ORDO 59 9783828260139, 9783828204539

Das Jahrbuch ORDO ist seit über 50 Jahren ein Zentralort der wissenschaftlichen und politischen Diskussion aus dem Konze

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German Pages [624] Year 2008

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Table of contents :
Vorwort
Liberale Ordnungspolitik - eine Notwendigkeit ohne Alternative
Inhalt
Hauptteil
Markt und Staat in einer globalisierten Welt: Die ordnungsökonomische Perspektive
Im Reformstau - oder das Elend des Verbändestaates
Von der (Un-)Möglichkeit ausgeglichener Haushalte
Wege zu mehr Steuerehrlichkeit
Fragwürdige Luxussteuern: Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten in der Geschichte ökonomischen Denkens
Die neuen Grundsatzprogramme der deutschen Parteien aus ordnungspolitischer Sicht
Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz? Zur Zweisamkeit von Recht und Ökonomie im Bereich der Wettbewerbspolitik
Wettbewerbsfreiheit und unternehmerische Effizienz. Eine Erwiderung auf Schmidtchen
Ordnungsökonomische Wettbewerbskonzepte: Die Wettbewerbspolitik im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Effizienz
Regulierung und Wettbewerbsrecht in liberalisierten Netzindustrien aus institutionenökonomischer Perspektive
Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft - heute
Zur Neuordnung des Lotteriemarktes in Deutschland
Rechtsstruktur und Evolution von Wirtschaftssystemen - Pfadabhängigkeit in Richtung Zentralisierung?
Ökonomische Systemtheorie: Rationalität, widerlegbare Spezifizierung und vergleichende Performance-Messung
Ist Bildung eine Ware? Ein Klärungsversuch
50 Jahre Europäische Ordnungspolitik: ordnungs- und konstitutionenökonomische Anmerkungen
Armutsbekämpfung versus Demokratieförderung: Wie lässt sich der entwicklungspolitische Trade-Off überwinden?
Die Sachs-Easterly-Kontroverse: „Dissent on Development" Revisited - Eine ordonomische Analyse zur Interdependenz von Sozialstruktur und Semantik moderner Entwicklungspolitik
Freiheit und Wettbewerb. In Memoriam Erich Hoppmann (31. Dezember 1923 - 29. August 2007)
Der Liberalität verpflichtet. In Memoriam Helmut Gröner (12. Oktober 1930 - 27. Juli 2006)
Buchbesprechungen
Inhalt
Evidenzbasierte Bildungspolitik: Beiträge der Bildungsökonomie
Schumpeters Finanzierungshypothese in neuer Sicht
Auf der Suche nach der politischen Weltformel
Sozialer Umbruch: Zwischen neuen Werten und der demographischen Entwicklung
Dynamik internationaler Märkte
Was hält eine Gesellschaft zusammen?
Die Zukunft der Arbeit in Deutschland
Wirtschaftstheorie und Wissen - Aufsätze zur Erkenntnis- und Wissenschaftslehre von Friedrich August von Hayek
Institutions in Perspective
An Economic Analysis of Private International Law
Ökonomische Ethik
Corporate Social Responsibility als unternehmerische Strategie
Thomas Schellings strategische Ökonomik
The More Economic Approach to European Competition Law
Europäische Beihilfenkontrolle und Standortwettbewerb. Eine ökonomische Analyse
Theorie der staatlichen Venture Capital-Politik
Marburger Studien zur Ordnungsökonomik
Auf der Suche nach der besseren Lösung, Festschrift zum 60. Geburtstag von Norbert Klüsen
Kurzbesprechungen
Personenregister
Sachregister
Anschriften der Autoren
Recommend Papers

ORDO 59
 9783828260139, 9783828204539

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ORDO Band 59

ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Band 59 Begründet von

Herausgegeben von

Walter Eucken

Hans Otto Lenel

Josef Molsberger

und

Clemens Fuest

Peter Oberender

Franz Böhm

Walter Hamm

Ingo Pies

Ernst Heuss

Razeen Sally

Wolfgang Kerber

Alfred Schüller

Martin Leschke

Viktor Vanberg

Ernst-Joachim Mestmäcker

Christian Watrin

Wernhard Möschel

Hans Willgerodt

Lucius & Lucius · Stuttgart

Schriftleitung Professor Dr. Hans Otto Lenel Universität Mainz, Haus Recht und Wirtschaft, D-55099 Mainz Professor Dr. Dr. h.c. Josef Molsberger Universität Tübingen, Wirtschaftswissenschaftliches Seminar Mohlstr. 36, D-72074 Tübingen Professor Dr. Alfred Schüller Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften Universitätsstr. 25a, D-35037 Marburg Professor Dr. Dr. h.c. Peter Oberender Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre IV - Wirtschaftstheorie, Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Professor Dr. Martin Leschke Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre V - Institutionenökonomik, Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Professor Dr. Ingo Pies Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsethik, Große Steinstraße 73, D-06108 Halle (Saale)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart · 2008 Gerokstraße 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Rechte vorbehalten Druck und Einband: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza/Thüringen ISBN 978-3-8282-0453-9 ISSN 0048-2129

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Vorwort Das ordoliberale Denken als Fundament einer vernünftigen nationalen und internationalen Wirtschaftspolitik ist heute wichtiger denn je. Die derzeitige Krise der international verflochtenen Finanzmärkte mit teilweise verheerenden Folgewirkungen ist nicht auf eine leicht revidierbare prozesspolitische Fehlsteuerung zurückzufuhren. Die Ursachen liegen tiefer, sie sind ordnungspolitischer Natur und lassen sich mit einem nur an den Symptomen ansetzenden Aktionismus, Interventionismus und Dirigismus (Bankenverstaatlichung) nicht tiefgreifend und dauerhaft beheben. Vielmehr besteht damit die Gefahr, dass der Nährboden für die nächste Krise gelegt wird. Wir können diesen drängenden ordnungspolitischen Fragen in diesem Band nicht (mehr) ausführlich nachgehen, sehen jedoch für den kommenden Band einen thematischen Schwerpunkt zu den Ordnungsfragen des Banken- und Finanzmarktsystems vor. Vorab setzt sich Alfred Schüller im Anschluss an dieses Vorwort mit dem Versuch auseinander, liberale Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik , wie sie von den Ordoliberalen seit 60 Jahren in diesem Jahrbuch vertreten wird, mit Laissez Faire-Kapitalismus gleichzusetzen und für die Finanzmarktkrise verantwortlich zu machen. Der vorliegende 59. Band des ORDO-Jahrbuchs enthält erneut grundlegende und speziellere Beiträge zur Ordnungs- und Wettbewerbstheorie und -politik. Auch wenn nicht alle Implikationen der Beiträge die ungeteilte Zustimmung der Schriftleitung finden, werden die diskutierten Probleme und Thesen doch ausnahmslos als wichtig für die kritische Überprüfung und Klärung ordnungsökonomischer Positionen und Diskussionen angesehen. Der Band beginnt mit dem Spannungsverhältais von Markt und Staat, geht dann über zu theoretisch-konzeptionellen und anwendungsbezogenen Problemen des Wettbewerbs, widmet sich anschließend Fragen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung sowie der Politik und der Entwicklungszusammenarbeit. Der Hauptteil endet mit Erinnerungen an Erich Hoppmann und Helmut Gröner - zwei bedeutende Ökonomen, die sich um das ORDO-Jahrbuch verdient gemacht haben. Viktor Vanberg behandelt in dem ersten Beitrag Auswirkungen der Globalisierung auf die rechtlich-institutionellen Grundlagen von Märkten und Staaten. Seine zentrale These ist, dass die Globalisierung dazu zwingt, zwei Funktionen des Staates strikter voneinander zu trennen, als dies bisher der Fall ist: die leistungsstaatlichen Aufgaben einerseits und die Regulierungsaufgaben andererseits. Der Beitrag erörtert insbesondere die Konsequenzen staatlichen Handelns, die aus der zunehmenden Globalisierung bzw. aus dem zunehmenden Standortwettbewerb erwachsen. In dem zweiten Beitrag widmet sich Manfred Streit dem Problem des Reformstaus in Deutschland. Es werden (aus der Perspektive der Public-Choice-Theorie) die Gründe der Reformzurückhaltung erörtert, und zudem werden normative Schlussfolgerungen gezogen. Mit Möglichkeiten und vor allem Grenzen ausgeglichener öffentlicher Haushalte beschäftigt sich der Beitrag von Norbert Berthold und Daniel Koch. Es werden Dilemma-Situationen im politischen Sektor herausgestellt, die immer wieder Verschuldungsanreize schaffen. Aufbauend auf dieser Diagnose plädieren die Autoren für eine Intensivierung des (politischen) Wettbewerbs und für ein Verbot kreditfinanzierter öffentlicher Investitionen. Mit der Einnahmenseite des Staates setzt sich anschließend der Beitrag von Charles B. Blankart

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Vorwort

auseinander. Auf der Suche nach Wegen zu mehr Steuerehrlichkeit werden Einflussfaktoren wie „Vertrauen in den Staat" und „Informationen und Sanktionen des Staates" näher untersucht. Ebenfalls mit der Einnahmenseite des Staates beschäftigt sich der Beitrag von Tobias Thomas. Aus wirtschaftshistorischer Sicht wird hier der Frage nachgegangen, welche Rolle der Staat gegenüber statusbedingtem Konsumverhalten (also gegenüber Luxusgütern) einnehmen soll. Den Bereich „Markt und Staat" beschließt der Beitrag von Hans Jörg Hennecke. Im Mittelpunkt steht eine ordnungsökonomische Analyse der drei neuen Grundsatzprogramme, die von den Regierungsparteien der Großen Koalition im Herbst 2007 kurz nacheinander beschlossen wurden und welche die älteren Programme von 1989 (SPD), 1993 (CSU) und 1994 (CDU) ersetzt haben. Der zweite große Themenschwerpunkt „Probleme des Wettbewerbs" beginnt mit einer grundlegenden Abhandlung zur Frage „Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz" von Dieter Schmidtchen. Soll das Wettbewerbsrecht der Freiheit verpflichtet sein oder der Effizienz? Der Autor argumentiert schließlich zugunsten des Effizienzprimats. Dieser Argumentation widerspricht Ernst-Joachim Mestmäcker in seiner Replik auf Schmidtchen. Mestmäcker plädiert für eine Wettbewerbspolitik, die in Übereinstimmung mit den allgemeinen Regeln gerechten Verhaltens geeignet ist, dem Primat der Wettbewerbsfreiheit Geltung zu verschaffen. An diese grundsätzlichen Abhandlungen knüpft auch der Beitrag von André Schmidt an, der sich derselben Frage („Freiheit versus Effizienz") anhand der Diskussion des „more economic approach" widmet. Die konkretere Problemstellung „Regulierung und Wettbewerbsrecht in liberalisierten Netzindustrien" wird in dem Beitrag von Justus Haucap und André Uhde diskutiert. Die Autoren machen deutlich, dass die Empfehlung für die institutionelle Ausgestaltung des Regulierungsrahmens in netzgebundenen Industrien maßgeblich von der vollzogenen und absehbaren Entwicklung des Wettbewerbs und damit von der tatsächlichen Regulierungsbedürftigkeit des jeweiligen Marktes abhängt. Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft steht in dem Beitrag von Heinz-Dieter Smeets und Andreas Knorr im Mittelpunkt der Analyse. Die Autoren gehen von der Feststellung aus, dass zentrale ordnungsökonomische Positionen und Thesen von Helmut Gröner auch heute noch gültig sind, Anzeichen dafür, dass die Zeit für eine Umsetzung Graners Reformideen gekommen sein könnte. Mit dem Beitrag von Frank Daumann und Markus Breuer endet der Themenschwerpunkt „Wettbewerb". Aufgrund der Erfahrungen mit der Regulierung des deutschen Glücksspielmarktes halten die Autoren das Aufrechterhalten des staatlichen Monopols aus ordnungsökonomischer Sicht für überholt. Lothar Wegehenkel und Heike Walterscheid eröffnen mit ihrem Beitrag zur Rechtsstruktur und Evolution von Wirtschaftssystemen den Themenschwerpunkt „Fraugen der Ordnung und Politik". Die Autoren arbeiten die Hintergründe und Triebkräfte der zunehmenden Zentralisierung heraus. Diese werden dem polit-ökonomischen Bereich zugeordnet. Abschließend werden Ansatzpunkte aufgezeigt, die eine Durchbrechung der Zentralisierungstendenzen ermöglichen und den Weg zurück in Richtung Dezentralisierung öffnen könnten. Anschließend behandelt Karl-Ernst Schenk das Spannungsverhältnis von Rationalität und Systemtheorie. Ausgehend von Hayeks und Simons Untersuchungen zur Rationalität wird gezeigt, dass die von Popper beschriebene situative Rationalität nicht nur geeignet ist, einzelne ökonomische Handlungssituationen zu spezifizieren, sondern auch um die unterschiedliche Einbettung von Systemkomponen-

Vorwort

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ten in Koordinationszusammenhänge besser analysieren zu können. Einer konkreteren Fragestellung widmet sich der bildungsökonomische Beitrag von Karsten Mäuse. Aufbauend auf dem von Gary Becker und seinen Mitarbeitern entwickelten Haushaltsproduktionsansatz wird argumentiert, die individuelle Bildung könne nicht als Ware betrachtet werden, die einfach auf Märkten käuflich zu erwerben sei. Hierzu wird versucht, begriffliche und analytische Klarheit in die sozialwissenschaftliche Analyse von Lehrdienstleistungsmärkten, Bildungsprozessen und Arbeitsmärkten zu bringen. Michael Wohlgemuth empfiehlt in seinem Beitrag „50 Jahre Europäische Ordnungspolitik" für die zukünftige Entwicklung Europas ein Modell flexibler, freiwilliger Integration nach Politikbereichen. Zum Thema „Konzepte der Entwicklungspolitik" erarbeiten Ingo Pies und Christof Wockenfuß Vorschläge zur Überwindung des entwicklungspolitischen Konflikts zwischen „Armutsbekämpfung" und „Demokratieforderung". Gelingen kann dies, so ihre These, wenn bei Diktatoren ein Interesse daran geweckt wird, der Bevölkerung gegenüber weniger repressiv aufzutreten. Hierfür müsste die internationale Entwicklungszusammenarbeit mit einem entsprechenden Ordnungsrahmen versehen werden. Der Beitrag skizziert ein solches institutionelles Arrangement. Die Sachs-Easterly-Kontroverse wird anschließend in dem Beitrag von Stefan Hielscher behandelt. Aus einer „ordonomischen" Perspektive werden die Ansätze beider Protagonisten kritisch diskutiert. Es wird dafür plädiert, die Anreizstrukturen in der der entwicklungspolitischen Praxis so zu reformieren, dass sowohl die Interessen der Armen als auch die der Reichen berücksichtigt werden. Mit Erinnerungen an Erich Hoppmann (*1923, |2007) und Helmut Gröner (*1930, |2006) schließt der Hauptteil. Manfred Streit hebt in seinem Beitrag unter anderem die engen Verbindungen Hoppmanns zur Freiburger Schule sowie dessen Skepsis gegenüber einer aktivistischen Konjunktursteuerung hervor. Alfred Schüller stellt noch einmal die klare Linie in Helmut Gröners ordnungspolitischem Denken heraus sowie seine wegweisenden Erkenntnisse in der Wettbewerbs- und Regulierungspolitik. Auch dieser ORDO-Band schließt wieder mit Buchbesprechungen zu wirtschaftsund gesellschaftspolitisch relevanten Themen. Die Schriftleitung dankt Karin Bauer für hilfreiche redaktionelle Arbeiten sowie Kathrin Pongs für das gelungene Management des Rezensionsteils. Ganz besonderer Dank gilt vor allem auch den zahlreichen Gutachtern, die mit ihren Stellungnahmen maßgeblich zu Verbesserungen der angenommenen Papiere beigetragen haben. Die Schriftleitung

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Liberale Ordnungspolitik - eine Notwendigkeit ohne Alternative Ordnungsökonomische Gedanken aus Anlass der Bankenkrise Alfred Schüller, Marburg* I Erleben wir jetzt das Ende des wirtschaftspolitischen Liberalismus? Ist die schwere Banken- und Finanzmarktkrise symptomatisch für die selbstzerstörerische Kraft des marktwirtschaftlichen Systems? Sind das Vertrauen in die Funktionsfahigkeit und Menschenwürdigkeit der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung und das Misstrauen gegenüber Ansprüchen einer staatlichen Allmacht nicht mehr begründet? Bei Fragen dieser Art mit dem Charakter von Grabreden wird die Frage nach leistungsfähigeren Ordnungen erst gar nicht mehr ernsthaft gestellt. Wie nach 1918, nach 1929 und nach 1945 werden auch jetzt wieder ordnungspolitisches Versagen von amtlicher Wirtschaftspolitik und die dadurch ausgelösten Instabilitäten in Wirtschaft und Gesellschaft der marktwirtschaftlichen Ordnung schlechthin angelastet. Als die Schuldigen gelten die sog. Neoliberalen1. Sie finden sich in der Rolle eines Sündenbocks wieder, der alles Übel symbolisiert, für alle Fehlentwicklungen und Misserfolge verantwortlich gemacht und aufgefordert wird, das Feld zu räumen. Demgegenüber ist festzuhalten, dass gesellschafts- und wirtschaftspolitische Positionen, die von vielen Politikern und Publizisten heute als „neoliberal" bezeichnet werden, von den wirklich Neoliberalen nicht vertreten wurden und werden - schon gar nicht von den Ordoliberalen. Vielmehr ist hier im Grundsätzlichen und in der gegenwärtigen Bankenkrise an das Versagen deijenigen zu erinnern, die mit ihrem politischen Handeln gewollt oder ungewollt die Idee einer funktionsfähigen und menschenwürdigen marktwirtschaftlichen Ordnung diskreditiert haben. II Auch vor und nach 1929 reichte die antimarktwirtschaftliche Bewegung von der marxistischen Linken bis zur nationalen Rechten, sie schloss auch Gewerkschaften und bürgerliche Kreise ein. Von dieser Seite wurde jeder, der im wirtschafts- und sozialpolitischen Meinungskampf darum bemüht war, Bestrebungen und Entwicklungen in Richtung Sozialismus und Kollektivismus aufzuhalten und umzukehren und damit die Verhältnisse zum Besseren zu wenden, in geradezu absurder Weise verdächtigt, für völlige und absolute Freiheit in der Wirtschaft zu sein, also Ideen eines primitiven menschenfeindlichen Laissez Faire realisieren zu wollen. Auf diesem geistigen Nährboden setzte sich nach 1929 der Verfall der marktwirtschaftlichen Ordnung und der Weltwirtschaft beschleunigt fort. Politische Radikalisierung, der Zusammenbruch von Banken, zerrüttete Währungsverhältnisse, Vermachtungserscheinungen der Wirtschaft, ein aggressiver wirtschafts- und handelspolitischer *

Ich danke Martin Leschke, Josef Molsberger und Hans Willgerodt für hilfreiche Anmerkungen zur ersten Fassung dieses Beitrags. 1 Zur Ideengeschichte und zur Rolle dieses Begriffs im Meinungsstreit siehe Hans Willgerodt (ORDO, Bd. 57,2007, S. 47-89).

χ

Alfred Schüller

Nationalismus waren die Folge eines immer weitergehenden staatlichen Interventionismus und Dirigismus, der sich auf gravierende Fehlurteile über die Leistungsfähigkeit staatlicher Planung und Lenkung des Wirtschaftsgeschehens stützte. Zentrale Prinzipien und Institutionen der marktwirtschaftlichen Ordnung gerieten unter die Räder der Staatsbürokratie - nämlich das Primat einer Währungspolitik, die Geldwertstabilität sichert, die freie Preisbildung und Währungskonvertibilität, die Aufgabe, das Privateigentum und die Vertragsfreiheit in Verbindung mit der Haftungspflicht zu sichern. Außer Kurs gesetzt wurde auch die gesellschaftspolitische Aufgabe, privatwirtschaftliche Unternehmens- und Verbändemacht sowie die Staatstätigkeit zu begrenzen, einmal durch eine konsequente Politik der Wettbewerbsordnung, zum anderen durch Beschränkung des wirtschaftspolitischen Handelns auf die Aufgabe, die Ordnungsformen der Wirtschaft zu gestalten. Im Zusammenhang mit dem Hinweis auf diese beiden staatspolitischen Grundsätze sehen Liberale gerade auch im Erlass brauchbarer Kapitalverkehrs-, Börsen- und Hypothekengesetze eine staatliche Aufgabe2, nicht aber in der unmittelbaren Lenkung der Finanzströme - etwa mit Devisenkurs- oder Zinssatzfestsetzungen. Die Erfahrung, dass der Staat dann das allgemeine Wohl am besten fördern kann, wenn er sich vor allem auf das ordnungspolitisch Erforderliche beschränkt, wurde missachtet. Das Herumkurieren an Symptomen, um Wählern die Fähigkeit und Bereitschaft zu raschem politischen Handeln vorzuführen, kam in Mode. Die menschenunwürdigen Fehlentwicklungen und Misserfolge des sich seit den 20er Jahren ausbreitenden „Interventionismus als Wirtschaftssystem"3 entstanden aus einer heillosen Vermischung von Politik und Wirtschaft. Dies kam den Anhängern der marxistischen und nationalsozialistischen Ideologie wie auch jenen Parteien und Verbänden entgegen, die für die schrecklichen Deformationen des damaligen Wirtschaftsgeschehens die marktwirtschaftliche Ordnung schlechthin verantwortlich machten und mit syndikalistischen und sozialistischen Konzepten politische Macht anstrebten. Friede, Freiheit und Wohlstand sind auf der Strecke geblieben. Gefahren dieser Art sind nicht gebannt, wie viele glauben, die jetzt in einer erweiterten staatlichen Beherrschung des wirtschaftlichen Alltags durch eine Vielzahl unzusammenhängender und widerspruchsvoller, ja chaotischer Eingriffe das Allheilmittel sehen4. Es stellte sich damals und es stellt sich heute die Frage: Wie lässt sich das Vertrauen in die marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung wiederherstellen? Seit den 1920er Jahren ist dies das Streben der Neoliberalen, die auf verschiedene Weise Grundsätze und Institutionen für eine Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs als unverzichtbaren Teil einer Verfassung der Freiheit5 anstreben. Zu diesen Neoliberalen zählen auch die Ordoliberalen der Freiburger Schule wie Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Franz Böhm, Ludwig Erhard und viele andere, die seitdem an einer Weiterentwicklung der Konzeption einer menschenwürdigen freiheitlichen Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs

2

Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1. Auflage 1952, 6. Auflage, Tübingen 1990, S. 334 ff. 3 Siehe Ludwig von Mises, Kritik des Interventionismus. Untersuchungen zur Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsideologie der Gegenwart, Jena 1929. 4 Vergleiche Alfred Schüller, Der wirtschaftspolitische Punktualismus: Triebkräfte, Ziele, Eingriffsformen und Wirkungen, ORDO, Bd. 49, 1998, S. 105-126. 5 Siehe Friedrich A. Von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971.

Liberale Ordnungspolitik - eine Notwendigkeit ohne Alternative

XI

arbeiten, die im Anschluss an Alfred Müller-Armack vielfach Soziale Marktwirtschaft genannt wird. Das ordoliberale Denken stieß zunächst nach 1945 in der politischen und publizistischen Öffentlichkeit auf erhebliche Skepsis, ja auf Widerstand und Ablehnung - aus Gründen, die Franz Böhm 1951 in diesem Jahrbuch6 eindrucksvoll geschildert und widerlegt hat. Angesichts der aktuellen Propagierung antiliberaler Ideen ist dieser Aufsatz heute wieder besonders lesenswert. Ordoliberale konnten gleichwohl als wissenschaftliche Berater der Politik und als leidenschaftliche Publizisten zeitweilig die deutsche Wirtschaftsordnung mitgestalten. III Die Fähigkeit der neuen Ordnung, - heute vielfach in Vergessenheit geratene - wirtschaftliche und soziale Probleme rasch und nachhaltig zu lösen, kann als entscheidend für den gelungenen demokratischen Wiederaufbau Westdeutschlands nach 1949 angesehen werden. Die liberale Ordnungspolitik war eine starke geistig-politische und wirtschaftliche Basis für eine erfolgreiche Integration Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft und in die Weltwirtschaft. Der Bann der staatsdirigistisch-kollektivistischen Vergangenheit Deutschlands schien für immer gelöst zu sein. Neo- und Ordoliberale haben gezeigt, dass die Nationalökonomie in der Lage ist, mit der analytischen Strenge eines realistischen Denkens in alternativen Ordnungen einen bedeutenden Beitrag zur geistigen und wirtschaftlichen Neuordnung Deutschlands, Europas und der Welt zu leisten. Den konkurrierenden Vorstellungen der deutschen Historischen Schule, des Marxismus und des wissenschaftlichen Sozialismus ist das nicht einmal in Ansätzen gelungen. Der gescheiterte Versuch der UdSSR, auf der Grundlage eines systematischen Dirigismus die internationalen Wirtschaftsbeziehungen mit Hilfe des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe zu gestalten, hat gezeigt, dass es keine konkurrenzfähige Alternative zur marktwirtschaftlich verfassten internationalen Ordnung gibt. Seit 60 Jahren geht es in den Beiträgen dieses Jahrbuchs darum, die wissenschaftliche und politische Öffentlichkeit wie auch die amtliche Wirtschaftspolitik von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Grundsätze und Institutionen einer menschenwürdigen und funktionsfähigen Wirtschaftsordnung im Lichte neuer Erkenntnisse zu prüfen und zu stärken. Im Vergleich der tatsächlichen und möglichen Ordnungen wurden die Konkretisierung einer freiheitlichen Ordnung und die Aufgaben des Staates geprüft, und es wurde gezeigt, wie die marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung national und international weiterentwickelt, dem organisierten Missbrauch der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik entzogen und vor Kräften der inneren und äußeren Zerstörung geschützt werden kann. Wenn, so Franz Böhm 1961 in diesem Jahrbuch, „der Wettbewerb als Ordnungsinstrument ausfallt, dann bleibt im Grunde bloß der Übergang zur Zentralplanwirtschaft übrig, wenn man vermeiden will, dass unsere Gesellschafts- und Staatsordnung in eine pseudo-feudale Libertätenanarchie dilettantisierender Interessenhaufen mit dem Überbau einer durch pseudofeudale Querverbindungen bis ins Mark korrumpierten, ressortmäßig ebenfalls blind in der Gegend herumdillettierenden Staatsverwaltung absinkt".

6

O R D O , Bd. III, 1951, S. LIV ff.

XII

Alfred Schüller

Tatsächlich begann sich dann aber im politischen Prozess der 60er Jahre ein wohlfahrtsstaatliche Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft durchzusetzen, für das die Orientierungspunkte der Ordnungspolitik nicht mehr Personen, sondern Kollektive, vor allem Verbände und in vielfacher Abhängigkeit davon Parteien sind. Im politischen Prozess der Demokratie gelang es den Verbänden, sich immer mehr Personenrechte anzueignen und „das Volk, nach Gruppen- und Klasseninteressen organisiert, zum Druckmittel in der Hand von Funktionären" zu machen {Götz Briefs). Es drangen Denkrichtungen vor, die einer angeblich notwendigen und unvermeidbaren Unternehmenskonzentration das Wort redeten und eine aktivistische staatliche Konjunktur-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik mit einer die Staatsverschuldung begünstigenden Unterordnung der Geldpolitik unter die Fiskalpolitik im Geist von J. M. Keynes forderten - trotz nachweislich negativer Erfahrungen, die damals schon in den USA, in Großbritannien und anderen Ländern damit gemacht worden waren. Mit dem Wunsch nach mehr Staat im quantitativen Verständnis wurde die erfolgreiche Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard und das ihr zugrunde liegende Denken in Ordnungen als überholt diskreditiert. Die Aufgabe, das liberale Konzept der Sozialen Marktwirtschaft weiterzuentwickeln, geriet in Vergessenheit. Es waren und sind liberale Ökonomen, die unermüdlich nachgewiesen haben, was geschieht, wenn der Staat sich im wirtschaftlichen Alltagsgeschehen ein Wissen und Können anmaßt, über das er nicht verfügt - nämlich eine unentwirrbare Vermischung des Wirtschaftlichen und Politischen, die Ausbreitung von Gruppenegoismus und Gruppenanarchie, ein massives Anspruchsdenken in der Gesellschaft, fortschreitende Ruinierung der öffentlichen Finanzen, eine zunehmende Diskrepanz zwischen Entscheidung und Verantwortung (zum Beispiel durch ein haftungsfreies Unternehmensmanagement, eine haftungsfreie Mitbestimmung, die Syndikalisierung der Wirtschaft und viele andere Formen einer organisierten Verantwortungslosigkeit), die Verminderung der Anpassungskapazität der Wirtschaft und Schwächung ihrer Überlebensfahigkeit in Zeiten einer kritischen Struktur-, Konjunktur- und Beschäftigungsentwicklung. Es wurde den Unternehmen mit einer wettbewerbswidrigen Sozialpolitik mehr und mehr verwehrt, konjunkturelle Schlaglöcher aus eigener Kraft zu bewältigen. Die Fähigkeit der Wirtschaft, auf schockartige Herausforderungen angemessen zu reagieren, ist durch die wohlfahrtsstaatliche Überregulierung strukturell geschwächt worden. IV Wie absurd es ist, wenn liberales Ordnungsdenken pauschal zum Sündenbock der jüngsten Banken- und Finanzmarktkrise gemacht wird, sei an einigen Beispielen gezeigt: 1. Der Ursprung der Banken- und Finanzmarktkrise liegt in einer hektischen Geldund Zinspolitik der amerikanischen Zentralbank im Dienste einer aktivistischen Konjunktur-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Mit einer Zinssetzung nach Art einer Höchstpreispolitik entstehen regelmäßig Fehlanreize, die überall das Gegenteil des Gewünschten bewirken, mögen die wohlfahrtsstaatlichen Zwecke der Politik des niedrigen Zinses noch so wählerwirksam vermarktet worden sein. Zahlreiche US-Haushalte wurden in einer Niedrigzinsphase dazu verleitet, Immobilienkredite zur Verwirklichung ihres Traums vom eigenen Haus aufzunehmen. Angesichts des vereinbarten variablen

Liberale Ordnungspolitik - eine Notwendigkeit ohne Alternative

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Zinssatzes, unzureichenden Eigenkapitalanforderungen und prekärer Erwerbssituationen befanden sich zahlreiche Hypothekenkreditnehmer von vornherein in einem potentiellen Überschuldungszustand. Dieser hat vor allem ab Mitte 2007 bei einem geld- und währungspolitisch notwendigem drastischen Zinsanstieg mit erhöhten Kapitaldienstbelastungen Züge eines massenhaften Bankrotts angenommen. Der Zusammenbruch des amerikanischen Immobilienkreditmarktes war begleitet von weitreichenden Einkommensverlusten vieler amerikanischer Haushalte. Deshalb sank die Nachfrage nach Binnen· und Importgütern. Damit verschlechterten sich auch die Perspektiven der ausländischen Exportwirtschaft. Die amerikanische Krise der Immobilienkredite hat in Verbindung mit gravierenden staatlichen Versäumnissen auf der Ebene der Bankenordnung bei einer Reihe von Banken Liquiditätsschwierigkeiten und Insolvenzen ausgelöst und in der Kombination mit staatlich verursachten starken Zins- und Wechselkursschwankungen, finanzwirtschaftlichen und konjunkturellen Vertrauenseinbußen die Gefahr einer globalen Kredit- und Bankenkrise heraufbeschworen. Auslöser der Krise war eine verhängnisvolle staatliche Anmaßung von Wissen und Können auf der Grundlage einer wohlfahrtsstaatlich motivierten aktivistischen Geldpolitik Keynesschst Prägung. Liberale Ordnungspolitik geht dagegen davon aus, dass eine Währungsverfassung, die den geldpolitischen Instanzen freie Hand lässt, „diesen mehr zutraut, als ihnen im allgemeinen zugetraut werden kann. Unkenntnis, Schwäche gegenüber Interessengruppen und der öffentlichen Meinung, falsche Theorien, alles das beeinflusst diese Leiter sehr zum Schaden der ihnen anvertrauten Aufgabe".7 Mit dieser Feststellung hat Euchen wichtige Gedanken vorweggenommen, die in den späteren Public Choice-Ansätzen wieder aufgenommen und weiterentwickelt worden sind. Sie bestätigen in Übereinstimmung mit den Arbeiten von Milton Friedman und Karl Brunner das, was Henry C. Simons in der Erkenntnis etwa so zusammenfasst: „Regeln sind besser als Personen", wenn national und international gesichert werden soll, dass die freie Gesellschaft durch die Geldpolitik verlässlich gestärkt und nicht geschwächt werden soll. Eine Geldpolitik, die nicht als Ordnungspolitik angelegt, sondern - wie zuletzt in den USA, einem führenden Land im internationalen Währungs-, Banken- und Finanzmarktgeschehen - für konjunktur- und sozialpolitische Zwecke missbraucht wird, steht dazu im Widerspruch. Dafür wird jetzt der Welt die Rechnung präsentiert. Das werden auch diejenigen in Europa zu bedenken haben, die immer wieder eine politische Instrumentalisierung der Geldpolitik der EZB fordern, ohne die darin liegenden Gefahren der Rrisenauslösung zu bedenken. Eine konstitutionell abgesicherte Unabhängigkeit der Zentralbank und eine Verstetigung geldpolitischen Handelns erleichtern dagegen die Aufgabe, nicht nur den Geldwert stabil zu halten, sondern auch eine ausreichende monetäre Planungssicherheit der Wirtschaftsteilnehmer zu gewährleisten und allokative und distributive Fehlentwicklungen zu vermeiden. In dieser grundlegenden Erkenntnis liberaler Ordnungspolitik könnte deshalb ein wichtiger Ansatzpunkt für eine Krisen vermeidende internationale Bemühung liegen, weltweit glaubwürdige Zentralbankverfassungen zu etablieren.

7

Walter Euckert, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, a. a. O., S. 257.

XIV

Alfred Schüller

2. Die Bankenkrise bestätigt erneut, dass zwei besonders gravierende ordnungspolitische Problemkomplexe auf der Ebene des Geschäftsbankensystems nicht gelöst sind: (a) Für den ersten Problemkomplex ist zunächst die verbreitete Zulassung von staatlichen, quasi-staatlichen oder in anderer Form privilegierten Banken zu nennen, die verdeckt oder offen durch Sonderregeln einer sofort wirksamen Kontrolle des Wettbewerbs entzogen sind. Hinzu kommen folgende Mängel: Auf eine glaubwürdig bemessene Politik der Einlagensicherung ist verzichtet worden. Es ist versäumt worden, den Banken eine strengere Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit aufzuerlegen, vor allem auch über die Risikoqualität von Finanzprodukten zu berichten. Man hat ein Bilanzrecht zugelassen, das missbraucht werden kann, um Vermögenswerte und Risikopotentiale gegenüber der Öffentlichkeit zu verschleiern. Es fehlte an hinreichend strengen Haftungsvorschriften - bis hin zur Haftung verantwortlicher Manager für nachweisliche Schäden durch unzureichende Informationen. Auch das Recht auf Erfolgsbeteiligung ohne Pflicht zur Verlustbeteiligung steht im Widerspruch zum ordoliberalen Prinzip der Einheit von Entscheidung und Haftung. Und es sind wiederum Ordoliberale, die schon lange fordern, die Vorstände von Kapitalgesellschaften einer gegenüber heute wesentlich verschärften Verknüpfung von Entscheidung und Haftung zu unterwerfen. Expansionsstrategien beruhen auch im Bankenbereich nicht selten auf einem fadenscheinigen Effizienzoptimismus. Euchen wie viele andere Neo- und Ordoliberale nach ihm haben für Fälle einer Angliederung von Unternehmen empfohlen, dass die beherrschende Unternehmung für die übernommene Firma die volle Haftung übernimmt. Demzufolge wird gefordert, „....eine abhängige juristische Person, die faktisch nur eine Filiale darstellt, sollte auch rechtlich als Filiale der herrschenden Firma behandelt werden. Dass ein Konzern, der faktisch ein einheitlich geleitetes Unternehmen ist, in viele juristische Personen zerfällt, erweist sich als unerträglich".8 In den Fällen, in denen Großaktionäre mit qualifiziertem Mehrheitsbesitz Beherrschungsverhältnisse begründen, müsste die Aktiengesellschaft durch die KGaA ersetzt werden, um eine engere Verbindung von personalem Entscheidungsrecht und personaler Haftungspflicht zu sichern. Mit Überlegungen, wie private Macht jedweder Art von den Entstehungsgründen her zu bekämpfen ist, verweisen Neo- und Ordoliberale schon lange auf das gesellschaftspolitische Ärgernis von institutionellen Anreizen, die dem Management im Unternehmensgeschehen eine fragwürdige Sonderstellung verleihen. Die Führungsorgane von Kapitalgesellschaften haben nicht nur ein Haftungsprivileg, sondern sind vom geltenden Aktienrecht auch dadurch begünstigt, dass sie sich bei der Entscheidung über die Gewinnverteilung in einem erheblichen Ausmaß in der Rolle des Teilhabers ohne Eigentümerstatus befinden.9

8 Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, a. a. O., S. 283. 9 Zu den Möglichkeiten, den personalen Charakter des Gesellschaftsrechts durch Repersonalisierung der Rechte am Privateigentum an den Produktionsmitteln zu stärken siehe Alfred Schüller, Eigentumsrechte, Unternehmenskontrollen und Wettbewerbsordnung, ORDO, Bd. XXX, 1979, S. 325-346. Ulrich Fehl und Peter Oberender, Unternehmensverfassung, Kapitalmarktordnung und Wettbewerb: Zum Einfluss gesellschaftsrechtlicher Dimensionen der Kapitalmarktordnung auf den Wettbewerbsprozess, in: Helmut Leipold und Alfred Schüller (Hg.), Zur Interdependenz von Unternehmens- und Wirtschaftsordnung, Stuttgart und New York 1986, S. 137-151.

Liberale Ordnungspolitik - eine Notwendigkeit ohne Alternative

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(b) Nur unvollkommen gelöst ist zweitens das Problem der Ordnung der Geschäftsbanken, das schon seit vielen Jahrzehnten von liberalen Ökonomen erkannt worden ist. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise nach 1929 ist das zweistufige Bankensystem weit über die USA hinaus einer scharfen Kritik unterzogen worden. Im Mittelpunkt dieser Politik steht die Möglichkeit der Buchgeldschöpfung durch die Geschäftsbanken. Deshalb ist in den 30er Jahren von Ökonomen der Universität Chicago, vor allem von Simons und später auch von Friedman, eine Regel vorgeschlagen worden, nach der die Sichteinlagen der Geschäftsbanken zu 100 % in Zentralbankgeld gedeckt sein müssten. Die Beseitigung der Möglichkeit, über diese verzinslichen Reserven hinausgehende Giralgeldschöpfung zu betreiben, würde das Aktivgeschäft der Banken nicht ausschließen, wohl aber anstelle der Politik der Fristentransformation die Politik der Fristenkongruenz zwischen Passiv- und Aktivgeschäft grundsätzlich erzwingen. Nach dieser sogenannten „Goldenen Bankregel" könnten die Geschäftsbanken den Einlagen zwar eine andere Form geben, sie könnten das Geld aber nicht mehr im bisherigen Umfang vermehren oder vermindern. Darin werden zwei Vorteile gesehen, die heute besonders interessieren könnten: Einmal wird die Möglichkeit einer regelgebundenen Steuerung der inländischen Geldmenge durch die Zentralbank erleichtert. Ihr Einfluss auf Preise, Wechselkursentwicklung und andere ökonomische Variablen wird gestärkt, wenn sie institutionell vor politischen Einflüssen geschützt wird, unausweichlich auf Geldwertstabilität verpflichtet ist und andere Stellen direkt oder indirekt an einer ungeregelten Geldschöpfung gehindert werden können. Zum anderen würde bei Durchsetzung des Prinzips der Fristenkongruenz ein verbesserter Schutz der Gläubiger vor dem Verlust ihrer Ersparnisse gewährleistet. Das bankentypische Liquiditätsrisiko - Einlagen im Passivgeschäft stehen längerfristige Forderungen im Aktivgeschäft gegenüber - wird abgebaut. Die aus der Möglichkeit eines Run- und Dominoeffekts gefolgerte besondere Vertrauensempfindlichkeit der Geschäftsbanken würde gemildert. Insgesamt wird erwartet, dass die geldpolitisch wichtige Aufgabe der Sicherung des Gläubigerschutzes, der Stabilität und Vertrauenswürdigkeit des Bankensystems - als Hauptziele jeder staatlichen Bankenregulierung - wesentlich erleichtert würde. Die Absichten, die mit dem 100 %-Plan verfolgt werden, lassen eine Problemsicht erkennen, die den als Laissez Faire-Kapitalisten geschmähten Vertretern der ChicagoSchule vielfach nicht zugetraut wird. Allerdings wirft diese Idee viele ernsthafte und zum Teil noch ungeklärte Funktions- und Ordnungsfragen des Geld- und Bankensektors auf10 - zunächst einmal generell im Hinblick auf ein weiterhin mögliches geldpolitisches Versagen der Zentralbank; zum anderen können den Bankeinlagen andere Formen gegeben werden, die über die Verflechtung von Geschäftsbanken und anderen Finanzmarktteilnehmern als Basis genutzt werden können, um wiederum „faule" Finanzprodukte in Umlauf zu bringen. Tatsächlich hat sich im Verhältais von Banken und anderen Finanzmarktteilnehmern offensichtlich eine Art von jener „pseudo-feudalen Libertätenanarchie" entwickelt, von der oben im Anschluss an Franz Böhm die Rede war.

10 Siehe hierzu Gerrit Fey, Banken zwischen Wettbewerb, Selbstkontrolle und staatlicher Regulierung. Eine ordnungsökonomische Analyse, Stuttgart 2006, S. 215 ff.

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Alfred Schüller

Wenn auf die sich in diesem Zusammenhang stellenden Probleme, die nach Knight11 vorauszusehen waren, ordnungspolitisch rechtzeitig reagiert worden wäre, hätten die überraschend aufgetretenen Probleme wahrscheinlich nicht entstehen oder jedenfalls nicht das zu beklagende Ausmaß annehmen müssen. 3. Banken- und Finanzmarktkrisen sind letztlich regelmäßig auf krassess Staatsversagen zurückzuführen. Traditionell setzte die Therapie vor allem bei der Regulierung der Geschäftsbanken an, die sich einer immer rascher ansteigenden Flut von kostspieligen Vorschriften ausgesetzt sehen. So wurde mit dem deutschen Kreditwesengesetz von 1934, novelliert 1939, 1961, 1971, 1976, 1984, 1993, 1995 und bis heute in vielen weiteren Einzelpunkten abgeändert, ein Weg eingeschlagen, der seit den 80er Jahren von Bestrebungen einer beschleunigten Harmonisierung der internationalen Bankenaufsicht im Sinne des „Basel-Akkord" bestimmt ist. Offensichtlich wird aber mit den ständig verfeinerten Ansprüchen an eine „objektive Risikomessung" der inhärente Wissensmangel nationaler und supranationaler Behörden unterschätzt. Mit international harmonisierten Regulierungsmustern ist wahrscheinlich den Gläubigern der Banken eine Erwartungssicherheit suggeriert worden, die zur Gutgläubigkeit verleitet, sich jedenfalls als höchst fragwürdig herausgestellt hat. Wie sonst ist es zu erklären, dass nicht nur kleine und traditionell als weniger gut informiert geltende Sparer, sondern auch größere professionell anlegende Kunden zur Zeichnung von Wertpapieren veranlasst werden konnten, die sich als hochgradig vom Ausfall bedroht herausgestellt haben? Die Frage, ob und in welchem Maße die Auswirkungen grober Fehler der staatlichen Geld- und Währungspolitik durch eine Verschärfung und Fortentwicklung der Bankenregulierung im Sinne des Basel-Akkord aufgefangen werden können, erfordert im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit des eingeschlagenen Regulierungspfades und mit Blick auf die oben skizzierten Ansätze einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Gestaltung der Bankenordnung eine gründlichere Prüfung, als dies bisher wohl geschehen ist. V Das „Denken in Ordnungen" der Ordoliberalen hat sich in Zeiten rasch wachsenden Misstrauens in die bestehende Wirtschaftsordnung vielfach bewährt: nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland, im Wettkampf der Systeme vor 1989, in den frühen Debatten über den Weg der europäischen Integration, nach 1989 in den Transformationsländern. Und auch jetzt haben die Liberalen allen Grund, ihre Waffen nicht zu strecken, sondern zu zeigen, dass es keinen anderen Weg gibt als konsequente Ordnungspolitik, um einen pathologischen Ordnungszustand von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft effektiv und nachhaltig zu beseitigen. Wie in der Krise nach 1929 ist auch heute die Destabilisierung des Banken- und Finanzsystems einem Versagen des Staates und der Politik anzulasten, in diesem Falle der USA, mit weitreichenden, teilweise verheerenden negativen Effekten für das gesamte Banken- und Finanzmarktsystem. Staaten, die das Monopol der Geldemission durch die Zentralbank beanspruchen, geraten damit gemäß dem Prinzip der Einheit von Entscheidung und Haftung systemlogisch auch in die Letztverantwortung, für die Konsequenzen

11 Siehe hierzu Malcolm D. Knight, Schmerzhafte Lernprozesse im globalen Finanzsystem, Schweizer Monatshefte, 88. Jg., April 2008, S. 29-34.

Liberale Ordnuiigspolitik - eine Notwendigkeit ohne Alternative

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von Bankenkrisen zu haften, mögen diese ursprünglich auch von anderen Staaten ausgelöst worden sein. Das ist aber nur die reaktive Seite staatlicher Verantwortlichkeit. Die aktive Seite besteht in der Beachtung der Erkenntnis, dass die wirkungsvollste Bankenaufsicht darin besteht, (wirtschafts-)politisch verursachte Krisen zu vermeiden nicht durch mehr Staat im quantitativen Sinne, sondern durch mehr Staat im qualitativen Verständnis einer liberalen Ordnungspolitik. Die Bedingungen für die notwendige Neubelebung liberaler Ordnungspolitik sind in einem offenen internationalen Wettbewerb der Ordnungen sehr viel günstiger als nach 1929.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Inhalt Alfred Schüller Liberale Ordnungspolitik - eine Notwendigkeit ohne Alternative Viktor J. Vanberg Markt und Staat in einer globalisierten Welt: Die ordnungsökonomische Perspektive

IX

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Manfred E. Streit Im Reformstau - oder das Elend des Verbändestaates

31

Norbert Berthold und Daniel Koch Von der (Un-)Möglichkeit ausgeglichener Haushalte

39

Charles B. Blankart Wege zu mehr Steuerehrlichkeit

63

Tobias Thomas Fragwürdige Luxussteuern: Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten in der Geschichte ökonomischen Denkens

91

Hans Jörg Hennecke Die neuen Grundsatzprogramme der deutschen Parteien aus ordnungspolitischer Sicht

115

Dieter Schmidtchen Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz? Zur Zweisamkeit von Recht und Ökonomie im Bereich der Wettbewerbspolitik

143

Ernst-Joachim Mestmäcker Wettbewerbsfreiheit und unternehmerische Effizienz. Eine Erwiderung auf Schmidtchen

185

André Schmidt Ordnungsökonomische Wettbewerbskonzepte: Die Wettbewerbspolitik im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Effizienz

209

Justus Haucap und André Uhde Regulierung und Wettbewerbsrecht in liberalisierten Netzindustrien aus institutionenökonomischer Perspektive

237

Heinz-Dieter Smeets und Andreas Knorr Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft - heute

263

Frank Daumann und Markus Breuer Zur Neuordnung des Lotteriemarktes in Deutschland

287

XX·

Inhalt

Lothar Wegehenkel und Heike Walterscheid Rechtsstruktur und Evolution von Wirtschaftssystemen Pfadabhängigkeit in Richtung Zentralisierung?

313

Karl-Ernst Schenk Ökonomische Systemtheorie: Rationalität, widerlegbare Spezifizierung und vergleichende Performance-Messung

343

Karsten Mäuse Ist Bildung eine Ware? Ein Klärungsversuch

363

Michael Wohlgemuth 50 Jahre Europäische Ordnungspolitik: ordnungs- und konstitutionenökonomische Anmerkungen

381

Ingo Pies und Christof Wockenfuß Armutsbekämpfung versus Demokratieforderung: Wie lässt sich der entwicklungspolitische Trade-Off überwinden?

405

Stefan Hielscher Die Sachs-Easterly-Kontroverse: „Dissent on Development" Revisited Eine ordonomische Analyse zur Interdependenz von Sozialstruktur und Semantik moderner Entwicklungspolitik

441

Manfred E. Streit Freiheit und Wettbewerb. In Memoriam Erich Hoppmann (31. Dezember 1923 - 29. August 2007)

475

Alfred Schüller Der Liberalität verpflichtet. In Memoriam Helmut Gröner (12. Oktober 1930 - 27. Juli 2006)

479

Buchbesprechungen

493

Personenregister

579

Sachregister

589

Anschriften der Autoren

595

Hauptteil

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Viktor J. Vanberg

Markt und Staat in einer globalisierten Welt: Die ordnungsökonomische Perspektive1 Inhalt I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.

Vorspann Die ordnungsökonomische Perspektive Globalisierung Globalisierung und Staatenwettbewerb Besteuerung in einer globalisierten Welt Bürger, Standortnutzer und der Steuerwettbewerb Die Besteuerung von Bürgern und die Besteuerung von Standortnutzern Globalisierung und Regulierung Schluss: Die Soziale Marktwirtschaft in einer globalisierten Welt

3 5 7 10 12 16 19 21 24

Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Market and state in a globalized world: the perspective of constitutional economics

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I. Vorspann Wie viele von Ihnen wissen werden, bin ich von Hause aus Soziologe. All meine akademischen Abschlüsse, Diplom, Promotion und Habilitation, habe ich in diesem Fach erworben. Und Sie werden auch wissen, dass ich in den vergangenen dreizehn Jahren hier in Freiburg den Lehrstuhl innehatte, auf dem in den 1960er Jahren Professor Friedrich August von Hayek lehrte. Nun ist es sicherlich eine ungewöhnliche Konstellation, dass ein Soziologe - zumal einer, der im symbolträchtigen Jahr 1968 sein Diplomexamen abgelegt hat - eine wirtschaftswissenschaftliche Professur innehat, und dies ausgerechnet in der Nachfolge eines so dezidiert liberalen Ökonomen wie von Hayek. Dass diese ungewöhnliche Konstellation Realität werden konnte, hat mit einer - zumindest aus meiner Sicht - glücklichen Verkettung von Umständen zu tun, deren letztes Glied in der mutigen Entscheidung der Freiburger Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät im Jahre 1994 bestand, mich als Soziologen auf die Nachfolge Hayeks zu berufen. Nun 1 Abschiedsvorlesung, gehalten an der Universität Freiburg i.Br. am 25. Juli 2008. Die Vortragsfassung ist für die Veröffentlichung um Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis ergänzt worden. - Für wertvolle Hinweise danke ich Alexander Schindler.

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waren die Anforderungen an den Mut der Fakultät dadurch etwas abgemildert, dass der amerikanische Ökonom James Buchanan 1983 den Entschluss gefasst hatte, mich zu einem längeren Aufenthalt als Gastwissenschaftler an das von ihm geleitete „Center for Study of Public Choice" an der George Mason University einzuladen, und dass wenig später das Economics Department dieser Universität den Mut hatte, einen deutschen Soziologen zum „Professor of Economics" zu ernennen. Die Freiburger Fakultät konnte sich bei ihrer Berufiingsentscheidung also zumindest darauf stützen, dass ich bereits zehn Jahre lang an einer amerikanischen Universität als „Professor of Economics" gelehrt hatte. Dass Professor Buchanan das Experiment wagte, einen deutschen Soziologen an sein Institut zu holen, hatte nun wiederum mit meinen Forschungsinteressen und meinen Veröffentlichungen sowie mit dem glücklichen Umstand zu tun, dass ich ihm auf einer Reihe von Konferenzen persönlich begegnen und mit ihm in einen fachlichen Austausch kommen konnte. Mit Buchanans Werk war ich insbesondere durch meine damalige Mitarbeit im Münsteraner Institut für Genossenschaftswesen vertraut, in dem sich eine Reihe von Kollegen intensiv mit seinen verfassungsökonomischen Theorien und verwandten Ansätzen auseinandersetzten. Was also meine eigene Forschungsorientierung und meine Publikationen anbetraf, so war ich gewiss kein typischer Soziologe, erst recht kein typischer 68er. Schon bald in meinem Studium hatte ich unter dem Einfluss der Schriften Hans Alberts, bei dem ich mich 1981 habilitieren durfte, eine kritische Einstellung zu den die damalige Soziologie dominierenden kollektivistischen Theorien entwickelt und mich einer dezidiert individualistischen Soziologie verschrieben, wie sie damals von einer winzigen Minorität im Fach vertreten wurde. Neben den Schriften von Hans Albert und, dadurch angeregt, den wissenschaftstheoretischen und sozialphilosophischen Schriften Karl Poppers - war es vor allem das Werk von Friedrich von Hayek, das mein eigenes Denken nachhaltig prägen sollte. Es war das intensive Studium der Schriften Hayeks, das mir das argumentative Rüstzeug vermittelte, mit dem ich der intellektuellen Herausforderung der 68er Kulturrevolution - zumal in dem Berliner Umfeld, in dem ich von 1968 bis 1974 als Assistent arbeitete - begegnen konnte. Das Werk Hayeks prägte mein eigenes Denken und meine Forschungsinteressen so sehr, dass ich zu einem - ich glaube, so kann ich mich treffend bezeichnen - Hayekschen Soziologen wurde. Meine erste, 1972 erschienene, Publikation kommentierte denn auch ein Rezensent mit der Bemerkung, ich würde „im Stil der österreichischen Altliberalen" argumentieren, ein Kommentar, der in der damaligen Zeit als vernichtende Kritik gemeint war, den ich aber durchaus als Kompliment nahm. Obwohl ich in meinem Denken so grundlegend durch Hayek beeinflusst wurde, dessen Schriften ich begierig verschlang, und obwohl Hayek, wie ich später erfuhr, auch einige meiner Schriften kannte, bin ich ihm persönlich doch erst recht spät, nämlich im Jahre 1981 begegnet, und zwar hier in Freiburg. Der Anlass war eine Tagung, bei der mir die ehrenvolle Aufgabe zugeteilt worden war, ein Korreferat zu Hayek zu halten, eine Gelegenheit, die ich nutzte, um meine Vorstellungen zur Vereinbarkeit der liberalen theoretischen Konzeptionen von Hayek und James Buchanan darzulegen, die von

Markt und Staat in einer globalisierten Welt

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vielen als miteinander konfligierend angesehen wurden.2 Buchanan nahm an der betreffenden Tagung ebenfalls teil, und es war bei dieser Gelegenheit, dass er mich zu einem ersten Forschungsaufenthalt an sein Institut einlud, aus dem sich dann die bereits erwähnte längerfristige Einladung und die Berufung auf die Professur an der George Mason University ergaben. Aus diesem kurzen, bruchstückhaften Rückblick auf meinen akademischen Werdegang mag deutlich geworden sein, dass es zwar vieler glücklicher Umstände bedurfte, es aber vielleicht doch nicht einer gewissen Logik entbehrte, wenn ich den Weg nach Freiburg auf den Hayekschen Lehrstuhl gefunden habe. Freilich hätte ich in meiner Studienund Assistentenzeit als junger Hayek-VcTchrer nicht einmal zu träumen gewagt, dass ich einmal ein Nachfolger auf seinem Lehrstuhl sein würde. Hätte ich davon zu träumen gewagt, dann hätte ich sagen können, dass mit meiner Berufung nach Freiburg ein Traum in Erfüllung ging. Jedenfalls gab mir diese Berufung die wunderbare Gelegenheit, mein durch Hans Albert angeregtes, auf dem Werk Hayeks aufbauendes und durch die Verfassungsökonomik Buchanans bereichertes Forschungsprogramm an dem Ort fortzuführen, an dem eine zu diesem Forschungsprogramm höchst kongeniale Tradition zu Hause ist, die Tradition der Freiburger Schule. Seit dem Tag, an dem ich in der Nachfolge von Manfred Streit die Freiburger Professur antrat, habe ich es als meine wesentliche Mission betrachtet, in Lehre und Forschung einen Theorieansatz zu vertreten und weiter zu entwickeln, der den Freiburger ordnungspolitischen Beitrag mit den Vorstellungen Hayeks und Buchanans in systematischer Weise verbindet. Insofern bin ich denn auch im Jahre 2001 sehr gerne der Einladung gefolgt, zusätzlich zu meinem Lehrstuhl die Leitung des Walter Eucken Instituts zu übernehmen. Und im Sinne einer aus den drei genannten Quellen gespeisten ordnungsökonomischen Perspektive werde ich mich nun im Folgenden der Frage nach der Rolle von Markt und Staat in einer globalisierten Welt zuwenden.

II. Die ordnungsökonomische Perspektive Ich möchte meinen Überlegungen zu dieser Frage ein Zitat aus der Antrittsvorlesung vorausschicken, die Hayek 1962 hier in Freiburg hielt, das das Anliegen der ordnungsökonomischen Perspektive deutlich herausstellt. Mit kritischem Blick auf ein Verständnis von Wirtschaftswissenschaft, das meint, nach dem Muster der exakten Naturwissenschaften ein Steuerungswissen bereitstellen zu können, das auf spezifische Ergebnisse abzielende wirtschaftspolitische Interventionen anleiten kann, stellte Hayek damals fest, „dass entgegen einer weitverbreiteten Meinung die Wirtschaftstheorie sehr viel über die Zweckmäßigkeit verschiedener Wirtschaftssysteme oder Wirtschaftsordnungen zu sagen hat, ... aber verhältnismäßig wenig über die konkreten Wirkungen besonderer Maßnahmen in gegebenen Umständen. Wir kennen den allgemeinen Charakter der selbstregulierenden Kräfte der Wirtschaft und die allgemeinen Bedingungen, unter denen diese Kräfte funktionieren oder nicht funktionieren werden, aber wir kennen nie all die besonderen Umstände, an die sie eine Anpassung herbeiführen" {Hayek 2001, S. 77). 2

Veröffentlicht als

Vanberg ( 1981 ).

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Im Zentrum des Hayeks,chen Ansatzes steht der - den zitierten Bemerkungen zugrunde liegende - Gedanke, dass Wirtschaft und Gesellschaft höchst komplexe Systeme sind, deren vielfaltig verflochtene und interdependente Wirkungszusammenhänge es unmöglich machen, die Gesamtwirkungen spezifischer Eingriffe vorauszusehen. Wir müssen uns daher aus rationaler Einsicht in die Grenzen unseres Wissens damit bescheiden, Mustervoraussagen über die allgemeinen Wirkungstendenzen zu machen, die von Änderungen in grundlegenden Steuerungsprinzipien, den Spielregeln oder Rahmenbedingungen des Systems, zu erwarten sind. Das bedeutet aber auch, dass unser Ehrgeiz, das wirtschaftliche und soziale Geschehen zu beeinflussen, sich im wesentlichen auf Ordnungspolitik, also auf die zweckmäßige Gestaltung der allgemeinen Rahmenbedingungen beschränken muss, und dass wir nicht aus einer - wie Hayek es genannt hat - Anmaßung von Wissen heraus mit Maßnahmen in das komplexe gesellschaftliche Gefüge intervenieren sollten, deren unmittelbar voraussagbare Folgen uns vielleicht wünschenswert erscheinen mögen, deren vielfaltige indirekte - und unter Umständen höchst verhängnisvolle - Konsequenzen wir aber nicht zu überschauen vermögen. Der Versuch, unvorhergesehenen unerwünschten Folgen solcher Eingriffe durch weitere Eingriffe entgegenzuwirken, führt nur zu leicht zu Interventionsspiralen, die schon recht bald in ein gänzlich undurchschaubares Dickicht von ineinander verflochtenen erwünschten und unerwünschten Konsequenzen einmünden. Die erst nach und nach sichtbar werdenden indirekten Auswirkungen mancher Interventionen in den Energiemarkt, wie etwa der staatlichen Förderung so genannter Biokraftstoffe, seien hier als lediglich ein Beispiel erwähnt. Ordnungsökonomik Hayeks cher Prägung - und dies trifft ebenso auf die Freiburger Schule und die Verfassungsökonomik Buchanans zu - ist durchaus eine auf praktische Anwendbarkeit ausgerichtete Ökonomik, will sie doch Wissen bereit stellen, das zur Lösung von Problemen genutzt werden kann, mit denen Menschen in ihrem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben zu tun haben. Aber ihre spezifische Botschaft stellt gerade darauf ab, dass wir uns bei dem Bemühen um bewusste Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft der Grenzen der Machbarkeit bewusst bleiben, die die Komplexität wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wirkungszusammenhänge solchem Bemühen setzt. Eine der grundlegenden Herausforderungen, vor denen eine Wirtschaftswissenschaft, die einen Beitrag zur Bewältigung realweltlicher Probleme leisten will, heute steht, liegt gewiss darin, Wissen darüber bereit zu stellen, wie die Probleme gelöst werden können, mit denen unsere Gesellschaft angesichts der grundlegenden Wandlungen konfrontiert ist, die sich vor allem seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums in der Weltwirtschaft vollzogen haben und weiterhin in nicht abnehmendem Tempo vollziehen, Wandlungen, die gemeinhin mit dem Stichwort der Globalisierung umschrieben werden. Dass unser überkommenes und in Jahrzehnten gesetzgebender und rechtsprechender Ausgestaltung geformtes, vielleicht auch verformtes, Modell der Sozialen Marktwirtschaft diesen Wandlungen nicht in allen Belangen angepasst und in wesentlichen Teilen revisionsbedürftig ist, wird mittlerweile wohl von den meisten Verantwortungsträgern in unserem Lande erkannt. Weniger einhellig sind freilich die Auffassungen davon, was denn genau zu reformieren ist, und große Ratlosigkeit macht sich schnell breit, sobald man auf die Frage zu sprechen kommt, wie die strukturellen Re-

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formen, die zur Sicherung der Nachhaltigkeit unserer Wirtschafts- und Sozialordnung notwendig erscheinen, angesichts einer Wählerschaft politisch auf den Weg gebracht werden können, die zwar in Umfragen grundsätzliche Einsicht in Reformnotwendigkeiten erkennen lässt, an der Wahlurne aber diejenigen abstraft, die es wagen, dieser grundsätzlichen Einsicht konkrete Gestalt zu geben. Nun wäre es gewiss eine ungeheure Anmaßung von Wissen, wenn ich den Anspruch anmelden würde, Ihnen mit meinem Vortrag eine Antwort auf diese Fragen geben zu können. Ich verfolge das wesentlich bescheidenere Ziel, einige grundsätzliche Überlegungen vorzutragen, die zu einem besseren Verständnis der Herausforderungen beitragen können, vor die die Globalisierung unser Modell der Sozialen Marktwirtschaft stellt, in der Hoffnung, damit für etwas mehr Klarheit in der Frage sorgen zu können, welche Reformen erforderlich sind, um die Zukunftsfähigkeit dieses Modells zu sichern.

III. Globalisierung Versteht man unter Globalisierung die zunehmende Integration der Weltwirtschaft, so ist das, was wir heute mit diesem Begriff bezeichnen, keineswegs ein völlig neuartiges Phänomen sondern die Fortführung einer Entwicklung, die - wenn auch mit Rückschlägen und mit unterschiedlicher Intensität - die gesamte Menschheitsgeschichte durchzogen hat, nämlich eine ständige Ausweitung von Austausch- und Handelsnetzwerken. Der Wunsch der Menschen, Vorteile durch Tausch und Handel zu realisieren, hat sie schon immer dazu veranlasst, die Grenzen etablierter Handelsräume zu überschreiten. So zeigen etwa archäologische Befunde, dass es in der Menschheitsgeschichte schon recht früh, lange vor der durch schriftliche Zeugnisse dokumentierten Historie, ausgedehnten Fernhandel gegeben haben muss. Auf die Frage, was Globalisierung für den Markt bedeutet, hat - lange bevor dieser Begriff geprägt wurde - bereits Adam Smith mit seinem Hinweis auf den Zusammenhang zwischen der Ausdehnung des Marktes und wirtschaftlichem Wohlstand die entscheidende Antwort gegeben {Smith 1776, 2005, S. 101 f f ) . Die wesentliche Quelle nachhaltiger Wohlstandsmehrung, so argumentierte Smith, ist die Steigerung der Produktivität der menschlichen Arbeit. Die Produktivität menschlicher Arbeit ist ihrerseits vom Grad der Arbeitsteilung und Spezialisierung abhängig, und die Möglichkeiten der Arbeitsteilung und Spezialisierung sind wiederum abhängig von den Tausch- und Handelsmöglichkeiten, also - in den Worten von Adam Smith - von der Ausdehnung des Marktes. Im Sinne dieser Argumentationskette ist die Ausweitung des Marktes eine entscheidende Triebkraft für die Steigerung wirtschaftlichen Wohlstands. Globalisierung ist aber nichts anderes als Ausweitung des Marktes, und sie ist in diesem Sinne aus einer S/w/Aschen Perspektive als ein wirksamer Motor weltweiter Wohlstandssteigerung anzusehen. Adam Smith wäre daher nicht überrascht gewesen, zu erfahren, dass im Zuge der Globalisierung in den letzten zwei Jahrzehnten der Anteil der in absoluter Armut lebenden Menschen in der Welt deutlich gesunken ist (Sala-i-Martin 2006), und ihn hätte auch nicht die Auskunft überrascht, dass die zwanzig ärmsten Länder dieser Welt in der Wohlstandsentwicklung weiter zurückgefallen sind, wenn man ihm die dazu gehörende Information geben würde, dass dies typischerweise Länder sind, die sich dem

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Weltmarkt gerade nicht geöffnet haben und in ihrem Inneren nicht die elementaren rechtlichen Voraussetzungen dafür bieten, dass sich funktionsfähige Märkte entwickeln können (Bhalla 2002). In der Einschätzung, dass Marktöffnung und Integration in die weltweiten Austausch- und Handelsnetzwerke die besten Strategien zur Wohlstandssicherung sind, ist die ökonomische Profession Adam Smith bis heute im Wesentlichen gefolgt. Zwar hat bekanntlich Friedrich List einen prominenten Versuch unternommen, den Nachweis zu fuhren, dass unter bestimmten Bedingungen nationalstaatlicher Protektionismus vorteilhafter sein kann als die Rezeptur der - so List - „kosmopolitischen Ökonomie" von Adam Smith {List 1841, 1910, S. 204 ff.). Und in ihrem Hang zur Modellesoterik sind eine ganze Reihe von Ökonomen List in dem Bestreben gefolgt, Ausnahmen von der Smithschen Regel zu identifizieren. Dass die praktische Relevanz dieser vermeintlichen Beispiele für wohlstandssteigernden Protektionismus recht zweifelhaft ist, wurde jedoch regelmäßig dann offenkundig, wenn man sich ernsthaft der Frage stellte, ob man realweltlichen Regierungen das Wissen und den Willen unterstellen kann, die erforderlich wären, um die hypothetischen Ausnahmen verlässlich zu identifizieren und im politischen Interessenkampf durchzusetzen.3 Dass die Globalisierung als Marktausweitung ein Motor allgemeiner Wohlstandssteigerung ist, schließt freilich keineswegs aus, dass die mit ihr einhergehenden Veränderungen der relativen Knappheiten und der Wettbewerbsbedingungen die Einkommenschancen bestimmter Gruppen beeinträchtigen und diese Gruppen damit unter Anpassungsdruck setzen. Im Hinblick auf dieses Problem ist in der öffentlichen Diskussion häufig von Globalisierungsverlierern die Rede, eine Redeweise, die verkennt, dass es hier zunächst einmal um eine normale Erscheinungsform der Funktionsweise marktwirtschaftlichen Wettbewerbs geht, die unter den Bedingungen der Globalisierung allerdings mit besonderer Intensität zum Tragen kommt. Die Produktivität der marktwirtschaftlichen Ordnung hat ja ihre Quelle darin, dass durch den Wettbewerb ständig Informationen darüber geschaffen werden, welche Ressourcennutzungen lohnender sind als andere, dass ständig Anreize geschaffen werden, Ressourcen in produktivere Verwendungen zu lenken, und dass ständig neue, bislang unbekannte aber möglicherweise ertragreichere Nutzungen entdeckt werden. Dass Marktteilnehmer damit dem Risiko ausgesetzt sind, dass die Leistungen, die sie anbieten, aufgrund von Innovationen und attraktiveren Angeboten von Konkurrenten in der Gunst der Nachfrager verlieren, und dass dadurch der Ertragswert ihrer versunkenen Investitionen in Real- oder Humankapital gemindert wird, ist die unvermeidbare Kehrseite dieser produktiven Dynamik des Wettbewerbsprozesses. Es ist die untrennbare Verbindung dieser beiden Seiten der Marktwirtschaft, ihrer geliebten produktiven Seite und ihrer ungeliebten fordernden Seite, aus der sich das ambivalente Verhältnis der Menschen zur Wettbewerbsordnung speist. Die Konzeption der 3 A.P. Lerner (1957, S. 441; zitiert nach Hayek 2005, S. 42): „The free-trade doctrines are valid as general rules, whose general use is generally beneficial. As with all general rules, there are particular cases where, if one knew all the attendant circumstances and the full effects in all their ramifications, it would be better for the rule not to be applied. But that does not make the rule a bad rule or give reason for not applying the rule where, as is normally the case, one does not know all the ramifications that would make the case a desirable exception."

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Sozialen Marktwirtschaft war bekanntlich durch das Bestreben motiviert und mit dem Anspruch verbunden, ein Ordnungsmodell zu bieten, das das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Seiten der Marktwirtschaft zu mildern in der Lage ist, indem es deren Produktivität bewahrt und gleichzeitig dem Bedürfnis der Menschen nach sozialer Sicherung Rechnung trägt. Die konfligierenden Anforderungen, denen die Politik heute im Zeichen der Globalisierung ausgesetzt ist, sind in dieser Hinsicht kein Novum sondern stellen nur eine besonders intensivierte Variante eines alten Problems dar. Allerdings hat die Globalisierung die Rahmenbedingungen in folgenschwerer Weise verändert, unter denen politisches Handeln auf die gegenläufigen Anforderungen reagieren muss, einerseits die Effizienzvorteile zu nutzen, die ein offener Markt zu bieten hat, und andererseits die Wählerwünsche nach Schutz vor dem intensivierten Wettbewerb und seinen Folgen zu befriedigen.4 Die Veränderung der Rahmenbedingungen staatlichen Handelns und einige der daraus folgenden Konsequenzen sind das Thema meines Vortrages. Meine Hauptthese, die ich im Folgenden näher begründen und in ihren Folgerungen erläutern werde, lautet: Die Globalisierung zwingt dazu, zwei Funktionen des Staates deutlicher voneinander zu trennen als dies bisher - und gerade im Modell der Sozialen Marktwirtschaft - der Fall war, zwei Funktionen, in denen der Staat gänzlich unterschiedlichen Anforderungen ausgesetzt ist. Zum einen ist der Staat das, was ich als Gemeinschaftsunternehmen der Bürger bezeichnen möchte. Er ist der Intergenerationenverband, in dem die Bürger als Verbandsmitglieder zusammengeschlossen sind, um sich mit Leistungen zu versorgen, an denen sie ein gemeinsames Interesse haben und die sich durch staatliche Organisation besser erbringen lassen als in privatrechtlichen Vertragsformen. Um die Funktion des Staates als ein solches Gemeinschaftsunternehmen zu betonen, bezeichne ich den demokratischen Staat gerne als Bürgergenossenschaft, wobei der Begriff der Genossenschaft die Selbstverständlichkeit unterstreichen soll, dass der demokratische Staat - ebenso wie ein genossenschaftliches Unternehmen - den gemeinsamen Interessen oder dem wechselseitigen Vorteil aller Mitglieder zu dienen hat. Von dieser Funktion des Staates als Gemeinschaftsunternehmen der Bürger zu unterscheiden ist seine Funktion als das, was man als Standortunternehmen bezeichnen kann. Damit ist gemeint, dass der Staat als Territorialverband die Instanz ist, die die Regeln setzt und durchsetzt, denen alle unterworfen sind, die sich innerhalb seiner territorialen Grenzen aufhalten oder das betreffende Hoheitsgebiet für ihre privaten Zwecke nutzen wollen. Im Sinne der Unterscheidung der beiden Rollen des Staates können Personen von staatlichen Handlungen in zweierlei Weise betroffen sein, nämlich einerseits als Bürger und andererseits als Standortnutzer. Als Bürger sind sie Mitglieder der Bürgergenossenschaft. Sie sind diejenigen, deren gemeinsamen Interesse das politische Unternehmen dienen soll und gegenüber denen die politischen Agenten sich zu rechtfertigen haben. Standortnutzer sind Personen - natürliche oder auch juristische - die im Jurisdiktionsgebiet eines Gemeinwesens tätig sind und dort allgemein zugängliche öffentliche Leis4

In der Literatur wird dieses Problem als der Konflikt zwischen dem „efficiency effect" und dem „compensation effect" der Globalisierung diskutiert. Siehe dazu etwa Breton und Ursprung (2002).

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tungen für ihre wirtschaftlichen oder sonstigen Zwecke nutzen. Die Beziehung zwischen Bürgern und Gemeinwesen ist eine mitgliedschaftliche. Im Kontrast dazu kann man die Beziehung zwischen einem Gemeinwesen und seinen Standortnutzern am ehesten mit der Beziehung zwischen einem Unternehmen und seinen Kunden vergleichen. Zu beachten ist dabei, dass auch die Bürger eines Staates zu seinen Standortnutzern und in diesem Sinne zu seinen Kunden - gehören. In den Entscheidungen, die sie als Privatrechtspersonen darüber treffen, wo sie ihr Kapital einsetzen, wo sie eine Beschäftigimg suchen oder wo sie ihren Wohnsitz einrichten möchten, werden sie, wie andere Standortnutzer auch, die Vor- und Nachteile abwägen können, die ihre Heimatjurisdiktion im Hinblick auf die verschiedenen Nutzungen und im Vergleich zu Alternativjurisdiktionen aufweist. So wie man nach den beiden Rollen des Staates zwischen Bürgern und Standortnutzern unterscheiden kann, so kann man das Gesamt der Regelungen, die der Staat als Gesetzgeber erlässt und durch seinen Machtapparat durchsetzt, in zwei Kategorien unterteilen. Dies sind zum einen die Regelungen, die die Mitgliedschaftsbedingungen in der Bürgergenossenschaft betreffen, die also die Rechte und Pflichten unter den Bürgern als den Verbandsmitgliedern regeln. Und dies sind zum anderen die Regelungen, die allgemein für Standortnutzer gelten, unabhängig davon, ob sie Mitglieder der betreffenden Bürgergenossenschaft sind oder den Standort als Nichtmitglieder nutzen. Die beiden von mir unterschiedenen Funktionen, ihre Rolle als Gemeinschaftsunternehmen der Bürger und ihre Rolle als Standortunternehmen, haben Staaten seit jeher wahrgenommen, doch war ihre Unterschiedlichkeit solange von geringerer Bedeutung, wie die Mobilität von Menschen und Ressourcen unterhalb einer kritischen Schwelle blieb. Mit wachsender Mobilität von Menschen, Gütern und Kapital macht sich die Unterschiedlichkeit der beiden Rollen jedoch zunehmend bemerkbar, und gerade in dieser Hinsicht hat sich die Welt im Zeichen der Globalisierung in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gewandelt.

IV. Globalisierung und Staatenwettbewerb Die Bedeutung, die eine zunehmende Mobilität von Menschen und wirtschaftlichen Ressourcen für staatliches Handeln hat, kann man sich am besten verdeutlichen, wenn man sich die Staatenwelt gedanklich auf einem Kontinuum angeordnet vorstellt, an dessen einem Ende eine Welt steht, in der die einzelnen Staaten aus geographischen und sonstigen Bedingungen in völliger Isolation nebeneinander existieren, ohne jegliche Mobilität zwischen ihnen, und an dessen anderem Ende eine Welt steht, in der Menschen in der Wahl der Staatsbürgerschaft völlig frei sind, und in der sie sich als Standortnutzer ungehindert von einem Staat in einen anderen begeben können. In der Welt gegeneinander völlig abgeschlossener Monopolstaaten können allein Geburt und Tod für einen Wechsel in der Population der Machtunterworfenen sorgen. Auch in einer solchen Welt kann man theoretisch zwischen Bürgern und Standortnutzern insofern unterscheiden, als Menschen - abgesehen vom Fall eines allumfassenden totalitären Staates - nicht gänzlich in ihrer Rolle als Mitglieder des politischen Gemeinwesens aufgehen, sondern als Privatrechtspersonen Rechte haben, über deren Nut-

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zung im staatlichen Hoheitsgebiet sie individuell und separat verfügen können, wobei sie sich mit ihren privaten Aktivitäten auch an die Rahmenbedingungen, die der Staat vorgibt, anpassen werden. Aber die Unterscheidung zwischen ihren Rollen als Bürger und Standortnutzer bleibt insofern von begrenzter praktischer Relevanz, als Menschen in dieser Welt keinerlei Abwanderungsoption haben und ihre Mitwirkungsmöglichkeiten im politischen Prozess das einzige Mittel sind, das ihnen zum Schutz gegen unerwünschtes staatliches Handeln zur Verfügung steht. Theoretische Erwägungen und empirische Evidenz zeigen freilich, dass der Schutz, den sie sich - selbst unter günstigen Bedingungen eines demokratischen Systems - davon erhoffen können, sehr beschränkt ist. Wenn die innere Emigration die letzte Ausweichmöglichkeit gegenüber staatlicher Machtausübung bietet, ist das, was Regierungen ihren Bürgern und was Bürger einander mit Hilfe des politischen Prozesses zumuten können, weitgehend unbeschränkt. In der am Gegenpol angesiedelten Welt ungehinderter Mobilität kommt die Unterscheidung zwischen den beiden Funktionen des Staates zur vollen praktischen Entfaltung. Hier können Menschen zum einen frei darüber entscheiden, welchem politischen Gemeinschaftsunternehmen sie als Mitglied angehören möchten, und sie können zum anderen ebenso frei entscheiden, in welchem staatlichen Hoheitsgebiet sie mit welchen ihrer wirtschaftlichen Ressourcen tätig werden wollen. Beide Entscheidungen werden sie in Abwägung der damit jeweils verbundenen Kosten und Nutzen treffen. Dies bedeutet, dass das, was ihnen die Regierung ihres Herkunftsstaates als Bürger zumuten kann, durch die Attraktivität der Mitgliedschaftsbedingungen in anderen Gemeinwesen begrenzt wird, und dass das, was Staaten, ihr Heimatstaat eingeschlossen, ihnen als Standortnutzern abfordern können, seine Grenze in der Attraktivität der Bedingungen findet, die an anderen Standorten gelten. Die reale Welt der Staaten hat wohl niemals dem Extremmodell perfekt voneinander isolierter Gemeinwesen ohne jegliche Mobilität entsprochen, und auch unter den heutigen Bedingungen der Globalisierung entspricht die reale Staatenwelt keineswegs dem extremen Gegenmodell vollkommen ungehinderter Mobilität. Aber die Welt hat sich doch im Verlaufe der Menschheitsgeschichte deutlich von dem einen Pol fort- und auf den anderen Pol hinbewegt, und zwar in dem Maße, in dem technologische Entwicklungen und politischer Wandel die Möglichkeiten der Menschen erweitert haben, unerwünschten Verhältnissen, mit denen sie als Bürger oder als Standortnutzer konfrontiert sind, durch Abwanderung in attraktivere Jurisdiktionen zu entfliehen. Die Entwicklung der Transport- und Kommunikationstechnologien hat nicht nur den Bewegungsradius der Menschen zunehmend ausgeweitet. Menschen können sich auch leichter darüber informieren, wo ansonsten in der Welt attraktivere Verhältnisse zu finden sind. Und so, wie der Fortschritt in der Transport- und Kommunikationstechnologie - neben politischen Faktoren wie insbesondere dem Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums - die entscheidende Triebkraft der Wandlungen ist, die der Begriff der Globalisierung beschreibt, so sind die erleichterten Möglichkeiten der Abwanderung in attraktivere Jurisdiktionen ein wesentliches Kennzeichen der Globalisierung. Die größere Mobilität von Menschen und wirtschaftlichen Ressourcen bedeutet aber, dass Regierungen verstärkt unter Wettbewerbsdruck geraten und sich zu größerer Rücksichtnahme auf die Interessen von Bürgern und Standortnutzern genötigt sehen, wenn sie nicht deren Ab-

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Wanderung und damit den Verlust von Wohlstandsproduzenten und Steuerquellen riskieren wollen. Nun bestehen natürlich, was die Rolle der Abwanderungsoption anbelangt, offensichtliche Unterschiede zwischen den Abwägungen, die Menschen in dieser Hinsicht als Bürger anzustellen haben, und den Erwägungen, die für sie als Standortnutzer von Bedeutung sind. Naturgemäß sind die Möglichkeiten des Wechsels der Staatsbürgerschaft wesentlich stärker eingeschränkt als die Möglichkeiten, die Standortnutzern für die Verlagerung ihrer Aktivitäten von einer Jurisdiktion in eine andere zur Verfügung stehen. Und auch die Vorteils-Nachteils-Abwägungen, die im einen und im anderen Fall anzustellen sind, unterscheiden sich deutlich. Das Leistungspaket, mit dem sich die Mitglieder einer Bürgergenossenschaft durch ihr Gemeinschaftsunternehmen Staat versorgen, ist wesentlich komplexer und umfangreicher als das Leistungsbündel, an dem Standortnutzer typischerweise interessiert sind. Insbesondere enthält es Elemente, deren Vorund Nachteile nur unter sehr langfristiger Perspektive angemessen abgewogen werden können, wie etwa die Solidaritätsleistungen, zu denen Menschen sich im Intergenerationenverband Staat zu ihrem wechselseitigen Vorteil und im Interesse ihrer Nachkommen verpflichten können. Es ist denn auch vor allem die komplexere und auf längere Zeit angelegte Natur des Leistungspakets, das mit der Mitgliedschaft im staatlichen Gemeinwesen verbunden ist, die zur Folge hat, dass der Wechsel der Staatsbürgerschaft schwerer zu bewerkstelligen ist als die bloße Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten oder selbst des Wohnsitzes von einem Staat in einen anderen. Als Standortnutzer können Menschen mit wesentlich größerer Leichtigkeit zwischen alternativen Jurisdiktionen wählen, wobei freilich auch hier Unterschiede zu beachten sind. So erfordert die dauerhafte Verlagerung des Wohnsitzes offenkundig andere Abwägungen als etwa eine vorübergehende Verlagerung des Arbeitsplatzes, und die Abwägungen, die bei einer Verlagerung von Investitionen anzustellen sind, werden andere sein, wenn versunkenes oder zu versenkendes Kapital auf dem Spiel steht, als dies bei flexibleren Investitionen der Fall ist. Auf die mit solchen Unterschieden zusammenhängenden Fragen und sonstige Detailprobleme, die in der mittlerweile recht umfangreichen Literatur zum Thema Standortwettbewerb ausgiebig behandelt werden, will ich hier nicht weiter eingehen.5 Ich möchte mich allein auf die Frage konzentrieren, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang der Unterscheidung zwischen den beiden von mir genannten Rollen des Staates zukommt. Dabei werde ich insbesondere auf die Folgerungen eingehen, die sich aus dieser Unterscheidung für zwei zentrale Bereiche staatlicher Tätigkeit ergeben, nämlich für die Steuererhebung und für staatliche Regulierung.

V. Besteuerung in einer globalisierten Welt Das deutsche Steuerrecht hat seine gesetzliche Grundlage in der sogenannten Abgabenordnung (AO), die in § 3 Absatz 1 zur Definition von Steuern feststellt: „Steuern sind Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen ..." Diese Definition lässt zwei Lesarten zu, je nachdem, ob man die Betonung auf das Attribut .besondere' oder auf das Hauptwort ,Leistung' legt. Und man wird zu unter5 Dazu Vanberg (2001); (2004); (2005a).

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schiedlichen Schlussfolgerungen neigen, je nachdem, ob man betont, dass mit Steuern keine besondere Leistung entgolten wird, oder ob man betont, dass Steuern nicht die Gegenleistung für eine Leistung darstellen. Die Zweideutigkeit, die sich aus der Unterschiedlichkeit der beiden Lesarten ergibt, durchzieht die gesamte praktische wie auch die wissenschaftliche Steuerdiskussion,6 wobei man in beiden Bereichen einen deutlichen Hang zu einem Steuerverständnis feststellen kann, das die Trennung zwischen Steuern und staatlichen Leistungen hervorhebt.7 Steuern werden üblicherweise nicht nur von Gebühren abgegrenzt, die für die Inanspruchnahme spezifischer Leistungen zu zahlen sind, sondern auch von Beiträgen, die für die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Leistungen entrichtet werden.8 Dabei liegt der Tenor unverkennbar darauf, dass Steuern keinen Anspruch auf staatliche Leistungen begründen. Ein solches Steuerverständnis unterstellt im Grunde, dass im Bereich des Steuerwesens das Prinzip von Leistung und Gegenleistung keinen Platz hat. Es unterstellt, mit anderen Worten, dass dieses Prinzip für die Ordnung des staatlichen Gemeinwesens unpassend ist, und dass es bei der Entrichtung von Steuern nicht darum gehen kann, zwischen Steuerlast und staatlichen Gegenleistungen abzuwägen. Eine solche Unterstellung kann in zweierlei Weise gemeint sein. Sie kann als die empirische Behauptung gemeint sein, dass Steuerzahler eine solche Abwägung de facto nicht vornehmen. Und sie kann als normative Aussage darüber gemeint sein, wie das Steuerwesen geordnet sein sollte. Als empirische Behauptung dürfte die genannte Unterstellung allenfalls für eine Welt voneinander isolierter Nationalstaaten zutreffen. Sie erscheint aber umso fragwürdiger, je weiter wir uns von einer solchen Welt entfernen. In einer globalisierten Welt mit mobilen Menschen und Ressourcen werden ganz gewiss nicht nur Standortnutzer bei ihrer Standortwahl die Steuer-Leistungs-Pakete abwägen, die sie in unterschiedlichen Jurisdiktionen vorfinden. Auch Bürger werden in dem Maße, in dem ein Wechsel der Staatsbürgerschaft möglich ist, die Vor- und Nachteile abwägen, die mit der Mitgliedschaft in ihrer Heimatjurisdiktion verbunden sind, und sie mit der Vor- und Nachteilsbilanz in anderen Gemeinwesen vergleichen, in denen sie Aufnahme finden könnten.

6 In einem Standardkommentar zur Abgabenordnung heißt es etwa: „Die Steuer wird ohne Rücksicht auf eine individuell zurechenbare, besondere Gegenleistung erhoben (BVerfG 2 BvR 413/88 u.a., BVerfGE 93, 319/346). Ihre hoheitliche Auferlegung besteht unabhängig davon, ob und in welchem Maße das besteuernde Gemeinwesen dem Steuerpflichtigen Gegenwerte gewährt. In diesem Sinne wird die Steuer dem Betroffenen „voraussetzungslos" auferlegt (BVerfG 1 BvL 18/93 u.a., BVerfGE 92, 91/113). Keine Gegenleistung ist die Zweckbindung des Steueraufkommens, aufgrund derer die Leistung dem Steuerpflichtigen mittelbar wieder zugute kommt bzw. das Aufkommen einer bestimmten Steuer gesetzlich bestimmten Zwecken vorbehalten ist (BVerfG 2 BvR 413/88 u.a., BVerfGE 93, 319/348 ...). Der Kreis der Abgabepflichtigen ist bei den Zweckbindungssteuern nicht auf solche Personen begrenzt, die einen wirtschaftlichen Vorteil aus dem öffentlichen Vorhaben ziehen (BVerfG 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325/344)" (Pahlke 2004, § 3 Rz. 18). 7 Zimmermann und Henke (2005, S. 17 f.): .Außerdem handelt es sich bei den Steuern selbst um eine öffentliche Abgabe ohne Anspruch auf Gegenleistung. De facto mögen dem steuerzahlenden Bürger zwar durchaus öffentliche Leistungen zugute kommen, einen möglichen Anspruch auf sie erwirbt er jedoch als Staatsbürger, nicht als Steuerzahler. Steuern kann man mithin als Zwangsabgaben charakterisieren, deren Zahlung keinen Anspruch auf Gegenleistung begründet." 8 Siehe z.B. Zimmermann und Henke (2005, S. 18 f.).

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Das normative Postulat, dass das Prinzip von Leistung und Gegenleistung in der Ordnung des staatlichen Steuerwesens keine Rolle spielen sollte, dürfte in der Tat dem in der Finanzwissenschaft und in der alltäglichen Steuerdiskussion gängigen Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit zugrunde liegen,9 wird dieses Prinzip doch in der Regel so verstanden, dass Menschen im Maße ihrer finanziellen Belastbarkeit zum Steueraufkommen des Staates beitragen sollten, gänzlich unabhängig von der Frage, in welchem Umfang sie aus dessen Leistungen Vorteile ziehen. Nun liegt gegen eine solche Besteuerungsnorm nicht nur der Einwand nahe, dass sie angesichts der Abwanderungsoptionen, die Bürger und Standortnutzer in einer Welt mobiler Menschen und Ressourcen haben, auf die Dauer schwer durchsetzbar sein dürfte. Es sind auch durchaus Zweifel angebracht, ob eine solche Norm als ein begründbares ethisches Prinzip gelten kann. Solche Zweifel hat jedenfalls der schwedische Ökonom Knut Wickseil, aus dessen Werk James Buchanan wichtige Anregungen für seinen theoretischen Ansatz gewonnen hat,10 in seiner 1896 erschienenen Schrift „Ein neues Prinzip der gerechten Besteuerung" 11 vorgetragen, in der er als Alternative zum Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit oder Belastbarkeit das Prinzip der Besteuerung nach Interesse als ein gerechteres Prinzip der Lastenverteilung im staatlichen Gemeinwesen verteidigt. Menschen Steuerlasten nach dem Kriterium der Belastbarkeit und ohne Bezug zu den Vorteilen aufzuerlegen, welche die so finanzierte Staatstätigkeit ihnen bietet, habe, so Wicksells Urteil, nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Denn, so lautet ein Kernsatz seiner Schrift, „scheint es doch ein handgreifliches Unrecht zu sein, wenn jemand zur Kostendeckung von Maßregeln herangezogen würde, die sein wohlverstandenes Interesse nicht nur nicht fördern, sondern demselben vielleicht schnurstracks zuwiderlaufen." 12 Auf die Einzelheiten der Argumentation von Wicksell und die Probleme des spezifischen Vorschlages, den er zur praktischen Umsetzung des Prinzips der Besteuerung nach Interesse formuliert hat,13 kann ich hier nicht näher eingehen. Worauf es mir ankommt, ist, dass das von Wicksell vorgeschlagene Prinzip - in angemessener Weise interpretiert - ein Prinzip ist, das, erstens, in einer globalisierten Welt mobiler Menschen und Ressourcen wettbewerbsrobust ist, das, zweitens, in einem normativen Sinne am besten zu einem demokratischen Gemeinwesen als einer Bürgergenossenschaft passt, und

9 Markt (2003, S. 110 ff.); Blankart (2002a, S. 367 f.); Vanberg (2004, S. 67). 10 Siehe dazu Buchanans 1986er Nobelpreis Rede „The Constitution of Economic Policy", wieder abgedruckt in Buchanan (1999, S. 455-468). 11 Enthalten in Wicksell (1896, S. 76-164). 12 Wicksell (me, S. 112). 13 Wicksell hatte die Vorstellung, es müssten politische Entscheidungsverfahren bezüglich der Aufteilung der Steuerlasten zu finden sein, die die Durchführung von im gemeinsamen Interesse liegender Projekte und den Schutz vor Interessenverletzung sogar für jedes einzelne öffentliche Vorhaben sicherstellen können. Dass diese Vorstellung wegen der Nachteile der Einstimmigkeitsregel als alltäglicher Entscheidungsregel als unrealistisch gewertet werden muss, bedeutet nicht, dass damit das von ihm favorisierte Paradigma der Besteuerung nach Interesse als normatives Referenzmodell seine Bedeutung verliert. - Dazu Buchanan (1999, S. 463 ff.).

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das, drittens, kompatibel ist mit einer Lesart der vorhin zitierten Steuerdefinition der Abgabenordnung, die die Betonung auf das Attribut „besondere" legt.

Ich werde diese drei Aspekte in umgekehrter Reihenfolge kommentieren. Liest man die Steuerdefmition der Abgabenordnung mit der Betonung, dass Steuern Geldleistungen sind, „die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen", so besagt sie zwar, dass Steuern von Gebühren unterschieden werden müssen, die Zahlungen für jeweils besondere Leistungen - etwa die Ausstellung eines Passes oder die Genehmigung eines Bauvorhabens - darstellen, sie besagt aber nichts dagegen, dass Steuern in einem Zusammenhang mit Leistungen des Staates zu sehen sind, aus denen der Steuerzahler Vorteile zieht. Im Unterschied zu in der einschlägigen Literatur zu findenden Abgrenzungen sehe ich daher keinen Grund, warum man Steuern nicht mit Beiträgen vergleichen kann, also mit Geldleistungen, die „für die bloße Möglichkeit, eine Leistung in Anspruch zu nehmen", entrichtet werden. Im Sinne der Unterscheidung zwischen Bürgern und Standortnutzern kann man, so meine These, in Steuern zweierlei Arten von Beiträgen sehen. Dies sind einerseits die Geldleistungen, die Bürger als Mitgliedschaftsbeitrag in ihre Bürgergenossenschaft erbringen, vergleichbar den Beiträgen, die Mitglieder von privaten Vereinen oder Verbänden als Gegenleistung für die Vorteile zu zahlen haben, die ihnen aus der Mitgliedschaft erwachsen. Als von den Bürgern zu entrichtende Mitgliedschaftsbeiträge kann man Steuern entsprechend als Gegenleistung für die mit der Mitgliedschaft verbundenen Rechte betrachten, also als Beitrag für die Möglichkeit, die Leistungen in Anspruch zu nehmen, die das Gemeinschaftsunternehmen Staat seinen Mitglieder bereitstellt. Von Steuern als Mitgliedschaftsbeiträgen der Bürger strikt zu unterscheiden sind die Abgaben, die Standortnutzern als Beitrag für das Recht abgefordert werden, das Hoheitsgebiet des betreffenden Staates für ihre verschiedenen Zwecke nutzen zu können, also als Gegenleistung für die Vorteile, die sie aus dieser Nutzungsberechtigung ziehen. Versteht man Steuern im erläuterten Sinne als Beiträge, als Mitgliedschaftsbeiträge einerseits und als Standortnutzungsbeiträge andererseits, so stellen sie durchaus eine Gegenleistung für die Möglichkeit der Nutzung vom Staat bereitgestellter Leistungen dar. Und auf einen solchen Zusammenhang von Leistung und Gegenleistung passt durchaus das Prinzip der Besteuerung nach Interesse, das - im Kontext meiner Überlegungen interpretiert - besagt, dass Bürger und Standortnutzer in dem Maße zu den Kosten der Erstellung des staatlichen Leistungspakets beitragen sollten, in dem sie daraus Vorteile ziehen, also daran ein Interesse haben. Die Begründung für die These, dass das Prinzip der Besteuerung nach Interesse die passende Besteuerungsnonn für den demokratischen Staat ist, ergibt sich aus den Erläuterungen, die ich vorhin zur Charakterisierung des demokratischen Gemeinwesens als einer Bürgergenossenschaft angeführt habe. Der Philosoph John Rawls hat in seinem einflussreichen Buch zur Theorie der Gerechtigkeit den von mir betonten Gesichtspunkt mit der Formulierung ausgedrückt, eine demokratische Gesellschaft sei ein „Unternehmen der Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil" (Rawls 1975, S. 105). Aus dieser Sicht ist ein demokratisches Gemeinwesen als ein genossenschaftlicher Verband zu verstehen, zu dem sich gleich freie und gleichberechtigte Bürger zusammen schließen, um Projekte durchzuführen, die in ihrem gemeinsamen Interesse liegen. Von den Mitgliedern eines solchen Verbandes kann man zu Recht fordern, dass sie die Solidaritäts-

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und Beitragspflichten erfüllen, die mit der Verfolgung der gemeinsamen Interessen verbunden sind. Es gibt aber keine legitime Grundlage dafür, ihnen im Sinne eines von Leistung und Gegenleistung völlig abgekoppelten Prinzips der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit Steueropfer abzuverlangen, die in keinem Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die ihnen aus der Mitgliedschaft in der Bürgergenossenschaft erwachsen. Meine dritte These, dass das Prinzip der Besteuerung nach Interesse - im Kontrast zum Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit - in einer globalisierten Welt mobiler Menschen und Ressourcen wettbewerbsrobust ist, bedarf einer etwas ausführlicheren Erläuterung.

VI. Bürger, Standortnutzer und der Steuerwettbewerb Eine im Kontext der Globalisierungsdiskussion häufig geäußerte Befürchtung besagt, vereinfacht formuliert, dass die erhöhte Mobilität von Menschen und Ressourcen, insbesondere Finanzkapital, einen verhängnisvollen Steuerwettbewerb in Gang setzt, der sowohl eine - unter Gesichtspunkten der Steuergerechtigkeit problematische - Verschiebung der Steuerlasten von den mobileren zu den immobileren Ressourcen zur Folge hat, als auch einen Unterbietungswettlauf, ein „race to the bottom", auslöst, der Staaten zunehmend in ihrer Fähigkeit beschränkt, die Gemeinwohlinteressen ihrer Bürger zu bedienen.14 Ich werde im Folgenden zu begründen suchen, warum diese Befürchtung zwar für eine am Prinzip der Besteuerung nach Belastbarkeit, nicht jedoch für eine am Prinzip der Besteuerung nach Interesse orientierte Steuerpraxis zutrifft, und warum man deshalb auch erwarten kann, dass in einer Welt, aus der man den Wettbewerb zwischen Jurisdiktionen nicht wird verbannen können, Staaten zunehmend unter Druck geraten werden, ihre Steuererhebungspraktiken auf eine Besteuerung nach Interesse umzustellen. Was zunächst die Besteuerung von Standortnutzern anbelangt, so ist - wie bereits erwähnt - die Beziehung, die Standortnutzer zu ihrem Gaststaat haben, mit der Beziehung zwischen einem Unternehmen und seinen Kunden vergleichbar. Als Monopolist mag ein Unternehmen die Macht haben, seine Preise nach der Zahlungsfähigkeit seiner Kunden zu differenzieren. Je mehr es jedoch im Wettbewerb steht und je leichter seine Kunden auf Konkurrenten ausweichen können, umso weniger wird es dazu in der Lage sein. Gleiches gilt für einen mit anderen Jurisdiktionen als Standortunternehmen im Wettbewerb stehenden Staat. Auch er wird die Beiträge, die er Standortnutzern für das Recht der Standortnutzung abverlangt, umso weniger nach deren Belastbarkeit differenzieren können, je leichter diese zu Konkurrenten abwandern können. Ebenso wie ein Bäcker seine zahlungsfähigeren Kunden vertreiben würde, wenn er seine Preise an deren Einkommen ausrichten sollte, so wird ein seine Standortnutzer nach Leistungsfähigkeit besteuernder Staat am Kundenschwund merken, dass er mit anderen Standortanbietern im Wettbewerb steht. Die Implikationen dieser Diagnose sind besonders offenkundig im Falle der Unternehmensbesteuerung. Die traditionell am Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfahig-

14 Dazu Vanberg (2004, S. 68 ff.).

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keit orientierte Praxis der Unternehmensbesteuerung, nämlich die Besteuerung nach Gewinn, muss in dem Maße in Schwierigkeiten geraten, in dem Unternehmen in Jurisdiktionen abwandern können, in denen ihnen die für sie relevanten Standortqualitäten zu einem günstigeren Steuerbeitrag angeboten werden (Vanberg 2005a). Entsprechendes gilt aber allgemein für Standortnutzer. Wenn ihnen Alternativen offen stehen, werden sie für die sie interessierenden Nutzungen, und im Maße der Mobilität der in Frage stehenden Ressourcen, jenen Standorten den Vorzug geben, die das günstigere SteuerLeistungspaket bieten, und sie werden kaum bereit sein, in einer Jurisdiktion zu verbleiben, in der ihnen höhere Steuerlasten nur deshalb auferlegt werden, weil sie belastbarer sind, also etwa ein höheres Einkommen oder ein größeres Vermögen haben. Das bedeutet nicht, dass Standortnutzer ständig auf dem Sprung sind und bei jeder kleinsten Veränderung der Vorteils-Nachteils-Bilanzen mit Abwanderung reagieren. Denn im Sinne der Hirschmanschen Begrifflichkeit ist auch für Standortnutzer - und das gilt erst recht im Hinblick auf die Nutzung der Heimatjurisdiktion - ein gewisses Maß an Loyalität also von Toleranz gegenüber zeitweiligen Widrigkeiten - ein Gebot der Klugheit in der längerfristigen Strategieplanung.15 Aber es bedeutet, dass das Prinzip der Besteuerung nach Belastbarkeit unter Wettbewerbsbedingung zumindest gegenüber den Standortnutzern auf Dauer nicht durchsetzbar ist. Standortnutzer kann man in dem Maße zu Steuerbeiträgen heranziehen, in dem ihnen der Standort Nutzungsvorteile bietet. Und bei einer Besteuerung nach Nutzungsvorteilen wird man eine Erosion durch Wettbewerb, ein „race to the bottom", nicht befürchten müssen. Staaten Wettbewerben nicht allein mit den Steuerpreisen sondern mit ihren Preis-Leistungs-Paketen, also den Steuern in Kombination mit den Standortvorteilen, die sie zu bieten haben - Infrastruktur, Rechtssicherheit, qualifizierten Arbeitskräften und anderen Faktoren. Und ebenso wenig, wie Restaurantbesucher sich bei der Wahl des Lokals nicht allein nach den Preisen auf der Menukarte, sondern auch nach der Qualität der Speisen richten werden, so werden auch Standortnutzer ihre Wahl nicht allein an den Steuersätzen orientieren. Was die Besteuerung von Bürgern anbelangt, so begründet die Mitgliedschaftsbeziehung, die Bürger zu ihrem Gemeinwesen haben, typischerweise inhaltsreichere und intensivere Bindungen als die Kundenbeziehung von Standortnutzern. Daher liegt die Frage nahe, ob für Steuern als Mitgliedschaftsbeiträge der Bürger nicht doch andere Bedingungen gelten als für die Besteuerung von Standortnutzern. Und in der Tat sind hier, was die Frage der Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit in der Steuerbemessung anbelangt, gewisse Differenzierungen angebracht. Die Entscheidung über die Mitgliedschaft in der Bürgergenossenschaft als einem Intergenerationenverband, in den die Nachkommen der Mitglieder ohne Vorbedingung aufgenommen werden, und in dem Menschen sich in Generationen überdauernder Weise wechselseitig gegen Lebensrisiken versichern können, wirft offenkundig ganz andere Fragen der Abwägung von Vorteilen und Lasten auf als die Wahl des Standorts für bestimmte Nutzungen. In der Bürgergenossenschaft kann angesichts der Ungewissheiten über das eigene längerfristige Lebensschicksal, und erst recht das der eigenen Nachkommen, die Vereinbarung von Solidaritätspflichten im gemeinsamen Interesse aller

15 Im Originaltitel des in der deutschen Übersetzung als „Abwanderung und Widerspruch" betitelten Buches von A.O. Hirschman (1974) ist neben „exit" und „voice" als dritter Begriff „loyalty" genannt.

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Beteiligten liegen, für die es im Verhältnis zwischen einem Staat und seinen Standortnutzer-Kunden keinerlei Grundlage gibt. Und es ist die wechselseitige Vorteilhaftigkeit solcher Solidaritätspflichten, aufgrund deren sich eine Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit bei der Bemessung der Steuern aus den Interessen der Mitglieder der Bürgergenossenschaft heraus begründen lässt. Eine solche Begründung ergibt sich allein schon aus der Logik der Finanzierung eines Solidaritätsfonds, mit dessen Hilfe die Mitglieder der Bürgergenossenschaft sich selbst und ihre Nachkommen gegen existenzielle Lebensrisiken schützen können, etwa in Form der Garantie eines Mindesteinkommens oder der Garantie gewisser medizinischer oder sonstiger Versorgungsleistungen unabhängig von der eigenen Zahlungsfähigkeit. Die Füllung eines solchen Solidarfonds kann naturgemäß jeweils nur von denen geleistet werden, die zu den erforderlichen Beitragszahlungen auch fähig sind. Über dieses Solidarfondsargument hinaus ist allgemein bei der Frage der Besteuerung in der Bürgergenossenschaft zu bedenken, dass der Umfang der Leistungen, die das Gemeinschaftsunternehmen Staat zum wechselseitigen Vorteil seiner Mitglieder erbringen kann, vom Umfang des ihm zur Verfügung stehenden Steueraufkommens abhängt. Das staatliche Leistungsangebot müsste daher sehr dürftig ausfallen, wenn die Zahlungsfähigkeit der Einkommensschwächsten die Obergrenze für die Bemessung der Mitgliedschaftsbeiträge der Bürger abgeben würde. Um ein allgemein erwünschtes staatliches Leistungsniveaus sicherstellen zu können, dürfte es angesichts der Unsicherheiten, die in langfristiger Sicht bezüglich der eigenen Einkommenschancen und der der Nachkommen bestehen, im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten liegen, die Leistungsfähigkeit bei der Bemessung der Beitragspflichten zu berücksichtigen. Man beachte, dass diese Argumenten für eine Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit bei der Bemessung der Steuerbeiträge in der Bürgergenossenschaft keine Rehabilitation des Prinzips der Besteuerung nach Belastbarkeit bedeuten. Es sind vielmehr Argumente, die aus dem Prinzip der Besteuerung nach Interesse abgeleitet werden, Argumente, die deutlich machen sollen, warum es im gemeinsamen Interesse der Mitglieder der Bürgergenossenschaft liegen kann, sich zu einer nach Leistungsfähigkeit abgestuften Beitragsbemessung zu verpflichten. Anders als beim Leistungsfähigkeitsprinzip der traditionellen Steuerlehre wird eine höhere Belastung der Leistungsfähigeren nicht einfach als ein sich selbst legitimierendes Prinzip unterstellt. Ihre Legitimation kann sie nur in den Interessen der Betroffenen selbst finden, und diese Interessen geben auch das Kriterium für die Grenzen der Belastbarkeit an. In einer Bürgergenossenschaft als genossenschaftlichem Zusammenschluss zum wechselseitigen Vorteil kann die Belastung der Leistungsfähigeren nicht beliebig weit getrieben werden, ohne zur Abwanderung deijenigen zu führen, die zwischen der Abgabenlast, die ihnen aufgebürdet wird, und den Vorteilen, die ihnen - auch in langfristiger Sicht - die Mitgliedschaft im Gemeinwesen im Vergleich mit zugänglichen Alternativen bietet, keine angemessene Relation mehr erkennen können. Das Fazit der bisherigen Überlegungen ist, dass das Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit oder Belastbarkeit in einer globalisierten Welt in Schwierigkeiten geraten muss. Je intensiver der Standortwettbewerb ist, umso weniger lässt es sich gegenüber mobilen Standortnutzern durchsetzen. Und wenn auch, wie erläutert, bei den Steuern, die den Bürgern als Mitgliedschaftsbeiträge abverlangt werden, die Leistungs-

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fahigkeit mit guten Gründen Berücksichtigimg finden kann, so setzt doch auch hier die Abwägung zwischen Steuerlasten und den Vorteilen aus der Staatsbürgerschaft dem Grenzen, was ein Staat seinen Bürgern in einer Welt, die Alternativoptionen bietet, zumuten kann. Warum - im Kontrast zum Prinzip der Besteuerung nach Belastbarkeit - das Prinzip der Besteuerung nach Interesse wettbewerbsrobust ist, sollte leicht ersichtlich sein. Im Sinne dieses Prinzips sind Steuern als Preise zu verstehen {Blankart 2002b; Märkt 2003), zwar nicht in dem Sinne, dass sie für die Inanspruchnahme spezifischer Leistungen erhoben werden, aber doch im Sinne von .Zugangspreisen', die für die Gewährung bestimmter Rechte zu zahlen sind, die nur der Staat gewähren kann. Dies sind zum einen die Rechte, die mit der Mitgliedschaft im Gemeinwesen verbunden sind. So wie der Beitrag zu einem Verein als der Preis für die mit der Vereinsmitgliedschaft verbundenen Rechte betrachtet werden kann, so kann man die Steuern, die als Mitgliedschaftsbeitrag an das Gemeinwesen zu entrichten sind, als den Preis betrachten, den Bürger für die Option der Inanspruchnahme der mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Rechte zu zahlen haben. Entsprechend sind die Steuern, die von Standortnutzern erhoben werden, als Preise für das Recht zu betrachten, den Standort - und damit die dort allgemein zugänglichen öffentlichen Einrichtungen - für eigene Zwecke nutzen zu können. Eine Besteuerung nach Interesse - also eine Besteuerung, die an dem Interesse orientiert ist, das der Besteuerte an den damit erworbenen Rechten hat - ist wettbewerbsrobust, da der Steuerzahler sich der Beitragsleistung nur zum Preis des Verzichts auf die Vorteile entziehen kann, die er als Bürger aus den Mitgliedschaftsrechten und als Standortnutzer aus der Inanspruchnahme der Standortleistungen ziehen kann. In einer globalisierten Welt mobiler Menschen und Ressourcen werden Staaten sich auf Dauer nicht dem Druck entziehen können, ihre Steuersysteme auf das Prinzip der Besteuerung nach Interesse umzustellen. Und dies wird grundlegende Revisionen in manchen überkommenen Besteuerungspraktiken erfordern. Im verbleibenden Teil meines Vortrages werde ich einen zentralen Aspekt dieses wettbewerbsbedingten Drucks zur Revision traditioneller Besteuerungspraktiken näher beleuchten, nämlich den Zwang zur trennschärferen Abgrenzung von Steuern als Mitgliedschaftsbeiträgen der Bürger und Steuern als Standortnutzungsbeiträgen. Und ich werde weiterhin zu zeigen suchen, dass der Standortwettbewerb ebenfalls Druck in Richtung einer entsprechenden Abgrenzung bei staatlicher Regulierung erzeugt, zwischen Regulierungen, die das Binnenverhältnis der Mitglieder der Bürgergenossenschaft betreffen, und Regulierungen, die die Bedingungen für die Nutzung des Standorts definieren.

VII. Die Besteuerung von Bürgern und die Besteuerung von Standortnutzern Betrachtet man die überkommenen und gegenwärtig noch weithin praktizierten Besteuerungsregelungen, so wird man einige Mühe haben, die von mir so betonte Unterscheidung der beiden Typen von Steuern darin widergespiegelt zu finden. Und in der Tat ist, so meine These, der Umstand, dass die überkommenen Besteuerungspraktiken dieser Unterscheidung ungenügend Rechnung tragen, einer der Hauptgründe für die

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Schwierigkeiten, die der intensivierte Standortwettbewerb vor allem den europäischen Wohlfahrtsstaaten bereitet. Die Politik reagiert auf diese Schwierigkeiten gerne mit Forderungen nach Steuerharmonisierung und anderen Formen der Beschränkung des Steuerwettbewerbs. Doch was für Preiskartelle im Markt gilt, trifft auch auf Steuerkartelle zu: Sie mögen eine temporäre Milderung des Wettbewerbsdrucks bewirken können, bieten aber keine nachhaltige Problemlösung in einer Welt, aus der der Wettbewerb nun einmal nicht zu verbannen ist. Denn wie im Markt, wo wird es auch im Standortwettbewerb immer Außenseiter geben, die den vom Kartell ausgebeuteten Opfern attraktivere Alternativen bieten. Auch eine steuerharmonisierte EU bleibt dem weltweiten Standortwettbewerb ausgesetzt. Eine nachhaltige Strategie kann nur darin liegen, das eigene Steuersystem wettbewerbsrobust zu gestalten. Zur Wettbewerbsrobustheit in einer globalisierten Welt gehört zu allererst, dass man auf den Versuch verzichtet, Standortnutzer mit den Kosten von Leistungen zu belasten, die allein Bürgern als Mitgliedern des Gemeinwesens Vorteile bringen, aber nicht dazu beitragen, die Attraktivität des Standorts für dessen Nutzer zu erhöhen. Genau dies, die Belastung von Standortnutzern zur Finanzierung von Bürgerprojekten, geschieht jedoch in der gängigen Besteuerungspraxis in vielerlei Weise. Ein besonders augenfälliges Beispiel liefert die bereits erwähnte Unternehmensbesteuerung. Als juristische Personen oder als Personenzusammenschlüsse sind Unternehmen naturgemäß nur Standortnutzer, nicht jedoch Mitglieder staatlicher Gemeinwesen, denn nur natürliche Einzelpersonen können Bürger sein. Dieser simple Sachverhalt wird jedoch von einer Besteuerungspraxis ignoriert, die wie selbstverständlich davon auszugehen scheint, dass man Unternehmen etwa zur Finanzierung der Solidarsysteme heranziehen kann, die die Nachfrage der Bürger nach sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit befriedigen sollen. Von Unternehmen wird man ebenso wenig wie von anderen mobilen Standortnutzern die Bereitschaft erwarten können, mit ihren Steuerbeiträgen Solidarprojekte der Bürger zu finanzieren, wenn ihnen die sie interessierenden Standortleistungen anderswo zu günstigeren Konditionen angeboten werden. Obschon entsprechende Befürchtungen nicht selten in oberflächlichen Analysen geschürt werden, schränkt der daraus resultierende Standortwettbewerb keineswegs die Mitglieder einer Bürgergenossenschaft in ihren Möglichkeiten ein, sich mit den öffentlichen Leistungen und solidarischen Absicherungen zu versorgen, die sie gemeinschaftlich zu finanzieren bereit sind. Die wettbewerblichen Zwänge, die ihnen die höhere Mobilität der Standortnutzer in einer globalisierten Welt auferlegt, schränken lediglich ihre Möglichkeiten ein, die Kosten solcher Vorhaben Dritten aufzuerlegen, die daraus keine Vorteile ziehen können. Anders gesagt, der Standortwettbewerb zwingt zur Kostenwahrheit in der Finanzierung der Leistungen, die das Gemeinschaftsunternehmen Staat für seine Bürger bereitstellt, und er zerstört die Illusion, dass man Standortnutzer zur Finanzierung dieser Leistungen über das Maß hinaus heranziehen kann, in dem sie daraus Vorteile ziehen. Dies lässt durchaus einen breiten Raum für die Besteuerung von Unternehmen und anderen Standortnutzern zur Finanzierung öffentlicher Leistungen, die direkt oder indirekt die Attraktivität einer Jurisdiktion für deren Nutzungszwecke erhöhen. Und dazu können, um ein weniger naheliegendes Beispiel zu nennen, durchaus auch Leistungen des Sozialstaates gehören, in dem Maße, in dem diese, wie gemeinhin unterstellt wird, zum sozialen Frieden im Lande beitragen und dadurch die Attraktivität des Standorts

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erhöhen. Aber der entscheidende Punkt ist, dass man Standortnutzer zur Finanzierung solcher und anderer Leistungen eben nur in dem Maße heranziehen kann, in dem damit Standortqualitäten verbunden sind, für deren Nutzung sie zu zahlen bereit sind. Nun ist die Unternehmensbesteuerung zwar sicherlich der Bereich, in dem die mangelnde Trennung zwischen Steuern als Mitgliedschaftsbeiträgen der Bürger und als Standortnutzungsbeiträgen besonders augenfällige Probleme schafft, sie ist jedoch keineswegs der einzige Bereich. Der Unterschied zwischen diesen beiden Steuerarten wird auch etwa in den Fällen vernachlässigt, in denen Staaten Ausländer, die sich als Arbeitnehmer in ihrer Jurisdiktion aufhalten, in gleicher Weise besteuern wie die eigenen Bürger, obschon sie nicht an dem vollen Leistungspaket partizipieren, das Bürgern gewährt wird, oder wenn Staaten ihren im Ausland residierenden eigenen Bürgern keinerlei Steuerbeitrag abverlangen, obwohl diese weiterhin Rechte aus ihrer Mitgliedschaft im Gemeinwesen in Anspruch nehmen können.

VIII. Globalisierung und Regulierung Ich hatte vorhin angedeutet, dass der Anpassungsdruck, den Globalisierung und Standortwettbewerb auf die Besteuerungspraxis des Staates ausüben, sich in ähnlicher Weise auch auf den Staat als Regulierer auswirkt. Es ist meine These, dass der Standortwettbewerb auch im Bereich der Regulierung eine deutlichere Separierung zwischen der Rolle des Staates als Gemeinschaftsunternehmen der Bürger und seiner Rolle als Standortunternehmen erzwingt, und zwar in dem Sinne, dass eine striktere Unterscheidung vorgenommen werden muss zwischen Regulierungen, die das Verhältnis der Bürger untereinander gestalten sollen, und Regulierungen, die sich auf die Bedingungen für die Nutzung des Standorts beziehen. Als Gemeinschaftsunternehmen der Bürger kann der Staat das Instrument der Regulierung zur Förderung gemeinsamer Bürgerinteressen nutzen, im Sinne der Realisierung wechselseitiger Vorteile durch gemeinsame Regelbindung (Vanberg 2005, S. 29 ff.). Als Standortuntemehmen steht der Staat vor der Herausforderung, im Wettbewerb mit anderen Standortanbietern die Regeln für die Nutzung seines Hoheitsgebietes in einer Weise zu definieren, die für Standortnutzer ausreichend attraktiv ist. In der traditionellen Regulierungsdiskussion wird man den Unterschied zwischen diesen beiden Aspekten von Regulierung selten explizit thematisiert finden, und in der Tat wird es in der Praxis auch nicht immer möglich sein, Regulierungen trennscharf der einen oder anderen Kategorie zuzuordnen, da sie sich häufig sowohl auf das Gemeinschaftsleben der Bürger wie auch auf die Standortnutzungsbedingungen auswirken werden. Mit der Unterscheidung der beiden Aspekte von Regulierung geht es mir denn auch nicht um die Forderung nach einer solchen eindeutigen Zuordnung. Es geht vielmehr darum, dass bezüglich des Anliegens, dem eine in Betracht gezogene Regulierung dienen soll, eindeutige Klarheit bestehen sollte, ob sie der Förderung gemeinsamer Bürgerinteressen oder einer Verbesserung der Standortnutzungsbedingungen dienen soll. Nur wenn in dieser Hinsicht Klarheit besteht, kann eine rationale Prüfung erfolgen, ob die im intendierten Zielbereich erhofften positiven Wirkungen mögliche negative Nebenwirkungen im anderen Bereich rechtfertigen. Nur dann wird man in Fällen, in denen

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etwa Regulierungen, die Anliegen der Bürgerschaft bedienen sollen, nachteilige Auswirkungen auf die Standortattraktivität haben, und umgekehrt, rational zwischen intendierten Vorteilen und nicht gewünschten Nebenwirkungen abwägen können. So mögen, um dies an einem Beispiel zu illustrieren, Regulierungen, die im gemeinsamen Interesse der Bürger etwa zur Erhaltung einer traditionellen Feiertagskultur oder zur Landschaftspflege erlassen werden, die Attraktivität der Jurisdiktion für manche Standortnutzer mindern. Die Bürger werden in solchen Fällen die Vorteile, die sie von der Regulierung erwarten, gegen die aus der geminderten Standortattraktivität möglicherweise erwachsenden Nachteile abwägen müssen. Vor solchen Abwägungsproblemen werden Bürger bei der Entscheidung über Regulierungen in vielen Fällen stehen, und sie werden sich angesichts der komplexen Wirkungsverflechtungen in Wirtschaft und Gesellschaft nicht vermeiden lassen. Sie stellen aber auch nicht das Problem dar, auf das ich mit meinen Überlegungen hinaus will. Mir geht es um die Probleme, die dort auftauchen, wo der Versuch unternommen wird, Standortregulierungen als Instrument zu benutzen, um Anliegen der Bürgerschaft zu befriedigen, wo solche Anliegen also nicht direkt, durch Regelungen der Bürgergenossenschaft, sondern indirekt, über Auflagen für die Nutzung des Standorts angegangen werden. Was ich damit meine, lässt sich gut am Beispiel der aktuellen Diskussion um ein Mindestlohngesetz illustrieren. Es ist eine Sache, wenn die Mitglieder der Bürgergenossenschaft einen Solidarpakt eingehen, durch den sie sich wechselseitig für den Fall der Bedürftigkeit die Sicherung eines Mindesteinkommens garantieren. Ein solcher Solidarpakt erscheint ex post als Umverteilung von den Einkommensstärkeren zu den Einkommensschwächeren, ex ante ist er - in einer für den Intergenerationenverband Staat angemessen langfristigen Sicht - ein Versicherungspakt, dem die Beteiligten in ihrem eigenen Interesse und in dem ihrer Nachkommen zustimmen können. Als Gemeinschaftsunternehmen der Bürger kann der Staat einen solchen Versicherungspakt für seine Mitglieder administrieren. Es ist eine völlig andere Sache, wenn der Staat dem gleichen Anliegen durch ein Mindestlohngesetz nachzukommen sucht. Im Unterschied zu einer Mindesteinkommenssicherung geht es nämlich bei einem solchen Gesetz nicht darum, Rechte und Pflichten innerhalb der Bürgergenossenschaft zu ordnen. Mit einem solchen Gesetz gestaltet der Staat in seiner Rolle als Standortunternehmen die Bedingungen, unter denen Standortnutzer in der Jurisdiktion tätig werden können. Er untersagt es ihnen, Arbeitsverträge zu schließen, die einen niedrigeren als den gesetzlich vorgeschriebenen Lohnsatz vorsehen. Ich brauche hier nicht die in der Ökonomik seit langem hinreichend diskutierten Gründe zu wiederholen, warum ein gesetzlicher Mindestlohn kein taugliches Mittel zur Einkommenssicherung für gering Qualifizierte sein kann, warum er zu Ausweichreaktionen in die Schattenwirtschaft fuhren und erhöhte Arbeitslosigkeit zur Folge haben wird.16 Worauf ich die Aufmerksamkeit lenken will, ist der Umstand, dass die Befürworter eines Mindestlohngesetzes den Unterschied zwischen den beiden Rollen des Staates verkennen, wenn sie den Staat in seiner Rolle als Standortunternehmen heran-

16 Siehe etwa die verschiedenen Stellungnahmen in Riirup et al. (2008).

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ziehen wollen, um ein Solidaranliegen der Bürgerschaft zu befriedigen, für das der Staat in seiner Rolle als Gemeinschaftsunternehmen der Bürger zuständig ist. Die Tendenz zu einer solchen Rollenvermengung zeigt sich nicht nur in der Diskussion um die Frage eines gesetzlichen Mindestlohns, sie ist auch in vielen anderen Bereichen zu beobachten, und man kann leicht die Gründe ausmachen, aus denen Politiker der Versuchung ausgesetzt sind, echte oder vermeintliche Gemeinschaftsanliegen der Bürger nicht auf direktem Wege, durch Regelungen der Rechte und Pflichten unter den Mitgliedern des Gemeinwesens, sondern auf indirektem Wege, über Regulierungen der Standortnutzung zu befriedigen. Können sie doch auf diese Weise den Bürgern als Wählern die Befriedigung solcher Anliegen versprechen, ohne ihnen als Steuerzahlern die Gegenrechnung präsentieren zu müssen. So kann man sie im Glauben belassen, die Kosten der ihnen gewährten Wohltaten würden von Dritten, eben den Standortnutzern, getragen, ein Glaube, der sich langfristig als Illusion erweisen muss. Als weiteres Beispiel sei hier nur die gesetzliche Pflicht zur Abwicklung eines Sozialplans bei Betriebsschließungen erwähnt. Es mag ein berechtigtes Solidaranliegen der Mitglieder einer Bürgergenossenschaft sein, sich gegen die Einkommensrisiken abzusichern, die ihnen drohen, wenn sie aufgrund einer Betriebsstilllegung ihren Arbeitsplatz verlieren sollten. Dieses Anliegen könnten sie über den Staat als ihr Gemeinschaftsunternehmen dadurch bedienen, dass sie einen entsprechenden Solidaritätsfond bilden, in den sie laufend einzahlen, und aus dem sie im Bedarfsfalle die vorgesehenen Hilfszahlungen erhalten. Ein Politiker, der einen solchen Fond vorschlagen würde, wäre genötigt, den Wählern zu begründen, warum ihnen die daraus erwachsenden Vorteile wichtiger sein sollten, als die mit einem solchen Fond verbundenen Kosten, einschließlich der Verwaltungskosten und der nicht vermeidbaren Missbrauchskosten. Diese Begründungsnot können Politiker sich ersparen, wenn sie die am Standort tätigen Unternehmen gesetzlich dazu verpflichten, im Falle von Betriebsschließungen allen Beschäftigen bestimmte Entschädigungszahlungen für den Verlust ihres Arbeitsplatzes zu leisten. Auf diese Weise kann man bei den Wählern den Eindruck erwecken, dass man ihnen etwas Gutes tut, ohne ihnen als Steuerzahlern eine Rechnung präsentieren zu müssen. Natürlich werden die Bürger für die vermeintliche Guttat in anderer Form zahlen müssen, nämlich mit einer Senkung ihrer generellen Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden, weil mobile Standortnutzer durch eine solche Regulierung tendenziell davon abgehalten werden, am Standort unternehmerisch tätig zu werden. Allerdings werden Politiker, soweit sie selbst diese Zusammenhänge durchschauen, wohl kaum befürchten müssen, dass diese Kosten allzu vielen Wählern bewusst sein werden. Ich überlasse es Ihrer eigenen Fantasie, unter den hier in Betracht kommenden gesetzlichen Regelungen weitere Beispiele dafür zu finden, wie das Instrument der Regulierung für den Versuch genutzt wird, Kosten von Solidarprojekten der Bürgergemeinschaft auf Standortnutzer zu überwälzen, etwa indem man Unternehmen über gesetzliche Kündigungsschutzregelungen verpflichtet, zur Produktion des von den Bürgern gewünschten Gutes .soziale Sicherheit' beitragen, oder indem man durch gesetzliche Regelungen des Arbeitsverhältnisses Unternehmen zur Beteiligung an den Kosten eines solidarisch gestalteten Gesundheitssystems heranzieht. Ich möchte mich, bevor ich zu meinem Schlusswort komme, darauf beschränken, das allgemeine Argument zusammenzufassen, um das es mir hier geht.

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Auch in seiner Rolle als Standortunternehmen handelt der demokratische Staat selbstverständlich als Agent seiner Bürger und nicht als Sachwalter der Interessen von Standortnutzern per se. Sein Auftrag ist es, die Bedingungen für die Nutzung des Standorts - also die Steuerbeiträge, die er von Standortnutzern erhebt, und die Regulierungen, denen er ihnen auferlegt - so zu gestalten, dass sich insgesamt ein Nutzungsprofil ergibt, das den Interessen der Bürger dient. In diesem Sinne kann die Steigerung der Attraktivität des Standorts für den demokratischen Staat niemals Selbstzweck sondern nur insoweit ein Ziel sein, als dadurch von den Bürgern gewünschte Standortnutzer angezogen und von ihnen gewünschte Nutzungen erreicht werden können. Das bedeutet, dass Regulierungen - etwa Umweltregulierungen - , die bestimmte Standortnutzer von einem Engagement in der Jurisdiktion abhalten mögen, nichtsdestoweniger im gemeinsamen Interesse der Bürger liegen können, wenn ihnen die dadurch geforderten Eigenschaften ihrer Jurisdiktion mehr bedeuten, als die damit verbundenen Einbußen an wirtschaftlicher Aktivität. Als Agent der Bürger wird der Staat bei seiner Regulierungswahl also durchaus mögliche negative Auswirkungen auf die Attraktivität des Standorts gegen andere Ziele der Bürgerschaft abzuwägen haben. Was er allerdings nicht kann, und dies ist der Punkt, den ich deutlich machen wollte, ist, das Instrument der Regulierung zu benutzen, um die Kosten von allein den Interessen der Bürger dienenden Vorhaben auf Standortnutzer zu überwälzen. In einer globalisierten Welt werden diese sich im Maße ihrer Mobilität und der Zugänglichkeit attraktiver Alternativen solchen Ansinnen durch Abwanderung entziehen. Dadurch wird, um dies zu wiederholen, keineswegs die Fähigkeit der Mitglieder einer Bürgergenossenschaft eingeschränkt, die Gemeinschaftsprojekte durchzuführen, deren Kosten sie zu tragen bereit ist. Dadurch werden lediglich ihre Möglichkeiten eingeschränkt, die Kosten auf Dritte zu überwälzen. Andererseits dürften attraktive Standortbedingungen in ihren Konsequenzen für die Einkommenschancen der Bürger die Fähigkeit des Gemeinwesens erhöhen, seine Solidarleistungen zu finanzieren.

IX. Schluss: Die Soziale Marktwirtschaft in einer globalisierten Welt An den Anfang meiner Überlegungen zum Thema „Markt und Staat in einer globalisierten Welt" hatte ich den Hinweis auf die Herausforderungen gestellt, vor denen das deutsche Modell der Sozialen Marktwirtschaft heute steht. Zum Abschluss meines Vortrages möchte ich auf diese Frage zurückkommen und einige der Folgerungen deutlich machen, die sich aus den hier vorgetragenen Argumenten für diese Frage ziehen lassen. Dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft lag, in den Worten des Namensgebers Alfred Müller-Armack, das Anliegen zugrunde, die Ziele des sozialen Ausgleichs und der sozialen Sicherheit mit dem Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit im Markt zu versöhnen.17 Getragen war dieses Konzept von der Diagnose, dass ihre überlegene Produktivität allein der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht die für ihre dauerhafte Stabilität notwendige politische Unterstützung sichern kann, weil die mit dem Wettbewerb und dem durch ihn vorangetriebenen wirtschaftlichen Wandel unvermeidbar verbundenen Unsicherheiten stets einen Anknüpfungspunkt für politische Agitatoren bieten werden, 17 Dazu Vanberg (2002).

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Ressentiments gegen die Marktwirtschaft zu schüren.18 Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft sollte als - so Müller-Armack - „irenische Formel" das Modell für eine Wirtschaftsordnung bieten, die dem Bedürfnis der Menschen nach sozialer Absicherung auf der Grundlage einer marktwirtschaftlichen Ordnung Rechnung trägt, und damit der Marktwirtschaft ihre politische Verwundbarkeit nimmt. Auf dem Hintergrund der von mir betonten Unterscheidung zwischen den beiden Rollen des Staates könnte man das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in dem Sinne interpretieren, dass der Staat in seiner Rolle als Standortunternehmen für die Pflege der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung zuständig ist, und dass er in seiner Rolle als Gemeinschaftsunternehmen der Bürger ein solidarisches Unterstützungssystem organisiert, durch das sich die Bürger wechselseitig gegen grundlegende Einkommensunsicherheiten und Lebensrisiken absichern. Offenkundig hat sich die politische Umsetzung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft nicht an einer solchen klaren Trennung der Zuständigkeiten orientiert, und in der Tat haftet dem Konzept in dieser Hinsicht eine folgenreiche Zweideutigkeit an. Zwar waren die Theoretiker der Marktwirtschaft von Anfang an bemüht, diese Zweideutigkeit durch die Unterscheidung von marktkonformen und nicht konformen Interventionen zu vermeiden.19 Aber diesem Gegensatzpaar mag die nötige Trennschärfe gefehlt haben, und ich meine, dass die von mir betonte Unterscheidung hier vielleicht für mehr Klarheit sorgen kann. Bereits der Begriff Soziale Marktwirtschaft legt allzu leicht die Interpretation nahe, dass es bei diesem Konzept nicht nur darum geht, das politische Gemeinwesen mit einem genossenschaftlichen Solidarpakt auszustatten, sondern darum, den Sicherheits- und Solidaranliegen der Bürger dadurch Rechnung zu tragen, dass man dem Markt selbst entsprechende Regelungen auferlegt. Und diese Interpretation hat in der Tat ganz augenscheinlich die politische Ausgestaltung des deutschen Modells in den sechs Jahrzehnten seiner Geschichte weitgehend bestimmt. Nun ist der Markt aber nun einmal keine Abteilung des Gemeinschaftsunternehmens Bürgergenossenschaft. Und Regulierungen des Marktes betreffen nicht das Binnenverhältnis unter den Mitgliedern des Gemeinwesens. Sie betreffen vielmehr die Bedingungen für die Standortnutzung. Der Markt ist eine weltweit verflochtene Arena für privatwirtschaftliche Betätigung, eine Arena, für die der Staat aufgrund seiner Rechtsetzungskompetenz innerhalb seines Hoheitsgebietes Regelungen dekretieren kann, denen Standortnutzer unterworfen sind. Aber seine Standortnutzer - und das schließt auch die eigenen Bürger in ihrer privatrechtlichen Rolle als Standortnutzer ein - sind als solche nun einmal nur Kunden des Standortunternehmens Staat und nicht Mitglieder der solidarischen Bürgergenossenschaft. Will man die Soziale Marktwirtschaft in der globalisierten Welt wettbewerbsrobust machen, so wird es notwendig sein, die beiden von mir hier beschriebenen Rollen des Staates, die im deutschen Sozialstaat in vielerlei Weise vermengt sind, deutlicher zu separieren. Es wird, kurz gesagt, erforderlich sein, eine klarere Trennlinie zu ziehen, zwischen, auf der einen Seite, den Aufgaben, die der Staat als Bürgergenossenschaft im Rahmen des Steueraufkommens wahrnehmen kann, das seine Mitglieder mit ihren Bei18 Dazu Vanberg (2005c). 19 Röpke (1942, S. 291 ff.).

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trägen aufzubringen bereit sind, und, auf der anderen Seite, den Aufgaben, die er als Standortunternehmen zu erfüllen hat, und für die er die Standortnutzer in dem Maße zur Finanzierung heranziehen kann, wie dies unter Bedingungen des Standortwettbewerbs möglich ist. Natürlich wären mit dieser Separierung allein nicht alle Probleme gelöst, denn es bleibt auch dann noch die nicht minder schwierige Aufgabe, die Solidarsysteme der Bürgergenossenschaft nachhaltig zu gestalten, d.h. in einer Weise, die die Loyalität deijenigen nicht überfordert, die die Hauptlasten der Finanzierung zu tragen haben, und die die Leistungsbereitschaft der Unterstützungsempfänger nicht untergräbt. Es ist jedoch zu erwarten, dass diese Aufgabe leichter lösbar sein wird, wenn sie nicht länger von den Problemen überlagert ist, die sich aus der Vermengung der beiden Rollen des Staates ergeben. Wie es Politikern, die sich der skizzierten Zusammenhänge bewusst sind, gelingen kann, die notwendigen Reformen unter den Bedingungen des Wettbewerbs um Wählerstimmen in der heutigen Mediendemokratie ins Werk zu setzen, ohne sich abgewählt zu finden, ist eine weitere Frage, eine Frage, die ich eingangs ebenfalls angesprochen hatte, auf die ich allerdings keine Patentantwort bereit habe, und auf die mein Fach, die Ordnungsökonomik, auch keine direkte Antwort geben kann. Ordnungsökonomik ist keine Disziplin, die sich zur Strategieberatung von Politikern anbietet. Sie lässt sich am Besten in der Weise charakterisieren, in der Adam Smith die von ihm betriebene politische Ökonomie beschrieben hat, nämlich als die „Wissenschaft des Gesetzgebers".20 Sie ist eine Wissenschaft, die mit der Frage der zweckmäßigen Gestaltung der Regeln von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat befasst ist, nicht mit Fragen politischer Taktik. Ordnungsökonomik kann in diesem Sinne zwar durchaus auch etwas zu der Frage sagen, wie die Spielregeln der Politik gestaltet sein müssten, damit Politiker, die die Soziale Marktwirtschaft in zukunftsichernder Weise reformieren wollen, größere Chancen hätten, sich im Wettbewerb um Wählerstimmen zu behaupten.21 Aber sie kann Politiker wenig Hilfestellung bei dem Problem bieten, wie sie unter den gegebenen Bedingungen des politischen Wettbewerbs die Soziale Marktwirtschaft globalisierungstauglich machen können, ohne ihre Abwahl zu riskieren. Dass die Ordnungsökonomik wenig zur politischen Strategieberatung taugt, bedeutet jedoch keineswegs, dass der Beitrag, den sie zur Lösimg der Ordnungsprobleme unserer Zeit leisten kann, unbedeutend wäre. Sie kann den Beitrag leisten, den die Begründer der Freiburger Schule sich von dem Lehr- und Forschungsprogramm erhofften, das sie in den 1930er Jahren initiiert haben, und mit dem sie ihre Kollegen in der Wirtschaftsund Rechtswissenschaft auffordern wollten, wieder ihr Bewusstsein für die Rolle zu schärfen, die diesen Wissenschaften bei der Lösung gesellschaftlicher Ordnungsprobleme zukommt, ein Bewusstsein, das nach der Diagnose der Freiburger unter dem Einfluss der Deutschen Historischen Schule verkümmert war.22 Heute ist der Einfluss die-

20 Smith (2005, S. 334). Der im englischen Original zu findende Ausdruck „the science of the legislator" (IV, ii, 39) ist in der deutschen Übersetzung als „Kunst des Gesetzgebers" wiedergegeben. 21 In einem Aufsatztitel hat Buchanan (1992) dieses Problem mit den Worten umschrieben: „Wie können Verfassungen gestaltet werden, sodass um die .Gemeininteressen' bemühte Politiker überleben können?" - Für eine Zusammenstellung von Beiträgen, die sich mit dieser Frage befassen, siehe Wohlgemuth (2005). 22 Böhm, Eucken und Großmann-Doerth (1937).

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ser Schule nicht mehr zu spüren, aber die Mahnung der Freiburger Gründerväter ist zumindest in unserem Fach - von nicht geringerer Aktualität angesichts starker Tendenzen zu einer auf sich selbst bezogenen und zum Selbstzweck werdenden Formalisierung. Der Beitrag, den die Wissenschaft im Sinne der Freiburger Schule zur Lösung der gesellschaftlichen Ordnungsprobleme leisten kann, liegt in der forschenden Erkundung der relevanten Sachzusammenhänge, in der Vermittlung der entsprechenden Erkenntnisse an Studenten, von denen nicht wenige in Positionen mit gesellschaftsgestaltender Verantwortung tätig sein werden, und im aufklärenden Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung. Dass ich in den vergangenen Jahren durch meine Tätigkeit auf dem ordnungspolitischen Lehrstuhl unserer Fakultät und durch die Leitung des Walter Eucken Instituts im Sinne dieser Freiburger Tradition wirken konnte, hat mich mit großer Befriedigung erfüllt. Ich hoffe, dass ich auch in Zukunft in der einen oder anderen Form dazu einen Beitrag leisten kann, und ich wünsche meinem Nachfolger, dass er oder sie in der Fortfuhrung dieser Tradition die gleiche Befriedigung finden möge.

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Summary: Market and state in a globalized world: the perspective of constitutional economics This article examines how the process of globalization affects the legal-institutional foundations of markets and states. Its main thesis is that globalization demands a stricter distinction between two different functions of the state, functions that have traditionally not been clearly separated. The first is the role of the state as the joint enterprise of its citizens, i.e. as the agency through which citizens provide themselves with public services. The second is its role as a 'territorial enterprise,' i.e. as the agency through which citizens define and enforce the legal-institutional terms under which economic and other agents, citizens as well as non-citizens, may operate within its jurisdiction. Making this distinction has important implications for taxation and regulation.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Manfred E. Streit

Im Reformstau - oder das Elend des Verbändestaates Inhalt I. Einleitung II. Überblick III. Einschlägige Beobachtungen IV. Politisch-ökonomische Erklärungen V. Reformen und konsensuale Politik VI. Lähmende Selbstbindung der politischen Klasse VII. Verfassungsrechtliche Bedenken VIII. Was zu tun wäre Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: The backlog of reforms or the misery of the pressure groups

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„Nichts ist gefahrlicher als der Einfluß privater Interessen in öffentlichen Angelegenheiten und die Verletzung des Rechts durch die Regierung ist weniger schlimm als die Korruption des Gesetzgebers, welche die unvermeidliche Folge privater Gesichtspunkte ist" J.J. Rousseau, (1762), eigene Übers.

I. Einleitung In seiner Neujahrsansprache 2008 mahnte der Bundespräsident „Reformeifer" an und sein Vorgänger im Amt wünschte mit dem Blick auf Reformen, dass ein „Ruck" durch Deutschland gehen müsse. Inzwischen ist es um die wirtschaftspolitischen Reformen still geworden, welche die vorangegangene Legislaturperiode des Deutschen Bundestages beherrschten und deren Wirkungen die politisch Verantwortlichen in einer kurz geschlossenen Ursachenzurechnung für sich beanspruchen, obwohl sie zuvor die Reformversuche zu blockieren trachteten. Still ist es deshalb geworden, weil anstehende Wahlen zur Vorsicht mahnen; denn Reformeifer dürfte sich kaum in Wählerstimmen umsetzen lassen. Das wird wohl den Reformstau eher verlängern, der noch vor 2000 häufig beklagt wurde und in dem die herrschende Klasse (MOSCA 1947/1950) verharrte. Insofern ist das Phänomen Reformstau für Deutschland klärungsbedürftig.

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Manfred E. Streit

II. Überblick Dementsprechend sind die nachstehenden Ausführungen wie folgt gegliedert: Zunächst (vgl. III:) werden zwei Beobachtungen zu Reformbemühungen Anfang 2007 aufgegriffen, welche die hier erörterte Thematik beleuchten dürften. Sodann (vgl. IV.) werden politisch-ökonomische Erklärungen von Reformvorhaben und dem davon ausgelösten Reformstau versucht. Im Kapitel V. soll die politische Strategie beurteilt werden, die in Deutschland gewählt wurde, um den Reformstau zu überwinden. Danach (vgl. VI.) soll der Frage nachgegangen werden, warum sich Mitglieder der politischen Klasse in Deutschland mit wirtschaftspolitischen Reformen so schwer tun. Das führt zu verfassungsrechtlichen Bedenken, die man bei dieser Sachlage haben sollte. Und schließlich (vgl. VII.) geht es darum, was getan werden könnte, um das Problem des Reformstaus ursachentherapeutisch anzugehen.

III. Einschlägige Beobachtungen Die Beobachtungen gelten einem wirtschaftspolitischen Dauerbrenner: der Reform des Gesundheitswesens. Nach einem quälenden Hin und Her in so genannten konzertierten Aktionen und Expertenkommissionen präsentierte die zuständige Bundesministerin dem Deutschen Bundesstag Anfang 2007 den Entwurf zu einem Gesundheitsreformgesetz mit dem beschönigenden Titel „Wettbewerbsverstärkungsgesetz". Sie betonte dabei, dass sie den Gesetzentwurf (von opulenten 400 Seiten) gegen die Lobby durchgesetzt habe. Die Lobby selbst war nahezu täglich mit Kommentaren in den Medien präsent. Auch Abgeordnete beteiligten sich munter öffentlich als Gesundheitsexperten ihrer Fraktion an der Diskussion der erwogenen Reformschritte. Nachdem sie sich dem einen oder anderen Argument der Verbandsfunktionäre angeschlossen hatten, ließen sie erkennen, wie sie denn am Ende im Sinne des Gemeinwohls abgestimmt hatten; denn auf das Gemeinwohl waren sie als Abgeordnete eingeschworen. Die zweite Beobachtung bezieht sich auf einen veröffentlichten Brief, den der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie in Sachen „Wettbewerbsstärkungsgesetz" dem Minister ebenfalls Anfang 2007 geschrieben hatte. Der Beirat wies daraufhin, dass das Ziel der Gesundheitsreform, den Wettbewerb im Gesundheitswesen zu stärken, nicht erreicht werden kann, weil der Schutz des Wettbewerbs für die gesetzlichen Krankenkassen auf nationaler und europäischer Ebene außer Kraft gesetzt sei. Nach § 69 SGB V sind die Krankenkassen nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs als Bereichsausnahmen von GWB und UWG zu betrachten. Das Gesetz hindert also die Krankenkassen nicht an wettbewerbswidrigem Verhalten. Der so gegebene Rechtszustand stehe, so der Beirat, in krassem Widerspruch zum Anspruch eines „Wettbewerbsstärkungsgesetzes". Konsequent forderte der Beirat, § 69 SGB V ersatzlos zu streichen. Die Antwort des Ministers war eine gewunden wortreiche Ablehnung, die er mit der Hoffnung verband, dass das Schreiben des Beirats „die Diskussion um einen adäquaten Wettbewerbsschutz befördert, damit das Gesetz (gemeint: das Wettbewerbsstärkungsgesetz) in dieser Hinsicht seinem Namen auch gerecht wird..." Man kann dazu nur lakonisch konstatieren, dass dies wieder einmal Arbeit eines wis-

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senschaftlichen Beratungsgremiums für den Papierkorb war und sich fragen, wie der Minister zu der Ablehnung kam und welchen Interessen er damit dienen wollte.

IV. Politisch-ökonomische Erklärungen Die Vertretung von Interessen in der wirtschaftspolitischen Willensbildung in Deutschland durch Verbände fallt nicht nur bei der Gesundheitsreform auf. Wann immer eine wirtschaftspolitische Aktivität erwogen wird, stets melden sich Vertreter von Interessenverbänden zu Wort, um vorgebliche Wünsche oder Klagen ihrer Klientel geltend zu machen. Das gilt besonders für erwogene wirtschafts- und finanzpolitische Reformvorhaben. Der Chor der Wortmeldungen ist vieltönig und häufig dissonant. 2006 waren 1896 Verbände aufgelistet, die nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Zugang zum Bundestag und zu den Bundesministerien hatten. 1972 waren es 635 Verbände {Kirchhof2006, S. 57). Insgesamt sind in Deutschland rund 14.000 Verbände und Dachverbände tätig. Von ihnen wird nahezu jeder gesellschaftliche Lebensbereich abgedeckt und durch Funktionäre politisch zur Geltung gebracht. Aus der Sicht der Verbandsfunktionäre dürfte es zweckrational sein, die Erwerbsinteressen ihrer Klientel werbend zu vertreten (Streit 2005, S. 339 ff). Es geht ihnen vermutlich darum, in Gesetzgebungs- und Regulierungsverfahren rechtlich abgesicherte Privilegien für ihre Klientel zu erlangen, die dieser erwerbslose Zusatzeinkommen oder Renten gewähren. Dies geschieht durch ein politisches Tauschgeschäft. Getauscht wird die Privilegienvergabe gegen politische Unterstützung bei der Wahl oder Wiederwahl eines Mandatträgers oder einer Partei. Dieser Vorgang des „rent-seeking" (Tollison 1982) wurde von Hayek (2003, S. 405) als „Schacher-Demokratie" eloquent kritisiert. Wirtschafts- und finanzpolitische Reformen beinhalten aus dieser Sicht nichts anderes als eine Umkehrung des beschriebenen Tauschgeschäfts. Es geht darum, früher vergebene Wahlgeschenke bei den Beschenkten wieder einzusammeln. Wahlgeschenke in Form von Leistungsausweitungen der Sozialversicherungen wurden vor jeder Bundestagswahl seit 1949 gemacht (Vaubel 1989). Gegenwärtig werden sie als Belastungen angesehen, ohne dass ihre Entstehung von den Verursachern selbstkritisch erwähnt wird. Ähnlich zu beurteilen sind die extrem hohen und dauerhaften Subventionen an die Landwirtschaft und an den Steinkohlebergbau. Auf sie entfallt nach dem jüngsten Subventionsbericht der Bundesregierung (Bundesministerium der Finanzen, 2002) fast ein Viertel aller Finanzhilfen und Steuervergünstigungen des Bundes. Reformen des Sozialversicherungs- und Steuersystems bedeuten nun, dass die aufgezeigten Privilegien den begünstigten Gruppen entzogen werden sollen. Das ruft unweigerlich die Vertreter der organisierten Gruppen auf den Plan, die sich als Besitzstandswahrer in Wort und Schrift bemerkbar machen.

V. Reformen und konsensuale Politik Der Widerstand von Interessengruppen gegen Reformvorhaben legte den Gedanken nahe, die betroffenen Gruppen in die Reformbemühungen einzubinden, „partnerschaftlich" vorzugehen. Eine „konsensuale Politik" schien nahe zu liegen. Organisiert wurde

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sie in „konzertierten Aktionen", „runden Tischen", „Gipfelgesprächen" und „Regierungskommissionen". Die verfassungsrechtliche Problematik dieses Vorgehens wurde schlicht übergangen; denn es hätte gefragt werden müssen, woher die einbezogenen Verbandsfimktionäre eigentlich die Legitimation zu derart politischem Handeln nehmen wollten.1 Selbst die Frage nach ihrer demokratischen Legitimation im Verband wäre in manchen Fällen prekär gewesen. Bei näherem Hinsehen waren und sind derartige Veranstaltungen im Rahmen einer konsensualen Politik sehr fragwürdig. Spieltheoretisch betrachtet handelt es sich um kooperative Spiele, d. h. den „Spielern" ist es erlaubt, zu kommunizieren. Das beinhaltet auch, dass (temporäre) Koalitionen geschlossen werden. Unter realistischen Bedingungen haben solche Spiele keine stabile Lösung. Statt dessen ist zu erwarten, (1) dass Informationen, die von Spielern in das Spiel hinein gegeben werden, aus strategischen Gründen verzerrt sein können, (2) dass Täuschung und Drohung von allen Seiten als strategische Optionen genutzt werden, (3) dass es zu taktischen Verzögerungen im Verhandlungsprozess ebenso kommt wie zu ermüdenden Marathonrunden und (4) dass Verhandlungen durch übermäßige Forderungen eines Spielers aufgehalten und die übrigen zu Konzessionen im Interesse des Fortgangs der Verhandlung genötigt werden können. Was wohl am ehesten konsensfähig sein dürfte, sind Einigungen zu Lasten unbeteiligter Dritter, im Zweifel der Steuer- und Beitragszahler. Die Einigung selbst wird dann nach viel Taktieren und Lavieren medienwirksam zelebriert. Es genügt, wenn sie sich zur wortreichen Selbstdarstellung der beteiligten Akteure eignet, wobei beratend hinzugezogene Wissenschaftler dem Ganzen den Anschein der Solidität geben sollen (Streit 2005a).

VI. Lähmende Selbstbindung der politischen Klasse Eine Erklärung für den beschriebenen Reformstau findet sich, wenn der Frage nachgegangen wird, warum die Verbandfunktionäre nur gelegentlich und zögernd von den politischen Akteuren als Besitzstandswahren erwähnt werden, wo doch ihre Präsenz kaum zu übersehen ist. Die Antwort auf diese Frage dürfte darin zu suchen sein, dass die politische Klasse in Deutschland mit den Interessenverbänden sowohl funktionell als auch materiell vielfältig verflochten ist.2 Die funktionelle Verflechtung ergibt sich aus der Mitgliedschaft von Abgeordneten in Interessenverbänden. In ihrer Eigenschaft als Verbandsvertreter stellen sie neben den Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst die zweitstärkste Gruppe von Abgeordneten (von Arnim 1997). Rund 40 v. H. des 1990 gewählten 12. Bundestages nehmen hauptberufliche oder ehrenamtliche Funktionen in einem Interessenverband wahr (von Arnim, op. cit.). Etwa ein Viertel der Abgeordneten waren Verbandsgeschäftsführer (von Arnim op. cit.), standen also sowohl funktionell als auch materiell im Dienst von Verbänden. Wenn im Zuge einer Haushaltssanierung die

1 Verfassungstheoretisch und ordnungsökonomisch handelt es sich bei dieser Art von Politik um eine Form des Korporatismus. Kritisch hierzu vgl. Gäfgen (1988), &raY(1988) und Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi (2000) 2 Vgl. hierzu die Untersuchungen von von Arnim (1997) und Leyendecker (2003).

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Kürzung von Subventionen fiir die Landwirtschaft diskutiert wurde und berücksichtigt wird, dass im Landwirtschaftsausschuss Landwirte und Bauernverbandsfunktionäre sitzen und im Ausschuss fur Arbeit und Soziales Gewerkschaftsführer unter sich sind (von Arnim 1997), nimmt es kaum Wunder, wenn der Subventionsabbau und die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte nicht voran kommen, da die Abgeordneten im Grunde über eigene Angelegenheiten entscheiden. Die Anhängigkeit der Abgeordneten von Verbänden beginnt bereits mit ihrer Nominierung, bei der Verbandsvertreter als solche begünstigt werden (von Arnim 1997, S. 264). Die Konsequenz der aufgezeigten personellen und materiellen Verflechtung von politischer Klasse und Verbänden ist für Reformbemühungen enttäuschend. Eine lähmende Selbstbindung der politischen Klasse an die Verbände und an die von ihnen vertretenen Interessen muss konstatiert werden, wenn der Reformstau erklärt werden soll.

VII. Verfassungsrechtliche Bedenken Wird die funktionelle und materielle Verflechtung von Mitgliedern der politischen Klasse Deutschlands mit Verbänden berücksichtigt, so dürfte die Stellung von Abgeordneten fragwürdig sein. Zu fragen ist nämlich, ob aufgrund dieses Sachverhalts tatsächlich Art. 38, Abs. 1 Grundgesetz auf sie anwendbar ist. Danach sind sie Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Bezogen auf das Parlament ist an eine belehrende Feststellung von Edmund Burke, dem Mitglied des englischen House of Commons für Bristol von 1774 zu erinnern: „Das Parlament ist nicht ein Kongress von Botschaftern verschiedener, sich bekämpfender Interessen, die jeder wie ein Agent und Advokat gegen andere Agenten und Advokaten verfechten muss, sondern das Parlament ist eine frei ihre Meinung äußernde Versammlung einer Nation mit einem Interesse, nämlich dem des Ganzen, in der nicht lokale Bestrebungen, nicht lokale Vorurteile leitend sein dürfen, sondern das Gemeinwohl, das aus der allgemeinen Vernunft des Ganzen hervorgeht." (zit. nach von Arnim 2001, S. 33). Von diesem Bild des repräsentativen Abgeordneten dürfte die deutsche Realität nur zu sehr abweichen. Stattdessen kann mit dem Nestor der deutschen Politikwissenschaft, Theodor Eschenburg, gefragt werden: „Herrschaft der Verbände?" (Eschenburg 1963).

VIII. Was zu tun wäre Bleibt abschließend zu fragen, wie diese Herrschaft gebrochen werden könnte. Walter Euchen (1960) bot mit seinem ersten staatspolitischen Grundsatz eine Radikalkur an. Danach wären wirtschaftliche Machtgruppen - und Interessenverbände dürften dazu zählen - entweder aufzulösen oder in ihren Funktionen zu begrenzen. Der Versuch, diesen Grundsatz zu realisieren, müsste allerdings scheitern; denn ihm könnte die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG) entgegen gehalten werden. Außerdem setzt das voraus, dass die davon betroffenen Abgeordneten sich selbst beschränken müssten; denn sie wären nunmehr Regelgeber und Schiedsrichter in eigener Sache.

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Das zuvor aufgezeigte Kompetenz-Kompetenzproblem steht allen ursachentherapeutischen Bemühungen entgegen, die auf eine Verfassungsänderung zielen, um den Prozess der Rentenschaffung und des Stimmenfangs zu beenden. 3 Die Abgeordneten können nicht und haben keinerlei Anreize, sich durch Selbstbindung davor bewahren, zu „Sklaven" von Interessenverbänden {Hayek 2003) zu werden. Das Elend des von Verbänden beherrschten, demokratischen Staates besteht darin, dass der ordnungspolitische Flurschaden durch systemwidrige Interventionen, den politische Klasse und Verbände über Jahrzehnte anrichten und den Mancur Olson treffend mit „institutionelle Sklerose" (Olson 1985, S. 103) beschrieben hat, ursachentherapeutisch und nachhaltig nicht behoben werden kann. Diese unschöne Lage kommentierte F.A. Hayek, ein überzeugter Vertreter des demokratischen und rechtsstaatlichen Ideals mit alarmierender Skepsis: „Es fehlt nicht an Anzeichen dafür, dass die uneingeschränkte Demokratie ihrem Ende zueilt und dass sie nicht mit Getöse untergehen wird, sondern mit Gewimmer" (Hayek 2003, S. 5).

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3 Die Vorschläge von Hayek und Buchanan zu einer entsprechenden Änderung der Verfassung untersucht Bouillon (1991)

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Vaubel, Roland (1986), Der Missbrauch der Sozialpolitik in Deutschland: Historischer Überblick und Politisch-Ökonomische Erklärung, in: Gerard Radnitzky und Hardy. Bouillon (Hg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, Berlin, Heidelberg, New-York. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi), (2000): Aktuelle Formen des Korporatismus, Gutachten vom 26.121. Mai 2000, BMWiDokumentation, 470.

Zusammenfassung Nach einer Einleitung (vgl. I.) werden zu Beginn (vgl. III.) zwei Beobachtungen angeführt, die Licht auf das Thema dieses Aufsatzes werfen sollten. Danach (vgl. IV.) wird die Theorie des Public Choice herangezogen, um sowohl diese Beobachtungen als auch den Reformstau zu erklären. In Kapitel V. wird eine politische Strategie zur Überwindung von Reformwiderständen, genannt Consensuale Politik", beurteilt. Sodann (vgl. VI.) wird gefragt, warum die politische Klasse in Deutschland vor Reformen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zurück zu schrecken scheint. Das führt zu verfassungsrechtlichen Einschränkungen (vgl. VII.), die man in dieser Situation machen kann. Schließlich (vgl. VIII.) wird diskutiert, was im Sinne einer Ursachentherapie getan werden könnte, um den Reformstau zu beseitigen. Summary: The backlog of reforms or the misery of the pressure groups To begin with (part III.), two observations will be reported which should throw some light on the theme of this essay. Thereafter (part IV.) the theory of Public Choice will be employed to explain these observations as well as the jam of reforms. In part V., a political strategy to overcome the jam, called „consensual politics" will be assessed. Then (part VI.) it will be asked why members of the political class in Germany seem to shy away from reforms of economic and social policy. This leads to reservations (part VII.) regarding constitutional law, which one can have in view of this situation. Finally (part VIII.) it will be discussed what could be done in terms of a causal therapy to remove the jam of reforms.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

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Von der (Un-)Möglichkeit ausgeglichener Haushalte Inhalt I. Einleitung II. Staatsverschuldung und Wettbewerb auf politischen Märkten 1. Wettbewerb auf politischen Märkten 2. Bedeutung der Staatsverschuldung im politischen Wettbewerb 3. Warum es immer wieder zu Defiziten kommt 4. Wann solide Finanzpolitik doch möglich ist III. Schlussfolgerungen für die Bekämpfung von Defiziten 1. Selbst-Regulierung vs. Fremd-Regulierung 2. Intensivierung vs. Kanalisierung des Wettbewerbs IV. Abschließende Handlungsempfehlung Literaturverzeichnis Zusammenfassung Summary: The Impossibility of balanced budgets

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I. Einleitung Nach finanzpolitisch schwierigen Jahren, voller Defizite, verfassungswidriger Haushalte und überschrittenen Maastricht-Kriterien, sprudeln die Einnahmen der öffentlichen Hand wieder kräftig. Die Defizite sinken, die Stimmung steigt. Wieder einmal werden Zeitpläne zur Erreichung der Nullverschuldungsgrenze aufgestellt, wieder einmal wird von nachhaltig strukturell ausgeglichenen Haushalten geträumt, wieder einmal scheint die Überwindung der Verschuldungsproblematik in greifbare Nähe gerückt. Doch wie realistisch sind diese Träume? Besteht eine berechtigte Hoffnung, dass die Staatsverschuldung unter dem gegebenen institutionellen Arrangement dauerhaft erfolgreich bekämpft werden kann? So sicher wie das Amen in der Kirche, folgen neue Begehrlichkeiten auf höhere Einnahmen, folgen teure Wahlversprechen auf harten politischen Wettbewerb, folgt die Krise auf den Boom. Was wird bleiben, von den Träumen von ausgeglichenen Haushalten, wenn die Steuerquellen nicht mehr so üppig sprudeln, wenn die Regierung um ihre Wiederwahl fürchten muss, wenn die Mehreinnahmen großzügig unters Volk verteilt wurden?

1 Für wertvolle Anmerkungen und Kritik danken wir zwei anonymen Gutachtern.

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In dieser Arbeit zeigen wir, dass öffentliche Verschuldung mit negativen externen Effekten verglichen werden kann und dass Politiker einer Dilemma-Situation ausgesetzt sind, die sie immer wieder zur Verwendung der Staatsverschuldung zwingt. Daraus lässt sich ableiten, dass es im gegenwärtigen Regulierungssystem fast zwangsläufig wieder zu neuen Defiziten kommen wird und auch, dass bestimmte, immer wieder diskutierte Wege zur Defizitvermeidung grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sind. Daraus lässt sich andererseits aber auch ableiten, welche Ansätze grundsätzlich Erfolg versprechend sein können. Im ersten Teil der Arbeit diskutieren wir die Mechanismen, die immer wieder zu einem Auftreten der Staatsverschuldung fuhren. Wir beginnen mit einer knappen Schilderung der Annahmen und beschäftigen uns anschließend eingehend mit der Bedeutung der Staatsverschuldung im politischen Wettbewerb. In den beiden folgenden Abschnitten leiten wir daraus ab, warum es immer wieder zu Defiziten kommt, und wann solide Finanzpolitik doch möglich ist. Im zweiten Teil ziehen wir die entsprechenden Schlüsse und untersuchen mögliche Gegenmaßnahmen.

II. Staatsverschuldung und Wettbewerb auf politischen Märkten Im folgenden Kapitel sollen die grundlegenden polit-ökonomischen Entstehungsgründe für Staatsverschuldung analysiert werden. Es wird gezeigt, dass sich die Erkenntnisse über Marktwettbewerb, Dilemmastrukturen und die Bekämpfung negativer externer Effekte auf die Politik und die Bekämpfung von Staatsverschuldung übertragen lassen. Dabei wird Staatsverschuldung als ein negativer externer Effekt betrachtet, den politische Akteure ausüben, um ihre Preise zu senken. Solide Fiskalpolitik wird als gewünschte Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil gesehen, die jedoch durch ein Gefangenendilemma verhindert wird. Der politische Wettbewerb fuhrt zwangsläufig zu einer überhöhten Staatsverschuldung. Unter dem Begriff Staatsverschuldung verstehen wir hier alle Lasten, die von der Gegenwart auf die Zukunft verschoben werden, unabhängig davon, ob es sich um explizite Finanzschulden oder um unverbriefte, implizite Verschuldung handelt. Kredite fur Ertrag bringende Investitionen werden ausgeklammert, da hier den Forderungen ein Wert gegenübersteht.2

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Es geht also darum, dass die Gegenwart sich auf Kosten der Zukunft bereichert. Dass heute Nutzen anfällt, für den morgen Steuern erhoben werden müssen. Dabei ist es egal, ob man explizit Kredite aufnimmt, um Ausgaben zu tätigen, oder implizite Schulden kreiert indem man Zahlungsverpflichtungen für die Zukunft definiert (Bsp. Pensionsansprüche für Beamte). In beiden Fällen muss die Zukunft zahlen, um heutigen Nutzen/Konsum zu finanzieren. Gegen kreditfinanzierte Investitionen ist im Grundsatz nichts einzuwenden, da hier mit Hilfe der Verschuldung eine nutzungsäquivalente Verteilung der Lasten erreicht werden kann („pay as you use"). Wenn den Schulden ein Gegenwert gegenübersteht, können sie als „gedeckt" betrachtet werden. Kritisch wird es dann, wenn die nötigen Abschreibungen nicht getätigt werden. Wenn im Extremfall das Investitionsobjekt nicht mehr vorhanden ist, die Schulden aber schon. Die in einer Periode anfallenden Abschreibungen sind also Konsum. Werden die entsprechenden Kredite nicht getilgt, entsteht „ungedeckte" Staatsverschuldung, weil der Gegenwert verschwunden ist. Wir beziehen uns hier auf die Summe dieser ungedeckten Schulden.

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1. Wettbewerb auf politischen Märkten Politische Märkte können mit Gütermärkten verglichen werden. Oder um mit Buchanan und Wagner (1977, S. 96) zu sprechen: „In a democracy, the pressures placed upon politicians to survive competition from aspirants to their office bear certain resemblances to the pressures placed upon private entrepreneurs." Es gibt zahlreiche Anbieter (die Politiker oder Parteien), die mit einem Produkt (der von ihnen vorgeschlagenen Politik) um die Gunst der Nachfrager (die Wähler) konkurrieren. Der Preis des Politischen Angebots ist der zur Finanzierung nötige Steuersatz, bzw. der Umfang der angebotenen öffentlichen Güter. Die Wähler kaufen das günstigste Produkt, d.h. wählen die Partei, deren Politikvorschlag ihnen den größten Nutzen bringt. Dabei genügt für unsere Zwecke das denkbar einfachste Modell, wie man es so ähnlich quer durch die Literatur immer wieder finden kann. (vgl. z.B. Persson und Tabellini 2000, Besley und Coate 1997 oder Downs 1957). Die zahlreichen Verfeierungen ändern nichts am Grundgedanken, wir konzentrieren uns also darauf, das Prinzip möglichst deutlich herauszustreichen. Eine beliebige Zahl von Politikern oder Parteien Ρ = Α, Β, ... Ν stehen zur Wahl. Sie sind eigennutzorientiert. Ziel der politischen Akteure ist es, gewählt zu werden (officeseeking), wobei es hier egal ist, ob sie die absolute Stimmenzahl π maximieren (max πΡ), oder nur die Wahrscheinlichkeit ρ ins Amt gewählt zu werden (max pp = Prob[np>'Á]). Wir gehen aus von pre-election-politics: Im Wahlkampf geben die Kandidaten simultan und nicht-kooperativ bindende Versprechen ab, welche Politik qp sie im Falle ihrer Wahl realisieren werden. Diese besteht aus einem Bündel an öffentlichen Gütern gP und dem Steuersatz τΡ, der erhoben werden muss, um die öffentlichen Güter zu finanzieren, g und τ können nicht zielgruppenspezifisch ausgestaltet werden. Die Bürger verfügen über die indirekte Nutzenfunktion W(q). Sie wählen denjenigen Politiker, dessen q/> ihnen das höchste IV (q) verspricht. Wir gehen nun davon aus, dass es unter allen Politikalternativen einen klaren Condorcet-Sieger gibt, d.h. ein bestimmtes g*, das alle anderen dominiert und die Siegchancen maximiert. Dabei ist es für unsere Zwecke unerheblich, ob dies die Folge homogener Präferenzen ist, oder weil wir trotz heterogener Präferenzen von einem MedianWähler-Gleichgewicht ausgehen. Wir vernachlässigen Aspekte wie Ideologie, Sympathie für Kandidaten, probabilistic voting, etc. Folglich wird die Struktur der Staatsausgaben in den Vorschlägen der verschiedenen Kandidaten identisch sein, alle Kandidaten werden gp = g* vorschlagen. Die vorgeschlagenen qp können sich aber sehr wohl im Steuersatz τΡ unterscheiden. Wir gehen davon aus, dass die Kandidaten keine perfekten Substitute sind, sondern dass sie sich bei den Kosten der Erstellung der öffentlichen Güter unterscheiden. Wir führen daher den Effizienzparameter θρ ein, der zum Ausdruck bringt, wie effizient ein Politiker sein Programm umzusetzen vermag, θρ wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Es kann ein Ausdruck der persönlichen Kompetenz des Kandidaten sein, wie Rogoff (1990) es erstmals vorgeschlagen hat, oder von den Renten, die er sich selbst genehmigt, oder von anderen Faktoren. Diesen Punkt werden wir im nächsten Kapitel noch einmal aufgreifen. Ein effizient arbeitender Politiker hat ein niedrigeres θρ, er stellt die öffentlichen Güter also billiger her und kann einen niedrigeren Steuersatz τΡ in Aus-

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sieht stellen. Hier findet der Wettbewerb zwischen den Kandidaten statt. Der Steuersatz τρ entspricht dem Preis der angebotenen Politik und jeder Kandidat wird sich bemühen, möglichst billig anzubieten, also möglichst niedrige Steuern zu erheben.3 Halten wir also fest, dass auch auf dem politischen Markt ein Preiswettbewerb um die Zustimmung der Bürger herrscht. Wie auf dem Gütermarkt folgt auch auf dem politischen Markt aus dem Wettbewerb der Zwang, zu einem möglichst niedrigen Preis anzubieten. Denn letztlich werden die nutzenmaximierenden Bürger sich am Wahltag für den Anbieter entscheiden, der den niedrigsten Preis hat. Wer einen zu hohen Preis verlangt, wird nicht gewählt.4

2. Bedeutung der Staatsverschuldung im politischen Wettbewerb Im folgenden Abschnitt versuchen wir darzulegen, welche Rolle die Staatsverschuldung in diesem Modell einnimmt. Wir betrachten sie dabei als Instrument, mit deren Hilfe Politiker versuchen, die Preise ihrer Politik zu senken, um ihre Wahlchancen zu erhöhen. Dabei verursachen sie jedoch negative externe Effekte. Staatsverschuldung ermöglicht es, Nutzen von der Zukunft in die Gegenwart zu transferieren. Oder anders gesagt: Das heutige Angebot an öffentlichen Gütern zu erhöhen, bzw. die heutigen Steuern zu senken und spätere Akteure dafür zahlen zu lassen. Diese Abwälzung von Lasten auf Dritte ermöglicht es der amtierenden Regierung, die Preise für ihre politischen Angebote zu senken. Was der Fluss für das Chemiewerk ist, welches zu Lasten der Fischer ungeklärtes Wasser ableitet um seine Kosten zu senken, ist die Möglichkeit, Schulden aufzunehmen, für die Politik: Eine Methode, ohne eigene Anstrengungen die Preise zu senken und einen Wettbewerbsvorteil erlangen zu können. Alle Kandidaten antizipieren diese Option und senken entsprechend die Steuersätze in ihrem vorgeschlagenen Politikbündel. Staatsverschuldung wird damit zu einem Einflussfaktor für θρ. Somit wird Staatsverschuldung zu einem negativen externen Effekt, den Politiker ausüben um ihre Preise zu senken und damit ihre Wahlchancen zu erhöhen. Um diese These zu untermauern müssen wir drei Fragen beantworten: - Liegt tatsächlich ein negativer Effekt vor? - Liegt tatsächlich ein externer Effekt vor? - Kann sich ein Politiker durch höhere Staatsverschuldung Vorteile verschaffen? In der so genannten „Lastenverschiebungsdebatte" wurden die beiden ersten Fragen ausführlich thematisiert, wenn auch nicht unter dem Stichwort negativer externer Effekt. Doch letztlich ging es darum: Welche Wirkung hat die Staatsverschuldung? Gehen tatsächlich negative Effekte von ihr aus? Lassen sich Lasten auf Dritte abwälzen? 3

4

Man könnte genauso gut von einem festen τ und einem variablen gP ausgehen, und den Wettbewerb über den Umfang der Staatsausgaben, z.B. die Höhe der Transfers, modellieren. Hier entspräche der Umfang des Angebots dem Preis, es wäre also dasjenige Angebot am billigsten, dass den größten Umfang hätte. Oder man gibt sowohl τ als auch g frei und lässt den Wettbewerb über den Gesamtnutzen des Politikbündels q laufen. Am Kerngedanken des Preiswettbewerbs auf dem politischen Markt würde sich nichts ändern, wir bleiben also bei der einfachsten Variante. Natürlich gibt es auch einige Charakteristika, die den Wettbewerb auf dem Gütermarkt und dem politischen Markt unterscheiden, vgl. z.B. Buchanan und Wagner (1977, Kapitel 7).

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Zur ersten Frage: Liegt ein negativer Effekt vor? Die Frage nach den Auswirkungen gilt seither als weitgehend geklärt. Zwar gibt es auch noch Stimmen, die sie - zumindest auf dem gegenwärtigen Niveau - als nicht nachteilig, oder gar zu niedrig betrachten (vgl. z.B. Prescott 2006), doch warnen die meisten Beiträge vor den negativen Folgen und fordern eine Reduktion und Begrenzung der öffentlichen Schuld, (vgl. z.B. Bersch 2004), Blankart 1994, Schlesinger et al. 1993, Schemmel und Boreil 1992, Wenzel 1992 und Cukierman und Meitzer 1989). Seit Musgraves Aggregated Investment Approach steht die negative Wachstumswirkung der Staatsverschuldung im Mittelpunkt der Kritik. Aufbauend auf dem Modell von Romer (1986) lässt sich zeigen, dass zu hohe Schulden höhere Zinsen hervorrufen, und damit einen niedrigeren Kapitalstock, weniger Wirtschaftswachstum und geringere Reallöhne. Auch sonst deutet vieles auf CrowdingOut hin (Schlesinger et al. 1993, S. 154 f. und Deutsche Bundesbank 1982, S. 39). Dazu kommen Effizienzverluste durch Verhaltensanpassungen an verzerrende Steuern. Neben diesen ökonomischen Nachteilen ist auch eine politische Dimension zu beachten: stetig steigende Schulden, ziehen stetig steigende Zinszahlungen nach sich und strangulieren so nach und nach die Handlungsfreiheit des Staates. Schließlich fuhrt Staatsverschuldung über den Umweg der steigenden Zinsen auch zu einer Umverteilung von Arm zu Reich. Früher heiß diskutierte Punkte wie die Staatsschuldneutralität spielen heute keine Rolle mehr. Es gibt also alles in allem einen negativen sozialen Grenznutzen. Staatsverschuldung hat negative Effekte.5 Damit kommen wir zur zweiten Frage: Liegt ein externer Effekt vor? Wenn es negative Folgen gibt, wen treffen sie? Ist der negative Effekt tatsächlich auch ein externer? Oder kann man im Sinne des Lerner' sehen „we owe it to ourselves" die Sache als ein internes Problem abtun, da diejenigen, die es verursachen, es auch ausbaden müssen? Diese Sicht gilt inzwischen als überholt. Lasten können sehr wohl in die Zukunft verschoben werden. Wie Buchanan (1958) gezeigt hat, kann die heutige Zeichnung von Schuldtiteln nicht als Last gesehen werden, da sie freiwillig geschieht. Die höheren Steuern in der Zukunft, sowie die anderen geschilderten negativen Auswirkungen hingegen sehr wohl. Als Gegenargument ließe sich zwar das ricardianische ÄquivalenzTheorem anfuhren, doch auch dieses greift nicht, oder zumindest nicht vollständig.6 Es wird also auf jeden Fall eine Last auf spätere Akteure abgewälzt.7 In der Finanzwissenschaft herrscht daher Konsens darüber, dass Staatsverschuldung zu einer intergenerativen Umverteilung führt. Auch innerhalb der Politik lässt sich ein externer Effekt konstatieren: Die NPÖ hat schon lange erkannt, dass Regierungen Staatsverschuldung als strategisches Instrument zur Beeinflussung ihrer Nachfolgeregierung verwenden, (vgl.

5 Ausnahmen können sich bei der Kreditfinanzierung ertragbringender Investitionen ergeben. Diese „gedeckte Staatsverschuldung" wurde jedoch oben ausgeklammert. 6 Das genaue Ausmaß der erhöhten Ersparnis und Vererbung aufgrund höherer Staatsverschuldung ist umstritten, sicher ist jedoch, dass auf keinen Fall die gesamte Staatsschuld ausgeglichen wird. Die Frage ist also nicht, ob eine Last verschoben wird, sondern in welchem Umfang die Last verschoben wird. 7 Man mag darüber diskutieren können, inwieweit ein Teil der Last doch von den Verursachern getragen wird wenn z.B. ein heute dreißigjähriges Individuum, das von der höheren Staatsverschuldung profitiert, mit 50 ein niedrigeres Realeinkommen hat, als es ohne die Staatsverschuldung hätte haben können. Aber spätestens bei den zum Zeitpunkt der Verschuldung noch nicht geborenen Generationen liegt eindeutig ein externer Effekt vor.

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Persson und Tabellini 2000, S. 351-361.) Obgleich auch hier nie von externen Effekten gesprochen wird, stützt dies unsere Interpretation. Unter diesen Punkt fällt eine weitere Frage: Werden Eigentumsrechte verletzt? Um von negativen externen Effekten sprechen zu können, müssen nicht nur negative Auswirkungen auftreten, es müssen auch Eigentumsrechte von Dritten verletzt werden. Hier herrscht ein breiter Konsens, dass es das Recht der jüngeren Generation gibt, keine Lasten ohne entsprechenden Gegenwert aufgebürdet zu bekommen. So betonen Schlesinger et al. (1993, S. 217-231), dass die Schulden aus Sicht der Generationengerechtigkeit zu hoch sind, für Schemmel und Borell (1992, S. 143-153) ist es unbestritten, dass spätere Generationen durch sie benachteiligt werden und Homann (1988, S. 270) macht deutlich, dass die gegenwärtige Generation - abgeleitet aus dem Gebot der Rationalität verpflichtet ist, den gegenwärtigen Konsum aus den laufenden Erträgen zu finanzieren. Dieser Position schließen wir uns an. Daraus folgt, dass tatsächlich Eigentumsrechte verletzt werden, wenn ungedeckte Schulden vererbt werden. Da sich aber noch ungeborene Individuen schlecht wehren können, haben wir hier den Fall zuordenbarer, aber nicht durchsetzbarer Eigentumsrechte. Bleibt die dritte Frage: Kann sich ein Politiker durch höhere Staatsverschuldung Vorteile im politischen Wettbewerb verschaffen? Diese Frage kommt erst durch eine kleine Besonderheit auf: normalerweise kommt der Nutzen eines negativen externen Effektes direkt dem Verursacher zugute. Dann stellt sich die Frage nicht, ob es ihm etwas nutzt. In unserem Fall sind es aber die gegenwärtigen Wähler, die von dem höheren Konsum, der durch die Staatsverschuldung möglich wird, profitieren. Sie sind es, die z.B. die höheren Transfers empfangen. Die Verursacher, die politischen Akteure, profitieren nur indirekt, nämlich nur, wenn die Wähler den höheren Konsum in ihrer Wahlentscheidung honorieren.8 Auf den ersten Blick ist man geneigt, diese Frage recht schnell zu bejahen. Ein Politiker der gewillt ist, Staatsverschuldung zur Finanzierung seiner Politik einzusetzen, kann diese ohne Frage zu einem niedrigeren Steuersatz verwirklichen, als einer der dies nicht tun wird. Damit kann er zu einem niedrigeren Preis anbieten und erhöht die Wahrscheinlichkeit, die Wahl zu gewinnen. Auf den zweiten Blick wird die Sache etwas diffiziler. Denn die eben gegebene Antwort impliziert, dass die Bürger die negativen Folgen der Staatsverschuldung nicht berücksichtigen und sich bei ihrer Wahlentscheidung einzig von dem gegenwärtigen Preis des Politikangebots leiten lassen. Eigentlich müssten sie doch die Folgekosten antizipieren und beim „Preisvergleich" mit einkalkulieren. Dann wäre der vermeintliche Preisvorteil aber schnell dahin und die Verschuldung wäre eher ein Nachteil bei der Wahl. Staatsverschuldung ist also nur dann für einen Politiker vorteilhaft, wenn die Wähler ihr nicht ablehnend gegenüberstehen. Dies ist bei mindestens drei Annahmen der Fall: Reine Rationalität, andere Prioritäten und Staatsschuldillusion. Reine Rationalität: Die Bürger kennen die negativen Folgen der Staatsverschuldung, nehmen diese aber bewusst in Kauf, um ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Cukierman und Meitzer (1989) sprechen gar von einer bewussten Ausbeutung der jungen Ge8

Natürlich profitiert auch ein Politiker in seiner Eigenschaft als Bürger von diesen Ausgaben. Doch ist dies vernachlässigbar. In seiner Eigenschaft als Politiker hat er keinen direkten Vorteil.

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neration. Da Staatsverschuldung den eigenen Nutzen zu Lasten anderer erhöht, ist es rational für die heutige Generation dieses Instrument zu nutzen. Die Wähler befürworten Staatsverschuldung also ausdrücklich. Andere Prioritäten: Dies ist ein Spezialfall der Rationalität, den wir jedoch als eigenen Punkt aufführen. Es wäre auch denkbar, dass die Wähler Staatsverschuldung grundsätzlich ablehnen. Dies widerspricht zwar dem traditionell interpretierten Rationalitätsprinzip, wäre aber unter Einbeziehung sozialer Normen gut denkbar (vgl. Fehr und Fischbacher 2002). Trotz der Ablehnung sind ihnen aber andere Dinge wichtiger. Sie achten z.B. in erster Linie darauf, wie die Politik auf ihre individuelle Situation wirkt, so dass nicht die Höhe des Defizits, sondern die selber erlittenen Einsparungen das Wahlverhalten bestimmen. Während die Wähler bei der reinen Rationalität Staatsverschuldung aktiv befürworten („Lasst uns die späteren Generationen ausbeuten!"), lehnen sie Schulden in diesem Fall zwar ab, bestrafen sie aber nicht, da sie ihre Wahlentscheidung von anderen Aspekten abhängig machen („Sparen ja, aber nicht bei mir!"). Obwohl Schulden also abgelehnt werden, steigen sie doch weiter, weil ein sparsamer Politiker von denen abgestraft wird, bei denen er gespart hat und von den anderen nicht fürs Sparen belohnt wird. Staatsschuldillusion: Man kann aber auch annehmen, dass die Bürger einer Staatsschuldillusion9 unterliegen, also die Folgen der Verschuldung nicht erkennen und sich daher von den niedrigen Preisen täuschen lassen. Schon Buchanan und Wagner (1977) argumentierten, dass die Bürger aufgrund von Informationsasymmetrien die künftigen Probleme nicht antizipieren würden, daher keine höheren Steuern akzeptieren würden und somit das Entstehen von Staatsverschuldung begünstigen (Kapitel 7). Sie konstatieren die Existenz einer „fiscal illusion that will systematically produce higher levels of public outlay" (S. 125.). Auch in der neueren Theorie der politischen Ökonomie wird die vollständige Internalisierung der Staatschuld durch die Bürger kaum noch angenommen und das Auftreten inneffizient hoher Verschuldung kaum noch bestritten.10 (.Persson und Tabellini 2000, S. 49 ff., Besley und Coate 1997, Schlesinger et al. 1993). Ein klassisches Beispiel für die strategische Verwendung der Staatsverschuldung durch die Politik sind die so genannten „electoral cycles", (vgl. Rogoff und Sibert 1988, Rogoff 1990 und Persson und Tabellini 2000). Hier lässt sich beobachten, dass die Staatsverschuldung oft im Vorfeld von Wahlen hochgefahren wird, um die Wiederwahl zu sichern, indem z.B. kreditfinanzierte Wohltaten verteilt werden. Die Tatsache, dass diese Strategie funktioniert und dass sich die Bürger von solchen Aktionen täuschen lassen, zeigt recht deutlich, wie ausgeprägt die Staatschuldillusion sein kann. Es ist also plausibel davon auszugehen, dass die Bürger Folgen und Ausmaß der Staatsverschuldung

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Im Unterschied dazu verstehen Hagen und Harden (1995) unter „fiscal illusion" eine Fehlbewertung der Staatsschuld durch die Politiker. 10 Das Postulat der Chicago School, nach dem politischer Wettbewerb zu optimalen Politikergebnissen führt (vgl. z.B. Stigler 1982 und Becker 1985), wird heute nur noch in besonderen Ausnahmefallen anerkannt.

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nicht (voll) überblicken können. 11 Die Wähler bestrafen Staatsverschuldung also nicht, weil sie ihre Folgen nicht erkennen.12 Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo zwischen ,änderen Prioritäten" und „Staatsschuldillusion", da es viele Hinweise gibt, die auf diese beiden Thesen hindeuten. Die bewusste Ausbeutung jüngerer Generationen hingegen dürfte nur eine untergeordnete Rolle spielen.13 Jedoch ist es für uns letztlich unerheblich, welche der Prämissen realistischer ist, so dass wir diese Frage hier nicht näher vertiefen. Sie fuhren alle gleichermaßen zu dem Schluss, dass die Bürger die zukünftigen Kosten der Staatsverschuldung nicht, oder nicht ausreichend bei der Wahlentscheidung berücksichtigen. Dass ihr Einsatz einem Politiker also tatsächlich bei der Wahl Vorteile bringt. Im Abschnitt 3.4 diskutieren wir Ausnahmen, aber in der Regel können wir davon ausgehen, dass Staatsverschuldung nicht ausreichend von den Wählern bestraft wird. David Hume hatte also Recht als er bereits 1752 anmerkte, dass es für einen Minister sehr verführerisch sei, mit Hilfe des Staatskredits „den großen Mann" zu spielen, ohne das Volk mit höheren Steuern ärgern zu müssen. Fassen wir dieses Kapitel noch einmal zusammen: Staatsverschuldung übt einen negativen Effekt aus, dieser wirkt auf Externe, verletzt deren Eigentumsrechte und bringt dem ausübendem Akteur Vorteile. Es wird in der Gegenwart ein Nutzenzuwachs realisiert, dessen Last spätere Akteure tragen müssen. Die Politiker erkaufen sich politische Vorteile, indem sie den Nutzen der heutigen, zu Lasten der morgigen Bürger erhöhen und die Handlungsfreiheit späterer Regierungen einschränken. Damit können wir festhalten: Es kann auf den politischen Märkten zum Marktversagen kommen. Staatsverschuldung kann als negativer externer Effekt interpretiert werden, den Politiker ausüben, um ihre Preise zu senken und damit ihre Chancen im politischen Wettbewerb zu erhöhen.

3. Warum es immer wieder zu Defiziten kommt Gehen wir also davon aus, dass sich die Politiker in einem vollkommenen Preiswettbewerb um die Gunst der Wähler befinden, dass es keine gesetzliche Beschränkung von Staatsverschuldung gibt, dass Staatsverschuldung einen negativen Effekt auf spätere Generationen ausübt, dass dieser negative externe Effekt von den Wählern nicht internalisiert wird und dass das Hauptziel der Politiker die Wiederwahl ist. In einem solchen Szenario kann man - abgesehen von später zu diskutierenden Ausnahmen - von einer Unmöglichkeit ausgeglichener Haushalte sprechen. Jede Hoffnung auf eine längerfristig solide Finanzpolitik ist trügerisch. Denn der politische Wettbe-

11 Besonders wenn man bedenkt, wie lange selbst die Ökonomen darüber gestritten haben, oder wie lange es gedauert hat, bis selbst die Fachleute erkannten, dass z.B. die implizite Verschuldung von hoher Relevanz ist. 12 Oder weil sie sich aus rationalem Desinteresse heraus nicht dafür interessieren (vgl. Pitlik 1997, S. 209). 13 Die empirische Wirtschaftsforschung liefert immer mehr Hinweise darauf, dass die Menschen keineswegs immer nur ihren eigenen Nutzen maximieren und sich gegenseitig auszubeuten, sondern auch auf Aspekte wie Fairness achten (vgl. z.B. Falk 2003).

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werb zwingt alle Marktteilnehmer, zum niedrigsten Preis anzubieten und dieser kann mit Hilfe negativer externer Effekte wie der Staatsverschuldung erreicht werden. Es mag zwar vorkommen, dass es kurzfristig zu ausgeglichenen Haushalten kommt, aber dies wird nicht von Dauer sein. Vielleicht gibt es ab und an einen Politiker, der aufgrund einer starken Präferenz für ausgeglichene Haushalte einen solchen durchsetzt, oder eine Situation, in der die Einnahmen so stark sprudeln, dass Verschuldung gar nicht nötig ist, um Wohltaten zu verteilen. Doch über kurz oder lang werden die Defizite zurückkehren. Sei es weil sich die Rahmenbedingungen wieder verschlechtert haben, weil der Politiker aus Angst vor einer drohenden Abwahl seinen Sparkurs gelockert hat, oder schlichtweg, weil er durch einen anderen Politiker ersetzt wurde, der ihn, dank des Einsatzes von Staatsverschuldung, preislich unterbieten konnte. Aber warum gelingt es der Politik nicht, dauerhaft solide Finanzpolitik zu betreiben? Warum verhallen all die gut gemeinten Aufrufe á la „spart und verhaltet euch verantwortungsbewusst" scheinbar ungehört? Spieltheorie, Wirtschaftsethik und Kartelltheorie können uns bei der Beantwortung dieser Frage helfen. Die Wirtschaftsethik (vgl. z.B. Suchanek 2001, Homann und Suchanek 2000 und Homann und Blome-Drees 1992) betont die Bedeutung der „Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil" und sieht in der Schaffung geeigneter Institutionen, die eine solche Zusammenarbeit ermöglichen, den Schlüssel, durch den normativ wünschenswertes Handeln erreicht werden kann. Das Zustandekommen von Kooperationen scheitert jedoch häufig daran, dass sich die Akteure in einer Dilemma-Situation befinden. So auch die Politik im Bezug auf die Staatsverschuldung: eine dauerhaft solide Fiskalpolitik ist nur möglich, wenn alle Kandidaten auf die Ausübung dieses negativen externen Effekts zur Reduktion ihrer Kosten verzichten würden, wenn es also zu einer freiwilligen Kooperation käme. Eine solche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil würde den Gesamtnutzen maximieren. Jedoch hat jeder Kandidat den Anreiz, das kooperative Verhalten der anderen auszunutzen, indem er selber seine Preise doch ein wenig mit Hilfe der Staatsverschuldung senkt, um so seine Konkurrenten zu unterbieten und die Wahlen für sich zu entscheiden. Dies wird allgemein antizipiert, so dass die Kooperation doch wieder in sich zusammenfällt und es wieder zu Staatsverschuldung kommt. Wenn alle Kandidaten kooperieren würden, d.h. auf Staatsverschuldung verzichten, wäre keiner benachteiligt, jeder hätte die gleiche Ausgangssituation im Wettbewerb wie ohne Kooperation, aber die Wohlfahrt wäre höher. Obwohl es also für keinen Kandidaten von Nachteil wäre, wenn es zu der Kooperation kommt, wird diese dennoch nicht von Dauer sein, da jeder die Angst hat, dass die eigene Kooperation mit Nichtkooperation beantwortet wird und er sich in der schlechtesten möglichen Situation wieder findet.14

14 Dieses Spiel geht von der positiven Annahme aus, dass Politiker - nachdem sie ihre eigene Wahl gesichert haben - grundsätzlich nach einer Erhöhung der Wohlfahrt streben. Daher 8 Punkte in Feld 4 und nur 5 in Feld 1. Man könnte auch etwas pessimistischer sein, und davon ausgehen, dass die Wohlfahrt der Politik egal ist. Dann wären Feld 1 und 4 gleich bewertet. Oder noch schlimmer: Jeder Politiker erhöht seinen Nutzen, wenn er ein möglichst hohes Budget verteilen darf, dann wären die Werte von 1 und 4 sogar vertauscht und eine Kooperation zur Vermeidung von Staatsverschuldung gänzlich unmöglich. So oder so, wird es auf keinen Fall zu der gewünschten und gesamtgesellschaftliche optimalen Kooperation kommen.

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Wenn man die Erkenntnisse der Kartelltheorie zu der Frage, wann Kartelle stabil sein können, auf die Frage nach der Möglichkeit einer dauerhaften Zusammenarbeit zur Vermeidung von Staatsverschuldung überträgt, lassen sich weitere Argumente finden, warum eine solche Kooperation nicht von Dauer sein wird. Schulz (2003, S. 59 f.) nennt vier Bedingungen, welche die Stabilität von Kartellen erhöhen. Diese lassen sich auch darauf übertragen, wie wahrscheinlich eine freiwillige Kooperation zu Vermeidung von Staatsverschuldung erfolgreich sein wird. Keine der Bedingungen ist erfüllt: 1. Eine geringe Zahl von Wettbewerbern und Kartellmitgliedern. In der Politik gibt es jedoch eine sehr hohe Zahl von Wettbewerbern (viele Politiker, die gerne aufsteigen möchten und mit populären Vorschlägen ihre Beliebtheit steigern möchten), womit die Wahrscheinlichkeit steigt, dass jemand aus der Zusammenarbeit aussteigt. 2. Ähnliche Kostensituationen bei allen Akteuren. Hier sind die Kostensituationen jedoch sehr unterschiedlich, denn Amtsinhaber haben einen großen Vorteil im Vergleich zu Herausforderern oder zu jungen Nachwuchspolitikern. Damit steigt die Versuchung der Schwächeren, den Nachteil durch ungedeckte Versprechen wett zu machen. 3. Standardisierte Produkte. Der einzige Punkt bei dem kein klares „Nein" ertönt. In unserem Modell sind die Angebote identisch, dies wäre dann ein stabilisierender Faktor. Allerdings kann diese vereinfachende Annahme durchaus auch hinterfragt werden. 4. Ein stabiles Marktumfeld. Auch dies ist nicht gegeben. Gerade in Zeiten zunehmender Wechselbereitschaft unter den Wählern steigt der Druck auf die Kandidaten, Wählerschichten durch Wahlgeschenke an sich zu binden. Außerdem gibt es hier noch eine Besonderheit, welche die Instabilität einer Staatschuld-Vermeidungs-Kooperation weiter erhöht: Die Kooperationspartner profitieren nicht selber von ihrer Zusammenarbeit! Normalerweise werden Kooperationen zum gegenseitigen Vorteil der Kooperierenden geschlossen. Jeder der nicht kooperiert, weiß, dass es sich in einer für ihn selbst schlechteren Situation wieder finden kann. Trotzdem verhindert die Dilemma-Struktur oft erfolgreiche Kooperationen. Von der Vermeidung von Defiziten hingegen profitieren vor allem die künftigen Generationen, nicht die gegenwärtigen Politiker, die kooperieren. Solange nur die Wettbewerbsbedingungen gleich sind, ist es für die Kandidaten unerheblich, ob alle oder ob keiner die Verschuldung instrumentalisiert. Jemand der die Kooperationsvereinbarung bricht hat die Chance auf einen signifikanten Wettbewerbsvorteil, riskiert aber keine eigenen Nachteile. Schlimmstenfalls kalkulieren auch die anderen mit Staatsverschuldung und er hat keinen Vorteil mehr. Wie viel höher ist also hier die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ausbrach aus der Dilemmastruktur nicht gelingen wird. Damit wird zwangsläufig auch gute Finanzpolitik instabil sein.15 Denn mit Hilfe der Staatsverschuldung kann man seinen Wählern mehr bieten, das wird bei der Wahl honoriert. Selbst ein Politiker, der keine Staatsverschuldung möchte, wird sie nutzen (müssen). Eine Regierung die spart, würde abgewählt werden. Paradoxerweise selbst von denjenigen, die eigentlich das Ziel ausgeglichener Haushalte unterstützen. Denn jeder hätte gewollt, dass die Einsparungen bei einer anderen Gruppe vorgenommen werden. Daher sind sie verärgert, wählen die andere Partei und hoffen, dass diese „richtig" spart. (Siehe Stichwort „andere Prioritäten" im vorigen Abschnitt.)

15 Ausnahmen von dieser Regel diskutieren wir im nächsten Abschnitt.

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Wir sehen also, dass es die institutionellen Rahmenbedingungen sind, welche die Staatsverschuldung (mit) verursachen. Verfassungsregeln, die ein solches Marktversagen hervorrufen und die das Verursachen von negativen externen Effekten zulassen, tragen die Verantwortung. Moralische Verurteilungen von „verantwortungslosen Politikern" und normative Appelle sind fehl am Platzt. Es ist das System, dass solches Verhalten geradezu erzwingt. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der politische Wettbewerb alle Akteure zur Nutzung der Staatsverschuldung zwingt. Die Dilemma-Situation, der Politiker ausgesetzt sind, macht eine stabile Fiskalpolitik dauerhaft unmöglich. Irgendwer wird ausbrechen und den Sparer ausstechen, indem er seinen Preis unterbietet. Dies zwingt alle Kandidaten den negativen externen Effekts der Staatsverschuldung auszuüben, um im Wettbewerb zu bleiben.

4. Wann solide Finanzpolitik doch möglich ist Ganz offensichtlich gilt das oben formulierte Postulat von der Unmöglichkeit ausgeglichener Haushalte nicht in allen Fällen. Ein kurzer Blick auf länderübergreifende Statistiken zeigt, dass es sehr wohl Staaten mit ausgeglichenen Haushalten gibt. Zwar kann man die meisten Fälle durchaus in unsere Regel mit einbeziehen, doch es gibt Ausnahmen. In der Regel verschwinden die Überschüsse schneller wieder, als sie kamen. Unsere Grundannahme, dass der politische Wettbewerb immer aufs Neue zu Staatsverschuldung führt, wird bestätigt. Klassisches Beispiel ist John Major, der die von Margaret Thatcher mühsam erreichte Konsolidierung, aus Angst vor seiner drohenden Abwahl, wieder zunichte machte. Aber was ist mit Ländern wie Finnland, Schweden, Australien oder Kanada, die über Jahre hinweg solide Haushalte aufzuweisen haben? Oder, um in Deutschland zu bleiben, wie passt unsere These auf ein Bundesland wie Bayern, dass sich unter jahrelangen schmerzhaften Sparanstrengungen zum ausgeglichenen Haushalt hingearbeitet hat? (vgl. Bertelsmann Stiftung 2006 für einen Überblick über erfolgreiche Konsolidierungen.) Das Marktversagen kann nur auftreten, wenn die politischen Akteure ausreichend diskretionäre Spielräume haben (vgl. Berthold und Fricke 2006 und Weingast 1995), d.h., nur wenn sie die Lasten ungestraft abschieben können. Für unseren Fall müssen dafür drei Bedingungen erfüllt sein, auf denen die Gültigkeit des Unmöglichkeitspostulates beruht: a) Nicht-Bestrafung der Verschuldungspolitik durch die Wähler, sei es aufgrund von Präferenzen, einer Staatsschuldillusion, Desinteresse oder aktiver Bejahung. b) Nicht vorhandene Grenzen der Staatsverschuldung, die ein Ausüben des negativen externen Effekts verhindern würden. c) Vollkommener politischer Wettbewerb, der zum Auftreten des Marktversagens führt, so dass die Politiker gezwungen werden, zu einem möglichst niedrigen Preis anzubieten.

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Ist eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, kann es zu einer Ausnahme von unserer Regel und zu dauerhaft ausgeglichenen Haushalten kommen. Betrachten wir sie etwas näher: Zu a): Nicht-Bestrafung Ein Politiker kann seine Preise nur dann mit Hilfe der Staatsverschuldung senken, wenn seine Wähler deren Kosten nicht internalisieren. Wie wir oben geschildert haben, ist dies der Fall, wenn den Menschen die Folgen der Defizite entweder egal, nicht bewusst oder nicht wichtig genug sind. Sollten nun die Wähler aus irgendeinem Grund eine starke Abneigung gegen Schulden haben, also eine hohe Präferenz für ausgeglichene Haushalte, würden Defizite das Leistungsangebot der Politiker verschlechtern. Sie könnten ihren Preis also gerade durch Senkung der Verschuldung reduzieren. Obwohl man generell von der Existenz einer Staatsschuldillusion ausgehen kann, sind Situationen denkbar, in denen diese, gleichsam wie ein Schleier, zerreißt und den Menschen die Notwendigkeit zu sparen bewusst wird; z.B. wenn ein Land in einer schweren Krise steckt und eine in Punkt b) geschilderte ökonomische Grenze erreicht wird, so dass die negativen Folgen der Verschuldung immittelbar durchschlagen und in der Gegenwart schmerzhaft werden. In solchen Fällen verliert die Politik ihre diskretionären Spielräume, die ihnen die Passivität der Wähler sonst ließ, und damit die Möglichkeit, Lasten in die Zukunft zu verschieben und negative externe Effekte auszuüben. Zu b): Grenzen Wir unterscheiden hier juristische und ökonomische Grenzen. Erstere sind schnell abgehandelt: falls es eine wirksame Budgetregel geben sollte, die Defizite verbietet, ist der Politik dieser Weg zur Senkung der Preise verschlossen.16 Unter letzteren verstehen wir Situationen, in denen es dem Staat faktisch nicht mehr möglich ist, neue Kredite zu erhalten, oder in denen die mit neuen Schulden verbundenen Kosten und Nachteile untragbar hoch werden, (vgl. Augsten 2002, S. 7-80, Blankart 1994, S. 327 ff. und S. 344 f. und Domar 1944); z.B. wenn der Gesamtschuldenstand bereits zu hoch ist, wenn das Land in einer schweren ökonomischen Krise steckt, oder wenn das Land in einem so intensiven ökonomischen Wettbewerb steht, dass es sich keine Verschlechterung seiner Wettbewerbsposition erlauben kann. Dies erklärt, warum vornehmlich kleinere Volkswirtschaften einen ausgeglichenen Haushalt aufweisen und diese oft als Reaktion auf wirtschaftliche Krisen durchgesetzt wurden. (Vgl. Bertelsmann Stiftung 2006, S. 15.) Hier gibt es eine Rückkoppelung mit dem Punkt der Nicht-Bestrafung: Wenn die Folgen der Staatsverschuldung zu drückend werden, verändert sich die Haltung der Wähler und sie beginnen die Verschuldung in ihr Wahlkalkül einzubeziehen.

16 Diese sind allerdings recht selten. Regelungen wie der Artikel 115 GG oder das amerikanische Gramm-Rudman-Hollings-Gesetz bieten zahlreiche Ausweichmöglichkeiten (vgl. Kampmann 1995 und Kleist 1991). Solche Grenzen müssen nicht unbedingt explizit sein, das Beispiel Schweiz zeigt, dass auch eine ausgeprägte direkte Demokratie Defizite reduzieren kann (vgl. Frey 1994, Kirchgässner 2000 und Feld und Kirchgassner 2006).

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Zu c): Wettbewerb Wenn es keinen Wettbewerb gibt, können auch keine unerwünschten Nebeneffekte des Wettbewerbs auftreten. Wenn der Wettbewerb auf dem politischen Markt nicht funktioniert, entfallt natürlich auch der Zwang zur Verschuldung. Wenn es z.B. ein Monopol gibt, dann liegt es nahe, dass der Monopolinhaber eine langfristige Maximierung durchführt, die Folgen der Staatsverschuldung internalisiert und den Preis nicht aufs Äußerste drückt. Mit etwas Augenzwinkern könnte man hier die CSU und den ausgeglichenen bayerischen Haushalt anfuhren, indem man der CSU ein natürliches Monopol oder wenigstens eine Stackelberg-Führerschaft attestiert. Natürlich braucht es für diesen Effekt nicht unbedingt ein Monopol, es reicht auch eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, an der Macht zu bleiben. Auch eine niedrige Wettbewerbsintensität erleichtert den Abbau von Defiziten. So hat sich empirisch gezeigt (Bertelsmann Stiftung 2006, Kapitel 2 und S. 166 ff.), dass Konsolidierungen v.a. von großen Koalitionen eingeleitet werden. Außerdem ist es möglich, dass sich doch eine stabiles Zusammenarbeit zu gegenseitigen Vorteil ergibt, in der man sich darauf einigt, die Preise nicht durch den Einsatz der Staatsverschuldung zu senken. Wenn das Marktumfeld dies fordert, kann es in Ausnahmefällen doch zu einem politischen Konsens kommen, auf Staatsverschuldung zu verzichten und dafür die Preise zu erhöhen. Dies passt hervorragend zu den Befunden der NPÖ, dass politische Stabilität, seltene Regierungswechsel, eine geringere Zahl von Parteien und ein breiter Konsens über die politische Agenda die Verschuldungstendenzen eines Landes reduzieren, (vgl. Persson und Tabellini 2000, S. 348-361, Kontopoulos und Perroti 1997, 1999 und A lesina und Tabellini 1990.) Zu guter Letzt können auch die Besonderheiten des politischen Wettbewerbs an sich eine Rolle spielen. So ist dieser ja nicht kontinuierlich, sondern findet v.a. im Umfeld von Wahlen statt. Unmittelbar nach einer Wahl gibt es also die Möglichkeit zu sparen, ohne dafür bestraft zu werden. Diese These der „electoral cycles" hatten wir oben bereits erwähnt. Allerdings dürfen diese Ausführungen nicht dahingehend missverstanden werden, dass der politische Wettbewerb per se das Übel ist. Im Gegenteil, er führt zu einer besseren Berücksichtigung der Präferenzen der Bürger und senkt die Renten der Politik. Wie auf den Gütermärkten kann man auch in der Politik eigentlich nie genug Wettbewerb bekommen. Das Problem ist das Marktversagen, das unter den gegebenen Regeln im Wettbewerb auftritt, also die negativen externen Effekte, die der Wettbewerb hervorruft. Dieses Problem durch eine Beschränkung des Wettbewerbs beheben zu wollen, hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Fassen wir also zusammen: Das Unmöglichkeitspostulat gilt nur, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. Es zeigt sich also, dass auch die Existenz von Ländern mit dauerhaft ausgeglichenen Haushalten durchaus vereinbar ist, mit unserer These von der grundsätzlichen Unmöglichkeit ausgeglichener Haushalte. Gleichzeitig werfen die Ausnahmen aber auch ein Schlaglicht auf mögliche Wege zur Bekämpfung von Staatsverschuldung. Ansatzpunkt ist eine Verringerung der diskretionären Spielräume der Politik.

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III. Schlussfolgerungen für die Bekämpfung von Defiziten Was können wir aus all dem für die Bekämpfung der Staatsverschuldung lernen? Wir werden in diesem Kapitel diskutieren, welche grundlegenden Strategien im Kampf gegen die Staatsverschuldung Erfolg versprechend sind, indem wir die beiden scheinbaren Widersprüche „Selbst- vs. Fremd-Regulierung" und „Intensivierung vs. Kanalisierung" diskutieren und zeigen, dass sie, in einer Doppelstrategie vereint, komplementär wirken können.

