ORDO 58 9783828260122, 9783828203914

Das Jahrbuch ORDO ist seit über 50 Jahren ein Zentralort der wissenschaftlichen und politischen Diskussion aus dem Konze

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German Pages [308] Year 2007

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Hauptteil
Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts
Zentralbanken zwischen staatlichem Machtanspruch und Stabilitätsinteresse
Bessere europäische Wettbewerbspolitik durch den „more economic approach“? Einige Fragezeichen nach den ersten Erfahrungen
Europäische Union: Erweiterung cum Vertiefung? Erweiterung versus Vertiefung!
Clubs im Club – Europas Zukunft?
Der Staat und die Liberalen
Neoliberalismus und Freiheit - Zum sozialethischen Anliegen der Ordo-Schule
Ökonomische Ethik
Drei Typen von Familienpolitik
Frühkindliche Bildung und Betreuung in Tageseinrichtungen als Staatsaufgabe
Das Wissensproblem der Ökonomik aus Hayekscher Sicht
Zur Verteidigung des institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbildes
Theoretischer und empirischer wissenschaftlicher Fortschritt Eine kritische Analyse des Buches von Alesina und Spolaore: „The Size of Nations“
Von der spontanen Ordnung zur geordneten Anarchie. In memoriam Gerard Radnitzky
Karl Friedrich Maier (1905–1993) .Theoretiker des allgemeinen Gleichgewichts und der Mikro-Ökonomie
Besprechungen
Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union
Albert Hirschmans grenzüberschreitende Ökonomik
Ein großer Mythos auf dem Prüfstand der Realität
Der „harte Kern“ der Finanzwissenschaft
Entrepreneurship and Economic Growth
Cluster und Wettbewerbsfähigkeit von Regionen
Ökonomie des Sozialstaats
Die reine Theorie des Kapitals
Banken zwischen Wettbewerb, Selbstkontrolle und staatlicher Regulierung
Keine Angst vor Fremden
Entwicklungshilfe versus Entwicklungszusammenarbeit
Freiheit und Herrschaft: Eine Kritik der Zivilisation
Ökonomische Überlegungen zur Entstehung von Demokratie
Kurzbesprechungen
Personenregister
Sachregister
Anschriften der Autoren
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ORDO 58
 9783828260122, 9783828203914

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ORDO Band 58

ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Band 58 Begründet von

Herausgegeben von

Walter Eucken

Hans Otto Lenel

Josef Molsberger

und

Clemens Fuest

Peter Oberender

Franz Böhm

Walter Hamm

Ingo Pies

Ernst Heuss

Razeen Sally

Wolfgang Kerber

Alfred Schüller

Martin Leschke

Viktor Vanberg

Ernst-Joachim Mestmäcker

Christian Watrin

Wernhard Möschel

Hans Willgerodt

®

Lucius & Lucius • Stuttgart

Schriftleitung Professor Dr. Hans Otto Lenel Universität Mainz, Haus Recht und Wirtschaft, D-55099 Mainz Professor Dr. Dr. h.c. Josef Molsberger Universität Tübingen, Wirtschaftswissenschaftliches Seminar Mohlstr. 36, D-72074 Tübingen Professor Dr. Alfred Schüller Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften Univesitätsstr. 25a, D-35037 Marburg Professor Dr. Dr. h.c. Peter Oberender Universtität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre IV - Wirtschaftstheorie, Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Professor Dr. Martin Leschke Universtität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre V - Institutionenökonomik, Universitätsstr. 30, D-95447 Bayreuth Professor Dr. Ingo Pies Martin-Luther-Universtität Halle-Wittenberg, Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsethik, Große Steinstraße 73, D-06108 Halle (Saale)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart • 2007 Gerokstraße 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Rechte vorbehalten Druck und Einband: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza/Thüringen ISBN 978-3-8282-0391-4 ISSN 0048-2129

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2007) Bd. 58

Vorwort Der hiermit vorgelegte 58. Band des Jahrbuchs ORDO erscheint im 50. Jahr des Bestehens der Europäischen Gemeinschaft. Diese hat heute als Europäische Union (EU) politisch und wirtschaftlich weltweite Bedeutung gewonnen. Deshalb beginnt der Band mit fünf Beiträgen zu Fragen der europäischen Integration. Darüber hinaus umspannt das Buch ein breites Spektrum von ordnungsökonomischen Themen - etwa zum liberalen Staatsverständnis, zur ökonomischen Ethik, zum sozialethischen Anliegen der Freiburger Schule sowie zur Familienpolitik, schließlich zu Fragen der Beurteilung des Fortschritts in der ökonomischen Wissenschaft. Im ersten Beitrag zum europäischen Schwerpunkt sieht Ernst-Joachim Mestmäcker in den wirtschaftlichen Freiheitsrechten, den Regeln des Binnenmarktes und des Systems des unverfälschten Wettbewerbs die konstitutiven Ordnungsprinzipien, die den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten der EU gemeinsam sind. Diese Prinzipien seien deshalb als entscheidende „Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts" anzusehen. Im Widerspruch dazu steht nach Mestmäcker eine Legitimation von Herrschaft, die sich auf die Macht der Politik stützt, auch wenn diese sich auf moralische Appelle beruft. Dies wird am Fall der europäischen Ajitidiskriminierungsrichtlinien verdeutlicht. Damit werde der Wesensgehalt der Vertragsfreiheit als „wichtigstes Instrument der Unternehmensplanung" getroffen, was für eine politisch-opportunistische Kontrolle der Unternehmen, die am Binnenmarkt teilnehmen, anfällig machen könne. Der damit aufgezeigte Konflikt zwischen der Herrschaft des Rechts und der Macht der Politik ist von grundlegender Bedeutung für alle Bereiche der europäischen Integrationspolitik. Um diesen Konflikt im Bereich der Geldpolitik auszuschließen, wurde dem Eurosystem, wie Egon Görgens und Karlheinz Ruckriegel in ihrem Aufsatz „Zentralbanken zwischen staatlichem Machtanspruch und Stabilitätsinteresse" feststellen, eine zweifache Regelbindung vorgegeben: Ein im Vergleich zum USamerikanischen Federai Reserve System höherer Grad an Unabhängigkeit sowie eine klare Ausrichtung auf das Ziel der Preisstabilität. Diese Regelbindung beruht auf einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten, der bis jetzt nur einstimmig geändert werden kann. Dagegen könne der amerikanische Kongreß die Verfassung der Fed nach seinen Vorstellungen ändern - mit Konsequenzen, die anhand der „alltäglichen" Geldpolitik aufgezeigt werden. Die aktuellen Versuche einer faktischen und institutionellen Vereinnahmung des Eurosystems durch die Politik werden von den Autoren angesprochen. Eine auf Geldwertstabilität verpflichtete europäische Geldverfassung sei und bleibe jedoch die entscheidende Voraussetzung für alle Bemühungen, in der EU eine funktionsfähige Wettbewerbsordnung zu verwirklichen. Die Frage nach dem Leitbild der europäischen Wettbewerbspolitik ist Gegenstand des Beitrags von André Schmidt und Stefan Voigt „Bessere europäische Wettbewerbspolitik durch den ,more economic approach'? Einige Fragezeichen nach den ersten Erfahrungen". Die Autoren geben nach Abwägung der Vor- und Nachteile des „more economic approach", der auf einer Einzelfallbeurteilung

