe noch Verhaltensmuster oder gar Markterfolge darauf hinweisen, daß Großunternehmen wirtschaftspolitische Vorteile gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen aufwiesen, weswegen ein „Erosion des Kontinuums in der Unternehmensstruktur erhebliche Wohlfahrtsverluste zur Folge hat" (Krüsselberg 1983, 94). Deshalb müsse die Wirtschaftspolitik daraufhinwirken, auch die Existenz kleiner und mittlerer Unternehmen durch eine adäquate Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu sichern. Dies gilt nicht zuletzt für die Gestaltung des Ordnungsrahmens in der Kreditwirtschaft. Nicht zu Unrecht wird beklagt, kleine Unternehmen hätten im Vergleich zu Großunternehmen einen strukturellen Nachteil bei der Unternehmensfinanzierung. Dies liegt zum einen daran, daß kleinen und mittleren Unternehmen der unmittelbare Zugang zum Kapitalmarkt fehlt. Dies ist jedoch insofern für die Bundesrepublik Deutschland zu vernachlässigen, als die direkte Finanzierung über die Kapitalmärkte hier ohnehin eine untergeordnete Rolle spielt, weswegen für Deutschland zu Recht von einem bankendominierten System der Außenfinanzierung gesprochen wird ( Vollmer 1998, 582ff ). Dieses System dominiert auch die Unternehmenskontrolle, weil direkte Verfahren, etwa die unmittelbare Kontrolle durch die kapitalgewährenden Haushalte aufgrund der in der Bundesrepublik verbreiteten Aktionärsstruktur nicht zweckdienlich erscheinen und unfreundliche Übernahmen hierzulande eher die Ausnahme darstellen, oder, wie im Falle Krupp-Thyssen sogar durch die öffentliche Meinung nachhaltig behindert werden. In der deutschen Literatur wird die durch den weitreichenden Einfluß der Kreditinstitute auf andere Unternehmen begründete Macht der Banken oft beklagt, doch lassen sich laut Vollmer (1998, 591) durchaus Bedingungen nachweisen, unter denen ein bankendomi-
300 · Peter Thuy niertes Kontrollsystem dem kapitalmarktdominierten System angelsächsischer Prägung überlegen sein kann. Problematischer erscheint die Struktur im Kreditgewerbe allerdings bezüglich der Finanzierungsmöglichkeiten junger Unternehmen zu sein. Eine hohe Risikoaversion und institutionelle Hemmnisse und gesetzliche Restriktionen erschweren hier die Bereitstellung von Kapital im erforderlichen Ausmaß. „Konsequenz ist, daß gerade viele kleinere Geschäftsbanken mit detaillierten Kenntnissen über neue Unternehmensgründungen nicht imstande sind, jüngeren Unternehmen Eigenkapital zur Verfugung zuzuführen und kostengünstige interne Kontrollwege zu nutzen. Es gilt .solche ordnungspolitischen Defizite abzubauen, um künftig die Finanzierungsmöglichkeiten für junge Unternehmen zu verbessern" (Vollmer 1998, 602) und so Mittelstandsförderung zu betreiben. Nicht zuletzt ist es die Rolle des Mittelstandes als Arbeitgeber, der ihm eine herausragende Rolle in der Volkswirtschaft verleiht, ist doch mit 19,6 Millionen Arbeitnehmern der weitaus größte Teil der Erwerbstätigen in mittelständischen Unternehmen beschäftigt (Krüsselberg 1998, 617). Gerade hier aber werden immer wieder Rigiditäten am Arbeitsmarkt beklagt, die das Entstehen von Arbeitslosigkeit begünstigen. Den Unternehmen ist durch Lohninflexibilitäten und ein weitverzweigtes Regulierungsgeflecht, wie Berthold und Fehn (1998, 457ff.) konstatieren, eine Anpassung an die sich ändernden Gegebenheiten bei der Arbeitsnachfrage verwehrt. Gerade am Arbeitsmarkt wirkt sich aber die zunehmende Globalisierung besonders fatal aus, wenn die erforderlichen Anpassungskapazitäten fehlen. Dies liegt daran, daß mit der Liberalisierung des Handels mit Gütern und Dienstleistungen niedrig qualifizierte Arbeit in den Industrieländern immer weniger nachgefragt wird, weil dieser Faktor auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern reichlich vorhanden ist (Samuelson-Stolper-Theorem). Hinzu kommt, daß die Veränderungen des Unternehmensumfeldes, die durch die verbesserten Informationsund Kommunikationsmöglichkeiten, veränderte Kundenwünsche und ein neues Selbstverständnis der Arbeiter geprägt werden (Bickenbach und Soliwedel 1998, 491ff.) dazu gefuhrt haben, daß das tayloristische System unter Anpassungsdruck geraten ist und einem neuen Paradigma, das von Bickenbach und Soltwedel (1998, 499) als holistische Unternehmensorganisation bezeichnet wird, weichen mußte. Dieses zeichnet sich durch kürzere Produktlebenszyklen, größere Individualität und eine stärker personenzentrierte Arbeitsorganisation sowie eine daraus resultierende größere Anpassungsfähigkeit an Veränderungen der Nachfrage aus. Zugleich aber stellt dieser Wandel eine Herausforderung für die Arbeitsmarktverfassung dar, da auch aus diesem Grund massiv weniger qualifizierte Mitarbeiter entlassen werden (Bickenbach und Soltwedel 1998, 519). Sind die betroffenen Arbeitnehmer in den Industriestaaten, etwa wegen eines hohen Transferleistungsniveaus, nicht bereit, eine Verschlechterung ihrer relativen Einkommensposition hinzunehmen, kommt es zu Arbeitslosigkeit. Sinkt die reale Entlohnung für gering qualifizierte Kräfte hingegen, wie in den USA, so steigt die Nachfrage nach deren Arbeitsleistung (Lindbeck 1996, 11). In der Bundesrepublik Deutschland ist hingegen festzustellen, daß es statt dessen zu einer Verfestigung der Arbeitslosigkeit kommt. „Der Schlüssel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Europa liegt somit ohne Zweifel darin, die institutionellen Rahmenbedingungen so umzugestalten, daß den Marktkräften auf
Anspruch und Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft • 301 dem Arbeitsmarkt wieder mehr Gewicht zukommt" (Berthold und Fehn 1998, 467). Hierbei steht die Indienstnahme der Tarifparteien zur Erreichung der Vollbeschäftigung an erster Stelle (Geue und Weber 1998, 316f ). Bickenbach und Soltwedel fuhren hier vor allem an das Instrument des Flächentarifvertrags an, das zur Disposition steht oder an die Schaffung von Differenzierungsmöglichkeiten für die einzelnen Unternehmen. Alternativ kann daran gedacht werden, den Regelungsumfang in Tarifverträgen zu reduzieren (Bickenbach und Soltwedel 1998, 526) und die Tarifverträge wieder zu dem zu machen, was sie eigentlich sein sollten: Verträge, die Mindestbedingungen festschreiben. Darüber hinaus gilt es, neben einer Stärkung der Standortattraktivität durch eine geringere Steuer- und Abgabenlast, alle Regelungen zu beseitigen, die Insider in die Lage versetzen, die arbeitslosen Outsider auf Dauer daran zu hindern, in Konkurrenz zu den Beschäftigten zu treten, die also Bestandsschutz bieten (Thuy 1995). Dieses Ansinnen trifft freilich auf polit-ökonomische Schwierigkeiten, weil die Arbeitslosen eine Minderheit darstellen, die in aller Regel nicht als wahlentscheidende Gruppe angesehen werden. Hoffnung darauf, daß die notwendigen Reformen gleichwohl in Angriff genommen werden können, machen zum einen die Beispiele der Reformen in Schweden, Großbritannien oder - am deutlichsten - in Neuseeland (Knorr 1997b). Zum anderen sind es der Druck, der durch die Finanzierungsschwierigkeiten der sozialen Sicherungssysteme, und die Hoffnung auf exogene Schocks, die eine Reform der Verhältnisse am Arbeitsmarkt begünstigen können, die für weitreichende Veränderungen der Arbeitsmarktordnung sorgen könnten. So erscheint es durchaus denkbar, daß die Europäische Währungsunion (EWU) die institutionellen Rahmenbedingungen soweit verändert, daß sich die Arbeitsmarktparteien und der Staat einer beschäftigungsförderlicheren Verhaltensweise befleißigen müssen. Zum einen ist damit zu rechnen, daß als Folge der Währungsunion der intra- wie der interindustrielle Handel zwischen den EWU-Staaten zunehmen wird, was in den nördlichen Kernländern der Union, also auch in der Bundesrepublik zu einer beschleunigten Abnahme der Nachfrage nach gering qualifizierter Arbeit führen dürfte. „Versuche, sich gegen eine solche Entwicklung zu wehren und überkommene nicht mehr wettbewerbsfähige Strukturen zu konservieren, scheitern noch schneller" (Berthold und Fehn 1998, 471). Zum anderen schaltet die EWU den Wechselkurs als Instrument der Beschäftigungspolitik aus, weil die an der Währungsunion beteiligten Staaten Fehlentwicklungen auf dem Felde der Lohnpolitik nicht mehr durch Abwertungen kompensieren können. Darüber hinaus werden die institutionellen Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt der einzelnen Mitgliedsländer auf den Prüfstand gestellt und so über den Systemwettbewerb ineffiziente Arrangements aussortiert. Dies wird allerdings nur dann passieren, wenn es den Tarifparteien nicht gelingt, den Standortwettbewerb durch eine expansive Fiskalund Sozialpolitik auszuhebeln, was neue Externalisierungsmöglichkeiten für die Lohnpolitik in der EWU schaffen würde (Berthold und Fehn 1998, 486) und die für die Bundesrepublik aufgezeigten Mißstände auf Europa zu übertragen. In diesem Fall besteht dann allerdings die nicht zu vernachlässigende Gefahr, „daß eine gemeinsame Währung das Problem der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit verschärft" (Berthold und Fehn 1998, 486f.). Die Aufgabe der Ordnungspolitiker besteht mithin darin, diese fiskalische Alimentierung arbeitsmarktpolitisch falscher Grundentscheidungen zu verhindern
302 · Peter Thuy und jenes Maß an Lohnflexibilität zu erreichen, das erforderlich ist, um die Arbeitsnachfrage zu stabilisieren. Ziel muß es sein, in der Rahmenordnung des Arbeitsmarktes die marktwirtschaftlichen Elemente (Vertragsfreiheit, Wettbewerb) zu stärken {Bickenbach und Soltwedel 1998, 531), Außenseiterkonkurrenz zuzulassen und auf diese Weise den Beschäftigungsstand wieder deutlich zu erhöhen. Damit würde auch eine Entlastung der sozialen Systeme erreicht, die vor dem Hintergrund wachsender Arbeitslosigkeit in immer größere Finanzierungsnöte gekommen sind. Diese fordern freilich einen Problemkreis nur stärker zu Tage, der von Oberender und Okruch (1998, 535ff.) behandelt wird, die Krise der sozialen Systeme. Wie bereits oben festgestellt wurde, sind diese zu einer gigantischen Manövriermasse „für die Umverteilung von Einkommen zwischen unterschiedlichen Haushaltsgrößen, unterschiedlichen Krankheitsrisiken und verschiedenen Einkommensklassen" (Oberender und Okruch 1998, 537) geworden, ohne das konzeptionell klar wäre, welche Maßnahme wofür oder wogegen eingesetzt wird. Treffsicher machen Oberender und Okruch die Vernachlässigung des Subsidiaritätsprinzips und eine daraus abzuleitende Meritorisierung von allgemeinen Lebensrisiken als Ursache für die Ausgaben- und Aufgabenexplosion im sozialen Bereich verantwortlich (auch Paraskewopoulos 1998, 231). Folgerichtig ist ihre Empfehlung einfach. „Die Wiederherstellung der individuellen Freiheit, der Eigenverantwortung und -initiative würde das Problem kollektiver Selbstschädigung minimieren, da der einzelne wieder stärker für die Folgen seines Handelns Verantwortung trägt und Haftung übernehmen muß" (Oberender und Okruch 1998, 543). Insoweit wird nicht mehr und nicht weniger empfohlen als eine Rückbesinnung auf die Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, die eine ebensolche Politik nahelegen. Für die Reform der Sozialversicherungssysteme kann dies nur heißen, daß sich die Zwangsversicherung auf einen Bereich zu beschränken hat, der mit dem Begriff Grundsicherung umfassend beschrieben ist. Im Verein mit Anreizsystemen, die den Mißbrauch von Sozialversicherungsleistungen verhindern - für den Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung wird hier an Selbstbeteiligung und Selbstbehalt gedacht - fuhrt eine solche Reform an Haupt und Gliedern zu zwei durchaus erwünschten Konsequenzen: Zum einen werden dem einzelnen nur diejenigen Risiken abgenommen, die er selbst nicht zu tragen in der Lage ist. Zum anderen bleiben die Sicherungssysteme so finanzierbar und bilden eine verläßliche Größe in den Dispositionen der Individuen, ein Vorzug, der etwa dem derzeitigen Rentensystem trotz gebetsmühlenartig wiederholter anderslautender Beteuerungen nicht attestiert werden kann.
V. Umsetzungsprobleme Ob die Soziale Marktwirtschaft diesen Herausforderungen standhalten wird, hängt nicht zuletzt von der Fähigkeit der politischen Klasse ab, notwendige Reformen zu erarbeiten und politisch durchzusetzen. Diesem Problemkreis ist der letzte Abschnitt des Sammelbandes 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft gewidmet. Dabei geht es, wie Tietzel eingangs seines Beitrags (1998, S. 681ff.) zusammenfassend konstatiert, darum, den Leistungswettbewerb auf den Märkten für private Güter durch staatliches Handeln zu
Anspruch und Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft · 303 sichern, da der Markt bei der Bereitstellung der Ordnung versagt. Denn die Individuen entwickeln einerseits ein Interesse „am Bestand einer auf Leistung abstellenden Ordnung (für die anderen) und andererseits sind sie darauf aus, (für sich) die Möglichkeit ordnungswidrigen Verhaltens zu schaffen und offen zu halten" (Kirsch 1981, 260). Aufgabe der politischen Ordnung ist es daher, solche Ausweichreaktionen zu verhindern und den Leistungswettbewerb sicherzustellen. Dabei stellt nur die Einstimmigkeitsregel sicher, daß Entscheidungen die Position aller Betroffenen verbessern, alle anderen Verfahren bringen Minderheiten hervor, die externe Kosten dadurch zu tragen haben, daß sich ihre Nutzenposition gegenüber dem status quo ante verschlechtert (Buchanan und Tullock 1962, 47f.). Da die Herbeiführung einstimmiger Entscheidungen jedoch mit erheblichen Transaktionskosten verbunden ist, gilt es eine Abstimmungsregel zu finden, „bei dem sich die marginalen Entscheidungskostenersparnisse und die marginalen externen Kosten aus der Sicht der einzelnen Gruppenmitglieder ausgleichen" (Tietzel 1998, 685). Zur Minimierung der in diesem Zusammenhang stets auftretenden Principal-Agent-Konflikte empfiehlt Tietzel den Wettbewerb, bei dem die Politiker als Agenten um die Zustimmung der Wähler (Prinzipale) konkurrieren. Auch dieser ist jedoch, wie das Beispiel des sogenannten Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 eindringlich vor Augen gefuhrt hat, kein selbsttragender Prozeß. Genau wie der Leistungswettbewerb muß er durch Regeln erzwungen werden, was daran liegt, daß politische Unternehmer sich genauso verhalten wie wirtschaftliche Unternehmer, also ihren eigenen Nutzen maximierend und sich bietende diskretionäre Handlungsspielräume zu ihren Gunsten ausnutzend. Hierzu bietet die parlamentarische Demokratie, wie sie im Grundgesetz verankert ist, hinreichend Gelegenheit. Zwar geht, wie Tietzel (1998, 689) eindrucksvoll vor Augen fuhrt, die Staatsgewalt vom Volke aus, „bestimmt aber zugleich, daß die Politiker ... allein bestimmen, worin die ihnen übertragene Gewalt besteht und welchen Umfang sie hat." Zudem sind die politischen Agenten nur im Vier-Jahres-Rhythmus den Sanktionen ihrer Prinzipale ausgesetzt und in den etablierten Parteien durch Sperrklauseln und finanzielle Bevorzugung über Wahlkampfkostenerstattungen vor Außenseiterkonkurrenz geschützt (Tietzel 1998, 691ff). Somit kann es kaum verwundern, daß die oben beschriebenen mannigfachen Abweichungen vom ordnungspolitischen Leitbild zu Gunsten einzelner oder ganzer Gruppen im Laufe von fünfzig Jahren Sozialer Marktwirtschaft Realität werden konnten. Dies um so weniger, als sich die moderne Demokratie in immer stärkerer Form als Mediendemokratie präsentiert, in der die Präsentation politischer Inhalte vor allem im Fernsehen beinahe wichtiger wird als diese Inhalte selbst, weswegen die politischen Parteien dieses Medium häufig nutzen, um ihre Vorstellungen dem Wähler nahe zu bringen (Jarren und Bode 1996, 69). Medien werden also als Legitimations- und Kommunikationskanal gebraucht. „In diesem Sinne ist der Zugang zu den Medien insbesondere für jene Interessengruppen notwendig, die die Rückendeckung durch eine breite Öffentlichkeit benötigen, um ihre Positionen erfolgreich durchzusetzen" (Wentzel 1998, 715f). Zurecht weist Wentzel in diesem Zusammenhang darauf hin, daß gerade die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten hier durch die im Parteienproporz vorgenommene Besetzung der Rundfunk- und Fernsehräte eine „Spielwiese für Partikularinteressen und politischen Parteienproporz" vorfinden (1998, 716). In diesem Zusammenhang wird auf Kato-
304 · Peter Thuy na (1960) verwiesen, der die These vertrat, jede wirtschaftspolitische Maßnahme bedürfe der Erläuterung, weswegen den Massenmedien eine zentrale Rolle in einem als Informationsgesellschaft ausgestalteten, demokratischen Gemeinwesen zukommt. Jedoch sind es, was vordergründig erwartet werden könnte, nicht die tatsächlichen ökonomischen Zusammenhänge, deren Vermittlung zu Wahlentscheidungen der Bürger - und damit zu rationaler Wirtschaftspolitik fuhren. Vielmehr kommt es auf die subjektive Wahrnehmung der (wirtschafts-) politischen Entwicklung, manchmal auch nur auf die Einschätzung der wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger an, wie Wentzel unter Bezugnahme auf das Geldwertparadoxon von Schmölders und den Bundestagswahlkampf 1994 belegt. Diese Entwicklung verwundert freilich wenig, wenn man bedenkt, daß mit zunehmender Informationsvielfalt - Wentzel benennt in diesem Zusammenhang die Entwicklung des Internet als Beispiel - Informationseliten entstehen, die sich durch indiviuelle Selektionskompetenz auszeichnen. Sie vermögen unter Umständen sehr wohl das größere Informationsangebot dazu zu nutzen, schlechte wirtschaftspolitische Leitbilder zu identifizieren und eine entsprechend rationale Wahlentscheidung zu treffen, ob diese Erkenntnisse jedoch dem breiten Publikum, also der Masse der Prinzipale, über die Massenmedien vermittelt werden können, wird zurecht als offene Frage charakterisiert (Wentzel 1998, 731), zumal Informationspräsentation und die politische Grundeinstellung des Medienkonsumenten auch dessen Wahrnehmung nachhaltig beeinflussen.4 Eine Intensivierung des politischen Wettbewerbs, wie Tietzel ihn fordert (1998, 690ff), kann von einem verstärkten Medieneinsatz also allenfalls ansatzweise erwartet werden, zumal die Präsentation in den Medien sich auf die Darstellung politischer Kernanliegen, die sich überdies durch ein Mindestmaß an Popularität auszeichnen müssen, beschränkt bleibt. „Wichtigstes und wirksamstes Instrument einer Intensivierung und Verstetigung des Wettbewerbs um die Regierung könnten ... Ergänzungen der repräsentativen Demokratie durch plebiszitäre Elemente sein, die es in der Bundesrepublik Deutschland, wenn auch nicht sehr stark ausgeprägt, nur auf den Ebenen der Länder und der Kommunen gibt" (Tietzel 1998, 693). Diese tragen dafür Sorge, daß der Wähler nicht mehr in dem Maße wie bisher ganze Politikbündel mit seiner Stimme akzeptieren muß, sondern über einzelne Bestandteile der politischen Konzeption gesondert und damit unabhängig von einer langfristigen Grundeinstellung entscheiden kann. Auf diese Weise würde der Stimmentausch im Parlament unterbunden und die jeweilige Regierung sähe sich gezwungen, Partikularinteressen in wesentlich geringerem Umfang zu begünstigen als dies im System der repräsentativen Demokratie praktiziert wird. Alternativ ist eine Reihe von Maßnahmen denkbar, die mäßigend auf Regierungen wirken können. Hierzu zählen zum einen Beschränkungen von Aufgaben, Ausgaben und deren Finanzierung ( Tietzel 1998, 700f.), doch zeigt sich hier die Bestimmung der zulässigen EingrifFsbereiche als ausgesprochen schwierig. Einerseits rufen konkrete Regelungen zwangsläufig Ausweichreaktionen hervor, andererseits wird die Fähigkeit des Gemeinwesens, auf un4 Angesichts der vorausgehenden Analyse etwas überraschend kommt Wentzel daher in seinem Schlußabschnitt zu der Erkenntnis, die Informationsgesellschaft sortiere erfolgreiche und weniger erfolgreiche Wirtschaftspolitik und führe schon deshalb zu einer Intensivierung des Systemwettbewerbs.
Anspruch und Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft • 305 vorhergesehene Entwicklungen wirkungsvoll zu reagieren, auf diese Weise beschnitten. Daher ist zu überlegen, ob die daraus resultierende Notwendigkeit, für solche ebenso unvorhersehbaren wie unabweisbaren Aufgaben Beschränkungen (zeitlich befristet) aufzuheben, tatsächlich dazu fuhrt, daß der Öffentlichkeit dieses Transfers in Einzelheiten deutlich gemacht werden müssen (Tietzel 1998, 701). Angesichts der Erfahrungen, die bis jetzt mit der Erklärungsbedürftigkeit wirtschaftspolitischer Entscheidungen gemacht werden konnten, darf dies zumindest bezweifelt werden. Zum anderen wird die Kompetenzverteilung auf verschiedene, voneinander unabhängige Träger vorgeschlagen. In diesem Zusammenhang ist nicht nur an das durch Hayek vorgeschlagene Zwei-KammerSystem zu denken, daß eine Gewalten- und Funktionsteilung zwischen einer Regierungsund einer Gesetzgebungsversammlung sicherstellen soll (Hayek 1969, 117), sondern auch an Vorschläge zur vertikalen Gewaltenteilung wie die Einrichtung autonomer, kompetenter Fachinstitutionen , die ihrerseits durch demokratische Wahlverfahren legitimiert werden könnten (Kruse 1995). Diese isolierten Wahlverfahren haben, so wird argumentiert, die gleiche Wirkung wie Plebiszite, indem sie die Möglichkeit zur Abstimmung über politische Grundtendenzen in Einzelfragen ermöglichen. Im Gegensatz zu jenen bringen sie jedoch einen erhöhten Koordinationsbedarf zwischen den Einzelgremien hervor, der ihren Nutzen schmälert, so daß vertikale wie horizontale Beschränkungen der parlamentarischen Kompetenzen gegenüber der Möglichkeit zum Plebiszit Secondbest-Lösungen darstellen. Eine vollkommen andere Richtung zur Bewältigung wirtschaftspolitischer Probleme schlagen die Vorschläge ein, die Engelhard, Geue und Fehl (1998, 741ff.) behandeln. Sie nehmen korporatistische Lösungen, wie sie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland immer dann gefordert worden sind, wenn nicht mehr erwartet worden ist, daß ernsthafte makroökonomische Krisen mit dem bisherigen wirtschaftspolitischen Instrumentarium im gegebenen institutionellen Rahmen in den Griff zu bekommen wären, genauer unter die Lupe. Die Vorteile korporatistischer Lösungen sind dabei offensichtlich. Dadurch, daß alle beteiligten Interessengruppen in den Prozeß der Entscheidungsfindung einbezogen werden, soll die Durchsetzung von Partikularinteressen auf Kosten der Allgemeinheit verhindert werden, indem über eine verbesserte Informationsdiffussion eine moralische Bindung des Handelns an das Gemeinwohl versucht wird (Engelhardt, Geue und Fehl 1998, 749). Mit Hinblick auf den „Erfolg" und den Bestand solcher institutioneller Arrangements wird freilich zurecht auf die Probleme hingewiesen, die das gewünschte Koordinationsergebnis verhindern (Engelhardt, Geue und Fehl 1998, 750ff). Neben dem bei marktfremden Eingriffen stets zu Tage tretenden Wissensproblem ergibt sich ein Machtdurchsetzungsproblem, das darin besteht, daß die Vertreter gesellschaftlicher Gruppen, die an Konzertierten Aktionen oder Runden Tischen beteiligt sind, in der Regel nicht der Lage sind, die getroffenen Beschlüsse fur ihre Mitglieder verbindlich zu machen.5 Insofern laden korporatistische Lösungen aufgrund des Dissenses zwi5 Hoppmann (1981, 276f.) weist in diesem Zusammenhang völlig zurecht darauf hin, daß ein effektives Funktionieren der Konzertierten Aktion nur durch eine weitreichende Einschränkung der durch das Grundgesetz garantierten Freiheitsrechte der Wirtschaftssubjekte bewerkstelligt werden könnte.
306 · Peter Thuy sehen mikroökonomischen Partikularinteressen und makroökonomischen Erfordernissen zu opportunistischem Verhalten geradezu ein. Überdies besteht die Gefahr der Entstehung spontaner Verteilungskoalitionen zu Lasten Dritter, wie sie am Arbeitsmarkt zu beobachten sind, wo Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände solche Verträge zu Lasten der Arbeitslosen und der Arbeitslosenversicherung schließen und wo Vereinbarungen, die dies verhindern, naturgemäß an den egoistischen Interessen der Korporationsinsider scheitern. Diesem Argument könnte entgegen gehalten werden, Akteure mit altruistischer Motivationsstruktur sähen sich dieser Gefahr nicht ausgesetzt, so daß es letztlich eine Frage der persönlichen Motivation sei, zu welchen Ergebnissen korporatistische Strukturen führten. Dabei wird freilich das Framing-Problem übersehen. „Für Verhandlungsprozesse innerhalb von Kooperativgremien bedeutet dies, daß diese immer, auch bei noch so idealistischen Absichten der Teilnehmer, eine subjektive Verzerrung nach Maßgabe deren individueller Interessen und Sozialisation aufweisen. Denn diese subjektiven Faktoren bestimmen schon die Problemwahrnehmung ..., so daß die Verhandlungsergebnisse in der Regel nicht das 'objektive' Allgemeininteresse reflektieren. Kooperative Konsenslösungen sind also ubiquitär interessengebunden" (Engelhardt, Geue und Fehl 1998, 755f.). Im Prinzip wirken korporatistische Lösungen also kontraproduktiv, weil sich Interessengegensätze nicht überbrücken lassen und die Einbeziehung von Interessenverbänden in Entscheidungsprozesse die notwendig gewordenen Reformen tendenziell eher verzögert. Auch aus diesem Grund ist die Schaffung eines Ordnungsrahmens, der geeignet ist, die Anreizstrukturen der Wirtschaftssubjekte in der gewünschten Weise zu verändern, korporatistischen Arrangements nachhaltig überlegen. Die theoretische Grundlage für eine solche ordnungskonforme Ausgestaltung der wirtschaftspolitischen Entscheidungen kann unter anderem von wissenschaftlichen Politikberatern bereitgestellt werden, mit deren Rolle sich der Beitrag von Apolle und Wilke (1998, 769fF.) auseinandersetzt. Trotz einer Fülle institutionalisierter Beratungsgremien, wie sie die wissenschaftliche Beiräte der Ministerien, die Sachverständigenräte, die in der Arbeitsgemeinschaft der deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute zusammengefaßten Institute und auch die Monopolkommission darstellen, beklagen Wirtschaftswissenschaftler ihren geringen Einfluß auf die Politik. Apolle und Wil/ce liefern dafür freilich eine plausible Erklärung, die sich auf das Erkenntnisgebäude der Public-Choice-Theorie stützt. Danach ist es für Politiker derzeit durchaus rational, den selten populären Ratschlägen der wissenschaftlichen Berater nachzugeben, weil dadurch die Chancen einer Wiederwahl, die das zentrale Anliegen des rational handelnden politischen Unternehmers ist, nicht eben erhöht werden. Statt dessen ist es für die Politik angezeigt, den gesamtwirtschaftlich oft genug kontraproduktiven Anliegen von Interessengruppen nachzugeben, da diese ihre Ziele nicht nur den Politikern antragen, sondern auch in der Öffentlichkeit dafür werben. „Sie leiten verzerrte und selektierte Informationen sowie moralische Appelle an die Wählerschaft mit dem Ziel, diese in ihrer Wahl zu beeinflussen. Gleichzeitig aber bieten sie den Politikern Informationen darüber an, welche Politik von den Wählern voraussichtlich honoriert wird und welche nicht" (Apolte und Wilke 1998, 780). Die wissenschaftlichen Politikberater hingegen geben Informationen über gesamtwirtschaftlich wünschenswerte Entscheidungen ohne Rücksicht auf deren
Anspruch und Wirklichkeit der Sozialen Marktwirtschaft · 307 Akzeptanz beim Wähler, so daß sie sich von Haus aus in einer gegenüber den Lobbyisten schlechteren Position befinden, was die Durchsetzbarkeit ihrer Anregungen betrifft. Aus diesem Grund entwerfen Apolte und Wilke (1998, 781ff.) eine alternative Strategie der Politikberatung. Diese empfiehlt den wissenschaftlichen Politikberatern letztlich ein Vorgehen, das dem der Interessengruppen ähnlich ist. Statt nämlich nur in Beiräten und Instituten wissenschaftlich zwar fundierte, von der breiten Öffentlichkeit jedoch kaum zu verstehende Positionspapiere anzufertigen, sollten die Politikberater mit ihren Anliegen verstärkt an die Öffentlichkeit treten, um über eine verstärkte Medienpräsenz sukzessive auch die Informationsgrundlage der Bevölkerung zu verbessern. Da hierzu freilich derzeit keine Anreize existieren, weil die Reputation eines Wissenschaftlers im wesentlichen von der Beurteilung durch einen geschlossenen Kreis von Kollegen abhängig ist, empfehlen die Autoren die Auslobung öffentlicher Mittel in Abhängigkeit von der Medienpräsenz einzelner Fakultäten oder Institute auch in weniger anspruchsvollen, dafür aber weiter verbreiteten Publikationen. „Solche Aktivitäten sollten selbstverständlich nicht an die Stelle der üblichen wissenschaftlichen Arbeit treten, sondern sie sollten diese mit dem Ziel ergänzen, mit fundierten wirtschaftspolitischen Empfehlungen die Öffentlichkeit auch zu erreichen" {Apolte und Wilke 1998, 784). Letztendlich ist das genau der Weg, den Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack, ebenso wie später Karl Schiller, erfolgreich beschritten haben, die aus der „Isolation" der wissenschaftlichen Fachdiskussion in die „Niederungen" praktischer Tagespolitik und Öffentlichkeitsarbeit hinabgestiegen sind. Gelingt es auch künftig wieder, vermehrt die Anliegen der Wirtschaftswissenschaft in die tagespolitische Diskussion einzubringen, dann werden auch die wissenschaftlichen Politikberater wieder stärker die Aufgabe übernehmen können, die ihnen zukommt, indem ihnen „die Funktion eines Einflußträgers auf Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger unter vielen anderen" {Apolle und Wilke 1998, 786) eingeräumt wird.
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312 · Peter Thuy Zusammenfassung Die ordnungspolitische Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft hat in den fünfzig Jahren ihres Bestehens nicht nur breite Akzeptanz in der Bevölkerung gefunden, sondern auch maßgeblichen Einfluß auf die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt. Nicht zuletzt ihr wird das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder zugeschrieben. Der Beitrag hat jedoch gezeigt, daß in vielen Teilbereichen der Wirtschaftspolitik die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft vernachlässigt worden sind. Der Staatseinfluß ist deshalb heute größer als er sein dürfte, würde das ordnungspolitische Leitbild konsequent verfolgt. Diese Abweichungen, die im wesentlichen auf die Verfolgung von Eigeninteressen durch die Politiker verursacht worden sind, haben zu einer Reihe von Mißständen geführt, deren gravierendstes Beispiele die Arbeitslosigkeit und die Krise der sozialen Systeme darstellen. Während von der zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaft eher disziplinierte Effekte erwartet werden können, scheint die europäische Integration die Abweichung der Wirtschaftspolitik von der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft eher zu begünstigen. Soll diese aber weiterhin die Richtlinien der Wirtschaftspolitik bestimmen, wird es einer Reihe institutioneller Reformen bedürfen, um die Partikularinteressen einzelner Gruppen gegenüber dem Interesse der Allgemeinheit wieder hintanzustellen. Nicht zuletzt diese Notwendigkeit macht der Sammelband „50 Jahre Soziale Marktwirtschaft" eindrucksvoll deutlich. Summary 50 Years Social Market Economy: Pretension and Reality of an Economic Order The conception of the Social Market Economy did not only find broad acceptance in the German population during the fifty years of ist existence, but also had great influence on the economic policy of the country. Not at least the Wirtschaftswunder („German miracle") is charged to it. However, this article has shown that the principles of the Social Market Economy were neglected in wide parts of economy policy. Therefore, the influence of the public influence in the economy is stronger than it should be. These deviations, that essentially were caused by the pursuits of politicians' self-interests caused a number of calamities, such as unemployment and the crisis of the Social System. While disciplining effects can rather be expected by globalization, European integration seems to favor the deviation of economic policy from the conception of the Social Market Economy. But if this economic order is to determine the guidelines of economic policy in the future, a number of institutional reforms is required in order to put particular interests of pressure groups last public welfare. This necessity is not at least impressively made clear by the anthology 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft edited by Dieter Cassel.
ORDO · Jahrbuch ftlr die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Gerd Habermann
Unternehmer und Ordnungspolitik
I. Unternehmer sind keine Ordnungstheoretiker Unter den bekannteren Ordnungstheoretikern in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften befindet sich - von Bankiers wie Ricardo abgesehen - kaum ein Unternehmer. Wo Unternehmer ordnungspolitisch theoretisieren wie etwa Friedrich Engels, Robert Owen oder Walter Rathenau ist das Ergebnis eher ein zwiespältiges, wo nicht feindseliges Verhältnis zu jener Ordnung, deren Zentralfigur sie darstellen. Ein Unternehmen gehört zum Typ „Taxis". Ein Verständnis für den Typ „Kosmos" - nach der Nomenklatur von Hayeks - ist damit noch nicht unbedingt gewonnen. Mit Aristoteles zu sprechen, lebt der Unternehmer den Lebenstyp des „Ehrgeizes", nicht den des „Genusses" und nicht den der „Erkenntnis", den dieser Philosoph ressortpatriotisch für den höchststehenden erklärt (Aristoteles 1978, I, 3). Es fehlt dem Unternehmer unter dem Druck der Geschäfte die Distanz zum eigenen Tun, selbst die Zeit zur Reflexion - außer in Hinsicht auf das, was unmittelbar geschäftlich ansteht. Es kommt unter diesen Voraussetzungen meist nur zu einer „Ökonomie des Augenscheins". Hinzu kommt die Erfahrungstatsache, daß gerade die Dinge, die uns sachlich am nächsten stehen, für die Erkenntnis die letzten sind. Dafür gibt auch die Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorie selber einen Beweis: Wie lange brauchte sie, um die Wirkungsweise einer spontanen Ordnung zu erfassen: bis zu den Physiokraten und den Schotten! Noch später wurde die subjektive Wertlehre entwickelt, die heute so selbstverständlich scheint (die „Österreicher"). Der Unternehmer ist eben „der Mann, der den Augenblick ergreift", sich den Verhältnissen anpaßt, allenfalls einzelne Übergriffe der Gewerkschaften oder Maßnahmen der Gesetzgebung oder Steuervorlagen abwehrt. „Den grundsätzlichen Kampf für die Beibehaltung der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Wirtschaftsverfassung zu führen, liegt ihm fern" (Mises 1981, 468) - und dies gilt genauso für die grundsätzliche Reflexion über die wirtschaftliche Ordnung im Ganzen. Wo der Unternehmer auch Schriftsteller wird, produziert er biographische oder unternehmensbezogene Literatur, meistens die Beschreibung seines unternehmerischen Werkes und Erfolgskonzeptes - von Henry Ford und Werner von Siemens bis hin zu Lee Iacocca oder Edzard Reuter. So wie sein „Bruder", der gleichfalls organisierende Staatsmann, auch kein Theoretiker der Staatswissenschaften ist, sondern als Empiriker „nur" manchmal gewiß glänzende Geschichtswerke, häufig durchsetzt mit allgemeinen politischen Erfolgsmaximen, verfaßt. Die Autobiographien Bismarcks oder Churchills, Margaret Thatchers oder Charles de Gaulies geben hierfür eindrucksvolle Beispiele.
314 • Gerd Habermann
II. Die Ordnungstheorie ignorierte den Unternehmer lange Auch die ökonomische Ordnungstheorie hat den Unternehmer erst spät entdeckt sehen wir einmal von den überraschend modernen Ansätzen der katholischen Wirtschaftsethik des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, von Antonin von Florenz bis zu Louis de Molina, ab (Wilhelm Weber 1959; Rothbard 1995). „Der Unternehmer wurde von der katholischen Wirtschaftsethik des 13. Jahrhunderts entdeckt" (Messner, 1968, S. 4). Es überrascht, daß selbst bei Adam Smith der Unternehmer keine adäquate Analyse findet - er ist einerseits nur der „Projektemacher" („projector",. Schmölders, 1978), andererseits ein Mann mit der verdächtigen Neigung, auf Kosten Dritter, der Konsumenten, Kartelle zu schmieden. Nur der Staatsmann kommt bei Adam Smith noch schlechter weg (Smith , 1978, 213, 382). Götz Briefs erklärt diesen „Fehlstart" der klassischen Ökonomie mit den Worten: „Die Wirtschaftswissenschaft hat von ihren Anfängen an nicht recht gewußt, was sie mit dem Unternehmer anfangen sollte. Dafür lagen zwei Gründe vor. in den Anfängen der industriellen Entwicklung stand das Problem der Kapitalbildung im Vordergrund; sie war die Achse, um die sich das Denken der klassischen Wirtschaftslehre drehte und so verschwand der Unternehmer hinter dem Kapital. Daneben ein anderer Grund: er lag in der Konzeption der Wirtschaft aus einer Seinssphäre, die von ihren eigenen Gesetzen beherrscht wird; wenn die Wirtschaft sich aber nach Gesetzen vollzieht, dann ist der Faktor der freien Entscheidung und Handlung im System nicht unterzubringen; er verschwindet vor der Zwangsläufigkeit des Wirtschaftsprozesses, (zitiert nach Weber 1973, 27). In diesem Sinne tritt er auch noch bei Karl Marx vor allem als „Kapitalist" in Erscheinung, als ein Mann, der nicht arbeitet, sondern als Eigentümer von angeblich arbeitslosem Einkommen, den Zinsen seines Kapitals, lebt (vgl. sein „Kommunistisches Manifest" von 1848). Mit dieser Ansicht hängt die skurrile Vorstellung vom Unternehmer als „Coupon-Schneider" zusammen. Darüber hinaus tritt er höchstens noch als „Arbeitgeber" in Erscheinung. Mit der konkreten Figur des „arbeitenden", organisierenden, führenden, spekulierenden Unternehmers haben sich ausfuhrlich eigentlich erst Werner Sombart ( 1988), Max Weber ( 1958/ 1963) und Joseph Schumpeter ( 1971) beschäftigt. Die Ergebnisse ihrer Arbeit fanden nur selten in den gängigen volkswirtschaftlichen Lehrbüchern Eingang. Konsultiert man etwa ein vielbenutztes Lehrbuch wie das von Artur Woll (1990), so findet sich der Unternehmer nicht einmal als Stichwort im Register aufgenommen, im Unterschied noch zu dem älteren, vielbenutzten Lehrbuch von Adolf Weber, 1958. Auch in einem mikroökonomischen Handbuch (Fehl und Oberender 1989) sucht man vergeblich nach einer breiteren Analyse der Unternehmerrolle. Noch erstaunlicher ist, daß selbst moderne betriebswirtschaftliche Handbücher wie das von Günter Wöhe (1990 - im Unterschied zu dem älteren von Mellerowicz 1968) hiervon keine Ausnahme macht. Diese mit wenigen Ausnahmen nur beiläufige Behandlung des Unternehmers als „Produktionsfaktor Persönlichkeit" hat nicht eben zur „Entdämonisierung", zum tieferen Verständnis des Unternehmers in der öffentlichen Meinung beigetragen. Maßgeblich bei uns bleiben aristotelische Skepsis gegen den „Kaufmann" und die „Chrematistik" (Aristoteles 1994, I, 9), wo nicht christlich motivierte Ablehnung. Daher mag es auch
Unternehmer und Ordnungspolitik • 3 1 5
rühren, daß die Postulate einer spezifisch unternehmerischen Bereichsethik, z. B. „Gewinnerzielung" als moralische Pflicht des Unternehmers, selbst bei vielen Unternehmern auf Unverständnis oder wenigstens Verwunderung stoßen, wie der Verfasser aus vielen Vorträgen zu diesem Thema weiß. Die fabelhafte Ethisierung der Unternehmerrolle durch einen Mann wie Benjamin Franklin machte offenbar nur in Amerika, nicht dagegen in Europa Eindruck - wie auch ein Blick auf neueste deutschsprachige Literatur zum Thema Unternehmer- oder Unternehmensethik lehren kann (Homann und BlomeDrees 1992; Kreikebaum 1996).
III. Unternehmer gegen Ordnungspolitik Tägliche politische Erfahrung lehrt, daß der Unternehmer nicht Anhänger einer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik sein muß. Die entsprechende Beobachtung von Adam Smith ist durchaus zutreffend. Ein Blick auf die „Lobbyliste" des Bundestages genügt. Es ist darüber hinaus betrüblich zu erfahren, daß sich etwa im neoliberalen Widerstandskreis während der Hitlerzeit kaum ein Unternehmer findet (Miraw 1996, 913). Ihm ist eben unter allen Umständen das Überleben seiner Firma wichtig - die allgemeinen Rahmenbedingungen liegen dagegen außerhalb seines unmittelbaren Interesses {Karin Weingarts 1990, Buch über einen typischen unternehmerischen Opportunisten wie Josef Neckermann). Bei orientierungsloser, nicht in Ordnungen, sondern in Maßnahmen denkender Politik wird der Unternehmer - über seine Verbände, oder bei entsprechender Unternehmensgröße durch direkten persönlichen Einfluß - vielmehr zielstrebig die Chance zur Erleichterung des Wettbewerbsdrucks und zur Erlangung von Sondervorteilen nutzen1. Unter diesen Umständen wird der Unternehmer eher zum Anhänger eines Typs „Ordnung", der mit dem liberalen „Ordo" und der spontanen Ordnung von Hayeks wenig zu tun hat, beispielsweise einer Handwerksordnung, einer Agrarordnung, einer „Ordnung" des Verkehrswesens - für den liberalen Ordnungstheoretiker eher Störungen der „natürlichen" Ordnung. Von seiner Tendenz zur Kartellierung und Privilegierung her wird er allenfalls für „berufsständische" Gesamtordnungen, wie Othmar Spann sie konzipierte, eintreten. Das wohlverstandene langfristige Solidarinteresse aller Unternehmer an gerechten Wettbewerbsbedingungen tritt dann zurück - je mehr sich die Regierung einschüchtern oder „kaufen" läßt, desto mehr. Dann setzt sich das „Recht des Stärkeren" durch.
1 „Solange der Staat gegenüber der Gesellschaft noch einigermaßen neutral gewesen war, hatten alle Interessengruppen ein gemeinsames Interesse an seiner Schwächung. Sobald aber die Zitadelle des Staates irgendwelchen gesellschaftlichen Interessengruppen ihre Tore geöffnet hatte, gewannen diese Gruppen ein umgekehrtes Interesse an einer möglichen Erweiterung seiner Ingerenz, weil das ja nun unmittelbar eine Erweiterung ihrer eigenen Machtsphäre bedeutete."
(Rüstow 1945, 80).
316 · Gerd Habermann
IV. Ordnungspolitik rechnet sich unmittelbar nicht Diese Überlegungen machen die vergleichsweise geringe Attraktivität einer Mitgliedschaft in Unternehmerverbänden verständlich, die ordnungspolitische Zielsetzungen verfolgen, wie in Deutschland die Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU) oder der Wirtschaftsrat der CDU. Sondervorteile für die Mitglieder werden von diesen Vereinigungen nicht erstrebt, in gewisser Hinsicht kann man diese Verbände sogar als Anti-Verbände-Verbände kennzeichnen. Ein früherer Vorsitzender des Wirtschaftsrates sprach von seinem Verband als von einer Organisation von „Kreuzrittern der Sozialen Marktwirtschaft". Sofern Verbände dieses Typs politische Erfolge haben, die Abschaffung von Unternehmerstrafsteuern etwa, kommen diese allen zugute, was die Trittbrettfahrerhaltung, das kostenlose „Mitnehmen" durch Nicht-Mitglieder begünstigt. Soweit diese Verbände bestehende Sondervorteile von Mitgliedern angreifen, kann es zu Austritten kommen. Veröffentlichungen der ASU etwa zur Postreform, zur Handwerksordnung, zur Buchpreisbindung, zum Ladenschlußgesetz brachten Austritte von Mitgliedern, die sich durch die bestehenden Regulierungen begünstigt fühlten. Zu deren Legitimation werden dann eigenartige Sondertheorien entwickelt, etwa über Bücher als „ganz besondere Güter". Andererseits kann es zum Zugang von Unternehmern kommen, die in den Markt eintreten wollen. Verbände diesen Typs können gegenwärtig glücklich sein, wenn der Saldo der Mitgliederentwicklung schließlich bei plus/minus Null liegt. Ein beträchtlicher Teil dieser Mitglieder sind überdies nur durch einen umfangreichen Zusatznutzen zu binden: die Mitgliedschaft muß sich kurzfristig „rechnen", dies gilt namentlich für ostdeutsche Unternehmer. Dem wird seitens der Verbände durch umfangreichen Service begegnet: Pakete von Beratungsdiensten, betriebsbezogenen Informationen oder Weiterbildungsangeboten, Möglichkeiten zu überbetrieblichem Erfahrungsaustausch macht die Mitgliedschaft für viele erst „rentabel", während ihnen die „Ordnungspolitik" des Vorstandes und der Verbandsintellektuellen nicht so wesentlich ist, vielleicht sogar fernsteht. Selbst vergleichsweise niedrige Beiträge ändern an diesem Bild nichts.
V. Mißtrauen der Unternehmer gegen eigenes Unternehmertum Eine weitere, besonders deutsche Erfahrung ist, daß die Unternehmer, wie fast alle Bürger Deutschlands, in ihrer Kindheit und Jugend Staatsschulen mit der dort üblichen interventionistischen Mythenbildung im Sozialkunde- und Geschichtsunterricht durchlaufen, darum nicht frei sind von oft tief verwurzelten skeptischen Einstellungen gegen ihr Unternehmertum selber und die Wirkung der freien Märkte. Es hält sich in den Schulbüchern und der öffentlichen Meinung zäh die Ansicht von der verelendenden Wirkung eines ungezähmten Kapitalismus im 19. Jahrhundert (zur Realität Mirow 1996, 498 ff., 659 ff; Habermann 1997, 127 ff). Es gibt etliche Unternehmer, die der Ansicht sind, von Haus aus seien sie - ohne ein umfassendes Arbeits- und Sozialrecht - sozusagen „sozial unverträglich". Der Verfasser mußte gelegentlich erfahren, daß Ansätzen einer
Unternehmer und Ordnungspolitik · 317 immanenten ethischen Fundierung des Unternehmertums von Unternehmern selber kategorisch widersprochen wurde. Den ordnungspolitischen Eifer bremst auch eine Skepsis gegenüber grundlegenden Reformen und ganzheitlichen Ansätzen überhaupt, die Meinung, Politik sei als „Kunst des Möglichen" im Sinne des unmittelbar Machbaren und des Pragmatismus zu verstehen. Das ist heute nicht anders als zu Zeiten Alexander Rüstows (Schoeck 1959). Gleichwohl gibt es besonders in diesen Verbänden, vor allem unter Vorstandsmitgliedern, eine hochmotivierte Minorität, aus denen sich das Ethos des Verbandes speist. Sie bewahrheiten das Wort von Gaetano Mosca. „In jeder Generation gibt es eine Anzahl hochgesinnter Menschen, die .... einen großen Teil ihrer Tätigkeit dem Kampf gegen den Verfall der Gesellschaft widmen. Das ist jene kleine und moralische Aristokratie, die die Menschheit hindert, im Sumpf des Egoismus und der materiellen Begierden zu verrotten" (Mosca 1950, 394).
VI. Die Unabkömmlichkeit der Unternehmer Die starke Gebundenheit an sein Geschäft hat auf den Unternehmer im Regelfall die Wirkung, daß er ein politisches Engagement manchmal schon auf der Ebene größerer Kommunen nicht mehr erschwingen kann. Er ist betrieblich „unabkömmlich". Entsprechend schwach ist seine Repräsentanz in den politischen Beschlußkörperschaften. Dies war bereits in der deutschen Nationalversammlung von 1848 so, in der sieben Prozent der Abgeordneten Unternehmer waren (Mirow 1996, 593). Das Bild hat sich seither wenig verändert; gegenwärtig sind es unter fünf Prozent. Die Gruppe der „öffentlich Bediensteten" hat im Wettbewerb um politische Mandate zudem einen außerordentlichen Vorteil. Die politische Beurlaubung bringt ihr beruflich eher Vor- als Nachteile. So gibt es auf diesem entscheidenden Gebiet einen „unlauteren Wettbewerb der öffentlichen Hand" (von Arnim 1997). Dies ist schon deswegen so, weil der vielgeschäftige Interventionsstaat den Berufspolitiker unvermeidlich macht, selbst in einigen der unbedeutend gewordenen deutschen Landesparlamente. Alle gut gemeinten Appelle an die Unternehmer, doch ins Parlament zu gehen, um dort ihre staatsbürgerliche Verantwortung wahrzunehmen, gehen darum unvermeidlich ebenso ins Leere wie die unendlichen Traktate über die „gesellschaftspolitische Verantwortung des Unternehmers", die er als Staatsbürger zwar gewiß hat, aber eben nicht selber ausüben kann, sondern zum Hauptteil an von ihm finanzierte Verbände oder Publizisten übertragen muß. Die Ansicht Joseph Schumpeters über die fehlende politische Qualität der Unternehmer ist dagegen nicht zutreffend. Schumpeter sprach dem Unternehmer jedes Talent zu nationaler Führerschaft ab, da er „rationalistisch" und „unheroisch" und zu seinem Schutz auf Vertreter anderer Schichten, der Aristokratie oder des Beamtentums, angewiesen sei (Schumpeter 1972, 213 ff). Dies heißt zeitgebundene kontinentaleuropäische Erfahrung unzulässig verallgemeinern. Schon auf Amerika trifft diese Einschätzung nicht zu.
318 · Gerd Habermann
VII. Unternehmer in die Parlamente? Eine Frage ist es, ob sich die Politikqualität verbessern würde, wenn etwa selbständige Unternehmer die dominierende Gruppe unter den parlamentarischen Repräsentanten wären? Zunächst wird man sagen müssen, daß in der Politik nicht dieselben Fähigkeiten verlangt werden wie in der Wirtschaft. Schumpeter meint sogar, daß ein Geschäftsgenie „außerhalb seines Büros völlig unfähig sein kann, eine Gans zu verscheuchen, sowohl im Gesellschaftszimmer wie auch auf der Rednertribüne. Da er dies weiß, wünscht er in Ruhe gelassen zu werden und die Politik in Ruhe zu lassen". Die Aufgabe, Mehrheiten für politische Konzepte zusammen zu bringen, ist eine andere Aufgabe als die Leitung eines Unternehmens, so sehr es sich auch in beiden Fällen darum handelt, Menschen zu fuhren. Auch wird man, wie schon ausgeführt, nicht davon ausgehen dürfen, daß allgemeinwohlorientierte „Ordnungspolitik" gerade vorzugsweise durch Unternehmer betrieben würde. Es könnte auch sein, daß sie sich - wie ja regelmäßig zu beobachten ist - primär an Sonderinteressen ihrer Branche gebunden fühlen, nur Lobbyisten für die Landwirtschaft oder das Handwerk sind. Andererseits würde ein stärker unternehmerisch beeinflußtes Parlament gewiß ein Plus an ökonomischem Fachverstand aufweisen. Unternehmer würden gewiß für eine „richtige" Reform des öffentlichen Dienstes sorgen und die Staatsorganisation insgesamt im unternehmerischen Sinn umgestalten, etwa im Sinne des „New-Public-Management". Auch ist wenig wahrscheinlich, daß der Fiskalsozialismus oder die Mitbestimmungsideologie und der Ausbau des Wohlfahrtsstaates in diesem Falle noch große Chancen hätten. Gleichwohl: so wenig es auszuschließen ist, daß im Einzelfall auch Beamtenpolitiker echte politische Qualitäten haben, so sehr ist jedenfalls nicht automatisch mit jedem selbständigen Unternehmer politische Führungsqualität und ordnungspolitisch „korrekte" Orientierung geboren.
VIII. Unternehmer als Sponsoren der Ordnungspolitik Der wichtigste Beitrag der Unternehmer zur Ordnungspolitik liegt heute im Sponsoring jener intellektuellen Kräfte, die die freie Ordnung stützen - bis hin zur Finanzierung umfangreicher Stiftungen und Think-tanks wie in den USA oder Großbritannien (Radnitzky 1991). In Deutschland - einem der klassischen Länder des Etatismus - hat leider der Staat auch diese Art Mäzenatentum weitgehend an sich gerissen. Die von ihm verbrauchten, oft verschwendeten Mittel, fehlen der „bürgerlichen Gesellschaft". Man denke allein an die großen politischen Stiftungen der Parteien, die Mittel absorbieren, die sonst für private Initiativen zur Verfügung stünden. Auch diese Tatsache erklärt, warum die ordnungspolitisch orientierten Verbände so relativ schwach sind. Die halbstaatlichen Kammern mit ihren Zwangsmitgliedschaften haben es leichter. Immerhin gibt es diese Verbände und ihr unverdrossener Einsatz ist ein Beweis dafür, daß auch kleine und mittelgroße Unternehmen über die engere betriebswirtschaftliche Perspektive, über „Hauptbuch und Kostenkalkulation" hinaussehen können. Die im Verhältnis zu ihrer Größe respektable öffentliche Beachtung, die Verbände dieser Art
Unternehmer und Ordnungspolitik · 319 finden, mag ihren Mitgliedern Belohnung genug für Zeit und Mittel sein, welche sie der betrieblichen Arbeit entziehen, um sie der „Ordnungspolitik" im Verband oder über den Verband zu widmen. Literatur Aristoteles (1978), Die Nikomachische Ethik, 3. Aufl., München Aristoteles (1994), Politik, Reinbek bei Hamburg Arnim, Hans-Herbert von (1997), Fetter Bauch regiert nicht gern: Die politische Klasse selbstbezogen und abgehoben, München Fehl, Ulrich und Oberender, Peter (1989), Grundlagen der MikroÖkonomie, 3. Aufl., München Habermann, Gerd (1997), Der Wohlfahrtsstaat: Die Geschichte eines Irrwegs, Frankfurt/Main und Berlin Homann, Karl und Franz Blome-Drees (1992), Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen Kreikebaum, Hartmut (1996), Grundlagen der Untemehmensethik, Stuttgart Mellerowicz, Konrad (1968), Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Bd. 4, Berlin Messner, Johannes (1968), Das Unternehmerbild in der katholischen Soziallehre, Beiträge zur Gesellschaftspolitik, Nr. 3 Mirow, Jürgen (1996), Geschichte des deutschen Volkes, Köln Mises, Ludwig von (1981), Die Gemeinwirtschaft: Untersuchungen über den Sozialismus, Neuausgabe der 2. Aufl., München Mosca, Gaetano (1950), Die herrschende Klasse: Grundlagen der Politischen Wissenschaft, Bern Radnitzky, Gerard (1991), Einleitende Bemerkungen - ein Plädoyer fur marktwirtschaftlich orientierte think-tanks, in: Radnitzky Gerard und Hardy Bouillon (Hrsg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, Berlin, Heidelberg und New York Rothbard, Murray Ν. (1995), Economic Thought before Adam Smith, Vol 1, Aldershot Rüstow, Alexander (1945), Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, Istanbul Schmölders, Günter (1978), Die Unternehmer in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Kreativität des Handelns, vom Ingenium des Unternehmers, Festschrift fur Ludwig Eckes zum 65. Geburtstag, Würzburg, S. 127-136 Schoeck, Helmut (1959), Was heißt politisch unmöglich?, Erlenbach und Zürich Schumpeter, Joseph Α. (1972), Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 3. Aufl., München Schumpeter, Joseph A. (1987), Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 7. Aufl., Berlin Smith, Adam (1978), Der Wohlstand der Nationen, München Sombart, Werner (1988), Der Bourgeois: Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, Reinbek b. Hamburg Weber, Adolf (1958), Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 7. Aufl., Berlin Weber, Max (1958), Wirtschaftsgeschichte, Berlin Weber, Max (1963), Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1,3. Aufl., Tübingen Weber, Wilhelm (1959), Wirtschaftsethik am Vorabend des Liberalismus, Münster Weber, Wilhelm (1973), Der Unternehmer, eine umstrittene Sozialgestalt zwischen Ideologie und Wirklichkeit, Köln Weingart, Karin (1990), Josef Neckermann: Erinnerungen, Berlin Wöhe, Günter (1990), Einfuhrung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 17. Aufl., München Woll, Artur (1990), Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 10. Aufl., München
320 · Gerd Habermann
Zusammenfassung Der Aufsatz hat mehrere Aspekte, zunächst beleuchtet er die Tatsache, daß die Unternehmer selber zur Ordnungstheorie wenig beigetragen haben; aber auch die Ordnungstheoretiker haben den Unternehmer lange ignoriert. Eine Wahlverwandtschaft der Unternehmer zu ordnungspolitischen Positionen kann im übrigen nicht vorausgesetzt werden eher das Gegenteil. Auch haben es Unternehmerverbände vergleichsweise schwer, die das ordnungspolitische Anliegen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. Größeres politisches Engagement der Unternehmer ist aus strukturellen Gründen nur selten möglich. Appelle können hieran nichts ändern. Aber es ist auch die Frage, ob dies Ordnungspolitik in den Parlamenten stärker machen würde. Vielleicht würde dort insgesamt wirtschaftlicher gedacht, andererseits würde die Macht des Lobbyismus durch mehr UnternehmerPolitiker wohl kaum zurückgedrängt - vielleicht würden sich sogar berufsständische Ordnungsmuster durchsetzen. Summary Entrepreneurs and liberal regulative policy („Ordnungspolitik") The essay has several aspects: first of all it illuminates the fact that the entrepreneurs themselves have contributed little to the order theory; but the proponents of the order theory have also ignored the entrepreneur for a long time. Affinity between the entrepreneurs and regulative positions („Ordnungspolitik") cannot, incidentally, be presupposed-more the opposite. It is also comparatively difficult for trade associations which make regulatory matters („Ordnungspolitik") the main aspect of their work. Greater political commitment on the part of the entrepreneurs is only rarely possible, for structural reasons. Appeals cannot change this. But it is also questionable whether this would strengthen regulative policy in the parliaments. Perhaps they would overall be more efficient in their thinking there, on the other hand the power of lobbyism through more entrepreneur-politicians would hardly be repressed - professional general patterns („Berufsständische Ordnungsmuster") might even establish themselves.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Walter Hamm
Zu Lasten der kommenden Generationen
I. Einleitung Das Denken in zu engen Zeithorizonten und in zu kurzen Wirkungsketten bestimmt in bedenklicher Weise das politische Handeln. Die davon ausgehenden finanziellen Belastungen treffen mit geballter Wucht die kommenden Generationen. Über das volle Ausmaß dieser Lasten besteht weithin Unklarheit. Überschlägige Rechnungen auf verschiedenen Politikfeldern zeigen, daß Deutschland dabei ist, seine Kinder und Enkel in bedenklicher Weise zu überfordern, es sei denn, die Gefahren würden rasch erkannt, und es würden unverzüglich gründliche Korrekturen eingeleitet. Derzeit wird ein Teil des öffentlichen Konsums mit Krediten finanziert. Die öffentliche Gesamtverschuldung hat mit über 2,2 Billionen DM Anfang 1998 ein höchst bedenkliches Ausmaß erreicht und wächst in großen Schritten weiter an. Die kommenden schrumpfenden Generationen sollen die enorme Schuldenlast verzinsen und tilgen. Damit ist es nicht getan. Fällige öffentliche Ausgaben werden zum Teil in die Zukunft verschoben, und das in der Sozialversicherung weithin übliche Umlagensystem sorgt dafür, daß eine immer kleiner werdende Anzahl von Erwerbstätigen für immer mehr Rentner und Pensionäre zu sorgen hat. Die Chance, mit den riesigen Lasten fertig zu werden, wird dadurch verschlechtert, daß die politische Kraft fehlt, die Wachstumskräfte wieder zu mobilisieren und damit die Voraussetzungen fur das Erwirtschaften eines stetig zunehmenden Sozialprodukts, für mehr Leistungsbereitschaft und Effizienz sowie für den produktiven Einsatz brachliegende Produktivkräfte zu schaffen. Wir leben derzeit gut - zum Teil zu Lasten der kommenden Generationen, ohne daß wir uns des vollen Gewichts der intergenerativen Lastenverschiebung bewußt sind (siehe auch Dönges u.a. 1994). Für den hohen Lebensstandard von heute werden die Kinder und Enkel morgen bezahlen müssen.
II. Formen und Ausmaß der intergenerativen Lastenverschiebung 1. Hohe öffentliche Schuldenlast Gegen öffentliche Neuverschuldung ist nichts einzuwenden, wenn sie der Mehrung des öffentlichen Produktiwermögens dient. Dem künftigen Schuldendienst steht dann von Fehlinvestitionen abgesehen eine höhere Ergiebigkeit der Produktion gegenüber, aus der Zinsen und Tilgungsleistungen aufgebracht werden können.
322 · Walter Hamm Die öffentliche Verschuldung, die schon in den siebziger Jahren in großen Sprüngen gewachsen ist und die vor allem seit 1990 als Folge der Vereinigung mit Ostdeutschland steil angestiegen ist, hatte jedoch weit überwiegend den Zweck, immer großzügigere Umverteilungsziele zu verfolgen und den wachsenden öffentlichen Konsum zu finanzieren. Die produktiven öffentlichen Neuinvestitionen - noch in den sechziger Jahren überwiegend aus laufenden Einnahmen gedeckt sind in den letzten drei Jahrzehnten in Westdeutschland - gemessen in realen Werten - gesunken. Trotz der zu begrüßenden Veräußerung von öffentlichem Vermögen, das nicht zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben benötigt wird, und trotz anzuerkennender Bemühungen um eine Senkung der Staatsausgaben wächst die Neuverschuldung mit einer Jahresrate von rund 100 Milliarden DM weiter an. Der Zinsendienst dürfte derzeit bei rund 140 Milliarden DM jährlich liegen. An eine Rückführung der Schuldenlast ist auf absehbare Zeit nicht zu denken. Trotz Sparmaßnahmen zeichnen sich bei keiner Gebietskörperschaft Haushaltsüberschüsse ab, die zur Schuldentilgung verwendet werden könnten. Dazu wären wesentlich radikalere Ausgabensenkungen als bisher erforderlich. Möglichkeiten dazu böten sich durchaus. Im öffentlichen Dienst arbeitet viel zuviel Personal. Die Effizienz der öffentlichen Verwaltung könnte wesentlich verbessert werden. Noch immer betreibt die öffentliche Hand mit meist erbärmlichen Ergebnissen Unternehmen, die erfolgreicher von privaten Unternehmern geführt werden könnten. Nur die Bundesregierung hat in den letzten Jahren eine konsequente Privatisierungspolitik verfolgt. Einzelne Länder und vor allem die Städte und Gemeinden klagen zwar unentwegt über ihre miserable Finanzlage, weiten gleichzeitig aber ihre kostspielige privatwirtschaftliche Tätigkeit zum Teil noch weiter aus. Beispielhaft sei auf den Kauf der Kapitalmehrheit an der Preussag Stahl AG durch Niedersachsen und an den Aufbau kommunaler Telefongesellschaften in derzeit rund drei Dutzend Städten verwiesen. Fast durchweg wird in den für eine Privatisierung geeigneten öffentlichen Unternehmen nicht einmal eine angemessene Verzinsung des Kapitals erzielt. Die stets als Begründung angeführten "gemeinwirtschaftlichen" Verpflichtungen sind keine überzeugende Begründung, weil auch private Unternehmen regelmäßig bereit sind, solche Auflagen zu erfüllen. Eine Veräußerung öffentlicher Unternehmen würde die Verschuldung und damit die Zinslasten der öffentlichen Hand wesentlich vermindern. Einige Gebietskörperschaften schönen ihre Verschuldung, indem sie die Kreditaufnahme in Bereiche außerhalb des Haushalts verlagern. So moniert der Rechnungshof von Rheinland-Pfalz, daß Kredite über die Landesbauverwaltung und im Bereich der Wohnungsbauforderung aufgenommen würden mit der Absicht, die Neuverschuldung optisch niedrig zu halten (nach einem Bericht der Frankfürter Allgemeinen Zeitung vom 6.3.1998 "Deutliche Kritik des Rechnungshofs"). Auch die Maastricht-Kriterien für die Europäische Währungsunion haben offensichtlich dazu veranlaßt, öffentliche Kredite über Umwege aufzunehmen. Die Lasten für die kommenden Generationen sinken dadurch freilich nicht.
Zu Lasten der kommenden Generationen · 323 2. Wachsende Last der Rentenversicherung Die gesetzliche Rentenversicherung arbeitet im wesentlichen nach dem Umlagenprinzip. Von Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt abgesehen werden die gezahlten Renten zeitgleich über Beiträge der Versicherten aufgebracht. Dieses Umlagensystem funktioniert, solange erstens ständig eine mindestens gleich groß bleibende Schicht erwerbstätiger Beitragszahler nachwächst und solange zweitens die Lebenserwartung nicht zunimmt. Beide Bedingungen sind in Deutschland seit geraumer Zeit nicht mehr erfüllt. Die Anzahl der erwerbstätigen Beitragszahler sinkt, und der Anteil der aus Altersgründen nicht mehr Arbeitenden an der Gesamtbevölkerung nimmt beträchtlich zu - bei sinkenden Geburtenraten (Überalterung). Die Folge ist, daß immer weniger Beitragszahler für immer mehr Rentner aufkommen müssen. Die Entwicklung des Altersquotienten (Quotient aus der Anzahl der Menschen, die 65 Jahre und älter sind, und der Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren) zeigt die Dramatik der Veränderungen. 1995 lag der Altersquotient noch bei 22; das heißt, auf einen Mitbürger über 64 Jahre entfielen mehr als 4 Bürger im erwerbsfähigen Alter. Bis zum Jahre 2030 steigt der Altersquotient nach bevölkerungsstatistischen Prognosen auf 49 an. Das bedeutet, auf einen Mitbürger über 64 Jahre entfallen dann nur noch zwei Bürger im erwerbsfähigen Alter. Da aus der Altersgruppe 15 bis 64 Jahre keineswegs alle Menschen berufstätig sind (noch in Ausbildung, nicht arbeitsfähig, arbeitslos, Hausfrauen), ist das Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Rentnern tatsächlich noch wesentlich ungünstiger ( Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesminister für Wirtschaft 1998), und zwar etwa 100 zu 88. Allein aus der Rentenversicherung droht der kommenden Generation eine unzumutbar hohe Belastung, wenn es nicht zu gründlichen Reformen kommt. Ohne eine drastische Heraufsetzung der Altersgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung, ohne versicherungsmathematisch errechnete Abschläge von den Renten bei vorzeitig in Rente gehenden Versicherten und ohne eine fühlbare Senkung der Altersrenten (um nur drei wesentliche Stellschrauben der Rentenpolitik zu nennen) wird die kommende Generation eindeutig überfordert. Jedermann weiß dies inzwischen. Erste vorsichtige Anpassungen der Vorschriften über die Rentenversicherung an die sich klar abzeichnende Entwicklung hat der Gesetzgeber im Herbst 1997 - mit zum Teil langen Übergangsfristen - beschlossen. Vorausgegangen war bereits das Rentenreformgesetz von 1992, das ebenfallsfinanzielleEntlastungen gebracht hatte. Die Bonner Opposition hat Anfang 1998 erklärt, sie werde die Kürzung der Rentenansprüche von 70 auf 64 Prozent des zuletzt gezahlten Nettolohns in mehreren kleinen Schritten nach einem Wahlsieg im Herbst 1998 wieder rückgängig machen. Als Begründung wird angeführt, Einschränkungen seien den Rentnern nicht zuzumuten. Daß die heute üblichen Leistungen aus der Rentenkasse, von Beitragszahlern schon in wenigen Jahren nicht mehr aufgebracht werden können, bleibt unbeachtet. Die künftige Rentnergeneration wird notgedrungen mit unvergleichlich viel schlechteren Leistungen auskommen müssen als die heutigen Rentner und muß auf die private Mitvorsorge verwiesen werden. Ehrlich und aufrichtig wäre es, die künftigen Rentner rechtzeitig darüber zu informieren, daß ihre Rente niedriger ausfallen muß, als es nach den heute gültigen Vorschriften der Fall ist. Nur dann hat jeder Betroffene die Möglichkeit, von sich aus für einen ange-
324 · Walter Hamm messenen Lebensstandard im Alter vorzusorgen. An dieser Ehrlichkeit und Offenheit fehlt es weithin, weil opportunistische und wahltaktische Erwägungen kurzsichtiges Lavieren in der Politik reizvoll machen. Zwar wird versprochen, daß die Rentenversicherungsbeiträge auch in den kommenden Jahrzehnten nicht über 28 Prozent des Nettolohns steigen sollen. Dabei wird jedoch unterstellt, daß Rentenkürzungen und wesentlich höhere Altersgrenzen für den Beginn des Rentenbezugs in nächster Zeit politisch durchsetzbar sein werden und daß die Arbeitslosigkeit wesentlich vermindert werden kann. Diese Bedingungen sind aus heutiger Sicht als unwahrscheinlich zu bezeichnen. Stattdessen zeichnen sich wesentlich höhere Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt ab. Eine steigende Staatsquote und zusätzliche Steuerlasten wären jedoch abschreckend für Innovatoren und Investoren. Das Wirtschaftswachstum würde gebremst. Ein Beitrag zur Vermehrung der Arbeitsplätze (und damit zur Steigerung der Beiträge für die Rentenversicherung) würde so nicht geleistet. 3. Steigende Krankenversicherungsbeiträge Die gesetzliche Krankenversicherung beruht ebenfalls auf dem Umlageprinzip. Altersrückstellungen wie in der privaten Krankenversicherung gibt es nicht. Rentner bezahlen zudem nur einen bescheidenen Beitrag, verglichen mit den von ihnen beanspruchten Versicherungsleistungen. Das bedeutet, daß die mit der Überalterung steil ansteigenden finanziellen Lasten im wesentlichen von der schrumpfenden Anzahl der versicherungspflichtigen Erwerbstätigen aufgebracht werden müssen. Die Rentnerkrankenversicherung ist in erheblichem Ausmaß auf Transfers von Beiträgen der erwerbstätigen Versicherten angewiesen. 1994 verfugte die Rentnerkrankenversicherung nur über Beitragseinnahmen von 40 Milliarden DM. Die Gesamtausgaben für die 16,2 Millionen Rentner erreichten dagegen 92,3 Milliarden DM. Gut 52 Milliarden DM mußten von den Erwerbstätigen aufgebracht werden, wodurch sich deren Beitragssatz um 3,3 Prozentpunkte erhöhte (Institut der deutschen Wirtschaft 1998). Da die Rentneranzahl ständig weiter zunimmt und da auch die durchschnittliche Lebenserwartung einstweilen weiter steigt, da ferner der lebensverlängernde medizinische Fortschritt meist mit erheblich steigenden Ausgaben der Krankenkassen verbunden ist, werden die Beitragssätze und wird wahrscheinlich der Transfer zugunsten der Rentnerkrankenkasse erheblich weiter steigen. Die erwerbstätigen Versicherten werden künftig noch stärker als bisher belastet. In dieselbe Richtung wirken die einstweilen noch vergleichsweise bescheidenen, aber ebenfalls mit der Überalterung steigenden Leistungen aus der Pflegeversicherung, die entgegen vieler rechtzeitiger Warnungen ebenfalls auf dem Umlagenprinzip beruht (Ausgaben für die Pflegeversicherung derzeit rund 10 Milliarden DM; Rentenversicherungsleistungen 1995 rund 360 Milliarden DM; Krankenversicherungsleistungen 1995 rund 240 Milliarden DM).
Zu Lasten der kommenden Generationen · 325
4. Pensionen und Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst als Sprengsatz für die öffentlichen Haushalte Viel zuwenig wird beachtet, welche Ausgabenexplosion die Pensionszahlungen in den nächsten Jahrzehnten verursachen werden. Auch insoweit gibt es einstweilen keinerlei Rückstellungen in den öffentlichen Haushalten. Pensionszahlungen und die Leistungen aus der Zusatzversorgung für Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst müssen aus den laufenden Einnahmen der öffentlichen Haushalte bezahlt werden. Die Vorausschätzungen für die Pensionszahlungen aller Gebietskörperschaften weichen je nach den Annahmen über die weitere Entwicklung der Beamtenbesoldung, über den angestrebten Personalabbau, über die Verlängerung der aktiven Lebensarbeitszeit (späterer Beginn des Ruhestands) und über Kürzungsmaßnahmen erheblich voneinander ab. Die Größenordnungen werden aus den folgenden Schätzungen deutlich, die dem Versorgungsbericht der Bundesregierung vom 8.10. 1996 entnommen sind. Es wird damit gerechnet, daß sich die Pensionszahlungen des Bundes zwischen 1993 und 2040 von 8,5 auf 23 Milliarden DM jährlich mehr als verdoppeln werden. Bei den Gemeinden ist mit einem Anstieg der Pensionszahlungen in demselben Zeitraum von 4,3 auf 20 Milliarden DM pro Jahr zu rechnen. Am schlimmsten sieht es bei den Ländern aus, die fast mit einer Versechsfachung ihrer Pensionslast von 21,3 auf 118 Milliarden DM jährlich konfrontiert sind. Die enorme Ausweitung des öffentlichen Dienstes in den sechziger und siebziger Jahren - damals wuchs der öffentliche Dienst in Westdeutschland um knapp 800 000 Beschäftigte auf 3,3 Millionen an - und die fehlende Vorsorge für die entstehenden Pensionszahlungen rächen sich in den kommenden Jahrzehnten. Für die Beamtenpensionen trifft dasselbe zu wie für die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung: In Kenntnis der hohen Zusatzbelastungen für die nachwachsende Generation ist es nicht zu verantworten, die Hände in den Schoß zu legen. Vor allem die Länderregierungen müssen sich fragen lassen, wie sie diese Ausgabenexplosion finanzieren wollen und was sie zu tun gedenken, um die Überforderung der Kinder und Enkel zu verhindern. Insbesondere müßte an den Abbau des viel zu groß gewordenen Verwaltungsapparats, aber auch an den Aufbau von Rücklagen für die späteren Pensionsverpflichtungen gedacht werden. Was bisher an Abhilfen vom Bundestag bereits beschlossen worden ist (Einbehaltung eines kleinen, von Jahr zu Jahr wachsenden Gehaltsanteils und zinstragende Anlage dieser Mittel) wird lediglich die Belastungsspitze ab dem Jahr 2014 abkappen. Es trifft zwar zu - wie die Bundesregierung im Versorgungsbericht darlegt -, daß es zur Beurteilung der künftigen Versorgungslasten entscheidend auf das parallel dazu verlaufende Wirtschaftswachstum und damit auf die gesamtwirtschaftliche Fähigkeit zur Tragung der Alterslast ankommt. Bei ihren Vorausschätzungen der Versorgungsquote (Verhältnis der Versorgungsausgaben zum Bruttoinlandsprodukt) für Westdeutschland legt die Bundesregierung allerdings sehr optimistische Steigerungsraten des Bruttoinlandsprodukts zugrunde (1996 bis 2000 3,6 Prozent; von 2001 bis 2008 zwei Varianten von 3,5 und 4 Prozent) und kommt deswegen zu nur mäßig steigenden Versorgungsquoten (von 1,20 Prozent für 1993 auf 1,32 Prozent 2008). Damit wird die tatsächlich zu erwartende Last erheblich unterzeichnet, auch deswegen, weil die Lasten durch den öf-
326 · Walter Hamm fentlichen Dienst in Ostdeutschland nicht einbezogen werden. In den neuen Ländern liegt der Personalbestand der Länder und Gemeinden deutlich über dem Niveau der alten Länder. In der Beamtenversorgung wird sich die zu erwartende Last auf Grund bereits beschlossener Maßnahmen (z.B. Höchstruhegehalt erst nach 40 Jahren, Eindämmung der Frühpensionierungen, Versorgungsabschlag für Vorruhestandsjahre ab 2002) reduzieren. Auch nach Ansicht der Bundesregierung sind jedoch dringend weitere Schritte erforderlich (z.B. Anhebung der Altersgrenzen; weitere Erschwerung der Frühpensionierung; Versorgungsabschlag auch bei Frühpensionierung wegen Dienstunfähigkeit). Entscheidend wird es freilich sein, ob es gelingt, das Personal im öffentlichen Dienst deutlich zu reduzieren und die Besoldung nur in engen Grenzen zu erhöhen. Die Chancen hierfür sind keineswegs günstig, wie sich insbesondere aus den bisher nur beschiedenen Personaleinsparungen der Länder und der Gemeinden ergibt. Auf die Länder und Gemeinden entfallen weit über 90 Prozent des gesamten Personals im öffentlichen Dienst. Einstweilen zeichnet sich insoweit lediglich eine geringfügige Milderung der enormen Belastung für die kommende Generation ab. Die ab 1999 geplante Bildung von Versorgungsrücklagen bei Bund, Ländern und Gemeinden durch Einbehaltung von jährlich 0,2 Prozentpunkten der Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst bis zum Jahr 2013 dämpft immerhin den Anstieg der Versorgungsausgaben in den besonders kritischen Jahren von 2014 bis 2027. Kritisch zuspitzen wird sich auch die Lage bei der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst. In der Lohnrunde 1998 ist dieses für eine breite Öffentlichkeit neue Thema erstmals angesprochen worden. Zweck der Zusatzversorgung ist es, die Altersversorgung der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst so aufzustocken, daß das Niveau der Beamtenpensionen erreicht wird. Da die Altersbezüge der Angestellten und Arbeiter weitestgehend von der Einkommensteuer befreit sind, erreichen die Altersbezüge dieser Gruppe oft 92 Prozent des zuletzt bezogenen Nettoeinkommens. Die Beamten, deren Pensionen voll zu versteuern sind, stehen sich insofern wesentlich schlechter. Die Beiträge zur Zusatzversorgung werden bisher allein von der öffentlichen Hand aus dem laufenden Budget bezahlt (4,8 Prozent der Lohnsumme). Die Angestellten und Arbeiter tragen nichts bei. Schon Anfang 1999 wird der Beitrag zur Zusatzversorgung auf mindestens 7,2 Prozent der Lohnsumme (also um 50 Prozent) steigen. Weitere Erhöhungsschritte zeichnen sich ab. Auch diese in besseren Zeiten zugestandene Sondervergünstigung für den öffentlichen Dienst wird die kommende Generation schwer drücken. 1993 erreichte die Belastung der öffentlichen Haushalte durch die Zusatzversorgung 9,2 Milliarden DM. Bis zum Jahre 2030 würde sie sich ohne Maßnahmen zur Kostendämpfung auf 36 Milliarden DM nahezu vervierfachen. Bei den Altersrenten sind bereits erste Maßnahmen in Richtung auf eine in mehreren kleinen Schritten ablaufende Verminderung der Leistungen eingeleitet worden. Davon wird auch die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst nicht verschont bleiben können.
Zu Lasten der kommenden Generationen · 327 Zu erwähnen ist schließlich die knappschaftliche Rentenversicherung, deren Ausgaben zu 52 Prozent (1995 rund 14 Milliarden DM) aus dem Staatshaushalt gedeckt werden. Auch insoweit sind Reformen zur Entlastung der Steuerzahler unerläßlich. 5. Anschwellende Soziallasten Die Sozialausgaben haben 1995 gut 34 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht und sind seitdem weiter gestiegen. Die von Jahr zu Jahr zunehmende Arbeitslosigkeit hat dazu ebenso beigetragen wie die Einführung neuer und die Erhöhung bestehender Sozialleistungen (Pflegeversicherung und Familienlastenausgleich als Beispiele). Zwar besteht weithin Einigkeit darüber, daß sich Deutschland die hohen Abgabelasten im schärfer werdenden internationalen Wettbewerb nicht länger leisten kann. Jeder Versuch, Sozialleistungen zu reduzieren, stößt jedoch selbst dort, wo sich die Betroffenen durchaus selbst helfen könnten, auf erbitterten Widerstand. Anspruchsdenken und Besitzstandswahrung sind die Triebkräfte, die jegliche Art von Reformen einstweilen verhindern. Im Verbändestaat erweisen sich alle Bemühungen, die öffentlichen Ausgaben zu senken, als eine überaus dornige Aufgabe. Reformstau ist nicht nur eine Folge der Lähmung in der politischen Willensbildung durch unterschiedliche Mehrheiten in den gesetzgebenden Organen. Oft machen sich Parteien und einzelne Politiker zu Sprachrohren von Interessenverbänden - mit dem Ziel, gewählt zu werden. Martcur Olson hat die Folgen treffend geschildert, die sich in einem parlamentarisch demokratisch regierten Staat ergeben, wenn Interessenverbände die Politik beherrschen (1991, 20 ff, 82 ff., 95 ff). Verteilungskoalitionen vermindern die Effizienz in Wirtschaft und Verwaltung, erschweren den Strukturwandel und senken die Wachstumsrate. Mit der sinkenden Ergiebigkeit der Produktion, so ist hinzuzufügen, verschärfen sich die Verteilungskämpfe, was zu verstärkten staatlichen Interventionen und zu weiter sinkender Effizienz führt. Die staatliche Ausgabenpolitik wird zunehmend zu verteilungspolitischen Interventionen gedrängt, während die allokationspolitischen, wachstumssteigernden Dispositionen der öffentlichen Einnahmen- und Ausgabenpolitik vernachlässigt werden CPeffekoven 1997). Hohe Effizienz der Wirtschaft und hohe Wachstumsdynamik wären gute Voraussetzungen dafür, die Lasten für die kommende Generation erträglicher zu gestalten. Mit dem Steigen der Steuereinnahmen (bei niedrigeren Steuersätzen in einer wachsenden Wirtschaft) könnte die Neuverschuldung gebremst werden; die öffentlichen Ausgaben, speziell für Arbeitslose, würden sinken; verminderte Steuer- und Soziallasten würden Investoren und Innovatoren ermutigen und die Grundlage für eine dauerhafte, sich selbst verstärkende Aufwärtsentwicklung schaffen. Einseitiges Umverteilungsdenken, das einstweilen klar vorherrscht, wird es dagegen der kommenden Generation noch schwerer machen, als es ohnehin der Fall ist, die ererbten Finanzlasten zu schultern. Notwendig wäre die Einsicht, gegen den Widerstand von Interessengruppen aller Art (auch der Gewerkschaften) die kommenden Generationen durch rechtzeitige Einschränkung entbehrlicher (weil dem einzelnen zumutbarer) Leistungen zu entlasten. Die Staatsund die Abgabenquote müssen sinken, das überwiegen kurzfristiger Verteilungsinteres-
328 · Walter Hamm sen muß überwunden werden durch an langfristigen Zielen orientiertes, von Effizienzmaßstäben geleitetes Handeln. Dieser Einsicht steht einstweilen das weit verbreitete und von manchen Politikern seit Jahrzehnten geradezu gezüchtete Anspruchsdenken entgegen. Schon in der Schule werden die Kinder über ihre Rechte und das ihnen Zustehende aufgeklärt. Es wird die bequeme Einstellung verbreitet, daß die Allgemeinheit zuständig sei, wenn es um das Abstellen persönlicher Nöte und Sorgen gehe. Eigene Anstrengungen - auch fur das Gemeinwesen - werden nicht mit dem nötigen Nachdruck eingefordert. Es wird nicht einfach sein, einer Generation so Erzogener zu vermitteln, daß Hilfe künftig vor allem vom Einsatz der eigenen Kräfte erwartet werden muß und daß Hilfe von der Allgemeinheit nur diejenigen erwarten dürfen, die sich nicht selbst helfen können. Das Diktat der leeren öffentlichen Kassen und der Hinweis auf die ohnehin schon überforderten kommenden Generationen müssen dem Anspruchsdenken entgegengehalten werden. 6. Unbefriedigende Schulpolitik Die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Besetzung offener Stellen setzen in einem Hochlohnland eine qualifizierte Ausbildung und ständige Weiterbildung voraus. Diese Erfahrungen machen derzeit rund die Hälfte der fast 5 Millionen Arbeitslosen, die als Ungelernte oder Angelernte schlechte Einstellungschancen haben. Eigentlich sollte alles getan werden, junge Menschen vor diesem Schicksal zu bewahren, sie instandzusetzen, auf Grund einer soliden Schulbildung und einer guten beruflichen Ausbildung auf eigenen Füßen zu stehen und von Hilfen aus öffentlichen Kassen unabhängig zu sein. Wenn die ohnehin schrumpfenden folgenden Generationen zum Teil keine (oder nur eine subventionierte) Arbeit finden können, verschlechtern sich die Aussichten noch zusätzlich, mit den ererbten Finanzlasten fertigzuwerden. Die Grundlagen für einen erfolgreichen beruflichen Lebensweg -werden in der Schule gelegt. Es ist ein Alarmsignal erster Ordnung, daß die Schulen offensichtlich nicht mehr in der Lage sind, fur eine solide Wissensgrundlage zu sorgen. In vielen Ländern werden zuwenig Lehrer eingestellt. Die Klassengrößen nehmen bedenklich zu. Immer mehr Schulstunden fallen aus. Die Leistungsanforderungen sinken. Auf Prüfungen und Zensuren wird immer häufiger verzichtet. Leistungsstreben wird als Ellenbogenmentalität diffamiert. Begabte werden nicht hinreichend gefördert. Das Schulsystem nivelliert, weil es auf Durchschnittsschüler zielt, anstatt nach Begabung und Qualifikation zu differenzieren 0Schlotter 1997, 56). Die Hauptschulen entlassen inzwischen etwa 15 Prozent ihrer Schüler ohne hinreichende Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen. Potentiellen Analphabeten fehlen alle Voraussetzungen für das erfolgreiche Absolvieren einer Lehre. Bei den Klagen über den Lehrstellenmangel werden diese Tatsachen häufig ausgeklammert. Auch in den weiterführenden Schulen wird das Unterrichtsniveau oft durch den Überandrang mangelhaft Begabter gedrückt. Die Anforderungen an die Leistungen der Schüler werden seit vielen Jahren immer weiter herabgesetzt, was die Förderung der Begabten behindert.
Zu Lasten der kommenden Generationen • 329 Internationale Vergleiche der Leistungen von Schülern zeigen, daß die Leistungen in deutschen Abiturklassen in den Naturwissenschaften und in Mathematik fast durchweg schlecht sind - allerdings mit erheblichen Unterschieden in einzelnen Bundesländern. Die Kultusministerkonferenz verhindert innerdeutsche Leistungsvergleiche, die zum Nachteil von Nordrhein-Westfalen und zugunsten von Bayern und Baden-Württemberg ausfielen, obwohl daraus eine ursachenadäquate Strategie zur Verbesserung der schulischen Leistungen abgeleitet werden könnte ("Aufregung über TIMMS-Studie", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.3.1998). Internationale Vergleiche zeigen ferner, daß die jährliche Unterrichtsstundenzahl in Deutschland deutlich niedriger liegt als in allen anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft (mit Ausnahme von Schweden). Das sind schlechte Voraussetzungen fur die Schaffung eines dem deutschen Arbeitskostenniveau entsprechenden überlegenen Humankapitals in breiten Bevölkerungsschichten. An den Hochschulen setzt sich dann die Bildungsmisere fort (Rupp 1997). Für das Studium oft nur mangelhaft Vorgebildete scheitern häufig schon in den ersten Semestern und müssen sich dann - frustriert - umorientieren. Die Ausbildungszeit wird unnötig verlängert. Auf die Masse der verbleibenden Studenten angepaßte Anforderungen senken das Ausbildungsniveau. Die Förderung der Begabten leidet darunter. Außerdem sind die Anreize für ein straffes Studium zu gering. Die kreativsten Lebensjahre verbringen viele junge Menschen rezeptiv lernend in den Hochschulen. Das menschliche Innovationspotential wird schlecht genutzt. Im internationalen Wettbewerb können sich nur Länder dauerhaft behaupten, die die kreativen Kräfte stärken und zur vollen Entfaltung bringen. Das deutsche Bildungssystem löst diese Aufgabe nur höchst unbefriedigend. Der verspätete Eintritt in das Berufsleben ist zudem wegen der Überalterung der deutschen Bevölkerung nachteilig: Die Lebensspanne, in der Beiträge an die Sozialkassen geleistet werden, schrumpft. Das Verhältnis der Beitragszahler zu den Leistungsempfängern verschlechtert sich. Die Belastung des einzelnen durch Beiträge an die Umlagesysteme steigt. Das Hochlohnland Deutschland kann seinen Status gegenüber der rasch zunehmenden Zahl von Konkurrenzländern nur halten, wenn ein stetiger Strom von Innovationen ständig für neue Wettbewerbsvorsprünge sorgt. Dieses Ziel ist ohne die Förderung geistiger Eliten - gerade auch in den Naturwissenschaften - und ohne eine qualitativ hochwertige Ausbildung breiter Schichten von Erwerbstätigen nicht zu erreichen. Wer nichts oder wenig gelernt hat, wird zum Sozialfall, der der Allgemeinheit zur Last fällt. Daß trotz hoher Arbeitslosigkeit im Frühjahr 1998 über 400 000 Arbeitsplätze wegen des Fehlens qualifizierter Bewerber nicht besetzt werden konnten, ist ein Armutszeugnis für das Bildungssystem. Die Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD hat sich in einem Ende 1997 veröffentlichten Memorandum mit Globalisierungsproblemen beschäftigt, in diesem Zusammenhang "größere Anstrengungen in Bildung und Ausbildung" verlangt und die Bundesregierung wegen der Kürzung von Bildungsausgaben kritisiert (Thierse 1998). Die politische und finanzielle Verantwortung für die Schulen und Hochschulen liegt jedoch weit überwiegend bei den Ländern. Hier sind die Hauptverantwortlichen für die sinkenden schulischen, Leistungsanforderungen und für den Überandrang schlecht Be-
330 · Walter Hamm gabter an den Hochschulen mit negativen Folgen für die Ausbildungsqualität zu suchen. Wenn vor allem das Mittelmaß gefördert wird, wenn Chancengleichheit mit Ergebnisgleichheit verwechselt wird, wenn ferner der Wettbewerb zwischen Bildungseinrichtungen bewußt abgelehnt und unterbunden wird, ist es nicht verwunderlich, wenn sich die Voraussetzungen für das Erreichen herausragender Forschungsleistungen verschlechtern. Die Chancen für eine günstige künftige Entwicklung der Beschäftigung, der Produktion und des Lebensstandards sinken und damit die Voraussetzungen für die kommenden Generationen, die hohen auf sie zukommenden Lasten zu tragen. Die schlimme Saat, die heute in den Schulen und Hochschulen ausgebracht wird, wird sich erst dann voll bemerkbar machen, wenn es wegen der hohen künftigen Abgabenlasten in besonderem Maße darauf ankäme, die Arbeitsproduktivität bei hohem Beschäftigungsstand zu steigern, ständig einen breiten Strom von Produkt- und Verfahrensinnovationen zu produzieren und hohe Wirtschaftswachstumsraten zu erzielen. Investitionen in das Humankapital müssen in den Mittelpunkt des politischen Handelns der Länder gerückt werden, wenn die Zukunftsprobleme gelöst werden sollen. 7. Regulierung der Arbeitsmärkte Mit gut ausgebildeten Arbeitskräften allein läßt sich die Zukunft nicht gewinnen. Ein ausreichendes Angebot an international wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen muß hinzukommen. Verkrustungen auf den Arbeitsmärkten - zum Teil vom Gesetzgeber und zum überwiegenden Teil von den Tarifvertragsparteien zu vertreten - verhindern in vielen Fällen Investitionen in Sachkapital und damit den Zuwachs an Arbeitsplätzen und die dringend zu wünschende Entlastung der Sozialkassen. Mehr arbeitende Beitragszahler und weniger Empfänger von Sozialleistungen im erwerbsfähigen Alter - das muß das Ziel der Arbeitsmarktpolitik sein. Wenn die kommenden Generationen vor vermeidbaren Belastungen bewahrt bleiben soll, sind ordnungspolitische Reformen mit dem Ziel einzuleiten, Hindernisse für das Angebot von Arbeitsplätzen dauerhaft zu beseitigen und die Verantwortung für einen hohen Beschäftigungsstand weit stärker als bisher auf diejenigen zu übertragen, die die Arbeitsbedingungen, insbesondere die Preise für Arbeitsleistungen, festlegen, nämlich die Tarifvertragsparteien. Wegen der Vielschichtigkeit der arbeitsmarktpolitischen Zusammenhänge soll an dieser Stelle nur allgemein auf die Notwendigkeit gründlicher Reformen hingewiesen werden (Deregulierungskommission 1991, 133 ff.; Görgens 1997; Berthold 1997). Nur auf einen für die langfristige Entwicklung besonders bedeutsamen Tatbestand sei ausdrücklich eingegangen. Mit der Globalisierung und mit dem dadurch ausgelösten beschleunigten strukturellen Wandel ändern sich die Anforderungen an die Arbeitskräfte. Der beruflichen Fort- und Weiterbildung kommt daher wachsende Bedeutung zu. Ohne neue oder verbesserte Qualifikationen sinken die Chancen von Arbeitslosen, einen Arbeitsplatz zu finden, oft genug auf den Nullpunkt. Für die Arbeitsmarktpolitik stellt sich damit ein doppeltes Problem: Erstens sollte Arbeitslosen, die für eine gefragte Qualifikation ausgebildet werden können, die Chance für
Zu Lasten der kommenden Generationen · 331 eine entsprechende Umschulung eröffnet werden. Welche Formen und Wege zweckmäßig sind, ist später noch zu erörtern. Zweitens sollte denjenigen Arbeitslosen, denen die Voraussetzungen hierfür fehlen, die Möglichkeit gegeben werden, eine einfache berufliche Tätigkeit (zu einem der Arbeitsproduktivität entsprechenden niedrigen Lohn) auszuüben - verbunden mit der Aufstockung des Lohns aus öffentlichen Mitteln. Auch hierauf wird zurückzukommen sein. Da die Anforderungen an die Arbeitskräfte in einem Hochlohnland weiter steigen werden, da aber eine wachsende Zahl von Menschen diese Anforderungen aus Begabungsgründen nicht erfüllen können, kommt der Lösung dieses Teils der Arbeitslosenfrage hohe Bedeutung zu. Eine schrumpfende und finanziell übermäßig belastete Generation kann es sich nicht leisten, einen beträchtlichen Teil des Arbeitskräftebestands auszugrenzen und ausschließlich über Sozialkassen zu alimentieren ganz zu schweigen von den damit verbundenen menschlichen und sozialen Problemen. 8. Subventionen und Regulierungen In Deutschland überwiegen bei weitem die Erhaltungssubventionen. Unrentabel gewordene Arbeitsplätze werden mit öffentlichen Zuschüssen gesichert. Regelmäßig steht fest, daß Subventionen den Strukturwandel nur begrenzte Zeit aufhalten und den Arbeitskräften eine Umorientierung nicht ersparen können. Subventionen verlagern mit anderen Worten die Anpassungslasten auf die Zukunft. Aus der Sicht der heranwachsenden Generation ist die gegenwärtige Subventionspolitik deshalb fragwürdig. Zu den enormen Lasten der Staatsverschuldung, der Überalterung und der Arbeitslosigkeit kommen noch auf die Zukunft verschobene Anpassungslasten hinzu. Zwar sind in Westdeutschland die Erhaltungssubventionen in den letzten Jahren gekürzt worden. Weitere Schritte (etwa im Steinkohlenbergbau) sind vorgesehen. Aber in Ostdeutschland sind in erheblichem Umfang neue Erhaltungssubventionen gewährt worden. In ganz Deutschland dürfte es sich um eine Summe von rund 100 Milliarden DM jährlich handeln. Bedenklich an den Erhaltungssubventionen ist ferner, daß Produktivkräfte in unrentablen Faktorkombinationen gebunden werden, daß der Wohlstand - wegen der mit Subventionen verbundenen Lasten für die Steuerzahler und Kunden - geschmälert wird und daß Investitionen in aussichtsreichen, zukunftsträchtigen Verwendungsrichtungen vermindert werden - mit entsprechenden Folgen für das Arbeitsplatzangebot (Deregulierungskommission 1991). Die bisher eingeleiteten zögernden Deregulierungsschritte bestätigen die früher schon im Ausland gesammelten Erfahrungen, daß die Deregulierung regelmäßig mit dem einsetzenden Wettbewerb, mit sinkenden Preisen und mit wachsender Nachfrage zusätzliche Arbeitsplätze schaffen hilft. Vor allem in der Telekommunikation ist diese Tatsache augenfällig geworden. Konsequenter Subventionsabbau und konsequente Deregulierung mildern die künftigen Lasten für die nachwachsende Generation.
332 · Walter Hamm 9. Ermutigung privater Investoren Die Arbeitslosigkeit läßt sich nur dann nachhaltig abbauen, wenn es gelingt, einen ständig fließenden, breiten Strom von Investitionen in Gang zu setzen. Bei wachsender Beschäftigung und aus einem zunehmenden Bruttoinlandsprodukt lassen sich die künftigen finanziellen Anforderungen leichter erfüllen, ohne daß die privaten Einkommen in leistungsdemotivierender, die Schattenwirtschaft fördernder Weise geschmälert werden. Je früher die Weichen in Richtung auf Wachstumsförderung gestellt werden, um so früher werden die Haushaltsdefizite abgebaut, die Arbeitslosenzahlen gesenkt, die Sozialkassen entlastet, international wettbewerbsfähige Strukturen aufgebaut, Innovationen eingeleitet und Wohlstandsgewinne erzielt werden können. Einstweilen verhindern freilich kurzsichtige Umverteilungsinteressen weithin die notwendige Umorientierung der Steuer- und Ausgabenpolitik (insbesondere der Sozialpolitik). Viele Politiker identifizieren sich aus egoistischen Motiven mit den Besitzstandsschutz fordernden Interessengruppen. Ein hohes Maß an Unsicherheit über die künftige Politik, auch der Lohn- und Arbeitszeitpolitik, hemmt die Aktivität der Investoren und Innovatoren. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat die Vernachlässigung einer angebotsorientierten Politik und das Fehlen einer verläßlichen Orientierung in zentralen Bereichen der Wirtschaftspolitik als Haupthindernisse für die Sicherung eines kontinuierlichen Wachstumspfads moniert (Sachverständigenrat 1997, 156, 172fF.). Es kommt darauf an, die Hemmnisse für Investitionen zu beseitigen, die Leistungsbereitschaft zu fördern und die Motivation der Arbeitenden zu stärken. Was hierzu geändert werden muß, hat der Sachverständigenrat seit vielen Jahren angemahnt. Erforderlich sind insbesondere gründliche Reformen in der Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, der Abbau von staatlichen Regulierungen, verläßliche Rahmenbedingungen, eine modernisierte Infrastruktur und eine maßvolle, die hohe Arbeitslosigkeit berücksichtigende Lohnpolitik. 10. Vernachlässigte öffentliche Infrastruktur In offiziellen Verlautbarungen wird ständig wiederholt, der Standort Deutschland sei unter anderem wegen der hervorragenden, modernen Verkehrsinfrastruktur besonders attraktiv für Investoren. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Der bedarfsgerechte Ausbau des Verkehrswegenetzes leidet nicht nur unter den seit vielen Jahren anhaltenden Mittelkürzungen für Neuinvestitionen, sondern auch unter den durch immer neue Einsprüche verzögerten Ausbauplänen. Einige Landesregierungen haben den Stopp von Straßenbauinvestitionen in ihr Regierungsprogramm aufgenommen und erschweren oder verzögern, wo irgend möglich, den Ausbau von Bundesfernstraßen. Die Hauptstrecken der Eisenbahnen sind nicht in der Lage, auch nur einen nennenswerten Anteil des Straßengüterfernverkehrs zu übernehmen. Entlastungen der Straßen durch Verkehrsverlagerungen auf die Schiene, soweit sie Oberhaupt möglich und für die Kunden attraktiv sind, lösen daher die Kapazitätsprobleme im Straßennetz nicht.
Zu Lasten der kommenden Generationen · 333
Auf den Fernstraßen nehmen infolgedessen Anzahl und Dauer der Engpässe in bedenklichem Ausmaß zu. Knappe Ressourcen werden in wachstumsschädigender Weise verschwendet. Arbeitszeit, Kapital und Energie werden vergeudet. Vermeidbare Umweltbelastungen sind die Folge. Auch die Flughäfen können nicht bedarfsgerecht ausgebaut werden, was zu Verkehrsverlagerungen ins Ausland zu fuhren droht und die Flugzeuge zu energieverschwendenden Warteschleifen zwingt. Die Unterhaltung, Instandsetzung und Erneuerung des vorhandenen Wegenetzes läßt ebenfalls immer häufiger zu wünschen übrig. Wir leben insoweit aus der Substanz - zu Lasten der kommenden Generationen. Versteht man den - umgeschriebenen - Generationenvertrag so, daß die lebende Generation der folgenden ein gut gepflegtes und bedarfsgerecht ausgebautes Wegenetz zu übergeben hat, dann wird derzeit der Generationenvertrag nicht erfüllt. Politischen Vorrang hat seit vielen Jahren die konsumtive Verwendung öffentlicher Haushaltsmittel für Zwecke der Umverteilung. Für investive Ausgaben stehen seit rund 25 Jahren - geldwertbereinigt - immer weniger Mittel zur Verfügung - trotz steigenden Bedarfs. Wegen der langen Planungs- und Bauzeiten (meist über 15 Jahre) wäre es wichtig, dringend notwendige Investitionen zügig einzuleiten. Viel zuwenig wird beachtet, daß Engpässe im Verkehrswegenetz das gesamtwirtschaftliche Wachstum behindern und daß sich auf diese Weise die Beschäftigungschancen in der Zukunft verschlechtern. Das Mißverhältnis zwischen Bedarf und Mittelbereitstellung trifft auch auf einen anderen kapitalschweren Bereich der Infrastruktur zu, nämlich auf kommunale Abwassernetze und auf die Abfallbeseitigung. Es wird geschätzt, daß allein in kommunalen Abwassernetzen Ersatzinvestitionen von über 100 Milliarden DM dringend erforderlich sind. Lecks in Abwassernetzen verunreinigen das Grundwasser und können zu schlimmen langfristigen Folgen für die Trinkwasserversorgung fuhren. Wegen fehlender Mittel unterbleiben überfällige Reparaturen und Erneuerungen. Auch auf vielen alten Deponien und Abfallhalden ticken Zeitbomben. Unterlassungen der Vergangenheit, zum Beispiel fehlende Sicherungen gegen eine Verseuchung des Grundwassers, erforderten eigentlich kostspielige Sanierungsarbeiten, die ebenfalls einen Aufwand von etwa 100 Milliarden DM verursachten. Die kommende Generation wird nicht umhin können, nachzuholen, was die Väter versäumt haben. Lasten werden in die Zukunft verschoben, gerade so, als ob die nachwachsende Generation nicht ohnehin schon viel zu hohe Lasten aufgebürdet bekäme.
III.
Ansatzpunkte für eine langfristig orientierte, das Generationenproblem beachtende Politik
1. Die Chance für eine Wende Punktuelle, am kurzfristigen Interesse von Wählergruppen orientierte staatliche Maßnahmen sind für Politiker verführerisch. Winston Churchill wird das Wort zugeschrieben: Der Politiker denkt an die nächste Wahl, der Staatsmann an die kommende Generation.
