Ordo et Mensura VII
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ORDO ET MENSURA VII Herausgegeben von Florian Huber und Rolf C. A. Rottländer

SCRIPTA MERCATURAE VERLAG

SACHÜBERLIEFERUNG UND GESCHICHTE

Siegener Abhandlungen

zur Entwicklung der materiellen Kultur

Band 34

Herausgegeben von Harald Witthöft, Ulf Dirlmeier, Rainer S. Elkar, Gerhard Fouquet und Jürgen Reulecke

ORDO ET MENSURA VII Herausgegeben von Florian Huber und Rolf C. A. Rottländer

Internationaler Interdisziplinärer Kongreß für Historische Metrologie

vom 4. bis 7. Oktober 2001

im Deutschen Museum München

SCRIPTA MERCATURAE VERLAG

Titelbild aus: Johann Jacob Schmidt: Biblischer Mathematicus. Züllichau 1749

(s. Beitrag Rolf Legler)

Florian Huber und Rolf C. A. Rottländer (Hrsg.)

ORDO ET MENSURA VII (Sachüberlieferung und Geschichte, Bd. 34) St. Katharinen 2002

Copyright:

SCRIPTA MERCATURAE VERLAG D - 55595 St. Katharinen

ISBN 3 -89590- 125 -3

I

Inhaltsverzeichnis Vorwort...................................................................................................................... 1 Zum Geleit................................................................................................................. 4

Rolf C. A. Rottländer zum 12. August 2002 .......................................................... 6 PD Dr. Hans-Georg Bartel, Berlin Über "Die chemischen Grundlehren nach Menge, Maß und Zeit" Ja­ cobus Hendricus van't Hoffs.................................................................................. 11

PD Dr. Friedrich Balck, Clausthal-Zellerfeld Historische Meßgeräte der Physik........................................................................ 20

Dr. Gerhard Helmstaedter, Pulheim

Quantum Satis: Umgang der Apotheker mit Maß und Gewicht........................ 32 Prof. Dr.-lng. Albrecht Kottmann, Stuttgart

Das Differenzverfahren, ein sicherer Weg zur Bestimmung von Län­

gen- und Gewichtseinheiten................................................................................... 41 Dipl.-Math. Wolfgang Rieger, München Ein Verfahren zur Bestimmung von Maßvermutungen...................................... 54

PD Dr. Dr. Rolf C.A. Rottländer, Rottenburg-Kiebingen, Köln Die Ableitung der vormetrischen Längeneinheiten aus dem Urmaß lediglich ein mißlungener Versuch ? .................................................................... 65

Dr. Joachim Langhein, Heidelberg

Auf dem Wege zu einer allgemeinen Theorie der Proportion. Forschungsperspekiven für das 21. Jahrhundert ("Werkstatt-Bericht")............ 76 Dipl.-lng. (FH) Wolfgang Schmid, M.A., München

Metrologische Untersuchungen zum Beziehungsgeflecht der Gräber­

ellipsen im spätbronzezeitlichen Umengräberfeld von Unterhaching, Kr. München............................................................................................................ 98

Dr. Franz Schubert, Glux-en-Glenne / Wolnzach

Untersuchungen zur Maß-und Entwurfslehre keltischer Holzbauten ............ 109 PD Dr. Hans-Georg Bartel, Berlin

Aus der Geschichte der Erforschung altägyptischer Maße.............................. 120

II

Prof. Dr.-Ing. Dieter Leigemann, Berlin

Zur Messung der "Astronomischen Einheit" durch Eratosthenes von Kyrene .................................................................................................................... 131

Dr. Manfred Hüttig, Wolfenbüttel Konstruktionsprinzipien bei antiken Sonnenuhren eröffnen Zugang zu

Längenmaßen der Antike.....................................................................................

147

Dr. Werner Heinz, Sindelfingen Die Trajanssäule in Rom in ihren metrologischen Zusammenhängen............ 158

PD Dr. Dr. Rolf C.A. Rottländer, Rottenburg-Kiebingen im Sülchgau, Köln

Ein Beitrag zur Kenntnis der Geschichte der Okkupation des Sülch­

gaus durch die Franken......................................................................................... 170 PD Dr. Dr. Rolf C.A. Rottländer, Rottenburg-Kiebingen, Köln

Die Längeneinheiten und das Raster des ehemaligen Chorherren-Stifts St. Georg am Waidmarkt, Köln ........................................................................... 187

Prof. Dr. Wolfgang Wiemer, Essen (mit Prof. Dr. Hartmut Grimhardt und Stefan Brunner)

Maßordnung und Maßsystem der Abteikirche Ebrach ..................................... 209 Dipl.-lng. Hanspeter Hanisch, Wiesbaden

Die Torre Alfonsina in Lorca. Drei Maßarten an einem Bauwerk, dazu

ein Beitrag zur deutschen Reichsgeschichte...................................................... 220 Prof. Eric C. Fernie, London Die abendländische Bauzeichnungstradition ..................................................... 231 Dr. Peter Weyrauch, Darmstadt

Metrologische Untersuchung an kleinen Objekten........................................... 238 Prof. Dr. Hubertus Günther, Zürich

Das Proportionssystem von Bramantes Tempietto

mit dem geplanten Hof......................................................................................... 255 Dr. Marcus Frings, Darmstadt Serlios Säulenlehre und die Architektur der Hochrenaissance. Erfah­

rungen und Perspektiven mit CAD..................................................................... 281

III

Wolfgang Schiele, Geigenbaumeister, München

Die geometrische Konstruktion der Cremoneser Geige nach dem Gol­ denen Schnitt ........................................................................................................ 290

Dr. Klaus Schillinger, Dresden

Die Längeneinheit "Tuch" auf Reduktionsmaßstäben sowie auf sächsi­ schen Forst- und Jagdkarten des 16. bis 18. Jahrhunderts ............................... 299 Dr. RolfLegler, München Ein barocker 'Biblischer Mathematicus'

.......................................................... 320

Prof Dr. Günter Nagel, München Vom Messtischblatt zur virtuellen Landschaft. 200 Jahre Bayerisches Landesvermessungsamt ....................................................................................... 333

Dr. Florian Huber, München Der Klassifikationsgeometer Johann Georg Huber und die baierische Meßarchitektur um 1801 ...................................................................................... 347

Dr. Cornelius Steckner, Köln

Weg und Zeit ........................................................................................................ 357 PD Dr. Dr. Rolf C.A. Rottländer, Rottenburg-Kiebingen, Köln Ein Wort zum Schluß............................................................................................ 368

Autorenverzeichnis............................................................................................... 375

"Puto neminem esse aut fuisse hominem perfectum, qui non de mente aliqualem saltem fecerit conceptum. Habeo quidem et ego: mentem esse, ex qua omnium

rerum terminus et mensura. Mentem quidem a mensurando dici conicio." "Ich glaube, daß es keinen vollkommenen Menschen gibt oder gab, der sich nicht wenigstens irgendeinen Begriff vom Geist gemacht hat. Auch ich habe also ei­

nen. Der Geist ist das, aus dem Grenze und Maß aller Dinge stammen. Und zwar

nehme ich an, daß das Wort mens (Geist) von mensurare (messen) kommt." Nikolaus von Kues (1401 -1464): De Mente

"Hätten wir alle ein rechten Glauben,

GOTT und die Gerechtigkeit vor Augen,

Eine Sprach, Muenz, Gewicht, Maaß und Geld, So stuehnde es besser in der Welt."

Leitspruch aus: Franz Lüdewig, Des Schweitzer-Negotianten Aufrichtiger Pary, hinhaltend... Müntz-Sorten, Gewichten und Ellen. Zürich 1741.

"Nur dann sind Wissenschaften ehrwürdig, wenn sie den Verstand so schärfen,

daß er in allen vorkommenden Fällen das Beste und Zweckmäßigste zu wählen weiß, und wenn sie das Herz so bilden, daß es immer das Beste und Zweckmä­ ßigste zu wählen wünscht."

Chur - Pfalz - Baierisches Regierungs - und Intelligenzblatt.

Sp. 639/640. XLl. Stück. München, Sonnabend den 10. Oktober 1801

1

Vorwort "La metrologia non ö scienza, 6 un incubo." (Metrologie ist keine Wissen­ schaft, sie ist ein Alptraum). So zitiert der streitbare und umstrittene Metrologie­

historiker Livio Catullo Stecchini den römischen Althistoriker Gaetano De Sanc-

tis in seinem Vorwort "Why Study Metrology?" zu seiner nur im Internet publi­ zierten "History of Measures." (www.metrum.org/measures).

Ist dieses Zitat wieder einer der 'Beweise' primär mathematisch-natur­ wissenschaftlich orientierter Forscher auf dem umfangreichen inter- und trans­

disziplinären Gebiet der Historischen Metrologie daftir, daß Geisteswissen­ schaftler prinzipiell Probleme mit mathematischen Analyseverfahren haben?

Seien daher ihre metrologischen Untersuchungen nicht nur mit äußerster Vor­

sicht zu genießen, sondern von vomeherein als potentiell falsch zu werten? In den zwanzig Jahren, in denen ich mich auch mit Historischer Metrologie beschäftige, gab es nicht nur zahlreiche fruchtbare und erheblichen Erkenntnis­

fortschritt bringende Diskussionen, sondern auch zumeist aporetisch endende Auseinandersetzungen mit und unter Fachkollegen (Kunstgeschichte / Architek­

turgeschichte) und Wissenschaftlern der an der eigentlich gemeinsamen Erfor­

schung der Geschichte von Maßen, Proportionen und Zahlen beteiligten Fachdis­ ziplinen.

Daß es immer wieder bei

Kongreßteilnehmern zu Streitigkeiten und

(v)erbitterten Briefwechseln kommt, ist meistens nicht zu vermeiden. Ob diese zunächst nur als eher destruktiv zu wertenden, eigentlich überflüssigen kämpferi­

schen Auseinandersetzungen ("Streitkultur" ?) auch positiv-produktive Elemente beinhalten, also Forschungsimpulse geben, kann man oft erst viel später beurtei­ len.

Wenn Metrosophen und Metromanen, Metrophile und Metrophobe, Metho­

dologen und Fiktionalisten, Geisteswissenschaftler und Naturwissenschaftler bzw. literarische und naturwissenschaftliche Intelligenzler sich begegnen oder aufeinanderprallen, können sowohl erhebliche Erkenntnisfortschritte erzielt, als

auch dauerhafte Kontroversen, Aporien und Schismen erzeugt, langjährige Freundschaften beendet und Projektgruppen (wie MMM) eingestellt werden. All

das ist seit dem 4. Oktober 2001 geschehen.

Es sollte nicht die

Frage gestellt werden,

ob detaillierte historisch-

quellenkundliche Untersuchungen, ellenlange mathematisch-statistische Analy­ sen oder einfach nur der gesunde Menschenverstand (Arthur Schopenhauer: "Gesunder Menschenverstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber

kein Grad von Bildung den gesunden Menschenverstand.") und Ideen die Basis

2

metrologischer Arbeiten darstellen: es gibt hier kein "oder", sondern nur ein

"und". Analog dazu sollte es auch kein "Gegeneinander", sondern nur ein "Mit­

einander", also zumindest eine polare Partnerschaft geben. Aber das scheint bei dem gegenwärtigen Stand der Evolution des immer interdisziplinär bleibenden

Faches 'Historische Metrologie' vorerst nur eine Wunschvorstellung zu sein. bleuere mathematik-, métrologie- und kunsthistorische Publikationen zeigen,

daß durch Harmonisierung und Synthese der unterschiedlichen Disziplinen aus

dem

naturwissenschaftlich-technischen

und

dem

geisteswissenschaftlich­

historischen Bereich eher Erkenntnisfortschritt erzeugt werden kann, als durch Separatismus und zumeist ideologisch motivierte ''Streitkultur", die ich als Un­

kultur ablehne. Zu diesen Publikationen zählen überblicksorientierte Bücher über die "An­ wendungswissenschaften" Geometrie (Christoph J. Scriba / Peter Schreiber: 5000 Jahre Geometrie. Geschichte, Kulturen, Menschen. Berlin 2000) und Historische Metrologie (Heinz-Dieter Haustein: Weltchronik des Messens. Universalge­ schichte von Maß und Zahl, Geld und Gewicht. Berlin / New York 2001) ebenso

wie

umfangreiche

kommentierte Quellensammlungen

aus

Einzelbereichen

(Günther Binding / Susanne Linscheid-Burdich: Planen und Bauen im frühen und

hohen Mittelalter nach den Schriftquellen bis 1250. Darmstadt 2002. Bes. S.73 -

156) und Einzelstudien (Florian Huber: Der St. Galier Klosterplan im Kontext

der antiken und mittelalterlichen Architekturzeichnung und Meßtechnik. In: Studien zum St. Galier Klosterplan II. Hrsg.: Peter Ochsenbein und Karl Schmu-

ki. Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte. Herausgegeben vom Histori­ schen Verein des Kantons St. Gallen. Band 52. St. Gallen 2002. S. 233 - 284).

Die im Band ORDO ET MENSURA VII versammelten Beiträge repräsentie­ ren einen sehr guten Querschnitt interdisziplinärer Denk- und Forschungsansätze, der verschiedenen Methoden, Argumentations- und Interpretationsweisen, Be­

weisen, Beweisversuchen und Spekulationen. Mit der Veranstaltung und Organisation weiterer ORDO ET MENSURA -

Kongresse in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen will ich auch dazu beitragen, daß die Historische Metrologie nicht zu einem Alptraum wird, nicht (nur) als "schönes Hobby" angesehen wird, daß man die Forscher'Gemeinde' nicht als 'Sekte' abstempelt und daß Streit nicht der alleinige treiben­ de Faktor der Entwicklung des relativ jungen Faches sein wird.

Mein herzlichster Dank gilt Herrn Prof. Dr. Helmuth Trischier, Forschungs­

direktor am Deutschen Museum München und Geschäftsführender Vorstand des

Münchner Zentrums für Wissenschafts- und Technikgeschichte, dafür, daß uns vom 4. - 7. Oktober 2001 der Filmsaal als Tagungsraum zur Verfügung gestellt

3

wurde; ihm und den Damen vom Sekretariat, Frau Christine Fran?ois-Tasiaux

und Frau Dorothee Messerschmid besten Dank für die Logistik und die freundli­ che Betreuung.

Für ihre Begrüßungsworte danke ich Herrn Prof. Dr. Helmuth Trischier und Herrn Dipl.-Ing. Ludwig Treleano, dem Leiter der Topographischen Landesauf­

nahme am Bayerischen Landesvermessungsamt, München. Ein sehr großer Dank gilt Herrn PD Dr. Dr. Rolf C.A. Rottländer für seinen

Druckkostenzuschuß.

Ort und Termin von ORDO ET MENSURA VIII werden im Dezember 2002 durch Rundschreiben bekanntgegeben. Vorschläge filr Referatsbeiträge von O+M-kompatiblen Forschem werden ab sofort entgegengenommen.

Florian Huber

München, 29.6.2002

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Zum Geleit Nun liegt der siebente Band von Ordo et mensura vor. Nach sieben Bänden

im Verlauf von 14 Jahren darf man wohl davon ausgehen, daß sich 'O+M' eta­ bliert hat. Als Dieter Ahrens mit der Idee ankam, man solle 1989 einen metrologischen

Kongreß oder ein metrologisches Symposion ins Leben rufen, brauchte er zwar für diesen Gedanken nicht lange zu werben, denn seitens der Projektgruppe 'Ma­ ße - Musik - Mathematik' (MMM) war man sofort bereit. Auch einen passenden

Namen hatte D. Ahrens schon gefunden: Ordo et mensura. Auf der anderen Seite

waren sich die Beteiligten aber auch darüber klar, welche Schwierigkeiten sich

ergeben würden. Die Metrologie war ein mehr oder weniger diffuses Fach ohne rechte Heimat. Archäologen und Kunstgeschichtler betrieben Metrologie sozusa­

gen 'nach Bedarf. Naturwissenschaftler waren kaum beteiligt, obwohl Maße und Ausmessen genuin naturwissenschaftliche Arbeitsfelder sind.