VI

Vorwort

beruht, einem wettbewerbspolitischen Leitbild auf der Grundlage einer theoretisch fundierten Regelsetzung im Sinne der Herrschaft des Rechts gegenüber möglichen Spielräumen für machtvolle Einflüsse der Wirtschaft und der Politik den Vorzug. (Es ist vorgesehen, im folgenden Band 59 dieses Jahrbuchs eine weitere Auseinandersetzung mit dem „more economic approach" zu veröffentlichen). Nach Wolf Schäfer („Europäische Union: Erweiterung cum Vertiefung? Erweiterung versus Vertiefung"!) verursacht der eingeschlagene Weg der ständigen Erweiterung bei gleichzeitiger institutioneller Vertiefung ein so starkes Übergewicht der „Heterogenitätskosten", daß die Zukunftsfähigkeit der Gemeinschaft in Frage gestellt sei. Der Autor plädiert deshalb dafür, die Erweiterungen zu nutzen, um die bestehende „Tendenz zur stärkeren Fokussierung des Integrationsprozesses auf die zentrale wohlstandsmehrende Basis der EU" zu unterstützen. Dies erfordert eine konsequente Rückbesinnung auf das, was die Gemeinschaft im Innersten zusammenhält. In der Sache wird damit das Anliegen von Mestmäcker unterstrichen. Renate Ohr („Clubs im Club - Europas Zukunft"?) sieht dagegen die Lösung des Konflikts zwischen Erweiterung und Vertiefung und damit die Sicherung der Zukunft der Union in der Schaffung flexibler Eintritts- und Austrittsbedingungen, die es ermöglichen, im Rahmen der EU-Mitgliedschaft „Unterclubs" zu bilden. Die Verfasserin stützt ihre Überlegungen unter anderem auf Kalküle der Clubtheorie und folgert daraus: Die heutige EU entspricht zwar nicht den Kriterien einer optimalen Größe, doch könnte auf dem von der Autorin gezeigten Weg der Systemwettbewerb genutzt werden. Bei weiterhin wachsender Zahl an heterogenen Mitgliedern könnte so der EU größere Stabilität verliehen werden. Abschließend wird auf eine Reihe offener Punkte dieser Überlegungen hingewiesen, von denen die Frage, was eine Gemeinschaft im Innersten zusammenhält, wenn sie als solche bei größerer Mitgliederzahl eine Zukunft haben will, wohl die entscheidende sein dürfte. Der zweite Themenschwerpunkt beginnt mit dem Beitrag „Der Staat und die Liberalen" von Hans Willgerodt. Der Autor erläutert die Zwiespältigkeit des Verhältnisses der Liberalen zum Staat mit einer Reihe grundsätzlicher, historischer und aktueller Fragen der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik. Nach Willgerodt sollten heutige Liberale der Neigung widerstehen, überall den Niedergang der Freiheit zu sehen. Sie sollten sich nicht den Chancen verschließen, die der Autor darin sieht, „daß sich Liberale aller Parteien wieder um den jetzigen Staat kümmern, anstatt ihn den Illiberalen zu überlassen und wegen der Absurditäten der Politik nur die Hände zu ringen". Nach Christian Müller („Neoliberalismus und Freiheit — Zum sozialethischen Anliegen der ORDO-Schule") ist nicht die individuelle Freiheit im Sinne des Laissez-faire-Liberalismus der entscheidende normative Bezugspunkt neoliberalen Denkens und Handelns, sondern ein letztlich (sozial-)ethisches Konzept von Regeln der Gerechtigkeit. Müller verdeutlicht dies an der Denkweise der neoliberalen Freiburger Schule, vor allem an Walter Euchens Prinzipien für eine funktionierende und zugleich menschenwürdige Wettbewerbsordnung. Es handelt sich nach Auffassung des Autors um eine Variante der christlichen Sozialethik. Daran zeige sich, wie leichtfertig die wirtschaftspolitische Konzeption des Neoliberalismus heute mißverstanden werde. Roland Vaubel kommt in seinem Beitrag „Ökonomische Ethik" zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn auch auf anderem Wege. Vaubel geht von der utilitaristisch argumentierenden Ethik zu einem kontrakttheoretisch begründeten Ansatz über und folgert: Eine wettbewerbspolitisch ge-