334 · Walter Hamm Besteht die Aussicht, daß in Deutschland staatsmännisches Denken nach der Bundestagswahl 1998 die Oberhand gewinnt? Hierfür gibt es durchaus Ansätze, die sich freilich verstärken müßten. Langfristiges Denken ist Politikern aller Schattierungen auf einigen Politikfeldern dann selbstverständlich, wenn breite Wählerschichten mit Macht darauf drängen. Am deutlichsten ist diese Tatsache in der Umweltschutzpolitik zu erkennen: Umweltgefahren, die erst in Jahrzehnten - möglicherweise - akut werden, haben schon jetzt drastische Maßnahmen ausgelöst und dem Umweltschutz zu hoher Priorität in der Rangordnung politischer Ziele verholfen. Dieses Beispiel zeigt, daß sich Politiker dann zu langfristig orientiertem Handeln bereitfinden, wenn ein hinreichender öffentlicher Druck ausgeübt wird. Dazu müssen freilich breite Wählerschichten von der Notwendigkeit eines Umdenkens überzeugt werden. Die Voraussetzungen hierfür sind günstig, wenn sich große Bevölkerungsgruppen ernsthaft betroffen fühlen, mit spürbaren Nachteilen rechnen müssen und schon jetzt die Vorboten von Fehlentwicklungen zu spüren bekommen. Im vorliegenden Fall des sich abzeichnenden Generationenkonflikts trifft dies zu. Es hat sich herumgesprochen, daß in etwa zwanzig Jahren nur noch bescheidene Altersrenten bezahlt werden können und daß gut beraten ist, wer schon heute für eine private Zusatzversicherung spart, zumal da die gesetzliche Rentenversicherung - auch wegen der starken Umverteilungseffekte - für die Masse der Rentner ein äußerst schlechtes Geschäft ist. Gegen den Zwang, in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen, wird sich wachsender Widerstand regen. Dieses Beispiel zeigt, daß die Masse der Bürger in eigenen Angelegenheiten durchaus langfristig denkt. Es bedarf der Weckung des Bewußtseins, daß der Staat zur Zeit gegen die langfristigen Interessen der Bürger handelt. Die Politiker müssen zu spüren bekommen, daß die bisher verfolgte kurzsichtige Strategie nicht mehr klaglos hingenommen wird. Es wird viel von Familienpolitik geredet. Aber was ist das für eine Familienpolitik, die die heute geborenen Kinder unüberschaubar hohen Abgabelasten aussetzt und ihnen zumutet, für den heutigen hohen, zum Teil kreditfinanzierten Lebensstandard den Gürtel enger zu schnallen. Eltern denken in der Regel ganz anders (Hamm 1988). Sie folgen weit überwiegend dem Grundsatz: Unseren Kindern soll es einmal besser gehen als uns. Die staatliche Politik ist dabei, dieses Streben zu vereiteln. Wenn wir heute weiter in den Tag hinein leben und zu keinen Änderungen bereit sind, wird sich zudem morgen wegen der steigenden Abgabenlast produktive, legale Arbeit nicht mehr lohnen - mit schwerwiegenden Folgen für die Sozialkassen und die Steuereinnahmen. Diese Zusammenhänge sind so klar, daß sie jedermann vermittelt werden können. Dem werden sich auch Politiker nicht entziehen können. Überlegungen, die Einkommensumverteilung zu Lasten der kommenden Generation zu beenden, sind - wie ausländische Beispiele beweisen - keineswegs utopisch. In anderen Ländern hat sich gezeigt, daß grundlegende Änderungen wohlfahrtsstaatlicher, in einseitigem Umverteilungsdenken befangener Politik möglich sind. Am klarsten ist diese Wende in Neuseeland herbeigeführt worden. Aber auch in Großbritannien, in Kanada, in den Niederlanden, in Schweden, in Spanien und in den USA ist es gelungen, Übertreibungen der Umverteilungspolitik zu beseitigen, die Machtfülle des Staates zurückzu-
Zu Lasten der kommenden Generationen · 335
schneiden, die öffentliche Neuverschuldung zu beenden, die Selbsthilfe anzuregen und die Ansprüche an die Allgemeinheit erheblich zu drücken. Vor allem geht es darum, den massiven Widerstand der verteilungspolitisch denkenden, den Besitzstand verteidigenden Verbände und Gewerkschaften zu brechen, die entscheidend zur Reformunfähigkeit beitragen. Es ist paradox: Globalisierung und Europäische Währungsunion zwingen wegen des härter werdenden internationalen Wettbewerbs zu mehr Flexibilität, zu strukturellem Wandel, zu mehr Anpassungsfähigkeit und bereitschaft. Mächtige Interessenvertretungen verhindern jedoch durch starres Festhalten an Besitzständen die Anpassung an die veränderten Marktverhältnisse mit der Folge, daß mehr Arbeitsplätze als unvermeidbar verlorengehen. Eine vorausschauende, auf die Erschließung neuer Absatzchancen und auf mehr Arbeitsplätze zielende Strategie läge im Interesse auch der kommenden Generation. 2. Schwerpunkte einer politischen Agenda Die kritische Analyse der derzeitigen Lage hat erkennen lassen, wo mit Reformen anzusetzen ist. Im folgenden werden lediglich stichwortartig einige Schwerpunkte dringlicher Maßnahmen genannt. - Der Staatsanteil am Bruttoinlandsprodukt ist drastisch zurückzufuhren. Das ist möglich, wenn Pläne über einen "schlanken Staat" in den Bundes-, Länder- und Gemeindeverwaltungen realisiert werden: Durchforstung der Staatsaufgaben, Deregulierung, Abbau des Übermaßes staatlicher Interventionen, konsequente Privatisierung, höhere Effizienz der Verwaltung. - Damit werden die Voraussetzungen für eine sinkende Neuverschuldung, für ein vereinfachtes, weniger drückendes, leistungsmotivierendes und ergiebigeres Steuersystem, für die Ermutigung von Investoren, für mehr Beschäftigung und für steigende Beitragseinnahmen der Sozialkassen geschaffen. - Die Rentenversicherung sollte so reformiert werden, daß neben einer beitragsbezogenen Pflichtversicherung finanzieller Spielraum für eine private Zusatzversicherung bleibt. Das bedeutet ein Abschmelzen des Rentenanspruchs bei sinkenden Beitragssätzen für die Pflichtversicherung bei gleichzeitiger Verlängerung der beitragspflichtigen Lebensarbeitszeit und bei versicherungsmathematisch errechneten Abschlägen im Falle des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben. Die Verkürzung der Schul- und Ausbildungszeiten, der frühere Eintritt in das Erwerbsleben und die Heraufsetzung der Altersgrenzen sind unverzichtbare Vorbedingungen dafür, daß die Alterslasten für die kommende Generation tragbar bleiben. Eine private Zusatzversicherung nach dem Kapitaldeckungsprinzip vergrößerte den Kapitalstock, ließe die Zahl der Arbeitsplätze und die Arbeitsproduktivität sowie die Lohneinkommen steigen. - Die gesetzliche Krankenversicherung sollte auf die Grundsicherung schwerer Risiken beschränkt werden, was Raum für private Zusatzversicherungen nach individuellen Präferenzen schaffte. Altersrückstellungen (wie in der privaten Krankenversicherung), die während der Lebensarbeitszeit aus den Beiträgen gebildet werden und die beim Wechsel der Krankenkasse mitgenommen werden können, wären ein geeignetes Mit-
336 · Walter Hamm tel, die hohen Transfers zugunsten der Rentner zu vermindern und die arbeitende Bevölkerung zu entlasten. - Die künftigen Pensionslasten des öffentlichen Dienstes lassen sich vor allem durch fühlbaren Personalabbau, durch Heraufsetzung der Altersgrenzen, durch Eindämmung der Frühpensionierungen, durch versicherungsmathematische Abschläge für Vorruhestandsjahre und durch maßvolle Besoldungserhöhungen begrenzen. Die aus Besoldungskürzungen gebildeten Rückstellungen zur Abkappung der Spitzenbelastungen in den Jahren 2015 bis 2027 sollten in extern verwaltete private Pensionsfonds eingezahlt und damit der politischen Verfügungsmacht entzogen werden. - Für die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst müssen gleichartige Regeln wie für die Pensionen gelten: Eigenbeteiligung der Anspruchsberechtigten an den aufzubringenden Leistungen, Heraufsetzung der Altersgrenzen, versicherungsmathematisch errechnete Abschläge für vorzeitig aus dem Dienst Ausscheidende, Erschwerung der Frühverrentung und maßvolle Besoldungserhöhungen. Im Hinblick auf die Kürzungen in der allgemeinen Rentenversicherung erscheint es nicht mehr vertretbar, über die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst Altersbezüge in Höhe bis zu 92 Prozent des Nettolohns zu sichern. - Mit Schlagworten (wie Sozialabbau, sozialer Kahlschlag, Einschnitte in das soziale Netz und Umverteilung von unten nach oben) sowie mit massiven Drohungen sind bisher nahezu alle Bemühungen um eine Entlastung der Sozialetats auch dort mit Erfolg durchkreuzt worden, wo sich die Betroffenen aus eigener Kraft helfen könnten. Wer behauptet, eine geplante Maßnahme verstoße gegen die "soziale Gerechtigkeit", kann einstweilen noch mit breiter öffentlicher Zustimmung rechnen. Begünstigt wird das Eintreten für den Umverteilungsstaat dadurch, daß viele Menschen meinen, sie zahlten weniger in die öffentlichen Kassen, als sie daraus erhalten. Die Sozialstaatsillusion macht es jenen Politikern leicht, die sogar noch zusätzliche Wohltaten zu Lasten der Abgabepflichtigen verteilen wollen. Es bedarf massiver Aufklärung der Öffentlichkeit darüber, daß der Sozialstaat unbezahlbar geworden ist und die Quellen verschüttet, aus denen Wirtschaftswachstum, beschäftigungsbelebende Dynamik und die Gesundung der öffentlichen Finanzen fließen. Alle Sozialleistungen sind auf den Prüfstand zu stellen und dann zu kürzen, soweit private Not aus eigener Kraft überwunden werden kann. - Das deutsche Schulsystem krankt daran, daß die Bewährung im Wettbewerb weiterhin abgelehnt wird. Das gilt sowohl für den Wettbewerb zwischen Schülern als auch für den Wettbewerb zwischen Schulen und anderen Bildungseinrichtungen im In- und Ausland. Daß Wettbewerb geeignet ist, Schwächen aufzudecken, deren Ursachen zu erkennen und Abhilfen zu schaffen, daß Kinder während ihres späteren Berufswegs stets dem Wettbewerb ausgesetzt sind und daß im internationalen Wettbewerb nur bestehen kann, wer leistungsmotiviert und leistungsbereit ist, erfahren viele Kinder in den Schulen nicht. Das Abitur muß wieder zum Nachweis für die Hochschulreife werden. Abiturnoten sollten vergleichbare Anforderungen zugrunde liegen, wozu ein Zentralabitur beitragen könnte.
Zu Lasten der kommenden Generationen * 337 - Der Arbeitslosigkeit wird nur Herr werden, wer deren strukturelle Ursachen wirksam bekämpft. Nur auf drei Gesichtspunkte sei hingewiesen: Erstens müssen die verkrusteten Regeln fur die Arbeitskosten, fur die Arbeitszeiten und für die Maschinenlaufzeiten weiter gelockert werden, so daß sie die Einstellung von Arbeitslosen nicht behindern. Zweitens müssen die Fort- und die Weiterbildung von Arbeitslosen (mit Zuschüssen der Arbeitsämter) möglichst praxisnah und entsprechend den auf den Arbeitsmärkten gefragten Fähigkeiten - am besten in den Betrieben - vonstatten gehen. Drittens muß wieder ein Niedriglohnbereich geschaffen werden, der auch schlecht qualifizierten Arbeitslosen wieder eine Beschäftigungschance eröffnet, wobei der Anreiz zu arbeiten sowohl durch eine Reform der Sozialhilfe als auch durch Transfers aus öffentlichen Kassen (Kombilohn) zu vergrößern wäre. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, sollte mit der Kürzung der öffentlichen Hilfen rechnen müssen. - Der Abbau von Subventionen, Regulierungen und staatlich geschützten Monopolstellungen muß auch gegen den Widerstand der Begünstigten durchgesetzt werden, und zwar wegen der langfristig positiven Beschäftigungswirkungen von Umstrukturierungen, wegen der damit regelmäßig verknüpften steigenden Arbeitsproduktivität (mit günstigen Folgen für die Fähigkeit, höhere Löhne zu bezahlen) und wegen der leistungssteigernden Wirkungen des Wettbewerbs. Ausländische Erfahrungen sprechen dafür, Subventionen generell und in großen, vorangekündigten Schritten abzubauen. Auf Deregulierungen und den Abbau von Interventionen können sich die Betroffenen wegen des zeitraubenden Gesetzgebungsverfahrens einstellen. - Von der Ermutigung der Investoren hängt es maßgeblich ab, ob die Arbeitslosigkeit fühlbar vermindert werden kann. Insoweit ist auf die umfassenden Analysen der Deutschen Bundesbank und des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu verweisen. Eine nachhaltige und verläßliche steuerliche Entlastung, eine fühlbare, auf Dauer angelegte Senkung der gesetzlichen Lohnzusatzkosten, die Fortsetzung des Deregulierungskurses, der Abbau von Interventionen, die Beschleunigung von Genehmigungsprozeduren, Arbeitsmarktreformen und eine moderate, betriebsnahe Lösungen ermöglichende Lohnpolitik sind vorrangig zu nennen. - In den öffentlichen Haushalten ist eine deutliche Abwendung von kurzfristigen, allein verteilungspolitisch motivierten Zielen hin zu langfristigen, dringliche öffentliche Investitionen verstärkt berücksichtigenden finanzpolitischen Zielen erforderlich. Allein mit der zum Teil bereits praktizierten privaten Vorfinanzierung von Infrastrukturinvestitionen ist es nicht getan, weil auch in diesem Fall Verzinsung und Tilgung auf die nachwachsenden Generationen abgewälzt werden. Zu fordern ist, daß der für Investitionen verfügbare Teil der öffentlichen Haushaltsmittel wieder deutlich vergrößert wird, was bedeutet, daß die konsumtive Verwendung von Mitteln einzuschränken ist.
IV. Schlußbemerkung Ist es irreales Wunschdenken, Hoffnungen auf eine sozial-, wirtschafts- und finanzpolitische Wende in Deutschland zu hegen? Müssen wir stoisch das sich anbahnende Unheil für unsere Kinder und Enkel über uns ergehen lassen? Sicherlich nicht. Zu klar und
338 · Walter Hamm bedrohlich ist die Lage, in die wir die kommenden Generationen versetzten, wenn sich nichts änderte. Nicht auszuschließen ist allerdings, daß es erst noch schlimmer kommen muß, ehe sich eine Mehrheit für grundlegende Reformen ergibt. Ein solches pathologisches Lernen wäre für unser Gemeinwesen - schon wegen der weiter steigenden öffentlichen Verschuldung - sehr teuer und für die nachfolgende Generation fatal. Unzutreffend ist die Vorstellung, in einer Gefälligkeitsdemokratie dächten Politiker unvermeidbarer Weise kurzsichtig (nämlich auf Wahlperioden beschränkt) und setzten auf die Bestechung der Wähler. Der Reformstau lasse sich daher nicht überwinden. Viele Länder mit parlamentarischer Demokratie haben durch Taten bewiesen, daß eine Umkehr möglich ist. Langfristig orientierte Reformen, die den Wählern viel zumuteten, haben sich dank politischer Überzeugungsarbeit dort durchsetzen lassen. Auch in Deutschland muß darauf hingewirkt werden, daß immer mehr Wähler die Ausbeutung der kommenden Generationen verurteilen und energisch Rücksicht auf die Interessen der Kinder und Enkel einfordern. Dann ist die Wende möglich.
Literatur Berthold, Norbert, und Rainer Fehn (1997), Aktive Arbeitsmarktpolitik - wirksames Instrument der Beschäftigungspolitik oder politische Beruhigungspille?, ORDO, Bd. 48, S. 411 - 435. Bundesregierung (1996), Bericht über die im Kalenderjahr 1993 erbrachten Versorgungsleistungen im öffentlichen Dienst sowie über die Entwicklung der Versorgungsausgaben in den nächsten 15 Jahren (Entwurf), Bonn. Deregulierungskommission (1991), Marktöffnung und Wettbewerb, Stuttgart. Dönges, Juergen B., u.a. (Kronberger Kreis) (1994), Mehr Langfristdenken in Gesellschaft und Politik, Band 28 der Schriftenreihe des Frankfurter Instituts für wirtschaftspolitische Forschung, Bad Homburg. Görgens, Egon (1997), Arbeitsmarktinstitutionen und Beschäftigung in Deutschland, ORDO, Bd. 48, S. 385 -410. Hamm, Walter (1988), Zeithorizonte in der Wirtschaftspolitik, in: Ludwig-Erhard-Stiftung (Hrsg.), Ludwig-Erhard-Preis fur Wirtschaftspublizistik 1988, Bonn, S. 39 - 51. Institut der deutschen Wirtschaft (1998), Altersversorgung im öffentlichen Dienst - Reformen sind zumutbar, Informationsdienst, 24 lahrg, Nr. 10, S. 3. Institut der deutschen Wirtschaft (1998), Öffentlicher Dienst. Zusatzrente auf dem Prüfstand, Informationsdienst, 24. Jahrg., Nr. 13, S.3. Olson, Mancur (1991), Aufstieg und Niedergang von Nationen, 2. Auflage, Tübingen. Peffekoven, Rolf (1997), Finanzpolitik im Konflikt zwischen Effizienz und Distribution, ORDO, Bd. 48, S. 119-136. Rupp, Hans Heinrich (1996), Bemerkungen zur Lage der Forschung an den deutschen Universitäten, ORDO, Bd. 47, S. 3 -12. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1997), Wachstum, Beschäftigung, Währungsunion - Orientierungen fur die Zukunft, Stuttgart. Schlotter, Hans-Günther, Wirtschaftsordnungspolitik an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, in: Hans-Günther Schlotter (Hrsg.), Ordnungspolitik an der Schwelle des 21. Jahrhunderts, Baden-Baden, S. 21 - 72. Thierse, Wolfgang (1998), Globalisierung - Herausforderung und Chance, Wirtschaftskurier, 40. Jahrg., Januar 1998, S. 2. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft (1998), Grundlegende Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, Bonn.
Zu Lasten der kommenden Generationen · 339 Zusammenfassung Die deutsche Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik neigt dazu, finanzielle Lasten in großem Stil in die Zukunft zu verlagern. Diese Strategie findet einstweilen noch den Beifall der Wähler, weil sie die Abgabepflichtigen entlastet und weil die Folgen für die kommenden Generationen nicht durchschaut werden. Bedenklich ist die intergenerative Lastenverschiebung vor allem deswegen, weil die deutsche Gesamtbevölkerung schrumpft, die Überalterung erheblich zunimmt und das Arbeitslosenproblem ungelöst ist. Der Verfasser verdeutlicht, um weiche enormen Größenordnungen es sich auf den verschiedenen Politikfeldern handelt (öffentliche Verschuldung, Renten- und Krankenversicherung, Pensionen und Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst, Soziallasten, vernachlässigte öffentliche Infrastruktur). Außerdem werden die ungünstigen politischen Rahmenbedingungen fur die Bewältigung der künftigen Lasten geschildert (leistungsdemotivierendes Schulsystem, Mängel in der Fort- und Weiterbildung, Regulierung der Arbeitsmärkte, Subventionen, Entmutigung der Investoren). Die kommenden Generationen werden durch die viel zu kurzen politischen Zeithorizonte in bedenklicher Weise überfordert. Aus der Mängelliste werden Ansatzpunkte für notwendige Reformen abgeleitet. Entgegen der Ansicht, in einer Gefalligkeitsdemokratie seien Wohlfahrtsstaat und zeitliche Lastenverschiebung als unabwendbar hinzunehmen, wird unter Hinweis auf zahlreiche ausländische Beispiele begründet, warum auch in Deutschland eine Wende zugunsten der kommenden Generationen möglich ist. Summary The Burden of Future Generations German social, financial and economic policy tends to shift large financial burdens on to future generations. At the time, this policy is applauded by the electorate as it reduces the current amount of taxes and welfare contributions payable. The consequences of this policy for future generations are not yet fully understood. The shifting of financial burdens on to future generations poses serious problems as the German population is shrinking, the proportion of elderly people in the population is already disproportionately high and continues to increase and the problem of unemployment has still not been solved. The author shows the magnitude of the problems in the various policy issues (public indebtedness, health insurance, public and state pension schemes, welfare benefits, neglected public infrastructure). Moreover, he shows how unfavourable political circumstances make it difficult to successfully transfer burdens to the future (school system not promoting excellence, deficiencies in further education and in-service training, regulation of job markets, subsidies, demoralisation of investors). Due to short political time horizons, future generations will be overtaxed by the burdens placed on them.
340 · Walter Hamm From this list of deficiencies the author selects starting-points for necessary reforms. The author counters the view that the welfare state and the shifting of burdens from present to future generations is inevitable in a democracy where politicians are eager to please the electorate. Examples from other countries are cited to show why it is still possible to change course in Germany as well in favour of future generations.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Dirk Meyer
Das System der Freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht
I. Einleitung Die Freie Wohlfahrtspflege1 steht unter einem erheblichen Modernisierungsdruck. So erfaßt der Umbau des Sozialstaates diefreigemeinnützigenEinrichtungsträger und deren Verbandsorganisationen in mindestens dreifacher Hinsicht: Erstens sind im Zuge zahlreicher Gesetzesreformen die staatlich garantierten Sozialleistungen, deren Anspruchsvoraussetzungen sowie die Entgeltregelungen verändert worden.2 Mit Ausnahme der Pflegeversicherung handelt es sich aus der Sicht der Betroffenen überwiegend um Verschlechterungen. Als Anbieter sozialer Dienstleistungen ist auch die Freie Wohlfahrtspflege von diesen Korrekturen betroffen. Die Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip, das in der Vergangenheit die Erstattung aller nachgewiesenen Kosten sicherstellte, und die Einfuhrung prospektiver, im vorhinein ausgehandelter Entgelte sowie die Budgetierung von Leistungen haben die finanzielle Grundlage der meisten Einrichtungen geschmälert und dasfinanzielleRisiko weitgehend auf diese verlagert. Zweitens ist die absolute Vorrangstellung der Freien Wohlfahrtspflege gegenüber privat-gewerblichen Einrichtungen ins Wanken geraten, so daß ihr Marktanteil mittelfristig in manchen Bereichen rückläufig sein dürfte. Hervorgerufen wurde diese Entwicklung durch gesetzliche Neuregelungen3 sowie durch Harmonisierungsbestrebungen im Rahmen des EU-Binnenmarktes. Darüber hinaus hat die Bedeutung der nicht angeschlossenen freien Selbsthilfe- und Helfergruppen aufgrund angepaßter Problemlösungen 1 Gesamtheit aller freigemeinnützigen Einrichtungsträger, hier: speziell diejenigen, die in den sechs Wohlfahrtsverbänden (Arbeiterwohlfahrt AWO, Deutscher Caritasverband DC, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband DPWV, Deutsches Rotes Kreuz DRK, Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland DW, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ZWST) organisiert sind. Merkmale sind eine nicht erwerbswirtschaftliche, auf Gewinnerzielung ausgerichtete sachzielbezogene Tätigkeit im Sektor der sozialen Dienstleistungen. 2 Dies gilt insbesondere für die Gesetzliche Krankenversicherung, GKV (SGB V), die Soziale Pflegeversicherung (PflegeVG/SGB XI), das Bundessozialhilfegesetz (BSHG), das Schwerbehindertengesetz (SchwbG) sowie das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG/SGB VIII). 3 Siehe entsprechende Reformen des BSHG, des PflegeVG sowie des KJHG. Wurde bislang der Freien Wohlfahrtspflege der absolute Vorrang vor staatlichen und privat-gewerblichen Trägern eingeräumt, so bestimmt heute zunehmend der Kostendruck die Konkurrenzsituation. Periodische Neuverhandlungen der Leistungsbeziehungen haben insbesondere in den Bereichen der Pflege und der Kinder- und Jugendhilfe zu einer Aufweichung des Bestandsschutzes geführt. Eine fast vollständige Gleichstellung der Anbieter wurde im PflegeVG verwirklicht.
342 · Dirk Meyer und einer geänderten Förderpraxis erheblich zugenommen. Drittens fuhrt die Finanzknappheit der Kommunen und der Länder zu starken Kürzungen der Subventionen, soweit keine gesetzlichen Ansprüche bestehen.4 Krisenzeichen sind des weiteren stagnierende Spendenaufkommen sowie eine stark rückläufige Tendenz der ehrenamtlichen Arbeit. Damit wird nicht nur die herkömmliche materielle Basis freigemeinnütziger Einrichtungsträger angegriffen, zugleich wird die Sonderstellung der Freien Wohlfahrtspflege in Frage gestellt. Zudem ist die Freie Wohlfahrtspflege durch Skandalmeldungen in den Medien sowie durch Aufdeckungen der Landesrechnungshöfe in die öffentliche Kritik geraten.5 Dazu rechnen die Manipulation von Förderanträgen (Schleswig-Holstein), eine überhöhte Abrechnung von Kosten (Niedersachsen, Schleswig-Holstein), eine verdeckte Rücklagenbildung aus nicht ausgegebenen öffentlichen Zuschüssen (Niedersachsen, SchleswigHolstein), die Fehlleitung und zweckwidrige Verwendung von Projektzuschüssen (Care Deutschland, Spitzenverbände auf Bundesebene) bis hin zu offensichtlichen Verschwendungen und Veruntreuungen (AWO Brandenburg, DRK-Torgau, AWO Ravensburg, Landschaftsverband Westfalen-Lippe) sowie Begünstigungen Dritter (Caritas München).6 Skandale, die es im übrigen auch in der Staats- und Privatwirtschaft gibt, sind gemeinhin spektakuläre Einzelfalle. Einem ordnungstheoretisch interessierten Ökonomen dienen sie als Anlaß fur eine Analyse der zugrunde liegenden Strukturen, die diese Spielräume zulassen. Deshalb ist die nachfolgende Betrachtung nicht in erster Linie eine Kritik an der Freien Wohlfahrtspflege, sondern vornehmlich eine Kritik an den staatlich vorgegebenen Ordnungsbedingungen, unter denen diese Einrichtungen arbeiten. Angesprochen sind deshalb vor allem der Gesetzgeber sowie die staatlichen Zuwendungs- und Auftraggeber, die diese Strukturen geschaffen und zu verantworten haben. Erst in zweiter Linie trifft die Kritik die Freie Wohlfahrtspflege selbst, die ihren hohen ethischen Ansprüchen gegebenfalls nicht gerecht wird. Eine marktwirtschaftlich ausgerichtete Ordnungspolitik ist vor dem weitgehend akzeptierten Paradigma zu sehen, daß wettbewerbliche Strukturen eine Konsumentensouveränität im Sinne einer nachfragegerechten (Effektivitätsziel), kostengünstigen (Effizienzziel) und dynamisch angepaßten (Anpassungs-, Innovationsziel) Versorgung gewährleisten. Die Knappheit der Mittel erfordert volkswirtschaftlich eine Entscheidung
4 Zum einen betriflt dies die jährlich auszuhandelnden Globaldotationen an die Landesarbeitsgemeinschaften (LAGFW) und die Landeswohlfahrtsverbände, zum anderen zweckgebundene Zuschüsse für freiwillige soziale Aufgaben (Drogenhilfe, Beratungseinrichtungen etc.) an die Einrichtungsträger. 5 Vorab sei angemerkt, daß die Medien entsprechende Vorfälle gerne aufgreifen und zum Teil vereinfachend oder gar verfälschend darstellen. Dies spiegelt jedoch auch eine sinkende Akzeptanz der Freien Wohlfahrtspflege in der Bevölkerung wider. Siehe hierzu die Untersuchungsergebnisse bei Hegner (1992, 181 f.). 6 Siehe Konzerne unterm Kreuz, in: Der Spiegel, Nr. 52/1995; Wohlfahrt im Rolls-Royce, in: Capital, Nr. 12/1996; verschiedene Berichte der Landesrechnungshöfe; Seibel (1991, 2 ff.). Zum Teil handelt es sich um nicht abschließend geklärte Vorwürfe und schwebende Verfahren. In anderen Fällen kam es zu Schließungen von Einrichtungen, vereinzelten Konkursen und gerichtlichen Verurteilungen.
Das System derfreienWohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 343 über deren Rationierung auf mögliche Verwendungszwecke. Struktur und Versorgungsgrad staatlich veranlaßter sozialer Dienstleistungen lassen sich nur politisch bestimmen. Diese Wertediskussion sollte möglichst offen erfolgen, indem auch die Alternativkosten einer getroffenen Entscheidung im Sinne einer entgangenen Nutzenstiftung dieser Mittel an anderer Stelle aufgezeigt werden.7 Darüber hinaus erfordert die Mittelknappheit eine möglichst wirtschaftliche Leistungserstellung, damit keine wertvollen Ressourcen verschwendet werden. Nur dieser Fragestellung widmet sich die folgende Kritik am System der Freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht.
II. Zur volkswirtschaftlichen Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege In einem marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen haben die Wohlfahrtsverbände als WertIntermediäre zwischen Staat und Bürgern aus liberaler-ordnungstheoretischer haltung wichtige Funktionen. Zusätzlich zu den Systemen staatlicher Zwangsabgaben erschließen freiwillige private Hilfeleistungen Mittel in erheblichem Umfang. So betrug das bewertete Arbeitsvolumen der ehrenamtlichen Tätigkeit zusammen mit dem Spendenaufkommen 1996 etwa 15 Mrd. DM. Gemessen an den Nettoausgaben für die Sozialhilfe entspricht dies einem Anteil von 35,2 %.8 Des weiteren kommt es zu einer Bündelung privater Hilfeleistung durch die Wohlfahrtsverbände. Von ihnen wird vielfach ein ausgeprägteres Problembewußtsein und mehr Sachverstand als vom Staat und den privat-gewerblichen Trägern erwartet, wenn es um die Bereitstellung sozialer Dienste geht Darüber hinaus war die Freie Wohlfahrtspflege in der Vergangenheit Vorreiter im Aufbau neuartiger sozialer Dienste zur Bewältigung menschlicher und sozialer Not. In ihrer Funktion der Sozialanwaltschaft ist sie zugleich Sprachrohr und Interessenvertretung der sozial Bedürftigen gegenüber Staat und Gesellschaft. Die sechs Spitzenverbände
(Tabelle 1) unterhalten (1996) 91.000 Einrichtungen mit
7 Ein Beispiel ist die Folge eines Preis- bzw. Kostendrucks auf die Qualitätskomponente. In Teilbereichen, die wie bei psychologischen Beratungen oder Jugendheimen durch eine geringe Transparenz, Nachprüfbarkeit und Kontrolle gekennzeichnet sind, kann es zu einer politisch nicht gewünschten Qualitätsabsenkung kommen. Unter der Prämisse einer auf die Handlungsfolgen abzielenden Ethik (Folgenethik) können diese möglichen Auswirkungen nicht unberücksichtigt bleiben. Zur Folgenethik siehe Marhold und Schibilsky (1991, 3-17). Siehe ähnlich den Begriff der Verantwortungsethik bei Weber (1956/1919, 174 ff.). 8 Eine Abschätzung der ehrenamtlichen Tätigkeit gestaltet sich aus verschiedenen Gründen als schwierig. Neben Abgrenzungsproblemen bestehen erhebliche Erfassungs- und Bewertungsprobleme. Siehe Schwartz (1996, 259 ff). Geht man von 1,5 Mill. Mitarbeitern aus, die in der Woche durchschnittlich 4,5 Stunden ehrenamtlich tätig sind, ergibt sich ein geschätztes Arbeitsvolumen von 351 Mill. Stunden pro Jahr, was umgerechnet etwa 233.000 Vollzeitkräften entspricht. Siehe Schwartz (1996, 262). Hierbei wurde eine effektive Jahresarbeitszeit von 1503,8 Stunden (1996) je Vollzeitkraft berücksichtigt. Siehe Institut der Deutschen Wirtschaft (1997, Tab. 33). Eine Bewertung nach dem Marktpreis- oder Ersatzpersonenkonzept würde von einer Tätigkeit, die deijenigen der hauptamtlich Beschäftigten vergleichbar ist, ausgehen. Demgemäß wären als Arbeitskosten pro Stunde 32,33 DM anzusetzen. Danach ergäbe sich eine geschätzte Wertschöpfimg aus ehrenamtlicher Tätigkeit von 11,34 Mrd. DM jährlich, die zugleich eine Kostenentlastung öffentlicher Haushalte darstellt. Bock (1992, 381) gibt den Wert mit 5,31 Mrd. DM erheblich niedriger an. Vage Schätzungen zum Spendenaufkommen fur human-caritative Zwecke belaufen sich auf 4 Mrd. DM. Siehe hierzu Thiel (1994, 293 f.).
344
· Dirk Meyer
3,23 Mill. Betten und Plätzen. 9 Hinzuzurechnen sind 3 5 . 0 0 0 Selbsthilfe- und Helfergruppen, die sich den Verbänden aufgrund organisatorischer Unterstützung und des Zuganges zu Fördermitteln als kooperative Mitglieder angeschlossen haben. Als bedeutender Arbeitgeber beschäftigen die Einrichtungsträger der Freien Wohlfahrtspflege zusammen 1,12 Mill, hauptberufliche Mitarbeiter, davon 0,40 Mill, auf Teilzeitbasis. D i e s entspricht einem Anteil von 3,2 % an den inländischen Erwerbstätigen in Deutschland. 1 0 Daneben sind ca. 1,5 Mill, ehrenamtliche Mitarbeiter in der Freien Wohlfahrtspflege tätig. 1 1 Hinzu kommen 9 9 . 0 0 0 Zivildienstleistende, 4 9 . 0 0 0 ABM-Beschäftigte s o w i e etwa 1 2 0 . 0 0 0 Schüler und Rehabilitanden. 12 Mit jeweils über 4 0 0 . 0 0 0 Beschäftigten sind die Caritas und das Diakoniesche Werk die größten
nichtstaatlichen
Arbeitgeber
Deutsch-
lands. 13
9 Die Zahlenangaben beziehen sich auf den Stand 1.1.1996. Siehe Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) (1997). 10 Berechnung nach Angaben der BAGFW (1997, 7) und dem Statistischen Bundesamt StBA (1996). 11 Siehe BAGFW (1994, 6). Während die aktuelle Gesamtstatistik der BAGFW (1997, 7) die Zahl mit 2,5 - 3 Mill, ausweist, sind durch die Berufsgenossenschaft ftlr Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) lediglich 493.000 erfaßt worden. Die BAGFW beruft sich bei Rückfrage auf Angaben der ad-hoc-Aibeitsgruppe „Ehrenamt und freiwilliges soziales Engagement", die alle Mitglieder von Selbsthilfe- und Helfergruppen mit einrechnet. Dies dürfte zu einer starken Überschätzung fuhren. Siehe auch Boeßenecker (1996, 271) und Schwartz (1996, 259 ff.) sowie Göll (1991, 250 ff.). 12 Angaben des Bundesamtes fiir den Zivildienst (Köln), der Bundesanstalt ftir Arbeit (Nürnberg) und der BGW (Hamburg). 13 Damit haben die Siemens AG mit 379.000 und die Daimler Benz AG mit 290.000 Beschäftigten eine geringere Belegschaft als die beiden Wohlfahrtsverbände. Siehe die Übersicht der 100 größten Unternehmen Deutschlands, Handelsblatt vom 30.6.1997. Dieser Vergleich ist nicht ganz unproblematisch, da die verbandlich organisierten freigemeinnützigen Einrichtungsträger wirtschaftlich und rechtlich unabhängige Sozialunternehmen sind, während es sich bei den oben genannten Unternehmenszusammenschlüssen um Konzerne handelt.
Das System der freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 345 Tabelle 1:
Größenmerkmale der Freien Wohlfahrtspflege.1
Sechs Wohlfahrtsverbände: Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Caritasverband, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. 91.204 3.234.339
Einrichtungen: Betten / Plätze: Selbsthilfe- und Helfergruppen (unabhängig von Einrichtungen): hauptberufliche Mitarbeiter:2 davon Teilzeit: ehrenamtliche Mitarbeiter: Zivildienstleistende: ABM - Beschäftigte Schüler / Rehabilitanden
34.914 1.121.043 397.278 ca. 1,5 Mio. 98.615 49.155 ca. 120.000
Spendenaufkommen: bewertete ehrenamtliche Tätigkeit:
ca. 4 Mrd. DM ca. 11 Mrd. DM
Marktanteile:
(15.10.1996) (31.12.1996)
37,6% der Betten in Allgemeinen Krankenhäusern (31.12.1995) 61,1% aller Altenhilfeplätze (30.06.1995) 80,3% aller Behindertenhilfeplätze (30.06.1995) 69,0% aller Jugendhilfeplätze (31.12.1990) 68,0% aller Beratungsstellen für Erziehung, Jugend, Familie (31.12.1994) 76,0% aller Beratungsstellen für Drogen- und Suchtabhängige (31.12.1994) 75,0% der Rettungsdienste (31.12.1996)
1) Die Angaben beziehen sich auf den Stand vom 1.1.1996, soweit nicht anders vermerkt. 2) Ohne Mitarbeiter auf Honorarbasis. Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. (Hrsg.) (1997), Gesamtstatistik der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, Bonn; Bank für Sozialwirtschaft (Hrsg.) (O.J.), Zur volkswirtschaftlichen Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik, o.O.; Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (1996), Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden; Auskünfte des Instituts für Rettungsdienst des DRK, des Bundesamtes für den Zivildienst, der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) sowie der Bundesanstalt für Arbeit (BAA); eigene Berechnungen.
346 · Dirk Meyer Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege bemißt sich vornehmlich nach ihrem Beitrag zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung: Hauptamtlich Beschäftigte: Die 1,21 Mill, hauptamtlichen Mitarbeiter arbeiten im Jahr durchschnittlich 1.207 Stunden (effektive Jahresarbeitsstunden).14 Legt man ein durchschnittliches Stundenentgelt von 18,88 DM15 zugrunde und rechnet 71,2 % 16 als Personalzusatzkosten hinzu, ergeben sich Arbeitskosten in Höhe von 32,33 DM pro Stunde. Daraus resultiert ein Beitrag zum Volkseinkommen von 43,75 Mrd. DM (1996). Zivildienstleistende: Die 99.000 Zivildienstleistenden verursachen Beschäftigungskosten von insgesamt ca. 2,69 Mrd. DM pro Jahr, die vom Bund und den Einrichtungen getragen werden.17 ABM-Beschäftigte: Durch die 49.000 in sozialen Diensten beschäftigten ABM-Kräfle entstehen Arbeitskosten einschließlich Lohnnebenkosten in Höhe von 2,33 Mrd. DM. 18 Zusammen ergibt sich eine Wertschöpfung der abhängig Beschäftigten in Höhe von 48,77 Mrd. DM (1996). Bezogen auf die Wertschöpfung aus unselbständiger Arbeit entspricht dies einem Anteil von 2,7 % bzw. 1,8 % am gesamten Volkseinkommen. Da einbehaltene Gewinne, Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung zwar in nicht unerheblichem Umfang bei den freigemeinnützigen Trägern entstehen dürften, diese jedoch schwer zu ermitteln sind, wird der Anteil der Freien Wohlfahrtspflege am Volkseinkommen unterschätzt.19 Die volkswirtschaftliche Leistung der Freien Wohlfahrtspflege hätte außerdem die Wertschöpfung der ca. 1,5 Mill. Ehrenamtlichen zu berücksichtigen. Setzt man die Arbeitskosten mit der Wertschöpfung von 48,77 Mrd. DM gleich, und unterstellt man einen Anteil der Arbeitskosten an den gesamten Produktionskosten im sozialen Dienstleistungssektor in Höhe von 70 %, so ergibt sich ein jährlicher Umsatz der Freien Wohlfahrtspflege von 69,7 Mrd. DM.20 Die Arbeitsgebiete der Freien Wohlfahrtspflege umfassen die Bereiche Krankenhäuser, Jugendhilfe, Familienhilfe, Altenhilfe, Behindertenhilfe, Einrichtungen und Dienste
14 Eigene Berechnungen nach Angaben der BGW. 15 Eigene Berechnungen nach Angaben der BGW ergeben ein Stundenentgelt von 24,17 DM (einschließlich Urlaubs-, Weihnachtsgeld und Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall). Zieht man diese Lohnnebenkosten ab, so ergibt sich ein Bruttoentgelt von 18,88 DM pro Stunde. 16 Es wurden die Lohnzusatzkosten im Produzierenden Gewerbe zugrunde gelegt. Siehe Institut der Deutschen Wirtschaft (1997, Tab. 54). 17 Eigene Berechnungen nach Angaben des Bundesamtes für den Zivildienst. 18 Eigene Berechnungen nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit. Hierbei wurde vorausgesetzt, daß der Bundeszuschuß 75 % des Arbeitsentgelts beträgt. Siehe § 94 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). 19 Eigene Umfragen bei Einrichtungsträgern ergaben Umsatzrenditen, die mit der Nettoumsatzrendite von 1,5 % (1995) im Durchschnitt aller westdeutschen Unternehmen durchaus vergleichbar waren. Hinzu kommen Stiftungseinkiinfte. Siehe Institut der Deutschen Wirtschaft (1997, Tab. 72). 20 Christa und Halfar (1992, 22) beziffern den Umsatz auf 45 - 70 Mrd. DM, Mecking (1996, 452) nennt 60 Mrd. DM nach einer Schätzung der European Anti Poverty Network; ähnlich Oppi (1992, 155) mit 60 - 65 Mrd. DM und Spiegelhalter (1990, 12 und 14 f.) mit 42 Mrd. DM.
Das System der freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 347 für Personen in besonderen sozialen Situationen sowie Aus-, Fort- und Weiterbildungsstätten für soziale und pflegerische Berufe. Als Marktfiihrer im Bereich sozialer Dienstleistungen dominiert die Freie Wohlfahrtspflege gegenüber öffentlichen und privaten Unternehmen in vielen Teilbereichen (Tabelle 2). Freigemeinnützige Träger bieten 37,6% aller Krankenbetten, 61,1% aller Altenhilfeplätze, 80,3% der Behindertenplätze sowie 69,0% aller Jugendhilfeplätze an. Im Rettungsdienst vereinigen das Deutsche Rote Kreuz, der Arbeiter-Samariter-Bund, die Johanniter-Unfall-Hilfe und der MalteserHilfsdienst 75% der Marktanteile. Private Anbieter sind insbesondere in der Altenhilfe (18,8%), in der Behindertenhilfe (12,1%) und im Rettungsdienst (12,5%), außerdem im Bereich der Spezialkliniken vertreten. Das Angebot des öffentlichen Sektors konzentriert sich auf die Bereiche Krankenhäuser (56,7% der Betten) und Jugendhilfe (29,8 %).
Tabelle 2:
Marktanteile für ausgewählte soziale Dienstleistungsmärkte Stand zum ...
Allgemeine Krankenhäuser (Betten)
Freie WohlPrivatgewerblicher fahrtspflege in Sektor in % % 31.12.1995 37,6 5,7
Öffentlicher Sektor in % 56,7
Altenhilfe (Plätze)
30.06.1995
61,1
18,8
18,7
Behindertenhilfe (Plätze)
30.06.1995
80,3
12,1
6,0
Jugendhilfe (Plätze)
31.12.1990
69,0
29,8
Beratungsstellen für Erziehung, Jugend, Familie Beratungsstellen für Drogen- und Suchtabhängige
31.12.1994
68,0
1,1 k.A.
k.A.
31.12.1994
76,0
k.A.
k.A.
31.12.1996
75,0
12,5
12,5
Rettungsdienst
Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (1996), Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden; Statistisches Bundesamt (1995), Fachserie 12, Reihe 6.1, Wiesbaden; Heimstatistik nach §1 Heimgesetz; Beck (1992), Einrichtungen und Peronal der Jugendhilfe 1990, in: Wirtschaft und Statistik, 456-462; Angaben des Instituts ftir Rettungsdienst des DRK. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege können deshalb bei einem gemeinsamen leitbildorientierten Angebotsprofil (Corporate Identity) als marktmächtige Dienstleistungsmultis (Weuthen 1990, 273). bezeichnet werden, wenngleich die einzelnen Wohlfahrtsunternehmen wirtschaftlich und rechtlich selbständig sind. Der Markt für soziale Dienste kennzeichnet ein hohes Wachstum. Nimmt man als Basis das Jahr 1970, so ist die Zahl der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege bis 1996 um 74 %, die Anzahl der Betten und Plätze um 50 % und die Zahl der hauptamtlich Beschäftigten um 194 % angestiegen (BAGFW 1997, 11). Die Einrichtungen sind kleiner
348 • Dirk Meyer geworden; die Betreuungsintensität wurde auch unter der Berücksichtigung von Teilzeitbeschäftigten gesteigert (Hegner 1992, 177). Gegenüber 1993 haben sich die Zahl der Einrichtungen um 13 %, die Betten- und Plätze-Kapazität um 10 % und die Zahl der Beschäftigten um knapp 20 % erhöht, wobei der Anstieg der Teilzeitkräfte mit 34 % deutlich höher ausfiel (.BAGFW1997, 7 f.). Obwohl sich Umfang und Qualität der Nachfrage nach sozialen Diensten gewandelt haben (ambulante Pflege, Drogen- und Aidshilfe, milieubezogene Sozialarbeit (Streetwork), Asylantenbetreuung, Beratungsdienste), sind die wettbewerbswidrigen Angebotsstrukturen generell aufrechterhalten worden: Der Staat als öffentlicher Sozialhilfeträger zahlt als Nachfragemonopolist für Dienste, die seinen Bürgern überwiegend als Sachleistungen von dem weitgehend kartellierten Angebotsoligopol der Wohlfahrtsverbände unter Verweis auf das Prinzip der Subsidiarität bereitgestellt werden.21
III. Korporatismus als prägendes Strukturelement Das Verhältnis zwischen Staat sowie den Sozialversicherungen als Sozialleistungsträger und der Freien Wohlfahrtspflege ist durch korporatistische Strukturen geprägt. Im Gegensatz zu konzertierten Aktionen, in denen die beteiligten Gruppen zeitlich begrenzt kooperieren und ein jederzeitiger Austritt eine wirksame Drohung darstellen kann, beruhen korporatistische Verbindungen auf dauerhaften Austauschbeziehungen, deren Kündigung für alle Beteiligten nur zu sehr hohen Austrittskosten möglich wäre (BackhausMaul und Olk 1994, 108 ff ). In diesem Tauschverhältnis stellen der Staat sowie die Sozialversicherungen die finanziellen Mittel bereit und gewähren durch das Rechtsinstitut der Gemeinnützigkeit sowie eine vielfach bevorzugte Berücksichtigung der Wohlfahrtseinrichtungen bei der Vergabe von Versorgungsaufträgen gegenüber privat-gewerblichen Anbietern eine bedingte Vorrangstellung. Die Wohlfahrtsverbände übernehmen im Gegenzug staatliche Ordnungs- sowie Steuerungsfunktionen und stellen durchweg engagiertes Personal, Sachkunde und Einrichtungen zur Verfügung. Dabei setzt der Staat gegebenenfalls aufgrund der (steuerlich abzugsfähigen) Spenden und ehrenamtlichen Arbeit weniger Mittel ein als bei eigener Erstellung. Die staatlichen Entscheidungsträger erhalten darüber hinaus politische Zustimmung sowie Anerkennung (Stolleis 1989, 61; Backhaus-Maul und Olk 1994, 111). Die Mitwirkung der Verbände am Gesetzgebungsverfahren über Anhörungen und an der staatlichen Investitionslenkung durch die Bedarfsplanung bei Sozial- und Gesundheitsleistungen machen die Kompetenzüberschneidungen deutlich. Personelle Verflechtungen fördern das Zusammenspiel von Politik und Freier Wohlfahrtspflege.22 Diese Strukturmerkmale begünstigen eine Zentralisierung der Wohlfahrtspflege bei 21 Siehe Freier (1989, 369). Diese Darstellung stellt eine Vereinfachung dar, denn vom Selbstzahler werden die Leistungen individuell nachgefragt und bezahlt. Da in der Mehrzahl der Fälle jedoch Verpflichtungen seitens des Staates oder der Sozialversicherungen bestehen, erhalten die Einrichtungen zumeist öffentliche Erstattungen. 22 Zahlreiche Landespolitiker sind zugleich in Führungspositionen der Wohlfahrtsverbände tätig, beispielsweise in Schleswig-Holstein und Bayern.
Das System derfreienWohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht • 349 den Spitzenverbänden, die einerseits Ansprech- und Verhandlungspartner des Staates darstellen und andererseits die Transmission zu den selbständigen Einrichtungsträgern vornehmen. Darüber hinaus erfüllen die Verbände gegenüber den staatlichen Finanziers eine gewisse Garantiefunktion fur die freigemeinnützigen Sozialdienstleister, indem vor Aufnahme eines Trägers in den Verband eine Prüfung erfolgt und Projektforderungen ihre Fürsprache benötigen. Im Ergebnis fuhrt die Zentralisierung zu einer Konzentration der sozialen Sicherung im Wohlfahrtsstaat, die zugleich die Gefahr einer Anonymisierung sozialer Aufgabenerfullung birgt (Prosi 1990, 49 ff.; Klein 1986, 31 ff.). Die staatliche Abhängigkeit der Freien Wohlfahrtspflege beruht vor allem auf einer einseitigen Finanzierungsstruktur der Einrichtungen, die sich aus der Teilnahme an staatlichen Versorgungsaufträgen, einer gesetzlich geregelten Kostenerstattung sowie dem Zugang zu Subventionen ergibt. Der Anteil an Eigenmitteln (Spenden/Mitgliedsbeiträge) ist stetig gefallen und beträgt derzeit im Durchschnitt etwa 5%. Leistungsentgelte machen im Mittel etwa 80% aus, Subventionen über 10% (Tabelle 3). Da die Leistungsentgelte entweder über die Sozialversicherungen und die Beihilfe abgerechnet werden oder der Staat aufgrund mangelnder finanzieller Mittel der Leistungsberechtigten häufig zur Kostenübernahme verpflichtet ist, kann von einem öffentlichen Finanzierungsanteil einschließlich der Subventionen von etwa 80 % ausgegangen werden. Die Gefahren einer Verstaatlichung durch finanzielle Abhängigkeiten werden besonders deutlich in Zeiten knapper öffentlicher Mittel.
Tabelle 3:
Einnahmen der freien Wohlfahrtspflege DRK
Freie Wohlfahrtspflege Einnahmen 1. Leistungsentgelte
Mio. DM
(1986) 37.000
!
1
%
79,4
Mio. DM
2. Öffentliche Zuwendungen 3. Spenden und Mitgliedsbeiträge
2.150
4. Kirchliche Zuwendungen
1.730HHHBI L. ; ; vi·· son ' ]
5. Sonstige Summe
46.61"
OA,
ν ' " • (1994) 6.260 St>.2
280
3.9
720
9,9
-
7.260
Quelle: Göll (1991, .308, Tab. 36); Angaben des Deutschen Roten Kreuzes (DRK).
;
100.0
350 · Dirk Meyer Die Kritik an dem korporatistischen System setzt vornehmlich an zwei Referenzpunkten an. Aus wettbewerblich-marktwirtschaftlichem Blickwinkel {Streit 1988, 40) fällt die mangelnde Konsumentensouveränität und die schwache Stellung der Klienten auf, die keinen oder nur einen geringen Einfluß auf die Zusammensetzung des Angebots und die Qualitäten haben. Die Verlagerung von Entscheidungen über den Ressourceneinsatz vom Markt zur Politik fördert Rent-Seeking-Aktivitäten und begünstigt den Aufbau von unangemessener Marktmacht der Verbandsorganisationen. Da das Kartell der zugelassenen Anbieter einen system-immanenten Bestandteil darstellt, sind grundlegende wettbewerbliche Reformen im System ausgeschlossen.23 Im Hinblick auf die politische Steuerung fällt die mangelnde demokratische Legitimation der korporatistischen Absprachen auf (Heime und Olk 1981, 96 f.; Streit 1988, 43 f.). Nicht die Parlamente, sondern die Regierungen und die Ministerialbürokratie sind Kooperationspartner der Verbände. Es entstehen Probleme der politischen Kontrolle, der Überschneidung von Kompetenzen und der Zurechnung der Verantwortlichkeiten. Die personellen Verflechtungen ermöglichen eine einflußreiche Verbändelobby und fördern 'Mauscheleien' (Manderscheid 1995, 236 f.). Die gemeinsame Gremienarbeit der finanzierenden Sozialleistungsträger mit den öffentlichen, freigemeinnützigen und gegebenenfalls privat-gewerblichen Anbietern ist wenig geeignet, um sich mit gegenseitiger Kritik, Leistungskontrollen, Preisvergleichen und Effizienzüberlegungen zu beschäftigen. Vielmehr sind gemeinsame Absprachen zu Lasten Dritter (Steuer-, Abgabenzahler, Hilfeempfänger) attraktiv.
IV. Problemlagen und ordnungspolitische Kritik 1. Bürokratisierung und Flexibilitätsverlust Das korporatistische Beziehungsgeflecht hat zum Aufbau einer wohlfahrtsverbandlichen Struktur parallel zu den staatlichen Institutionen und zur Einrichtung korrespondierender Kommunikationsstrukturen auf der Ebene der gemeinsam besetzten Gremien gefuhrt. Die landes- oder gar bundesweit einheitlichen gesetzlichen Anspruchsgrundlagen und Ausfuhrungsbestimmungen sowie das Wachstum der Verbände (gemessen an Einrichtungen, Betten, Plätzen und Beschäftigten) haben die Angleichung der Organisationsstrukturen und die Errichtung routinemäßiger Arbeitsabläufe begünstigt, so daß die Verbände und deren Einrichtungsträger in wesentlichen Zügen behördenähnlichen Verwaltungsapparaten gleichen.24 Auf der Ebene der Basisorganisationen wird die Bürokratisierung vornehmlich durch die Übernahme von staatlichen Versorgungsaufträgen und deren Finanzierung verursacht (Thomm 1995, 356 und 363; Hegner 1992, 180 ). So fuhren die Anforderungen an die Vergabe öffentlicher Fördermittel mitunter zu langwierigen, unflexiblen Planungs- und 23 Trenk-Hinterberger (1996, 3): „Dieses gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis verbietet von vornherein ein Gegeneinander oder ein ungesundes Konkurrenzverhältnis." 24 Siehe Heime und Olk (1991, 99 ff.); Giesel (1992, 103); Thomm (1995, 363 ).
Das System derfreienWohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 351 Bewilligungsverfahren.25 Die Projekte müssen genau in die durch Gesetze, Verordnungen und Richtlinien abgegrenzten Haushaltstitel passen. Aufzeichnungspflichten und gesetzlich vorgeschriebene Nachweispflichten sind Grundlage für die Errichtung einer bürokratischen Kontrolle, die eine flexible und gegebenenfalls angemessenere Mittelverwendung bestraft. Eine Mischfinanzierung erschwert zudem die Mittelkoordination in den Einrichtungen. Der Flexibilitätsverlust wird durch die Verrechtlichung, Formalisierung und Normierung der Leistungsinanspruchnahme bei staatlicher Kostenerstattung noch vergrößert. Kundenwünschen kann oftmals selbst bei Zuzahlungswilligen nicht entsprochen werden. Die Einrichtungen können nur in eingeschränktem Maße ein eigenes Leistungs- und Qualitätsprofil entwickeln.26 Aus der Bürokratie- und Organisationstheorie ist die Unterscheidung zwischen den Zielen der Organisation und den Zielen ihrer Funktionäre bekannt. Da der Gewinn als handlungsleitendes und -kontrollierendes Kriterium ausfällt, kann nicht ausgeschlossen werden, daß sich das Management auf das Ziel der Budgetexpansion zwecks Sicherung von Ansehen, Macht und Einkommen konzentriert.27 Hohe Wachstumsraten im Bereich der sozialen Dienste sowie fragwürdige Angebote (Familienerholung, Hobbykurse) unterstützen diese Überlegungen. Meldungen über Unregelmäßigkeiten und Verschwendungen in freigemeinnützigen Einrichtungen lassen darüber hinaus die Spitze eines Eisberges vermuten. Der durch die Teilnahme an Versorgungsaufträgen eröffnete Zugang zu überwiegend garantierten öffentlichen Finanzmitteln hat gegenüber der sehr aufwendigen und vom Ertrag her unsicheren Spendeneinwerbung die Beschaffungskosten für materielle Anreize (Weuthen 1990, 221 ff.; Lehner 1981, 85 ff.) (Einkommen) erheblich gesenkt. Zwar kann die Verfolgung organisationsinterner Ziele auch in privatwirtschaftlich geführten Unternehmen beobachtet werden, doch halten hier verschiedene Kontrollmechanismen eine Interessendurchsetzung zu Lasten Dritter in Grenzen.28 2. Verlust an Sozialanwaltschaft und Innovationskraft Als ein wesentliches Merkmal der Freien Wohlfahrtspflege gilt die Sozialanwaltschaft und die Pionierarbeit auf neu erkannten Problemfeldern. In dieser Hinsicht gehen seit den 25 In ähnlicher Weise zeigt sich ein bürokratisches Gebaren der Amtskirchen bei der Inanspruchnahme von Kirchensteuermitteln durch Einrichtungen des Diakonieschen Werks und der Caritas.
Siehe Hüdepohl (1996, 56 ).
26 Grunow (1995, 266 ff.) zeigt dies am Beispiel von Sozialstationen auf. 27 Siehe Schüller und Strasmann (1989, 214). Von daher erscheint eine Überprüfung des Kriteriums der Selbstlosigkeit ( § 5 5 Abgabenordnung AO) zur Anerkennung der Gemeinnützigkeit angebracht. Die herrschende Praxis legt diese Rechtsnorm sehr weit aus. Bei enger Auslegung könnten auch Formen der monopolistischen Verschwendung und der Faktorineflizienz als 'eigenwirtschaftliche Zwecke' bewertet werden und somit der Gemeinnützigkeit entgegenstehen. 28 Ganz allgemein handelt es sich hier um das Principal-Agent-Problem. Als 'Principal' kommen im Fall der sozialen Dienstleistungen die Sozialleistungsträger (finanzielle Last) sowie die Klienten (bedarfsgerechte Dienste) in Frage, in deren Auftrag die Einrichtungen als 'Agenten' handeln sollen. Asymmetrische Informationen sowie eine unzureichende Kontrollmöglichkeit ermöglichen diesen jedoch die Verfolgung eigener Ziele, ohne daß dies von den'Prinzipalen' verhindert werden kann.
352 · Dirk Meyer siebziger Jahren stärkere Impulse von Selbsthilfe- und Helfergruppen aus.29 Der hierdurch entstandene Rechtfertigungsdruck auf die Wohlfahrtsverbände sowie eine teilweise wohlwollend-unterstützende Haltung der Sozialleistungsträger gegenüber nicht organisierten Einrichtungen machten eine Reaktion der Verbände notwendig. Ähnlich wie bürokratisierte marktmächtige Großunternehmen, die innovative Kleinanbieter aufkaufen, streben die Wohlfahrtsträger nach einer organisatorischen Einbindung der unabhängigen Gruppen. Hierbei nimmt der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) eine besondere Stellung als Auffangorganisation ein. Der Aufnahme in einen Verband gehen die Prüfung der Satzung, gegebenenfalls Satzungsänderungen und eine eingehende Beratung bezüglich des Aufbaus dieser neuen Einrichtung voraus. Bei positivem Prüfungsergebnis kann der Verband auf ein innovatives, erfolgreiches Pilotprojekt verweisen, das seine Kompetenz in zukunftsweisenden sozialen Belangen unterstreicht. Im Gegenzug können Professionalität, Infrastruktur (beispielsweise Räumlichkeiten) sowie - möglicherweise entscheidender - Reputation und damit der Zugang zu Fördermitteln geboten werden, der bisher von den Verbänden erfolgreich blockiert wurde. An dieser Stelle ist eine genauere Darstellung des Förderungsinstrumentariums hilfreich: Auf Landesebene handelt die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ßAGFW) für ihre sechs Mitglieder, die Landesverbände, jährlich mit dem Sozialministerium eine pauschale Zuwendung aus. Gemäß einem Verteilungsschlüssel wird dieser globale Transfer an die Landesverbände weitergeleitet; dieser dient vornehmlich dem Erhalt ihrer Existenz. Parallel dazu verläuft das Verfahren auf kommunaler Ebene mit zumeist abweichenden Verteilungsschlüsseln. Um an diesen Subventionen teilhaben zu können, muß die Einrichtung Mitglied in einem der sechs Landesverbände sein. Die LAGFW und die Landesverbände übernehmen als finanzielle Intermediäre die Verantwortung für die Mittelvergabe. Diese Bürgschaftsfunktion rechtfertigt die oben beschriebene Prüfung bei Aufnahme sowie eine gewisse begleitende Aufsicht der Mitgliedseinrichtungen, so daß deren Abhängigkeitsverhältnis von den Spitzenverbänden einen immanenten Bestandteil des Systems darstellt. Daneben können die Einrichtungen für ihre speziellen Tätigkeiten zweckgebundene Zuschüsse direkt beim Sozialministerium beantragen. Da die Anträge jedoch unter Bezugnahme auf die Landesverbände gestellt werden, übernehmen diese auch hier eine gewisse Vorprüfung und Garantiefunktion.30 Im Ergebnis ist es für neue unbekannte Selbsthilfegruppen faktisch ausgeschlossen, an entsprechende Fördermittel zu gelangen, so daß eine Mitgliedschaft in einem Wohlfahrtsverband unausweichlich erscheint. Wesentlich schwieriger gestaltet sich die finanzielle Lage privat-gewerblicher Anbieter, die keinen Zutritt zu den Verbänden haben.
29 In Westdeutschland stieg die Zahl der Selbsthilfegruppen von 25.000 (1985) auf 60.000 (1995). Davon haben sich etwa 35.000 den Wohlfahrtsverbänden, vor allem dem DPWV, angeschlossen. Siehe Kettler und von Ferber (1997, 227). 30 Einen Sonderfall stellen Lotterieerlöse (Aktion Sorgenkind, Glücksspirale) sowie Bußgelder dar, die Einrichtungen ausschließlich über die Spitzenveibände erhalten können.
Das System der freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 353 3. Gratisressourcen als volkswirtschaftlich teure Form der Ressourcenbeschaffung Die Schätzungen zum Spendenauflcommen fìir human-caritative Zwecke schwanken zwischen jährlich etwa 4 - 8 Mrd. DM.31 Die Angaben für die im Inland eingesetzten Spendengelder gehen mit 0,6 - 4,7 Mrd. DM noch stärker auseinander. Seit einigen Jahren stagniert das Aufkommen auf dem erreichten Niveau. Dabei hat der Wettbewerb um dieses Spendenbudget zwischen den etwa 20.000 Organisationen, die sich regelmäßig an Spendenaktionen beteiligen, stark zugenommen.32 Entsprechend hoch ist der Aufwand für Spendenaufrufe durch Briefe (Mailings), Haus- und Straßensammlungen. Die Kosten für Spendenwerbung, den Ankauf oder die Pflege von Adressenlisten, Prämienzahlungen an eigene Sammler oder professionelle Spendeneinwerber (Fundraiser) sowie die interne Verwaltung sind schwer zu ermitteln. Schätzungen von durchschnittlich 1 0 - 2 0 % der Bruttospende scheinen realistisch.33 Hinzu kommen die Kosten einer Banküberweisung, die insbesondere beim Kleinspender spürbar anfallen. Gemessen an einer Finanzierung durch private Leistungsentgelte macht dieser volkswirtschaftliche Ressourceneinsatz die Spende zu einem sehr teuren Finanzierungsinstrument,34 Für die Organisationen bleibt die Spendeneinwerbung interessant, solange ihnen ein finanzieller Nettoerlös zufließt. Darüber hinaus muß der volkswirtschaftliche Nutzen einer Zeitspende durch ehrenamtliche Tätigkeit gegenüber hauptberuflichen Vollzeitkräften relativiert werden. Dies erscheint auch vor dem Hintergrund wichtig, daß in Kapitel II eine Bewertung dieser Arbeit nach dem Marktpreis- oder Ersatzpersonenkonzept mit einem durchschnittlichen Bruttoentgelt pro Stunde (ohne die Lohnzusatzkosten) von DM 18,88 (1996) vorgenommen wurde.35 Ein hoher organisatorischer Aufwand und Qualifizierungsmaßnahmen für ehrenamtliche Kräfte fallen als indirekte Kosten in den Organisationen an. Aus volkswirtschaftlicher Sicht wäre der Einsatz mancher ehrenamtlicher Kräfte deshalb aufgrund einer Kosten-Nutzen-Analyse abzulehnen, wobei staatliche Subventionen für die Ausbildung Ehrenamtlicher dieses Ergebnis noch zugunsten eines betriebswirtschaftlich lohnenden Ein31 Das Deutsche Zentralinstitut flir soziale Fragen (DZI) gibt 4 Mrd. DM an, während das auf Fundraising spezialisierte Consulting-Unternehmen Logo-S etwa 8 Mrd. DM ermittelt. Siehe hierzu Thiel (1994, 293 f.). Die Unterschiede ergeben sich unter anderem aus der Erfassung von Groß- und Stiftungsspenden durch Logo-S. Beide Schätzungen scheinen jedoch recht unsicher, da sie auf Meldungen der 80 bzw. 95 größten Organisationen beruhen. Allerdings wird von einer hohen Spendenkonzentration von 85 % des Gesamtvolumens auf die 250 größten spendensammelnden Körperschaften ausgegangen. 32 Davon sind 2000 Organisationen überregional tätig. Siehe Thiel (1994, 293). Siehe auch Dikkertmann und Piel (1995, 52). 33 Siehe hierzu unterschiedliche Angaben bei Christa und Halfar (1992, 23); Loges (1988, 21); Klein (1986, 87 ff.). In einigen Bundesländern wurden schon frühzeitig Verwaltungsvorschriften bezüglich der Spendennettoerlöse erlassen. Ehrlich (1970, 198 ff ). 34 Demgegenüber wären bei einer Finanzierung durch Steuern oder gesetzliche Sozialabgaben die volkswirtschaftlichen Kosten einer Allokationsverzerrung und Leistungshemmung entgegenzurechnen. 35 Eigene Berechnung nach Angaben der BGW. Ahnlich Schwartz (1996, 266).
354 • Dirk Meyer satzes verzerren. Ein wirtschaftlicher Einsatz ehrenamtlicher Kräfte beschränkt sich in der Regel auf einzelne Aufgaben, die kein Spezialwissen und keine regelmäßige, dauerhafte Präsenz zu gegebenenfalls ungünstigen Zeiten (Wochenende, nachts) erfordern.36 Der Professionalisierungsdruck, der durch die gestiegenen Qualitätsansprüche ausgelöst wurde, sowie ein steigendes Durchschnittsalter der ehrenamtlich Tätigen bei zugleich rückläufigen Neuzugängen werden intern als Krisenzeichen gesehen.37 Der Einsatz potentiell bereiter Personengruppen (beispielsweise Langzeitarbeitslose, Frührentner) für entsprechend geeignete Aufgabenfelder (soziale Betreuung älterer Menschen, Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendhilfe) ist eine bislang nicht angenommene Herausforderung (,Bäcker, Heime und Naegele 1995, 51 ff). Daneben fuhrt die Einbindung ehrenamtlich Beschäftigter in die betrieblichen Abläufe und die Zusammenarbeit mit den hauptamtlichen Mitarbeitern zu Spannungen und Problemen.38 Stark subventioniert wird der Einsatz der in der Freien Wohlfahrtspflege beschäftigten 98.600 (1996) Zivildienstleistenden. Die Kostengünstigkeit und die zum Teil hohe Motivation lassen ihre Verwendung aus der Sicht der Einrichtungen als vorteilhaft erscheinen. 78% des Lohnes werden vom Bund getragen, insgesamt ergibt sich hieraus ein Bundeszuschuß von etwa 2,1 Mrd. DM an die Freie Wohlfahrtspflege.39 Diese hohe Lohnkostensubvention fuhrt dazu, daß die Zivildienstleistenden auch für minderproduktive Tätigkeiten eingesetzt werden, die bei einer marktwirtschaftlichen Entlohnung betriebswirtschaftlich unrentabel wären. Aus volkswirtschaftlicher Sicht hat dieser 'Gemeinschaftsdienst ' den Charakter einer Naturalsteuer für wehrtaugliche Männer. Sie ist zudem mit hohen volkswirtschaftlichen Opportunitätskosten verbunden, da sich der Einstieg in das Berufsleben verzögert (Köhler 1995, 141).40 Das stagnierende Spendenaufkommen, der geringe Spendenanteil an den Einnahmen von etwa 5 % sowie der Rückgang der ehrenamtlichen Neuzugänge führen zu einer im Zeitablauf abnehmenden Bedeutung dieser (quasi-)freiwilligen Zuführungen. Bei Verzicht auf diese Gratisressourcen würde jedoch ein wesentliches Strukturmerkmal der Freien Wohlfahrtspflege entfallen, das die Grundlage ihrer Sonderstellung gegenüber staatlichen und privat-gewerblichen Anbietern mit begründet (ähnlich Weuthen 1990, 165; Becker 1994, 144). Das Ehrenamt dient in diesem Zusammenhang als Aushängeschild und Sympathieträger. Zugleich können die hervorhebenswerte private Hilfsbereitschaft sowie altruistische Motive von den Organisationen zur normativen Abqualifizierung marktwirtschaftlichen Denkens mißbraucht werden. 36 Eine Ausnahme bildet der Katastrophenschutz. Hier erfüllen ehrenamüiche Arbeitskräfte in den Bereichen, in denen professionelle Ressourcen nur in ungenügendem Maße schnell mobilisiert werden können, eine volkswirtschaftlich wichtige und kostengünstige Funktion. 37 Einen hohen Anteil an der Zahl der ehrenamtlich Tätigen haben Frauen im Alter zwischen 60 und 70 Jahren. Siehe Schwartz (1996, 262). Zur Erosion des klassischen Ehrenamtes siehe auch Bäcker, Heinze und Naegele (1995, 42 ff.). 38 Siehe Htidepohl (1996, 67 f.); ProdeI (1993, 97-100); Bock (1992, 381). 39 Eigene Berechnungen nach Informationen des Bundesamtes für den Zivildienst. Stand 15.10.1996. 40 Als Konsequenz wäre aus ökonomischer Sicht eine Abschafiung der Wehrpflicht und die Einführung einer Berufsarmee zu fordern. Politische Überlegungen bleiben bei dieser Empfehlung ausgeschlossen.
Das System der freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 355
4. Zur These der UnWirtschaftlichkeit Als unwirtschaftlich gilt eine Leistungserstellung dann, wenn ein vorgegebener Output mit geringerem Mitteleinsatz erstellt werden kann oder bei gegebenem Mitteleinsatz ein höherer Output erzielbar ist. Gerade soziale, d.h. persönliche Dienstleistungen (Beratung, Pflege etc.) lassen sich jedoch in ihrer Qualität nur unscharf erfassen; dies erschwert den Leistungsvergleich. Darüber hinaus wandeln sich die Bedürfnisse, Leistungsanforderungen und Produktionstechnologien rasch. Ineffizienz ist auch deshalb schwer nachweisbar, weil die Anbieter innerhalb eines weitgehend geschlossenen Systems arbeiten, damit die bessere Alternative als Orientierungshilfe fehlt. Wenn folglich nicht der Gegenbeweis erbracht werden kann, ist dann der Ineffizienzverdacht berechtigt? Für zahlreiche Leistungen läßt sich sehr wohl ein vergleichender Nachweis fuhren. Dies betrifft zum Beispiel das Rettungswesen, wo sich Mitteleinsatz (sachliche und personelle Ausstattung) und Leistungserstellung (Hilfsfrist, Erstversorgung) relativ klar definieren lassen. Zahlreiche Gutachten41 belegen unwirtschaftliche Versorgungsstrukturen in diesem Bereich, der zu über 75 % durch vier Wohlfahrtsorganisationen abgedeckt wird. Ein weiteres Gebiet wären Vorleistungen, wie beispielsweise die Essensversorgung in Pflegeheimen und Krankenhäusern, die einen Wirtschaftlichkeitsvergleich ohne weiteres zulassen. Sodann läßt sich der Verdacht der Ineffizienz aus verschiedenen Strukturelementen begründen und empirisch bestätigen. Dies soll beispielhaft anhand der Entgeltregelung der §§ 93; 93a-d BSHG vorgeführt werden. Diese schreiben bis 1999 Pflegesätze mit einer jährlichen Erhöhung um 1 oder 2 % auf der Basis der 1995 anhand der vorauskalkulierten Selbstkosten ermittelten Entgelte vor. Diejenigen Einrichtungen, die bereits im Bezugsjahr kostengünstiger produzierten, werden gegenüber den damals teurer arbeitenden Anbietern benachteiligt, da diese jetzt noch erhebliche Spielräume für Kostensenkungen haben. Effizientes Handeln in der Vergangenheit wird durch diesen Regulierungsfehler bestraft. Da die Gemeinnützigkeit grundsätzlich aus Gewinnen keine freie Rücklagenbildung zuläßt, zudem die ab 1999 abzuschließenden Vergütungsvereinbarungen etwaige Kostensenkungen wegsteuern werden, lohnen sich auch weiterhin keine Effizienzsteigerungen über das bisher erreichte Niveau hinaus. Demgegenüber wird ein über die Spitzenverbände oder im Rahmen eines Arbeitskreises der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) koordiniertes Vorgehen in diesen Verhandlungen lohnend, um mittels Marktmacht Entgelte über Wettbewerbsniveau durchsetzen zu können. Der Gesetzgeber unterstützt das Kartellierungsstreben durch bundesweit geltende Rechtsverordnungen und landesweit zwischen den Trägern der Sozialhilfe und den Landesverbänden abzuschließende Rahmenverträge (§ 93d BSHG). Ähnliche Regelungen bestehen im Gesundheitswesen (Krankenhausfinanzierungsgesetz KHG, Bundespflegesatzverordnung BPflV) sowie bei der Sozialen Pflegeversicherung (PflegeVG). 41 Siehe zum Beispiel das Wiera-Gutachten (1995) für Bayern und das Ä4Sy,S-Gutachten von Dennerlein und Schneider (1995), in dem der Rettungsdienst bundesweit untersucht wird und je nach Bundesland sehr unterschiedliche Wirtschaftlichkeitsreserven nachgewiesen werden. Siehe auch die Studien auf kommunaler Ebene von Orgakom (1995) für Kiel und FORPLAN (1996) für den Kreis Schleswig-Flensburg.
356 · Dirk Meyer In den Entgeltregelungen werden kalkulatorische Kosten (Eigenkapitalverzinsung, Wagniszuschläge, Abschreibungen auf Gebäude und andere Sachgüter, kalkulatorische Mieten) nicht oder häufig nur unzureichend berücksichtigt. Begründet wird dies mit den hohen staatlichen Finanzierungsanteilen bei Sozialinvestitionen sowie mit der Gemeinnützigkeit, die eine Gewinnerzielungsabsicht ausschließt. Da auch die interne Kostensteuerung diese Kostenelemente nicht einbezieht, kommt es zu einem verschwenderischen Einsatz dieser Kapitalgüter (beispielsweise Raum- und Fahrzeugnutzungen). Erst wenn die Knappheit öffentlicher Kassen Reinvestitionen nicht in vollem Umfang zuläßt, werden diese Kapitalgüter zum spürbaren Engpaßfaktor. Als Beispiel sei auf die Krankenhäuser und Sozialstationen verwiesen.42 Das Ausschüttungsverbot bei Überschüssen und die Zweckbindung öffentlich geförderter Einrichtungen verleiten zur Quersubventionierung. An sich unwirtschaftliche Produktionen werden aufrechterhalten und behindern gegebenenfalls effizientere Anbieter. Die Mittel zum Verlustausgleich werden gewinnträchtigen Sparten entzogen und fuhren dort ceteris paribus zu geringeren Nettoinvestitionen. Insbesondere wenn die Verlustproduktion unter eher wettbewerblichen Strukturen stattfindet (ambulante Pflege, Alten- und Pflegeheime), während die gewinnbringenden Sparten dem Wettbewerb entzogen sind (Rettungswesen, eingeschränkt: Krankenhäuser und Beratungsdienste), werden Anbieter im Wettbewerbssektor diskriminiert. Die Gemeinnützigkeit und die staatlichen Förderungen bedingen bei der Freien Wohlfahrtspflege eine Entlohnung nach dem Bundesangestelltentarif (BAT). Einerseits läßt dieser gegenüber gewerblichen Anbietern zum Teil höhere Löhne zu.43 Andererseits hemmen die bürokratischen Entlohnungsstrukturen Leistungsanreize und behindern das Aufdecken von Wirtschaftlichkeitspotentialen. Dies kann insbesondere im Bereich der Führungskräfte kontraproduktiv wirken.44 Schließlich ist ein Vertrauen auf die Effizienzvermutung im Bereich der sozialen Dienstleistungen so lange nicht gerechtfertigt wie ein Ausschluß des potentiell Besseren durch wettbewerbswidrige Marktzutrittsschranken möglich ist. Erst die Offenheit von Systemen, das heißt eine wettbewerbliche Struktur, verlangt den Effizienznachweis, indem weniger leistungsfähige Anbieter ausscheiden müssen.
V. Internes und externes Kontrollversagen Damit Leistungen kostengünstig (effizient) und bedarfsgerecht (effektiv) im Sinne der Nutzer produziert und angeboten werden, sind Kontrollen notwendig. Deshalb können die in Kapitel IV aufgezeigten Probleme vornehmlich mit einem Kontrollversagen erklärt werden.
42 Die Deutsche Krankenhausgesellschaft schätzt die Investitionslücke im Krankenhaussektor derzeit auf etwa 8 Mrd. DM. 43 Dies trifft vielfach auf Pflegekräfte im Bereich der ambulanten Pflege zu. 44 In einzelnen Fällen wurde der BAT-Tarif zugunsten eines flexibleren Haustarifes aufgehoben. Diese Änderung ist rechtlich gegebenenfalls zulässig, da durch die neuen Entgeltregelungen (Preise!) das Besserstellungsverbot nicht mehr bindet.
Das System der freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht • 357 1. Interne Steuerung und Controlling Hinsichtlich der Rechnungslegung sind rechtsformbezogene, tätigkeitsbezogene sowie größenabhängige Normen zu unterscheiden. Darüber hinaus gibt es neben zivilrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften auch noch steuerrechtliche (Giesel 1992, 106 ff; Göll 1991, 170 ff). Als Rechtsform freigemeinnütziger Einrichtungsträger, die am meisten verbreitet ist, gilt der gemeinnützige eingetragene Verein. Eine Pflicht zur internen Rechnungslegung des Vorstands gegenüber den Mitgliedern sieht § 27 Abs. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vor. Diese besteht in einer jährlichen Einnahmen- und Ausgabenrechnung sowie in der Führung eines Bestandsverzeichnisses.45 Des weiteren muß der Vorstand jederzeit eine Feststellung darüber treffen können, ob der Verein überschuldet ist (§ 42 Abs. 2 BGB). Nur die Merkmale eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes (§ 42 Abgabenordnung AO) fuhren bei Überschreiten bestimmter Umsatz(500.000,- DM) und Vermögensgrenzen (125.000,- DM) zur zwingend notwendigen Anwendung handelsrechtlicher Vorschriften (§ 141 Abs. 1 AO). Erst die Rechtsform einer GmbH garantiert die Aufstellung der im heutigen Wirtschaftsverkehr üblichen Rechenwerke. War vor einigen Jahren noch die kameralistische Einnahmen- und Ausgabenrechnung mit den gravierenden Nachteilen einer mangelnden Periodenabgrenzung und der Nichterfassung kalkulatorischer Kosten in der betrieblichen Praxis freigemeinnütziger Einrichtungen vorherrschend, so ist inzwischen diese Rechnungslegungsmethode insbesondere bei großen Einrichtungsträgern durch das kaufmännische Rechnungswesen abgelöst worden. Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren neben einem Rechtsformwechsel die vom Gesetzgeber erzwungene Einfuhrung neuer Entgeltsysteme (Fallpauschalen und Sonderentgelte in Krankenhäusern)46, Buchführungsvorschriften für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sowie die finanziellen Kürzungen öffentlicher Kostenträger. Hinzu kam in Teilbereichen ein wachsender Wettbewerbsdruck. Interne Widerstände gegen eine 'Ökonomisierung' sozialer Dienste finden sich vor allem im mittleren Management und in den ausführenden Einheiten. Der ausgelöste Effizienzdruck wird hier für eine gemeinnützig und normativ geprägte soziale Arbeit als dysfünktional gehalten (Bäcker, Heinze und Naegele 1995, 119). Zudem müssen jetzt die bei verursachungsgerechter Ergebniszurechnung aufgedeckten Quersubventionierungen intern gegenüber den Überschüsse erwirtschaftenden Einheiten gerechtfertigt werden. Während somit größere Einrichtungsträger in der Regel eine kaufmännische Buchführung haben und einen Jahresabschluß nach handelsrechtlichen Grundsätzen vornehmen, erfüllen kleinere Organisationen weiterhin generell nur die Mindestanforderungen einer 45 Siehe §§ 259; 260 BGB sowie §§ 63 Abs. 3; 140-148 AO. Siehe auch Hagemann (1997, 12 ff.). Hagemann unternimmt den interessanten Versuch, die Anforderungen an die Rechnungslegung spendensammelnder, gemeinnütziger Organisationen aus der Interessenlage (Spenderschutz, Steuerschutz, Verfolgung nicht-erwerbswirtschaftlicher Ziele), den Besonderheiten der Faktorkombination (ehrenamtliche Arbeit) und anderen Einflußgrößen herzuleiten. 46 So stellte die Boston Consulting Group 1993 in einer groß angelegten Untersuchung fest, daß etwa 80% aller Krankenhäuser nicht in der Lage waren, ihre Leistungen entsprechend den Sonderentgelten und Fallpauschalen zu kalkulieren. Siehe: Krankenhäuser haben Sparpotential offenbar noch nicht erkannt, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.12.1993.
358 · Dirk Meyer Einnahmen- und Ausgabenrechnung (Göll 1991, 172 f.). Darüber hinaus werden die tätigkeitsbezogenen Kostenrechnungssysteme als Vollkostenrechnungen auf Istkostenbasis durchgeführt, die für Wirtschaftlichkeitsanalysen und zukunftsgerichtete Planungen unter anderem wegen der Berücksichtigung entscheidungsirrelevanter Fixkosten ungeeignet sind (Göll 1991; 173; Hüdepohl 1996, 140). Für interne Planungsaufgaben wären zukunftsorientierte Informationen auf der Grundlage von entscheidungsorientierten Kostenrechnungen auf Teilkostenbasis notwendig, die eine Bewertung alternativer Handlungsmöglichkeiten ermöglichen könnten.47 Neben dem Rechnungswesen haben die Rechtsformwahl und die damit verbundenen Regelungen einen wichtigen Einfluß auf die interne Steuerung. Die Rechtsform des Vereins erscheint angesichts der Größe vieler Einrichtungsträger ungeeignet: Die Verschmelzung von Leitungs- und Überwachungsfunktionen behindert eine interne Kontrolle (§ 27 Abs. 1 BGB). Ein gesondertes Kontrollorgan ist neben der Mitgliederversammlung gesetzlich nicht vorgesehen.48 Die formal demokratische Steuerung durch die Mitglieder über den zum Teil noch ehrenamtlichen Vorstand wird durch den Wissensvorsprung der hauptamtlichen Geschäftsführer konterkariert (Pradel 1993, 98). Als Konsequenz kommt es verschiedentlich zu einer Umwandlung in eine gemeinnützige GmbH oder Aktiengesellschaft (Bäcker, Heime und Naegele 1995, 120; Göll 1991, 103). Die Effizienzwirkungen nur eines Wechsels der Rechtsform sollten allerdings nicht überschätzt werden, da dieser lediglich die formalen Strukturen für eine leistungsfähigere Wirtschaftsführung bereitstellt. 2. Externe Rechnungslegung und -prüfung Rechtsfähige Vereine unterliegen keiner externen Rechnungslegung und Publizität, es sei denn sie erfüllen die Voraussetzungen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes in der Größenordnung eines Großunternehmens.49 Lediglich für eine Kapitalgesellschaft ist ein Jahresabschluß aufzustellen; ab einer gewissen Größenordnung besteht eine Prüfungsund VeröfFentlichungspflicht.50 Unter anderem aus Gründen des Spenden- bzw. Spenderschutzes veröffentlichen manche Sozialunternehmen freiwillig einen Jahresabschluß. 47 In einer Untersuchung zu Nonprofit-Organisationen kommen Weber und Hamprecht (1994) zu dem Ergebnis, daß die laufende Informationsbasis häufig unzureichend ist. Hiernach haben 76,7 % aller Nonprofit-Organisationen das kaufmännische Rechnungswesen eingeführt, doch finden die Deckungsbeitragsrechnung (35,3 %), die Stärken-Schwächen-Analyse (34,8 %), Kennzahlenvergleiche (36,5 %) und die Kostenplanung (61,5 %) eine eher geringe Verbreitung. Die Untersuchung basiert auf der Auswertung von 241 Fragebögen von Nonprofit-Organisationen. 2 0 - 2 5 % sind der Freien Wohlfahrtspflege zuzurechnen. Eigene Einblicke, die der Verfasser in Gesprächen mit Einrichtungsträgern sowie einer selbst durchgeführten Fragebogenerhebung erhielt, unterstützen diese Ergebnisse. 48 Einige große Einrichtungsträger haben allerdings durch eine spezielle Vereinssatzung einen Aufsichtsrat konstituiert. 49 Siehe §§ 1 Abs. 1; 3 Abs. 1 Gesetz über die Rechnungslegung von bestimmten Unternehmen und Konzernen (PublG). Neben dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb müssen zwei von drei Größenkriterien (125 Mill. DM Bilanzsumme, 250 Mill DM Umsatz, 5000 Beschäftigte) erfüllt sein. 50 Siehe §§ 41 ff. Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) und §§ 148 ff. Aktiengesetz (AktG).
Das System derfreienWohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 359 Zum Teil findet auch eine Prüfung durch die Verbandsorganisationen mit eigenen Treuhandanstalten oder durch externe Wirtschaftsprüfer statt (Göll 1991, 173; Hüdepohl 1996, 80 f.). Im Rahmen der projektgebundenen und institutionellen Förderung unterliegen die Einrichtungen und Verbände als Zuwendungsempfänger der Kontrolle durch die Rechnungshöfe (§§ 23; 44; 44a Bundeshaushaltsordnung, BHO) sowie durch die Sozialversicherungen und Sozialhilfeträger. Ein dauernder Konflikt resultiert in diesem Zusammenhang aus dem Umfang dieses Prüfungsrechts.51 Die zu erbringenden Verwendungsnachweise belegen jedoch allenfalls die formal rechnerische Korrektheit sowie die Einhaltung von Rechtsvorschriften. Gleiches gilt für die gesetzlich geregelten Prüfungen durch Steuerbehörden und Wirtschaftsprüfer. Als vergangenheitsorientierte Kontrollen sind die Prüfungen zur Steuerung zukunfisgerichteter Entscheidungen ungeeignet. Eine betriebswirtschaftliche Effizienzprüfung kann und soll nicht geleistet werden. Deshalb ist die Verwendung entsprechender Prüfungstestate als Beleg für eine effiziente und erfolgreiche Wirtschaftsführung höchst fragwürdig.52 Eine politische Kontrolle durch die Landesregierungen und Gemeindevertretungen ist nicht vorgesehen und unterbleibt aus Mangel an Sachkenntnis sowie wegen personellen Verflechtungen. Zudem stehen die Rechnungshöfe häufig einer Interessenkoalition der Wohlfahrtsverbände mit den betroffenen Landesregierungen hinsichtlich einer Verschleierung von Mißständen gegenüber.53 Eine Aufdeckung von Verschwendungen bzw. die Fehlleitung von Fördergeldern sowie der damit verbundene Vorwurf einer mangelnden Fachaufsicht können so vermieden werden. 3. Sozialhilferechtliches Dreiecksverhältnis Das sozialhilferechtliche Dreiecksverhältnis (Abbildung 1) verhindert eine Kontrolle der Wohlfahrtsbürokratie und deren Einrichtungen durch den 'Kunden' (Rückert 1990, 66 ff; Linzbach 1996, 30). Der Hilfeempfänger hat gegenüber dem öffentlichen Kostenträger, in der Regel einer Sozialversicherung, (PflegeV, GKV/SGB V etc.) oder einer Kommune, eine gesetzlich begründete Leistungszusage, die zumeist als Anspruch auf eine Sachleistung formuliert ist. Damit dieser Anspruch auch jederzeit eingelöst werden kann, hat der Staat in wichtigen Bereichen die Garantie einer ausreichenden Versorgung (Sicherstellung) entweder selbst übernommen (Rettungsdienst, Krankenhausversorgung) 51 Siehe Neumann (1989, 280) sowie den Streit der Wohlfahrtsveibände mit dem schleswigholsteinischen Rechnungshof im Jahr 1994. 52 Bedeutende Unternehmenszusanunenbrüche in der Vergangenheit (Balsam, Schneider, Bremer Vulkan, Metallgesellschaft), denen uneingeschränkte Prüfungstestate vorausgingen, sind hierfür ebenso ein Indiz, wie die Konkurse einiger Kreisverbände der Freien Wohlfahrtspflege in den neuen Bundesländern. Zur besonderen Problematik einer Kontrolle durch die Rechnungshöfe siehe Frey und Serna (1990, 244 ff.). 53 Siehe hierzu die Kritik des Landesrechnungshofes an der Förderpraxis der Wohlfahrtsveibände in Schleswig-Holstein, in: Ministerium ohne Durchblick?, Kieler Nachrichten vom 13.7.1994 sowie die Verschleppung der Untersuchungen und der Verzicht auf Rückzahlung von etwa 13 Mill. DM zuviel gezahlter Mittel durch die Landesregierung. Siehe: Landtag beschäftigt sich mit den Sozialdiensten, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.9.1995.
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· Dirk Meyer
oder anderen Institutionen übertragen (Kassenärztlichen Vereinigungen hinsichtlich der ambulanten Versorgung, Pflegekassen bezüglich der Pflegeeinrichtungen). Z w i s c h e n d e m öffentlichen Kostenträger und d e m Einrichtungsträger besteht ein fungsverhältnis,54
Leistungsbeschaf-
das in einem Versorgungsvertrag hinsichtlich des Leistungsumfanges,
der Qualität s o w i e der Entgelte konkretisiert w i r d . " Als dritte B e z i e h u n g besteht z w i schen d e m Einrichtungsträger und dem Leistungsempfänger ein verhältnis,
Leistungserbringungs-
das den Klienten z u m Empfang der durch den Versorgungsvertrag normierten
Sachleistung berechtigt. 5 6 A b b i l d u n g 1:
Sozialhilferechtliches Dreiecksverhälnis
öffentlicher Kostenträger
Einrichtungsträger
(Sozialhilfestelle, Sozialversicherungen Landesbehörden)
(Freigemeinnützige öffenüiche, privat-gewerbliche Sozialunternehmen)
übernimmt die Finanzierung und hat ggf. einen gesetzlichen Sicherstellungsauñrag für ein ausreichendes Angebot
übernimmt die Produktion und das Angebot
privatrechtlicher bzw. öffenüich-rechtlicher Vertrag (Rechtsverhältnis ist z.T. nicht eindeutig geklärt)
Hilfeempfänger (Sozialhilfeempfänger, anspruchsberechtigter Versicherter und andere Anspruchsberechtigte) empfangen die soziale Dienstleistung als Sachleistung. Ausnahme: Geldleistungen des PflegeVG
54 Rechtlich umstritten bleibt in manchen Fällen die Art dieses Rechtsverhältnisses. Hinsichtlich der Abhängigkeit des Sozialunternehmens vom Staat, aber auch bezüglich der Geltung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) macht es erhebliche Unterschiede, ob ein öffentlich-rechüicher oder ein privatrechtlicher Vertrag besteht. Siehe Riickert (1990, 68). 55 Unberücksichtigt bleibt hier die Finanzierung der Investitionen, die zumeist aufgrund der dualen Finanzierung bereits vom Staat (Land, Kommune) im Vorwege übernommen worden ist. 56 Eine Ausnahme stellt die Wahlmöglichkeit des PflegeVG dar, das die Alternative zwischen der Sachleistung und der Geldleistung eröffnet. Die Geldleistungen sind jedoch erheblich geringer als die entsprechenden Sachleistungen.
Das System der freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht - 361 Wettbewerbliche Märkte mit einer Preisbildung fur soziale Dienste existieren nicht, die Art der Leistung ist durch Standards der finanzierenden Träger weitgehend vorgegeben. Die herkömmlichen Angebots- und Nachfragebeziehungen können sich nicht herausbilden, da Nutzer und Finanzierungsträger nicht identisch sind. Diese Drittzahlung, die für den Hilfeempfänger einen Leistungsbezug zum Nullpreis darstellt, hat wichtige Folgen {Badelt 1996, 14 ff.). Das Qualitätsbewußtsein der Klienten nimmt ab, da mit der Leistungsinanspruchnahme kein Kaufkraftentzug einhergeht, und jegliche Inanspruchnahme bei positivem Grenznutzen lohnend ist. Darüber hinaus kann sich eine Konsumentensouveränität nicht herausbilden, da die gesetzlichen Ansprüche weitgehend normierte Leistungsangebote abgedecken.57 Der für wettbewerbliche Prozesse so wichtige ExitMechanismus der Abwahl von Leistungen und Anbietern scheidet mangels Alternativen vielfach aus.58 Gleichfalls versagt der Voice-Mechanismus in Form von Kritik und Widerspruch im Rahmen der angebotenen Programme, da sich der Klient häufig in einem existentiellen Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem Anbieter befindet (Pflege, Werkstätten für Behinderte, Krankenhaus), sich nicht mitteilen kann oder gar entscheidungsunfähig ist. Das in § 3 Abs. 2 BSHG festgeschriebene Wahlrecht der Hilfeempfänger läuft in vielen Fällten faktisch ins Leere.59 Änderungen der Versorgungsstrukturen und angebote bedürfen politischer Mehrheitsentscheidungen. Ein Minderheitenschutz, wie er durch individuelle Wahlfreiheit im Markt gewährleistet wird, besteht nicht. Die aufgezeigten Strukturen legen eine klare Ausrichtung des Erfolgsnachweises der Einrichtungen gegenüber den Sozialleistungsträgern als Geldgeber nahe. Die Interessen der Betroffenen bleiben zweitrangig in einer vom Staat oder korporatistisch fremdbestimmten Bedarfsfestlegung. Überregulierte anonyme Versorgungsverhältnisse sind das Ergebnis {Stolleis 1989, 61 ,Maelicke 1989, 3).
VI. Wettbewerbsbeschränkungen 1. Nachfragemacht der Sozialleistungsträger Die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV), die organisatorisch angegliederten Pflegeversicherungen, die Rentenversicherungsträger sowie die örtlichen und überörtlichen Träger der Sozial- und Jugendhilfe bilden ein enges regionales Nachfragekartell gegenüber den Einrichtungsträgern beim Einkauf sozialer Dienstleistungen {Rückert 1990, 81 ff.; Eichhorn 1996, 29 ff.). Konzentrationstendenzen der letzten Jahre verstärken die Nachfragemacht. So sank die Zahl der GKV-Kassen in Westdeutschland von
57 Lediglich bei Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Leistungen zu ggf. unterschiedlichen Versicherungsprämien könnte sich eine Konsumentensouveränität entfalten. 58 Auch Selbstzahler können ein Wahlrecht nur eingeschränkt wahrnehmen, da beispielsweise die Preise zum Teil nicht individuell vereinbart werden können. Siehe §§ 84 Abs. 3; 85; 89 PflegeVG. 59 Siehe ähnliche Rechtsgrundlagen in § 5 KJHG; § 2 SGB V; § 2 PflegeVG. Siehe auch Neumann (1989, 287).
362 · Dirk Meyer 1319 (1980) auf 530 (1996) und in Ostdeutschland von 219 (1993) auf 194 (1996).60 Kommunen schließen sich zu Großgemeinden zusammen oder bilden Gemeindeverbände. Darüber hinaus ermöglicht der Gesetzgeber eine Zentralisierung der Verhandlungen durch die überörtlichen Träger der Sozialhilfe sowie die Landesverbände der Sozialversicherungen.61 Der Souveränitätsverlust der Erinrichtungsträger zeigt sich unter anderem in der Verpflichtung, den Kostenträgern Einsicht in ihre Kalkulations- und Berechnungsunterlagen zu gewähren. So dürfen Sachverständige bei Wirtschaftlichkeitsprüfungen Einsicht in entsprechende Unterlagen der Einrichtungen nehmen.62 Diese Informationen können den Kostenträgern in den Entgeltverhandlungen sehr nützlich sein. Die Nachfragemacht wird außerdem dadurch verstärkt, daß die Sozialhilfeträger und die Sozialversicherungen für alle anspruchsberechtigten Leistungsempfänger, aber auch für die Selbstzahler, verhandeln und bindende Entgelte abschließen können.63 Gerade im Heimsektor ist der Anteil selbstzahlender Bewohner relativ hoch.64 Es besteht die Gefahr, daß die öffentlichen Kostenträger kraft ihrer Preissetzungsmacht den Zielkonflikt zwischen einer hohen Versorgungsqualität und der Beitragssatzbzw. Ausgabenstabilität zugunsten niedriger Entgeltsätze und Qualitätseinbußen lösen.65 Vertretern der Freien Wohlfahrtspflege dient dieser Sachverhalt dazu, den Aufbau von Gegenmacht gegenüber den Kostenträgern durch Kartellabsprachen und andere koordinierte Verhaltensformen zu rechtfertigen (Rückert 1990, 83). Zwar kann die Marktform des bilateralen Monopols gegenüber dem Monopson eine verbesserte Marktversorgung und eine Annäherung an den Gleichgewichtspreis bewirken.66 Es ist jedoch auch eine Abstimmung der Monopolparteien zu Lasten Dritter, konkret der Leistungsempfänger, möglich. Das sozialhilferechtliche Dreiecksverhältnis sowie die in Kapitel IV aufgezeigten Problemlagen machen diese Strategie wahrscheinlich. Folglich kann eine erstbeste Lösung nicht in der Zulassung von Kartellen liegen, sondern in einer Auflösung der Nachfragemacht durch Dekonzentration und Dezentralisierung der Verhandlungen. 2. Kartellabsprachen Die Kontrolle der Sozialdienstleister durch aktuelle und potentielle Konkurrenten würde den Interessen der Geldgeber, insbesondere der Sozialleistungsträger, und denen der Empfanger sozialer Dienste an einem kostengünstigen und bedarfsgerechten Angebot 60 Siehe Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch, versch. Jg.; Institut der deutschen Wirtschaft (1997, Tab. 88). 61 Siehe zum Beispiel § 16 BPfV; §§ 85 f. PflegeVG. 62 Siehe § 113 SGB V; § 79 PflegeVG. 63 Siehe Eichhorn (1996, 35) sowie § 16 BPflV und §§ 85; 89 PflegeVG. 64 Eichhorn (1996, 35) geht in Baden-Württemberg von etwa 50 % Selbstzahlern im Heimbereich aus. 65 Diese Gefahr wurde in vielen Gesprächen des Verfassers mit Vertretern von freigemeinnützigen Einrichtungen deutlich. Siehe auch Eichhorn (1996, 29 f.); Klug (1995, 42). 66 Siehe hierzu Meyer (1988, 147 f.). Allerdings bleibt die Preis-Mengen-Kombination im bilateralen Monopol unbestimmt und ist von der jeweiligen Verhandlungsmacht abhängig.
Das System der freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 363 besser entsprechen. Die aufgezeigten UnWirtschaftlichkeiten, die Anzeichen für eine nicht bedarfsorientierte Versorgung sowie Innovationsdefizite weisen auf die Notwendigkeit eines wettbewerblichen Ordnungsrahmens hin, doch sieht die Realität anders aus. Privat initiierte sowie gesetzlich vorgesehene Kartelle prägen das Bild. Die Errichtung von Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege auf Landes- und Bundesebene, der Zusammenschluß zu Landschaftsverbänden (Rheinland, WestfalenLippe, Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg) sowie die Bildung von Dachorganisationen auf Landes- und Bundesebene (LAGFW und BAGFW) sind Ausdruck der in Kapitel III beschriebenen korporatistischen Strukturen und verschaffen den Sozialleistungsträgern Ansprechpartner für die gesetzlich geforderte Zusammenarbeit (§ 10 BSHG). Zugleich fordern die kartellartigen Zusammenschlüsse gemeinsame Planungsabsprachen, Kostenkalkulationen und Entgeltforderungen, Gebietsabsprachen sowie ein geschlossenes Auftreten gegenüber den Sozialleistungsträgern.67 Die Zugehörigkeit der Wohlfahrts-Oligopolisten zum Dachverband der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAGFW) ermöglicht die verbandsübergreifende Abstimmung, während die rechtliche und wirtschaftliche Selbständigkeit der Mitgliedsverbände erhalten bleibt.68 Zudem können sich die sechs Spitzenverbände in Mitgliederversammlungen sowie in den 29 Fachausschüssen der Bundesarbeitsgemeinschaft abstimmen und gemeinsame Strategien festlegen. Arbeitsgemeinschaften werden zu speziellen Fragestellungen (Heimdialyse, Rehabilitation) durch die Sozialhilfeträger initiiert (§ 95 BSHG). Im Rahmen der diesen Arbeitskreisen übertragenen Aufgaben (zum Beispiel die Festlegung von Versorgungsund Ausrüstungsstandards), können die Wohlfahrtsverbände sogar Verwaltungsakte erlassen, wodurch nicht-staatliche Organisationen hoheitliche Regelungsbefugnisse erlangen. Darüber hinaus schreibt der Gesetzgeber für verschiedene Bereiche Kartellabsprachen vor. So fordert das Sozialhilferecht (§ 93 d BSHG) auf Landesebene einheitliche Rahmenverträge für die Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarungen zwischen den Trägern der Sozialhilfe, den kommunalen Spitzenverbänden und den Vereinigungen der Träger der Einrichtungen. Die Abschlüsse haben sich zudem an bundeseinheitlichen Empfehlungen der Verhandlungspartner zu orientieren, soweit nicht schon das Bundesministerium für Gesundheit einheitliche Rechtsverordnungen erlassen hat. Auch im Rahmen der Sozialen Pflegeversicherung kann die Bundesregierung Rechtsverordnungen zur 67 Zu den allgemeinen Aufgaben eines Spitzenverbandes der Freien Wohlfahrtspflege zählen nach Angaben ihrer Dachorganistion unter anderem folgende Aktivitäten: - Ordnungs- und Koordinierungsaufgaben innerhalb des Veibandsbereiches, - Zusammenwirken mit den anderen Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege durch regel mäßige Beratung und Abstimmung von Fragen, die mehrere Spitzenveibände berühren, - Kooperation mit den Trägern der öffentlichen Wohlfahrtspflege auf Bundes- und Landesebene, - Mitwirkung bei der Sozialplanung und Bedarfsfeststellung auf allen Gebieten der Wohl fahrtspflege. Siehe Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (1985, 13 f.). 68 Eine ihrer zentralen Aufgaben sieht die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (1985, 15) in der „planmäßige(n) Beratung und Abstimmung in allen Aufgabenbereichen der Freien Wohlfahrtspflege". 69 Vgl. Art. II § 25 Abs. 6 der Übergangs- und Schlußvorschriflen zum Sozialgesetzbuch (SGB) X.
364 · Dirk Meyer Pflegevergütung erlassen (§ 83 PflegeVG). Eine Differenzierung der Entgelte nach Kostenträgern ist hier unzulässig (§ 84 Abs. 3 PflegeVG).70 Zwar können auch einzelne Einrichtungen mit den Pflegekassen Entgelte vereinbaren (§ 85 PflegeVG), doch ist eine landesweit gültige Aushandlung in Pflegesatzkommissionen durch die Verbände die Regel (§ 86 PflegeVG). In verschiedenen Ländern, zum Beispiel in Schleswig-Holstein und Hamburg, haben es die von der Freien Wohlfahrtspflege dominierten Verhandlungsfuhrer der Anbieterseite zudem geschafft, Pflegesätze durchzusetzen, die den gewerblichen ambulanten Diensten hohe Überschüsse ermöglichen. Als gesetzlich vorgesehenes Gremium erleichtert zudem der Landespflegeausschuß (§ 92 PflegeVG) formelle und informelle Absprachen. Ähnliche Regelungen bestehen im Krankenhaussektor. Dort werden beispielsweise Fallpauschalen, Sonderentgelte sowie Basispflegesätze landesweit ausgehandelt (§ 16 BPflV, § 18 KHG). Diese Kartellstrukturen stärken die Verhandlungsmacht der organisierten Sozialdienstleister gegenüber den Kostenträgern, aber auch aus der Sicht der Sozialbürokratie ergeben sich Vorteile. So wird der Verhandlungsaufwand in Grenzen gehalten und eine Transparenz erleichtert. Die Einheitlichkeit schützt die Entscheidungsträger der jeweiligen Kommune und Sozialversicherung gegen die Kritik, die sich aus innovativen Vereinbarungen anderer dezentral verhandelnder Kostenträger gegenüber eigenen unvorteilhafteren Abschlüssen ergeben könnten. 3. Bedingtes Vorrangprinzip und Diskriminierung gewerblicher Anbieter sowie freier Selbsthilfegruppen Die Funktionsfähigkeit des Wohlfahrtskartells setzt die Behinderung des Marktzutritts kostengünstigerer oder leistungsstärkerer Anbieter voraus. Von daher ist die Diskriminierung gewerblicher Anbieter die Konsequenz der staatlich unterstützten Kartellbildung durch die Verbände. Das Prinzip der Subsidiarität71 wird vielfach als Grundorientierung für die Gewährung von Sozialhilfe in ihren verschiedenen Formen angesehen. Es fordert die Nachrangigkeit öffentlicher Träger und unterstützt die dezentrale Hilfeleistung.72 Die Sozialgesetzgebung nach dem BSHG leitet hieraus an verschiedenen Stellen eine bedingte Vorrangstellung Freier Wohlfahrtsverbände zu Lasten gewerblicher Anbieter ab. Aus marktwirtschaftlicher Sicht verkehrt dies den Begriff der Subsidiarität. So werden eine 70 Die Regelungen gelten sowohl fiir stationäre als auch für ambulante Pflegeleistungen. Siehe § 89 PflegeVG. 71 Das Subsidiaritätsprinzip wird erstmals in der Enzyklika „Quadragesimo anno" 1931 von Papst Pius XI zum sozialpolitischen Programm erhoben. Siehe Herzog (1987, Ziff. 3564 ff.) sowie Dichmann (1994) und Backhaus-Maul und Olk (1994, 101 ff.). 72 Siehe die Übersetzung der Enzyklika „Quadragesimo anno" nach Gundlach (1931, 113): „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen". Zur Interpretation des Subsidiaritätsprinzips siehe auch den Bundesverfassungsgerichtsentscheid (BVerfGE) 22, 180.
Das System der freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 365 enge Zusammenarbeit der Sozialhilfeträger mit den Verbänden betont, eine Übertragung staatlicher Aufgaben ermöglicht, ihre Vorrangstellung gegenüber der Durchführung staatlicher Maßnahmen hervorgehoben sowie eine angemessene finanzielle Unterstützung der Verbände ausdrücklich festgeschrieben.73 Die Bevorzugung freigemeinnütziger Einrichtungen gegenüber privat-gewerblichen Anbietern ist zwar entfallen, durch einen Bestandschutz bestehender Leistungsbeziehungen der (freigemeinnütziger) Einrichtungen jedoch weiterhin möglich.74 Zugleich gilt jedoch die Vorgabe, daß der Sozialhilfeträger bei gleichem Inhalt, Umfang und Qualität der Leistung den kostengünstigeren Anbieter unter Vertrag nehmen soll.75 In Zeiten von Einsparungen im Sozialetat mag diese Regelung zukünftig die Chancen freier Selbst- und Fremdhilfegruppen, nicht organisierter gemeinnütziger sowie gewerblicher Anbieter verbessern. Die fortbestehende Diskriminierung privat-gewerblicher Anbieter zeigt sich konkret in folgenden Punkten: Aus der Gemeinnützigkeit (§§ 51-68 AO) leiten sich Steuerbegünstigungen der Freien Wohlfahrtspflege ab. Die Verbände sind zum Beispiel von der Körperschafts-, der Gewerbe- sowie der Mehrwertsteuer befreit.76 Voraussetzung für den Erhalt von Subventionen und öffentlichen Kostenerstattungen ist eine Teilnahme am Versorgungsauftrag oder die Berücksichtigung im staatlichen Bedarfsplan. Hierzu gewährt das bedingte Vorrangprinzip den wohlfahrtlichen Einrichtungen einen besseren Zugang. Darüber hinaus können die Wohlfahrtsverbände ihre noch dominierende Marktstellung als Verhandlungsmacht gegenüber den Sozialleistungsträgern einsetzen. Bisherige Versorgungsstrukturen, informelle Kontakte sowie personelle Verflechtungen zwischen Politik und Freier Wohlfahrtspflege garantieren den Verbänden weiterhin nichtleistungsbedingte Wettbewerbsvorteile. Die Bewilligung von Zivildienststellen und die Zuweisung von Zivildienstleistenden erfolgt durch das Bundesamt für den Zivildienst in Zusammenarbeit mit den Landesverbänden der Freien Wohlfahrtspflege. Neben der Diskriminierung privat-gewerblicher Anbieter sind bei diesem Vergabeverfahren Nachteile für nicht organisierte freigemeinnützige Träger und Selbsthilfegruppen nicht ausgeschlossen.77 73 Siehe §§ 8 Abs. 2; 10 Abs. 2-5 BSHG. Hinsichtlich der staatlichen finanziellen Unterstützung handelt es sich lediglich um eine Soll-Vorschrift, auf die weder dem Grunde noch der Höhe nach ein Rechtsanspruch besteht. Gerade bei knappen Haushaltsmitteln wird dies fur die Verbände spürbar. 74 Siehe die bis zum 01.08.1996 geltende Fassung des § 93 Abs. 6 BSHG. Zum Bestandschutz siehe § 93 Abs. 1 BSHG i.d.F.v. 01.08.1996. Ähnliches gilt für Pflegedienste- und Einrichtungen nach § 73 Abs. 3 und 4 PflegeVG. 75 Siehe § 93 Abs. 1 BSHG. Die Berücksichtigung von Zweckmäßigkeits- und Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten steht ganz im Einklang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum 'Subsidiaritätsstreit' der 60er Jahre. Siehe BVerfGE 22, 180. 76 Leistungen der Freien Wohlfahrtspflege sind generell von der Mehrwertsteuer (MWSt) befreit (§ 4 Nr. 18 Umsatzsteuergesetz, UStG). Demgegenüber ist eine MWSt-Befreiung für Krankenanstalten und Altenheime (§ 4 Nr. 16 UStG) nicht an die Gemeinnützigkeit gebunden und führt folglich in diesem Sektor nicht zu einer Ungleichbehandlung der Unternehmen. 77 Dabei erhalten die Beschäftigungsstellen eine Subvention in zweifacher Hinsicht: Die Sondersteuer fur junge wehrtaugliche Männer in Höhe ihrer adäquaten Marktentlohnung abzüglich des
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· Dirk Meyer
Die gemeinnützige Spende (§§ 51 ff AO) ermöglicht dem Spender eine Minderung seiner Steuerschuld (§ 10b Einkommensteuergesetz, EStG).78 Da sich dadurch der 'Preis' der Spende aus der Sicht des Spenders mindert, erhöht sich der Anreiz für eine freiwillige Unterstützung. Diese Möglichkeit der subventionierten Eigenfinanzierung ist privat-gewerblichen Unternehmen nicht gegeben. Zudem werden Bußgelder sowie Lotterieerlöse (Aktion Sorgenkind etc.) ausschließlich über die Wohlfahrtsverbände zugeteilt. Dies benachteiligt freie Selbsthilfegruppen und nicht organisierte Träger. Wurden bislang Argumente genannt, die die (potentiellen) Konkurrenten der Freien Wohlfahrtspflege diskriminieren, so sollen abschließend einige Nachteile aus dieser Sonderstellung aufgezeigt werden. Mit der Gemeinnützigkeit ist ein Flexibilitätsverlust verbunden, da die Gewinnverwendung auf den gemeinnützigen Zweck beschränkt wird und somit einen Strukturwandel behindern kann. Gleiches gilt für die Inanspruchnahme von Fördermitteln, die an eine Zweckbindung geknüpft wird. Das Verbot der Gewinnausschüttung verwehrt weitgehend eine Außenfinanzierung durch die Einwerbung von Eigenkapital. Eine mangelnde Haftungsbasis wiederum behindert die Aufnahme von Fremdkapital auf dem freien Kapitalmarkt. Des weiteren kann das an die Mehrwertsteuerpräferenz gekoppelte Verbot des Vorsteuerabzuges bei hohem Vorleistungsinput gegenüber gemeinnützigen Konkurrenten mit hohem selbst erstellten Wertschöpfungsanteil in einen Nachteil umschlagen.
VII. Reformansätze Die Steuerungsdefizite sind systembedingt. Deshalb stellen die Forderungen nach Dezentralisierung und sogenanntem Sozialmanagement79 keine nachhaltigen Problemlösungen dar. Ein im marktwirtschaftlichen Sinne unternehmerisches Handeln der Wohlfahrtsverbände ist unter den gegebenen Abhängigkeits- und Anreizstrukturen nicht möglich. Die ordnungspolitischen Defizite, die diese Art von Ökonomie zulassen, sind jedoch nicht primär den Wohlfahrtsverbänden, sondern der für die Setzung eines geeigneten Ordnungsrahmens zuständigen Politik anzulasten. An zwei Zielen könnte sich eine Reform orientieren: Die Stellung der Leistungsberechtigten hinsichtlich der Steuerung eines bedarfsgerechten Angebots ist zu stärken. Die Produktion sozialer Dienste hat möglichst kostengünstig zu erfolgen.
Tagessoldes (13,50 - 16,50 DM) trägt der Zivildienstleistende. Darüber hinaus erhält die Einrichtung eine pauschale Erstattung vom Bund in Höhe von 11,93 DM täglich. Demnach verursacht der Zivildienstleistende den Betrieben tägliche Kosten in Höhe von 1,57 - 4,57 DM zuzüglich der Kosten für die Verpflegung, Arbeitskleidung und Unterkunft. Angaben des Bundesamtes fur den Zivildienst. Stand: Januar 1997. Hinzu kommen Zuschüsse fur Qualifizierungsmaßnahmen der Zivildienstleistenden. 78 Siehe auch § 34g EStG; § 9 Abs. 1 Körperschaftsteuergesetz (KStG); §§ 8 Nr. 9; 9 Nr. 5 Gewerbesteuergesetz (GewStG). 79 Unter Sozialmanagement wird die Übertragung allgemeiner Managementtechniken auf die Produktion sozialer Dienste verstanden: Professionalisierung durch Verbesserung der Ausbildung, Mitarbeiterführung, Qualitätskontrolle, Anwendung moderner Kostenrechnungssysteme, etc.).