Ziel war es, allen denen, die einen eigenen metrologischen 'Maulwurfsgang'

gruben, eine Diskussionsplattform zu eröffnen. Deshalb zeichnet auch heute noch jeder Autor für seine Sache selbst verantwortlich, und es gibt keine generelle

Meinung der Redaktion; wohl aber kurze Darstellungen, die eine kritische Dis­ kussion zusammenfassen.

Beim ersten Band der Tagungsberichte waren die Veranstalter so vorsichtig, daß sie das Buch nicht mit dem Titel 'Band I' herausbrachten. Wer wußte schon,

ob es je einen Band II geben werde ? Jetzt liegt immerhin Band Vll vor, aber es gibt immer noch keine gesicherte Finanzierung, und alles hängt von Spenden ab.

Auch gab es zunächst noch keinen festen thematischen Rahmen, und es mußte

ein Weg zwischen groß und klein gefunden werden. Das zumindest scheint ge­ schafft. Auch durfte sich der Kongreß (resp. das Symposion) wohlwollender Unterstützung von maßgeblichen Seiten erfreuen: Schon zweimal waren wir im Deutschen Museum, München, und einmal in der Physikalisch-Technischen Bun­

desanstalt, Braunschweig, zu Gast. Das ermutigt, auf dem eingeschlagenen Wege

fortzufahren. In anderthalb Jahrzehnten geschieht viel. Aus Gesundheitsgründen mußte sich

D. Ahrens schon vor Jahren von der Organisation zurückziehen. Aus Altersgrün­

den hat auch der Verfasser dieser Zeilen die Organisation in jüngere Hände ge­ legt: Florian Huber ist im Jahre 2001 derjenige gewesen, der alle die mühselige

Kleinarbeit eines solchen Kongresses auf sich genommen hat, auch wenn er tat­ kräftige Unterstützung erfuhr: alles lief bei ihm zusammen. Sogar eine kleine metrologische Ausstellung während der Tagung hat er initiiert. Ihm sei an dieser

5

Stelle nochmals gedankt. Daß er als klassischer Archäologe und Kunstgeschicht­ ler den Schwerpunkt der Tagung etwas in diese Richtung verschoben hat, ist nur selbstverständlich, denn nach wie vor soll Ordo et mensura möglichst alle Interes­

sierten zusammenflihren. Wenn auch noch nicht feststeht, wo O+M im Jahre 2003

stattfinden wird: es soll weitergehen. Rolf C. A. Rottländer

Rottenburg/Köln, im Frühjahr 2002

6

Rolf C. A. Rottländer zum 12. August 2002 Diesen siebten Band der inzwischen gut etablierten Reihe "Ordo et Mensura"

möchten die Mitglieder der Projektgruppe "Maße - Musik - Mathematik" Rolf C.

A. ROTTLÄNDER widmen. Es gibt gute Gründe, diese Widmung nicht nur - wie sonst gern üblich - in einem kurzen Satz dem Buch voranzustellen. Denn diese

Widmung ist recht eigentlich der viel zu schmale Ersatz für eine Festschrift, die

aus mehreren technischen Gründen nicht die erhoffte Form annehmen konnte. Rolf C. A. Rottländer kann am 12. August 2002 auf siebzig Jahre seines Lebens zurückblicken. Es sind Jahre, die ihm - unbeschadet der kriegsbedingten

Schwierigkeiten - eine, wie wir heute sagen würden, humanistische Ausbildung zuteil werden ließen, die dann in die Studien der Naturwissenschaften, Fachrich­

tung Chemie, und der Vorgeschichte einmündete. Beide Studien schloß Rott-

LÄNDER mit der Promotion ab. Der Spannungsbogen, der sich mit diesen so un­ terschiedlichen Fächern manifestierte, war für ROTTLÄNDER steter Ansporn,

mögliche Verbindungen dieser Wissenschaften aufzuzeigen und sie so ihrer vie­

lerorts nachgerade gebenedeiten Gegensätzlichkeit zu entheben. In der Tat: wie oft hören wir noch heute, daß sich jemand zum Studium der archäologischen

Fächer entschlossen habe, um nicht mehr mit Mathematik umgehen zu müssen! Rolf ROTTLÄNDER hat das Miteinander dieser unterschiedlichen Disziplinen

der Wissenschaften gesehen. Er hat die Verbindungen der Fächer gesucht und die Ergebnisse praktiziert. Im Archäochemischen Labor der Universität Tübingen hat ROTTLÄNDER mit republikweit einmaligen Fettanalysen den Steinzeitmenschen in

die Kochtöpfe geschaut und Wachse von Bronzebüsten analysiert; er hat die Wege des Bemsteinhandels untersucht und über die Datierung von Silices ge­

schrieben; er hat die naturwissenschaftlichen Methoden der relativen und abso­

luten Chronologie lexikografisch aufgearbeitet. Er untersuchte in den "Ge­

brauchsspuren an Wegen" die Spurbreiten und informierte in den "Kiebinger Mitteilungen" direkt neben der Bekanntmachung einer Fleckviehversteigerung über die Verwendung des Megalithischen Yards im uralten Brauch des Eierlesens

zu Ostern. Unter anderem führten die im Grunde ganz einfachen Zusammenhänge zwi­

schen der Länge des Megalithischen Yards und der uralten Nippur-Eile - man

muß auf die Korrelation nur erst einmal aufmerksam werden! - zu jenen bahnbre­ chenden Erkenntnissen, die mittlerweile auch Eingang in die offiziellen Mittei­

lungen der normgebenden Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braun­ schweig gefunden haben: Die alten Maße hängen alle untereinander zusammen

und sind auseinander abgeleitet! Eigentlich ganz logisch, wenn man bedenkt, daß

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- um Handel treiben zu können - der eine Partner wissen muß, was es mit dem

Maß des Nachbarn auf sich hat. Und so verwundert es auch nicht, daß sich Rolf Rottländer Gedanken darüber gemacht hat, wie die einzelnen Maßlängen über

so sehr lange Zeiträume so äußerst präzise tradiert und überhaupt von einem Ort an den nächsten transportiert worden sind. Wir hören ihn noch bei laut vorgetra­ genen Überlegungen: Wer ein absolutes Gehör hat, kann auch an einem völlig

anderen Ort eine Rohrflöte so schneiden, daß er einen ganz bestimmten Ton trifft - und der Reisende in Sachen Musik hat damit eine ganz sauber definierte Länge - ein Maß. Da ist es nur folgerichtig, daß der nunmehr Siebzigjährige sich auch

zu frühen Flöten und den Hörgewohnheiten der Menschen des Aurignacien geäu­ ßert hat - Musik ist unabdingbar "bemaßt". Alle diese und viele weitere Ergebnisse hat Rolf Rottländer nicht nur in

umfänglichen Publikationen zu Papier gebracht, sondern auch seinen Studenten vermittelt. Sein Labor war eines der ersten Institute in Deutschland, das naturwis­

senschaftliche Methoden in der Archäologie vermittelte. Diese Verbindung schlägt sich auch in den Arbeitssitzungen der interdisziplinär besetzten "Plinius-

Gruppe" nieder, die sich zum Ziel gesetzt hat, antike Texte mit naturkundlichen Hintergründen nach heutigen Kenntnissen zu untersuchen.

Mit dem Thema "Archäologie und naturwissenschaftliche Methoden" hat sich Rottländer nicht nur Freundschaften eingehandelt. Die ersten Tagungen von

"Ordo et Mensura" stellten in einigen gehaltvollen und manchmal auch gehaltvoll lauten Auseinandersetzungen mit Vertretern der - wie man allgemein sagt - gei­ steswissenschaftlichen Fächer hohe Anforderungen an den Moderator. Der Rauch

hat sich erst Jahre später verzogen, als von dritter Seite klargestellt wurde, daß es nicht um ein Gegeneinander von mathematischer und historischer Metrologie

geht, sondern um ein Mit- und Nacheinander. In der Zwischenzeit flogen so man­

che Fetzen - es soll doch niemand sagen, Rolf Rottländer sei nicht auch ein temperamentvoller Streiter! Und man mag auch mit ihm streiten, wenn man - was

eigentlich selbstverständlich sein sollte - seine Argumente würdigt und sich mit

ihnen auseinandersetzt, sie aber nicht (was leider viel zu oft geschehen ist) ohne

nähere Kenntnis pauschal zurückweist. Neuerungen rufen allzu oft Ablehnung

hervor. Doch hinter die wirklich wichtigen Erkenntnisse Rottländers - nämlich daß die unterschiedlichen vormetrischen Maße nicht vom Himmel gefallen oder

vom Zufall gestellt, sondern von Menschen auseinander entwickelt wurden, so daß sie ein gesamthaftes und in sich zusammenhängendes System bilden - kann

die Wissenschaft heute nicht mehr zurück.

Rolf C. A. Rottländer kann nun seinen siebzigsten Geburtstag feiern. Das führt zu einer rundum wichtigen Zahl. Denn Siebzig ist zum Beispiel das Produkt

8 der strukturgebenden Sieben (sieben Tage verzeichnet der biblische Schöpfungs­ bericht) mit der vollkommenen Zehn: Die Zehn sei aufgrund der Finger an beiden Händen von Natur aus vollkommen (Vitruv 3, 1,5)- und sieben Säulen richtet

die himmlische Weisheit beim Bau ihres Hauses auf (Sprüche 9, 1), vier in den Ecken und drei in der Mitte, wie man angenommen hat.

Die Siebzig nun hat als Gesamtzahl, als Einheit gedacht, wiederum unter­ schiedliche Hintergründe. In einer der bedeutendsten Quellen der Antike, der Bibel, finden wir die Siebzig als Zahl der inneren Reinigung, der Abklärung. Vierzig Tage lang salbten die Ärzte auf Josefs Befehl hin seinen toten Vater, und siebzig Tage beweinten die Ägypter den Verstorbenen (Gen 50, 2 - 3). Oder die

siebzig messianischen Wochen bei Daniel 9, 24: Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt, so wird den Übertretern gewehrt und die Sünde abgetan und die Missetat versöhnt und die ewige Gerechtigkeit gebracht. In der Moses-Geschichte vertreten siebzig Älteste das Volk (Ex 24, 1 und 24, 9), und diese siebzig ältesten Männer empfangen den Geist Jahwes (Nurn 11,25): Da kam der Herr hernieder in der Wolke und redete mit ihm (i.e. Moses)

und nahm von dem Geist, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig ältesten Männer. Auch hier klingen deutlich die Beziehungen zur (himmlischen) Weisheit

an, ähnlich den sieben Säulen der Weisheit. Andererseits verkörpert auch die Siebzig jene Einheit, aus der alles entsteht: Deine Väter zogen hinab nach Ägypten mit siebzig Seelen; aber nun hat dich der

Herr, dein Gott, gemehrt wie die Sterne am Himmel (Deut 10, 22). Man möchte

an ähnliches denken, wenn im zweiten Buch der Könige (10, 1) von Ahabs sieb­ zig Söhnen zu Samaria die Rede ist - der Leser muß jedoch wenige Verse später (10, 7) erfahren, daß diese siebzig Söhne geköpft werden. Und damit taucht eine ganz andere Facette auf: die der Not, etwa der babylonischen Gefangenschaft, die

auch mit der Zahl siebzig umgriffen wird. Aber darüber ist an anderer Stelle zu reden.

Noch eine Variante überliefert die Antike zur Zahl Siebzig: Man verstand sie als eine allgemein bedeutsame Größe, als Verkörperung des Wissens und Ver­

mittler zur Weisheit, als weltumspannenden Faktor. In diesem Zusammenhang wußte man freilich nicht genau, ob man sich zur Siebzig oder zur Zweiundsiebzig hin entscheiden sollte. Die unter den Ptolemäern entstandene griechische Über­

setzung des Alten Testaments, die Septuaginta (abgekürzt: LXX), habe ihren Namen von ihrer Entstehungsgeschichte her erhalten, wie in der Legende des Aristeasbriefes überliefert wird. Nur: Es heißt, daß die Übertragung von zwei­

undsiebzig Übersetzern in zweiundsiebzig Tagen fertiggestellt worden sei. Ver­

gleichbar differieren auch die Handschriften zu Lukas 10, 1 zu der dort ange­

9

sprochenen Zahl: Darnach sonderte der Herr andere, siebzig aus und sandte sie je zwei und zwei vor ihm her in alle Städte und Orte, da er wollte hin kommen. So die Übersetzung von Martin Luther. Im Novum Testamentum Graece heißt

es zur Stelle:

hetérous

hebdoumékonta

[dúo]

(erepouc Eß8oupr|KOVTa

[8uo] ). - Auf dieser Grundlage, lieber Rolf Rottländer, sollten wir uns in zwei

Jahren vielleicht noch einmal über jenes Arbeitsgebiet der Zahlensymbolik, die ja

doch einen nicht eben geringen Teil der Metrologie ausmacht, unterhalten!

Das vielleicht bekannteste Zitat zur Zahl Siebzig findet sich in den Liederbü­

chern des Alten Testaments (Psalm 90, 10): Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre. Wir können nur hoffen, daß

diese Zeilen vom Geehrten richtig verstanden werden, nämlich als symbolträchti­ ger Hinweis für ein erfülltes Leben. Wir wollen damit nicht etwa ausdrücken, daß

der Archäologe Rottländer jetzt selber zum archäologischen Objekt wird!

Denn Rolf C. A. Rottländer, der immerhin fünf dieser interdisziplinären metrologischen Kongresse auf die Beine gestellt und damit eine Tradition be­

gründet hat, die über die Grenzen Deutschlands hinaus wirksam ist, hat noch

viele Projekte in Angriff genommen. Untersuchungen zur Baugeschichte und zur

regionalen Verbreitung von Maßen finden sich auch in diesem Band wieder.

Weiteres dürfen wir erwarten. Vielleicht wird es auch eines Tages gelingen, die man kann es ohne Übertreibung sagen - welteinmalige Sammlung vormetrischer Maße, bislang auf weit über achthundert Karteikarten individualisiert, als Katalog der Öffentlichkeit zu präsentieren. Doch nicht allein dafür wünschen wir im Na­

men der Projektgruppe "Maße - Musik - Mathematik" Rolf C. A. Rottländer noch viele Jahre möglichst guter Gesundheit und bester Schaffenskraft! Dafür wissen wir ihn hervorragend aufgehoben in den Händen seiner lieben Frau Elke,

die bei allen denkbaren Hilfestellungen präsent ist und doch nie ein Wort darüber verliert - ihr gilt an dieser Stelle ein ganz besonderer Dank!

Werner Heinz

Sindelfingen, im Januar 2002

11

Über »Die chemischen Grundlehren nach Menge, Maß und Zeit« Jacobus Henricus van't Hoffs von Hans-Georg Bartel

Es gibt im Blick auf die Jahre 2001 und 2002 drei Anlässe, um des großen

holländischen Naturforschers Jacobus Henricus

van't

Hoff (1852/Rotterdam

bis 1911 /Steglitz bei Berlin, Abb. 1) zu gedenken: Das sind sein 90. Todestag am

1. März 2001, die erste ihm zuerkannte Verleihung eines Nobelpreises für Che­ mie am 10. Dezember 1901 und sein 150. Geburtstag am 30. August 2002.