1. Selbst-Regulierung vs. Fremd-Regulierung Wenn Defizite negative externe Effekte sind, die aufgrund eines Marktversagens auftreten, dann lassen sie sich vielleicht auch so ähnlich bekämpfen wie negative externe Effekte. Tatsächlich lässt sich aus den Grundprinzipien der klassischen Maßnahmen zur Bekämpfung von negativen externen Effekten viel lernen. Diese lassen sich in zwei Grundstrategien unterteilen, mit der eine Intemalisierung der Kosten erreicht werden sollen: Selbst- und Fremd-Regulierung. Selbst-Regulierung bedeutet, dass man versucht, solche Rahmenbedingungen zu setzen, dass die Akteure die Kosten selbstständig internalisieren und von sich aus das Richtige tun, also dass der Markt sich selber reguliert. Wenn man erreicht, dass die Kosten da getragen werden müssen, wo sie verursacht werden, werden die Akteure den schädlichen Output auf ein effizientes Niveau senken. Fremd-Regulierung hingegen bedeutet, dass der Staat eine Regelung vorgibt, z.B. eine Outputmenge festsetzt, an die sich alle zu halten haben. Auf ersteres setzen das Coase-Theorem, auch in seiner Fortentwicklung des Zertifikatehandels, und Fusionen. Auf letzteres setzen staatliche Verbote. Die Pigou-Steuer ist eine Sonderform: hier greift der Staat regulierend ein, aber auf eine anreiz-kompatible Art und Weise, bei welcher die Fremd-Regulierung zu einer Selbst-Regulierung führt. Wenn man die Diskussion um die Begrenzung der Staatsverschuldung beobachtet, so fallt auf, dass diese unwissentlich entlang derselben Grenzen verläuft: Die eine Gruppe von Vorschlägen (vgl. z.B. Blankart et al. 2006, Fasten 2006) zielt darauf ab, Handlung und Haftung besser in Deckung zu bringen und dadurch Staatsverschuldung zu vermeiden. Im Zuge der deutschen Föderalismusdiskussion, zum Beispiel, hofft man, die Länder durch einen Haftungsausschluss disziplinieren zu können, weil sie dann für zu hohe Schulden durch ein schlechteres Kapitalmarktranking bestraft würden. Offensichtlich zielen diese Vorschläge auf die Intemalisierung der durch Staatsverschuldung entstehenden negativen externen Effekte ab, wodurch eine Selbst-Regulierung erreicht werden soll. Auf der anderen Seite gibt es Ansätze (vgl. z.B. Weizsäcker 2004, Danninger 2002 und Kleist 1991), die auf eine striktere gesetzliche Regulierung der Problematik setzen. Verschuldung soll verboten oder nur noch in eng definierten Grenzen eingesetzt werden dürfen, oder von einer unabhängigen Institution geregelt werden. Es erfolgt eine Fremd-Regulierung, die den Akteuren bestimmte Handlungsvorgaben macht. Betrachtet man die in Abschnitt 2.4 diskutierten Ausnahmen vom Unmöglichkeitspostulat, spiegelt sich ebenfalls dieser Unterschied wieder. Das Unmöglichkeitspostulat wird ausgehebelt, wenn Politiker für Staatsverschuldung bestraft werden, d.h. ihre Kos-

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ten internalisieren müssen und sich daher selber regulieren, oder wenn ein wirksames Verbot besteht, d.h. eine Fremd-Regulierung vorgenommen wurde. Die Vorteile einer Selbst-Regulierung liegen auf der Hand: Hat man ein entsprechendes institutionelles Arrangement gefunden, so werden die Kosten automatisch internalisiert und die Probleme regeln sich weitgehend von selber. Die Akteure haben ein eigenes Interesse daran, sich wie gewünscht zu verhalten und der negative externe Effekt wird wirksam bekämpft. Fremd-Regulierung hingegen hat die Nachteile, dass sie in der Regel starr und gegen die Marktkräfte gerichtet ist. Die Akteure haben weiterhin ein Interesse daran, den negativen externen Effekt auszuüben und zeigen eine oft erstaunliche Kreativität, Wege zur Umgehung der Regulierung zu finden. Gerade bei Regulierungen zu Staatsschuldbegrenzung hat sich gezeigt, dass diese meist sehr löchrig ausgestaltet wird. Auch werden selbst bestehende Regelungen oft missachtet, da sie schwer durchzusetzen sind (vgl. z.B. Kirchgässner 2004, Kampmann 1995, Kleist 1991).17 Dennoch können die reinen Selbst-Regulierungs-Strategien nicht überzeugen. Denn ein wirksamer Internalisierungsmechanismus lässt sich bei der Staatsschuldproblematik nur schwer einrichten. Eine Umsetzung des Coase-Theorems, auch mit der Weiterentwicklung des Zertifikatehandels, scheint für die Reduktion der Staatsverschuldung kaum sinnvoll, denn diese ist ein monetäres Problem. Und wie soll eine Entschädigung für ein monetäres Problem ausgestaltet werden? Wie soll die heutige Generation Ausgleichzahlungen für zu hohe Schulden an die morgige Generation leisten? Natürlich könnte man Rücklagen in Höhe der Verschuldung machen, aber dann wäre es ja auch keine Verschuldung mehr, das Ganze führt sich also selber ad absurdum. Dazu kommt das Problem nicht vorhandener Gleichzeitigkeit. Ursache und Folge, Handeln und Geschädigt-Werden liegen zeitlich weit auseinander. Die Geschädigten sind noch nicht geboren, können sich also nicht wehren. Und man kann auch nur schwer mit ihnen verhandeln. Auch ein Zertifikatehandel mit Ungeborenen ist eher schwierig. Ein Handel mit Schuldenzertifikaten zwischen einzelnen Ländern würde ggf. einen effizienten Einsatz der Verschuldung ermöglichen, brächte aber nichts im Hinblick auf ihre Gesamthöhe. Mit Coase kommen wir hier nicht weiter. Die Eigentumsrechte sind nicht durchsetzbar, Ausgleichszahlungen nicht durchführbar, die Transaktionskosten unendlich. Auch Fusionen sind hier nicht möglich. Hinzu kommt: das Handeln des Staates von der aktuellen Regierung bestimmt, man müsste also die individuellen Maximierungsfunktionen der Politiker fusionieren, was nicht möglich ist. Auch dieser Ansatz hilft uns also nicht weiter. Die bereits erwähnten Modelle, die eine Internalisierung der Kosten durch eine ausgeprägtere Haftung der Länder für ihre Schulden erreichen wollen, verkennen einen entscheidenden Punkt: Nicht nur die Staaten müssen die Kosten ihrer Verschuldungspolitik internalisieren, sondern auch und vor allem die Politiker. Denn letztlich wird das Handeln der Staaten von den Politikern bestimmt, und damit von deren Interessen. Und was kümmert es einen von Abwahl bedrohten Regierungschef, dass sein heutiges Handeln langfristig das Rating des Landes verschlechtert, wenn es ihn kurzfristig im Amt hält? Darüber macht er sich bestenfalls dann Sorgen, wenn er wiedergewählt wurde.

17 So legen z.B. die deutschen Bundesländer regelmäßig verfassungswidrige Haushalte vor, ohne dass die betroffenen Politiker irgendwelche Sanktionen zu befürchten hätten.

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Wahrscheinlich trifft es aber eh erst seine Nachfolger, so dass er sich überhaupt keine Sorgen darum machen muss. Letztlich muss also erreicht werden, dass die Politiker ein eigenes Interesse daran haben, die Staatsverschuldung im Rahmen zu halten. Da ein Ausgleich zwischen Schädiger und Geschädigtem nur schwer zu bewerkstelligen ist, und da es mit den Politikern und den von ihnen geleiteten staatlichen Einheiten zwei (wenn man die Wähler mit einbezieht sogar drei) Interessensebenen gibt, wird sich diese Form des negativen externen Effekts kaum durch Intemalisierung allein bekämpfen lassen. Das Marktversagen auf politischen Märkten wird nicht ohne regulatorische Eingriffe zu beheben sein. Natürlich gibt es gewisse Bereiche des Problems, z.B. das Abwälzen von Verschuldung auf andere in einem föderalistischem Staat ohne Haftungsausschlüsse, wo sich eine Intemalisierung durch den jeweiligen Akteur vielleicht erreichen und das Teilproblem damit lindern lässt, doch wird man, wie oben geschildert, damit nie das Gesamtproblem beseitigen können. Man wird nicht darum herum kommen, eine verbindliche Grenze zu setzten, welche nicht überschritten werden darf. Negative externe Effekte die nicht internaliserbar sind, müssen schlichtweg verboten werden. Aber auch dies ist leichter gesagt, als getan. Abgesehen davon, dass sich die Politik ständig neue diskretionäre Spielräume und Lastenverschiebungskanäle schafft um solche Regelungen zu umgehen, bleibt auch die Frage, wie eine Einhaltung der Regeln erzwungen werden soll. Was also tun? Wie soll man Staatsverschuldung bekämpfen, wenn SelbstRegulierung nicht funktioniert, Fremd-Regulierung aber mit zu vielen Nachteilen behaftet ist? Unseres Erachtens nach liegt die Lösung in einer Kombination dieser beiden Elemente, in einer Überwindung des „Entweder-Oder", in einer Nutzung der Stärken beider Systeme. Wo immer möglich, muss man für eine Intemalisierung der Kosten und damit SelbstRegulierung sorgen, indem man diskretionäre Spielräume schließt und Lastenverschiebungskanäle trockenlegt. Je mehr sich von selber regelt, umso besser. Allerdings kann dies nicht mehr sein, als eine flankierende Maßnahme zusätzlich zur Fremd-Regulierung. Die Bereiche, die sich nicht intemalisieren lassen, müssen reguliert werden. Allerdings kann es viel Druck von der regulatorischen Grenze nehmen, wenn in den Bereichen, in denen es möglich ist, möglichst viel internalisiert wird. Und auch im Rahmen der Regulierung selber kann das Internalisierungsprinzip fruchtbringend angewandt werden. Man könnte mit der Regulierung den Rahmen setzen und definieren, ob oder wie viel Staatsverschuldung erlaubt ist. Statt die Einhaltung des Rahmens aber mit Hilfe von Verboten durchsetzen zu wollen, könnte man mit Sanktionen arbeiten, die dann doch wieder zu einer Intemalisierung fuhren. Eine Regulierung, die sich so zu wehren weiß, wäre weitaus wirksamer, als ein zahnloses Verbot. Hier weist uns die Pigou-Steuer die Richtung, in die wir denken können. Der Staat reguliert und setzt den Rahmen, aber er erreicht seine Einhaltung, indem er den Verursachern von negativen externen Effekten solche Kosten aufbürdet, dass sie den Output auf das gewünschte Niveau reduzieren.18 Allerdings muss darauf geachtet werden, dass die Sanktionen auch 18 In ihrer klassischen Grundform ist die Pigou-Steuer natürlich nicht eins zu eins auf die Staatsschuldproblematik übertragbar. Denn auch hier ergibt sich das Problem, dass das monetäre Problem der Staatsverschuldung schlecht durch monetäre Strafzahlungen behoben werden kann. Verschärft wird dies durch die fehlende Gleichzeitigkeit und durch das Fehlen einer übergeordneten Instanz, welche

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den tatsächlichen Akteur treffen, dass also sowohl der Kredite aufnehmende Staat an sich, als auch der Verschuldung beschließende Politiker ein ureigenes Interesse an einer Einhaltung der Zielmarke haben. Bevor wir im nächsten Abschnitt diskutieren, welches Instrumentarium am geeignetsten erscheint, fassen wir zusammen: Wo immer möglich, sollte Staatsverschuldung durch Internalisierung der Kosten bekämpft werden, so dass es zu einer SelbstRegulierung kommt. Dies wird aber nicht überall gelingen, so dass es auch einer FremdRegulierung bedarf, die verbindliche Grenzen setzt.

2. Intensivierung vs. Kanalisierung des Wettbewerbs Die im letzten Abschnitt geführte Debatte um das Begrenzungsprinzip setzt sich bei der Wahl der Mittel fort. Auch hier gibt es zwei scheinbar widersprüchliche Ansätze, wie das gewünschte Ziel erreicht werden kann. Auf der einen Seite kann man auf eine Intensivierung des Wettbewerbs setzen, auf der anderen kann man versuchen, ihn zu kanalisieren. Bei einer Intensivierung des politischen oder ökonomischen Wettbewerbs soll der Wettbewerbsdruck die Politiker in Zaum halten und ihnen so die Möglichkeit nehmen, die negativen externen Effekte auszuüben. Hierbei ist es jedoch wichtig, zwischen dem ökonomischen und dem politischen Wettbewerb zu unterscheiden. Eine Intensivierung des politischen Wettbewerbs mag viele Vorteile haben, z.B. eine bessere Berücksichtigung der Präferenzen der Bürger oder niedrigere Renten für die Politiker, wird aber im Hinblick auf die Staatsverschuldung wenig bringen. Immerhin ist es gerade der Wettbewerb, der ein Auftreten des negativen externen Effekts begünstigt. Je schärfer der Wettbewerb, umso mehr werden die Kandidaten gezwungen, ihre Preise zu senken. Und solange die Möglichkeit dazu besteht, werden sie dies auch mit Hilfe der Staatsverschuldung tun. Gerade darin liegt ja das Marktversagen des politischen Wettbewerbs. Aber auch eine Reduktion der Wettbewerbsintensität auf den politischen Märkten ist aus staatspolitischen Gesichtspunkten und aus Gründen der Präferenzberücksichtigung nicht wünschenswert. Eine Intensivierung des ökonomischen Wettbewerbs hingegen kann dazu beitragen, dieses Marktversagen zu bekämpfen. Dies haben wir ja im Abschnitt 2.4 bereits gesehen. Zu dem ökonomischen Wettbewerb rechnen wir auch institutionelle Regelungen, die ein Zusammenfallen von Handlung und Haftung bewirken, z.B. Haftungsausschlüsse, die ein Abwälzen der eigenen Verschuldung auf andere Länder unmöglich machen. Die Intensivierung des ökonomischen Wettbewerbs trägt dazu bei, die diskretionären Spielräume der Politik abzuschleifen und die negativen Folgen der Staatsverschuldung eher fur die Bürger sichtbar und spürbar zu machen. So trägt er zu einer Internalisierung der Kosten bei. Konkret könnte dies eine Liberalisierung von Kapital-, Güter- und Arbeitsmärkten bedeuten. Diese müsste begeleitet werden von institutionellen Reformen, die mehr Transparenz in die innerstaatlichen Umverteilungsregime bringen und echte Selbstverantwortung bei den eigenen Finanzen und einer Stär-

die Steuern eintreibt. Das Prinzip kann aber fruchtbar gemacht werden, wie z.B. der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt mit seiner Androhung von Strafzahlungen bei übermäßigen Defiziten vom Grundsatz her zeigt.

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kung der wettbewerblichen Elemente im Staatsaufbau, z.B. ein echter Wettbewerbsfoderalismus, wie in der Schweiz, (vgl. Berthold und Fricke 2007). Dennoch ist der Wettbewerb im Bezug auf die Staatsschuldproblematik kein Allheilmittel. Zum einen haben wir gesehen, dass sich nicht alle Kosten internalisieren lassen, zum anderen greifen die ökonomischen Schranken oft zu spät. Bei kleineren Ländern, oder bei Ländern, die in sehr massiven ökonomischen Schwierigkeiten stecken oder bei sehr gravierendem Fehlverhalten, machen sich die negativen Folgen von Fehlverhalten relativ schnell bemerkbar. Große Volkswirtschaften, die noch weit genug von den ökonomischen Grenzen der Staatsverschuldung entfernt sind, haben jedoch noch genügend Spielraum, sich weiter zu verschulden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass in der Liste der erfolgreichen Konsolidierungen vor allem, und in der Liste der nachhaltig erfolgreichen Konsolidierungen ausschließlich kleinere Länder zu finden sind (vgl. Bertelsmann Stiftung 2006). Diese waren dem Wettbewerbsdruck so stark ausgesetzt, dass sie konsolidieren mussten und diesen Kurs auch beibehalten haben. Offensichtlich verblieben den Politikern nicht mehr ausreichend diskretionäre Spielräume, um ihre Preise durch Staatsverschuldung zu senken. Deutschland hingegen hatte als wirtschaftlich großes Land, trotz ökonomischer Probleme, immer noch den Spielraum, sich weiter zu verschulden. Auch in den USA schlugen die Kosten der Staatsverschuldung nicht direkt genug durch, um einen Rückfall in die Verschuldungspolitik zu verhindern. Bei großen Ländern wird es schwer fallen, den Wettbewerb so stark zu intensivieren, dass die Grenzen so eng werden, dass es zu keiner Staatsverschuldung mehr kommt. Hier greifen die Grenzen erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Wir brauchen aber eine Regel, die sofort wirkt. Es zeigt sich wieder, dass die Internalisierung nicht ausreicht. Es bedarf auch einer Regulierung. Entsprechend genügt die Intensivierung des Wettbewerbs nicht, er muss auch kanalisiert werden. Bei einer Kanalisierung des Wettbewerbs sollen institutionelle Regelungen einen Rahmen setzen, der das Auftreten der negativen externen Effekte verhindert; z.B. durch Verbote oder - wie bei der Geldpolitik erfolgreich praktiziert - die Übertragung von Kompetenzen auf unabhängige Institutionen. Offensichtlich zielt dieses Instrumentarium auf eine Umsetzung des Begrenzungsprinzips der (Fremd-)Regulierung ab. Man könnte die Kanalisierung fälschlicherweise als eine Einschränkung des politischen Wettbewerbs verstehen, wodurch die Kanalisierungs-Strategie im Widerspruch zur Intensivierungsstrategie stünde. Tatsächlich verändert eine Kanalisierung jedoch nur die Spielregeln, den Rahmen des Wettbewerbs, nicht aber seine Intensität. In einem sportlichen Wettkampf wird das Ringen der Mannschaften um den Sieg ja auch nicht weniger intensiv, nur weil das Spielfeld etwas verkleinert wird. Lediglich die Strategien zum Sieg ändern sich. Genauso würde sich auch die Intensität des politischen Wettbewerbs nicht verändern, wenn man der Politik die Verschuldungskompetenz entzöge. Zwar ändert sich die Preiskalkulation der Kandidaten, doch überall gleichermaßen. Man würde lediglich verhindern, dass der Wettbewerb zu Lasten Dritter ausgeführt wird.19 Damit löst sich auch der scheinbare Widerspruch zwischen Intensivierungs- und Kanalisierungsstrategie auf. So wie oben Internalisierung und Regulierung, können auch diese 19 Ggf. könnte dies sogar zu einer Intensivierung des politischen Wettbewerbs fuhren: Ein Politiker mit einem schlechten Effizienzparameter ΘΡ könnte diesen nicht mehr durch höhere Staatsverschuldung ausgleichen. Die eigentliche Kompetenz tritt also deutlicher zu Tage.

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beiden komplementär verwendet werden. So wie sich die Regulierung durch ein Internalisierungsregime verteidigen lässt, so kann eine Kanalisierung des Wettbewerbs seine Intensivierung ergänzen, um sicherzustellen, dass die höhere Intensität nicht zu mehr negativen externen Effekte führt. Sie könnte z.B. so aussehen, dass der Artikel 115 GG so verschärft wird, dass er tatsächlich eine Wirkung entfaltet. Oder es könnte ein generelles Schuldenverbot sein, die Auslagerung der Verschuldungskompetenz an die Bundesbank, die Einfuhrung einer Schuldenbremse, wie in der Schweiz, die Einführung einer automatischen Schulden-Straf-Steuer, das generelle Verbot von Staatsverschuldung, oder etwas anderes in diese Richtung.

IV. Abschließende Handlungsempfehlung Staatsverschuldung kann als negativer externer Effekt verstanden werden, den Politiker ausüben, um ihre Preise zu senken und ihre Wahlchancen zu erhöhen. Es wird zu keiner freiwilligen Internalisierung kommen, da die Dilemma-Situation, in der die Politiker stecken, eine solche Zusammenarbeit zum allgemeinen Vorteil unmöglich macht. Unser Unmöglichkeitspostulat besagt daher, dass der politische Wettbewerb eine dauerhaft solide Finanzpolitik unmöglich macht. Ausnahmen können nur auftreten, wenn die Folgen der Staatsverschuldung den Wählern bewusst sind und von diesen bestraft werden, die Rahmenbedingungen Sparmaßnahmen erzwingen oder der politische Wettbewerb nicht vollkommen ist. Da der politische Wettbewerb die Politik gleichsam in eine solche Dilemma-Situation bringt, dass sie förmlich gezwungen werden, sich negativ zu verhalten, ist es die Aufgabe der Institutionen, die Anreize so zu setzen, dass sich die Akteure auf die gewünschte Art verhalten (Suchanek 2001). Die Strategie zur Bekämpfung von Staatsverschuldung muss aus einer Kombination von Fremd- und Eigenregulierung bestehen. Feste Grenzen setzen den Rahmen, in dem die Politik handeln kann, anreizkompatible Arrangements bewirken ihre Einhaltung. Das Instrumentarium zur Durchsetzung der Regulierung sollte eine Mischung aus Intensivierung und Kanalisierung des Wettbewerbs sein. Eine Intensivierung des (insbesondere ökonomischen) Wettbewerbs lässt die diskretionären Spielräume der Politik abschmelzen, führt zur Internalisierung der Kosten und senkt den Druck auf regulative Grenzen. Eine wirksame Regulierung unterbindet darüber hinaus gehende Verschuldungstendenzen. Wo immer möglich, sollten staatsschuldbegünstigende institutionelle Regelungen beseitigt, Handlung und Haftung in Übereinstimmung gebracht, diskretionäre Spielräume reduziert und wettbewerbliche Elemente gestärkt werden. Dadurch werden die Kosten der Staatsverschuldung möglichst stark von Politikern und Ländern internalisiert, so dass diese als Mittel zur Senkung der Kosten im politischen Wettbewerb möglichst unattraktiv wird. In Deutschland ist insbesondere eine wettbewerblichere Ausgestaltung des Föderalismus' von Nöten. Dies wird aber in den meisten Fällen nicht ausreichen. Es bedarf darüber hinaus - gleichsam als Sicherheitsnetz - einer Regulierung, die den politischen Wettbewerb so kanalisiert, dass die Ausübung des negativen externen Effekts der Staatsverschuldung wirksam unterbunden wird. Bei der Ausgestaltung einer solchen Begrenzungsregel sieht man sich vor ein neues Problem gestellt: Wie viel Vertrauen setzt man in die Möglichkeiten zur regelgeleiteten

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Feinsteuerung politischer Aktivitäten? Oder anderes herum ausgedrückt: Wie viel Angst hat man vor der Fähigkeit politischer Akteure, definierte Grenzen kreativ zu umgehen oder auszuhöhlen? Entsprechend kann man versuchen, eine komplizierte und ausgefeilte Lösung zu kreieren, die einen möglichst optimalen Umgang mit der Staatsverschuldung ermöglicht, oder aber man wird eine eher grobe und pauschale Lösung wählen, die zwar Nachteile mit sich bringt, aber dafür sicher ist und wenigstens eine Verbesserung im Vergleich zum Status Quo bietet. Diese Problematik wird besonders bei dem Thema kreditfinanzierter Investitionen deutlich. Es wäre im Sinne des Pay-as-you-Use-Prinzips sicher sinnvoll, die Tätigung neuer Netto-Investitionen mit Hilfe von Krediten zu erlauben. Um ein stetiges Anwachsen der Schuldenberge zu verhindern, müsste eine solche Ermächtigung aber mit komplizierten Regeln überwacht werden. Es müsste sichergestellt werden, dass aus dem laufenden Haushalt Abschreibungen für frühere Investitionen getätigt werden, dass der Investitionsbegriff nicht aufgebläht wird, etc. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass gerade der Investitionsbegriff sehr dehnbar ist, und die Lehren der Neuen Politischen Ökonomie legen den Schluss nahe, dass eine wirksame Kontrolle des Instrumentariums kreditfinanzierter Investitionen eher schwierig sein dürfte. Im Sinne des „Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach" - Prinzips und angesichts der Untiefen politischer Kompromissfindung, halten wir daher einen kompletten Verzicht auf dieses Instrument für sinnvoller. So wird die Öffnung neuer Lastenverschiebungskanäle und diskretionärer Spielräume gleich im Keim erstickt. Die Regulierung sollte möglichst anreizkompatibel ausgestaltet sein, so dass die Politiker ein eigenes Interesse an ihrer Einhaltung haben, und ihre Kreativität nicht vornehmlich in die Umgehung der Regel investieren, sondern in die Suche nach Wegen zu ihrer Einhaltung. Ziel muss es sein, eine Doppelstrategie umzusetzen: den Wettbewerbsdruck erhöhen, insbesondere durch eine Reform des Föderalismus, und parallel eine wirksame Schuldenbremse einführen. Wir wollen an dieser Stelle abschließend mögliche Grundzüge einer solchen Regelung skizzieren: 1. Verfassungsmäßige Grenzen Es bedarf einer harten Grenze, die das maximale Ausmaß zulässiger Verschuldung definiert. Diese muss in der Verfassung verankert werden und eine Verpflichtung zu ausgeglichenen Haushalten enthalten. In Deutschland bietet sich hier eine Neuausrichtung des Artikels 115 GG an. Verschuldung darf nur zulässig sein in Krisen und Notsituationen und zur Überbrückung kurzfristiger Schwankungen. Nicht für Investitionen oder gar konsumtive Zwecke. 2. Mittelfistiger Haushaltsausgleich und Sanktionen Ein jährlicher Haushaltsausgleich mit völligem Verzicht auf Staatsverschuldung ist unrealistisch. Zumindest ein mittelfristiger Haushaltsausgleich muss jedoch festgeschrieben werden. Da ein Ausgleichskonto wie in der Schweiz zahlreiche Probleme mit sich bringt, bieten sich zur Überbrückung kurzfristiger Schwankungen andere Lösungen an. Hier sollte über fest definierte Rückzahlungszeiträume oder Schwankungsreserven nachgedacht werden.

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Viel spannender aber ist die Frage nach der Durchsetzung und anreizkompatiblen Ausgestaltung der Ausgleichspflicht. Wie geschildert, muss die Regelung für die amtierenden Politiker anreizkompatibel sein, d.h. eine Verletzung der Grenzen muss diesen weh tun. Da eine persönliche Haftung kein gangbarer Weg ist, bietet sich der Umweg über die Wahlaussichten der Politiker an. Eine Verletzung der Defizitgrenzen muss sich direkt auf die Popularität der Regierung auswirken. Dies ließe sich zum Beispiel durch eine im Folgejahr erhobene automatische Strafsteuer zum Ausgleich des aufgelaufenen Defizits erreichen, die als Aufschlag auf die Einkommenssteuer erhoben würde. Eine solche temporäre Steuer wäre extrem unpopulär, würde eine zeitnahe Rückkopplung bewirken und so die Politik disziplinieren. Außerdem würden aufgelaufene Defizite sofort ausgeglichen, so dass keine Lastenverschiebung stattfinden könnte. 3. Wirksame Durchsetzung durch externe Kontrolle Neben der Kanalisierung des politischen Wettbewerbs und der Eigenregulierung durch Anreize, muss die Einhaltung der Grenzen auch durch Fremdregulierung abgesichert werden. Tendenzen zur Umgehung oder Verschleierung der Situation müssen durch eine unabhängige externe Kontrolle unterbunden werden. Hierfür bieten sich die Bundesbank oder der Bundesrechnungshof an. Diese Instanz muss die Verletzung der Grenzen feststellen und die notwendige Höhe der Strafsteuer festsetzen. Diese Fragen müssen unter allen Umständen aus dem politischen Alltagsgeschäft herausgehalten werden. 4. Institutionelle Veränderungen zur Reduzierung diskretionärer Spielräume Feste und wehrhafte Grenzen sind unabdingbar und gut. Noch besser aber ist es, wenn sie gar nicht erst greifen müssen und möglichst wenige Probleme überhaupt entstehen. Dazu kann eine Verschärfung des ökonomischen Wettbewerbs beitragen, der die diskretionären Spielräume der Politik abschleift und den Schleier der Fiskalillusion lüftet. Auch weitere institutionelle Veränderungen, die zu effizienteren Politikergebnissen fuhren, fallen darunter. Entscheidende Maßnahmen wären neben einer Öffnung der Märkte und einem mehr auf Wettbewerb orientiertem Föderalismus, auch ein Haftungsausschluss für die Schulden anderer Gebietskörperschaften und effizientere Budgetverfahren. Je weniger Druck im Kessel ist, umso weniger Sorgen muss man sich machen, ob denn der Deckel auch fest sitzt. Bei einer Umsetzung dieser vier Punkte würde der politische Wettbewerb kanalisiert, durch feste, auf ein klares Ziel hin ausgerichtete Grenzen. Gleichzeitig erfolgte innerhalb dieser Grenzen eine Intensivierung des Wettbewerbs. Elemente der Selbst- und Fremdregulierung würden so kombiniert, dass eine Überschreitung der Grenzen verhindert würde. So würden alle drei Bedingungen für die Gültigkeit des Unmöglichkeitspostulates ausgehebelt: die Bürger würden übermäßige Defizite bestrafen, es gäbe wirksame Grenzen, der politische Wettbewerb würde wirksam kanalisiert. Die DilemmaSituation, der sich Politiker derzeit ausgesetzt sehen, würde aufgehoben werden, das Auftreten des negativen externen Effekts der Staatsverschuldung erfolgreich bekämpft.

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Zusammenfassung Staatsverschuldung wird hier als ein negativer externer Effekt verstanden, den Politiker ausüben, um die Kosten ihres politischen Angebots zu senken und somit im politischen Wettbewerb bestehen zu können. Die Gegebenheiten des politischen Wettbewerbs und die Möglichkeit diesen externen Effekt auszuüben, versetzen die Politiker in eine Dilemma-Situation, welche die Vermeidung von Defiziten, also eine Zusammenarbeit zum allgemeinen Vorteil, unmöglich macht und zwangsläufig zu immer neuen Defiziten führt. Ausnahmen ergeben sich nur, wenn die Kosten der Staatsverschuldung internalisiert werden. Da eine vollständige Internalisierung über den Markt aber in der Regel nicht gelingen kann, wird eine erfolgreiche Bekämpfung des Verschuldungsproblems nur mit Hilfe von Regulierung gelingen. Wir plädieren daher für eine Kombination aus Intensivierung des Wettbewerbs, um eine verstärkte Internalisierung der negativen externen Effekte zu erreichen, und dem Verbot kreditfinanzierter Investitionen, um den Einsatz von Staatsverschuldung zu begrenzen und die Dilemmastruktur aufzubrechen.

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Norbert Berthold und Daniel Koch

Summary: The Impossibility of balanced budgets Public debt is here understood as a negative external effect, caused by politicians trying to reduce the costs of their political offer, thus gaining advantages in the political competition.The realities of political competition and the possibility of exercising these external effects, put the politicians in a dilemma situation: the avoidance of public deficits - a cooperation for the common good - becomes impossible, public debts inevitably rise. Exceptions occur only if the cost of public debts are internalized. But as a full internalization through the market seldom succeeds, rising debts have to be battled with regulation as well. We therefore call for combining two strategies: the intensification of competition, to enhance internalization of negative externalities, and a ban of debt covered investments, to limit the usage of public debt and break the structural dilemma imposed on politicians.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Charles B. Blankart

Wege zu mehr Steuerehrlichkeit1 Inhalt I. Staat, Steuererftillung, Schattenwirtschaft und Steuerhinterziehung: Einige erste Beobachtungen II. Erhöhung der Steuererfüllung durch mehr direkte Demokratie und durch ein gutes Steuerdesign (positive Anreize) 1. Mehr Freiwilligkeit - weniger Zwang 2. Aktivierung von Objektsteuern 3. Umsatzsteuer: Rückkehr zum Ursprungslandprinzip? III. Erhöhung der Steuerehrlichkeit durch Repression (negative Anreize) 1. Entdeckungswahrscheinlichkeit 2. Einschätzung und Prognose des Risikos ρ 3. Politische Ökonomik der Steuerfahndung 4. Führen höhere Strafen zu geringerer Hinterziehung? 5. Steuersatz IV. Schlussfolgerungen: Bessere Institutionen, weniger Repressionen Literatur Zusammenfassung Summary: Towards a Better Tax Compliance

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I. Staat, Steuererfüllung, Schattenwirtschaft und Steuerhinterziehung: Einige erste Beobachtungen Weshalb bezahlt ein Individuum Steuern? Im Gesetz findet sich nur eine vage Andeutung: So lautet § 3 der deutschen Abgabenordnung: „Steuern sind Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen..." Der Bürger muss erst einmal leisten. Ob, wann und inwiefern er eine Gegenleistung erhält, wird

1 Überarbeitete und ergänzte Fassung der Hayek-Lecture, die der Autor am 26. Juni 2008 in der Aula der Universität Freiburg i.B. gehalten hat. Der Autor dankt Erik R. Fasten und Florian Buck und einem anonymen Gutachter für wertvolle Kritik, Unterstützung und Diskussion der Arbeit. Frühere Fassungen wurden vor der Progress Foundation in Zürich, dem Institut für Unternehmerische Freiheit Berlin und an verschiedenen Seminaren der Humboldt-Universität zu Berlin vorgetragen. Der Autor dankt allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für wertvolle Kommentare.

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Charles Β. Blankart

offen gelassen. Zu einem so uneingeschränkten Ja zur Steuer wird er nur bereit sein, wenn er dem Staat durch und durch vertrauen kann, das staatliche Vertrauenskapital daher sehr groß ist. In diesem Idealfall beträgt seine Steuererfüllung, seine „tax compliance", gerade 1 und es gibt keine Steuerhinterziehung. Ist die Regierung für den Steuerbürger weniger vertrauenswürdig, so wird er dem Staat nicht mehr die ganze, sondern nur noch eine Steuererfüllung von kleiner als 1 zugestehen. Die Regierung wird zwar versuchen, dem mit Strafdrohungen entgegenzuwirken. Aber das Vertrauensverhältnis ist nicht mehr das Gleiche. Die Steuerehrlichkeit wird in der Regel zurückgehen.2 Abbildung 1: Umfang der Schattenwirtschaft in Prozent des BIP, 2007

*

/

Quelle: Schneider (2007)

Wie aber lässt sich ersehen, wie hoch die Steuererfüllung in einem Land ist? Einen ersten Anhaltspunkt darüber erteilt ein Blick in Schätzungen der Schattenwirtschaft. Wo eine Tätigkeit im Schatten vollzogen wird, da werden auch Steuern hinterzogen.3 Friedrich Schneider von der Universität Linz schätzt die Schattenwirtschaft für die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2007 auf 356 Mrd. Euro oder 14,7 Prozent des BIP von

2 Ich verwende den Begriff Steuerehrlichkeit, weil er weitgehend wertneutral ist. Ehrlichkeit zeigt an, dass der alltägliche Umgang mit einem Individuum funktionieren kann, wie immer es denkt. Moral, hier Steuermoral, ist demgegenüber ein wertbeladender Begriff. Mit Steuermoral wird vom Bürger eine positive innere Einstellung zum Staat, auch zum totalitären Staat gefordert. Im Rechtsstaat wird dagegen nicht gefragt, wie der Bürger denkt. Der Rechtsstaat verlangt keine Akklamation, sondern er beruht auf der Verlässlichkeit der Regeln und deren Anwendung. Eine umfassende Darstellung der Motive der Steuerehrlichkeit findet sich bei Schöbe! (2008). 3 Nicht zur Schattenwirtschaft zählt die Steuervermeidung durch Eigenproduktion, Nachbarschaftshilfe und dergleichen.

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2.423 Mrd. Euro (Schneider 2007). Damit liegt Deutschland, wie sich aus Abbildung 1 ersehen lässt, etwa im OECD-Mittelfeld. Deutlich darunter liegt z.B. die Schweiz, merklich darüber z.B. Belgien. Gemessen wird der Umfang der Schattenwirtschaft meist in aggregierten Umsätzen, d.h. im Schatten-Bruttoproduktionswert. Um zur Steuerhinterziehung zu gelangen, ist aus diesem in einem ersten Schritt die Bruttowertschöpfung zu ermitteln und in einem zweiten sind die Steuern, welche auf die Schattenaktivität hätten bezahlt werden sollen, aber faktisch hinterzogen werden, zu berechnen abzüglich der Steuern auf Input-Gütern aus der offiziellen Wirtschaft. Hinzu kommen die auf ausländischen Schwarzkonten hinterzogenen Steuern (außerhalb des BIP). Das alles ergibt für Deutschland im Jahr 2007 eine Steuerhinterziehung in Höhe von rund 90 Mrd. Euro oder 3,6 % im Vergleich zum BIP.4 Tabelle 1: Steuererfüllung in verschiedenen OECD-Staaten 1990/93 Staat

Abweichung

Staat

von 1 in %

Abweichung von 1 in %

1. Nordirland

67,9

9. Deutschland

53,6

2. Schweiz

63,4

10. Gr. Britannien

53,4

3. Österreich

62,3

11. Irland

48,8

4. Dänemark

57,3

12. Frankreich

46,5

5. Schweden

56,4

13. Niederlande

44,1

6. Spanien

56,1

14. Norwegen

43,1

7. Island

56,0

15. Finnland

40,3

8. Italien

55,2

16. Portugal

39,4

17. Belgien

34,3

Quelle: Torgier und Schneider (2006) Schattenwirtschaft und daraus folgende Steuerhinterziehung sind Indikatoren dafür, dass die Individuen dem Staat nicht durch und durch vertrauen und ihre Steuererfüllung daher wie gesagt unter 1 liegt. Es ist zu vermuten, dass die Individuen diese Skepsis gegenüber dem Staat auch zum Ausdruck bringen, wenn sie in einer Umfrage danach gefragt werden. Das lässt sich aus dem so genannten World Value Survey erkennen.

4 Die genannten 356 Mrd. Euro entsprechen bei der angewandten Bargeldumlaufmethode dem Bruttoproduktionswert der Schattenwirtschaft 2007. Bei einer Nettoquote (wie für haushaltsnahe Dienstleistungen) von 65% beträgt die Bruttowertschöpfung der Schattenwirtschaft 231 Mrd. Euro, worauf eher konservativ geschätzt rund 25% fallige Steuern und Sozialabgaben hinterzogen werden, d.h. 58 Mrd. Euro abzüglich der Steuern, die die Schattenwirtschaft auf den Input-Gütern aus der offiziellen Wirtschaft tatsächlich bezahlt hat in der Höhe von vereinfachend 19 % Steuersatz mal 35 % des Bruttoproduktionswertes als Bemessungsgrundlage entsprechend 34 Mrd. Euro plus schätzungsweise 54 Mrd. Euro Erträge aus Schwarzgeldkonten im Ausland ergibt eine Steuerhinterziehung von 88 Mrd. Euro entsprechend 3,6 % des BIP. Quelle: Eigene Berechnungen unter Mitverwendung von Daten, die dem Autor von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Friedrich Schneider freundlicherweise zur Verfügung gestellt worden sind.

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Charles Β. Blankart

Einer Grappe von Probanden in unterschiedlichen Staaten wurde die Frage gestellt: „Sind Sie der Meinung, eine Gelegenheit zur Steuerhinterziehung zu nutzen, ist ... nie gerechtfertigt." 5 In Tabelle 1 findet sich der Prozentsatz der Probanden, die diese Frage mit ja beantwortet haben. In der Schweiz antworteten 1990-1993 etwa zwei Drittel mit ja, in Deutschland etwa die Hälfte und in Belgien nur ein Drittel. In Abbildung 2 werden die Daten von Tabelle 1 zur weiteren Illustration zu den Daten über den Umfang der Schattenwirtschaft in Abbildung 1 in Beziehung gesetzt. Es zeigt sich, dass die Einstellung zur Steuerhinterziehung, in der sich das Vertrauen der Bürger in den Staat niederschlägt, auch in ihrer Teilnahme an der Schattenwirtschaft und damit mutmaßlich auch in ihrer Steuerhinterziehung reflektiert. Wo es an Vertrauen mangelt, da neigen die Individuen zu Schattenwirtschaft und Steuerhinterziehung. Abbildung 2: Steuererfüllung und Umfang der Schattenwirtschaft

0,12

0,17

Größe der Schattenwirtschaft [% des BIP] Quelle: Eigene Darstellung (siehe Text) Übersicht über die weiteren Teile der Abhandlung Welche weiteren Kräfte allerdings hinter dieser Korrelation wirken, bleibt in Abbildung 2 verborgen. Sie näher zu ergründen, stellt die Aufgabe dieses Vortrags und Aufsatzes dar. Für das erste sehen wir einen Zusammenhang und schließen daraus, dass für eine höhere Steuererfiillung vor allem dieses Vertrauen gestärkt werden muss. Denn ohne Vertrauen trägt ein verfasstes Regel- und Sanktionssystem, wie schon North (1992) hervorhebt, nur wenig zur Zielerfüllung bei. Vertrauen bildet sich, wie in Teil II darzulegen ist, aus der Art, wie Steuern beschlossen werden. Gute Beschlüsse stabilisieren das Vertrauen in den Staat und generieren 5

Übersetzt vom Verfasser. Näheres siehe Torgier und Schneider (2006).

Wege zu mehr Steuerehrlichkeit

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neues Vertrauen. In Abschnitt II.l werden drei Möglichkeiten der Beschlussfassung vorgelegt: Konsens, direkte Demokratie und repräsentative Demokratie und was hieraus hinsichtlich der Steuererfiillung zu erwarten ist. Aber auch vom Steuerdesign können wesentliche Anstöße zur Steuererfüllung ausgehen. Steuern können schon aus ihrer Konstruktion hinterziehungsgefahrdet und so dem Vertrauen abträglich sein. Diese Hypothese wird in Abschnitt II.2 am Gegensatz von Objektsteuern versus Subjektsteuern sowie in Abschnitt II. 3 am Bestimmungslandprinzip versus Ursprungslandprinzip dargestellt. Während es in Teil II um positive Anreize zur Anhebung der Steuererfüllung geht, werden in Teil III negative, repressive Anreize, also Fahndung und Strafen betrachtet. Solche negative Anreize laufen zwar grundsätzlich dem in Teil II diskutierten Ziel entgegen, die Steuererfüllung durch vertrauensbildende Maßnahmen zu stärken. Wer sich der steten Fahndung ausgesetzt sieht, wird schwerlich den Staat als Hort des Vertrauens ansehen. Was manchmal als kurzfristiger Fahndungserfolg in der Presse gepriesen wird, kann langfristig zu einem Vertrauensverlust und zu Kosten führen.6 Deswegen wird wie eingangs ausgeführt das Vertrauen in den Staat als das Primäre betrachtet. Dennoch wird der Staat auf das Instrument der Repression nicht gänzlich verzichten können, weil es auch im besten Staat Freifahrer gibt, die das Bezahlen von Steuern lieber ihren Mitbürgern überlassen, als sich selbst in die Pflicht zu nehmen. Die Grenze zwischen zu wenig und zu viel Repression ist daher besonders schwer zu ziehen. Umgekehrt lassen sich aber Kombinationen von Steuern und Strafen charakterisieren, die der Vertrauensbildung mit großer Wahrscheinlichkeit abträglich sind. In den Schlussfolgerungen in Teil IV wird gezeigt, wie positive Anreize durch ein verbessertes institutionelles Design einerseits und die praktische Durchsetzung von Strafen anderseits miteinander verbunden werden können, damit sowohl Steuern bezahlt als auch Fehlanreize möglichst vermieden werden und die Steuerehrlichkeit zunimmt.

II. Erhöhung der Steuererfüllung durch mehr direkte Demokratie und durch ein gutes Steuerdesign (positive Anreize) In erster Linie ist anzustreben, Steuern so zu gestalten und zu beschließen, dass die Bürger möglichst von sich aus bereit sind, diese zu bezahlen.

1. Mehr Freiwilligkeit - weniger Zwang Als Ideal ist zunächst der Vorschlag einer freiwilligen Steuer zu betrachten. Schöpfer und konsequenter Anhänger des Freiwilligkeitsprinzips der Besteuerung ist der schwedische Finanzwissenschaftler Knut Wickseil (1896). In seinen „Finanztheoretischen Untersuchungen" schreibt er, Steuern sollen aus einem Vertrag hervorgehen, in dem jeder

6 Frey (1997) sowie Feld und Frey (2002) weisen darüber hinaus darauf hin, dass Steuererfullung auf der intrinsischen Motivation der Bürger beruht, Steuern zu bezahlen, dass diese Motivation aber durch Steuerprüfungen, -fahndungen und dergleichen verdrängt werden kann.

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verbindlich erklärt, wie viel er zu den öffentlichen Projekten beizusteuern bereit ist. Das garantiere zum einen, dass nur Projekte unternommen würden, deren Vorteile die Kosten wirklich aufvviegen, zum andern dass das, was einer für sich an Steuern akzeptiert, bei ihm auch durchgesetzt werden kann. In Wickseih Idealwelt gibt es somit keine Steuerhinterziehung - Steuer, staatliche Gegenleistung und Vertrag fallen zusammen. Die Steuererfüllung beträgt 1. In der Praxis lässt sich Wickseils Vorstellung vom Vertrag (W) nur in Annäherung realisieren. Eine Steuer wird von den Bürgern in ihrer Gebietskörperschaft nicht einstimmig, sondern bestenfalls direktdemokratisch z.B. mit einfacher Mehrheit der abstimmenden Bürgerinnen und Bürger gebilligt (DD). Das aber bedeutet, dass der „Vertrag" geschlossen und wirksam wird, ohne dass die unterlegene Minderheit zugestimmt hat. Die schlechter gestellte Minderheit wird mit dem öffentlichen Haushalt in dieser Form nicht einverstanden sein. Eine geringere Steuererfüllung ist zu erwarten. In vielen, wenn nicht den meisten Gebietskörperschaften, wird jedoch nicht einmal direktdemokratisch, sondern nur repräsentativdemokratisch (RD) über Steuern und Staatsausgaben entschieden. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass Bürgerpräferenzen übergangen werden, ist in diesem Fall noch größer. Folglich ist hinsichtlich der Steuererfüllung eine Sequenz W > DD > RD zu erwarten. Die erste und heute noch maßgebliche empirische Untersuchung zu dieser Frage geht auf Weck-Hannemann und Pommerehne (1989) zurück.7 In ihr werden Schweizer Kantone mit direkter und mit parlamentarischer Demokratie in den Untersuchungsjahren 1970/1978 miteinander verglichen. Es zeigt sich, dass Steuern auch unter direkter Demokratie hinterzogen werden und das Ideal W verfehlt wird. Aber vor allem ist die Hinterziehung in Kantonen, in denen die Bürger über den Haushalt und dessen Finanzierung über Steuern in direkter Demokratie abstimmen, erheblich, nämlich um 30 % geringer als in Kantonen, die parlamentarische Demokratie praktizieren, was die Ungleichheit W > DD > RD bestätigt. Das heißt, Reformen in Richtung direkter Demokratie könnten eine lohnende Perspektive eröffnen, um die Steuerehrlichkeit zu verbessern.8

2. Aktivierung von Objektsteuern Ein großer Teil der Steuerhinterziehung rührt daher, dass die Regierungen sich nur oft wenig Gedanken darüber machen, wie eine Steuer erhoben werden soll. Es werden Konstrukte aufgebaut, die den Bezug zwischen Leistung und Gegenleistung zum Verschwinden bringen und im Bürger die Frage hochkommen lassen, was der Sinn der Steuer überhaupt ist. Folge ist, dass die Steuerehrlichkeit zurückgeht. Ich möchte diese Entwicklung an zwei Fällen illustrieren: Hier in Abschnitt II.2 dem Übergang von der

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Eine gute Darstellung findet sich bei Kirchgässner (2007, S. 53 f.). Statt Steuern zu erheben, können Regierungen bei spezifischen Leistungen auch Gebühren festsetzen. Gebührenhinterziehung ist schwieriger als Steuerhinterziehung, weil das Individuum ohne Leistung die spezifische Gegenleistung nicht erhält. Aus diesem Grund kann die Gebühr für eine Leistung, die der Staat als Monopolist anbietet, weit über den Kosten liegen und so einer Steuer nahe kommen.

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Objekt- zur Subjektsteuer und im nächsten Abschnitt II.3 der Verdrängung des Ursprungsland- durch das Bestimmungslandprinzip. In früheren Jahrhunderten besteuerte der Staat vorwiegend Objekte und dadurch indirekt die Subjekte. Die direkte Besteuerung von Subjekten ist relativ neu. Sie geht auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück. Bis dahin überwog die Objektbesteuerung nach dem Belegenheits- oder Territorialprinzip. Dessen Durchführung war relativ einfach. Der Steuerbeamte konnte die Objekte inspizieren und dann zum Schluss kommen, dass der Eigentümer den (Soll-)Ertrag gerade richtig oder zu gering deklariert hat. Daraus resultierte vielfach Streit mit den Steuerbehörden. Aber Steuerhinterziehung im Sinne der Nichtdeklaration war nicht die Regel. Schließlich konnte das Grundstück oder der Betrieb von der Behörde schwerlich übersehen werden. Um den Streit um die Bewertung in Grenzen zu halten, wenn auch nicht gänzlich zu umgehen, wurden in der französischen Revolution vier Steuertypen geschaffen: Les quatre vieilles: die Grundsteuer, die Wohnsteuer, die Gewerbesteuer die Tür- und Fenstersteuer (1790/1798).9 Heute werden Objektsteuern oft kritisiert, weil sie den Faktor Kapital belasten und damit Investitionen entmutigen. Diese Sicht greift aber zu kurz. Denn dezentral erhobene Objektsteuern geben den Regierenden Anreize, dem mobilen Kapital eine nützliche Infrastruktur bereitzustellen. Sie stellen einen wichtigen Wettbewerbsfaktor dar, der im Ansatz von Brueckner (1982) zu einer optimalen, den Bodenwert maximierenden Infrastrukturausstattung autonomer Gebietskörperschaften führt. Dazu gehören auch eine hinreichende Anzahl Schulen, Krankenhäuser und dergleichen in der Umgebung. Das alles entspricht dem Äquivalenzprinzip. Für die Investoren führen Objektsteuern zum Ausgleich der Nettorenditen, so dass alle Sparer nach dem gleichen konsistenten Maßstab ihre Konsum-Sparentscheidungen treffen können. Damit ist die Objektsteuer intertemporal neutral. Es werden alle Tauschmöglichkeiten zwischen Konsum heute und morgen ausgeschöpft. Wird die Objektsteuer schließlich als Fest-, d.h. als Sollertragsteuer erhoben, so erteilt sie während des festgesetzten Zeitraums Anreize zur Steuereinholung und damit zur Effizienzsteigerung. Unrichtig ist, dass die Objektsteuer den persönlichen Verhältnissen des Kapitaleigners nicht Rechnung trägt. Denn dieser wird nach der Anzahl von Objekten besteuert, die er besitzt, also wenn man will, nach seiner Leistungsfähigkeit. Das ist auch der Grund, warum Adam Smith keinen Unterschied zwischen Äquivalenz- und Leistungsfähigkeitsprinzip sah.10 Warum also, so lässt sich fragen, wurde die Objektsteuer weitgehend durch die Subjektsteuer verdrängt? Das heißt, warum wird ein Individuum am Produktionsort steuerlich entlastet und dafür am Wohnort mit all seinem Welteinkommen belastet? Die üblichen Lehrbuchgründe wie Exportneutralität sind wenig überzeugend. Denn das entlastete Kapital leistet so am Produktionsort keinen Beitrag zur in Anspruch genommenen Infrastruktur. Bei all dem ist der Aufwand zur Durchsetzung des Wohnortprinzips enorm. Es bedarf eines Informationsaustausches über die Kapitalerträge zwischen allen Gebietskörperschaften und Staaten, in denen der Steuerpflichtige Kapital investiert hat.

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Steuerhinterziehung gab es jedoch vielfach bei den Akzisen. Gerade diese sollten aber durch die genannten Objektsteuem zurückgeführt werden. 10 Musgrave und Peacock ( 1958)

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Die Fülle von OECD-Musterabkommen, EU-Richtlinien und Doppelbesteuerungsabkommen belegen dies. Man kann sich fragen, welchen Anreiz die Regierung einer Gebietskörperschaft hat, einem solchen Informationsaustausch beizutreten und zu kooperieren. Ein nahe liegender Grund ist die so ermöglichte individuell differenzierte Besteuerung. Nur unter dem welteinkommensbezogenenen Wohnortprinzip kann jedes Individuum separat und damit progressiv belastet werden. Mag sein dass eine solche Besteuerung in einem höheren Ausmaß dem Leistungsfähigkeitsprinzip entspricht als die vorher betrachtete Objektbesteuerung. Doch steuerliche Leistungsfähigkeit ist ein diffuser Begriff, der für jede Steuer passend definiert werden kann.11 Die eigentliche Attraktivität liegt im steuerlichen Mehrertrag gegenüber einem System konkurrierender Objektsteuern. Diese Perspektive macht es für die meisten (wenn auch nicht für alle) Gebietskörperschaften/Staaten lohnend, dem aufwendigen Meldekartell beizutreten, bzw. ein solches kollektiv zu beschließen. Mit dem Wohnsitzprinzip wird das das Individuum ökonomisch aus dem Gleichgewicht gedrängt. Während es unter dem Objektsteuersystem seine Anlagen solange verschiebt, bis sich seine Nettorenditen ausgleichen (s.o.), ist ihm dies unter dem Wohnortprinzip verwehrt. Nunmehr muss es mit seinem ganzen Hab und Gut ausziehen, wenn es mit dem Steuer-Leistungs-Verhältnis zu Hause nicht mehr zufrieden ist. Seine Mobilitätskosten steigen beträchtlich und entsprechend steigt die Besteuerungsmacht des Fiskus. Auf diese Weise erschwert das Wohnsitzprinzip die legale Exit-Option des unzufriedenen Steuerschuldners. Das so aus dem Gleichgewicht gedrängte Individuum hat - solange das Wohnsitzprinzip noch nicht welteinheitlich verwirklicht ist - einen Anreiz, seine Aktiva an Orten mit höherer Nettorendite einzusetzen, d.h. zum Territorialprinzip mit Objektbesteuerung zurückzukehren. Es betreibt ökonomisch gesehen Arbitrage, die die Steuerbehörden dann aber Steuerhinterziehung nennen und verfolgen. Daher ist unter dem Wohnortsprinzip mit einem Sinken der Steuerehrlichkeit zu rechnen. Eine Reform könnte darin bestehen, wieder vermehrt zu Territorialprinzip und Objektbesteuerung zurückzukehren. Dieses ist ja auch unter der Ära des Wohnsitzprinzips nie ganz verschwunden. Bei Grundsteuern und Gewerbesteuern ist dies offensichtlich, aber auch in Doppelbesteuerungsabkommen bleibt meist noch ein Teil der örtlichen Besteuerung erhalten, und schließlich gilt es teilweise auch bei der Erbschaftsteuer. Dies zeigt: Grenzen der steuerlichen Durchsetzbarkeit gibt es weniger beim Territorialais beim Wohnsitzprinzip. Somit könnte eine Verschiebung der Steuerlast in diese Richtung die Steuererfullung anheben.12 Gleichzeitig gilt es, das Wohnsitzprinzip zu entlasten, wie dies unten in Teil III noch zu erörtern ist.

11 Blankart (2008,10. Kapitel) 12 Hinter dieser Schlussfolgerung steht die Überlegung, dass vor allem die Inanspruchnahme von physischen Ressourcen dem Staat Kosten verursacht und daher Steuern rechtfertigt. Ein Depot in einer Bank kostet hingegen den Staat relativ wenig, so dass eine Pauschalsteuer ausreichen mag. Anders gesagt, die Besteuerung des Faktors Kapital würde sich bei Anwendimg des Territorialprinzips von der Belastung des Finanzkapitals auf die des physischen Kapitals verschieben; sie würde nicht entfallen.

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3. Umsatzsteuer: Rückkehr zum Ursprungslandprinzip? Das Ungenügen des heutigen Bestimmungslandprinzips 18 Mrd. Euro Mehrwertsteuer oder rund 17 % des Mehrwertsteuerertrags sollen nach Berechnungen des Ifo Instituts in Deutschland im Jahr 2003 am Fiskus vorbei in private Taschen geflossen sein.13 Auch dieser Fall der Steuerhinterziehung lässt sich ganz wesentlich auf ein mangelhaftes Steuerdesign zurückführen. Meine These lautet: Das System der derzeitigen nationalen Mehrwertsteuern nach dem Bestimmungslandprinzip mit Vorsteuerabzug und Grenzausgleich ist in einem gemeinsamen Markt der EU ohne Binnengrenzen nur mit Einschränkungen funktionsfähig. Als es noch Grenzkontrollen gab, konnte dieses System hinlänglich funktionieren. Der deutsche Spediteur fuhr mit der Ware zum deutschen Zoll, ließ die Rechnung des Exporteurs vom Zollbeamten als „exportiert" abstempeln, wofür dieser das Recht erhielt, die Mehrwertsteuer von seinem Fiskus zurückzufordern. Dann fuhr der Spediteur weiter zum französischen Zoll, wies die Rechnung vor, womit der Importeur vom französischen Fiskus identifiziert und belastet wurde. Das Gut wurde ein normales französisches Iniandgut, das steuerbelastet war und unter Abzug der Vorsteuer (Importsteuer) mehrwertsteuerbelastet weiterverkauft wurde. Das System war hinlänglich wasserdicht. Im Markt ohne Binnenhandelsgrenzen ist dies nicht mehr der Fall, weil nicht mehr der Zollbeamte, sondern der Importeur die Rechnung des deutschen Exporteurs stempelt und gleichzeitig dem französischen Fiskus seine Steuerpflicht meldet. Steuertechnisch wird von der so genannten „Übergangsregelung" gesprochen (solange ein einheitliches EU-Mehrwertsteuersystem noch nicht gefunden ist). Unterlässt aber der Importeur diese Meldung, so hat er gute Chancen, unentdeckt zu bleiben. Er kann das Gut mit Mehrwertsteuer weiterveräußern und die Differenz einstecken. Der Fiskus wird von der Existenz des Importeurs wenn überhaupt erst dann etwas erfahren, wenn er in einem Bündel der zum Vorsteuerabzug eingereichten Rechnungen (also nach einigen Monaten) den fraglichen Importeur entdeckt und ihn vor Gericht zieht. Der Fiskus sieht sich vor dem Problem, eine Nadel in einem Heuhaufen finden zu müssen. Zwischenzeitlich wird der Importeur die Möglichkeit nutzen, sich aus dem Markt zurückzuziehen und mit der vereinnahmten Steuer zu verschwinden. Die Geschichte kann sich sogar wiederholen, wenn das Gut nun unter Rückerstattung der französischen Mehrwertsteuer wieder nach Deutschland eingeführt und dort vom Importeur als „missing trader" weiterverkauft wird usw. Diese Art der Mehrwertsteuerhinterziehung wird Karussellgeschäft genannt. Sie fallt deshalb ins Gewicht, weil sie bei jeder Runde zweimal zu Buche schlägt: einmal beim französischen, dann beim deutschen Fiskus. In Reinform erfordern Karussellgeschäfte die völlig zuverlässige, verschwiegene Kooperation jedes Mitglieds des Rings von Kriminellen. Durch undichte Stellen wird 13 Diese Zahl ist mit den in Fußnote 4 angegebenen Schätzungen für die Steuerhinterziehung nicht vergleichbar. Jene sind aufgrund des Bargeldumlaufs, diese ist aufgrund eines Vergleichs des tatsächlichen Steueraufkommens mit dem hypothetischen Steueraufkommen, wie es sich auf Basis des privaten Konsums unter Berücksichtigung der nicht steuerpflichtigen Bereiche ergibt, berechnet (Sinn et al. 2004). - Kean und Smith (2007) rechnen für Großbritannien mit 13,5 % bis 17 % Steuerhinterziehung (für 2000 / 2005).

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der Ring als ganzer gefährdet und fliegt möglicherweise auf. Daher dürfte die Reinform selten zu beobachten sein. Doch die Reinform ist gar nicht erforderlich. Ein Ring kann sich durch das eigennützige Verhalten jedes Mitglieds ergeben. Keiner braucht vom anderen etwas zu wissen. Es braucht auch nicht immer die gleiche Ware gehandelt zu werden. Der Ring ergibt sich aus dem Markt. Bisher ist es nicht gelungen, solche Ringe zu verhindern, und ich zweifle, dass dies in Zukunft möglich sein wird. Nach dem als Reform vorgeschlagenen Reverse Charge Verfahren soll die Steuer am Verkäufer hängen bleiben, es sei denn, er kann dem Finanzamt verbindlich den Empfanger der Ware und damit den Steuerzahler nennen (EUKommission, 2006). Beim Weiterverkauf wird dieser dem Finanzamt den nächstfolgenden Empfanger nennen usw., bis der letzte Händler an einen Endverbraucher verkauft, der sich nicht mehr als Händler ausweisen kann und daher die Steuer tragen muss.14 Dadurch wird die Lücke beim Export geschlossen, was folgerichtig aussieht. Aber der Handel ist vielgestaltig. Handelswege teilen oder vereinigen sich, so dass sich die Kette typischerweise nicht Glied für Glied verfolgen lässt. Es ist ja gerade die Stärke des Marktes gegenüber der Planwirtschaft, dass jeder nur mit seinem unmittelbaren Lieferanten und seinem unmittelbaren Abnehmer verhandeln muss und der ganze Rest der Leistungskette nicht weiter hinterfragt zu werden braucht. Gerade dieses Fundamentalprinzip wird durch das Reverse Charge Verfahren in Frage gestellt, was den einzelnen Händlern hohe Transaktionskosten aufbürdet. Nicht mehr der Fiskus, sondern die Händler werden jetzt dafür verantwortlich gemacht, dass die Steuerzahlung beim Fiskus ankommt. Dies veranschaulicht den Umfang der Verantwortungsverschiebung. Im Übrigen setzt das Verfahren Anreize, dass sich der Letzte in der Kette nicht als Konsument zu erkennen gibt und die ganze Steuer (also nicht nur wie beim jetzigen System die Steuer auf der letzen Stufe) hinterzogen wird. Aus allen diesen Gründen hat dieses System kaum Chancen, die für eine Annahme in der EU erforderliche Einstimmigkeit im EU-Ministerrat zu erhalten. Zurzeit wird eher darüber diskutiert, das bestehende System durch zwischenstaatliche Koordination der Kontrollen zu stärken.15 Weshalb heute das Bestimmungslandprinzip praktiziert wird. Der Fall Frankreichs Die derzeitige Konzeption der Mehrwertsteuer befindet sich offensichtlich in einer Sackgasse. Daher ist es sinnvoll zu fragen, welche Entscheidungen in sie hinein geführt haben. Erst daraus lässt sich erkennen, ob es politische Kräfte gibt, die wieder aus ihr herausführen. Hierfür bietet die Fiskalgeschichte Frankreichs wertvolle Einsichten. Frankreich war der erste Staat, der ein Mehrwertsteuersystem nach heutigem Muster eingeführt hat. Drei Entscheidungsstufen lassen sich unterscheiden.

14 Alternativ wurde vom Ifo-Institut unter der Leitung von Hans- Werner Sinn (2004) ein Verfahren unter dem Stichwort „erst zahlen, dann erstatten", entwickelt, nach dem Vorsteuern erst abgesetzt werden dürfen, nachdem die Mehrwertsteuer beim Fiskus eingegangen ist. Dies soll über ein Treuhandkonto oder im Bargeldverkehr mittels Steuermarken (ähnlich dem italienischen Scontrino-Modell vernetzter Registrierkassen) erfolgen. 15 vgl. Cnossen (2008).

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In einer ersten Stufe nach dem Ersten Weltkrieg begann Frankreich wie auch Deutschland, die Umsätze der Unternehmen mit einer allgemeinen kumulativen Allphasenbruttoumsatzsteuer zu belasten. Die Umsatzsteuern der beiden Staaten unterschieden sich aber in den Sätzen. In Frankreich lagen diese von Anfang an bei etwa 2 %, und in Deutschland nur zwischen 0,75 % und 2 %, in der Regel aber unter 2%. Darüber hinaus gab es Abzüge fur sozial sensible Güter. Folglich waren die Verzerrungen durch die kumulative Belastung aller Produktionsstufen in Frankreich größer und politisch brisanter als in Deutschland.16 Es wurde daher früher als in Deutschland nach Wegen gesucht, diese Verzerrungen zu vermindern. Im Jahr 1936 wurde in Frankreich die Allphasenbruttoumsatzsteuer (nebst vielen kleinen Verbrauchsteuern) abgeschafft und in einer zweiten Reformstufe durch eine Produktionsteuer mit weitgehendem Vorumsatzabzug der Inputs (und eine ergänzende Dienstleistungsteuer) ersetzt, also nach wissenschaftlicher Terminologie ein Ursprungslandprinzip mit Vorsteuerabzug eingeführt 17 . Die Kumulativwirkung war weitgehend eliminiert. Nach dem Krieg, ab 1948, ging die französische Finanzdirektion in einer dritten Stufe dazu über, bei der Produktionsteuer statt des Vorumsatzabzugs den Vorsteuerabzug von der eigenen Umsatzsteuer zuzulassen, und diesen ab 1954 auf die gesamten materiellen und finanziellen Vorleistungen und Investitionen auszudehnen. Das war die Geburtsstunde der dem Inspecteur des finances Maurice Lauré (1953) zugeschriebenen „taxe sur la valeur ajoutée". 18 Die zunächst nur für Großunternehmen zugelassene Steuer wurde später auf alle Unternehmen ausgedehnt. Während sich die erste politische Entscheidung, vom Allphasenbruttobesteuerungssystem auf eine Produktionssteuer mit Vorumsatzabzug überzugehen, aus dem nahe liegenden Allokationsgewinn erklären lässt, ist dies bei der zweiten Entscheidung, vom Vorumsatzabzug zum Vorsteuerabzug zu wechseln, nicht mehr ohne weiteres einsichtig. Die Produktionsteuer mit Vorumsatzabzug hätte ebenso wie die Steuer mit Vorsteuerabzug durchaus ausgebaut und auf alle Unternehmen ausgedehnt werden können. Es hätte des Übergangs auf den Vorsteuerabzug nicht bedurft. 19

16 Es ist freilich zu bedenken, dass die Kumulativwirkung nicht nur von der Zahl der Handelsstufen, sondern auch vom Umfang der belasteten und nicht belasteten Inputs abhängt ( Willgerodt 1958). 17 Demgegenüber sprechen die Finanzministerien vom Ursprungslandprinzip, wenn sie das Common Market Prinzip meinen, nach welchem alle Transaktionen unabhängig von den nationalen Steuersätzen wie Inlandtransaktionen abgerechnet werden. 18 Lauré unterscheidet zwischen dem System von 1936, mit „payments fractionnés", d.h. Steuern unter Abzug des steuerbefreiten Vorumsatzes auf jeder Stufe, und der ab 1948 durchgeführten „suspension de taxe": „chaque producteur acquitte maintenant la taxe sur le montant de ces ventes, déduction faite de celle déjà payée par ses fournisseurs". (Lauré 1953, S. 16; s. ebenso: Parlement Européen, Direction générale de la recherche 1995, S. 3). 19 Auch die These, dass eine allgemeine Mehrwertsteuer auf allen Gütern mit Vorumsatzabzug im wohlfahrtsökonomischen Sinne ineffizient wäre (z.B. Cnossen 2008 et al.), hält einer genaueren Analyse nicht stand. Vielmehr zeigt Homburg (2007, Kap. 8), dass eine Mehrwertsteuer nach dem Bestimmungslandprinzip zu einer Mehrwertsteuer nach dem Ursprungslandprinzip bei zwei Ländern, einem transportkostenfrei mobilen Gut, je einem nationalen Steuersatz, gleichen Produktionsfíinktionen, immobilen Produktionsfaktoren, Währungsunion und Wettbewerb äquivalent und in beiden Fällen effizient ist. Lockwood, de Meza und Myles (1994) zeigen darüber hinaus, dass Äquivalenz auch bei beliebig vielen Gütern und Faktoren, mit Transportkosten, mit gleichzeitig erhobenen Faktorsteuern mit

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Der vermutlich entscheidende Grund für den Systemwechsel wird aus zeitgenössischer Sicht von Schmölders (1956, S. 574) hervorgehoben. Es ist die mit dem Vorsteuerabzug möglich gewordene Entlastung der Exporte bei gleichzeitiger Belastung der Importe, während das Ausland vorläufig beim Status Quo der kumulativen Allphasenbruttoumsatzsteuer oder einer Variante davon verbleibt. Dies dient den Interessen der Export- wie der Inlandindustrie. Der Fiskus bleibt als dritter Beteiligter etwa gleich gestellt. Was er durch die Entlastung der Exporte verliert, gewinnt er durch die Belastung der Importe.20 Damit bestätigt sich die Theorie von Olson (1965), wonach kleine Produzentengruppen wie die Exporteure und Inlandproduzenten es leichter haben, ihre Interessen zu organisieren und diese in die Politik einzubringen als große Gruppen wie die Konsumenten, die sich bei der Geltendmachung ihrer Interessen durch das Freifahrerverhalten gegenseitig lähmen. Die Regierung nimmt dabei die Funktion eines politischen Maklers zwischen den organisierten Interessen wahr - die Konsumenten werden nicht gefragt. Weil die anderen Staaten durch diesen Schritt Frankreichs benachteiligt werden, haben sie einen Anreiz, ebenfalls zum Bestimmungslandprinzip überzugehen und so eine Kettenreaktion aller Staaten hervorzurufen. So lässt sich auch die nachfolgende Entwicklung in der Europäischen Union verstehen.21 Von Frankreichs Mehrwertsteuer zur Mehrwertsteuer der Europäischen Union In der Tat verwundert es nicht, dass die gleichen Interessen, die in Frankreich zur Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug führten, sich auch auf EU-Ebene durchsetzten, als es 1967 darum ging, ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem einzuführen.22 Sie wollten ein System mit Grenzausgleich, zumal dieses auch den durch die Öffnung zum Gemeinsamen Markt erzeugten Wettbewerbsdruck abfederte. Dabei blieb die Höhe der Steuerunvollständigem Wettbewerb und weiteren Verallgemeinerungen gilt. Somit lässt sich der Systemwechsel in Frankreich von einer allgemeinen Mehrwesteuer nach dem Ursprungslandprinzip zu einer solchen nach dem Bestimmungslandprinzip schwerlich aus Effizienzüberlegungen verstehen, sondern eher, wie im Text dargelegt, aus politisch-ökonomischen Interessen. 20 Auch Lauré nennt diesen Vorteil der von ihm vorgeschlagenen Mehrwertsteuer, obwohl er sich als Steuertechniker für die dahinter stehende politische Ökonomie nicht so sehr interessiert (Lauré, 1953, S. 23). 21 Einen Unterschied zwischen Ursprungs- und Bestimmungslandprinzip gibt es aber sehr wohl, wenn die Politiker die Mehrwertsteuer als spezielle Gütersteuer betrachten. Wohlfahrtsökonomisch ist unter dieser Annahme das das letztere Prinzip dem ersteren vorzuziehen; denn jedes Gut wird als Einzelfall betrachtet, dessen Anbieter die Steuerlast weder vor- noch zurückwälzen kann. Somit garantieren gleiche Nettopreise in beiden Ländern Produktionseffizienz, was unter dem Bestimmungslandprinzip gegeben ist. Homburg (2007, S. 315f.) zeigt, dass Regierungen, die unter Wohlfahrtsgesichtspunkten Produktionseffizienz anstreben, von sich aus ein Interesse haben, Importe in der Höhe der heimischen Steuer zu belasten und Exporte bis auf die Produktionskosten steuerlich zu entlasten, mithin das Bestimmungslandprinzip anzustreben. Auf diese Weise maximieren sie die Summe aus Konsumenternund Produzentenrente. Ob als Folge dieses Prozesses die Preise steigen oder fallen, ob also Produzenten oder Konsumenten davon profitieren, wird als politisch neutral betrachtet, solange nur die Renten insgesamt steigen. Gerade diese Annahme scheint mir aber unplausibel. Es kommt in der Politik sehr darauf an, wer die Renten erhält. Deshalb wird oben ein politisch-ökonomischer Ansatz gewählt, bei dem explizit gemacht wird, welche Gruppen profitieren. 22 Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11.4.1967, ABl. 071 vom 14.4.1967

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sätze in nationaler Autonomie. Dadurch konnte der dem Bestimmungslandprinzip eigene Schutzeffekt konsolidiert und mit jeder Steuersatzerhöhung ausgebaut werden. Demgegenüber waren wettbewerbliche Steuersenkungen unter den Mitgliedstaaten durch die kartellartige Festlegung der Mehrwertsteuermindestsätze nach unten begrenzt.23Dies alles begünstigte die kriechende Erhöhung der Mehrwertsteuersätze beispielsweise in Deutschland von ursprünglich 10% und 5 % auf heute 19 % und 7 %. Als es Mitte der 90er Jahre in der EU darum ging, die Übergangsregelung der Mehrwertsteuer in ein definitives Verfahren zu überführen, wurde nur noch das Vorsteuerabzugsverfahren diskutiert. Die Alternative des Vorumsatzabzugsverfahrens hatte von Anfang an keine Chance mehr.24 Der britische Berichterstatter beim Europäischen Parlament und frühere Abgeordnete, Ben Patterson, bedauert, dass er sich mit dem Vorumsatzabzugsverfahren nicht durchsetzen konnte. Es sei schade, dass dieses einfache und seiner Ansicht nach vorzugswürdige System nicht weiter verfolgt werde. Die jetzt angewandte Steuer trage ihren Namen „Mehrwertsteuer" eigentlich zu Unrecht; denn sie belaste gar nicht den geschaffenen „Mehrwert", die Produktion, sondern den Konsum. Wäre die Mehrwertsteuer tatsächlich eine Steuer auf dem Mehrwert, so wären die fragwürdigen Zu- und Abschläge beim Import und Export nicht erforderlich - sie wäre eine Produktionsteuer (Parlement Européen 1995, S. 12). Wenn am Ende dieses Prozesses die Regierungen aller Staaten das Bestimmungslandprinzip angenommen haben, dann werden dessen Promotoren erkennen, dass sie sich gegenüber einem Zustand, in dem alle dem Ursprungslandprinzip mit Vorumsatzabzug gefolgt wären, nicht besser stellen. Unter dem Bestimmungslandprinzip ist ihr Konsum teurer und ihr Realeinkommen daher niedriger geworden. Unter dem Ursprungsland lastet die Steuer ebenso auf ihnen, weil sie sich in den Faktorentlöhnungen niederschlägt und ihr Realeinkommen aus diesem Grunde niedriger ist. In der Tat lässt sich, wie Homburg (2007) und Lockwood, de Meza und Myles (2004) haben gezeigt, unter nicht allzu restriktiven Bedingungen von einer Äquivalenz zwischen dem Bestimmungslandprinzip und dem Ursprungslandprinzip im Rahmen einer allgemeinen, alle Güter betreffenden Mehrwertsteuer sprechen.25 Die Äquivalenz zwischen beiden Prinzipien wandelt sich zu einem eindeutigen Pro Ursprungsland, wenn weitere Argumente bedacht werden. Zum einen bedarf das Vorumsatzabzugsverfahren keines Grenzausgleichs, es handelt sich um eine Steuer in nationaler Autonomie, und zum anderen leistet jeder Steuerzahler durch seine Abgabe einen Beitrag für die bei seiner Produktion in Anspruch genommene staatliche Infrastruktur (Äquivalenzprinzip). Beim Bestimmungslandprinzip verhält es sich gerade umgekehrt und m.E. pervers: Die Konsumenten von Gütern, die im Ausland hergestellt worden 23 Richtlinie 77/388/EWG vom 17.5.1977, ABl. L 145 vom 13.6.1977. Zur politischen Ökonomik dieser sechsten Richtlinie s. insbesondere auch Vaubel (2003). 24 Für das Vorumsatzabzugsverfahren setzten sich vorgängig auch das so genannte Neumark Committee (1963), der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft (1986), Boss (1989) sowie Fehr, Rosenberg und Wiegard (1994) ein. Keines dieser Gremien und keiner dieser Autoren konnte die politischen Entscheidungen der EU beeinflussen. 25 Vgl. oben Fußnote 19.

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sind, leisten einen Steuerbeitrag an die Infrastrukturkosten der Güter, die im Inland hergestellt werden. Es findet eine Art Quersubventionierung statt und vice versa im Ausland. Allerdings findet der politische Prozess nicht von selbst zum Vorumsatzabzugsverfahren. Im Gegenteil, die dominante Strategie der Staaten, bzw. ihrer Regierangen besteht wie oben dargelegt zunächst darin, dass jeder Staat das Bestimmungslandprinzip annimmt. Es entsteht ein prisoners' dilemma zugunsten der allokativ vermutlich unterlegenen Lösung, was am Beispiel Frankreichs und der EU dargelegt worden ist.26 Allerdings gibt es Gegenkräfte. Je mehr die Anfälligkeit des Bestimmungslandprinzips auf Steuerhinterziehung beim Grenzausgleich evident wird, desto weniger werden die Verteidiger des Bestimmungslandprinzips und desto zahlreicher die Anhänger eines verlässlicheren Systems wie des Vorumsatzabzugsverfahrens. Andere von Wissenschaft und Politik in die Diskussion gebrachte Verfahren können diesbezüglich nicht überzeugen. Das von Deutschland und Österreich propagierte Reverse Charge Verfahren ist zu aufwendig und letztlich nicht hinterziehungssicher, andere Vorschläge zu zentralistisch {Crawford, Keen und Smith, 2008) und der Vorschlag von Cnossen (2008), mehr Kontrollen durchzufuhren, wenig anreizverträglich. Das Vorumsatzabzugsverfahren gewährt den EU-Mitgliedstaaten volle Steuerautonomie in der Konkretisierung der Bemessungsgrundlage wie in den Sätzen. Mehrwertsteuer bleibt ein nationales Problem und Mehrwertsteuerhinterziehung kann zusammen mit der Einkommensteuerhinterziehung verfolgt werden. Es bedarf nicht einer gesonderten Fahndungsbürokratie. Auch aus der Sicht des Äquivalenzprinzips ist das Vorumsatzabzugsverfahren folgerichtig. Es bezahlen jene die Steuer, die durch ihre Produktion öffentliche Infrastruktur in Anspruch nehmen, und nicht andere, die damit nichts zu tun haben. Nicht zuletzt werden die Finanzministerien erkennen und darauf drängen, mit dem Vorumsatzabzugsverfahren einen effizienten Wege der Steuererfüllung zu beschreiten, um zu den von ihnen dringend benötigten Einnahmen zu gelangen.

III. Erhöhung der Steuerehrlichkeit durch Repression (negative Anreize) Zum Instrument der Repression muss der Staat Zuflucht nehmen, wenn er zu wenig Vertrauen erwirtschaftet und infolgedessen drohend und strafend auftreten muss. Repression ist aber auch unvermeidlich, weil es auch im besten Staat Bürger gibt, die keine Steuern bezahlen wollen - folglich ist die Abwägung schwierig. In den traditionellen Modellen der Steuerhinterziehung wägt ein Individuum ab, ob es sich in seinem Fall angesichts der Drohungen des Staates eher lohnt, eine Steuer zu erfüllen oder zu hinterziehen. Wie es sich aus dieser Sicht am besten verhält, lässt sich an folgendem Beispiel ersehen (Abbildung 3).

26 Vgl. Fußnote 21.

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Abbildung 3: Das Gleichgewicht zwischen Steuerhinterziehung, Strafwahrschein lichkeit und Strafe

Kosten

Soll ich 10.000 Euro hinterziehen?

Ein Individuum überlegt, ob es einen fraglichen verdienten Betrag von 10.000 Euro verheimlichen soll oder nicht. Bei einem marginalen Steuersatz t von 50 Prozent beträgt der erzielte Einkommensgewinn der Verheimlichung 5.000 Euro. Die erwarteten Kosten belaufen sich bei einer Aufdeckungswahrscheinlichkeit von 50 Prozent und einem Strafsteuersatz s von 100 Prozent auf ebenfalls 5.000 Euro zusätzlich zur zu bezahlenden statutarischen Steuer von 5.000 Euro. Das Individuum befindet sich dann hinsichtlich seines Risikokalküls im Gleichgewicht und ist damit indifferent zwischen Verheimlichung oder Deklaration. Nimmt jedoch s mit der Höhe des verheimlichten Betrags zu, so überwiegen die erwarteten Kosten, und das Individuum wird von einer zusätzlichen Steuerhinterziehung absehen. Umgekehrt dürfte es sich bei Hinterziehungen in geringerem Umfang verhalten. Hier wird davon ausgegangen, dass die Kosten der Hinterziehung, d.h. das Produkt aus Aufdeckungswahrscheinlichkeit mal Strafsteuern, progressiv ansteigt und dass der marginale Steuersatz konstant ist. Das individuelle Gleichgewicht befindet sich bei ps = t.27 Ein Anstieg des Grenzsteuersatzes erhöht den Einkommensgewinn der Hinterziehung und befördert daher das Hinterziehungsverhalten, ps = t verschiebt sich nach rechts. Umgekehrt führen eine Zunahme der Prüfung und Fahndung und damit der Aufdeckungswahrscheinlichkeit, sowie erhöhte marginale Strafsteuern, zu einer Verringerung der Steuerhinterziehung, ps = t verschiebt sich nach links. Abbildung 3 stellt aber nur den ersten groben Zusammenhang dar. Jetzt geht es darum zu zeigen, durch welche Variablen p, s und t beeinflusst sein könnten. Diese Variablen werden im Folgenden näher betrachtet.

27 Eine formale Ableitung befindet sich bei Blankart (2008, 11. Kapitel), vgl. auch die dort zitierte Literatur von Rosen (1988, S. 339).

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1. Entdeckungswahrscheinlichkeit Im Jahr 2006 waren bei den deutschen Finanzämtern 2.568 Steuerprüfer und fahnder beschäftigt. Hinzu kommen bei der zentralen Fahndung rund 6.500 ehemalige Zollbeamte, die nach der Aufhebung der innergemeinschaftlichen Zollgrenzen in der Steuerfahndung eine neue Beschäftigung erhalten haben. Bei den Betriebsprüfungen entfielen im Jahr 2006 rund 20 Großunternehmer, 80 bis 100 kleine und mittlere Unternehmen und 480 Kleinstunternehmen auf einen Prüfer bei insgesamt 477.000 Untersuchungen (Feld 2008). Wichtig ist, ob die Entdeckungswahrscheinlichkeit mit zusätzlichem Einsatz von Prüfern steigt. In der schon erwähnten Studie von Weck-Hannemann und Pommerehne (1989) wird ein solcher Zusammenhang nachgewiesen. Daraus kann aber noch nicht geschlossen werden, es sollten mehr Fahnder eingesetzt werden. Es kommt darauf an, wie effizient eine solche Maßnahme ist, was sie im konkreten Fall zusätzlich kostet und was sie zusätzlich bringt. Dabei sollten die Steuerfahnder zwar schon auf die Größe des möglichen Fangs achten, darüber hinaus aber auch die daraus resultierenden Kollateralschäden des Verlusts an Vertrauen in den Staat und seine Institutionen beurteilen. Ich komme in Abschnitt III. 3 darauf zurück.

2. Einschätzung und Prognose des Risikos ρ Angenommen die Individuen kennen die in Abbildung 3 implizit dargestellte Wahrscheinlichkeit p, bei der Steuerhinterziehung entdeckt zu werden. Dann ist noch zu klären, wie sie dieses Risiko bewerten. Bisher ist angenommen worden, dass sie bei gegebenem Risiko Abweichungen nach oben wie nach unten gleich bewerten, also risikoneutral sind. Es könnte aber sein, dass sie mit zunehmendem Einkommen risikoscheuer werden, z.B. weil sie das Erreichte bewahren wollen, oder aber dass sie auch risikofreudiger werden, weil sie es sich leisten können. Die in der Graphik unterstellte Risikoneutralität stellt in Bezug auf das Einkommen eine mittlere Variante dar. Weiter gehen Kahneman und Tversky (1979) in ihrer „Prospect Theory". Sie fragen ganz allgemein, wie Individuen lediglich mögliche Ergebnisse im Vergleich zu eher sicheren Ergebnissen in einem Gesamtprozess von Aufbereitung und Evaluation analysieren und bewerten. Dabei finden die Autoren heraus, dass Individuen lediglich mögliche Ergebnisse eher unter- vergleichsweise sichere eher überbewerten mit dem Ergebnis, dass sie bei den ersteren eher risikofreudig und bei den letzteren eher risikoavers entscheiden. Damit wird die traditionelle Erwartungsnutzentheorie in manchen Teilen in Frage gestellt, und systematische Fehleinschätzungen sind nicht mehr auszuschließen. Was die Autoren in eine allgemeine Theorie gegossen haben, war in Fallstudien schon früher aufgezeigt worden. Am Beispiel von Erdbebenrisiken hat Kunreuther (1976) gezeigt, dass Individuen niedrige Risiken, die schwerwiegende Konsequenzen haben, nicht nur falsch, sondern systematisch zu niedrig bewerten. Menschen ziehen seiner Untersuchung zufolge in Erdbebengebiete, in denen das durchschnittliche Risiko von Erdstößen bekannt ist, glauben aber, dass sie persönlich nicht davon betroffen werden, was wiederum der Erwartungsnutzenhypothese widerspricht. Auch Steuerhinterziehungen können in manchen Fällen solche „low-probability-high-loss-risks" beinhalten, die

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demzufolge systematisch unterschätzt werden. Ein Individuum unterschätzt das Risiko, dass sein Schwarzgeldkonto einmal aufgedeckt werden könnte, oder es vertraut darauf, dass es, wenn es zu einer Razzia kommt, durchschlüpfen wird. Durch solche Fehleinschätzungen verschiebt sich die Risikokurve ps in Abbildung 3 nach rechts. Die Individuen hinterziehen mehr, obwohl dies eigentlich einem korrekten Nutzenkalkül widerspricht.

3. Politische Ökonomik der Steuerfahndung Steuerfahndungsbehörden haben im vergangenen Jahrzehnt bei der Verfolgung von Steuerhinterziehungsdelikten an Einfluss gewonnen. Über ihre Verfolgungstätigkeit hinaus haben sie indirekt die internationale Steuerpolitik beeinflusst. Drei Stufen lassen sich unterscheiden. (1) In einem strikten Rechtsstaat sind die Möglichkeiten der Steuerfahndung beschränkt. Der Staat wirbt für sich durch die Verlässlichkeit seiner Regeln, den Schutz der Privatsphäre und das dadurch generierte Vertrauen (vgl. oben Teil I). Folglich muss sich die Steuerfahndung weitgehend auf ihre eigenen Quellen wie die Daten der Finanzämter und des Zolles beschränken. Hinzu kommen beiläufige Informationen aus der Presse und Anzeigen missmutiger Bürger. Abbildung 4: Angebot und Nachfrage nach Daten im strikten Rechtsstaat und im ,lockeren Rechtsstaat' Geld t

Datenmenge Legende:

Si und Ni strikter Rechtsstaat; nachfragebeschränktes Gleichgewicht A

S2 und N2 „lockerer Rechtsstaat"; angebotsbeschränktes Gleichgewicht Β In Abbildung 4 drückt sich dies dadurch aus, dass die Grenzkosten der Datenbeschaffung, d.h. die Angebotskurve Si der Fahndung, unelastisch ist und steil nach oben verläuft. Zusätzliche Daten zu beschaffen, ist für die Regierung nicht nur kostspielig und

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daher von begrenztem Interesse, sondern es würden auch die Schranken des strikten Rechtsstaates überschritten. Die Menge beschaffbarer Steuerdaten ist durch den Rechtsstaat „nachfragebegrenzt". Von der Fahndung wird nur bereitgestellt, was die Regierung rechtlich korrekt nachfragen darf und nachfragen wird. Daher knickt die Nachfragekurve Ni am Punkt A senkrecht nach unten.28 (2) Mehr Daten werden von der Fahndung beschafft und der Regierung bereitgestellt, wenn diese den Rechtsstaat lockerer interpretiert. Seit dem Liechtensteinfall scheint diese Doktrin zunehmend zur Anwendung zu kommen. Einerseits sind heute legale, halblegale und illegale Daten auf dem Markt in großer Fülle erhältlich. Sie bewirken, dass die Angebotskurve in Abbildung 4 eine wesentlich elastischere Gestalt annimmt. Anderseits schreckt die Regierung im „lockeren Rechtsstaat" auch nicht davor zurück, Daten fragwürdiger Provenienz nachzufragen. Nachfrage N2 und Angebot S2 schneiden sich dann am Punkt B. Hier ist die Menge ist „angebotsbeschränkt". Für den konkreten Fall der Liechtensteiner Steueraffäre hat Ulrich Sieber vom Freiburger Max-Planck-Institut im Wesentlichen vier Eigentümlichkeiten herausgearbeitet, die - auf das vorliegende Modell projiziert - dazu beitragen, das Gleichgewicht vom Punkt A zum Punkt Β zu bewegen.29 1. Kriminelle Datenbeschaffung: Ein Angestellter der LGT-Bank verschaffte sich bei der Arbeit im Jahr 2002 illegal Kundendaten und bot diese später dem Bundesnachrichtendienst (BND) für über 4 Millionen Euro an. Damit machte er sich Sieber (2008) zufolge nach deutschem Recht „wegen der unbefugten Verwertung oder Mitteilung eines unbefugt verschafften Geschäftsgeheimnisses nach § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG strafbar".30 Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt. Ein Rechtshilfegesuch des Fürstentums Liechtenstein an die Bundesrepublik Deutschland mit dem Ziel, den Täter zu überfuhren, wurde gestellt, aber bisher nicht behandelt. Im Gegenteil, dem Täter wurde offenbar eine neue Identität verliehen, so dass er sich der Festnahme mit großer Wahrscheinlichkeit wird entziehen können. 2. Lockere Gewaltenteilung zwischen BND und Verwaltung: Dass der BND bei dieser Aktion Gesetze übertrat, braucht wiederum nach Sieber (2008) nicht ohne weiteres angenommen zu werden. Der BND darf illegal beschaffte Daten gegen Geld erwerben, soweit er „Vorgänge von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung" aufklärt, da ohne solche Befugnisse eine nachrichtendienstliche Aufklärung vor allem im Ausland kaum möglich wäre. Das bedeutet aber nicht, dass der BND die so erlangten Informationen im Inland an die Wuppertaler Steuerfahndung weitergeben darf. Hier soll eine „informationelle Gewaltenteilung" praktiziert werden, so dass die eine Hand (die Fahndung) nicht erfährt, was die andere (der BND) seinem spezifischen Auftrag zufolge erfahren hat. Diese Trennung ist offenbar nicht eingehalten worden.

28 Zugrunde liegt das Bürokratiemodell von Niskanen (1971), nach welchem die Bürokratie - hier in der Form der Fahndung - der Regierung eine Leistung anbietet und diese ihr dafür ein Budget gewährt. 29 Sieber (2008) und andere Quellen. 30 Durch das deutsche Strafrecht werden inländische wie ausländische Individualinteressen gleichermaßen geschützt.

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3. Beihilfe zu einer Straftat: Der Beamte des Fiskus hat die gestohlenen Daten vom Kriminellen nicht einfach entgegengenommen, sondern ihm hierfür (durch Vermittlung des BND) einen hohen Betrag bezahlt. Dies legt den Tatbestand der Beihilfe zur strafbaren Verwertung von Geschäftsgeheimnissen ( § 1 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG) nahe. Nur wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Fahndungsbeamte nicht wusste, dass es derzeit kein Gesetz gibt, das solche Zahlungen erlaubt, kann er wegen Verbotsirrtum nach § 17 StGB für einmal als entschuldigt erklärt werden. Ob es bei dem einzigen Mal bleibt, scheint eher unsicher. Denn ein neuer Fall wird nie deckungsgleich mit dem alten sein, so dass § 17 StGB möglicherweise erneut herangezogen werden kann. Jedenfalls gibt es heute schon Internetadressen, in denen für Tipps, die zur Ergreifung von Steuersündern führen, Belohnungen aus der Staatskasse versprochen werden.31 4. Verwendung von kriminell beschafften Daten: Schließlich stellt sich die Frage nach der gerichtlichen Verwertbarkeit der rechtswidrig erzielten Beweise. Sieber (2008) ist der Meinung, dass die beschafften Kontendaten nur bei schwerer Steuerkriminalität zur Verfolgung verwendet werden dürfen. Hingegen könnten nach Abwägung die indirekt, z.B. bei einer Hausdurchsuchung zusätzlich erlangten Beweisstücke vor Gericht verwendet werden. Die amerikanische „fruit of poisonous tree doctrine", nach der auch solche Beweisstücke nicht vor Gericht verwendet werden dürfen, wird in Deutschland offenbar grundsätzlich nicht anerkannt. Diese Frage steht derzeit noch offen. Sieber sieht insbesondere Punkt 3 (Beihilfe zur Straftat) als sehr problematisch an. Ob allerdings die verantwortlichen Beamten bestraft werden und wann, scheint unsicher. (3) Doch unabhängig von der konkreten Behandlung des Rechtsfalles der LGTDaten, der sich über Jahre hinziehen wird, hat die Offenlegung dieser Daten schon heute wichtige Auswirkungen für die Reputation von Finanzplätzen mit Bankkundengeheimnis. Deren Kunden können kriminelle Handlungen nicht mehr gänzlich ausschließen und uneingeschränkt darauf vertrauen, dass ihre Depots sich in Sicherheit befinden. Sie müssen u.U. neu disponieren. Regierungen der betroffenen Finanzplätze müssen ihre Strategie überprüfen. Dem helfen die Regierungen von Steuerfluchtstaaten (wie Deutschlands) durch Droh- und Verunsicherungspolitiken gegenüber den betroffenen Regierungen nach, z.B. durch -

die Schaffung neuer Steuertatbestände, indem bestehende Gesetze neu ausgelegt werden,

-

die Interpretation von Bankkundenberatung als Beihilfe zur Steuerhinterziehung und damit als Delikt,

-

die Ahndung solcher Beratung im Inland, möglicherweise aber auch im Ausland durch exterritoriale Anwendung des nationalen Rechts,

-

Beuge- und Untersuchungshaft von Verdächtigen und u.U. auch ihrer Bankberater mit dem Ziel, Geständnisse zu erwirken,

31 Derzeit wirbt das Unternehmen Steuerverrat GbR (www. steuerverrat.de)

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-

Retorsionsmaßnahmen auf anderen Gebieten der Außenwirtschaftspolitik wie z.B. durch Kapitalverkehrskontrollen oder Sicherstellungen und Belastungen im internationalen Warenverkehr gegenüber nicht „kooperationsbereiten Staaten",

-

Ersetzung strikter Regeln (z.B. im Umgang mit dem BND) durch Abwägungstatbestände.32

Das alles bewirkt, dass nicht nur die Banken des betreffenden Landes, sondern auch dessen übrige Industrien in Mitleidenschaft gezogen werden und die Regierung sich gezwungen sieht, bisher verweigerte steuerliche Informationen doch offen zu legen. Was „Offenlegen" genau bedeutet, wird Verhandlungssache sein: Von der heutigen Steuerstrafrechtshilfe aufgrund eines ausländischen Urteils und Strafbarkeit des Tatbestands in beiden Staaten über eine Amtshilfe unter Finanzämtern im Falle eines begründeten Verdachts des ausländischen Finanzamtes bis zur beidseitigen Online-Konto- und Depotabfrage durch die Finanzämter beider Staaten ist alles möglich. Typischerweise werden Verhandlungen erst nach einer strategischen Wartefrist aufgenommen. Im Abkommen selbst werden dann einige Punkte offen gelassen oder nur ungenau beschrieben („and the like"), so dass später bei Bedarf weitergehende Forderungen aufgestellt werden können. Bei diesen Drohkulissen ist zu bedenken, dass ein kleines Land im Falle von Retorsionsmaßnahmen in der Regel mehr zu verlieren hat als ein großes. Anderseits verliert auch ein großes Land an Verlässlichkeit und Vertrauenskapital. Schließlich darf aus all den spektakulären Erfolgen, die die Steuerfahndung in der jüngsten Vergangenheit erzielt hat, noch nicht der Schluss gezogen werden, dass die Steuerhinterziehung wesentlich eingedämmt worden ist. Betroffen werden möglicherweise kleinere Vermögen im grenznahen Ausland. Große Vermögen sind jedoch mobil; sie lassen sich weltweit platzieren.

4. Führen höhere Strafen zu geringerer Hinterziehung? Nach der jüngsten Liechtensteiner Steueraffare haben deutsche Politiker aller Lager eine Verschärfung des Strafregimes gefordert. Dem ist im Jahressteuergesetz 2009 teilweise nachgekommen worden. Im Wesentlichen stellt sich das deutsche Sanktionssystem wie folgt dar: -

Steuerordnungswidrigkeiten, d.h. leichtfertige Steuerverkürzungen werden nach Art. 378 AO mit maximal 50.000 Euro Strafe bei einer Veijährung nach 5 Jahren geahndet.

-

Steuerstraftaten, d.h. willentliche Falschangaben nach Art. 370 AO werden mit Bußzahlung bzw. Gefängnis bis zu 5 Jahren abhängig vom hinterzogenen Betrag, seit 2003 „in besonders schweren Fällen" auch „als Mitglied einer Bande" mit Freiheitsstrafen bis zu 10 Jahren bestraft. Veijährung erfolgt nach 5, neu nach 10 Jahren. Das Bußgeld steigt in Vielfachen von Tagessätzen entsprechend dem Tagesein-

32 Zusammenstellung aus verschiedenen Quellen der Tagespresse.

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-

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kommen des Straftäters. Als Faustregel gilt: Die Strafe folgt dem doppelten des hinterzogenen Betrages plus Steuernachzahlung.33 Für Steuerordnungswidrigkeiten und Steuerstraftaten zusammen wurden im Jahr 2007 1.603,8 Mio. Euro bestandskräftige Mehreinnahmen festgesetzt (1.433,6 im Jahr 2006). Diese verteilen sich auf 36.309 Fälle (35.666 Fälle 2006); d.h. 44.171 Euro pro Fall (40.195 Euro pro Fall 2006). Freiheitsstrafen wurden in der Höhe von 1.794 Jahren (2.226 Jahren 2006) verhängt.

Letztlich aber kommt es aber darauf an, ob die Meinung der Politiker, dass höhere Strafen die Steuerhinterziehung senken, gerechtfertigt ist. Feld, Schmidt und Schneider (2007) haben die Granger-Kausalität zwischen Schattenwirtschaft, Geldstrafen pro Untersuchung, Unternehmen pro Betriebsprüfung, Haftstrafen pro Untersuchung und Geldstrafen pro Untersuchung von 1974 bis 2001 analysiert. Im Ganzen zeigt sich, dass die Schattenwirtschaft einen Granger-kausalen Einfluss auf die Geldstrafen pro Untersuchung ausübt (politische Reaktion), dass aber die Hypothese, dass die Strafen pro Untersuchung keinen restriktiven Granger-kausalen Einfluss auf die Schattenwirtschaft ausüben (individuelle Reaktion) nicht zurückgewiesen werden kann. Somit scheint die These vieler Politiker, durch eine Verschärfung des Strafregimes die Schattenwirtschaft einzudämmen, verfehlt. Das alles spricht fürs erste nicht für ein Regime harter Strafen. Allerdings ist mit diesen Ergebnissen das letzte Wort noch nicht gesprochen. Einmal stellt die Schattenwirtschaft nur eine Proxy für die Steuerhinterziehung dar und zum anderen ist die neueste Entwicklung im Steuerstrafrecht in den untersuchten Daten noch nicht enthalten.

5. Steuersatz In den meisten empirischen Studien - so auch in der erwähnten Studie von WeckHannemann und Pommerehne (1989) - wird die intuitive Annahme bestätigt, wonach die Steuerhinterziehung mit steigenden marginalen Steuersätzen zunimmt, weil die absolute Risikoscheu mit steigendem Einkommen zurückgeht. Dahinter steht aber auch die Überlegung, dass Vielverdiener mit entsprechend hohem Grenzsteuersatz mehr hinterziehen als Wenigverdiener, weil der Einspareffekt bei hohem Einkommen größer ist und weil sie es sich leisten können.34 33 Faustregel der Bochumer Staatsanwaltschaft. Bei Kooperation mit der Fahndung werden Abschläge gewährt. Bei so genannten „Schwarzen Fonds", über die keine Bilanzen veröffentlicht werden, sollen die Steuern angeblich bis zu 90 % des eingesetzten Kapitals ausmachen, wozu noch der doppelte Betrag der Strafe kommen soll, was allerdings höchstrichterlich noch nicht bestätigt ist. Alle Angaben nach Informationen von „Der Spiegel", Nr.26 vom 23.6.2008. S. 55 und ergänzenden Informationen, die dem Autor von Frau Barbara Schmid vom Spiegel zur Verfügung gestellt worden sind. - Selbstanzeigen wirken nicht mehr strafbefreiend, sondern seit 2003 nur noch strafmildernd 34 Die unmittelbar intuitive Annahme lautet, dass ein Individuum sich mehr riskante Positionen leisten kann, wenn sein Bruttoeinkommen steigt. Nicht ganz klar ist, wie das Individuum auf eine Steuererhöhung reagiert. Die Steuererhöhung macht es dem Grundmodell von Allingham und Sandmo (1972) folgend vergleichsweise ärmer, weshalb es nach obiger Annahme weniger zu hinterziehen geneigt ist. Der Einkommenseffekt ist hier negativ. Gleichzeitig vermindert sich die Differenz zwischen Strafsteuer- und statutarischem Steuersatz mit steigendem Einkommen, so dass das Individuum einen An-

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Hier soll jedoch daraufhingewiesen werden, dass bei Ersparnissen nicht einfach vom Spitzensteuersatz laut Einkommensteuertarif ausgegangen werden kann. Bei gegebenem statutarischem Spitzensteuersatz steigt nämlich der effektive Spitzensteuersatz umso mehr an, je länger ein Individuum spart. Frühkonsumierer werden sehr viel weniger besteuert als Langsparer. Das liegt an der zusätzlich zur (Arbeits-)Einkommensteuer erhobenen Zinssteuer. Diese wird statutarisch pro Jahr berechnet, was aber bei einer Planungsperiode von z.B. 40 Jahren willkürlich ist und den Kumulativeffekt zur Folge hat. Rose und andere haben anschaulich darauf hingewiesen, wie abträglich die jährliche Zinssteuer für Kapitalbildung und Wirtschaftswachstum ist.35 Ähnlich dürfte sich die Zinsbesteuerung auch auf die Steuerhinterziehung auswirken. In der nachfolgenden Tabelle 2 ist die Situation eines jungen Sparers dargestellt, der zunächst einmal nur für ein Jahr spart. Es gelten die Einkommensteuer zum Spitzensteuersatz plus Solidaritätszuschlag und die Abgeltungsteuer plus Solidaritätszuschlag. Zum Vergleich wird ein Beispiel für den Spitzensteuersatz für die Stadt Zürich berechnet, wo alle Einkommen zur Einkommensteuer von Gemeinde, Kanton und Bund belastet werden. Tabelle 2: Steuerbelastung eines Sparers, der von seinem Bruttolohn 10.000 Euro für ein Jahr beiseite legen möchte Zinssatz 4 %

Deutscher / Schweizer

2008 zur

Verblei-

Verzinst

Steuer-

Ver-

Steuersatz

Ersparnis

ben nach

zu 4 %

abzug

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steigt

26,4 % / 34,4 %

zum

von....auf

vorgesehe-

Steuer-

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abzug von

einem Jahr

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10.400

10.400

Einkom-

47,5%/

Steuerzahler

mens

34,4 %

Ohne Steuer

10.000

Einkommen-

10.000

steuer Kapitalertragsteuer bereinigte Einkommen-

5.250

5.460

10.000

6.560

6.822

10.000

5.250

5.460

10.000

6.560

6.560

Kon-

55

5.405

47,5—>48,0

90

6.732

34,4—>35,3

5.460

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6.822

34,4—>34,4

6.822

steuer

Erläuterung: Kursiv: Deutschland, nicht kursiv: Schweiz Quelle: Eigene Darstellung

reiz, hat zur Steuerhinterziehung überzugehen. Dieser Substitutionseffekt wirkt dem Einkommenseffekt entgegen und wird bei hinreichender Annäherung der beiden Steuersätze die Steuerhinterziehung stimulieren und den Einkommenseffekt möglicherweise übertreffen, so dass die intuitive Annahme durchschlägt, was bei den hohen Steuersätzen, die den nachfolgenden Beispielen zugrunde liegen, nicht unplausibel scheint (vgl. auch die generelle Diskussion bei Sandmo 2005). 35 Gress, Rose und Wieswesser (1998).

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Von den genannten 10.000 Euro, die ein Individuum verdient, versteuert und auf die Seite gelegt hat, bleiben ihm in Deutschland nach Einkommen-, Abgeltungsteuer und Solidaritätszuschlag noch 5.405 Euro. Schon eingeschlossen sind hier die Steuern auf das Zinseinkommen, die die Belastung von 47,5 % auf dem Arbeitseinkommen auf insgesamt 48,0 % anheben. Dies stellt eine zunächst geringfügige Zusatzlast im Vergleich zur kapitalertragsteuerbereinigten Einkommensteuer dar, bei der Zinsen nicht belastet werden. In der Schweiz wird der gleiche Effekt wirksam, aber die anfängliche Belastung ist niedriger. Tabelle 3: Steuerbelastung eines Sparers, der von seinem Bruttolohn 10.000 Euro über 40 Jahre beiseite legen möchte Zinssatz 4 % Deutscher /

Schweizer Steuerzahler

2008 zur Ersparnis vorgesehener Teil des Einkommens

Verbleiben nach Steuerabzug von 47,5 % /

Verzinst zu 4% nach 40 Jahren

34,4 %

Steuerabzug 26,4%/

Verfügbar zum Konsum

Steuersatz steigt von....auf

34,4 %

48.010

Ohne Steuer

10.000

Einkommensteuer

10.000

5.250

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47,5—>65,1

10.000

6.560

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13.008

18.487

34,4—>61,5

10.000

5.250

25.205

25.205

47,5-+47.5

10.000

6.560

31.495

31.495

34,4—»-34,4

Kapitalertragsteuer bereinigte Einkommen-

48.010

Steuer

Erläuterung: Kursiv: Deutschland, nicht kursiv: Schweiz Quelle: Eigene Darstellung Die Belastung ändert sich erheblich, wenn der betrachtete junge Sparer mit Blick auf sein Alter und seine Hinterbliebenen auf 40 Jahre plant. Zwar verzinsen sich die nach Steuer angelegten 5.250 Euro beträchtlich. Aber durch die alljährliche Besteuerung werden nicht 25.205 Euro (ohne Zinssteuer), sondern lediglich 16.757 Euro (mit Zinssteuer) erreicht, also nicht einmal ein Fünftel von dem, was ein Sparer erreicht, der seine 10.000 Euro gleich zu Beginn beiseite schafft und steuerfrei im Ausland anlegt. Durch die Zinsbesteuerung steigt die anfängliche Steuerbelastung von 47,5 % auf 65,1 %. Im Vergleich dazu stellt sich der Schweizer Sparer bei Steuererfüllung in der Gesamtbelastung trotz seiner niedrigeren Ausgangsbesteuerung nur wenig besser; denn seine Zinsen unterliegen der progressiven Einkommensteuerbelastung, während der Deutsche mit der niedrigeren Abgeltungsteuer etwas günstiger fahrt. Für Deutschland ist im Weiteren noch die derzeitige Erbschaftsteuer dazuzurechnen, falls der Sparer seine Hinterbliebenen begünstigen will. Diese Steuer kann je nach Verwandtschaftsgrad und Geldsumme bis zu 50 % betragen. Das bedeutet, dass die Belastung des deutschen Sparers auf 83 % ansteigt, ihm also im Vergleich zu einer Anlage

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des unversteuerten Einkommens im Ausland nur 17 % verbleiben. Es leuchtet ein: Steuerhinterziehung wird unwiderstehlich. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Beides, Vertrauen in den Staat wie auch Strafen sind Voraussetzungen, dass Individuen Steuern bezahlen. Über das bestmögliche Mischungsverhältnis der beiden lässt sich streiten. Aber es lassen sich Fälle herausarbeiten, in denen dieses Mischungsverhältnis mit großer Wahrscheinlichkeit verfehlt wird. Bei der Zinsbesteuerung, die hier exemplarisch angeführt wird, sind -

bei langfristiger Anlageplanung die Steuersätze extrem hoch und die Steuerhinterziehung daher kaum zu unterdrücken,

-

hinterzogene Zinserträge sind nur schwer erkennbar,

-

die Mittel zur Fahndung und Unterdrückung der Steuerhinterziehung infolgedessen unverhältnismäßig hoch,

-

die Wachstumsverluste wegen Demotivierung des Sparens bei erfolgreicher Durchsetzung der Zinsbesteuerung entsprechend groß,

-

manch spektakulärer Erfolg bei der Steuerfahndung dazu geeignet, das Vertrauen des Bürgers in den Staat schmälern und die Steuererfüllung weiter zu untergraben, wenn dieser mit rechtsstaatlich fragwürdigen Mitteln erzielt worden ist.

Das alles lässt die Frage aufkommen, ob sich die steuerliche Verfolgung der Langfrist-Sparer wirklich lohnt oder ob nicht ein großes Missverhältnis von Nutzen und Kosten besteht und ein neues Steuerdesign vonnöten ist. Mit der 2009 eingeführten Abgeltungsteuer ist ein erster Schritt in die m.E. richtige Richtung vollzogen worden, weil die Steuersätze auf Zinsen für viele Sparer etwas gesenkt wurden.36 Aber das dürfte, wie die obigen Modellrechnungen belegen, noch lange nicht ausreichen, um die Steuerhinterziehung zum Verschwinden zu bringen. Weitere Schritte sollten folgen.

IV. Schlussfolgerungen: Bessere Institutionen, weniger Repressionen Erstens wird in diesem Aufsatz davon ausgegangen, dass Steuerzahlung nicht einen moralischen Akt, sondern eine ökonomische Entscheidung darstellt. Zu fragen ist: Weshalb erwägen so viele Menschen, ihre Steuern zu hinterziehen? (Tabelle 1) Wären alle Menschen mit dem Staat völlig zufrieden, so könnte die Steuererfüllung wesentlich höher liegen, wenngleich das Ideal einer Steuererfüllung von 1 schwerlich erreichbar ist. Doch die Realität ist weit von 1 entfernt. Daher stellt sich die Frage: Wie können die Entscheidung über Steuern und das Design von Steuern verbessert werden, um die Individuen zu einer höheren Steuererfüllung zu motivieren? Einiges könnte die direkte Demokratie leisten, anderes wäre über den vermehrten Einsatz von Objekt-, statt Subjektsteuern sowie der Übergang vom Bestimmungsland- zum Ursprungslandprinzip vermutlich zu erreichen. Durch glaubwürdigere Steuern könnte auch die Reputation des Staates gegenüber den Steuerzahlern gestärkt werden. Hier gilt es das Äquivalenzprinzip zu

36 Die gleichzeitig eingeführte Besteuerung der Kursgewinne auf Wertpapieren wirkt demgegenüber in die umgekehrte Richtung.

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bedenken. Wo eine Gegenleistung sichtbar ist, da wird die Steuer einsichtig und auch eher bezahlt. Zweitens erweist sich die Repression durch Fahndung und Bestrafung als ein zwar notwendiges, aber vergleichsweise stumpfes Schwert. Repression kann die Einstellung der Bürger zum Staat nicht verbessern und sie so zur Steuerzahlung bewegen. Im Gegenteil, manche neue Praktiken der Beweisbeschafftmg sind dazu geeignet, das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat zu unterhöhlen, statt zu stärken. Insbesondere kann Unsicherheit über den Rechtsstaat die Steuerhinterziehung begünstigen. Kontraproduktiv für die Steuererfüllung ist es auch, solche Einkommen mit hohen Sätzen zu belasten, die sich relativ leicht hinterziehen lassen und die Fahndung zur Repression gerade bei diesen Steuern besonders intensiv einsetzen. Vielmehr gilt es, hier auszutarieren, um mit beschränkten Mitteln eine möglichst hohe Steuererfüllung zu erreichen. Beispielsweise könnten reine Zinsen, d.h. Entschädigungen, für die Bereitschaft, erst später zu konsumieren, gar nicht oder jedenfalls sehr viel niedriger besteuert werden. Denn die faktischen Steuersätze der Zinssteuer liegen insbesondere für Langfristsparer weit über den statutarischen Steuersätzen. Mit gezielten Steuerbefreiungen würde einem großen Teil der Steuerhinterziehung der Wind aus den Segeln genommen. Andere Steuern auf das Kapital sollten möglichst vor Ort vorgenommen werden, wo auch die verursachten Kosten anfallen und die Steuererfüllung höher ist.

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Wege zu mehr Steuerehrlichkeit

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Zusammenfassung Warum bezahlen Individuen Steuern? In erster Linie weil und insoweit sie Vertrauen in den Staat haben. Vertrauen bildet sich aus der Art, wie Steuern beschlossen werden. Gute Beschlüsse stabilisieren das Vertrauen in den Staat und generieren neues Vertrauen. So wirken Konsens und direkte Demokratie stärker forderlich auf die Steuererfüllung als repräsentative Demokratie. Aber auch von einem guten Steuerdesign können positive Anreize zur Steuererfüllung ausgehen. Umgekehrt können Steuern schon aus ihrer Konstruktion hinterziehungsgefährdet und so dem Vertrauen abträglich sein. So werden häufig Objektsteuern eher getragen als Subjektsteuern sowie Steuern nach dem Ursprungslandprinzip eher als solche nach dem Bestimmungslandprinzip. In zweiter Linie spielen Sanktionen eine Rolle. Denn auch im besten Staat gibt es notorische Freifahrer, die das Bezahlen von Steuern lieber ihren Mitbürgern überlassen, als sich selbst in die Pflicht zu nehmen. In der Verfolgung solcher Steuerhinterzieher muss sich auch der Staat an geltendes Recht halten. Sich auf fragwürdige Informationsquellen zu stützen, schmälert das für die Steuererfüllung notwendige Vertrauen. Es sollte pragmatisch vorgegangen werden. Regierungen sollten bei jeder Steuer abwägen, ob sich die erforderlichen Durchsetzungskosten gegenüber dem erzielten Steuerertrag, den Effizienzkosten und dem möglicherweise hingenommenen Vertrauensverlust die Waage halten. Bei der Besteuerung der Langfristsparer könnte die Balance schon heute ins Negative ausschlagen.

Summary: Towards a Better Tax Compliance Individuals pay taxes because they trust in government. Governments' adherence to the rule of law seems to increase trust and tax compliance. But the tax design also influences tax compliance. Taxes for which the quid pro quo is not visible or which are not self determined by the citizenry are more likey to be evaded. VAT according to the origin principle fares better than VAT according the destination principle. Tax design should keep revenue in balance with enforcement costs, efficiency loss and citizen's trust in government. Questionable are extremely high tax rates, such as those on long term savings.

ORDO · Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Tobias Thomas1

Fragwürdige Luxussteuern: Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten in der Geschichte ökonomischen Denkens Inhalt I. Luxus, Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten - Eine Einführung II. Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten in der Geschichte ökonomischen Denkens 1. Seit 1500 - Die merkantilistische Schule 2. Seit 1756 - Die physiokratische Schule 3. Seit 1776 - Die klassische Schule 4. Seit 1840 - Die deutsche historische Schule 5. Seit 1871 - Die marginalistische Schule 6. Seit 1890 - Die neoklassische Schule 7. Seit 1899 - Die institutionalistische Schule 8. Seit 1906 - Die wohlfahrtsökonomische Schule 9. Seit 1958 - Die gesellschafts- und sozialkritische Bewegung III. Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten im ökonomischen Denken heute 1. Demonstratives Konsumverhalten und intrinsische Motivation Status als Erfüllung 2. Demonstratives Konsumverhalten und extrinsische Motivation Status als Instrument IV. Fazit Literatur Zusammenfassung Summary: Questionable Luxury Taxes: Status Seeking and Conspicuous Consumption in the History of Economic Thought

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1 Der Autor dankt Hans-Joachim Braun und Klaus W. Zimmermann (beide Hamburg) sowie zwei anonymen Gutachtern für wertvolle Hinweise und konstruktive Kritik.

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I. Luxus, Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten - Eine Einführung „Luxus ist jeder Aufwand, der über das Notwendige hinausgeht. Der Begriff ist offenbar ein Relationsbegriff, der erst einen greifbaren Inhalt bekommt, wenn man weiß, was das „Notwendige" sei" (Sombart 1913, S. 71). Nach Sombart gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, das Notwendige zu begreifen. Einerseits kann man das Notwendige subjektiv, zum Beispiel auf ethische oder ästhetische Vorstellungen gestützt, determinieren. Andererseits kann man versuchen, einen objektiven Maßstab zu finden. Hier führt Sombart (1913, S. 71) die physiologische Notdurft und die Kulturnotdurfit an. Erweist sich die physiologische Notdurft in entwickelten Volkswirtschaften als weniger geeignet, Luxusgüter abzugrenzen, so beinhaltet der Begriff der Kulturnotdurft alles, was in Bezug auf eine bestimmte Kultur als notwendig erachtet wird. Ob ein Gut als Luxusgut bezeichnet werden kann, hängt demnach vom sozialen Umfeld ab, in dem es konsumiert wird. Während der Begriff Luxusgut ein Gut bezeichnet, welches relativ zu den Konsumgewohnheiten der Bezuggruppe hochpreisig ist, bezieht sich der Begriff Statusgut auf den sozialen Rang, der mit dem Konsum des Gutes verbunden wird. Luxusgüter und Statusgüter sind somit generell keine Synonyme, in dem Fall, dass sich Status auf die wirtschaftliche Position eines Individuums in einer Gesellschaft bezieht, haben sie jedoch eine große Schnittmenge. Werden Statusgüter mit dem Motiv der sozialen Distinktion demonstrativ konsumiert, spricht der amerikanische Altinstitutionalist Thorstein B. Vehlen (1899) von conspicuous consumption. Luxus, Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten wurden in der Geschichte ökonomischen Denkens bis heute immer wieder unterschiedlich betrachtet. So wundert es nicht, dass die Antwort auf die Frage, welche Rolle der Staat im Hinblick auf statusbedingtes Konsumverhalten einnehmen soll, je nach Perspektive und historischem Hintergrund unterschiedlich ausfällt. Die Frage nach einem Staatseingriff auf dem Gebiet statusbedingten Konsumverhaltens kann hierbei in zwei Teilfragen untergliedert werden: Erstens ist die Frage zu klären, ob der Staat überhaupt eingreifen sollte und welche Ziele mit dem Staatseingriff verfolgt werden, und zweitens sollte geklärt werden, mit welchen Instrumenten das Ziel überhaupt realisiert werden kann. Eng verknüpft mit der ersten Teilfrage ist ein Ergebnis des vorliegenden Beitrags, dass innerhalb der ökonomischen Wissenschaft Statusstreben und Luxusgüterkonsum meist moralisch aufgeladen und mit verdecktem oder offenem Normativismus betrachtet wurden. Die zweite Teilfrage zielt auf eine Besonderheit der Nachfrage nach Luxusund Statusgütern. Werden Güter aus dem Motiv des Prestige- und Distinktionsstrebens konsumiert, so existieren interpersonelle Konsumeffekte und die Herleitung der Gesamtnachfrage erweist sich als wesentlich komplexer als die simplizistische Aggregation individueller Nachfragefunktionen. Der vorliegende Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Kapitel II zeigt, wie Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten in der Geschichte ökonomischen Denkens seit den Merkantilisten gesehen wurden. Kapitel III fokussiert auf aktuelle Ansätze und ordnet sie, bevor in Kapitel IV ein Fazit gezogen und die Besteuerung von Luxusgütern kritisch hinterfragt wird.

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II. Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten in der Geschichte ökonomischen Denkens Bereits in frühen Gesellschaften kannte man das Phänomen demonstrativen Konsumverhaltens, nur war es zumeist einer kleinen Minderheit elitärer Oberklassen vorbehalten. Diese Eliten fürchteten die stärkere Verbreitung eines Konsumverhaltens, welches auf einen ihnen ähnlichen Status hindeuten könnte und versuchten dieses imitierende Verhalten mit Hilfe von Gesetzen gegen übertriebenen Luxus {sumptuary laws) zu unterdrücken. Begründet wurden solche Gesetze allerdings nicht mit dem Schutzbedürfnis der Führungseliten vor Nachahmern, sondern mit der moralischen Verwerflichkeit eines solchen Konsumverhaltens. Sumptuary laws waren insbesondere im antiken Rom, im frühen Europa und in den Feudalherrschaften Chinas und Japans zu beobach-

1. Seit 1500 - Die merkantilistische Schule Hauptvertreter der merkantilistischen Schule sind Thomas Mun (*1571, fl641), William Petty (*1623, fl687) und James Steuart (*1712, 11780). Weitere wichtige Vertreter der merkantilistischen Schule sind Charles Davenant (*1656, "f" 1714) und Jean Baptiste Colbert (*1619, fl683). Für die Merkantilisten war Enthaltsamkeit und Sparsamkeit die Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft. Ein unproduktiver, da nichtinvestiver Luxusgüterkonsum breiterer Bevölkerungsschichten wurde hingegen als unvereinbar mit der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung einer Volkswirtschaft gesehen und zudem von Staat und Kirche häufig als moralisch oder religiös verwerflich geächtet. In Hinblick auf das Konsumverhalten der Führungseliten urteilte man hingegen wesentlich unkritischer. Letzteres wurde als untrennbare Verbindung von politischer beziehungsweise ökonomischer Macht und dem damit in natürlicher Weise verbundenen demonstrativen Konsum als unproblematisch gesehen. Einen konträren Standpunkt zum Mainstream der damaligen Zeit vertrat Bernard de Mandeville (*1670, i" 1733), der 1705 sein Gedicht The Grumbling Hive: or, Knaves Turn'd Honest veröffentlichte, welches 1714 in seinem Werk The Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits wieder erschien. Inhalt ist die These, dass egoistische, ökonomische Aktivitäten gleich welcher Art, also auch der Konsum von Luxusgütern, zu wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand einer Volkswirtschaft fuhren. Mandeville sieht Statusstreben, welches er in sämtlichen gesellschaftlichen Schichten beobachtete, somit als erwünschtes Motiv (Mandeville 1714, 1924, S. 17 ff.).3

2 Eine herausragende konzeptionelle wie historische Untersuchung zum Thema Luxus liefert Berry (1994). Für einen einführenden Überblick zum Thema sumptuary legislation siehe Vincent (1948). 3 Mandeville, der 1690 von Holland nach England emigrierte, stützte seine Thesen zum Teil auf Beobachtungen aus seinem Heimatland. Holland erlebte während des 17. Jahrhunderts ein goldenes Zeitalter wirtschaftlichen Erfolges, welcher eng mit dem Aufstieg der Handelsklasse und einer kräftigeren Verbreitung aufwendigen und demonstrativen Konsumverhaltens verbunden war. Die Thesen Mandevilles, der die Forderung von Staat und Kirche nach einem tugendhaften und nicht-egoistischen Ver-

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David Hume (*1711, f i 776) hingegen betrachtet Luxusgüterkonsum auf zwei Ebenen: der ökonomischen und der moralphilosophischen. Einerseits stimmt er der förderlichen Wirkung aufwendigen Konsumverhaltens für die wirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft grundsätzlich zu, unterscheidet aber zwischen zwei Formen eines solchen Verhaltens. Unbedenklich oder gar unschuldig sei die Zurschaustellung des eigenen Besitzes, wenn das dahinter liegende Motiv der Stolz auf den eigenen Besitz und das eigene Einkommen ist. Ist hingegen Eitelkeit das Motiv hinter dem demonstrativen Konsumverhalten, so sei das Verhalten moralisch verwerflich. (Hume 1739, 1896, S. 266) Auch zur Zeit der Merkantilisten versuchte man, dem aufwendigen Konsumverhalten breiterer Bevölkerungsgruppen mit sumptuary laws Einhalt zu gewähren. So erreichte die Phase der sumptuary laws in Europa ihren Höhepunkt im 17. Jahrhundert. Mit dem Aufstieg der Handelsklasse und der fortschreitenden Verbreitung demonstrativen Konsumverhaltens zunächst in Holland und später in England traten zusätzlich Finanzierungsziele der Besteuerung von Luxusgütem in den Vordergrund. So finden sich in der steuerhistorischen Literatur seit dem 17. Jahrhundert zahlreiche Beispiele für Steuern, die unter dem Oberbegriff der Luxussteuern subsumiert werden können. In England wurden unter anderem Steuern auf Fenster (1696), Karossen (1747) und Silbergeschirr (1756) erhoben (Wagner 1910, S. 208 f.). Die Besteuerung dieser Luxusgüter basierte allerdings weniger auf der Überlegung, den demonstrativen Konsum aufwendiger Güter zurückzudrängen, sondern vielmehr darauf, dass eine Einkommensbesteuerung im heutigen Sinn noch nicht möglich war. Allein aufgrund der vielen Naturalleistungen, mit denen Arbeiten und Dienste, aber auch die Nutzung von Land entgolten wurden, war man damals noch nicht in der Lage, eine Einkommenssteuer sinnvoll zu erheben. Folglich war eine Besteuerung von sichtbaren Anzeichen des Reichtums nichts Unvernünftiges. Die angeführten Besteuerungsgegenstände wurden somit als Ausdruck von Leistungsfähigkeit und damit als Anlass für eine Besteuerung im Sinne des Leistungsfahigkeitsprinzips gesehen. Die Kritiker Mandevilles wurden schließlich von der Realität eingeholt. Trotz verschiedener Versuche, den aufwendigen Luxusgüterkonsum breiterer Bevölkerungsschichten via Gesetz einzudämmen und trotz der Mahnungen zahlreicher Ökonomen dieser Zeit verbreitete sich der demonstrative Konsum mit dem Aufstieg der Kaufleute und Händler auch in England immer mehr, und der Markt für Luxusgüter und Mode begann zu florieren. Die Kommerzialisierung des Handels im England des 18. Jahrhunderts wurde zur Geburtsstunde der Konsumgesellschaft. 4 Die Koinzidenz einer aufstrebenden Handelsklasse, wirtschaftlicher Prosperität und der damit verbundenen zunehmenden Verbreitung aufwendigen Konsumverhaltens falsifizierte die Hypothese, dass

halten als pure Heuchelei ansah, empörten das Establishment derart, dass seine Schriften im Jahre 1723 in England zum öffentlichen Ärgernis erklärt wurden (Mason 1998, S. 6). 4 Die beobachtbare Entwicklung kann auch in Verbindimg mit der Hypothese Max Webers (1904/05) gesehen werden, dass die protestantische Ethik und insbesondere ihre calvinistischen Wurzeln ein idealer Hintergrund für die Entwicklung des Kapitalismus in Webers Sinne sind. So hatte im Verlauf des 18. Jahrhunderts der Calvinismus, der im wirtschaftlichen Erfolg einen Indikator für die Prädestination der Menschen sieht, die Arbeitsmoral und -ethik in England maßgeblich beeinflusst und legitimiert.

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ausschließlich Enthaltsamkeit und Sparsamkeit zu Wachstum und wirtschaftlichem Erfolg fuhren könne (McKendrick, Brewer und Plumb 1985, S. 9 f.).

2. Seit 1756 - Die physiokratische Schule Sieht Hume den Konsum von Luxusgütern als moralisch verwerflich an, wenn er der persönlichen Eitelkeit dient, so hatten die Physiokraten diesbezüglich eine wesentlich pragmatischere Sicht. Quesnay (*1694, f 1774), neben Turgot (*1727, tl781) zentraler Vertreter der physiokratischen Schule, stellte in seinem Tableau Economique 1758 zum ersten Mal einen Wirtschaftskreislauf dar. Für die Physiokraten stand die technische Verbindung von Geld- und Güterströmen im Wirtschaftskreislauf im Zentrum ihrer Betrachtung. In diesem Wirtschaftskreislauf spielt die Landwirtschaft die entscheidende Rolle, auf die sich als Urproduktion sämtliche weitere Produktion zurückführen lässt (iQuesnay 1758, 1971, S. 336). Die Darstellung des Wirtschaftskreislaufs diente den Physiokraten vor allem aber auch dazu, nachzuweisen, dass letztlich alle Steuern auf die Grundeigentümer überwälzt würden, die mehr als das Subsistenzniveau verdienten und einer Besteuerung nicht ausweichen konnten. Deren Konsum aber wiederum wurde zu einem großen Teil als Luxus betrachtet. Er sollte deshalb durch die Alleinsteuer auf Grund und Boden zu Gunsten der Finanzierung nützlicher Staatsausgaben reduziert werden.

3. Seit 1776 - Die klassische Schule Der herausragende Vertreter der klassischen Schule ist Adam Smith (*1723, ΊΊ790). Weitere wichtige Vertreter der klassischen Schule sind David Ricardo (*1772, fl823), Thomas Malthus (*1766, fl834), Jeremy Bentham (*1748, fi832), Jean-Baptiste Say (*1767, f i 832), William Nassau Senior (»1790, f l 8 6 4 ) und John Stuart Mill (»1806, 1-1873). Adam Smith (1963, 1759, S. 545) attackiert in seiner Theory of Moral Sentiments die Ausführungen Mandevilles scharf. In The Wealth of Nations unterscheidet er zwischen legitimiertem Demonstrationskonsum, welcher dazu dient, den eigenen Status unter seinesgleichen aufrechtzuerhalten und verwerflichem, Luxuskonsum der durch Eitelkeit bedingt ist (Smith 1910, 1776, S. 351 ff.). 5 William Nassau Senior differenziert in seiner Outline of the Science of Political Economy zwischen drei Klassen von Gütern: Necessaries, Decencies und Luxuries. Während erstgenannte der Befriedigung physischer Grundbedürfnisse dienen, bezeichnen Decencies die Güter, die konsumiert werden müssen, um den individuellen Status in der Gesellschaft zu erhalten. Decencies dienen also der notwendigen und somit legitimen Unterscheidung sozialer Klassen. Mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der Individuen

5 Smith offenbart somit eine Sichtweise von ökonomischen Zusammenhängen, die seinerzeit nicht getrennt von moralphilosophischen Überlegungen betrachtet wurden. Dies verwundert allenfalls aus heutiger Sicht, denn die Moralphilosophie deckte zur Schaffenszeit Humes und Smiths eine Bandbreite von der Theologie über die politische Ökonomie bis hin zur Ethik ab. Smith wurde 1752 Professor fur Moralphilosophie an der Universität von Glasgow.

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werden die Decencies dem neuen Rang angepasst. Alle Güter, die wiederum nicht zu der Klasse der Necessaries und Decencies gehören, subsumiert Senior unter dem Begriff Luxuries {Senior 1836,1951, S. 36. f.). Ein weiterer, wenn auch nicht so prominenter Vertreter der klassischen Schule ist John Rae (* 1796, fl872). In seinem Hauptwerk Statement of Some New Principles on the Subject of Political Economy, Exposing the Fallacies of the System of Free Trade, and of Some Other Doctrines maintained in the „Wealth of Nations" (1834) setzt er sich, wie bereits der Titel offenbart, mit den Trugschlüssen von Adam Smiths Wealth of Nations (1776) auseinander. Sein elftes Kapitel Of Luxury widmet er hierbei ausschließlich dem aufwendigen Konsum von Luxusgütern und seinen Folgen (Rae 1834, 1965, S. 265 ff.).6 Luxusgüterkonsum ist in der Ökonomik Raes durch menschliche Eitelkeit motiviert. Rae beobachtet das Phänomen des Statusstrebens in allen gesellschaftlichen Schichten. Bei seiner Analyse unterscheidet er zwischen reinen Luxusgütern, die keinerlei Gebrauchsnutzen stiften, und gemischten Luxusgütern, die sowohl Gebrauchsnutzen stiften, als auch dem Statusstreben dienen. Unterschiede in der konkreten Ausprägung demonstrativen Konsumverhaltens in verschiedenen Ländern führt Rae auf die unterschiedliche Ausprägung der intellektuellen Stärke einerseits und den in der Gesellschaft vorherrschenden Altruismus andererseits zurück. Geographische und demographische Faktoren bestimmen wiederum das Ausmaß demonstrativen Konsumverhaltens. In ländlichen Regionen würde demonstratives Konsumverhalten eine relativ geringe Rolle spielen, da die Menschen in persönlichem Kontakt zueinander stehen und sich kennen. In Städten mit großer Einwohnerzahl hingegen nimmt aufgrund des unpersönlichen und anonymen Miteinanders demonstratives Konsumverhalten eine wichtigere Rolle ein.7 Gesamtgesellschaftlich besitzt Statusstreben nach Rae keine direkte Wohlfahrtswirkung, da die demonstrierte Besserstellung derer, die Luxusgüter konsumieren, immer Hand in Hand mit einer Schlechterstellung derer geht, die nicht konsumieren.8 Statusstreben besitzt aber sehr wohl Effekte auf die wirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft, deren Triebkräfte Kapitalakkumulation und Erfindergeist sind. Der aufwendige Konsum verhindert nun einerseits eine vermehrte Kapitalakkumulation. Andererseits regt er den Erfindergeist an, da ein Luxusgut zunächst zu hohen Kosten produziert und zu einem hohen Preis verkauft wird. Sinken die Produktionskosten dann aufgrund von Prozessinnovation, so können die nützlichen Produkte, wie mit Glas oder Seife ge6 Die intellektuelle Verbindung zwischen dem Werk John Raes und dem Werk Thorstein Vehlens hat immer wieder zu Mutmaßungen und Verdächtigungen geführt, Vehlen habe in seiner Theory of the Leisure Class Rae kopiert, ohne sich je auf ihn zu beziehen. So resümieren Edgell und Tilman (1991, S. 743): „As it was typical of Veblen not to cite other people's works, the precise degree to which he drew upon Rae's earlier and markedly similar discussion of conspicuous consumption must remain a matter of conjecture." Kann der konkrete Einfluss Raes auf Vehlen nicht eindeutig nachgewiesen werden, so kann doch konstatiert werden, dass beide entscheidende Zusammenhänge zwischen Statusstreben und demonstrativem Konsumverhalten sowie deren Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt betrachtet haben und: Rae tat dies 65 Jahre vor Veblen. 7 So zeigen sich bei der Argumentation Raes Residuen des Denkens in Bahnen der feudalistischen Gesellschaft, die zu seiner Zeit aber schon Vergangenheit war. 8 Somit findet sich bereits bei Rae die Sichtweise, der insbesondere Hirsch (1976) in seinen Social Limits to Growth wieder Nachdruck verleihen sollte. Siehe hierzu Abschnitt II.9.

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schehen, immer größeren Schichten zugängig gemacht werden (Rae 1834, 1965, S. 291 f.). Rae sieht in der verminderten Kapitalakkumulation den deutlich gewichtigeren Faktor, was ihn dazu bewegt, vehement für eine Staatsintervention zu plädieren. Darüber hinaus differenziert Rae, ähnlich wie Smith, zwischen legitimem demonstrativen Konsum, der dem Statuserhalt vor den Mitgliedern der eigenen Bezugsgruppe oder der eigenen Schicht dient, und illegitimen Konsum, der dem individuellen Streben nach höherem Status dient. Mit Verweis auf die Erfahrung des römischen Reiches argumentiert Rae, dass der illegitime demonstrative Konsum zu gesellschaftlicher Instabilität und somit zum Niedergang einer Volkswirtschaft führt (Rae 1834, 1965, S. 326 f.). Aufgrund der in mehrerlei Hinsicht destabilisierenden Wirkung demonstrativen Konsums plädiert Rae für ein ganzes Konzert von Staatsinterventionen: Erstens soll eine Steuer auf reine Luxusgüter ohne Gebrauchswert erhoben werden. Ähnlich wie Mill (1848, 1965) ist Rae hierbei klar, dass diese Steuer keinen Lenkungseffekt haben würde, da der Preis eines Luxusgutes einen Wert an sich darstellt.9 Er zielt vielmehr darauf, die Steuereinnahmen wohlfahrtsforderlich einzusetzen. Rae (1834, 1965, S. 369 ff.) empfiehlt zweitens, Investitionen in die einheimische Luxusgüterproduktion zu unterbinden und Importzölle auf ausländische Luxusgüter zu erheben. Drittens sollte für gemischte Luxusgüter mit Gebrauchswert der Wettbewerb gefordert werden, damit breitere Schichten in den Genuss neuer und nützlicher Produkte kommen. Neben der angeführten symptomatischen Behandlung aufwendigen Konsumverhaltens fokussiert Rae (1834, 1965, S. 265) insbesondere auf die Ursachen des demonstrativen Konsums, der menschlichen Eitelkeit. Garanten gesellschaftlicher Stabilität seien hingegen Moralität und eine strenge religiöse Erziehung (Rae 1834, 1965, S. 218).

4. Seit 1840 - Die deutsche historische Schule Wilhelm Roscher (»1817, fl894), Bruno Hildebrand (*1812, fl878) und Karl Knies (*1821, fl898) gehören zum älteren Zweig der deutschen historischen Schule. Hauptvertreter des jüngeren Zweiges sind Gustav von Schmoller (*1838, fl917), Georg Friedrich Knapp (*1842, f 1926) und Adolph Wagner (*1835, fl917). Roscher (1854) unterscheidet in seiner wirtschaftsgeschichtlich geprägten Betrachtung zwischen dem Luxusgüterkonsum „blühender Völker" und Luxusgüterkonsum in „verfallenden Nationen". In „blühenden" Volkswirtschaften diffundiert Wohlstand in breitere Schichten und ermöglicht dort den Konsum nützlicher Gütern, die zuvor nur einer pekuniären Oberklasse vorbehalten waren. Zusätzlich kann in „blühenden" Volkswirtschaften das Nacheifern breiterer Schichten seine motivatorische Wirkung entfalten und sich somit positiv auf die Produktivität auswirken (Roscher 1854, S. 416 ff.).

9 Im Hinblick auf Staatsinterventionen auf dem Feld demonstrativen Konsums luxuriöser Güter glaubt Mill (1848, 1965, S. 868 f.) in seinen Principles of Political Economy nicht, dass man mit Besteuerung von Luxusgütern deutliche Lenkungseffekte erzielen kann. Allerdings oder gerade deshalb sieht er in der Besteuerung von Luxusgütern eine hervorragende Möglichkeit, Steuereinnahmen zu generieren.

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Ein ausschweifender Luxuskonsum der Führungseliten in „verfallenden Nationen" hingegen, der auf dem Elend unterdrückter Klassen und Provinzen beruht, besitzt, laut Roscher (1854, S. 424 f.), einen „unklugen und unsittlichen Charakter" und sei daher abzulehnen. Die deutsche historische Schule erlebte mit Werner Sombart (*1863, 11941 ) eine kurze Renaissance. In seinem 1913 veröffentlichten Werk Luxus und Kapitalismus, welches ursprünglich unter dem Titel Liebe, Luxus und Kapitalismus erscheinen sollte,10 führt Sombart aufwendigen Luxusgüterkonsum auf den sexuellen Trieb zurück und verfolgt im Grunde einen behavioristischen Ansatz: „Sinneslust und Erotik sind letzten Endes ein und dasselbe. Sodass der erste Antrieb zu etwelcher Luxusentfaltung in der großen Mehrzahl aller Fälle gewiss auf irgendwelches bewusst oder unbewusst wirkende Liebesempfinden zurückzuführen ist. Deshalb wird überall dort, wo Reichtum sich entwickelt, und wo das Liebesleben naturgemäß und frei (oder frech) sich gestaltet, auch Luxus herrschen" (Sombart 1913, S. 73). Mit anderen Worten: Sind die finanziellen Möglichkeiten gegeben und verläuft das Liebesleben in einer Gesellschaft nicht in institutionellen und vorgeschriebenen Bahnen, sondern ist „frei (oder frech)", so wird die Anbahnung einer Partnerschaft eben auch mit dem Konsum von Luxusgütern unterstützt.11 Zusätzlich sieht Sombart in seinem fünften Kapitel Die Geburt des Kapitalismus aus dem Luxus im Luxus die Ursache für die Entwicklung eines Wirtschaftssystems hin zum Kapitalismus. Im Folgenden betont er mit Verweis auf Montesquieu und Mandeville die positiven Folgen des Luxusgüterkonsums und warnt inständig vor einer wertenden Haltung dem Luxus gegenüber {Sombart 1913, S. 133 f.).

5. Seit 1871 - Die marginalistische Schule Die Hauptvertreter der marginalistischen Schule sind William Stanley Jevons (*1835, 11882), Carl Menger (*1840,11921), Friedrich von Wieser (* 1851, |1926) und Eugen von Böhm-Bawerk (*1851, +1914). Ihre Vorläufer sind Antoine-Augustine Cournot (*1801, 11877), Johann Heinrich von Thünen (*1783, fl850) und Hermann Heinrich Gossen (*1810, fl858). Antoine-Augustine Cournot veröffentlichte 1838 sein Hauptwerk Recherches sur les principes mathématiques de la théorie des richesses. Cournot legte hiermit das Fundament einer mathematischen Entwicklung der Volkswirtschaftslehre, die auf den ersten Blick keinen Raum für kulturalistische oder behavioristische Erklärungsansätze bietet. Nach Cournots fundamentalem Nachfragegesetz wird die Nachfrage als Funktion des Preises dargestellt und die Nachfragefunktion „im allgemeinen" als kontinuierlich und fallend angenommen. Jedoch sieht Cournot (1838, 1924, S. 37) Ausnahmen: „Wir fügen einschränkend die Worte im allgemeinen hinzu. Tatsächlich gibt es Liebhabereien und Luxusgegenstände, die lediglich wegen ihrer Seltenheit und der aus ihr entspringenden Preiserhöhung gesucht werden."

10 Dies begründet Sombart (1913, S. VI) selbst in seinem Vorwort zu Luxus und Kapitalismus. 11 Es findet sich somit bereits bei Sombart die Sichtweise, die in aktuellen Signaling-Modellen vertreten wird. Siehe hierzu Abschnitt III.2.

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Dennoch fokussieren Cournot wie auch Jevons, Menger und Walras nicht auf interpersonelle Effekte im Konsum, sondern auf die Entwicklung einer neuen mathematischen Nutzentheorie. Zusammenfassend kann man konstatieren, dass obwohl die Vertreter der marginalistischen Schule die Existenz interpersoneller Effekte im Konsum anerkannten, sie diese doch als Sonderfall klassifizierten und als weitgehend irrelevant abtaten.

6. Seit 1890 - Die neoklassische Schule Hauptvertreter der neoklassischen Schule ist Alfred Marshall (*1842, |1924). Marshalls Haltung gegenüber interpersonellen Effekten der Nachfrage ist ambivalent. Marshall ist sich bewusst, dass es Streben nach Status und sozialer Abgrenzung immer gab und geben würde. Hinsichtlich der Bewertung folgt er weitgehend der moralphilosophischen Argumentation der klassischen Schule im Allgemeinen und John Rae im Speziellen. Marshall unterscheidet wie Rae zwischen legitimem Luxuskonsum, der dazu dient, seinen sozialen Rang zu sichern, und verwerflichem Luxus, der dazu dient, nach außen zu wirken und der dem wahren Status widerspricht. Marshall stimmt auch mit Rae überein, dass verwerflicher Luxusgüterkonsum die gesellschaftliche Ordnung gefährden kann. Obwohl Marshall (1890, 1920, S. 78 f.) in seinen Principles of Economics interpersonelle Effekte des Konsumverhaltens als empirisches Phänomen aufführt, ignoriert er diese bei der Entwicklung seiner Nachfragetheorie und verweist die Erklärung dieser Phänomene an andere, nicht-ökonomische Disziplinen. Dennoch sieht Marshall ebenso wie die Vertreter der klassischen Schule übertriebenes statusbedingtes Konsumverhalten als social waste an und plädiert für eine Lenkung eines solchen Verhaltens in wohlfahrtsforderliche Bahnen. Im Gegensatz zu den Ansätzen, demonstratives Konsumverhalten über sumptuary laws oder Luxussteuern einzudämmen, will Marshall das Statusstreben über eine Änderung der öffentlichen Meinung in eine wohlfahrtsforderliche Richtung lenken. Status soll nur demjenigen zuteil werden, der seinen Reichtum wohlfahrtsforderlich einsetzt. Nur sozial-verträgliches Verhalten soll gesellschaftlich anerkannt, wohlfahrtsschädliches Verhalten hingegen geächtet werden. Bezeichnenderweise lautet der Titel von Marshalls Beitrag The Social Possibilities of Economic Chivalry. Dort kommt Marshall (1907, S. 25-26) zu folgendem Schluss: „An endeavour should be made so to guide public opinion that becomes an informal Court of Honour: that wealth, however large, should be no passport to social success if got by chicanery, by manufactured news, by fraudulent dealing, or by malignant destruction of rivals ..."

7. Seit 1899 - Die institutionalistische Schule Einer der autoritativen Pioniere des amerikanischen Institutionalismus ist Thorstein Bunde Vehlen (* 1857, f 1929). Weitere Gründerväter des amerikanischen Institutionalismus sind John R. Commons (*1862, fl945) und Wesley C. Mitchell (*1847, fl948).

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Vehlen versteht Institutionen sowohl als organisatorische Ausprägung, als auch als allgemein akzeptierte Denk- und Verhaltensweisen.12 In The Theory of the Leisure Class. An Economic Study in the Evolution of Institutions, wendet Vehlen eine Art darwinistischer Evolutionstheorie analog auf die Entwicklung moderner industrieller Gesellschaften an.13 Vehlens Akteure handeln nicht aus einem rationalen und nutzenmaximierenden Kalkül heraus, sondern folgen Fundamentalinstinkten, die im Prozess der Sozialisation durch Institutionen im Sinne Vehlens kanalisiert werden. Handelt es sich bei den Instinkten um konstruktive Neigungen, die der Wohlfahrt einer Gesellschaft zuträglich sind, so wertet Vehlen sie positiv. Untergraben die Instinkte die Entwicklung der gesellschaftlichen Wohlfahrt, so wertet Vehlen sie negativ.14 Zu den positiven Instinkten zählt Vehlen unter anderem den Arbeitseifer instinct of workmanship und die menschliche Neugier. Unter dem instinct of workmanship versteht Vehlen das grundsätzliche Streben nach einer zielorientierten Gestaltung und Instrumentalisierung der Umwelt. Die menschliche Neugier wiederum ist Quelle technischen Fortschritts. Vehlens Instinkte sind hierbei nicht fix, sondern veränderlich. So kann sich bei veränderten Umweltbedingungen der instinct of workmanship in den instinct of sportsmanship wandeln. Die Umweltbedingungen sind jedoch, zumindest zum Teil, keine exogen gegebene Größe, sondern verändern sich mit dem technischen Wandel. Der instinct of sportsmanship kann sich auch zu seiner räuberischen Form, dem predatory instinct, wandeln. Ein weiterer negativ gewerteter Instinkt ist das pekuniäre Nacheifern pecuniary emulation. Im gesellschaftlichen Evolutionsmodell Vehlens läuft der soziale Wandel mehrstufig ab und mündet in eine Drei-Klassen-Gesellschaft. Ausgangspunkt ist eine Urgruppe, die auf Subsistenzniveau friedlich zusammen lebt und in der der produktive Instinkt des workmanship dominiert. Die Urgruppe entsteht hierbei durch natürliche Auslese. Veränderte Umweltbedingungen, beispielsweise aufgrund technischen Fortschritts, ermöglichen nun eine Produktion oberhalb des Subsistenzniveaus und soziale Differenzierung.

12 Zählt Vehlen allgemein akzeptierte Denk- und Verhaltensmuster zum Begriff der Institution, so wird der Begriff mit der weiteren Entwicklung der Institutionenökonomik zusehends enger gefasst. Bei James M. Buchanan (1975) reduziert sich das ökonomische Verständnis von Institutionen auf die ordnungspolitisch rationale Setzung von konstitutionellen Regeln. Dieses eingeschränkte Institutionenverständnis öffoet sich wieder mit Douglas C. North (1991, S. 97), der unter Institutionen formgebundene Institutionen wie Verfassungen, Gesetze und Eigentumsrechte, und formungebundene Institutionen wie Gebräuche, Tabus und Traditionen subsumiert. 13 Betrachtet man das Werk Vehlens in Bezug auf den Prozess gesellschaftlicher Evolution oberflächlich, so kann man schnell auf das Glatteis der Fehlinterpretationen geraten. In The Theory of the Leisure Class verweist Vehlen häufig auf ethnische Merkmale, von denen einige in einem Prozess gesellschaftlicher Evolution herausselektiert werden. Mit ethnischen Merkmalen meinte Vehlen allerdings keine genetischen Prädispositionen, sondern sozial gelernte Verhaltensweisen. Der Evolutionsprozess ist bei Vehlen also kein Selektionsprozess in einem genetisch-biologischen Sinne, sondern das darwinistische Gedankengebäude dient nur als Quelle einer Analogie. 14 Vehlen konnte seiner eigenen Forderung nach einer wertfreien Wissenschaft sowie seiner Verurteilung der Metaphysik nie gerecht werden. Unter anderen stellt Hill (1958, S. 136) fest, dass die Verwendung des Begriffs der Instinkte weniger angebracht, aber durchaus vorteilhaft fur Veblen war: „By this pedagogical maneuver, he ... could thus seemingly avoid the need to formulate his own ethical norms and make his value judgements explicit. Further, he could proceed without inquiring more deeply into human motives and the process of habituation."

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Bei einem Teil der Urgruppe dominiert weiterhin der instinct of workmanship. Aus dieser Gruppe entsteht die Arbeiterklasse, der nur ein Konsum knapp oberhalb des Subsistenzniveaus möglich ist. Die Kontrolle der materiellen Umwelt oder besser: der materiellen Zwänge steht hier im Vordergrund. Demonstrativer Konsum hingegen, und somit eine aktive Teilnahme am sozialen Wettbewerb, ist den Mitgliedern dieser Gruppe nicht möglich. Bei dem anderen Teil der Urgruppe rückt der kompetitive instinct of sportsmanship und seine pervertierte Form der predatory instinct immer mehr in den Vordergrund. Hier geht es nunmehr um die Kontrolle der sozialen Umwelt und nicht in erster Linie um die Bewältigung materieller Zwänge. Im sozialen Wettbewerb setzt sich diejenige Gruppe durch, deren institutionalisierte Verhaltensmuster sich im Umgang mit der Umwelt besser bewähren. So bilden sich zwei weitere Klassen heraus: die Mittelklasse und die Oberklasse. Die Mitglieder der Mittelklasse konsumieren im Gegensatz zur Arbeiterklasse bereits demonstrativ und versuchen hierbei das Konsumverhalten der Oberklasse zu imitieren. Um sich den demonstrativen Konsum leisten zu können, müssen sie allerdings ihre Zeit mit produktiver Tätigkeit verbringen. An der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie steht die Oberklasse. Bei den Mitgliedern dieser Gruppe dominiert der predatory instinct. Durch ihr ausbeuterisches Verhalten können sich die Mitglieder dieser Klasse zusätzlich zum demonstrativen Konsum leisten, demonstrativ Zeit zu verschwenden. Der demonstrative Müßiggang ist daher das konstitutive Merkmal der pekuniären Oberklasse.15 Der Begriff „demonstrativer Müßiggang" wird von Vehlen allerdings sehr weit gefasst. Er umschließt sämtliche Tätigkeiten, die nach Vehlen nicht-industriell und somit nicht-produktiv sind. Vehlen (1899, 1953, S. 21) nennt insbesondere vier Tätigkeitsfelder: „These upper-class occupations may be roughly comprised under government, warfare, religious observances, and sports." Wird Vehlens Werk häufig vordergründig als Kritik an gerade diesem unproduktiven und daher wohlfahrtsschädlichen Verhalten der Oberklasse, der leisure class, gesehen, so entpuppt es sich bei genauerer Betrachtung als wesentlich weiterreichende Systemkritik am amerikanischen Finanzkapitalismus im Allgemeinen und an der Institution des Eigentums im Speziellen, welche es ermöglicht, dass das wohlfahrtschädliche Verhalten der führenden Klasse reproduziert wird. Vehlen proklamiert daher den Systemwandel hin zu einer sozialistischen Gesellschaft technokratischer Prägung, an derer Spitze Techniker und Ingenieure stehen, die selbstlos, da von der Institution des Eigentums befreit, den technischen Fortschritt zum Wohle aller vorantreiben und die Arbeiterklasse paternalistisch anleiten.

8. Seit 1906 - Die wohlfahrtsökonomische Schule Neben Vilfredo Pareto (*1848, f i 923) ist Arthur Cecil Pigou (»1877, fl959) der herausragende Vertreter der Wohlfahrtsökonomik. Im deutlichen Gegensatz zu Marshall sind in den Augen von Arthur Cecil Pigou interpersonelle Nachfrageeffekte keineswegs vernachlässigbar. So unterscheidet Pigou zwischen Gütern, deren subjektiv wahrgenommener Nutzen mit dem zunehmenden 15 Insofern trifft der Titel des englischen Originals The Theory of the Leisure Class auch inhaltlich wesentlich besser als der deutsche Titel Die Theorie der feinen Leute.

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Konsum anderer Konsumenten zunimmt und anderen Gütern, deren subjektiv wahrgenommener Nutzen mit dem zunehmenden Konsum anderer Konsumenten abnimmt. Werden erstgenannte aufgrund des Motivs der Nachahmung konsumiert, so fußt der Konsum letztgenannter Güter hingegen auf dem Streben nach Abgrenzung. Pigou (1913, S. 20-21) betont somit die Relevanz interpersoneller Konsumeffekte. „The quantity of a distinction-bearing article that anyone demands at a given price depends, not merely on the price, but also on the extent to which it is 'the thing' to buy that article, and thus, indirectly upon the quantity that people in general are buying."

Pigou argumentiert weiter, dass, wenn interpersonelle Nachfrageeffekte vorliegen, die Herleitung der Gesamtnachfragekurve durch Aggregation individueller Nachfragefunktionen nicht zutreffend sei. Die Folgen interpersoneller Nachfrageeffekte für die Herleitung der Gesamtnachfrage und Wohlfahrtsanalyse seien dermaßen immens, dass die Aussagekraft der Marshallschen Modelle für große Gruppen von Gütern deutlich in Frage gestellt werden würden. „In circumstances of the kind just described, it is evident that... the demand (or supply) schedules of the separate sources that make up the market cannot be so represented, and cannot be simply added together to constitute the aggregated demand (or supply) schedule" (Pigou 1913, S. 21).

Pigou (1920) geht in seiner Betrachtung davon aus, dass der Konsum bestimmter Luxus- und Statusgüter wohlfahrtschädlich ist, da der Konsum von Gütern, die aufgrund ihrer Exklusivität gekauft werden, gerade eben den Wert dieser Güter im Hinblick auf ihre Exklusivität senkt. Es handele sich also um den klassischen Fall negativer externer Effekte, die mit Hilfe einer Pigousteuer internalisiert werden können. Eine Steuer auf Güter, die nur aufgrund ihrer Exklusivität konsumiert werden, könnte somit die Wohlfahrt erhöhen (Pigou 1920,1932, S. 226).

9. Seit 1958 - Die gesellschafts- und sozialkritische Bewegung Seit den späten 1950er Jahren und insbesondere seit den 1970er Jahren kamen vermehrt die Stimmen einiger Ökonomen auf, die die Konsumgesellschaft kritisch betrachten und die qualitativen Aspekten wirtschaftlichen Wachstums fokussieren. Hauptvertreter dieser gesellschafts- und sozialkritischen Bewegung sind John Kenneth Galbraith (*1908, f2006), Fred Hirsch (*1931, f1978) und Tibor de Scitovsky (* 1910, f2002). John Kenneth Galbraith, der in seinem Werk The Affluent Society (1958) die amerikanische Konsumgesellschaft kritisiert, vertritt die These, dass in einer Gesellschaft, in der die Grundbedürfnisse weitgehend befriedigt sind, die bisherigen Modelle der Konsumtheorie nur noch bedingten Erklärungsgehalt bieten. In seiner „Nachfragetheorie" einer Überflussgesellschaft werden soziale Bedürfnisse durch die Produzenten und ihre Produktwerbung kreiert. Hierdurch ist, so Galbraith, die Konsumentensouveränität deutlich in Frage gestellt. Galbraith (1958, S. 351) stellt fest, dass das beobachtbare Konsumverhalten in der amerikanischen Gesellschaft nicht zielführend für das Glück der Menschen ist. Er hingegen weiß, was für das Glück aller zuträglich ist und stellt es dem Leser frei, seine eigenen Vorstellungen dem anzupassen.16

16 In seinem Beitrag On the Methodology and Political Economy of Galbraithian Economics betrachtet Gérard Gäfgen das Werk Galbraiths kritisch, bemängelt neben methodologischen und konzeptionellen Schwächen insbesondere die suggestive Argumentationsweise sowie die Immunisierungsstrate-

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Auch Tibor de Scitovsky befürwortet eine stärkere Betrachtung der qualitativen Dimensionen des Wachstums und unterscheidet in seinem Werk The Joyless Economy The Psychology of Human Satisfaction (1976) zwischen joyless und joyful Konsum. Im ersten Teil seines Werkes stellt er gegen den ökonomischen Mainstream ein eigenes Alternativmodell auf. Hierzu wendet sich Scitovsky gegen die Theorie der offenbarten Präferenzen, auf der das klassische mikroökonomische Modell fußt, und spricht sich für einen Forschungsansatz entsprechend der psychologischen Verhaltensforschung aus. Grundsätzlich geht Scitovsky von der Sättigung menschlicher Bedürfnisse mit steigendem Ressourceneinsatz aus, jedoch führt er in seinem sechsten Kapitel zwei Ausnahmen an: einerseits die Bildung von Konsumgewohnheiten, denen nachzugehen keine Freude oder keinen Nutzen stiftet, deren Aufgabe jedoch Leid erzeugt, und andererseits statusbedingten Konsum, der nur dazu dient, den gesellschaftlichen Rang zu halten und welcher aufgrund der Anpassung des Anspruchsniveaus keinen Nutzen stiftet. Beide führen nun dazu, dass der Zusammenhang zwischen Konsum und Bedürfnisbefriedigung aufgelöst ist (Scitovsky 1976, 1992, S. 15 ff.). Ausgehend von seinem behavioristischen Modell greift Scitovsky (1976, 1992, S. 149 ff.) im zweiten Teil seines Werkes die amerikanische Konsumgesellschaft scharf an. Konsumgewohnheiten und Statusstreben führen dazu, dass Ressourcen nicht nutzenstiftend eingesetzt werden - die joyless economy ist die Folge.17 Die Sichtweise zweier sich parallel entwickelnder Wirtschaftssysteme innerhalb industrieller Volkswirtschaften vertritt Fred Hirsch. Der britische Finanzwissenschaftler österreichischer Herkunft differenziert in seinem 1976 veröffentlichten Werk Social Limits to Growth zwischen der material economy und der positional economy. Im material sector werden Güter produziert, die die Bedürfnisse der Konsumenten im konventionell-utilitaristischen Sinne befriedigen, wohingegen im positional sector Güter produziert werden, die Konsumenten aufgrund ihres Strebens nach Prestige und Status konsumieren. Nach Hirsch führt nun das wirtschaftliche Wachstum auf Basis der Entwicklung im material sector nicht nur zu einer Steigerung der Wohlfahrt, sondern auch zu einer Intensivierung des Wettbewerbs um Status innerhalb einer Gesellschaft. Mit fortschreitender Entwicklung einer Volkswirtschaft werden nun immer mehr Ressourcen aus der material economy abgezogen und in der positional economy eingesetzt. Da Statusstreben gesamtgesellschaftlich ein Nullsummenspiel ist und sich somit nicht positiv

gien Galbraiths und bezeichnet schließlich den Ga/èra/iAianischen Ansatz als „populär institutionalist thinking" und „vulgarized economics" (Gäfgen 1974, S. 730). Tatsächlich wendet sich Galbraith (1958, S. 350-351) zunächst selber gegen normative Aussagen, um dann Normativismus, was das eigene Werk betrifft, auszuschließen. Eine schließende Antwort auf die Frage, ob Galbraith damit wirklich einen drohenden Normativismusvorwurf entkräften kann oder das Gegenteil offenbart, wird an dieser Stelle - ganz im Sinne Galbraiths - dem Leser freigestellt. 17 Kritisch anzumerken bleibt, dass sich Scitovsky durch eine Abkehr von der Theorie der offenbarten Präferenzen die Tür zur argumentativen Beliebigkeit öffnet. Scitovsky weiß, besser als die Konsumenten selbst, welcher Konsum mit dem Ziel der Bedürfnisbefriedigung betrieben wird, welcher eine Folge von Konsumgewohnheiten ist und welcher eine Form statusbedingten Konsums darstellt. Nicht nur aufgrund dieses „Wissensvorsprungs", sondern insbesondere auch aufgrund der Absprache jeglicher Nützlichkeit der beiden letztgenannten Konsumkategorien muss Scitovskys Werk als normativ eingeordnet werden.

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auf die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt auswirkt, schlussfolgert Hirsch auf die „sozialen Grenzen des Wachstums" {Hirsch 1976).18 Ähnlich wie Galbraith sieht Scitovsky einen Ausweg aus dem Dilemma darin, dass die Gesellschaft lernt, die Ressourcen nutzenstiftend einzusetzen und ihr Konsumverhalten umzustellen. Scitovsky proklamiert die Abkehr vom aufwendigen Lebensstil, der auf Statusstreben und Konsumgewohnheiten basiert. Hierbei hofft er gegenüber Konsumenten und Ökonomen auf die Kraft seiner Argumente. Hirsch plädiert für eine Eindämmung der Aktivitäten im positional sector, was er in erster Linie durch eine Veränderung der moralisch-ethischen Vorstellungen in der Gesellschaft herbeiführen will. Den Mitgliedern der Gesellschaft soll nach Hirsch nahe gebracht werden, dass der soziale Rang gar nicht wichtig ist {Hirsch 1976, S. 179). Wie diese „Umerziehung" realisiert werden soll, lässt Hirsch jedoch weitgehend offen. Hatte die Gesellschafts- und Sozialkritik der späten 1950er und 1970er Jahre keinen direkten Einfluss auf das tatsächliche Konsumverhalten, so wurden ihre normativen Grundannahmen in der Folgezeit von zahlreichen Ökonomen weitergeführt und finden sich noch heute häufig in Modellen. Insofern kann das Wirken von Galbraith, Scitovsky und insbesondere Hirsch in Bezug auf die theoriegeschichtliche Entwicklung als durchaus erfolgreich in ihrem Sinne gewertet werden, was sich insbesondere in Abschnitt III. 1 zeigen wird.

III. Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten im ökonomischen Denken heute Obwohl seit Mitte des 20. Jahrhunderts statusorientiertes Konsumverhalten in Disziplinen wie der Marketingwissenschaft, die hierzu aus den Erkenntnissen diverser Quelldisziplinen, so der Psychologie und der Sozialpsychologie schöpfte, oder Sozialanthropologie, deren Programm die Erforschung menschlicher Handlungen und sozialer Beziehungen sowie ihrer kognitiven und kulturellen Bedingtheit beinhaltet, eine zunehmend zentrale Rolle spielten, fällt Statusstreben und demonstrativem Konsumverhalten innerhalb der ökonomischen Wissenschaft weiterhin eher eine Nebenrolle zu.19 Zwei Ausnahmen stellen die prominenten Beiträge von James Duesenberry und Harvey Leibenstein dar. Duesenberry, der interpersonelle Nachfrageeffekte nicht als einen Sonderfall, sondern als die zentrale Determinante des Konsumverhaltens betrach18 Hatte Galbraith noch versucht, sich gegen Normativismuskritik zu immunisieren, so lautet es in dem Klappentext der deutschen Übersetzung der Social Limits to Growth ganz offen: „Erst langsam hat sich die westliche Wirtschaftspolitik die Warnungen von Keynes zu eigen gemacht ... Sie betreibt Konjunkturpolitik zugunsten eines möglichst bruchlosen stetigen Wachstums des Bruttosozialprodukts. Ohne konkret zu fragen, was eigentlich wachsen soll und was besser nicht" (Hirsch 1976,1980, Klappentext). 19 Nach Douglas und Isherwood (1979, 2002), prominente Vertreter der Sozialanthropologie, dient Konsum in erster Linie dazu, die Zugehörigkeit des Konsumenten zu einer Gruppe zu symbolisieren. Auch Günter Schmölders Ansatz einer interdisziplinär ausgerichteten sozialökonomischen Verhaltensforschung ist grundsätzlich dazu geeignet, sich dem Phänomen statusbedingten Nachfrageverhaltens zu nähern. Siehe hierzu Das Prestigemotiv in Konsum und Investition, Demonstrative Investition und aufwendiger Verbrauch von Kreikebaum und Rinsche (1961) in den von Schmölders herausgegebenen Beiträgen zur Verhaltensforschung.

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tet, verschaffte mit der makroökonomisch ausgerichteten Analyse in Income, Saving and the Theory of Consumer Behavior (1949) dem Phänomen des Statusstrebens in der ökonomischen scientific community wieder breitere Aufmerksamkeit, während Leibenstein mit seinem Beitrag Bandwagon, Snob, and Vehlen Effects in the Theory of Consumers' Demand (1950) interpersonellen Konsumeffekten in gewisser Weise Anschlussfahigkeit an das mikroökonomische Standardmodell verschaffte. Neben dem Mitläufer- oder Bandwagon-Effekt, also der positiven Abhängigkeit der individuellen Nachfrage von der insgesamt nachgefragten Menge, und dem SnobEffekt, also der negativen Abhängigkeit der individuellen Nachfrage von der insgesamt nachgefragten Menge, beschreibt Leibenstein (1950, S. 203) einen weiteren Sonderfall des Nachfrageverhaltens, den er, wie er selbst betont, in Ermangelung eines besseren Begriffs Vehlen-Effekt nennt.20 Der Veblen-Effekt beschreibt, dass beim Konsum gewisser Gütern die Nachfrage positiv vom Preis abhängt, da sich Güter mit einem hohen Preis besser dazu eignen, via demonstrativem Konsum seinen Wohlstand anzuzeigen und so sozialen Status zu erlangen. Je nach dem, ob der klassische Preiseffekt oder der Veblen-Effekt dominiert, weist die Nachfragefunktion eine positive Steigung, eine negative Steigung oder abschnittsweise beides auf (Leibenstein 1950, S. 202 f.).21 Auch in aktuellen Beiträgen werden Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten in ökonomischen Modellen betrachtet. Hierbei lassen sich grundsätzlich zwei Modellgruppen unterscheiden: In der einen Modellgruppe stiftet Status „an sich" den Individuen Nutzen und ist somit intrinsisch motiviert. In der anderen Modellgruppe dient Status den Individuen als Mittel oder Instrument, einen anderen Zweck zu erreichen und ist somit extrinsisch motiviert.

1. Demonstratives Konsumverhalten und intrinsische Motivation - Status als Erfüllung In den Beiträgen von Frank (1985), Ireland (1994), Corneo und Jeanne (1997) nützt Status „an sich" den Individuen und geht direkt in die Nutzenfunktion ein. Das demonstrative Konsumverhalten ist in diesen Modellen also intrinsisch motiviert und kann daher als Erfüllung gesehen werden.22 Die Autoren differenzieren zwischen einem normalen Gut und einem Gut, welches der sozialen Distinktion dient. So unterscheidet Frank (1985, S. 101) zwischen positional und non-positional goods und bezieht sich dabei direkt auf Fred Hirsch (1976). Ireland (1994, S. 93) spricht von visible und non-visible goods, während Corneo und

20 Somit sorgte Leibenstein indirekt auch für den nach wie vor hohen Bekanntheitsgrad Thorstein B. Vehlens in akademischen Kreisen, denn der Veblen-Effekt ist noch heute häufig als Sonderfall in mikroökonomischen Lehrbüchern zu finden. 21 Auf mögliche positive Steigungen einer Nachfragefunktion aufgrund von Status- und Prestigeeffekten weisen auch Alcaly und Klevorick (1970) und Kaiman (1968) sowie später Corneo und Jeanne (1997) hin. 22 Auch Hopkins und Kornienko (2004) stehen in der Tradition dieser Beiträge und untersuchen die Auswirkungen von Veränderungen der Einkommensverteilung auf das demonstrative Konsumverhalten.

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Jeanne (1997, S. 57) eine begriffliche Anleihe bei Thorstein B. Vehlen machen und conspicuous consumption betrachten. Der Status der Individuen wird in den Modellen über ihren Rang in der Einkommenshierarchie in der Bezuggesellschaft definiert. Hierbei kennen Individuen zwar ihr eigenes Einkommen, können jedoch das Einkommen der anderen nicht direkt beobachten. Daher liegt eine Situation asymmetrischer Information vor. Die Individuen haben jedoch die Möglichkeit, demonstrativ zu konsumieren, um so ihren Wohlstand anzuzeigen. Die anderen Mitglieder der Gesellschaft schließen dann vom beobachtbaren Konsumverhalten auf das individuelle Einkommen zurück und weisen den Konsumenten ihren gesellschaftlichen Status zu. Im Gleichgewicht entsprechen sich Einkommenshierarchie und Hierarchie demonstrativen Konsums. Eine weitere Gemeinsamkeit der Modelle ist, dass die Autoren, Hirsch folgend, Statusstreben gesamtgesellschaftlich als Nullsummenspiel modellieren. Ein „Mehr" an Status des einen Individuums geht Hand in Hand mit einem „Weniger" an Status anderer Individuen. Somit ändert erhöhter demonstrativer Konsum den Statusnutzen auf gesellschaftlicher Ebene nicht. Demonstratives Konsumverhalten ist jedoch sehr wohl ressourcenaufwendig. Daher kommen die Autoren in ihrer Wohlfahrtsanalyse unisono zu dem Ergebnis, demonstratives Konsumverhalten sei wohlfahrtsmindernd und somit social waste. In modellogischer Folge empfehlen die Autoren einen Staatseingriff. Plädiert Frank (1985, S. 115) für die Einführung einer Pigou-Steuer mí positional goods, um externe Effekte auf andere Konsumenten zu internalisieren und das Verhalten in eine wohlfahrtsforderliche Richtung zu lenken, und schlägt auch Ireland (1994, S. 103 f.) eine Steuer auf Statusgüter vor, um die verzerrten Konsumpläne der Haushalte zu korrigieren und positive Wohlfahrtseffekte zu erzielen, so äußern sich Comeo und Jeanne (1997, S. 66 f.) im Hinblick auf einen Staatseingriff differenzierter: Ein Verbot demonstrativen Konsumverhaltens führt nach Corneo und Jeanne immer zu einem Anstieg der Wohlfahrt. Eine Besteuerung von conspicuous consumption führt hingegen nur eindeutig zu einem Anstieg der Wohlfahrt, wenn die Nachfragefunktion einen klassischen, fallenden Verlauf aufweist. Besitzt sie hingegen eine positive Steigung, so kann eine Steuer auf conspicuous goods auch zu einem Absinken der Wohlfahrt führen.23 Betrachtet man den Wohlfahrtsvergleich bei Frank (1985) und Ireland (1994) näher, kommen Zweifel auf. So vergleicht Frank (1985, S. 104) einen noncooperative case, in der individueller Status von dem Rang in der Hierarchie demonstrativen Konsums abhängt, mit einer cooperative case, in dem individueller Status direkt vom Rang in der Einkommenshierarchie abhängt, also das Einkommen allgemein bekannt ist und somit

23 Besonderheiten demonstrativen Konsumverhaltens im Hinblick auf die staatliche Einnahmengenerierung stehen im Zentrum der Betrachtung von Miller (1975) und Ng (1987 und 1993) So weist Miller (1975, S. 153) daraufhin, dass es sich bei Luxussteuern womöglich um eine excess burden freie Möglichkeit der Generierung von Steuereinnahmen handelt. Ng geht einen Schritt weiter und argumentiert, dass es sich bei der Besteuerung von diamond goods, die nur aufgrund ihres Wertes wertgeschätzt werden, um eine burden freie Möglichkeit der Einnahmengenerierung handele (Ng 1987, S. 186). Noch einen Schritt weiter geht Ng in einem späteren Beitrag, in dem er zeigt, dass die Nachfrage nach gemischten diamond goods eine positive Steigung aufweisen kann und darüber hinaus sogar ein negativer burden, mit anderen Worten ein benefit der Besteuerung möglich ist (Ng 1993).

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vollständige Information herrscht, und auch Ireland (1994, S. 99) bringt einen full information case als Benchmark in Anschlag. Dieser Vergleich ist jedoch unzulässig, da die Informationsstruktur innerhalb des Vergleichs gewechselt wird. Dass Demonstrationskonsum als Signal in einer Welt vollständiger Information nicht effizienzsteigernd wirken kann, ist weitgehend trivial. Corneo und Jeanne (1997, S. 65 f.) liefern hingegen einen zulässigen Wohlfahrtsvergleich mit konsistenter Informationsstruktur, kommen jedoch aufgrund der Nullsummenspielannahme zu ähnlichen Ergebnissen im Hinblick auf die Wohlfahrtswirkung demonstrativen Konsumverhaltens. Die Argumentation, demonstratives Konsumverhalten sei social waste, ist jedoch allenfalls eine Seite der Medaille conspicuous consumption. Das Motiv, demonstrativ zu konsumieren, liegt ja, wie sämtliche Autoren auch betonen, darin, den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den individuellen Wohlstand anzuzeigen, da dieser in einer Welt unvollständiger, da asymmetrischer Information nicht direkt beobachtbar ist. Signale können aber in einer Welt unvollständiger Information unter Umständen effizienzsteigernd wirken, auch wenn die Methode der Informationsübermittlung kostenaufwendig ist. Ist Statussignaling jedoch als Nullsummenspiel modelliert, so kann es auf gesellschaftlicher Ebene nicht wohlfahrtsfördernd sein, selbst wenn durch den demonstrativen Konsum Informationsasymmetrien abgebaut werden. Mit der Annahme, Statusstreben sei auf gesellschaftlicher Ebene ein Nullsummenspiel, folgen die Autoren implizit oder wie Frank (1985, S. 101) explizit dem Ansatz der Gesellschafts- und Sozialkritik der 1970er Jahre. Congleton (1989, insb. S. 176) bezweifelt hingegen in seinem Beitrag Efficient Status Seeking: Externalities, and the Evolution of Status Games, dass sich ineffiziente Statusspiele in einem Prozess hayekianischer Evolution in einer Gesellschaft durchsetzen würden.

2. Demonstratives Konsumverhalten und extrinsische Motivation - Status als Instrument In den Beiträgen von Bagwell und Bernheim (1996), Cole et al. (1995) und Haucap (2001) dient Status den Individuen als Mittel, einen anderen Zweck zu erreichen. Demonstratives Konsumverhalten ist in diesen Modellen also extrinsisch motiviert und kann daher als Instrument gesehen werden. Im Unterschied zu den Modellen in Abschnitt III. 1 geht Status nicht direkt in die Nutzenfunktion ein, sondern nützt den Akteuren auf andere Art und Weise: Wie bereits bei Sombart (1913, S. 73), dient demonstratives Konsumverhalten hier als Signal bei der Anbahnung von sozialen Kontakten oder Partnerschaften. Eine Partnerschaft mit einem Partner mit guten Eigenschaften nützt hierbei mehr als eine Partnerschaft mit einem Partner mit weniger guten Eigenschaften. Während Bagwell und Bernheim (1996, S. 353) sowie Haucap (2001, S. 247) allgemein den Nutzen aus sozialen Kontakten betrachten, nennen Cole et al. (1995, S. 13) sehr konkret die erhöhten Konsummöglichkeiten in einer Partnerschaft mit einem reichen Partner als Motiv. Wiederum sind den Individuen die eigenen Eigenschaften bzw. das eigene Einkommen bekannt, jedoch können sie die Eigenschaften bzw. das Einkommen potentieller Beziehungspartner nicht direkt beobachten. Daher liegt eine Situation asymmetrischer

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Information vor. Die Individuen haben allerdings auch hier die Möglichkeit, ihren Wohlstand durch conspicuous consumption {Bagwell und Bernheim 1996, S. 352 sowie Cole et al. 1995, S. 16) glaubhaft anzuzeigen.24 Potentielle Partner schließen dann vom beobachtbaren Konsumverhalten auf den Wohlstand eines Konsumenten zurück und entscheiden sich für oder gegen den Eintritt in eine Partnerschaft {Bagwell und Bernheim 1996, S. 354-355).25 Ein weiterer entscheidender Unterschied zu den Modellen im vorangegangenen Abschnitt ist, dass demonstratives Konsumverhalten nicht als Nullsummenspiel modelliert ist, so dass sich Raum für die Analyse der potentiell effizienzsteigernden Wirkung demonstrativen Konsumverhaltens öffnet. Fokussieren Bagwell und Bernheim (1996) wie auch Cole et al. (1995) jedoch nicht auf die Wohlfahrtswirkung demonstrativen Konsumverhaltens, so rückt Haucap (2001) diese ins Zentrum seiner Betrachtung. Vergleicht man die Wohlfahrtssituation in einer Welt asymmetrischer Information mit einer utopischen Welt vollständiger Information, so liegt bereits ein (hypothetischer) Wohlfahrtsverlust vor. Demonstratives Konsumverhalten als Signal ist nun grundsätzlich dazu geeignet, diesen Wohlfahrtsverlust zumindest teilweise zu heilen.26 Je nach dem, ob der vermiedene Wohlfahrtsverlust auf gesellschaftlicher Ebene die Signalingkosten übersteigt oder nicht, steigert demonstratives Konsumverhalten die Wohlfahrt oder senkt sie. Somit zeigt Haucap (2001, S. 252), dass demonstratives Konsumverhalten in einer Welt asymmetrischer Information die Wohlfahrt steigern kann und daher mitnichten in jedem Fall als social waste einzuordnen ist. Bagwell und Bernheim (1996, S. 368 f.) untersuchen hingegen nicht die Wohlfahrtswirkung demonstrativen Konsumverhaltens, sondern betrachten in ihrer positiven Analyse die technischen Besonderheiten und Wirkungsweisen von Steuern auf dem Markt für Luxus- beziehungsweise Statusgüter. Eine Besonderheit ist, so Bagwell und Bernheim, dass die Nachfrage nach Luxus- und Statusgütern hochelastisch sei. Luxus- und Statusgüter werden zu einem von den Konsumenten „gewünschten" Preis gekauft, der wiederum die kostengünstigste Möglichkeit darstellt, imitierendes Konsumverhalten zu verhindern. Dieser Preis ermöglicht einerseits, dass auf Luxus- oder Statusgütermärkten nachfrageseitig induzierte pure profits der Unternehmen auftreten können. Andererseits ist dieser Preis tax-inclusive und ändert sich auch bei einer Steuererhöhung nicht. Dies wiederum verhindert, dass Unternehmen die Steuer auf die Konsumenten überwälzen 24 Bagwell und Bernheim (1996) zeigen, mit welchen Mitteln wohlhabende Akteure ein bestehendes Separating Equilibrium durch die effektive Abwehr imitierenden Konsumverhaltens verteidigen können. Grundsätzlich kommt hierzu, neben dem Konsum einer großen Menge und Vielfalt auffälliger Güter, der Konsum hochqualitativer auffälliger Güter sowie der Konsum auffälliger Güter zu einem „überhöhten" Preis in Betracht. Von diesen Möglichkeiten wählen die Akteure immer die günstigste. 25 Auch im Modell von Pesendorfer (1995) dient Demonstrationskonsum als Signal bei der Anbahnung von Partnerschaften. Jedoch handelt es sich bei dem Modell um gar kein Signalingmodell im engeren Sinne, da dort der Konsum modischer Güter über die direkte Beeinflussung der MatchingTechnologie die Wahrscheinlichkeit erhöht, auf einen Partner mit den gewünschten Eigenschaften zu treffen, worauf Haucap (2001, S. 246) deutlich hinweist. 26 Dass Signale in einer Welt asymmetrischer Information effizienzsteigernd wirken können, ist spätestens seit Spence (1973 und 1974) hinlänglich bekannt. Spence (1974, S. 62) selbst weist bereits unter Verweis auf Vehlens Theory of the Leisure Class auf die Möglichkeit hin, dass demonstratives Konsumverhalten auch als Signal für Wohlstand, Macht und Status gelten kann und regt die analoge Anwendung seines Arbeitsmarktbeispiels auf den Fall demonstrativen Konsumverhaltens an.

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können. Folglich würde eine Steuer, solange sie nicht die Differenz zwischen Preis und Grenzkosten übersteigt, als nicht-verzerrende Steuer auf pure profits wirken. Im Gegensatz zu den Empfehlungen der Ramsey-Regel wären aus Effizienzgesichtspunkten Status· und Luxusgüter zu besteuern (Bagwell und Bernheim 1996, S. 368).27

IV. Fazit „In effect, legislation had never been successful - it was always difficult to enforce and did little in real terms to suppress status-motivated consumption" (Mason 1998, S. vii). Die Aussage Masons macht deutlich, dass man bei den zahlreichen historischen Versuchen eines Staatseingriffs mit einiger Berechtigung von historischem Versagen sprechen kann. Offensichtlich ist es zu keinem Zeitpunkt gelungen, die technischen Besonderheiten demonstrativen Konsumverhaltens vollständig zu begreifen. Doch vorgelagert zu der Frage nach den technischen Besonderheiten ist die eingangs gestellte Frage zu klären, ob demonstratives Konsumverhalten und Statusstreben überhaupt eingedämmt werden sollten. Bei einem Blick in die Theoriegeschichte der Ökonomik offenbaren hierbei zahlreiche Ansätze offenen oder verdeckten Normativismus. In frühen Gesellschaften wurde aufwendiger Luxuskonsum als moralisch oder religiös verwerflich stigmatisiert, während die Merkantilisten zusätzlich die wohlfahrtsmindernde Wirkung aufwendigen Konsums aufgrund verhinderter Kapitalakkumulation argumentativ in Anschlag brachten. Hier drängte sich bereits der Eindruck auf, dass die vordergründige Argumentation hintergründig nur dem Schutzbedürfnis der Führungseliten vor imitierendem Konsumverhalten diente. Betrachtet man die Aussagen der klassischen und neoklassischen Schule, so erhärtet sich dieser Verdacht. Vertreter der klassischen und neoklassischen Schule, wie Smith (1778), Mill (1834) und Marshall (1890), unterscheiden offen zwischen legitimem und illegitimem demonstrativem Konsum, der die gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität einer Volkswirtschaft gefährden würde, was auch Rae (1834) betont. Das Konsumentenverhalten, welches dem Status des Akteurs entspricht, wird als legitim betrachtet, während das Konsumentenverhalten, welches darüber hinausgeht, als illegitim gilt. Eine Renaissance erfuhr dieser Normativismus im Gewand der Gesellschafts- und Sozialkritik der späten 1950er und 1970er Jahre. Die Vertreter der Gesellschafts- und Sozialkritik sorgen sich um die „richtige" Verwendung der Ressourcen und nähern sich vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung einer Volkswirtschaft der Frage, „was eigentlich wachsen soll und was besser nicht". Da Statusstreben in wachsenden Volkswirtschaften einen immer größeren Anteil der Ressourcen verzehrt, wähnt Hirsch (1976) gar die sozialen Grenzen des Wachstums entdeckt zu haben. 27 Darüber hinaus weisen Bagwell und Bernheim (1996, S. 368) im Hinblick auf Wettbewerbspolitik daraufhin, dass hohe Gewinne gerade auf dem Markt für Luxus- oder Statusgüter nicht zwingend ein Indiz für eine monopolistische oder oligopolistische Marktstruktur und Kollusion sind, die daher auch nicht zwingend nach einen wettbewerbspolitischen Staatseingriff verlangen.

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Hierbei blieben die Gedanken der Gesellschafts- und Sozialkritik nicht wirkungslos, sondern mündeten seit den 1980er Jahren in zahlreiche Modelle, die demonstratives Konsumverhalten und Statusstreben fokussieren. So verursacht demonstratives Konsumverhalten und Statusstreben in den Modellen von Frank (1985), Ireland (1994) sowie Corneo und Jeanne (1997) externe Effekte, die die optimalen Konsumpläne der Akteure verzerren und die Wohlfahrt mindern. Die Autoren, die Hirsch (1976) folgend Statusstreben auf gesellschaftlicher Ebene als Nullsummenspiel modellieren, betrachten in modellogischer Folge demonstratives Konsumverhalten als social waste. Dieses eindeutige Ergebnis der Wohlfahrtsanalyse fußt jedoch gerade darauf, dass die Autoren demonstratives Konsumverhalten als Nullsummenspiel modellieren. Ist demonstratives Konsumverhalten jedoch als Nullsummenspiel modelliert, so kann es auf gesellschaftlicher Ebene nicht wohlfahrtsförderlich sein und der Blick auf die potentiell effizienzsteigernde Wirkung demonstrativen Konsumverhaltens in einer Welt asymmetrischer Information bleibt verstellt. Darüber hinaus vergleichen Frank (1985) und Ireland (1994) in ihrer Wohlfahrtsanalyse eine Welt mit asymmetrischer Information und demonstrativem Konsum mit einer Welt vollständiger Information ohne demonstrativen Konsum. Dieser Vergleich ist jedoch unzulässig, da die Informationsstruktur innerhalb des Vergleichs gewechselt wird. Dass Demonstrationskonsum als Signal in einer Welt vollständiger Information nicht effizienzsteigernd wirken kann, ist weitgehend trivial. Einen völlig anderen Ansatz verfolgen Bagwell und Bernheim (1996), Cole et al. (1995) und Haucap (2001). In ihren Modellen dient demonstratives Konsumverhalten als nützliches Signal bei der Anbahnung sozialer Kontakte. Verzichten Bagwell und Bernheim (1996) und Cole et al. (1995) auf eine explizite Analyse der Wohlfahrt, so weist Haucap (2001) die potenziell effizienzsteigernde Wirkung demonstrativen Konsumverhaltens in einer Welt asymmetrischer Information nach. So unterschiedlich Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten in der Geschichte ökonomischen Denkens bis heute gesehen wurde und wird, so unterschiedlich fallen auch die Politikempfehlungen der jeweiligen Zeit und Denkschule aus. Nachdem man in frühen Gesellschaften, so im antiken Rom, im frühen Europa und in den Feudalherrschaften China und Japans versuchte, das „verwerfliche", demonstrative Konsumverhalten mit Gesetzen gegen übertriebenen Luxus, sogenannten sumptuary laws, zu unterdrücken, wurden seit Mitte des 17. Jahrhunderts vermehrt Luxussteuern in Anschlag gebracht. Zusätzlich empfehlen Vertreter der klassischen und neoklassischen Schule und insbesondere die Vertreter der Gesellschafts- und Sozialkritik eine Änderung der Präferenzen der Bürger. Während Rae (1834) gesellschaftliche Stabilität durch eine strenge religiöse Erziehung garantiert sieht, schlägt Marshall (1907) vor, die öffentlichen Meinung und sozialen Druck einzusetzen. Die Vertreter der Gesellschaftsund Sozialkritik hingegen hoffen auf Lerneffekte und die Kraft ihrer Argumente. Erfüllte sich diese Hoffnung nicht und waren auch die sumptuary laws von nur geringem Erfolg gekrönt, so trafen Versuche einer Besteuerung von Demonstrationskonsum auf technische Schwierigkeiten. Ein Teil der Ökonomen, so Ireland (1994), setzt bei der Besteuerung von Luxusgütern auf die Lenkungswirkung einer Steuer, während ein anderer Teil der Ökonomen, so bereits Rae (1834) und Mill (1848), die Möglichkeit einer Lenkungswirkung in die gewünschte Richtimg aufgrund der Besonderheiten demonstrativen Konsumverhaltens

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verneinen. Auch zeigen Corneo und Jeanne (1997), dass wenn der Preis eines Gutes positiv auf den Status seines Konsumenten wirkt, die individuelle Nachfragefunktion eine positive Steigung aufweisen kann und kommen daher im Gegensatz zu Ireland (1994) zu dem Schluss, dass eine Besteuerung von Statusgütern nicht zwingend zum gewünschten Lenkungseffekt und einem Anstieg der Wohlfahrt führt. Da einerseits Politikempfehlungen, den demonstrativen Konsum luxuriöser Güter mittels Staatseingriff einzudämmen, auf der Modellierung von Statusstreben als Nullsummenspiel und somit einer modelltechnischen Beliebigkeit sowie zum Teil auf einer unzulässigen komparativen Wohlfahrtsanalyse fußen und Luxussteuern andererseits aufgrund der Besonderheiten demonstrativen Konsums so gut wie unkalkulierbare Folgen mit sich bringen, erscheint die Besteuerung von Luxus- und Statusgütern als fragwürdiges Unterfangen. Literatur Alcaly, Roger E. und Alvin K. Klevorick (1970), Judging Quality by Price, Snob Appeal, and the New Consumer Theory, Zeitschriftfìir Nationalökonomie, Bd. 30, S. 53-64. Bagwell, Laurie S. und Β. Douglas Bernheim (1996), Vehlen Effects in a Theory of Conspicuous Consumption, American Economic Review, Bd. 86, S. 349-373. Berry, Christopher J. (1994), The Idea of Luxury: A conceptual and historical investigation, New York. Buchanan, James M. (1975), The Limits of Liberty, Chicago. Cole, Harold L., George J. Mailath und Andrew Postlewaite (1995), Incorporating Concern for Relative Wealth Into Economic Models, Federal Reserve Bank of Minneapolis Quarterly Review, Bd. 19, S. 12-21. Congleton, Roger D. (1989), Efficient Status Seeking: Externalities, and the Evolution of Status Games, Journal of Economic Behavior and Organization, Bd. 11, S. 175-190. Corneo, Giacomo und Olivier Jeanne (1997), Conspicuous consumption, snobbism and conformism, Journal of Public Economics, Bd. 66, S. 55-71. Cournot, Augustin (1838, 1924), Untersuchungen über die mathematischen Grundlagen der Theorie des Reichtums, Jena. Douglas, Mary und Baron Isherwood (1979, 2002), The World of Goods: Towards an Anthropology of Consumption, London und New York. Duesenberry, James S. (1949, 1967), Income, Saving, and the Theory of Consumer Behavior, 5. Auflage, Cambridge. Edgell, Stephen und Rick Tilman (1991), John Rae and Thorstein Veblen on Conspicuous Consumption: A Neglected Intellectual Relationship, History of Political Economy, Bd. 23, S. 731-744. Frank, Robert H. (1985), The Demand for Unobservable and Other Nonpositional Goods, American Economic Review, Bd. 75, S. 101-116. Gäfgen, Gérard (1974), On the Methodology and the Political Economy of Galbraithian Economics, Kyklos, Bd. 27, S. 705-773. Galbraith, John Kenneth (1958), The Affluent Society, Cambridge. Haucap, Justus (2001), Konsum und soziale Beziehungen, Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften, Bd. 52, S. 243-263. Hill, Forest G. (1958), Veblen and Marx, in Douglas F. Dowd (Hg.), Thorstein Veblen: A Critical Reappraisal. Lectures and Essays Commemorating the Hundredth Anniversay of Veblen 's Birth, New York, S. 129-149. Hirsch, Fred (1976), Social Limits to Growth, Cambridge. Hirsch, Fred (1976, 1980), Die sozialen Grenzen des Wachstums. Reinbek. Hopkins, Ed und Tatiana Kornienko (2004), Running to Keep in the Same Place: Consumer Choice as a Game of Status, American Economic Review, Bd. 94, S. 1085-1107.

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3. Auflage, Weinheim. Zusammenfassung Luxus, Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten werden in der Geschichte ökonomischen Denkens bis heute immer wieder unterschiedlich betrachtet. So wundert es nicht, dass auch die Antwort auf die Frage, welche Rolle der Staat im Hinblick auf statusbedingtes Konsumverhalten einnehmen soll, je nach Perspektive und historischem Hintergrund unterschiedlich ausfällt. Der vorliegende Beitrag zeigt, wie Statusstreben und demonstratives Konsumverhalten in der Geschichte ökonomischen Denkens gesehen wurden und ordnet aktuelle Beiträge ein. Da die Politikempfehlungen einerseits auf der Modellierung von Statusstreben als Nullsummenspiel und somit einer modelltechnischen Beliebigkeit sowie zudem teilweise auf einer unzulässigen komparativen Wohlfahrtsanalyse fußen, und Luxussteuern andererseits aufgrund der Besonderheiten demonstrativen Konsums so gut wie unkalkulierbare Folgen mit sich bringen, erscheint die Besteuerung von Luxus- und Statusgütern als fragwürdiges Unterfangen.

Summary: Questionable Luxury Taxes: Status Seeking and Conspicuous Consumption in the History of Economic Thought In the history of economic thought luxury, status seeking and conspicuous consumption are seen highly divergent. Thus, it is hardly surprising that economic advice with respect to a possible governmental intervention varies with time and perspective. This contribution provides an overview how conspicuous consumption was seen in the history of economic thought and outlines the connection between recent contributions and historical thinking on the issue. On the one hand, recent policy recommendations are often based on the arbitrary definition of status seeking as a zero sum game and partly on an incorrect welfare comparison. On the other hand, specific characteristics of the market demand function for status goods make the taxation of luxuries a venture with incalculable outcomes. Taking these results into account luxury taxes are hard to justify and extremely difficult to design.

ORDO · Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Hans Jörg Hennecke

Die neuen Grundsatzprogramme der deutschen Parteien aus ordnungspolitischer Sicht Inhalt I. Die deutsche Parteienlandschaft II. Was kann man von Parteiprogrammen erwarten? III. Ausgangsbedingungen und Verlauf der Programmdebatten IV. Die neuen Parteiprogramme aus ordnungspolitischer Sicht 1. Zeitdiagnosen und Selbstverständnisse 2. Globalisierung 3. Wirtschaft und Arbeit 4. Soziale Sicherung im demographischen Wandel 5. Steuern und Finanzen 6. Europa V. Bilanz und Schlussfolgerungen Literatur: Zusammenfassung: Summary: The German Parties' new manifestos from an ordo-liberal perspective

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I. Die deutsche Parteienlandschaft Nachdem die vereinigungsbedingten Übergangsprobleme an Dringlichkeit und Aufmerksamkeit verloren hatten, wurde die politische Agenda in Deutschland von Mitte der 1990er Jahre an durch die Auswirkungen der Globalisierung, die Folgen der Staatsverschuldung, die Fragen der sozialen Sicherung im demographischen Wandel und die angehäuften Strukturproblemen in Wirtschaftsordnung und Arbeitsmarkt geprägt. Weder die Regierung Kohl noch die Regierung Schröder brachten nach 1990 den Willen und die Kraft zu einer stringenten und ausdauernden Reformpolitik auf. Innen- wie außenpolitisches Leitmotiv der deutschen Politik blieben die mangelnde Anpassungsfähigkeit an veränderte Umfeldbedingungen und das Festhalten an strukturellen Fehlentwicklungen. Wer sich von der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 einen neuen Konsens für eine tragfähige Reformstrategie erhofft hatte, wurde rasch eines Besseren belehrt. Ins Amt kam eine Große Koalition, die formal über starke Mehrheiten verfügte und sich über viele der institutionellen Hürden für eine durchgreifende Reformstrategie hätte hinweg-

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setzen können. Ihre Bilanz blieb aus ordnungspolitischer Perspektive jedoch mehr als durchwachsen: einige Teilerfolge - eine zaghafte Reform des Föderalismus, die überfällige Durchsetzung der Rente mit 67 und verhaltene Ansätze zu einer haushaltspolitischen Selbstdisziplin - wogen die lange Liste der Fehltritte und Rückschritte nicht auf. Wenn man dem Tenor der Leitartikler und der politikwissenschaftlichen Forschung glauben darf, stecken Parteien immer in der Krise.1 Erst recht das Verfassen von Grundsatzprogrammen gilt als untrügliches Symptom der Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Mit Blick auf die Regierungsparteien der Großen Koalition bestätigt sich diese Vorannahme. Eingepfercht in eine Koalition, die - anders als 1966 - niemand angestrebt und niemand programmatisch vorbereitet hat, ringen sie darum, ob sie ihren Anspruch als „Volksparteien" (Mintzel 1984) angesichts nachlassender Bindungskräfte zu Wählern und Mitgliedern noch einlösen können. Die Regierung Merkel wurde von drei Parteien gebildet, die verunsichert und orientierungslos waren und - jeweils aus unterschiedlichen Gründen - mit den Kompromissen und Sachzwängen der gemeinsamen Regierungsarbeit unzufrieden waren. Nahezu gleichzeitig gaben sich CDU, CSU und SPD im Herbst 2007 neue Grundsatzprogramme und ersetzten mit diesen Beschlüssen ihre Programme aus den Jahren 1994, 1993 und 1989. Die gleichzeitige Ausrufung der Grundsatzdebatten diente offenkundig in allen drei Fällen dazu, programmatische Selbstbesinnung jenseits des unbefriedigenden Regierungsalltags zu finden. Zugleich standen die drei Debatten von Beginn an auch in der Gefahr, zu bloßen Beschäftigungstherapien für Funktionäre und Mitglieder zu geraten, deren Ergebnisse nicht unbedingt darauf angelegt waren, die Flexibilität bei der Suche nach großkoalitionären Kompromissen nennenswert einzuschränken. Was ist, nach den ernüchternden Erfahrungen mit der Großen Koalition, von den derzeitigen Regierungsparteien in Zukunft in ordnungspolitischer Hinsicht zu erwarten? Im Folgenden sollen zunächst einige allgemeine Überlegungen zur Rolle von Grundsatzprogrammen vorausgeschickt werden und die Ausgangslagen der Parteien skizziert werden, bevor die neuen Grundsatzprogramme auf einschlägige Themen durchgemustert werden und abschließend einige Befunde und Konsequenzen aus ordnungspolitischer Sicht aufgezeigt werden. Dass auf die programmatischen Entwicklungen der kleinen Oppositionsparteien hierbei nur am Rande eingegangen werden kann, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch dort einige Bewegung und viel Unsicherheit zu registrieren sind. Während die FDP in den zurückliegenden Jahren nach dem Abklingen ihrer Führungsdebatte wieder in ruhigeres Fahrwasser geraten ist, sind die programmatischen Spannungen bei den Grünen und der Linken größer: die Grünen müssen über ihre programmatische Ausrichtung auch eine Entscheidung über ihre grundsätzlichen Koalitionsoptionen treffen, und die LINKE tut sich nach der Eingemeindung der westdeutschen WASG in die ostdeutsche SED-Nachfolgepartei PDS bemerkenswert schwer, die unterschiedlichen Strömungen und Denkschulen am linken Rand hinter einem belastbaren Grundsatzpro-

1 Als neuere Analysen des deutschen Parteiensystems vgl.: Zehetmair (2004), Haas (2007), Decker (2007), Niedermayer (2008). Zu älteren Traditionen siehe: Ziebura (1969), als neuere Überblicke: Poguntke (2004 )und Jun (2004).

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gramm zu versammeln. Gleichwohl gibt sie der SPD und damit mittelbar auch der Union den Takt im Parteienwettbewerb vor.

II. Was kann man von Parteiprogrammen erwarten? Um realistische Erwartungen über den Inhalt von Parteiprogrammen zu formulieren, muss man sich über die unterschiedlichen Intentionen und möglichen Wirkungen von Parteiprogrammen im Klaren sein (Stammen 1975). Dabei sollten Grundsatzprogramme, um die es im folgenden geht, von Aktionsprogrammen und Regierungsprogrammen unterschieden werden, da sie jeweils unterschiedliche Zeitdimensionen, Konkretisierungsgrade und Sprachstile aufweisen und die jeweiligen Anteile von Situationsanalysen, Wertereflexionen und Handlungsankündigungen anders gewichten. Nach außen gerichtet können Grundsatzprogramme eine Profilierungs- oder eine Werbefunktion gegenüber potentiellen Wählern oder Mitgliedern wahrnehmen. Allerdings wird es sich hierbei nur um sehr indirekte Wirkungen handeln, da das Wissen um Inhalte bei Wählern und Mitgliedern selbst in Bezug auf heftig beworbene Wahlprogramme meist sehr diffus ist (Rolle 2000 und 2002). Zu bedenken ist dabei, dass Fremdwahrnehmungen und Selbstverständnisse von Parteien nicht beliebig durch Programmbeschlüsse verändert werden können, sondern allenfalls behutsam korrigiert und arrondiert werden können. Die thematischen Kompetenzen, die den Parteien jeweils zugeordnet werden, erweisen sich zumindest in groben Zügen über die Jahrzehnte hinweg als erstaunlich stabil. Die Parteien tun daher gut daran, diese Markenkerne durch programmatische Positionierungen und durch Aufmerksamkeitsmanagement für „ihre" Themen sorgfaltig zu pflegen. Nach innen gerichtet sind Programme daran zu messen, inwieweit sie zur Integration verschiedener Flügel und Strömungen einer Partei beitragen und ihnen eine gemeinsame Identität vermitteln können. Nicht zu unterschätzen sind damit auch weitere mögliche Funktionen wie etwa das Erzeugen von Legitimität für Sachpositionen oder die Mobilisierung von Mitgliedern und Anhängern. Schließlich können Programme innerparteiliche Machtverhältnisse ordnen, indem sie Repräsentanten und Deuter von programmatischen Kernideen hervortreten lassen. Deshalb können Programmdebatten bisweilen auch der Bildung von neuen Netzwerken oder der Rekrutierung von neuen Führungspersönlichkeiten dienen. Inwieweit diese Wirkungen eintreten, hängt nicht nur von dem Text eines Programms selbst ab, sondern ergibt sich auch daraus, wie die Programmdebatte geführt wird, wie groß der Kreis der Mitwirkenden ist und schließlich auch wie ein Programmtext in den folgenden Jahren und Jahrzehnten als Bezugspunkt der weiteren Parteirhetorik dient (Schönbohm 1974). Vor allem dann, wenn ein Programm rückblickend als legitimationsstiftend für bestimmte Koalitionsentscheidungen oder für Regierungsperioden gedeutet werden kann, gewinnt es Deutungsmacht für eine Partei: die Düsseldorfer Leitsätze der CDU von 1949, das Godesberger Programm der SPD von 1959 und die Freiburger Thesen der FDP von 1971 gelten gerade deshalb als besonders erfolgreiche und wirkungsvolle Programme. All dies sind mögliche Intentionen, Wirkungen oder Funktionen von Programmen in der Logik des kollektiven Handelns in und von Parteien, die nicht notwendigerweise mit einer anderen denkbaren Funktion von Programmen, nämlich der Erarbeitung eines ko-

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härenten Orientierungsrahmens für ein realistisches, tragfahiges und durchdachtes Regierungshandeln, zusammenfallen müssen. Ganz im Gegenteil tragen diese politischen Funktionen dazu bei, dass sich Programme von einer wissenschaftlich begründbaren Ideallinie von Problemlösungen entfernen. Eine solche Sachrationalität wird sich in politischen Programmen in aller Regel nicht durchsetzen und entsprechend naiv wäre die Hoffnung auf lupenreine ordnungspolitische Bekenntnisschriften. Je größer die Reichweite von Parteien ist, mit desto mehr Verwässerungen und Verunreinigungen muss man rechnen - bis hin zur rhetorischen Verknüpfung von eigentlich unvereinbaren Prinzipien. Es gibt insbesondere plausible Gründe dafür, dass Parteiprogramme um ihrer Integrationskraft willen zur sprachlichen Homogenisierung von Widersprüchen neigen und sich ein hohes Maß an Langeweile, Unschärfe und Unverbindlichkeit erhalten müssen (Flechtheim 1966, Luhmann 1977). Wie schon im Parteinamen zur Geltung kommt, verstanden sich die Unionsparteien von Beginn an als Sammlungsparteien, die nicht nur über die konfessionelle, sondern auch über die wirtschaftlich-soziale Konfliktlinie hinweg christliche, liberale, soziale und konservative Milieus zusammenführen wollte, wobei die CSU in Bayern auch große Teile des sozialdemokratischen Spektrums in sich aufgenommen hat. Während innerhalb der Unionsparteien die landsmannschaftlichen Orientierungen einige programmatische Konflikte abmildern, koexistieren innerhalb der SPD traditionell zwei programmatisch und strategisch rivalisierende Flügel: den im Zweifelsfalle staatstragenden Sozialdemokraten stehen - vor allem im mittleren Funktionärskader - „demokratische Sozialisten" gegenüber, die mit einigen historischen Leitentscheidungen der Bundesrepublik hadern und auch bei Partnern außerhalb des freiheitlich-demokratischen Spektrums Mehrheiten zu suchen bereit sind. Allen Unkenrufen zum Trotz lässt sich zwar die Gretchenfrage der policy-Έorschung „Do parties matter?" oftmals mit einem mehr oder wenigen deutlichen „Ja" beantworten, weil die parteipolitische Zusammensetzung von Regierungen Auswirkungen auf das Regierungshandeln hat. Dieser Nachweis gelingt vorzugsweise in denjenigen Themenfeldern, in denen Parteien von programmatischem Ehrgeiz beseelt sind und ihr Gestaltungsspielraum nicht durch andere Veto-Spieler oder Mitregenten allzu sehr eingeengt wird. Nun folgt aber politisches Handeln keinem kybernetischen Schaltplan, dem gemäß Regierungshandeln von Parteiprogrammen über Wahlprogramme und Koalitionsvereinbarungen vorhersehbar gesteuert würde. Politisches Handeln erfolgt in konkreten politischen Situationen, in denen programmatische Selbstverpflichtungen als Orientierungsgröße für die Akteure durchaus Wirkung entfalten können, aber immer wieder auch andere Entscheidungskriterien die Oberhand gewinnen können. Die Mehrwertsteuererhöhung von 2005 oder die „Agenda 2010" von 2003 sind für die Unberechenbarkeit politischer Entscheidung lehrreiche Beispiele. Grundsatzprogramme werden sich auch deshalb nicht notwendigerweise nachprüfbar in Regierungshandeln niederschlagen, weil die Ankündigung künftigen Handelns in ihnen nicht selbstverständlich im Vordergrund stehen muss. Nicht immer wird sich ein origineller Forderungskatalog identifizieren lassen, dessen Einlösung in späterem Regierungshandeln Punkt für Punkt überprüft werden könnte. Bei ihrer Formulierung wird es vielmehr auch darum gehen, dass die Texte sich in den Traditionsbestand bisheriger Programmaussagen einfügen und dass sie helfen, ak-

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tuelle Positionierungen in diese Programmtradition einzubetten. Insofern weisen Grundsatzprogramme oft einen eher dokumentarischen, nachholenden und legitimierenden Charakter auf und können allmähliche Lernprozesse, die aus der Konfrontation mit der Wirklichkeit resultiert sind, abbilden. Freilich können Programmdebatten - zumal nach dem Verlust einer quälenden Regierungsverantwortung - gelegentlich auch zu einer Flucht aus der Wirklichkeit geraten und Lernprozesse aus einem zurückliegenden Regierungsalltag wieder in Frage stellen.