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1. Renditesteuerung und Gemeinnützigkeit Steuerrechtlich setzt die Gemeinnützigkeit nach § 53 AO voraus, daß die „Tätigkeit darauf gerichtet ist, Personen selbstlos zu unterstützen." Wie paßt diese (christliche) Regel der Nächstenliebe zu einer marktwirtschaftlichen Steuerung, bei der die Motive der Gewinnerzielung und der Nutzenmaximierung vorherrschen (Hoppmann 1990, 6 ff.)? Eine wesentliche Voraussetzung der Einkommenserzielung ist die Abnahme der Leistung durch die Konsumenten, die sich von dem Kauf einen Vorteil versprechen. Verluste oder gar Konkurse sind ein Indiz für 'abgewählte' Anbieter. Von daher sind die Konsumenten - die 'Nächsten ' in einer weitgehend arbeitsteiligen Gesellschaft - nicht von der persönlichen Zuneigung der Leistungsanbieter abhängig: „Wir erwarten unser Essen nicht von der Wohltätigkeit des Fleischers, Brauers oder Bäckers, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen" (Smith 1976/1776, Bd. 1, 21). Nicht die Selbstlosigkeit, sondern Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit sind die Kriterien einer kundenbezogenen und damit quasi-gemeinnützigen Leistungserstellung in einem wettbewerblichen System. Ein grundlegender ökonomischer Sachverhalt besteht darin, daß das, was verschenkt wird, erst erwirtschaftet werden muß. Wendet man diesen Sachverhalt auf das einzelne Sozialunternehmen an, so können Gewinne der Einrichtungsträger Handlungsspielräume eröffnen, die eine spezielle soziale, caritative oder diakonische Ausrichtung der Organisation erst ermöglichen. Gewinne werden Mittel zum organisatorischen Zweck (Rückert 1990, 52 und 189 ff). Eine Abkehr vom Ziel der Gewinnmaximierung „zugunsten eines niedrigeren, als angemessen definierten Gewinns [ist] bereits eine Form der ... Gewinnverwendung .., die .. verantwortet werden muß".80 Zudem beinhaltet diese gebremste Überschußerzielung in Anlehnung an das Gutenbergsche Angemessenheitsprinzip81 die Gefahr einer unwirtschaftlichen Leistungserstellung und damit der Gewmaverschwendung (.Rückert 1990, 189 f.). Im übrigen begrenzt die steuerliche Gemeinnützigkeit keinesfalls die Gewinnerzielung, lediglich die Verwendung ist auf den steuerbegünstigten Zweck eingeschränkt.82 Darüber hinaus gestattet es die marktwirtschaftliche Ordnung, vielfaltige Ziele und Werte (christliche Grundsätze, weitgehende Arbeitnehmerbeteiligung etc.) zu verfolgen. Allerdings mit einer Einschränkung: Die Zielorientierung muß der Konkurrenz und dem Test der Käufer standhalten. Dies weist auf einen entscheidenden Vorteil der marktorientierten Renditesteuerung hin: Während das Kriterium der Selbstlosigkeit allenfalls einen Hinweis auf die Absicht des Handelnden gibt und damit einer Gesinnungsethik im Weberschen Sinne entspringt, 80 Rückert (1990, 192). (Hervorhebung im Original.) 81 Das Prinzip der angemessenen Gewinnerzielung „klingt zuerst in dem Begriff des 'justum pretium' auf und ist ein Ausdruck jener geistigen Galtung, auf der die ständisch gegliederte Sozialordnung des Mittelalters beruhte. ... Aus diesem Grunde ist ein System von Reglementierungen geschaffen, welches dem schrankenlosen Ausnutzen von Markt- und Gewinnchancen durch den einzelnen Gewerbetreibenden vorbeugen soll." Gutenberg (1983, 479 f.). 82 Nach § 58 Nr. 6 AO kann „ ... eine Körperschaft ihre Mittel ganz oder teilweise einer Rücklage zuführ[en], soweit dies erforderlich ist, um ihre steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke nachhaltig erfüllen zu können,... ". Siehe außerdem die weiteren Fälle des § 58 AO.
368 · Dirk Meyer unterliegt das Gewinnstreben in Verbindung mit wettbewerblichen Strukturen einer Erfolgsorientierung im Sinne einer Verantwortungsethik {Weber 1956/1919, 174 ff; Hoppmann 1990, 13 ff ). Die Freiheit des Handelns wird durch das Prinzip Verantwortung kontrolliert (Jonas 1986; Prosi 1988, 481 ff). Gerade in einer Welt des Mangels, der Unwägbarkeiten, des Wandels und der menschlichen Unvollkommenheiten erscheint diese Kongruenz wichtig. Als Konsequenz dieser Überlegungen ist eine Reform des Gedankens der Gemeinnützigkeit gemäß Abgabenordnung (§§ 51-68 AO) zu fordern.83 Besteht der politische Wille zur Förderung sozialer Dienste fort, so sollte neben einer steuerlichen Gleichstellung von freigemeinnützigen und privat-gewerblichen Unternehmen auch der Zugang zu Subventionen und Zivildienstleistenden an einen rein sachlichen Bezug gemäß der Art der Leistungserstellung geknüpft werden. Die Erschließung privater Hilfeleistung durch Spenden und Ehrenamt könnte zukünftig zu einer wichtigen Ergänzung der staatlichen sozialen Aufgabenerfullung ausgebaut werden. Neben den durch einen Versorgungsvertrag festgelegten und zu entgeltenden Dienstleistungen könnten Spenden und ehrenamtliche Arbeit für eine über den Vertrag hinausgehende Betreuung und für Pilotprojekte eingesetzt werden. Auch hier dürften gewerbliche Anbieter nicht diskriminiert werden und bei entsprechender Leistungsfähigkeit und Aufgeschlossenheit durchaus ihre Chancen wahren. Sowohl die Spenden als auch die ehrenamtliche Tätigkeit sollten sich beim Helfenden als Anreiz steuervergünstigend auswirken.84 Des weiteren sollten die bislang gemeinnützig definierten Wohlfahrtsverbände die Möglichkeit erhalten, uneingeschränkt Überschüsse bilden zu können, um diese zur Stärkung ihrer Eigenkapitalbasis (Rücklagen) zu verwenden oder aber für andere von ihnen als sinnvoll erachtete Projekte einzusetzen (Rückert 1990, 189 ff, 192). 2. Wettbewerblicher Ordnungsrahmen a. Ungehinderter Marktzutritt und Prinzip der Nichtdiskriminierung Neben einer Aufhebung der Gemeinnützigkeits-Privilegien wäre für einen wettbewerblichen Ordnungsrahmen entsprechend dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung die rechtliche und faktische Gleichstellung aller Anbieter seitens des Staates unabdingbar. Die Sicherstellung privater Märkte und die Garantie der Chancengleichheit der Anbieter durch einen ungehinderten Marktzutritt wären Grundvoraussetzung einer effizienten Versorgung. Das bedingte Vorrangprinzip müßte entfallen, und die Verquickung eines öffentlichen Amtes mit einer Führungsposition in den Wohlfahrtsverbänden müßte als Interessenkollision ausgeschlossen sein. In den sich am Markt ergebenen Strukturen könnten sich ebenso wohlfahrtliche Anbieter behaupten, soweit sie komparative Vorteile 83 Die Gemeinnützigkeit dürfte im Rahmen der Deprivilegierungstendenzen der EU nicht mehr lange Bestand haben. Siehe auch Backhaus-Maul und Olk (1994, 116 f.). 84 Ähnlich der Geldspende könnte der geschätzte Wert der ehrenamtlichen Arbeit angesetzt werden. Dies ist bislang nicht möglich. Damit auch geringverdienende ehrenamüich Tätige in den Genuß diese Vorteils kommen, sollte die Vergünstigung als Steuergutschrift ausgestaltet werden.
Das System der freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 369 der Leistungserstellung gegenüber gewerblichen Produzenten nachweisen. Dies mag unter Umständen auf die zuwendungsintensive Pflegearbeit zutreffen sowie generell auf alle Tätigkeiten, die einer externen Qualitätskontrolle schwer zugänglich sind (beispielsweise Beratungen). Allerdings wäre bei Aufhebung der Diskriminierung privat-gewerblicher Anbieter die Stabilität des Wohlfahrtskartells durch Außenseiter gefährdet. Die Liberalisierung des Marktes für Pflegeleistungen durch das PflegeVG sowie Bestrebungen im Rahmen des EU-Binnenmarktes in Richtung einer Gleichstellung81 lösen bereits heute innerverbandliche Diskussionen, Befürchtungen und erste Anpassungsmaßnahmen aus. Ein häufig vorgebrachter Einwand bezieht sich auf den unterstützenden Charakter sozialer Dienste. Mangels Kaufkraft der sozial Bedürftigen seien wettbewerbliche, gewinnorientierte Strukturen nicht möglich (Schneider 1996, 215). Diese Kritik übersieht, daß der Staat zwar die finanziellen Mittel für verschiedene soziale Dienste bereitstellen muß sowie gegebenenfalls die Sicherstellung eines ausreichenden Angebots zu gewährleisten hat. Hiervon ist jedoch die Produktion dieser Dienste strikt zu trennen, die ohne weiteres in einem wettbewerblichen Rahmen erfolgen kann. Ein zweiter Einwand hebt auf den besonderen Gutscharakter ab, der einen regulierenden staatlichen Eingriff erforderlich machen könnte. So definiert Schneider die Freie Wohlfahrtspflege als „ein gesellschaftlich gewachsenes System", welches den Charakter eines „öffentlichen Gutes" trägt und „sich ausdrücklich gemeinnützig legitimiert."86 Hierbei wird übersehen, daß auch die behandelten Einrichtungen keinen Wert an sich haben, sich vielmehr durch die Leistungen zu legitimieren haben, die sie zur Lösung bestimmter Probleme erbringen. Um welche Güter handelt es sich konkret? Zunächst geht es um einfache Güter, deren Qualität problemlos durch Erfahrung erkennbar wird.87 Als Beispiele seien hauswirtschaftliche Dienste (Essen auf Rädern, Mittagstische, Obdachlosenunterkünfte), Erste-Hilfe-Ausbildung, Sanitätsdienste sowie Erholungseinrichtungen genannt. Eine wettbewerbliche Marktallokation erscheint ohne weiteres möglich. Sodann handelt es sich um komplexere Erfahrungs- oder gar Vertrauensgüter. Dem ganzheitlichen Ansatz sozialer Arbeit folgend stehen eng definierte Dienstleistungen in einem zumeist personenbezogenen Wirkungszusammenhang, der eine Versorgung in Leistungskomplexen sinnvoll erscheinen läßt. Dies kann auch in anderen Märkten beobachtet werden (Versicherungen, Reparaturen, Wartungen, Ferienreisen), deren Leistungen problematische Schnittstellen aufweisen. Des weiteren ist soziale Arbeit häufig Beziehungsarbeit, deren Qualität schwer zu kontrollieren ist. Von daher können Schlechtleistungen nicht ohne weiteres identifiziert werden. Mittelfristig werden beim Vorliegen asymmetrischer Informationen jedoch informelle Sanktionsmechanismen wie private Empfehlungen, Testvergleiche und die Medienkontrolle sehr 85 Hierzu zählen beispielsweise die EU-weite Ausschreibung öffentlicher Aufträge. Näheres hierzu siehe bei Schmid (1994, 453 ff ); Loges (1994, 485 ff ). Durch die auch im EU-Vergleich hervorgehobene Sonderstellung der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland ist ein erhöhter Anpassungsbedarf zu erwarten. 86 Siehe Schneider (19%, 216). Schneider ist Geschäftsführer im Gesamtveiband des DPWV, Frankfurt. 87 Zur Güterklassifikation Nelson (1970, 311 ff); Darby und Kami (1973, 67 ff).
370 · Dirk Meyer wirksam, die vor 'schwarzen Schafen' schützen.88 Dies ist von Ärzten, Rechtsanwälten sowie Autoreparaturdiensten durchaus bekannt. Dennoch erscheinen freiwillige und staatliche Qualitätsstandards sowie Kontrollen als notwendig. Gerade in diesem Leistungsspektrum sind Wettbewerbsvorteile wohlfahrtlicher Anbieter zu vermuten, deren Mitarbeiter einem sozial-caritativen Leitbild verpflichtet sind.89 Schließlich kann die Freie Wohlfahrtspflege die Sozialanwaltschaft im Sinne einer Interessenwahrnehmung der sozial Bedürftigen beanspruchen. Diese trägt am ehesten den Charakter eines öffentlichen Gutes, doch ist ihre Berücksichtigung nicht an ein Leistungsangebot der Freien Wohlfahrtspflege im bisherigen Verständnis gebunden, da auch gewerbliche Anbieter mit ihren wettbewerblich kontrollierten Leistungsangeboten darauf angewiesen sind, die Interessen ihrer Nachfrager zu vertreten und sich in deren Dienst zu stellen. Als Beispiel sei auf die medizinischen Leistungsanbieter verwiesen, die in der Vergangenheit die Ausweitung der satzungsmäßigen Leistungen der Gesetzlichen Krankenkassen erfolgreich betrieben haben. Im Ergebnis sprechen keine grundlegenden Einwendungen gegen wettbewerbliche Strukturen im Sektor der sozialen Dienstleistungen. Am Beispiel des Rettungsdienstes soll deren Umsetzung konkretisiert werden: Da innerhalb eines Gebietes eine Versorgung durch miteinander konkurrierende unabhängige Rettungsanbieter wenig sinnvoll erscheint, könnten der Staat (zum Beispiel Kreise, kreisfreie Städte) oder die Krankenkassen die Sicherstellung durch die öffentliche Ausschreibung von Versorgungsverträgen gewährleisten. Nachdem in einem Versorgungsvertrag durch Qualitätsvorgaben (Hilfsfristen, fachliche Qualifikation, Ausstattung und Besetzung der Rettungsmittel) und Entgeltregelungen sowie einem Kontrahierungszwang die gewünschten Leistungen definiert worden sind, bekäme derjenige Anbieter den Zuschlag, der die geringsten Leistungsentgelte beansprucht. Um den Wettbewerb weiterhin wirksam zu halten, müßten diese Ausschreibungen in Anlehnung an die Abschreibungszyklen (5 bis 8 Jahre) wiederholt werden. Diese Form der Vergabe würde sicherstellen, daß qualitäts- und kostensparende Prozeßinnovationen laufend berücksichtigt werden. Haftungsregelungen sowie Konventionalstrafen könnten Schlechtleistungen vorbeugen. Ein 'Rosinenpicken' ließe sich auch durch entsprechende Gebietszuschnitte - Kombination von Stadt- und Landbezirken - vermeiden. Auch am Beispiel ambulanter Pflegeleistungen kann gezeigt werden, daß der staatliche Eingriff und die Regulierungsintensität von der Art der betrachteten Leistung abhängen. Neben der individuellen Pflicht zur Absicherung des Pflegefallrisikos hätte der Staat lediglich die Mindeststandards zu definieren. Den Einkauf der Leistungen könnten die jeweiligen Pflegekassen übernehmen. Alternativ würden bei einem Anspruch auf Geldleistungen die Pflegebedürftigen selbst die Dienste aushandeln und in gewünschtem Umfang beziehen können.90 Verschiedene Versorgungssysteme könnten sich dem Wettbe88 Zur Problematik asymmetrischer Informationen siehe ausfuhrlicher Meyer (1990, 104 ff.). 89 Hierbei kann es sich um die Corporate Identity eines ganzen Wohlfahrtssektors, wie zum Beispiel der Dienstgemeinschaft der Caritas, Unternehmensethiken einzelner Verbände oder nicht modifizierter Werte einzelner Mitarbeiter handeln. Siehe Pompey (1993, 317 ff.). 90 Gegenüber der heutigen Regelung besteht der Unterschied in einer freien Preisgestaltung und der individuellen Aushandlung.
Das System der freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 371
werbstest stellen. Probleme der Qualitätssicherung bestehen zwar fort, doch könnte der Wettbewerb praktikable Lösungen entdecken. Die sich häufig als unzureichend erwiesene Qualitätssicherung des Staates und des medizinischen Dienstes der Kassen könnte auch hier durch verschärfte Haftungsregelungen sowie Konventionalstrafen ersetzt werden. b. Beseitigung der Nachfragemacht durch Dezentralisierung Das Instrument der Versorgungsverträge fuhrt bei Aufrechterhaltung monopsonistischer Strukturen durch die zentrale Verhandlungsfuhrung überörtlicher Sozialhilfeträger, Gemeindeverbände und landesweiter Kassenverbände zu einem 'Vertrag auf Unterwerfung' (Linzbach und Immer 1996, 17). In Verhandlungen mit unterschiedlichen Dienstleistungsanbietern sitzen als Verhandlungsfuhrer der Nachfrageseite die gleichen Personen, unterstützt von einem eingespielten Team von kompetenten Fachkräften. Die Hinwendung zur monistischen Finanzierung aus einem 'Topf unterstützt die Macht der Sozialleistungsträger, da die Kongruenz von Investitionsentscheidung und Finanzierungsverantwortung eine Überwälzung von Kosten auf am Entscheidungsprozeß unbeteiligte Dritte verhindert.91 Wettbewerbliche Strukturen erfordern demgegenüber auch, daß die Anbieter auf andere Nachfrager ausweichen und damit dem Diktat der Vertragsbedingungen einzelner marktmächtiger Einkäufer entgehen können. Nachfragemacht ist somit nur durch eine beiderseitige Dezentralisierung der Entscheidungen zu beseitigen. Landschaftsverbände, Bezirke sowie Kassenverbände scheiden demnach als Verhandlungspartner der Sozialunternehmen aus. Vielmehr haben die einzelnen Kommunen und örtlichen Kassen getrennt zu verhandeln. Problematisch bliebe weiterhin die Wahrnehmung von Doppelfunktionen seitens der Kommunen als Kostenträger, Leistungsanbieter und nachfragesteuernde Beratungsinstanz, wie es in den Bereichen der Jugend- und Altenhilfe vielfach der Fall ist. Der Verzicht auf eigene Angebote erscheint hier als die beste Lösung.92 3. Subjektförderung in Kombination mit Geldleistungen In verschiedenen Sozialleistungsgesetzen wird das Wahlrecht der Leistungsberechtigten hervorgehoben.93 Das sozialhilferechtliche Dreiecksverhältnis schwächt hingegen die Stellung des Leistungsberechtigten und stärkt, wie in Kapitel III. 3 gezeigt, den Einfluß 91 Eine vor allem im Krankenhaussektor beobachtbare Koalition der Krankenhausträger mit den Ländern, die bei dualer Finanzierung lediglich die Investitionskosten übernehmen, bürdet den Krankenkassen etwa 70 - 80 % der Kosten als laufende Betriebskosten auf, ohne daß diese am Entscheidungsprozeß maßgeblich beteiligt wären. Eine monistische Finanzierung beseitigt diesen Mangel. 92 Nicht-staatliche Einrichtungsträger bemängeln eine Diskriminierung durch eine vorrangige Selbstbelegung der staatlichen Kapazitäten. 93 Siehe § 3 Abs. 2 BSHG; § 2 Abs. 2 PflegeVG; § 5 KJHG. Näheres hierzu siehe bei Linzbach (1996, 44 ff).
372 · Dirk Meyer
der Einrichtungen sowie des Staates. Eine Aufhebung dieses Abhängigkeitsverhältnisses wird jedoch nur gegen entsprechende Widerstände durchsetzbar sein.94 Eine Reform zur Stärkung der Konsumentensouveränität müßte zwei Elemente enthalten: Die bisherige Objektförderung der Einrichtungsträger wäre durch eine Subjektförderung der Leistungsberechtigten unter Vorrang der Geldleistung vor der Sachleistung zu ersetzen (Linzbach 1996, 40 ff; Freier 1989, 370). Zugleich würden die Kostentransparenz innerhalb der Einrichtungen gesteigert und Kontrollen hinsichtlich einer rechtmäßigen Verwendung der Mittel könnten entfallen. Die Kompetenz der Konsumenten könnte sich bei der Vergabe pauschaler Sozialtransfers entfalten. Eine Feinsteuerung der Leistungsinanspruchnahme gemäß den individuellen Bedürfnissen würde ein differenziertes Angebot sozialer Dienste hervorbringen. Die Anbieter hätten sich nicht nur dem Sozialträger durch die Garantie von Mindeststandards, sondern vornehmlich den Leistungsberechtigten gegenüber durch bedarfsgerechte und kostengünstige Angebote zu legitimieren. Einrichtungsgebundene Förderungen wären in diesem System lediglich dann gerechtfertigt, wenn eine Aufrechterhaltung von Vorhaltekapazitäten notwendig erscheint. Dies träfe beispielsweise auf den Rettungsdienst sowie den Katastrophenschutz zu. Das Sachleistungssystem müßte in den Fällen weiterhin angewandt werden, in denen die Gefahr besteht, daß die Geldleistung zweckentfremdet ausgegeben wird. Dies könnte für einzelne sozialhilfeberechtigte Haushaltsvorstände sowie generell bei Entziehungskuren zutreffen. Sollten Bedürftige beispielsweise wegen ihres Alters Probleme bei der Bewältigung ihrer Einkaufsentscheidungen haben, müßte eine entsprechende Beratung oder Hilfe durch möglichst unabhängige Treuhänder sichergestellt sein.95 Eine besondere Qualitätssicherung dürfte fur stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendpflege notwendig sein, um möglichen Mißbräuchen Einhalt zu gebieten. Literatur a. Gesetze Abgabenordnung (AO) Aktiengesetz (AktG) Arbeitsförderungsgesetz (AFG) Bundessozialhilfegesetz (BSHG) Einkommensteuergesetz (EStG) Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) Gesetz über die Rechnungslegung von bestimmten Unternehmen und Konzernen (Publizitätsgesetz, PublG) Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Krankenhausfinanzierungsgesetz, KHG)
94 Manche Einrichtungsträger befürworten die Abschaffung des Sachleistungsprinzips, da sie sich hierdurch mehr Freiräume gegenüber staatlicher Bevormundung versprechen. Siehe auch Linzbach (1996, 42); Rückert (1990, 69). 95 Institutionen, die entsprechende Dienste anbieten, dürften somit als Treuhänder ungeeignet sein.
Das System der freien Wohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 373 Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) Gewerbesteuergesetz (GewStG) Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG / SGB VIII) Körperschaftsteuergesetz (KStG) Pflegeversicherungsgesetz (PflegeVG / SGB XI) Schwerbehindertengesetz (SchwbG) Sozialgesetzbuch I - Allgemeiner Teil (SGB I) Sozialgesetzbuch X - Verfahrensrecht (SGB X) Umsatzsteuergesetz (UStG) Verordnung über die Rechnungs- und Buchfuhrungspflichten der Pflegeeinrichtungen (PBV) Verordnung über die Rechnungs- und Buchfuhrungspflichten von Krankenhäusern (KHBV) Verordnung zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Bundespflegesatzverordnung, BPflV) Werkstättenverordnung Schwerbehindertengesetz (SchwbWV) b. Bücher und Aufsätze Bäcker, Gerhard, Rolf G. Heinze und Gerhard Naegele (1995J, Die Sozialen Dienste vor neuen Herausforderungen, Münster. Backhaus-Maul, Holger und Thomas Olk (1994), Von Subsidiarität zu 'outcontracting': Zum Wandel der Beziehungen von Staat und Wohlfahrtsverbänden in der Sozialpolitik, Politische Vierteljahresschrift, 35. Jg., Sonderheft 12/94, S. 100-135. Badelt, Christoph (1996), Qualitätssicherung aus gesamtwirtschaftlicher und sozialpolitischer Perspektive, in: Bernd Maelicke (Hrsg.), Qualitätsmanagement in sozialen Betrieben und Unternehmen, Baden-Baden, S. 9-23. Becker, Joachim (1994), Soziale Dienste, in: Joachim Becker (Hrsg.), Der erschöpfte Sozialstaat: Neue Wege zur sozialen Gerechtigkeit, Frankfurt a. M., S. 139-145. Bock, Teresa (1992), Ehrenamtliche in der Freien Wohlfahrtspflege, Soziale Arbeit, 41. Jg., S. 381-385. Boeßenecker, Karl-Heinz (1996), Die Freie Wohlfahrtspflege der BRD im europäischen Einigungsprozeß, Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen, Bd. 19, S. 269-285. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (Hrsg.) (1985), Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege: Aufgaben und Finanzierung, Freiburg i.Br. Christa, Harry und Bernd Halfar (1992), Wohlfahrtsverbände im Wettbewerb. Empirische Ergebnisse zum Spendenmarketing, in: Sozialpolitik und Wissenschaft, Schriften des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Allgemeine Schrift 269, Frankfurt/M., S. 1938. Dammann, Bernd (1986), Das Verhältnis von alternativen und etablierten Trägern der Wohlfahrtspflege angesichts der Probleme einer „neuen" Sozialpolitik, in: Rudolph Bauer und Hartmut Dießenbacher (Hrsg.), Organisierte Nächstenliebe, 2. Auflage, Opladen, S. 117-133. Darby, Michael R. und Edi Kami (1973), Free Competition and the Optimal Amount of Fraud, Journal of Law and Economics, Vol. 88, S. 67-88. Dennerlein, Rudolf K.-H. und Markus Schneider (1995), Wirtschaftlichkeitsreserven im Rettungsdienst, Gutachten für den BM Gesundheit, BASYS, Augsburg. Dichmann, Werner (1994), Subsidiarität, ORDO, Bd. 45, S. 195-249. Dickertmann, Dietrich und Viktor Piel (1995), Informationsbedarf auf dem Spendenmarkt, Wirtschaftsdienst, 75. Jg., S. 49-56. Ehrlich, D. (1970), Die rechtliche Stellung der freien Wohlfahrtsverbände unter besonderer Berücksichtigung sammlungsrechtlicher Vorschriften, Diss., Würzburg. Eichhorn, Peter (1996), Rahmenbedingungen und Gestaltungsalternativen für ein Entgeltsystem in Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe, Gutachten für den Württ. Evang. Fachverband für Altenhilfe und den Evang. Fachverband für Behindertenhilfe im Diakonischen Werk Württemberg, Mannheim. FORPLAN (1996), Gutachten zum Rettungsdienst im Kreis Schleswig-Flensburg, o.O.
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Das System derfreienWohlfahrtspflege aus ordnungspolitischer Sicht · 377 Summary The German Charitable Welfare System - A Criticism from the Viewpoint of Ordnungspolitik Charitable social welfare care constitutes the market-leader in the provision of social services. Neocorporatist structures have resulted in the latter's exceptional situation, which is characterised by a preferential position in certain circumstances compared to commercial suppliers, cartel agreements which enjoy partial legal legitimacy, financial dependence on the state, as well as a say in social policy planning. As such, the concomitant development of bureaucratic structures, a loss of the innovation capacity, and structures which have encouraged wastefulness and deficient care provisions has been evident. The causes of this can be seen in a failure of internal and external controls, and above all of competitive structures. Possible starting points for a reform may be founded on the guarantee of equal opportunities and of non-discrimination against commercial suppliers. The governmental monopsonistic power should be removed by a decentralisation of bargaining. In addition to this, the position of those having a right to such services needs to be strengthened by greater individual assistance combined with monetary allocations.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Andreas Freytag
Geldpolitische Regelbindung als Teil der wirtschaftlichen Gesamtordnung: Der argentinische Currency Board'
I. Einleitung Weltweit ist in den neunziger Jahren das Stabilitätsbewußtsein gestiegen. Auch in der Europäischen Union haben die Inflationsraten der Mitgliedsländer einen historischen Tiefstand erreicht. Viele Entwicklungs- und Transformationsländer sind dem Beispiel gefolgt und haben eine erfolgreiche Stabilisierung durchführen können. So hat auch Argentinien nach einigen vergeblichen Währungsreformen 1991 mit Erfolg ein Currency Board System eingeführt. Was können Länder mit weiterhin chronischer Inflation und zweistelligen Inflationsraten daraus lernen? Die Diskussion über Währungsreformen verläuft im allgemeinen eher prozeßpolitisch als regelorientiert. Es wird darüber nachgedacht, ob feste Wechselkurse oder flexible Wechselkurse besser der Stabilisierung dienen können oder ob hierfür eine Geldmengenoder Zinssteuerung oder die Orientierung an einem Inflationsziel zweckmäßiger ist. Weniger im Blickfeld steht die Geldordnung als Teil der (nationalen und internationalen) Wirtschaftsordnung. Inflationen sind zwar monetäre Phänomene; ihre Ursachen liegen jedoch in Fehlern auf anderen Feldern der Wirtschaftspolitik. Wird dies vernachlässigt, kann es leicht zu geldpolitischen Fehlentscheidungen kommen. Dies kann international weitreichende Folgen haben, wie die Währungskrisen in Südostasien zeigen. So wurde beispielsweise im Januar 1998 für Indonesien die Einführung eines Currency Boards vorgeschlagen, um die Rupiah an den US-Dollar zubinden und auf diesem Weg Stabilität und Vertrauen zu importieren. Tatsächlich gilt das Currency Board System als geeignet, eine Inflation zu stoppen und die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik zu erhöhen. Das Hauptproblem Indonesiens bestand jedoch nicht in der fehlerhaften Geldpolitik, sondern in einer inkonsistenten Wirtschaftsordnung. Nur als Bestandteil einer konsistenten Wirtschaftsordnung kann auch ein Currency Board erfolgreich betrieben werden. Im folgenden wird der Currency Board als eine Form regelgebundener Stabilisierungspolitik in einer ordnungsökonomischen Perspektive analysiert. Dabei wird im zweiten Kapitel Inflation als ordnungspolitisches Problem dargestellt. Im dritten Kapitel *
Dieser Aufsatz entstand im Rahmen eines von der Rudolf Siederslebensche Otto Wolff-Stiftung geförderten Forschungsprojekts zum Thema „Das Currency Board System - Zur Abwehr von Währungskrisen und für die Sicherung monetärer Stabilität in Schwellen- und Transformationsländern?-". Außerdem bedankt sich der Verfasser herzlich bei den Herausgebern sowie bei Willem H. Buiter, Juergen B. Dönges, Markus Fredebeul-Krein, Stefan Glaß, Stanislaw Gomulka, Dirk Schiereck, Ralf Weber und Dirk Wentzel für wertvolle Anregungen.
380 · Andreas Freytag wird der Currency Board als Teil der wirtschaftlichen Gesamtordnung interpretiert. Es werden die wichtigsten Bedingungen für ein erfolgreiches Currency Board System analysiert. Anhand des argentinischen Currency Boards wird schließlich im vierten Kapitel die Relevanz ordnungspolitischer Überlegungen bei der Währungsreform aufgezeigt.
II. Inflation als ordnungspolitisches Problem 1. Mangelnde Glaubwürdigkeit und Inflation Langfristig ist die Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus durch die Ausweitung der Geldmenge determiniert. Dies ist auch weithin empirisch erhärtet (Lucas 1996, 661-668; IWF&, Oktober 1996, 114; McCandless und Weber 1995). Dieser Zusammenhang gilt unabhängig davon, wie die Geldpolitik institutionell ausgestaltet ist. Eine stabilitätsorientierte Geldpolitik stellt deshalb sicher, daß die Zuwachsrate der Geldmenge im Prinzip der Zuwachsrate des Sozialprodukts entspricht. Wenn Regierungen gleichwohl die Geldmenge übermäßig ausdehnen, dann vor allem deshalb, um damit staatliche Budgetdefizite zu monetisieren. Die Einnahmen aus Steuererhebung und Zöllen reichen nicht aus, die staatlichen Ausgaben zu decken. Dies mag an unzureichenden Möglichkeiten der Steuererhebung oder an der mangelhaften nationalen und internationalen Kreditwürdigkeit liegen. Freilich hat der Staat in vielen Ländern zu viele Aufgaben übernommen, die eigentlich privat erledigt werden können. Diese Praxis hat in den Entwicklungs- und Schwellenländern regelmäßig die Geldentwertung beschleunigt. Hier liegt ein ordnungspolitisches Problem vor (Issing 1997). Die Geldpolitik wird für eine verfehlte Wirtschaftspolitik mißbraucht. Selbst wenn die Geldpolitik die formalen Voraussetzungen für hohe Stabilität erfüllen würde, etwa durch eine gesetzlich unabhängige Zentralbank oder durch die Fixierung des Wechselkurses zu einer stabilen Währung, würde die Preisnveaustabilität verfehlt werden. So war die argentinische Zentralbank in den achtziger Jahren formal unabhängiger als beispielsweise die niederländische (Çukierman 1992, 381). Trotzdem lag die Inflationsrate in Argentinien teilweise im vierstelligen Bereich. Polen und Ungarn haben ihre Währungen in den neunziger Jahren an relativ stabile Währungen (US-Dollar und D-Mark) gekoppelt. Gleichwohl waren die Inflationsraten zweistellig. Angesichts der hohen gesamtwirtschaftlichen Kosten der Inflation (Glaß 1996, 14-26) ist es ökonomisch nicht rational, die Geldpolitik für andere Politikfelder heranzuziehen. Dies gilt um so mehr, als daß die damit für gewöhnlich verbundenen Ziele, nämlich Senkung der Arbeitslosigkeit und Ausgleich der staatlichen Haushalte, regelmäßig verfehlt werden {Çukierman 1992, Kapitel 3 und 4). Der wesentliche Grund, weshalb es aus Sicht der Regierungen dennoch attraktiv ist, stabilitätswidrige Geldpolitik zu betreiben, liegt in der fehlenden Glaubwürdigkeit stabilitätsorientierter Geldpolitik. Fehlende Glaubwürdigkeit ist seit den siebziger Jahren als ein Hindernis für den Erfolg von Wirtschaftspolitik allgemein und Geldpolitik im besonderen besonders von der ma-
Geldpolitische Regelbindung - 381 kroökonomischen Literatur in den Vordergrund gerückt worden.1 Zentral ist dabei, daß Politiker als rational handelnde Individuen verstanden werden, die eine eigene Nutzenvorstellungen berücksichtigen. Politische Rationalität weicht von ökonomischer, d.h. gesamtwirtschaftlicher Rationalität ab. Mangelt es an Glaubwürdigkeit, spricht man von einer inkonsistenten Wirtschaftspolitik. Neben der konzeptionellen und der administrativen (Blackburn und Christensen 1989, 2f.) ist in erster Linie die dynamische Inkonsistenz relevant. Dabei wird ein einmal angekündigtes, schlüssiges Reformprogramm einer Regierung aufgrund der Reaktion der Bevölkerung auf diese Ankündigung für die Regierung suboptimal. Sie hat deshalb einen Anreiz, von der Ankündigung abzuweichen. Aufgrund dieser Erfahrung werden spätere Ankündigungen noch weniger glaubhaft sein. 2. Regelbindung als Ordnungselement Nach einer längeren Inflationsphase mit hohen und schwankenden Inflationsraten ist die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik sehr gering. Ohne Reformen in der Geldpolitik wird es nur schwer möglich sein, diese glaubwürdiger zu machen. Die bloße Ankündigung einer neuen, stabilitätsorientierten Geldpolitik reicht jedoch dazu nicht aus. Um in der Öffentlichkeit nach einer Inflationsphase Glaubwürdigkeit der geldpolitischen Reformmaßnahme zu erreichen, muß die Regierung sich durch eine Regel binden. Eine Regel vermindert diskretionäre Handlungsspielräume der Geldpolitik. Eine Regel wird hier - anders als in der makroökonomischen Literatur - nicht als die Festlegung auf eine bestimmte Inflationsrate verstanden. Vielmehr ist eine Regel die Festlegung auf eine bestimmte Geldpolitik (Wentzel 1995, 199-219). Das Ziel der Regelbindung besteht nämlich darin, die Geldpolitik transparent zu gestalten und Kosten für den Fall zu erzeugen, daß die Geldpolitik von der angekündigten Regel abweicht. Diese Kosten müssen höher sein als die Erträge des Abweichens (.Barro und Gordon 1983). Ist dies der Fall, kann die Bevölkerung sicher sein, daß die Regel eingehalten wird. Die Regel stabilisiert dadurch die Erwartungen des Publikums. Geldpolitische Regelbindung ist als ein Element der Wirtschaftsordnung eines Landes zu interpretieren. Die politischen Entscheidungsträger (Parlament, Regierung) setzen die Rahmenbedingungen, unter denen wirtschaftliches Handeln der Privaten stattfinden kann. Indem die Regierung auf diskretionäre Spielräume (wenigstens zum Teil) verzichtet, schafft sie Verläßlichkeit und Sicherheit für die Wirtschaftssubjekte. Die Entscheidung zwischen Regelbindung und diskretionären Spielräumen der Geldpolitik entspricht dann der Entscheidung zwischen Ordnungspolitik und prozeßpolitischen Eingriffen. Folglich ist Geldpolitik in erster Linie keine Wahl zwischen geldpolitischen Instrumenten, sondern eine Wahl zwischen Geldverfassungen (Brennan und Buchanan 1981, 65). Die Geldverfassung allein sorgt allerdings noch nicht für Glaubwürdigkeit. Vielmehr bedarf es einer ordnungspolitschen Absicherung. Die Geldordnung muß Teil einer Gesamtordnung im Sinne Euchens (1952, 255ÍF.) sein. Fehlt die ordnungspolitische Absi-
1 Für einen Überblick über die umfangreiche makroökonomische Literatur zur Glaubwürdigkeit vgl. Alesina und Tabellini (1988), Persson (1988) sowie Blackburn und Christensen (1989).
382 · Andreas Freytag cherung, kann es für die Regierung problematisch werden, das Reformprogramm durchzuhalten. Neben die dynamische Inkonsistenz trete die konzeptionelle. Ein Beispiel mag diesen Zusammenhang erklären: Gelingt es der Regierung nicht, den Staatshaushalt ausgeglichen zu gestalten bzw. für eine geregelte Kreditfinanzierung der Defizite zu sorgen, werden die Menschen der Ankündigung einer stabilitätsorientierten Geldpolitik wenig Glauben schenken. In einem solchen Fall ist schon das Reformprogramm unglaubwürdig, weil fehlkonzipiert. Ohne eine Regelbindung ist eine Regierung immer wieder versucht, andere wirtschaftspolitische (oder eigene) Ziele mittels Geldschöpfung erreichen zu wollen. Röpke (1966, 277) beschreibt diese Versuchung wie folgt: „Ja, man darf die Behauptung wagen, daß selten eine Regierung die unbeschränkte Herrschaft über das Geld besessen hat, ohne sie zu mißbrauchen, und heute im Zeitalter der Massendemokratie ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen Mißbrauchs größer als je zuvor." Mit einer Regelbindung begibt sich die Regierung der Möglichkeit, eine diskretionäre Geldpolitik zu betreiben. Die Regel schafft Transparenz und Kosten bei Regelbruch. Geldpolitik wird für die Wirtschaftssubjekte berechenbarer.
III. Das Currency Board System als Teil der Wirtschaftsordnung 1. Zum Zweck eines CBS a. Was ist ein Currency Board? Das Currency Board System (CBS) ist vom Anspruch her eine strenge Form der Regelbindung. Ein orthodoxes CBS ist wie folgt kurz skizziert: Die inländische Währung wird an eine Reservewährung gebunden. Als Reservewährung kommen nur stabile Weltwährungen wie der US-Dollar oder die D-Mark in Frage.2 Die Geldbasis muß vollständig, also zu 100 Prozent, durch internationale Währungsreserven oder Gold gedeckt sein. Die Deckung muß nicht ausschließlich in der Reservewährung erfolgen. Die Geldbasis im Inland verändert sich mit der Veränderung der Währungsreserven. Deshalb ist Konvertibilität sowohl von Leistungsbilanz- als auch von Kapitalbilanztransaktionen eine unabdingbare Voraussetzung des CBS (Abschnitt III.2). Der Currency Board hat die Aufgabe, den Ankauf und Verkauf der Devisen gegenüber den Privaten zu organisieren und die Währungsreserven anzulegen. Er ist kein 'lender of last resort'. Somit läßt das CBS inländischen geldpolitischen Entscheidungsträgern keinen Spielraum (Hanke und Schuler 1994, 59-84). Currency Board Systeme können unterschiedliche Formen haben. Gemeinsam ist ihnen eine hohe Deckung der umlaufenden Geldmenge durch Währungsreserven. Ist die vorgeschriebene Mindestdeckung der heimischen Geldbasis unter 100 Prozent, spricht 2
Vorstellbar ist auch die Anbindung an einen Währungskorb. In der etwa 150 Jahre alten Geschichte des Currency Boards wurde diese Lösung jedoch nie gewählt (Schuler 1992, 261ff.).
Geldpolitische Regelbindung · 383 man von einem unorthodoxen Currency Board. Denkbar sind auch Mischformen, wie zum Beispiel die Lösung, die Ausgangsgeldmenge nicht oder nur zu einem Bruchteil, jede Basisgelderweiterung jedoch zu 100 Prozent zu decken (Osband und Villanueva 1993, 205). b. Geldschöpfung im Currency Board System Die orthodoxe Variante läßt unter den genannten Bedingungen keinen Spielraum, selbst Geld zu schöpfen. Damit kann das CBS analytisch mit nationaler Geldpolitik (eines kleinen Landes) nach dem monetären Ansatz der Zahlungsbilanztheorie verglichen werden.3 Die Geldbasis - in diesem Fall heimische Noten und Münzen - kann nur verändert werden, wenn sich die Währungsreserven verändern. Eine Zunahme der Währungsreserven (dW >0) tritt ein, wenn die wertmäßigen Exporte größer als die wertmäßigen Importe sind (Ex-Im >0) und/oder wenn ein Netto-Kapitalimport (KapIm-KapEx >0) stattfindet und die Wirtschaftssubjekte ihre Deviseneriöse beim Currency Board gegen die CBSWährung eintauschen. (1) dW = (Ex - Im) + (Kap Im- KapEx ). Somit entspricht die Veränderung der Währungsreserven genau der Veränderung der Geldbasis B. (2) dW - dB, oder in Wachstumsraten ausgedrückt: (2a) gw=gB Der Currency Board übernimmt nur den Tausch der Devisen in Basisgeld. Er hat darüber hinaus keine eigenen Instrumente zur Steuerung der breiteren Geldmengenkonzepte Mi, M2 oder M3. Die Kreditschöpfung findet wie im Zentralbanksystem auch im Bankensektor statt. c. Stabilitätsimport durch den Currency Board Grundsätzlich müßte es somit möglich sein, die Stabilität der Reservewährung zu importieren. In der Realität jedoch ist die Inflationsrate des CBS-Währung bisweilen deutlich und über einen längeren Zeitraum höher als diejenige der Reservewährung. Der Grund dafür ist eine reale Aufwertung der CBS-Währung gegenüber der Reservewährung. Der reale Wechselkurs (erea¡) wird hier definiert als das Verhältnis der Preise handelbarer Güter (ΡΤ) zu den Preisen nicht-handelbare Güter (PN) im Inland: (3) ereal = PT/PN. Eine reale Aufwertung im Currency Board System ist ökonomisch bedenklich, wenn sie folgende zwei Ursachen hat: Erstens, sie ist auf ein im Vergleich zur Reservewährung schnelleres Geldmengenwachstum zurückzufuhren. Dann nämlich fuhrt sie zu einer Verschlechterung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen im internationalen
3 In diesem Ansatz werden die Möglichkeiten kleiner Länder, eine eigene Geldpolitik zu betreiben, als äußerst gering eingeschätzt (Johnson 1972; Boflnger 1991, 50-66).
384 · Andreas Freytag Sektor des Landes. Ungehemmtes Geldmengenwachstum bedeutet überdies einen klaren Regelverstoß und damit vermutlich eine deutliche Senkung der Glaubwürdigkeit. Zweitens ist der Wechselkurs zwischen der CBS-Währung und der Reservewährung so gewählt, daß die CBS-Währung zum Zeitpunkt der Reform unterbewertet ist. Zusätzlich werden einige Preise - vor allem von Grundnahrungsmitteln und Mieten, also vornehmlich von nicht-handelbaren Gütern - nicht freigegeben. Somit wird die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen im internationalen Sektor zunächst künstlich erhöht. Notwendiger Strukturwandel wird dadurch unterdrückt. Sobald aber sämtliche Preise freigegeben worden sind, geraten die bisher geschützten Unternehmen ebenfalls unter verstärkten Wettbewerbsdruck. Die danach recht hohe Inflationsrate sowie die notwendige Reallokation der Faktoren könnte in der Öffentlichkeit fälschlicherweise auf die Wechselkursfixierung im CBS generell zurückgeführt werden. Eine weitere, ökonomisch aber unbedenkliche Ursache für eine reale Aufwertung liegt darin, daß im CBS-Land die Produktivität im Sektor der handelbaren Güter schneller wächst als im Reserveland. Die gestiegene Produktivität läßt die Nachfrage nach Produktionsfaktoren und Vorleistungen steigen. Es können aufgrund des internationalen Preiszusammenhanges nur die Preise der nicht-handelbaren Güter im CBS-Land steigen. Die Währung wertet real auf (Balassa 1964) Diese Aufwertung bewirkt aber keine Verschlechterung der durchschnittlichen Wettbewerbsposition der Unternehmen des internationalen Sektors im CBS-Land, weil sie von diesen verursacht wird. Die - nur im Vergleich zum Reserveland, nicht jedoch im Vergleich zum Status Quo ante - höhere Inflationsrate stellt ökonomisch kein Problem dar. d. Currency Board System als strenge Form der Selbstbindung Das Currency Board System erweckt damit gleichsam automatisch den Eindruck einer glaubwürdigen Geldpolitik. Das hohe Maß an Selbstbindung und die fehlenden diskretionären geldpolitischen Handlungsspielräume schaffen unmittelbar ein disziplinierendes Stabilitätsregime. Denn das System ist transparent und hat eine einfache Regel, die es den Wirtschaftssubjekten erlaubt, die Aktivitäten der Regierung zu überwachen. Sollte die Regierung davon abweichen, zum Beispiel dadurch daß sie die Parität zwischenzeitlich verändert oder die Deckung der Basisgeldmeng verringert, indem sie als 'lender of last resort' fungiert, würde sie ihre Reputation verlieren. Es wird schwierig sein, anschließende Währungsreformen glaubwürdig erscheinen zu lassen. Diese Konsequenz könnte eine reformwillige Regierung dazu veranlassen, die Regeln des CBS ernst zu nehmen. Der Currency Board hat außerdem noch einen anderen Vorteil: Im Gegensatz etwa zum ebenfalls sehr glaubwürdigen Umlauf einer fremden Währung kann die Regierung mit der Emission einer eigenen Währung einen Zinsgewinn (Seigniorage) erzielen. Den damit überdies verbundenen Ansehensgewinn kann die Regierung für sich verbuchen. Selbstverständlich kann für den Currency Board auch eine andere Bezeichnung gewählt werden, die den geldpolitischen Souveränitätsverzicht nicht so deutlich werden läßt, wie etwa in Estland: Hier heißt der Currency Board 'Zentralbank', mit zwei Abteilungen, die
Geldpolitische Regelbindung - 385 nach der Peelschen Bankakte von 1844 bezeichnet sind: 'Issue Department' und 'Banking Department'. Beide Abteilungen haben keine geldpolitische Kompetenzen, die über die eines Currency Boards hinausgehen. 2. Die Notwendigkeit der Konvertibiltät Damit die Geldversorgung im CBS-Land funktionieren kann, muß die eigene Währung voll konvertibel sein und bleiben. Die Bürger des Landes müssen sich darauf verlassen können, jederzeit die heimische Währung gegen die Reservewährung oder eine andere Fremdwährung eintauschen zu können, mag dies mit dem Currency Board oder über Geschäftsbanken geschehen. Konvertibilität ist mithin durch beide zu garantieren. Die Geschäftsbanken müssen jederzeit in der Lage sein, Sichteinlagen des Publikums gegen die Reservewährung einzulösen, da es keinen 'lender of last resort' gibt. Dies wird als doppelte Konvertibilität bezeichnet (Schuler 1992, 3). Die Zulassung der Töchter ausländischer Geschäftsbanken kann bei der Herstellung der doppelten Konvertibilität hilfreich sein, denn ausländische Banken können über kurzfristige Kredite an ihre inländischen Töchter als 'lender of last resort' fungieren. Konvertibilität aller Zahlungsvorgänge ist auch deshalb so wichtig, weil nur das Recht der Wirtschaftssubjekte, ihre Mittel in jedem beliebigen Land für Konsum oder Investitionen verwenden zu können, dauerhaft Kapitalflucht verhindern hilft. Nach Einführung der Konvertibilität sollte das CBS-Land auf keinen Fall davon abweichen, selbst wenn es zu temporären Kapitalabflüssen und damit zur Verringerung der Geldbasis kommt.4 Wird die Konvertibilität unter dem Eindruck abfließenden Kapitals eingeschränkt, um weitere Kapitalflucht zu verhindern, werden Kapitalzuströme in das CBS-Land ausbleiben, weil die internationalen Anleger ernsthaft um ihre Vermögen furchten werden; und auch die Bürger des Landes werden ihr Geldvermögen, notfalls auch illegal, ins Ausland transferieren wollen (Röpke 1979, 337-340). Für die Konvertibilität spricht auch ein politökonomisches Argument (Meyer und Willgerodt 1980, 164; Bomhof/1992, 454f). Wenn ausländische Devisen von staatlichen Stellen verwaltet und den Unternehmen zugeteilt werden, so besteht die Gefahr, daß vor allem etablierte Unternehmen in den Genuß der Fremdwährung kommen und junge, innovative Unternehmen des Mittelstandes nicht zum Zuge kommen. Der notwendige Strukturwandel wird durch die fehlende Konvertibilität massiv behindert. Im übrigen zeigt sich an der Konvertibilitätsfrage, ob die politischen Entscheidungsträger zu einer stabilen Geldpolitik bereit sind (Colombano und Macey 1996). Beschränkungen der Konvertibilität sind das untrügliche Anzeichen dafür, daß das Currency Board System nicht funktionieren kann.
4 Die Verringerung der Geldbasis fuhrt kurzfristig nicht zwingend zu einer Verringerung der Geldmenge Ml. Dies konnte in einer Mulitiplikatorananlyse gezeigt werden (Freytag 1997, 3955). Langfristig bewegen sich Geldbasis und Ml in dieselbe Richtung.
386 · Andreas Freytag 3. Ordnungspolitische Absicherung des Currency Boards a. Strikte Trennung von Geldpolitik und Fiskalpolitik, flexible Güter- und Faktorpreise, offene Märkte Jede Währungsreform gewinnt nur dann an Glaubwürdigkeit, wenn die Geldpolitik von der Fiskalpolitik strikt getrennt ist. Defizite wären ausschließlich am Kapitalmarkt zu finanzieren. Diese Kredittitel sollten in einer konvertiblen Fremdwährung, also nicht in der eigenen Währung denominiert sein. Für das CBS-Land empfiehlt sich die Denominierung in der Reservewährung. Im Interesse einer kritischen Selektion der durch staatliche Kreditaufnahme zu finanzierenden Objekte ist der Marktzins unverzichtbar. Eine weitere Funktionsbedingung des Currency Board Systems ist die Flexibilität der Faktor- und Güterpreise. Im CBS kann sich die Geldbasis beispielsweise durch ein Leistungsbilanzdefizit ohne gleichzeitige Kapitaleinfuhr (Gleichung 1) verringern, indem die Bevölkerung Importgüter mit Devisenreserven finanziert. Dadurch sinkt die Basisgeldmenge. Fehlende Preisflexibilität, etwa aufgrund staatlich vorgegebener Preise und von Lohnkartellen, bewirkt eine Mengenreaktion, also Nachfrageausfall und Arbeitslosigkeit. Freiheit der Preisbildung hängt unmittelbar zusammen mit der Funktionstüchtigkeit der wettbewerblich organisierten Märkte. Sowohl in Entwicklungsländern als auch in den Transformationsländern Mittel- und Osteuropas ist der Übergang zu freieren Preisen eine wesentliche Voraussetzung für offene wettbewerbliche Märkte. Hierfür sind staatliche Monopole aufzubrechen, Staatsbetriebe zu privatisieren; wettbewerbspolitisch ist darauf zu achten, daß aus den staatlichen keine privaten Monopole werden. Die gleichzeitige Öffnung des heimischen Marktes für Güter und Dienstleistungen zum internationalen Wettbewerb ist das wirksamste Mittel, um die innere Preisbildung zu disziplinieren. Ohne Marktöflhung ist auch die Konvertibilität der Leistungsbilanztransaktionen nur eingeschränkt realisierbar. Gerade für ein Currency Board System ist die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung von zentraler Bedeutung (Gleichung 2). b. Die Funktionsfähigkeit des Finanzsektors Eine weitere Vorbedingung für die Sicherung der Stabilität mit Hilfe eines Currency Board System besteht darin, das inländische Finanzsystem funktionsfähig zu gestalten. In vielen Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländern sind Bankensektor und Kapitalmärkte noch wenig entwickelt (Buch 1996). Ausdruck dessen sind immer wieder Krisen des Finanzsektors mit Erschütterungen, die weit über die direkt betroffenen Unternehmen, etwa die Banken in Argentinien im Gefolge des Tequila-Effekts, hinausgehen.5 Darunter leidet auch das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik, und wertvolle Ressourcen werden fehlgeleitet.
5 Für eine Übersicht über Bankenkrisen in der jüngeren Vergangenheit und ihre Kosten siehe Goldstein (1997, 4).
Geldpolitische Regelbindung · 387 Im Hinblick auf die mit dem CBS angestrebte Stabilität sind zwei Aufgaben des Finanzsektors besonders relevant, zumal es keinen nationalstaatlichen 'lender of last resort' gibt: - die Bereitstellung der Währungsreserven (der Basisgeldmenge) und - die Versorgung der inländischen Wirtschaftssubjekte mit Liquidität. Banken mit finanzieller Schwierigkeit können nicht durch den Currency Board mit Liquidität versorgt werden. Diese Aufgabe muß im Krisenfall durch Banken übernommen werden, vor allem ausländische Banken, die über die nötige Liquidität verfugen. Ein Currency Board System ist somit eine geldpolitische Regel, die nach einer Inflationsphase nur mit einer ordnungspolitischen Absicherung erfolgversprechend eingeführt werden kann. Allerdings ist auch bei gegebener Absicherung keineswegs in allen Fällen gewährleistet, daß ein CBS nach einer Währungskrise Glaubwürdigkeit und Stabilität schaffen kann. Im folgenden Abschnitt werden einige Kriterien hierfür vorgestellt. 4. In welchen Fällen ist ein Currency Board System geeignet? Es mag zunächst gegen das CBS eingewandt werden, daß angesichts der Interdependenz der Politikfelder eine solch strenge Regelbindung, wie sie der Currency Board verlangt, gar nicht nötig sei, um Stabilität zu erlangen. Sofern die Wirtschaftspolitik in anderen Bereichen ihre Aufgaben im Sinne Tinbergens (1952) erledigt, könne Geldpolitik ebensogut von einer unabhängigen Zentralbank durchgeführt werden. Der mit der Wahl eines Currency Boards verbundene Souveränitätsverzicht sei der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln. Das Gegenargument hierzu ist politökonomischer Natur und bezieht seine Kraft gerade aus der Interdependenz der Politikfelder: Die Einführung einer starken geldpolitischen Regelbindung erleichtert der Wirtschaftspolitik stabilitätsorientierte Lohn- oder Fiskalpolitik. Die Position derer, die die Wirtschaftsordnung so ausgestalten wollen, daß es nur geringe gesamtwirtschaftliche Effizienzverluste gibt, wird gestärkt. Wenn die Regierung die einfachen aber strengen Regeln des CBS nicht brechen kann, hat sie einen starken Anreiz, sich für Reformen auch in anderen Politikfeldern stark zu machen. Dennoch ist ein Currency Board System kein Allheilmittel nach jeder währungspolitischen Krise. Wenn eine Regierung die Notwendigkeit zur Stabilisierung erkannt hat und bereit ist, die wirtschaftspolitischen Voraussetzungen für ein erfolgreiches Stabilisierungsprogramm zu erfüllen (Abschnitt III.3), stellt sich die Frage, ob ein Currency Board System für dieses Land als neue Geldordnung in Frage kommt. Zur Beantwortung dieser Frage kann sich die Regierung an folgenden Kriterien orientieren: - Eng mit der bereits erwähnten Offenheit eines Landes ist seine Größe verbunden. Je kleiner ein Land ist, desto mehr ist es im Normalfall in die Weltwirtschaft integriert, desto höher ist der Anteil der Exporte und Importe am Bruttoinlandsprodukt. Daraus folgt, daß ein CBS um so eher als Geldordnung in Frage kommt, je kleiner das Land in Relation zum Rest der Welt ist. Als Maßstab für die Größe scheint die Bevölkerungszahl die beste Annäherung zu sein. Sie gibt auch Auskunft über die benötigte Anfangsausstattung mit der Reservewährung.
388 · Andreas Freytag - Wichtig ist außerdem die Fähigkeit des Landes, diejenigen Währungsreserven aufzubringen, die das Currency Board vor Beginn seiner Tätigkeit benötigt. Ist die Offenheit traditionell hoch, läuft möglicherweise bereits Fremdwährung in hohem Maße um. Daher sollte im Vorfeld der Währungsreform die Fähigkeit zur Bereitstellung des Anfangsbestandes an Währungsreserven sorgfältig überprüft werden.6 - Daneben spielt die Wahl der Reservewährung eine Rolle fur den Erfolg eines Currency Board Systems. Die Reservewährung sollte stabil sein und so gewählt sein, daß der Schutz der Unternehmen im CBS-Land vor externen Schocks möglichst groß ist. Dies ist dann der Fall, wenn das Reserveland einer der Haupthandelspartner der Unternehmen des CBS-Landes ist, wenn die Produktionsstrukturen sich in Reserveland und CBS-Land deutlich unterscheiden und wenn viele dritte Länder, aus denen Konkurrenten der Unternehmen des CBS-Landes stammen, ihre Währungen ebenfalls an die Reservewährung gebunden haben (.Freytag 1998). Die Beachtung dieser Kriterien garantiert nicht den Erfolg des Currency Board Systems. Es kann jedoch die Wahrscheinlichkeit seines Scheiterns reduzieren, indem für den Fall, daß diese Kriterien in der Mehrzahl nicht erfüllt sind, eine alternative Form der Geldordnung gewählt wird. Daneben ist zu bedenken, daß ein Currency Board System eine Übergangslösung ist. Länder, die es einführen, entbehren in der Regel der geldpolitischen Fachkunde. Ist diese erreicht und ist die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik hoch, so kann der Übergang zu einer unabhängigen Notenbank durchaus vorteilhaft sein, da die Abhängigkeit der Geldbasis von der Zahlungsbilanz verschwinden würde.
IV.
Der argentinische Currency Board als Teil einer neuen Wirtschaftsordnung
1. Erfolglose Anläufe zur Währungsreform nach 1976 Als in Argentinien das Militär im Jahre 1976 an die Regierung kam, übernahm es eine Reihe schwerwiegender Probleme von der Regierung Perón. Der öffentliche Sektor war aufgebläht, es gab große öffentliche Unternehmen, die mit Verlusten arbeiteten. Daneben existierten private Monopole. Die Handelspolitik war auf Importsubstitution ausgerichtet. Aus diesen Ursachen resultierten ein geringes Wirtschaftswachstum, staatliche Budgetdefizite und hohe Inflationsraten (Reichel 1995, 186-188). Bis zum Jahre 1991 wurden ständig Reformversuche unternommen.7 Die Militärdiktatur währte von 1976 bis 1983. In dieser Zeit gab es zwei unterschiedliche Vorgehensweisen: Zunächst wurde halbherzig versucht, eine liberale Wirtschaftspolitik zu betreiben. Dazu wurde unter anderem der Außenhandel liberalisiert, indem die
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7
Sollte der Bestand an Währungsreserven nicht ausreichen, wird ein Kredit durch den IWF vorgeschlagen (Balifto, Enoch et al. 1997, 29). Da die Mittel zinstragend angelegt werden können und für die Finanzierung einer ordnungspolitisch abgesicherten Reform zur Verfugung gestellt werden, ist ein solcher Kredit ökonomisch nicht abzulehnen. Zur detaillierten Geschichte dieser Reformen siehe Mastroberardino (1994, 109-177),
Geldpolitische Regelbindung · 389 Zölle gesenkt wurden. Allerdings blieben sie teilweise noch über dem oberen Zollpunkt, so daß Importe gar nicht zustande kamen. Außerdem waren Fertigprodukte mit höheren Zöllen belegt als Rohstoffe und Zwischenprodukte, die Zolleskalation wurde somit nicht beseitigt (Mastroberardino 1994, 138-143). Ausländischen Investoren wurden nur wenige Investitionsanreize gegeben: Zum Beispiel blieben Repatriierungsvorschriften nach wie vor bestehen. Das Wechselkursregime bestand in einem Crawling-Peg-System, dessen Fortbestand aber dadurch gefährdet wurde, daß die Regierung keine Haushaltsdisziplin wahrte. Die internationalen Kapitalmärkte mißtrauten der Reformfähigkeit der Militärs und hielten sich mit Finanzierungsengagements deutlich zurück. Deshalb war eine weitere Monetisierung der Budgetdefizite die Folge. Diese zaghaften Liberalisierungsversuche wurden 1983, noch vor dem bereits geplanten Übergang zur Demokratie, zurückgenommen. Die aus den Wahlen hervorgegangene Regierung Alfonsin nutzte den Glaubwürdigkeitsbonus8, den sie nach 1983 durch die Märkte erhielt, nicht. Die Inflationsrate stieg sogar noch an (Tabelle 3). Von guter Ordnungspolitik konnte keine Rede sein. Im Jahre 1984 wurde ein Vorschlag zur Gesundung der argentinischen Wirtschaft (Fischer, Hiemenz und Trapp 1984, 70-83) veröffentlicht, der im wesentlichen die in diesem Aufsatz dargelegten Ordnungselemente enthielt. Die Umsetzung dieser Vorschläge fand mit dem sogenannten Plan Austral im Jahre 1985 statt. Der Peso wurde durch den Austral ersetzt, der an den Dollar gebunden wurde. Allerdings fehlten diesem Reformversuch sowohl die Marktöftnung als auch die Konvertibilitätsgarantie. Für viele Güter und Dienstleistungen wurden Preisstopps eingeführt. Außerdem waren die Angaben zur Fiskalpolitik zu allgemein, um glaubwürdig zu sein {Fischer, Hiemenz und Trapp 1984, 84-86). So wurde eine Senkung des Haushaltsdefizits von elf v.H. des BIP auf vier v.H. des BIP angekündigt, ohne die dafür notwendigen Ausgabenkürzungen konkret zu benennen.9 Nach dem Scheitern des Plan Austral versuchte die Regierung weiter, mit Devisenzwangswirtschaft, administrierten Preisen und der Abschottung der heimischen Wirtschaft bei gleichzeitig ungehemmtem Wachstum der Geldmenge den Problemen Herr zu werden. Auch die im Jahre 1989 gewählte Regierung Menem konnte sich trotz der angekündigten Privatisierung lange nicht für ein umfassendes Reformpaket entscheiden. Zwangsmaßnahmen wie die obligatorische Umwandlung von kurzfristigen staatlichen Verbindlichkeiten in langfristige Staatsanleihen schadeten der Glaubwürdigkeit tatsächlich {Mastroberardino 1994, 179-187).
8
Als Maßzahl für Glaubwürdigkeit wird der standardisierte Preis des BONEX, der in US-Dollar denominierten argentinischen Staatsanleihe herangezogen. Zu verschiedenen Maßzahlen der Glaubwürdigkeit siehe grundsätzlich Mastroberardino (1994, 72-108). 9 Die Autoren dieses Vorschlages wehrten sich zu Recht gegen die Behauptung, der Plan Austral stelle dessen angemessene Realisierung dar (Fischer, Hiemenz und Trapp 1984, IX, 3 und 8486).
390 · Andreas Freytag 2. Das Konvertibilitätsgesetz: Reform aus einem Guß a. Elemente des Konvertibilitätsgesetzes Mit dem Konvertibilitätsgesetz von 1991 wurde eine ordnungspolitische Reform aus einem Guß eingeleitet. Die Budgetdefizite wurden, vor allem aus den Mitteln der Privatisierung von Staatsbetrieben, verringert. Hinzu kamen langfristig Einsparungen dadurch, daß eventuelle Defizite der Unternehmen nicht länger von öffentlichen Haushalten getragen werden mußten. Der Staat mußte sich furderhin über den Kapitalmarkt finanzieren, zum Beispiel mit auf US-Dollar lautenden argentinischen Staatsanleihen (BONEX). Außerdem wurde der Außenhandel weitgehend liberalisiert; so konnten die Preisrelationen im Inland weltwirtschaftlich vernetzt werden. Nicht sämtliche privatisierte Unternehmen, vor allem öffentliche Versorgungsunternehmen, wurden jedoch dem Wettbewerb unterworfen (Mastroberardino 1994, 196, Fn. 82). Da die Privatisierung vor allem fiskalische Beweggründe hatte und sehr schnell vonstatten gehen mußte, wurde auch die Regulierung der privatisierten Monopole weitgehend vernachlässigt (Gerchunoff 1993). Die Preise für Güter und Dienstleistungen wurden freigegeben; eine Indexierung von Preisen und Zinsen wurde verboten. Löhne durften nur entsprechend der Produktivitätsentwicklung erhöht werden. Somit blieb der Arbeitsmarkt reguliert. Mit dem Konvertibilitätsgesetz wurde zudem ein Currency Board System eingerichtet. Zunächst ließ man zwei Monate lang den Austral gegenüber dem US-Dollar innerhalb einer Bandbreite frei schwanken, bevor dann der Wechselkurs am unteren Ende der Bandbreite zum 1. April 1991 fixiert wurde. 10.000 Austral entsprachen einem Peso bzw. einem US-Dollar (Mastroberardino 1994, 187). Es ist dem als 'Zentralbank' bezeichneten Currency Board untersagt, der öffentlichen Hand Kredite zu gewähren. Es handelt sich allerdings um ein unorthodoxes System, so daß bis zu einem Drittel der umlaufenden Geldmenge mit ÄOAEA'-Anleihen gedeckt werden können. Volle Konvertibilität ist eingerichtet. Die Tabelle 1 zeigt die Bilanz des argentinischen Currency Boards zum 31. Juli 1998 in verdichteter Form. Es zeigt sich, daß an diesem Tag die Basisgeldmenge zu über 100 Prozent mit Währungsreserven gedeckt war und daß Gold faktisch keine Rolle als Reservemedium spielt. Die obere Hälfte der Tabelle 1 - erweitert um Nettovermögen - entspricht der Bilanz eines orthodoxen Currency Boards.
Geldpolitische Regelbindung · 391 Tabelle 1:
Bilanz des argentinischen Currency Boards zum 31. Juli 1998; in Millionen US-Dollar
Aktiva Frei disponible Reserven darunter:Gold Devisenreserven andere Altschulden der Regierung (vor 1991)
Passiva 20.142 Umlaufende Geldmenge 123 18.674 1.345
Depositen der Regierung und anderer Gläubiger Täglich fallige Forderungen 1.398 Verpflichtungen gegenüber dem IWF und anderen Organisationen 13.652 Sonstige Aktiva Nettovermögen 36.854 Summe Summe Quelle: BCRA (1998), genau: http://www.bcra.gov.ar/econ0200.htm.
15.619
1.662
11.150 6.444 3.641 36.854
Angesichts der engen Handelsverflechtungen des Landes mit den Vereinigten Staaten ist der US-Dollar die optimale Reservewährung. Neben dem argentinischen Peso ist der US-Dollar als gesetzliches Zahlungsmittel zugelassen. Es gibt keine Mindestreservepflicht für Geschäftsbanken. Der Currency Board ist im Gegenzug nicht bereit, die Geschäftsbanken im Falle eines Liquiditätsengpasses mit Kredit zu versorgen. Er fungiert (im Regelfall) nicht als 'lender of last resort' (Bennett 1994, 15f ). Die Bilanz des Currency Board deutet sein Potential zu Hilfe bei Liquiditätsengpässen der Banken aber an (untere Hälfte der Tabelle 1). Der IWF hat die Reform mit kurz- und längerfristigen Krediten unterstützt. Von argentinischer Seite wird allerdings kritisiert, daß der Fonds wenig Interesse an einer regelgebundenen Geldpolitik gezeigt, sondern sich mehr für eine diskretionäre Geldpolitik ausgesprochen hätte (Cavallo und Cottemi 1997, 18f). Es hat allerdings auch Schwierigkeiten gegeben. So steht die Regulierung des Finanzsektors erst seit 1996 im Einklang mit einer stabilitätsorientierten Geldpolitik. Die Regulierung enthält unter anderem die folgenden Elemente: (1) Die Überwachung der Geschäftsbanken wird staatlich und privat betrieben; neben die Regulierungsbehörde unter dem Dach des Currency Boards treten mithin private Rating-Agenturen. Außerdem müssen sämtliche Banken Bonds in Höhe von zwei v.H. ihrer Depositen herausgeben, an deren Kurse sich die Wertschätzung dieser Banken bei den Märkten ablesen läßt. (2) Die öffentlichen Provinzbanken sollen privatisiert werden. (3) Es wurde mit einem Stand-byAbkommen mit ausländischen Banken ein Depositensicherungsystem eingeführt, so daß durch die Hilfe für die Banken die Deckungsvorschriften nicht berührt werden (o.V. 1997a, 30-32). Einige Banken konnten inzwischen an ausländische Investoren verkauft werden (ο. V. 1997b). Damit zeigt sich insgesamt, daß das Konvertibilitätsgesetz und seine Ergänzungen den ordnungspolitischen Notwendigkeiten weitgehend entsprichen. Die Geldordnung ist in eine wirtschaftliche Gesamtordnung eingebunden, die sowohl Konvertibilität garantiert als auch die Monetisierung von Budgetdefiziten verbietet. Außerdem sind die Kriterien für ein CBS erfüllt. Tabelle 2 zeigt das Zusammenspiel der Ordnungen.
392 · Andreas Freytag Tabelle 2:
Zusammenspiel der Ordnungen nach dem argentinischen Konvertibilitätsgesetz
Geldordnung (Abschnitte III. 1 und III.2) unorthodoxer Currency Board keine reale Unterbewertung zu Beginn der Währungsreform Konvertibilität für Kapitalbilanz- und Leistungsbilanztransaktionen
Ordnungspolitischer Kriterien fíir ein CBS Rahmen (Abschnitt III.4) (Abschnitt III.3) Geld- und Fiskalpolitik kleines Land getrennt „Mäßige" Lohnund Umlauf an US-Dollar vor Einfuhrung sehr hoch Preisflexibilität Privatisierung ohne kon- US-Dollar ist optimale sequente Marktöffnung Reservewährung und Regulierung
Handelsliberalisierung Finanzsektor nur schleppend geöffnet (1996) Quelle: Eigene Zusammenstellung.
b. Gelungene Stabilisierung Die Währungsreform des Jahres 1991 in Verbindung mit einer rigorosen Privatisierung und der Stabilisierung der öffentlichen Finanzen kann als Erfolg betrachtet werden. Dies kann anhand der Tabelle 3 nachvollzogen werden. Die Inflationsrate ist seit dem Jahre 1990 kontinuierlich gesunken: 1990 betrug sie noch etwa 2.300 Prozent. Sie sank bereits 1991 (auf etwa 170 Prozent), und im Verlauf der Jahre 1996 und 1997 konnte sogar Preisniveaustabilität aufrechterhalten werden. Allerdings war die Stabilisierungspolitik - wenigstens zu Beginn - nicht ohne eine reale Aufwertung gegenüber dem USDollar durchzufuhren {Dornbusch, Goldfajn und Valdés 1995, 263-236). Die Ursache hierfür scheint vor allem im Balassa-EfFekt zu liegen. Denn die Geldbasis wuchs etwa genauso schnell wie die Währungsreserven, so daß überhöhtes Geldmengenwachstum auszuschließen ist (Tabelle 3). Außerdem läßt die Tatsache, daß der Wechselkurs des Austral vor Festlegung des endgültigen Wechselkurses des Pesos zum US-Dollar eine kurze Zeit lang schwankte, vermuten, daß der letztlich festgelegte Kurs marktnah war. Die reale Aufwertung wird mithin zur Hauptsache auf ein hohes Produktivitätswachstum zurückzufuhren sein und somit keine Verschlechterung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit dieses Sektors bedeuten. Dafür spricht, daß die Wachstumsrate des BIP (als Indikator des Produktivitätswachstum im internationalen Sektor) in Argentinien deutlich höher war als in den Vereinigten Staaten (IWF&, Oktober 1996, 168).
Geldpolitische Regelbindung • 393 Tabelle 3: Jahr
1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997
Gesamtwirtschaftliche Indikatoren Argentiniens 1976 bis 1997
Reales BIP 1 WährGeldKapitalKonsuGroß4 bilanzbasis mentenpreis- handelspreis- ungsreserven 3 saldo 2 index 1 index 1 -554 -0,2 444,0 499,1 1.445 13.600 6,2 3.154 605 176,0 149,5 31.900 -74 -3,3 175,5 146,0 4.966 78.600 4.243 159,5 149,3 9.388 185 7,3 2.198 100,8 75,4 6.719 362 1,5 1.277 104,5 109,6 3.268 639 -5,7 2.506 1.623 -1943 164,8 256,2 -3,1 3,7 -2698 343,8 360,8 1.172 7.500 1.243 51.700 257 626,7 575,1 1,8 -6,6 3.273 350 638 672,1 662,9 410 7,3 90,1 63,9 2.718 664 100 131,3 122,9 1.617 1.418 2,6 369 343,0 412,6 3.363 6.402 -1,9 3.079,8 -8.083 -6,2 3.432,8 1.463 273 2.314,0 1.606,9 4.592 3.068 -5.884 0,1 8,9 171,7 110,5 6.005 7.626 182 6.938 8,7 24,9 6 9.990 11.364 6,0 10,6 13.791 15.119 10.365 1,6 0,7 14.327 16.362 9.135 4,2 7,4 -4,6 3,4 14.288 16.619 256 7,8 18.014 7.429 0 19.042 4,3 3,3 0 0 22.320 21.401 n.v. 8,65
Kapitalexport entspricht ein negatives Vorzeichen;3: ohne Gold, in Mio. US-Dollar; 4: in 1.000 Pesos bis 1978, in Pesos von 1979 bis 1984, in 1.000 Pesos von 1985 bis 1988, in Mio. Pesos ab 1989; 5 : 3. Quartal 1997 im Vergleich zum 3. Quartal 1996. Quelle: IWFb, IWFc, div. Jg., ο. V. 1998a, ο. V. 1998b. Zudem entwickelte sich in Argentinien der Konsumentenpreisindex im Vergleich zum Großhandelspreisindex ungünstiger (Tabelle 3): Von 1991 bis 1995 stieg der Großhandelspreisindex um etwa 17 v.H., während im selben Zeitraum der Konsumentenpreisindex um etwa 49 v.H. zunahm. In letzterem sind auch nicht-handelbare Güter enthalten, deren Preise sich in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich entwickeln können. Der Großhandelspreisindex enthält zum größten Teil handelbare Güter. Vergleicht man die Preisentwicklung mit derjenigen in den Vereinigten Staaten, so zeigt sich, daß die Großhandelspreise nur um zehn Punkte mehr gestiegen sind als die vergleichbaren Produzentenpreise für Industriegüter in den Vereinigten Staaten (sieben v.H ). Hingegen ist die Zunahme der Konsumentenpreise in den USA mit zwölf v.H. im selben Zeitraum deutlich geringer als in Argentinien. Somit ist die reale Aufwertung des Pesos im Vergleich zum US-Dollar kein Grund zur Sorge.
394 · Andreas Freytag Ebenfalls ohne Probleme konnte sich der argentinische Currency Board in der Folgezeit mit Währungsreserven versorgen. Generell hat von 1991 bis zur Gegenwart der Netto-Kapitalimport das Leistungsbilanzdefizit überstiegen. Bereits wenige Monate nach Verabschiedung des Konvertibilitätsgesetzes kehrten sich die Kapitalströme um, und das Fluchtkapital vergangener Jahre kam nach Argentinien zurück, da sich die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftsreform im Sommer 1991 deutlich erhöht hatte (Mastroberardino 1994, 189f.). Es ist seit 1992 ist ein stetiger Netto-Kapitalimport zu verzeichnen gewesen. Per saldo haben die Währungsreserven zugenommen. Seit 1993 sind die öffentlichen Budgetdefizite wieder gestiegen, nachdem es in den Jahren 1991 und 1992 nahezu zum Ausgleich des Budgets gekommen war (Cavallo 1993, 38; IWFb). Offensichtlich hat es die argentinische Regierung nicht ausreichend verstanden, nach dem Versiegen der Privatisierungserlöse für eine weitergehende Haushaltskonsolidierung zu sorgen {Reichel 1995, 191f). Die Wahrung der Haushaltsdisziplin fällt schwer. Da die Defizite am internationalen Kapitalmarkt mit der Emission von auf US-Dollar lautenden Staatsschuldtitel finanziert werden, haben sie jedoch keine negativen Auswirkungen auf die Geldpolitik. Die Zuwachsrate des Bruttoinlandsproduktes, die im Durchschnitt der Jahre 1991 bis 1995 etwa 7,7 v.H. betragen hatte, wurde im Jahre 1995 mit -4,4 v.H. zeitweilig sogar negativ; im Jahre 1996 konnte das BIP-Niveau des Jahres 1994 wieder erreicht werden, und im Jahre 1997 kann mit einer Steigerung des BIP um mehr als acht v.H. gerechnet werden. c. Auswirkungen der Peso-Krise 1994/95 gering gehalten Im Jahre 1995 mußte Argentinien einen Rückschlag hinnehmen. Diese Schwäche ist mit Sicherheit auf die Peso-Krise in Mexiko Ende 1994/Anfang 1995 zurückzufuhren. Die dortige Wechselkursfixierung gegenüber dem US-Dollar (kein Currency Board) konnte eine stabilitätswidrige Geldmengenausdehnung in Mexiko nicht verhindern. Dadurch kam es zu einer realen Aufwertung mit der Folge hoher steigender Importe und stagnierender Exporte. Die dadurch bedingte Tendenz eines steigenden Leistungsbilanzdefizits wurde mit kurzfristigen Krediten finanziert. Als diese auf knapp 30 Mrd. USDollar angestiegen waren, verloren die internationalen Anleger das Vertrauen in den mexikanischen Peso. Die Wechselkursfixierung zum US-Dollar wurde unglaubwürdig und war nicht länger aufrechtzuerhalten. Der Peso wurde drastisch abgewertet (SVR 1995, 41). Im Gefolge dieser Krise kam es auch in Argentinien zu einer Vertrauenskrise; Anleger zogen ihr Kapital auch aus Argentinien zurück. Dies löste dann eine Bankenkrise aus. Das ohnehin unzulängliche argentinische Bankensystem mit seinem hohen Anteil öffentlicher Banken erlebte einige Zusammenbrüche (Carrizosa, Leipziger und Shah 1996). Da ein 'lender of last resort' im argentinischen Finanzsystem nicht vorgesehen war, konnten die Banken nicht mit Hilfe zusätzlicher Kredite gestützt werden.10 Dennoch verstand es 10 Obwohl nicht zulässig, nahm der Currency Board diese Funktion in gewissem Maße wahr (Carrizosa, Leipziger und Shah 1996).
Geldpolitische Regelbindung · 395 der Currency Board, die Parität zum US-Dollar aufrechtzuerhalten und seine Währungsreserven während der Peso-Krise nicht unter 80 Prozent der Geldbasis absinken zu lassen (Hanke 1996, 8). Nachteilig hat sich sicherlich die mit dem Rückgang der Währungsreserven einhergehende Verringerung der Geldmenge Mi ausgewirkt. Ist die Flexibilität des Preissystems gering, so droht ein Verlust an Arbeitsplätzen und eine geminderte wirtschaftliche Aktivität. Die Arbeitslosigkeit hat nach der Krise wieder zugenommen. Vor der Krise lag die Arbeitslosenquote bei 12,1 v.H. Im Jahre 1995 stieg sie auf 18,8 v.H., ein Niveau, daß auch im folgenden Jahr nur unwesentlich (18,4 v.H.) gesenkt werden konnte (IWPo). Offenbar sind die Preise und Löhne nicht flexibel genug, um die Kontraktion der Geldmenge beschäftigungsneutral zu verarbeiten. Aus dieser Erfahrung heraus fällt die Beurteilung des argentinischen CBS durch Fuchs und Röhm (1996, 42f.) sehr viel kritischer als hier geäußert aus. Sie bewerten die Geldwertstabilität und die aus einem Mangel an Geldwertstabilität resultierenden Glaubwürdigkeitsprobleme als zweitrangig im Vergleich zum Beschäftigungsziel. Diese Sichtweise ist jedoch kurzfristig, denn permissive Geldpolitik fuhrt nur dann zu mehr Beschäftigung, wenn Geldillusion herrscht. Dies dürfte in Argentinien nicht der Fall sein, so daß eine höhere Inflationsrate völlig ungeeignet ist, die Beschäftigungsprobleme zu lösen. Zudem würde beschäftigungsorientierte Geldpolitik im Currency Board System die Geldordnung schon in der kurzen Frist diskreditieren.11 Die Erfolge der Stabilisierungspolitik wären sofort vergessen, Argentinien befände sich wieder in einer Situation wie vor 1991. Deshalb ist davon abzuraten. Im übrigen wurde das Vertrauen in die argentinische Wirtschaftspolitik noch im Verlauf des Jahres 1995 wieder hergestellt. Die Kapitalbilanz des Jahres 1995 war im Verlaufe des Jahres 1995 nahezu ausgeglichen (Tabelle 3). Im Jahre 1996 betrugen die Netto-Kapitalströme nach Argentinien wieder weit mehr als sieben Mrd. US-Dollar. d. Bewertung Nach einer langen Inflationsphase hat die argentinische Regierung im Jahre 1991 ernsthaft mit der Stabilisierung begonnen. Wie die zahlreichen erfolglosen Versuche zuvor bereits deutlich gemacht hatten, konnte dies nur gelingen, indem die Reform der Geldverfassung in eine ordnungspolitische Gesamtreform eingebunden wurde. Denn es konnte „sich nicht darum handeln, einige Nullen auf den Peso-Banknoten zu streichen, wie es in Argentinien schon öfter geschehen ist" (Dönges 1985, 20). Neben der Währungsreform wurde eine recht umfassende Privatisierung vorgenommen, die argentinische Wirtschaft wurde dem Wettbewerb durch den Außenhandel ausgesetzt und es wurden - wenn auch etwas verspätet - Reformen des Finanzsektors eingeleitet. Durch die im Vergleich zu früher glaubwürdigere Selbstbindung der Regierung mit Hilfe das CBS konnte sogar ein größerer Schaden von der argentinischen Wirtschaft nach der mexikanischen Peso-Krise abgewendet werden. Angesichts der allgemein recht labilen Situation in 11 Ähnlich argumentiert Fischer (1998).
396 · Andreas Freytag vielen Schwellenländern (vor allem im Urteil der Märkte) wäre eine Aufgabe des CBS zum gegenwärtigen Zeitpunkt sicherlich verfrüht.
V. Fazit Ein wichtiges Ordnungselement ist eine regelgebundene Geldverfassung. Mit der Festlegung, bestimmte Handlungen zu tätigen und - vermutlich noch wichtiger - andere zu unterlassen, versucht die Regierung eines Landes, nach einer Phase hoher und volatiler Inflationsraten bei den Marktteilnehmern Reputation aufzubauen. Damit dieser Versuch erfolgreich ist, muß er durch andere Ordnungselemente abgesichert werden. Die Geldverfassung kann somit nur als ein Teil der Verfassung der Wirtschaftspolitik betrachtet werden. Möglicherweise läßt sich die Stabilisierung nach einer Hyperinflation auch ohne einen Currency Board bewerkstelligen. Jedoch zeigt sich, daß Stabilisierungsbemühungen eher Erfolg haben, wenn sie durch strikte Regelbindung auf allen Feldern der Wirtschaftspolitik abgesichert sind. Die jüngere Geschichte Argentiniens zeigt diese Zusammenhänge sehr deutlich auf. Nach mehreren erfolglosen Stabilisierungsprogrammen ohne realwirtschaftliche Absicherung wurde im Jahre 1991 das Konvertibilitätsgesetz erlassen, mit dem neben der Einführung eines Currency Boards umfangreiche Privatisierungen sowie eine außenwirtschaftliche Öffnung beschlossen wurde. Als Ergebnis konnte die Geldentwertung stetig verlangsamt und schließlich gestoppt werden. Fluchtkapital kehrte nach Argentinien zurück, und das wirtschaftliche Wachstum beschleunigte sich. Probleme entstanden nur dort, wo die Teilordnungen nicht optimal zusammenspielen konnten. Im Zuge der mexikanischen Peso-Krise beispielsweise war besonders der Bankensektor betroffen. Das Urteil über die Reformanstrengungen Argentiniens bestärkt unter Berücksichtigung der Peso-Krise die Erkenntnis: Eine Wirtschafts- und Währungsreform aus einem Guß hilft auch, die Folgen externer Schocks abzumildern. Literatur Alesina, Alberto und Guido Tabellini (1988), Credibility and Politics, European Economic Review, Vol. 32, S. 542-550. Balassa, Bela (1964), The Purchasing-Power Parity Doctrine: A Reappraisal, The Journal of Political Economy, Vol. 72, S. 584-596. Baliño, Enoch et al. (1997), Currency Board Arrangements - Issues and Experiences, IMF Occasional Paper 127, Washington D C. Banco Central de la República Argentina (1998), Homepage: http://www.bcra.gov.ar/, zitiert als BCRA. Barro, Robert J. und David B. Gordon (1983), Rules, Discretion and Reputation in a Model of Monetary Policy, Journal of Monetary Economics, Vol. 12, S. 101-121. Bennett, Adam G.G. (1994), 'Currency Boards: Issues and Experiences', IMF Paper on Policy Analysis and Assessment, PPAA/94/18, Washington D.C. Blackburn, Keith und Michael Christensen (1989), Monetary Policy and Policy Credibility: Theories and Evidence, Journal of Economic Literature, Vol. 27, S. 1-45. Bofinger, Peter (1991), Festkurssysteme und geldpolitische Koordination, Baden-Baden.
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Summary: Monetary Commitment as Part of the Economic Order: The Argentine Currency Board Monetary policy after a hyperinflation only makes sense if it is rule-oriented. Only commitment can create credibility and stability. In addition, it is necessary to make rule bound monetary policy a part of the overall economic order. Commitment is an element
Geldpolitische Regelbindung · 399
of economic order. A strong form of commitment is a currency board system. Since inflation is mainly caused by errors in other policy fields like fiscal policy, even a currency board system does not work properly without being part of an economic order. The case of Argentina in the last 20 years gives strong evidence for this theoretical reasoning. Several monetary reforms in Argentina failed since they were not incorporated into a reform of other policy areas. In 1991, the government established a currency board which was supported by a comprehensive liberalisation and privatisation. As a consequence of this comprehensiveness, in 1995 Argentina was only slightly negatively affected by the Mexican Peso crisis.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart, 1998) Bd. 49
Uwe Mummert
Ordnungswechsel und politisch-ökonomische Prozesse - Das Beispiel der monetären Transformation Ostdeutschlands
I. Einleitung Als Systemtransformation bezeichnet man den grundlegenden Wandel der Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Hierbei sind zwei Ordnungsebenen zu unterscheiden: Ordnung im Sinne der Gesamtheit von Institutionen1, welche die Handlungsmöglichkeiten der Akteure in der einen oder anderen Form beschränken, und Ordnung im Sinne von Mustern, die als Folge einer Koordination von Handlungen individueller Akteure entstehen. Es geht somit um die Unterscheidung zwischen der Wahl von Regeln und der Wahl im Rahmen von Regeln (Buchanan 1975, X; 1984, 440S).2 Mit Hilfe dieser Klassifikation läßt sich die Transformationsaufgabe weiter konkretisieren. Transformation als Gestaltungsproblem zielt in erster Linie auf die Wahl von neuen Regeln und nur mittelbar auf (ökonomische) Wahlhandlungen, für die gegebene Regeln sanktionsbewehrte Beschränkungen sind. Aus einer ordnungsökonomischen Perspektive ergeben sich spezifische Probleme von Transformationsprozessen: Transformation richtet sich zwar primär auf die Wahl von Verfassungen sowie Gesetzen und Verordnungen, gleichwohl bestehen jedoch zwischen der Regelwahl und den ökonomischen Wahlhandlungen im Rahmen von Regeln Interdependenzen: Die Prozesse auf der Ebene der ökonomischen Wahlhandlungen wirken auf den politischen Willensbildungsprozeß und beeinflussen daher die Entscheidungen über die Gestaltung der Regeln. Die Besonderheit von Transformationsprozessen besteht insofern darin, daß einschneidende Veränderungen auf den beiden genannten Ebenen zusammentreffen und sich gegenseitig beeinflussen. Ich versuche in diesem Aufsatz zu zeigen, daß in dieser analytischen Perspektive auch die Art und Weise der Gestaltung der monetären Transformation Ostdeutschlands 1
Als Institutionen werden Regeln bezeichnet, die in der jeweils betrachteten Gruppe gemeinhin bekannt sind und von einem Durchsetzungsmechanismus unterstützt werden. Nach ihrem Durchsetzungsmechanismus können sie idealtypisch in staatliche und private Formen unterschieden werden. StaaÜich durchgesetzte Institutionen sind zum Beispiel Verfassungen, Gesetze und Verordnungen. Beispiele fìir Institutionen, die auf privaten Sanktionen beruhen, sind Sitten und moralische Normen. Siehe zum Beispiel Kiwit und Voigt (1995), die in dieser Hinsicht zwischen externen und internen Institutionen unterscheiden und Lachmann (1963), der in ähnlicher Weise zwischen „inneren" und „äußeren" Institutionen differenziert. 2 Genau genommen sind innerhalb der "choice of rules" nochmals zwei weitere Ebenen von Wahlhandlungen zu unterscheiden: Entscheidungen über Verfassungsregeln und Entscheidungen über Gesetze und Verordnungen innerhalb einer Verfassung (Buchanan und Tullock 1962, 15).
402 · Uwe Mummert spezifische Eigenarten aufweist, die auf politisch-ökonomische Prozesse zurückgeführt werden können.
II. Politisch-ökonomische Prozesse in der Transformation 1. Wirtschaftliche Akteure und Regelsetzung Transformation bedeutet in erster Linie die Setzung neuer Regeln. Es geht dabei um die Setzung einer Wirtschaftsverfassung, welche die Entstehung einer spontanen Ordnung auf der Ebene ökonomischer Wahlhandlungen ermöglicht. Die positive Theorie der Rentensuche (Rent Seeking) erklärt, wie wirtschaftliche Akteure Einfluß auf politische Entscheidungen zu nehmen suchen, um dadurch zusätzliche Renten zu erzielen.3 Staatlich gesetzte Institutionen sind das Ergebnis von politischen Entscheidungsprozessen und daher auch Gegenstand politischen Wettbewerbs. Dies unterscheidet Transformationsökonomien nicht grundlegend von etablierten marktwirtschaftlichen Ökonomien. In Transformationsprozessen kommen jedoch erschwerende Aspekte hinzu, so daß rentensuchende Bemühungen besondere Bedeutung erlangen. Die Einfuhrung marktwirtschaftlicher Spielregeln ist gerade wegen deren Universalisierbarkeit sowie der Schutz- und Förderungsbedürftigkeit der Wettbewerbsfreiheit (Streit 1992/95, 81f.) mit einem fundamentalen Problem verbunden. Marktwirtschaftliche Regeln mögen mit dem Blick auf die Gesellschaft durchaus vorteilhaft sein. Gleichzeitig gibt es Gründe dafür, daß Individuen und Gruppen sich gerade Vorteile davon versprechen, wenn ihnen Ausnahmen von diesen Regeln gewährt werden. Beispiele hierfür sind Ausnahmen vom Kartellverbot oder staatliche Wettbewerbsbeschränkungen als Folge von Subventionen. Aus diesem Spannungsverhältnis resultiert ein Transformationsdilemma: Viele Individuen und Gruppen, die eine Transformation wünschen, werden zugleich versuchen, Ausnahmen von den neuen, marktwirtschaftlichen Regeln zu erhalten. Somit stellen nicht nur die ehemaligen Eliten ein Hindernis für den Transformationsprozeß dar. Nun ließe sich argumentieren, daß das Transformationsdilemma durch einen "starken Staat" {Euchen 1952/90, 325ff.) überwindbar wäre. Seine politischen Repräsentanten und die Verwaltung müßten willens und in der Lage sein, die ein marktwirtschaftliches System konstituierenden Prinzipien institutionell und administrativ konsequent durchzusetzen. Die Frage ist jedoch, unter welchen Bedingungen sich in den Transformationsprozessen ein "starker" Staat herausbilden kann. Denn hinsichtlich der Einigung der Individuen über einen solchen "starken Staat" besteht die gleiche Grundproblematik, die auch für die Einführung marktwirtschaftlicher Regeln generell gilt, das heißt es liegt ein gesellschaftliches Dilemma vor. Entsprechend können auch gegenüber der Realisierbarkeit eines "starken" Staates im Sinne Euckens im Rahmen einer demokratisch-politischen Ordnung berechtigte Zweifel angemeldet werden (Schwarz 1992). Diese Zweifel hinsichtlich der Realisierbarkeit einer wettbewerblichen Wirtschaftsverfassung werden in der Transformationsdiskussion gelegentlich in einem 3
Statt vieler Tollison 1982.
Ordnungswechsel und politisch-ökonomische Prozesse · 403 "Unmöglichkeitstheorem" (Elster 1991) formuliert: Die gleichzeitige Einführung einer demokratischen politischen Ordnung und einer durch Privatautonomie und Wettbewerb geprägten marktwirtschaftlichen Ordnung gilt als schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Auch auf der nachkonstitutionellen Ebene bestehen besondere Probleme: Sie ergeben sich daraus, wie die Transformation von den Betroffenen wahrgenommen und in ihren Folgen beurteilt wird. Der Transformationsprozeß bringt eine verwirrende Mischung von Merkmalen des alten Systems, von spezifischen Übergangsphänomenen sowie von zunächst unverbundenen Anzeichen der zukünftigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung hervor. Vor allem die als negativ erfahrenen Primäreffekte des unvermeidlichen strukturellen Umbruchs, aber auch die Folgen politischer Fehler bei der Transformation werden nur zu leicht als Fehler und Nachteile einer marktwirtschaftlichen Ordnung überhaupt mißgedeutet. Dies bietet Interessengruppen die Möglichkeit, ihre Ziele im Zusammenspiel von Stimmenfang und Rentensuche zu verwirklichen. 2. Politische Akteure und Regelsetzung Der Hinweis auf die positive Theorie der Rentensuche diente im vorherigen Abschnitt dazu, aufzuzeigen, welche besonderen Probleme aus der Interdependenz von Regelebene und der wirtschaftlichen Handlungsebene in Transformationsprozessen resultieren. Eine Berücksichtigung dieser Interdependenz hat vor allem Auswirkungen auf die wirtschaftspolitische Vorgehensweise. Dewatripont und Roland (1992, 1995, 1996) sowie Roland (1994a, b) tragen dieser Interdependenz in ihrer ökonomischen Analyse von Reformen Rechnung, wechseln dabei allerdings den Blickwinkel: In der Theorie der Rentensuche wird das Bemühen der wirtschaftlichen Akteure behandelt, auf die Regelsetzung durch die politischen Akteure Einfluß zu nehmen. Demgegenüber analysieren Dewatripont und Roland, auf welche Art und Weise die fur eine Transformation notwendigen Reformen - also Interventionen auf der Regelebene - durch die politischen Akteure durchgeführt werden sollten. Sie stellen dabei insbesondere die Erwartungen der wirtschaftlichen Akteure über die Folgen der Reformen für ihre jeweilige Einkommensposition in das Zentrum ihrer Analyse. Diese Erwartungen entscheiden über die politischen Beschränkungen („political constraints"), unter denen Reformen durchgeführt werden. In Abhängigkeit von diesen politischen Beschränkungen ergeben sich aus ihrem Modell normative Empfehlungen darüber, ob ökonomische Reformen gradualistisch durchgeführt werden sollten oder eine schockartige Implementation vorzuziehen wäre. Es werden politische ex ante- und ex post-Beschränkungen unterschieden. Ex anteBeschränkungen sind Widerstände, die vor der Durchführung von Reformen bestehen und ihre Durchsetzbarkeit politisch gefährden, wenn nicht gar verhindern. Solche Widerstände können zum Beispiel daraus erwachsen, daß die Individuen nicht wissen, ob sie bei einer Durchführung der Reformen zu denen gehören, die sich besser oder die sich schlechter stellen werden (Rodrik 1993).4 Wie Fernandez und Rodrik (1992) zeigen, 4
Als Gegenargument ließe sich anführen, daß die Möglichkeit bestände, die Verlierer der Reform ex post zu entschädigen. Dies ist allerdings mit grundlegenden Problemen verbunden: Die
404 · UweMummert können auch rationale Akteure in diesem Fall die Durchführung der Reformen ablehnen, obwohl sie ex post durchaus für eine Mehrheit positive Auswirken haben („status quo bias"). Ex post-Beschränkungen sind dagegen Widerstände, die erst nach der Durchführung von Reformen entstehen und dann deren Rücknahme zur Folge haben können (Roland 1994b, 29). Nach Dewatripont und Roland bestimmt nun das Ausmaß der jeweils vorherrschenden ex ante und ex post-Beschränkungen darüber, ob die jeweiligen Reformen schockartig oder gradualistisch durchgeführt werden sollten. Für den Fall, daß keine oder nur geringe ex ante-Beschränkungen vorliegen, besteht ein "window of opportunity", also eine Situation, in der zum aktuellen Zeitpunkt keine politischen Widerstände existieren, diese aber für einen späteren Zeitpunkt erwartet werden können. In diesem Fall wird empfohlen, Reformen schockartig zu implementieren. Dadurch sollen ex post-Widerstände gebunden werden, indem die Kosten einer Rücknahme von Reformen erhöht werden. So kann beispielsweise eine zügige und umfangreiche Privatisierung von staatlichen Betrieben eine Lobby des Widerstandes gegen eine erneute Verstaatlichung schaffen. Solche Maßnahmen können daher die Wahrscheinlichkeit einer Rücknahme von Reformen senken. Liegen dagegen hohe ex ante-Widerstände vor, so könnten diese - nach Dewatripont und Roland - durch gradualistische Reformprozesse gemindert werden. Eine Streckung von Reformmaßnahmen bietet grundsätzlich die Möglichkeit, die Zahl potentieller Verlierer zu den einzelnen Zeitpunkten zu verringern und damit den Widerstand zu verkleinern. Auch kann angesichts des unsicheren Ergebnisses von Reformen ein schrittweises Vorgehen Unsicherheit reduzieren, indem die Kosten von Mißerfolgen gesenkt werden. Die von den Individuen wahrgenommene Rücknahmemöglichkeit der Reformen wirkt dem Reformwiderstand entgegen (Roland 1994a, 1994b). Bei dem Ansatz von Dewatripont und Roland handelt es sich um eine normative Theorie. Aus den jeweils bestehenden exogenen ex ante- und ex post-Beschränkungen soll eine „optimale" Reformpolitik abgeleitet werden. Für eine fruchtbare wirtschaftspolitische Anwendung des Konzepts müssen jedoch einige kritische Voraussetzungen erfüllt sein: Das Ausmaß der bestehenden ex ante- und der zu erwartenden ex postWiderstände muß den wirtschaftspolitischen Akteuren bekannt sein. Insbesondere für die ex post-Widerstände ist sehr zweifelhaft, ob diese in der Tat bereits vor der Implementierung von Reformen bekannt sein können. Des weiteren handelt es sich bei der Unterscheidung in Schocktherapie und Gradualismus eher um pointierende Abstraktionen und weniger um empirische Kategorien. Weder läßt sich eine umfassende Schocktherapie im Sinne einer schlagartigen vollständigen Transformation realisieren, noch kommt ein Gradualismus um die gleichzeitige Einführung mehrerer Maßnahmen herum. Zudem besteht für viele Maßnahmen die Möglichkeit einer schockartigen Reform überhaupt nicht. Bezieht man das Gegensatzpaar „Schock" und „Gradualismus" dagegen nicht auf den Transformationsprozeß als ganzes, sondern auf einzelne Reformpakete, so Umverteilung verursacht Kosten des "fundraising", aufgrund asymmetrischer Information haben alle Individuen einen Anreiz, Verluste höher anzugeben als sie tatsächlich entstanden sind, und es besteht Unsicherheit darüber, ob die Kompensation nach den Reformen tatsächlich erfolgt.
Ordnungswechsel und politisch-ökonomische Prozesse · 405
ist nach der Abgrenzung dieser zu fragen. Pointiert formuliert besteht ein Gradualismus letztlich aus einer Fülle schockartig durchgeführter Einzelmaßnahmen. Schließlich werden die Interessen der politisch Handelnden hinsichtlich einer Durchführung der jeweiligen Reform von den beiden Autoren nicht behandelt. Eine Public Choice Analyse der Entscheidungssituation der politischen Akteure erfolgt also nicht. Dies ist legitim, da das primäre Erklärungsziel darin besteht, zu theoretisch fundierten Aussagen über eine optimale Reformpolitik zu gelangen. Aus einer Public Choice Perspektive ist jedoch interessant, daß ex ante- und ex post-Widerstände gegenüber wirtschaftspolitischen Reformen die Wiederwahlchancen der politischen Akteure beeinflussen. Aus einer positiven Perspektive heraus stellen diese ex ante- und ex postBeschränkungen folglich endogene Variablen für die politisch Handelnden dar. Der ursprünglich normative Ansatz erhält somit positiven Erklärungsgehalt. Im folgenden werden die bisherigen theoretischen Ausführungen für eine Analyse der monetären Transformation Ostdeutschlands verwendet. Es wird gezeigt, daß die Art und Weise, wie die monetäre Transformation erfolgte, sowohl durch rentensuchende Aktivitäten wirtschaftlicher Akteure als auch durch das Bemühen politischer Akteure, ex ante Beschränkungen zu vermeiden oder zu reduzieren, erklären läßt.
III.
Politisch-ökonomische Analyse der deutschen Währungsunion von 1990
1. Rentensuche durch organisierte Interessen In Abschnitt H.,1 wurde dargelegt, warum die Entstehung eines konsistenten marktwirtschaftlichen Regelsystems nicht ohne weiteres gewährleistet ist. Die Entwicklungen in anderen osteuropäischen Staaten wie zum Beispiel in Rußland machen deutlich, welche Schwierigkeiten mit der Herausbildung der marktwirtschaftlichen Spielregeln verbunden sein können. Diese Probleme bestanden für Ostdeutschland nicht. Mit der Währungsunion zum 1. Juli 1990 wurde die westdeutsche Wirtschaftsverfassung weitgehend übernommen. Es war daher nicht erforderlich, sich auf der konstitutionellen Ebene über grundsätzliche Regeln zu einigen. Die Gefahr, auf dieser Regelebene in ein Transformationsdilemma zu geraten, wurde vermieden. Auf der nicht-konstitutionellen Ebene gelang es dagegen einzelnen Akteuren und Interessengruppen sehr wohl, Renten generierende Sonderbehandlungen zu erlangen5 : Als Konsequenz der institutionellen Veränderungen zum 1.4.19906 hatte die Staatsbank 5 Derartige Aktivitäten waren natürlich nicht allein auf den hier dargestellten Bereich beschränkt. Auch in anderen Wirtschaftsbereichen lassen sich vieliältige Beispiele für Sonderbehandlungen und Privilegien finden, die das Ergebnis einer unheilvollen Mixtur wirtschaftlicher und politischer Interessen sind. 6 Erste institutionellen Veränderungen vollzogen sich schon vor dem 1. Juli 1990: Am 1. April trat das von der Volkskammer am 8.3.1990 verabschiedete "Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Staatsbank der DDR aus dem Jahre 1974" in Kraft. Damit sollte das einstufige Bankensystem in ein zweistufiges umgestaltet werden: Geschäftsbank- und Zentralbankfunktion der Staatsbank wurden voneinander getrennt. Gleichzeitig wurde den ostdeutschen Kreditinstituten die
406 · Uwe Mummert der DDR ihre Geschäftsbankfunktion zusammen mit allen Zweigstellen an die neu gegründete Deutsche Kreditbank AG (DKB) übertragen. Deren Aktien befanden sich allerdings weiterhin im Staatseigentum. Der Deutschen und der Dresdner Bank gelang es, mit der Deutschen Kreditbank AG zwei Joint Ventures zu schließen. Beide westdeutschen Kreditinstitute übernahmen damit sowohl das Personal als auch das dichte Filialnetz der Staatsbank der DDR sowie die damit verbundenen Kundenbeziehungen zur staatseigenen Wirtschaft. Durch die Joint Ventures war es ihnen möglich, erhebliche Vorteile beim Aufbau des Filialnetzes gegenüber anderen westdeutschen Geschäftsbanken zu erlangen, nicht zuletzt auch deshalb, weil fur Banken geeignete Immobilien zu dieser Zeit extrem knapp waren.7 Dieser Wettbewerbsvorteil im Sinne einer Marktzutrittsbarriere dürfte gegenüber ausländischen Banken noch größer gewesen sein. Hinzu kam, daß beide Banken dadurch, daß das komplette Firmengeschäft von der Deutschen Kreditbank auf die Joint Ventures überging, die Möglichkeit bekamen, weitere Renten zu erzielen. Sie übernahmen an Stelle der Deutschen Kreditbank die Liquiditätsversorgung der ostdeutschen Wirtschaft. Die damit verbundene Kreditvergabe erfolgte jedoch ohne jegliches Risiko, weil die Liquiditätskredite durch die Treuhandanstalt staatlich verbürgt wurden. Da diese Kredite gleichzeitig hoch verzinslich waren, kamen die Banken in den Genuß umfangreicher Renten. Dazu wird im Bericht des Untersuchungsausschusses "Treuhandanstalt" des Deutschen Bundestages festgestellt: "Dem Untersuchungsausschuß wurde vorgetragen, daß die [sogenannte] 'englische Buchungsmethode' (Ausleihung von Geldern zu Kontokorrent-Konditionen und Wiederanlage nicht benötigter Mittel zu Festgeldsätzen) den beteiligten Banken schon in den ersten Monaten - völlig risikolos (Globalbürgschaft des Bundes) - Zinsgewinne in zweistelliger Millionenhöhe verschaffte" {Deutscher Bundestag 1994, 485.) Zusätzlich beauftragte die Deutsche Kreditbank die beiden Joint Venture mit der Verwaltung der Altkredite der staatseigenen Wirtschaft. Für diese Tätigkeit, die bis zum November 1991 dauerte, zahlte die Deutsche Kreditbank insgesamt 422 Mio. DM. In einer Studie von 1995 stellt der Bundesrechnungshof hierzu fest, daß der Preis für die Abwicklung der Altkredite unverhältnismäßig hoch war (ohne Verfasser 1995, 126f ). Es gelang somit einigen wenigen wirtschaftlichen Akteuren, ein staatliches Organ dazu zu bewegen, ihnen einen strategischen Wettbewerbsvorteil zu gewähren sowie eine einträgliche Sonderaufgabe zu übertragen. Später verschmolzen die Joint Ventures wieder mit ihren Mutterunternehmen Deutsche und Dresdner Bank. Der damalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kreditbank AG, Edgar Most, wurde dritter Direktor der Deutschen Bank in Berlin.
Möglichkeit eröffnet, alle Bankgeschäfte zu betreiben. Allerdings war mit diesem Gesetz noch nicht die völlige Einführung einer Marktwirtschaft im Kreditsektor verbunden. Es existierte weiterhin keine Niederlassungsfreiheit für ausländische - das heißt auch nicht für westdeutsche Kreditinstitute. Ausländische Kreditinstitute durften lediglich Repräsentanzen errichten, die allerdings nicht das Recht zur Kreditvergabe besaßen (Gaddum 1991, 192). 7 Aufgrund der gebildeten Joint Ventures verfügte die Dresdner Bank bereits im Juli 1990 über 62 und die Deutsche Bank über 119 Filialen (Dennig 1991, 129).
Ordnungswechsel und politisch-ökonomische Prozesse · 407 2. Ex ante-Beschränkungen und politische Interessen Die Initiative für die mit der Währungsunion verbundenen grundlegenden Reformen ging von der Bundesregierung aus. Zunächst gab es zwei politische Akteure mit durchaus unterschiedlichen Zielsetzungen: Die Bundesregierung wollte mit einer Währungsunion einen Prozeß beschleunigen und unumkehrbar machen, an dessen Ende die deutsche Einigung stehen sollte. Die Regierung Modrow reagierte auf den Vorschlag einer Währungs- und Wirtschaftsunion jedoch zurückhaltend. Sie verfolgte nach wie vor nicht das Ziel einer grundlegenden Umgestaltung der Wirtschaftsordnung der DDR.8 Schon die Regierungserklärung Modrows vom 17. November 1989 stellte lediglich eine ungeordnete Sammlung von verschiedenen Zielen und Mitteln dar, die durch marktsozialistische Vorstellungen geprägt waren (Modrow 1989). Darüber hinaus wurde das Ausmaß der notwendigen Reformen erheblich unterschätzt. Eine Umgestaltung der Wirtschaft sollte in nur drei Jahren möglich sein (Fischer 1994, 81 lf). Darin schlug sich auch ein kaum nachvollziehbares Vertrauen in die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR unter Weltmarktbedingungen nieder.9 Entsprechend war die DDR-Regierung zu mehr als sondierenden Expertengesprächen nicht bereit. Sie zog es vor, ihre geld- und währungspolitische Selbständigkeit zu erhalten und strebte eine Stabilisierung der Mark der DDR durch Garantien der Bundesbank sowie großzügige bundesdeutsche Finanzhilfe an. Dies änderte sich jedoch nach den Volkskammerwahlen vom 18. 3. 1990 und dem damit verbundenen Regierungswechsel (.Fischer 1994, 819). Die neue Regierung unter Lothar de Maizière strebte ebenfalls eine baldige Währungsunion an. Das Angebot einer Währungsunion war jedoch in der Bundesrepublik nicht unumstritten. Vor allem von wirtschaftswissenschaftlicher Seite wurde diese Entscheidung mit großer Skepsis entgegengenommen und auf die damit verbundenen Gefahren hingewiesen.10 Auch die politische Opposition in der Bundesrepublik war deutlich gegen eine baldige Währungsunion. Es war somit für die politischen Akteure keineswegs sicher, Entsprechend fühlte die Regierung Modrow keine grundlegenden Wirtschaftsreformen durch. Auch wurden keine gesetzgeberischen Schritte zu einer Abschaffung der auf Volkseigentum beruhenden zentralen Wirtschaftslenkung unternommen. Im Gegenteil, man hielt an den Routinen der Planwirtschaft fest: Noch am 11. Dezember 1989 wurde beschlossen, ein "Strukturkonzept der Volkswirtschaft der DDR bis zum Jahr 2010" auszuarbeiten, und kurz darauf, am 14. Dezember 1989, faßte der Ministerrat Beschlüsse über die "Vorschläge zum Planentwurf", die auf einem noch bis 1995 gültigen Rahmenabkommen mit der Sowjetunion basierten (Fischer 1994, 813). 9 So kommt zum Beispiel Müller (1990, 84) für den Fall einer Einführung der D-Mark in der DDR noch Anfang 1990 zu dem Schluß: "Betriebe unterlägen dem Druck der Weltmarktkonkurrenz, allerdings auch mit eventuellen negativen Konsequenzen für sie. Konkurse und Entlassungen wären nicht auszuschließen." (Hervorhebungen nicht im Original). Auch Edgar Most, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kreditbank AG, schätzte noch im Juni 1990 die Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft vergleichsweise hoch ein: "Die Wirtschaft unseres Landes weist trotz aller Probleme und des Produktivitätsrückstands zu den hoch entwickelten Ländern doch - im Weltmaßstab gesehen - ein leistungsfähiges Niveau auf. ... Aus der Sicht der Bank schätzen wir ein, daß sich Teile der Schwerindustrie (wie Schiffbau, Schienenfahrzeugbau oder Werkzeugmaschinenbau), Teile der Chemie und der Konsumgüterindustrie sowie Teile der Landwirtschaft bei entsprechender Unterstützung relativ rasch auch in der Marktwirtschaft mit einer rentablen Produktion bewähren können" (Most 1990, 413; Hervorhebungen im Original). 10 So etwa Hesse 1990; Hoffmann 1990; Pohl 1990; Sachverständigenrat 1990, 306.