Vorwort

VII

staltete Marktwirtschaft ermöglicht auf der Grundlage der vertraglichen Zustimmung der Akteure eine „Ethik des rücksichtsvollen Egoismus". Die dem Wettbewerbskonzept zugrunde liegenden rechtlichen und ethischen Restriktionen könnten durchaus mit christlichen, jüdischen und philosophischen Moralvorstellungen verglichen werden. Die familienpolitischen Themen sind vor dem Hintergrund von Tendenzen einer schleichenden Verstaatlichung von Privatrechtsverhältnissen zu sehen. Gerd Habemann („Drei Typen von Familienpolitik") verdeutlicht dies am Wandel der Familienpolitik in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern. Anhaltspunkte für diesen Wandel sieht der Autor unter anderem im weitgehenden staatlichen Monopolanspruch im Bereich der Bildungsformen und -inhalte, in der Erweiterung der staatlichen Zwangsvorsorge gegenüber den Möglichkeiten der Eigenvorsorge, in der Übertragung elterlicher Funktionen auf kollektive Einrichtungen, vom Staat bereitgestellt und finanziert, in der „Deinstitutionalisierung der Ehe als Rechtsgemeinschaft". Angesichts der darin gesehenen vielfältigen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Nachteile plädiert der Autor mit der Forderung nach Rückgabe der Mittel und Verantwortlichkeiten an die Familie für ein freiheitliches familienpolitisches Leitbild. Im Mittelpunkt des Beitrags von Christian Müller („Frühkindliche Bildung und Betreuung in Tageseinrichtungen als Staatsaufgabe") stehen Fragen der aktuellen „Krippenpolitik" der Bundesregierung, die auf einen so massiven Ausbau der Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren gerichtet ist, daß ab 2013 ein allgemeiner Rechtsanspruch auf einen Platz bestehen soll. Der Autor unterzieht die hierfür angeführten Begründungen einer kritischen ökonomischen und empirischen Uberprüfung und kommt zu dem Ergebnis: Der staatliche Ausbau der Kinderbetreuung läßt per Saldo einen gesellschaftlichen Wohlfahrtsverlust erwarten. In dem Beitrag „Theoretischer und empirischer wissenschaftlicher Fortschritt. Eine kritische Analyse des Buches von Alesina und Spolaore: ,The Size of Nations'" fragen Charles B. Blankart und Gerrit B. Koester nach dem Maßstab zur Beurteilung des Fortschritts in der ökonomischen Wissenschaft. Gebührt dem theoretischen oder dem empirischen Fortschritt die Krone? Um diese Frage exemplarisch zu klären, wird die These von Milton Friedman, wonach Theorien primär nach ihrem empirischen Erklärungswert zu beurteilen sind, herangezogen und einer genaueren Überprüfung anhand des angeführten Buches von Alesina und Spolaore unterzogen. Das Ergebnis wird zumindest in dem vorliegenden Falle als ernüchternd bezeichnet. Der empirische Fortschritt werde im Interesse der Modellierbarkeit weitgehend dem reinen theoretischen Forschritt geopfert. Blankart und Koester vermissen vor allem den Aspekt der praktischen Anwendbarkeit, so z. B. die ökonomische Bedeutung des Systemwettbewerbs für die Größe von Staaten. Das ORDO-Jahrbuch dient immer wieder auch der kontroversen Diskussion zwischen liberalen Ökonomen, die in bestimmten ordnungsökonomischen Fragen unterschiedlicher Meinung sind. So stellt der Beitrag „Zur Verteidigung des institutionenökonomischevolutionären Wettbewerbsleitbilds" eine Auseinandersetzung von Chrysostomos Mant^avinos mit einer Kritik dar, die Dieter Schmidtchen an diesem wettbewerbspolitischen Leitbild in Band 57 des ORDO-Jahrbuchs geübt hat. Den Abschluß des Hauptteils bilden zwei Würdigungen. Hardy Bouillon versteht seinen Essay „Von der spontanen zur geordneten Anarchie. In memoriam Gerard Radnitzky" zugleich als Nachruf auf seinen akademischen Lehrer. Die zweite Würdigung „Karl Fried-

VIII

Vorwort

rieh Maier (1905-1993). Theoretiker des allgemeinen Gleichgewichts und der MikroÖkonomie" geht auf einen Vortrag zurück, den Reinhold Veit am 27. Juni 2005 in Freiburg anläßlich einer Gedächtnisfeier des Walter Eucken Instituts zum 100. Geburtstag von Karl Friedrich Maier gehalten hat. Reinhold Veit ist am 14. Mai 2007 während der Vorarbeiten zu diesem Band gestorben. Der Band wird wiederum von einer Reihe längerer und kürzerer Buchbesprechungen abgerundet.

Erich Hoppmann, emeritierter Ordinarius an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/i. Br., seit 1979 Mitherausgeber dieses Jahrbuchs, ist am 29. August 2007 im 84. Lebensjahr in Marburg gestorben. Hoppmann empfand die Berufung nach Freiburg, die Begegnung mit von Hayek und mit der Tradition des Euckenschen Denkens in Ordnungen sowie mit vielen Autoren des ORDO-Jahrbuchs als eine Sternstunde für sich. An den „Freiburgern" schätzte er die Analyse des Freiheits- und Wettbewerbskonzepts, die Untersuchung der empirischen Zusammengehörigkeit von Wirtschaft, Recht, Moral und Politik als Bestandteile einer Gesamtordnung, schließlich ihre wissenschaftliche Integrität und entschiedene Stellungnahme zu den großen politischen Fragen. Von seiner tiefen Verwurzelung im Denken der „Freiburger" zeugen auch seine einsichtsvollen, weithin beachteten Beiträge im ORDO-Jahrbuch. Erinnert sei hier an die Aufsätze „Von der Preistheorie zur Wettbewerbstheorie" (Bd. 17, 1966), „Wettbewerb als Norm der Wettbewerbspolitik" (Bd. 18, 1967), „Moral und Marktsystem" (Bd. 41, 1990), „Walter Euckens Ordnungsökonomik - heute" (Bd. 46, 1995). Das wissenschaftliche Werk Hoppmanns wird ausführlicher in einem späteren Band dieses Jahrbuchs gewürdigt werden.

Die Herausgeber des Jahrbuchs haben zu Ende des Jahres 2006 beschlossen, Clemens Fuest (Universität zu Köln) und Ingo Pies (Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg) neu als Herausgeber von ORDO zu berufen. Ingo Pies gehört zugleich der Schriftleitung an. Die externe Begutachtung, die seit Bd. 54 „doppeltblind" praktiziert wird, war für die Redaktionsarbeit wieder eine große Hilfe. Den zahlreichen Gutachtern sei deshalb hier erneut für die qualifizierte und verantwortungsvolle Arbeit herzlich gedankt. Die Schriftleiter danken Frau Dr. Hannelore Hamel für die wie immer äußerst sorgfaltige redaktionelle Mitarbeit, die auch unsere Autoren sehr zu schätzen wissen. Frau Christel Dehlinger sind wir für die Herstellung der Druckvorlage und die Anfertigung des Sach- und Personenregisters zu Dank verpflichtet.