III. Ausgangsbedingungen und Verlauf der Programmdebatten Nach der historischen Niederlage von 1998 und den Spendenskandalen 1999/2000 unternahm die ohne wirkliche Hausmacht an die Spitze der CDU gelangte Angela Merkel (2000) zwar unter Leitbegriffen wie „Wir-Gesellschaft" oder „Neue Soziale Marktwirtschaft" einzelne Vorstöße zu einer programmatischen Neuausrichtung, aber erst nach der knappen Niederlage bei der Bundestagswahl 2002 kam es zu wegweisenden Beschlüssen. Die Union trug die von Kanzler Schröder vorgeschlagene „Agenda 2010" mit und beschloss auf ihrem Leipziger Parteitag vom Herbst 2003 ein Aktionsprogramm, das marktwirtschaftliche Reformen betonte. Nach dem enttäuschenden Ergebnis bei der vorgezogenen Bundestagswahl von 2005 gab es aber bezeichnenderweise gewichtige Stimmen, die das schwache Abschneiden der Union auf eine übermäßige „Neoliberalisierung" zurückführten, obwohl eher taktische und kommunikative Fehler der Wahlkampffiihrung ausschlaggebend gewesen sein dürften. Mit Rücksicht auf die fragile Vorrangstellung der Union in der Großen Koalition erfolgte allerdings keine wirkliche Diskussion über die Ursachen des Wahlergebnisses, sondern es wurde die Ausarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms beschlossen. Die innerparteiliche Diskussion erfolgte nach der Voranstellung von rund fünfzig „Leitfragen" im Wesentlichen über die Einbeziehung der Landesverbände und Vereinigungen, bevor im Juli 2007 ein erster Textentwurf vorgelegt und auf mehreren Regionalkonferenzen diskutiert wurde. Zwar verlief die eigentliche Programmdebatte ohne spektakuläre Kontroversen, allerdings ließen parallele Auseinandersetzungen über die Arbeitslosenpolitik erkennen, dass große Teile der Partei eine deutlichere Abgrenzung zu marktwirtschaftlichen Positionen und eine stärkere Betonung des sozialpolitischen Profils wünschten, während der wirtschaftsliberale und der konservative Flügel der Partei personell und argumentativ an Boden verloren. Die CSU erlebte 2002 mit der nur knapp gescheiterten Kanzlerkandidatur Edmund Stoibers einen Höhepunkt ihres bundespolitischen Einflusses und triumphierte im folgenden Jahr bei der bayerischen Landtagswahl. Ein von Stoiber nach der Landtagswahl durchgepeitschtes Reformprogramm sorgte allerdings für erhebliche Unruhe, und die Autorität des Vorsitzenden, der Gelegenheiten zum Zugriff auf die Ämter des Bundespräsidenten und des EU-Kommissionspräsidenten verstreichen ließ, schmolz dahin, als er auf seinen vor der Bundestagswahl 2005 angekündigten Wechsel in die Bundespolitik verzichtete. Dadurch geriet die CSU in eine mehrfach problematische Situation: in der Großen Koalition auf Bundesebene konnte die CSU weder für das Wirtschaftsministerium die ordnungspolitische Wortführerschaft in zentralen Politikfeldern durchsetzen, noch die beanspruchte „Scharnierfunktion" zwischen CDU und SPD erfüllen. In Bayern

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gelang es nicht, die bereits ausgebrochenen Nachfolgekämpfe zu ersticken. Ganz offenkundig diente die Ausrufung der Programmdebatte in dieser Lage dazu, von der schwelenden Personalfrage abzulenken und die aufgewühlte Partei zu beschäftigen. Dass der straffe Zeitplan der Programmdebatte von Januar 2006 bis September 2007 auch eingehalten wurde, nachdem Stoiber zum Jahreswechsel 2006/2007 doch noch zum Amtsverzicht gedrängt worden war und ein offener Wettbewerb um den CSU-Parteivorsitz eingesetzt hatte, war wohl in erster Linie ein Verdienst des allseits respektierten Landtagspräsidenten Alois Glück. Wichtige Etappen der Debatte waren eine Mitgliederbefragung im Herbst 2006, eine erste Arbeitsfassung des Programms 2007, eine Serie von Programmkonferenzen im Frühjahr 2007, aus der rund 4.000 Änderungsvorschläge hervorgingen, sowie die Beschlussfassungsphase im Sommer 2007, die mit der Beratung und Zustimmung auf dem Münchner Parteitag am 28. und 29.9.2007 endete. Am verwickeltsten und langwierigsten gestaltete sich die Programmdebatte in der SPD, die 1998 an die Macht gelangt war, ohne dass dem eine programmatische Klärung vorangegangen war. Mit der von Schröder verfolgten angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, mit der von Lafontaine verkörperten Nachfrageorientierung und dem von Kanzleramtsminister Hombach verfolgten Anspruch, das ordnungspolitische Erbe Ludwig Erhards durch die Sozialdemokratie zu übernehmen, standen seinerzeit mindestens drei wirtschaftspolitische Leitbilder in Konkurrenz zueinander. Nachdem Schröder mit dem Versuch einer autoritativen Durchsetzung eines neuen Leitbildes („Schröder/BlairPapier") den Widerstand aus der Partei provoziert hatte und die fahrige Regierungspolitik vielerlei Widerspruch hervorgerufen hatte, setzte im Herbst 1999 die offizielle Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm ein. Diese Programmdebatte wurde jedoch vor der Bundestagswahl 2002 ausgesetzt und bald darauf durch die „Agenda 2010" überlagert und verdrängt. Ein neuer Anlauf unter dem SPD-Vorsitzenden Müntefering 2004/2005 blieb wegen der vorgezogenen Bundestagswahl wiederum in den Anfangen stecken. Dessen Nachfolger Platzeck griff die Programmdebatte wieder auf, trat aber im April 2006 just in dem Moment, als er unter dem Leitbild des „Vorsorgenden Sozialstaats" {Platzeck 2006) erste Signale setzte, aus gesundheitlichen Gründen zurück. Der neue Vorsitzende Kurt Beck schien zunächst die Stoßrichtung Platzecks weiterzuverfolgen, akzentuierte sogar auf eine für die Union gefährliche Weise das Leistungsprinzip und die Orientierung zur politischen Mitte, begab sich jedoch immer stärker in die Abhängigkeit des linken Parteiflügels (vgl. z.B. Beck 2006 und 2007). So machte sich die SPD unter Beck die Forderung nach Mindestlöhnen und nach einer „Bürgerversicherung" zu eigen, haderte mit der von Arbeitsminister Müntefering durchgesetzten „Rente ab 67" und distanzierte sich schließlich gegen dessen erbitterte Gegenwehr symbolträchtig von Kernelementen der „Agenda 2010". Beachtlich war, dass die Programmdebatte unter Beck recht zügig zu ihrem Ende gefuhrt wurde. Nach Vorlage erster Leitsätze im April 2006 erfolgte eine Dialogphase, die Ende 2006 in eine erste Textfassung, den so genannten „Bremer Entwurf' (SPD 2007a) vom Januar 2007, mündete. Es folgte eine zweite Dialogphase, die eine Mitgliederbefragung (SPD 2007b) einschloss, bevor im Herbst 2007 ein neuer Text (SPD 2007c) vorgelegt wurde, der deutlich straffer ausfiel und eine erkennbar „linkere" Handschrift trug. Vor allem diese Akzentverschiebung gegenüber dem „Bremer Entwurf' bestimmte die politische Wirkung des „Hamburger Programms" (SPD 2007d), wie es am 28. Oktober 2007 beschlossen wurde.

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IV. Die neuen Parteiprogramme aus ordnungspolitischer Sicht 1. Zeitdiagnosen und Selbstverständnisse Wer erstmals seinen Blick über die neuen Grundsatzprogramme schweifen lässt, dem fallt der defensive Ton der Zeitdiagnosen ins Auge. Ob die Haltung zur Globalisierung, die Bewertung der Wiedervereinigung oder die Würdigung des alles in allem beachtlichen Wohlstands im Lande: auch dort, wo man mit einer Portion Selbstbewusstsein oder Genugtuung auf Erfolge zurückblicken könnte, überwiegt eine Rhetorik der Angst, des Neids oder der Unzufriedenheit. So sehr alle Parteien darum bemüht sind, ihre bisherige Programmtradition als Erfolgsgeschichte darzustellen und auf deren große Prägekraft in der Geschichte der Bundesrepublik hinzuweisen, stößt man in allen drei Programmen auf die Wahrnehmung einer von den Umständen bedrängten Politik. Sei es die Globalisierung oder die weltpolitische Unsicherheiten oder auch der demographische Wandel: den Takt gibt nicht das programmatische Wollen der Parteien, sondern geben die Herausforderungen vor, auf die die Politik reagieren muss. In der Haltung zu diesen Herausforderungen machen sich allerdings durchaus benennbare Unterschiede bemerkbar: in mancher Hinsicht wird versucht, die Chancen des Unvermeidlichen zu betonen, in anderen Fällen wird versucht, der Politik über den Umweg der Europäisierung Gestaltungskraft zurückzugeben, und bisweilen findet man auch selbstkritische und einsichtige Bemerkungen, mit denen der Gestaltungsanspruch der Politik gedrosselt wird. Ausgangs- und Bezugspunkt des neuen Grundsatzprogramms der CDU ist das 1994 beschlossene Programm, das unter dem Titel „Freiheit in Verantwortung" nicht nur die Bewältigung der deutschen Einheit und den Wandel der weltpolitischen Situation thematisierte, sondern mit Schlagworten wie Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftsstandort, Abbau der Staatsquote und Deregulierung auch in starkem Maße die kühle Rhetorik der „Standortdebatte" der 1990er Jahre aufgriff. Nach den Misserfolgen bei den Bundestagswahlen 1998 und 2005 hat sich die CDU demgegenüber einen zurückhaltenderen und stärker auf Ausgleich bedachten Stil auferlegt. Bereits im neuen Titel „Freiheit und Sicherheit" wird nahe gelegt, dass Freiheit nicht mehr der zentrale Bezugspunkt des Programms ist und von ihm ausgehend eine zusammenhängende und einzelne Politikfelder überspannende Ordnungsidee zugrunde gelegt wird, sondern dass das Programm den Anspruch auf Ausgleich zweier konkurrierender Prinzipien legt. Die 1994 zum Leitbild erhobene „Ökologische und Soziale Marktwirtschaft" wurde dabei stillschweigend zurückgestuft, obwohl die Bewahrung der Schöpfung angesichts der forcierten Klimadebatte für die CDU an programmatischem Gewicht gewonnen hat. Nun betont die CDU ihr Selbstverständnis als „Volkspartei der Mitte", die die Werte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit als gleichrangig ansieht. Während ein konservatives oder evolutionäres Denken im Sinne von Burke oder Hayek Freiheit als Produkt zivilisatorischer Entwicklung und ihrer rechtlichen Institutionen betrachten würde, geht das neue CDU-Programm davon aus, dass der Mensch frei geschaffen sei (CDU 2007b, S. 6), und knüpft damit auffälligerweise an rationalistische Sozialtheorien im Sinne von Hobbes oder Rousseau an, in deren Verständnis die ursprüngliche und natürliche Freiheit durch die Feindseligkeit der Menschen zueinander gefährdet wird. Zwar stellt das neue Programm einerseits im Zusammenhang mit seinem Freiheitsverständnis die Be-

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griffe Eigenverantwortung, Subsidiarität, Nächstenliebe, Solidarität und Mitverantwortung als persönliche Tugenden heraus, betont, dass die Freiheit durch Rechtsstaat und wehrhafte Demokratie geschützt werden müsse, und macht sich in diesem Sinne ein individualistisches, negatives und auf Gleichheit vor dem Recht gemünztes Konzept von Freiheit zu eigen. Andererseits mangelt es nicht an Gelegenheiten, in denen Freiheit nicht auf die Abwesenheit von Willkür oder Zwang begrenzt wird, sondern in Abhängigkeit von bestimmten materiellen Ausstattungen im Sinne einer Freiheit von Not oder von Mangel gesehen wird: „Die Verwirklichung der Freiheit bedarf der sozialen Gerechtigkeit. Die Verhältnisse, unter denen der Mensch lebt, dürfen der Freiheit nicht im Wege stehen" (CDU 2007b, S. 7). Dementsprechend wird dem Rechtsstaat, der Gerechtigkeit als gleiches Recht für alle gewährleisten soll, eine andere Art von Gerechtigkeit als notwendige Ergänzung zur Seite gestellt: der Staat möge auch gerechte Chancen schaffen, die Chancengesellschaft verwirklichen, gleiche Startchancen in Bildungswege und Arbeitswelt gewähren und Belastungen angemessen verteilen. Dass zwischen der klassisch liberalen Gerechtigkeit als gleichem Recht für alle und diesem bunten Strauß von Chancengerechtigkeiten ein grundsätzlicher Konflikt besteht, der nicht einfach aus der Welt geschafft werden kann, wird nicht weiter reflektiert. Dass das Ideal der „Chancengesellschaft, in der die Menschen frei und sicher leben", nicht durchdacht ist, wird deutlich, wenn es an einer Stelle heißt: „Die soziale Herkunft des einzelnen darf nicht über seine Zukunft entscheiden" (CDU 2007b, S. 20). Es überrascht, einen solchen Satz von einer Partei zu lesen, die im Übrigen die Familie als Lebensform zu verteidigen und jakobinischen Bildungsegalitarismus zu bekämpfen beansprucht. Dass ein urbürgerlicher Satz wie Odo Marquards Diktum „Zukunft braucht Herkunft" (1988) vom neuen CDU-Grundsatzprogramm jedenfalls nicht mehr vorbehaltlos mitgetragen wird, lässt ahnen, dass jenseits der ordnungspolitischen Fragen auf breiter Front bürgerliche Wertvorstellungen verloren gegangen sind. Aus ordnungspolitischer Warte fällt auf, dass der Begriff der Ordnungspolitik selbst trotz aller Bekenntnisse zur Sozialen Marktwirtschaft im neuen CDU-Grundsatzprogramm nur dreimal erscheint. Bezeichnenderweise dient der Begriff nicht dazu, in wirtschafls- und sozialpolitischen Fragen die Schraubzwingen des Interventionismus wenigstens an einigen Stellen etwas zu lockern und Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu stärken. Verwendung findet er vielmehr dann, wenn es darum geht, auf internationaler Ebene neue wirtschafls- und finanzpolitische Regulierungsinitiativen zu begründen. Im Vergleich zur CDU tut sich die CSU erwartungsgemäß leichter, in ihrem Programm den christlichen Bezug und ihre Heimatverbundenheit zu bekräftigen und damit einen authentischen Konservatismus zu vertreten. Die Darlegung des christlichen Menschenbildes fällt in der Betonung von Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Schutz des ungeborenen Lebens deutlicher als bei der größeren Schwesterpartei aus. Das konservative Element wird offensiv als ein bundesweit sichtbarer Markenkern der CSU herausgestellt und mit der Vorsorge für künftige Generationen und dem Eintreten für Nachhaltigkeit auf eine Weise akzentuiert, die neben der Bindung an Tradition und Herkunft auf die Verantwortung in die Zukunft als Anspruch hinweist. Wie bei der CDU fällt auch bei der CSU ins Auge, wie sehr der Begriff der Chancengerechtigkeit in den Vordergrund rückt und mit einem auf Gleichheit vor dem Recht

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gemünzten Gerechtigkeitsverständnis konkurriert. Zum Ausdruck kommt dies nicht nur im Titel des Programms „Chancen für Alle", der entweder als Abschwächung des Versprechens auf „Wohlstand fur Alle" oder als kollektivistische Konzession an materielle Gerechtigkeitsvorstellungen gelesen werden kann, sondern auch in der Variation des legendären Slogans von 1976 und 1980: statt wie seinerzeit „Freiheit oder Sozialismus" propagiert die CSU nun „Freiheit und Chancen für alle" und gibt damit die damals wohl auch von Hayek inspirierte Prägnanz auf. Für beide Unionsparteien gilt, dass sie Gerechtigkeit nicht ausschließlich als Gleichheit vor dem Recht verstehen, sondern durch die Auffacherung und Anreicherung des Gerechtigkeitsbegriffs vor allem diverse materielle Leistungsansprüche an den Staat definieren. Bei der CSU entspricht dem das Bekenntnis zu einem starken Staat, der einen Ordnungsrahmen bereitstellen und neben der inneren Sicherheit und der Rechtsstaatlichkeit auch die Daseins- und Zukunftsvorsorge als Aufgabe erfüllen muss. Ein origineller und möglicherweise politisch tragfahiger Versuch der CSU, die Soziale Marktwirtschaft neu zu definieren, ist das Leitbild der „Solidarischen Leistungsgesellschaft" (Glück, Vogel und Zehetmair 2006). Während manche Umschreibungen wie der angestrebte „ökonomische und soziale Fortschritt" recht nichtssagend sind, gewinnt die geforderte Verknüpfung von Leistungskultur und Sozialkultur Profil, wenn bemerkenswerterweise von einer „Chancengerechtigkeit für die Schwachen und die Starken" (CSU 2007, S. 34) die Rede ist. Man mag in diese Formulierung hineinlesen, dass die Erfolgreichen und Leistungswilligen nicht nur das Melkvieh einer ausgreifenden Umverteilungspolitik sein dürfen. Ähnlich wie die „Soziale Marktwirtschaft" steht freilich auch die „Solidarische Leistungsgesellschaft" in der Gefahr, als Addition verschiedener Ordnungsprinzipien wahrgenommen zu werden und damit anfällig für eine Überfrachtung des den Leistungsgedanken relativierenden Prinzips zu sein. Während im Grundsätzlichen die CSU ihre besondere Sympathie für Subsidiarität und aktive Bürgergesellschaft zum Ausdruck bringt und eine staatlich organisierte Solidarität nur hilfsweise am Platze sieht, zeigt sich im Detail, dass die CSU den realexistierenden Wohlfahrtsstaat nicht grundlegend ändern will, sondern allenfalls für behutsame Anpassungsreformen plädiert. Das kleinschrittige Vorgehen ist unter den Bedingungen der deutschen Verhandlungsdemokratie nicht eigentlich problematisch, sondern durchaus realistisch. Aus ordnungspolitischer Sicht ist allerdings die entscheidende Frage, ob die einzelnen Schritte wirklich auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind und ob es sich um mehr handelt als um ein unüberlegtes Herumdoktern an den Symptomen. Während die beiden Unionsparteien für einen eher pragmatischen Umgang mit ihren Programmen bekannt sind, blickt die SPD auf eine viel längere und viel argwöhnischer bewachte Programmtradition zurück (Dowe und Klotzbach 1990). Als die Programmdebatte innerhalb der SPD Anfang 2006 wieder aufgenommen wurde, herrschten unter dem Vorsitzenden Platzeck diejenigen Kräfte vor, die die „Soziale Marktwirtschaft" als Parallelbegriff zur „Sozialen Demokratie" für die SPD besetzen wollen. Dieser Versuch einer sozialdemokratischen Interpretation der Sozialen Marktwirtschaft, der im „Bremer Entwurf' vorherrschte, ist mit dem „Hamburger Programm" nicht völlig aufgegeben worden, aber im Ergebnis wurde statt dessen die Tradition des „demokratischen Sozialismus" reanimiert. Ein redaktionelles Detail hatte hierfür Signal Wirkung: Der „Vorsorgende Sozialstaat", der Zentralbegriff in Platzecks Programmbemühungen, wurde nun

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als „vorsorgender Sozialstaat" sprachlich eingeebnet. Die entscheidende Akzentverschiebung war jedoch, dass die „Soziale Demokratie", die im „Bremer Entwurf noch titelgebend war, nun - mit Ausnahme des Vorworts - aus allen Überschriften verschwunden ist, nur noch auf einer Seite erläutert wird und darüber hinaus nur gelegentlich Erwähnung findet. Akzentuiert wird der Begriff der „Sozialen Demokratie" im Gegensatz zu einer „Ökonomisierung aller Lebensbereiche", die sich nur nach einer Seite hin, nämlich zu Union und FDP hin, abgrenzt. Entscheidende Stichworte sind hierfür: Lebensqualität, intakte Gemeinschaften, Anerkennung, Zusammenhalt, Absage an ein Leben nach der Stoppuhr, die Garantie wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte, gleichberechtigte soziale Teilhabe durch „gesellschaftliche Demokratisierung, vor allem Mitbestimmung, durch den auf Bürgerrechte gestützten vorsorgenden Sozialstaat und durch eine koordinierte Marktwirtschaft, in der der Vorrang der Demokratie vor den Märkten gewährleistet ist" (SPD 2007d, S. 18 f.). Im „Bremer Entwurf' dagegen war die Abgrenzung umfassender sowohl gegen „Konservative" (CDU/CSU), „Marktradikale" (FDP) als auch „Populisten" (LINKE) gerichtet und wurde der Anspruch auf Besetzung einer realistisch denkenden Mitte erhoben. „Soziale Demokratie" und „Vorsorgender Sozialstaat" waren dort Begriffe, die für eine strategische Stoßrichtung standen, mit der die SPD tief in das Terrain der Union hätte eindringen können. Mit dem „Hamburger Programm" hat die SPD diese Chance zur Orientierung in die politische Mitte hinein fallen gelassen und ein linkes Selbstverständnis betont. War im „Bremer Entwurf' der Sozialismus zu einer bloß historischen Kategorie geworden, die neben Christentum, Humanismus, Aufklärung, Gewerkschaften, Frauenbewegung und Neuen Sozialen Bewegungen als eine der für die SPD im Laufe der Jahrzehnte prägenden Impulse und Ideen eine eher lieblose Erwähnung fand, brachte das Hamburger Programm eine unverkennbare Rehabilitierung des Begriffs. Bereits in den ersten Sätzen ist die Rede von „der stolzen Tradition des demokratischen Sozialismus". Die Passage über die historischen Impulse der linken Volkspartei wurde auffällig modifiziert, indem die Aufzählung nun Judentum und Christentum, Humanismus und Aufklärung, marxistische Gesellschaftsanalyse und Erfahrungen der Arbeiterbewegung, Frauenbewegung und Neue Soziale Bewegungen umfasst und damit sogar ausdrücklich den Marxismus wieder programmfahig macht. Die Idee des „demokratischen Sozialismus" wird im „Hamburger Programm" als geschichtlich prägend charakterisiert und zugleich aktualisiert. Sie verlange eine Ordnung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, in der die bürgerlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte für alle Menschen garantiert seien, alle Menschen ein Leben ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt, also in sozialer und menschlicher Sicherheit führen könnten. Das Ende des Staatssozialismus sowjetischer Prägung habe die Idee des demokratischen Sozialismus nicht widerlegt, sondern die Orientierung der Sozialdemokratie an Grundwerten eindrucksvoll bestätigt: „Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist. Das Prinzip unseres Handelns ist die soziale Demokratie" (SPD 2007d, S. 16 f.). Programmatisch gesehen fällt die SPD damit auf den Stand von vor 1989 zurück, und die verschiedenen Anläufe, das Epochenjahr 1989 zu verarbeiten und sich einzugestehen, dass der Sozialismus bislang nirgends auf Dauer mit Demokratie und Freiheit

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(weder im Sinne der Abwesenheit von Zwang noch im Sinne der Abwesenheit von Not und Furcht!) vereinbar war, wurden damit ausgebremst. Die Sozial- und Arbeitspolitik der Regierung Schröder scheint damit ebenso aus dem Parteigedächtnis verdrängt zu werden wie einst die Außen- und Sicherheitspolitik der Regierung Schmidt. Nachdem der zentristische, aber vom linken Flügel gestützte Beck im September 2008 den Parteivorsitz niedergelegt hat und ihm eine ausgerechnet aus Franz Müntefering und FrankWalter Steinmeier bestehende Doppelspitze gefolgt ist, sind daher unabhängig vom Ausgang der Bundestagswahl 2009 weitere Richtungsdebatten und Machtkämpfe in der Partei vorprogrammiert. Wer aus der entschiedenen Bekräftigung des „demokratischen Sozialismus" eine unmissverständliche programmatische Annäherung der SPD an jene Partei herauslesen will, die in ihrem Namen bis vor kurzem dieses Schlagwort für sich beanspruchte, muss indes sehen, dass sich im Hamburger Programm die aus der Tagespolitik bekannte strategische Unentschlossenheit spiegelt. Denn wenn unter anderem auch „nachhaltiger Fortschritt" als Ziel deklariert wird, das wirtschaftliche Dynamik, soziale Gerechtigkeit und ökologische Vernunft vereine, so ist dies ein Signal, das nur für eine mögliche Ampelkoalition mit Grünen und FDP plausibel ist. Die SPD des Hamburger Programms dürfte indes große Schwierigkeiten haben, einerseits glaubwürdig darzulegen, dass sie als „linke Volkspartei" dem „demokratischen Sozialismus" verpflichtet ist und der Konkurrenzpartei DIE LINKE das Wasser abgraben kann und andererseits eine Koalitionsoption mit der stets als „marktradikal" gebrandmarkten FDP inhaltlich zu legitimieren. Wie auch bei den Unionsparteien formuliert die SPD eine Grundwertetrias von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Während die Begrifflichkeiten in den Programmen der beiden Unionsparteien eher diffus und additiv sind, arbeitet das „Hamburger Programm" der SPD deutlicher die Unterschiede zu einem klassisch liberalen Werteverständnis heraus. So betont sie die rechtlichen und materiellen Voraussetzungen der Freiheit. Dieser Wert besteht aus sozialdemokratischer Sicht in der „Möglichkeit, selbstbestimmt zu leben", frei zu sein „von entwürdigenden Abhängigkeiten, von Not und Furcht" und muss jedem die Chance bieten, seine Fähigkeiten zu entfalten und in Gesellschaft und Politik mitzuwirken: „Nur wer sich sozial ausreichend gesichert weiß, kann seine Freiheit nutzen" (SPD 2007d, S. 15). Gerechtigkeit besteht nach sozialdemokratischer Lesart aus gleicher Teilhabe an Bildung, Arbeit, sozialer Sicherheit, Kultur und Demokratie, aus gleichem Zugang zu allen öffentlichen Gütern, aus mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Macht. „Soziale Gerechtigkeit" stellt der Gleichheit des Rechts die Gleichheit der Teilhabe und der Lebenschancen im Sinne von „sozialer Gerechtigkeit" zur Seite. Deshalb bekennt sich das Hamburger Programm deutlich antiliberal: „Unser Verständnis der Grundwerte bewahrt uns davor, Freiheit auf die Freiheit des Marktes, Gerechtigkeit auf den Rechtsstaat, Solidarität auf Armenfürsorge zu reduzieren" (SPD 2007d, S. 15). Zwar wird die Vorstellung von Gleichmacherei zurückgewiesen, aber wenn als gerecht unter anderem angesehen wird, dass eine der Leistung angemessene Verteilung von Einkommen und Vermögen vorgenommen wird, setzt deren politische Umsetzung voraus, dass eine zentrale Instanz bewertet, welche Leistung vorliegt und ob der Markt sie angemessen honoriert. Es ist viel von den Grenzen des Marktes und der Korrektur sei-

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ner Ergebnisse die Rede, aber wenig über die Grenzen der Politik und von den Gefahren einer Politisierung all der Umstände, die auf das Leben des einzelnen einwirken. Deutlich wird dies auch beim Grundwert der „Solidarität". Zwar wird hier ähnlich wie bei den Unionsparteien die Sympathie fur wechselseitige Verbundenheit, Zusammengehörigkeit, spontane und individuelle Hilfsbereitschaft bekundet, aber auch offen für gemeinsame Regeln und Organisationen und für den Sozialstaat als „politisch verbürgter und organisierter Solidarität" geworben und allerhand öffentliche Güter definiert, für die der Primat der Politik geltend gemacht wird: Recht, Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Kultur, natürliche Umwelt, Daseinsvorsorge oder die gerechte Verteilung von Lebenschancen. Von alldem wird vermutet, dass der Markt in seiner sozialen und ökologischen Blindheit solche Güter nicht genügend bereitstellen könne, dass aber die Politik diesen Anspruch einlösen könne. Nicht eingegangen wird dabei auf all die Anreiz- und Lenkungsprobleme, die einem Ordnungsökonomen beim Schlagwort „öffentlichen Güter" zu Recht den Schweiß auf die Stirn treiben.

2. Globalisierung In allen drei Parteiprogrammen stellt die Globalisierung einen Schlüsselbegriff dar, von dessen Deutung nahezu alle wirtschafts- und finanzpolitischen Aussagen bestimmt werden. Dabei herrscht ungeachtet aller unbestreitbaren Vorteile, die sich aus der weltwirtschaftlichen Integration für Deutschland insgesamt ergeben, eine kapitalismuskritische und protektionistische Tonlage vor, deren Argumente aus früheren Debatten durchaus vertraut ist. Aus Sicht der CDU ist der Prozess der Globalisierung etwas Ambivalentes: als Ausdruck wirtschaftlicher Freiheit, der zu mehr Freihandel und zum Abbau von Handelshemmnissen führt, wird sie grundsätzlich begrüßt und mit einigen anerkennenden Bemerkungen gewürdigt. Dabei wird - vor allem mit Blick auf Demokratie, Menschenrechte, soziale und ökonomische Ziele - allerdings der Anspruch auf politische Gestaltung der Globalisierung erhoben. Damit wird vor allem darauf abgezielt, den Anpassungsdruck auf nationale Institutionen und Standards zu mindern. Mit Blick auf den weltweiten Standortwettbewerb wird, insoweit nationale Steuerungsmöglichkeiten geringer geworden sind, ein internationaler Ordnungsrahmen vor allem für die Finanzmärkte als nötig betrachtet. Verbreiteten Ängsten vor der Globalisierung trägt die CDU Rechnung, indem sie bekundet, die Globalisierung dürfe nicht das Ende des Sozialstaats und der Sozialen Marktwirtschaft sein. Vielmehr erhebt sie den Anspruch, die Standards der Sozialen Marktwirtschaft international ebenso zu verankern wie Menschenrechte und unabdingbare ökologische und soziale Mindeststandards. Einen besonderen Regulierungsanspruch formuliert die CDU angesichts des Problems, dass Staaten durch aktives Eingreifen - etwa durch Unternehmensbeteiligungen von staatlichen Unternehmen - nationale wirtschaftsstrategische Ziele durchzusetzen versuchen. In diesen Fällen könne es legitim sein, eigene Interessen durch eigenes staatliches Handeln durchzusetzen. Die Position der CSU unterscheidet sich hier nicht wesentlich. Chancen durch erweiterten Freihandel werden anerkannt, aber auch hier liegt der Schwerpunkt auf der Frage,

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wie man unerwünschte Folgen der Globalisierung durch politische Gestaltung minimieren kann. Der Katalog der Begründungen fallt sogar umfangreicher als im CDUProgramm aus: die Spaltung in Gewinner und Verlierer der Globalisierung möge überwunden werden, auch die Wahrung der Menschenrechte, der Raubbau an der Schöpfung, der Schutz von Umwelt, Klima und Weltmeere werden als politische Aufgaben angeführt. Für die globale Wirtschaft werden „ordnungspolitische Leitplanken" eingefordert: Menschenrechte, soziale Standards, Umwelt- und Klimaschutz, das internationale Finanzsystem, Korruptionsbekämpfung, der Schutz des Eigentums, die Schaffung einer globalen Wettbewerbspolitik und die Herstellung von Transparenz der Kapitalmärkte sind hier Stichworte, deren Gesamtbestand über das ordnungspolitisch Gebotene hinausweist und in der Zusammenschau ganz ähnlich wie der CDU den Anspruch hervortreten lässt, den aktuellen Zustand der deutschen Wirtschafts- und Sozialordnung mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft gleichzusetzen und als Maßstab für internationale Ordnungspolitik zu empfehlen. In ihrer internationalistischen Tradition misst die SPD Fragen der internationalen Wirtschafts- und Sozialbeziehungen einen prominenten Stellenwert zu. Es erstaunt nicht, dass in der sozialdemokratischen Deutung der Globalisierung ein sehr kritischer Ton herauszulesen ist und dass der korrigierende Gestaltungsanspruch um so deutlicher erhoben wird. Man stehe am Scheideweg zwischen mehr Wohlfahrt, Gerechtigkeit und Demokratie einerseits und zwischen erbitterten Verteilungskämpfen und entfesselter Gewalt andererseits. Zwar werden einige Chancen und Erfolge der Globalisierung anerkannt, etwa die Bekämpfung von Hunger, Armut und Seuchen oder die Ausbreitung von Wissen, stets folgen aber einschränkende und anklagende Bemerkungen, die im Gesamtbild eine bedrohliche, krisenhafte Stimmung erzeugen. In auffälliger Weise wird der „globale Kapitalismus" als Schreckbild gezeichnet, vor allem „unkontrollierte Kapitalbewegungen" sind der SPD ein Dorn im Auge und lassen sie die Forderung nach Regulierungen und Interventionen rufen, mit denen die Folgen globalen Wettbewerbs kontrolliert werden können. Unproblematisch sind Forderungen nach Öffnung von Agrarmärkten fur Entwicklungsländern und nach Abbau von Subventionen fur Agrarexporte aus den Industrieländern, selbst die Forderung nach einem wirksamen ordnungspolitischen Rahmen für Finanzmärkte auf internationaler Ebene muss für sich genommen keinen Argwohn wecken. Auffallig ist die Klage der SPD darüber, dass die Gestaltungsmöglichkeiten des demokratischen Nationalstaats gesunken seien. Sie fordert deshalb ein „soziales Europa" als Antwort auf den globalen Kapitalismus und stellt sich eine umfassende Weltinnenpolitik unter dem Dach der UNO vor. So soll diese einen Globalen Rat für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik schaffen, dem in einer recht optimistischen Manier eine umfassende Regulierungs- und Interventionskompetenz zugewiesen wird: „Er soll wirtschaftliche Interessen, soziale Bedürfnisse und ökologische Notwendigkeiten aufeinander abstimmen, die Gefahren unkontrollierter Kapitalbewegungen, soziales und ökologisches Dumping begrenzen helfen" (SPD 2007d, S. 23). Hier und bei vielen anderen Bemerkungen kommt der Wille zum Ausdruck, umfassende Leistungsrechte und Verteilungsziele durch internationales Recht und durch internationale Organisationen zu verwirklichen. Ein weit gefasster Sicherheitsbegriff, der Begriffe wie Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und nachhaltige Entwicklung einschließt, und ein ambitionierter Demokratie-

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begriff werden dem als undemokratisch und ungerecht beschriebenen Kapitalismus gegenübergestellt. Der Umstand, dass der nationale Wohlfahrts- und Interventionsstaat des 20. Jahrhunderts an die Grenzen seiner Steuerungskraft gestoßen ist, wird hier nicht zum Anlass genommen, über den Umfang politischer Kontrolle des wirtschaftlichen und sozialen Geschehens kritisch nachzudenken. Vielmehr wird hier der programmatische Versuch unternommen, mit einer expansiven Grundrechterhetorik europäische oder gar globale Regulierungs- und Interventionsmöglichkeiten zu legitimieren. Die Frage, ob solche Interventionsvorstellungen nach den Erfahrungen mit den nationalen Wohlfahrtsregimes der Vergangenheit ordnungstheoretisch tragfáhig sind und ob dabei eine konstitutionelle und demokratische Kontrolle der zuständigen Institutionen und der in ihnen agierenden Bürokratien, Parteien und Verbände gewährleistet werden kann, wird dabei nicht ernsthaft bedacht.

3. Wirtschaft und Arbeit Ausgangspunkt aller wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Aussagen ist für die CDU das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft. Ludwigs Erhards Versprechen von „Wohlstand für alle" wird jedoch modifiziert und relativiert zu einer „Chance auf Wohlstand und Sicherheit für alle". Mit dem Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft will sich die CDU nicht nur gegen Sozialismus und Kollektivismus abgrenzen, sondern auch gegen „ungezügelten Kapitalismus, der allein auf den Markt setzt und aus sich heraus keine Lösung der sozialen Fragen unserer Zeit findet" (CDU 2007, S. 46 f.). Dass Soziale Marktwirtschaft nicht auf ein die Politikfelder überwölbendes Ordnungsverständnis zurückgeführt wird, sondern in eine freiheitliche Wirtschafts- und eine solidarische Sozialordnung differenziert wird, ist konzeptionell bereits recht problematisch. Nachgerade gefahrlich ist es jedoch aus ordnungspolitischer Sicht, wenn die Soziale Marktwirtschaft deswegen als sozial definiert wird, „weil sie die Solidarität, auf der unsere staatlich organisierten Systeme der sozialen Sicherung beruhen, ökonomisch ermöglicht" (CDU 2007, S. 48). Das heißt nichts anderes als, dass die Marktwirtschaft an sich nicht sozial sei und ihre Rechtfertigung nur darin liege, einen ethisch überlegenen Sozialstaat zu finanzieren, wobei zudem davon ausgegangen wird, dass der soziale Zweck am besten durch die kollektiven Zwangsversicherungssysteme, wie sie derzeit existieren, erreicht werde. Solange die Kosten dieser Systeme noch so eben von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft getragen oder auf künftige Generationen abgewälzt werden können, fehlt aus dieser Warte jedes sozialethische Argument gegen eine weitere Kollektivierung des Menschen. Wer so argumentiert, mag eine mehrheitsfähige Position formulieren, begeht aber auch eine Selbsttäuschung, wenn er sich dabei auf das geistige Erbe Ludwig Erhards beruft. Auch die gesellschaftspolitischen Anliegen, die in den ursprünglichen Konzepten zur Sozialen Marktwirtschaft eine große Rolle spielten, werden von der CDU nur noch eingeschränkt mitgedacht. Das ordnungspolitische Argument ist im CDU-Programm am ehesten dort präsent, wo es im engeren Sinne im Fragen der Wirtschafts- und Arbeitswelt geht: wenn hier für mehr Freiheit und Wettbewerb statt Überregulierung plädiert wird, wenn als Grund für die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit die häufige Verletzung der Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft angeführt wird, so sind dies Ausprägungen einer zwar nach

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wie vor abrufbaren, aber eben nicht mehr umfassend gedachten ordnungspolitischen Grundorientierung. Auch das Plädoyer für weitere Privatisierungen, von denen auch die kommunale Wirtschaftstätigkeit nicht ausgenommen werden soll, für die Begrenzung staatlicher Subventionen, für mehr Flexibilisierung der Tarifordnung, flexiblere Altersgrenzen und die stärkere Beteiligung von Arbeitnehmern am Unternehmenskapital sind aus ordnungspolitischer Sicht Vorstöße in eine richtige Richtung. Es fallt ins Auge, dass die Forderung nach Rückbesinnung auf grundlegende Ordnungsprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft erhoben wird, um die Ziele Vollbeschäftigung, stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum, solide Haushalte und stabile soziale Sicherungssysteme zu erreichen, mithin also eine Art neues makroökonomisches Viereck der Globalsteuerung als Maßstab dient. Die CSU versteht unter der Sozialen Marktwirtschaft ein „sozial verantwortliches, nachhaltiges Wirtschaften, das den Menschen dient, neue Chancen für den Einzelnen und die Gemeinschaft eröffnet, den Wohlstand mehrt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt" (CSU 2007, S. 62) und befindet sich in den meisten Positionierungen in Übereinstimmung mit der CDU. Mehr Nachdruck legt die CSU einerseits unter dem Schlagwort „sozialer Friede" auf die Bedeutung von Tarifautonomie, Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft und andererseits auf die Förderung beruflicher Selbständigkeit und auf Mittelstandspolitik. Auch die Ergänzung niedriger Löhne durch staatliche Transferleistungen findet ihren Niederschlag und dient der Abgrenzung der von der SPD vertretenen Forderung nach staatlichen Mindestlöhnen. Angesichts der Renaissance des Begriffs des „demokratischen Sozialismus" fallen die Versuche der SPD, den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft in ihrem Sinne auszulegen und für sich zu reklamieren, halbherziger aus, als die nach 1998 zeitweilig den Anschein hatte. Unter dem alten Leitbegriff der „wirtschaftlichen Demokratie", für den zum Teil wörtlich auf das Berliner Programm von 1989 zurückgegriffen wird, legt die SPD das Schwergewicht ihrer Forderungen auf den Erhalt und Ausbau der bestehenden Mitbestimmungsstrukturen, die nach Möglichkeit auch auf europäischer Ebene verankert werden sollen. Die bestehenden Regelungen zum Flächentarifvertrag und zum Kündigungsschutz werden hartnäckig verteidigt. Vollbeschäftigung soll erreicht werden durch hohes, qualitatives Wachstum, durch Vorsprung bei innovativen Produkten, durch den „vorsorgenden Sozialstaat" und durch Angebote öffentlich geforderter und gemeinwohlorientierter Beschäftigung. Zudem wird mehr Flexibilität und Selbstbestimmung in der Arbeitszeitpolitik gefordert, allerdings taucht mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung auch ein Gespenst der 1980er Jahre wieder aus der Mottenkiste auf. Ein notfalls staatlich festzusetzender, existenzsichernder Mindestlohn soll die Niedriglohnproblematik lösen helfen. Der staatliche Interventionsanspruch wird in mehrfacher Weise erhoben: so etwa durch die Forderung nach einer Steuerpolitik, die Ungleichheit begrenzen und gleiche Chancen fördern soll und zum anderen durch die Forderung nach industriepolitischen Prioritätensetzungen und nach staatlichen Investitionsimpulsen für Leitmärkte. Keynesianische Denkreste klingen auch in der These an, dass eine hohe Binnennachfrage mehr Beschäftigung schaffe und dass deshalb die Lohnsteigerungen sich mindestens an der Produktivität und der Inflation orientieren sollten. Aus diesen und anderen Details lässt sich kein ausgeprägtes Problembewusstsein für die ordnungspolitischen Ursachen der Arbeitslosigkeit und die Wirkungen der Verbän-

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demacht in der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehlingen ablesen. Vielmehr bestätigt sich hier der aus der Tagespolitik zu gewinnende Eindruck, dass gerade die Arbeitsmarktpolitik als dasjenige Politikfeld dient, in dem weite Teile der SPD eine spürbare Linkskorrektur vornehmen wollen. Mit ihren Forderungen schafft die SPD eine deutliche Nähe zu den wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Positionen von DIE LINKE, wird sich freilich gerade in der Mindestlohndebatte immer wieder in der Rolle des Hasen gegenüber dem Igel wieder finden: egal wie hoch sie ihre Forderungen schrauben mag, es wird der Konkurrenzpartei DIE LINKE leicht fallen, jede Position, die die SPD erreichen will, schon besetzt zu halten und deren Forderungen zu überbieten. Es handelt sich dabei allerdings um durchweg populäre Forderungen, gegenüber denen das ordnungspolitische Argument einen schweren Stand hat - erst recht, wenn es von der Gegenseite nur halbherzig und allzu verwickelt vorgetragen wird.

4. Soziale Sicherung im demographischen Wandel Die CDU stellt ihre sozialpolitischen Diagnosen und Forderungen unter das Leitbild eines aktivierenden Sozialstaats, der auf Eigeninitiative und Eigenverantwortung beruht. In den sozialen Sicherungssystemen sollen deshalb die Eigenverantwortung gestärkt, Generationengerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit verwirklicht und die Abhängigkeit von der Erwerbsarbeit reduziert werden. Was das konkret bedeuten soll, wird vor allem bei der Gesundheitspolitik deutlich, über die die Union seit Jahren mit sich ringt. Hier schwebt der CDU vor, die an das Arbeitseinkommen gekoppelte Finanzierung stufenweise durch ein solidarisches Prämienmodell mit Kapitalbildung zu ersetzen, wobei ein sozialer Ausgleich und die Versicherung für Kinder aus Steuermitteln erfolgen soll. An der Pflegeversicherung, die 1994 als weitere Säule der sozialen Sicherung hinzukam und innerhalb einer Dekade ins Defizit geriet, hält die CDU fest, obwohl eine ordnungspolitische Korrektur im Sinne eines Versicherungszwangs anstelle der bestehenden Zwangsversicherung noch ohne große Übergangsprobleme möglich wäre. Hier plädiert die CDU nicht für eine ordnungspolitische Notbremse, sondern gibt sich zufrieden mit der Forderung nach einer Ergänzung um solidarische Prämienelemente und die rasche Ersetzung durch ein kapitalgedecktes, solidarisches Prämienmodell. Diese unausgegorenen Mittelwege sind, wie die bisherige Debatte zeigt, nicht wirklich populär und dürften gegen die Forderungen nach umfassender Kollektivierung der sozialen Sicherungssysteme keine nennenswerte Widerstandskraft entfalten. Populärer dürfte dagegen die - innerparteilich zuletzt heiß debattierte - Forderung sein, die Bezugsdauer für Leistungen bei Arbeitslosigkeit an die Dauer der vorangegangenen Beitragszahlung zu koppeln. Trotz des zutreffenden Arguments der Leistungsgerechtigkeit im Versicherungsprinzip scheut aber die CDU den konsequenten Schritt in mehr Selbstbestimmung und zu privaten Versicherungslösungen. Die sozialpolitischen Ausführungen der CSU kommen etwas wortgewaltiger als die eher technokratischen Positionsbestimmungen der großen Schwesterpartei daher. Neben dem demographischen Wandel an sich werden auch der „Irrweg Versorgungsstaat" als große Herausforderung beschrieben und die Verantwortung und Vorsorge für die Nachkommen als konservatives Argument ins Felde geführt. Vor diesem Hintergrund will die CSU den Glauben an einen allzuständigen „Betreuungsstaat" zurückdrängen, die

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Kernaufgaben des Staates stärken, Hilfe fur Schwache sichern, Selbstentfaltung fördern, zu Selbstverantwortung befähigen und den Vorrang privater Selbstverantwortung stärken. Die CSU gemahnt daran, dass die Kosten des Sozialstaats durch Leistung erwirtschaftet werden, begibt sich damit allerdings in die Gefahr, dass das Argument für wirtschaftliche Freiheit bloß instrumenteil und damit angreifbar gerät. Umgekehrt wird soziale Sicherheit als Grundvoraussetzung für ein innovatives und leistungsfähiges Gemeinwesen und als Grundlage für Mut zur Freiheit, für Bereitschaft zu eigener Verantwortung herausgestellt. Trotz mancher einprägsamer und gelungener Formulierungen verliert sich das sozialpolitische Programm in einer „sowohl als auch"-Rhetorik, die sich zwischen individueller Freiheit und sozialer Sicherheit bewegt und viele Fragen offen lässt. Zu Recht wendet sich die CSU gegen eine nivellierende Einheitsversicherung in der Gesundheitspolitik und plädiert sie für den Erhalt der Privatversicherungen, aber jenseits dessen bleibt diffus, welche Leitgedanken für Reformkonzepte gelten sollen. Der Begriff „vorsorgender Sozialstaat" hätte in der SPD durchaus das Potential gehabt, eine Neuausrichtung der Sozialstaats zu legitimieren, bei der ordnungspolitische Fragen der Anreizwirkungen und der Nachhaltigkeit in politischen Kreisen Anerkennung hätten finden können, deren Sozialpolitik bislang meist allzu symptomatisch, interventionistisch und verteilungspolitisch angelegt war. Durch die Relativierung des Begriffs gerät das sozialpolitische Programm der SPD jedoch wieder in alter Tradition zu einem großen Warenhauskatalog des Wünschenswerten, der für alle Arten von Staatseingriffen und für die Politisierung der menschlichen Lebensumstände Begründungen liefert. Sicherheit, Teilhabe und Emanzipation unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht, Lebensalter oder einer Behinderung, Bekämpfung der Armut, Förderung existenzsichernder Erwerbsarbeit, Hilfe bei Erziehung, Gesundheitsprävention, Gestaltung des demografischen Wandels, Förderung einer höheren Erwerbsquote von Frauen und Älteren und manches andere mehr wird hier an Staatszielbestimmungen zusammengetragen. Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme will die SPD auf eine breitere Basis stellen und denkt dabei an weitere Steuereinnahmen, die sich auf alle Einkunftsarten beziehen sollen. Die SPD wirbt für eine „Solidarische Bürgerversicherung", die nicht nur auf das Gesundheitswesen, sondern auch auf die Pflegeversicherung bezogen werden soll: niemand soll sich der vom Staat organisierten Solidarität entziehen dürfen, damit alle denselben Anspruch auf Versorgung und gleiche Teilhabe am medizinischen Fortschritt haben.

5. Steuern und Finanzen Die finanzpolitischen Programmaussagen der CDU spiegeln deutlich die Gegenstände der Verhandlungen um eine Reform der Finanzverfassung wider. Die CDU bekennt sich zum Abbau von Verschuldung und Schuldenstand, will die verfassungsrechtliche Verschuldungsgrenze durch eine restriktivere Definition öffentlicher Investitionen und durch festgelegte Tilgungspläne verbindlicher machen und proklamiert als Ziel ein grundsätzliches Neuverschuldungsverbot auf allen Ebenen, bei der allerdings Vorsorge für Konjunkturschwankungen getroffen werden soll. Die föderale Finanzverfassung soll die finanzielle Eigenverantwortung stärken und transparent machen, einen einfacheren

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Finanzausgleich bringen und föderalen Wettbewerb ermöglichen. Für Verschuldungssünder sollen verbindliche Sanierungsprogramme festgelegt werden. Gemessen an der Aufregung, die sich in den vergangenen Jahren an den Steuerkonzepten entzündeten, welche mit den Namen Friedrich Merz und Paul Kirchhof verbunden waren, fallt ins Auge, wie lakonisch das CDU-Programm zu diesem Themenfeld Stellung bezieht. Gewiss, es werden niedrige, einfache und gerechte Steuersätze und die Entlastung des Faktors Arbeit gefordert. Es wird auch für eine Unternehmensteuer plädiert, die wettbewerbsneutral und unabhängig von Rechtsform gestaltet sein soll. Doch insgesamt scheint das Thema Steuerpolitik für die Partei an Attraktivität eingebüßt zu haben. Grundsätzliche Unterschiede lassen sich bei der CSU in bezug auf die Steuerpolitik nicht erkennen. Auffallig ist die große Zurückhaltung in bezug auf eine Reform der Finanzverfassung, bei der man aus bayerischer Sicht ein eindringlicheres Plädoyer für einen Wettbewerbsföderalismus erwartet hätte. Unübersehbar ist auch, dass die konservative Deutung des Nachhaltigkeitsarguments im Zusammenhang mit der Haushaltspolitik aufgeweicht wird und Interpretationsspielräume offen hält: Nachhaltige Finanzpolitik bedeutet für die CSU nicht nur Beschränkung des Gegenwartskonsums, sondern auch Schwerpunktsetzungen für so genannte Zukunftsinvestitionen. Andere Akzentsetzungen, die den Finanzbedarf des Staates zum Maßstab nehmen, finden sich bei der SPD: der Staat brauche „für politische Gestaltung ausreichende und verlässliche Einnahmen: „Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten" (SPD 2007d, S. 45). Anders als die Unionsparteien legt die SPD offen, dass sie für höhere Steuern plädiert: vor allem mit dem Bekenntnis zu progressiver Besteuerung und der Forderung nach ,,gerechte[r] Besteuerung von großen Vermögen und Erbschaften" tauchen sozialdemokratische Programmklassiker als Kontrastmittel zum Koalitionspartner auf. Noch deutlicher als bei der CSU wird das eingängige, aber zu hinterfragende Argument herausgestellt, dass Haushaltskonsolidierung nicht auf Kosten einer maroden Infrastruktur gehen dürfe. Weitere Aussagen zu einer ausgabenorientierten Finanzpolitik, mit denen sozialdemokratische Traditionslinien einer aktiven Konjunktur- und Wachstumspolitik bekräftigt werden, sind das Eintreten für eine Stabilisierungs- und Ausgabenpolitik zur Überwindung konjunktureller Krisen und für „kontinuierlich ansteigende Investitionen" in Bildung, Forschung und Infrastruktur. Neben all diesen eher prozesspolitisch motivierten Vorstellungen fallt als eher ordnungspolitisch motivierter Gedanke das Ziel ins Auge, mit Hilfe des Steuer- und Aktienrechts Anleger zu stärken, die langfristiges Engagement in einem Unternehmen im Blick haben. Es bedarf keiner allzu großen Phantasie, um vorauszusehen, dass vor dem Hintergrund dieser programmatischen Grundorientierungen bei einer Reform der Finanzverfassung bestenfalls Teilerfolge zu erzielen sein werden. Insgesamt sind die programmatischen Aussagen zur Haushaltspolitik der drei Parteien weich genug formuliert, um auch künftig bei kleineren Belastungsproben das Heil eher in höherer Verschuldung oder in höherer Abgabenbelastung als in Aufgaben- und Ausgabenkritik zu suchen.

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6. Europa Die langjährigen Debatten um den gescheiterten EU-Verfassungsvertrag und den Vertrag von Lissabon bilden den Hintergrund der europapolitischen Positionierungen. In der deutschen Europadebatte herrschte eine recht unkritische Integrationseuphorie vor, auch wenn eine stärkere Verbindlichkeit des Subsidiaritätsprinzips eingefordert wurde. Auffallig war dabei, dass die bessere Durchsetzung von Binnenmarkt und Freihandel in den Hintergrund geriet und die Legitimation für eine weitere Integration nicht zuletzt in der Ausdehnung von sozialpolitischen Kompetenzen gesucht wurde. Befürworter einer vertieften Integration sahen für die Europäische Union eine Rolle als wohlfahrtsstaatlicher Akteur, der anstelle der in ihrer Steuerungsfahigkeit begrenzten Nationalstaaten der Globalisierung durch Regulierungen und Schutzmaßnahmen begegnen könne. Das Scheitern des Verfassungsvertrags hatte zwar deutlich gemacht, dass die europäische Idee mit zu hohen Erwartungen befrachtet worden war, aber der Vertrag von Lissabon machte gegenüber der in vielen Ländern verbreiteten EU-Skepsis allenfalls symbolische Zugeständnisse, während an der Substanz des Verfassungsvertrags kaum Abstriche gemacht wurden. Sieht man von der Frage eines EU-Beitritts der Türkei ab, so waren die deutschen Parteien in der Europadebatte der vergangenen Jahre um ein hohes Maß an Konsens bemüht, während ordnungstheoretische oder demokratietheoretische Kontroversfragen zu Maß und Ziel der Integration von den etablierten Parteien kaum aufgeworfen wurden. Dies schlägt sich auch in den neuen Grundsatzprogrammen nieder. Die CDU bekräftigt in ihrem neuen Programm ihren Anspruch als Partei der europäischen Integration und hält am langfristigen Ziel einer europäischen Verfassung fest. Zwar wird gefordert, den Einsatz der EU-Finanzmittel gezielter, effizienter und zukunftsorientierter vorzunehmen, Vorschriften und Verwaltungskosten abzubauen, Überregulierung zu vermeiden und das Gemeinschaftsrecht zu vereinfachen, aber trotz aller Betonung des Subsidiaritätsprinzip vermisst man eine Diskussion darüber, inwieweit der stetig angewachsene Zuständigkeitsbereich der EU zugunsten der Nationalstaaten und Regionen begrenzt werden könnte. Abgesehen von den erwähnten Punkten richten sich Bedenken gegen den Stand der Integrationspolitik vornehmlich auf die Frage der Erweiterung. Die Fixierung auf die Debatte um einen Beitritt der Türkei zur EU kompensiert offenbar eine fehlende ordnungspolitische und verfassungsökonomische Debatte um Aufgabenkritik der EU. Es finden sich vielmehr einige Themen, in denen eine weitere Zentralisierung gewünscht wird: die Daueraufgabe der Vollendung und Weiterentwicklung des Binnenmarktes ist in dieser Hinsicht ordnungspolitisch wohl weniger bedenklich als die Forderung nach einheitlichen Mindeststandards in der Sozial- und Umweltpolitik und der Ausbau der europäischen Entwicklungszusammenarbeit. Aus ordnungspolitischer Sicht anerkennenswert ist jedoch, dass die CDU an der Unabhängigkeit der Zentralbank festhält und sich zur strikten Einhaltung des Wirtschafts- und Stabilitätspakts bekennt. Die CDU fordert zwar, dass Europäischer Rat und Europäisches Parlament künftig gleichberechtigt an der EU-Normsetzung mitwirken sollen, hat aber offenbar kein großes Vertrauen darin, dass ein solcher Zweikammerparlamentarismus auf europäischer Ebene eine hinreichende Gewähr dafür bietet, eine kluge und vorausschauende Finanzpolitik zu betreiben. Im heiklen Punkt der EU-Finanzierung tritt die Union jedenfalls für ein System ein, das sich an der Wirtschaftskraft der Mitglied-

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Staaten orientiert, und lehnt eigene Kompetenzen der EU zur Steuererhebung und zur öffentlichen Kreditaufnahme ab. Wie auch die CDU plädiert die CSU für eine Stärkung der EU-Zuständigkeiten in bezug auf die äußere und innere Sicherheit. Im Tenor des Programms überrascht es nicht, dass die bayerische Regionalpartei mit mehr Nachdruck ihre Bedenken gegen weitere Erweiterungsrunden formuliert und eine Einhaltung des in der Praxis recht zahnlosen Subsidiaritätsprinzips anmahnt. Die Rechtsetzung der EU solle sich auf das wirklich Notwendige beschränken sowohl im Hinblick auf den Gegenstand selbst als auch auf Handlungsform und Regelungstiefe. Ob freilich das für das EU-Parlament geforderte Initiativrecht bei der EU-Rechtsetzung dem Anliegen der Subsidiarität dienlich ist, steht auf einem anderen Blatt. Noch deutlicher als die Unionsparteien geht die SPD davon aus, dass es ein „Europäisches Gesellschaftsmodell" gebe. Als dessen Kern gelten der SPD ein leistungsfähiger Staat, die Absicherung elementarer Lebensrisiken durch Sozialsysteme, ein hohes Bildungsniveau, öffentliche Daseinsvorsorge, geregelte Arbeitsbedingungen sowie Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer. Das entspricht wohl kaum der Vielschichtigkeit und Verschiedenheit der europäischen Gesellschaften, dient aber als normatives Konzept, um dem Bild eines „sozialen und demokratischen Europas" Konturen zu verleihen. Die von den Unionsparteien nur zaghaft und unschlüssig aufgeworfene Frage nach ordnungstheoretischer Aufgaben- und Regelungskritik stellt sich für die SPD im Angesichte der Globalisierung gar nicht erst: wo der Nationalstaat den Märkten keinen sozialen und ökologischen Rahmen mehr setzen kann, wird nicht der scheiternde Regelungsanspruch hinterfragt, sondern die Regelung der Europäischen Union zugewiesen. Bezeichnend für den Hang zu europäischer Zentralisierung ist das, was die SPD unter einem „föderalen Europa" versteht: hier geht es nicht um Subsidiarität, Wettbewerb regionaler politischen Lösungen und Stärkung der Eigenverantwortung der kleineren Einheiten, sondern um den Gedanken, dass die Nationalstaaten an der europäischen Gesetzgebung mitwirken (SPD 2007d, S. 27). Die Verflechtungsfalle, in die der deutsche Föderalismus getappt ist, soll somit als Prinzip eines europäischen Föderalismus befestigt werden. Die SPD setzt große Hoffhungen in die Stärkung des Parlaments und in den Aufbau einer „europäischen Öffentlichkeit" von Medien, Parteien und Verbänden, worunter im Ergebnis wohl vor allem eine Stärkung des europäischen Korporatismus zu verstehen ist. Damit einher soll eine Ausdehnung der europäischen Zuständigkeiten stehen. Ein „Sozialer Stabilitätspakt" müsse Ziele und Standards nationaler Sozial- und Bildungsausgaben festlegen, die sich an der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientieren. Finanzpolitisch plädiert die SPD für Mindestsätze bei der Unternehmensbesteuerung und gemeinsame Bemessungsgrundlagen, um einen echten Steuerwettbewerb zu vermeiden. Langfristig soll die EU eigene Einnahmequellen erhalten, um in Bildung, Forschung und Innovation zu investieren. Trotz der europapolitischen Akzentunterschiede hat in den Grundsatzprogrammen der drei Parteien eine ordnungspolitisch oder verfassungsökonomisch reflektierte Kritik am Grad der Europäisierung und an der Überkomplexität der Institutionen keinen Platz. Aus der deutschen Politik sind nach wie vor keine wirksamen Gegengewichte zur in mancherlei Hinsicht problematischen Eigendynamik der Europäisierung zu erwarten.

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Vor allem dürfte aus Deutschland der Druck anhalten, auf europäischer Ebene die ohnehin an einigen Stellen bereits durchstochenen Dämme der Geld-, Wirtschafts- und Finanzpolitik weiter aufzuweichen und konjunktur-, sozial-, investitions- oder beschäftigungspolitische Zielsetzungen über die deutsche Verfassungslage hinweg verbindlich zu machen.

V. Bilanz und Schlussfolgerungen Die neuen Grundsatzprogramme der Regierungsparteien waren in erster Linie darauf ausgerichtet, Identität zu stärken, von der Unzufriedenheit mit dem Regierungsalltag abzulenken und durch breit angelegte Diskussionsprozesse zu integrieren. Das Zeug zum Klassiker hat keines der drei Programme, sie dürften kaum längeren Bestand haben als die jeweiligen Vorgängerprogramme. Sie haben überwiegend dokumentarischen und kaum präskriptiven Charakter, ihre Verbindlichkeit für künftige wahlprogrammatische und tagespolitische Positionierungen ist eher gering zu veranschlagen. Allerdings spiegeln sie auch charakteristische Mentalitäten wider, die bei der künftigen Entscheidung über Wahl- und Regierungsprogramme wirksam werden dürften. Mag auf der Ebene des Regierungshandelns und der Entscheidungspolitik der Großen Koalition auch ein hohes Maß an Konvergenz herrschen, so suchen die Regierungsparteien um so mehr auf der Ebene der programmatischen Darstellungspolitik nach Möglichkeiten der Polarisierung und Profilierung. Es handelt sich bei den Differenzen, die in den neuen Grundsatzprogrammen zu Tage treten, keineswegs um eine gespielte Inkohärenz, sondern um substantielle und signifikante Unterschiede. Während die SPD ihre relative Positionierung links von der Union und ihre programmatische Annäherung an DIE LINKE vorzugsweise mit wirtschafts- und sozialpolitischen Themen versucht, ist bei den Unionsparteien der Ehrgeiz zur Profilierung in diesen Politikfeldern eher gering. Sie setzen zur Profilierung stärker auf innen- und sicherheitspolitische Fragen, bei wirtschafts- und sozialpolitischen Themen sind sie hingegen auffällig darauf bedacht, den Vorwurf des Neoliberalismus zu entkräften und keine allzu große Lücke zu sozialdemokratischen Positionen entstehen zu lassen. Der ordnungspolitische Anspruch der Unionsparteien ist zwar nicht völlig aufgegeben worden, aber nur noch punktuell abrufbar. Die neuen Grundsatzprogramme der großen Parteien spiegeln wider, dass es nach bald anderthalb Jahrzehnten Reformdiskussion in Deutschland keinen breiten Konsens über notwendige System verändernde Reformen des Wohlfahrtsstaates gibt. Um ihre Mehrheitsfähigkeit bedacht, tragen die großen Parteien dem Umstand Rechnung, dass in der Bevölkerung allenfalls System erhaltende Reformen zustimmungsfahig sind, auch wenn Symptome wie Politikverdrossenheit, Steuerbetrug, Schwarzarbeit, nachlassende Verbindlichkeit des Rechts oder andere Umgehungsstrategien eine verbreitete Unzufriedenheit mit der bürokratischen Praxis staatlicher Regulierungen erkennen lassen. In einem Land, in dem immer mehr Menschen von Transferleistungen des Staates abhängig sind und immer weniger Menschen von ihrer eigenen Leistung leben, gibt es keine politisch tragfahige Bereitschaft für die Kürzung staatlicher Subventionen oder den Ausbau persönlicher Eigenverantwortung. Auffällig ist dabei, dass es der SPD allen schlechten Umfragewerten zum Trotz gelingt, mit dem „Mindestlohn", der „Bürgerver-

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Sicherung" oder der „Einheitsschule" eingängige, populäre Forderungen zu erheben, denen gegenüber das bürgerliche Lager keine feste und attraktive Gegenposition zu formulieren weiß. Letzteres hat in den genannten Feldern nur halbherzig durchdachte und vorgetragene Gegenargumente und ist von einer klaren ordnungspolitischen Gegenhaltung zum Plädoyer für sektoralen Kollektivismus weit entfernt. Wie die aktuelle Mindestlohndebatte zeigt, ist es dann nur eine Frage der Zeit, bis bei diesen Themen die Dämme brechen. In den vergangenen Jahren hat sich ein Mehrparteiensystem etabliert, das stabile und programmatisch kohärente Regierungsbildungen auf Bundesebene und in vielen Bundesländern zunehmend erschwert, zumal dessen Polarisierungs- und Zerfallsprozess keineswegs abgeschlossen sein muss. Die Parteien stehen nicht nur vor der komplizierter gewordenen Frage, wie sie in der neuen Wettbewerbssituation ihr programmatisches Profil als Markenkern verteidigen können, sondern auch vor der zwiefachen Herausforderung, Macht im Simultanwettbewerb auf dem Wählermarkt und auf dem Koalitionsmarkt zu erringen. Das deutsche Parteiensystem ist in eine Ära der koalitionspolitischen Experimente eingetreten, die zu einer Vielzahl kurzlebiger, unvorbereiteter und fragiler Regierungsbündnisse fuhren wird, bei denen der Euckenscbs, Appell zu „Konstanz der Wirtschaftspolitik" mehr denn je ein frommer Wunsch bleiben wird. Die neuen Grundsatzprogramme deuten in diese Richtung. Die koalitionspolitischen Signale bei der Union sind auf die FDP gestellt, mit Blick auf die Grünen ist der Ehrgeiz, deren bürgerliche Wähler durch klima- und umweltpolitische Sensibilität zu ködern, größer als die Bereitschaft, eine bundespolitische Koalition vorzubereiten. Seitens der SPD stärkt das neue Programm ein linkes Selbstverständnis und wirkt in diesem Sinne vorbereitend auf eine mittelfristige Zusammenarbeit mit der Partei DIE LINKE, auch wenn die seit Herbst 2008 amtierende Doppelspitze andere Präferenzen haben mag. Zieht man andere europäische Parteiensysteme zum Vergleich heran, so ist derzeit allerdings keineswegs ausgemacht, ob eine gemäßigte sozialdemokratische Partei, die ihre Regierungspolitik nur mit schlechtem Gewissen betreibt und es versäumt, ihre Kernwählerschaft von der Attraktivität und Legitimität nachhaltiger Reformstrategien zu überzeugen, auf Dauer stärker sein wird als eine konsequent sozialistische Partei. Die Erfolgsaussichten für ordnungspolitische Reformen hängen allerdings maßgeblich von den künftigen Mehrheitsoptionen im deutschen Parteiensystem ab. In dem komplizierter gewordenen deutschen Parteiensystem könnte es eine vergebliche Hoffnung sein, auf günstige Koalitionen zu hoffen. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, auch unter unerprobten und ungünstigen Regierungsbedingungen ordnungspolitische Argumente in allen Parteien akzeptabel zu machen. Das setzt seitens der beratenden Wissenschaft jedoch voraus, dass man sich nicht darauf beschränkt, der Politik den Spiegel vorzuhalten und ordnungspolitisch optimale Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Vielmehr verlangt dies eine zwar theoretisch sattelfeste, aber zugleich der politischen Praxis zugewandte Wissenschaft, die die Nöte politischer Führung ernst nimmt und neben der Sachrationalität auch die Vermittlungs- und die Durchsetzungsrationalität von Reformen realistischer als bisher reflektiert. Die Skepsis, die der Ordnungstheoretiker für gewöhnlich gegenüber der Politik hegt, ist gewiss in vielen Fällen berechtigt. In der Tat ist es eine Gratwanderung für den beratenden Wissenschaftler, sich zwischen klarem theoretischem Profil und Einfühlungs-

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vermögen für politische Konstellationen, in denen für Mehrheiten geworben werden muss, zu bewegen: ohne Vorschläge zu verwässern, muss er theoretisch richtige Lösungen so formulieren, dass es sich zugleich um realistische Lösungen handelt. Im Sinne von verbesserten ordnungspolitischen Durchsetzungsstrategien dürfen sich die Anstrengungen jedoch nicht darin erschöpfen, mit Reformvorschlägen die Handlungslogik der Akteure zu durchkreuzen und deren Macht einschränken, sondern sollten stärker darauf ausgerichtet werden, deren Handlungslogik und Eigeninteressen für die Implementierung von ordnungspolitisch durchdachten Reformen zu nutzen. Der so enttäuschende Verlauf der Föderalismuskommission II zeigt, wie schwierig dies im konkreten Fall einzulösen ist. Ein wichtiges Feld, auf dem die Ordnungstheorie und Ordnungspolitik in den letzten Jahrzehnten viel Boden verloren hat, ist der Kampf um politisch tragfähige und theoretisch wasserdichte Begriffe. Die ordnungspolitische Szene hat zu wenig Aufmerksamkeit darauf verwandt, in die Arena der „Sprachgebrauchspolitik" (Lübbe 1975) hinabzusteigen und attraktive Begriffe und griffige Feindbilder der politischen Kommunikation zu prägen. Vielmehr hat sie sich im Laufe der Jahrzehnte nahezu alle wichtigen Begriffe entwenden lassen und deren Umdeutung hingenommen. Auch die neuen Grundsatzprogramme dokumentieren, dass die Deutungshoheit über viele wichtige Begriffe „nach links" gewandert ist. Das wird bereits am Begriff „Ordnungspolitik" selbst deutlich. Dort wo er in den Grundsatzprogrammen der Parteien überhaupt noch Verwendung findet, dient er gegenwärtig in erster Linie dazu, neue Regulierungen zu begründen, nicht aber um Interventionismus zurückzudrängen oder zumindest etwas mehr Fingerspitzengefühl für Richtung und Maß von auch ordnungspolitisch vertretbaren Eingriffen zu entwickeln. Vor allem die Vorstellung, es gebe ein europäischen Sozialmodell (z.B. bei Giddens 2006 und Rüttgers 2007), dient derzeit als Triebfeder solcher Forderungen. Auch Begriffe wie Kapitalismus, Marktwirtschaft, Globalisierung oder Neoliberalismus sind nicht mehr Selbstbeschreibungen eines ordnungspolitischen Grundverständnisses, sondern pejorativ besetzte Begriffe, die derzeit nur zur Abgrenzung genutzt werden können. Andere Begriffe wie Freiheit oder Gerechtigkeit werden auch von den bürgerlichen Parteien nicht mehr im liberal-individualistischen Sinne, sondern zumindest auch im kollektivistischen Sinne genutzt. Solche Konzessionen sind allenfalls kurzfristig in Wahlkampagnen erfolgreich, denn auf lange Sicht muss deijenige seine Mehrheitsfahigkeit einbüßen und sich selbst das Wasser abgraben, der die Meinungsführerschaft über zentrale Begriffe der politischen Kommunikation aufgibt und die intellektuelle Deutungshoheit des politischen Gegners akzeptiert. Einstige Hochwertbegriffe der politischen Kommunikation wie Freiheit und Reform wecken mittlerweile zuallererst Ängste vor neuen Zumutungen, weiteren Leistungseinschnitten oder mehr Eigenverantwortung. Die schwierigen und unvollkommenen Reformprozesse seit den 1990er Jahren haben insbesondere gezeigt, dass sich deren politische Kommunikation und Durchsetzung nicht auf eine Aura des Notwendigen, Vernünftigen und Unvermeidlichen beschränken darf. Vielmehr muss den Bedürfnissen nach wertegebundener und identitätsstiftender Führung Rechnung getragen werden: Parteimitglieder und Wähler haben nur dann Vertrauen in Reformen, wenn sie trotz

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aller Zumutungen programmatische Markenkerne wiedererkennen und ein Stück Erwartungssicherheit vermittelt bekommen. Wer ordnungspolitische Reformen insbesondere des Wohlfahrtsstaats will, kann sich nicht damit zufrieden geben, einschlägige Maßnahmen als notwendig und unvermeidbar hinzustellen, sondern er muss erhebliche Anstrengungen unternehmen, um das in der Sache Gebotene in eine tragfahige und attraktive Reformkommunikation einzubetten und Unpopuläres mehrheitsfähig zu machen. Das ordnungspolitische Argument muss angesichts der auf absehbare Zeit schwierigen Mehrheitsverhältnisse in Deutschland insbesondere seine Überzeugungskraft gegenüber Wankelmütigen verbessern und auch dort wirken, wo nicht die reine Lehre, sondern bestenfalls Kompromisse durchsetzbar sind. Neue Koalitionsszenarien müssen daher bedacht und durch die Auslotung möglicher Schnittmengen vorbereitet werden. Das betrifft zum einen die Unionsparteien, die ihr geistiges Erbe zu erheblichen Teilen verschleudert haben. Hier stellt sich die Frage, wie man die vielen trojanischen Begriffe und Denkfiguren, die in deren Programmatik Eingang gefunden haben, zurückdrängen kann oder ob man alternative Begriffsangebote entwickeln kann, die mit Aussicht auf Erfolg ordnungspolitische Denkfiguren wieder etablieren helfen. Wenn es beispielsweise gelänge, den Begriff „soziale Verantwortung" anstelle von „sozialer Gerechtigkeit" zu etablieren, wäre dies aus streng liberaler Warte immer noch heikel genug, aber es fiele um einiges leichter, eine ordnungspolitische Sichtweise auf sozialpolitische Fragen zu eröffnen. Zum anderen müssen sich die Bemühungen auch an die SPD und die Grünen richten. Auf der Suche nach Ansatzpunkte für einen ordnungspolitischen Diskurs in die SPD hinein sollte man - trotz seiner zwischenzeitlichen Relativierung - auf den Begriff des „Vorsorgenden Sozialstaats" zurückzukommen, der sich als Vehikel für einige ordnungspolitische Argumente durchaus eignet. Wer auf die SPD nicht setzen mag, muss sehen, dass künftige Mehrheitsbildungen jenseits der Großen Koalition in erster Linie von der Entwicklung der Grünen abhängen. Hier gibt es einerseits mit dem Konzept „Grüne Marktwirtschaft" (Bündnis 90/Die Grünen 2007) wirtschaftspolitische Vorstellungen, die an ordnungspolitische Vorstellungen anschlussfähig sind, andererseits herrscht in der Partei nach wie vor ein wirtschaftspolitischer Keynesianismus vor. Wie sich die Grünen auf lange Sicht programmatisch verorten, ob sie zu zeitweiligen Koalitionen mit den bürgerlichen Parteien bereit sind und was von solchen Koalitionen inhaltlich zu erwarten ist, dürfte sich nicht zuletzt daran entscheiden, ob es gelingt, den für die Grünen zentralen Begriff der Nachhaltigkeit ordnungspolitisch zu deuten und gegen den in der Partei vorherrschenden Keynesianismus auch in wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischer Hinsicht zu verankern. Mit Blick auf die Grünen - und große Teile der Unionsparteien - wird es wichtig sein herauszuarbeiten, dass die große Wasserscheide politischen Denkens und die Konfliktlinie nicht zwischen „links" und „rechts", sondern zwischen Kollektivismus einerseits und Individualismus/Personalismus andererseits verläuft. Um die Attraktivität der Ordnungspolitik über die liberal-konservative Kernklientel hinaus zu steigern, muss ihr Anwendungsbereich geweitet werden. Ordnungspolitik ist - zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, auf die es ankommt - auf die Frage der wirtschaftlichen Ordnung zurückgedrängt, daher ist ihre Relativierung durch andere Ziele jederzeit möglich. Ordnungspolitisches Denken muss als politikfeldübergreifendes Verständnis auch in Fragen der Sozialpolitik oder der Umweltpolitik Geltung erlangen.

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Nur wenn man über Hochwertbegriffe wie Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit oder Solidarität Deutungshoheit gewinnt und sie mit ordnungspolitischer Substanz füllen kann, wird ordnungspolitisches Denken auch in komplizierten Mehrheitskonstellationen durchsetzbar sein. Ein synoptisches, politikfeldübergreifendes Ordnungsdenken politisch wieder salonfähig zu machen ist nach der Lektüre der neuen Grundsatzprogramme die größte gedankliche Herausforderung. 60 Jahre nach ihrer „Erfindung" wird die Verschiebung der Deutungsmacht am Begriff der Sozialen Marktwirtschaft auf dramatische Weise deutlich. Der Begriff hat eine weitgehende Umdeutung und Sinnentleerung erfahren, die auch von den Unionsparteien nicht mehr grundsätzlich angefochten wird. Im politischen Raum wird die Soziale Marktwirtschaft nicht mehr als Ordnungszusammenhang von Wirtschafts- und Sozialordnung verstanden, sondern als Addition und Koexistenz zweier Prinzipien, der „wirtschaftlichen Vernunft" und der „sozialen Gerechtigkeit". Freiheit und Gerechtigkeit werden nicht mehr als universelle, sondern nur noch als parzellierte Begriffe verstanden, die je nach Bezugrahmen beliebig definiert werden können und deren verschiedene Auslegungsformen beliebig miteinander addiert werden können. Besonders verheerend wirkt sich aus, dass es der bürgerlichen Seite immer schwerer fällt, für die ethische Begründung der Marktwirtschaft politisch, medial und pädagogisch einzutreten. Die ethische Legitimation der Marktwirtschaft ist darauf geschrumpft, dass mit ihrer höheren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der an sich ethisch überlegene Wohlfahrtsstaat finanziert werden soll. Wirtschaftsethische Argumente dienen üblicherweise nicht zur Begründung des marktwirtschaftlichen Ordnungsprinzips, sondern seiner Einschränkung und Außerkraftsetzung. Das hat in der Tat seine Berechtigung, insofern es viele wasserscheue Wirtschaftskapitäne gibt, denen der Wettbewerb nicht behagt, die sich der persönlichen Haftung für ihr unternehmerisches Handeln zu entziehen versuchen und sich auf kurzfristiges Denken beschränken. Wo aber das ethische Argument für die Marktwirtschaft (siehe aber z.B. Hamann 2007) nicht mehr vorgetragen wird und im öffentlichen Diskurs wahrnehmbar ist, da muss man sich nicht wundern, wenn die Anerkennung der Wirtschafts- und Sozialordnung erodiert und das Verständnis für ihre Funktionsweisen und das Bewusstsein um seine Leistungen verloren geht und die Scham vor ordnungspolitischen Sündenfallen schwindet. Das Argument ökonomischer Vernunft ist allein schon deshalb nicht genug, weil mit ihm wirtschaftsferne Intellektuelle und Angehörige der erwerbsfernen Transfergesellschaft mit ihm nicht erreicht werden und sich eine wachsende Kluft zwischen denen auftut, deren Wohlstand und Glück von Leistung und Eigenverantwortung abhängen, und denen, deren Lebenserfahrung durch staatliche Betreuung und Alimentierung geprägt ist. Es greift im politischen Räume jedenfalls zu kurz, wenn die marktwirtschaftliche Ordnung nur wegen ihres materiellen Nutzens gerechtfertigt wird und sie nicht mehr durch Werte begründet wird. Die Marktwirtschaft als Ordnungsprinzip wird dann anfallig für relativistische Argumentationen, die dem oft unsichtbaren und indirekten Nutzen des marktwirtschaftlichen Ordnungsprinzips den oft sichtbaren und direkten Nutzen interventionistischer Organisationswillkür entgegenhalten. Eine freiheitliche Wirtschaftsordnung ist nicht nur funktional zu begründen, da sie leistungsfähiger ist, sondern weil sie die einzige Wirtschaftsordnung ist, die einer menschenwürdigen Gesellschaft angemessen ist. Wirtschaftsethik muss daher mehr umfassen als Gebote an die

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Akteure in der Marktwirtschaft, sie muss auch ordnungstheoretische Begründungen für eine Wirtschaftsordnung der Freiheit als Bestandteil einer umfassend freiheitlichen Gesellschaft liefern.

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Die neuen Grundsatzprogramme der deutschen Parteien

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Hans Jörg Hennecke

Summary: The German Parties' new manifestos from an ordo-liberal perspective This article is focussing on the new manifestos which have been passed by the three parties of the German Grand Coalition in the autumn of 2007 to replace their older manifestos of 1989 (SPD), 1993 (CSU) and 1994 (CDU). Caused by the rise of DIE LINKE and the new programmatic positions of the established parties, the German party system has changed during the years of the Merkel Government. This development rises questions about whether the ordo-liberal position is still capable of obtaining political majorities. This article analyses the new manifestos by focussing on key issues of economic and social order and tries to offer some conclusions on the challenges ordoliberalism has to face, if it wants to defend and extend its influence on the programmatic baselines of German politics.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Dieter Schmidtchen

Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz? Zur Zweisamkeit von Recht und Ökonomie im Bereich der Wettbewerbspolitik Inhalt I. II. 1. 2.

Einleitung Zum Problem der normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik Konditionalprogramm vs. Zweckprogramm Der Widerspruch von ökonomischer Rationalität zur Rationalität des Rechts 3. Rechtsprinzip der Freiheit statt ökonomische Rationalität III. Die Grenzen von Freiheit als Rechtsprinzip 1. Begriffsbestimmungen 2. Drei Beispiele für die Unbrauchbarkeit von Freiheit als Rechtsprinzip 3. Gefahr einer Leerformel 4. Zusammenfassung IV. Die Vorteile von Effizienz als Rechtsprinzip 1. Begriffsbestimmungen 2. Effizienz als Rechtsprinzip bei der Arbeit 3. Zweifel am Nutzen des Effizienzkriteriums V. Schluss Literatur Zusammenfassung Summary: Freedom for competition or efficiency? The dualism of law and economics in the field of competition policy

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Dieter Schmidtchen

I. Einleitung „Nachzugehen ist [...] dem Verhältnis zweier Wissenschaften, die eigene Erkenntnisinteressen und Methoden haben und gleichwohl voneinander nicht lassen können, selbst wenn sie es möchten. [...] Unverkennbar ist jedoch die Versuchung, der Zweisamkeit durch Herrschaft zu entkommen. Dem neuen economic imperialism steht der in der staatsphilosophischen Tradition begründete Herrschaftsanspruch von Staat und Recht über die Wirtschaft gegenüber." Ernst-Joachim Mestmäcker

Die mit dem Begriff „more economic approach" (MEA) verbundenen Reformen im Europäischen Wettbewerbsrecht geben Anlass, sich erneut mit der Frage nach dem Verhältnis von ökonomischen und rechtlichen Kriterien in der Beurteilung von Wettbewerbsbeschränkungen auseinanderzusetzen. Eine vor der Verabschiedung des GWB und auch danach geführte Diskussion über den Zweck von Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen - kurz: dem Schutzzweck von Gesetzen gegen Wettbewerbsbeschränkungen - gewinnt im Zuge der Europäisierung des Wettbewerbsrechts neue Aktualität. Während die einen den Schutzzweck auf das Rechtsprinzip der Freiheit gründen und die eigene Rationalität des Rechts beschwören, verlangen die anderen eine stärkere Bezugnahme der Rechtsetzung und Rechtsanwendung auf ökonomische Konzepte. Effizienz als Rechtsprinzip heißt das neue Leitbild. Nicht nur bei der Kontrolle von Kartellvereinbarungen und Unternehmenszusammenschlüssen, sondern auch in der Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen sowie in der Kontrolle staatlicher Beihilfen sollen Wettbewerbsbehörden und Gerichte ihre Entscheidungen nach Ansicht der Befürworter eines MEA stärker als bisher an ökonomischen Kriterien ausrichten und den Stand moderner ökonomischer Forschung reflektieren. Statt eines struktur- und verhaltensbasierten Ansatzes, in dem unternehmerische und staatliche Verhaltensweisen hinsichtlich ihrer Beeinträchtigungen des Wettbewerbs nach ihrem „Wesen" (Vorliegen begrifflicher Tatbestandsmerkmale), (eher) „formalistisch" im Wege juristischer Normauslegung und Normanwendung beurteilt werden, sollte im Stile der ökonomischen Analyse des Rechts ein „wirkungsbasierter" (folgenorientierter) Ansatz verfolgt werden.1 Leitprinzip dieses wirkungsbasierten Ansatzes ist das einer bilanzierenden Gesamtschau: Sowohl die möglichen pro-kompetitiven wie die potentiellen anti-kompetitiven Wirkungen eines in Rede stehenden Verhaltens sollen im Einzelnen untersucht und sodann Grundlage einer abwägenden Entscheidung werden. Dabei ist möglichen Effizienzvorteilen des Verhaltens Rechnung zu tragen (Schmidtchen 2005a, 2005b, 2006a, 2006b, 2008a, 2008b).2 1 Zur Folgenorientierung in der Rechtsanwendung siehe Eidenmüller (1995, S. 397 ff.), Schmidtchen (1998). In der Terminologie Luhmanns heißt der formalistische Ansatz Konditionalprogramm und der wirkungsbasierte Ansatz Zweckprogramm; siehe Luhmann (1972, S. 88,227 ff.). 2 Es gibt grundsätzlich zwei Verfahren für eine solche bilanzierende Gesamtschau: Die Kartellbehörden nehmen die bilanzierende Gesamtschau vor (so genannter integrierter Ansatz) oder die Kartellbehörden fokussieren die Untersuchung auf die anti-wettbewerblichen Wirkungen und stellen es den betrof-

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Eine solche bilanzierende Gesamtschau verlangt nach zweierlei: erstens einer umfassenden Wirkungsanalyse eines Verhaltens unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls auf der Grundlage der modernen Wettbewerbstheorie (positive Analyse) und zweitens einem Kriterium zur Abwägung pro- und anti-kompetitiver Effekte (normative Analyse). Eine Wirkungsanalyse ist auch dann erforderlich, wenn bei der Beurteilung eines Verhaltens nicht auf den konkreten Einzelfall abgestellt wird, sondern eine Klasse von Verhaltensweisen als Gefahrdungstatbestand normiert und das jeweilige Verhalten aufgrund seiner Zugehörigkeit zu dieser Klasse geahndet wird (siehe dazu Hellwig 2007, S 10, 12 ff.). Der MEA wurde - vornehmlich in Deutschland - heftig kritisiert (siehe Mestmäcker 1999, 2005, 2008; Möschel 1999, 2000, 2006; Immenga 2006; Schmidt 2005; Monopolkommission 1999, 2002; Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft 2000).3 Bemängelt wurde insbesondere, dass bei einem MEA Handlungsfreiheiten dem Effizienzziel geopfert würden, dass ein solches Vorgehen nicht normbezogen sei und deshalb keine Rechtsanwendung darstelle; die Eigenbedeutung von Rechten und Rechtsregeln - die Rationalität des Rechts - vernachlässigt würde; außerdem würde die Rechtsunsicherheit dadurch gefördert, dass mit dem MEA Per-se-Regeln durch einen Rule-ofReason-Standard ersetzt würden. Jüngst haben André Schmidt und Stefan Voigt (2007) in diesem Jahrbuch Zweifel an der mit einem MEA verbundenen Hoffnung geäußert, die europäische Wettbewerbspolitik zu verbessern. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass die Kosten dieses Ansatzes dessen Nutzen bei einer Einzelfallabwägung übersteigen, weil insbesondere auf die Vorteile von Per-se-Regeln in Form von mehr Transparenz, einem höheren Grad an Rechtssicherheit, vergleichsweise niedrigen Transaktionskosten und Schutz vor Behördenwillkür verzichtet werden müsste. 4

fenen Unternehmen anheim, pro-wettbewerliche und Effizienzeffekte (Effizienzeinrede) nachzuweisen. Beide Verfahren müssen nicht zu denselben Ergebnissen führen, weil sie sich hinsichtlich der Beweislastverteilung unterscheiden. 3 Zu einer umfassenden Würdigung des MEA siehe Schmidtchen (2007). Die Kritik am MEA entzündete sich an den im Weißbuch von 1999 entwickelten Modernisierungsvorschlägen der Europäischen Kommission. Zum einen wurden formaljuristische Argumente bezüglich der Ersetzung des Genehmigungssystems für Kartelle durch das Legalausnahmesystem vorgebracht, zum anderen wurde auch ökonomisch argumentiert. Die Behauptungen entbehrten einerseits jeglicher wirtschaftstheoretischen Fundierung mittels eines wohldefinierten Modells, andererseits litten sie vor allem am Phänomen der „nirvana fallacy"; man verglich das neue System mit einem Ideal und nicht - im Stile eines „comparative institutions approach" - mit dem real existierenden Genehmigungssystem. Eine ausführliche institutionenökonomische Analyse der Thematik liefert erstmalig Will (2008). 4 Mit den Kosten und Nutzen von Per-se-Regeln im Vergleich zu einem Rule-of-Reason-Standard habe ich mich in einem Beitrag in ORDO befasst (Schmidtchen 2006c). Dort findet man ein Modell, das die Kosten und Vorteile beider Institutionen abzuschätzen erlaubt. Die von Mantzavinos (2007) in ORDO geäußerte Kritik an meiner Kritik ist diskussionswürdig, aber sie behandelt an keiner Stelle die von mir gegen die Verwendung von Per-se-Regeln vorgebrachten auf praktische Erfahrungen und Modelle gestützten Argumente. In Lemley und Leslie (2007) findet man weitere Argumente, die die von mir (2006c) vertretene Position stützen.

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Die Kritik richtet sich jedoch primär gegen die Umsetzung des neuen Ansatzes in Form der Einzelfallbeurteilung, nicht jedoch gegen die Intention des Ansatzes selbst (siehe Schmidt und Voigt 2007, S. 46): „Die Umsetzung des ,more economic approach' sollte daher nicht bei der Regelanwendung ansetzen, sondern vielmehr bei der Regelseizung". Wie dem Titel dieses Beitrages zu entnehmen ist, wird er sich mit dem im ersten Kritikpunkt angesprochenen Spannungsverhältnis zwischen Wettbewerbsfreiheit und wirtschaftlicher Effizienz bei der normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik befassen. Dazu ist es zunächst erforderlich, die wichtigsten Argumentationslinien der Kritiker eines „more economic approach" nachzuzeichnen. Dies soll vor allem anhand des grundlegenden, äußerst facettenreichen Argumentationsmusters geschehen, das ErnstJoachim Mestmäcker in seinem Vortrag aus Anlass des dreißigjährigen Bestehens der Monopolkommission entwickelt hat (Kapitel II. Zum Problem der normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik). Ergänzend wird auf Mestmäcker^ Artikel „50 Jahre GWB: Die Erfolgsgeschichte eines unvollkommenen Gesetzes" zurückgegriffen, der jüngst in der Zeitschrift Wirtschaft und Wettbewerb erschienen ist (siehe Mestmäcker 2008). In Kapitel III wird anhand von drei Beispielen erläutert, warum Freiheit als Rechtsprinzip in der Wettbewerbspolitik unbrauchbar ist. Die Beispiele sind: Preiskartell, Unternehmenszusammenschluss und Lieferungsverweigerung. Dabei wird auf die Theorie der Property Rights zurückgegriffen. Der Schutz der Wettbewerbsfreiheit gilt als das Hauptanliegen des GWB. Sie lässt sich als institutionelles und unteilbares Rechtsgut dadurch schützen, dass man allen Teilnehmern am Wettbewerbsspiel individuelle Handlungsrechte, Property Rights, zuteilt. Die Property Rights definieren die Grenzen, innerhalb derer die Inhaber des Rechts tun und lassen können, was sie wollen, und die niemand ohne ihre Zustimmung überschreiten darf. Wettbewerbsrecht tut genau dies: Es spezifiziert Property Rights und ordnet sie personell zu.5 Beispielsweise definiert es Grenzen der Vertragsfreiheit. Es schränkt etwa in der Fusionskontrolle die Abschlussfreiheit ein, und es beschränkt, was die Preissetzung anlangt, die Abschluss- und die Inhaltsfreiheit.6 Wie aus der ökonomischen Analyse des Rechts bekannt ist, sind Property Rights in Situationen erforderlich, in denen Handlungen verschiedener Akteure miteinander in Konflikt geraten können. In solchen Situationen impliziert die Schwächung der Rechtsposition des A automatisch die Stärkung der Rechtsposition des Β (Implikation des Fak-

5 Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen stellen eine „selbständige wirtschaftsrechtliche Disziplin" dar (Mestmäcker 2008, S. 13), und Wettbewerbsfreiheit wird als Individualrecht begriffen (Mestmäcker 2008, S. 13): „Die durch Verfassung oder einfaches Gesetz normierte Gewerbe- und Wettbewerbsfreiheit, die zunächst nur den Staat verpflichtete, wurde durch Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit unmittelbarer privatrechtlicher Wirkung konkretisiert. Die individualrechtlich verstandenen privatrechtlichen Institute, die Transaktionen und Organisationen im Wirtschaftsverkehr auf der Grundlage von Privatautonomie ermöglichen und ordnen, wurden für Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen und deren Wertungen geöffnet." 6 Zu einer Property-Rights-theoretischen Interpretation der Wettbewerbspolitik siehe Schmidtchen (1983).

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turns des Handlungskonflikts), wenn die Rechtsordnung dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit verpflichtet ist. Wir haben es bei der Formulierung und Anwendung des Wettbewerbsrechts deshalb mit einem Problem reziproker Natur zu tun, das alle Charakteristiken aufweist, die Coase in seinem berühmten Artikel behandelt hat.7 Die Untersuchung der drei oben genannten Fälle soll verdeutlichen, dass es sich bei wettbewerbspolitisch relevanten Fällen um Interessenkonflikte handelt, die ähnlich strukturiert sind, wie jene die Ronald Coase bei der Formulierung des nach im benannten „Theorems" vor Augen hatte. Sie erzeugen ein Problem reziproker Natur, das man auch als Rechtedilemma bezeichnen könnte. Die Entscheidung eines Interessenkonflikts erfolgt durch die Spezifikation und personelle Zuordnung von Property Rights und sie ist niemals ohne Schädigung einer über die Extemalität miteinander verbundenen Parteien möglich: Entweder der Gesetzgeber erlaubt Preiskartelle oder Unternehmenszusammenschlüsse - dann mögen die Konsumenten geschädigt werden; oder der Gesetzgeber verbietet sie, dann werden die Unternehmen geschädigt. Eine ähnliche Konfliktlage ergibt sich bei Lieferungsverweigerungen: Eine Erlaubnis schädigt das nicht belieferte Unternehmen, ein Verbot das liefernde und/oder konkurrierende Unternehmen. Kapitel IV legt dar, warum Effizienz als Rechtsprinzip zur Lösung des in Kapitel III identifizierten Problems einer freiheitlichen Handelnsordnung beitragen kann. Auch wird geprüft, ob und inwieweit Zweifel an der Tauglichkeit des Effizienzkriteriums zutreffend sind. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei ausdrücklich erwähnt: Aus dem Aufzeigen der Grenzen von Freiheit als Rechtsprinzip folgt weder die Ablehnimg einer freiheitlichen Handelnsordnung noch deren Unmöglichkeit. Vielmehr wird die Entscheidung für eine freiheitliche Handelnsordnung als Ausgangspunkt der Analyse akzeptiert, und es wird lediglich gezeigt, dass Effizienz als Rechtsprinzip zur Lösung des zentralen Problems bei der Etablierung einer freiheitlichen Ordnung, der Definition von Property Rights in Konfliktsituationen, brauchbar ist. Kapitel V schließt den Beitrag ab.

II. Zum Problem der normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik 1. Konditionalprogramm vs. Zweckprogramm In seinem Beitrag zur Dreißig-Jahr-Feier der Monopolkommission befasst sich E.-J. Mestmäcker mit der Interdependenz von Recht und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik (siehe Mestmäcker 2005). Im Zentrum seines Beitrages steht die Frage nach der normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik, zu deren Beantwortung die Ökonomie seiner Ansicht nach wenig beizutragen hat.

7

Siehe Coase (1960, S. 1-44). Dieser Artikel ist fiir die Wettbewerbspolitik von größter Bedeutung, weil all das, was traditionell als Wettbewerbsbeschränkung verstanden wird, nichts anderes ist als ein Ausfluss positiver Transaktionskosten. Siehe dazu bereits Schmidtchen (1983).

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Mestmäcker begründet diese These wie folgt: Die Aussagen der ökonomischen Theorie sind „hypothetische Aussagen von apodiktischer Gewissheit, die eine tiefe Kluft zu den praktisch geforderten Aussagen über die ökonomische Wirklichkeit" erzeugen {Mestmäcker 2005, S. 21). Solche hypothetischen Aussagen - vermutlich sind damit die in ökonomischen Modellen abgeleiteten Ergebnisse gemeint - blenden nach Mestmäckers Ansicht die Folgerungen aus, „die sich daraus ergeben, dass es sich bei Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen um Rechtsnormen handelt" (Mestmäcker 2005, S. 21): „Recht und Rechtswissenschaft haben es, was die Wirklichkeit angeht, zunächst mit Lebenssachverhalten zu tun. Über deren Relevanz entscheidet die anzuwendende Norm, über ihre Anwendung der Beweis, dass der relevante Sachverhalt gegeben oder nicht gegeben ist. Hier haben Hypothesen keinen Platz." Diesen Aussagen liegt offensichtlich ein Verständnis von Recht als Konditionalprogramm im Sinne Luhmanns zugrunde. Rechtsnormen sind ihrer allgemeinen Form nach Konditionalprogramme: „Die Grundform lautet: wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind (wenn ein im Voraus definierter Tatbestand vorliegt), ist eine bestimmte Entscheidung zu treffen" (Luhmann 1972, S. 227). Im Konditionalprogramm soll aus dem vorhandenen Bestand positivierter rechtlicher Regeln und ungeschriebener Rechtsgrundsätze die richtige Antwort auf eine Rechtsfrage abgeleitet werden: „Rechtsanwendung wird auch bei unklarer Rechtslage oder Fehlen einer gesetzlichen Regelung als ein im Wesentlichen gebundener Prozess verstanden. Charakteristisch ist der ,Blick nach oben' auf Rechtsnormen und Rechtsgrundsätze, aus denen der Rechtsanwendende die Fallentscheidung entwickeln soll" (Eidenmüller 1995, S.397 f.). Konditionalprogramme legen „bestimmte Ursachen als Auslöser bestimmten Handelns in einem Wenn-Dann-Schema" fest (Luhmann 1972, S. 88). Ein bestimmtes Verhalten eines Unternehmens oder einer Unternehmensgruppe wird anhand eines kategorialen Schemas beurteilt, das auf der Idee einer Einteilung des Verhaltens in zwei Schubladen beruht: rechtmäßig und rechtswidrig. Ein Beispiel mag dieses Vorgehen verdeutlichen. Angenommen, Kopplungsgeschäfte seien per se verboten. Geprüft werden muss dann lediglich, ob ein Verhalten ein Kopplungsgeschäft darstellt oder nicht. Diese Prüfung kann anhand der Definition des Begriffs Kopplungsgeschäft vorgenommen werden (zu den Problemen siehe Lemley und Leslie 2007). Der Rechtsanwender (ob Kartellbehörde oder Richter) schaut auf die äußere Form des Verhaltens und ordnet ein; er klassifiziert. Welche Wirkungen dieses Verhalten hat und inwiefern davon eine Schädigung des Wettbewerbs ausgeht, braucht nicht geprüft zu werden. Auch muss nicht geprüft werden, ob ein Verhalten einem legitimen Zweck dient. Dieses dichotomische Denken wird auch praktiziert, wenn Rechtsfolgen an die Feststellung gebunden sind, ob ein Unternehmen marktbeherrschend ist oder nicht (siehe von Weizsäcker 2007, S. 1079). Wenn z.B. ein marktbeherrschendes Unternehmen den

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Preis seines Produktes unterhalb der variablen Durchschnittskosten setzen sollte, dann genügt allein dieser Umstand, das Verhalten als missbräuchlich einzustufen.8 Rechtsanwendung gemäß Zweckprogramm verlangt dagegen, bei der Abwägung möglicher Entscheidungsalternativen in erster Linie auf die Folgen zu achten, die mit den einzelnen Alternativen in der Wirklichkeit verbunden sind: „Verkürzt gesagt: ,gute' Folgen sprechen für,,schlechte' Folgen gegen eine bestimmte Entscheidungsalternative. Charakteristisch für diese Position ist der ,Blick nach unten' auf die Auswirkungen, die eine konkrete Entscheidung in der Rechtswirklichkeit besitzt" {Eidenmüller 1995, S. 398).9 Was Mestmäcker mit dem Ausdruck „Hypothesen" meint, ist nichts anderes als Folgenorientierung in der Rechtsanwendung. Luhmann ist einer der schärfsten Kritiker der Folgenorientierung in der Rechtsanwendung: Für ihn impliziert Folgenorientierung „eine dogmatisch nicht mehr steuerbare, [...] unreflektierte(n) [...] Zuwendung zur Output-Grenze [...]" (Luhmann 1974, S. 33). Es entfalle damit die Garantie, dass ein Rechtsstreit aufgrund der Rechtslage entscheidbar sei: „[...] ein für das Rechtssystem unannehmbares Ergebnis" (Luhmann 1974, S. 34). Auch würden Richter mit Aufgaben konfrontiert, die sie nicht bewältigen könnten: „Die Kunstbauten juristischer Konstruktion sind davon abhängig, daß nicht zuviel von ihnen verlangt wird. An der OutputGrenze lassen sich diese Bedingungen nicht realisieren. Hier wird das System mit einer offenen Zukunft konfrontiert" (Luhmann 1974, S. 37). Wenngleich das Konditionalprogramm das Selbstverständnis der meisten Juristen wiedergibt, die sich mit Fragen der Methodenlehre befasst haben und befassen (siehe Eidenmüller 1995, S. 397), so ist es gleichwohl keineswegs so, dass das Zweckprogramm in der Rechtswissenschaft keine Anhänger besitzt.10 Wenn die Folgen in Rechtsnormen genau spezifiziert werden, die bei der Entscheidung einer Rechtsfrage zu beachten sind, dann verschwindet der Unterschied zwischen Konditional- und Zweckprogramm oder genauer, er reduziert sich darauf, dass beim Konditionalprogramm vorliegende Tatsachen zu prüfen sind, während ein Zweckprogramm sich auf Voraussagen von Wirkungen stützen muss. Es spricht vieles dafür, dass man bei der Anwendung des Kartellrechts um eine Abschätzung der Folgen einer Entscheidung nicht herumkommt: Man denke nur an das in Art. 81 geregelte Kartellverbot mit Erlaubnisvorbehalt. Auch bei der Frage der Genehmigung von Untemehmenszu-

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Zu einer Kritik siehe Hellwig (2007, S. 2 ff.). Als Beispiel für einen „vor-Galileischen Umgang mit der Empirie" (Hellwig) erwähnt Hellwig die Ansicht des Gerichts Erster Instanz in der Sache British Airways gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, dass der Nachweis einer konkreten Wirkung des inkriminierten Bonussystems auf den betroffenen Märkten nicht erforderlich sei: „Es genüge der Nachweis, dass das betreffende Verhalten ,aufgrund seiner Art und Eignung eine solche Wirkung haben kann'"; Hellwig (2007, S. 26). 9 Mestmäcker (2008, S. 15) spricht nicht von „Zweckprogramm", sondern von „Konsequenzialismus" und setzt „Konsequenzialismus" mit der traditionellen Wohlfahrtsökonomie gleich, in der die „Eigenbedeutung von Rechten und Rechtsregeln" vernachlässigt werde. Es wäre interessant, eine Begründung für die These zu sehen, nach der Recht um seiner selbst Willen gewünscht wird oder dem öffentlichen Interesse dient. Im Übrigen sollte Konsequenzialismus nicht mit Utilitarismus gleichgesetzt werden. Die moderne ökonomische Analyse des Rechts ist konsequenzialistisch, aber nicht utilitaristisch. 10 Siehe dazu die bei Eidenmüller (1995, S. 398, Fn. 4) zitierte Literatur.

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sammenschlüssen wird auf pro- und anti-wettbewerbliche Folgen zu achten sein. Generell: Bei jeder Entscheidung eines Gesetzgebers oder Rechtsanwenders muss bedacht werden, dass mit ihr selbst eine Beschränkung des Wettbewerbs verbunden sein kann.

2. Der Widerspruch von ökonomischer Rationalität zur Rationalität des Rechts Außer dieser im vorigen Abschnitt behandelten rechtstechnischen Schranke, die angeblich einer Anwendung der ökonomischen Theorie entgegensteht, formuliert Mestmäcker noch eine weitere Schranke, die sich aus einem Widerspruch der ökonomischen Rationalität zur Rationalität des Rechts herleitet. Er weist die Forderung, „Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen und deren Auslegung danach zu beurteilen, ob sie den Erfordernissen ökonomischer Rationalität entsprechen", mit dem Hinweis darauf zurück, dass das Recht eine „eigene Rationalität und Eigengesetzlichkeit" aufweise (Mestmäcker 2005, S. 21): „Das Recht hat eine eigene Rationalität und Eigengesetzlichkeit, die sich nicht notwendig auf preistheoretisch optimierte Modelle wettbewerbsgemäßen oder wettbewerbswidrigen Verhaltens zurückführen lassen."11 Was Mestmäcker (2005, S. 28 f.) im Abschnitt „Europäisches Recht: Effizienz vs. Freiheit?" ausführt, veranschaulicht sehr schön seine Grundposition: „Gemeinsam ist diesen Normen (Art. 81 und 82 EGV) jedoch der Bezug auf den Wettbewerb als einem Koordinationssystem, das aus dezentralen unternehmerischen Entscheidungen entsteht. Ihr ökonomischer Zweck besteht in der effizienten Allokation der Produktionsfaktoren, ihr rechtlicher Zweck in der Gewährleistung eines Wettbewerbssystems, in dem die Wettbewerbsfreiheit der einzelnen mit der gleichen Freiheit aller nach einer allgemeinen Regel vereinbar ist. Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen sollen zu den Bedingungen beitragen, von denen die Funktionsfahigkeit eines solchen Systems abhängt [...] Die Gesamtordnung, die Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen in Bezug nehmen, ist die marktwirtschaftliche Ordnung [...] Daraus folgt jedoch nicht, dass es möglich oder geboten ist, die von der Gesamtordnung angestrebten Ergebnisse - die effiziente Allokation der Produktionsfaktoren - als Beurteilungsmaßstab in das Recht zu übernehmen oder zu übersetzen."

Interessant ist die Begründung, die Mestmäcker für die im letzten Satz des vorausstehenden Zitats enthaltene Behauptung liefert. Dieser Versuch, effiziente Allokation der Produktionsfaktoren als Beurteilungsmaßstab in das Recht zu übernehmen, ist seiner Ansicht nach nicht möglich, weil es sich bei Wettbewerb um einen Prozess handelt, der von Versuch und Irrtum gekennzeichnet ist (Prinzip der negativen Rückkopplung); deshalb können „Transaktionen, die Teil des Wettbewerbsprozesses sind, [...] nicht anhand ihrer Ergebnisse beurteilt werden. Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen müssen vielmehr in Übereinstimmung mit dem System ausgelegt und angewendet werden, das sie sichern sollen" (Mestmäcker 2005, S. 29).

11 So wahr diese Aussage auch sein mag, so wahr ist es aber auch, dass die dem Recht eigentümliche Rationalität und Eigengesetzlichkeit - was immer man darunter verstehen mag - nicht aus sich selbst heraus abgeleitet und legitimiert werden kann. Das Recht dient außerrechtlich bestimmten Zwecken. Andererseits stellt die Rationalität und die Eigengesetzlichkeit des Rechts eine Schranke (Nebenbedingung) für die Formulierung von Zielsetzungen bezüglich der anzustrebenden Art sozialer Ordnung dar. Man sollte keine Ziele setzen, die man mit dem Recht nicht verwirklichen kann. Die Schranke ist aber ein technisches Problem. Siehe zur Problematik von „Law for Law's Sake" Rabin (1996).

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Die von der Gesamtordnung angestrebten Ergebnisse als Beurteilungsmaßstab in das Recht zu übernehmen oder zu übersetzen sei auch nicht geboten (also unklug), weil Wettbewerbsfreiheit als imbedingtes, wenn auch nicht schrankenloses, Recht zu begreifen sei und nicht als Recht, das im Rahmen eines zweckgebundenen Gestaltungsauftrags gewährt wird. Man könnte im letzteren Falle von einem „teleologisch dienstverpflichteten Liberalismus" (Zöller 2007) sprechen, der mit einer auf individueller Autonomie basierenden freien gesellschaftlichen Ordnung, wie sie Mestmäcker vorschwebt12, nichts mehr zu tun hat. Die Behauptung, dass es nicht möglich sei, Transaktionen, die Teil des Wettbewerbsprozesses sind, anhand ihrer Ergebnisse zu beurteilen, ist nicht zutreffend. Die ökonomische Theorie stützt die Vermutung, dass solche Transaktionen wohlfahrtsfordernd sind (bei Abwesenheit negativer Externalitäten). Wenn auch zuzugeben ist, dass Einzelvoraussagen bezüglich der Art von Transaktionen und der mit ihnen verbundenen Ergebnisse bei Wettbewerb nicht möglich sein dürften, so kann man doch Mustervoraussagen im Sinne von Hayeks wagen. Die Entscheidung von Interessenkonflikten nach Maßgabe ökonomischer Effizienz definiert - wie zu zeigen sein wird - die Wettbewerbsfreiheit, ohne dass damit ein zweckgebundener Gestaltungsauftrag verbunden wäre.

3. Rechtsprinzip der Freiheit statt ökonomische Rationalität Wenn Effizienz oder ökonomische Rationalität nach Ansicht von Mestmäcker als Rechtsprinzip zur normativen Grundlegung des Wettbewerbsrechts nichts taugen, was setzt er an deren Stelle? Es ist das Rechtsprinzip der Freiheit. Mestmäcker (2005, S. 24) beruft sich auf Kant: „Freiheit, sofern sie mit jedes anderen Freiheit unter einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, ist dieses Einzige, Ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht. Gegenstand des Rechts und der Rechtslehre wird dieses Recht jedoch im Hinblick auf das äußere Mein und Dein. Das Recht erweist sich damit nicht nur als eine Schranke der Freiheit, sondern als ihre Voraussetzung. Der Bezug auf das ,äußere Mein und Dein', also auf .property rights', sollte es Ökonomen erleichtern, diesen Ansatz aufzunehmen. t t l 3 Die Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen sollen die größte Freiheit aller Mitglieder einer Gesellschaft durch „genaue Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit gewährleiste(n), damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne" (Mestmäcker 2005, S. 24). Mestmäcker definiert an keiner Stelle, was er unter dem Begriff Wettbewerb und insbesondere dem Begriff funktionsfähiger oder wirksamer Wettbewerb versteht. Allerdings lassen sich aus seinen Ansichten über die Rolle des - wie immer definierten -

12 Siehe dazu den Abschnitt „Geordnete Freiheit oder Anarchie" in Mestmäcker (2005, S. 23 ff.). 13 Wenn sich Recht nicht nur als eine Schranke der Freiheit erweist, sondern als ihre Voraussetzung, dann kann der Begriff nicht dazu benutzt werden, die Grenzen von Mein und Dein - also die Rechtspositionen - zu definieren.

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Wettbewerbs und sein Rangverhältnis zu den Freiheitsrechten gewisse Rückschlüsse ziehen: „Der Wettbewerb ist, richtig verstanden, die Voraussetzung dafür, dass wirtschaftliche Handlungsfreiheiten und die Ausübung von Freiheitsrechten mit dem öffentlichen Interesse vereinbar bleiben. Dies ist der Kern einer rechtlich verfassten wettbewerblichen Marktwirtschaft. Der Wettbewerb tritt gleichrangig neben die Freiheitsrechte, die ihn ermöglichen und aus denen er entsteht. Dies erfordert Einsicht in die Bedingungen, unter denen der Wettbewerb geeignet ist, als Ordnungsprinzip zu wirken" (Mestmäcker 2005, S. 23 f.).

Das Zitat ist bemerkenswert: Der Wettbewerb tritt gleichrangig neben die Freiheitsrechte. Was könnte damit gemeint sein? Mestmäcker versteht Wettbewerb als einen nicht autoritär organisierten Mechanismus sozialer Kontrolle (ein Ordnungsprinzip), der materiell-rechtlich verbürgte wirtschaftliche Freiheitsrechte sowohl legitimiert als auch ihnen Grenzen setzt (siehe auch Mestmäcker 2005, S. 21). Wirtschaftliche Freiheitsrechte sind nur insoweit legitimiert, als sie nicht missbraucht werden. Missbrauch kann stattfinden und ist zu erwarten, wenn Marktteilnehmer Marktmacht besitzen. Bei wirksamem Wettbewerb hat aber keiner Marktmacht. Deshalb gibt es bei wirksamem Wettbewerb einen solchen Missbrauch von Freiheitsrechten nicht; kein Marktteilnehmer kann seine Handlungsfreiheit zur Ausbeutung anderer Marktteilnehmer - seien es Nachfrager, Lieferanten oder Konkurrenten - nutzen. So umfasst beispielsweise die Handlungsfreiheit eines Anbieters im Wettbewerb die Möglichkeit (Erlaubnis), einen Preis zu fordern, der höher ist als der herrschende Wettbewerbspreis aber der Anbieter wird dies aus Eigeninteresse nicht tun. Wettbewerb beschränkt nicht die Handlungsfreiheit, sondern deren Nutzung. Die Position Mestmäckers lässt sich wie folgt zusammenfassen: Mestmäcker weist in seinem Vortrag alle Versuche, die Wettbewerbspolitik auf ein ökonomisch definiertes Ziel auszurichten, kategorisch zurück (siehe auch Hellwig 2006a, S. 233). Da Wettbewerb aus der Ausübung von Freiheitsrechten, der Gewerbefreiheit, der Vertragsfreiheit, des Eigentums und anderer Vermögensrechte entsteht (Mestmäcker 2005, S. 23), sei alleiniges Ziel der Wettbewerbspolitik - und damit alleinige Legitimation staatlichen Zwangs - der Schutz der Wettbewerbsfreiheit. Weil Kartelle und marktbeherrschende Unternehmen aber die Wettbewerbsfreiheit beschränken, ist staatliche Wettbewerbspolitik zur Bekämpfung der Beschränkungen der Wettbewerbsfreiheit sinnvoll und erforderlich. Unter Verweis auf Kant wird staatlicher Zwang in Form der Wettbewerbspolitik damit legitimiert, dass die Freiheit des einen tatsächlich mit der Freiheit des anderen zusammen existiert. Zwar beschränkt staatliche Wettbewerbspolitik ebenfalls die Freiheit, etwa die von Kartellanten und Marktbeherrschern, aber die mit staatlicher Wettbewerbspolitik notwendig verbundenen Eingriffe in die Handlungs- und Vereinigungsfreiheiten, aus denen der Wettbewerb entsteht, haben nur den Sinn der Freiheitssicherung. Sie sind erforderlich, um die Funktionsfahigkeit des Wettbewerbs im öffentlichen Interesse zu gewährleisten: „Das öffentliche Interesse erschöpft sich nicht in den Interessen oder Rechten der Unternehmen, die am Wettbewerb teilnehmen; es steht vielmehr der Entscheidung dieser Unternehmen entgegen, den Wettbewerb unter sich auszuschließen oder gemeinsam den Zugang zum Markt für Dritte zu behindern. Das öffentliche Interesse gebietet schließlich, die Chance zur Teilnahme am Wettbewerb von

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Rechts wegen und für Unbekannt zu gewährleisten, wie es durch die Gewährleistung der Gewerbeund Wettbewerbsfreiheit geschieht" (Mestmäcker 2008, S. 14).

Ohne A. Smiths These von der unsichtbaren Hand oder den Begriff der spontanen Ordnung zu verwenden, formuliert Mestmäcker (2008, S. 13) diese Einsicht so: „Das Ziel der Wettbewerbsfreiheit wird mit Hilfe von Normen verwirklicht, die das Verhalten von Unternehmen als Teil des Wettbewerbsprozesses zum Gegenstand haben. Der Wettbewerbsprozess bildet den Rahmen, innerhalb dessen die fiir die Entscheidung von Interessenkonflikten erheblichen Tatsachen zu würdigen sind. Die Wohlfahrtsforderung ist ein Produkt des Wettbewerbsprozesses, ohne zum Tatbestand der Normen zu gehören. Es ist der Zweck dieser Normen, die Unternehmen vorab darüber zu informieren, welcher Einsatz im Wettbewerb aus Rechtsgründen ausgeschlossen sein soll."

Das Problem der Rechtfertigung von Wettbewerbspolitik scheint damit gelöst, ohne dass auf Effizienzerwägungen rekurriert würde (Hellwig 2006a, S. 240): „Dass die Ergebnisse von Wettbewerbsmärkten Pareto-optimal sind, kann als Indiz fur die Segnungen einer freiheitlichen Ordnung angesehen werden, steht aber nicht im Zentrum der Argumentation." Diese Einsicht wurde früher die Non-Dilemma-These genannt. Für Mestmäcker ist bei Fragen der normativen Grundlegung von Wettbewerbspolitik Freiheit als Rechtsprinzip das Maß aller Dinge. Zwar lassen sich nach seiner Ansicht die in der behördlichen und gerichtlichen Entscheidungspraxis auftretenden Fragen „nur unter Berücksichtigung der wechselseitigen Abhängigkeit von Recht und Ökonomie" beantworten (Mestmäcker 2005, S. 21),14 aber - wie M. Hellwig mit Recht hervorhebt die „spezifische Sachkompetenz der Ökonomie bei der Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge erstreckt sich nicht auf die normative Grundlegung der Wettbewerbspolitik" (Hellwig 2006a, S. 233).

III. Die Grenzen von Freiheit als Rechtsprinzip 1. Begriffsbestimmungen Es gibt kaum einen Begriff, mit dem mehr Missbrauch getrieben wird als mit dem Begriff Freiheit. Er wird - wie Isaiah Berlin in seinen Four Essays (Berlin 1969) berichtet - in mehr als zweihundert Bedeutungen verwendet. Nun kann sich jeder, der die Regeln der Kombinatorik kennt, leicht ausmalen, was geschehen kann, wenn man diesen Begriff mit dem des Wettbewerbs verknüpft, der in fast ebenso vielen Bedeutungen Verwendung findet. Begriffliche Klarheit tut not. Deshalb werden zu Beginn dieses Abschnitts die Begriffe Rechtsprinzip und Freiheit erläutert, a) Prinzipien und Regeln Jedes entwickelte Rechtssystem kennt zwei grundlegend verschiedene Arten von Normen: Regeln einerseits, Prinzipien andererseits. Nach Alexy (1986, S. 72) sind Prinzipien ebenso wie Regeln Gründe für konkrete Sollensurteile. Während es sich bei Re14 „Nichts hindert den empirischen Gesetzgeber, die Klugheits- und Nützlichkeitslehren der Wirtschaftswissenschaften in positiven Gesetzen in Rechnung zu stellen, solange er aus dem Rechtsprinzip der Freiheit folgende Gebote, die Kant natürliche Gesetze nennt, beachtet. Diese Grenze gilt auch dort, wo die Einschränkungen der individuellen Freiheit aus der pareto-optimalen Nutzung ökonomischer Ressourcen folgen"; Mestmäcker (2005, S. 24 f.).

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geln um Normen handelt, deren Tatbestände nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt sein können (siehe Dworkin 1984, S. 58; Alexy 1986, S. 76), handelt es sich bei Prinzipien um Optimierungsgebote (siehe Dworkin 1984, S. 61f.; Alexy 1986, S.75). Wenn ein Sachverhalt die Tatbestandsmerkmale einer Regel erfüllt, dann ist die Norm anwendbar und die Rechtsfolge tritt ein. Eine Norm ist demgemäß entweder anwendbar oder nicht (Alles- oder Nichts- Charakter). Bei Prinzipien ist dies anders. Diese sind dadurch charakterisiert, „dass sie in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können und dass das gebotene Maß ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängt. Der Bereich der rechtlichen Möglichkeiten wird durch gegenläufige Regeln und Prinzipien bestimmt" (Alexy 1986, S. 76). Als Optimierungsgebote können sich Prinzipien u.a. auf individuelle Rechte beziehen (siehe Eidenmüller 1995, S. 463). Eidenmüller führt als Beispiel die allgemeine Handlungsfreiheit in Art. 2 I GG an. Dort wird das Recht auf die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit unter anderem durch die „Rechte anderer" eingeschränkt: „Diese Rechte müssen mit der eigenen Handlungsfreiheit abgewogen werden, bevor man sagen kann, ob ein bestimmtes Verhalten verfassungsrechtlich erlaubt ist oder nicht" (Eidenmüller 1995, S. 463).

Nach Canaris entfalten Prinzipien „ihren eigentlichen Sinngehalt erst in einem Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzungen und Beschränkungen" (Canaris 1983, S. 53). Solche wechselseitigen Ergänzungen und Beschränkungen - Abwägungen - werden unter anderem dann erforderlich, wenn formal in Gewände von Regeln einhergehende Normen unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten (Alexy nennt diese Normen Normen mit Doppelcharakter; Alexy 1986, S. 124).15 Man denke an das Tatbestandsmerkmal „überragende Marktstellung" in § 19 Abs. 2 Nr. 2 GWB, dessen Feststellung unter anderem eine Abwägung von Marktanteil, Finanzkraft des Unternehmens, Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten, Marktzutrittsschranken und Existenz potentiellen Wettbewerbs erfordert. Ein besonders anschauliches Beispiel einer Norm mit Doppelcharakter stellt der erste Paragraph des Sherman Act dar. Er besagt, dass jeder Vertrag, der den Handel einschränkt, ungültig sein soll. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten fasste diese Bestimmung als Regel auf, behandelte diese aber so, dass sie das Wort „unbegründet" enthält, wodurch sie nur „unbegründete" Einschränkungen des Handels verbietet (siehe Dworkin 1984, S. 63): „Auf diese Weise wurde es möglich, dass die Bestimmung logisch als eine Regel füngierte (immer wenn ein Gericht feststellt, dass die Beschränkung ,unbegründet' ist, ist es verpflichtet den Vertrag für ungültig zu halten) und in Wirklichkeit als ein Prinzip (ein Gericht muss eine Vielzahl anderer Prinzipien und Zielsetzungen berücksichtigen, wenn es bestimmt, ob eine bestimmte Beschränkung unter bestimmten ökonomischen Bedingungen „unbegründet" ist)" (Dworkin 1984, S. 63 f.). Dworkin weist darauf hin, dass Wörter wie „begründet", „fahrlässig", „ungerecht" und „signifikant" oft die Funktion haben, Regeln de facto Prinzipien anzunähern (siehe Dworkin 1984, S. 64). 15 Hart hat daraufhingewiesen, dass Rechtsregeln eine Art von Indeterminiertheit aufweisen, die er „open texture" nennt (siehe Hart 1994, S. 124 ff.). Die Ursachen sieht er in der Natur der menschlichen Sprache, der Abstraktheit der in den Regeln verwendeten Begriffe (bezüglich Personen, Handlungen, Dinge, Umstände) sowie des Auftretens nicht vorhergesehner Weltzustände.

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Prinzipien besitzen im Gegensatz zu Regeln eine Dimension. Wenn Prinzipien kollidieren, dann sollte das von Alexy so genannte Abwägungsgesetz angewendet werden: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung eines Prinzips ist, um so größer muss die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein" (Alexy 1986, S. 146). Eine Kollision von Regeln ist wegen deren Alles- oder- Nichts- Charakters auf diese Weise nicht aufzuheben. b)

Freiheit

Freiheit sei als Bezeichnung für eine Eigenschaft verwendet, die einer (natürlichen oder juristischen) Person zukommt. Häufig wird der Freiheitsbegriff auch auf etwas anderes bezogen, nämlich auf Handlungen oder den Willen. Aber dies steht nicht im Widerspruch zum personenbezogenen Freiheitsbegriff, weil man Sätze über die Freiheit von Handlungen und des Willens auf Sätze über die Freiheit von Personen zurückführen kann (Alexy 1986, S. 197). Sei χ ein Akt wie z.B. sprechen, versammeln, Abschluss eines Vertrages, Setzen eines Preises. Eine Person hat die Freiheit, χ zu tun, wenn χ weder geboten noch verboten ist und wenn es anderen verboten ist, den Akt zu stören. Wenn χ weder geboten noch verboten ist, dann ist χ erlaubt. Freiheit lässt sich demgemäß als geschützte Erlaubnis definieren (Cooter 2000, S. 245; Schmidtchen 1988). Der Schutz erfolgt typischerweise durch die Zuteilung sanktionsbewehrter individueller Rechte (Recht der Freiheit) oder bei Zivilrechtsversagen durch Regulierung. Auch nicht-gesetzte Regeln, etwa solche der Moral, können eine Schutzfunktion ausüben. Dieser Umstand wird in dem ökonomischen Begriff Property Rights eingeschlossen, der mehr Sachverhalte umfasst als der Rechtsbegriff Eigentum. Das Recht der Freiheit, Hayek (2003, S. 110) nennt es Nomos, besitzt die Eigenschaft, individuelle Freiheit mit der Vermeidung persönlicher Konflikte zu vereinbaren. Diese Eigenschaft resultiert aus dem Umstand, dass Nomos sogenannte „protected domains" definiert (Hayek 2003, S. 58; siehe auch Schmidtchen 2004a). Innerhalb dieser „protected domains" kann jeder sein Wissen für seine Zwecke gebrauchen, ohne andere um Zustimmung für sein Handeln bitten zu müssen. „Protected domains" sind also Gebiete, die der autonomen Kontrolle von Personen unterliegen. Sie bestehen aus dem Bündel an Property Rights, das sich im Besitz einer Person befindet. Solche Property Rights verleihen ihrem Besitzer gleichsam eine Lizenz, Ressourcen im Rahmen geltender Schranken nach Belieben zu benutzen. Man denke an § 903 BGB: Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen. Property Rights definieren also nicht nur die Grenze dessen, was der Inhaber tun darf, sondern zugleich die Grenze, die andere durch ihr Handeln nicht verletzen dürfen. Property Rights des einen werden zum Maß der Freiheit des anderen. Schadenersatz, Unterlassungsansprüche, Strafe, öffentlich-rechtlich organisierte Schutzvorkehrungen (das Kartellrecht und staatliche Regulierung) sowie spontan entstandene Verhaltensregeln sollen diese Grenze gegen Invasionen sichern. Im Folgenden werden einige Implikationen des Freiheitsbegriffs genannt: (1) In der Anarchie gibt es keine Freiheit im definierten Sinne. Die Anarchie ist definitionsgemäß ein regelloser, insbesondere rechtloser Zustand. Folglich kann es weder

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Gebote noch Verbote geben, auch keine Verbote, die Handlungen anderer zu stören. In der Anarchie ist jedermann alles „erlaubt", auch die Störung der Handlung eines anderen. Würde man dieses Merkmal der Anarchie als Freiheit definieren, dann implizierte der Übergang zu einer Rechtsordnung zwingend eine Einschränkung der Freiheit; man hätte es mit einem System geordneter Freiheit zu tun. (2) Sieht man einmal von der Existenz spontan entstandener Regeln der Moral ab, so ist Freiheit ein Produkt des Rechts. Sie manifestiert sich in der Definition und der personellen Zuordnung von Property Rights an knappen Ressourcen. Das ist auch die Vorstellung von Mestmäcker (siehe Mestmäcker 2005, S. 24). (3) Die Definition (Begrenzung) und personelle Zuordnung von Property Rights ist nur dort erforderlich, wo es aus der Natur der Sache heraus zu Interessenkonflikten kommen kann. Zur Illustration: Die Interessensphären von Individuum A und Individuum Β seien durch die beiden Kreise repräsentiert. Abbildung 1: Interessenkonflikte

A

Wenn sich aus der Natur der Sache heraus die beiden Kreise nicht überschneiden, kann es niemals zu Konflikten kommen. In diesem Fall können Property Rights zwar personell zugeordnet sein, aber sie sind unbegrenzt. Es gibt keine rechtlichen Schranken des Handelns, nur tatsächliche. Im Grunde sind dann Property Rights funktionslos. Als Beispiel sei auf Robinson Crusoe verwiesen. Seine Handlungsmöglichkeiten rechtlich zu beschränken wäre sinnlos. In Situationen, die denen von Crusoe ähneln, wird ein Rechtsprinzip „vom Optimierungs- zum nur noch auf die faktischen Möglichkeiten bezogenen Maximierungsgebot" (Alexy 1986, S. 80, Fn. 37). Wenn sich dagegen die beiden Sphären überschneiden, dann repräsentiert diese Fläche das Gebiet potentieller Konflikte. Es ist dieses Gebiet, für das die Einrichtung von Property Rights erforderlich wird. Mit der Definition und personellen Zuordnung von Property Rights wird entschieden, wer die Freiheit besitzt, Handlungen vorzunehmen, die diese Sphäre betreffen; wer seine Interessen rechtmäßig verfolgen darf. Der andere muss die Folgen dieses Handelns dulden. Unter Benutzung des Begriffs „externer Effekt" lässt sich dies so formulieren: Der Rechteinhaber darf durch sein Handeln einem anderen einen (negativen oder positiven) externen Effekt - sei es ein „technologischer", sei es ein pekuniärer - auferlegen: Letzterer besitzt kein Abwehrrecht. 16

16 „Technologische" oder „technische" externe Effekte sind direkte (nicht durch Preise vermittelte) unbeabsichtigte Nebenwirkungen der legitimen Produktion/Konsumtion bestimmter Güter durch Wirtschaftssubjekte auf das Nutzen- oder Gewinnniveau Dritter. Pekuniäre externe Effekte sind durch

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(4) In Konfliktsituationen impliziert die Vergrößerung der „protected domain" des einen die Einschränkung der „protected domain" des anderen. Ein Mehr an Rechten des einen (Stärkung seiner Rechtsposition) verlangt notwendig nach einem Weniger für den anderen (Schwächung seiner Rechtsposition).17 Würde man sich auf die Formel berufen „Die Freiheit des einzelnen endet da, wo sie die Freiheit der anderen beeinträchtigt", dann landete man im Nirgendwo. Diese Formel ist eine Leerformel. Man betrachte die obige Abbildung. Ohne Grenzziehung, d. h. die rechtliche Zuordnung der Schnittfläche zur Interessensphäre von A oder B, existiert weder Freiheit für A noch für B. Mit der Grenzziehung, d. h. der Entscheidung, zu wessen „protected domain" die Schnittfläche gehört und wer demgemäß Störungen seiner Interessensphäre mit Rechtsmitteln abwehren darf, wird die Freiheit für beide, A und B, konstituiert. Vorher gibt es keine Freiheit des anderen, die als Schranke für den Freiheitsbereich des „einen" gelten könnte. Folglich kann die Freiheit des anderen durch die Grenzziehung selbst auch nicht beeinträchtigt werden. Mit der Grenzziehung ergibt sich ein Zustand, in dem die Freiheit des einen mit der jedes anderen zusammen bestehen kann. (5) Anhänger der Naturrechtslehre argumentieren gerne, dass Freiheit ein vorpositivistisches, angeborenes, unveräußerliches Recht darstelle, das jeder Person in gleichem Maße zustehe. Das sei unbestritten, doch hilft uns das nicht weiter, wenn die Nutzung der Freiheit des einen mit der Nutzung der Freiheit des anderen kollidiert (siehe dazu Macleod 2003). Was bedeutet gleiche Freiheit z.B. im Falle eines Rauchers und eines Nichtrauchers, die sich dasselbe Zimmer teilen müssen? Entweder hat der Raucher das Recht zu rauchen (ihm ist Rauchen erlaubt), dann hat der Nichtraucher kein Abwehrrecht; oder aber der Nichtraucher hat ein Abwehrrecht (er kann, aber muss nicht das Rauchen verbieten), dann hat der Raucher kein Handlungsrecht. In Konfliktfällen dieser Art ist es unmöglich, jeder Person Freiheit in gleichem Maße zu gewähren. Erlaubnis ist unteilbar: Entweder Person A besitzt die Erlaubnis zum Handeln oder Person Β besitzt die Erlaubnis zur Verhinderung dieses Handelns.18 Die Frage, wem was in einer Konfliktsituation erlaubt ist, kann mit Hilfe zweier Konzepte beantwortet werden: Einerseits mit Bezug auf eine Wertordnung im Sinne einer Wertrangordnung und andererseits durch Abwägung von Prinzipien nach der folgenden Formel: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muss die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein" (Alexy 1986, S. 146).19 Dem Juristen ist die Arbeit der Rechtsgüterabwägung wohlvertraut.

Preise vermittelte, indirekte, unbeabsichtigte Nebenwirkungen der legitimen Produktion/Konsumtion bestimmter Güter durch Wirtschaftssubjekte auf das Nutzen- oder Gewinnniveau Dritter. 17 Diese Schlussfolgerung ist zwingend, wenn die Rechtsordnung das Prinzip der „compossibility" beachten will, was von einer rationalen Rechtsordnung verlangt werden muss. Zu diesem Prinzip der logischen (und faktischen) Vereinbarkeit von Rechtspositionen siehe Steiner (1977). 18 Freiheit ist in solchen Konfliktsituationen ein knappes Gut. Es existiert Rivalität in der Nutzung von Freiheit. Mit dem ökonomischen Begriff der Rivalität korrespondiert eine Rechteallokation, die nicht „compossible" ist. 19 Alexy (1986, S. 146 ff.) illustriert das ,Abwägungsgesetz" mit Hilfe von Indifferenzkurven, wie sie in der Wirtschaftswissenschaft verwendet werden.

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(6) Das in Punkt 5 Dargestellte erhellt, dass es unmöglich ist, in Konfliktsituationen, also solchen Situationen, in denen ein Mehr an Freiheit des A ein Weniger an Freiheit des Β impliziert, ein Maximum an Freiheit zu verwirklichen (siehe dazu Macleod 2003). Von einer Maximierung der Freiheit ließe sich sinnvoll nur unter folgenden Umständen reden: Gegeben sei die geschützte Erlaubnis von A und die geschützte Erlaubnis von B. Wenn man Β „mehr" erlauben würde, ohne die Möglichkeit von Handlungskonflikten mit A zu erzeugen, dann wäre ein Mehr an Freiheit (im Aggregat) möglich. Man könnte von einem pareto-superioren Zustand sprechen. (7) Die Ergebnisse von Punkt 5 und 6 gelten auch, wenn man Freiheit nicht durch Recht konstituiert begreift, sondern den Begriff auf einen vorrechtlichen Zustand, also die Anarchie, bezieht.

2. Drei Beispiele für die Unbrauchbarkeit von Freiheit als Rechtsprinzip a)

Preiskartell

In der Behandlung von Preiskartellen sind aus ökonomischer Sicht grundsätzlich zwei reine Fälle zu unterscheiden: Entweder haben die Anbieter in einem Markt das Recht, ein Preiskartell zu bilden, oder die Nachfrager haben (einzeln oder im Kollektiv) ein Abwehrrecht. Im ersteren Falle ist es den Anbietern weder geboten noch verboten, also erlaubt, ein Preiskartell zu bilden. M.a.W.: Die Vertragsfreiheit der Anbieter ist so umfassend definiert, dass sie die Erlaubnis enthält, vertraglich den Wettbewerb zu beschränken und eine Preisvereinbarung in beliebiger Höhe zu treffen. Die Nachfrager müssen die durch das Preiskartell in der Regel bewirkten pekuniären externen Effekte in Form erhöhter Preise dulden. Die Bildung des Preiskartells stellt keine Verletzung ihrer „protected domain" dar.20 Die Erlaubnis zum Schließen eines Preiskartells schließt ein Abwehrrecht seitens der Nachfrager aus, wenn die Rechtsordnung dem Prinzip der „compossibility" verpflichtet ist. Wenn die Nachfrager dagegen ein Abwehrrecht haben, dann würde die Bildung eines Preiskartells eine Verletzung ihrer „protected domain" bedeuten, gegen die sie rechtlich vorgehen könnten, aber nicht müssen (es ist ihnen weder geboten noch verboten, also erlaubt, rechtliche Schritte gegen das Preiskartell zu ergreifen). Die Erlaubnis (Freiheit) ist ein knappes Gut - es herrscht Rivalität in der Nutzung. Entweder den Unternehmen ist ihr Verhalten erlaubt oder den Nachfragern ist es erlaubt, das Verhalten der Unternehmen mit Rechtsmitteln zu verhindern. Wir haben es mit einem Nullsummen-Spiel zu tun, dessen Lösung jedenfalls nicht mit Hilfe des Freiheitskriteriums selbst gefunden werden kann, weil eine Lösung in der Wahl einer von

20 Eine Verletzung ihrer „protected domain" läge z.B. dann vor, wenn die Property Rights der Unternehmen in ihrem Umfang derart beschränkt wären, dass sie zwar Preisvereinbarungen treffen dürfen, aber der prozentuale Aufschlag auf die Grenzkosten (Lerner-Monopolmaß) maximal χ % betragen darf, aber tatsächlich bei y % liegt, mit y > x. Die erlaubte Abweichung des Preises von den Grenzkosten wird in der ökonomischen Theorie der Patente als ein Maß (neben anderen) fiir den Umfang eines Patentrechts verwendet.

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zwei sich wechselseitig ausschließenden Rechteallokationen besteht und erst mit ihr die „protected domains" (die Freiheitsbereiche) definiert werden. b)

Unternehmenszusammenschluss

Bei einem Unternehmenszusammenschluss liegen die Dinge ähnlich wie im Falle des Preiskartells. Die Frage lautet hier: Soll es Unternehmen erlaubt sein, sich zusammenzuschließen und anschließend einen Monopolpreis zu verlangen, oder sollen von dem Unternehmenszusammenschluss negativ Betroffene (negative pekuniäre Externalität in Form von Gewinneinbußen auf Seiten von Konkurrenten und überhöhten Preisen für Nachfrager) ein Abwehrrecht haben?21 Wir haben es auch hier wie bei der Behandlung eines Preiskartells mit einem Nullsummen-Spiel zu tun, dessen Lösung jedenfalls nicht mit Hilfe des Freiheitskriteriums gefunden werden kann. c)

Lieferverweigerung

Wir unterscheiden zwei Formen der Lieferverweigerung (siehe Schmidt 1999, S. 279 f.): Lieferverweigerung zur vertikalen Preisbeeinflussung und Lieferverweigerung zur Beschränkung der Vertriebswege. Die Lieferverweigerung zur Preisbeeinflussung, etwa zur Durchsetzung von unverbindlichen Preisempfehlungen, verstößt gegen das Verbot des § 21 Abs. 2 GWB. Der Schutzzweck der Norm besteht darin, die Umgehung kartellrechtlicher Verbote durch Druck- und Lockmittel vorzubeugen und damit die Entschließungsfreiheit der Abnehmer und des Preiswettbewerbs auf nachgelagerten Wirtschaftsstufen zu sichern (siehe Schmidt 1999, S. 279). Wie der Fall Uhren-Krämer/Seiko exemplarisch zeigt (siehe dazu Schmidt 1999, S. 279 f.), muss im Falle eines Rechtsstreits das Gericht entscheiden, ob eine Lieferverpflichtung besteht oder nicht besteht. Wird die Existenz einer Lieferverpflichtung bejaht, dann bedeutet dies, dass es dem Lieferanten nicht erlaubt ist, die Lieferung zu verweigern. Die Folge davon ist, dass dieser einen negativen pekuniären externen Effekt in Form einer Gewinnminderung zu dulden hat (wenn man unterstellt, dass die Lieferverweigerung in seinem Gewinninteresse liegt). Auch Konkurrenten auf dem nachgelagerten Markt, die sich an die Preisempfehlung halten, haben die Schädigung zu dulden, die mit einer Lieferung an einen „Preisempfehlungsbrecher" verbunden ist. Verneint das Gericht die Existenz einer Lieferpflicht, dann werden die Property Rights des Lieferanten so definiert, dass sie die Erlaubnis zur Lieferverweigerung umfassen. Das bedeutet aber, dass nicht belieferte Unternehmen einen negativen pekuniären externen Effekt in Form einer Gewinnminderung zu dulden haben. Genau so stehen die Dinge im Falle der Lieferverweigerung zur Sicherung des Allein- oder Selektiwertriebs (siehe dazu Schmidt 1999, S. 280 ff.). Auch hier lautet die zentrale Frage: Soll es dem Lieferanten erlaubt sein, die Lieferung zu verweigern (mit der Folge einer Schädigung der Interessen nicht belieferter Unternehmen im nachgelagerten Markt) oder sollen nicht belieferte Unternehmen ein Recht auf Lieferung haben

21 Ähnliche Problemlagen ergeben sich in Fällen des so genannten Preishöhenmissbrauchs. Eine ausführliche Property-Rights-theoretische Untersuchung solcher Fälle findet man in Schmidtchen (1983).

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(mit der Folge, dass der Lieferant und seine Kooperationspartner im Allein- oder Selektionsvertrieb negative pekuniäre externe Effekte zu tragen haben). Bei beiden Formen der Lieferverweigerung taucht das bereits bekannte Dilemma der Rechteallokation (Nullsummen-Spiel) auf: Die Rechtsordnung kann nicht sowohl dem Anbieter ein Lieferverweigerungsrecht geben und ihm zugleich eine Lieferpflicht auferlegen. Ein Mehr an Freiheit für den einen ist nur mit einem Weniger an Freiheit für den anderen zu haben.

3. Gefahr einer Leerformel Mit der Entscheidung von Handlungskonflikten im Markt durch Spezifikation und personelle Zuteilung von Property Rights wird der Umfang individueller Handlungsfreiheiten definiert. Für diese Definition kann aber aus logischen Gründen weder eine der individuellen Handlungsfreiheiten selbst noch etwa beide zusammen benutzt werden. Wie will man das Mehr an Handlungsfreiheit des einen mit dem unabdingbar damit verbundenen Weniger an Handlungsfreiheit des anderen saldieren? Wer aus dem Ziel Schutz der Wettbewerbsfreiheit (oder der Festlegung „des" Wettbewerbs als Schutzobjekt) Kriterien für die Abgrenzung individueller Handlungsrechte ableiten will, der muss entweder auf einen von den individuellen Freiheiten abgesonderten Meta-Freiheitsbegriff zurückgreifen (der Kriterien für die Definition individueller Handlungsfreiheiten in Konfliktsituationen bereitstellt) oder aber eine Leerformel benutzen. Der vielzitierte Satz „Die Freiheit des einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit der anderen beeinträchtigt" entpuppt sich als Leerformel (siehe auch von Weizsäcker 2003, S. 337), wenn man als Abgrenzungskriterium Freiheit selbst verwendet. Will man die Leerformel mit Inhalt füllen, dann bietet sich folgendes Kriterium an (von Weizsäcker 2003, S. 337): „Dem einzelnen sind solche Handlungen nicht erlaubt, die anderen mehr Schaden zufügen als sie ihm Nutzen stiften".22 Das aber ist das Effizienzkriterium.23 Das ihm zugrunde liegende Denkschema ist dem Juristen wohlvertraut, der einen Rechtsstreit zu entscheiden hat: Er wägt gegenläufige Interessen ab, fragt nach der relativen Schwere eines Eingriffs und misst Interessen, hinter denen die eines anderen zurückzustehen haben. 22 Eine Alternative besteht in dem von Hayek vorgeschlagenen Test auf Verträglichkeit mit der überlieferten Rechtsordnung (siehe dazu Schmidtchen 2004a) oder im Rückgriff auf ein Gerechtigkeitskriterium (siehe Schmidtchen 2004b). 23 Die in der juristischen Literatur vertretene These, dass die Allokationsftinktion des Marktes dem Prinzip der Freiheitsverwirklichung unter allgemeinen Gesetzen (Privatautonomie) nachgelagert sei und sich zur Letztbegründung von Rechtsregeln nicht eigne (siehe Mestmäcker 1984; Köhler 1994), ist verfehlt. Bei Transaktionskosten von Null kann die Erstallokation von Property Rights „beliebig" sein; der Markt sorgt dafür, dass Rechte dorthin wandern, wo sie - gemessen an der Zahlungsbereitschaft - am höchsten bewertet werden. Dieses Beispiel zeigt, dass die Betrachtung des Marktes als ein Koordinationsmechanismus, in dem Pläne mit den Mitteln des Vertragsrechts verwirklicht werden, und die Interpretation als Mechanismus zur effizienten Allokation knapper Güter zwei Seiten einer Medaille sind. Die von Mestmäcker und Köhler vertretene These mag zutreffen, wenn man die Wohlfahrtsökonomik mit dem Utilitarismus gleichsetzt. Dies muss man aber nicht tun. In diesem Beitrag wird eine Allokationstheorie verwendet, in der die privatautonom bestimmten Zahlungsbereitschaften der Individuen die Allokation in Richtung Maximierung der Wertschöpfung („wealth maximization") steuern.

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Möschel hat in seinem Beitrag zur Festschrift Mestmäcker die Behauptung vom Leerformelcharakter zurückgewiesen. Lesen wir, was er schreibt: „Nach dem in diesem Lande vorherrschenden Verständnis wird Wettbewerb als Wert für sich begriffen. Es ist der Interaktionsprozess, der schlicht aus der Wahrnehmung individueller Handlungsfreiheiten erwächst. Dies ist ein vertragstheoretisch begründetes Verständnis von Recht und Gerechtigkeit. Es fugt sich einer bereits zitierten mächtigen philosophischen Tradition ein. Man hat dieser Sicht Leerformelcharakter vorgeworfen" (Möschel 2006, S. 366).

Den Vorschlag, die Leerformel unter Rückgriff auf das Effizienzkriterium mit Inhalt zu füllen, kommentiert er wie folgt: „Solcher Inhaltsfiillung ist besser nicht zu folgen. In ihrer utilitaristischen Ergebnisorientierung ist sie mit der Prämisse der Interaktion von Handlungsfreiheiten, was gerade Ergebnisungewissheit impliziert, nicht zu vereinbaren. Ein solcher Ordnungsentwurf entspräche noch nicht einmal der Minimalanforderung wertungsmäßiger Konsistenz. Die Einschätzung als Leerformel dürfte vorschnell sein: Die Unterstellung dieses Interaktionssystems unter die Herrschaft des Rechts im Sinne allgemeiner und gleicher Regeln ist eine Struktur, die nicht als inhaltsleer zu begreifen ist. Für die Feinabstimmung im Einzelnen mag der Hinweis von Hayeks auf Ordnungsformen, die nicht Ergebnis menschlichen Entwurfs, sondern Ergebnis menschlichen Handelns sind, den Rahmen setzen. Dies ist dann keine strenge Theorie. Ob eine solche auf der Basis von Freiheitsrechten über das hinaus möglich ist, was man pattern prediction oder Strukturaussagen nennt, ist eher zweifelhaft. Denn es würde prophetische Gaben bei einem außen stehenden Beobachter voraussetzen. Nur kann man solchen historischen Prozess der Erfahnings- und der Erkenntnisgewinnung nicht als Leerformel beiseite schieben" (Möschel 2006, S. 366.)

Obwohl in der zitierten Passage der Anschein erweckt wird, sich mit dem Leerformel-Argument auseinanderzusetzen, findet diese Auseinandersetzung tatsächlich nicht statt. Möschels Ausführungen behandeln die Begründung des Leerformelvorwurfs überhaupt nicht, nämlich die logische Unmöglichkeit, das Freiheitskriterium selbst zur Definition von Freiheitsbereichen bei Vorliegen von Handlungskonflikten heranziehen zu können. Möschel behauptet einfach, dass der Vorwurf falsch ist, ohne sich mit der Begründung des Vorwurfs auseinanderzusetzen. Seine Verurteilung der utilitaristischen Ergebnisorientierung betrifft bestenfalls eine von mehreren Lösungen für ein identifiziertes Problem, nämlich den Leerformelcharakter der Aussage, dass man das Freiheitskriterium zur Definition von Freiheitsbereichen benutzen könne, und nicht das Problem selbst. Der Hinweis darauf, dass Wettbewerb eine spontane Ordnung sei und insofern ein historischer Prozess der Erfahrungs- und der Erkenntnisgewinnung, ist richtig, kann aber ebenfalls nicht als Beweis dafür angeführt werden, dass es logisch unmöglich ist, Freiheit als Rechtsprinzip zur Abgrenzung individueller Handlungsfreiheiten in Konfliktsituationen zu benutzen. Gewiss kann man fragen, wie die Property Rights von Marktteilnehmern spezifiziert und personell zugeordnet werden sollten, wenn man einen historischen Prozess der Erfahrungs- und Erkenntnisgewinnung ermöglichen, erhalten und fordern möchte. Aber dann ist es dieses Marktergebnis, das als erwünscht gesetzt und als Kriterium zur Spezifikation und personellen Zuordnung von Property Rights benutzt wird. Dieses Kriterium erfüllt dann dieselbe Funktion wie das Effizienzkriterium. Wer die Begründung der Behauptung eines Leerformelcharakters aufmerksam liest, wird feststellen, dass mit ihr alles andere getan wurde, als den historischen Prozess der Erfahrungs- und Erkenntnisgewinnung als Leerformel beiseite zu schieben.

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Dieter Schmidtchen

4. Zusammenfassung Den drei vorstehend analysierten Fallgruppen ist eines gemeinsam: Sie implizieren Interessenkonflikte, zu deren Lösung Freiheit als Rechtsprinzip nichts beitragen kann. Denn die Stärkung der Property Rights einer Partei geht zwingend mit einer Abschwächung der Property Rights einer anderen Partei einher oder - unter Verwendung des Begriffs der Freiheit: Mehr Freiheit für den einen bedeutet zwingend weniger Freiheit für einen anderen. Das Freiheitskriterium selbst ist zur Entscheidung der Frage, wer wie viel Freiheit erhalten soll, nicht zu gebrauchen.24 Man könnte einwenden, dass dieses Urteil nur deswegen zutreffend ist, weil die Fallbeispiele auf ein striktes Entweder-Oder hin konstruiert wurden. Tatsächlich geht es in der Rechtspraxis aber häufig um marginale Entscheidungen (marginal im ökonomischen Sinne verstanden), um Maß und Mitte: Wie viel soll dem einen zusätzlich erlaubt sein? Oder: Wann darf ein Unternehmen die Lieferung verweigern, wann darf das Unternehmen dies nicht? Der Übergang zu einer Marginalbetrachtung ändert jedoch nichts an der Schlussfolgerung, dass Freiheit als Rechtsprinzip zur Entscheidung von Interessenkonflikten nichts taugt: Auch ein marginales Mehr bei dem einen ist nur durch ein marginales Weniger bei dem anderen zu haben. (Wäre das nicht der Fall, dann läge gar kein Interessenkonflikt vor.) Ein Optimum an Freiheit ist mit Hilfe des Freiheitsbegriffs selbst aus Gründen logischer Konsistenz nicht zu finden. Tatsächlich entscheiden Kartellbehörden und Gerichte Kartellrechtsfälle durch Güterabwägung. Trotz aller Freiheitsrhetorik, die in den Beschlüssen und Urteilen zu finden ist, gründen diese im Kern auf einer Abwägung der wirtschaftlichen Interessen nach dem Motto: Welcher Partei ist eine Abschwächung ihrer Property Rights eher zuzumuten? Daneben mag auch mehr oder weniger bewusst die Frage eine Rolle spielen, welche Marktergebnisse gesellschaftlich erwünscht sind. Die in diesem Artikel aufgestellte These, dass Freiheit als Kriterium zur Entscheidung der Frage unbrauchbar ist, welche von zwei konfligierenden Freiheiten Vorrang vor der anderen haben sollte, wird auch von Macleod 2003 vertreten. Vorrangfragen sollten seiner Ansicht nach auf der Grundlage von Werten und Interessen entschieden werden, denen die Freiheiten dienen: „determining which of two conflicting freedoms ought in given circumstances to be given precedence must rest, at least in part, on judgments about the comparative importance in the circumstances of the values and interests served by the freedoms in question" (Macleod 2003, S. 44). Und: "The argument of the paper thus gives us one reason for rejecting the idea that 'maximization of freedom' and 'equalization of freedom' are criteria we should invoke when faced by the question which of two conflicting freedoms to give precedence to" (Macleod 2003, 5. 45 f.).

24 Ähnlich ist in hier nicht betrachteten Fällen wie Boykott, Preisdifferenzierung, Preisdiskriminierung und Ausschließlichkeits- und Kopplungsbindungen zu urteilen. Auch bei Patenten taucht das Rechtedilemma auf: Die Freiheit des Patentinhabers steht in Konkurrenz zur Freiheit von Imitatoren und Nachfragern von Produkten, deren Produktion die Nutzung des patentierten Wissens verlangt; siehe dazu auch v. Weizsäcker (2007).

Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz?

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Diese Aussagen dürfen nicht so verstanden werden, dass damit die Möglichkeit verneint wird, in bestimmten Situationen Freiheit um ihrer selbst willen als wünschenswert zu betrachten. Ein Hinweis auf die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks mag genügen. Aber wer Freiheit um ihrer selbst willen wünscht und schützen möchte, gerät in große Schwierigkeiten, wenn in einer konkreten Situation Freiheiten kollidieren, z.B. Freiheit des künstlerischen Ausdrucks und Persönlichkeitsschutz. Ein Beispiel, das Macleod anfuhrt, soll diesen Punkt verdeutlichen: "Thus, if A's freedom to pursue a scientific career at a research institute is in conflict with B's freedom to do so, a decision in favor of A may be warranted, other things being equal, if A's talents and qualifications make it more likely that he or she can help the institute achieve its research goals more effectively than B" (Macleod 2003, S. 43). Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, dass und wie Effizienz als Rechtsprinzip funktioniert. Man muss Effizienz als Rechtsprinzip nicht für wünschenswert halten, aber im Vergleich zu Freiheit als Rechtsprinzip hat Effizienz den Vorteil, dass dieses Kriterium logisch konsistent benutzt werden kann, um Interessenkonflikte zu entscheiden. Daneben ist es auch operationabel definierbar.

IV. Die Vorteile von Effizienz als Rechtsprinzip In diesem Kapitel wird zunächst der Effizienzbegriff definiert und anschließend für die drei in Kapitel III behandelten Fallgruppen beschrieben, wie das Problem reziproker Natur unter Rückgriff auf Effizienz als Rechtsprinzip gelöst werden kann. Ein drittes Unterkapitel befasst sich mit der Kritik an diesem Prinzip, die Mestmäcker am Beispiel von Unternehmenszusammenschlüssen entfaltet hat (siehe Mestmäcker 2005, S. 32). Außerdem wird die These von M. Hellwig geprüft, dass ein reines Effizienzziel als normative Grundlegung der Wettbewerbspolitik nicht ausreicht, weil Wettbewerbspolitik immer auch Verteilungspolitik sei (siehe Hellwig 2007, S. 30 f.).

1. Begriffsbestimmungen a)

Effizienz

Aus Sicht eines demokratischen Rechtsstaates muss jedes Maß für das gesellschaftliche Wohl zwei Bedingungen genügen: (1) Die Interessen aller Gesellschaftsmitglieder müssen erfasst, kein Gesellschaftsmitglied darf diskriminiert werden. Zur Gesellschaft zählen nicht nur die Konsumenten, sondern auch die Anbieter von produktiven Leistungen (Arbeitskraft, Kapital und Boden), die sich zu Unternehmen als Organisatoren der Produktionsprozesse zusammenschließen. (2) Das Maß muss Regeln des methodologischen Individualismus genügen. Dies bedeutet, dass in ihm die Präferenzen der Bürger reflektiert werden, wie diese sie selbst setzen (Präferenzautonomie). Außerdem muss Freiwilligkeit bezüglich der Akzeptanz von Transaktionen, insbesondere Tauschtransaktionen (Vertragsfreiheit) gewährleistet sein.

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Dieter Schmidtchen

Ein beide Bedingungen erfüllendes Maß stellt die Ökonomie mit dem Konzept des sozialen Überschusses zur Verfügung. Als sozialer Überschuss in einem Markt wird die Summe aus Konsumentenrente und Produzentenrente bezeichnet. Die Konsumentenrente misst den Vorteil der Konsumenten aus der Teilnahme am Markt; die Produzentenrente misst den Vorteil für die Anbieter (sie entspricht dem Gewinn vor Abzug der fixen Kosten). Es handelt sich bei dem sozialen Überschuss um ein theoretisch und empirisch bewährtes Maß für die Größe und Änderung der gesellschaftlichen Wohlfahrt, das in der Industrieökonomik (aber nicht nur dort) breite Anwendung findet. Dagegen wird die Wohlfahrt der Konsumenten in Europa und auch in Deutschland als Standard für die Wettbewerbspolitik verwendet. Dies ist ein in mehrerlei Hinsicht bedenkliches Verfahren. 25 (1) Hinter einer solchen Praxis steht häufig die Idee, dass „die" Wirtschaft den Konsumenten zu dienen habe. Diese Instrumentalisierung „der" Wirtschaft lässt sich nur schwer mit dem Menschenbild vereinbaren, das einer Privatrechtsgesellschaft zugrunde liegt. Denn „die" Wirtschaft, das sind die Eigentümer von Produktionsfaktoren, die sich z.T. zu Personenverbänden - Unternehmen genannt - zusammengeschlossen haben, um ihre Produktionsfaktoren (genauer: Property Rights) bestmöglich zu verwerten. Haben diese weniger Rechte als die Konsumenten? Wer die Konsumentenwohlfahrt anstelle der aggregierten Wohlfahrt zum Effizienzmaß erhebt, muss unterstellen, dass die Interessen der Konsumenten mehr wert sind als die der Produzenten. (2) Ein Blick in die ökonomische Theorie des allgemeinen Gleichgewichts zeigt, dass die Haushalte nicht nur die Eigentümer der Ressourcen, sondern auch die Eigentümer der Unternehmen sind. Die Produzentenrente fließt letztlich also ebenfalls an die Konsumenten. Dem Kollektiv aller Konsumenten ist es egal, ob der Gewinn aus der Beteiligung am Marktgeschehen ihnen als Konsumentenrente oder als Produzentenrente zufließt. 26 Ihr Interesse besteht darin, den Gewinn insgesamt so groß wie möglich werden zu lassen. Das bedeutet aber, den sozialen Überschuss zu maximieren. (3) Es werden Verteilungsfragen mit einem Instrumentarium, nämlich dem Wettbewerbsrecht, zu lösen versucht, für das bessere Alternativen existieren, nämlich das Steuer· und Transfersystem (siehe Kaplow und Shavell 2002). Der einzige mit einer bürgerlichen Gesellschaft der Gleichen kompatible Effizienzmaßstab ist die aggregierte Wohlfahrt („social surplus") - also die Summe aller Gewinne aus der Beteiligung am Marktgeschehen. Politisch-ökonomische Überlegungen könnten allerdings eine Bevorzugung der Konsumentenwohlfahrt gegenüber der aggregierten Wohlfahrt nahe legen, wenn z.B. der politische Einfluss der Konsumenten geringer ist als der der Produzenten oder wenn eine Informationsasymmetrie zwischen Kartellbehörden und Produzenten die Kartellbehörden im Ergebnis zu einer produzentenfreundlichen Spruchpraxis verführt. b)

Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkung

Ein Wettbewerbsmodell, das in der Wettbewerbspolitik verwertbare Ergebnisse liefern soll, muss mehreren Kriterien genügen: Es muss das reale Phänomen adäquat theo-

25 Eine ausfuhrliche Behandlung der Thematik findet sich in Schmidtchen (2008b); siehe auch Kirchner (2007), Van den Bergh (2007). 26 Aus Sicht des einzelnen Konsumenten mögen sich die Dinge anders darstellen, wenn er nur in einem Unternehmen arbeitet und sein Geldvermögen nur in ein Unternehmen investiert ist.

Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz?

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retisch abbilden; es muss Begriffe und Konzepte liefern, die operationabel sind; es muss empirisch überprüfbar und an moderne Entwicklungen der Ökonomie anschlussfahig sein. Es ist zweckmäßig und entspricht neueren Entwicklungen in der Ökonomie, Wettbewerb als ein Spiel zu definieren, das sich als marktlicher Parallel- und Austauschprozess vollzieht, und in dem es um die Schaffung von Werten und deren Aneignung geht (siehe auch Schmidtchen 2008a).27 Diese Definition trifft den Kern dessen, was seit den Klassikern unter Wettbewerb verstanden wurde. Die im Laufe der Zeit entwickelten und verfeinerten Wettbewerbskonzepte akzeptieren diese Idee und unterscheiden sich lediglich hinsichtlich der Voraussetzungen (Bedingungen), insbesondere bezüglich der Marktstruktur und der rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen es zur größtmöglichen Wertschöpfung kommt. Wettbewerb ist kein Konstantsummenspiel, bei dem die Interessen der Spieler nur gegensätzlich sind, weil der (zusätzliche) Gewinn des einen unweigerlich zum Verlust des anderen führt, sondern ein Variabelsummenspiel, bei dem sich gegensätzliche und parallel laufende Interessen untrennbar miteinander verknüpfen. Die Spieler sind die Unternehmen und die Konsumenten. Die Auszahlungen der Spieler im Wettbewerbsspiel bestehen in Anteilen an der Kooperationsrente (sozialer Überschuss). Rationale Spieler streben danach, möglichst große Anteile an der Kooperationsrente zu erhalten. Deshalb lässt sich individuell maximierendes Verhalten im Wettbewerb auch als rentensuchendes Verhalten bezeichnen. Das gilt für Anbieter, die eine möglichst hohe Produzentenrente erstreben, wie für Nachfrager, die an einer möglichst hohen Konsumentenrente interessiert sind. Im hier skizzierten Konzept des Wettbewerbs ist dieser ein dynamischer Wettbewerb (siehe Makowski und Ostroy 2001, S. 479-535; Schmidtchen 2005a). Wenn er den maximal möglichen sozialen Überschuss verwirklicht, sei er dynamischer perfekter Wettbewerb genannt. Wird das Maximum des sozialen Überschusses verfehlt, dann heißt er dynamischer imperfekter Wettbewerb (siehe dazu Makowski und Ostroy 2001, S. 479535; Schmidtchen 2005a). Im Konzept dynamischen perfekten Wettbewerbs bietet sich eine natürliche Definition des Begriffs Wettbewerbsbeschränkung an: Wettbewerbsbeschränkungen sind solche Maßnahmen oder Zustände, die bewirken, dass die Wertschöpfung kleiner ist, als sie sein könnte. 28 Mögliche Ursachen sind: klassische (stationäre) Monopolstellungen, nacktes Preiskartell, Markteintrittsbarrieren, vertikale Restriktionen, asymmetrische Information. Allokationstheoretisch handelt es sich um Fälle des Marktversagens. Spieltheoretisch gesehen sind es Defekte in den Spielregeln (was auch die Möglichkeit zu ungeahndeten Rechtsverstößen einschließt) oder in der Informationsstruktur eines Spie27 Ein Spiel ist vollständig beschrieben durch die Spielform und die Auszahlungsmengen. Eine Spielform ist durch die Menge der Spieler, die Menge der Strategiekombinationen, die Menge der Ergebnisse, die der Menge der Strategiekombinationen zugeordnet ist, sowie die Informationsstruktur charakterisiert. Spielformen definieren Spielregeln. Fügt man die Bewertung der Ergebnisse durch die Spieler sowie die Information hinzu, dann erhält man ein Spiel. Wettbewerbspolitik besteht in der Gestaltung von Spielformen. 28 Von Weizsäcker hat vorgeschlagen, die Verringerung der Wertschöpfung zum definierenden Merkmal von Markteintrittsschranken zu erheben; siehe von Weizsäcker (2005). Diese Idee wird hier verallgemeinert, indem alle Formen von Wettbewerbsbeschränkungen über das Merkmal Verringerung der Wertschöpfung definiert sind.

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les. Wenn die Wertschöpfung in einem Markt kleiner ist als sie sein könnte, dann impliziert dies die Existenz negativer pekuniärer externer Effekte. Diese können in drei Erscheinungsformen auftreten: (1) Nachfrager bezahlen höhere Preise als bei Wettbewerb; (2) Anbieter erzielen geringere Gewinne als bei Wettbewerb; (3) Nachfrager kommen am Markt nicht zum Zuge, obwohl ihre (maximale) marginale Zahlungsbereitschaft (Beschaffungspreisobergrenze) größer ist als die zu ihrer Versorgung erforderlichen volkswirtschaftlichen Grenzkosten (Abgabepreisuntergrenze).

2. Effizienz als Rechtsprinzip bei der Arbeit Die Leitlinie lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Folge den Einsichten von Coase: Bei Transaktionskosten von Null bewirkt jede eindeutige Spezifikation und eindeutige personelle Zuordnung von Property Rights eine maximale Wertschöpfung (Effizienz). Sind die Transaktionskosten prohibitiv hoch, dann sollten die Property- Rights so spezifiziert und personell zugeordnet werden, dass daraus die maximale Wortschöpfung resultiert, a) Preiskartell Zuerst muss die Frage nach den Schäden eines Preiskartells beantwortet werden.29 In einer Privatrechtsgesellschaft können Schäden nur Personen oder Personenverbänden wie z.B. Unternehmen entstehen. Auch Rechtsgüter, die unter dem Begriff ordre public zusammengefasst werden, sind gemäß den Prinzipien des methodologischen Individualismus auf Individualinteressen zurückzuführen.30 D sei die Nachfrage eines Endverbrauchers. Angenommen, η Anbieter des Gutes vereinbaren, das Gut zum Monopolpreis pi zu verkaufen (siehe Abb.2).

29 Die Darstellung des Modells orientiert sich an Hellwig (2006b). Die Auswertung des Modells erfolgt hier aber unter einem anderen Gesichtspunkt als bei Hellwig. 30 Gleiches gilt für Ziele wie Erhaltung des Wettbewerbs als Koordinationssystem oder Erhaltung einer Wettbewerbsordnung. Siehe zu dieser Problematik auch Hellwigs Kritik am Ordo-Liberalismus; Hellwig (2006a, S. 241 ff.).

Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz?

• 167

Abbildung 2: Wirkung einer Preisabsprache

Der Nachfrager kauft die Menge Q2 vom Anbieter k. Welchen Schaden erleidet er durch diese Vereinbarung? (Kausalität) Um die Frage zu beantworten, muss eine Vergleichssituation bestimmt werden. Hierfür existieren grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Ohne Vereinbarung wäre jeder Anbieter frei gewesen, den Preis p2 zu verlangen. Im Vergleich zu dieser Situation hätte der Nachfrager keinen Schaden erlitten. Aber bei Wettbewerb wäre ein solches Marktergebnis unwahrscheinlich, denn Wettbewerb würde die Anbieter dazu veranlassen, einen Preis p < p 2 z u setzen. Zur Bestimmung des Wettbewerbspreises sei folgendes angenommen: Alle Anbieter haben dieselben konstanten Durchschnittskosten (= Grenzkosten) in Höhe von DK\. Die ökonomische Theorie sagt voraus, dass im wettbewerblichen Marktgleichgewicht jeder Anbieter einen Preis in Höhe von DK\ verlangt (Bertrand-Wettbewerb oder perfekter Wettbewerb). Dies ist die effiziente Lösung. Angenommen, dieser Wettbewerbspreis p\ = DK\ sei der Vergleichsmaßstab. In dieser hypothetischen Welt hätte der Nachfrager also Q\ nachgefragt. Es gilt: Q2< Qu Die Kartellbildung hat zwei Effekte: (1) Allokationseffekt: Die Nachfrage sinkt von Q\ auf Qi. (2) Umverteilungseffekt: Der Nachfrager muss für die tatsächlich gekaufte Menge Qi den Betrag p2 · Q2 ausgeben anstelle von p¡ Q2· Welches sind die Wohlfahrtswirkungen?

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Der Gewinn des Anbieters k steigt um M. Die Wohlfahrt des Nachfragers sinkt um denselben Betrag. Dies ist der Umverteilungseffekt. Der Allokationseffekt reduziert die Wohlfahrt des Nachfragers um A\, ohne dass der Anbieter davon negativ oder positiv betroffen wäre. Q\ - Qi ist der Nachfragerückgang.

ist ein Maß für den Nutzenverlust pro Einheit des Nachfragerückgangs. Vom ökonomischen Standpunkt aus ist der private Schaden des Nachfragers, der durch die Preiserhöhung von p\ auf p2 entsteht, gleich der folgenden Summe:

Er entspricht in Abb. 2 der Fläche M + A¡. Diese Summe aus distributivem und allokativem Effekt kann als negativer pekuniärer externer Effekt interpretiert werden, den das Kartell dem Käufer auferlegt.31 Im Beispiel des Preiskartells ist der Schaden, den der Nachfrager als Folge der Abweichung des Kartellpreises vom Vergleichspreis bei Wettbewerb erleidet, um Ai größer als der zusätzliche Gewinn des Unternehmens. Hat der Nachfrager ein Abwehrrecht, dann ist das Unternehmen nicht in der Lage, diesen zum Verzicht auf dieses Recht zu bewegen. Er wird in einer Verhandlung mit jenem mindestens eine Kompensation in Höhe des monetären Schadens verlangen (Abgabepreisuntergrenze für die Abgabe des Rechts); das Unternehmen wird maximal den Zusatzgewinn bieten (Beschaffungspreisobergrenze). Eine Einigung ist nicht möglich. Die effiziente Lösung resultiert. Hat das Unternehmen dagegen ein Recht zum Abschluss des Kartellvertrages, dann wird der Nachfrager das Unternehmen zum Verzicht auf die Mitwirkung bewegen können, weil sein Schaden (Beschaffungspreisobergrenze für den Verzicht des Unternehmens) größer ist als der Zusatzgewinn (Abgabepreisuntergrenze für das Handlungsrecht). Gegen Zahlung von z.B. P 2 Q 2 + ( P i + ' - ) ( Q l - Q 2 ) , mit r > 0 , wird das Unternehmen k bereit sein, die Menge Q\ zur Verfügung zu stellen.32 Es resultiert die effiziente Lösung. Bei prohibitiv hohen Transaktionskosten sind Verhandlungen nicht möglich. Es sollte deshalb der Nachfrager ein Vetorecht gegen die Beteiligung des Unternehmens k am Kartellvertrag haben und bei einem Verstoß Schadenersatz verlangen dürfen. Da der Schadenersatz größer ist als der Zusatzgewinn, unterbleibt die Mitwirkung am Kartellvertrag. Ein gesetzliches Kartellverbot stellt ein Substitut für diese privatrechtliche Lösung dar, wenn die erwartete Sanktion den Mehrgewinn aus der Beteiligung am Kartell abschöpft. Es stellt auch ein Substitut für die Verhandlungslösung dar, was die produ-

31 Die gleiche negative Externalität würde sich einstellen, wenn Unternehmen k als ein marktbeherrschendes Unternehmen angesehen würde. Das Verlangen eines Preises in Höhe von p 2 wäre dann ein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (Preishöhenmissbrauch). 32 Die Größe von r hängt von der Verhandlungsmacht der beiden Akteure ab. Die obere Grenze für r liegt bei (p2-p,)/2.

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zierte und verkaufte Menge anlangt. Aber die Verteilungswirkungen sind extrem verschieden. Beim Kartellverbot fließt die gesamte Kooperationsrente aus der Transaktion zwischen dem Nachfrager und Anbieter k an den Nachfrager. Bei der Verhandlungslösung erhält der Anbieter k aufgrund der Kompensation den größten Anteil. Ein Verbot der Kartellbildung schädigt das Unternehmen k. Eine Erlaubnis zur Kartellbildung schädigt dagegen den Nachfrager. Verwendet man Effizienz als Rechtsprinzip, dann ist die Wahl zwischen den beiden sich ausschließenden Rechteallokationen leicht zu treffen: Der Schaden des Unternehmens k bei einem Kartellverbot ist kleiner als der Schaden des Nachfragers bei einer Zulassung des Kartells - folglich sollte man das Kartell verbieten, was zur maximalen Wertschöpfung fuhrt. b)

Unternehmenszusammenschluss

D sei die Nachfrage eines Endverbrauchers. Angenommen: η Anbieter des Gutes schließen sich zu einem Unternehmen zusammen. Dieses Unternehmen verkauft das Gut zum Monopolpreis pi. Der Nachfrager kauft die Menge Q2 (siehe Abb. 2). Ohne den Unternehmenszusammenschluss möge der Marktpreis p\ = DK\ gelten. Wie im Fall des Preiskartells treten zwei Effekte auf: Ein Allokationseffekt und ein Umverteilungseffekt. Auch hier kann die Summe aus distributivem und allokativem Effekt als negative Externalität interpretiert werden, die durch den Unternehmenszusammenschluss dem Nachfrager auferlegt wird. Sollten die η Unternehmen das Recht haben, diese Externalität zu erzeugen, oder sollte der Nachfrager ein Abwehrrecht besitzen? Diese Frage führt zu denselben Überlegungen, wie sie im Falle des Preiskartells angestellt wurden. Der Unternehmenszusammenschluss stellt lediglich einen Ersatz für ein Preiskartell dar (Annahme: die Durchschnittskosten bleiben auf der Höhe DK\). Deshalb sei auf das in Abschnitt IV 2. a) Dargestellte verwiesen. Angenommen, als Folge des Unternehmenszusammenschlusses sinken die Durchschnittskosten auf DK2. Das Unternehmen setze den Monopolpreis in Höhe von pj. (Siehe Abb. 3, die den Williamson-Trade-off darstellt.) Das Unternehmen erzielt nun im Vergleich zur Situation vor dem Untemehmenszusammenschluss aus der Transaktion mit dem Nachfrager einen Mehrgewinn in Höhe von M + A2.

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Abbildung 3: Wiliiamson-Trade-off Ρ, DK

Berechnet man den Schaden des Nachfragers durch Vergleich mit der Situation vor dem Unternehmenszusammenschluss, dann erleidet er einen Schaden in Höhe von M + A,. Die Größenverhältnisse zwischen M, Ai und A2 hängen vom Verlauf der D-Kurve und dem Umfang der Kostensenkung ab. Hier soll beispielshalber der Fall A2 > Ai betrachtet werden. Der Schaden des Nachfragers M + Ai ist kleiner als der Mehrgewinn des Unternehmens. Hat der Nachfrager ein Abwehrrecht und verlangt er die Lieferung von Q\ zum Preis von p\, dann wird das Unternehmen diesem Verlangen nachkommen; es verbleibt dem Unternehmen ein Mehrgewinn in Höhe von (p 1 - DK2) • Q\. Das gleiche Ergebnis würde sich einstellen, wenn das Unternehmen beim Fordern des Preises pi einen Schadenersatz in Höhe von Μ + Αι zahlen müsste. Haben dagegen die Unternehmen ein Recht zum Zusammenschluss und unbeschränkter Preissetzung, dann kann der Nachfrager das Unternehmen - bei Transaktionskosten von Null - im Verhandlungswege dazu bringen, ihm die Menge Q\ zum Preis von p\ zu verkaufen. Es resultiert die effiziente Lösung. Wie sollte das Wettbewerbsrecht ausgestaltet werden, wenn hohe Transaktionskosten sowohl Verhandlungen zwischen den Parteien wie auch die Einreichung einer Klage verhindern? Der Unternehmenszusammenschluss sollte genehmigt werden und die Preiserhöhung von p\ auf pi als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (Preishöhenmissbrauch) untersagt werden. Das Unternehmen wird zum Preis p\ die Menge Q\ verkaufen

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und einen Mehrgewinn im Vergleich zur Situation vor dem Unternehmenszusammenschluss in Höhe von (p\ - DKì) • Q\ erzielen. Es resultiert die effiziente Lösung.33 c)

Lieferverweigerung

In den Fällen der Lieferverweigerung wird bei Transaktionskosten von Null der Lieferant immer dann die Lieferung verweigern, wenn sein durch diese Verweigerung erzeugter Mehrgewinn größer ist als die Schäden aller von der Lieferverweigerung negativ Betroffenen. Es resultiert die effiziente Lösung. Bei positiven Transaktionskosten wäre die Allokation von Property Rights zu wählen, bei der der resultierende Schaden am niedrigsten ist. Ist der Mehrgewinn größer als der Schaden aller von der Lieferverweigerung negativ Betroffenen, dann sollte der Lieferant das Recht zur Lieferverweigerung erhalten. Im umgekehrten Fall sollte es ihm verweigert werden. d)

Zusammenfassung

Wenn das Coase-Theorem gilt, also die Transaktionskosten Null sind, dann wird von jeder beliebigen Ausgangsallokation der Property Rights im Verhandlungswege eine effiziente Lösung (maximaler sozialer Überschuss) herbeigeführt. Dies ist die perfekte Annäherung an das Idealbild einer bürgerlichen Gesellschaft (Fragen der Verteilungsgerechtigkeit nach Endzustandsgrundsätzen ausgeklammert). Bei positiven Transaktionskosten sieht das anders aus. Hier können nicht-internalisierte externe Effekte auftreten. Diesem Umstand sollte nach Coase durch eine entsprechende Anfangsallokation der Property Rights Rechnung getragen werden. Eine Politik gegen Wettbewerbsbeschränkungen findet hier ihre Legitimation. Sie definiert und schützt Property Rights. Bei Transaktionskosten von Null würde - wie gezeigt - auch bei einem Preiskartell ein Transaktionsvolumen erreicht wie bei vollkommenem Wettbewerb. Bei positiven Transaktionskosten wird es verfehlt. Ein Kartellverbot behebt diesen Mangel. Interessen von Nachfragern, die bei Transaktionskosten von Null und wohl definierten Property Rights bei Untemehmenszusammenschlüssen im Wege der Verhandlung berücksichtigt würden, werden bei positiven Transaktionskosten nicht berücksichtigt. Dieses „Verhandlungsversagen" kann durch eine Fusionskontrolle in Verbindung mit einer Missbrauchsaufsicht zu korrigieren versucht werden. Verhandlungsversagen kann auch bei Lieferverweigerungen durch eine „richtige" Zuteilung von Property Rights geheilt werden. Die bei prohibitiv hohen Transaktionskosten anzuwendende Regel lässt sich allgemein auch wie folgt beschreiben: Prüfe, ob der bei Erlaubnis eines Verhaltens sich ergebende Mehrgewinn ausreicht, die Geschädigten zu kompensieren und der Gewinner gleichwohl noch einen Mehrgewinn im Vergleich zum Status quo aufweist. Wenn dies der Fall ist, erlaube das Verhalten. Wenn dies nicht der Fall ist, untersage es. Offensichtlich entspricht diese Regel dem Kaldor-Hicks- Kompensationstest. Gibt es keine Geschädigten, sollte das Verhalten immer erlaubt sein. Freiheit als Rechtsprinzip und Effizienz als Rechtsprinzip führen dann zum selben Ergebnis.

33 Man beachte, dass sich dieses Ergebnis auch dann einstellt, wenn A 2 < A|

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3. Zweifel am Nutzen des Effizienzkriteriums a)

Überforderung der Rechtsanwender?

Mestmäcker (2005, S. 30) gesteht zu, dass Zusammenschlüsse von Unternehmen eine Erscheinungsform von Wettbewerb sind: „Versteht man unter einem Zusammenschluss die Verfugung über unternehmerisch genutzte Ressourcen, die eine neue Verteilung von Verfügungsrechten und eine andere Organisation unternehmerisch genutzter Ressourcen herbeifuhren soll, so ist deutlich, dass es sich dabei um einen Teil des Wettbewerbs handelt, der zur effizienten Allokation der Ressourcen beitragen soll." Gleichwohl lehnt er aber eine Effizienzprüfung von Unternehmenszusammenschlüssen ab und verteidigt den Ansatz, Zusammenschlüsse nach ihrer Eignung zu beurteilen, eine marktbeherrschende Stellung zu begründen oder zu verstärken und so wirksamen Wettbewerb zu verhindern (Mestmäcker 2005, S. 31). Zwei Gründe führt er dafür an: Erstens, die Entlastung der Kartellbehörden von den Folgeproblemen der Missbrauchsaufsicht oder Regulierung: „Die Beurteilung von Zusammenschlüssen nach ihrer Eignung, eine beherrschende Stellung zu begründen oder zu verstärken und wirksamen Wettbewerb zu verhindern, bezieht sich auf einen anhand der Marktstruktur zu ermittelnden Ausschnitt aus den wahrscheinlichen Außenwirkungen des Zusammenschlusses auf den betroffenen Märkten. Dieser Strukturbezug der Fusionskontrolle soll Wettbewerbsbehörden, Gerichte und Unternehmen von den Folgeproblemen der Missbrauchsaufsicht oder Regulierung entlasten, mit denen zu rechnen ist, wenn beherrschende Stellungen einmal entstanden sind" (Mestmäcker 2005, S. 31). Ein Strukturansatz ergibt allerdings nur Sinn, wenn man eine bewährte Theorie besitzt, nach der ein stabiler Zusammenhang zwischen Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnissen existiert. Dann reicht es in der Tat, die Marktstruktur zu kontrollieren, weil sich auf diese Weise „automatisch" auch das erwünschte Marktverhalten und die erwünschten Marktergebnisse einstellen (oder unerwünschtes Verhalten unterbleibt). Das aber ist nicht mehr die Einsicht der Ökonomie von heute. Zum einen gibt es Rückkoppelungsschleifen zwischen Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnissen und zum anderen determiniert die Marktstruktur in vielen Fällen nicht das Marktverhalten (siehe zu einer Kritik des Paradigmas aus institutionenökonomischer Sicht Schmidtchen 1994). So kann etwa in einem homogenen Duopol im Marktgleichgewicht der Preis auf der Höhe der Grenzkosten zu liegen kommen, wenn das Spiel ein Spiel in Preisstrategien ist, oder nach oben von den Grenzkosten abweichen, wenn die Strategien der Spieler Mengenstrategien sind. In hoch-komplexen Marktstrukturen dürfte die Vielfalt des Verhaltens und der Marktergebnisse noch viel größer sein. Außerdem ist die Frage „Strukturansatz oder Missbrauchsaufsicht bzw. Regulierung?" im Kern eine Frage danach, wie man am besten Rechtspositionen schützt. Die zentrale Frage lautet hier: Mit welcher Methode begeht man mit welcher Wahrscheinlichkeit den Fehler vom Typ I (false positive), diagnostiziert eine Wettbewerbsbeschränkung, obwohl keine vorliegt, und den Fehler vom Typ II (false negative), diagnostiziert wettbewerbliches Verhalten, obwohl tatsächlich eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, und wie sehen die relativen Kosten des Begehens der Fehler aus? (Siehe Schmidtchen 2005a, 2006b.) Außerdem spricht einiges dafür, dass die Missbrauchskon-

Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz?

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trolle und nicht die staatliche Genehmigung unternehmerischen Verhaltens das Herzstück einer Ordnung zum Schutz der bürgerlichen Gesellschaft darstellt. Das Genehmigungssystem der Fusionskontrolle ist Regulierung und im Vergleich zur Missbrauchskontrolle der härtere staatliche Eingriff. Der zweite Grund, der Mestmäcker zu einer Ablehnung der Effizienzprüfung von Unternehmenszusammenschlüssen veranlasst, ist die Vermutung, dass Wettbewerbsbehörden überfordert wären, die Existenz von Effizienzgewinnen zu prognostizieren: „Die Effizienzprüfung nimmt aber jene methodischen und praktischen Probleme in die vorausschauende Beurteilung von Zusammenschlüssen auf, die der Strukturbezug der Fusionskontrolle verhindern soll. Die Wettbewerbsbehörden sollten sich nicht in eine Situation bringen, in der sie die Ergebnisse des Wettbewerbsprozesses erraten müssen und besser als die Unternehmen selbst wissen wollen, ob ein Zusammenschluss effizient ist" {Mestmäcker 2005, S. 31). Der Strukturbezug kann jedoch die methodischen und praktischen Probleme einer Effizienzprognose gar nicht verhindern, weil er selbst auf einer generalisierenden vorausschauenden Beurteilung von Zusammenschlüssen aufbaut. Das von Mestmäcker in diesem Zusammenhang zusätzlich angeführte Argument, „dass ein Marktbeherrscher vom Markt nicht gezwungen wird, die Effizienzgewinne an die Verbraucher weiterzugeben" (Mestmäcker 2005, S. 31), beruht auf der Idee, dass Wettbewerbspolitik Verteilungspolitik sei und dass die Verbraucher ein Recht darauf besitzen sollten, über Preissenkungen am Fortschritt beteiligt zu werden. Wie sollte dieses Recht begründet werden?34 Was schließlich das Argument anlangt, dass sich Wettbewerbsbehörden nicht in eine Situation bringen sollten, „in der sie die Ergebnisse des Wettbewerbsprozesses erraten müssen und besser als die Unternehmen selbst wissen wollen, ob ein Zusammenschluss effizient ist", so verliert es an Überzeugungskraft, wenn man den Unternehmen die Beweislast für das Vorliegen von Effizienzvorteilen (und wenn es denn schon sein muss: auch die Art der Weitergabe an die Nachfrager) aufbürdet (siehe dazu Schmidtchen 2006a, S. 15) und eine Erfolgskontrolle durchführt (siehe Schmidtchen 2006a, S. 15; Stucke 2007). Mestmäcker (2005, S. 32.) nimmt in seinem Vortrag direkt Bezug auf die in diesem Artikel vertretene Position: „Das Effizienzkriterium ist von Dieter Schmidtchen im Anschluss an die neue Politik der EGKommission aufgegriffen und generalisiert worden. Seine These lautet abgekürzt, dass alle Fälle, mit denen Kartellbehörden oder Gerichte befasst seien, die Struktur des Coose-Theorems aufweisen. Hier wurde dargelegt, dass das Coase-Theorem den Wettbewerbscharakter von Unternehmenszusammenschlüssen zwar bestätigt, dass der Efficiency-Test aber aus eben diesem Grunde mit der wettbewerbsrechtlichen Beurteilung unvereinbar ist. Überträgt man aber das Coase-Theorem im Ganzen auf die Beurteilung von Unternehmenszusammenschlüssen, dann ist es unausweichlich, die vermögensrechtlichen, insbesondere gesellschaftsrechtlichen Veränderungen, die den Zusammenschluss begleiten, in die Effizienzbeurteilung einzubeziehen. Es kann aber schwerlich die Aufgabe der Fusionskontrolle sein, bei Gelegenheit eines kontrollpflichtigen Zusammenschlusses zu prüfen, ob die Rechte von Minderheitsaktionären gewahrt, Gläubiger gefährdet oder Insidergewinne gemacht werden."

34 Im Übrigen ist die Argumentation, dass ohne Wettbewerb Effizienzgewinne nicht an die Verbraucher weitergegeben werden, eine zweischneidige Angelegenheit. Bei Wettbewerb werden möglicherweise effizienzsteigernde Maßnahmen unterlassen, weil sie nur unter Aufwendung von Kosten zu realisieren sind und die Konkurrenz die Früchte eines solchen Vorstoßes zu schnell zunichte macht.

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Dieter Schmidtchen

Dass diese Rechte in einer bürgerlichen Gesellschaft eine Rolle spielen, dürfte unstreitig sein. Aber wird ihnen in einem Strukturbezug der Fusionskontrolle besser Rechnung getragen als in einem wirkungsbasierten Ansatz? Betrachtet man den Strukturbezug der Fusionskontrolle in dem von Mestmäcker erwähnten Zusammenhang, dann eröffnen sich zwei Argumentationsstränge. (1) Der Strukturbezug der Fusionskontrolle berücksichtigt diese Interessen und bezieht sie in die Effizienzbetrachtung ein. Behauptet wird dann implizit, dass der Schutz der Marktstruktur ein geeignetes Mittel ist, diese Rechte zu schützen. (2) Wenn der Strukturbezug diese Zusammenhänge dagegen nicht sieht, ändert das nichts an der Tatsache, dass der Strukturbezug faktisch einen Einfluss auf den Wert dieser Rechte ausübt. Die Rechteinhaber sind nun einmal von der Entscheidung der Kartellbehörden betroffen - so oder so. Mestmäckers Ansicht (Mestmäcker 2005, S. 32), dass bei Untemehmenszusammenschlüssen der „Efficiency Test ... mit der wettbewerbsrechtlichen Beurteilung unvereinbar sei" (de lege lata, de lege ferenda?) kann ebenfalls nicht überzeugen. Die Aufgabe der Kartellbehörden mag anspruchsvoller werden; aber das heißt nicht, dass sie nicht bewältigt werden kann. Der entscheidende Punkt liegt bei der Frage der Beweislastverteilung.35 Hayek (1996) hat einmal mit Recht vor einer Anmaßung von Wissen seitens staatlicher Instanzen gewarnt, aber es gibt auch spiegelbildlich die Gefahr einer Anmaßung von Unwissen (siehe Willgerodt 2004). Mestmäckers Skepsis bezüglich der Möglichkeit, Effizienzgewinne von Unternehmenszusammenschlüssen prognostizieren zu können, wird unter Berufung auf v. Hayek legitimiert (Mestmäcker 2005, S. 29). Er zitiert von Hayek, der Wettbewerb als Spiel definiert, dessen Ergebnisse teilweise von den „skills" und teilweise vom Glück abhängen.36 Die Folgerungen aus diesem Umstand für das Wettbewerbsrecht sind nach Ansicht Mestmäckers ebenso grundlegend wie weittragend: „Transaktionen, die Teil des Wettbewerbsprozesses sind, können nicht anhand ihrer Ergebnisse beurteilt werden. Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen müssen vielmehr in Übereinstimmung mit dem System ausgelegt und angewendet werden, das sie sichern sollen" (Mestmäcker 2005, S. 29.) Das nennt man das Prinzip der Ordnungskonformität (siehe Schmidtchen 2004 a). Aber wieso lassen sich Transaktionen, die Teil des Wettbewerbsprozesses sind, nicht beurteilen? Eines von mehreren Urteilen könnte so lauten: Jede (freiwillige) Transaktion ist wertschöpfend. Diese Behauptung lässt sich empirisch überprüfen und bestätigen. Man betrachte dazu Laborexperimente zur „double oral auction", die nicht nur Wettbewerb als Einheit von Parallel- und Austauschprozess repräsentiert, sondern zugleich zeigt, inwieweit er als Entdeckungsverfahren fungiert (siehe Schmidtchen und Kirstein 2003 sowie Kirstein und Schmidtchen 2002). Das ökonomische System, dessen Etablierung und Erhalt von den Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen erwartet wird und die demgemäß in Übereinstimmung mit dem System ausgelegt und angewendet werden müssen (siehe Mestmäcker 2005, S. 29), 35 Siehe das Prüfschema in Schmidtchen (2005a, S. 30-32); Schmidtchen (2006a, S. 13-15). 36 Im Artikel Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (siehe Schmidtchen und Kirstein 2003) wird ein solches Spiel untersucht. Die „skills" beziehen sich in dem Modell auf die Einsicht in die Funktionsweise des Spiels plus die Reservationspreise. Das Glückselement besteht in der Chance, eine gute Karte oder eine schlechte Karte bezüglich der Reservationspreise zu ziehen.

Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz?

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soll sicherlich auch - oder: primär? - ökonomische Zwecke erfüllen. Folglich muss bei vielen Normen geprüft werden, ob und inwieweit sie dem Systemzweck dienen. Das aber erfordert Rechtsfolgenanalysen und -prognosen. Ohne diese geht es also nicht. Allerdings sollte beachtet werden, dass wir nicht immer genügend Wissen besitzen, um Einzelvoraussagen zu machen. Wohl aber sind wir nach Ansicht Hayeks in der Lage, Mustervoraussagen zu formulieren. Es folgt: Transaktionen, die Teil des Wettbewerbsprozesses sind, können durchaus anhand ihrer Ergebnisse beurteilt werden. Sie sind wertschöpfend. Transaktionstypen, die aufgrund wirtschaftstheoretischer Einsichten vermuten lassen, dass sie nur werteumverteilend (Nullsummen-Transaktionen) oder gar wertvemichtend sind, wären als wettbewerbsbeschränkend zu klassifizieren. Die Vermutung sollte als widerlegbar behandelt werden. Die Beweislast liegt bei den Unternehmen. b) Wettbewerbspolitik ist auch Verteilungspolitik Martin Hellwig (2007, S. 29; Hellwig 2006a, S. 233-248) hält die Kritik am EfFizienzziel der Ökonomen für gerechtfertigt. Er identifiziert Effizienz mit dem ParetoKriterium, nach dem die Marktergebnisse bei Monopolen und Kartellen ineffizient sind. Kartellverbot und Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen könnten als Mittel zur Bekämpfung der Pareto-Ineffizienz interpretiert werden: Bei Konkurrenz ist die Wertschöpfung größer und alle Parteien könnten besser gestellt werden. Diese Interpretation greift nach Ansicht von Hellwig aber zu kurz: „Das Wettbewerbsrecht beschränkt die Handlungsspielräume von Unternehmen, potentiellen Kartellisten und Marktbeherrschern, ohne dass die Unternehmen und ihre Eigentümer dafür kompensiert würden. Solche Eingriffe sind mit dem Pareto-Kriterium nicht zu begründen" (Hellwig 2007, S. 30). Das ist richtig. Wohl aber sind sie mit dem Kaldor-Hicks Kriterium zu begründen, nach dem eine wirtschafts- oder rechtspolitische Maßnahme die Wohlfahrt der Gesellschaft (im Sinne von „wealth") steigert, wenn die Gewinner die Verlierer kompensieren könnten und gleichwohl noch ein Gewinn für sie verbleibt. Die Durchführung der Kompensation wird nach diesem Kriterium nicht verlangt.37 Hellwig meint, dass die Verteilungswirkungen der Wettbewerbspolitik durchaus vom Gesetzgeber intendiert sind (siehe Hellwig 2007, S. 30), und er fügt hinzu: „Meines Erachtens muss eine normative Grundlegung der Wettbewerbspolitik auch die Verteilungsfragen dieser Politik thematisieren und erklären, warum ein Kartellverbot ohne Kompensation von den Betroffenen zu akzeptieren ist. Ein reines Effizienzziel ist dafür nicht geeignet" {Hellwig 2007, S. 30). Die Existenz des Kaldor-Hicks-Kriteriums mag Zweifel an der Richtigkeit der letzten Behauptung erzeugen. Aber es gibt noch ein durchschlagenderes Gegenargument: 37 Kaldor war der Ansicht, dass es eine politische Frage sei, ob die Verlierer tatsächlich aus den Gewinnen kompensiert werden oder nicht. Zur Beantwortung dieser Frage könnten Ökonomen als Erfahrungswissenschaftler nichts beitragen. Man kann den Kaldor-Hicks-Ansatz mit dem Pareto-Ansatz versöhnen, indem auf die ex ante Zustimmungsfahigkeit von Maßnahmen abgestellt wird; siehe Posner (1981, S. 92 ff.). Einer Pareto-Verbesserung können alle Parteien zustimmen, einer Kaldor-HicksVerbesserung ebenfalls, wenn eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Verlierer auf lange Sicht per Saldo gewinnt. Das ist die Idee der Generalkompensation; siehe von Weizsäcker (1998); Schmidtchen (2004 b).

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Wenn man erkannt hat, dass es sich bei jedem wettbewerbspolitischen (-rechtlichen) Problem um ein Problem reziproker Natur handelt - also Schäden unvermeidbar sind - , dann sollte der größere Schaden vermieden werden. Dies ist nicht nur effizient, sondern könnte auch als gerecht empfunden werden. Da das Effizienzziel bei niedrigen Transaktionskosten von jeder beliebigen Anfangsallokation von Property Rights aus erreicht wird, kann diese Allokation unter Verteilungsgesichtspunkten gewählt werden. Effizienzziel und Verteilungsziel können im Fall niedriger Transaktionskosten miteinander versöhnt werden. c)

Verbraucherinteressen als Indiz für Wettbewerbsbeschränkungen?

Hellwig unterstützt die von der European Advisory Group on Competition Policy (EAGCP'), der er selbst angehört, erhobene Forderung, „etwaige pro-kompetitive Effekte eines zur Diskussion stehenden Verhaltens schon im Rahmen der Wettbewerbsanalyse zu berücksichtigen" (siehe Hellwig 2006a, S. 234). Was dies bedeutet, wird von ihm am Beispiel konditionaler Rabatt- und Bonussysteme erläutert. Hellwig meint, dass die Forderung der Advisory Group „der von Mestmäcker vertretenen Ausrichtung der Wettbewerbspolitik am Rechtsprinzip der Freiheit' entspricht", und er fügt hinzu: „Es gilt der Gefahr vorzubeugen, dass eine wettbewerbspolitische Intervention per Saldo den Wettbewerb schädigt, da die mit dem behördlichen Eingriff verbundene Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit stärker ins Gewicht fallt als die Beschränkung durch das beanstandete Verhalten. Dazu müssen die möglichen pro-kompetitiven Effekte eines Verhaltens und die Möglichkeit einer Wettbewerbsbehinderung durch den behördlichen Eingriff selbst schon im Rahmen der Wettbewerbsanalyse bedacht werden" {Hellwig 2006a, S. 234). Wenn Hellwig dafür plädiert, mögliche pro-kompetitive Effekte eines Verhaltens sowie die Möglichkeit einer Wettbewerbsbeschränkung durch den behördlichen Eingriff selbst schon im Rahmen der Wettbewerbsanalyse (durch die Behörden) zu bedenken, so ist dies ein Plädoyer, die positive Analyse korrekt und umfassend vorzunehmen. Diesem Plädoyer ist zuzustimmen (wenngleich durchaus diskussionswürdig ist, ob dies nicht auch im Rahmen einer separaten Effizienzeinrede zu schaffen ist). Gleichwohl wirft dies die Frage auf, wie der „Wechselkurs" aussieht, der es erlaubt, die Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit durch das beanstandete Verhalten mit der Beschränkung durch die staatliche Intervention zu saldieren. Der Begriff der Wettbewerbsfreiheit hilft hier nicht weiter. Er ist keine Kardinalskala (fraglich ist auch, ob er eine Ordinalskala darstellt). Also benötigt man eine andere Metrik, um die Saldierung vorzunehmen. Eine solche Metrik wird von der Ökonomie in Form des Effizienzkriteriums zur Verfügung gestellt. Nimmt man den sozialen Überschuss zum Maßstab, dann ist die Kalkulation einfach: Man vergleicht dessen Größe mit und ohne Intervention und entscheidet sich für den Zustand, bei dem der soziale Überschuss größer ist. Hellwig wählt im Anschluss an das Gutachten der EAGCP das Kriterium Verbraucherinteressen oder die Verbraucherwohlfahrt: „Eine Erhöhung der Verbraucherwohlfahrt kann daher als Beleg für positive Wettbewerbseffekte gesehen werden, eine Senkung als Beleg für negative Wettbewerbseffekte" (Hellwig 2006a, S. 265).

Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz?

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Und er erwähnt ausdrücklich: „Das Abstellen auf Verbraucherinteressen ist nicht als Effizienzargument durch die Hintertür zu verstehen. Unternehmensgewinne spielen in dieser Argumentation keine Rolle, auch nicht ein Konzept der ,Gesamtwohlfahrt' als Summe aus Konsumenten- und Produzentenrenten. Es geht nicht um .allgemeine Wohlfahrt' als Ziel der Wettbewerbspolitik, sondern um Verbraucherwohlfahrt als Indiz für Wettbewerbswirkungen" (Hellwig 2006a, S. 264). Zu diesem Zitat ist Zweierlei zu sagen: (1) Das Abstellen auf Verbraucherwohlfahrt erfüllt denselben Zweck wie das Abstellen auf Gesamtwohlfahrt im hier vertretenen Konzept des Wettbewerbs als Prozess der Schaffung und Verteilung von Werten. Die Wettbewerblichkeit eines Verhaltens wird beide Male anhand eines Marktergebniskriteriums bestimmt. (2) Es geht Hellwig weder um allgemeine Wohlfahrt, noch um Verbraucherwohlfahrt als Ziel, sondern um Verbraucherwohlfahrt als „Indiz für Wettbewerbswirkungen". Effizienz als Ziel der Wettbewerbspolitik zu setzen bedeutet nach Hellwig, Wettbewerb zu instrumentalisieren. Im Zusammenhang mit dem Verbot konditionaler Bonus- oder Rabattsysteme schreibt er: „Als nachhaltige Wirkung des Verbots ist also vor allem die Möglichkeit anzusehen, dass die Kunden in dem betreffenden Markt schlechter gestellt werden. Der Effizienzverlust, der dies bewirkt, ist ein Indiz für die Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit durch den behördlichen Eingriff. Er ist aber nicht unmittelbar der Grund dafür, dass von einem Verbot Abstand zu nehmen ist. Der Grund liegt vielmehr in der mit einem Verbot verbundenen Beschränkung von Freiheitsrechten. Würde man statt dessen auf Effizienzeffekte abstellen, so fiele man in das von Mestmäcker (2005) zu Recht kritisierte Muster der Instrumentalisierung des Wettbewerbs zum Erreichen von Effizienzzielen zurück. Der Versuch, etwaige, pro-kompetitive Effekte als Effizienzen zu behandeln, wird insofern der Bedeutung des Problems nicht gerecht" (Hellwig 2006a, S. 263).

Wird man der Bedeutung des Problems dadurch gerecht, dass man Verbraucherwohlfahrt an die Stelle der Effizienz setzt? Wie kann man sich für Verbraucherwohlfahrt als Indiz entscheiden, wenn man die Maximierung dieser Verbraucherwohlfahrt nicht vorher als Ziel gesetzt hat? Eine mögliche Antwort lautet: Es gibt eine ein-eindeutige Beziehung zwischen Wettbewerbsfreiheit einerseits und Verbraucherwohlfahrt andererseits derart, dass von der Höhe (oder Veränderung) der Verbraucherwohlfahrt auf die Wettbewerbsfreiheit (bzw. die Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit) geschlossen werden kann. Und wenn die Wettbewerbspolitik gegen ein Marktverhalten vorgeht, das per Saldo die Verbraucherwohlfahrt schädigt, dann geschieht dies nicht primär wegen dieses Wohlfahrtseffektes, sondern um die Wettbewerbsfreiheit zu schützen (siehe auch Hellwigs Argumentation hinsichtlich Effizienzverlusten, Hellwig 2006a, S. 263). Es könnte sein, dass sich die Unterscheidung von Ziel und Indiz als semantischer Trick entpuppt.

V. Schluss Nachzugehen war dem Verhältnis zweier Wissenschaften, die eigene Erkenntnisinteressen und Methoden haben und gleichwohl voreinander nicht lassen können. Mestmäcker betont mit Recht die Versuchung, der Zweisamkeit durch Herrschaft zu entkommen.

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Was die Frage der normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik anlangt, scheint er der Versuchung erlegen zu sein. Er weist die Forderung, Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen und deren Auslegung danach zu beurteilen, ob sie den Erfordernissen ökonomischer Rationalität genügen, mit dem Hinweis auf die „eigene Rationalität und Eigengesetzlichkeit" des Rechts zurück. Bei der Anwendung des Rechts haben hypothetische Aussagen über Rechtsfolgen, wie sie seiner Ansicht nach die Ökonomie aus ihren Modellen ableitet, keinen Platz. Das ist zu bezweifeln. Jede Formulierung einer Norm beruht auf Hypothesen bezüglich der durch sie in der Lebenswirklichkeit ausgelösten Folgen. Ohne solche auf Rechtsfolgenanalysen beruhende Hypothesen ist „rationales" Recht nicht möglich. Die Rechtswissenschaft wie auch die praktische Rechtssetzung und die Rechtsanwendung sind aber aus ihrem Eigenverständnis heraus und mit ihren Methoden nicht in der Lage, solche Rechtsfolgen abzuschätzen. Hier müssen sie auf die wissenschaftlichen Einsichten der Sozialwissenschaften - theoretischer wie empirischer Art - zurückgreifen (siehe dazu die Beispiele in Hellwig 2006a). Schließlich kann weder das Recht noch die Rechtswissenschaft die normative Grundlegung, also die Legitimation, für das Wettbewerbsrecht liefern. Die These, dass Recht sich durch sich selbst legitimiert, erinnert an Münchhausen. Tatsächlich hat Recht auch Wettbewerbsrecht - gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen, die außerrechtlich begründet sind und die dem Rechtssystem von einem anderen gesellschaftlichen System aufgegeben werden. Das Recht hat deshalb außerhalb seiner selbst bestimmte Werte und nicht immanente Werte zu verwirklichen. Recht hat eine dienende Funktion und ist insofern ein Mittel. Seine Herrschaft ist unter diesem Aspekt nur eine abgeleitete. Dies schließt allerdings nicht aus, dass ein Mittel auch unabhängig von seinen Konsequenzen Wert besitzt. Wettbewerbspolitik entscheidet Interessenkonflikte. Dies sieht auch Mestmäcker so: „Der Wettbewerbsprozess bildet den Rahmen, innerhalb dessen die für die Entscheidung von Interessenkonflikten erheblichen Tatsachen zu würdigen sind" {Mestmäcker 2008, S. 13). Sie tut das, was prinzipiell auch im Wege von Privatklagen bewerkstelligt werden könnte. Bei Behinderungsmissbrauch z.B. könnte die vermeintlich behinderte Partei vor Gericht ziehen und auf Unterlassung der Behinderung oder auf Schadenersatz klagen. Das Gericht müsste entscheiden, ob das betreffende Verhalten von den Property Rights des Behinderers umfasst wird oder nicht. Mit der Entscheidung werden die Grenzen der Property Rights aller Betroffenen definiert. Analoges gilt für Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Preishöhenmissbrauch (Kartell, Fusion) oder Preisstrukturmissbrauch. Der Umstand, dass Wettbewerbspolitik Interessenkonflikte zwischen Privaten entscheidet, dringt in Deutschland und Europa deshalb nicht ins Bewusstsein, weil Wettbewerbspolitik prozedural zur Kategorie des „public enforcement" von Property Rights gehört. Aber „public enforcement" kann als Ersatz und Ergänzung eines auf Privatinitiative gestützten Rechtsschutzsystems betrachtet werden, wenn letzteres aufgrund hoher Transaktionskosten nicht funktionsfähig sein sollte. Neuere Entwicklungen deuten eine Reprivatisierung von Rechtsstreitigkeiten im Kartellrecht an: Stichwort Privatklagen.

Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz?

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In diesem Beitrag wurde zu zeigen versucht, dass Freiheit als Rechtsprinzip zur Entscheidung von Interessenkonflikten, mit denen es die Wettbewerbspolitik auf der strategischen (legislativen) Ebene wie auf der operativen (administrativen und gerichtlichen) Ebene immer zu tun hat, nicht brauchbar ist. Liegt ein Interessenkonflikt vor, dann bedeutet ein Mehr an Freiheit für den einen stets ein Weniger an Freiheit für den anderen. Der Entscheider ist mit einem Nullsummenspiel konfrontiert, zu dessen Lösung Freiheit als Rechtsprinzip nichts beitragen kann. Akzeptiert man die These, dass alle Fälle, mit denen Gesetzgeber, Kartellbehörden und Gerichte befasst sind, Probleme reziproker Natur darstellen, dann bietet sich zur Entscheidung von Interessenkonflikten im Wettbewerbsrecht ein anderes Rechtsprinzip an - das der Effizienz.38 Mestmäcker (2008) hat sich jüngst erneut zum Spannungsverhältnis zwischen Wettbewerbsfreiheit und Effizienz geäußert und dabei insbesondere die Argumente kritisiert, mit denen Carl Christian von Weizsäcker den „Economic Approach" verteidigt (siehe von Weizsäcker 2007). Von Weizsäcker versucht am Beispiel des Verbots der Preisbindung der zweiten Hand, des Verbots des Verkaufs von Waren unter Einstandspreis und des Patentschutzes zu zeigen, dass es nicht die Wettbewerbsfreiheit gibt, sondern verschiedene Varianten von Wettbewerbsfreiheit, zwischen denen der Gesetzgeber und der Rechtsanwender wählen muss. Seine zentrale These, die im Ergebnis mit der in diesem Artikel vertretenen übereinstimmt, lautet: „Es gibt nicht die Wettbewerbsfreiheit. Gesetzgeber, Behörden und Gerichte stehen immer vor der Aufgabe, sich für bestimmte Varianten der Wettbewerbsfreiheit und damit automatisch gegen andere Varianten der Wettbewerbsfreiheit zu entscheiden. Bei der Abwägung zwischen verschiedenen Varianten der Wettbewerbsfreiheit gibt es keine Kriterien, die es einem erlauben, allein aus dem Begriff der Wettbewerbsfreiheit die eine der anderen Variante vorzuziehen." (von Weizsäcker 2007, S. 1084.) Anstatt von Weizsäckers Argumentation dadurch zu entkräften, dass gezeigt wird, wie beim Vorhandensein mehrerer Wettbewerbsfreiheiten der gleichwohl noch vorhandene Konflikt mit Hilfe eines (oder mehrerer) Begriffs(e) von Wettbewerbsfreiheit entschieden werden kann, wird pauschal geurteilt: „Ein Begriff der Wettbewerbsfreiheit, dessen Wesen dazu führen soll, dass mehrere Wettbewerbsfreiheiten unverbunden nebeneinander stehen müssen, ist ein juristisches Phantom. Wer es für unmöglich erklärt, konkurrierende Handlungsfreiheiten, zu denen die Wettbewerbsfreiheit gehört, in ihrem Verhältnis zueinander zu beurteilen, verschließt sich den Zugang zum Wettbewerbsrecht" (Mestmäcker 2008, S. 15). Vielleicht gibt es ja neben juristischen auch ökonomische Zugänge zum Wettbewerbsrecht.

38 Die Formulierung von Art. 98 EGV könnte ein solches Ziel nahe legen: „Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft handeln im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird".

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Im zitierten Beitrag Mestmäcker^ liest man darüber hinaus folgendes: „Was aber die angebotene Lösung - die Konsumentenwohlfahrt - angeht, so bleibt v. Weizsäcker, und nicht nur er, den Hinweis schuldig, wie man anhand von Konsumentenwohlfahrt auf den richtigen Grad von Wettbewerb, Wettbewerbsbeschränkung, Marktmacht oder relativer Marktmacht zurückschließen kann" (Mestmäcker 2008, S. 16). Ob man Konsumentenwohlfahrt zur Beurteilung des Verhältnisses konkurrierender Handlungsfreiheiten benutzen sollte, ist eine Frage normativer Setzung, aber dass dieses Kriterium operationabel ist, kann ernsthaft nicht bestritten werden. Eine dem MEA verpflichtete Wettbewerbspolitik stellt keine geringen Anforderungen an den Wissensstand und die analytischen Fähigkeiten der Kartellbehörden und Gerichte. Aber diesen kann genügt werden. Eine Behörde, die z.B. den SSNIP-Test zur Abgrenzung des relevanten Markts beherrscht, besitzt alle Informationen, die fur die Praktizierung des MEA erforderlich sind. Marktsimulationen und eine geeignete Beweislastverteilung können darüber hinaus die Arbeit erleichtern. Im MEA orientiert sich die Wettbewerbspolitik stärker als bisher an einem Rule-ofÄeason-Standard; wobei allerdings dirigistischer Aktivismus vermieden werden sollte. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Rule of Reason zeigt, dass es sich um ein Auslegungsprinzip für Normen mit kollidierenden Schutzzwecken handelt, dessen wichtige Funktion darin besteht, Verbotsnormen nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit auszulegen (siehe Mestmäcker 1974). Offensichtlich erfordert dies ein wirkungs- oder ergebnisorientiertes Vorgehen.39 Der Vorwurf, dass ein solches Vorgehen nicht normbezogen ist und keine Rechtsanwendung darstellt, ist überzogen. Ein Rule-of-Reason-Stmdard muss nicht im Widerspruch stehen zu einer regelgeleiteten Wettbewerbspolitik oder zur Rule of Law. Bei komplexeren Regeln sind viele und/oder verwickelte Sachverhalte zu prüfen. Sollten komplexere Regeln tatsächlich Rechtsunsicherheit zur Folge haben, dann wäre dieser Nachteil gegen den Vorteil größerer Einzelfallgerechtigkeit (Treffsicherheit) abzuwägen.40 Im Übrigen kann die Kritik am MEA nur überzeugen, wenn die dabei benutzten Prüfkriterien auch auf eine formbasierte Wettbewerbspolitik angewendet werden und die Letztere sich per Saldo als vorzugswürdig erweist.