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408 · UweMummert ob das „window of opportunity" lange genug offen bleiben würde, um die Währungsunion zu realisieren. Daher müssen sowohl die Bundesregierung als auch die DDRRegierung daran interessiert gewesen sein, ex ante-Widerstände gegenüber der Währungsunion zu reduzieren oder ihre Entstehung zu verhindern. Im folgenden wird gezeigt, daß die Art und Weise, wie die Deutsche Währungsunion und damit die monetäre Transformation der DDR durchführt wurde, einige Eigenarten aufweist. Es spricht einiges dafür, daß aufgrund dieser Eigenarten das Entstehen von ex post-Widerständen gegenüber der deutschen Währungsunion vermieden wurde. Das monetäre System der DDR war - wie in allen anderen sozialistischen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnungen - durch den materiellen (realwirtschaftlichen) Planungsanspruch des Staates geprägt. Dem zentralen Planungsanspruch wurde in der Produktionssphäre auch das Geld untergeordnet. Hier sollte es als Instrument zur Leistungsstimulierung und -kontrolle die plankonforme Leistungserbringung sichern. Entsprechend wurden die Finanzierungsbeziehungen zur Kontrolle der Betriebe verwendet. Um die "Kontrolle durch die Mark" zu gewährleisten, existierten spezifische Regulierungen der Geld- und Kreditverwendung sowie ein Bankensystem, das auf diese Aufgaben zugeschnitten war (Mummert 1995, 72ff ). Die Staatsbank übernahm die Kontrolle der Betriebe durch ein Netz von Zweigstellen und Spezialbanken. Finanztransaktionen der Betriebe durften allein über das Bankensystem erfolgen. Darüber hinaus wurde ihnen die freie Verfügung über finanzielle Mittel untersagt. Das "Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel" sah zwar grundsätzlich eine Eigenfinanzierung vor, die Betriebe wurden jedoch durch die Pflicht zur Abfuhrung „erwirtschafteter" finanzieller Mittel an den Staat außerstand gesetzt, Investitionen in nennenswertem Umfang aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Zusätzlich bestanden für die Finanzierung von sogenannten Umlaufmitteln, zu denen etwa Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe gehörten, gesetzliche Verpflichtungen zur teilweisen Kreditfinanzierung. Die Betriebe wurden also zu einer Kreditfinanzierung gezwungen, mit dem Ziel, ihre planorientierte Kontrolle durch die Banken zu gewährleisten. Kreditaufnahmen staatlicher Betriebe und Produktionsgenossenschaften beruhten somit nicht - wie in Marktwirtschaften - auf privatautonomen Entscheidungen, denen ein individuelles Kosten-Nutzen-Kalkül zugrunde liegt, sondern wurden durch staatliche Vorgaben oktroyiert. Gleichzeitig gab es in der DDR keine Trennung zwischen Staat, Bankensystem und Unternehmenssektor. Bei Krediten der Banken an Betriebe und an den Staat handelte es sich letztlich um Transaktionen zwischen unterschiedlichen staatlichen Organisationen und daher um nichts anderes als die Forderung einer Staatsstelle gegenüber einer anderen. Infolgedessen wären diese Forderungen und Verbindlichkeiten bei einer systemadäquaten Vorgehensweise aufzurechnen gewesen, als es darum ging, eine für die Währungsumstellung erforderliche Vermögensbilanz der DDR zu erstellen.11 Dies hätte de facto zu einer Streichung der Schulden der staatlichen Betriebe und Einrichtungen sowie den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gegenüber den staatlichen Banken gefuhrt. 11 Diese Beurteilung findet sich auch in einer Studie des Internationalen Währungsfonds (Lipschitz 1990, 4) und wurde in Deutschland vor allem von Willgerodt (1990, 319ff.) vertreten.
Ordnungswechsel und politisch-ökonomische Prozesse · 409 Wären mit der Währungsunion die Forderungen und Verbindlichkeiten staatlicher und im sogenannten Volkseigentum befindlicher Einrichtungen gegeneinander aufgerechnet worden, hätte die Aktivseite der Vermögensbilanz der DDR den Wert aller Grundstücke, Gebäude, Ausrüstungen sovvie die Forderungen an das Ausland enthalten. Auf der Passivseite wären die Bargeldbestände und Einlagen der privaten Haushalte, die Auslandsverbindlichkeiten und - gegebenenfalls - das Nettovermögen als Überschuß ausgewiesen worden. Aufgrund der Bilanzdaten der Staatsbank betrug das Nettofinanzvermögen der privaten Haushalte nach den vertraglich vereinbarten Umstellungssätzen 119,2 Mrd. DM. Aus der Perspektive des Bundes wäre es nach der konsolidierten Vermögensbilanz im wesentlichen darum gegangen, insgesamt 134,2 Mrd. DM (Nettofinanzvermögen der privaten Haushalte zuzüglich Nettoauslandsverbindlichkeiten der DDR) zu fundieren (Streit 1998). Die Bundesrepublik hätte mit dem Blick auf den unbekannten Wert des Realvermögens der DDR eine Staatsgarantie für das umgestellte Nettofinanzvermögen der privaten Haushalte der DDR geben und fur die Nettoauslandsverbindlichkeiten eintreten müssen. Allerdings wäre damit offensichtlich geworden, daß durch die Währungsunion Kosten in Höhe von bis zu 134 Mrd. DM auf die Bundesrepublik hätten zukommen können - wie es dann auch der Fall war. Es ist wahrscheinlich, daß dies in der Bundesrepublik die Widerstände gegenüber einer Währungsunion verstärkt hätte. Bereits im Februar 1990 hatten in einer AllensbachUmfrage 58 Prozent der befragten Westdeutschen eine Steuererhöhung fur die Einheit abgelehnt, während sich nur 23 Prozent damit einverstanden erklärten (.Heilemann und Rappen 1996, 95). Die ökonomisch richtige Verfahrensweise, die Konsolidierung der innerstaatlichen Finanzierungsbeziehungen, wurde jedoch unterlassen. Stattdessen blieben die Altschulden bei den Betrieben und erschienen in der Bilanz der Deutschen Kreditbank als scheinbarer Aktivposten. Erst im Laufe der nächsten vier Jahre wurden diese Schulden von der Treuhandanstalt übernommen. Dies geschah entweder unmittelbar oder dadurch, daß die verschuldeten Betriebe nur gegen einen entsprechend verminderten Kaufpreis veräußert werden konnten. Diese Kosten der Währungsunion und letzlich der deutschen Einheit offenbarten sich somit erst mit dem Abschluß der Arbeit der Treuhandanstalt Ende 1994. Dann verschwanden sie aber im Gesamtdefizit der Treuhandanstalt von 256 Mrd. DM, das in den Erblastentilgungsfonds einging. Nur ein kleiner Teil dieser Schulden erlangte nochmal kurzzeitig Aufmerksamkeit in der Diskussion über die Übernahme der Altschulden der Kommunen und der ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften durch den Bund. Eine Alternative wäre gewesen, den zu garantierenden Betrag zu verringern und bei der Umstellung der Spareinlagen der Menschen in der DDR die systemtypischen Umstände, unter denen sie entstanden, zu berücksichtigen: Die in der DDR gezahlten Einkommen entsprachen selbst unter Zugrundelegung der administrierten Preise nicht den wirklichen Produktivitäten. Die Entlohnung des Produktionsfaktors Arbeit wurde somit in hohem Maße subventioniert. Faktisch fand also in der DDR eine Umverteilung statt: während den Betrieben Überschüsse entzogen und sie zu einer Kreditfinanzierung gezwungen wurden, erhielten die Arbeitnehmer einen Teil dieser Mittel in Form von ver-
410 · UweMummert deckten Lohnsubventionen. Aus dieser Sicht hätte die Konsequenz eine teilweise Streichung der Spareinlagen sein müssen. Gegen eine Streichung, zumindest aber drastische Kürzung der Spareinlagen, ließe sich anfuhren, daß die Bürger der DDR über ihre Sparguthaben indirekt Gläubiger des "Volkseigentums" der DDR waren. Eine vollständige Umwandlung der Ost-Mark-Ersparnisse in DM-Ersparnisse würde die impliziten Ansprüche der Sparer gegen den DDR-Staat erhalten. Eine weitgehende Streichung der Spareinlagen hätte dagegen die Möglichkeiten einer Übertragung von Realvermögen aus staatlichem Besitz an Private beschnitten (Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft 1990, 1495). Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß dieses Vermögen zu großen Teilen gar nicht mehr vorhanden war. Der in den offiziellen Statistiken ausgewiesene Kapitalstock der Wirtschaft war in hohem Maße abgenutzt. Im Oktober 1989 kam eine Arbeitsgruppe unter Leitung des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, in einer damals geheimen Studie zu dem Schluß, daß 1988 der Verschleißgrad des Kapitalstocks in der Industrie bei 53,8 Prozent, im Verkehrswesen bei 52,1 Prozent, in der Land-, Forst- und Nahrungswirtschaft bei 61,3 Prozent und in der Bauwirtschaft sogar bei 67 Prozent lag (Schürer 1989/95, 17). Unabhängig davon ist aber vor allem zu berücksichtigen, daß sowohl die Struktur des Kapitalstocks als auch die damit produzierten Erzeugnisse den Test weltwirtschaftlichen Wettbewerbs bis zur Wirtschafts- und Währungsunion nicht bestehen mußten. Die international gehandelten Güter waren entweder Teil staatlicher Lieferverpflichtungen im Rahmen des RGW oder sie wurden auf westlichen Märkten als Devisenbringer um nahezu jeden Preis abgesetzt, ohne daß dies Rückwirkungen auf interne Wirtschaftlichkeitsüberlegungen haben konnte. Der Kapitalstock der DDR war also nicht nur zu mehr als der Hälfte abgenutzt, sondern vor allem von zweifelhafter Wertproduktivität. Den akkumulierten Spareinlagen stand daher zu großen Teilen kein Volksvermögen gegenüber, an dem die Bürger der DDR Eigentum hätten erwerben können.12 Entsprechend hätten mit der Währungsunion die Spareinlagen zumindest „eingefroren" werden müssen, bis durch den Verkauf des Volkseigentums der Wert des Realvermögens ermittelt worden wäre. Dies wäre jedoch vor der Währungsunion kaum vermittelbar gewesen und hätte massive Widerstände in der Bevölkerung der DDR hervorgerufen. Bereits eine Stellungnahme des Zentralbankrats der Deutschen Bundesbank 12 Dies zeigt auch das Ergebnis der Privatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt: Von den nach Entflechtung und Aufspaltung in ihrer Hand befindlichen Betrieben konnten bis 1994 nur knapp 50 % privatisiert und etwa 13 % reprivatisiert, also an Alteigentümer zurückgegeben werden. Diese Privatisierung konnte nur unter großen Subventionsleistungen erfolgen. Rechnet man die an sich schon geringen Privatisierungserlöse gegen die Zahlungen auf, die für den Ausgleich von Startverlusten, den Erlaß von Altkrediten, die Übernahme von Bürgschaften, die Gewährleistung der Finanzierung einer Beseitigung von ökologischen Altlasten etc. erbracht oder vereinbart wurden, so kommt man zu dem Schluß, daß im Durchschnitt aller Verträge die Kaufpreise negativ waren (Priewe 1994, 23). Insgesamt ist laut Jahresabschluß der Treuhandanstalt für 1994 ein Defizit von 256,4 Mrd. DM aufgelaufen (Kreditanstalt für Wiederaufbau 1996, 179). Um den Ansprüchen der DDR-Bürger gegenüber dem Staat gerecht zu werden, hätte - unbeschadet aller praktischen Probleme - grundsätzlich eine Streichung der Spareinlagen jedoch durchaus mit einer kostenlosen Verteilung des Kapitalbestandes auf die Bürger der Ex-DDR gekoppelt werden können. Siehe den Vorschlag von Sinn und Sinn 1991, 1 lOff.
Ordnungswechsel und politisch-ökonomische Prozesse · 411 vom 29. März 1990, in der sich dieser fur eine generelle Umstellung aller Verbindlichkeiten im Verhältnis von zwei zu eins ausgesprochen hatte, sorgte für Protestkundgebungen, in denen ein Umstellungssatz von eins zu eins gefordert wurde (Tietmeyer 1994, 64). Eine Streichung der Spareinlagen hätte vermutlich das "window of opportunity" sehr schnell geschlossen, so daß eine baldige Währungsunion nicht mehr durchführbar gewesen wäre. Insofern ist die Anerkennung und Umstellung der Spareinlagen als verteilungspolitisch motivierte Maßnahme zur Reduzierung von ex ante-Widerständen zu werten. Aufgrund der gewählten Verfahrensweise blieben die mit der Währungsunion unmittelbar verbundenen Kosten verborgen Widerstand konnte sich somit nicht daran entzünden. Allerdings entstanden durch die gewählte Vorgehensweise in der Folge zusätzliche Kosten: Wie oben ausgeführt gingen zum 1. April 1990 die Forderungen der Staatsbank der DDR gegenüber den Betrieben nahezu vollständig an die neugegründete, aber ebenfalls im Staatseigentum befindliche Deutsche Kreditbank AG (DKB) über.13 Mit dem Beitritt der DDR wechselte diese in den Besitz der bundeseigenen Treuhandanstalt, die somit Eigentümerin der vormaligen Staatsbetriebe, aber auch Hauptschuldnerin der Deutschen Kreditbank wurde. Den Schuldendienst für die Altkredite hatte daher ein Mutterunternehmen - die Treuhandanstalt - an ihre Tochter - die Deutsche Kreditbank - zu leisten. Mangels Ertragskraft der Treuhandanstalt geschah dies weitgehend durch Kreditaufnahme am Kapitalmarkt. Infolge der geschilderten Umstrukturierungen setzten sich die Aktiva der Deutschen Kreditbank im wesentlichen aus Altkrediten an nunmehrige Treuhandunternehmen und aus staatlichen Wohnungsbaukrediten zusammen. Die Passiva bestanden aus Verbindlichkeiten gegenüber der Staatsbank Berlin. Zum Zeitpunkt der Währungsunion standen bei der Staatsbank den Forderungen an die Deutsche Kreditbank vor allem Einlagen der Sparkassen und Genossenschaftsbanken gegenüber. Nach der Währungsunion wurden die Einlagen jedoch in beträchtlichem Umfang abgezogen (Kreditanstalt für Wiederaufbau 1996, 264f): Allein im Juli und August 1990 betrugen die Abflüsse rund 25 Mrd. DM. Dies entsprach etwa einem Viertel der zu refinanzierenden Forderungen an die Deutsche Kreditbank. Insgesamt betrugen die Abflüsse im 2. Halbjahr 1990 schließlich rund 80 Mrd. DM und im folgenden Jahr 1991 nochmals 25 Mrd. DM. Da die Staatsbank ihre Forderungen gegenüber der Deutschen Kreditbank und anfangs der Berliner Stadtbank AG sowie der Genossenschaftsbank Berlin nicht kurzfristig abrufen konnte, wurden die entstandenen Lücken durch eine Kreditaufnahme am Kapitalmarkt geschlossen. Bis Ende 1991 machte die Kreditaufnahme am Kapitalmarkt bereits 97,4 Mrd. DM aus (Kadow 1993). Hierfür wurden zu einem großen Teil „Floater" gewählt, also eine Form kurzfristiger Anleihen, die zum Geldmarktsatz zu verzinsen waren. Dies stellte 13 Nach der Währungsunion war die Deutsche Kreditbank mit 87 Mrd. DM Hauptgläubigerin der ehemaligen DDR-Betriebe. Es folgten die Genossenschaftsbank Berlin, die von der westdeutschen Deutschen Genossenschaftsbank übernommen wurde, mit etwa 8 Mrd. DM, die Berliner Stadtbank AG, die heute im Eigentum der Berliner Bank AG ist, mit rund 4,5 Mrd. DM und sonstige Institute mit kleineren Anteilen an den restlichen Altschulden in Höhe von 2,5 Mrd. DM (Cloes 1991, 659).
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angesichts der damaligen inversen Zinsstruktur14 die teuerste Form der Finanzierung dar.15 Darüber hinaus verursachte die Finanzierung über die Staatsbank Berlin zusätzliche Kosten, denn diese stellte der DKB für ihre Finanzierungsaktivitäten eine Marge in Rechnung. Auch kam die Staatsbank nicht in den Genuß der fur Staatsanleihen am Kapitalmarkt vergleichsweise günstigeren Konditionen. Eine Refinanzierung der DKB über die Treuhandanstalt hätte sie dagegen in den Genuß der Vorzugskonditionen kommen lassen können, vorausgesetzt, es wäre eine Erweiterung des Kreditrahmens der Treuhandanstalt vorgenommen worden. Gleiches hätte mit einer Übernahme der Altschulden durch die Treuhandanstalt und Tilgung bei der Deutschen Kreditbank erreicht werden können. Auch eine Verschmelzung von Deutscher Kreditbank und Staatsbank Berlin hätte die Kosten senken können (Cloes 1991, 659ff). Die nicht erfolgte Konsolidierung der Vermögensbilanz der DDR und die daraus folgende Unterlassung der Streichung der Altkredite sowie das daraus folgende „Refinanzierungskarussell" hat zusätzliche, vermeidbare Finanzierungsaufwendungen verursacht. Daß die Refinanzierungskosten nicht gering waren, bestätigte auch die frühere Präsidentin der Treuhandanstalt Birgit Breuel in einer Aussage in anderem Zusammenhang vor dem Treuhanduntersuchungsausschuß: "Dann die Altkredite: Wir haben von den etwa 100 Mrd. Altkrediten bei uns etwa 80 Mrd., darauf kommen 27 Mrd. Zinsen. Das sind 107 Mrd. Das ist auch eine interessante Größe, die vergessen wird, wenn unser Schuldenberg so riesig gemacht wird. Dann kommen sonstige Ausgaben. Das sind wiederum in erheblichen Teilen Zinsen, weil wir uns ja am Kapitalmarkt finanziert und selber verzinst haben."16 Die Kosten dieser Vorgehensweise sind in den Erblastentilgungsfonds eingegangen und werden die gegenwärtige und folgende Generation von Steuerzahlern belasten. Auch ist zu vermuten, daß die Umwandlung planwirtschaftlicher Finanzierungszuweisungen in marktwirtschaftliche Kredite nicht nur höhere Kosten fur die Steuerzahler verursacht, sondern darüber hinaus den Handlungsspielraum privatisierter Betriebe eingeschränkt hat. Es ist zwar zu erwarten, daß die übernommenen Schulden den Kaufpreis entsprechend gemindert haben. Jedoch kann nur unter unrealistischen Annahmen davon ausgegangen werden, daß dieses Zusatzrisiko perfekt im Kaufpreis an die Verkäuferin - die Treuhandanstalt - überwälzt wurde. Darüber hinaus bestand eine Ungleichbehandlung in den Fällen, in denen noch nach der Veräußerung einzelne Betriebe diskretionär von dieser Schuldenlast entbunden wurden.17 14 Von einer inversen Zinsstruktur wird gesprochen, wenn die Verzinsung langfristiger Kredite unter der für kurzfristige liegt. 15 So kamen beispielsweise im November 1991 fast zeitgleich Anleihen von Staatsbank und Bund in Höhe von jeweils rund 4 Mrd. DM auf den Markt. Die Staatsbank bot eine zinsvariablen Anleihe an, der Bund dagegen vieijährige Schatzanweisungen. Während der Zinssatz für die Emmission der Staatsbank rund 9,3 % ausmachte, betrugt der Zinssatz des Bundes dagegen nur 8,84 %. Bei 4 Mrd. DM summiert sich die Differenz auf 20 Millionen DM jährlich (Süddeutsche Zeitung: Die teure Finanzierung der Altkredite von Ost-Betrieben; 29.11.1991, Nr. 275). Bis Ende 1992 betrug das Volumen konsortialgefuhrter Anleihen und Kredite 74,5 Mrd. DM (Kadow 1993, 20). Hochgerechnet käme man somit auf etwa 372 Millionen DM an unnötig gezahlten Zinsen. 16 Birgit Breuel, zitiert nach Deutscher Bundestag 1994, 252. 17 Problematisch ist ebenfalls, daß auch westdeutsche Kreditinstitute Forderungen aus DDRAltschulden erworben haben. In besonders hohem Maße war dies im landwirtschaftlichen
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IV. Schlußbemerkung Aus einer ordnungsökonomischen Perspektive werden Grundprobleme der Systemtransformation deutlich, deren Ursache vor allem in der Interdependenz von Regelsetzung und wirtschaftlichem Geschehen liegt. Politisch-ökonomischen Prozessen kommt in der Transformation daher erhebliche Bedeutung zu. Es konnte gezeigt werden, daß sich diese Prozesse auch am Beispiel der monetären Transformation Ostdeutschlands, die im wesentlichen mit der Währungsunion vom 1. Juli 1990 erfolgte, feststellen lassen. Insbesondere bei der Umstrukturierung des Bankensystems der DDR scheinen Einflußnahmen durch wirtschaftliche Akteure stattgefunden zu haben. Vor allem aber finden sich einige Eigentümlichkeiten in der Art und Weise, wie die monetäre Transformation vollzogen wurde. Unter der Berücksichtigung der Systemunterschiede zwischen Markt- und Zentralverwaltungswirtschaften hätten die Spareinlagen der DDRBevölkerung „eingefroren" und eine Konsolidierung der Vermögensbilanz der DDR erfolgen müssen. Planwirtschaftliche Buchungsposten hätten nicht in marktwirtschaftliche Vermögenstitel verwandelt werden dürfen. Diese Maßnahmen hätten jedoch zu deutlichen ex ante-Widerständen gegenüber der Währungsunion fuhren können, was die Erreichung der Ziele beider Regierungen erschwert hätte. Es spricht insofern einiges dafür, daß die ökonomisch korrekte Verfahrensweise bei der monetären Transformation nicht ergriffen wurde, um diese Widerstände zu vermeiden. Die normative Theorie der Reformpolitik von Dewatripont und Roland erscheint angesichts der notwendigen restriktiven Bedingungen für die wirkliche Gestaltung einer Wirtschaftspolitik wenig fruchtbar. Im Rahmen einer positiven Analyse wirtschaftspolitischer Entscheidungen kann das Konzept der ex ante- und ex post-Widerstände hingegen einiges zur Erklärung realen politischen Handelns beitragen.
Bereich der Fall: Die Kreditvergabe an die volkseigenen Betriebe, Kombinate und kooperativen Einrichtungen in der Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft erfolgte in der DDR durch die Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft (Ehlert et al. 1989, 116Í). Als ihr Rechtsnachfolger entstand zum 1.4.1990 die Genossenschaftsbank Berlin. Diese wurde schließlich nach dem Beitritt der DDR von der Deutschen Genossenschaftsbank übernommen, der auch die Altforderungen in Höhe von 8 Mrd. DM übertragen wurden. Die Übertragung der Kredite auf westdeutsche private Banken führte zu zusätzlichen Problemen für die Altschuldner. War in der DDR die Zinsbelastung für die Kredite, die aufgenommen werden mußten, sehr gering, so änderte sich dies mit der Währungsunion. Die Zinsbelastungen wurden plötzlich zur gewichtigen Belastung. Dabei trugen die neuen Gläubiger dieser Kredite keinerlei Risiko, da sie sich in jedem Fall beim Ausgleichsfonds Währungsumstellung des Bundes schadlos halten konnten. Darüberhinaus wurden von den LPGs Infrastruktureinrichtungen, die sie in der DDR aufbauen und über eine Kreditaufnahme finanzieren mußten, an die Kommunen übertragen. Es kam somit zu einem Abfluß von Betriebsvermögen, ohne daß dem im gleichen Maße eine Entlastung bei den Altschulden gegenüber gestanden hätte (Deutscher Bundestag 1994, 471472).
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416 · UweMuinmert Zusammenfassung Aus einer ordnungsökonomischen Perspektive ergeben sich aus der Interdependenz von Regelsetzung und wirtschaftlichem Geschehen grundlegende Probleme für eine Systemtransformation. Politisch-ökonomischen Prozessen kommt in der Transformation daher erhebliche Bedeutung zu. In dem Beitrag wird die ostdeutsche monetäre Transformation aus der Perspektive der Neuen Politischen Ökonomik analysiert. Neben der Theorie der Rentensuche wird insbesondere die Theorie der Reformpolitik von Mathias Dewatripont und Gérard Roland aufgegriffen. Beide unterscheiden ex ante- und ex postWiderstände gegenüber wirtschaftspolitischen Reformen. Ex ante-Beschränkungen sind Widerstände, die vor der Durchführung von Reformen bestehen und ihre Durchsetzbarkeit politisch gefährden, wenn nicht gar verhindern. Ex post-Beschränkungen sind dagegen Widerstände, die erst nach der Durchführung von Reformen entstehen und dann deren Rücknahme zur Folge haben können. Das Ausmaß der jeweils bestehenden Widerstände bestimmt darüber, ob Reformen eher schockartig oder gradualistisch durchgeführt werden sollen. Das Konzept der ex ante- und ex post Widerstände wird im vorliegenden Beitrag für eine positive Analyse verwendet, da Widerstände gegenüber wirtschaftspolitischen Reformen die Wiederwahlchancen der politischen Akteure beeinflussen. Aus dieser Perspektive finden sich Hinweise, daß der Umgang mit den DDR-Spareinlagen, insbesondere aber die Entscheidungen über die Altschulden der DDR-Betriebe aus dem Bemühen erklärt werden kann, ex ante-Widerstände gegenüber der Währungsunion und damit letztlich der deutschen Einheit zu verhindern. Summary The Change of Economic Order and Political Economy - The Case of East-German Monetary Transition The paper examines peculiarities in the design of East-German monetary transition in the light of a public choice approach. Beside the theory of rent seeking the approach of Mathias Dewatripont and Gérard Roland is utilised in particular. Both distinguish ex ante and ex post constraints to policy reform. The former are feasibility constraints that block policy reforms. The latter refer to the danger of backlash and reversal after policy reforms have been carried out. The prevailing extent of ex ante and ex post constraints determines whether a „big bang" approach or a gradual approach to policy reform should be followed. Though Dewatripont's and Roland's approach is normative, it is used in the paper as part of a positive theory of policy reform. In particular, ex ante constraints are considered to be variables dependent on the behaviour of the political actors. This approach is used to analyse an integral part of East-German transition, the transformation of the monetary sector which took place with the German currency union of 1990. It is shown that the decisions by the German government on the conversion of the debt of the state-owned enterprises of the former German Democratic Republic as well as decisions on financing these debts after currency union can be explained by the
Ordnungswechsel und politisch-ökonomische Prozesse · 417 interest of political actors to avert ex ante constraints regarding German unification. This we argue, has made East-German transition much more costly than necessary.
ORDO • Jahrbuch für die Ordnung in Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Andreas Knorr
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr - eine Zwischenbilanz
I. Einführung Die Entwicklung des inneramerikanischen Luftverkehrs nach der 1977 fur den Luftfracht- und vor allem nach der 1978 für den Passagierverkehr eingeleiteten Deregulierung ist Gegenstand einer kaum mehr überschaubaren Zahl wissenschaftlicher und anderer Abhandlungen. Selbst dem verkehrspolitisch überdurchschnittlich interessierten und informierten Leser mag deshalb eine weitere Untersuchung zu diesem Thema zumindest als entbehrlich, weil sachlich nur noch marginal ergiebig erscheinen. Diese Vermutung erweist sich bei näherer Betrachtung jedoch als unzutreffend, läßt sie sich doch durch einige gewichtige Gegenargumente entkräften: - So stammen zum ersten die einschlägigen deutschsprachigen Analysen,1 aber auch das Gros der amerikanischen Literatur2, überwiegend aus den achtziger Jahren. Sie sind damit inzwischen sowohl von der Datenbasis als auch von der inzwischen eingetretenen Entwicklung her veraltet. - Zum zweiten wurden insbesondere diesseits des Atlantiks erstaunlicherweise einige zentrale Folgewirkungen der Deregulierung bis heute bestenfalls rudimentär diskutiert und eben deshalb von Ökonomen wie Verkehrspolitikern wenig bis gar nicht wahrgenommen. Insbesondere fehlen vertiefende Analysen der Ursachen der trotz zahlreicher Konkurse nach wie vor erstaunlichen Expansion von Billigfluggesellschaften sowie der Wettbewerbskonformität der Abwehrreaktionen der etablierten Anbieter - ein Manko, das umso bedauerlicher ist, als sich eine sehr ähnliche Entwicklung auf dem am 1. April 1997 faktisch ebenfalls vollständig deregulierten EU-Luftverkehrsmarkt bereits deutlich abzeichnet.3 - Wenig beachtet wurden zum dritten die Veränderungen auf den Luftfrachtmärkten und den Märkten für Postdienstleistungen seit dem Inkrafttreten des Air Cargo 1
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Vgl. etwa Austermann (1985), Desel (1988), Hempel (1986), Knieps (1987), Sichelschmidt (1981 und 1984). Von den insgesamt sehr wenigen Untersuchungen jüngeren Datums besonders zu erwähnen sind Beyen und Herbert ( 1991), Krahn (1994) sowie Obermann (1992). Vgl. für viele Bailey, Graham und Kaplan (1985), Dempsey (1989 und 1990), Dempsey und Goetz (1992), Levine (1987), sowie Meyer und Oster (1981 und 1984). Eine sehr gute und überdies recht aktuelle Studie stammt von Morrison und Winston (1995). Als Reaktion auf den bislang sehr erfolgreichen Marktzutrilt von Billigfluggesellschaften wie der irischen Ryanair und der britischen 'Low cost carrier' Debonair, Easy Jet und Virgin Express hat British Airways als erste der großen europäischen Airlines die Gründung einer konzerneigenen Billigfluglinie namens 'Go' angekündigt Die Lufthansa prüft derzeit ernsthaft, diesem Beispiel zu folgen (Jeziorski 1997, 20; ohne Verfasser 1997a, 5; Reuter 1997, 23).
420
· Andreas Knorr
Deregulation Act 1997 sowie im zuvor durch die IATA und den Weltpostverein hochgradig kartellierten grenzüberschreitenden Luft- und Postverkehr seit dem Erlaß des International Air Transportation Competition Act 1979. - Zum vierten wird seit dem Absturz einer vollbesetzten DC 9 der Billigfluggesellschaft ValuJet im Mai 1996 und angesichts der anhaltenden Rekordgewinne zumindest der großen etablierten Airlines wie United, Delta, American, US Airways, Northwest und Continental derzeit eine Re-Regulierung des inneramerikanischen Luftverkehrs politisch so intensiv wie nie zuvor diskutiert. Dem Kongreß liegen bereits mehrere einschlägige und mehr oder minder interventionistisch geprägte Gesetzentwürfe, namentlich der Aviation Competition Enhancement Act of 1997, zur Beschlußfassung vor (Leonhardt 1998, 30).4 Wie noch zu zeigen sein wird, greifen jedoch faktisch die vor allem für die Überwachung der Flugsicherheit zuständige Federal Aviation Administration (FAA) sowie das Verkehrsministerium, das Department of Transportation (DOT), trotz formaljuristisch noch immer völlig freiem Marktzutritt, schon seit geraumer Zeit wieder selektiv und unmittelbar lenkend in das Marktgeschehen ein. Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in vier Teile. Nach einem für das Verständnis des Geschehens seit der Deregulierung unerläßlichen Überblick über die verkehrswirtschaftlichen Grundlagen sowie die historische Entwicklung der amerikanischen Luftverkehrspolitik werden deren bisherige Ergebnisse für den Passagierverkehr, für den Luftfrachtverkehr sowie bei den grenzüberschreitenden Passagier- und Frachtdiensten ausführlich analysiert. Anstelle der in den Medien, aber mehrheitlich auch in der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur üblichen pauschal positiven oder negativen Bewertung soll dabei vor allem eine räumlich differenzierte Betrachtung vorgenommen werden. Nur sie gestattet es nämlich, jene Faktoren zu isolieren, deren Vorliegen sich bislang als notwendige Voraussetzung für das Eintreten der ex ante generell erwarteten Deregulierungswirkungen erwiesen haben: mehr Wettbewerb durch stärkere aktuelle und/oder potentielle Konkurrenz mit der Folge niedrigerer Flugpreise für die Mehrzahl der Nachfrager, Abbau von Quersubventionen zur Verbesserung der Allokationseffizienz durch Anpassung der Tarife an die Kosten sowie allgemein eine Zunahme der Wahlmöglichkeiten, sprich eine größere Zahl alternativer Preis-LeistungsOptionen für die Kunden. Diese Analyse wird nach Ansicht des Verfassers zeigen, daß besagte Ziele selbst nach zwanzig Jahren noch keineswegs flächendeckend verwirklicht werden konnten. Die Diskussion der Ursachen dieser (regionalen) Fehlentwicklungen sowie die Ableitung des damit noch verbliebenen wirtschaftspolitischen Handlungsbedarfs beschließen daher diese Abhandlung.
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Der vollständige Text des Aviation Competition Enhancement Act of 1997 ist im Internet unter http://www.airportnet.org/depts/federal/legisla2/sl331txt.htm abrufbar (Stand: April 1998).
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 421
II. Verkehrswirtschaftliche Grundlagen 1. Voraussetzungen des Flugbetriebs Der Kern der Leistungserstellung im Luftverkehr ist die Beförderung von Personen, Fracht oder Post vom Ausgangsort A zum Bestimmungsort B. Diese Transportleistung kann ein Anbieter allerdings nur erbringen, wenn es ihm gelingt, zunächst eine Reihe rechtlich-institutioneller Marktzutrittsbarrien zu überwinden. Zum einen benötigt er grundsätzlich die behördliche Zulassung als Luftverkehrsunternehmen. Sie wird ihm nur erteilt, wenn er die gesetzlich vorgegebenen Mindestanforderungen hinsichtlich seiner persönlichen Zuverlässigkeit ('fit, willing, able') erfüllen kann (subjektive Kriterien). Die Erfüllung dieser Kriterien stellt jedoch grundsätzlich lediglich eine rechtlich notwendige Vorbedingung für die Aufnahme des Flugbetriebs dar. Hinreichend ist sie nicht. Im Inlandsverkehr der meisten Länder der Erde sowie generell im zwischenstaatlichen Luftverkehr ist die Bedienung der Strecke von A nach Β nämlich nur dann möglich, wenn der Anbieter darüber hinaus über entsprechende Verkehrsrechte verfügt. Sie wurden vor der Deregulierung von den zuständigen Behörden in aller Regel nur erteilt, wenn die den Antrag stellende Fluggesellschaft ein noch unbefriedigtes Verkehrsbedürfnis nachweisen konnte. Faktisch wurden die meisten dieser Anträge zum Schutz der bereits etablierten Carrier freilich abschlägig beschieden. Ökonomisch ist in diesem Zusammenhang zudem von großer Bedeutung, daß bei freiem Marktzutritt sowohl die Betriebsaufnahme als Fluggesellschaft als auch vor allem die Aufnahme einer neuen Flugverbindung zwar mit unter Umständen hohen Fixkosten, jedoch mit nur geringen irreversiblen Kosten verbunden ist. So ist ein Flugzeug nicht an ein bestimmtes City-pair gebunden, sondern läßt sich ohne nennenswerte Aufwendungen prinzipiell auf eine Vielzahl anderer Verbindungen transferieren, die vom Verkehrsaufkommen sowie von der Distanz her der zuvor aufgegebenen Strecke in etwa entsprechen. Den Charakter versunkener Kosten können in diesem Fall aber unter Umständen die mit der Aufnahme einer neuen Verbindung verbundenen Kosten für Werbemaßnahmen sowie die sonstigen routenspezifischen Anlaufkosten annehmen. Schließlich existiert für Fluggerät ein wohlfunktionierender Sekundärmarkt, vor allem für Typen der bei Newcomern besonders gefragten Größenklasse von einhundert bis 150 Sitzplätzen. Je nach den Marktverhältnissen dort - also wenn nachfragebegingt die Veräußerungserlöse dem historischen Anschaffungspreis für das Fluggerät real in etwa entsprechen - können damit sogar die als mögliche Marktaustrittsbarriere wirkenden branchenspezifischen irreversiblen Kosten gegen null tendieren. Doch selbst wenn eine Fluggesellschaft über alle erforderlichen Verkehrsrechte verfügt, kann die Aufnahme des Flugbetriebs von A nach Β noch an Engpässen der bodenund/oder luftseitigen Infrastruktur scheitern. Zur bodenseitigen Infrastruktur gehören die Einrichtungen, die zur Abfertigung der Passagiere und der Fracht sowie zur Be- und Entladung des Fluggeräts an den Flughäfen erforderlich sind, also Check-in-Schalter, Flugsteige ('Gates') einschließlich der Warteräume sowie Parkpositionen für die Flugzeuge auf dem Vorfeld. Die luftseitige Infrastruktur umfaßt demnach das Start-,
422 · Andreas Knorr Lande- und Rollbahnensystem sowohl des Abflug- als auch des Zielflughafens sowie den Luftraum selbst, also das Luftstraßensystem. Wie unmittelbar einsichtig ist, kann jede der beiden Infrastrukturen unabhängig voneinander den Engpaßfaktor bilden, der die Aufnahme einer Verbindung oder wohlgemerkt auch der für die erfolgreiche Positionierung am Markt von den Nachfragern gewünschten Mindestzahl von Frequenzen unmöglich macht, also als Marktzutrittsbarriere wirkt. Zumindest die Aufnahmefähigkeit des Luftraums - die nicht zuletzt auch von der Leistungsfähigkeit der Flugsicherungsleitstellen (Air Traffic Control oder kurz ATC) bestimmt wird - ließe sich, den entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt, mühelos zum einen durch organisatorische Maßnahmen wie eine verbesserte Koordination der zivilen mit der militärischen Flugüberwachung sowie vor allem der noch immer stark zersplitterten nationalen und sogar regionalen Flugsicherungssysteme beträchtlich erhöhen. Weitere kapazitätssteigernde Maßnahmen wären zum anderen Investitionen in fortschrittliche Flugsicherungshard- und -softwaresysteme, die Freigabe neuer Luftstraßen, was insbesondere die Einschränkung der militärischen Sperrzonen und Sonderrechte voraussetzen würde, sowie die wiederum vor allem aus militärischen Gründen zumindest verzögerte Einfuhrung neuartiger Navigationsverfahren wie der Satellitennavigation über GPS. Demgegenüber nähert sich die Kapazität des Start-, Lande- und Rollbahnensystems einer ganzen Reihe von Flughäfen zumindest zu den für die Fluggesellschaften attraktiven Spitzenzeiten ihrem Maximum oder hat dieses bereits erreicht. Dies gilt vor allem für Knotenflughäfen ('Hubs') wie Frankfurt, London Heathrow und London Gatwick, Chicago O'Hare sowie die drei New Yorker Großflughäfen Kennedy, LaGuardia und Newark. Wettbewerbspolitisch entscheidend ist in diesem Zusammenhang weniger die Bestimmung der absoluten Kapazität der Infrastruktur als die Frage, ob das zur Vergabe der knappen 'Slots' an darum konkurrierende Fluggesellschaften gewählte Verfahren für Newcomer eine unüberwindliche Marktzutrittsbarriere begründet oder ob es allen Interessenten einen diskriminierungsfreien oder, in der Diktion von Knieps (1996), einen symmetrischen Zugang zur Infrastruktur ermöglicht oder im Gegenteil in konzentrationsfördernder Manier die etablierten Fluggesellschaften bevorzugt. Ebenfalls erhebliche marktschließende Effekte können bodenseitige Infrastrukturengpässe hervorrufen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Mehrzahl der Flugsteige an einem Flughafen vom Flughafenbetreiber langfristig an eine Fluggesellschaft zur exklusiven Nutzung verpachtet wurden und allen Newcomern, die den fraglichen Flughafen ebenfalls - und in Konkurrenz zur schon ansässigen Airline - bedienen möchten, nur die Möglichkeit des Subleasing der benötigten 'Gates' verbleibt. Das damit verbundene Mißbrauchspotential ist nur zu offenkundig. 2. Der Vertrieb von Beförderungsleistungen Der Verkauf von Beförderungsleistungen kann entweder über Mittler wie Reisebüros oder im Direktvertrieb durch die Fluggesellschaften selbst - über Call-Center, eigene Vertriebsbüros und in zunehmendem Maße über das Internet - erfolgen. Gemeinsam ist beiden Vertriebswegen, daß alle relevanten Informationen über die Buchungslage und die
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 423 Buchungsbedingungen in sogenannten Computerreservierungssystemen (CRS) gespeichtert sind. Die Reisebüros, über die im Passagierverkehr derzeit noch immer etwa achtzig Prozent aller Buchungen vorgenommen werden, sind überwiegend an eines der großen CRS wie SABRE, AMADEUS oder APOLLO angeschlossen, über die die Angebote nahezu aller Fluggesellschaften buchbar sind. Die CRS stellen inzwischen nicht nur eine der wichtigsten Einnahmequellen ihrer Betreiber - stets eine oder mehrere der großen etablierten Fluggesellschaften - dar. Außerdem liefern sie als Datenbank detaillierte Informationen über die individuellen Reiseprofile sämtlicher - also nicht nur der eigenen - Kunden, was wiederum ein Feinsteuerung der Absatzpolitik ermöglicht. Die wettbewerbspolitische Problematik der CRS besteht entgegen der herrschenden Meinung inzwischen weniger darin, daß der oder die Betreiber eines solchen Systems die Angebote ihrer Wettbewerber auf ungünstigeren Bildschirmzeilen oder -seiten plazieren, also bewußt eine asymmetrische Informationsverteilung zu Lasten der Nachfrager herbeifuhren. Diese früher nicht unübliche und durchaus erfolgversprechende Praxis erfahrungsgemäß werden über neunzig Prozent aller Buchungen für ein auf der ersten Bildschirmseite plaziertes Angebot, meist sogar für das erste Angebot überhaupt vorgenommen - ist durch Verhaltenskodizes sowie durch das Verbot sogenannter "Display biases' inzwischen weitgehend unterbunden worden (Weinhold 1995, 101 ff ). Allerdings verfugt der Betreiber des Systems sofort über exakte Informationen über das Angebotsverhalten, namentlich über die Kapazitätsgestaltung und über die Preispolitik seiner im CRS ebenfalls vertretenen unmittelbaren Wettbewerber. Dieses Wissen läßt sich wiederum ohne nennenswerte Zeitverzögerung für Gegenmaßnahmen nutzen, durch die der wettbewerbliche Vorstoß-Nachstoß-Prozeß im Extremfall völlig zum Erliegen kommen kann. Als unter Umständen wettbewerbspolitisch nicht ganz unproblematisch kann sich im Vertriebsbereich des weiteren auch die Provisionspolitik der Fluggesellschaften gegenüber externen Mittlern erweisen. So besteht auch zwischen dem Reisebüro und dem Nachfrager häufig eine Informationsasymmetrie. Steigt die Höhe der Provision und damit der Verdienst des Reisebüros nämlich direkt proportional oder sogar überproportional mit dem Flugpreis oder gewährt eine Fluggesellschaft sogar ab Erreichen eines bestimmten Mindestumsatzes einen Sonderbonus oder eine insgesamt prozentual höhere Provision (Override commission'), hat das Reisebüro ceteris paribus keinen Anreiz, dem Kunden einen preisgünstigeren Flug eines Konkurrenzanbieters zu vermitteln. Beide Praktiken haben jedoch in der jüngeren Vergangenheit viel von ihrer wettbewerbspolitischen Brisanz eingebüßt. Zum einen offerieren inzwischen zahlreiche unabhängige Intermediäre wie Reisezeitschriften computerunterstützte Tarifvergleiche. Zum zweiten nutzen zahlreiche Newcomer seit längerem konsequent die Möglichkeiten des Direktvertriebs über firmeninterne Call-Center und das Internet, was im übrigen auch rasch die extrem kostensenkende Innovation des 'papierlosen Tickets' hervorbrachte; sie geht zurück auf den, wie noch zu zeigen sein wird, erfolgreichsten Newcomer im inneramerikanischen Luftverkehr, die Billigfluggesellschaft Southwest Airlines, die das Fliegen ohne Flugschein systemweit am 31. Januar 1995 einführte. Grund war der Ausschluß von Southwest aus den CRS der Fluggesellschaften United und Continental -
424 · Andreas Knorr die damals eigene, mit Southwest konkurrierende Billigtöchter gegründet hatten - und die Zurückstufung von Southwest-Flügen im CRS von Delta auf 'hintere Plätze' nach dem Markteintritt von Southwest in deren 'Hub' Salt Lake City. Obwohl damals etwa 55 Prozent aller Buchungen für Southwest-Flüge über die CRS anderer Airlines erfolgten, gelang Southwest die radikale Umstellung des Vertriebswegs ohne nennenswerte oder gar dauerhafte Umsatzeinbußen. Der diskriminierungsfreie Zugang zu einem großen CRS dürfte somit lediglich für kleine, unbekannte Nischenanbieter als 'Essential facility' anzusehen sein, zumal jede Airline über ein eigenes internes CRS verfügt. Ein weiterer signifikanter betriebswirtschaftlicher Vorteil des Direktvertriebs beziehungsweise eines geringen Anteils an CRS-Buchungen besteht im übrigen in den wesentlich geringeren Vertriebskosten. So machen die dem CRS-Betreiber zufließenden Buchungsgebühren etwa drei Prozent und die Standardprovision fur einen über ein Reisebüro vermittelten Flug weitere acht bis zehn Prozent des Flugpreises aus (Grant 1996, 179). Auch die etablierten Anbieter verstärken daher seit geraumer Zeit wieder den Eigenvertrieb. Außerdem versuchen sie, den je Buchung im Reisebüro anfallenden Provisionsaufwand beispielsweise durch fixe, das heißt flugpreisunabhängige Provisionen, deutlich zu beschneiden. 3. Neben- und Zusatzleistungen Um die Kundenbindung zu erhöhen, offerieren viele Airlines ihren Fluggästen die Mitgliedschaft in einem Vielfliegerprogramm. Für jeden bezahlten Flug erhalten die Passagiere eine Meilengutschrift, die in der Regel der zurückgelegten Entfernung entspricht; extreme Kurzstrecken bringen dem Kunden meist eine Pauschalgutschrift von fünfhundert Meilen ein. Außerdem hängt die Höhe der Gutschrift noch von der Tarifklasse ab: von Null für einige Billigflugscheine bis hin zum Dreifachen der tatsächlich geflogenen Strecke bei First class-Tarifen. Üblich sind des weiteren noch entfernungsunabhängige Bonusmeilen für ausgewählte Städteverbindungen wie zum Beispiel gerade eröffnete oder besonders umkämpfte Routen, aber auch ab Erreichen eines bestimmten Meilenguthabens (sogenannte 'Plateau miles' oder 'Status miles'). Schließlich haben die meisten Fluggesellschaften weitere Unternehmen wie Mietwagenverleihfirmen, Hotelketten und andere, mit ihnen kooperierende Fluggesellschaften in ihre Programme aufgenommen. Für die Passagiere bedeutet dies mehr Gelegenheiten, Meilen zu sammeln und in attraktive Prämien einlösen zu können. Nahezu alle Vielfliegerprogramme sehen jedoch ein Verfallsdatum für die bereits gesammelten Meilen vor, nach dessen Überschreiten diese ersatzlos gestrichen werden. Außerdem sind Freiflüge, die mit Abstand wichtigsten Prämien, wegen sogenannter 'Blackout dates' oder sehr geringer Sitzplatzkontingente nicht auf allen Flügen oder gar zu jedem Termin verfügbar. Zudem gilt häufig eine bestimmte Mindestaufenthaltsdauer, und zwar meist die Nacht von Samstag auf Sonntag für Prämienflüge. Als wettbewerbspolitisch problematisch - das heißt als weitere strategische Marktzutrittsbarriere - sind Vielfliegerprogramme jedoch nur dann anzusehen, wenn es einem Großteil der Passagiere möglich ist, in den Genuß der Prämien zu gelangen, ohne
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 425 die Kosten fur die 'qualifying' Flüge und sonstigen Leistungen selbst tragen zu müssen. Diese Konstellation dürfte allerdings nur bei abhängig beschäftigten Dienstreisenden gegeben sein, deren Arbeitgeber die Reisekosten voll trägt und die sich die anfallenden Meilen jedoch ohne dessen Wissen auf ihr eigenes Meilenkonto zur privaten Verwendung gutschreiben lassen. Nur in diesem Fall kommt nämlich ein auf asymmetrischer Informationsverteilung basierendes Prinzipal-Agent-Problem zum Tragen, das dem Geschäftsreisenden starke Anreize bietet, im Zweifelsfall den meilenmaximierenden höheren Tarif zu buchen, selbst wenn dieses reisekostentreibende Verhalten der Wettbewerbsfähigkeit seines Arbeitgebers abträglich ist und damit letztlich ihm selbst schadet. Diese Fehlanreizwirkung und damit die Bindung an eine bestimmte Fluggesellschaft trotz im Vergleich ungünstigerer Tarife ist im übrigen umso ausgeprägter, je mehr Meilen der fragliche Passagier bereits akkumulieren konnte, das heißt, je näher er sich seiner Wunschprämie bereits annähern konnte. Wegen des drohenden Verfalls der bisher gesammelten Meilen wäre ein Wechsel der Airline für ihn in dieser Situation nämlich mit erheblichen versunkenen Kosten verbunden. Alle übrigen Kunden der Fluggesellschaften, insbesondere also Selbständige sowie die Reisestellen von Unternehmen, müssen bei ihrer Wahlentscheidung zwischen den beiden konkurrierenden Anbietern A und Β bei Rationalverhalten in ihrem wohlverstandenen betriebswirtschaftlichen Eigeninteresse jedoch abwägen, ob sie das anstehende Reisepensum am kostengünstigsten durch eine Kombination von teureren Flugpreisen und Freiflügen (unter Berücksichtigung sämtlicher Buchungsrestriktionen und des Verfallsdatums) bei Anbieter A oder aber mit dem preiswerteren Anbieter B, der jedoch nicht über ein Vielfliegerprogramm verfugt, absolvieren können. Für Unternehmen ist es von daher grundsätzlich betriebswirtschaftlich geboten, das Buchungsverhalten ihrer Angestellten kontinuierlich zu überwachen und durch geeignete Verhaltensregeln auf eine größtmögliche Ausgabeneffizienz hinzuwirken. Damit sinkt ceteris paribus jedoch auch die Bedeutung des Aktionsparameters und der Marktzutrittsbarriere 'Vielfliegermeilen'. Nicht übersehen werden sollte in diesem Zusammenhang im übrigen auch, daß sich das potentiell wettbewerbsverzerrende Prinzipal-Agent-Problem auflösen läßt, indem die Prämienflüge als geldwerter Vorteil von den Begünstigten zu versteuern sind. In den USA ist dies schon lange der Fall, während in Deutschland der Gesetzgeber auf Drängen der Lufthansa einen Freibetrag von 2.400 DM für Vielfliegerprämien einführte. Die Lufthansa trägt fur ihre Kunden zudem die Steuer für Prämien, deren Wert darüber liegt. 4. Flugsicherheit Das Unfallrisiko einer Fluggesellschaft stellt aus der Sicht der Nachfrager deren wichtigstes Qualitätsmerkmal dar. Ein hoher Sicherheitsstandard ist damit auch ein zentraler Aktionsparameter im Wettbewerb. Die Nachfrager reagieren auf ähnlich schwere, vor allem also auf tödlich verlaufene Unfälle allerdings keineswegs einheitlich (Knorr 1997a). So hat die Erfahrung gezeigt, daß trotz der Existenz einer staatlichen Luftfahrtaufsichtsbehörde vergleichsweise unbekannte Anbieter, vor allem als Newcomer
426 · Andreas Knorr ohne eingeführten Markennamen, nach einem schweren Unfall wesentlich häufiger als etablierte Anbieter einen existenzbedrohenden dauerhaften Nachfragerückgang verzeichnen mußten - und letztlich eben deshalb Konkurs anmelden mußten. Diese Beobachtung gilt im übrigen ungeachtet der Unfallursache; es scheint also keine Rolle zu spielen, ob dem Absturz Eigenverschulden der Airline und ihres Personals wie Pilotenoder Wartungsfehler zugrundelagen oder er durch exogene, von der betroffenen Fluggesellschaft also objektiv nicht beeinflußbare Faktoren verursacht wurde. Hinzu kommt, daß erfahrungsgemäß selbst die von Unfällen verschont gebliebenen sonstigen Newcomer beziehungsweise die Anbieter, die derselben Kategorie von Fluggesellschaften zugerechnet werden wie die vom Unfall betroffene Airline, in der Folgezeit ebenfalls starke Buchungsrückgänge verzeichnen müssen. Dieses Verhalten zeigte sich in der Vergangenheit insbesondere nach einem Unfall einer sogenannten Billigfluggesellschaft (in den USA nach dem Absturz der ValuJet DC 9) oder einer den Medien und dem Publikum unbekannten ausländischen Airline (in Deutschland etwa im Fall Birgenair). Wie an anderer Stelle noch ausführlicher zu diskutieren sein wird, hat jedoch nicht nur die Reaktion der Nachfrager auf einen Unfall große Bedeutung für die Entwicklung der Marktverhältnisse danach. Auch die Reaktion der Luftfahrtaufsichtsbehörden auf einen Unfall fallt in der Praxis, je nachdem, ob es sich um eine bekannte, etablierte Airline oder einen Newcomer beziehungsweise um eine eher unbekannte ausländische Fluggesellschaft handelt, durchaus unterschiedlich aus. Ökonomisch kann dies im Extremfall in einer selektiven marktstrukturgestaltenden oder gar marktschließenden Re-Regulierung münden.
III. Die amerikanische Luftverkehrspolitik im Wandel der Zeit 1. Der Inlandsluftverkehr a. Der Weg zur staatlichen Regulierung 1914 bis 1938 Das Zeitalter der gewerblichen Zivilluftfahrt begann in den USA im Jahre 1914. Damals nahm die St. Petersburg-Tampa Airboat Line regelmäßige Passagierdienste zwischen diesen beiden Städten in Florida auf. Weder der Marktzutritt noch die Flugpreise oder die Sicherheitsstandards der Fluglinien wurden zunächst staatlich reguliert (Morrison und Winston 1995, 4 f.). Aufgrund der im Vergleich zu den bodengebundenen Verkehrsträgern beträchtlich kostspieligeren Passage und des in der Frühzeit der Luftfahrt noch sehr hohen Unfallrisikos war die Akzeptanz des Flugzeugs seitens der Öffentlichkeit im Passagierverkehr zunächst gering. Rasch etablieren konnte sich das Flugzeug jedoch in der Landwirtschaft bei der Schädlingsbekämpfung aus der Luft - eine der drei derzeit größten USFluggesellschaften, Delta, ging aus einer solchen 'Crop dusting company' hervor - und, mit dem Inkrafttreten des Kelly Airmail Act 1925 sowie des McNary-Watres Act 1930, vor allem bei der Luftpostbeförderung (Biedermann 1982, XI ff.; Pickreil 1991, 5 f.).
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 427 Diese Gesetze erlaubten es dem Postministerium zum einen, die Beförderung von Luftpostsendungen von der US-Armee, die seit 1918 damit beauftragt gewesen war, auf private Fluggesellschaften zu übertragen. Um einen dieser hochsubventionierten und daher wirtschaftlich sehr lukrativen Kontrakte zu erhalten, mußten die interessierten Airlines allerdings erstmals Mindeststandards bei der Wartung und der Pilotenausbildung beachten. Sie wurden vom Postministerium festgesetzt, das zunächst auch deren Einhaltung regelmäßig kontrollierte. 1926 wurde die Überwachung der Flugsicherheit dann dem Department of Commerce übertragen, das zusätzlich die Aufgabe hatte, die Entwicklung der 'Infant industry' Luftfahrt - gemeint waren die Fluggesellschaften und die Flugzeughersteller - durch geeignete Maßnahmen zu fördern (Meyer und Strong 1992, 2). Zum anderen beschloß der Kongreß 1930, ein flächendeckendes Luftpostnetz fur die kontinentalen USA einzurichten. Der damalige Postminister Brown vergab daraufhin die aufkommensmäßig wichtigsten Verbindungen an nur vier der insgesamt zwölf erfolgreichen Antragsteller (Graham 1995, 107 ff). Dabei handelte es sich fast ausnahmslos um die größten der damals bereits bestehenden Airlines, die aufgrund ihrer Bevorzugung bei der Vergabe einen Marktanteil von mehr als neunzig Prozent auf sich vereinen konnten (Biedermann 1982, XI): American Airlines, genauer gesagt ihr Rechtsvorgänger, bediente dabei exklusiv die Transkontinentalrouten von Boston und New York über Chicago, Nashville und Dallas/Fort Worth nach Los Angeles und zurück; United wurden die Strecken New York-Chicago-San Franzisko und Seattle-San Franzisko-Los Angeles übertragen; Trans World Airlines (TWA) beförderte Luftpostsendungen von New York über St. Louis und Kansas City nach Los Angeles; Eastern erhielt einen Exklusivkontrakt für die Nord-Süd-Verbindungen New York-New Orleans sowie Chicago-Atlanta-Miami und retour. Sämtliche grenzüberschreitenden Luftpostdienste blieben ausschließlich der wenig später gegründeten Pan American World Airways (Pan Am) vorbehalten, der das Postministerium dafür allerdings keinerlei Beförderungskontrakte innerhalb der USA zuerkannte. Die übrigen sieben Fluglinien erhielten lediglich Kontrakte für einige wenige und wirtschaftlich eher unbedeutende Randverbindungen. Einen dieser wirtschaftlich weniger bedeutenden Kontrakte erhielt im übrigen ein gewisser William Boeing aus Seattle, damals ein Holzgroßhändler. Er beabsichtigte, die ihm zugewiesene Strecke mit selbst entwickelten Flugzeugen zu bedienen und gründete zu diesem Zweck die Boeing Company (Schiavo 1997, 47). Die offensichtliche Diskriminierung der kleineren Fluggesellschaften bei der Vergabe der Luftpostkontrakte durch den Postminister (Levine 1987, 397 f.), die freihändig erfolgte - eine öffentliche Ausschreibung war gesetzlich nicht vorgeschrieben -, sowie die daraus ebenfalls resultierende Schaffung von Strecken- und Gebietsmonopolen fur die einzelnen Lizenznehmer veranlaßte die amerikanische Justiz im Jahre 1934 zwar zur Eröffnung eines Antitrustverfahrens gegen Postminister Brown und die Vorstände von American, United, TWA und Eastern. Es wurde später positiv beschieden; zeitgleich erklärte Präsident Roosevelt sämtliche Luftpostkontrakte der privaten Fluggesellschaften für aufgehoben, die auf Weisung des neuen Postministers Farley durch die Streitkräfte ersetzt wurden. Eine Absturzserie der Armee mit 66 Totalverlusten und zwölf Toten in
428 · Andreas Knorr den ersten drei Monaten bewog die Politik allerdings sehr rasch zur Reprivatisierung der Luftpostbeförderung {Kane und Vose 1971, 25 ff). Die in das Antitrustverfahren verwickelten vier Fluggesellschaften sollten von der neuerlichen Vergabe, die auf Druck des Kongresses erstmals als öffentliche Ausschreibung organisiert wurde, grundsätzlich ausgeschlossen bleiben. Sie entzogen sich diesem Teilnahmeverbot jedoch erfolgreich durch einfaches Umfirmieren. Nennenswerte Änderungen der Marktstruktur sowie ein Aufbrechen der Strecken- und Gebietsmonopole resultierten aus der Neuvergabe deshalb nicht. Dies zeigt sich unter anderem daran, daß bis heute, also zwanzig Jahre nach der Freigabe des Marktzutritts, die oben erwähnten Relationen noch immer die Hauptverkehrsgebiete der genannten Fluggesellschaften darstellen; bis zu ihren Konkursen im Jahr 1991 galt dies auch fur Eastern und Pan Am. Die Anfang der dreißiger Jahre vom Postminister in dirigistischer Manier vorgenommene Streckenzuteilung sollte sich mithin als im Zeitablauf außerordentlich stabil erweisen. Die Einnahmen der Fluggesellschaften im Passagierverkehr übertrafen 1936 erstmals die Erlöse aus der wohlgemerkt noch immer hoch subventionierten Luftpostbeförderung (Kane und Voss 1971, 31). Zahlreiche Marktzutritte neuer Anbieter im Passagierverkehr, die damals noch immer keine rechtlich-institutionellen Zugangsbarrieren zu überwinden hatten, veranlaßten die größeren, bereits etablierten Fluggesellschaften dazu, über ihren Dachverband - die Air Transport Association of America (ATA) - beim amerikanischen Gesetzgeber Maßnahmen gegen die ihrer Auffassung nach 'ruinöse' Konkurrenz anzumahnen (Biederman 1982, XII). Als weiteres Argument für die staatliche Regulierung der Fluggesellschaften nannte die ATA die im Wettbewerb angeblich nicht mehr aufrechtzuerhaltende flächendeckende Versorgung der Bevölkerung. Wie in Anbetracht der damals durch die Weltwirtschaftskrise ohnehin eher wettbewerbsfeindlichen Grundstimmung in der Öffentlichkeit und in der US-Regierung sowie im Kongreß nicht anders zu erwarten war, folgte der Gesetzgeber dem Wunsch der etablierten Fluggesellschaften und ihrer Interessenvertreter weitgehend. Ergebnis war der Civil Aeronautics Act des Jahres 1938. Er enthielt den bis 1977/78 nahezu unverändert gültigen Regulierungsrahmen für den zivilen Luftverkehr in den Vereinigten Staaten. 1958 ersetzte der Federal Aviation Act zwar formal, aber nicht inhaltlich den Civil Aeronautics Act. Die einzige Neuerung war die Übertragung der Regulierungskompetenzen für den Bereich Flugsicherheit auf eine eigene Behörde, die neugegründete und inzwischen in Federal Aviation Administration oder kurz FAA umbenannte Federal Aviation Agency.
b. Der Civil Aeronautics Act 1938 aa. Wesentliche Inhalte Mit dem Civil Aeronautics Act 1938 übertrug der Kongreß zunächst sämtliche Regulierungsbefugnisse - einschließlich der Überwachung der Flugsicherheit - auf die neugegründete und der Regierung gegenüber weisungsunabhängige Civil Aeronautics Agency; sie wurde 1940 in Civil Aeronautics Board (CAB) umbenannt. Das gesetzliche
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 429 Mandat der CAB bestand darin, eine wirtschaftliche, effiziente und ausreichende Versorgung mit Luftverkehrsleistungen zu angemessenen Preisen sicherzustellen. Wettbewerb zwischen den einzelnen Anbietern sollte der CAB allerdings explizit nur in dem mit einer 'gesunden' Branchenentwicklung ("sound development") zu vereinbarenden Maß zulassen (Pickreil 1991, 6). Entsprechend verfugte der CAB über umfassende Eingriffsrechte im Sinne eines Genehmigungsvorbehalts in den Bereichen Marktzutritt, Marktaustritt und Preisbildung. Darüber hinaus oblagen dem CAB die Vergabehoheit für staatliche Beihilfen an solche Fluggesellschaften, die extrem aufkommensschwache und daher unrentable Verbindungen bedienten,5 sowie - wie bereits erwähnt - bis zur Gründung der FAA 1958 die alleinige Zuständigkeit in allen Belangen der Flugsicherheit. Schließlich agierte der CAB noch als eine Art sektorspezifische Kartellbehörde, zu deren Kompetenzen die Fusionskontrolle ebenso gehörte wie die Möglichkeit, Verhaltensabsprachen zwischen den Fluggesellschaften vom Antitrustrecht freizustellen. Allerdings erstreckten sich die Regulierungsbefugnisse der CAB nicht auf den Aktionsparameter Qualität. Insbesondere waren die Fluggesellschaften damit vollkommen frei in der Ausgestaltung ihrer Angebotskapazitäten, daß heißt hinsichtlich der Festlegung der Abflugzeiten, der Flugfrequenzen und der Wahl des Fluggeräts. Der Zuständigkeit des CAB - mit Ausnahme des Bereichs Flugsicherheit - komplett entzogen waren zudem noch die sogenannten 'Intrastate'-Carrier wie Southwest Airlines (Texas), Pacific Southwest Airlines, Air Cal (beide Kalifornien) und Air Florida (Florida), also diejenigen Fluggesellschaften, die ausschließlich Flugverbindungen innerhalb einzelner US-Bundesstaaten anboten - und auch nur diese anbieten durften. Deren Regulierung oblag den zuständigen Länderbehörden, so beispielsweise der Texas Aeronautics Commission beziehungsweise der California Public Utilities Commission. bb. ökonomische Folgewirkungen der Marktzutrittsregulierung Im Zeitablauf schuf der CAB durch seine umfassenden Kompetenzen zur Gestaltung der Marktstruktur - also die Erteilung oder Verweigerung von Betriebslizenzen, von Streckenrechten sowie der Genehmigung zur Einstellung von Routen - in seinem Zuständigkeitsbereich insgesamt vier verschiedene Kategorien von Fluggesellschaften, deren jeweilige Märkte er administrativ weitestgehend voneinander abzuschütten trachtete, nämlich die 'Trunk airlines', die 'Local airlines', die Lufttaxianbieter respektive 'Commuter airlines' sowie die 'Supplemental airlines'. 1938 lizenzierte der CAB insgesamt sechzehn Fluggesellschaften für den Passagierverkehr. Es handelte sich bei diesen sogenannten 'Trunk airlines' ausschließlich um die bereits etablierten, also die aus den ehemaligen Postlinien und Schädlingsbekämpfungsunternehmen hervorgegangen Anbieter. Außerdem hatte der CAB bis 1978 trotz mehr als achtzig entsprechender Anträge keinem Newcomer mehr eine Lizenz als 'Trunk carrier' erteilt. Die Bedienung der aufkommensstärksten Verbindungen blieb somit bis 1978 gleichsam durch Großvaterrechte exklusiv den schon S Formal erhielt der CAB diese Kompetenz erst 1953. Bis dahin war die amerikanische Postverwaltung für die Subventionsvergabe zuständig gewesen (Bailey 1985, 21).
430 · Andreas Knorr 1938 vom CAB 'gesetzten' Anbietern vorbehalten. Um überdies auch den Wettbewerb zwischen den einzelnen 'Trunks' zu unterbinden, erteilte der CAB, von einigen wenigen hochfrequentierten Routen abgesehen, sämtliche Streckenrechte jeweils nur einem einzigen Anbieter, und zwar in der Regel dem in der betreffenden Region etablierten 'Trunk carrier'. Zwangsläufiges Ergebnis des langjährigen Marktstrukturdirigismus war ein außerordentlich hoher Konzentrationsgrad sowohl auf den einzelnen Routen - meist handelte es sich regulierungsbedingt um geschützte Angebotsmonopole, seltener um Dyopole - als auch, mit im Zeitablauf steigender Tendenz, auf Branchenebene. Letzteres resultierte aus der grundsätzlichen Weigerung des CAB, insolvente 'Trunks' in Konkurs gehen zu lassen und an deren Stelle Newcomer als neue 'Trunks' zu lizenzieren. Die Grenzanbieter mußten statt dessen auf Betreiben des CAB mit einem anderen 'Trunk carrier' fusionieren. Entsprechend schrumpfte auch die Zahl der 'Trunk airlines' bis 1978 auf nur mehr elf Anbieter - nämlich American, Braniff, Continental, Delta, Eastern, National, Northwest, Pan Am, TWA, United und Western. Konsequenz: Die "vier Gesellschaften, die im Jahr 1938 den Markt dominierten (American, United, TWA und Eastern) [waren] im Jahre 1979 noch immer die vier größten" (Knieps 1987, 28; Levine 1987, 426 ff): Gemessen an verkauften Passagierkilometern vereinten die elf 'Trunks' unmittelbar vor der Deregulierung insgesamt einen Marktanteil von 92 Prozent, die vier größten 'Trunks' von fast sechzig Prozent, auf sich (Campbell 1997, 323). Im Gegensatz zu den aufkommensstarken und rentablen Hauptstrecken, die - wie gesagt - den 'Trunks' vorbehalten blieben, förderte der CAB Anfang der fünfziger Jahre auf den kürzeren und oft aus regionalpolitischen Erwägungen heraus hochsubventionierten Zubringerstrecken von und nach den größeren Flughäfen sehr wohl den Marktzutritt. Er schuf in diesem Segment mit diesen sogenannten 'Local carriers' eine zweite Kategorie von Fluggesellschaften, deren Flottenaufbau und -erweiterung der Kongreß ab 1957 sogar durch staatliche Kreditbürgschaften unterstützte (Meyer und Oster 1984, 15).6 Ab Anfang der sechziger Jahre übertrug der CAB den 'Locals' zudem gezielt zahlreiche defizitäre Kurzstrecken, um die 'Trunks', die jene Verbindungen zuvor bedient hatten, finanziell zu entlasten. Nicht übersehen werden sollte schließlich, daß sich auch die Streckennetze der einzelnen 'Locals' untereinander zunächst nicht überlappen durften. Zum Schutz der 'Trunks' verhinderte der CAB zudem bis Mitte der sechziger Jahre jede unmittelbare Konkurrenz zwischen 'Trunks' und 'Locals'. Dies änderte sich erst, nachdem sich der Subventionsbedarf der 'Locals' fur die Bedienung der ihnen zugewiesenen aufkommensschwachen Kurzstrecken zwischen 1955 und 1962 wegen der Umstellung auf das wesentlich größere Düsenfluggerät - wegen des dadurch induzierten starken kurzfristigen Rückgangs der Kapazitätsauslastung - von 22 Mio. US-Dollar jährlich auf 66,8 Mio. US-Dollar verdreifacht hatte (Bailey und andere 1985, 113). Um den 6
Zu den bedeutendsten 'Locals' zählten die Fluggesellschaften Alaska Airlines, Allegheny Airlines, Frontier Airlines, Aloha Airlines, Hawaiian Air, Hughes Air West, North Central Airlines, Ozark Air Lines, Piedmont Airlines, Southern Airways, Texas International und Wien Air Alaska. - Notabene: In seinen Veröffentlichungen bildete der CAB für die in den Bundesstaaten Alaska und Hawaii ansässigen Fluggesellschaften eine eigene Kategorie ('IntraHawaiian/Alaskan carriers'), in der die Verkehrsleistungen sowohl der dortigen 'Locals' als auch die der kleineren Luftaxianbieter ('Commuters') zusammengefaßt wurden.
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 431 Subventionsbedarf zu reduzieren und diefinanzielleLage der 'Locals' wieder zu verbessern, erteilte der CAB den 'Locals' damals Verkehrsrechte auf einigen längeren und vor allem aufkommensstärkeren Verbindungen, die sie fortan im Dyopol mit einem der 'Trunks' bedienen durften. Zudem gestattete der CAB den 'Locals' vermehrt den Marktaustritt aus besonders verlustträchtigen Routen, die dann von sogenannten Lufttaxiunternehmen beziehungsweise 'Commuter airlines' übernommen wurden. Fluggesellschaften aus der Kategorie Lufttaxi oder 'Commuter' erhielten vom CAB bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Erlaubnis, im Passagier- und im Frachtverkehr sogenannte 'non scheduled air services', also unregelmäßige Dienste, anbieten zu dürfen. Als unregelmäßige Bedienung galten dabei zunächst weniger als zehn Hin- und Rückflüge pro Monat auf der fraglichen Strecke. 1946 stellte der CAB dann alle Dienste, auf denen Fluggerät mit einem zulässigen Startgewicht von höchstens 12.500 (amerikanischen) Pfund eingesetzt wurde, pauschal von der Marktzutritts-, Marktaustritts- und Tarifregulierung frei. Je nach Flugzeugtyp entsprach dies einer Sitzplatzkapazität von fünfzehn bis zwanzig Passagieren beziehungsweise einer dem Gewicht dieser Passagiere entsprechenden maximalen Zuladung im Luftfrachtverkehr. 1972 wurde dieser Grenzwert auf dreißig Sitzplätze angehoben (Meyer und Oster 1984, 16 ff ). Außerdem galten für den Betrieb von Flugzeugen dieser Größenklasse weniger strenge Sicherheitsvorschriften als für Düsenflugzeuge (Knorr 1997a, 113). Die letzte und zahlenmäßig wie wirtschaftlich mit deutlichem Abstand unbedeutendste Kategorie umfaßte die sogenannten 'Supplemental carriers' wie Aeroamerica, Capitol International Airways, World Airways und Trans International Airways, die, ab Ende der sechziger Jahre meist mit Düsenflugzeugen, ausschließlich im Charter- und Pauschalreiseverkehr tätig werden durften. Hauptverkehrsgebiete dieser Anbieter, deren Aktionsparametereinsatz der CAB zum Schutz der 'Trunks' und 'Locals' ebenfalls sehr stark beschränkte - insbesondere durch die Festlegung von Mindesttarifen auf den inneramerikanischen Verbindungen (Prickneil 1991, 8) - und deren Zahl sich nicht zuletzt deswegen zwischen 1950 und 1980 von dreißig auf sechs vermindert hatte (Biederman 1982, 3), waren Las Vegas, Hawaii, die Karibik, der Nordatlantik sowie zum Teil auch Charterdienste von und nach (West-)Berlin. Außerdem verdingten sie sich regelmäßig als Truppentransporter für die amerikanischen Streitkräfte. Im Gegensatz zu Europa, wo der Marktanteil der Charter-Airlines bei grenzüberschreitenden Reisen knapp über fünfzig Prozent ausmacht, erreichten die amerikanischen 'Supplementais' niemals mehr als zwei Prozent. cc. ökonomische Folgewirkungen der Regulierung der Flugpreise Bis 1942 beschränkte sich die staatliche Regulierung der Flugpreise darauf, sicherzustellen, daß sie dem Tarif für eine Bahnfahrt erster Klasse auf dieser oder einer entfernungsmäßig vergleichbaren Route entsprechen (Bailey und andere 1985, 16 f.). Da den Eisenbahntarifen wiederum eine einfache Kilometerstaffel zugrundelag, verteuerten sich auch Flugreisen proportional zur Distanz zwischen dem Abflughafen und dem Zielort. Eine erste generelle Überprüfung der Tarifstruktur und des Tarifniveaus durch
432 · Andreas Knorr den CAB im Jahr 1942 brachte lediglich deutliche Preiserhöhungen auf breiter Front mit sich. Zwei weitere, aber wesentlich umfassendere Untersuchungen dieser Art, die General Passenger Fare Investigation (GPFI) und die durch einen Gerichtsentscheid erzwungene Domestic Passenger Fare Investigation (DPFI) folgten in den Jahre 1956 bis 1960 beziehungsweise 1970 bis 1974. Als Ergebnis dieser Analysen regulierte der CAB die Flugpreise fortan unter Zuhilfenahme einer recht komplexen Berechnungsformel, dem sogenannten Standard Industry Fare Level (SIFL), anstatt diese wie zuvor ohne öffentliche Anhörung und ohne nachprüfbare Kriterien einvernehmlich mit Vertretern der Fluggesellschaften festzusetzen.7 Grundsätzlich sollten sich die Flugpreise an den tatsächlichen und nach Ansicht des CAB ausschließlich entfernungsabhängigen Kosten der Leistungserstellung orientieren. Außerdem wurde den Fluggesellschaften, bezogen auf eine unterstellte Durchschnittsauslastung von 55 Prozent, eine Verzinsung des eingesetzten Kapitals von zwölf Prozent garantiert; dieser Wert entsprach der damals in der amerikanischen Industrie üblichen Rendite. Aus regionalpolitischen Gründen enthielt die CAB-Formel jedoch noch eine Quersubventionskomponente. Die Tarife der 'Trunk airlines' auf Strecken über vierhundert Meilen lagen folglich grundsätzlich höher, die Flugpreise auf Routen von weniger als vierhundert Meilen niedriger als die Durchschnittskosten der Branche. Den überwiegend auf Kurzstrecken tätigen 'Locals' erlaubte der CAB demgegenüber, um den Subventionsbedarf gering zu halten, ihre Tarife grundsätzlich auf ein Niveau von 130 Prozent des laut der CAB-Regulierungsformel anwendbaren Flugpreises anzuheben (Bailey und andere 1985, 20). Sondertarife genehmigte der CAB traditionell nur sehr zögerlich, und dies, obwohl der durchschnittliche Abschlag (bezogen auf den Normaltarif) ohnehin nur zwanzig Prozent betrug und die Nachlässe meist nur klar abgegrenzten Teilgruppen - insbesondere Kindern und Jugendlichen sowie Soldaten - zugute kamen. Diese grundsätzlich restriktive Genehmigungspraxis verschärfte der CAB nochmals Anfang der siebziger Jahre nach Abschluß der DPFI mit dem Argument, die Kosten der Fluggesellschaften für die Beförderung eines jeden Passagiers, gleichgültig ob es sich um einen Vollzahler oder um einen zu einem Sondertarif reisenden Passagier handele, seien identisch. Sondertarife galten dem CAB somit als ökonomisch unhaltbare Diskriminierung der Nutzer der Normaltarife. Zudem erachtete der CAB die Verfügbarkeit diverser Sondertarife als zu verwirrend für die Nachfrager und wegen des hohen Verwaltungsaufwands als zu kostenintensiv fiir die Airlines (Bailey und andere 1985, 20 f.). Schließlich sah das formale Tarifgenehmigungsverfahren seit jeher umfangreiche Einspruchsrechte für davon möglicherweise negativ Betroffene - namentlich also andere Fluggesellschaften - vor, deren üblicherweise ablehnender Haltung bezüglich Tarifsenkungen sich der CAB in aller Regel anschloß. Vorschlägen zur Tariferhöhung widersprachen die übrigen Anbieter dagegen kaum jemals {Biederman 1982, 83). Insgesamt verstärkte die Preis- und Rentabilitätsregulierung die schon aus der strikten Marktzutrittsregulierung resultierenden Ineffizienzen weiter. Insbesondere ließ die der Tarifformel zugrundeliegende 'angemessene' Zielrentabilität die Anreize der 7
Vgl. Biederman (1982, 83 f.), Campbell (1997, 323), sowie Morrison und Winston (1995, 12 f.)
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 433 Fluggesellschaften zur ständigen Kostenminimierung und Optimierung der Betriebsabläufe faktisch vollständig erlahmen, da Kostensteigerungen jederzeit über Tariferhöhungen an die Passagiere weitergewälzt werden konnten. Wie weit sich die CAB-Tarife im Laufe der Zeit von Marktpreisen entfernt hatten, belegten nicht zuletzt die erheblich günstigeren Tarife der einer weit weniger stringenten Preis- oder Marktzutrittsregulierung unterworfenen 'Intrastate'-Carrier in den Bundesstaaten Texas und Kalifornien, die auf einigen Strecken wie Houston-Dallas oder San Franzisko-Los Angeles unmittelbar mit einem oder mehreren 'Trunks' oder 'Locals' - deren Tarife auch dort der CAB-Regulierung unterlagen - konkurrierten. Von der Tarifregulierung ebenfalls stark profitierten die Beschäftigten der Fluggesellschaften, deren Entlohnung bei gleicher Qualifikation und ähnlichen lokalen Arbeitsmarktbedingungen fur vergleichbare Tätigkeiten deutlich über den Bezügen lag, die in nicht regulierten Branchen marktüblich waren - die Bezüge von Schreibkräften etwa um vierzig Prozent und die von Reinigungspersonal um achtzig Prozent (Knieps 1987, 35); die Lohnerhöhungen hatten im langjährigen Mittel stets die Inflationsrate und den Produktivitätsfortschritt übertroffen (Labbich 1987, 46). Schließlich wurden auch Kostensenkungen aufgrund des technischen Fortschritts - namentlich durch die Umstellung der Flotten auf GroßraumDüsenflugzeuge, durch deren Einsatz die Fluggesellschaften erhebliche Produktivitätszuwächse durch Economies of scale realisieren konnten - nur zu einem geringen Teil an die Nachfrager weitergegeben (Bailey und andere 1985, 18; Meyer und Strong 1992, 4). Als weitere volkswirtschaftlich bedenkliche Folgewirkungen der Preisregulierung anzuführen sind schließlich die dadurch ausgelöste Verzerrung des intermodalen Wettbewerbs und damit des Modal-split sowie die im Vergleich zu einer Ausschreibungslösung insgesamt stark überteuerte Versorgung ländlicher Gebiete mit Luftverkehrsleistungen. So war der Subventionsbetrag nicht an die tatsächlich erbrachte Verkehrsleistung gekoppelt, sondern stand jedem Anbieter für die Bedienung der fraglichen Städteverbindung als solche zu, also ungeachtet der erbrachten Frequenzen und der für die Passagiere daher oft ungünstigen Abflugs- und Ankunftszeiten. dd. Umfang und ökonomische Folgewirkungen der partiellen Qualitätsregulierung Die Art und Weise der Preisregulierung sowie die systemimmanente interne Subventionierung von Kurzstrecken aus den Übergewinnen auf den Langstrecken hatten wegen der zirkulären Interdependenz der Aktionsparameter naturgemäß auch erhebliche Rückwirkungen auf die Entwicklung der Angebotsqualität; die Regulierung des aus Nachfragersicht wohl wichtigsten Qualitätsmerkmals, der Flugsicherheit, oblag, wie erwähnt, seit 1958 der Behörde FAA. So waren wichtige Qualitätsmerkmale wie die Flughäufigkeit oder der Flugzeugtyp der Regulierung vollständig entzogen. Angesichts der hohen Regulierungsdichte bei den übrigen Aktionsparametern resultierte daraus zwangsläufig ein übersteigerter Service-Wettbewerb mit der Folge kontinuierlich sinkender Auslastungsgrade mit entsprechenden Rückwirkungen auf die Ertrags- und Gewinnsituation der Fluggesellschaften. Außerdem konnten die Nachfrager nicht zwi-
434 · Andreas Knorr sehen alternativen, ihren unterschiedlichen Präferenzen entsprechenden Preis-LeistungsVariationen wählen, sondern waren gezwungen, eine hohe Produktqualität zu sehr hohen Preisen zu akzeptieren. Wie sich in der politischen Diskussion im Vorfeld der Deregulierung außerdem erweisen sollte, hatten sich viele 'Trunks', aber auch einige 'Locals' insbesondere nach der Umstellung auf Jets bereits seit längerem trotz der CAB-Auflagen massiv aus wenig beflogenen und unrentablen Routen zurückgezogen oder deren Bedienung auf das vorgeschriebene Minimum - ein tägliches Flugpaar, und zwar meist zu fur die Passagiere ungünstigen Randzeiten am frühen Morgen und am späten Abend - reduziert. Konkret hatten die 'Trunks' die Zahl der von ihnen angeflogenen kleineren Städte - mit Duldung des CAB - zwischen 1970 und 1975 um vierzehn Prozent und die Zahl ihrer Flüge dorthin sogar um 25 Prozent vermindert (Knieps 1987, 32). 2. Der grenzüberschreitende Luftverkehr Der zumindest bis Ende der siebziger Jahr außerordentlich restriktive Ordnungsrahmen für den grenzüberschreitenden Luftverkehr wurde 1944 in der Konferenz von Chicago festgelegt. Als Folge bleibt zum einen der gesamte Inlandsverkehr wegen des Kabotageverbots auch in den USA bis heute ausschließlich inländischen Fluggesellschaften vorbehalten; um eine Umgehung dieses Verbots durch Kapitalbeteiligungen ausländischer Airlines an Inlands-Carriern zu verhindern, ist es ausländischen Wirtschaftseinheiten zudem untersagt, eine Beteiligung von mehr als 49 Prozent - so in den USA und, für Nicht-EU-Bürger, auch in der EU - und meist sogar von mehr als 25 Prozent zu erwerben. Die Marktzutrittsmöglichkeiten sowie der Aktionparametereinsatz im Passagier- wie im Frachtverkehr - Preise, Kapazitäten und Frequenzen - im grenzüberschreitenden Luftverkehr werden auf zwischenstaatlicher Ebene detailliert im Rahmen bilateraler Luftverkehrsabkommen von den Regierungen der beiden tangierten Staaten geregelt. Derzeit sind weltweit über zweitausend solcher Abkommen in Kraft. Eine wichtige Rolle bei der Festlegung der Flugpreise spielten im übrigen - woran sich in vielen Verkehrsgebieten bis heute faktisch wenig geändert hat die Tarifempfehlungen der IATA, der in Montréal ansässigen Dachorganisation der Fluggesellschaften. Sie wurden - und werden - von den Regierungen in der Regel pauschal genehmigt. Die weit über Marktpreisen8 liegenden 'Tarifvorschläge' des IATAKartells wurden in sogenannten Tarifkonferenzen und Tarifkoordinierungskonferenzen festgelegt, an denen jedes IATA-Mitglied teilzunehmen hatte; sogar die amerikanische Regierung stellte die US-Carrier eigens dafür vom amerikanischen Antitrustrecht frei. In der Praxis erlaubten bis Ende der siebziger Jahre die bilateralen Luftverkehrsabkommen nur einer Fluggesellschaft aus jedem der beiden Länder, im zwischenstaatlichen Verkehr tätig zu werden; Anbieter aus Drittstaaten erhielten nur 8
Einige Nicht-IATA-Fluggesellschaften wie damals Singapore Airlines unterboten die IATATarife mit Hilfe spezialisierter Reisebüros deutlich - eine in vielen Ländern, so auch in Deutschland, lange Zeit illegale Praxis - und konnten gleichwohl noch immer auskömmliche Gewinne erwirtschaften.
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 435 ausnahmsweise solche Verkehrsrechte. Zudem wurde die Sitzplatzkapazität meist hälftig auf die beiden designierten Anbieter aufgeteilt und genau festgelegt, welche Städte angeflogen werden durften. Sämtliche Tarife mußten schließlich grundsätzlich von beiden Regierungen genehmigt werden (sogenanntes 'Double approval'-Prinzip). 3. Der Übergang zur Deregulierung Das für die amerikanische Öffentlichkeit spürbarste Ergebnis der 1974 abgeschlossenen DPFI war die Erhöhung der Flugpreise um durchschnittlich nahezu zwanzig Prozent für Inlandsflüge (Pricknell 1991, 8). Diese heftig kritisierte Maßnahme des CAB zog bereits im Herbst 1974 die Einrichtung eines offiziellen und von Anfang an von großem Medieninteresse begleiteten Untersuchungsausschusses des Kongresses nach sich; den Vorsitz führte Senator Ted Kennedy. Die Anhörungen bekräftigten die zuvor beschriebenen, regulierungsbedingten Fehlentwicklungen nachdrücklich und leiteten damit letztlich den kurz darauf vom amerikanischen Gesetzgeber vollzogenen luftverkehrspolitischen Paradigmenwechsel ein {Brown 1987, 95 ff; Campbell 1997, 324 f.). Eine bedeutende Rolle spielte in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch der Beitrag der Wirtschaftswissenschaften, die in Gestalt der damals noch jungen Konzeption der 'Contestable markets' (Baumol, Panzar und Willig 1988) eine insbesondere von den politisch Verantwortlichen weithin akzeptierte theoretische Begründung für die Notwendigkeit und Vorteilhaftigkeit einer umfassenden Deregulierung des Marktzutritts und der Flugpreise lieferte. Die politische Durchsetzbarkeit der Deregulierung wurde überdies ganz wesentlich durch die Tatsache erleichtert, daß die Flugpreise im weit weniger regulierten innerkalifornischen und innertexanischen Verkehr für vergleichbare Routen um ein Drittel bis zur Hälfte unter den nach der CAB-Formel berechneten 'Interstate'-Tarifen lagen. Parallel zu diesen sogenannten 'Kennedy hearings' begann im übrigen der CAB selbst, den starren Regulierungsrahmen allmählich zu lockern, indem er die MindesttarifVorschriften für die 'Supplemental airlines' aufhob und erstmals seit Anfang der siebziger Jahre Newcomer auf ausgewählten 'Trunk routes' zuließ. Vor allem nach der Ernennung des Ökonomen Alfred Kahn zum CAB-Vorsitzenden am 10. Juli 1977 genehmigte der CAB überdies auch Sondertarife mit Abschlägen bis zu siebzig Prozent auf den Normaltarif - natürlich mit den heute üblichen Buchungsrestriktionen wie begrenzte Sitzplatzverfügbarkeit, Vorausbuchungsfristen und Mindestaufenthaltsdauern faktisch widerspruchslos und mit sofortiger Wirkung (Sichelschmidt 1981, 10 f.). Die positive Resonanz, auf die diese Einzelmaßnahmen beim fliegenden Publikum und in den Medien stießen, verstärkten im übrigen wiederum den Druck auf die Regierung unter dem damaligen Präsidenten Carter, die Luftverkehrsmärkte endlich auch formaljuristisch nachhaltig zu liberalisieren. Dies geschah trotz des politischen Widerstands {Kahn 1983, 137 ff.) sämtlicher Branchengewerkschaften und mit Ausnahme von United, Pan Am, der reinen Frachtfluggesellschaften sowie einiger 'Commuter carrier' aller großen Airlines ('Trunks' und 'Locals') durch den Erlaß von insgesamt drei Gesetzen, die von einer breiten, parteiübergreifenden Mehrheit in beiden Häusern des amerikanischen Parlaments
436 · Andreas Knorr kurz nacheinander verabschiedet wurden: des Air Cargo Deregulation Act 1977 (im folgenden: ACDA), des Airline Deregulation Act 1978 (ADA) und des International Air Transportation Competition Act 1979. 4. Die Deregulierungsgesetze a. Der Air Cargo Deregulation Act 1977 Der zuvor diskutierte CAB-Regulierungsrahmen galt grundsätzlich auch für den Luftfrachtverkehr - mit dem Ergebnis entsprechender Effizienzverluste auch auf diesem Teilmarkt. Von seiner Zielsetzung her stimmt der ACDA grundsätzlich mit dem ein Jahr später in Kraft getretenen und sogleich noch ausfuhrlich zu erörternden ADA überein. Allerdings beschränkte sich der ACDA auf Vorgaben zur schrittweisen Deregulierung der Marktzutritts- und Preisregulierung (O'Connor 1982, 117 ff). Die sonstigen institutionellen Rahmenbedingungen, insbesondere die Institution CAB selbst, stellte der amerikanische Gesetzgeber damals jedoch noch nicht in Frage. Dies sollte erst mit der Verabschiedung des deswegen für die künftige Entwicklung insgesamt wesentlich wichtigeren ADA geschehen. Die vollständige Deregulierung des Luftfrachtverkehrs gelang im übrigen deswegen früher, da - wie erwähnt - zum einen sämtliche Nurfrachtfluggesellschaften die Preis- und Marktzutrittsliberalisierung befürworteten. Zum anderen konzentrierten die Passagier-Airlines, die gleichwohl ebenfalls im Luftfrachtgeschäft tätig waren, indem sie auf den meisten Passagierlinienflügen ebenfalls Handelsgüter beförderten und teilweise sogar selbst einige Nurfrachter betrieben, ihre Lobbybemühungen gänzlich auf die Verhinderung der für sie wirtschaftlich wesentlich bedeutsamere(n) Deregulierung im Personenverkehr. b. Der Airline Deregulation Act 1978 Die vollständige Deregulierung des inneramerikanischen Passagierluftverkehrs sollte den Vorgaben des Ende 1978 in Kraft getretenen ADA gemäß stufenweise bis zum 1. Januar 1986 vollzogen werden. Die wichtigsten Einzelmaßnahmen, die völlige Freigabe des Marktzutritts, des Marktaustritts und der Preisbildung waren jedoch bereits zum 1. Januar 1982 beziehungsweise zum 1. Januar 1983 zu verwirklichen (Bailey und andere 1985, 35). Zu den wichtigsten Übergangsregelungen zählten im Bereich des Marktzutritts die sogenannte 'Automatic entry rule' sowie die 'Dormant route authority'. Erstere erlaubte es jeder Fluggesellschaft, pro Jahr eine neue Flugverbindung ihrer Wahl zu bedienen. Letztere berechtigte die Fluggesellschaften dazu, eine Route, die eine andere Airline trotz entsprechender Verkehrsrechte nicht oder nur mit weniger als fünf wöchentlichen Frequenzen bediente, nach einer Widerspruchsfrist von dreißig Tagen ebenfalls zu befliegen. Hinsichtlich der Tarifgestaltung sah der ADA die Einführung einer Tarifzone von plus fünf bis minus fünfzig Prozent um den laut Regulierungsformel anwendbaren Normaltarif vor. Nur Tarife außerhalb dieser Marge unterlagen fortan noch
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 437 dem Genehmigungsvorbehalt des CAB. Außerdem erweiterte der Gesetzgeber den Aktionsspielraum der 'Commuter carrier' durch die Anhebung der Kapazitätsbegrenzung von dreißig auf 55 und - in Gestalt einen diesbezüglichen CAB-Erlasses wenig später sogar auf sechzig Plätze - bis zur völligen Freigabe des Marktzutritts beträchtlich. Des weiteren begründete der ADA das sogenannte 'Essential air service'-Programm (EAS), das fur zunächst zehn Jahre die Anbindung peripherer Regionen mit geringem Verkehrsaufkommen - genauer gesagt, sämtlicher Orte, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ADA bedient worden waren, infolge der Deregulierung aber diese Dienste vollständig verloren hatten - an das nationale Luftverkehrsnetz sicherstellen sollte. Die dafür verfügbaren Subventionsmittel wurden vom Kongreß allerdings drastisch gekürzt, und als Kriterium für die Bemessung der Beihilfen wurde erstmals die tatsächlich erbrachte Verkehrsleistung angelegt. Das Programm wurde kurz vor dem Auslaufen 1988 um eine weitere Dekade verlängert. Gewisse zeitlich befristete Ausgleichszahlungen waren auch für das Airline-Personal vorgesehen, das nachweislich wegen der Deregulierung seinen Arbeitsplatz eingebüßt hatte oder das nennenswerte Lohnkürzungen hinnehmen mußte (Kandier 1983, 252). In der Praxis wurde diese Bestimmung jedoch niemals angewandt (Babbitt 1997). Zum 1. Januar 1985 wurde schließlich der CAB komplett aufgelöst. Die wenigen ihm noch verbliebenen Funktionen, namentlich in den Bereichen Fusionskontrolle und internationale Verkehrspolitik, wurden an das Verkehrsministerium, die Fusionskontrolle später auf das Justizministerium übertragen. Die ordnungspolitisch bedenkliche wettbewerbspolitische und wettbewerbsrechtliche Sonderbehandlung der Luftverkehrsmärkte fand damit nach fast einem halben Jahrhundert endgültig ihr Ende. c. Der International Air Transportation Competition Act 1979 Neben der Liberalisierung des inneramerikanischen Luftverkehrs war die Regierung Carter grundsätzlich bestrebt, ihre marktorientierte Luftverkehrspolitik, wenngleich, wie noch zu zeigen sein wird, mit gewissen Abstrichen, auch zu 'exportieren'. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellte bereits 1977 der Abschluß eines - freilich nur für die damaligen Verhältnisse - als 'liberal' anzusehenden bilateralen Luftverkehrsabkommen mit Großbritannien (das sogenannte Bermuda Ii-Abkommen) dar. Es ermöglichte beispielsweise den SkyTrain-Dienst des britischen Unternehmers Freddy Laker, der damit die auf dem Nordatlantik zuvor üblichen Tarife in der Touristenklasse anfangs um mehr als die Hälfte unterbot. Entscheidende Bedeutung kam dagegen der 'Show cause order' zu, die der CAB im Juni 1978 an die IATA richtete. Darin erklärte der CAB, daß er die traditionelle Freistellung der amerikanischen Fluggesellschaften vom US-Antitrustrecht für die Teilnahme an den IATA-Tarifkonferenzen für nicht mehr im öffentlichen Interesse der USA liegend erachtete (de Murias 1989, 179 ff ). Mit dem International Air Transport Competition Act 1979 definierte die CarterRegierung schließlich die Luftverkehrspolitik der USA für den grenzüberschreitenden Luftverkehr grundlegend neu. Oberstes Ziel ist seitdem grundsätzlich "the strengthening of the competitive position of United States air carriers to at least secure equality with
438 · Andreas Knorr foreign airlines, including the attainment of opportunities for United States air carriers to maintain and increase their profitability in foreign air transportation" (zitiert nach de Murías 1989, 166; Dempsey 1995, 95). Weiterhin verpflichtet das Gesetz jede USRegierung, auf eine marktmäßige Preisbildung auch im grenzüberschreitenden Luftverkehr hinzuwirken, sämtliche Beschränkungen des Charterverkehrs sowie eine Reihe angeführter, als antikompetitiv beziehungsweise diskriminierend erachteter Praktiken ausländischer Fluggesellschaften und Regierungen zu Lasten amerikanischer Anbieter zu beseitigen. Das Gesetz nennt in diesem Zusammenhang "operational and marketing restrictions ... excessive landing and user fees, unreasonable ground handling requirements, undue restrictions on operations, prohibitions against change of gauge and similar restrictive practices" (de Murías 1989, 166). Überdies soll einer möglichst großen Zahl amerikanischer Fluggesellschaften umfassende internationaler Verkehrsrechte erteilt werden, die Vernetzung von Inlands- und Auslandsluftverkehr vorangetrieben und in diesem Zusammenhang insbesondere die Zahl amerikanischer Städte mit Nonstop- oder Direktdiensten ins Ausland erhöht werden. Allerdings darf die Marktöffnung nur auf der Basis eines Do-ut-des erfolgen.9 Im Vergleich zu den Zielsetzungen des ADA fällt trotz aller Gemeinsamkeiten hinsichtlich der noch immer grundsätzlich liberalen Stoßrichtung neben der ökonomisch wenig überzeugenden Forderung nach unbedingter Reziprozität sofort die freilich nicht nur fur die amerikanische Außenwirtschaftspolitik typische ungleich stärkere Gewichtung der Interessen der (amerikanischen) Anbieter im Vergleich zu den Interessen der (amerikanischen) Nachfrager negativ auf. 5. Wettbewerbspolitisch relevante Lücken des Deregulierungsprogramms Wie die vorstehenden Ausführungen erkennen lassen, erstreckte sich der Kurswechsel der amerikanischen Luftverkehrspolitik ausschließlich auf die Beseitigung der staatlichen Regulierung des Marktzu- und -austritts und der Preisbildung. Dem staatlichen Aufgabenbereich nicht entzogen wurden demgegenüber die Überwachung der Flugsicherheit sowie die Flugsicherung. Für beide Bereiche ist unverändert die staatliche Behörde FAA zuständig; auf eine - wie das Beispiel Deutschlands eindrucksvoll belegt beträchtlich effizienzsteigernde Privatisierung der Air Traffic Control wurde mithin verzichtet. Nur auf den ersten Blick marktmäßig ausgestaltet wurde (später) auch der Zugang zu Zeitnischen ('Slots') an überlasteten Flughäfen mit der Einführung der sogenannten 'Buy-sell-rule' im April 1986. Den damaligen 'Slot'-Inhabern - ganz überwiegend also den bereits vor der Deregulierung gegründeten Airlines - wurden dabei einmalig fünf Prozent der von ihnen gehaltenen Zeitnischen entzogen und an Newcomer vergeben. Sämtliche 'Slots' mit Ausnahme der Zeitnischen, die für internationale Flüge sowie für Flüge im Rahmen des EAS-Programms genutzt werden, können seitdem 9
Wörtlich heißt es im Gesetz: "[0]pportunities of carriers of foreign countries to increase their access to United States points" sind grundsätzlich nur zu gewähren "if exchanged for benefits of similar magnitude for United States carriers or the traveling public, with permanent linkage of rights granted and rights given away".
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jederzeit veräußert werden, wobei die Erlöse voll ihren ehemaligen Inhabern zufließen. Die dominierende Marktstellung der zu jenem Zeitpunkt bereits etablierten Anbieter wurde durch diese besitzstandwahrende Großvaterregelung freilich faktisch zementiert. Insbesondere gilt die für die vier, wegen chronischen 'Slot'-Mangels zu praktisch sämtlichen Verkehrszeiten seit 1968 von der FAA offiziell als überlastet eingestuften und sehr aufkommensstarken Flughäfen Chicago O'Hare, Washington National, New York Kennedy und New York LaGuardia. Dort entfiel und und entfällt ein Großteil aller Flugbewegungen auf Fluggesellschaften United, American, Delta und US Airways, und zwar mit noch immer steigender Tendenz. Exklusive (sprich juristisch sichere) Eigentumsrechte der Airlines an den 'Slots' begründete die 'Buy-sell-rule' jedoch nicht. Vielmehr behält sich das Verkehrsministerium das Recht vor, jeden beliebigen 'Slot' jederzeit ohne Kompensation wieder einzuziehen und neu vergeben zu dürfen (Langner 1995, 151 ff). Das DOT machte von dieser Möglichkeit bis dato jedoch keinen Gebrauch. Zudem hatte das DOT die vom Kongreß bereits 1994 angeordnete Vergabe freier 'Slots' auf den besagten Flughäfen an Billiganbieter - "when DOT finds it to be in the public interest and the circumstances to be exceptional" (U.S. General Accounting Office 1997c, 7 f.) stets abgelehnt, wenn einer der etablierten Fluggesellschaften die fragliche Strecke bereits bediente (Beispiele U.S. General Accounting Office 1997c, 7 f). Erst Ende 1997, nach weiterem politischen Druck, wies das Verkehrsministerium den fünf "Low cost carriers' Frontier, Reno Air, Trans States und den inzwischen fusionierten Air Tran und ValuJet erstmals einige freie 'Slots' in O'Hare und LaGuardia für die Aufnahme einiger (weniger) Konkurrenzdienste zu den Flügen der Etablierten zu (Lopez 1997). Die Deregulierung ließ schließlich auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Bereitstellung der bodenseitigen Infrastruktur - also der Flughäfen im allgemeinen und der Abfertigungsanlagen im besonderen - unberührt. So sind alle im Linienverkehr angeflogenen Flughäfen in den USA im Besitz der öffentlichen Hand (zu den Einzelheiten U.S. General Accounting Office 1997a). Damit unterliegen zum einen die Landegebühren der Regulierung durch die FAA. Sie müssen so bemessen sein, daß die Einnahmen daraus nur die historischen Herstellungs- und Anschaffüngskosten des Flugfeldes abdecken. Die Erhebung zeitlich differenzierter Landegebühren und damit von Knappheitspreisen zur Internalisierung von Staukosten ist den Flughafenbetreibern also gesetzlich grundsätzlich untersagt. Zum anderen beteiligen sich traditionell an vielen Flughäfen die dort ansässigen Airlines maßgeblich an den Investitionskosten für die Abfertigungsgebäude.10 Als Gegenleistung erhalten sie langfristige exklusive
10 Die vier Finanzierungsquellen amerikanischer Flughäfen sind Bundesmittel aus dem Airport and Airway Trust Fund, die Ausgabe steuerbefreiter Anleihen, die auf den Ticketpreis lokal aufgeschlagene Passagierabfertigungsgebühr (die 'Passenger facility charge') sowie Einnahmen, die direkt oder indirekt mit dem Flugbetrieb in Beziehimg stehen. Dazu zählen zum einen sämtliche Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung fur Geschäfte und gastronomische Einrichtungen und zum anderen die von den Airlines zu entrichtenden Gebühren für die Inanspruchnahme der Abfertigungseinrichtungen und die Landegebühren. Eine Privatisierung würde im übrigen nach der aktuellen Rechtslage dazu führen, daß die dann privaten
440 • Andreas Knorr Nutzungsverträge (üblicherweise mit einer Laufzeit von mindestens zwanzig Jahren) für die mit Hilfe ihrer Zuwendungen errichteten bodenseitigen Infrastruktur (Gates, Checkin-Schalter etc.). Das wachsende Eigeninteresse der Flughafenbetreiber an maximalen Einnahmen aus dem Flugbetrieb durch die möglichst intensive Nutzung der Flughafeneinrichtungen, die wiederum eine Zahl von Flugbewegungen nahe der Kapazitätsgrenze voraussetzt, leitete in der jüngeren Vergangenheit jedoch zwei, wie noch zu zeigen sein wird auch wettbewerbspolitisch begrüßenswerte Entwicklungen ein: die Tendenz zu kürzeren Laufzeiten bei exklusiven Nutzungsverträgen sowie Kapazitätserweiterungen bei den ungebundenen - also den von der Flughafenbetreibergesellschaft autonom vergebenen und damit frei zugänglichen Abfertigungseinrichtungen. Damit soll dem unter diesen Rahmenbedingungen nicht unwahrscheinlichen strategischen Horten von 'Gates' mit dem Ziel, den Marktzutritt konkurrierender Anbieter zu verhindern oder durch sehr hohe Preise für die Weitervermietung ('Subleasing') eine Variante des 'Raising rivals' costs' zu betreiben, entgegengewirkt werden.
IV. Erfolge und Mißerfolge der Deregulierung 1. Der inneramerikanische Passagierverkehr Die Frage, ob die Deregulierung des inneramerikanischen Passagierluftverkehrs die von ihren Befürwortern erwarteten positiven Ergebnisse mit sich brachte, wurde von Anfang an äußerst kontrovers diskutiert. Wenig überraschend ist von daher auch, daß einzelne Medienvertreter, Politiker und Wissenschaftler seit 1978 in regelmäßigen Zeitabständen, aber mit unterschiedlichen und vor allem mit zum Teil sachlich widersprüchlichen Argumenten eine Re-Regulierung insbesondere des Marktzutritts sowie der Flugpreise anmahnten. Insbesondere die Mitte der achtziger und erneut Anfang der neunziger Jahre anhaltend hohen Branchenverluste, die nach dem Ausscheiden einiger klangvoller Namen sowie fusionsbedingt den Branchenkonzentrationsgrad nachhaltig erhöhten, galten vielen Deregulierungsgegnern als empirischer Beleg für Marktversagen in Gestalt 'ruinöser' Konkurrenz, obschon sie nicht zuletzt auf eine Reihe schwerer exogener Schocks (Golfkrieg!) zurückzuführen waren. Ohne das Wiederaufleben staatlicher Eingriffe, so gleichwohl ihre These, drohe zwangsläufig der völlige Zusammenbruch des nationalen Luftverkehrsnetzes, zumindest aber ein unreguliertes enges Oligopol respektive Kollektivmonopol deijenigen Carrier mit dem längsten 'finanziellem Atem'. Abgesehen davon galt in diesen Kreisen nahezu jeder Absturz, dessen Ursachen nicht sofort ermittelt werden konnten, als Beweis für die deregulierungsbedingte Gefährdung der Flugsicherheit und damit letztlich ebenfalls als Beleg für einen 'ruinösen' Wettbewerb (Knorr 1997a). Flughafenbetreiber die ersten drei Einnahmequellen nicht mehr in Anspruch nehmen könnten. Darüber hinaus wäre es ihnen regulierungsbedingt untersagt, den Kaufpreis auf die Landegebühren umzulegen.