Die Schriftleitung

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2007) Bd. 58

Inhalt Ernst-Joachim Mestmäcker Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts

3

Egon Görgens und Karlheinz Ruckriegel Zentralbanken zwischen staatlichem Machtanspruch und Stabilitätsinteresse

17

André Schmidt und Stefan Voigt Bessere europäische Wettbewerbspolitik durch den „more economic approach" ? Einige Fragezeichen nach den ersten Erfahrungen

33

Wolf Schäfer Europäische Union: Erweiterung cum Vertiefung? Erweiterung versus Vertiefung!

51

Renate Ohr Clubs im Club - Europas Zukunft?

67

Hans Willgerodt Der Staat und die Liberalen

85

Christian Müller Neoliberalismus und Freiheit - Zum sozialethischen Anliegen der Ordo-Schule....

99

Reland Vaubel Ökonomische Ethik

109

Gerd Habermann Drei Typen von Familienpolitik:

121

Christian Müller Frühkindliche Bildung und Betreuung in Tageseinrichtungen als Staatsaufgabe

131

Manfred E. Streit Das Wissensproblem der Ökonomik aus Hayekscher Sicht

149

Chrysostomos Mant^avinos Zur Verteidigung des institutionen-ökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbildes

157

X

Inhalt

Charles B. Blankart und Gerrit B. Köster Theoretischer und empirischer wissenschaftlicher Fortschritt Eine kritische Analyse des Buches von Alesina und Spolaore: „The Size of Nations"

167

Hardj Bouillon Von der spontanen Ordnung zur geordneten Anarchie. In memoriam Gerard Radnitzky

181

Reinhold Veit Karl Friedrich Maier (1905 - 1993) Theoretiker des allgemeinen Gleichgewichts und der Mikro-Ökonomie

193

Buchbesprechungen

217

Manfred E. Streit Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union Anmerkungen zum gleichnamigen Band von Ernst-Joachim Mestmäcker

219

Peter Engelhard Albert Hirschmans grenzüberschreitende Ökonomik Anmerkungen zum gleichnamigen, von Ingo Pies und Martin Leschke herausgegebenen Sammelband

221

Hanno Beck Ein großer Mythos auf dem Prüfstand der Realität Anmerkungen zum „Handbook of contemporary behavioral economics", herausgegeben von Morris Altman

226

Christian Müller Der „harte Kern" der Finanzwissenschaft Bemerkungen zu einem Buch von Nils Otter

229

Cord Siemon Entrepreneurship and Economic Growth Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von David B. Audretsch, Max C. Keilbach und Erik E. Lehmann

235

Thomas Döring Cluster und Wettbewerbsfähigkeit von Regionen Anmerkungen zum gleichnamigen Sammelband von Oleg Cernavin et al

239

Arndt Christiansen Ökonomie des Sozialstaats Besprechung des Lehrbuchs von Friedrich Breyer und Wolfgang Buchholz

243

Inhalt

XI

André Schmidt Die reine Theorie des Kapitals Besprechung des gleichnamigen Buches von Friedrich August von Hayek, hrsg. von Erich W. Streissler

248

Roland Kirstein Banken zwischen Wettbewerb, Selbstkontrolle und staatlicher Regulierung. Anmerkungen zum gleichnamigen Buch von Gerrit Fey

251

Hanno Beck Keine Angst vor Fremden Bemerkungen zum Sammelband „China und Indien auf dem Weg zur Weltmacht!" von Peter Oberender und Jochen Fleischmann

254

Stefan Hielscher Entwicklungshilfe versus Entwicklungszusammenarbeit Anmerkungen zu William Easterlys Buch „The White Man's Bürden

257

Helge Peukert Freiheit und Herrschaft: Eine Kritik der Zivilisation Zur gekürzten Fassung der „Ortsbestimmung der Gegenwart" von Alexander Rüstow

260

Christof Wockenfuß Ökonomische Überlegungen zur Entstehung von Demokratie Anmerkungen zum Buch von Daron Acemoglu und James A. Robinson „Economic Origins of Dictatorship and Democracy"

262

Kurzbesprechungen

267

Namensregister

279

Sachregister

287

Anschrift der Autoren

291

Hauptteil

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2007) Bd. 58

Ernst-Joachim Mestmäcker

Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts Inhalt I. Verfassung einer Rechtsgemeinschaft II. Legitimation durch Freiheitsrechte 1. Erbe der Aufklärung 2. Fortgesetzte Friedensverträge 3. Europäischer Gesellschaftsvertrag 4. Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote III. Strukturmerkmale der Wirtschafts- und Währungsunion 1. Mitgliedstaaten als Unternehmen 2. Unabhängige Institutionen 3. Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit 4. Negative und positive Freiheiten 5. Sozialgemeinschaft?

3 6 6 7 7 9 11 11 12 12 13 14

Literatur

15

Zusammenfassung

15

Summary: European Touchstones of dominion and Law

16

I.

Verfassung einer Rechtsgemeinschaft

Herrschaft fordert Legitimation, Recht fordert gleiche Freiheit. Wir sind es gewohnt, die Legitimation von Herrschaft mit dem demokratischen Prozeß zu identifizieren und die Rechtsordnung als ein Produkt der staatlichen Herrschaft zu verstehen. In der Europäischen Union hat sich das Verhältnis von Herrschaft, Staat und Recht jedoch grundlegend gewandelt. Gewiß verdanken die Europäischen Verträge ihre Geltung der Ratifizierung durch die mitgliedstaatlichen Parlamente. Das Deutsche Bundesverfassungsgericht ist darauf bedacht, diese Legitimation festzuhalten. Das ist schon deshalb unerläßlich, weil die Befugnis zu zwingen bei den Mitgliedstaaten verbleibt. Aber das Gemeinschaftsrecht legitimiert in seinem Anwendungsbereich auch den Rechtszwang. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) interpretiert den EG-Vertrag als Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft. Ihr Gegenstand ist die Wirtschafts- und Währungsunion. Die Staaten sind zwar die wichtigsten Rechtssubjekte der Union geblieben, aber sie sind es nicht mehr allein. Sie teilen diesen Status mit ihren Bürgern und den Bürgern in anderen Mitgliedstaaten.