39 Elhauge (2007) zeigt anhand der Analyse von sieben in den letzten zwei Jahren entschiedenen Antitrustfällen, dass die Richter in den Vereinigten Staaten einen Rule-of-Reason-Standard im Rahmen eines „moderaten Harvard-Schule-Ansatzes" praktizieren: „They (die sieben Fallentscheidungen, D.S.) indicate a clear embrace of using sound economic analysis to resolve antitrust issues, rather than a resort to either the old formalisms that favored plaintiffs, or new formalisms that try to favor defendants" 0Elhauge 2007, S. 1). 40 Zum Thema Rechtssicherheit sei an dieser Stelle nur soviel gesagt (siehe ausführlicher Schmidtchen 2007b): Es müsste noch im Einzelnen gezeigt werden, dass die Rechtsunsicherheit bei einem MEA tatsächlich größer ist als die in der Praxis eines formbasierten Ansatzes. Rechtsunsicherheit kann auch wettbewerbsschädigendes Verhalten abschrecken. Es gibt ein Optimum an Rechtssicherheit, weil mehr Rechtssicherheit nur mit zusätzlichen Kosten zu erreichen ist. Im Übrigen stellt sich die Frage, ob Rechtssicherheit nicht zu Lasten der Treffsicherheit geht; siehe Hellwig (2007, S. 12 ff.).

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Dieter Schmidtchen

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Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz?

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Dieter Schmidtchen

Summary: Freedom for competition or efficiency? - The dualism of law and economics in the field of competition policy The adoption of a „more economic approach" to European competition law gave rise to the question whether the basic aim of the law is to protect freedom in the marketplace or to enhance efficiency. Drawing on property rights theory, this paper shows that the basic problem to be solved by competition law is of a „reciprocal nature" (Coase): Giving more freedom to one party (extending the scope of property rights of this party) necessarily means less freedom for another party. The design of property rights is a zero-sum game. It is shown that the concept of freedom is of no use in solving the dilemma, whereas the concept of efficiency works. Doubts regarding the applicability of the efficiency criterion are rejected.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Ernst-Joachim Mestmäcker

Wettbewerbsfreiheit und unternehmerische Effizienz. Eine Erwiderung auf Schmidtchen Inhalt I. Konditional- oder Zweckprogramm und die Leerformel der Freiheit II. Die Interdependenz der Ordnungen oder die strukturelle Kopplung von Wirtschaft und Recht 1. Das Modell Property Rights 2. Freiheit im Nirgendwo III. Gewerbe-und Wettbewerbsfreiheit 1. Die Institutionalisierung des Wettbewerbs 2. Zur Leerformel der Wettbewerbsfreiheit 3. Wettbewerbsfreiheit im Privatrecht 4. Gesetzgeberische Ausgestaltung 5. „Erlaubte Freiheit" IV. Effizienz und Property Rights V. Coase und Hayek Literatur Zusammenfassung Summary: Freedom of Competition and Efficiency of Firms

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Schmidtchen (2008) setzt sich in seinem Aufsatz „Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz" mit der von mir vertretenen Rechtstheorie und ihrer Anwendung auf das Wettbewerbsrecht auseinander. Die Möglichkeit, auf die überwiegend kritische Wiedergabe meiner Theorie zu antworten, nehme ich gern wahr, weil sie mir Gelegenheit gibt, Fehlvorstellungen oder Missverständnisse zu korrigieren und verbleibende Gegensätze zu kennzeichnen. Schmidtchen stellt sich die Aufgabe einer normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik. Er nimmt sie in zwei Schritten in Angriff: Im ersten Schritt wird der Teil der normativen Grundlegung, der mit Rechtsnormen zu tun hat, unter Bezug auf die Systemtheorie Luhmanns anhand des Gegensatzes von Konditionalprogramm und Zweckprogramm behandelt; im zweiten Schritt geht es um die Rationalität oder die Irrationalität von Wettbewerbsfreiheit als Rechtsprinzip.

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Ernst-Joachim Mestmäcker

I. Konditional- oder Zweckprogramm und die Leerformel der Freiheit Schmidtchen hält es für offensichtlich, dass ich in meiner Rechtstheorie den systemtheoretischen Ansatz von Luhmann in dessen Rechtssoziologie von 1972 folge.1 Daran orientiert sich auch seine Kritik an meiner vermeintlich formalistischen juristischen Denkweise. Schmidtchen hat jedoch meine Kritik an Luhmann (1972) ebenso übersehen wie dessen grundlegend veränderte Position in „Das Recht der Gesellschaft" von 1993.2 Diese Veränderungen betreffen hauptsächlich das hier im Mittelpunkt stehende Verhältnis von Rechtsordnung und Wirtschaftssystem. Gleichwohl ist zunächst das von Schmidtchen anhand von Luhmann (1972) begründete Verständnis von Rechtstheorie kritisch zu würdigen. Wenn Schmidtchen meint, das Recht als konditionales Planprogramm entspreche der Auffassung „der meisten Juristen" und verzichte auf Folgenorientierung ebenso wie auf die Berücksichtigung von Normzwecken, dann werden die Juristen erneut als begriffsgläubige Subsumptionsapparate wahrgenommen. Wenn eine Aussage darüber möglich sein sollte, was die „meisten Juristen" über das Recht denken, dann lässt sich mit Zuversicht sagen, dass dazu „der Zweck im Recht" (Ihering 1883) und die an den Zweck anknüpfende Folgenorientierung gehören. Schmidtchen wählt ein Beispiel, das zeigen soll, warum es in meinem Rechtsverständnis und bei Luhmann (1972) auf Zweck und Folgenorientierung nicht ankomme. Im Beispiel sollen Kopplungsgeschäfte per se verboten sein: „Geprüft werden muss dann lediglich, ob ein Verhalten ein Kopplungsgeschäft darstellt oder nicht. Diese Prüfung kann anhand der Definition des Begriffs Kopplungsgeschäft vorgenommen werden." Das Beispiel ist schon deshalb ohne Aussagewert, weil es keine Rechtsordnung gibt, in der Kopplungsgeschäfte als solche per se verboten sind. Dazu gehören mindestens die Qualifikation der Normadressaten, die Eigenart des Vertrages, sein Bezug auf Marktverhältnisse und die zu berücksichtigenden Marktwirkungen, die anhand des Zweckes (!) der Normen zu beurteilen sind. Das Beispiel schließt überdies die Vorfrage nach den Gründen aus, warum ein Kopplungsgeschäft per se verboten sein soll oder nicht. Anhand der Kontroversen, die diese „Vorfrage" im amerikanischen, im europäischen und im deutschen Wettbewerbsrecht begleitet haben, hätte sich Schmidtchen auch über die für die Auslegung wettbewerbsrechtlicher Normen wesentlichen Kriterien unterrichten können. Der Zweck von Normen gehört neben Wortlaut, Entstehungsgeschichte und systematischem Zusammenhang zum Standard der Rechtsauslegung auch im Wettbewerbsrecht. Schmidtchen hält Per-se-Verbote offenbar für besonders geeignet, die verderblichen Wirkungen juristischer Scheuklappen vorzuführen. Aber auch diese Tatbestände erklären sich nicht „per se", sie führen vielmehr zu Missverständnissen, wenn man ihren Ursprung im amerikanischen Recht nicht berücksichtigt.3 Schmidtchen scheint schließlich das Recht als konditionales Planprogramm mit der Subsumption zu identifizieren, die jeder Rechtsanwendung vorausgeht (das „Wenn-dann-Schema"). Er wird damit nicht einmal Luhmann (1972) gerecht. Luhmann hebt wiederholt hervor, ihm gehe es nicht

1 Vgl. Luhmann (1972). 2 Vgl. Luhmann (1993). 3 Siehe den Überblick bei Mestmäcker und Schweitzer (2004, § 7 II 2 Rn. 31 -41 ).

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darum, eine juristische Kunstlehre zu entwickeln, sondern um die Eigenart des Rechts als Teil von Gesellschaft. Darauf ist im Folgenden einzugehen. Für Luhmann (1972) waren die Elemente des Rechts maßgeblich, die es zu einem im Verhältnis zu seiner Umwelt selbständigen System qualifizieren. Er nennt das bis zur dritten Auflage der Rechtssoziologie die Autopoiesis des Rechts.4 Die Eigenschaften dieses Systems werden bestimmt durch die Positivität des Rechts und seine Geschlossenheit gegenüber der Umwelt:5 „Das System sichert seine Geschlossenheit dadurch, dass es sich in allen seinen Operationen Selbstreferenz mitlaufen lässt und davon abhängig macht, ob die von Moment zu Moment produzierten Elemente normative Qualität in Anspruch nehmen können oder nicht."

Es gibt keinen Import von normativer Qualität aus der Umwelt in das System und zwar weder aus der Umwelt im Allgemeinen (Natur) noch aus der innergesellschaftlichen Umwelt (etwa Religion, Moral). Zu der Umwelt, aus der keine Normativität importiert werden kann, gehörte die Wirtschaft. Die Folgenorientierung wurde demgemäß begrenzt durch die Positivität des Rechts und den damit einhergehenden Zwang, jeden Konflikt anhand der Rechtslage zu entscheiden.6 Entgegen der Annahme von Schmidtchen habe ich mich in meinen Arbeiten zur Rechtstheorie nicht an Luhmann (1972) orientiert; vielmehr habe ich anhand seiner Theorie zeigen wollen, warum das wirtschaftlich erhebliche Recht ohne dauernden Bezug auf seine ökonomischen Funktionen nicht verstanden werden kann. Als Beweis sind Selbstzitate erlaubt und unvermeidlich. Zurückgewiesen wurde zunächst die These Luhmanns, dass der Jurist die Rationalitätsproblematik des Rechts verkenne, wenn er teleologisch nach dem Zweck einer Regelung frage: „Die von Luhmann favorisierte ,konditionale Programmierung' als wahre Rationalität des Rechts ist ihrerseits in hohem Maße selektiv. Sie reduziert jedoch das Recht auf,normierte Verhaltensmodelle', die zur Lösung erkannter Probleme entworfen werden."7 Große Normenmassen dienten zwar der Sozialplanung mit den Mitteln des Rechts. Gleichwohl sei es nicht gerechtfertigt, diese Erscheinungsform der Positivität des Rechts mit seiner Rationalität zu identifizieren. Damit werde der Teil einer Rechtsordnung, der auf spontaner Regelbildung beruht, als „strukturelle Zulassung von Flexibilität" systemfunktional verharmlost oder zur bloßen Umwelt des Systems erklärt. Damit verbunden sei der Verlust der Rolle des Rechts, die seit Kant die Staatsgewalt legitimiere und begrenze: Die Gewährleistung der gleichen Freiheit unter allgemeinen Gesetzen. Dieser Gedanke habe nichts mit der Annahme eines höheren Naturrechts oder der Rückführung des Rechts auf überholte Moralvorstellungen zu tun. Es handele sich vielmehr darum, ob das Recht Selbstbestimmung gewährleisten könne ohne ideologischen Selbsttäuschungen zum Opfer zu fallen.

4 Luhmann (1987, S. 354 ff.). 5 Luhmann (1987, S. 357). 6 Es ist dies eine Eigenart aller Rechtsordnungen, die voraussetzen, dass jeder Konflikt der ein Rechtskonflikt ist, auch entschieden werden muss. Ein notwendiger Zusammenhang mit einer positivistischen Rechtstheorie besteht entgegen Luhmann nicht. 7 Hierzu und zum Folgenden Mestmäcker (1985). Kritisch gewürdigt wurde Luhmann (1972, S. 342 und S. 376).

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Ernst-Joachim Mestmäcker

Die Feststellung, dass Luhmann (1972) mit seiner Theorie wesentliche Funktionen des Rechts verdeckte, und die Besonderheiten außer Acht ließ, die aus der Verbindung mit der Wirtschaftsordnung folgen, führte zur Kritik des rechtspositivistischen Kerns dieser Theorie:8 „Die Identifikation allen positiven Rechts mit Planung ist bereits in der Hobbeschen Rechtstheorie vorgezeichnet. Sie wird in der modernen Rechtssoziologie von Luhmann - wiederum unter ausdrücklicher Berufung auf Hobbes - als Planungsproblem der Weltgesellschaft erneut thematisiert."

Ohne auf die mit der systemfunktionalen Fassung der Fragestellungen verbundenen Komplikationen einzugehen, lässt sich feststellen, dass Systemrationalität als Planungsrationalität zum Beurteilungsmaßstab des Rechts erhoben wurde. Bei Luhmann (1972, S. 342) heißt es: „Das Recht nähme die Form von normierten Verhaltungsmodellen an, die zur Lösung erkannter Probleme entworfen, in Geltung gesetzt, erprobt und nach Maßgabe von Erfahrungen geändert werden. Die Normativität hätte nur noch die Funktion, die Konstanz des Erwartens zu sichern, solange und soweit sie sinnvoll erscheint. Die moralische und die ideologische Begründung des Rechts würde ersetzt werden durch funktionale Kritik."

Meine Erwiderung (1977, 1984, S. 124) darauf lautete: „Jenseits aller moralischen und ideologischen Begründungen von Recht ist es eine seiner Hauptaufgaben, die Lösung unbekannter und zur Zeit der Gesetzgebung unerkannter Probleme gesellschaftlicher Interaktion zu ermöglichen. Hieraus sind die wesentlichen Bezüge von Rechtstheorie und Wirtschaftstheorie entstanden. Vor allem die zwischen Privatrecht und Wettbewerbsrecht einerseits, Wettbewerbstheorie andererseits."

Als Anweisung zur positivistischen Resignation wurde schließlich die Definition „Recht ist was recht ist" zurückgewiesen9. Radikal hat Luhmann schließlich ein System der Weltgesellschaft in Frage gestellt, das darauf angewiesen sei, seine Probleme als Privatinteressen in regionalen politischen Systemen zu vertreten und durchzusetzen.10 Unverkennbar ist hier sein Blick auf die europäische Integration, die mit Hilfe marktwirtschaftlicher Prozesse politische Ziele verfolgt. Daraus folgte für Luhmann der Verdacht, dass auf weitere Entwicklungsmöglichkeiten hin gesehen, jene aus den Hochkulturen überlieferte Festlegung auf normative, politisch rechtliche Mechanismen eine Fehlspezialisierung der Menschheitsentwicklung gewesen sein könnte, an die sich eine weitere Evolution nicht anschließen lasse: „Mit dem Recht haben wir uns auf Systemebenen festgelegt, auf denen die Evolution menschlicher Sozialsysteme zu höherer Komplexität nicht fortgeführt werden kann.11 Die von Luhmann in Betracht gezogene Alternative war die Reduzierung des Rechts auf Planung der Gesellschaft. Das Recht müsse als eine Struktur der Gesellschaft, die Rechtskategorie als Kategorie gesellschaftlicher Planung gesehen werden. Die Sicherung der Kontinuität des Erwartens werde als Teilmoment in den Planungskontext aufgenommen und durch ihn relativiert. Stabilität sei nicht mehr Voraussetzung, Stabilisierung sei das Problem planerischen Entscheidens.12 Demgegenüber wurde auf die Her-

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Hierzu und zum Folgenden Mestmäcker, (1977, 1984, S. 104 und 124). Die Kritik bezieht sich auf Luhmann (1972, Bd 2, S. 358). Mestmäcker (1987, S. 20 ff.) sowie (1993, S. 12) zu Luhmann (1987, S. 362 f.). Luhmann (1972, S. 339). Luhmann (1972, S. 339 f.). Luhmann (1972, S. 297).

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ausforderung hingewiesen, die gleiche Freiheit unter allgemeinen Gesetzen im Rahmen der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung zu verwirklichen.13 Diese retrospektive Betrachtung beweist nicht, dass Schmidtchen der Plantheorie des Rechts bei Luhmann folgt, aber sie zeigt, dass er die gegen Luhmann entwickelte Rechtstheorie, welche die Beziehung zu Wettbewerb und Markt in den Mittelpunkt stellt, nicht berücksichtigt hat. Die von Schmidtchen anhand von Luhmann (1972) begründete und mir zugeschriebene formalistische Rechtstheorie, welche es von vornherein ausschließen soll, Wettbewerb und Effizienz in den Blick zu nehmen, erweist sich als ein folgenreicher Irrtum.

II. Die Interdependenz der Ordnungen oder die strukturelle Kopplung von Wirtschaft und Recht Die in Erinnerung gerufene kritische Auseinandersetzung mit Luhmann (1972) verweist zugleich auf ein Verständnis von Recht und Ökonomie, über das in der Tradition dieses Jahrbuchs Übereinstimmung zu bestehen schien. Diese Übereinstimmung verdankt sich keiner einheitlichen Ideologie, nicht einmal einer gemeinsamen Fragestellung, wie der Beitrag von Schmidtchen beweist. Es geht vielmehr um die Vereinbarkeit von individueller und gesellschaftlicher Rationalität im Licht sich stetig weiter differenzierender akademischer Disziplinen. Weitere Schwierigkeiten folgen daraus, dass die gemeinsamen Traditionen der verschiedenen Disziplinen fortschreitend verblassen. Mit der „Interdependenz der Ordnungen" schien ein Befund und eine Fragestellung formuliert zu sein, die den Blick für die jeweils andere Disziplin öffneten, ohne sie in ihrer Eigenart und Rationalität in Frage zu stellen. Manfred Streit (1995, S. 148) hat die hier zu berücksichtigenden Beiträge von Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft im Anschluss an Walter Eucken, Friedrich von Hayek und Franz Böhm zusammengefasst: „Die Normativität des zu einer Marktwirtschaft erforderlichen Regelsystems beginnt sich zu erschließen, wenn berücksichtigt wird, dass im Geltungsbereich des Privatrechts die Rechtssubjekte grundsätzlich gleichgeordnet sind. Das gleiche Recht fur alle gilt sowohl für ihre Kooperation, die sich in erster Linie auf der Grundlage von Verträgen vollzieht, als auch fur die Regelung von Konflikten mit Hilfe des Rechts und unter Inanspruchnahme des Staats als Wahrer der Privatrechtsordnung. Zur Gleichordnung gehört auch, dass die individuellen Interessenssphären - nicht zuletzt durch Eigentumsrecht - gegeneinander abgegrenzt sind. Auf diese Weise finden die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen dort ihre Grenzen, wo deren Wahrnehmung die Freiheit anderer beschränken würde. Die Normativität des Privatrechts besteht also darin, dass es eine für alle gleiche Freiheit gewährleisten soll".

Es gehört zu den ermutigenden sozialwissenschaftlichen Entwicklungen, dass Luhmann diese gegenseitige Öffnung der Systeme Recht und Wirtschaft in seine Theorie aufgenommen hat. In Luhmann (1993) wird das Verhältnis von Recht und Umwelt, insbesondere das Verhältais des Rechts zu Wirtschaft und Politik neu formuliert.14 Die neue Kategorie der strukturellen Kopplung von Recht und Wirtschaft bestätigt, dass es in diesem Verhältais nicht um gegenseitige Ausgrenzungen geht. Der von Schmidtchen vorgeschlagene Anschluss an Luhmann (1972) wird im Folgenden mit Luhmann (1993) 13 Mestmäcker (1989), auch (1993 S. 11-25, hier S. 15). 14 Luhmann (1993, besonders S. 440 ff.).

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Ernst-Joachim Mestmäcker

fortgeführt, weil Schmidtchen den Juristen außer den Wirtschaftswissenschaften die Sozialwissenschaften nahe legt (S. 178) und den Soziologen offenbar ein den Juristen überlegenes Verständnis des Rechts zutraut. Zu widerlegen ist eine der grundlegenden Thesen von Schmidtchen, „dass es unmöglich ist, in Konfliktsituationen, also solchen Situationen, in denen ein mehr an Freiheit des A ein weniger an Freiheit des Β impliziert, ein Maximum an Freiheit zu verwirklichen" (S. 158). Es soll damit in Übereinstimmung mit von Weizsäcker bewiesen werden, dass die Orientierung des Wettbewerbsrechts am Prinzip der Wettbewerbsfreiheit unmöglich sei.15

1. Das Modell Property Rights Schmidtchen entwirft das Modell, das zu diesem Ergebnis führt, anhand der Konflikte, die aus der Ausübung von Property Rights entstehen: „Ein mehr an Rechten des Einen (Stärkung seiner Rechtsposition) verlangt notwendig ein weniger für den Anderen (Schwächung seiner Rechtsposition)" (III 4). Diese Rechnung geht jedoch nur auf, wenn man Rechte als Güter behandelt, deren Wert nach einem von allen Beteiligten anerkannten Maßstab vergleichend gewichtet werden kann. Dies ist in der Tat die Meinung von Jeremy Bentham, dem Vater des Utilitarismus: „Kein Gesetz kann ein Individualrecht begründen (pleasure) ohne zugleich eine Pflicht und einen Verstoß zu erzeugen (pain)".16 Ausgeschlossen sei es, dem Begriff des Rechts einen Inhalt zu geben, ohne zugleich seinen Nutzen (utility) in Rechnung zu stellen.17 Deshalb könne die Freiheit nicht Gegenstand von Rechten sein. Solange der Gesetzgeber nicht tätig geworden sei, solange er nicht befohlen oder verboten habe, seien alle Handlungen frei: Alle Personen sind in Freiheit (at liberty) solange es kein Recht gibt.18 Diese Argumentation führt dazu, dass es ein Widerspruch in sich ist, innerhalb der Rechtsordnung von Freiheitsrechten auch nur zu sprechen („nonsense on stilts"). Schmidtchen scheint die Lieblingsthese von Bentham zu bestätigen, dass wir alle unbewusst, ob wir wollen oder nicht, Utilitaristen seien. Selbst wenn dies zutreffen sollte, folgt daraus entgegen Schmidtchen (und Bentham) nicht, dass sich auch das Recht in den Dienst des größten Glücks der größten Zahl stellen sollte. Die Eigenart der Rechtsordnung, in der es Property Rights gibt, wird ferner auch dann verkannt, wenn man diese Rechte als sich überschneidende Kreise zeichnet und folgert, der Rechtsinhaber dürfe durch sein Handeln einem Anderen einen negativen oder positiven externen Effekt auferlegen (III 4). Vorausgesetzt wird damit eine Instanz, die Property Rights zuteilt, und folglich dem A nicht geben kann, ohne dem Β etwas zu nehmen. Diese Annahme trägt jedoch nicht zum Verständnis eines Systems bei, in dem bei gegebener Verteilung von Property Rights zu unterstellen ist, dass die Rechte gegen Eingriffe gesichert sind und Veränderungen durch freie Handlungen möglich sind: 15 Zum Ausgangspunkt der Kontroverse ist zu verweisen auf von Weizsäcker (2007, S 1078-1084). Die Kritik von Weizsäckers richtet sich gegen Basedow (2007, S. 112-175). Zur Kritik an von Weizsäcker siehe auch Mestmäcker (2008, S. 6 und 14). 16 Bentham (1776, 1977, S. 88). 17 Bentham (1789, 1970), S. 16). 18 Bentham (1802, 1970, S. 253).

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Durch Vertrag, durch zurechenbare unerlaubte Handlungen oder durch Wettbewerb. Luhmann hat diese Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um eine auf subjektiven Rechten beruhende Ordnung zu ermöglichen, systemtheoretisch erfasst. Sein Verdienst besteht darin, dass er die rechtlichen Bestimmungsgründe dieser Entwicklung zusammenfasst, ohne die Ergebnisse der hier besonders ergiebigen rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Tradition (Kant und Hume, Hayek und Böhm) zu verkürzen. Im Mittelpunkt der hier zu besprechenden Strukturen stehen Vertragsfreiheit und subjektive Rechte, ökonomisch gesprochen Tausch und Property Rights. Subjektive Rechte, heißt es bei Luhmann, seien die wohl bedeutendste Errungenschaft der neuzeitlichen Rechtsevolution.19 Und der Vertrag sei eine der bedeutendsten evolutionären Errungenschaften der Gesellschaftsgeschichte.20 In beiden Bereichen geht es um die Personalisierung von Rechtslagen. Aber erst ihr Zusammenwirken erklärt Gesellschaftsstrukturen, die bestimmend sind für das Wirtschaftssystem. Subjektive Rechte ermöglichen „eine rechtstechnisch brauchbare Entfaltung des Freiheitsparadoxes", also die Notwendigkeit von Freiheitsbeschränkungen als Bedingung von Freiheit, eine Einschließung des Ausgeschlossenen, eine Individualisierung von Willkür.21 Im Hinblick auf die bei Schmidtchen im Mittelpunkt stehende vermeintlich nicht aufzulösende Paradoxie der Freiheitsrechte ist es gerechtfertigt, ihre Auflösung in der Zusammenfassung von Luhmann (1993, S. 291) zu zitieren: „Im Rahmen seiner subjektiven Rechte kann Jedermann nach Belieben handeln; seine Motive werden rechtlich nicht kontrolliert; und wenn man dies einschränken will, muss (und kann) man dem Vorhaben die Rechtsform einer Einschränkung der subjektiven Rechte geben. Weitere Errungenschaften, die am Ende des 18. Jahrhunderts zur Verfügung stehen, setzen dies voraus und nutzen es für anschließende Generalisierungen aus - so die von Stand und Herkunft unabhängige allgemeine Rechtsfähigkeit und die Positivierung des Rechts, mit der die rechtlichen Grenzen der Blankettform Freiheit verschoben werden können, wenn dafür ein Bedarf besteht."

Es geht mithin um die für subjektive Rechte vorauszusetzende Befugnis, über sie zu verfügen (Vertragsfreiheit), und um die allseitige rechtliche Anerkennung der daraus entstehenden veränderten Rechtszuständigkeiten. Zu dieser Entwicklung gehört die mit der Erklärung der Menschenrechte einhergehende allgemeine, von Staat und Beruf unabhängige Rechtsfähigkeit und eine Positivierung des Rechts, mit der die Grenzen der „Blankettform Freiheit" verschoben werden können. Kant (1797, 1969, S. 238) spricht von der Notwendigkeit, Freiheit in einer positiven Rechtsordnung zu verwirklichen, welche die Grenzen des äußeren Mein und Dein normiert.22

2. Freiheit im Nirgendwo Wenn Schmidtchen im Anschluss an von Weizsäcker wiederholt feststellt, wer sich auf die Formel berufe, die Freiheit des Einzelnen ende dort, wo sie die Freiheit der Anderen beeinträchtige, lande im Nirgendwo, dann wird eine Meinung widerlegt, die ich nicht vertreten habe. Sollte aber mit der „viel benutzten Formel" Kant in Bezug genommen sein, so würde es sich um ein folgenreiches Fehlzitat handeln. Unberück19 20 21 22

Luhmann, (1993, S. 291). Luhmann, (1993, S. 459). Luhmann, (1993, S. 291). Zur Freiheit als regulatives Prinzip Kant (1797, 1969, S. 221).

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Ernst-Joachim Mestmäcker

sichtigt bliebe nämlich der Teil der Formel, der ihr erst einen normativen Inhalt gibt. Über die Vereinbarkeit der gleichen Freiheit des Einen mit der Freiheit des Anderen ist „nach einem allgemeinen Gesetz" zu entscheiden.23 Das allgemeine Gesetz verweist auf die durch den Gesetzgeber ausgestaltete Rechtsordnung und schließt Einzelfallgesetze ebenso aus wie Befehle oder verbindliche Weisungen nach Plan. Weil Freiheit ohne Regel zur bloßen Beliebigkeit führt, ist sie zu ihrer Verwirklichung auf den Gesetzgeber angewiesen. Aus der Freiheit als solcher lassen sich keine anwendbaren Normen ableiten. Sie bedarf zu ihrer Verwirklichung Regeln, die es gestatten, über das äußere Mein und Dein zu urteilen. Diese von mir wiederholt hervorgehobene schlechthin grundlegende Bedingung für die Möglichkeit einer freien Ordnung wird von Schmidtchen nicht berücksichtigt. Im Nirgendwo landet man auch dann, wenn man von der Möglichkeit ausgeht, dass es Gesellschaften ohne Property Rights (subjektive Rechte) oder Gesellschaften ohne Verträge geben könne. Oder wenn man annimmt, dass sich subjektive Rechte, insbesondere die Wettbewerbsfreiheit gegenseitig neutralisieren, wenn sie im Wettbewerb aufeinander treffen.

a) Subjektive Rechte und Vertragsfreiheit Der These sich gegenseitig ausschließender Wettbewerbsfreiheiten liegt die Vorstellung zugrunde, dass es sich bei subjektiven Rechten hauptsächlich um Abwehrrechte handelt, die den Status quo garantieren. Diese Funktionen haben sie gewiss auch. Der Eigentümer, der sich nicht aufkaufen lässt, hat in der Literatur und in der Geschichte tiefe Spuren hinterlassen. Er tritt auf als Repräsentant von Männermut vor Fürstenthronen und ist als Spekulant oder Querkopf der Albtraum planender Kommunalverwaltungen. Deshalb werden subjektive Rechte, insbesondere das Eigentum, durch den Gesetzgeber begrenzt und ausgestaltet. Die Grenzen, die auch dem Gesetzgeber gezogen sind, normieren die Grundrechte. Subjektive Rechte sind aber nicht nur Abwehrrechte, sie sind im Gegenteil das Medium, das alle Veränderungen in der Verfügung über nutzbare Ressourcen vermittelt. Der Vertrag ist das wichtigste Mittel, die bei subjektiven Rechten immer mitgedachte „Blankettform Freiheit" wechselnden individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen anzupassen. Ohne Verträge kann wirtschaftlich nicht rational gehandelt oder geplant werden: „Verträge stabilisieren auf Zeit eine spezifische Differenz unter Indifferenz gegen alles Andere, inclusive die Betroffenheit von den am Vertrag nicht beteiligten Personen und Gesellschaften".24 Erst die Verbindung der Vertragsfreiheit mit den subjektiven Rechten führt zu der Auflösung traditioneller, durch Stand und Beruf normierter Rechtspositionen. Das Individuum wird zur Entschädigung für den Verlust fester Rechtspositionen mit subjektiven Rechten ausgestattet.25 Verträge sind das Instrument, das die Rechtsordnung zur Verfügung stellt, diese „Ausstattung der einzelnen durch Eigentum und andere subjektive Rechte" zum Gegenstand des Rechtsverkehrs zu machen. Luhmann fügt hinzu, dass die Vertragsfreiheit

23 Kant (1797, 1969, S. 230. 24 Luhmann (2003, S. 459). 25 Luhmann (1993, S. 487).

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ihre Entsprechung im Disziplinierungsinstrument der Märkte finden müsse. Er erfasst damit einen für das Verständnis des Privatrechts und der mit ihm verbundenen Rechtsund Wirtschaftsordnung grundlegenden Sachverhalt.26 Subjektive Rechte und Verträge setzen den Einzelnen instand, von den nur ihm zugänglichen Informationen vollen Gebrauch zu machen. Individuelle Rechtspositionen werden durch ein System von Regeln gerechten Verhaltens in die Privatrechtsordnung eingefügt. Diese normiert berechtigte Erwartungen, insbesondere die vertragliche, deliktsrechtliche oder wettbewerbsrechtliche Haftung für Tun oder Unterlassen. Der übergeordnete Grundsatz lautet: Relevant sind nur die Umstände, die den Teilnehmern bekannt sind oder bei gehöriger Sorgfalt bekannt sein können. Dies begrenzt zugleich die Umstände, die vom Richter in sein Urteil einzubeziehen sind.

b) Strukturelle Kopplung Luhmann hat in der bereits erwähnten Weiterentwicklung seiner Rechtssoziologie die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft in seine Theorie aufgenommen. Solche Kopplungen entstehen, wenn ein System bestimmte Eigenschaften seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt.27 Die Begriffe oder Institutionen, die diese Kopplung leisten, sind Vertragsfreiheit, Eigentum, andere subjektive Rechte und die Konkurrenz. Ein Vergleich mit der Rolle von Vertragsfreiheit und subjektiven Rechten bei Max Weber bestätigt die historische Dimension der Fragestellung, aber zugleich den überlegenen Zugriff auf das seit Karl Marx im Mittelpunkt stehende Verhältnis von Recht und Wirtschaftssystem. Max Weber übernimmt von Bentham nicht nur dessen Rechtspositivismus, sondern auch die Einteilung der Rechtssätze in verbietende, gebietende und erlaubende.28 Zu den erlaubenden oder ermächtigenden Rechtssätzen gehören bei Max Weber alle „so genannten Freiheitsrechte und die Vertragsfreiheit". Sie seien für die Wirtschaftsordnung besonders wichtig. Alle subjektiven Rechte stünden nämlich im Dienst der Marktverbreiterung. Auf diese Weise dienten sie nur noch dem Verwertungsstreben des Kapitals mit Sachen, Gütern und Menschen. In deutlicher Anlehnung an Karl Marx heißt es zusammenfassend zur Vertragsfreiheit·. „Das Resultat der Vertragsfreiheit ist also in erster Linie: Die Eröffnung der Chance durch kluge Verwendung von Güterbesitz auf dem Markt, diesen unbehindert durch Rechtsschranken als Mittel der Erlangung von Macht über andere zu nutzen."29 Demgegenüber kommt es darauf an, die aus der Ausübung subjektiver Rechte entstehenden Konflikte und das damit verbundene Spannungsverhältnis von subjektiven Rechten und objektivem Recht rechtlich und wirtschaftlich zu bewältigen. Dazu gehört außer dem notwendigen Personenbezug aller subjektiven Rechte auf den Rechtsträger selbst und auf die davon betroffenen Dritten ein Verfahren für die Lösung von Konflikten, das diesem Zweck dient. Die mit subjektiven Rechten stets verbundenen Klagebefugnisse lassen sich in Analogie zum Vertragsrecht auch als „spezifische Differenz un-

26 27 28 29

Dazu Mestmäcker (2007, S. 35 und 47). Luhmann (1993, S. 441). Weber( 1976, S. 397-440). Weber (1976, S. 439).

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ter Indifferenz gegen alles andere" definieren. Konflikte werden dezentralisiert und lokalisiert. Sie werden begrenzt auf das den Beteiligten von Rechts wegen zurechenbare Handeln oder Unterlassen. Die „Indifferenz" gilt bei Verträgen fur die Motive der am Konflikt Beteiligten, für ihre Folgeplanungen und für die Fernwirkungen der erfolgreich abgeschlossenen Transaktionen. Die Interessen Dritter werden von der Beurteilung aus materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Gründen ausgeschlossen. Diese Begrenzung hat im Vertragsrecht eine lange Tradition. Aber auch die gerichtliche Streitbeilegung setzt einen Streitgegenstand voraus, der durch den konkreten Konflikt und den für seine Beurteilung erheblichen Sachverhalt begrenzt ist.

III. Gewerbe- und Wettbewerbsfreiheit Schmidtchen schlägt vor, die Wettbewerbsfreiheit als ein institutionelles und unteilbares Rechtsgut dadurch zu schützen, dass man allen Teilnehmern am Wettbewerbsspiel individuelle Handlungsrechte, Property Rights, zuteile (Einleitung I). Die Property Rights sollen sodann die Grenzen definieren, innerhalb deren die Inhaber des Rechts tun und lassen können, was sie wollen und die niemand ohne seine Zustimmung überschreiten dürfe. Wörtlich heißt es: „Wettbewerbsrecht tut genau dies: Es spezifiziert Property Rights und ordnet sie personell zu." Eben dies tut der Gesetzgeber nicht, wenn er Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen in Kraft setzt.

1. Die Institutionalisierung des Wettbewerbs Schmidtchen verkennt den grundlegenden Unterschied der Wettbewerbsfreiheit von Property Rights, welche Nutzungsrechte zuweisen. Die Wettbewerbsfreiheit ist zunächst dadurch definiert, dass sie zur Teilnahme am Wettbewerb berechtigt. Welche Mittel die Teilnehmer im Wettbewerb einsetzen, um Erfolg zu haben, ist in den Grenzen zwingenden Rechts und der guten Sitten ihnen überlassen. Zur Gretchenfrage des Wettbewerbsrechts führt die Beurteilung der Wettbewerbsfolgen: Jeder erfolgreiche Wettbewerb, auch der mit rechtmäßigen Mitteln geführte Wettbewerb, schädigt Mitbewerber. Das gilt unabhängig davon, welche Property Rights davon betroffen sind. Die mit jedem Wettbewerb verbundene Gefahr, in seinen Erwartungen enttäuscht, also geschädigt zu werden, führt zur Frage nach dem zulässigen Selbstschutz. Diesen Schutz versprechen Vereinbarungen zwischen Unternehmen, durch die sie sich über die Modalitäten des Wettbewerbs oder über seinen Ausschluss verständigen. Das Kartellverbot soll solche Vereinbarungen verhindern. Die scheinbar einfachen Fragen nach der erlaubten Schädigung Anderer im Wettbewerb und den Grenzen der Vertragsfreiheit im Wettbewerb verweisen erneut auf die strukturelle Kopplung von Rechtssystem und Wirtschaftssystem, die sich im Anschluss an die Institutionalisierung von Eigentum und Vertragsfreiheit fast unbemerkt ergeben hat: „Es geht um das folgenreiche Rechtsprivileg, das vorsätzliche Schädigungen erlaubt, wenn sie im Rahmen wirtschaftlicher Konkurrenz erfolgen".30

30 Luhmann (1993, S. 465).

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Die Institutionalisierung des Wettbewerbs als einer Institution des Privatrechts im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist eine späte Rechtsentwicklung. Franz Böhm hat sie auf die Einführung der Gewerbefreiheit zurückgeführt. Die darin zum Ausdruck kommende Entscheidung zugunsten eines herrschaftsfreien Ordnungsprozesses verändere die gesellschaftliche Funktion aller auf das Wirtschaftsleben bezüglichen Privatrechtsinstitute. Aber erst aus der Wettbewerbsfreiheit folge das für die Kooperation ausschlaggebende Macht und Erfolg verteilende Ordnungsprinzip.31 Daraus folgt der Vorrang der Konkurrenzfreiheit vor dem Grundsatz der Vertragsfreiheit und vor dem Grundsatz der allgemeinen zivilrechtlichen Handlungsfreiheit.32

2. Zur Leerformel der Wettbewerbsfreiheit Trotz dieser Genealogie ist die Wettbewerbsfreiheit in den Ruf gekommen, ein Reservat von Juristen zu sein, die an die Formalität des Rechts glauben oder als Richter ohne Störung durch Ökonomie klassifizieren oder subsumieren möchten. Die Wettbewerbsfreiheit als Grundlage des Wettbewerbsrechts führe zu einer Leerformel. Jeder Wettbewerber könne sich auf Wettbewerbsfreiheit berufen, es gebe aber keine Maßstäbe für konkurrierende Wettbewerbsfreiheiten. Einer von mehreren möglichen Auswegen aus dem Dilemma sei die Effizienz der Marktergebnisse. Sie seien zu ermitteln anhand der Gesamtwohlfahrt (so Schmidtchen) oder der Konsumentenwohlfahrt (so die EG-Kommission). Der Auslöser der Kontroverse ist der „more economic approach" der EG-Kommission.33 Wettbewerbsfreiheit und Effizienz haben eine lange und kontroverse Geschichte. Sie bewerten komplexe Sachverhalte, also sind sie anfallig für Ideologien. Es ist deshalb geboten die Wettbewerbsfreiheit in das System der Freiheitsrechte und in das System der subjektiven Rechte im Privatrecht einzuordnen. Die Wettbewerbsfreiheit ist als Gewerbefreiheit Teil des bereits erwähnten evolutionären und revolutionären Prozesses, der die Einzelnen mit Vertragsfreiheit und subjektiven Rechten in Unabhängigkeit vom Staat ausgestattet hat. Nationale Besonderheiten erklären, warum die wirtschaftlichen Freiheitsrechte im Gefolge der französischen Revolution in den einzelnen europäischen Staaten eine ganz verschiedene verfassungsrechtliche und wirtschaftspolitische Bedeutung gewonnen haben. Die Verwirklichung der Gewerbefreiheit, der die Wettbewerbsfreiheit weitgehend entspricht, war in Deutschland Teil der verspäteten politischen und rechtlichen Umsetzung der wirtschaftlichen Freiheitsrechte. Der Begriff fasst rechtssystematische Bezüge zusammen, denen verschiedene positiv-rechtliche Konkretisierungen zugrunde liegen. Die folgenden Funktionen sind zu unterscheiden: Die Wettbewerbsfreiheit ist als Gewerbe- und Berufsfreiheit ein Grundrecht auf freie Wahl und Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeiten und ein Abwehrrecht gegen den Staat.

31 Böhm (1933, S. 118-127). 32 Böhm (1933, S. 129) sowie auch (1958, S. 167-203). 33 Das Schrifttum ist kaum noch übersehbar. Siehe den Überblick bei Kerber (2007) sowie Schwalbe und Zimmer (2006) und Zimmer (2007, S. 1198-1209).

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Als subjektives Recht begründet sie ein Recht oder eine Chance auf Teilnahme am Wettbewerb. Die auf der Ebene des Privatrechts entstehenden Wettbewerbsbeziehungen unterscheiden sich vom Vertragsrecht ebenso wie vom Recht der unerlaubten Handlungen. Die aus Wettbewerb entstehenden Marktprozesse wurden zwar zuerst privatrechtlich erheblich, aber erst Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen erfassen den Wettbewerb in seiner systematischen Bedeutung fur die Rechts- und Wirtschaftsordnung im Ganzen. Die den Wettbewerb kennzeichnende aktuelle oder potentielle kämpferische Rivalität der beteiligten Unternehmen gehört zu seinen auch rechtlich immer vorausgesetzten Eigenarten. Schon deshalb lassen sich den im Wettbewerb stehenden Unternehmen keine gegenseitigen Abwehrrechte zuweisen. Die Notwendigkeit, die Rechtsverhältnisse, die aus der Ausübung von Freiheitsrechten entstehen, gesetzlich zu regeln, ist keine Besonderheit der Wettbewerbsfreiheit. Die Wettbewerbsfreiheit ist das regulative Prinzip für die Ausgestaltung des Wettbewerbsrechts. Es bleibt als übergreifender Zweck für Auslegung und Kritik des geltenden Rechts erheblich. Als Ordnungsprinzip hatte sich die Wettbewerbsfreiheit mit politisch wirksamen, zum Teil noch vertretenen Gegenpositionen auseinanderzusetzen: - Mit dem Verständnis als vorläufigem, jederzeit widerrufbarem Verzicht des Staates auf Regulierung; - mit ihrer Reduzierung auf einen geduldeten, aber zu überwindenden Naturzustand; - mit der Annahme, jede rechtliche Regelung sei mit wahrer Freiheit unvereinbar; - zuletzt und neuerdings mit der These, sie führe sich als subjektives Recht selbst ad absurdum.

3. Wettbewerbsfreiheit im Privatrecht Wer von dem Recht auf Teilnahme am Wettbewerb Gebrauch macht, setzt sich dadurch dem Risiko aus, durch erlaubten Wettbewerb geschädigt zu werden. Das ist die juristische Erscheinungsform des Prinzips der „negativen Rückkopplung". Solange das Handeln im Wettbewerb und seine Wirkungen gesetzlich nicht geregelt waren, wurden grundlegende Konflikte zuerst von der Rechtsprechimg auf der Grundlage der privatrechtlichen Generalklauseln entschieden. Die Rechtsprechung hat in Deutschland von dieser Möglichkeit bekanntlich widersprüchlichen Gebrauch gemacht. Sie hat Kartellverträge auf der Grundlage der Vertragsfreiheit für wirksam gehalten, Kampfpreise von Kartellen als sittenwidrige Schädigung verurteilt und Schädigungen im Wettbewerb nur dann als sittenwidrig behandelt, wenn sie geeignet waren, die wirtschaftliche Existenz eines Unternehmens zu vernichten. Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen sind anhand des Schutzzwecks der Wettbewerbsfreiheit für Wettbewerbsverhältnisse auf der Ebene des Privatrechts entwickelt worden. Entgegen Schmidtchen wird in Deutschland und Europa nicht verkannt, dass Wettbewerbspolitik Interessenkonflikte zwischen Privaten zum Gegenstand hat. Die behördlichen Zuständigkeiten (public enforcement) für die Anwendung des Wettbewerbsrechts widersprechen dem nicht. Public enforcement als Ersatz und Ergänzung eines an das Privatrecht anknüpfenden Rechtssystems lagen dem deutschen GWB von

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Anfang an zugrunde. Weil auch behördlich angewendetes Wettbewerbsrecht privatrechtliche Wettbewerbsverhältnisse zum Gegenstand hat, wird die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen des Bundeskartellamts von den Zivilgerichten und nicht von den Verwaltungsgerichten überprüft. Es bedarf ferner keiner neuen Entwicklungen, um kartellrechtliche Streitigkeiten zu „reprivatisieren". Seit Inkrafttreten des GWB sind private Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche bei Verletzung eines Schutzgesetzes begründet. Auch gegen Möschels Verständnis des Wettbewerbs als eines auf der Ebene des Privatrechts angesiedelten Interaktionsprozesses, der aus der Ausübung individueller Handlungsfreiheiten entsteht (Möschel, 2006), hat Schmidtchen den Einwand der Leerformel erhoben (S. 160 f.). Die These, Möschel habe sich mit diesem Einwand gar nicht auseinandergesetzt, ist nur verständlich, wenn man mit Schmidtchen annimmt, dass bei Möschel nicht vom Privatrecht die Rede sei und die Leerformel allein durch Effizienz und Property Rights zu überwinden sei. Unbeachtet bleiben auf diese Weise die im Privatrecht entwickelten Methoden über konkurrierende Handlungsfreiheiten und kollidierende Interessen zu entscheiden. Dagegen spricht nicht, dass die Beurteilung von Wettbewerbsschäden eine Gretchenfrage des Wettbewerbsrechts geblieben ist. Die englischen Gerichte haben nach Common Law jeden Schadensersatz aus unerlaubter Handlung wegen Wettbewerbsschäden abgelehnt. Es gibt wichtige Stimmen im amerikanischen Schrifttum34, die es bei diesem Zustand belassen möchten. Die Vorsicht des US-Supreme Court in der antitrustrechtlichen Beurteilung von predatory pricing ist so ausgeprägt, dass das Gericht diesem Ergebnis nahe kommt.35

4. Gesetzgeberische Ausgestaltung Mit der gesetzgeberischen Ausgestaltung der Wettbewerbsfreiheit kommt notwendig das Ermessen des Gesetzgebers, aber auch der Beurteilungsspielraum von Behörden und Gerichten ins Spiel. Auch hier meinen von Weizsäcker und Schmidtchen, bei Konkurrenz oder Konflikten von mehreren Wettbewerbsfreiheiten müsse immer ein dem Kriterium der Wettbewerbsfreiheit exogenes Ziel vorgegeben sein, deshalb seien wir logisch gezwungen, Konsequenzialisten zu sein. Die Wettbewerbsfreiheit hat mit anderen gesetzgeberisch ausgestalteten subjektiven Rechten gemeinsam, dass sie rechtlich geschützte Interessen konkretisiert. Rechtsauslegung und Rechtsanwendung bestehen in der Ermittlung der gesetzlich bewerteten Interessen. Daraus sind die Maßstäbe für die Entscheidung von Interessenkonflikten unter Berücksichtigung der Schutzzwecke von Verbotsnormen zu entnehmen. Die Interessen der an Wettbewerbsbeschränkungen beteiligten Unternehmen sind im Lichte des Wettbewerbsprozesses, an dem sie teilnehmen, und im Hinblick auf die Funktionsfahigkeit des Wettbewerbs zu beurteilen. Die Geschichte der Preisbindung zweiter Hand bietet für diese Entwicklung und für die schwankende Bewertung kollidierender Interessen mit und ohne Berücksichtigung der Wettbewerbsfreiheit reiches Anschauungsmaterial. 34 Epstein (1995, S. 109-110). 35 Zuletzt US-Supreme Court (2007).

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Ich lasse im Folgenden die Besonderheiten außer Acht, die aus der Wahl der Gesetzgebungstechnik und den verschiedenen Sanktionen im Privatrecht, Verwaltungsrecht oder Verwaltungsstrafrecht (Bußen) folgen. Vorgreiflich sind jedoch die folgenden Grundsätze. Wettbewerbsrechtliche Normen müssen nicht nur der Rationalität des Rechts, sondern auch der ökonomischen Rationalität des Verfahrens Wettbewerb Rechnung tragen. Die Gebots- oder Verbotsnormen sollen so beschaffen sein, dass die Unternehmen in der Lage sind, über ihr Verhalten ex ante und anhand von Informationen zu entscheiden, die ihnen zugänglich sind.36 Die Sanktionen sollen ihrerseits mit den Erfordernissen des Wettbewerbs und dem wettbewerbsorientierten Handeln der Unternehmen vereinbar sein. Der Zusammenhang des Wettbewerbs mit dem Effizienzprinzip ist eng. Es ist die Peitsche des Wettbewerbs, welche die Unternehmen im Eigeninteresse zum möglichst kostengünstigen Einsatz ihrer Ressourcen und zum technischen und wirtschaftlichen Fortschritt zwingt. Damit ist jedoch nicht entschieden, dass sich das einzelwirtschaftliche Prinzip der Effizienz als Maßstab dafür eignet, ob ein Verhalten, das den Wettbewerb beschränkt, erlaubt oder verboten sein sollte.37 Das Effizienzprinzip als Teil der Gesamt- oder Konsumentenwohlfahrt führt methodisch zu einer Neuauflage des AisOb-Wettbewerbs. Die Grundfrage nach dem Verhältnis von Wettbewerbsfreiheit und Effizienz wird landläufig als Zweck-Mittel-Relation erörtert. Das bestätigen Verfassungsgipfel der EU. Weil es niemand gebe, der den Wettbewerb um seiner selbst willen schützen wolle, könne man das Ziel unverfälschten Wettbewerbs im EG-Vertrag getrost streichen. Dafür wird der französische Präsident Sarkozy zitiert. Der entsprechenden These von Kommissionspräsident Barosso habe ich selbst zugehört. In dem mit Recht berühmten Alcoa Urteil sagt der Richter Learned Hand zum Monopol: Nothing but death is an absolute.38 Dasselbe gilt gewiss für die Wettbewerbsfreiheit. Aber auch dieser Befund schließt nicht aus, dass es Gründe für die Orientierung des Wettbewerbsrechts an der Wettbewerbsfreiheit gibt, die unempfindlich sind für exogene Ziele und nicht zu Zirkelschlüssen führen. Für exogene Ziele sorgt der politische Prozess im Überfluss. Fast jeder Politiker, der sich mit Wettbewerb befasst, weiß in der Regel genau, was der Wettbewerb tun und vor allem was er nicht tun sollte. Die Wettbewerbsfreiheit sichert die Freiheitsrechte, aus denen Wettbewerb entsteht. Die Verkehrs- und Grundfreiheiten im EU-Vertrag zeigen, wie vielfältig und verschieden die rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge sind, in denen ihre Anwendung zum Wettbewerb führt. Der Schutzzweck Wettbewerbsfreiheit stellt sicher, dass jeder auf den Märkten entstehende, auch der neue und unvorhersehbar entstandene Wettbewerb vor privaten oder öffentlichen Eingriffen zu schützen ist. Von neu entstandenem Wettbewerb kann man getrost sagen, dass er anhand des durch ihn geänderten Status quo häufig als zweckwidrig kritisiert wird. Dumping ist das Stichwort, mit dem unerwarteter oder auch nur lästiger Wettbewerb diskreditiert werden soll. 36 Das gilt insbesondere für die Anwendung des Missbrauchsverbots in Art. 82 EGV. Für die Anwendung des Missbrauchsverbots in Art. 82 zuletzt EuG 10.4.2008 Deutsche Telekom AG/Europäische Kommission Τ 271/03 Rn. 192. 37 Übereinstimmend Hellwig (2006) und (2007). 38 U.S. v. Aluminum Co. of America, 148 F 2d 416 (2d Cir. 1945).

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Aus dem Prinzip der Wettbewerbsfreiheit folgt unter anderem, dass die gesetzlichen Eingriffe in den Wettbewerb und die daraus folgenden Schranken für die Handlungsfreiheit der Unternehmen nicht weitergehen dürfen als es ihr Zweck - der von Beschränkung befreite Wettbewerb - erfordert. Das gilt zugunsten und zu Lasten der betroffenen Unternehmen. Es gilt aber auch für Rechtsprechung und Verwaltung. Sie sollen die am Eigeninteresse orientierte dezentrale Planung der Unternehmen nicht durch ihr eigenes Urteil ersetzen. Auch Abhilfemaßnahmen (remedies) sollen nicht zur Regulierung führen. Als ein wirtschaftlich und rechtlich erheblicher Zugang zum Verständnis von Handlungsfreiheiten und Wettbewerb hat sich seit Adam Smith die Metapher der Spielregel erwiesen.39 Zu einer Spielregel gehören die Entscheidung über das Recht, am Spiel teilzunehmen, die Regeln über zulässige und unzulässige Einsätze, schließlich die Akzeptanz des allseitigen Risikos zu gewinnen oder zu verlieren, also das wiederholt erwähnte Prinzip der negativen Rückkopplung. Der Gedanke der Spielregel wird von Schmidtchen und von Hayek zur Erklärung der eigenen Theorie herangezogen. Das Vorbild Adam Smith (1759, 1974, S. 234) konfrontiert die Selbstgewissheiten eines zentralen Planers oder Regulierers mit den Erfordernissen einer freien Ordnung:40 „In dem großen Schachspiel der menschlichen Gesellschaft hat jeder sein eigenes Bewegungsgesetz, das ganz verschieden von dem sein kann, das der Gesetzgeber durchsetzen will. Wenn diese Prinzipien (das Prinzip freie Handlungen und die Gebote des Gesamtsystems) zusammentreffen, und in ein und dieselbe Richtung weisen, wird das Spiel der menschlichen Gesellschaft harmonisch sein und zu Glück und Erfolg fuhren. Sind sie aber entgegengesetzt oder verschieden, so wird es ein miserables Spiel werden und die Gesellschaft wird zu jeder Zeit den höchsten Grad der Unordnung aufweisen."

Hier ist mithin von den Prinzipien die Rede, an denen sich der Gesetzgeber orientieren sollte, der die Handlungsfreiheiten seiner Bürger respektiert. Die Entscheidung darüber, was Recht und Unrecht ist, steht nicht im Belieben des Gesetzgebers. Er muss vielmehr das Bewegungsgesetz der Gesellschaft in Rechnung stellen, das aus den freien Handlungen freier Bürger hervorgeht. Der Wettbewerb gehört zum Bewegungsgesetz der Gesellschaft und die allgemeinen und abstrakten Regeln des Rechts sind es, die damit im Grundsatz übereinstimmen. Schmidtchen beruft sich für seine Interpretation der Spielregel auf „die Klassiker". Nach seiner Definition ist ein Spiel vollständig beschrieben durch die Spielform und die Auszahlungsmenge (S. 165 Fn. 27). Im Konzept des dynamischen Wettbewerbs sei der Wettbewerb perfekt, wenn er den maximal möglichen sozialen Überschuss verwirkliche (S. 164). Eine solche Analyse ist nach Hayek mit dem Konzept der Spielregel „Wettbewerb" unvereinbar. Man veranstaltet Wettbewerb nur, weil das Ergebnis unbekannt ist, das mit seiner Hilfe erreicht werden soll. Daraus ergeben sich weit reichende Folgerungen: Wenn wir die Tatsachen, die wir mit Hilfe des Wettbewerbs entdecken wollen, nicht schon vorher kennen, können wir auch nicht feststellen, wie wirksam er zur Entdeckung aller relevanten Umstände führt, die hätten entdeckt werden können (Hayek 1968, 2003, S. 132 f.). Die Korrektur der Ergebnisse wäre nur durch die Wiederholung des Spiels möglich; eine Möglichkeit, die von vornherein ausgeschlossen ist, die aber die Eigenart einer Spielregel noch einmal hervortreten lässt.

39 Smith (1759, 1974, S. 234). 40 Übersetzung des Verfassers.

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Die Ex-post-Beurteilung von wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen anhand von „efficiencies" gerät mit den genannten Grundsätzen unabhängig davon in Konflikt, ob sie an ein gesamtwirtschaftliches Wohlfahrtsmaximum oder an die Konsumentenwohlfahrt anknüpfen. Bei den in den 60er Jahren in denUSA heftig geführten Diskussionen über den „performance test" und „workable competition" stand „efficiency" als Erklärung und Rechtfertigung von Wettbewerbsbeschränkungen im Mittelpunkt. Gleichzeitig sind die mit einer solchen Politik verbundenen Fallstricke deutlich geworden. In den Worten von Dirlam und Kahn (1954, S. 39): „To put the matter bluntly, the market performance test looks at the wrong end of the process." Das gilt entsprechend für den „efficiency"-Test. Erfahrung und ökonomische Analyse sind unerlässlich, um die vorteilhaften oder schädlichen Wirkungen wettbewerbsrechtlicher Regelungen zu beurteilen, neu einzuführen oder zu korrigieren. Aber das fordert kein vom Wettbewerb verschiedenes Rationalitätsprinzip, wie es Utilitarismus und Wohlfahrtstheorie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen postulieren. Diese Ansätze sind vielmehr mit einer Gesamtordnung unvereinbar, die aus Wettbewerb hervorgeht und hervorgehen soll. Bei Hayek (1968, 2003, S. 135) folgt die Absage an alle Kriterien der Wohlfahrt aus dem Befund, dass die Grobstruktur der Wirtschaft keine Regelmäßigkeiten zeigen kann, die nicht Ergebnisse der Feinstruktur sind und dass jene Aggregate oder Durchschnittswerte, die statistisch allein erfassbar sind, keine Informationen über Vorgänge in der Feinstruktur geben. Wettbewerb, Property Rights und Regeln gerechten Verhaltens sind Teil der Feinstruktur, aus der Maßstäbe für die Beurteilung von Wettbewerbsbeschränkungen zu entnehmen sind. Hayek steht nicht allein mit seiner Kritik an tatsächlichen oder hypothetischen aggregierten Wohlfahrtsergebnissen als Maßstab für die Beurteilung individuellen Verhaltens. Aus dem Zweck der allokativen Effizienz, heißt es in einer vergleichenden Analyse rechtlicher Institutionen, folge im Ergebnis nichts für das Verständnis des Rechts und subjektiver Rechte.41

5. „Erlaubte Freiheit" Der Wettbewerbsprozess, in dem über Erfolg oder Misserfolg im Wettbewerb entschieden wird, lässt sich nicht, wie Schmidtchen am Beispiel von Preiskartellen vorschlägt, auf „protected domaines" zurückführen (S. 166). Verfehlt werden ferner die Funktionen des Wettbewerbs, wenn man die Freiheit (Erlaubnis) als knappes Gut behandelt, über dessen Nutzung durch Allokation von Rechten entschieden werde. Das im Verhältnis zur Rechtsgüterverteilung übergreifende Prinzip ist die Gemeinfreiheit, die in der Wettbewerbsfreiheit stets mitgedacht ist. Den Grundgedanken zeigt der Gegensatz von patentrechtlich geschütztem Wissen und dem im Wettbewerb frei zugänglichen und nutzbaren Wissen.

41 Komesar (2001, S. 23). Die Kritik an einer ausschließlich instrumentellen Interpretation von Rechten im Utilitarismus Benthams wie in der an „efficiency" und „pareto optimum" orientierten neuen Wohlfahrtstheorie ist ein wesentlicher Bestandteil der eigenen Theorien von Amartya Sen (1988) und (2004).

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Die Definition von Freiheit als Erlaubnis verweist erneut auf die wohl nicht erkannte Nachfolge nach Jeremy Bentham. Danach sind auch Erlaubnisse der Reflex von Normen. Wer aber nur auf Grund einer Erlaubnis frei ist, wird zum Träger utilitaristischer Funktionen. Das von Schmidtchen wiederholt herangezogene Verbot von Preiskartellen verteilt keine Property Rights zwischen Anbietern und Nachfragern, es stellt vielmehr die Wettbewerbsfreiheit her und überlässt es den Unternehmen und den Märkten, wie sich diese Entscheidung auf die Güterverteilung auswirkt. Die unter der Rubrik Preiskartell mitbehandelten Ansprüche auf Grund von Behinderungsmissbrauch lassen sich nicht als Prozesse definieren, in denen über die Property Rights der Beteiligten entschieden wird. Kampfpreise eines Marktbeherrschers können unter bestimmten Voraussetzungen rechtswidrig sein. Aber das Urteil, das die Rechtswidrigkeit der Preisunterbietung feststellt, weist keine Property Rights zu, sondern stellt die vom Recht gewollte Preisfreiheit der Beteiligten her: Die des bekämpften Unternehmens und die des Unterbieters mit der Maßgabe, dass seine Preispolitik die den Rechtsverstoß begründenden Merkmale, zum Beispiel einen Verkauf unter variablen Kosten, meidet. Zu der Property Rights-Interpretation der gesetzlichen Tatbestände der Wettbewerbsbeschränkung (Kartell, Fusion, Missbrauchsverbot fur beherrschende Unternehmen) nehme ich nicht im Einzelnen Stellung, weil die zuvor erörterten Grundsatzfragen wiederkehren würden. Anlass zu gesonderter Stellungnahme gibt jedoch der Befund, dass Schmidtchen anhand seiner Theorie die verschiedenen gesetzlichen Tatbestände nach einheitlichen Kriterien beurteilen will, zum Beispiel die Fusion wie ein Preiskartell und beide in Übereinstimmung mit dem Missbrauchsverbot. Kann eine Fusion wegen hoher Transaktionskosten weder durch Vereinbarungen noch durch Klage verhindert werden, so soll die Fusion trotz Marktbeherrschung genehmigt werden; Wohlstandsverluste seien durch eine Kontrolle des Preishöhenmissbrauchs zu verhindern. Wenn man annehmen darf, dass der Gesetzgeber verschiedene Tatbestände der Wettbewerbsbeschränkung unter Berücksichtigung ihrer ökonomischen Eigenarten normiert, dann vermag eine Interpretation nicht zu überzeugen, die auf diese Eigenarten keine Rücksicht nimmt. Das ist nicht nur ein juristisches, es ist ebenso ein ökonomisches Argument. Die Meinung von Schmidtchen ist mit der Ratio der Fusionskontrolle unvereinbar. Wenn es eine wettbewerbspolitische Rechtfertigung für die Fusionskontrolle gibt, über die bisher Einigkeit zu bestehen schien, dann ist es ihre Funktion, den Umschlag des Wettbewerbsrechts in verbreitete Preis- und Missbrauchskontrollen zu vermeiden. Die Überlegung von Schmidtchen hat jedoch einen über ihre konkrete Anwendung hinausgehenden Erkenntniswert: Seine Doktrin der effizienten Zuweisung von Property Rights ist keine Theorie des Wettbewerbs, sondern eine Theorie der Regulierung. Das bestätigt die These (S. 156 f.), dass die Missbrauchskontrolle und nicht die staatliche Genehmigung unternehmerischen Verhaltens das Herzstück einer Ordnung zum Schutz der bürgerlichen Gesellschaft darstelle. Ich belasse es bei der Anmerkung, dass dieser „Trade o f f ' von Fusionskontrolle und Missbrauchskontrolle einen einmaligen Eingriff (Genehmigung) durch eine flächendeckende und auf Dauer angelegte Regulierung ersetzen würde. Eine bürgerliche Gesellschaft, deren „Herzstück" eine allgemeine Missbrauchskontrolle sein soll, empfiehlt sich als Kennzeichen eines Überwachungsstaates.

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IV. Effizienz und Property Rights Effizienz ist dasjenige Kriterium, das nach Schmidtchen (S. 160) und von Weizsäcker den Ausweg aus der Leerformel Wettbewerbsfreiheit verspricht. Um den Verdacht pauschaler, das heißt unbegründeter Urteile zu entgehen (Schmidtchen, S. 154 f.) ist es geboten, besonders auf die Begründimg des Effizienzkriteriums als „normativer Grundlegung der Wettbewerbspolitik" einzugehen. Schmidtchen fasst die Leitlinie für Effizienz als Rechtsprinzip anhand von Coase zusammen: „Folge den Einsichten von Coase: Bei Transaktionskosten von Null bewirkt jede eindeutige Spezifikation und eindeutige personelle Zuordnung von Property Rights eine maximale Wertschöpfung (Effizienz). Sind die Transaktionskosten prohibitiv hoch, dann sollen die Property Rights so spezifiziert und personell zugeordnet werden, dass die maximale Wertschöpfimg resultiert (S. 166)." Coase formuliert seine grundlegende These vorab: Traditionell wird in der Ökonomie und im Recht gefragt, welche Sanktionen für den gelten, der schädigend in die Property Rights Dritter eingreift.42 In Betracht kommen dann Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche im Privatrecht auf der einen Seite, öffentlich-rechtliche Sanktionen, die vom Verbot bis zur steuerlichen Belastung reichen können, auf der anderen Seite. Coase stellt dem die These gegenüber, dass es sich um ein reziprokes Problem handelt, bei dem nicht ausgemacht ist, dass nur die Sanktionen zu Lasten des Schädigers oder Störers rational sind. Die Schäden sind so abzugleichen, dass sie zu einer optimalen Allokation der Ressourcen beitragen. Coase unterscheidet ein Modell ohne und ein Modell mit Transaktionskosten. Bei Abwesenheit von Transaktionskosten führen zureichend definierte Property Rights bei Vernachlässigung von Einkommenseffekten zu einer optimalen Allokation: „With costless market transactions the decision of the Court's concerning liability for damage would be without effect on the allocation of ressources".43 Eine Diskussion in den Kategorien der Kausalität bestätigt, dass der Schaden von beiden Parteien verursacht und der Ausgleich unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien gesucht wird. Schmidtchen hält das Modell ohne Transaktionskosten, das nach Coase auf sehr unrealistischen Annahmen beruht44, gleichwohl für aussagekräftig (S. 171). Er verwendet es als Maßstab für die Korrektur von Marktverhältnissen mit Wettbewerbsbeschränkungen. Bei positiven Transaktionskosten könnten nicht internalisierte externe Effekte auftreten. Diesem Umstand sollte nach Coase durch eine entsprechende Anfangsallokation der Property Rights Rechnung getragen werden. Eine Politik gegen Wettbewerbsbeschränkungen finde hier ihre Legitimation. Sie definiere und schütze Property Rights. Bei Transaktionskosten von Null würde - wie gezeigt - auch bei einem Preiskartell ein Transaktionsvolumen ereicht wie bei vollkommenen Wettbewerb. Bei positiven Transaktionskosten werde es verfehlt. Das Kartellverbot behebe diesen Mangel. Die Zweifel an der Schlüsselrolle, die Schmidtchen dem Modell von Property Rights ohne Transaktionskosten zuweist, folgen aus Coase selbst: das Coase-Theorem ist nicht nur und nicht einmal in erster Linie ein Theorem von Property Rights ohne Transakti42 Coase (I960, S. 1 f.). 43 Coase (I960, S. 10). 44 Coase (1960, S. 15).

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onskosten. Praktisch wichtiger ist die Beurteilung von Eingriffen in Property Rights in der Realität, das heißt unter Berücksichtigung von Transaktionskosten.45 Erhalten bleibt zwar bei dieser Betrachtung die grundlegende Einsicht, dass es sich bei Eingriffen in Property Rights im Verhältnis von Störern und Gestörten, von Schädiger und Geschädigtem um ein reziprokes Problem handelt. Gesondert zu würdigen ist jedoch die weitere Errungenschaft des Coase-Theorems, dass es sich bei den Produktionsfaktoren, die ein Unternehmen erwirbt, nutzt und gegen Eingriffe verteidigt, um ein Bündel von Handlungsrechten handelt. Die damit verbundene Annäherung an die rechtswissenschaftliche Tradition führt zugleich zur Notwendigkeit neuer Abgrenzungen. Für beide, für Recht und Ökonomie, gilt mit Coase, dass ein System, in dem die Rechte der Einzelnen unbegrenzt sind, ein System sein würde, in dem es keine Rechte zu erwerben gäbe. Wir haben es in einer freien Ordnung mithin stets mit der gegenseitigen Abgrenzung und Anpassung von Handlungs- und Verfügungsrechten zu tun. In die dafür notwendige Abwägung sind alle erheblichen Umstände einzubeziehen. Vermögens- oder Handlungsrechte ändern jedoch nichts daran, dass diese Rechte an die physische Realität der geschützten Gegenstände und an rechtlich zwingende Einschränkungen ihrer Mobilität und Teilbarkeit gebunden bleiben. Insbesondere sind Property Rights in der Erscheinungsform von subjektiven Rechten an Sachen nicht beliebig teilbar. Deshalb gewinnen bei der Kollision von Property Rights unter Berücksichtigung von Transaktionskosten die institutionellen Bedingungen maßgebliche Bedeutung, unter denen über den Konflikt zu entscheiden ist. Coase unterscheidet die folgenden, mit jeweils verschiedenen institutionellen Bedingungen verbundenen Verfahren: Den vertraglichen Interessenausgleich; die Rechtsprechung, die der reziproken Dimension des Problems in verschiedener Weise Rechnung tragen soll; schließlich den Gesetzgeber, der die Property Rights zugunsten oder zu Lasten des Störers neu zuordnet. Stets geht es um die Frage, ob die Vorteile des Verbots der Störung größer sind als die Verluste, die an anderer Stelle, zum Beispiel beim Störer, eintreten. Ob Vertrag, Rechtsprechung oder der politische Prozess die am besten geeigneten Mittel sind, hängt von der Art der Störung und von den Transaktionskosten zu ihrer Beseitigung ab. Diffuse Schäden, die eine große Zahl von Menschen betreffen, die also wegen hoher Transaktionskosten durch Vertrag oder Rechtsprechung nicht oder nur unzulänglich ausgeglichen werden können, bedürfen gesetzlicher Regelung. Dabei soll die Gesamtwohlfahrt unter Berücksichtigung der Opportunitätskosten optimiert werden. Coase fügt hinzu: „Aber es sei selbstverständlich wünschenswert, dass die Wahl zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Arrangements zur Lösung ökonomischer Probleme nicht nur Produktionswerte vergleiche, vielmehr seien alle Sphären des Lebens der Menschen zu berücksichtigen. Dazu gehörten - nach Frank Knight - die Öffnung der Wohlfahrtsökonomie fiir Kategorien der Ästhetik und des Rechts."46 Hinzuzufügen sind die Unterschiede des Wissens und der Informationen, die den verschiedenen, zur Entscheidung berufenen Institutionen zur Verfügung stehen.

45 Die verbreiteten Zweifel an dem Erkenntniswert des Modells ohne Transaktionskosten entsprechen weitgehend den bekannten Einwänden gegen Modelle der vollkommenen Konkurrenz. Siehe den Überblick bei Richter und Furubotn (2003, S. 113-115). 46 Coase, (1972, S. 43).

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Gerichte haben anderes Entscheidungswissen als der Gesetzgeber. Im Gegensatz zum Gesetzgeber können sie die konkrete Interessenlage der am Rechtsstreit Beteiligten berücksichtigen. Coase hebt hervor, dass Maß- und Gradfragen und der Interessenabwägung bei gerichtlichen Entscheidungen ausschlaggebendes Gewicht zukommt. Das ganze Recht der Störungen (nuisance) sei flexibel und gestatte den Vergleich des Nutzens, den die Handlung stifte mit den Nachteilen, die sie herbeiführe. Er übernimmt aus der rechtswissenschaftlichen Literatur den Grundsatz: „The whole law of nuisance is an attempt to reconcile und compromise between conflicting interests." Jedenfalls sei die Interessenabwägung einer strikten Regel vorzuziehen.47 Bezieht man die institutionellen Bedingungen ein, unter denen bei Coase über Eingriffe in Property Rights unter Berücksichtigung der reziproken Externalitäten zu entscheiden ist, so lässt sich die von Schmidtchen behauptete Alleinherrschaft des die Gesamtwohlfahrt maximierenden Effizienzprinzips nicht aufrecht erhalten. Die dargestellten Einschränkungen des Prinzips folgen bei Coase aus den Grenzen, die dem vertraglichen und den gerichtlich zu entscheidenden Interessenausgleich gezogen sind. Sie folgen hauptsächlich aus dem begrenzten Wissen der Gerichte und den rechtlich wie tatsächlich begrenzten Verfügungsmöglichkeiten der Beteiligten. Im Wettbewerbsrecht folgen die Grenzen der Beurteilungskriterien aus der Eigengesetzlichkeit des Wettbewerbs und dem erst durch Wettbewerb zu ermittelnden Wissen.

V. Coase und Hayek Carl Christian von Weizsäcker, auf den sich Schmidtchen wiederholt beruft, folgert die Nicht-Kollision von Effizienz und Freiheit (Recht) aus einem Vergleich des CoaseTheorems mit der „Rule of Law" bei Hayek.4* Coase führe die effiziente Zuordnung von Verffigungsrechten unter Berücksichtigung von Transaktionskosten auf kumulatives Richterrecht zurück. Auch Hayek sehe in der Rechtsfindling im Common Law den evolutorischen Prozess der Bildung von abstrakten Regeln, die die Freiheit des Individuums in einer produktiven Gesellschaft garantieren. Entscheidend für das Verhältnis dieser theoretischen Ansätze zueinander sei der Begriff der Freiheit. Die Brücke, so meint von Weizsäcker, folge aus der sich scheinbar von selbst beantwortenden Frage: In welchem Sinne ist eine zuträgliche, abstrakte Regel etwas anderes als eine abstrakte Regel, die Effizienz befördert? Die Antwort, die beide Positionen zu vereinen scheint, lautet dann: „Den Einzelnen sind solche Handlungen nicht erlaubt, die anderen mehr Schaden zufügen, als sie ihm nutzen". Die Rule of Law im Sinne von Hayek sei danach identisch mit dem Effizienzregime, das nach Coase ebenso wie die Rule of Law aus dem Common Law resultieren. Vorab ist zu bemerken, dass in diesem Szenario der „Dritte" fehlt. Das ist bei Hayek der Wettbewerb, der bei Coase nicht vorkommt, weil er den Prozess untersucht, der ohne oder mit Transaktionskosten die Tendenz hat, zu einer effizienten Allokation von Verfügungsrechten bei schädigenden Störungen oder Eingriffen zu führen. Die Rule of Law hat bei Hayek eine wirtschaftlich und rechtlich andere Frage zum Gegenstand als 47 Coase, (1972 S. 38). 48 von Weizsäcker (2003, S. 335-339).

Wettbewerbsfreiheit und unternehmerische Effizienz . Eine Erwiderung auf Schmidtchen · 2 0 5

die efficiency bei Coase. Regeln gerechten Verhaltens sind Teil der institutionellen Vorkehrungen, die den einzelnen instandsetzen, trotz weitgehender Unwissenheit über eine Gesamtheit von Gesellschaft mehr Wissen zu nutzen als er individuell haben kann. Diese Regeln ergänzen das Preissystem, das seinerseits Wettbewerb voraussetzt. Das Common Law dient Hayek als Beleg dafür, dass es möglich ist, in einer spontanen Ordnung Regeln gerechten Verhaltens durch eine Rechtsprechung zu entwickeln, die sich nicht an konkreten Zwecken der Beteiligten, auch nicht am öffentlichen Interesse orientiert. Maßgeblich sind allgemeine Regeln, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben und Teil der berechtigten Erwartungen geworden sind, welche die Akteure in ihren Plänen in Rechnung stellen können. Bei Coase handelt es sich im Falle der hier zu vergleichenden Rolle der Rechtsprechung um Kollisionen von Property Rights und um die Entscheidung der daraus entstehenden Interessenkonflikte. Dem Gericht sind die beteiligten Parteien ebenso bekannt wie die Tatsachen, die für die Beurteilung der reziproken Folgeschäden erheblich sind. Dieses Problem ist nicht Gegenstand des Wettbewerbsrechts. Bei Hayek geht es um die Nutzung von Wissen, das erst durch den Wettbewerb gewonnen wird und durch keine andere Art ermittelt werden kann. In den Worten von Hayek (1968,2003, S. 256): „Die Ordnung manifestiert sich in erster Linie darin, dass die Erwartungen von bestimmten Transaktionen mit anderen Menschen, auf die die Pläne aller Wirtschaftenden aufgebaut sind, in hohem Maße erfüllt werden. Diese wechselseitige Anpassung der individuellen Pläne wird dabei durch einen Vorgang zustande gebracht, den wir, seit dem die Naturwissenschaften auch begonnen haben sich mit spontanen Ordnungen oder selbst organisierenden Systemen zu befassen, gelernt haben, als negative Rückkopplung zu bezeichnen."

Die durch negative Rückkopplung bewirkte Enttäuschung von Erwartungen ist ein notwendiger Bestandteil des Marktprozesses und der Informationen, die durch das Entdeckungsverfahren Wettbewerb gewonnen werden. Der aus den verschiedenen Fragestellungen folgende Gegensatz Hayek/Coase ist damit noch nicht zureichend gekennzeichnet. Ich kehre zur Ausgangsthese von von Weizsäcker zurück: Ob eine Handlung nicht erlaubt ist, weil sie dem Anderen mehr Schaden zufügt als sie ihm Nutzen bringt, lässt sich unter Bedingungen des Wettbewerbs nicht beantworten, weil der einzelne Wettbewerber nicht wissen kann (und auch nicht wissen soll), wie sich seine erfolgreichen oder erfolglosen Aktionen auf Mitbewerber auswirken. Austauschverträge sind ein wesentlicher Teil des Wettbewerbsprozesses. Auch sie haben bei Hayek eine andere Funktion als bei Coase. Hier kehrt das bereits behandelte Prinzip der Begrenzung des Vertrages auf die Vertragspartner und seine Neutralität im Verhältnis zu Dritten wieder. Der Vorschlag, bei unvollständigen Verträgen oder bei Vertragsstörungen die „most efficient solution" nach dem Vorbild des Coase-Theorems zugrunde zu legen, weil sie am ehesten dem gemeinsamen Interesse der Parteien entspreche49, verfehlt die für Austauschverträge typische Interessenlage. Für die Verfolgung gemeinsamer Interessen stehen die gesellschaftsrechtlichen Rechtsformen zur Verfügung. Maßgeblich ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch der auch von der ökonomischen Analyse akzeptierte Grundsatz, dass dem Willen der Parteien entsprechende

49 Posner (2003, S. 96).

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Verträge auch die „most efficient solution" sind50. Die Folgewirkungen des Vertrages hängen demgemäß von den Dispositionen der Parteien ab, die nicht Gegenstand des Vertrages sind und durch ihn nicht erklärt werden können. Entsprechend begrenzt sind mögliche Aussagen über die gesamtwirtschaftliche, marktübergreifende Effizienz von Verträgen. Es bleibt ein Unterschied zu behandeln, den von Weizsäcker aus dem Freiheitsbegriff Hayeks, aus dem Freiheitsbegriff nach herkömmlichem Verständnis und dem Effizienzbegriff der Mainstream-Ökonomie folgert. Hayek gehe im Gegensatz zum herkömmlichen Mainstream nicht vom voll rationalen Homo Oeconomicus aus. Der Unterschied zum herkömmlichen Freiheitsbegriff ergebe sich daraus, dass Hayek rechtliche Einschränkungen der Freiheit durch Verbote rechtfertige. Die Bindung der Freiheit an Rechtsregeln ist jedoch keine Eigenart des Hayekschen Freiheitsbegriffs. Wir kehren zurück zum „Paradox der Freiheit". Die Möglichkeiten irrationalen Handelns, die Hayek einbezieht, sind nicht nur eine Frage der Anthropologie (des Menschenbildes); sie erklären vielmehr die von der Ökonomie verschiedene Eigenart des Rechts. Der Homo Oeconomicus handelt in der utilitaristischen Tradition von Jeremy Bentham nur dann rechtmäßig, wenn er rational handelt. In der entgegengesetzten Tradition von David Hume, Adam Smith und Kant besteht dagegen Übereinstimmung darüber, dass es ausgeschlossen ist, eine Rechtstheorie auf übereinstimmende Motive, moralische Werturteile, Tugenden oder „Pleasure and Pain" zu gründen. Deshalb müssen die Regeln gerechten Verhaltens abstrakt und zweckfrei sein. David Hume spricht von den „Rules of Justice" als künstlichen Regeln (artificial rules), die gleichwohl nicht willkürlich sind. Sie müssen gegen die egoistischen Neigungen und das Machtstreben der Menschen entwickelt und im Recht durchgesetzt werden.51 Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen nehmen als allgemeine Regeln am Paradox der Freiheit teil, indem sie die Funktion von Verträgen, subjektiven Rechten und Wettbewerb aufeinander abstimmen. Die Erfahrung zeigt, dass der Wettbewerb durch Inanspruchnahme eben dieser Rechtseinrichtungen gefährdet werden kann. Alle Unternehmen sind in der Lage und in der Versuchung, Wettbewerb durch Verträge oder Verhaltensweisen auszuschließen oder zu beschränken. Deshalb soll das Recht der Wettbewerbsbeschränkungen in Übereinstimmung mit den allgemeinen Regeln gerechten Verhaltens die Wettbewerbsfreiheit schützen und gewährleisten.

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50 Posner (2003, S. 96 f.). 51 Hume (1740, 1964), S. 252-258).

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Zusammenfassung Gegenstand dieses Beitrages ist das Verhältnis von Ökonomie und Recht in der Auslegung und Anwendung von Normen gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Zurückgewiesen wird die im Beitrag zu diesem Band vertretene Meinung von Schmidtchen, „dass es unmöglich ist, in Konfliktsituationen, also solchen Situationen, in denen ein Mehr an Freiheit des A ein Weniger an Freiheit des Β impliziert, ein Maximum an Freiheit zu verwirklichen." Die These widerspricht der Theorie des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren ebenso wie dem Verständnis der Wettbewerbsfreiheit im Privat- und Wettbewerbsrecht. Auch anhand des von Schmidtchen zugrunde gelegten CoaseTheorems lässt sich der Widerspruch der Wettbewerbsfreiheit mit sich selbst nicht begründen.

Summary: Freedom of Competition and Efficiency of Firms This article deals with the relation of law and economics in the interpretation and application of competition rules. The author takes issue with Schmidtchen's position argued in this volume, "that it is in case of conflicts impossible, to maximize freedom in cases where an additional unit of freedom for A implies an impairment of the same freedom for B." This position is incompatible with the theory of competition as a discovery procedure as well as with the meaning of freedom of competition in private and competition law. The Coase-theoreme, relied on by Schmidtchen, does not permit a finding of a self-contradiction of freedom of competition in dealing with conflicting competitive interests.

ORDO • Jahrbuch fiir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

André

Schmidt

Ordnungsökonomische Wettbewerbskonzepte: Die Wettbewerbspolitik im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Effizienz Inhalt I. II. 1. 2. III. 1. 2. IV. V.

Einführung in die Problemstellung 209 Normative Grundlagen der Wettbewerbspolitik 211 Grundfragen der Ordnungsökonomik 211 Wohlfahrtsökonomik 215 Rückblick: Wettbewerbspolitische Leitbilder 217 Wohlfahrtsökonomische Wettbewerbskonzeptionen 218 Das Konzept der Wettbewerbsfreiheit 220 Wohlfahrtsökonomik und der „more economic approach" 222 Freiheit vs. Effizienz: Der Beitrag ordnungsökonomischer Wettbewerbskonzepte 225 1. Grundprinzipien ordnungsökonomischer Wettbewerbspolitik 226 2. Ordnungsökonomische Wettbewerbspolitik: Schutz der Wettbewerber?.... 228 VI. Fazit 231 Literatur 232 Zusammenfassung 235 Summary: Order Economic Concepts of Competition: Competition Policy between Economic Freedom and Efficiency

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I. Einführung in die Problemstellung Im Rahmen der wettbewerbspolitischen Diskussion blickt die Frage nach adäquaten Wettbewerbskonzepten auf eine lange Tradition zurück. Insbesondere im deutschsprachigen Raum ist die Kontroverse zwischen Kantzenbach und Hoppmann unvergessen (Kantzenbach 1967, 1968; Hoppmann 1967, 1968). Allerdings war und ist diese Diskussion nicht nur auf den deutschsprachigen Raum beschränkt, sondern ließ sich insbesondere auch in den Vereinigten Staaten anhand der unterschiedlichen Konzepte der Harvard School, Chicago School und Post-Chicago School beobachten. Vordergründig ging es stets um die Frage, wie die Wettbewerbspolitik konkret ausgestaltet sein sollte. Angefangen von den Zielvorstellungen bis hin zur Frage, ob die Wettbewerbspolitik stärker einzelfall- oder regelorientiert sowie mehr oder weniger interventionistisch aus-

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geprägt sein soll. Im Hintergrund steht jedoch eine ganz andere Fragestellung, die den eigentlichen Kern der Diskussion bestimmt. Diese Fragestellung zielt vielmehr auf die normativen Grundlagen der Wettbewerbspolitik, d.h., es handelt sich um die Frage nach der Legitimation für Eingriffe des Staates in den Wettbewerbsprozess mittels wettbewerbspolitischer Regelungen. Die Ursache für diese kontroversen Diskussionen ist leicht ausgemacht: Während weitgehend unbestritten ist, dass der Wettbewerb deqenige Mechanismus in einer jeden Ökonomie ist, der für eine optimale Abstimmung der unzähligen Einzelpläne der Wirtschaftssubjekte fuhrt, ist die Frage, wie dieser Wettbewerb im Einzelfall konkret aussehen soll, weitgehend unbeantwortet geblieben. Dies mag vor allem daran liegen, dass es sich beim Wettbewerbsprozess selbst um ein komplexes Phänomen {Hayek 1972) handelt, dessen Ergebnisse weder ex ante noch ex post genau erklärt werden können. Insofern vermag es nicht zu überraschen, wenn die Diskussion über die entsprechenden wettbewerbspolitischen Leitbilder immer wieder in neuen Fassungen auftaucht, ohne sich jedoch substanziell von den bereits vorangegangenen Diskussionen zu unterscheiden. Neue Nahrung hat diese Diskussion nun vor allem durch den so genannten „more economic approach" in der europäischen Wettbewerbspolitik erhalten. Seit 2003 hat die Europäische Kommission ihre Wettbewerbspolitik grundsätzlich reformiert. Unter der Zielsetzung, die Wettbewerbspolitik stärker an den Erkenntnissen der ökonomischen Theorie auszurichten, wurden sowohl die Vorschriften bezüglich des Verbots horizontaler und vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen als auch zur Fusionskontrolle angepasst. Gleiches droht nun der Missbrauchsaufsicht gegenüber marktbeherrschenden Unternehmen und der Beihilfenaufsicht. Insbesondere in Deutschland wird dieser ökonomischere Ansatz von kontroversen Diskussionen begleitet. Während einerseits die Befürworter die Möglichkeit sehen, die bisher im Strukturdenken verhaftete „orthodoxe" Wettbewerbspolitik zugunsten einer an der ökonomischen Effizienz orientierten Wettbewerbspolitik zu überwinden (Hellwig 2006, Schmidtchen 2005, 2006a, 2006b), werden andererseits die Risiken einer rein wohlfahrtsökonomischen Instrumentalisierung der Wettbewerbspolitik betont (Mantzavinos 2005, Christiansen 2006, Schmidt und Voigt 2006, 2007, Basedow 2007). Ziel dieses Aufsatzes ist es, auf einer grundsätzlichen Ebene nach den Perspektiven einer ordnungsökonomisch geprägten Wettbewerbspolitik zu fragen. Dabei ist jedoch im ersten Schritt vor allem nach den normativen Grundlagen der Wettbewerbspolitik zu fragen. Hierbei werden Ordnungsökonomik und Wohlfahrtsökonomik einander gegenübergestellt. Daran schließt sich im dritten Teil ein kurzer Rückblick auf die wettbewerbspolitische Leitbilddiskussion an. Darauf aufbauend wird auf die aktuelle Diskussion über den so genannten ökonomischeren Ansatz in der Wettbewerbspolitik und dessen Kritik an den ordnungsökonomischen Ansätzen eingegangen. Die zentrale Frage dabei ist, inwieweit die Wettbewerbspolitik stärker zugunsten einer Effizienzorientierung insbesondere im Bereich der Missbrauchsaufsicht ausgerichtet werden soll, und wie diese aktuelle Forderung aus der Perspektive einer stärker ordnungsökonomisch fundierten Wettbewerbspolitik zu bewerten ist.

Ökonomische Wettbewerbskonzepte

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II. Normative Grundlagen der Wettbewerbspolitik 1. Grundfragen der Ordnungsökonomik Die Ordnungsökonomik umfasst die Ordnungstheorie und in ihrer angewandten Form die Ordnungspolitik. Die Denkansätze, welche die Ordnungsbedingtheit wirtschaftlichen Handelns in das Zentrum ihrer Erkenntnisbemühungen stellen, sind untrennbar mit der Freiburger Schule und ihren wichtigsten Vertreten wie Walter Eucken, Franz Böhm, Friedrich A. Lutz und Walter Röpke verbunden {Böhm 1980, Euchen 2004, Hartwig 1988). Im Mittelpunkt des ordnungstheoretischen Denkens steht die Frage nach den unterschiedlichen Konsequenzen bestimmter Arten von Ordnungen für die Wirtschaft und auch für die Gesellschaft (Radnitzky 1991, S. III). Mit der expliziten Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Gesellschaft soll deutlich werden, dass sich ordnungstheoretische Reflexionen keineswegs nur auf den Bereich der Wirtschaft erstrecken, sondern im Sinne einer Interdependenz der Ordnungen auch auf die gesellschaftliche Sphäre (Eucken 2004, S. 180 ff., Krüsselberg 1989, S. 226). Gegenstand der Ordnungstheorie ist somit primär die Analyse und Erklärung der Funktionseigenschaften alternativer Rechts- und Regelordnungen. Die Ordnungstheorie dient daher vor allem der Erklärung des Entstehens allgemein anerkannter formal-rechtlicher Regelungen sowie moralischer Regeln und Nonnen, der Erklärung, wie diese das wirtschaftliche Verhalten der Akteure maßgeblich prägen und deren Bedeutung fur die gesamtwirtschaftliche Koordination des einzelwirtschaftlichen Verhaltens unter Berücksichtigung der sich jeweils ergebenden Auswirkungen auf das Gesellschaftssystem. Darauf aufbauend fragt dann die Ordnungspolitik nach der Ausgestaltung geeigneter institutioneller Arrangements (Rechts- und Regelordnungen), um bestimmte, im Wirtschaftsleben beobachtbare Probleme zu lösen bzw. Zustände zu verbessern. Im Mittelpunkt der Ordnungsökonomik steht hierbei stets der Vergleich verschiedener Regelsysteme. Die theoretischen Wurzeln der Ordnungsökonomik beschränken sich dabei keineswegs nur auf die Freiburger Schule, sondern haben insbesondere im Rahmen der „Constitutional Economics" der Virginia-School eine wesentliche Ergänzung erhalten (Vanberg 1988; Leipold 1990). Das zentrale Anliegen Buchanans, der als maßgeblicher Begründer der Konstitutionenökonomik anzusehen ist, war nicht nur die Erklärung für die Entstehung von Institutionen, sondern auch die Entwicklung von Normen für eine Bewertung bestehender Regelsysteme (Buchanan 1975, S. 54). Die methodologischen Grundlagen fur die Bewertung von Regeln und deren Adäquatheit basieren dabei auf dem normativen Individualismus, wonach ausschließlich Individuen entsprechend ihren Präferenzen und Nutzenvorstellungen handeln. In Analogie des freiwilligen Tauschs auf den Gütermärkten wird das Zustandekommen oder auch die Änderung von Regeln oder auch einer Verfassung als ein freiwilliger Tauschakt betrachtet (Buchanan 1990). Individuen, die sich bspw. eine Verfassung geben, stimmen Beschränkungen ihres eigenen Handlungsspielraums zu, und zwar im Tausch gegen die Vorteile, die ihnen daraus erwachsen, dass der Handlungsspielraum der anderen Individuen ebenfalls durch die Regeln der Verfassung beschränkt wird. Nach Ansicht der Verfassungsökonomen kann das Zustandekommen oder die Änderung einer Verfassung nur dann als legitim angesehen werden, wenn hierzu die Zustimmung jedes einzelnen Kollektivmitgliedes erfolgt ist.

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Nur die Anwendung der Einstimmigkeitsregel stelle sicher, dass nicht gegen individuelle Präferenzen verstoßen werde und somit effiziente Entscheidungen getroffen werden, also eine „optimale Verfassung" zustande kommt {Buchanan und Tullock 1962). Regeln gelten daher stets dann als legitim, wenn kein rational handelndes Individuum Gründe gegen die Einführung dieser Regel anführen könnte. Insofern wird hierbei das aus der Wohlfahrtsökonomik bekannte Pareto-Kriterium auf die Gesamtgesellschaft angewendet ( Voigt 2002, S. 256). Jedoch wird das Pareto-Kriterium anders als in der Wohlfahrtsökonomik interpretiert. An die Stelle der Pareto-Optimalität tritt die ParetoSuperiorität. Sie kennzeichnet eine Situation, in der eine alternative Regel im Vergleich zum Status quo geeignet ist, einen einstimmigen Konsens herbeizuführen. Dann ist die Alternativregel im Vergleich zur gültigen Regel superior. Sowohl aus der Sicht der Freiburger Schule als auch der Virginia School ist für das Verständnis der Ordnungsökonomik elementar, dass Tauschprozesse bzw. ökonomische Interaktionen zwischen Wirtschaftssubjekten stets regelgeleitete Prozesse sind. Eine zentrale Frage der Ordnungsökonomik lautet daher, inwieweit sich dann durch Regeländerungen Tauschgewinne realisieren lassen. Eine weitere Fragestellung im Forschungsinteresse der Ordnungsökonomik zielt auf die Eigenschaften von Regeln in einer Gesellschaft. Um diese Frage zu beantworten, ist vor allem auf die Österreichische Schule als der vielleicht wichtigsten theoretischen Denkschule der Ordnungsökonomik zu verweisen. Ohne an dieser Stelle auf die dogmengeschichtlichen Hintergründe der Ordnungsökonomik im Detail einzugehen, kann unterstellt werden, dass insbesondere das Denken in Ordnungen von der Österreichischen Schule maßgeblich beeinflusst wurde. Hierbei sei vor allem auf die Schriften von Friedrich August von Hayek verwiesen {Hayek 1969, 1975, 1976a). Grundlegend für das Verständnis der Österreichischen Schule ist die Annahme des in jeder Gesellschaft vorliegenden konstitutionellen Wissensmangels {Hayek 1991, S. 30 ff.). Dieser Wissensmangel ist ubiquitär. Das Wissen in der Gesellschaft ist zerstreut, es lässt sich nicht zentralisieren {Streißler 1995, S. 17 f.). Das .heißt, dass zentrale ökonomische Problem ist viel weniger in der effizienten Nutzung knapper Ressourcen zu sehen als vielmehr in der Hervorbringung und Nutzung weit verstreuten Wissens {Hayek 1976c, S. 49 ff.). In diesem Zusammenhang wird der Wettbewerb „als ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen ..., die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden könnten" {Hayek 1969, S. 249) angesehen. Akzeptiert man die Vorstellung der Österreichischen Schule von der Unvollständigkeit des Wissens, so hat dies für die Ausgestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung weit reichende Konsequenzen. Eine Konsequenz ist, dass eine erfolgreiche Ordnung nur eine wettbewerbliche Ordnung sein kann, in deren Rahmen der Wettbewerb als Entdeckungsprozess genutzt werden kann. Gleichzeit bedeutet die Unvollständigkeit menschlichen Wissens aber auch, dass es unmöglich ist, eine solche Ordnung auf dem Reißbrett im Sinne einer geplanten bzw. gemachten Ordnung zu verwirklichen (Hayek 1986, S. 58 ff.). Insofern ist stets von der Überlegenheit spontaner Ordnungen gegenüber geplanten Ordnungen auszugehen: „In keiner außer der allereinfachsten Art von sozialer Ordnung ist es vorstellbar, daß alle Tätigkeiten durch einen einzigen Kopf gelenkt werden; und sicherlich hat es noch niemand zustande gebracht, alle Tätigkeiten in einer komplexen Gesellschaft bewusst

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zu arrangieren, etwas wie eine voll geplante Gesellschaft von auch nur etwas höherem Grad von Komplexität gibt es nicht" (Hayek 1969, S. 41). Spontane Ordnungen können sich jedoch nur dann entwickeln, wenn die Handlungsund Entschließungsfreiheit eines jeden Individuums garantiert ist. Unter der Bedingung, dass jedes Individuum nur über unvollständiges Wissen verfügt, erhält in der Österreichischen Schule die persönliche Freiheit der Individuen eine übergeordnete Bedeutung. Die Bedeutung der persönlichen Freiheit ergibt sich aus dem Umstand, dass in komplexen Gesellschaften jedes Individuum auf Wissen angewiesen ist, welches sich nicht in seinem Besitz befindet. Der Erfolg spontaner Ordnungen hängt jedoch wesentlich davon ab, ob es gelingt, das individuell weit verstreute Wissen innerhalb der Gesellschaft allen Individuen verfugbar zu machen (Hayek 1991, S. 32 ff.). Mit Hilfe der Sicherung der persönlichen Freiheit sollen sich diejenigen Institutionen herausbilden, die den gesellschaftsweiten Wissenstransfer bewerkstelligen können. Im Rahmen der individuellen Freiheit besitzt jeder dann die Chance, sein Wissen zu nutzen, um mit neuen Handlungsweisen und Ideen experimentieren zu können. Regeln müssen daher unmittelbar darauf abzielen, die persönliche Freiheit der Individuen umfassend zu schützen. Unter der Annahme der Unvollständigkeit des Wissens sollten daher die eine Ordnung bildenden Regeln die Eigenschaft der Universalisierbarkeit aufweisen. Diese Forderung nach universalen Regeln findet sich bereits schon bei Kant (1797). Universalisierbarkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Regeln allgemein sein sollten, so dass sie auf eine nicht vorhersehbare Vielzahl von Personen und Fällen angewendet werden können und dass sie abstrakt formuliert sein sollten, d.h., keine konkreten Handlungen vorschreiben, sondern lediglich eine Reihe von Verhaltensweisen verbieten. Darüber hinaus müssen sie bestimmt sein, so dass die betroffenen Personen wissen, ob eine bestimmte Handlung verboten oder erlaubt ist, sie sollten zudem rechtfertigbar im Sinn als Ergebnis eines rationalen Diskurses sein. Der Kern des ordnungsökonomischen Ansatzes lässt sich daher wie folgt zusammenfassen: Im Mittelpunkt der Ordnungsökonomik steht die Gestaltung von Regeln. Diese Regeln beziehen sich vor allem auf die Ausgestaltung der konstitutionellen Ebene von Gesellschaftssystemen, auf der festgelegt wird, in welchem Rahmen Gesellschafts- und vor allem Wirtschaftsprozesse stattfinden sollen. Für die Gestaltung der Regeln auf der konstitutionellen Ebene sind im Wesentlichen zwei Prinzipien essenziell. Die Regeln sollen so ausgerichtet sein, dass sie Wettbewerbsprozesse im Sinne des Entdeckungsprozesses ermöglichen und sie sollen die individuelle Freiheit, als Voraussetzung zur Teilnahme an Wettbewerbsprozessen, umfassend schützen. Damit rückt vor allem die Gestaltung der Wettbewerbsordnung und der Wirtschaftsverfassung in den Mittelpunkt ordnungsökonomischen Denkens. Die Errichtung einer funktionsfähigen Wettbewerbsordnung gehört dabei zu den grundlegenden Prinzipien. In Analogie zum Rechtsstaat schafft sie denjenigen ökonomischen Rahmen, in dem die freie Betätigung der einzelnen Akteure durch die Freiheitssphäre der anderen begrenzt wird (Euckert 2004, S. 250). Die Umsetzung der Wettbewerbsordnung erfolgt dabei durch die Wirtschaftsverfassung. In deren Mittelpunkt steht zunächst die Bindung von Macht, sowohl ökonomischer als auch politischer Art. Die Wirtschaftsverfassung dient daher einerseits der Abgrenzung zwischen politischer und wirtschaftlicher Sphäre, ande-

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rerseits soll sie diese über justiziable Kriterien miteinander kompatibel machen. Die Eigengesetzlichkeit des Ökonomischen soll weder in den rechtsfreien Raum entlassen werden noch dem Staat schutzlos ausgeliefert werden (Behrens 1986, S. 12 ff.). Damit ergibt sich für die Wirtschaftsverfassung ein dualistisches Funktionsverständnis. Der Forderung nach staatlicher Beschränkung gegenüber der Sphäre der Wirtschaft steht die Notwendigkeit der Institutionalisierung einer Privatrechtsordnung gegenüber, in der die Privatautonomie des Einzelnen nicht durch die Ausübung der Freiheit durch die Anderen zerstört wird. Die Wirtschaftsverfassung dient demnach primär dem Schutz der individuellen Freiheitsrechte. Der Wettbewerb übernimmt dabei die Rolle deqenigen Institution, in welcher die Freiheitsrechte zur Geltung kommen (Mestmäcker 1995, S. 12 sowie Di Fabio 2007). Insbesondere die Freiburger Schule betont in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der Beschränkung von Macht. Dies bezieht sich sowohl auf die Beschränkung wirtschaftlicher als auch politischer Macht. Auch hier kommt dem Wettbewerb als Entmachtungsinstrument wiederum eine zentrale Bedeutung zu. ,J)er Wettbewerb ist das großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte. Man braucht es nur zu beschwören, alle weitere Arbeit leistet es von allein " {Böhm 1961, S. 22). Damit nimmt die Gestaltung des Wettbewerbs und der Wettbewerbsordnung in der Ordnungsökonomik eine zentrale Rolle ein. Der Wettbewerb dient hierbei weniger als Allokationsmechanismus, sondern vielmehr als ein Mechanismus der Entdeckung neuer Sachverhalte und der Kontrolle von Macht. Die Aufgabe der notwendigen Wettbewerbsordnung ist die Erfüllung zweier Schutzzwecke: Zum einen soll der Wettbewerb als Institution geschützt werden (Institutionenschutz) und zum anderen soll durch wirksamen Wettbewerb die individuelle Freiheit garantiert werden (Individualschutz).1 Kritiker mögen an dieser Stelle einwenden, dass die Ordnungsökonomik und der ihr zugrunde liegende Ordoliberalismus eine Schule der politischen und sozialen Ökonomie sei, die auf bestimmten philosophischen Annahmen fußt. Die Ordnungsökonomik würde nicht mehr den Geist der aktuellen Forschung widerspiegeln, da sie kein Konzept der ökonomischen Analyse des Rechts sei sowie nicht auf empirischen ökonomischen Beweisen oder auf mikroökonomischer Theorie beruhen würde, sondern ausschließlich auf humanistischen Werten (Gerber 1998, S. 232 ff., Venit 2005, S. 1157). Dem jedoch ist entgegenzuhalten, dass das Hauptaugenmerk der Wirtschaftspolitik auf der Rolle der Wirtschaft in der Gesellschaft liegt, was gerade in der Interdependenz der Ordnungen zum Ausdruck kommt. Interessanterweise findet sich diese Erkenntnis auch in der aktuellen Forschung wieder, insbesondere in der auf der Anwendung mikroökonomischer Modelle basierenden Neue Institutionenökonomik. Das Forschungsprogramm der Institutionenökonomik analysiert die Auswirkungen unterschiedlicher institutioneller Arrangements auf das ökonomische Verhalten. Die aktuelle Relevanz ordnungsökonomischer Fragestellungen wird hier vor allem auch durch empirische Ergebnisse unterstützt. Hierbei kann gezeigt werden, dass die Gesellschaften, in denen die Handlungsfreiheiten der Wirtschaftssubjekte umfassend durch die Existenz eines Rechtsstaates geschützt

1

Zum Verhältnis zwischen Institutionsschutz und Individualschutz vgl. insbesondere (1968, S. 787 ff.).

Mestmäcker

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werden, ein höheres Wachstum des Pro-Kopf Einkommens sowie höhere Innovationsraten realisieren (Adkins, Moomaw und Sawides 2002; Ali und Crain 2002; Carlsson und Lundstrom 2002). Insofern ist der häufig geäußerte Vorwurf, die Ordnungsökonomik würde nur „alte Geschichten" aufwärmen, an dieser Stelle zurück zu weisen.

2. Wohlfahrtsökonomik Im Gegensatz zur Ordnungsökonomik wird im Rahmen wohlfahrtsökonomischer Theorie der Wettbewerb als ein Instrument zur Herstellung von Effizienz angesehen. Das Kriterium der allokativen Effizienz gilt dann als erfüllt, wenn die gegebenen Produktionsfaktoren ihrer jeweils günstigsten Verwendungsrichtung zugewiesen werden. Daneben ist auch die Herstellung dynamischer Effizienz anzustreben, im Sinne der Generierung technischen Fortschrittes durch Produkt- und Prozessinnovationen sowie der Herstellung von Anpassungsflexibilität, in dem Sinne, dass sich das Angebot an Waren und Dienstleistungen an veränderte Rahmenbedingungen anpasst. Die Arbeiten von Jeremy Bentham liefern die methodologischen Wurzeln der Wohlfahrtsökonomik. Unter der Annahme eigennutzmaximierender Individuen wird die Erreichung eines gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsoptimums angestrebt. Dieses Wohlfahrtsoptimum ist dann erreicht, wenn das Pareto-Kriterium erfüllt ist. Entsprechend des ersten Hauptsatzes der Wohlfahrtsökonomik ist das Konkurrenzgleichgewicht (vollständiger Wettbewerb) pareto-optimal, wenn die Nutzenfunktionen der Konsumenten stetig und monoton sind, die Produktionsfimktionen der Unternehmen stetig und die Bedingungen der vollständigen Markttransparenz erfüllt sind (Arrow 1951, Arrow und Debreu 1954). Unter den angegebenen Bedingungen des ersten Hauptsatzes lassen sich beliebige Pareto-Optima realisieren, wenn alle Präferenzen der Konsumenten konvex, die Produktionsfimktionen konkav sind und Kopfsteuern ohne Transaktionskosten durchgeführt werden können (zweiter Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomik). Mit anderen Worten, jeder pareto-optimale Zustand kann durch ein allgemeines Konkurrenzgleichgewicht bei geeignet gewählten Kopfsteuern realisiert werden (Debreu 1959). Ist die Realisierung dieser Pareto-Optima nicht möglich, so spricht man vom so genannten Marktversagen (externe Effekte, Größenvorteile, unvollständige Informationen). Dann werden in der Wohlfahrtsökonomik Eingriffe des Staates in den Marktprozess legitimiert. Die Modellwelt der Wohlfahrtsökonomik basiert auf der Fiktion eines so genannten wohlmeinenden sozialen Planers, der in der Lage ist, mittels dirigistischer Eingriffe in den Marktprozess, die pareto-optimale Situation herbeizuführen. Wohlmeinend bezieht sich darauf, dass dieser Planer die Präferenzen der Wirtschaftssubjekte genau kennt und auch entsprechend der Grundannahme des methodologischen Individualismus respektiert. Eigene Wertvorstellungen des Planers würden allenfalls bei Umverteilungsfragen eine Rolle spielen. Damit wird deutlich, dass die Wirtschaftspolitik im Rahmen der Wohlfahrtsökonomik a priori ergebnisorientiert ausgerichtet ist, es geht um die Realisierung des Wohlfahrtsoptimums. Der Wettbewerb selbst ist hier nur ein entsprechendes Instrument zu Erreichung dieses Optimums, er ist allerdings keine notwendige Bedingung für dieses Optimum. Für die Ausgestaltung des Wettbewerbs und damit auch für die Wettbe-

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werbspolitik bedeutet dies, dass der Wettbewerb so zu gestalten ist, dass er dieses Wohlfahrtsoptimum erreicht. Gesellschaftspolitische Grundüberzeugungen, demokratietheoretische Aspekte sowie Werte wie Freiheit oder Bürgersouveränität spielen daher in der Wohlfahrtsökonomik explizit keine Rolle. Im Gegenteil, wenn beispielsweise durch Zwang eine effizientere Allokation öffentlicher Güter erfolgen kann, so wird in einer durch Zwang organisierten Gesellschaft ein höheres gesellschaftliches Nutzenniveau realisiert {Hellwig 2006, S. 237).2 Aus wohlfahrtsökonomischer Perspektive ist dann eine solche, mittels Zwang und staatlicher Intervention organisierte Gesellschaft einer auf Freiheitswerten basierenden Gesellschaft vorzuziehen. Einziger Bewertungsmaßstab in der Wohlfahrtsökonomik ist die Herstellung von Effizienz. Zusammenfassend lässt sich daher zeigen, dass in der Wohlfahrtsökonomik im Gegensatz zur Ordnungsökonomik Beschränkungen der individuellen Freiheit toleriert werden, wenn diese aus Zweckmäßigkeitsüberlegungen - meistens Effizienzüberlegungen - gerechtfertig erscheinen. Für die Prüfung, inwieweit durch Ausübung staatlichen Zwangs individuelle Freiheitsrechte verletzt werden, ist in der Wohlfahrtsökonomik kein Platz {Hellwig 2006, S. 238). Einziger Referenzmaßstab ist das Handeln des fiktiven wohlmeinenden Planers zur Herstellung gesellschaftlicher Wohlfahrt. Mit Verweis auf den „wohlmeinenden Planer" abstrahiert die Wohlfahrtsökonomik auch von dem in der Ordnungsökonomik postulierten Wissensproblem. Unter der Annahme der vollständigen Information reduziert sich die ökonomische Effizienz auf ein einfaches Optimierungskalkül. Allerdings bleibt offen, woher der wohlmeinende Planer das Wissen nimmt, das erforderlich ist, um die gesamten Wohlfahrtswirkungen des spezifischen Eingriffes in das komplexe System Wirtschaft umfassend, bzw. hinreichend genau, abschätzen zu können. Auf der Basis der wohlfahrtsökonomischen Theorie haben sich insbesondere in der Neuen Industrieökonomik eine Reihe modelltheoretischer Ansätze entwickelt, die ohne Zweifel zur Weiterentwicklung der Wettbewerbstheorie geführt und die Wettbewerbspolitik theoretisch stärker fundiert haben. Dies betrifft vor allem die spieltheoretisch fundierte Oligopoltheorie sowie die verschiedenen Modelle unter unvollständiger Information. Fraglich ist allerdings, ob auf der Basis dieser Modelle eine höhere Entscheidungsqualität in der Wettbewerbspolitik erreicht werden kann (Schmidt und Voigt 2007). Diese Skepsis stützt sich vor allem auf die begrenzte Übertragbarkeit der Spieltheorie und deren eingeschränkten Annahmen auf die Erklärung realer Wettbewerbsprozesse (Guth 1992; Phlips 1995, S. 11), der Problematik multipler Gleichgewichte bei dynamischen Spielen unter asymmetrischen Informationen und dem daraus resultierenden Problem der fehlenden Eindeutigkeit des Gleichgewichts sowie der in der Neuen Industrieökonomik zunehmenden Fokussierung auf kurzfristige Preis- und Mengeneffekte und der damit drohenden Vernachlässigung anderer Wettbewerbsdimensionen (Budzinski 2007). Die Anwendung dieser Modelle setzt in wohlfahrtsökonomischer Tradition voraus, dass geeignete Entscheidungsträger, hier in diesem Fall die Wettbe-

2 Vgl. kritisch hierzu insbesondere De Jasay, A. (1991) und (1993) sowie Bouillon, H. (1997, S. 129 ff.).

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werbsbehörde oder die entsprechenden Gerichte, in der Lage seien, die entsprechenden Effekte des Wettbewerbsverhaltens richtig abschätzen zu können. Über dieses Wissensproblem können sich jedoch auch die noch so stark verfeinerten und brillanten Modelle nicht hinwegsetzen. Dabei vernachlässigt die Wohlfahrtsökonomik einen weiteren, nicht weniger bedeutenden Punkt. Das Konzept der Wohlfahrtsökonomik steht und fallt mit der Rolle des wohlmeinenden Planers. Warum ausgerechnet die politisch handelnden Akteure keine Eigennutzenmaximierung betreiben sollten, bleibt eine der wesentlichen theoretischen Inkonsistenzen der Wohlfahrtsökonomik. In diesem Zusammenhang sieht Vanberg fur die Wohlfahrtsökonomik ein Adressatenproblem ( Vanberg 2007). So zeige insbesondere die Public-Choice Theorie, dass die politisch handelnden Akteure diejenigen Maßnahmen beschließen werden, die ihren Eigennutzen unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs entsprechend maximieren (Buchanan und Tollison 1972). Diese müssen allerdings nicht den Handlungen eines wohlmeinenden Planers entsprechen. Allerdings erstreckt sich nach Vanberg das Adressatenproblem nicht nur auf die Agenten, sondern auch auf die Prinzipale bzw. die Wähler. So sind auch diese nicht an Maßnahmen interessiert, die eine abstrakte gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion maximieren, sondern an Maßnahmen, die ihre eigene Nutzenposition verbessern. Dies setzt jedoch dann wiederum eine allokationsneutrale Umverteilung entsprechend dem KaldorHicks-Kriterium voraus, deren Durchsetzung dann wiederum häufig an den Intransparenzen und Unvollständigkeiten im politischen Wettbewerb scheitert. Zusammenfassend wird bei der Gegenüberstellung der ordnungsökonomischen und der wohlfahrtsökonomischen Perspektive als normative Grundlagen der Wettbewerbspolitik deutlich, dass die Ordnungsökonomik auf eine indirekte Regelsteuerung der Wirtschaft abzielt. Dagegen setzt die Wohlfahrtsökonomik auf eine direkte Ergebnissteuerung der Ökonomie unter der Zielsetzung der Maximierung der Gesamtwohlfahrt. Insofern ist das Konzept der Wohlfahrtsökonomik von seinen Wurzeln her stärker interventionistisch ausgelegt. Darüber hinaus verzichtet die Wohlfahrtsökonomik im Vergleich zur Ordnungsökonomik auf eine Legitimation in Einklang mit gesellschaftlichen Grundwerten und abstrahiert von der ubiquitären Unvollständigkeit menschlichen Wissens. Diese unterschiedlichen Grundpositionen spiegeln sich auch in der unterschiedlichen Akzentuierung der Wettbewerbspolitik wider. Beide Ansätze beruhen auf Werturteilen. Während die Ordnungsökonomik auf dem Werturteil beruht, dass die Quellen des Wohlstands in einer Gesellschaft im umfassenden Schutz der individuellen Handlungs- und Entschließungsfreiheiten zu sehen ist, betont die Wohlfahrtsökonomik, dass das ausschließliche Ziel wirtschaftspolitischer Gestaltung die Herstellung gesamtwirtschaftlicher Wohlfahrt sei, die in den Nutzenpositionen der Produzenten und Konsumenten zum Ausdruck kommt.

III. Rückblick: Wettbewerbspolitische Leitbilder Die wettbewerbspolitischen Leitbilder stellen Konzeptionen für die Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik dar, in denen die wettbewerbspolitischen Ziele definiert und zielkonforme Instrumente und Träger abgeleitet werden. Idealtypisch lassen sich gemäß der einführenden Darstellung in der Wettbewerbspolitik der wohlfahrtsökonomische

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Ansatz und der systemtheoretische Ansatz, der dem ordnungsökonomischen Paradigma entspricht, unterscheiden (Herdzina 1999, S. 107): Abbildung 1: Überblick über wettbewerbspolitische Leitbilder Wettbewerbstheoretische Grundpositionen

1 Wohlfahrtsökonomische Ansätze

Systemtheoretische Ansätze

1

i

Vollkommene Konkurrenz

Konzept der Wettbewerbsfreiheit

Harvard School

Austrian School

Chicago School More Economic Approach Die Zuordnung der verschiedenen wettbewerbstheoretischen Konzeptionen zu den Idealtypen ist dabei nicht frei von erheblichen Zuordnungsproblemen. So gibt es realtypische Positionen, die sowohl Elemente des wohlfahrtsökonomischen als auch des systemtheoretischen Ansatzes in sich vereinigen. Besonders deutlich wird dies beispielsweise bei der Einordnung der Konzeption der Chicago School. Obwohl die Chicago School hinsichtlich ihrer wettbewerbspolitischen Empfehlungen dem systemtheoretischen Ansatz sehr nahe steht {Paqué 1985, S. 412 ff.), kann sie dennoch aufgrund der Betonung des Ziels der Steigerung der Konsumentenwohlfahrt den wohlfahrtsökonomischen Ansätzen zugerechnet werden.

1. Wohlfahrtsökonomische Wettbewerbskonzeptionen Kennzeichen der wohlfahrtsökonomischen Ansätze ist das funktionalistische bzw. ergebnisorientierte Wettbewerbsverständnis. Sie instrumentalisieren den Wettbewerb zur Erreichung spezifischer Ziele. So betont beispielsweise die Harvard School in bester wohlfahrtsökonomischer Tradition die Ziele zur Erreichung statischer und dynamischer Effizienz (Clark 1961, S. 63 ff.). Auf der Basis des zugrunde liegenden MarktstrukturMarktverhalten-Marktergebnis-Paradigmas steht dann die geeignete Beeinflussung der Marktstruktur im Zentrum, um optimale - dem instrumentalistischem Verständnis von Wettbewerb entsprechende - Marktergebnisse hervorzubringen {Bain 1968, Kantzenbach und Kallfaß 1981). Das heißt, Wettbewerbspolitik ist im Verständnis der Harvard School und ihrer Vertreter zuallererst Marktstrukturpolitik (Kantzenbach 1967). Diese Marktstrukturpolitik erfolgt dann stets im Spannungsfeld zwischen den statischen und dynamischen Wettbewerbsfunktionen, wobei den dynamischen ein höherer Stellenwert eingeräumt wird.

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Noch deutlicher tritt der Zielkonflikt zwischen allokativer und dynamischer Effizienz im wohlfahrtsökonomischen Konzept der Chicago School zu Tage. So beschreibt bereits Williamson in seinem Trade-off-Modell {Williamson 1968), dass die Wettbewerbsbehörde zwischen technischen Effizienzgewinnen und möglichen allokativen Ineffizienzen abzuwägen habe. So lange die technischen Effizienzgewinne die allokativen Ineffizienzen überkompensieren, wären wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen hinnehmbar, da sie die Gesamtwohlfahrt erhöhen würden. Hierbei zeigt sich der wohlfahrtsökonomische Charakter der Chicago School, auch wenn sie als kritischer Gegenpol zum Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs der Harvard School aufgefasst werden kann {Bork 1978, Posner 1979, Audretsch 1988). Normativ lehnt die Chicago School den Zielpluralismus der Harvard School und das Marktstruktur-MarktverhaltenMarktergebnisparadigma als deren theoretische Basis ab. In der Maximierung der Konsumentenwohlfahrt sieht sie das alleinige Ziel der Wettbewerbspolitik. Die Konsumentenwohlfahrt wird ausschließlich durch allokative und produktive Effizienz bestimmt. Bork spricht in diesem Zusammenhang auch von der so genannten kompetitiven Effizienz, die sich am Unternehmenserfolg manifestiere, da dieser ein Anzeichen dafür sei, dass ein Unternehmen die Konsumentenwünsche optimal erfülle {Bork 1978, S. 104 ff.). Im Vordergrund stehen hierbei vor allem die Realisierung von „economies of scale and scope". In der wettbewerbspolitischen Beurteilung gelangt daher die Chicago School im Vergleich zur Harvard School und deren Konzept eines funktionsfähigen Wettbewerbs zu anderen Ergebnissen, die vom Charakter her weniger interventionistisch ausfallen. Einer aktiven gestalterischen Wettbewerbspolitik stehen die Vertreter der Chicago School kritisch gegenüber, da sich optimale Unternehmensgrößen nur daran erkennen lassen, wer sich letztendlich im Markt durchsetzt. Das Bestreben nach Marktmacht wird zwar als negativ angesehen, da Marktmacht als solche immer mit allokativen Ineffizienzen verbunden sei, jedoch wird die stabile Existenz marktbeherrschender Stellungen vor allem durch den Verweis auf potenziellen Wettbewerb stark in Zweifel gezogen. Stabile Konzentrationsraten sind daher auch als Beweis dafür anzusehen, dass keine kollusive Verhaltensabstimmung erfolge, da anderenfalls Dekonzentrationsprozesse infolge des Marktzutritts potenzieller Konkurrenten auftreten würden {Brozen 1971, S. 1977).3 Weitgehende Eingriffe in die Marktstruktur werden daher prinzipiell abgelehnt. Auch wenn die Chicago School die wohlfahrtsökonomische Instrumentalisierung der Wettbewerbspolitik als solche ablehnt, bedeutet dies jedoch nicht, dass deren Konzeption in Widerspruch mit den grundsätzlichen Annahmen der Wohlfahrtsökonomik steht. Der Unterschied zur Harvard School manifestiert sich vielmehr in der Rollenzuweisung der wettbewerbspolitischen Entscheidungsträger. Während die Harvard School die wettbewerbspolitischen Entscheidungsträger in die Nähe des wohlmeinenden Planers rückt, der die Marktstrukturen so gestalten soll, dass sich wohlfahrtsoptimale Marktergebnisse einstellen, vertrauen die Vertreter der Chicago School viel stärker auf die Fä-

3 Hier zeigt sich bereits, dass es sich bei der Markttheorie der Chicago School um eine schwache Form der später von Baumol, Panzar und Willig (1982) entwickelten „contestable market theory" handelt (Gilbert 1989, S. 113).

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higkeit von Marktprozessen, wohlfahrtsökonomisch wünschenswerte Ergebnisse im Sinne der Maximierung der Konsumentenwohlfahrt herbeizuführen. Staatliche Eingriffe in den Wettbewerbsprozess werden daher außerordentlich skeptisch beurteilt, vielmehr seien sie häufig gerade die Hauptquellen von Wettbewerbsbeschränkungen und Wettbewerbsverfälschungen. Inwieweit die rechtliche Sicherung des Wettbewerbs notwendig ist, weil der sich selbst überlassene Wettbewerb zur Selbstaufhebung durch Monopolisierung und Wettbewerbsbeschränkungen führt, beantwortet die Chicago School nur mit einem strikten Monopolisierungsverbot. Von der Existenz eines Freiheitsziels wird in den wohlfahrtsökonomischen Ansätzen der Wettbewerbspolitik vollkommen abstrahiert. Insbesondere in der Chicago School wird das von Eucken und Böhm problematisierte Machtproblem nahezu gänzlich ausgeblendet. In der Wettbewerbspolitik, die ausschließlich dem Effizienzziel verpflichtet ist, findet sich kein Platz für die Berücksichtigung von Freiheitsaspekten. Dies ist insofern inkonsequent, als die Sicherung der wettbewerblichen Handlungs- und Entschließungsfreiheit eine essenzielle Voraussetzung dafür ist, dass der Wettbewerbsprozess seine effizienzfördernden Wirkungen auch zur Geltung bringen kann.

2. Das Konzept der Wettbewerbsfreiheit Der systemtheoretische Ansatz wurde vor allem von Erich Hoppmann Ende der sechziger Jahre als Gegenentwurf zum Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs entwickelt. Er ist untrennbar mit der Austrian School verbunden und deren Annahmen bezüglich der Unmöglichkeit der rationalen Konstituierung einer gesellschaftlichen Ordnung und der Unvollständigkeit des Wissens. Im Verständnis der systemtheoretischen Wettbewerbskonzeption ist der Wettbewerb ein offener Prozess, dessen Ergebnisse nicht genau vorhergesagt werden können. Wettbewerbspolitik hat sich daher nicht an den Ergebnissen des Wettbewerbs zu orientieren, sondern an dessen Voraussetzungen, welche ausschließlich auf der Sicherung der Existenz der persönlichen Marktfreiheit basieren. In der konkreten Anwendung der Wettbewerbspolitik zeichnet sich der systemtheoretische Ansatz durch ein hohes Maß an Bescheidenheit aus. Das Anspruchsniveau der staatlichen Wettbewerbspolitik wird erheblich abgesenkt (Schmidtchen 1978, S. 19). Unter den Annahmen, dass es sich bei Wettbewerbsprozessen um ein höchst komplexes Phänomen handelt und dass ein ubiquitärer Wissensmangel sowohl bei den Marktteilnehmern als auch bei den politisch handelnden Akteuren besteht, würde eine Wettbewerbspolitik, die den Wettbewerbsprozess rational gestalten wollte, ihre Erkenntnisgrenzen weit überschreiten. Es ist daher auch zwecklos, den Wettbewerb anhand etwaiger Marktergebnisse beurteilen zu wollen, da diese allenfalls Zwischenergebnischarakter haben, die den Marktteilnehmern anzeigen, wie sie ihr künftiges Handeln auszurichten haben (Schmidtchen 1988, S. 127). Wettbewerb fungiert einzig und allein als Koordinationsmechanismus, der effiziente Transaktionen ermöglicht, die für alle Marktteilnehmer vorteilhaft sind, was bei freiwilligen Transaktionen grundsätzlich unterstellt werden kann (Kirzner 1992, S. 184 f f ) . Diese Koordinationsfunktion gilt allgemein als gesichert, wenn die persönliche Freiheit der Wirtschaftssubjekte durch allgemeine Verhaltensregeln geschützt wird.

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In den systemorientierten Ansätzen hat die Wettbewerbspolitik daher nur einem einzigen Ziel zu dienen: der Sicherung der Freiheit (Hoppmann 1973, S. 41 ff.). Diese Wettbewerbsfreiheit umfasst sowohl die Freiheit der Konkurrenten zu Vorstoß und Imitation als auch die Auswahlfreiheit der Partner auf der Marktgegenseite (Hoppmann 1967, S. 88 ff.). Grundlegend für das Wettbewerbsverständnis von Hoppmann ist dabei die so genannte Non-Dilemma-These. Zwischen dem Freiheitsziel und ökonomischen Wettbewerbsfunktionen, die vor allem wohlfahrtsökonomische Aspekte abdecken, besteht Zielharmonie, da freier Wettbewerb eine komplexe Ordnung darstellt, die das Marktsystem im Sinne eines Selbststeuerungssystems funktionsfähig macht und gleichzeitig gute, im einzelnen aber nicht genau vorhersehbare ökonomische Ergebnisse hervorbringt. Wettbewerbsfireiheit ist dann für alle Marktteilnehmer ökonomisch vorteilhaft (Hoppmann 1968, S. 9 ff. und 14 ff.). Zielkonflikte können sich nur dann ergeben, wenn der Wettbewerb als ein Instrument angesehen wird, das der Verwirklichung überindividueller ökonomischer Zwecke dient. Eine solche Instrumentalisierung ist daher abzulehnen, eröffnet sie doch interventionistischen bzw. freiheitsbeschränkenden Bestrebungen unvorhersehbare Möglichkeiten. Im Mittelpunkt der wettbewerbspolitischen Implikationen des Konzepts der Wettbewerbsfireiheit von Hoppmann steht demzufolge ein Verbot freiheitsbeschränkender Verhaltensweisen. Die Wettbewerbsfreiheit sieht Hoppmann immer dann in Gefahr, wenn die Handlungs- und Entschließungsfreiheit eines Wirtschaftssubjektes derart eingeschränkt wird, dass es nicht mehr seinen eigenen Plänen und Absichten folgen kann, sondern nur noch in den Dienst des Zwangsausübenden gestellt wird (Hoppmann 1988a, S. 302). Solche freiheitsbeschränkenden Verhaltensweisen sind daher per se zu verbieten. Gleiches fordert Hoppmann beispielsweise auch für Unternehmensfusionen. Fusionen stellen für ihn eine Freiheitsbeschränkung dar, da die Substitutionsmöglichkeiten im Austauschprozess systematisch reduziert werden {Hoppmann 1972, S. 66). Im Gegensatz jedoch zur ordnungsökonomischen Konzeption von Eucken und Böhm sieht Hoppmann die Legitimation der Fusionskontrolle hauptsächlich nicht in den Kriterien der Machtkontrolle und Verhinderung von Konzentration (Hoppmann 1988b, S. 338 f.). Es dürfe nicht das Ziel der Wettbewerbspolitik sein, Machtentstehung zu verhindern oder gar Macht an sich zu bekämpfen, da Bildung und Erosion von Macht für Wettbewerbsprozesse konstituierend sei. Einzig und allein die Bekämpfung unangemessener im Sinne nicht-leistungsbedingter Macht, die die Freiheitsspielräume von Dritten beschränkt, dient als Legitimationsargument für die Fusionskontrolle. Der systemtheoretische Ansatz der Wettbewerbspolitik entspricht weitgehend dem ordnungsökonomischen Wettbewerbs Verständnis. Nicht die Maximierung wohlfahrtsökonomischer Zielgrößen steht hier im Vordergrund, sondern die Sicherung der individuellen Freiheit. Demzufolge lässt sich Wettbewerbspolitik auch auf eine einfache Aufgabe reduzieren: Sie soll freiheitsbeschränkende Maßnahmen per se verbieten. Die Überlegenheit von Per-se-Regeln entstammt dabei weitgehend den Auffassungen der Austrian School, die der Anwendung von Rechtsregeln durch die Rechtsprechung keinerlei diskretionäre Handlungsspielräume zubilligt, da diese stets nur der Durchsetzung privilegierter Sonderinteressen dienen ( Hayek 1976b, S. 101 sowie Hayek 1991, S. 185). Nicht diskretionär soll die Wettbewerbsbehörde in den Wettbewerbsprozess

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eingreifen, sondern mit Hilfe universaler Regeln sollen die Freiheiten der Wirtschaftssubjekte geschützt werden, die den Wettbewerb ermöglichen und aus denen er entsteht. In der aktuelleren Forschung finden sich die Gedanken einer an der Wettbewerbsfreiheit orientierten Wettbewerbspolitik insbesondere in der Konstitutionenökonomik wieder (Kerber 2008). Im Rahmen der konstitutionenökonomischen Analyse können auf der Basis der Bürgerpräferenzen individuelle Freiheitsrechte abgeleitet werden, die den Status der absoluten Unverletzbarkeit erlangen. Das heißt, diese sind durch Per-seRegeln umfassend zu schützen und dürfen daher nicht Gegenstand einer Abwägung sein. Das alles entscheidende Kriterium sind dann die Bürgerpräferenzen.

IV. Wohlfahrtsökonomik und der „more economic approach" Betrachtet man die wettbewerbspolitische Praxis genauer, so stellt man sehr schnell fest, dass diese in der Hauptsache von den wohlfahrtsökonomischen Leitbildern der Wettbewerbspolitik dominiert wird.4 Oder um es anders herum zu formulieren, die systemtheoretischen und damit stärker ordnungsökonomisch ausgerichteten Ansätze der Wettbewerbspolitik haben sich realiter kaum durchsetzen können. Allenfalls im Per-seVerbot zum Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung und im generellen Kartellverbot finden sich Parallelen zum ordnungsökonomischen Wettbewerbsleitbild. Die Ursachen hierfür sind sehr vielfältig: Zum einen lassen sich vor allem politökonomische Erklärungen anführen. Während der systemtheoretische Ansatz primär auf die Anwendung von Per-se-Verboten freiheitsbeschränkender Verhaltensweisen setzt und somit den Kartellbehörden wenig diskretionäre Entscheidungsspielräume lässt, haben diese selbst nur einen geringen Anreiz an der Durchsetzung einer ordnungsökonomisch ausgerichteten Wettbewerbspolitik, da sie damit ihre eigenen Handlungsspielräume beschränken würden. Zum anderen werden insbesondere aus wohlfahrtsökonomischer Sicht erhebliche Zweifel an der Effizienz von Per-se-Regeln in der Wettbewerbspolitik geäußert. So beenge die Verwendung von Per-se-Regeln die Möglichkeiten des Wettbewerbsschutzes im Sinne einer aktiveren Wettbewerbspolitik. (Bartling 1980, S. 54 ff.). Da es aus wohlfahrtsökonomischer Sicht vielleicht nur mit der Ausnahme von Preisabsprachen kaum Verhaltensweisen gibt, bei denen die wettbewerbsbehindernden Wirkungen stets die wohlfahrtsfördernden dominieren würden, sei es für die Beurteilung des jeweiligen Verhaltens unumgänglich, die gesamten relevanten Verhaltens- und Bedingungskonstellationen des konkreten Einzelfalls zu untersuchen. Dies sei mit Perse-Regeln nicht realisierbar, woraus ein klarer Vorteil von Abwägungsklauseln im Sinne einer rule of reason gesehen wird (Areeda 1992, S. 42 f.). Mit anderen Worten, eine zentrale Schwäche freiheitsorientierter und regelgebundener Wettbewerbspolitik ist darin zu sehen, dass sie das Risiko „überschießender Eingriffe" (Möschel 2006, S. 366) in sich birgt, in dem Sinne, dass die Wettbewerbspolitik zu restriktiv ausfallt und so zu

4 Dabei soll keineswegs verschwiegen werden, dass die ordnungsökonomischen Ansätze der Freiburger Schule großen Einfluss auf das deutsche und europäische Wettbewerbsrecht genommen haben. Die Feststellung der Dominanz wohlfahrtsökonomischer Ansätze bezieht sich primär auf die Frage der Anwendung und die Ausgestaltung der konkreten Wettbewerbspolitik.

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einer Erhöhung des Entscheidungsfehlers 2. Ordnung (ungerechtfertigte Untersagungen) führen würde (Christiansen 2006, 150 ff, Cooper, Froeb, O'Brien und Vita 2005, S. 306 f). Darüber hinaus gibt es noch einen dritten Aspekt, der mit dem oben genannten in unmittelbarem Zusammenhang steht und die Durchsetzung und Realisierung einer ordnungsökonomisch orientierten Wettbewerbspolitik wohl maßgebend behindert hat. Die Ursache findet sich dabei im ordnungsökonomischen Ansatz selbst. Bis heute ist es den Vertretern ordnungsökonomischer Ansätze in der Wettbewerbspolitik nicht gelungen, das logisch konsistente ordnungsökonomische Konzept, die Wettbewerbspolitik auf den Schutz der Freiheit auszurichten, operationalisierbar zu machen. Eine ausreichende theoretische Fundierung des Begriffs der Wettbewerbsfreiheit ist bis heute nicht erfolgt. Die Anwendung eines freiheitsorientierten Wettbewerbskonzepts setzt aber voraus, dass man die freiheitsbeschränkenden Wirkungen wettbewerblichen Verhaltens in irgendeiner Weise operationalisieren kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn solche Verhaltensweisen die Freiheit eines Dritten unangemessen beschränken. Soll dieses freiheitsbeschränkende Verhalten kontrolliert werden, so bedeutet dies nichts anderes, als dass die Freiheit dessen, von dem das wettbewerbsbeschränkende Verhalten ausgeht, selbst eingeschränkt werden muss. Dies setzt jedoch voraus, dass die Freiheitsrechte der Beteiligten gegeneinander abgewogen werden müssen. Mit dem einfachen Verweis, dass die persönliche Freiheit dort endet, wo die Freiheitsrechte eines Dritten tangiert werden, lässt sich das konkrete Problem in Wettbewerbssachen nur schwer lösen. Grundsätzlich, und daran kann es keinen Zweifel geben, leiden ordnungsökonomische - bzw. freiheitsorientierte Wettbewerbsansätze daran, dass es die Wettbewerbsfreiheit, die es zu schützen gilt, nicht gibt. Ist zwischen verschiedenen Varianten der Wettbewerbsfreiheit abzuwägen, fehlt es an geeigneten Kriterien, darüber zu bestimmen, welcher Freiheit der Vorzug einzuräumen ist ( Weizsäcker 2007). Dieses Problem zeigt sich insbesondere bei der Behandlung marktbeherrschender Unternehmen. Die Missbrauchsaufsicht gegenüber marktbeherrschenden Unternehmen basiert auf dem Werturteil, dass einem marktbeherrschenden Unternehmen bei der Wahl seiner wettbewerblichen Aktionsparameter weiniger Freiheitsrechte zugestanden werden als einem nicht-marktbeherrschenden Unternehmen. Dieses Werturteil basiert im Wesentlichen auf der empirischen Beobachtung, dass marktbeherrschende Unternehmen ihre wettbewerblichen Aktionsparameter vor allem danach ausrichten, den Marktzutritt zu erschweren und sich aktuellen und potenziellen Wettbewerbern zu entledigen. Dennoch bereitet diese normative Begründung insbesondere auch aus ordnungsökonomischer Sicht erhebliche Schwierigkeiten. Unterstellt man, dass das Unternehmen seine marktbeherrschende Stellung durch seine überragende Leistungsfähigkeit im Leistungswettbewerb errungen hat, so ist nicht a priori eindeutig, warum man die Freiheit dieses Unternehmens einschränken sollte. Dies würde auf eine Bestrafung der überragenden Leistungsfähigkeit und eine möglicherweise unangemessene Beschränkung der Freiheit dieses Unternehmens hinauslaufen, seine Marktposition zu verteidigen. Diese Überlegungen zeigen die Schwierigkeit der Umsetzung ordnungsökonomischer Leitbilder in die Wettbewerbspolitik. Während aus wohlfahrtsökonomischer Perspektive die wohlfahrtstheoretischen Wirkungen anhand von Preis- und Mengeneffekten eine operationalisierbare Entscheidungsgrundlage liefern, fehlt eine solche den ord-

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nungsökonomischen Ansätzen. Die Anwendung eines ordnungsökonomischen Ansatzes setzt voraus, dass die Aktionsparameter des Leistungs- und Behinderungswettbewerbs eindeutig abgrenzt werden können. Hier sind in der Realität die Grenzen jedoch fließend, so dass den ordnungsökonomischen Ansätzen oftmals ein geeigneter Maßstab dafür fehlt, die Freiheitsrechte gegeneinander abzuwägen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum sich in der wettbewerbspolitischen Praxis wohlfahrtsökonomische Positionen durchgesetzt haben. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der aktuellen Diskussion über den „more economic approach" in der europäischen Wettbewerbspolitik. Ohne an dieser Stelle auf die Einzelheiten seines Entstehens einzugehen, kann davon ausgegangen werden, dass dieser ökonomischere Ansatz eine neue Art eines wettbewerbspolitischen Leitbilds in der europäischen Wettbewerbspolitik darstellt. Dabei ist in seiner Ausrichtung kein anderer Ansatz so konsequent an wohlfahrtsökonomischen Positionen ausgerichtet wie dieser „more economic approach". Im Kern zielt der ökonomischere Ansatz darauf, die in Wettbewerbsfallen typischen Interessenabwägungen (wie bereits am Beispiel des marktbeherrschenden Unternehmens aufgezeigt) anhand von Wohlfahrtskriterien durchzuführen. In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass sich die Wettbewerbspolitik stärker als bisher an ökonomischen Kriterien auszurichten habe, die den Stand moderner ökonomischer Forschung reflektieren (Schmidtchen 2006c, S. 186). Dabei soll nicht mehr formalistisch (,/orm based approach ") unter Rückgriff auf abstrakt generalisierende Regeln beurteilt werden, sondern anhand der Untersuchung der Wirkungen auf den Wettbewerb im Einzelfall („effect based approch "). Gerade der letzte Satz macht den Widerspruch zum ordnungsökonomisch-systemtheoretischen Wettbewerbsleitbild nur allzu deutlich. Nicht die Anwendung universaler Regeln steht im Vordergrund, sondern die wohlfahrtsökonomischen Wirkungen der einzelnen Verhaltensweisen auf den Wettbewerb sollen die Wettbewerbspolitik bestimmen. Im Ergebnis bedeutet dies nichts anderes als eine reine Effizienzabwägung, wie wir sie insbesondere aus dem Leitbild der Chicago School kennen. In diesem Zusammenhang lässt sich der „more economic approach" als eine konsequente Forstsetzung der Chicago School betrachten. Gemeinsam ist beiden Ansätzen insbesondere die Fokussierung auf die in der wohlfahrtsökonomischen Sicht dominierende Maximierung der Konsumentenwohlfahrt, die nichts anderes besagt, als dass die aus der Wettbewerbsbeschränkung erwachsenden Vorteile den Verbrauchern zugute kommen müssen (Klumpp 2006, S. 99). Allerdings geht der „more ecconomic approach" im Vergleich zur Chicago School noch einen Schritt weiter. Während das Konzept der Chicago-Ökonomen durch eine weitgehende Zurückhaltung in der Wettbewerbspolitik geprägt ist, ergibt sich im Rahmen der Konzeption des ,/nore economic approach" eine stärkere aktive und interventionistischere Rolle der Wettbewerbspolitik (.Budzinski 2008). Inwieweit der „more economic approach" tatsächlich einen Fortschritt in der Wettbewerbspolitik bedeutet, darf jedoch mit Recht bezweifelt werden. Ohne an dieser Stelle, die gesamte bereits breit in der Literatur diskutierten Vor- und Nachteile dieses neuen Ansatzes noch einmal darzustellen, soll an dieser Stelle auf einen Problemaspekt hingewiesen werden, der insbesondere in der aktuellen leitbildbezogenen Diskussion eine wichtige Rolle spielt: es geht um das Verhältnis zwischen Effizienz und Freiheit bzw. um die Fragestellung, inwieweit es wettbewerbspolitisch gerechtfertigt ist, Weit-

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bewerbsbeschränkungen hinzunehmen, wenn sich dadurch effizientere Marktergebnisse einstellen und welchen Stellenwert die Freiheit eines marktbeherrschenden Unternehmens im Verhältnis zur Freiheit der Konkurrenten und der Abnehmer zukommt. Ordnungsökonomisch besonders problematisch wird es dann, wenn die Berücksichtigung von Effizienzaspekten nicht nur bei Zusammenschlussentscheidungen, sondern auch bei der Missbrauchsaufsicht gegenüber marktbeherrschenden Unternehmen zur Anwendung kommen soll (Europäische Kommission 2005, European Advisory Group Competition Policy 2005). Nimmt man ein solches missbräuchliches Verhalten aus statischen Effizienzüberlegungen billigend in Kauf, dann bedeutet dies auch, dass man die Einschränkung des Wettbewerbs und damit die Einschränkung der aus ihm resultierenden dynamischen Wohlfahrtseffekte akzeptiert. Aus einer solchen Sicht können jedoch langfristig keine Wohlfahrtsgewinne realisiert werden. Mit anderen Worten, bei einer solchen Betrachtungsweise würden die dynamischen Effizienzgewinne zur Realisierung kurzfristiger statischer Effizienzgewinne geopfert werden. Eine solche Wettbewerbspolitik ist mit einer an der Sicherung der Freiheit orientierten Politik unvereinbar und zeigt erneut den Widerspruch zwischen der kurzfristigen wohlfahrtsökonomischen Instrumentalisierung der Wettbewerbspolitik und einer an der Freiheitssicherung orientierten ordnungsökonomischen Wettbewerbskonzeption auf. In diesem Zusammenhang stellt sich daher tatsächlich die Frage, wie ökonomisch der „more economic approach" ist. Eine stärkere wohlfahrtsökonomische Interpretation ist dabei keineswegs die einzig mögliche Interpretationsform. Genauso könnte man den ökonomischeren Ansatz dahingehend auslegen, dass eine stärkere Fokussierung auf die Wettbewerbsfreiheit und die aus ihr resultierenden dynamischen Wettbewerbsprozesse bessere Ergebnisse hervorbringt als ein interventionistisches Konzept, welches ausschließlich auf statische Allokationseffizienz ausgerichtet ist (Van den Bergh 2007, S. 34). Die angebliche Modernität des „more economic approach" ist daher durchaus in Frage zu stellen. Keinen Disput gibt es diesbezüglich, dass die Wettbewerbspolitik theoretisch fundiert sein muss (Haucap 2007), die entscheidende Frage ist vielmehr, ob die Abwägungsentscheidungen ausschließlich auf der Basis der Wohlfahrtsökonomik oder eben auch auf der Basis anderer alternativer ökonomischerer Ansätze erfolgen sollte. Die Kontroverse zwischen den ordnungsökonomischen und wohlfahrtsökonomischen Wettbewerbskonzepten lässt sich daher zusammenfassend und vereinfachend auf die Diskussion über das richtige Abwägungskriterium reduzieren. Soll die Abwägung an den Konsequenzen auf die individuelle Handlungs- und Entschließungsfreiheit der am Wettbewerbsprozess beteiligten Individuen oder an deren Wohlfahrtspositionen festgemacht werden?

V. Freiheit vs. Effizienz: Der Beitrag ordnungsökonomischer Wettbewerbskonzepte Die dargestellten Probleme zeigen sehr deutlich, dass sich in der aktuellen Diskussion die Wettbewerbspolitik am Scheideweg befindet (Zimmer 2007a). Die wohlfahrtsökonomischen Ansätze scheinen die ordnungsökonomische Ausrichtung der Wettbewerbspolitik mehr und mehr zu überlagern und damit auch abzuschwächen. Diese Ent-

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wicklung erscheint jedoch nicht ganz ungefährlich, da sie den Wettbewerb seiner freiheitssichernden Funktion, die für marktwirtschaftliche Systeme konstituierend ist, enthebt. Damit besteht die Gefahr, dass das Wettbewerbsrecht dazu verwendet wird, um im Interesse der Realisierung kurzfristiger Effizienzziele Wettbewerb zu verhindern. Diese Art der Instrumentalisierung des Wettbewerbsrechts hat bereits Mestmäcker (1984) eindrucksvoll als den so genannten verwalteten Wettbewerb bezeichnet. Daher scheint die Notwendigkeit der Rückbesinnung auf ordnungsökonomische Wettbewerbskonzeptionen dringend geboten. Die zentrale Frage dabei lautet jedoch, was können ordnungsökonomische Wettbewerbskonzeptionen inhaltlich Neues in die Diskussion einbringen. Betrachtet man die wissenschaftliche Diskussion in den letzten Jahren, so lässt sich konstatieren, dass sich, was die Weiterentwicklung systemtheoretischer Ansätze in der Wettbewerbspolitik anbelangt, relativ wenig getan hat. Eine Ausnahme bildet das institutionenökonomisch-evolutionäre Wettbewerbsleitbild von Matzavinos (2005). Dabei wird die Wettbewerbspolitik allein auf den Schutz des Wettbewerbs reduziert. „Was kann getan werden und auf welcher Ebene, um den Wettbewerb als ein innerhalb von Regeln ablaufenden evolutionären Prozess zu schützen?" (Mantzavinos 2005, S. 217). Einer an Effizienzzielen getrieben Wettbewerbspolitik erteilt Mantzavinos daher eine klare Absage. In Einklang mit dem systemtheoretischen Ansatz von Hoppmann fordert Mantzavinos (2005, S. 221), dass sich Wettbewerbspolitik in der Hauptsache an Per-se-Regeln orientieren sollte, die gewährleisten sollen, dass am Markt überhaupt Wettbewerb besteht. Im Rahmen dieses minimalistischen Konzepts sollen Per-se-Regeln jedoch nicht dafür eingesetzt werden, dass der Wettbewerb möglichst vollkommen, funktionsfähig oder effizient ist. Unabhängig von einzelnen Detailproblemen5, liefert dieser Ansatz wichtige Aussagen, auf deren Basis die Elemente für eine Rückbesinnung auf das ordnungsökonomische Leitbild für die Wettbewerbspolitik entwickelt werden können.

1. Grundprinzipien ordnungsökonomischer Wettbewerbspolitik Grundsätzlich kann eine ordnungsökonomisch ausgerichtete Wettbewerbspolitik immer nur an den Voraussetzungen des Wettbewerbs ansetzten. Jedoch ist Mantzavinos an einem Punkt zu widersprechen, Wettbewerbspolitik sollte nicht daran ansetzten, den Wettbewerb zu schützen - so widersprüchlich dies auch auf den ersten Blick erscheinen mag - sondern stets nur darauf ausgerichtet sein, die Freiheit der am Wettbewerbsprozess Beteiligten zu schützen. Definiert man dagegen Wettbewerbsschutz als die zentrale Aufgabe der Wettbewerbspolitik, gerät man immer in Gefahr, die Frage beantworten zu müssen, welcher Wettbewerb geschützt werden soll. Damit besteht vor allem die Gefahr, sich in der Diskussion über das „wahre" Wesen des Wettbewerbs und der richtigen Definition des Wettbewerbsbegriffs zu verlieren (Schmidtchen 1978). Die Beantwortung der Frage nach dem wahren Wesen des Wettbewerbs können jedoch die Wettbewerbsbehörden, die letzten Endes die Wettbewerbspolitik umsetzen, nicht lösen. Wettbewerbsrecht und Wettbewerbspolitik sind im Rahmen der Ordnungsökonomik daher 5

Vgl. hierzu insbesondere Schmidtchen (2006c).

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ausschließlich eindimensional nur auf eine einzige Aufgabe auszurichten: Schutz der Freiheit. Es ist nicht ihre Aufgabe dafür zu sorgen, dass die aus dem Wettbewerbsprozess hervorgehenden Marktergebnisse in irgendeiner Weise effizient sein sollen, denn dies würde voraussetzten, dass das Wettbewerbsrecht und die auf ihr basierende Wettbewerbspolitik über einen geeigneten Effizienzmaßstab verfugen würde. Auch wenn die wohlfahrtsökonomisch ausgerichtete Wettbewerbspolitik im Vergleich zum systemtheoretischen Ansatz über ein höheres Maß an Operationalisierbakeit verfügt, so bedeutet dies jedoch keineswegs, dass sie auch zu einer besseren Wettbewerbspolitik führt. Denn eine solche setzt voraus, dass es einen solchen konsistenten und konkordanten Effizienzmaßstab gibt. Aber über diesen verfügt auch die Wohlfahrtsökonomik nicht. Die in der Wettbewerbstheorie verwandten Modelle, sind allesamt komparativ-statischer Natur und erlauben keine Aussagen über die dynamischen Effekte (Schwalbe und Zimmer 2006, S. 374). Es bleibt daher ein ungelöstes Rätsel der Wohlfahrtsökonomik, wie sie mit Hilfe komparativ-statischer Modelle dynamisch im Wettbewerbsprozess sich ergebende Effizienzen bewerten will. Die Wettbewerbspolitik kann also nicht effizienzorientiert sein, weil sie gar nicht über die entsprechenden Instrumente verfügt, es sei denn, es ist das ausdrückliche Ziel der Wettbewerbspolitik, kurzfristige Effizienzgewinne zu generieren. Es erscheint auch fraglich, ob die insbesondere von den Vertretern des ,jnore economic approach" geforderte Orientierung der Wettbewerbspolitik an den Verbraucherinteressen einen geeignetes Ziel der Wettbewerbspolitik darstellen kann {European Advisory Group Competition Policy 2005, Hellwig 2006, S. 264 ff.). Eine solche Orientierung setzt stets voraus, dass die Wettbewerbsbehörden in ihren Entscheidungen zwischen den pro-wettbewerblichen und den anti-wettbewerblichen Effekten des zu untersuchenden Verhaltens auf die jeweiligen Verbraucher abwägen müssen. Unterstellt man, dass es sich bei Verbraucherinteressen um eine mehrdimensionale Größe handelt, sowie, dass Verbraucherinteressen nicht homogen, sondern heterogen sind und auch zwischen kurz- und langfristigen Interessen zu unterscheiden ist, stellt sich auch hier wiederum die Frage nach einem geeigneten Bewertungsmaßstab {Heyer 2006). Das Wettbewerbsrecht und die Wettbewerbspolitik wären jedoch überfordert, hier eine entsprechende Abwägung vorzunehmen. Vielmehr würde gerade hier einer Instrumentalisierung des Wettbewerbs Tür und Tor geöffnet werden. Auch der Verbraucherschutz bzw. die Verbraucherinteressen dürfen kein Maßstab dafür sein, Verhaltensweisen zu legitimieren, die mit dem Prinzip der Marktfreiheiten unvereinbar sind {Mestmäcker 2005, S. 35). Die Basisprinzipien einer ordnungsökonomischen Wettbewerbspolitik lassen sich daher wie folgt zusammenfassen: Die Wettbewerbspolitik soll eindimensional dem Schutz der Freiheit verpflichtet werden. Weder Effizienzziele noch Verbraucherinteressen können eine geeignete Zielgröße darstellen. Entsprechend der Überlegenheit universaler Regeln, sollte die Wettbewerbspolitik primär auf Per-se-Regeln beruhen, da diese diskretionäre Handlungsspielräume begrenzen, Transparenz und Rechtssicherheit erhöhen und damit die Transaktionskosten der Wettbewerbskontrolle wirkungsvoll senken. Darüber hinaus sollte die Wettbewerbspolitik stets politikneutral - unabhängig - institutionalisiert werden, damit Interessenskonflikte zwischen dem Schutz der Freiheiten ei-

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nerseits und anderen politischen und vor allem außerwettbewerblichen Zielen andererseits nicht von den Wettbewerbsbehörden ausgetragen werden müssen.

2. Ordnungsökonomische Wettbewerbspolitik: Schutz der Wettbewerber? Gegen eine rein am Ziel der Freiheitssicherung orientierte Wettbewerbspolitik wird immer wieder eingewendet, dass die ordnungsökonomischen Ansätze nicht den Wettbewerb schützen würden, sondern primär die Wettbewerber, woraus eine falsche Akzentuierung des Freiheitsbegriffs resultiere.6 So würde der ordnungsökonomische Ansatz beispielsweise insbesondere im aktuell diskutierten Bereich der Missbrauchsaufsicht {Bundeskartellamt 2007) gegenüber marktbeherrschenden Unternehmen die Freiheit dieser Unternehmen als weniger schützenswert ansehen und damit den Freiheitsschutz der Wettbewerber überbetonen.7 So verstanden, würde die wettbewerbspolitische Intervention des Staates selbst die Freiheit der marktstarken oder gar marktbeherrschenden Unternehmen auf unannehmbare Weise beschränken (insbesondere Hellwig 2006, S. 240, 260, 266). Daher ist dem Problem der Marktbeherrschung und der hier vorgebrachten Argumentation noch einmal besondere Beachtung zu schenken. Die hier vorgebrachte Kritik bedarf sowohl einer grundsätzlichen als auch einer ökonomischen Reflektion. Zunächst zur grundsätzlichen Ebene. Der Vorwurf, ordnungsökonomische Ansätze des Wettbewerbsrechts würden die Freiheit marktbeherrschender oder marktstarker Unternehmen in unannehmbarer Weise beschränken, verkennt zunächst, dass die Wettbewerbsordnung und das aus ihr hervorgehende Wettbewerbsrecht den Nährboden darstellen, aus dem die Freiheit erwachsen soll. Die Wettbewerbsordnung kann dabei jedoch selbst nicht Bestandteil der Freiheit sein. Wer die Freiheit wünscht, muss auch die Unfreiheit durch das Verhalten marktbeherrschender Unternehmen oder gar Monopole furchten. Daher ist das Recht nicht nur Voraussetzung der Freiheit, sondern stellt auch eine notwendige wirkungsvolle Schranke fur die Freiheit dar. (Mestmäcker 2005, S. 24). Es handelt sich hierbei keineswegs um eine Antinomie der Wettbewerbspolitik" (Hellwig 2006, S. 241), sondern um ein Grundprinzip des verfassungsmäßigen Schutzes der Freiheit (Kant 1797, 1983, S. 230 ff). Dieses Problem ist auch kein spezielles Problem der Wettbewerbspolitik, sondern es findet sich in den verschiedenen Feldern des Rechts, beispielsweise in der Vertragsfreiheit oder auch in der Eigentumsfreiheit. Handelt ein marktbeherrschendes Unternehmen bestimmte Konditionen am Markt aus, so dienen diese oftmals eben nur der Durchsetzung der eigenen Freiheit. Wenn sich das Wettbewerbsrecht hier schützend vor die Schwächeren stellt, so dient dies primär der Entfaltung der Wettbewerbsfreiheit und nicht deren Beschränkung. Es ist jedoch auch aus ökonomischer Sicht zu fragen, ob beispielsweise ein Per-seVerbot fur marktbeherrschende Unternehmen zur Kopplung, Preisdiskriminierung und 6 Vgl. hierzu auch Fox (2003, S. 149 ff.). 7 Ähnlich kritische Einwende finden sich auch bei Beurteilung vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen. Auch hier würden freiheitsbezogene Ansätze dazu neigen, den freiheitsbeschränkenden Charakter zu stark in den Vordergrund zu stellen (Cooper, Froeb, Brien und Vita 2005, S. 306 f.).

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Marktschließung tatsächlich einen unannehmbaren Eingriff in dessen Freiheit bedeutet. Hellwig bspw. versucht einen solchen nicht hinnehmbaren Eingriff am Beispiel der Gewährung von Boni (Rabattsystemen) vor dem Hintergrund der Entscheidung des Europäischen Kommission im Fall British Airways/Virgin Atlantic Airways zu verdeutlichen {Hellwig 2006, 249 ff). Er verweist dabei auf die Effizienzsteigerungen durch Boni-Systeme, die ein marktbeherrschendes Unternehmen zur wirkungsvollen Kontrolle seines Vertriebs oder Außendienstes einführt. Ein Per-se-Verbot würde somit einem marktbeherrschenden Unternehmen die Möglichkeit nehmen, die kostengünstigste Vertriebsstrategie im Wettbewerb zu wählen. Es wäre daher widersinnig, „ den Wettbewerb dadurch schützen zu wollen, dass man das marktbeherrschende Unternehmen zwingt, eine ineffiziente Vertriebsstrategie zu wählen" {Hellwig, 2006, S. 251). Das Beispiel von Hellwig zielt auf die bekannte Unterscheidung zwischen legitimen Wettbewerbsverhalten und illegitimen Verdrängungswettbewerb ab. Grundsätzlich erkennen das Wettbewerbsrecht und auch die freiheitsorientierten wettbewerbspolitischen Ansätze die Freiheit eines Unternehmens zur Gestaltung des Vertriebssystems an. So ist es jedem Unternehmen freigestellt, die Gestaltung des Vertriebs als Aktionsparameter im Wettbewerbsprozess einzusetzen, ausgenommen es bedient sich des Instruments der Kartellierung oder es handelt sich um ein bereits marktbeherrschendes Unternehmen. Um die Freiheit auch eines marktbeherrschenden Unternehmens zu schützen, schlägt Hellwig vor, dass in solchen Fällen die Wettbewerbsbehörden in Analogie zur Berücksichtigimg von Effizienzvorteilen in der Fusionskontrolle die wettbewerbsbehindernden Effekte in Form der Marktschließung gegenüber den wettbewerbsfordemden Effekten durch Effizienzen auch in der Missbrauchsaufsicht abgewogen werden sollen {Hellwig 2006, S. 255 f f ) . In den Fällen, in denen ein elastisches Angebot an Vertriebsleistungen bestünde und der Marktzutritt neuer Vertriebsagenturen oder aber die Kapazitätsausweitung bestehender Vertriebsagenturen bis hin zur Erschließung neuer Vertriebskanäle gegeben seien, würden die wettbewerbsfördernden Effekte überwiegen {Hellwig 2006, S. 258). Hier ist Hellwig uneingeschränkt zuzustimmen. Das Problem ist nur, wenn diese von Hellwig genannten Bedingungen erfüllt sind, dann herrscht auch ausreichend hoher potenzieller Wettbewerbsdruck und unter diesen Umständen wäre der Tatbestand der Marktbeherrschung zu verneinen. Genau in diesem Fall, stünde es dem Unternehmen tatsächlich frei, über seine Vertriebspolitik selbst zu bestimmen, auch unter Zuhilfenahme von Boni-Systemen. Die Kernfrage ist jedoch eine andere. Sie lautet stets, ob bei Erfüllung des Tatbestandes der Marktbeherrschung, tatsächlich noch eine Effizienzanalyse durchgeführt werden soll oder ob es grundsätzlich bei Vorliegen von Marktbeherrschung ein Per-se-Verbot für den Einsatz bestimmter wettbewerblicher Aktionsparameter geben soll. Ein solches Per-se-Verbot wäre dann gerechtfertigt, wenn bei Vorliegen von Marktbeherrschung Rabattsysteme in jedem Fall zur Marktschließung führen würden, weil sie nur noch darauf abzielen, für potenzielle und tatsächliche Wettbewerber die endogen versunkenen Kosten {Sutton, 1991) zu erhöhen. In diesem Fall dominieren stets die wettbewerbsbeschränkenden Effekte. Aus ordnungsökonomischer Sicht sollte jedoch eine Effizienzberücksichtigung bei marktbeherrschenden Unternehmen nicht stattfinden. Dafür sprechen im Wesentlichen zwei Gründe. Der Vorwurf der Opponenten gegen das Konzept der Wettbewerbsfrei-

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heit, dass sich die Wettbewerbsfreiheit nicht ausreichend operationalisieren lässt, ist absolut berechtigt. Umgekehrt lassen sich aber die angeblichen Effizienzvorteile ebenso wenig operationalisieren und zweifelsfrei feststellen. Dies gilt insbesondere auch für das Konzept der so genannten Konsumentenwohlfahrt. Langfristig kann nicht ausreichend belegt werden, dass von einzelnen Praktiken eines marktbeherrschenden Unternehmens die Konsumenten profitieren. Wird nämlich der Wettbewerbsprozess durch Manifestierung von Marktbeherrschung in seiner Struktur langfristig geschädigt, sind davon vor allem die Konsumenten negativ betroffen. Dies hat unter anderem der Fall Microsoft sehr eindrucksvoll belegt. Solange jedoch in der ökonomischen Theorie die langfristigen Wirkungen nicht eindeutig bestimmt werden können, sollte von der Berücksichtigung von Effizienzaspekten in der Missbrauchsaufsicht Abstand genommen werden. Als zweiten Grund lassen sich die begrenzten Fähigkeiten einer jeden Wettbewerbsbehörde anführen, geeignete Informationen über das Eintreten und das Ausmaß solcher Effizienzaspekte zu gewinnen. Vielmehr würden hierdurch die diskretionären Entscheidungsspielräume erhöht werden, was insbesondere auch aus Sicht der Neuen Politischen Ökonomik nicht als wünschenswert anzusehen ist. Dieses Informations- und Entscheidungsproblem lässt sich wiederum auch sehr gut an dem von Hellwig erörterten Fall British Airways belegen. So sind insbesondere auch aus ökonomischer Sicht Zweifel erlaubt, ob bspw. aus der Gewährung von Rabattsystemen tatsächlich Effizienzgewinne resultieren. Im Kern geht es hier um das Problem von Prinzipal-Agenten-Beziehungen unter asymmetrischen Informationen (.Holmström und Milgrom 1987). Da das Unternehmen die Anstrengungen seines Agenten nur unvollständig beobachten kann, werden als Anreize entsprechende Boni bzw. Rabatte gewährt. Insofern kann von der Gewährung von Boni bzw. Rabatten eine effizienzsteigernde Wirkung durch Verbesserung der Anreizstruktur in Prinzipal-AgentenBeziehungen ausgegangen werden. Inwieweit jedoch Boni geeignet sind, tatsächlich die Anreizproblematik in Prinzipal-Agenten-Beziehungen zu verbessern, hängt von einer Reihe weiterer Faktoren ab (Gibbons 2005). So können Anreizprobleme auch bspw. durch Festlegung von Eigentumsrechten {Hart und Grossman 1986) sowie durch Delegation von Entscheidungsbefugnissen {Baker, Gibbons und Murphy 1994) gelöst werden. Insofern stellt sich hier die Frage nach den institutionellen Alternativen von BoniSystemen zur Lösung der entsprechenden Anreizprobleme. Inwieweit eine Wettbewerbsbehörde in der Lage ist, tatsächlich die Effizienzpotenziale zu beurteilen, darf zu Recht bezweifelt werden. Gleichzeitig würde ein Per-se-Verbot von Rabattgewährung für marktbeherrschende Unternehmen nicht bedeuten, dass diese Unternehmen gezwungen werden, effizienzsteigernde Strategien aufzugeben. Das Wettbewerbsrecht untersagt ihnen lediglich, Effizienzsteigerungen zu realisieren, die mit Marktschließungseffekten einhergehen. Andere alternative institutionelle Arrangements werden den Unternehmen dagegen nicht untersagt. Insofern ist der Vorwurf, dass Wettbewerbsrecht würde marktbeherrschende Unternehmen zu ineffizienten Verhalten zwingen, sehr stark verkürzend. Die Skepsis gegenüber der Berücksichtigung solcher effizienzsteigernden Effekte im Fall British Airways wurde vom EuGH in seinem Urteil vom 15. März 2007 nur teilweise bestätigt. So komme es bei Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung weniger auf die Verhaltensweisen an, die den Verbrauchern Schaden zufügen können, sondern vielmehr darauf, ob der „Struktur des tatsächlichen Wettbewerbs" Schaden zugefügt

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wird.8 Dabei muss nicht der Nachweis einer „quantifizierbaren Verschlechterung" der Stellung einzelner Wettbewerber erbracht werden. Diese Verschlechterung der Struktur des tatsächlichen Wettbewerbs ist es letzten Endes, von der eine unangemessene Beschränkung der Freiheit der einzelnen Marktteilnehmer ausgeht. Insofern könne man unterstellen, dass der EuGH hier sehr stark ordnungsökonomisch argumentiert hat. Allerdings hat der EuGH in diesem Urteil nicht grundsätzlich die Berücksichtigung von Effizienzen bei Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung abgelehnt. Vielmehr hat er deutlich gemacht, dass im Rahmen einer zweiten Stufe, im Einzelfall eine Wettbewerbsbeschränkung ausnahmsweise durch überwiegende Wettbewerbsvorteile, die den Verbrauchern zu Gute kommen, gerechtfertigt werden kann (Zimmer 2007b). Insofern zeigen sich auch hier die Konturen des ökonomischeren Ansatzes und des Spannungsfeldes zwischen Effizienz und Freiheitssicherung.

VI. Fazit Aus ordnungsökonomischer Sicht sollte die Wettbewerbspolitik nur einem einzigen Ziel verpflichtet sein: der Sicherung der individuellen Handlungs- und Entschließungsfreiheiten. Die in der aktuellen Diskussion häufig vorgebrachte Forderung nach einer in der wohlfahrtsökonomischen Tradition verankerten Effizienzforderung orientierten Wettbewerbspolitik ist abzulehnen. Weder ist der Begriff der Effizienz (statisch versus dynamisch) hinreichend geklärt, noch lässt sich eine solche Effizienzorientierung ausreichend operationalisieren. Wer eine solche Effizienzorientierung fordert, der verkennt, dass sie zu erheblichen diskretionären Ermessensspielräumen auf der Seite der Wettbewerbsbehörden führen würde. Der Weg zu einem am Kriterium der ökonomischen Effizienz „verwalteten Wettbewerb" wäre dann nicht mehr weit. In diesem Fall wäre aber der Wettbewerb seiner eigentlichen Funktion, Freiheit zu sichern, Macht zu kontrollieren und Entdeckungsprozesse zu generieren, enthoben. Ahnlich kritisch sind die Bestrebungen zu sehen, dass sich die Wettbewerbspolitik explizit an der Wohlfahrt fur die Verbraucher orientieren sollte. Auch hier fehlt ein geeigneter Beurteilungsmaßstab und es stellt sich der Verdacht ein, dass die so genannte Verbraucherorientierung nur vordergründig dazu dient, eine am Kriterium der ökonomischen Effizienz orientierte Wettbewerbspolitik zu legitimieren. Eine solche explizite Verbraucherorientierung erscheint nicht minder fragwürdig, denn sie basiert auf dem Werturteil, dass die property rights" der Marktergebnisse ausschließlich den Konsumenten zufließen sollten. Insbesondere unter Berücksichtigung dynamischer Aspekte ist eine solche Sichtweise abzulehnen. Gerade aus einer solchen dynamischen Sicht, die auch die Aspekte des Innovationswettbewerbs berücksichtigt, sollte sich die Wettbewerbspolitik primär am Ziel der Freiheitssicherung orientieren. Daher ist insbesondere die Forderung nach einer Berücksichtigung von Effizienzaspekten bei Vorliegen von Marktbeherrschung abzulehnen.

8 Vgl. EuGH, British Airways/Kommission, erscheint in EuGH Slg. der Rspr.2007, Randnummer 106 ff.

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Zusammenfassung Mit der Einführung des more economic approach in der europäischen Wettbewerbspolitik hat die Diskussion über die normativen Grundlagen der Wettbewerbspolitik neue Nahrung erhalten. Während die wohlfahrtsökonomischen Ansätze die Rolle der Wettbewerbspolitik als ein Instrument zur Generierung effizienter Marktergebnisse betonen, sehen die ordnungsökonomischen Ansätze vielmehr die Sicherung der ökonomischen Freiheit im Mittelpunkt der Wettbewerbspolitik. Der Aufsatz untersucht die Vor- und Nachteile beider Ansätze und diskutiert die Perspektiven der ordnungsökonomischen Wettbewerbskonzepte. A m Beispiel der Marktbeherrschung wird gezeigt, dass der ,jno-

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André Schmidt

re economic approach" keineswegs zu einer besseren Wettbewerbspolitik führt. Konsumentenwohlfahrt und die Orientierung an statisch-allokativen Effizienzkriterien sind keine ausreichenden Beurteilungsmaßstäbe für das Wettbewerbsrecht. In Einklang mit der Freiburger Schule schließt der Aufsatz mit einem Plädoyer für eine an den Voraussetzungen und nicht an den Ergebnissen des Wettbewerbs orientierten Wettbewerbspolitik.

Summary: Order Economic Concepts of Competition: Competition Policy between Economic Freedom and Efficiency The more economic approach was implemented in the EU competition policy. Yet, the debate whether the normative foundations of competition law are vital has received new fuel. On the one hand, these normative foundations were derived from welfare economics which emphasize economic efficiency as the ultimate goal of competition law. On the other hand, the order-economic approaches, based on the Freiburg School, focus economic freedom. The paper examines pros and cons of each concept and discusses the perspectives of an approach favoring the order-economic concept. Market dominance serves as an example to show that the more economic approach does not at all grant better results in competition policy. Neither consumer welfare nor static-allocative standards are sufficient criteria for competition law. In accordance with the Freiburg School the author gives a pronounced summing-up for a competition policy tending more to safeguarding the requirements of competition than to its direct results.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Justus Haucap und André Uhde

Regulierung und Wettbewerbsrecht in liberalisierten Netzindustrien aus institutionenökonomischer Perspektive Inhalt I. Einleitung II. Ökonomische Grundlagen der Liberalisierung netzgebundener Industrien 1. Regulierungsbegriff 2. Motiv und Objekt der Regulierung netzgebundener Industrien III. Ökonomischer Vergleich einer eher regelgebundenen Ex-ante-Regulierung und einer eher diskretionären Ex-post-Aufsicht für netzgebundene Industrien 1. Zum Verhältnis von Regulierung und Wettbewerbspolitik in netzgebundenen Industrien 2. Vergleichende ökonomische Analyse der institutionellen Alternativen zur Kontrolle netzspezifischer Marktmacht IV. Die Instrumentenleiter als Zwischenlösung V. Fazit

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244 245 247 256 257

Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Regulation and Competition Law in Liberalised Network Industries as Seen from a New Institutional Economics Perspective

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I. Einleitung Sowohl die Telekommunikationsbranche als auch die Elektrizitätswirtschaft haben in den vergangenen 10 Jahren in Kontinentaleuropa einen drastischen Wandel ihres ordnungspolitischen Rahmens erlebt. Während sich jedoch in der Telekommunikation die Ausgestaltung des ordnungspolitischen Rahmens und auch die konkrete Regulierung in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten mittlerweile relativ stark angeglichen haben bzw. diese angeglichen wurden (vgl. Kiesewetter 2007), ist die Regulierung der Energiewirtschaft und somit auch der Liberalisierungsgrad zwischen den EU-Mitgliedstaaten noch sehr unterschiedlich (vgl. Hense und Schäffiter 2004; London Economics 2007). Diese bis heute andauernde Heterogenität von Regulierungsregeln im Bereich der Elektrizitätswirtschaft resultiert einerseits aus den unterschiedlichen historischen Gegebenheiten, und andererseits auch aus der im Jahre 1997 erlassenen Strom-

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Justus Haucap und André Uhde

binnenmarktrichtlinie (1996/92/EG), welche den EU-Mitgliedstaaten zunächst nur eine schrittweise Einführung des Wettbewerbs auf den Energiemärkten vorgeschrieben hat. In diesem Zuge ist es den einzelnen Mitgliedstaaten selbst überlassen worden, ihre Märkte ggf. über das Maß der vorgegebenen Mindestanforderungen hinaus für den Wettbewerb zu öffnen. Auch in der konkreten Ausgestaltung des ordnungspolitischen Rahmens wurde den Mitgliedstaaten zunächst relativ weitgehende Freiheiten zugestanden. Deutschland stach bei der von der EU angestoßenen Liberalisierung im Vergleich zu den anderen Mitgliedstaaten bis 2005 durch zwei Besonderheiten hervor: Erstens wurde der Markt im Jahr 1998 sofort für alle Kundengruppen (private als auch industrielle Nachfrager) geöffnet, d.h. es erfolgte in einem Zuge eine 100-prozentige Marktöffnung. Und zweitens wurde im Gegensatz zu den meisten EU-Mitgliedstaaten der Netzzugang weder explizit normiert noch staatlich reguliert. Vielmehr hat sich der deutsche Gesetzgeber 1998 zunächst für die Wahl des verhandelten Netzzugangs entschieden,1 wobei verschiedene Interessenverbände aus der Elektrizitätswirtschaft die Anforderungen zur strukturellen Ausgestaltung der Netznutzungspreise sowie weitere Netzzugangsbedingungen in Form der „Verbändevereinbarungen" ( W ) selbst festschreiben durften. Die tatsächliche Einhaltung der vereinbarten Netzentgelte und die Vereinbarkeit der W mit dem Wettbewerbsrecht sollte dabei im Rahmen einer Ex-post-Missbrauchskontrolle durch die Kartellämter überprüft werden (vgl. z.B. Bier 2002). Von vielen Ökonomen wurde diese Ex-post-Kontrolle zu Recht als unzureichend kritisiert (vgl. z.B. Kumkar 2000; Monopolkommission 2000 / 2002). Die im Juni 2003 erlassene Beschleunigungsrichtlinie (EU-Richtlinie 2003/54/EG) stellte Deutschland dann vor einen Paradigmenwechsel hinsichtlich der Regulierung der heimischen, netzbasierten Energiewirtschaft, da die Richtlinie eine rein privatwirtschaftliche Regelung der Netzzugangskonditionen ausschloss und stattdessen - wie auch die Monopolkommission (2002) - die Einrichtung einer Regulierungsbehörde forderte, welche ex ante die Entgelte und weitere Konditionen für den Netzzugang festlegt.2 Obwohl die Beschleunigungsrichtlinie bereits zum 1. Juli 2004 für alle NichtHaushaltskunden in nationales Recht hätte transformiert werden müssen, dauerte es bis zum 1. Juli 2005, bis in Deutschland ein neues Energiewirtschaftsgesetz (EnWG 2005) verabschiedet wurde. Zentral war hier die Debatte um die konkrete Ausgestaltung des regulatorischen Ordnungsrahmens für die deutsche Elektrizitätswirtschaft. Neben den Schwierigkeiten bei der Bestimmung eines angemessenen Netznutzungsentgelts durch die Regulierungsbehörde (vgl. z.B. Schebstadt 2004) ging es innerhalb der Diskussion u.a. auch um die jeweiligen Vor- und Nachteile einer Ex-ante-Regulierung gegenüber einer Ex-post-Aufsicht für den deutschen Strommarkt und damit einhergehend auch um den ökonomischen Vergleich der Regulierung durch eine sektorspezifische Institution

1 Die Richtlinie sah mit der Wahl des verhandelten Netzzugangs (nTPA), des regulierten Netzzugangs (rTPA) sowie dem Alleinabnehmermodell (SB) grundsätzlich drei Optionen für die Öffnung des Netzzugangs vor. 2 Zusätzlich sah die Richtlinie ein buchhalterisches, organisatorisches und rechtliches (legal) Unbundling für vertikal integrierte Energieversorgungsunternehmen (EVU) mit mehr als 100.000 Kunden vor.

Regulierung und Wettbewerbsrecht in liberalisierten Netzindustrien

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gegenüber einer sektorübergreifenden Wettbewerbsbehörde (vgl. z.B. Haucap und Kruse 2004). Ähnliche Debatten hinsichtlich der relativen Vorteilhaftigkeit von Ex-anteRegulierung und Ex-post-Aufsicht sind auch im Luftverkehr zu erwarten. Schon seit geraumer Zeit fordert z.B. der Bundesverband der Deutschen Fluggesellschaften (BDF), der Bundesnetzagentur Kompetenzen für die Regulierung von Flughäfen zu übertragen (so z.B. BDF 2007). Im Gegensatz dazu erleben wir eine Diskussion „mit umgekehrten Vorzeichen" derzeit im Telekommunikationsbereich, in dem es darum geht, wie einzelne Märkte oder Teilbereiche am besten aus der sektorspezifischen Ex-ante-Regulierung entlassen und in das allgemeine Wettbewerbsrecht überführt werden können. Die Monopolkommission hat hier 2007 vom „Wendepunkt der Regulierung" gesprochen (Monopolkommission, 2007). Auch in diesem Fall geht es wiederum um die Vor- und Nachteile einer sektorspezifischen Ex-ante-Regulierung im Vergleich zu einer allgemeinen Ex-post-Aufsicht (vgl. Monopolkommission 2007 / 2008). Im Telekommunikationssektor spielt die Frage, ob Marktmacht durch das Wettbewerbsrecht oder durch Regulierung kontrolliert werden soll, auch deshalb eine wichtige Rolle, weil genau diese Frage Teil des sog. 3-Kriterien-Tests ist. Dem 3-Kriterien-Test zufolge liegt Regulierungsbedürftigkeit genau dann vor, wenn (1) hohe Marktzutrittsschranken bestehen (insb. bei monopolistischer Engpässen), (2) keine oder eine nur geringe Tendenz zu effektivem Wettbewerb festzustellen ist und (3) das Wettbewerbsrecht nicht ausreicht, um den Problemen von Marktmacht und daraus resultierendem Marktversagen Abhilfe zu schaffen. Dabei wird das dritte Kriterium, die Insuffizienz des Wettbewerbsrechts, jedoch in aller Regel nur kursorisch geprüft (vgl. Möschel 2007; Monopolkommission 2007 / 2008). Eine Standardbegründung der Bundesnetzagentur lautet: „Die alleinige Anwendung des allgemeinen Wettbewerbsrechts würde nämlich nur ein punktuelles Eingreifen in einzelnen Verfahren ermöglichen. Erforderlich sind wesentlich detailliertere Befugnisse zur Vornahme positiver Regelungen, z.B. fortlaufende Überwachimg und häufiges Einschreiten. Außerdem ermöglicht das TKG in der Regel ein schnelleres Einschreiten, weil Verfügungen der Bundesnetzagentur grundsätzlich sofort vollzogen werden können."3 Wie vor allem Möschel (2007) zu Recht darlegt, sind diese Unterschiede in der Anwendung von Regulierung und Wettbewerbsrecht jedoch immer und überall erfüllt (vgl. auch Holznagel und Vogelsang 2008). Die Bundesnetzagentur rekurriert im Kern auf Strukturunterschiede zwischen allgemeinem Wettbewerbsrecht und sektorspezifischer Regulierung, sodass das dritte Kriterium praktisch immer bejaht wird. Erforderlich wäre jedoch eine einzelmarktbezogene, komparativinstitutionenökonomische Analyse der Vor- und Nachteile von Regulierungsmaßnahmen und Wettbewerbsrecht (vgl. Monopolkommission 2008). Zu beachten ist allerdings, dass die Grenzen zwischen Wettbewerbspolitik auf der einen Seite und Regulierung auf der anderen Seite in den liberalisierten Netzwirtschaften zunehmend verschwimmen. Sowohl in der Wettbewerbspolitik als auch bei regulierenden Eingriffen geht es ja um die Kontrolle und die Beschränkung des potenziellen Missbrauchs von Marktmacht. Dabei hat sich durch die Reform der netzbasierten In-

3 BNetzA, Notifizierungsentwurf fiir den Zugang zum öffentlichen Telefonnetz an festen Standorten, 107. Vgl. auch Möschel (2007).

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Justus Haucap und André Uhde

dustrien allerdings der Fokus verschoben: Stand traditionell der potenzielle Ausbeutungsmissbrauch der Nachfrager durch überhöhte Strom- oder Telekommunikationspreise im Vordergrund, ist es nun vor allem die Befürchtung, dass ein Behinderungsmissbrauch gegenüber Wettbewerbern stattfinden könnte, welche bei der Ausgestaltung des ordnungspolitischen Rahmens im Mittelpunkt stehen. Eine Ausbeutung der Verbraucher soll durch Wettbewerb verhindert werden; damit der Wettbewerb sich jedoch entfalten kann, gilt es den Behinderungsmissbrauch zu unterbinden, welcher ansonsten den Wettbewerb im Keim ersticken könnte (vgl. Dewenter und Haucap 2004). Das Problem eines potenziellen Behinderungsmissbrauchs lässt sich zumindest in der Theorie auf vielerlei Weise angehen. So kann prinzipiell eine Kontrolle ex post oder ex ante erfolgen, durch eine sektorspezifische oder eine sektorübergreifende Institution, durch eine stark regelgebundene Marktaufsicht für alle Netzbetreiber oder durch stärker diskretionäre Markteingriffe durch die zuständige Aufsichtsbehörde in Einzelfällen, etc. (vgl. dazu Haucap und Kruse 2004). Für die konkrete Ausgestaltung der Marktaufsicht gibt es somit viele Möglichkeiten, wobei jedoch oft wenigstens implizit davon ausgegangen wird, dass entweder (a) eine Ex-post-Aufsicht durch Einzelfallüberprüfungen auf der Grundlage des allgemeinen Wettbewerbsrechtes durch eine sektorübergreifende Institution stattfindet oder (b) eine Ex-ante-Regulierung aller Netzbetreiber auf Basis sektorspezifischer Regelungen durch eine sektorspezifische Behörde erfolgt. Diese Zweiteilung ist zwar gängig, aber keinesfalls zwingend wie die internationale Praxis und Erfahrung zeigt. So könnte z.B. auch das Wettbewerbsrecht von einer sektorspezifischen Behörde angewendet werden wie dies z.B. in der britischen Telekommunikationsbranche schon lange der Fall ist (vgl. Oftel 2000). Alternativ können auch sektorspezifische Gesetze von einer sektorübergreifenden Behörde angewendet werden, wie dies die Australian Competition and Consumer Commission (ACCC) tut oder auch das Bundeskartellamt und die Landeskartellbehörden mit dem neu geschaffenen § 29 GWB oder den sektorspezifischen Regeln zur Fusionskontrolle im Mediensektor. Wir werden im Folgenden jedoch bei der Erörterung der Frage, welcher ordnungspolitische Rahmen für liberalisierte Netzindustrien aus einer institutionenökonomischen Sicht adäquat ist, weitgehend davon ausgehen, dass (a) eine Ex-post-Kontrolle auf wettbewerbsrechtlicher Basis einzelfallbezogen stattfindet und somit stärkere diskretionäre Spielräume aufweist und dass (b) eine Ex-ante-Regulierung stärker anhand sektorspezifischer Regeln für alle Netzbetreiber einer Industrie erfolgt. Nichtsdestotrotz bestehen natürlich auch bei einer Ex-ante-Regulierung gewisse diskretionäre Spielräume für den Regulierer wie auch das VG Köln festgestellt hat (vgl. Schebstadt 2004).4 Um zu erörtern, wie ein ordnungspolitisch angemessener institutioneller Rahmen für liberalisierte Netzindustrien aussehen sollte, werden wir zunächst die ökonomischen Grundlagen der Regulierung netzgebundener Industrien darstellen (Abschnitt 2). Anschließend werden wir die beiden meist diskutierten Alternativen zur Kontrolle von Marktmacht (ex ante und ex post sowie sektorspezifisch und sektorübergreifend) in einer vergleichenden ökonomischen Analyse einander gegenüberstellen (Abschnitt 3), um sodann die Ergebnisse auf die Frage nach der angemessenen institutionellen Ausgestaltung des Regulierungsrahmens für die netzgebundene Wirtschaftszweige aus einer

4

Vgl. VG Köln, MultiMedia und Recht, 2003, 686, 688; 814.

Regulierung und Wettbewerbsrecht in liberalisierten Netzindustrien

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ökonomischen Perspektive zu übertragen (Abschnitt 4). Unser Fazit beendet diesen Beitrag (Abschnitt 5).

II. Ökonomische Grundlagen der Liberalisierung netzgebundener Industrien 1. Regulierungsbegriff Während der Begriff der „Regulierung" innerhalb der ökonomischen Literatur schon länger und mithin eine recht selbstverständliche Verwendung findet, wurde der Terminus in der deutschen Gesetzgebung erstmals 1994 durch das Gesetz über die Regulierung der Telekommunikation und des Postwesens (PTRegG) aufgegriffen (vgl. Schebstadt 2004). Aus einer ökonomischen Perspektive lässt sich „Regulierung" in einer weiten und einer engen Begriffsfassung definieren. In einer weiten Begriffsfassung wird von Regulierung immer dann gesprochen, wenn ein Staat entweder direkt oder auch indirekt in das Marktgeschehen eingreift und sich nicht nur auf die Bereitstellung eines adäquaten Ordnungsrahmens wirtschaftlichen Handelns beschränkt (vgl. von Weizsäcker 1982;Müllerund Vogelsang 1979). Eine Abgrenzung zwischen der Bereitstellung eines wirtschaftlichen Ordnungsrahmens und einem indirekten Eingriff in das Marktgeschehen ist jedoch nicht trennscharf, denn die Etablierung eines Ordnungsrahmens kann auch als ein indirekter Eingriff des Staates interpretiert werden. Das Bereitstellen eines geeigneten Ordnungsrahmens (der u.a. Eigentumsrechte garantiert und den Wettbewerb schützt) sorgt jedoch erst dafür, dass Märkte ihre erwünschte Wirkung erst entfalten können (vgl. schon Eucken 1952). In engerer Abgrenzung würde die Bereitstellung und Garantie einer marktwirtschaftlichen Ordnung jedoch nicht unter den Begriff der Regulierung subsumiert. Im Hinblick auf die folgende Diskussion einer Ex-ante-Regulierung gegenüber einer Ex-postAufsicht für liberalisierte Netzindustrien soll daher auf eine engere Definition von Regulierung zurückgegriffen werden. Nach dieser engeren Definition liegt Regulierung nur bei einer gezielten sektor- oder sogar unternehmensspezifischen Steuerung von Preisen, Produktions- und Absatzmengen, Investitionen und Kapazitäten, Qualitäten und Konditionen sowie Marktzutritt durch eine spezifische Regulierungsbehörde vor (vgl. Stigler 1971 und Peltzman 1976). Nicht zur Regulierung zählen somit alle indirekten staatlichen Maßnahmen, die für alle Wirtschaftssubjekte gleichermaßen geltende Rahmenbedingungen bedeuten. Demnach wird auch die Bereitstellung eines wirtschaftlichen Ordnungsrahmens, wie die allgemeine Missbrauchsaufsicht des § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB, innerhalb der engen ökonomischen Begriffsfassung nicht als eine Regulierungsmaßnahme angesehen.

2. Motiv und Objekt der Regulierung netzgebundener Industrien Eine grundsätzliche Eigenheit regulativer Eingriffe in netzgebundene Märkte ergibt sich aus der Erkenntnis, dass der Begriff der Liberalisierung dieser Märkte nicht ohne Weiteres mit einer Deregulierung gleich gesetzt werden darf (vgl. Vogelsang 2003; De-

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wenter und Haucap 2004). Während mit Liberalisierung die Öffnung des Marktes für neue Anbieter gemeint ist, wird nämlich unter Deregulierung der Abbau staatlicher Vorschriften über das Verhalten der Marktteilnehmer verstanden (vgl. Vogelsang 2003). Zwar kann durch eine erfolgreiche Liberalisierung eine Deregulierung im Bereich der Endkundenpreise erfolgen, da die Gefahr des Ausbeutungsmissbrauchs bei einer konsequenten Liberalisierung abnimmt. Zugleich steigt aber die Gefahr des Behinderungsmissbrauchs durch die ehemaligen, oftmals vertikal integrierten Gebietsmonopolisten. Damit also eine Liberalisierung erfolgreich ist und neue Anbieter auf einem liberalisierten Markt auch Fuß fassen können, ist es notwendig, bestimmte Teile netzbasierter Industrien - nämlich die Zugänge zu sog. wesentlichen Einrichtungen - zu regulieren. Somit erfordert eine erfolgreiche Marktliberalisierung netzgebundener Industrien in der Regel auch eine umfassende Re-Regulierung bestimmter Netzbereiche, wobei sich der Fokus, wie bereits eingangs erwähnt, weg vom Ausbeutungsmissbrauch hin zum Behinderungsmissbrauch verschiebt. Die Grundvorstellung einer liberalen marktwirtschaftlichen Ordnung besteht allerdings darin, dass der Markt und die in ihm stattfindenden Wettbewerbsprozesse grundsätzlich besser dazu in der Lage sind, wirtschaftliche Probleme zu lösen, als politisch induzierte regulative Steuerungsmechanismen. Folglich ist eine Abkehr von dieser Grundvorstellung ökonomisch und auch ordnungspolitisch zu begründen, wenn die Frage nach der Notwendigkeit der gesonderten Behandlung einzelner Teilbereiche netzgebundener Industrien beantwortet werden soll (vgl. Knieps 2003; Kreis 2003). Als eine solche Begründung genügt der normativen neoklassischen Theorie der Regulierung die Existenz von Marktversagen aufgrund spezifischer Besonderheiten eines Wirtschaftssektors (vgl. von Weizsäcker 1982). Die Begründung für eine ReRegulierung netzgebundener Industrien ergibt sich genauer gesagt aus der Tatsache, dass zwar einige Teile der Wertschöpfungskette nach der Liberalisierung des netzgebundenen Marktes effizient in wettbewerblichen Strukturen organisiert werden können, in anderen Teilbereichen eine Marktöffnung aufgrund objektiver ökonomischer Faktoren jedoch (noch) nicht möglich ist. Der ökonomische Tatbestand, dass spezifische Teilbereiche netzbasierter Industrien nicht pauschal liberalisiert werden können, erschließt sich wiederum aus der Theorie natürlicher Monopole (vgl. Train 1991) in Verbindung mit marktspezifischer Irreversibilität (vgl. Kruse 2001). Natürliche Monopole liegen genau dann vor, wenn die Kostenfunktion des monopolistischen Unternehmens im relevanten Bereich strikte Subadditivität aufweist, sodass ein einzelnes Unternehmen einen bestimmten Leistungsumfang kostengünstiger bereitstellen kann als zwei oder mehr Unternehmen (vgl. z.B. Panzar 1989). Als ein klassisches Argument für Subadditivität gelten sinkende Durchschnittskosten aufgrund von steigenden Skalenerträgen.5 Jedoch können auch Verbund- oder Dichtevorteile zur Subadditivität der langfristigen Kostenfunktion führen. Gerade in Netzindustrien beruht das natürliche Monopol auf diesen Dichtevorteilen hinsichtlich der Versorgungs-, Verkehrsoder Kommunikations-Infrastrukturen, vor allem im lokalen Bereich (vgl. Kruse 2001).

5

Sinkende Durchschnittskosten gelten als eine hinreichende aber nicht notwendige Voraussetzungen für ein natürliches Monopol.

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Die marktspezifische Irreversibilität hingegen bezeichnet den Umfang versunkener Investitionen, welche für die Errichtung solcher Netzinfrastrukturen erforderlich sind. Da Netzinfrastrukturen häufig eine lange Lebensdauer aufweisen und einen wesentlichen Teil der Kosten ausmachen, stellen sie nicht nur eine beträchtliche Austrittsbarriere für den etablierten Anbieter dar, sondern sie bedeuten vor allem ein nicht unwesentliches Investitionsrisiko für potenzielle Wettbewerber, sodass der Markteintritt für neue Anbieter in den meisten Fällen nicht profitabel ist. Erst die Kombination von Subadditivität und Irreversibilität erzeugt bei etablierten Anbietern Monopolresistenz. Und nur wenn es potenziellen Wettbewerbern auf voroder nachgelagerten Wertschöpfungsstufen nicht möglich ist, ohne Zugang zu diesen resistenten Monopolbereichen in einen nachgelagerten Markt einzutreten, wird auch von monopolistischen Engpassbereichen oder Bottlenecks (Knieps 2003) bzw. von wesentlichen Einrichtungen (essential facilities) gesprochen (vgl. Areeda 1990; Lipsky und Sidak 1999; Rottenbiller 2002). Für die Eigentümer solcher wesentlichen Einrichtungen kann es eine rationale Strategie darstellen, die Einführung von Wettbewerb auf den nachgelagerten Märkten zu unterbinden oder zumindest zeitlich zu verzögern, indem sie potenziellen Wettbewerbern den Zugang zu diesen Einrichtungen per se verweigern bzw. die Zugangsentgelte derart hoch anzusetzen, dass ein Markteintritt sich als nicht profitabel erweist (vgl. Haucap und Heimeshoff 2005). Die mangelnde Bestreitbarkeit eines Marktes stellt allerdings nur eine notwendige und noch keine hinreichende ökonomische Bedingung für einen regulativen Staatseingriff dar. Hinreichend begründbar wird eine bestimmte Form der Regulierung eines resistenten Monopols erst dann, wenn dieser regulative Staatseingriff zu den größtmöglichen gesamtwirtschaftlichen Effizienz- bzw. Wohlfahrtsgewinnen führt, verglichen mit allen anderen, realistischerweise umsetzbaren Alternativen wie z.B. einer Ex-postAufsicht (vgl. Williamson 1996; Dixit 1996).6 Daher fordert der o.g. 3-Kriterien-Test für die Telekommunikation nicht nur (1) die Existenz hoher Marktzutrittsschranken und (2) das Fehlen einer Tendenz zu wirksamem Wettbewerb, sondern auch (3) die sog. Insuffizienz des Wettbewerbsrechts, bevor die Regulierung eines Marktes gerechtfertigt ist. Dass ein unreguliertes resistentes Monopol in aller Regel zu Ineffizienzen führt, ist aus ökonomischer Sicht nämlich relativ klar: So wird ein gewinnorientiert arbeitendes Monopolunternehmen sein Angebot künstlich verknappen, um einen gewinnmaximalen Preis zu erzielen. Die Folge dieses Verhaltens ist eine allokative Ineffizienz. Aus einer polit-ökonomischen Sicht können zudem die Verteilungswirkungen des Monopols zu einer wichtigen Eingriffsbedingung zählen, da im Vergleich zur Wettbewerbssituation ein Teil der Konsumentenrente zu Produzentenrente wird, d.h. es findet ein Transfer von Verbrauchern zum Monopolisten statt. Diese Verteilungswirkung ist zwar für die Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen ökonomischen Effizienz zunächst irrelevant, sie

6

Williamson (1996) und Dixit (1996) stellen dabei beide auf einen Gesamtwohlfahrtstandard ab, während in der europäischen Wettbewerbspolitik zunehmend auf einen Konsumentenstandard abgestellt wird (mit Ausnahme der Beihilfenkontrolle allerdings, vgl. dazu Monopolkommission 2008). Bei einer normativen Vorgabe der Konsumentenwohlfahrt als Maßstab wäre nichtsdestotrotz ein Vergleich aller real umsetzbaren Alternativen erforderlich und kein Vergleich hypothetisch denkbarer, aber nicht implementierbarer Lösungen.

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kann jedoch zu weiteren Ineffizienzen führen, wenn sie Verteilungskämpfe in Form von Rent Seeking und andere unproduktive Tätigkeiten induziert (vgl. Tullock 1967). Um solche Ineffizienzen zu vermeiden, und auch aus verteilungspolitischen Motiven, hatten die meisten Staaten in den Versorgungsbereichen entweder die Endverbraucherpreise unter regulatorische Aufsicht gestellt (wie z.B. für den Elektrizitätssektor in Deutschland), oder aber die Leistungen wurden direkt staatlich erbracht (wie im Bereich der Telekommunikation), wobei das Angebot und auch die Preise dann ebenfalls überwiegend politisch determiniert wurden. Ziel dieser Regulierung war es, die Bereitstellung von netzgebundenen Leistungen flächendeckend und zu sozial erwünschten Preisen zu gewährleisten, um mithin eine Einschränkung der Konsumentensouveränität durch einen potenziellen Ausbeutungsmissbrauch zu verhindern (vgl. Knieps 2003, S. 2). Heute erfolgt eine Liberalisierung der ehemaligen monopolistischen Versorgungsunternehmen in Europa vor allem vor dem Hintergrund von zwei Erkenntnissen: Erstens hat man festgestellt, dass Monopole nicht nur zu allokativer Ineffizienz, sondern aufgrund des fehlenden Wettbewerbsdrucks ebenso zu X-Ineffizienzen (vgl. Leibenstein 1966) bzw. produktiver Ineffizienz führen. Das Monopolunternehmen produziert dann zu ineffizient hohen Kosten.7 Zweitens erscheint es nur wenig sinnvoll, die gesamte netzgebundene Industrie monolithisch als natürliches Monopol zu beschreiben. Eine disaggregierte Betrachtung der Wertschöpfungskette in einzelnen Märkten zeigt regelmäßig, dass die Sektoren oftmals in natürliche Monopolbereiche und potenziell kompetitive Bereiche unterteilt werden können (vgl. Knieps 1999). Letztere sind nicht zuletzt aus ordnungsökonomischen Gründen zu liberalisieren, sodass heute nicht mehr nur der Schutz der Nachfrager als ein vornehmliches Ziel der Regulierung netzgebundener Industrien angesehen wird, sondern vielmehr die Eindämmung eines potenziellen Behinderungsmissbrauches durch den Monopolisten hinsichtlich des Zugangs zu den wesentlichen Einrichtungen.

III. Ökonomischer Vergleich einer eher regelgebundenen Ex-anteRegulierung und einer eher diskretionären Ex-post-Aufsicht für netzgebundene Industrien Die Liberalisierung des Zugangs zu den monopolistischen Engpassbereichen erfolgt in netzbasierten Industrien vor allem über die Kontrolle der Netzzugangsbedingungen und -entgelte. Diese können prinzipiell entweder durch eine Regulierungsbehörde ex ante festgestellt und genehmigt oder im Rahmen einer allgemeinen Missbrauchsaufsicht durch eine Wettbewerbsbehörde ex post kontrolliert werden, sodass sich die Ausgestaltung des institutionellen Ordnungsrahmens einer angemessenen Regulierung netzbasierter Industrien oftmals in einem Spannungsfeld von eher regelgebundener Regulierung

7

X-Ineffizienzen sind möglich, da ein Monopolist anders als Unternehmen im Wettbewerb aufgrund fehlender Substitutionsmöglichkeiten für die Nachfrager auch bei ineffizienter Produktion am Markt bestehen bleiben kann.

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und eher diskretionärer Missbrauchskontrolle befindet.8 Darüber hinaus ist, wie bereits erwähnt, auch eine Vielzahl weiterer Spielarten denkbar. So können für die Marktaufsicht entweder (1) sektorspezifische oder (2) sektorübergreifende Regeln gelten, die entweder von (i) sektorspezifischen oder (ii) sektorübergreifenden Behörden entweder (a) ex ante oder (b) ex post angewendet werden. Zudem kann eine unterschiedliche institutionelle Ausgestaltung fur verschiedene Aspekte in ein und derselben Industrie gelten. So wird z.B. die Fusionskontrolle in der Regel ex ante durch sektorübergreifende Behörden anhand von sektorübergreifenden Regeln (oder auch sektorspezifischen Regeln wie bei der Pressefusionskontrolle) vollzogen. Demgegenüber sind Fragen des Zugangs zu wesentlichen Einrichtungen bisher in Deutschland zum Teil anhand von sektorübergreifenden Regeln wie § 19 Abs. 4 GWB durch eine sektorübergreifende Institution geregelt worden (z.B. bei Hafenanlagen), während die Regulierung von Netzzugängen z.B. in der Telekommunikation anhand von sektorspezifischen Regeln durch (nahezu) sektorspezifische Behörden9 durchgeführt worden ist. In anderen Staaten lassen sich weitere Unterschiede konstatieren. So wird z.B. in Australien der Zugang zu wesentlichen Einrichtungen für alle Branchen durch das allgemeine Wettbewerbsrecht, den Trade Practices Act (TPA), und zudem durch eine sektorübergreifende Behörde, die Australian Competition and Consumer Commission (ACCC) geregelt, wobei einzelne Richtlinien sektorspezifische Detaillierungen vornehmen. In Deutschland hat sich die politische Debatte jedoch typischerweise auf die beiden Fälle einer (a) Ex-ante-Aufsicht durch eine einige Sektoren überspannende Regulierungsbehörde (sprich die Bundesnetzagentur) anhand sektorspezifischer Gesetze versus (b) einer Ex-post-Kontrolle durch das Bundeskartellamt, oftmals ebenfalls anhand sektorspezifischer Gesetze, konzentriert. Im Folgenden werden wir daher im Wesentlichen die Vor- und Nachteile einer Ex-Ante-Regulierung durch die Bundesnetzagentur und einer Ex-post-Kontrolle durch das Bundeskartellamt erörtern. Um die Vor- und Nachteile einer solchen Ex-ante-Regulierung und einer solchen Ex-post-Kontrolle beim Zugang zu wesentlichen Einrichtungen in einer allgemeinen Form beurteilen zu können, ist nicht nur eine normative ökonomische Analyse notwendig, sondern ebenso eine komparativ-institutionenökonomische Betrachtung. Diese geht allerdings grundsätzlich davon aus, dass in der Praxis keiner der beiden Ansätze fehlerfrei funktionieren wird.

1. Zum Verhältnis von Regulierung und Wettbewerbspolitik in netzgebundenen Industrien Gemäß der weit verbreiteten, traditionellen ökonomischen Ansicht stellen Wettbewerbspolitik und Regulierung komplementäre, sich nicht behindernde Instrumente des Staates dar (vgl. auch Kirchner 2004). Wettbewerbspolitik ist zunächst im Wesentlichen ein Teilgebiet der Wirtschaftsordnungspolitik, denn sie schafft die Rahmenbedingungen Im Kern geht es hier um die Übertragung der aus der Geldtheorie und -politik schon länger bekannten Debatte über „Rules versus Discretion" (vgl. Kydland und Prescott 1977; Barro 1986) auf die Regulierung wesentlicher Einrichtungen in netzgebunden Industrien. 9 Hier sei angemerkt, dass die RegTP auch bis 2005 schon für zwei Sektoren, nämlich Telekommunikation und Post, zuständig und somit sektorübergreifend tätig war. Seit 2005 ist sie zudem für Eisenbahn und die leitungsgebundene Gas- und Elektrizitätswirtschaft zuständig. 8

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für wettbewerbliche Marktprozesse.10 Wettbewerbspolitik kann weiter beschrieben werden als jede staatliche Handlungsmaßnahme, die darauf abzielt, den unbeschränkten Wettbewerb auf Märkten zu sichern, zu fördern oder wiederherzustellen. Indem Wettbewerbspolitik davor schützt, dass der Wettbewerb durch Behinderungsmissbrauch der Marktteilnehmer eingeschränkt oder sogar aufgehoben wird, kann sie auch als eine Wettbewerbsvoraussetzung bezeichnet werden.11 Der soeben skizzierten Definition von Wettbewerbspolitik liegt die Annahme zugrunde, dass ein effizienter Wettbewerb nicht nur zu individueller Freiheit, sondern vor allem auch zu positiven Wohlfahrtseffekten führt. Demnach erscheint es plausibel, jedwede Behinderungsmaßnahmen der Marktteilnehmer zu unterbinden, welche die Wohlfahrt einschränken. Allerdings kann eine solche Begründung für Wettbewerbspolitik nur teilweise gelten, denn öffentliche Güter, externe Effekte und insbesondere natürliche Monopole führen auch ohne beschränkende Maßnahmen der Marktteilnehmer zu Effizienzverlusten auf Märkten. Wettbewerbspolitik allein ist dann aufgrund technischer oder marktspezifischer Gegebenheiten nicht mehr ausreichend und sollte durch eine direkte Regulierung, also positiven Eingriffen des Staates in die Marktstruktur und den Wettbewerb, komplementiert oder sogar ersetzt werden. In einer solchen Vorstellung stehen Wettbewerbspolitik und Regulierung grundsätzlich nicht in einer konfligierenden Beziehung zueinander, sondern sie sind vielmehr auf die verschiedenen Marktszenarien abzustimmen und ergänzen sich somit gegenseitig (vgl. auch Kirchner 2004). Hinsichtlich der Ausgestaltung eines angemessenen regulativen Ordnungsrahmens für netzgebundene Industriemärkte kann diese „Komplementaritäts-Hypothese" allerdings nicht ohne Weiteres aufrecht erhalten werden, denn Wettbewerbspolitik und Regulierung können hier ebenso in einem konfligierenden Verhältnis zueinander stehen. Zwar zeigt eine Disaggregation z.B. der deutschen Elektrizitätswirtschaft, dass sich die Wertschöpfungskette sowohl in resistente Monopolbereiche (Übertragungs- und Verteilnetz) als auch in potenziell wettbewerbsfähige Bereiche (Erzeugung, Versorgung) zerlegen lässt, sodass auf den ersten Blick sowohl eine Ex-ante-Regulierung als auch eine Ex-post-Aufsicht als angemessene Instrumente für die jeweiligen Bereiche gelten und damit komplementär zueinander eingesetzt werden können. Allerdings lassen sich, wie bereits argumentiert wurde, bestimmte Sachverhalte wie z.B. der Zugang zu wesentlichen Einrichtungen prinzipiell sowohl ex post durch wettbewerbsrechtliche Maßnahmen als auch alternativ dazu ex ante durch regulative Eingriffe regeln. Der bereits angesprochene 3-Kriterien-Test in der Telekommunikation macht das substitutive Verhältnis von Regulierung und Wettbewerbsrecht besonders klar: Nur wo das Wettbewerbsrecht als insuffizient eingeschätzt wird, soll Regulierung greifen, sodass die Beziehung zwischen Wettbewerbsrecht und Regulierung in der Tat als komplementär erscheint. Um diese Insuffizienz des Wettbewerbsrechts zu ermitteln, müssen aber Wett-

10 In Ausnahmefällen kann sie auch prozesspolitischen Charakter besitzen, wenn sie den Wettbewerb quasi ersetzt und Marktergebnisse positive vorschreibt, bspw. durch eine Ex-Post-Untersagung unangemessener Netznutzungsentgelte. 11 In diesem Zusammenhang hat die Wettbewerbspolitik zwei Aufgaben zu erfüllen. Zum einen muss der Wettbewerb als marktwirtschaftliches Anreiz-, Lenkungs- und Kontrollverfahren gesichert werden (Institutionenschutz, Kantzenbach). Zum anderen soll auch die individuelle Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer geschützt werden (Individualschutz, Hoppmann).

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bewerbsrecht und Regulierung miteinander verglichen und gegeneinander abgewogen werden, d.h. es kommt entweder zur Anwendung des Wettbewerbsrechts oder aber zur Verfugung von Regulierungsmaßnahmen, nicht aber beides zugleich. In diesem Fall stellen eine wettbewerbspolitische Ex-post-Aufsicht und eine sektor- oder sogar firmenspezifische Ex-ante-Regulierung echte Alternativen dar, sodass ihr Verhältnis als substitutiv beschrieben werden muss.