1. Eine biographische Skizze über

van't

Hoff

Mit wenigen Worten sei anfangs das Leben und Wirken van't Hoffs Umris­ sen.1 Seine akademische Ausbildung begann 1869 mit einem Technologiestudium in Delft und setzte sich mit

dem der Chemie in Leiden sowie mit Arbeitsaufent­

halten bei Friedrich August Kekule (1829 bis 1896) in Bonn und bei CHARLES ADOLPHE Wurtz

(1817-1884) in Paris bis zu seiner Promotion 1874 in Utrecht fort. Seit 1876 lehrte er Chemie und Physik an der Veterinärhochschule dieser letztgenannten Stadt, Abb. 1 J.H. van’t Hoff

dann

1877

Fach Che‘

mie als Lektor in Amster­ dam. Hier wurde er 1878 zum Universitätsprofessor für Chemie, Mineralogie und Geologie berufen. 1896 erhielt er einen Ruf an die Königlich Preußische

1 E. Cohen: Jacobus Henricus van't Hoff. Leipzig 1912; E. COHEN: van't Hoff. In: G. BuGGE (Hrsg.): Das Buch der großen Chemiker. 2. Band. Weinheim 1955, S. 405-406; H.-G. Bartel: Jacobus Henricus van't Hoff. Humboldt-Universität 30 (1986)-03-06=24, 6; H.-G. Bartel: Aus der Geschichte der physikalischen Chemie an Berliner Hochschu­ len während der Zeit der Berliner Physik. Zeitschrift für Chemie 27 (1987), 237-246; A. Fischer: s.v. Van't Hoff. In: W. R. PÖTSCH et al. (Hrsg.): Lexikon bedeutender Chemiker. Leipzig 1988, S. 434; H.-J. Bittrich: s.v. Hoff, Jacobus Henricus van't. In: S. Engels, R. Stolz et al. (Hrsg.): ABC Geschichte der Chemie. Leipzig 1989, S. 209. S. auch den Wahlvorschlag zum ordentlichen Akademiemitglied vom 7.11.1895: Archiv der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Best. PAW (1894-1896), II-1II, 31, Bl. 112-114 bzw. C. Kirsten, H.-G. KORBER (Hrsg.): Physiker über Physiker - Wahlvor­ schläge zur Aufnahme von Physikern in die Berliner Akademie 1870-1929. Berlin 1975, S. 135-136.

12

Akademie der Wissenschaften zu Berlin und lehrte gleichzeitig an der Berliner Universität bis zu seinem Tode. Neben bedeutenden Arbeiten zu den Grundlagen der Stereochemie (Tetraedermodell des Kohlenstoffs) liegen seine Verdienste in erster Linie bei der Herausbildung der Physikalischen Chemie, zu deren vier bedeutenden Begründern er zu zählen ist.23Hier sind seine fundamentalen Beiträ­

ge zur dynamique chimique und zur Theorie der Lösungen sowie des osmoti­ schen Druckes u.a. zu nennen. In Berlin arbeitete VAN'T Hoff hauptsächlich zu den "Untersuchungen über die Bildungsverhältnisse der oceanischen Salzabla­ gerungen insbesondere des Stassfurter Salzlagers"?

2. Wurzeln und Grundgedanken der "chemischen Grundlehren" "Als Lehrer ist er ebenfalls mit großem Erfolge thätig gewesen; sein Vortrag wird als klar und anregend geschildert, und sein Laboratorium zu Amsterdam

war viele Jahre hindurch von zahlreichen Schülern, besonders auch von A usländern besucht." So urteilten Emil Fischer (1852-1919), EMIL WARBURG (1846 bis 1931), Wilhelm von Bezold (1837-1907) und Max Planck (1858-1947) in ihrem Wahlvorschlag für VAN'T HOFF.4SObwohl der holländische Professor in

Berlin die Lehrtätigkeit zugunsten der Forschung einschränken wollte, hat er dennoch seinen guten Ruf in dieser Hinsicht eher verbessert als vermindert. Da­ von zeugen seine in der deutschen Reichshauptstadt gehaltenen Vorlesungen und die gerade in seiner Berliner Zeit herausgegebenen Lehrbücher/ die einen großen

Teil ihrer Wurzeln in Amsterdam haben.

2 Neben Wilhelm Ostwald (1853-1932), Svante Arrhenius (1859-1927) und Walther Nernst (1864-1941). 3 Dargestellt in insgesamt 52 Beiträgen in: Sitzungsberichte der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1897-1908. 4 Archiv BBAW, Bl. 113(r) bzw. Kirsten, Körber: Wahlvorschläge, S. 136 (Anm. 1). SJ.H. van't Hoff: Vorlesungen über Theoretische und Physikalische Chemie. Erstes Heft: Die chemische Dynamik; Zweites Heft: Die chemische Statik; Drittes Heft: Bezie­ hungen zwischen Eigenschaften und Zusammensetzung. Braunschweig 1898, 1899, 1900; J.H. van't Hoff: Acht Vorträge über Physikalische Chemie, gehalten auf Einladung der Universität Chicago. Braunschweig 1902. Da sie von Interesse für die weiteren Ausfüh­ rungen sind, seien folgende Bemerkungen über die "Vorlesungen über Theoretische und Physikalische Chemie" eingefügt: Van't Hoffs erste Einteilung in Dynamik und Statik in der Chemie hat nur sehr bedingt mit der entsprechenden physikalischen zu tun, in der die erstere den allgemeinen, Bewegungen erfassenden Fall darstellt, dem der zweite gleicher­ maßen bedeutungsvolle als spezieller gegenübersteht, indem hier die Zeit und damit jede Veränderung aufgehoben ist. Die chemische Dynamik bei van't Hoff umfasst gewisser­ maßen beide Aspekte, die chemischen Umwandlungen wie deren Negation, das chemische Gleichgewicht, während die chemische Statik den Bau und die molekulare Struktur der

13

So verhält es sich auch mit den hier interessierenden "Chemischen Grundleh­ ren",6 die als opus posthum und fragmentarisch von Ernst Julius Cohen (18691944),

van't

Hoffs Landsmann und Schüler, herausgeben wurden. Das betont

van't Hoff durch die rückblickende Bemerkung über eine seiner Vorlesungen für

Naturwissenschaftler und Mediziner in Amsterdam: "Es zeigte sich, daß die

Grundzüge der allgemeinen Chemie leicht faßlich sich anordnen, falls ein erstes Kapitel der Qualität, ein zweites der Quantität, ein drittes dem Volumen, ein viertes der Wärmeentwicklung und Affinität gewidmet wird. ,n

In Berlin, wo er sich "entsprechend dem Zuhörerkreis freier bewegen konn­

te",1 erkannte er, dass sich die Merkmale 'Quantität' ("Menge" im Sinne von Mas­

se) und 'Dimension' (als Länge und deren Potenzen wie das Volumen bzw. den Raum verstandenes "Maß'") - modern gesprochen - dem Betrachtungsgegenstand 'Arbeitsformen' zuordnen lassen, wobei dieser identisch ist mit dem ursprüngli­

chen Merkmal 'Wärme/Affinität'. Die Einteilung der "Grundzüge" ist wohl erst­ malig in den Notizen van't Hoffs zu finden, wobei sie durch die von Cohen in deutscher Übersetzung mitgeteilten Worten eingeführt wird: ”, 1. November 1905.

Die Vorlesung hat, wie immer, einigen Nutzen für mich gehabt. Nach derselben nachgedacht über eine Einteilung, die auf dem Gramm-Zentimeter-SekundenSystem fußt. ... '* Das Ergebnis dieser Gedankenarbeit ist das folgende in Tabelle

1 wiedergegebene Schema für die "chemischen Grundlehren", wobei "die ge­ wählte Einteilung sich den Grundbegriffen Qualität, Menge, Maß und Zeit auf­

fällig anschließt, indem sie durch Menge und Maß (Gramm-Centimeter) die

Verbindungen behandelt. Dem dynamischen und statischen Teil folgt die Darlegung der Relationen zwischen physikalischen und chemischen Eigenschaften und der Zusammen­ setzung, die sowohl makroskopisch-thermodynamisch als auch mikroskopisch-molekular verstanden wird. 6J.H. van't Hoff: Die chemischen Grundlehren nach Menge, Maß und Zeit. Braun­ schweig 1912. 7 van't Hoff: Grundlehren (Anm. 6), 1. Sein Einteilungsprinzip, mit denen er die Grund­ lagen der Chemie erklären konnte, ging damals also von vier von ihm "Grundbegriffe" genannten, (im heutigen Sinne) 'begriffsanalytischen Merkmalen aus: der Qualität, der Quantität, dem Volumen und der Wärmeentwicklung/Affinität. Es könnte für spätere Untersuchungen interessant sein zu analysieren, in welchem Umfang hierbei Gedanken der Kategorienlehre des Aristoteles (384-322 v.Chr.) von Bedeutung sind (Ari­ stoteles: Karriyopiai ■ Die Kategorien - Griechisch/Deutsch. (Reclams UniversalBibliothek Nr. 9706). Stuttgart 1998). Die Kategorien 'Wie-beschaffen - ttoiöv' und 'Wie­ viel - ttooöv' sind jedenfalls seiner 'Qualität' bzw. 'Quantität' sehr nahe. 8 van't Hoff: Grundlehren (Anm. 6), V.

14

Arbeitsformen, welche oben als Wärme und Affinität auftreten, in natürlicher

Folge bringen. Tabelle 1 Das Schema des Inhalts von VAN'T Hoffs "chemischen Grundlehren"

I.

Die Qualität.

II.

Die Quantität.

III.

Die Dimension.

IV.

Quantität und Dimension: die A rb e i t.

V.

Die Zeit.

VI.

Quantität und Zeit: die Reaktionsgeschwindigkeit.

VII.

Dimension und Zeit: die Fortpflanzungsgeschwindigkeit.

VIII. Quantität, Dimension und Zeit: die Arbeitsmaschinen.

Die für Chemie unverzichtbare Kategorie 'Qualität * (s.u.) hat also keine Erset­ zung gefunden. Die Quantität ist gewissermaßen synonym mit Menge = Masse m (Gramm) gesetzt worden. Das Volumen l3 hat eine Reduktion auf das Maß bzw.

die Dimension = Länge l (Zentimeter), aus der es sich durch Potenzieren ableiten

lässt. Arbeit ist nun das Produkt aus Kraft P und Weg (Länge) / bzw. Druck p und Volumen V = l3 und anderen Produkten, die sich dimensionsmäßig auf den Grundgrößenausdruck m l2 t ’’ (r - Zeit) herleiten lassen. Nur für den Fall der

Gewichtskraft G = m-g ist wegen der konstant gedachten Erdbeschleunigung g die Zeit explizit nicht existent, so dass nach der Argumentation

van't

Hoffs die

Arbeit WG, die notwendig ist zum Heben eines Gewichts G ~ m in eine Höhe h, die einer Länge entspricht, tatsächlich dem Produkt von 'Quantität * (= Menge = Masse) und 'Dimension * (= Länge) proportional ist WG = G-h ~ m-h. Analog sind

die Verhältnisse bei der in der Chemischen Thermodynamik so wichtigen Volu-

9 van't Hoff: Grundlehren (Anm. 6), 2. Die Hervorhebungen sind nicht original. Fett gesetzte Bezeichnungen kennzeichnen im formalbegriffsanalytischen Sinne Merkmale, während Sperrung auf Gegenstände bzw. Objekte hinweist. Die eigentliche Formale Be­ griffsanalyse, die sich auf dem Schema der Tabelle 1 aufbauen lässt, kann in diesem Arti­ kel aus Gründen des nicht genügenden Umfanges ausgeführt werden. Ihre interessanten Grundlagen und Ergebnisse sind der Gegenstand innerhalb einer anderen Publikation.

15

menarbeit Wc = p- V, wenn der Druck p, der den Quotienten der durch die Fläche F = l2 geteilten Kraft P darstellt (p = P-l'2), als das Verhältnis von Gewicht G zu Fläche aufgefasst wird: WG = GF2l2 = G l ~ ml. Andere Arbeitsformen lassen sich dann anschließen und wegen der dimensionsmäßigen Gleichheit von Arbeit

und Energie auch Energieformen, zu denen die Wärme und Affinität die unmit­

telbare Beziehung haben.

Die zum früheren Konzept zusätzliche Einführung der Zeit t ermöglicht den Anschluss an die Reaktionsgeschwindigkeit ~ m-t'1, also Menge (Quantität) und Zeit, und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit ~ / r1, also Maß (Dimension) und

Zeit. Leider erfuhren der entsprechende Abschnitt über die letztere und ebenfalls

derjenige über die Arbeitsmaschinen wegen des Todes von van't Hoff keine

schriftliche Ausführung. Die "Grundlehren" enden mit dem Kapitel VI (s. Ta­ belle 1). Im folgenden werden einige Ausführungen den fundamentalen "Grundbe­ griffen" Qualität, Quantität, Dimension und Zeit gegeben werden.

3. Qualität Wenn in der Anmerkung 7 die 'Qualität' van't Hoffs mit des Aristotels' tcoiov

in Zusammenhang gebracht wurde, so ist dieser auch zu dessen Kategorie

'Wesen - oboia' möglich. So beginnt van't Hoff das mit "Qualität" überschriebe

I. Kapitel mit der Definition: "Die Chemie läßt sich definieren als die

Lehre von den Stoffverwandlungen, d.h. den Verwandlungen, die so tief

gehen, daß ein neuer Stoff entsteht. Die einfache sinnliche Beobachtung vermag im allgemeinen schon zu

beurteilen, wann ein anderer Stoff Naturwissenschaften

vorliegt. "IO

beschäftigen sich mit Bewegungen

bzw. Veränderungen. In der Chemie sind sie offenbar dergestalt, wie es van't

I

quantitative Veränderung

O------ o qualitative Veränderung

I

0=0 Abb. 2 Zur quantitativen und qualitati­ ven Veränderung nach Hegel

Hoff in diesem Zitat zum

Ausdruck bringt: Sie sind Umwandlungen des Objektes 'Stoff selbst. Im Sinne

von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) sind das qualitative Bewe­

gungen im Gegensatz zu den quantitativen, bei denen eine Veränderung am

10 van't Hoff: Grundlehren (Anm. 6), 3.

16 Objekt stattfinden.112Abbildung 2 verdeutlicht diesen Unterschied schematisch.

Das Merkmal bzw. die Kategorie 'Qualität' ist bei VAN'T Hoffs Aufbau der all­

gemeinen Grundlagen der Chemie somit nicht nur grundlegend, sondern darüber

hinaus wesentlich und allumfassend. In seiner Antrittsrede vor der Berliner Akademie hatte van't Hoff verkündet:

"Ganz richtig war eben, speciell durch Ostwald, erkannt, dass, da die Verknüp­ fung von Chemie und Mathematik eben durch die Physik hindurch in erster Linie Frucht trägt und diese Physik schon mit der Mathematik verknüpft ist, zum völli­ gen Anschluss von Chemie an Mathematik eben das zweite verbindende Glied,

die physikalische Chemie, nothwendig wird. ...in welcher Richtung ich arbeiten

werde, ist klar: die Verknüpfung von Chemie und Mathematik bleibt mein Haupt­ zweck, und jeder Anhaltspunkt in neuer Umgebung wird willkommen sein."'2 Interessanterweise ist van't Hoffs Auffassung von Mathematik und deren Ap­

plikation in der Chemie offensichtlich nicht vollkommen deckungsgleich mit der

zu seiner Zeit gerade entstehenden Forderung, diese Wissenschaft im Anschluss an Isaac Newton (1643-1727) mechanisch-mathematisch verstehen zu wollen, im Sinne der Infinitesimaltheorie also, wie es etwa bei MICHAIL Vasil'evi Lomonossov (1711-1765) und Hans Jahn (1853-1906) betont und gefordert

wird. Van't Hoff zielt stärker auf eine Mathematische Chemie, die ordnungs­ theoretisch und - dem inneren Wesen der Chemie entsprechend - qualitativ ori­ entiert ist, gewissermaßen der allgemeinen Forderung von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) folgend, welche sich durch die von Leonhard Euler

(1707-1783) begründeten Graphentheorie im 19. Jahrhundert in erster Linie in der Strukturchemie verwenden ließ.” Mit größter Wahrscheinlichkeit haben die

11 Vgl. R. Thiel: Quantität oder Begriff?- Der heuristische Gebrauch mathematischer Begriffe in Analyse und Prognose gesellschaftlicher Prozesse. Berlin 1967, S. 199-212 und die dort gegebenen Hinweise auf die Werke Hegels. Mit Bezugnahme auf Hegel: "Während sich die Eigenschaften eines Dinges unter veränderten äußeren Beziehungen des Dinges verändern können, ohne daß die Erscheinung dadurch eine grundsätzliche Veränderung erfährt, ist eine Änderung der Qualität gleichbedeutend mit der Verwand­ lung des Dinges." (G. Klaus, M. Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Leipzig 1964, S. 448). I2J.H. van't Hoff: Antrittsrede. Sitzungsberichte der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 189611, 746-747. ” L. Euler: Solutio problematis ad geometriam situs pertinentis. Commentarii academiae scientiarum Petropolitanae 8 (1736), 128-140; L. Euler: Das Königsberger Brückenpro­ blem. In: A. Speiser (Hrsg.): Klassische Stücke der Mathematik, Zürich - Leipzig 1925, S. 127-138; H. Sachs: Ein Wort zur Geschichte der Graphentheorie. In: D. König: Theorie der endlichen und unendlichen Graphen. (Teubner-Archiv zur Mathematik, Band 6),

17

Schaffung der letzteren, an der

van't

Hoff maßgeblich beteiligt war, sowie

deren erfolgreiche Verknüpfung mit der Graphentheorie diese Auffassung VAN'T Hoffs beeinflusst. Er fordert, ohne es direkt auszusprechen, für die Chemie eine (be)messende und zählende Mathematik, die nicht auf quanta basiert. Unter dem Begriff der Qualität werden in den ’’Grundlehren" vielmehr solche ''■wissenschaftlichen" qualitativen Merkmale behandelt, die eine Stoffunterschei­

dung erlauben, wobei eine ihrem Charakter nach qualitative ordinale Folge durch "Trennungen" von gröberen zu immer feineren Unterscheidungsniveaus führt,

auf diese Weise eine qualitative Messbarkeit implizierend.