4

Ernst-Joachim Mestmäcker

Auf dieser Grundlage ist die Europäische Union (EU) zu einer Organisation von weltweiter politischer und wirtschaftlicher Bedeutung geworden. Um ihren Standort zu bestimmen, wird sie häufig mit den Vereinigten Staaten von Amerika verglichen. Dafür sprechen die Größe des Wirtschafts- und Währungsraums und die Wirkungen, die davon auf Dritte, auch auf die Vereinigten Staaten, ausgehen. In dieser Perspektive ist die EU die wichtigste Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. In der World Trade Organisation (WTO) läßt sich ein labiles Gleichgewicht zwischen der EU und den USA feststellen. Auf Großfusionen, die geeignet sind, den Wettbewerb auf Weltmärkten zu beschränken, sind die europäische und die US-amerikanische Fusionskontrolle nebeneinander anwendbar. Die Kontrollverfahren werden auf Grund bilateraler Vereinbarungen zwischen den zuständigen Behörden aufeinander abgestimmt, ohne aber die eigenständige wirtschaftsrechtliche Beurteilung zu präjudizieren. Wichtiger als Kategorien der Gleichgewichtspolitik sind jedoch die Hinweise, die aus einem Vergleich mit dem US-amerikanischen Recht und dem internationalen Wirtschaftsrecht für die Eigenart der europäischen Rechtsordnung zu gewinnen sind. Folgt man einer in den USA verbreiteten, in Brüssel von einer einflußreichen Lobby vertretenen Meinung, dann gibt es nur eine Richtung, in der sich das europäische Recht entwickeln sollte: in Richtung auf das amerikanische Recht. Dem Optimismus, mit dem der Export des eigenen Rechts vertreten wird, steht jedoch eine große Skepsis in der Berücksichtigung fremder Rechtserfahrungen gegenüber. Eine These lautet, die Berücksichtigung fremden Rechts in der Auslegung der eigenen Rechts- und Verfassungsordnung sei mit der Rückbindung an den demokratischen Prozeß unvereinbar. Die widerstreitenden Meinungen spalten selbst die Richter des US Supreme Court (Atkins v. Virginia 536 US 304, 2002). Für die EU gilt dagegen das Prinzip, daß zu ihrer Rechtsordnung die Grundsätze gehören, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Auf dieser Grundlage prüft der EuGH die Hoheitsakte der Gemeinschaft auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten, wie sie insbesondere in der Europäischen Menschenrechtskonvention normiert sind. Diese Grundsätze schließen die vergleichende Berücksichtigung US-amerikanischen Rechts in der EU selbstverständlich nicht aus. Die politischen Leistungen, die von der EU und ihren Mitgliedstaaten für eine gemeinsame Rechtsordnung erbracht werden, zeigt ferner ein Vergleich mit multilateralen völkerrechtlichen Verträgen. Deren geringe rechtstatsächliche Bindungswirkung ist oft bemerkt worden. Sie läßt sich hauptsächlich auf den Mangel an kollektiven Sanktionen bei Vertragsverletzungen zurückführen. Hier bestätigt sich die andernorts heiß umstrittene These, daß man mit einem völkerrechtlichen Vertrag, den man selbst auslegt, nur die Option erwirbt, ihn zu brechen. Die ökonomische Analyse des Völkerrechts hat denn auch keine Mühe, diesen Befund auf das ökonomisch rationale Verhalten der Staaten zurückzuführen (s. Posner 2005). In der EU beruht die Durchsetzung ihrer Normen auf der gemeinsamen Rechtsordnung. Sie wird von der Kommission, hauptsächlich aber im Zusammenwirken der europäischen und mitgliedstaatlichen Gerichte durchgesetzt. Dieses Zusammenwirken folgt aus der Transformation der staatsgerichteten Grundfreiheiten des Vertrages in subjektive Rechte der Bürger, die sie auch vor den mitgliedstaatlichen Gerichten geltend machen können. Das gilt für die Freiheiten des Warenverkehrs, der Dienstleistungen, der Niederlassung, des Personenverkehrs und des Kapitalverkehrs. Die Symbiose des europäischen und

Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts

5

des mitgliedstaatlichen Rechts setzt das übergeordnete öffentliche Interesse der Gemeinschaft voraus. Es läßt sich nicht auf den Interessenausgleich zwischen den an einem Konflikt unmittelbar beteiligten Staaten, Unternehmen oder Bürgern zurückführen. Vielmehr setzt sich das Gemeinschaftsrecht kraft seines Vorrangs im Falle von Konflikten gegen das mitgliedstaatliche Recht durch. Bleibt die Sanktion von Vertragsverletzungen den Beteiligten überlassen, wie es in der WTO zutrifft, so entscheidet über die Lösung des Konflikts letztlich nicht das Recht, sondern die Verteilung der Macht. Die Rolle der EU und ihres Rechts zeigen schließlich die Regeln, nach denen neue Mitglieder aufgenommen werden. Der Beitritt ist an die Voraussetzung gebunden, daß der beitretende Staat demokratisch und marktwirtschaftlich verfaßt und bereit ist, das Gemeinschaftsrecht in dem Bestand zu übernehmen, den es zum Zeitpunkt des Beitritts hat. Die verbreitete Forderung, auf diese Garantie des gemeinschaftlichen Besitzstandes zu verzichten, verkennt die Qualität der zu treffenden Entscheidung. In der politischen Diskussion stehen die Fragen nach dem Wohlstandsgefälle und den daraus folgenden finanziellen und wirtschaftlichen Ausgleichsleistungen ganz im Vordergrund. Im Hinblick auf die Rechtsordnung der Gemeinschaft tritt jedoch eine andere Frage in den Vordergrund. Jeder Staat, der in die Gemeinschaft eintritt, wird damit aktiver und passiver Teilnehmer an ihrer Rechtsordnung. Die Regierungen der Mitgliedstaaten oder ihre Völker entscheiden über einen Mitgesetzgeber. Der Befund ist grundlegend und unabhängig von der Stimmenverteilung im Rat, der Sitzverteilung im Parlament und der Zusammensetzung der Kommission. Der Beitritt zur EU ist freiwillig. Die Beitrittskandidaten bewerben sich in der Gewißheit, daß die Vorteile der Mitgliedschaft die Einbußen an Souveränität überwiegen. Das ist das genaue Gegenteil eines hegemonialen Liberalismus. Ein Dialektiker könnte Freude daran haben, daß in den neuen Mitgliedstaaten die Marktwirtschaft an die Stelle sozialistischer Planwirtschaften tritt, die sich zu ihrer Legitimation stets auf die Ideen von Karl Marx berufen haben. Es gehört zum Manschen Erbe, dem für rechtsfeindlich erklärten Herrschaftssystem des Kapitalismus die Gesellschaft als Opfer mit emanzipatorischem Potential gegenüberzustellen. Heute gehört es zur europapolitischen Diskussion, Neoliberalismus zu sagen, wenn man Kapitalismus meint. Fortschritte seien nur von der „Zivilgesellschaft" zu erwarten. Das kosmopolitisch vermeintlich deformierte Europa wird auf die Suche nach Legitimation geschickt. Ich zitiere: „Seine [Europas] Achillesferse sind seine Legitimationsprobleme: Weder die neoliberale Marktrationalität, noch die bürokratische Rationalität supranationaler Technokratien, geschweige denn die politische Rationalität nationaler Staatsinteressen sind in der Lage, dem europäischen Projekt die benötigte Legitimation zu verschaffen" (Beck und Grande 2004, S. 234).