2. Vergleichende ökonomische Analyse der institutionellen Alternativen zur Kontrolle netzspezifischer Marktmacht Wie bereits zu Anfang erwähnt wurde, lässt sich eine Vielzahl von institutionell unterschiedlich ausgestalteten Regulierungsalternativen erdenken. Im nun Folgenden werden wir dieses Spektrum einschränken, indem wir mit Hilfe einer vergleichenden ökonomischen Analyse die zentralen Merkmale einer stärker regelgebundenen Ex-anteRegulierung durch eine auf wenige Sektoren spezialisierte Regulierungsbehörde und einer eher diskretionären Ex-post-Kontrolle durch eine sektorübergreifende Wettbewerbsbehörde einander gegenüber stellen. Der Vergleich erfolgt anhand der Kriterien der sachlichen und zeitlichen Konsistenz, der fachlichen und formalen Kompetenz sowie der Kosten der jeweiligen Regulierungsalternative. Sachliche Konsistenz der Missbrauchskontrolle Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Missbrauchskontrolle sollte die Zielsetzung der zuständigen Regulierungs- bzw. Wettbewerbsbehörde zunächst möglichst einfach und klar definiert sowie transparent gestaltet werden, um den Grad der Unsicherheit fur die Marktteilnehmer so gering wie möglich zu halten. Im Rahmen einer Ex-post-Kontrolle obliegt die Aufsicht über das Wettbewerbsgeschehen zunächst den Wettbewerbsbehörden und gegebenenfalls den Gerichten. Diese entscheiden einzelfallbezogen darüber, ob bestimmte Verhaltensweisen der Marktteilnehmer als wettbewerbskonform gelten oder nicht, sodass ein diskretionärer Spielraum bleibt. Zudem erteilen Wettbewerbsbehörden den Eigentümern von Netzen im Rahmen der Ex-post-Kontrolle in der Regel keine präzisen Anweisungen, auf die sich potenzielle Wettbewerber verlassen könnten, sondern untersagen oftmals lediglich gewisse wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen im Sinne des Verbotsprinzips. Gegenüber der nachträglichen Missbrauchsaufsicht kann eine Ex-ante-Regulierung mehr Klarheit und Kalkulationssicherheit für potenzielle Wettbewerber bedeuten, sofern die zuständige Behörde hinsichtlich ihrer Entscheidungen konsistent einer regelgebundenen Handlungsmaxime folgt. Ist diese Bedingung erfüllt, weist eine stärker regelgebundene Ex-ante-Regulierung gegenüber der diskretionären Ex-post-Kontrolle einen wesentlichen Vorteil auf, denn wettbewerbswidrige Praktiken können bereits a priori durch die zuständige Behörde verhindert werden. Eine Ex-ante-Regulierung wäre daher besonders angezeigt, wenn ein Missbrauch von Marktmacht oft und wiederholt zu erwarten ist und durch den Missbrauch große und irreversible Schäden angerichtet werden können.

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Eine Aggregation und Vermengung verschiedener Zielsetzungen unter dem Dach einer Behörde kann leicht zu widersprüchlichen Markteingriffen führen und mitunter sogar wettbewerbshemmend wirken. Als Konsequenz dieser Zielheterogenität sinkt die Transparenz und steigt die Unsicherheit für die Marktteilnehmer. Komplexe Zielstrukturen in einer Institution zu bündeln, sollte daher möglichst vermieden und verschiedene wirtschaftspolitische Eingriffsziele gegenüber einer Branche sollten konsequenterweise auch verschiedenen Institutionen übertragen werden. Dies lässt sich für die soeben genannten Zielkategorien unmittelbar praktizieren, findet seine Grenze jedoch bei einer Aufspaltung in Einzelziele, da sonst die Zahl der Behörden unvertretbar anwachsen würde. Im Falle solcher unvermeidbarer „Mehrziel-Behörden" ist dann der Gesetzgeber gefordert, die Zielfunktion möglichst präzise zu definieren (vgl. auch Eickhof und Holzer 2006). In diesem Zusammenhang gilt es zu beachten, dass sektorspezifische Regulierungsbehörden im Gegensatz zu sektorübergreifenden Institutionen oftmals eine Reihe konkurrierender Ziele aus verschiedenen Politikfeldern verfolgen (Zielpluralismus), welche die Eindeutigkeit von Regulierungsregeln verwässern können. Während durch die Zugangsregulierung primär Wettbewerbs- und Effizienzziele angesprochen werden, sind im Energiesektor (wie auch in anderen Netzindustrien) neben industriepolitischen, regionalpolitischen und verteilungspolitischen Zielen und Interessen zusätzlich auch Umweltziele politisch relevant (vgl. OECD 1999; Monopolkommission 2007). Diese Teilziele dürften mit dem Wettbewerbs- und Effizienzziel nicht stets in einem komplementären Verhältnis stehen. Zeitliche Konsistenz der Regulierung In vielen Netzsektoren müssen Unternehmen mehr oder minder langlebige, irreversible Investitionen tätigen. Dies gilt insbesondere für die Bereiche der NetzInfrastrukturen aber auch für Kapazitätserweiterungen, Funktionalitätssteigerungen, Innovationen etc. und betrifft sowohl die etablierten Anbieter als auch potenzielle Wettbewerber. Die Investitions- und Markteintritts-Entscheidungen werden erheblich davon beeinflusst, ob der Regulierungsrahmen als zeitlich konsistent betrachtet wird. Je unvorhersehbarer die Entscheidungen der regulierenden Instanz sind, desto geringer fallt tendenziell die Investitionsneigung der beteiligten Unternehmen aufgrund der vorherrschenden Erwartungsunsicherheit hinsichtlich zukünftiger Umweltszenarien aus und desto geringer wird die Bereitschaft der potenziellen Wettbewerber sein, sunk costs aufzubringen, um in den Markt einzutreten (vgl. auch Haucap, Heimeshoff und Uhde 2005). Die Forderung nach einer zeitlichen Konsistenz der Regulierung bedeutet jedoch nicht, dass jede Regulierungsentscheidung langfristig konstant bleiben muss. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Regulierungsbehörde ihre Prinzipien, nach denen sie jetzt handelt und in Zukunft handeln wird, für die einzelnen Engpassbereiche möglichst klar und substanziell (d.h. in wirtschaftlich relevanten Kategorien) definiert und im Zeitablauf auch an die geänderten Bedingungen des regulierten Bereichs anpasst. Dies kann einschließen, dass sie eine Politikänderung für den Fall avisiert, dass sich die Verhältnisse auf den Märkten in bestimmter Weise ändern. Diese Konditionen sollten den Marktteilnehmern ebenso bekannt sein wie die Prinzipien der neuen Politik und die

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(nicht zu kurzen, investitionsorientierten) Zeiträume, die dabei in Rede stehen. Wichtig ist also die Stabilität der regulatorischen Rahmenbedingungen bzw. die Vorhersehbarkeit von Änderungen. Im Gegensatz zur Ex-ante-Regulierung tritt im Rahmen der Ex-post-Aufsicht typischerweise zusätzlich das Problem der zeitlichen Verzögerung hinsichtlich der Wirkung einer Regulierungsmaßnahme auf, welches sowohl durch die Komplexität des zu bewertenden Sachverhalts als auch durch behördliche Entscheidungen, Rechtsmittel und Gerichtsverfahren (evtl. durch mehrere Instanzen) hervorgerufen wird.12 Ein solcher time lag kann von den Marktteilnehmern antizipiert und mithin strategisch genutzt werden. Grundsätzlich sind zeitliche Verzögerungen in netzbasierten Industrien, in denen sich der Wettbewerb durch Markteintritte erst entwickeln muss, besonders problematisch, da sie die Unsicherheit erhöhen und mithin die Anreize für potenzielle Wettbewerber, in den Markt einzutreten, deutlich senken, sodass Effizienzgewinne länger ausbleiben. Obwohl auch Ex-ante-Regulierungsentscheidungen gerichtlich angefochten werden können und damit ebenfalls das Problem der zeitlichen Verzögerungen besteht, ist dennoch ein wesentlicher Vorteil dieser Alternative gerade darin zu sehen, dass sie in der Regel schneller wirksam wird als eine nachträgliche Aufsicht durch die Kartellbehörden (vgl. Laffont und Tiróle 2000, S. 276 f.). Formale Kompetenz der Regulierungsbehörde Wie bereits angedeutet wurde, sollte eine angemessene Regulierung den Prinzipien der sachlichen und zeitlichen Konsistenz genügen. Allerdings sind die politischen Akteure selbst häufig recht kurzfristig orientiert, auf zahlreichen Politikfeldern im Zeitablauf unterschiedlich intensiv tätig und von tagespolitischen Konstellationen, Stimmungen und Interessen abhängig. Ein Hineinregieren der Politik in konkrete Regulierungsentscheidungen ist deshalb fast immer kontraproduktiv und ineffizient. Diesem Problem kann dadurch begegnet werden, dass die Regulierungsbehörde ein hohes Maß an Unabhängigkeit erhält. Die Gesetze, die ihre Existenz und Funktionsweise rechtlich und materiell definieren, müssen ihnen ein solches Maß an formalen Kompetenzen (rechtlichen Handlungsmöglichkeiten) geben, dass kurzfristig motivierte politische Interventionen weder direkt (per Anordnung) noch indirekt (durch Drohung der Abberufung, Karrierenachteile, Entmachtung, Budgetkürzung) möglich sind.13 Die Regulierungsbehörde sollte jedoch nicht nur von der Tagespolitik unabhängig sein. Sie darf sich auch nicht zu einer Interessenvertretung der regulierten Branche entwickeln. Diese Befürchtung zielt auf die Problematik einer regulatory capture durch rent seeking und rent defending ab (Stigler 1971; Peltzman 1976; Becker 1983). Gemeint ist die Gefahr einer übermäßigen Beeinflussung der Aufsichtsbehörde durch Interessengruppen wie regulierte Unternehmen (typischerweise die Eigentümer der wesent-

12 Die Unterschiede in den Reaktionszeiten lassen sich allerdings reduzieren, wenn der Sofortvollzug von kartellrechtlichen Verfügungen über den Zugang zu wesentlichen Einrichtungen zum gesetzlichen Regelfall wird. 13 Die besondere Schwierigkeit ist in der Tatsache zu sehen, dass solche Gesetze, welche die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde von politischen Entscheidungen sichern, von den Politikern erst beschlossen werden müssen.

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liehen Einrichtungen) sowie durch die von der Zugangsregulierung profitierenden Unternehmen (typischerweise die aktuellen oder potenziellen Wettbewerber). Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass diese Gefahr bei sektorspezifischen Institutionen wesentlich größer ist als bei sektorübergreifenden Institutionen (vgl. OECD 1999; Monopolkommission 2002; Geradin und KerflQOi). Bei letzteren wird die Problematik deshalb als geringwertiger eingeschätzt, weil sie sich an eine größere Zahl von „Regulierungsadressaten" richten und weil durch eine Rotation der Mitarbeiter zwischen verschiedenen Branchen und Themengebieten eine zu starke Identifikation mit einer einzelnen Branche und mithin ein gewisses Maß an Betriebsblindheit weniger wahrscheinlich ist.14 Die formale Kompetenz einer Regulierungsbehörde umfasst jedoch nicht nur ihre Unabhängigkeit, sondern alle Handlungs- und Eingriffsmöglichkeiten, d.h. die Macht, die ihr per Gesetz verliehen wird. Diese beinhaltet Auskunftsrechte gegenüber den Unternehmen und die Möglichkeiten, Regulierungsentscheidungen auch tatsächlich durchzusetzen. Letztere hängt insbesondere davon ab, in welchem Maße, in welchen Fristen und mit welchen Folgen die Entscheidungen von den Gerichten aufgehoben werden können. Hier sind ökonomische Erfordernisse und Rechtswegprinzipien sorgfaltig abzuwägen. Bisher sind sektorspezifische Regulierungsbehörden in der Regel mit größeren formalen Kompetenzen und Eingriffsmöglichkeiten ausgestattet als sektorübergreifende Institutionen, welche oftmals lediglich nach allgemeinen wettbewerbsrechtlichen Grundsätzen handeln (vgl. OECD 1999). Eine solche Konstellation darf aber nicht als zwingend betrachtet werden, denn die Ausstattung der Behörden mit formalen Kompetenzen ist durchaus ordnungspolitisch gestaltbar. Ein Beispiel ist die (umstrittene) Einführung des neuen § 29 GWB, welcher durch die Beweislastumkehr bei Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung in der Energiewirtschaft die Eingriffsmöglichkeiten der Kartellbehörden drastisch vereinfacht. Prinzipiell ist es auch möglich unter dem Dach einer sektorübergreifenden Wettbewerbsbehörde sektorspezifische Abteilungen einzurichten, welche gesondert mit der Regulierung von netzbasierten Branchen beauftragt werden. Im Grunde ist dies durch die Erweiterung der Zuständigkeit der ehemaligen Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (RegTP) um die Bereiche Elektrizität, Gas und Eisenbahn und die damit verbundene Umbenennung in Bundesnetzagentur auch geschehen, wenn auch die Zuständigkeit auf fünf Sektoren beschränkt bleibt. Fachliche Kompetenz der Regulierungsbehörde Einen entscheidenden Punkt hinsichtlich der adäquaten Regulierung des Zugangs zu wesentlichen Einrichtungen auf netzgebundenen Märkten stellt die fachliche Kompetenz der betreffenden Einrichtung dar.15 Gemeint ist die professionelle Kompetenz und

14 Gerade hinsichtlich der Regulierung von netzbasierten Industrien gilt es zu berücksichtigen, dass die Einflussnahmen durch Politik und Unternehmen gelegentlich kumulieren, da die zu regulierenden Monopolbetriebe häufig staatliche Unternehmen sind oder waren (vgl. OECD 1999). 15 Die fachliche und die formale Kompetenz werden in der einschlägigen Literatur zusammen auch als institutionelle Kompetenz (institutional capability) bezeichnet (vgl. Ergas 1998).

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Erfahrung der Behörde bzw. ihrer Mitarbeiter auf den relevanten Feldern und/oder ihr Zugang zu externer Expertise. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass eine sektorspezifische Regulierungsbehörde über detaillierteres Fachwissen, eine fundiertere Expertise und ein Mehr an aktuellen Informationen über „ihre Branche" verfügt als sektorübergreifende Wettbewerbsbehörden. Während eine Regulierungsbehörde die wettbewerbliche Entwicklung der ihr zugeteilten Branche langfristig und kontinuierlich verfolgen muss, beginnt eine Wettbewerbsbehörde oftmals erst bei der Vorlage eines konkreten Missbrauchstatbestands, die entscheidungsnotwendigen Informationen zu sammeln. Ein kontinuierliches Monitoring findet hier in der Regel nicht statt, wird jedoch auch nicht vollkommen ausgeschlossen. Der sowohl quantitativ als auch qualitativ höhere Informationsstand von sektorspezifischen Regulierungsbehörden resultiert nicht zuletzt aus ihren im Vergleich zur Wettbewerbsbehörde weitergehenden Rechten hinsichtlich der Erhebung von Informationen. So sind im Rahmen einer Ex-ante-Netzentgelt-Regulierung grundsätzlich die Eigentümer der wesentlichen Einrichtungen selbst verpflichtet, Nachweise über ihre tatsächlichen Kosten aus der Netzunterhaltung erbringen, während bei einer Ex-postAufsicht durch sektorübergreifende Behörden die Beweislast oft auf Seiten der Behörde liegt, welche durch die Informationsasymmetrie zwischen Unternehmen und Behörden nur eingeschränkt getragen werden kann.16 Soweit dem hingegen die fachliche Kompetenz, das ökonomische Know-how, ein Verständnis für wettbewerbliche Prozesse und typische Marktentwicklungen sowie Probleme von Netzindustrien beschreibt, ist die Etablierung von sektorübergreifenden Institutionen von Vorteil, da Branchenbehörden eher betriebsblind werden und demzufolge seltener ökonomische Quervergleiche stattfinden. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Tatsache, dass die (sektorspezifische) Regulierungsbehörde im Rahmen ihrer Entscheidungen über das Netznutzungsentgelt die tatsächliche Wirkung unternehmerischer Strategien am Markt und die Reaktionen anderer Marktteilnehmer hinsichtlich des festgestellten Entgelts in die Zukunft fortschreiben muss (vgl. Laffont und Tiróle 2000). Damit wirkt die Ex-ante-Regulierung stets als ein positiv gestalteter Eingriff in die Marktstruktur und den Wettbewerb unter Anmaßung von Wissen um angemessene Netzzugangspreise, welches durch den (durch die Regulierungsmaßnahme zu fördernden) Wettbewerb als ein Entdeckungsverfahren jedoch erst noch generiert werden soll (vgl. Hayek 1976). Im Rahmen der Ex-post-Kontrolle können die Wettbewerbsbehörden dagegen grundsätzlich auf die vorliegenden Marktinformationen der Vergangenheit und Gegenwart zurückgreifen. Fraglich bleibt aber, inwieweit die Gewinnung von objektiven Marktdaten möglich ist, denn es gilt zu beachten, dass die Transmission von Wissen in die Kartellämter wesentlich von den Problematiken aus einer Informationsasymmetrie zwischen Wettbewerbsbehörden und Marktteilnehmern beeinträchtigt werden kann. Politökonomische Überlegungen

16 Im Bereich der Eisenbahnregulienmg sind die Auskunftspflichten der regulierten Unternehmen gegenüber der Bundesnetzagentur jedoch bislang - im Vergleich zur Energiewirtschaft oder zur Telekommunikationsbranche - noch eingeschränkt und somit die Informationsasymmetrie weiterhin hoch.

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Aus politökonomischer Sicht gilt es zwei Fragen zu beachten: (1) Welches Eigeninteresse werden Regulierungsbehörde verfolgen, und welches Interesse eine Wettbewerbsbehörde? (2) Welche Möglichkeiten der Einflussnahme haben Dritte (Verbände, Industrie, andere Dritte) auf die Entscheidungen der beiden Behördentypen? Was die erste Frage betrifft, ist aus politökonomischer Perspektive davon auszugehen, dass beide Arten von Behörden auch ihr eigenes Interesse verfolgen werden und nur insoweit die politisch vorgegebenen Ziele verfolgen, wie dies mit eigenen Zielen zusammenfällt und/oder Entscheidungen kontrollierbar sind (z.B. durch Gerichte). In jedem Fall ist davon auszugehen, dass Behörden bzw. deren Mitarbeiter auch eigene Zielsetzungen verfolgen. Als eine solche Zielsetzung wird stets die Bedeutung der eigenen Arbeit genannt. Es ist menschlich und nachvollziehbar, dass jeder in der Tendenz lieber wichtig oder bedeutsam als unwichtig oder unbedeutsam ist. Die Bedeutung kann sich bei Behörden z.B. in der Anzahl der Untergebenen, der Mitarbeiter allgemein, des Budgets und/oder auch der Entscheidungsbefugnisse orientieren. Je mehr jemand zu entscheiden hat (bzw. dies darf) und je wichtiger oder weit reichender diese Entscheidungen sind, desto bedeutsamer ist seine Arbeit, zumindest tendenziell. Somit werden Behörden nicht dazu neigen, ihr Aufgabenspektrum auszudünnen und Aufgaben an andere zu übertragen. Im Gegenteil: Die Tendenz wird sein, Aufgabengebiete und Kompetenzen entweder auszudehnen oder aber länger beizubehalten als objektiv notwendig wäre. Für eine Regulierungsbehörde impliziert dies, dass in der Tendenz zu viel und zu lange reguliert wird. Wichtiger aber noch ist vielleicht, dass aus politökonomischer Sicht aufgrund des Selbsterhaltungstriebs eine Regulierungsbehörde eine strukturbewahrende Regulierung, welche den Dienstewettbewerb fördert, aber nur geringe Anreize zum Aufbau alternativer Infrastrukturen (wichtig insbesondere im Telekommunikationsbereich) bietet, einer marktöffhenden Regulierung, die den Infrastrukturwettbewerb fördert, tendenziell vorziehen wird. Ein Beispiel mag die Regulierung des BitstreamZugangs im Telekommunkationsbereich durch die Bundesnetzagentur sein. Durch diese Regulierung wird zwar ein Dienstewettbewerb im Breitbandbereich gestärkt, zugleich aber die Investitionsanreize alternativer Anbieter (hier insbesondere der sog. City Carrier) erheblich geschwächt, da diese nun mit den günstigen Diensteanbietern konkurrieren müssen. Bei einer Ex-ante-regulierung durch Regulierungsbehörden besteht somit die Gefahr, dass Regulierungsformen gewählt werden, welche nicht förderlich sind, das Regulierungsproblem langfristig zu beheben, indem sie an der Ursache ansetzen. Stattdessen werden die Symptome eher bekämpft, und zugleich wird - aus politökonomischer Sicht auch im eigenen Interesse - der Aufbau alternativer Infrastrukturen gebremst. Im Gegensatz dazu werden Wettbewerbsbehörden, gerade auch um eine Abtretung von Kompetenzen an Regulierungsbehörden zu vermeiden, tendenziell eher aus solche Maßnahmen (auch struktureller Natur) setzen, welche geeignet sind, den Wettbewerb mittelfristig zu befördern. Der zweite politökonomische Aspekt betrifft die Anfälligkeit der Behörden für politische Einflussnahme. Die Erfahrung lehrt, dass sektorübergreifende Instanzen hier weniger für Lobbyismus anfallig sind als sektorspezifische Behörden, insbesondere dann, wenn das Personal auch in gewissen Abständen zwischen den Bereichen rotiert. In sektorspezifischen Behörden hingegen besteht die Gefahr einer starken Identifizierung mit

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den regulierten Industrien. Noch deutlicher wird dies in der Exekutive auf Ebene der Ministerien, wo regelmäßig der Eindruck entsteht, das Verkehrsministerium handele als Interessenvertreter der Verkehrsträger - wie der Deutschen Bahn AG oder das Verteidigungsministerium als Interessenvertreter der Bundeswehr - und nicht im Sinne der allgemeinen Bevölkerung. Auch durch diese „Regulatory Capture" besteht die Gefahr, dass etablierte Unternehmen im Zweifelsfall zu sehr auf Kosten des Wettbewerbs geschützt werden. In Deutschland allerdings ist auf Ebene des Regulierers diese Gefahr der „Regulatory Capture" durch die Schaffung eines sog. Multi-Utility-Regulierers, der Bundesnetzagentur, welche auch aus diesen Gründen und auf Empfehlung der Monopolkommission (2003) so eingerichtet wurde, diese Gefahr etwas gemildert. Im Vergleich zur Ex-post-Aufsicht treten insgesamt betrachtet bei Durchführung einer Ex-ante-Regulierung gerade der Netzzugänge tendenziell seltener sog. Fehler zweiter Art (false negative) auf, die sich darin äußern, dass ein regulierender Eingriff unterbleibt, obwohl er nötig gewesen wäre. Allerdings führt die Regulierung tendenziell auch zu mehr regulierenden Eingriffen, wenn keine erforderlich gewesen wären und damit zu Fehlern erster Art (false positive). In diesem Zusammenhang gilt als besonders problematisch, dass dem Wettbewerb in netzbasierten Märkten durch eine regelgebundene Exante-Regulierung oftmals die Flexibilität und die Spontaneität genommen wird, die maßgeblich zu einer dynamischen Effizienz auf Märkten beiträgt. Die regulierten Unternehmen können nicht im gebotenen Maße auf Veränderungen der Nachfrage- und/oder Kostenbedingungen reagieren. Dies ist besonders nachteilig auf dynamischen Märkten mit raschen nachfrageseitigen oder technologischen Änderungen. Kulturelle Unterschiede Zu beachten ist auch, dass sich die Kultur und das Selbstverständnis von Regulierungs- und Wettbewerbsbehörden oftmals vehement unterscheiden. Während für Regulierungsbehörden Marktversagen und ein behördliches Eingreifen in einen Markt die Regel sind, stellt dies für Wettbewerbsbehörden die Ausnahme dar, sie haben es in der Regel mit funktionierenden Märkten zu tun. Der Glauben an die behördliche Gestaltbarkeit der Märkte ist oftmals in regulierenden Instanzen viel stärker ausgeprägt als in Institutionen, die primär den Wettbewerb zu schützen suchen, damit die Märkte sich selbst überlassen werden können. Allein bei der Mitarbeiterauswahl kann sich schon ein Selektionsbias ergeben: Wer auf Wettbewerb und die Selbststeuerungskraft der Märkte vertraut, wird sich eher in einer Wettbewerbsbehörde zuhause fühlen als in einer Regulierungsbehörde, während diejenigen, die auf staatliche Eingriffe in den Markt bauen, sich wohl eher in Regulierungsbehörde wohl fühlen werden. Diese Selbstselektion kann die regulierungs- bzw. Wettbewerbskultur der Behörden noch verstärken. In Zweifelsfällen ist daher davon auszugehen, dass eine Regulierungsbehörde aufgrund ihrer sonstigen Erfahrungen und der Behördenkultur im Zweifelsfall eher eingreifen wird, während eine Wettbewerbsbehörde im Vertrauen auf die Marktkräfte vielleicht eher etwas abwartender handeln würde. Kosten der Regulierung Unabhängig von Konsistenz- und Kompetenzaspekten sollten im Rahmen der Diskussion einer angemessenen Ausgestaltung des ordnungspolitischen Rahmens stets die

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Kosten der jeweiligen Alternative im Vordergrund stehen. Hier lassen sich direkte von indirekten Kosten aus der Regulierung differenzieren. Während direkte Kosten die „Betriebskosten" der jeweiligen Aufsichtsbehörde sowie die Kontroll- und Durchsetzungskosten umfassen, 17 beschreiben indirekte Kosten sämtliche Effizienzverluste, welche durch eine Regulierung, insbesondere durch eine falsche, eine zu weitgehende oder eine zu lang andauernde Regulierung, entstehen. Typischerweise sind diese volkswirtschaftlichen Kosten umso höher, je länger die Regulierungseingriffe andauern, da im Zeitablaufweitere Anreizverzerrungen eintreten. Aufgrund der Tatsache, dass die Ex-ante-Regulierung durch eine sektorspezifische Behörde in der Regel wesentlich ressourcenintensiver ausfällt und die Betreiber der wesentlichen Einrichtung einer kontinuierlichen Aufsicht und zum Teil auch Rechenschaftspflichten unterliegen, ist davon auszugehen, dass die direkten Regulierungskosten bei diesem Ansatz höher sind als bei einer diskretionären Ex-post-Aufsicht durch eine sektorübergreifende Behörde. Darüber hinaus bleiben mögliche Synergieeffekte, welche aus der über die Branchen weitgehend vergleichbaren Regulierung von monopolistischen Bottlenecks resultieren können, bei einer sektorspezifischen Regulierung weitgehend ungenutzt (vgl. OECD 1999). Insgesamt dürften daher die Transaktionskosten der Regulierung tendenziell umso niedriger ausfallen, je weniger sektorspezifisch die Regulierung gestaltet wird. Allerdings gilt es zu beachten, dass die direkten Kosten für beide Arten von Regulierungsinstitutionen in einem erheblichen Umfang gestaltbar sind, und zwar je nach Personalbestand, dem Umfang der Nutzung externer Expertise, dem allgemeinen finanziellen Budget etc. Hier ist der adäquate Trade-off zwischen der Qualität der Regulierungsarbeit und den direkten Kosten zu finden und somit ein „optimales Regulierungsbudget" zu bestimmen. Bezüglich der Anpassung des Regulierungsbudgets im Zeitablauf gilt es, wie bereits erwähnt, zu beachten, dass sektorspezifische Regulierungsbehörden aus politökonomischen Gründen zu einem langfristig konstanten und ggf. überhöhten Interventionismus neigen, da sich die Behörde dauerhaft ihrer eigenen Aufgabe, ihrer Ressourcen und letztlich ihrer Existenzberechtigung berauben würde, wenn sich ein selbsttragender Wettbewerb entwickeln und die Regulierung aufgegeben würde (OECD 1999). Schon deshalb ist zu befürchten, dass insbesondere sektorspezifische Regulierungsbehörden aus Eigeninteresse die Entwicklung zu einem funktionsfähigen Wettbewerb nicht schnell genug fordern und sich die Kosten der Regulierung somit im Zeitablauf nicht wesentlich verringern werden. Zwischenfazit Die Unterschiede zwischen Wettbewerbsrecht und Regulierung sind in der Tabelle auf der folgenden Seite zusammengefasst (vgl. auch Holznagel und Vogelsang 2008). Festzuhalten ist allerdings auch, dass sich Wettbewerbsrecht und Regulierung in den vergangenen Jahren weiterentwickelt haben. Durch den Sofortvollzug von Missbrauchsverfügungen, die verbesserten Möglichkeiten der privaten Kartellrechtsdurchsetzung 17 Diese Kosten werden zum Teil auch als politische Transaktionskosten bezeichnet (vgl. Richter und Furubotn 2003, S. 54 ff.).

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und höhere Bußgelder und Sanktionen greift das Wettbewerbsrecht heute in vielen Fällen besser und entfaltet heute stärker eine abschreckende Wirkung als in der Vergangenheit. Vorgeschlagen ist zudem, auch in Deutschland die Möglichkeit zur Unternehmensentflechtung explizit mit in das Instrumentenarsenal des Bundeskartellamtes aufzunehmen (vgl. Engel 2008), wobei diese Möglichkeit - je nach juristischer Interpretation - möglicherweise schon heute besteht.18 Tabelle: Unterschiede zwischen Wettbewerbsrecht und Regulierung Politische Ziele

Wettbewerbsrecht/Kartellamt

Regulierung/Regulator

Effizienz

Effizienz

Konsumentenstandard

Verbraucherschutz Infrastrukturinvestitionen Universaldienst Umwelt- und Klima schütz

Wettbewerbsfreiheit

Eingriffsschwelle

Marktbeherrschung

Eingriffsfrequenz

punktuell

Informationen

keine kontinuierliche Markt Überwachung, Beweislast bei Kartellbehörden Untersagung, ggf. Entflech tung, Pönalen, Schadens ersatz, keine Preisfestlegung oftmals relativ hoch weniger stark

Instrumente

Unabhängigkeit Anfälligkeit für Lobbyismus Expertenwissen Behördenkultur

weniger stark ausgeprägt Funktionsfähiger Wettbe werb ist die Regel, Interven tionen die Ausnahme

weitere Ziele verschieden je nach Branche kontinuierlich kontinuierliche Markt Überwachung, Beweis last bei Unternehmen Preisfestlegung, weitere Instrumente (Transpa renz, ggf. Entflechtung) weniger hoch stärker ausgeprägt sehr hoch Interventionen sind die Regel, funktionsfähiger Wettbewerb die Aus nähme

Diese Entwicklungen sollten eigentlich die Antwort auf die Frage, ob das Wettbewerbsrecht ausreicht oder eben insuffizient ist, beeinflussen. Dasselbe gilt für die nationalen Unterschiede in der „Wettbewerbskultur". Während das Bundeskartellamt 18 In § 32 Absatz 2 GWB heißt es nämlich, dass die Kartellbehörde zur Abstellung von Kartellrechtsverstößen „den Unternehmen oder Vereinigungen von Unternehmen alle Maßnahmen aufgeben (kann), die für eine wirksame Abstellung der Zuwiderhandlung erforderlich und gegenüber dem festgestellten Verstoß verhältnismäßig sind" (Hervorhebung unsererseits).

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aufgrund seiner langjährigen Erfahrung und der weitgehenden politischen Unabhängigkeit in manchen Fällen sehr wohl die bessere Institution zur Marktaufsicht sein kann, mag das für denselben Markt in Staaten mit einer weniger ausgereiften Tradition der Wettbewerbspolitik, geringeren Erfahrungen in der Kartellrechtsdurchsetzung und einer weniger starken Unabhängigkeit der Kartellbehörden nicht gelten. Auch diese nationalen Unterschiede gilt es eigentlich zu berücksichtigen. Allgemein lässt sich jedoch konstatieren, dass Regulierung in der Regel vor allem dann vorteilhaft ist, wenn (a) Wettbewerbsverzerrungen in einem Markt systematisch und nicht nur punktuell vorliegen und (b) diese Verzerrungen mit hoher Wahrscheinlichkeit regelmäßig zu signifikanten, irreversiblen Wohlfahrtsverlusten fuhren würden (sofern sie eben nicht abgestellt werden). Hinzu kommt, dass es für Kartellbehörden typischerweise schwierig ist, einen Missbrauch festzustellen, wenn es keine Wettbewerbsmärkte als Vergleichsmärkte gibt (wie z.B. bei monopolistischen Engpässen der Fall), da dann ein Preismissbrauch ohne detaillierte Kostenstudien schwierig nachweisbar ist. Analytische Kostenstudien erfordern jedoch sehr detaillierte Branchenkenntnisse und fallen daher eher in die Domain von Regulierungsbehörden.

IV. Die Instrumentenleiter als Zwischenlösung Der ökonomische Vergleich der institutionellen Alternativen zeigt, dass sich sowohl Argumente für eine sektorspezifische Ex-ante-Regulierung als auch gute Gründe für eine sektorübergreifende Ex-post-Kontrolle durch eine Wettbewerbsbehörde finden lassen. Die Empfehlung für die institutionelle Ausgestaltung des Ordnungsrahmens in netzgebundenen Industrien hängt daher maßgeblich auch von der Entwicklung und damit von der tatsächlichen Regulierungsbedürftigkeit des jeweiligen Marktes im Zeitablauf ab (vgl. auch Holznagel und Vogelsang 2008). Holznagel und Vogelsang (2008) haben (unter Mitwirkung von Haucap und Küfiling) als Zwischenlösung eine Instrumentenleiter („ladder of remedies") zum Übergang in das Kartellrecht entwickelt. Die Idee ist dabei die folgende: Bis zur endgültigen Deregulierung durchläuft ein Telekommunikationsmarkt eine Stufenentwicklung von der Ex-ante-Regulierung über die Ex-post-Regulierung durch die Bundesnetzagentur bis zur Missbrauchsaufsicht durch die Kartellbehörde. Bei der Zuordnung eines Marktes zu einer Stufe gibt es zwei eindeutige Fälle und eine Grauzone, in der die Zuordnung nicht eindeutig ist. Die beiden eindeutigen Situationen sind erstens der Fall, wenn Marktversagen die Regel ist. Hier zeichnet sich der vorgelagerte Markt durch die Existenz eines monopolistischen Bottlenecks aus, während auf dem nachgelagerten Markt wenigstens beträchtliche Marktmacht des etablierten Anbieters besteht. Ein solcher Markt ist eindeutig regulierungsbedürftig im Sinne des 3Kriterien-Tests. Erforderlich ist eine Ex-ante-Regulierung durch die Bundesnetzagentur. Die zweite eindeutige Situation ist, dass eine ungestörte Marktlage die Regel ist und Störungen des Marktes nur ausnahmsweise auftreten. Hier existiert auf dem vorgelagert Markt kein Bottleneck, auf dem nachgelagerten Markt in der Regel auch keine beträchtliche Marktmacht. Die Regulierungsbedürftigkeit ist eindeutig nicht gegeben. Gegebenenfalls auftretende Wettbewerbsprobleme können mit den Mitteln des Wettbewerbs-

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rechts durch die Kartellbehörde gelöst werden. Zwischen diesen beiden Polen gibt es eine Grauzone von Situationen, in denen die Vorteilhaftigkeit der anzuwenden Rechtsmaterie und die institutionelle Zuordnung stark vom Einzelfall bestimmt wird. Dabei gibt es eine Spanne von Fällen, in denen trotz eindeutiger Regulierungsbedürftigkeit neben der Ex-ante-Regulierung auch eine sog. Ex-post-Regulierung, wie sie etwa das TKG vorsieht, in Frage kommt, über Fälle, in denen keine Regulierungsbedürftigkeit mehr festzustellen ist, es aber weiterhin Zugangsprobleme mit der Notwendigkeit von Preisfestsetzungen gibt, bis zu Situationen, in denen zwar eine Preismissbrauchsaufsicht in Frage kommt, diese aber mit den kartellrechtlichen Mitteln durchaus zu bewältigen ist, weil für den relevanten Markt Vergleichsmärkte existieren. In den Fällen der Grauzone, in denen die Regulierungsbedürftigkeit im Sinne des 3-Kriterien-Tests zu verneinen ist, sollen die Bundesnetzagentur und das Bundeskartellamt einvernehmlich über die Zuständigkeit entscheiden. Eine solche Zwischenlösung zwischen der alleinigen Zuständigkeit der Kartellbehörden und der Anwendung von Wettbewerbsrecht auf der einen Seite und der Zuständigkeit von Regulierungsbehörde und Regulierungsrecht auf der anderen Seite trägt dem Umstand Rechnung, dass Regulierungsbehörden der politökonomischen Theorie folgend dazu neigen, Märkte zu spät aus der Regulierung zu entlassen oder zu frühzeitig regulierend tätig zu werden (vgl. z.B. Haucap und Kiihling 2006). Regulierungsbehörden folgen hier, auch aufgrund der o.g. Behördenkultur, tendenziell eher einem Vorsichtsprinzip, dem zufolge im Zweifelsfall eher regulierend eingegriffen wird. Besteht neben der Möglichkeit einer Be- oder Entlassung von Märkten im Wettbewerbsrecht auch die Möglichkeit einer sektorspezifischen Missbrauchsaufsicht oder einer sog. Expost-Regulierung wie sie etwa das deutsche Telekommunikationsgesetz (TKG) vorsieht, so ist davon auszugehen, dass die Regulierungsbehörde eher aus der Ex-anteRegulierung aussteigt als ohne eine solche Situation. Allerdings ist eine Belassung der Wettbewerbsaufsicht bei der Regulierungsbehörde auch mit nicht unerheblichen Kosten und Risiken verbunden, was die intersektorale Konsistenz des Wettbewerbsrechts und die Anfälligkeit für politische Einflussnahme angeht, wie die Monopolkommission (2008) dezidiert dargelegt hat. Insofern wäre eine sektorspezifische Missbrauchsaufsicht unbedingt mit einer Sunset-Klausel zu verbinden, die einen Übergang in das allgemeine Wettbewerbsrecht sicherstellt. Die Ex-post-Regulierung kann dann jedoch den Ausstieg aus der Regulierung durch das Herabklettern der Instrumentenleiter ermöglichen und so den politökonomischen Überregulierungstendenzen Rechnung tragen.

V. Fazit Die Liberalisierung netzgebundener Industrien muss regelmäßig über die Kontrolle der Marktmacht der ehemaligen Monopoluntemehmen und hier besonders des Zuganges zu den wesentlichen Einrichtungen erfolgen. Dabei kann die Feststellung eines angemessenen Zugangsentgeltes und die Kontrolle von Marktmacht allgemein zumindest theoretisch sowohl durch die Ex-ante-Regulierung einer auf eine begrenzte Anzahl von Sektoren spezialisierten Institution wie die Bundesnetzagentur als auch durch eine Expost-Missbrauchsaufsicht einer sektorübergreifenden Wettbewerbsbehörde wie das Bundeskartellamt erfolgen. Ausgangspunkt eines institutionenökonomischen Vergleichs

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der institutionellen Ausgestaltungsmöglichkeiten ist dabei die Feststellung, dass sich der Fokus der Aufsicht von dem Problem des Ausbeutungsmissbrauchs auf den potenziellen Behinderungsmissbrauch verschoben hat. Dies ist insofern wichtig, als dass eine Behinderung von potenziellen Wettbewerbern ex post oftmals schwieriger zu revidieren ist als eine Ausbeutung der Endkunden durch überhöhte Preise. Ein institutionenökonomischer Vergleich der Regelungsalternativen eröffnet somit zwar gleichermaßen Argumente für beide Ansätze, zeigt jedoch, dass eine Ex-anteRegulierung der Netzzugangsentgelte größeren Erfolg bei der effektiven Prävention des Behinderungsmissbrauchs verspricht als eine Ex-post-Kontrolle diskriminierenden Verhaltens. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die höhere sachliche und zeitliche Konsistenz sowie die fachliche Kompetenz einer Ex-ante-Regulierung als gewichtige Vorteile gegenüber der allgemeinen Missbrauchsaufsicht zu nennen. Neben einer solchen normativen Dichotomisierung hängt die Empfehlung für die institutionelle Ausgestaltung der Regulierung in netzgebundenen Industrien jedoch maßgeblich von der Entwicklung und damit von der tatsächlichen Regulierungsbedürftigkeit des jeweiligen Marktes ab. Liegt Regulierungsbedürftigkeit im Sinne des 3-KriterienTests vor und ist zudem von einer marktbeherrschenden Stellung des Monopolisten auf einem nachgelagerten Markt auszugehen, sprechen die Kriterien der sachlichen und fachlichen Kompetenz sowie der zeitlichen Konsistenz der Regulierungseingriffe eindeutig dafür, den Netzzugang zu den wesentlichen Einrichtungen ex ante durch eine Regulierungsbehörde überwachen zu lassen. Die Regulierung des Zugangs zu den wesentlichen Einrichtungen des Marktes sollte jedoch durch eine branchenübergreifende Behörde vollzogen werden. Eine solche Behörde ist weniger der Gefahr ausgesetzt, von Interessengruppen in ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit beeinflusst zu werden, als dies bei einer sektorspezifischen Institution der Fall ist. Zudem können Synergien, welche sich aus der „Regulierung aus einer Hand" ergeben, genutzt werden und auch die Gefahr einer anhaltenden Überregulierung ist bei branchenübergeifenden Behörden als geringer einzuschätzen. Liegt keine Regulierungsbedürftigkeit im Sine des 3-Kriterien-Tests vor, weil zwar die Kriterien 1 und 2 erfüllt sind, jedoch im nachgelagerten Markt wirksamer Wettbewerb herrscht, gilt es zwischen Ex-ante-Regulierung und Ex-post-Kontrolle für den Einzelfall abzuwägen. Bestehen trotz fehlender Regulierungsbedürftigkeit weiterhin Netzzugangsprobleme für potenzielle Wettbewerber, so sollte die notwendige Preisfestsetzung im Zuge der Netzzugangsregulierung durch die Regulierungsbehörde ex ante erfolgen, wenn der Kartellbehörde für eine Ex-post-Kontrolle der Netzzugangspreise entsprechende Vergleichsmärkte fehlen. Ist jedoch ausschließlich mit der Gefahr eines Ausbeutungsmissbrauchs zu rechnen, sollte eine Ex-post-Missbrauchsaufsicht durch die Kartellbehörde ausreichen. Zwar ist der Ex-post-Kontrolle eine geringere Unmittelbarkeit und Feinsteuerung als Ex-ante-Eingriffen zuzuschreiben, jedoch überwiegt der Vorteil der geringeren Beschränkung der Freiheit des Wettbewerbs. Eine sektorspezifische Missbrauchsaufsicht oder eine Ex-post-Regulierung, wie das TKG sie ermöglicht, bieten einerseits den Vorteil, dass sie der politökonomischen Überregulierungstendenz entgegenwirken, sind allerdings andererseits auch mit nicht unerheblichen Kosten und Risiken verbunden, was die intersektorale Konsistenz des Wettbewerbsrechts und die Anfälligkeit für politische Einflussnahme angeht, wie vor allem

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die Monopolkommission (2008) betont hat. Insofern wäre eine sektorspezifische Missbrauchsaufsicht unbedingt mit einer Sunset-Klausel zu verbinden, die einen Übergang in das allgemeine Wettbewerbsrecht sicherstellt. Die Ex-post-Regulierung kann dann jedoch den Ausstieg aus der Regulierung durch das Herabklettern der Instrumentenleiter ermöglichen und so den Einstieg in den Ausstieg aus der sektorspezifischen Regulierung dort ermöglichen, wo dies wünschenswert ist.

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Summary: Regulation and Competition Law in Liberalised Network Industries as Seen from a New Institutional Economics Perspective The most crucial task for the liberalisation of network industries is the control of the incumbent's and former monopolist's market power. In theory, this can be effected either through ex ante regulation by a special agency, which focuses on a limited number

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of industries, such as the Federal Network Agency in Germany, or through ex-post control by general competition authorities such as Germany's Federal Cartel Office. For the German electricity market, the Federal Cartel Office was in charge of controlling market power until 2005, when the Federal Network Agency as established as the regulator in charge of controlling network prices. For telecommunications and airports the debate over "ex-ante regulation vs. ex-post control" is not over yet, however. This paper shows that such a simple dichotomisation neither captures the complexity of the problem nor the diversity of possible institutional arrangements. Any recommendation on the institutional design of the regulatory framework should depend on how competition has developed in the past what can be expected for the future. We develop elements for a further differentiation of regulatory measures, based on the so-called 3criteria-test applied in European telecommunications markets. The German Telecommunications Act (TKG) also contains reasonable approaches. Sector-specific ex post control of market power and ex post regulation, as envisaged by the TKG, have the advantage of countervailing well-known tendencies of overregulation. However, the consistency of competition law across sectors may suffer, and the regulator may be more prone to regulatory capture than a competition authority. Therefore, we argue that any sector-specific ex post control should be accompanied by a sunset clause to guarantee the transition into general competition law. Ex post regulation can, however, facilitate a faster exit from sector-specific regulation by climbing down the so-called ladder of remedies.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Heinz-Dieter Smeets und Andreas Knorr

Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft - heute Inhalt I. II. 1. 2. 3. III.

Einführung Die Wertschöpfiingskette in der Stromwirtschaft Stromerzeugung Stromtransport Stromhandel Die Grundzüge von Gröners Wettbewerbsordnung für die Elektrizitätswirtschaft 1. Radikale Strukturreformen 2. Vorschläge zur ordnungspolitischen Gestaltung der Übergangsphase V. Reality Check: die deutsche Stromwirtschaft seit 1998 . Rechtliche Grundlagen . Regulierte Bereiche und zuständige Institutionen . Entwicklung der Marktstruktur . Preisbildung und -entwicklung . Ausblick Literatur Zusammenfassung Summary: The structureof the electricity market in Germany

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Heinz-Dieter Smeets und Andreas Knorr

I. Einführung „Zu den umstrittensten Fragen der deutschen Wirtschaftspolitik gehören zweifelsfrei die ungelösten Probleme der Energiepolitik. Zwar hat es nicht an Anstrengungen gemangelt, auch für den Energiesektor eine funktionierende Ordnung zu finden, doch ist diesen wirtschaftspolitischen Bemühungen ein durchschlagender Erfolg bisher versagt geblieben." Helmut Gröner (1975, S. 17)

„Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist." Victor Hugo

„Die Schwierigkeit ist nicht, neue Ideen zu finden, sondern den alten zu entkommen." John Maynard Keynes

Am 27. Juli 2006 verstarb nach langer schwerer Krankheit unser verehrter akademischer Lehrer Helmut Gröner. Seinem Andenken ist dieser Aufsatz gewidmet. Aus dem nicht nur außergewöhnlich umfangreichen, sondern vor allem thematisch ungemein vielfaltigen wissenschaftlichen Lebenswerk Helmut Gröners stechen seine ordnungspolitischen Forschungen zur deutschen Elektrizitätswirtschaft schon quantitativ, vor allem aber auch qualitativ hervor. Nicht zuletzt seine 1975 publizierte Habilitationsschrift leitete zuerst zögerlich, dann umso vernehmlicher jene Reformdiskussion ein, die schließlich 1998 mit der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes von 1935 als dem ersten Schritt hin zur formaljuristischen Öffnung des deutschen Strommarktes begann. Dürfen die zentralen Thesen Helmut Gröners heute zumindest unter Ökonomen als allgemein akzeptiert angesehen werden, eilten sie allerdings zum Zeitpunkt ihres Erscheinens dem akademischen wie dem politischen Zeitgeist zweifelsohne um viele Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte voraus. Weil seine Abhandlung nicht nur auf einem abstrakten formalökonomischen Modell basierte, sondern die wettbewerbstheoretische Analyse in bester ordnungstheoretischer und institutionenökonomischer Tradition und mit faszinierender Gründlichkeit in die historische Entwicklung der deutschen Stromwirtschaft einschließlich ihres komplexen rechtlich-institutionellen Rahmens einbettete, bleibt sie ein nach wie vor unerreichter Meilenstein in der deutschen energiewirtschaftlichen Diskussion. Wie im vorliegenden Beitrag gezeigt werden soll, kann freilich von wettbewerblichen Marktverhältnissen, wie sie Helmut Gröner propagierte, auch heute, acht Jahre nach Beginn der Marktöffhung, noch nicht die Rede sein. Der Elektrizitätswirtschaft in Deutschland, wie dem Energiesektor insgesamt, mangelt es somit nach wie vor an einer funktionsfähigen Wettbewerbsordnung.

II. Die Wertschöpfungskette in der Stromwirtschaft Bei der Stromversorgung lassen sich grundsätzlich folgende Wertschöpfungsstufen

Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft - heute

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unterscheiden: die Stromerzeugung, der Stromtransport (Netz- und Systembetrieb), bei dem wiederum zwischen der Fortleitung über das Höchst-, Hoch- und Mittelspannungsnetz bis hin zur lokalen Verteilung im Niederspannungsnetz zu differenzieren ist,1 sowie der Stromhandel, also der Verkauf entweder an Endverbraucher oder an Weiterverteiler bzw. Großhändler. Auf die Erzeugungsstufe entfallen dabei nur etwa 30-45% der gesamten Wertschöpfung der Stromwirtschaft; der größere Teil entsteht somit im Netzbetrieb und bei der regionalen bzw. lokalen Verteilung. Die besonderen technisch-physikalischen Eigenschaften der Stromwirtschaft haben darüber hinaus erhebliche Konsequenzen für die Entfaltungsmöglichkeiten wettbewerblicher Marktverhältnisse auf den einzelnen Wertschöpfungsstufen und begründen somit zum Teil die Notwendigkeit staatlicher Regulierung. Auf dem deutschen Strommarkt sind drei Arten von Versorgungsunternehmen aktiv, die sich in unterschiedlichem Umfang auf den einzelnen Wertschöpfungsstufen wirtschaftlich betätigen. Die Verbundunternehmen vereinen einen Großteil der Stromerzeugung und betreiben das Höchstspannungsnetz für den überregionalen Transport. Des Weiteren sind häufig auch Verteilung und Endkundenbelieferung integriert. Die Regionalunternehmen sind dagegen fast nie in der Erzeugung tätig; sie leiten stattdessen überwiegend den von den Verbundunternehmen bezogenen Strom in die dünner besiedelten ländlichen Regionen weiter. Dabei verteilen sie etwa 20% des insgesamt in Deutschland erzeugten Stroms. Lokalunternehmen - in der Regel Stadtwerke - fungieren schließlich als Weiterverteiler des Stroms, den sie von Verbund- und Regionalunternehmen beziehen, in die von ihnen versorgten Städte und Gemeinde; sie decken dabei etwa 30% des Stromverteilung ab.

1. Stromerzeugung Hohe produktionstechnische Anforderungen zur Sicherstellung einer kontinuierlichen Versorgung ergeben sich zunächst aus der Nicht-Speicherbarkeit von Strom in Verbindung mit den starken zeitlichen Nachfrageschwankungen (Gröner 1984, S. 101 ff.). Letztere sind überdies nicht vollkommen vorhersehbar, auch wenn dabei insbesondere systematische zyklische Schwankungen (abhängig von Tageszeit, Wochentag und Jahreszeit) auftreten. Die Schwankungsbreite der Gesamtnachfrage ist dabei besonders groß, da die individuellen Verbrauchsmengen positiv korreliert sind. Produktion und Verbrauch müssen folglich zeitlich genau aufeinander abgestimmt sein, was generell die Ausrichtung der Gesamterzeugungskapazität an die Spitzennachfrage erfordert. Die Anpassung an nachfrageschwächere (bzw. -stärkere) Zeiten erfolgt dabei im Regelfall durch Abschaltung (bzw. Zuschaltung) von Kraftwerken. Des Weiteren unterscheiden sich die Kraftwerkstechnologien in ihren Kostenstrukturen und in ihrer Fähigkeit zu kurzfristigen Produktionsanpassungen. Kapitalintensive Technologien weisen geringe variable (Brennstoff-)Kosten auf, sind aber nicht (bzw. nur zu hohen An- und Abfahrkosten) kurzfristig hochzufahren oder abzuschalten. Dementsprechend eignen sich die verschiedenen Anlagen unterschiedlich gut zur Bereitstellung der drei Stromarten Grund-, Mittel- und Spitzenlast. Der kostenminimierende Einsatz der Kraftwerke erfolgt durch den Abruf nach der sogenannten ,Merit order'. Kraftwerke mit geringen Kapital-, aber hohen variablen Ko1 Die Gesamtlänge des deutschen Stromnetzes beträgt derzeit 1,6 Mio. Kilometer (Bundesministerium fiir Umweh, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2007, S. 11).

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sten werden nur eingesetzt, um Lastspitzen abzudecken. Bei einer insgesamt geringen jährlichen Laufzeit weisen solche Kraftwerke niedrigere Durchschnittskosten auf als diejenigen Kraftwerke mit hohen Fixkosten und geringen variablen Kosten, welche zur Deckung der Grund- und Mittellast genutzt werden. Zu letzteren zählen vor allem die Braun- und Steinkohle- sowie die Kernkraftwerke. Als Spitzenlastkraftwerke dienen in Deutschland Gasturbinen- und Pumpspeicherkraftwerke {Monopolkommission 2007a, S. 31). Es ergibt sich somit grob gesprochen folgende ,Merit order': Wasserkraft - Kernkraft - Braunkohle - Steinkohle - Gas- und Dampfkraft - Gasturbinen (Bode und Groscurth 2006, S. 738). Da die betriebswirtschaftlich effiziente Kraftwerksgröße mit 100 bis 1000 Megawatt inzwischen deutlich unter der Gesamtkapazität des deutschen Stromsystems von derzeit etwa 120 Gigawatt liegt, auf dieser Wertschöpfungsstufe also weder ein natürliches Monopol noch Unteilbarkeiten vorliegen, ist die Erzeugungsebene als prinzipiell wettbewerbsfähig einzustufen (Monopolkommission 2004, Tz. 1116). Hinzu kommen - aus Gründen, die weiter unten noch zu erläutern ein werden, allerdings nur in begrenztem Umfang - noch Stromimporte aus dem Ausland. Gleichzeitig wären jedoch selbst wettbewerblich organisierte Stromerzeugungsmärkte gegenwärtig tendenziell durchaus anfällig für Machtmissbrauch, da sie durch eine enges Angebotsoligopol, eine unelastische Nachfrage und ein zumindest in Spitzenlastzeiten ebenfalls preisunelastisches Angebot gekennzeichnet sind. Marktzutritte sind mit hohen Risiken verbunden, da Kraftwerke nicht nur einen hohen Kapitalbedarf und eine lange Lebensdauer aufweisen, sondern auch weitgehend irreversible Investitionen erfordern. Abhilfe schaffen könnte allerdings eine Entflechtung der Erzeugungskapazitäten, in deren Rahmen man, den politischen Willen dazu vorausgesetzt, „so weit dekonzentrieren [könnte], dass jeweils nur ein Kraftwerk ein selbständiges Unternehmen bildet" (Gröner 1975, S. 444). Neben diesen Marktzutrittsschranken für unabhängige Erzeuger wird die (internationale) räumliche Marktausdehnung auf der Erzeugungsebene durch weitere Eintrittsbarrieren in Form von Netzengpässen - konkret aufgrund fehlender Kapazitäten bei den für den grenzüberschreitenden Stromtransport erforderlichen Grenzkuppelstellen - beschränkt. Diese befinden sich auf deutscher Seite allesamt im Eigentum der vier großen und vertikal integrierten Verbundunternehmen RWE, Vattenfall Europe AG (VEAG), EnBW und E.ON. Diese kontrollieren derzeit außerdem 73% der deutschen Stromerzeugung und sogar 80% der Kraftwerkskapazitäten (Börsen-Zeitung 2007a, S. 8). Die restlichen 27% werden von zahlreichen meist kleineren, kommunalen Versorgungsunternehmen produziert, also insbesondere von den ca. 900 Stadtwerken (Frenzel 2007, S. 57), von denen aber nur etwa 150 über nennenswerte eigene Erzeugungskapazitäten verfügen. Die übrigen Lokal-EVU sind demgegenüber auf Zulieferungen der Regional- und vor allem der Verbundunternehmen angewiesen (Schraven 2008, S. 9). Sie übernehmen somit lediglich die Stromverteilung vor Ort.

2. Stromtransport a) Ferntransport Das Fernnetz umfasst den Transport über Höchst- und Hochspannungsnetze vom Erzeuger/Kraftwerk bis zur Übergabestelle (Netzknotenpunkt) des Übertragungsnetzes an nachgelagerte (lokale) Verteilnetze. Es ist in Deutschland in vier sogenannte Regelzonen aufgeteilt (Frenzel 2007, S. 85 ff.), die jeweils von einem der vier Verbundunternehmen betrieben werden. Der Netzbetrieb weist ökonomisch die Eigenschaften eines

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natürlichen Monopols auf. Der Zugang zum Fernleitungsnetz ist eine notwendige Voraussetzung für die wirtschaftliche Betätigung auf den vor- und nachgelagerten Erzeugungs- bzw. Verteilungsmärkten, so dass die Netze einer staatlichen Preisaufsicht unterliegen sollten. Als zweite Funktion hat ein Übertragungsnetzbetreiber neben dem Netzbetrieb auch den sogenannten Systembetrieb zu gewährleisten. Der Systembetrieb umfasst die kurzfristige Koordination des Kraftwerkseinsatzes mit der schwankenden Nachfrage unter Berücksichtigung der verfügbaren Netzkapazitäten (Systemausgleich). Stromeinspeisungen und -entnahmen müssen jederzeit exakt ausgeglichen werden. Da es aufgrund mangelnder Prognostizierbarkeit auf beiden Seiten ständig zu ungeplanten Abweichungen kommen kann, muss der Systembetreiber kurzfristig flexible Kraftwerke zu- oder abschalten können, um den Systemausgleich wiederherzustellen. Bei Abweichungen von den (meist am Vortag) geplanten Ein- und Ausspeisungen wird auf eigens dafür bereitgehaltene Regelkraftwerke zurückgegriffen, die ihre Produktion von sogenannter Regelenergie sehr kurzfristig erhöhen oder senken können. Neben diesem physikalischen Ausgleich übernimmt der Systembetreiber meist auch den finanziellen, das heißt die Abwicklung der bei Minder- bzw. Mehreinspeisung zu leistenden Zahlungen oder anfallenden Vergütungen. Diese Koordinierungsfunktion stellt notwendigerweise ebenfalls ein natürliches Monopol dar, da sie nur zentral auszuüben ist. Damit ist der Systembetreiber der einzige Nachfrager nach Regelenergie. Die traditionelle Organisation der Stromwirtschaft war durch die vertikale Integration von Stromerzeugung und Übertragungsnetzbetrieb gekennzeichnet, so dass der Betreiber für den Systemausgleich auf eigene Erzeugungskapazitäten zurückgegriffen hat. Seit der Liberalisierung ließe sich nun die Beschaffung der Regelenergie mittels Ausschreibung wettbewerblich organisieren. Beteiligen können sich alle an das Übertragungsnetz angeschlossenen und hinreichend flexiblen Kraftwerke (Monopolkommission 2004, Tz. 1211). b) Regionale und lokale Stromverteilung Die regionale und lokale Stromverteilung umfasst den Transport über Mittel- und Niederspannungsnetze von der Übergabestelle des Fernnetzes bis zum Endkunden. Der Netzbetrieb ist wie bei den Übertragungsnetzen als natürliches Monopol zu identifizieren, da die für Netze typischen Skaleneffekte und versunkenen Kosten auftreten. Kontrolliert wird diese sogenannte .letzte Meile' - und damit der Zugang zu den meisten Endkunden mit Ausnahme vieler Großabnehmer - vor allem von den kommunalen Versorgungsunternehmen, also den Stadtwerken, sowie den Regionalunternehmen. Versuche seitens der .großen Vier', aber auch der Regionalunternehmen, durch den Erwerb von Beteiligungen beherrschenden Einfluss auf große Stadtwerke zu gewinnen, wurden in der jüngeren Vergangenheit wiederholt vom Bundeskartellamt und den zuständigen Gerichten blockiert (Börsen-Zeitung 2007b, S. 8). Nicht übersehen werden sollte in diesem Zusammenhang, dass einige dieser lokalen Unternehmen neben ihrer erheblichen lokalen Marktmacht als Inhaber einer .Essential facility' eine mehr als respektable Größe erreichen. So ist beispielsweise die in Köln ansässige Rheinenergie der achtgrößte, die Mannheimer Stadtwerkevereinigung M W sogar der siebtgrößte deutsche Stromversorger {Börsen-Zeitung 2007b, S. 8).

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3. Stromhandel Analog zu anderen Wirtschaftszweigen kann auch im Stromhandel zwischen den beiden Handelsebenen Großhandel und Einzelhandel unterschieden werden, wobei in beiden Fällen wiederum zwischen Spot- und Terminmärkten zu differenzieren ist (Frenzel 2007, S. 136 ff.). In Deutschland entwickelte sich erst nach der Liberalisierung ab 1998 auf Großhandelsebene ein eigenständiger Handelsmarkt für Strom als ein neues Element der Stromwertschöpfungskette. Zuvor war aufgrund der geschlossenen Versorgungsgebiete lediglich ein Ausgleich von Lastspitzen zwischen den Versorgern üblich vom Prinzip her übrigens ganz ähnlich der Funktionsweise des Interbankenmarktes. Der Bezug von Strom von außerhalb des jeweiligen Versorgungsgebiets war demgegenüber untersagt. Die entscheidende rechtliche Voraussetzung für das Entstehen einer eigenständigen Handelstufe war somit die Marktöffhung für reine Stromhändler; dabei handelt es sich insbesondere um Anbieter ohne eigene Erzeugungskapazitäten und/oder eigene Netze. Sie wurde durch eine entsprechende Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) sowie die Abschaffung der Gebietsmonopole gemäß §103 GWB (in der damals geltenden Fassung) juristisch ermöglicht. Die Einzelhandelsebene umfasst lediglich die bilateralen Geschäftsbeziehungen zwischen Erzeuger und Endabnehmer, wobei der gehandelte Strom in der Regel in vergleichsweise kleinen Mengen über das Mittel- und Niederspannungsnetz transportiert wird. Demgegenüber stützt sich der Großhandel infrastrukturell auf das Hoch- und Höchstspannungsnetz, da dieses durch die geringsten Leitungsverluste gekennzeichnet ist. Dabei erfolgt „der Einkauf... an der Strombörse, beim Erzeuger, Händler oder einer entflochtenen Stromhandelsgesellschaft" und „der Verkauf an große Endkunden oder regionale Energieversorgungsunternehmen bzw. Lokalunternehmen" (Frenzel 2007, S. 138). Der Stromgroßhandel umfasst neben dem Over-the-counter-Segment - das heißt dem bilateralen Stromhandel zu Konditionen, die von den beiden Marktseiten individuell vereinbart werden - auch den Börsenhandel. Einziger Börsenplatz ist die am 1. Januar 2002 durch Fusion der konkurrierenden German Energy Exchange (GEX) in Frankfurt am Main und der Leipziger Power Exchange (LPX) hervorgegangene und seitdem in Leipzig ansässige European Energy Exchange (EEX).2

III. Die Grundzüge von Gröners Wettbewerbsordnung für die Elektrizitätswirtschaft Die außergewöhnliche Komplexität einer ordnungspolitischen Grundsatzreform der Elektrizitätsmärkte wurde von Gröner (1975, S. 409) keineswegs unterschätzt, sondern im Gegenteil klar erkannt, wie das folgende Zitat belegt: „Die Analyse der eingesetzten elektrizitätswirtschaftspolitischen Mittel hat deutlich gezeigt, dass sich im Lauf der Jahre ein Dickicht beinahe undurchlässiger Wettbewerbsbeschränkungen herausgebildet hat. Deshalb wird von vielen das Ziel anerkannt, diese verhärteten Ordnungstrukturen aufzulockern." Insbesondere war er sich, und dies bis heute in auffalligem Gegensatz zu fast allen anderen Ökonomen sowie den politischen Entscheidungsträgern, der vielfältigen Implementierungs- und Übergangsprobleme vollkommen bewusst, die die Transformation vom Monopol zu einer funktionierenden Wettbewerbsordnung mit sich bringen würde - und die, sofern sie von den Verantwortlichen unbeachtet blieben, letztlich auch

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Ausführlich dazu siehe Frenzel (2007, S. 136 ff. sowie S. 160 ff.)

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den Erfolg der Marktöffiiung latent gefährden würden (Gröner 1975, S. 441 ff.). Als Hauptziele des von ihm entwickelten Reformkonzepts für die Stromwirtschaft nannte Gröner (1975, S. 420) - die „Schaffung und Sicherung einer Wettbewerbsordnung", - „eine möglichst preisgünstige Elektrizitätsversorgung" sowie - „eine möglichst sichere Elektrizitätsversorgung."

1. Radikale Strukturreformen Als Kernproblem, weil aus seiner Sicht Hauptursache des Netzes von Wettbewerbsbeschränkungen, in welches die Elektrizitätsversorgung „eingesponnen" sei, identifizierte Gröner (1975, S. 420) in seiner Analyse zutreffend „die vertikale Integration von Geschäften mit elektrischer Energie und dem Transport dieser Strommengen unter dem gemeinsamen Dach von Elektrizitätsversorgungsunternehmen." Und weiter: „Der heute bereits sehr hohe Konzentrationsgrad bei der Engpaßleistung, bei der Erzeugung und beim überregionalen Transport und damit auf wichtigen Teilmärkten der Elektrizitätswirtschaft fuhrt bei wettbewerbspolitischen Auflockerungen zu sehr unterschiedlichen Startchancen der Elektrizitätswerke. Sollte nicht vor der Freigabe des Wettbewerbs das Problem dieser Konzentration tatkräftig angepackt und gelöst werden, so ist zu befitrchten, dass wegen des großen Startvorsprungs einiger weniger riesiger Versorgungsunternehmen der heute bereits unerwünscht hohe Konzentrationsgrad weiter ansteigt" (Gröner 1975, S. 418; Hervorhebung durch die Verfasser). Konsequenterweise leitete Gröner (1975, S. 421) daraus die Forderung ab, den ,,mehrstufige[n] Einheitsmarkt, an dem Versorgungsunternehmen gleichzeitig Strommengen und Transportleistungen anbieten, aufzubrechen und neu zu gliedern." Notwendig sei nämlich keineswegs nur die (formaljuristische) Aufhebung der geschlossenen Versorgungsgebiete, also des §103 Abs. 2 GWB (in der damals geltenden Fassung). Denn in diesem Fall würden viele Kommunen nach wie vor mittels Ausschließlichkeitsbindungen zwischen Erzeugern und den von ihnen kontrollierten lokalen Verteiler-EVU (sprich den Stadtwerken) weiterhin Gebietsmonopole begründen können, um unter anderem ihre Einnahmen aus der Konzessionsabgaben nicht zu verlieren. Von diesen grundsätzlichen Überlegungen ausgehend erarbeitete Gröner dann seine konkreten ordnungspolitischen Reformvorschläge unter Beachtung der spezifischen Bedingungen auf den aus seiner damaligen Warte sachlich relevanten Teilmärkten. Konkret betrachtete er dabei die Märkte für elektrische Energie, den Markt für Aushilfslieferungen und die Märkte für Stromtransporte. a) Teilmarkt 1: der Markt fiir elektrische Energie Unter der Annahme, dass das zum Zeitpunkt seiner Untersuchung bestehende Leitungsnetz ausreichende Kapazitäten bietet, sprach sich Gröner (1975, S. 422) für diesen Teilmarkt zunächst für eine vertikale Entflechtung von Produktions- und Transporteinrichtungen aus. Dies sollte die Voraussetzungen schaffen „für eine scharfe Wettbewerbsauslese, wie sie bislang durch Gebietsabsprachen und Konzessionsverträge verhindert wurde". Eine vollständige Individualisierung des Leistungsaustausches auf Nachfragerseite erachtete er jedoch aus technischen Gründen für unmöglich; daher müssten - so Gröner weiter (1975, S. 422) - „die individuellen Stromkonsumenten zu

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Verbrauchergruppen zusammengeschlossen werden, die dann als Nachfrageeinheiten am Elektrizitätsmarkt agieren." Diese Rolle könnten sowohl einzelne Großabnehmer wie z.B. Aluminiumwerke - , einzelne Stadtbezirke sowie die zu größeren Einheiten zusammengefassten „ländlichen Zwerggemeinden" übernehmen. Deren gebündelte Nachfrage „und damit praktisch deren Belastungsdiagramme" wären dann regelmäßig auszuschreiben, die eingehenden Angebote von den Repräsentanten der einzelnen Nachfragergruppen zu prüfen und den Mitgliedern der jeweiligen Nutzergruppe öffentlich zugänglich zu machen (Gröner 1975, S. 424 f.). Um die Vergleichbarkeit der eingegangenen Angebote sicherzustellen und wettbewerbswidrige Preisdiskriminierungen durchgreifend zu unterbinden, schlug Gröner (1975, S. 425) in diesem Zusammenhang auch die Abschaffung der in der deutschen Stromwirtschaft traditionell üblichen Marktspaltung nach Tarifabnehmern (Privathaushalte, landwirtschaftliche Betriebe, Gewerbetreibende) und Sonderabnehmern (industrielle Großabnehmer) vor. Nur so könne Jeder Stromverbraucher einzig nach den Teilstücken des Belastungsdiagramms eingestuft werden, zu denen er mit seiner Nachfrage beisteuert" und ihm die von ihm tatsächlich verursachten Erzeugungskosten angelastet werden. Eine wichtige von Gröner jedoch nicht abschließend beantwortete Frage ist allerdings, nach welchem Verfahren die Repräsentanten der einzelnen Nachfragergruppen ausgewählt werden sollten. Im Fall der Großabnehmer erscheint dies grundsätzlich unproblematisch. Schließlich ist die Einheit von Handlung und Haftung hier voll gewahrt, und die Kosten der Stromversorgung beeinflussen unmittelbar deren eigene Wettbewerbsfähigkeit. Demgegenüber sehen sich Nachfragergruppen, die sich überwiegend aus den Privathaushalten einer oder mehrerer Kommunen zusammensetzen, einem Prinzipal-Agenten-Problem ausgesetzt. Dies gilt umso mehr, als viele Kommunen ja selbst Eigentümer von Stromversorgem sind und diese im Rahmen des kommunalen Querverbunds durchaus nicht ungern als Mittel der indirekten Besteuerung sowie zu redistributiven Zwecken einsetzen (Haug 2003). Gröners Vorschlag unterstellte also implizit, dass zuvor die von ihm propagierte Entflechtung von Produktions- und Transportkapazitäten auch auf kommunaler Ebene vollständig umgesetzt worden sein würde.

b) Teilmarkt 2: Aushilfslieferungen Der Markt für Aushilfslieferungen unter den Stromerzeugern dient der permanenten Gewährleistung der Versorgungssicherheit, also der Verhinderung von Stromausfällen. Produktionstechnischer Hintergrund ist die fehlende Lagerfähigkeit elektrischer Energie. Letztlich geht es also um das Angebot von bzw. die Nachfrage nach freien Produktionskapazitäten. Dieser Teilmarkt kann folglich prinzipiell sowohl auf nationaler Ebene als auch grenzüberschreitend in Gestalt eines Netzverbunds organisiert werden. Ein Beispiel für letzteres ist die Union for the Co-ordination of Transmission of Electricity (UCTE), ein Verbund von Netzbetreibern aus 24 europäischen Staaten. Nicht übersehen werden sollte in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Leitung von Strom über unterschiedliche Netze hinweg deren Interoperabilität voraussetzt. Diese wird technisch durch die bereits erwähnten Grenzkuppelstellen sichergestellt, deren jeweilige Kapazitäten derzeit allerdings sehr große Unterschiede aufweisen (Cornwall 2008, pp. 967 ff.). Wie Gröner (1975, S. 432) richtig erkannt hatte, sorgt ein offener und bestreitbarer 3 „Wenn den Gemeinden das finanzielle Interesse an der Elektrizitätsversorgung abgeht, da ihr Aktionsraum auf die Mittlerfunktion beschnitten ist, so wird dies die Homogenisierung der Wertungen fordern" (Gröner 1975, S. 427).

Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft - heute

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Markt für Aushilfslieferungen grundsätzlich dafür, „dass ein weiteres wichtiges Wettbewerbselement für eine Neuordnung der Elektrizitätswirtschaft gefestigt wird, nämlich ein glatter Marktzutritt für Newcomer." Doch auch dieser Markt war zum Zeitpunkt seiner Analyse aufgrund von „komplizierten Durchleitungsproblemen und ... der Marktmacht der überregionalen Verbundunternehmen" nicht wettbewerblich organisiert, sondern im Gegenteil von der damaligen Deutschen Verbundgesellschaft (DVG) - dem Zusammenschluss der größten deutschen Verbundunternehmen - faktisch kartelliert (Grower 1975, S. 430).4

c) Teilmarkt 3: die Märkte fiir Stromtransporte Die Leitungsebene der Elektrizitätswirtschaft weist, wie bereits erwähnt, alle Eigenschaften eines natürlichen Monopols auf. Das Ordnungsprinzip des Wettbewerbs im Markt scheidet somit als Gestaltungsalternative aus (Sharkey 1982; Mittendorf 2006). „Da sich das Leitungsmonopol nicht abschaffen läßt, kann man nur versuchen, dieses Monopol möglichst unwirksam zu machen und scharf zu überwachen" (Gröner 1975, 438). Gröner (1975, S. 434) spricht sich deshalb mit den bekannten ordnungspolitischen Einwänden gegen staatliche Angebotsmonopole für die Übertragung der Netze, „zumindest auf der überörtlichen Ebene, möglichst aber auch auf der Lokalstufe", an private Anbieter aus.5 Die Netzanbieter müssten allerdings über einen Ausschreibungswettbewerb ausgewählt werden. Zwar erkennt Gröner auch die grundsätzlichen Probleme der Missbrauchsaufsicht über diese unweigerlich marktbeherrschenden Unternehmen. Er schätzt die Überwachungsprobleme gegenüber einem einstufigen Anbieter im Vergleich zu einem vertikal integrierten Unternehmen jedoch als deutlich geringer ein, „da sie über weniger Schlupfwinkel verfügen, um Wettbewerbsbeschränkungen und deren marktpolitische Folgen zu verschleiern". Außerdem, so seine zutreffende Analyse, sei es aufgrund des hohen Fixkostenanteils an den Gesamtkosten der Leistungserstellung im Stromtransport „weniger schwer ..., ihre Angebote zu vergleichen" (Gröner 1975, S. 438 f.).

2. Vorschläge zur ordnungspolitischen Gestaltung der Übergangsphase „Eine umfassende wettbewerbspolitische Reform für die Elektrizitätsversorgung nach dem hier entworfenen Konzept, wirft nicht geringe Übergangsprobleme auf, weil die gewachsene Ordnung meilenweit von diesem Leitbild entfernt ist" (Gröner 1975, S. 441 f.). Dies war zum Zeitpunkt der Publikation von Gröners Habilitationsschrift insbesondere der Fall aufgrund - des hohen Anteils öffentlichen Eigentums an den Produktionsmitteln; - der hohen Anbieterkonzentration im Horizontalverhältnis; - einer stark ausgeprägten vertikalen Integration, die in jedem Fall über die beiden Wertschöpfungsstufen Handel und lokaler Transport umfasste, sich oft aber auch noch auf die Erzeugungsebene erstreckte;

4 Die DVG wurde am 13. Juni 2001 durch Fusion mit der Fachgruppe Netze des Verbands der Elektrizitätswirtschaft (VDEW) in den Verband der Netzbetreiber (VDN) übergeleitet. 5 In der aktuellen Diskussion kommen etwa Inderst und Haucap (2008, S. 10) zu identischen Schlüssen.

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- umfassender „Vertragssysteme für horizontale und vertikale Marktabgrenzungen, mit denen der Markt für elektrische Energie geschlossen und der Wettbewerb ausgeschaltet wurde"; sowie - eines behördlicherseits festgelegten rigiden Tarifsystems mit ökonomisch nicht stichhaltig begründbaren Marktspaltungen. Gröner sprach sich vor diesem Hintergrund dezidiert für einen graduellen Transformationsprozess anstelle eines ordnungspolitischen ,Big Bang' aus (1975, S. 442). „Bevor man daran geht, Stromproduktion und Stromtransport zu trennen und den Rahmen für die zugehörigen Teilmärkte zu schaffen, sollte eine Anlaufphase mit folgenden Anfangsmaßnahmen vorgeschaltet werden": - Einführung eines neuen Tarifsystems, in dem zum einen der tages- und jahreszeitliche Belastungsverlauf abgestaffelt sein sollte und zum anderen separate Abrechnungen für Strom- und Transportkosten zu erstellen wären; und - Schaffung anonymer und nicht-exklusiver Preismeldestellen,6 die auf Länderebene „für eine bessere Markttransparenz der Verbraucher sorgen und den Versorgungsunternehmen erste Anhaltspunkte über ihren Standort in den zu erwartenden Wettbewerbsprozessen signalisieren." Im Anschluss daran seien, so Gröner (1975, S. 443) weiter, „aus den bisherigen Absatzgebieten neue geschlossene Versorgungsgebiete" zu formen, deren Ausdehnung und Nachfragerzahl in etwa den Versorgungsgebieten der damaligen kleineren und mittelgroßen Regionalversorger entsprechen sollten. Zusätzlich wären dort - sofern noch nicht vorhanden - lokale Verteilunternehmen zu etablieren und schließlich die Demarkationsverträge zwischen den Erzeugern aufzuheben. Dabei betonte Gröner zu Recht auch die herausragende Rolle der Wettbewerbspolitik in dieser frühen Übergangsphase, während der bereits erste „Ausscheidungsprozesse anflaufen], obwohl der hohe Konzentrationsgrad zunächst fortbesteht. Deshalb muss in diesem Anfangsstadium die Wettbewerbsaufsicht besonders aufmerksam gehandhabt werden, um einem unbilligen Verdrängungs- und Behinderungswettbewerb vorzubeugen." Außerdem sollte die Politik in dieser schwierigen Phase grundsätzlich auf Privatisierungen verzichten, um „nicht zuletzt auch dem Wagnis zu begegnen, daß die Privatisierung ordnungspolitisch in Mißkredit gerät." Zugleich sollte aber den in öffentlicher Trägerschaft befindlichen Elektrizitätswerken uneingeschränkte unternehmerische Handlungsfreiheit gewährt werden. Nach einer gewissen - von ihm jedoch nicht näher konkretisierten - Zeitspanne könnten schließlich die zentralen Strukturreformen vollzogen werden: die „Trennung von Stromproduktion und Stromtransport, Dekonzentration auf der Angebotsseite und Gruppierung der Nachfrageeinheiten" (Gröner 1975, S. 444). Die Entflechtung sollte dabei im Transportbereich zunächst generell lokale und überörtliche Verteilungsnetze voneinander trennen. Auf den Ebene der regionalen und überregionalen Fortleitung empfahl Gröner (1975, S. 444) eine Zerschlagung anhand der beiden Kriterien „Spannungsstufe und die Anzahl der mit Transportleistungen zu versorgenden Nachfrageeinheiten." Für die Wertschöpfungsstufe Stromerzeugung propagierte er schließlich eine Entflechtung bis hinunter zur kleinsten möglichen Produktionseinheit, d.h. jedes einzel-

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Die Forderung nach Anonymität und Nicht-Exklusivität ist selbstredend der hinlänglich bekannten wettbewerbspolitischen Ambivalenz von Markttransparenz geschuldet, die - insbesondere auf ohnehin schon vermachteten Märkten - kollusives Verhalten der Anbieter sogar noch fordern kann. Grundsätzlich zu dieser Problematik siehe bereits Hoppmann (1966), Tuchtfeldt (1966) sowie von Delhaes (1978).

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ne Kraftwerk sollte ein selbständiges Unternehmen bilden. Er begründete diesen radikalen Vorschlag mit dem Argument, dass sich nur auf diesem Weg „im Marktprozeß [ohne die Gefahr von Verfälschungen der von Allokationsentscheidungen durch Quersubventionierung; die Verfasser] herausstellt, welches Elektrizitätsunternehmen lebensfähig ist und welches nicht" (Gröner 1975, S. 444).

IV. Reality Check: die deutsche Stromwirtschaft seit 1998 Die von Gröner vor mehr als dreißig Jahren entwickelten Vorschläge zur Reform der Elektrizitätswirtschaft fanden in Deutschland bei den politisch Verantwortlichen ob ihrer Radikalität jahrzehntelang kaum Gehör; demgegenüber verfolgte etwa zehn Jahre nach dem Erscheinen seiner - leider nicht ins Englische übersetzten - Habilitationsschrift die damalige neuseeländische Regierung interessanterweise eine sehr ähnliche Strategie bei der Restrukturierung der dortigen Stromwirtschaft {Knorr 1997, S. 30 ff.). Angesichts stark gestiegener Strompreise in den vergangenen Jahren - und ebenfalls massiv gestiegener Gewinne insbesondere der Verbundunternehmen - mehren sich inzwischen jedoch auch hierzulande die Stimmen derer, die nun dringend umfassende Entflechtungsmaßnahmen, zumindest aber eine wesentlich schärfere Regulierung und/oder Missbrauchsaufsicht anmahnen, um die Wettbewerbsintensität auf dem Strommarkt zu erhöhen (Hering 2007; Möschel 2007). Auch das Bundeskartellamt hat in jüngster Zeit mehrere Untersuchungen wegen des Verdachts illegaler Preisabsprachen eingeleitet sowie in seiner Entscheidungspraxis Übernahmen von Stadtwerken durch die Verbundunternehmen erheblich erschwert. In diesem Kapitel sollen deshalb zunächst die Gründzüge des neuen Ordnungsrahmens für die deutsche Elektrizitätswirtschaft, wie er sich seit Beginn der Liberalisierung 1998 entwickelt hat, dargestellt sowie daran anschließend die wichtigsten Marktergebnisse eingehender analysiert werden.

1. Rechtliche Grundlagen In den 1990er Jahren setzte sich die Überzeugung zunehmend durch, dass die damals weltweit übliche Organisation des Elektrizitätssektors, gekennzeichnet durch weitgehend vertikal integrierte Gebietsmonopole, wettbewerbspolitisch nicht mehr zu rechtfertigen sei. Denn wie in anderen Sektoren mit netzgebundener Versorgung sind auch bei der Elektrizitätsversorgung Bereiche zu unterscheiden, die dem Wettbewerb zugänglich sind und solche, die insbesondere aufgrund ihrer Eigenschaft als natürliche Monopole oder als wesentliche Einrichtungen reguliert (.Essential facilities') werden müssen (Mittendorf 2006). Dieser sogenannte disaggregierte Regulierungsansatz (Knieps 2008, S. 101 ff.) unterscheidet sich wesentlich von der traditionellen Sichtweise, nach der Bereiche mit netzgebundener Versorgung in ihrer Gesamtheit als natürliches Monopol und damit als wettbewerblicher Ausnahmebereich anzusehen seien. Als erste Region der EU öffnete England - jedoch nicht Großbritannien insgesamt seinen Stromsektor bereits zu Beginn der 1990er Jahre. Die Liberalisierung der deutschen Stromwirtschaft wurde demgegenüber erst angestoßen durch entsprechende Bemühungen auf EU-Ebene (Frenzel 2007, S. 53 ff.). Sie fanden ihren Niederschlag schließlich in der im Februar 1997 in Kraft getretenen Binnenmarktrichtlinie für Strom (Europäische Kommission 1997). In Deutschland erfolgte deren Umsetzung in nationales Recht mit dem Ergebnis einer formalen Marktöffnung im Bereich der leitungsgebundenen Stromversorgung durch das Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts

274

Heinz-Dieter Smeets und Andreas Knorr

im April 1998; es wurde erstmals im Mai 2003 novelliert, was allerdings primär der Umsetzung der Binnenmarktrichtlinie für Gas diente. Neuer Handlungsbedarf im Strombereich ergab sich durch die im Juni 2003 auf EU-Ebene erlassenen sogenannten Beschleunigungsrichtlinien (Europäische Kommission 2003), mit deren Hilfe die EU den, von einigen wenigen wettbewerbsorientierten Mitgliedsstaaten abgesehen, unionsweit stockenden Liberalisierungsprozess vorantreiben wollte. Die Vorgaben dieser Richtlinien fanden ihren Niederschlag in der EnWG-Novelle vom Juli 2005. Zu Beginn der Liberalisierung 1998 hatte Deutschland zunächst auf eine explizite sektorspezifische Regulierung der Netzzugangsbedingungen und -entgelte verzichtet. Stattdessen setzte man auf das Konzept des verhandelten Netzzugangs, das heißt, die Regierung überließ die Ausgestaltung der Konditionen den Marktteilnehmern selbst, und zwar im Rahmen sogenannter Verbändevereinbarungen {Frenzel 2007, S. 34 ff.; Blankart, Cwojdzinski und Fritz 2004). Die erste Verbändevereinbarung wurde bereits im Mai 1998 unterzeichnet und im Dezember 1999 und im Dezember 2001 modifiziert (BDI, VIK, VDEW, VDN, ARE und VKU 2001). Das Netzentgelt wurde dabei zunächst auf der Basis eines sogenannten (fiktiven) Kontraktpfadmodells bestimmt. Das bedeutete, dass „der Drittnutzer des Netzes ... nicht nur Einspeise- und Entnahmepunkt anzugeben [hatte], sondern jedes einzelne Leitungsstück vom Einspeise- zum Entnahmepunkt" (Monopolkommission 2002, Tz. 861). Dieses Prozedere widersprach allerdings dem Systemcharakter des Netzes, in dem sich an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt eine Vielzahl individueller Stromeinspeisungen und Stromentnahmen durchmischen. Das bedeutete wiederum, dass es kaum objektiv möglich war, die Kosten der Netznutzung den individuellen Transaktionen exakt zuzurechnen. Außerdem waren häufige Überlastungen des jeweils preisgünstigsten Pfads die logische Konsequenz, auf die der Netzbetreiber mit Hilfe eines - möglicherweise allerdings nicht wettbewerbsneutralen Rationierungsmechanismus reagieren musste. Erst spätere Modifizierungen sahen einen sogenannten Punkttarif vor, bei dem nur ein Entnahmeentgelt anfiel (also das Einspeiseentgelt auf Null gesetzt wurde). Diese Form der Selbstregulierung der Branche wurde zwar im Laufe der Jahre erheblich fortentwickelt. Allerdings konnten die Regularien der Verbändevereinbarungen Verdrängungs- und Diskriminierungsstrategien des Netzbetreibers zu keinem Zeitpunkt durchgreifend unterbinden, da dieser mittels opportunistischer Preisdifferenzierung weiterhin Eigen- und Fremdnachfrage unterschiedlich belasten konnte. Zudem boten die Regelungen keinen hinreichenden Kostensenkungsdruck und Preissenkungsanreiz. Schließlich blieben auch die als Markteintrittsbarriere wirkenden hohen Durchleitungsentgelte bestehen (Monopolkommission 2002, Tz. 874). Eine Ex post-Kontrolle mittels allgemeiner Missbrauchsaufsicht durch das Bundeskartellamt hatte sich in der Vergangenheit aufgrund konzeptioneller (kein Vergleichsmarkt) und verfahrensrechtlicher Probleme (lange Zeiträume bis zu rechtskräftigen Urteilen und Umsetzung) ebenfalls als ungeeignet erwiesen, dem Missbrauch von Marktmacht wirksam zu begegnen. Mit der Energierechtsreform nach der EnWG-Novelle vom Juli 2005 wurden deshalb vor allem zwei neue Vorgaben der EU in deutsches Recht umgesetzt (Eickhof und Holzer 2006): Entflechtungsbestimmungen fur integrierte Versorgungsunternehmen sowie die Ex ante-Regulierung des Netzzugangs. Die Verbändevereinbarungen wurden damit also durch eine sektorspezifische Regulierung ersetzt; dazu im nächsten Abschnitt mehr. Weiterhin keine speziellen Eingriffsnormen bestehen bislang allerdings fiir die Stromgroßhandels- und Regelenergiemärkte.

Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft - heute

275

2. Regulierte Bereiche und zuständige Institutionen Die Europäischen Beschleunigungsrichtlinien geben inzwischen vor, dass ein regulierter Netzzugang einzuführen ist. Grundlage dieses Netzzugangsmodells bilden veröffentlichte und ex ante zu genehmigende Tarife bzw. Tarifberechnungsmethoden. Mit der genannten Novelle des EnWG vom Juli 2005 wurde die Ex ante-Regulierung der Netzzugangsentgelte auch hierzulande eingeführt. Dafür zuständig ist zum einen die neu geschaffene Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen; sie ging aus der früheren Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post hervor. Die Regulierungskompetenzen über kleinere, nur innerhalb eines Bundeslandes tätigen Netzbetreibers obliegen zum anderen den zuständigen Behörden des Bundeslandes, also meist dem hiesigen Wirtschaftsministerium. Nach den neuen Entflechtungsvorgaben müssen vertikal integrierte Unternehmen ab einer gewissen Größe ihren Netzbetrieb rechtlich und operational entflechten. Unabhängig von der Größe sind zudem eine informationelle sowie eine buchhalterische Entflechtung vorzunehmen. Erstere ist in § 9 EnWG verankert und soll verhindern, dass die nun in der Regel rechtlich und organisatorisch .abgekoppelte' Netzsparte eines vertikal integrierten Versorgers wettbewerblich relevante Informationen an die übrigen Unternehmensbereiche weitergeben kann; es handelt sich also um die Verpflichtung zum Aufbau unternehmensinterner .Chinese walls'. Die in § 10 EnWG festgeschriebene buchhalterische Entflechtung verpflichtet die Versorger schließlich zur getrennten Rechnungslegung für die einzelnen Unternehmenssparten, insbesondere zu separaten Gewinn- und Verlustrechnungen. Damit sollen wettbewerbswidrige Quersubventionen unterbunden werden. Nicht vorgeschrieben ist dagegen bislang eine eigentumsrechtliche Trennung, so dass auch die Anreize zur Diskriminierung bislang keineswegs durchgreifend beseitigt sind. Die erhöhte Transparenz soll allerdings Informationsasymmetrien zu Lasten der Regulierer und der Wettbewerber verringern und so die Aufsichtstätigkeit erleichtern. Ob das gewählte rechtlich-institutionelle Arrangement dieses grundsätzliche Problem in der Tat befriedigend wird lösen können, kann freilich erst die Zukunft zeigen. Die geänderten Vorschriften spiegeln jedoch zumindest die seit der grundsätzlichen Liberalisierung gewonnenen, überwiegend negativen Erfahrungen mit der bisherigen Regulierung im Bereich der Stromwirtschaft wider. Es hatte sich vor allem folgendes gezeigt: - Die Selbstregulierung der Branche im Rahmen der Verbändevereinbarungen vermochte die erhoffte Intensivierung des Wettbewerbs nicht einzuleiten. - Die Ex post-Kontrolle der Marktergebnisse war ebenfalls unzureichend, da die Beweislast für überhöhte Netzentgelte beim Bundeskartellamt lag, das mit den verfügbaren Mitteln faktisch aber kaum einen gerichtsfesten Nachweis erbringen konnte. - Eine Ex ante-Regulierung der Netzentgelte ist notwendig, um Wettbewerb zumindest auf den Märkten zu ermöglichen, die dem Verbundnetz vor- und nachgelagert sind.

3. Entwicklung der Marktstruktur Nach der Marktöffnung kam es zwar zunächst zu zahlreichen Markteintritten, sowohl durch Beteiligungen ausländischer Unternehmen als auch durch Neugründungen oder Händler. Neugründungen gab es vor allem im Bereich der Versorgung von Haushaltsund Gewerbekunden, von denen noch heute einige bundesweit tätig sind, darunter auch Tochtergesellschaften von Verbundunternehmen (so ist der größte Anbieter Yello Strom

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Heinz-Dieter Smeets und Andreas Knorr

eine 100%-ige Tochter von EnBW). Viele Newcomer haben sich inzwischen allerdings wieder zurückgezogen. Auf der Erzeugungsstufe hat es Zutritte durch unabhängige Unternehmen nur im Bereich kleiner Anlagen bei erneuerbaren Energien und Kraft-Wärme-Kopplung gegeben. Diese Phase eines sich intensivierenden Wettbewerbs hielt jedoch nur etwa zwei Jahre lang an. Aufgrund marktstruktureller Fehlentwicklungen und einer unzureichenden Ausgestaltung der Netzregulierung verlief die Wettbewerbsentwicklung im Strombereich nach inzwischen vorherrschender Meinung in Wissenschaft und Politik danach bis heute insgesamt nicht zufriedenstellend (Monopolkommission 2006, Tz. 9). So hat vor allem die intensive Fusionsaktivität nach der Marktöffnung die horizontale und vertikale Konzentration mittlerweile erheblich ansteigen lassen. Zu Beginn der Liberalisierung im April 1998 waren in Deutschland noch acht Verbundunternehmen, etwa achtzig Regional- und etwa 900 Lokalunternehmen aktiv (Monopolkommission 2002, Tz. 838). War der Konzentrationsgrad somit also bereits vor der Liberalisierung beträchtlich, hat er sich seitdem, allen ordnungs- und wettbewerbspolitischen Intentionen zum Trotz, nochmals beträchtlich erhöht. Seit den im Jahr 2000 vollzogenen Fusionen gibt es statt zuvor acht nur noch vier Verbundunternehmen, nämlich E.ON (VEBA und VIAG), RWE (RWE und VEW), Vattenfall Europe (BEWAG, HEW, VEAG und LAUBAG) sowie EnBW. Jedes kontrolliert, wie schon erwähnt, eine Regelzone des Übertragungsnetzes mit Systembetrieb. Die Verbundunternehmen sind direkt oder indirekt über Beteiligungen über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg vertikal integriert. Sie kontrollieren zusammen mit derzeit 73% den weit überwiegenden Teil der Stromerzeugung, wobei sie über mehr als 80% der deutschen Kraftwerkskapazitäten verfügen können. Dabei entfallen 33 % auf RWE, 24% auf E.ON sowie weitere 14% bzw. 13% auf Vattenfall und EnBW (Hirschhausen, Weigt und Zachmann 2007, S. 33; Börsen-Zeitung 2007a, S. 8). Die Zahl der Regionalunternehmen halbierte sich auf etwa 40, und zwar teilweise aufgrund von Beteiligungsaktivitäten der Verbundunternehmen, d.h. infolge vertikaler Integration. Auch die Beteiligung der Verbundunternehmen an lokalen Versorgern schreitet trotz jüngster Widerstände seitens des Bundeskartellamts weiter voran. Meist wurden Minderheitsbeteiligungen erworben (< 20%), da diese zunächst nicht der Fusionskontrolle unterlagen. Von den 900 Stadtwerken haben bislang knapp 200 alleine RWE und E.ON nennenswerte Beteiligungen eingeräumt. Ausgeprägt wettbewerbliches Verhalten ist angesichts der oligopolistischen Marktstruktur von den Verbundunternehmen nicht zwangsläufig zu erwarten. Vielmehr dürften die Spezifika des Strommarktes (homogenes Gut, keine Produktdifferenzierungsmöglichkeiten, kein Qualitätswettbewerb, hohe Transparenz bei Erzeugungskosten und Preisen, geringe Preiselastizität der Nachfrage) ein eher gleichgerichtetes Verhalten begünstigen. Durch die vertikale Integration bis in die Stadtwerke hinein sind zudem die Märkte effektiv gegen den Marktzutritt Dritter abgeschottet. Die über die Beteiligungen erzielte Absatzsicherung wiegt umso schwerer, als somit auch von den Kleinkunden kein nennenswerter Wettbewerbsdruck ausgeht, zumal die Wechselbereitschaft in diesem Segment in Deutschland im Vergleich zum EU-Durchschnitt bislang ohnehin eher gering ist (Frenzel 2007, S. 132 f.). Markteintritte und damit auch die Wirksamkeit potenziellen Wettbewerbs werden insbesondere durch die hohen Netzzugangsentgelte beschränkt, da auf der Einzelhandelsebene nur geringe Gewinnmargen bestehen. Stromimporte spielen bislang eine untergeordnete Rolle, da der grenzüberschreitende Stromhandel durch beschränkte Kapazitäten an den Grenzkuppelstellen zum Ausland - die, wie bereits erwähnt, allesamt

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Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft - heute

von den Verbundunternehmen kontrolliert werden - effektiv begrenzt wird. 2006, dem letzten Jahr fiir das bislang offizielle Zahlen vorgelegt wurden, importierte Deutschland 46.138 Mio. kWh aus dem Ausland; dies entspricht weniger als 9% der Inlandsproduktion. Demgegenüber exportierte die deutsche Stromwirtschaft 65.975 Mio. kWh - also 13,1% der Erzeugung in die Nachbarstaaten {VDEW2007).

4. Preisbildung und -entwicklung Nach der Marktöffnung sind die Preise für Endverbraucher zunächst deutlich gesunken (ausführlich zum Folgenden Growitsch und Müsgens 2005 sowie Bundesministerium fiir Wirtschaft und Technologie 2008). Zwischen 1998 und 2000 hatte der durchschnittliche Preisrückgang bei Industriestrom noch über 27% betragen, bei Haushaltskunden dagegen nur 8,5% (Bundesministerium fur Wirtschaft und Arbeit 2003, S. 13). Letzteres ist allerdings durch die höhere Belastung mit der Stromsteuer zu erklären; um diesen Faktor korrigiert ergibt sich ein Preisrückgang von knapp 20% (Auer 2002, S. 3). Seit Mitte 2000 steigen die Preise, gemessen in Cent pro kWh, für alle Verbrauchergruppen jedoch wieder kontinuierlich an, wie den beiden nachstehenden Abbildungen zu entnehmen ist. Dabei ist zu beachten, dass der obere - in der Abbildung dunkler unterlegte - Abschnitt der Säulen den Anteil der staatlichen Abgabenbelastung auf Strom zeigt, während der heller gesetzte Abschnitt die von den EVU festgelegten Nettopreise widerspiegelt; dazu später mehr. Abbildung 1: Entwicklung des Strompreises für die Industrie 12 10

9,54

11 53

'

11,26

2006

2007

9,73 8.92

8.86 7,98

8 6,05

6,47

6,86

6 4 2

1998 Quelle:

1999

2000

2001

2002

2003

2004

Eigene Darstellung in Anlehnung an Bundesministerium gie (2008, S. 24).

2005

für Wirtschaft und Technolo-

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Heinz-Dieter Smeets und Andreas Kjiorr

Abbildung 2: Entwicklung des Strompreis für Haushalte (3.500 kWh/Jahr) 25 20.64

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Bundesministerium (2008, S. 25).

2005

2006

für Wirtschaft und

2007 Technologie

Der zunächst zu beobachtende Preiswettbewerb zwischen den Verbundunternehmen war somit offensichtlich lediglich ein vorübergehendes Phänomen, mit dem vermutlich Marktzutritt abgewehrt werden sollte. Auf Wettbewerbsvorstöße in die Liefergebiete eines anderen Verbundunternehmens wurde und wird demgegenüber bislang weitgehend verzichtet. Die Preisentwicklung könnte daher auch den beschriebenen Prozess zunehmender horizontaler und vertikaler Konzentration widerspiegeln. Dafür spricht, dass auch die Netznutzungsentgelte als eine wesentliche Komponente der Endverbraucherpreise auf einem im internationalen Vergleich hohen Niveau weitgehend konstant geblieben sind. Bis zur Liberalisierung gab es ausschließlich bilateralen Stromhandel zwischen Anbietern und Nachfragern auf der Einzelhandels- und Großhandelsebene auf der Basis individuell vereinbarter Verträge ohne Einschaltung unabhängiger Stromhändler. Seither wird dieser durch den organisierten Großhandel mit standardisierten Produkten an der Strombörse EEX in Leipzig ergänzt (zum Folgenden Frenzel 2007, S. 160 ff.). Auf dem Spotmarkt werden ζ. B. Lieferungen für Halbstunden- oder Stundenintervalle des folgenden Tages gehandelt. Kontrakte am Terminmarkt unterscheiden sich ebenfalls nach der Lieferperiode sowie nach verschiedenen Lasttypen (Grundlast, Spitzenlast). Die Preisbildung an der Strombörse erfolgt mittels eines Auktionsverfahrens auf der Grundlage einer Reihung der Gebote unterschiedlicher Kraftwerke nach deren jeweiligen Grenzkosten (,Merit order'). Deshalb bestimmt also stets das Grenzkraftwerk, also das letzte Kraftwerk, dessen Ausstoß zur Befriedigung der Nachfrage gerade noch notwendig ist, den Marktpreis. Die erheblichen Preissteigerungen an den Großhandelsmärkten in der jüngeren Vergangenheit waren bereits Anlass für mehrere Studien, die hinsichtlich der wettbewerbspolitischen Implikationen allerdings nicht zu eindeutigen Schlussfolgerungen gelang-

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ten.7 Grundsätzlich gilt, dass eine funktionierende Strombörse ein hinreichend großes Handelsvolumen durch eine Vielzahl voneinander unabhängig agierender Anbieter voraussetzt, da enge und deshalb illiquide Märkte anfallig für Preismanipulationen durch marktmächtige Anbieter sind. Allerdings ist das Handelsvolumen an der EEX mit etwa 20% des deutschen Stromabsatzes eher gering, die Preisausschläge seit 2001 dagegen mitunter beträchtlich. Angesichts eines Marktanteils der ,großen Vier' von über drei Vierteln am Transaktionsvolumen der EEX wurden deshalb wiederholt - bislang unbewiesene - Vorwürfe von Preismanipulationen durch Verbundunternehmen geäußert; sie führten sogar zu einer Untersuchung des Bundeskartellamtes. Preismanipulationen wären jedoch prinzipiell dadurch möglich, dass Kapazitäten kostengünstigerer Anlagen absichtlich zurückgehalten werden, wodurch sich die Angebotskurve nach links verschieben würde. Dabei wären gerade bei sehr steiler Angebotskurve nahe den Kapazitätsgrenzen und unelastischer Nachfrage erhebliche Preiserhöhungen zu erwarten. Eine weitere Episode in der anhaltenden Kontroverse um mögliche Preismanipulationen an der EEX galt der Strategie der Versorger, die ihnen von der Bundesregierung kostenlos zugeteilten Emissionszertifikate auf ausländische Tochterunternehmen zu übertragen, um danach auf dem deutschen Markt die von ihnen hierzulande für die Stromerzeugung benötigten Zertifikate zu erwerben - mit entsprechenden Konsequenzen für deren Marktpreis. Diese Zusatzkosten wurden von ihnen daraufhin auf den Großhandelspreis überwälzt, was zu einem erheblichen Preisanstieg und damit zu beträchtlichen Zusatzeinnahmen für die großen Verbundunternehmen führte. 8 Unabhängig davon darf in dem hier interessierenden Zusammenhang jedoch keinesfalls übersehen werden, dass ein nicht unwesentlicher Teil des öffentlich stark kritisierten Preisanstiegs auch auf exogene Faktoren zurückzuführen war und ist (Bode und Groscurth 2006). Neben dem Anstieg der Beschaffungspreise für einige der für die Stromerzeugung benötigten Primärenergieträger schlugen vor allem zahlreiche staatlich veranlasste Zusatzbelastungen zu Buche. Ihr Anteil ist in den beiden oben stehenden Abbildungen dunkel hinterlegt. Im einzelnen handelt es sich bei diesen administrativen Kosten- und damit Preisbestandteilen um die Konzessionsabgaben - die im Betrachtungszeitraum allerdings faktisch konstant geblieben sind - , die beiden Umlagen nach dem Emeuerbare-Energien-Gesetz bzw. dem Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz sowie um die seit 2000 zumindest für Haushaltstrom ebenfalls deutlich erhöhte Stromsteuer. Die einzelnen Komponenten des Strompreises einschließlich ihres jeweiligen prozentualen Anteils sind der nachstehenden Abbildung 3 zu entnehmen.

7 Es handelt sich im einzelnen um Müsgens (2004 und 2006); Growitsch und Müsgens (2005); Schwarz und Lang (2006); Hirschhausen, Weigt und Zachmann (2007) sowie Europäische Kommission 2007. 8 Vgl. zu dieser Diskussion Schmidt (2005, S. 13, sowie 2006, S. 13) und Stratmann (2007, S. 4).

280 ·

Heinz-Dieter Smeets und Andreas Knorr

Abbildung 3: Zusammensetzung des Strompreises Kostenbestandteil

Prozentsatz

Netznutzungsentgelte Stromerzeugung, Vertrieb Mehrwertsteuer Ökosteuer Konzessionsabgabe

36,6 24,7 13,8 10,3 9,2

Abgaben nach dem: Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz 1,7 Erneuerbare-Energien-Gesetz 3,5 Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Der Spiegel (2006, S. 82)

V. Ausblick Wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, ist die deutsche Stromwirtschaft nach wie vor durch eine hochgradig vermachtete und deshalb latent wettbewerbsgefahrdende Marktstruktur gekennzeichnet. So ist nicht nur der ausgesprochen hohe horizontale Konzentrationsgrad eines Oligopois von zudem noch vertikal voll integrierten Verbundunternehmen wegen ihrer großen Spielräume für Ausbeutungs- und Behinderungsmissbräuche wettbewerbspolitisch höchst bedenklich. Darüber hinaus begünstigt auch die vergleichsweise geringe Liquidität des Börsenhandels strategisches Angebotsverhalten der ,großen Vier'. Auch die auf den vier Regelenergiemärkten geltende räumliche Trennung in die vier Regelzonen und die von den Verbundunternehmen selbst aufgestellten Anforderungen zur Teilnahme am Auktionsverfahren wirken potenziell wettbewerbsbeschränkend {Monopolkommission 2004, Tz. 1111). Derzeit bleibt das Angebot innerhalb jeder Regelzone jedenfalls de facto oft auf die konzerneigenen Kraftwerke des jeweiligen Netzbetreibers beschränkt. Schließlich existiert aufgrund der geringen Kapazitäten der ebenfalls von den ,großen Vier' kontrollierten Grenzkuppelstellen derzeit keine nennenswerte Beschaffungsalternative jenseits der deutschen Grenzen. Eine Verschärfung des Wettbewerbs, insbesondere auf der Erzeugungsstufe, durch Importkonkurrenz ist demnach auf absehbare Zeit nicht realistisch. So wenig inzwischen also umstritten ist, dass auf dem deutschen Strommärkten beträchtlicher wettbewerbspolitischer Handlungsbedarf besteht, so unterschiedlich sind die vorgeschlagenen Handlungsempfehlungen. Im Wesentlichen lassen sich dabei zwei Denkschulen unterscheiden: die der Regulierungs- und die der Entflechtungsbefürworter. Der .Regulierungsfraktion' lässt sich zunächst die auf Initiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie erfolgte Aufnahme eines speziellen ,Energieparagraphen', nämlich des neuen §29, in das GWB, zurechnen. Er begründet eine sektorspezifische Verschärfung der Missbrauchskontrolle in der Energiewirtschaft. Diese heftig kritisierte neue Regelung (für viele Schmitt 2006), zu der auch die Monopolkommission im März 2007 eine eher ablehnende Stellungnahme - Tenor: Symptom· statt Ursachentherapie - veröffentlicht hatte (Monopolkommission 2007b), soll dem Kartellamt die Durchsetzung des allgemeinen Missbrauchsverbots nach §19 GWB nun auch im Energiesektor deutlich erleichtern. Die Neuregelung enthält neben einer Umkehr der Beweislast zu Lasten der Beklagten vor allem den Wegfall des sogenannten

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.Erheblichkeitszuschlags' im Rahmen des Vergleichs(markt)konzepts. Das bedeutet konkret, dass das Kartellamt einen Verdacht auf Missbrauch bereits dann aussprechen kann, sobald ein Versorgungsuntemehmen seinen Preis über den eines anderen Anbieters anhebt, ohne dabei selbst die Vergleichbarkeit der Unternehmen oder Märkte nachweisen zu müssen; der Beweis, dass dem nicht so ist, obliegt also dem oder den Beschuldigten. Zudem muss die Abweichung (von Entgelten, Entgeltbestandteilen oder sonstigen Geschäftsbedingungen) nicht mehr ,erheblich' sein. Daneben sieht §29 GWB eine Art Gewinnbegrenzungskonzept auf Basis einer Kostenkontrolle vor, falls die Entgelte die Kosten in unangemessener' Weise überschreiten. Ebenfalls dem Regulierungsansatz zuzurechnen ist die in den Zuständigkeitsbereich der Bundesnetzagentur fallende ,Anreizxegulierung'. Sie soll, nachdem ihre Einführung bereits mehrmals verschoben werden musste, nunmehr im Januar 2009 in Kraft treten. Ihre Anwendung auf den deutschen Energiesektor war bereits in der EnWG-Novelle rechtlich geregelt worden. Während der mehljährigen Vorbereitungsphase veröffentlichte die Bundesnetzagentur zwischen Dezember 2005 und April 2006 insgesamt vier Referenzberichte, welche sie, wie im Gesetz vorgesehen, im Juni 2006 in einem Bericht zur Einführung der ,Anreizregulierung' zusammenfasste (Bundesnetzagentur 2006). Darin stellte sie die von ihr bevorzugte Modellvariante vor. Vorgeschlagen wird eine Erlös-Obergrenzen-Regulierung mit Mengenanpassung, die aus Sicht der Behörde den praktischen Vorteil eines vergleichsweise geringeren Informationsbedarfs aufweist. Genauer erläutert werden in dem Bericht zudem, wie die Versorgungsqualität sichergestellt werden soll, wie Effizienzziele ermittelt werden und wie die Ausgangsbasis für die Erlösobergrenzen bestimmt werden sollen. Nach derzeitigem Zeitplan, sollten somit im Jahr 2007 die erforderlichen Daten für die Ausgestaltung der , Anreizregulierung' erhoben werden. 2008 wäre dann ein Effizienzvergleich erfolgt, aus dem die Vorgaben für die erste Regulierungsperiode der, Anreizregulierung' ab 2009 abgeleitet würden. Die Erfolgsaussichten der ,Anreizregulierung' erscheinen allerdings unklar.9 Nicht nur der außerordentlich hohe Informationsbedarf, die im Vergleich zu den personellen wie finanziellen Ressourcen der regulierten Unternehmen doch eher bescheidene Ausstattung der Netzagentur, sondern auch die nach wie vor bestehenden erheblichen Informationsasymmetrien lassen eine grundsätzliche Skepsis gegenüber diesem für Deutschland neuen Instrument geboten erscheinen. Bohne (2005) spricht in diesem Zusammen vollkommen zu Recht vom „Mythos unerschöpflicher staatlicher Regulierungsressourcen" und sogar sehr plakativ von „Regulierungswahn" - von dem allerdings eine rasch wachsende Zahl von Akteuren aus der Consulting- und Regulierungsindustrie zumindest betriebswirtschaftlich erheblich profitiert. Für die meist älteren Ökonomen, die wie auch die Verfasser dieses Beitrags - noch über Kenntnisse des wirtschaftlichen Systemvergleichs verfügen, weist das Prozedere der ,Anreizregulierung' überdies starke Parallelen zum Planungsprozess in den früheren Zentralverwaltungswirtschaften auf systemimmanente Fehlanreize wie das Phänomen ,weicher Pläne' ausdrücklich eingeschlossen. Wie unmittelbar einsichtig, wäre ein Großteil dieser lediglich an Symptomen ansetzenden Regulierungsmaßnahmen heute überflüssig, wäre die Politik der bahnbrechenden Konzeption Helmut Gröners für eine Wettbewerbsordnung in der Elektrizitätswirtschaft aus dem Jahr 1975 gefolgt. Diese setzte radikal an den ökonomischen Ursachen der wettbewerbspolitischen Malaise in diesem Sektor an. Mehr als drei Jahrzehnte nach Erscheinen seiner Habilitationsschrift scheinen die damals nahezu revolutionären Ideen 9

Ausführlich dazu Jahn (2006); Joskow (2006); Kraus (2006) sowie Säcker, Busse und Lang (2007).

282

Heinz-Dieter Smeets und Andreas Knorr

Gröners jedoch zunehmend politisch ,satisfaktionsfähig' zu sein. Dies zeigen nicht zuletzt entsprechende Initiativen der EU-Kommission (2006) sowie die Vorstöße des hessischen Wirtschaftsministers Alois Rhiel, der sich politisch schon seit längerem mit Nachdruck für umfassende Entflechtungsmaßnahmen in der deutschen Stromwirtschaft einsetzt. Wir hätten es Helmut Gröner gewünscht, diesen sich immer klarer abzeichnenden und von ihm intellektuell maßgeblich vorbereiteten Paradigmenwechsel noch miterleben zu dürfen.

Literatur Auer, Josef (2002), Strompreis: Anstieg infolge politischer Sonderlasten programmiert, Deutsche Bank Research, Aktuelle Themen, Frankfurt/Main, 30.01.2002. (http://www.dbresearch.c0m/PROD/DBR_NTERNET_DE-PROD/PRODOOOOOOOOOOO 44634.pdf) BDI, VIK, VDEW, VDN, ARE und VKU (2001), Verbändevereinbarung über Kriterien zur Bestimmung von Netznutzungsentgelten fiir elektrische Energie und über Prinzipien der Netznutzung, (http://www.verivox.de/power/gesetze/Verbaendevereinbarung.pdf). Blankart, Charles Beat, Lisa Cwojdzinski und Marco Fritz (2004), Netzregulierung in der Elektrizitätswirtschaft: Was bringt das neue Gesetz?, Wirtschaftsdienst, 84. Jg., S. 498-505. Bode, Sven und Helmuth Groscurth (2006), Das Erneuerbare-Energien-Gesetz und die Industriestrompreise, Wirtschaftsdienst, 86. Jg., S. 735-740. Börsen-Zeitung (2007a), Regulierungspaket der EU versetzt Eon in Alarmstimmung, Nr. 164, 28.08.2007, S. 8. Börsen-Zeitung (2007b), Stromkonzerne gieren nach Kontrolle über Stadtwerke, Nr. 155, 15.08.2008, S. 8. Bohne, Eberhard (2005), Im Regulierungswahn, Infrastrukturrecht, 2. Jg, Heft 8, S. 170-175. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2007), Strom aus erneuerbaren Energien. Was kostet er uns wirklich?, Berlin. (http://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/broschuere_strom_aus_ee.pdf). Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (2003), Bericht des Bundesministeriums fiir Wirtschaft und Arbeit an den Deutschen Bundestag für über die energiewirtschaftlichen und wettbewerblichen Auswirkungen der Verbändevereinbarungen (Monitoring-Bericht), Berlin, 31.08.2003. (http://vre-online.de/vre/veroeffentlichungen/03-09-02_Anlage.pdf). Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2008), Schlaglichter der Wirtschaftpolitik. Monatsbericht Januar 2008, Berlin. Bundesnetzagentur (2006), Bericht der Bundesnetzagentur nach § 112a En WG zur Einführung der Anreizregulierung nach § 21a EnWG, Bonn, 02.05.2006. (http://www.bundesnetzagentur.de/media/archive/5858.pdf). Cornwall, Nigel (2008), Achieving Electricity Market Integration in Europe, in: Fereidoon P. Sioshansi (ed.), Competitive Electricity Markets: Design, Implementation, Performance, Amsterdam, Boston, Heidelberg u.a., S. 95-137. Delhaes, Karl von (1978), Transparenz, Reaktionsgeschwindigkeit und Verhaltensweise: Eine Modellanalyse zum Ablauf von Informations- und Lernprozessen auf homogene Märkten, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 193, S. 522-544. Der Spiegel (2006), Vier gegen alle, Nr. 24, S. 80-82. Eickhof, Norbert und Verena Leila Hölzer (2006), Die Energierechtsreform von 2005 - Ziel, Maßnahmen und Auswirkungen, Diskussionsbeitrag Nr. 83 der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam, Potsdam. (http://www.uni-potsdam.de/u/ls_vwl_witheorie/wp/db83.pdf). Europäische Kommission (1997), Richtlinie 96/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt vom 19. Dezember 1996, in: Amtsblatt L 027 der EU vom 20.01.1997, S. 20-29. (http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:31996L0092:DE:HTML). Europäische Kommission (2003), Richtlinie 2003/54/EG des Europäischen Parlaments und des

Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft - heute

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Summary: The structureof the electricity market in Germany In 1975, Helmut Gröner published his seminal „Habilitation" thesis, programmatical ly entitled „The Order of the German Electricity Industry". His treatise provided the very first conclusive theoretical blueprint for the transition from a system of comprehensively monopolized and regulated public utilities to a competitive electricity market in Germany. While Gröner's main ideas may have become conventional wisdom among economists today, they were years, if not decades ahead of the academic and political

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Zeitgeist which prevailed at that time. In recent years, however, there are auspicious indications of a fundamental change of energy policy along the lines of Helmut Gröner's then revolutionary concept.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Frank Daumann und Markus Breuer1

Zur Neuordnung des Lotteriemarktes in Deutschland Inhalt I. II. 1. 2. 3. III. IV.

Problemstellung Der Markt für Lotto in Deutschland Historische Entwicklung und Einordnung des Lottospiels Die aktuelle Rechtslage Die Verwendung der Erlöse der Lotto-Gesellschaften Referenzsystem für eine Neuordnung Voraussetzungen und Ausgestaltung staatlicher Intervention auf dem Lotteriemarkt 1. Marktversagen 2. Vertragstheoretische Legitimation staatlicher Eingriffe 3. Die ökonomische Legitimation staatlicher Eingriffe 4. Fazit V. Ausblick Literatur Zusammenfassung Summary: About the rearrangement of the German lottery market

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Die Autoren danken zwei anonymen Gutachtern sowie der Schriftleitung für wertvolle Anregungen.

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Frank Daumann und Markus Breuer

I. Problemstellung

„Erstens ist es gut, dass wir die Glücksspiele in staatlicher Hand halten und dadurch Kontrolle ausüben. Zweitens ist es gut, dass wir dadurch Einnahmen haben. So einfach ist das." Kurt Faltlhauser, ehemaliger Bayerischer minister

Finanz-

Der Glücksspielmarkt in Deutschland befindet sich im Umbruch. Das von Kurt Faltlhauser angesprochene „in der Hand haben", also der staatliche Dirigismus weiter Teile des Glücksspielmarktes, gilt vor allem aus juristischer Sicht als problematisch und wird besonders in jüngster Zeit von der EU zunehmend kritisch untersucht. Das Lottospiel stellt dabei keine Ausnahme dar, sondern ist bislang wie praktisch jeder andere Bereich des Glücksspiels hochgradig vom Staat reguliert. Gleichwohl erfreuen sich die Angebote des Deutschen Lotto-Toto-Blocks, des Zusammenschlusses der 16 Ländergesellschaften mit dem Charakter eines de facto Monopols, breiter gesellschaftlicher Akzeptanz und einer konstant hohen Nachfrage: Im November und Dezember 2007, als der LottoBlock einen Jackpot in Höhe von 43 Millionen Euro ausspielte, konnten alleine bei der 2 Mittwochsziehung, mit der Chance von eins zu 140 Millionen je Spielschein, 20 Millionen Lottoscheine verkauft werden (Focus Online 2007). In der vorliegenden Abhandlung soll der Lotteriemarkt in Deutschland aus ordnungsökonomischer Perspektive analysiert werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem bekanntesten Produkt, dem bereits angesprochenen Zahlenlotto 6 aus 49. Dieses hat in Deutschland derzeit eine faktische Monopolstellung; einzige Konkurrenz sind die Norddeutsche bzw. die Süddeutsche Klassenlotterie NKL und SKL, die jedoch auf Grund ähnlicher rechtlicher Organisation sowie geringerer Marktbedeutung unberücksichtigt bleiben sollen. Im weiteren Verlauf wird der Begriff der Lotterie folglich synonym für das deutsche Zahlenlotto verwendet. Vom häufiger behandelten Themenblock der Sportwetten wird abgesehen. Die Themenbehandlung erfordert eine Bestandsaufnahme des deutschen Glückspielmarktes (Kapitel II). Es folgt die Entfaltung eines Referenzsystems für eine Neuordnung (Kapitel III). Die Konsequenzen für die Anwendung auf den Lotteriemarkt schließen sich im Kapitel IV an. Im Kapitel V wird ein Fazit gezogen und Ausblick gehalten.

2 3

Dies entspricht der Wahrscheinlichkeit, mit der auf einem Tippschein nicht nur die sechs Gewinnzahlen richtig ausgewählt wurden, sondern zudem noch die gezogene Superzahl korrekt ist. Der interessierte Leser sei unter anderem auf die Ausarbeitung von Quitzau (2007) verwiesen.

Zur Neuordnung des Lotteriemarktes in Deutschland

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II. Der Markt für Lotto in Deutschland 1. Historische Entwicklung und Einordnung des Lottospiels Das Glücksspiel hat eine lange Entwicklungsgeschichte, seine Entstehung verliert sich im „mythologischen Dunkel" (Haase 1992). Neben ersten Erwähnungen von Gewinnspielen in Ägypten und anderen frühen Hochkulturen kannte man das Spiel ebenso zur Zeit des römischen Imperiums wie im europäischen Mittelalter. Das Spiel galt allgemein als „ehrenvolles Suchen der Gefahr, nur aus Lust am Risiko, nicht aber aus Gewinnsucht" {Kreutz 2005). Freilich sind auch aus frühester Zeit die ersten Verbote von Glücksspielen bekannt, so z.B. ein Verbot des Würfelspiels in der römischen Republik zu der Zeit vor 550 v. Chr. (.Lange 1862). Das heute so populäre Zahlenlotto basiert auf einem Glücksspiel, das 1620 erstmals in Genua erwähnt wird (Lotto di Genova); hierbei konnte auf die Verteilung von Staatsämtern getippt werden {Leonhardt 1994). In Europa gewannen Glücksspiele vor allem im 18. Jahrhundert auf Jahrmärkten und in Badeorten an Popularität. Von niemand geringerem als John Law weiß man, dass er zeitweise sein Einkommen mit Hilfe des Würfelspiels bestritt. Unter Glücksspiel wird nach dem aktuellen Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV)4 in Deutschland ein Spiel verstanden, bei dem für den Erwerb einer Gewinnchance ein Entgelt verlangt wird und die Entscheidung über den Gewinn ganz oder überwiegend vom Zufall abhängt. Laut § 3 ( 1 ) GlüStV gehören Wetten jedweder Art gegen Entgelt (meist in Form von Sportwetten) explizit zur Gruppe der Glücksspiele. Hierzu werden weiterhin Lotterien, Angebote innerhalb staatlicher Spielbanken (Tischspiele und Automaten) sowie Automatenspiele außerhalb staatlicher Casinos (z.B. in Gaststätten und Spielhallen) gezählt. Neben diesen bedeutenden Teilbereichen findet sich eine Anzahl weniger bekannter Glücksspiele wie das Gewinnsparen, das von öffentlich-rechtlichen und genossenschaftlichen Kreditinstituten angeboten wird. 5

4

5

Die Glücksspielhoheit haben in der Bundesrepublik die einzelnen Bundesländer. Diese sind mit dem Staatsvertrag übereingekommen, den Markt für Glücksspiele hinsichtlich Veranstaltung, Durchführung und Vermittlung aller Art zu regeln (§ 2 GlüStV). Hierbei handelt es sich um ein Mischprodukt aus Glücksspiel und Geldanlage, bei dem ein Sparvertrag in ein Anlagemodell mit durchschnittlich deutlich negativer Rendite umgewandelt wird. Eine kritische Betrachtung findet sich bei Adams und Tolkemitt (2000).

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Frank Daumann und Markus Breuer

Glücksspiele

Lotterien (z.B. Lotto, Spiel 77) f

Ν

Angebote der Spielbanken

-

(Tisch- und Automatenspiele) Wetten

V

(Oddset, Pferdewetten usw.)

f

Λ

Automatenspiele außerhalb

ν /-

staatlicher Spielbanken Sonstige (z.B. Gewinnsparen)

Λ

/

Wie erwähnt, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die Spiele, die vom Deutschen Lotto-Toto-Block angeboten werden und die - abgesehen von den Spielbanken - den umsatzstärksten Teil des Glücksspiels in Deutschland ausmachen. Das bestehende deutsche Lotteriewesen mit dem Quasi-Monopol des Deutsche Lotto-Toto-Blocks ist eng mit der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten für den Sport verknüpft. Die Sport-Toto-GmbH Rheinland-Pfalz wurde 1948 durch die Sportbünde Rheinland, Rheinhessen und Pfalz gegründet, um Erträge zu generieren, die dem Sport in der Region zugute kommen sollten {Leonhardt 1994). 1956 folgte die Vereinigung der elf westdeutschen Toto-Gesellschaften zum Deutschen Toto-Block. Auch der deutsche Lotto-Block ist aus den vormals unabhängigen Landesgesellschaften entstanden6. Seit Beginn der 1990er Jahre gibt es den gesamtdeutschen Lotto-Toto-Block.

2. Die aktuelle Rechtslage Nach dem Staatsvertrag über das Glücksspielwesen in Deutschland bedarf jede Art von öffentlichem Glücksspiel einer Genehmigung der zuständigen Behörde des jeweiligen (Bundes-)Landes (§ 4 GlüStV). Unerlaubtes Glücksspiel (Teilnahme und Veranstaltung) ist verboten und kann nach § 284 f StGB mit Geld- und Freiheitsstrafen geahndet werden. Diese Position wurde zuletzt am 30.08.2007 durch einen Entscheid des hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Aktenzeichen 7 TG 616/07) bestätigt. Danach sind

6 Auf die Fusionsgründe wird hier nicht näher eingegangen. Einer der Hauptgründe liegt in der Möglichkeit, durch Bündelung der Einnahmen die Gewinnchancen der Spieler zu vergrößern und somit die Massenattraktivität des Spiels zu erhöhen. Siehe hierzu Kapitel IV.

Zur Neuordnung des Lotteriemarktes in Deutschland

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Konzessionen des Auslands wie auch solche aus der ehemaligen DDR ungültig (ο. V. 2007a) 7 Durch eine restriktive Praxis der Konzessionsvergabe wird das bestehende de facto Monopol gesichert. Ausnahmen sind die beiden erwähnten Klassenlotterien NKL und SKL.8 Während privaten Unternehmen der Zugang zum Lotteriespiel bislang verwehrt wurde, erhielten die Blockunternehmen in den letzten Jahren vermehrt die Möglichkeit, ihr Angebot auszuweiten (Adams und Tolkemitt 2001). Hierzu gehörten z.B. die Einfuhrung des „Lotto ohne Grenzen" 9 (1985), der Superzahl (1991), der Start von Oddset (2000) und der von ΚΕΝΟ (2004). Gemäß Bundesverfassungsgericht (BVG) ist die im Widerspruch zur Gewerbefreiheit stehende Ordnung des Glücksspielmarktes gerechtfertigt, wenn es im Interesse des Gemeinwohls liegt. Dieses wird in der Bekämpfung der Spiel- und Wettsucht, im Schutz der Spieler und in der Abwehr von Gefahren wie der Folgekriminalität geseL hen. io In einem Leitsatz vom 28.03.2006 stellt der erste Senat des BVG jedoch fest, dass das staatliche Monopol bei Sportwetten diese Gefahr nicht zu bannen vermag, da zahlreiche Intemetanbieter, auch mit einem Sitz im Ausland, mit dem nationalen Recht nicht ausgeschlossen werden können. Folglich wurden die deutschen Bundesländer aufgefordert, das verfassungswidrige Monopol für Sportwetten aufzuheben. Ergebnis dieser Bemühungen ist ein neuer, seit Beginn des Jahres 2008 gültiger, Glücksspielstaatsvertrag. Dieser verbietet unter anderem den Vertrieb von Sportwetten über das Internet und schränkt die Werbemöglichkeiten weitgehend ein. Eine Liberalisierung des Marktes, insbesondere für Sportwetten, wurde hingegen nicht eingeleitet; vielmehr wurde das Monopol gestärkt. Vor Inkrafttreten des Vertrages stellte die Europäische Kommission im Oktober 2007 dessen Vereinbarkeit mit europäischem Recht in Frage. Insbesondere das Verbot der Online-Vermittlung sei unverhältnismäßig (ο. V. 2007b). Auf Grund der Inkonsistenz des deutschen Vorgehens - Sportwetten im Internet sind nicht zugelassen, Pferdewetten aber wohl - leitete die EU-Kommission erwartungsgemäß im Januar 2008 ein Verfahren gegen Deutschland ein (ο. V. 2008). Der Ausgang ist bislang offen. Unabhängig davon hat das Verwaltungsgericht Chemnitz am 09.01.2008 den neuen Staatsvertrag mit nationalem als auch mit EU-Recht vereinbar erklärt (Aktenzeichen 3 Κ 995/07).

7 Die unklare Rechtslage, gerade in Bezug auf Lizenzen aus der DDR, spielt unter anderem deshalb eine so große Rolle, weil mit bwin (ehemals bet and win) einer der größten Anbieter privater Sportwetten sich auf diese Ausnahmeregelung berief. 8 Die Klassenlotterien werden von den Bundesländern direkt veranstaltet, die sich mittels eines Staatsvertrages zur Norddeutschen Klassenlotterie (NKL, 10 Bundesländer) bzw. Süddeutschen Klassenlotterie (SKL, 6 Bundesländer) zusammengeschlossen haben. Beide Gesellschaften fungieren als Anstalten öffentlichen Rechts (Kreutz 2005). 9 Zuvor waren die Gewinne im Zahlenlotto zeitweise durch eine Obergrenze eingeschränkt. 10 Zitiert nach Pieroth (2007). Die Gefahr der Sucht wird dabei aktuell weder von der öffentlichen Hand noch vom Deutschen Lotto-Toto-Block bestritten. So haben im Kampf gegen eben jene Spielsucht der Deutsche Lotto-Toto-Block und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im Februar 2007 einen Kooperationsvertrag geschlossen. In diesem Rahmen finanzieren die Lotto-Anbieter u. a. ein telefonisches Beratungsangebot sowie eine Aufklärungskampagne.

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Frank Daumann und Markus Breuer

3. Die Verwendung der Erlöse der Lotto-Gesellschaften Die 16 Lotto-Gesellschaften schütten je nach Spiel ein Minimum von 50 % der Umsatzerlöse als Gewinn an die Spieler aus. Zu den laufenden Geschäftsausgaben kommen die Abgaben an die Länder. Bei Westlotto - der größten der 16 bundesdeutschen Lottogesellschaften - entfallen z.B. 47 % aller Abgaben auf die Konzessionsgebühren, weitere 42 % auf die zu entrichtende Lotteriesteuer; die verbleibenden 11 % gelten als „Zweckerträge". Während Konzessionsabgaben und Lotteriesteuer jeweils direkt dem entsprechenden Landeshaushalt zu Gute kommen und für die Bundesländer eine reguläre Einnahmequelle darstellen, erfolgt die Verteilung der Zweckerträge unter der Obhut der einzelnen Gesellschaften. In den letzten Jahren empfingen die Landeshaushalte jeweils ca. 850 Millionen EUR aus der Lotteriesteuer sowie 1,1 Milliarden EUR aus Konzessionsabgaben. Zu den erwähnten Einnahmen vom Lotto-Toto-Block kommen die Abgaben der derzeit 63 öffentlichen Spielbanken11, von denen neben den Landeshaushalten auch die Kommunen, in denen die entsprechenden Kasinos betrieben werden, profitieren. Der Arbeitskreis Steuerschätzung errechnete im Mai 2007 ein Aufkommen von zusammen 1,7 Milliarden EUR an Einnahmen aus der Rennwett- und Lotteriesteuer. Von den Zweckerträgen der Westlotto z.B. entfielen 50 % auf die Förderung des Sports, 27 % auf die Unterstützung von Wohlfahrtsorganisationen, 14 % auf kulturelle Projekte, 5 % auf die Förderung von Gesundheitsprojekten und schließlich 4 % auf den Naturschutz. Die Vergabe liegt dabei vollständig im Ermessen der Lotto-Gesellschaften: Einzelne Organisationen können sich bei der entsprechenden Lotto-Gesellschaft um eine Mittelzuwendung bewerben, die Vergabekriterien sind jedoch nicht transparent und es besteht auch kein Rechtsanspruch auf finanzielle Unterstützung. Auf Grund der dominanten Position der Sportforderung bietet es sich an, diesen Bereich und die zugehörigen Empfanger etwas genauer zu betrachten. Nach Angaben von Westlotto steht die Förderung des Sports nicht nur im Dienst der Gesundheit, sondern auch des Gemeinwohls ( Westlotto 2007). Ausdruck hierfür ist die hohe Bedeutung der Breitensportforderung durch Lotterieeinnahmen. Ähnliche Aussagen finden sich in den Geschäftsberichten der anderen Landesgesellschaften: So legt z.B. der Geschäftsbericht von Lotto Baden-Württemberg besonderen Wert auf die Erwähnung des Toto-LottoFörderpreises (Lotto Baden-Württemberg 2007). Bei Lotto Niedersachsen wird auf die Förderung kleiner Vereine in Form von Finanzspenden, der Finanzierung von Sportbekleidung und anderen Sachausgaben hingewiesen (Lotto Niedersachsen 2007). Betrachtet man die Empfanger von Leistungen im Geschäftsjahr 2006, so bestätigt sich die Ausrichtung der Lotto-Gesellschaften am Breitensport. Allein Westlotto leitete 1,3 Millionen EUR an den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), 29,2 Millionen EUR an den Landessportbund NRW und 900.000 EUR an die Stiftung Deutsche Sporthilfe weiter (Westlotto 2007). Die immense Bedeutung der Zuwendungen aus Lotterieeinnahmen für den Sport auf Landesebene verdeutlicht auch die Tatsache, dass 2006 11 Nach Angabe der Interessen- und Arbeitsgemeinschaft deutscher Spielbanken beträgt die Spielbankabgabe ca. 80 % der Bruttospielerträge, also des Saldos aus Einsätzen und Gewinnen der Spieler. Die an die Länder abgeführte Summe belief sich im Jahr 2005 auf 774 Mio. Euro. Nähere Informationen finden sich unter: http://www.desia.de.

Zur Neuordnung des Lotteriemarktes in Deutschland

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fast die Hälfte des Jahreshaushalts des Landessportbundes Niedersachsen durch Mittel von Lotto-Niedersachsen abgedeckt wurde (Lotto Niedersachsen 2007). Darüber hinaus treten die Lotto-Gesellschaften immer wieder als Sponsor von Vereinen und Veranstaltungen auf. Die Mittel, die insgesamt aus Lottoeinnahmen der Sportforderung zu Gute kamen, betrugen 2006 mehr als 500 Millionen EUR; die Landeshaushalte wurden im Umkehrschluss um genau diesen Betrag entlastet. Einigkeit besteht unter den Repräsentanten des deutschen Sports darüber, dass die Einnahmen aus Glücksspielerlösen dringend benötigt werden, um höhere Beiträge der Mitglieder im Breitensport zu verhindern. Doch bei der Frage danach, wie diese Erlöse generiert werden sollen, herrscht bereits Uneinigkeit zwischen den Spitzenverbänden. So fordert der Deutsche Fußballbund (DFB) seit 2006 eine Liberalisierung im Bereich der Sportwetten, während Vertreter der Landessportbünde klar für einen Erhalt des staatlichen Monopols eintreten (Hahn 2006). Festzuhalten ist, dass der hohe Stellenwert der Sportförderung auch auf einem wettbewerblichen Glücksspielmarkt aufrechterhalten werden könnte, z.B. durch eine entsprechende Auflage. Bezüglich der derzeitigen Ausgestaltung von Lotterien und der Verwendung der entsprechenden staatlichen Erlöse kann abschließend konstatiert werden, dass Lotterien eine regressive Umverteilungswirkung aufweisen. Diese Aussage konnte jüngst von Beckert und Lutter (2008) belegt werden, die insbesondere die Verteilung von Landesmitteln aus Abgaben des Lotto-Blocks untersuchten.12

III. Referenzsystem für eine Neuordnung Will man den deutschen Lotteriemarkt in seiner heutigen Verfassung bzgl. der Möglichkeit einer Neuordnung beurteilen, bedarf es eines Referenzsystems. Hierfür bietet sich einerseits ein Ordnungsleitbild, andererseits die tatsächlich realisierte Ordnung an. Auf Grund der Tatsache einer sich wandelnden Ordnungsrealität ist von ihr als Orientierung jedoch abzusehen, da eine solche Bezugspunktsdynamik die Analyse deutlich erschweren würde (Gutmann 1986). In Deutschland wird vielfach im marktwirtschaftlichen System im Sinne Müller-Armacks ein geeignetes Leitbild gesehen.13 Die grundsätzliche Entscheidung hierfür bedarf immer auch der Zustimmung der Wähler. Einem mündigen Bürger kann dabei unterstellt werden, dass er sich für das Wirtschaftssystem entscheidet (sofern er einer Wahlmöglichkeit gegenübersteht), das seinen individuellen Wünschen nach Realisierung gesellschaftlicher Grundwerte am ehesten entspricht (Langer 2006). Nach Tuchtfeldt (1982) können Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit als solche Grundwerte angesehen werden. In der Entscheidung zwischen den beiden konkurrierenden Wirtschaftssystemen Zentralverwaltungswirtschaft und Marktwirtschaft sichert nur letztere die bestmögliche Befriedigung der individuellen Wünsche, insbesondere mit Blick auf die Möglichkeit, frei wählen und handeln zu können (Weber 1999). Für (West-)Deutschland ist die Grundsatzentschei12 Eine Übersicht über die bisherigen Studien zur Regressivität staatlicher Lotterien findet sich ebenfalls dort. 13 Zu Müller-Armack und dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft siehe auch Willgerodt (2001).

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Frank Daumann und Markus Breuer

dung für die Marktwirtschaft unauflöslich mit dem Namen Ludwig Erhards verbunden, der „im politischen Raum gleichsam als Keimzelle und Wachstumshormon [...] fungierte" und zu einem Promoter wurde, „der von seiner Idee nicht nur überzeugt war, sondern auch über die Machtmittel zu ihrer Durchsetzung verfügte" (Grossekettler 1987). Die Möglichkeit der freien Wahl und Entscheidung wurde auch überwiegend von der Bevölkerung in den Transformationsstaaten in den 1990er Jahren als erstrebenswert eingeschätzt, was sich in der Entwicklung dieser Länder widerspiegelt. Marktwirtschaftliche Systeme beruhen auf den wettbewerblichen Prozessen des Erwerbs, der Verwertung und der Kontrolle von Wissen {Streit 1995). Auf Hayek (1968, 1981) geht in diesem Zusammenhang der Begriff des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren sowie die Interpretation des Marktprozesses als Lernen durch Versuch und Irrtum zurück. Durch wettbewerbliche Interaktion der Individuen wird disperses Wissen genutzt und nach neuem Wissen geforscht. Sobald Nachfrager Leistungsunterschiede oder Substitutionsmöglichkeiten entdecken, erwächst daraus ein Druck auf die Anbieter; es kommt zu einer höheren Wettbewerbsintensität. Für einen Produzenten ist es in der Folge notwendig, die Ursachen eines möglichen Nachfragerückgangs zu erkennen und mittels Maßnahmen wie Innovationen oder einer Anpassung der Preise die angebotsseitige Fehleinschätzung abzugleichen. Die Problematik für den Verbraucher liegt in der Tatsache begründet, dass der Wissenserwerb mit Transaktionskosten verbunden ist. Diese Kosten sind vom Charakter her irreversibel und treten auch dann auf, wenn es nicht zur Entdeckung von unterschiedlichen Gütereigenschaften oder Substitutionsmöglichkeiten kommt. Die Wettbewerbsintensität ist somit mit der Bereitschaft verbunden, Ressourcen für den Wissenserwerb aufzuwenden (Streit 1995). Voraussetzung für die Funktionsfahigkeit des Wettbewerbs, wie er beim Umgang mit Wissen entsteht, ist die für alle Subjekte zu gewährleistende Entscheidungs- und Handlungsfreiheit (Gutmann 1986), deren Gebrauch mit Überraschungen und Enttäuschungen verbunden sein kann und die Revision der Pläne nahe legt. So kommt es zu einem fortlaufenden Prozess des Lernens. Um das Funktionieren der wettbewerblichen Marktprozesse zu gewährleisten, kommt dem Staat aus ordoliberaler Sicht eine gestaltende Funktion zu. Dies spiegelt sich auch in der Vorstellung vom „Wettbewerb als staatliche Veranstaltung" nach Miksch (1937) wider. Kommt es innerhalb der marktwirtschaftlichen Prozesse zu Funktionsstörungen, beispielsweise durch ein außer Kraft gesetztes Preissystem, so kann dies durch staatliche Vorkehrungen verhindert werden. Mit Eucken (1975) lassen sich sieben konstituierende Prinzipien14 benennen, an denen sich staatliche Aktivitäten ausrichten müssen: Die Forderung nach einer positiven Politik zur Durchsetzung der vollständigen Konkurrenz, die Stabilität der Preise, das Offenhalten von Märkten, die Existenz von Privateigentum, die Freiheit zum Vertragsabschluss, die Vermeidung von Haftungsbeschränkungen sowie die Stetigkeit der Wirtschaftspolitik. Weiterhin ist durch die Politik zu gewährleisten, dass Ungleichheiten in Startchancen abgebaut werden und benachteiligte, schwächere Gesellschaftsmitglieder unterstützt werden (Grundsatz der Subsidiarität, hierzu Kath 1999).

14 Grossekettler (1987) verwendet synonym zum Begriff der konstituierenden Prinzipien den der „notwendigen Elemente der Wettbewerbsordnung".

Zur Neuordnung des Lotteriemarktes in Deutschland

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Tatbestände, die aus ökonomischer Sicht eine staatliche Intervention nach sich ziehen können, liegen immer dann vor, wenn es zu Markt- und Wettbewerbsstörungen kommt.15 Von besonderer Relevanz sind in diesem Zusammenhang die Themenfelder der öffentlichen Güter, der meritorischen Güter, der externen Effekte (Marktexternalitäten), der Störungen durch die Existenz eines natürlichen Monopols sowie Informationsmängel. -

Von einem öffentlichen Gut spricht man genau dann, wenn ein Gut die Eigenschaften der Nichtausschließbarkeit und der Nichtrivalität im Konsum erfüllt. Klassische Beispiele für öffentliche Güter finden sich bspw. in der Bereitstellung der Landesverteidigung oder dem Konsumnutzen eines Feuerwerks. Auf Grund der o.g. Eigenschaften kommt es im wirtschaftlichen Handeln von individuell nutzenmaximierenden Individuen zum sog. Freifahrerverhalten, weshalb die Produktion dieser Güter zumindest einen staatlichen Anreiz erfordert.16

-

Meritorische (verdienstvolle) Güter treten hingegen im Fall von verzerrten Präferenzen und/oder der Existenz einer besser informierten Gruppe im Markt auf.17 In diesem Fall entspricht die am freien Markt nachgefragte Menge nicht der aus Wohlfahrtsaspekten optimalen Menge, weshalb hier staatliches Eingreifen bspw. in Form von Subventionen erforderlich ist.

-

Von externen Effekten wird in einer Volkswirtschaft immer dann gesprochen, wenn die gesamtwirtschaftlichen Kosten eines Gutes nicht vollständig im Marktpreis abgebildet werden; neben den direkt Beteiligten entstehen weiterhin Kosten (oder Nutzen) bei unbeteiligten Dritten. Derartige Effekte können im Allgemeinen in der Produktion wie auch im Konsum von Gütern entstehen.18 Aus Wohlfahrtssicht stellt sich auf Märkten, auf denen negative Externalitäten auftreten, ein zu niedriger Preis ein, der seinerseits zu einer suboptimalen, da zu hohen abgesetzten Menge führt. Lösungsansätze fur externe Effekte finden sich vor allem in Form von Steuern oder der Definition von Eigentumsrechten.19

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Im Falle eines natürlichen Monopols versagt der Preismechanismus auf Grund einer besonderen Kostenstruktur in der Produktion. Ein derartiges Monopol liegt dann vor, wenn ein einzelner Anbieter alle relevanten Nachfrager kostengünstiger bedienen kann als zwei oder mehrere Anbieter, die jeweils Teilmengen bereitstellen (Berg, Cassel, Hartwig 1999). Grundlage hierfür ist eine subadditive Kostenstruktur, bei der unter der Annahme konstanter Fixkosten und degressiver oder konstanter Grenzkosten die Durchschnittskosten mit zunehmender Ausbringungsmenge sinken.20

15 Zur Theorie des Marktversagens siehe bspw. Mühlenkamp (2002) sowie die dort angegebenen Quellen. 16 Siehe zu Thematik insbesondere Samuelson (1954). 17 Zum Komplex der meritorischen Güter siehe auch Musgrave (1959). 18 Prinzipiell muss zwischen positiven und negativen Externalitäten unterschieden werden. Für diese Untersuchung ist jedoch nur die zweite Gruppe relevant. 19 Zur Thematik der Eigentumsrechte siehe Coase (1960) sowie Helmedag (1999). 20 Zur Thematik sinkender Durchschnittskosten siehe auch Fritsch, Wein, Ewers (2005). Weitere Informationen zur Regulierung von Monopolen finden sich unter anderem bei Kruse (1985).

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Auf realen Märkten werden Tauschvorgänge immer unter unvollständigen Informationen getätigt; die Effizienz dieser Märkte wird dadurch nicht zwangsläufig beeinflusst. Marktversagen tritt erst dann auf, wenn das Entdeckungsverfahren (s.o.) soweit eingeschränkt ist, dass Entscheidungen systematisch falsch getroffen werden (Berg, Cassel, Hartwig 1999). Im hier untersuchten Zusammenhang ist dies insbesondere dann der Fall, wenn ein Konsument die Qualität eines Produkts auf Grund asymmetrischer Informationen nicht einzuschätzen vermag.21

Wenn auf einem Markt derartige Erscheinungen eines Versagens konstatiert werden können, ist in einem nächsten Schritt zu prüfen, ob diese so gravierend sind, um eine staatliche Intervention zu rechtfertigen. Nach Grossekettler (1987) existiert auf Basis der bisherigen Ausführungen ein Ablaufschema, mit dem in Übereinstimmung mit den genannten Euckenschen Prinzipien wirtschaftspolitische Maßnahmen systematisch beurteilt werden können. Auf Basis dieses „Musters" kann einerseits die vertragstheoretische Legitimation eines Maßnahmenziels und andererseits die ökonomische Legitimation der entsprechenden Maßnahmengestaltung geprüft werden. Die Prüfling der vertragstheoretischen Legitimation erfolgt in einem zweistufigen Verfahren. Im ersten Schritt wird die hypothetische Rechtfertigung überprüft, bevor im zweiten Schritt Verweise auf konkludentes (schlüssiges) Verhalten analysiert werden. Theoretische Basis des ersten Schrittes ist ein hypothetischer Vertrag zwischen aufgeklärten22 Bürgern. Im Falle des Vorliegens eines solchen Vertrags kann man von einer notwendigen Bedingung fiir die Legitimation kollektiven Handelns sprechen, wenn diesem „alle als Freie und Gleiche" zustimmen könnten (Ballestrem 1983; Homann 1988). Diese Entscheidung, unabhängig ob Zustimmung oder Ablehnung, ist individuell in einer „Rawlsschen Urvertragssituation" (Grossekettler 1987) zu treffen. Im „Schleier des Nichtwissens" kennt niemand seinen Platz in der Gesellschaft oder seine individuellen Fähigkeiten, so dass eine jede Entscheidung allein unter allgemeinen Gesichtspunkten getroffen werden muss (Rawls 1975). Neben der hypothetischen Rechtfertigung für eine staatliche Intervention verbleibt gemäß Grossekettlers Konzept zu prüfen, ob es einen Verweis auf konkludentes Handeln gibt. Hier ist zu analysieren, ob „in der Erfahrungswelt Anzeichen dafür [existieren], daß die in Rede stehende Zielsetzung vom Gros aufgeklärter und unparteiischer Bürger geteilt und Verstöße dagegen als soziale Missstände aufgefasst würden" (Grossekettler 1987). Anders ausgedrückt ist zu fragen, ob in der Vergangenheit bereits Maßnahmen von staatlicher Seite in ähnlichen Situationen ergriffen worden sind und ob diese als gesellschaftlich akzeptiert gelten können. Sofern das Maßnahmenziel sich gemäß dem beschriebenen Verfahren als vertragstheoretisch legitim herausgestellt hat, wenn also sowohl der hypothetische Vertrag als auch das konkludente Handeln vorliegen, ist in der Folge die Überprüfung der ökonomischen Legitimität der möglichen Maßnahmen in einem vierstufigen Verfahren not21 Siehe hierzu "The Market for „Lemons" {Akerlof 1970). 22 Die Aufgeklärtheit ergibt sich hierbei insbesondere durch ein entsprechendes Wissen, d.h. jedes Individuum ist in der Lage, die Folgen seines Handelns zu erkennen, zu bewerten und eine entsprechende Haltung einzunehmen, die den individuellen Nutzen maximiert. Gegebenenfalls ist eine Bereitstellung der notwendigen Informationen von öffentlicher Seite sicherzustellen.

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wendig. Sollte das Ziel hingegen keine vertragstheoretische Legitimation erfahren, weil eine der beiden Bedingungen nicht erfüllt ist, so entfallen die folgenden Schritte naturgemäß. Nach der Ermittlung denkbarer Instrumente zur Zielrealisation (Stufe eins) kommt es in der zweiten Stufe zur Überprüfung dieser Instrumente auf ihre Zielkonformität. Nach Gutmann (1980) ist eine wirtschaftspolitische Maßnahme dann zielkonform, wenn sie zur Erreichung der gesetzten Ziele technisch geeignet ist. Da in der Realität häufig keine vollständige Zielerreichung im Rahmen des Möglichen liegt, sollten entsprechend diejenigen Instrumente gewählt werden, die den höchsten Zielerreichungsgrad aufweisen. Im Anschluss an die Zielkonformität gilt es im dritten Schritt, die als zielkonform erkannten Maßnahmen hinsichtlich ihrer Ordnungs- bzw. Systemkonformität zu testen. Als konform gilt eine Maßnahme dann, wenn sie keine Wirkungen auslöst, die die Wirtschaftsordnung partiell oder vollständig außer Kraft setzt (Gutmann 1980). In einer Marktwirtschaft sind dies insbesondere Eingriffe in die Handlungsfreiheit der Individuen sowie Maßnahmen, die zusätzlichen Kompetenzen für staatliche Stellen schaffen (und damit unter Umständen gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen) (Grossekettler 1987). Im Rahmen der Überprüfung der Ordnungskonformität ist darüber hinaus die minimale Eingriffstiefe zu berücksichtigen. So ist nach Böhm (1950) eine Technik so anzuwenden, dass die geringstmögliche Dosierung zum Tragen kommt. Im Rahmen dieses Schritts erfolgt ein Aussonderungsprozess, an dessen Ende nur die Maßnahme mit der „absolut geringsten zielbedingten Minimalintensität der Ordnungsstörung" 0Grossekettler 1987) verbleibt. Der letzte Schritt dieses vierstufigen Verfahrens sieht schließlich die abschließende Prüfung der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme vor. Je nach Komplexitätsgrad kann diese mittels einer Kosten-Nutzen-Analyse erfolgen. Aufbauend auf diesem Referenzsystem soll in den folgenden Abschnitten geprüft werden, in welchem Maße im Falle des Lotteriemarktes Marktversagen vorliegt, inwieweit die Legitimität zu staatlichem Eingreifen gegeben ist bzw. ob die bisherigen Eingriffe legitim erscheinen und wie eine mögliche Neuordnung aussehen muss.

IV. Voraussetzungen und Ausgestaltung staatlicher Intervention auf dem Lotteriemarkt Aufgabe der folgenden Abschnitte soll sein, an erster Stelle zu überprüfen, ob Marktversagenstatbestände im Lotteriemarkt vorliegen. Daran schließt sich die Anwendung des Verfahrens nach Grossekettler mit den bereits beschriebenen Stufen an. Auf dieser Basis wird sich am Ende eine Empfehlung abgeben lassen, ob und in welcher Form ein staatlicher Eingriff im Lotteriemarkt als legitimiert gelten kann.

1. Marktversagen Die derzeitige Situation im Lotteriewesen wie im gesamten Glücksspielmarkt ist gekennzeichnet durch eine starke Regulierung in Form eines staatlichen Monopols (siehe

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Kapitel II). Um mögliche Wettbewerbsstörungen zu erkennen, ist zu überprüfen, welche Situation sich im Falle des unregulierten Wettbewerbs einstellte. In einem freien Lotteriemarkt bestehen nach dem derzeitigen Wissensstand drei Gefahren, die als Marktversagen bzw. Wettbewerbsstörungen aufgefasst werden: Dies sind neben dem Auftreten von externen Effekten in Folge von Spielsucht die Gefahr eines natürlichen Monopols und das Auftreten von Informationsmängeln.

a. Spielsucht als externer Effekt Wer an Lotteriespielen teilnimmt, lässt sich auf einen Tausch mit einer Gewinnerwartung ein. Im Falle der Existenz eines negativen externen Effektes müssten nun neben den Marktteilnehmern (Käufer bzw. Spieler und Verkäufer bzw. Lotterieanbieter) bei anderen, nicht unmittelbar am Marktgeschehen beteiligten Gruppen oder Individuen Kosten durch den Vertrieb von Losen entstehen. Ein negativer externer Effekt könnte in der Verleitung zu einer Spielsucht gesehen werden, die in der Folge zum finanziellen Ruin der Spieler führen kann. Pathologisches Spielen wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1991 in die International Classification of Diseases (ICD) aufgenommen. Wie jede andere Form der Sucht, kann diese Art der Erkrankung jedes Gesellschaftsmitglied erfassen (Nolte 2007). Die Entstehung von Spielsucht wird durch eine Reihe soziokultureller und psychosozialer Faktoren begünstigt. Dazu gehören u. a. die Verfügbarkeit von Spielen, die Arbeits- und Lebensverhältnisse sowie die familiären Strukturen (Meyer und Bachmann 2005). Schätzungen gehen davon aus, dass es in Deutschland ca. 110.000 bis 180.000 pathologische Spieler gibt.23 Diese weisen im Vergleich zu den stoffgebundenen Suchtkranken meist eine höhere Verschuldung auf; der Anteil der Therapieabbrüche kann als verhältnismäßig hoch angesehen werden (Meyer 2004). Spielsucht kann auf Grund der vorliegenden Daten als ein überwiegend männliches Phänomen bezeichnet werden (ebenda).24 Den größten Anteil pathologischer Spieler findet man unter den Nutzern von Spielautomaten (8 %), gefolgt von den Teilnehmern an Pferdewetten (6 %). Unter den Lottospielern können hingegen nur 0,33 % der Spieler als spielsüchtig klassifiziert werden; Zahlenlotto weist also nur ein geringes Potential zur Entstehung von Sucht auf (Stöver 2006). Klinisch treten Lotteriespieler nur in Einzelfällen als Spielsüchtige in Erscheinung, obwohl es sich um das in Deutschland dominierende Glücksspiel handelt (Petry 2003 sowie die dort angegeben Quellen). Darüber hinaus muss bedacht werden, dass Lotto meist in Verbindung mit anderen Glücksspielen betrieben wird, so dass die Spielsucht

23 Die hier angegebenen Größen stellen eine Schätzung des Bundesministeriums fiir Gesundheit dar; andere Quellen geben teilweise abweichende Größenordnungen an. Eine besonders niedrige, wenngleich veraltete Schätzung, die von nur 2.000 bis 3.000 Süchtigen ausgeht, findet sich bei Haase (1992). Die allgemeine Unsicherheit in der Quantifizierung zeigt sich bereits in der Schwankungsbreite der Angaben des zuständigen Bundesministeriums. 24 So wird der Anteil der Männer in Ost- und Westdeutschland auf jeweils ca. 90 % aller pathologischen Spieler geschätzt. Meyer und Bachmann (1993) weisen jedoch daraufhin, dass sich mit der Verringerung der traditionellen Unterschiede zwischen den Geschlechterrollen auch die Verteilung der Spielsucht zwischen den Geschlechtern angleichen dürfte.

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im Falle eines Lottospielers durchaus durch eine andere Art des Glücksspiels hervorgerufen worden sein kann. Kosten der Spielsucht können sowohl bei der erkrankten Person als auch im Umfeld anfallen. Monetär sind neben den Ausgaben fiir die Betreuungs- und Behandlungsstellen25 vor allem Ausgaben durch Arbeitsausfälle zu bewerten. Nicht-monetär und mehr dem Umfeld (Familie, Freunde) zuzurechnen sind sog. soziale Kosten, die durch Störung geordneter Lebensverhältnisse entstehen können. So bezeichnen sich 84 % der Spielerfrauen selbst als emotional krank (als Folge der Sucht ihres Ehepartners), 12 % von ihnen begingen Suizidversuche. Negative Effekte im familiären Umfeld entstehen außerdem in besonderem Maße bei Kindern von Spielsüchtigen. Als Folgen der psychischen Belastungen sind unter anderem Störungen wie Hyperaktivität, Einnässen und Sprachauffälligkeiten bekannt (Meyer und Bachmann 2005). Soziale Kosten treten dabei nicht isoliert auf, sondern stehen in einer Wechselbeziehung mit monetären Kosten. Es ist davon auszugehen, dass die Belastungen im privaten Bereich durch finanzielle Probleme (wachsende Verschuldung) verstärkt werden. Zur Höhe externer Kosten durch Glücksspielsucht gibt es für Deutschland derzeit keine verlässlichen Angaben (Reeckmann 2005). Den oben gemachten Aussagen folgend liegt hiermit ein erster externer Effekt des Glücksspiels vor. Träger der externen Kosten finden sich im unmittelbaren wie auch im mittelbaren Umfeld der erkrankten Person. Eine Quantifizierung für die Bundesrepublik muss jedoch ausbleiben. Ein zweiter negativer externer Effekt bleibt in der entsprechenden Literatur weitgehend unbeachtet. So konnte für die Jahre 1970 bis 1984 in einer empirischen Studie in den USA eine um 3 % höhere Kriminalitätsrate (bezüglich Eigentumsdelikten) in den Bundesstaaten, in denen eine öffentliche Lotterie betrieben wird, nachgewiesen werden (Mikeseil und Pirog-Good 1990). Die resultierenden Kosten sind in diesem Fall nicht quantifizierbar. Gleichwohl kann festgehalten werden, dass in diesem Falle das Ausmaß des entsprechenden externen Effekts eine vielfach größere Gruppe tangiert. Während im Fall der Suchterkrankung nur das direkte Umfeld des Süchtigen betroffen ist, bestehen im Falle einer erhöhten Kriminalitätsrate negative Externalitäten für weite Bevölkerungskreise.

b. Die Möglichkeit eines natürlichen Monopols Zur Frage, ob bei Lotterien generell der Charakter eines natürlichen Monopols angenommen werden muss, findet sich in der Literatur bislang keine eindeutige Meinung. Auf Grund der weitreichenden, weltweiten Regulierung derartiger Märkte entziehen sich diese noch weitgehend einer diesbezüglichen empirischen Untersuchung. Im Wesentlichen könnten derzeit zwei Aspekte für ein Vorliegen von Marktversagen sprechen: Dies ist zum ersten der Hinweis auf eine entsprechende Kostenstruktur, wie sie bei natürlichen Monopolen vorherrscht (sinkende Durchschnittskosten). Nach Viren 25 Die Anzahl der ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen zur Kuration liegt bei knapp über 500 im Bundesgebiet. Sie werden teils von den Kommunen, teils von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden oder in privater Trägerschaft gefuhrt.

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(2008) sind die Kosten einer Lotterie überwiegend fix; die Grenzkosten sind hingegen gering und in Abhängigkeit der Anzahl der verkauften Lose fallend. In einer empirischen Studie bei europäischen Lotterieanbietern konnte diese Aussage bestätigt werden. Bei Kostenstrukturen eines natürlichen Monopols bestünde im freien Wettbewerb demnach die realistische Möglichkeit der Entstehung eines globalen Monopols, sofern es weltweit zum Abbau staatlicher Regulierungen kommen sollte, die denen der derzeitigen deutschen Regelung ähneln. Dies ist umso wahrscheinlicher, als dass zum Vertrieb eines Loses kein physisches Leitungsnetz (Vertriebsnetz) mit den verbundenen Anfangsinvestitionen notwendig ist, sondern der Vertrieb online über das Internet erfolgen kann. Der zweite Aspekt ist der Faktor „Höchstgewinn" (Jackpot) bei der Kaufentscheidung der Konsumenten. Es lässt sich feststellen, dass ein größerer Jackpot tendenziell eine größere Anziehungskraft auf die Spieler ausübt und somit die Nachfrage forciert 26 (Young 2007 sowie Daffern 2004). Ein empirischer Nachweis für den Anstieg der Lottoumsätze im Falle eines gestiegenen Jackpots findet sich z.B. bei Cook und Clotfelter (1993). Demzufolge würde ein Anbieter ein umso attraktiveres Produkt auf dem Markt anbieten können, je mehr Nachfrager er attrahieren kann. Der Anbieter mit den meisten Nachfragern würde demnach alle anderen Anbieter aus dem Markt verdrängen, da deren Produkte auf Grund geringerer Höchstgewinne für die Nachfrager weniger interessant wären. Zudem würden Newcomer vom Markteintritt abgehalten, da sie über erhebliches Kapital oder einen entsprechenden Kreditrahmen verfügen müssten, um wettbewerbsfähige Höchstgewinne ausschütten zu können. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Lotterien elementar von anderen Arten des Glücksspiels wie bspw. Sportwetten oder Tischspielen in Kasinos. Die Existenz eines etablierten Geschäfts mit einem entsprechenden Kundenstamm könnte in diesem Fall als soziales Netzwerk interpretiert werden und somit eine strukturelle Nähe zum natürlichen Monopol begründen. Tatsächlich sind die beiden Argumente für das vermeintliche Vorliegen eines natürlichen Monopols kritisch zu beurteilen: -

Die zum Nachweis degressiver Kostenstrukturen bemühte empirische Studie weist erhebliche Mängel auf (Viren 2008). So beruht diese z.B. auf kleinen Lottoanbietern mit verhältnismäßig kleinen Marktanteilen ( Viren weist unter anderem daraufhin, dass in den USA der größte Anbieter lediglich 12% der gesamten Umsätze auf sich vereinigt). Weiterhin konnten nicht alle relevanten Faktoren in ausreichendem Maße berücksichtigt werden: Gerade im Bereich des Vertriebs ist zukünftig mit einer steigenden Bedeutung der Online-Verkäufe zu rechnen, was in den historischen Daten nur unzureichend berücksichtigt ist, die Kostenstruktur jedoch nicht unberührt lassen wird.

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Bislang konnte kein empirischer Nachweis gefuhrt werden, ob tatsächlich die Höhe des Hauptgewinns oder nicht vielmehr die Anzahl der Gewinner die Attraktivität einer Lotterie ausmacht (Young 2007). So ist es denkbar, dass die Konsumenten in Kenntnis der geringen Gewinnwahrscheinlichkeit für die höheren Gewinnklassen eine möglichst breite Ausschüttung der Gewinne auf die Mehr-

26 Siehe in diesem Zusammenhang auch die Ausweitung der Angebotspalette des Deutschen Lotto-TotoBlocks im Rahmen des „Lotto ohne Grenzen" in Kapitel II.

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heit der Spieler bevorzugen, was die Bedeutung des Jackpots eindeutig verringern würde. Eine Markteintrittsschranke bestünde in diesem Fall nicht. Vor diesem Hintergrund muss das Argument einer wettbewerblichen Störung durch Marktzutrittsschranken als fragwürdig bezeichnet werden. Auf Basis des derzeitigen Wissensstandes kann das Vorliegen eines natürlichen Monopols im Bereich von Lotterien weder zweifelsfrei belegt noch widerlegt werden. Möglicherweise werden zukünftige Studien insbesondere im Bereich der Kostenstruktur ein eindeutigeres Urteil zulassen. Solange die Lotteriemärkte weltweit jedoch weiterhin einem starken staatlichen Dirigismus unterliegen, wird auch die Aussagekraft dieser Untersuchungen hinsichtlich der Kostenstruktur unter Marktbedingungen eingeschränkt bleiben.27

c. Das Auftreten von Informationsmängeln Ein Lotterielos kann aus Konsumentensicht wie jedes andere Gut als ein mehrdimensionaler Vektor von Produkteigenschaften angesehen werden. Diese Eigenschaften sind wiederum ausschlaggebend für die Kaufentscheidung. 28 Zu diesen Eigenschaften gehören neben der Gewinnchance unter anderem ein Spannungsmoment sowie z.B. eine gewisse soziale Interaktion, sofern im Rahmen einer Tippgemeinschaft gespielt wird. Da im Falle einer Lotterie nur ein geringer Teil der Käufer tatsächlich den Jackpot bzw. einen beträchtlichen Gewinn erhält, hat die überwiegende Mehrheit der Spieler keine Möglichkeit, den Nutzen des Loses in Form eines Geldgewinns durch eigene Erfahrungen zu bewerten, so dass in diesem Fall von einem Vertrauensgut (credence good) gesprochen werden kann (Miers 2003).29 Im Falle eines Lotteriebetreibers bieten sich nun diverse Möglichkeiten, dieses Vertrauen des Konsumenten zu missbrauchen. Zu nennen sind an dieser Stelle insbesondere zwei zentrale Aspekte: -

Erstens muss für den Spieler sichergestellt sein, dass Gewinnversprechen in Form von Mindestgrößen, Quoten oder Leibrenten eingehalten werden, d.h. dass der entsprechende Anbieter sowohl gewillt, als auch finanziell in der Lage ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen.

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Zweitens muss die Durchführung einer Lotterie bestimmten Minimalstandards entsprechen. Zu denken ist hierbei z.B. an eine geordnete Ziehung der Gewinnzahlen (Losnummern) unter unabhängiger Aufsicht. Beispiele aus der Vergangenheit zeigen, welches Ausmaß der systematische Betrug im Bereich des Lottospiels annehmen kann. So wurde 2003 Klage gegen ein Unternehmen eingeleitet, das nach Presseangaben mehr als 8000 Kunden im Rahmen des staatlichen Zahlenlottos betrogen haben soll (ο. V. 2003).

Kommt es auf einem unregulierten Markt zu Betrugsfallen oder auch nur zu Betrugsvorwürfen, so ist mit einem bedeutenden Vertrauensverlust der Spieler zu rechnen. Analog zum Gebrauchtwagenmarkt Akerlofs (1970) sind die Konsumenten nicht mehr 27 In Abhängigkeit von Stärke und Art der Regulierung ist es denkbar, dass sich Strukturen herausbilden, die durch überhöhte Kosten gekennzeichnet sind. Siehe dazu auch Migué und Bélanger (1974). 28 Siehe hierzu Andersen (1994) sowie die dort angegebenen Quellen. 29 Vertiefend zur Thematik der Vertrauensgüter siehe auch Dulleck und Kerschbamer (2006).

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in der Lage, seriöse von unseriösen Anbietern zu unterscheiden. Dieses Informationsdefizit kann durch die Spieler nur unzureichend aufgelöst werden, da sich beispielsweise die internen Prozesse eines Anbieters seiner Kenntnis entziehen müssen30. Weiterhin entstehen bei der Informationsbeschaffung Kosten, die den Nutzen eines Loses schnell übersteigen können und den Prozess der Informationsgewinnung somit ökonomisch unmöglich machen. In der Folge ist davon auszugehen, dass Spieler ihre generelle Zahlungsbereitschaft reduzieren, was auf Seiten der Lotteriebetreiber zu einer adversen Selektion in der Form fuhren könnte, dass seriöse Anbieter sich langfristig vom Markt zurückziehen. In letzter Instanz könnte dies zu einem völligen Zusammenbruch des Marktes für Lotteriespiele führen. Auf Basis dieser Ausführungen kann festgehalten werden, dass auf einem unregulierten Markt Informationsdefizite vorliegen, die vom Konsumenten nicht überwunden werden können. Die systematische Fehleinschätzung der Angebote kann nicht ausgeschlossen werden, so dass eine effiziente Allokation verhindert wird; Marktversagen liegt demnach vor.

d. Zwischenfazit In den voranstehenden Abschnitten konnte gezeigt werden, dass durch Lotterien externe Effekte in Form von Spielsucht und deren Folgen entstehen. Bezüglich der wettbewerblichen Prozesse konnten hingegen keine Argumente aufgezeigt werden, die Marktversagen zweifelsfrei belegen. Weiteres Marktversagen konnte in Form von Informationsdefiziten nachgewiesen werden. Folglich verbleibt im weiteren Verlauf die weitergehende Prüfung der negativen Externalitäten sowie der unvollständigen Informationen, um im Anschluss jeweils eventuelle Interventionen zu analysieren.

2. Vertragstheoretische Legitimation staatlicher Eingriffe Nach Grossekettler (1987) schließt sich - wie oben dargelegt wurde - nach dem Feststellen der Existenz von Marktversagen die Überprüfung an, ob für ein bestimmtes Maßnahmenziel eine vertragstheoretische Legitimation angenommen werden kann. Maßnahmenziele sind hier zum einen die Verhinderung der Spielsucht und ihrer negativen Externalitäten sowie zum anderen das Unterbinden von Betrug im Lotteriemarkt. Dieser Test erfolgt jeweils durch Überprüfung der Frage, ob das angestrebte Ziel im Allgemeininteresse ist.31 Unter den skizzierten Voraussetzungen des hypothetischen Vertrags kann angenommen werden, dass sich die Gemeinschaft der mündigen Bürger für entsprechende Maßnahmen gegen die oben erläuterten Externalitäten einer Suchterkrankung einsetzen wird, so dass von der Existenz eines entsprechenden Vertrages ausgegangen werden kann. Auf Grund des „Schleiers des Nichtwissens" sieht sich jedes Individuum der realistischen Möglichkeit gegenüber, die negativen Folgen des pathologischen Spielens 30 Im Falle von Internetanbietern verschärft sich dieses Problem weiter. Siehe dazu auch Clarke (2001). 31 Im Rahmen der Überprüfung ist nur das Interesse der Allgemeinheit relevant. Explizit ausgeschlossen werden hingegen Ziele, die nur einzelnen Gruppen dienen.

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mittragen zu müssen und im Bestreben nach der individuellen Nutzenmaximierung nach Abwendung dieses Zustandes zu suchen. Eine analoge Argumentation lässt sich für die Unterbindung von Betrug herleiten. So ist jeder Bürger in Unkenntnis über seine Position in der Gesellschaft an einem seriösen, nachhaltigen Angebot an Waren und Dienstleistungen interessiert. Selbst die Bürger, die in der Realität kein individuelles Interesse an der Nutzung von Lotterieangeboten haben, werden sich in der Regel für einen seriösen Ablauf dieser Spiele aussprechen, alleine um nicht der Verbreitung illegitimer Geschäftsmethoden Vorschub zu leisten. Nachdem die Rechtfertigung für eine staatliche Intervention in beiden Fällen angenommen werden kann, verbleibt nach Grossekettler zu prüfen, ob es einen Verweis auf konkludentes Handeln gibt. Dieses schlüssige Handeln kann im Falle der Spielsucht z.B. darin gesehen werden, dass in der Vergangenheit von staatlicher Seite Maßnahmen in ähnlichen Situationen ergriffen worden sind und diese als gesellschaftlich akzeptiert wurden. Betrachtet man die Suchtbekämpfung in Deutschland, so lässt sich eine derartige Form konkludenten Handelns in vielerlei Hinsicht erkennen. Besonders im Bereich der „harten Drogen" wie Heroin ist derzeit keine Mehrheit in der Bevölkerung erkennbar, die eine Legalisierung fordert. Auf staatlicher Seite obliegt die Suchtbekämpfung dem Aufgabenbereich des Bundesministeriums für Gesundheit, das die Bekämpfung der Drogenproblematik nicht nur als Aufgabe der suchtkranken Menschen, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ansieht. Eine weniger eindeutige Situation ergibt sich, wenn man die Sachlage im Bereich legaler Suchtmittel wie Tabak oder Alkohol untersucht. Hier werden von staatlicher Seite zwar immer wieder Interventionen vorgenommen (z.B. durch Abgabebeschränkungen oder warnende Etikettierpflichten), diese sind jedoch weniger unumstritten. An dieser Stelle muss jedoch eine Einschränkung vorgenommen werden: So entstammen die kritischen Stimmen gegenüber Interventionen im Falle legaler Suchtmittel in aller Regel von direkt Betroffenen. Dies können entweder Konsumenten der entsprechenden Produkte sein oder aber Interessenvertreter der Industrie bzw. des Handels. In beiden Fällen handelt es sich jedoch nicht um den unabhängigen und aufgeklärten Bürger, der zur Beurteilung einer solchen Situation gefordert wird. Auch im Falle der Informationsmängel lassen sich klare Hinweise auf konkludentes Handeln finden. Als klassische Vertrauensgüter gelten gemeinhin Versicherungen. So ist in einigen Bereichen wie z.B. der medizinischen Versorgung Wissen naturgemäß ungleich verteilt, die physische Leistungserbringung kann jedoch als sicher gelten und ist vom Konsumenten beobachtbar. Bei einer Versicherung hingegen muss die Leistungserbringung als unsicher betrachtet werden, da nur im Eintreten eines Schadensfalls eine Zahlung geleistet werden muss. Dies ähnelt stark der Situation auf dem Lotteriemarkt, wo nur ein geringer Anteil der Spieler jemals einen nennenswerten Gewinn erhalten kann, so dass auch hier die Leistungserbringung als unsicher gelten kann. Betrachtet man nun den Versicherungsmarkt genauer, so zeigt sich, dass dieser bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts einer eigenen Aufsicht unterliegt. Die beiden Hauptziele des Gesetzes über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen (VAG) bestehen nach §81 darin, die Belange der Versicherten ausreichend zu wahren und sicherzustellen, dass die finanziellen Verpflichtungen aus Versicherungsverträgen jederzeit erfüllbar sind. Hierfür wird unter anderem die Bildung ausreichender Rückstellungen, die

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Einhaltung kaufmännischer Grundsätze sowie die ordnungsgemäße Verwaltung und Buchhaltung eingefordert. Die operative Überwachung wird momentan durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) durchgeführt, die ebenfalls für die Überwachung von Banken, Sparkassen und anderen Finanzanlageunternehmen zuständig ist.32 Derzeit finden sich in Deutschland keinerlei Anzeichen für einen gesellschaftlichen Dissens über diese Art der Überwachung. Vielmehr wird gerade im internationalen Geschäft vermehrt eine stärkere Kontrolle gefordert. Auf Basis der bisherigen Ausarbeitungen kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass im Sinne eines hypothetischen Vertrags eine Legitimation für staatliche Interventionen mit dem Ziel der Reduzierung negativer Externalitäten vorliegt. Gleiches gilt mit geringen Einschränkungen für die Existenz konkludenten Handelns. Für die Frage nach der Beseitigung von Informationsmängeln konnten ebenfalls beide Voraussetzungen als erfüllt angesehen werden, so dass in einem nächsten Schritt die ökonomische Legitimation der Maßnahmengestaltung zur Erreichung beider Ziele (Bekämpfung der Spielsucht, Schutz des Bürgers vor Betrug) zu prüfen ist.

3. Die ökonomische Legitimation staatlicher Eingriffe a. Ansatzpunkte Maßnahmen zur Bekämpfung der Spielsucht können am Angebot oder an der Nachfrage ansetzen, so dass zwischen angebotsseitigen und nachfrageseitigen Instrumenten unterschieden werden kann. Im ersten Fall kommt es dabei zu Interventionen, die die Anbieter von Lotterien betreffen. Durch eine Reduktion des Angebots und einer folglich geringeren abgesetzten Menge auf dem legalen Markt kann das Auftreten der Spielsucht und ihrer negativen Externalitäten verringert werden. Im zweiten Fall wird hingegen versucht, die Konsumenten zu beeinflussen. Die Wirkung ergibt sich analog aus einer erwarteten reduzierten Nachfrage nach Lotterieprodukten. Im Falle eines effektiven Schutzes des Bürgers vor betrügerischem Verhalten entfallen nachfrageseitige Instrumente naturgemäß, so dass hier einzig und allein die Angebotsseite berücksichtigt werden muss. Aus der Vielzahl der angebotsseitigen Alternativen sollen im weiteren Verlauf drei näher betrachtet werden: 1) Die Regulierung mittels einer Lizenzierung, wie sie z.B. im Bereich der Finanzdienstleistungen angewandt wird. Ein solches System könnte dergestalt aussehen, dass jedem Anbieter prinzipiell der freie Zugang zum Lotteriemarkt gewährt wird, er jedoch eine Betreiberlizenz zum Aufbau und Erhalt des Geschäftsbetriebs benötigt. Voraussetzungen zum Erhalt und Besitz einer Lizenz können z.B. sein: die persönliche Zuverlässigkeit der Geschäftsführung oder die wirtschaftliche Zuverlässigkeit gemessen mit Hilfe von Bilanzkennzahlen.33 In 32 Weitere Informationen zur Bundesanstalt finden sich unter http://www.bafin.de. 33 Je nach Art der Ausgestaltung kann in Verbindung mit der Lizenzierung auch die Verwendung eines Teils der Erlöse zu Gunsten wohltätiger Zwecke wie der Sportforderung sichergestellt werden. Entsprechende Änderungen beim Procedere der Mittelvergabe könnten derzeitige Missstände wie das Fehlen transparenter Verteilungskriterien beheben.

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Kombination mit Kontrollen ist weiterhin die Androhung von Strafmaßnahmen bei Zuwiderhandlung einzusetzen. Diese können von Geldstrafen bis hin zur zwangsweisen Auflösung des Unternehmens und Freiheitsstrafen der Geschäftsführung reichen, wenn z.B. der Verdacht des organisierten Betrugs vorliegt und durch entsprechende Ermittlungen bestätigt werden kann. 2) Die Fortführung des staatlichen Monopols. 3) Das vollständige Verbot von Lotterien. Als nachfrageseitige Interventionen soll eine Beeinflussung der Konsumentenscheidung durch Aufklärung (moral suasion) betrachtet werden. Vor dem Konsumakt liegt in diesem Fall ein überwindbares Hindernis, das den Konsumenten zu einer bewusst überlegten Entscheidung zwingt {Hartwig und Pies 1995). Im Lotteriewesen sind derartige Eingriffe als Informationen über Spielsucht und ihre Folgen denkbar. Eine nachfrageseitige Intervention findet sich auf dem Glücksspielmarkt schon heute in der Einschränkung des Kundenkreises auf volljährige Bürger.

b. Prüfung der Zielkonformität Vor dem Hintergrund des oben dargelegten Referenzsystems wird im Rahmen der Zielkonformitätsprüfung zunächst analysiert, inwieweit die betreffende Maßnahme die negativen Externalitäten des Lotteriespiels reduziert und anschließend, ob damit auch die Möglichkeiten zum Betrug eingeschränkt werden. Im Falle der Lizenzierung ist ein höherer Absatz an Lotterielosen (bei gleichzeitig verringertem Preis bzw. höheren Ausschüttungsquoten) gegenüber dem derzeitigen Stand zu erwarten. Unter der Annahme, dass Lotteriespiele grundsätzlich über Suchtpotential verfugen, muss im Falle eines erhöhten Absatzes weiterhin mit dem Auftreten negativer Externalitäten gerechnet werden. Für ein staatliches Monopol ergibt sich hinsichtlich der Zielerreichung ebenfalls kein zufrieden stellendes Ergebnis. So stellt die derzeitige Situation offensichtlich keinen vollständigen Schutz vor Spielsucht dar, wie sich an Hand der oben genannten Zahlen belegen lässt.34 Darüber hinaus zeigt die Erfahrung der letzten Jahre, dass das staatliche Monopol in seiner aktuellen Form zu einer sukzessiven Ausdehnung des Angebots tendiert (siehe Kapitel II) und damit der Situation bei der Lizenzierung gleichkommt. Den höchsten Grad der Zielerreichung bei der Vermeidung negativer Externalitäten von Spielsucht scheint ein völliges Verbot von Glücksspielangeboten zu versprechen. Doch hier stellt sich ein Problem in Form sog. Cross-Border-Sales ein. Mit diesem Begriff werden Transaktionen bezeichnet, die mittels des Internets über Staatsgrenzen hinweg durchgeführt werden. Bislang machen derartige Geschäfte im Lotteriemarkt erst 1 % des gesamten Umsatzes aus (Viren 2008), allerdings wäre mit einem deutlichen

34 Dies gilt, auch wenn nach Aussage von Elisabeth Pott, Leiterin der Bundeszentrale fur gesundheitliche Aufklärung (BzgA), die Kombination aus gemeinsamem Vorgehen (zwischen der BzgA und den öffentlichen Anbietern) die beste Strategie zur Spielsuchtvorbeugung darstellt (Deutscher Lotto-TotoBlock 2007a).

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Anstieg für den Fall eines Verbots in Deutschland zu rechnen.35 Weiterhin ist im Falle eines Verbots mit dem Auf- und Ausbau illegaler Glücksspielmärkte zu rechnen. Wenn es auch unrealistisch ist, das pathologische Spielen durch Aufklärungsarbeit und die gezielte Weitergabe von Informationen vollständig beseitigen zu wollen, so zeigen diese Maßnahmen doch gegenwärtig zumindest eine positive Wirkung, so dass die prinzipielle Zielkonformität fraglos gegeben ist. Der Umfang der Erreichung des ersten Maßnahmenziels wäre jedoch auch bei nachfrageorientierten Interventionen ungewiss. Nach dem verwendeten Referenzsystem sollte das Instrument bevorzugt werden, dessen Zielerreichungsgrad am höchsten ausfällt. Eine Kombination hingegen ist nicht vorgesehen, da der Einsatz verschiedener Instrumente zur Erreichimg eines Zieles offensichtlich die Interventionstiefe erhöht. Bezüglich der Frage nach der Erreichung des Ziels Minimierung der Spielsucht und ihrer Folgen fällt eine exakte Bestimmung des Zielerreichungsgrades außerordentlich schwer. Bislang kann hier auch nicht auf entsprechende Studien der Suchtforschung zurückgegriffen werden, da eine Evaluation bestimmter Maßnahmen im Rahmen des deutschen Glücksspielsektors bislang nicht oder nur in unzureichender Form stattgefunden hat (Meyer und Bachmann 2005). Als Zwischenergebnis bleibt somit festzuhalten, dass die in Form von Spielsucht auftretenden negativen Externalitäten mit keinem der hier dargestellten Instrumente vollständig beseitigt werden können. Den erwartungsgemäß höchsten Zielerreichungsgrad weisen die Lizenzierung, das staatliche Monopol und die Anwendung nachfrageorientierter Interventionen auf. Das vollständige Verbot ist bezüglich seiner Auswirkungen (illegale Glücksspielmärkte) mit den größten Unsicherheiten versehen. Dennoch ist es prinzipiell als zielführend einzustufen, so dass es im Rahmen der weiteren Analyse berücksichtigt werden soll. Für das zweite Ziel, der Vermeidung von betrügerischen Aktivitäten auf dem Lotteriemarkt, führt die Analyse der Zielkonformität zu einem eindeutigeren Ergebnis. Auf die Darstellung nachfrageorientierter Maßnahmen kann hier verzichtet werden, da die Gefahr eines nachfrageseitigen Betrugs bereits durch entsprechende Normen des Strafgesetzes abgedeckt ist. In der Tat lässt sich, sofern man lediglich den legalen, inländischen Markt betrachtet, bei allen drei angebotsseitigen Eingriffen eine vollständige Zielerreichung erwarten. So kann im Falle einer Lizenzierung durchaus mit einer hinreichenden Seriosität der Anbieter gerechnet werden. Gleiches gilt für den Eingriff in Form des staatlichen Monopols. Die Geschichte des Deutschen Lotto-Toto-Blocks zeigt, dass auch in diesem Fall Mechanismen greifen, die einen Betrug weitestgehend ausschließen. Im Falle eines Verbots schließlich ist jedwede Grundlage im Rahmen eines legalen Angebots ausgeschlossen. Komplexer wird die Analyse der Zielerreichung jedoch auch hier durch die Erweiterung des Blickfeldes auf ausländische Anbieter. Durch das Nutzen derartiger Angebote oder das Entstehen eines entsprechenden

35 Freilich ließe sich die Problematik der Cross-Border-Sales durch ein international abgestimmtes Verbot einschränken. Im Falle eines globalen Verbots verbliebe den Spielern lediglich der illegale Markt, um an Lotteriespielen zu partizipieren. Eine solche Abstimmung erscheint aus heutiger Perspektive jedoch unmöglich. Insbesondere kleinere (Insel-)Staaten haben offensichtlich kein Interesse daran, ihre lokale Gesetzgebung auf den Druck anderer Staaten hin zu ändern, wie sich aktuell in der Diskussion um die Steuerpolitik zeigt. Siehe zu dieser Thematik auch Thielemann (2002).

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Schwarzmarktes in den Grenzen der Bundesrepublik stiege die Betrugsgefahr zweifelsfrei an. Während im Falle eines Anbieters im Ausland wenigstens noch das dort geltende Glücksspielrecht ein Minimum an Sicherheit verspricht, so ist eine Prüfung illegaler Märkte für den einzelnen Konsumenten mit prohibitiv hohen Kontrollkosten verbunden. Aus dieser Perspektive muss dem vollständigen Verbot von Lotterien die geringste Zielerreichung zugesprochen werden. Für das Ziel der Betrugsvermeidung kann somit als Zwischenergebnis das vollständige Verbot als nicht zielkonform eingestuft werden. Sowohl die staatliche Überwachung (Lizenzierung und Strafandrohung), als auch der Betrieb eines öffentlichen Monopols erscheinen im Gegensatz dazu geeignet, um Marktversagen durch Betrug auszuschließen.

c. Prüfung der Ordnungskonformität Ein Lizenzierungsverfahren böte prinzipiell allen Unternehmen die Möglichkeit des Markteintritts und würde für alle Anbieter die gleichen Bedingungen garantieren. Somit wäre die Forderung nach offenen Märkten im Falle der Implementierung eines geeigneten Verfahrens ebenso erfüllt wie die nach der Handlungsfreiheit der Individuen. Kritikpunkt bleibt in dieser Hinsicht der zu erwartende Kompetenzzuwachs der öffentlichen Hand. In Form einer Aufsichtsbehörde läge die Entscheidung über Marktzutritttritte in der Hand des Staates. Im Falle des staatlichen Monopols stellen sich hingegen massive Bedenken bezüglich der Ordnungskonformität ein. Dies liegt in der Tatsache begründet, dass eine solche Marktform der Wirtschaftsordnung der Marktwirtschaft und dem Leitbild der Konkurrenz widerspricht und die Postulate der offenen Märkte und der individuellen Handlungsfreiheit verletzt werden. Das vollständige Verbot stellt wie bereits erwähnt die stärkste Intervention dar. Im Falle eines Verbots wird der legale Marktprozess nicht nur partiell, sondern innerhalb der Landesgrenzen vollständig außer Kraft gesetzt. Ein Gut, das momentan offensichtlich Millionen von Konsinnenten Nutzen stiftet, würde auf den Schwarzmarkt verbannt. Weiterhin ist auch in diesem Fall ein Zuwachs staatlicher Kompetenz zu konstatieren in der Form, dass eben jenes Verbot durch die entsprechenden staatlichen Stellen überwacht werden muss. Ein vollständiges Verbot wäre unvereinbar mit der marktwirtschaftlichen Ordnung und in keiner Hinsicht zielfiihrend. Die Beeinflussung der Nachfrage ließe die Preisbildung (Ausschüttungsquote) unberührt. Das Postulat der Privatautonomie kann ordnungskonform eingeschränkt werden, wenn Fremd- oder Selbstschädigungen in Verbindung mit einem bestimmten Gut vorliegen. In einem solchen Fall muss ein Hersteller bspw. Wartezeiten oder Informationspflichten nachkommen (Hartwig und Pies 1995). Durch die Bereitstellung geeigneter Informationen kann der Anbieter (in diesem Fall der Lotteriebetreiber) Informationsdefizite bezüglich potentieller Schädigungen beim Konsumenten abbauen; die freie Entscheidung bliebe jedoch erhalten, so dass jeder nutzenstiftende Tauschakt auch weiterhin vollzogen werden kann.

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Auf Basis dieser Aussagen ist nun das Instrument mit der minimalen Eingriffstiefe auszuwählen. Für das Ziel der Suchtvermeidung kann festgehalten werden, dass das Verbot und das staatliche Monopol eindeutig ausscheiden, da hier grundlegende Bestandteile der Marktwirtschaft mit erheblichen Wohlfahrtsverlusten außer Kraft gesetzt werden. Es verbleibt das angebotsseitige Instrument der Lizenzierung sowie die nachfrageseitige Intervention, Anbietern Informationspflichten aufzulegen, die einen Abbau von Informationsdefiziten bewirken können. Da eine solche Maßnahme offensichtlich die geringere Eingriffstiefe aufweist und sich hinsichtlich der Zielerreichung nach unserer Ansicht keine klare Aussage treffen lässt, ist somit der Informationsvermittlung der Vorrang einzuräumen. Bezüglich des zweiten Ziels verbleiben nur das Lizenzierungsverfahren sowie das staatliche Monopol. In diesem Fall ist einer Lizenzierung mit Sicherheit die geringere Interventionstiefe zu bescheinigen - das öffentlich Monopol wurde als nicht ordnungskonform eingestuft - , so dass die gegenwärtige Regelung auch unter diesem Gesichtspunkt abgelehnt werden muss.

d. Prüfung der Verhältnismäßigkeit Eine verbindliche Aufklärungspflicht in Form einer nachfrageseitigen Intervention konnte bislang als zielkonform und als ordnungskonform für die Bekämpfung negativer externer Effekte eingestuft werden. Bezüglich des zweiten Ziels, der Vermeidung von Betrug, gilt dies für die Einführung einer Lizenzbehörde. Da in beiden Fällen die Interventionstiefe gering bleibt und die marktwirtschaftlichen Prozesse in ihrer ursprünglichen Form nicht beeinträchtigt werden, soll im vorliegenden Rahmen auf eine detaillierte Kosten-Nutzen-Analyse verzichtet werden. Insbesondere im direkten Vergleich mit anderen angesprochenen Interventionsmaßnahmen sind diese Lösungsansätze als diejenigen einzuschätzen, die der Verhältnismäßigkeit am meisten entsprechen.

4. Fazit Die Analyse hat gezeigt, dass ein staatliches Quasi-Monopol auf dem Lotteriemarkt - wie es derzeit besteht - aus ordnungsökonomischer Sicht nicht gerechtfertigt werden kann. Auf Grund der geringen Relevanz des Lotteriespiels für die Spielsucht im Allgemeinen ist diese Art der Intervention als nicht verhältnismäßig anzusehen. Sofern die Möglichkeit einer sich aus dem Lottospiel ergebenden Suchterkrankung bekämpft werden soll, ist eine Informations- und Aufklärungspflicht der Anbieter zweckmäßig. Zur Erreichung des zweiten Ziels in Form eines nachhaltigen, seriösen Lotteriemarktes konnte die Vergabe von Lizenzen mit einer entsprechenden Überwachung der laufenden Geschäfte als geeignet ermittelt werden. Es soll an dieser Stelle festgehalten werden, dass im Falle einer Umsetzung beider Maßnahmen keine Kombination aus verschiedenen Interventionen vorliegt. Vielmehr wäre jedem der beiden Ziele eine Maßnahme zugeordnet. Freilich soll anerkannt werden, dass beide Maßnahmen ebenso wenig wie beide Ziele vollständig getrennt zu betrachten sind. So ist z.B. zu gewährleisten, dass im Rahmen der laufenden Überwa-

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chung der Anbieter auch geprüft wird, ob diese in ausreichendem Maße den Informationspflichten nachkommen.

V. Ausblick Die derzeitige Diskussion um Lotterien und Glücksspiele im Allgemeinen wird nicht nur in der Ökonomie, sondern vor allem in der Rechtswissenschaft geführt. So ist zu erwarten, dass sich in diesem Segment innerhalb der nächsten Jahre erhebliche Veränderungen ergeben werden, die stärker auf europäischem Recht als auf ökonomischen Überlegungen basieren. Das eingangs erwähnte Zitat des ehemaligen bayerischen Finanzministers vernachlässigt diese internationale Ebene völlig, wie auch der gesamte Zusammenhang von ihm stark vereinfacht dargestellt wird. Zielsetzung des Artikels war es, den Aufbau des Marktes für Lotterieprodukte darzustellen und unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten zu analysieren, ob und welche staatlichen Interventionen konform zum Leitbild der Marktwirtschaft eingesetzt werden können. Abschließend lässt sich konstatieren, dass eine nachfrageseitige Intervention in Form von Informationspflichten der Anbieter aus ordnungspolitischer Perspektive vertretbar ist. In diesem Fall wäre eine Ausweitung des Wettbewerbs bei gleichzeitigem Regulierungsabbau zweifelsfrei erreicht. Zur Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Geschäftsbetriebs, eines nachhaltigen Marktes und des Schutzes des Bürgers vor Betrug durch Lotteriebetreiber wäre darüber hinaus die Vergabe von Lizenzen eine zweite ordnungskonforme Intervention. Das staatliche Monopol hingegen kann aus ordnungsökonomischer Sicht nicht als legitimiert gelten und sollte demnach durch eine Öffnung des Marktes beseitigt werden. In einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2007 waren 61 % der Befragten der Meinung, dass eine staatliche Kontrolle zur Minimierung der Glücksspielrisiken nötig wäre, 76 % sprachen sich für eine staatliche Kontrolle im Allgemeinen aus (Deutscher Lotto-Toto-Block 2007b). Diese Zahlen verdeutlichen die Ressentiments, die in der deutschen Bevölkerung möglicherweise auch aus Mangel an einem Vergleich gegenüber einer reinen Marktlösung vorliegen und unterstreichen die Notwendigkeit angemessener staatlicher Eingriffe.

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Zusammenfassung Wie in den meisten Ländern so unterliegt der Glücksspielmarkt auch in Deutschland einer starken staatlichen Regulierung. Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Artikels ist der Markt für Lotterien aus ordnungsökonomischer Sicht, der als ein Teil des gesamten Glücksspielmarktes momentan durch den Deutschen Lotto-Toto-Blocks und die von ihm angebotenen Produkte wie das populäre Samstagslotto geprägt wird. Mit Hilfe eines Referenzmodells, das auf dem Ordnungsleitbild der Marktwirtschaft basiert, kann gezeigt werden, dass eine staatliche Intervention durch das Auftreten negativer Externalitäten in Form der Spielsucht und ihrer Folgen sowie dem Vorliegen von Informationsmängeln begründet werden kann. Weitere Aspekte des Marktversagens können hingegen nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Anhand eines mehrstufigen Prüfschemas werden auf dieser Grundlage verschiedene Alternativen angebots- und nachfrageseitiger Interventionen inklusiv eines vollständigen Verbots von Lotterien überprüft. Nach dessen Abschluss lässt sich konstatieren, dass aus ordnungsökonomischer Perspektive eine Informations- und Aufklärungspflicht der Anbieter über die Risiken des Glücksspiels zweckmäßig ist. Zur Sicherstellung eines nachhaltigen Wettbewerbs stellt weiterhin die Vergabe von Lizenzen an Lotteriebetreiber eine ziel- und ordnungskonforme Intervention dar. Ein Aufrechterhalten des Status Quo in Form des staatlichen Monopols kann hingegen nicht als ordnungs- bzw. systemkonform bezeichnet werden.

Summary: About the rearrangement of the German lottery market As well as in most countries the gambling market in Germany is strongly regulated by the federal government. This article focuses on the lottery market as one part which is strongly shaped by the German Lotto-Toto-Block and its products like the standard lotto. By the means of a reference model based on the concept of a market economy it is shown that public intervention can be legitimated because of the existence of negative external effects. Regarding lotteries like any other game of chance these effects are caused by the incidence of compulsive gambling and their negative consequences. A second aspect is reflected by the existence of information lacks. Regarding other forms of market failure like a natural monopoly no impact could be verified. Using a multilevel approach which is able to deal with interventions on both the demand as well as the supply side, we discuss possible interferences by the government to the point of a complete ban of lotteries in Germany. Finally it can be stated that introducing a system providing information about the danger of becoming a pathological gambler to potential consumers is obviously a legitimate intervention on the lottery market. Moreover the introduction of a licence system for suppliers should be used to ensure a sustainable lottery market. In contrast, a continuance of the current state monopoly could not be defined as being compliant to a market economy.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

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Rechtsstruktur und Evolution von Wirtschaftssystemen Pfadabhängigkeit in Richtung Zentralisierung? Inhalt I. Einleitung II. Wirtschaftssysteme 1. Soziales System und Wirtschaftssystem 2. Politisches und kulturelles System sowie das Rechtssystem als weitere Teilsysteme des sozialen Systems III. Märkte und Handlungsrechte 1. Grundlagen der Property-Rights-Theorie 2. Systemtheoretische Interpretation der Transaktionskosten 3. Wirtschaftssystem und technologische externe Effekte 4. Internalisierung technologischer externer Effekte aus systemtheoretischer Perspektive IV. Eigentumsrechte zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung 1. Ein- und mehrdimensionale technologische externe Effekte 2. Zentralisierende und dezentralisierende Internalisierung 3. Zum Nebeneinander der beiden Grundtypen der Internalisierung 4. Probleme bei Fortbestand mehrdimensionaler externer Effekte V. Die Problematik des Wettbewerbs um politische Einflussnahme 1. Rent-Seeking und Marktprozesse bei Teilzentralisierung 2. Der Weg zu dezentralisierender Internalisierung VI. Fazit: Pfadabhängigkeit in Richtung Zentralisierung? Literatur Zusammenfassung Summary: The Structure of Property Rights and the Evolution of Economic Systems - Path Independences leading into Centralization

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1 Die Verfasser danken Frau Dipl.-Vw. Nadine Wiese sowie einem anonymen Gutachter für wertvolle Hinweise.

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I. Einleitung Die Zentralverwaltungswirtschaften des sozialistischen Typs standen weitgehend für Gemeineigentum und zentrale politische sowie wirtschaftliche Lenkung2. Mit ihrem Scheitern im Wettbewerb der Gesellschaftssysteme war eigentlich die Frage beantwortet, ob im evolutionären Selektionsprozess zentral gelenkte Systeme auf der Basis von Gemeineigentum und umgeben von einer sich schnell verändernden Umwelt überlebensfähig sein können. Entsprechend wäre zu erwarten, dass sich die relative Überlegenheit tendenziell handlungsrechtlich dezentralisierter Systeme durch Ausbau der Dezentralisierung weiter verstärkt. Tatsächlich kann aber beobachtet werden, dass die aktuellen - ursprünglich tendenziell dezentralisierten Systeme - einen versteckten, schleichenden handlungsrechtlichen Zentralisierungsprozess durchlaufen, der von einer zunehmenden Kollektivierung ursprünglichen Individualeigentums begleitet wird. Im Ergebnis leidet mit zunehmendem Zentralisierungsgrad die Überlebensfähigkeit ursprünglich dezentralisierter Systeme im Systemwettbewerb. Historisch bedingte Pfadabhängigkeiten können zunehmend die Tendenz zur Zentralisierung verstärken. Der vielfaltig besetzte Begriff der Pfadabhängigkeit dient in diesem Papier dazu, den Sachverhalt zu fassen, dass politische Repräsentanten von einmal etablierten Verhaltensweisen in vielen Fällen nicht mehr abweichen können, ohne persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen - selbst wenn sie die Notwendigkeit zu einer Verhaltensänderung erkannt haben. Ausdrücklich soll bereits einleitend betont werden, dass das Gegensatzpaar Zentralisierung-Dezentralisierung hier weniger aus politisch-organisatorischer, sondern aus eigentumsrechtlicher - genauer handlungsrechtlicher - Sicht behandelt wird.

II. Wirtschaftssysteme In der Realität lässt sich eine große Vielfalt unterschiedlicher Wirtschaftssysteme identifizieren, die durch ein unterschiedliches Verhältnis zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung charakterisiert sind. Alle diese Wirtschaftssysteme liegen in gewisser Weise im Wettbewerb miteinander (Systemwettbewerb). Für das Verständnis dieses Wettbewerbs, der in den vergangenen Jahren in vielen Fällen zur Systemtransformation geführt hat, sind einige elementare Zusammenhänge zwischen Recht und Kultur sowie dem Ablauf der Wirtschaftsprozesse von unabdingbarer Bedeutung. Im Spannungsfeld zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung spielen dabei die mit ihnen jeweils verbundenen unterschiedlichen Formen der Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten - einerseits politisch veranlasste zentrale Planung und andererseits spontaner dezentraler Tausch über Märkte - eine bedeutende Rolle. Für ein besseres Verständnis ist eine begriffliche Klärung erforderlich.

2 Für die Theorie der Zentralverwaltungswirtschaft siehe grundlegend Hensel (1979).

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1. Soziales System und Wirtschaftssystem Ein System ist definiert als strukturierte Menge von Elementen. Ein soziales System besteht in diesem Sinne aus strukturierten Handlungen mit einem das System kennzeichnenden Sinnverbund und den handelnden Menschen als Elemente (Parsons 2003). Systeme entstehen allgemein dadurch, dass die Vielfalt möglicher Elementeigenschaften und die Vielfalt der denkbaren Beziehungen zwischen den Elementen im chaotischen Ausgangszustand durch Strukturbildung (Ordnungsbildung) reduziert werden. Die solcherart ausgewählten Eigenschaften und Beziehungen werden damit zum konstitutiven Bestandteil eines sozialen Systems und generieren dynamische Systemgrenzen im Zuge eines Entdeckungsprozesses {Graf 1978, S. 108). Angewandt auf soziale Systeme bedeutet dies, dass die Vielfalt der Handlungen, die von Menschen ausgehen können ebenso wie die Vielfalt der Eigenschaften, die Menschen aufweisen können, gegenüber einem chaotischen Ausgangszustand reduziert wird. Innerhalb eines sozialen Systems erfolgt die Reduktion der denkbaren Vielfalt durch Regeln, die entweder die Bandbreite möglicher Handlungen durch Verbote begrenzen (Handlungsverbote) oder die Bandbreite möglicher Handlungen positiv beschreiben (Eigentumsrechte, Verfügungsrechte, oder auch Handlungsrechte genannt). Die handelnden Menschen in einem sozialen System machen sich durch Einführung solcher Regeln hinsichtlich ihres wechselseitigen Verhaltens füreinander berechenbar. Als Konsequenz ergeben sich Gelegenheiten zu sozialen Interaktionen, die zuvor mangels Ordnung oder Struktur unmöglich waren. Hierzu ein Beispiel: Eine Anzahl von Schiffsbrüchigen rettet sich auf eine unbewohnte Insel. Sie sprechen unterschiedliche Sprachen und wissen auch ansonsten nichts über die Sitten und Gebräuche ihrer Unglücksgefahrten. In diesem Szenario ist die wechselseitige Unsicherheit über die Vielfalt der denkbaren Verhaltensweisen sehr hoch. Gelingt es, sich darauf zu verständigen, dass an den geretteten Gegenständen individuelle Eigentumsrechte geachtet und Handlungen wie Diebstahl, Raub und sonstige Gewaltanwendung in der Gruppe nicht geduldet werden, reduziert sich die Vielfalt denkbarer Verhaltensweisen. Die Menschen werden wechselseitig hinsichtlich ihres Verhaltens durch die entstandene Struktur (Ordnung) prognostizierbar und die wechselseitige Unsicherheit nimmt ab. Als Folge können sich soziale Interaktionen wie etwa arbeitsteiliger Tausch entwickeln. Da soziale Systeme der Gegenwart von einer dynamischen, komplexen und mit Diskontinuitäten versehenen Systemaußenwelt umgeben sind, die wir im Anschluss an Ashby als „turbulente Umwelt" bezeichnen 3 , können und müssen ständig weitere Systemanpassungsleistungen erfolgen. Ansonsten besteht die Gefahr, im Systemwettbewerb die hinreichende Eigenkomplexität in Relation zur relevanten Systemumwelt zu verfehlen. In diesem Fall mangelt es dem betreffenden System an der erforderlichen Vielfalt (Ashby 1956, 206 f.), um hinreichend flexibel auf Störungen respektive Veränderungen aus der relevanten Systemumwelt zu reagieren. Die Selektionsresistenz in Relation zu anderen Systemen ist damit gemindert.

3

Siehe Ashby ( 1956) und darauf aufbauend ausführlich Röpke (1977, S. 1-77).

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Soziale Systeme sind im Sinne der allgemeinen Systemtheorie4 offene Systeme, d.h. sie können aus der Systemumwelt insbesondere Energie, Materie und Wissen "importieren" und dadurch ihren Ordnungsgrad erhöhen. Der höhere Ordnungsgrad manifestiert sich in einem komplexeren Geflecht von Regeln, was komplexere soziale Interaktionen ermöglicht. Ohne Import von Energie, Materie und Wissen aus der Systemumwelt sinkt der Ordnungsgrad von Systemen nach und nach bis zu vollständiger Unordnung (Unstrukturiertheit) ab. Beim Import aus der Systemumwelt können sich Störungen {Röpke 1977, 15 f.) dergestalt ergeben, dass in der Systemumwelt Dinge knapp werden, die zuvor nicht knapp waren (z.B. Fischpopulationen, Erdöl, Kohle). Dann muss das System hinsichtlich seiner Struktur so angepasst werden, dass die Importprobleme regelbar sind. Mit Zunahme des Ordnungsgrades eines sozialen Systems werden die Verhaltensspielräume der Menschen also stärker durch Regeln geleitet und damit auch begrenzt. Die Zunahme des Ordnungsgrades ermöglicht gleichzeitig jedoch soziale Interaktionen mit zunehmender Komplexität. So ist soziale Interaktion im Sinne des Tauschs von Eigentum ohne ein Minimum an durchgesetzten Regeln wie Diebstahls- und Raubverboten kaum denkbar. Mit zunehmender Komplexität des Regelgeflechts steigern sich auch die Möglichkeiten arbeitsteiligen Tauschs. So lassen sich Verträge über die Nutzung von Patenten und anderen Formen geistigen Eigentums erst abschließen, wenn die Struktur des sozialen Systems durchgesetzte Regeln über Patentschutz und geeignete Copyrights enthält. Innerhalb des sozialen Gesamtsystems werden mit zunehmendem Ordnungsgrad verschiedene Teilsysteme ausdifferenziert, wobei jeder handelnde Mensch in verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen als Element interagiert. Für die moderne Analyse von Wirtschaftssystemen übernehmen wir daher die bewährte Unterteilung in das Wirtschaftssystem, das politische System, das Rechtssystem und das kulturelle System als Teilsysteme des Gesellschaftssystems. Als Wirtschaftssystem wird die Struktur der wirtschaftlichen Prozesse und der für diese Prozesse verbindlichen Regeln, die sich im Rechtssystem formal verfestigen, bezeichnet. Elemente des Wirtschaftssystems sind handelnde Menschen in ihrer Eigenschaft als Wirtschaftssubjekte. Die Menschen handeln dann als Wirtschaftssubjekte, wenn sie sich in sozialen Interaktionen engagieren, die dazu dienen, Güter und Dienstleistungen bereitzustellen und nachzufragen, die dem Kriterium der Knappheit entsprechen.

2. Politisches und kulturelles System sowie das Rechtssystem als weitere Teilsysteme des sozialen Systems Als politisches System wird die Struktur der politischen Prozesse und der für diese Prozesse verbindlichen Regeln, die sich im Rechtssystem formal verfestigen, angesehen, mit den handelnden Menschen als Elementen in ihrer Eigenschaft als politische und bürokratische Agenten sowie als Wahlbürger. Innerhalb des politischen Systems werden - sofern es sich um Rechtsstaaten handelt - Güter mit eher kollektivem Charak4 Zur Systemtheorie siehe grundlegend BertalanJJy (1956).