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 441 Während die Diskussion besagter Argumente, abgesehen von einigen wenigen Anhörungen in den Ausschüssen des Kongresses, lange Zeit auf die Medien und die Wissenschaft beschränkt blieb, berief der Kongreß 1993 zur Untersuchung der Auswirkungen der Deregulierung eine Untersuchungskommission, die sogenannte "National Commission to Ensure a Strong and Competitive Airline Industry", ein. Sie bestand aus Abgeordneten, Wissenschaftlern, Arbeitnehmervertretern, dem Vorstandsvorsitzenden des Billiganbieters Southwest Airlines - ironischerweise die einzige seit Beginn der Deregulierung und darübert hinaus bereits seit ihrem dritten Geschäftsjahr 1973 ununterbrochen (hoch)profitable große US-Airline überhaupt - sowie einem Vertreter des nicht minder erfolgreichen Kurierdienstes Federal Express (Kahn 1993). Dieses Gremium empfahl neben der nur positiv zu beurteilenden Forderung nach einer verstärkten Marktöffhung im grenzüberschreitenden Luftverkehr sowie diverse Steuervergünstigungen und Steuerbefreiungen zur Entlastung der finanziell geschwächten Fluggesellschaften insbesondere eine kontinuierliche Überwachung der wirtschaftlichen Lage ("financial fitness") der Fluggesellschaften durch ein neuzugründendes und von der Regierung weisungsunabhängiges 'Financial advisory committee'. Für den Fall, daß eine Fluggesellschaft wiederholt deren Empfehlungen ignorieren sollte, empfahlen einige Mitglieder des Gremiums als letzte Sanktion den Entzug der Betriebserlaubnis durch das Verkehrsministerium. Außerdem sollte das DOT fur einen besseren Zugang von 'Low cost carriers' zu den 'Hubs' sorgen. Die wenigsten Empfehlungen der Kommission wurden jedoch realisiert, da das Argument der 'ruinösen' Konkurrenz mit der 1994 einsetzenden wirtschaftlichen Erholung - die vier Geschäftsjahre 1994 bis 1997 waren die bislang besten in der Geschichte der Branche zunehmend an Überzeugungskraft verlor. Angemahnt werden seit neuestem statt dessen staatliche Regulierungseingriffe zum Schutz des Wettbewerbs. So habe sich der Branchenkonzentrationsgrad seit 1978 deutlich erhöht: Lag der Marktanteil der vier größten Anbieter 1978 noch bei 57,7 Prozent erreiche er jetzt bereits 69,5 Prozent; der Marktanteil der acht größten Anbieter sei sogar von 80,4 Prozent auf 96,9 Prozent angestiegen (Krahn 1994, 57). Überdies sei der Wettbewerb, so das Argument weiter, in den vom Verkehrsaufkommen her wichtigsten Teilmärkten - den Knotenflughäfen der großen etablierten Airlines - inzwischen nahezu völlig zum Erliegen gekommen. Die dort erzielten Monopolgewinne (Borenstein 1990, 1992) und die inzwischen wieder hohen finanziellen Reserven der vier größten Anbieter United, Delta, Northwest und American erlaubten diesen Unternehmen nunmehr, kleinere Billigfluggesellschaften durch mißbräuchliche Praktiken (wie gezielte Kampfpreisunterunterbietung) vom Markt zu verdrängen. Dies dient dazu, nach deren Ausscheiden den Markt zu Lasten der Nachfrager untereinander aufzuteilen und die Flugpreise, die 1997 zumindest für Vollzahler im Mittel um sechzehn Prozent anstiegen (Tomkins 1998), noch weiter anheben zu können.
442 · Andreas Knorr a. Die bisherigen Deregulierungsergebnisse bei globaler Betrachtung Bei globaler Betrachtung der Entwicklung ist die Deregulierung zweifelsohne als sehr erfolgreich anzusehen: - Trotz einer Konkursrate von siebzig bis achtzig Prozent bei den Newcomern (ohne Verfasser 1997b, 3) erhöhte sich die Zahl der im Linienverkehr tätigen Anbieter absolut von 43 im Jahr 1978 auf 76 Ende 1993. Entsprechend nahm auch die durchschnittliche Anzahl der auf einem Teilmarkt aktiven Fluggesellschaften trotz des unbestreitbar gestiegenen Branchenkonzentrationsgrads von 1,7 auf 2,2 zu (Morrison und Winston 1995, 8, 10). - Weit über neunzig Prozent der Passagiere, und damit auch ein Großteil der Geschäftsreisenden, reisen heute zu real niedrigeren Tarifen (meist ermäßigte Sondertarife, die gewissen Buchungsbeschränkungen unterliegen); sie liegen im Mittel bei dreißig Prozent des anwendbaren Vollzahlertarifs (Dempsey 1995, 31); vor 1978 erreichte der Anteil der Sondertarifnutzer nur etwa zwanzig Prozent; die Nachlässe lagen damals - außer für Kinder und Angehörige der Streitkräfte - selten über einem Drittel (Pickreil 1991, 30). Die mittels der früher angewandten SIFL-Formel errechenbaren Ersparnisse fur die Nachfrager werden derzeit übereinstimmend auf etwa 12,4 Mrd. US-Dollar pro Jahr beziffert (fur viele Morrison und Winston 1995, 13 f.). - Die Sitzladefaktoren des eingesetzten Fluggeräts haben sich im Durchschnitt von knapp über fünfzig Prozent 1978 kontinuierlich erhöht (Air Transport Association 1995); derzeit wird angesichts der anhaltend starken Nachfrage eine mittlere Kapazitätsauslastung von 71 Prozent erreicht (ohne Verfasser 1998). - Die Deregulierung zwang die Fluggesellschaften außerdem zur Optimierung ihrer Flugnetze. Vielfach übernahmen deshalb Regionalfluggesellschaften mit kleinem Fluggerät die Bedienung aufkommensschwacher Relationen, die mit den Jets der etablierten Carrier schon zu Zeiten der Regulierung nicht wirtschaftlich zu betreiben gewesen waren (Meyer und Oster 1987, 41 ff). Insgesamt befördern die Regionalfluggesellschaften heute fast 62 Millionen Passagiere pro Jahr und damit knapp über elf Prozent des gesamten Fluggastaufkommens; 1978 waren es mit zwölf Millionen regulierungsbedingt nur etwa vier Prozent gewesen (Young 1987; Regional Airlines Association, 1997). Dadurch und durch die enge Kooperation der meisten dieser Anbieter mit jeweils einer der großen Fluggesellschaften - die inzwischen teilweise auch Mehrheitsbeteiligungen an diesen 'Commuters' halten (Meyer und Strong 1992, 16; Regional Airlines Association 1997) - verbesserte sich in der Regel auch die Anbindung peripherer Regionen an das nationale Luftverkehrsnetz beträchtlich. Hinzu kam, daß sich die etablierten Fluggesellschaften überwiegend zum Aufbau beziehungsweise Ausbau von 'Hub-and-spoke-networks' entschlossen. Die damit einhergehende Bündelung der Verkehrsströme über einige wenige Zentralflughäfen ('Hubs'), die einen entsprechend hohen Anteil von Umsteigern aufweisen, bietet aus Sicht der Airlines vor allem einen Vorteil: mit der gleichen Anzahl von Flugzeugen können sie eine weit größere Zahl von Städteverbindungen wirtschaftlich bedienen, als es mangels eines hinreichenden Quelle-Ziel-Aufkommens
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über lineare Punkt-zu-Punkt-Verbindungen ohne den Umweg über den Knoten möglich wäre. Für die Passagiere, die ihre Reise weder am Hub beginnen noch dort beenden, bedeutet der Umweg über einen 'Hub' zwar einen Zeitverlust im Vergleich zu einem Nonstopflug, dem aber nicht nur Qualitätsgewinne durch höhere Frequenzen gegenüberstehen. Nicht übersehen werden sollte in diesem Zusammenhang nämlich, daß auch vor 1978 nur die allerwenigsten Städtepaare wegen des meist viel zu geringen Verkehrsaufkommens durch Nonstop- oder auch nur Direktflüge (Flüge mit Zwischenstopps ohne Flugzeugwechsel) miteinander verbunden gewesen waren. Umsteigeverbindungen waren somit bereits vor der Deregulierung der Normalfall gewesen, wie der Umsteigeranteil von 28 Prozent 1978 im Vergleich mit einem Wert von 32 Prozent 1993 beweist. Lediglich um durchschnittlich ein Prozent nahm seit der Deregulierung außerdem die insgesamt von den Passagieren zurückzulegende Entfernung zu, so daß deren Einfluß auf die Gesamtreisezeit unter Berücksichtigung der höheren Frequenzen letztlich meist sogar positiv gewesen sein dürfte (Morrison und Winston 1995, 22 f.). Für die in unmittelbarer Nähe des Hubs residierenden Passagiere bedeutet dessen Existenz im übrigen eine außerordentlich hohe Zahl von Nonstopverbindungen in alle Winkel des im Normalfall landesweiten Streckennetzes des ortsansässigen Carriers.11 - Der mit dem Marktzutritt zahlreicher 'Low cost carrier' unmittelbar nach 1978 einhergehende Kostendruck hatte naturgemäß auch Konsequenzen fur die Beschäftigten der etablierten Fluggesellschaften und deren Entlohnung - und dies sowohl hinsichtlich des Lohnniveaus als auch der Lohnstruktur. Eine weit verbreitete Reaktion der Etablierten war neben allgemeinen Lohnkürzungen teils im Tausch gegen Unternehmensanteile oder andere Formen der Erfolgsbeteiligung sowie einer stärker leistungsbezogenen Entlohnung die Einfuhrung eines sogenannten 'Two-tier wage system', also geringere Einstiegslöhne für neu rekrutiertes Personal. Für einen weiteren Beschäftigungsrückgang in der Gruppe der Etablierten sorgten schließlich zahlreiche Unternehmenszusammenschlüsse sowie mehrere Konkurse (Braniff, Pan Am, Eastern). Der Marktzutritt zahlreicher Newcomer sowie das durch die deregulierungsbedingt sinkenden Tarife ebenfalls induzierte kräftige Verkehrswachstum resultierten jedoch bis heute in einer deutlichen absoluten Zunahme der 11 Weitere Vorteile des 'Hubbing' sind für die Airline die mögliche Zentralisierung der Wartung, eine effizientere, weil flexiblere Einteilung der Besatzungen sowie ein naturgemäß sehr hoher Marktanteil am Standort des Hubs. Nachteile durch Mehrkosten können dagegen die weit größere Verspätungsanfälligkeit vor allem bei schlechtem Wetter sowie die wegen der erforderlichen Abstimmung der Anschlüsse wesentlich längeren Blockzeiten am Boden mit der Folge einer geringeren durchschnittlichen Nutzungsdauer des Fluggeräts pro Tag verursachen. Hinzu kommt schließlich noch die höhere Wahrscheinlichkeit von Fehlleitungen und Verlusten von Passagiergepäck und Fracht. Wegen der stets nur begrenzten Aufnahmekapazitäten der bodenseitigen Infrastruktur (Abfertigungseinrichtungen, Stellplätze, Start-, Lande- und Rollbahnensystem) ist ab einem bestimmten Schwellenwert eine Angebotsausweitung nur mehr durch den Einsatz eines größeren Fluggeräts möglich, dessen dauerhaft kostendeckende Auslastung angesichts der bekannt zyklischen Nachfrage jedoch in der Praxis nicht sicherzustellen ist. Außerdem sinkt die tägliche Nutzungsdauer des Fluggeräts beim 'Hubbing' im Vergleich zu linearen Routenstrukturen wegen der dabei aus organisatorischen Gründen (Warten auf Anschlußpassagiere und -fracht!) stets längeren Bodenzeiten.
444 · Andreas Knorr Beschäftigtenzahlen in der Branche (1978: 310.000; 1995: 550.000; Air Transport Association 1995). Wohlgemerkt war dieser Anstieg jedoch von einer Normalisierung der Bezügeniveaus begleitet (und durch diese mit verursacht), also der Angleichung der Gehälter und Tinge benefits' an den niedrigeren Standard unregulierter Branchen; lediglich die früher auch den Beschäftigten zufließenden Monopolrenten wurden also deutlich abgebaut (Beyen und Herbert 1991, 50 ff). - Eine Reihe, wie weiter oben bereits diskutiert wettbewerbspolitisch unter Umständen ambivalenter Innovationen brachte die Deregulierung schließlich im Vertriebsbereich mit sich: die Einführung computergestützter Reservierungssysteme (CRS), von Vielfliegerprogrammen zur Erhöhung der Kundenbindung sowie die stärkere Differenzierung der Provisionen an Mittler wie Reisebüros (Knorr 1998a). - Anders als prognostiziert - und kontrafaktisch vielfach noch immer behauptet - verschlechterte sich seit der Deregulierung auch nicht der Sicherheitsstandard im inneramerikanischen Luftverkehr (Knorr 1997a). Im Gegenteil setzte sich der seit dem Zweiten Weltkrieg zu beobachtende und statistisch einwandfrei belegte Trend kontinuierlich sinkender Unfallrisiken nahtlos fort. Zudem konnten die US-Airlines als Gruppe ihren leichten Vorsprung vor dem vergleichsweise weit weniger deregulierten "Rest der Welt' behaupten; die Trendverläufe bilden ansonsten eine fast perfekte Parallele {Boeing Commercial Airplane Group 1996, 10). Das beträchtliche Passagierwachstum (1978: 250 Mio. Passagiere; 1996: 580 Mio.) und vor allem die mit dem Marktzutritt von Newcomern sowie der Einrichtung von 'Hubs' einhergehende starke Zunahme der Flugbewegungen brachte allerdings zumindest temporär - und in einigen besonders aufkommensstarken Regionen bis heute volkswirtschaftliche Kosten, vor allem in Form von Stauexternalitäten (Verspätungen) sowie von Mehremissionen von Luftschadstoffen durch Warteschleifen mit sich. Nicht übersehen werden sollte in diesem Zusammenhang jedoch, daß diese Folgekosten vornehmlich als die Folge von Staatsversagen im Infrastrukturbereich anzusehen sind. So entließ Präsident Reagan 1981 nach einem als illegal eingestuften Streik elf- der insgesamt siebzehntausend Fluglotsen (abgesehen davon erreichte die Zahl der Verspätungen im europäischen Luftraum im übrigen seit jeher - also schon vor der EU-Liberalisierung das US-Niveau und überstieg es sogar nicht selten). Darüber hinaus wurden staatliche Mittel, die über eine eigentlich zweckgebundene Abgabe auf jeden Flugschein für den Ausbau und die Modernisierung der Flugsicherungs- und Flughafeninfrastruktur bis heute erhoben werden, bislang nicht vollständig abgerufen beziehungsweise überwiegend weder bestimmungsgemäß noch effizient verwendet (Schiavo 1997, 122 ff). b. Die bisherigen Deregulierungsergebnisse bei differenzierter Betrachtung aa. Die Entwicklung der Anbieterkonzentration seit 1978 Das im Augenblick zentrale Argument der Befürworter einer Re-Regulierung ist, wie bereits erwähnt, der ihrer Auffassung nach abnehmende Konkurrenzdruck zwischen den Fluggesellschaften. Die Folge seien rasch steigende Preise. In der Tat trifft die
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 445 Beobachtung überdurchschnittlich teurer Passagen für Reisen von oder nach hochkonzentrierten Flughäfen in einigen Fällen zu. So liegen die Flugpreise von und nach Charlotte, einem Hub' der US Airways, um 88 Prozent, von und nach Cincinnati (ein Delta-Hub') um 84 Prozent, von und nach Pittsburgh (ein weiterer US Airways-'Hub') um 72 Prozent, von und nach Minneapolis (ein Northwest-'Hub') um 45 Prozent sowie von und nach Detroit (ebenfalls ein Northwest-'Hub') um 27 Prozent über den mittleren Flugpreisen für Verbindungen von oder nach weniger stark konzentrierten Flughäfen, die vom Passagieraufkommen und der Entfernung vergleichbar sind und mit identischem Fluggerät bedient werden (U.S. General Accounting Office 1997c, 20 ff.). Um durchschnittlich 25 bis 45 Prozent höhere Tarife lassen sich daneben noch an einigen weiteren Knotenflughäfen wie zum Beispiel Washington National und New York LaGuardia (mit den beidesmal dominierenden Anbietern US Airways, Delta und American), Newark (Continental), Chicago O'Hare (American und United) sowie Atlanta (Delta) beobachten {Rosato 1988). Bezieht man jedoch die übrigen großen amerikanischen Verkehrsflughäfen und damit auch alle in der vorstehenden Auflistung nicht enthaltenen 'Hubs' in die Betrachtung ein, läßt sich die - markttheoretisch ohnehin völlig unbegründbare weil unzulässig monokausale und vor allem deterministische - unterstellte positive Korrelation zwischen dem Konzentrationsgrad und dem Tarifniveau fur die USA nicht plausibel nachweisen. So liegt das Tarifniveau etwa an den ebenfalls hochkonzentrierten Flughäfen Phoenix (America West und Southwest), Houston Hobby (Southwest) sowie Dallas Love Field (Southwest) signifikant unter dem nationalen Durchschnitt. Bei dynamischer Betrachtung fällt zudem auf, daß die Zahl der Flughäfen mit überdurchschnittlich hohem Tarifniveau im Zeitablauf seit Ende der achtziger Jahre absolut abgenommen hat (die Daten dazu bei Borenstein 1990 und 1992 sowie bei DOT 1996). Abgesehen von ihrer augenscheinlich geringen empirischen Relevanz und dem bereits angeführten markttheoretischen Grundsatzeinwand ist die Beurteilung der Wettbewerbsverhältnisse im inneramerikanischen Luftverkehr und ihrer Veränderung im Zeitablauf auf der Basis von Branchen- und/oder Flughafenkonzentrationsgraden auch aus den folgenden Gründen höchst problematisch: - Vergleicht man zunächst die Zusammensetzung der Gruppe der 1978 vier beziehungsweise acht größten Fluggesellschaften mit der Situation im Jahr 1996, offenbaren sich ganz erhebliche Veränderungen und Strukturverschiebungen. Lautete die Reihenfolge 1978 noch United vor American, Delta, Eastern, TWA, Western, Continental und Braniff, ergab sich 1996 folgendes Bild: United vor American, Delta, Northwest, US Airways, Continental, TWA und Southwest. Wettbewerbspolitisch von besonderer Bedeutung ist dabei der Einzug der Billigfluggesellschaft Southwest in die Gruppe der großen Acht. 1971 hatte diese Airline als texanischer 'Intrastate carrier' mit nur vier Boeing 737 den Flugbetrieb zwischen den drei Städten Dallas, Houston und San Antonio aufgenommen; heute betreibt sie eine Β 737-Flotte mit über 225 Einheiten und bedient 48 Städte. Größere Lücken im Streckennetz dieser Gesellschaft bestehen noch im oberen Mittleren Westen (Minneapolis, ein Northwest'Hub') sowie im bevölkerungsreichen und aufkommensstarken Nordosten der USA.
446 · Andreas Knorr Empirisch läßt sich nun nachweisen, daß der Marktzutritt von Southwest stets einen Rückgang der Tarife in dem fraglichen City-pair zwischen dreißig und fünfzig Prozent und ein Nachfragewachstum von siebzig bis teils deutlich über einhundert Prozent auslöste. - Noch deutlicher wird der wettbewerbsbelebende Effekt von Southwest, wenn man die Rangfolge der Top acht anhand der Zahl der beförderten Passagiere abbildet, anstatt die Marktanteile, wie zuvor geschehen, an der teilweise irreführenden Bezugsgröße 'verkaufte Passagierkilometer' festzumachen. Dieser Indikator berücksichtigt nämlich nicht die spezialisierungsbedingten Unterschiede bei den durchschnittlichen Streckenlängen; außerdem hängt dessen Wert maßgeblich vom Durchschnittserlös einer Airline und damit von deren Tarifniveau ab. Mit 55,7 Mio. zahlenden Passagieren 1996 - im ersten Betriebsjahr 1971 waren es gerade einmal 108.000 gewesen - ist Southwest inzwischen die fünftgrößte amerikanische Fluggesellschaft und zugleich der fünftgrößte Carrier der Welt (Air Transport Association, 1997); der momentan zweitgrößte Low 'cost carrier' America West nimmt mit 18 Mio. Passagieren die neunte Position in den USA ein. Insgesamt befördern die 'Low cost carrier' - einschließlich der als Reaktion auf ihren Erfolg von einigen der Etablierten gegründeten eigenen Billigtöchter wie Shuttle by United, Delta Express und MetroJet (US Airways) derzeit etwa jeden siebten Passagier im inneramerikanischen Luftverkehr, und nahezu vierzig Prozent des gesamten Pasasagieraufkommens entfällt auf City-pairs, auf denen zumindest einer der 'Low cost carrier, freilich mit im Einzelfall durchaus deutlichen Kapazitäts- und Frequenzunterschieden, aktiv ist. Bislang nur schwach beziehungsweise noch gar nicht vertreten sind die 'Discount airlines'jedoch auf Nonstop-Verbindungen im Entfernungsbereich über 1.500 und vor allem über zweitausend Meilen, insbesondere also auf den transkontinentalen Routen zwischen der Ostküste, dem oberen Mittleren Westen und dem Südosten einerseits und der Westküste andererseits; Umsteigeverbindungen und Direktflüge mit mehreren Zwischenstopps werden jedoch angeboten (DOT 1996, 6 ff.).12 - Auch die Tatsache, daß Southwest, America West und die übrigen wesentlich kleineren 'Discount airlines' einen nicht geringen Teil ihrer Strecken als Monopolisten mit trotzdem weit unterdurchschnittlichen Tarifen bedienen (nachdem sie häufig einen der höherpreisigen etablierten Carrier aus diesen Märkten verdrängen konnten) belegt im übrigen die außerordentlich geringe Aussagekraft des Konzentrationsgrads als (alleinigem) Indikator für die Wettbewerbsverhältnisse auf einem Teilmarkt. - Die Verengung der Analyse auf den Konzentrationsgrad der aktuellen Anbieter läßt zudem die durch potentielle intramodale Konkurrenz und vor allem durch den gerade im Kurzstreckenbereich auf einigen wichtigen Märkten sehr intensiven intermodalen Substitutionswettbewerb durch alternative Verkehrsträger oder inzwischen auch durch technologische Neuerungen - Videokonferenzen statt Dienstreisen - außer Acht. Hinzu kommt die zumindest fur Nichtgeschäftsreisende, die das Gros der 12 Notabene: Ebenso wie zahlreiche Neugründungen unter den Billiganbietern wieder ausscheiden mußten (so PeopleExpress oder Western Pacific) waren nicht alle der Billigtöchter der Etablierten erfolgreich. Beispielsweise mußte Continental ihren Ableger CaLite wegen anhaltender schwerer Verluste wieder einstellen. Auch Delta Express hat bislang die Gewinnzone nicht erreicht.
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 447 Passagiere stellen, typischerweise sehr hohe Preiselastizität der Nachfrage, die den Preissetzungsspielraum der Anbieter wegen der in diesem Segment wichtigen Verzichtsoption nach oben beschränkt. - Im übrigen vernachläßigt der Blick auf den Konzentrationsgrad an einem spezifischen Flughafen die in den USA gar nicht so seltene Möglichkeit, daß in derselben Stadt oder "Metropolitan area' ein weiterer Verkehrsflughafen existiert. Diese Situation ist etwa in New York, Chicago, Dallas, Houston sowie in den Großräumen Los Angeles und San Francisco (inklusive der Städte Oakland und San José) gegeben. Sofern 'Low cost carrier' die Möglichkeit zum Marktzutritt auf einem dieser sogenannten 'Secondary airport' haben, belebt dies, wie die Erfahrung etwa in Chicago gezeigt hat, den Wettbewerb ebenfalls nachhaltig. - Seit Ende der achtziger Jahre wieder zurückgegangen ist überdies auch die absolute Zahl der 'Hubs', da sich einige dieser Knotenflughäfen wie zum Beispiel Nashville und Raleigh-Durham (beide American), betriebswirtschaftlich als anhaltend unrentabel erwiesen und deshalb wieder aufgelöst wurden. Nicht übersehen werden sollte in dem hier interessierenden Zusammenhang nämlich, daß der Betrieb eines 'Hub' stets mit hohen Fixkosten verbunden ist, vor allem wegen der aufgrund der hohen Verkehrsdichte sehr langen Blockzeiten am Boden im Vergleich zu linearen Verbindungen mit der Folge einer weit geringeren täglichen Nutzungsdauer des Fluggeräts. Zugleich besteht auf vielen längeren Verbindungen eine starke Konkurrenz alternativer Drehkreuze um Umsteigepassagiere - mit entsprechend niedrigen Tarifen fur Reisende, die nicht in der Quellregion des 'Hub' ansässig sind. Je höher der Anteil dieser Umsteiger und je bestreitbarer zudem das Quellaufkommen am 'Hub' aber ist, desto instabiler sind auch die an einem solchen Knotenflughafen erzielbaren Übergewinne. - Nicht völlig ausschließen läßt sich schließlich, daß das an einigen 'Hubs' noch immer unbestritten höhere Tarifniveau nicht zwangsläufig auf die mißbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung zurückgehen muß (Kleit 1991, 70). Erklärbar wäre es zumindest teilweise auch mit einer von den ortsansässigen Nachfragern solchermaßen honorierten überdurchschnittlichen Angebotsqualität, zum Beispiel also mit sehr vielen Nonstopverbindungen zu sehr vielen Zielen im ganzen Land mit noch dazu sehr hohen Frequenzen oder mit dem Einsatz besonders moderner oder komfortabler Flugzeuge, einem überdurchschnittlichen Bord- und Bodenservice und Transaktionskostenersparnissen infolge geringerer Suchkosten bei der Buchung. Um plausibel zu sein, setzt diese Hypothese freilich voraus, daß preisgünstigeren Anbietern der Marktzutritt an diesen Flughäfen möglich ist und die ortsansässigen Passagiere somit ihre Präferenz für die Merkmalskombination hohe Flugpreise/hohe Produktqualität somit in der Tat explizit im unverfälschten Wettbewerb in freier Wahl zu kostengünstigeren Alternativen offenbart haben. Ein mittel- bis langfristig nicht unerhebliches wettbewerbsbeschränkendes Potential bergen allerdings die drei im Sommer 1998 beim Verkehrsministerium beantragten und derzeit noch geprüften strategischen Allianzen zwischen Northwest und Continental, Delta und United sowie American und US Airways in sich (U.S. General Accounting
448 · Andreas Knorr Office 1998). Würden sie ohne Auflagen genehmigt, nähme die Zahl der unabhängig voneinander agierenden Anbieter auf 1.836 der fünftausend aufkommensstärksten inneramerikanischen Routen ab, während eine Erhöhung der Anbieterzahl auf nur 338 anderen Strecken zu verzeichnen wäre. Vor allem würde aber der bei Umsteigeverbindungen bislang sehr intensive 'Hub'-Wettbewerb mutmaßlich deutlich eingeschränkt (U.S. General Accounting Office 1998, 2 ff). bb. Ursachen der regional unterschiedlichen Wettbewerbsintensität Betrachtet man weiter, an welchen Flughäfen derzeit noch ein überdurchschnittlich hohes Tarifniveau herrscht - Cincinnati, Minneapolis, Philadelphia, Washington National, Boston, Atlanta, Charlotte, Detroit, New York LaGuardia und Newark (U.S. General Accounting Office 1997c, 33; DOT 1996, Anhang fünf; Goetz und Sutton 1997, 252 ff.) -, fallt eine Gemeinsamkeit dieser Flughäfen auf: Mit Ausnahme von Dallas und bis zu der von der FAA angeordneten temporären Schließung von ValuJet auch von Atlanta war der Marktanteil der 'Low cost carrier' trotz des hohen Passagieraufkommens - auf die genannten Flughäfen entfallt fast ein Viertel der gesamten Passagiere im inneramerikanischen Luftverkehr (U.S. General Accounting Office 1997c, 12) - außergewöhnlich gering; insbesondere war Southwest als die mit Abstand größte und wirtschaftlich stärkste 'Discount airline' in keinem dieser Märkte präsent. Angesichts dieses relativ einheitlichen Musters stellt sich damit die Frage nach der Existenz signifikanter Markteintrittsbarrieren an eben jenen Flughäfen oder wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen der dort ansässigen (etablierten) Carrier. Wie die folgenden Fakten belegen, muß sie grundsätzlich mit Ja beantwortet werden: - Der Faktor 'Slot'-Knappheit spielt momentan an den Flughäfen New York LaGuardia, Chicago O'Hare und Washington National eine wichtige Rolle als Eintrittsbarriere. Sowohl in Chicago als auch in Washington wird die Virulenz des Problems aber durch die Existenz alternativer 'Secondary airports' mit ausreichend verfugbaren 'Slots' gemildert (in Chicago durch den stadtnahen Midway-Flughafen, in Washington durch den allerdings stadtfernen Dulles-Flughafen und den Flughafen der Nachbarstadt Baltimore, den Southwest im übrigen vor einigen Monaten ebenso neu in ihr Streckennetz aufnahm wie den nahe Boston gelegenen Flughafen der Stadt Providence; die künftige Entwicklung des Tarifniveaus in Washington und Boston wird damit sehr aufschlußreich für die Validität der hier präsentierten Hypothese sein; zumindest in Providence sank das Tarifniveau seit dem Marktzutritt von Southwest um 46 Prozent, und die Passagierzahl stieg um 260 Prozent (Rosato 1998, 2). - Als die wohl entscheidendere Markteintrittsbarriere erweisen sich jedoch zunehmend die Engpässe bei der bodenseitigen Infrastruktur, namentlich die NichtVerfügbarkeit einer ausreichenden Menge von 'Gates' fur Newcomer. So sind etwa in Charlotte 43 der 48 vorhandenen Gates aufgrund bestehender langfristiger Leasing-Verträge den dort seit längerem ansässigen Anbietern zur ausschließlichen Nutzung vorbehalten, wobei 38 dieser 'Gates' bis 2007 an US Airways verpachtet wurden; in Cincinnati wurden alle 67 Flugsteige - davon 50 bis ins Jahr 2015 beziehungsweise zum Teil
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sogar bis 2023 (Inhaber: Delta) -, in Detroit 76 der 86 (Inhaber von 64 'Gates': Northwest, wobei zehn dieser 'Gates' nicht vollkommen nutzbar sind) und in Minneapolis alle 65 'Gates' (49 davon an Northwest) exklusiv vergeben; weitere Flughäfen mit einem sehr hohen Anteil an langfristig verpachteten 'Gates' sind Newark, wo 79 der insgesamt 94 Flugsteige überwiegend exklusiv von Continental genutzt werden und die übrigen fünfzehn fur die Abfertigung internationaler Flüge reserviert sind, sowie Pittsburgh (bei 66 der 75 'Gates'; davon sind fünfzig bis zum Jahr 2018 an US Airways vergeben) (U.S. General Accounting Office 1997c, 10). Zwar ist es Newcomern an allen diesen Flughäfen grundsätzlich möglich, im Subleasing Zugang zu einem oder mehreren dieser exklusiven 'Gates' zu erlangen. Bestandteile derartiger Untermieter-Verträge sind neben dem meist sehr hohen Mietpreis allerdings häufig die Nebenabrede, die Abfertigung oder die Flugzeugwartung vor Ort nicht selbst durchzuführen, sondern gegen entsprechendes Entgelt vom Personal der vermietenden Fluggesellschaft vornehmen zu lassen {ebenda, 11). Diese Koppelungsstrategie läßt sich durchaus als Strategie des gezielten 'Raising rivals' costs' interpretieren Die den dominierenden ortsansässigen Fluggesellschaften infolge der Kombination von 'Slot'-Mangel (zumindest zu den attraktiven Hauptverkehrszeiten) und Nichtverfügbarkeit von 'Gates' dauerhaft zufließenden nicht leistungsbedingten Knappheitsrenten eröffnen diesen Anbietern beträchtliche Möglichkeiten zur Disziplinierung vor allem kleinerer und/oder finanzschwächerer aktueller wie potentieller Wettbewerber durch Praktiken, die üblicherweise als 'Prédation' bezeichnet werden; sie wären wohlgemerkt ohne die angeführten Infrastrukturengpässe oder bei (diskriminierungs)freiem Zugang zur Infrastruktur undurchführbar, weil betriebswirtschaftlich sinnlos. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang selektive Tarifsenkungen für die parallel zu den Abflügen des Konkurrenten durchgeführten eigenen Flüge, während zu allen anderen Abflugzeiten ohne Konkurrenzangebot weit höhere Flugpreise verlangt werden - eine Praxis, die auch als 'Bracketing' bezeichnet wird. Hinzu kommen die Gewährung besonders hoher Provisionen für Reisebüros für die Vermittlung eben dieser Flüge anstatt der in etwa zeitgleichen Flüge der Konkurrenz sowie häufig noch extrem hohe Meilengutschriften für diese Flüge (Tomkins 1998; Zellner 1998). Besonders im dichtbesiedelten Nordosten der USA, wo sich der Großteil der fraglichen 'Hubs' befindet, verhinderten die beschriebenen Infrastrukturengpässe und die dadurch erst ermöglichten Abwehrstrategien durchgreifende Markterfolge der 'Low cost carrier'. Bislang erwiesen sich nur Southwest und America West als resistent gegen derartige Preiskämpfe; zumindest Southwest verzichtete jedoch trotz ihrer sehr günstigen Kostenstruktur stets auf einen Marktzutritt, wenn es ihr mangels ausreichender 'Slots' und 'Gates' unmöglich gewesen wäre, neben niedrigen Tarifen noch eine hohe Flugfrequenz anzubieten, letzteres natürlich, um ihrem Konkurrenten die Sinnlosigkeit einer 'Bracketing'-Strategie zu signalisieren. Das weit überdurchschnittliche Tarifniveau an besagten Flughäfen erlaubte es im übrigen auch derjenigen der (etablierten) Fluggesellschaften mit den bis heute unverändert mit Abstand höchsten Durchschnittskosten je Leistungseinheit aller im inneramerikani-
450 · Andreas Knorr sehen Luftverkehr aktiven Airlines zu überleben, und dies sogar trotz einer beispiellosen Unfallserie von fünf Abstürzen zwischen 1989 bis 1994: der in ihren kaum bestreitbaren 'Hubs' Pittsburgh, Charlotte, Philadelphia und Washington National sehr gut vor Billigkonkurrenz geschützten US Airways. Ganz konkret liegen die, gemessen an der üblichen Kennziffer 'Kosten je angebotener Sitzmeile', durchschnittlichen Gestehungskosten bei US Airways derzeit (1997) bei 7,66 Cents; United liegt bei 5,56 Cents, Delta bei 5,49 Cents, Northwest bei 5,36 Cents, Continental bei 5,64 Cents und American bei 5,56 Cents. Die Billiganbieter Southwest und America West haben Einstandskosten von nur 4,60 Cents respektive 4,52 Cents. Allerdings erzielt US Airways vor allem aufgrund ihrer Dominanz an den genannten 'Hubs' mit 10,63 Cents auch die mit Abstand höchsten Erlöse je verkaufter Sitzmeile. Zum Vergleich: United erwirtschaftet nur 7,80 Cents. Delta erlöst 7,98 Cents, Northwest 7,53 Cents, Continental 8,05 Cents, American 8,31, Southwest 7,98 Cents und America West 6,77 Cents (ohne Verfasser 1998). Da abgesehen von Southwest und America West alle der genannten Airlines auch im vergleichsweise wenig(er) deregulierten internationalen Luftverkehr tätig sind, spiegeln die Zahlen auch die auf diesen Strecken erzielten Renten wider. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang jedoch, daß US Airways im Transatlantikverkehr einen Marktanteil von nur zwei Prozent erreicht und die Umsatzerlöse aus dem grenzüberschreitenden Verkehr (Europa, Karibik, Kanada) lediglich sieben Prozent des Unternehmensumsatzes insgesamt entsprechen (Spaeth 1998, 27). Das ist der niedrigste Wert aller international aktiven US-Carrier. Damit ist das Ausmaß der US Airways zufließenden 'Hub'-Renten deutlich erkennbar. cc. Selektive Re-Regulierung durch die FAA Nach dem Absturz einer DC 9 des 'Low cost carriers' ValuJet kurz nach dem Start im Mai 1996 vom Flughafen Miami aus wurde die FAA für ihre laxe und vor allem inkonsequente Überwachung der Flugsicherheit in den Medien und von zahlreichen Politikern kritisiert. So waren trotz einer Serie mitunter gravierender Zwischenfalle und Unfälle (ohne Todesfolge) bereits vor dem Absturz keine der gesetzlich möglichen Sanktionen gegen ValuJet verhängt worden. Erst auf den anhaltenden Druck der Öffentlichkeit hin entschloß sich die FAA einige Wochen nach dem Crash, ValuJet die Betriebserlaubnis zu entziehen. Dabei handelte es sich um das erstmalige 'Grounding' einer größeren USFluggesellschaft überhaupt. Wenig später wurde weiteren kleinen Anbieter, so unter anderem der Charterer Rieh International, temporär die gegrounded. Einige Monate später wurde ValuJet neu lizenziert, erhielt die Betriebserlaubnis jedoch unter anderem mit der Auflage zurück, sich bis auf weiteres jede geplante Ausweitung ihres Flugbetriebs, und zwar sowohl den Erwerb weiterer Flugzeuge als auch die Aufnahme zusätzlicher Strecken, von der FAA genehmigen lassen zu müssen. Im Gegensatz dazu reagierte die FAA bis heute nicht mit vergleichbaren Maßnahmen auf ähnliche Zwischenfall- und Unfallserien bei einigen der etablierten Carrier (Schiavo 1997, 278 ff), namentlich bei US Airways (wie erwähnt unter anderem fünf tödliche Unfälle zwischen 1989 und 1994), bei American (ihre 'Commuter'-Tochter American Eagle eingeschlossen verzeichnete
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 451 diese Gesellschaft eine Serie von wenigstens zehn ernsten Zwischenfallen und Unfällen, darunter zwei tödlichen Abstürzen, seit Ende 1995) und bei Delta mit zirka fünfzehn ernsten Zwischenfällen und einem für zwei Passagiere tödlichen Unfall im selben Zeitraum. Problematisch ist diese Ungleichbehandlung vor allen deswegen, weil die Öffentlichkeit den Verzicht der FAA auf schärfere Kontrollen gegenüber den genannten drei Carriern fälschlicherweise als Anzeichen für einen grundsätzlich höheren Sicherheitsstandard dieser und der anderen etablierten Airlines im Vergleich zur Gruppe der 'Low cost carrier' interpretieren könnte - mit entsprechenden Rückwirkungen im Buchungsverhalten. 2. Der inneramerikanische Luftfrachtverkehr Uneingeschränkt positiv ist dagegen die Entwicklung im inneramerikanischen Luftfrachtverkehr seit dessen Deregulierung zu bewerten. Nicht nur wurden alle Effizienzziele erreicht. Wegen des starken intermodalen Substitutionswettbewerbs seitens der in den achtziger Jahren ebenfalls sehr umfassend deregulierten Eisenbahnen und des 'Interstate trucking' fallen die regionalen Tarifünterschiede nicht nur wesentlich geringer aus als im Passagierluftverkehr. Sie sind zudem ganz überwiegend auf Kostendifferenzen und nicht auf Marktmachtunterschiede zurückzuführen.13 Als volkswirtschaftlich bedeutendstes Ergebnis der Deregulierung des Luftfrachtverkehrs ist vor allem das hierdurch überhaupt erst ermöglichte Entstehen einer völlig neuen Kategorie von Transportunternehmen anzusehen, die sich seither eines geradezu 'explosionsartigen' Wachstums erfreut. Gemeint sind die vollständig vertikal integrierten Kurier- und Expreßdienste (kurz: Integrators),14 die durch den Einsatz eigener Flugzeuge und Lkw erstmals einen Übernacht-Ooor-to-door-service' aus einer Hand anbieten konnten (.Mengen 1993; Schneider 1993). Ihr Anteil am inneramerikanischen Luftfrachtmarkt hat sich von vier Prozent 1977 auf sechzig Prozent erhöht (Boeing Commercial Airplane Group 1997). Inzwischen betreiben die größten amerikanischen Luftfrachtspeditionen ebenfalls eigene Luftflotten, anstatt (wie früher üblich), die benötigten Kapazitäten überwiegend in den Frachtabteilen der Jets der Passagier-Carrier anzumieten (Der Spiegel 1987, 46 ff., 60 ff ). Erforderlich wurde dies im übrigen auch, weil zahlreiche Passagier-Fluggesellschaften ihre Frachtkapazitäten nach der Deregulierung drastisch reduzierten und darüber hinaus die Mitte der achtziger Jahre einsetzende und durch zahlreiche Fusionen und Konkurse gekennzeichnete Konsolidierungsphase temporär die Planungssicherheit der Speditionen und sonstigen Transportunternehmen spürbar vermindert hatte, was wiederum die garantierte Angebotsqualität Overnight' in Frage zu stellen drohte.
13 Ausführlich àzm Moore (1991), Taylor (1994) sowie Stover (1997). 14 Notabene: Die im allgemeinen Sprachgebrauch übliche Gleichsetzung der Integrators mit den Kurier- und Expreßdiensten ist inzwischen teilweise obsolet, da einige der Integrators inzwischen auch Frachtsendungen jenseits der klassischen 30 kg-Grenze - soviel wie ein einzelner Be- oder Entlader mühelos heben kann - akzeptieren und damit immer stärker in den Markt der traditionellen Speditionen eindringen.
452 · Andreas Knorr Exemplarisch fur die beschriebene Entwicklung ist die Expansion des derzeit größten Integrators nach dem Inkrafttreten des ACDA 1977: der erst im April 1973 mit einer sehr restriktiven Betriebslizenz als 'Commuter carrier' gegründeten, seit 1980 aber voll lizenzierten und in Memphis ansässigen Federal Express Company.15 Ein weiteres Beispiel ist der 1907 in Seattle gegründete Paketdienst United Parcel Service (UPS), der unmittelbar nach der Deregulierung ebenfalls mit dem Aufbau einer eigenen Luftflotte begann.16 Nicht übersehen werden sollte in diesem Zusammenhang allerdings, daß die Deregulierung des Luftfrachtverkehrs für den Aufstieg der Expreßdienste lediglich eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung darstellte. Da ein Großteil der von diesen Anbietern beförderten Sendungen keine Waren, sondern vielmehr Nachrichten im Sinne des amerikanischen Postgesetzes enthielten, war noch eine entsprechende Ausnahmegenehmigung auf der Grundlage der sogenannten 'Private Express Statutes' (Section 1696) - welche die Beförderung von Briefsendungen "by special messenger hired for the particular occasion only" unter Umständen also privaten Postkonkurrenten erlauben - erforderlich. Eben diese Freistellung wurde im Jahre 1979 auf Druck des Kongresses, der sich damit eine diesbezügliche Forderung von Federal Express und anderen Kurierdiensten zu eigen machte, von der amerikanischen Postverwaltung, dem United States Postal Service (USPS), erteilt. Seither sind insbesondere alle Sendungen ab einem Mindestporto vom doppelten des anwendbaren USPSPortos oder von drei US-Dollar, "whichever is more", durch diese 'Suspension for urgent letters' grundsätzlich vom Beförderungsvorbehalt des USPS ausgenommen (European Express Organisation 1990, 23). Diese Freistellung war unter anderem auch deswegen vorgenommen worden, weil die USPS zum damals organisatorisch gar nicht in der Lage gewesen wäre, einen eigenen 'Overnight-service' anzubieten. Im wettbewerblichen Nachstoßprozeß sah sich der USPS freilich wenig später gezwungen, ebenfalls ein flächendeckendes Zustellnetz fìir 'Express mail' aufzubauen. Die volkswirtschaftlichen Vorteile des Marktzutritts der Integrators und insbesondere der Kurier- und Expreßdienste liegen auf der Hand. Der nun viel schnellere Transport von Dokumenten - nicht zuletzt Schecks, Arbeitsproben, Verträge, zunehmend aber auch Ersatzteile und sonstige Vorleistungen für den Produktionsprozeß - ermöglicht beträchtliche geldwerte Zeit- und Zinsgewinne. Dies wiederum erlaubt den Unternehmen eine Senkung der Lagerhaltungskosten sowie eine flexiblere Steuerung der Produktion. 15 Das heute in 212 Ländern der Erde vertretene Unternehmen beschäftigt inzwischen weltweit über 90.000 Voll- und weitere 50.000 Teilzeitkräfte und betreibt eine eigene Flotte von 605 Flugzeugen, darunter 24 Großraumvollfrachter des Typs McDonnell Douglas MD-11, 63 Exemplaren des Vorgängermodells DC 10, 24 Airbus A 300, 35 Airbus A 310 - weitere etwa drei Dutzend Großraumnurfrachter verschiedener Modelle sind fest bestellt - sowie 163 Boeing 727 Nurfrachter; hinzu kommen noch zirka dreihundert kleinere Propellermaschinen (FederaI Express, ohne Jahr). 16 Die Flotte umfaßt derzeit etwas über zweihundert eigene und dreihundert geleaste Flugzeuge, darunter neben zahlreichen Boeing B727 und Boeing B757 überwiegend Großraumfrachter der Typen Boeing 747 und die Boeing 767 - und 1985 in den Markt für Übernachtzustellungen eintrat (UPS, ohne Jahr). UPS hält in diesem Segment inzwischen einen Marktanteil von 27 Prozent, Federal Express erreicht als Marktfuhrer 43 Prozent (Grant 1997).
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 453 Gesamtwirtschaftlich resultiert daraus eine intensivere Arbeitsteilung die über entsprechende Produktivitätsfortschritte letztlich in einem höheren Sozialprodukt mündet (Garten 1998; Kaufer 1985, 18 ff). Eine weitere nicht zu unterschätzende positive Folge der Expansion der Expreßdienste war schließlich die dadurch angestoßene Diskussion um die mangelnde Effizienz und Kundenorientierung der amerikanischen Postverwaltung sowie um die Notwendigkeit eines Fortbestands des Postmonopols - was seitens der USPS nachweislich zumindest verstärkte Bemühungen um Kostensenkung und Angebotsoptimierung auslöste. 3. Der grenzüberschreitende Luftverkehr a. Passagierverkehr aa. Unvollkommene Liberalisierung Das unbestrittene Verdienst der amerikanischen Luftverkehrspolitik nach ihrem Kurswechsel 1978 besteht zweifelsohne in der seitdem sukzessive erreichten Teilliberalisierung auch des grenzüberschreitenden Luftverkehrs. Der erste wichtige Schritt bestand in einer 'Show cause order' des CAB an die IATA im Oktober 1978 mit der Drohung, den US-Carriern die Teilnahme an den IATA-Tarifkonferenzen künftig zu verbieten. Trotz heftiger Proteste in- wie ausländischer Fluggesellschaften sowie zahlreicher ausländischer Regierungen, die um die Existenz ihrer staatseigenen 'Flag carrier' fürchteten, erzwang der CAB damit, nicht zuletzt angesichts der enormen Bedeutung des US-Marktes auch für die ausländischen IATA-Mitglieder, immerhin eine Grundsatzreform der Organisation. Namentlich ist heute die Teilnahme an den IATATarifkonferenzen nicht mehr verpflichtend (.Reckewerth 1992, 153 ff ). Parallel dazu versuchten die USA, ihre bilateralen Luftverkehrsabkommen durch Neuverhandlungen oder durch Zusatzprotokolle nach und nach zu liberalisieren. Erstmals gelang dies mit den Niederlanden durch eine am 31. März 1978 in Kraft getretene Zusatzvereinbarung (de Murías 1989, 158 ff). Trotz aller inhaltlichen Unterschiede, die auf die sehr unterschiedliche Liberalisierungsbereitschaft ihrer ausländischen Verhandlungspartner zurückzuführen sind, erwies sich diese Strategie der USA anfangs als relativ erfolgreich. So enthält inzwischen die Mehrzahl der bilateralen Luftverkehrsabkommen der USA zumindest gewisse Auflockerungen der früher üblichen starren hälftigen Kapazitätsaufteilung. Fest verankert werden konnte überwiegend auch das Prinzip der Mehrfachdesignierung: Jeder der beider Staaten hat seitdem das Recht, wenigstens zwei inländischen Anbietern Rechte für den bilateralen Verkehr zu erteilen. Im zentralen Bereich der Tarifpolitik wurde schließlich das extrem restriktive 'Doubleapproval'-Genehmigungsverfahren sehr häufig durch das Ursprungslandprinzip ('Country of origin'-Prinzip) und manchmal sogar durch das sogenannte 'Double-disapproval'Verfahren ersetzt. Insbesondere die ab Ende der achtziger Jahre neu verhandelten bilateralen Luftverkehrsabkommen der USA mit Kanada sowie zahlreichen kleineren
454 · Andreas Knorr europäischen Staaten wie den Benelux-Ländern, Österreich oder Island schrieben sogar die völlige Freigabe des Marktzutritts, der Frequenzen und der Preise fest (Doganis 1993, 51 ff; Graham 1995, 50 f.; OECD 1997a, 74 ff). Diese sehr liberalen Abkommen lösten in Europa wegen der zunehmenden 'Hub'-Konkurrenz vor allem zu Amsterdam und Brüssel starke Absaugeffekte besonders zu Lasten der Lufthansa aus, die daraufhin viele Transatlantikpassagiere an die preisgünstigeren Anbieter KLM und Sabena verlor. Nicht zuletzt deshalb stimmte das in Luftverkehrsfragen traditionell eher protektionistische Deutschland vor kurzem ebenfalls einem liberalen Open-skies'Abkommen mit den USA zu. Abgesehen von der bereits erwähnten Produzentenlastigkeit des International Air Transportation Competition Act 1979 sollte in diesem Zusammenhang jedoch zum einen nicht übersehen werden, daß der von den USA beschrittene Weg der bilateralen Liberalisierung ökonomisch bestenfalls als 'Second best'-Lösung im Vergleich zu einem multilateralen Abkommen unter dem Dach der WTO auf der Grundlage der Prinzipien unbedingte Meistbegünstigung und Inländerbehandlung angesehen werden kann. Der Grund dafür liegt vor allem in der dem Bilateralismus - und natürlich auch dem Regionalismus - zwangsläufig innewohnenden Tendenz zur Diskriminierung der Anbieter aus Drittstaaten (Knorr 1998b). Hinzu kommt, daß die amerikanische Regierung noch immer grundsätzlich jede Öffnung des US-Inlandsluftverkehrs fur ausländische Fluggesellschaften ablehnt; das effizienzmindernde Kabotageverbot blieb bislang somit völlig unberührt. Zum anderen scheint die von den USA verfolgte Strategie des Bilateralismus ihren Zenit bereits seit längerem überschritten zu haben. Als Beleg sei auf die anhaltend hartnäckige Weigerung der britischen, der französischen sowie der japanischen Regierungen hingewiesen, mit den USA ein ähnlich liberales Open-skies'-Abkommen zu vereinbaren wie Deutschland, Kanada oder die Niederlande. Damit unterliegen der Marktzutritt und die Tarifgestaltung auf drei der fünf wichtigsten Märkte im grenzüberschreitenden Luftverkehr von und nach den USA - die beiden anderen sind die Teilmärkte USADeutschland und USA-Kanada - weiterhin vergleichsweise starken Einschränkungen, die den dort tätigen Anbietern jedoch hohe und vor allem stetige Renten zu Lasten der Nachfrager garantieren. Damit wird aber auch deutlich, daß die weit weniger liberale Marktordnung im internationalen Luftverkehr, insbesondere von den USA nach Lateinamerika und nach Ostasien, indirekt auch massive Wettbewerbsverzerrungen auf dem vollständig liberalisierten US-Inlandsmarkt hervorrufen kann. So erwirtschaften die US-Carrier, die Verkehrsrechte für besagte Routen innehaben - es handelt sich dabei im übrigen ausschließlich um die etablierten Fluggesellschaften, die bereits vor der Deregulierung existierten, namentlich Northwest, United, American, Delta und Continental - im Durchschnitt pro Passagierkilometer nach wie vor weit höhere Erträge als im deregulierten US-Inlandsverkehr (Dempsey 1991, 26; 1995, 92). Potentiell wettbewerbsverzerrende interne Subventionierungen defizitärer Inlandsflüge aus diesen regulierungsbedingten Übergewinnen lassen sich somit nicht grundsätzlich ausschlie-
Zwanzig Jahre Deregulierung im US-Luftverkehr · 455 ßen.17 Zumindest dieses Problem ließe sich allerdings leicht beseitigen, wenn das USVerkehrsministerium die Verkehrsrechte zumindest fur diejenigen grenzüberschreitenden Verbindungen, die wegen restriktiver bilateraler Luftverkehrsabkommen nur von einer begrenzten Anbieterzahl bedient werden dürfen, im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens meistbietend versteigern würde, anstatt sie wettbewerbswidrig mehr oder minder nach eigenem Ermessen und vor allem kostenlos an einen der Antragsteller zu vergeben. bb. Selektive Re-Regulierung durch die FAA Bereits 1992 und damit vier Jahre vor ihren ähnlich motivierten Interventionen in den inneramerikanischen Luftverkehr begann die FAA ihr 'International Aviation Safety Assessment Program' {Federal Aviation Administration 1997). Seitdem ist es nur noch Fluggesellschaften aus solchen Ländern gestattet, ihre Verkehrsrechte von und nach den USA uneingeschränkt auszuüben oder überhaupt solche Verkehrsrechte zu erhalten, deren Luftfahrtaufsichtsbehörden ihren durch Richtlinien der internationalen Zivilluftfahrtorganisation, der ICAO, genau definierten Aufsichtspflichten nach Ansicht der FAA zufriedenstellend nachkommen. Eine schlechte Bewertung eines Landes durch die FAA kommt damit - unter Umständen trotz bestehender Verkehrsrechte - einer vollständigen Marktschließung gleich. Bedenklich an diesem Programm ist zum einen, daß die Qualität einer nationale Luftfahrtaufsichtsbehörde nachweislich nicht positiv mit dem Sicherheitsstandard der in diesem Land ansässigen Fluggesellschaft(en) korreliert; auch in den USA streuen die Unfallraten regional sowie zwischen den einzelnen Fluggesellschaften zum Teil erheblich (Knorr 1997a; 1997b). Wesentlich stärker beeinflußt wird der Sicherheitsstandard einer Airline oder in einem Land demgegenüber von Faktoren wie der Qualität der Flugsicherung und der Flughäfen (Verfügbarkeit von Flugsicherungs- und Navigationseinrichtungen) sowie von den topographischen und klimatischen Bedingungen vor Ort. Als Beleg für diese These läßt sich anfuhren, daß etwa die Lufthansa sowie diverse US-Carrier die überwiegende Mehrzahl ihrer Totalverluste bislang in Ländern mit qualitativ und/oder quantitativ unterdurchschnittlicher Verkehrswegeinfrastrukturausstattung erlitten haben. Wesentlich sinnvoller, weil problemadäquater, erscheint vor diesem Hintergrund der Ansatz des deutschen Luftfahrtbundesamtes und einiger anderer europäischer Aufsichtsbehörden. Diese Behörden überprüfen, anders als die FAA, während der Blockzeiten am Boden im
17 Vergleichbare Gefahren drohen in übrigen auch durch die zunehmende Zahl strategischer Allianzen, von Codesharing-Vereinbarungen und sonstigen Formen der Zusammenarbeit. Sie erlauben es den beteiligten Airlines insbesondere auf den durch eine restriktive Verkehrsrechtevergabepraxis rechtlich von Konkurrenzanbietern abgeschotteten Teilmärkten ebenfalls, weit überdurchschnittliche Erträge zu erwirtschaften. Hinzu kommt, daß derartige Allianzen und Kooperationen möglicherweise die bislang ohnehin bescheidene Liberalisierung des grenzüberschreitenden Luftverkehrs wieder konterkarieren. In diesem Fall wären nur private wettbewerbsbeschränkende Absprachen an die Stelle staatlicher Beschränkungen des Aktionsparametereinsatzes getreten (Knorr 1998a).
456 • Andreas Knorr Rahmen sogenannter "Ramp checks' das Fluggerät von Fluggesellschaften aus Drittstaaten auf etwaige Sicherheitsmängel. Hinzu kommt die offensichtliche außenund außenhandelspolitische Instrumentalisierung des FAA-Programms. So wurden die Luftfahrtaufsichtsbehörden aller west- und mitteleuropäischen Staaten ohne jede Überprüfung von der FAA pauschal als gut klassifiziert. Dagegen verzichtete die FAA bis heute auf eine Bewertung der Aufsichtsbehörden Rußlands und der meisten anderen GUS-Staaten sowie Chinas, obgleich die statistischen Unfallraten in diesen Ländern weltweit zu den höchsten überhaupt zählen. Mutmaßlich ist diese ungewöhnliche Zurückhaltung der FAA darauf zurückzufuhren, daß, abgesehen von anderen wirtschaftlichen oder außenpolitischen Erwägungen, die Fluggesellschaften dieser beiden Staaten inzwischen zu den größten Kunden der amerikanischen Luftfahrtindustrie gehören. Gleich mehrfach überprüft und in der Regel zumindest beim ersten Mal als mangelhaft eingestuft wurden demgegenüber einzelne südamerikanische Staaten, namentlich Kolumbien, das mit den USA kein liberales bilaterales Luftverkehrsabkommen abschließen wollte und dessen Antidrogenpolitik die USA wiederholt als unzureichend kritisiert hatten. Nicht übersehen werden sollte zudem, daß die FAA selbst in der Vergangenheit ihre Aufsichtspflichten gegenüber amerikanischen Fluggesellschaften - gegenüber ValuJet sogar in vielen Fällen - wiederholt nachweislich und grob verletzt hat, um den Fluggesellschaften Mehrkosten zu ersparen (.Nader und Smith 1994; Schiavo 1997, 1 ff). b. Luftfracht und Luftpost Die Entwicklung im grenzüberschreitenden Luftfrachtverkehr entspricht, wenngleich mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung und weniger durchgreifend ob der erst später und oft nur unvollständig erreichten Liberalisierung der bilateralen Luftverkehrsabkommen sowie wegen des Fortbestehens diverser nicht-tarifärer Handelshemmnisse (U.S. General Accounting Office 1997b; OECD 1997b) weitgehend den überaus positiven Ergebnissen im inneramerikanischen Luftfrachtverkehr. So sind auch in diesem Segment rasche Marktanteilsgewinne der Integrators zu beobachten, deren Expansion sogar deutlich schneller verläuft, als die des ohnehin durch sehr hohe Zuwachsraten gekennzeichneten grenzüberschreitenden Luftfrachtverkehrs (Boeing Commercial Airplane Group 1997). Der internationalen Arbeitsteilung entsprechend der komparativen Kostenvorteile ist dies nur forderlich. Politökonomisch besonders interessant sind jedoch die Auswirkungen der Luftverkehrsderegulierung auf die Märkte für Postdienstleistungen, namentlich auf den Briefdienst, der in fast allen Staaten der Erde zumindest teilweise als Monopol der staatlichen Postverwaltungen organisiert ist. Diese nationalen Monopole sind zudem durch Artikel 25 des Weltpostvertrags geschützt, um das sogenannte Remailing zu verhindern; Artikel 25 gilt im übrigen auch für alle Briefsendungen, die nicht dem reservierten Bereich zuzurechnen sind (Gröner und Knorr 1992; U.S. General Accounting Office 1996). Unter Remailing versteht man die Einlieferung von Briefsendungen nicht bei der nationalen Postverwaltung im Ursprungsland A, sondern im Ausland Β bei der
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dort ansässigen nationalen Postverwaltung. Diese befördert besagte Sendungen dann entweder nach A zurück (sogenanntes ABA-Remailing), stellt sie in Β selbst zu (ABBRemailing) oder leitet sie in ein Drittland C weiter, in dem dann die Endzustellung erfolgt (ABC-Remailing). Nach Auffassung einiger Postverwaltungen, so auch der Deutschen Post AG, erstreckt sich Artikel 25 des Weltpostvertrags sogar auf das sogenannte *Nonphysical remailing'. Träfe dies zu, wäre es beispielsweise einem deutschen Unternehmen untersagt, den Inhalt von Serienbriefen wie Kontoauszügen auf elektronischen Datenträgern an ein Tochterunternehmen in den Niederlanden zu übermitteln, dort ausdrucken und kuvertieren zu lassen und diese dann bei der dortigen Postverwaltung zur Weiterbeförderung nach Deutschland oder in ein anderes Land einzuliefern. Die überaus negativen Auswirkungen des Artikel 25 für die internationale Arbeitsteilung sowie die Unvereinbarkeit dieser Bestimmung mit der europarechtlich vorgeschriebenen Dienstleistungsfreiheit sind unübersehbar und bedürfen keiner näheren Erläuterung an dieser Stelle. Lohnend ist das Remailing trotz der anfallenden Transportkosten vom Versender zu der das Remailing durchfuhrenden nationalen Postverwaltung nicht nur wegen der je nach Absendeort enormen Portounterschiede, insbesondere im internationalen Briefdienst; derzeit kostet etwa eine Luftpostkarte von Deutschland in die USA zwei DM, in Gegenrichtung mit fünfzig Cents jedoch nur weniger als die Hälfte. Sie werden vielfach noch verstärkt durch die oft nicht kostendeckenden Ausgleichszahlungen, die sogenannten Endvergütungen oder 'Terminal dues', mit denen die nationalen Postverwaltungen mengenmäßige Ungleichgewichte im bilateralen grenzüberschreitenden Postverkehr einander abgelten. Erhält beispielsweise die Bundesrepublik pro Jahr einhunderttausend Briefe mehr aus Frankreich als die französische Post aus der Bundesrepublik, muß La Poste der Deutschen Post fur jeden dieser 'überzähligen' Briefe einen Betrag in Höhe der gültigen Endvergütung überweisen. Damit soll die Deutsche Post AG für die Kosten des Feinsortierens und der Zustellung dieser eingehenden Auslandspost ausreichend kompensiert werden. Vor dem Aufkommen des Remailing lagen besagte Endvergütungen jedoch bei wenigen Pfennigen pro Sendung und damit beträchtlich unter den Sortier- und Zustellkosten, die sich im Briefdienst auf bis zu 75 Prozent der Gesamtbeförderungskosten belaufen (European Express Organisation 1990, 56, 79 ff.). Ab 1979 begannen die Kurier- und Expreßdienste dann - vor allem ermöglicht durch die (Teil-)Liberalisierung der bilateraler Luftverkehrsabkommen - parallel zu ihrer Expansion innerhalb der USA verstärkt mit dem Aufbau grenzüberschreitender Netze, insbesondere nach und in Europa, aber auch im asiatisch-pazifischen Raum. Zur besseren Auslastung ihrer Kapazitäten beförderten sie erstmals auch große Mengen normaler Luftpostbriefsendungen - und zwar zu weit günstigeren Konditionen und deutlich schneller als die USPS, die kein eigenes Fluggerät einsetzen konnte, sondern statt dessen bis heute Frachtkapazitäten bei US-Passagier-Airlines anmieten muß (U.S. General Accounting Office 1996). Die USPS versuchte daraufhin erfolglos, den Gesetzgeber (unter Hinweis auf ihre Monopolrechte) zu bewegen, diese Praxis der privaten Kurierdienste zu unterbinden. Statt dessen wurde auf Drängen der amerikanischen
458 · Andreas Knorr Kurier- und Expreßdienste 1986 die Beförderung abgehender Auslandspost ebenfalls komplett aus dem Monopol der USPS herausgelöst. Die Neuausrichtung der amerikanischen Luftverkehrspolitik trug somit nicht nur dazu bei, die überkommenen kartellartigen Strukturen im inneramerikanischen und teilweise auch im grenzüberschreitenden Luftverkehr zu überwinden, zumindest aber aufzulockern. Sie strahlte auch auf das über Jahrhunderte hinweg hochgradig wettbewerbsresistente Postwesen aus. Wie bekannt ist, wurden wenig später auch in diesem Teilsegment der Transportmärkte in vielen Mitgliedsstaaten der EU und der EFTA sowie in Neuseeland von den politisch Verantwortlichen als Reaktion darauf wichtige effizienzsteigernde Liberalisierungsmaßnahmen eingeleitet (Braubach 1992; Knorr 1993).
V. Wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf Wie gezeigt wurde, konnten bislang die Ziele der Deregulierung sowohl im inneramerikanischen also auch im internationalen Luftverkehr von und nach den USA nur partiell erreicht werden. Insbesondere an einigen hochfrequentierten Knotenflughäfen im oberen Mittleren Westen der USA sowie auf zahlreichen aufkommensstarken grenzüberschreitenden Städteverbindungen von und nach Asien, Lateinamerika und Europa verhindern noch immer signifikante Marktzutrittsbarrieren eine durchgreifende Entfaltung wettbewerblicher Marktprozesse. Dies schlägt sich fur die betroffenen Nachfrager letztlich in einem Tarifniveau nieder, das deutlich über dem Durchschnitt vergleichbarer Strecken und Teilmärkte liegt, sowie generell in einem Mangel an Wahlmöglichkeiten. Ein Gutteil dieser Probleme ist zunächst ursächlich auf das auch in den USA trotz der Einfuhrung der 'Buy-sell-rule' gleichwohl in hohem Maße marktschließend und konzentrationsfördernd wirkende Vergabeverfahren für 'Slots' zurückzufuhren. Es bevorzugt wegen des fast vollständigen Bestandsschutzes für sogenannte 'Großvaterrechte' einseitig die bereits vor der Deregulierung etablierten Fluggesellschaften. Faktisch wird die Mehrzahl der 'Slots' also noch immer nach Referenzperioden vergeben. Neben Kapazitätserweiterungen bietet die Rückforderung sämtlicher 'Slots' durch das DOT und die anschließende Neuvergabe aller 'Slots' über ein Versteigerungsverfahren die einzige Möglichkeit, Newcomern einen dauerhaft diskriminierungsfreien Zugang zu diesem für die Leistungserbringung essentiellen Teil der Verkehrswegeinfrastruktur zu eröffnen. Als notwendige Ergänzung zu dem bereits bestehenden Sekundärmarkt wäre noch eine 'Useit-or-lose-it'-Auflage einzuführen, um strategisches Horten unterbinden zu können. Schließlich dürften natürlich auch die Altinhaber der 'Slots' nicht für die ihnen dadurch entzogenen Renten finanziell entschädigt werden. Verschärft wird das 'Slot'-Problem an den meisten dieser Flughäfen, wie erwähnt, noch durch langfristige Verträge zwischen den Flughafenbetreibern und einzelnen Fluggesellschaften, die letzteren die ausschließliche Nutzung für eine große Zahl von 'Gates' - als Gegenleistung für die Übernahme eines Teils der Investitionskosten für die bodenseitige Infrastruktur - garantieren. Um diese hochgradig marktschließenden Engpässe zu entschärfen, wäre zum einen die konsequente Anwendung der 'Essential
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facilities'-Doktrin zu erwägen - trotz der aus der 'Interconnection'- und DurchleitungsDiskussion in der Telekommunikation beziehungsweise in der leitungsgebundenen Energiewirtschaft hinlänglich bekannten Kontroverse um die ökonomisch 'richtigen' Zugangspreise. Dringend geboten wäre zum anderen auch die Privatisierung der Verkehrsflughäfen in Verbindung mit einer entsprechenden Änderung der gesetzlichen Regelungen, die die Zuweisung öffentlicher Mittel fur den Infrastrukturausbau an die Betreiber privater Flughäfen bislang untersagen. Das wirtschaftliche Eigeninteresse der dann privaten Flughafenbetreiber an möglichst hohen Einkünften aus dem Flugbetrieb (Start- und Landegebühren, Abfertigungsgebühren etc.) schafft zudem Anreize zur Erweiterung der Kapazitäten. Schließlich sollte noch - unabhängig von einer möglichen Privatisierung - die ökonomisch verfehlte und wegen ihrer ebenfalls marktschließenden Wirkung auch wettbewerbspolitisch bedenkliche Vorgabe der FAA an die Flughafenbetreiber, die Start- und Landegebühren an den historischen Anschaffungs- und Herstellungskosten des Flugfelds ausrichten zu müssen, um einer Entzerrung der Verkehrsströme durch zeitlich differenzierte Knappheitspreise willen ersatzlos entfallen. Dies würde ceteris paribus auch zur Entschärfung der 'Slot'-Engpässe beitragen. Die auf verfehltes Management seitens der FAA sowie auf die Abhängigkeit von öffentlichen Mittelzuweisungen zur Finanzierung der erforderlichen Erweiterungs- und Modernisierungsinvestitionen zurückzuführenden Kapazitätsengpässe bei der Flugsicherung - die letztlich ebenfalls als Markteintrittsbarriere wirken - ließen sich, wie die Erfahrungen in Deutschland zeigen, durch die Ausgliederung der Air Traffic Control aus der FAA und deren nachfolgende Privatisierung weitgehend beseitigen. Zur Kontrolle der marktbeherrschenden Stellung dieses privaten Monopolisten böte sich eine 'Price cap'-Regulierung an. Wünschenswert wäre schließlich eine kritische Prüfung der mutmaßlichen Wettbewerbswirkungen der drei von sechs der größten Fluggesellschaften derzeit angestrebten strategischen Allianzen. Sie sollten von den zuständigen Behörden angesichts der vielfältigen noch verbliebenen institutionellen Marktzutrittsbarrieren wenn überhaupt nur unter strengen marktöffnenden Auflagen (Rückgabe von 'Slots' und/oder 'Gates' an hochkonzentrierten Flughäfen etc.) genehmigt werden. Zur Beseitigung der Wettbewerbsbeschränkungen im internationalen Luftverkehr erscheint als Langfristziel die Integration dieses Sektors in das WTO-/GATS-Regelwerk unabdingbar, nicht zuletzt, um so die weiterbestehende Diskriminierung von Anbietern aus Drittstaaten beenden zu können. Kurz- bis mittelfristig dürften jedoch keine praktikablen Alternativen zum Versuch der graduellen bilateralen Marktöffhung, unterstützt durch Absaugeffekte, bestehen. Um das Entstehen von Renten infolge des oft zahlenmäßig beschränkten Marktzutritts zu verhindern, sollten die den inländischen Fluggesellschaften zustehenden Verkehrsrechte, wie bereits erwähnt, vom DOT jedoch an den meistbietenden Carrier versteigert und grundsätzlich nur zeitlich befristet - mit periodischen Neuausschreibungen ganz im Sinne eines Wettbewerbs um den Markt vergeben werden.
460 · Andreas Knorr Ein sowohl im inneramerikanischen als auch im internationalen Luftverkehr nicht nur von und nach den U S A höchst bedenkliche - weil von der Öffentlichkeit und den Medien kritiklos hingenommene und vielfach sogar explizit geforderte - jüngere Entwicklung ist schließlich die schleichende Re-Regulierung des Marktzutritts durch die Luftfahrtaufsichtsbehörden aus vorgeblichen Gründen der Flugsicherheit. Aufgabe dieser Behörden kann es jedoch nur sein, im konkreten Einzelfall objektiv nachweisbare Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften am Fluggerät, bei der Ausbildung, der Dokumentation und der Wartung hart zu sanktionieren und die Öffentlichkeit über die von ihr ergriffenen Maßnahmen und deren Gründe zu informieren - eventuell mit der Konsequenz eines Entzugs der Betriebserlaubnis für das fragliche Flugzeug oder der Lizenzen für die verantwortlichen Piloten, Mechaniker oder Mitglieder der Unternehmensleitung. Sachlich keinesfalls gerechtfertigt sind demgegenüber die weiter oben ausfuhrlich geschilderten selektiven und unmittelbar lenkenden Eingriffe in die Unternehmensplanung einzelner Fluggesellschaften. Anzumerken ist abschließend noch, daß die Umsetzung fast aller soeben angemahnter Maßnahmen, insbesondere in den Bereichen 'Slot'- und Verkehrsrechtevergabe, ohne jede Einschränkung auch der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten nachdrücklich zu empfehlen ist, will man eine ähnliche unterschiedliche Entwicklung der Wettbewerbsverhältnisse wie in den USA auf den europäischen Luftverkehrsmärkten verhindern.
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Zusammenfassung Die Deregulierung des Luftverkehrs in den Vereinigten Staaten hat die in sie gesetzten Erwartungen bis heute nicht in allen Teilen des Landes erfüllt. Insbesondere im oberen Mittleren Westen und im Nordosten der USA verhindern der Mangel an 'Slots' sowie die langfristigen exklusiven Nutzungsrechte der etablierten Fluggesellschaften an
464 · Andreas Knorr Fluggastbrücken ('Gates') bis heute den Marktzutritt von Billigfluggesellschaften. Folge: Die Flugpreise an diesen kaum bestreitbaren Flughäfen liegen um bis zu 88 Prozent über dem Durchschnittspreis auf den Routen, die auch von 'Discount airlines' bedient werden. Als sehr erfolgreich erwies sich dagegen die Deregulierung im Luftfrachtverkehr. Sie schuf mit den Integrators wie Federal Express einen völlig neuartigen Typ von Unternehmen, deren Dienstleistungsangebote einen wesentlichen Beitrag zur Intensivierung der nationalen wie der internationalen Arbeitsteilung leisteten. Das zunehmende Interesse der durch die Deregulierung wesentlich produktiver, innovativer und damit wettbewerbsfähiger gewordenen US-Carrier an der Erschließung neuer Märkte erhöhte schließlich auch den politischen Druck auf die reformunwilligen Staaten Europas und Asiens, dem amerikanischen Vorbild der Marktöffnung zu folgen und ihrerseits die Liberalisierung nicht nur der Luftverkehrsmärkte, sondern auch sachlich eng verwandter Märkte, vor allem im Bereich des Postwesens, ebenfalls einzuleiten. Summary Airline deregulation in the USA twenty years on - an interim assessment So far, the deregulation of the US airline industry has only partly been the initially predicted success story. In some high-volume markets, especially in the Upper Midwest and in the Northeast corridor, the persistence of significant barriers to entry ('slot' constraints and exclusive long-term leases for gates) have by now made it all but impossible for low cost carriers to serve such important cities as New York, Minneapolis, Boston and Philadelphia. The predictable result: Air fares to and from these cities are up to 88 percent higher than on comparable routes served by discount carriers. By contrast, deregulation has been spectacularly successful in the air freight sector. It gave birth to a new type of transport company: the integrators with Memphis-based Federal Express as the pioneer and market leader. Their innovative services contributed enormously to intensifying the economy-wide and international division of labour. What is more, the selfinterest of the winners of deregulation to expand their networks beyond the domestic US market also helped pry open (to a certain degree at least) some very important, yet formerly monopolized or cartellized air transport and postal markets abroad.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Norbert Eickhof
Die Forschungs- und Technologiepolitik Deutschlands und der EU: Maßnahmen und Beurteilungen
I. Problemstellung Sowohl der privatwirtschaftliche Neuerungsprozeß als auch die staatliche Forschungsund Technologiepolitik sind bei uns in jüngster Zeit wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Jahrelang war ein technologischer Rückstand der deutschen wie auch der gesamten westeuropäischen Industrie gegenüber der US-amerikanischen sowie japanischen Konkurrenz zu beklagen (Weiss 1996, 76 ff ). Sowohl die Quote der industriefinanzierten an den gesamten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung (FuE) als auch die der Wissenschaftler und Ingenieure an allen Erwerbstätigen waren noch zu Beginn der neunziger Jahre in den westeuropäischen Industriestaaten erheblich geringer als in den USA oder gar Japan. Während der Anteil der EG-Unternehmen an allen Erfindungen mit internationaler Patentanmeldung in den siebziger und achtziger Jahren zurückging, stieg er in Japan um über achtzig Prozent. Auch bei den Spitzentechnologien verschlechterte sich Ende der achtziger Jahre die Wettbewerbsposition der westeuropäischen Industrie im Verhältnis zu Japan und den USA. Viele Experten gingen sogar davon aus, die Entwicklungsrückstände der europäischen Unternehmen seien kaum noch zu beseitigen. In jüngster Zeit scheint sich die technologische Situation jedoch zumindest bei uns verbessert zu haben. Deutschland ist offenbar mit großem Erfolg dabei, ein Hochtechnologieland zu werden. Der Anteil der höherwertigen Technik an der Bruttowertschöpfung erreiche inzwischen in der Bundesrepublik die weltweite Spitzenstellung {Niedersächsisches Institut für Wirtschafisforschung u. a. 1997, 4). Allerdings müßten Forschung und Technologie (FuT) weiter vorangetrieben werden. Und auch die staatliche FuT-Politik müsse zukünftig noch mehr leisten. Damit stellen sich verschiedene Fragen zur Politik im FuT-Bereich bei uns wie auch in der Europäischen Union. Wie erfolgt die Förderung von FuE auf der deutschen sowie europäischen Ebene? Wie entwickeln sich Niveau und Struktur der Fördermaßnahmen im einzelnen? Ist eine FuT-Politik aus volkswirtschaftlicher Sicht überhaupt gerechtfertigt? Wie sind die einzelnen Maßnahmen dieser Politik ökonomisch zu würdigen? Und sollte vielleicht die gemeinsame FuT-Politik auf Kosten der nationalen Aktivitäten ausgeweitet werden? Mit diesen Fragen wollen wir uns - im Anschluß an einige Begriffsbestimmungen - in den folgenden Kapiteln beschäftigen.
466 · Norbert Eickhof
II. Begriffsbestimmungen und Förderungsarten 1. Die wichtigsten Begriffe Die Forschungs- und Technologiepolitik umfaßt alle staatlichen Maßnahmen, die darauf abzielen, den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zu fördern. Im einzelnen lassen sich eine FuT-Politik im engeren und eine im weiteren Sinne unterscheiden. Die erstgenannte beinhaltet lediglich finanzielle Aktivitäten, beispielsweise FuEPersonalkostenzuschiisse oder Projektkostenbeteiligungen. Die letztgenannte bezieht zusätzlich noch nicht-finanzielle Instrumente mit ein, wie das Patentrecht oder die kartellrechtliche Freistellung von FuE-Kooperationen. Da gerade die FuT-Politik im engeren Sinne im Mittelpunkt der aktuellen öffentlichen Diskussion steht, soll allein auf sie im folgenden näher eingegangen werden. Die Maßnahmen der FuT-Politik können in selektive und nicht-selektive, allgemeine unterteilt werden. Erstere dienen dazu, bestimmte FuE-Projekte, -Programme oder Technologien zu fördern. Sie enthalten insofern ein FuT-orientiertes Steuerungspotential. Mit den allgemeinen Maßnahmen der FuT-Politik will der Staat dagegen die Neuerungsaktivitäten unterstützen, ohne die Richtung des wissenschaftlichen oder technischen Fortschritts unmittelbar zu beeinflussen beziehungsweise den volkswirtschaftlichen Neuerungsprozeß im einzelnen mitzugestalten. Welche Arten der Förderung gibt es jedoch in der Bundesrepublik und in der EU?
2. Die einzelnen Förderungsarten a. Bundesrepublik Deutschland Bei uns sind mindestens fünf Förderungsarten zu unterscheiden. Im einzelnen handelt es sich um die direkte Projektförderung, die indirekt-spezifische Förderung, die indirekte FuE-Förderung, die Förderung der Verbundforschung sowie die institutionelle Förderung (BMBF 1996, 96 ff., 544 f.). Diese Förderungsarten werden teils selektiv, teils allgemein durchgeführt (Abbildung 1). Bei der direkten Projektförderung geht es um die finanzielle Förderung bestimmter Projekte der Grundlagenforschung sowie der angewandten Forschung und Entwicklung in Unternehmen, aber auch in bestimmten Forschungseinrichtungen, auf die im Rahmen der institutionellen Förderung noch einzugehen ist. Diese Vorhaben sind insbesondere dem Bereich der "Zukunftstechnologien" sowie dem der "Daseinsvorsorge" zuzuordnen.1 Die direkte Projektförderung zählt eindeutig zu den selektiven Maßnahmen der FuT-Politik.
1 Zum erstgenannten Bereich gehören unter anderem die Weltraumforschung und -technik, die nukleare Energieforschung sowie die Biotechnologie, zum letztgenannten ζ. B. die Meeres-, Polar- und Klimaforschung. Vgl. BMBF (1996, 100).
Die Forschungs- und Technologiepolitik Deutschlands und der EU · 4 6 7
Die indirekt-spezifische Förderung der Wirtschaft zielt nicht auf die Durchführung einzelner Forschungsprojekte, sondern auf die Diffusion bereits verfugbarer Technologien, konkret auf deren möglichst zügige und umfassende Anwendung in den Unternehmen. Eine FuT-bezogene Steuerung erfolgt jetzt durch die staatliche Auswahl bestimmter förderungswürdiger Technologien.2 Insofern gehört auch diese Förderungsart zu den selektiven Maßnahmen. Die einzelnen Förderinstrumente entsprechen jedoch denen der nicht-selektiven, indirekten FuE-Förderung der Wirtschaft. Abb. 1:
Selektive und allgemeine Maßnahmen der FuT-Politik Selektive Maßnahmen • Direkte Projektförderung • Indirekt-spezifische Förderung der Wirtschaft
BRD
• Institutionelle Förderung: Finanzierung spezieller,
Allgemeine Maßnahmen • Indirekte FuE-Förderung der Wirtschaft • Förderung der Verbundforschung • Institutionelle Förderung:
bundes- oder landeseigener
Grundfinanzierung
Forschungseinrichtungen
der Trägerorganisationen sowie der Hochschulen
• Direkte Aktionen: Eigenforschung (GFS) EU
• Indirekte Aktionen: Vertragsforschung
• Konzertierte Aktionen • Horizontale Aktionen • EUREKA. Allgemeine Förderung
•EUREKA: ProjektfÖrderung
Die indirekte FuE-Förderung der Wirtschaft intendiert keine Selektion bestimmter Technologien oder gar einzelner Forschungsprogramme und -projekte. Vielmehr sollen mit ihrer Hilfe die FuE-Möglichkeiten der Unternehmen generell verbessert werden. Jetzt handelt es sich offenbar um allgemeine Maßnahmen der FuT-Politik. Zu den entsprechenden Förderinstrumenten sind neben steuerlichen Vergünstigungen die Förderung des FuE-Personals, Hilfen zur Verbesserung des Technologietransfers sowie die Förderung der Technologie- und Innovationsberatung zu zählen. Strenggenommen gehört auch die technologieunspezifische Förderung der vorwettbewerblichen Verbundforschung kleiner und mittlerer Unternehmen zu den allgemeinen Maßnahmen. Zwar werden nun Projekte mehrerer Unternehmen in einem mehrstufigen Verfahren unter Beteiligung von Wirtschaft und Wissenschaft von der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen (AiF) auf ihren Gemeinschaftscharakter hin untersucht und gegebenenfalls dem Bundesministerium für Wirtschaft zur Förderung vorgeschlagen. Die Subventionierung der einzelnen Projekte erfolgt allerdings ohne 2 Beispiele hierfür sind bestimmte Verfahren der Energieerzeugung, der Biotechnologie sowie der Fertigungstechnik. Vgl. BMBF( 1996, 102).
468 · Norbert Eickhof inhaltliche staatliche Selektion aus einem vorab festgelegten Budget, wobei die Projekte entweder in eigenen Forschungsinstituten der Mitgliedsvereinigungen oder in externen Einrichtungen durchgeführt werden (AiF1992). Die institutionelle Förderung ist weit verzweigt. Zu ihr gehört zunächst einmal die staatliche Grundfinanzierung der Trägerorganisationen und der Hochschulen. Dabei sind jene Mittel, die der Max-Planck-Gesellschaft (MPG), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Fraunhofer-Gesellschaft (FhG) oder den Hochschulen von Bund und Ländern projekt- und technologieunspezifisch zur Verfugung gestellt werden, als allgemeine Maßnahmen der FuT-Politik zu klassifizieren. Die Trägerorganisationen und Hochschulen verwenden diese Mittel sodann nach "wissenschaftsimmanenten Kriterien" {Reger 1995, 389). Zur institutionellen Förderung zählt aber auch die Finanzierung ganz spezieller, hundes· oder landeseigener Forschungseinrichtungen. Dabei handelt es sich vor allem um die 16 nationalen Großforschungseinrichtungen3 sowie die Bundes- und Landesforschungsanstalten. Zwar beschränkt sich die Tätigkeit dieser Institutionen in erster Linie auf Projekte der Grundlagenforschung. Aber gleichwohl erfolgt eine gezielte FuTSteuerung durch den Staat, dienen diese Institutionen doch der Erforschung bestimmter Technologien sowie der Beantwortung konkreter Fragestellungen, die zur Fundierung politischer Entscheidungen für erforderlich gehalten werden. Daher gehört dieser Bereich wiederum zu den selektiven Maßnahmen. Neben den bislang skizzierten finanziellen Aktivitäten könnten noch nicht-finanzielle, ordnungspolitische Instrumente der FuT-Politik berücksichtigt werden. Gemeint sind das Patentwesen, die Organisation der (Risiko-)Kapitalmärkte, wettbewerbsrechtliche Regelungen wie die kartellrechtliche Freistellung von FuE-Kooperationen, die Vorschriften bezüglich der Genehmigungsverfahren bei Produkt- und Prozeßinnovationen und ähnliches (Meyer-Krahmer 1992, 122 ff; Rahmeyer 1995, 49 ff). Diese Instrumente, die einen erheblichen Einfluß auf die Neuerungsaktivitäten (nicht nur) der Unternehmen ausüben und somit zu deren Beeinflussung eingesetzt werden können, zählen zur FuT-Politik im weiteren Sinne. Auf sie soll jedoch, wie bereits angekündigt, im folgenden nicht näher eingegangen werden. b. Europäische Union In der EU können vier Förderungsarten unterschieden werden. Konkret handelt es sich um direkte, indirekte, konzertierte und horizontale Aktionen (Starbatty und Vetterlein 1998, 692 ff). Auch diese werden teils selektiv, teils allgemein durchgeführt (Abbildung 1). Alle Aktionen werden schließlich in mehrjährigen Rahmenprogrammen für Forschung und technologische Entwicklung4 zusammengefaßt, auf die noch zurückzukommen ist. 3 Hierzu gehören beispielsweise das Kernforschungszentrum in Jülich sowie die Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt in Köln. Vgl. BMBF (1996, 86 f.). 4 Grundlage dieser Rahmenprogramme ist Art. 130i des EG-Vertrages. Vgl. auch Marien-Dusak (1996).
Die Forschungs- und Technologiepolitik Deutschlands und der EU · 469
Zu den direkten Aktionen der EU gehört in erster Linie die Eigenforschung in derzeit sieben Forschungsinstituten, die auch als "Gemeinsame Forschungsstelle" (GFS) zusammengefaßt werden. Diese Institute sind in fünf Mitgliedstaaten angesiedelt und auf bestimmte Fachgebiete spezialisiert.5 Im Mittelpunkt steht die Grundlagenforschung in den Bereichen Energie und Umweltschutz. Die direkten Aktionen entsprechen der institutionellen Förderung spezieller Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik und sind wie diese den selektiven Maßnahmen der FuT-Politik zuzuordnen. Die indirekten Aktionen werden auch als Vertragsforschung auf Kostenteilungsbasis (cost-shared actions) bezeichnet. In diesem Rahmen schreibt die EU spezifische Programme aus und entscheidet sich sodann für einzelne Projekte, die von Unternehmen, aber auch von Forschungsinstituten sowie Hochschulen vorgeschlagen werden. Als Förderung wird in der Regel ein Zuschuß von fünfzig Prozent der Forschungskosten gewährt. Auch diese Aktionen, deren behauptete Vorwettbewerblichkeit umstritten ist (Oberender und Fricke 1992, 233), gehören zu den selektiven Maßnahmen. Etwas anderes gilt für die konzertierten Aktionen. Mit ihnen will die EU supranationale Forschungsanstrengungen initiieren oder zumindest koordinieren und somit die Zusammenarbeit im Bereich der Forschung innerhalb der Gemeinschaft fördern. Diese Förderung erfolgt ohne FuT-spezifische Schwerpunktsetzung und ist insofern den allgemeinen Maßnahmen der FuT-Politik zuzuordnen. Die horizontalen Aktionen der EU dienen demgegenüber der Abrundung und Ergänzung der Gemeinschaftsaktivitäten und umfassen verschiedene Hilfsmaßnahmen bezüglich der Forschungsinfrastruktur, des Technologietransfers sowie der Kooperation und des Austausches in Ausbildung und Forschung. Da eine FuT-orientierte Steuerung weitgehend fehlt, sollen auch diese Aktionen grundsätzlich den allgemeinen Maßnahmen zugerechnet werden. Von den Aktionen der Rahmenprogramme sind die Maßnahmen des Programms EUREKA zu unterscheiden. Mit deren Hilfe soll die Unternehmenskooperation bei marktnahen FuE-Projekten gefördert werden. Beschränkt sich die EU in diesem Rahmen auf unspezifische Informationsleistungen, liegen allgemeine Maßnahmen der FuT-Politik vor. Beteiligt sie sich jedoch finanziell an einzelnen Projekten6, handelt es sich um selektive Aktivitäten. Nicht nur auf der deutschen, sondern auch auf der europäischen Ebene könnten ferner noch nicht-finanzielle Instrumente der FuT-Politik berücksichtigt werden. Hierzu gehören beispielsweise die Europäische Patentpolitik, die wettbewerbsrechtliche Freistellung von FuE-Kooperationen gemäß Art. 85 Abs. 3 des EG-Vertrages sowie die Ausgestaltung der gemeinsamen Handelspolitik. Aber auch hierauf soll im folgenden nicht näher eingegangen werden. Welche Bedeutung kommt jedoch den finanziellen Aktivitäten beziehungsweise der FuT-Politik im engeren Sinne in der Bundesrepublik und in der EU zu? Wie haben sich das Niveau und die Struktur der Fördermaßnahmen konkret entwickelt?
5 Dazu zählt etwa das Institut für Transuran in Karlsruhe. 6 Entsprechende Projekte sind das Fernseh-Projekt HDTV und das Mikrochip-Projekt JESSI. Vgl. Winter (1994, 115, 130 f.).
470 · Norbert Eickhof
III. Niveau und Struktur der Fördermaßnahmen 1. Bundesrepublik Deutschland In der Bundesrepublik haben sich die Forschungs- und Wissenschaftsausgaben, also die gesamten Ausgaben des Staates und der Privaten für Forschung, Entwicklung und Wissenschaft in den letzten zwanzig Jahren weit mehr als verdreifacht (Tabelle 1). Seit 1992 liegen sie bei über 100 Mrd. DM. Das sind gut drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Abgesehen von den Jahren 1986 bis 1990 waren die Wissenschaftsausgaben der Gebietskörperschaften größer als die FuE-Aufwendungen der Privatwirtschaft. Bei den Gebietskörperschaften dominieren wiederum insbesondere seit der Wiedervereinigung die Länder. Deren Wissenschaftsausgaben sind kontinuierlich gestiegen. Dagegen haben sich die des Bundes seit 1992 kaum verändert. Der Anteil dieser Ausgaben am Bundeshaushalt belief sich 1996 auf gut vier Prozent. Hauptträger der Fördermaßnahmen ist das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (mit einem Anteil von 62,2 %), gefolgt vom Bundesverteidigungsministerium (16,0 %) und vom Bundeswirtschaftsministerium (6,1 %). Tabelle 1:
1975 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996
Forschungs- und Wissenschaftsausgaben der BRD und der EU (in Mio. DM) Gesamtausgaben 31.691 49.475 52.699 55.397 57.698 64.161 67.518 71.931 74.902 79.376 84.123 95.654 100.032 101.657 101.955 105.577 109.117
Privatwirtschaft 11.808 22.214 23.783 25.876 27.449 31.523 34.047 37.373 39.280 41.817 43.807 47.569 48.673 48.947 49.010 49.730 50.670
BRD
EU*
Gebietskörperschaften Länder insgesamt Bund 19.883 10.341 8.996 27.261 14.765 11.856 28.916 15.014 13.133 29.521 15.300 13.284 15.564 30.249 13.588 32.638 16.819 14.580 33.471 17.223 14.836 34.558 17.976 15.069 18.738 35.622 15.243 37.559 19.408 16.328 40.316 20.700 17.536 48.085 26.094 19.989 51.359 28.544 20.750 52.710 30.351 20.408 52.945 30.889 19.948 55.847 33.362 20.179 58.447 34.836 21.305
2.500 2.500 2.500 2.700 2.700 2.700 3.300 3.300 3.300 3.300 6.550 6.550 6.550
* Durchschnittswerte, bezogen auf die Rahmenprogramme. Quelle: BMFT und BMWi 1993, 546; IW 1995, Tab. 110; BMBF 1996, 530, sowie Fortschreibungen.
Die Forschungs-und Technologiepolitik Deutschlands und der EU · 471 Wird die Struktur der Wissenschaftsausgaben des Bundes etwas genauer untersucht, zeigen sich interessante Größen und Entwicklungen. Diese betreffen das Verhältnis der selektiven zu den allgemeinen Maßnahmen der FuT-Politik, die Anteile der Förderung der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung und Entwicklung sowie den Wandel der thematischen Förderungsschwerpunkte. Betrachten wir diese Aspekte etwas genauer. Nach Gründung der Bundesrepublik dominierten zunächst die allgemeinen Maßnahmen der FuT-Politik, konkret: die allgemeine institutionelle Förderung. Im Laufe der Jahre gewannen jedoch die selektiven Maßnahmen das Übergewicht (Bruder und Dose 1986, 12 f f ; Wollmann 1989). Dazu trugen sowohl die Notwendigkeit des Auf- und Ausbaus der speziellen Forschungseinrichtungen als auch eine Umorientierung der FuTPolitik bei: Der Staat müsse sich, so das neue Leitbild dieser Politik gegen Ende der sechziger Jahre, auf die Förderung "zukunftsweisender" Technologien konzentrieren. Hierzu wurden vor allem die Luft- und Raumfahrt, die elektronische Datenverarbeitung und die Kernenergie gezählt. Zu Beginn der achtziger Jahre betrug der Anteil der selektiven Maßnahmen an den gesamten Wissenschaftsausgaben des Bundes fast achtzig Prozent. 1989 wurde diese Marke sogar überschritten (Tabelle 2). Nach der Wiedervereinigung kam es jedoch zu einer Veränderung dieser Entwicklung. Die allgemeinen Maßnahmen wuchsen infolge des Nachholbedarfs im Bereich der allgemeinen institutionellen Förderung in den neuen Bundesländern einige Zeit lang überproportional. 1996 stieg allerdings der Anteil der selektiven Maßnahmen wieder an, und zwar auf 72,8 %. Tabelle 2:
Selektive Maßnahmen Allgemeine Maßnahmen
Anteile der selektiven und der allgemeinen Maßnahmen an den Wissenschaftsausgaben des Bundes (in %) 1981 78,5
1983 76,9
1985 78,9
1987 79,5
1989 80,5
1991 76,1
1993 73,2
1995 72,0
1996 72,8
21,5
23,1
21,1
20,5
19,5
23,9
26,8
28,0
27,2
Quelle: BMFT und BMWi 1993, 554 ff.; BMBF1996, 538 ff. Es bereitet erhebliche Schwierigkeiten, einigermaßen exakt anzugeben, inwieweit die Aktivitäten der FuT-Politik im engeren Sinne der Grundlagenforschung oder der angewandten Forschung und Entwicklung zugute kommen. Betrachtet man daher lediglich die selektiven Maßnahmen des Bundes sowie die Jahre kurz vor und nach der Wiedervereinigung, so ergibt sich folgendes Bild: In den zivilen Bereichen betrug der Anteil der Förderung der Grundlagenforschung 1988 30,6 % und 1992 30,8 %. Bezieht man den Bereich der militärischen Forschung mit ein, so verringern sich diese Anteile sogar auf 22,9 % beziehungsweise 24,0 % (BMFT und BMWi 1993, 82; BMBF 1996, 82). Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß in jüngerer Zeit selbst bei der Förderung der Grundlagenforschung eine möglichst starke Anwendungsorientierung angestrebt wird (Altenmüller 1994).
472 · Norbert Eickhof
Nicht nur das Verhältnis der selektiven zu den allgemeinen Maßnahmen, sondern auch die thematischen Förderungsschwerpunkte der FuT-Politik unterliegen einem permanenten Wandel. Beschränkt man sich auf die Wissenschaftsausgaben des Bundes sowie auf die Zeit seit Beginn der achtziger Jahre, so erweisen sich die Umwelt- und Klimaforschung, die Informationstechnologien, die Gesundheitsforschung sowie die Biotechnologie als Gewinner, die Energieforschung und -technik dagegen als Verlierer im Kampf um die Fördermittel (Tabelle 3). Die Weltraumforschung und -technik weist dagegen bis 1993 einen steigenden und seitdem einen sinkenden Anteil an den Wissenschaftsausgaben des Bundes auf. Tabelle 3:
Anteile der einzelnen Förderbereiche an den Wissenschaftsausgaben des Bundes (in %)
Grundfinanzierung d. Wissenschaftsorg. Großgeräte der Grundlagenforschung Weltraumforschung und -technik Umwelt- und Klimaforschung Energieforschung und -technik Informationstechnologien Gesundheitsforschung Geisteswissenschaften Materialforschung Biotechnologie Luftfahrtforschung Sonstige zivile Förderbereiche Innovation und Rahmenbedingungen Wehrforschung
1981
1983
1985
1987
1989
1991
1993
1995
1996
16,0
17,9
15,5
15,6
15,9
20,6
22,4
23,1
22,3
5,1
5,2
5,8
6,7
6,0
4,9
5,0
5,2
5,0
5,6
5,4
5,7
7,0
7,5
7,8
8,9
7,7
7,5
4,1
3,9
4,5
4,8
4,9
5,1
6,0
6,2
6,2
18,0
18,7
15,7
9,5
8,7
7,2
6,3
5,8
6,0
3,2
4,1
4,3
5,6
4,3
4,4
4,9
5,1
5,1
3,4
3,3
3,3
3,8
4,2
4,0
4,7
4,7
4,8
2,7
2,7
2,6
2,7
2,9
3,2
3,9
4,0
4,0
3,2
3,1
3,3
3,6
4,1
3,7
3,7
3,7
3,7
0,8 4,0 16,2
1,0 2,8 13,2
1,0 3,6 12,6
1,6 3,5 12,4
1,6 4,4 13,5
1,4 4,5 14,8
2,0 3,0 12,5
2,2 1,7 12,3
2,2 1,6 12,2
4,7
4,4
4,7
3,9
2,8
2,5
3,7
4,4
4,4
13,0
14,3
17,4
19,3
19,2
15,9
13,0
13,9
15,0
Quelle: BMFT und BMWi 1993, 554 ff.; BMBF1996, 538 ff.
Die Forschungs- und Technologiepolitik Deutschlands und der EU · 473 2. Europaische Union Verglichen mit dem deutschen Niveau sind die EU-Ausgaben für Forschung und technologische Entwicklung gering. Hinzu kommt, daß sie sich inzwischen auf fünfzehn Mitgliedstaaten verteilen. Allerdings weisen sie gerade in jüngerer Zeit eine relativ hohe Wachstumsrate auf. So wurden für das erste der bereits angesprochenen Rahmenprogramme, das heißt für die Jahre 1984 bis 1987, 3,75 Mrd. ECU, für das Zweite Rahmenprogramm (1987 - 1991) 5,4 Mrd. ECU, für das Dritte Rahmenprogramm (1990 1994) 6,6 Mrd. ECU und für das Vierte Rahmenprogramm (1994 - 1998) 13,1 Mrd. ECU bereitgestellt (Starbatty und Vetterlein 1998, 701). Da sich das letztgenannte Programm über vier Jahre erstreckt, kann die EU in dieser Zeit pro Jahr 3,275 Mrd. ECU oder etwa 6,55 Mrd. DM für Forschung und technologische Entwicklung ausgeben (Tabelle 1). Das sind etwas weniger als vier Prozent des EU-Haushalts. Die Struktur der FuE-Ausgaben der EU gleicht der der Wissenschaftsausgaben des Bundes. Auch auf europäischer Ebene dominieren die selektiven Maßnahmen. Deren Anteil ist sogar erheblich höher als bei uns, allerdings geht er bis zum Vierten Rahmenprogramm kontinuierlich zurück. Bezogen auf dieses Programm entfallen rund sieben Prozent auf die Gemeinsame Forschungsstelle und etwa 78 % auf die Vertragsforschung, so daß für die konzertierten und horizontalen Aktionen als allgemeine Maßnahmen nur knapp fünfzehn Prozent der gesamten FuE-Ausgaben der EU verbleiben (Tabelle 4). Tabelle 4:
Anteile der selektiven und der allgemeinen Maßnahmen an den FuEAusgaben der EU (in %)
Selektive Maßnahmen Allgemeine Maßnahmen
l.RP 98,7
2.RP 93,2
3 . RP 88,0
4 . RP 85,2
5. RP 86,2
1,3
6,8
12,0
14,8
13,8
Quelle: Klodt, Stehn u. a. 1992, 104; Starbatty und Vetterlein 1998, 701; Europäische Kommission 1994, 1997. Darüber hinaus zeigt sich, daß die EU gerade mit dem Vierten Rahmenprogramm eine Verschiebung ihrer Förderung zu Lasten der Grundlagenforschung und zugunsten der angewandten Forschung und Entwicklung verfolgt. Seit dem Vertrag von Maastricht bemüht sie sich generell um eine stärkere Ausrichtung ihrer FuT-Politik auf marktnahe Projekte (Looser, Soltwedelu. a. 1993, 61 f., 148; Haas 1995, 89 f.). Schließlich weisen auch die thematischen Förderungsschwerpunkte vielfaltige Veränderungen auf. Besonders auffallend ist der zwar sinkende, aber immer noch große Anteil der Informationsund Kommunikationstechnologien an den FuE-Ausgaben der EU (Tabelle 5). Ferner hat die Anzahl der von der Gemeinschaft geförderten Projekte und Programme stetig zugenommen.
474 • Norbert Eickhof Tabelle 5:
Anteile der Forschungsthemen und Aktionsbereiche an den FuEAusgaben der EU (in %) 2 . RP
3. RP
4. RP
Informations- und Kommunikationstechnologien Industrielle und Werkstofftechnologien Umweltforschung
42,2
37,6
27,6
15,7
15,1
16,1
5,8
8,8
8,6
Biotechnologien
12,1
12,3
12,5
Energieforschung
22,4
15,9
18,3
Gesellschaftspolitische Schwerpunktforschung
0,4
0,3
1,2
Quelle: Starbatty und Vetterlein 1998, 701; Europäische Kommission 1994. Die Vorschläge fur das Fünfte Rahmenprogramm (1998 - 2002) enthalten einige bedeutsame Weiterentwicklungen. Die bisherige Ausweitung der europäischen FuTPolitik wird fortgesetzt. Das neue Rahmenprogramm soll mit etwa 16,3 Mrd. ECU ausgestattet werden. Gegenüber dem Vierten Rahmenprogramm bedeutet das eine Zunahme um fast 25 %. Der Anteil der selektiven Maßnahmen wird vermutlich leicht ansteigen (Tabelle 4). Dabei soll die FuE-Förderung der EU noch anwendungs- und marktnäher als bisher erfolgen. Gleichzeitig wird eine stärkere Konzentration der Mittel auf bestimmte Technologiefelder und Aufgabenbereiche angestrebt (Europäische Kommission 1997). Damit soll der Überblick über die deutsche und europäische FuT-Politik im engeren Sinne abgeschlossen werden. Wie sind jedoch die vorgestellten Aktivitäten aus volkswirtschaftlicher Sicht zu beurteilen? Inwieweit ist eine FuT-Politik überhaupt gerechtfertigt?
IV.
Generelle volkswirtschaftliche Rechtfertigungsversuche der FuTPolitik
1. Erste Argumente und Gegenargumente In einer Marktwirtschaft obliegt es grundsätzlich den Unternehmen, Prozeß- und Produktinnovationen durchzufuhren. Staatliche FuT-Politik im engeren Sinne kann daher nur subsidiär gerechtfertigt sein. Konkret wird diese Politik mit unterschiedlichen, tatsächlichen und vermeintlichen Marktmängeln begründet, die vielfach auch als Markt-
Die Forschungs- und Technologiepolitik Deutschlands und der EU · 475 versagen klassifiziert werden (Eickhof 1986, 1993). Vor allem sechs Argumentationslinien sind zu unterscheiden. Ein erstes Argument behauptet, die privaten Unternehmen verfugten nur über eine volkswirtschaftlich suboptimale Risikobereitschaft (Streit 1992, 2). Soll die gesamtwirtschaftliche Neuerungsaktivität darunter nicht leiden, müßten staatliche Instanzen mit Hilfe von FuE-Subventionen, aber auch mittels Wettbewerbsbeschränkungen die privaten Neuerungsrisiken verringern. Diese Argumentation kann jedoch nicht überzeugen. Zum einen ist es mehr als fraglich, ob die privaten Unternehmen tatsächlich nur eine volkswirtschaftlich suboptimale Risikobereitschaft aufweisen. Zum anderen ist es nicht nachvollziehbar, wieso gerade die staatlichen Instanzen das optimale Neuerungsrisiko kennen, was allerdings erforderlich ist, wenn sie den privaten Unternehmen adäquat helfen sollen. Ein zweites Argument geht davon aus, daß zahlreiche Neuerungsprojekte Mindestgrößen oder Unteilbarkeiten aufweisen, die insbesondere fur junge, kleine Unternehmen existenzgefährdend werden könnten (Ewers und Fritsch 1987, 113; Streit 1992, 2; Rahmeyer 1995, 39 f.). Der Staat habe daher die Aufgabe, mindestgrößen- oder unteilbarkeitsbedingte Existenzgefährdungen vor allem durch finanzielle Hilfsmaßnahmen zu verringern. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß derartige Existenzgefährdungen wohl besser durch Kooperationen mehrerer, sich ergänzender Unternehmen als durch relativ unspezifische Finanzhilfen des Staates bekämpft werden können. Diese Argumentation spricht also insbesondere dafür, die erforderlichen Kooperationen kartellrechtlich zu ermöglichen, wobei natürlich zu gewährleisten ist, daß sie sich nicht wettbewerbsbeschränkend auswirken. Ein drittes Argument zielt auf besondere Finanzierungsprobleme bei Neuerungsaktivitäten (Eekhoff\ Enste und Wehmeyer 1997, 337). Den teilweise erheblichen Aufwendungen zu Beginn sowie im Verlaufe eines FuE-Prozesses stehen normalerweise erst nach der erfolgreichen Markteinführung der Neuerung Einnahmen gegenüber. Newcomer sowie Einproduktunternehmen ohne Möglichkeit der internen Subventionierung sind deshalb besonders stark auf einen freien Zugang zu Risikokapitalmärkten angewiesen. Die Banken erweisen sich allerdings wegen der neuerungstypischen Unsicherheiten und Informationsasymmetrien als relativ risikoscheu. Daher müsse der Staat den neuerungswilligen, aber kapitalschwachen Unternehmen finanziell helfen. An dieser Stelle ist jedoch zu bedenken, daß der Staat in einer Marktwirtschaft nicht als Ersatz des Bankensystems fungieren kann. Zwar sind Fälle denkbar, in denen er einzelnen Unternehmen durch Bürgschaften, über Wagnisfinanzierungs- und Kapitalbeteiligungsgesellschaften und ähnliches helfen sollte. Allerdings fuhren bereits diese Maßnahmen zu verschiedenen Problemen, auf die noch näher einzugehen ist (vgl. V.2., 3 ). Wichtiger erscheint es daher, daß der Staat vor allem die Rechte des Faktors Kapital in den Unternehmen stärkt, die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Kapital- und Finanzmärkte zugunsten junger, kleiner, innovativer Unternehmen verbessert sowie eine moderate, neuerungsfreundliche Steuerpolitik betreibt, die beispielsweise die rasche Bildung von Eigenkapital aus Pioniergewinnen ermöglicht.
476 · Norbert Eickhof Ein viertes Argument verweist auf neuerungsbezogene Informationskosten. Informationen über relevante FuE-Ergebnisse seien nicht zuletzt fur kleine und mittlere Unternehmen häufig so teuer, daß von transaktionalem Markt- und Wettbewerbsversagen gesprochen werden könne {Eickhof 1993, 210, 219). Aufgabe des Staates sei es deshalb, den Unternehmen möglichst kostenlos Technologieberatungs- und -transferleistungen zur Verfugung zu stellen. Gegen diese Argumentation sind jedoch mindestens zwei Einwände zu erheben: Staatliche Technologieberatung zugunsten privater Unternehmen ist mit erheblichen marktwirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Problemen verbunden, auf die noch eingegangen werden soll (vgl. V.2., 3.). Staatliche Technologietransfers sind dagegen ungerechtfertigt, soweit sich entsprechende Informationsmärkte herausbilden oder herausbilden würden. Ist damit im Einzelfall allerdings nicht zu rechnen, können staatliche Transfereinrichtungen, wie sie ja auf nationaler und EU-Ebene existieren, grundsätzlich gerechtfertigt sein. 2. Wachstums- und innovationstheoretische Aspekte Aus der Wohlfahrtsökonomik ergibt sich ein weiteres, fünftes Argument. Dieses wurde in jüngerer Zeit durch die neue Wachstumstheorie noch aufgewertet und kann heute als volkswirtschaftliches Standardargument zur Begründung der FuT-Politik betrachtet werden. Es bezieht sich darauf, daß die meisten FuE-Aktivitäten positive Externalitäten verursachen.7 Mangels finanzieller Gegenleistungen unterschreite jedoch der Umfang dieser Aktivitäten das volkswirtschaftliche Optimum. Dem Staat falle daher die Aufgabe zu, diese Externalitäten so abzugelten, daß das volkswirtschaftliche Optimum erreicht werde. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, daß der Staat die dafür erforderlichen Informationen in der Regel überhaupt nicht besitzt. Normalerweise weiß er weder, welche positiven Externalitäten von wem bewirkt und von wem genutzt werden, noch, welche volkswirtschaftlichen Werte sie im einzelnen darstellen und in welcher Höhe sie zu subventionieren sind. Hinzu kommt, daß positive Externalitäten beziehungsweise technologische Spillovers nicht allein in neoklassischer Tradition als negativ zu bewertende Marktmängel, sondern auch im Sinne von Schumpeter als zentrale, stimulierende Faktoren des evolutorischen, marktüberschreitenden Neuerungsprozesses betrachtet werden sollten (Hanusch und Canter 1993, 34; Rahmeyer 1995, 41 ff ). Dann aber hat der Staat zum einen die Aufgabe, das Patentrecht so auszubauen und weiterzuentwickeln, daß möglichst viele Externalitäten internalisiert werden können. Zum anderen sollte er aber auch vorwettbewerbliche Formen technologischer Zusammenarbeit ermöglichen sowie neuerungsfreundliche Netzwerke (wie Technologieparks, Wissenschaftsstädte und ähnliches) fördern, damit verbleibende Externalitäten so weit wie möglich genutzt werden können. Positive Externalitäten treten in Form öffentlicher Güter auf. Das fuhrt zu einem sechsten und letzten Argument für eine staatliche FuT-Politik. Dieses Argument geht davon aus, daß ein Großteil der Ergebnisse der FuE-Aktivitäten öffentliche Güter 7
Vgl. hierzu vor allem Romer (1986, 1990), Lucas (1988); ferner Kösters (1994, 117 ff.), Haas (1995, 74 ff.), Hanusch (1995, 18 ff), Canter (1995, 28 ff), Strecker (1998, 4 ff).