Die beiden oberen Stufen seien durch die jeweiligen Definitionen dargestellt: "A. Heterogenität. Definition. Als heterogen wird bekanntlich dasjenige aufge-

faßt, was an verschiedenen Stellen verschiedene Eigenschaften hat.", dem das

durch "Trennung ... auf mechanischem Wege" folgt: "B. Homogenität.", gekenn­

zeichnet durch "Definition. ... den sogenannten homogenen in allen mechanisch abtrennbaren Teilen gleichen Stoff."'4 Die weiteren Stufen sind dem folgenden Schema zu entnehmen, das auch die Trennung nennt, die auf die jeweils feinere,

niedrigere Stufe herabführt:

A. Heterogenität B, Homogenität (Aggregatzustand )

—(mechanische Trennung)—* —(physikalische Trennung)*

C. Einheitlichkeit (reine chemische Substanz) —(chemische D. Elementare Natur (chemisches Element)

—(elektrische

* Trennung)* Trennung)-

E. Elektronen (Ion) Hinzukommt eine weitere, damals noch recht aktuelle Form der Trennung,

die "radioaktive Spaltung", welche mit dem Begriff der Radioaktivität verbunden wird und "welche große Ähnlichkeit mit derjenigen im Kathodenraum zeigt"'5, d. h. der elektrischen.

4. Die Quantität oder die Menge

Die Behandlung der Quantität bzw. der Menge eröffnet

van't

Hoff mit der

"Definition. Als Maß der Quantität sei das Gewicht, so wie es mit der gewöhnli­ chen Wage bestimmt wird, gewählt. Damit entgeht man der Schwierigkeit, die

mit der Einführung des Begriffes des Masse verknüpft ist, um so mehr im Lichte der neuen Elektronenauffassung die Masse nicht diejenige Unveränderlichkeit in*14 15

Leipzig 1986, S. 315-317; H.-G. Bartel: Graphen in der Chemie. Wissenschaft und Fort­ schritt 38 (1988) 5, 131-134; H.-G. Bartel: Mathematische Methoden in der Chemie. Heidelberg - Berlin - Oxford 1996, S. 11-22. 14 van't Hoff: Grundlehren (Anm. 6), 3, 4. 15 VAN'T Hoff: Grundlehren (Anm. 6), 8.

18

sich trägt, die ihr früher den Vorzug verschaffte, sondern mit der Geschwindig­ keit sich ändert, bis ins Unendliche sogar, sobald die Lichtgeschwindigkeit er­

reicht wird. Bekanntlich ist die Gewichts- und damit also auch die Quantitäts­

einheit festgelegt im Kilogramm des Pariser Archivs, wovon das Gramm des absoluten Maßsystems den tausendsten Teil bildet. Da das Kilogramm als Kraft

verschieden ist je nach dem Ort, muss zwecks genauer Definierung in diesem Sinne auch letztere festgestellt werden, z. B. bei 45° Breite und Meeresniveau. "16

Es ist sehr bemerkenswert, dass er sich statt auf die Masse als Mengenmaß

auf eine Kraft, das Gewicht, bezieht. Die von Albert Einstein (1879-1955) seit 1905 zu seiner Speziellen Relativitätstheorie veröffentlichten Ergebnisse 1718 waren unter anderem zu dem Ergebnis gekommen, dass die Masse m von der Ge­

schwindigkeit v, mit der sie sich dachten Beobachter bewegt, gemäß

Lichtgeschwindigkeit). großen

Allerdings

Geschwindigkeiten

der

m

/Wz»

relativ zu einem ruhend ge2

abhängt (mQ Ruhemasse, c

1-— ’ c

ist nur bei ungewöhnlichen Nenner in dieser Formel

i

feststellbar von eins verschieden. Für die Zeit am Anfang des 20. Jahrhunderts

galt Einsteins Aussage: "So rasche Bewegungen zeigt uns die Erfahrung nur an Elektronen und Ionen."' * Darauf bezieht sich VAN'T HOFFS Hinweis auf die "neuere Elektronenauffassung." Da Elektronen und Ionen für die Chemie wichtig sind, wurde die derart veränderliche Masse als Maß durch das Gewicht ersetzt.

Problematisch ist vom heutigen Standpunkt, dass die genannte Abhängigkeit der Masse für chemische Belange irrelevant ist, während das Gewicht G wegen der

Ortsabhängigkeit der Erdbeschleunigung g an verschiedenen Stellen der Erde unterschiedlich ist. Wenn man g konstant setzt, ist G der (schweren) Masse pro­

portional (s. auch Abschnitt 2). Anderenfalls muss auf eine bestimmte Position der Erde bezogen werden. Analoges sollte gerade bei Verwendung der Masse als Quantitätsmaß vermieden werden. So ist zu verstehen, dass das Kilogramm, eine Masseneineinheit, als Kraft bezeichnet wird. Möglicherweise sind diese aus mo­ derner Sicht rechten verworrenen Bemerkungen das Resultat eines gewissen

Unverständnisses der Aussagen der Speziellen Relativitätstheorie.

16 VAN'T Hoff: Grundlehren (Anm. 6), 10.

17 Beispielsweise: A. Einstein: Zur Elektrodynamik bewegter Körper. Ann. Phys. 17 (1905), 891 bis 921; Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?. Ann. Phys. 18 (1905), 639-641; Über das Relativitätsprinzip und die aus demselben gezo­ genen Folgerungen. Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik 4 (1907), 411 -462. 18 A. Einstein: Über spezielle und allgemeine Relativitätstheorie. (Wissenschaftliche Taschenbücher, Band 59). Berlin - Oxford - Braunschweig 1969, S. 38.

19

Hingewiesen sei auf die hohe Bedeutung der Masse für die Chemie, die aus

dem Satz von der praktischen Massenkonstanz bei chemischen Reaktionen (zu­ letzt von Hans Landolt (1831-1910) bestätigt) sofort offenbar wird. Ohne des­

sen Gültigkeit wäre die Chemie keine exakte, messende Wissenschaft. 5. Dimension oder Maß, Raum, Volumen und Form

Weniger problematisch ist die Auffassung des Maßes bzw. der Dimension als

Länge. Interessant ist der dargestellte Zusammenhang mit dem Gewicht: " Der

jetzt erst einzuführende Begriff der Dimension stand bekanntlich bei den tat­ sächlich gewählten Einheiten voran in Form des Meterstabs im Pariser Archiv, erst daraus wurde das dortige Kilogramm abgeleitet als Gewicht eines Cubikcentimeters Wasser bei 4°. Über die von Gustav Tammann (1861-1938) vorgenommene Stoffklassifi­

kation schließt van'T HOFF die Dimension an die Begriffe vom Raum, Volumen und von der Form an: für die amorphen Stoffe "... kommt auf dem Gebiet der

Dimension nur der Raum- oder Volumenbegriff in Betracht” und für die kristalli­ nen "...kommt noch derjenige der Form hinzu".1920

6. Zeit und Veränderung Das vierte und letzte Merkmal, die Zeit, führt VAN'T Hoff einleitend als Aus­ druck der "Ungleichgewichtszustände"™ also vorerst der potentiellen Verände­

rung, ein. Phänomene wie die Polymorphie und Polymetrie sowie die Isometrie im engeren und weiteren Sinne können unter diesem Aspekt besprochen werden.

Dann erst beginnt die Behandlung der eigentlichen chemischen Veränderung, der Reaktion, wobei die Zeit nunmehr in Kombination mit der Dimension ihren wahren Charakter offenbart. Hierbei ist man an die Aussage von Friedrich

SCHILLER (1759-1805) "... die Bedingung alles abhängigen Seins oder Werdens, die Zeit." erinnert.2122 Mit der Erörterung des Gegensatzpaares "Geschwindigkeit und Gleichgewicht'02 bricht das letzte Werk des ersten Chemienobelpreisträgers

vorzeitig ab.

19 van'T Hoff: Grundlehren (Anm. 6), 23. 20 van'T Hoff: Grundlehren (Anm. 6), 67. 21 F. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: F. Schiller: Schriften zur Philosophie und Kunst. (Goldmanns Gelbe Taschenbücher, Band 524). München 1959, S. 94. 22 van'T Hoff: Grundlehren (Anm. 6), 85-87.

20

Historische Meßgeräte der Physik von Friedrich Balck Wissenschaftliche Instrumente aus vergangenen Jahrhunderten zeugen von

der Kunstfertigkeit und dem Einfallsreichtum ihrer Erbauer. Diese in ihrer Funktion übersichtlich aufgebauten Geräte haben heute große Bedeutung für die

Ausbildung zukünftiger Generationen, da sie ideale Anschauungsobjekte dar­ stellen und keine "Blackboxen" sind.

Scientific instruments from the time of the past centuries can show the enormous amount of ingenuity and knowledge of the specialists who build them. The

clearness with regard to their function will give those devices a great meaning

for the éducation offuture générations, as they present intuitive instructions in opposit to "black boxes". Geschichte der Physik

Begriffe wie Länge, Winkel, Zeit, Gewicht und Wert (Preis) gehören schon

seit der Antike zum täglichen Leben sowie auch die daraus abgeleiteten Größen,

wie beispielsweise Fläche, Volumen, Geschwindigkeit oder Dichte. Zu diesen

historischen Größen bietet die heutige Physik eine Reihe weiterer, die sich aber auf Grundgrößen zurückführen lassen. Das seit 1960 definierte international einheitliches System (SI) mit den sieben Basiseinheiten Meter, Kilogramm, Se­

kunde, Ampère, Kelvin, Mol und Candela bildet eine universelle Klammer zwi­ schen den vielfältigen Größen der Physik. Während man früher beim Nebenein­ ander ganz großer und kleiner Dinge - d.h. sich um viele Zehnerpotenzen unter­

scheidende Werte - keine Verwandschaft erkennen konnte oder wollte, gibt es

heute keinen prinzipiellen Unterschied mehr zwischen dem Apotheker-Gewicht und der Schiffsladung oder zwischen dem Durchmesser eines Atoms, der Dicke

eines Haares und dem Erdumfang.

Die Physik hatte sich seit dem 18. Jahrhundert als Wissenschaft etabliert und viele Grundlagen für das Verständnis unserer Umwelt geschaffen. Wichtige Experimente, Meßgeräte, Hilfsmittel oder Geräte sollen eine kurze Biographie

der Entwicklung geben (Tabelle 1). Das durch Experimente im Laufe des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts

angesammelte Material war so umfangreich, daß sich eine Zusammenstellung in Form von Kompendien und die Herausgabe von Lehrbüchern und Zeitschriften anbot. Hierzu zählt beispielsweise das mehrbändige Werk von Jakob Leupold

(1671-1750) Theatrum machinarum generale aus der Zeit zwischen 1724 und

21

1739. Das Lehrbuch der Physik von A.W. Hauch, Anfangsgründe der Experimental-Physik, ist 1795 aus dem Dänischen übersetzt von L.H. Tobiesen erschie­

nen. Hauch war Mitglied der Königlichen Dänischen Gesellschaft der Wissen­

schaften. Als wissenschaftliche Zeitschrift haben u.a. die Annalen der Physik seit 1799 bis heute zum wissenschaftlichen Austausch und zur Verbreitung neuer

Erkenntnisse gesorgt. Tabelle 1

Zeit Optik

Elektrizität

Pendeluhr Präzisions Chronometer Mikroskop Spiegelteleskop Fernrohr Elektrisiermaschine Elektrischer Zündfunke Elektrostatische Kraft

Batterie

Magentismus

Elektrochemischer Telegraph Elektrostatischer Telegraph Magnetnadel und elektr. Strom Elektromagnetische Induktion Elektromagnetischer Telegraph

Wärme

Thermometer

Dampfpumpe Doppeltwirkende Dampfmaschine

um 1630 1772 1672 1684 1672 1744 1771 1785 1790 1801 1836 1811 1815 1820 1831 1829 1833 1718 1742 1700 1705 1786

Galilei Harrison Leuwenhoek Newton Huygens Guericke Ludolf Cavendish Coulomb Galvani Volta Daniell Soemmering Ronalds Oerstedt Faraday Fechner Gauß und Weber Fahrenheit Celsius Savery Newcomen J. Watt

Instrumentenbau

Aus den Berufen Uhrmacher, Goldschmied, Schmied, Kupferstecher hatte sich der Instrumentenbauer entwickelt, der Geräte mit höchster Präzision anferti­

gen konnte. Nur mit Hilfe von Sonderanfertigungen, also den Meßaufgaben spe­ ziell angepaßten Instrumenten, ließen sich neue Experimente durchführen. So benötigte man filr geometrische Vermessung präzise Längen- und Winkelskalen.

Große Perfektion in der Längen- und Winkelmessung zeigen die Arbeiten von Georg Friedrich Brander (1713-1783) und die von Georg von Reichenbach

22

(1772-1826). Brander konnte akkurate Linien in Glas mit 0.0027 mm Abstand

(370 Linien/mm) ritzen und Reichenbach erreichte mit seiner Kreisteilmaschine

eine Genauigkeit von 1/3600 Grad [Brachner 1983].

Als Material zur Herstellung von Meßgeräten waren die Werkstoffe Glas, Schmiedeeisen, Messing, Kupfer und Holz gebräuchlich.

Während die Gesetze der Mechanik noch "begreifbare" Experimente erlaub­ ten, brachte der Vorstoß in Gebiete der Physik wie Wärmelehre, Elektrizität und

Magnetismus viele "Merkwürdigkeiten" zutage, deren Phänomene es galt, zu­ nächst systematisch zu beschreiben, sie quantitativ zu erfassen und danach mit einer Theorie zu untermauern.

Bei Experimenten ließen sich die Einflüsse von Elektrizität und Magnetismus in der Regel nur in Form einer Kraft beobachten. Die Messung nichtmechani­ scher Größen beruhte somit auf der Ausführung von mechanischen Messungen.

Dies erforderte die Umwandlung des Effektes in eine Kraft und deren Anzeige

mit Hilfe einer Waage oder eine Feder als sichtbarer und meßbarer Ausschlag. Elektronik und Miniaturisierung Bis vor einigen Jahrzehnten war diese Rückführung auf mechanische Größen

das einzige Verfahren zur Messung: -

Temperaturen bestimmt man über die Längenausdehnung beispielsweise einer Flüssigkeitssäule.