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ter, die der Organisation des Gemeinwesens dienen, bereitgestellt. In Abhängigkeit von der Struktur des politischen Systems werden innerhalb des politischen Systems gleichfalls die rechtlich verfestigten formalen Regeln des gesamten sozialen Systems erzeugt, also jene Regeln, die für das Wirtschaftssystem, das politische System selbst sowie das kulturelle System Gültigkeit haben. Als kulturelles System bezeichnen wir die Struktur der kulturellen Prozesse und der für diese Prozesse verbindlichen Regeln mit den handelnden Menschen als Elementen. Menschen handeln innerhalb des kulturellen Systems, wenn ihre Interaktionen der Befriedigung von Bedürfnissen nach kulturellen Werten und dem Erhalt selbiger (Familie, Freundschaft, Kunst, Religion, Sprache, Regeln des guten Benehmens usw.) dienen und Identität generieren. Innerhalb des kulturellen Systems entstehen informelle Regeln, die ihren formellen Niederschlag im Rechtssystem finden können 5 . Als Rechtssystem werden die Struktur der rechtlichen Prozesse und die für diese Prozesse verbindlichen Regeln angesehen, mit den handelnden Menschen als Elementen. Menschen handeln innerhalb des Rechtssystems, wenn ihre Interaktionen der Befriedigung der Bedürfnisse nach Gerechtigkeit und Rechtssicherheit (individuelle Freiheit, Eigentumsschutz, Wahlrechte usw.) dienen. Die Entscheidung, welche Strukturmerkmale und welche Handlungen innerhalb des sozialen Systems welchem Teilsystem zuzuordnen sind, muss aus dem Gesamtkontext getroffen werden. So agiert ein Mann, der in Mitteleuropa seine Angebetene umwirbt, in der Regel nicht wirtschaftlich, sondern kulturell - in anderen sozialen Systemen als den mitteleuropäischen kann dies durchaus anders sein. Ebenso wird jemand, der in der Bundesrepublik bei einer Wahl seine Stimme abgibt, in der Regel (hoffentlich) noch davon ausgehen, dass er innerhalb des politischen Systems handelt und nicht als Wirtschaftssubjekt. Wie bereits erwähnt, können offene Systeme ihren Ordnungsgrad erhöhen oder anders formuliert, an Eigenkomplexität zunehmen. Die Zunahme der Eigenkomplexität von Systemen bezeichnet man auch als Evolution von Systemen. Die bekannten Mechanismen der Evolution sind Variation (Mutation, Innovation), Selektion und Stabilisierung (Röpke 1977, S. 65). Die Variation stellt eine Systemveränderung dar, die bewusst herbeigeführt oder auch zufällig zustande gekommen ist. Eine solche Veränderung kann z.B. eine Produktinnovation sein. Die Variation wird in der Realität einem wettbewerblichen Überlebenstest - dem Selektionstest - unterzogen. Übersteht sie den Selektionstest, wird sie ein dauerhaftes Moment des Systems und erhöht dessen Eigenkomplexität. Im Falle einer erfolgreichen Produktinnovation ist die Zahl der Märkte innerhalb des Wirtschaftssystems genau um einen Markt angewachsen, nämlich um jenen Markt, der durch die erfolgreiche Innovation dauerhaft entstanden ist. Die Stabilisierung des Systems auf einem höheren Ordnungsniveau entspricht gesteigerter Vielfalt in Relation zur turbulenten Systemumwelt.

5 Siehe ähnlich Fanberg ( 1994).

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III. Märkte und Handlungsrechte Märkte sind in der Realität beobachtbare Phänomene, deren Existenz aus der immer wieder auftretenden Notwendigkeit erwächst, Angebot und Nachfrage dezentral abzugleichen. Sie entstehen häufig scheinbar ganz spontan und treten in sehr vielfältigen Formen auf. So kann man Aktienmärkte, Konsumgütermärkte für kurz- und langlebige Güter, Produktionsgütermärkte, Märkte für Grund und Boden, Miete und Pacht, Märkte für Lizenzen und Patente, Märkte für Dienstleistungen verschiedenster Art beobachten die Klassifikation kann beliebig aufgefächert werden. Gleichfalls ist beobachtbar, dass Märkte unterschiedlich „gut" funktionieren. So gleichen sich auf einigen Märkten Angebot und Nachfrage schnell und erkennbar genau ab (Markträumungsfunktion). Auf anderen Märkten sind hingegen Angebots- oder Nachfrageüberhänge unverkennbar. Die Bewertung der relativen Knappheit verläuft auf einigen Märkten zufriedenstellend. Auf anderen Märkten - etwa gelegentlich auf Märkten für natürliche Ressourcen stellen sich Preise ein, die zu Raubbau und Übernutzung führen. Es existieren auch Märkte, deren Preise im Ergebnis eine zu geringe Nutzung des angebotenen Gutes bewirken. Darüber hinaus vermisst man immer wieder Märkte, die eigentlich existieren sollten. Aus den Ausführungen zur Systemtheorie sollte deutlich geworden sein, dass Märkte Teile des Wirtschaftssystems darstellen und als solche eingebettet in ein soziales Gesamtsystem sind. Märkte können daher nicht losgelöst von politischen, rechtlichen und kulturellen Aspekten des Gesamtsystems gesehen werden. Für die Funktionsweise von Märkten spielt die Ausgestaltung jenes Teils der Regeln des sozialen Systems eine bedeutsame Rolle, die sich auf Eigentum und die Sicherung von Eigentum beziehen.

1. Grundlagen der Property-Rights-Theorie In der Theorie der Verfügungsrechte (Property-Rights-Theorie) sind die diesbezüglichen Zusammenhänge systematisch erarbeitet worden6. Die Theorie der Verfügungsrechte baut auf der fundamentalen Einsicht auf, dass auf Märkten nicht etwa Einheiten materieller und immaterieller Ressourcen und Güter direkt getauscht werden, sondern mehr oder weniger umfassende Bündel auf sie bezogener Verfügungsrechte7, die zusammengefasst als Eigentum bezeichnet werden. Den Begriff „Verfügungsrechte" lösen wir im Weiteren durch den aus unserer Sicht den Sachverhalt besser kennzeichnenden Begriff der „Handlungsrechte" ab. Die Bedeutung der Handlungsrechte für den Tauschwert, lässt sich am Beispiel der höchst unterschiedlichen Preise für Waldboden, Ackerboden und Bauland erhellen. Waldboden erbringt aus dieser Sicht am Markt deswegen den niedrigsten Preis, weil das Bündel der Handlungsrechte, aus denen Eigentum an Wald besteht, erheblich weniger umfasst als das Bündel der Handlungsrechte, aus dem Eigentum an Ackerboden oder

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Siehe hierzu grundlegend Alchian (1979, S. 237); Coase (1959), Coase (1960) und Demsetz (1967, S. 31 ff.) sowie den Überblick bei Furubotn und Pejovich (1972) und den Sammelband von Furubotn und Pejovich (1974). Siehe auch bereits bei Commons (1931, S. 652).

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gar Eigentum an Bauland besteht. Das Eigentum an Waldboden enthält z.B. in der Bundesrepublik Deutschland lediglich die Handlungsrechte der holzwirtschaftlichen Nutzung und der Jagd. Eigentum an Ackerboden enthält diese beiden Handlungsrechte und weitere zusätzliche Handlungsrechte wie etwa alle jene Handlungsrechte, die zur agrarwirtschaftlichen Nutzung des Bodens erforderlich sind. Noch umfassender ist bekanntlich das Eigentum an Bauland, was sich in dessen Marktpreis niederschlägt. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass der Bezug der Handlungsrechte gelegentlich äußerst indirekt werden kann. Dies gilt z.B. für Handlungsrechte, die in Form von Aktien an Kapitalgesellschaften gehalten werden. Die Ausgestaltung der Handlungsrechte ist insofern ein wesentliches Merkmal des sozialen Systems mit besonderer Relevanz für das Wirtschaftssystem. Für das Wirtschaftssystem relevant sind jene Handlungsrechte, die ausgeübt werden müssen, um knappe Güter und Dienstleistungen bereitzustellen. Die Ausgestaltung der Handlungsrechte bestimmt wesentlich den Ordnungsgrad eines Wirtschaftssystems. Damit kann der Ordnungsgrad eines Wirtschaftssystems durch eine Ergänzung mit zusätzlichen Handlungsrechten erhöht werden. Wann dies sinnvoll und sogar erforderlich ist, wird in einem späteren Abschnitt abgehandelt. Im diesem Zusammenhang spielt die Qualität der gesetzten oder zu setzenden Handlungsrechte eine wesentliche Rolle. Für die Qualität der Handlungsrechte sind die nachfolgend aufgeführten Eigenschaften maßgeblich. Erstens muss die Formulierung der Handlungsrechte unmissverständlich und genau sein (Präzision). Ansonsten treten bei den Interaktionen der Wirtschaftssubjekte unnötige Missverständnisse auf. Zweitens müssen Handlungsrechte kurzfristig zuverlässig akzeptiert und durchgesetzt sowie auch langfristig gültig sein (Rechtssicherheit). Ansonsten entsteht eine übergroße Neigung zur Gegenwartsnutzung. Drittens müssen Handlungsrechte die Eigenschaft der Exklusivität aufweisen. Ist individuelle Exklusivität nicht herstellbar, sollte ersatzweise Exklusivität für möglichst kleine jedenfalls geschlossene Gruppen hergestellt werden (Gruppeneigentum). Viertens müssen Handlungsrechte in allen Fällen, in denen eine marktliche Bewertung erfolgen soll, tauschbar sein. Entsprechen Handlungsrechte den vier genannten Kriterien, bezeichnet man sie als „wohldefiniert"8. Handlungsrechte müssen wohldefiniert sein, also den eben genannten vier Kriterien möglichst weitgehend entsprechen, wenn sie dem Wirtschaftssystem zu einem höheren Ordnungsgrad verhelfen sollen. Verfehlen Handlungsrechte die genannten Kriterien, treten unerwünschte Wirkungen in Form sogenannter technologischer externer Effekte auf. Handlungsrechte können den genannten Kriterien nur dann entsprechen, wenn ein geeignetes flankierendes Geflecht von solchen Handlungsverboten entsteht, die unter Einsatz geeigneten Sanktionspotenzials auch durchgesetzt werden. So können z.B. exklusive Fischereirechte auf einem großen See mit erheblich weniger Aufwand abgesichert werden, wenn flankierend Verbote erlassen werden, den See ohne Einverständnis mit dem Inhaber der Fischereirechte mit solchen Booten zu befahren, auf denen sich Fischereiausrüstung befindet. Auch Handlungsverbote als Teil des Regelgeflechts eines Wirtschaftssystems müssen einigen Kriterien genügen, wenn sie dazu beitragen sollen, den Ordnungsgrad des 8

In Interpretation der Property Rights Theorie siehe hierzu ausführlich Wegehenkel (1980, S. 236 ff.).

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Systems zu erhöhen. Diese Kriterien sind durch F.A. von Hayek als Eigenschaften so genannter „allgemeiner Regeln" formuliert worden9. Regeln werden gemäß Hayek dann als „allgemein" bezeichnet, wenn sie gleiche Anwendbarkeit auf alle Wirtschaftssubjekte, Abstraktheit und Gewissheit gewährleisten. Besitzen Handlungsverbote die Charakteristika allgemeiner Regeln, können sie das System in der Weise durch dann entstehende Handlungsrechte ergänzen, dass eine Erhöhung seines Ordnungsgrades erfolgt und damit Interaktionen auf höherem Ordnungsniveau stattfinden können10. Eine Flankierung von Handlungsrechten durch solche - den oben genannten Kriterien entsprechenden - Handlungsverbote fuhrt jedoch nur dann zu einem höheren Ordnungsniveau, wenn sie als Reaktion auf das Auftreten konfliktbehafteter Interaktion zwischen Wirtschaftssubjekten erfolgt. Handlungsrechte und Handlungsverbote entstehen innerhalb des politischen Systems. Der Entstehungsprozess von Handlungsrechten verläuft in vier Phasen. Handlungsrechte müssen zunächst einmal spezifiziert (definiert) und dann personell zugeordnet werden. Danach müssen sie durchgesetzt und schließlich von ihren Inhabern überwacht werden. Die Spezifikation des Handlungsrechts beinhaltet die Ausformulierung des Rechts auf der Basis des Problems, das zu lösen ist. Findet etwa bei Nichtexistenz von Fischereirechten Raubbau an Fischpopulationen statt, muss eine sinnvolle Spezifikation der Fischereirechte erfolgen. Dies geschieht in den entsprechenden Institutionen (etwa den Parlamenten) des politischen Systems. Ist das Handlungsrecht spezifiziert, muss im nächsten Schritt eine personelle Zuordnung erfolgen. Innerhalb des politischen Systems muss darüber entschieden werden, wer das Handlungsrecht erhält. Da Handlungsrechte üblicherweise erst dann entstehen, wenn sie als wertvoll erachtet werden (siehe später), können an dieser Stelle Verteilungskonflikte ausbrechen. Auch die personelle Zuordnung erfolgt innerhalb des politischen Systems. Da die personelle Zuordnimg von Handlungsrechten in aller Regel nicht konfliktfrei abläuft, muss innerhalb des politischen Systems auch die Durchsetzung sichergestellt werden. Hierzu kann es zunächst erforderlich sein, Handlungsverbote zu setzen, die geeignet sind, die Exklusivität der Handlungsrechte zu verbessern. Hierfür sind üblicherweise die gleichen Institutionen zuständig wie für die Spezifizierung und personelle Zuordnung der Handlungsrechte. Für die weitere Durchsetzung haben sich innerhalb des politischen Systems weitere Institutionen wie Gerichte und Polizei entwickelt. Auch die Durchsetzung innerhalb des politischen Systems stellt die Exklusivität eines Handlungsrechts noch nicht sicher. Der Inhaber der Handlungsrechte hat häufig noch individuellen Überwachungsaufwand zu betreiben. So benötigt er zur Wahrung der Exklusivität seiner Rechte an einem Grundstück mit Gebäude möglicherweise einen Zaun, eine Alarmanlage, einen Hund oder einen Wachdienst. Diese Anstrengungen laufen innerhalb des Wirtschaftssystems ab.

Siehe Hayek (1971), kompakt nachformuliert bei Hoppmann (1972) und später bei Schmidtchen (1983). 10 Für diese Synthese von Systemtheorie und Elementen der Property Rights Theorie siehe grundlegend Wegehenkel (1991).

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2. Systemtheoretische Interpretation der Transaktionskosten Die Entstehung und Nutzung von Handlungsrechten verursacht Kosten. Die Aufwendung dieser Kosten steht in Verbindung mit der Erhöhung des Ordnungsgrades des sozialen Systems. Mit Blick auf das Wirtschaftssystem fuhrt die Erhöhung des Ordnungsgrades zu komplexeren wirtschaftlichen Interaktionen. Insbesondere führt die Erhöhung des Ordnungsgrades zu komplexeren Tausch- oder Transaktionsgeflechten. Die Kosten für Spezifizierung, personelle Zuordnung, Durchsetzung und Überwachung sind in diesem Sinne Investitionen in das Wirtschaftssystem, die neue Kategorien von Tauschakten ermöglichen. Da diese Kosten insofern als Voraussetzung für konkrete neue Tauschakte anfallen, kann man sie durchaus der Gruppe der Transaktionskosten zuordnen. Die hier beschriebenen Transaktionskosten müssen nach ihrer Investition in die Systemkomplexität in den laufenden Wirtschaftsperioden nicht mehr berücksichtigt werden. Sie versinken gewissermaßen in die Systemstruktur und werden deshalb im Weiteren als versunkene Transaktionskosten bezeichnet11. Von den versunkenen Transaktionskosten sind laufende Transaktionskosten zu unterscheiden. Als laufende Transaktionskosten werden hier jene Kosten bezeichnet, die in der laufenden Wirtschaftsperiode aufzuwenden sind, um konkrete Tauschakte vorzubereiten und abzuschließen. Die laufenden Transaktionskosten werden in der Literatur meist einfach als Transaktionskosten, die im Zuge einer Transaktion ex ante und ex post an einer jeweils definierten Schnittstelle X anfallen ( Williamson 1985, S. 22 ff.), bezeichnet. Hierzu gehört zum einen der Komplex der ex ante Transaktionskosten, beispielsweise in Gestalt von Informations-, Vertragsverhandlungs-, Vertragsabschlußkosten. Zum anderen fallen ex post Transaktionskosten an, die zur Überwachung und Durchsetzung der Vertragserfüllung aufzuwenden und vom Ausmaß des opportunistischen Verhaltens der Vertragspartner abhängig sind. Die Höhe der laufenden Transaktionskosten hängt unter anderem vom Ordnungsgrad des Wirtschaftssystems ab. Die laufenden Transaktionskosten können prohibitiv hoch sein, wenn der Ordnungsgrad des Systems für die konkret beabsichtigten Tauschakte zu niedrig ist. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn jene Handlungsrechte fehlen, die für die Durchführung der beabsichtigten Tauschakte erforderlich sind. Die Höhe der laufenden Transaktionskosten wird ebenso nach oben getrieben, wenn die relevanten Handlungsrechte zwar existieren, aber die Eigenschaft der Wohldefiniertheit im zuvor beschriebenen Sinne verfehlen. Des Weiteren ist es im Zuge der Diskussion um den Ordnungsgrad eines Systems sinnvoll, den Begriff des „Transaktionsquotienten" einzuführen. Als Transaktionsquotient soll kurz gefasst das Verhältnis des Wertes von potenziell Tauschbarem zu den für die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung aufzuwendenden laufenden Transaktionskosten bezeichnet werden. Der Zähler des Transaktionsquotienten enthält den Wert der im jeweiligen institutionell und technisch vorgegebenen Szenario kleinsten, ökonomisch sinnvollen und personell zugeordneten Einheit des jeweils relevanten Handlungsrechts. Der Nenner umfasst die laufenden Transaktionskosten. Nimmt der

11 Zu dieser Variante des Transaktionskostenbegriffs siehe Wegehenkel (1981, S. 20 ff.).

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Transaktionsquotient einen Wert < 1 an, lohnen Tauschakte im vorgegebenen Szenario offensichtlich nicht. Daraus ergibt sich nebenbei, dass die Qualität bestehenden Eigentums als Bündel von Handlungsrechten vom Ordnungsgrad des Systems abhängt. Dies gilt insbesondere auch für den Grad der Exklusivität von Handlungsrechtsbündeln. Die Zunahme des Ordnungsgrades des Wirtschaftssystems setzt also voraus, dass das politische System die notwendigen Handlungsrechte und Handlungsverbote mit der beschriebenen Qualität bereitstellt. Dies gelingt mit Blick auf die laufenden Transaktionskosten umso leichter, je mehr die Rechtsetzung in Übereinstimmung mit den Grundwerten und Normen steht, die sich innerhalb des kulturellen Systems entwickelt haben. Gelegentlich initiieren Sachzwänge, die sich im Bereich des Wirtschaftssystems manifestieren, Entwicklungen innerhalb des kulturellen Systems, die eine problemorientierte Schaffung neuer Handlungsrechte und Handlungsverbote innerhalb des politischen Systems erleichtern. So müssten z.B. religiöse Grundnormen, die etwa Geldzins verbieten, in geeigneter Weise verändert werden, wenn Chancen zur Entwicklung moderner dezentralisierter und arbeitsteiliger Wirtschaftssysteme eröffnet werden sollen. Damit stellt sich nun die Frage, welcher Art jene Sachzwänge sein können, die es erforderlich machen, den Ordnungsgrad des Wirtschaftssystems durch Schaffung neuer Handlungsrechte und Handlungsverbote zu erhöhen. An früherer Stelle war bereits darauf hingewiesen worden, dass Märkte unterschiedlich gute Ergebnisse zeitigen können. Es war auch bereits erwähnt worden, dass Tausch ein gewisses Minimum an Ordnung also an Handlungsrechten und Handlungsverboten voraussetzt. Da Märkte die ideellen Orte der Tauschvorgänge darstellen, können auch Märkte nur entstehen, wenn das genannte Minimum an Ordnung in Form von Handlungsrechten und Handlungsverboten gegeben ist. Im Folgenden wird untersucht, unter welchen Umständen Märkte gut oder schlecht funktionieren und unter welchen Umständen und aus welchen Gründen Märkte neu entstehen sollten.

3. Wirtschaftssystem und technologische externe Effekte Die Sachzwänge, denen wir uns jetzt zuwenden, lassen sich unter der Kategorie technologischer externer Effekte zusammenfassen. Technologische externe Effekte sind definiert durch die Existenz fremdbestimmter Argumente in Nutzen- und Produktionsfunktionen12. Fremdbestimmte Argumente in den Nutzenfunktionen von Haushalten blockieren die zur Maximierung des Haushaltsnutzens erforderliche Gütermengensubstitution. Im Falle eines negativen technologischen externen Effekts wird das Nutzenniveau des Haushalts fremdbestimmt gemindert. Angenommen etwa, ein Haushalt plane, einen Nachmittag im Sommer an einem besonders schönen Meeresstrand zu verbringen, der sehr besucht ist, an dem aber im Verhältnis zum Ansturm wenige solcher Parkplätze vorhanden sind, die im Wege des ersten Zugriffs kostenlos besetzbar sind. Insbesondere existieren keinerlei Reservierungsmöglichkeiten - auch nicht gegen Entrichtung von

12 Siehe etwa Buchanan und Stubblebine (1962) sowie Meade (1973).

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Parkgebühren. So wäre der Haushalt gezwungen, schon sehr frühzeitig bereits am Morgen anzureisen, um sicher sein zu können, sein Konsumziel zu erreichen. Wegen beruflicher Zwänge sei dies aber unmöglich. Das Nutzenniveau des Haushaltes könnte in diesem Szenario erhöht werden, gäbe es gegen entsprechende Gebühren die Möglichkeit der Parkplatzreservierung - er müsste dann nicht bereits am frühen Morgen anreisen und könnte seine Anreise entsprechend seiner Wünsche vornehmen. Der Haushalt wäre gegebenenfalls bereit, den Konsum anderer Güter zu reduzieren, also Gütersubstitution vorzunehmen. Das beschriebene Beispiel beinhaltet einen negativen technologischen externen Effekt. Liegen hingegen positive technologische externe Effekte als positive Fremdbestimmtheit in der Nutzenfunktion vor, erreicht der Haushalt ohne eigene Steuerung und bedingt durch die Aktivität dritter Wirtschaftssubjekte ein höheres Nutzenniveau als ohne diese Aktivität. Solange der positive technologische externe Effekt wirkt, sind jedoch noch keine Arrangements getroffen worden, die es ermöglichen, durch Stimulation der betreffenden Aktivität das Nutzenmaximum des Haushalts zu realisieren. Analog lässt sich eine negative sowie positive Fremdbestimmtheit in der Produktionsfunktion einer Unternehmung abhandeln. Dann tritt in der Produktionsfunktion ein Argument auf, das von der Unternehmung im Rahmen ihres Kostenminimierungskalküls nicht variiert werden kann. Somit wird sie daran gehindert, so kostengünstig zu produzieren, wie dies möglich wäre, wenn sie auch diesen Faktor hinsichtlich seines Einsatzes steuern könnte. Stellen wir uns Fischer an einem größeren Binnensee vor, die feststellen müssen, dass sie nicht mehr sicher sein können, sofort eine freie Wasserfläche zu finden, wo sie ihre Netze auslegen können. Es muss normalerweise mit Wartezeiten gerechnet werden. Eine Möglichkeit der Reservierung etwa gegen Gebühr existiere nicht. Hier wirkt gleichfalls ein negativer technologischer externer Effekt, da die Erträge der Fischer mit niedrigeren Kosten produziert werden könnten, wären Kapital und Arbeit nicht für längere Zeit im Wartestand fremdbestimmt unproduktiv gebunden. Im Fall positiver technologischer externer Effekte bedingt die Produktionsaktivität eines Wirtschaftssubjektes nicht nur seinen eigenen Ertrag. Seine Produktionsaktivität erhöht auch die Erträge anderer Wirtschaftssubjekte, ohne dass dieser Aspekt bei der Entlohnung zunächst berücksichtig wird. Diese Situation ist etwa dann gegeben, wenn den Synergieeffekten aus Arbeitsteilung nicht - oder nicht in hinreichendem Umfang durch geeignete vertragliche Arrangements entsprochen werden kann. Unterstellen wir, dass eine Musikgruppe, die sich aus hauptberuflich tätigen Mitgliedern zusammensetzt, gelegentlich einen nebenberuflichen Gitarristen mitwirken lässt, der - wie sich zunehmend herausstellt - die Wirkung der Gruppe auf die Zuhörer deutlich verbessert. Dann sollte es der Gruppe möglich sein, diesem Gitarristen ein Vertragsangebot zu machen, das ihn u.U. veranlasst, ständiges Mitglied zu werden. Dem Beispiel ist zu entnehmen, dass die Internalisierung positiver technologischer externer Effekte bei hinreichender Vertragsfreiheit spontan möglich ist.

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4. Internalisierung technologischer externer Effekte aus systemtheoretischer Perspektive Negative technologische externe Effekte sind Phänomene, die auf Verknappungen hinweisen, die durch das Wirtschaftssystem noch nicht erfasst werden können. Der Ordnungsgrad des Wirtschaftssystems ist noch nicht hoch genug, um jene Tauschakte zu ermöglichen, welche diese Verknappungen (neue Knappheitsmerkmale) in Marktpreise übersetzen. Der Ordnungsgrad des Wirtschaftssystems wird durch Schaffung zusätzlicher geeigneter Handlungsrechte und Handlungsbeschränkungen erhöht. Im Strandbeispiel würden geeignete Handlungsrechte an Parkraum einen Markt für Parkplätze mit Preisen als Knappheitsindikatoren initiieren. Die beschriebene Fremdbestimmtheit in der Nutzenfunktion wäre dann beseitigt. Im Fischereibeispiel könnte die Einführung von Fischfangrechten, die auf bestimmte Fischgründe bezogen sind, eine preisliche Bewertung über einen Markt herbeiführen. Dann wäre die beschriebene Fremdbestimmung in der Produktionsfunktion beseitigt und eine Verschwendung im Umgang mit knappen Gütern, Dienstleistungen und Ressourcen ausgeschlossen. Betrachten wir unser Beispiel eines positiven technologischen externen Effekts, so profitiert die Musikgruppe von der Aktivität eines Wirtschaftssubjektes (Gitarrist), ohne zunächst den Umfang dieser Aktivität hinreichend beeinflussen zu können - das ändert sich nach Abschluss eines geeigneten Vertrags. Damit wird deutlich, dass positive technologische externe Effekte darauf hindeuten, dass im Zuge einzelwirtschaftlicher arbeitsteiliger Aktivitäten Chancen für Synergie- und Netzeffekte bestehen, die erst genutzt werden, wenn geeignete zusätzliche - stimulierende - Verträge abgeschlossen werden (können). Zur Internalisierung positiver technologischer externer Effekte ist also wichtig, dass die internalisierenden Verträge über bestehende Handlungsrechte tatsächlich aus technischer Sicht abgeschlossen werden können und aus rechtlicher Sicht abgeschlossen werden dürfen. Mit der erfolgreichen Beseitigung (Internalisierung) negativer und positiver technologischer externer Effekte können also zusätzliche Knappheits- bzw. Qualitätsmerkmale innerhalb des Wirtschaftssystems auf (neuen) Märkten getauscht und mit Preisen bewertet werden. Unterbleibt die Internalisierung, erzeugen zusätzliche Knappheitsmerkmale Konflikte, da bestimmte Handlungen in einem höheren Umfang stattfinden als unter Effizienzgesichtspunkten wünschenswert ist, bzw. werden zusätzliche Qualitätsmerkmale in geringerem Umfang als wünschenswert bereitgestellt, wenn die Förderung der zugrunde liegenden Handlungen unterbleibt. In beiden Fällen wird die Selektionsresistenz des Gesamtsystems nachhaltig negativ beeinträchtigt. Zusammenfassend treten technologische externe Effekte grundsätzlich dann auf, wenn das politische System keine hinreichend gut spezifizierten Handlungsrechte im Rechtssystem bereitstellt. Technologische externe Effekte treten genauer aus zwei Gründen auf. Im ersten Fall existieren die relevanten Handlungsrechte nicht. Der Ordnungsgrad des Wirtschaftssystems der durch das politische System zur Verfügung gestellt wird, ist damit zu niedrig. Die Abhilfe erfolgt durch Spezifizierung und personelle Zuordnung des relevanten Handlungsrechts. Im zweiten Fall sind einzelne Handlungsrechte nicht hinreichend gut definiert. Dies kann die nachfolgend aufgeführten Gründe haben.

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Erstens können die Kosten der Durchsetzung zu hoch sein, weil die Handlungsrechte an den normativen Grundwerten einer Gesellschaft vorbei spezifiziert und personell zugeordnet wurden. In diesem Fall ist die Korrektur der Rechtssetzung durch Anpassung der Handlungsrechte an die Nonnen und Werte erforderlich, die innerhalb des kulturellen Systems gewachsen sind. Zweitens können die Überwachungskosten in Relation zum Tauschwert eines Handlungsrechts zu hoch sein, weil dieser Aspekt bei der Spezifizierung und personellen Zuordnung nicht hinreichend beachtet wurde. Dieses Problem tritt regelmäßig dann auf, wenn die materiellen oder immateriellen Basen knapper Güter und Ressourcen, an welchen spezifizierte und personell zugeordnete Handlungsrechte verankert sind, innerhalb des politischen Systems zu feinkörnig gewählt werden. So sollten etwa exklusive Erdölforderungsrechte beim derzeitigen Stand des technischen Wissens nicht auf einzelne Kubikmeter innerhalb des Erdölfeldes als materieller Basis bezogen sein. Die Überwachungskosten wären in Relation zum Tauschwert zu hoch. Dieses Problem tritt nicht auf, wenn das gesamte Erdölfeld als materielle Basis für das Erdölforderungsrecht dient. Ähnlich verhält es sich im Zuge der Bereitstellung lokaler Infrastrukturgüter mit der Wahl der materiellen Basis von Handlungsrechten an Infrastruktur (hierzu später mehr). Eine Korrektur der Rechtssetzung mit Blick auf die Bezugseinheit löst die beschriebenen Probleme. Drittens können die notwendigen flankierenden Handlungsverbote entweder fehlen oder sie sind bisher ungeeignet gefasst. Bilaterale Verhandlungen (Verträge) kommen aus dann rechtlichen Gründen nicht zustande, da die erwarteten laufenden Transaktionskosten prohibitiv wirken. Hier müssen geeignete flankierende Handlungsverbote gesetzt oder bestehende ungeeignete Handlungsverbote korrigiert werden. Ist die Internalisierung unter Berücksichtigung der oben aufgeführten denkbaren Probleme erfolgt und hierbei insbesondere die optimale Bezugseinheit für das relevante Handlungsrecht gewählt worden, erreicht das System den optimalen Internalisierungsgradx\ Zusammenfassend ist nach der Internalisierung eines technologischen externen Effekts entweder ein neuer Markt entstanden oder ein bereits bestehender Markt erzeugt nunmehr einen Preis, der den Knappheitsgrad dessen, was auf diesem Markt getauscht wird, präziser wiedergibt. Der Ordnungsgrad des Wirtschaftssystems hat sich erhöht. Voraussetzung hierfür ist die Ergänzung der Wirtschaftsordnung innerhalb des Rechtssystems durch das politische System. Wesentliche Voraussetzung für eine geeignete Rechtssetzung ist jedoch - daran sei erinnert - die Konformität der zu ergänzenden oder anzupassenden Handlungsrechtsbündel mit den kulturell-normativen Werten innerhalb des kulturellen Systems. Die Überlebensfähigkeit des Gesamtsystems wird folglich durch die Fähigkeit einer Gesellschaft beeinflusst, Problembewusstsein zu entwickeln und demnach Anpassungsleistungen zu vollziehen14.

13 Siehe grundlegend Wegehenkel (1991, S. 108); Wegehenkel (1992, S. 324). Der Begriff des optimalen Internalisierungsgrads wurde mit deutlich anderer Erklärungsabsicht auch schon von Tullock (1969) verwendet. 14 Siehe Wegehenkel ( 1991) sowie Eger( 1996).

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IV. Eigentumsrechte zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung Es sollte bis hierhin deutlich geworden sein, dass Funktionsfähigkeit und Funktionsqualität von Märkten von der Ausgestaltung des Systems der Handlungsrechte und Handlungsverbote abhängen. Bislang sind keinerlei Momente abgehandelt worden, die eine Koordination der Wirtschaftsprozesse außerhalb von Märkten erzwingen. Da in der Realität aber immer wieder zu beobachten ist, dass ein mehr oder weniger großer Anteil der Wirtschaftsprozesse einer Gesellschaft jenseits von Märkten auf der Basis politischzentraler Planungsprozesse abläuft, stellt sich die Frage, welche Sachzwänge hier wirken. In diesem Abschnitt werden zunächst einige Umstände dargelegt, die eine Gesellschaft zwingen, zwischen eigentumsrechtlicher Zentralisierung und Dezentralisierung zu wählen. Darauf aufbauend werden einige Konsequenzen dieser Wahl mit Blick auf den Ablauf der Wirtschaftsprozesse ausgeführt. Dabei bleiben Probleme organisatorischer Zentralisierung und Dezentralisierung, die innerhalb der Ordnungspolitik gleichfalls erheblichen Stellenwert haben, zunächst unberücksichtigt.

1. Ein- und mehrdimensionale technologische externe Effekte Als eindimensionalen technologischen externen Effekt wollen wir einen externen Effekt verstehen, der aus der Ausübung eines Handlungstyps durch mehrere Wirtschaftssubjekte entsteht (im Weiteren wollen wir den Begriff „technologischer externer Effekt" durch den abgekürzten Begriff „externer Effekt" ersetzen). Sind in einen solchen eindimensionalen externen Effekt viele Wirtschaftssubjekte involviert, kann man diesen auch als eindimensionalen multilateralen externen Effekt bezeichnen (Beispiel: Überfischen). Als mehrdimensionalen externen Effekt bezeichnen wir einen externen Effekt, der aus der Ausübung mehrerer unterschiedlicher Handlungstypen durch verschiedene Wirtschaftssubjekte entsteht. Die Agrarproduktion oberhalb eines Erdölfeldes kann etwa durch die Erdölförderung dadurch beeinträchtigt werden, dass der Grundwasserpegel absinkt. In diesem Falle entstünde ein zweidimensionaler externer Effekt. Im Prinzip sind dabei soviel Dimensionen wie Handlungstypen denkbar. So könnten etwa auf (in) einem Binnensee Badeaktivitäten, Segelsport, Fischerei, Tauchsport und Naturbetrachtung miteinander einen fünfdimensionalen externen Effekt verursachen. Lässt sich die Internalisierung eines externen Effekts im eindimensionalen Fall in der zuvor geschilderten Weise, nämlich durch geeignete Spezifizierung und personelle Zuordnung des relevanten Handlungsrechts, bewerkstelligen, ergeben sich bei der Internalisierung mehrdimensionaler externer Effekte zusätzliche Probleme. Im mehrdimensionalen Fall müssen alle Handlungsrechte, die Handlungstypen abdecken, die zum mehrdimensionalen externen Effekt beitragen, unter die Kontrolle eines Wirtschaftssubjektes gelangen. Die Internalisierung mehrdimensionaler externer Effekte erfordert also die Zusammenfassung mehrerer ursprünglich voneinander unabhängiger Handlungsrechte zu einem Bündel. Mit Blick auf die Internalisierungsrelevanz entstehen somit Nutzungszusammenhänge mit einer quantitativen und qualitativen Dimension15, die für den 15 Siehe Wegehenkel 1991 sowie Walterscheid 2004, S. 104 ff.

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betreffenden Moment der Betrachtung dann optimale Nutzungszusammenhänge mit angepasster Exklusivität respektive einem Transaktionsquotienten > 1 darstellen.

2. Zentralisierende und dezentralisierende Internalisierung Da nun unterschiedliche Handlungsrechte möglicherweise auf unterschiedlich große Einheiten bezogen werden müssen, um den optimalen Internalisierungsgrad aufzuweisen, entstehen beim Zusammenfassen der Handlungsrechte zu einem Bündel u.U. Probleme, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Im letzten Abschnitt war darauf hingewiesen worden, dass externe Effekte daraus entstehen können, dass Handlungsrechte bei der Rechtssetzung zu feinkörnig verankert werden oder im Fall neuer Knappheiten noch nicht verankert sind (Beispiel: Erdölforderungsrechte). Die erforderliche Mindestgröße der Bezugseinheit eines Handlungsrechtes ist offenbar abhängig von technischen Umständen. So lassen sich jene Handlungsrechte, welche die Agrarproduktion oberhalb des Erdölfeldes abdecken, problemlos auf kleine Teile dessen beziehen, was die gesamte Fläche oberhalb des Erdölfeldes ausmacht. Bei der Zusammenfassung zweier Handlungsrechte zur Internalisierung eines zweidimensionalen externen Effekts lassen sich nunmehr zwei Varianten identifizieren. Nimmt man in unserem Beispiel die Fläche oberhalb des Erdölfeldes als gemeinsamen Nenner im Sinne eines quantitativen Nutzungszusammenhangs der Erdölforderungsrechte und jener feinkörnigeren Handlungsrechte, die Agrarproduktion abdecken, so lassen sich beide Handlungsrechte auf zweierlei Weise in einem qualitativen Nutzungszusammenhang zusammenfassen. Bei der ersten Internalisierungsvariante geraten die aggregierten Agrarproduktionsrechte und das Erdölforderungsrecht unter die Kontrolle eines Wirtschaftssubjektes. Dabei kann das Wirtschaftssubjekt auch aus einer Gruppe von Individuen, wie z.B. einer BGB-Gesellschaft oder einem Verein als juristischer Person oder aber auch aus der großen Gruppe des „Deutschen Volkes", bestehen. Die zweite Internalisierungsvariante besteht darin, die feinkörnigen Agrarproduktionsrechte in der ursprünglichen Form gestückelt zu erhalten, der Gruppe der Inhaber dieser feinkörnigen Agrarproduktionsrechte insgesamt jedoch zusätzlich die Kontrolle über das grobkörnigere Erdölförderungsrecht zuzuordnen. Da im ersten Fall grobkörnig verankerte Agrarproduktionsrechte entstehen, feinkörnige Agrarnutzungsrechte also aufgelöst werden, bezeichnen wir diese Variante als zentralisierende Internalisierung. Im zweiten Fall bleibt die Feinkörnigkeit der Agrarproduktionsrechte auch nach der Zusammenfassung beider Rechte erhalten. Diese Art der Internalisierung kann deswegen auch als dezentralisierende Internalisierung bezeichnet werden16. Im ersten Fall entscheidet also ein Wirtschaftssubjekt über die Nutzung der beiden zusammengefassten Handlungsrechte. Im zweiten Fall agieren die Inhaber der Agrarnutzungsrechte weiterhin unabhängig und entscheiden als Gruppe über die Nutzung des grobkörnigeren Erdölforderungsrechts. Die beschriebenen Muster lassen sich in der realen Welt vielfach beobachten. Soll eine der beiden Internalisierungsvarianten bevorzugt eingesetzt werden, muss dies in einer übergeordneten Verfassung festgelegt werden. Deutlich ist bereits an dieser 16 Zum Konzept der dezentralisierenden Internalisierung siehe Wegehenkel (1991, S. 113 f.).

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Stelle jedoch, dass ein Minimum dezentralisierender Internalisierung stattgefunden haben muss, um die Entstehung von Individualeigentum und/oder feinkörnigem Gruppeneigentum im Fall des Auftretens neuer Knappheitsmomente zu ermöglichen. Das ist aber die Vorbedingung für Tauschprozesse und Vertragsabschlüsse über Märkte. Ein Minimum an dezentralisierender Internalisierung ist damit auch Voraussetzung für die spontane, evolutionäre Entwicklung von komplexen Organisationen wie Unternehmungen. Die eben entwickelten Grundgedanken sollen an Hand weiterer Beispiele verdeutlicht werden. So halten Besitzer von Eigentumswohnungen individuell die auf einzelne Wohnungen bezogenen Handlungsrechte (Wohnen, Vermieten usw.). Demgegenüber verfügt die Gemeinschaft der Besitzer aller Eigentumswohnungen einer Wohnungsanlage als Gruppe über die Handlungsrechte, die sich auf bauliche Veränderung, Gartengestaltung, äußeres Erscheinungsbild usw. beziehen. Dieses rechtliche Arrangement kann man als dezentralisiert identifizieren. Zentralisierung läge vor, wenn die Gruppe der Besitzer aller Eigentumswohnungen gemeinschaftlich auch die Handlungsrechte auf Wohnen, Vermieten usw. halten würde und insofern auch über die Handhabung dieser Rechte Gruppenabstimmungsprozesse ablaufen müssten. Ähnliche Muster lassen sich bei Urbanisationen beobachten. Insgesamt werden Handlungsrechte, welche die Nutzung und Erstellung der vielfältigen Formen von Infrastruktur abdecken, notwendigerweise auf unterschiedlich große Flächen bezogen und unterschiedlich großen Gruppen zugeordnet. Da bei der Internalisierung mehrdimensionaler externer Effekte in der Regel unterschiedlich großräumig verankertes Gruppeneigentum entsteht, werden an dieser Stelle Gruppenabstimmungsprozesse - also politische Prozesse - erforderlich, an deren Ende gemeinschaftlich beschlossene Nutzungs- oder Produktionspläne stehen. Gleichfalls wird an dieser Stelle deutlich, woraus das Nebeneinander marktlich-spontaner und gruppengebundener Koordinierung in den realen Wirtschaftssystemen herrührt. Die Notwendigkeit, immer wieder mehrdimensionale externe Effekte zu internalisieren, erzwingt auch die Zunahme von Gruppenabstimmungsprozessen und damit bei entsprechender Gruppengröße die Zunahme politischer Entscheidungsprozesse. Die Beispiele machen überdies deutlich, dass handlungsrechtliche Zentralisierung tendenziell zur Minderung17 bis zur Auflösung eigentlich möglichen Individualeigentums führt. Insgesamt sollten die bisherigen Ausführungen verdeutlicht haben, dass konsequent dezentralisierende Internalisierung den maximal möglichen Umfang an Individual- und Kleingruppeneigentum gewährleistet. Damit ist gleichzeitig das Maximum spontan möglicher Tauschakte in einer Gesellschaft gesichert. Dies entspricht spiegelbildlich dem minimal möglichen Umfang politischer Entscheidungsnotwendigkeiten über wirtschaftlich relevante Prozesse. Umgekehrt existiert nach konsequent zentralisierender Internalisierung auf alle Mitglieder einer Gesellschaft keinerlei Individual- oder Kleingruppeneigentum. Damit ist der Umfang politischer Entscheidungsnot-

17 Siehe ähnlich Eger (1998, S. 39 f.).

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wendigkeiten über wirtschaftlich relevante Prozesse maximiert und spiegelbildlich der Spielraum für spontanen Tausch über Märkte minimiert.18 Zum besseren Verständnis der Konsequenzen dezentralisierender Internalisierung ist weiter die Erkenntnis bedeutsam, dass die von Gruppen gemeinsam kontrollierten Rechte, obzwar sie nicht individuell getauscht werden können, doch einer indirekten Bewertung über die Marktpreise fur die individuell tauschbaren Rechte unterliegen. So hängt der Marktpreis einer Eigentumswohnung ganz sicher auch von der Qualität der Gesamtgestaltung der Wohnanlage als Gemeinschafts- oder auch Clubgut (Buchanan 1965) der Eigentümergemeinschaft ab. Es liegen folglich unterschiedliche Ausprägungen ausschließbar öffentlicher Güter19 vor, wenn im Zuge der dezentralisierenden Internalisierung Gruppeneigentum entsteht. Dieser Aspekt ist insbesondere mit Blick auf die Erstellung lokaler Infrastruktur20 und die Frage der Internalisierung damit verbundener positiver externer Effekte relevant. Um Verwirrungen hinsichtlich des Konzepts der dezentralisierenden Internalisierung vorzubeugen, sei noch darauf hingewiesen, dass zeitlich nachfolgend das bekannt gewordene Konzept der optimalen Rechtsräume entwickelt wurde. Innerhalb dieses Konzepts werden allerdings politisch-organisatorische und handlungsrechtliche Aspekte kombiniert. Im Übrigen lässt sich dieses Konzept wohl auch aus diesem Grund nicht ganz so vielfältig auf unterschiedliche ökonomische Problemstellungen anwenden21.

3. Zum Nebeneiuander der beiden Grundtypen der Internalisierung In der Realität ist immer wieder zu beobachten, dass mehrdimensionale externe Effekte uninternalisiert bleiben. Es befinden sich also Handlungsrechte, die zwecks Internalisierung eigentlich zusammengefasst werden müssten, unter der Kontrolle unterschiedlicher Wirtschaftssubjekte. Dieses besondere Phänomen fehlender oder fehlerhafter Internalisierung bezeichnen wir im Weiteren auch als Fraktionierung. Liegt Fraktionierung vor, tritt bei unterschiedlicher Größenordnung der Basis der Handlungsrechte das Phänomen auf, dass feinkörnige individuell zugeordnete Handlungsrechte getauscht und damit auf Märkten bewertet werden, die grobkörnig gefassten und großen Gruppen zugeordneten Handlungsrechte demgegenüber jedoch als Gemeineigentum entsprechend der Entscheidung politischer Agenten über zentrale Pläne koordiniert werden. So sind beispielsweise Handlungsrechte an Immobilien in der Bundesrepublik feinkörnig und individuell ausgestaltet. Daher können sie auch Gegenstand individueller Tauschakte sein. Die verschiedenen Handlungsrechte, die sich auf Herstellung und Nut18 Da vollständig zentralisierende Internalisierung im Ergebnis keinerlei spontane Marktprozesse zulässt, wollen wir die Spezifika dieser Variante in diesem Papier nicht weiter verfolgen. Hierzu sei ersatzweise erneut auf die reichhaltig vorhandene Literatur über die sog. Zentralverwaltungswirtschaft verwiesen. Die Zentralverwaltungswirtschaft stellt aus der hier eingenommenen Perspektive die sich anbietende Koordinationsform nach vollständig zentralisierender Internalisierung dar. Zur Zentralverwaltungswirtschaft siehe grundlegend Hensel (1979). 19 Zur Bedeutung ausschliessbar öffentlicher Güter siehe insbesondere die kurzen aber vorausschauenden Ausführungen bei Auster (1977). 20 In ähnlicher Bedeutung wie die lokal öffentlichen Güter bei Tiebout (1956). 21 Zum Konzept der optimalen Rechtsräume siehe etwa Schmidt-Trenz und Schmidtchen (1994) sowie auch Frey (1997).

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Lothar Wegehenkel und Heike Walterscheid

zung der unterschiedlichen Infrastrukturdimensionen beziehen, stehen jedoch unter der Kontrolle politischer Agenten unterschiedlich großer Gruppen von Wahlbürgern als Prinzipale. Die fehlende individuelle Zuordnung macht direkte Marktprozesse über solcherart kontrollierte Infrastruktur unmöglich. Der Tauschwert von Immobilienbesitz hängt nun - wie beschrieben - auch weitgehend von der Qualität der Infrastruktur ab, in welche die Immobilie eingebettet ist. Damit wird Infrastruktur indirekt über den Immobilientausch mitbewertet. Insgesamt verdeutlich das Beispiel, dass der Tauschwert individuellen Eigentums bei Wirken eines mehrdimensionalen externen Effekts durchaus auch von der Qualität von Gruppeneigentum abhängt, bei dem die Eignergruppe sich anders als im Wohnanlagenbeispiel - nicht mit der entsprechenden Gruppe der Individualeigentümer deckt. Hieraus entstehen Reibungsverluste des Systems, die einer näheren Klärung bedürfen.

4. Probleme bei Fortbestand mehrdimensionaler externer Effekte In unserem Immobilien-Infrastruktur-Beispiel lassen sich in real beobachtbaren Marktwirtschaften typischerweise zwei Gruppen von Wahlbürgern unterscheiden, die Teile des für Internalisierungszwecke relevanten Bündels der Handlungsrechte halten. Die erste Gruppe besteht aus den Inhabern der Handlungsrechte an Immobilien, die in der Regel auch als Wahlbürger über Stimmrecht verfügen. Als Wahlbürger beeinflussen sie auch die Entscheidungen über Herstellung und Nutzung von Infrastruktur, die im politischen Raum fallen. Die zweite - ungleich größere - Gruppe enthält jene Wahlbürger, die keine Handlungsrechte an Immobilien halten, über ihre Stimmabgabe aber die Entscheidungen über Herstellung und Nutzung von Infrastruktur im politischen Raum mitbestimmen. Im beschriebenen Szenario ist das internalisierungsrelevante Handlungsrechtsbündel also fraktioniert, was in der Folge zu Teilzentralisierung führen kann22. Dieser Sachverhalt erzeugt eine Reihe von Effizienzproblemen. Effizienzprobleme können etwa in Verbindung mit den Finanzierungsnotwendigkeiten, den Nutzungsmöglichkeiten und den wirtschaftlichen Konsequenzen von Infrastruktur entstehen. Die Finanzierung von Infrastruktur, die sich in öffentlichem Besitz befindet, muss von der gesamten Gruppe der Wahlbürger geleistet werden. Dabei sind die Wahlbürger hinsichtlich ihrer Interessen unterschiedlich betroffen. Da die Marktpreise für Immobilienbesitz von einer Verbesserung von Infrastruktur im allgemeinen positiv beeinflusst werden, können Inhaber von Handlungsrechten an Immobilien nach infrastrukturellen Verbesserungsinvestitionen beim Verkauf ihrer Immobilien Wertsteigerungen realisieren, die nicht auf ihre eigenen individuellen Anstrengungen zurückzuführen sind. Werden die Immobilieneigner systematisch in angemessen hoher Form finanziell an den Infrastrukturinvestitionen beteiligt und entspricht die Kosten-Nutzen-Relation ihren Vorstellungen, ergeben sich keine direkten Effizienzprobleme. Lässt sich eine angemessene Beteiligung der Immobilienbesitzer im politischen Prozess nicht durchsetzen, treten Effizienzprobleme allerdings auf.

22 Siehe erstmals bei Wegehenkel (1991) und später ausführlicher bei Walterscheid (2004).

Rechtsstruktur und Evolution von Wirtschaftssystemen

331

Bei zu hoher anteiliger Belastung sinkt die Neigung, Immobilien zu halten. Damit wird der Marktpreis aufgrund der verringerten Nachfrage gleichfalls sinken. In der Folge sinkt auch die Bereitschaft, privat in Immobilien zu investieren. Bei systematisch zu niedriger anteiliger Belastung der Immobilienbesitzer steigt die Nachfrage nach Immobilien, wodurch auch der Immobilienpreis steigt. In der Folge sinkt jedoch die Bereitschaft der Wahlbürger ohne Immobilienbesitz, Investitionen in Infrastruktur zu finanzieren, da sie erfahren müssen, dass ihre finanziellen Beiträge den Immobilienbesitzern zu einer exklusiv wirkenden Preissteigerung auf dem Immobilienmarkt verhelfen, an dem sie ohne Immobilienbesitz nicht nur nicht teilhaben sondern möglicherweise durch in der Folge erhöhte Mieten sogar negativ betroffen sind. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass bei fehlender Internalisierung des beschriebenen zweidimensionalen externen Effekts die Wahlbürger ohne Immobilienbesitz sowohl von den positiven als auch den negativen Preiswirkungen auf dem Immobilienmarkt, die aus qualitativ unterschiedlicher Infrastruktur resultieren, unberührt bleiben. Insgesamt fuhrt daher die fehlende Internalisierung zu andauernden Verteilungskämpfen zwischen den beiden Gruppen. Dieses mittels des Beispiels illustrierte Ergebnis lässt sich auf viele Bereiche übertragen, die durch die Existenz dauerhaft fortbestehender mehrdimensionaler externer Effekte gekennzeichnet sind. Bleibt noch hinzuzufügen, dass die Internalisierung mehrdimensionaler externer Effekte häufig deswegen unterbleibt, weil innerhalb des kulturellen Teilsystems gewachsene Werte der Anwendung geeigneter Internalisierungstechniken entgegenstehen. In unserem Beispiel etwa könnte das Ergebnis der Internalisierung des zweidimensionalen externen Effekts dem Vorwurf ausgesetzt sein, zu einer Variante des Zweiklassen-Wahlrechts zu führen, da nach Internalisierung konsequenter Weise lediglich die Inhaber von Handlungsrechten an Immobilien über Infrastruktur abzustimmen berechtigt wären.

V. Die Problematik des Wettbewerbs um politische Einflussnahme Fehlende Internalisierung macht jene Konflikte, die anlässlich der personellen Zuordnung individueller Handlungsrechte zu Internalisierungszwecken innerhalb des politischen Teilsystems schlimmstenfalls einmal zu lösen sind, zu Dauerkonflikten, die Konsequenzen für die weitere Entwicklung des sozialen Systems beinhalten. Je größer nämlich die wirtschaftliche Relevanz politischer Entscheidungen aus der Sicht der Wirtschaftssubjekte eingeschätzt wird, umso mehr lohnt es sich zu versuchen, politischen Einfluss zu gewinnen, um die eigene Position wirtschaftlich zu verbessern. Es beginnt der Wettbewerb um politische Einflussnahme, der innerhalb der Literatur über das Phänomen des „Rent-Seeking" ausführlich abgehandelt worden ist23. Der Spielraum für Wettbewerb um politische Einflussnahme ist nun umso größer, je stärker der durch Fraktionierung verursachte Umfang der Teilzentralisierung ausfallt. Dies gilt deswegen, weil aus dem größeren Umfang politischer Entscheidungsnotwendigkeiten bei Teilzentralisierung gegenüber konsequenter Dezentralisierung auf größere Verteilungsspielräume für politische Agenten bei Teilzentralisierung geschlossen werden kann. 23 Zum Wettbewerb um politische Einflussnahme siehe Downs (1957). Für einen umfassenden Überblick zur Theorie des Rent-Seeking siehe etwa Rowley, Tollison und Tullock (1988).

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Lothar Wegehenkel und Heike Walterscheid

Als Renten werden innerhalb der Wirtschaftswissenschaften im weitesten Sinne Entlohnungen für zur Verfügung gestellte Ressourcen bezeichnet. Als Grundrente bezeichnet man etwa die Entlohnung für den Faktor Boden24. Renten entfallen aber auch auf schöne Stimmen, erworbenes Ansehen, Patente, Copyrights und Pfründe. Innerhalb der Rent-Seeking-Literatur werden insbesondere auch Einkünfte aus erworbenen Besitzständen als Renten bezeichnet. Renten sind als wirtschaftliche Anreize notwendig und nicht per se ineffizient. So führen etwa höhere Grundrenten zur intensiveren Nutzung des wertvolleren Bodens. Innerhalb der Rent-Seeking-Theorie werden jedoch Typen von Renten abgehandelt, die auf dramatische Weise effizienzmindernd wirken, wenn sie denn durch die Strukturen des politischen Teilsystems und des Wirtschaftssystems zugelassen werden25. Nehmen wir zur Verdeutlichung des Sachverhalts an, eine Gruppe von Unternehmungen produziere und verkaufe bislang auf einem etablierten Markt DVD-Brenner eines bestimmten technischen Standards und habe sich eine stabile Marktposition erarbeitet. Die Amortisation des investierten Kapitals erfolge bis dahin zufriedenstellend. Ein potentieller Wettbewerber plane, ein neues, technisch überlegenes Gerät als Innovation auf den Markt zu bringen und sei im Prinzip in der Lage, das bessere Gerät zu einem Preis anzubieten, der den aktuell gültigen Preisen für die eingeführten Produkte entspricht. Dann wären die etablierten Anbieter gezwungen, den Preis für ihre technisch schlechteren Produkte zu senken. Die Amortisation des investierten Kapitals müsste sich damit verschlechtern - die Rente aus ihren bisherigen Marktpositionen würde sinken. Dann bestünden seitens der Altanbieter wirtschaftliche Anreize, bis zur Höhe der verminderten Amortisation des eingesetzten Kapitals zu versuchen, politisch in der Richtung Einfluss zu nehmen, dass die Innovation verhindert wird. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Wirtschaftssystem wegen mangelhafter Internalisierung einen zu geringen Ordnungsgrad aufweist und damit Spielraum für wirtschaftlich wirksame politische Verteilungsprozesse besteht. Die Altanbieter könnten etwa den Blick darauf lenken, dass die neuen Brenner mehr Elektrosmog als die alten Geräte verursachen und daher gesundheitliche Gefahren für die Nachfrager entstehen können. Die etablierten Anbieter könnten sich zu diesem Zweck etwa absprechen, gemeinschaftlich in Lobbyismus zu investieren. Die Grenze ihrer wirtschaftlichen Anreize hierzu liegt knapp unterhalb der Höhe der Minderung ihrer Nettoeinnahmen durch den Marktzutritt des neuen Wettbewerbers. Bis zu diesem Umfang wären die Altanbieter also bereit, Mittel für politische Einflussnahme aufzuwenden, um den Marktzutritt des Innovators zu verhindern. Dann muss der potentielle Innovator diese Zahlungsbereitschaft als Markteintrittsbarriere betrachten, die er nur überwinden kann, wenn er seinerseits bereit ist, in politische Einflussnahme zu investieren. Die nachfolgende Abbildung veranschaulicht den Zusammenhang zwischen Teilzentralisierung und den Grenzgewinnen aus Profit-Seeking und Rent-SeekingAktivitäten als alternative Handlungsmöglichkeiten der Wirtschaftssubjekte26.

24 Siehe etwa Correli (1968, S. 80 ff. und S. 351 ff.). 25 Zur Wirkung von Rent-Seeking insbesondere auf das Innovationsverhalten siehe Tullock( 1988). 26 Zum Gegensatzpaar Profit-Seeking vs. Rent-Seeking siehe ausführlich Buchanan (1980).

• 333

Rechtsstruktur und Evolution von Wirtschaftssystemen

Abbildung 1: Ausgestaltung der Handlungsrechte einer Gesellschaft und Verhalten der Wirtschaftssubjekte27 Grenzgewinne Profit-Seeking

Grenzgewinne Rent-Seeking

G'PS

G'RS

0 Vollständige Dezentralisierung

Teilzentralisierungsgrad

100 Vollständige Zentralisierung

Entscheidend für den Einsatz knapper Mittel für Rent-Seeking (RS) oder ProfitSeeking-Aktivitäten (PS) ist demnach die Ausgestaltung der Handlungsrechte innerhalb einer Gesellschaft. Diese kann sich zwischen den Polen der Dezentralisierung mit einem Teilzentralisierungsgrad von 0 und Zentralisierung mit einem Teilzentralisierungsgrad von 100 bewegen, sofern politischen Agenten eines Gesellschaftssystems offen für Rent-Seeking-Aktivitäten sind. Die Kurve G'RS beschreibt typisiert den Zusammenhang zwischen den Grenzgewinnen aus unproduktivem Rent-Seeking und dem Grad der Teilzentralisierung. Die Kurve G'PS zeigt demgegenüber den Zusammenhang zwischen den Grenzgewinnen aus produktivem Profit-Seeking und ebenfalls dem Grad der Teilzentralisierung. Aus den vorherigen Ausführungen werden zwei grundlegende Erkenntnisse der Theorie des Rent-Seeking deutlich: Je mehr Wettbewerb um politische Einflussnahme ablaufen kann, umso mehr werden Innovationen erschwert und umso mehr werden Ressourcen beim Einsatz in unproduktiven Verwendungen verschwendet. Ein soziales System, das den zwecks wirtschaftlicher Vorteile ablaufenden Wettbewerb um politische Einflussnahme auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren in der Lage ist, erhöht den Anreiz zu Innovationen.

1. Rent-Seeking und Marktprozesse bei Teilzentralisierung Die Höhe des Rent-Seeking-Potenzials eines Systems bestimmt sich aus zwei Komponenten. Zum einen entstehen bei jedem Internalisierungsversuch anlässlich der personellen Zuordnung neu spezifizierter Handlungsrechte politische Konflikte. So wird im Vorfeld der personellen Zuordnung wertvoller Handlungsrechte an Fischgründen sicher Wettbewerb um politische Einflussnahme stattfinden. Sind die Handlungsrechte jedoch

27 Eigene Darstellung, ähnlich bei Märtz (1990).

334

Lothar Wegehenkel und Heike Walterscheid

einmal zugeordnet, enden auch die wirtschaftlich relevanten politischen Einflussnahmen. Zum anderen bestimmt sich das Rent-Seeking-Potenzial - wie früher ausgeführt aus dem Grad der handlungsrechtlichen Teilzentralisierung. Ein hoher Anteil handlungsrechtlicher Teilzentralisierung bedeutet auch hohen direkten Einfluss politischer Institutionen auf den Ablauf der Wirtschaftsprozesse. Je höher der handlungsrechtliche Teilzentralisierungsgrad, umso mehr Anreize bestehen, sich an Wettbewerb um politische Einflussnahme gezielt organisiert28 zu beteiligen - mit den entsprechenden negativen Wirkungen auf die Leistungsfähigkeit des Wirtschaftssystems. Nun lässt sich die aus dem letzten Abschnitt ersichtliche Empfehlung an das politische Teilsystem, nach Möglichkeit dezentralisierend zu internalisieren, in der Realität nicht so leicht umsetzen. Wie oben beschrieben wurde, anlässlich der personellen Zuordnung von Handlungsrechten innerhalb des politischen Teilsystems Konflikte zu lösen. Den politischen Agenten steht jedoch eine Strategie zur Verfügung, der Lösung von Konflikten kurzfristig auszuweichen. Wird nämlich statt dezentralisierend zu internalisieren der Grad der Teilzentralisierung erhöht, sind die Konflikte zwischen den verschiedenen interessierten Gruppen von Wirtschaftssubjekten zunächst unter den Teppich gekehrt. Stünde etwa die Spezifizierung und personelle Zuordnung von Handlungsrechten an Fischgründen an, könnte man kurzfristig den Konflikten, die anlässlich der personellen Zuordnung zu erwarten sind, aus dem Wege gehen, indem man die Handlungsrechte an Fischgründen der Allgemeinheit zuordnet - also teilzentralisiert. Diese Strategie beinhaltet für die politischen Agenten neben der Konfliktvermeidung noch einen weiteren wesentlichen Vorteil. Durch weitere Teilzentralisierung entsteht nämlich weitere Verteilungsmasse zur Befriedigung der Interessenlagen unterschiedlicher Teilnehmer am Wettbewerb um politische Einflussnahme (Downs 1957). Sind die Handlungsrechte an Fischgründen teilzentralisierend zugeordnet worden, steht der Regierung die Möglichkeit offen, bestimmten Gruppen im Wege politisch-bürokratischer Zuordnungsprozesse temporär und widerruflich das Recht zum Fischfang zu gewähren (hiermit wird ein „Nutzungsrecht" begründet). Die Gewährung derartiger Nutzungsrechte auf der Basis von Teilzentralisierung kann kostenlos erfolgen. Das entspricht einer direkten temporären Privilegiengewährung. Die Vergabe solcher Nutzungsrechte kann auch die Erhebung von Gebühren und Steuern vorsehen, womit verteilungs- und damit privilegierungsfähige Einnahmen erzielt werden. Im gegebenen Kontext sind auch Versteigerungen denkbar. Versteigerungen verschaffen politischen Agenten gleichfalls finanzielle Verteilungsmasse. Andererseits werden durch Versteigerung von Nutzungsrechten auf handlungsrechtlich teilzentralisierter Basis Marktprozesse eingeleitet. Im Unterschied zu jenen Marktprozessen, die nach dezentralisierender Internalisierung ablaufen, fehlt hier jedoch die langfristige Orientierung, da politische Veränderungen auch die Praxis der Vergabe der Nutzungsrechte beeinflussen können. Tatsächlich steht die Vergabepraxis bei und nach jedem politischen Abstimmungsprozess neu zur Disposition. Daraus ergeben sich Planungsunsicherheiten der betroffenen Wirtschaftssubjekte, die bei dezentralisierender Internalisierung vermieden werden könnten. Nut-

28 Siehe zur gezielten Organisation kollektiven Handelns in Interessengruppen grundlegend Olson (1971)

Rechtsstruktur und Evolution von Wirtschaftssystemen

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zungsrechte auf der Basis teilzentralisierter Handlungsrechte können damit nicht wohldefiniert sein. Die Planungsunsicherheiten erhöhen sich insbesondere auch dadurch, dass die Vergabepraxis von Nutzungsrechten zum Gegenstand von Wettbewerb um politische Einflussnahme wird, da alle Betroffenen wissen, dass die politischen Agenten diesbezüglich Verteilungsspielraum haben. Die naheliegende Ausweichstrategie der politischen Agenten führt also letztlich zu einer weiteren Erhöhung des Rent-SeekingPotenzials mit den bereits geschilderten effizienzmindernden Wirkungen. Hieraus können Pfadabhängigkeiten im Sinne historisch bedingter Restriktionen hinsichtlich der Entscheidungsspielräume politischer Agenten entstehen29. Zusammenfassend sei unterstrichen, dass der Existenz und dem Entstehen von Nutzungsrechten die Fraktionierung wertvoller Handlungsrechtsbündel zugrunde liegt, die aus Effizienzgründen in der Hand eines Wirtschaftssubjektes gebündelt sein sollten. Erst die Fraktionierung und nachfolgende Teilzentralisierung in Richtung Politiksystem eröffnet den diskretionären Verteilungsspielraum politischer Agenten mit den geschilderten Wirkungen auf die Selektionsresistenz eines Gesellschaftssystems im Systemwettbewerb. Zur Verdeutlichung dieser Zusammenhänge sei eine Internalisierungshierarchie für einen Wohnblock mit individuell gehaltenen Eigentumswohnungen skizziert. Als Internalisierungshierarchie wird hier einfach die Anordnung der Handlungsrechte in Abhängigkeit von jenem Umfang der Basis, der den optimalen Internalisierungsgrad erzeugt, bezeichnet. In unserer Darstellung (Abbildung 2) steigt der erforderliche Umfang von unten nach oben30. Für Abbildung 2 wird vollständig dezentralisierende Internalisierung unterstellt. Die (individuellen) Eigentümer von Eigentumswohnungen (H.R. EW) stimmen - der Internalisierungsrelevanz folgend - zuerst in der geschlossenen Gruppe der Eigentümerversammlung über die Gemeinschaftsanlagen bezüglich des Wohnblocks ab (H.R u. G.G Wohnanlage einschließlich des Grundstücks). Auf der nächsten Ebene der Internalisierungshierarchie kann man sich alle Eigentümer von Wohnungen in einer gleichfalls geschlossenen entsprechend größeren Gruppe organisiert vorstellen, die über die z.B. infrastrukturellen Belange einer ganzen Wohnsiedlung aus Wohnblocks mit Eigentumswohnungen befindet (H.R. u. G.G. Wohnsiedlung). Schließlich kann man sich auf der letzten in Abbildung 2 erfassten Ebene vorstellen, dass über die Infrastruktur einer ganzen Stadt, die aus Wohnsiedlungen der eben beschriebenen Art besteht, durch eine entsprechende Versammlung (oder ihre Vertreter) entschieden wird (Handlungsrechte und Gemeinschaftsgüter Stadt).

29 Siehe hierzu etwa North (1990, S. 119); Schlicht (1998, S. 11) sowie Ackermann (2001, S. 171 ff.). 30 Zur Internalisierungshierarchie siehe grundlegend Wegehenkel (1991).

336

Lothar Wegehenkel und Heike Walterscheid

Abbildung 2: Individualeigentum bei vollständiger dezentralisierender Internalisierung Ν

c 0

δ 3

1

§

OQ Q. »-t κg o. I V)

O

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Handlungsrechte u. Gemeinschaftsgüter Stadt H.R. u. G.G.

H.R. u. G.G.

Wohnsiedlung 1

Wohnsiedlung 2

u. G.G.

H.R. u. G.G.

H.R.

Wohnanlage 1

Wohnanlage 2

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•-i Œ §

H.R. u. G.G.

H.R. u. G.G.

Wohnanlage 3

Wohnanlage 4

H.R.

H.R.

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H.R.

H.R.

H.R.

H.R.

H.R.

EW 1

EW 2

EW 3

EW4

EW 5

EW 6

EW 7

EW 8

D.

ft

o 5"

Umfang der materiellen Basis

Abbildung 3: Individualeigentum bei Teilzentralisierung aller grobkörnigeren Rechte Ν c 0 s. d c 3

(θ' (7Γ D

O.

(D

*

O: —ι

D



Λ -η

1

Ol Q. C Uo realisieren. Diese Veränderung bei den nutzenstiftenden Aktivitäten schlägt durch auf die Produktion und Ausübung von Macht, weil der Diktator einen Teil der zusätzlichen Ressourcen zur Erhöhung des Staatsbudgets von Βπο auf Βπι verwendet. Zur kosteneffizienten Generierung des höheren Machtniveaus πι bedarf es nun einer Ausweitung der Ausgaben für Loyalitätskauf und Repression von PlLo + PrRo auf PlLj + PrRi. In der Folge stellt sich auch hier ein neues Gleichgewicht Gj ein (vgl. Abb. 6b). Als Zwischenfazit bleibt festzuhalten: Im Modell führt ein exogener Ressourcenzufluss zu einem Erstarken des diktatorischen Regimes. Der Diktator steigert seinen privaten Konsum. Zugleich weitet er seine Macht aus. Das aber bedeutet zweierlei: Zum einen werden im Rahmen des Loyalitätskaufs mehr Ausgaben für öffentliche Güter getätigt. Auch stehen mehr Ressourcen für die Vergabe von Privilegien zur Verfügung. Zum anderen wird im Rahmen der Repressionspolitik nicht weniger, sondern mehr Druck auf die Bevölkerung ausgeübt. Abb. 6: Ausweitung oder Verknappung der Ressourcen

(6a)

(6b)

Genau umgekehrt verhält es sich im entgegengesetzten Fall einer Verknappung der Ressourcen. Sie kann auf vielfältige Weise zustande kommen. Man denke beispielsweise an ein Handelsembargo oder an andere Sanktionen bis hin zur militärischen Bedrohung.26 Hier käme es neben einem Rückgang des Repressionsniveaus auch zu einem 26 Die militärische Bedrohung könnte den Diktator zu hohen Investitionen in die Landesverteidigung veranlassen, wodurch weniger Mittel für konkurrierende Verwendungen zur Verfügung stünden. Es wäre allerdings auch denkbar, dass im Falle der militärischen Bedrohung einer Diktatur das Repressionsniveau dort unverändert bliebe oder sich gar erhöhte, denn der durch zusätzliche Rüstungsausgaben entstehende negative Budgeteffekt, der das Repressionsniveau sinken lässt, könnte dadurch kompensiert oder überkompensiert werden, dass sich die Armee nicht nur zur Landesverteidigung, sondern auch zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung einsetzen lässt.

Armutsbekämpfung versus Demokratieförderung

417

Rückgang des privaten Konsums des Diktators, zu einem Rückgang des Machtniveaus (d.h. zur politischen Destabilisierung des Regimes) und zu einem Rückgang der Ausgaben für öffentliche Güter und Privilegien (Loyalitätskauf). Das Gleichgewicht würde sich von Gi nach Go verschieben (vgl. wieder Abb. 6a und Abb. 6b). Auf der Grundlage dieses Modells wäre also zunächst zu erwarten, dass jede Maßnahme, die sich als Ressourcenausweitung eines nicht-demokratisch verfassten Regimes interpretieren lässt, sowohl einen positiven Armutsbekämpfungseffekt (aufgrund steigender Investitionen in öffentliche Güter) als auch einen negativen Demokratisierungseffekt (aufgrund eines Anstiegs des Repressionsniveaus) zur Folge hat. Umgekehrt müsste eine Verknappung der einem nicht-demokratisch verfassten Regime zur Verfügung stehenden Ressourcen einen positiven Demokratisierungseffekt (aufgrund eines fallenden Repressionsniveaus) in Verbindung mit einem negativen Armutsbekämpfungseffekt (aufgrund sinkender Investitionen in öffentliche Güter) auslösen. In jedem Fall besteht ein Zielkonflikt zwischen Armutsbekämpfung und Demokratisierung. (2) Bislang wurde stillschweigend angenommen, dass der Ressourcenzufluss in ein nicht perfekt demokratisch regiertes Land direkt dem Diktator zugute kommt. In der Realität muss das nicht der Fall sein. In der Tat haben sowohl demokratische Regierungen als auch andere Akteure der Entwicklungspolitik durchaus die Möglichkeit, die Verwendung eigener Mittel in den Zielländern zu kontrollieren oder diese Mittel kurzerhand selbst auszugeben. Folgende Beispiele mögen dies verdeutlichen: an bestimmte Reformen gebundene Kredite oder Budgethilfen; die Durchführung oder die finanzielle Förderung konkreter Projekte auf dezentraler Ebene (z.B. der Bau oder die Finanzierung von Trinkwasserbrunnen); die technische Unterstützung (z.B. die Entsendung von Ingenieuren) oder die Beratung und das Capacity Building (z.B. die Weiterbildung von Experten in dem für Brunnenbau zuständigen Ministerium des Ziellandes). Deshalb lautet die hier besonderes interessierende Frage: Ließe sich auf einem dieser Wege der Zielkonflikt zwischen Armutsbekämpfung und Demokratisierung überwinden? Bietet die Umstellung von direkten zu indirekten Ressourcenzuflüssen, die Umstellung von Finanzzuweisungen an den Staat hin zu materiellen Hilfen oder hin zu Finanzzuweisungen an nicht-staatliche Akteure einen Ausweg aus dem Trade-Off?27 Die skizzierten Maßnahmen weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sie sich als kostenlose Bereitstellung öffentlicher Güter interpretieren lassen, indem sie beispielsweise die allgemeine Wasserversorgung durch dezentralen Brunnenbau fordern. Aus der theoretischen Perspektive der ökonomischen Regimeforschung lautet nun die zentrale Frage: Wie würde ein rationaler Diktator auf ein solches Projekt reagieren? Abbildung 7 hilft, diese Frage - gestützt auf das Modell - so zu beantworten, dass dabei wiederum kontraintuitive Erkenntnisse generiert werden. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass ein rationaler Diktator im Rahmen seiner Strategie des Loyalitätskaufs in einem gewissen Umfang bereits selbst öffentliche Güter bereitstellt. Im Modell lässt sich deshalb die zusätzliche Bereitstellung öffentlicher Güter durch andere (ausländische) Akteure als exogen induzierter Anstieg des Loyalitätsniveaus von Lo auf Li auffassen. Kurzfristig stellt sich Punkt Gi ein (siehe Abb. 7b).

27 Wintrobe (1990, 1998) geht auf diese Frage nicht ein.

418

Ingo Pies und Christof Wockenfuß

Abb. 7: Zusätzliche Bereitstellung öffentlicher Güter U

π0

A

TtßTtj (7a)

tc2

π

R 0 (vgl. Abbildung 2).35

34 Der Erfolg auf Ebene 1 hängt zudem entscheidend von den komplementären Entwicklungshemmungen der ärmsten und armen Länder und ihrer staatlichen sowie privaten Akteure ab. Die Geberländer können diese Bemühungen allerdings mit geeigneten Instrumenten beeinflussen - so beispielsweise mit glaubwürdiger Konditionierung. 35 Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Kritik an Sachs' Rekonstruktion des Armutsproblem bezieht sich nicht generell auf die These der Armutsfalle, sondern auf die Art ihrer Rekonstruktion. Die Diagnose des Armutsproblems in Abschnitt 1 würde im Modell analog erfolgen, stellte man - im Sinne der Institutionen- und ordnungsökonomischen Tradition - die institutionellen und kulturellen Faktoren ins Zentrum der Analyse. Gleichwohl fiele die Therapie kategorial anders aus: Weil das Armutsproblem primär als Problem mangelhafter institutioneller Arrangements in Entwicklungsländern rekonstruiert würde - vgl. hierzu aktuell Soto (2002) - , ginge es in erster Linie darum, durch geeignete Maßnahmen der Geberländer die Regierungen der armen Länder in ihren Bemühungen um glaubwürdige Selbstbindungen gegenüber ihren Bevölkerungen zu unterstützen - erst in zweiter Linie um finanzielle Ressourcen.

Die Sachs-Easterly-Kontroverse: „Dissent on Development" Revisited

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Obwohl das Interventionsproblem bei Sachs nicht im direkten Fokus der Analyse steht, bietet seine klinische Ökonomik auch hierfür eine - zumindest indirekte - Erklärung: Legt man die These einer technisch-finanziellen Armutsfalle zugrunde, dann liegt es nahe, die ernüchternden Ergebnisse der Entwicklungshilfe eher mit der Quantität des Inputs als mit der Qualität des Output zu erklären. Die Diagnose des Interventionsproblems bei Sachs lautet daher: zu wenig Entwicklungshilfe.36 Dafür ist, so Sachs, ein weitgehend unkoordiniertes System aus bi- und multilateralen Gebern verantwortlich, das dafür sorgt, dass zu wenig Finanzmittel mobilisiert werden, mit der Folge, dass letztlich zu wenig Entwicklungshilfe bei den betroffenen Ländern ankommt. Analog lautet die Therapie: mehr Entwicklungshilfe. Hier setzt Sachs auf eine bessere Koordination und die Harmonisierung des weltweiten Verteilersystems, um die Kapazität des Systems und die Effektivität der Entwicklungshilfe zu erhöhen. Aus diesem Grund sieht die Reform vor, die Planung und Durchführung der Armutsbekämpfungsstrategien zentral bei den Vereinten Nationen zusammenzuführen.37 Nimmt man Easterlys ordnungspolitische Problemrekonstruktion ernst, dann ist das Scheitern der Entwicklungshilfe kein Quantitäts-, sondern ein QualitätspToblcm. Es geht um institutionelle Anreize - im Empfanger- wie im Geberland. In diesem Sinn ist Sachs' auf technisch-finanzielle Hilfe zielende klinische Ökonomik nicht Teil der Lösung, sondern selbst Teil des Problems auf den Ebenen 1 und 2. So würde Sachs' Therapievorschlag das von Easterly diagnostizierte Grundproblem der Entwicklungspolitik - die Kartellierung der Entwicklungsorganisationen - durch weitere Koordinations-, Harmonisierungs- und Zentralisierungsanstrengungen einfach duplizieren. Die eingeschränkte Leistungsfähigkeit der klinischen Ökonomik wird mit Blick auf das Interventionsproblem offenkundig. Sachs sieht sich bereits auf den Ebenen 1 und 2 genötigt, die ökonomischen Erklärungsversuche abzubrechen und stattdessen normativ aufzurüsten. In Bezug auf das Interventionsproblem offenbart sich Sachs' Ansatz als normative Verlegenheitslösung: Seine klinische Ökonomik müsste daraufbauen, Politiker und Entwicklungsberater in bessere Menschen verwandeln zu können. Für diesen Befund seien zwei Belege angeführt: Erstens ist Sachs sehr darum bemüht, das Scheitern der bisherigen entwicklungspolitischen Bemühungen auf gravierende ideologische Fehler in einer bestimmten Phase der Entwicklungspolitik - in der Phase der Strukturanpassungsprogramme - zu begrenzen. Sachs schreibt hierzu: „Der IWF hat so gravierende Probleme übersehen wie die Armutsfalle, Bodenverhältnisse, Klima, Krankheiten, Transportmöglichkeiten und die Situation der Frauen und eine Fülle weiterer «Krankheitsbilder», die eine wirtschaftliche Entwicklung hemmen."38 In dieser Phase, so Sachs, habe eine falsche Marktideologie die verantwortlichen Politiker dazu verführt, das Eigeninteresse der Industrieländer, also

36 Noch zugespitzter ließe sich formulieren: Da im Modell der Armutsfalle die Grenzproduktivität des Kapitals erst bei höherem Kapitalstock sprunghaft zunimmt, hängt auch die Wirkung von Entwicklungshilfe von ihrer Höhe ab. Bei Sachs hängt daher die Qualität der Hilfe unweigerlich mit ihrer Quantität zusammen. Quantität wird zur Qualität. 37 Sachs setzt hier letztlich auf eine Strategie interventionistischer Feinsteuerung, die bereits in den 1950er und 1960er Jahren Gegenstand der (wenig erfolgreichen) entwicklungspolitischen Programme von IWF und Weltbank waren. Vgl. hierzu aus ordnungspolitischer Sicht den kritischen Beitrag von Dürr (1967). 38 Sachs (2005b, S. 103).

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Stefan Hielscher

die Verringerung der Entwicklungshilfe, ungezügelt zur Geltung zu bringen - zu Lasten der Entwicklungsaussichten der ärmsten der Armen. Ideologie und fehlender Ethos seien der Grund, warum diese Fehler des Washington-Consensus erst viel zu spät ins Blickfeld gerückt werden konnten. Bei Sachs findet man hierzu folgende Erläuterung: „Leider spielten auch eigensüchtige und ideologische Aspekte eine Rolle. Das Eigeninteresse ist eindeutig. Die Verantwortung für den Rückgang der Armut wurde ausschließlich den armen Ländern selbst zugeschoben, weshalb man eine Erhöhung der Finanzhilfen für überflüssig erachtete. Tatsächlich wurde die pro Kopf erbrachte Auslandshilfe für die armen Länder in den achtziger und neunziger Jahren kräftig zurückgefahren. [...] Ideologische Aspekte sind ebenso offensichtlich. Konservative Regierungen in den USA, Großbritannien und anderswo benutzten die internationalen Beratungsorganisationen, um Programme voranzubringen, die im eigenen Land keine Unterstützung fanden."39 Zweitens führt Sachs das Scheitern der Entwicklungshilfe aber nicht nur auf ideologische Scheuklappen der handelnden Politiker (Ebene 2), sondern auch auf fehlendes berufsständisches Ethos der Entwicklungsberater (Ebene 1) zurück. Bei Sachs liest man hierzu folgende Ergänzung: „Fünftens fehlen den Entwicklungsökonomen die notwendigen ethischen und berufsständischen Normen. Ich behaupte nicht, dass sie korrupt oder unmoralisch seien; solche Fälle sind die Ausnahme. Vielmehr gehen Entwicklungsökonomen nicht mit dem notwendigen Verantwortungsgefühl an ihre Aufgabe heran. Für andere wirtschaftliche Ratschläge zu erarbeiten, erfordert eine tiefe innere Verpflichtung, nach den richtigen Antworten zu suchen und sich nicht mit oberflächlichen Ansätzen zu begnügen; sich entschlossen in die Geschichte, Ethnografie, Politik und Wirtschaft des Landes einzuarbeiten, in dem der Berater gerade tätig ist; sich um einen ehrlichen Rat zu bemühen, nicht nur gegenüber dem betreffenden Land, sondern auch gegenüber der Organisation, die den Berater angestellt und dorthin geschickt hat."40 Ganz anders bei Easterly: Im Gegensatz zu Sachs will Easterly die verantwortlichen Akteure der Entwicklungspolitik nicht zu besseren Menschen erziehen, sondern die Anreize verbessern, damit diese nicht systematisch gegen ihre eigentlichen Intentionen der Hilfe für Arme - verstoßen müssen. Easterly konstatiert Anreizprobleme auf Ebene 1 und 2, die verhindern, dass westliche Hilfe die Bedürftigen überhaupt erreicht. Zur Lösung dieses Dilemmas adressiert Easterly an die Akteure der Entwicklungspolitik die Forderung, die utopische Agenda aufzugeben. Dadurch soll dem politischen Unternehmertum auf Ebene 2 und - per Veränderung der Anreizstruktur - dem unternehmerisch handelnden Entwicklungsagenten auf Ebene 1 die Möglichkeit eröffnet werden, die Bedürfnisse der Armen gezielter als bisher ins Blickfeld zu rücken. Fazit: Easterly vollzieht in seiner Analyse von Zusammenhängen der Sozialstruktur - auf den Ebenen 1 und 2 - eine konzeptionelle Umstellung, die Sachs nicht gelingt. Sachs ist nach wie vor im Hilfeparadigma verhaftet und steht damit in der Tradition des 39 Sachs (2005b, S. 106). 40 Sachs (2005b, S. 104-105). Vor diesem Hintergrund sind Sachs' Erwartungen an die Entwicklungsökonomen nicht verwunderlich. Auf Seite 105 heißt es weiter: „Jeder Mitarbeiter des IWF und der Weltbank sowie jeder studierte Entwicklungsexperte unterliegt der Verpflichtung, nicht nur den Politikern im verarmten Land, sondern auch den politisch Verantwortlichen in den reichen Ländern die Wahrheit zu sagen."

Die Sachs-Easterly-Kontroverse: „Dissent on Development" Revisited

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Mainstreams der Ökonomik der 1950er Jahre. Easterly hingegen stellt konzeptionell um: vom Prinzip einseitiger Hilfe ohne Gegenleistung auf das marktliche Prinzip von Leistung und Gegenleistung.41 Easterly will die Entwicklungspolitik darauf ausrichten, Märkte zum Wohl der Armen zu simulieren!1'2 Er fordert eine Umstellung von Hilfe auf Kooperation.

2. Semantik Aus Sicht der Ordonomik lautet die entscheidende Frage in Bezug auf die Semantik: Wie bereitet Easterly methodisch eine Änderung der informationalen Anreize vor, die eine konzeptionelle Umstellung von Hilfe auf Kooperation als im Eigeninteresse der handelnden Akteure in der (Entwicklungs-)Politik liegend auszuweisen vermag? Die Antwort lautet: Easterly vollzieht den in der Sozialstruktur bereits eingeleitete Umstellung nicht auf der Ebene der Semantik. Dies führt dazu, dass seiner Argumentation auf Ebene 3 die interessenbasierten Klugheitsargumente ausgehen. Easterlys Argumentation gerät so in die Verlegenheit, an die Abkehr von Utopismus und Interventionismus lediglich noch appellieren zu können. Nahezu beschwörend wiederholt er seine Forderungen nach Bescheidenheit und Selbstbeschränkung auf inkrementellen Fortschritt. Seine wichtigste Botschaft an die Entwicklungspolitik lautet: „First, do no harm"43. Wiederholt warnt er davor, ein neues Wundermittel im Kampf gegen die Armut auch nur suchen zu wollen. An verschiedenen Stellen liest man: „The only Big Plan is to discontinue the Big Plans".44 Das bedeutet: Auf der Ebene der Semantik generiert Easterly keine Argumente und fallt damit - diskursiv - hinter das Werk eines Peter Bauer zurück, auf den er sich sonst gerne beruft. Ein erster Schritt hin zu einer Umstellung von Hilfe auf Kooperation in der Semantik findet sich bei Jeffrey Sachs, dessen Programm klinischer Ökonomik auf den Ebenen 1 und 2 stringent auf Hilfe ausgerichtet bleibt. Wohl eher in taktischer denn in methodischer Absicht befasst sich Sachs - ganz im Gegensatz zu Easterly - mit der Begründung für seine Ä/g-PusA-Forderungen45 Sachs argumentiert: Staaten, die durch Armut und Schuldenkrisen im Zerfallen begriffen sind, seien für die westlichen Industrieländer ebenso eine Bedrohung wie die Ausbreitung von Seuchen und Infektionskrankheiten in den Ländern Afrikas. Die wachsenden globalen Interdependenzen könnten ein geeignetes Mittel sein, das Eigeninteresse des Nordens an den Problemen des Südens zu aktivieren und Mittel umzuschichten. Gleichwohl geht Sachs über diesen ersten Schritt

41 In diesem Sinne kann Easterly in die ordnungspolitische Tradition in der Entwicklungsökonomik eingeordnet werden. Bereits Peter T. Bauer forderte eine Umstellung der Entwicklungspolitik von einseitiger Hilfe als „Leistung ohne Gegenleistung" zu wechselseitiger Kooperation als echtem Tausch. Vgl. Bauer (1967). 42 Easterly ist sich darüber im Klaren, dass Märkte allein das Problem der Armut nicht lösen können. Bei Easterly (2006, S. 77) heißt es: „Nor are markets of much help to those who are very poor - after all, the poor have no money to motivate any market searcher to meet their needs." 43 Easterly (2006, S. 30). 44 So etwa bei Easterly (2006, S. 30). 45 Bezeichnenderweise lautet das entsprechende Kapitel (Kapitel 17) in Sachs (2005b) auch: „Warum wir handeln sollten."

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nicht hinaus; das Prinzip einseitiger Hilfe ohne Gegenleistung steht nach wie vor im Vordergrund seiner Argumentation.46

IV. Zur Legitimation der Entwicklungspolitik: Die Konzeption internationaler öffentlicher Güter Normative Leitideen wie Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichheit sind wichtige Fokalpunkte fur die Hilfesemantik. Sie beschreiben und präjudizieren den Impetus für die Hilfe für Schwache, Notleidende und Arme. Allerdings wurden diese Vorstellungen in einer Zeit geprägt, deren Sozialstruktur auf Reziprozität in Kleingruppen angelegt war.47 Hier war die Hilfeleistung für den Geber immer mit der begründeten Erwartung verbunden, im Notfall selbst als Empfänger in den Genuss einer Hilfeleistung zu gelangen wenn auch nicht durch dieselbe Person, dann aber doch durch den Sozialverband. Ein impliziter Vertrag war ausreichend, um in derartigen Sozialverbänden eine wechselseitig vorteilhafte Verhaltensabstimmung im Face-to-Face-Kontakt zu organisieren. Mit anderen Worten: In sozialen Kleingruppen wurde der Impetus zur Hilfe - die HilfeLeistung - dadurch nachhaltig stabilisiert, dass das Eigeninteresse des Hilfeleistenden die von der Leistung zeitlich abgekoppelte Gegen-Leistung - durch den sozialstrukturellen Kontext bereits im Ansatz Berücksichtigung fand. Hilfe hatte Versicherungscharakter. Aus dieser Perspektive ist echte Hilfe eigentlich langfristige Kooperation. In anonymen Großgruppen brechen diese natürlich gegebenen Anknüpfungspunkte für Reziprozität weg. Dies gilt insbesondere im internationalen Kontext der Entwicklungspolitik. Hier können die sozialstrukturellen Bedingungen für Reziprozität nicht einfach vorausgesetzt werden. Diese „halbierte" Reziprozität verändert die Hilfesemantik: Aus einer wechselseitig vorteilhaften Kooperationsbeziehung - einer Leistung mit Gegenleistung - wird eine einseitige Beziehung - eine Leistung ohne Gegenleistung. Hilfe in sozialstrukturellen Kontexten „halbierter" Reziprozität wird nicht als Investition, sondern als Verzicht empfunden. Diese Halbierung stellt die Hilfesemantik vor eine bedeutende Herausforderung: Will sie den Hilfeleistenden nicht durch den Verzicht auf sein Eigeninteresse dauerhaft frustrieren oder gar Ausweichhandlungen provozieren,48 muss sie, wann immer sie auf Implementierungserfolg bedacht ist, ein funktionales Äquivalent für die sozialstrukturelle Reziprozität herstellen, die in der Kleingruppe den

46 Ein Beleg dafür, wie stark Jeffrey Sachs vom Umverteilungs- und Hilfedenken durchdrungen ist, findet sich bei Sachs (2005b, S. 418): „Und wenn sie [die politisch Verantwortlichen] klug sind, werden sie, insbesondere in den USA, vorrechnen, dass 0,7% nicht besonders weh tun, vor allem dann, wenn man die Mittel zwei prall gefüllten Schatullen entnimmt - dem aufgeblähten Verteidigungshaushalt durch Umschichtung von Geldern zur Förderung der weltweiten Sicherheit mittels Wirtschaftsentwicklung und den Taschen der Superreichen, deren Jahreseinkommen das der Ärmsten der Armen zehntausendfach übersteigt." 47 Vgl. hierzu unter anderen Hayek (1978, 1996). 48 Es ist keine Überraschung, dass die Entwicklungshilfe lange Jahre mit dem Problem „impliziter Gegenleistungen" in Form gebundener Hilfe gekämpft hat. Tied Aid beschreibt den Versuch der Geberländer, einen Teil der Finanzströme der Entwicklungshilfe wieder in das eigene Land zu lenken, indem Finanzzusagen nur gegen Lieferbindungen gemacht wurden. Entwicklungshilfe wurde hier als versteckte Exportförderung der Geberländer praktiziert.

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Impetus und den nachhaltigen Erfolg der Hilfe sichergestellt hat. Sie muss - institutionell flankiert - von „halbierter" Hilfe auf echte Hilfe umstellen: auf Kooperation. Die Umstellung von Hilfe auf Kooperation erfordert die Anleitung durch eine Konzeption, die die Semantik anschlussfähig macht an die erforderliche Reform der Sozialstruktur. Die These lautet: Der Ansatz internationaler öffentlicher Güter generiert als Legitimationskonzept informationelle Anreize auf Ebene 3, die dazu betragen können, eine institutionelle Reform der Entwicklungspolitik auf Ebene 2 in Gang zu setzen. Auf diese Weise werden institutionelle Anreize gesetzt, mit deren Hilfe effektivere Maßnahmen der EZOs auf Ebene 1 eingeleitet werden können. Kurz, es geht um Anreize zur Anreizsetzung.49 Mit dieser These sind drei Pointen verbunden.

1. Reziprozität Die Konzeption internationaler öffentlicher Güter fokussiert dezidiert auf die im Rahmen der weltwirtschaftlichen Integration zunehmenden globalen Interdependenzen, die die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den westlichen Ländern und den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas deutlicher denn je zu Tage treten lassen. Die damit verbundenen Reziprozitätserfordernisse beziehen sich dabei nicht nur auf die weltweiten Handelsbeziehungen oder die internationalen Finanz- und Kreditmärkte. Vor allem im Bereich internationaler Gesundheit und Sicherheit sowie beim Umweltschutz treten verstärkt gemeinsame Herausforderungen hervor, die neue Formen der Kooperation erfordern. Zu den wichtigsten Herausforderungen, deren Bewältigung internationale öffentliche Güter erforderlich machen, zählen u.a.: - die institutionelle Inkraft-Setzung funktionsfähiger internationaler Finanz- und Kreditmärkte als Basis weltweiter (und wechselseitig vorteilhafter) Arbeitsteilung, - die internationale Seuchenkontrolle und Gesundheitsvorsorge zur (überregionalen) Einhegung leicht übertragbarer Krankheiten wie HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose, - sicherheitspolitische Maßnahmen in schwachen oder verfallenden Staaten (failed states) zur Prävention internationaler terroristischer Aktivitäten sowie - die verstärkten weltweiten Bemühungen, dem Klimawandel durch eine neue PostKyoto-Architektur wirksam zu begegnen.50 Das bedeutet, dass die Konzeption internationaler öffentlicher Güter auf die sozialstrukturellen Bedingungen von Reziprozität fokussiert: Sie nimmt die international konfligierenden Handlungsinteressen dieser Herausforderungen zum Ausgangspunkt, um 49 Eine Konzeption öffentlicher Güter im internationalen Kontext findet sich auch bei Sandler (1997) und bei Sandler (2004). Allerdings entwickelt Sandler mit Blick auf die Entwicklungspolitik kein normatives Legitimationskonzept, sondern lediglich eine positive Analyse. Wichtiger Referenzpunkt in dieser Debatte sind zudem die Veröffentlichungen von Inge Kaul und Mitarbeitern; vgl. hierzu Kaul, Grunberg und Stern (1999) sowie Kaul, Conceicao, Le Goulven und Mendoza (2003). 50 Die hier angeführten Beispiele öffentlicher Güter weisen die Gemeinsamkeit auf, dass potentielle Nutzer vom Konsum nicht ausgeschlossen werden können (Nicht-Ausschließbarkeit vom Konsum). Dieser Umstand löst eine Tendenz zum Trittbrettfahren aus und sorgt dafür, dass es tendenziell zu einer Unterversorgung mit öffentlichen Gütern kommt. Dies gilt verstärkt, wenn es sich - wie hier erläutert - um internationale öffentliche Güter handelt, deren Nutzerkreis die Grenzen eines oder mehrerer Nationalstaaten überschreitet.

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gemeinsame Äege/interessen zu identifizieren. Es geht um das Ziel einer gemeinsamen Bereitstellung internationaler und überregionaler öffentlicher Güter, die auch und gerade für die Entwicklung armer Ländern von großer Bedeutung sind. Die erste Pointe lautet daher: Die zunehmende Verflechtung internationaler Interaktionen beinhaltet fur die Entwicklungspolitik die große Chance, die sozialstrukturellen Vorraussetzungen für internationale Reziprozität allererst zu finden - oder gegebenenfalls institutionell zu erfinden - , um damit von „halbierter" auf echte Hilfe - auf Kooperation, auf Entwicklungs-Zusammenarbeit - umzustellen.51

2. Begründung Die Konzeption internationaler öffentlicher Güter differenziert - insbesondere in ihrer Ausprägung bei Jack Hirshleifer und Todd Sandler - zudem hinsichtlich der Form, wie sich die verschiedenen (internationalen) Beiträge der beteiligten Akteure zum Gesamtbereitstellungsniveau des öffentlichen Gutes aggregieren: hier werden WeakestLink, Best-Shot und Summation als paradigmatische Produktionstechnologien unterschieden.52 Mit Hilfe dieser Differenzierung kann die Konzeption internationaler öffentlicher Güter als Heuristik zur Identifikation gemeinsamer (Regel-)Interessen der an der Entwicklungspolitik beteiligten Akteure beitragen:53 Weakest-Link·. Hier gilt die Logik: Das schwächste Glied bestimmt die Reißfestigkeit der Kette - das aggregierte Bereitstellungsniveau des öffentlichen Gutes wird durch den geringsten Beitrag definiert. Weakest-Link-Interaktionsstrukturen weisen die stärkste Analogie zur Sozialstruktur der Kleingruppe auf: In Nomadenstrukturen hängt die Stärke des Sozialverbandes davon ab, wie stark, belastbar, ausdauernd und erfolgreich das schwächste Mitglied der Gruppe ist. Die Unterstützung des Schwächsten beim Bau von Waffen, beim Errichten von Siedlungen oder bei der Behandlung von Krankheiten ist im Grunde eine Form von Hilfe, die das (Überlebens-)Interesse des Einzelnen immer vor dem Hintergrund des (Überlebens-)Interesses der Gruppe zur Geltung bringt.54 Diese Grundstruktur kooperativer Bereitstellung öffentlicher Güter weisen viele internationale und überregionale Interdependenzen auf: So bestimmt bei der Eindämmung von Seuchen und Krankheiten oder bei der Bekämpfung von terroristischen Aktivitäten der geringste Beitrag das aggregierte Bereitstellungsniveau des öffentlichen Gutes. In derartigen Interaktionsstrukturen kann es durchaus im Interesse der Gesundheitsvorsorge westlicher Industrieländer liegen, die Gesundheitssysteme und Präventionsmaßnahmen vor Ort in Entwicklungsländern zu unterstützen, um die Ausbreitung ansteckender

51 In der deutschen Entwicklungspolitik ist der Übergang von Entwicklungsfe7/è zu Entwicklungszusammenarbeit zumindest rhetorisch vollzogen. Für eine kritische Einschätzung des sozialstrukturellen Erfolgs dieser Umstellung vgl. Hielscher und Pies (2006). 52 Zur Unterscheidung öffentlicher Güter hinsichtlich ihrer Aggregationstechnologien vgl. grundlegend Hirshleifer (1983), Cornes und Sandler (1986, 1999, S. 143-197), Sandler (1998) sowie Sandler (2001).

53 Mit Blick auf die Entwicklungspolitik entwickeln Hielscher und Pies (2006) unter Rekurs auf die Unterscheidung der Aggregationstechnologien öffentlicher Güter ein Konzept zur Legitimation der Entwicklungszusammenarbeit. Die Grundzüge dieser Argumentation werden im Folgenden kurz dargestellt. 54 Vgl. hierzu auch die interessante Interpretation bei Hirshleifer (1983).

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Krankheiten zu verhindern. So intensiviert das Bundesministerium für Gesundheit seit Jahren die bilaterale Zusammenarbeit beim Infektionsschutz, bei der Reform der Strukturen des Gesundheitswesens und des Rettungswesens vor allem mit den Ländern Osteuropas, aber auch mit Russland und China, um der länderübergreifenden Ausbreitung von Infektionskrankheiten wie AIDS, Tuberkulose oder Vogelgrippe vorbeugend entgegen zu treten.55 Das bedeutet: In sozialen Interaktionsbeziehungen, die einen Weakest-Link-Charakter aufweisen, kann die Hilfeleistung für das schwächste Glied der Gruppe als echte Hilfe ausgewiesen werden, als Kooperation, die das Eigeninteresse direkt fordert. Best-Shot: Hier gilt die Logik: Der höchste Beitrag, die größte Anstrengung bestimmt allein aggregierte Bereitstellungsniveau des öffentlichen Gutes. Im internationalen Kontext ist die Generierung neuen Wissens durch Forschung und Entwicklung (F&E) - beispielsweise bei der Erfindung von Medikamenten und Impfstoffen für Krankheiten wie Malaria und AIDS oder bei der Grundlagenforschung im Bereich nachhaltiger Energiegewinnung oder des Klimaschutzes - ein typisches Beispiel für Best-Shot-Interaktionsbeziehungen. Ist ein technologischer Durchbruch, ist ein BestShot-Öffentliches Gut bereitgestellt, können andere Staaten als Trittbrettfahrer grundsätzlich in den Genuss des innovativen Wissens kommen. Für die Semantik der Entwicklungspolitik bedeutet dies, dass es Fälle geben kann, bei denen die „Entwicklungs"Politik ganz ohne materiellen Ressourcentransfers auskommt.56 Im Extremfall wäre auch denkbar, dass arme Länder ganz auf eigene Anstrengungen verzichten und im Wege der Poolung sich daran beteiligen, ein möglichst hohes Bereitstellungsniveau zu erzielen. Dann würden beispielsweise Entwicklungsländer Afrikas - im Interesse ihrer eigenen Entwicklung! - Anstrengungen zur Erforschung von Tropenkrankheiten in Industrieländern unterstützen, deren Ergebnisse primär ihnen zugute kommen sollen. Im Normalfall ist aber wohl damit zu rechnen, dass bei Best-Shot-Interaktionsstrukturen eine „Entwicklungs"-Kooperation ohne sichtbare Transfers erfolgt. So ist derzeit zu beobachten, dass sowohl staatliche Forschungsinstitute der Industrieländer als auch unabhängige philanthropische Stiftungen die Erforschung solcher Krankheiten vorantreiben, die vor allem Entwicklungsländer betreffen.57 Die Best-Shot-Interaktionsstruktur trägt zur Aufklärung der Semantik bei, weil sie eine kontraintuitive Interpretation von Hilfe erlaubt: Hilfe kann - freilich im Extremfall - darin bestehen, dass die Schwachen - gemäß ihrer Möglichkeiten - in eine kooperative Vorleistung gehen und die Starken damit beauftragen, ihre komparativen Vorteile zu nutzen und im gemeinsamen Interesse ein Best-Shot bereitzustellen.

55 Vgl. hierzu Bundesministerium für Gesundheit (2008). 56 Hier ist zum Beispiel an jenen Vorteil zu denken, den F. A. v. Hayek als den Vorteil der armen Länder bezeichnet. Das kumulierte Wissen, dass sich der Westen im Laufe seiner Geschichte angeeignet hat, kann jetzt von den Entwicklungsländern zu wesentlich geringeren Kosten erworben werden. Hayek (1971, 1991, S. 58) schreibt hierzu: „Es kann kaum bezweifelt werden, dass die Aussichten der „unterentwickelten" Länder, das gegenwärtige Niveau des Westens zu erreichen, wesentlich größer sind, als wenn der Westen nicht so weit vorausgeschritten wäre." 57 Ein solches Engagement kann durchaus im Interesse der Industrieländer liegen, nämlich genau dann, wenn es vorteilhafter ist, in die Erfindung eines Impfstoffes zu investieren anstatt die Gesundheitsvorsorge vor Ort - Hygiene, medizinische Infrastruktur usw. - zu verbessern. In diesem Fall sind Best Shot und Weakest Link in einem sozialen Wertschöpfiingsprozess der Gesundheitsvorsorge miteinander verknüpft. Vgl. hierzu ausführlich Pies und Hielscher (2008) sowie Pies und Hielscher (2007).

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Summation: Hier gilt die Logik: Die Beiträge aller Akteure aggregieren sich additiv zur Gesamthöhe des öffentlichen Gutes. Die Besonderheit besteht darin, dass alle Beiträge perfekte Substitute sind. Im Gegensatz zu Weakest-Link und Best-Shot ist es also unerheblich, wer die für die gewünschte Höhe des öffentlichen Gutes erforderlichen Bereitstellungsbeiträge übernimmt. Dadurch entsteht eine dilemmatische Interaktionsstruktur, die auch als „Tragik der Allmende", „Logik kollektiven Handelns" oder als das „Trittbrettfahrerproblem" bezeichnet wird. International ist hier an die Schonung und Erhaltung der Fischbestände in internationalen Gewässern oder an die Verringerung von Kohlendioxid-Emissionen zur Bekämpfung der globalen Erwärmung zu denken. Trotz gleicher Bereitstellungswirkung können die Bereitstellungskosten regional deutlich variieren: So kann die Einsparung einer Tonne CO2 in Südamerika deutlich günstiger ausfallen als in Europa, so dass es für Industrieländer lukrativ sein mag, die Emissonsreduktion in Entwicklungsländern vornehmen zu lassen und die dortigen Regierungen für ihre Bemühungen zu kompensieren. Summation macht also darauf aufmerksam, dass es auf internationaler Ebene Interaktionsprobleme gibt, die in Kleingruppen durch eine Face-to-Face-Sozialstruktur weitestgehend gelöst werden, weil das Trittbrettfahren durch direkte informale Sanktionierung verhindert wird. In großen Gruppen hingegen treten in Abwesenheit funktionierender informaler Koordinationsmechanismen Probleme kollektiven Handelns zu Tage. Aber gerade aus diesem Grund sind derartige Interaktionsstrukturen nicht nur ein Beispiel für die Gefahr des Scheiterns kollektiven Handelns durch konfligierende Handlungsinteressen, sondern auch ein Beispiel für die Konstitution gemeinsamer Äege/interessen an der Lösung des zugrunde liegenden Problems. Nur dass hier - im Gegensatz zur Kleingruppe - sanktionsbewährte, institutionell äußerst vorraussetzungsreiche Regelarrangements allererst ge- oder erfunden werden müssen, um das Einzel- und das Gruppeninteresse miteinander in Einklang zu bringen. Im Fall von Summation erfordert echte Hilfe - eine wechselseitig vorteilhafte Kooperation - eine institutionelle Flankierung, um das Eigeninteresse des //¿//^leistenden nicht hilflos der Ausbeutung auszusetzen.58 Die Differenzierung hinsichtlich der Produktionstechnologien ermöglicht folgende zweite Pointe: Mit Hilfe der Konzeption internationaler öffentlicher Güter kann die Entwicklungspolitik ihre eigentlichen Adressaten - die Ärmsten unter den Entwicklungsländern - aus wohlverstandenem Eigeninteresse heraus gezielter ins Blickfeld rücken, weil sie konstitutiv darauf angewiesen ist, dass jene zuallererst in die Lage versetzt werden (müssen), eigene Bereitstellungsbeiträge zu internationalen öffentlichen Gütern leisten zu können. Sie generiert damit tragfähige und nachhaltige Begründungen dafür, warum es im eigenen Interesse der Menschen in reichen Ländern liegt, die Menschen in armen Ländern wirksam zu unterstützen.59

58 In jedem Fall reicht es nicht, nur von gemeinsamen Regelinteressen zu sprechen (Ebene 3). Die Konzeption internationaler öffentlicher Güter macht zudem darauf aufmerksam, dass das (internationale) Trittbrettfahrerproblem nur durch die (Erfindung geeigneter institutioneller (Regel)Arrangements in Global-Governance-Prozessen einer Lösung näher gebracht werden kann (Ebene 2). 59 Hiermit wird ein wichtiger (und möglicherweise problematischer) Anspruch formuliert, der hier allerdings nur angedeutet werden kann: Die These lautet, dass es mit Hilfe der Konzeption internationaler öffentlicher Güter nicht nur möglich ist, Formen der Kooperation zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu identifizieren, die - quasi als Nebenprodukt - auch positive Effekte für die Entwicklung armer Länder aufweisen. Vielmehr besteht der Anspruch darin, auch klassische Formen von pro-

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3. Reform Die Konzeption internationaler öffentlicher Güter ermöglicht zudem eine dritte Pointe: Easterlys wertvolle, wenn auch negative Kritik der Entwicklungshilfepraxis kann mit Hilfe dieser Kooperationssemantik konstruktiv weiterentwickelt werden, weil nun systematisch Klugheitsargumente für die Verbesserung der Anreizstruktur auf Ebene 2 der Entwicklungspolitik - und auf Ebene 1 - der entwicklungspolitischen Praxis - vorgebracht werden können. Hierbei können auch Argumente wertvoll sein, die im Rahmen von Sachs' klinischer Ökonomik entwickelt worden sind. Die zugrunde liegende Argumentationsstruktur sei in drei Schritten kurz angedeutet: - Die Konzeption internationaler öffentlicher Güter kann dazu beitragen, klarere Zielfunktionen für die einzelnen EZOs zu generieren, die leichter operationalisierbar und tendenziell auch leichter maximierbar sind. Eine mögliche Zielfunkton könnte lauten: Maximiere den Beitrag zu einem regionalen oder internationalen öffentlichen Gut mit Weakest-Link-, Best-Shot- oder Summation-Interaktionsstrukturen. So könnte - aus deutscher Sicht - ein Weakest-Link-öffentliches Gut darin bestehen, die Ausbreitungsgefahr von Tuberkulose (TBC) und HIV/AIDS in den Ländern Osteuropas zu verringern. Die konkrete Zielfunktion könnte zum Beispiel darin bestehen, die Entdeckungswahrscheinlichkeit und die Behandlungsrate von Tuberkulose in der Ukraine auf ein bestimmtes, für einen wirksamen Schutz der Bevölkerung erforderliches Niveau anzuheben. -

Bei der Bereitstellung eines solchen regionalen öffentlichen Gutes mögen in den Partnerländern Hindernisse auftreten, die auf andere gravierende Entwicklungsdefizite und auf Probleme absoluter Armut zurückzuführen sind. Hier können, wie bei Sachs diagnostiziert, infrastrukturelle, geografische und institutionelle Mängel, Bildungs- und Genderfragen sowie mangelnde Arbeits- und Sozialstandards eine wichtige Rolle spielen. Diese Faktoren wären allerdings nicht als eingeständige Ziele, sondern als Mittel zu denken. Entwicklungspolitische Instrumente, die auf die Überwindung dieser Probleme zielen, wären innerhalb von Programmen zur Bereitstellung eines internationalen öffentlichen Gutes so zu berücksichtigen und zu priorisieren, dass diejenige Maßnahme durchgeführt wird, die den größten erwarteten Beitrag zur Bereitstellung des öffentlichen Guts - zum Beispiel zur Verringerung der Ausbreitungsgefahr von TBC - erzielt.

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Mit Hilfe einer klarer definierten Zielfunktion könnte zudem das Prinzipal-AgentProblem zwischen Regierung und Entwicklungsorganisation entschärft werden. Informativere Evaluierungen und Performance-Vergleiche würden möglich Intransparenzen abgebaut. 60 Würde zusätzlich dafür Sorge getragen, dass die Aus-

poor-Armutsbekämpfungsmaßnahmen als im wohlverstandenen Eigeninteresse der Industrieländer liegend auszuweisen: So kann die derzeitige Exklusion der Ärmsten der Armen von den weltwirtschaftlichen Tauschprozessen als entgangener Tausch- und Kooperationsgewinn aller Länder interpretiert werden. Insofern stellt auch die Inklusion der ärmsten Länder in den weltweiten Handel ein globales öffentliches Gut dar. 60 Hier ist eine Analogie zum Delegationsproblem zwischen Anteilseignern und Managern in einer Aktiengesellschaft aufschlussreich: Ein wesentliches Instrument der Aktionäre zur Überprüfung und Kontrolle der von ihnen eingesetzten Manager besteht darin, inwiefern sie - im Vergleich zur direkten

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schüttung der finanziellen Ressourcen stärker an die Performance - an der Zielfunktion - der Entwicklungsorganisationen geknüpft ist, könnten auch die Kartellierungsbemühungen auf dem Markt fur Entwicklungsleistungen destabilisiert werden. Die Spezialisierung auf bestimmte internationale öffentliche Güter und (internationale) Arbeitsteilung würde gefordert. Neue Anbieter in den Geberländern - andere Fachministerien, nicht-staatliche Entwicklungs- und zivilgesellschaftliche Organisationen sowie zunehmend auch multinationale Unternehmen! - aber auch neue Anbieter vor Ort in den Empfängerländern - nationale oder lokale NOGs aber auch innovative Social Entrepreneurs - könnten ihre je komparativen Vorteile ausspielen und für einen Wettbewerb der Ideen sorgen. Auf diese Weise könnten Innovationsund Lernprozesse initiiert werden, die letztlich allen Beteiligten zugute kommen auch den Ärmsten der Armen in Entwicklungsländern.61 Zwischenfazit: Die Konzeption internationaler öffentlicher Güter erfüllt als Heuristik eine wichtige Strukturierungsaufgabe für die Semantik. Im Bereich der Entwicklungspolitik verhilft sie dem Denken als ordnende Potenz zu praktischer Geltung:62 Erstens fokussiert sie dezidiert auf die sozialstrukturellen Möglichkeiten, um das Problem „halbierter" Reziprozität durch institutionelle Reformen zu überwinden. Zweitens ermöglicht sie eine Identifizierung gemeinsamer Interessen zwischen Nord und Süd, indem sie zwischen den Produktionstechnologien öffentlicher Güter unterscheidet. Drittens kann sie dazu beitragen, die Anreizprobleme der Entwicklungspolitik auf Ebene 1 und auf Ebene 2 zu überwinden. Auf diese Weise ermöglicht sie ein neues Verständnis von Entwicklungs-//i7/"e als eine Form echter Entwickkings-Zusammenarbeit. Genauer: als Hilfe durch Zusammenarbeit und Zusammenarbeit durch Hilfe. Als These und in Anspielung auf I. Kant formuliert: Angesichts zunehmend globaler werdender Herausforderungen kann es sich die Entwicklungspolitik gar nicht mehr leisten, die Armen nur als Zweck aufzufassen - als pure Empfänger „halbierter" Hilfe. Sie muss die Armen zunehmend auch als Mittel zur Erreichung gemeinsamer Zwecke begreifen - also als Kooperationspartner - mit der durch Easterly herausgearbeiteten Pointe, dass man den Armen nur dann wirksam helfen kann - das heißt: sie als Zweck betrachten kann - , wenn man sie konsequent als Kooperationspartner - also als Mittel - begreift.

Konkurrenz - das Ziel der Gewinnmaximierung erreicht haben. Auch hier liegt der Vorteil darin, dass es sich um eine eindeutige und nicht um mehrere konkurrierende Zielfunktionen handelt. Wenn es gelänge, mit Hilfe der Konzeption internationaler öffentlicher Güter klarere Zielfunktion(en) für die Akteure der Entwicklungszusammenarbeit zu definieren, könnte wohl auch eine Verbesserung der Entwicklungspraxis erzielt werden - schließlich liegt nach Easterly eines der größten Probleme der EZPraxis darin, dass die EZOs zu viele und z.T. konkurrierende Ziele verfolgen (sollen). 61 Eine solche Ausrichtung auf die Bereitstellung internationaler öffentlicher Güter würde die EZLandschaft grundlegend verändern. Der Fokus würde - statt auf der Organisation - noch stärker als bisher auf die zu bewältigenden internationalen und regionalen Aufgaben gerichtet werden. Entscheidend wäre allein, welcher Anbieter die Aufgaben am besten - d.h. am schnellsten, am günstigsten usw. - erledigen kann. Aus diesem Grund wäre damit zu rechnen, dass nicht nur Unternehmen, sondern zunehmend auch internationale Stiftungen und so genannte Social Entrepreneurs originäre Aufgaben der EZ übernehmen können. 62 Vgl. Eucken (1953, 1990, S. 340 ff.).

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V. Diskursivität und Kritik in der Entwicklungsdebatte Dissent on Development! Mit Hilfe der Ordonomik entwickelt der vorliegende Beitrag eine konstruktive Lesart der kontroversen entwicklungskonzeptionellen Debatte zwischen Jeffrey Sachs und William Easterly. Die Ordonomik fokussiert dabei im Kern auf die Generierung theoretischer Argumente für eine wirksame Reform der Entwicklungspolitik - zum Wohl der Armen und der Reichen. Es geht um Theorie für die Praxis. Wie aber verortet sich die hier entfaltete ordonomische Beitrag innerhalb der entwicklungsökonomischen Theorietradition? Im Anschluss an Peter T. Bauer diagnostiziert der Beitrag eine Diskrepanz zwischen Sozialstruktur und Semantik: Wie in weiten Teilen des öffentlichen Diskurses, arbeiten sowohl Sachs' klinische Ökonomik als auch Easterlys ordnungspolitische Entwicklungsökonomik - sei es explizit oder sei es implizit - mit einer Hilfesemantik, die auf „halbierter" Reziprozität aufbaut: mit einer Semantik, die Hilfe als einseitige Leistung ohne Gegenleistung versteht. Unter den sozialstrukturellen Bedingungen des demokratischen Prozesses gesellschaftlicher (Selbst-)Steuerung avanciert die Zustimmungsfahigkeit von Politikentscheidungen zu einer entscheidenden Implementierungsbedingung. Das heißt konkret: Politikempfehlungen, die nicht (auch) vom Eigeninteresse der Bürger und Wähler her entwickelt werden, bemühen Semantiken, die nicht zu ihren sozialstrukturellen Implementierung passen. Die Semantik kann keine sozialstrukturelle Kraft entfalten. Die Kritik der Ordonomik an dieser Hilfesemantik steht fur die Kontinuität mit dem Werk von Peter Bauer,63 Der Beitrag entwickelt aber auch ein Argument, wie diese Diskrepanz zwischen Sozialstruktur und Semantik überwunden werden kann. Er setzt dabei auf die Aufklärung der //¿7/e-Semantik durch eine Konzeption, die als Ansatz internationaler öffentlicher Güter charakterisiert wird. Aus Sicht des Beitrags ist diese Konzeption vergleichsweise besser geeignet als die Hilfesemantik, die sozialstrukturellen Herausforderungen weltweiter (Entwicklungs-)Zusammenarbeit gedanklich zu strukturieren. Sie entwickelt drei Pointen: Erstens fokussiert die Konzeption internationaler öffentlicher Güter auf die zunehmenden internationalen Interdependenzen, um die Entwicklungspolitik konzeptionell auf einem sicheren Fundament sozialstruktureller Reziprozität aufzubauen. Zweitens ermöglicht sie eine Identifikation der gemeinsamen Interessen an Entwicklung. Hier sind - paradigmatisch differenziert nach drei Produktionstechnologien - unterschiedliche Formen echter Hilfe, im Sinne von Kooperation, denkbar. Auf diese Weise kann dieser Ansatz drittens dazu beitragen, die Anreizstrukturen in der Entwicklungspolitik und der Entwicklungspraxis zu reformieren - zum Wohl sowohl der Armen in Entwicklungsländern als auch der Reichen in Industrieländern. In einem wichtigen Punkt herrscht Diskontinuität mit Bauers Werk. Ähnlich wie Easterly gelingt es auch Bauer nicht, vom Modus der negativen - auf politische Selbstbeschränkung abzielenden - Kritik auf den Modus der positiven - auf diskursive Überbietung abstellenden - Kritik umzustellen. Eine aufschlussreiche Analyse dieses Argu-

63 Zu Bauers Kritik an der Entwicklungshilfe und ihren Instrumenten vgl. u. a. Bauer (1967), Bauer (1971b), Bauer (1986), Bauer (1987), Bauer (1988), Bauer (1990), Bauer (1995) sowie Bauer (1996, 2000).

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mentationsmodus' findet sich bei Richard Bailey, einem Fachrezensenten von Bauers „Dissent on Development": „The title of Professor Bauers book, Dissent on Development, exactly describes its contents. To have 550 pages of dissent is perhaps too much of a good thing. Although, as Professor Bauer suggests, 'it is not a valid objection to criticism that it does not advance ideas or proposals alternative to those which it examines' (p. 24), it is to be hoped that subjecting the reader to such a large dose of dissent will not be self-defeating." 64 Ganz in diesem Sinne versteht sich die vorliegende Arbeit als Beitrag zur konzeptionellen Weiterentwicklung von Bauers Ideen. Die Ordonomik leistet methodische ,Entwicklungsarbeit': Sie stellt Kontinuität her zu einer Konzeption, der es um eine Analyse der Interdependenzen von Sozialstruktur und Semantik geht. Mit Blick auf den Argumentationsmodus hingegen setzt sie auf Diskontinuität. Hier geht es ihr um Diskursivität und Kritisierbarkeit - um einen echten Wettbewerb entwicklungspolitischer Ideen. Sie entwickelt eigene Vorschläge und setzt sie der Kritik aus.

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64 Bailey (1972, S. 652).

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Stefan Hielscher

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Zusammenfassung Der entwicklungsökonomische Diskurs ist aktuell geprägt durch eine kontroverse Debatte zwischen Jeffrey Sachs und William Easterly. Der Beitrag rekonstruiert beide Ansätze aus ordonomischer Perspektive. Er argumentiert, dass eine auf Kooperation angelegte Semantik vergleichsweise besser geeignet ist als die von Sachs und Easterly bemühte Hilfesemantik, um die sozialstrukturellen Herausforderungen weltweiter Entwicklungszusammenarbeit gedanklich zu strukturieren. Die hierfür vorgeschlagene Konzeption internationaler öffentlicher Güter entwickelt drei Pointen: Erstens setzt diese Konzeption auf die zunehmend internationalen Interdependenzen, so dass die Entwicklungspolitik konzeptionell auf einem sicheren Fundament sozialstruktureller Reziprozität aufgebaut werden kann. Zweitens fokussiert sie auf die gemeinsamen Interessen an Entwicklung und identifiziert auf diese Weise geeignete Anknüpfungspunkte für wechselseitig vorteilhafte Kooperation. Schließlich kann dieser Ansatz dazu beitragen, die Anreizstrukturen in der Entwicklungspolitik und der entwicklungspolitischen Praxis zu reformieren - im Interesse der Armen und der Reichen.

Summary: The Sachs-Easterly-Controversy: „Dissent on Development" Revisited An ordonomic analysis of the interdependence of social structure and semantics in modern development policy The development discourse is currently dominated by a controversial debate between Jeffrey Sachs and William Easterly. Using the rational-choice-approach of "ordonomics" the article presents both lines of reasoning. It claims that in order to address the challenges to international development cooperation the semantics of cooperation is comparatively better suited than the (foreign) aid semantics as put forward by both Sachs and Easterly. For this purpose, the article proposes an international public goods approach. It offers three insights: First, by focusing on the increasing international interdependencies, the international public goods approach provides a basis of reciprocity for development policy. Second, by systematically focusing on common interests of international development it identifies appropriate starting points for mutually beneficial cooperation. Finally, this approach contributes to advance both the incentive structures in development politics as well as in development practice - in the best interest of the poor and the rich.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Manfred E. Streit

Freiheit und Wettbewerb. In Memoriam Erich Hoppmann (31. Dezember 1923 - 29. August 2007) Am 29. August 2007 starb Prof. Dr. Dr. jur. h.c. Erich Hoppmann im Alter von 84 Jahren nach längerer Krankheit. Seit 1979 war er Mitherausgeber dieses Jahrbuchs. Für diejenigen, welche Hoppmann kennen und schätzen lernten, war er ein beeindruckender Kommunikator der Ideen und Erkenntnisse des Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek, ein streitbarer Interpret des Wettbewerbs als Norm der Wettbewerbspolitik {Hoppmann 1967), ein überzeugender Vertreter der ordnungstheoretischen und ordnungspolitischen Vorstellungen der Freiburger Schule, ein engagierter Hochschullehrer und Wissenschaftsorganisator sowie ein verständnisvoller und uneigennütziger Kollege und Freund. Friedrich August von Hayek, seine Ideen und Erkenntnisse entdeckte Hoppmann, wie er einmal erwähnte, während seiner Zeit bei Erich Carell, von dem er 1952 promoviert wurde und der seine Habilitation 1955 in Würzburg betreute1. Später sollte er nach Professuren in Erlangen, Nürnberg und Marburg sowie mehreren abgelehnten Rufen an andere Hochschulen 1968 von Hayek in Freiburg begegnen, wo er dessen Nachfolge auf Hayeks ausdrücklichen Wunsch antrat. Hayek bekräftigte seinen Wunsch bei einem persönlichen Gespräch mit Hoppmann und der Einladung zu einem Glas Wein, wie ich erfahren konnte. Eine Abrundung, wenn nicht einen Höhepunkt seiner anhaltenden Beschäftigung mit Hayeks Ideen und Erkenntnissen gelang Hoppmann, als er 1993 die Friedrich A. von Hayek- Vorlesung hielt, die anlässlich Hayeks 90ten Geburtstag und ein Jahr nach dessen Tod alljährlich an der Albert-Ludwigs-Universität gehalten wird. Ein Jahr zuvor wurde dem Nobelpreisträger J. M. Buchanan die Ehre dieser Vorlesung zuteil. Hoppmanns Hayek-Vorlesung hatte den Titel „Unwissenheit, Wirtschaftsordnung und Staatsgewalt" (Hoppmann 1993). Darin referierte Hoppmann auf beeindruckende Weise die grundlegenden Erkenntnisse von Hayek, die er schon in den vorangegangenen Jahrzehnten in Deutschland mit dem ihm eigenen Engagement verbreitet hatte. Diese Bemühungen anerkennend, wurde Hoppmann 1999 die Friedrich August von HayekMedaille durch die Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft verliehen. Es waren die Hayekschen Erkennmisse, die Hoppmann dazu anregten, die wettbewerbspolitische Diskussion entscheidend zu bereichern. Streitbar konfrontierte er ein wettbewerbspolitisches Leitbild, das der konventionellen neoklassischen Denktradition entstammte, mit den Hayekschen Vorstellungen von Wettbewerb als Ausdruck wirt-

1 Für den Wechsel von der Gleichgewichtsorientierung Carelh zur Wissensorientierung von Hayeks dürfte sein Aufsatz „Gleichgewicht und Evolution. Voraussetzungen und Erkenntniswert der volkswirtschaftlichen Totalanalyse" (Hoppmann 1988, S. 98-118) stehen.

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Manfred E. Streit

schaftlicher Handlungsfreiheit2. In einer von Beobachtern als „messerscharf' bezeichneten Kontroverse3 kritisierte er das von Kantzenbach in Anlehnung an J.M. Clark vorgeschlagene Konzept eines „funktionsfähigen Wettbewerbs", der mit einer spezifischen Marktform, dem „weiten Oligopol" verbunden sein sollte. Dahinter verbarg sich eine tradierte Modellvorstellung, die von einer Marktform auf ein Marktverhalten der Wettbewerber und von da auf ein Marktergebnis schließen wollte und umgekehrt. Der Schluss auf das Marktergebnis widersprach offenbar Hayeks wissensorientierter Vermutung, wonach Wettbewerb „ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen (ist), die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden" {Hayek 1968, 2003, S. 132). Mit ihr wird die vorherige Kenntnis von Ergebnissen von Wettbewerbsprozessen grundsätzlich bestritten und damit eine Rückzugsmöglichkeit auf die sie hervorbringenden Marktformen. Hoppmann stellte dem Kantzenbachschen Konzept das der Wettbewerbsfreiheit entgegen, welches an den freien Wettbewerb der Klassik und an die Hayeksche Kategorie der Handlungsfreiheit anknüpfte4. Dem widersprachen die wettbewerbspolitischen Handlungsempfehlungen Kantzenbachs grundsätzlich, wonach die als wünschenswert angesehene Marktform des weiten Oligopois durch Begünstigung von Fusionen und dirigistische Markteingriffe (z.B. Entflechtung) herbeigeführt werden sollte. Rückblickend auf die Kontroverse konnte festgestellt werden: ,fioppmanns Konzept ist in der deutschen Kartellrechtswissenschaft zum Allgemeingut geworden. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat es in ihre Praxis übernommen", so der Laudator, Wernhard Möschel, anlässlich der Verleihung der juristischen Ehrendoktorwürde an Erich Hoppmann durch die juristische Fakultät der Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen am 6.12.1993. Nach der Promotionsurkunde wollte die Fakultät ehrenhalber die Würde eines Doktors der Rechte, dem international hoch angesehenen Ordnungs- und Wettbewerbstheoretiker, dem Wegbereiter einer freiheitsorientierten Marktprozesstheorie und dem Förderer eines befruchtenden Dialogs zwischen Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft verleihen. Diesen Dialog strebte auch Hayek seit seinem Dienstantritt in Freiburg an. Hoppmann gehörte zu den wenigen Ökonomen in Deutschland, welche die theoretischen Grundlagen der keynesianischen Globalsteuerung als „Neue Konjunkturpolitik"5 bezweifelten. Ganz im Sinne Hayeks rechnete er sie den „Irrtümern der MakroÖkonomik"6 zu und kritisierte sie als Teil einer „neuen Wirtschaftspolitik", die es besser machen will7, indem er die Verbindungen zum Ordnungsdenken Hayeks und Euckens herstellte. Seine Verbundenheit mit dem Gedankengut der Freiburger Schule8 wird durch seine Tätigkeit fur das Walter Eucken Institut dokumentiert. Von 1970 bis Ende 1987 gehörte 2 3 4 5 6 7 8

Dem entsprach Hoppmanns Verständnis von „Wettbewerbsfreiheit" (Hoppmann 1988, S. 241 ff.). So die Herausgeber der Festschrift zu Hoppmanns 70. Geburtstag im Vorwort S. 10 (Möschel, Streit, Witt 1994, S. 9-10). Zu den angesprochenen Leitbildern der Wettbewerbspolitik vgl. Schmidt (1996, Teil VI, S. 11 ff.). So die Zwischenüberschrift in Hoppmann (1973, S. 52 ff.). Vgl. Hayek, zit. in Streif 1995, 2004, S. 92 f.). Hoppmann (1988, S. 55) umschrieb sie kritisch mit „Wirtschaftpolitik der Illusionen". Wie sehr er gedanklich der Freiburger Schule und Hayek verpflichtet war dokumentiert die von ihm herausgegebene Aufsatzsammlung „Wirtschaftsordnung und Wettbewerb" (Hoppmann, 1988). Die Ideen und Erkenntnisse von Eucken und Hayek verband er zu einer überzeugenden Synthese freiheit-

Freiheit und Wettbewerb. In Memoriam Erich Hoppmann

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er dem Vorstand an und trug den Hauptteil der Verantwortung für das Institut. Als Wissenschaftsmanager forderte er die Arbeit des Instituts und gab ihm wichtige Impulse9. Persönlich begegnete ich Erich Hoppmann zum ersten Mal 1990 bei meinem Dienstantritt als Nachfolger auf seinem Lehrstuhl nach seiner Emeritierung im Jahre 1989. Er war mir ein selbstloser Helfer in den ersten Monaten meiner Tätigkeit und ebnete mir manche Wege in der für mich ungewohnten Organisation der Universität und Fakultät. Aus seinen Erfahrungen in Wissenschaft und Forschung konnten auch einige ostdeutsche Universitäten Nutzen ziehen, die nach der Wiedervereinigung Anschluss an das westdeutsche Hochschulsystem suchten. Lehraufträge an der Hochschule „Friedrich List" in Dresden und an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena gaben ihm die Möglichkeit, hier zu helfen. Sein Rat war mir ebenfalls wichtig, da ich zur gleichen Zeit in Jena als Gründer des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Wirtschaftssystemen, nunmehr Max-Planck-Institut für Ökonomik, tätig war. Die Begegnungen mit ihm und seiner langjährigen Lebensgefahrtin während der aufreibenden Gründungsphase waren für mich anregend und entspannend. In Freiburg selbst begegneten wir uns wöchentlich bei den Meetings des dortigen Rotary Clubs. Noch heute erinnere ich mich mit Freude an die ergiebigen Diskussionen, die wir beide mit den rotarischen Freunden über die Unzulänglichkeiten des Vertrags von Maastricht hatten. Hierbei konnte ich Erich Hoppmann als eloquenten und präzise argumentierenden Diskussionspartner wahrnehmen, der mit dem ihm eigenen Charme und ausgesuchter Höflichkeit seinen Standpunkt vertrat. Nach meiner anfänglichen Charakterisierung von Erich Hoppmann und rückblickend auf meine Begegnungen mit ihm und seine spontane Hilfsbereitschaft bleibt mir trauernd festzustellen, dass er getreu dem Wahlspruch aus der Gründerzeit von Rotary lebte und handelte: „Service above Self." Literatur Gröner, Helmut (1993), Zur ordnungstheoretischen Position Erich Hoppmanns; in: Unwissenheit, Wirtschaftsordnung und Staatsgewalt, F.A. von Hayek Vorlesung 1993, Freiburg, S. 47-63. Hayek, Friedrich August von (1968, 2003), Der Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren; in: Ders, Rechtsordnung und Handelnsordnung - Aufsätze zur Ordnungsökonomik, F.A. von Hayek, gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Bd. A4, hg. von Manfred E. Streit, Tübingen, S. 132-149. Hoppmann, Erich (1967), Wettbewerb als Norm der Wettbewerbspolitik, ORDO, Bd. 18, S. 7794. Hoppmann, Erich (1973), Soziale Marktwirtschaft oder Konstruktivistischer Interventionismus?; in: Egon Tuchtfeldt (Hg.), Soziale Marktwirtschaft im Wandel, Freiburg, S. 27-67. Hoppmann, Erich (1988), Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, Baden-Baden. Hoppmann, Erich (1993), Unwissenheit, Wirtschaftsordnung und Staatsgewalt, Friedrich A. von Hayek - Vorlesung 1993, Freiburg. Hoppmann, Erich (1995), Walter Euckens Ordnungsökonomik, ORDO, Bd. 46, S. 41-54.

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liehen Denkens in einem Vortrag anlässlich der Verleihung des Walter Eucken Preises an die Preisträger am 28.01.1995 an der Friedrich Schiller Universität Jena (Hoppmann, 1995). Gröner (1993, S. 49.).

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Manfred E. Streit

Möschel, Wemhard, Manfred E. Streit und Ulrich Witt (1994), Marktwirtschaft und Rechtsordnung, Baden-Baden. Schmidt, Ingo (1996), Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, 3. Auflage, Stuttgart. Streit, Manfred E. (1995, 2004), Wissen, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung, zum Gedenken an Friedrich August von Hayek, in: Ders. (Hg.): Jenaer Beiträge zur Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Contributiones Jenenses, Bd. 9, S. 81-106, Baden-Baden.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Alfred

Schüller

Der Liberalität verpflichtet. In Memoriam Helmut Gröner (12. Oktober 1930 - 27. Juli 2006) Am 27. Juli 2006 ist Professor Dr. Helmut Gröner nach langer, schwerer Krankheit im 76. Lebensjahr verstorben. Helmut Gröner hat als Redakteur und Mitherausgeber das Profil dieses Jahrbuchs über fast zwei Jahrzehnte maßgeblich mitbestimmt und als Autor immer wieder dem liberalen Standpunkt kraftvoll und überzeugend Ausdruck verliehen. Dem folgenden Text liegt mein Nachruf aus Anlass der Gedenkfeier der Rechtsund Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth am 25. Januar 2008 zugrunde. I. Helmut Gröner bin ich zum ersten Mal während meines Studiums Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in Bonn begegnet. Fritz W. Meyer, einer der bedeutendsten Schüler von Walter Eucken, hatte Gröner im Frühjahr 1958 nach einem achtsemestrigen Studium der Volkswirtschaftslehre als Doktorand angenommen, ihm zunächst eine wissenschaftliche Hilfskraftstelle übertragen und ihn dann ab April 1960 mit der Verwaltung einer Assistentenstelle betraut. Diese war vom bisherigen Stelleninhaber Hans Willgerodt durch Habilitation und Übernahme einer Diätendozentur frei gemacht worden. Bei Meyer konnte man schon als „frühes Semester" nicht nur die Vorlesungen, sondern auch die Seminare besuchen. Ohnehin gab es keine Einfuhrungsveranstaltung. Als solche konnte man den Rat des Bonner Finanzwissenschaftlers M. E. Kamp auffassen, den er in seiner Vorlesung beiläufig den Erstsemestern gab: „Mit dem Studium der Volkswirtschaftslehre können Sie alles werden - oder nichts. Es liegt an Ihnen". Es gab noch kein Grundstudium und keine Zwischenprüfung, geschweige denn eine Verschulung des Studiums nach dem Geschmack heutiger Lehrverwaltungsbehörden. Es gab noch Platz für den Gedanken, Studenten als selbstverantwortliche Jungunternehmer anzusehen. Das mag heute elitär oder umständlich erscheinen, dürfte jedoch bei den meisten Studenten wie Präventivmedizin, auf jeden Fall motivierend gewirkt haben. Überhaupt studieren zu dürfen, empfanden Studenten wie Helmut Gröner wohl als Privileg. In Meyers Seminaren konnte ich beobachten, wie Gröner in der wissenschaftlich hochkarätigen Mannschaft um Fritz W. Meyer allmählich aus dem Schatten seiner schon namhaften Kollegen Norbert Kloten, Kurt Schmidt und Hans Willgerodt treten konnte. Vor allem die Bezugspersonen Meyer und Willgerodt muss man sehen, um Growers eigene wissenschaftliche Entwicklung zu verstehen. Erst später ist mir bewusst geworden, dass ich in Meyers Seminaren einen überaus anregenden spontanen Wissen-

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schaftsbetrieb erleben konnte, geprägt von Dozenten mit Lebenserfahrung und gründlichem Fachwissen auf dem Gebiet der „gesamten Staatswissenschaften". Gröner entwickelte sich auf diesem geistigen Humus zu dem, was Meyer später in einer gutachtlichen Äußerung einen hervorragenden jungen Wissenschaftler nannte. Die Probleme verfolge er beharrlich und gewissenhaft bis in die letzten Verästelungen „mit der unverkennbaren Begabung, das Wesentliche vom Nebensächlichen zu trennen und hervorzuheben". So legte Gröner 1962 mit seiner ersten eigenständiger Publikation „Zur Theorie und Praxis des Zahlungsbilanzausgleichs"1 die brüchigen Grundlagen neuerer Anschauungen zur Theorie des Zahlungsbilanzausgleichs von Wolfgang Stützet und anderen offen, entwickelte daraus Vorschläge für eine Neuverteilung währungspolitischer Aufgaben und stieß damit eine Diskussion zur Weiterentwicklung von Gedanken an, die Fritz W. Meyer in seiner wissenschaftlichen Pionierarbeit „Der Ausgleich der Zahlungsbilanz" (Jena 1938) dargelegt hatte. 1963 folgte die Dissertation über „Zölle und Terms of Trade", mit der dieses für die Außenwirtschaft, insbesondere der Entwicklungsländer theoretisch grundlegende Thema zum ersten Mal in voller Breite behandelt worden ist. In weiteren Arbeiten ging Gröner der Frage nach, wie sich Markt- und Wettbewerbsprozesse in Abhängigkeit von unterschiedlichen Systemen des Zahlungsbilanzausgleichs und verschiedenen Instrumenten der Handelspolitik entfalten. Mit diesem Beitrag zur Mikrofundierung der Makroökonomie wie auch mit seiner Antrittsvorlesung aus Anlass der Habilitation an der Bonner Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät im Jahre 1971 konnte Gröner nachweisen, dass ordnungspolitische Maßnahmen für die Entwicklung gesamtwirtschaftlicher Größen wichtiger sind als es damals in der Wissenschaft vielfach von den Anhängern eines makroökonomischen Formalismus im Geiste des Post-Keynesianismus angenommen wurde.

II. In seinen Beiträgen zur Außenwirtschaftstheorie und -politik sowie zur Ordnung der Weltwirtschaft und der Europäischen Integration tritt bei Gröner immer das Leitmotiv hervor, die untersuchten Phänomene in den Zusammenhang mit der Ordnungspolitik, vor allem mit der Wettbewerbsfrage als Dreh- und Angelpunkt der marktwirtschaftlichen Ordnung zu bringen. Und stets geschieht dies mit dem Ziel, Wege zu mehr Wettbewerb und damit zu mehr Freiheit in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft aufzuzeigen. In der Sache läuft dies meist darauf hinaus, gegenläufige Bestrebungen und Fehlurteile in der Praxis der Binnen- und Außenwirtschaftspolitik als Zwecktheorien zu entlarven und zu zeigen, dass diese bei noch so wohlklingender Berufung auf das allgemeine Wohl tatsächlich partikulären wirtschaftlichen Interessen von Verbänden und Parteien dienen. Mit der Aufforderung, diese Interessen in jedweder Erscheinungsform genauer unter die Lupe zu nehmen, stand Growers Verständnis von korrekter wissenschaftlicher Arbeit in der Tradition der Ordoliberalen.

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ORDO, Bd. 13, 1962, S. 173-198. Siehe Helmut Gröner, Marktprozesse und Zahlungsbilanz, ORDO, Bd. XXIII, 1972, S. 81 -101.

Der Liberalität verpflichtet. In Memoriam Helmut Gröner

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Diese sehen in der Aufgabe der Nationalökonomie, den Einfluss von Meinungen und Ideologien des Alltags zu durchschauen und sich von ihnen freizumachen, ein verpflichtendes wissenschaftlichen Ethos (Euchen 1950, S. 244 f.). Die Breite und Intensität seiner Suche nach Wegen zu mehr Wettbewerb dokumentiert ein Sammelband mit achtzehn Schriften und Aufsätzen von Helmut Gröner, den Fritz Holzwarth zu dessen 65. Geburtstag herausgegeben hat (Baden-Baden 1996).

III. Der Anspruch verpflichtender Liberalität bedeutete für Helmut Gröner, den ordnungspolitischen Verirrungen der Politik und der Wissenschaft entschieden die Vorzüge einer besseren Ordnung entgegenzuhalten. Dabei hat er sich immer gerne der geistigen Prägung durch Fritz W. Meyer erinnert. Gröner erlebte, wie Meyer in seinem Wirken bei aller persönlichen Freundlichkeit - unbeirrbar den Verlockungen des Zeitgeistes und unerschrocken dem Druck von Interessentenideologien widerstanden hat. Von seinem Lehrer Meyer wusste Gröner, dass es Ordnungsfragen gibt, die nicht Verhandlungssache sein dürfen und nicht nach dem Zeitgeschmack und der Meinung der Mehrheit neu bestimmt werden können. Verzicht auf das Denken in Ordnungen löst nichts, sondern fuhrt zur Herrschaft abwegiger Ideologien und Interessen mächtiger Gruppen und Verbände der Politik und der Wirtschaft. Diese Grundposition hat Gröner zu seiner eigenen gemacht. Seine Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik geschah aus der Überzeugung, dass diese Ideologie, der Faschismus und der Kommunismus nur Varianten eines Sozialismus sind, der über die Verstaatlichung der sozialen Frage und die (partei-)politische Instrumentalisierung des Menschen das gesamtgesellschaftliche Leben in allen seinen Teilbereichen zu beherrschen versucht (siehe Gröner 1992, S. 199 ff.).

IV. Nach meinem Diplom-Examen im SS 1962 verlor ich Helmut Gröner aus den Augen. Doch aus unterschiedlichen Lebenslinien können immer wieder Wege entstehen, die auf geheimnisvolle Weise zusammenfuhren. Nach zwei Jahren Praxis führte mein Weg über Helmut Gröner wieder zur Uni zurück - durch Vermittlung meines Studienfreundes Wolfgang Servet. Als Assistent am Bonner finanzwissenschaftlichen Lehrstuhl hatte er gehört, dass Hans Willgerodt mit der Annahme des Rufs auf den Kölner Lehrstuhl von Müller-Armack als Assistenten Josef Molsberger mitnehmen wollte. Dessen Stelle im Bonner Mittelstandsinstitut, so erfuhr Meyer über Gröner von Servet, würde Schüller gerne übernehmen. So wurde ich schließlich doch noch Gröners Kollege, wenn auch bis zu meiner Promotion im Jahre 1966 nur von der Volkswirtschaftlichen Abteilung des Mittelstandsinstituts aus, die von Fritz W. Meyer geleitet wurde. Gröner hat - ganz auf der Linie von Fritz W. Meyer und Hans Willgerodt - seinen jüngeren Kollegen und später seinen Assistenten ans Herz gelegt, auch schwierige Sachverhalte möglichst verständlich darzustellen und Fremdwörter nur in unausweichlichen Fällen zu verwenden. So hat er es auch mit seinen Publikationen ganz unspektaku-

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lär vorgelebt. Wirklichkeitsfremde intellektuelle Begriffs- und Gedankenspiele waren ihm schon deshalb zuwider, weil er im Verständnis der „Freiburger" mit der Nationalökonomie eine ordnungspolitische und damit lebensgestaltende Aufgabe verband. V. Am Bonner Lehrstuhl von Fritz W. Meyer herrschte zwischen Chef und Mitarbeitern auf freundliche Art eine respektvolle Distanz. Das kumpelhafte Du, das an manchen Lehrstühlen zwischen Chef und Assistenten in den 60er Jahren Einzug hielt, hatte man nicht zu befürchten. Doch nach der Beobachtung Außenstehender waren die Beziehungen nirgendwo verlässlicher und das Vertrauensverhältnis stärker als am Lehrstuhl Meyer. Von einer persönlichen Abhängigkeit, die seit den 60er Jahren in Schmähschriften von Assistenten- und Studentenseite beklagt wurde, war bei Meyer nie etwas zu spüren. Auch Helmut Gröner hat sich daran später immer wieder dankbar erinnert. In den 60er Jahren begann sich in der Bundesrepublik auch insgesamt das geistigkulturelle und (wirtschafts-)politische Klima zu verändern. Der Fortschritt der Gesellschaft wurde mehr und mehr an der Zahl der Gesetze, Schlagwörter, Programme, an politischen Parolen und Präferenzen für Institutionen gemessen, die auf dem Weg in die „unbeschränkte Demokratie" (Friedrich A. von Hayek) politisiert werden sollten. In der Öffentlichkeit schwand die Kritik an der Aufgabenanmaßung des Staates und seiner Verschwendungssucht. Am deutlichsten war der geistige Wandel an Bestrebungen zu spüren, die Universitäten zu demokratisieren, im Geist des Neomarxismus zu politisieren, gruppenparitätisch zu legitimieren und nach rätedemokratischen Grundsätzen zu organisieren - ungeachtet der spezifischen Aufgaben der Hochschullehrer und der Hochschulen im Sinne des Grundrechts auf Freiheit von Forschung und Lehre gemäß Art. 5 Abs. 3 GG (siehe Watrin 1975, S. 637 ff.). Traditionen wie die Vorlage einer Habilitationsschrift als zweite große Arbeit nach der Dissertation, die sich im Prinzip bewährt hatten, wurden als Zumutung angesehen. So begannen auch in Bonn manche im Mittelbau darauf zu warten, ohne Habilitation zum Professor ernannt zu werden. Die Mitgliedschaft in der aufkommenden Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft erschien für die Karriere hilfreicher als das beharrliche Bohren am dicken Brett einer zweiten großen Arbeit, der Habilitationsschrift auf einem Gebiet, das üblicherweise vom Thema der Dissertation abweichen musste. Die Verwirrung der Geister ging so weit, dass im Institut von Meyer, einem wahrhaft Liberalen ( Willgerodt 1980), über Nacht ein Plakat mit dem provozierenden Satz unter einem Bild von Lenin hing: „Er rüttelte am Schlaf der Welt". Für die angemessene Reaktion darauf brauchten Gröner und ich nicht erst in Lenins Schrift „Was tun?" Rat zu suchen.

VI. Unbeirrt von den konfliktreichen Bestrebungen zur Verdrängung des bisherigen Aufgabenverständnisses und der insgesamt bewährten Anforderungen der Universität

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hat Helmut Gröner 1965 damit begonnen, sich der Analyse der Ordnungsprobleme der Energiewirtschaft im allgemeinen und der Elektrizitätswirtschaft im besonderen als zweite große Arbeit zuzuwenden. Ausgangspunkt dieses Vorhabens war die Frage: Inwieweit trifft es zu, dass der Wettbewerb nicht auf allen Gebieten die marktwirtschaftlichen Ordnungsfunktionen auszuüben vermag? Tatsächlich war die Elektrizitätswirtschaft wie andere Bereiche der hoheitlich regulierten Energiewirtschaft jahrzehntelang eine Domäne von sog. Fachleuten in einer von der Wettbewerbsordnung abgesonderten Welt von Privilegien. Das Interesse dieser Experten war davon bestimmt, die Energieversorgung mit der Berufung auf das Argument des Marktversagens aus der Wettbewerbsordnung herauszuhalten und die Abnehmer, vor allem die privaten Haushalte, mit mehr oder weniger durchsichtigen Methoden auszubeuten. Über einen selbst beobachteten Fall dieser Praxis berichtete Willgerodt in einem der Gespräche, zu denen sich die Assistenten im Dienstzimmer von Meyer regelmäßig morgens einfanden. Es war - wie ich von Willgerodt erfahren habe - der Stachel dieses konkreten Problems, der bei Gröner den Anstoß zur Wahl seines Habilitationsthemas „Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft" gab - ganz in der Tradition der Freiburger, nach der der Theoretiker seine Arbeit auf die Lösung konkreter Probleme konzentrieren sollte, was eine hinreichende Beobachtung der historischen und gegenwärtigen Fakten erfordert. Umgekehrt könne der historisch arbeitende Nationalökonom die vom Theoretiker gewonnenen Werkzeuge nur verwenden, wenn er die Theorie beherrsche. Unabhängige Ökonomen und Juristen, die es als möglich und notwendig ansahen, die Elektrizitätswirtschaft in das wettbewerbliche Marktsystem einzubeziehen, wurden einfach nicht zu den Fachleuten gezählt, sondern herablassend zu den Bewohnern wissenschaftlicher Elfenbeintürme (siehe generell hierzu von Hayek 1971, S. 367 ff.). Diese Tatsache bestimmte weithin auch das Denken darüber. Bereits die ersten Aufsätze von Gröner, die der herrschenden Lehre („Die Tatsachen haben das Denken über die Tatsachen zu bestimmen") widersprachen und parallel zur Arbeit an der Habilitationsschrift entstanden sind, fanden so starke Beachtung, dass Gröner in den Jahren 1968 und 1969 als Experte zur Mitarbeit in der „Arbeitsgruppe Wettbewerb" im Wirtschaftspolitischen Ausschuss des Vereins für Socialpolitik zugezogen wurde - durchaus ungewöhnlich für einen nicht habilitierten Fachvertreter. Mit weiteren wettbewerbspolitischen Arbeiten über staatlich regulierte Branchen hat Gröner in der Fachwelt so starke Beachtung gefunden, dass er 1986 mit dem Vorsitz der Arbeitsgruppe Wettbewerb betraut wurde.

VII. Das breit angelegte Werk der Habilitationsschrift über „Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft" (Baden-Baden 1975)3 beruht auf einer jahrelangen akribischen Forscherarbeit. Vor allem mit der Literatur- und Materialsichtung im Koblenzer Bun3

Siehe hierzu auch Heinz-Dieter Smeets und Andreas Knorr, Die Ordnung der Elektrizitätswirtschaft heute, in diesem Band.

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desarchiv hat Gröner das Terrain der Energiewirtschaft und besonders der Elektrizitätswirtschaft wirklich umfassend studiert - mit großer Ernsthaftigkeit, unbedingtem Willen und langem Atem. Wie bei der Dissertation beschritt er den Weg des Einzelforschers. Es gab ja noch keine Evaluierung mit dem heute üblichen Vorwurf an die Institutsdirektoren, es würde zu viel Einzelforschung betrieben. Gröner betrachtete die Dinge von allen Seiten, wobei er den Ordogedanken zur Grundlage seines Vorgehens machte und wie eine Leuchtlupe für eine möglichst blendfreie Betrachtung seines Gegenstandes nutzte: Erstens - Wirtschafts- und Rechtswissenschaften bedürfen einander, denn Rechtsund Wirtschaftsordnung greifen mit starken Wechselwirkungen ineinander. Zweitens Mit den ordnungstheoretischen und -politischen Instrumenten ist es möglich, den wirtschaftspolitischen Verirrungen der Zeit, also auch dem Fehlgriff in der Energiepolitik (siehe Abschnitt IX.) den Spiegel des volkswirtschaftlich Besseren entgegenzuhalten. Dazu ist es drittens notwendig, den Ordogedanken nicht nur als konzeptionelle Idee zu begreifen, sondern die historischen Fakten im Lichte einer angemessenen Wettbewerbstheorie unter Einbeziehung der allgemeinen (wirtschafis-)politischen Entwicklung zum Sprechen zu bringen. Über dieser Gedenkrede hätte deshalb auch in Anlehnung an Thomas Mann stehen können: „Auf eigene Art einem Beispiel folgen. Helmut Gröner in der Tradition der Ordoliberalen". Am Lehrstuhl Meyer galt die 1965 erschienene „Allgemeine Markttheorie" von Ernst Heuß - mit Blick auf Euckens Idee der Überwindung der großen Antinomie zwischen Empirie und Theorie - als ein wahrhaft bahnbrechendes Werk, als großer Fortschritt in unserer Wissenschaft, ja als eine geniale Synthese. Auch für Gröner hieß das wettbewerbstheoretische Mekka in Deutschland damals Marburg, erst recht, wenn die wettbewerbspolitischen Arbeiten von Erich Hoppmann und Walter Hamm einbezogen werden. Gröner und ich sind hiervon jedenfalls in der wissenschaftlichen Orientierung und Entwicklung nachhaltig beeinflusst worden. Folgerichtig hat sich der Marburger Wirtschaftswissenschaftliche Fachbereich im Jahre 1977 darum bemüht, Helmut Gröner aufgrund seiner Forschungsschwerpunkte als Nachfolger von Ernst Heuß zu berufen. Vor der Ruferteilung aus Wiesbaden hat Gröner sich jedoch dafür entschieden, den vorher ergangenen Ruf an die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth anzunehmen. Dies wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil er in Bayreuth maßgeblich an der Aufgabe mitwirken konnte, das wieder zusammenzubringen, was - wie oben schon gesagt - nach Auffassung der Ordoliberalen zusammengehört: Die Erforschung der Wechselwirkungen von Rechts- und Wirtschaftsordnung im allgemeinen und des Wettbewerbsrechts und der Wettbewerbspolitik im besonderen.

VIII. Das Zusammenwirken von Juristen und Ökonomen hielt Gröner wegen der Interdependenz von Rechts- und Wirtschaftsordnung für unverzichtbar. Das zeigt eine Reihe von gemeinsamen Schriften vor allem mit Bayreuther Juristen. Neuere Bestrebungen in der Wettbewerbspolitik, der ökonomischen Effizienz Vorrang vor der Wettbewerbsfreiheit einzuräumen, dürfte er kritisch gesehen haben. Denn der etwa beim Zusammenschluss von Unternehmen geforderte fusionsspezifische Effizienzzugewinn, einschließ-

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lieh angemessener Verbrauchervorteile, beruht entscheidend auf finnenspezifischen Ergebnisprognosen, die im wettbewerblichen Marktgeschehen immer nur Vermutungscharakter haben können. Welche Instanz wird im Zeitablauf verhindern können, dass die vorgerechneten Effizienzgewinne unter dem Einfluss der Verhaltensänderung aus einer verengten Angebotsstruktur tatsächlich zu einer Rechnung gegen die Verbraucher umgedeutet werden können, deren Interessen sich meist nur mit ungleich höheren Transaktionskosten organisieren und zur Geltung bringen lassen? Auch die Überlegung, kartellartige Formen der Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit bei günstigen Prognosen für Effizienzsteigerungen zu genehmigen und damit vom allgemeinen Kartellverbot Abstand zu nehmen, könnte es den beteiligten Firmen allzu leicht machen, behauptete Wohlfahrtsgewinne entschuldigend und schützend vor ihre wettbewerbsbeschränkenden Interessen zu stellen. Wahrscheinlich hätte Gröner in der Auseinandersetzung um die Vor- und Nachteile einer effizienzpositivistischen Wettbewerbspolitik eher der Auffassung Mestmäckers (2005, S. 19 f.) zugeneigt.

IX. Zurück zu Gröners Habilitationsschrift: In einer später vorgelegten insitutionenökonomischen Interpretation der historischen Fakten, vor allem aus Sicht der Marburger wettbewerbstheoretischen und -politischen Arbeiten, zeigt sich für die Elektrizitätswirtschaft, wie für alle staatlich regulierten Branchen, eine typische Entwicklung der Marktphasen und der Regulierungseingriffe (Gröner 1983, S. 219 ff.). Für die Phase der Entstehung des Elektrizitätsmarktes zeigt Gröner das eindeutige Vorwalten privatwirtschaftlicher Bemühungen um die Nachfrageschaffiing auf, während sich staatliche Stellen gegenüber dem neu aufkommenden Wirtschaftszweig abwartend verhielten. Erst mit der Möglichkeit der Verschickung elektrischer Energie über größere Entfernungen kam es zu einer beschleunigten Expansions- und Konzentrationsentwicklung des Elektrizitätsangebots. Die branchenspezifischen, auf selbst geschaffenem Recht der Wirtschaft beruhenden Handlungsrechte, die sich herausgebildet hatten, wurden in der Folge durch hoheitliche Regulierungen ersetzt. Hauptsächlich geschah dies nach Gröner in der Form, dass staatliche Stellen die Nutzungsrechte an Infrastrukturanlagen aufspalteten und diesen Vorgang als Einfallstor für weitergehende staatliche Regulierungen nutzten. Gröner zeigt schließlich, wie unter den Bedingungen der rasch expandierenden Marktentwicklung die Verfiigungsmacht über die „öffentlichen Wege" dazu diente, den größten Teil der Elektrizitätsversorgungsunternehmen öffentlichen Verbänden zuzuordnen. Bis in die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts entstanden so elektrizitätswirtschaftliche Machtstrukturen, die ohne eine ökonomisch überzeugende Begründung wie ein Datum der Wirtschaftspolitik Bestandsschutz hatten. Begleitet war diese Entwicklung von einer sich immer rascher drehenden Regulierungsspirale im Dienste politisch beeinflusster monopolistischer Angebots- und Aufsichtsstrukturen. Versuche, diese Entwicklung ökonomisch als unabänderlich zu rechtfertigen, sind spätestens seit Helmut Gröners Habilitationsschrift „Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft" als gescheitert zu betrachten. Carl Christian von Weizsäcker bezeichnete deshalb Gröners Arbeit 2003 in seinem einleitenden Referat „Versorgungswirtschaft im Wettbewerb" auf der Jahrestagung der Arbeitsgruppe Wettbewerb des Wirt-

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schaftspolitischen Ausschusses im Verein für Socialpolitik in Leipzig als eine „wissenschaftliche Pionierleistung". Gröners Nachweis neuartiger Wege für mehr Wettbewerb in der Elektrizitätswirtschaft war in der Tat in den frühen 70er Jahren die gründlichste und umfassendste Darstellung dieser komplizierten Materie und darf bis heute als wissenschaftliches Standardwerk für das behandelte Gebiet bezeichnet werden. Inzwischen ist das jahrzehntelang vorherrschende Unwerturteil über eine Wettbewerbsordnung für die Elektrizitätswirtschaft in Theorie und Praxis vielfach revidiert worden. Doch ist die wirtschaftspolitische Praxis in Deutschland immer noch davon bestimmt, den Grad von Wettbewerbsbeschränkungen hinzunehmen, der nicht zuletzt von den vier großen, vertikal integrierten Stromerzeugern und einer wettbewerbsscheuen Parteien- und Verbandslobby für erforderlich gehalten wird. Deshalb hat Gröner, solange er dazu in der Lage war, in zahlreichen Veröffentlichungen auf die Möglichkeiten einer wettbewerblichen Öffnung der Elektrizitätswirtschaft durch Ingangsetzung dynamisch ablaufender Marktprozesse hingewiesen. Die lebhafte Diskussion, die Groners Arbeiten auf diesem Gebiet auslösten, hat nicht nur die Arbeit der Monopolkommission, sondern auch das Denken und Handeln von ordnungspolitisch geschulten Politikern beeinflusst, wie ich von Dr. Alois Rhiel weiß, dem Hessischen Staatsminister für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung.

X. Helmut Gröner war auf Tagungen kein Mann vieler Worte. Die Lust auf öffentliche Selbstdarstellung, auf sprühende Pointen war ihm fremd. Wenn es richtig ist, dass Gefühlsausbrüche von mangelnder menschlicher Reife zeugen, dann war Helmut Gröner schon früh ein reifer Mann. Ich kenne ihn jedenfalls nicht als jemand, der ungestüm aus der Haut fahren konnte. In Gesprächen über wirtschaftliche und politische Zusammenhänge verblüffte er die Zuhörer oft mit seinen Geschichtskenntnissen. Diese waren Ausdruck seiner Überzeugung, dass es für die Analyse von wirtschaftlichen Ordnungsfragen unverzichtbar ist, sich um das Verstehen der Geschichte zu bemühen. Er verrichtete seine wissenschaftliche Arbeit gewissenhaft und beständig, trat geradlinig auf, lehnte alles Gekünstelte und Überzogene ab. Mit immenser Belesenheit überblickte er die Veröffentlichungen zu verschiedenen Themenbereichen. Sein Schreibstil war streng sachbezogen, einfach und verständlich. Der aufkommenden Flut modischer Anglizismen ist er auf eine - wie ich meine - sympathisch-altmodische Weise entgegengetreten, wo er nur konnte - vor allem als Schriftleiter von ORDO. Vom hohen Maß an Kooperationsbereitschaft, die Helmut Gröner in allen Bereichen seines akademischen Wirkens ausgezeichnet hat, habe ich persönlich in besonderer Weise profitiert, sei es bei gemeinsam verfassten Aufsätzen, bei der Vorbereitung, Herausgabe und Finanzierung von gemeinsam organisierten Sammelwerken4 oder größerer Themenbände im Rahmen der Schriftleitung des Jahrbuchs ORDO.5 Die Zusammenar-

4 „Internationale Wirtschaftsordnung", Stuttgart und New York 1978; „Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe", Stuttgart, Jena und New York 1993. 5 Bd. 43 (1992) „Wirtschaftsordnung und Wettbewerb" und Bd. 48 (1997) „Soziale Marktwirtschaft: Anspruch und Wirklichkeit seit fünfzig Jahren".

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beit mit Helmut Gröner in der ORDO-Schriftleitung seit 1985 war intensiv und profitierte von einer fruchtbaren Wissens- und Arbeitsteilung. Er war in der Zunft angesehen, weil er seine Schritte nicht in Hast, nicht auf der Jagd nach schnellen Resultaten, sondern mit Bedacht auf Qualität setzte - wie eine Firma, die sich einen Goodwill erwirbt, in dem sie immer wieder aufs Neue Zuverlässigkeit übt. Seine Fähigkeit zur scharfsinnigen Beobachtung mag auch daher kommen, dass er nach dem Abitur auf dem Umweg über den Beruf des Augenoptikers, dem er sich zunächst aus familiären Gründen verschrieb, zum Studium der Volkswirtschaftslehre und damit zu seiner wahren Berufung gekommen ist. Mochte sein Erinnerungsvermögen in den letzten Jahren auch beschleunigt nachlassen und eine bedrückende Ahnung des drohenden Schicksals eines Alzheimerpatienten vermitteln, wenn ich mit ihm am Telefon über Angelegenheiten des ORDO-Jahrbuchs gesprochen habe, ist ihm sein Lieblingssatz „Das müssen wir genauer unter die Lupe nehmen" als verlässlicher Anker geblieben - als eine ausgesprochen persönliche Eigenart, dem sozialen Ethos des genauen Hinsehens, der Redlichkeit und Wahrhaftigkeit im Sinne von gelebter Liberalität verpflichtet. Seit 1987 war Helmut Gröner geschäftsfuhrender Vorstand des Freiburger Walter Eucken Instituts. Erich Hoppmann, sein Vorgänger im Amt, hat ihm am 13. Oktober 1995 in einer akademischen Feierstunde anlässlich seines 65. Geburtstags für seine „fruchtbare Tätigkeit" von ganzem Herzen gedankt (1996, S. 32). Nachdem Gröner auch selbst immer wieder über sich häufende Symptome seiner schweren Erkrankung, die ihn verunsichert und deprimiert hat, klagte, ist er im Jahre 2000 dem freundschaftlichen Rat gefolgt, aus dem Vorstand des Walter Eucken Instituts auszuscheiden, was er ohnehin schon länger vorhatte.

XI. Das, was Helmut Gröner mit seinem Verstand und seinem Geist geschaffen und mit seiner Menschlichkeit beseelt hat, ist erinnernswert. Erinnernswert ist auch die Art und Weise, wie Kollegen, Kollegenfrauen, Freunde und Bekannte aus Bayreuth und Umgebung sich um Helmut Gröner und seine Frau Else, die nach ihm ebenfalls von einem unabwendbaren Schicksal heimgesucht wurde, gekümmert, ihnen bis zuletzt zur Seite gestanden und einen wahrhaft menschlichen Umgang mit Sterben und Tod bewiesen haben. Stellvertretend für alle sind besonders Ute und Peter Oberender hervorzuheben. Literatur Eucken, Walter (1950), Die Grundlagen der Nationalökonomie, Berlin, Göttingen, Heidelberg. Gröner, Helmut (1975), Die Ordnung der deutschen Elektrizitätswirtschaft, Baden-Baden. Gröner, Helmut (1983), Property Rights-Theorie und staatlich regulierte Industrien, in: Alfred Schüller (Hg.), Property Rights und ökonomische Theorie, München, S. 219-239. Gröner, Helmut (1992), Die Soziale Frage und der Nationalsozialismus, in: Egon Görgens und Egon Tuchtfeldt (Hg.), Die Zukunft der wirtschaftlichen Entwicklung - Perspektiven und Probleme. Ernst Dürr zum 65. Geburtstag, Bern, Stuttgart und Wien, S. 199-216. Hayek, Friedrich A. von (1971), Die Verfassung der Freiheit, Tübingen. Heuß, Ernst (1965), Allgemeine Markttheorie, Tübingen.

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Holzwarth, Fritz (Hg.) (1996), Helmut Gröner - „ Wege zu mehr Wettbewerb" - Schriften und Aufsätze. Zum 65. Geburtstag von Prof. Helmut Gröner, Baden-Baden. Hoppmann, Erich (1996), Helmut Gröner in der Ordnungsökonomischen Tradition Walter Euckens, in: Wolfgang Gitter (Hg.), Wettbewerbspolitik als Herausforderung und Aufgabe, Baden-Baden. Mestmäcker, Ernst-Joachim (2005), Die Inderdependenz von Recht und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik, in: Monopolkommission (Hg.), Zukunftsperspektiven der Wettbewerbspolitik, Baden-Baden, S. 19-35. Meyer, Fritz W. (1938), Der Ausgleich der Zahlungsbilanz, Jena. Watrin, Christian (1975), Studenten, Professoren und Steuerzahler. Die Gruppenuniversität in ökonomischer Sicht, in: Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung. Festschrift fiir Franz Böhm zum 80. Geburtstag, hg. von Heinz Sauermann und Ernst-Joachim Mestmäcker, Tübingen, S. 637-665. Willgerodt, Hans (1980), Ein wahrer Liberaler. Zum Tode von Fritz Walter Meyer, FAZ vom 13. März 1980, S. 13.

Buchbesprechungen

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Inhalt Hanjo Allinger Evidenzbasierte Bildungspolitik: Beiträge der Bildimgsökonomie Ein Kommentar zum gleichnamigen Buch von Hanjo Allinger

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Hans-Heinrich Bass Schumpeters Finanzierungshypothese in neuer Sicht - Anmerkungen zu einem Buch von Cord Siemon über Unternehmertum in der Finanzwirtschaft

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Hanno Beck Auf der Suche nach der politischen Weltformel - Anmerkungen zum Buch „Politische Ökonomie des Politikbetriebs" von Franz Beitzinger

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Florian Birkenfeld Bildimg - Anmerkungen zum gleichnamigen, von Wolfgang Franz, Hans Jürgen Ramser und Manfred Stadler, herausgegebenen Tagungsband

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Markus Breuer Sozialer Umbruch: Zwischen neuen Werten und der demographischen Entwicklung - Anmerkungen zu Rolf Kramers Buch „Gesellschaft im Wandel"

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Peter Engelhard Dynamik internationaler Märkte - Anmerkungen zum gleichnamigen, von Franz, Ramser und Stadler, herausgegebenen Sammelband

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Milena Susanne Etges Was hält eine Gesellschaft zusammen? Eine kritische Betrachtung des gleichnamigen Buchs von Christoph Lütge

511

Lothar Funk Die Zukunft der Arbeit in Deutschland - Besprechung des vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln herausgegebenen gleichnamigen Bandes

515

Catherine Herfeld Wirtschaftstheorie und Wissen - Aufsätze zur Erkenntnis- und Wissenschaftslehre von Friedrich August von Hayek - Anmerkungen zu dem gleichnamigen Band herausgegeben von Victor Vanberg

523

Karen Horn Institutions in Perspective - Zu der gleichnamigen Festschrift zu Ehren von Rudolf Richter

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Wolfgang Kerber An Economic Analysis of Private International Law - Anmerkungen zu dem gleichnamigen Band, herausgegeben von Jürgen Basedow und Toshiyuki Kono

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Buchbesprechungen - Inhalt

Alexander Lenger Ökonomische Ethik - Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Andreas Suchanek

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Christian Müller Corporate Social Responsibility als unternehmerische Strategie - Bemerkungen zu einem von Hans Thomas und Johannes Hattler herausgegebenen Tagungsband 540 Benedikt Römmelt Thomas Schellings strategische Ökonomik - Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Ingo Pies und Martin Leschke

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André Schmidt The More Economic Approach to European Competition Law - Besprechung des gleichnamigen Buches, herausgegeben von Dieter Schmidtchen, Max Albert und Stefan Voigt

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Carsten Schreiter Europäische Beihilfenkontrolle und Standortwettbewerb. Eine ökonomische Analyse - Bemerkungen zum gleichnamigen Buch von Friedrich Gröteke

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Cord Siemon Theorie der staatlichen Venture Capital-Politik - Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von E. A. Bauer 555 Manfred E. Streit Marburger Studien zur Ordnungsökonomik - Zu dem gleichnamigen Buch von Alfred Schüller

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Volker Ulrich Auf der Suche nach der besseren Lösung, Festschrift zum 60. Geburtstag von Norbert Klüsen - Zu dem gleichnamigen Buch herausgegeben von Peter Oberender und Christoph Straub

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Kurzbesprechungen

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ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Hanjo Allinger

Evidenzbasierte Bildungspolitik: Beiträge der Bildungsökonomie Ein Kommentar zum gleichnamigen Buch von Hanjo Allinger* Der politische Kurswert der Bildungsökonomie sei seit einiger Zeit wieder deutlich angestiegen, fuhrt der Herausgeber des Bandes, Manfred Weiß, in seinem Vorwort aus. An „politischen Relevanzkriterien" orientiert sei daher auch die Auswahl der Beiträge erfolgt. Ausgehend vom jeweiligen Fokus der Untersuchungen lassen sich die neun ausgewählten Beiträge des Sammelbandes, die ganz überwiegend statistisch empirisch orientiert sind, grob in drei Themengruppen untergliedern: Drei Beiträge sind Fragen der Schulbildung bzw. der Chancengleichheit von schulischer Bildung gewidmet, vier weitere befassen sich mit der beruflichen Weiterbildung und zwei Beiträge stellen die Wirkungen genuin ordnungspolitischer Institutionen im Bildungsbereich in den Vordergrund. Die Beiträge von Schütz und Wößmann, Mahler und Winkelmann sowie der von Weiß und Preuschoff befassen sich mit der Evaluierung der Schuldbildung. Von besonderer Bedeutung ist in dieser ersten Gruppe sicherlich der Beitrag von Schütz und Wößmann. Die Autoren suchen nach Erklärungen, warum es die Bildimgssysteme in einigen Ländern besser vermögen als in anderen, das Versprechen von Chancengleichheit einzulösen. Politisch brisant, denn im Umkehrschluss leiten die Autoren Handlungsempfehlungen ab, wie auch im deutschen Schulsystem Bildungserfolge unabhängiger von der sozialen Herkunft des Schülers erzielt werden könnten. Schütz und Wößmann verwenden ein ausgefeiltes mehrstufiges ökonometrisches Schätzmodell auf höchstem Niveau. Mit der Anzahl der im Haushalt des Schülers verfügbaren Bücher als erklärende Variable wird in einer ersten Regression über die Ergebnisse der TIMMS und TIMMS-Repeat-Studie zunächst für jedes Land ein Maß für die Stärke des familiären Einflusses und damit auch für die Chancenungleichheit der Bildungssysteme gewonnen. Die so gewonnen Regressionskoeffizienten werden dann in einer zweiten Regression durch Variablen erklärt, die institutionelle Rahmendaten der Teilnehmerländer widerspiegeln. Noch vor anderen Einflussfaktoren wird dabei deutlich, dass sich eine späte erste schulische Selektion positiv auf die Chancengleichheit auswirkt. Als ähnlich bedeutend für die Kompensation der Nachteile von Schülern aus bildungsferneren Schichten erweist sich noch die Erhöhung der Besuchsquote im Vorschulbereich, nicht jedoch die in Ganztagsschulen gegebene längere Dauer des Schultages. Mahler und Winkelmann beleuchten die Bildungschancen von Kindern alleinerziehender Mütter und untersuchen ökonometrisch, ob die Wahrscheinlichkeit für eine Einschulung im Gymnasium für Rinder alleinerziehender Mütter geringer ist als für Kinder, die bei beiden Elternteilen aufgewachsen sind. Glücklicherweise können die Autoren in dieser Hinsicht Entwarnung geben: Im umfassend spezifizierten Regressionsmodell zeigt sich, dass die leicht geringere Wahrscheinlichkeit eines Gymnasiumsbesuchs für Kinder alleinerziehender Mütter nicht auf den fehlenden Elternteil zurückgeführt werden kann. Als Hauptfaktoren erweisen sich vielmehr (wieder einmal) der Bildungshintergrund der Mutter und das Haushaltseinkommen. Weiß und Preuschoff hinterfragen, ob ein in der Literatur immer wieder vermuteter Effektivitätsvorteil privater Schulen zu messbar besseren Ergebnissen in der Ausbildung der Schüler führt. Auf Basis der in PISA-Ε erhobenen Daten testen sie, ob sich das Leistungsniveau von Schülern der neunten Klasse in privaten und öffentlichen Schulen unterscheidet. Mit Hilfe eines Matchingverfahrens tragen sie dabei einer möglicherweise vorhandenen Selbstselektion Rech-

* Manfred Weiß (Hg.), Evidenzbasierte Bildungspolitik: Beiträge der Bildungsökonomie, Schriften des Vereins für Socialpolitik Band 313, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2006, 194 Seiten.

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nung. Ihre Berechnungen zeigen, dass die Trägerschaft der Schule für den Lernerfolg des Kindes ohne Bedeutung ist. Auch aus dem Blickwinkel der Chancengerechtigkeit ist dieses Ergebnis in gewisser Weise beruhigend. Ungeachtet dessen äußern sich Eltern deutlich zufriedener über die Schule ihres Kindes, wenn diese privat geführt wird. Vier Aufsätze untersuchen die berufliche Weiterbildung. Die Beiträge von Neubäumer und der von Bellmann und Leber untersuchen dabei die Angebotsseite der betrieblichen Weiterbildung. Der Beitrag von Jürges und Schneider sowie der von Fandet, Bartels und Prümmer befassen sich mit den Einkommenswirkungen und damit dem Wert der Weiterbildung aus Sicht der Bildungsnachfrager. Auf der Angebotsseite liefert die qualitative Forschung von Renate Neubäumer eine perfekte Ergänzung zur schwerpunktmäßig quantitativen Forschung von Bellmann und Leber. Stringent und sehr ausführlich systematisiert sie die in der umfangreichen Literatur vorgestellten Einflussgrößen auf das Angebot betrieblicher Weiterbildungsmaßnahmen. Bellmann und Leber untersuchen viele dieser möglichen Einflussgrößen empirisch anhand von Daten des IABBetriebspanels auf ihren Erklärungsgehalt. In einer gleichermaßen pfiffigen wie anspruchsvollen Anwendung einer Komponentenzerlegung auf Probitschätzungen des Weiterbildungsangebots hinterfragen sie anschließend, worauf das unterschiedliche Weiterbildungsangebot von Großbetrieben und kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) zurückzuführen ist. Dabei zeigt sich, dass vor allem die Existenz eines Betriebsrates, die Zugehörigkeit zu einem Unternehmensverbund und die Führung von Arbeitszeitkonten zur Erklärung der Unterschiede beitragen können. Insgesamt vermag die unterschiedliche Struktur und Ausstattung von Großbetrieben und KMU die Unterschiede im Weiterbildungsverhalten jedoch nur zu knapp einem Drittel zu erklären. Damit legt der Beitrag die Vermutung nahe, dass der politischen Gestaltbarkeit der Weiterbildungslandschaft in Deutschland enge Grenzen gesetzt sein dürften. Die Einkommenswirkung beruflicher Weiterbildung wird von Jürges und Schneider mit Daten des SOEP geschätzt; Fandel, Bartels und Prümmer konzentrieren sich in ihrem Beitrag auf die Auswertung einer Befragung von Absolventen des wirtschaftswissenschaftlichen Zusatzstudiums für Ingenieure und Naturwissenschaftler der Fernuniversität Hagen. Während der erste Beitrag technisch ausgefeilt mit verschiedenen Verfahren versucht, Selektivitätsprobleme im Datensample auszugleichen, um so zu unverzerrten Schätzern für die kausale Einkommenswirkung beruflicher Weiterbildung zu kommen, versucht letzterer in methodisch eher schlichter Art und Weise durch deskriptive Statistiken, Ansätze der Investitionsrechnung und Beispielrechnungen zu evaluieren, ob sich die Investition in ein berufsbegleitendes Studium der Fernuniversität Hagen rechnet. Nicht ganz überraschend fallen die Ergebnisse von Jürges und Schneider dann auch vorsichtiger und weniger eindeutig aus: Nach Korrektur des Sample Selection Bias können Sie eine kausale Wirkung der beruflichen Weiterbildung auf das Einkommen nicht mehr eindeutig nachweisen. Gerade diesen positiven Einkommensbeitrag stellen jedoch Fandel et. al. in ihrem für breitere Leserschichten verständlichen Beitrag für die Weiterbildung an der Fernuniversität Hagen fest. Die letzte Themengruppe wird gebildet aus dem Beitrag von Allmendinger, Ebner und Schiudi und dem Beitrag von Schenker-Wicki und Hürlimann, die sich vor allem ordnungspolitisch relevanten Fragen zuwenden. Im Mittelpunkt ersteren Beitrags steht die bildungspolitische Funktion der Arbeitsverwaltung, über die die Autoren einen Überblick geben. Vor dem beruflichen Hintergrund der Autoren, die im Erscheinungsjahr des Bandes alle dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit angehörten, gewinnt ihre Kritik an der verzerrenden Finanzierungswirkung von Arbeitslosengeld I und II zusätzlich an Brisanz. Schenker-Wicki und Hürlimann schließlich befassen sich mit der Wirkungssteuerung von Universitäten und untersuchen, ob sich nach den gesetzlichen Reformen, die den Schweizer Universitäten durch die Einführung von Globalbudgets mehr Autonomie gewährten, die eidgenössischen Hochschulen den erweiterten Handlungsspielraum für eine Steigerung der Effizienz und Effektivität nutzen konnten. Methodisch stützt sich der Beitrag dabei stark auf deskriptive Sta-

Buchbesprechungen

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tistiken. Ob das gewählte Untersuchungsdesign letzte Gewissheit über Effektivität und vor allem die Effizienz von Universitäten geben kann, muss offen bleiben. Die größere Bereitschaft der politischen Akteure, wissenschaftliche Expertise nachzufragen, sei unübersehbar und eine Folge des gestiegenen Handlungsdrucks auf die Politik, resummiert der Herausgeber in seinem Vorwort. Ob die in diesem Buch zusammengetragenen Aufsätze in ihrer Gesamtheit tatsächlich einen „substantiellen Beitrag" in dieser Richtung leisten können, wie der Herausgeber vermutet, kann nur schwer abschließend beurteilt werden. Dass bei der starken Konzentration der Beiträge auf die empirische Evidenz Lücken bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zielen wie der Chancengleichheit verbleiben können, darf kaum verwundern und sei nur am Rande bemerkt. Ungeachtet dessen unterscheiden sich die Beiträge sowohl in ihrer wissenschaftlichen Tiefe als auch in ihrer politischen Aussagekraft und Bedeutung. Deutlich wird daran das Dilemma des Herausgebers, den Anspruch auf bildungsökonomische Forschung auf höchstem Niveau zu verbinden mit dem Wunsch nach politischer Relevanz. Aus politischer Sicht sind Forschungsergebnisse vor allem dann hilfreich und relevant, wenn sie eindeutige Schlussfolgerungen zulassen und Handlungsempfehlungen beinhalten, die geeignet sind, auch eine breite Wählerschaft zu überzeugen. Für den Wissenschaftler sollte aber gerade ein so eindeutiges Ergebnis Anlass zur Skepsis sein: nicht selten kann diese Klarheit auch Folge einer Missspezifizierung der verwendeten Modelle sein. Je mehr die Modellierung und die zum Einsatz kommende Mathematik der Komplexität der Zusammenhänge der realen Welt gerecht werden, desto differenzierter und damit,.richtiger" werden häufig auch die Ergebnisse. Dies darf jedoch nicht bedeuten, dass sich der erfolgreiche Forscher damit in die politische Irrelevanz verabschieden muss: besser als jeder andere sollte er in der Lage sein, auch komplexe Forschungsergebnisse zu vermitteln. Nicht nur der Beitrag von Schütz und Wößmann macht deutlich, dass dies möglich ist.

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Schumpeters Finanzierungshypothese in neuer Sicht Anmerkungen zu einem Buch von Cord Siemen über Unternehmertum in der Finanzwirtschaft Ein bemerkenswerter Widerspruch in Joseph Schumpeters Modell wirtschaftlicher Entwicklung steht im Zentrum von Cord Siemens Arbeit: Finanzinstitute sollen zwar durch die Kreditschöpfung erst ermöglichen, dass Ressourcen ihren bisherigen Verwendungen entzogen werden und somit einen simultanen Prozess von Strukturwandel plus Wachstum, also „Entwicklung" in Gang setzen. Zugleich werden die Finanziers aber als blasse Kapitalisten gesehen. Sie agieren, in den Worten Schumpeters in etwas anderem Zusammenhang (Schumpeter 1908, S. 567), „ohne Ehrgeiz, ohne Unternehmungsgeist, kurz ohne Kraft und Leben" - im Gegensatz zu den „schöpferischen Unternehmern" der Realwirtschaft. Erst der späte Schumpeter, so Siemen, komme zu einer differenzierteren Sicht und attestiere auch den (wenigen) „echten" Bankiers die Kenntnis und das Verstehen des innovativen Zweckes der Kreditschöpfung. Problematischer noch scheint ein logischer Missgriff Schumpeters zu sein. Siemen analysiert diesen in biologie-analoger Sicht so: Der Erfolg des Innovationssystems im Schumpetermodell ist abhängig von einem systemexternen Input, der von dem eigentlichen (vom Autor als „autopoietisch", also „sich selbst generierend oder entwickelnd" interpretierten) Innovationsgeschehen getrennt ist - der Bankkredit sei also eine „inputlogische Restgröße" im ansonsten evolutionslogischen Schumpetermodell. Damit sei das Schumpetermodell in sich nicht stimmig. Denn ein autopoietisches System würde zugeführte Substanzen (hier: Kapital) aus der Systemumwelt * Cord Siemon, Unternehmertum in der Finanzwirtschaft: Ein evolutionsökonomischer Beitrag zur Theorie der Finanzintermediation, Verlag Books on Demand GmbH, Norderstedt 2006,408 Seiten.

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entweder in verwertbare Bausteine überführen oder aber ignorieren - nicht jedoch ständig als lebensnotwendigen Input benötigen. Zwar zeigt Siemen parallel zum ersten Einwand, dass sich Schumpeter mit seiner Entfernung von der österreichischen neoklassischen Gleichgewichtstheorie und der Hinwendung zum deutschen Historismus gedanklich vom Konzept des Bankkredits als Innovationsmovens habe entfernen können. Dennoch kommt Siemon zu dem Schluss, dass Schumpeter letztlich die autopoietische Kraft von Innovationssystemen, d. h. insbesondere die Bedeutung innovationsnaher informeller Finanzierungsformen, unterschätzt habe. Das Anliegen seiner Arbeit sei es daher, so Siemon (S. 251), Schumpeter?, Finanzierungshypothese einer evolutionsökonomischen Interpretation zugänglich zu machen" und damit wohl auch das Schumpetermodell logisch widerspruchsfrei zu rekonstruieren. Aus heutiger Sicht lassen sich auch zwei substantielle empirische Einwände gegen die Validität der Schumpeterschen Finanzierungshypothese in ihrer ursprünglichen Formulierung anführen: Erstens, Banken spielen bei der Finanzierung innovativer Unternehmensgründungen nur eine untergeordnete Rolle (und Bankhistoriker mögen darüber urteilen, ob dies zu Schumpeters eigener Zeit tatsächlich anders war). Zweitens, in den informellen, auf Innovationen spezialisierten Finanzinstitutionen, etwa den Wagniskapitalfonds, ist Unternehmertum im Schumpeterschen Sinne essentiell. Allerdings, so Siemens These, die er mit einem eigenen finanzordnungsgeschichtlichen Kapitel - vom Mississippi-Schwindel des 18. Jhdts. bis zur Millenniumshausse am Beginn des 21. Jhdts. - untermauert, wird durch den Zufluss von anlegerschutzbedürfitigen, arbitrage- und routinegeleiteten Finanzmitteln in das informelle Finanzsystem (beispielsweise angestoßen durch Steuererleichterungen zum Zwecke der indirekten Innovationsförderung) dessen Innovationsorientierung bedroht. Auch innovationswillige Finanzintermediäre rücken dann vom Innovationsgeschehen ab. Mit einer terminologischen Anleihe in der Außenwirtschaftstheorie bezeichnet Siemon diese paradoxe Entwicklung treffend als „Holländische Krankheit in der Finanzintermediation" (überzeugend dargestellt in der Abbildung Siemon, S. 209). Eigentliches Finanzunternehmertum sieht der Autor in den unterschiedlichen modernen Ausprägungen informeller Gründungsfinanzierung gegeben, die er kenntnisreich in einem weiteren Kapitel beschreibt - vom bootstrapping (das sind Methoden, das Unternehmen durch tausend Tricks am Leben zu erhalten und sich wie weiland Münchhausen am eigenen Schöpf aus dem Sumpf zu ziehen) über Netzwerkfinanzierung bis hin zu business angels. Diese Vielfalt ist nicht als Störfall im Wirtschaftsgeschehen zu interpretieren - etwa als Marktversagen, das der Staat durch Ordnungspolitik zu heilen, und das hieße wohl: auf ein effizienteres, aber weniger vielfaltiges Modell hin zu konzentrieren habe, sondern als der eigentliche, dynamik-garantierende Wunschfall eines kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die „dichte Beschreibung" dieser Finanzierungsformen zeigt den Weg zur widerspruchsfreien Reformulierung der Schumpeterschen Finanzierungshypothese. Siemens Arbeit ist nicht nur hinsichtlich der Theoriebildung bedeutsam. Sie gibt auch wirtschaftspolitische Orientierung. Zur Überwindung des Dilemmas der „Holländischen Krankheit" plädiert der Autor beispielsweise für die Bereitstellung von staatlichen Finanzmitteln nur in Abhängigkeit von den Einlagen privater Investoren in Venture-Capital-Fonds, da dies zum einen privatwirtschaftliche und staatliche Systeme unter der selben Marktlogik koppele, andererseits die Innovatoren und Investoren auf ihre eigenen unternehmerischen Fähigkeiten verweise. Grundsätzlich erwächst aus der Interpretation eines Innovationssystems als autopoietisch eine große Skepsis gegenüber den Erfolgschancen von Fremdeinwirkungen. Das versetzt den Hoffnungen vieler wohlmeinender Politiker, durch Überzeugungsarbeit mehr Wagniskapitalfinanzierung herbeizuführen und damit Innovationsschwächen zu kurieren, einen Dämpfer. Cord Siemens Werk ist von großer Geschlossenheit. Zu seiner (moderat) konstruktivistischen Wissenschaftstheorie passt das Bild des Unternehmers als eines „visionären" (quasikonstruktivistischen) Hypothesenproduzenten in einer von Unsicherheit und der Hayekschen

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Nichtzentralisierbarkeit von Wissen gekennzeichneten Welt. Im Sinne des Ashby-Gesetzes der Kybernetik, dass nur Vielfalt auch Vielfalt steuern könne, argumentiert der Autor folgerichtig, dass nur erlernte Eigenkomplexität „unternehmerisch konstruierte" Umweltkomplexität beherrschen könne. Dazu passen schließlich insbesondere die Darstellung des von anderen (inputlogisch Denkenden?) als Black Box gesehenen Innovationssystems als autopoietischem System und Siemens Ansätze zur Entwicklung (fast!) inputloser evolutionslogischer Innovationsförderstrategien. Die Stärke eines geschlossenen Weltbildes beinhaltet aber auch eine Gefahr. So ist dem Rezensenten beispielsweise nicht einsichtig, warum Siemen die Neue Wachstumstheorie (unter anderem von Romer) als im Wesentlichen „inputlogisch" zur Seite wischt. Gerade hier wird doch durch die Annahme steigender Grenzerträge des Produktionsfaktors Wissen der von einem Wirtschafssystem - zum Beispiel in der Form regionaler Cluster - selbstgenerierte und durch brain gain verstärkte Wachstumsimpuls in den Mittelpunkt der Argumentation gerückt - also durchaus fruchtbar im Sinne einer Synthese von Inputlogik und Evolutionslogik argumentiert. Es stellt sich auch die Frage, ob nicht Schumpeter selbst ganz bewusst, zumindest in seinem Spätwerk (Schumpeter 1942), systeminterne und systemexterne Impulse gemeinsam zur Innovationserklärung heranziehen wollte: nämlich in der so genannten (neo)Schumpeterschen (oder Galbraithschen) Hypothese - die Siemen leider nicht thematisiert: für ihn ist Innovation im Sinne des frühen Schumpeters (Schumpeter 1912) immer Innovation qua Unternehmensneugründung. Die Schumpetersche Hypothese besagt demgegenüber, dass im Spätkapitalismus Großunternehmen wegen ihrer überragenden Finanzierungsmöglichkeiten (durch Eigenkapital oder Kapital aus dem formalen (!) Bankensektor) und durch systematische Innovationsforschung mehr und mehr zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung werden. Demnach wäre in der Kontroverse zwischen inputlogischer und evolutionslogischer Erklärung kein widerspruchsfreies Entweder/Oder, sondern ein pragmatisches Sowohl/Als-auch geboten. Die obigen Anmerkungen haben versucht, den Kerngedanken von Cord Siemons Arbeit zu benennen und dazu beizutragen, diesem sowohl wirtschaftstheoretisch als auch dogmenhistorisch wichtigen Werk die vielen Leser zu gewinnen, die man ihm seines Inhaltes wegen wünschen möchte. Potentielle Leser seien aber auch gewarnt: Um zum Zentrum der Arbeit zu gelangen, muss sich der Leser durch eine - erst aus der Retrospektive vollends als zielführend erkennbare - Darstellung von Epistemologie, Evolutionstheorie, sozialwissenschaftlicher Systemtheorie und andere Prolegomena hindurchkämpfen. Dadurch geht Siemons Arbeit (entstanden als Dissertation in der Marburger Schule um Jochen Röpke) weit über das durchschnittliche Niveau einer Doktorarbeit hinaus - aber es ist eine mühsame Lektüre! Ein unvorteilhaftes Layout, überbordender Fußnotentext (fast 900 Fußnoten, in denen mehr als die Hälfte des Textes versteckt ist) und überlange Absätze erschweren die Lektüre zusätzlich, obwohl die Gestaltung eines Buches dem Leser doch die Konzentration auf den Inhalt erleichtern sollte. Wer aber diese Mühen nicht scheut, wird durch zahlreiche neue Erkenntnisse und Einsichten zu einem Thema belohnt, das nicht nur wissenschaftsgeschichtlich und wirtschaftstheoretisch fasziniert, sondern auch von hoher praktisch-politischer Relevanz ist.

Literatur Schumpeter, Joseph (1908), Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, Berlin. Schumpeter, Joseph (1912/1993), Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung: Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, Berlin, 8. Aufl. (unveränderter Nachdruck der 4. Aufl. 1934). Schumpeter, Joseph (1942/1993), Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen und Basel, 7. Aufl. 1993.

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Auf der Suche nach der politischen Weltformel Anmerkungen zum Buch „Politische Ökonomie des Politikbetriebs" von Franz Beitzinger* Politik, so heißt es, ist keine Sache für Leute mit Charakter und Erziehung. Die Vehemenz, mit der Politiker jeden Tag aufs Neue dieses Vorurteil bestätigen, ist ebenso bemerkenswert wie die Kontinuität ihrer machtpolitischen Winkelzüge, in deren Gefolge Werte wie Aufrichtigkeit, Anstand und Ehrlichkeit zu Worthülsen verkommen, denen niemand im Politzirkus viel Bedeutung beizumessen scheint. Aber entsprechen diese Vorurteile der Realität? Und wenn ja, was ist es, das Politiker zu Zynikern der Macht werden lässt, und was muss man tun, um Politiker zu dem zu machen, was sie eigentlich sein sollen - zu Dienern des Volkes? Wer wissen will, was die politische Welt in ihrem Innersten zusammenhält, muss nach den Anreizen fragen, denen Politiker ausgesetzt sind, und wer Politik und die Politiker ändern will, muss die Anreize ändern, denen diese ausgesetzt sind. Dieser Gedanke spricht dafür, die politische Welt mit den Instrumenten und Ideen der Ökonomen zu untersuchen - eine Disziplin, die mittlerweile auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Die Anwendung des ökonomischen Werkzeugkastens auf den Politikbetrieb hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen, doch viele Fragen sind noch ungeklärt - was also ist die alles erklärende ökonomische Weltformel, welche die politische Welt in ihrem Innersten zusammenhält? Franz Beitzinger hat sich aufgemacht, den Erklärungsgehalt unterschiedlicher ökonomischer Denktraditionen für den politischen Betrieb zu untersuchen: Welchen Beitrag leisten sie zur Lösung des Politikproblems, und welche Lehren geben sie dem Forscher auf den Weg bei der Suche nach einem geeigneten politischen Ordnungsrahmen? Beitzinger versucht, dem politischen Betrieb mit dem Instrumentarium zweier ökonomischer Denkschulen auf die Schliche zu kommen - der neoklassisch inspirierten Schule der Public Choice und der eher evolutionär orientierten Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Sein Ziel ist es, mit Hilfe dieser beiden Ansätze den ordnungspolitischen Gedanken auf die Politik zu übertragen und zu fragen, wie eine Ordnungspolitik für das politische System aussehen könnte. Ein spannender Gedanke und ein ambitioniertes Vorhaben. Beitzinger wagt zu diesem Zweck einen Parforce-Ritt durch die relevante Literatur und zeichnet akribisch die Ideen und Schlussfolgerungen beider Schulen nach. Die Neue Politische Ökonomie sieht er dabei als eine statische, gleichgewichtsorientierte Konzeption, die eher die Nachfrage nach Politik betont. Mit Blick auf den Ordnungsrahmen, den man der Politik verleihen wolle, könne diese Konzeption helfen eine Antwort auf die Frage zu finden, wie der politische Betrieb organisiert werden müsse, damit eine optimale Auswahl der Politik durch die Wähler erreicht werden könne. Die österreichische Schule hingegen betone die Angebotsseite der Politik, ihr Beitrag zu einer Ordnungstheorie der Politik bestehe darin, Hinweise darauf zu liefern, wie man eine politische Ordnung gestalten müsse, damit in ihr ein innovationsfreundliches Klima entstehe, das die Entdeckung neuer politischer Lösungen für gesellschaftliche Probleme zulässt. Im zweiten Abschnitt beschäftigt sich das Buch mit der Idee und Theorie politischer Eliten, im dritten Kapitel zeichnet der Autor Grundprinzipien einer Ordnungstheorie der Demokratie auf und kommt zu dem Schluss, dass eine Anwendung des ordnungspolitischen Instrumentariums auf den Gegenstand des politischen Betriebs prinzipiell zulässig ist (S. 59). Im vierten Abschnitt erörtert Beitzinger die neoklassische Konzeption der Neuen Politischen Ökonomie, der

* Franz Beitzinger, Politische Ökonomie des Politikbetriebs: Die konzeptionellen Unterschiede verschiedener ökonomischer Theorietraditionen in Analyse und Bewertung politischer Ordnungen; Verlag Lucius & Lucius, Stuttgart 2004, 178 Seiten.

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fünfte Abschnitt hat die Perspektive der Österreichischen Schule zum Gegenstand. Der sechste Abschnitt legt knapp die Folgerungen der Untersuchung für eine Politische Ökonomie des Politikbetriebs dar. Mit Hilfe des neoklassischen Ansatzes sucht Beitzinger nach Fällen des politischen Marktversagens - dass dies in der Realität vorkommt, bezweifelt wohl niemand. Dabei sieht er den Schwerpunkt eines politischen Versagens aus ökonomischer Sicht in der Existenz von Transaktionskosten. Seine Schlussfolgerung: Der Ordnungsrahmen einer politischen Ordnung muss so beschaffen sein, dass er die Transaktionskosten minimiert. Als mögliche Institutionen, die zur Senkung der Transaktionskosten beitragen könnten, nennt er Normen, Werte, politische Institutionen, Wahlverfahren oder auch Kontrollrechte der Wähler über die Handlungen ihrer Repräsentanten, welche ex post die Transaktionskosten senken könnten (S. 93). Eine Konkretisierung dieser Vorschläge allerdings erfolgt nicht, hier bietet sich genügend Stoff für eine weitere Arbeit. Die Schwäche des neoklassischen Ansatzes sieht Beitzinger in ihrem statischem Charakter und in ihrer einseitigen Betonung der Nachfrageseite: „ A u s s a g e n , in welchem Maße eine politische Ordnung in der Lage ist, auf künftige Ereignisse durch die Entwicklung adäquater Lösungsmöglichkeiten zu reagieren, sind aufgrund der statischen Analyse einerseits und der Nachfragedominanz andererseits nicht möglich" (S. 100). Diesem Mangel will er begegnen, indem er die Konzeption der Österreichischen Schule untersucht, die seiner Ansicht nach geeignet ist, Antworten auf die Frage zu geben, welche institutionellen Hemmnisse der evolutorischen Weiterentwicklung politischer Ordnungen entgegenstehen (S. 101). Beitzinger begreift in seiner Analyse der österreichischen Schule politische Ordnungen als Marktordnungen, in denen politische Unternehmer agieren und deren Bestandteil politische Parteien sind. Doch diese Marktordnung hat Fehler: die Tauschprozesse auf dem politischen Markt finden nicht auf perfekten Märkten statt, schreibt Beitzinger. Der einzelne Konsument der politischen Leistungen kann nicht frei konsumieren, denn die politischen Leistungen - beispielsweise in Form von Gesetzen - werden von der Gesamtheit aller Wähler konsumiert, und die Regierung hat ein temporäres Zwangsmonopol auf das Angebot politischer Leistungen. Dem zwangsbeglückten Bürger bleiben nur die klassischen Optionen der Abwanderung (exit) oder der Abwahl (voice), letzteres allerdings erst mit dem Ende der Legislaturperiode. Doch das muss letztlich nicht schlimm sein, rekurriert man auf die Ideen der österreichischen Schule: Wichtig am politischen Wettbewerb sei, dass Unternehmer untereinander in wettbewerblicher Konkurrenz zueinander stehen, das garantiere ein Funktionieren der Marktprozesse (S. 140). Aus dieser Überlegung resultiert Beitzingers Rat, mittels eines politischen Ordnungsrahmens Wettbewerb zu schaffen, der genügend potentielle Konkurrenz schafft und erhält. Man müsse die Anbieter politischer Ideen in „schöpferische Unruhe" versetzen (S. 143). Dabei sieht Beitzunger dabei zwei Arten politischen Unternehmertums: die Schaffung neuer Ideen, ein sogenanntes schöpferisches Unternehmertum, oder aber die Erlangung politischer Vorteile durch wohlfahrtsstaatliche Transfers, also ein plünderisches Unternehmertum, wie er es nennt (S. 143). Ein Politiker kann also versuchen, durch neue Lösungsansätze Karriere zu machen oder aber durch gezielten Stimmenkauf mittels wohlfahrtsstaatlicher Politik. Dabei sind die Anreize zu plünderischem politischem Unternehmertum durch den institutionellen Rahmen politischen Handelns vorgegeben und liegen insbesondere im Anspruch modemer Ordnungen, individuelle Bedingungen durch wohlfahrtsstaatliche Transfers anzugleichen. Daraus folgt für Beitzinger, dass ein politischer Ordnungsrahmen die Möglichkeiten für solche politischen Kuhhändel reduzieren muss, indem die Durchführung dieser Umverteilung durch eine „adäquate Gestaltung der Ordnungsrahmens von Politik" erschwert wird (S. 144). So richtig dieser Gedanke ist, so problematisch wird er, wenn man sich an seine Umsetzung wagt, auch wenn die Diagnose richtig und naheliegend ist: Der moderne Wohlfahrtsstaat führt Politiker in Versuchung, Stimmen mittels gezielter Transfers zugunsten klar definierter Interessengruppen zu kaufen und die Kosten dieser Politik der Allgemeinheit aufzubürden. Doch wie sollte ein Ordnungsrahmen aussehen, der diese verhängnisvolle, politisch motivierte Verunstal-

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tung sozialpolitischer Ideen zähmt? Hier hätte man eine Reihe von Ideen diskutieren können, beispielsweise die Idee, die Sozialpolitik sozusagen auf Autopilot zu schalten und sie damit den Niederungen des politischen Alltags zu entziehen. Einmal abgesehen davon, dass schon alleine das Wissen der Politik um die (wahltechnische) Mächtigkeit des Instrumentes Sozialpolitik einen solchen politisch selbstlosen Schritt verhindern wird, bringt eine solche Lösung auch Probleme mit sich. Eine automatisierte Sozialpolitik hätte wie alle Automatismen den Nachteil mangelnder Flexibilität und wäre zudem auch der Kritik unterworfen, nicht auf demokratischem Wege zustande zu kommen. Letzteres Argument ist auch der Sargnagel zu der Idee, die Sozialpolitik einem überparteilichem Gremium zu überantworten: Wer sollte mit welcher Legitimation über die sozialpolitischen Geschicke der Nation entscheiden? Und selbst wenn man diesen Schritt wagen und schaffen würde, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass eine solche überparteiliche Lösung nur auf dem Papier den Scharmützeln des politischen Alltags entzogen wäre - wer sich ein wenig mit den Erfahrungen des de jure überparteilichen öffentlichrechtlichen Rundfunks auskennt, wird dieses Urteil wenig überraschen. Nun könnte man eine weitere Idee diskutieren: Vielleicht sollte der Ordnungsrahmen nicht an der Politik, sondern an den Politikern ansetzen, indem er positive Anreize gibt, sich den politisch induzierten Umverteilungsmechanismen zu verweigern. Hier könnte man vielleicht über Beschränkungen der Amtsperioden nachdenken, die beispielsweise den amerikanischen Präsidenten in seiner zweiten Amtszeit freier in seinen Entscheidungen machen. Beitzingers Schlussfolgerung bezüglich der Person der Politiker, also der politischen Unternehmer, zielt darauf ab, die Marktzugangsbeschränkungen für Politiker zu senken - hier sieht er vor allem den Parteienapparat mit seinen spezifischen Regularien und Gepflogenheiten als Hemmnis. Als Fazit sieht er die Notwendigkeit der Schaffimg einer „doppelten Anreizstruktur" (S. 150): Man müsse bei den Politikern Anreize schaffen, schöpferisch statt plündernd tätig zu werden, zudem müsse man gewährleisten, dass politische Unternehmer in den Markt eintreten können (S. 150). Das klingt einleuchtend, wird aber umso schwieriger, je mehr man versucht, diese Postulate zu konkretisieren oder gar in den politischen Alltag umzusetzen. Beitzingers Fazit seiner Untersuchung ist knapp: die neoklassische Antwort auf die Frage nach dem politischen Ordnungsrahmen liege in einer Schwächung demokratischer Eliten, beispielsweise durch Schaffung demokratischer Kontrollrechte (S. 156), also mittels einer Demokratisierung politischer Entscheidungen beispielsweise durch Etablierung direktdemokratischer Institutionen (S. 157). Die Antwort der österreichischen Schule hingegen verlange nicht eine Schwächung der Anbieter demokratischer Leistungen, sondern eine Stärkung politischer Eliten, die jedoch gleichzeitig an rechtsstaatliche Prinzipien gebunden werde müsse (S. 157) - eine Stärkung dieser Eliten sei nur unter der Voraussetzung einer institutionellen Beschränkung staatlicher Macht sinnvoll. Dort, wo Beitzinger aufhört, eröffnet sich ein weites Forschungsfeld: Wie wäre ein politischer Ordnungsrahmen auszugestalten, der Transaktionskosten minimiert, politische Eliten stärkt und zugleich den Wettbewerb auf der Angebotsseite stärkt, ohne den Sozialstaat zur Beute eigennutzorientierter Politprofis zu machen? Welche Vor- und Nachteile bieten Instrumente der direkten Demokratie, was ist von einer Förderalisierung der Politik zu halten, wie soll man mit dem Phänomen des Berufpolitikertums umgehen, wie mit dem offenbar schwindenden Interesse der Bürger an politischen Prozessen? Und welche persönlichen Restriktionen soll man Politikern auferlegen, um sie von den sachlogischen Zwängen des politischen Machtkalküls zu befreien? Politik ist die Führung öffentlicher Angelegenheiten zum privaten Vorteil, und die große Leistung der Ökonomie besteht darin, dieses Dilemma herausgearbeitet zu haben. Doch mit der Problemanalyse ist nur der erste Schritt einer langen Reise getan - ohne konkrete Lösungsvorschläge geht sie nicht zu Ende. Die Idee, auf dem Weg zu einer besseren politischen Ordnung den ordnungspolitischen Ansatz zu nutzen, ist elegant und ansprechend, doch Beitzingers Arbeit macht deutlich, dass noch eine lange Reise vor uns liegt.