Die Forschungs- und Technologiepolitik Deutschlands und der EU · 477 darstellt, also Güter, von deren Nutzung kein Interessent ausgeschlossen werden kann, wenn sie erst einmal hergestellt worden sind, so daß der Markt bei ihrer Produktion versage und der Staat diese Aufgabe zu übernehmen habe. Auch dieses Argument muß differenziert betrachtet werden. So ist nicht davon auszugehen, daß jedes FuE-Ergebnis von allen Interessenten kurzfristig und vollständig genutzt werden kann. Vielmehr müssen neben den bereits angesprochenen künstlichen Imitationsschranken in Form von Patenten auch natürliche Imitationshindernisse berücksichtigt werden. Diese ergeben sich aus dem Zeitbedarf und aus den Kosten, die ein Imitator aufzuwenden hat, um neues Wissen zu erlangen, zu verstehen, für seine Zwecke aufzubereiten sowie praktisch zu nutzen. In diesem Zusammenhang wird auch von graduellem Fortschritt oder von inkrementalen Innovationen gesprochen, die an firmenspezifische Lernprozesse geknüpft und nicht ohne weiteres in andere Kontexte übertragbar sind (Dunn 1995, 169). Sie verschaffen dem Kreator erfahrungsbedingte Vorsprünge bei der Nutzung neuen Wissens. Neuerungsprozesse sind insofern als kumulative Prozesse zu erklären: Jeder individuelle Fortschritt hängt vom individuellen Ausgangsniveau ab; nur relativ Fortgeschrittene sind in der Lage, weitere Fortschritte durchzufuhren sowie Neuerungen anderer schnell und auf hohem Niveau zu folgen. Daher wird in der neueren Innovationstheorie im Hinblick auf neues technologisches Wissen sowohl von privaten Gütern, die lediglich ihren Produzenten zur Verfugung stehen, als auch von „latenten" öffentlichen Gütern (Nelson 1990, 2 ff.) ausgegangen, also von Gütern, die erst nach einer bestimmten Zeit und zusätzlichen Aufwendungen von Dritten genutzt werden können. Gleichwohl gibt es zahlreiche Ergebnisse der FuE-Aktivitäten, die die Eigenschaft von öffentlichen Gütern im engeren Sinne haben. Das gilt für sogenannte generische Innovationen {Dunn 1995, 169), vor allem aber für die Ergebnisse der Grundlagenforschung, die zwar durchaus nicht immer sofort und vollständig von Dritten genutzt werden können, sich aber erheblich schwerer als die Resultate der angewandten Forschung und Entwicklung patentieren oder faktisch privatisieren lassen (Tanghe 1987, 169 ff ). Erwerbswirtschaftliche Unternehmen sind jedoch wegen der mangelnden Ausschließbarkeit grundsätzlich nicht daran interessiert, öffentliche Güter am Markt bereitzustellen. Nun liegt ein eindeutiger Fall des Marktversagens vor. Sollen diese Güter dennoch planmäßig hergestellt werden, muß der Staat - oder eine andere nichterwerbswirtschaftliche Institution - ihre Produktion organisieren, finanzieren oder zumindest subventionieren (Ewers und Fritsch 1987, 112 f.; Eickhof 1993, 210 f.). Die untersuchten Argumente haben also einige Ansatzpunkte für eine staatliche FuTPolitik im engeren Sinne ergeben. Vor allem aber das letztgenannte Argument kann relativ gut zur volkswirtschaftlichen Rechtfertigung der FuT-Politik - konkret: der staatlichen Förderung der Grundlagenforschung - herangezogen werden. Die empirische Analyse im III. Kapitel hat jedoch gezeigt, daß dieser Bereich auf der Ebene des Bundes nur eine sekundäre Rolle spielt. Ahnlich verhält es sich auf der europäischen Ebene: Bereits seit einiger Zeit strebt die EU eine Verschiebung der Förderung zu Lasten der Grundlagenforschung und zugunsten der angewandten Forschung und Entwicklung an. Deren Ergebnisse sind allerdings ungleich leichter erwerbswirtschaftlich nutzbar, so
478 · Norbert Eickhof daß eine verstärkte Förderung gerade dieses Bereichs ungerechtfertigt erscheint. Die auf der deutschen und europäischen Ebene praktizierte FuT-Politik steht somit weitgehend in einem Gegensatz zur volkswirtschaftlichen Argumentation.
V. Ökonomische Würdigung der einzelnen Maßnahmen 1. Schwächen der allgemeinen Maßnahmen Trotz mangelhafter volkswirtschaftlicher Rechtfertigung wird die FuT-Politik im hier untersuchten, engeren Sinne sowohl von praktischer als auch von wirtschaftswissenschaftlicher Seite verhältnismäßig positiv beurteilt. In besonderer Weise gilt das für die allgemeinen Maßnahmen, mit Abstrichen aber auch für die selektiven Maßnahmen dieser Politik. Eine solche Einschätzung kann nicht überraschen, verfolgt die FuT-Politik doch weithin anerkannte Ziele (Herne 1992, 58) und greift dabei auf Instrumente mit relativ geringer Eingriffsintensität zurück. In ihrem Rahmen gibt es weder Zwang noch Verbote. Dadurch unterscheidet sie sich von vielen anderen Politikbereichen, beispielsweise von den Branchenpolitiken mit ihren vielfältigen Marktregulierungen und ähnlichen ordnungspolitischen Ausnahmeregelungen {Eickhof 1993, 203 ff ). Statt dessen kennt die FuT-Politik im engeren Sinne nur positive Anreize, konkret: finanzielle Hilfsmaßnahmen zugunsten neuerungsbereiter Unternehmen und sonstiger Institutionen. Bei kritischer Betrachtung ruft die FuT-Politik im engeren Sinne jedoch verschiedene Bedenken und Einwände gegen die in ihrem Rahmen durchgeführten Maßnahmen hervor. In abgeschwächter Form gilt das sogar für den Bereich der allgemeinen, nicht-selektiven Maßnahmen. Hier ist zunächst folgende Problematik zu beachten. FuE-Subventionen können geringer oder größer bemessen sein. Im ersten Fall ist zu bezweifeln, ob von ihnen tatsächlich Anreizeffekte bezüglich der Neuerungsaktivitäten ausgehen. Wahrscheinlicher sind mm Mitnahmeeffekte (Meyer 1995, 129). Zwar fördert jetzt der Staat die unternehmerischen Neuerungsaktivitäten, aber deren Ausmaß wird nicht nennenswert zunehmen. Im zweiten Fall ist ebenfalls mit Mitnahmeeffekten zu rechnen. Sind die FuE-Subventionen indes größer dimensioniert, nehmen die öffentlichen Finanzierungsprobleme zu. Daher ist spätestens an dieser Stelle zu berücksichtigen, daß Subventionen auch aufgebracht werden müssen, wodurch sich Gewinner und Verlierer sowie höchst unterschiedliche Effekte auf das individuelle Neuerungsverhalten ergeben. Hinzu kommt, daß der umverteilende Staat seinerseits Ressourcen verbraucht, so daß nicht selten ein negativer Nettoeffekt hinsichtlich der gesamtwirtschaftlichen Neuerungsaktivitäten auftritt. Mit den allgemeinen Maßnahmen der FuT-Politik will der Staat, wie ja schon erläutert, die Neuerungsaktivitäten fordern, ohne die Richtung des Fortschritts zu beeinflussen. Allerdings sind die einzelnen Aktivitäten der allgemeinen FuT-Politik weder struktur- noch wettbewerbsneutral. So führt die Gewährung von FuE-Personalkostenzuschüssen zur Benachteiligung des Handwerks sowie des Mittelstands, denn diese Wirtschaftsbereiche verfügen normalerweise nicht über eigens ausgewiesenes FuE-
Die Forschungs- und Technologiepolitik Deutschlands und der EU · 4 7 9
Personal, so daß es ihnen Schwierigkeiten bereitet, die entsprechenden Zuschüsse zu erhalten. Werden dagegen FuE-Investitionszulagen gezahlt, haben es anlageintensive Branchen relativ leicht, in den Genuß dieser Zulagen zu kommen (Streit 1984, 50). Trotz relativ positiver Gesamtbeurteilung weisen also auch die allgemeinen Maßnahmen der FuT-Politik, denen sowohl auf der deutschen als auch auf der europäischen Ebene nur eine geringe Bedeutung zukommt, verschiedene Ineffizienzen auf. 2. Das Pro und Contra der selektiven Maßnahmen Von den allgemeinen lassen sich die selektiven Maßnahmen der FuT-Politik unterscheiden. Mit letzteren will der Staat, wie schon erläutert, die Richtung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts unmittelbar beeinflussen beziehungsweise den volkswirtschaftlichen Neuerungsprozeß im einzelnen mitgestalten. Dazu werden insbesondere drei Begründungen herangezogen. Eine erste Argumentation geht davon aus, der Markt sei relativ blind für die zukünftig erforderliche Produktionsstruktur {Hauff und Scharpf 1975, 45; Gemper 1994, 59, 70). Überlasse man die Entwicklung dieser Struktur den Marktteilnehmern, unterblieben wichtige, zukunftsweisende Verfahren und Produkte. Daher sei es Aufgabe des Staates, zukunftssichernde Projekte, Programme und Technologien gezielt zu fördern, oder mit anderen Worten, selektive Maßnahmen der FuT-Politik durchzufuhren. Diese Argumentation ruft allerdings verschiedene Bedenken hervor. So ist vor allem darauf hinzuweisen, daß staatliche Instanzen in der Regel keine besseren Informationen über die Zukunft haben als private Unternehmen. Höchstens hinsichtlich solcher Güter und Dienste, die der Staat selber nachfragt, kann etwas anderes gelten. Man denke etwa an den Bereich der Rüstung oder der Weltraumfahrt. Aber selbst hier sind Fehlprognosen und Fehlentscheidungen keine Seltenheit. Von diesen Produkten abgesehen sind Ministerien und nachgelagerte Bürokratien jedoch keineswegs besser darüber informiert, was die Nachfrager zukünftig wünschen oder was der technische Fortschritt demnächst ermöglicht. Behaupten staatliche Instanzen etwas anderes, handelt es sich um "Anmaßung von Wissen" {Hayek 1975). Auch die Hinzuziehung von Experten, die Bildung von Forschungsrunden, Strategiekreisen, Zukunftsräten und dergleichen kann an dieser Feststellung grundsätzlich nichts ändern. Ein gesamtwirtschaftlich positiver Effekt dieser Gremien besteht allenfalls in ihrer Informationsfunktion. Neue FuE-Ergebnisse aus anderen Bereichen können eventuell schneller verwertet werden, während der Staat die von ihm gesetzten Rahmenbedingungen und praktizierten Maßnahmen hinsichtlich des FuE-Prozesses vielleicht besser überprüfen kann. Auf der anderen Seite wächst mit der Etablierung derartiger Gremien die Gefahr, daß die Interessen einzelner Unternehmen oder sonstiger Institutionen leichter und unmittelbarer in den politischen Prozeß eindringen. Eine zweite Argumentation zur Begründung selektiver Maßnahmen der FuT-Politik bezieht sich nicht auf vermeintliche Mängel des Marktes und eine dementsprechende Notwendigkeit kompensatorischer Aktivitäten des Staates, sondern auf angebliche Chancen des Marktes, die durch strategische Aktivitäten des Staates zu nutzen seien.
480 · Norbert Eickhof Konkret geht es um die Erzielung von Skalen- und Lernkurveneffekten im Rahmen einer strategischen Handels- und Industriepolitik.8 Letztere basiert auf der merkantilistischen Vorstellung, die Wohlfahrt eines Landes könne auf Kosten der Wohlfahrt der anderen Länder gesteigert werden. Hierfür sei die Schwächung der Wettbewerbsposition ausländischer Anbieter und die gleichzeitige Förderung des Auf- und Ausbaus inländischer Industrien erforderlich. Eine solche Förderung bedinge jedoch nicht zuletzt selektive Maßnahmen der FuT-Politik. Diese Argumentation weckt allerdings erhebliche Zweifel. Zwar mag die Vorstellung verlockend sein, die Wohlfahrt des eigenen Landes auf Kosten des Auslandes zu erhöhen. Dafür muß jedoch zumindest gewährleistet sein, daß die anderen Länder nicht mit Vergeltungsmaßnahmen reagieren. Kommt es dagegen zu Retorsionsmaßnahmen, kann sich schnell eine Situation ergeben, in der die Wohlfahrt in allen Ländern geringer ausfällt als bei Freihandel.9 Mit derartigen Maßnahmen muß allerdings grundsätzlich gerechnet werden. Die strategische Handels- und Industriepolitik einschließlich der in ihrem Rahmen durchzuführenden selektiven Maßnahmen der FuTPolitik dürften daher bei globaler Betrachtung eher zu Wohlfahrtsverlusten als zu Wohlfahrtsgewinnen führen und sollten deshalb am besten von vornherein unterbleiben. Ein drittes Argument zur Begründung selektiver Maßnahmen der FuT-Politik setzt weder bei vermeintlichen Mängeln noch bei angeblichen Chancen des Marktes an. Statt dessen wird nun die Legitimation der marktwirtschaftlichen Selbststeuerung in bezug auf Neuerungsaktivitäten prinzipiell bestritten. Die Richtung des Fortschritts sei zu wichtig, um sie letztlich den Marktteilnehmern zu überlassen. Vielmehr müsse sie vom Staat festgelegt werden.10 Diese Argumentation ruft jedoch den stärksten Widerspruch hervor. Zwar ist es legitim, wenn der Staat zur wissenschaftlichen Fundierung seiner Entscheidungen und Handlungen mangels privater Alternativen eigene spezielle Forschungsinstitutionen unterhält und insofern eine selektive FuT-Politik betreibt. Das heißt allerdings keinesfalls, daß er die institutionelle Förderung über diesen Rahmen hinaus technologiespezifisch durchführen sollte. An dieser Stelle ist noch einmal an das bereits angesprochene generelle Informationsdefizit des Staates sowie an den Grundsatz der wissenschaftsimmanenten FuT-Steuerung zu erinnern. Vor allem aber im Bereich der privaten Unternehmen sind selektive Maßnahmen der FuT-Politik äußerst problematisch. Das gilt sowohl in wirtschaftlicher als auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht. 3. Wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Probleme der selektiven Maßnahmen Unabhängig von der Begründung kann die selektive FuT-Politik den marktwirtschaftlichen Prozeß beeinträchtigen. Fördert der Staat einzelne FuE-Projekte, -ProVgl. vor allem Brander und Spencer (1983, 1985); ferner Siebert (1988, 550 ff.), Bietschacher und Klodt (1991, 5 ff.; 1992, 9 ff.), Strecker (1998, 18 ff). 9 Vgl. Kösters (1994, 121; 1992, 56), Klodt (1995, 86 f.), ferner auch Berthold (1994, 130 f.), Berg und Schmidt (1998, 859 ff). 10 Vgl. hierzu beispielsweise die von Besters (1982, 72 ff.) dargestellten und kritisierten Modelle. 8
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gramme oder Technologien, so bleibt das nicht ohne Konsequenzen für die Wettbewerbsfunktionen . Sowohl die Entdeckungs- als auch die Diflusionsfunktion des Wettbewerbs werden gestört. Nicht geförderte Projekte, Programme und Technologien haben es jetzt schwerer, sich am Markt durchzusetzen {Dunn 1995, 173). Begünstigt der Staat indessen bestimmte Unternehmen oder Branchen, so ergeben sich Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der anderen. Nun können sogar innovative, aber nicht begünstigte Marktteilnehmer von weniger innovativen, aber subventionierten Firmen verdrängt werden. Vor allem die direkte Projektforderung führt darüber hinaus leicht zu einer Zunahme des Konzentrationsgrades. Denn einerseits fällt es gerade Großunternehmen aufgrund ihrer personellen Ausstattung und organisatorischen Möglichkeiten relativ leicht, sich erfolgreich um staatliche Forschungsgelder zu bemühen. Andererseits ist es für staatliche Instanzen erheblich einfacher und bequemer, wenige Großunternehmen als viele Kleine zu fördern. Eine staatliche Förderung der Großunternehmen oder eine Zunahme der (relativen) Konzentration bewirkt jedoch eine Erhöhung der Wettbewerbsgefährdung auf dem jeweiligen Markt, ohne eindeutig gesamtwirtschaftlich positive Effekte zu gewährleisten. So zeigen industrieökonomische Untersuchungen, daß der vielzitierten These von der Neuerungsüberlegenheit großer Unternehmen sowie konzentrierter Märkte keine Allgemeingültigkeit zuerkannt werden kann {Eickhof 1992, 178 ff ). Hinzu kommt, daß selbst die selektiven Maßnahmen der FuT-Politik Mitnahmeeffekte hervorrufen (.Meyer 1995, 131). Somit werden Projekte, Programme und Technologien gefördert, die auch ohne diese Förderung durchgeführt würden. Gerade bei der direkten Projektförderung ist zudem die Gefahr am größten, daß knappe Ressourcen der Unternehmen für die Akquirierung von Fördermitteln und nicht im FuE-Prozeß eingesetzt werden. Das Rent-Seeking dürfte nun am stärksten sein. Die selektive FuT-Politik kann nicht nur den marktwirtschaftlichen Prozeß beeinträchtigen, sondern auch fatale wirtschaftspolitische Konsequenzen haben. Entscheidet sich ein privater Marktteilnehmer für eine unrentable Neuerung, so haftet er dafür. Betroffen von dieser Entscheidung ist auch nur sein Unternehmen. Trifft dagegen der Staat im Rahmen der selektiven FuT-Politik eine vergleichbare Entscheidung, so haften nicht mehr die dafür Verantwortlichen. Betroffen von einer einzigen Fehlentscheidung ist nun auch nicht selten ein ganzer Markt oder eine ganze Branche. Risikoreiche internationale Förderungswettläufe können hinzukommen. Spricht sich die herrschende Expertenmeinung für bestimmte Projekte, Programme oder Technologien aus und reagieren die einzelnen Staaten mit gleichgerichteten Fördermaßnahmen, führt das leicht zu weltweiten Fehlinvestitionen und Branchenkrisen. Weitere Fördermaßnahmen zum Schutze der betroffenen Branchen sind nun häufig die Folge. Die Staaten bemühen sich vor allem darum, ihre Fehlentscheidungen zu verbergen. Grundlegende Korrekturen werden dagegen erst dann durchgeführt, wenn sie nicht mehr aufschiebbar sind. Einerseits kann die selektive FuT-Politik ökonomisch kaum begründet werden. Hinzu kommt, daß sie mit schwerwiegenden wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Problemen verbunden ist. Andererseits hat die empirische Analyse im III. Kapitel
482 · Norbert Eickhof gezeigt, daß selektive Maßnahmen sowohl auf der deutschen als auch auf der europäischen Ebene klar dominieren. Mit ihrem Vierten Rahmenprogramm verfolgt die EU sogar noch das Ziel, die selektiven Maßnahmen auf die direkte Projektforderung bei sogenannten zukunftsorientierten Schlüsseltechnologien zu konzentrieren {Hellmann 1994, 73 ff., 108 ff.). Das fuhrt zu der abschließenden Frage, ob das verhältnismäßig negative Gesamturteil über die in der Bundesrepublik und in der EU praktizierte FuTPolitik vielleicht besser ausfallen würde, wenn die FuT-politische Kompetenz stärker als bisher von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert würde.
VI. Ausweitung der europäischen FuT-Politik? Die Frage einer eventuellen Kompetenzverlagerung innerhalb der EU ist zunächst einmal unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips zu beantworten. Dieses Prinzip, das mit dem Vertrag von Maastricht Eingang in den EG-Vertrag gefunden hat 11 , besagt in Kurzform, daß die Gemeinschaft solche Aufgaben übernehmen soll, die sie effizienter als die einzelnen Mitgliedstaaten erledigen kann. Dann aber spricht nichts fur eine Ausweitung der europäischen FuT-Politik. Erste Bedenken ergeben sich, wenn die grundsätzliche Zielsetzung dieser Politik betrachtet wird. Gerade die gemeinsame FuT-Politik weist effizienzgefährdende Zieldifferenzen auf. Diese Differenzen ergeben sich weitgehend, aber nicht ausschließlich aus den unterschiedlich hohen technologischen Niveaus der Mitgliedstaaten. So präferieren die hochentwickelten Länder eine Förderung der Spitzenforschung, während die weniger entwickelten Staaten Förderprogramme vorziehen, mit deren Hilfe ihr technologischer Rückstand innerhalb der EU abgebaut werden soll (Starbatty und Vetterlein 1989). Unabhängig davon wird aber auch eine Ausweitung der gemeinsamen FuT-Politik angestrebt, um über eine Erhöhung der Forschungsförderung zugunsten der Strukturschwachen drohende Kürzungen von Strukturhilfen infolge der geplanten Osterweiterung der EU kompensieren zu können. Auf diese Weise und nicht aufgrund des Subsidiaritätsprinzips nehmen bislang die Anzahl der geförderten Projekte, Programme und Technologien sowie die finanzielle Ausstattung der FuTRahmenprogramme zu. Weitere Bedenken gegen eine Ausweitung der gemeinsamen FuT-Politik ergeben sich bei der Betrachtung der zentralen Maßnahmen sowie der mit ihnen verbundenen Intentionen. Zum einen ist daran zu erinnern, daß die im IV. und V. Kapitel herausgearbeiteten Einwände und Probleme in gleicher Weise die deutsche wie auch die europäische FuT-Politik betreffen. Zum anderen ist zu berücksichtigen, daß die in die gemeinsame Politik gesetzten Erwartungen nicht nur größtenteils unerfüllt geblieben sind, sondern teilweise sogar effizienzgefährdend wären. So sollte die gemeinsame FuT-Politik zur Vermeidung der Doppelforschung beitragen (Reichardt und Wimmers 1992, 23). Tatsächlich zeigt sich jedoch, daß die einzelnen Mitgliedstaaten nur ungern auf eigene Forschungsaktivitäten verzichten, so daß es vielfach zu einer Ausweitung der Doppel11 Art. 3b EG-Vertrag. Vgl. auch MoscheI (1995), Bartling und Hemmersbach Döring (1996, 294 f.).
(1995, 348 ff.),
Die Forschungs- und Technologiepolitik Deutschlands und der EU • 483 forschung gekommen ist. Andererseits würde eine erfolgreiche Vermeidung der Doppelforschung das Ende des Forschungswettbewerbs mit seinen vielfältigen leistungssteigeraden Effekten implizieren, worunter die FuE-Effizienz leiden würde (Kerber 1991, 1997). Sicherlich wäre es zweckmäßig, eine größere Transparenz hinsichtlich der erzielten Forschungsergebnisse herzustellen, so daß bereits bekannte Zusammenhänge nicht noch einmal erforscht werden. Die Möglichkeit der parallelen, konkurrierenden Forschung auf den einzelnen Gebieten sollte jedoch keineswegs beschnitten werden. Schließlich erweisen sich auch die Institutionen der gemeinsamen FuT-Politik als effizienzmindernd. In diesem Zusammenhang ist vor allem an die steigenden Kosten der europäischen Forschungsbürokratie, an die mehrstufigen, aufwendigen Planungsprozesse, an die komplexen, politisierten Entscheidungsverfahren und an die spezifischen Schwierigkeiten supranationaler Kontrollen zu denken (Starbatty und Vetterlein 1990, 91 ff ). Anscheinend werden die Fördermittel nicht nur nach Effizienzaspekten, sondern auch "nach der Intensität der Artikulation von Wünschen seitens der Unternehmen" {Haas 1995, 88) vergeben. Darüber hinaus haben junge, kleine, national agierende Firmen besondere Schwierigkeiten bei der Erlangung europäischer FuE-Hilfen. Etablierte, große, europaweit operierende Unternehmen sind dagegen auch jetzt generell begünstigt. Dann aber ist den unter V.3. behandelten Wettbewerbs- und Rent-SeekingProblemen sowie den damit einhergehenden gesamtwirtschaftlichen Ineffizienzen gerade auf der europäischen Ebene besondere Bedeutung beizumessen. Für eine Verlagerung FuT-politischer Kompetenz von der nationalen auf die europäische Ebene spricht allenfalls das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz. Dieses mit dem Subsidiaritätsgrundsatz verwandte Prinzip postuliert für öffentliche Maßnahmen eine Übereinstimmung der Nutznießer mit den Kostenträgern (Olson 1969; Klodt und Stehn 1992, 12 ff., 106 ff ). Da jedoch die Resultate der nationalen FuT-Politik als externe Effekte oder öffentliche Güter die nationalen Grenzen überschreiten, müsse die FuTPolitik eine europäische Trägerschaft erhalten. Gegen dieses Argument sind allerdings mindestens zwei Einwände zu erheben. Zum einen erscheint eine Verlagerung der FuTPolitik auf die europäische Ebene recht willkürlich. So haben zahlreiche Ergebnisse der nationalen FuT-Politik nach wie vor einen nationalen, andere dagegen einen weltweiten Nutzerkreis. Eine Europäisierung der FuT-Politik würde sich daher nur in ganz bestimmten Fällen als adäquat erweisen. Zum anderen ist daran zu erinnern, daß die EU schon seit einiger Zeit eine Verschiebung ihrer Förderung zu Lasten der Grundlagenforschung und zugunsten einer möglichst marktnahen angewandten Forschung und Entwicklung verfolgt. Das wirkt sich jedoch eher restriktiv auf das Ausmaß der erwerbswirtschaftlich nicht nutzbaren Effekte sowie Güter aus, so daß das letztgenannte Argument für eine Europäisierung der FuT-Politik noch an Überzeugungskraft verliert. Weder das Prinzip der Subsidiarität noch das der fiskalischen Äquivalenz sprechen also für eine weitere Verlagerung FuT-politischer Kompetenz von der nationalen auf die europäische Ebene. Die gemeinsame FuT-Politik sollte sich statt dessen auf solche Aufgabenbereiche beschränken, bei denen sie eindeutige Vorteile aufweist. Hierzu gehören zunächst einmal bestimmte ordnungspolitische, aus der Vollendung des Binnenmarktes resultierende Aufgaben der FuT-Politik im weiteren Sinne, wie die Harmonisierung der
484 · Norbert Eickhof patentrechtlichen Vorschriften und der wettbewerbsrechtlichen FuE-Kooperationsfreistellungen. Hinzutreten können in Ausnahmefällen Aufgaben aus dem Bereich der FuT-Politik im engeren Sinne, wie die Förderung solcher Projekte der Grundlagenforschung, die von den einzelnen Mitgliedstaaten wegen Unteilbarkeiten oder Finanzierungsproblemen nicht allein durchgeführt werden können und an deren Resultaten mehr oder weniger alle interessiert sind. Relativ große Erfolge scheint die gemeinsame FuTPolitik indessen bei der Beschleunigung der Diffusion von FuE-Ergebnissen durch Informationsaktivitäten zu haben.12 Gerade diese transaktionskostensenkende Informationsfunktion sollte daher in Zukunft im Mittelpunkt der europäischen FuT-Politik stehen.
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12 So ist in jüngerer Zeit mehrfach festgestellt worden, daß die letzten EU-Rahmenprogramme nicht zur Entwicklung neuer, wohl aber zur rascheren Ausbreitung bereits vorhandener Technologien geführt haben. Vgl. HWWA (1995), ferner Bilger (1994, 214 f.).
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selektiven Maßnahmen. Die Förderung der Grundlagenforschung spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Eine ähnliche Entwicklung, wenn auch auf geringerem Niveau, zeigt sich bei der FuT-Politik der Europäischen Union. Die Ergebnisse der empirischen Analyse stimmen allerdings nicht mit entsprechenden ordnungspolitischen Überlegungen überein. So ist von allen Argumenten für eine staatliche FuT-Politik eines durchaus überzeugend, jedoch nur bezüglich der staatlichen Förderung der Grundlagenforschung. Nicht-selektive Maßnahmen weisen verschiedene Ineffizienzen auf. Selektive Maßnahmen sind dagegen ökonomisch kaum zu begründen sowie mit zahlreichen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Problemen verbunden. Schließlich sprechen weder das Prinzip der Subsidiarität noch das der fiskalischen Äquivalenz für eine weitere Verlagerung der FuT-Politik von der nationalen auf die europäische Ebene. Summary R&D-policy in Germany and in the European Union: Measures and valuations
In the last two decades, the total public and private expenditures for research, development and science in Germany more than tripled. Regarding public expenses on the national level, there is a dominance of selective measures. Promoting basic research only plays a subordinate part. A similar development, although on a lower level, can be identified for the R&D-policy of the European Union. However, the results of the empirical analysis do not correspond with respective considerations in the field of Ordnungspolitik. Out of all arguments in favour of R&D-policy one argument is quite convincing, however it only valids for a publicly subsidized basic research. In general, non-selective measures show different kinds of inefficiencies. On the other hand, there are hardly any well-founded economic reasons for selective measures. Moreover, the latter lead to various problems concerning economic policy and the market process. Finally, neither the principle of subsidiarity nor fiscal equivalence justify a transfer of competences in R&D-policy from the national to the European level.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Frank Daumann und Ulrich Hösch
Freiheitssichernde Regeln und ihre Justiziabilität - dargestellt am Beispiel des § 1 UWG
I. Problemstellung Der Entwurf des neoklassischen Konzepts der Wettbewerbsfreiheit leitete einen vermeintlichen Paradigmawechsel sowohl in der wettbewerbstheoretischen Forschung als auch in der wettbewerbspolitischen Praxis ein. Diese Konzeption, die in der Erhaltung der Wettbewerbsfreiheit die maßgebliche Zielsetzung einer Wettbewerbspolitik verortet, beruht auf der umstrittenen Non-Dilemma-These von der Identität ökonomischer Vorteilhaftigkeit und Wettbewerbsfreiheit (Hoppmann 1967, 80 ff; 1968, 20 ff). Obwohl sich diese These nur wegen ihrer tautologischen Ausformung nicht falsifizieren läßt1, räumt ihr Hoppmann vorrangigen Stellenwert ein. Eine konsequente Formulierung des Konzepts muß jedoch den scheinbaren Bedeutungsgehalt der Non-Dilemma-These zugunsten einer ausschließlichen Ausrichtung auf das Prinzip der Wettbewerbsfreiheit negieren. Erhalt der Wettbewerbsfreiheit wird auf diese Weise alleiniger Kern der Konzeption; die ökonomische Vorteilhaftigkeit bleibt ohne Belang. Hoppmann (1967, 85 f.; 1968, 36 f.; 1974, 14; 1992, 4 f.) selbst will Wettbewerbsfreiheit durch Regeln gewährt wissen, die sich vor allem durch die Attribute allgemein und gewiß auszeichnen. Obschon nun diese Regeln und ihre Ausgestaltung die zentrale Rolle bei der Umsetzung der Konzeption spielen, bleibt Hoppmann eine Konkretisierung ihrer Eigenschaften weitgehend schuldig. Mit Hinweisen auf die Vorarbeiten Hayeks erschöpft sich hierzu das einschlägige Schrifttum. Mit diesem Aufsatz soll versucht werden, diese Lücke zumindest ansatzweise zu schließen. Insbesondere sollen die Eigenschaften der freiheitssichernden Regeln konkretisiert und anhand des § 1 UWG die Schwierigkeiten einer justiziablen Umsetzung aufgezeigt werden. Um dieser Zielsetzung gerecht zu werden, wird zunächst das derartigen Überlegungen zugrundeliegende Menschenbild dargestellt. Aus dem Postulat einer maximalen individuellen Freiheit werden anschließend die Merkmale freiheitssichernder Regeln entwickelt. Inwieweit diese Merkmale sich justiziabel gestalten lassen, wird anschließend am Beispiel des § 1 UWG aufgezeigt.
1 Vgl. für viele die Aufarbeitung der in diesem Zusammenhang wesentlichen Argumentationsstränge bei Mantzavinos (1994, 166 ff.).
4 9 0 · Frank Daumann und Ulrich Hösch
II.
Anthropologische Spezifika und die Forderung nach individueller Freiheit
Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen ist ein dezidiertes Menschenbild, das sich vor allem durch die Verschiedenartigkeit der Individuen in zahlreichen Aspekten auszeichnet: Individuen haben eine unterschiedliche Ressourcenausstattung. Diese Ressourcen bestehen nicht nur in materiellen Gütern, sondern umfassen ebenso Rechte 2 , immaterielle Güter, übertragbare Mittel sowie an das Individuum gebundene und auf diese Weise unveräußerliche Fähigkeiten und Fertigkeiten {Coleman 1974/75, 758, 760; 1979, 25; 1991, 33 ff.). Schlichtweg sind Ressourcen „alle Aspekte menschlicher Lebenssituationen, die unter dem Gesichtspunkt einer zu treffenden Entscheidung einer Bewertung unterliegen" (Albert 1978, 165). Somit wird unter dem Begriff Ressource all das subsumiert, „was ein Akteur zur Beeinflussung seiner - physischen und sozialen - Umwelt einsetzen kann" (Vanberg 1982, 11). Die Ressourcen der Individuen sind somit zudem durch ihre Begrenztheit charakterisiert. Trotz dieser Heterogenität läßt sich ein universelles Charakteristikum aller Individuen identifizieren: das Streben nach Verbesserung der individuellen Lage und der individuellen Lebensbedingungen {Smith 1974, 382; Ferguson 1923, 7, 13; Hume 1973, 238 f.). Konkretisiert wird dieser Impetus durch die individuellen Bedürfnisse, deren Befriedigung das Individuum unterschiedliche Nutzwerte beimißt {Coleman 1978, 80 ff.). Dadurch ergeben sich zwangsläufig Unterschiede zwischen den Bedürfnissen und damit zwischen den Präferenzstrukturen der Individuen. Die unterschiedliche Ressourcenausstattung, die verschiedenen Präferenzstrukturen und das individuelle Streben nach Verbesserung der eigenen Situation („pursuit of happiness") bilden die Grundlage menschlichen Handelns. Dieses Handeln wird außerdem durch die selektive Wahrnehmung der tatsächlichen Gegebenheiten3 und die Ungewißheit über das Eintreten zukünftiger Umweltzustände, also durch mehr oder minder zutreffende Erwartungen geprägt 4 . Mit dem Bekenntnis zum normativen Individualismus wird diesen Umständen Rechnung getragen. Zugleich erlangt durch eine derartige Verortung auf normativer Ebene das Postulat der maximalen Freiheit des Individuums höchste Priorität. Individuelle Freiheit bedeutet, daß der einzelne in der Lage ist, ohne Rücksicht auf die Ziele anderer zu handeln unbeachtlich seiner faktischen Möglichkeiten, diesen Spielraum auch zu füllen {Hayek 1983, 21 ff.). Dies setzt zwangsläufig voraus, daß ein derartiger Spielraum vorhanden ist, in dessen Grenzen das Individuum nach eigenen Zielen entscheiden und han-
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Aus Property Rights-theoretischer Sicht ist mit dem Eigentum an materiellen Gütern zwangsläufig das Innehaben bestimmter Rechte verbunden. Insbesondere zählen dazu das Entscheidungsrecht über die Verwendung und Veränderung des Gutes („usus", „abusus"), die Verantwortung für die Folgen der Entscheidung der Güterverwendung („usus fructus") sowie das Recht, diese Rechte zu übertragen (Alchian 1977). Witt (1987, 127 ff.) stellt die psychologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens umfassend dar, um sie für die Konstitution einer evolutorischen Ökonomik zu nutzen. Vgl. hierzu auch Daumann (1995a; 1995b). Hayek (1969d, 171; 1976b, 103 f., 121) spricht in diesem Zusammenhang von „konstitutioneller Unwissenheit".
Freiheitssichernde Regeln und ihre Justiziabilität · 491 dein kann und der somit nicht durch intentionalen, durch andere Individuen ausgeübten Zwang5 beeinträchtigt wird {Hayek 1983, 14). Da in jeder Gesellschaft eine Vielzahl von Individuen aufeinander trifft, ja das Phänomen Gesellschaft sich gerade durch diesen Sachverhalt konstituiert, fuhrt eine unbegrenzte Freiheit des einzelnen notgedrungen zu einer Eingrenzung der Freiheit anderer Individuen6 . Individuelle Freiheit darf somit nicht als totale Freiheit, sondern muß als Gegenüberfreiheit interpretiert werden, die - wird das Postulat maximaler individueller Freiheit berücksichtigt - allen Individuen in gleichem Umfang zugestanden wird7. Eine gleichmäßige Zuordnung der individuellen Freiheit bedeutet die Untersagung von Privilegien für bestimmte, willkürlich ausgewählte Gruppen und die Diskriminierung bestimmter, willkürlich ausgewählter Gruppen und Einzelpersonen (Hayek 1983, 186). Zur Zuordnung maximaler individueller Freiheitsspielräume bedarf es einer Rechtsordnung, die sicherstellt, daß das Individuum weitgehend seine eigenen Ziele verfolgen kann8. Zugleich muß die Rechtsordnung die Freiheit des einzelnen so einschränken, daß der Freiheitsspielraum aller Individuen eine äquivalente Nutzung ermöglicht. Nach Hayek
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Die Definition von Freiheit als Abwesenheit von Zwang bezieht sich sinnvollerweise auf die Handlungsfreiheit. Zur inhaltlichen Ausfüllung des Begriffs „Zwang" siehe insbesondere die von Hayek (1983, 161) benutzte und durch die englische Sprache unterstützte Unterscheidung zwischen Zwang durch Umstände („compulsion") und Zwang durch Menschen („coercion"). Im allgemeinen will Hayek (1983, 27) unter Zwang „eine solche Veränderung der Umgebung oder der Umstände eines Menschen durch jemand anderen verstehen, daß dieser, um größere Übel zu vermeiden, nicht nach seinem eigenen zusammenhängenden Plan, sondern im Dienste der Zwekke des anderen handeln muß." Kritisch hierzu beispielsweise Rothbard (1980) und Viner (1961). 6 Zum Paradoxon der Freiheit siehe Popper (1980a, 156 fif., Anm. 4 und 6 zu Kapitel 7; 1980b, 58, 153 f.) 7 Das Bundesverfassungsgericht bestätigt das für die Ordnung unter dem Grundgesetz mit folgenden Worten: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das des isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten" (grundlegend BVerfGE 4, 7/15; dazu Becker 1996, 81 ff.). 8 Vgl. auch Hayek (1979, 23). Eine besonders fruchtbare Darlegung des Phänomens der individuellen Freiheit findet sich bei Bouillon (1997, 79 ff.). Individuelle Freiheit ist danach stets in einem Beziehungsgeflecht von Individuen zu verstehen, die in der Lage sind zu handeln. Bouillons Freiheitsdefinition beruht auf einer analytischen Trennung von Entscheidungssituationen: Erhält ein Individuum ein Angebot, so kann es hinsichtlich dieses Angebotes entscheiden, ob es (a) das Angebot überhaupt in Erwägung zieht (Metawahl) und (b) bei einer positiven Metawahl welche inhaltliche Alternative des Angebots es wahrnehmen möchte (Objektwahl). Treten Meta- und Objektwahl simultan auf, so spricht Bouillon von einer Doppelwahl. Individuelle Freiheit konstituiert sich nach Bouillon in Anlehnung an Hayek als Abwesenheit von Zwang, wobei dieser Zwang von Dritten ausgeübt wird und wobei ohne diesen Zwang der Freiheitsspielraum des Gezwungenen nicht verändert würde. Zwang setzt dabei die Existenz von Eigentumsrechten voraus, die es dem Zwingenden ermöglichen, den Gezwungenen bewußt, also mit einer Zielsetzung, von der Nutzung bestimmter Güter auszuschließen. Dabei definiert Bouillon Zwang als das erwartete Auftreten von besonderen künstlichen Kosten („Folgekosten") in Form einer Einengung des individuellen Handlungsspielraums, die sich daraus ergeben, daß der Gezwungene eine negative Metawahl bei einem Angebot trifft. Nach Bouillon verfügt eine Person somit dann über individuelle Freiheit, „solange sie - in eine Doppelwahlsituation gestellt - eine negative Metawahl treffen darf, ohne dabei künstliche Folgekosten Dritter, die sich auf ihren privaten Handlungsspielraum auswirken, erwarten zu müssen." (Im Original kursiv). Siehe hierzu auch Bouillon (1995).
492 · Frank Daumann und Ulrich Hösch bedarf es, um fìir alle Individuen äquivalent ausgestaltete Freiheitsspielräume zu gewährleisten, eines Bündels von Regeln, die bestimmten Anforderungen genügen9.
III. Die Eigenschaften der freiheitssichernden Regeln Hayek unterscheidet zwischen einer Regel mit Gesetzescharakter (allgemeine Regel gerechten Verhaltens oder nomos) und dem Befehl {Thesis), letzterer zeichnet sich dadurch aus, daß er „nur auf bestimmte Personen anwendbar ist oder den Zwecken der Herrschenden dient". {Hayek 1969e, 212; siehe weiterhin Hayek 1969a, 49 ff.; 1969c, 112 f.; 1969d, 177 f.; 1983, 180 ff). Damit die Rechtsordnung ein Maximum an individueller Freiheit gewährleisten kann, muß sie aus Regeln mit Gesetzescharakter und nicht aus Befehlen bestehen. Derartige Regeln sind universal, offen, abstrakt, gewiß und widerspruchsfrei10 . 1. Universalität Hayeks Überlegungen gehen von der Verflochtenheit menschlichen Handelns aus11. Demzufolge müssen auch die Regeln des Regelwerkes an den Handlungen der Individuen anknüpfen. Bei der Ausgestaltung einer Regel lassen sich nun Anwendungsbereich und Regelungsinhalt unterscheiden12. Mit der Forderung nach Universalität der Regeln sind entsprechende Folgen für den Anwendungsbereich in personeller, situativer, zeitlicher und räumlicher Hinsicht verbunden13 :
9 Hayeks Überlegungen in diesem Zusammenhang sind maßgeblich durch Kant sowie die schottischen Moralphilosophen geprägt (Hayek 1969d, 178; 1969c, 114 ff.; 1969f, 1979, 11 f.; 1976a, 12; 1983 207 ff.; Gray 1995, 4 ff. 56 ff.; Kukathas 1989; Streit 1992b, 15 ff.). 10 Zu einer Konkretisierung dieser Anforderungen vgl. auch Daumann (1993, 92 fif). 11 So heifit es bei Hayek (1969c, 114): „Gerechtigkeit kann nur sinnvoll auf menschliche Handlungen bezogen werden und nicht auf einen Zustand als solchen, es sei denn, es würde klargemacht, ob er durch jemanden bewußt herbeigeführt wurde oder hätte herbeigeführt werden können". 12 Eine auf dieser Unterscheidung basierende inhaltliche Ausfüllung der Forderung nach Universalität der Regeln findet sich bei Popper (1980a, 130). Nach Popper muß eine gleichmäßige Verteilung der Eingrenzung der individuellen Freiheit auf alle Individuen einhergehen mit einer gleichen Behandlung vor dem Gesetz durch unabhängige und unparteiische Gerichtshöfe; zudem dürfen durch das Gesetz näher spezifizierte Personen oder Personenzusammenschlüsse weder bevorzugt noch benachteiligt werden. Mackie (1983, 108) differenziert zwischen formalen und inhaltlichen Kriterien bei der Universalität von Regeln. 13 In der Terminologie Mackies (1983, 105) handelt es sich hierbei im wesentlichen um die „Irrelevanz numerischer Unterschiede". Die „Irrelevanz numerischer Unterschiede" besagt, daß Individuen gleich zu behandeln sind, es sei denn, es besteht ein qualitativer Unterschied, der eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt. Eine Beschränkung der Universalität auf das Postulat der „Irrelevanz numerischer Unterschiede" hinterläßt jedoch zwei Probleme, die durch die Forderung nach symmetrischen Handlungsspielräumen und nach moralischer Neutralität beseitigt werden: (1) Trotz der universellen Anwendbarkeit wirkt sich der Regelungsinhalt faktisch nur auf bestimmte Gruppen aus (wie etwa Diskriminierungen aufgrund der Hautfarbe). (2) Die moralische Werthaltigkeit führt zu Einschränkungen der individuellen Freiheit deijenigen Gruppen, die diese Moralvorstellungen nicht teilen (Mackie, 1983, 112 f.). Hierzu soll auch im folgenden noch einmal Stellung bezogen werden.
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Die Regel muß der Forderung nach personeller Indifferenz genügen. Die Regel ist auf alle Individuen anzuwenden (Hayek 1979, 25). Personelle Indifferenz bedeutet somit, daß der Anwendungsbereich sich nicht auf bestimmte Personen oder Gruppen beschränkt (Hayek 1983, 185; 1981a, 58; 1969e, 211 f.). Insofern kongruiert Universalität mit dem Postulat der Isonomie, der Gleichheit vor dem Gesetz14. Die Forderung nach personeller Indifferenz bewirkt somit, daß die Regel unabhängig von ihrem Inhalt, der gleichwohl diskriminierend oder privilegierend gehalten sein kann, universell auf sämtliche Individuen ohne Ansehen ihres Standes, ihrer Religion, ihrer Hautfarbe und anderes mehr, anzuwenden ist. Die personelle Indifferenz wird durch die situative Indifferenz ergänzt. Demnach ist eine Regel so auszugestalten, daß keine konkreten Umstände anzuführen sind, die die Anwendbarkeit der Regel begrenzen. Die Regel muß somit für eine unbekannte Anzahl von Fällen geschaffen sein (Hayek 1981b, 152). Damit werden weitere Möglichkeiten der Diskriminierung von Individuen ausgeschlossen. Zeitliche Konkretisierung und räumliche Indifferenz runden schließlich den Forderungskatalog ab, der an den Anwendungsbereich einer Regel zu stellen ist. In diesem Zusammenhang bedeutet die zeitliche Konkretisierung, daß die Regel für die Zukunft gelten muß und eine Rückwirkung ausgeschlossen ist (Hayek 1983, 270). Eine Vermeidung der Diskriminierung wird weiterhin durch die uneingeschränkte räumliche Gültigkeit der Regeln garantiert, wodurch der Forderung nach räumlicher Indifferenz Rechnung getragen wird15. Im Hinblick auf den Regelungsinhalt läßt sich das Universalitätsprinzip durch die Forderung nach Symmetrie der Handlungsspielräume und durch die Forderung nach moralischer Neutralität konkretisieren. Die Regel bezieht sich auf Handlungen, die die Beziehungen zwischen mindestens zwei Individuen betreffen. Die Symmetrie der Handlungsspielräume verlangt nun, daß "man einer schon gebilligten Handlungsmaxime zustimmen kann, wenn es darum geht, daß diese Maxime das Verhalten der anderen uns gegenüber bestimmt"16. Die Handlungsspielräume der einzelnen Individuen sind also durch die Regeln äquivalent zu gestalten, wobei das Ausmaß dieser Spielräume durch das Wertgefüge 14 Der Gerechtigkeitsbegriff findet somit eine Ausfüllung im Sinne formaler Gleichheit respektive im Sinne der Verhaltens- oder prozeduralen Gerechtigkeit. Vgl. hierzu insbesondere Streit (1988, 41 f.; 1991, 213 ff.) und Hayek (1969c, 114 ff.). Die Forderung nach formaler Gleichheit erweist sich zugleich als unvereinbar mit jeglichem Ansinnen nach materieller Gleichstellung (Hayek 1969c, 117 ff; 1981a, 93 ff; 1979, 30 ff; 1983, 105 ff). 15 Vgl. Hayek (1983, 270). Kritisch äußert sich hierzu Leoni (1961, 72 f.), der sich gegen eine Zentralisierung des Rechts wendet. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht jedoch das Gewohnheitsrecht. 16 Gray (1995, 64). Gray spricht in diesem Zusammenhang vom „Erfordernis der Unparteilichkeit zwischen Handelnden". Für den einzelnen ist es somit nicht möglich, daß er aufgrund der Ausgestaltung der Regel in Zukunft eine Privilegierung respektive eine Diskriminierung erfahren wird. Nach Mackie (1983, 114) handelt es sich hierbei um die zweite Stufe der Universalisierung: „Sich selbst in die Lage des anderen versetzen". Der Test im Rahmen der zweiten Stufe der Universalisieibarkeit besteht darin, „daß man sich in die Lage des anderen versetzt und sich fïagt, ob man auch in diesem Fall, daß man selbst der Betroffene ist, zu den Handlungsanweisungen stehen würde." „Unterschiede [zwischen den Personen; Einfügung der Verfasser] sind dann relevant, wenn sie sich von jedem Standpunkt aus als relevant erweisen." (Mackie 1983, 116). Siehe hierzu auch Bouillon (1997, 63 f.). Hayek (1969c, 115 f.) bemüht insofern den kategorischen Imperativ Kants als Maßstab für die Ausgestaltung der Regeln.
494 · Frank Daumann und Ulrich Hösch und die Wertvorstellungen eines bestimmten Individuums festgelegt wird. Insbesondere werden dadurch Regeln ausgeschlossen, „deren prinzipielle Auswirkung auf einzelne identifizierbare Individuen oder Gruppen beabsichtigt oder bekannt wäre". {Hayek 1981b, 152). Hayek gesteht zu, daß eine Regel eine Unterscheidung nach Klassen bemühen kann 17 . Dabei muß jedoch sichergestellt werden, daß eine mehrheitliche Zustimmung über die zu treffende Unterscheidung sowohl auf seiten der Einbezogenen als auch auf seiten der Ausgeschlossenen besteht {Hayek 1983, 186). Die Symmetrie der Handlungsspielräume reicht insofern als alleiniges Kriterium für die Universalität nicht aus, da Unterschiede in den Präferenzen und bei den Wertvorstellungen der Individuen anzunehmen sind. Eine Symmetrie der Handlungsspielräume im oben genannten Sinne würde somit zu einer sehr starken Einengung der individuellen Freiheit vor allem bei den Individuen fuhren, die stark abweichende Präferenzen und Wertvorstellungen aufweisen. Die Forderung nach moralischer Neutralität bedeutet, daß die Regeln nicht nach konkreten individuellen Präferenzen und Wertvorstellungen ausgestaltet sind, sondern ihre Ausgestaltung Handeln nach unterschiedlichen Präferenzen und Wertvorstellungen erlaubt18. In einer Welt mit stark unterschiedlichen Wertvorstellungen werden sich kaum Regeln finden lassen, die vollständig dem Erfordernis der moralischen Neutralität gerecht werden. Insofern kommt dieser dritten Stufe der Universalität vornehmlich ein ideeller Charakter zu; Ziel muß es jedoch nach wie vor sein, diesem Kriterium so weit wie möglich gerecht zu werden. Mit dem Erfordernis der Universalität der Regeln soll die Kongruenz der individuellen Freiheitsspielräume sichergestellt und die Gefahr einer Diskriminierung respektive einer Privilegierung einzelner Individuen oder Gruppen gebannt werden. Anderen Zwecken wie vermeintlich übergeordneten Gemeinwohlinteressen - dürfen diese Regeln nicht dienen. In der einschlägigen Literatur wird bemängelt, daß die Forderung nach Universalität nicht die in sie gesteckten Erwartungen erfüllen würde. Die in diesem Zusammenhang ausgeführte Kritik bezieht sich im wesentlichen auf - die mangelnde Gewährleistung maximaler individueller Freiheit sowie - die mangelnde Beseitigung der Gefahr einer Diskriminierung und Privilegierung. Nach Robbins (1961, 69) und Rees (1963, 355) reicht das Kriterium der Universalität nicht aus, um starke Einschränkungen der individuellen Freiheit zu verhindern. So wird angeführt, daß sich umfangreicher Zwang selbst durch allgemeine Gesetze ausüben lasse. Tatsächlich kann die individuelle Freiheit - ungeachtet der Problematik der Diskriminierung - durch allgemeine Gesetze, die den ersten beiden Stufen der Universalität genügen, zunehmend eingeschränkt werden. So erfüllt beispielsweise die Regel „Du sollst nicht sprechen!" durchaus die ersten beiden Universalitätskriterien und engt gleichzeitig die 17 „Ein Gesetz kann vollkommen allgemein sein, indem es nur formale Eigenschaften der darin vorkommenden Personen erwähnt, und doch für verschiedene Klassen von Menschen verschiedene Vorkehrung treffen" (Hayek 1983, 272). 18 Nach Mackie (1983, 117 f.) erfordert moralische Neutralität, also die dritte Stufe der Universalisierung, „die unterschiedlichen Vorlieben und konkurrierenden Ideale [zu; Einfügung der Verfasser] berücksichtigen". Regeln, die der Anforderung nach moralischer Neutralität genügen, zeichnen sich durch „einen annehmbaren Kompromiß zwischen den verschiedenen vorfindlichen Standpunkten" aus.
Freiheitssichemde Regeln und ihre Justiziabilität · 495 Freiheitsspielräume aller Individuen ein. Dieses Problem entsteht jedoch nur, wenn die dritte Stufe der Universalität außer acht bleibt. Bei einer derartigen Regelung ist zu vermuten, daß sie nicht der dritten Stufe der Universalität entspricht. In der Literatur wird dem Universalitätskriterium vorgeworfen, daß sich Diskriminierungen sowie Privilegierungen einzelner Gruppen oder Personen selbst bei universal gültigen Regeln durch eine entsprechende Ausformung der Regel im Regelinhalt und im Anwendungsbereich erzielen lassen. So sind von allgemein gültigen Regeln, die sich nicht einer Klassenbildung im Anwendungsbereich bedienen, durchaus nur bestimmte Personengruppen betroffen19. Die Zulässigkeit einer Bildung von Personenklassen im Anwendungsbereich, in denen eine Gleichbehandlung erfolgen soll, erlaubt es durch die Gestaltung der Klassen, eine allgemeine Regel so auszudifferenzieren, daß sie den Charakter der Universalität einbüßt20. Zur Beseitigung dieser Problematik verweist Hayek auf den Test der mehrheitlichen Zustimmung innerhalb der Personenklassen, der genügen soll, um eine Diskriminierung zu vermeiden (Hayek 1983, 186). Dieser Test wird jedoch zum einen wegen der Problematik, die Personenklassen exakt abzugrenzen (Hamowy 1971, 361 f.), und wegen des Problems eines absoluten Vetorechts einzelner Klassen (Brittan 1980, 39 f.; Watkins 1961, 40) als nicht zufriedenstellend erachtet21. Insgesamt gesehen vernachlässigt jedoch die Kritik, daß sich durch die Anforderung der moralischen Neutralität diese Probleme weitgehend aus dem Weg räumen lassen. Eine Diskriminierung bedingt durch die Ausgestaltung des Regelinhalts oder auch des Anwendungsbereichs widerspricht diesem Kriterium, da eine solche Regelung zwangsläufig auf bestimmte Moralvorstellungen begründet sein muß. So könnte ein Verbot von Mischehen zwar den Mehrheitstest bestehen, da unter bestimmten Umständen davon ausgegangen werden kann, daß die Mehrheit der Angehörigen beider beteiligten Rassen einem derartigen Verbot zustimmen würden, aber ein derartiges Verbot impliziert zugleich eine konkrete Moralvorstellung, die von den zur Mischehe bereiten Personen nicht geteilt wird. Aus diesem Grund erweist sich das Universalitätskriterium als durchaus haltbar. 2. Offenheit Die Offenheit einer Regel wird dadurch erreicht, daß nicht bestimmte Handlungen vorgeschrieben, sondern daß Handlungen verboten werden, die einen Eingriff in die individuelle Freiheit anderer zur Folge hätten22. Zwar wird dadurch der Freiheitsbereich des einzelnen eingeschränkt, innerhalb dieses persönlichen Freiheitsspielraumes kann der 19 Beispielsweise würde ein Verbot, Brillen in der Öffentlichkeit zu tragen, zwar für die gesamte Bevölkerung gelten, aber eigentlich nur Personen mit durch Brillen korrigierbare Sehfehler treffen. Siehe hierzu vor allem Barry (1979, 93), Baumgarth (1978), Crespigny (1975, 64), Hamowy (1971, 363), Robbins (1961,69), Shenfield (1961, 57) und Watkins (1961, 39). 20 Diese Gefahr sieht auch Hayek (1983, 272). Vgl. auch Hamowy (1971, 364 f.), Leoni (1961, 64 ff., 68 f.) und Bouillon (1997, 70 f.). 21 Als weiterer Kritikpunkt werden organisatorische Probleme angeführt (Zeitler 1995, 227 ff). 22 Hayek (1980, 165; 1981b, 139 f.; 1979, 25). Hayek (1969c, 113; 1983, 172 ff.; 1981a, 59) läßt jedoch von dieser Anforderung Ausnahmen zu, die beispielsweise die erste Hilfe, die Wehrpflicht und die Besteuerung betreffen.
496 · Frank Daumaiin und Ulrich Hösch einzelne jedoch unter Maßgabe der eigenen Zielvorstellungen eine Auswahl aus zumindest formal denkbaren verschiedenen Handlungsalternativen treffen. Werden hingegen konkrete Handlungen vorgeschrieben, so verliert die Regel ihren zweckfreien Charakter und ordnet die Handlungen des einzelnen in den Dienst vermeintlich übergeordneter Ziele ein. Eine Handlungsanweisung im Sinne eines Befehls läßt sich jedoch bei einer begrenzten Anzahl an Handlungsalternativen leicht als Handlungsverbot tarnen und wird somit dem Kriterium der Offenheit aus rein formalen Gesichtspunkten gerecht. Das Universalitätsprinzip verhindert jedoch eine weitgehende Einschränkung eines derartigen Spielraums für Willkür. Zudem darf das Offenheitserfordernis nicht rein formal, sondern muß inhaltlich interpretiert werden. 3. Abstraktheit Nach Hayek müssen die Regeln für eine unbekannte Anzahl von Fällen und Personen in der Zukunft anwendbar sein (Hayek 1983, 270; 1981b, 152). Um dies leisten zu können, muß die Regel abstrakt sein; ansonsten wäre sie nicht auf eine unbekannte Anzahl künftiger Fälle anwendbar CHayek 1969d, 177; 1983, 200; 1980, 136 f.). Der Regelinhalt darf sich demzufolge weder auf einen einzelnen konkreten Sachverhalt richten noch dürfen Eigennamen in der Regeln genannt werden (Hayek 1983, 247). Folgerichtig läßt sich die Forderung nach Abstraktheit, die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für den Gesetzescharakter einer Regel ist, als Konsequenz des Universalitätsprinzips auf semantischer und teleologischer Ebene interpretieren. 4. Gewißheit Nach Hayek (1981b, 183) muß das Regelwerk so gestaltet sein, daß die Regeln sowie deren Inhalt zu den Daten gehören, die das Individuum „in Verbindung mit seiner Kenntnis der besonderen Umstände von Ort und Zeit als Grundlage für seine Entscheidung gebrauchen kann". Damit kommt die Forderung nach Gewißheit des Regelwerks und somit nach Rechtssicherheit zum Ausdruck. Rechtssicherheit bezieht sich dabei sowohl auf den Regelinhalt und auf den Anwendungsbereich als auch auf die zeitliche Dimension: In diesem Zusammenhang muß in Rechnung gestellt werden, daß menschliches Handeln auf Erwartungen beruht. Ein Ausloten des nachhaltig gültigen individuellen Freiheitsspielraums und auf diese Weise eine Erleichterung der Erwartungsbildung setzen voraus, daß zum einen zu unterlassende Handlungen eindeutig als solche bestimmt sind und daß zum anderen das Regelwerk ohne Ausnahme angewendet wird23. Insofern korrespondiert die Forderung nach Gewißheit zwangsläufig mit dem Universalitätsprinzip. Ist der Inhalt des Regelwerks gewiß und wird es ohne Einschränkungen eingesetzt, dann 23 Vgl. Hayek (1983, 190, 270 ff.). In diesem Zusammenhang sei auf die Bedeutung des Austauschprinzips fur die Stabilisierung des Verhaltens der Individuen hingewiesen. Sobald einzelne Handlungen in der Erwartung ausgeführt werden, daß Dritte ebenso handeln, liegen bereits Ansätze einer Regel vor (Hume 1973, 266 ff.).
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empfindet das Individuum das Regelwerk gleichsam als „natürliches Hindernis" (Hayek 1983, 172). Gewißheit im Bereich des Regelinhalts und des Anwendungsbereichs gewährleistet, daß das Regelwerk als sichere Grundlage in die Pläne der einzelnen Individuen eingeht und auf diesem Weg zweckgerichtetes Handeln erst ermöglicht24. Insofern geht das Kriterium der Gewißheit über das Universalitätsprinzip hinaus, denn eine Regel, die im Anwendungsbereich und im Regelinhalt gewiß ist, läßt keine Ermessensspielräume offen oder ordnet keine Entscheidungsspielräume bei der Anwendung der Regel auf Grundlage eines anderen zusätzlichen Kriteriums zu. Eine Regel würde beispielsweise dann zumindest der ersten Stufe des Universalitätskriteriums entsprechen, wenn sie ein Verbot einer bestimmten Handlung zum Gegenstand hat, von diesem Verbot aber Ausnahmen gemacht werden können, wenn der konkrete Sachverhalt bestimmten Kriterien genügt. Diese Regel wäre aber nicht gewiß, da erst in einem konkreten Anwendungsfall zu prüfen wäre, ob die Voraussetzungen für eine Ausnahme von dieser Regel gegeben sind25. Gewißheit im Bereich des Regelinhalts und des Anwendungsbereichs bleibt jedoch dann ohne Bedeutung, wenn die Dauer der Gültigkeit der Regeln unbekannt ist oder wenn das Regelwerk einer hohen Dynamik ausgesetzt ist. Demzufolge ergänzt die Forderung nach unbeschränkter zeitlicher Gültigkeit nur konsequent die beiden anderen Rechtssicherheitskomponenten. Nun läßt sich jedoch nicht von der Hand weisen, daß sich in einer sich entwickelnden Gesellschaft - wobei hier aus ontologischer Sicht damit nicht das Eingeständnis der Existenz einer übergeordneten Seinsgegebenheit verbunden sein soll - Anpassungserfordernisse für das Regelwerk ergeben. Insofern läßt sich eine unbeschränkte Gültigkeit des gesamten Regelwerks niemals erreichen, sondern muß von vornherein ideellen Wert haben. Hayek bescheidet sich daher auch mit der Forderung nach Unterlassung vermeidbarer Ungewißheit26. Dieser Anforderung wird genüge getan, wenn eine Konkretisierung der Gültigkeitsdauer der Regel vorgenommen wird, wie dies bereits im Rahmen der Forderung nach Universalität verlangt wird. Das Regelwerk stellt mithin eine äußere Institution27 dar; sofern es der Forderung nach Gewißheit genügt,
24 Vgl. Hayek (1983, 184, 191; 1980, 137). Vgl. auch die Literatur zur Rechtssicherheit bei Hayek (1983, 270, Fn. 13). 25 Im Wettbewerbsrecht läßt sich dieser Unterschied gut verdeutlichen. So existieren teilweise Per se-Verbote beispielsweise im Rahmen der Behandlung des Mißbrauchs der marktbeherrschenden Stellung neben dem Rule of reason-Ansatz etwa bei der Fusionskontrolle. Während die Per seVerbote dem Kriterium der Gewißheit genügen - eine bestimmte, konkretisierte Handlung ist untersagt - wird bei der rule of reason eine Einzelfallbetrachtung angestellt, wobei das Kriterium „drohende wesentliche Wettbeweibsbeeinträchtigung bzw. Erlangen/Verstärken einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne des § 22 GWB" angewandt wird (Sangmeister 1975; Streit 1992a, 688). 26 Siehe Hayek (1981a, 170). Die Vermeidung einer zu hohen Rechtsdynamik findet sich auch in Euckens (1990, 287 f.) holistischem Ansatz der Ordnungspolitik; vor allem in der Forderung nach Konstanz der Wirtschaftspolitik wird dies deutlich. 27 Zum Begriff „äußere Institution" siehe Lachmann (1963, 66 f.) und Schüller (1983, 149 ff.).
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erlaubt es den Individuen, bestimmte zukünftige Folgen ihres Handelns auszuschließen und damit die Ungewißheit in gewissem Umfang zu reduzieren28. 5. Widerspruchsfreiheit Rechtssicherheit muß dort leere Programmatik bleiben, wo die Widerspruchsfreiheit des Regelwerks nicht vorhanden ist. So fuhren Widersprüche zwischen den einzelnen Regeln des Regelwerkes dazu, daß Unsicherheiten bei den Folgen konkreter in Aussicht genommener Handlungen entstehen. Ein Verlust an Gewißheit ist die Konsequenz. Das Regeigefuge muß daher konsistent, also inhaltlich und vom Anwendungsbereich auf einander abgestimmt sein29, so daß die Regeln nicht miteinander konfligieren (Hayek 1969c, 114 f.; 1969b, 104 f.). Eine bestimmte Handlung darf daher nicht in Abhängigkeit von der angewandten Regel unterschiedliche Handlungsfolgen zeitigen. Nur bei einem konsistenten Regelwerk wird der Zusammenhang zwischen Handlung und deren Auswirkungen für den Handelnden offenkundig, der zur Erleichterung der Erwartungsbildung und damit zur notwendigen Reduzierung der Ungewißheit beiträgt. Neben seiner Bedeutung für die Gewißheit des Regeigefuges erweist sich das Erfordernis der Widerspruchsfreiheit vor allem für eine intendierte Weiterentwicklung des Regelwerks als unabdingbar30. Damit sind die Eigenschaften, denen eine freiheitssichernde Regel zu genügen hat, umrissen. IV. § 1 UWG als freiheitssichernde Regel? Im folgenden soll überprüft werden, inwiefern § 1 UWG den Eigenschaften einer freiheitssichernden Regel entspricht. Zugleich sollen damit die Grenzen einer justiziablen Ausgestaltung von freiheitssichernden Regeln ausgelotet werden. § 1 UWG lautet: „Wer im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Handlungen vornimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen, kann auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen werden." Diese Regel hat zentrale Bedeutung bei der Bekämpfung unlauterer wettbewerblicher Verhaltensweisen31.
28 Damit ist zugleich eine Verminderung der Transaktionskosten verbunden (Posner 1972, 65 ff.; Kunz 1985, 3). Ein Überblick über die Wirkung von Institutionen auf die Transaktionskosten findet sich bei Streit und Wegner (1989, 190 ff.). 29 Vgl. auch Hayeks (1981a, 42) Definition des Begriffs „Konsistenz". 30 Vgl. Popper (1974, 47 ff, 51 ff; 1980a, 213 ff.) und die dortigen Anmerkungen. Zur evolutorischen Entwicklung des Regelwerks, der in diesem Zusammenhang keine weitere Auimerksamkeit geschenkt werden soll, vgl. Ferguson (1923, 171), Hayek (1969b, 102 ff.) und Popper (1974, 52; 1980b, 118). 31 Vgl. Baumbach und Hefermehl (1996, § 1 UWG Rn. 1): „Unter die Generalklausel läßt sich ... fast das gesamte Wettbeweibsrecht bringen."
Freiheitssichemde Regeln und ihre Justiziabilität · 499 1. Universalität a. Personelle, situative, räumliche und zeitliche Universalität (1) Es könnte § 1 UWG an der personellen Universalität fehlen, weil erstens nur Gewerbetreibende32 Adressaten der Regelung sind und zweitens nicht jedermann Ansprüche aus der Regel herleiten kann. Nach § 13 Abs. 2 UWG sind nur die dort genannten Rechtssubjekte aktivlegitimiert. Dabei fällt besonders auf, daß die in § 13 Abs. 2 Nrn. 24 UWG bezeichneten Berechtigten genau genommen nicht in eigenen Rechten betroffen sein müssen, sondern als Sachwalter bestimmter Interessen auftreten dürfen und können. Dies ist zwar insoweit strittig, als in der einschlägigen Literatur regelmäßig davon ausgegangen wird, daß die in § 13 Abs. 2 Nrn. 2-4 UWG genannten Verbände in einem eigenen Recht verletzt sein müssen (Baumbach und Hefermehl 1996, § 13 UWG Rn. 27a, 41, 45). Für dieses eigene Recht reicht es aber aus, daß der Verein in seiner Satzung die Förderung des Wettbewerbs und die Verfolgung von wettbewerbswidrigen Handlungen zu seinem Vereinszweck gemacht hat (Baumbach und Hefermehl 1996, § 13 UWG Rn. 21b und 36), sich also zum Wahrer von Allgemeininteressen bestellt und dieses tatsächlich verfolgt (Baumbach und Hefermehl 1996, § 13 UWG Rn. 24, 38 mit weiteren Nachweisen). Der Sache nach handelt es sich um die Möglichkeit bestimmter Verbände, spezifische Allgemeinwohlbelange (lauteren Wettbewerb, Verbraucherschutz) geltend zu machen, auch wenn ein unmittelbar Verletzter seine Rechtsverletzung nicht selbst geltend machen will33. Die Beeinträchtigung des allgemeinen Wettbewerbsverhaltens und des Verbraucherschutzes wird von dem Gesetzgeber für so wesentlich erachtet, daß er eine altruistische Verbandsklage zuläßt34, aber noch nicht für so gravierend, daß er ein staatliches Eingreifen für notwendig hält. Diese Regelung dürfte ihren geistigen Hintergrund im mittelalterlichen Zunftwesen haben, also dem Gedanken einer gruppenbezogenen Selbstkontrolle, dem Standesrecht, entspringen, das gerade nicht universell ist. Aus diesem Grund werden dem Verbraucher selbst - abgesehen von dem Rücktrittsrecht in § 13a UWG - keine eigenen wettbewerbsrechtlichen Ansprüche eingeräumt. Je konkreter die geschützten Rechtsgüter werden, desto geringer sind die Klagerechte der Verbände. Gerade die besonders gravierenden Verletzungshandlungen in den §§ 14 ff. UWG können nur von dem Verletzten selbst geltend gemacht werden35. Allerdings ist insoweit Gleichheit vor dem Gesetz gewährleistet, als jeder, der gewerblich tätig werden will, die 32 Deijenige, der im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs tätig wird, ist nichts anderes als ein Gewerbetreibender im Sinne der Gewerbeordnung. Historisch läßt sich dies auch dadurch belegen, daß das UWG als eine Einschränkung der durch § 1 RGewO eingeführten Gewerbefreiheit gedacht war (Hösch 1996, 15 f. mit weiteren Nachweisen). 33 Vgl. BGH, GRUR 1956, 279 ff. - Olivin, GRUR 1960, 379 ff. - Zentrale; GRUR 1964, 397 ff. Damenmäntel·, RGZ 120, 47 (49). 34 Schon RGZ 120, 47 (49) spricht davon, daß die Rechtsverfolgung nicht in das Belieben der unmittelbar Verletzten gestellt werden dürfe, weil in Wahrheit den Auswüchsen des Wettbewerbs auch im öffentlichen Interesse entgegenzutreten sei. 35 Hier sei angemerkt, daß sich aus diesem System der gruppenbezogenen Selbstkontrolle auch ein Schutz der Mitglieder vor wettbewerblichen Verhaltensweisen von neu hinzukommenden Konkurrenten entwickeln kann.
500 · Frank Daumann und Ulrich Hösch Regelung in § 1 UWG beachten muß und von den nach § 13 Abs. 2 UWG aktivlegitimierten Rechtssubjekten in Anspruch genommen werden kann. (2) § 1 UWG könnte es an der situativen Universalität fehlen, weil er ein gewerbliches Handeln voraussetzt36. Damit schließt er bestimmte andere Handlungsformen aus, etwa das Handeln der öffentlichen Hand, beispielsweise der Krankenkassen, wenn und soweit es nicht erwerbsorientiert ist37. Dabei sind grundsätzlich zwei Konstellationen zu unterscheiden. Die Frage, inwieweit die öffentliche Hand überhaupt erwerbswirtschaftlich tätig werden oder nur Gemeinwohl orientiert (altruistisch) handeln darf, ist von der Frage zu unterscheiden, was gilt, wenn sich bezogen auf einen Geschäftsgegenstand tatsächlich Konkurrenz zwischen der öffentlichen Hand und Privaten entwickelt38. Während die erste Frage eine grundsätzliche Wertentscheidung verlangt, ist die zweite Frage eine des Anwendungsbereichs von § 1 UWG. Insoweit kann es zu einer Diskriminierung bestimmter nicht hoheitlicher Gewerbetreibender im Verhältnis zu öffentlich-rechtlichen Wirtschaftsformen kommen. Eine weitere situative Beschränkung kann sich aus der Überlagerung durch EG-Recht ergeben. Hier ist die Folge partielle Unanwendbarkeit des § 1 UWG 39 . Ergebnis: Soweit § 1 UWG personell und situativ seinen Anwendungsbereich auf diejenigen beschränkt, die im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs handeln, ist darin kein Verstoß gegen das Kriterium der Universalität zu sehen. Zeitlich und räumlich ist § 1 UWG grundsätzlich universell. Er gilt im ganzen Bundesgebiet. Soweit sich eine Überlagerung mit EG-Recht ergibt, ist dies keine räumliche, sondern eine situative Einschränkung der Universalität. b. Symmetrie der Handlungsspielräume § 1 UWG gewährleistet auch die Symmetrie der Handlungsspielräume. Die Adressaten des § 1 UWG werden grundsätzlich der Regel zustimmen, daß sittenwidrige Verhaltensweisen im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs nicht vorteilhaft sind. Sie werden diese daher weder für sich selbst in Anspruch nehmen noch anderen zubilligen wollen. Die Erweiterung der Aktivlegitimation auf Verbände ist zunächst keine asymmetrische Verteilung von Handlungsmöglichkeiten zwischen den Regelbetroffenen. Sie erweitert die subjektive Berechtigung zur Kontrolle von Wettbewerbshandlungen. Zu 36 Das ist gleichbedeutend mit einem Handeln im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs. Deijenige, der im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs tätig wird, ist nichts anderes als ein Gewerbetreibender im Sinne der Gewerbeordnung. Historisch läßt sich dies auch dadurch belegen, daß das UWG als eine Einschränkung der durch § 1 RGewO eingeführten Gewerbefreiheit gedacht war (Hösch 1996, S. 15 f. mit weiteren Nachweisen). 37 Zum Verhältnis von § 1 UWG und der wirtschaftlichen Tätigkeit der öffentlichen Hand vgl. Baumbach und Hefermehl (1996, § 1 UWG Rn. 914 ff.), Köhler (1996, § 1 Abschnitt E) und Emmerich (1969). 38 Vg. dazu OLG Hamm, DVB1. 1998, 792 ff. - Friedhofsgärtnerei. 39 Vgl. EuGHE 1974, 837 ff. - Dassonville; EuGHE 1979, 649 ff. - Cassis de Dijon; EuGHE 1987, 1227 ff. - Reinheitsgebot fiir Bier; EuGHE 1988, 4233 ff. - Reinheitsgebot für Teigwaren; EuGH EuZW 1990, 222 ff.; EuZW 1991, 183 ff. -Pall; EuZW 1993, 420 ff. - Yves Rocher; NJW 1994, 121 ff. - Keck und Mithouard; NJW 1994, 781 - Hünermund; MD 1994, 329 ff. - Clinique.
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einer asymmetrischen Verteilung von Handlungsmöglichkeiten könnte sie aber fuhren, wenn so die Möglichkeit geschaffen würde, kompetitive Wettbewerbshandlungen durch die Betroffenen, womöglich sogar mit staatlicher Billigung, zu diskreditieren40. Die Mitglieder der Verbände sind selbst Marktteilnehmer, die durchaus daran interessiert sein könnten, ihre Marktposition gegenüber neuen Wettbewerbern zu sichern und den Anpassungsdruck, der von neuen Verhaltensweisen ausgeht, von sich fernzuhalten. Wenn hier innerhalb des Verbandes ein Konsens erzielt wird, kann dies zu Lasten der wettbewerbsorientierten Konkurrenten gehen. Eine asymmetrische Verteilung der Handlungsspielräume kann sich allerdings unmittelbar im Verhältnis zu den Adressaten ergeben, die aufgrund EG-rechtlicher Bestimmungen privilegiert sind41. Dies begründet aber nicht die Asymmetrie der Regel des § 1 UWG, sondern ist ein im nationalen Recht zu lösender Fall der sogenannte „Inländerdiskriminierung"42. Ergebnis: § 1 UWG bezweckt und gewährleistet grundsätzlich eine symmetrische Verteilung der Handlungsspielräume. c. Moralische Neutralität des § 1 UWG Ein Problem könnte die moralische Neutralität des § 1 UWG sein. Verboten ist ein sittenwidriges Verhalten. Gerade der Begriff der Sittenwidrigkeit scheint aber auf Moralvorstellungen zu verweisen43. Unklar bleibt vor allem auch, auf welche Moralvorstellungen verwiesen wird. Damit ist ein zentrales Problem des § 1 UWG angesprochen, nämlich nach welchen Maßstäben bestimmt wer, was sittenwidrig ist. Hierbei handelt es sich um ein Problem der Gewißheit. Wie jede Regel soll § 1 UWG verhaltenslenkend wirken, seinen Adressaten vor Augen halten, was sie nicht tun dürfen. Zur Konkretisierung dieses Verbots verweist § 1 UWG auf die Auffassung der Betroffenen. Insoweit handelt es sich um einen gewissen Zirkelschluß, weil gerade die Verkehrsauffassung deijenigen, die durch die Regel beeinflußt werden soll, der Maßstab für die Bewertung dieser Auffassung ist. Dieses Problem setzt sich in § 13 Abs. 2 Nrn. 2-4 UWG fort. Es besteht die 40 Vgl. z.B. „Berliner Gelöbnis" (Baumbach und Hefermehl 1996, § 1 UWG, Rn. 910) oder die Wettbeweibsregeln des Markenverbandes (Baumbach und Hefermehl 1996, § 1 UWG, Rn. 911). 41 Vgl. zum Einfluß des europäischen Rechts auf die Auslegung nationaler Bestimmungen Köhler und Piper (1995, Einführung, Rn. 45 ff.), Lindacher (1995, § 3 Rn. 11 - 31), Hösch (1994), Hohmann (1994, 179 ff.), Sosnitza (1995, 206 ff), EuGHE 1974, 837 ff. - Dassonville; EuGHE 1979, 649 ff. - Cassis de Dijon-, EuGHE 1987, 1227 ff. - Reinheitsgebot ftlr Bier, EuGHE 1988, 4233 ff. - Reinheitsgebot für Teigwaren·, EuGH EuZW 1990, 222 ff; EuZW 1991, 183 ff. - Pali; EuZW 1993, 420 ff. - Yves Rocher, NJW 1994, 121 ff. - Keck und Mithouard; NJW 1994, 781 Hünermund, MD 1994, 329 ff. - Clinique; Hösch (1996, 113 ff). 42 Vgl. Hammerl (1997), Epiney (1995), Rabe (1989), Lenz (1996, Art. 6 Rn. 2), Niewöhner (1983, 342 ff), Weis (1983, 2721 ff), Streinz (1990, 487 ff), Fastenrath (1987, 170 ff), Schweitzer und Streinz (1984, 39 ff), Köhler und Piper (1995, Einführung, Rn. 69 f.) und Hösch (1995, 8 ff). 43 Maßstab sind „die billig und gerecht Denkenden" (Mugdan 1979, 406). Siehe auch RGZ 48, S. 114 (124): „herrschendes Volksbewußtsein". Ähnlich problematisch ist der Begriff der öffentlichen Ordnung. Sie umfaßt die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, soweit die Beachtung dieser Regeln nach den herrschenden Auffassungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten Gemeinschaftslebens betrachtet wird. Vgl. zur Bestimmung der Sittenwidrigkeit im Wettbewerbsrecht Köhler und Piper (1995, Einführung, Rn. 175 ff.) und Hösch (1996, § 2).
502 · Frank Daumann und Ulrich Hösch Gefahr einer gewissen Gruppenkontrolle von wettbewerblichen Verhaltensweisen. Gerade deshalb ist besonders zu betonen, daß es Aufgabe der staatlichen Gerichte ist, eigenständig, also unabhängig von Gruppeninteressen, zu bestimmen, was sittenwidrige Handlungen im Wettbewerb sind. Besonders problematisch ist, daß über eine entsprechende Definition der Sittenwidrigkeit bestimmten Gewerbetreibenden der Marktzugang erschwert werden kann. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die mit aggressiveren Strategien, beispielsweise niedrigen Preisen, in den Markt kommen wollen. Hier ist deutlich die Gefahr zu erkennen, durch eine entsprechende Interpretation von § 1 UWG bestimmten Wettbewerbern Privilegien zu gewähren. Es ist also besonders wichtig, die Vorstellungen der betroffenen Gewerbetreibenden umfassend zu ermitteln, damit man die moralische Neutralität und damit Allgemeinverbindlichkeit der Regel erhalten kann. Gerade hierin zeigt sich die Bedeutung des Kriteriums des moralischen Neutralität. Ergebnis: Die moralische Neutralität läßt sich fìir § 1 nur bedingt feststellen. Zum einen verweist sein Tatbestand mit dem Merkmal der Sittenwidrigkeit gerade auf MoralVorstellungen, zum anderen legt er noch nicht einmal offen, auf welche Vorstellungen er verweist oder anhand welcher Kriterien sie zu bestimmen sind. 2. Offenheit Problematisch ist auch, ob § 1 UWG dem Kriterium der Offenheit genügt. Wie oben dargestellt, enthält § 1 UWG seinem Wortlaut nach nicht ein Verbot des sittenwidrigen Verhaltens zu Wettbewerbszwecken, sondern gewährt bestimmten Personen ein subjektives Recht, die Unterlassung bestimmter Verhaltensweisen und/oder Schadenersatz zu verlangen44. Man wird die Vorschrift aber so zu verstehen haben, daß generell ein sittenwidriges Verhalten zu Wettbewerbszwecken verboten ist, allein die individuellkonkrete Durchsetzung der Ansprüche aus diesem Verhalten ist anders als etwa im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in die Disposition des einzelnen gestellt. Dieser Konzeption liegt allerdings die Erwartung zugrunde, daß der einzelne sich dann, wenn er in seinen Rechten verletzt wird, dagegen wehrt und mit der Verfolgung seines Rechts auch dem Zweck der übergeordneten Regel dient. Insoweit hat die Erweiterung des Kreises der Klageberechtigten in § 13 Abs. 2 Nrn. 2-4 UWG durchaus ihre Berechtigung. Sie macht die Rechtsverfolgung von wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen unabhängig von der Marktposition des Verletzten. Andererseits haben dadurch die Verbände eine nicht zu unterschätzende Möglichkeit, Wettbewerbshandlungen zu regulieren45. Fraglich ist allerdings, ob die Offenheit nicht unter der Unbestimmtheit des Begriffs „Sittenwidrigkeit" leidet. Es fehlt an einem im Einzelfall klaren und präzisen Verbot46. Dieses ergibt sich erst aus der konkreten Rechtsanwendung durch die Gerichte.
44 Anders etwa § 1 Abs. 1 Satz 1 GWB: „sind unwirksam"; § 25 Abs. 1 GWB: „ist verboten"; § 25 Abs. 2, 3; § 26 Abs. 1, 2, 3, 4 GWB: „dürfen nicht". 45 Vgl. auch §§ 28-33 GWB. 46 Solche Verbote formulieren etwa § 1 Abs. 1 Satz 1 Zugabe VO: „Es ist verboten, im geschäftlichen Verkehr neben einer Ware oder einer Leistung eine Zugabe (Ware oder Leistung) anzubieten, anzukündigen oder zu gewähren" oder §§ 1 Abs. 1 iVm. 2 Abs. 1 RabattG: Verbot für Waren
Freiheitssichernde Regeln und ihre Justiziabilität · 503 Ein weiterer Grund für die unterschiedliche Formulierung in § 1 UWG und etwa § 25 Abs. 1 GWB ist darin zu sehen, daß § 1 UWG seine Wurzeln im Deliktsrecht des BGB hat (Hösch 1996, 15 f.). Anders als die öffentlich-rechtlichen Regeln formulieren privatrechtliche Regeln Verbote als Ansprüche des Betroffenen (Schadenersatz, Unterlassung) und nicht als ein von Behörden durchzusetzendes Verbot. Der Anspruchsinhaber soll selbst entscheiden, ob er seinen Anspruch geltend machen will oder nicht, insoweit besteht Privatautonomie (Dispositionsbefugnis). Im Gegensatz dazu ist die Behörde von Gesetzes wegen verpflichtet, die Verbote durchzusetzen. Ausnahmen sind ihr nur gestattet, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind. Während der Bürger egoistisch privatautonom handelt, ist die Behörde gesetzesdirigiert und hat ihr Handeln und damit ihre Aufgabenwahrnehmung am Allgemeinwohl zu orientieren. Ergebnis: § 1 UWG erfüllt des Merkmal der Offenheit. 3. Abstraktheit Dieses Kriterium erfüllt § 1 UWG ohne weiteres. Allerdings ergeben sich aus der Abstraktheit der Regel bestimmte Anwendungsprobleme, die zeigen, daß eine Regel zumindest deutliche Ansatzpunkte für den von ihr verfolgten Zweck enthalten muß, also deutlich macht, welche Rechtsgüter vor welchen Beeinträchtigungen geschützt werden sollen. 4. Gewißheit Das Kriterium der Gewißheit könnte wegen der Abstraktheit der Regel in § 1 UWG zweifelhaft sein. Hier stellt sich die Frage, ob Gewißheit durch eine stark differenzierende Rechtsprechung, die eine Vielzahl denkbarer Anwendungsfälle typisiert und entschieden hat, hergestellt werden kann47. Zweck einer Regel ist es auch gesellschafts- und verhaltensprägend zu wirken, hier: sittenwidriges Verhalten zu Zwecken des Wettbewerbs zu unterbinden. Dazu ist Rechtssicherheit notwendig. Rechtssicherheit bedeutet Praktikabilität der Regel, also Regelwahrheit und -klarheit, und deren Durchsetzbarkeit, die wiederum auch über den Grad ihrer Akzeptanz und Anwendbarkeit bestimmt. Auf das Kriterium der Gewißheit kann sich das so auswirken, daß die Regel nicht mehr als natürliches Hindernis empfunden wird {Hayek 1983, 172), ihre Mißachtung als zulässige Handlungsmöglichkeit erscheint oder umgekehrt wegen der mangelnden Bestimmtheit des Tatbestandes jede Verhaltensweise als potentiell unzulässig empfunden wird. Bei den Regelbetroffenen würde das zu einer ihre Aktivitäten lähmenden Handlungsunsicherheit führen. Das Kriterium der Gewißheit wirft die grundsätzliche Frage auf, ob nicht die Rechtssicherheit im Interesse der individuell gerechten Rechtsanwendung zurückzutreten hat. So könnte man verlangen, daß der Gesetzgeber in § 1 UWG abschließend bestimmt, des täglichen Bedarfs im Einzelverkauf an den letzten Verbraucher mehr als drei Prozent Barzahlungsnachlaß zu gewähren. 47 Dies wird bereits daran deutlich, daß die Kommentierung von § 1 UWG im dem Kommentar von Baumbach und Hefermehl (1996) fast 450 von gut 1700 Seiten ausmacht.
504 · Frank Daumaiin und Ulrich Hösch welche Handlungen verboten sind und nicht dem Richter einen Spielraum für die Bestimmung im konkreten Fall eröffnet. Andererseits verlangt die Durchsetzung individueller Gerechtigkeit, daß von einem Grundsatz nicht nur in vorhersehbaren Fällen Ausnahmen möglich sein müssen. Es reicht, wenn den Betroffenen erkennbar ist, daß bestimmte Verhaltensweisen nicht geduldet werden, sie somit also eine Informationspflicht haben, sich Kenntnis über den Umfang des Verbots zu verschaffen. Man könnt § 1 UWG so verstehen, daß der Gesetzgeber eine Gefährdungshaftung des Gewerbetreibenden dafür begründet, daß er keine sittenwidrigen Handlungen zu Wettbewerbszwecken begeht. Im Unterschied zur Gefährdungshaftung etwa des § 7a StVG liegt das Problem aber in ihrer Kalkulierbarkeit. Knüpft § 7a StVG die Haftung an die durch den Betrieb eines Kraftfahrzeugs verursachten Schäden, ist nach § 1 UWG weder erkennbar, welche konkrete Handlung erfaßt ist noch welche Auswirkungen von Wettbewerbshandlungen zur Beurteilung der Sittenwidrigkeit der Handlung herangezogen werden48. Die Rechtsprechung hat zu § 1 UWG eine Vielzahl von Einzelfällen entschieden, die sie in fünf Fallgruppen unterteilt49. Diese Fallgruppen50 versuchen anhand bestimmter Kriterien, wie Leistungs- und Nichtleistungswettbewerb51, Nachahmungsgefahr52, dem Auspannen von Kunden {Baumbach und Hefermehl 1996, § 1 Rn. 597 ff), Ausbeutung, Behinderung oder sklavische Nachahmung (Emmerich 1998, 123 ff; Nordemann 1996, Rn. 370 ff.) die Möglichkeit für die Erfassung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen zu liefern. Jedoch zeigt sich in vielen Einzelfällen, daß es zweifelhaft ist, ob diese Kriterien tragfähig sind. So ist der Preis der wettbewerblich genutzte Aktionsparameter schlechthin53 . Deshalb überrascht es, wenn die Rechtsprechung immer wieder aggressive Preisstrategien als sittenwidrig problematisiert. Dies gilt für den Verkauf unter Einstandspreis54 , das Anzapfen55, das Angebot von preiswerten Nebensortimenten56, das Nach-
48 Besonders gravierend ist das z.B. in den Fällen, in denen die Nachahmungsgefahr als Kriterium für die Sittenwidrigkeit einer Handlung herangezogen wird. Vgl. hierzu BGH, GRUR 1956, 223 (225) - Anzeigenblatt; GRUR 1957, 365 (367) - Suwa; GRUR 1965, 489 ff. - Kleenex; GRUR 1967 - Grabsteinaufträge I; BGH, GRUR 1989, 753 (754) - Telefonwerbung II. Kritisch hierzu Hösch, (1996, 53), Doli (1965, 173 ff.) und Harder (1962, 439 ff). Anderer Ansicht sind Baumbach und Hefermehl (1996 Einleitung UWG Rn. 123) mit eingehenden Nachweisen zur Rechtsprechung. Umfassend zu Nachahmungshandlungen siehe Beater (1995). 49 Zur Rolle der Rechtsprechung bei der Bekämpfung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen vgl. Sosnitza (1995). 50 Baumbach und Hefermehl (1996, § 1 UWG vor Rn. 1) unterscheiden Kundenfang, Behinderung, Ausbeutung, Rechtsbruch und Marktstörung. 51 Grundlegend hierzu Nipperdey (1930, 16 ff.) und Böhm (1933, 73 ff., 178 ff.) sowie das Benrather Tankstellenurteil, RGZ 134, 342 ff. Siehe auch Knöpfte (1983, 60 ff), Hösch (1994a, 123 f.). Vgl. hierzu auch Baumbach und Hefermehl (1996, UWG Einleitung Rn. 97). Kritische Anmerkungen hierzu finden sich bei Emmerich (1998, 44 f.). 52 Beispielsweise beim Verschenken von Originalware und Presseerzeugnissen (Baumbach und Hefermehl 1996, Einleitung UWG Rn. 123). 53 Baumbach und Hefermehl (1996, § 1 UWG Rn. 870): ,freie Preise sind das Kernstück einer Marktwirtschaft, die durch den Wettbewerb geordnet wird" (Hervorhebung nicht im Original); vgl. auch Rn. 251 ff. 54 Vgl. z.B. BGH, GRUR 1979, 321 ff. - Verkauf unter Einstandspreis /; 1984, 204 ff. - Verkauf unter Einstandspreis //; 1990, 371 ff. - Preiskampf.
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ahmen spezialgesetzlich nicht geschützter Artikel" sowie Preisnachlässen und Zugaben58 . Sind die letzten beiden Fälle spezialgesetzlich geregelt und eindeutig bestimmt59, so handelt es sich bei den anderen Handlungsweisen um typische wettbewerbliche und gesetzlich nicht verbotene Verhaltensweisen, die gerade darauf schließen lassen, daß derjenige der sie vornimmt, sich gegenüber anderen abheben, die Marktgegenseite von seiner besseren Leistungsfähigkeit überzeugen will60. Werden solche Handlungen verboten, fuhrt dies aus Sicht des Wettbewerbers zu einer gewissen Perplexität. Einerseits wird von einem Wettbewerbssystem gesprochen, das gerade von Konkurrenz, von Innovation und Imitation gekennzeichnet ist (Hayek 1968). Anderseits werden typische Handlungsweisen, die nicht spezialgesetzlich verboten sind61, als sittenwidrig gebrandmarkt. Bereits hierin liegt eine erhebliche Ungewißheit und Verunsicherung fur die Marktteilnehmer. Ergebnis: § 1 UWG genügt dem Kriterium der Gewißheit nicht. Aus dem Tatbestand läßt sich keine konkrete Handlungsweise erkennen, die als sittenwidrig zu behandeln wäre. Darüber hinaus läßt § 1 UWG auch offen, nach welchen Maßstäben und Kriterien die Sittenwidrigkeit ermittelt werden soll. Die Vorschrift kann daher dazu fuhren, daß die wettbewerbliche Verhaltensfreiheit übermäßig eingeschränkt wird. Aus ihrer Unbestimmtheit folgt ein Risiko für die Freiheit. 5. Widerspruchsfreiheit Aufgrund seiner abstrakten, unbestimmten Formulierung besteht auf den ersten Blick kein Grund an der Widerspruchsfreiheit des § 1 UWG zu zweifeln. Jedoch zeigt die Anwendung des § 1 UWG, daß die Bestimmung der sittenwidrigen Handlung als einer wettbewerbswidrigen Handlung nicht ganz frei von Widersprüchen ist. Wegen der abstrakten Formulierung des Tatbestandes verlagert sich das Problem der Widerspruchs55 BGH, GRUR 1977, 257 ff. - Regalmieten·, GRUR 1977, 619 ff. - Eintrittsgeld, GRUR 1982, 737 - Eröffnungsrabatt; GRUR 1988, 619 ff. - Lieferantenwechsel. 56 BGH, GRUR 1976, 248 ff. - Vorspannangebot·, GRUR 1976, 637 ff. - Rustikale Brettchen·, GRUR 1977, 110 ff. - Kochbuch-, GRUR 1983, 781 ff. - Buchklub-Vorspannangebot. Kritisch zu dieser Rechtsprechung Schricker und Lehmann (1977, 289 ff). 57 Vgl. BGHZ 41, 55 ff. - Klemmbausteine (Ugo); 44, 288 ff. -Apfel-Madonna, GRUR 1954, 337 ff. - Radschutr, GRUR 1961, 40 ff. - Wurflaubenpresse·, GRUR 1967, 315 ff. - skaicubana; GRUR 1976, 434 ff. - Merkmalklotze·, GRUR 1977, 666 ff. - Einbauküche. Ähnlich problematisch ist die anlehnende, „rufausnutzende" Werbung; vgl. BGH GRUR 1983, 247 ff. - Rolls Royce·, GRUR 1985, 550 ff. - Dimple; GRUR 1988, 453 ff. - Champagner unter den Mineralwässern', GRUR 1991, 609 ff. - SL. 58 BGH, GRUR 1991, 592 ff. - Fahrpreiserstattung·, GRUR 1985, 983 ff. - Kfz-Rabatf, GRUR 1995, 122 ff. - Laierrwerbungflir Augenoptiker. 59 § 2 RabattG, § 1 Abs. 1 ZugabeVO; §§ 7, 8 UWG. 60 Aus dem Kriterium der Nachfragemacht (Köhler 1979; Grüner und Köhler 1986; Ballmann 1990) etwas anderes herzuleiten, ist deshalb problematisch, weil der Gesetzgeber die Nachfragemacht abschließend spezialgesetzlich in dem § 26 GWB geregelt hat. 61 Etwa das Anlehnen, Ausnutzen und Beeinträchtigen eines fremden Rufes, vgl. BGH GRUR 1983, 247 ff. - Rolls Royce; GRUR 1985, 550 ff. - Dimple; GRUR 1988, 453 ff. - Champagner unter den Mineralwässern; GRUR 1991, 609 ff. - SL; GRUR 1995, 57 ff. - Markenverunglimpfung II (Nivea); GRUR 1985, 876 - Tchibo/Rolex. Siehe auch kritisch zu dem Schutz von Image durch das Wettbewerbsrecht Köhler und Piper (1995, § 1, Rn. 319) sowie Hösch (1994b).
506 · Frank Daumann und Ulrich Hösch freiheit von der Regel zu ihrer Anwendung und Auslegung. Einen gewissen Widerspruch bildet darüber hinaus die Tatsache, daß UWG-Regelungen durch Europarecht überspielt werden können. Das fuhrt zu einen partiellen Ungleichbehandlung einzelner Wettbewerber (Inländerdiskriminierung) und ist unter dem Kriterium der Widerspruchsfreiheit problematisch. Ergebnis: Soweit die Widersprüche des § 1 UWG auf seiner unbestimmten Formulierung beruhen, sind sie vorrangig ein Problem der Gewißheit. Im übrigen erfüllt § 1 U W G dieses Kriterium. Die Widersprüchlichkeit folgt nicht aus der Regel selbst, sondern aus ihrer Anwendung, die auf ungenügenden Präzisierungen beruht.
6. Fazit Die Überprüfung des § 1 UWG anhand der Kriterien freiheitssichernder Regeln hat zu folgendem Befund gefuhrt. § 1 UWG ist zwar personell, situativ, zeitlich und räumlich universal und bezweckt und gewährleistet auch die Verteilung symmetrischer Handlungsspielräume zwischen den Gewerbetreibenden. Die Vorschrift genügt aber nicht dem Gebot der moralischen Neutralität. Sie verweist mit dem Merkmal der Sittenwidrigkeit gerade auf (Moral-)Vorstellungen und legt darüber hinaus auch nicht offen auf welche Vorstellungen. Vielmehr ist § 1 UWG offen, abstrakt und grundsätzlich auch widerspruchsfrei, genügt aber dem Kriterium der Gewißheit nicht. Aus dem Tatbestand läßt sich keine konkrete Handlungsweise ableiten, die als sittenwidrig zu behandeln wäre. Darüber hinaus läßt § 1 UWG auch offen, nach welchen Maßstäben und Kriterien die Sittenwidrigkeit ermittelt werden soll. Die Vorschrift kann daher dazu fuhren, daß die wettbewerbliche Verhaltensfreiheit übermäßig eingeschränkt wird. Aus ihrer Unbestimmtheit folgt ein Risiko für die Freiheit.
V. Änderungsvorschlag Es hat sich gezeigt, daß § 1 UWG nicht alle Kriterien für freiheitssichernde Regeln erfüllt. Das liegt vor allem an der unbestimmten Formulierung des Tatbestandes. In Folge dieser Unbestimmtheit ist nicht erkennbar, welche konkreten Verhaltensweisen verboten sind und nach welchen Kriterien die Sittenwidrigkeit bestimmt wird. Diese Unbestimmtheit kann in Verbindung mit der Eröffnung der Klageberechtigung für Vereinigungen von Gewerbetreibenden (§ 13 Abs. 2 Nrn. 2, 4 UWG) zu übermäßigen Beschränkungen der wirtschaftlichen Freiheit führen, weil die Beteiligten untereinander Verhaltenskodizes entwickeln könnten, die darauf zielen, Wettbewerb zu beschränken. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es nicht eigentlich Aufgabe des Staates wäre, entsprechende Verhaltensweisen zu unterbinden, anstatt eine altruistische Klageberechtigung zu schaffen. Aufgrund des obigen Befunds sind zwei Alternativen zur Änderung des § 1 U W G denkbar. § 1 U W G könnte tatbestandlich konkretisiert werden. Durch die Einführung von konkreten Beispielen wettbewerbswidriger Handlungen würde verdeutlicht, welche Verhaltensweisen unfair sind und welche Kriterien an die Ermittlung und die Bestim-
Freiheitssichernde Regeln und ihre Justiziabilität · 507 mung der Wettbewerbswidrigkeit angelegt werden können. Betrachtet man das reichliche Fallmaterial, das zu § 1 UWG existiert, scheint es aber unmöglich, entsprechende Kriterien zu formulieren, ohne die Vorschrift platzmäßig ausufern zu lassen. Zudem besteht bei einer inhaltlichen Präzisierung die Gefahr, daß Ausweichhandlungen der Marktteilnehmer angeregt werden, die nicht die angeführten Tatbestände erfüllen, aber die gleiche Wirkung auf den Wettbewerb haben. Es fragt sich aber, ob § 1 UWG überhaupt noch eine Berechtigung hat. Seinem Wortlaut nach vermittelt er zwar Gewerbetreibenden subjektive Rechte, aber in der Sache schützt er den Wettbewerb als Institution vor einer Verfälschung oder Beeinträchtigung durch unfaire Handlungen. Außerhalb von § 1 UWG gibt es aber eine ganze Reihe von Bestimmungen, die dem Gewerbetreibenden eindeutige subjektive Rechte vermitteln, die sich für seinen Konkurrenten als Verbot darstellen62. Daneben besteht eine ganze Reihe von objektiven Marktverhaltensvorschriften, die allen Marktteilnehmern bestimmte Handlungen verbieten63. Insofern erscheint es als fragwürdig, ob über diese Vorschriften hinaus überhaupt noch ein Bedarf für eine Generalklausel besteht, die nicht mehr als AufFangtatbestand, sondern als Grundtatbestand zu interpretieren ist. Die Unbestimmtheit der Vorschrift ließe sich nur rechtfertigen, wenn sie in seltenen Ausnahmefällen angewendet würde, in denen es an einem subjektiven Recht oder an einer Marktverhaltensvorschrift fehlt, aber die konkrete Handlung nicht mehr toleriert werden kann. Im übrigen wird man festhalten müssen, daß es Aufgabe des Gesetzgebers ist, konkrete Verbote (Freiheitsbeschränkungen und -begrenzungen) zu formulieren, nicht des Richters. Die uneingeschränkte Fortgeltung des § 1 UWG bedarf einer Begründung, daß ein Bedarf besteht, über die spezialgesetzlich geregelten Tatbestände hinaus eine Kontrolle am guten Geschmack zu orientieren. Neben bestehenden konkreten Verboten und Marktverhaltensvorschriften sollte die Vorschrift nicht mehr zusätzlich angewandt werden64. Die Vorschrift sollte daher zumindest in ihrer derzeitigen Anwendungsbreite eine erhebliche Einschränkung erfahren.
VI. Ergebnis Hayeks Werk liefert zahlreiche Ansatzpunkte für die Ausgestaltung freiheitssichernder Regeln, die die Grundlage für eine „Wettbewerbspolitik" im Sinne des Konzepts der Wettbewerbsfreiheit bilden. Seine Anforderungen an freiheitssichernde Regeln sind sehr strikt. Als problematisch für eine Setzung der Regeln erweist sich die Beachtung des Kriteriums der moralischen Neutralität. So lassen sich vergleichsweise einfach Regeln aufstellen, die der ersten und zweiten Stufe der Universalität genügen, also auf jeder62 Schutz der Immaterialgüterrechte und der Finnenkennzeichen; §§ 14-19 MarkenG; § 12 BGB; §§ 9, 10 PatG; § 11 GebrauchsmusterG; § 10 SortenschutzG; §§ 1, 5, 14, 14a GeschmacksmusterG; §§ 11-27 UrhG. Schutz weiterer absoluter Rechte in § 823 Abs. 1 BGB und in strafrechtlichen Normen. 63 Zum Beispiel: Rabattgesetz, Preisangabenverordnung, Zugabeverordnung, Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften. 64 Anders aber Baumbach und Hefermehl (1996, § 1 UWG Rn. 1), die sozusagen von einer universellen Anwendbarkeit der Norm ausgehen.
508 · Frank Daumann und Ulrich Hösch mann anwendbar sind und eine gleichmäßige Zuordnung von individuellen Handlungsspielräumen bewirken. Dagegen bereitet die strenge Umsetzung des Prinzips der moralischen Neutralität in abstrakte Regeln Schwierigkeiten, weil sich die Wertvorstellungen der Individuen stark unterscheiden und die Ermittlung der „richtigen" Werte schwierig ist. Das Gebot der moralischen Neutralität legt deshalb einen weitgehenden Verzicht auf Regelungen nahe. Je stärker individuelle Wertvorstellungen ausgeprägt sind und sich unterscheiden, desto geringer fällt die Anzahl denkbarer Regelungen aus, die dem Prinzip der moralischen Neutralität entsprechen. Poppers (1980a, 1980b) „offene Gesellschaft" muß sich demnach mit einer geringen Anzahl von Regeln bescheiden, soll dem Prinzip der moralischen Neutralität umfassende Geltung eingeräumt werden. Die Analyse von § 1 UWG offenbart ein Spannungsverhältnis zwischen dem Erfordernis der Gewißheit und dem der Abstraktheit einer Regel65. Die inhaltliche Gewißheit verlangt die Konkretisierung der verbotenen Verhaltensweisen vergleichbar den Regelungen in der Zugabeverordnung oder im Rabattgesetz. Je konkreter eine Regelung ausgestaltet ist, desto gewisser ist sie fur den Regeladressaten. Gleichzeitig besteht die Gefahr, daß durch eine Konkretisierung Umgehungsmöglichkeiten nicht mehr erfaßt werden. Verbietet man die Gewährung von Rabatten, reagieren die Gewerbetreibenden darauf, indem sie Zugaben gewähren. Ist die Regel abstrakt formuliert, lassen sich Umgehungsstrategien unter sie subsumieren. Allerdings besteht dann die Gefahr, daß die mangelnde Bestimmtheit der Regel auch Verhaltensweisen erfaßt, die nicht zu beanstanden sind, etwa das selbständige Angebot von preiswerten Nebensortimenten. Das Spannungsverhältnis zwischen Abstraktheit und Gewißheit läßt sich durch eine teleologische Bestimmung des Begriffs der Sittenwidrigkeit auflösen. Der Zweck des § 1 UWG ist es, sittenwidrige Wettbewerbshandlungen zu verhindern. Der Gesetzgeber hat in anderen Regeln konkrete Verhaltensweisen verboten, beispielsweise bestimmte Formen der Nachahmung oder Verwertung, der Rabatt- und Zugabengewährung, der Irreführung. Neben diesen konkreten Verboten kann eine so abstrakte Regel wie § 1 UWG nur Bestand haben, wenn sie dazu dient, Umgehungsstrategien der Regeladressaten zu verhindern. Damit liefern die konkret formulierten Verbote den Maßstab für die Bestimmung der Sittenwidrigkeit in § 1 UWG. Der rechtsanwendende Richter ist aufgerufen, diese Wertungen im Einzelfall anzuwenden. Dabei hat er andererseits zu beachten, daß die Handlungen, die der Gesetzgeber nicht konkret verboten hat, grundsätzlich zulässig sind. Nur ein Mißbrauch dieser Freiheit zur Umgehung konkret formulierter Verbote ist unzulässig. Dies Auffassung wirkt bezogen auf § 1 UWG anwendungsbegrenzend. Sie bewirkt, daß die Generalklausel nur ausnahmsweise als Auffangtatbestand zur Anwendung gelangt und nicht generell einschlägig ist. Abstraktheit und Gewißheit erweisen sich jedoch als dann komplementär, wenn es um die Problematik der zeitlichen Gewißheit geht. Inhaltlich gewisse Regeln, durch die also die zu unterlassende Verhaltensweise hinreichend konkretisiert ist, unterliegen der Gefahr der „Überalterung". Mit anderen Worten: Verändern die Individuen ihre Verhaltensweisen derart, daß sie zwar nicht mehr der entsprechenden Regel zuwiderlaufen, daß 65 Allgemein zum Spannungsverhältnis zwischen dem Erfordernis der Gewißheit und dem der Abstraktheit einer Regel vgl. Okruch (1998, 128).
Freiheitssichernde Regeln und ihre Justiziabilität · 509 sie aber bei teleologischer Auslegung dieser Regel darunter zu subsumieren wären, dann ergibt sich ein zusätzlicher Handlungsbedarf, der durch eine neue Regel ausgefüllt werden muß. Insofern entsteht eine höhere Rechtsdynamik, die das Prinzip der Gewißheit in zeitlicher Hinsicht verletzt. Literatur Albert, Hans (1978), Nationalökonomie als sozialwissenschañliches Erkenntnisprogramm, in: Hans Albert (Hrsg.), Ökonometrische Modelle und sozialwissenschaftliche Erkenntnisprogramme, Mannheim, Wien und Zürich, S. 49 - 71. Alchian, Armen A. (1977), Corporate Management and Property Rights, in: Armen A. Alchian (Hrsg.), Economic Forces at Work, Indianapolis, S. 227 - 257. Ballmann, Jürgen (1990), Der Machtaspekt im UWG, Frankfurt/M. Barry, Norman P. (1979), Hayek's Social and Economic Philosophy, London. Baumbach, Adolf und Wolfgang Hefermehl (1996), Wettbewerbsrecht, 19. Auflage, München. Baumgarth, William P. (1978), Hayek and Political Order: The Rule of Law, Journal of Libertarian Studies, Band 2, S. 11 - 28. Beater, Axel (1995); Nachahmen im Wettbewerb, Tübingen. Becker, Ulrich (1996), Das Menschenbild des Grundgesetzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Berlin. Böhm, Franz (1933), Wettbewerb und Monopolkampf, Berlin. Bouillon, Hardy (1995), Liber, Tas und die Räuber, in: Roland Baader (Hrsg.Λ Liberale Positionen zu Sozialstaat und Gesellschaft. Die Enkel des Perikles, Band 1, Gräfelfing, S. 85 - 106. Bouillon, Hardy (1997), Freiheit, Liberalismus und Wohlfahrtsstaat. Eine analytische Untersuchung zur individuellen Freiheit im Klassischen Liberalismus und im Wohlfahrtsstaat, Baden-Baden. Britten, Samuel (1980), Hayek, the New Right, & the Crisis of Social Democracy, Encounter, Band 54, S. 30 - 46. Coleman, James S. (1974/75), Inequality, Sociology, and Moral Philosophy, American Journal of Sociology, Band 80, S. 739 - 764. Coleman, James S. (1978), Soziale Struktur und Handlungstheorie, in: Peter M. Blau (Hrsg.), Theorie sozialer Strukturen, Ansätze und Probleme, Opladen, S. 76 - 92. Coleman, James S. (1979), Macht und Gesellschaftsstruktur, Tübingen. Coleman, James S. (1991), Grundlagen der Sozialtheorie. Band 1: Handlungen und Handlungssysteme, München. Crespigny, Anthony de (1975), F. A. Hayek - Freedom for Progress, in: Anthony de Crespigny und Kenneth Minogue (Hrsg.), Contemporary Political Philosophers, London, S. 49 - 66. Daumann, Frank (1993), Zur Notwendigkeit einer Harmonisierung im Gemeinsamen Markt. Eine evolutionstheoretische Untersuchung, Bayreuth. Daumann, Frank (1995a), Ein evolutionstheoretisch fundiertes Instrumentarium zur Analyse der Handelns- und Regelordnung, Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften, Band 46, S. 55 - 75. Daumann, Frank (1995b), Zur Erklärung des politischen Prozesses in Demokratien. Versuch einer evolutorischen individualistischen Fundierung der Neuen Politischen Ökonomie, ORDO, Band 46, S. 77 - 99. Doli, Hermann (1965), Die Berücksichtigung der Nachahmungsgefahr bei Wettbewerbsverstößen, Der Betriebsberater (BB), Jahrgang 20, S. 173 - 177. Emmerich, Volker (1969), Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, Bad Homburg. Emmerich, Volker (1998), Das Recht des unlauteren Wettbewerbs, 5. Aufl., München. Epiney, Astrid (1995), Umgekehrte Diskriminierung, Köln und München. Eucken, Walter (1990), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen 1990. Fastenrath, Ulrich (1987), Inländerdiskriminierung, Juristenzeitung (JZ), Jahrgang 42, S. 170 178.