Dazu bedürfe das kosmopolitisch deformierte oder das „neoliberal eingefrorene Markteuropa" (Habermas 1998/2005, S. 149) der Legitimationskraft der Politik. Die Rechtsordnung der Gemeinschaft ist jedoch kein bloßer Überbau für politisch unbeherrschbare Wirtschaftsprozesse. Sie ist vielmehr bestimmt und geeignet, die staatlichen und privaten Herrschafts- und Machtpotentiale, die mit marktwirtschaftlichen Systemen verbunden sind, so zu begrenzen, daß sie mit der Selbständigkeit und dem Wohlstand europäischer Bürger vereinbar bleiben. Ohne die Währungsunion wären die Mitgliedstaaten nicht in der Lage, ihre währungspolitische Selbständigkeit und die Stabilität ihrer Währungen zu gewährleisten. Die Kapitalverkehrsfreiheit, deren Auswirkungen zu erschrockenen

6

Ernst-Joachim Mestmäcker

politischen Reaktionen geführt haben, gehört zu den notwendigen Bedingungen einer Währung, die weltweit honoriert werden will. Deshalb war es unerläßlich, die Einführung der Währungsunion mit der Kapitalverkehrsfreiheit zu verbinden, die auch im Verhältnis zu Drittstaaten gilt. Ebenso unerläßlich ist es jedoch, den neuen Interessenkonflikten im Kapitalmarkt- und Unternehmensrecht Rechung zu tragen.

II.

Legitimation durch Freiheitsrechte

Europäische Prüfsteine für Herrschaft und Recht folgen aus den nun näher zu betrachtenden kulturellen, rechtlichen und wirtschaftlichen Besonderheiten der EU. Sie sollen hier nicht in Auseinandersetzung mit dem institutionellen Gleichgewicht und der Gewaltenteilung zwischen Parlament, Rat, Kommission, Gerichtsbarkeit und Mitgliedstaaten behandelt werden. Auch geht es nicht um eine Alternative zu dem in den Gründerstaaten Frankreich und Holland demokratisch gescheiterten Verfassungsvertrag. Zu prüfen ist vielmehr die Legitimation des auf wirtschaftlichen Freiheitsrechten beruhenden gegenwärtigen Systems. Sie bleibt neben der Frage nach der demokratischen und gesellschaftspolitischen Zukunft der EU erheblich. Jedenfalls wäre es ein verhängnisvoller, von der gegenwärtigen politischen Diskussion jedoch nahegelegter Irrtum, politischer Fortschritt sei nur zu erwarten, wenn man die ökonomische Orientierung der Gemeinschaft überwinde.

1. Erbe der Aufklärung Die Entwicklung der europäischen Rechtsordnung im letzten halben Jahrhundert war nicht programmierbar, nicht kodifizierbar und folgte keinem konditionalen Planprogramm. Sie setzte, wie Helmut Coing (1983) bei einer Veranstaltung des Ordens pour le mérite für Wissenschaften und Künste gesagt hat, das Recht als Element der europäischen Kultur voraus. Über viele Jahrhunderte prägend war der Einfluß des römischen Privatrechts. In der europäischen Aufklärung bildete es die Grundlage für die Herausbildung der Grundrechte. Und es war die beiderseitige Öffnung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften füreinander, die erst ihre gemeinsame Bedeutung für marktwirtschaftliche Ordnungen erklärt. Die Wirtschaftswissenschaften haben es leichter als die Rechtswissenschaften, vom Reichtum der Nation zum Reichtum der Nationen fortzuschreiten. Aber das Privatrecht folgt den Transaktionen, aus denen Märkte und Wettbewerb ohne Rücksicht auf nationale Grenzen entstehen, wie ein Schatten. Trotz bis heute nicht überwundener methodischer Schwierigkeiten sind Ökonomie und Recht fest aneinander gebunden. Die Klammer bilden die strenge Zucht der Knappheit ökonomischer Ressourcen und die politische Symbiose des Wohlstands der Menschen mit dem öffentlichen Interesse der Staaten. Zum Erbe der europäischen Aufklärung gehört ferner die strikte Trennung des Rechts von Religion und Moral. Zur Trennung von Recht und Religion heißt es bei Kant (1934, S. 594), keine bürgerliche Verfassung könne einen Religionszwang begründen, gegen ihn sei sogar der gewaltsame Widerstand gerechtfertigt. Die Trennung von Recht und Moral hat unerwartete Relevanz durch das neue Antidiskriminierungsrecht in Art. 13 EGV erhalten,

Europäische Prüfsteine der Herrschaft und des Rechts

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der durch den Vertrag von Amsterdam in das primäre Gemeinschaftsrecht aufgenommen wurde.