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Bildung Anmerkungen zum gleichnamigen, von Wolfgang Franz, Hans Jürgen Ramser und Manfred Stadler, herausgegebenen Tagungsband Der vorliegende Band enthält die Referate und die Korreferate des 33. Wirtschaftswissenschaftlichen Seminars Ottobeuren. An der Expertise der Teilnehmer und Autoren sowie an der Qualität ihrer Beiträge bestehen grundsätzlich keine Zweifel. Die abgedruckten Beiträge sind ausgesprochen heterogener Natur. Die meisten sind (im Sinne der JEL-Klassifikation) weniger der Bildungs- als vielmehr der Personal- und Arbeitsmarktökonomik zuzuordnen. Zunächst seien die beiden Beiträge zur Turniertheorie betrachtet. In seinem Beitrag „Mobilität in mehrstufigen Ausbildungsturnieren" wendet Kai A. Konrad Methoden und Erkenntnisse der Verkehrsforschung auf Ausbildungsturniere an. Aus diesem Bereich ist das so genannte ßraess-Paradoxon bekannt, welches besagt, dass zusätzliche Verkehrsverbindungen zu einer Verlängerung der Gesamtreisezeit führen können. Konrad überträgt dieses Paradoxon auf Ausbildungssysteme, bei denen auf einer Zwischenstation nun der Wechsel des ursprünglich gewählten Ausbildungspfades ermöglicht wird. Man mag sich vielleicht den Wechsel auf einen kaufmännischen Masterstudiengang nach einem technisch ausgerichteten Bachelorstudiengang vorstellen. Konrad zeigt, dass auch in der Übertragung auf die Bildungs- bzw. Personalökonomik das oben genannte Paradoxon auftreten kann - aber nicht muss. Die Externalitäten, die in Turnieren auftreten, sind dabei die interessanteste Variante. Der ambivalente Charakter der Mobilität kann aber auch ohne die Turniercharakteristik und die damit verbundene strategische Interaktion auftreten. Werner Neus kritisiert in seinem Korreferat, das Ergebnis würde zu sehr von einer wie auch immer gearteten Netto-Teilnahmeprämie abhängen. Dieser Konsumnutzen des Ausbildungsganges muss im Modell teilweise unsinnig hoch sein, um tatsächlich „schädliche Mobilität" hervorzurufen. Folglich könnte die Einführung von Mobilitätskosten das Modell bereichern. Als weitere Ergänzung schlägt Neus vor, die Akteure im Modell mit unterschiedlichen Informationen auszustatten, um so die Bedeutung von Mobilität noch weiter herauszustellen. Christine Harbring, Bernd Irlenbusch und Matthias Krakel nehmen in ihrem Beitrag „Ökonomische Analyse der Professorenbesoldungsreform in Deutschland" das Gesetz zur Reform der Professorenbesoldung als Aufhänger für eine Analyse der Turnierentlohnung über ein Modell und ein Laborexperiment. Die Besoldungsreform fuhrt aus Sicht der Autoren deswegen zu einem Turnier zwischen den Professoren, weil die Summe der variablen Leistungsbezüge, also der Turnierpreise, im Voraus fixiert wird. Die in der Arbeit formulierten Hypothesen werden im Laborexperiment mit Bonner Studenten nicht vollständig verifiziert. So ist insbesondere weniger Sabotage zu beobachten als vorhergesagt. Das Korreferat von Uschi Backes-Gellner zeigt sehr schön, dass der Beitrag zwar anschaulich Probleme der Turnierentlohnung aufzeigt. Anwendbar auf die Situation deutscher Hochschullehrer sind diese Erkenntnisse jedoch kaum. Da die variablen Leistungsbezüge nur einen kleinen Teil des gesamten Einkommens ausmachen ist ein „Rattenrennen" (ineffizient hohe Anstrengungen der Turnierteilnehmer) kaum zu erwarten. Und weiter könnte sogar der Analyserahmen der Turnierentlohnung falsch gewählt sein. Wenn nämlich die Summe der Leistungszulagen über Fachbereiche hinweg gedeckelt wird liegen die Konkurrenten außerhalb der Sabotagereichweite.

* Wolfgang Franz, Hans Jürgen Ramser und Manfred Stadler (Hg.), Bildung, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2004, 283 Seiten.

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Neben diesen beiden personalökonomisch motivierten Beiträgen findet sich eine Vielzahl von Aufsätzen zur Arbeitsmarktökonomik. Die Autoren befassen sich mit Arbeitslosigkeit, Einkommensverteilung und Berufswechseln. Michael C. Burda erweitert in seinem Beitrag „Humankapital und Arbeitsmarktinstitutionen bei gleichgewichtiger Arbeitslosigkeit" ein Standardmodell der Arbeitsmarktökonomik um endogene Humankapitalbildung. Das mathematisch anspruchsvolle Modell löst er per Kalibrierung. Seine zentralen Ergebnisse sind zum einen ein durchweg negativer Effekt des Kündigungsschutzes auf die Beschäftigung und zum Anderen ein teilweise positiver Anreiz einer höheren Arbeitslosenunterstützung auf die Humankapitalbildung. Bedauerlicher Weise wurde diesem Beitrag kein Korreferat zur Seite gestellt. Der Beitrag „Der Kausaleffekt von Bildungsinvestitionen: Empirische Evidenz für Deutschland" von Markus Jochmann und Winfried Pohlmeier beschreibt die Problematik, den Einfluss von Bildungsinvestitionen auf das Einkommen korrekt zu ermitteln. Dazu schlagen sie verschiedene Instrumentenschätzer vor und wenden diese auf Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) an. Das Korreferat von Felix Büchel beschränkt sich leider weitgehend auf eine Zusammenfassung und die Erkenntnis, dass das grundsätzliche Problem bestehen bleibt: Verschiedene Modelle liefern verschiedene Ergebnisse, und der Bildungspolitik kann so immer nur eine Bandbreite und kein konkreter, „wahrer" Wert genannt werden. Der Beitrag „Struktur des Bildungssystems und Einkommensverteilung" von Hans Jürgen Ramser und Stefan Zink untersucht modelltheoretisch, wie sich Bildungsstandards (an der individuellen Begabung orientierte Zugangsbeschränkungen) und Bildungssubventionen (Zahlungen an Bildungswillige) auf die Einkommensverteilung einer Volkswirtschaft mit unterschiedlich reichen und unterschiedlich begabten Individuen auswirken. Die differierenden Ergebnisse der statischen und der dynamischen Betrachtung zeigen einmal mehr, dass man mit all zu pauschalen Forderungen an die Bildungspolitik nicht weiterkommt. Da das Modell detaillierte Politikmaßnahmen jedoch nicht abbilden kann, empfehlen die Autoren hier Weiterentwicklungen. Dem Aufsatz sind zwei Korreferate nachgestellt. Zunächst stellt Klaus Jaeger ganz stark die praktische Relevanz des Modells in Frage. Ein fehlender Kapitalmarkt und die substitutionale Produktionsfunktion sind seine zentralen Einwände. Leslie Neubecker schlägt konkret einige Erweiterungen vor, um auch die bei Hoch- und Niedrigqualifizierten unterschiedlich wahrscheinliche Arbeitslosigkeit mit modellieren zu können. Da Niedrigqualifizierte aufgrund ihrer kürzeren Ausbildungsdauer (im Modell von Ramser und Zink handelt es sich einfach um einen völligen Verzicht auf Ausbildung) länger im Erwerbsleben stehen, schlägt sie eine Änderung des Modells von zwei auf drei Perioden vor. In seinem Beitrag „Subventionierung versus öffentliche Bereitstellung der Hochschulbildung und die Rolle der Einkommensbesteuerung" untersucht Berthold U. Wigger anhand eines Modells mit zwei Typen von unterschiedlich begabten Individuen die Auswirkungen zweier Politikmaßnahmen, nämlich der Subventionierung privater Bildungsnachfrage und der vollständigen staatlichen Finanzierung des Bildungssektors. Es zeigt sich, dass eine Effizienzverbesserung per Subventionierung möglich ist, die vollständige Übernahme der Ausbildungskosten durch den Staat aber nicht zu empfehlen ist. Bernd Genser bemängelt in seinem Korreferat die Realitätsferne des Modells und verweist auf komplexere Modelle aus der Literatur. Folglich kann er sich auch mit den hergeleiteten Politikempfehlungen nicht anfreunden. Der Beitrag „Die Anatomie des Berufswechsels: Eine empirische Bestandsaufnahme auf Basis der BIBB/IAB-Daten 1998/1999" von Bernd Fitzenberger und Alexandra Spitz untersucht mögliche Beweggründe für einen Berufswechsel und will so den Umstand, dass 45% der abhängig Beschäftigten nicht im erlernten Beruf tätig sind bewerten.

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Die Hypothese, dass sich ein Berufswechsel dann lohne, wenn im neuen Beruf ein höheres Einkommen erzielt werden kann, obwohl bisher erlangtes spezifisches Humankapital abgeschrieben wird, wird durch die verwendeten Daten gestützt und die Autoren bewerten den Berufswechsel in der Folge als durchweg positive Erscheinung. Das sehr fokussierte Korreferat von Karl Heinrich Oppenländer wirft insbesondere einige Definitionsfragen auf, die die Autoren in einer weiteren Version ihres Beitrags sicher aufnehmen werden. Regina Riphahn hingegen beginnt ihr Korreferat zum gleichen Beitrag mit einer zweiseitigen grundsätzlichen Hinführung zum Thema und fasst dann noch einmal über eine Seite den Aufsatz von Fitzenberger und Spitz zusammen. Der wohl gravierendste Einwand, den sie anschließend vorbringt, ist der nicht ausreichend berücksichtigte Alterseffekt, der über eine Senioritätsentlohnung die Ergebnisse verfalschen könnte. Der Beitrag „Firm Specific Investments Based on trust and Hiring Competition: A Theoretical and Experimental Study of Firm Loyalty" von Siegfried K. Berninghaus, Luis G. González und Werner Giith modelliert eine Welt mit zwei Unternehmen, den dazugehörigen Unternehmern und je einem Angestellten. Die Unternehmer investieren zunächst in Sachkapital, danach investieren die Angestellten in ihr jeweiliges Humankapital. Schließlich machen beide Unternehmer beiden Angestellten je ein Gehaltsangebot für die nächste Periode, dass diese annehmen oder ablehnen. Per Rückwärtsinduktion lassen sich diese vielen Unsicherheiten durchaus beherrschen. Ein Laborexperiment mit Studenten der Universität Jena lieferte vier Ergebnisse: Je spezifischer das Humankapital der Beschäftigten, desto höher die Sachkapitalinvestitionen; aus höheren Sachkapitalinvestitionen resultieren oft keine höheren Humankapitalinvestitionen; der von den Unternehmen angebotene Lohn ist niedriger als vorhergesagt und die Beschäftigten bleiben seltener bei ihrem alten Unternehmen, obwohl dies effizient wäre. Diese Erkenntnisse stehen teilweise in krassem Gegensatz zur bisherigen Literatur. Simon Gächter macht in seinem Korreferat kaum kritische Anmerkungen sondern ordnet den Beitrag von Berninghaus, González und Güth in die bisherige Theorie ein und ermöglicht es dem Leser so, den Beitrag besser zu verstehen. Der Beitrag „Bildung, Innovationsdynamik und Produktivitätswachstum" von Manfred Stadler stellt ein Wachstumsmodell vor, in dem er die Wirkungen von Bildung und Innovation nebeneinander abbildet. Modelle dieser Art haben üblicherweise mit völlig unrealistischen Ergebnissen zu kämpfen, die Stadler durch seine Modellierung vermeidet. Im Ergebnis tragen allein staatliche Bildungsausgaben die Erhöhung des Produktivitätswachstums. An dieser Stelle setzt dann auch die Kritik von Alfred Maußner in dessen Korreferat an. Er weist insbesondere daraufhin, dass die Politikimplikationen zu pauschal sind. Das Modell bietet nämlich nur einen einzigen Ansatzpunkt, das Bildungswesen zu reformieren, und dass ist der Anteil des BIP, der in das Bildungssystem fließt. Es ist eine weithin akzeptierte Tatsache, dass Qualität und öffentliche Ausgaben in Bildungssystemen nicht Hand in Hand gehen. Eine Sonderrolle in diesem Band nimmt der Beitrag „Regionale Verteilungseffekte der Hochschulfinanzierung und ihrer Konsequenzen" von Thiess Büttner und Robert Schwager ein. Die Autoren befassen sich entgegen der Überschrift mit der strategischen Interaktion zweier Gebietskörperschaften (interpretierbar als deutsche Bundesländer) beim Angebot von Hochschulen. Daher ist der Aufsatz weder der Bildungsökonomik im engeren Sinne, noch der Personalökonomik zuzurechnen. Das theoretische Modell liefert als Ergebnisse, dass ein Land dann höhere Hochschulinvestitionen unternimmt, wenn deren Grenzkosten sinken, wenn Forschung nützlicher wird oder die Mobilität der Landeskinder sich reduziert. Das andere Land reagiert jeweils entgegengesetzt. An dieses Modell schließt sich eine empirische Untersuchung für die 16 deutschen Bundesländer an, an der Hans-Jürgen Krupp in seinem wirklich lesenswerten Korreferat jedoch kein gutes Haar lässt.

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Schenkt man den im Internet verfügbaren Publikationslisten der Autoren Vertrauen, so ist bis Mai 2008, also viereinhalb Jahre nach den Vorträgen, keiner der Aufsätze aus dem vorliegenden Sammelband zur Publikation in einer referierten Zeitschrift angenommen worden. Außerdem stammen die Beiträge aus derart unterschiedlichen Fachrichtungen, dass der Tagungsband insgesamt fragmentarisch bleiben muss.

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Sozialer Umbruch: Zwischen neuen Werten und der demographischen Entwicklung Anmerkungen zu Rolf Kramers Buch „Gesellschaft im Wandel"* Unter den Veröffentlichungen von Rolf Kramer findet sich neben der 2007 erschienenen „Gesellschaft im Wandel" eine Vielzahl weiterer Arbeiten, die sich vornehmlich mit den Problemkreisen der Globalisierung, Nachhaltigkeit und der (Wirtschafits-)Ethik beschäftigen. Gemeinsam ist diesen Arbeiten jeweils, dass sie nicht nur aus einem ökonomischen oder soziologischen Blickwinkel, sondern immer auch unter theologischen Aspekten argumentieren. So untersucht Kramer auch im vorliegenden Buch Fragestellungen des gesellschaftlichen Wandels, die sich aus ökonomischer, demographischer und naturwissenschaftlicher Perspektive ergeben unter Berücksichtigung der christlichen Soziallehre. In seiner Analyse geht Kramer schon früh auf den Niedergang der klassischen Familie ein. So finden sich zunehmend Alternativmodelle („Patchworkfamilie"), bei denen die biologische Elternschaft von der sozialen entkoppelt wird. Die neue Vielfalt der Formen des Zusammenlebens bedeuten einerseits die Abkehr vom christlich-bürgerlichen Familienideal, eröffnen damit allerdings insbesondere den Frauen neue Möglichkeiten der Selbständigkeit und Selbstbestimmung, bspw. in der Form, dass sie als Arbeitnehmerinnen Beitragszahler zur gesetzlichen Rentenversicherung darstellen und somit eigene Ansprüche aus dieser Versicherung begründen, was die Abhängigkeit vom Ehepartner verringert. Die menschliche Arbeit nimmt nach Kramer überhaupt eine Schlüsselstellung in der aktuellen Wirtschaftspolitik ein: Eine Gesellschaft ohne Arbeit ist schlichtweg nicht vorstellbar, vielmehr handelt es sich dabei um ein Grundphänomen menschlicher Existenz; aus theologischer Sicht steht Arbeit allen Menschen zur Verfügung. Die Verbreitung der Massenarbeitslosigkeit stellt daher nichts weniger dar als Sprengstoff für die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse. Zu den Aufgaben des Staates zählt in diesem Zusammenhang die Schaffung einer notwendigen Rahmenordnung, die dem Subsidiaritätsprinzip unterliegt. Soziale Gerechtigkeit wird nicht durch materielle Gleichheit, sondern vielmehr durch die Gleichheit an Chancen sichergestellt. Die Aktivitäten der Regierung im Rahmen sozialstaatlicher Tätigkeiten müssen dabei durch möglichst geringe Eingriffe in die individuellen Grundrechte gewährleistet werden; die Leistungsgesellschaft ist zu erhalten. Die soziale Marktwirtschaft ist in diesem Zusammenhang mehr, als nur eine Wettbewerbsordnung. Sie geht immer einher mit dem Aufbau einer offenen Gesellschaft. Parallelen zu George Soros (2001) und dem Open Society Institute liegen nahe, müssen jedoch mit Bedacht gezogen werden, da Kramer den Begriff der offenen Gesellschaft nicht näher spezifiziert. An die Unternehmen ergeht die Forderung nach unternehmerischem Anstand. So ist das Geld als solches wertneutral; der Mensch jedoch bestimmt über Gebrauch und Missbrauch. Eine funktionierende Wirtschaftsethik setzt dabei notwendigerweise die Freiheit des Handels und der Auswahl von Alternativen voraus. Die Marktwirtschaft sei dabei das beste System von allen, um Solidarität unter den Menschen zu realisieren. Den Ansätzen Mandevilles (1998) und seiner

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Rolf Kramer; Gesellschaft im Wandel, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2007, 243 Seiten.

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hinlänglich bekannten Bienenfabel folgt Kramer hingegen nicht. Vielmehr wirft er ihm vor, dieser hätte die Ethik aus der Marktwirtschaft entfernt. Auf der Ebene des Individuums ist eine zunehmende Konzentration auf das Diesseits zu konstatieren. Ergebnisse dieses Verlustes an Transzendenz zeigen sich in Trends wie AntiAging und der zunehmenden Gesundheitsorientierung der Menschen. Doch gerade die Fixierung auf die Gesundheit stellt aus der Sicht des Theologen eine Art Götzendienst dar. Ohne den Glauben an ein ewiges Leben ist ein entsprechend langes Leben ohne äußere Anzeichen der Alterung und möglichst geringe Einschränkungen des Alltags zum „Unsterblichkeitsersatz" geworden. Von den christlichen Kirchen wird diese Entwicklung freilich unterstützt durch eine verstärkte Übernahme religiös-sozialer Funktionen, die die Verkündigung des Seelenheils in den Hintergrund rücken lässt. Spätestens mit dem vierten Kapitel geraten das Alter und die Alterung der europäischen Gesellschaften in den Mittelpunkt der Analyse - ein Thema, das aus ökonomischer und soziologischer Perspektive in jüngerer Zeit u. a. bei Birg (2005) sowie Tesch-Römer, Engstier und Wurm (2006) behandelt wurde. Entgegen der oftmals herrschenden Rhetorik stellt Kramer nicht nur die Frage nach der Überlebensfähigkeit der Rentensysteme, sondern verweist weiterhin explizit auf die Problematik eines Konsumrückgangs in einer alternden Gesellschaft. Auch wenn die werberelevante Zielgruppe bislang mit den 49jährigen endet, wird seitens der Wirtschaft hier ein Umdenken erforderlich sein und einsetzen. Weiterhin ist der Begriff des Alters heute weit weniger eindeutig, als dies in der Vergangenheit der Fall war. So lassen sich verschiedene Stufen des Alters definieren, die mit der Vollendung des 50., 65. oder auch erst des 80. Lebensjahres beginnen können. Der Alterungsprozess im Berufsleben stellt in diesem Zusammenhang eine Besonderheit dar, da er sich mit einer besonderen Dynamik vollzieht. Dass eine Geringschätzung des Alters bzw. die Herrschaft der Jungen über die Alten, wie sie in diesem Zusammenhang zu beobachten sind, jedoch keine völlige Neuentwicklung unserer Zeit sein kann, zeigt der Vergleich mit dem antiken Athen. Bezüglich zurückgehender Geburtenzahlen ist festzuhalten, dass Kinder in der gegenwärtigen Gesellschaft zunehmend als Kostenfaktor wahrgenommen werden, der zu individuellem Konsumverzicht führt. Gleichwohl ist der Geburtenrückgang keinesfalls als Phänomen der letzten Dekaden anzusehen, sondern kann auf eine wesentlich längere historische Entwicklung zurückblicken. Einen letzten Aspekt gesellschaftlichen Wandels beschreibt Wagner im Rahmen der sich zum Teil gerade erst abzeichnenden Möglichkeiten in der (Medizin-)Technik. So ergeben sich die meisten Überlegungen zur aktiven wie passiven Sterbehilfe erst durch den technischen Fortschritt der letzten Jahre. Ethische Probleme offenbaren sich weiterhin insbesondere in den Bereichen der Präimplantationsdiagnostik sowie der Embryonenforschung. In der Intensivmedizin herrscht hingegen Klarheit, dass eine Kosten-Nutzen-Rechnung im ökonomischen Sinne hier keinen Platz finden darf. Auf Probleme im Bereich der Rationierung medizinischer Leitungen wird jedoch nicht eingegangen. Das Buch lädt ein zum Nachdenken. Viele der Entwicklungen beschreibt der Verfasser vor einem christlich-theologischen Hintergrund, der in dieser Form nur äußerst selten in ökonomischen oder soziologischen Schriften zu finden ist. In diesem Aspekt liegt jedoch unter Umständen auch ein Problem der Herangehensweise: So ist zu fragen, ob die Analyse des gesellschaftlichen Wandels vor dem Hintergrund einer christlichen Sozialethik in einer verweltlichten Gegenwart noch zeitgemäß ist und Leser findet. Möglicherweise haben Individualität, religiöser Pluralismus und die hektische Betriebsamkeit des Alltags die Gesellschaft bereits soweit verändert, dass die Einbeziehung der christlichen Soziallehre als nicht mehr zeitgemäß angesehen wird bzw. nicht mehr angenommen werden kann. Besonders deutlich wird dies in den Abschnitten, die sich explizit mit theologischen Grundlagen wie dem christlichen Menschenbild beschäftigen. Nichtsdestotrotz zeigt sich innerhalb der Analyse eine Vielzahl von Problemkreisen, die sich auch in der wirtschaftspolitischen Diskussion wieder finden. Die unvoreingenommene Aufnahme einer theologischen Perspektive, die die abendländische Kultur über Jahrhunderte

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entscheidend geprägt hat, kann in diesem Zusammenhang sicherlich zu individuell neuen bzw. veränderten Ansichten führen. Schließlich endet das Buch selbst mit einem beinahe versöhnlichen Ausblick. Wenn schon nicht das Heil der Welt durch den Menschen herbeigeführt werden kann, so ist doch zumindest nach einer Gesellschaft zu suchen, die das Leben der Mitmenschen erleichtert. Unter dieser Prämisse werden die Menschen lernen müssen verantwortungsvoll nicht nur mit ihren Mitmenschen umzugehen, sondern auch und gerade mit den technischen Möglichkeiten, deren Tragweite in Teilgebieten noch nicht abzuschätzen ist.

Literatur Birg, Herwig (2005) (Hg.), Auswirkungen der demographischen Alterung und Bevölkerungsschrumpfitng auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, Münster. Mandeville, Bernard de (1998), Die Bienenfabel oder private Laster/öffentliche Vorteile, Frankfurt am Main. Soros, George (2001), Die offene Gesellschaft, Berlin. Tesch-Römer, Clemens, Heribert Engstier und Susanne Wurm (2006), Altwerden in Deutschland: Sozialer Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten Lebenshälfte, Wiesbaden.

Peter

Engelhard

Dynamik internationaler Märkte Anmerkungen zum gleichnamigen, von Franz, Ramser und Stadler, herausgegebenen Sammelband* Franz, Ramser und Stadler haben einen Sammelband „Dynamik internationaler Märkte" herausgegeben, der eine Reihe von Referaten und Koreferaten umfasst, die im Rahmen des Wirtschaftswissenschaftlichen Seminars Ottobeuren gehalten wurden. Damit liegt nun die 36. Dokumentation dieser Veranstaltung vor, die alljährlich Fachleute eines ausgewählten wirtschaftswissenschaftlichen Themenkreises versammelt. Den Referenten des Jahres 2007 ging es um den Sachverhalt der „Globalisierung" im engeren, wirtschaftlichen Sinne, also um die wachsenden und die einzelstaatlichen Grenzen überschreitenden Tauschbeziehungen auf den Güter-, Dienstleistungs- und Finanzmärkten. Wie bei den meisten Sammelbänden dieser Art, kann die Besprechung vom spezifisch ordnungsökonomischen Standpunkt aus in ordnungsökonomisch besonders instruktive Beiträge auf der einen Seite und ordnungsökonomisch etwas weniger relevante Arbeiten auf der anderen unterscheiden. Ordnungsökonomisch sehr instruktiv ist zweifellos der Beitrag von Kohler, der sich mit dem bekannten „Basareffekt" oder „Offshoring" (Abnahme heimischer Fertigungstiefe bei Zunahme des internationalen Handels) befasst. Seine Grundlage bildet die Theorie der komparativen Kostenvorteile nach Ricardo und Heckscher-Ohlin. Industrieproduktion beruht danach auf der Verknüpfung spezieller Faktorbündel. Bei bestimmten Teilen eines Faktorbündels mag eme Volkswirtschaft komparative Vorteile aufweisen, bei anderen aber Nachteile. Wenn beide Teilbündel aufgrund hoher Entbündelungskosten nicht getrennt werden können, interessiert allein der durchschnittliche komparative Vorteil des Gesamtbündels. Technische und (Vertrags-) rechtliche Neuerungen können die Kosten der Entbündelung aber so stark senken, dass sich auf dem Wege der Arbitrage die nationalen und internationalen Produktionsstrukturen neu gruppieren. Mithin wird auch die gewohnte Fertigungstiefe traditioneller industrieller Prozesse in Frage * Wolfgang Franz, Hans Jürgen Ramser und Manfred Stadler (Hg.), Dynamik internationaler Märkte, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007, 251 Seiten.

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gestellt. Für die Wohlfahrt der einzelnen Volkswirtschaften hat dies weitreichende Folgen. Zum einen ändert sich die Zusammensetzung der Faktornachfrage, zum anderen entstehen Produktivitätsfortschritte, da Faktorbündel mit komparativen Vorteilen von der „Last" ehemals komplementärer, aber mit komparativen Nachteilen behafteter Faktorbündel befreit werden. Diesem zweiten Effekt schreibt Kohler pareto-superiore Wirkungen zu. „Basareffekte" sind also nicht unbedingt pathologische Erscheinungen der „Globalisierung", wie oft suggeriert wird. Kohler stellt die Prozessdimension des „Basareffektes" modelltechnisch stringent und umfassend dar. Gleichzeitig berücksichtigt die Analyse auch wichtige institutionelle und technische Gegebenheiten. Durch die Entbündelungskosten formen diese als Randbedingungen den Ablauf des „Offshorings" von Produktionstätigkeiten aus den traditionellen Industriestandorten. Hieraus entsteht eine neuartige und sachliche Sicht auf den „Basareffekt". Ordnungsökonomisch ebenfalls instruktiv ist ein Beitrag von Hesse, der als Koreferat zu Kohler angelegt, inhaltlich aber eigenständig ist. Prozess- wie auch ordnungstheoretisch wichtig ist Hesses Hinweis, dass die Annahme vollständiger Konkurrenz, die den meisten modellhaften Untersuchungen von „Globalisierungsprozessen" zu Grunde liegt, wirklichkeitsfern sei. Vielmehr ist es auch mit Blick auf globalisierte Märkte angezeigt, von oligopolistischen Verhältnissen auszugehen. Für die Untersuchung von ,3asareffekten" und „Offshoring-Eïïékten" hat dies konkrete Folgen. Denn in Wirklichkeit wirken die damit verbundenen Preissetzungsspielräume der Unternehmen der Verlagerung von Produktionsprozessen aus traditionellen Industriestandorten entgegen und dämpfen diese. Auch mag der technische Fortschritt etwaige Arbeitskostennachteile in den traditionellen Industrieländern tendenziell wieder ausgleichen. Schließlich weist Hesse darauf hin, dass die „Globalisierung" von Wirtschaftsprozessen auch die analytische Endogenisierung der Wirtschaftspolitik gebiete. Ein Beitrag Stadlers betrachtet an Hand eines dynamischen allgemeinen Gleichgewichtsmodells der Handelsbeziehungen zwischen zwei Regionen („entwickelter" Norden und „unterentwickelter" Süden), wie sich Neuerungen, Nachahmung und Produktzyklen im internationalen Handel entfalten. Das Bewegungsmoment des Modells wird durch die Akkumulation von „Humankapital" 1 endogen bestimmt. Es lassen sich drei Folgerungen ableiten: Erstens steigt die allgemeine Neuerungsrate an, wenn die Volkswirtschaften des Südens in den Freihandel mit dem Norden einbezogen werden. Gleichzeitig nimmt der Grad der Nachahmung zu, womit sich die Produktzyklen verkürzen. Dies ist zweitens aber von der Ausgestaltung der Eigentumsrechte abhängig. Wenn diese den Schutz des geistigen Eigentums zu stark betonen, wird der Süden bei der Nachahmung von Neuerungen behindert. Drittens hängt die allgemeine Neuerungsrate auf lange Sicht weder vom Bestand an „Humankapital" im Norden oder Süden noch von der Ausgestaltung der geistigen Eigentumsrechte, sondern vielmehr von der Wachstumsrate des „Humankapitals" ab, die durch Ausbildungsinvestitionen bestimmt wird. Die Beiträge von Kohler, Hesse und Stadler zeigen, dass es sehr sinnvoll ist, bei der formaltechnischen Modellanalyse von Globalisierungsprozessen stets auch institutionelle Gegebenheiten beziehungsweise den Ordnungsrahmen mit einzubeziehen. Denn im Sinne Euckens bildet eben die Wirtschaftsordnung einen gleichsam wirklichkeitsverbundenen Bezugspunkt (Wentzel 1998, S. 1999, S. 41) und die geistige Klammer für eine notwendig mehr oder minder stark abstrakte Modellierung der Prozesse, die innerhalb ihrer ablaufen. Darüber hinaus erinnern die Ausführungen von Kohler und Hesse zu den Strukturveränderungen des Produktionsaufbaues im Globalisierungsprozess an die Überlegungen zur temporalen und heterogenen Kapitaltheorie, wie sie Lachmann (Lachmann 1956) oder Eucken (Eucken 1954) angestellt haben. Bekanntlich

1 Der im deutschen Sprachgebrauch und auch im vorliegenden Band häufig verwendete Anglizismus „Humankapital" ist bekanntlich irreführend, da der Begriff „Kapital" in Wirklichkeit allein Finanzierungsmittel für Investitionszwecke bezeichnet (Preiser 1961, S. 99). Sachgerechter wäre die Verwendung des Begriffes ,.Humanvermögen" oder „Arbeitsvermögen", da ein Handlungspotential des Wirtschaftssubjektes gemeint ist (Krüsselberg 1977).

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hat vor allem Eucken die Ordnungsabhängigkeit des Produktionsaufbaues und seiner Veränderungen hervorgehoben {Fehl 1989). Eine Reihe weiterer Beiträge dieses Bandes, die sich verschiedenen Einzelfragen der internationalen Wirtschaftsintegration widmen, spiegelt ebenfalls einen hohen Stand der formalen Modellierungstechnik wider. Der Ordnungsbezug der Ausarbeitungen ist aber weniger gut erkennund ableitbar als bei den bisher besprochenen Arbeiten. Böhm, Kikuchi und Vachadze gehen modelltheoretisch der Frage nach, ob es endogene Gründe dafür gibt, dass sich die Pro-Kopf-Kapitalbestände zweier ansonsten gleicher Volkswirtschaften unterschiedlich entwickeln, wenn deren Finanzmärkte wechselseitig integriert sind. Unter bestimmten Parametereinstellungen meinen die Verfasser zeigen zu können, dass es allein aufgrund des freien internationalen Handels mit Finanztiteln dauerhaft asymmetrische SteadyState-Wachstumspfade geben mag, die Einkommensunterschiede zwischen den beiden Ländern verstärken. Ramser weist in seinem Koreferat zu Recht darauf hin, dass die darin enthaltene starke globalisierungskritische Aussage nur dann haltbar ist, wenn die Modellergebnisse verallgemeiner- und empirisch belegbar wären. Sie hängen am Ende aber sehr von der im Modell enthaltenen, einigermaßen restriktiven Annahme der Immobilität von Arbeit und realen Vermögenswerten sowie von der Beschränkung auf den Fall zweier Länder ab. Egger und Kreikemeier untersuchen Einkommens-, Verteilungs- und Beschäftigungseffekte der „Globalisierung" an Hand eines allgemeinen Gleichgewichtsmodells, das Firmenheterogenitäten und Arbeitsmarktunvollkommenheiten (Effizienzlöhne und „rent-sharing") einbezieht. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die grenzüberschreitende Integration der Gütermärkte in der Regel zu Handelsgewinnen sowie zu höheren Durchschnittsgewinnen und Durchschnittslöhnen führt. Auf der anderen Seite sehen sie sowohl auf der Unternehmens- als auch auf der Arbeitnehmerseite neben Gewinnern auch Verlierer: weniger produktive Firmen scheiden bei Freihandel aus dem Markt aus, die Arbeitslosigkeit steigt dadurch an. Gleichzeitig nimmt die Lohnungleichheit innerhalb einzelner Wirtschaftszweige und Volkswirtschaften zu. Auch gegen diese als globalisierungskritisch interpretierbaren Ergebnisse lässt sich einwenden, dass sie sehr von der Ausblendung aller langfristigen Wachstumseffekte des weltweiten Freihandels abhängen, insofern also höchstens kurzfristige Aussagekraft beanspruchen können. Meckl und Weigert setzen sich an Hand eines statischen, symmetrischen Zwei-LänderModells mit dem Einfluss der Akkumulation von „Humankapital" und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen auseinander. Sie nehmen an, dass sich nur die produktivsten Unternehmen an der „Globalisierung" der Produktionsprozesse beteiligen. Weniger produktive Unternehmen beschränken sich auf den reinen Außenhandel oder auf das Inland. Die Produktivität des Unternehmens hängt wiederum von den Bildungsinvestitionen des Unternehmers ab. Insofern gelingt es, einen hypothetischen Zusammenhang zwischen der Wettbewerbsfähigkeit einzelner Unternehmen und der Ausbildung des jeweiligen Unternehmers zu zeigen. Die Ergebnisse hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen Bildungswesen, volkswirtschaftlicher Wohlfahrt und „Globalisierung" sind aber einigermaßen zweideutig - was, wie ein Koreferat von Eggert hervorhebt, im Widerspruch zur einschlägigen Empirie steht, nach der hier eine eindeutig positive Wechselwirkung besteht. Schließlich verfassten Berninghaus, Giith u .a. eine Arbeit, in der mittels eines spieltheoretischen Duopolmodells die Konkurrenzprozesse auf einem globalisierten Arbeitsmarkt nachgestellt werden. Sie stellen die Frage, ob die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt eher durch eine Förderung der Mobilität oder der Sesshaftigkeit von Arbeitnehmern gesteigert werden kann. Dazu nehmen die Verfasser an, es gebe zwei Typen von Arbeitnehmern, nämlich für den internationalen Einsatz qualifizierte und nur auf dem heimischen Arbeitsmarkt effizient einsetzbare. Eindeutige Aussagen zu Gleichgewichtspunkten, die die Fragestellung beantworten, können in diesem Modell nicht abgeleitet werden. Die Verfasser zeigen aber, dass bei ganz bestimmten Einstellungen der Parameter ein AWi-Gleichgewicht bei Immobilität der Arbeitskräfte besteht.

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Bei den letztgenannten vier Beiträgen entsteht erstens der Eindruck, dass die Fragestellungen zwar interessant, aber recht eng gefasst sind. Zweitens scheinen die Aussagen zu den Wohlfahrtswirkungen von Globalisierungsprozessen vielfach, wenn nicht vage, dann doch stark von sehr spezifischen Parametereinstellungen und Annahmen der jeweiligen Modelle abhängig zu sein. Unter etwas offeneren Annahmen würden sich die Ergebnisse vermutlich umkehren oder zumindest deutlich relativieren. Letzten Endes führt dies in eine gewisse inhaltliche Zweideutigkeit, die offenbar dem Fehlen einer eindeutigen ordnungsökonomischen Bezugsnorm geschuldet ist. Eine solche Bezugsnorm, die die institutionellen Gestaltungsvoraussetzungen beschreibt, unter denen die weltwirtschaftliche Integration der Wirtschaft unbedingt wohlfahrtsfördernd ist, wurde bekanntlich bereits durch Wilhelm Röpke formuliert. Röpke ließ keinen Zweifel daran, dass eine funktionierende, internationale Markt-, Preis- und Zahlungsgemeinschaft erstens von einer unverbrüchlichen Rechtsordnung, zweitens von allgemein geteilten Normen, Prinzipien und Verhaltensregeln im internationalen Geschäftsverkehr und drittens von einer gängigen und stabilen Währung als allgemeinem Tauschgut abhängig sei. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann sich der internationale Wirtschaftsverkehr in Form einer weitgestaffelten Arbeitsteilung und wechselseitigen Verbundenheit der Wirtschaftssubjekte entfalten und erhalten (Röpke 1979, S. 105 ff.). Die tatsächlichen Wohlfahrtswirkungen des internationalen Wirtschaftsverkehrs sind in erster Linie also ordnungsabhängig und ordnungsbedürftig, wenn man diskriminierungsfreien Wettbewerb als Gestaltungsnorm und Rahmen für die Abwicklung wechselseitig vorteilhafter und fairer Transaktionen ansieht (Leipold 2005, S. 9; Schüller 2006, S. 307). Die prozesstheoretische Untersuchung der Wohlfahrtswirkungen von Globalisierungsprozessen mittels spiel- oder traditionell gleichgewichtstheoretischer Ausarbeitungen liefert genau dann gehaltvolle Aussagen, wenn sie die ordnungsökonomische Gestaltungsnonn als erfüllt oder nicht erfüllt voraus- und an konkreten Ordnungsbedingungen ansetzt. Sie zeigt dann gut, welche Auswirkungen „gute" und „schlechte" internationale Ordnungsausformungen für den Wohlstand der Nationen haben. Man kann schließlich noch anmerken, dass an der Schnittstelle zwischen Ordnungs- und modellgestützter Prozesstheorie, die damit bestimmt ist, gerade mit Blick auf die „Dynamik internationaler Märkte" noch viele Grundsatzfragen zu klären sind. Sie gruppieren sich alle um Röpkes Vorstellung von der internationalen Markt- Preis- und Zahlungsgemeinschaft und heben auf die Rechts-, Werte- und Geldordnung ab. Ein Beispiel ist die interessante These Sentis, welche besagt, dass die Prinzipien der Meistbegünstigung und der Reziprozität, die heute wichtige Bestandteile einer von der Welthandelorganisation WTO festgeschriebenen Welthandelsordnung sind, im Kern eine merkantilistische Grundhaltung ausdrücken. Diese wiederum bietet die Rechtfertigung für die (macht-) politische Beeinflussung des internationalen Handels (Senti 2006). Die Rückwirkungen dieses Umstandes auf die konkreten Prozessergebnisse hinsichtlich der Wohlfahrts- und Verteilungswirkungen des internationalen Handels beschreibt Senti zwar in Form allgemeiner Musterprognosen, sie ließen sich aber mittels modelltechnischer Untersuchungen sicherlich noch präziser einfangen. Dies gilt ebenfalls etwa für die komplexe Frage nach der angemessenen internationalen Geldordnung. Sie ist im Prinzip offen, seit der allgemeine Goldstandard unter der Führung der Bank von England scheiterte, spätestens aber seitdem das System von Bretton Woods zerbrach (Krugman 1995 S. 195). Hier liegt bereits seit längerem eine Reihe von ordnungspolitischen Vorschlägen vor - seien es Gedanken zur Rückkehr zum Goldstandard, der Hankel-Plan einer Weltzentralbank oder McKinnons Vorstellung vom „Weltmonetarismus" sowie andere (vgl. die Zusammenfassung in Herr / Voy 1989, S. 190 ff.). Abgesehen davon, dass die prozesstheoretischen Gesichtspunkte solcher Ordnungsentwürfe noch nicht ausreichend geklärt wurden, haben Herr und Voy darauf hingewiesen, dass die Umsetzung solcher internationalen Kooperationsformen ein komplexes spieltheoretisches Problem ist (Herr /Voy 1989, S. 198 ff.), bei dessen Lösung die formal-abstrakte Modellierung hilfreiche Einsichten liefern könnte, um die dahinter stehenden Interessenlagen besser zu verstehen.

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Es bleiben noch zwei empirisch-statistische Arbeiten des vorliegenden Sammelbandes zu erwähnen. Flaig und Wollmershäuser gehen der Frage nach der angemessenen Währungspolitik innerhalb der Europäischen Währungsunion an Hand eines statistischen „Stressindikators" nach. Der geldpolitische „Stress", dem ein Land unterliegt, bemisst sich nach der Abweichung des tatsächlichen Zinssatzes von jenem, der herrschen würde, wenn die jeweilige Geldpolitik der Zeit vor der Währungsunion fortgeführt worden wäre. Für Deutschland messen die Autoren einen Stresswert von null, woraus die Aussage abgeleitet wird, dass die Europäische Zentralbank die Geldpolitik der Bundesbank weiterverfolge. Für die meisten anderen Länder ergeben sich hingegen negative Stresswerte, woraus abzulesen ist, dass diese Geldpolitik vor allem für die südeuropäischen Länder und für Irland bislang zu expansiv war. Eine solche Schlussfolgerung erscheint freilich als zu stark, um sie mit einer einzigen (für sich genommen keinesfalls uninteressanten) Indikatormessung tatsächlich belegen zu können. Dies gilt vor allem mit Blick auf die vermeintliche Deckungsgleichheit der früheren Geldpolitik der Bundesbank und jener der Europäischen Zentralbank (vgl. hierzu etwa Thieme 2005, S. 341 f.), aber auch auf die Wachstumswirkungen der europäischen Geldpolitik in den Mitgliedsländern der Währungsunion, die jeweils eine sehr umfassende volkswirtschaftliche Betrachtung erfordern, um gehaltvolle Aussagen zu liefern {De Grauwe 1997). Möglicherweise verstärkt die weltumspannende Integration der Märkte die Schwankungsbreite und die Häufigkeit wirtschaftlicher Wechsellagen. Ob derartige „Volatilitäten" forderlich oder schädlich für das Wachstum von Volkswirtschaften sind, ist umstritten. Ein Referat von Buch und Döpke nähert sich diesem Thema mittels statistischer Analysen auf der einzelwirtschaftlichen Ebene. Die Datengrundlage wird durch finanzwirtschaftliche Angaben der Unternehmen gebildet, die die Deutsche Bundesbank sammelt und die den Zeitraum von 1997 bis 2005 abdecken. Die Verfasser kommen zu dem Ergebnis, dass kleine Firmen und vor allem solche mit einer hohen Fremdkapitalquote schneller wuchsen als große Firmen. Weiterhin wuchsen Firmen mit schwankendem Absatz schneller als solche mit einer eher stetigen Absatzentwicklung. Hieraus ziehen die Verfasser den Schluss, dass „Volatilität" wachstumsförderlich sei und ergänzen dies um den Hinweis, dass die „Volatilität" mit dem Grad der Außenhandelsorientierung von Unternehmen zunehme. Auch hier werden, unbeschadet der an sich sehr interessanten Fragestellung und Herangehensweise, auf einer mit nur acht Jahren zeitlich sehr begrenzten Datengrundlage recht starke Aussagen getroffen. Auch geht es etwas verloren, dass sich „Volatilität" in unterschiedlichen Wirtschaftszweigen sehr unterschiedlich auswirken kann, zum Beispiel je nachdem, wie Lachmann hervorhob, ob es sich um eher spekulative Finanz- und Handelsgeschäfte oder um produktionswirtschaftliche Tätigkeiten handelt (Lachmann 1994, S. 271). Vor allem in der Produktionswirtschaft hängt die Fähigkeit zur Reaktion auf wirtschaftliche Wechsellagen sehr davon ab, wie schnell und umfangreich Umschichtungen beziehungsweise Umwertungen innerhalb des Kapitalstocks vorgenommen werden können (Lachmann 1956, S. 100 ff). Dies abzuschätzen erfordert aber eine differenzierte, mit langfristigen Zeitreihen abgestützte Analyse der Wirkungen von „Volatilität" auf das Finnenwachstum. Insgesamt ist der Band „Dynamik internationaler Märkte" zumindest im deutschsprachigen Raum für jeden Wissenschaftler, der sich mit dem Thema der „Globalisierung" befasst, instruktiv und sicherlich Teil der Pflichtlektüre. Besonders über die Anpassungsprozesse, die sich durch die zunehmende Eingliederung der industrialisierten Volkswirtschaften in den Handel mit „emerging economies" ergeben, lassen sich auch aus ordnungsökonomischer Sicht interessante Erkenntnisse ziehen. Bedauerlich ist allein, dass die Schlussfolgerungen einer Reihe von Beiträgen ordnungsökonomisch gesehen etwas amorph anmuten.

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Literatur De Grauwe, Paul (1997), Core-Periphery Relations, in EMU, in: Dieter, Duwendag (Hg.), Finanzmärkte im Spannungsfeld von Globalisierung, Regulierung, Berlin, S. 153-177. Eucken, Walter (1954), Kapitaltheoretische Untersuchungen, 2. Auflage, Tübingen und Zürich. Fehl, Ulrich (1989), Zu Walter Euckens kapitaltheoretischen Überlegungen, in: ORDO, Band 40, S. 7183. Herr, Hansjörg und Klaus Voy (1989), Währungskonkurrenz und Deregulierung der Weltwirtschaft, Marburg. Krugman, Paul R. (1995), Currencies and Crises, Cambridge, Massachusetts. Krüsselberg, Hans-Günter (1977), Die vermögenstheoretische Dimension in der Sozialpolitik - Ein Kooperationsfeld für Soziologie und Ökonomie, in: Christian von Ferber und Franz-Xaver Kaufmann (Hg.), Soziologie und Sozialpolitik, Köln, S. 232-259. Lachmann, Ludwig M. (1956), Capital and its Structure, London. Lachmann, Ludwig M. (1994), Expectations and the Meaning of Institutions, London und New York. Leipold, Helmut (2005), Der Vergleich und der Wettbewerb der Wirtschaftssysteme vor globalen Herausforderungen, in: Helmut Leipold und Dirk Wentzel (Hg.), Ordnungsökonomik als aktuelle Herausforderung, Stuttgart, Verlag Lucius & Lucius, S. 3-30. Preiser, Erich (1960), Bildung und Verteilung des Volkseinkommens, Göttingen. Röpke, Wilhelm (1979), Internationale Ordnung - heute, 3. Auflage, Bern und Stuttgart. Schüller, Alfred (2006), Saint-Simonismus als Integrationsmethode: Idee und Wirklichkeit - Lehren für die EU, in: ORDO, Band 57, S. 285-314. Senti, Richard (2006), Argumente für und wider die Reziprozität in der WTO - Die Reziprozität als merkantilistisches Erbe in der geltenden Welthandelsordnung, in: ORDO, Band 57, S. 315-339. Thieme, H. Jörg (2005), Geldpolitik in Euroland: Strukturbrüche oder Strategiefehler?, in: Leipold, Helmut und Dirk Wentzel (Hg.), Ordnungsökonomik als aktuelle Herausforderung, Stuttgart, S. 333-344. Wentzel, Bettina (1999), Ordnungstheorie und Methodologie, in Peter Engelhard und Heiko Geue (Hg.), Theorie der Ordnungen - Lehren für das 21. Jahrhundert, Stuttgart, Verlag Lucius & Lucius, S. 3162.

Milena Susanne

Etges

Was hält eine Gesellschaft zusammen? Eine kritische Betrachtung des gleichnamigen Buchs von Christoph Lütge* Der Philosoph Christoph Lütge stellt in seiner Habilitationsschrift die Frage nach den normativen Grundlagen einer modernen Gesellschaft unter Globalisierungsbedingungen. „Was hält eine Gesellschaft zusammen?" lautet der programmatische Titel seines Werks und nimmt Bezug auf das Problem sozialer Ordnung. Explizit geht es ihm um die Bestimmung einer „Ethik im Zeitalter der Globalisierung", so der Untertitel des Buchs, und somit um die Frage, welche Fähigkeiten und Eigenschaften die Individuen aufweisen müssen, damit eine Gesellschaft stabil bleiben kann. Oder anders formuliert: Sind moralische Fähigkeiten bzw. Eigenschaften nötig oder reicht das Eigeninteresse der Akteure aus, um soziale Ordnung zu garantieren? Bereits in seinem Vorwort nimmt Lütge die Antwort vorweg: Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist allein durch das Eigeninteresse der Individuen stabilisierbar. Die entscheidenden Stellschrauben der gesellschaftlichen Steuerung sind in dieser Konzeption die institutionellen Regeln, welche durch Anreize und Sanktionen den homo oeconomicus zur Regelkonformität be* Christoph Lütge, Was hält eine Gesellschaft zusammen? Ethik im Zeitalter der Globalisierung, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007, 293 Seiten.

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wegen können. Moralische bzw. normative Elemente, so Lütge, seien in komplexen, modernen Gesellschaften zum einen nicht mehr notwendig und zum anderen auch nicht mehr systematisch voraussetzbar. Lütge entfaltet seine Argumentation in vier Kapiteln. Die Einleitung „Globalisierung als Herausforderung der Philosophie" (S. 1 -24) nähert sich der Frage nach den normativen Grundlagen moderner Gesellschaften, indem das Phänomen der Globalisierung unter philosophischer Perspektive behandelt wird. Im zweiten Kapitel „Normativität unter Bedingungen der Globalisierung: Die Konzeption der Ordnungsethik" (S. 25-73) stellt Lütge den von ihm vertretenen ordnungsethischen Ansatz dar, um ihn dann in Abgrenzung zu individual- bzw. tugendethischen Ansätzen zu profilieren. Im Hauptteil der Arbeit, dem dritten Kapitel „Wie viel Normativität benötigt die moderne globale Gesellschaft? Ein Spektrum von Antworten" (S. 74-244), stellt der Autor acht verschiedene größtenteils philosophische, aber auch soziologische und ökonomische Ansätze vor, die ihre jeweils eigene Antwort auf die Leitfrage der normativen Voraussetzungen gesellschaftlicher Ordnung geben. Lütge zieht zu jedem Ansatz eine kritische Bilanz, versucht aber auch Aspekte zu finden, die er konstruktiv in seine Konzeption der Ordnungsethik zu integrieren sucht. Im vierten und letzten Kapitel „Konklusion: Normativität ex nihilo?" (S. 245260) gibt der Autor eine Zusammenfassung des Hauptteils und eine eigene Antwort aus ordnungsethischer Perspektive auf die Leitfrage seiner Arbeit. Ein kurzer „Ausblick" (S. 261-262) über die zunehmende Bedeutung von Globalisierungsprozessen beschließt das Werk. Beginnen wir mit der Einleitung und mit einem ersten Problem. Da Lütge die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts explizit auf die globale Ebene rückt, versucht er zunächst, das Globalisierungsphänomen unter Bezugnahme auf die philosophischen Arbeiten von Ottfried Höffe und John Rawls zu spezifizieren. Die Definition dessen, was unter „Globalisierungsprozessen" zu verstehen ist, bleibt dabei mit dem Verweis auf Höffes (1999/2002, S. 13) Definition einer „Zunahme und Verdichtung der weltweiten sozialen Beziehungen mit weitreichenden Auswirkungen auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur" (S. 2) äußerst vage. Die Differenziertheit dieser Beziehungen, Strukturen und Auswirkungen ist zugegebenermaßen schwierig zu analysieren, wäre aber zumindest zu präzisieren, wenn eine „Ethik im Zeitalter der Globalisierung" entwickelt werden soll. Lütge verzichtet jedoch auf eine sorgfaltige Darstellung der globalen Prozesse und ist mehr um eine ausführliche Darstellung der Ansätze von Höffe und Rawls bemüht. Höffes „Weltbürger-Tugenden" und Rawls „Gerechtigkeitssinn" hält Lütge jedoch weder für notwendig, noch für realisierbar und stellt diesen im folgenden Kapitel seine Konzeption der Ordnungsethik gegenüber. In Anlehnung an Homann skizziert Lütge seinen ordnungsethischen Ansatz: Dieser nimmt Bezug auf das Problem sozialer Ordnung, welches sich auf Akteursebene als Problem kollektiven Handelns bzw. als Problem antagonistischer Kooperation in GefangenendilemmaStrukturen darstellt. Ausgehend von einem rational handelnden Akteurskonzept (homo oeconomicus) wird die Überwindung von Dilemmastrukturen über spezifische Anreizsysteme zum Anliegen der hier präsentierten Ordnungsethik. Betont wird dabei der situative und interaktive Charakter der Rahmenbedingungen, in denen das Handeln und somit auch die Kooperation stattfinden müssen. Die Beeinflussung der Rahmenbedingungen über anreizkompatible und sanktionsbewehrte Regelsysteme wird somit zum zentralen Steuerungsmechanismus moderner Gesellschaften. Eine solche „Bedingungsethik" (Homann 2002, S. 100) lehnt die Forderung eines - von Lütge so bezeichneten - moralischen Mehrwerts ab, welche normative Grundlagen eines gesellschaftlichen Zusammenhalts postuliert und von den Individuen moralische Fähigkeiten bzw. Eigenschaften notwendigerweise erwartet. Ordnungsethik wird somit als „Ethik der Vorteile und Anreize" (S. 36) von individualethischen, im Sinne von tugendethischen Ansätzen scharf abgegrenzt. Die Frage, „ob es in der Moderne noch sinnvoll ist, die Stabilität und das Funktionieren einer Gesellschaft an personale Voraussetzungen zu knüpfen, über die die Mitglieder dieser Gesellschaft verfügen müssen" (S. 26), wird somit aus ordnungsethischer Perspektive eindeutig verneint. In diesem - von Lütge skizzierten - Theoriegebäude wird normativen Elementen letztlich eine heuristische Funktion zugewiesen, wobei Heuristik hier als letzt-

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lieh technologisches Hilfsmittel verstanden wird, welches zur Herstellung neuer Problemlösungsstrategien dient. Die moralischen Mehrwerte erhalten die Funktion eines Ideen-Fundus, der fiir eine Neugestaltung der Regeln genutzt werden kann. Als Steuerungsmechanismus bzw. gesellschaftsintegrierender Faktor bleiben sie jedoch additiv zu einem mit den Eigeninteressen der Akteure kompatiblem Regelwerk. Im folgenden dritten Kapitel werden acht verschiedene philosophische und ökonomische Ansätze besprochen und mit der ordnungsethischen Konzeption kontrastiert. Lütge versucht dabei die moralischen Mehrwerte der Theorien von Hösle, Foot, Habermas, Rawls, Rorty, Gauthier, Buchanan und Binmore zu identifizieren und daraufhin zu untersuchen, ob sie für das Funktionieren moderner Gesellschaften als notwendig erachtet werden können. Angesichts der im Vorfeld klar formulierten Konzeption einer Ordnungsethik, überrascht es den Leser nicht, dass keiner dieser Ansätze dem kritischen, ordnungsethischen Blick des Autors standhält. Weder Vittorio Hösle, aktueller Vertreter und Befürworter einer anthropologischen Fundierung objektiv bestimmbarer Werte als Basis für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt, noch die Tugendethik einer Philippa Foot können Lütge überzeugen. Ebenso wenig halten die Diskursethik von Jürgen Habermas, der Gerechtigkeitssinn von John Rawls, die KooperationsDispositionen von David Gauthier und die Solidaritätsgefühle von Richard Rorty Lütges kritischer Überprüfung stand. Alle hier formulierten „moralischen Mehrwerte" können aus ordnungsethischer Perspektive für die gesellschaftliche Stabilität nicht systematisch vorausgesetzt werden. Die von den oben genannten Autoren formulierten anthropologischen Fähigkeiten und Eigenschaften weist Lütge somit als „nicht tragfáhig" zurück, gesteht ihnen bzw. den dahinter stehenden Intuitionen jedoch eine heuristische Funktion für die Weiterentwicklung und Veränderung der Regeln zu. Die zwei letzten Ansätze, denen sich Lütge zuwendet, stammen von den Ökonomen James M. Buchanan und Kenneth Binmore und unterscheiden sich in ihrem stärkeren Fokus auf Anreizstrukturen und institutionellen Regeln von den vorausgehenden Theoretikern. Man würde erwarten, dass gerade James Buchanan, der als Begründer der konstitutionellen Ökonomik die Bedeutung von institutionellen Regeln und einer mit den Eigeninteressen der Akteure kompatiblen Regelgestaltung betont, den ordnungsethischen Gedanken Lütges nahekommt. Dieser bezieht sich in seiner Analyse jedoch nicht auf Buchanans Hauptargumente einer konstitutionellen Ökonomik, sondern auf Arbeiten, in denen Buchanan von einer Produktivität puritanischer Normen und Werte ausgeht, die gesellschaftlich zu fordern seien. Dies liefert Lütge wiederum eine Steilvorlage und dem Leser den wiederholten Hinweis, dass Moral als Steuerungsmechanismus ausgedient hat. Ob man damit Buchanan und seinem Werk gerecht wird, kann doch mit gutem Grund bezweifelt werden. Die Auseinandersetzung mit Kenneth Binmore steht am Ende der Abhandlungen und insgeheim fragt man sich als Leser bereits, welcher moralische Mehrwert nun diesmal „entwertet" wird bzw. in welchen heuristischen „Lagerbestand" dieser umzuwandeln wäre. So ist man fast erleichtert, dass im Ansatz des Ökonomen und Spieltheoretikers Binmore nur die verhältnismäßig „anspruchslose" anthropologische Fähigkeit zur Empathie identifiziert werden kann. So ist dann auch Lütge hier in seinem Urteil milder gestimmt, da die Fähigkeit zu einem empathischen Hineinversetzen sich von den anderen „moralischen Mehrwerten" darin unterscheidet, dass sie nicht ausbeutbar ist. Im Gegensatz zu solidarischem Handeln, welches einen leicht zum Opfer von Ausbeutung werden lässt, ist die empathische Fähigkeit zunächst einmal „ungefährlich". Aus dem bloßen Hineinversetzen in den anderen folgt noch keine normative Handlungsverpflichtung, die den Interessen des homo oeconomicus entgegensteht. Auch Lütge will die Anlage zur Empathie nicht als „moralischen Mehrwert" im strengen Sinn verstanden wissen. Er kommt zu dem Schluss, dass Binmores Ansatz seiner ordnungsethischen Konzeption von allen besprochenen Theorien am Nächsten kommt und gesteht der Empathiefahigkeit die Rolle „als geeignetster Kandidat für eine akzeptable minimale personale Voraussetzung stabiler moderner Gesellschaften unter Globalisierungsbedingungen" (S. 244) zu. Dennoch erachtet er selbst diese nicht in jedem Fall als zwingend notwendig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ver-

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weist auf - allerdings sehr hypothetische, da aus dem Science-Fiction-Bereich kommende Beispielsituationen, in denen ein Hineinversetzen nicht nötig für eine gelungene Kooperation ist (S. 242 fï). In seiner Konklusion (Kapitel vier) gibt Lütge noch einmal einen tabellarischen Überblick über die besprochenen Theorien und fasst seine (negativen) Ergebnisse zusammen. Für seine puristische Konstruktion der Ordnungsethik war keiner der Ansätze ein wirklicher Gewinn, da „moralische Mehrwerte" mit der Nullhypothese der Beschränkung auf das Eigeninteresse kaum vereinbar sind, was nicht weiter überraschen dürfte. Konstruktiv nutzen lassen sich die normativen Elemente bzw. die dahinter stehenden Intuitionen nach Lütge nur in der besprochenen Weise als Heuristik. Diese magere Ausbeute wirft die Frage auf, weshalb sich der Autor über fast zweihundert Seiten mit Theorien befasst, die teilweise aufgrund ihrer Problemstellung - was Lütge diesen auch zugesteht (S. 247 ff) - und/oder ihrer individual - bzw. tugendethischen Tendenzen nicht sinnvoll in einen ordnungsethischen Zusammenhang gebracht werden können. Abschließend benennt der Autor drei minimale Voraussetzungen der Ordnungsethik, die im Gegensatz zu bestimmten Wertorientierungen von den Individuen „keine Durchbrechung der Logik der Vorteile und Anreize" (S. 254) verlangen. Es sind dies Soziabilität, Kommunikationsfähigkeit und Investitionsfähigkeit. Die Individuen müssen also „nur" Mitglieder einer Gesellschaft sein, miteinander kommunizieren können und neben der Maximierung des sofortigen Nutzens hin und wieder auch den langfristigen Nutzen im Blick haben, damit eine Gesellschaft stabil bleiben kann. Entscheidend ist die Ausgestaltung und Durchsetzung der institutionellen Regeln, welche sich an den Eigeninteressen der Individuen orientieren müssen. Gemeinsame Wertorientierungen können gerade in einer pluralisierten Gesellschaft unter Globalisierungsbedingungen für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht mehr notwendig vorausgesetzt werden. Neben einer anreizkompatiblen Regelsetzung komme somit auch einer Semantik große Bedeutung zu, welche die individuellen Vorteile der Regeln verständlich und prägnant kommuniziert. Soweit die von Lütge entworfene ordnungsethische Konzeption. Diese knüpft implizit und explizit an die Arbeiten von Karl Homann an, dessen Verdienst es ist, herauszustellen, dass eine moderne Ethik sich an den Rahmenbedingungen des Handelns, d. h. den situativen Vorteilsund Anreizstrukturen orientieren muss. Appelle an die individuelle Handlungsmoral stellen keinen adäquaten Steuerungsmechanismus einer komplexen modernen Gesellschaft dar, denn „der systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung" (Homann/Blome-Dress 1992, S. 35). In diesem Punkt ist Lütges respektive Homanns Argumentation vollkommen zuzustimmen. Lütges Argumentation besitzt jedoch zwei wesentliche Schwachstellen: Zum einen die Ausblendung konflikthafter Strukturen, zum anderen die ungeklärte Frage der Normbegründung. Die vorgestellte Konzeption der Ordnungsethik geht von einem ökonomischen Vorteilsbegriff aus und postuliert, dass eindeutige Pareto-Verbesserungen für alle Beteiligten realisierbar sind und für die Begründung einer Norm auch realisierbar sein müssen. Die Existenz konflikthafter Strukturen, in denen keine kollektiven Gewinne möglich sind, wird jedoch in einer Ordnungsethik im Gefolge Homanns ausgeblendet (vgl. hierzu Goldschmidt 2007). Das Gefangenendilemma wird als Grundmuster gesellschaftlicher Strukturen verstanden, aus dem es immer den Ausweg einer „win-win-Situation" geben soll. Diese Fokussierung übersieht die Verschiedenartigkeit strategischer Situationen und deren spezifische Lösungsmechanismen {Esser 2000). Lütge belässt es bei einem kurzen Blick auf die Spieltheorie, was abgesehen von der ungenauen Beschriftung einiger Spielmatrizen noch verzeihlich sein mag. Die Ausblendung von Konfliktstrukturen ist es nicht. Die praktizierte Lösung für konflikthafte Situationen heißt nicht selten Herrschaft und diese setzt qua ihrer Durchsetzungskraft Regeln, die nicht zwingend für alle von Vorteil sind bzw. Ungleichheiten in der Allokation von Ressourcen nach sich ziehen. Bezogen auf die Leitfrage dieses Buchs ist zumindest ein Teil der Antwort darin zu sehen, dass neben anderen integrierenden Mechanismen auch der Faktor Herrschaft für soziale Ordnung sorgt. Dass „geltende Werte" oftmals „herrschende Werte" (Dahrendorf 1974, S. 262) sind, ist zu

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berücksichtigen, wenn es darum geht, ethische Forderungen an die Spielregeln zu stellen. Die Vorstellung eines grundsätzlichen kollektiven Kooperationsgewinns darf nicht über bestehende Konflikte und Ungleichheiten hinwegtäuschen. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass eine Vorteilssemantik, die mit Begriffen wie „Investieren", „wechselseitiges Eigeninteresse" oder „wechselseitige Vorteile" hantiert (S. 260), zu leeren Worthülsen verkommt. Zum letzten Punkt, der Frage der Normbegründung: Ausgehend von der unstrittigen Einsicht, dass moderne Gesellschaften aufgrund ihrer Komplexität und Pluralität weder direkt über moralische Forderungen an die Individuen steuerbar noch über einen übergreifenden Wertekonsens integrierbar sind, beschränkt sich die ökonomische Ordnungsethik wie Lütge sie skizziert, auf Fragen der Normenimplementation. Fragen der Normenbegründung werden reduziert auf Fragen der Durchsetzbarkeit, denn „wohlbegründet" (S. 61) ist eine Norm nach dieser Auffassung dann, wenn sie durch anreizkompatible Regelsetzung systematisch implementierbar ist. Es bleibt ungeklärt, auf welchem Wege gesellschaftliche Prämissen gesetzt werden bzw. wer diese zu bestimmen hat. Die Bedeutung normativer Diskurse für die gesellschaftliche Bearbeitung zentraler Probleme bleibt unbeachtet. Gesellschaftliche Diskurse über normative Leitlinien, die häufig Verteilungskonflikte zum Thema haben und Prioritätsentscheidungen begleiten, sollten von einer modernen Ethik ernst genommen werden (vgl. auch Goldschmidt 2007). Die moralischen Mehrwerte, denen Lütge allenfalls ein Schattendasein als Heuristik zugesteht, werden oftmals zum eigenständigen Verhandlungs- und Diskussionsziel - auch weil mit ihnen konkrete Interessen verknüpft sind. Die Engführung einer „Ethik im Zeitalter der Globalisierung" auf die Umsetzung objektiv bestimmbarer anreizkompatibler Regelsysteme übersieht die Ambivalenz und Konflikthaftigkeit zahlreicher realer, historisch gewachsener und kulturell divergenter Strukturen und die tatsächliche Notwendigkeit normativer Diskurse.

Literatur Dahrendorf, Ralf (1974), Pfade aus Utopia: Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. Gesammelte Abhandlungen I, München. Esser, Hartmut (2000), Soziologie: Spezielle Grundlagen, Band 3: Soziales Handeln, Frankfurt a.M. / New York. Goldschmidt, Nils (2007), Kann oder soll es Sektoren geben, die dem Markt entzogen werden, und gibt es in dieser Frage einen (unüberbrückbaren) Hiatus zwischen „sozialethischer' und „ökonomischer' Perspektive?, in: Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski (Hg.), Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven für den Pflegesektor, Berlin, S. 53-81. Höffe, Otfried (1999/2002), Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München Homann, Karl und Franz Blome-Drees (1992), Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen. Homann, Karl (2002), Vorteile und Anreize: zur Grundlegung einer Ethik der Zukunft, Tübingen.

Lothar

Funk

Die Zukunft der Arbeit in Deutschland Besprechung des vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln herausgegebenen gleichnamigen Bandes* Das Problem vergleichsweise hoher, dauerhafter struktureller Arbeitslosigkeit beherrscht trotz der Erfolge zwischen 2005 und Herbst 2008 an dieser Hauptfront der Wirtschaftspolitik nach wie vor die politische Debatte. Klare Hinweise der spürbaren Verbesserung sind: Ein er* Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hg.): Die Zukunft der Arbeit in Deutschlands. Megatrends, Reformbedarf und Handlungsoptionen, Deutscher Instituts-Verlag, Köln 2008, 342 Seiten.

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heblicher Rückgang der registrierten Arbeitslosigkeit um mehr als 1,6 Millionen ist - auch unter Berücksichtigung aller fragwürdigen Versuche, Arbeitslosigkeit statistisch zu verstecken (z.B. durch Herausnahme von Teilen älterer Arbeitsloser und von in Ein-Euro-Jobs Beschäftigten aus der Statistik) - zweifellos ein Erfolg; auch wenn man die nicht bei der Arbeitsagentur gemeldeten Arbeitssuchenden („stille Reserve") mit einbezieht, lag 2007 bei sehr breiter Definition die Zahl von Menschen, die bei einem entsprechenden Arbeitsangebot nach eigenen Angaben arbeiten würden, mit 5,1 Millionen so niedrig wie seit 1992 nicht mehr. Mit 40 Millionen Erwerbstätigen im Jahre 2007 wurde der bisher höchste Beschäftigungsstand in Deutschland erreicht und mit 69,4 Prozent Erwerbstätigen in Prozent aller 15- bis 64-jährigen lag Deutschland 4 Prozentpunkte vor dem Durchschnitt der EU-27, allerdings noch immer deutlich niedriger als die Spitzenreiter (Dänemark = 77,1 %; Niederlande = 76,0); schließlich noch die Schaffung von 1,2 Millionen zusätzlichen sozialversicherungspflichtigen Stellen in den letzten drei Jahren sowie ein deutlicher Beschäftigungsaufbau auch in Bezug auf das in den letzten Aufschwüngen schwach reagierende Arbeitsvolumen (alle geleisteten Arbeitsstunden in der Volkswirtschaft) und ebenfalls bei Gruppen, die bislang zu den Benachteiligten am Arbeitsmarkt gehörten (Ältere, Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose und Frauen). All dies spricht für die erhöhte Anpassungsfähigkeit des deutschen Arbeitsmarktes. Vor allem aus zwei Gründen stellt sich allerdings die Frage der Zukunftsfähigkeit dieser auf den ersten Blick rosigen jüngeren Arbeitsmarktperformanz. Einmal ergeben sich Fragezeichen angesichts der vorherigen gewaltigen Misere am (west-)deutschen Arbeitsmarkt, die sich seit der ersten Hälfte der 1970er Jahre trendmäßig verschlimmert hat: Trotz Aufschwüngen hat sich der Arbeitsmarkt in Deutschland aufgrund von Funktionsdefiziten bis in jüngerer Zeit als unfähig erwiesen, einen steigenden Sockel von Arbeitslosen zu verhindern. Zum anderen bleiben Unsicherheiten, da parallel zur statistisch belegten Verbesserung der Arbeitsmarktlage in der öffentlichen Debatte Irrtümer und Fehlinterpretationen zur Entwicklung am Arbeitsmarkt kursieren und möglicherweise sogar bewusst lanciert werden. Dies erfolgt in der Regel unter dem Vorwand, mehr „soziale Gerechtigkeit" schaffen zu wollen und verfolgt den Zweck, wesentliche Kanäle, die nachweislich die Anpassungsfähigkeit des Arbeitsmarktes verbessert haben und folglich wesentliche Voraussetzung der aktuell verbesserten Beschäftigungslage sind, wieder zuzuschütten. Das Motto dieser Gegenkampagne zu der den deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen zugrunde liegenden Strategie, die sehr vereinfacht der Idee „Sozial ist, was Arbeit schafft" folgt, zeigt sich beispielhaft an den Plakaten des Deutschen Gewerkschaftsbunds zum 1. Mai 2008 mit der Aufschrift „Nur gute Arbeit ist sozial." Verzichtet man auf die überspitzten Formulierungen der Slogans und übersetzt sie in ökonomischen Fachsprache, so zielt die marktwirtschaftskonforme, beschäftigungsforderliche Richtung darauf ab, auch arbeitsmarktfernen Gruppen, den Outsidern, Chancen am Arbeitsmarkt zu schaffen, selbst wenn dies in Teilen oder zumindest kurzfristig zu Lasten der Insider, also der Arbeitsplatzbesitzer, geht. Denn gerade am wirksamen Outsiderwettbewerb hat es insbesondere durch den über vergleichsweise hohe Arbeitsmarkt- und Gütermarktregulierungen abgesicherten Schutz der Insiderinteressen lange Zeit in Deutschland gemangelt. Dies zeigen auch die stilisierten Fakten der Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland, die sich sehr gut z.B. mit InsiderOutsider-Theorien des Arbeitsmarktes und deren Erweiterungen erklären lassen. Die vor allem gewerkschaftlich dominierte und auch durch Forderungen der Linkspartei getriebene Gegenrichtung betont hingegen die Kehrseite der steigenden Beschäftigungszahlen im jüngsten Aufschwung in Form von kaum steigenden Gehältern, einem Zuwachs des Niedriglohnsektors sowie einer Zunahme der Ungleichverteilung der Markteinkommen. Die Protagonisten dieser Richtung dominieren aktuell (wieder) die öffentliche Diskussion und plädieren dafür, sich angesichts des aus der Perspektive vor allem der Arbeitsplatzbesitzer und auch nicht weniger zuvor arbeitsloser Wiederbeschäftigter enttäuschenden Aufschwungs (Stichworte: u.a. Bedeutungszunahme der Leiharbeit und von Vollzeitjobs, von denen Beschäftigte nicht leben können) nun wieder verstärkt um die Insider zu kümmern. Diese Verfechter kräftiger Lohnerhöhungen zur Kaufkraftsteigerung und zur Stärkung des volkswirtschaftlichen Konsums sowie

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von interventionistischen Eingriffen zugunsten der aktuellen Arbeitsplatzbesitzer scheinen entweder davon auszugehen, dass dies sowohl den derzeit Beschäftigten als auch den verbleibenden Outsidern letztlich nützt. Oder die Insider nehmen die durch weite Teile der Theorie und der historischen und Länder vergleichenden Empirie belegten Nachteile der geforderten Maßnahmen für Teile der Insider und die Outsider des Arbeitsmarktes billigend in K a u f . Dass die interventionistischen Forderungen trotz der wissenschaftlichen Einwände einer Vielzahl von Volkswirten und von der großen der Mehrzahl der führenden ökonomischen Forschungsinstitute nicht selten Unterstützung in den Parteien finden, lässt sich leicht polit-ökonomisch erklären. Denn die Insider des Arbeitsmarktes stellen zusammen mit ihren Angehörigen aus politischer Sicht noch die Mehrheit der Wähler und halten angesichts der in einem Aufschwung verbesserten Arbeitsmarktlage ihren jeweiligen Arbeitsplatz auch nur für bedingt oder gar nicht bedroht, so dass die politischen Parteien auch angesichts der Komplexität der zugrunde liegenden ökonomischen Zusammenhänge und der rationalen Uninformiertheit vieler Wähler tendenziell diese Forderungen aufgreifen (müssen), um wahlpolitisch erfolgreich zu bleiben oder zu werden. Dennoch, bzw. gerade im Angesicht der beschriebenen Konstellation und politisch äußerst relevanten und brisanten Kontroverse lohnt es sich, die zugrunde liegenden Arbeitsmarktzusammenhänge genauer zu erfassen und in geeigneter Form den interessierten Bürgern, Multiplikatoren und Studierenden zugänglich zu machen. Dies ist explizites Ziel des hier betrachteten Sammelbandes unter Federführung des Leiters der Wissenschaftsabteilung Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik am Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW), Hans-Peter Klös, der bewusst die Arbeitsmarktanalyse nicht auf den Aspekt der Arbeitslosigkeit verengt, wie dies häufig geschieht. Der Bogen wird vielmehr und völlig der Thematik angemessen deutlich weiter gespannt, indem insbesondere die aktuell besonders wichtigen Anlässe und verursachenden Faktoren für steigende Arbeitslosigkeit und geänderte Beschäftigungsformen herausgearbeitet werden und indem die enge Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik für erfolgreiche Beschäftigungs- und Wachstumsperformance belegt wird. Der innovative Kopf des bildungs- und arbeitsmarkpolitischen Ressorts am IW selbst hat unbeirrt von teilweise propagierten makroökonomischen Bekämpfungsversuchen bereits sehr früh in der deutschen Debatte auf die Möglichkeit und das Erfordernis verwiesen, den treppenformigen Anstieg der dauerhaft hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland letztlich mikroökonomisch zu erklären und durch Maßnahmen zu bekämpfen, die vor allem an mikroökonomischen Kalkülen der Wirtschaftsakteure ansetzen (vgl. Klös 1990). Er war zudem einer der Pioniere bei der Forderung nach einem Ausbau des Niedriglohnsektors und von „in-work"-benefits auf einem weniger regulierten Arbeitsmarkt in Deutschland - Maßnahmen, die nach einer langen Zeit des „Durchwursteins" nun nach ihrer Einführung, wie oben beschrieben, mittlerweile deutliche Früchte tragen und eine erhebliche Reformdividende mit sich bringen. Bereits vor sieben Jahren hat er die Rolle der Megatrends für die Entwicklungen am Arbeitsmarkt systematisch und im Zusammenspiel thematisiert (vgl. Klös 2001), die andere vereinzelt analysiert (vgl. beispielsweise Funk/Knappe 1997) bzw. deren Wirkungen auf die Arbeitsbeziehungen in Deutschland herausgearbeitet haben (vgl. z.B. Funk 2007). Die „Krönung" dieses langjährigen Forschungsprogramms ist der hier vorliegende Band, den der IWAbteilungsleiter mit 11 Expertinnen und Experten des Kölner Instituts erarbeitet hat. Er gliedert sich in 4 Kapitel mit 13 längeren Unterabschnitten und greift dringliche arbeitsmarkrelevante Themen auf, deren empirischer und theoretischer Hintergrund auf dem aktuellen Forschungsstand beruhen und dennoch - anders als vielfach in ähnlichen Werken - in sehr verständlicher Sprache dargelegt werden. Ausgangspunkt der Analyse sind dabei folgende Erkenntnisse: Bis 2005 hatte sich der deutsche Arbeitsmarkt als unfähig erwiesen, den Arbeitsmarkt betreffende Umwälzungen durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Datenänderungen beschäftigungs- und wachstumsfreundlich und ohne mittelfristige Erhöhung der Arbeitslosigkeit zu verarbeiten. Wirtschaftliche Megatrends wie die Globalisierung, der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft, Tendenzen zu individualisierteren Verhaltensweisen (z.B. Abkehr von Einverdienerfamilie, Wunsch nach

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mehr Zeitsouveränität und vergrößerte Nachfrage nach Teilzeittätigkeiten etc.) und die Alterung von Bevölkerung und Belegschaften, die die meisten Industrieländer betreffen, haben die Anpassungsfähigkeit von Institutionen des Arbeitsmarktes und des Bildungssystems herausgefordert. Deutschland war es, anders als vielen anderen Ländern, bis zur Mitte des Jahrzehnts nicht gelungen, diese Herausforderungen ähnlich gut wie zahlreiche andere Staaten zu meistern. Auch die besondere Herausforderung hierzulande durch die Wiedervereinigung kann allein das Hinterherhinken Deutschlands im Vergleich zu anderen Ländern auch Europas - wie beispielsweise Großbritannien, Dänemark oder Niederlande - keineswegs vollständig erklären. Hierzu ist ein Ansatz erforderlich, der weit umfassender und gründlicher die Zusammenhänge erfasst - so wie es im Band des IW-Expertenteams systematisch geschieht. Verfolgt man einen solchen Ansatz, so zeigen sich auch die jüngeren Arbeitsmarktergebnisse Deutschlands als hiermit theorie- und empiriekonform. Hiernach haben strategisch eingesetzte Reformen am Arbeitsmarkt, eine maßvolle Lohnpolitik, Restrukturierungsmaßnahmen der Unternehmen und eine gute Konjunktur zu einem spürbaren Abbau der Arbeitslosigkeit und einer deutlichen gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungssteigerung geführt. Der jüngste Aufschwung hat insofern eine gesamtwirtschaftlich wichtige Reformdividende mit sich gebracht, als es erstmals seit 30 Jahren gelungen ist, die Arbeitslosigkeit deutlicher zu senken, als sie im Abschwung zuvor zugenommen hatte - vorher stieg seit 1970 die Arbeitslosenzahl etwa in Westdeutschland seit 1970 in jedem Konjunkturzyklus um rund 800.000 Personen. Dass es sich hierbei nicht allein um ein konjunkturelles Phänomen handelt, zeigt sich daran, dass sich der Arbeitsmarkt in der Hochkonjunktur schneller und deutlicher im Hinblick auf viele oben genannten Mengenindikatoren erholt hat als in früheren Aufschwungphasen. Die im Vergleich zu ähnlichen vorherigen Aufschwüngen höhere Beschäftigungsintensität des Wirtschaftswachstums seit 2006 weist darauf hin, dass die Lohnzurückhaltung und die Flexibilisierung am Arbeitsmarkt sowie im Sozialbereich zum nachhaltigen Beschäftigungsaufbau sowie zum Abbau von struktureller Arbeitslosigkeit, die durch eine bessere Konjunktur nicht nachhaltig beseitigt werden kann und bei der IW-Analyse daher im Vordergrund steht (vgl. zu konjunktureller Arbeitslosigkeit Funk/Voggenreiter/Wesselmann 2008), beigetragen haben. Hintergrund waren vor allem die weniger generöse Arbeitslosenunterstützung, Deregulierungen bei der Zeit- und Leiharbeit sowie die bundesweite Einführung von Zuschüssen an Niedriglohnempfanger im Zuge der von Bundeskanzler Gerhard Schröder 2003 eingeleiteten Reformen der „Agenda 2010". Dies hat im Zusammenspiel mit den Intemationalisierungs- und Rationalisierungsbestrebungen der Unternehmen, was beides auch Treiber zurückhaltender Lohnforderungen waren, die Arbeitsbereitschaft deutlich gefordert und die Arbeitslosenstatistik auch durch das auf Deutschland ausstrahlende kräftige Wachstum der Weltwirtschaft erheblich entlastet. In Kapitel 1, das systematisch die wirtschaftlichen Megatrends in Gesellschaft und Unternehmen kurz beleuchtet sowie die Entwicklungslinien und stilisierten Fakten des deutschen Arbeitsmarktes im Spiegel dieser Trends vorstellt, geht es um einen Problemaufriss und ersten Problembefund. Letzterer zeigt, dass von einer „strukturellen Fitness des deutschen Arbeitsmarktes... noch nicht gesprochen werden" kann (S. 19). Zudem erfolgt ein grundlegender Einblick in die Zusammenschau der einzelnen Aspekte moderner Erwerbsarbeit aus ökonomischer Sicht. Im Anschluss wird das Ziel der Studie beschrieben, auf der Basis der herausgearbeiteten Erkenntnisse, im Schlusskapitel ein arbeitsmarktökonomisches Leitbild und Handlungsempfehlungen zur Förderung und Entwicklung des Arbeitskräftepotentials in Deutschland zu entwerfen, bei denen es darum geht, die Zukunftsfähigkeit der menschlichen Arbeit als Wachstumsfaktor auch angesichts geänderter Herausforderungen sicherzustellen. Dabei soll der dauerhaft hiermit verbundene Ertrag letztlich allen zugute kommen. Die derzeit existierenden Akzeptanzdefizite gegenüber Markt stärkenden Reformen, die von den Insidern deutlich spürbare Anpassungsleistungen für spätere potenzielle individuelle Vorteile erfordern, verdeutlichen jedoch die wahrscheinlichen Schwierigkeiten bei der politischen Umsetzung solcher Maßnahmen. Denn wie oben gesehen, hat der Verteilungskampf gerade während des Endes der aktuellen Aufschwungphase wieder deutlich an Schärfe zugenommen.

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Die öffentliche Debatte könnte an Sachlichkeit gewinnen, wenn sich die Befürworter neuer vermeintlich „sozialer" staatlicher Eingriffe - etwa die Einführung flächendeckender, beschäftigungsschädlicher Mindestlöhne, Reregulierung von Beschäftigungsformen außerhalb so genannter Normalarbeitszeit (Zeitarbeit, Leiharbeit, Teilzeit etc.) oder Rücknahme von Teilen der Hartz-IV-Reformen, die den Anreiz zur Arbeitsaufnahme im Vergleich zu früher erhöhen - den glasklaren Befund zum deutschen Arbeitsmarkt des ersten Kapitels vorurteilslos verdeutlichen würden. Hiernach sind die im Vergleich zu 1991 im Jahr 2005 gestiegenen Niedrigeinkommensquoten, die zunehmende Lohnspreizung zwischen hohen und geringen Einkommen, die verstärkte Ungleichverteilung der Haushaltsmarkteinkommen in erster Linie Spätfolgen der lange Zeit institutionell verhärteten, hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland, die zur Dequalifikation von Langzeitarbeitslosen beitrug, sowie die Folge einer auch für andere Industrieländer charakteristischen strukturwandelbedingten Verschlechterung der relativen Arbeitsmarktsituation für Geringqualifizierte. Beide Einflussfaktoren bewirken eine stärkere Differenzierung der Arbeitseinkommen, wenn politisch die Reservationslöhne gesenkt werden und gleichzeitig die Hochqualifizierten relativ zur Nachfrage knapp sind, wie es bis zum aktuellen Rand der Fall gewesen ist. Dies hat naturgemäß Effekte sowohl auf die personelle wie auf die funktionelle Einkommensverteilung, die aus der Perspektive wenig anpassungsfähiger oder anpassungsbereiter Erwerbstätiger nachteilig erscheinen. Gefragt ist allerdings in dieser Situation keine defensive protektionistische bzw. interventionistische Strategie, die mittelfristig die Probleme eher verschärft, sondern eine nüchterne Diagnose mit ebenso nüchternen Therapievorschlägen, wie sie in der wissenschaftlichen Analyse des IW erfolgt. Wenn Deutschland vor dem Wirksamwerden der beschäftigungsfreundlichen Reformen weltweit einen der höchsten Anteile an Langzeitarbeitslosigkeit und einen der niedrigsten Beschäftigungsquoten von Geringqualifizierten hatte, so stellt sich dem Ökonomen sofort die Frage, wie die von Verfechtern „guter Arbeit" unter anderem geforderte Verteuerung dieser Problemgruppen für die Arbeitgeber und eventuelle Verschlechterungen der Arbeitsanreize der Betroffenen (z.B. durch verlängerte Bezugsmöglichkeiten von Arbeitslosengeld) zu einer erhöhten Beschäftigung dieser Problemgruppen des Arbeitsmarktes führen sollten. Sozialpolitisch darf zudem nicht vergessen werden, dass im Gegensatz zu den Haushaltmarkteinkommen bei den Nettoeinkommen der Haushalte nach Abschluss der Umverteilungsprozesse die Zunahme der Ungleichheit wesentlich geringer ausgefallen ist, was mit einer bis vor kurzem deutlichen Zunahme der Transferempfängerquoten und einer zunehmenden Bedeutung des Einkommensanteils aus staatlichen Transfers verbunden war. Kapitel 2 beschäftigt sich dann in 6 Teilkapiteln entlang der zuvor entwickelten Systematik im Einzelnen mit Theorie und Empirie der Megatrends, wobei sich jedem Unterkapitel sehr leserfreundlich noch einmal die Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse anschließt. Sehr kurz gefasst zeigen sich die folgenden zentralen Befunde zu den großen Entwicklungstreibern für Wirtschaft und Gesellschaft, die zudem „ineinandergreifen und in der Summe unaufhaltsam sind" (S. 7): Als Folge der Vervierfachung des weltweiten Angebots an häufig gering qualifizierten Arbeitskräften bei trendmäßig offeneren Grenzen müssen als Folge der Globalisierung insbesondere Geringqualifizierte hierzulande - zumindest relativ gesehen - geringere Marktlöhne akzeptieren und verlieren Beschäftigungsmöglichkeiten. Die gestiegene Bedeutung der Dienstleistungsproduktion im Rahmen der Tertiarisierung vermindert vor allem die Nachfrage nach einfacher (Industrie-)Arbeit, so dass Geringqualifizierte insgesamt nur schwer eine neue Beschäftigung finden, wenn sie in der Industrie ihre Arbeit verloren haben. Die zunehmende Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien im Zuge der Informatisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verändert die Beschäftigungsstruktur zugunsten hoch qualifizierter Arbeitnehmer und ermöglicht eine flexiblere Arbeitsorganisation und Produktion gleichzeitig erfordert sie das aber auch bei allen Beteiligten, wenn man im Wettbewerb mithalten will. Bis zum Jahr 2050 könnte die Bevölkerung in Deutschland als Folge demographischer Änderungen deutlich - um mehr als 10 Millionen - schrumpfen, die Altersstrukturen in den Betrieben schieben sich fühlbar nach oben und die Betriebe könnten mit erheblichen qualifika-

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torischen Engpässen konfrontiert werden, die auch bei Forschung und Entwicklung negativ zu Buche schlagen könnten. Zudem könnten die Lohnnebenkosten deutlich steigen und negative Arbeitsmarkteffekten zur Folge haben, weil weniger Beitragszahler für die zumindest relativ gestiegene Zahl an Nichterwerbspersonen aufkommen müssen. Schließlich hat angesichts zunehmender Individualisierungstendenzen der normale Vollzeitarbeitsplatz relativ zu unbefristeten Teilzeitstellen und geringfügiger Beschäftigung an Bedeutung verloren - auch wenn die Empirie nicht dafür spricht, dass diese atypischen Beschäftigungsformen die Vollzeitarbeit künftig verdrängen werden. Eher fuhren atypische Beschäftigungen später zur Aufnahme einer Vollzeitarbeit und dienen sozusagen als Sprungbrett, so der empirische Befund des IW. Fasst man vereinfacht den Gesamteffekt der Megatrends auf die volkswirtschaftliche Beschäftigung zusammen, die im Buch anhand verschiedener gut verständlich dargestellter grafischer Modelle des Arbeitsmarktes abgeleitet werden, so zeigt sich insbesondere Folgendes: Sie fuhren angesichts einer geänderten Struktur und erhöhten Elastizität der Arbeitsnachfrage zu einem vergrößerten Differenzierungsbedarf bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Wird dies missachtet, indem die Löhne unflexibel reagieren und Arbeitsmarktregulierungen etwa in Form von Bestandsschutzregelungen die Anpassungsflexibilität blockieren, entsteht Arbeitslosigkeit und läuft in der Folge Gefahr, dauerhaft zu werden. Bereits bekannte Befunde werden bestätigt, dass ein sich durch demografischen Wandel verknappendes Arbeitskräftepotential nicht zwingend auch zu einer verringerten gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosigkeit führen muss. Summa summarum ist also festzustellen, dass trotz der zuletzt günstigen Arbeitsmarktentwicklung gravierende Probleme noch ungelöst bleiben und durch die Megatrends eher verschärft werden. Geringqualifizierte werden künftig eher noch schwerer als bisher eine Stelle finden, und auch die Langzeitarbeitslosigkeit dürfte hoch bleiben, wenn inadäquat reformiert wird und beschäftigungsstärkende Elemente der Agenda 2010 noch weiter demontiert werden. Zentral ist auch folgendes Ergebnis, das einerseits wirtschaftspolitische Ansatzpunkte impliziert und andererseits auch noch vorhandene künftige Unsicherheiten herausarbeitet: „Die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung durch die bessere Integration von Frauen in die Vollzeitbeschäftigung und die stärkere Einbindung von Randbelegschaften (insbesondere Migranten) in den Arbeitsmarkt kann dem Arbeitskräfterückgang entgegenwirken. Offen bleibt, inwieweit sich der Prozess kollektiver Lohnverhandlungen und damit auch das resultierende Niveau an Arbeitslosigkeit an eine veränderte Menge und Struktur des Arbeitsangebots anpassen wird" (S. 195). Fünf Teilkapitel zu den hier angesprochenen Aspekten analysieren an der Schnittstelle von einer gelungenen Verbindung von Theorie, Empirie und Maßnahmenempfehlungen unter der Gesamtüberschrift „Reformoptionen für Arbeit und Humanvermögen in Deutschland" die Wechselwirkungen der Megatrends mit Regulierungsmaßnahmen, Zuwanderung, Sozialstaat, Bildung und Familie sowie den deutschen Institutionen der Arbeitsbeziehungen und akzentuieren die eben genannten generellen Befunde zum Zusammenhang zwischen den Entwicklungstreibern der Wirtschaft und Beschäftigung noch. Herausgegriffen sei hier beispielhaft nur ein Ergebnis zum Bereich industrieller Arbeitsbeziehungen, wozu es heißt: „Der nachlassende Bindungsgrad von Branchentarifverträgen ist ein Indiz dafür, dass Flächentarifverträge den Differenzierungsanforderungen der Megatrends und den Bedürfnissen von Unternehmen in einem volatilen Umfeld noch nicht entsprechen. Vielerorts haben die Tarifparteien daher mit Öffnungsklauseln den Weg für abweichende Regelungen auf betrieblicher Ebene geebnet" (S. 313). Unbestritten besteht hier daher aus ökonomischer Sicht noch weiterer Reformbedarf, der auch hier eingefordert wird (z.B. gesetzliche Klarstellung des Günstigkeitsprinzips zur rechtlichen Absicherung von betrieblichen Abweichungen, Befristung der Nachwirkung von Tarifverträgen). Gleichzeitig steht aber das bisweilen im Rahmen der Evolution von Tarifverhandlungen prognostizierte oder ordnungspolitisch manchmal geforderte „Ende der Flächentarifverträge" im Einklang mit den aktuellen empirischen Befunden nicht auf der Agenda: „Insgesamt gesehen deuten weder theoretische Überlegungen noch empirische Untersuchungen ... über die ökonomischen Auswirkungen unterschiedlicher Tarifverhandlungssysteme darauf hin, dass eine gene-

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relie Verlagerung der Tarifverhandlungen in Deutschland auf die Betriebsebene in jedem Fall von Vorteil sein dürfte" (Schnabel 2008, S. 291). Die Analyse dieser Megatrends und ihrer Wechselwirkungen mit staatlichen Eingriffen und Institutionen mündet nach den höchst instruktiven vorherigen Kapiteln in der überzeugenden wirtschaftspolitischen Schlussfolgerung, dass eine ursachengerechte Therapie unabdingbar ist. Die derzeit häufige Forderung von Kritikern marktkonformer Lösungen nach Forcierung von Symptom kurierenden Maßnahmen zur Beseitigung einer zunehmenden Zahl von schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen etwa durch das Vorschreiben gesetzlicher Mindestlöhne übersieht, dass dies zwar einige akute Einkommensprobleme von bereits in Armut lebenden Personen einigermaßen lindert. Dies kann aber die zugrunde liegenden Ursachen nicht beseitigen. Mittelfristig vergrößern sich die Probleme sogar, da Löhne, die von der jeweiligen Arbeitsproduktivität nicht gedeckt werden, zum Abbau der betreffenden Arbeitsplätze und daraus resultierender Arbeitslosigkeit führen. Zudem vermindern über dem Gleichgewichtslohn der betreffenden Arbeitnehmergruppe liegende Mindestlöhne die Anreize, in Humankapital zu investieren, um sich so gegen die Unwägbarkeiten des Strukturwandels quasi zu „versichern". Sie stellen daher eindeutig den falschen Weg zur Beseitigung der weiterhin ungelösten Probleme am deutschen Arbeitsmarkt dar. Das Übel drohender Armut als Folge von mangelnder oder falscher Qualifikation und Motivation sowie daraus resultierender Arbeitslosigkeit muss stattdessen bei der Wurzel gepackt werden. Die Antwort heißt daher nicht, wie die in Schieflage befindliche öffentliche Debatte allzu oft fordert, in erster Linie mehr Umverteilung, sondern „mehr Teilhabe", um es einmal im politischen Jargon auszudrücken. Praxisnah ausgedrückt: Der Kuchen des Bruttonationaleinkommens muss größer werden, und die Rahmenbedingungen sind so zu setzen, dass mehr Menschen „beim Backen" beteiligt werden. Der Vergleich zu beschäftigungs- und wachstumspolitisch erfolgreicheren anderen Ländern zeigt, dass in Deutschland noch zu viele Menschen nicht oder nur unzureichend im Erwerbsleben integriert sind und zu viele Menschen erhebliche, lang währende Lücken in ihren Erwerbsbiographien aufweisen. Die Folge hiervon ist eine Segmentierung des Arbeitsmarktes, die nicht nur mit einer Erosion der funktionalen Einkommensverteilung zu Lasten der Arbeitnehmereinkommen verbunden ist, sondern auch mit einer Verdienstspreizung zu Ungunsten der Mitte und zugunsten der hohen Einkommen einher geht. Die Überwindung derartiger Segmentationstendenzen dürfte nur gelingen, wenn der deutsche Arbeitsmarkt durchlässiger wird und dies durch eine Bildungs- und Qualifizierungsoffensive konsequent umgesetzt wird. Noch immer ist die Trennung zwischen Insidern mit relativ geschützten und sozial gut abgesicherten Arbeitsplätzen und Outsidern, denen dies verwehrt wird, in Deutschland auffalliger als in vielen anderen Staaten. Daher greift auch die oft wohlfeile Kritik über einen wachsenden Niedriglohnsektor tendenziell zu kurz, wenn auf funktionsfähigen Arbeitsmärkten die niedrigen Markteinkommen durch staatliche Transfers in Form von Kombieinkommen ergänzt werden und dies nicht zu einer Langfristfalle für die Betroffenen wird. Letzteres ist in Deutschland wegen der nur kurzfristigen Inanspruchnahme bislang bei der großen Mehrzahl der Betroffenen gerade nicht der Fall. Problematisch ist es allerdings, wenn zu viele Geringverdiener zu lange für den Übergang in besser bezahlte Stellen brauchen oder ihn auch bei ähnlicher Produktivität wie die Besserverdienenden nicht schaffen, weil die Übergänge vor allem künstlich blockiert sind. Die Ziel führenden Maßnahmen müssen in dieser Lage, für die die Indizien am deutschen Arbeitsmarkt ziemlich eindeutig sprechen, doppelt ansetzen. Mehr Arbeitsmarktflexibilität und verbesserte Bildung und Qualifizierung sind parallel anzusteuern. Vor allem die Politik muss durch Schaffung adäquater Rahmenbedingungen dazu beitragen, Hemmnisse zu beseitigen, die das Einstellungsverhalten von Unternehmen negativ beeinträchtigen. Da das Risiko der Arbeitslosigkeit für Menschen ohne Ausbildung annähernd drei Mal so hoch ist wie für Ausgebildete, besteht ebenfalls Bedarf, die Bildungs- und Qualifikationssysteme sowie die Anreize für mehr Bildung deutlich zu verbessern. Hiermit ließen sich sogar bestenfalls „mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen": „Durch die Verbesserung der Bildungsergebnisse würden Produktivität und

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Beschäftigungschancen gesteigert und - im Falle einer gleichmäßigeren Verteilung - Einkommensungleichheiten verringert" (OECD 2008, S. 15). Diese Grundstrategie, die viele Ökonomen der Richtung nach favorisieren, operationalisiert Hans-Peter Klös (und sein Expertenteam) in dem aus der Diagnose abgeleiteten arbeitsmarktökonomischen Leitbild. Es setzt durchgängig auf eine duale Strategie mit einer klaren Grundsatzentscheidung zugunsten von jeder Form von bezahlter Erwerbstätigkeit (work first), die als Einstieg in den Arbeitsmarkt und damit möglicher Aufwärtsmobilität im Vergleich zum Bezug von Transferleistungen prinzipiell bevorzugt wird. „Um den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern und den Erfolg auch längerfristig zu sichern, muss die Bildung und Nutzung von Humankapital gestärkt werden. In einer Gesellschaft ohne Bevölkerungswachstum kann die Wirtschaftsleistung und deren angemessene Verteilung nur dann gesteigert beziehungsweise gesichert werden, wenn jeder Erwerbstätige mehr zu leisten in der Lage ist. Weiteres Wachstum setzt daher den quantitativ wie qualitativ steigenden Einsatz von Humankapital voraus" (S. 8). Im Gegensatz zur EU-Kommission und nicht weniger nationaler EURegierungen, die das dänische Modell der Flexicurity einer gestärkten Beschäftigungs- bei verringerter Arbeitsplatzsicherheit und per Saldo etwas erhöhter Flexibilität favorisieren, sieht das IW hierin keine Patentlösung (vgl. S. 199 sowie zur umfassenden Kritik Funk 2008). Das IW setzt stattdessen auf eine Zwei-Säulen-Strategie, die zum einen auf eine umfassendere Erwerbsintegration über flexiblere Arbeitsmärkte und bessere Anreize zur Annahme einer Arbeit durch eine bedürftigkeitsgeprüfite negative Einkommensteuer setzt, die geringe Erwerbseinkommen mit Steuergeldern aufstockt. Um den Arbeitsmarkt flexibler zu gestalten, wäre unter anderem eine Abfindungslösung gegenüber der jetzigen Regelung des Kündigungsschutzes zu bevorzugen. Zum anderen beinhaltet der Ansatz eine Anhebung des Bildungsniveaus durch Humankapitalintensivierung nach dem doppelten Grundsatz „Beschäftigung durch Bildung" und ,Bildung durch Beschäftigung" (Eduployment). Flankiert wird dies unter anderem durch eine verstärkte frühkindliche Bildung, eine Weiterentwicklung der Berufsausbildung sowie mehr Wettbewerb und Freiheit im Hochschulwesen. Gesetzliche Mindestlöhne und ein bedingungsloses Grundeinkommen sind aus IW-Perspektive hingegen kontraproduktiv, da sie vor allem die Beschäftigungssituation der Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen verschärfen, die durch die Megatrends zunehmend in Bedrängnis geraten und bei verstärkten Regulierungen noch weniger Integrationschancen hätten. Auch wenn der eine oder andere Aspekt bei Diagnose oder Therapie anders gesehen werden mag, so dürfte eine derartige Doppelstrategie, die auf einer breit angelegten und gekonnt durchgeführten arbeitsmarktökonomischen Analyse beruht, doch die prinzipielle Zustimmung vieler Volkswirte in Deutschland und auch in Teilen der Politik finden - selbst wenn die politische Durchsetzbarkeit wegen möglicherweise recht geringer Kurzfristerfolge bei der längerfristig angelegten Bildungsstrategie sicherlich alles andere als einfach sein dürfte. Als Fazit bleibt demnach festzuhalten: Das Buch ist ein großer Wurf, das in Konzeption, Aktualität und gelungener Ausarbeitung der Einzelkapitel etwas Ebenbürtiges in der deutschsprachigen Literatur zur Arbeitsmarktökonomie nicht hat. Möge es große Verbreitung an Hochschulen, Forschungsinstitutionen sowie hoffentlich auch Ministerialbeamten und Praktikern der industriellen Arbeitsbeziehungen finden und hoffentlich auch in einigen Jahren wieder in aktualisierter Neuauflage erscheinen. Doch selbst wenn man der hier vollzogenen Argumentation nicht gänzlich folgen mag, so sollte dennoch folgendes bedacht werden: Bevor die Kehrtwende bei den Reformen am Arbeitsmarkt, die wesentlich zu Lasten der Arbeitsmarktchancen der Outsider geht, fortgesetzt wird, ist folgendes zu bedenken: Auch wenn in den letzten drei Jahren die nationale Arbeitslosenquote jeweils im Jahresdurchschnitt von 11,7 Prozent um 2,7 Prozent gesenkt werden konnte, so liegt sie noch immer bei 9 Prozent und damit trotz des derzeitigen Auslaufens des Konjunkturaufschwungs weit entfernt von Vollbeschäftigung. Wenn es zutrifft, dass die die Flexibilität steigernden Arbeitsmarkt- und Sozialreformen, die auch die Lohnzurückhaltung mitstimulierten und den Unternehmen Restrukturierungsmaßnahmen erleichterten, wesentlichen Anteil

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an den Arbeitsmarkterfolgen hatten, so gilt tendenziell auch der Umkehrschluss. Kommt es per Saldo zum Abbau von Flexibilität und missachten die Lohnerhöhungen wieder die volkswirtschaftlichen Verteilungsspielräume, so gehen die bisherigen Beschäftigungsgewinne verloren und dauerhaft höhere Arbeitslosigkeit als bisher droht wieder. Dies ist das Minimum an Botschaft, die jeder aus der Lektüre dieses gelungenen Buches mitnehmen sollte.

Literatur Funk, Lothar (2007), Current Structural Changes, Challenges for the German Labour Market and Collective Bargaining, in: Jens Hölscher (ed.): Germany's Economic Performance: From Unification to Euroization, Basingstoke, S. 175-195. Funk, Lothar (2008), European Flexicurity Policies. A Critical Assessment, International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations, Bd. 24/3, pp. 349-384. Funk, Lothar, Dieter Voggenreiter und Carsten Wesselmann (2008), MakroÖkonomik, 8. Aufl., Stuttgart. Funk, Lothar und Eckhard Knappe (1997), Neue Wege aus der Arbeitslosigkeit, in: Leo Montada (Hg.), Beschäftigungspolitik zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, Frankfurt am Main, New York, S. 80-97. Klös, Hans-Peter (1990), MikroÖkonomik der Arbeitslosigkeit, Köln. Klös, Hans-Peter (2001), Deutschland im Widerspruch: der gespaltene Arbeitsmarkt, in: Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hg.): Fördern und Fordern. Ordnungspolitische Bausteine fur mehr Beschäftigung, Köln, S. 63-106. OECD (2008), OECD-Wirtschaftsberichte: Deutschland, Paris. Schnabel, Claus (2008), Moderne Tarifpolitik: Mehr Differenzierung und Flexibilisierung, in: Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V., Verband der Bayerischen Metall- und Elektro-Industrie e.V. und Bayerischer Unternehmensverband Metall und Elektro e.V. (Hg.): Einsichten schaffen Aussichten: die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft - Festschrift für Randolf Rodenstock zum 60. Geburtstag, Köln 2008, S. 288-296.

Catherine

Herfeld

Wirtschaftstheorie und Wissen - Aufsätze zur Erkenntnis- und Wissenschaftslehre von Friedrich August von Hayek Anmerkungen zu dem gleichnamigen Band herausgegeben von Victor Vanberg* Die von Victor Vanberg herausgegebenen Beiträge von F. A. von Hayek behandeln erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen der Sozialwissenschaften. Es handelt sich um Aufsätze und Artikel, Manuskripte und Kommentare, sowie Referate, Vorträge und Reden von Hayek, die ursprünglich in den Jahren zwischen 1936 und 1982 veröffentlicht wurden. Sie bilden in der Abteilung .Aufsätze" den ersten Band der vom Mohr Siebeck Verlag herausgegebenen Reihe „Friedrich August von Hayek - Gesammelten Schriften in deutscher Sprache". Das Ziel der Herausgeber dieser Reihe ist, Bücher und Aufsätze von Hayek zusammenzustellen, die ursprünglich in deutscher Sprache verfasst, oder deren Übersetzung von Hayek selber autorisiert wurden. Damit werden Hayeks bedeutendsten Essays zum ersten Mal in gesammelter Form in deutscher Sprache bereitgestellt. In der vorgelegten Ausgabe wurden 14 Beiträge unter die drei folgenden Themenkomplexe subsumiert: 1) Wahrnehmung, Regeln und Wissen 2) Die Anmaßung von Wissen und 3) Sozialwissenschaft als Theorie komplexer Phänomene. Alle drei Bereiche reflektieren die wesentlichen theoretischen Grundlagen von Hayeks Sozialphilosophie und Wirtschaftstheorie. Damit * Victor Vanberg (Hg), Wirtschaftstheorie und Wissen - Aufsätze zur Erkenntnis- uns Wissenschafislehre, Friedrich August von Hayek, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache Abt. A Band 1, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007,231 Seiten.

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sind die präsentierten Argumente keineswegs neu. Vielmehr bietet die Zusammenstellung eine Möglichkeit, die wissenschaftstheoretische Basis von Hayeks Überlegungen zur Kritik am Sozialismus, der Verteidigung des Liberalismus und einer freien Marktwirtschaft á la Adam Smith, sowie seiner Theorie der kulturellen Evolution kennen zu lernen. Hayek thematisiert die Grenzen sowohl unseres Wissens als auch unserer Vernunft und deren überschätzte Bedeutung für die Erklärung von individuellem Handeln und einer daraus resultierenden Gesellschaftsordnung. Er betont die Bedeutung von Regeln, die unsere Wahrnehmung und Handlungen dominieren, sowie die Unsicherheit der Marktteilnehmer über zukünftige Ereignisse. Er diskutiert die begrenzten Erkenntnismöglichkeiten sowie die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes in den Sozialwissenschaften und die sich daraus ergebenden methodologischen Konsequenzen. Zugleich zeigt Hayek die Bedeutung seiner wissenschaftstheoretischen Überlegungen für die praktische Anwendung von ökonomischen Modellen auf, für Handlungsanweisungen auf pädagogischer und politischer Ebene und die Implikationen für sozialplanerische Konzepte bzw. den Sozialismus als vieldiskutierte Form sozialer Ordnung. Hayek, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, bezieht seine Überlegungen hauptsächlich auf die Ökonomie. Der erste Teil des Buches behandelt vier Beiträge zum Thema „Wahrnehmung, Regeln und Wissen" (Die ersten drei Aufsätze „Regeln, Wahrnehmung und Verständlichkeit" (1962), „Der Primat des Abstrakten" (1968) und „Noch einmal: Angeboren oder anerzogen" (1971) wurden für die vorliegende Sammlung erstmalig ins Deutsche übersetzt.). In seinem Aufsatz „Regeln, Wahrnehmung und Verständlichkeit" (1962) argumentiert Hayek, dass unser Handeln und unsere Wahrnehmung des Handelns anderer Menschen von Regeln, so genannter „Wahrnehmungsmuster" oder „Bewegungsmuster", geleitet sind (S. 5). Hayek bezeichnet diese Erscheinungen als „Regelwahrnehmungen" (S. 18). Unsere Sinne nehmen zuerst abstrakte Merkmale, i.e. eine „Ordnung von Reizen" oder ein Muster wie beispielsweise Gebärden oder Gesichtsausdrücke wahr, welches für uns einen Sinn hat, was wir aber im Einzelnen nicht identifizieren können (S. 15 ff.). Nach bestimmten Regeln nehmen wir unbewusst eine Klassifizierung dieser wahrgenommenen Reize und dann die Spezifizierung eines bestimmten Handelns vor (S. 41 und S. 20 ff.). Die für uns erkennbaren Muster stellen unser gesamtes Wissen dar (S. 14). Wir können nie „in einer Position sein [...], in der wir alle diese Regeln [die unsere Wahrnehmungen und Handlungen] [...] diskursiv angeben könnten" (S. 24). Unsere geistige Tätigkeit ist ebenfalls von Regeln geleitet, die wir nicht spezifizieren oder denen wir uns nicht bewusst werden können (S. 24). Demnach wird alles, worüber wir sprechen und was wir bewusst denken können, in einen „überbewussten" Bezugsrahmen gesetzt, welcher den Sinn unserer Worte und Gedanken bestimmt, sich aber unserer Vorstellungskraft entzieht (S. 24 ff.). Dies hat zur Folge, dass erstens unsere Wahrnehmung und unser explizites Wissen beschränkt sind und zweitens wir die Funktionsweise unseres Verstandes niemals vollständig erklären können. Die daraus entstehenden methodologischen Konsequenzen für das vieldiskutierte „Problem des Verstehens" beispielsweise sind für Hayek unproblematisch. Menschliches Handeln ist für einen Beobachter bereits „verständlich", wenn der Handelnde und der Interpret eine ähnliche geistige Struktur aufweisen (S. 23). Damit schafft Hayek die Basis für die Möglichkeit einer wissenschaftlich fundierten Interpretation und bestärkt die kontinentaleuropäische Perspektive zur Möglichkeit der Introspektion als valides wissenschaftliches Instrumentarium in den Sozialwissenschaften. In seinem Referat „Der Primat des Abstrakten" (1968) führt Hayek die oben zusammengefassten Ideen weiter aus. Er stellt die Behauptung auf, dass unsere bewusste Erfahrung, i.e. Empfindungen, Wahrnehmungen, bildliche Vorstellungen, die wir meist als konkret und primär ansehen, von abstrakten Regeln bestimmt sind, welche eine Ordnung festlegen, nach welcher wir einzelne Objekte klassifizieren. Diese Klassifikation macht es dem Menschen erst möglich, konkrete Einzelheiten zu erleben oder bewusst wahrzunehmen. Der Geist nimmt die Rolle ein, diese Abstraktionen zu vollziehen. Der Abstraktionsprozess kann damit nach Hayek nicht als menschliche Handlung angesehen werden, sondern vielmehr „als etwas, das mit dem Geist geschieht, oder als etwas, das jene Struktur von Beziehungen verändert, die wir als den Geist be-

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zeichnen und die aus einem System von abstrakten Regeln besteht, die seine Funktion steuern" (S. 35). Der Geist wird damit bei Hayek auf ein System abstrakter Regeln reduziert, wobei eine Regel erst eine Klasse von Handlungen definiert. Wie bereits angedeutet leiten neben unserer geistigen Aktivität diese abstrakten Regeln auch unser Handeln, ohne dass sich der Einzelne darüber bewusst ist. Heute einer gängigen Sichtweise in der Philosophie der Handlung folgend, geht Hayek von so genannten Dispositionen für bestimmte Handlungsbereiche aus. Dispositionen sind nicht auf bestimmte Handlungen, sondern auf eine Gruppe von Handlungen gerichtet. Die gemeinsame Wirkung vieler solcher Dispositionen determiniert die verschiedenen Attribute einer bestimmten Handlung in Abhängigkeit der jeweiligen Situation oder Umwelt (S. 33). Die Gesamtheit des Wissens eines Organismus bezüglich der äußeren Welt besteht demnach in den Handlungsschemata, die durch äußere Reize hervorgerufen werden und entsprechende Aktivierungsprozesse innerhalb eines, durch gegebene Dispositionen abgesteckten, Rahmens in Gang setzen. „Das, was wir menschliche Erkenntnis nennen, wäre nach diesem Verständnis ein System von Aktions- bzw. Wahrnehmungsregeln, die noch durch Regeln ergänzt werden, die Äquivalenz, Verschiedenheit oder verschiedene Kombinationen von Reizen bezeichnen" und gemäß der Situation und auf Basis der menschlichen Erfahrung eine Kategorisierung von Wahrnehmungen und Handlungen durch den Einzelnen ermöglichen (ebenda). Was Hayek in diesem Zusammenhang den Primat des Abstrakten nennt, ist „dass die Dispositionen fiir eine Handlungsart, die bestimmte Eigenschaften besitzt, an erster Stelle stehen und dass die betreffende Handlung durch die Überlagerung vieler solcher Dispositionen zustande kommt" (S. 34). Hayeks Sichtweise ist damit vereinbar mit der modernen Handlungstheorie. Ihre Vertreter wie beispielsweise Davidson und Meie betonen, wie Hayek, die Rolle mentaler Faktoren als Steuerungsmechanismen für menschliches Handeln und Denken sowie eine kausal determinierte Struktur der Handlung. Gleichzeitig orientiert sich Hayeks Darstellung ebenfalls am Behaviorismus, wonach alle sensorische Erfahrung ihre besonderen qualitativen Merkmale von jenen Aktionsregeln ableitet, die sie in Funktion setzt (S. 34). Auch wenn Hayeks Ideen im Detail von diesen Perspektiven abweichen, leisten sie noch immer einen aktuellen Beitrag zu dem Unterfangen, innerhalb der Handlungstheorie oder der Philosophie der Handlung menschliches Handeln adäquat zu erklären bzw. zu verstehen (Caldwell 2000, S. 5). Der zweite Teil des Buches beinhaltet fünf Beiträge, subsumiert unter dem Titel „Die Anmaßung von Wissen". In seinem Aufsatz „Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft" (zuerst veröffentlicht in englischer Sprache unter dem Titel „The Use of Knowledge in Society", 1945, in American Economic Review 35, 4, S.519-530. Der Aufsatz ist neben Hayeks berühmten Beitrag „Economics and Knowledge" (1937) eine Reaktion auf die bei Historikern als „Socialist Calculation Debate" bekannte Diskussion (Shearmur 1996, S. 46 ff.). In seinem 1945-Beitrag thematisiert Hayek sowohl die Unzulänglichkeiten bei der Anwendung von ökonomischen Modellen auf praktische Probleme als auch die mit ihnen verbundenen methodologischen Schwierigkeiten. Seines Erachtens haben Probleme in der Wirtschaftstheorie und -politik „ihre gemeinsamen Wurzeln in einer falschen Auffassung über die Natur des wirtschaftlichen Problems der Gesellschaft" (S. 58). Für Hayek steht das „Problem der Verwertung von Wissen" über dem, in der Ökonomie als primär angesehenen, Ressourcenallokationsproblem (S. 58 ff.). Sein Hauptargument gegen Oskar Lange und die Anhänger von Pareto basiert auf der Hypothese, dass Preise nicht alleine die Tauschraten zwischen Gütern sind (Shearmur 1996, S. 46 ff.). Vielmehr sei der Preis eines Gutes „ein Mechanismus zur Vermittlung von Informationen" (S. 65). Die Wirtschaftsakteure haben begrenztes Wissen über die Vorgänge außerhalb ihres unmittelbaren Umfeldes. Dieses Unwissen macht sie nach Hayek erst zu Preisnehmern und damit zum unmittelbaren Motor des Preissystems. Wenn das Wissen eines einzelnen Akteurs größer wäre, dann würden die Akteure sich der Rolle des Preisnehmers verweigern und Entscheidungen treffen, mittels derer sie ihr Umfeld zu ihrem eigenen Vorteil beeinflussen können; und würden damit das Preissystem als solches zerstören. In einem komplexen Umfeld sind die Akteure jedoch nicht in der Lage, die Konsequenzen ihrer Handlungen im gesamtwirtschaftlichen Geschehen vorauszusagen. Daher ist das Preissystem ein Koordinationsmechanismus für Informationen und der

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einzige Weg, auf welchem es als solches funktionieren kann (S. 64 ff.). Um diese Übermittlungsfunktion zu übernehmen, entwickelt sich das Preissystem spontan und aus der Unwissenheit der Marktteilnehmer heraus (S. 67). Bei starren Preisen würde diese Funktion verloren gehen (S. 65). Mit diesem Argument erteilt Hayek der Planwirtschaft eine Absage. Die Planung eines Systems sei schon alleine deshalb unmöglich, weil die Unwissenheit der Akteure am Markt nicht beseitigt und auch in einem sozialistischen System weiterhin bestehen würde. Die Voraussagekraft eines sozialen Planers sei daher stark eingeschränkt, wenn nicht unmöglich, bei der Konstruktion einer „rationalen Wirtschaftsordnung'" (S. 57). Übereinstimmend mit Hume und Smith argumentiert Hayek demnach gegen die Möglichkeit der Planung einer sozialen Ordnung durch die Individuen einer Gesellschaft (Shearmur 1996, S. 1 ff.). Basierend auf diesen Ideen stellt Hayek in seiner Ludwig-von-Mises Vorlesung unter dem Titel „Zur Bewältigung der Unwissenheit" (1978) erneut die Hypothese auf, dass „sowohl das Ziel der marktwirtschaftlichen Ordnung als auch [...] der Gegenstand ihrer theoretischen Erklärung ist, die vermeintliche Unsicherheit jedes einzelnen über die meisten der besonderen Tatsachen, die diese Ordnung bestimmen, zu bewältigen" (S. 101). Durch ihre Handlungen setzen die Akteure einen für sie nicht im Ganzen zu verstehenden Prozess in Gang. Der Markt wird als ein Ordnungsmechanismus verstanden, wobei die Preise die wesentlichen Signale am Markt sind. Sie stellen dem Einzelnen die notwendige Information bereit, um seine Pläne zu adjustieren. Der Wirtschaftswissenschaftler möchte nun das Resultat der Handlungen, d.h. die entstehende Ordnung erklären und voraussagen, ohne jedoch über die spezifischen Daten zu verfügen, die dem individuellen Handeln zugrunde liegen. Hayek kritisiert im Hinblick auf dieses Ziel insbesondere den Aspekt der Messung: spezifische Daten stehen dem Ökonomen nicht zur Verfügung, da es bei der Erklärung von menschlichem Handeln nicht auf objektive Daten, sondern vielmehr auf die individuelle Wahrnehmung ankommt. Die Wahrnehmung jedes Einzelnen ist jedoch unbekannt und kann auch nicht durch sinnvolle Messungen erfasst werden. Das Operieren auf Basis von statistischen Aggregaten und Durchschnitten lehnt Hayek aber ab, da die Sozialwissenschaften es mit „organisierter Komplexität" zu tun haben, bei denen eine dauerhafte konstante Beziehung zwischen Aggregaten und Durchschnitten nicht angenommen werden kann (S. 106). Hayek stützt sich bei diesem Ausdruck auf eine Definition von Warren Weaver. Mit „organisierter Komplexität" ist ein Phänomen gemeint, das nicht aus einer genügend großen Anzahl von ähnlichen Ereignissen besteht, um es uns zu ermöglichen, Wahrscheinlichkeiten für ihr Auftreten festzustellen (S. 107). Messungen als auch Voraussagen auf Basis von statistischen Regularitäten sind in der Wirtschaftswissenschaft, vor allen Dingen in der Makroökonomie, daher nicht von Nutzen, so Hayek. Für die Problematik der menschlichen Motivation als nicht beobachtbare und nicht quantifizierbare „Black Box" wird in Hayeks Beitrag jedoch keine greifbare Alternative präsentiert; und damit bleibt eines der Hauptprobleme zur Erklärung von menschlichem Handeln weitgehend ungelöst. An anderer Stelle verweist Hayek auf die Bedeutung psychologischer Erkenntnisse zur Erklärung des menschlichen Gehirns und der Ausführung seiner Funktionen und spezifiziert die von ihm, in seinem Werk zugrunde gelegten psychologischen Grundlagen in seinem Buch „The Sensory Order: An Inquiry into the Foundations of Theoretical Psychology" (Caldwell 2000, S. 9). An diese Problematik anschließend thematisiert Hayek in seinem Vortrag , Arten des Rationalismus" (1964) die Begrenztheit der individuellen Vernunft und damit unseres praktischen sowie unseres theoretischen Wissens. Er stellt sich gegen die Vertreter des „Rationalismus" oder, wie Hayek sie bezeichnet, des „rationalistischen Konstruktivismus" (S. 74), welche basierend auf Descartes Ideen annehmen, dass die Vernunft es als Fähigkeit des Verstandes ermöglicht, durch einen Prozess des deduktiven Denkens auf die Wahrheit zu stoßen. Institutionen werden von dieser Denkschule als etwas, von dem Menschen Geschaffenes angesehen. Jede Form von regelgeleitetem Verhalten wird abgelehnt, mit der Idee, dass der Einzelne jede Entscheidung und Situation nach dem Wert ihrer Konsequenzen beurteilt (S. 79). Hayek sieht in dieser „antiliberalen' Denkschule die Gefahr des sich manifestierenden Totalitarismus und die Rechtfertigung des modernen Sozialismus' (S. 75 ff.). In seinem Referat „Die überschätzte Vernunft"

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(1982) argumentiert Hayek, dass sich unsere heutige Tradition von moralischen Regeln und sozialen Normen nur entwickeln konnte durch die historische Entwicklung bestimmter Handlungsweisen. Diese werden von den Menschen erlernt und meist unbewusst befolgt, um die Koordination in größeren Gruppen zu bewerkstelligen; sie wurden nicht genetisch determiniert oder bewusst entworfen. Nach Hayek ist eine solche „kulturelle Entwicklung" die Ursache für die Schöpfung der menschlichen Vernunft und nicht umgekehrt. Die bewusste Planung der Bildung einer Zivilisation ist daher nicht möglich. Kulturelle Evolution ist nach Hayek dem Zufall ausgesetzt. Das Erlernen und blinde Befolgen von Regeln bewirkt die Bildung einer Ordnung der menschlichen Tätigkeit über das hinaus, was der Einzelne überblicken kann. Durch selektive Entwicklung nimmt die Bildung von Ordnung zu (S. 121). Das Auswahlprinzip der kulturellen Entwicklung ist nach Hayek dasselbe wie das der biologischen Entwicklung. „Die gesamte Moral [beruht] darauf.., dass sich jene Verhaltensweisen durchgesetzt haben, die der Gruppe, die diese Verhaltensweisen annahm, am meisten geholfen haben, sich zu vermehren" (S. 129). Die Vernunft hat alleine die Fähigkeit, die abstrakten Strukturen der realen Welt zu erkennen aber nicht zu entwerfen. Ebenso wie in der Darwinistischen Theorie der biologischen Entwicklung kann es keine Gesetze der kulturellen Entwicklung geben, da Anpassungen an gegebene Umstände und Veränderungen unvorhersehbar sind; der Ausgang der Entwicklung ist offen. Daher sind Voraussagen über zukünftige Ordnungen fiir den Ökonomen nicht möglich. Basierend auf diesen Ideen zur menschlichen Begrenztheit thematisiert Hayek in seiner Rede zur Verleihung des Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften unter dem Titel „Die Anmaßung von Wissen" (1974) die Probleme der Wirtschaftstheorie und die Konsequenzen für wirtschaftspolitische Handlungsanweisungen. Wie bereits erwähnt, können Ökonomen aufgrund der Komplexität ihres Untersuchungsgegenstandes wichtige Faktoren, wie beispielsweise individuelle Handlungen und deren Einfluss auf komplexe Phänomene, wie die des Marktes, nicht messbar machen; Voraussagen sind nicht möglich. Daher kann laut Hayek die Ökonomie als Wissenschaft nicht die exakten Methoden der Naturwissenschaft übernehmen. Des Weiteren betont Hayek die Begrenztheit der Wissenschaft im Allgemeinen und die damit einhergehende Gefahr „der Forderung nach einer wissenschaftlicheren Lenkung der menschlichen Tätigkeit", sowie das Ersetzen spontaner Prozesse durch eine bewusste menschliche Lenkung (S. 95). Nach Hayek sollte diese „Anmaßung von Wissen" und die Hoffnung auf präzise Voraussagen, insbesondere in den Sozialwissenschaften, verhindert werden (S. 95 ff.). Die Verantwortung des Forschers läge vielmehr darin, seine unüberwindbaren Grenzen des Wissens zu erkennen und eine Umgebung zu schaffen, in welcher sich eine spontan entstehende Ordnung wie die des Marktes, frei entwickeln kann. Die fünf Aufsätze im letzten Teil des Buches stehen unter dem Titel „Sozialwissenschaft als Theorie komplexer Phänomene". Im ersten Vortrag „Wirtschaftstheorie und Wissen" (1936) kritisiert Hayek die neoklassische Fiktion vollkommen informierter Marktakteure. Seines Erachtens könne eine empirisch gehaltvolle ökonomische Theorie nicht den Tatbestand ignorieren, dass individuelles Handeln durch das subjektive Wissen des Einzelnen bestimmt ist und das dieses Wissen nicht nur stets begrenzt und unvollkommen ist, sondern von Mensch zu Mensch variiert und sich in der Zeit wandelt. Wie bereits erwähnt, besteht nach Hayek das empirische Element der Wirtschaftstheorie in Aussagen über den Erwerb von Wissen. Die Tautologien, aus denen die formale Gleichgewichtsanalyse in der Wirtschaftstheorie im Wesentlichen besteht, können seiner Meinung nach nur insoweit in Aussagen über Kausalzusammenhänge in der realen Welt verwandelt werden, sofern in die formalen Sätze Behauptungen über den Erwerb und die Vermittlung von Wissen eingesetzt werden können. Die Annahme, dass die Individuen vollkommene Information über die Preise und die Erwartungen der anderen Marktteilnehmer haben, ist jedoch realitätsfern. Daher bleibt für Hayek das Wissensproblem in der klassischen Betrachtungsweise erklärungsbedürftig. Sowohl der Vortrag „Die „Tatsachen" der Sozialwissenschaften" (1942) als auch die Artikel „Die Theorie komplexer Phänomene" (1961) und „Scientismus" (1969) vereinen Hayeks Grundideen zur Wissenschaftstheorie. Sie befassen sich vor allem mit dem Problem der man-

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gelnden Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher Instrumente in den Sozialwissenschaften. Basierend auf einer Unterscheidung zwischen Theorien „einfacher" und „komplexer" Phänomene trennt Hayek zwischen Wissenschaften, die geschlossene Systeme mit einer relativ geringen Anzahl interdependenter Variablen untersuchen, und Wissenschaften, die sich mit komplexen sozialen Phänomenen und einer hohen Anzahl interdependenter Variablen befassen (Caldwell 2000, S. 12). Mit seiner oberflächlichen Imitation des Physikmodells verkenne der „Scientismus", so Hayeks Argument, die inhärenten Grenzen ihrer Erklärungs- und Voraussagemöglichkeiten, die der Ökonomik als einer Wissenschaft komplexer Phänomene gesetzt seien (Caldwell 2000, S. 10). Da die Naturwissenschaften sich mit einfachen Phänomenen befassen und daher zu vollständigen Erklärungen und spezifischen Voraussagen gelangen können, müssen sich, so Hayek, die Sozialwissenschaften mit Erklärungen des Prinzips und allgemeinen Mustervoraussagen abfinden (ebenda); ein Schicksal, das sie allerdings nur dann mit den Naturwissenschaften teilen, soweit diese sich, wie etwa die Evolutionsbiologie, ebenfalls mit komplexen Phänomenen befassen. Eine „Verwissenschaftlichung der Sozialwissenschaften" bezeichnet Hayek daher als absurd. Diese Problematik bezieht Hayek auch auf die Erklärung von individuellem Handeln. Da dieses durch subjektive Motive verursacht wird, kann nach Hayek die reine Beobachtung der physischen Eigenschaften einer Handlung nicht zur ihrer vollständigen Erklärung beitragen. Das hat zur Folge, dass kein objektives Wissen bei der Erklärung von Handlungen durch subjektive Motive hilft, unabhängig vom Wissen des Beobachters. Laut Hayek ist die Erklärung bewussten Handelns jedoch auch nicht die Aufgabe der Ökonomie, da diese nur auf die Klassifikation von Typen individuellen Handelns abzielt. Diese Typen können wir verstehen. Und wie bereits erwähnt, stellt das „Problem des Verstehens" fur Hayek kein Hindernis dar. Wir interpretieren das, was wir als das bewusste Handeln anderer Leute ansehen, immer in Analogie zu unserem eigenen Denken. Wir teilen ihre Handlungen und die Objekte des Handelns in Kategorien ein, die wir nur aus unserem eigenen Denken kennen, d.h. wir projizieren unser eigenes Klassifikationssystem in andere Personen hinein. Sozialwissenschaftler verwenden die verschiedenen, so klassifizierten Arten individuellen Handelns als Elemente, aus denen sie hypothetische Modelle bauen, um die Muster der sozialen Beziehungen zu reproduzieren (S. 169). Jedoch sind, wie bereits erwähnt, soziale Erscheinungen nicht so gegeben wie die Erscheinungen der Natur, i.e. physische Tatsachen, und daher nicht mit einfachen Gesetzen beschreibbar. Vielmehr sind sie komplexer Natur. Sie sind gedankliche Konstrukte, basierend auf Elementen, die wir in unserem eigenen Denken vorfinden. Die Elemente, aus denen wir soziale Erscheinungen zusammensetzen, sind vertraute Kategorien unseres eigenen Denkens. Sie sind daher auch nur durch Verstehen zugänglich. Die gemeinsame Struktur des Denkens ist die Vorbedingung für gegenseitiges Verständnis und bildet die Grundlage für Interpretationen von komplexen sozialen Strukturen. Hayeks Kritik in diesen Beiträgen richtet sich daher gegen die BeobachterPerspektive des Empirismus und die Möglichkeit der Ableitung von allgemeinen oder empirischen Gesetzmäßigkeiten in den Sozialwissenschaften. Sie richtet sich gegen die Ablehnung der historischen Methode und die Möglichkeit der Erkenntnisgewinnung durch Introspektion, vor allen Dingen durch Vertreter der angelsächsischen Tradition. In den vorgestellten Beiträgen zeigt sich einerseits, dass für Hayek wissenschafts- und erkenntnistheoretische Ideen bedeutende Konsequenzen für die praktische Anwendung der Sozialwissenschaften haben und Theorie nicht losgelöst von Praxis betrachtet werden kann. Andererseits wird sowohl der hohe Grad an Interdisziplinarität sichtbar, der Hayeks Gesamtwerk prägt als auch sein grenzüberschreitendes Denken, welches ihm die Freiheit für neue Ideen jenseits des neoklassischen Mainstreams ermöglichte. Zugleich tragen Hayeks Betrachtungen zu den, bis heute bestehenden, epistemologischen und methodologischen Problemstellungen bei, die innerhalb der Sozialwissenschaften seit Alfred Weber diskutiert werden. Zusätzlich stellen sie die Basis für neue theoretische Entwicklungen in den Sozialwissenschaften dar, wie beispielsweise die ansteigende Bedeutung von Evolutionstheorien, d.h. sowohl der evolutionären Spieltheorie als auch der evolutionären Psychologie, zeigt. Da sie aktuell für die Erklärung von menschlichem Verhalten, für das Zustandekommen und Aufrechterhalten von Institutionen, für

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das Befolgen von moralischen Regeln sowie für soziale Normen und das Zustandekommen einer sozialen Ordnung herangezogen werden, können Hayeks Gedanken als hochaktuell angesehen werden. Sowohl eine evolutorische Sicht von der Entwicklung gesellschaftlicher Prozesse als auch die Idee des Wettbewerbs als ein Entdeckungsverfahren stellten für ihn eine Basis für aussagekräftigere Erklärungen der wirtschaftlichen und sozialen Realität dar, als das vom Gleichgewichtsparadigma der Mechanik inspirierte neoklassische Denken in Modellen. Nicht umsonst wird er oftmals als der Gründervater der Evolutionsökonomik bezeichnet.

Literatur Caldwell, Bruce (2000): The Emergence of Hayek's Ideas on Cultural Evolution, in: Review of Austrian Economics, 13, S. 5-13. Davidson, Donald (1963): Actions, Reasons, and Causes, in: Davidson, Donald (2001): Essays on Actions and Events, Oxford University Press: Oxford, S. 3-21. Mele, Alfred (2003) (Hg.): The Philosophy of Action, Oxford University Press: Oxford. Shearmur, Jeremy (1996): Hayek and After: Hayekian Liberalism as a Research Programme, Routledge, London.

Karen

Horn

Institutions in Perspective Zu der gleichnamigen Festschrift zu Ehren von Rudolf Richter* Mit seinem Aufsatz „The Nature of the Firm" legte der britische Ökonom Ronald Coase schon vor siebzig Jahren die Grundlage für ein Forschungsprogramm, das allerdings erst viel später zur vollen Entfaltung kam. Coase erhielt später, im Jahr 1991, den NobelGedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften. Er hatte zwei ganz schlichte, aber bislang in der Theorie erstaunlicherweise kaum gestellte, geschweige denn beantwortete Fragen im Blick. Erstens: Warum gibt es überhaupt Unternehmen? Warum laufen nicht alle Transaktionen in der Wirtschaft zwischen autonomen, ungebundenen Individuen ab? Welche Funktion erfüllt diese hierarchische Struktur, die mit einer spezifischen Bestimmung von Verfügungsrechten einhergeht und ein Dasein jenseits des Markts, jenseits freiwilliger, umfassend ausformulierter Verträge und des Preissystems fristet? Was macht sie sinnvoll? Und zweitens: Wovon hängt die Größe dieser Organisationen ab? Coase entdeckte, dass sich diese beiden Fragen mit dem Begriff der Transaktionskosten beantworten lassen, das heißt mit der Tatsache, dass die Anbahnung, Ausführung und Überwachung von Vertragsbeziehungen Aufwand verursacht und somit keineswegs umsonst zu haben ist. Aktivitäten innerhalb eines Unternehmens zu bündeln, lohnt sich mithin so lange, wie dadurch im Vergleich zu individuellen Vertragsbeziehungen Transaktionskosten gespart werden. Sobald der dabei allerdings unvermeidliche Verwaltungsaufwand und die Kosten der internen Kontrolle die Transaktionskostenersparnis „auffressen", hat das Unternehmen seine natürliche Wachstumsgrenze erreicht. Der Fokus auf Transaktionskosten und Verfügungsrechte („Property Rights") ist die Basis der Neuen Institutionenökonomik. Er erlaubt, Fragen zu stellen, die im herkömmlichen neoklassischen Ansatz definitorisch ausgeklammert sind - und das hat die Erklärungskraft und das Erkenntnispotential der ökonomischen Theorie über die vergangenen Jahrzehnte erheblich verbessert. In dieser Zeit sind zahlreiche Verästelungen des ursprünglichen Ansatzes hinzugekommen, die jeweils selbst umfassende Forschungsprogramme ausmachen - von der Organisationstheorie

* Ulrich Bindseil, Justus Haucap und Christian Wey (Hg.), Institutions in Perspective. Festschrift in Honor of Rudolf Richter on the Occasion of his 80th Birthday. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007, 407 Seiten.

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über die Vertragstheorie bis hin zur modernen Verbindung von Recht und Ökonomie in „Law and Economics". Um diese Entwicklung hat sich in Deutschland der umtriebige Saarbrücker Wirtschaftstheoretiker Rudolf Richter verdient gemacht, der sich zuvor vor allem auf den Gebieten der Preistheorie, der MakroÖkonomik und der Geldtheorie bewegt hatte. Früh schon holte Richter wichtige Vertreter der Neuen Institutionenökonomik aus den Vereinigten Staaten zu Gastvorträgen und Konferenzen an die Universität des Saarlandes. In den frühen neunziger Jahren brachte er dann selbst sein erstes Buch zu diesem Thema auf den Markt, „Institutionen ökonomisch analysiert: Zur jüngeren Entwicklung auf einem Gebiet der Wirtschaftstheorie", wenig später folgte „Neue Institutionenökonomik: Eine Einführung und kritische Würdigung". Zum unumgänglichen Klassiker und zur Referenzgröße der Zunft wurde das gemeinsam mit Eirik G. Furubotn verfasste Werk „Institutions and Economic Theory: The Contribution of the New Institutional Economics". Rudolf Richter zu Ehren haben nun seine Schüler Ulrich Bindseil (Europäische Zentralbank), Justus Haucap (Universität Bochum und Monopolkommission) und Christian Wey (Technische Universität Berlin) eine Festschrift herausgebracht. Darin liefern deutsche und amerikanische Weggefahrten aus vielen Jahren Perspektivisches, Zusammenfassendes und zum Teil auch Neues, Originelles aus allen Sparten des Richterschen Forschungsprogramms auf den Spuren von Ronald Coase. Die Liste der Autoren ist klangvoll, sie reicht von Oliver Williamson (University of California at Berkeley), Thomas Saving (Texas A&M University) und Victor Goldberg (Columbia University, New York) bis hin zu Arnold Picot (Universität München), Christian Kirchner (Humboldt-Universität Berlin), Wernhard Möschel (Universität Tübingen), Dieter Schmidtchen (Universität des Saarlandes) und Urs Schweizer (Universität Bonn). In seinem Eingangsbeitrag schlägt Oliver Williamson seinen üblichen interdisziplinären Bogen von der Soziologie - die er so weit fasst, dass sie die Organisationstheorie umschließt - hin zur Wirtschaftswissenschaft, insbesondere zur Transaktionskostenökonomik. Williamson hat in der Neuen Institutionenökonomik entscheidende Begriffe geprägt - für die Verankerung eines Forschungsprogramms in der akademischen Welt ist mitunter die Entwicklung einer eigenen Sprache nicht unerheblich. Dabei begreift er die Theorie der Firma, wie sie von Coase begründet wurde, im wesentlichen als Theorie der „Governance structure" - also als eine Theorie darüber, wie bestimmte Ordnungssysteme im Unternehmen zustande kommen, wie sie wirken, welche Probleme sie lösen, und wie sie aufrecht erhalten werden. Um aus der „Black-Box"Sackgasse der neoklassischen Theorie auszubrechen, waren nach Williamson einige wesentliche Schritte notwendig: die Verschiebung des Fokus von der persönlichen Wahl hin zum Vertrag; methodologischer Pragmatismus; ein beherztes Weiterdenken in der Logik der Transaktionskosten dergestalt, dass man sich nicht lange mit einem allfalligen, statischen Befund von Marktversagen aufhält, sondern nach spontan aufkommenden Antworten darauf fragt. Auf die unzähligen noch zu lösenden theoretischen Herausforderungen verweist Claude Ménard (Paris Sorbonne), der langjährige Präsident der International Society for the New Institutional Economics (ISNIE). Für die Welt der Unternehmen könne man beispielsweise mittlerweile erklären, wieso Mischformen (zwischen Hierarchie und Markt) nützlich seien - aber ob sich dieser Ansatz auch auf Fragen der Politik übertragen lasse, sei noch unklar. Ebenso sei theoretisch noch nicht erklärt, warum in der realen Wirtschaftswelt für ein und dieselbe Art der Transaktion verschiedene Organisationsformen überlebten. Müsste sich im Wettbewerb der Organisationsformen nicht irgendwann die eine, überlegene Form herauskristallisieren und durchsetzen? Auch zur Innovation gebe es noch viele offene Fragen, berichtet Ménard. Zum Beispiel gebe es noch keine systematische Antwort darauf, wie Unsicherheit die spontane Entwicklung von Organisationen befördert und technischen Fortschritt erzwingt. Selbst der Prozess der Schaffung neuer Märkte sei noch weitgehend unerforscht. Strittig sei zudem, auf welchem Wege die Anreize untersucht werden müssen, die gesellschaftliche Regelsysteme individuell unterstützen - insbesondere ob ein kognitionstheoretischer Ansatz hier Erfolg versprechend sei, wie ihn der amerikanische Nobelpreisträger Douglass North verfolgt.

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Besonders zum Nachdenken regt der Beitrag von Siegwart Lindenberg (Universität Groningen, Niederlande) an. Lindenberg fragt, wie sich Gesellschaften dagegen absichern, aus einem System der Offenheit und der anonymen Austauschwirtschaft („impersonal exchange") mit Marktzugang für jedermann wieder zurückzufallen in den Zustand der „Natural State Society", in der sich alles um persönliche Beziehungen und Rent-seeking dreht. Er glaubt nicht, dass der Fortbestand der „Open Access Society" allein durch sachliche Anreize gesichert ist und dass der Markt aus sich selbst heraus stabil genug ist, um den eigenen Fortbestand zu gewährleisten. „Unpersönliche Austauschbeziehungen müssen durch vertrauensvolle persönliche Vertragsbeziehungen und durch eine tüchtige Verwaltung flankiert sein - und diese funktionieren nicht gut, wenn sie allein auf sachliche Anreize gestützt sind", schreibt Lindenberg. Dies bringt ihn vorderhand dazu, nach der Motivation menschlichen Handelns zu fragen. Er listet drei Zielsysteme auf: das hedonische (Menschen wollen sich kurzfristig besser fühlen), das gewinnorientierte (Mensche denken strategisch in Bezug auf ihre Zukunft) und das normative Zielsystem (Menschen tun Dinge, weil diese „sich gehören"). Hedonische Ziele erhielten sich und wirkten aus sich selbst heraus; gewinnorientierte und normative Ziele indes bedürften der Flankierung durch gesellschaftliche und institutionelle Arrangements. Soll heißen: kurzfristigen Genuss zu verfolgen, ist fester Bestandteil der menschlichen Natur. Mittel- und langfristig den eigenen Nutzen zu maximieren oder gar andere, nicht vordergründig eigeninteressierte Ziele zu verfolgen, bedarf der Erziehung. Doch wann ist ein normatives Zielsystem nachhaltig? Wann hält es den anderen, konträren Anreizen stand? Wenn die Gesellschaft eine Ordnung hat, die einen möglichst großen Gleichlauf der Interessen ermöglicht, spekuliert Lindenberg, und wenn möglichst viele Mitglieder hinreichend Kenntnis über die Funktionsweise dieser Ordnung haben. Als gefahrlich für die Stabilität der normativen Zielsysteme betrachtet er beispielsweise den Wettbewerbsdruck in der Marktwirtschaft: Dieser führe fast zwangsläufig zu einem stärkeren Gewicht der unmittelbar hedonischen Ziele. Die „öffentliche Moral" leide ebenso, wenn sich Führungskräfte in Wütschaft und Politik daneben benähmen und opportunistisch handelten. Peter Bernholz erzählt den Streit um die Goldreserven der Schweizer Nationalbank nach und vergleicht ihn mit zwei früheren historischen Situationen, mit der Franken-Abwertung von 1936 und den Aufwertungen von 1971. Die Diskussion um die Goldreserven begann 1997, als der damalige Präsident der SNB vorschlug, die Erträge aus dem Verkauf von nicht mehr gebrauchten Reserven - immerhin 1300 Tonnen Gold im Wert von 21 Milliarden Schweizer Franken - in einen Solidaritätsfonds zur Entschädigung von Nazi-Opfern fließen zu lassen. An Gegenvorschlägen für die Verwendung der Mittel mangelte es in der Folge nicht, sie reichten von der Nutzung der Goldreserven zur Finanzierung der Sozialversicherung („Kosa-Initiative") und der Rückzahlung von Staatsschulden bis hin zur Investition in Bildung und Forschung. Die „KosaInitiative ist mittlerweile vom Schweizer Volk abgelehnt, das Geld auf Bund und Kantone verteilt - und der Streit geht auf den jeweiligen Ebenen weiter. Der Punkt von Bernholz in seinem Beitrag ist, dass die politischen, zu erheblichem Gerangel führenden Begehrlichkeiten nur durch transparente und klar abgegrenzte Eigentums- und Verfügungsrechte hätten unterbunden werden können, doch an denen habe es seit jeher gefehlt: wem die „Windfall Profits" aus Währungsneubewertungen und Reservenverkäufen zustünden, sei ein Fall von „Fuzzy and Opaque Public Property Rights". Christian Pfeil und Thorsten Posselt (Universität Wuppertal) gehen der Frage nach, warum Kundenbindungsprogramme im Einzelhandel eigentlich so beliebt sind - und kommen auf Basis von empirischen Analysen zu dem Ergebnis, dass es den Händlern weniger darum geht, die Kunden glücklich zu machen und infolge dessen auf weitere Einkäufe hoffen zu dürfen, als schlicht den Preiswettbewerb zu entschärfen. Bonusprogramme sind also „künstliche Wechselbarrieren" mit wettbewerbswidrigem, preistreibendem Effekt. Eirik G. Furubotn befasst sich mit Finnen, die verschiedene Unternehmensziele zugleich verfolgen; Kenneth E. Scott (Stanford Law School) beleuchtet den Begriff der „Corporate Governance"; Arnold Picot und Marina Fiedler (Universität München) beschäftigen sich mit Verfügungsrechten und Offenheit als Innovationstreiber. Volker Böhm (Universität Bielefeld) und Jürgen Eichberger (Universität Hei-

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delberg), Rudolf Richters einstiger Nachfolger auf dem Saarbrücker Lehrstuhl, untersuchen den Zusammenhang zwischen Produktionseffizienz und unvollkommener Konkurrenz. Ein Beitrag von Justus Haucap, Uwe Pauly (Saarländisches Wirtschaftsministerium) und Christian Wey zur kollektiven Lohnfindung schließt den Band ab - mit dem Ruf nach einem gesetzlichen Rahmen zur Sicherung des Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt.

Literatur Coase, Ronald (1937), The Nature of the Firm, Economica, 1937, 4, 386-405. Richter, Rudolf (1994), Institutionen ökonomisch analysiert: Zur jüngeren Entwicklung auf einem Gebiete der Wirtschaftstheorie. Tübingen. Richter, Rudolf (1996), Neue Institutionenökonomik: Eine Einfiihrung und kritische Würdigung. Tübingen. Richter, Rudolf, und Eirik G. Furubotn (1997), Institutions and Economic Theory: The Contribution of the New Institutional Economics, Ann Arbor. Wolfgang Kerber

An Economic Analysis of Private International Law Anmerkungen zu dem gleichnamigen Band, herausgegeben von Jürgen Basedow und Toshiyuki Kono* Was ist Internationales Privatrecht und weshalb ist es wichtig für Ökonomen? Internationales Privatrecht umfasst alle Regeln, die bei grenzüberschreitenden Sachverhalten darüber entscheiden, welches nationale Recht zur Anwendung kommt. Dies kann sich auf die rechtlichen Regeln selbst beziehen oder darauf, welches Gericht über Streitigkeiten entscheidet (Forum). Diese Kompetenzabgrenzungsregeln sind von zentraler Bedeutung, weil es kein wirkliches internationales Privatrecht gibt, so dass bei grenzüberschreitenden Sachverhalten auf nationales Recht zurückgegriffen werden muss. Umgekehrt aber ermöglicht dies Firmen, bei internationalen Transaktionen zwischen nationalen Rechtssystemen zu wählen (freie Rechtswahl im Rahmen der Privatautonomie). Insofern entscheiden die Regeln des Internationalen Privatrechts auch über das Ausmaß und die Funktionsfahigkeit von institutionellem Wettbewerb zwischen privatrechtlichen Regeln und Gerichten verschiedener nationaler Rechtssysteme. Des Weiteren stellt sich das Problem grenzüberschreitender Externalitäten zwischen den Rechtssystemen, die durch rechtliche Regelungen oder Gerichtsentscheidungen verursacht werden. Als zentrales Problem muss dabei gesehen werden, dass diese Regeln über die Abgrenzung der Reichweite nationalen Rechts selbst bisher fast ausschließlich nationale Regeln sind, was zu der Problematik mangelnder Konsistenz und vielfältiger Konflikte führt. Ordnungsökonomisch betrachtet fehlt somit bisher ein konsistentes Regelsystem für eine globale Ordnung, die aus einer Anzahl unterschiedlicher nationaler Privatrechtssysteme besteht (Global Governance-Problem). Der von den Rechtswissenschaftlern Jürgen Basedow und Toshiyuki Kono herausgegebene Sammelband ist das Ergebnis einer Tagung, die 2005 in Japan stattfand. Auf dieser Tagung gingen sowohl Juristen als auch Ökonomen der Frage nach, inwieweit der spezifische Ansatz der Ökonomischen Analyse des Rechts, der sich auf vielen Rechtsgebieten als fruchtbar erwiesen hat, auch zu dieser Problematik des Internationalen Privatrechts hilfreiche Beiträge leisten kann. Die Ausgangssituation ist dabei schwierig. Zunächst scheinen trotz jahrzehntelanger umfangreicher Rechtsprechung bisher kaum überzeugende allgemeine Prinzipien in der Rechtswis* Jürgen Basedow, Toshiyuki Kono (Hg), An Economic Analysis of Private International Law: Materialien zum ausländischen und internationalen Privatrecht, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2006, 246 Seiten.

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senschaft selbst entwickelt worden zu sein. Vor allem aber gibt es bisher noch relativ wenige Beiträge, die sich aus ökonomischer Perspektive mit dieser Frage beschäftigen. Insofern hatte diese Tagung eine innovative Pionierfimktion, die diesen Sammelband so wichtig macht (aber auch zu einer etwas ungleichgewichtigen Relevanz und Qualität der Beiträge führt). Für einen systematischen Einstieg in die Ökonomische Analyse des Internationalen Privatrechts sind die Beiträge von Hans-Bernd Schäfer und Katrin Lantermann („Choice of Law from an Economic Perspective") und von Christian Kirchner („An Economic Analysis of Choice-ofLaw and Choice-of-Forum Clauses") zu empfehlen. Nach einer klaren Herausarbeitung der methodologischen Weichenstellungen bei Verwendung einer ökonomischen Analyse auf solche rechtlichen Fragestellungen, konzentriert sich Kirchner auf die Frage der Regeln für die freie Wahl von rechtlichen Regeln und Gerichten und betont dabei zu Recht die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen verschiedenen rechtlichen Ebenen (private ordering, national law, supranational law, international law). Die typische Vorgehensweise der Ökonomischen Analyse des Rechts wird jedoch vor allem in dem Beitrag von Schäfer und Lantermann deutlich. Falls keine Wirkungen auf Dritte ausgehen und auch keine anderen Marktversagensprobleme auftreten, dann sollte das Internationale Privatrecht vor allem in der Ermöglichung der freien Rechtswahl bestehen, die sowohl die Wohlfahrt der Transaktionsparteien erhöht als auch zu einen Wohlfahrtserhöhenden Wettbewerb zwischen privatrechtlichen Regeln führen kann. Treten aber durch die freie Rechtswahl Drittwirkungen auf, dann müssen diese bei der Ausgestaltung der Regeln einbezogen werden. In diesen Fällen ergibt sich aber auch ein Übergang zu zwingenden Regeln im Privatrecht und expliziten Regulierungen. Werden in verschiedenen Rechtssystemen von den Gesetzgebern verschiedene Politiken verfolgt („ordre public"), dann ergeben sich hieraus Beschränkungen der freien Rechtswahl (bspw. Mindeststandards). Die extraterritoriale Anwendung dieser nationalen Regeln kann dann auch zur Überregulierung fuhren (wie unter Umständen im Fusionskontrollrecht durch das Auswirkungsprinzip). Schäfer und Lantermann machen deutlich, dass aber auch andere Marktversagensprobleme wie bspw. Informationsasymmetrien bei Verbrauchern wichtig sein können (Verbraucherschutz). So wird analysiert, ob bei der Haftung für international gehandelte Produkte das Recht des Standorts des Herstellers („lex loci delicti"), das Recht des Wohnortes des Opfers („lex domicilii") oder das Recht des Landes, in dem das Produkt verkauft worden ist („law of the country of commercialisation"), angewendet werden sollte. Im Allgemeinen erweist sich das Letztere als die effiziente Lösung. Lesenswerte konkrete ökonomische Analysen unterschiedlicher Fragestellungen im Internationalen Privatrecht (inklusive adäquater Vorgehensweisen bei der ökonomischen Modellierung) finden sich in den Beiträgen von Souichirou Kozuka („The Economic Implications of Uniformity of Laws") und Kazuaki Kagami et al. ("Economic Analysis of Conflict-of-Laws Rules in Tort - Lex Loci Delicti Principle vs. Interest Analysis Approach"). Aus einer eher grundsätzlichen Perspektive interessant sind vor allem die Beiträge von Ralf Michaels und Jürgen Basedow. Ralf Michaels („Two Economists, Three Opinions? Economic Models for Private International Law - Cross-Border Torts as Example") zeigt in überzeugender und spannender Weise, dass zentrale Frontstellungen in der rechtlichen Diskussion über Internationales Privatrecht, nämlich ob man es mehr vom Privatrecht (rechtliche Regelungen zwischen privaten Akteuren) oder vom internationalen Recht (rechtliche Regelungen zwischen Staaten mit ihren Privatrechtsordnungen) her sieht, auch von einer ökonomischen Analyse her entwickelt werden können. Hierbei dient ihm das Haftungsrecht als Anwendungsbeispiel. Was bei seiner Analyse deutlich wird, ist eine differenziertere Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen dessen, was die Ökonomie zur Frage der Gestaltung des Internationalen Privatrechts beitragen kann. Eine etwas größere Skepsis bezüglich der Reichweite möglicher Beiträge der Ökonomie wird in dem Beitrag von Jürgen Basedow („Lex Mercatoria and the Private International Law of Contracts in Economic Perspective") deutlich. Zunächst ist ihm vermutlich zuzustimmen, dass die gelegentlich (insbesondere von Ökonomen) geäußerte Einschätzung, dass die so genannte Lex Mercatoria dem Internationalen Privatrecht überlegen sei und es ersetzen würde, nicht rieh-

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tig ist. Tatsächlich sind beide eher komplementär zu sehen, da bei internationalen Transaktionen im Allgemeinen (trotz Betonung von private ordering) sehr wohl auf die Anschlussfáhigkeit zu einem bestimmten nationalen Recht Wert gelegt wird. Auch hat er sicherlich Recht, dass bei der Formulierung von Regeln des Internationalen Privatrechts nicht immer auf die Wirkungen in Bezug auf die globale Effizienz abgestellt werden kann (was faktisch auch bei Schäfer und Lantermann in ihrem Abschnitt über rules vs. standards implizit diskutiert wird), aber von vornherein nur auf Transaktionskosten abzustellen, wie es Basedow vorschlägt, kann ebenfalls zu kurz greifen. Der generellen Skepsis gegenüber dem Ziel der global efficiency ist allerdings zuzustimmen, was die (auch in anderen Beiträgen ex- oder implizit geäußerte) Notwendigkeit einer differenzierteren normativen Analyse verdeutlicht. Ein eigener, für sich stehender Teil des Sammelbandes bezieht sich auf die Frage der freien Rechtswahl im Bereich des Gesellschaftsrechts und des daraus unter Umständen folgenden Regulierungswettbewerbs. Der Beitrag von Horst Eidenmüller bietet eine sehr gute Analyse der Folgen der faktischen Einfuhrung der freien Wahl des Gesellschaftsrechts in der EU (durch die Ablösung der Sitztheorie durch die Gründungstheorie in der Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit) für das deutsche und europäische Gesellschaftsrecht. Während Eidenmüller die Einführung des Gesellschaftsrechtswettbewerbs begrüßt und primär nach einer Verbesserung seiner rechtlichen Rahmenbedingungen fragt, stellt der folgende Beitrag von Tomoyo Matsui („What Cases Should be Governed by Lex Incorporationis? A Policy and ApplicationCosts Perspective") eher kritische Fragen zur freien Rechtswahl im Gesellschaftsrecht. Er führt eine Anzahl von wichtigen Kritikpunkten und notwendigen Differenzierungen an, die insbesondere bei der konkreten Ausgestaltung zu bedenken sind. Ein kurzer Überblick über eine interessante aktuelle Diskussion zur Reform des japanischen Gesellschaftsrechts (von Yoshihisa Hayakawa) rundet diesen Teil ab. Wenn sich die (Ordnungs-)Ökonomie ernsthaft mit den institutionellen Grundlagen einer internationalen Rechts- und Handelsordnung auseinandersetzen will, dann ist die Beschäftigung mit dem Internationalen Privatrecht unabdingbar, weil es sich hierbei um die Regeln für das internationale Zusammenspiel der nationalen Privatrechtsordnungen handelt. Gleichzeitig besteht hier auch noch erheblicher wirtschafts- und rechtspolitischer Forschungs- und Gestaltungsbedarf. Der hier besprochene Sammelband ermöglicht einen fruchtbaren und sehr lesenswerten Einstieg sowohl in die rechtlichen Fragestellungen als auch in die Problematik ihrer ökonomischen Analyse.

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Ökonomische Ethik Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Andreas Suchanek* Das vorliegende Buch von Andreas Suchanek bildet so etwas wie ein Zwischenfazit an der Arbeit zur Konzeption einer ökonomischen Ethik. Grundlage für seine Konzeption ist dabei die Ordnungsethik von Karl Homann, welcher in zahlreichen Publikationen die methodischen und inhaltlichen Fundamente zu einer ökonomischen Ethik gelegt hat. Das Buch - vorliegend in zweiter Auflage in neu bearbeiteter und erweiterter Fassung - umfasst vier Kapitel und zeichnet sich durch einen klaren roten Faden und einen äußerst zweckmäßigen Aufbau aus: Kapitel 1 (26 Seiten) trägt zunächst das relevante ethische und wirtschaftstheoretische Grundlagenwissen zusammen, welches einer ökonomischen Ethik vorausgesetzt wird; Kapitel 2 (46 Seiten) stellt das Konzept der ökonomischen Ethik ausführlich vor; Kapitel 3 (77 Seiten) thematisiert verschiedene institutionelle Arrangements, um ein besseres Verständ-

* Andreas Suchanek, Ökonomische Ethik, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, 2. Aufl. 2007, 199 Seiten.

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nis für die Funktionsweisen der ökonomischen Ethik zu ermöglichen; und Kapitel 4 (23 Seiten) reflektiert abschließend einige zentrale Erkenntnisse der ökonomischen Ethik und schließt mit einem Ausblick aufkommende Entwicklungen. Die folgenden Anmerkungen diskutieren zunächst das Konzept der ökonomischen Ethik und daran anschließend die Anwendung auf institutionelle Arrangements. Danach wird kurz auf die Reflexion von Suchanek eingegangen. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit. Die moderne Ordnungsökonomik ist auf der Suche nach denjenigen gesellschaftlichen Arrangements, welche es Personen ermöglichen, durch die gemeinsame Bindung an bestimmte Regeln wechselseitige Vorteile auf gesellschaftlicher Ebene zu realisieren ( Vanberg 2003: 52). Genau an diesem Punkt setzt auch das Programm der ökonomischen Ethik an, welches Suchanek folgendermaßen charakterisiert: „Ökonomische Ethik befasst sich mit den Bedingungen der Möglichkeit, wie Moral und Eigeninteresse im Falle ihres Konfliktes miteinander kompatibel bzw. füreinander fruchtbar gemacht werden können, um zu einer gelingenderen gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zu gelangen." (S. 39) Wann immer also Konflikte zwischen Eigeninteresse und Moral auftreten, so ist systematisch nach Wegen zu suchen, beides füreinander verträglich zu gestalten. Aus dieser Überlegung leitet Suchanek die Goldene Regel der ökonomischen Ethik ab, welche zugleich den zentralen Ansatz des Buches darstellt: „Investiere in die Bedingungen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil!" (S. 80). Dabei empfiehlt die ökonomische Ethik, den eigenen Vorteil so zu verfolgen, dass er zugleich zu einer Besserstellung anderer führt. Da Menschen in modernen Gesellschaften immer auch in soziale Kontexte eingebunden sind und niemand sein Leben völlig unabhängig von anderen Menschen leben kann, ist jedes Individuum letzten Endes immer auf andere angewiesen, um seine eigenen Ziele zu realisieren. Um also Moral und Eigeninteresse miteinander zu vereinbaren, sind Investitionen erforderlich, die sich an der Idee der Besserstellung aller Beteiligten orientieren. In der Argumentationsstruktur des Buches spiegeln sich dabei insbesondere die zwei Strömungen wider, welche das Konzept der ökonomischen Ethik maßgeblich beeinflusst haben: Die langjährige Auseinandersetzung Suchaneks mit der Wirtschafte- und Unternehmensethik in Anlehnung an seinen akademischen Lehrer Karl Homann sowie die intensive Beschäftigung mit neueren Theorieentwicklungen in der Ökonomik. Ausgangspunkt seiner Überlegungen bilden die veränderten Bedingungen der modernen Gesellschaft. Um die Umbrüche zu verdeutlichen, mit denen die Gesellschaft seit Aristoteles konfrontiert ist, hebt Suchanek zwei charakteristische Phänomene moderner Gesellschaften hervor: die Individualisierung und die funktionale Institutionalisierung. So erkennt Suchanek in der Freisetzung des Eigeninteresses und dem „Faktum des Pluralismus" (Rawls 1998), welche aus einer Herauslösung des einzelnen aus tradierten Bindungen resultieren und die individuellen Handlungsspielräume sowie subjektiven Möglichkeiten dramatisch erweitern, ein entscheidendes Moment der Moderne und verortet hier den Übergang von einer wertintegrierten zu einer regelintegrierten Gesellschaft. Hinzu tritt die (ordnungsökonomische) Einsicht, dass Menschen gezielt versuchen, die Spielregeln gesellschaftlichen Zusammenlebens im Hinblick auf die Erreichung menschlicher Zwecke zu gestalten, wobei die Maßnahmen häufig nicht-intendierte Folgen haben. Um aber dem Postulat freiwilliger Zustimmung aller Betroffenen gerecht zu werden und dabei gleichzeitig eine Vielfalt der Lebenslagen berücksichtigen zu können, müssen einer ökonomischen Theorie konsequenterweise realitätsnahe Annahmen zugrunde liegen (vgl. Lenger 2008). Mit eben diesem Anspruch stattet auch Suchanek seine ökonomische Ethik aus, wenn er herausstellt, dass „vernünftige moralische Urteile oder Forderungen sich dadurch auszeichnen, AL], dass sie konsensfahige moralische Ideale zu Grunde legen und die je relevanten empirischen Bedingungen angemessen berücksichtigen" (S. 34). Durch die Integration von universellen, normativen Überlegungen unter Berücksichtigung realer, empirischer Bedingungen gelingt

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es Suchanek, die bestehenden ordnungsökonomischen und ordnungsethischen Erklärungen um realitätsnahe normative Forderungen zu bereichern. Das Programm der ökonomischen Ethik stellt somit nicht einfach eine genügsame Wiedergabe der Homannschen Ordnungsethik dar, sondern geht explizit darüber hinaus und verfolgt das Ziel, neuere sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in die ordnungsethische Analyse zu integrieren. Diese Erweiterung erscheint vor allem deswegen nötig, weil eine realitätsnahe Wirtschaftstheorie die faktischen Interessen aller heute betroffenen Menschen zu berücksichtigen hat, um geeignete wirtschaftspolitische Empfehlungen formulieren zu können. Solche konsensfähigen Urteile sind aber nur schwerlich aus einem rein hypothetischen Gesellschaftsvertrag ableitbar, sondern bedürfen genauer Kenntnisse über die zugrundeliegenden empirischen Bedingungen. Unter empirischen Bedingungen sind im Sinne der ökonomischen Ethik alle diejenigen situativen Voraussetzungen (also Beschränkungen und Ermöglichungen) zu fassen, welche die Akteure vorfinden und die ihre Handlungsspielräume bzw. relevanten Alternativen definieren. Hierdurch rückt die ökonomische Ethik, wie sie nun von Suchanek erweitert wurde, zugleich sehr nah an das Forschungsprogramm der kulturellen Ökonomik, die individuelles Handeln im Rahmen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung interdependent, d. h. im Zusammenspiel individueller Handlungen untereinander und in Abhängigkeit der jeweiligen sozialen Lage und aus einer kulturellen Umgebung heraus erklärt (vgl. Bliimle et al. 2004, Goldschmidt 2006). So betont Suchanek ausdrücklich, dass sich moralische Ideale bzw. individuelle Interessen weder beliebig realisieren lassen, noch dass die empirischen Bedingungen die Handlungsmöglichkeiten der Individuen so sehr einschränken, „dass man alles fatalistisch hinzunehmen hat" (S. 45). Insbesondere die Anschlussfähigkeit der ökonomischen Ethik an neuere Theorieentwicklungen ist vorbildlich. So greift die ökonomische Ethik das ordnungsökonomische Konzept der Konsensethik auf, welche im Kriterium der Zustimmung das Legitimationskriterium einer gesellschaftlichen Ordnung sieht {Buchanan 1975). Dementsprechend wird Ökonomik als „die Wissenschaft von den Chancen und Problemen der Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil" (S. 37) verstanden. Anknüpfend an die Erkenntnis, dass Menschen die Spielregeln für ihr gemeinsames (wirtschaftliches) Zusammenleben durch kollektive Entscheidungen festlegen müssen, hat eine ökonomische Ethik laut Suchanek die Aufgabe, „zu einer gelingenden normativen Selbstverständigung in der Gesellschaft als Grundlage einer gelingenden gesellschaftlichen Zusammenarbeit beizutragen" (S. 27). Dennoch ist aus ordnungsökonomischer Perspektive auf ein Grundproblem der ökonomischen Ethik hinzuweisen, welches weiteren Forschungsbedarf nach sich ziehen wird: der Umgang mit Konflikten (vgl. Goldschmidt 2007). Als Kernproblem der Konzeption der ökonomischen Ethik sieht Suchanek - in Anschluss an die Ordnungsethik nach Homann (2002) und Pies (2000) - Dilemmastrukturen, welche aufgrund von Informations- und Anreizproblemen verhindern, dass Investitionen in die Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil vorgenommen werden (S. 52-62). Eine ökonomische Ethik geht somit grundlegend davon aus, dass Interessenkonflikte, welche eine Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil verhindern, über eine Veränderung der Spielregeln mittels der Gestaltung der Anreizstrukturen gelöst werden können. Dahinter steht die Vorstellung, dass durch die Änderung der Rahmenbedingungen ein Gefangenendilemma in eine Win-win-Situation überfuhrt werden kann, so dass letztlich kein Konflikt mehr vorliegt. Insofern ist unter ökonomischer Ethik nichts anderes zu verstehen als Ordnungsethik oder Anreizethik (vgl. hierzu Pies und von Winning 2004). Dabei geht die ökonomische Ethik von der Prämisse aus, dass Moral anreizkompatibel sein muss, d.h. „vereinbar mit dem (wohlverstandenen bzw. reflektierten) Eigeninter-esse" (S. 49). Da aber von keinem Akteur verlangt werden kann, Beiträge zu erbringen, die absehbar zu seiner eigenen Schlechterstellung führen, Menschen zugleich in soziale Kontexte eingebunden sind und es empirisch gegeben ist, dass Menschen sowohl ein anthropologisch als auch ein sozial bedingtes Eigeninteresse verfolgen (S. 47), empfiehlt die ökonomische Ethik, nach solchen Lösungen zu suchen, die zugleich zur Besserstellung anderer führen (S. 80). Denn eine ökonomi-

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sehe Ethik würde - so Suchanek - ihren Sinn verlieren, wenn sie sowohl jegliches eigeninteressierte Verhalten akzeptieren würde, als auch, wenn sie das Eigeninteresse im Konfliktfall immer und unbedingt der Moral unterordnen würde. So erscheint es für Suchanek sinnvoller, danach zu fragen, „ob der Konflikt zwischen Moral und Eigeninteresse nicht dadurch auflösbar wird, dass das Eigeninteresse in den Dienst der Moral, d. h. der gelingenden Zusammenarbeit aller, genommen wird" (S. 50). Damit aber beinhaltet die Konzeption der ökonomischen Ethik die Gefahr, dass die tatsächlichen, in der Realität zu beobachtenden wirtschaftsethischen Konflikte, welche der Autor zuvor in die ökonomische Analyse integriert hat, wieder ausgeblendet werden. Denn wenn Akteure mit einer Situation konfrontiert sind, in der durch eine Gestaltung der Rahmenordnung alle beteiligten Personen bessergestellt werden können, so liegt letzten Endes eigentlich kein wirtschaftsethischer Konflikt vor. So hat Nils Goldschmidt zu recht daraufhingewiesen, dass es sich bei dem Aufdecken von (zugegebenermaßen teils sehr verborgenen) Kooperationsgewinnen um eine allgemeine wirtschaftspolitische Aufgabe handelt und nicht um eine spezifisch wirtschaflethische Fragestellung. Vielmehr ist es vornehmliche Aufgabe einer Wirtschaftsethik, Interessengegensätze dort zu thematisieren, wo sich Konflikte nicht unmittelbar in wechselseitige Vorteile umwandeln lassen. Denn hier bedürfen Individuen einer geeigneten Argumentation und konkreter Hinweise, wie sie sich in einer solchen Situation zum Vorteil aller zu verhalten haben. Anknüpfend an die umfangreiche Darstellung des Programms der ökonomischen Ethik thematisiert Suchanek verschiedene institutionelle Arrangements, um ein besseres Verständnis für deren Funktionsweisen zu ermöglichen und zu demonstrieren, wie eine ökonomische Ethik dazu beitragen kann, bestehende Rahmenbedingungen zu bewerten und zu verbessern. Denn es ist so Suchanek - für die Funktionsfähigkeit von Institutionen auf Dauer notwendig, „dass die Menschen, deren Handlungen sie koordinieren sollen, diese sittliche Qualität auch erkennen [...] [u]nd dazu ist ein Verständnis der Institutionen eine unverzichtbare Voraussetzung" (S. 89). Hierzu stellt Suchanek fundiert und lesenswert drei grundlegende Formen institutioneller Arrangements dar: die Soziale Marktwirtschaft, Unternehmen und ihre Verantwortung sowie Demokratie, Gerechtigkeit und Politik. Dabei gelingt es Suchanek ausgezeichnet, die Kerngedanken des ordnungsethischen Ansatzes nach Homann ein weiteres Mal in anschaulicher Weise darzulegen und durch geeignete Fallbeispiele zu verdeutlichen. Homann und seine Schüler haben in einer Vielzahl von Publikationen herausgearbeitet, dass der systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft die Rahmenordnung ist (vgl. grundlegend Homann und Blome-Drees 1992, 35). So ist es der entscheidende Beitrag der Ordnungsethik, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass moralisch unerwünschte Zustände nicht auf moralische Defekte der Akteure zurückzuführen sind (schließlich ist die Verfolgung eigener Inter-essen eine Grundbedingung menschlicher Existenz), sondern aus Funktionsdefiziten der Ordnung resultieren. Deswegen müssen angestrebte Veränderungen bei einer Reform des Ordnungsrahmens und der Anreizstrukturen ansetzen. Damit rückt - wie es auch die Ordnungsökonomik postuliert - die Gestaltung der Verfassung in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses (S. 165). Allerdings zeigen sich bei Suchaneks ausführlicher Darstellung der Funktionsweise der sozialen Marktwirtschaft (S. 90-115) auch die Grenzen der ökonomischen Ethik. So kann sie die von Suchanek aufgeworfene Frage, wieso die Marktwirtschaft so ungeliebt ist, obwohl sie doch das bisher leistungsfähigste institutionelle Arrangement darstellt, (noch) nicht befriedigend beantworten. Zwar ist seiner Argumentation zunächst zuzustimmen, dass es „ein erhebliches Maß an ökonomischer Bildung" (S. 90) erfordert, „um zu verstehen, warum unter gegebenen Bedingungen der modernen (Welt-)Gesellschaft die Marktwirtschaft offenbar das beste Instrument ist, die gesellschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zu fordern" (S. 90-91). Eine solche Sichtweise verdeckt aber, dass Menschen eine wirtschaftliche Ordnung anhand der für sie relevanten Ergebnisse beurteilen und dabei nicht auf ökonomische Modellbilder zurückgreifen.

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Es ist - so Suchanek - für (negativ) betroffene Menschen natürlich nicht leicht eingängig, warum Wettbewerb unter bestimmten Spielregeln konsensfahig sein soll. Der Autor argumentiert dann aber, dass Leistungswettbewerb zustimmungsfähig sei, weil er Menschen dazu anhält, in die gesellschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zu investieren. Denn „ein solcher Leistungswettbewerb ist kein Interessenkonflikt nach dem Muster eines Nullsummenspiels, bei dem einer gewinnt, was ein anderer verliert. Bei einem Nullsummenspiel werden (netto) Werte weder geschaffen noch zerstört; dies ist beim Leistungswettbewerb, bei dem Wertschöpfung ein zentrales Element ist, offensichtlich anders" (S. 76). Dass aber Leistungswettbewerb insgesamt eine produktive Wirtschaftsordnung darstellt, welche ihre Attraktivität aus einem Wettbewerb um bessere Reoperations- bzw. Tauschchancen zieht, ist unbestritten. Hieraus aber bereits die normative Qualität einer Marktwirtschaft abzuleiten („es ist dieser Wettbewerb um Tauschchancen, der Grundlage der enormen Produktivität - und damit auch der normativen Qualität - von Märkten ist" (S. 98)), ist verfehlt. Denn die Legitimation einer marktwirtschaftlichen Ordnung leitet sich nicht direkt aus ihrer Produktivität ab, sondern resultiert letztlich aus der freiwilligen Zustimmung aller Beteiligten. So läuft die Argumentation der ökonomischen Ethik auch schnell Gefahr, zu verkennen, dass es den systematischen „Verlierern" des marktwirtschaftlichen Prozesses nicht einfach an einem korrekten Verständnis für marktwirtschaftliche Prozesse mangelt, sondern dass sie eben die systematischen Verlierer des Marktspiels sind. „Die grundsätzliche Besserstellung aller ist also notwendigerweise immer wieder mit Zumutungen an einzelne verknüpft, ζ. B. in Form von Arbeitsplatzverlusten bei (gesamtgesellschaftlich notwendigem) Strukturwandel, erheblichen Belastungen der Familie oder der eigenen Gesundheit oder - weniger drastisch - in Form von Preiserhöhungen bei sich verändernder Knappheitsrelationen" (S. 102) schreibt Suchanek. Dabei übersieht er aber, dass die grundsätzliche Besserstellung aller für die Verfolgung eigener Interessen keine (unmittelbare) Rolle spielt. Auch fallt es schwer, Suchanek zuzustimmen, dass mit dem Kriterium der individuellen Leistungsbereitschaft, welches er als das entscheidende Kriterium zur Erlangung erwünschter Ressourcen in einer Marktwirtschaft sieht, „grundsätzlich das produktivste bzw. gerechteste - und damit zustimmungsfähigste" (S. 101) Kriterium gefunden wurde. So ist Hayek zu verdanken, darauf hingewiesen zu haben, dass die Spannung zwischen Gerechtigkeitsurteilen über Marktprozesse und Gerechtigkeitsurteile über Verteilungsprozesse zu einem wesentlichen Teil daraus resultiert, dass Menschen Gerechtigkeitsprinzipien, aus vertrauten Situationen auf marktwirtschaftliche Prozesse übertragen, für die diese Prinzipien gänzlich ungeeignet sind (vgl. Hayek 1976/2003: 285 f., 472 f f ) . Dass eine marktwirtschaftliche Ordnung in ihrem Gesamtergebnis wenn auch nicht in jedem Einzelergebnis - eine attraktive Regelordnung darstellt, verhindert also nicht, dass sie mit vorherrschenden, kulturell geprägten Gerechtigkeitsvorstellungen (bzw. empirischen Bedingungen) in Konflikt gerät. Die spontanen Gerechtigkeitsempfindungen der Menschen müssen also nicht unbedingt ihren aufgeklärten Interessen entsprechen, die ihre Entscheidung zwischen alternativen Regelordnungen bestimmen würden, wenn sie sich über deren faktische Auswirkungen bewusst wären. Damit gerät Suchaneks Erklärungsansatz zum Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit und Effizienz aber in einen grundsätzlichen Konflikt zwischen theoretisch-normativer Begründung und praktischen Handlungsempfehlungen. Denn die moralischen Empfindungen der betroffenen Menschen und damit die Zustimmungsfähigkeit zu einer gesellschaftlichen Ordnung entspringen den sozio-kulturellen Bedingungslagen und historischen Erfahrung der Menschen in ihrer sozialen Welt und stellen nicht einfach ein absolutes, gesellschaftspolitisches Gebot dar (vgl. Goldschmidt und Remmele 2004). Gerade deswegen muss - wie ja auch von Suchanek betont - individuelles Handeln im Rahmen gesellschaftlicher und sozialer Kontexte analysiert werden. Zielpunkt einer gehaltvollen Wirtschaftsethik muss es sein, normative Erwägungen anhand der faktischen Gerechtigkeits vorstellungen zu prüfen und aus den vorliegenden empirischen Erkenntnissen gegebenenfalls Konsequenzen für die Theorie abzuleiten. Vor diesem Hintergrund erscheint es aber doch recht schwierig, das Kriterium der individuellen Leistungsbe-

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reitschaft als das entscheidende Kriterium zur Akkumulation erwünschter Ressourcen in einer Marktwirtschaft zu verstehen, denn eine solche Perspektive vernachlässigt weiterhin bestehende Macht- und Informationsasymmetrien, unterschiedliche Ressourcenausstattungen sowie grundlegend verschiedene Möglichkeiten zur Teilnahme am gesellschaftlichen Prozess. Trotz einiger hier aufgegriffener Kritikpunkte ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Suchanek mit dem vorliegenden Buch ein exzellenter Beitrag zur wirtschaftsethischen Grundlagenforschung gelungen ist, der auch für Ordnungsökonomen von großem Interesse sein dürfte. Dies wird insbesondere bei der abschließenden Reflexion über einige zentrale methodologische wirtschaftsethische Fragestellungen deutlich. So ist das Programm der ökonomischen Ethik bestens geeignet, einige grundlegende ordnungsökonomische Schwierigkeiten aufzuklären. Ausgangspunkt hierfür ist das ehrgeizige Ziel der ökonomischen Ethik, eine Methode entwickeln zu wollen, um die Möglichkeiten einer Besserstellung aller ausfindig zu machen. Ein Ziel, welches von Ordnungsökonomen nur unterstützt werden kann. Dabei begründet sich der Wert der ökonomischen Ethik insbesondere daraus, dass sie für die Begründung konkreter moralischer Forderungen eine sorgfaltige Analyse der konkreten gegenwärtigen Situation und empirischen Bedingungen zulässt (S. 167-177). Auch gestaltet sich Suchaneks Diskussion über das der ökonomischen Ethik zugrundeliegende Menschenbild eines „homo oeconomicus" (S. 177-188) äußerst fruchtbar für weiterführende theoretische Überlegungen. Sich gegen eine verkürzte Interpretation des homo oeconomicus wehrend betont Suchanek die Notwendigkeit, „ein möglichst gut fundiertes Wissen darüber zu haben, wie sich Menschen typischerweise in bestimmten Situationen verhalten" (S. 177, Hervorhebungen im Original). Indem Suchanek beide menschlichen Wesenszüge - d. h. Menschen handeln sowohl eigeninteressiert, sind aber zugleich auch empirisch bedingte Wesen, die biologischen, psychologischen, sozialen und kulturellen Bedingungen unterliegen - in seine Analyse integriert, gelingt es ihm, die ökonomische Ethik anschlussfahig für (ordnungs-)ökonomische Forschung zu halten. Denn unbestrittenerweise stellt das Modell des homo oeconomicus, welcher rational und eigeninteressiert auf die Anreizbedingungen von bestimmten Situationen reagiert, die gemeinsame analytische Basis ökonomischer Forschung dar. Ein solches Analysemodell hat aber nur einen Wert, wenn es auch realitätsnahe Erklärungsmuster menschlichen Verhaltens zulässt. Denn nur wenn theoretischen Modellen eine angemessene Abbildung der Realität zugrunde liegt, sind diese geeignet, normative Schlussfolgerungen zuzulassen. Insgesamt stellt der vorliegende Text, trotz einiger verbleibender Unklarheiten - es sei nochmals auf die angesprochenen Probleme im Umgang mit Konflikten verwiesen - eine ausgezeichnete und sehr gut lesbare Synthese wirtschaftsethischer Fragen aus ordnungs- bzw. anreizethischer Perspektive dar. Damit gelingt Suchanek zugleich eine ernstzunehmende Ausweitung und Weiterentwicklung des Homannschen Ansatzes der Ordnungsethik. Da die Ausführungen laut Suchanek bisher nur ein „Zwischenfazit" (S. VI) an der Arbeit am Konzept der ökonomischen Ethik darstellen, darf man gespannt sein, wie es weitergeht. Die angesprochenen Probleme sollten aber verdeutlicht haben, dass es noch etlicher weiterer Bemühungen bedarf, um das Ziel einer,realistischen Ethik" (S. 189) zu verwirklichen.

Literatur Blümle, Gerold, Nils Goldschmidt, Rainer Klump, Bernd Schauenberg und Harro von Senger (2004) (Hg.), Perspektiven einer kulturellen Ökonomik, Münster. Buchanan, James M. (1975), The Limits of Liberty: Between Anarchy and Leviathan, Indianapolis. Goldschmidt, Nils (2006), A Cultural Approach to Economics, Intereconomics, Vol. 41 (4), S. 176-182. Goldschmidt, Nils (2007), Kann oder soll es Sektoren geben, die dem Markt entzogen werden, und gibt es in dieser Frage einen (unüberbrückbaren) Hiatus zwischen „sozialethischer' und „ökonomischer' Perspektive?, in: Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski (Hg.), Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven für den Pflegesektor, Berlin, S. 53-81.

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Goldschmidt, Nils und Bernd Remmele (2004), Kultur UND Ökonomie (Weber Revisited), in: Gerold Blümle et al. (Hg.), Perspektiven einer kulturellen Ökonomik, Münster, S. 109-126. Hayek, Friedrich A. (2003), Recht, Gesetz und Freiheit. Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie, Tübingen. Homann, Karl (2002), Vorteile und Anreize. Grundlegung zu einer Ethik der Zukunft, Tübingen. Homann, Karl und Franz Blome-Drees (1992), Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen. Lenger, Alexander (2008), Gerechtigkeit und das Konzept des Homo Culturalis, erscheint voraussichtlich in: Nils Goldschmidt und Hans G. Nutzinger (Hg.), Vom homo oeconomicus zum homo culturalis. Handlungen und Verhalten in der Ökonomie, Münster. Pies, Ingo (2000), Wirtschaftsethik als ökonomische Theorie der Moral: Zur fundamentalen Bedeutung der Anreizanalyse fur ein modernes Ethikparadigma, in: Wulf Gaertner (Hg.), Wirtschaftsethische Perspektiven V: Methodische Ansätze, Probleme der Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit, Ordnungsfragen, Berlin, S. 11-33. Pies, Ingo und Alexandra von Winning (2005), Wirtschaftsethik, in: Rolf H. Hasse, Hermann Schneider und Klaus Weigelt (Hg.), Lexikon Soziale Marktwirtschaft. Wirtschaftspolitik von A bis Z, 2. Auflage, Paderborn, S. 495-498. Rawls, John (1998), Politischer Liberalismus, Frankfurt am Main. Vanberg, Viktor J. (2003), Konsumentensouveränität und Bürgersouveränität: Steuerungsideale für Markt und Politik, in: Roland Czada und Reinhard Zintl (Hg.), Politik und Markt, Wiesbaden, S. 48-65.

Christian

Müller

Corporate Social Responsibility als unternehmerische Strategie Bemerkungen zu einem von Hans Thomas und Johannes Hattler herausgegebenen Tagungsband* Wirtschaft braucht Ethik. Aber auch die (Wirtschafts- und Unternehmens-)Ethik kommt ihrerseits nicht ohne eine Beachtung der wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten aus. „Eine Moral", schrieb 1985 Joseph Ratzinger, „die ... die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral." Diese nicht immer ganz spannungsfreien Beziehungen zwischen Ökonomie und Moral auszuleuchten, war die Aufgabe eines internationalen Colloquiums des Kölner Lindenthal-Instituts im Mai 2007, an dem von deutscher Seite u. a. die Ökonomen Horst Albach und Jürgen Dönges sowie der Eichstätter Sozialethiker André Habisch teilnahmen. Der besondere Reiz des nun unter der Federführung von Hans Thomas und Johannes Hattler herausgegebenen Tagungsbandes liegt darin, dass er die Beiträge dieser und anderer Theoretiker mit den Überlegungen und Statements von Führungspersönlichkeiten aus der Unternehmenspraxis konfrontiert und diese miteinander in die Diskussion bringt. Insgesamt stellen die Beiträge je unterschiedliche Facetten ein und desselben Plädoyers für mehr Ethik in den Chefetagen moderner Wirtschaftsunternehmen dar. Während Franz Borgers, langjähriger Geschäftsführer des Automobilzulieferers Borgers AG, verlangt, Führungskräfte sollten menschliche Tugenden pflegen (S. 30), fordert Ludwig Engels, Geschäftsführer der Wegmann-Gruppe, eine Besinnung der Manager auf eine Gesinnungs- und Verantwortungsethik, die er, in Anlehnung an Hans Jonas' ethischen Imperativ, wie folgt formuliert: „Handle so (Führe Dein Unternehmen so), dass die Wirkungen dieser Entscheidungen (und ihrer Umsetzung) verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens"; die Entscheidungen von Managern, so Engels, müssen danach „zur Schaffung und Stabilisierung des Gleichgewichts der Interessen aller am Unternehmen Beteiligten" (S. 66) beitragen. * Hans Thomas und Johannes Hattler (Hg.), Ethik im Dienst der Unternehmensfuhrung, Verlag Metropolis, Marburg 2008, 234 Seiten.

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Dieses Gleichgewicht aller relevanten Interessen herbeizuführen, ist eine wesentliche Aufgabe des vieldiskutierten Konzepts der „Corporate Social Responsibility" (CSR). Mit großer Einmütigkeit betonen die Autoren des Bandes, dass es sich für ein Unternehmen lohnen kann, auf freiwilliger Basis Sozial- und Umweltbelange in ihre Tätigkeit und in die Austauschbeziehungen mit ihren Stakeholdern zu integrieren, oder wie es Borgers in leicht ironisierendem Neudeutsch ausdrückt: „Ethic pays" (S. 30). Ganz in diesem Sinne unterscheidet der spanische Management-Professor Carlos Cavalli in seinem Beitrag eine unternehmerische, eine rechtliche, eine strategische und eine ethische Perspektive, in der sich ein CSR-Engagement von Unternehmen auszahlen kann. André Habisch (S. 152 ff.) belegt zudem mit einer Reihe von Beispielen aus der unternehmerischen Praxis, dass solche und ähnliche Überlegungen mehr als nur theoretische Relevanz haben. Unternehmerische Ethik ist damit kein Selbstzweck, sondern verfolgt eine dienende Funktion: Ethik im Unternehmen, so postulieren die Tagungsteilnehmer, ist selbst ein „Mittel" - nicht nur nach innen, zur Steigerung des „Binnengemeinwohls" des Unternehmens, sondern auch im Sinne der volkswirtschaftlichen Wohlfahrt insgesamt. Den Ordnungsökonomen mag es kaum überraschen, dass sowohl Horst Albach (S. 86), der Nestor der deutschen Betriebswirtschaftslehre, wie auch der ehemalige „Wirtschaftsweise" Jürgen Dönges (S. 95) gerade den viel gescholtenen Markt und seinen Leistungswettbewerb als jene Institution ausmachen, welche die individuellen Eigeninteressen der Marktteilnehmer in Richtung auf das Wohl aller Beteiligten hin koordiniert. Der wettbewerblich organisierte Markt entlastet nach Albach die moralischen Gewissen der Unternehmer, jede einzelne ihrer Handlungen auf ihre Gemeinwohltauglichkeit prüfen zu müssen. Das Handeln des investierenden Unternehmers, so Albach (S. 76), werde von der „Ethik des Schaffens" bestimmt, die einen Vorrang vor der „Ethik des Teilens" genieße. Wer das eine gegen das andere ausspielen wolle, habe nicht verstanden, dass erst der Unternehmer, der heute investiert, die Grundlagen dafür schaffe, dass morgen etwas produziert werden könne, das verteilt werden kann. Schon zuvor hatte Albach (2005, 2007) in zwei vielbeachteten Fachaufsätzen argumentiert, dass die Grundpfeiler der Betriebswirtschaftslehre - die sechs systemindifferenten (Wirtschaftlichkeit, Kombinationsprozess, finanzielles Gleichgewicht) und systembezogenen Unternehmensfaktoren (erwerbswirtschaftliches Prinzip, Alleinbestimmusprinzip, Autonomieprinzip) auf den Schultern der Vernunft-, der Handlungs-, der Verantwortungs- und der Ethik des Schaffens stünden. Die Betriebswirtschaftslehre selbst sei daher Untemehmensethik, so dass sich sogar eine eigenständige wissenschaftliche unternehmensethische Disziplin erübrige. Ein Unternehmer bedürfe daher keiner Moralpredigten, von welcher Seite auch immer. Vielmehr brauche er sich nur mit der Theorie der Unternehmung zu beschäftigen, um ethisch verantwortbare Entscheidungen zu treffen. In dem Kölner Tagungsband wird Albach nun noch deutlicher, woher sein Fach diese ethischen Prinzipien beziehe: So argumentiert er, dass „die christliche Kinderstube" eine der theoretischen Wurzeln der Betriebswirtschaftslehre ist und dass aus dieser Wurzel das praktische unternehmerische Handeln gespeist wird" (S. 73). Zur christlichen Kinderstube gehört für ihn „die Erziehung durch christlich geprägte Eltern, es gehören dazu die Bibel-Lesung, der Katechismus, die Bergpredigt und die Zehn Gebote", darüber hinaus „die historische Person Jesus" sowie das Wissen darum, was gut und was böse ist. „Mir ist der Hinweis wichtig", so Albach, „dass wir wieder stärker bemüht sein sollten, christliche Ethik in Elternhäuser und Schulen hineinzubringen." (S. 89) Unternehmer, so bringen es Thomas und Hattler (S. 10) auf den Punkt, nehmen in diesem Sinne ihre gesellschaftliche Verantwortung gerade dadurch wahr, dass sie nach Gewinn streben. Es wäre daher weder zielführend noch vernünftig, von Führungspersonen zu verlangen, ständig altruistisch zu handeln. Altruismus, argumentiert Joanne B. Ciulla von der University of Richmond, mag ein Motiv für Handlungen sein; seiner Natur nach jedoch ist er kein normatives Prinzip (S. 205). Eine „Verbindimg zwischen den Extremen des Altruismus und des Eigeninteresses" sieht sie demgegenüber in der „Goldenen Regel" („Was du nicht willst, das man dir tu',

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das füg' auch keinem andern zu"), die sich in fast allen größeren Kulturen als grundlegendes moralisches Prinzip findet. Unternehmen haben daher nach Habisch (S. 141) auch wenig Grund, ethische Strategien wie ein CSR-Engagement allein deshalb zu ergreifen, um sich - im Sinne von „Ablasszahlungen" - von moralischer Kritik „freizukaufen". Im Gegenteil: Allzu freigiebiges, philantropisches Verhalten von Unternehmensleitern könne die gesellschaftliche Wohlfahrt sogar verringern, statt diese zu fördern, wenn nämlich „Führungskräfte nach ihrem Gutdünken Spendengelder ausreichen, die letztlich von Aktionären und/oder Steuerzahlern finanziert werden" (S. 140). Während die Beteiligten noch relativ leicht einen Konsens über die Vorteilhaftigkeit von CSR-Strategien erzielen, tun sie sich schon deutlich schwerer mit der Frage, welche unternehmerischen Entscheidungen eine solche ethische Ausrichtung der Unternehmensführung konkret impliziert. Ist die Schließung eines nicht mehr wirtschaftlichen Unternehmens und die Entlassung seiner Arbeitnehmer ethisch zu verantworten? Ist es moralisch vertretbar, den Shareholder value eines Unternehmens zu maximieren, ohne die Interessen der übrigen Stakeholder gleichberechtigt in den Blick zu nehmen? Albach jedenfalls bejaht beide Fragen uneingeschränkt. Noch heute sieht er keinen Konflikt mit seinem christlichen Gewissen, dass er einst, als Mitglied des AEG-Aufsichtsrates, der Schließung der Olympia-Werke durch den Alleineigentümer zustimmte (S. 75). Und eine Maximierung des Unternehmenswerts sei „moralisch gerechtfertigt", weil der Shareholder das Risiko des unternehmerischen Scheiterns trage, während die anderen Stakeholder die Wahrnehmung ihrer Interessen etwa durch Verträge (Kaufverträge, Lieferverträge, Kreditverträge, Arbeitsverträge) sichern könnten. Die ganze Diskussion über Shareholder value und Stakeholder interest macht für Albach deutlich, „wie sehr es an betriebswirtschaftlichem Orientierungswissen fehlt" (S. 88). Und wie steht es um die Beteiligung von Unternehmen an Korruption? Korruptive Handlungen von Managern sind für Antonio Argandona, Wirtschaflsethiker an der IESE Business School in Pamplona, ethische „Fehlstrategien". Der Wettbewerbsvorteil, den sich ein Unternehmen durch Bestechung verschafft, sei nicht nachhaltig und komme es langfristig teuer zu stehen. In einer sozialen (Gefangenen-)Dilemmasituation, in der jeder vor dieser Wahl steht, ist Korruption, mit anderen Worten, eine nicht verallgemeinerbare Handlung, weil, wenn jeder so handelte, alle in einer (pareto-)inferioren Situation landeten: „Die Korruption wird zur gängigen Praxis, das Umfeld gewöhnt sich daran, die Erpressung wächst sich aus." (S. 42) Argandonas detaillierte Vorschläge zur Bekämpfung von Korruption lesen sich somit auch wie die Bestimmungen in einem Hobbesschen Gesellschaftsvertrag zur Überwindung eines anarchischen „Krieges aller gegen alle": Sie reichen von einer unmissverständlichen Willenserklärung eines Verzichts auf jegliche Korruptionsbeteiligung über detaillierte Regelungen zulässiger und unzulässiger Zuwendungen bis hin zur Etablierung unternehmensinterner Überwachungs- und Kontrollsysteme unter Hinzuziehung externer Wirtschaftsprüfer. Doch wie korrespondiert diese Forderung nach einer einseitigen „Abrüstung" im illegalen Streben nach Sondervorteilen mit dem ethischen Imperativ, wenn die Konkurrenten am Markt nicht ebenfalls der Korruption vollständig und glaubhaft entsagen? Schon für Thomas Hobbes war klar, es könne nicht moralisch gefordert sein, dass Beteiligte in einer sozialen Dilemmasituation anderen „sich selbst als Beute darbieten" (Hobbes 1651, 1976, S. 100). Und auch Dönges schlägt angesichts der jüngeren Bestechungsfalle bei Siemens in dieselbe Kerbe: „Tue ich es nicht, weil es unethisch ist, kann ich mich nicht darauf verlassen, dass alle meine Kollegen oder Konkurrenten auch sagen: Ich besteche niemanden, um den Auftrag zu bekommen. Da ich mich nicht darauf verlassen kann, muss ich es auch machen." (S. 96) Korruptes Handeln mag aus dieser Sicht einen kategorischen Imperativ verletzen, sein eigenes Verhalten im ethischen Sinne zu „universalisieren". Insofern aus ordnungsökonomischer Sicht, Bestechung durchaus rational sein kann, kann es jedoch auch einem hypothetischen Imperativ - einer moralischen Klugheitsregel - entsprechen, sich korrupt zu verhalten. Es ist wenig überzeugend, wenn Albach dieses Problem pauschal mit dem Hinweis vom Tisch wischen will, dass „das Gefangenendilemma in unserer Gesellschaft unsinnig" oder zumindest für die Frage

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nach den Gründen und Motiven individueller Entscheidungen irrelevant sei (S. 99 f.). Auch für seine Behauptung, schon bei fünf Prozent Altruismus verliere das Gefangenendilemma „seine vermeintliche Problematik fur die Moral" (S. 100), dürfte er in der einschlägigen formalen spieltheoretischen Literatur kaum eine Grundlage finden. Nun ist es gerade das - auch dem Gefangenendilemma zugrunde liegende - ökonomische Verhaltensmodell des rationalen und eigennützigen Entscheidungsträgers, das bei manchem NichtÖkonomen Unbehagen auslöst. Obwohl die meisten Ökonomen dieses Bild des Homo oeconomicus keineswegs, wie einer der Diskussionsteilnehmer, als „Menschenbild" (S. 103) verstehen, sondern allenfalls als ein brauchbares analytisches Instrument, wird man sicher auch Dönges (S. 109) zustimmen können, der diese Verhaltenstheorie für letztlich ,glicht ausreichend" hält. Als Alternative erwägt er, die Ziele des ökonomischen Rationalentscheiders um ein Gespür für Fairness und Reziprozität zu erweitem. Albach führt in der Diskussion sogar eine „christliche Nutzenfunktion" (S. 100) ein, die als Argument nicht nur den Eigennutz enthält, sondern auch das „Glück des Nächsten" - das allerdings seinerseits erst durch die „christliche Kinderstube" dort verankert werden müsse. Doch so plausibel solche Erweiterungen des ökonomischen Verhaltensmodells auch sein mögen: Sie erkaufen in allen ihren bisherigen Varianten die hierdurch erzielte höhere Realitätsnähe der Aussagen mit einer zumeist drastischen Reduktion ihres empirischen Gehalts (näher Tietzel 1985, S. 83-97). Eine echte Alternative zu diesem analytischen Instrument ist daher nicht in Sicht. Bei aller berechtigten Kritik, die sich der Homo oeconomicus auch in diesem Sammelband gefallen lassen muss, lässt sich so mancher Tagungsbeitrag doch auch als ein Konfirmator der ökonomischen Verhaltenstheorie interpretieren. So sind etwa die Bedingungen, welche Borgers aus seiner unternehmerischen Praxis heraus als Voraussetzungen erfolgreicher Teamarbeit formuliert, letztlich die gleichen wie jene, die schon Alchian und Demsetz (1972) ihrer berühmten Theorie der Teamproduktion zugrunde legten. „Teamwork" ist ein Prozess, der nicht lediglich aus der Addition der einzelnen Arbeitsanteile hervorgeht. Der Grenzbeitrag eines jeden einzelnen Teammitglieds zum Erfolg der ganzen Gruppe ist in aller Regel mehr als sein bloßer relativer Anteil und kann im Einzelfall sogar 100 Prozent erreichen. Entsprechend schwer fällt hier eine Entlohnung nach dem Grenzprodukt, so dass sich nach Borgers (S. 17) besondere Anforderungen an Arbeitsorganisation und Entlohnung stellen. Entsprechend lesen sich Borgers' Voraussetzungen erfolgreicher Teamarbeit wie Olsons (1965, 1968) Bedingungen der privaten Bereitstellung öffentlicher Güter: Das Kollektivgut „Teamerfolg" wird nur in dem Maße bereitgestellt, in dem sich ein klar messbares Ziel, eine „informelle Führung" (ein „O/ionscher Großer"!) und eine homogene Zusammensetzung des Teams vorfinden lassen. Wo Teams funktionieren, ist nach Borgers auch Subsidiarität im Unternehmen praktikabel: Dieses aus der katholischen Soziallehre stammende Prinzip wendet der Unternehmer Borgers in dem Sinne auch auf die innerbetrieblichen Abläufe und Prozesse an, dass überall dort, wo Delegation möglich ist, auch delegiert werden sollte - auch und gerade, um den Mitarbeiter in seiner menschlichen Würde ernst zu nehmen. So verstanden, kann innerbetriebliche Subsidiarität auch die gesetzlichen Mitbestimmungseinrichtungen entlasten, die nach Borgers auf einem höchst „technokratischen Regulierungsprinzip" beruhen: „Wir sagen den „abhängig Beschäftigten', was gut für sie ist, schaffen dafür bürokratische Systeme - schließlich soll ja alles gerecht zugehen - und belasten die Begünstigten dann mit den Kosten, die die Leistungen erheblich verwässern, oft zu Missbrauch einladen und schließlich die Eigeninitiative lähmen bis hin zur Fortpflanzung." (S. 28) Es ist insgesamt ein überaus anregender und kurzweiliger Sammelband, den Thomas und Hattler vorlegen. Niemand wird erwarten, dass in einem einzigen solchen Buch alle Beziehungen zwischen Ethik und Ökonomik erschöpfend erörtert werden. Aber immerhin einen Schritt weit dürften sich die Vertreter dieser beiden Schwesterdisziplinen in Köln doch näher gekommen sein.

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Literatur Albach, Horst (2005), Betriebswirtschaftslehre ohne Unternehmensethik, Zeitschrift fiir Betriebswirtschaft 75, S. 809-831. Albach, Horst (2007), Betriebswirtschaftslehre ohne Unternehmensethik: Eine Erwiderung, Zeitschrift für Betriebswirtschaft 77, S. 195-206. Alchian, Armen A. und Harold Demsetz (1972), Production, Information Costs, and Economic: Organization, American Economic Review 62, S. 777-795. Hobbes, Thomas (1651, 1976), Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, Frankfurt am Main. Olson, Mancur (1965, 1968), Die Logik des kollektiven Handelns: Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen. Tietzel, Manfred (1985), Wirtschaftstheorie und Unwissen: Überlegungen zur Wirtschaftstheorie jenseits von Risiko und Unsicherheit, Tübingen.

Benedikt Römmelt

Thomas Schellings strategische Ökonomik Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von Ingo Pies und Martin Leschke* Warum sind in einem akademischen Hörsaal die ersten Reihen unbesetzt, während der Rest des Auditoriums gut gefüllt scheint? Füllen sich die Reihen von hinten auf? Sichern sich die Ersten die besten Reihen und alle später Kommenden füllen den Rest des Saales nach hinten auf? Möchte keiner in der ersten gefüllten Reihe sitzen? Ist eine solche Sitzordnung überhaupt von den Hörern gewollt? Fragen wie diese stellt Schelling (1978, 11 ff.). Einem Essayisten ähnlich, mit einfachen, lebensnahen Beispielen schreibt Schelling über komplexe Zusammenhänge und bringt durch neue Denkanstöße und Impulse Farbe in graue Theorie. Schellings Ansätze beschäftigen sich multithematisch mit Konflikt-, bzw. Entscheidungssituationen. Hierbei deckt der Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 2005 auch Themenfelder außerhalb klassischer ökonomischer Probleme ab: unter anderem sind Kriegs-, Nuklear- und Rüstungsstrategien (Schelling & Halperin, 1961), zwischenmenschliches Verhalten (Schelling, 1978), Terrorismus {Schelling, 1984, 309 ff.), Ethik und Recht (Schelling, 1984, 83 ff.) oder auch das Klima (Schelling, 1992) Gegenstand seiner Arbeiten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass einem Mann wie Schelling im Jahr 2006 die 13. Tagung im Rahmen der Reihe „Konzepte der Gesellschaftstheorie" gewidmet wird. Die Beiträge der Tagung liefern die Grundlage des von Pies und Leschke im Jahr 2007 herausgegebenen Bandes "Thomas Schellings strategische Ökonomik". Multidisziplinär werden Schellings Ansätze aufgearbeitet, erklärt und bewertet. Schon im ersten, einführenden Beitrag beschreibt Ingo Pies (S. 1-37) nicht nur Schellings Werke und seine Themenvielfalt, sondern auch dessen Einfluss auf die Gesellschaft. Zunächst erläutert Pies Grundlagen der Spieltheorie und Schellings Interpretation dieser. Anhand von Schellings Kritik am Nullsummendenken (S. 4) und seiner Forderung, Konflikte als Verhandlungsspiele anzusehen (S. 7), belegt der Autor Schellings positiven Beitrag zur Forschung. Auch normativ leistet Schelling seinen Forschungsbeitrag, wie Pies anschaulich vermittelt. Er belegt diesen mit einem Überblick über Schellings Anwendung seiner Theorien nicht nur auf Militärstrategie, nationale Sicherheit und Rüstungskontrolle, sondern auch auf den Energiemarkt, die Klimapolitik, das organisierte Verbrechen und ethische Probleme wie die Sterbehilfe (S. 20 ff.). * Ingo Pies und Martin Leschke (Hg.), Thomas Schellings strategische Ökonomik, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007,232 Seiten.

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Im anschließenden Beitrag (S. 39-61) beschäftigt sich Guido Schröder mit der Frage, inwieweit Schelling,s Ansätze und transdisziplinäre Beiträge auf meritorikfreie Weise Lösungsansätze konkreter gesellschaftlicher Probleme darstellen. Am Beispiel des Drogenkonsums beschreibt Schröder die Theoriedefizite der paternalistisch meritorischen Denktradition (S. 45 f.). Schelling hingegen vermeide mit seinem originär ökonomischen Ansatz die methodischen Fehler dieser paternalistischen Meritorik (S. 47), da er primär überprüfbare Größen zur Erklärung des Verhaltens heranziehe, anstatt sich mit der wissenschaftlich weitaus schwierigeren Erklärung von Veränderungen der Präferenzordnungen aufzuhalten (S. 53). Hierbei bemüht sich Schröder, Inkonsistenzen in der Arbeit des „Meritorikers" Becker aufzudecken (S. 56). Im Gegensatz zu diesem gelinge es Schelling hingegen, nicht nur den ökonomischen Ansatz weiterzuentwickeln, sondern auch Impulse zur Lösung des Drogenproblems zu geben (S. 57). Zwar liegt Schellings Arbeitsschwerpunkt nicht in der Klimapolitik, jedoch gibt er weitreichende Denkanstöße in dieser globalen Diskussion. Diese sind Thema des Beitrags von Bernd Hansjürgens (S. 85-111). Zunächst bespricht der Autor die Besonderheiten des Klimaproblems, allen voran die Unsicherheit bei der Prognose der Klimaentwicklung (S. 88) und die Gefahr des Freifahrerverhaltens bestimmter Länder im Rahmen der C0 2 Vermeidung (S. 90). Anschließend analysiert Hansjürgens den institutionellen Rahmen des Kyoto-Protokolls und spricht die Einwände gegen dessen Beibehaltung an (S. 90 ff.). So gelinge es, bedingt durch die geringe Partizipation - nur 38 Staaten ist eine Minderungsquote vorgegeben - lediglich ein schwaches ökologisches Ziel zu erreichen. Die kurzen Zeitfristen, die hohen Kosten, die einseitige Fokussierung auf „outcomes" sowie unzureichende „Compliance-Mechanismen" verbunden mit schwachen Sanktionsregeln scheinen den Staaten nur geringe Anreize für Investitionen in den Klimaschutz zu geben. Nach einer Analyse verschiedenster Ansätze für eine mögliche Architektur einer künftigen Klimapolitik wendet sich Hansjürgens wiederum Schellings Ideen zu. Dieser meine, das Wachstum eines Entwicklungslandes sei die beste Maßnahme zum Schutz vor dem Klimawandel (S. 99). Weiterhin schlägt Schelling (1992, 12) ein dem Marshall-Plan ähnliches Vorgehen vor. Jedoch zweifelt Hansjürgens daran (S. 108), ob ein solcher Weg wirklich erfolgversprechend zur Lösung des Klimaproblems beitragen kann. Ein weniger globales als vielmehr individuenzentriertes Problem mit dem sich Schelling beschäftigt, die Theorie der Self-Command, ist Gegenstand des Beitrags von Andreas Ortmann und Angelika Weber (S. 121-134). Die Autoren geben hierbei einen Überblick über Schellings Ansätze zum „Selbstmanagement" - in dessen Sprache auch „Strategie Egonomics" (S. 122). Schelling sehe es als hilfreich an, den Konflikt der „zwei Selbst" eines Menschen als strategisches Spiel aufzufassen. Jedoch hätten Schellings Arbeiten zur Self-Command weniger Einfluss auf die Wissenschaft als dessen sonstige Werke. Dies mag daran liegen, dass die Idee der „zwei zeit-inkonsistenten Selbst" schon im 18. Jahrhundert von Smith formuliert wurde (S. 126) und Schellings Interpretationen zwar genial, jedoch nicht neu seien und er keine Formalisierung seiner Theorie lieferte (S. 128). Joachim Behnkes Aufsatz (S. 155-174) thematisiert Schellings Theorie der „Focal Points". Zentral für diese seien reine Koordinationsspiele im Rahmen derer keine explizite Kommunikation möglich sei und dennoch bestimmte Handlungsalternativen eine Prominenz erhielten (S. 158 f.). Diese prominenten Focal Points helfen, Koordinationsprobleme zu lösen (S. 166). Im Laufe der Analyse der Focal Points Theorie spricht Behnke ausdrücklich die besondere Problematik von Focal Points in Mixed-Motive-Games (S. 162 ff.) an und diskutiert das Empfinden von „Fairneß" (S. 167 ff.). Die Veröffentlichung von „Strategy and Arms Control" zusammen mit Halperin im Jahr 1961 machte Schelling zu einem Kennedy Berater. Schellings militärstrategische Ansätze analysiert Klaus Beckmann in seinem Beitrag (S. 189-216). Nach einer Beschreibung der Relevanz der Spieltheorie für die Militärstrategie (S. 190) thematisiert Beckmann, inwiefern ein Handeln auf der Meta-Ebene Halbdilemmata durch Commitment lösen kann (S. 199 ff.). Vorraussetzung sei jedoch die Glaubwürdigkeit der Handlungen auf der Meta-Ebene (S. 204 f.). Auch eine gewisse Risikobereitschaft, manchmal sogar Waghalsigkeit („Brinkmanship"), beeinflusse den Er-

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folg militärischer Strategien (S. 206 ff.). Weiter beschreibt der Autor die Rolle von Focal-Points in Militärspielen und wie Konventionen auf Meta-Ebene zu beeinflussen sind (S. 209 ff.). Beckmann gelingt es, mit seinem Artikel den Anspruch, Schelling als Pflichtlektüre bei Militärs einzuführen, zu begründen. Wenn sich Wissenschaftler unterschiedlicher (ökonomischer) Fachrichtungen verschiedenster Universitäten treffen, um Schelling eine Konferenz zu widmen, kommt es zu einem Buch wie dem vorliegenden. „Schellings strategische Ökonomik" zeigt die Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten seiner spieltheoretischen Ansätze. Dessen multithematisches Gesamtwerk findet sich in diesem Band durch die Auswahl der im Fokus variierenden Beiträge wieder. Besonders durch die Korreferate - mit Ausnahme von Pies einleitendem Beitrag werden alle Aufsätze dieses Bandes von jeweils zwei Autoren korreferiert - entsteht ein vertiefender Diskurs. Die Kernaussagen der Hauptaufsätze werden nicht nur kommentiert, sondern kritisch reflektiert und kontrovers diskutiert. Schellings stringente Anwendung seines Rational-Choice basierten Arbeitsansatzes wird hierbei deutlich und seine konsequente Übertragung desselben auf verschiedenste Disziplinen wird klar dargestellt. Die Interpretation, dass soziale Interaktionen nicht-kooperative Spiele sind und auf diese Weise analysierbar sind (Kocher & Sutter, 2005, S. 802), macht ihn zu einem Pionier der angewandten Spieltheorie. Er argumentiert stets zielorientiert und rational. Folglich stehen seine Lösungsansätze auf einer nur schwierig angreifbaren Metaebene. Zwar sind die auf diese Weise gewonnenen Resultate nicht immer dem Zeitgeist entsprechend, aber dennoch für sich gesehen auf neutraler Ebene nachvollziehbar. Besonders deutlich wird dies anhand von Schellings Ansichten zur globalen Erwärmung und seiner Interpretation des Dilemmas beim Streben nach einer Reduzierung des C0 2 -Ausstoßes (vgl. Schelling, 1992). Dieser Kongressband führt nicht nur in die Grundlagen der Schellingschen Spieltheorie ein, sondern bietet auch gerade fortgeschrittenen Interessierten weiterführende Hinweise zu Anwendungsmöglichkeiten und zur Themenunabhängigkeit spieltheoretischer Ansätze. Das Buch stellt mehr als nur einen Strauss bunt zusammengewürfelter Aufsätze dar. Vielmehr spiegelt es die Multithematik von Schellings Schaffen, die Konsequenz der Anwendung seiner theoretischen Basis und seinen Einfluss als Berater auf die globale Politik wider.