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Freiheitssichernde Regeln und ihre Justiziabilität - 513 Summary The rule of law and its application exemplified on § 1 UWG (German law against unfair competition) § 1 UWG is an example for rules having to satisfy specified criteria in order to guarantee individual freedom. According to Professor Hayek such rules have to be general, abstract, open, certain and without contradiction. The intention of § 1 UWG is to protect a fair competition. This rule is abstract in a way that it conflicts with the criteria of certainty. The application of this rule by the courts shows that a variety of attitudes can be banned though it is doubtful that they always infringe competition. Especially aggressive pricing strategies and acts of imitation can be recognized as signs of competition as a discovery procedure. This makes it more urgent to limit the application of § 1 UWG or to define the term immorality precisely.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Markus Fredebeul-Krein und Angela Schürfeld
Die Deregulierung des deutschen Handwerks als ordnungspolitische Aufgabe*
I. Einleitung Das Handwerk1 stellt in Deutschland einen wichtigen Wirtschaftsbereich dar. Hier werden sehr vielfaltige Leistungen erbracht, die schwerpunktmäßig dem Produzierenden (Verarbeitenden) Gewerbe zuzuordnen sind. Etwa ein Drittel der Handwerksbetriebe ist überwiegend im Dienstleistungsbereich tätig ( Wirtschaft und Statistik 1996, 495 f.). Die Entwicklung des Handwerks verlief im letzen Jahrzehnt jedoch eher unterproportional. Seit den achtziger Jahren stagniert die reale Bruttowertschöpfung des Handwerks in Westdeutschland, in den letzten Jahren weist sie sogar eine leicht rückläufige Entwicklung auf. Vor dem Hintergrund eines stetig zunehmenden volkswirtschaftlichen Produktionsergebnisses geht dies mit einem sinkenden Anteil an der gesamten realen Bruttowertschöpfung einher. Dieser betrug in den sechziger Jahren noch knapp über vierzehn vH und ging bis 1993 auf etwa acht vH zurück (Statististisches Bundesamt-JB 1996). Bei der Umsatzentwicklung (ohne Umsatzsteuer) im westdeutschen Handwerk konnte seit den achtziger Jahren eine Zunahme von 340 Mrd. DM (1986) auf 518 Mrd. DM (1994) verbucht werden. Allerdings war die Entwicklung seit 1992 (528 Mrd. DM) wieder leicht rückläufig (Statististisches Bundesamt-JB, laufende Jahrgänge).2 Eine zunehmende Bereitstellung von Handwerksleistungen könnte mit der Gründung kleiner selbständiger Unternehmen einhergehen und positive Beschäftigungseffekte nach sich ziehen. Im Handwerk liegt ein großes Potential für Existenzgründungen und demnach für neue Arbeitsplätze. Die eher mäßige Entwicklung in diesem Wirtschaftsbereich
*
Dieser Beitrag basiert auf einem Gutachten, das die Autoren im Auftrag der Monopolkommission erstellt haben. Dieses fand Berücksichtigung bei der Vorbereitung des aktuellen Hauptgutachtens der Kommission (Monopolkommission 1998, Ziffer 59-89). 1 Das Handwerk umfaßt derzeit 94 Gewerbe, die in der Anlage A der Handwerksordnung (HwO) aufgeführt sind. Als Handwerksbetriebe gelten gemäß § 1 Abs. 1 und 2 HwO jene Unternehmen, die ein stehendes Gewerbe sind, selbständig und handwerksmäßig betrieben werden sowie vollständig oder in wesentlichen Teilen ein Gewerbe umfassen, das in der Anlage A der HwO aufgeflihrt ist. Dabei muß die ausgeübte Tätigkeit einem der in der HwO genannten Berufsbilder entsprechen. Eine gesetzliche Definition des Handwerks existiert nicht. Es gibt lediglich eine allgemeine Umschreibung des „Handwerksbetriebs", die jedoch zahlreiche Abgrenzungsfragen offen läßt. Vom Gesetzgeber fachlich berufene Ministerien legen die grundlegenden Berufsbilder für die einzelnen Gewerbe fest, indem sie entsprechende Tätigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten in Verordnungen aufnehmen. 2 Auf Grundlage der Handwerkszählung von 1995 ergab sich ein Umsatz von 656,6 Mrd. DM für das Jahr 1994 (Wirtschaft und Statistik 1996, 495).
5 1 6 · Markus Fredebeul-Krein und Angela Schüifeld
läßt vermuten, daß dieses Potential bislang nicht vollständig erschlossen wurde. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern in Deutschland durch bestehende Regulierungen im Handwerk für die Anbieter von Handwerksleistungen Marktzutrittsschranken bestehen. Die Folgen wären gravierend: Der Eintritt in die Selbständigkeit würde in vielen Fällen unterbleiben, Beschäftigungspotentiale blieben ungenutzt. Tatsächlich wird das deutsche Handwerk durch die seit 1953 bestehende Handwerksordnung (HwO) umfangreich reguliert.3 Diese wurde bereits mehrfach novelliert, mit dem Ziel, bestehende Regulierungen zu mildern. Im April 1998 trat die jüngste, im vergangenen Jahr beschlossene Reform der HwO in Kraft.
II. Regulierung des Marktzutritts im Handwerk Die Berufszulassung zum Handwerk sowie die Berufsausübung ist durch die Handwerksordnung (HwO) geregelt.4 Trotz der mehrfachen Novellierung dieser Ordnung bestehen weiterhin umfassende Marktzutrittsregulierungen fur das Handwerk. Derzeit ist für die 94 in der Anlage A der HwO aufgeführte Berufe der selbständige Betrieb eines Handwerks nur gestattet, wenn eine natürliche oder juristische Person in der Handwerksrolle eingetragen ist.5 Im folgenden sollen die Voraussetzungen für die Eintragung in die Handwerksrolle genauer betrachtet werden. 1. Die Meisterprüfung Nach § 7 Abs. 1 HwO erhält den Zugang zur Aufnahme eines bestimmten Handwerksberufs, wer die Meisterprüfung erfolgreich absolviert hat (Inhaberprinzip). Diese kann jeder ablegen, der eine Gesellenprüfung bestanden hat und mindestens drei Jahre als Geselle tätig gewesen ist (§ 49 HwO). Mit Bestehen der Meisterprüfung ist ein Handwerker nicht nur zum selbständigen Betrieb eines Handwerks, sondern auch zur Lehrlingsausbildung berechtigt. Beides zusammen wird als „Großer Befähigungsnachweis" bezeichnet. Natürliche Personen, die bereits in die Handwerksrolle eingetragen sind und ein anderes Gewerbe ausüben möchten, können zu diesem Zweck einen Betriebsleiter einstellen, der den handwerklichen Voraussetzungen dieses Gewerbes genügt. Allerdings gilt diese Regelung nur für Handwerke, die wirtschaftlich miteinander im Zusammenhang stehen. Durch das Erfordernis des Großen Befähigungsnachweises zur Ausübung einer handwerklichen Tätigkeit wird die mögliche Zahl selbständiger Handwerksunternehmen künstlich knapp gehalten. Die gesamte Ausbildungszeit bis zur Meisterprüfung dauert mindestens sechs Jahre, ohne Garantie, die Prüfung auch zu bestehen. Dieser enorme Zeitaufwand schreckt viele Gesellen davon ab, eine Meisterprüfung anzustreben. Die 3 Die Regulierung des Handwerks blickt auf eine lange Geschichte zurück und ist schon seit langer Zeit immer wieder Gegenstand der ordnungspolitischen Diskussion (Habermann 1990). 4 Die HwO reguliert außerdem die Berufsausbildung und die Aufgabenstellung der handwerklichen Organisationen. 5 Die Eintragung wird bei der jeweiligen örtlichen Handwerkskammer vorgenommen.
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umfangreichen Vorbereitungskurse, die zur Ablegung der Prüfung erforderlich sind, erzeugen zudem in mehrfacher Hinsicht Kosten: Zum einen muß für die Fortbildungskurse eine Gebühr entrichtet werden, die je nach Kurs und Ausrichter zwischen 5.000 und 20.000 DM beträgt.6 Zum andern entstehen dem Gesellen weitere Kosten in Form von Lehrmittelaufwendungen, Fahrtgeld für lange Anfahrtswege zu den Orten, an denen die Kurse angeboten werden, und eventuell sogar Übernachtungen. Schließlich muß sich der Aspirant häufig für die Vorbereitung zur Meisterprüfung von seinem Betrieb freistellen lassen, unter Inkaufnahme von Einnahmeausfällen.7 Insgesamt betragen die Kosten der Meisterprüfung etwa 50.000 DM {Böhmer 1997, 44). Dies hat zur Folge, daß sich nur diejenigen, die über genügend Kapital verfügen, eine Ausbildung zum Meister leisten können.8 Diese Ausbildungskosten erweisen sich als besonders starke Belastung, wenn der Handwerker nach bestandener Meisterprüfung ein selbständiges Unternehmen gründen will, für das er Kapital benötigt. 2. Arbeiten in anderen Handwerken In begrenztem Umfang erlaubt die Handwerksordnung die Betätigung von Handwerkern in Teilbereichen anderer Handwerke als dem, für die sie den Meisterbrief erworben haben. So kann ein Handwerker auch Arbeiten in anderen Handwerken ausführen, wenn sie mit seinem Handwerk technisch oder fachlich zusammenhängen (§ 5 HwO). Voraussetzung hierfür ist, daß die Tätigkeit in einem fremden Gewerbe die eigentliche Tätigkeit wirtschaftlich ergänzt. Auf einen Qualifikationsnachweis wird hier gänzlich verzichtet. Der Schwerpunkt der Tätigkeit muß jedoch weiterhin in dem Handwerk liegen, mit dem die Eintragung in die Handwerksrolle erfolgt ist. Nur wenn im Zuge der Ausführung eines Auftrags ergänzende Arbeiten notwendig sind, kann ein Handwerker die Regelung des § 5 HwO in Anspruch nehmen. Ferner können Handwerker ohne zusätzliche Genehmigung alle Arbeiten eines „verwandten Handwerks" ausführen (§ 7 Abs. 1 HwO). Nach altem Recht mußten als verwandt geltende Handwerke sich so nahestehen, daß die Beherrschung der wesentlichen Kenntnisse und Fähigkeiten des einen Handwerks die fachgerechte Ausübung des anderen Handwerks gewährleistete. Durch die Novelle von 1994 erhielt § 7 Abs. 1 HwO einen neuen Inhalt. Demnach können Gewerbe zu „verwandten Handwerken" erklärt werden, wenn „die Beherrschung des einen Handwerks die fachgerechte Ausübung wesentlicher Teile des anderen Handwerks ermöglicht". Seit 1994 erhält ein in die Handwerksrolle eingetragener Handwerker zudem die Ausübungsberechtigung für weitere Gewerbe, wenn er die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten nachweist (§ 7a WHO). Da der Antragsteller bereits ein Handwerk betreibt Gemäß Angabe des Bundesverbands Unabhängiger Handwerkerinnen auf mündliche Anfrage. Eine betriebliche Ausbildung wie bei Lehrlingen zur Gesellenprüfung, existiert bei der Meisterprüfung nicht. 8 Um die finanziellen Hürden auf dem Weg in die Selbständigkeit zu verringern, wurde 1995 das Meisterbafög eingeführt. Dieses bietet Handwerkern die Möglichkeit, die Meisterprüfung über ein staatlich zur Verfügung gestelltes Darlehen zu finanzieren. Allerdings verbleiben die Kosten der Meisterprüfung letztlich doch bei dem Gesellen, da ei das Darlehen zurückzahlen muß.
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und durch die Meisterprüfung gezeigt hat, daß er in der Lage ist, handwerkliche Arbeiten auszuführen, sind die Anforderungen an den Nachweis der erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten vergleichsweise niedrig. Sie können sich auf den Nachweis der praktischen und fachtheoretischen Kenntnisse beschränken, da die Fähigkeiten in den kaufmännischen und berufspädagogischen Bereichen bereits nachgewiesen worden sind. Die Teilnahme an einem Fortbildungskurs reicht dabei oftmals aus (Boss, Laaser, Schatz et al. 1996, 269). Die Bedeutung des Paragraphen 7a HwO darf jedoch nicht überschätzt werden. So erhielten 1996 im gesamten Bundesgebiet nur 230 Handwerker die Ausübungsberechtigung für weitere Gewerbe nach § 7a HwO (Tabelle 1). Dies entspricht einem Anteil von 0,4 vH an den gesamten Eintragungen in die Handwerksrolle. Tabelle 1:
Ausnahmegenehmigungen zur Eintragung in die Handwerksrolle 1992
1993 2802
4445
3569
gemäß § 7a gemäß § 7 (2) gemäß § 8 Gemäß § 9 Summe §§ 8 und 9
1994 268 3173 3731 62 3793
1995 223 2688 3766 227 3993
1996 230 2486 3575 238 3815
Quelle: ZDH 1997, Telefoninterview.
3. Selbständigkeit ohne Meisterbrief In Ausnahmefallen ist auch die Eintragung in die Handwerksrolle möglich, wenn ein Handwerker keine Meisterprüfung abgelegt hat. So können nach § 7 Abs. 2 HwO auch andere, der Meisterprüfung mindestens gleichwertige Prüfungen als ausreichende Voraussetzung für die Eintragung in die Handwerksrolle bestimmt werden. Die Regelung gilt vor allem für wissenschaftlich ausgebildete Diplomingenieure.9 Allerdings müssen die Antragsteller eine mindestens dreijährige praktische Tätigkeit in dem zu betreibenden Handwerk nachweisen. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich wird, ist die Anzahl deijenigen, die hiervon Gebrauch machten, relativ gering. 1996 wurde diese Möglichkeit zur Eintragung in die Handwerksrolle von 2486 Personen genutzt. Dies entspricht einem Anteil von 4,4 vH aller 1996 vorgenommenen Eintragungen in die Handwerksrolle. Auch die §§ 8 und 9 HwO ermöglichen es Handwerkern, die keine Meisterprüfung abgelegt haben, ein Handwerk selbständig auszuüben. Voraussetzungen dafür ist, daß die zur Ausübung des Handwerks notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten vom Antragsteller nachgewiesen werden und daß ein Ausnahmegrund vorliegt (§ 8 HwO).10 Dieser ist 9 Bei den gleichwertigen Prüfungen handelt es sich außerdem um entsprechende Diplome in den EU-Mitgliedstaaten. 10 Nach § 9 HwO erhalten Staatsangehörige aus EU-Mitgliedstaaten eine Ausnahmegenehmigung zur Eintragung in die Handwerksrolle, sofern sie die Voraussetzungen der EWGHandwerksverordnung erfüllt haben.
Die Deregulierung des deutschen Handwerks als ordnungspolitische Aufgabe · 5 1 9
dann gegeben, wenn die Meisterprüfung zum Zeitpunkt der Antragstellung oder danach eine unzumutbare Belastung bedeuten würde. Allgemeine, fur alle Bewerber geltende Umstände wie gesamtwirtschaftliche Entwicklungen oder drohende Arbeitslosigkeit finden dabei keine Berücksichtigung. Hingegen können das fortgeschrittene Alter, gesundheitliche Gründe, außergewöhnliche wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten und eine günstige Gelegenheit zur Betriebsübernahme im Einzelfall einen Ausnahmefall begründen (Heck 1995, 223ff ). Der Nachweis zur meistergleichen Ausübung des betreffenden Handwerks ist jedoch äußerst schwierig. Lediglich Prüfungsleistungen, die in ihren Anforderungen zumindest mit denen in der jeweiligen Meisterprüfung vergleichbar sind, sowie eine Begutachtung der Befähigung durch Sachverständige (Eignungsprüfung) werden als Beweismittel akzeptiert.11 Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, ist auch die Anzahl der nach § 8 erteilten Ausnahmebewilligungen sehr gering. 4. Zur neusten Novelle der Handwerksordnung Ende 1997 wurde ein parteiübergreifendes Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung beschlossen, das im April 1998 in Kraft trat. Ziel dieser neuerlichen Novelle der Handwerksordnung war es, Handwerke mit einem breiteren Leistungsangebot aus einer Hand zu schaffen und somit die Flexibilität der Handwerker im Markt zu erhöhen. Zu diesem Zweck wurde die Anlage A der HwO von 127 Berufen auf 94 Berufe reduziert {Deutscher Bundestag 1997, 9). Dies geschah überwiegend durch die Zusammenlegung einzelner Handwerksberufe.12 So wurden Büroinformationselektroniker und Radio- und Fernsehtechniker zu dem Gewerbe Informationstechniker sowie Elektrotechniker, Elektromechaniker und Fernmeldeanlagenelektroniker zu dem Gewerbe Elektrotechniker zusammengefaßt. In 18 Fällen, in denen keine Zusammenlegung beschlossen wurde, obwohl sich die Handwerke sehr nahe stehen, wurden neue „Verwandtschaften" geschaffen. Gleichzeitig wurden bestimmte „wesentliche Tätigkeiten", die bisher einem Handwerk vorbehalten waren, anderen Handwerken zugeordnet. Dies geschah in insgesamt sieben Fällen.13 Während sechs Handwerke, die quantitativ eher unbedeutend sind, in die Anlage Β der Handwerksordnung überfuhrt wurden, so daß für die Ausübung dieser Handwerke keine Meisterprüfung mehr erforderlich ist,14 wird ein neues Handwerk „Gerüstbauer" in die Anlage A aufgenommen. Für Industriemeister wird der Zugang zum Handwerk insofern erleichtert, als sie eine Ausnahmebewilligung gemäß § 8 HwO erhalten können, wenn ihre Fachrichtung in wesentlichen Punkten mit dem Tätigkeitsbereich 11 Bekundungen früherer Auftraggeber des Antragstellers sowie Zeugnisse und Auskünfte früherer Arbeitgeber über eine Tätigkeit als Facharbeiter oder Geselle reichen jedoch nicht aus, die Befähigung zur selbständigen Führung eines Handwerksbetriebs zu belegen. 12 Insgesamt waren 69 Handwerke von der Zusammenlegung zu 25 Handwerken betroffen. 13 So können nicht mehr nur Zimmerer Dachstühle herstellen und reparieren, sondern auch Dachdecker. 14 Hierbei handelt es sich um die Handwerke Bürsten- und Pinselmacher, Stricker, Handschuhmacher, Gerber, Schirmmacher und Steindrucker. Auch die Tätigkeiten des Schlagzeugmachers, die bisher unter dem Handwerk Metallblasinstrumenten- und Schlagzeugmacher fielen, werden in Anlage Β überfuhrt.
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eines Handwerks der Anlage A übereinstimmt.15 Weitere Neuerungen betreffen die Möglichkeit zur Schwerpunktbildung bei der Meisterprüfung und die Verbesserung der Möglichkeit, handwerksrechtliche Befähigungen von Anbietern aus anderen EU-Staaten anzuerkennen. 5. Der regulierende Einfluß des Kammerwesens Die Handwerkskammern stellen Zwangskörperschaften des öffentlichen Rechts dar, die als mittelbare Staatsverwaltung in erheblichem Umfang hoheitliche Aufgaben ausführen. In ihnen sind sämtliche in den entsprechenden Handwerksberufen beschäftigte Personen Pflichtmitglied. Die Zwangsmitgliedschaft wird damit begründet, daß Kammern Berufsaufsichts- und Berufsausbildungsftinktionen wahrnehmen und so zur Sicherung von Anbieterqualifikationen und Angebotsqualitäten beitragen (Sahner et al. 1989, 237).16 Besonders bei der Berufszulassung spielen die Handwerkskammern eine wichtige Rolle. Sie nehmen folgende Aufgaben wahr: Führung der Handwerksrolle, Regelung und Überwachung der Berufsausbildung, Erlaß von Prüfungsvorschriften für Weiterbildung und Umschulung, Unterstützung der Behörden durch Gutachtertätigkeit im Handwerk, Erlaß von Meisterprüfungsordnungen und Überwachung der Einhaltung der Bestimmungen zum Großen Befähigungsnachweis. Mit der Wahrnehmung dieser Aufgaben nehmen die Handwerkskammern entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung des Marktzugangs im Handwerk. So schreibt die HwO vor, daß die Meisterprüfungsausschüsse nach Anhörung der Handwerkskammern errichtet werden und die Ausschußmitglieder aufgrund der Vorschläge der Kammer zu ernennen sind. Eine Verwaltungsbehörde kann somit ohne Vorschlag der Handwerkskammer kein Mitglied des Prüfungsausschusses bestellen. Zudem ist den Handwerkskammern gesetzlich der Auftrag erteilt, das gültige Zulassungs- und Prüfungsverfahren für die Meisterprüfungen festzulegen. So können die Handwerkskammern selbst entscheiden, ob die Eintragungsvoraussetzung einer „mindestens gleichwertigen Prüfung" (§ 7 Abs. 2) erfüllt ist. Die Mitwirkung an der inhaltlichen Gestaltung der Meisterprüfungen ermöglicht den Kammern eine versteckte Bedürfhisprüfung, die darauf abzielen kann, zukünftige Konkurrenz auszuschalten. Je nach Bedarf kann über die Meisterprüfung der Zugang zur Ausübung eines Handwerksberufs reguliert werden. Damit würde die Meisterprüfung zur Steuerung des Marktzutritts zweckentfremdet. Tatsächlich wird diese Vermutung empirisch bestätigt. Aus Tabelle 2 wird ersichtlich, daß der relative Anstieg der bestandenen Meisterprüfungen mit einer Abnahme der abgelegten Meisterprüfungen einhergeht. Als weiterer Beleg für diese Hypothese dienen auch die deutlich niedrigeren Durchfallquoten 15 Allerdings konnten sie auch schon vorher nach § 8 Hwo eine Ausnahmegenehmigung erhalten (siehe hierzu den vorherigen Abschnitt). Mit der neuen Regelung wird lediglich die Ablehnung eines Antrags mit der Begründung, die Industriemeisterprüfiing entspreche nicht den für das Handwerk erforderlichen Fertigkeiten und Kenntnissen, erschwert. 16 Dies geschieht durch die Mitwirkung an der Festlegung und Überwachung von Ausbildungsstandards und Zulassungsvoraussetzungen und durch die Organisation von Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen.
Die Deregulierung des deutschen Handwerks als ordnungspolitische Aufgabe * 521
bei der Meisterprüfung in den ostdeutschen Ländern: Im Jahre 1994 lag diese Quote dort bei 9,3 vH, während sie im früheren Bundesgebiet 23,4 vH betrug (ZDH 1995). Für diese Unterschiede gibt es keine objektiven Gründe, etwa im Sinne einer besseren Ausbildung; wohl aber kommt als Erklärung eine großzügigere Handhabung der Normen der HwO in Betracht. Tabelle 2:
Abgelegte und bestandene Meisterprüfungen in Deutschland (1000) Früheres Bundesgebiet
Jahr
40,2
bestanden
abgelegt
bestanden
abgelegt
1960
Neue Länder und Berlin (Ost)
absolut
vH
34,8
86,6
absolut
vH
-
-
-
1970
41
33
80,4
-
-
-
1980
36,7
27,6
77,4
-
-
-
1990
51,2
38,7
75,5
-
-
-
1991
52,3
39,4
75,4
6,7
6,2
92,6
1992
51,8
39,5
76,3
5,3
5,0
91,9
1993
51,7
38,9
75,3
7,4
6,1
82,4
1994
49,5
37,9
76,6
8,2
7,4
90,7
1995
46,5
36
77,5
7,6
6,8
89,0
1996
43,2
33,9
78,4
7,7
6,9
89,4
Quelle: ZDH, 1997b.
6. Gesamtbeurteilung der Marktzutrittsregulierung Der Marktzutritt im Handwerk wird durch einschneidende Vorschriften reguliert. Grundsätzlich gilt nach wie vor die Meisterprüfung als Voraussetzung für die selbständige Ausübung eines Handwerks. Sie wurde auch durch die neuste Handwerksnovelle nicht in Frage gestellt. Vielmehr war es ein ausdrückliches Ziel der Novelle, daß „der Große Befähigungsnachweis gestärkt wird" {Deutscher Bundestag 1997, 14).17 Ausnahmen hiervon werden sehr restriktiv gehandhabt und haben quantitativ keine große Bedeutung. Eine entscheidende Rolle kommt dabei den Handwerkskammern zu, die durch die (Mit-)Gestaltung der subjektiven Zulassungskriterien einen erheblichen Einfluß auf die Regulierung des Marktzutritts ausüben. Vor allem über ihre fuhrende Rolle bei der Gestaltung und Abnahme von Meisterprüfungen können die Kammern eine direkte Kontrolle des Marktzutritts ausüben. Auch durch die Ausnahmebewilligungen können sie Einfluß auf den Marktzutritt nehmen. Ein Eintrag in die Handwerksrolle ohne Meisterbrief kann auch künftig durch eine restriktive Auslegung der Anforderungen von den 17 Dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß der Geltungsbereich der Meisterprüfung durch die Zusammenlegung der Handwerke insgesamt nicht verkleinert wurde.
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Bewilligungsbehörden reguliert werden. Wie die empirischen Daten über die erteilten Ausnahmebewilligungen nach Inkrafttreten der Handwerksnovelle von 1994 belegen, wurden handwerkliche Existenzgründungen durch die Handwerksnovelle nicht wesentlich erleichtert. Die Möglichkeit von Handwerksunternehmen - sowie auch nicht-handwerklicher Betriebe -, in den handwerklichen Bereichen zu diversifizieren, ist durch die Handwerksordnung stark eingeschränkt. Zwar hat der Gesetzgeber mit der Novelle der Handwerksordnung den Zweck verfolgt, dem Handwerk eine einfachere und schnellere Anpassung an wirtschaftliche und technologische Entwicklungen zu ermöglichen, indem vor allem dem wachsenden Verlangen von Auftraggebern nach „Leistungen aus einer Hand" stattgegeben werden sollte. So könnten verbesserte Möglichkeiten für handwerksübergreifende Tätigkeiten entstehen. Vor allem durch die Zusammenlegung verschiedener Handwerker kann zukünftig eine größere Flexibilität im Hinblick auf Leistungen aus einer Hand erwartet werden. Eine umfassende Deregulierung der HwO hat jedoch keineswegs stattgefunden. Nach § 5 der HwO ist nur eine begrenzte Ausweitung der handwerklichen Leistungen erlaubt. Weil der Gesetzgeber zudem weder den Begriff der wirtschaftlichen Ergänzung noch den Umfang der Tätigkeit hinreichend exakt definiert hat, besteht diesbezüglich eine Rechtsunsicherheit, die die Möglichkeit einer flexiblen Nutzung der HwO einschränkt. Auch der 1994 eingeführte § 7a HwO hat keine wirkliche Flexibilisierung des Handwerksrechts bewirkt. Zwar ist die Erteilung von Ausübungsberechtigungen in einem anderen Gewerbe für den Antragsteller mit einem geringeren Aufwand (Teilnahme an einem Fortbildungskurs) verbunden als die Ablegung einer Meisterprüfung. Ob die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten nachgewiesen werden, liegt jedoch wiederum im Ermessen der Handwerkskammern. Die Anzahl der 1996 bewilligten Ausübungsberechtigungen belegt, daß auch der § 7a HwO sehr restriktiv von den Handwerkskammern ausgelegt wird. Das Handwerk gilt weiterhin als umfangreich regulierter Wirtschaftsbereich. Der freie Zugang zur selbständigen Ausübung handwerklicher Tätigkeiten ist weitestgehend auf rechtlich fragwürdige Nischenbereiche beschränkt. Die Regulierungen wirken in vielfaltiger Weise als Marktzutrittsschranken und behindern damit einen freien Wettbewerb.18 Die Anzahl der Anbieter wird künstlich klein gehalten. Da potentielle Wettbewerber nicht unbeschränkt auf den Markt treten können, ist die Wettbewerbsintensität gering. Etablierte Anbieter sind nicht gezwungen, Marktanteile durch niedrige Preise oder besonders gute Qualität zu gewinnen. Daher könnten sich als Folge der Regulierung hohe Preise sowie eine niedrige Qualität der Leistungen ergeben. Insgesamt gehen mit der Marktzutrittsregulierung im Handwerk negative Allokationseffekte einher. Vor diesem Hintergrund ist die Rechtfertigung der Regeln kritisch zu überprüfen.
18 Zu den Wirkungen der Regulierung vgl. auch Habermann 1990, 177ff.
Die Deregulierung des deutschen Handwerks als ordnungspolitische Aufgabe * 5 2 3
III. Zur Notwendigkeit des Abbaus von Marktzutrittsbarrieren Ein Abbau der bestehenden regulativen Eingriffe auf den Märkten für handwerkliche Leistungen wäre geboten, wenn die Regeln nicht mit der marktwirtschaftlichen Ordnung vereinbar sind, sondern Marktprozesse verzerren und damit gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsverluste verursachen. Deshalb sollen folgende Aspekte analysiert werden: Liegt ein Marktversagen vor, das eine Regulierung aus ökonomischer Sicht rechtfertigt? Welche Wettbewerbs- und Beschäftigungswirkungen gehen von der Regulierung des Marktzutritts im Handwerk aus? Wie ist der Handwerksmarkt in anderen Ländern reguliert? Wie sind die Regulierungen vor dem Hintergrund veränderter technischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu bewerten?
1. Regulierungsargumente auf dem Prüfstand Da grundsätzlich der freie Wettbewerb fur eine optimale Ressourcenverwendung sorgt, bedarf jede Regulierung einer besonderen Rechtfertigung. Diese kann aus normativer Sicht gegeben sein, wenn aufgrund von Marktunvollkommenheiten ein Marktversagen vorliegt.19 Durch regulierende Eingriffe in den Markt soll dann die allokative Effizienz erhöht werden.20 Als zentrales Argument fur die Aufrechterhaltung des Großen Befähigungsnachweises im Handwerk wird häufig das Vorliegen asymmetrischer Informationen zwischen Anbietern und Nachfragern angeführt. Bei Wegfall der Meisterprüfung würden diese eine reduzierte Qualität handwerklicher Leistungen, ruinöse Konkurrenz zwischen handwerklichen Betrieben, höhere Transaktionskosten und somit eine suboptimale Allokation der Ressourcen bewirken (Kucera und Strathenwerth 1989, 49ff). Da das Handwerk individuell gestaltete Güter und Dienstleistungen anbiete und diese unmittelbar erbracht werden müßten, sei deren Bewertung durch den Nachfrager mit hohen Informationskosten verbunden. Die Qualität der Handwerkleistung könne nämlich erst nachträglich aufgrund von Erfahrungen beurteilt werden, wie zum Beispiel die Autoreparatur durch den Kraftfahrzeugmechaniker. Bestehen nun keine vorgeschriebenen Mindestqualifikationen der Leistungsanbieter, würden sich die Verbraucher ausschließlich an dem Preis der Handwerksleistung orientieren. Die Anbieter, so wird argumentiert, hätten nun keinen Anreiz mehr, qualitativ hochwertige Leistungen anzubieten. Infolge des unbeschränkten Marktzutritts könnten sich unqualifizierte Anbieter aufgrund erheblicher Kostenvorteile gegenüber höher qualifizierten Handwerksbetrieben etablieren, wodurch deren wirtschaftliche 19 Dazu zählen: öffentliche Güter, externe Effekte, natürliche Monopole, asymmetrische Informationen und ruinöse Konkurrenz. Eine ausführliche Erörterung dieser Formen von Marktversagen findet sich bei Soltwedel et al. (1986, 5ff); vgl. auch Deregulierungskommission (1991, Ziffern 9ff). 20 Allerdings wird auch durch eine staatliche Regulierung nicht zwingend eine effiziente Lösung erreicht (Demsetz 1969, S. 2f). Staatliche Akteure unterliegen dem Einfluß von Partikularinteressen (Stigler 1971) und können nie das gleiche Maß an Information gewinnen, das über Märkte bereitgestellt wird. Deshalb muß stets auch die Möglichkeit eines Staatsversagens berücksichtigt werden.
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Existenz gefährdet werde (adverse Selektion; hierzu grundsätzlich Akerlof 1970). Dies könne besonders im Gefahrenhandwerk gravierende negative Konsequenzen für den Leistungsnehmer mit sich bringen.21 Um die bestehenden nachteiligen Informationsasymmetrien der Konsumenten zu reduzieren, sei deshalb der Große Befähigungsnachweis erforderlich, da dieser dem Verbraucher eine hohe Qualität von Handwerksleistungen zusichere (ZDH 1988, 32). Die Stichhaltigkeit dieser Argumentation muß jedoch in Frage gestellt werden. Zunächst weisen Handwerksleistungen recht heterogene Qualitätsmerkmale auf. Einige Handwerksleistungen besitzen sowohl Eigenschaften eines Suchgutes als auch eines Erfahrungsgutes. Bei bestimmten Merkmalen handwerklicher Leistungen (Gebrauchstauglichkeit, Design, Robustheit) liegen keine asymmetrischen Informationen vor, so daß sich der Nachfrager vorab informieren kann (Pohl 1995, 229f.). Für viele Qualitätseigenschaften kann zudem auch der Große Befähigungsnachweis keine zuverlässige Garantie bieten, da sie nicht von den fachlichen Kenntnissen des Handwerkers abhängig sind, sondern von anderen Einflußfaktoren, wie beispielsweise vom Verhalten des Leistungserbringers (Service, Kulanz, Kundenfreundlichkeit). Der differenzierte Informationsbedarf hinsichtlich der unterschiedlichen Qualitätseigenschaften im Handwerk läßt sich somit kaum durch eine Meisterprüfung zufriedenstellend befriedigen. Der Große Befähigungsnachweis ist zudem weder eine Garantie für die fachgerechte Ausübung des Handwerksberufs noch für ein unternehmerisch verantwortliches Handeln (Pütz und Meyerhöfer 1982, 302ff). So gewährleistet eine erfolgreich bestandene Meisterprüfung, die zwanzig Jahre zurückliegt, keine qualitätsgerechte Ausführung handwerklicher Tätigkeiten in der heutigen Zeit. Gerade bei sich immer schneller ändernden wirtschaftlichen und technischen Anforderungen an Handwerkstätigkeiten ist das in der Vergangenheit erworbene Wissen für die Zukunft immer weniger relevant. Ein Qualitätsnachweis in der vorgeschriebenen Form verliert somit zunehmend an Bedeutung. Daß eine hohe Qualität handwerklicher Leistungen nicht erst durch die Meisterprüfung erworben wird, läßt sich auch daran erkennen, daß diese Leistungen gewöhnlich vielfach nicht vom Meister selbst, sondern von Gesellen erbracht werden. Da der einzelne zudem ein Eigeninteresse hat, unternehmerische Kenntnisse zu erwerben, ist es nicht nachvollziehbar, daß der Nachweis unternehmerischer Kenntnisse einen Teil der Meisterpriifüng darstellen muß. Unternehmerische Qualitäten können nur schwer in theoretischen Prüfungen bewiesen werden. Sie entwickeln sich vielmehr durch persönliche Erfahrungen im marktwirtschaftlichen Wettbewerb. Qualitätsanforderungen in Form des Großen Befähigungsnachweises schützen darüber hinaus etablierte Anbieter vor Wettbewerb und wirken somit nicht nur diskriminierend, sondern können auch die Qualität handwerklicher Leistungen vermindern. Indem für den Kunden durch den Großen Befähigungsnachweis signalisiert wird, daß die Leistungen homogen sind, achtet er unter Umständen weniger auf Qualitätsunterschiede. Bei den meisten Handwerksleistungen würde der Wettbewerb den erforderlichen Qualitätsstandard sichern. Geht man davon aus, daß die Nachfrager spätestens nach Erbringung der 21 Zu den Gefahrenhandwerken zählen unter anderem Installateure, Zimmerer, Dachdecker, Kraftfahrzeugmechaniker und -elektriker, Schornsteinfeger, Augenoptiker und Hörgeräteakustiker.
Die Deregulierung des deutschen Handwerks als ordnungspolitische Aufgabe ' 525
handwerklichen Leistungen deren Qualität beurteilen können, werden sie den Anbieter wechseln, wenn sie mit der Leistung unzufrieden sind. Der erhöhte Wettbewerbsdruck bewirkt somit bei unbeschränktem Marktzutritt nicht nur sinkende Preise, sondern auch steigende Qualität.22 Bei Produkten, deren Qualität nicht vorab beurteilt werden kann, bestehen zudem zahlreiche weitere Informationsmöglichkeiten, die Informationsasymmetrien entgegenwirken können. Zur Reduzierung der Informationskosten können sich die Marktteilnehmer durch die unterschiedlichsten Informationsübertragungsinstrumente über Qualitätseigenschaften informieren.23 In der Praxis geschieht dies bereits, was daran deutlich wird, daß sich Industriebetriebe, die von Handwerksunternehmen Zulieferteile beziehen, längst nicht mehr auf den Großen Befähigungsnachweis als Qualitätssiegel verlassen. Statt dessen gehen sie zunehmend dazu über, spezielle Qualitätsvorgaben und präzise Herstellungsvorschriften festzulegen, die eindeutige und verläßliche Informationen über die Qualität der Leistungen gewährleisten (,Steinmann 1993, 18ff). Durch die Zertifizierung erfolgt eine ständige Kontrolle, die nicht nur eine hohe Qualität der Produkte garantiert, sondern auch die Informationskosten der Nachfrager senkt, da diese nicht mehr umfangreiche Informationen einholen müssen. Allenfalls bei einigen Handwerksleistungen (Gefahrenhandwerke), bei denen Qualitätsmängel negative Wirkungen für die Betroffenen haben können, bedarf es eines besonderen Schutzes für den Verbraucher. Allerdings läßt sich auch hier die Qualität der Leistungen durch andere Instrumente als den Großen Befähigungsnachweis sichern {Deregulierungskommission 1991, Ziffern 492ff). Für diesen Zweck bestehen bereits zahlreiche technische Vorschriften, wie Produkthaftungsregeln,24 die allgemeine Gewerbeaufsicht, spezielle Vorschriften und Aufsichtsbefugnisse (z.B. Hygienegesetz) sowie längere Garantiefristen. Diese Vorschriften können sogar als Indiz dafür angesehen werden, daß der Große Befähigungsnachweis allein nicht ausreichend über die Qualität der Handwerksleistungen informiert. Im Gegensatz zur Meisterprüfung, die lediglich auf die Leistungsfähigkeit abstellt, haben produktbezogene technische Regeln den Vorteil, daß sie schnell an technologische Änderungen angepaßt werden können und ihre Erarbeitung von fachkundigen Experten vorgenommen wird (.Finsinger 1991, 265). Dem Argument der adversen Selektion bei unbeschränktem Marktzutritt, die als Folge der Informationsasymmetrie auftreten kann, ist zudem entgegenzuhalten, daß Handwerker bei Käufern einen guten Ruf (Goodwill) aufbauen können {von Unger-Sternberg und von Weizsäcker 1981, 613). Bietet ein Handwerker gute Qualität an, so hat er einen Anreiz, den Konsumenten über die Qualität seiner Leistung zu informieren (Signaling; Schulenburg 1993, 523). Eine Selektion zugunsten unqualifizierter Anbieter wird somit 22 Gerade bei (nicht-handwerklichen) Produkten, die einem intensiven Wettbewerb ausgesetzt sind, wie zum Beispiel Autos und Computer, ist zu beobachten, daß Anbieter sich dem Preisdruck zu entziehen versuchen, indem sie über Innovationen die Qualität ihrer Produkte steigern. 23 Hierzu zählen Identifizierungsmerkmale des Anbieters (Gatesiegel, Markenname etc.) Musterexemplare, Beschreibungen des Herstellungsprozesses, Informationsvermitüer und DINNormen. Vgl. Pohl (1995, 223ff). 24 Allerdings haben Produkthaftungsregeln, die das Risko auf den Produzenten abwälzen, den Nachteil, daß sie ein „moral hazard"-Verhalten bei den Nachfragern auslösen können, da diese hierdurch zur Unachtsamkeit verleitet werden. Vgl. Meyer (1990,116).
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auch ohne Zwang zum Großen Befähigungsnachweis nicht stattfinden, da ein Potential zur Produktdifferenzierung besteht. Vielmehr wird der Wettbewerb auf den Handwerksmärkten für Erfahrungsgüter intensiver. Für diejenigen Handwerksleistungen, deren Qualität schwierig zu beurteilen ist, würden vermutlich freiwillige Qualitätszertifikate von Seiten des Anbieters geboten. Hier könnte die Meisterprüfung auch ohne das Erfordernis des Großen Befähigungsnachweises weiterhin bedeutsam bleiben. Die Nachfrager wären sicherlich bereit, für eine Qualitätsgarantie einen höheren Preis zu zahlen. Ein weiteres Argument für die Aufrechterhaltung der Marktzugangsregulierung im Handwerk geht auf dessen Ausbildungsfunktion zurück.25 Insbesondere wird argumentiert, der Große Befähigungsnachweis sei mit positiven externen Effekten verbunden, die dadurch auftreten, daß das Handwerk in erheblichem Maße Ausbildungsleistungen für andere Wirtschaftsbereiche erbringt. Auch dieses Argument ist in Frage zu stellen (Bardeleben 1994; Deregulierungskommission 1991, Ziffern 502ff). Grundsätzlich ist unklar, warum der Marktzugang und die Berufsausübung mit der Ausbildungsfünktion eines Unternehmers verbunden werden sollte. Es ist nicht nachzuvollziehen, daß ein Unternehmer, der nicht ausbilden möchte, nicht die Möglichkeit haben soll, sich selbständig zu machen. Auch der Einwand der Befürworter des Großen Befähigungsnachweises, die Ausbildungsbereitschaft würde sich mit Wegfall des Großen Befähigungsnachweises reduzieren, ist wenig überzeugend. Gerade im Handwerk übersteigen die Kosten der Ausbildung eines Lehrlings nicht unbedingt dessen Nutzen, da Handwerkslehrlinge bei der Arbeit ausgebildet und Lehrlinge als unqualifizierte Hilfskräfte benötigt werden. Diese Hypothese wird auch durch eine kürzlich veröffentlichte Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung bestätigt. Demzufolge erwirtschaftet ein Handwerkslehrling im Durchschnitt 14.342 DM während die Ausbildungskosten für ein Handwerksunternehmen mit 15.824 DM nur unwesentlich mehr betragen (ο. V. 1997a, 16).26 Um sicherzustellen, daß der Lehrmeister über die erforderliche Qualifikation für die Ausbildung von Lehrlingen verfügt, ohne daß der Aufwand für die Ausbildungsberechtigung davor abschreckt, Lehrlinge auszubilden, würde auch die Vorschrift einer mehijährigen Berufserfahrung in Verbindung mit einer Zusatzqualifikation, zum Beispiel in Form eines Ausbildungskurses, ausreichen.27 2. Europäischer Vergleich der Berufszugangsregelungen im Handwerk Angesichts der zunehmenden internationalen Verflechtung der nationalen Volkswirtschaften muß eine Bewertung der deutschen Handwerksordnung vor dem Hintergrund 25 So betont der Vorsitzende des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Dieter Philipp, daß die Bereitschaft von Handwerksunternehmen, „über den eigenen Bedarf hinaus Lehrlinge auszubilden, untrennbar an die Institution der Meisterprüfung" geknüpft ist (ο. V. 1997b, 11). 26 In der Industrie und im Handel ist diese Differenz dagegen deutlich höher (erwirtschaftetes Geld: 13.137 DM; Ausbildungskosten: 24.165 DM). 27 So muß in der Schweiz, wo der Ausbildungstand auch befriedigend ist, der Ausbilder (Lehrmeister genannt) über eine mehrjährige Berufserfahrung verfügen und einen Ausbildungskurs besucht haben, der mindestens 40 Lektionen mit überwiegend berufspädagogischen Lerninhalten umfaßt. Vgl. Wettstein, (1994, 36).
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eines Vergleichs mit anderen Ländern stattfinden. Deswegen wird im folgenden der Frage nachgegangen, ob eine ähnliche Regulierungsintensität in anderen europäischen Ländern vorzufinden ist. Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union besitzt keine gesetzliche Definition des Handwerks. In zahlreichen Ländern herrscht grundsätzlich Gewerbefreiheit in Handwerksberufen.28 Beispielsweise gibt es in Großbritannien keine gesetzlichen Regelungen für handwerkliche Tätigkeiten (Schwappach und Schmitz 1996, 28).29 Die einzigen Regeln bezüglich der Ausübung von Handwerksberufen sind die allgemeinen Gesetze, die das Arbeitsrecht betreffen oder sich auf den Gesundheits-, Sicherheits- und Konsumentenschutz beziehen. Das Problem asymmetrischer Informationen über die Qualität der von Handwerkern und anderen Dienstleistern erbrachten Leistungen wird vor allem über ein verschärftes Produkthaftungsrecht gelöst.30 In denjenigen Ländern, in denen keine völlige Gewerbefreiheit besteht, sind die Marktzutrittsregulierungen wesentlich weniger restriktiv als in Deutschland. So wird in den Niederlanden die Gewerbeausübung in vier Kategorien unterteilt, die unterschiedliche Anforderungen an die beruflichen Fähigkeiten stellen (Schwappach und Schmitz 1996, 40f£). Für die Ausübung der meisten Gewerbe (einschließlich Handwerk) wird entweder überhaupt keine Gewerbezulassung benötigt (Niveau A\ Bestattungsunternehmen, Dachdecker usw.) oder es muß lediglich ein Nachweis über „allgemeine Unternehmerfertigkeiten" erbracht werden, der mit dem deutschen Handelsschulabschluß vergleichbar ist {Niveau B, z.B. Friseure, Optiker, Zimmerer, Schlosser). Die Ausübung einiger Gewerbe erfordert einen zusätzlichen Nachweis betriebstechnischer Kenntnisse (Niveau C; Bauhandwerker und Kfz-Techniker, einige Installationsgewerbe). Allerdings kann das Zertifikat betriebstechnischer Kenntnisse auch durch den Nachweis von Berufserfahrung ersetzt werden. Wer eine Zulassung für ein Gewerbe des Niveaus C besitzt, ist berechtigt, alle Tätigkeiten der Niveaus A und Β auszuüben, und nicht wie in Deutschland nur die Tätigkeiten eines einzelnen, allenfalls noch eines „verwandten", Gewerbes. Nur bei wenigen Gewerben ist die Ausübung zusätzlich zu den allgemeinen und speziellen Unternehmensfertigkeiten an den Nachweis fachspezifischer Kenntnisse gebunden (Niveau C+; ζ. B. Elektroinstallateure, Bäcker, Schlachter). Auch in Frankreich ist grundsätzlich kein Befähigungsnachweis fur die Ausübung eines Handwerksberufs erforderlich. Lediglich KfZ-Mechaniker müssen vor Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit fachliche Kenntnisse durch Ablegung einer Prüfung oder durch Praxiserfahrung nachgewiesen werden (Lettmayr 1996, 20). Allerdings besteht für diejenigen Berufe, die unter die Definition des Handwerks fallen, eine Eintragungspflicht in die Handwerksrolle bei den örtlichen Handwerkskammern.31 Auf freiwilliger Basis 28 Lediglich eine Registrierung bei der zuständigen Behörde oder einer Handelskammer ist in den meisten Ländern erforderlich. 29 Dies gilt selbst für Gefahrenhandwerke, deren Ausübung keinem Gesetz unterliegt. 30 So gibt das 1987 erlassene Konsumentenschutzgesetz vor, daß Produzenten für Tod, Verletzung oder Vermögensschäden, die durch ein fehlerhaftes Produkt verursacht werden, unbeschränkt haftbar sind. 31 Dies sind 96 Gewerbe, die die Bereiche Nahrungsmittel, Bau, Holz und Möbel, Metall, Mechanik und Elektro, Textil, Leder und Bekleidung, Gesundheitswesen und Sonstiges sowie Kunsthandwerk umfassen.
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besteht für Handwerker die Möglichkeit, die gesetzlich geschützten Titel des Handwerkers („Artisan") und des Handwerkmeisters („Maîtreartisan") zu erwerben. Zu diesem Zweck muß ein Qualifikationsnachweis in Form einer Lehrabschlußprüfung oder einer Meisterprüfung erbracht werden (Schwappach und Schmitz 1996, 23). Zwar haben alle EU-Länder Handwerksorganisationen, allerdings ist nur in einigen Staaten die Mitgliedschaft Pflicht. Auch haben die Handwerkskammern und -verbände in der Regel keinen öffentlich-rechtlichen Status, so daß sie keine staatlichen Verwaltungsaufgaben wahrnehmen. Sofern der Zugang zu bestimmten Handwerksberufen reguliert wird, existiert eine strikte Trennung staatlicher Marktzugangskontrollen und berufsverbandlicher Aufsichtsbefugnisse. Hauptaufgabe der Handwerkskammern in den EUMitgliedstaaten ist die Vertretung der Interessen des Handwerks. In einigen Ländern nehmen sie darüber hinaus eine Beratungsfunktion gegenüber der Regierung wahr. Auch geben die Handwerkskammern in einigen Ländern Zertifikate für die Einhaltung vorgegebener Qualitätsstandards aus. So schließen sich in Großbritanninen Handwerker einzelner Berufsgruppen auf privatrechtlicher Basis in Innungen zusammen, die die Interessen dieser Berufsgruppen vertreten.32 Viele dieser Verbände stellen einen Qualifikationsstandard auf, deren Einhaltung sie selbst überwachen (privatrechtliche Zertifikationssysteme). Zu diesem Zweck fuhren sie Berufsausbildungen durch und nehmen Prüfungen ab. Der Nachweis dieser Qualifikationen ist jedoch keine Voraussetzung für die Berufsaufnahme, sondern lediglich für die Aufnahme in die jeweilige Berufsorganisation. Insgesamt wird die Restriktivität der Regulierung des deutschen Handwerks im internationalen Vergleich besonders deutlich. Abgesehen von Österreich und Luxemburg ist die Regulierungsdichte im Handwerk in keinem europäischen Land auch nur annähernd so hoch wie in Deutschland (Monopolkommission 1998, Ziffer 71f). Angesichts der fortschreitenden Integration des europäischen Binnenmarktes, die mit einer zunehmenden Konkurrenz auf den Produktmärkten einhergeht, sind die deutschen Marktzutrittsregulierungen im Handwerk deswegen sowohl für die Wettbewerbsfähigkeit des Handwerks als auch anderer Wirtschaftssektoren, in denen Handwerksleistungen als Vorprodukte eingehen, nachteilig. 3. Neue Anforderungen an die Regulierung handwerklicher Berufe aufgrund veränderter Rahmenbedingungen Verschiedene Entwicklungen im Bereich des Handwerks geben heute mehr denn je Anlaß zu einem Überdenken der Regulierungsvorschriften, die für diesen Sektor bestehen. Insbesondere die technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen des Handwerks, aber auch die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen haben sich verändert. Möglicherweise fallen die volkswirtschaftlichen Kosten der Wettbewerbsbeschränkungen bei handwerklichen Berufen infolge veränderter Rahmenbedingungen heute viel stärker ins Gewicht als in der Vergangenheit. Dies soll im folgenden anhand von drei Entwicklungen untersucht werden: 1) die erodierende Abgrenzung zwischen industriellen und 32 In den einzelnen Innungen sind 50 bis 60 vH der Angehörigen einer Berufsgnippe Mitglied. Vgl. Schwappach und Schmitz (1996, 29).
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handwerklichen Betrieben, 2) veränderte berufsspezifische Anforderungen an das Handwerk und 3) eine zunehmende Konkurrenz durch ausländische Anbieter, die geringere Marktzutrittsschranken zu überwinden haben als deutsche Handwerker. zu 1) Für die Abgrenzung des Handwerks zu anderen Gewerbezweigen ist gemäß Handwerksordnung das technische und wirtschaftliche Gesamtbild des Produktionsablaufs relevant. Allerdings ist die Zuordnung eines Betriebs zum Handwerk nicht immer eindeutig. Besonders große Probleme erzeugt die Abgrenzung von Handwerks- und Industriebetrieben. Die Beurteilung geschieht im wesentlichen auf der Grundlage folgender Kriterien {Albach 1992, 87fF): Die technische Ausstattung des Betriebs, die Arbeitsteilung und die Gestaltung des betrieblichen Fertigungsablaufs.33 Demnach werden in Handwerksbetrieben Maschinen nur als Ergänzung zu Handarbeiten eingesetzt, alle anfallenden Arbeiten von den Mitarbeitern ausgeführt und Leistungen in Einzelfertigungen nach individueller Bestellung erstellt. Industriebetriebe sind hingegen durch mechanisierte Herstellungsprozesse mit un- und angelernten Hilfskräften, eine strenge Arbeitsteilung und Serienfertigung geprägt. Die Abgrenzung anhand dieser Kriterien wird jedoch wegen der zunehmenden Konvergenz industrieller und handwerklicher Produktionsprozesse und Organisationsstrukturen immer schwieriger. Größere Absatzmärkte als Folge der Internationalisierung der Wirtschaft in Verbindung mit neuen Technologien ermöglichen es Industrieunternehmen, durch den Einsatz flexiblerer und individuellerer Produktionsverfahren auch solche Leistungen kostengünstiger zu erbringen, die in der Vergangenheit aufgrund spezifischer Anforderungen dem Handwerk vorenthalten waren (Kucera 1996, 41). Als Folge werden Handwerksleistungen in zunehmendem Maße durch die Industrie und den Handel vom Markt verdrängt. Dieser Trend wird zusätzlich dadurch verstärkt, daß neue Technologien und Fertigungsmethoden handwerkliche Kenntnisse zunehmend überflüssig machen. Dies kommt zum Beispiel darin zum Ausdruck, daß aufgrund der Verwendung fester Bauteile in Geräten diese nur noch als Einheit ausgetauscht werden können. Um überhaupt noch gegenüber Industriebetrieben konkurrenzfähig zu sein, müssen Handwerksbetriebe die Produktions- und Verarbeitungsverfahren der Industrie übernehmen. Während die handwerkliche manuelle Fertigung dadurch zurückgedrängt wird, übernimmt das Handwerk immer stärker Elemente der industriellen Arbeitsteilung. Dies hat zur Folge, daß die technische Ausstattung und die Arbeitsteilung als Abgrenzungskriterium fur einen Handwerksbetrieb an Bedeutung verloren haben. Auch gleicht sich der betriebliche Fertigungsablauf eines Handwerksunternehmens zunehmend dem eines Industriebetriebs an. Einerseits produzieren heute viele Handwerker ihre Leistungen in Serienfertigung, ohne daß ihnen der Abnehmerkreis bekannt ist. Andererseits stellen auch nicht-handwerkliche Betriebe individuelle Produkte her.34 Die Angleichung industrieller und handwerklicher Organisations- und Fertigungsstrukturen rechtfertigt deswegen in
33 Weitere, weniger bedeutsame Kriterien sind die Qualifikation der Mitarbeiter, die Möglichkeit der persönlichen Mitarbeit des Betriebsinhabers und die Betriebsgröße. 34 So zum Beispiel Tischler, Fleischer und Werkzeugmacher im Handwerk und Softwareunternehmen in der Industrie.
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immer geringerem Maße eine Sonderbehandlung des Handwerks in Form bestehender Regulierungen. Technologische und wirtschaftliche Entwicklungen bewirken außerdem, daß sich einzelne Tätigkeiten von einem Handwerkszweig absondern und Überschneidungen zwischen mehreren Handwerksarten auftreten (Schilling et al. 1989, 32). Hieraus entsteht ein weiteres Problem. Da die Berufsbilder des Handwerks, denen eine bestimmte Tätigkeit zugeordnet wird, heute einem immer stärkeren Wandel ausgesetzt sind, ist eine solche Zuordnung zunehmend schwieriger zu bewerkstelligen. Die Abgrenzungen erweisen sich als Hemmnis, da sie Leistungen aus einer Hand verhindern sowie zu Rechtsstreitigkeiten fuhren und hohe Kosten verursachen können. Die Entwicklung und der Einsatz neuer Technologien erfordert dynamische Anpassungsprozesse damit neue Marktsegmente erschlossen werden. Ist die Flexibilität von Handwerksunternehmen aufgrund einer breitgefácherten Ausbildung ein potentieller Wettbewerbsvorteil, wenn es darum geht, auf Marktänderungen mit einer Verlagerung der Schwerpunkttätigkeit zu reagieren, so wird gerade diese Möglichkeit durch die Handwerksordnung mit ihrer rigiden Abgrenzung handwerklicher Tätigkeiten erheblich eingeschränkt. zu 2) Zugunsten der Handwerksordnung wird häufig angeführt, daß die mit dem Großen Befähigungsnachweis verbundene Ausbildung sowohl einen hohen Stand der deutschen Berufsausbildung sichert als auch einen hohen Qualitätsstandard des deutschen Handwerks garantiert (Kucera und Strathenwerth 1989). Als Folge technologischer und industrieller Veränderungsprozesse ändern sich jedoch die fur einen Beruf erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten recht dynamisch. Dem Handwerksbetrieb der Zukunft wird ein wesentlich höheres Maß an Spezialisierung abverlangt. Diese kann durch die in der Prüfungsordnung vorgegebenen Anforderungen an die Meisterprüfung immer weniger sichergestellt werden.35 Statt dessen gewinnt die Flexibilität hinsichtlich der Aneignung von Wissen über neue Technologien und somit die Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiter parallel zu ihrer Berufsausübung zunehmend an Bedeutung. Auch verlangt der Einsatz neuer, spezialisierter Maschinen die Einstellung qualifizierter Spezialisten. Handwerksbetriebe, deren Mitarbeiter alle im Betrieb anfallenden Tätigkeiten erledigen können, behindern jedoch eine größere Arbeitsteilung, was sich als Nachteil gegenüber der Industrie erweist, da Größenvorteile bei der Produktion nicht ausgenutzt werden können. Zudem wird heute von dem Einzelnen eine berufliche Mobilität verlangt, die eine schnelle Anpassung an veränderte Marktverhältnisse erfordert. Die hohen Kosten der Meisterprüfung sowie die dem Handwerk zugrundeliegenden Berufsbilder verhindern jedoch nicht nur einen schnellen Markteintritt in ein bestimmtes Handwerk, sondern auch einen rechtzeitigen Berufswechsel sowie innovatorische Anpassungen. Auch rücken die unternehmerischen Fähigkeiten (Auftragsbeschaffung, Finanzierung, Marketing- und Vertriebsaufgaben) des Handwerksbetriebs gegenüber den handwerklichen Fähigkeiten immer stärker in den Vordergrund. Dem Inhaber eines Handwerksbetriebs steht folglich
35 Bereits Watrin (1958, 46ff.) wies daraufhin, daß das Ausbildungssystem erhebliche Mängel hat, die dazu fuhren, daß durch die Ausbildung zum Meister die Leistungsfähigkeit des Handwerks nur begrenzt gefördert wird.
Die Deregulierung des deutschen Handwerks als ordnungspolitische Aufgabe · 531
für die eigentliche Ausübung seiner handwerklichen Tätigkeit immer weniger Zeit zur Verfugung. Dadurch wird das Inhaberprinzip zunehmend in Frage gestellt. Die berufsspezifischen Anforderungen an die Ausübung handwerklicher Tätigkeiten haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Flexibilität in geistiger und räumlicher Hinsicht sowie der Bedarf an zunehmender Spezialisierung fur eine bessere Arbeitsteilung sind wichtige Anforderungen, denen die restriktiven Gewerbezulassungsregulierungen entgegenstehen. Der Meistertitel hemmt eine dynamische Humankapitalentwicklung. Statt einer einmaligen Ausbildung, die den Anbieter quasi für ein Leben lang qualifiziert, ist vielmehr eine ständige Fort- und Weiterbildung erforderlich, die dem Wandel von Wirtschaftsstrukturen entspricht und langfristig die Leistungfähigkeit der handwerklichen Berufe sichert zu 3) Im Zuge der Verwirklichung des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes finden auch bei Handwerksleistungen immer mehr grenzüberschreitende Transaktionen in Form von Anbieter- und Nachfragerbewegungen statt. Gleichzeitig wird das deutsche Recht stärker durch europarechtliche Vorgaben geprägt.36 So hat ein Staatsangehöriger aus Mitgliedstaaten der EU die Möglichkeit, sich in einem Handwerk in Deutschland zu betätigen oder eine Niederlassung zu gründen (§ 9 HwO). Zu diesem Zweck muß er in die deutsche Handwerksrolle eingetragen sein und die Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat der EG ununterbrochen ausgeübt haben (§ 1 Abs. 1 EWG-HwVO). Außerdem muß die ausgeübte Tätigkeit mit den wesentlichen Punkten des Berufsbildes übereinstimmen, fur das die Ausnahmebewilligung beantragt wird. Jedoch benötigt ein Handwerker aus einem anderen Mitgliedstaat der EU keinen Meisterbrief, um sich in Deutschland selbständig zu machen. Damit wird durch die europarechtlichen Vorgaben im deutschen Handwerksrecht eine Inländerdiskriminierung in Kauf genommen. Wegen der hohen Kosten für die Meisterprüfung haben deutsche Handwerker einen Wettbewerbsnachteil gegenüber den Handwerkern aus anderen EU-Mitgliedstaaten. Zwar ist der Wettbewerbsnachteil, der deutschen Handwerkern hieraus entsteht, gegenwärtig noch relativ unbedeutsam. Allerdings ist zu vermuten, daß sich der Wettbewerbsdruck mit der anstehenden Ost-Erweiterung der Europäischen Union verschärfen wird. In wenigen Jahren werden die ersten dieser Länder als Vollmitglieder in die Europäische Union aufgenommen.37 Gegenwärtig ist der Konkurrenzdruck, der von mittel- und osteuropäischen Handwerksbetrieben auf deutsche Handwerksbetriebe ausgeht, noch verhältnismäßig gering. Dies liegt vor allem daran, daß die Betriebe aus diesen Ländern nicht ohne weiteres in Deutschland tätig werden können. Verschiedene gesetzliche Vorschriften verwehren ihnen noch den Marktzugang. Mit der Ausweitung des EU-Binnenmarktes auf die Staaten Mittel- und Osteuropas wird sich dies jedoch ändern. Die beträchtlichen Lohnkostenunterschiede zwischen Deutsch36 Für handwerkliche Tätigkeiten gelten die Grundsätze der Niederlassungsfreiheit: Art. 43 (ExAit. 52 EG-Vertrag), Art. 48 (Ex-Alt. 58 EG-Vertrag), des freien Dienstleistungsverkehrs: Art. 49 (Ex-Art. 59 EG-Vertrag) und der Liberalisierung von Dienstleistungen: Art. 52 (Ex-Art. 63 EG-Vertrag). Axt. 13 (Ex-Art. 6 Abs. 1 EG-Vertrag) verbietet zudem allgemein jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. 37 In diesem Jahr wurden mit sechs Ländern (Polen, Tschechische Republik, Ungarn, Slowenien, Zypern und Esüand) Beitrittsverhandlungen aufgenommen.
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land und seinen östlichen Nachbarstaaten werden gerade bei Handwerksleistungen zum Tragen kommen. Umgekehrt wird eine Erschließung neuer Absatzmärkte in Mittel- und Osteuropa aufgrund der hohen Preise der deutschen Handwerksleistungen vermutlich nur in sehr geringem Umfang stattfinden.38 Damit werden die Regulierungen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Handwerker entscheidend einschränken. 4. Beschäftigungseffekte der Marktbarrieren Aus den umfangreichen Regulierungen des Handwerks resultieren negative Beschäftigungseffekte. So ist die Anzahl der Beschäftigten im westdeutschen Handwerk seit den sechziger Jahren nahezu gleich geblieben. Im Jahre 1969 waren 3,806 Millionen Personen im Handwerks beschäftigt, 1985 sogar nur noch 3,669 Millionen und im Jahre 1994 wieder 3,835 Millionen.39 Die unterproportionale Beschäftigungsentwicklung im Handwerk wird besonders im Vergleich zum handwerksähnlichen Gewerbe40 und dem Dienstleistungbereich deutlich (Schaubild 1). Dort konnten seit Mitte der achtziger Jahre Beschäftigungszuwächse von etwa 40 vH realisiert werden. Schaubild 1:
Beschäftigungsentwicklung im Handwerk, handwerksähnlichem Gewerbe und im Dienstleistungsbereich (1985=100) Handwerk
handwerksahnllches Gewerbe
Dienstleistungsbereich
Quelle: Statistisches Bundesamt-JB lfd. Jahrgänge; ZDH 1997a.
38 Deutsche Handwerksbetriebe können allenfalls den Absatz der eigenen Produkte auf den Märkten in den MOE-Staaten erhöhen, wenn die Handwerksleistungen eine hohe Produktqualität besitzen und ein hohes betriebliches Know how erfordern. 39 Früheres Bundesgebiet, ohne handwerkliche Nebenbetriebe, auf Basis der jeweils aktuellen Handwerkszählung (1963, 1968, 1977). Quelle: Statistisches Bundesamt-JB lfd. Jahrgänge. 40 Für das handwerksähnliche Gewerbe gilt uneingeschränkte Gewerbefreiheit. Insbesondere muß der Inhaber des handwerkähnlichen Betriebes keinen Großen Befähigungsnachweis (Meistertitel) erwerben.
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Für die Analyse möglicher Beschäftigungswirkungen der Marktzutrittsregulierungen muß zwischen den Insidern, die bereits ein Handwerksunternehmen der Anlage A HwO führen, und den Outsidern, die bislang kein legales selbständiges Gewerbe betreiben, unterschieden werden. Zu den Outsidern zählen sowohl die Arbeitnehmer, die als Gesellen in Handwerksunternehmen beschäftigt sind als auch diejenigen, die entweder „schwarz" oder in Form eines Reisegewerbes ihre Handwerksleistungen unter Umgehung der Marktzutrittsschranken anbieten. Die Insider auf dem Handwerksmarkt haben die Gewerbeberechtigung bereits erworben und verfugen damit im Vergleich zu den Outsidern über eine gewisse Macht. Diese wird durch die bestehende Regulierung, die den Markteintritt für die Outsider erschwert, gestärkt. Das Ziel der Insider ist es, einen möglichst hohen Unternehmerlohn (Gewinn) durchzusetzen und zu bewahren, ohne dabei jedoch ihren Status als selbständige Unternehmer und damit letztlich ihre Existenz zu gefährden. Daher haben sie - auch bei einer Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Lage - kein Interesse an deregulierenden Maßnahmen. Diese würden letztlich dazu fuhren, daß mehr Outsider auf den Markt drängen, die möglicherweise die hohen Gewinne wegkonkurrieren und damit die Position der etablierten Insider streitig machen. Das Verhalten der Handwerksmeister, das in den Aktivitäten der Handwerkskammern und -verbände Ausdruck findet, folgt demnach konsequent der Logik von partikularen Interessen. Für die Outsider ist es nicht möglich, in den Markt einzutreten und durch die Strategie der Preisunterbietung den etablierten Unternehmern Marktanteile abzunehmen. Als Resultat werden sich die bestehenden Strukturen verfestigen. Erhebliche Potentiale der Betätigung und Arbeitsteilung beim Handwerksangebot bleiben ungenutzt (Dönges 1992, 84). Unternehmensgründungen, die mit positiven Beschäftigungseffekten verbunden wären, unterbleiben.41 Vor allem jüngere Gesellen bleiben vom Markt selbständiger Handwerker ausgeschlossen. Sie könnten sich mit ihren Betrieben auf Tätigkeiten konzentrieren, die keine meisterspezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzen. Entsprechend würde sich hinsichtlich des Angebots der Handwerksleistung eine der Qualifikation entsprechende Differenzierung ergeben, die sich in qualifikationsadäquaten Preisen niederschlägt. Der Nettostundenlohn eines selbständigen Gesellen wird langfristig nicht wesentlich über dem Verdienst des abhängig beschäftigten Arbeitnehmers liegen. Sonst würde für letzteren ein Anreiz bestehen, zu kündigen und sich ebenfalls selbständig zu machen. Durch die qualifikationsgemäße Differenzierung der Preise für Handwerksleistungen wird vermutlich die Nachfrage nach Handwerksleistungen steigen. Das Hand-
41 Der Zusammenhang zwischen Unternehmensgründungen und positiven Beschäftigungseffekten ist Gegenstand vieler Untersuchungen (z.B. Brüder! et al. 1996; Deutsche Ausgleichsbank 1997; Brixy und Kohaut 1997). Empirisch wurde für die Vereinigten Staaten ermittelt, daß gerade die Gründung kleiner Unternehmen einen überproportionalen Beitrag zur Arbeitsplatzschaffung leistet (Birch 1987). Ebenso wurde in der Bundesrepublik Deutschland beobachtet, daß 17 vH der Beschäftigten in Unternehmen arbeiten, die seit weniger als zehn Jahren bestehen (Boeri und Cramer 1991). Die Quantifizierung der volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Unternehmensgründungen ist bislang noch nicht in zufnedenstellendem Umfang möglich. Der positive Beitrag von Unternehmensgründungen zum Strukturwandel und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze ist jedoch weitgehend anerkannt (Steil 1997, 31).
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werksangebot wird effizienter. Dies kann wiederum positive Beschäftigungseffekte nach sich ziehen. Tatsächlich läßt die Entwicklung der Anzahl der Handwerksunternehmen auf eine eher geringe Gründungsdynamik in diesem Bereich schließen. Seit den achtziger Jahren hat sich die Anzahl der Unternehmen in Westdeutschland kaum verändert. Wird wiederum gleichzeitig die Veränderung der Anzahl unregulierter handwerksähnlicher Gewerbe betrachtet, ist festzustellen, daß hier eine recht dynamische Entwicklung von Unternehmensgründungen stattgefunden hat. Im Vergleich zu 1990, als die Anzahl der Unternehmen des handwerksähnlichen Gewerbes bei knapp 78.000 lag, wurden drei Jahre später schon über 105.500 Betriebe gezählt, was einer Zunahme von über 35 vH entspricht. Im gleichen Zeitraum nahm die Anzahl der Vollhandwerksbetriebe sogar um 0,8 vH ab (ZDH 1997a). Diese Entwicklung verdeutlicht, daß im Handwerk das Potential fur Unternehmensgründungen nicht vollständig genutzt wird. Die geringe Gründungsaktivität im Vollhandwerk ist auf das Bestehen von Marktzutrittsschranken zurückzuführen. Gleichzeitig zeigt die positive Entwicklung bei den handwerksähnlichen Betrieben, daß durchaus die Bereitschaft zu selbständiger handwerklicher Tätigkeit besteht. Diese kann sich vor allem dort entfalten, wo keine Marktzutrittsregulierung vorliegt. Häufig werden die Marktschranken im Handwerk auch umgangen, indem Anbieter und Nachfrager in die Schattenwirtschaft abwandern.42 Die Gründe für den Anstieg der Schwarzarbeit sind vielfältig und schwerlich zu gewichten. Zum Teil sind es allerdings die Regulierungen des Marktzutritts, die der Schwarzarbeit Vorschub leisten. So wird der Handwerksmeister die ihm mit der Ausbildung entstandenen Ausgaben über seine Preise „zurückholen"; der Handwerksgeselle, der keine kostspielige Ausbildung zum Meister bezahlt hat, kann seine Preise anders kalkulieren und hat damit einen Wettbewerbsvorteil, den er natürlich nur schwarz geltend machen kann. Der Zwang zum Großen Befähigungsnachweis ist auch unmittelbar eine Einladung zur Schwarzarbeit, weil er zwar die Gründung neuer Betriebe in der offiziellen Wirtschaft behindert, nicht aber die grundsätzliche Bereitschaft zur selbständigen handwerklichen Tätigkeit untergräbt, nur weil diese nicht amtlich registriert ist. Durch die zunehmende Schwarzarbeit können Arbeitsplätze in der offiziellen Wirtschaft verdrängt werden. Den Handwerksbetrieben, die legal ihre Leistungen anbieten, werden Aufträge durch die illegalen Anbieter entzogen. Dadurch könnten Beschäftigungspotentiale hier ungenutzt bleiben oder gar legale Arbeitsplätze wegfallen.43 42 Das Handwerk ist in besonderem Maße von Schwarzarbeit betroffen. Nach Schätzung des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks wurde bereits in den achtziger Jahren etwa zehn vH des im Handwerk getätigten Umsatzes in Schwarzarbeit erwirtschaftet (Klinge 1988, 124). Dieser Anteil dürfte sich seitdem nicht vermindert haben, zumal generell die Schattenwirtschaft in Deutschland im Verhältnis zur regulären Wirtschaft zugenommen zu haben scheint. Das Ausmaß der Schwarzarbeit wird für 1997 auf etwa fünfzehn vH des Bruttoinlandsproduktes geschätzt, wobei ungefähr die Hälfte davon auf Bau-, Renovierungs- und Reparaturarbeiten entfällt (IW 1997, 4f.). 43 Es ist jedoch unklar, ob die Handwerksleistungen, die „schwarz" über den informellen Sektor bezogen werden, im gleichen Umfang auch legal nachgefragt würden. Vermutlich würden viele Transaktionen zum deutlich höheren legalen Preis (einschließlich Steuern, Sozialabgaben, „Meisterzuschlägen" und Fahrtkosten) gänzlich unterbleiben. Umfragen ergaben, daß Schwarz-
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Alternativ zur Nachfrage nach Schwarzarbeit können die Konsumenten die Produktion der Handwerksleistung auch in Eigenarbeit vornehmen. Die sogenannte Selbstversorgungswirtschaft hat in den letzten Dekaden stark zugenommen. Dabei nahmen auch hier die handwerklichen Leistungen eine übergeordnete Stellung ein (Ollmann 1988, δΟί.).44 Die Zunahme der Eigenfertigung durch Einzelpersonen oder organisierte Nachbarschaftshilfen ist gleichzusetzen mit einer Rückverlagerung wirtschaftlicher Tätigkeiten in die Privathaushalte, die zuvor über den Markt bezogen wurden (Dohm 1988, 227). Gerade im Hinblick auf die hohe Arbeitslosigkeit erscheint es wünschenswert, daß die Leistungen wieder extern bezogen werden, wodurch neue Arbeitsplätze entstehen könnten. Auch hinsichtlich der Qualität der handwerklichen Produkte ist davon auszugehen, daß diese wegen Spezialisierungsvorteilen häufig höher ist, wenn die Leistungen von einem ausgebildeten Handwerker erbracht werden, und zwar einerlei ob legal oder schwarz. Der Rückzug aus der Arbeitsteilung geht demnach vermutlich mit sinkenden Allokationsgewinnen einher und verursacht negative Beschäftigungseffekte im Handwerkssektor.
IV. Handlungsbedarf in Richtung Deregulierung Um den Weg in die Selbständigkeit zu erleichtern, sollte der Große Befähigungsnachweis abgeschafft werden. Auch Gesellen mit mehrjähriger Berufserfahrung müßten berechtigt werden, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Die Vorgaben für die erforderliche Berufserfahrung sollten im Sinne des Europäischen Binnenmarktes den Anforderungen an ausländische Anbieter von Handwerksleistungen, die sich in der Bundesrepublik niederlassen, entsprechen. Damit wäre auch der Tatbestand der Inländerdiskriminierung aufgehoben. Je nach Schwierigkeitsgrad des ausgeübten Handwerks könnte die Anzahl der vorgeschriebenen Berufsjahre für die Selbständigkeit variieren. Ebenso sollten Handwerksbetriebe, die erfahrene Gesellen anderer Handwerkszweige beschäftigen, zukünftig auch diese Handwerksleistungen anbieten dürfen. Bislang mußte dafür entweder eine Ausnahmeberechtigung gemäß § 7a HwO beantragt werden oder ein Meister des anderen Handwerks eingestellt werden. Durch diese Maßnahme würde ein flexibleres Angebot ermöglicht. Um das Angebot aus einer Hand weiter zu erleichtern, müßte die strenge Abgrenzung der den einzelnen Handwerksberufen zugrundeliegenden Berufsbilder aufgelockert werden. Das verbesserte Angebot aus einer Hand wird zur Senkung von Transaktionskosten führen und kann Handwerksbetrieben zusätzliche Nachfrage verschaffen. Gerade neue Anbieter können sich durch komplementäre flexible Angebote gegenüber Etablierten im Wettbewerb Vorteile verschaffen und Marktanteile gewinnen. Weiterhin sollte der Meistertitel freiwillig von jedem erworben werden können, der meint, so am besten Qualität für die erbrachten Handwerksleistungen des Betriebs zu signalisieren. Die Meisterprüfung sollte jedoch in verschiedene Elemente aufgeteilt werarbeitsleistungen häufig von Unternehmen angeboten werden, die auch im regulären Sektor tätig
sind. Vgl. Duvinage et al., (1994, 129).
44 Wie z.B. Eigenleistungen bei Hausbau, Wohnungsrenovierung und Reparaturen. Dieser Trend wird auch an der dynamischen Entwicklung von Bau- und Heimwerkermärkten in Deutschland deutlich.
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den können, so daß eine stufenweise Qualifikation vom Gesellen zum Meister fuhrt. Wer alle Prüfungselemente erfolgreich bestanden hat, darf sich Meister nennen. Damit ergibt sich jedoch auch die Möglichkeit von Zwischenqualifikationen, die den qualitativ differenzierten Anforderungen des Marktes Rechnung tragen würden. Das allgemeine Qualifikationsniveau wird vermutlich insgesamt steigen (Pohl 1995, 297f). Für neue Anbieter ergeben sich bessere Möglichkeiten, ihr Angebot in bestimmte Marktsegmente zu piazieren, für die sie optimal qualifiziert sind. Die Kompetenzen der Kammern hinsichtlich der Zulassungs- und Prüfungsverfahren zur Meisterprüfung müssen eingegrenzt werden, damit eine strikte Trennung staatlicher Marktzugangskontrollen und berufsverbandlicher Aufsichtsbefiignisse durchgesetzt wird. Die Ausgestaltung der Verfahren wäre stattdessen durch unabhängige Experten festzulegen. Allenfalls der Erlaß von Prüfungsvorschriften fur Fort- und Weiterbildung kann weiterhin im Kompetenzbereich der Kammern liegen, weil durch diese kein Einfluß auf den Marktzutritt neuer Anbieter genommen wird. Jegliche Verpflichtungen, von denen jedoch eine marktzutrittshemmende Wirkung ausgeht - sofern die Kammern nicht das Gegenteil im Einzelfall aufzeigen - sollten ausschließlich vom Gesetzgeber festgelegt werden. Als Alternative zum deutschen Kammerwesen böten sich privatrechtliche Zertifikationssysteme an. Deren Vorteil besteht vor allem darin, daß sie über den ihnen innewohnenden Wettbewerbsmechanismus eine effiziente Qualitätssicherung fordern, die jedoch nicht als Marktzutrittsbarriere wirkt. Keinesfalls sollte die Handwerksordnung auf weitere Industrie- und Dienstleistungsberufe ausgeweitet werden. Dadurch würden neue Markteintrittsschranken aufgebaut, die Existenzgründungen erschweren und bestehende Unternehmen in ihrer Existenz gefährden. Insbesondere, wenn es sich dabei um dynamische Wirtschaftsbereiche (EDV und Medien) handelt, würde der für Wachstum und Beschäftigung erforderliche Strukturwandel behindert. Damit gerade langfristig die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Handwerker gesichert wird, wäre vielmehr die vollständige Abschaffung der Marktzutrittsregulierung zu überdenken. Der Abbau aller Marktzutrittsschranken würde zu mehr Unternehmensgründungen in den vormals regulierten Berufen anregen und damit zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen beitragen. Wie die Erfahrungen in anderen Ländern (z.B. in Großbritannien) zeigen, ist die vollständige Gewerbefreiheit im Handwerk keineswegs mit einem Zustand des völligen Chaos verbunden. Weiterhin sorgt der Staat dafür, daß Gefahren für die Allgemeinheit durch die Einführung von Regeln verhindert werden. Vermutlich wird die derzeit bestehende Handwerksordnung in langer Sicht durch exogenen Zwang erodieren: Die restriktive Regulierung deutscher Handwerksberufe steht den Anforderungen der Globalisierung in Form einer dynamischen Anpassung wirtschaftlicher Strukturen an veränderte Nachfrage- und Angebotsbedingungen diametral gegenüber. Als Folge werden sich zunehmend Substitutionsprozesse von der Handwerksproduktion hin zur Industrieproduktion herausbilden, die Bedeutung des deutschen Handwerks wird weiter abnehmen, die Handwerksordnung ausgehöhlt. Deshalb sollte bereits heute die Abschaffung der Handwerksordnung in Betracht gezogen werden.
Die Deregulierung des deutschen Handwerks als ordnungspolitische Aufgabe * 537 Literatur Albach, Horst (1992), Deregulierung des Handwerks, Wiesbaden. Akerlof, George A. (1970), The Market for "Lemons". Qualitative Uncertainty and the Market Mechanism, Quarterly Journal of Economics, Jg. 84, S. 488-500. Bardeleben, Richard von (1994), Kosten und Nutzen der betrieblichen Berufsausbildung, Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, Jg. 23, Heft 3, S. 3-11. Birch, David L. (1987), Job Creation in America - How Our Smallest Companies Put the Most People to Work, New York. Boeri, T.M. und U. Cramer (1991), Betriebliche Wachstumsprozesse - eine statistische Analyse mit der Beschäftigtenstatistik 1977-1987, Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Jg. 24, S. 70-80. Böhmer, Reinhold (1997), Auf der Jagd - wie ein Wirtschaftszweig die Gründung Hunderttausender Unternehmen und neue Jobs verhindert, Wirtschaftswoche, Nr. 22, S. 38-46. Boss, Alfred, Claus-Friedrich Laaser, Klaus-Werner Schatz et al. (1996), Deregulierung in Deutschland: Eine empirische Analyse, Tübingen. Brixy, Udo und Susanne Kohaut (1997), Betriebsgründungen: „Hoffhungsträger des ostdeutschen Arbeitsmarktes", IAB-Kurzbericht, Nr. 6, 18.08.1997. Bniderl, Josef et al. (1996), „Der Erfolg neugegründeter Betriebe - eine empirische Studie zu den Chancen und Risiken von Unternehmensgründungen", Berlin. Demsetz, Harold (1969), Information and Efficiency - Another Viewpoint, Journal of Law and Economics, Jg. 12, S. 1-22. Deregulierungskommission (1991 ), Marktöffnung und Wettbewerb, Stuttgart. Deutsche Ausgleichsbank (1997), Entwicklung junger Unternehmen in West- und Ostdeutschland, Wissenschaftliche Reihe, Bonn. Deutscher Bundestag (1997), Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P., Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften, Drucksache 13/9388, S. 1-35. Döhrn, Roland (1988), Beschäftigungsformen innerhalb und außerhalb der offiziellen Wirtschaft, Dienstleistungen im Strukturwandel, Beihefte zur Konjunkturpolitik, Heft 35, Berlin, S. 207230. Dönges, Juergen B. (1992), Ist die Meisterprüfung im Handwerk überflüssig? - Zu den Vorstellungen der Deregulierungskommission, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Jg. 41, S. 71-85. Duvinage, Maria et al. (1994), Schwarzarbeit - ohne Rechnung, Capital, Heft 12, S. 126-140. Finsinger, Jörg (1991), Wettbewerb und Regulierung, München. Habermann, Gerd (1990), Die deutsche Handwerksordnung als Relikt der Gewerbebindung, ORDO, Bd. 41, S. 173-193. Heck, Hans-Joachim (1995), Die Ausnahmebewilligung zur Ausübung eines Handwerks, Gewerbearchiv, Jg.41, S. 217-264. IW (Institut der deutschen Wirtschaft) (1997), Informationsdienst, Jg.23, Nr. 32, 7. August 1997. Klinge, Gabriele (1988), Wettbewerbsverzerrungen durch illegale Arbeitsnehmerbeschäftigung und Schwarzarbeit, in: Wolfgang König und Gustav Kucera (Hrsg.), Die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Handwerks in den 90er Jahren - Chancen und Risiken des Handwerks vor dem Hintergrund veränderter Markt- und Rahmenbedingungen, Göttingen, S. 118-160. Kucera, Gustav (1996), Wirtschaftstheoretische Grundlagen der gegenwärtigen Standortdebatte, in: Wolfgang König und Gustav Kucera (Hrsg.), Standort Deutschland - Handwerksrelevante Aspekte und Standortprobleme des Handwerks, Kontaktstudium Wirtschaftswissenschaft, Göttingen. Kucera, Gustav und Wolfgang Strathenwerth (1989), Deregulierung des Handwerks, Göttingen. Lettmayr, Christian F., Thomas Parger und Peter Voithofer (1996), Vergleich der Zutrittsvoraussetzungen in verschiedenen Branchen in Östereich und in anderen Europäischen Ländern, Wien.
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Die Deregulierung des deutschen Handwerks als ordnungspolitische Aufgabe · 5 3 9
verändert. Dies kann auf die umfassende Regulierung des Marktzutritts zurückgeführt werden. Prinzipiell darf nur derjenige ein Vollhandwerk als Gewerbe betreiben, der den Meistertitel erworben hat. Ausnahmen hiervon werden sehr restriktiv gehandhabt. Mit mehreren Novellen der Handwerksordnung (zuletzt 1998) wurde eine Erleichterung des Marktzutritts im Handwerk beabsichtigt, eine umfassende Deregulierung hat jedoch bislang nicht stattgefunden. Über die gezielte Einflußnahme auf Prüfungs- und Berufsordnungen trägt das deutsche Kammerwesen zur Aufrechterhaltung der Marktzutrittsschranken wesentlich bei. Die vorliegende Analyse ökonomischer Argumente, mit denen die Marktzutrittsbeschränkungen bei Handwerkern gerechtfertigt werden, zeigt, daß ein Marktversagen weder aufgrund von asymmetrischen Informationen noch aufgrund externer Effekte vorliegt. Die Restriktivität der Regulierung des deutschen Handwerks wird im internationalen Vergleich besonders deutlich. Im Zuge der Internationalisierung des Handwerksangebots durch Faktorwanderungen, die mit der anstehenden Osterweiterung der EU besondere Relevanz erlangt, werden die Regulierungen die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Handwerker schmälern. Die Beschäftigungseffekte der Regulierung sind negativ: Existenzgründungen, die zu mehr Arbeitsplätzen fuhren würden, unterbleiben. Das Handwerksangebot wandert zunehmend in die Schattenwirtschaft ab, wodurch legale Arbeitsplätze vernichtet werden. Um den Marktzutritt im Handwerk zu erleichtern, wäre der Große Befähigungsnachweis abzuschaffen. Der Erwerb des Meistertitels und die Mitgliedschaft in Handwerkskammern sollte freiwillig gestaltet werden. Damit eine Qualitätssicherung des Handwerksangebots gewährleistet wird, könnten bestehende Haftungsregeln verschärft und privatrechtliche Zertifikationssysteme eingeführt werden. In Ausnahmefällen - wie z.B. für die Ausübung eines Gefahrenhandwerks - sind auch konkrete Regelungen denkbar. Summary Deregulating the German Crafts Industry: a Challenge for Economic Policy The development of German crafts industries was very moderate or even declinig during the last decades. Since the sixties the amount of employees in crafts industries has not changed significantly. One main reason for this development can be found in barriers to entry due to severe regulations. Only those craftsmen who have acquired the Crafts Mastership Certificate (Großer Befähigungsnachweis) are permitted to set up a firm. This applies with very few exceptions. Several times (at last in 1998) German legislation changed the Crafts Regulation Act (Handwerksordnung) intending to facilitate market entry. Yet, a sound deregulation of the Crafts Regulation Act did not take place. The reason for maintaining barriers to entry is partly due to the strong influence of the German crafts chambers. This article analyses the justification of barriers to entry because of market failure. The results reveal that neither asymmetric informations nor externalities justify to maintain present regulations. The need to reform the Crafts Regulation Act is backed by em-
5 4 0 · Markus Fredebeul-Krein und Angela Schürfeld
pineal evidence demonstrating that in most European countries the crafts industry is considerably less regulated than in Germany. The competitiveness of the German crafts industry will be challenged by the increasing international crafts supply, especially when Eastern European countries will join the EU. Various interventions in the German crafts industry result in market distortions, thus harming employment, hampering the creation of new enterprises and shifting employment to the underground economy. Therefore the authors suggest a major reform of the Crafts Regulation Act. The requirement of a Crafts Mastership Certificate to set up a firm should be abolished. The Craft Mastership Certificate and membership in crafts chambers should be obtained voluntarily. In order to achieve high quality of crafts supply it is proposed to tighten existing liability rules and to support the creation of certificate systems under private law. Only in exceptional cases like dangerous craft professions some regulations might still be necessary.
Besprechungen
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Hans Otto Lenel
Die Wirtschaftsordnung als Gestaltungsaufgabe Zu dem Buch von Heinz Grossekettler mit dem gleichen Titel* Grossekettlers Buch ist - nach einer kurzen Einleitung und vor einer ebenfalls kurzen Zusammenfassung - in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil, „Grundidee, Entstehungsgeschichte und Abgrenzung des Ordoliberalismus" betitelt, werden knapp und zutreffend die ersten beiden Themen geschildert. Auch die Abgrenzung ist im ganzen gut gelungen. Doch zweifle ich, ob nicht manche Libertarians bestreiten würden, daß „individuelle und kollektive Rationalität" (S. 6) voneinander abweichen können. Die „Altliberalen" sind keine einheitliche Gruppe. Friedrich A. von Hayek, den Grossekettler ihnen zurechnet, stimmt keineswegs mit wichtigen Äußerungen Rothbards und seiner Schüler überein (Rothbard 1980; Mestmäcker 1981). Über die Verbindungen zwischen Liberalen in den letzten zwei Dritteln dieses Jahrhunderts und früher Tätigen, insbesondere Anhängern der historischen Schule der Nationalökonomie soll Grossekettlers Abbildung 1 (S. 14) Aufschluß geben. Walter Euchen war zwar Schüler von H. Schumacher, hat sich aber von der historischen Schule spätestens in der deutschen Inflation nach dem Ersten Weltkrieg getrennt. Ahnliches gilt für die Beziehungen zwischen F. Oppenheimer und Wilhelm Röpke. Die „Österreicher" sind keine homogene Gruppe. Die angesehenen Jüngeren, die Grossekettler aufführt, waren zwar alle in Mises berühmtem Seminar, aber Haberler und Machlup sind später auf anderen Pfaden gewandelt als Mises. Nicht der Unterschied der Anschauungen von Altund Ordoliberalen, sondern die Kontroverse um Albert Hunold führte zu den Spannungen in der Mont Pelerin Gesellschaft, von denen Grossekettler (S. 16) berichtet. Der zweite Teil (Hartwell 1995, 5. Kapitel) „Hauptvertreter, Programme und Implementation ordoliberalen Gedankenguts" ist der weitaus umfangreichste und jedenfalls für mich - auf der interessanteste. Ich bedauere, daß Großmann-Doerth nicht behandelt wird, weil er 1944 gefallen ist. Großmann war eine interessante und - auch für Studenten - anregende Persönlichkeit, und sein Einfluß auf Böhm und Eucken wäre nach meiner Meinung eine Untersuchung wert. Eucken wird zutreffend vorgestellt, mit einer kleinen Ausnahme, daß seine „kapitaltheoretischen Untersuchungen" nicht schlechthin von der österreichischen Schule, sondern allein von Böhm-Bawerk beeinflußt waren (S. 23). Böhm war als Staatsanwalt nach meiner Kenntnis nie tätig. Rektor war er nicht in Freiburg (S. 24), sondern in Frankfurt. Bei einem der bisher von mir behandelten Drei hätte ich das wichtige gemeinsame Seminar erwähnt. Zu Mises hatte Eucken keinen *
Heinz Grossekettler, Die Wirtschaftsordnung als Gestaltungsaufgabe. Entstehungsgeschichte und Entwicklungsperspektiven des Ordoliberalismus nach 50 Jahren Sozialer Marktwirtschaft. Ökonomische Theorie der Institutionen, herausgegeben von Helmut Dietl, Christina Erlei, Mathias Erlei und Martin Leschke, Bd. 1, LIT Verlag, Münster und Hamburg 1997, 161 Seiten.
544 · Hans Otto Lenel engen Kontakt; bei einer der ersten Tagungen der Mont Pelerin Gesellschaft kam es vielmehr zu einem Zusammenstoß der beiden (Röpke 1960, 10). Der Dritte, über den der Autor ausfuhrlicher berichtet, ist Alfred Müller-Armack. Diese Reihenfolge entspricht nicht der Dauer der Mitwirkung an der Vorbereitung der Wende von 1948, nach meiner Kenntnis auch nicht nach dem Grad der Verbindung zu Eucken und Böhm. Von Eucken und Röpke weicht Müller-Armack auch insofern ab, als er vor 1945 nicht für die Rückkehr zur Marktwirtschaft Relevantes publiziert hat. Er beschäftigte sich danach überwiegend mit Religionssoziologie. Es ist richtig, daß er den sozialen Ausgleich mehr betonte als die bisher behandelten „HauptVertreter" Röpkes Verdienste um die Wende in Westdeutschland ab 1948 hat Grosseketller meines Erachtens nicht gebührend hervorgehoben. Ähnliches gilt für Rüstow. Das mag für die Durchsetzung der Marktwirtschaft 1948 günstig gewesen sein. Andererseits öffnete er aber damit auch ein Einfallstor für Sozialpolitiker, denen ordnungspolitisches Denken fremd war und ist. Dessen Verbindung mit Eucken war eng (Lenel 1991). Rüstow trat als einer der ersten der verfehlten Sozialpolitik entgegen. Nicht zuletzt als Vorsitzender der ASM hat er sich um die Marktwirtschaft sehr verdient gemacht. Umstritten „im Kreise der Ordoliberalen" (S. 31) war nach meiner Kenntnis nur seine erbrechtliche Konzeption. Anders als die Würdigung einiger „Hauptvertreter" ist Grossekettler die Darstellung des ordoliberalen Programms sehr gut gelungen. Mit Recht verweist er hier vor allem auf Eucken und deutet Skepsis gegenüber Müller-Armacks „Offenheit" für „Veränderungen des Aufgabenkatalogs" der Regierung an (S. 59). Diese „Offenheit" war auch eine Schwäche des sozialpolitischen Konzeption des Letzeren. Grossekettler arbeitet auch die Schwächen der Altliberalen bezüglich der Abgrenzung der Staatsaufgaben klar heraus (S. 61). Müller-Armacks einschlägiger Forderungskatalog scheidet schlechter ab als die Euckenschen Prinzipien (Abbildungen 2 und 3, S. 64 f. und die Kommentare S. 70 f). Einige sozialpolitische Forderungen von Müller-Armack kritisiert Grossekettler. Nichtsdestoweniger kommt dieser zu dem nach meiner Meinung problematischen Urteil, es ergebe sich bei Müller-Armack „für die Praxis der Wirtschaftspolitik ... kaum ein Unterschied gegenüber Eucken" (S. 72). Zu Beginn des 4. Abschnitts des zweiten Teils „Implementation des ordoliberalen Programms" fragt Grossekettler mit Recht nach der Rolle des politischen Umfelds. Ein Hinweis auf die Bedeutung hervorragender Persönlichkeiten und nicht zuletzt auf Mut und Überzeugungskraft von Ludwig Erhard hat mir hier gefehlt. Euckens einschlägige Überlegungen werden zutreffend wiedergegeben, die Wichtigkeit einer ordnungspolitischen Bildung der Juristen in Politik und Exekutive mit Recht hervorgehoben (S. 82 f., 110 f.). Der ungünstige Einfluß der Schüler von Carl Schmitt und von Anhängern der historischen Schule der Nationalökonomie wäre erwähnenswert gewesen. Wichtig scheint mir der Hinweis des Autors zu sein, daß spätere Erkenntnisse der ökonomischen Theorie der Politik Eucken und Böhm schon recht vertraut waren (S. 90 f.). In seinem dritten Teil versucht Grossekettler, einen „Beitrag zur institutionellen Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft" zu geben. Auch dieser Versuch ist
Die Wirtschaftsordnung als Gestaltungsaufgabe • 545
interessant. Er beginnt mit einer Darstellung der „Entwicklungsphasen der Sozialen Marktwirtschaft" (Abb. 4, S. 95). Wohl anders als der Autor halte ich die Einfuhrung der dynamischen Rente nicht fur eine dieser Phasen des Ordoliberalismus, sondern für einen Schritt vom Wege. Der Autor erwähnt die Bedeutung der Entwicklung unabhängiger Behörden (S. 98 f.) und behandelt etwas später (S. 103 f.) recht ausfuhrlich die „Instrumentalisierung von Transaktionskosten". Damit sollen nicht nur erwünschte Prozesse aktiviert, sondern auch unerwünschte Prozesse gehemmt werden (S. 106). Zwecks dieser Hemmung sollen die Transaktionskosten erhöht werden. Als Beispiel nennt der Verfasser den Einsatz von Transaktionskosten gegen den Abschluß und die Durchsetzung von Kartellverträgen (S. 106). Er verweist auf Ausführungen von Franz Böhm, die mit anderen Überlegungen und anderen Worten Ahnliches herbeiführen wollen. An die Stelle von Euckens konstituierenden und regulierenden Prinzipien will der Verfasser „Transformations- und Evolutionsprinzipien" (S. 111) setzen. Damit will er auch die Juristen gewinnen (oben und S. 110 f.). Die ersteren „sollen den Übergang zu einer sozialen Marktwirtschaft steuern" (S. 111), die letzteren für Anpassungsmaßnahmen und gegen Koordinationsmängel eingesetzt werden. Nach Abbildung 6 (S. 113 f.) umfassen die Transformationsprinzipien Euckens konstituierenden Prinzipien mit Ausnahme des Grundprinzips „Herstellung eines funktionsfähigen Preissystems vollständiger Konkurrenz". An Stelle des Prinzips ,.Konstanz der Wirtschaftspolitik" steht „Berechenbarkeit", an Stelle des Prinzips „Haftung" „Verantwortungsklarheit". Als zusätzliche Transformationsprinzipien nennt der Autor „Flexibilität, Sicherheit und Sozialpartnerschaft als Prinzipien der Arbeitsmarktverfassung" und „Subsidiarität", „Nachhaltigkeit und Diskriminierungsfreiheit" als Prinzipien der Finanz- und Sozialverfassung (S. 114). Es ist schwierig, die anschließend dargestellten Evolutionsprinzipien im Rahmen einer Besprechung hinreichend knapp und doch klar darzustellen. Der Autor beginnt in Abbildung 7 (S. 116) mit einer „Leitmaxime": „Subsidiarität bei der Ziel-, Mittel- und Trägerwahl, Konfliktminimierung und Verantwortungsklarheit bei der Zuordnung von Zielen zu Mitteln und Trägem sowie Selbstbindung zur Verhinderung in Interventionsspiralen als Leitgedanken zur Auffächerung in Derivativprinzipien." Er nennt von diesen vier: „Prinzip der Legitimierung von Zielen und Mitteln", „Kongruenzprinzip", „Beherrschbarkeitsprinzip" und „ZMT - Zuordnungsprinzip". Was letzteres ist, wird - außer mit einem Hinweis auf eine andere Publikation des Autors - in Anmerkung 3 zu Seite 99 kurz erläutert: Die „ZMT-Regel zeigt, wie eine Zuordnung von Zielen, Mitteln und Trägern gefunden werden kann, die auch in einer dynamischen Welt dafür sorgt, daß Dosierungs- und Kompetenzkonflikte beim Mitteleinsatz möglichst vermieden werden, daß bei den Trägern keine Lovalitätskonflikte entstehen und daß wirtschaftspolitische Ziele auch dann nach dem Muster der Stabilisierung von Sollgrößen in Regelkreisen realisiert werden, wenn vom Instrumenteneinsatz der einzelnen Träger Nebenwirkungen auf andere Ziele ausgehen und Wechselwirkungen mit anderen Mitteln bestehen". Auch nach der Lektüre einer der angeführten Publikationen scheint mir das für eine praktische Anwendung recht kompliziert zu sein (S. 116).
546 · Hans Otto Lenel Als weiteres Evolutionsprinzip nennt Grossekettler das Legitimationspostulat: Die Derivativprinzipien können „zu einem Schema von Prüfoperationen für wirtschaftspolitische Maßnahmen verknüpft werden, das bei der Beurteilung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf Legitimität als Arbeitsablaufschema benutzt werden sollte" (S. 116). Dieses Legitimationsschema folgt anschließend als Abbildung 8 auf über eineinhalb Seiten mit drei Abschnitten „Zieloperationalisierung", „vertragstheoretische Legitimation des Maßnahmenziels" und „Ökonomische Legitimation der Maßnahmengestaltung". Im zweiten Abschnitt heißt es unter anderem, von einem „Gemeinwohlziel" sei auszugehen, „wenn ein Koordinationsmangel (Marktversagen) geheilt werden soll oder wenn letztlich alle Bürger aus sonstigen Gründen einen Nettovorteil von der Zielrealisation hätten" (S. 117). Ich habe mich gefragt, wie das Letztere festgestellt werden soll. Für ein Fallbeispiel verweist der Autor auf eine der in der oben genannten Anmerkung erwähnten Publikationen. Das dort auf wenigen Seiten vorgetragene Beispiel besticht durch eine klare und pädagogische gute Analyse. Es scheint mir empfehlenswert zu sein, bei einer Neuauflage des besprochenen Buches statt eines Hinweises diese Ausführungen einzuarbeiten. Schön wäre, wenn bei der Vorbereitung von Entscheidungen so vorgegangen würde. Bisweilen dürfte das an dem dafür nötigen Zeitaufwand scheitern. Aber auch unabhängig davon besteht nach den bisherigen Erfahrungen leider Anlaß zur Frage, ob Politiker eine solche Vorbereitung überhaupt wollen. Hoffen wir, daß sich auch deren Verhalten in Zukunft ändert. Ein Abschnitt über „ordoliberale Wirtschaftsdiagnostik" schließt diesen Teil ab. Im Ganzen handelt es sich um eine wertvolle Schrift, deren Lektüre uneingeschränkt empfohlen werden kann. Vor allem gilt das für die beiden ersten Teile und für den ersten Abschnitt des dritten Teils (insgesamt 103 Seiten). Literatur Hartwell, R,M. (1995), A History of the Mont Pelerin Society, Indianapolis Lenel, Hans Otto (1991), Walter Euckens Briefe an Alexander Rüstow, ORDO, Bd. 42, S. 11 - 14. Mestmäcker, Ernst-Joachim (1981), Vom Bürgerkrieg als Utopie, ORDO, Bd. 32, S. 103 - 107. Röpke, Wilhelm (1960), Blätter der Erinnerung an Walter Eucken, ORDO, Bd. XII, S. 3 -19. Rothbard, Murry N. (1980), F A. Hayek and the Consept of Coericion, ORDO, Bd. 31, S. 43 - 50.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Ame Heissel
Konsumethik in der Wohlstandsgesellschaft. Zum gleichnamigen Buch von Karl-Georg Michel* Sozialenzykliken der katholischen Kirche stellen seit „Rerum novarum" ein häufiges Element der sozialpolitischen und gesellschaftspolitischen Diskussionen dar. Auch wenn die katholische Soziallehre nicht als wirtschaftspolitische Konzeption entworfen wurde, enthält sie Elemente, die dazu dienen können, Ausgestaltungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen sowie zu beobachtendes Verhalten der Wirtschaftssubjekte zu hinterfragen, wenn nicht sogar mit zu beeinflussen. An diesem Punkt setzt der Autor des zu besprechenden Buches mit seiner Dissertation an, in dem er ein in der Literatur viel diskutiertes Thema aufgreift und aus Sicht eines Theologen unter Einbeziehung weiterer Wissenschaftsdisziplinen behandelt. Dabei setzt er sich zum Ziel, eine sachliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse vorzunehmen; das heißt, positive und negative Konsequenzen der Konsumgesellschaft herauszuarbeiten, um darauf aufbauend Verhaltensregeln für das Konsumverhalten der am Wirtschaftsleben teilnehmenden Subjekte zu formulieren, die einem noch zu setzenden ethischen Standard gerecht werden. Ausgangspunkt der Arbeit ist die Annahme, daß der Konsum nicht per se ethisch oder unethisch ist. Im Vordergrund der vorgenommenen Analyse steht der Mensch als Souverän seiner Entscheidungen, wobei die Zielsetzung verfolgt wird, ein Konzept zu entwikkeln, mit dessen Hilfe der souveräne Konsument zu einem ethischen Konsumverhalten angeleitet wird. Zur Zielerreichung teilt Michel die Arbeit in drei Teile ein. Teil eins beschäftigt sich mit dem Konsum des Menschen aus ökonomischer Sicht. Diesen Teil der Arbeit nutzt Michel, um begriffliche Grundlagen zu klären. Es wird dabei verdeutlicht, daß Konsum nicht nur in rein ökonomischer Sicht Marktnachfrage darstellt, sondern daß Konsum neben der elementaren Bedürfnisbefriedigung als Mittel dazu dient, daß der Mensch seine Lebensziele umsetzen kann. Da diese Lebensziele vor allem durch einen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Einfluß geprägt werden, leitet der Autor daraus ab, daß die Fragestellung des Buches sowohl aus individual-ethischer als auch aus sozial-ethischer Sicht behandelt werden muß. Während dem Konsum, verstanden als Instrument der elementaren Bedürfnisbefriedigung, kein ethischer Bezug zugesprochen werden kann, muß Konsum vom normativ belasteten Begriff des Konsumismus abgegrenzt werden, der besagt, daß der Mensch durch überflüssigen Konsum in ein Netz falscher und oberflächlicher Befriedigungen hineingezogen wird, anstatt echte und konkrete Erfahrungen seiner Persönlichkeit zu *
Karl-Georg Michel, Konsumethik in der Wohlstandgesellschaft, Abhandlungen zur Sozialethik, Hrsg. Anton Rauscher und Lothar Roos, Bd. 41, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn, München, Wien und Zürich 1997, 249 Seiten.
548 · AmeHeissel machen. Um einer Konsumethik entsprechend handeln zu können, wird postuliert, daß der Mensch um ein Wissen über Normen und Verhaltensweisen verfugen muß, die ihm zu einem verantwortlichen Umgang mit den Konsummöglichkeiten der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft verhelfen. Der Autor nimmt Abstand vom wohlfahrtsökonomischen Menschenbild des homo oeconomicus, denn Aufgabe des Haushaltens ist es, neben dem effizienten Einsatz der knappen finanziellen Mittel, gleichzeitig „Leitwerte der Lebensführung zu verwirklichen" (S. 23). Ausgehend vom Verständnis der christlichen Gesellschaftslehre wird der Wirtschaft ein instrumenteller Charakter zugesprochen. Die Wirtschaft dient demnach neben der Bereitstellung von Gütern, auf die die Menschen angewiesen sind, vor allem als Dienst am Menschen hinsichtlich seines geistigen, sittlichen, spirituellen und religiösen Lebens. Im weiteren Verlauf des ersten Teils der Arbeit leitet der Autor seine Sympathie fur eine marktwirtschaftliche Ordnung ab, die soziale Komponenten in einem ausreichenden Maße berücksichtigen muß. Im Rahmen dieser Ordnungsform lassen sich eine freie Konsumwahl und die „Verpflichtung der Menschen ... ihren Konsum so zu gestalten, daß er ihrer Bedürfnishierarchie entspricht... am ehesten erreichen" (S. 45). Im zweiten Teil der Arbeit werden ergänzend zu den ökonomischen Aspekten des Konsums verschiedene sozial-psychologische Aspekte des Konsums betrachtet. Darüber hinaus wird ein Begriffspaar, das einen wesentlichen Stellenwert für die gesamte Arbeit einnehmen wird, nämlich Lebensqualität und Lebensstandard, näher beleuchtet, bevor im dritten Kapitel des zweiten Teils Fragen des Wertewandels aufgegriffen werden. Insbesondere der Bedeutung der Familie wird eine große Aufmerksamkeit zuteil. Zur Ermittlung der menschlichen Bedürfnishierarchie beschäftigt sich der Autor sowohl mit einer an der Philosophie- und Geistesgeschichte orientierten Betrachtung, der Bedürfnispyramide von Maslow sowie Ergebnissen der Konsum- und Verhaltensforschung. Das Konsumverhalten wird dabei neben der Befriedigung von physiologischen Grundbedürfiiissen auch stark von äußeren Einflüssen wie zum Beispiel der Werbung, der Produktherkunft aber auch grundlegenderen Einflüssen wie der Kultur oder der Religion geprägt sein, die nur teilweise vom Handelnden bewußt wahrgenommen werden. Die Bedürfnisse, die sich in einer Hierarchie ordnen lassen, können dabei durch materielle und immaterielle Güter befriedigt werden. Dem Konsum wird dabei auch eine kompensatorische Wirkung beigemessen, um höhere Bedürfnisse wie den Bezug zu Mitmenschen oder zu Gott zu befriedigen. Im folgenden Gliederungspunkt beschäftigt sich der Autor mit der Bedürfnisstruktur aus einer ethischen Perspektive. Ausgehend von einem individualistischen Menschenbild ordnet er der Verantwortung des einzelnen gegenüber sich selbst aber auch gegenüber der Gesellschaft eine besondere Rolle zu und formuliert Grundnormen einer Konsumethik, die sich für den Menschen für den Konsumbereich ergeben. Diese sind erstens die sittliche Pflicht zur Arbeit, zweitens die Berücksichtigung der Bedürfnishierarchie, drittens die Berücksichtigung positiver und negativer Folgen des Konsums für sich selbst, die Mitmenschen und die Natur und viertens Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, so daß eine optimale Bedürfnisbefriedigung möglich ist.