-

elektrische Spannung und Strom liest man an einem Zeigerinstrument ab. Seit Aufkommen der Elektronik und der Miniaturisierung der Bauteile gibt es:

-

preiswerte elektronische Verstärker, mit deren Hilfe auch kleinste Meßsignale

-

große Zeigerinstrumente antreiben können. Sensoren verschiedenster Art, die möglicherweise auch eine mikroprozessor­

gesteuerte komplizierte Aufbereitung des Eingangssignals bis zur gewünsch­ ten Ausgabe der Meßgröße erfordern. -

Mikroprozessoren, die mit ihrer Rechentechnik auch komplexe Zusammen­

hänge zwischen Eingangsgrößen und Meßwertanzeige umrechnen.

-

Digitale Anzeigen mit alphanumerischer Ausgabe von Texten und Zahlen­

werten. Viele der heutigen Geräte sind als Blackbox konstruiert. Ihr Innenleben ist

von außen nicht mehr zu erkennen. Durch den Einsatz von Mikroprozessoren und der Möglichkeit zu aufwendigen mathematischen Umrechnungsverfahren

erscheinen diese Geräte sehr einfach, obwohl sie im Inneren sehr komplex sein können. Diese moderne Technik schafft uns einerseits viele Vorteile, andererseits

23

geht aber der unmittelbare Kontakt zum Meßverfahren verloren. Dem Anwender

bleibt lediglich, sich auf die Anzeige zu verlassen. Er hat mit Ausnahme der

Batterie oder Spannungsversorgung keine Möglichkeit, einzelne Teile des Meß­ gerätes zu inspizieren oder zu überprüfen. Manchmal läßt sich wie beispielsweise

beim Ultraschall-Entfernungsmesser das Ergebnis mit einer mechanischen Mes­ sung überprüfen und nachweisen, daß das Meßergebnis nicht nur von der Entfer­

nung sondern - leider- auch von der Geometrie des Ziels abhängt. Das Zurückdrängen der mechanischen Anzeigeinstrumente durch elektroni­ sche Sensoren hat aber auch Folgen im Bereich der Schüler, Auszubildenden und

Studenten. Schon lange legt die Marktfrau beim Abwiegen von Gemüse keine Gewichte

mehr auf die zweite Waagschale. Auch die Tachometerwelie am Fahrrad hat

ausgedient, denn ein kleiner Magnet an einer Speiche erzeugt in der Empfänger­ spule an der Fahrradgabel bei jeder Umdrehung einen elektrischen Impuls. Wo

früher ein Barometer zum Anklopfen einlud, hängt heute eine Digitalanzeige.

Statt einer einfachen Haustürklingel, bei der noch der Funken am Unterbrecher zu sehen war (und für Neugierige auch schmerzhaft zu fühlen war!), ertönt heute der Gong aus einem Lautsprecher. Bei der Haustürklingel kann man durch Beob­ achten die Funktion des Unterbrechers kennen lernen und damit auch die Analo­

gie zwischen dem Unterbrecher der Klingel und dem der Zündelektrik eines Autos. Do wozu? Auch in den Autos sind die mechanischen Unterbrecher längst

durch elektronische ersetzt. Wenn die ältere Generation sich das Wissen, wie ein Gerät funktioniert, noch

durch bloßes Hinsehen und durch Nachdenken aneignen konnte, ist es seit dem Siegeszug der Elektronik und der Miniaturisierung nunmehr unmöglich, ohne

Vorkenntnisse hinter die "Geheimnisse" eines Gerätes zu kommen. Diese Ent­ wicklung könnte bei der nächsten Generation schwerwiegende Folgen haben. Sofern die zukünftigen Entwickler nur noch auf elektronische Elemente setzen

und ohne das know how von bewährten aber längst nicht mehr benutzten mecha­ nischen Konstruktionen arbeiten, wird ihnen nur ein eingeschränkter Ideenschatz zur Verfügung stehen.

Unsere Aufgabe soll nicht darin bestehen, den Nachkommen die Vorzüge des Rechenschiebers gegenüber dem handschriftlichen Rechnen zu beweisen, son­ dern - um beim Beispiel zu bleiben - vielmehr zu zeigen, welches die Prinzipien

der ersten Computergeneration von Konrad Zuse waren. Denn hier läßt sich noch das Speichern einer "1" oder "0" verfolgen, während es beim modernen PC kaum möglich ist, das Speicherbauelement aus Silizium überhaupt zu Gesicht zu be­

kommen.

24

Auch in der Definition der Grundgrößen macht die Miniaturisierung und Elektronifizierung nicht halt. Die Definition für das Meter wurde überdacht.

Nicht mehr das Pariser Urmeter ist das Maß aller Dinge, sondern seit 1960 ver­ wendet man die universelle Größe einer speziellen Lichtwellenlänge. Sogar für die Neudefinition des Kilogramms gibt es bereits mehrere Vorschläge, bei­

spielsweise über die Masse einer abgezählten Menge bestimmter Atome [Göbel].

Die Rückführung dieser Grundgrößen auf universelle Naturkonstanten oder Zählungen ist jetzt möglich, da es Elektronik und Miniaturisierung gibt. Historische Geräte

Zur Sammlung Historischer Geräte des Institutes für Physik und Physikali­ sche Technologien der TU Clausthal gehören feinmechanische Instrumente aus

den Bereichen Mechanik, Elektrizitätslehre und Optik. Die Geräte zeigen an­

schaulich, wie die Physiker in den letzten 150 Jahren Geräte gebaut und verwen­

det haben. Zu jener Zeit, als es noch keine Elektronik gab, gehörte die hohe

Kunst der Feinmechanik zu den wichtigsten Voraussetzungen für exakte Experi­ mente [Balck]. Blank geputzte Messingteile lassen noch heute erahnen, welchen Wert die

Geräte für die damaligen Experimentatoren gehabt haben müssen. Doch auch in

unserer Zeit sind sie wertvoll, sofem wir die Geräte nicht in dunklen Schränken aufbewahren, sondern ansprechend präsentieren. Während heute elektronische Vielfachmeßgeräte für Spannung, Strom und Widerstand bereits für unter 20 DM

zu kaufen sind, kostete das Torsionsgalvanometer von Siemens & Halske aus

dem Jahr 1883 noch 283 Goldmark.

Die Vorstellung einiger Geräte gibt einen kleinen Einblick in die Funktion

der Instrumente und die Verwendung von Feinmechanik zur Messung von elek­

trischen Vorgängen. Am Beispiel des Erdinduktors läßt sich das Zusammenspiel von Holz- und Metallteilen eindrucksvoll zeigen. Dieses Gerät sollte einen durch

das Erdmagnetfeld erzeugten Spannungsimpuls zur Widerstandsmessung liefern. Ähnlich wie beim Meter hätte diese Definition keine nationale sondern eine in­ ternationale Grundlage gehabt. Doch leider ist das Erdfeld, wie wir heute wissen,

nicht auf der gesamten Erde konstant. Für ein weitergehendes Studium wird auf die Literatur aus dem 19. Jahrhundert [Weber 1862, Kohlrausch 1884] verwie­ sen.

Literatur Friedrich Balck, Historische Geräte der Experimentellen Physik, Papierflieger

Verlag, Clausthal-Zellerfeld, 2001, ISBN 3-89720-466-5

25

Alto Brachner et al., Georg Friedrich Brander, Wissenschaftliche Instrumente aus seiner Werkstatt, Deutsches Museum München, 1983, ISBN 392418300-7 Alto Brachner, Von Ellen und Füßen zur Atomuhr, Geschichte der Meßtechnik,

Deutsches Museum München, 1996, ISBN 3-924183-74-0 O. Göbel, Wer gewinnt den Wettlauf um das Kilogramm, Vier Verfahren kon­

kurrieren um den neuen Massenstandart, Physikalische Blätter 57 (2001) Nr. 1,35-41. Friedrich Kohlrausch, Leitfaden der Praktischen Physik, 1884, Thema: Erdin­ duktor, Zurückwerfungsmethode

Jacob Leupold, Theatrum Machinarum Generale, Leipzig 1724

Jürgen Teichmann, Elektrizität, Deutsches Museum München, 1996, ISBN 3924183-66-X Wilhelm Weber, Zur Galvanometrie, 1862

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Abb. 1: Bestimmung des Volumens eines Behälters durch Längenmessung. (Johann Frey, 1543, Ein new Visierbüchlein, HAB Wolfenbüttel)

¿innew tW bfcblefo/ ncn fcl/Sufförrcw gebcflöt x?nb geniert.

___

27

Abb. 2: Verfahren und Geräte zur Dichtebestimmung von Flüssigkeiten. (Jakob Leupold, 1724)

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Abb. 3: Sehr feine Winkelskala mit Nonius auf einem Sextanten. (Sammlung Physik, Foto: FB)

Abb. 4: Tangentenbussole zur Messung von elektrischen Strömen durch Vergleich ihrer Wirkung mit dem Magnetfeld der Erde. Die kleine schwarze Magnetnadel in der Mitte befindet sich im Zentrum einer großen äußeren Kupferspule, durch die der zu messende Strom fließt. Die feinen langen Nadeln dienen zur Ablesung der Ausschläge. (Sammlung Physik, Foto: FB)

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Abb. 5: Das astatisches Galvanometer kann elektrische Ströme messen. Zwei Magnetna­ deln sind in einem Korb mit entgegengesetzter Ausrichtung an einem Torsionsfaden, befestigt. Die untere der beiden Nadeln befindet sich im Innern eines Elektromagneten, die andere oberhalb desselben. Fließt nun ein Strom durch den Magneten, wirkt ein Drehmoment überwiegend nur auf die untere Nadel, dessen Größe sich an der Verdrehung des Fadens ablesen läßt. Hierbei wirkt die obere Nadel (mit den Papierfahnen) als Zeiger. Da das Erdfeld auf beide Nadeln - aber in entgegengesetzter Richtung - wirkt, hat es keinen Einfluß auf die Anzeige. (Sammlung Physik, Foto: FB)

30 Abb. 6: Federgalvanometer. Fließt ein Strom durch die Spule, zieht sein Magnetfeld ein Stück Eisen an. Eine Feder mit einem Zeiger hält das Eisen nach oben. Am Weg des Zeigers auf der Skala laßt sich die Starke der Kraft ablesen. (Sammlung Physik, Foto: FB)

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Abb.7: (unten) Erdinduktor: Die große Kupferspule läßt sich in dem Holzgestell mit den Kurbeln um eine Achse drehen. Bei jeder Umdrehung ändert das von der Spule gesehene Erdmagnetfeld zweimal sein Vorzeichen. Die hierdurch induzierten schwachen Span­ nungsstöße dienten früher als "universelle" Spannungsquelle zur Widerstandsmessung. (Sammlung Physik, Foto FB)

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Quantum Satis: Umgang der Apotheker mit Maß und Gewicht von Gerhard Helmstaedter

Seit dem 12. Jahrhundert gibt es Ansätze einer Standardisierung des Apothe­

kergewichtes. Bezüge zu antiken Maßen fanden das Interesse der Humanisten. Damit wurden gleichbleibende Arzneien gewährleistet. Man muss allerdings

zwischen einer Exaktheit der Einwage der Bestandteile und ihrer individuellen Formung, quantum satis, zur Arznei unterscheiden. Since the 12th century the apothecary weight was standardised in relation to

ancient weight measures with the aim to obtain uniform medicines. This was

praised in early modern times by Humanists. But there was a difference between exact proportions of ingredients and the individual weight, quantum satis, of the prepared medicine.

In der Kölner Apothekerordnung von 1478 soll "ein jgklich Apotheker sein Ampt der Apothekereie im gewicht, getzale vnnd in massen vffrecht vnnd recht-

fertich holden". Für die Bereitung zusammengesetzter Arzneien gilt "Compositen, der he gebrauchen sali durch die zeith, machen dan die alden Antidotaría der Doctor Nicolaus und Mesue... und anders nit."'

Frühe Arzneirezepte, wie sie seit der Antike bekannt sind, hatten zahlreiche Einzelbestandteile und diese in unterschiedlichen Mengen bei häufig großen

Chargenansätzen. Die philologische Bearbeitung alten Schrifttums hat auch in Bezug auf Maß und Gewicht einheitliche Maßstäbe gesetzt. Diese sind, allge­ mein verbindlich, Teil der vor genannten Arzneibücher der Antidotaría des Ni­ colai1 2 und Mesue3 gewesen, deren Frühdrucke quasi-amtliche Anweisungen für

die Apotheker von Italien bis England darstellten, abgelöst durch von Städten

und Ländern herausgegebenen Pharmakopöen.

1 Alfred Schmidt, Die Kölner Apotheken, (Köln 1931) 106-109. 2 G.Keil, Antidotarium Nicolai, in, Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexi­ kon, 2.Auflage (VL2), Bd.6, Kurt Ruh, Hrsg., (Berlin, New York 1988) Sp. 1134-1151; Dietlinde Goltz, Mittelalterliche Pharmazie und Medizin dargestellt an Geschichte und Inhalt des Antidotarium Nicolai. Mit einem Nachdruck der Druckfassung von 1471 (Stutt­ gart 1976). 3 Ingrid Klimaschewski-Bock, Die Distinctio sexta des Antidotarium Mesue in der Druck­ fassung Venedig 1561 (Stuttgart 1987) 30f.; Ulrike Heuken, Der achte, neunte und zehnte Abschnitt des Antidotarium Mesue (Stuttgart 1990) 18-19; siehe auch G.Keil, VL2, Bd.6, Sp. 451-3.

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Besonders der Verfasser des "Antidotarium Nicolai", ein Vertreter der medi­ zinischen Schule von Salerno im 12.Jh., bemühte sich um eine Vereinheitlichung

des in Apotheken verwendeten Gewichtssystems, um Vorschriften zu normieren

und unabhängig vom Ort und zivilem Gewichtssystem gleichförmige Arzneien her zu stellen. Dazu war es notwendig die seit der Antike bestehenden Gewichts­

verhältnisse mit einem überall vorhandenen Normgewicht zu verbinden. Er ver­ wendete als Basis das "granum" (Weizenkom) und legte einem Scrupel das Ge­ wicht von 20 Weizenkömem (grana) zugrunde. Dies führt er in seiner Vor­ schriftensammlung aus4:

"Ich, Nikolaus, wurde von einigen, die in der Praxis der Medizin etwas lernen wollen, gebeten, dass ich sie das Maß für die Herstellung und Abgabe nach ei­

nem richtigen Maßstab lehren solle ..., wie sie von den einzelnen gebräuchlichen Arzneimitteln ein, zwei oder mehrere Pfunde herstellen können und wie viel sie von einer jeden Art ... zu nehmen haben ... Nach scharfsinniger Forschung wer­

den auf sinnreiche Art und mit größtem Fleiß zum Nutzen aller, welche die Arz­

neikunst betreiben wollen, durch abgezählte Getreidekömer die nachstehenden Gewichte definiert, mit denen alle Arzneien vom Scrupel bis zum Pfund gewo­ gen werden können. Angefangen wird mit dem Scrupel. Dieser ist das Gewicht von 20 Körnern. Drei Scrupel bestehen aus 60 Körnern und geben eine Drachme.