Literatur Kocher, Martin und Matthias Sutter (2005), Spieltheoretische Analyse von Konflikt und Kooperation: Zum Nobelpreis an Robert Aumann und Thomas Schelling. Wirtschaftsdienst, 85. Jg., S. 802-808. Schelling, Thomas C. und Morton H. Halperin (1961), Strategy and Arms Control: The summer study on arms control of the American Academy of Arts and Science, New York.

Schelling, Thomas C. (1960), The strategy of conflict, Cambrigde Massachusetts. Schelling, Thomas C. (1978), Mircromotives and Macrobehavior, New York. Schelling, Thomas C. (1984), Choice and Consequence: Perspectives of an errant economist, Cambridge

Massachusetts. Schelling, Thomas C. (1992), Some economics on global warming, The American Economic Review, Vol. 82 Issue 1, S. 1-14.

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The More Economic Approach to European Competition Law Besprechung des gleichnamigen Buches, herausgegeben von Dieter Schmidtchen, Max Albert und Stefan Voigt* Während die Notwendigkeit der europäischen Wettbewerbspolitik stets unumstritten war, so war und ist jedoch ihre Ausgestaltung häufig Gegenstand kontroverser Diskussionen. Eine solche neue Kontroverse hat sich in der jüngeren Vergangenheit an dem so genannten ,jnore economic approach" entzündet, der seit einiger Zeit die Diskussion über die europäische Wettbewerbspolitik dominiert. Dieser ökonomischere Ansatz bestimmte in den letzten Jahren die gesamten Reformen in der europäischen Wettbewerbspolitik. Nach der Neuordnung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 81 und 82 EGV durch die VO 1/2003 und nach der grundlegenden Revision der europäischen Fusionskontrolle im Jahr 2004 stehen nun die Missbrauchsaufsicht gegenüber marktbeherrschenden Unternehmen und die Beihilfenkontrolle auf dem Prüfstand. Mit anderen Worten, der „more economic approach" scheint sich zu einem neuen Leitbild der europäischen Wettbewerbspolitik zu entwickeln. Seither wird sowohl zwischen Juristen und Ökonomen als auch zwischen den Ökonomen selbst heftig über die Chancen und Risiken dieses Ansatzes diskutiert. Diese kontroverse Diskussion war Gegenstand der Jahreskonferenz für Neue Politische Ökonomie im Oktober 2006, deren Beiträge in diesem Werk nun zusammengefasst erschienen sind. Den Herausgebern ist für ihre Arbeit zu danken. Das Ergebnis ist ein insgesamt gefalliger Band, der hervorragend die aktuelle Diskussion über die verschiedenen Facetten des „more economic approach" widerspiegelt. Der Band enthält eine Reihe von Aufsätzen zu insgesamt zehn Themenkreisen, die jeweils durch Referat und Korreferat abgedeckt werden und das breite Spektrum der akademischen Meinungen abbilden. Von den Problemfeldern der geeigneten Ziele der Wettbewerbspolitik, über Fragen der Politischen Ökonomie der Wettbewerbspolitik und den Problemen der privaten Rechtsdurchsetzung bis zur Bedeutung von Leniency-Programmen sowie den ökonomischem Problemen von Auflagenentscheidungen in der Fusionskontrolle, der Relevanz von Simulationsanalysen und dem speziellem Feld der Beihilfenkontrolle, - alle aktuellen Problemfelder der europäischen Wettbewerbspolitik werden angesprochen. Bedauerlicherweise ist es an dieser Stelle nicht möglich, auf alle Beiträge des Sammelbandes in gleicher Weise einzugehen. Daher kann hier nur eine Auswahl einzelner Beiträge erfolgen, die jedoch stellvertretend das Interesse an diesem Werk wecken sollen. Christian Kirchner eröffnet den Sammelband mit seinem Beitrag über die Ziele der europäischen Wettbewerbspolitik {„Goals of Antitrust and Competition Law Revisited'). Im Rahmen einer positiven Analyse erklärt er die Entstehung des „more economic approach" aus dem Zusammenspiel der an der Schaffung und Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts beteiligten Akteure. Im Mittelpunkt steht hierbei vor allem die Interaktionsbeziehung zwischen der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof bzw. dem Gericht Erster Instanz. Kirchner argumentiert, dass mit der Einführung des „more economic approach" die europäische Wettbewerbspolitik nun stärker dem tatsächlichen Wettbewerbsziel verpflichtet ist und ihre integrationspolitische Zielsetzung - die immer ein zentrales Fundament der europäischen Wettbewerbspolitik bildete - mehr und mehr abstreift. Mit Hilfe der Neuen Institutionenökonomik lässt sich dieser „Paradigmenwechsel" erklären. Dabei verweist Kirchner darauf, dass die Rechtssetzung im Bereich des europäischen Wettbewerbsrechts als das Ergebnis eines Spiels zwischen den verschiedenen Akteuren erklärt werden kann. Auf der Seite der Kommission findet er zwei Hauptmotive, die die Einführung des ,/nore economic approach" erklären. Zum einen wollte sich die Kommission gegenüber der Rechtsprechung der Europäischen Ge* Dieter Schmidtchen, Max Albert und Stefan Voigt, The more economic approach to European competition law, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007, 359 Seiten.

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richte stärker absichern, und zum anderen war es die beabsichtigte Anpassung des europäischen Wettbewerbsrechts an das US-amerikanische. Insbesondere dem ersten Argument Kirchners ist uneingeschränkt zuzustimmen. So waren es gerade die Niederlagen der Europäischen Kommission gegenüber dem Gericht Erster Instanz in den Fusionsfallen Airtours/First Choice, Schneider/Legrande und Tetra-Laval/Sidel im Jahr 2002, die als Auslöser der Reform der Fusionskontrolle anzusehen sind. Inwieweit das Harmonisierungsargument hier nicht mehr oder weniger nur eine geeignete Legitimationsbasis für die Neuordnung der europäischen Wettbewerbspolitik darstellt, darf kritisch hinterfragt werden, vor allem vor dem Hintergrund, dass die materiellrechtlichen Unterschiede zwischen dem europäischen und US-amerikanischen Wettbewerbsrecht ohnehin nur marginaler Natur waren. Daher ist es vor allem das erste Argument, welches als diskussionswürdig angesehen werden muss. Für Kirchner ist nun entscheidend, dass die Initiierung des ökonomischeren Ansatzes in der Wettbewerbspolitik den Rechtssetzungsprozess im europäischen Wettbewerbsprozess nachhaltig verändert. So könnten gerade die Europäischen Gerichte Verlierer dieses Prozesses sein, da sich bei Anwendung des wirkungsbezogenen Ansatzes (effects-based approach) die indirekte Rechtssetzungsmacht der Kommission erhöht, während sich die diskretionären Interpretationsspielräume der Europäischen Gerichte reduzieren. Allerdings wendet Kirchner gegen eine solche mögliche Entwicklung selbst ein, dass sich die diskretionären Interpretationsspielräume der Gerichte so lange nicht verringern, so lange die Zielsetzungen des europäischen Wettbewerbsrechts nicht eindeutig festgelegt sind. Da dies jedoch noch nicht explizit geschehen ist, werden also die europäischen Gerichte ihre Entscheidungsspielräume behalten. Aus Gründen der Rechtssicherheit sei dabei jedoch nicht zu erwarten, dass die Gerichte den ökonomischeren Ansatz der Europäischen Kommission unterminieren werden. Sie werden jedoch auf die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung - die beispielsweise nicht nur an statischen, sondern auch dynamischen Wohlfahrtseffekten ansetzen soll - oder auf eine erweiterte Analyse verweisen. Von diesem Letztentscheidungsrecht werden die Gerichte Gebrauch machen und dementsprechend zu einem modifizierten „more economic approach" beitragen, indem stärker die dynamischen und langfristigen Wohlfahrtseffekte wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens sowie die Aspekte der Rechtssicherheit berücksichtigt werden. Im anschließenden Korreferat bekräftigt Roger Van den Bergh die Zweifel Kirchners am tatsächlichen Erfolg der Kommission, die diskretionären Entscheidungsspielräume der Europäischen Gerichte zu begrenzen. Darüber hinaus weist Van den Bergh noch auf einen in der Diskussion über den „more economic approach" vernachlässigten, aber nicht minder wichtigen Aspekt hin. Der Vorschlag der Kommission zur Anwendung des ökonomischeren Ansatzes bezieht sich ausschließlich auf die Sicht der Neuen Industrieökonomik. Man dürfe aber nicht vergessen, dass dies keineswegs die einzig mögliche Sicht der Dinge sei. Hier sei insbesondere an das Konzept der Wettbewerbsfreiheit {Hoppmann 1967) zu erinnern, das ökonomische Aspekte mit denen einer an Rechtsdurchsetzungsprinzipien orientierten Wettbewerbspolitik sinnvoll verbindet. Einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der europäischen Wettbewerbspolitik, insbesondere was die Zuordnung der Kompetenzen zwischen Kommission und Mitgliedstaaten betrifft, liefert Clifford Α. Jones in seinem Beitrag „The Second Devolution of European Competition Law: The Political Economy of Antitrust Enforcement Under a More Economic Approach". Leider kommt jedoch die im Titel genannte politökonomische Analyse zu kurz. Nur am Ende seines Beitrags skizziert der Verfasser politökonomische Überlegungen. Jones betont, dass die neue Verordnung 1/2003 sowohl Elemente der Dezentralisierung als auch der Zentralisierung von Kompetenzen beinhaltet. Die Dezentralisierung ergibt sich daraus, dass nun das Monopol der Kommission bei der Anwendung der Freistellungen nach Art. 81 Abs. 3 EGV zugunsten der Anwendung nationaler Wettbewerbsbehörden durchbrochen wurde und nationale Wettbewerbsbehörden und Gerichte verstärkt europäisches Wettbewerbsrecht anwenden können. Dagegen könne die Implementierung des Netzwerkes der europäischen Wettbewerbsbehörden zu einer stärkeren Zentralisierung der Wettbewerbspolitik führen, wenn die Kommission dieses Netzwerk verstärkt dazu nutzt, konsistente Entscheidungen herbeizuführen. Darüber hin-

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aus dürfe die Bedeutung der Art. 15 und 16 der VO 1/2003 nicht unterschätzt werden, nach denen die Kommission auf Wunsch der Gerichte Informationen und Stellungnahmen abgeben kann, soweit diese für die Anwendung der Wettbewerbsregeln relevant sind. Insgesamt sieht Jones die Position der Kommission gefestigt. Während der Einfluss von Interessengruppen auf die Entscheidungen anscheinend stärker zurückgedrängt werden kann, bedeutet der more economic approach für die Kommission mehr Durchführungskompetenzen, stärkere Abschreckung und insgesamt mehr Einfluss. Inwieweit dies jedoch zu einer besseren Wettbewerbspolitik führt, bleibt abzuwarten. Darauf weist insbesondere Stefan Voigt in seinem Korreferat hin. Gerade die Entscheidung im Fall Sony/BMG ließe ernsthafte Zweifel laut werden. Einen breiten Rahmen nimmt in diesem Sammelband insbesondere die Diskussion über die Anwendung des more economic approach bei Kartellabsprachen ein. Im Mittelpunkt stehen hierbei insbesondere private Schadensersatzklagen, die stärkere Verfolgung von Kartellabsprachen und deren Aufdeckung sowie die Geeignetheit von Leniency-Programmen. Wernhard Möschel widmet sich in seinem Beitrag den Vor- und Nachteilen privater Kartellrechtsdurchsetzung. Insgesamt zeichnet er ein sehr skeptisches Bild und bezweifelt deren Geeignetheit für eine bessere Verfolgung von Absprachen. Den wenigen Vorteilen stehen seiner Ansicht nach gravierende Nachteile gegenüber. So sei es zwar unstrittig, dass die privaten Akteure über bessere Informationen als die Kartellbehörden verfügen, dass die private Kartellrechtsdurchsetzung die chronisch überlasteten Kartellbehörden entlasten und von der Möglichkeit privater Schadensersatzforderungen eine zusätzliche Abschreckung ausgehen würde. Jedoch, so die Ansicht Möschels, sei zu bedenken, dass das Kartellrecht durch eine Reihe unbestimmter Rechtsbegriffe geprägt sei, die eine private Verfolgung erschweren würden. Auch hätten private Kläger keine genauen Informationen über die Abgrenzung des relevanten Marktes. Die zentrale Schwäche privater Kartellrechtsdurchsetzung sieht Möschel darüber hinaus vor allem darin, dass private Kläger ausschließlich ihr Eigeninteresse verfolgen würden, so dass die private Kartellverfolgung auch marktsstrategisch eingesetzt werden könnte. An diesem Punkt setzt die Kritik von Gerhard Wagner in seinem Korreferat an. Er hinterfragt, warum die Verfolgung des Eigeninteresses, auf die sich schließlich die gesamte ökonomische Theorie stützt, ausgerecht im Fall der Kartellverfolgung als negativ zu bewerten sei. So dürfe man nicht vergessen, dass auch die Beamten der Wettbewerbsbehörden ebenfalls nur ihr Eigeninteresse verfolgen. Insofern sei das Argument von Möschel an dieser Stelle stark zu relativieren. Auch dem Argument der Gefahr der „strategischen" Instrumentalisierung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung kann Wagner wenig abgewinnen, da mithilfe der privaten Kartellrechtsdurchsetzung nicht unmittelbar auf die Geschäftspläne der Wettbewerber Einfluss genommen werden kann und diese auch einer gerichtlichen Überprüfung standhalten muss. Insofern sieht Wagner die private Kartellrechtsdurchsetzung als eine wesentliche Ergänzung der Kartellverfolgung, bei der die Vorteile eindeutig überwiegen würden. Maarten Pieter Schinkel liefert in seinem Beitrag einen hervorragenden und sehr detaillierten Überblick über die Kartellaufdeckung und die verhängten Bußgeldzahlungen in der Europäischen Union. Auf der Basis ökonomischer Überlegungen zeigt Schinkel, dass die Stabilität eines Kartells vor allem von der Aufdeckungswahrscheinlichkeit und der zu leistenden Sanktionszahlungen im Vergleich zu den aus dem Kartell erwirtschafteten Profiten abhängt. Ohne eine massive Erhöhung der Aufdeckungswahrscheinlichkeit bleiben jedoch auch trotz der jüngsten Reformen noch starke Anreize kollusivem Marktverhalten bestehen. Fraglich sei, ob die Aufdeckungswahrscheinlich so einfach zu erhöhen sei. Vor allem sei damit zu rechnen, dass die Unternehmen auf die neue Rechtslage reagieren und alles daran setzen werden, ihr kollusives Verhalten besser zu verstecken, so dass es möglicherweise schwieriger wird, solche Kartellabsprachen überhaupt aufzudecken. Paul Heidhues thematisiert in seinem Korreferat die wenigen theoretischen und empirischen Erkenntnisse darüber, ob Kartelle tatsächlich zu höheren Preisen führen. Gerade die Empirie sei hier weniger eindeutig als erwartet. Auch sei fraglich, ob tatsächlich höhere Geldbußen eine höhere Abschreckung zur Folge hätten. Vielmehr sei eine größere Abschreckung durch Einführung strafrechtlicher Sanktionen zu erwarten.

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Der höheren Relevanz von Auflagenentscheidungen in der Fusionskontrolle und den damit zusammenhängenden Problemen widmet sich der Beitrag von Duso.Gugler und Yurtoglu. Die Autoren verweisen darauf, dass in der europäischen Fusionskontrolle die Bedeutung von Auflagenentscheidungen mittlerweile das gleiche Ausmaß wie in den USA erreicht hat. Auflagenentscheidungen sind ein wichtiges Instrument, um Untersagungen eines Zusammenschlussvorhabens zu umgehen. Allerdings zeigen empirische Untersuchungen sowohl in den USA als auch in Europa, dass nicht in allen Fällen Auflagenentscheidungen dazu geeignet sind, die wettbewerblichen Probleme auf einem Markt zu lösen. Die Autoren konstatieren, dass dies im Rahmen der europäischen Wettbewerbspolitik insbesondere für Auflagenentscheidungen nach Eröffnung des Hauptverfahrens gilt. Hauptverantwortlich hierfür sei vor allem die Komplexität solcher Fälle, die eine Erteilung geeigneter Auflagen- und Bedingungen erschwert. Eine zweite Erklärung basiert auf spieltheoretischen Überlegungen. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens verliert die Europäische Kommission einen wichtigen Drohpunkt, denn sie kann die Fusion nun allenfalls nur untersagen. Ist jedoch aus handels- oder industriepolitischen Gründen eine Untersagung für die Kommission politisch schwierig durchsetzbar, so gelingt es den Unternehmen, laxere Auflagen und Bedingungen zu verhandeln. Will man dieses Problem lösen, so müssten die Untersagungen eine glaubwürdigere Option darstellen. Roy Epstein und Daniel Rubinfeld beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit methodischen Fragen der Simulation von Preiseffekten infolge von Unternehmensfusionen. Insbesondere bei der Beurteilung des Auftretens unilateraler Preiseffekte auf Märkten mit differenzierten Gütern ist der Einsatz solcher Simulationsmodelle unumgänglich. Problematisch an den meisten Verfahren ist, dass eine Reihe von Variablen erst einmal ermittelt werden muss, was sich jedoch in der Praxis als außerordentlich schwierig erweist. Epstein/Rubinfeld zeigen mithilfe ihres PCAIDSModells, dass es ausreichen kann, mithilfe der Marktanteile, der Preiselastizität der Branche und den Preiselastizitäten der einzelnen differenzierten Produkte, die unilateralen Preiseffekte zu ermitteln. Hierzu merkt jedoch Christian Wey in seinem Korreferat an, dass das von Epstein/Rubinfeld vorgestellte PCAIDS-Modell nicht frei von Schwächen sei. Hierbei verweist er besonders auf die Problematik von differenzierten Markenprodukten, unterschiedlichen Produktionskosten und darauf, dass das Modell ausschließlich auf den Preiswettbewerb abstellt und andere wettbewerbliche Aktionsparameter vernachlässigt. Die Liste der bemerkenswerten Beiträge ließe sich noch um einiges verlängern. So diskutieren beispielsweise Wils und Polo in ihren Beiträgen die Vor- und Nachteile von Leniency Programmen, während Friederiszick/Maier-Rigaud die Möglichkeiten einer besseren Kartellaufdeckung durch eine pro-aktive Kartellverfolgung aus ökonomischer Perspektive erläutern. Ebenfalls in die Reihe der lesenswerten Beiträge gehört der Aufsatz über die Anwendung des ökonomischeren Ansatzes in der Beihilfenkontrolle von Heidhues und Nitsche ein. Sie entwickeln ein ökonomisch adäquates Testverfahren zur Überprüfung staatlicher Beihilfen. Dabei stellen sie vor allem auf die Notwendigkeit der Beihilfe zur Heilung eines Marktversagens ab. Im Rahmen einer Einzelfallentscheidung sollen sodann im zweiten Schritt die wettbewerblichen Wirkungen der Beihilfe auf Konkurrenten und Verbraucher sowie den zwischenstaatlichen Handel untersucht werden. Aus den dargestellten Beiträgen wird sichtbar, wie vielfältig die Diskussion über die verschiedenen Problemfelder des ökonomischeren Ansatzes in der Wettbewerbspolitik ist. Dabei versteht es sich von selbst, dass es nahezu unmöglich ist, das gesamte Spektrum abzudecken. Dennoch hätten man sich eine stärkere Diskussion bspw. der Fragen der normativen Aspekte des „more economic approach" in der Wettbewerbspolitik, wie sie auch gerade aktuell diskutiert werden (Hellwig 2006, von Weizsäcker 2007), gewünscht. Auch vermisst man die kritische Auseinandersetzung über die adäquate Berücksichtigung von Effizienzaspekten sowie die Frage nach dem geeigneten Maßstab für die Berücksichtigung der beim „more economic approach" stark betonten Konsumentenwohlfahrt. Dies kann jedoch nicht das Urteil beeinträchtigen, dass dieser Tagungsband überaus lesenswert ist. Befürworter und Gegner des ökonomischeren An-

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satzes finden zahlreiche interessante Hinweise, die auch in der weiteren Zukunft die kritische Auseinandersetzung befruchten werden.

Literatur Hellwig, Martin (2006), Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? Zur normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik, in: Christoph Engel und Wemhard Möschel (Hg.), Recht und spontane Ordnung: Festschriftfür Ernst Joachim Mestmäcker zum achtzigsten Geburtstag, Baden-Baden, S. 231 -268. Hoppmann, Erich (1967), Wettbewerb als Norm der Wettbewerbspolitik, in: ORDO-Jahrbuch fiir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 28, S. 77-94. Weizsäcker, C. Christian von (2007), Konsumentenwohlfahrt und Wettbewerbsfreiheit: Über den tieferen Sinn des „Economic Approach", Wirtschaft und Wettbewerb 57, S. 1078-1084.

Carsten

Schreiter

Europäische Beihilfenkontrolle und Standortwettbewerb. Eine ökonomische Analyse. Bemerkungen zum gleichnamigen Buch von Friedrich Gröteke* Erst jüngst sind Beihilfen wieder in den Fokus gerückt. Nokia kündigte an, die HandyProduktion von Bochum nach Rumänien und Ungarn zu verlagern. Die Empörung darüber resultiert aus dem Umstand, dass Nokia etwa 88 Mio. Euro Subventionen im Rahmen der regionalen Wirtschaftsförderung und der Forschungsforderung erhalten hat. Der Anteil an Landesmitteln ist erheblich gewesen und wird zusätzlich erhöht durch die Infrastrukturinvestitionen. Des Weiteren bestand der Verdacht, dass Nokias Standortverlagerung durch weitere Subventionen am neuen Standort motiviert sein könnte. Es handelte sich dann gewissermaßen um einen Fall von „Subventionshopping". Wenngleich in diesem konkreten Fall die Verlagerung tatsächlich nicht durch EU-Strukturfondsmittel ausgelöst worden ist, wirft der Fall Nokia Fragen auf, ob die Beihilfenkontrolle wirksam funktioniert bzw. welche Änderungen zu treffen sind, damit die Wohlfahrt der abgebenden Staaten nicht durch Beihilfen der Geberländer verringert wird. Das bringt uns zu der Kernfrage von Grötekes Buch: „Unter welchen Umständen ist der Eingriff der europäischen Beihilfenkontrolle in finanz- und wirtschaftspolitische Kompetenzen nationaler, regionaler und lokaler Regierungen gerechtfertigt und notwendig?" (S. 4) Um diese Frage beantworten zu können, wird die Wirkung von Beihilfen im Kontext verschiedener Theorieansätze, der klassischen Außenhandelstheorie, der strategischen Handelspolitik, der Neuen politischen Ökonomie und Wettbewerbstheorie untersucht. Dabei wird dem Umstand Rechnung getragen, dass im Zuge der Entwicklung hin zum Gemeinsamen Markt der Wettbewerb in hohem Maße von dem Grad der Marktintegration abhängig ist. Auf der Stufe des Freihandels und der Zollunion stehen die Unternehmen mit ihren Produkten im Wettbewerb. Im Gemeinsamen Markt sind im Idealfall alle Faktoren international mobil. Deshalb stehen nicht nur die Unternehmen im Wettbewerb, sondern die Wahl des Standortes wird selbst zu einem Wettbewerbsparameter der Unternehmen. Gleichzeitig löst die Mobilität der Faktoren einen Standortwettbewerb im Sinne eines inteijurisdiktionellen Wettbewerbs aus, in dem Beihilfen im Kosten-Leistungsbündel des Standortes ein Wettbewerbsparameter sind. Auf diese Weise besteht eine Beziehung zwischen der Beihilfenkontrolle und dem inteijurisdiktionellen Wettbewerb, der von Gröteke deutlich herausgearbeitet wird. Im Kern wird die These vertreten, dass im Falle eines funktionsfähigen inteijurisdiktionellen Wettbewerbs auf

* Friedrich Gröteke, Europäische Beihilfenkontrolle und Standortwettbewerb: Eine ökonomische Analyse, Verlag Lucius & Lucius, Stuttgart 2007, 319 Seiten.

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eine (restriktive) Beihilfenkontrolle nicht nur verzichtet werden kann, sondern aus Effizienzgründen geradezu verzichtet werden muss. Auf den ersten Blick erscheint diese These kühn, und sie entspricht keinesfalls der Position der EU-Kommission, die ganz im Gegenteil eine mit zunehmender Integration der Volkswirtschaften immer schärfere Beihilfenkontrolle durchführt. Um zu sehen, wie Gröteke zu dieser Aussage gelangt, lohnt es sich, seinen Gedankengang bei der ökonomischen Analyse aufzunehmen. Dabei führt das Buch (Kapitel 2) zunächst ausführlich in die Beihilfenkontrolle der EU ein und gibt einen guten Überblick über die Ausnahmen vom Beihilfenverbot, die gezahlten Beihilfen und macht anhand ausgewählter Beihilfenfálle deutlich, welche Schwierigkeiten auftreten können, wenn konkrete staatliche Maßnahmen unter dem Blickwinkel ihres Beihilfecharakters bewertet werden müssen. Im ersten Teil der Wirkungsanalyse (Kapitel 3) werden zuerst die ökonomischen Wirkungen von Beihilfen auf der Unternehmensebene dargelegt. Dafür werden verschiedene Theorieansätze vorgestellt, um zu zeigen, dass die Effekte auch vom Stadium der Marktintegration abhängen. Zeichnet man die Wirkungen von Beihilfen im Rahmen der klassischen Außenwirtschaftstheorie nach, zeigt sich, dass eine Beihilfenkontrolle notwendig ist, weil Beihilfen die nach absoluten und komparativen Vorteilen entstehende Spezialisierung zwischen den Mitgliedern eines Integrationsraumes konterkarieren können. Dabei entstehen nicht nur grenzüberschreitende Wohlfahrtsverluste, sondern auch Effizienzverluste in dem Beihilfen gewährenden Land. Dieses Ergebnis wirft freilich die Frage auf, warum Beilhilfen gewährt werden sollten, wenn sie für das Geberland keinen Wohlfahrtsgewinn verursachen. Damit Beihilfen positive Wirkungen, zumindest für das Geberland, hervorrufen, müssten sie allokationstheoretisch Marktversagen korrigieren. So sind analog zum Infant-Industry-Argument externe Effekte durch Forschung und Entwicklung oder Humankapitalbildung als eine mögliche Quelle für Wohlfahrtsgewinne vorstellbar. Diese Marktverzerrungen korrigierende Beihilfen haben zudem nur dann Auswirkungen auf andere Mitgliedsländer einer Zollunion, wenn sie von einem großen Land durchgeführt werden. Im Falle eines kleinen Landes wäre eine Beihilfenkontrolle nicht erforderlich. Ein naheliegendes weiteres Motiv für Vergabe von Beihilfen im Kontext der Außenwirtschaftstheorie ist eine Verbesserung der Wohlfahrt durch Verbesserung der Terms of Trade. Gröteke analysiert hierfür ausführlich und klar strukturiert die Auswirkungen verschiedener Arten von Beihilfen - sektorale Beihilfen, Regionalbeihilfen und allgemeine Faktorbeihilfen in einem zwei-Länder-zwei-Güter-Heckscher-Ohlin-Samuelson-Modell. Sektorspezifische Beihilfen haben den größten negativen Effekt auf die Wohlfahrt bzw. die Produktion im Ausland. Den größten wirtschaftlichen Schaden richtet dabei ein Geberland an, wenn es die Produktion eines Gutes subventioniert, für das kein komparativer Vorteil besteht. Regionalbeihilfen sind weniger schädlich. Sie entfalten in einer Zollunion keine negativen Wirkungen über die Terms of Trade, wenn sie die relativen Preise unverändert lassen. Das ist dann der Fall, wenn die Faktoren auch zwischen den Regionen des Geberlandes immobil sind. Wird diese Annahme aufgehoben, ergeben sich Faktorwanderungen in die begünstigte Region, die die relativen Faktorpreise und die Produktionsmöglichkeiten verändern sowie einen Strukturwandel im Ausland auslösen können. Allgemeine Faktorbeihilfen lassen die relativen Faktorpreise unverändert, so dass keine Anreize für interregionale Faktorwanderungen ausgelöst werden. Das gilt nicht für Faktoren im Ausland. Unterstellt man immobile Faktoren, so steigen nur die Faktoreinkommen. Produktionsstruktur und Terms of Trade bleiben unverändert. Auch eine rein interregionale Faktormobilität führt zu keiner anderen Wirkung der Beihilfe. Effekte treten erst bei internationaler Faktormobilität auf. Eine Zuwanderung von ausländischen Faktoren verändert die relativen Produktionsmöglichkeiten, wenngleich der Terms-of-Trade-Effekt unbestimmt bleibt. Fasst man Grötekes Analyse zusammen, so lässt sich feststellen: Je stärker also die Bedingungen für einen gemeinsamen Markt gelten, d. h. je mobiler die Faktoren sind, um so notwendiger wird im Rahmen der Außenwirtschaftstheorie eine Beihilfenkontrolle, und zwar für alle genannten Arten von Beihilfen, wenn kleine und große Länder den Integrationsraum bilden. Die

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außenwirtschaftstheoretische Analyse hat Grenzen, was sich u. a. darin zeigt, dass in die Wirkung der besonders schädlichen sektoralen Beihilfen bislang keine Retorsionsmaßnahmen anderer großer Länder eingehen. Diese lassen sich berücksichtigen, durch einen Blick auf die Theorie der strategischen Handelspolitik. Sie ist möglich, wenn dynamische und oligopolistische Märkte mit Marktzutrittschranken Oligopolrenten erzeugen. Mit Hilfe von Exportbeihilfen können Staaten versuchen, ihre Wohlfahrt zu erhöhen, in dem sie die inländische Produktion ausweiten und mehr Nachfrage auf die heimischen Unternehmen lenken. Durch die economies of scale wird die Produktion im Ausland zurückgedrängt und die anfallenden Oligopolrenten in das Inland verlagert. Letzteres setzt strenggenommen voraus, dass der Profit im Inland verbleibt und dort vom Staat mit Steuern angeeignet werden kann. Das kann letztlich nur bei Staatsunternehmen vorausgesetzt werden, weswegen im Kontext der strategischen Handelspolitik die Gründung von Staatsunternehmen verhindert werden sollte. Weitere Anreize für Staaten Beihilfen zu vergeben, können mit der Theorie der strategischen Handelspolitik identifiziert werden. Der Staat greift zu Beihilfen, wenn er die Wohlfahrt erhöhen kann und verteilt über Exportsubventionen Oligopolrenten um. Da die Wohlfahrt zu Lasten anderer erhöht werden soll, ist mit Gegenreaktionen der betroffenen Länder zu rechnen. Das Gleichgewicht ist eine Gefangenendilemmasituation, aus dem eine supranationale Beihilfenkontrolle die Staaten befreien kann. Da die strategische Handelspolitik eher auf der Integrationsstufe der Zollunion durchführbar ist, wird eine Beihilfenkontrolle benötigt. Galt für die vorangegangenen Theoriefragmente, dass der Staat am Gemeinwohl orientiert Beihilfen einsetzt, führt die Neue Politische Ökonomie (NPÖ) das Eigeninteresse von Politikern als Zielfunktion ein. Beihilfen erhalten dann die Sektoren oder Unternehmen, die für das Wahlverhalten der Bürger wichtig sind. Beihilfen können nunmehr von vornherein sehr ineffizient für den Staat bzw. das Gemeinwohl sein, vor allem wenn man bedenkt, dass die etablierten Unternehmen und Industriesektoren am ehesten Wählerstimmen mobilisieren können, die unter Wettbewerbsdruck und Strukturanpassungen leiden. Hinzu kommen noch die Wohlfahrtseinbußen, die anderen Ländern zugefügt werden oder die durch Gegenmaßnahmen entstehen. Wenn die gesamtwirtschaftliche Steigerung der Wohlfahrt das Ziel ist, so sind aus der Sicht der NPÖ alle die Wohlfahrt mindernden Beihilfen zu untersagen, d. h. auch Beihilfen ohne grenzüberschreitende Wirkung. Die gemeinwohlschädlichen Beihilfen können jedoch nur unter der Bedingung der Zollunion von den Politikern eingesetzt werden, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Die Faktoren und Unternehmen können nicht in Staaten oder Regionen ausweichen, in denen sie dann nicht zur Finanzierung herangezogen werden. Der inteijurisdiktionelle Wettbewerb kann somit unter noch näher zu bestimmenden Voraussetzungen die Vergabe von gemeinwohlschädlichen Beihilfen wirkungsvoll verhindern. Schließlich werden Beihilfen mit der Wettbewerbstheorie selbst untersucht, und zwar zunächst der Ansatz von Fingleton et al.: Beihilfen sollen anhand ihres Nettoeffektes beurteilt werden. Es wird vorgeschlagen, dass alle Beihilfen erlaubt sein sollten, die keinen negativen totalen Nettoeffekt aufweisen und die keine negative grenzüberschreitende Wirkung besitzen. Um den Effekt einer Beihilfe zu ermitteln, werden der Industrieeffekt (Branche), der Industriesektoreffekt (vor- und nachgelagerte Märkte) und der Markteffekt (Preis- und MengenefFekt, Konsumentenrente) einer Beihilfe ermittelt und die Teilwirkungen gegeneinander abgewogen. Folgt man dagegen stärker der Auffassung, die Wirkung einer Beihilfe sei an der Konsumentenrente bzw. den Preis- und Mengeneffekten zu messen, dann wäre eine Beihilfenkontrolle nur durchzuführen, wenn durch die Vergabe einer Beihilfe ein Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung erlangt oder diese Stellung verstärkt wird. Rettungsbeihilfen beispielsweise fielen dann nicht unter die Beihilfenkontrolle, da sie kaum geeignet sind, eine marktbeherrschende Stellung zu erlangen. Vielmehr haben sie einen positiven Markteffekt für die Konsumenten. Gröteke betrachtet für die Vergabe von Beihilfen mit negativen grenzüberschreitenden Beihilfen das Staatsversagen und den unvollkommenen Wettbewerb als beste Erklärung. Damit bekommt die Beihilfekontrolle den Charakter eines Instrumentes zum Selbstschutz der Staaten,

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denen es gerade im Stadium der Zollunion aus eigener Kraft nicht gelingt, das Staatsversagen in den Griff zu bekommen. Die Beihilfekontrolle habe weniger Wettbewerbsprobleme zwischen den Unternehmen zu regeln. Damit stellt sich die Frage, ob es nicht mit der Stufe des Gemeinsamen Marktes eine Kontrolle der Staaten durch den Wettbewerb zwischen den Standorten oder den Jurisdiktionen geben kann (Kapitel 4). Die Grundidee besteht darin, dass ähnlich wie in dem Modell von Tibout, die Wähler mit den Füßen abstimmen und solche Jurisdiktionen wählen, die entsprechend ihren Präferenzen bzw. Nutzen-Kosten-Bewertung die für sie besten Leistungsbündel von öffentlichen Gütern anbieten. Ohne an dieser Stelle näher auf die Voraussetzungen für das Funktionieren eines Standortwettbewerbs einzugehen, soll die Rolle der Subventionen und der Beihilfenkontrolle im Standortwettbewerb kurz aufgegriffen werden. Beihilfen sind für die Standortwahl immer bedeutsamer geworden, je mobiler die Unternehmen, je geringer die Translokationskosten werden, je weniger Abhängigkeit eben von einem bestimmten Standort besteht. Es gibt nun Überlegungen, die besagen, dass die Vergabe von Beihilfen indiziert, dass der inteijurisdiktionelle Wettbewerb funktioniert und dass die Beihilfen als ein Instrument der Preisdifferenzierung eingesetzt werden. Begründen lässt sich diese Preisdifferenzierung damit, dass Unternehmen auch bei identischen Präferenzen für die Jurisdiktion nicht alle gleich nützlich sind. Ferner werden verschiedene Jurisdiktionen ein bestimmtes Unternehmen ungleich bewerten, je nach bereits vorhandenen Kapazitäten oder Branchenstrukturen etc. Subventionskriege sind bei rationalem Verhalten der Jurisdiktionen dann nicht zu befürchten. Beihilfen im Sinne der Preisdifferenzierung oder eines Standortleistungsrabattes signalisieren vielmehr einen wirksamen Standortwettbewerb. Positive Wirkungen auf den Wettbewerb gehen ferner von Beihilfen aus, die positive fiskalische Externalitäten einer Unternehmensansiedlung in die Standortentscheidung von Unternehmen internalisieren. Des Weiteren können Beihilfen die Effizienz erhöhen, wenn Informationsasymmetrien zu Lasten der Jurisdiktion oder zu Lasten der Unternehmen bestehen. Standorte besitzen nämlich den Charakter von Erfahrungsgütern. Die wahre Qualität kann ein Unternehmen erst nach seiner Ansiedlung erkennen. Ansiedlungsprämien können ein Qualitätssignal der Jurisdiktion sein, genauso wie Werbeausgaben, die irreversible Investitionen darstellen und sich nur amortisieren, wenn der Standort eine hohe Qualität aufweist. Wenn Beihilfen also grundsätzlich positive Wirkungen im Standortwettbewerb entfalten können, dann schränkt ein absolutes Verbot von Beihilfen die Wohlfahrtswirkungen des Standortwettbewerbs ein. Auf der anderen Seite muss gewährleistet sein, dass die Vergabe von Beihilfen nicht selbst Ineffizienzen hervorruft und den Wettbewerb zwischen den Unternehmen verzerrt. Geht man davon aus, dass die Vergabe von Beihilfen überwiegend eine Folge von Staatsversagen ist, dann ändert sich das Ziel der Beihilfenkontrolle. Es geht dann nicht mehr direkt um die Unternehmensebene und dort auftretende Verzerrungen oder grenzüberschreitende negative Effekte. Vielmehr geht es um die ordnungspolitischen Voraussetzungen, dass die Staaten daran gehindert werden, ineffiziente Beihilfen zu vergeben. Gerade auf der Integrationsstufe des Gemeinsamen Marktes ist das besonders wichtig, weil hier die negativen Auswirkungen auf das Ausland besonders intensiv sind und auch Rückwirkungen durch Gegenmaßnahmen zu erwarten sind. Damit Jurisdiktionen nicht Beihilfen mit negativer Wirkung vergeben können, müssen die institutionellen Rahmenbedingungen gegeben sein, die einen funktionsfähigen jurisdiktionellen Wettbewerb ermöglichen, der die Jurisdiktionen diszipliniert. Zu den wichtigsten Voraussetzungen gehört, dass die Faktoren und Unternehmen abwandern können. Es müssen - genannt seien nur die wichtigsten - die Bedingungen eines Gemeinsamen Marktes erfüllt sein. Es ist notwendig, dass ein föderales Mehr-Ebenen-System existiert und dass die fiskalische Äquivalenz bzw. harte Budgetrestriktionen glaubhaft gelten und Konkursregeln einschließen. Zudem muss der Kapitalmarkt die Beihilfevergabe der Jurisdiktion in dem Kreditrating der Jurisdiktion widerspiegeln.

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Nur dann, wenn diese und noch weitere Bedingungen gelten, kann davon ausgegangen werden, dass im Rahmen des Standortwettbewerbs nur Beihilfen gewährt werden, die aus der Sicht der Unternehmen am Standort auch effizient sind. „Die Notwendigkeit für eine Beihilfenkontrolle wäre also nur selten gegeben." (S. 268) Gleichzeitig kann eine restriktive Beihilfenkontrolle bzw. ein zu weitgehendes Beihilfenverbot die positiven Wirkungen des Standortwettbewerbs beeinträchtigen. Damit ist zugleich klar, dass wenn die Voraussetzungen für einen funktionsfähigen Standortwettbewerb nicht erfüllt sind, dass dann eine entsprechend strenge Beihilfenkontrolle durchgeführt werden muss, um die Folgen des Staatsversagens einzudämmen. Das ist grundsätzlich in der EU der Fall, in der ein inteijurisdiktioneller Wettbewerb nicht funktionsfähig arbeiten kann, weil ζ. B. die Mobilität noch eingeschränkt ist oder harte Budgetrestriktionen und Konkursmöglichkeiten von Jurisdiktionen fehlen. Das aufgrund dessen die EU eine mit wachsender Integration zunehmend strengere Beihilfenkontrolle durchführt, ist somit folgerichtig und steht nicht im Widerspruch zu der eingangs vorgestellten These Grötekes. Ferner macht Grötekes Analyse deutlich, dass die Beihilfenkontrolle der EU trotzdem nur ein Herumdoktern an den Symptomen ist, die eigentlichen Ursachen für das Staatsversagen jedoch nicht beseitigt werden können. Das wiederum führt zu der Frage, ob es nicht vorzuziehen sei, statt einer komplizierten Beihilfenkontrolle nicht den Standortwettbewerb in Funktion zu setzen. Aus rein theoretischer Sicht mag ein vollkommener Standortwettbewerb dafür sorgen, dass die Staaten im Grundsatz nur effiziente Beihilfen vergeben. Tatsächlich macht die Arbeit Grötekes gleichermaßen deutlich, dass die für einen vollkommen funktionierenden Standortwettbewerb notwendigen Bedingungen in der EU realiter kaum in absehbarer Zeit erfüllbar sind. Aus diesem Grund bleibt es letztlich bei der Beihilfenkontrolle und der Forderung, Beihilfen in Zukunft grundsätzlich stärker nach ökonomischen Gesichtspunkten abzuwägen. In dieser Hinsicht lässt nun Grötekes sehr lesenswerte und anregende Arbeit den Leser ein wenig mit der Frage allein, welche konkreten Beihilfen in der EU denn nun verboten oder eingeschränkt sind, aus ökonomischer Sicht jedoch erlaubt werden sollten. Es wäre mit anderen Worten wünschenswert gewesen, wenn Gröteke das bestehende Beihilferecht bzw. die bestehenden Ausnahmeregelungen stärker mit seiner theoretischen Analyse verklammert hätte. Auf diese Weise wäre mitunter deutlich geworden, dass die Europäische Beihilfenkontrolle einem Lernprozess unterliegt, der sich auch darin zeigt, dass die EU-Kommission inzwischen in zunehmendem Umfang nationale Marktversagenstatbestände berücksichtigt und damit zumindest in dieser Hinsicht Grötekes Forderung bereits entgegenkommt.

Cord

Siemon

Theorie der staatlichen Venture Capital-Politik Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Ε. A. Bauer* Das Buch von Ε. A. Bauer widmet sich einem Thema, dass in jüngster Zeit aufgrund seiner innovationspolitischen Grundausrichtung im Rahmen Wachstums-, entwicklungs- und evolutionsökonomischer Diskussionen hohe Bedeutung gewonnen hat. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel. In der Einleitung (Kapitel 1) wird die Zielsetzung und Problemstellung der Arbeit skizziert. Bauer konstatiert dazu, dass sich die Finanzierung von Innovationen bereits seit einiger Zeit als ein zentrales Hemmnis bei der Durchsetzung neuer unternehmerischer Konzepte darstellt. Selbst die seit Jahrzehnten viel gepriesene * Ekkehard A. Bauer, Theorie der staatlichen Venture Capital Politik: Begründungsansätze, Wirkungen und Effizienz der Staatlichen Subventionierung von Venture Capital, Verlag Wissenschaft und Praxis, Sternenfels 2006,269 Seiten.

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Finanztechnologie „Venture Capital" (VC) konnte diesem Mangel keine Abhilfe schaffen. Es stellt sich somit die ordnungsökonomisch bedeutsame Frage, inwiefern Begründungsansätze und Effizienzüberlegungen existieren, die eine staatliche Intervention in den VC-Markt zur Stützung des Innovationspotenzials legitimieren. Vor dem Hintergrund dieser Problemstellung beschreibt Bauer zunächst einige wesentliche Grundlagen zum Themenkomplex „Venture Capital" (Kapitel 2). Er liefert dazu definitorische Abgrenzungen und gibt einen knappen Überblick über die Entstehungsgeschichte, die Rolle der institutionellen Rahmenbedingungen und der quantitativen Dimension der Finanztechnologie, die im Unterschied zur Kreditfinanzierung haftendes Eigenkapital repräsentiert. Er charakterisiert VC sehr anschaulich als heterogenes Forschungsfeld, dessen Unternehmens- und vertragsbezogene Bestimmungsfaktoren in der Literatur sehr unterschiedlich diskutiert werden. Bauer systematisiert den VC-Markt in einen formellen, informellen sowie einen Corporate VC-Markt und geht dabei am Rande auch auf die Bedeutung der sog. „Business Angels" im Rahmen von innovativen Gründungsfinanzierungen ein. Neben der Darstellung der gängigen Beteiligungswürdigkeitsprüfung (Grob-/Feinanalyse) ist sein Verweis auf die unterschiedliche Rolle der Kapitalmärkte und der Finanzintermediation in Industrieländern wie USA, Großbritannien, Japan, Frankreich und Deutschland bedeutsam. Denn hieraus resultieren sowohl unterschiedliche Finanzierungsmuster der Unternehmen als auch verschiedene Berührungspunkte zur Funktionsweise der jeweiligen VC-Märkte: „So ist der Rückstand der meisten Länder gegenüber den USA kaum partiell oder mikroökonomisch zu sehen, sondern vielmehr in einem grundsätzlich anders ausgerichteten Finanzsystem zu suchen" (S. 31). Im 3. Kapitel geht Bauer in medias res: Er skizziert die unterschiedlichen Ausprägungen der staatlichen VC-Politik als Teilbereich der allgemeinen Wirtschaftspolitik und geht der Frage nach, inwiefern sich Subventionen/Interventionen über ökonomische Begründungsansätze herleiten lassen. Zunächst verweist er auf die klassischen Argumente des Marktversagens und stellt die Rolle der mit F&E- und Innovationsfinanzierungen verbundenen positiven Externalitäten heraus. Die damit verbundene Problematik der Unterversorgung mit VC wäre demnach via staatlicher Interventionen zu heilen (S. 54). Der Autor rekurriert darüber hinaus aber auch auf neuere wirtschaftspolitische Begründungsansätze, indem er bspw. die Neue Wachstumstheorie als Bezugsrahmen heranzieht. Innerhalb dieser u. a. auf Romer und Lucas zurückgehenden theoretischen Stoßrichtung werden innovationsrelevante Größen, wie F&E oder technischer Fortschritt produktionstechnologisch endogenisiert. Vor diesem Hintergrund kommt einer wirtschaftspolitischen Aktivität nicht nur eine heilende, sondern auch eine anstoßende, dynamisierende Wirkung zu (S. 57 ff.). In diesem Zusammenhang stellt er die Problematik unvollständiger Finanzierungsverträge heraus, die im Zuge der asymmetrischen Informationsverteilung bei Innovationsfinanzierungen auftreten (S. 60 ff.). Bauer stellt anschließend auf die damit verbundene Problematik der Unternehmenskontrolle ab und erklärt, dass bspw. „convertible securities" als Mischform aus Eigen- und Fremdkapital und das sog. „stage financing" - bedarfsgerechtes zur Verfügung stellen von Finanzmitteln in den jeweiligen Unternehmensphasen - zwar typische Instrumente darstellen, mit denen Investoren sich vor den institutionenökonomischen Problemen schützen können, aber im Zuge der Komplexität der Probleme selbst bei innovationsspezialisierten Finanzintermediären so viele Unwägbarkeiten verbleiben, dass der Staat hier gefordert ist. Für eine staatliche VC-Politik knüpft Bauer daher am Prozess der Beteiligungsfinanzierung an und stellt konkret auf vier mögliche Ansatzpunkte (S. 72 ff.) ab: 1. Subventionierung des Refinanzierungsprozesses von VC-Gesellschaften durch finanz- und ordnungspolitische Instrumente, um Einfluss auf ihr Passivgeschäft und damit auf das zur Disposition stehende Fondsvolumen zu nehmen; 2. Subventionierung des Refinanzierungsprozesses per Ausfallbürgschaft, um auf die Höhe des Fondsvolumens durch vorerst zahlungsunwirksame Eventualverbindlichkeiten einzuwirken; 3. Subventionierung des Beteiligungsprozesses durch direkte Beteiligungen, um den Umfang des Aktivgeschäftes von VC-Gesellschaften nach Art und Höhe zu beeinflussen;

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4. Subventionierung von Unternehmertrainings, um die qualitative Dimension der Beteiligungsfinanzierung zu forcieren. Anschließend widmet Bauer das 4. Kapitel der Wirkungs- bzw. Effizienzanalyse der unterschiedlichen Subventionierungsinstrumente, wobei er auch den Stand der Forschung referiert, um so - auf der Basis der Theorie unvollständiger Finanzierungsverträge - modelltheoretische Effizienzüberlegungen zu den einzelnen Subventionierungsansätzen anzustellen. Bauer hält dazu rein empirisch oder argumentativ basierte Ansätze für zu wenig konkret und identifiziert mit der fehlenden Modelltheorie zur Untersuchung von Subventionierungseffekten eine Forschungslücke (S. 109 ff.). Das Kapitel schließt mit einer Bewertung (S. 224 ff.) und kommt zu dem Ergebnis, dass die politische Begründbarkeit für die Ausfallbürgschaft hoch, aber die ökonomische Effektivität gering einzustufen ist. Für die direkte Beteiligung gilt das Argument vice versa. Refinanzierungssubventionen liegen zwischen diesen beiden Extrempositionen. Kapitel 5 liefert einen Ausblick zur Rolle des Kapitalmarktes als Alternative zur staatlichen Subventionierung des VC-Marktes. In diesem Zusammenhang wirft der Verfasser die ordnungsökonomisch wichtige und unter theoretischen Gesichtspunkten oftmals diskutierte Frage auf, ob der Kapitalmarkt auch für die Innovationsfinanzierung jene Informationsverarbeitung zu leisten im Stande ist, die ihm bspw. von der herrschenden Kapitalmarktgleichgewichtstheorie beigemessen wird. Diesbezüglich hat sowohl die neuere Forschung (Neue Institutionenökonomie, Behavioral Finance, Theorie spekulativer Blasen etc.) als auch die reale Erfahrung (Neuer Markt, Milleniumshausse) gezeigt, dass es aufgrund der notwendigerweise unvollständigen Information der Kapitalmarktteilnehmer gerade im Falle der Innovationsfinanzierung zu extremen Unter- und Überbewertungen kommt (S. 236). Folglich ist der Kapitalmarkt weniger als eine Alternative anzusehen, sondern vielmehr als eine komplementäre Finanzinstitution im arbeitsteiligen Prozess der Innovationsfinanzierung, in dem Wagniskapitalisten als „Gatekeeper" fungieren. Im 6. Kapitel werden die Ergebnisse der Studie noch einmal zusammengefasst. Die Untersuchung von Bauer leistet einen wertvollen Beitrag zur Diskussion über die Förderungswürdigkeit der Fmaiatechnologie „Venture Capital" und der Finaninstitution „VCGesellschaften", zumal die herrschende Kapitalmarktgleichgewichtstheorie (Modigliani/Miller, CAPM etc.) die Frage nach adäquaten Finanztechnologien für irrelevant hält und für institutionelle Aspekte der Finanzintermediation kaum Raum lässt. Die institutionenökonomischen Beiträge zur Kapitalmarktheorie widmen sich zunehmend der Berücksichtigung von Transaktionsund Agencykosten im Rahmen von Finanzierungsbeziehungen, um daraus normative Schlussfolgerungen für die Theorie und Praxis abzuleiten, die eng am Paradigma allokativer Effizienz anlehnen. Vor diesem Hintergrund ist die Identifizierung der o. g. Forschungslücke zweifellos eine besonders erwähnenswerte theoretische Leistung. Der didaktische Wert der modelltheoretischen Analyse ist zudem unbestritten. Gleichwohl hätte es vor dem Hintergrund des innovationsökonomischen Themas nicht geschadet, eine Unterscheidung nach dynamischen und statischen Effizienzkriterien vorzunehmen, wie dies bspw. Leibenstein mit seiner X-IneffizienzTheorie oder Drucker mit seiner Differenzierung nach Effizienz und Effektivität („Doing the things right - Doing the right things") getan haben. Es bleibt eine altbekannte Streitfrage, ob und inwiefern aus einer an statischen Effizienzkriterien orientierten Modelltheorie politische Handlungsempfehlungen und Effizienzaussagen für einen innovationsbezogenen, dynamischen Interaktionsprozess gefolgert werden können. Angesichts der Explosion innovations- und evolutionsökonomischer Literatur ist das Bemühen des Autors um Komplexitätsreduktion durchaus verzeihlich. Man wünscht sich jedoch gelegentlich einen stärkeren Bezug zu sozialtechnologischen Hypothesen, wie bspw. bezüglich der Wirkungsweisen von Handlungsrechten auf die (finanz-) unternehmerischen Fähigkeiten oder auf die Leistungsmotivation eines Entrepreneurs. Es ist m. E. auch etwas bedauerlich, dass der Name Schumpeter nicht ein einziges Mal fällt, zumal Schumpeter die Interaktion real- und finanzwirtschaftlicher Sphäre mit seinem Innovationsansatz, seiner Unternehmerfigur, seiner Methodologie (Dichotomie von Gleichgewichts- und Ungleichgewichtsansatz; konkretisierte Theorie) sowie seinen geldtheoretischen Auffassungen (Innovationsfinanzieruung per Kreditschöpfung durch Banken) bereits thematisiert hatte und

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damit ideale Anknüpfungspunkte für die weiterführende Analyse der Finanztechnologie „Venture Capital" bzw. der dahinter stehenden Formen der Finanzintermediation/-disintermediation geliefert hat. Eine staatliche Intervention ist ordnungsökonomisch mit dem Problem der Wissensanmaßung im Hayek'sehen Sinne verbunden. Dies führt auch der Verfasser an. Dass öffentliche Träger eigens VC-Gesellschaften begründen und damit untemehmensverfassungsrechtlich versuchen, ein erfolgreiches innovations- bzw. frühphasenorientiertes Aktivgeschäft in die Wege zu leiten, mag eine sinnvolle Ergänzung der Marktkräfte sein. Die dahinter stehende grundsätzliche Problematik ist jedoch, ob es für eine proaktive staatliche VC-Politik ausreichend ist zu argumentieren, dass der formelle VC-Markt aufgrund informationsspezifischer Argumente (Transaktionskosten, Agencykosten etc.) „versagt". Alternativ hätte man in diesem Zusammenhang nämlich auch der Frage nachgehen können, ob (und wie) man VC-Gesellschaften dahin bringen kann, dass sie ihren spezialisierungsbedingten Vorteil als Finanzintermediäre auch im Seed- und Start-up-Segment wieder ausspielen, da ihre Investitionspräferenzen (Buy-out-/Spätphasenfinanzierungen; Volumina ab 500.000 € aufwärts) momentan nicht mit den Anforderungen im kritischen Segment der Innovationsfrühphase harmonisieren. Ferner wäre es wichtig gewesen zu diskutieren, ob nicht auch andere, mitunter forderungswürdige oder gehemmte Kräfte im VCMarkt existieren und sich demzufolge der gesamte Finanzierungsprozess innovativer Unternehmer nicht auch als arbeitsteiliger Prozess unterschiedlicher finanzunternehmerischer Akteure deuten ließe. An dieser Stelle kommt die Analyse der Bedeutung des informellen Marktes für VC zu kurz: Zwar führte dieses Forschungsfeld lange Zeit ein Schattendasein, allerdings ist heutzutage bekannt, dass den sog. „Business Angels" - als informelles, disintermediäres Segment des VC-Marktes - aufgrund ihrer unternehmerischen Erfahrungen und ihrer finanzunternehmerischen Disposition gerade im Fall der innovativen Unternehmensgründung eine Schlüsselfunktion zukommt. Sie überbrücken oftmals die i. d. R. begrenzten Ressourcen der 3 F (family, founder, friends) und ebnen mit ihrem Engagement überhaupt erst den Weg zum formellen Finanzsystem der VC-Gesellschaften, Banken sowie des Kapitalmarktes (Coveney/Moore 1998). Von verschiedenen Seiten werden in diesem Zusammenhang immer wieder institutionelle Hemmnisse als Ansatzpunkt einer staatlichen VC-Politik ins Spiel gebracht. Seit geraumer Zeit wird bspw. die 2001 vorgenommene Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze auf 1 % im §17 EStG als schädlich angesehen, da daraus hervorgeht, dass Veräußerungsgewinne im Rahmen privater Beteiligungen an einer Kapitalgesellschaft (GmbH, AG etc.) auch bei kleineren Anteilsquoten der Steuerpflicht unterliegen. Auch empirisch kann festgestellt werden, dass viele VC-Gesellschaften mittlerweile eine enge Anbindung zum informellen VC-Markt suchen, um sich die komparativen Vorteile von Business Angels im Frühphasenbereich der Innovationsfinanzierung nutzbar zu machen. Dann wäre aber zuerst danach zu fragen, wie sich diese „strukturelle Kopplung" wirtschaftspolitisch intensivieren lassen könnte? Können VC-Gesellschaften hierdurch bzw. durch geeignete institutionelle bzw. finanzpolitische Vorkehrungen (wieder) an den Pol „Frühphasenfinanzierung" geleitet werden? In diesem Zusammenhang sind die vom Autor betrachteten Aspekte zur Förderung des Passivgeschäftes von VC-Gesellschaften sehr treffend. Bauer argumentiert hier, „dass eine Förderung des Refinanzierungsvorgangs nicht die intuitivste Einwirkungsmöglichkeit des Staates darstellt" (S. 77). Dies ist m. E. ordnungspolitisch insofern richtig, als eine „inputlogische" Mobilisierung „irgendwelcher" Finanzmittel zur Unterstützung der Refinanzierung von VC-Gesellschaften, sowohl historisch (Bygrave/Timmons 1992) als auch theoretisch dazu führen kann, dass evolutionslogisch gerade diejenigen innovationsrelevanten finanzunternehmerischen Fähigkeiten verloren gehen können, die für den embryonalen Kern der Entwicklungs- und Wachstumsdynamik - die Innovationsfinanzierung in der Frühphase des Unternehmenszyklus notwendig sind. Finanzkapital, selbst VC als „innovationsfreundlichere" Finanzierungsform, stellt weder eine produktionstechnologisch notwendige noch eine per se förderungswürdige Inputgröße dar. Es erhält seine realwirtschaftliche Relevanz aus der Interaktion real- und finanzwirtschaftlichen Unternehmertums (Siemen 2006).

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Interessanterweise sieht Bauer auch im Unternehmertraining einen Ansatzpunkt für staatliche VC-Politik. Dies ist suis generis sicherlich keine herkömmliche VC-Politik und wird nur über einen eigenwilligen Umweg verständlich: Obwohl Trainingsmaßnahmen nämlich „am weitesten vom Beteiligungsprozess entfernt sind, setzen sie dennoch am Kernproblem für eine Unterversorgung an: den Fähigkeiten der Unternehmer bzw. dem daraus resultierenden Gewinn eines Projekts" (S. 86). Auf diesem Wege wird die qualitative Dimension der Interaktion realund finanzwirtschaftlicher Sphäre angesprochen. Bereits seit geraumer Zeit wird unter entwicklungs- und wachstumspolitischen Gesichtspunkten der Frage nachgegangen, inwiefern sich potenzielle Unternehmensgründer (insbesondere mit akademischen Hintergrund) didaktisch wirksam für zukünftige Herausforderungen sensibilisieren und konditionieren lassen. Ob betriebs- und volkswirtschaftliches Wissen dabei die innovations- und evolutionslogisch zentralen Engpassfaktoren darstellen, kann jedoch durchaus bezweifelt werden (Röpke 2002). Zudem sollte nicht vergessen werden, dass Business Angels und VC-Gesellschaften als Beteiligungsgeber in den unterschiedlichen Finanzierungsphasen eines innovativen Unternehmens i. d. R. einen wertvollen Beitrag zur Wertschöpfung leisten, da sie nicht nur Kapital, sondern auch Knowhow, Netzwerkkontakte und Erfahrungen in das Unternehmen einbringen und somit auch als „Resonanzboden" für unternehmerische Belange fungieren. Vor diesem Hintergrund ist die vom Autor aufgeworfene These, dass Wirkungen der Managementunterstützung seitens der Wagniskapitalisten allgemein überschätzt werden (S. 229), mit Skepsis zu betrachten. Die vorstehenden Anmerkungen sind keineswegs als Manöverkritik zu verstehen. Im Gegenteil: Der Verfasser argumentiert sehr klar und präzisiert seine Argumente anhand zahlreicher modelltheoretischer Ableitungen. Besonders erwähnenswert ist der didaktische Wert seiner Abbildungen und Tabellen, die den Gang der Argumentation hervorragend vorbereiten bzw. nachzeichnen. Bauer stößt mit seinem Buch weiterführende evolutions- und ordnungsökonomische Überlegungen an. Das Buch ist in einer schnörkellosen Sprache geschrieben und kann als überaus begrüßenswerter Ansatzpunkt gesehen werden, um altbekannte Argumente für eine staatliche Intervention und Subventionierung des Innovationsgeschehens theoretisch zu reflektieren und hinsichtlich ihrer Relevanz für eine zielführende VC-Politik zu beleuchten.

Literatur Bygrave William D. und Jeffty Timmons (1992), Venture Capital at the Crossroads. Coveney, Patrick und Karl Moore (1998): Business Angels. Röpke, Jochen (2002), Der lernende Unternehmer. Siemon, Cord (2006), Unternehmertum in der Finanzwirtschaft.

Manfred E. Streit

Marburger Studien zur Ordnungsökonomik Zu dem gleichnamigen Buch von Alfred Schüller* Nach dem Vorwort zu diesem Band handelt es sich um ein Geschenk an den Autor. Als Schenkende ausgewiesen werden die Mitglieder der vom Autor in der Nachfolge von K. Paul Hensel geleiteten Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme in Marburg. Das Geschenk ist zugleich Glückwunsch an den Autor zum 65. Geburtstag und Dank dafür, dass er sein Amt noch weitere 3 Jahre fortführen möchte. Der Band enthält Aufsätze des Autors aus 25 Jahren (1975-2000). Inhaltlich herrscht dabei, gemäß dem Titel, die Ordnungsökonomik in unterschiedlichen Anwendungen vor. Erklärterma* Alfred Schüller, Marburger Studien zur Ordnungsökonomik, Verlag Lucius & Lucius, Stuttgart 2002, 358 Seiten.

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ßen steht sie in der Tradition von Walter Euchen, Franz Böhm, Wilhelm Röpke und Friedrich A von Hayek, womit sich eine tradierte Verbindung zwischen Marburger und Freiburger Schule ergibt. Am Beginn des ersten der vier Teile des Bandes findet sich der Abdruck eines eher programmatisch für die Forschungsstelle zu lesenden Aufsatzes, erschienen im Jahr 2000 mit dem Titel „Theorie des wirtschaftlichen Systemvergleichs - Ausgangspunkte, Weiterentwicklungen und Perspektiven". Es handelt sich, wie mit dem Untertitel angekündigt, um eine Analyse der Tragfähigkeit des Vergleichs von Wirtschaftssystemen als wissenschaftlichem Bestätigungsfeld, einer Fragestellung, die seit Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wohl unter dem Eindruck des damaligen Ost-West-Konflikts sowie Strömungen unter Linksintellektuellen an Hochschulen des In- und Auslands entstand. Inzwischen ist es, bis auf die Transformationsdiskussion Ende der 80er Jahre, um diese Fragestellung etwas still geworden. Um so wertvoller dürfte es sein, wenn sich der Verfasser anschickt, nach Perspektiven und Weiterentwicklungen zu suchen. Die Suche führt nahezu zwangsläufig zu Walter Eucken, dem Begründer der Ordnungsökonomik Freiburger Prägung, an der sich auch der Systemvergleich orientierte, wenn er von der marktwirtschaftlichen oder Wettbewerbsordnung als Referenzsystem ausging. Seine moralphilosophischen, naturrechtlichen Grundlagen sind, wie der Autor aufzeigt (S. 11) bei Adam Smith zu suchen. Man könnte, v. Hayek aufgreifend, auch Adam Ferguson, David Hume und J. St. Mill bemühen. Werden v. Hayeks rechts- und verfassungstheoretische Überlegungen noch hinzugezogen, so wird als Weiterentwicklung der Ordnungsökonomik die Institutionsökonomik und der auf ihr fußende methodologische Individualismus erkennbar (S 13). Die Institutionenökonomik ist zugleich der Schlüssel zum Studium des Systemwandels und dessen Ursache, des Systemwettbewerbs (S.18), wenn Wirtschaftsverfassungen als Institutionensysteme verstanden werden. Damit sind die Voraussetzungen für eine „Synthese auf breiter Front", wie dies der Autor, Röpke zitierend, nennt (S. 25); denn der Systemwettbewerb ist nichts anderes als ein Aspekt des weltweiten Wettbewerbs der politisch handelnden Anbieter von Institutionen und Institutionensystemen um international mobile Ressourcen. Den Abschluss dieses facettenreichen Aufsatzes bildet ein Plädoyer, die Analyse von Wirtschaftssystemen um die ihnen zugrunde liegenden „kulturellen Kausalitäten" durch deren Entwirrung zu bereichern (S. 28). Das beinhaltet, wie der Autor in Anlehnung an Eucken meint, „das geschichtliche Verstehen religiöser, geistiger, politischer, moralischer und seelischer Wandlungen" (S. 29). Streng genommen dürfte sich dahinter und hinter dem Systemvergleich, wie ihn der Autor versteht, ein umfassendes ökonomisches, interdisziplinär angelegtes Forschungsprogramm mit sozialpsychologischem Schwerpunkt verbergen, ein sehr ambitioniertes Vorhaben und, wie der Autor abschließend meint „das größte Glanzstück systemvergleichender Forschung." Wer sich an v. Hayeks Urteil über die vorherrschende Form von Demokratie als einer „Schacherdemokratie und an Olsons daraus abgeleiteter Folge der „institutionellen Sklerose" erinnert, wird mir Genuss den Aufsatz im zweiten Teil (Ordnungsprobleme der sozialen Marktwirtschaft) lesen. Sein alarmierender Titel lautet: „Meine Tasche, Deine Tasche: das Umverteilungschaos im Sozialstaat", ein Zeitungsartikel aus dem Jahre 1994, der leider ohne erkennbare Resonanz bei den politisch Verantwortlichen und in der Öffentlichkeit blieb. Gertrud von Le Fort im Sinne des Titels zitierend beginnt der Autor die massive Kritik an der als „sozial" bemäntelten Umverteilungspolitik in Deutschland mit dem Verdikt, Chaos ist eine „fürchterliche Parodie auf die Gleichheit". Euckens konstituierende und regulierende Prinzipien aufgreifend wird Sozialpolitik primär als Ordnungspolitik aufgefasst (S. 176). Das spricht der Kurzsichtigkeit sozialpolitischen Handelns (S. 175) Hohn; denn was sodann kritisiert wird, ist nichts anderes als ein „Missbrauch der Sozialpolitik" (Vaubel) zu Zwecken des Stimmenfangs im demokratischen Prozess. Ob es sich um Produzentensubventionen, bildungspolitische Maßnahmen (S. 176) oder Manipulationen der Arbeitsvertragsfreiheit (S. 177) handelt, die Ergebnisse sind enttäuschend. Sieht man sich die vom Autor genannten Fälle genauer an, dürfte seine Kritik eher als untertrieben gelten. In beiden Fällen geht es um kurzsichtiges Handeln im Verlauf der deutschen Vereinigung oder der sog. „Wende" (E. Krenz). Auf den ostdeutschen Arbeitsmärkten wurde, wider den Rat von Beratungsgremien, eine Angleichung der Arbeitsbedingungen an die von Westdeutschland toleriert, mit der Folge, dass der extreme Anstieg des Lohnkostenniveaus in Ostdeutschland dort

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erst einen flächendeckenden Sanierungsbedarf unbeschadet des maroden sozialistischen Erbes bewirkte und danach einen milliardenschweren Transferbedarf im Namen des „Aufschwung Osts" auslöste. Die „Wende" wurde in diesem Sinne missverstanden als eine „Übertragung wichtiger Elemente des westdeutschen Sozialstaats auf die neuen Bundesländer" (S. 179). Die Erklärung dieses Fehlverhaltens der westdeutschen Regierung Kohl und der sie tragenden politischen Parteien dürfte politökonomisch sein. Es ging vermutlich darum, die Zustimmung der ostdeutschen Bevölkerung durch sozialpolitische Wohltaten vor den anstehenden Wahlen zu erkaufen. Wie hoch der Kaufpreis war, zeigte sich erst mit Verzögerung. So dürften ζ. B. die laufenden Finanzierungsengpässe der Sozialversicherung Folge der großzügigen Anpassungen von Versicherungsansprüchen in Ostdeutschland an das westdeutsche Niveau sein, das seinerseits einen ausufernden, politisch bewirkten Sozialstaat widerspiegelt. Im letzten Teil des Aufsatzes geht der Autor einer „Chance für eine mutige Ordnungspolitik" (S. 180) im Sozialbereich nach. Gewünscht wird eine „systemgerechtere Sozialpolitik", die eine Zustimmung im politischen Prozess erfordert (S. 181). Es geht dabei um nicht weniger als um eine Zustimmung zu sozialpolitischen Reformen. Nach den vom Autor genannten Prinzipien (ebenda) wird eine durchgreifende Reform der sozialpolitischen Hinterlassenschaft gefordert, eines Erbes, das durch zahlreiche, auf Stimmenfang gerichtete, gruppenorientierte Privilegien gekennzeichnet ist. Das bedeutet politökonomisch, dass frühere Wahlgeschenke bei den Begünstigten von den Schenkenden im Namen der Reform wieder eingesammelt werden müssten. Das dürfte alles andere als politisch attraktiv sein, wie die Reformversuche im vergangenen Jahrzehnt lehren. Insofern vermutet der Autor zu Recht einen Mangel an „Wählern, die gegen volkswirtschaftlich schädliche Umverteilungsversprechen sind" sowie, „an Politikern, die davon überzeugt sind, dass man mit einem glaubwürdigen ordnungspolitischen Wegweiser aus dem Umverteilungschaos auch Wähler gewinnen kann." (S. 182) Die vorangegangene Kritik am „sozialpolitisch motivierten Interventionismus" (S. 187) fügt sich nahtlos in dem dann folgenden Aufsatz an, der mit sich mit der Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft als einer wirtschaftpolitischen Konzeption (Giersch) beschäftigt, die von der Politik beschönigend als wirtschaftspolitische Realität interpretiert wird. In diesem Aufsatz werden die zuvor erwähnten sozialpolitischen Fehlleistungen im deutschen Einigungsprozess noch einmal hervorgehoben, mit dem diagnostischen Ergebnis: „wenn die ostdeutsche Wirtschaft die typischen Transformationsprobleme weitgehend überwunden hat, so wirken jetzt vor allem Strukturprobleme der westdeutschen Wirtschaft fort." (S.187) Bezogen auf die Probleme der westdeutschen Wirtschaft in den vergangenen Jahren kann man das auch als „Aufschwung Ost im Reformstau West" kritisieren. Der dritte Teil ist überschrieben mit „Ordnungsprobleme der europäischen Integration". Nach dem Autor stehen zwei Integrationswege offen: der wettbewerblich-marktwirtschaftliche und der politisch-bürokratische Weg. Angewandt auf die Osterweiterung der EU, einem Gegenstand des Aufsatzes, spricht manches für den letztgenannten Weg, wenngleich damit Anpassungskosten verbunden sein dürften. Von den Gemeinschaftspolitiken nach dem Vertrag von Maastricht wird insbesondere die Industriepolitik in Frage gestellt (S.220), die mit den Wissensargumenten des Autors leicht zu kritisieren wäre, setzt sie doch zukunftsweisendes Wissen über „europäische Champions" oder „Schlüsselindustrien" voraus, die sich, mangels Wissen, als teure Fehlinvestitionen erweisen, die bürokratisch-politisch bewältigt werden müssen. Für erwartbare Missbräuche hält der Autor ein Gegenmittel bereit, den Systemwettbewerb (S. 315), sowohl als kontrollierende als auch initiierende Kraft. Dem Wettbewerb möchte er auch, v. Hayeks Vorschlag einer Entnationalisierung des Geldes folgend, die Geldversorgung der Union dem Wettbewerb statt einer Einheitswährung überlassen. Dem Euro als Einheitswährung ist dann ein weiterer, kritisch orientierter Aufsatz in diesem Band zugedacht. Der Band endet mit der Würdigung eines in wirtschaftspolitischen Diskussionen von Politikern immer wieder polemisch, Ängste schärend angesprochenen Phänomens, der Globalisierung („ordnungspolitische Dimensionen der Globalisierung"). Sie ist die Antwort auf die mit dem „Hauptstreben großer liberaler Autoren" (S. 304) verbundenen Frage: Wie kann weltweit

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ein System gesellschaftlicher Institutionen gefunden werden, das jeden Einzelnen dazu veranlassen sollte f...] zur Befriedigung der Bedürfnisse aller seiner Mitmenschen beizutragen?" (Hayek). Damit die Antwort ökonomisch tragfahig wird, ist eine internationale Wettbewerbsordnung notwendig, so der Autor (S. 34). Das führt unmittelbar zu vom Autor angegriffenen, rechtswissenschaftlich begründeten Vorschlägen, die im Grunde auf ein Weltkartellrecht zielen und damit Durchsetzungsprobleme entstehen lassen. Sie erweisen sich als besonders schwerwiegend bei staatlichen Wettbewerbsbeschränkungen und damit bei Verstößen gegen multilaterale Verpflichtungen von Signaturstaaten als Ausdruck eines handelspolitischen Nationalismus (S. 310 ff.), wie er durch eine Industriepolitik immer wieder provoziert wird. Die bisher aufgegriffenen Themen stehen für die Breite der Darlegungen des Verfassers, die durch Überlegungen zur Globalisierung und zur Weltwährungsordnung noch ergänzt wird. Im letzten Abschnitt wird von ihm ein Phänomen aufgegriffen, das in dem Band häufig thematisiert wird, der Sytemwettbewerb (S. 318 ff.) und mit ihm die Kontrolle der Anbieter von Institutionensystemen (Wirtschaftsverfassungen) durch Entscheidungen von Produzenten handelbarer Güter und Anlegern von international mobilem Kapital. Letztlich wirkt sich dieser Wettbewerb als Kontrolle auf Marktkonformität nationaler Institutionensysteme aus. Darin liegt seine ordnungspolitisch begrüßenswerte Qualität, die der Verfasser häufig hervorhebt und die von interventionsfreudigen Politikern, wenn auch unreflektiert, als Globalisierungsfolge beklagt wird. Insgesamt handelt es sich um einen Band, in den inspirierend und lernend hineinzuschauen man nicht nur Studierenden wünschen kann, sondern auf den auch der Verfasser als Emeritus mit Genugtuung zurückschauen kann. Volker Ulrich

Auf der Suche nach der besseren Lösung, Festschrift zum 60. Geburtstag von Norbert Klüsen Zu dem gleichnamigen Buch herausgegeben von Peter Oberender und Christoph Straub* Der vorliegende Sammelband von Peter Oberender und Christoph Straub widmet sich einer aktuellen und spannenden Fragestellung: Wie ließe sich unser Gemeinwesen im Allgemeinen und das Gesundheitssystem im Besonderen verbessern? Mit dem Band ehren die Herausgeber zugleich den Einsatz von Norbert Klüsen, dem Vorstandsvorsitzenden der Techniker Krankenkasse, für mehr Wettbewerbsansätze in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), einem System, das bis zum heutigen Tag weitgehend kollektiwertraglich und damit „gemeinsam und einheitlich" organisiert und gesteuert wird. Der Blick auf den Inhalt und die hier aufgeführten 23 Autoren des Sammelbands weckt eine gewisse Vorfreude auf die Lektüre des Buchs, da die Autoren entweder hervorgehobene Positionen in der Politik bzw. in den Verbänden des Gesundheitswesens innehaben oder als Wissenschaftler die Dauerbaustelle Gesundheitsreform beratend begleiten. Der erste Beitrag „Schwerpunkte einer bürgerorientierten Gesundheitspolitik" stammt von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Für sie bilden Solidarität und Eigenverantwortung die beiden tragenden Prinzipien des Gesundheitssystems, die es zu balancieren gilt. Sicherlich trifft zu, dass ein hochwertiges und finanzierbares Gesundheitssystem einer ständigen Anpassung und Reformfähigkeit bedarf, da sich die Anforderungen an den Sozialstaat ebenfalls permanent verändern. Ulla Schmidt stellt die Reformansätze seit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG 2004) in ihren Grundzügen dar und unternimmt eine Einordnung bzw. Be*

Peter Oberender/Christoph Straub (Hg.), Auf der Suche nach der besseren Lösung, Festschrift zum 60. Geburtstag von Norbert Klüsen, Nomos, Gesundheitsökonomische Beiträge, Band 52, Baden-Baden 2007.

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Wertung der einzelnen Maßnahmen anhand der eingeforderten Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung. Die aufgelisteten Maßnahmen seit dem GMG sind in erster Linie an den bestehenden Schnittstellen erfolgreich, insbesondere innerhalb der Versorgung der GKVPatienten entlang der Versorgungskette. Das Verhältnis zwischen GKV und PKV ist dagegen nach wie vor offen. Der zukünftigen Gestaltung des Krankenversicherungsmarktes kommt daher eine entscheidende Bedeutung zu und es wird interessant sein zu beobachten, wie die Idee der Ministerin eines einheitlichen Krankenversicherungsmarktes konkretisiert wird. Davon hängt nämlich entscheidend ab, ob bei der Suche nach einem nachhaltigen Finanzierungssystem Erfolge zu erwarten sind, da diese Aufgabe eine Begrenzung der intergenerativen Umverteilung voraussetzt. Diesen Punkt betont auch der Beitrag von Daniel Bahr, dem gesundheitspolitischen Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. In seinem Beitrag werden letztlich die gleichen Probleme wie im Text der Bundesgesundheitsministerin angesprochen, erwartungsgemäß aber mit anderen Schwerpunkten und anderen Schlussfolgerungen. Während bei Ulla Schmidt eher eine Einbindung der PKV in das GKV-System zumindest vorsichtig anklingt, liegt für Daniel Bahr die Lösungsstrategie in der umgekehrten kausalen Richtung, d.h. die Umwandlung der GKVKrankenkassen in private Versicherungsuntemehmen, welche nach dem Kapitaldeckungsverfahren funktionieren sollten. Dies hätte im demografischen Wandel sicherlich Vorteile, allerdings bedarf eine solche Umstellung eines langen Atems, da eine schnelle Umstellung durch den Aufbau des Kapitalstocks sowie durch den Zeitbedarf für das Auslaufenlassen des Umlageverfahrens begrenzt wird. Auch der Beitrag von Biggi Bender, der gesundheitspolitischen Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen widmet sich der zukünftigen Finanzierung der GKV und hier vor allem dem neuen Gesundheitsfonds und den Zusatzprämien. Da Bündnis 90/Die Grünen in Berlin nicht mehr an der Regierung beteiligt sind, überrascht es nicht, dass Biggi Bender den Finger in die offene Wunde „Gesundheitsfonds" legt und die Schwachstellen der zukünftigen Finanzierung betont. Wenn, wie geplant, der zukünftige Wettbewerb über den Zusatzbeitrag laufen soll, macht es wenig Sinn, dass die Höhe des Zusatzbeitrags von der Mitgliederstruktur abhängt. Damit sagt die Höhe des Zusatzbeitrags letztlich nichts über die Wirtschaftlichkeit einer Krankenkasse aus, sondern nur über die Risikostruktur ihrer Versicherten. Eugen Münch, der frühere Vorstandsvorsitzende und heutige Aufsichtsratsvorsitzende der Rhön-Klinikum AG betont die Notwendigkeit des Wandels in einer sich extrem verändernden Welt des Gesundheitswesens. Interessanter weise fordert er insoweit einen starken Staat, als dieser den beteiligten Spielern im Gesundheitswesen, also den Krankenkassen, den Verbänden der Anbieter und den Gesundheitskonzernen klare Spielregeln vorgeben sollte, d.h. auch die Grenzen bestimmen sollte, die für alle verbindlich sind. Da der Staat dann allerdings sehr häufig mit den Verstößen gegen seine eigenen Regeln konfrontiert würde, erlässt er lieber erst gar keine bindenden Regeln, was zu dem vorherrschenden Steuerungswirrwarr (mit)beiträgt. Der Beitrag von Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, setzt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Solidarität und Subsidiarität auseinander, allerdings bezogen auf das eigenständige System der Sozialversicherung der Landwirte. Wie in der GKV gilt auch hier, dass neue Rahmenbedingungen und geänderte Gegebenheiten Anpassungen der Finanzierungsstrukturen für die landwirtschaftliche Kranken-, Alters- und Unfallversicherung erfordern. Der fortschreitende Strukturwandel mit einer kleiner werdenden Solidargemeinschaft lässt das bestehende System ebenfalls an grenzen stoßen. Horst Seehofer drückt diesen Konflikt sehr elegant wie folgt aus: „Dies trägt auch dem Gedanken Rechnung, dass ein Anspruch auf externe Solidarität voraussetzt, alle Möglichkeiten der internen Solidarität ausgeschöpft zu haben". Am Rande sei angemerkt, dass in der Krankenversicherung der Landwirte bereits heute schon ein Prämienmodell zur Finanzierung eingesetzt wird, das nach Einkommensklassen gestaffelt ist. Der letzte Beitrag, der diesen Themenkomplex über Wettbewerb, Solidarität und Finanzierung thematisiert, stammt von Wilfried Jacobs, dem Vorstandsvorsitzenden der AOK Rhein-

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land/Hamburg. Zwar ist bekannt, dass auch die AOKen den Gesundheitsfonds eher kritisieren als bedingungslos unterstützen, dennoch betont Wilfried Jacobs in seinem Beitrag die Chancen, die mit der Gesundheitsreform verbunden sind und fordert insgesamt mehr Kreativität aller Beteiligten zum Wohle der Versorgung der Patienten. Wettbewerb ist für ihn kein Selbstzweck, sondern seine Erfolge zeigen sich letztlich erst, wenn er entsprechende Erfolge auf der Leistungs- und Versorgungsseite besitzt. Ein weiterer Themenkomplex ist den neuen Versorgungsformen, Wahltarifen und Managementaufgaben gewidmet. Thomas McGuire und Sebastian Bauhoff von der Harvard Medical School analysieren die jüngsten Reformmaßnahmen vor dem Hintergrund zunehmender Wahlfreiheiten der Konsumenten/Versicherten. Wie nicht anders zu erwarten, messen die beiden Autoren dem Wettbewerb und insbesondere den Wahlmöglichkeiten der Versicherten große Bedeutung bei. Ihr Urteil nach einem Jahrzehnt Wettbewerb in der GKV, der für sie mit dem GSG von 1993 und den Möglichkeiten zum Wechsel der Krankenkasse begann, fallt allerdings eher nüchtern aus. Zurzeit dominieren partielle Analysen einzelner Wettbewerbselemente, etwa über den Risikostrukturausgleich (RSA) oder über die regionalen Effekte, während eine übergeordnete Perspektive fehlt, d.h. es mangelt nach wie vor an einem wettbewerblichen Gesamtkonzept für die GKV. Eberhard Wille, der Vorsitzende des Sachverständigenrats für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, gibt einen Überblick über Stand und Entwicklungsperspektiven der Integrierten Versorgung. Seiner Meinung nach haben die Möglichkeiten bei den neuen Versorgungsformen erhebliche Bewegung in die verkrusteten Strukturen des deutschen Gesundheitswesens gebracht. Allerdings ist es für eine Zwischenbilanz, auch aufgrund der permanenten Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen noch zu früh. Bisher stellen die meisten Projekte lediglich regionale Versorgungsinseln dar, sie können aber noch nicht als flächendeckendes Gütesiegel angesehen werden. Rainer Daubenbüchel, der langjährige Vorsitzende des Bundesversicherungsamts (BVA), analysiert aus aufsichtsrechtlicher Sicht die Einführung von Wahltarifen als Wettbewerbsinstrument im Solidarsystem GKV. Mit den Wahltarifen wird insbesondere ein - umstrittenes Wettbewerbsfeld gegenüber der PKV eröffnet. Mit Blick auf die Solidargemeinschaft GKV implizieren Wahltarife, dass der Fokus von der Versichertengemeinschaft in toto auf kleinere Einheiten bzw. Subsysteme wechselt, da jeder einzelne Tarif wirtschaftlich sein muss und Quersubventionierung nicht zulässig ist. Die Schwierigkeit für das BVA besteht darin, dass bei der Genehmigung der Tarife noch keine Ist-Zahlen vorliegen und somit die Überprüfungen durch das BVA lediglich auf Plausibilitätsbetrachtungen beruhen können. Die Krankenkassen müssen daher bereits mit den ersten Echtzahlen die Wirtschaftlichkeit der Wahltarife belegen, sonst kann die Genehmigung widerrufen werden. Da der Gesetzgeber viele Details bei Einführung der Wahltarife noch offen gelassen hat, dürften die Aufsichtsbehörden damit noch eine ganze Weile beschäftigt bleiben. Volker Leienbach, Frank Schulze Ehring und Christian Weber vom Verband der privaten Krankenversicherung, sehen die Einführung der Wahltarife in das GKV-System naturgemäß sehr kritisch, „wildert" die GKV hier doch in einem Geschäftsbereich der bisher der PKV vorbehalten war. Neben der Frage, ob Freiwilligkeit, Leistungsäquivalenz und Risikoorientierung überhaupt zum GKV-Solidarmodell passen, thematisieren sie die spannende Frage, ob die Einführung von Wahltarifen möglicherweise der Anfang vom Ende für die GKV als Gesamtsolidargemeinschaft ohne Gewinnzweck bedeutet. Falls der Europäische Gerichtshof das bisherige Solidarsystem relativiert, würde die GKV sicherlich mittel- bis langfristig ihre Immunisierung gegenüber dem europäischen Kartellrecht einbüßen mit der Folge, dass letztlich auch die GKV als staatliche Pflichtversicherung keinen Fortbestand mehr hätte, sondern lediglich eine Versicherungspflicht bei frei zu wählenden privaten Versicherungsunternehmen bestehen bliebe. Das wiederum würde den Interessen der PKV sicherlich nicht zuwider laufen, so dass es fraglich ist, ob die PKV die Einführung von Wahltarifen überhaupt „bekämpfen" sollte.

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Ein weiterer Beitrag in diesem Block über Versorgungsformen, Wahltarifen und Managementaufgaben stammt von Ulrich Wandschneider, dem Vorstandsvorsitzenden der MediClin AG, der sich mit den Herausforderungen für das Klinikmanagement auseinander setzt. Eine effiziente Versorgung der Patienten erfordert sicherlich die enge Verknüpfung ambulanter, stationärer und poststationärer Leistungen, d.h. eine Orientierung an der Wertschöpfungskette. Ferner ergeben sich weitere Einsparpotenziale durch Fusionen, Vernetzungen oder strategische Partnerschaften. Wenn jedoch alle das gleiche anstreben, wird nur derjenige Erfolg haben, der dies schneller kann als sein Konkurrent. Somit gilt es auch die Lerngeschwindigkeit gegenüber der Umwelt zu erhöhen. Ob bei all diesen Bestrebungen auch noch das eigentliche Hauptziel, nämlich die optimale Versorgung des Patienten erreicht wird, bleibt abzuwarten. Thematisch bündeln lassen sich die Beiträge von Oberender und Zerth, Häussler, Graf von der Schulenburg, Straubhaar und Vöpel, Hoppe und auch Danner, die sich mit den Begriffen Orientierung, Legitimation, Europa und Jobs im Gesundheitswesen auseinandersetzen. Eine klare ordnungspolitische Bewertung der aktuellen Reformbestrebungen im Gesundheitswesen leisten Peter Oberender und Jürgen Zerth von der Universität Bayreuth. Sie weisen darauf hin, dass vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der Wechselwirkungen mit dem medizinisch-technischen Fortschritt eine zentrale Herausforderung darin besteht, die intergenerativen Belastungen des bestehenden Systems zu begrenzen. Nach ihrer Analyse kann dies die jüngste Gesundheitsreform nicht leisten, da sowohl in der GKV als auch nun auch in der PKV das Umlageverfahren ausgebaut wird. Rückführung intergenerativer Umverteilung bedeutet aber, dass Entscheidungskompetenzen auf die Ebene der Bürger und der Krankenkassen zurückverlagert werden, was bisher nicht im ausreichenden Maß geschehen ist. Von daher gilt der dem Fußball entliehene Spruch: nach der Reform ist vor der Reform. Bertram Häussler, der Direktor des IGES Instituts, betont die Bedeutung der Gesundheitsforschung für die Weiterentwicklung des Systems. Anhand zweier Gutachten zeigt Häussler, dass wissenschaftliche Beratung nicht unglaubwürdig sein muss, falls bestimmte Spielregeln eingehalten werden: Transparenz, international anerkannte Methoden und Offenlegung der verwendeten Datenbasis. Unter diesen Voraussetzungen ist Häussler zuzustimmen, dass die Gesundheitsforschung mehr als Beratung sein kann, nämlich einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Systems leisten kann. Matthias Graf von der Schulenburg von der Universität Hannover blickt in seinem Beitrag über die Grenzen Deutschlands und analysiert die internationalen Vorgehensweisen im Rahmen von Evaluationsverfahren. Diese Thematik hat durch das GKV-WSG eine besondere Brisanz erhalten, da es auch um die Methoden geht, die das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) seinen Kosten-Nutzen-Bewertungen zugrunde legt. Von besonderem Interesse sind daher die Ausführungen von der Schulenburgs zu der Frage „welcher internationaler Standards der Gesundheitsökonomie sollte sich Deutschland bedienen?" Hier wird überzeugend dargestellt, dass ein breiter internationaler Konsens in Bezug auf die wissenschaftliche Fundierung der zur Verfügung stehenden gesundheitsökonomischen Analysearten besteht und dass diese Methoden keinesfalls durch den deutschen Gesetzgeber vernachlässigt werden sollten. Thomas Straubhaar und Henning Vöpel vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) befassen sich mit der Frage, „welche empirischen Beschäftigungswirkungen können bei Umsetzung eines modernen Krankenversicherungssystems gegenüber dem Status quo erzielt werden?" Anhand verschiedener Szenarien, die einen unterschiedlichen Regulierungsgrad unterstellen, quantifizieren sie in einem Simulationsmodell die jeweiligen Beschäftigungseffekte. Den stärksten Beschäftigungszuwachs verzeichnet das „liberale Gesundheitsmodell, bei dem der Anteil der öffentlich finanzierten Gesundheitsausgaben von derzeit fast 80 % auf 50 % sinkt. In dieser Simulation ergibt sich ein Beschäftigungszuwachs von mehr als 600.000 Arbeitsplätzen. Ihre Empfehlung für ein modernes Krankenversicherungssystem lautet daher, dass zukünftige Reformen stärker wettbewerblich ausgerichtet sein müssten, um den „Jobmotor Gesundheitswesen" nutzen zu können.

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Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer, analysiert den Gesundheitsbegriff im Spannungsverhältnis zwischen den Polen „ärztliche Sicht und ökonomische Zwänge". Er plädiert eindrücklich dafür, viel stärker und intensiver als bisher die Möglichkeiten der Versorgungsforschung und der Vernetzung zu nutzen, um neue Lösungsmöglichkeiten für eine Abschwächung des Problems der Ressourcenknappheit zu finden und anzuwenden. Als Alternative bleibt sonst nur der Weg in die offene Rationierung. Der letzte Beitrag in diesem Block über Orientierung, Legitimation, Europa und Jobs im Gesundheitswesen stammt von Günter Danner, dem stellvertretenden Direktor der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung. Er spricht sich sehr deutlich dafür aus, die eigenen Standortvorteile in dem Zukunftsbereich Gesundheitswesen stärker darzustellen und zu nutzen. Als zentralen Vorteil einer standortorientierten Gesundheitspolitik sieht er die Sicherung von Arbeitsplätzen sowie das Erkennen des hohen Stellenwerts einer sozialen Gesundheitspolitik. Der insgesamt letzte hier zu besprechende Beitrag des Bandes stammt von Ute Rosenbaum von der Hochschule Zwickau, die sich der Thematik der Armenpflege im Zeitalter der Reformation angenommen hat. Ihre interessante These lautet, dass die aktuellen Diskussionen über die sozialen Sicherungssysteme meistens eine Variante historischer gesellschaftlicher Entwicklungen darstellen und in ihrer Wirkungsweise damit Ausdruck des aktuellen Zustands einer Gesellschaft sind. Exemplarisch stellt Ute Rosenbaum die Situation in der Stadt Zwickau an der Schwelle zur Neuzeit dar. Aus ihren interessanten Ausführungen erkennt man, dass der aufkeimende Wohlstand letztlich eng korreliert mit dem überdurchschnittlichen Armen- und Fürsorgesystem der damaligen Zeit. So geben reiche Städte bzw. Länder nicht nur mehr Geld für Gesundheit aus, sondern umgekehrt gilt auch, dass ein gut ausgebautes Bildungs- und Gesundheitssystem langfristig den Wohlstand mehrt. Insgesamt erweist sich der Sammelband von Peter Oberender und Christoph Straub aus zwei Gründen als sehr lesenswert. Zum einen leistet er einen aktuellen Überblick über die Probleme des Gesundheitswesens und zeigt Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung des bestehenden Systems auf. Zum anderen kommen in diesem Sammelband Autoren mit sehr unterschiedlichen ordnungspolitischen Auffassungen und Einstellungen zu Wort, so das der Leser aus der Fülle der Informationen sich selbst ein Urteil bilden kann, welche Schritte unternommen werden müssten, damit die anvisierte Suche nach der besseren Lösung erfolgreich verlaufen kann.

ORDO · Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Kurzbesprechungen Frank Daumann, Stefan Okruch und Chrysostomos Mantzavinos (Hg.), Wettbewerb und Gesundheitswesen: Konzeptionen und Felder ordnungsökonomischen Wirkens. Festschrift für Peter Oberender zu seinem 65. Geburtstag, Andrássy Schriftenreihe, Band 4, Budapest 2006,346 Seiten. Der vorliegende Sammelband umfasst insgesamt 19 Beiträge namhafter Ökonomen, mit denen das wissenschaftliche Wirken von Peter Oberender gewürdigt wird. Im ersten Teil werden verschiedene Facetten im Verhältnis von „Ordnung und Wettbewerb" beleuchtet. Drei Beiträge befassen sich mit den vielfaltigen Hindernissen bei der Vermittlung ordnungsökonomischen Denkens auf dem Feld der Politikberatung. Für Manfred E. Streit kann hierbei der „Wissenschaftler als Berater" dem gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Fortschritt vor allem dann dienen, wenn er sich auf „unerbetenen Rat in kritischer Absicht, abseits vom prestigeträchtigen Auftritt in der Nähe von politischen Akteuren und weit entfernt von jeglicher Anmaßung an Wissen" beschränkt (S. 5). Er beschreibt damit Leitlinien, die sich Peter Oberender im Laufe seiner umfangreichen Beratungstätigkeit stets zu Eigen gemacht hat. In sechs weiteren Artikeln wird unter anderem von Egon Görgens und Martin Babl auf die zentrale Bedeutung der Interdependenz der Ordnungen im Transformationsprozess in den mittel- und osteuropäischen Ländern verwiesen (S. 59 ff.), Gisela Aigner und Wolfgang Kerber gehen der Frage nach, „ob FuE-Kooperationen, die die Anzahl der verfolgten Forschungspfade [...] reduzieren, den wettbewerblichen Prozess der Wissensschaffung auch beeinträchtigen können" (S. 118), während Stefan Okruch mit Blick auf die EU-Wettbewerbspolitik „die Bedeutung von Koordination und von Lernprozessen betont, um im europäischen Systemwettbewerb eine erwünschte, ausreichende Einheitlichkeit zu sichern" (S. 169). Diesen Forschungsfeldem hat sich auch Peter Oberender in seinem beeindruckenden wissenschaftlichen Oeuvre immer wieder zugewandt. Die Herausgeber heben in ihrem Vorwort hervor, dass für Peter Oberender „das Denken in Ordnungen und die Interdependenz der Teilordnungen die Rolle eines Paradigmas in seinem wissenschaftlichen Werk (einnehmen)". Besonders augenfällig wird dies beim Thema „Gesundheit", das den zweiten Teil der Festschrift überschreibt. Treffend weist hier Hartmut Kliemt darauf hin, „viele Fehlentwicklungen hätten vermieden werden können, wenn man Fragen der öffentlichen Gesundheitsversorgung - wie von Peter Oberender stets angemahnt - ordnungsund nicht bloß tagespolitisch behandelt hätte" (S. 176). Für Kliemt sollte sich daher „Gesundheitsordnungspolitik an politischen und nicht an medizinischen Maßstäben orientieren". Bei den „eigentlichen Fundamentalfragen" - etwa der Entscheidung über einen angemessenen Leistungskatalog in der Gesundheitsversorgung - gehe es nämlich nicht um medizinische, sondern „um ethische und politische Probleme, die ordnungspolitisch auf einer ordnungsökonomischen und -ethischen Grundlage gelöst werden sollten" (S. 188). Fast alle Beiträge in diesem zweiten Teil beschäftigen sich mit Reformansätzen bei der Finanzierung der Gesundheitsausgaben. Zu Recht hebt allerdings Volker Ulrich hervor, die Finanzierungsseite stelle letztlich „nur die eine Seite der Medaille dar. Ohne weitere Anstrengungen zur Begrenzung bzw. zur Anreizverbesserung auf der Ausgabenseite wird eine „echte Gesundheitsreform"nicht gelingen" (S. 256). Eine darüber hinausgehende Problemstellung greift Günter Neubauer auf, der die in Deutschland bestehende staatliche „Krankenhausplanung in der Sackgasse" sieht und eine „ordnungspolitische Neubesinnung" einfordert. Die „duale Finanzierung" führe zu „betriebswirtschaftlichen Unsinnigkeiten" und „zu einer Vielzahl von geradezu grotesken Erscheinungsbildern, wie sie sonst nur aus Planwirtschaften bekannt sind". Es sei nun einmal ein Trugschluss, wenn behauptet werde, „dass in der Krankenversorgung, und hier insbesondere in der Krankenhausversorgung, eine marktliche Steuerung nicht funktioniert oder wenn, sozialpolitisch nicht akzeptabel

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ist". Gegen solche Vorurteile habe „Peter Oberender in den letzten Jahrzehnten vehement (an-) gekämpft und seine Ansicht hat mehr und mehr Anhänger gefunden" (S. 305). Peter Oberender wird sich über diese Festschrift gefreut haben. Manfred Hilzenbecher

Rolf Hasse und Uwe Vollmer, Incentives and Economic Behaviour, Verlag Lucius & Lucius, Stuttgart, 2005,144 Seiten. Der von Rolf Hasse und Uwe Vollmer (Universität Leipzig) herausgegebene Band enthält sieben Beiträge. Den Anfang macht der Festvortrag von Arnold Picot (LMU) zum zehnjährigen Jubiläum der Wiedergründung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig im November 2003. Er widmet sich dem „Beitrag der Institutionenökonomik zur Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften". Hierauf folgen zunächst vier Texte in englischer Sprache: Winand Emons (Universität Bern) über „Credence Goods: The Monopoly Case", Dalia Marin (LMU) zu „Law in Transition and Development. The Case of Russia", Torsten Eymann (TU Freiberg) über „Rational (Software-)Agents" sowie Diemo Diedrich (Universtität Leipzig) mit dem Thema „Monetary Policy and Bank Lending in Japan: An Agency-based Approach". Den Abschluss bildet der deutschsprachige Artikel von Silvia Föhr und Harald Wiese (Universität Leipzig) über „Intrinsische Motivation und Delegation". Drei dieser fünf Beiträge sind während des Kolloquiums anlässlich des Fakultätsjubiläums präsentiert worden. Picot erläutert die zentralen Begriffe „Institution" und „Ökonomik" und stellt heraus, warum diese Forschungsrichtung ein gemeinsames Paradigma für BWL und VWL liefert und dadurch die Einheit der Wirtschaftswissenschaft fordert. Ein Beispiel für diesen integrativen Ansatz bildet das sog. „Coase-Theorem": Die Einsicht, dass die Zuteilung von Verfügungsrechten nur bei positiven Transaktionskosten Effizienzwirkung entfalten kann, hat nicht nur Folgen für die VWL-Analyse von Regulierungen und Wirtschaftspolitik, sondern liefert einen Grund dafür, warum das Phänomen „Organisation" überhaupt ein relevantes Forschungsobjekt der BWL darstellt. Picot hält die Ökonomen für recht weit darin vorangeschritten, optimale oder auch nur bessere Institutionen zu entwerfen; allerdings täten sie sich noch schwer, Wege für den Prozess des Wandels von Institutionen aufzuzeigen. Er skizziert in groben Pinselstrichen einen Rahmen für ein auf Institutionenökonomik basierendes „change management" und liefert damit einer ganzen Generation von Institutionenökonomen beider Disziplinen genug Stoff für ein lebenslanges Forschungsprogramm. Der Beitrag von Emons nimmt starken Bezug auf Emons (2001). Er betrachtete einen Experten, der als Monopolanbieter eines Vertrauensgutes auftritt und vorab in Kapazität investieren muss. Ist diese Kapazität beobachtbar, können die Konsumenten daraus bereits ablesen, ob der Experte Anreize hat, ihnen zu hohe Leistungen unterzuschieben. Bei unbeobachtbarer Kapazität könnte eine vertragliche Trennung zwischen „Diagnose" und „Reparatur" das Anreizproblem lösen. Marin weist in ihrem Beitrag zunächst anhand einer empirischen Analyse nach, dass die Entwicklung Russlands in den frühen 90er Jahren zu einer geldlosen Wirtschaft („demonetization") nicht durch eine „virtuelle" Ökonomie erklärt werden kann. Ihr alternativer Erklärungsansatz basiert auf einem Modell einer Lieferkette mit spezifischen Investitionen. Wenn Vertragsdurchsetzung in einem imperfeta arbeitenden Rechtssystem Transaktionskosten erfordert, verringert dies den Spielraum für einen Hold-up zwischen den Partnern einer Nash-Verhandlung, was wiederum ihre Bereitschaft erhöhen kann, spezifische Investitionen vorzunehmen. Marin betrachtet allerdings nur eine einzige Transaktion auf einer Stufe einer endlichen Wertschöpfungskette. Es wäre sicher interessant zu erfahren, ob sich das Ergebnis ihrer Analyse ändert, wenn die Rückwärtsinduktion mit dem Endabnehmer startet. Der letzte Lieferant könnte ja der Imperfektion des Rechtssystems ausweichen, indem er mit diesem ein Zug-um-Zug-Geschäft

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abschließt. Aber auch die vereinfachte Modellanalyse erscheint zusammen mit den empirischen Belegen geeignet, die Hintergründe des russischen Wirtschaftsgeschehens kurz nach der Wende zu beleuchten. Rationale Software-Agenten, die Eymann vorstellt, sind Computerprogramme, welche in Auktionen oder an Wertpapierbörsen selbständig agieren. Besonders spannend wird das Thema, wenn man berücksichtigt, dass solche Agenten gegen andere Computerprogramme antreten. Die spieltheoretisch gestützte Analyse eines optimalen Bietverhaltens gegen vielleicht nicht optimal eingestellt Agenten scheint jedenfalls noch in den Kinderschuhen zu stecken; auch hier eröffnet sich breiter Spielraum für ein Zusammenwachsen der beiden Disziplinen BWL und VWL. Dietrichs Beitrag belegt die Nützlichkeit der mikroökonomischen Vertragstheorie auch für Themen, die zum Gegenstandsbereich der MakroÖkonomik gehören. Er zeigt anhand japanischer Daten aus den 90er Jahren, dass expansive Geldpolitik bei niedrigen Zinsen das Bankkreditvolumen verringern kann, und erklärt dies durch ein Prinzipal-Agenten-Modell. Ausgangspunkt des Artikels von Föhr und Wiese ist die Kritik, das Konzept der intrinsischen Motivation von Frey (1997) et. al. basiere auf einer Ad-hoc-Annahme. Die Autoren wollen theoretisch zeigen, dass die Motivationsforschung mit Hilfe der Vertragstheorie präzisiert und quantifiziert werden kann. Hierzu stellen sie zunächst das Prinzipal-Agenten-Modell von Aghion und Tiróle (1997) vor, in dem endogen hergeleitet wird, wie verstärkte Kontrolle die Motivation eines Agenten verdrängen kann. Sie ergänzen dieses Modell um intrinsische Motivatoren. Allerdings beschränken die Autoren sich auf reine Modellarbeit. Den Ad-hoc-Vorwurf auszuräumen hätte dagegen empirische Belege für den Erklärungswert des ursprünglichen (oder auch des erweiterten Modells) von Aghion und Tiróle erfordert. Der schmale Band trägt zur Einheit der Wirtschaftswissenschaft bei. Er gibt einen guten Überblick über die Leistungsfähigkeit der modernen mikroökonomischen Anreiztheorie für Themen aus den Bereichen der MakroÖkonomik und der BWL. Zwar unterscheiden sich diese Disziplinen nach ihrem Gegenstand, aber Knappheit, Institutionen und Anreize stellen das methodische Fundament dar, auf dem sie zusammenfinden sollten. Roland Kirstein

Literatur Aghion, Philippe und Jean Tiróle (1997), Formal and Real Authority, in Organizations, Journal of Political Economy ! 05, 1-29. Emons, Wienand (2001), Credence Goods Monopolists, International Journal of Industrial Organization 19,375-389. Frey, Bruno S. (1997), On the Relationship between Intrinsic and Extrinsic Work Motivation, International Journal of Industrial Organization 15,427-439.

Friedrich Breyer und Wolfgang Buchholz, Ökonomie des Sozialstaats, SpringerVerlag, Berlin, Heidelberg, New York. 2007,328 Seiten. Mit der Verkleinerung und Verjüngung vieler volkswirtschaftlicher Abteilungen ist in den letzten Jahren auch eine stärkere Hinwendung zu formaltheoretischen Fragestellungen und Methoden im volkswirtschaftlichen Curriculum einhergegangen. Traditionell eher institutionell ausgerichtete Themengebiete - wie die Ordnungspolitik - haben darüber vielfach ihren Platz als eigenständige Lehrveranstaltungen verloren. Von diesem Schicksal ist tendenziell auch das Fach Sozialpolitik, das durch seine Nähe zur Lebenswirklichkeit von vielen Studierenden geschätzt wird, bedroht, wenn es die Modelltheorie ignoriert.

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Mit dem neuen Lehrbuch zur Sozialpolitik von Friedrich Breyer und Wolfgang Buchholz liegt nun erstmals eine Gesamtdarstellung des Sozialstaats vor, die in ihrer theoretischen Ausrichtung den formalen Anforderungen eines modernen volkswirtschaftlichen Studiums entspricht und bereits dadurch hoch einzuschätzen ist, gleichzeitig aber nicht auf eine - wenn auch begrenzte - Betrachtung des deutschen Sozialstaats verzichtet. Gelingt es den Autoren, ihr Lehrbuch durch Neuauflagen regelmäßig an die aktuellen sozialpolitischen Entwicklungen und Diskussionen in Deutschland anzupassen, so kann es sich zu einem neuem Standardwerk in diesem Bereich entwickeln und damit dem Fach Sozialpolitik einen angemessenen Platz im volkswirtschaftlichen Curriculum sichern. Das Buch ist in einen eher allgemein gehaltenen Teil (Kapitel 1 bis 4), einen Teil, der einzelne Säulen der sozialen Sicherung, insbesondere der Sozialversicherung, herausgreift (Kapitel 5 bis 8) sowie eine kurze Betrachtung von Zukunftsproblemen des deutschen Sozialstaats (Kapitel 9) aufgeteilt. Diese Aufteilung erscheint sinnvoll, auch wenn die Autoren den Sozialstaat jenseits der Sozialversicherung (z.B. Wohnungspolitik und Bildimgspolitik) kaum thematisieren. Der allgemeine Teil beginnt mit einer sehr knappen Einfuhrung, die grundlegende Begriffe definiert und die Elemente einer Theorie der Sozialpolitik umreißt. Hinzu kommen einige stilisierte Fakten und eine sehr grobe Beschreibung des deutschen Sozialsystems in seiner Gesamtheit, deren Umfang in späteren Auflagen des Lehrbuchs noch ergänzt werden könnte. Mit grundsätzlichen Erwägungen zu „Gleichheit und Gerechtigkeit" (Kapitel 2) beginnt die eigentliche Diskussion der theoretischen Grundlagen des Sozialstaats. Zentrale Elemente sind hierbei die Betrachtung von Armut und Ungleichheit sowie das Konzept der Sozialen Wohlfahrtsfunktion. Gleichheitsziele in der Umverteilungspolitik werden dabei in Frage gestellt und eine Zielverlagerung der Sozialpolitik in Richtung Armutsbekämpfung angeregt. Zwecks besserer Einordnung der Argumentation wäre hier ergänzend eine Darstellung unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Sichtweisen des Sozialstaats wünschenswert, wie sie etwa von Nicholas Barr in seinem Lehrbuch „Economics of the Welfare State" (Oxford, 2004) vorgenommen wird, der aufzeigt, dass es nicht unerhebliche gesellschaftliche Gruppen gibt, die Effizienzverluste zur Erreichung bestimmter Gleichheitsziele als durchaus angemessen erachten. Der Befund, dass gesellschaftliche Präferenzen für Umverteilung im internationalen Vergleich stark differieren, könnte diese Ergänzungen sinnvoll abrunden. In Kapitel 3 werden effizienzorientierte Begründungen für Umverteilung vorgestellt, die vom Argument des Altruismus bis zur Theorie von Hans-Werner Sinn über die Versicherungsfunktion des Staates reichen. Diese Diskussion wird noch spezifiziert durch eine Begründung der Existenz einer Sozial Versicherung·, hierbei vor allem durch die Betrachtung des Problems der adversen Selektion auf Versicherungsmärkten, das überraschenderweise nicht im Kapitel über die Krankenversicherung (wie etwa im Gesundheitsökonomie-Lehrbuch von Friedrich Breyer, Peter Zweifel und Matthias Kifmann, Berlin/Heidelberg, 2005), sondern in einem vorangestellten eigenen Kapitel diskutiert wird. Besonders positiv aus der Sicht von Studierenden ist zu bewerten, dass die effizienztheoretische Diskussion über weite Strecke (in den Kapitel 2 bis 4, teilweise auch in Kapitel 6) in demselben grafischen Rahmen erfolgt, was das Verständnis erheblich erleichtert. Mit Kapitel 5 über die Rentenversicherung beginnt die Betrachtung einzelner Säulen der Sozialversicherung. Das Kapitel ist das umfangreichste des gesamten Buchs und beruht teilweise auf einem älteren Lehrbuch von Friedrich Breyer aus dem Jahr 1990 (Ökonomische Theorie der Alterssicherung, München). Bei der Überarbeitung und Eingliederung des Textes wäre eine Straffung der - im Vergleich zum Rest des Buches - recht komplexen Darstellung wünschenswert gewesen. Hinzu kommt, dass neuere Entwicklungen in der Literatur wie die intensive Diskussion über die intragenerative Umverteilung in Rentensystemen nur sehr knapp abgehandelt werden, während andere Abschnitte für ein Lehrbuch sehr umfangreich erscheinen.

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Zum erweiterten Komplex der Rentenversicherung gehört letztlich auch Kapitel 8 über die Familienpolitik, das seinen theoretischen Schwerpunkt auf Fragen der endogenen Fertilität und der Berücksichtigung von Kindern in der Rentenversicherung legt. Zumal die Finanzierungsseite der Familienpolitik ausgeblendet wird, ist eine Darstellung in einem eigenen Kapitel kaum gerechtfertigt, sondern eine Eingliederung in Kapitel 5 vorzuziehen. Bisher nicht im Buch aufgenommen, aber zweifellos wünschenswert, ist das Thema Pflegeversicherung. Sowohl das Kapitel über die Krankenversicherung (Kapitel 6) als auch über die Arbeitslosenversicherung (Kapitel 7) greifen aktuelle politische Entwicklungen und Diskussionen auf und sind damit für die Studierenden von großem Interesse. Neben der jeweiligen Begründung von Staatseingriffen und speziellen Ausgestaltungsproblemen findet sich im Krankenversicherungskapitel bspw. auch eine formale Betrachtung der Diskussion um Bürgerversicherung und Kopfpauschale. Ähnliches gilt für das Kapitel zur Arbeitslosenversicherung, in dem auch einzelne Aspekte der Hartz-Gesetzgebung beleuchtet werden. Insgesamt ist das Lehrbuch eine äußerst erfreuliche und notwendige Ergänzung zur bestehenden Literatur zum Thema Sozialstaat, für das es bisher keine formaltheoretische Gesamtdarstellung gab. Zukünftige Ausgaben des Buches sollten den Fokus erweitern und bei aktuellen Entwicklungen in der sozialpolitischen Debatte stets auf dem Laufenden bleiben (z.B. hinsichtlich der Folgen der Globalisierung und der Europäisierung der Sozialpolitik), was das Interesse der Studierenden am Thema Sozialpolitik weiter steigern sollte. Tim Krieger

Stefan Bechthold, Ansgar Ohly, Jürgen Schade und Dieter Schmidtchen, Wettbewerb und geistiges Eigentum, Schriften des Vereins für Socialpolitik - Neue Folge Band 316, hrsg. von Peter Oberender, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2007, 100 Seiten. Die Arbeitsgruppe Wettbewerb des Wirtschaftspolitischen Ausschusses im Verein für Socialpolitik zielt laut ihrem Selbstverständnis schwerpunktmäßig auf eine empirisch fundierte wettbewerbspolitische und wettbewerbstheoretische Analyse ausgewählter Branchen und Märkte. Auch in dem vorliegenden Sammelband der 2006 in Göttingen abgehaltenen Jahrestagung „Wettbewerb und geistiges Eigentum" sollen empirische Befunde dargestellt und ein interdisziplinärer Austausch auf diesem Feld gefördert werden. Dementsprechend lässt der Tagungsband sowohl Wirtschafts- und Rechtswissenschaftler als auch einen Praktiker zu dem altbekannten und weiterhin aktuellen Spannungsfeld zwischen Wettbewerbspolitik und dem Schutz geistigen Eigentums zu Wort kommen. Aufgrund des begrenzten Umfangs des Bandes - es sind vier Hauptreferate und ein kurzes, zusammenfassendes Abschlussreferat auf insgesamt knapp 100 Seiten untergebracht - kann der empirische Befund zwar nicht in erschöpfender Breite geliefert werden, zumal der Aufsatz des Praktikers Jürgen Schade vom Deutschen Patent- und Markenamt nur sieben Seiten umfasst. Andererseits werden diverse aktuelle Entwicklungen aus der Praxis und deren Herausforderungen für die Wissenschaft thematisiert. Einen informativen, ausgewogenen Einstieg in und Überblick über die Thematik liefert der relativ umfangreiche, aus ökonomischer Sicht geschriebene Aufsatz von Dieter Schmidtchen zu Konflikt-, Harmonie- und Arbeitsteilungsaspekten zwischen dem Wettbewerbsrecht und dem Recht geistigen Eigentums. Es wird insbesondere auf die Wohlfahrts-, Effizienz-, Anreiz- und Informationswirkungen des Rechtes geistigen Eigentums eingegangen. Schmidtchens normatives Fazit, für eine arbeitsteilige Beziehimg zwischen dem Wettbewerbsrecht und dem Recht geistigen Eigentums zu plädieren, in der das Wettbewerbsrecht die Rolle einer am more economic approach und am Einzelfall orientierten Missbrauchsaufsicht über die Nutzung von Patenten, Urheberrechten und Warenzeichen einnimmt, orientiert sich am aktuellen Mainstream einer Ausweitung des more economic approach und ist nachvollziehbar und schlüssig. Er plädiert

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dabei jedoch für eine weitgehende Beschränkung des Wettbewerbsrechts auf eine ex anteVerhinderung von restriktiver Marktmacht und lehnt daher eine ex post-Reoptimierung der Schutzdauer und des Schutzumfanges bereits gewährter geistiger Eigentumsrechte durch die Wettbewerbspolitik ab, weil dies zu „regulatorischem Opportunismus" führen könne und weil bislang keine überzeugenden Konzepte für solch ein wettbewerbspolitisches „fine-tuning" existieren. Aus ordnungspolitischer Sicht kann dieser normativen Abwägung, die Schmidtchen in seinem Abschlussreferat nochmals zusammenfassend darstellt, zugestimmt werden. Ansgar Ohly stellt in seinem Beitrag „Geistiges Eigentum und Wettbewerbsrecht - Konflikt oder Symbiose?" aus immaterialgüterrechtlicher Sicht - auf Basis konkreter Gerichtsfälle - dar, dass eine komplementäre bzw. symbiotische Beziehung zwischen den beiden eigenständigen Rechtsgebieten Wettbewerbs- und Immaterialgüterrecht besteht. Eingangs betont er, dass die These vom Konflikt zwischen beiden Rechtsgebieten inzwischen überholt sei und sich stattdessen eine gegenseitige Akzeptanz entwickelt habe: Das Kartellrecht erkenne mittlerweile die positive Wirkung des Immaterialgüterrechts auf den Innovationswettbewerb an und das Immaterialgüterrecht akzeptiere die Notwendigkeit einer Missbrauchsaufsicht durch das Wettbewerbsrecht. Allerdings geht Ohly dann ausführlich auf die verbleibende strittige Frage ein, in welchen Fällen die Ausübung immaterialgüterrechtlicher Befugnisse missbräuchlich bzw. funktionswidrig erfolgt. Dem Leser wird diesbezüglich exemplarisch anhand ausgewählter Fälle ein lesenswerter Überblick und eine kritische Analyse der wichtigsten Kriterien und Instrumente in der Rechtspraxis des EuGH, des BGH und der Europäischen Kommission geboten. Der Nutzen des Praxisberichts von Jürgen Schade zu den Auswirkungen von Rechten geistigen Eigentums auf den Wettbewerb aus Sicht des Deutschen Patent- und Markenamtes liegt darin, dass er eine kurze Bestandsaufnahme im Patent- und Markenschutz aus der Perspektive eines Praktikers bietet. Aktuelle nationale und internationale Entwicklungen sowie Problemfelder - u. a. die zahlenmäßigen Tendenzen bei Marken- und Patentanmeldungen, der Nachholbedarf im Bereich der KMU, die Bedeutung der Immaterialgüterrechtharmonisierung im Rahmen der WTO, die schwierige Thematik einer Patentierung von genetischen Ressourcen oder Mikroorganismen sowie Grenzen des Patentrechts in der Grundlagenforschung - werden, jeweils knapp, aufgezeigt. Als Grundphänomen wird die wachsende Bedeutung geistiger Schutzrechte und deren Lizenzierung in der globalen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft herausgestrichen, was eine stetige Weiterentwicklung des Immaterialgüterrechts erforderlich mache. Leider ist der Titel des Aufsatzes falsch gewählt, da auf die Auswirkungen der Immaterialgüterrechte auf den Wettbewerb nicht explizit eingegangen und auf eine kritische Analyse verzichtet wird. Stefan Bechtold untersucht in seinem Aufsatz den Einfluss von Immaterialgüterrechten auf die Strategie von Unternehmen, die technische Kontrolle über Sekundärmärkte (ζ. B. für Verbrauchs- und Ersatzteile ihres patentrechtlich geschützten Primärproduktes) zu erlangen. Sein vorläufiges Fazit: Während Immaterialgüterrechte für sich genommen durch schutzrechtsinterne Beschränkungen kaum geeignet seien, die Kontrolle über Sekundärmärkte zu ermöglichen, habe eine Kombination bestimmter Immaterialgüterrechte mit immer neuen, von den Unternehmen entwickelten technischen Schutzsystemen (Marktausschlusstechniken) das Potential einer wettbewerbsfeindlichen Wirkung auf Sekundärmärkten. Bechtold weist dies schwerpunktmäßig in Bezug auf die IT- und Biotechnologiebranche nach. Er leistet mit seinem Beitrag eine Sensibilisierung für potentielle zukünftige Wettbewerbsbeschränkungen infolge weiterer technischer Entwicklungen und zeigt damit eine wichtige Herausforderung für die Weiterentwicklung des Immaterialgüterrechts auf. Andreas Mitschke

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Gerhard Mussel, Einführung in die MakroÖkonomik, Verlag Franz Vahlen, München, 9. Aufl. 2007,210 Seiten. Lehrbücher zu den Grundlagen der MakroÖkonomik gibt es zuhauf. Es darf deshalb die Frage erlaubt sein, ob das Werk von Mussei zu diesem Thema etwas beisteuern kann, das in dieser Form bisher noch nicht vorliegt. Zunächst beeindruckt das Buch von Mussei mit seiner kompakten Darstellung. In drei Teilen wird auf knapp 200 Seiten der Versuch unternommen, die Grundlagen der MakroÖkonomik in ihrer ganzen Breite abzudecken. Der Verfasser beginnt mit Ausführungen zur Einordnung und Gegenstand der MakroÖkonomik. Er ergänzt dieses und jedes folgende Kapitel mit Grafiken und Tabellen. Überhaupt ist es ein Verdienst von Mussei, dass für das Verständnis der im Buch dargestellten ökonomischen Sachverhalte nur geringe mathematische Vorkenntnisse notwendig sind. Mussei kommt es stattdessen auf das Verstehen von ökonomischen Zusammenhängen an. Die Leser können sich damit vollständig auf die theoretischen Inhalte konzentrieren und werden nicht durch mathematische Darstellungen abgelenkt. Der erste Teil legt mit der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung den theoretischen Grundstein für die makroökonomische Analyse. Studienanfänger erhalten eine fundierte Einführung in die makroökonomische Kreislauftheorie. Mit diesem theoretischen Instrumentarium sind die Leser gut gerüstet für den zweiten Teil, der einen kompletten Überblick über das Lehrgebiet der makroökonomischen Theorie bietet. Von Problemen des Gütermarktes über Geldangebot und Geldnachfrage bis zum Arbeitsmarkt und schließlich der Totalanalyse wird den Studierenden das ganze Spektrum der makroökonomischen Theorie vorgestellt. Ausgestattet mit derartigem Problembewusstsein bereitet Mussei den Leser im dritten Teil auf wirtschaftspolitische Konsequenzen vor. Ein Vorteil des Lehrbuches von Mussei ist die kompakte Aufbereitung des Lehrstoffes. Die einzelnen Teile können als Lernmodule aufgefasst werden, da sie in sich geschlossen, aber auch miteinander kombinierbar sind. Didaktisch gelungen ist auch die im Text vorgenommene Einteilung in klassische und keynesianische Theorieinhalte. Für das ordnungspolitische Verständnis sind derartige Grundlagen von unschätzbarem Wert. Das Hauptanliegen des Buches, die zentralen Fragen der makroökonomischen Theorie in kompakter Form für Studierende der Volks- und Betriebswirtschaftslehre sowie interessierte Praktiker aus dem Wirtschafts- und Politikleben darzustellen, wurde voll erfüllt. Dies gelang in äußerst knapper Darstellung. Damit ist die eingangs gestellte Frage, ob Mussei mit seinem Lehrbuch etwas Neues beigesteuert hat, zu bejahen. Dem Lehrbuch sind deshalb eine weite Verbreitung und noch viele Auflagen zu wünschen. Thomas Pfahler

Helmut Leipold, Kulturvergleichende Institutionenökonomik, Verlag Lucius & Lucius, Stuttgart, 2006,319 Seiten. Das Werk „Kulturvergleichende Institutionenökonomik" ist eine Fusion und Weiterentwicklung des Lehrbuches „Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme im Vergleich" und eines geplanten Lehrbuches zur Neuen Institutionenökonomik. Anlass für das Buch waren praktische Erfahrungen Leipolds aus Beratertätigkeiten in den neuen Bundeslängern und anderen Transformationsländern. Nach den Umwälzungen Ende der achtziger Jahre in Deutschland und Osteuropa ging Leipold, geprägt von der älteren und neueren Institutionenökonomik, davon aus, dass sich postsoziale Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme durch Veränderung der Ordnungs- und damit der Anreizsysteme leicht umgestalten ließen. Die in der Realität beobachtbaren Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang haben Zweifel an der Richtigkeit dieser Hypothese und damit Zweifel an der Erklärungskraft der Theorieansätze geweckt. Aus diesem Zweifel heraus hat sich Leipold mit dem Einfluss historisch-kultureller Faktoren auf Politik, Wirtschaft und das alltäglich Leben

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der Menschen befasst. Diesen Einfluss der Kultur auf das Handeln der darin lebenden Menschen und damit auf die jeweiligen Wirtschafts- und Sozialsysteme arbeitet er in seinem Werk auf. Nach einer kurzen Einführung (20 Seiten) in die aus der Globalisierung resultierenden aktuellen Herausforderungen der Institutionenökonomik, beginnt das vorliegende Buch in Kapitel zwei - ganz der Aufgabe eines Lehrbuches gerecht werdend - mit einer überblicksartigen Darstellung des Theoriegebäudes. Abrisshaft werden, beginnend bei Adam Smith, die Forschungsprogramme der Historischen Schule, von Max Weber, Walter Eucken und Friedrich August von Hayek und schließlich, mit der Theorie der Property Rights, der Transaktionskostentheorie und der Theorie des instituionellen Wandels, das Forschungsprogramm der Neuen Institutionenökonomik dargestellt, problematisiert und gegeneinander abgegrenzt. Leipold gelingt es dabei, auf gerade mal 42 Seiten eine Einführung in die Grundlagen der wichtigsten Theorien der kulturellen Ökonomik zu geben, die durchaus von einem Studenten, der sich in das Thema einarbeitet, verstanden werden kann. Gleichzeitig ist dieser Abschnitt so kurz gefasst, dass er fur Wissenschaftler, die sich bereits tiefer mit den Theorien auseinandergesetzt haben, einen guten Überblick und eine Hinführung zum eigentlichen Thema des Buches darstellt. Im Dritten Kapitel wird in die Typologie der Institutionen eingeführt (22 Seiten). Leipold unterscheidet hier zwischen Selbstbindenden und Bindungsbedürftigen Institutionen. Selbstbindende Institutionen sind dabei solche, die durch eigeninteressiertes Verhalten der handelnden Akteure gestützt werden. Als Beispiel werden Sitten, Rituale und andere kulturspezifische Gewohnheiten angeführt. Hiervon zu unterscheiden seien die bindungsbedürftigen Institutionen, die sich beispielsweise in Form eines Gefangenendilemmas darstellen ließen. Aus dem grundlegende Charakteristikum des Gefangenendilemma, dass sich jeder unabhängig vom Verhalten des anderen dadurch besser stellen kann, dass er gegen eine zuvor festgelegte Regel verstößt, wobei der Verstoß aller gegen die Regel zu einem pareto inferioren Ergebnis führt, folgt eine nötige Beschränkung des Selbstinteresses. Diese Beschränkung stelle eine bindungsbedürftige Institution dar, da keine eigeninteressierte Bindung vorhanden sei. Als originäre Bindungsfaktoren werden Emotion, Glaube und Ideologie bzw. Vernunft aufgeführt. Das Dritte Kapitel endet mit einem Fazit und stellt damit den Abschluss des theoretischen Teils und die Überleitung zu einer eher deskriptiven Veranschaulichung einzelner Kulturen dar, in der diese vorgestellt und anhand bestehender Theorien bewertet werden. In der Überleitung macht Leipold deutlich, dass bestehende Regelsysteme nicht auf die natürliche Eigenschaft des Menschen zur Unterwerfung zurückzuführen seien, sie seien vielmehr durch enorme Anstrengungen aufgebaut worden und wiesen die für eine evolutorische Entwicklung typische Vielfalt auf, weshalb der kulturelle Hintergrund bei dem Versuche der Modifizierung von Regelsystemen nicht außer Acht gelassen werden dürfe. Anschließend werden in Kapitel vier auf 64 Seiten historische Vergleichsstudien zur kulturellen und institutionellen Entwicklung angestellt. Am Beispiel früher, primitiver Gemeinschaftsformen und Stammesgesellschaften werden emotionalgebundene Institutionen beleuchtet. Charakteristisch für die Jäger und Sammergemeinschaften sei das Verwandtschaftsprinzip. Leipold erläutert anschaulich, dass der Verwandtschaftsgrad das dem Regelwerk immanente Kooperationsprinzip in diesen Gesellschaftsformen sei, wobei sich innerhalb der nächsten Verwandtschaft alle gegenseitig hülfen, ohne für ihre Taten eine direkte Gegenleistung zu erwarten. Mit zunehmender räumlicher und verwandtschaftlicher Distanz sinke die emotionale Bindung, Leistungen würden nur noch gegen adäquate Gegenleistung gewährt. Das ureigene Interesse für die eigene Leistung eine möglichst hohe Gegenleistung zu erhalten und die fehlende emotionale Bindung führe zum Einsatz von Mitteln wie Betrug, Täuschung und Raub wodurch eine weitergehende Spezialisierung und Arbeitsteilung behindert werde. Unter dem Begriff der ersten institutionellen Revolution wird am Beispiel früher Häuptlingstümer, Staaten und Imperien gezeigt, wie die Religion und damit der Glaube die Grenzen emotionaler, verwandtschaftlicher Bindungen überwinden kann und den Aufbau größerer hierarchischer Gebilde ermöglicht. Unter dem Begriff der zweiten institutionellen Revolution werden die Einflüsse der Reformation und der Aufklärung, auf die institutionellen Gebilde erläutert. Am Ende des Kapitals postuliert Leipold,

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dass es aus historischer Perspektive, keine der Religion vergleichbare Ordnungsmacht gäbe, nur der Glaube sei in der Lage, Sinn und Formen des Zusammenlebens durch Überzeugung zu modifizieren. In dem anschließenden fünften und damit - abgesehen vom Fazit - letzten Kapitel wird die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung ausgewählter Kulturen und Kulturräume analysiert. Die hier vorliegende Analyse des afrikanischen und islamischen Kulturraumes sowie der chinesischen, russischen, amerikanischen und deutschen Kultur umfasst knapp 130 Seiten und stellt damit vom Umfang her das größte Kapitel dar. Für jede Kultur werden die Eigenarten des Institutionengefüges dargestellt und anschließend Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung abgeleitet. Eindrucksvoll wird hier vorgeführt, warum die Anreizsysteme der Institutionenökonomik in den einzelnen Kulturräumen unterschiedlich wirken. So wird für die Russische Kultur ein verbreitetes Vertrauen in informale, emotionalgebundene Institutionen konstatiert, dass im Umkehrschluss ein Misstrauen in formale Regeln des Rechts und deren verlässliche Verwaltung bedeute. Die Auswirkungen wie Schattenwirtschaft und Korruption verdeutlichen die Schwierigkeiten bei der Modifizierung der Regelsysteme. Mit seinem Werk belegt Leipold eindeutig den oft unterschätzen Einfluss der Kultur auf die Regelsysteme und die damit einhergehenden Schwierigkeiten der Gestaltung einer globalen Wirtschaft. Die Institutionenökonomik ist damit jedoch keines Falls obsolet, vielmehr zeigt Leipold Entwicklungspotential auf, die Institutionenökonomik weiter zu entwickeln und um eine kulturelle Komponente zu erweitem. Kathrin Pongs

Wolf Schäfer (Hg.), Wirtschaftspolitik im Systemwettbewerb, Schriften des Vereins für Socialpoiitik, Band 309, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2006,257 Seiten. Der vorliegende Band gibt Referate wieder, die anlässlich der Jahrestagung des Wirtschaftspolitischen Ausschusses im Verein für Socialpoiitik im März 2005, orientiert am Thema des Buchtitels, gehalten wurden. Das Vorwort des Herausgebers enthält eine treffende Erläuterung der thematischen Schwerpunkte der Tagung, der Globalisierung und des Systemwettbewerbs aus wirtschaftspolitischer Sicht. An den Beginn der Edition ist der Abdruck einer themengerechten After Dinner Speach von Erhard Kantzenbach (Hamburg) gestellt. Der Leser erfährt hier viel Empirisches über die verschiedenen Dimensionen der Globalisierung. Nach dem Bedauern des Redners, dass bisher für den Systemwettbewerb kein theoretisches Modell existiert (S. 15), wartet der Leser vergeblich auf einen konstruktiven Gegenvorschlag. Anschließend geht Wernhard Möschel der Wettbewerbspolitik im Systemwettbewerb nach. Die wohl unausgesprochene Frage, ob hier eine Tendenz zur Senkung wettbewerbsrechtlicher Standards, einer competition in laxity, besteht, beantwortet er mit einem mit Vorbehalten versehenen Vorschlag für eme vorsichtige Harmonisierung nationaler wettbewerbsrechtlicher Vorschriften. Die Verbindung zu neoklassisch begründeten Vermutungen einer competition in laxity stellt nachfolgend indirekt Hans Pitlik (Hohenheim) her, wenn er bei der Kapitalbesteuerung der These eines „race to the bottom" durch wettbewerbliche Senkung der entsprechenden Steuersätze empirisch nachgeht. Die umsichtig durchgeführte Untersuchung fordert zu Tage, dass sich keine überzeugenden Hinweise auf einen Steuersenkungswettlauf finden lassen (S. 51), was ihn zur Vermutung führt, dass Steueranpassungen durch politische Handlungsbarrieren in Form zusätzlicher Sozialausgaben begrenzt sein mögen (S. 52). Das veranlasst ihn zu einem Plädoyer für eine vertiefende Diskussion einer Neuen Politischen Ökonomie der Besteuerung und des Steuerwettbewerbs (ebenda). Damit deckt er, vermutlich unbewusst, eine erklärungsbedürftige Facette des Systemwettbewerbs auf. Im Grunde wäre es erforderlich, das Verhalten der Anbieter von Institutionen (Besteuerungsregeln), der politischen Akteure, zu modellieren; denn das Phänomen des Systemwettbewerbs beinhaltet

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einmal das Aufspüren lohnender institutioneller Arrangements durch Eigentümer international mobiler Ressourcen. Zum anderen wäre es auch erforderlich, dem politischen Prozess nachzugehen, durch den die wettbewerbliche Anpassung der heimischen institutionellen Arrangements herbeigeführt wird. Eine Durchsicht der in den Band aufgenommenen Arbeiten zeigt allerdings, dass diese politökonomische Dimension des Phänomens Systemwettbewerb kaum beleuchtet wird. Eine zupackende Befassung mit dem Thema Systemwettbewerb und Wirtschaftspolitik wird der Leser vermissen, wenn er sich der Arbeit von Heilemann und Klinger (Leipzig) zuwendet. Hier geht es konkret um die Genauigkeit makroökonomischer Prognosen. Wenn sich die Autoren dem Wettbewerb zwischen Anbietern solcher Prognosen als Remedur für bessere Prognoseleistungen zuwenden, dürften sie damit das Tagungsthema verlassen haben und vermutlich ihren eigenen Vorkenntnissen folgen. Manfred E. Streit

Klaus W. Richter, Die Wirkungsgeschichte des deutschen Kartellrechts vor 1914: Eine rechtshistorisch-analystische Untersuchung, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2007,244 Seiten. Klaus W. Richter versucht die Frage zu beantworten, „ob sich die Neue Institutionenökonomik (...) auch für die rechtshistorische Forschung nutzbar machen lässt". Er fragt also, inwiefern Methoden aus der modernen Wirtschaftswissenschaft zu einem Erkenntnisgewinn in der Rechtsgeschichte führen können. Dem liegt die Idee zugrunde, dass es bei der Rechtsgeschichte, die als Teil der Rechtswissenschaft verstanden wird, neben der Entstehungsgeschichte auch um die Wirkungsgeschichte rechtlicher Regelungen geht. Diese Wirkungsgeschichte verlangt jedoch eine kausal-analytische Behandlung, die mit der traditionellen Narration nicht möglich ist. Die Neue Institutionenökonomik ist nun der sozialwissenschaftliche Ansatz, der es ermöglicht, aus gegebenen, allgemeinen Rahmenbedingungen (dem Explanans), Prognosen bezüglich der zu erwartenden Entwicklung aufzustellen (dem Explanandum). Diese sollen dann anhand rechtshistorischer Quellen getestet werden. Ausgangspunkt der Untersuchung bildet das Urteil des Reichsgerichts zum sächsischen Holzstoffkartell vom 4. Februar 1897, das in der der Literatur als Wendepunkt in der deutschen Kartellrechtsgeschichte gesehen wird. Das 1883 gegründete Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat dient aufgrund seiner außerordentlich guten Dokumentation als Analyseobjekt. Nach der umfassenden Einleitung, wird gründlich auf die zwei für die anstehende Analyse relevanten Forschungszweige der Neuen Institutionenökonomik eingegangen. Dabei handelt es sich um die Neue Institutionenökonomik der Geschichte nach Douglass C. North, mit der das institutionelle Umfeld erklärt werden kann, und die von Oliver Williamson entwickelte Transaktionskostenökonomik, die sich auf institutionelle Arrangements bezieht. Richter geht ausführlich auf die Grundannahmen dieser Analysemethoden ein und erläutert, wie sich diese Methoden in der Rechtsgeschichte anwenden lassen, ohne den Eindruck erwecken zu wollen, Geschichte lasse sich durch Gesetzmäßigkeiten erklären. Anschließend folgt eine sehr detaillierte Schilderung der Ausgangssituation. Richter grenzt den Zeitrahmen ein, liefert eine genaue Übersicht über die Geschichte des Kartellrechts von 1800 bis 1897 und führt in die Geschichte des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats von 1893 bis 1895 ein. Mithilfe des damit beschriebenen institutionellen Umfelds und den zwei entscheidenden Verhaltensannahmen der Neuen Institutionenökonomik, nämlich der eingeschränkten Rationalität der Individuen und ihrer unvollkommenen Voraussicht, bildet er dann Prognosen bezüglich des Verhaltens des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats nach dem Urteil des Reichsgerichts zum sächsischen Holzstoffkartell von 1897 bis 1914. Unter Zuhilfenahme der Transaktionskostenökonomik kommt Richter zu dem Schluss, dass die Mitglieder des Kohlensyndikats ihre nach Williamson stets unvollständigen Verträge, flankiert durch das

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Urteil von 1897, ständig derart abändern, dass es zu immer konkreteren und stärkeren governance structures kommt, die schließlich in einer Quasi-Fusion der beteiligten Unternehmen enden. Im anschließenden Vergleich mit den tatsächlichen Auswirkungen der Rechtsprechung von 1897 auf das Verhalten der Akteure stellt Richter fest, dass es aufgrund der eingeschränkten Rationalität der Kartellmitglieder, ihrer unvollkommenen Voraussicht und dem daraus resultierendem opportunistischen Verhalten in der Tat zu immer schärferen Durchsetzungs- und Überwachungsmechanismen kommt, bis die Selbständigkeit der beteiligten Unternehmen nur noch auf dem Papier existiert und ihre jeweiligen Entscheidungen vom Einverständnis der SyndikatsAG abhängen. Richter sieht seinen Versuch, Methoden der modernen Wirtschaftswissenschaften für die Rechtsgeschichte nutzbar zu machen als gelungen an und in der Tat kann die interdisziplinäre Anwendung der Neuen Institutionenökonomik in der Rechtsgeschichte als Gewinn für die Rechtswissenschaft gewertet werden. Dabei kann und soll der historisch-analytische Ansatz die traditionelle Methodik nicht verdrängen sondern dort, wo eine ausreichende Quellenlage es zulässt, ergänzen. Richter wendet sich hauptsächlich an Rechtshistoriker und so kommt es, das sein Werk für Wirtschaftswissenschaftler zwar als Lektüre zu empfehlen ist, da es eine interessante Anwendung der Neuen Institutionenökonomik liefert, den Kenntnisstand in der Ökonomik jedoch nicht erweitert Luis Manuel Schultz

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Personenregister Abouharb, Rodwan 420,438 Acemoglu, Daron 409,434,437f. Ackermann, Rolf 333, 337 Adams, Michael 289, 291,309 Adkins, Lee C. 215,232 Ahrens, Joachim 396f., 400 Albach, Horst 538ff. Albert, Hans 351, 360,457, 470 Alcaly, Roger E. 105,111 Alchian, Armen A. 316, 337, 541f. Alesina, Alberto 51, 60, 398,400,452, 470 Alexy, Robert 153ff., 157, 180 Ali, Abdiweli M. 215,232 Allingham, Michael G. 82, 86 Amarai, Alberto 379 Andersen, Esben Sloth 301 309 Andersson, Krister 455,471 Andreas Freytag 36 Angeloni; Ignazio 400 Areeda, Phillip 222, 232, 243,259 Arnim, Hans H. 34ff. Arrow, Kenneth J. 215,232,349,360, 372, 377,409,437 Ashby, William R. 313,337 Audretsch, David B. 219,232 Auer, Josef 278,283 Aufderheide, Detlef 513,537 Augsten, Frank 50, 60 Auster, Richard D. 327,337 Baake, Pio 87 Bachmann, Meinolf 298f„ 306, 311 Bagwell, Laurie S. 107ff. Baier, Horst 140,207 Bailey, Richard 470 Bain, Joe S. 218,232 Baker, George P. 230,232 Ballestrem, Karl Graf 296, 309, 402 Baltes, Paul B. 377 Barbier, Hans D. 367,377 Barro, Robert J. 244, 259, 446, 470 Bartling, Helmut 222,232 Basedow, Jürgen 190,206,210,232 Bauer, Peter T. 442f., 461, 469f.

Baumol, William J. 219,232 Bear, John 372,377 Beck, Kurt 120, 125, 140 Becker, Gary S. 45, 60, 249, 259, 364, 366ff, 372f., 377ff., 409,437,446,470 Becker, William E. 367, 377 Beckert, Jens 293,309 Beckmann, Markus 409,438, 442, 446, 452, 457, 471 f. Behrens, Peter 214,232,387,400 Bélanger, Gerad 301,311 Bender, Dieter 310 Bentham, Jeremy 190,193, 200f„ 206 Berg, Hartmut 295f., 310 Bergh, Roger van den 163,180 Bergh; Andreas 403 Berg-Schlosser, Dieter 141 Berlin, Isaiah 153,180 Bernhard, Armin 3613,374,377 Bemheim, B. Douglas 107ff. Bernholz, Peter 398,400 Berry, Christopher J. 93, 111 Bersch, Julia 43,60 Bertalanñy, Ludwig von 314, 337 Berthold, Norbert 39,49, 56, 60 Besley, Timothy J. 41, 45, 60 Bhalla, Suijit 8,24 Bier, Christoph 238,261 Bigus, Jochen 182 Birg, Herwig 504f. Biskup, Reinhold 387,400 Blankart, Charles B. 27, 34, 50, 52, 63, 76, 86f„ 274, 231, 387, 390, 400ff. Blankart, Charles Beat Blome-Drees, Franz Blome-Drees, Franz 47,60,513,535,538 Bloom, David 448,472 Bliimle, Gerold 534, 537f. Bode, Sven 266,280,283 Böhm, Franz 27,189,191,195,207,211, 213,220f., 232,297,310 Bohne, Eberhard 282f. Borck, Rainald 87 Boijas, George J. 373, 377 Bork, Robert H. 219,232 Boss, Alfred 73,86 Bouillon, Hardy 36f., 216, 232 Brainard, Lael 425, 434, 437 Brandi; Clara 399,403

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Personenregister

Brauer, Jürgen 369, 377 Bredt, Stephan 395,400 Brennan, Geoffrey 391, 394,400f. Breton, Albert 27 Brewer, John 95,112 Britzelmaier, Bernd 311 Brozen, Yale 219,232 Brueckner, Jan K. 69, 86 Brunner, Karl 337 Buchanan, James M. 4ff., 14, 27f., 40, 42f„ 45, 60, 100, 111, 21 lf„ 217, 232, 234, 320, 327, 330, 337, 340., 394, 397, 400f., 409,437,455,471, 511, 534, 537 Budzinski, Oliver 216,224,232 Bygrave William D. 557 Caldwell, Bruce 523f„ 526f. Caplan, Bryan 395,401 Carell, Erich 339 Carlsson, Frederik 215, 232 Cassel, Dieter 233, 295f., 310 Christiansen, Arndt 210,223,232 Clark, Maurice 218,232 Clarke, Roger 302,310 Clement, Wolfgang 140 Clotfelter, Charles T. 300, 310 Coase, Ronald 147, 165, 170, 172,180, 182f„ 185, 202ff„ 207f., 295, 310, 318, 340f., 428,437f., 527f, 530 Coate, Stephen 41,45,60 Cohn, Elchanan 373, 377 Cölbe, Waither Busse von 285 Cole, Harold L. 107f„ llOf. Collier, Paul 426,437 Commons, John R. 318,340 Conceicao, Pedro 463, 472 Congleton, Roger D. 107, 111,401 Cook, Philip J. 300,310 Cooper, James 223, 228, 233 Cooter, Robert 154,180 Corneo, Giacomo 105ff., 1 lOf. Cornes, Richard 464,471 Cornwall, Nigel 271,283 Corrales, Kattia M. 379 Cournot, Augustin 98f., 111 Coveney, Patrick 556f. Cox, Dan G. 425,437 Cox, Helmut 234 Crain, W.Mark 215,232

Cukierman, Alex 34f., 60 Cwojdzinski, Lisa 274, 283 Czada, Roland 538 Dabrowski, Martin 513,537 Daffern, Peter 300,310 Dahrendorf, Ralf 512f. Danninger, Stephan 52, 60 Davidson, Donald 523, 527 Debreu, Gerard 215, 232f. Delhaes, Karl von 272, 283 Demsetz, Harold 316, 337f„ 541f. Denzau, Arthur T. 442,471 Devadoss, Stephen 367 369, 377 Devlin, Maureen E. 377 Dewenter, Ralf 240f., 259 Di Fabio, Udo 214,233 Dieter Cassel 36 Dill, David 379 Dirlam, Joel Β. 200,207 Dixit, Avinash Κ. 243,259 Dollar, David 452, 470f. Dollinger, Bernd 311 Dolton, Peter J. 367,377 Domar, Evsey 50, 60 Dopfer, Kurt 360 Doucouliagos, Hristos 451,471 Douglas R. 378 Douglas, Mary 104, 111 Dowd, Douglas F. 111 Dowe, Dieter 123, 140 Downs, Anthony 41, 60, 331, 334, 340, 409, 437 Drexl, Josef 234 Drury, A. Cooper 425,437 Duesenberry, James S. 104, 111 Dulleck, Uwe 301,310 Dürr, Ernst 440,450,459,471 Duwendag, Dieter 509 Easterly, William 410,437,441,443,446, 450ff, 46Iff., 469ff., 471,473 Ebert, Udo 437,471 Edgell, Stephen 96,111 Eger, Thomas 325, 328, 340 Eicker-Wolf, Kai 310 Eickhof, Norbert 248, 259, 275, 284 Eidenmüller, Horst 144, 148f., 154, 180

Personenregister Eilhauge, Einer R. 179f. Elster, Jon 394,401 Empter, Stefan 60 Engel, Christoph 180f., 233f., 255,259, 549 Engelhard, Peter 311,509 Engstier, Heribert 503f. Epstein, Richard Α. 197,207 Ergas, Henry 250,259 Erhard, Ludwig 381ff., 386ff., 391, 400ff. Eschenburg, Theodor 3 5 f. Esser, Hartmut 512f. Eucken, Walter 28, 35f., 211,213, 220f„ 233f., 241, 259,294,296, 310, 382f„ 401,403,468,471,479,481,484,487f„ 505f„ 509, 557f. Everling, Ulrich 391,401 Ewers, Hans-Jürgen 295,310 Ezell, Allen 372,377 Fabian, Gregor 378 Falk, Armin 46, 60 Fasten, Erik R. 52,60 Fehl, Ulrich 506,509 Fehr, Ernst 45,60 Fehr, Hans 74,86 Feld, Lars P. 50, 60, 67, 76, 81 f., 86, 338, 340, 395,401 Ferber, Christian von 509 Fischbacher, Urs 45, 60 Flechtheim, Ossip Κ. 118,140 Foltz, John 367,369,377 Fox, Eleanor M. 228, 233 Francke, Hans-Hermann 235 Frank, Robert H. 105ff„ 1 lOf. Franz Borkenau 36 Frenzel, Sabine 266ff„ 274, 277,279 Frey, Bruno S. 50, 60, 67, 86, 329, 340 Fricke, Holger 49,56,60 Friedman, Milton 363ff., 377 Friedman, Rose D. 363, 365, 377 Fritsch, Michael 295,310 Fritz, Marco 274,283 Fukuyama, Francis 406,437 Funk, Lothar 515,520f. Furubotn, Eirik G. 203,207,260,318,340, 528ff.

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Gabriel; Oscar W. 403 Gaertner, Wulf 438,538 Gäfgen, Gérard 34, 36, 102f„ 111 Galbraith, John Kenneth 102ff„ 111 Gallup, John Luke 448,472 Gebauer, Andrea 87 Geradin, Damien 249,259 Gerber, David 214,233 Gerhardt Volker 472 Geske, Terry G. 373,377 Geue, Heiko 311,509 Gibbons, Robert 230,232f. Gibson, Clark C. 455,471 Giddens, Anthony 137, 140 Gideonse, Harry D. 471 Gilbert, Richard J. 219,233 Gitter, Wolfgang 488 Glück, Alois 120,123, 139f. Goethals, George 367, 377 Goldschmidt, Nils 27, 382, 401ff., 512f„ 534ff. Görgens, Egon 487 Graf, Hans G. 315,340 Grauwe, Paul de 508f. Green, Diana 375, 375 Gress, Manfred 83,86 Grimm, Dieter 401 Gröner, Helmut 263ff., 269ff., 283ff„ 477, 479ff. Groscurth, Helmuth 266,280,283 Grossekettler, Heinz 294,296f„ 302f„ 310 Grossman, Sanford J. 230, 233 Großmann-Doerth, Hans 27 Grötzinger, Gerd 340 Growitsch, Christian 278, 280, 284 Grimberg, Isabelle 463,472 Güth, Werner 216,233 Guth, Wilfried 401 Gutmann, Gernot 293f., 297, 310 Haas, Melanie 140 Haase, Henning 289,298,310 Habermas, Jürgen 384,401 Haberstroh, Chadwick J. 357, 360 Hagen, Jürgen von 45,60f. Hahn, Jörg 293,310 Hahn, Robert W. 376f. Halperin, Morton H. 542ff. Hamlin; Alan 391,401

582

Personenregister

Hansjürgens, Bernd 379 Hanushek, Eric A. 364, 377 Harden, IanJ. 45,60 Hart, Oliver D. 230,233 Hartmann, Eva 363, 377 Hartwig, Karl-Hans 211, 233, 259, 295f„ 305, 307,310 Harvey, Lee 375,377 Hasse, Rolf .H. 28,402,538 Haucap, Justus 107f., 110f., 225,233, 237f., 240f„ 243,248,256f, 259,271, 284 Haug, Peter 270,284 Hayek, Friedrich A. von 3f., 28, 33, 36, 151, 154, 159f., 173f., 180ff„ 185, 189, 191, 199f., 204ff., 210,212f., 221, 233, 235,251, 259,294, 310, 320, 338, 340, 343ff„ 360f.., 381ff., 396,400ff., 444, 462,465, 471,475ff„ 482f., 487, 52 Iff., 536, 538, 556f. Heidbrink, Ludger 471 Heimeshoff, Ulrich 243,248, 259 Held, Martin 181,340 Hellwig, Martin 145,149,152f„ 162, 165, 173ff., 179f„ 198,207,210, 216,227ff„ 233, 548f. Helmedag, Fritz 295,310 Helms, Ludger 140 Henke, Klaus-Dieter 28 Henning, Christian 401 Hense, Andreas 237,259 Hensel, Karl. P. 314,329,340 Hentschel, Volker 401 Herdzina, Klaus 218,233 Hering, Hendrik 273,284 Hermes, Georg 311 Herr, Hansjörg 507, 509 Heuss, Ernst 340,484,487 Heyer, Ken 227,233 Hielscher, Stefan 405,409f„ 426,437f„ 441 f., 464f., 471 f. Hill, Forest G. 100, 111 Hirsch, Alfred 471 Hirsch, Fred 96,102ff„ 109ff. Hirsch, Günther 207 Hirschhausen, Christian von 277,280,284 Hirschman, Albert O. 17, 27, 64, 86 Hirshleifer, Jack 464,472 Hobbes, Thomas 540, 542

Hodgson, Geoffrey M. 357, 360 Hoen, Herman W. 400 Höffe, Otfried 510,513 Hohmann, Karl 401 Höijer; Rolf 403 Holmström, Bengt 230,233 Hölscher, Jens 521 Holzer, Verena 248, 259,284 Holznagel, Bernd 239,254, 256, 259 Holzwarth, Fritz 481,488 Homann, Karl 44,47, 60,139f„ 296, 310, 409,437, 510, 512f„ 532f, 538 Homburg, Stefan 74,86 Hopkins, Ed 105,111 Hoppmann, Erich 180f„ 209, 220f„ 226, 233f, 272, 284, 320, 340,475ff., 484, 487f.; 546, 549 Horn, Hans-Detlef 311 Horstmann, Kai 181 Hrbek, Rudolf 311 Humboldt, Wilhelm von 370, 377 Hume, David 94f„ 112; 191,206f.; 345f., 360 Hunold; Albert 401 Huntington, Samuel P. 406,437 Huss, Susanne 363, 377 Idot, Laurence 234 Iherrng, Rudolf von 186,207 Immenga, Ulrich 145, 180; 260 Inderst, Roman 271,284 Ingram, Christopher G. 438 Ireland, Norman J. 105ff., 1 lOff. Isherwood. Baron 104, 111 Isserstedt, Wolfgang 368, 378 Issing; Othmar 401 Jahn, Karoline 282,284 Jasay, Anthony De 216,234 Jeanne, Olivier 105ff., 1 lOf. Jens, Uwe 234 Johnson, Alvin 112 Jones, Eric 401 Jongbloed, Ben 379 Jorde, Thomas 232 Joskow, Paul 282,284 Jun, Uwe 140

Personenregister Kahn, Alfred E. 200,207 Kahneman, Daniel 76, 86 Kallfaß, Hermann H. 218,234 Kaiman, Peter J. 105,112 Kampmann, Birgit 50, 53, 60 Kant, Immanuel 187,191f„ 206f.; 213, 228, 234 ; 384f„ 401 Kantzenbach, Erhard 203, 218, 233f. Kaplow, Louis 163,180 Kath, Dietmar 294,310 Kaufmann, Franz-Xaver 509 Kaul, Inge 463,472 Keen, Michael 86 Kerber, Wolfgang 195,207; 222, 234 Kerf, Michel 249,259 Kerschbamer, Rudolf 301,310 Kirchgässner Gebhard 50, 53, 60; 68, 86; 376, 379 Kirchner, Christian 163, 180; 245f„ 259f.; 390,400 Kirsch, Guy 388,401 Kirstein, Roland 173, 180, 182; 365, 379 Kirzner, Israel M. 220,234 Klaiber, Achim 60 Klaus, Joachim 36 Klein, Werner 378 Kleist, Rüdiger von 50, 52f., 61 Klemmer, Paul 36 Klevorick, Alvin K. 105,111 Klös, Hans-Peter 515,520f. Klotzbach, Kurt 123, 140 Klump, Rainer 537 Klumpp, Ulrich 224,234 Knappe, Eckhard 515, 521 Knieps, Günter 242ff„ 260; 274, 284 Knoepffler, Nikolaus 438 Knorr, Andreas 259; 263, 273, 284 Kocher, Martin 544 Koenig, Ulrich 28 Köhler, Gerd 363,378 Köhler, Michael 159f„ 180 Komesar, Neil. K. 200,207 Kontopoulos, Yianos 51,61 Kom, Marcella E. 368,378 Komienko, Tatiana 105, 111 Koslowski, Peter 472 Kraus, Michael 282,284 Krautz, Jochen 363,378 Kreikebaum, Hartmut 104,112

583

Kreis, Constanze 242, 260 Kreutz, Doreen 289, 291, 310 Kromrey, Helmut 374,378 Krugman, Paul R. 507,509 Kruse, Jörn 236,238,240,257f.; 295, 310 Krüsselberg, Hans-Günter 211, 234; 372, 378; 505, 509 Kühling, Jürgen 256f.,259 KulenkampfT, Gabriele 235 Kumkar, Lars 238,260 Kunreuther, Howard 77, 86 Kunz, Rainer 141 Kunzmann, Peter 438 Kupferschmidt, Frank 364£, 378 Kydland, Finn E. 260; 401 Lachmann, Ludwig M. 505, 508f. Laffont, Jean J. 249, 251, 260 Landrum, R. Eric 368,378 Lang, Christoph 280,282, 285 Lang; Kai Olaf 403 Lange, Ludwig 289,310 Langer, Mathias 293,310 Lauré, Maurice 72f., 86 Le Goulven, Katell 463,472 Leibenstein, Harvey 104f., 112; 244, 260 Leipold, Helmut 28; 36; 211,234; 507, 509 Lemley, Mark A. 146, 148, 180 Lenger, Alexander 533, 538 Leonhardt, Rolf-Peter 289f., 310 Lerner, Abba P. 27 Leschke, Martin 438 Leslie, Christopher R. 146,148,180 Levine, Ross 451,471 Lewis, Darrell R. 377 Leyendecker, Hans 34, 36 Lipset, Seymour M. 434,437 Lipsky, Abbott Β. 243,260 List, Friedrich 8,27 Lith, Ulrich van 364f., 367, 370, 375, 378 Loasby, Brian J. 347, 351, 353, 357, 360 Lohmann, Ingrid 363, 378 Lott, JohnR. 364,386 Lübbe, Hermann 137, 140 Luhmann, Niklas 118, 140; 144, 148f., 180; 185ff., 191ff., 207 Lundstrom, Susanna 215,232 Lutter, Mark 293,309

584

Personenregister

Macleod, Alistair 156f., 161f., 180 Maggs, Jennifer L. 368, 378 Maier, Herbert 141 Mailath, George J. 111 Makowski, Louis 164,180 Mandeville, Bernard de 93ff., 98, 112 ; 502, 504 Mantzavinos, Chrysostomos 145,180, 210, 226, 234 Marburger, Daniel R. 367, 378 Marcenara, Oscar D. 377 March, James G. 347,360 Markert, Kurt 234 Märkt, Jörg 19,28 Marquard, Odo 122,140 Marshall, Alfred 99, 101, 109f., 112, 349, 360 Marshall; William J. 403 Märtz, Thomas 333, 340 Mason, Roger 94,109,112 Mäuse, Karsten 363, 368, 378 Max Weber 193,207 Mayer, Annette 401 McArthur, John W. 444ff., 448f„ 472 McClelland, David 358, 360 McKendrick, Neil 95,112 Meade, James E. 322,340 Meie, Alfred 523,527 Mellinger, Andrew 448,472 Meitzer, Allan H. 34f„ 60 Mendoza, Ronald U. 463,472 Merkel, Angela 116,119,140ff. Messerlin, Patrick A. 401 Mestmäcker, Ernst-Joachim 144ff., 155, 159f., 162, 171ff, 175ff., 185ff., 193, 214,226ff„ 232ff, 387, 391,401f, 485, 488 Metallinos-Katsaras, Elizabeth 379 Metcalfe, J. Stanley 347, 360 Meyer, Fritz M. 442,450,472 Meyer, Fritz W. 479ff.,488 Meyer, Gerhard 298f., 306, 311 Meyerson, Joel W. 377 Michael, Robert T. 364, 366, 368, 378 Middendorff, Elke 378 Miers, David 301,311 Mierzejewski, Alfred C. 386,402 Migué, Jean-Luc 301,311 Mikesell, John 299,311

Miksch, Leonhard 294, 311 Milgrom, Paul 230,233 Mill, JohnS. 95, 97, 109f„ 112 Miller, Edward 106,112 Mincer, Jacob 372, 378 Mintzel, Alf 116,140 Mittendorf, Markus 271,274,284 Moe, Terry M. 394,402 Möller; Hans 402 Molsberger; Joseph 402 Moneger, Joel 234 Montada, Leo 521 Montag, Frank 207 Moomaw, Ronald L. 215,232 Moore, Karl 556f. Mosca, Gaetano 31,36 Möschel, Wernhard 145,160, 180f., 197, 207,222, 233f, 273, 284, 399,402,476, 478, 528, 547, 549 Mueller; Dennis C. 379, 383, 387,400ff. Mühlenkamp, Holger 295, 311 Müller, Jürgen 241,260 Müller-Rommel, Ferdinand 141 Murphy, Kenneth J. 230,232 Murphy, Kevin M. 446,470 Müsgens, Felix 278, 280, 284f. Musgrave, Richard A. 86, 295, 3111 Mussler, Werner 392,402 Myrdal, Gunnar 450,472 Navarro, Lucia 377 Nelson, Richard R. 3424 360 Nettesheim, Martin 311 Neumann, Manfred 259 Ng, Yew-Kwang 112 Niedermayer, Oskar 140 Niskanen, William A 77, 86, 453, 472 Nolte, Frank 298,311 North, Douglas C. 66, 86,100,112, 335, 340,442,471 Nutzinger, Hans G. 340, 538 Oberender, Peter 181 f., 235, 284 Ohr; Renate 396f.,400 Olivera, Julio H.G. 375, 378 Olson, Mancur 36, 73, 86, 334, 340,409, 426, 438, 541f., 558 Oppermann, Thomas 402

Personenregister Ostroy, Joseph 162,180 Ottmann, Henning 472 Oualid, William 86 Pahlke, Armin 28 Paldam, Martin 451,471 Panther, Stephan 340 Panzar, John 219,232,242,260 Paqué, Karl-Heinz 218,234 Parsche, Rüdiger 87 Parsons, Talcott 315,340 Peacock, Alan T. 69,86 Pejovich, Svetozar 318,340 Peltzman, Sam 241,249,260 Penz, Reinhard 28 Perroti, Roberto 51,61 Persson, Torsten 41, 44f., 51, 61 Pesendorfer, Wolfgang 108,112 Petersen, Tim 402 Petrick, Martin 427,438 Petry, Jörg 298,311 Phelps, Edmund 471 Phlips, Louis 216,234 Pieroth, Bodo 291,311 Pies, Ingo 305, 307, 310,405,409,426ff., 434,437f., 442,451,455,457,464f„ 471f., 534, 538, 542, 544 Pigou, Arthur C. 101f„ 106, 112, 423, 428, 438 Pilcher, June J. 368,378 Pindyck, Robert S. 370, 372, 378 Pinzler, Petra 436,438 Pirog-Good, Maureen Α. 297, 311 Pitlik, Hans 61 Platzeck, Matthias 120, 123, 140 Plumb, Jack Η. 95,112 Podewils, Clemens Graf 140 Poguntke, Thomas 141 Pollak, Robert A. 366,379 Pommerehne, Werner W. 68, 76, 82, 87 Popper, Karl R. 343, 347fif., 355, 359ff. Posner, Richard 174, 181, 205ff., 219, 234 Postlewaite, Andrew 111 Powell, Lisa M. 379 Preiser, Erich 505,509 Prescott, Edward 43, 61, 260,401 Priddat, Birger P. 340 Prinz, Alois 472

585

Quaas, Friedrun 28 Quaißer, Gunter 363,378 Quesnay, François 95, 112 Quitzau, Jörn 288,311 Rabin, Robert 150,181 Radnitzky, Gerard 36f„ 211, 234 Rae, John 96f„ 99, 109ff. Ramb, Bernd-Th. 36,233 Rawls, John 15,28,296,311,385,391, 402, 510f., 533, 538 Razzolini, Laura 472 Reeckmann, Martin 299, 311 Reid, Robert H. 372,379 Reiner, Sabine 310 Remmele, Bernd 536, 538 Renner, Elke 363, 379 Ribolits, Erich 379 Richter Rudolf 203, 207, 260, 527f., 530 Riesenhuber, Karl 207 Rieter; Heinz 402 Rinsche, Günter 104, 112 Robinson, James A. 409,420,434,437f. Rogoff, Kenneth 41,45,61 Rolf Boreil 61 Rolle, Daniel 117,141 Romer, David 367, 369,679 Romer, Paul M. 43,61 Roodman, David 451, 471 Röpke, Jochen 315ff„ 340,495, 507, 509, 557f. Röpke, Wilhelm 28, 386,400ff„ 495, 507, 509, 557f. Roscher, Wilhelm 97f., 112 Rose, Manfred 82f., 86 Rosen, Harvey S. 76,87 Rosenberg, Christoph 74, 86 Rothschild, Michael 375, 379 Rottenbiller, Silvia 243, 260 Rowley, Charles Κ 331,340 Rubinfeld, Daniel L. 370, 372, 378 Rürup, Bert 28 Rüttgers, Jürgen 137,141 Sachs, Jeffrey 441,443ff., 457ff„ 467, 469,472f. Sachs, Jeffrey D. 410,438 Säcker, Franz Jürgen 282,285,207

586

Personenregister

Sadowsky, Brigitte 378 Sala-i-Martin 7, 28, 446,470 Sally, Razeen 385,402 Salmon, Pierre 402 Samson, Erich 81,87 Samuelson, Paul A. 295, 311 Sandler, Todd 463f.,471f. Sandmo, Agnar 82, 86f. Sardison, Markus 409,438 Sass, Peter 428,438 Sauermann, Heinz 488 Savoiz, Marcel R. 338,340 Schäfer, Wolf 28 Schaffner, Daniel 237,259 Schauenberg, Bernd 537 Schebstadt, Arndt 238, 240f., 260 Schelling, Thomas C. 542ff. Schelsky, Helmut 207 Schemmel, Lothar 43f., 61 Schenk, Karl-E. 343, 353f., 357, 360 Scherrer, Christoph 363, 379 Schlesinger, Helmut 43ff, 61 Schlicht, Ekkehart 335,340 Schmalensee, Richard 260 Schmidt, André 145f„ 181, 209f., 216, 234f. Schmidt, Andreas J. 81f., 86 Schmidt, Holger 280,285 Schmidt, Ingo 145,158f„ 181,476,478 Schmidt, Karsten 180 Schmidtchen, Dieter 143ff., 154, 158f„ 163f., 171ff., 179ff„ 210, 220, 224, 226, 235, 320, 329, 340, 365, 397 Schmidt-Semisch, Henning 311 Schmidt-Traub, Guido 442ff„ 448f., 472 Schmidt-Trenz, Hans-Jörg 329, 340 Schmitt, Dieter 281,285 Schmölders, Günther 73, 87 Schnabel, Claus 519,521 Schneider, Friedrich 64f., 81 f., 86f., 376, 379 Schneider, Hermann 492, 538, 546 Schneider; Friedrich 400 Schöbel, Enrico...64, 88 Schönbohm, Wulf 117,141 Schraven, David 266,285 Schuknecht; Ludger 400 Schüller, Alfred 360,481,487, 507, 509, 557

Schultz, Theodore W. 372, 379 Schulz, Norbert 48,61 Schumpeter, Joseph A. 409, 438, 493ff., 555 Schwalbe, Ulrich 195,207,227,235 Schwarz, Hans-Günter 280, 285 Schwarz; Hans-Peter 402 Schweitzer, Heike 186,207 Scitovsky, Tibor 102ff, 112 Seligman. Edwin R. 112 Sen, Amartya 200,207 Senger, Harro von 537 Senior, Nassau W., 95, 112 Senti, Richard 507,509 Sharkey, William 271,285 Shavell, Steven 163,180 Shearmur, Jeremy 523f., 527 Sheng-Ping Li 379 Shields, Deborah H. 368,379 Shughart, William F. 472 Sibert, Anne 45,61 Sidak, Gregory J. 243,260 Sideras; Jörn 403 Sieber, Ulrich 78f., 87 Siedentop, Larry 398,402 Siegetsleitner, Anne 438 Siegfried, Frick 28 Siemon, Cord 493ff., 553, 556f. Simon, Herbert A. 343, 345 347, 349,355, 360f. Sinn, Hans-Werner 70f., 87 Sioshansi, Fereidoon P. 283 Smelser, Neil J. 377 Smit, Hilke 235 Smith, Adam 7f., 28, 95f., 109, 112, 199, 206, 208, 372f., 379 Smith, Stephen 70,86 Sobek, David, M. 425,438 Sombart, Werner 90,96,105,110 Soros, George 502,504 Soto, Hernando de 455,458,473 Spence, A. Michael 112, 372, 379 Stammen, Theo 117, 141 Steiner, Hillel 156,182 Stern. Marc A. 463,472 Stigler, George J. 61, 241, 249, 260, 360, 366, 379 Stinebrickner, Todd, R. 367, 379 Stöver, Heino 298,311

Personenregister

Stratmann, Klaus 280,285 Streissler, Erich W. 212,235,379 Streit, Manfred 31, 33f„ 36, 189,207, 294, 311,388, 397,402,476ff. Stubblebine, William C. 322, 339 Stucke, Maurice Ε. 172,182 Suchanek, Andreas 47, 57, 60f. Sunde, Uwe 410,438 Sutter, Matthias 544 Sutton, John 229,235 Swides, Andreas 232 Tabellini, Guido 41,44f., 51, 60f. Tamura, Robert 446,470 Teece, David 232 Teixeira, Pedro 371,379 Tesch-Römer, Clemens 503f. Thielemann, Ulrich 306, 311 Thieme, H. Jörg 36, 233, 508f. Thomas, Hans 470 Thompson, Martyn P. 472 Tiebout, Charles. M. 329, 340 Tietzel, Manfred 541 f. Tilman, Rick 96, 111 Timmons, Jeffry 556f. Tiróle, Jean 249,251,260 Tolkemitt, Till 289,291,309 Tollison, Robert D 33, 36,217,232, 329, 337f. Torgier, Benno 65, 87 Train, Kenneth E. 242,260 Tsai, Ling-Ling 368,379 Tuchtfeldt, Egon 232,272, 285,293, 311, 477,487 Tullock, Gordon 212, 232,243, 260, 323, 329f„ 337f., 409,437f. Tversky, Amos 76, 86 Uhde, André 237,248,259 Ursprung, Heinrich W. 27 Vanberg, Victor 3,17,21, 28, 36, 211, 217,235, 317, 341, 399,402f„ 521, 533, 538 Varwick; Johannes 403 Vaubel, Roland 33, 37, 73, 87, 390, 396, 400,403 Veblen, Thorstein B. 92, 99ff„ 105, 111 f.

587

Vehrkamp, Robert B. 60 Vibert; Frank 395,400,403 Vincent, J.M. 112 Viren, Matti 299f„ 305, 311 Vogel, Bernhard 123, 140 Vogelsang, Ingo 239, 241, 254,256, 257f. Voigt, Cora 434,438 Voigt, Stefan 145f„ 181, 210,212,216, 234f„ 397, 402 Voy, Klaus 507,509 Wagener, Hans-Jürgen 341 Wagner, Adolph 94, 97,113 Wagner, Gerd R. 341 Wagner, Richard E. 40,42,45, 60 Walter-Rogg, Melanie 396,403 Walterscheid, Heike 313,326,330,341 Warren James R. 112 Watrin, Christian 402,482,488 Wätzold, Frank 379 Weber, Manfred 61 Weber, Max 113 Weber, Ralf L. 293,311 Wechsler, Henry 379 Weck-Hannemann Hannelore 68, 76, 82, 87 Wegehenkel, Lothar 313, 319ff., 325ff„ 330, 335, 340 Wegner, Gerhard 340 Weigand, Jürgen 259 Weigelt, Klaus 538 Weigt, Hannes 277,280,284 Wein, Thomas 295,310 Weingast, Barry R. 49,61,403 Weiß, Jens 28 Weizsäcker, C. Christian von 148, 159, 161,165,174,178f„ 182,190f, 197, 202,204ff., 208,223,235, 241f„ 260, 548f. Weizsäcker, Robert K. von 52,61 Weifens, Paul 259 Wentzel, Bettina 505,509 Wentzel, Dirk 28,505,509 Wenzel, Heinz-Dieter 43,61 Weske, Mathias 259 White, Lawrence J. 375,379 Wickseil, Knut 67,87 Wiegard, Wolfgang 74,86 Wiesendahl, Elmar 141

588

Personenregister

Wigger, Berthold U. 364f., 378 Will, Birgit E. 145,182 Willgerodt, Hans 173, 182, 293, 311,479, 481 f., 488 Williams, Jenny 368,379 Williamson, Oliver E. 219, 235, 243, 261, 321,341 Willig, Robert D 219,232, 260 Winning, Alexandra von 534, 538 Winston, Gordon 377 Winter, Sidney 344,360 Wintrobe, Ronald 405,409, 41 Iff., 417, 420ff„ 428, 438 Wiswesser, Rolf 83,86 Witt, Ulrich 360,476,478 Wockenfuß, Christof 405,434,438 Wohlgemuth, Michael 27f., 38Iff., 385, 394, 396f., 399,401ff. Wolf, Dorothee 310 Woll, Artur 364,379 Wolter, Andrä 378

Wurm, Susanne 503f. Young, Robert 300,311 Zachmann, Georg 277,280,284 Zehetmair, Hans 123,140f. Zehnpfennig, Barbara 472 Ziebarth, Gerhard 61 Ziebura, Gilbert 141 Zimmer, Daniel 195, 207f„ 225,227, 231, 235 Zimmermann, David 377 Zimmermann, Klaus 28 Zintl, Reinhard 538 Zöller, Michael 151,182 Zuber, Johannes 379 Zweynert; Joachim 402

ORDO

Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Sachregister Agenda 2010 118ff. Allphasenbruttoumsatzsteuer 72f. Armutsfalle 445 ff. Überwindung 449 Aufklärung 457f. Ausgeglichener Haushalte 39,46ff.

Denkblockaden 437 Deutsche Europadebatte 133 Dezentralisierung 326ff. Die institutionalistische Schule 99 Die neoklassische Schule 99, 109f. Die neuen Grundsatzprogramme 115f., 121, 135ff.

Begrenzte Rationalität 347ff. Beihilfekontrolle 55Iff. Berufpolitikertum 500 Bestimmungslandprinzip 67f., 70ff., 74f., 89 Best-Shot-Interaktionsstrukturen 465f. Bildung 363ff, 501ff. Bildungsinvestitionen 502 Bildungsmarkt 364,371,373 Bildungsökonomie 493f. Bildungspolitik 493f. Bildungsproduktion 365ff., Bildungsproduzenten 369ff. Bildungsverständnis 367 Bremer Entwurf 120, 123f. Bundesversicherungsamt 564 Bürgergenossenschaft 384

Die ordnungsökonomische Perspektive 3, 5 Die wohlfahrtsökonomische Schule 101 Diktatoren 41 Iff. Direkte Demokratie 67, 86, 89 Diskretionäre Spielraum 49, 54, 56ff. Diskursivität 469f. Dynamik internationaler Märkte 506ff.

Capacity Building 417f. Chancengerechtigkeit 122f. Clubs (von Staaten) 396ff. Compliance-Mechanismen 545 Conspicuous consumption 92,106ff., 113 cooperative case 106 Corporate Governance 5 31 f. Corporate Social Responsibility 540ff. Das Konzept der Wettbewerbsfreiheit 220 Defizite 39f.,36ff„ 50ff.,59,61 Demografische Entwicklung 504ff. Demographische Wandel 121 Demokratieförderung 405,407f., 421f., 427, 430, 436f. Demokratischer Sozialismus 124 Demokratisierungswelle 406f. Demonstratives Konsumverhalten 9Iff., 96, 99, 104ff.

Effizienz 143ff., 185, 189, 195, 197f„ 200, 202, 204, 206 als Rechtsprinzip 163,166, 169,170f. Eigentumsrechte 44,46, 53, 318ff, 426f. Eigenverantwortung des Bildimgsproduzenten 369f. Elektrizitätswirtschaft 263ff., 483ff. Marktstruktur 276f. Ordnungspolitische Gestaltung 272ff. Preisbildung 278ff. Rechtliche Grundlagen 274ff. Strukturreformen 269ff. Entbündelungskosten 506ff. Entdeckungswahrscheinlichkeit 78 Entwicklungsdebatte 469f. Entwicklungs-Konkurrenz 427 Entwicklungsorganisationen 452f. Kartellierung 452ff. Entwicklungspolitik 44Iff. Entwicklungszusammenarbeit 405,408, 410, 415, 420, 423, 425, 427ff., 435, 437 Erkenntnis- und Wissenschaftslehre 523 ff. Ethik ökonomische 534ff. und Globalisierung 511 ff. Europa 133f. Europäische Integration 389ff. Europäische Ordnungspolitik 3 81 ff. Europäisches Wettbewerbsrecht 547ff.

590

Sachregister

Europas Wirtschaftsverfassung 387ff. Evolution und Rechtsstruktur 313 ff. Evolution von Systemen 344ff. Ex-ante Regulierung 261 Ex-post Aufsicht 261 Externalitäten 295, 324f„ 501, 532f. Extrinsische Motivation 107 Finanzierungshypothese 495ff. Finanzwirtschaft 495ff. Freiburger Schule 476f. Freiheit 121ff„ 189ff. Fruit of poisonous tree doctrine 81 Funktion des Staates 9 Gerechtigkeit 121ff„ 125,127, 137ff. und Effizienz 538f. Gesellschaft im Wandel 504ff. Gesellschaftlicher Zusammenhalt 511 ff. Gesundheitspolitik 562ff. Gesundheitssystem 562ff. Gewerbefreiheit 195 GKV-System 564f. Globalisierung 6ff., 21,26, 28 Goldene Regel 535 Governance-Strukturen 530f. Granger-Kausalität 83 Großen Koalition 116,119, 142, 135,138 Grundsatzprogramm 115ff. Hamburger Programm 120, 123ff. Handelspolitik 480 Handlungsblockaden 437 Handlungsrechte 318ff. Harmonisierung 392f. Haushaltspolitik 132 Hayek-Gesellschaft 475 Homo oeconomicus 539 Humankapital 364, 366, 370, 372, 374f., 507f. Humanvermögen 3 71 f. Individuelle Handlungsfreiheit 152, 154, 160f., 179f. Institutionelle Regulierungsaltemativen 247

Institutionelle Sklerose 36 Institutionenökonomik 529ff. Instrumentenleiter 256f., 261 Integration 383ff. Intensivierungs-Strategie 55ff. Interdependenz der Ordnung 189 Internalisierung 52ff. Internationale öffentliche Güter 462ff., 467ff. Internationales Privatrecht 532ff. Interpersonelle Nachfrageeffekte 101 f., 104 Intrinsische Motivation 105 Jurisdiktionen

lOff., 16f.

Kaldor-Hicks Kriterium 175 Kanalisierungs-Strategie 55ff. Kapitalismus 127f., 138 Klimapolitik 545 Klinische Ökonomik 444ff. Konditionalprogramm 147ff., 185ff. Konjunkturpolitik 476f. Konjunkturzyklus 518 Konsensuale Politik 31,33,37 Konstitutionenökonomik 211, 222 Koordinationsketten 352f. Kosmopolitischen Ökonomie 8 Langzeitarbeitslosigkeit 519 Leerformel 157, 160ff. Lehrdienstleistung 371 f. Liechtensteiner Steueraffäre 80, 82 Lieferverweigerung 159f., 171 Log rolling 390 Lotteriemarkt 287ff. Erlöse 292ff. Externaliäten 295 Marktversagen 297ff. Rechtslage 290f. Referenzsystem 293ff. Legitimation von Eingriffen 302f. Lottospiel 289ff. Luxus 92ff. Luxusgüter 92ff., 109f. Machtisoquante 414ff.

Sachregister Marginalistische Schule 98f. Marktprozessstimulierung 428 ff. Marktversagen 297ff. Marktwirtschaft 537f. Matchingverfahren 493 Mehrwertsteuer 70ff., 74ff. Meritorik 545 Merkantilisten 92ff., 109 Mindestlohngesetz 22 Mobilität lOf, 16f.,20,24 More Economic Approach 222, 224f., 227, 547ff. Nationalsozialistische Wirtschaftspolitik 481 Negative externe Effekte 42, 50, 52, 54 Non-Sequitur-Fehlschluss 423f. Normenbegründung 514f. Objektsteuer 66, 68ff, 89 Ökonomische Ethik 534ff. Ökonomische Rationalität 151 Ökonomisierung der Bildung 376 Oligopol 476 Ordnungsökonomik 209ff., 227 Ordnungsökonomische Wettbewerbskonzepte 209 Ordnungsökonomische Wettbewerbspolitik 228 Ordnungspolitik 6, 122,127, 137f„ 211 Europäische 3 81 ff. Ordnungspolitische Selbstbindung 393ff. Ordnungspolitischer Ansatz 450ff. Ordnungsrahmen 499 Ordnungstheorie 211 Ordoliberale 484 Ordonomik 442ff. Orthogonale Positionierung 409f., 420ff. Paradox der Freiheit 206 Pareto-Kriterium 17 5 Pareto-Verbesserungen 514 Parteien 115ff„ 118, 121, 132ff. Parteiprogrammen 117f., 126 Per se Verbote 186 Per-se-Regeln 145

591

Pfadabhängigkeit 314, 335,338f. Physiokraten 95 PKV-System 564f. Planification 386 Politikberatung 450ff. Politikbetrieb 498ff. Politische Einflussnahme 3 31 ff. Politische Märkte 41,46, 54f. Politische Ökonomie 498ff. der Europäischen Integration 389ff. Politische Weltformel 498ff. Politischen Wettbewerb 39f., 42,44, 46, 51,55ff. Positional goods 105f. Preiskartell 146f„ 158f., 166,168f, 171 Prinzip der Besteuerung nach Belastbarkeit 16f., 19 Interesse 14ff., 18f. Leistungsfähigkeit 14, 16, 18 Prinzip von Leistung und Gegenleistung 13 f. Privatrecht internationales 532ff. Programmdebatte 117,119f„ 123 Property Rights 146f„ 151,155f„ 159ff., 171,176,178, 190f., 194,197, 200ff. -Theorie 318ff. Protektionismus 8 Rational-Choice-Ansatz 546 Rationalität des Rechts 144f., 150 Rationalität von Systemen 344ff. Rechtsprinzip der Freiheit 144,151,176 Rechtsstruktur und Evolution 313 ff. Recontracting 392 Reformeifer 31 Reformen 7 Reformstau 31f., 34f„ 37 Regulierung 237ff. Regulierung netzgebundener Industrien 240, 24lf, 244 Regulierungen 19, 2Iff. Regulierungsdichte 354ff. Re-nationalisierung 397f. Rent Seeking 33Iff. Repression 67, 76, 86f. Repressionsniveau 42Iff.

592

Sachregister

Reverse Charge Verfahren 71f., 76 Rule of Law 204 Rule-of-reason-Standard 145,180

Systemverständnis und Wirtschaftspolitik 350f. Sytemwettbewerb 562

Schattenwirtschaft 63ff. 83 Selbst- und Fremd-Regulierung 52ff. Semantik und Sozialstruktur 44Iff., 457ff. Semi-Demokratien 414f. Situative Rationalität 347ff. Soziale Marktwirtschaft 26ff. Sozialstruktur und Semantik 44Iff., 457ff. Spielregel 199 Spielsucht 298f. Staat als Gemeinschaftsunternehmen 9ff., 15,18, 20ff., 25,28 Staat als Standortunternehmen 9f., 16, 21ff, 28

TIMMS-Repeat-Studie 493 Transaktionskosten 321f., 529ff.

Staatenclubs 396ff. Staatenwettbewerb 10 Staatsschuldillusion 44ff, 49f. Staat-Schuld-Vermeidungs-Kooperation Staatsverschuldung 39f., 42ff. Standortnutzer 9ff. Standortwettbewerb 12, 18ff„ 26, 551ff. Statusstreben 91ff., 96, 99, 103ff„ 109ff. Steuererfüllung 63 ff. Steuerfahndung 78ff„ 82, 86 Steuerhinterziehung 63 ff. Steuern 12f., 15ff., 21 Steuersatz 83ff. Steuerwettbewerb 16, 20 Stimmentausch 390 Strategische Ökonomik 544ff. Stromerzeugung 265f. Stromhandel 268f. Stromtransport 267f. Stromverteilung 267f. Stromwirtschaft 263 ff., 273ff. Strukturelle Kopplung von Wirtschaft und Recht 189 Subjektive Rechte 191 ff. Subjektsteuer 66f., 68f., 86, 89 Subventionshopping 551 Systemtheorie 314ff., 343ff.

48

Umlageverfahren 563 Unternehemenszusammenschluss 144, 147, 163, 171 ff. Unternehmertum 495 ff. Ursprungslandprinzip 67, 70, 73, 75, 86, 89 VC-Gesellschaft 556ff. Veblen-Effekt 105 Venture Capital 555ff. Verein für Socialpolitik 483 Verfassungsvertrag 133 Vertiefung/Erweiterung der EU 396ff. Vorsteuerabzug 71, 73f. Vorumsatzabzug 72ff. Wählerdemokratien 406f. Währungspolitik 510 Walter Eucken Institut 487 Weakest-Link-Interaktionsstrukturen 464ff. Weltformel 498ff. Wertschöpfungskette 265ff. Wettbewerb lOff, 16ff., 39ff., 46ff. dynamischer perfekter 165 dynamischer imperfekter 165 Wettbewerbsbeschränkung 144, 148, 150f., 165, 171 f., 174, 176, 178ff. Wettbewerbsfrage 480f. Wettbewerbsfreiheit 143, 146, 150ff„ 160, 176, 179 Wettbewerbsfreiheit 195ff., 476, 485 - gesetzgeberische Ausgestaltung 197 Wettbewerbsfreiheit im Privatrecht 196 Wettbewerbspolitik 143, 145ff., 152f., 163, 173,175ff„ 209ff, 216ff. Wettbewerbspolitische Leitbilder 217f. Wettbewerbsrecht 237ff„ 243, 245f., 250, 254ff. europäisches 547ff. Wettbewerbsstärkungsgesetzes 32

Sachregister

Williamson-Trade-off 169f. Wirtschaftspolitik und Systemverständnis 350f. Wirtschaftssysteme 314ff., 343ff. Systemkomponenten 351 f. Wirtschaftstheorie und Wissen 523ff. Wirtschaftsverfassung Europas 387ff. Wissen und Wirtschaftstheorie 523ff. Wissenschaftsmanager 477 Wohlfahrtsökonomik 209, 212,215ff„ 219, 222, 225, 227 Wohlfahrtsökonomische Wettbewerbskonzeptionen 218 Wohlstand 7f. und Freiheit 408 Wohnsitzprinzip 70 Zahlungsbilanzausgleich 480 Zentralisierung 326ff„ 392f. Zukunft der Arbeit 515ff. Zusammenschluss von Staaten 383ff. Zweckprogramm 147, 149, 185ff.

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ORDO · Jahrbuch fiir die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2008) Bd. 59

Anschriften der Autoren Dr. Hanjo Allinger Fachvertreter an der Universität Passau, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Finanzwissenschaft, 94032 Passau, Innstraße 27. Dr. Hans-Heinrich Bass Professor an der Hochschule Bremen, Lehrstuhl International Economics, 28199 Bremen, Wederstraße 73. Dr. Hanno Beck Professor an der Hochschule Pforzheim, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, 75175 Pforzheim, Tiefenbronner Straße 65. Dr. Norbert Berthold Professor an der Julius-Maximillians-Universität Würzburg, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbes. Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, 97070 Würzburg, Sanderring 2 - Zimmer 298. Dipl.-Volksw. Florian Birkenfeld Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Passau, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Wirtschaftspolitik, 94032 Passau, Innstraße 27. Dr. Charles B. Blankart Professor an der Humboldt Universität zu Berlin, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, 10178 Berlin, Spandauer Straße 1. Dipl.-Volksw. Markus Breuer Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fachbereich Sportökonomie, 07749 Jena, Institut für Sportwissenschaft, Seidelstr. 2 Dr. Frank Daumann Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 07749 Jena, Institut für Sportwissenschaft Zi. E 009, Seidelstr. 20. Dr. Peter Engelhard RWE Aktiengesellschaft, 45128 Essen, Opernplatz 1. Dipl.-Sozialwiss. Milena Susanne Etges Mitarbeiterin am Zentrum für Sozialstaat und Soziale Marktwirtschaft (zsm) an der Universität der Bundeswehr München, 85579 Neubiberg, Werner-Heisenberg-Weg 39. Dr. Lothar Funk Professor an der Fachhochschule Düsseldorf, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, Fachbereich Wirtschaft FB 7,40225 Düsseldorf, Universitätsstraße, Gebäude 23.32. Dr. Justus Haucap Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nümberg, Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik, 90403 Nürnberg, Lange Gasse 20.

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Anschriften der Autoren

Dr. phil. habil. Hans Jörg Hennecke Privatdozent, 25524 Heiligenstedten, Eichholz 33a. Dipl.-Volksw. Catherine Herfeld externe Doktorandin an der Universität Witten/Herdecke an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Zustiftungslehrstuhl für Volkswirtschaft und Philosophie, 58452 Witten, AlfredHerrhausen-Straße 50. Dipl.-Kfm. Stefan Hielscher Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrstuhl für Wirtschaftsethik, 06108 Halle, Grosse Steinstr. 73. Manfred Hilzenbecher Ministerialrat im baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, 70173 Stuttgart, Königstraße 46. Dr. Karen Horn Leitung des Hauptstadtbüros, am Institut der deutschen Wirtschaft Köln, 50968 Köln, GustavHeinemann-Ufer 84-88 Dr. Wolfgang Kerber Professor an der Philipps-Universität Marburg, Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik, 35032 Marburg, Am Plan 2. Dr. Roland Kirstein Professor an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, Economics of Business and Law, 39106 Magdeburg, Universitätsplatz 2. Dr. Andreas Knorr Professor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere nationale und internationale Wirtschaftspolitik, 67346 Speyer, Freiherr-vom-Stein-Str. 2. Dipl.-Volksw. Daniel Koch Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Julius-Maximillians-Universität Würzburg, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbes. Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, 97070 Würzburg, Sanderring 2. Dr. Tim Krieger Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Juniorprofessor) an der Universität Paderborn, 33098 Paderborn, Warburger Straße 100. Dipl.-Volksw. Alexander Lenger Mitarbeiter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für allgemeine Wirtschaftsforschung, Abteilung für Wirtschaftspolitik, 79085 Freiburg, Kollegiengebäude II, Platz der Alten Synagoge. Dr. Karsten Mäuse wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen, Sonderforschungsbereich Sfb 597 „Staatlichkeit im Wandel", 28359 Bremen, Linzer Str. 9a. Dr. D. h.c. Ernst-Joachim Mestmäcker Professor em., Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, 20148 Hamburg, Mittelweg 187.

Anschriften der Autoren

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Dr. Andreas Mitschke Mitarbeiter an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nümberg, 90403 Nürnberg, Lange Gasse 20. Dr. Christian Müller Duisburg Essen; Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Institut für Ökonomische Bildung, 48151 Münster, Scharnhorststr. 100. Dr. Thomas Pfahler Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, Lehrstuhl für öffentliche Finanzwirtschaft, 20099 Hamburg, Berliner Tor 5. Dr. Ingo Pies Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrstuhl für Wirtschaftsethik, 06108 Halle, Große Steinstrasse 73. Kathrin Pongs Oberender & Partner, 95448 Bayreuth, Nürnberger Str. 38. Dipl.-Sportökonom Benedikt Römmelt Mitarbeiter an der Universität Jena, Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften, Institut fur Sportwissenschaft Zi. Κ 002a, 07749 Jena, Seidelstr. 20. Dr. Karl-Ernst Schenk Professor em. an der Universität Hamburg, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Institut für Wirtschaftssysteme, Wirtschafts- und Theoriegeschichte, Arbeitsbereich Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 20146 Hamburg, Von-Melle-Park 5. Dr. André Schmidt Professor an der Universität Witten-Herdecke, Lehrstuhl für Makroökonomik und Internationale Wirtschaft, 58448 Witten, Alfred-Herrhausen-Straße 50. Dr. Dieter Schmidtchen Professor an der Universität des Saarlandes, Lehrstuhl für Nationalökonomie, insbesondere Wirtschaftspolitik, 66041 Saarbrücken, Postfach 15 11 50. Dr. Carsten Schreiter Referent für Wirtschaftspolitik im Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung, 65185 Wiesbaden, Kaiser-Friedrich-Ring 75. Dr. Alfred Schüller Professor em. an der Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Ordnungstheorie und Wirtschaftspolitik, 35032 Marburg, WiWi-Baracke, Universitätsstraße 25. Diplom-Ökonom Luis Manuel Schultz Stipendiat an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nümberg, Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik, 90403 Nürnberg, Lange Gasse 20. Dr. Cord Siemon Marburger Förderzentrum für Existenzgründer aus der Universität, 35037 Marburg, Universitätsstr. 25.

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Anschriften der Autoren

Dr. Heinz-Dieter Smeets Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, 40225 Düsseldorf, Universitätsstr. 1, Geb. 23.31. Dr. Manfred E. Streit Professor em. am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen, 07745 Jena, Kahlaische Straße 10. Dr. Tobias Thomas Wissenschaftlicher Assistent an der Helmut Schmidt Universität, Fakultät für Wirtschaft- und Sozialwissenschaften, 22043 Hamburg, Holstenhofweg 85. Dr. André Uhde Habilitand am Lehrstuhl für Finanzierung und Kreditwirtschaft, Ruhr Universität Bochum, 44801 Bochum, Universitätsstraße 150. Dr. Viktor J. Vanberg Professor der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, Institut für Allgemeine Wirtschaftsforschung, Abteilung für Wirtschaftspolitik, 79085 Freiburg, Kollegiengebäude II, Platz der Alten Synagoge. Dr. Volker Ulrich Professor an der Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre III, Finanzwissenschaft, 95440 Bayreuth, Universitätsstraße. Dr. Heike Walterscheid Technische Universität Ilmenau, Institut für Volkswirtschaftslehre, Fachgebiet Wirtschaftstheorie, 98693 Ilmenau, Ernst-Abbe-Zentrum, Ehrenbergstraße 29. Dr. Lothar Wegehenkel Professor em. an der Technischen Universität Ilmenau, Institut für Volkswirtschaftslehre, Fachgebiet Wirtschaftstheorie, 98693 Ilmenau, Ernst-Abbe-Zentrum, Ehrenbergstraße 29. Christof Wockenfuß Doktorand an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrstuhl für Wirtschaftsethik, 06108 Halle, Grosse Steinstr. 73. Dr. Michael Wohlgemuth Mitarbeiter am Walter Eucken Institut, 79100 Freiburg im Breisgau, Goethestraße 10.

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Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pèlerin Society" Von Philip Plickert

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2008. XII/516 S„ gb. € 59,-. ISBN 978-3-8282-0441-6

Wandlungen Neoliberalismus

Marktwirtschaftliche Reformpolitik Bd. 8

Ein Gespenst geht um in Europa: der Neoliberalismus. Der „Neoliberalismus" ist zu einem meist negativ konnotierten Schlagwort verkommen. Dieses Buch möchte einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte • Μ Έ leisten und die geistes- und zeitgeschichtlichen Ursprünge des Neoliberalismus erhellen. Der Wirtschaftshistoriker Philip Plickert analysiert den Niedergang des klassischen Liberalismus und dessen Krise im frühen 20. Jh. In der Zwischenkriegszeit entwickelten sich vier Zentren eines erneuerten Liberalismus: Wien, London, Freiburg und Chicago. 1947 gründete Friedrich August von Hayek die Mont Pèlerin Society (MPS) als Sammlungspunkt der versprengten und marginalisierten Neoliberalen. Aktive Mitglieder der MPS waren einflußreiche Denker wie Hayek, Ludwig von Mises, Milton Friedman, James Buchanan, Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow sowie Ludwig Erhard. Das Buch schildert, gestützt auf reiches Quellenmaterial, den schwierigen Aufbau der MPS, unterschiedliche strategische Perspektiven, den frühen politischen Durchbruch in Deutschland mit Erhards Wirtschaftsreform, die interne Krise um 1960 und die langfristige Ausstrahlung der MPS als intellektueller Kernorganisation der Neoliberalen auf Wissenschaft und Politik. Inhaltsübersicht: 1. Teil: Die Geburt des Neoliberalismus aus der Krise 1. Aufstieg und Niedergang des klassischen Liberalismus II. Zwischenkriegszeit und liberale Selbstfindung III. Krisenbewußtsein und Revisionismus des Liberalismus 2. Teil: Ortsbestimmung des Neoliberalismus IV. Der lange Weg zum Mont Pèlerin V. Aufbau, Strategie und Krise der MPS

3. Teil: Die MPS bezieht Stellung: Auf verlorenem Posten? VI. Positionen und Kontroversen in der frühen MPS VII. Neoliberale in der Politik: Durchbrüche und Durststrecken 4. Teil: Beginn einer neoliberalen Gezeitenwende Vili. Der Kampf gegen den keynesianischen Konsens IX. Der Neoliberalismus an der Macht? X. Resümee und Ausblick

Gesundheitsökonomische Forschung in Deutschland Herausgegeben von Klaus-Dirk Henke Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik Band 227, Heft 5+6/2007 2008. 384 S., kt. € 89,-. ISBN 978-3-8282-0431-7 Die Gesundheitsökonomie hat sich in Deutschland als akademisches Lehr- und Forschungsgebiet etabliert. Inhalt und Methoden der Gesundheitsökonomie sind vielfältig. Die fachlichen Hintergründe liegen nach wie vor in der Sozialpolitik, in der Finanzwissenschaft, in der Ordnungspolitik, aber auch in der Versicherungswissenschaft, der Institutionenökonomie und der angewandten MikroÖkonomie sowie neuerdings sogar in der Spieltheorie. Innerhalb der Betriebswirtschaftslehre war es insbesondere die Krankenhausbetriebslehre, die Pate stand für die Weiterentwicklung zum Gesundheitsmanagement als Schwerpunkt in der betriebswirtschaftlichen Ausbildung und Forschung im Fach Gesundheitsökonomie. Fragen an der Schnittstelle zu anderen Sozialwissenschaften und der Medizin werden insbesondere in der Public Health-Forschung aufgegriffen. Im vorliegenden Themenheft wird der beschriebene Hintergrund des Faches an vier ausgewählten Themenfeldern deutlich (Ordnungspolitik und Steuerung, Finanzierung und Vergütung, Wachstum und Verteilung, Neue Versorgungsformen und Evaluation).

Die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft als zentrale Aufgabe Ordnungsökonomische und kulturvergleichende Studien Von Helmut Leipold SCHRIFTEN ZU ORDNUNGSFRAGEN DER WIRTSCHAFT Band 88 2008. VIII/307 S., kt. € 38,-. ISBN 978-3-8282-0436-2 Die vorliegenden Studien sind von der elementaren Einsicht geprägt, daß in der Herstellung einer gerechten und produktiven Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft das zentrale und ewig aktuelle Knappheitsproblem der Menschheitsgeschichte zu sehen ist. Was kann die Wissenschaft zur Lösung dieses Problems beitragen? Dieser Frage wird zunächst anhand der Antworten von ordnungsökonomischen Theorieansätzen nachgegangen, die zugleich einer kritischen Bewertung unterzogen werden. In den nachfolgenden Beiträgen wird versucht, die rein ordnungsökonomischen Erklärungen um historisch-kulturelle Einflußfaktoren zu erweitern und durch komparative Studien zu belegen.

Sara Borella

Bodo Knoll

Migrationspolitik in Deutschland und der Europäischen Union

Minimalstaat

Eine konstitutionenökonomische Analyse der Wanderung von Arbeitskräften

2008. XIV, 301 S. (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 142 ). ISBN 978-3-16-149604-2 Ln € 8 9 , -

2008. XI, 259 S. ( U n t e r s u c h u n g e n zur O r d n u n g s t h e o r i e u n d O r d nungspolitik 54). ISBN 978-3-16-149645-5 fBr € 4 9 , -

Johann Eekhoff / Vera Bünnagel / Susanna Kochskämper / Kai Menzel Bürgerprivatversicherung

Ein neuer Weg für das Gesundheitswesen 2008. X, 233 S. ISBN 978-3-16-149636-3 ffir € 2 9 , -

Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik

Herausgegeben von Nils Goldschmidt und Michael Wohlgemuth 2008. X, 780 S. ( U n t e r s u c h u n g e n zur O r d n u n g s t h e o r i e u n d O r d n u n g s p o l i t i k 50). ISBN 978-3-16-148297-7 ffir € 4 9 , -

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Eric L. Jones Globalisierung der Kultur?

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Kulturhistorische Ängste und ökonomische Anreize Übersetzt von Monika Streissler 2008. XIV, 210 S. (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 143). ISBN 978-3-16-149602-8 Ln € 6 9 , -

Andreas Suchanek

Eine Auseinandersetzung mit Robert Nozicks Argumenten

Christoph Lütge Was hält eine Gesellschaft zusammen?

Ethik im Zeitalter der Globalisierung 2007. XI, 293 S. (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 140). ISBN 978-3-16-149408-6 Ln € 7 9 , -

Privatrechtsgesellschaft

Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts Herausgegeben von Karl Riesenhuber 2007. XXII, 394 S. ( U n t e r s u c h u n gen zur O r d n u n g s t h e o r i e u n d O r d n u n g s p o l i t i k 53). ISBN 978-3-16-149510-6 Ln € 8 9 -

Thomas Schellings strategische Ökonomik

Herausgegeben von Ingo Pies und Martin Leschke 2007. VII, 233 S. (Konzepte der Gesellschaftstheorie 13). ISBN 978-3-16-149431-4 ffir € 3 9 , -

Mark Wipprich Größe und Struktur von Unternehmensnetzwerken

Ein quantitativer Modellansatz 2008. XVII, 255 S. ( Ö k o n o m i k der K o o p e r a t i o n 6). ISBN 978-3-16-149664-6 ffir € 6 4 -

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2. neu bearb. u. erw. A. 2007. XIII, 199 S. ( U T B 2195). ISBN 978-3-8252-2195-9 Br € 9,90

H^R· Mohr Siebeck Tübingen [email protected] www.mohr.de

Erfolgsnationen vor dem Abstieg bewahren Die Egologik als Erfolgsfaktor Von Friedrich Reutner Marktwirtschaftliche Reformpolitik Bd. 9 2008. X/140 S„ gb. € 28,-. ISBN 978-3-8282-0440-9 Der globale Wettbewerb stellt weit höhere Anforderungen an die politische Steuerung. Negieren Regierungen den Zwang zur Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit, verliert das Land Know-how, Arbeitsplätze und erntet Armut. Die Rahmenbedingungen der Demokratie fördern Strukturkrisen, gefährliche Trends sowie Managementfehler. Damit blockieren die Schwächen der Demokratie zunehmend die Kräfte der Sozialen Marktwirtschaft, denn wie alle Menschen folgen auch Politiker ihrer Egologik, auch wenn sie dies verneinen. Steuert die Egologik wettbewerbsschädlich, so macht dies jedes Wirtschaftssystem langfristig zum Verlierer, wenn andere Länder sich wettbewerbsorientierter verhalten. Viele alternde Demokratien „verbessern" sich durch Regulierung, Kompliziertheit, Administration und Reibungsverluste. Jedes gut geführte Unternehmen antwortet dagegen bei stärkeren Wettbewerb mit Leistungssteigerung. Um die Demokratie als die beste bekannte Staatsform zu sichern, müssen die größten Wettbewerbsschwächen beseitigt werden.

Ökologieorientiertes Management Um-(weltorientiert)Denken in der BWL Von Edeltraud Günther wisu-texte. 2008. XX/387 S., kt„ € 29,90. UTB 8383. ISBN 978-3-8252-8383-4 Ökologisch verantwortungsvolles Handeln ist zu einem wichtigen Element von Unternehmen geworden. Das erfordert ein Umdenken in der BWL. Dieses neue Denken muss viele Bereiche durchdringen: das Managementsystem i.S. von Umwelt- und Qualitätsmanagement, die Formulierung von entsprechenden Zielen, die Entwicklung geeigneter Strategien. Das ökologieorientierte Management muss dabei die diversen Anspruchsgruppen (stakeholder) und die angesprochenen Funktionsbereiche in die Planung einbeziehen. Abschließend stellt die Autorin Ökobilanzierung, Kostenorientierung sowie die Umsetzung (Entscheidungsinstrumente, Implementierung, Umweltberichterstattung) dar. Ein Buch, das gleichermaßen für Studierende wie als Handreichung für die Praxis geeignet ist.



LUCIUS M ^ i i c L U C IU b

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Stuttgart