Konsumethik in der Wohlstandsgesellschaft · 549 Aus der Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar Lebensqualität und Lebensstandard folgert der Autor, daß Lebensstandard und Lebensqualität in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen müssen, da die Lebensqualität mehr ausmacht als die Ausstattung mit materiellen Gütern. In diesem Zusammenhang wird dem Luxuskonsum eine besondere Stellung eingeräumt. Auf der einen Seite wird auf der Grundlage des individualistischen Konzeptes erkannt, daß die Definition, was unter Luxuskonsum zu verstehen ist nicht möglich ist. Nicht zuletzt deshalb muß dem Luxuskonsum gegenüber eine neutrale Stellung eingenommen werden. Andererseits wird davor gewarnt, daß Luxuskonsum höhere Bedürfnisse nur kompensiert, wobei in solchen Fällen von einem „verkürzten Verständnis der menschlichen Bedürfnishierarchie" ausgegangen wird (S.98). Im folgenden Kapitel beschäftigt sich der Autor insbesondere mit der aktuellen Lebenslage der Konsumenten. In diesem stark durch empirisches Datenmaterial unterstützten Kapitel fuhrt Michel aus, daß die derzeitige Situation in Deutschland durch einen hohen Lebensstandard geprägt ist, dieser aber die Gefahr in sich birgt, daß dem „Leitbild einer individualistisch mißverstandenen Selbstverwirklichung ein zu hoher Rang in der Werthierarchie" beigemessen wird (S. 115). Der aus Sicht des Autors besonderen Stellung der Familie, gedacht ist hier an die Erfüllung der Bedürfnisse nach Zuneigung, Liebe und Anerkennung, trägt er durch eine explizite Auseinandersetzung mit ihrer Situation hinsichtlich ihrer Konsummöglichkeiten und ihres Konsumverhaltens Rechnung. Michel betont dabei den besonderen Stellenwert der Familie fur die Gesellschaft und fordert daher aus konsumethischer Perspektive, daß die Haushalte über genügend Kaufkraft verfugen sollten. Im Vergleich mit kinderlosen Haushalten sieht der Autor eine Ungerechtigkeit, da die Kaufkraft der Familien mit Kindern geringer ist als die kinderloser Doppelverdiener. Michel läßt es sich auch in diesem Gliederungspunkt nicht nehmen, konkrete Vorschläge für eine Nivellierung der Einkommensunterschiede zu machen. Wie schon das vorangegangene Kapitel ist auch dieses durch eine Vielzahl empirischer Daten gespickt, wobei jedoch die Kriterien und die Relevanz hinsichtlich der ausgesuchten Beispiele für die Beantwortung der eigentlichen Fragestellung nicht zu überzeugen wissen. Abschließend äußert der Autor die Hoffnung, daß der gegenwärtige Erlebniswahn zwischen Egoismus und Hedonismus längerfristig nicht Bestand hat und es zu einer Rückbesinnung auf die Werte kommt, die der Kohäsion der Menschen zuträglich sind. Im dritten Teil der Arbeit widmet sich der Autor den zentralen Aufgabenfeldern der Konsumethik. Nachdem in den vorangegangen zwei Teilen immer wieder Hinweise gegeben wurden, was unter Konsumethik zu verstehen ist, kommt es hier zu einigen Redundanzen. Der Autor nimmt im folgenden sowohl eine individualethische Perspektive ein, mit deren Hilfe erarbeitet werden soll, welches Verhalten die Verbraucher und Produzenten im Einzelnen einnehmen müssen, um sich konsumethisch angemessen zu verhalten, als auch eine sozialethische Perspektive, aus deren Sicht heraus die Rolle der Institutionen im Rahmen der Konsumethik beleuchtet werden sollen. Dazu werden Leitbilder formuliert, die den Konsumenten und Institutionen als Verhaltensorientierung dienen sollen. Zur Ableitung dieser Leitlinien greift Michel auf das Nachhaltigkeitskonzept zurück und
550 · ArneHeissel formuliert einen „neuen kategorischen Imperativ", der den Handelnden ein hohes Maß an Verantwortungsbewußtsein abverlangt wie folgt: „Handle so, daß die Konsequenzen deines Konsumierens die Möglichkeiten eines lebenswerten Lebens für dich und die anderen nicht in Frage stellen" (S. 131). Bei der konkreten Frage nach der Einteilung der einzelnen Güter in ethisch oder unethisch beziehungsweise in Güter, die zu einer falschen Bedürfnisbefriedigung führen, sympathisiert der Autor zwar mit Versuchen, konkrete Merkmale eines Gutes zur Kategorisierung zu nennen, lehnt diese Vorgehensweise aber letztlich ab, da er die Willkür der Kriterienerstellung erkennt, ohne jedoch seine selbst vorgetragene Kritik konsequent anzuwenden. Deutlich wird dieses in der angedachten Perse-Verurteilung von Gütern, die die physische oder psychische Verfassung des Konsumenten gravierend beeinflussen. Hier nennt der Autor exemplarisch Drogen und Pornographie; jedoch schwächt er seine Aussage wieder ab, indem er daraufhinweist, daß in der als Referenz dienenden Ordnung ein Eingriff in das Marktgeschehen „nur die letzte aller denkbaren Maßnahmen sein kann" (S. 139). An dieser wie auch an manch anderen Stellen wäre eine konsequentere Orientierung an der selbstgewählten Referenz überzeugender gewesen, zumal der Autor das selbstgesteckte Ziel, nicht moralisierend sein zu wollen, nicht zuletzt durch diese Inkonsequenzen in der Argumentation nicht erreicht. Aufbauend auf der grundsätzlichen Erkenntnis, daß eine Orientierung an den Gütereigenschaften in der Regel kein Beurteilungskriterium sein kann, versucht Michel, zur Beantwortung seiner Problemstellung einen alternativen Weg einzuschlagen. Dazu greift er das zuvor skizzierte Menschenbild wieder auf, in dem die Freiheit des einzelnen in den Vordergrund gestellt wird, ohne jedoch die Wirkungen auf das Gemeinwohl zu vernachlässigen. Die vordringliche Frage für die Beurteilung des Konsumverhaltens bei Anwendung des Nachhaltigkeitskonzeptes ist sodann die Frage nach den Auswirkungen des Konsums auf das Individuum, auf die soziale und die natürliche Umwelt. Ausgehend von diesem Grundgerüst versucht Michel im folgenden, konkrete Verhaltensleitlinien zu erstellen. Dazu unterscheidet er nach der Verantwortung, die den Verbrauchern und den Produzenten jeweils zufällt. Von Verbrauchern wird dabei eine maßvolle Haushaltsführung, eine kritische Einstellung zum Wohlstand, eine Bereitschaft zum Konsumverzicht und zur Askese sowie eine Verantwortung im Marktgeschehen erwartet. Der Autor füllt die einzelnen hier erwähnten Punkte mit einer Vielzahl von Beispielen. Dieses Kapitel krankt jedoch insgesamt an wenig konkreten, teilweise widersprüchlichen Aussagen und einigen Redundanzen, insbesondere dann, wenn wiederum der hohe Stellenwert der Familie in den Vordergrund rückt. Inwieweit die normativen Feststellungen des Autors wie zum Beispiel, daß „der bewußte Verzicht auf Konsum, den man sich eigentlich leisten könnte, ... auch für Singles und kinderlose Ehepaare selbst von Vorteil sein" würde, vom Leser nachvollziehbar sind, soll hier nicht weiter diskutiert werden (S. 159). Die aufgrund der Beachtung des Gemeinwohls abgegebene Empfehlung des „NichtKaufs" von Gütern, die im Ausland hergestellt wurden, lassen neben ökonomischen Schwachpunkten auch erkennen, daß der Autor des Buches in seinen Argumenten Stringenz vermissen läßt. Die Fixierung auf die nationalen Grenzen widerspricht wohl einer
Konsumethik in der Wohlstandsgesellschaft - 551 Orientierung an den von der christlichen Soziallehre formulierten Grundprinzipien. Die Verantwortung der Produzenten ist nach Ansicht des Autors vergleichsweise gering, da letztlich die Konsumenten die Konsumentscheidungen treffen. Dennoch wird an sie die Forderung erhoben, daß sie sich selbst die Frage stellen, ob die angebotenen Güter in quantitativer und qualitativer Hinsicht einer menschengerechten Bedürfnisbefriedigung entsprechen. Auch dieses Kapitel wird wiederum durch zahlreiche Verhaltensbeispiele und empirisches Datenmaterial angereichert. Im folgenden Kapitel verläßt der Autor die individualethische Perspektive und konzentriert sich auf die Rolle der Institutionen. Hier wird seine ordnungstheoretische Perspektive deutlich. Neben einer rahmensetzenden Wettbewerbspolitik fordert er eine Ergänzung um staatliche Maßnahmen des Verbraucherschutzes und der Verbraucheraufklärung. Für die Maßnahmen des Verbraucherschutzes vertritt Michel die Maßgabe: sowenig Staat wie möglich, soviel Staat wie nötig. Hervorstechende Aufgabe der nichtstaatlichen Institutionen ist es, unter der Maßgabe, daß der Mensch Konsumfreiheit genießt, ihm Unterstützung zukommen zu lassen, so daß er seiner Verantwortung gegenüber sich selbst, der sozialen und der natürlichen Umwelt gerecht werden kann. Es bleibt festzuhalten, daß der Autor sich mit einer sehr interessanten Fragestellung beschäftigt. Im Ergebnis kommt der Autor zu Handlungsempfehlungen für alle involvierten Gruppen, die deutlichen Werturteilen unterliegen. Die überwiegend normative Vorgehensweise hätte durch eine zumindest kurze Stellungnahme zu der Bedeutung von Werturteilen im Rahmen wissenschaftlicher Arbeiten ergänzt werden können. So bleibt nur festzuhalten, daß jeder Leser für sich selbst entscheiden muß, inwieweit er die in diesem interessant zu lesenden Buch enthaltenen Handlungsempfehlungen nachvollziehen kann oder auch nicht.
ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart, 1998) Bd. 49
Egon Tuchtfeldt
Bildungspolitik im Umbruch Zum gleichnamigen, von Hans Giger herausgegebenen Buch* Die lange Entwicklung von der Agrar- über die Industrie- zur heutigen Dienstleistungs- und beginnenden Informationsgesellschaft hatte verständlicherweise mannigfache Auswirkungen auf die Beschäftigung mit Bildungsfragen. Wie ist das moderne Bildungswesen überhaupt enstanden? Wie hat es sich bis zur Gegenwart immer mehr differenziert? Diese Entwicklung sowie die damit verbundenen Bildungsideale und ziele gehören primär in die Geschichte der Pädagogik. Gleichwohl sind sie auch und gerade für die wirtschaftliche Entwicklung von großer Bedeutung. Denn Bildungs- und Beschäftigungssystem hängen eng miteinander verbunden zusammen. Von „ökonomischen Imperialismus" zu sprechen, wie es Vertreter der Pädagogik manchmal tun, wenn sie mit der Literatur über Bildungsökonomie konfrontiert sind, dürfte daher fehl am Platze sein - insbesondere in einer Zeit, in der Interdisziplinarität immer mehr vordringt. Die Dogmengeschichte der Bildungsökonomie reicht bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts zurück. Die amerikanische Ökonomin Mary Jean Bowman (1966) machte hierzu - entgegen anderslautenden Auffassungen - die treffende Bemerkung, es handle sich um „one of the oldest stream in the history of economics" (S 29). Petty, Becher, von Justi unter den merkantilistischen Schriftstellern, Smith, Say, J. St. Mill gehören mit gewichtigen Beiträgen auch in die Geschichte der Bildungsökonomie. Eine große Zahl weiterer Autoren konnte hier nicht erwähnt werden (vgl. die zusammenfassenden Darstellungen von Eckhardt 1978, O 'Donnell 1985 und Imme! 1994 mit ausfuhrlichen Literaturangaben). Seit den fünfziger Jahren standen theoretische Konzepte im Vordergrund des Interesses (Ertragsraten-, Manpower- und Social-Demand-Ansatz). In zahlreichen Varianten wurden sie diskutiert und hatten eine zunehmende Literatur zur Folge. Mit dem „Sputnik-Schock" 1957 verstärkte sich diese Entwicklung explosionsartig. Waren die Russen vielleicht doch besser und weiter als der Westen? 1964 proklamierte dann Georg Picht die „Deutsche Bildungskatastrophe". Mit diesem Schlagwort trat er eine Lawine los, welche diese Katastrophe erst herbeiführen sollte. Die Zahl der Abiturienten sollte verdoppelt, diejenige der Akademiker erheblich gesteigert werden, um in einer Welt ständig wachsenden Wissens konkurrenzfähig zu bleiben. 1965 doppelte Ralf Dahrendorf nach mit seiner Forderung „Bildung ist Bürgerrecht". Ihm ging es dabei weniger um die internationale Konkurrenzfähigkeit als um die Verbesserung der Lebenschancen für alle. Meinte Picht die Deckung des *
Hans Giger (Hrsg.), Bildungspolitik im Umbruch. Staatsmonopol in der Weiterbildung. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 1991, XX, 1002 Seiten
554 · Egon Tuchtfeldt steigenden Bedarfs an qualifiziertem Nachwuchs, so Dahrendorf die Chancengleichheit. Damit war die Diskussion von Beginn an „falsch programmiert". Statt den Bildungssektor endlich marktmäßig zu betrachten - wie es in vorbildlicher Weise Ulrich van Lith (1985) getan hat -, begann ein Reformfetischismus kaum vorstellbarer Art. Ein erster Höhepunkt war die Kulturrevolution 1968, ein zweites die berühmt-berüchtigten Hessischen Rahmenrichtlinien, ein dritter die Feststellung von 206.000 „Akademischen Arbeitslosenherde" 1995. Das Bildungssystem hatte „am Markt vorbei" produziert. Wer im Beschäftigungssystem gebraucht wurde, war kaum vorhanden. Wer Arbeit suchte, wurde mangels Qualifikation nicht mehr gebraucht. Die Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt werden immer größer. In den achtziger Jahren machte sich in der Bildungsdiskussion allmählich ein gewisser Wandel bemerkbar. Zunehmende Abwanderung an Privatschulen, mangelnde Qualifikation der Auszubildenden, unzureichende Hochschulreife, überlange Studiendauer, hohe Durchfall- und Abbrecherquoten drängten die Argumentationsmuster in eine andere Richtung. Neben der Frage, ob und inwieweit „mehr Markt" die Probleme der Pirmär-, Sekundär- und Tertiärstufe lösen könne, rückte die Weiterbildung immer mehr in den Vordergrund. Ging doch die Wirtschaft dazu über, durch Maßnahmen der Weiterbildung und der Personalentwicklung die sich ständig vergrößernden Defizite des staatlichen Bildungswesens zu verringern und nach Möglichkeit anzugleichen. Das zusammenwachsende Europa und die fortschreitende Globalisierung ließen zudem interkulturelle Ausbildungsfragen im mittleren und höheren Management immer wichtiger werden. Hier setzt nun das zu besprechende Werk ein. Auf über tausend Seiten enthält es Beiträge von 51 Autoren, vor allem zu den Themen „mehr Markt" und Weiterbildung. Schon der Umfang macht ein näheres Eingehen auf die einzelnen Beiträge im Rahmen dieser Rezession unmöglich. Die Verteilung von 28 Autoren, die in der Schweiz tätig sind, und 23 in Deutschland, läßt das Werk zu einer wertvollen Informationsquelle werden. Ein sehr umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein ungewöhnlich gutes Sachregister sind besonders hervorhebenswert. Durch sachbezogene Gliederung in fünf Abschnitte mit jeweils unterschiedlichen Rahmenthemata ist es dem Herausgeber gelungen, die Fülle des dargebotenen Materials zu bändigen. Der erste Abschnitt faßt unter dem Titel „Erziehung, Bildung und Wissenschaft als Aufgaben der Zukunftsbewältigung" acht Beiträge zusammen, die im besonderen Maße die Programmatik des Werkes beleuchten. Sind es doch gerade die Fähigkeiten, die als Problemlösungskapazitäten für die Zukunft zur Verfügung stehen müssen, die heute überall fehlen. Der zweite Abschnitt mit nur fünf Beiträgen behandelt „Aufgaben, Ziele und Probleme im Bildungsbereich". Wahrscheinlich wäre es zweckmäßig gewesen, die manchmal etwas heterogenen Beiträge in den ersten und im dritten Abschnitt einzugliedern. Dort wären sie vermutlich besser am Platze gewesen. So hätte sich beispielsweise der grundlegende Aufsatz über das „Liberale Bildungsideal - eine Herausforderung an Schule, Universität und Gesellschaft" gut am Anfang des Buches gemacht.
Bildungspolitik im Umbruch · 555 Der Schwerpunkt des Werkes liegt auf dem dritten Abschnitt über „permanente Weiterbildung als Imperativ". Die insgesamt dreißig Beiträge sind unterteilt in A. Politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Aspekte B. Didaktik, Organisation und Methoden der Weiterbildung C. Weiterbildung an Hochschulen D. Formen betrieblicher Weiterbildung E. Aus- und Weiterbildung im Management Die Beiträge von Theoretischem und Praktischem sind gut gemischt. Entsprechend dem Vatertitel des Werkes („Staatsmonopol in der Weiterbildung?") wird gerade diesen zentralen Fragen eine breitgefácherte Aufmerksamkeit zuteil. Nach dem Motto „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen" (Goethe, Faust), werden hier Erfahrungen und geistige Ressourcen mobilisiert, die zukunftsweisend sind. Der letzte Abschnitt hat mit sechs Beiträgen „Europäische Respektiven der Bildungspolitik" zum Gegenstand. Der gemeinsame Binnenmarkt wird auch die nationalen Bildungseinrichtungen verschärftem Wettbewerb aussetzen und eine größere Mobilität mit sich bringen. Die Fülle unterschiedlicher Lernformen und -inhalte wird die nationalen Bildungsbürokratien auf einen angemessenen Umfang reduzieren. Man wird endlich anerkennen müssen, daß es Faule und Fleißige, Lernschwache, Normal- und Hochbegabte gibt. Gerade die HochbegabtenfÖrderung, um hier den mancherorts verpönten Ausdruck „Elite" zu vermeiden, ist der eigentliche Adressat der Weiterbildung, des „lebenslangen Lernens". Die Bildungsmärkte werden dabei das Verhalten der Anbieter und der Nachfrager von sich aus ändern. Die Neuen Medien werden Telekommunikationstechniken, Fernstudien usw. in den Dienst der Weiterbildung stellen. Nicht Bildungsbürokratien, sondern Märkte machen es möglich. Der Gesamteindruck des Werkes kann wohl nur als positiv bezeichnet werden. Daß dabei die Aufsätze von 51 Autoren gewisse Qualitätsunterschiede aufweisen, dürfte unvermeidlich sein. Gewisse Überschneidungen stören dagegen eher die Werthaltung, der alle Autoren verpflichtet sind, nämlich „Mehr Markt auf allen Gebieten des Bildungssektors!". Das Werk ist allen, die nicht mit Bildungsproblemen auf den verschiedenen Stufen zu tun haben, mit Nachdruck zu empfehlen: den Praktikern, die mit den Alltagsproblemen des Ausbildungs- und Prüfungswesens voll beschäftigt sind, ebenso wie den Politikern, die den Bildungssektor in ihre Ideologien hineinpressen wollen. Ein leistungsfähiges Bildungswesen braucht keine staatliche Bildungsplanung mit festgelegten Zielen und Methoden. Es benötigt funktionierende Märkte, die von selbst Bildungs- und Beschäftigungssystem koordinieren und für eine effiziente Weiterbildung bis hin zum interkulturellen Management Sorge tragen.
556 · Egon Tuchtfeldt Literatur Bowman, Mary Jean (ed.) (1968), Readings in the economics of education, Paris. Dahrendorf, Ralf (1965), Bildung ist Bürgerrecht, Hamburg. Eckhardt, Wolfgang (1978), Bildungsökonomie. Entwicklung-Modelle-Respektiven, Bad Homburg v. d. Höhe. Immel, Susanne (1994), Bildungsökonomische Ansätze von der klassischen Nationalökonomie bis zum Neuliberalismus, Frankfurt am Main. Lamszus, Helmut und Horst Sanmann (Hrsg.) (1987), Neue Technologien, Arbeitsmarkt und Berufsqualifikation, Bern und Stuttgart. Lith, Ulrich van (1985), Der Markt als Ordnungsprinzip des Bildungswesens, München. O'Donnell, Margaret G. (1985), The Educational Thought of the Classical Political Economists, Lanham, New York und London. Picht, Georg (1964), Die deutsche Bildungskatastrophe, Olfen und Freiburg. Schily, Konrad (1993), Der staatlich bewirtschaftete Geist. Wege aus der Bildungskrise, Düsseldorf, Wien, New York u.a.. Straubhaar, Thomas und Manfred Winz (1992), Reform des Bildungswesens, Bern, Stuttgart und Wien.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
RalfL. Weber
Neue Arbeitsmarkttheorien Zu dem gleichnamigen Buch von Thomas Wagner und Elke J. Jahn* Die hohe Arbeitslosigkeit in Westeuropa hat in den letzten Jahren die wirtschaftswissenschaftlichen Bemühungen verstärkt, hierfür neue Erklärungen zu gewinnen. Was dabei herausgekommen ist, wird in dem vorliegenden Lehrbuch von Thomas Wagner und Elke J. Jahn präsentiert. Es wird versucht, neue Arbeitsmarkttheorien auf die westeuropäische Arbeitslosigkeit anzuwenden. Allerdings räumen die Autoren schon zu Beginn ein, daß auch die neuen Theorien keine befriedigenden Ergebnisse bieten. Arbeitslosigkeit sei - darin bestehe weitgehende Einigkeit - in Europa ein zum Großteil strukturell begründetes Problem: Die Institutionen des Arbeitsmarktes, der technische Fortschritt und die Politik des Wohlfahrtsstaates werden als Ursachen genannt. Das Buch enthält fünf Hauptteile mit insgesamt vierzehn Kapiteln. Im Ersten Teil werden die neuen Arbeitsmarkttheorien vorgestellt und von älteren Ansätzen abgegrenzt. Das Kernstück der älteren Ansätze wird in „der" neoklassischen Arbeitsmarkttheorie gesehen. Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage werden preistheoretisch aus mikroökonomischen Verhaltensannahmen abgeleitet und zu einem Arbeitsmarkt mit einem Marktlohn vereint. Besondere Bedeutung erhält in diesem Teil das Anspruchslohnargument, also jenes Einkommen, das Arbeitslose beanspruchen können, so lange sie nicht eigene Erwerbseinkommen am Markt erzielen. Dieser Anspruchslohn beeinflußt einmal den Marktlohn, zum anderen das Angebot von Arbeit, weil es die Opportunitätskosten der Erwerbstätigkeit beschreibt. Die daraus abzuleitenden Opportunitätskostenkalküle der Haushalte beim Arbeitsangebot werden praktisch erläutert, so z. B. im Hinblick auf die deutschen Regelungen von Lohnersatzleistungen und deren Einfluß auf das Arbeitsangebot (Lohnabstandsgebot in der Sozialhilfe). Die Nachfrage nach Arbeit wird hingegen vergleichsweise kurz und allgemein über die Unternehmen aus der Nachfrage nach Gütern abgeleitet. Die abgeleitete Nachfrage unterliegt der Grenzproduktregel, wonach weitere Nachfrage am Arbeitsmarkt nur dann auftritt, wenn mit der zusätzlichen Beschäftigung ein Grenzwertprodukt am Gütermarkt erwirtschaftet werden kann, das mindestens die Kosten des zusätzlichen Arbeitsplatzes deckt. Aus der Zusammenfiihrung beider Marktseiten zu einem Arbeitsmarkt werden nun Schlußfolgerungen über Arbeitslosigkeit und die Effizienz des Arbeitsmarktes gezogen.
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Thomas Wagner und Elke J. Jahn, Neue Arbeitsmarkttheorien, wisu-texte, Werner Verlag, Düsseldorf 1997, XII und 300 Seiten.
558 · Ralf L. Weber Angenommen werden hierzu unterschiedliche starre Lohnniveaus am Arbeitsmarkt. Aus einem zu hohen Lohnniveau wird die bekannte Mindestlohnarbeitslosigkeit gefolgert. Würde nun durch eine Lohnsenkung diese Arbeitslosigkeit abgebaut? Die Autoren begründen ihr Nein mit Verhandlungskosten und rechnen daher nicht mit einem markträumenden Lohn. Zudem sei ein abgesenkter Lohn nicht optimal. Diese überraschende Schlußfolgerung resultiert aus der wohlfahrtsökonomischen Argumentation der Autoren: Zwar würde sich bei einer Lohnsenkung die Produzentenrente der Unternehmen als Arbeitsplatznachfrager erhöhen und ihr Interesse an mehr Beschäftigung steigern. Doch wären Arbeitsplatzanbieter die Verlierer einer solchen Lohnsenkung, weil damit ihre Konsumentenrente abnähme. Ein markträumendes Gleichgewicht sei damit nur höchst zufällig zu erreichen. Bestehe einmal „unfreiwillige Arbeitslosigkeit" im Sinne des Mindestlohneffektes, würden sich Verhandlungskoalitionen etablieren, um den Nutzenverlust von Lohnsenkungen zu vermeiden. Diese Zusammenfassung zeigt, daß schon im Ersten Teil des Bandes die Grenzen zwischen Markttheorie und Wohlfahrtsökonomik nicht scharf gezogen sind; eine Problematisierung des Konzepts aggregierter Nutzenfunktionen oder der verwendeten ParetoEffizienz der Wohlfahrtsökonomik fehlt weitgehend. Hier wie auch sonst drängt sich der Eindruck auf, daß die „Unmöglichkeit" des markträumenden Lohns aus einem wohlfahrtsökonomischen Urteil gefolgert wird. Im Zweiten Teil „Ungewißheit und asymmetrische Information" werden Ansätze der Arbeitsmarkttheorie vorgestellt, die Arbeitslosigkeit aus Besonderheiten der Suchprozesse an Arbeitsmärkten erklären. Hierzu wird zunächst die Annahme aufgegeben, die Arbeitsmarktakteure seien vollständig informiert. Stellensuche und Stellenvermittlung werden für Arbeitnehmer und Arbeitgeber somit zu einem eigenen Problem. Dieses „Matching"-Problem wird als abhängig von der individuellen Suchintensität der Jobsucher und von der Anspannung am Arbeitsmarkt betrachtet. Im Lohn wird kein Allokationsfaktor, sondern „nicht mehr als ein Instrument zur Verteilung" gesehen. Damit wird Arbeitslosigkeit als Problem der zufälligen Passfähigkeit von Angebot und Nachfrage aufgefaßt. Finden Arbeitsanbieter und Arbeitsnachfrager zusammen, verhandeln beide über die Beschäftigung in der Marktform des bilateralen Monopols. Mithin ist der zu erwartende Lohn um so höher, je stärker die Verhandlungsposition des Arbeitsanbietenden ist. Hierbei werden „Suchexternalitäten" angenommen, die den Lohnsatz beeinflussen. Die negative Externalität eines zusätzlichen Angebots wird in der dadurch verursachten abnehmenden Matching-Chance der anderen Anbieter von Arbeit gesehen. Eine positive Externalität falle durch ein weiteres Arbeitsangebot auf der Seite der Unternehmen als Arbeitsnachfrager an. Für die Unternehmen werde es wahrscheinlicher, im Suchprozeß eine freie Stelle besetzen zu können. Da dem Lohn in dieser Suchtheorie keine Allokations-, sondern eine reine Verteilungsfunktion zugesprochen wird, werden die Arbeitnehmer ihren Lohn (ohne Rücksicht auf Arbeitslose) maximieren wollen. Und da keine individuellen Anreize bestehen, die Wirkung der Lohnfindung auf Outsider zu berücksichtigen und auch der Wettbewerb, durch den dieser externe Effekt internalisiert werden könnte, annahmegemäß eingeschränkt ist, kommt es auf dem Arbeitsmarkt zu
Neue Arbeitsmarkttheorien · 559 einem Unterbeschäftigungsgleichgewicht. Je größer die Verhandlungsmacht der Arbeitsanbieter aber ist, um so mehr steigen das Lohnniveau und die Arbeitslosigkeit. Die Externalitätenhypothese wird anschließend ergänzt durch zwei weitere Annahmen: Für die Informationsbeschaffung fallen Kosten an, und die Informationen sind zwischen Arbeitsanbietern und Arbeitsnachfragern ungleich (asymmetrisch) verteilt. Von den Arbeitnehmern wird angenommen, daß sie regelmäßig über die eigene Qualifikation und Leistungsbereitschaft besser informiert sind als die möglichen Arbeitgeber. Die Arbeitgeber müssen sich entsprechend aufwendig ein Bild von den Bewerbern machen. Für die Lohnfindung wird unterstellt, daß Unternehmen eine hohe Lohnforderung eines Arbeitnehmers dahingehend interpretieren, daß dieser einen vergleichsweise hohen Anspruchslohn hat, weil er über eine hohe Produktivität verfugt. Aus dieser Annahme werden Konsequenzen für den Lohnmechanismus am Arbeitsmarkt gefolgert: Besteht am Arbeitsmarkt ein überhöhter Lohn, würde die 'neoklassische' Markttheorie erwarten lassen, daß das Vollbeschäftigungsgleichgewicht durch eine Lohnsenkung herbeigeführt werden kann. Interpretieren die Arbeitgeber aber die Lohnforderungen als Indikator für die individuelle Produktivität und dient der Lohn als Anreiz, um zu den erwünschten Leistungen zu motivieren, werden Unternehmen vielfach nicht bereit sein, einer markträumenden Lohnsenkung zuzustimmen. Sie müßten nämlich damit rechnen, daß dann zuerst die vergleichsweise leistungsfähigeren Arbeitnehmer abwandern. Bei einer Neueinstellung von Arbeitern mit geringeren Lohnforderungen wird - bei den unterstellten asymmetrischen Informationen - die Gefahr unterstellt, daß weniger produktive Personen ausgewählt würden. Die effektiven Lohnkosten (Lohnstückkosten) könnten steigen und es käme zu einer adversen Selektion am Arbeitsmarkt. Um dies auszuschließen, würden Unternehmen im Ergebnis selbst auf markträumende Lohnsenkungen verzichten. Der individuell günstigste Anreizlohn aus Sicht der Unternehmen (Effizienzlohn) und der markträumende Lohn fallen in dieser Sicht nur zufällig zusammen. Im Dritten Teil werden zunächst wichtige „Institutionen des Arbeitsmarktes" in Deutschland als Rechtstatsachen beschrieben. Hierzu zählen die Tarifautonomie und das Tarifvertragsrecht, die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände, die Arbeitslosenversicherung und der Kündigungsschutz. Anschließend wird nach ökonomischen Begründungen fur diese Institutionen gefragt. Hingewiesen wird vor allem auf die Argumente der Einsparung von Informationskosten und des Abbaus von Informationsasymmetrien. Wenn Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in diesem Sinne kostensenkend wirken, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen für die Lohnhöhe. Diese werden anhand der Gewerkschaften und der Debatte über den optimalen Zentralisierungsgrad von Tarifverhandlungen erläutert. Hingewiesen wird auf empirische Untersuchungen, nach denen sich die höchsten Lohnniveaus und damit die höchste Arbeitslosigkeit bei Verhandlungen mit einem mittleren Zentralisierungsgrad der Tarifparteien einstellen. Bei Abweichungen im Zentralisierungsgrad nach oben oder unten werden niedrigere Lohnsatzniveaus erwartet. So wie die Tarifparteien - vor allem die Gewerkschaften - werden auch andere Institutionen des Arbeitsmarktes, die Arbeitslosenversicherung und der Kündigungsschutz, interpretiert. Auch von diesen Einrichtungen wird angenommen, daß sie Informationskosten senken und Informationsasymmetrien reduzieren. Dies verstärkt den Eindruck, daß als
560 · Ralf L. Weber neuere Arbeitsmarkttheorien insbesondere diejenigen Ansätze ausgewählt werden, die das Informationsproblem in den Mittelpunkt stellen. Einzuwenden ist gegen die zugrunde liegende informationsökonomische Perspektive, daß die Transaktionskostenvorteile der genannten Institutionen an einer irrealen Welt vollständiger Transparenz gemessen werden. Ob die Institutionen des deutschen Arbeitsmarktes in volkswirtschaftlicher Sicht transaktionskostensenkend sind, hängt davon ab, ob ihre Vorteile an realistischen Alternativen gemessen werden können. Dieser Vergleich läßt sich nicht vorab ziehen, er ist nur durch den Markttest wählbarer alternativer institutioneller Arrangements möglich. Ein solcher offener Prozeß der Entdeckung und Verbreitung von Wissen ist in einem Umfeld sich rasch ändernder Beschäftigungsverhältnisse unverzichtbar, damit im Wandel der Marktstrukturen immer wieder neue beschäftigungswirksame Institutionen entstehen können. Da aber die Institutionen des Arbeitsmarktes, wie sie heute existieren, weitgehend das Ergebnis staatlich zwingenden Rechts sind, ist ein Wettbewerb dieser Institutionen mit alternativen Regeln des dispositiven Rechts weitgehend ausgeschlossen. Damit wird das, was in einem wettbewerblichen Entdeckungsprozeß herauszufinden ist, im deutschen Arbeitsrecht und in der deutschen Arbeitsmarktpolitik letztlich als bekannt vorausgesetzt. Arbeitsmarktinstitutionen, die mit dem Hinweis auf vermeintliche Transaktionskostenvorteile staatlich geschützt sind, werden gegenüber dem Wettbewerb immunisiert, unter dem sie ihre Transaktionskostenvorteile erst beweisen könnten. Unter Bezugnahme auf eine moderne institutionenökonomischen Marktperspektive, in der der Wettbewerb zur Entdeckung neuer Handlungsmöglichkeiten und neuer institutioneller Arrangements dient, wäre an dieser Stelle zu fragen, ob nicht die vermeintlich transaktionskostensenkenden Wettbewerbsbeschränkungen zu Funktionsproblemen an den Arbeitsmärkten gefuhrt haben - ob also nicht Marktversagen, sondern vorschnelle staatliche Marktbeschränkungen diese Funktionsprobleme verursachen? Mit dem Vierten Teil „Kapitalmangel und technischer Fortschritt" wird der Faktor Kapital in die Betrachtung einbezogen. Die kurze Darstellung der Arbeitsnachfrage im ersten Kapitel wird zunächst bezüglich der Kapitalbildung der Unternehmen mikroökonomisch vertieft. Die Schlußfolgerung lautet: In Deutschland reicht der Kapitalstock nicht aus, um alle Erwerbspersonen zu beschäftigen. Es bestehe folglich Arbeitslosigkeit aus Kapitalmangel. Diese wird darauf zurückgeführt, daß die Kosten der Kapitalbildung durch Genehmigungsverfahren, Regulierungen der Maschinenlaufzeiten und vieles andere mehr steil angestiegen sind. Anschließend wird der Einfluß des technischen Fortschritts auf die Beschäftigungsintensität des wirtschaftlichen Wachstums dargestellt: Technischer Fortschritt habe zwei gegenläufige Beschäftigungseffekte; einerseits könnten durch Innovationen neue Arbeitsplätze entstehen, andererseits würden Arbeitsplätze in veralteten Produktionsbereichen gefährdet. Für den Nettobeschäftigungseffekt komme es auf Art und Stärke des technischen Fortschritts an. Bei einem „kräftigen" technischen Fortschritt könne sich insgesamt die Beschäftigungslage verbessern. Eine Wachstumspolitik, die „den Fortschrittsprozeß sprunghaft beschleunigt", könne demzufolge die Arbeitslosigkeit lindern. Die institutionellen Ansatzpunkte für eine entsprechende Wachstumspolitik werden allerdings nicht aufgezeigt und auch nicht problematisiert. Der Vierte Teil der Arbeit
Neue Arbeitsmarkttheorien · 561 beschränkt sich im wesentlichen auf die Behandlung der Kosten der Kapitalbildung, ohne in diesem Zusammenhang die Bestimmungsgründe für die abgeleitete Nachfrage nach Arbeit systematisch zu berücksichtigen. Dies hätte in drei Richtungen geschehen können: Erstens hinsichtlich der auf den Produktmärkten bestimmten Ertragsaussichten der Unternehmen, die für die Entstehung und beschäftigungswirksame Entwicklung von Unternehmen ausschlaggebend sind. Dies hätte eine kritische Auseinandersetzung mit der Ordnung der Güter- und Kapitalmärkte in Deutschland erfordert, so etwa hinsichtlich der Regulierung verschiedener Berufszweige und Gütermärkte, die einer Entfaltung der unternehmerischen Nachfrage nach Arbeit entgegenstehen. Zweitens wäre der Zusammenhang zwischen den Faktormärkten einzubeziehen, um neben der Entwicklung der Unternehmen auch deren Entscheidung für den Einsatz von Arbeit oder Kapital zu vertiefen. Die Berücksichtigung der relativen Preise für Arbeit und Kapital scheint gerade mit Blick auf die Beschäftigungsentwicklung in Ostdeutschland zweckmäßig. So haben die erheblichen staatlichen Kapitalsubventionen in Ostdeutschland bei gleichzeitiger produktivitätswidriger Tariflohnanhebung den relativen Preis der Arbeit künstlich erhöht und das arbeitssparende Substitutionsverhalten der Unternehmen begünstigt. Drittens bleibt der Einfluß von verzerrten Faktorpreisverhältnissen für den technischen Fortschritt weitgehend unberücksichtigt. Eine dynamische Perspektive des technischen Fortschritts im Wettbewerb als Entdeckungsverfahren kann auf eine knappheitsorientierte Faktorpreisbewertung nicht verzichten. Die Faktorpreisverhältnisse dürften nämlich selbst für den realisierten technischen Fortschritt von zentraler Bedeutung sein. Das Schlußkapitel zur „Neuen Politischen Ökonomie des Arbeitsmarktes" konzentriert sich auf die Frage: Warum lassen sich politisch keine Reformen fur günstigere Beschäftigungsperspektiven durchsetzen? Zur Erklärung werden Medianwählermodelle angeführt. Nach diesen orientieren sich Politiker an Durchschnittswählern, die über einen Arbeitsplatz verfügen. Die Interessen von Arbeitslosen werden sich folglich nicht in politischen Reformen niederschlagen. Warum es aber in der Bundesrepublik in den letzten Jahren gleichwohl zu einigen - wenn auch schwachen - Arbeitsmarktreformen gekommen ist, läßt sich aus diesen einfachen Modellen der Neuen Politischen Ökonomie nicht erklären. Auch bleibt offen, warum andere Länder mit beschäftigungsfreundlichen Arbeitsmarktreformen weiter vorangeschritten sind. Eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik scheint sich besonders in jenen Ländern eingestellt zu haben, die die Mindestlohnpolitik bekämpft haben, mit einer Reformpolitik also, die nach Auffassung der Autoren weder erfolgversprechend noch politisch durchsetzbar ist. Das Lehrbuch stellt eine Fülle neuer Arbeitsmarkttheorien vor. Die Kombination von theoretischen Instrumenten, wirtschaftspolitischer Problematisierung und empirischen Exkursen ist konzeptionell attraktiv. Auch die im Anschluß an jedes Kapitel gestellten Aufgaben zur Überprüfung des Lernerfolgs sowie die Literaturübersicht nach jedem Kapitel kommen den Wünschen der Studierenden entgegen. In seiner Gesamtstruktur erweist sich die Darstellung jedoch zum Teil als unausgewogen. Die aktuellen wirtschaftspolitischen und empirischen Einschübe sind stellenweise mit theoretischen Bausteinen verknüpft, die systematisch erst an späterer Stelle aufgegrif-
562 · Ralf L. Weber fen werden; das Buch erfordert daher eine durchgehende und systematische Lektüre. Nach dieser zeigt sich, daß das Buch in weiten Teilen eine auf die Informationsökonomik abstellende Analyse von Arbeitsmärkten enthält. Der Titel „Neue Arbeitsmarkttheorien" ist insofern nicht umfassend, sondern einschränkend zu verstehen.
ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 1998) Bd. 49
Jörg Rissiek
Die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union Besprechung des von Paul Klemmer herausgegebenen Handbuchs Europäische Wirtschaftspolitik* Nach den Integrationsfortschritten im Bereich des Gemeinsamen Binnenmarkts, durch die unmittelbar bevorstehende Einfuhrung des Euro in elf EU-Mitgliedsstaaten im Rahmen der Währungsunion und durch den potentiellen Beitritt von zahlreichen mittel- und osteuropäischen Ländern sieht sich die Europäische Union vor die Herausforderung gestellt, diesen ökonomisch wie politisch im geschichtlichen Kontext in Europa einmaligen Entwicklungen durch eine geeignete und konsistente Wirtschaftspolitik auf Unionsebene zuflankieren.Die konfliktreiche Doppelaufgabe einer inneren Vertiefung und einer äußeren Erweiterung ist zu lösen. Das vorliegende, von Paul Klemmer herausgegebene Handbuch Europäische Wirtschaftspolitik setzt sich das Ziel, die zentralen Unionspolitiken aus der ökonomischen Sichtweise namhafter deutscher Wirtschaftswissenschaftler heraus einer fundierten Analyse zu unterziehen und darüber hinaus wirtschaftspolitische Alternativen zur aktuellen EU-Politik zu formulieren. Nach einem einfuhrenden Beitrag von Volker Nienhaus folgen sechzehn umfangreiche Abhandlungen zu verschiedenen europäischen Politikfeldern. Die Themenpalette reicht von umfassenden Beiträgen zu zentralen Politikbereichen bis hin zu Spezialaufsätzen zu einem eng abgegrenzten thematischen Gebiet. So steht neben dem Übersichtsbeitrag zur "Umweltpolitik" von Helmut Karl die detaillierte Analyse des umweltpolitischen Teilgebiets "Abfallpolitik" von Nicola Werbeck und Dieter Hecht. Nienhaus fuhrt zu Beginn des Handbuchs in die "Geschichte, Institutionen und Strategien der Europäischen Union" ein. Die bisherige historische Entwicklung der europäischen Integration in den westeuropäischen Mitgliedsstaaten seit den fünfziger Jahren mit seinen herausragenden integrationspolitischen Erfolgen wie den Römischen Verträgen 1957, der vorzeitig realisierten Zollunion 1968, der Norderweiterung 1973, der Süderweiterung 1981/1986, dem Maastrichter Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 sowie dem Beitritt von Finnland, Österreich und Schweden am 1. Januar 1995, aber auch mit seinen Rückschlägen wie dem Vorschlag einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1950, dem Luxemburger Kompromiß 1966, dem Werner-Plan 1971 und der nachfolgenden Stagnation der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den siebziger Jahren stellt der Autor sehr ausfuhrlich, informativ und gut leserlich dar. Der Überblick zur heutigen institutionellen Struktur der Union mit seinen Organen (Kommission, Rat, Parlament, Gerichtshof, Rechnungshof) und seinen Nebeninstitutio*
Paul Klemmer (Hrsg.), Handbuch Europäische Wirtschaftspolitik, Verlag Franz Vahlen, München 1998, XVIII, 1321 Seiten.
564 · Jörg Rissiek nen vermittelt einen ausgezeichneten Eindruck von den komplexen Entscheidungs- und Kontrollprozessen in der Europäischen Union, die durch zahlreiche Tabellen verdeutlicht werden. Wünschenswert wäre allerdings bei den Beschlußfassungsverfahren ergänzend eine graphische Veranschaulichung des im Maastrichter Vertrag neu eingeführten hochkomplexen Mitentscheidungsverfahrens nach Art. 189 b des EG-Vertrags gewesen (zum Beispiel Wessels und Müller 1997, 116). Der Autor kritisiert zu Recht die unterschiedliche Stimmengewichtung der einzelnen EU-Länder bei den Abstimmungen im Rat und im Parlament. Nur implizit wird jedoch das stark unterschiedliche Gewicht von Wählerstimmen in den Mitgliedsstaaten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament als Verstoß gegen die one man, one vote-Regel, also gegen den Gleichheitsgrundsatz bei demokratischen Wahlen, benannt. Die bisherige Wahlkreisabgrenzung ist als undemokratisch zurückzuweisen und verhindert prinzipiell, daß durch das Europäische Parlament das kritisierte "Defizit an demokratischer Legitimation" (S. 69) in der Europäischen Union beseitigt werden könnte. Nienhaus stellt abschließend die potentiellen zukünftigen Strategien der europäischen Integration zu Beginn des neuen Jahrtausends vor. Einer reinen Wirtschaftsintegration im engeren Sinn, die auf die konsequente und zügige Realisierung des Binnenmarktes mit seinen vier Grundfreiheiten freier Warenverkehr, Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit, freier Dienstleistungsverkehr und freier Kapitalverkehr zielt, steht als Alternativentwurf eine weitergehende Politikintegration mit einer umfassenden Wirtschafts- und Sozialunion bei zunehmenden Unionskompetenzen gegenüber. Mit diesem Spannungsfeld der beiden Gegenpole Marktintegration versus Politikintegration in einer zukünftigen Europäischen Union setzen sich auch die nachfolgenden Autoren immer wieder eingehend in ihren Analysen auseinander. Die Einnahmen- und Ausgabenströme, über die die Europäische Union im Rahmen ihrer Finanzverfassung verfugt, betrachtet Cay Folkers in seinem Beitrag zur "Finanz- und Haushaltspolitik". Er berücksichtigt auch die gerade in Deutschland kontrovers geführten Diskussionen um die Nettoverteilungsposition der Mitgliedsstaaten (S. 606-620) und die Harmonisierungsbestrebungen bei Steuern und Subventionen (S. 627-643). Die beiden Hauptausgabenposten im EU-Haushalt, die „Gemeinsame Agrarpolitik" (Ausgabenanteil an den Verpflichtungsermächtigungen 1997: 46 v. H.) und die „Regionalpolitik" (Ausgabenanteil der Strukturfonds 1997: 32 v. H.) werden von Günther Schmitt und Paul Klemmer in jeweils eigenständigen Beiträgen behandelt. Bei der Analyse der Landwirtschaft wie der Regionalentwicklung, aber auch in dem Beitrag von Norbert Berthold zur "Sozialpolitik", wird deutlich, wie problematisch zentralisierte Umverteilungspolitiken auf supranationaler Ebene mit ihren Einkommens- und Strukturwirkungen zu sehen sind, seien sie auf einen einzelnen Sektor - in der Europäischen Union insbesondere die sektoralen Interventionen bei landwirtschaftlichen Produkten -, auf bestimmte, in ihrem Entwicklungsstand rückständige Regionen Europas oder zugunsten einzelner sozialer Problem- beziehungsweise Randgruppen ausgerichtet. Berthold betont die Problematik umfassender sozialpolitischer Vereinbarungen auf zentraler europäischer Ebene hinsichtlich der Erreichung von wirtschaftspolitischen Gerech-
Europäische Wirtschaftspolitik • 565 tigkeits- und Sicherheitszielen auch durch seine originell im Fragestil formulierten Überschriften. Die nach außen gerichtete EU-Politik gegenüber Drittstaaten ist Gegenstand der Artikel "Handelspolitik" von Wim Kösters, "EU und Osteuropa" von Karl-Hcms Hartwig und Paul J. J. Weifens sowie "Entwicklungspolitik" von Dieter Bender. Die entwicklungspolitischen Aktivitäten differenziert Bender nach den Außenwirtschaftsbeziehungen zu den Afrika-Karibik-Pazifik-Staaten, den Mittelmeerdrittländern sowie den Staaten des asiatischen und des lateinamerikanischen Raums. Damit sind die außenwirtschaftspolitischen Aktivitäten gegenüber allen Staatengruppen - westliche Industrieländer, osteuropäische Transformationsländer, Entwicklungsländer - umfassend abgedeckt. Die in der Agenda 2000 der Europäischen Kommission (1997a und 1997b) vorgesehene Erweiterung der Europäischen Union zunächst um Ungarn, Polen, Estland, der Tschechischen Republik und Slowenien (plus Zypern), langfristig aber um deutlich mehr osteuropäische Staaten, rechtfertigt sicherlich einen eigenständigen, den Wirtschaftsbeziehungen zum östlichen Europa gewidmeten Beitrag. Hartwig und Weifens stellen darin zunächst die institutionellen Ausgangsbedingungen der ehemaligen RGW-Länder und die bisherigen traditionellen Handelsbeziehungen Westeuropas zu diesen Staaten dar. Darauf aufbauend entwickeln sie Szenarien einer Wirtschaftsintegration unter Berücksichtigung der aktuellen ökonomischen Ausgangsbedingungen. Die osteuropäischen Reformstaaten werden dabei nicht nur als integrationspolitische Problemfälle gesehen, sondern vor allem als Wachstumsregionen mit expandierenden Exportmärkten und attraktiven Investitionsstandorten (S. 423-428). Daher sprechen sich die Autoren überzeugend für zügige Beitrittsverhandlungen und eine schnelle Öffnung des EU-Binnenmarktes nach Osten aus. Auch Kösters plädiert, gerade vor dem Hintergrund der Interessenlage der Europäischen Union als dem größten Handelspartner auf den Weltmärkten, für eine "Weiterentwicklung der Welthandelsordnung im Sinne eines am Leitbild des Freihandels orientierten multilateralen Systems" (S. 844). Diese Einschätzung wird von Bender geteilt, der die wenig wirksamen komplexen EU-Handelspräferenz- und Transfersysteme gegenüber Gruppen von Drittländern ebenfalls durch eine multilaterale Handelsliberalisierung ersetzt sehen möchte (S. 552-554). Alle vier Autoren setzen sich übereinstimmend und wohl begründet für einen weltweit liberalisierten Freihandel und gegen eine von den Weltmärkten abgeschüttete Wirtschaftsfestung Europa ein. Mit der Ausgestaltung einer sektorübergreifenden, wettbewerblichen Ordnungspolitik auf dem Binnenmarkt sowie den lenkenden Eingriffen der Europäischen Union in die Binnenmarktprozesse befassen sich die Beiträge "Wettbewerbspolitik" von Ingo Schmidt und Steffen Binder sowie "Industriepolitik" von Hartmut Berg und Frank Schmidt. Das industriepolitisch in Europa hochbrisante Gebiet der "Forschungs- und Technologiepolitik" decken Joachim Starbatty und Uwe Vetterlein ab. "Beihilfenrecht und Beihilfenaufsicht" als ein wichtiges wirtschaftspolitisches Instrument erläutern Günter Püttner und Willy Spannowsky. Schmidt und Binder zeigen zunächst die durchaus vorhandenen Möglichkeiten einer konsequenten EU-Wettbewerbspolitik zur Sicherung des Leistungswettbewerbs auf den europäischen Märkten auf. Gegenüber wettbewerbsbeeinträchtigenden Verhandlungs-,
566 · Jörg Rissiek Behinderungs- und Konzentrationsstrategien von Unternehmen auf den europäischen Märkten bietet das EU-Wettbewerbsrecht mit den Artikeln 85 und 86 des EG-Vertrags und der Fusionskontrollverordnung formal hinreichende Möglichkeiten zur Bekämpfung solcher Wettbewerbsbeschränkungen. Die Darstellung wird durchgehend mit zahlreichen Fallentscheidungen der Europäischen Kommission illustriert. Die Autoren sehen aber die Wirksamkeit der wettbewerbspolitischen Instrumente durch einen "Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik" (S. 1301) gefährdet, da seit dem Maastrichter Vertrag die Industriepolitik praktisch gleichberechtigt neben der Wettbewerbspolitik stehe. Als ein Indikator sei die geringe Anzahl von Untersagungen bei geplanten Unternehmenszusammenschlüssen auf europäischer Ebene durch die Europäische Kommission zu sehen (S. 1300 f.). Diese Aufwertung industriepolitischer Markteingriffe in dem neuen, in Maastricht beschlossenen Artikel 130 des EG-Vertrags mit einer deutlichen Ausweitung der industriepolitischen Befugnisse von Rat und Kommission betrachten auch Berg und Schmidt sowie Starbatty und Vetterlein gleichfalls kritisch. Berg und Schmidt fundieren ihre distanzierte Haltung gegenüber industriepolitischen Interventionen in die Marktprozesse durch ausfuhrliche und kenntnisreich formulierte Fallstudien zur Industriepolitik in Westeuropa, unter anderem der supranationalen europäischen Kooperationen "Concorde" (S. 897-900) und "Airbus" (S. 900-911). Die Gefahren, gerade auch bei innovativen Hochtechnologien, die sich durch verminderten Wettbewerbsdruck, geringere Risikostreuung durch Förderung einzelner Großprojekte in wenigen, vermeintlich zukunftsträchtigen Sektoren, interregionale Verteilungskonflikte und die steigende Tendenz einer bürokratischen Zentralisierung bei den EU-Institutionen fur funktionierende Wettbewerbsprozesse ergeben, können nicht oft und deutlich genug hervorgehoben werden. Das Scheitern passiver wie aktiver industriepolitischer Konzeptionen in den Nationalstaaten zeigt, daß derartige wettbewerbsfeindliche Aktivitäten auf Unionsebene nicht wiederholt werden sollten. Die relevanten Aspekte von "Geld und Währung" für den europäischen Binnenmarkt und die monetäre Zukunft der Europäischen Union diskutieren Jörg Thieme und Albrecht Müller. Vor dem Hintergrund der von den europäischen Regierungschefs beschlossenen, zum 1. Januar 1999 bevorstehenden dritten Stufe der Währungsunion mit der endgültigen Fixierung der Wechselkurse zwischen den Ländern der Eurozone stellen sie dem Nutzen fair, übersichtlich und ausgewogen die Kosten einer europäischen Währungsintegration gegenüber. Ausgewählte sektorale Analysen liefern Hans-Jürgen Ewers und Friedrich von Stackelberg zur "Verkehrspolitik" und Günter Knieps zur "Telekommunikationspolitik". Da weiträumige Mobilität und Kommunikation der Wirtschaftssubjekte von herausgehobener Bedeutung für die Integration von Wirtschaftsräumen sind, verdienen sie gerade unter diesem Aspekt besonderes Interesse in einem Handbuch zur europäischen Wirtschaftspolitik. Wie stark sich die europäische Verkehrspolitik gewandelt hat, verdeutlicht die Besonderheitenlehre des Europäischen Parlaments von 1961 (S. 1160 f.), mit der hoheitliche Eingriffe in die Verkehrssysteme gerechtfertigt werden sollten. Auf den Verkehrs- wie den Telekommunikationsmärkten zeigen sich die positiven Wirkungen der EU-Liberalisierungspolitik seit Mitte der achtziger Jahre, die in Deutschland und den
Europäische Wirtschaftspolitik · 567
anderen EU-Mitgliedsländern Liberalisierungsimpulse mit einer Marktöffiiung in verschiedenen Sektoren gebracht haben, die noch vor einem Jahrzehnt im reformunwilligen Deutschland undenkbar erschienen {Monopolkommission 1998). Diese Liberalisierungspolitik hat sich beispielsweise in einer heute vollständigen Marktliberalisierung des EU-Linienluftverkehrs (S. 1183-1188) und in dem neuen deutschen Telekommunikationsgesetz (1996) mit der nachfolgenden Leitungsnetzmarktöffnung und dem Markteintritt neuer Anbieter von diversen Telekommunikationsdienstleistungen positiv niedergeschlagen. Typischerweise wird in den einzelnen Beiträgen auf die vorliegende wirtschaftstheoretische Basis zu dem jeweiligen Politikbereich verwiesen. Der ökonomischen Theorie wird dann die tatsächliche Politik auf Unionsebene in ihrer konzeptionellen und institutionellen Ausgestaltung im historischen Kontext und mit empirischen Bezügen gegenübergestellt. Diese Vorgehensweise ist außerordentlich gut geeignet, um theorielose Ad hoc-Wirtschaftspolitik zu vermeiden und Politikalternativen auf der Grundlage gesicherter ökonomischer Theorieansätze in Verbindung mit empirischen Befunden zu entwickeln. Ahnlich konzipiert wie dieses Handbuch, aber vergleichsweise weniger umfangreich sind die englischsprachigen Kompendien von El-Agraa et al. (1994), McDonald und Dearden (Hrsg., 1994) sowie von Artis und Lee (Hrsg., 1997); informativ ist als Ergänzung auch das aktuelle, eher pragmatisch-betriebswirtschaftlich konzipierte Handbuch von Glomb und Lank (Hrsg., 1998). Die im Handbuch Europäische Wirtschaftspolitik vorgelegten Beiträge liefern ein solides ökonomisches Fundament und bilden meines Erachtens eine wichtige Diskussionsgrundlage für die dringend anstehenden grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen in der Europäischen Union. Insbesondere eine durchgreifende Reform der durch extreme Regulierungsdichte gekennzeichneten Gemeinsamen Agrarpolitik, bei der der Marktmechanismus für alle landwirtschaftlichen Produktgruppen weitgehend ausgesetzt wurde, wird aus verschiedenen Analyseperspektiven eindringlich angemahnt (S. 213, 449, 548-550, 867, 1114-1116). Generell fordern die Autoren eine in ihrer Grundtendenz marktwirtschaftlichere Ausgestaltung der EU-Wirtschaftspolitik mit geringerer Regulierungsintensität. Thematische und argumentative Überschneidungen bei verschiedenen Aufsätzen erscheinen angesichts der Themenkomplexität und -Vielfalt nicht nur unvermeidlich, sie sind für das Gesamtverständnis einer zu gestaltenden europäischen Wirtschaftsordnung und der sich gegenseitig in verschiedenster Weise in ihren Zielen und Mitteln beeinflussenden Politikbereiche sogar ausgesprochen wünschenswert. Allerdings entspricht die Gewichtung der einzelnen Handbuchbeiträge nach ihrem Seitenumfang nicht immer ihrer wirtschaftspolitischen Bedeutung. Es ist verständlich, daß ein solches umfangreiches Buchprojekt nicht immer im einzelnen auf aktuellste Entwicklungen und Daten in allen Beiträgen zurückgreifen kann. Einige Beiträge wurden jedoch bereits Ende 1993 abgeschlossen, und wenn Schmitt von der "vorgesehenen Erweiterung ... um die früheren EFTA-Länder" (S. 213) und von dem "noch ausstehenden Abschluß der GATTVerhandlungen" (S. 213) spricht, so bleibt dies doch ein vermeidbares Versehen.
568 • JörgRissiek Insgesamt bildet das Handbuch aber vor dem Hintergrund der ausgezeichneten wirtschaftstheoretischen Fundierung der Handbuchkapitel und der Konsistenz ihrer Argumentationsketten bei den aufgezeigten wirtschaftspolitischen Optionen in den behandelten zentralen Politikfeldern nicht nur eine geeignete Informationsquelle zur ökonomischen Säule der Europäischen Union. Darüber hinaus sind von den Handbuchbeiträgen wirtschaftspolitische Impulse zur Ausgestaltung eines marktlichen Rahmens der europäischen Wirtschaftsordnung zu erhoffen, die auch die Entscheidungsträger in den Brüsseler Institutionen und ihre wirtschaftspolitischen Berater bei ihrer zukünftigen Politik fur Europa nicht übersehen können. Literatur Artis, Mike und Norman Lee (Hrsg., 1997), The Economics of the European Union. Policy and Analysis, 2. Aufl., Oxford. El-Agraa, Ali M. et al. (1994), The Economics of the European Community, 4. Aufl., New York. Europäische Kommission (1997a), Agenda 2000. Eine stärkere und erweiterte Union, Dokument KOM(97) 2000 Teil I endg., Brüssel, 15. Juli 1997. Europäische Kommission (1997b), Agenda 2000. Die Erweiterung der Union - Eine Herausforderung, Dokument KOM(97) 2000 Teil II endg., Brüssel, 15. Juli 1997. Glomb, Wolfgang und Kurt J. Lauk (Hrsg.) (1998), Euro-Guide: Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, Köln. McDonald, Frank und Stephen Dearden (Hrsg., 1994), European Economic Integration, 2. Aufl., London und New York. Monopolkommission (1998), Marktöffhung umfassend realisieren, 12. Hauptgutachten, Bundestagsdrucksachen 13/11291 (Hauptband) und 13/11292 (Ergänzungsband), Bonn. Telekommunikationsgesetz (TKG) (1996), Bundesgesetzblatt I Nr. 39, S. 1.120 vom 31. Juli 1996. Wessels, Wolfgang und Thorsten Müller (1997), Entscheidungsverfahren, in: Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels, Europa von A - 2: Taschenbuch der europäischen Integration, Bonn, S. 111-117. Die Mitteilungen der Europäischen Kommission zur Agenda 2000, die verwendeten EUHaushaltszahlen und weitere Detailinformationen zur aktuellen EU-Wirtschaftspolitik finden sich im Internet unter der Adresse der Kommission beziehungsweise direkt bei den Generaldirektionen über: http://europa.eu.net/comm/index.htm.
Namenregister Akerlof 529, 537 Albach 529, 537 Albert 214,225,490,509 Alchian 490, 509 Alesina 381, 396 Altenmüller 471,484 Apolte 306 f. Aristoteles 313 f., 319 Arnim, von 317,319 Arnold 147, 160 Arrow 186, 165, 289, 307 Arthur 31, 39 Artis 567 f. Austermann 419, 460 Babbitt 437, 460 Backhaus-Maul 348, 364, 373 Badelt 361, 373 Bäcker 345, 354, 357 f., 373 Bailey 419, 429 ff, 436 Bain 269, 278 Balassa 384, 392, 396 Baliño 388, 396 Ballmann 505, 509 Bardeleben, von 526, 537 Barro 381, 396 Barry 56, 74, 97, 100, 495, 509 Bartling 127, 138,482, 484 Baumbach 198 ff, 509, Baumgarten 215, 225, 504, 507 Baumgarth 195, 509 Baumol 273, 278, 435, 460 Beater 504, 509 Becker, J. 354, 373 Becker, U. 491, 509 Beckerath, von 195,206 Bender 565 Bennett 391,396 Bentham 175, 186 Berg 480, 484, 565f.
Berlin 206 Berthold 287, 300 f., 307, 330, 338, 480, 484, 564 Besters 480, 484 Beyen 419, 444, 460 Bickenbach 300 ff, 307 Biedermann 426 f., 460 Bilger 484 Birch 533, 537 Biskup 122 f. Blackburn 381, 396 Blankart 141, 160 Blaug 191,206 Bietschacher 480, 484 Blümle 217, 225 Bock 343 f., 373 Bode 303,309 Böhm, F. 53, 74, 76, 78 f., 91 ff, 99 ff, 171, 183, 186, 270, 278, 282 f., 288, 308, 504, 509, 543ff Böhm, S. 144,152,160 Böhm-Bawerk, von 234, 242, 249, 282, 308, 543 Böhmer 517, 537 Bös 249 Boeßenecker 344, 373 Boeri 533, 537 Bofinger 383, 396 Bomhof/ 385, 397 Borchardt 282, 308 Borenstein 441, 445, 460 f. Bork 269, 278 Boss 518, 537 Bouillon 145, 151, 160, 491, 193, 195, 509 Bowman 553, 556 Brander 480, 484 Brandt 225 Braubach 458, 461 Brecht 375
570 · Namenregister Brennan 254, 266, 381, 397 Breton 255, 259, 266 Briefs 47, 78, 74, 76 ßriffan 495, 509 Brixy 535, 537 tfrowj 427, 435, 461 Bruder 471, 484 Brüderl 533, 537 £wcA 386,397 Buchanan 28, 37, 39, 100 f., 254, 266, 303, 308, 381, 397 Bude 237,249 •Sitf-gwi 18,39 Campbell 430, 432, 435, 461 Canter 476, 484 f. Cantillon 229 ff, 242 ff, 249 Carlin 239, 249 Carrizosa 394, 397 Cassel 281, 287 f., 295, 307 ff. Cauthorn 236, 249 Cavallo 391, 394, 397 Chamberlin 269, 278 Ojo/ 232, 249 Christa 346, 353, 373 Christensen 381, 396 Clark, J.B. 230,231,249 Clark, J.M. 269,278 Coase 23, 27 ff, 33, 39, 62, 74, 269, 278 Coleman 490, 509 Colombatto 385,397 Comte 167, 186 Cramer 533, 537 Crespigny, de 495, 509 Cukierman 380, 397 Dahrendorf 553 f., 556 Dammann 373 Danielcik 282, 308 Darby 369, 373 Daumann 489 f., 492, 509 Davfrf 31, 39
Delhaes, von 154, 156, 157, 158, 160 Delhaes-Günther, von 281, 308 Dempsey 419, 438, 442, 454, 461 Demsetz 28, 39, 269, 278, 523, 537 Dennerlein 355, 373 Dernau 31, 39 Dercks 258, 266 Desel 419, 461 Dewatripont 403 f., 413 f., 416 Dichmann 364, 373 Dietl, 543 Dickertmann 353, 373 Dilthey 16,39 Döhrn 535, 537 Doli 504, 509 Döring 482, 485 Doganis 454, 461 Dönges 321, 337 f., 379, 395, 397, 533 Dornbusch 397 Dose 471, 484 Drèze 165, 186 £>whm 477,481,485 Duvinage 535, 537 Eckhardt 553, 556 Eekhoff 477, 481, 485 £A/erf 414 f. Ehrlich 353, 373 Eichenberger 255, 256, 266 Eichhorn 361 f., 373 Eickhof 465, 475ff, 481, 485 El-Agraa 567 f. £/s/er 403, 414 Engelhard 158, 160, 305 f., 308 Engels 281, 308 Enste 475, 485 Emmerich 504, 509 Epiney 501, 509 Erhard 282, 284 f., 288, 307 f., 311, 544 Erlei, C. 543 Erlei, M. 543 Eucken 3 f., 8 f., 13 f., 16 f., 21, 23 ff,
Namenregister · 571 33 f., 38 f., 41 ff, 48, 53 f., 57 ff, 62, 66 ff, 77 ff, 87, 91 ff, 99 ff, 103 f., 106, 112, 122 f., 127 ff, 132 ff, 146, 153 f., 160 f., 163 f., 168, 171 f., 175, 183, 186, 188 f., 202, 206, 254, 266, 270, 278, 283, 285, 308, 381, 397, 402, 414, 509, 543ff Everett 157, 162 Ewers 475, 477, 485, 566 Fastenrath 501, 509 Fehl 141, 144, 149 ff, 156, 158, 160, 314, 319, 305 f., 308 Fehn 300 f., 307, 338 Feld 258, 266 Ferber, von 352, 374 Ferguson 175 f., 179 f., 186, 194, 206, 490, 498, 510 Fernandez 403, 414 Fichtner 374 Finsinger 525, 537 Fischer, B. 389,397 Fischer, S. 395,397 Fischer, W. 407, 414 Folkers 564 Forstmann 52f., 74 Freier 348, 372, 374 Frey 255 f., 359, 266, 374 Freytag 379, 385, 388, 397 Friche 469,486 Friedman 197,206 Fritsch 475, 477,485 Fuchs 395, 397 Funk 287, 309 Furutbotn 29,39 Gaddum 406, 414 Garrison 152, 160 Garten 453, 461 Gawel 414 Gemper 479, 485 Gerchunoff 390, 397 Gerken 95, 99, 101, 165, 167, 186, 269, 274, 278
Geue 141, 143, 145 ff, 155 ff, 160, 291 f., 301, 305 f., 308 Giersch 119, 123 Giesel 350, 357, 374 Gilbert 241, 249 Giger 553 Gläser 196,208 Glaß 379 f., 397 Glismann 111, 123 Glomb 567 f. Görgens 330,338 Goetz 419, 448, 461 Goldfain 392, 397 Goldstein 386, 397 Göll 344, 349, 357 ff, 374 Gordon 381, 396 Graham, B. 427,454,461 Graham, D. 419, 427, 454, 460 f. Grant, Β. 242,461 Grant, L. 452,461 Gray 152, 160, 492 f., 510 Gröner 80, 101, 112, 120, 123, 134, 138, 288 f., 308, 456, 461, 505, 510 Grossekettler 81, 101, 543ff Grunow 351, 374 Gundlach 364, 374 Gutenberg 364, 374 Gutmann 112, 123 f., 284, 308, 283 Haas 473, 476, 483, 485 Haberler, von 69, 75, 543 Habermann 313, 316, 319, 516, 522, 537 Hackmann 287, 308 Hagemann 357, 374 Halfar 346, 353, 373 Hamm 321, 334, 338 Hammerl 501, 510 Hamowy 495, 510 Hanke 382, 395, 397 Hanusch 376, 484 f. Harder, von 504, 510 Hartwell 543, 546
572 · Namenregister Hartwig 73, 75, 290 f., 299, 308, 565 Haselbach 51 f., 54, 75 Hauff 479, 489 #qye*, vow 4, 13, 32, 37, 39, 54 ff, 63 ff, 68, 70, 75, 80, 91, 101, 106, 108, 110, 122 f., 127 ff, 138, 140 ff, 154 ff, 165 ff, 169, 174, 176, 179, 186 ff, 193, 200, 203, 206, 213 f., 226, 254, 257, 266 ff, 270, 273, 278 ff, 285, 287, 289, 305, 309, 479, 485, 490 ff, 503, 509 ff, 543 Hébert 242, 249 Heck 519, 537 Hefermehl 498 ff, 504, 507, 509, Hegner 342, 348, 350, 374 Heilemann 409, 414 Heiner 169, 188 Heinze 350, 354, 357 f., 373 f. Heissel 547 Hellmann 482, 485 Hemmersbach 482, 484 Hempel 419, 461 Henke 200, 208 Hennis 211 ff, 225 f. Hensel 24, 39 Herne 478,485 Herbert 419, 444, 460 Herrmann 538 Herrmann-Pillath 26, 39 f. Herzog 364, 374 Hesse 414 Hiemenz 389, 397 Hildebrand, B. 19,21,39 Hillebrand, Κ 296 f., 309 Hobbes 175, 188 Hösch 489, 499 ff, 503 ff, 510, Hollander 198,202,206 Hefermehl 498ff, 503f„ 507 Hoff mann 414 HomannX 100,101,315,319 Hoppmann 73, 75, 127, 131, 136, 138, 150 ff, 161, 171 f., 175, 188, 224 ff, 305, 309, 367 f., 374, 489, 510 f.
Horn 111, 123, Horwitz 148, 161 Hüdepohl 351, 354, 358 f., 374 Hughes 247, 249 Humboldt 195,207 Hume 130, 138, 169, 170, 175, 177, 179, 188, 192, 195, 202, 207, 490, 496, 511 Hunold 543 Immel 553, 556 Isensee 195,207 Issing 380, 397 Jahn 557 Jarren 303, 309 Jasay, de 80, 101 Jeziorski 419, 461 Jobelius 287, 309 Johnson, D. 221,226 Johnson, H. 383,397 Jonas 368, 374 Joswig 414 Jungfer 112, 123 Kadow 411 f., 414 Kahn 435, 441, 461 Kames 194,207 Ka«Z>wr 243, 249 Kande 461 A W / e r 437, 462 Kant 37, 39 Kaplan 419, 460 Ao/w 369, 373 Karl 291, 309, 563 Attorta 304, 309 Kaufer 453, 462 Kenyon 255, 266 Kerber 141, 149, 151, 159, 161, 253, 255, 257, 259, 263, 266 f., 270, 279, 289 f., 295, 309, 483, 485, Kettler 352, 374 Kincaid 255, 266
Namenregister · 573 Kirchgässner 64, 75, 258, 266 Kirsch 303, 309 Kirzner 159, 161, 270, 279 Kiwit 401, 414 Klein 349, 374 Kleit 447, 462 Klemmer 563f. Klinge 534, 537 Klodt 254, 266, 473, 480, 483 ff. Knappe 287, 309 Knieps 419, 422, 430, 433 f., 462, 566 Knight 165, 175, 188, 243 f., 249 Knöpfte 504,511 Knopp 374 Knorr 119, 123, 288 f., 291, 301, 308 f., 419, 425, 431, 440, 444, 454 ff., 458, 461 f. Köhler, H. 500f., 505, 510f. Köhler, M. 374, 500 f., 505, 510 f. Koerfer 111, 123 Kösters 297 f., 309, 476, 480, 485, 565 Kohaut 533, 537 Koop 255, 259, 266 Krahn 419, 441, 462 Kreikebaum 315,319 Kreps 28, 39 Krohn 51, 75 Krüger 75 Krüsselberg 154, 161 f., 285, 299 f., 309 Kruse 305,309 Kucera 523, 529 f., 537 f. Kukathas 18, 39, 59, 75, 492, 511 Kunz 498, 511 Laaser 473, 485, 518, 537 Labbich 433, 462 Lachmann 131, 138, 149, 158, 162, 401,414, 497, 511 Lambsdorff, Otto Graf 133, 139 Lamszus 556 Lange 18, 39 Lcmge-von Kulessa 44, 62, 70, 75,
Langlois 144, 157, 162 Langner 439, 442 Lauk 567 Lee 567 f. Lehmann SOS, 511 Lehner 531,374 Leipold 15, 19, 26, 31, 33, 38 ff, 147, 149, 162, 295, 309 Leipziger 394, 397 Lenel 91, 128, 137, 139, 171, 175, 188, 543 f., 546 Lenz 501, 511 Leonhardt 420, 462 Leoni 493,495,511 Leschke 543 LeRoy 243, 249 Levine 419, 427, 430, 462 Lewis 213, 226 Lindacher 501, 511 Lindbeck 300, 309 Link 242, 249 Linzbach 359, 371 f., 374 Lipschitz 408,415 Lith, van 554, 556 Locke 175, 179, 180, 188 Loges 353, 369, 374 Lopez 439, 462 Lucas, R.E. 476,485 Lucas, R. E. Jr. 380,397 Luchterhand 414 Lutz 23, 40, 91, 101, Macey 385, 397 Machina 165, 188 Machlup 144, 162, 543 Mache 37, 40, 492 ff, 511, Maelicke 361, 373 f Maier 171, 188 Manderscheid 350, 374 Mandeville 203, 207 Mangoldt, von 230 f., 249 Mann 200, 207 Mantzavinos 130 f., 139, 489, 511
574 · Namenregister Marhold 343, 375 Marien-Dusak 468, 485 Markert 183, 188 Marx 192, 196, 199, 207 Maslow 543 Mastroberardino 388 ff, 394, 398 McCandless 380,398 McDonald 567 f. Meeting 346, 375 Mellerowicz 314, 319 Mengen 451, 462 Messner 314,319 Mestmäcker 65, 75 f., 543, 546 Meyer, D. 341, 370, 375, 538 Meyer, F. 117,123,385,398 Meyer, J. 419, 427, 430 f., 433, 442, 462 Meyer, M. 478,481,485 Meyer, W. 18, 26, 40 Meyer-Faje 18, 40 Meyerhöfer 524, 538 Meyer-Krahmer 468, 485 f. Michel 547, 549 Michler 286 f., 309 Miksch 91 f., 95, 101, 283, 310 Mill 55, 59, 62, 75, 274, 279, 553 Millar 194,207 Mirow 315 ff, 319 Mises, von 105, 116, 123 f., 146 f., 157, 162, 168, 188, 313, 319, 543 Modrow 407,415 Möschel 477, 482, 486 Molitor 287, 310 Molsberger 118, 123 Montesquieu, de 175 f., 189 Most 406 f., 415 Moore 451,462 Morrison 419, 426, 432, 442, 443, 462 Mosca 317, 319 Moser 159, 162 Müller, Chr. 26,49 Müller, K. 407,415 Müller, T. 564, 566, 568
Müller-Armack 44, 61 ff, 68 ff, 77 ff, 96 ff, 101 ff, 281, 284 f., 293 ff, 307,310, 544 Mugdan 501, 511 Muller 139,207 Mummert 401,408,415 Murias, de 437 f., 453, 461 Musgrave, A. 247,250 Musgrave, R. 198,200,207 Myers 247, 250 Nader 456, 462 Naegele 354, 357 f., 373 Nelson, P. 369,375 Nelson, R. 477,486 Neumann 359, 361 375, Newberry 241, 249 Niemann 375 Nienhuus 563 Niewöhner 501,511 Nipperdey 504, 511 Nordemann 504, 511 North 15, 17, 26 ff, 39 ff. Oakeshott 194,207 Oberender 112, 123, 127, 133 f., 136, 139, 293, 302, 310, 314, 319, 469, 485 f. Obermann 419, 462 O'Connor 436,462 O'Donneil 553, 556 Okruch 112, 123, 508, 511 Olk 348, 350, 364, 368, 373 f., 376 Ollmann 535, 538 Olson 327, 338, 483, 486 Oppenheimer 543 Oppi 346, 375 Orgakom 355, 375 Osband 383, 398 Oster 419, 430, 431, 442, 462 Panzar 273, 278, 435, 460 Paraskewopoulos 293, 302, 310 Pareto 168, 171, 189
Namenregister · 575 Parisotto 296,310 Parson 35, 40 Peffekoven 327,338 Pejovich 29, 39 Pelkman 258, 266 Persson 381,398 Picht 553, 556 Pickreil 426, 429,442, 463 Piel 353, 373 Pies 79, 100 f., 103, 293 ff, 310 Piper 501, 511 Pohl 415, 524 f., 536, 538 Polcmyi 3 f., 13, 166 f., 169, 189 Pompey 370, 375 Popper 12 f., 21, 40, 54, 78, 129, 131, 139, 152 f., 154, 162, 491 f., 498, 511 Posner 269,279,498, 511 Pradel 354, 358, 375 Priewe 410,415 Prisching 162 Prosi 349, 368, 375 Pütz 524, 538 Rabe 501, 511 Radnitzky 318 f. Rae 191,207 Rahmeyer 468, 475, 476, 486 Rappen 409,414 Rauhut 281, 287, 295, 308 Rauscher 547 Rechberg 45, 75 Reckewerth 453, 463 Rees 494, 511 Reger 468, 486 Reichardt 482, 486 Reichel 388, 394, 398 Renner 79, 95, 99, 101, 103 Reuter 282,283,310 Ricardo 274, 279 Richter 26, 28, 40 Rickert 16,40 Riese 55, 75
Rissiek 563 Ritter 153, 159, 162 Robbins, Lionel 200, 202, 207, 494 f., 511 Robbins, Lord 202, 207 Robertson 193,207 Robinson 269,279 Robra 375 Rodrik 403, 414 f. Röhm 395, 397 Röpke 35, 37, 40, 51 ff, 62 ff, 69 f., 73, 75 f., 124, 167, 189, 283 f., 310, 382, 385, 398, 543 f., 546 Roland 403 f., 413 ff Romer 476, 486 Roos 547 Rosato 445, 448, 463 Roscher 19,21,40 Ross 191,207 Rothbard 195, 207, 314, 319, 491, 511, 543, 546 Rothenberg 204, 207 Rowley 124 Rückert 359 ff, 367 f., 372, 375 Rüstow 17, 40, 45, 62, 76, 283 ff, 310, 315, 319, 544 Rupp 329, 338 Sachs 271, 279 Sahner 520, 538 Sa/zw 18, 40, 192, 207 Sangmeister 497, 511 Sanmann 556 Sqy 553 ScAar/?/ 479, 485 Schatz 518, 537 Schefold 25, 40 ScAew 269, 279 Schiavo 427, 444, 450, 456, 463 Schibilsky 343, 375 Schilling 530, 538 ScMy 556 Schlecht 81, 103, 283, 285, 288, 293,
576 · Namenregister 310 Schlotter 328, 338 Schmid 369, 375 Schmidt, F. 480, 484, 565f. Schmidt, J. 159,162,565 Schmidt, K. 49, 68, 76, 200, 207 Schmidtchen 129, 130, 139 ScA/w/fe 527 f., 538 Schmölders 52, 314, 319 Schmoller, von 16, 21 f., 40 Schneider, D. 451,463 Schneider, U. 355, 359, 369, 373, 375 Schoeck 317, 319 Schönwitz 285, 311 Schricker 505, 511 Schüller, Achim 351,375 105 f., 112, 116, Schüller, Alfred 123 f., 134, 138, 142, 156, 162, 292 f., 311, 497, 511 Schürer 410,415 Schulenburg, von der 525, 538 Schuler 382, 385, 397 f. Schumpeter 167, 189, 229, 230 ff., 257, 266, 270, 273, 279, 314, 317 ff. Schwappach 527 f., 538 Schwarz 402,415 Schwartz, 343 f., 353 f., 375 Schwärt, 343 f., 353 f., 375, Schweitzer, A. 51,76 Schweitzer, M. 501,511 Seibel 342, 375 Seligman 200,207 Seil 211, 216 f., 221, 225 f. Serna 359, 374 SAaA 394, 397 Shenfield 495, 511 Shepherd 269, 279 Shoup 200, 207 SAovew 200, 207 Sichelschmidt 435, 463, 419 Äreterf 255, 259, 266, 480, 486 Äwge// 243, 249 Sinn, G. 297,310,410,415
Sinn, H.-W. 255, 258, 266, 410, 415 Skinner 191, 194, 197, 203, 207 Smith, A. 17 f., 28, 34 ff, 63, 76, 191 ff, 314 f., 319, 490,512, 553 Smith, W. 456, 462, 553 Soltwedel 300, 301, 302, 307, 523, 538 Sombart 20, 22 f., 40, 314, 319 Sosnitza 501, 504, 512 Spencer 480, 484 Spaeth 450, 463 Spiegelhalter 346, 375 Spiethoff 20, 40 Starbatty 80, 86 f., 99, 103, 468, 473 f., 482 f., 486, 565f. Stehn 473, 483, 485 Steinmann 525, 538 Steil 533, 538 Steuart 193,208 Stewart 191 ff, 203, 207 f. Stiemerling 414 Stigler 61, 76, 269, 279, 523, 538 Stoetzer 141, 160 Stolleis 348, 361, 376 Stolper, H. 249 Stolper, W. 250 Stover 451, 463 Strasmann 351, 375 Stratherrwerth 523, 530, 537 Straubhaar 556 Strecker 476, 480, 486 Streinz 501, 511 f., Streissler, E. 154,162 Streissler, M. 154,162 Streißler, E. 192,208 Streit 80, 103, 141, 144, 155, 162, 255, 266, 273, 279, 298, 311, 350, 359, 365, 376, 402, 409, 415, 475, 479, 485 f., 492, 493, 497 f., 512 Strong 427, 433, 442, 462 Strünck 374 Stützet 293,311 Sun 258, 266 Sutton 448, 461
Namenregister · 577 Tabellini 381, 396 Tanghe 377,486 Taylor 451,463 Thomm 350, 376 Thiel 343, 353, 376 Thieme 283, 286 f., 309, 311, 566 Thierse 329, 338 Thünen, von 230 f., 250 Thuy 281,301,311 Tiebout 255, 266 Tietmeyer 411,415 Tietzel 49, 76, 122, 124, 302 ff, 311 Tinbergen 387, 398 Tiróle 269, 280 Trapp 389, 397 Γοόϊ'η 115,124 Tollison 124,402,415 Tomkins 441, 449, 463 Trenk-Hinterberger 350, 376 Tuchtfeldt 86, 103, 171 f., 188, 189, 284,311,553 Tullock 124,303,308 Ullmann-Margalit 37, 41 Ulrich 18,40 Unger-Sternberg, von 525, 538 Valdés 392, 397 Vanberg 32, 37, 41, 93, 100, 103, 130, 139,143 ff, 148, 151, 154 f., 159, 162, 204, 208, 255, 257, 259, 266 f., 490, 512 Vaubel 111, 123 f., 297 f., 311 Vaughn 147 f., 153, 157, 159, 163 Villanueva 383, 398 Viner 491, 512 Voigt 401, 414 Vollmer 299,300,311 Vornholz 291,311 Wagner 557 Wallis 28, 41 Walras 5, 13, 166, 189, 204, 208
Watkins 495, 512 Watrin 105, 124, 150, 154, 163, 530, 538 Weber, A. 314,319 Weber, M. 22, 38, 41, 211 ff, 222 ff. 239, 242, 250 f., 314, 319, 343, 358, 367 f., 376 Weber, R. 291 ff, 301, 308, 310 f., 557 Weber, Warren 380, 398 Weber, Wilhelm 314, 319 Wegner 99, 103 Wehmeier 485 Weingart 319 Weinhold 423, 463 Weippert 22, 26, 41 Weis 501, 512 Weiss 465, 486 Weizsäcker, von 273, 280, 525, 538 Weifens 296, 297, 309, 565 Welter 52, 76 Wentzel 303 f., 311, 379, 381, 398 Wessels 564, 568 Wettstein 538, 526 Weuthen 347, 351, 354, 376 Wibera 355, 376 Wiethölter 53, 76 Wilke 306,307 Wille 196,208 Willgerodt 43, 45 f., 49, 54 f., 57, 62, 73 f., 76, 116 f., 123 f., 292, 311, 385, 398, 408,415 Williamson 28, 41, 169, 189, 269, 280 Willig 273, 278, 435, 460 Wimmers 482, 486 JFz/wtow 419, 426, 432, 442 f., 462, Winter 469, 486 Winterberger 237, 250 Winz 556 07« 143, 145, 161, 163, 236, 250, 490, 512 Wöhe 314, 319 Woll 110, 112, 124, 127 f., 134, 139, 175, 189,314,319
578 · Namenregister Wollmann 471, 486 Wood 191, 208 Young 442, 463 Zeitler 495, 512 Zellner 449, 463 Zimmermann 200, 208 Zwiedineck-Südenhorst, von 63, 76
Sachregister Agrarordnung 315 Agrarpolitik, gemeinsame 564, 567 Allianzen, strategische 447, 455, 459 Antinomie der Nationalökonomie 15ff. Äquivalenz, fiskalische 256, 261 Arbeitgeber 314 Arbeitslosigkeit 557fF. Arbeitsmarkt 291f., 296, 300ff., 306ff, 330, 332, 337f. Arbeitsmarkttheorien 557Í, 560ff. Arbeitsteilung 191, 193, 204 Außenhandelslehre 274 Bildungsideal, liberales 554 Bildungsplanung, staatliche 555 Bildungspolitik 553, 555 Bürokratie 201 Contestable Markets 435, 460 Currency board 379f., 382ff. Demokratie 49f., 55, 62, 64f., 71, 74t, 83,92, 101, 109Í, 112, 122 Deregulierung 419ff, 430, 434ff, 515, 522, 535, 537, 539 Dienstleistungsverkehr, freier 564 Eigennutzstreben 270f. Eigentum 169, 176, 194f., 203, 206 Eingriffsintensität 116 Einkommensverteilung 216f. Elitetheorie 237 Erklärungsansatz, ökonomischer 15f., 27, 29,31 Essential-facilities-Doktrin 424, 459 Ethik - protestantische 212f., 223, 242, 245, 250 - puritanische 212
Europäische Integration 262f., 264, 267ff. Europäische Union 563ff. Evolution, kulturelle 147, 162 Evolutionsblockaden 148f., 150, 154f., 159, 163 Evolutionsprinzipien 545f. Evolutionstheorie 141f., 150, 154, 159, 163 Externalitäten 476 Finanzverfassung der EU 564 Föderalismustheorie 256 Forschungs- und Technologiepolitik 465Í, 484ff, 565 Freiburger Schule 79ff, 87f., 91, 95, 98ff, 103, 127, 136 Freiheit 6, l l f f , 44ff, 80f., 90, 92, 95ff, 101, 103, 127f., 130f., 134, 137ff, 165, 175f., 195ff, 205f., 208, 28 Iff., 490ff. Geldmengensteuerung 379 Geldordnung 379, 381, 387f., 391f., 395, 398 Geldpolitik, stabilitätsorientierte 380ff, 391 Geldschöpfung 382f. Gewerbefreiheit 527, 536 Gini-Koeffizient 217, 219f. Globalisierung 253f., 265ff. GWB 497, 502Í, 505 Handel, intraindustrieller 224 Handels- und Industriepolitik, strategische 480, 484, 486 Handwerksordnung 515ff, 519, 522, 526, 529f., 536f., 539, Historische Schule 21, 543f. Hochbegabtenfbrderung 555
580 · Sachregister Hochschulen 329f. Hochschulreife, unzureichende 554 Homo oeconomicus 18, 50, 78 Humankapital 236, 242, 245, 329f., 531 Imitation l(5fl) Individualismus - normativer 490 - methodologischerl42, 146, 236 Industriepolitik 565f. Inflationsrate 379ff, 383f., 388f, 392, 395f. Informationsasymmetrien 290, 423, 475, 524f., 559 Informationskosten 476 Inländerdiskriminierung 531, 535 Institutionen, soziale 194 Interdependenz 3ff., 105, 124 - der Ordnungen 3 ff. Intervention 327, 335, 337 Interventionismus 105, 108ÍF. Interventionsstaat 82 Kammerwesen 536, 539 Kapitalbildung 560f. Kapitalismus 21 Iff., 223ff. Kapitalstock 410 Katallaxie 8 Klassische Nationalökonomie 17 Konkurrenz, vollkommene 248, 269, 273 Konkurrenzfähigkeit, internationale 553 Konstitutionelle Ökonomik 254 Konsumethik 547ff. Kosten - irreversible 421 - komparative 274ÍF. Krankenversicherung 324f., 335, 338f. Kuznets-Kurve 216 Laissez-faire 43, 48, 67, 72, 74, 77, 141, 149, 154, 161, 163
Lastenverschiebung, 321,339
intergenerative
Management, interkulturelles 555 Marktzutrittsbarriere 458f. Marktversagen 113, 196, 287, 289ff, 307. 475, 477, 523, 539 Matching-Problem 558 Mitnahmeeffekte 478, 481 Mont-Pelerin-Gesellschaft 543f., 546 Neue Institutionenlehre 7 Neue Institutionenökonomie 26, 40 Niederlassungsfreiheit 564 Non-Dilemma-These 489 Ordoliberalismus 44, 51, 54, 75, 79ff, 88, 91, 95, 98f., 100, 103, 283, 543, 545 Ordnung - marktwirtschaftliche 165, 167fF, 270f., 273 -spontane313, 315, 402 Ordnungsökonomik 170ff., 175, 188 Ordnungspolitik 142f., 146, 150, 152, 154f., 156ff, 163f., 165, 171ff, 254, 342, 377, 381, 389 Ordnungstheorie 17, 23ff, 34ff„ 314, 319f. Ordnungswechsel 401 Österreichische Schule 127, 132, 543 Patentwesen 468 Pattern prediction 4 Pinoniergewinne 233, 240, 475 Pluralismus 48, 74 Preissystem 167f., 172, 183, 270 Preistheorie 5 Prinzipien - konstituierende 134f., 137, 141f., 146, 402 - regulierende 135, 137ff. Privateigentum 6, 213
139f.,
Sachregister · 581
Produkthaftungsregeln 525 Prozeß, politischer 107ff, l l l f , 114, 120f. Prozeßpolitik 171f, 175, 181 Public Choice 405, 416 Qualitätsregulierung 433 Rationalismus, konstruktivistischer 128, 151 Rechtsordnung 491f, 510 Reformstaaten, osteuropäische 565 Regelbindung 379, 381f, 387, 398 Regulierung 316 Rente, dynamische 545 Rentenversicherung 323f, 327, 334ff. Rent-Seeking 254f, 257f, 261, 264, 267f, 289, 293, 295, 350, 402, 481, 483, 485 Schumpeterscher Unternehmer 229ff. Selbstkostendeckungsprinzip 341 Soziale Dienste 374, 361, 369, 373 Soziale Marktwirtschaft 44, 75f, 79ff, 87, 96ff, lOlff, 106, 124, 133, 28Iff, 285, 288, 293, 296ff„ 302, 307ff, 543ff. Sozialethik 547 Soziallehre, christliche 284 Sozialpolitik 44, 64ff, 70f. Sozialstaat 89, 341, 373, 375 Sozialversicherung 321, 348f, 359f, 362, 364 Spillovers, technologische 476 Standortwettbewerb 253ff, 260f, 264f, 267 Staat als Monopolist 254f, 258, 260ff, 265, 267f. Staatsauffassung, liberale 49, 77 Staatsversagen Stabilitätspolitik 286f, 309 Stückwerk-Sozialtechnik 131, 139, 152, 162 Studiendauer, überlange 554
Subsidiaritätsprinzip 287, 297, 302, 311, 482, 483, 485ff. Subventionen 108f, 114f, 117f, 328, 331, 337, 339, 342, 349, 352ff, 365ff. Tarifautonomie 559 Theologie 547 Theorie des institutionellen Wandels 17, 26ff, 31f, 34 Transformation 40 Iff. Umverteilungsmaßnahmen 87, 198ff. Unsichtbare Hand 199, 203 Unternehmer 313ff. Unternehmerrisiko 244 Unternehmertheorie 229, 240, 251 Unwissenheit, konstitutionelle 10, 130, 240, 248 Ursprungslandprinzip 453 US-Luftverkehrsmarkt 419, 460, 462 UWG489, 498ff. Verbraucherschutz 499 Verschuldung, öffentliche 3 2 l f , 327, 331, 335, 338f. Vorrangprinzip 364f, 368 Währungsunion 405, 407ff, 563, 566 Warenverkehr, freier 564 Weiterbildung 553ff. Werturteilsfreiheits-Postulat 215f, 222 Wettbewerb 8, l l f f , 45f, 50, 56, 75f, 127f, 13 Iff, 137f, 167f, 172, 183f, 186f, 198, 205, 206, 208, 253ff, 269f, 272ff, 283, 285, 288f, 291, 294, 296, 299, 302f, 309ff, 327, 329ff, 335ff, 402 - unlauterer 498, 509ff. Wettbewerbsfähigkeit, globale 277 Wettbewerbsfreiheit 489, 507
582 · Sachregister Wettbewerbsordnung 79f., 87ff, 92ff, 106, 113, 115f., 120, 122£, 127ff., 132fF. Wettbewerbspolitik 489 Wirklichkeitswissenschaft 214 Wirtschaftsethik 225, 314, 319 Wirtschaftsordnung 15, 24ff, 34, 37ff, 79, 81f., 84f., 87, 91ff., lOlf, 543 Wirtschaftsverfassung 313 Wissen - Anmaßung von 127£, 132f., 137f., 143, 150ff., 154ff, 163, 479 Wohlfahrtsbürokratie 359 Wohlfahrtspflege, freie 341ff. Wohlfahrtsstaat 201 Wohlfahrtsökonomik 10, 46, 558 Zentralverwaltungswirtschaft 105, 112, 124 Zerstörung, schöpferische 236 Zinssteuerung 379 Zwangsmitgliedschaft 520
Anschriften der Autoren Prof. Dr. Hartmut Berg Universität Dortmund, Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik D-44221 Dortmund Dipl.-Ök. Gabriele Brandt Universität Dortmund, Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik D-44221 Dortmund Dipl.-Volkswirt Claudius Christi Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre IV (Wirtschaftstheorie) D-95440 Bayreuth Privatdozent Dr. Frank Daumann Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre IV (Wirtschaftstheorie) D-95440 Bayreuth Prof. Dr. Norbert Eickhof Universität Potsdam, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insb. Wirtschaftspolitik D-14439 Potsdam Diplom-Volkswirt Markus Fredebeul-Klein Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln, Pohligstr. 1 D-50696 Köln Dr. Andreas Freytag Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln, Pohligstr. 1 D-50696 Köln Dr. Dr. habil. Lüder Gerken Walter Eucken Institut, Goethestr. 10 D-79100 Freiburg Dr. Heiko Geue Handelskammer Hamburg, Abteilung Forschung und Entwicklung, Adolphsplatz 1 D-20547 Hamburg Dr. Gerd Habermann Unternehmerinstitut e.V. D-53719 Bonn
584 · Anschriften der Autoren Prof. Dr. Walter Hamm Philipps-Universität Marburg D-35041 Marburg Dipl.-Volkswirt Arne Heissel Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre IV (Wirtschaftstheorie) D-95440 Bayreuth Dr. Ulrich Hösch Universität Bayreuth, Lehrstuhl fur öffentliches Recht und Wirtschaftsrecht D-95440 Bayreuth Prof. Dr. Dr. h.c. Erich Hoppmann Universität Freiburg, Abteilung Wirtschaftspolitik, Europaplatz 1 D-79085 Freiburg Prof. Dr. Wolfgang Kerber Philipps-Universität Marburg, Wirtschaftspolitik D-35032 Marburg
Fachbereich
Wirtschaftswissenschaften,
Abteilung
Privatdozent Dr. Andreas Knorr TU Dresden, Fakultät für Verkehrswissenschaften „Friedrich List", Institut für Wirtschaft und Verkehr D-01062 Dresden Dipl.-Volkswirt Jürgen Lange-von Kulessa Walter Eucken Institut Goethestr. 10 D-79100 Freiburg Privatdozent Dr. Helmut Leipold Philipps-Universität Marburg, Forschungsstelle Lenkungssysteme, Barfußertor 2 D-35037 Marburg Prof. Dr. Hans Otto Lenel Elisenhöhe 35 D-55411 Bingen
zum
Vergleich
wirtschaftlicher
Anschriften der Autoren Prof. Dr. Dirk Meyer Universität der Bundeswehr Hamburg, Fachbereich Organisationswissenschaften, Institut für Wirtschaftspolitik D-22043 Hamburg
Wirtschafts-
585
und
Dr. Uwe Mummert Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen D-07745 Jena Dipl.-Volkswirt Andreas Renner Walter Eucken Institut Goethestr. 10 D-79100 Freiburg Dr. Jörg Rissiek Technische Universität Wirtschaftspolitik Helmholzplatz D-98684 Ilmenau
Ilmenau,
Institut
für
Prof. Dr. Alfred Schüller Philipps-Universität Marburg, Forschungsstelle Lenkungssysteme, Barfüßertor 2 D-35037 Marburg
Volkswirtschaftslehre,
zum
Vergleich
Fachgebiet
wirtschaftlicher
Dipl.-Volkswirtin Angela Schürfeld Wirtschaftspolitisches Seminar der Universität zu Köln, Robert Koch-Str. 41 D-50931 Köln Prof. Dr. Friedrich Seil Universität der Bundeswehr, Institut für Volkswirtschaftslehre, Werner-Heisenberg-Weg 39 D-85579 Neubiberg Privatdozent Dr. Peter Thuy Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre II (Wirtschaftspolitik) D-95440 Bayreuth Prof. Dr. Dr. h.c. Egon Tuchtfeldt Universität Bern, Volkswirtschaftliches Institut, Vereinsweg 23 CH-3012 Bern
586 · Anschriften der Autoren
Dr. Ralf L. Weber Philipps-Universität Marburg, Forschungsstelle Lenkungssysteme, Barfüßertor 2 D-35032 Marburg Prof. Dr. Hans Willgerodt Hubertushöhe 7 D-51429 Bergisch-Gladbach Prof. Dr. Dr. h.c. Artur Woll Am Höchsten 1 D-57271 Hilchenbach
zum
Vergleich
wirtschaftlicher
Die Rolle des Staates in einer globalisierten Wirtschaft herausgegeben von: Professor Dr. Juergen B. Dönges und Dr. Andreas Freytag Mit Beiträgen von Barbara Dluhosch, Juergen B. Dönges, Johann Eekhoff, Markus Fredebeul-Krein, Andreas Freytag, Malte Krüger, Alexander Lepach, Carsten-Patrick Meier, Angela Schürfeld, Axel Wehmeier, Pia Weiß, Hans Willgerodt, Ralf Zimmermann. (Schriften zur Wirtschaftspolitik Neue Folge, Band 6) 1998. XI, 320 S., 11 Abb., kt. DM 69,-/öS 504,-/sFr 62,50 ISBN 3-8282-0058-3
Die öffentliche Diskussion über die Auswirkungen der Globalisierung der Märkte wird beherrscht von Sorgen und Ängsten. Viele befürchten, daß im Zuge der unvermeidlichen strukturellen Anpassungen, mehr Arbeitsplätze verlorengehen als neue entstehen würden, die Einkommensungleichheiten zunähmen und die sozialen Sicherungssysteme erodierten. Zahlreiche Politiker nähren die Illusion, der Staat könne den Anpassungsdruck durch Abschottung nach außen mildem oder ganz beseitigen. Die Nachteile einer protektionistischen Politik — für Deutschland und die Europäische Union ebenso wie für die Entwicklungsund Schwellenländer - werden nicht gesehen, jedenfalls werden sie verschwiegen. In dem vorliegenden Werk werden Themen, die in der Globalisierungsdebatte eine besondere Rolle spielen, aufgegriffen und wirtschaftswissenschaftlich analysiert. Die Verfasser dieses Bandes sehen die Globalisierung nicht als Schreckgespenst, sondern als Chance für eine zukunftsweisende Wirtschaftspolitik, die die Rahmenbedingungenfür gesamtwirtschaftliche Dynamik und mehr Beschäftigung auf Dauer herstellt. Das gemeinsame Anliegen ist es, zu einer Versachlichung der Debatte beizutragen und in der Gesellschaft emotionalen Widerstand gegen Offenheit der Märkte abzubauen.
Lucius & Lucius
Franz Baltzarek / Felix Butschek / Gunther Tichy (Hrsg.)
Von der Theorie zur Wirtschaftspolitik ein oesterreichischer Weg Mit Beiträgen von: J. Backhaus, F. Baltzarek, D. Bös, F. Butschek, G. Chaloupek, E. Dierker, H. Dierker, M. Feldstein, D. F. Good, Β. Gradai, R. Hansen, O. Issing, Η. Kramer, T. Ma, D. C. Mueller, E. Nowotny, Κ. W. Rothschild, Β. Schefold, J. Schumann, Η. Seidel, G. Tichy, E. Weissei, W. Zipser 1998. X/359 S. Ln. DM 118,-/öS 861,-/sFr 105,(ISBN 3-8282-0084-2) Die Themen des Bandes, der Erich Streißler zum 65. Geburtstag gewidmet ist, spannen sich von Beiträgen zur Dogmengeschichte samt darausfolgenden aktuellen Bezügen über Fragen der Geld- und Kapitalmärkte bis zu wissenschaftspolitischen Beiträgen. Dabei bilden in vielen Beiträgen Sachverhalte und Problemlagen in Oesterreich einen Schwerpunkt.
Strategisches Management Theoretische Ansätze, Instrumente und Anwendungskonzepte für Dienstleistungsunternehmen Herausgegeben von A. Kötzle, Frankfurt (Oder) mit Beiträgen von Elisabeth Göbel, Alfred Kötzle, Erwin Dichtl, Mark Leach, Wolfgang Eisele, Marceil Schweitzer, Kuno Rechkemmer, Wolfgang Nuber, Bernhard Früh, Hermann Fünfgeld, Martin Gläser, Ottmar Schneck, Knut Kühlmann, Joachim Weber, Armin Bohnet, Oliver Fix 1997. XII, 315 S., 44 Abb., geb. DM 89,-/öS 650,-/sFr 81,(ISBN 3-8282-0037-0) Die Autoren dieses Bandes zeigen den Stand der aktuellen Diskussion zum zentralen Thema „Strategisches Management" auf, insbesondere auch weiterentwickelte Instrumente und neue anwendungsbereiche.WichtigeAspekte sind dabei u. a. das Risikomanagement, die strategische Informationsversorgung und Kontrolle und die daraus ableitbaren Anforderungen an ein Führungsinformationssystem. Fallbeispiele aus dem Bereich sehr unterschiedlicher Dienstleistungszweige sowie von internationalen Aktivitäten und Allianzen deutscher Unternehmen schließen die Gesamtdarstellung ab.
Lucius & Lucius
.Zunehmende Ungleichheit' in Wirtschaft und Gesellschaft
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Verteilungsprobleme der Gegenwart Diagnose und Therapie Herausgegeben von Bernhard Gahlenf, Helmut Hesse und Hans Jürgen Ramser
Koreferaten von Volker Arnold und Hans Peter Grüner Friedrich Breyer und Martin Kolmar: Sozialpolitik und Verteilung. Ist Äquivalenz effizient effektiv und stabil? mit Koreferaten von Bert Rürup und Winfried Schmäh] Bernd Raffelhüschen und Jan Walliser: Inhaltsübersicht: Was hinterlassen wir zukünftigen GeC. Christian von Weizsäcker: Das Vertei- nerationen? Ergebnisse der Generatiolungsproblem in der Sozialen Marktnenbilanzierung - mit Koreferaten wirtschaft - mit Koreferaten von von Kurt W. Rothschild und Klaus Gottfried Bombach und Hans-Jürgen Wälde Krupp Elke Baumann und Dietmar Wellisch: Bernd Fitzenberger und Wolfyang Franz: Verteilung und Migration. Flexibilität der qualifikatorischen Interpersonelle und interregionale UmLohnstruktur und Lastverteilung der verteilung bei InformationsunterschieArbeitslosigkeit Eine ökonometrische den zwischen den Regierungsebenen Analyse für Westdeutschland - mit mit Koreferaten von Jürgen Meckl Koreferaten von Michael C. Burda und und Klaus F. Zimmermann Olaf Hübler Karl-Heinz Paqué: Internationaler Jörn-Steffen Pischke: Ausbildung und Handel, technischer Fortschritt und Lohnstniktur. Deutschland und die USA Lohndifferenzierang. Ein Blick in die in den 80er Jahren - mit Koreferaten empirische Literatur - mit einem von Emst Helmstädter und Bernd Koreferat von Heinz P. Galler Fitzenberger 1998. X, 385 Seiten (WirtschaftswissenOliver Landmann und Michael Pflüger: schaftliches Seminar Ottobeuren 27). Verteilung und Außenwirtschaft ISBN 3-16-147059-1 Leinen DM 178,-/ Verteilungswirkungen der GlobaöS 1299.-/SFR 152lisierung - mit Koreferaten von Helmut Hesse und Manfred Stadler Johann Eekhoff Hans Jürgen Ramser und Stefan Zink: Beschäftigung und soziale Einkommensverteilung bei endogeSicherung nem Wachstum - mit Koreferaten 2. Auflage 1998. VE, 273 Seiten. ISBN von Klaus Jaeger und Karl Heinrich 3-16-147010-9 fadengeheftete Broschur Oppenländer DM 64-/ÖS 467,-/sFR 58,-; ISBN 3-16Klaus Müller und Christhart Bork: 146980-1 Leinen DM I28-/ÖS 934,-/ Verteilung und Fiskus. Die AuswirsFR 109,kimgen der Einkommensbesteuerung auf die Einkommensverteilung - mit
Mohr Siebeck
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•Wimm.!!!« Arbeiten für eine zukünftige Ordnung Europas Bruno S. Frey Ein neuer Föderalismus für Europa: Die Idee der FOCJ
Otmar Issing Von der D-Mark zum Euro Auswirkungen auf das Weltwährungssystem und die deutsche Wirtschaft
Bruno S. Frey schlägt eine neue Art des Föderalismus vor, die nach Otmar Issing analysiert die Situaden englischen Anfangsbuchstaben von Functional Overlapping Competing tion auf den Weltfinanzmärkten, die Determinanten einer internatioJurisdictions als FOCJ bezeichnet nalen Währung und die Auswirwird. Föderative Einheiten sollen kungen der Währungsunion auf sich gemäß bestehender Probleme das internationale Weltwährungsbilden. Dabei werden sie sich gesystem und die deutsche Volkswirtgenseitig überlappen, weil sich die schaft. Unter der Voraussetzung verschiedenen Funktionen (z.B. einer stabilitätsorientierten GeldVerkehr, Polizei oder Schule) auf politik der EZB kann der Euro eine unterschiedliche Räume erstrecken. Die föderativen Einheiten sollen im wichtige Rolle im Weltwährungssystem spielen. Die positiven Wettbewerb stehen, indem sich die Wirkungen der Währungsunion Bürgerinnen und Bürger oder für die deutsche Volkswirtschaft Gemeinden selbständig entscheiden können, zu welcher Einheit sie sollten jedoch nicht überschätzt werden. Otmar Issing untersucht gehören wollen. Die Bürger sollen die Interdependenzen zwischen über direkte Mitspracherechte verWährung und Politik und zeigt die fügen und die Einheiten sollen Gefahr für den Euro durch falsche juristische Körperschaften mit eigeWeichenstellungen auf politischer ner Steuerhoheit sein. FOCJ eignen Ebene auf. Aktuelle Tabellen und sich nicht nur für westliche InduÜbersichten untermauern die strieländer, sondern auch für EntThesen und liefern empirisches wicklungsländer, vor allem aber Studienmaterial. auch für die zukünftige Ordnung der Europäischen Union. 1998. 43 Seiten (Beiträge zur Ordnungstheorie und Ordnungs1997. 101 Seiten (Beiträge zur politik 155). ISBN 3-16-146921-6 Ordnungstheorie und OrdnungsBroschur DM 48,-/öS 350,-/ politik 151). ISBN 3-16-146790-6 sFR 44,Broschur DM 64-/ÖS 470,-/ sFR 58,-
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Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft
Sammelband der Gutachten von 1987 bis 1997 Herausgegeben vom Bundesministerium für Wirtschaft 1998. XVI, 555 S„ Ln. DM 148,(ISBN 3-8282-0054-0) Vor 50 Jahren tagte zum erstenmal der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft - er ist damit das älteste Gremium der unabhängigen wissenschaftlichen Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland. Das über 50Jahre kumulierte Werk des Wissenschaftlichen Beirats ist beeindruckend. Es umfafit 117 Gutachten zu einem breiten Spektrum wirtschaftspolitischer Fragestellungen. Die Veröffentlichung dieser Gutachten in größeren Sammelwerken wird mit dem vorliegenden Zehnjahresband fortgesetzt. Er enthält insgesamt 22 Gutachten aus den Jahren 1987 bis 1997, die bei aller thematischen Verschiedenheit zweierlei gemeinsam haben: Zum einen reflektieren sie zeitnah die grundsätzlichen Herausforderungen an die Wirtschaftspolitik. Zum anderen sind sie geprägt von hohem wissenschaftlichem Niveau und marktwirtschaftlichem Grundverständnis ¡Eigenschaften, die für die Arbeiten des Beirats von Anfang an kennzeichnend sind. Zentrale Themen der Gutachten des Zeitraums 87 — 97 sind dabei Fragen im Zusammenhang mit der Vereinigung Deutschlands und zum zweiten die Fortentwicklungen in der Europäischen Union sowie mehrere Gutachten zum Arbeitsmarkt und zur Langzeitarbeitslosigkeit. Die Gutachten des Sammelbandes sind zu großen Teilen auch heute noch von hoher Aktualität — die Zusammenfassung im Zehnjahresband eine wichtige Dokumentation und leichtzugängliche Informationsquelle.
Lucius & Lucius