90 Körner sind 1'A Drachmen oder ein 1 Exagium resp. Solidus. 6 der letzteren oder 9 Drachmen bilden eine Unze. 108 Drachmen ergeben ein Pfund. " Es galt somit folgendes System: 1 Pfund (libra) zu 12 Unzen (Uncia), 1 Unze

zu 9 Drachmen, 1 Drachme zu 3 Scrupeln zu je 20 Gran. Die Unze wurde noch in 6 Hexagia (Exagien) oder Solidi (Schillinge) unterteilt. Dies gilt auch für den Aureus (1 ^Drachme). Für die "grana" wurden auch andere Körner, wie weiße

Pfefferkörner, genommen. Die aus Metall verfertigten Gewichte konnten jeder­ zeit und von jedermann mit Körnern korreliert werden.5 In späteren Bearbeitungen des Antidotariums Nicolai findet man einen Merk­ spruch zum Behalten der Relationen6:

4 Incipit Antidotarium Nicolai: Ego, Nicolaus rogatus a quibusdam in practica medicinae studere volentibus, ut eos recto ordine modum conficiendi dispensandique docerem. Et certam eis traderem doctrinam; in qua de singulis usualis medicinarum unam tantum vel duas aut plures libras conficere scirent... (nach Goltz 1976). 5 A.Adlung, G.Urdang, Grundriss der Geschichte der deutschen Pharmazie, (Berlin 1935) 393-396; R.Schmitz, Geschichte der Pharmazie, Band 1 (Eschborn 1998) 444-447. 6 Dispensarium Magistri Nicolai praepositi, (Lyon, Crespin, 1536) fol xxjv; vgl. H.Schelenz, Geschichte der Pharmazie (Berlin 1904, Reprint Hildesheim 1965) 309, 153.

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Collige triticeis medicinae pondera granis Grana quater quinque scrupuli pro pondere sume

In Drachmam scrupulus ter surgit multiplicatus Si Solidum quaeris, tres drachmas dimidiabis

Hexagium solido differt in nomine solo

Aureus hexagio solido quoque parificatur Constat sex solidis vel ter tribus uncia drachmis

Uncia pars librae duodenae quis ambigit inde.

Valerius Cordus, dem die Apotheker das erste offlzinelle Arzneibuch, her­ ausgegeben und sanktioniert von der Stadt Nürnberg und ihrer Ärzteschaft im Jahre 1546, übernimmt die Definition des Antidotarium Nicolai7:

De Ponderibus ac Mensuris apud nos usitatis GRANUM, grana piperis, alii hordei vel tritici acccipiunt, quorum viginti SCRUPULUM statuunt secundum Nicolaum

OBOLUS , grana decem sive scrupulum dimidium

DRACHMA continet scrupulos tresobolus six, octava pars uncia

UNCIA duodecima pars libra, octo drachmas, scrupulus viginti quatuor LIBRA Medica, uncias duodecim, drachmas nonaginta sex (96)

[LIBRA civilis vel Mercatoria, uncias sedecim (16), drachmas centi viginti

octo (128)] Valerius Cordus nimmt in seine Aufzählung den Obolus, einen halben Scrupel, hinein, verwendet die durch Mesue gebräuchliche Teilung einer Unze in acht Drachmen und führt das Nürnberger Handels-Pfund, auf das Handelspfund Karls

des Großen (pondus Caroli) zurückgehend (360-370g) auf. Apotheker hatten nämlich bei der Abgabe von auch auf Märkten vertriebenen Gewürzen oder Kü­

chenkräutern die ortsüblichen Gewichte und Preise an zu wenden. Nürnberg ging als Zentrum des europäischen Handels bahnbrechend voran und schuf ein eigenes Norm-Apothekergewicht aus Silber entsprechend einer

Unze. (29,8g, das Nürnberger Medizinal-Pfund mit 12 Unzen wog 357,66g) Die für den Gebrauch aus Messing oder Glockenspeiß. Blei und Kupfer hergestellten

Gewichte hatten die Form von Pyramidenstumpfen (Pfund, Unze) von rechtecki­

gen Metallblechen (Gran) oder flach gedrückter Ringe (Obolus). Zum Wiegen wurden die bekannten zweiarmigen (Apotheker-) Waagen mit Wagschalen ver­

7 Valerius Cordus, Pharmacorum omnium quae quidem in usu sunt, conficiendorum ratio, vulgo vocant Dispensatorium Pharmacopolarum, Nürnberg 1546, hier entnommen dem Nachdruck der Ausgabe von 1598.

35 wendet.8 1569 wurde das Wiener Apothekerpfund, welches im Laufe der Zeit wesentliche Änderungen erfuhr, mit 353,688g zu 12 Unzen angeglichen und

dieses bis 1761 benutzt.910 Mit der Einführung der "Pharmacopoea Germanica" wurde im Deutschen

Reich 1872 das Maßsystem durch das Dezimalgewicht ersetzt, welches auf der Schwere eines Kubikzentimeters oder -dezimeters einer Flüssigkeit, dem destil­ lierten Wasser, aufbaut.'0 Die angelsächsischen Länder behielten das alte System,

welches auf die Gesetzgebung Heinrich III. von 1266 zurückgeht, 1 pound = 12 ozs = 373,24g, noch bis in das letzte Jahrhundert bei.11 Apotheken unterlagen einer Visitation. Der Apotheker musste des Lateins

wohl kundig sein und hatte seinen Beruf als Geselle in sechsjähriger Praxis zu erproben oder eine "guette zeit" Medizin studiert. Sein Warenlager wurde von Ärzten und Vertrauensapothekem geprüft und er hatte Rezepte aus vorgelegten

Einzelbestandteilen zu bereiten. Man kann davon ausgehen, dass die verlangten

Fähigkeiten, Kenntnis der vorwiegend pflanzlichen (getrockneten) Arzneidrogen und genaues Wägen der Bestandteile entsprechend der Rezeptur, zu dem ge­ wünschten Ergebnis führten.

Das Maß in der Natur

Naturwissenschaftliche Grundlagen und Bezüge zu antiken Quellen lieferten Humanisten wie Nicolaus von Kues, Georg Agricola, Johannes Kepler.12

8 A.Helmstädter, J.Hermann, E.Wolf, Leitfaden der Pharmaziegeschichte (Eschborn 2001) 127. 9 Z.Herkov, Das alte Wiener Apothekerpfund, Oesterr. Apotheker-Ztg. 18 (1964)189-192. 101 Gramm (g) = Gewicht eines cm3 destilliertem Wasser von +4°C im luftleeren Raum. 11 R. E. Zupko, British Weights & Measures (London 1977) 19/20. 12 Für Anregungen und wertvolle Hinweise bin ich Herrn Prof. Harald Witthöft dankbar. Siehe, H.Witthöft, Der Mensch, die Dinge und das Maß, Acta Metrologiae Historicae V, H.Witthöft Hrsg. (St.Katharinen 1999) 132-150; zu Georg Agricola, H.Witthöft, Georg Agricola über Maß und Gewicht der Antike und des 16. Jahrhunderts als Arzt, Humanist, Ökonom, in, Historia socialis et oeconomica, Festschr. Wolfgang Zorn, H.Kellenbenz, H.Pohl, Hrsg. (Stuttgart 1987) 338-369; ibid., Die Metrologie bei Georgius Agricola, Der Anschnitt 48 (1996 19-27; zu Kepler, H.Witthöft, Johannes Kepler über Messen und Wiegen - metrologische Aspekte einer geistigen und materiellen Kultur in Zeiten des Wandels (1605-1627),1 in, Struktur und Dimension, Festschr. Karl Heinrich Kaufhold, H.J.Gerhard Hrsg., (Stuttgart 1997)111-137,; ibid., Maß und Gewicht in Johannes Keplers 'Messekunst Archimedis' (1616), in, Mitteilungen d. Oberösterr Landesarchivs, 19 (2000) 177-230.

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Das Messen sei die Urfunktion des menschlichen Geistes, so Nikolaus von

Kues ("mens - mensurare"). Werde es auf Sinnfälliges angewandt, dann erhalte die Wahrnehmung eine Ähnlichkeit mit dem Wahren ("similitudo veri").13 Georg Agricola, der Bergbaugelehrte aber auch Arzt und Apotheker, begrüßte die Vereinheitlichung des pharmazeutischen Gewichtssystems. Der Nichteintritt

gewünschter Heilerfolge könne durchaus mit der Anwendung unterschiedlicher Maßeinheiten zusammen hängen, so in seinem Buch "De mensuris et ponderibus", Basel 1533.14 Er vermutet einen Zusammenhang zwischen dem antiken Meßsystem und den Apothekergewichten15: "Loquimur nunc de libra medica, qua nostri pharmacopolae utuntur, quae

duodeci, unciarum est: non de civili ... ea enim sedecim uncias distribuitur. Itaque medica & civilis libra, numero, non gravitate unciarum differunt, drachma autem utriusque unciae, fere quatuor momentis gravior est drachma Romana." Er kennt die Grundlage durch 'von der Natur vorgegebenen Dinge", wie Ge-

treidekömer, zieht jedoch "künstliche Dinge" durch Suche nach Relikten vor. Ein

ehernes römisches Pfund ist nicht zu finden, so wählt er Münzen aus und statuiert 7 mittlere Denare sind 1 Unze, deren 12 ein Pfund (libra). Auch Johannes Kepler denkt über den Ursprung des Gewichts nach.16 Für im

Gebrauch befindliche Längenmaße, gäbe es die Beziehung zu Gliedern des Lei­

bes die sich dann auch für Raummaße verwenden lassen. Ein "cementiertes Ge­

wicht" seien nach unzulänglichen Versuchen mit Naturstoffen, die Münzen ge­ wesen. Es habe eine Münze "libra aeris", welche vom Wägen ihren Namen hat,

gegeben. Weiterhin sei das heutige Apothekergewicht in eins zu setzen mit dem Römischen Gewicht: "Wenn man nu diese der Römer alte Thailung, Gewicht und Maß also in acht

nimbt gibt es unterschädliche gewisse nachrichtungen, daß es nicht nur vermuthlich unnd glaublich, sondern warhafftig war, das jhr Gewichtsschäre bey

den Apoteckem gebliben. Zwar sollte der erste und gewisseste weg sein, durch die alten Müntzen, weil das Apoteckergewicht erstlich auß der Müntz herge­ nommen worden."

13 M.Stadler, Zum Begriff der Mensuratio bei Cusanus, Miscellania Mediaevalia 16/1 (1983) 118-131; vgl. die Weihnachtspredigt des Cusaners: "Der Erlöser kam erst auf die Welt, als diese 'gezählt' war." 14 H.-J.v.Alberti, Maß und Gewicht (Berlin 1957) 53. 15 G.Agricola, De restituendis ponderibus atque mensuris, in Georgii Agricolae Opera (Basel, Froben, 1550) 338/9. 16 Johannes Kepler, Gesammelte Werke Band IX , Mathematische Schriften, F.Hammer, Hrsg., (München 1960) 246-252.

37

Zuordnung von Quantitäten

Die absolute Menge der Einzelbestandteile stützte sich auf grobe Kenntnisse ihrer Arzneistärke, "ihrer der eingepflanzten Kraft oder Tugend entsprechende

Quantität". Bereits Galen hatte in seiner Gradlehre eine Art Messlatte der thera­ peutischen Wirkungen einer Arznei (Humoralqualitäten) vorgelegt,die im Mittel-

alter um 1300 von Amald von Villanova ("Aphorismi de gradibus") und Petro

von Abano im "Conciliator" in Systeme gebracht wurden, um die willkürliche

Zuschreibung numerischer Dosen an die einzelnen Heilmittel zu vermeiden. Bestand doch seitens der Naturphilosophie eine Beziehung zwischen 'schönen'

mathematischen Relationen und 'dem rechten Maß' in der Lebensführung. Prakti­

zierende Kliniker, wie Guido d'Arezzo und Nikolaus von Krakau, verhielten sich reserviert und setzten bei der Arzneiverabreichung auf ihr 'iudicium' am Kran­ kenbett, auf die Pragmatik der ärztliche Erfahrung.17

Diese Trennung in ärztliches Erfahrungswissen bei Abhängigkeit des Arztes von nicht durchschauten fremd hergestellten Arzneien und naturwissenschaftlich

geschultem, kritischen Arzneihersteller brachte Konflikte in das Verhältnis der beiden Berufe untereinander. Ärzte versuchten häufig durch Edikte ihr Primat zu sichern und dem Apotheker wurde entgegen einer minutiösen Ausführung, "lege

artis", eine häufige Neigung zu eigenmächtigen Handlungen ("quid pro quo") nachgesagt Doch bereits vor der Akademisierung des Apothekerberufs konnte

der Stand auf Grund einer prozessorientierten semiologischen und messenden Professionalisierung und einem erwiesen hohen technologischen Stand an Anse­ hen auch im sozialen Umfeld gewinnen.18

Rezeptur

Die Durchdringung der Arzneikunde verschärfte sich noch durch die Auffas­ sung, nach der Mischung entstehe aus der auf einander wirkenden Komposition eine Einheit und gezielte Wirkung Anders könnte man auch nicht verstehen, dass

in zusammengesetzten Arzneien wiederum solche als Einzelbestandteile dosiert

werden. So enthält beispielhaft ein in einem Manuskript gefundenes, einem Ma­ gister Thomas aus Köln zugeschriebenes Rezept.19 Neben neun Einzelbestand­

17 P. Ridder, Der wahre Charakter des Apothekers, (Greven 2000) Kap.4 Zuordnung von Qualitäten S.82-147, und Einleitung "Das ethische Fundament des Apothekerberufs war stets weniger der hehre Appell an Prinzipien allgemeinster Menschlichkeit als die Forde­ rung nach fachlichem Wissen und Gewissenhaftigkeit in Geschäftsbeziehungen.'' 18 W.F.Daems, G.Keil, gelertör der arzenie, Sudhofts Archiv 64 (1980) 86-89. 19 G.Helmstaedter, Observations on Herbal Medication in a Manuscript of 1511, 35. Int. Kongress für Geschichte der Pharmazie, Luzern September 2001; hier, Codex Henricus

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teilen, drei Pflanzenzubereitungen, vier zusammen gesetzte Arzneien mit jeweils

ca. 10-20 Bestandteilen und dazu noch die Antidote Theriak und Mithridatum mit ihren über 70 Bestandteilen (insgesamt ca,120g), die gemischt mit Zucker

und mit Essigsirupen (Oxymel) angeteigt, eine pastöse Masse ergeben, die ge­

schnitten portioniert werden kann oder mit mehr Sirup als Confitüre löffelweise eingenommen wird: Electuarium, quod composuit Magister Thomas Coloniae:

Recipe Radicum tormentillae, diptami, pympinellae ana drachmam unam et semis radicis enulae campanae, radicis gentianae

ana drachmam unam et semis boli armenici, terrae sigillatae drachmam unam

pulveris liberantis

drachmas duas pulveris dyamargariton, pulveris laetitiae Galieni ana scrupulos duos

pulveris triasandali drachmam semis

camphorae, croci fini ana scrupulum unum

conservae boraginis, conservae buglossae, conservae avellanarum ana drachmam semis

tyriacae electae

drachmas duas metridati antiqui

drachmas tres zuccari fini drachmas septem-,

fiat conditum cum syropo acetositatis citri et lemonum et rosarum ana quantum sufficit, et fiat in modum tyriacae.

Die Bestandteile wurden, um dosiert eingenommen zu werden, in eine flüssi­

ge, weiche oder feste Arzneiform überführt. Deren Volumen oder Gewicht in

Breyell, Königsdorf 1511 (UBHalle, Sondersammlungen) 'Receptarium' vur dye pestilentz' bl.67v/68r.

39

Bezug auf die Einnahme-Dosis lag jedoch nicht fest. Der Apotheker hatte 'soviel wie nötig' an lösenden oder bindenden Mitteln zuzusetzen, was sich in den Re­ zepten durch Ausdrücke wie "quantum satis" oder "quantum sufficit" ausdrückt.

Dabei waren die Bereitungsvorgange teilweise sehr kompliziert, was auch Sinn und Zweck war, um dem Tun des Apothekers einen besonderen Anspruch zu geben. Die frühe Neuzeit kannte als Zubereitungen u.a. Lösungen, Abkochungen (Infuse und Decocte), Pillen, vor allem aber mit Zucker bereitete Spezialitäten. Zucker galt ebenso der Haltbarmachung, wie später der Alkohol, der zunächst in

Form der gebrannten Wässer, wässrig-alkoholische Destillate, sehr beliebt war.

Ob letztere dann noch wirksame Bestandteile der verwendeten Pflanze enthielt dürfte fraglich sein, soweit diese nicht wasserdampfflüchtig waren. Der Ansatz

mit Alkohol in Form einer Tinktur 1:10 oder eines Fluidextraktes 1:2, war sinn­ voller und ist noch heute bevorzugt.