2. Fortgesetzte Friedensverträge Die historisch wichtigste Erklärung für den politischen Willen, die europäischen Gemeinschaften als Gemeinschaften des Rechts zu begründen, folgte daraus, daß sie fortgesetzte Friedensverträge waren. Der Gedanke findet sich noch in der Präambel des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Aber ihren Abschluß hat diese Entwicklung erst mit der deutschen Wiedervereinigung gefunden. Sie trifft zusammen mit einem qualitativen Wandel im Prozeß der europäischen Integration. Er folgt aus der Öffnung für die Aufnahme von neuen Mitgliedern, die in ihrer Mehrheit ein halbes Jahrhundert als sozialistische Planwirtschaften dem Sowjetblock angehört haben. Die deutsche Wiedervereinigung lehrt, welche Anstrengungen notwendig sind, um diese Erblast abzutragen. Die Bereitschaft der ursprünglichen und der neuen Mitglieder der EU, sich der Herrschaft des Rechts, wenn nicht zu beugen, so doch sich seiner Entwicklung anzuvertrauen, verweist auf scheinbar widersprüchliche Ursachen: auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und auf den Mißbrauch des Rechts im Dienst faschistischer und kommunistischer Diktaturen. Gemeinsam ist diesen Erfahrungen jedoch der Blick in die Abgründe des Naturzustandes. Der Krieg ist nicht die einzige Erscheinungsform des Naturzustandes, aus dem, wie Immanuel Kant gesagt hat, nur das Recht herausführt. Daran ist zu erinnern, wenn es in der gegenwärtigen lebhaften Diskussion über die Zukunft Europas heißt, der Gedanke des Friedens durch Recht sei nach 50 Jahren europäischer Integration überholt und tauge nicht mehr zu ihrer Legitimation. Der Naturzustand ist jedoch keine Erinnerung an glücklich überwundene Gefahren, auch keine Fiktion, welche die Segnungen der Zivilisation in um so hellerem Licht erstrahlen und ihre Bürden leichter tragen läßt. Der Rückfall in die gesetzlose Freiheit ist in keiner Gesellschaft und schon gar nicht im Verhältnis von Staaten zueinander ausgeschlossen. Er bleibt auch in rechtlich geordneten Gesellschaften in den Versuchungen der Macht, sei es staatlicher oder gesellschaftlicher Macht, gegenwärtig.

3. Europäischer Gesellschaftsvertrag Die politischen und rechtlichen Besonderheiten der EU lassen sich durch den Begriff eines europäischen Gesellschaftsvertrages, eines Contrat Social, kennzeichnen. Der Begriff entspricht dem Ursprung und dem gegenwärtigen Stand der Union. Diese soll zu einer neuen politischen Qualität führen, beruht aber nach wie vor auf einem Vertrag. Der Selbstbestimmung und Herrschaft zugleich legitimierende Begriff hat eine ehrwürdige Tradition von John Lacke bis Rousseau und Kant. Er ist offen für die systematische Interpretation der Rechtsordnung der Gemeinschaft und der für sie geltenden normativ geprägten Ziele. Rechtssubjekte dieses Vertrages sind außer den Mitgliedstaaten ihre Bürger. Diese Bürger haben gerichtlich durchsetzbare Rechte gegenüber den Gemeinschaftsinstitutionen und

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gegenüber den Mitgliedstaaten auf Anwendung der inhaltlich eindeutigen, an keine politischen Vorgaben gebundenen Normen des Gemeinschaftsrechts. Die Möglichkeit, die Europäische Union in dieser Tradition zu interpretieren, wird aus ganz verschiedenen Gründen in Frage gestellt. Zu unterscheiden ist die Kritik an der Legitimationskraft von Freiheitsrechten überhaupt von der Kritik an der Legitimationskraft wirtschaftlicher Freiheitsrechte. Folgt die Freiheit, wie es bei Thomas Hobbes heißt, aus dem Schweigen der Gesetze, dann lassen sich aus Freiheitsrechten keine Prinzipien für die gesellschaftlichen Ordnungen ableiten, die aus ihnen entstehen. In nicht zufalliger Gefolgschaft heißt es bei Carl Schmitt (1928/1954, S. 200): Die Freiheit konstituiert nichts. Ganz anderer Art sind die Einwände, die im Namen vermeintlich verdrängter Politik und universaler Menschenrechte gegen die Legitimationskraft wirtschaftlicher Freiheitsrechte geltend gemacht werden. Die Rechte auf „life, liberty and property" definieren in der Tradition von John Locke die civil society.1 Dagegen wird eingewendet, in dieser Tradition habe der Einzelne nur Rechte gegen den Staat, aber keine Pflichten. Deshalb komme es darauf an, Individualrechte gegen die öffentliche Gewalt zu transformieren in Pflichten gegenüber anderen Menschen (Weiler 1999, p. 356).2 Harsche Kritik richtet sich sodann gegen das Substrat der Civil Society, nämlich gegen die Rechte und Pflichten der Bürger, die sie privatautonom begründen. Ohne Legitimation durch rationale Diskurse erschöpfe sich der Gebrauchswert dieser Bürgerfreiheiten im Genuß privater Autonomie. Ganz fehlten dem „possessiven Individualismus" der Sinn für soziale Verpflichtungen und der gleichmäßige Respekt für die Würde des Menschen (Habermas 1998/2005, S. 142, auch 185). Auf diese Weise lassen sich Regeln und Institutionen des Privatrechts, die weltweit auf der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie beruhen, nicht diskreditieren. Richard "Epstein (2003, p. 42) hat die Gründe zusammengefaßt: „Wir verlassen uns am besten auf unsere vorsichtige Skepsis, die zuerst mit unserer kollektiven Kenntnis von allgemeinen Regeln menschlichen Verhaltens rechnet (ohne die Recht nicht möglich sein würde); und die zweitens mit unserer kollektiven Unkenntnis menschlicher Wertschätzungen rechnet; diese erklärt, warum freiwilliger Tausch die wichtigste Methode ist, wirtschaftliche Ressourcen zu übertragen."

Mein Lehrer Fran% Böhm hat diesen Befund mit der Privatrechtsgesellschaft auf den Begriff gebracht. Ohne dieses Substrat der Civil Society, das den Mitgliedstaaten der EU gemeinsam ist, wäre der gemeinschaftsrechtlich durchgesetzte Binnenmarkt nicht möglich. Der planwirtschaftliche Sozialismus hat in seinem Geltungsbereich die Privatrechtsordnung weitgehend funktionslos werden lassen. Ihre Wiederherstellung ist in den neuen Mitgliedstaaten eine Voraussetzung für die wirksame Teilnahme an der europäischen Rechtsgemeinschaft.

1 2

Locke (1832), Chapter VII: Of Politicai or Civil Society, pp. 383 et seq. Gegen die Fixierung der Menschenrechte auf die Kontrolle des staatlichen Gewaltmonopols auch Habermas (1998/2005, S. 182).