Der Ausdruck "quantum satis", soviel wie notwendig, wirft auch ein Licht auf den Umfang zusammengesetzter Arzneien. Der Schritt im Antidotarium Nicolai

zu übersichtlichen Formeln führte noch lange nicht zu rationalen Kompositionen. Es war vielmehr bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, gerade bei pflanzlichen Arz­

neimitteln der Brauch, durch vielfältiges Hinzutun der Rezeptur eine Besonder­ heit zu geben und sich damit von anderen vergleichbaren Präparaten ab zu gren­

zen. Heute muss für den Beitrag eines jeden Bestandteils ein (klinischer) Beweis geführt werden.

Zukunftsperspektiven

Die Pflanze oder deren Teile gelten als stoffliche Ganzheit, wodurch pflanzli­ che Arzneimittel immer Vielstoffgemische dar stellen. Beim Übergang von der pflanzlichen Droge auf die Zubereitung tritt die Schwierigkeit der Qualitätsabestimmung hinzu. Nachdem Pflanzen hinreichend taxonometrisch gekennzeichnet. sind20, wozu auch botanische Gärten und Drogensammlungen beitragen, waren

Rezepturen qualitativ korrekt bis auf die Bestimmbarkeit der Konzentrationen im

Verhältnis von Pflanze zum Medium. Für die arzneiliche Wirkung ist eine Beziehung von Ausgangsdroge zu dem

im Fertigpräparat enthaltenen Auszug notwendig. Sowohl für das biologische Ausgangsmaterial (pflanzliche Droge) als auch die daraus hergestellten Zuberei­ tungen werden Qualitätsparameter definiert.21 Die Deklarierung muss das Ver-

20 G.Helmstaedter, Historical Trends in Taxonomy of Flowering Plants, Acta Metrologiae Historicae Band V, H.Witthöft Hrsg. (St.Katharinen 1999) 366-372. 21 G.Franz, Zukunftssperspektiven für pflanzliche Extrakte, Pharm.Ztg. 146 (2001) 488493.

40

fahren wieder spiegeln und das Endprodukt beschreiben. Ist ein therapierelevan­ ter Wirkstoff bekannt, wird auf diesen eingestellt:

(Beispiele) Thymian-Tropfen: 100 g Fertigarznei enthalten 100 g Fluidextrakt aus Thymiankraut 1:2-2,5 (Auszugsmittel Ammoniaklösung 10%m/m, Glycerol 85%m/m, Ethanol 90%V/V, Wasser (1:20:70:109);

Rosskastanien-Kapseln: 1 Kapsel (200 mg) enthält 140-190 Trockenextrakt

aus Rosskastaniensamen (5-8:1) entsprechend 36 mg Triterpenglykoside be­ rechnet als ß-Aescin (Auszugsmittel Methanol 80%V/V).22 Die dokumentierte Validierung der Produktionsschritte und nachfolgender Prüfungen ist Grundlage jeglicher pharmazeutischer Präparation. Der Apotheker­

stand hat heute das in der Industrie übliche Verfahren eines Qualitätsmanage­

ments übernommen. In einem Handbuch werden die Prozesse formuliert, die Zielsetzungen umgesetzt und protokolliert, um Transparenz in das Handeln zu bringen und damit zum Maß der Dinge bei zu tragen.

22 F.Gaedcke, B.Steinhoff, Phytotherapie: Wissenschaftliche und rechtliche Grundlagen ftlr die Entwicklung, Standardisierung und Zulassung in Deutschland und Europa, (Stutt­ gart 2000) 1,31-36.

41

Das Differenzverfahren, ein sicherer Weg zur Bestimmung von Längen- und Gewichtseinheiten von Albrecht Kottmann Das antike Maßsystem mit kurzer und langer Elle ist im Bauwesen bis zur

Einführung des Meters gebraucht worden. Die Eroberungen der Araber im Mit­ telmeerraum haben keine Veränderung bewirkt. Der Nachweis wird mit dem

Differenzverfahren erbracht.

The antique measure System with short cubit and long cubit was used in construction up to the introduction of the unit meter. The conquests by the Arab round the Mediterranean Sea had no consequences. The correctness of this knowledge is proven by the application of difference method.

Was ist unter dem Begriff Differenzverfahren zu verstehen?

Wenn mehrere Strecken oder Gewichte mit einer gesuchten Einheit gemessen

worden sind, müssen sich auch die Differenzen dieser Strecken oder Gewichte und die Differenzen zwischen den Differenzen in dieser Maßeinheit darstellen

lassen. Zwischen einer beliebigen Anzahl gemessener Strecken werden die Differen­ zen und aus diesen fortlaufend weitere Differenzen gebildet. Dabei entsteht ein Dreieck aus verhältnismäßig kleinen, überschaubaren Werten. Diese Zahlen

werden in einer aufsteigenden Reihe geordnet. In der Regel ist die kleinste Zahl

der größte gemeinsame Teiler aller anfangs eingegebenen Strecken. Der Teiler muß sich auch in den folgenden Zahlen der Reihe nachweisen lassen. Einzelne Zahlen sind nicht aussagekräftig; zuverlässige Aussagen erlaubt nur die Aus­

wertung einer Reihe der dem Dreieck entnommenen Zahlen.

-

Bereits wenige gemessene Strecken oder Gewichte reichen zur Bestimmung des größten gemeinsamen Teilers. Ein systematischer Fehler immer etwas zu wenig gemessen, weil Mauern verputzt sind - hebt sich bei der Subtraktion heraus.

-

Das Verfahren führt in kurzer Zeit zum Ergebnis. Der Rechengang ist auch mit anders angeordneten Eingaben oder anderen

Strecken wiederholbar und prüfbar. -

Annahmen und Hilfsmittel sind nicht erforderlich.

-

Der ermittelte größte gemeinsame Teiler muß nicht vervielfacht werden, denn er wird am Ende der Betrachtung durch Teilen der toleranzarmen langen Strecken genau errechnet.

42

-

Nicht mit dem Zollstock gemessene Strecken, vor allem mit Dreiecken und

Quadraten ermittelte Längen, sind, wie bei allen anderen Bestimmungsver­

fahren, vor Beginn der Rechnung auszusondem. Beispiel 1: Hanisch hat in [1] S.16 Ellen aus dem arabischen Bereich vergleichend ne­

beneinandergestellt:

0,49883 50

0,54039

0,58197

0,6651 m

54

58

66,5 cm

4

4

8,5

0

4,5

4,5 cm

Der größte gemeinsame Teiler liegt zwischen 4 und 4,5 cm. Die vier Ellen messen 12 - 13 - 14 und 16 Teile, die Summe hat 55 Teile. Ein Teil mißt genau

228,629/55 = 4,157 cm. Die 66,51 cm lange Elle kommt zwei "pes Drusianus", zwei "karolingischen Fuß" oder zwei kurzen Ellen gleich. Eine kurze Elle war in 12 Zoll geteilt: 8 x 4,157 = 33,26 cm. Der ermittelte Teiler entspricht somit 3/2

Zoll. Möglicherweise entsprachen 3 Zoll der kurzen Elle einer Handbreite von

8,3 cm. Beispiel 2: Qa at ad-Dir In derselben Veröffentlichung, S.33, sind neun (nicht mit Fragezeichen ver­

sehene) Maße des Qa'at ad-Dir genannten Bauwerks in Kairo aufgeführt:

644

1052

1461 409

629

408 392

319 287

73

214

90 82

58 205

105

54

89

16

8

98

24

263 49

97

8

32

143

248

345

195

106

74

393

1

540

89

15

8 82

0 58

147

156 9.

Der größte gemeinsame Teiler liegt zwischen 8 und 9 cm; der zehnfache Wert

(82 cm) tritt zweimal auf. Die Reihe

8/9 8

-

15/16 2x8

- 24 - 32 - 49 - 58 - 74 - 82 - 89/90 - 97/98 cm 3x8 4x8 6x8,2 7x839x8,210x8,211x8,2 12x8,2 cm

ist nicht zu übersehen.

43

Die beiden Differenzen 409 cm und 408 cm entsprechen der beliebten Zahl 7 x 7 = 49: (409 + 408)/2 x 49 = 817/2 x 49 = 8,34 cm.

Einige Maße weisen auf die 33,3 cm messende kurze Elle: 3 x 644/58 = 333 cm 3 x 345/31 = 33,4 cm 3 x 143/13 = 33,0 cm.

Noch klarer wird dies, wenn man die Differenzen zwischen diesen Längen bildet: 644 - 345 = 299 299/9 = 33,2 cm 644 - 143 = 501 501/15 = 33,4 cm 345 - 143 = 202 202/6 = 33,7 cm.

Beispiel 3: Die Moschee al-Firdaus Maße von der Moschee al-Firdaus findet man wieder in [1] auf S. 32: 1235

2173

2520

195 347

396

3

301

2 147

76 71

46

49

722

5

149

73

122

469

73

727

730

152

79

664

591

882

961 274

938

347

25

276

252 24.

Die 8,3 cm-Reihe 24/25 - 49 - 71/73

147/149 - 252

-

301 cm

fällt auf. 3 x 83 6 x 8,2 9 x 8,1 18 x 8,3 30 x 8,4 36 x 8,4 cm Wieder weisen einige Maße auf die 33,3 cm messende kurze Elle:

1235/37 = 33,4 2x882/53 = 333 730/22 = 333 3 x 722/65 = 333 cm 3 x 37 = 111 53

Umkehrung von 5 x 7 = 35.

"Als nun Abram hörte, daß sein Bruder gefangen war, wappnete er seine

Knechte, 318, in seinem Hause geboren, und jagte ihnen nach bis gen Dan." (1. Mose 14,14)318 = 6x53

Beispiel 4: Moschee des al-Hakim, Westminarett, Turmschaft, in Kairo

Die Abmessungen findet man in [1] auf S. 33: 540

263

397

757

1297

134

360

54

100

46

26

43

8

17

35

18.

28

29

3

46

54

43

15 57

28 52

95

80

72

126

226

180

80

175

255 8

44

8 -

Die Reihe

8

15/17/18 - 35 - 57 - 72 - 80 - 100 - 134 cm 2x8 4x8,8 7x8,19x8 10x8 12x8,3 16x8,4

ist nicht zu übersehen; 26/28/29 cm = 10 Zoll zeigen, daß auch in Zoll oder

Doppelzoll gemessen worden ist. Auch in diesem Fall sind einige gemessene Strecken sehr leicht auf die kurze Elle zurückzuftlhren: 3 x 255/23 = 333 cm

4x175/21= 333 cm

6 x 28/5 = 33,6 cm.

Beispiel 5: Der Turm Kerkialfln in der Zitadelle von Kairo Im Zahlendreieck sind dreizehn Maße eingegeben [1] S. 31. In Bild 1 wurden

die errechneten Differenzen von 1 bis 75 cm in drei Reihen aufgetragen. Die Säule über 1 cm ist für die Auswertung bedeutungslos; es handelt sich um die

Differenz zwischen annähernd gleich langen Strecken. Hervorzuheben ist die

Häufung über 3 cm, 6 cm und 12 cm. Die Sieben und die Elf fehlen: 604

170

2

186 5

165

168

21

6

191

21

19

23

209

215

192

1

256

9

218

23

24 22

42

3

0

256 247

29

32

309

309

5>

9

38

26

2 3

45

6

2

5

50

44

6

1

310

1

96

97

407

408

54

10

6

8 0

5

55

12

0

8

3

58

4

12

8

0

3

61

462

472

476 16

4

4

1

62

492 4

8

12

13

496

504

516

529

75

3

147

144.

Benützt worden sind die Zahlen der Reihe 8/9 2/3 5/6 16 3

2x3

21/22/23 cm

19

3 x2,7 6x2,7 7x2,7

8 x 2,8 cm. aber auch die Zahlen der Reihe mit weißen Punkten in den schwarzen Feldern sind gebraucht worden:

12

16 24

38

8

4

2x4 3x4 4x4 6x4 9x4,2 10x4,2 12x4,2 13x4,2 14x4,1

42

50

53/54

4

58

62

15x4,1

75 cm

18x4,2.

Ohne jeden Zweifel wurde mit der Einheit 1 Zoll = 1/12 der kurzen Elle =

33,3/12 = 2,78 cm und der Einheit 3/2 Zoll = 4,17 cm gearbeitet. Die waagrech­

ten Balken kennzeichnen die Differenz von einem Zoll. Besondere Aufmerksam­

keit verdienen die gemessenen Strecken: 97 =

35 x 2,77 cm

408 = 147x2,78 cm

35 = 5 x 7 147 = 3x7x7

462 = 167x2,77 cm

15x111/10 = 166,7, gerundet 167

472 = 170x2,78 cm

Die Seiten 11 - 13-17 bilden annähernd ein

45

pythagoreisches Dreieck:

112 + 132 = 121 + 169 = 290 1 72 = 289 476 = 171 x2,78 cm

5 x 71 = 355, die Zahl der Tage im Mondjahr

365 - 10 = 355

496 = 178x2,79 cm 504 = 181 x2,78 cm

16x111/10 = 177,8, gerundet 178 81 = 9x9

516 = 186x2,77 cm

86 = 2 x 43, Umkehrung 34 = 2 x 17

529 = 191 x2,77 cm

4 x 91 = 364, nach Henoch die Zahl der Tage im

604=217x2,78 cm

3 x 13 x 111/20 = 216,5, gerundet 217.

Sonnenjahr [2]

Die 13 war als positive Zahl sehr beliebt. Dies verdeutlicht eine Zeile aus der Odyssee: "Aber am dreizehnten (Tage) legte der Wind sich, da fuhren sie wei­

ter." (Odyssee 19, 202) Auch die Zahlen 3x13x111/20, gerundet auf 217, und

21 x 111/20= 116,6, gerundet 117, müssen von positiver Bedeutung gewesen sein, denn der Lyderkönig Kroisos hat vor 546 v. Chr. dem Apollotempel in Delphi 117 Halbziegel aus Gold geschenkt, eine Handbreite hoch und sechs

Handbreiten lang [3]. Kroisos war unsicher, ob er gegen die Perser in die Schlacht ziehen sollte. Der Spruch der Pythia lautete: "Wenn du den Fluß Halys

überquerst, wirst du ein großes Reich zerstören." - Zerstört hat er sein Reich. 604 - 504 = 100 cm 408-97 = 311 cm

100/3 = 333 cm 3 x 311/28 = 33,3 cm

476 - 408 = 68 cm

68/2 = 34 cm

462 - 408 = 54 cm

8x54/13 =33,2 cm

496 - 462 = 34 cm. Beispiel 6: Die vom Zeichner des St. Galier Klosterplans benützte Maßein­ heit

Über den Maßstab des St. Galier Klosterplans besteht Einigkeit. Kottmann

hat ihn 1971 zu 1:160 ermittelt [4]. Huber folgte 1986 [5] völlig unabhängig mit

derselben Aussage. Rottländer hat sich 1999 dieser Auffassung angeschlossen . [6] Über die Maßeinheit, mit der der Plan gezeichnet worden ist, bestehen Diffe­

renzen. Kottmann hat 1971 den karolingischen Fuß mit 33,3 cm errechnet, Huber hat aus dem Maßstab 1:160 auf einen 16 digiti langen Fuß, den römischen Fuß von 29,63 cm Länge, geschlossen. Rottländer hat diese Annahme 1999 beibe­ halten [6]. Das Differenzverfahren eignet sich auch zur Beantwortung dieser Frage. Man entnimmt einige Maße aus dem Plan:

Breite des Friedhofs: 133,5 mm

Länge des Friedhofs: 210,0 mm

46

Breite des Gemüsegartens: 90,0 mm

Länge des Gemüsegartens: 137,5 mm

Breite der kleinen Doppelkapelle im Osten des Münsters: 43,5 mm

Länge dieser Kapelle: 188,5 mm

Breite der Klausur beidseits

Tiefe dieser Klausur: 125,5 mm

dieser Doppelkapelle: 151,0 mm

Breite des Kreuzgartens: 62,5 cm [4] S.61. 188,5

210,0

137,5

151,0

37,5

213

24,0

16,0

8,0

133,5 4,0

133

43 10,0

63

233 19,0

9,0

33

03

62,5 27,5

8,0

4,0

83

0,5

19,5

15,0 6,0

53

90,0

35,5

27,5

4,0

93 143

125,5 8,0

19,0 15,0

0,0

6,0 53.

Das Ergebnis der Differenzrechnung ist in Bild 2 aufgetragen. Häufungen sind bei 4 mm, 6 mm und 8 mm zu erkennen. Der größte gemeinsame Teiler muß

deshalb nahe 2 mm liegen. Diese Erkenntnis wird durch die Differenzen 16 mm und 24 mm bestätigt (weißer Punkt im schwarzen Feld). Die Differenzen 19-15

= 4 mm und 23,5 - 19,5 = 4 mm sind in der zweiten Zeile des Bilds durch Balken

hervorgehoben. Zu bestimmen sind die Dezimalen. Die Betten im Dormitorium sind auf dem

Plan im Mittel 12,6 mm lang. Die benützte Einheit wird zu 12,6/6 = 2,1 mm errechnet.

Aus Maßstab und Einheit läßt sich die wirkliche Länge dieser Maßeinheit er­

rechnen: 160 x 2,1 = 336 mm. Es kann nur die 33,3 cm messende kurze Elle sein.

Diese Rechnung wird durch die Breite des Klosterplans bestätigt; sie mißt 7 x 33,3/3 = 77,7 cm, gemessen 77 bis 78 cm, im Gelände 158,6 x 7/3 = 370 kurze Ellen = 123,33 m. Die Länge ist mit einem gleichseitigen Dreieck trianguliert: 5 x 77,7^3/6 = 112,1 cm, gemessen 112 bis 113 cm (Bild 3). Mit derselben Figur

ist auch der Grundriß der romanischen Kathedrale von Santiago de Compostela bemessen worden (Bild 4).

Breite des Friedhofs: 9 x 7 = 63 Einheiten zu je 2,12 mm

(133,5 mm)

Länge des Friedhofs: 9 x 11 = 99 Einheiten zu je 2,08 mm

(210,0 mm)

Breite des Gemüsegartens: 6 x 7 = 42 Einheiten zu je 2,14 mm Länge des Gemüsegartens: 6 x 11 = 66 Einheiten zu je 2,08 mm

(90,0 mm) (137,5 mm)

Breite/Länge verhalten sich wie 7/11. Das Dreieck 7 - 11 - 13 ist ein annä­ hernd pythagoreisches Dreieck: 7x7 + 11 x 11 =49+ 121 =170, 13x 13 = 169.

47

Das Dreieck 7 - 11 - 13 liegt auch den Abmessungen der Cheopspyramide zu­

grunde [7] S. 190. Bild 5 zeigt die Normalverteilung der 2,1 cm langen Einheit. Beispiel 7: Die Maßeinheiten am Turm der Winde in Athen

Der Turm der Winde ist ein gut erhaltenes, aus fehlerfreiem Marmor errich­ tetes griechisch/römisches Bauwerk aus dem 1. Jh. v. Chr. Er wird nach den Reliefs der Windgötter unter dem Dachgesims "Turm der Winde" genannt. Das

Achteck des Grundrisses steht in einem Quadrat von 15 x 0,5238 = 7,857 m Seitenlänge. Rottländer gibt 7,875 m an [8]. Eine Seite des Achtecks mißt

7,857/2,41 = 3,255 m. Die Wand des Achtecks ist eine lange Elle dick. Als lich­ tes Maß verbleiben 13 lange Ellen. Die größte Breite, einschließlich der Stufen, bestimmt die Quadratur [9]: 13 x 0.5238V2 = 9,63 m, gemessen 9,60 m. In die Apsis läßt sich ein gleichseitiges Dreieck legen (Bild 6).

Eine fünfzehn Ellen messende Parallele findet man in einer Nebenpyramide auf der Südseite der Chephrenpyramide in Gizeh, etwa 2500 Jahre früher [10]:

Lichte Breite der Sargkammer: 5 lange Ellen zu je 52,6 cm

(2,63 m)

Lichte Länge der Sargkammer: 15 lange Ellen zu je 52,4 cm

(7,86 m).

Eine zeitgenössische Parallele läßt sich am Pantheon nachweisen: Äußerer Durchmesser des Pantheons:

165 kurze Ellen zu je 33,3 cm oder

105 lange Ellen zu je 52,38 cm (55,0 m);

1/7 dieses Durchmessers mißt 55,0/7 = 7,857 m.

Auf zwei Seiten führen Türen in das Innere des Turms. Vor diesen beiden Tü­ ren lagen inzwischen abgebrochene, durch je zwei Säulen geschmückte Hallen.

Zwei Stufen leiten auf allen Seiten auf die Ebene des Stylobaten. Stufen und

Bauwerk sind sorgfältig gearbeitet (Bild 6). Breite beider Stufen zusammen: 66,7 cm Höhe der untersten Steinlage am Turm: 64,0 cm Höhe der zweiten Steinlage am Turm: 108,3 cm Höhe der dritten Steinlage am Turm: 33,3 cm. Die benützte Maßeinheit wird ermittelt: 66,7

64,0

33,3 30,7

2,7

108,3 cm 41,6

38,9

28,0

10,9. 10,9 cm sind 4 Zoll zu je 2,73 cm 28,0 cm sind 10 Zoll zu je 2,8 cm

333 cm sind 12 Zoll zu je 2,78 cm 64,0 cm sind 23 Zoll zu je 2,78 cm

48

30,7 cm sind 11 Zoll zu je 2,79 cm

66,7 cm sind 24 Zoll zu je 2,78 cm

38,9 cm sind 14 Zoll zu je 2,78 cm

108,3 cm sind 39 Zoll zu je 2,78 cm.

41,6 cm sind 15 Zoll zu je 2,77 cm

Rottländer hat in zwei Untersuchungen [8 u.l 1] eine 29,55 Zentimeter lange Maßeinheit gefunden; das war möglich, weil er Programme benützt hat, die nur einen gemeinsamen Teiler errechnen können. Das Verfahren ist unbrauchbar,

wenn ein Handwerker die beiden üblichen Ellen an einem Bauwerk verwendet. Das hier vorgestellte Differenzverfahren führt selbst dann zum Erfolg, wenn

der Bearbeiter zunächst nicht erkennt, daß auch die lange Elle am Bauwerk ge­ braucht worden ist:

787

682

105

67

108

41

574

469 64

12

38

533

9

29

495

466

431

52

64 3

33 cm 19

7 2

27

439

35 404.

33 cm sind 12 Zoll zu je 2,75 cm 52 cm sind 19 Zoll zu je 2,74 cm oder eine lange Elle 64 cm sind 23 Zoll zu je 2,78 cm 108 cm sind 39 Zoll zu je 2,77 cm

682 cm sind 246 Zoll zu je 2,77 cm oder 13 lange Ellen zu je 52,46 cm 787 cm sind 284 Zoll zu je 2,73 cm oder 15 lange Ellen zu je 52,47 cm.

Man teilt die errechnete Anzahl Zoll durch 19. Wenn eine annähernd gerade

Zahl, in diesem Fall 12,95 filr 13 oder 14,95 für 15, aufritt, läßt sich die Strecke auch in langen Ellen darstellen. Ergebnisse

-

Auch nach der Eroberung durch die Araber ist im ehemaligen Römischen

Reich das während der Antike (und später im Mittelalter) bis zur Einführung

des Meters im Bauwesen allgemein übliche Maßsystem mit kurzer Elle (33,3 cm) und langer Elle (52,4 cm) benützt worden.

-

Wahrscheinlich maß die kurze Elle vier Handbreiten zu je 8,3 cm, denn auch

die Maßeinheit "Handbreite" scheint üblich gewesen zu sein.

-

Die von Hanisch vermutete 54/6 = 9 cm lange Einheit "Handbreite" ließ sich nicht nachweisen.

49

-

Wie die Untersuchung am St. Galier Klosterplan und am Turm der Winde zeigt, reicht die Tradition ungebrochen einerseits in die griechisch/römische Antike, andererseits ins europäische Mittelalter.

-

Alle Beispiele beweisen die Anwendbarkeit und die Aussagekraft des Diffe­

renzverfahrens. Schrifttum [1]

Hanisch, H.: Islamische Maßarten und Maßsysteme, dargestellt an der Zita­ delle von Damaskus - Ein Beitrag zur islamischen Metrologie, architectura 1/99, S. 12/34.

[2]

Kottmann, A.: Vom Geheimnis der Zahlen, Stuttgart 2001.

[3]

v. Däniken, E.: Im Namen von Zeus, München 2001.

[4]

Kottmann, A.: Das Geheimnis romanischer Bauten, Stuttgart 1971.

[5]

Huber, F.: Der St. Galier Klosterplan, eine mathematisch-metrologische Analyse, arcus 1986, S. 264/68.

[6]

Rottländer, R.C.A.: Angestrebte Normmaße in romanischen Kirchen, in:

ORDO ET MENSURA VI, S. 253/67, St. Katharinen 2000.

[7]

Kottmann, A.: Die Kultur vor der Sintflut, Heiligkreuztal 1992.

[8]

Rottländer, R.C.A.: Studien zur Verwendung des Rasters in der Antike, in: Jahreshefte des österreichischen Archäologischen Instituts, Band 63 (1993),

Hauptblatt, Anhang 2, S. 44/47.

[9]

Kienast, H.: Der Entwurf des Turmes der Winde in Athen, in: KoldeweyGesellschaft, Bericht über die 40. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung, 1999, S. 96/99.

[10] Schüssler, K.: Die ägyptischen Pyramiden, Köln 1983. [11] Rottländer, R.C.A., Heinz, W., Neumaier, W.: Untersuchungen am Turm der Winde in Athen, in: Jahreshefte des österreichischen Archäologischen Instituts, Band 59 (1989), S. 55/92.

50

Bild 1: Das Ergebnis der Differenzrechnung vom Turm Kerkialan in Kairo

h~H W 11U H 55

58

62

cm

75

Bild 2: Das Ergebnis der Differenzrechnung vom St. Galier Klosterplan; die Einheit 2 mm ist nicht zu übersehen.

51 Bild 3: Triangulatur im St. Galier Klosterplan; beachte die Dreiteilung der Breite und die Fünfteilung der Lange; die Kanzel steht im Schwerpunkt des oberen Dreiecks. 31 Friedhof der Mönche, 32 Gemüsegarten, 26,28,29 Klausur für die Novizen und für Kranke im Osten des Münsters

52

Bild 4. Dieselbe Figur im Grundriß der Kathedrale von Santiago de Compostela

53

Bild 5: Die Normalverteilung der Einheit 2,1 mm vom St. Galier Klosterplan

54

Ein Verfahren zur Bestimmung von MaDvermutungen von Wolfgang Rieger When studying metrological questions, one is facing two problems. First, a

candidate measure has to be found, which is fitting the available data "best" in some sense. Second, one tries to establish the significance of the found measure. Both problems where investigated by Broadbent and Kendall in the 1950s,

using statistical methods. In the paper we are concerned only with the problem of

finding candidate measures and develop an algorithm to solve this problem. We use a rather direct, "geometric" approach, therefore the candidate measures

found are the closest fit for a "scaled distance". Grundsituation

Die Grundsituation ist folgende: Man hat eine Reihe von Messungen

vorgenommen, beispielsweise hat man die Längen bestimmter Hölzer aus einem

Siedlungsfund gemessen oder hat die Volumina antiker Amphoren bestimmt. Dadurch erhält man einen Datensatz, also eine Gruppe von k Zahlen lx,...,lk . Man möchte nun wissen, ob diese Zahlen den Gebrauch eines bei der Herstellung

der betreffenden Artefakte verwendeten Maßes vermuten lassen oder gar beweisen. Eine solche Vermutung wird gerechtfertigt erscheinen, wenn die Zahlen nahe

bei ganzzahligen Vielfachen einer Zahl q liegen. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Verhältnisse der Werte /, / f nahe bei Verhältnissen relativ kleiner ganzer Zahlen liegen.

Beispiel:

Man

hat

einen

kleinen

Datensatz,

nämlich

Z, = 1.07, l2 = 2.15, Z3 = 0.60, Z4 = 1.60 . Betrachtet man diese Werte, so

fällt auf, dass Z2 /Z, = 2.0093 ist und damit sehr nahe bei 2 liegt. Weiter ist Z4 /Z1 =1.4953, was ungefähr einem Verhältnis von 3 zu 2 entspricht. Der

Wert Z3 scheint sich dagegen nicht ganz so gut einzufUgen.

An dieser Stelle ist man mit den beiden Grundproblemen aller derartigen

Untersuchungen konfrontiert, nämlich: Kandidaten für ein zugrundeliegendes Maß zu finden, also eine Zahl q,

deren ganzzahlige Vielfache möglichst nahe bei den Werten des Datensatzes

liegen.

55

"Beweisen", dass hier tatsächlich gemessen wurde, und dass Übereinstimmung der Werte mit den Vielfachen von q nicht zufällig ist.

die

Mit diesen beiden Grundproblemen korrespondieren zwei "Grundgefahren",

nämlich 1. Etwas nicht zu sehen, was da ist.

2. Etwas zu sehen, was nicht da ist. In dieser Arbeit befassen wir uns ausschliesslich mit dem ersten Problem und

entwickeln ein entsprechendes mathematisches Verfahren. Suche nach möglichen Maßen

Näherung durch ganzzahlige Vielfache

Man hat also eine Gruppe von eventuell maßhaltigen Werten

und ein

mögliches Maß q . Zunächst wird man sich fragen, wie gut ein gegebenes q zu

dem Wertevektor

L =

"passt", wie nah also die ganzzahligen

Vielfachen von q bei den /( liegen. Für einen einzelnen Wert /, ist das nächste ganzzahlige Vielfache von q gegeben durch

L?J Dabei bezeichnen die eckigen Klammem die Rundung zur nächsten ganzen Zahl. Ein Beispiel: Wenn /, = 1.2367 und q = 0.25 ist, hat man [/,/?]? = [1.2367/0.25]? * [4.9468] ? = 5? = 1.25.

Die untenstehende Grafik zeigt, wie

[1.2367/^] q

/, =1.2367 immer besser nähert, je kleiner q wird:

sich dem Wert

56

Das jeweilige "Vielfache" [/,/

---------- . 2y + l

Zu jedem /, ist also die Folge der Sprungstellen durch

S„ = —2t— für j = 0,1,2,... ,J

2j + \

definiert. Um demnach alle Sprungstellen zu finden, die in einem gegebenen Bereich [^min,qmm ] v°n Werten von q liegen, muss man also für alle /, alle

Sprungstellen berechnen, die im Bereich liegen. Es ist klar, dass qmm > 0 sein

63

muss, da es sonst unendlich viele Sprungstellen im Bereich gäbe. Aber das wurde ja schon oben bei Festlegung des Untersuchungsbereichs gesagt.

Dann muss man die Sprungstellen (unter Hinzunahme der Bereichsgrenzen) sortieren

erhält

und

Sequenz

eine

9min = s0’s\’s2’---’sn = 9max ■

Diese

von

Sprungstellen

Sequenz unterteilt den

Bereich

in

Intervalle [■S,m,Sm+|]. Innerhalb jedes solchen Intervalls kann dann ein lokales

Minimum bestimmt werden, wobei man als "Startwert" einfach die Mitte des

Intervalls nimmt. Zusammenfassung des Verfahrens

Die Schritte des in diesem Abschnitt entwickelten Verfahrens sollen hier noch einmal kurz zusammengestellt werden.

Gegeben:

k

positive

Ein

Werte

Untersuchungsbereich

[9min 5 9maxl mit ^min >0 Und ^max