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4. Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote Zusammenhänge und mögliche Konflikte zwischen Binnenmarkt und Menschenrechtspolitik sind nicht nur gesellschaftspolitisch kontrovers. Sie betreffen zugleich die grundund menschenrechtliche Legitimation der wirtschaftlichen Grundfreiheiten. Sie sind in den Worten des Präsidenten des EuGH, Vassilios Skouris (2006, S. 89, 93), wirtschaftliche Grundrechte. Dieser Rang wird gemeinschaftsrechtlich erheblich, wenn es um die Anwendung und Auslegung des menschenrechtlich begründeten Antidiskriminierungsrechts geht. Rechtsgrundlage ist der durch den Vertrag von Amsterdam in den EGV aufgenommene Artikel 13 Abs. 1. Die Vorschrift ermächtigt die Gemeinschaft, mit Hilfe der ihr übertragenen Zuständigkeiten, „geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen". Welche Vorkehrungen geeignet sind, solche Diskriminierungen zu bekämpfen, sagt der Vertrag nicht. In den an die Mitgliedstaaten gerichteten Richtlinien wird vorausgesetzt, daß sie geeignete und erforderliche Mittel sind, um Diskriminierungen im Verhältnis der Bürger zueinander zu verbieten.3 Die Richtlinien, die Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf verbieten, bleiben hier wegen der Besonderheiten ihres arbeitsrechtlichen Anwendungsbereichs außer Betracht. Einen durchgängigen Bezug auf den Binnenmarkt stellen die Richtlinien her, die Diskriminierungen aus Gründen der Rasse und des Geschlechts beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen zum Gegenstand haben. Dieser Anwendungsbereich wird anhand der Transaktionen normiert, die nach der Rechtsprechung des EuGH der Warenverkehrs- oder Diensdeistungsfreiheit unterfallen können. Adressaten der Verbote sind mithin hauptsächlich Unternehmen, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Marktstellung oder die Marktwirkungen ihres Verhaltens. Als Sanktion sind „abschreckende" Schadensersatzansprüche vorgeschrieben. Die verschiedenen deutschen Entwürfe4 zur Umsetzung dieser Richtlinien übernehmen deren weiten Anwendungsbereich, weitergehend erfassen sie jedoch alle in Art. 13 EGV genannten Diskriminierungsmerkmale. Die Grundsatzfragen, zu denen das Gemeinschaftsrecht Anlaß gibt, reichen über das deutsche Gesetzgebungsverfahren hinaus. Sie betreffen die Begründung der geltenden und die Ausgestaltung der zukünftigen Richtlinien.

3

4

Richtlinie 2000/43 EG des Rates vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. vom 19.7.2000 L 180/22; Richtlinie 2000/78 EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. EG vom 2.12.2000 L 303/16; Richtlinie 2002/73 vom 23.9.2002, zur Änderung der Richtlinie 76/207 des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. EG Nr. L 269/15; Richtlinie 2004/113 EG des Rates vom 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. EG vom 21.12.2004 L 373/37. Der EuGH hat mit Urteil vom 23.2.2006 entschieden, daß es die Bundesrepublik versäumt hat, die Richtlinie 2000/78 EG fristgerecht umzusetzen. Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien, 14.12.2004, Bundestagsdrucks. 15/453; Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, 18.5. 2006, Bundesrat Drucksache 329/06.

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Der moralische Appell, der von den Diskriminierungsmerkmalen und von den politischen Aktionen der Europäischen Kommission (2004) ausgeht, ist stark. Aber das moralische Gefühl, das sich gegen solche Diskriminierungen auflehnt, bedeutet nicht, daß ihm mit Rechts2wang Geltung verschafft werden sollte. Vielmehr mahnt das Gebot der Trennung von Recht und Moral zur Vorsicht. Mit Schadensersatz- und Unterlassungsansprüchen sanktionerte Diskriminierungsverbote für Privatrechtssubjekte treffen den Wesensgehalt der Vertragsfreiheit. Zu der Begründung solcher Verbote gehört die Verhältnismäßigkeit von Eingriff, Schutzzweck und den abzuwehrenden Gefahren. Die Gefahren, die von Unternehmen ohne Marktmacht für die geschützten Personen ausgehen, sind notorisch gering. Es braucht uns nicht zu beunruhigen, daß wir das Brot des Bäckers nicht dessen Fürsorge für unser leibliches Wohl, sondern seinem Gewinnstreben verdanken (Adam Smith). Die rechtliche Legitimation der Vertragsfreiheit folgt aus dem Prinzip der Selbstbestimmung und der Verbindlichkeit geschlossener Verträge. Ökonomisch ist die Vertragsfreiheit das Spiegelbild der Preisfreiheit und das wichtigste Instrument der Unternehmensplanung. Das Gebot der Gleichbehandlung ist für Inhaber staatlicher oder wirtschaftlicher Macht legitim und geltendes Recht. In Anwendung auf Unternehmen im normalen Zivilrechtsverkehr ist es mit der Privatautonomie grundsätzlich unvereinbar. Die Richtlinien begründen Ansprüche auf Schadensersatz, wenn ein Vertragsschluß wegen der Diskriminierungsmerkmale verweigert wird. Bei dem häufigen Fehlen eindeutiger äußerer Anhaltspunkte wird die Beklagte oder der Beklagte gezwungen sein, sich durch den Hinweis auf lautere Motive zu entlasten. Dazu eignen sich der Hinweis auf ihren Ruf, ihre Geschäftspraktiken oder ihren Charakter. Der Freiheitsgehalt des Privatrechts und seine wirtschaftliche Funktionalität beruhen aber gerade darauf, daß vertragliche Rechte und Pflichten ohne Ansehen der Person und der Tugendhaftigkeit der Beteiligten entstehen oder nicht entstehen. Zu den auf Recht und Moral zugleich verweisenden Gründen für die Diskriminierungsverbote gehören die „gemeinsamen Werte" (Präambel der Grundrechtscharta der EU) Die Gemeinschaftsinstitutionen, die sich darauf berufen, bestätigen damit eine Strategie, die Niklas Luhmann (1992, S. 97) gekennzeichnet hat: Die Bezugnahme aufWerte eröffnet die Möglichkeit, sich Legitimität zu beschaffen und sich zugleich die Entscheidung von Wertkonflikten - also aller Entscheidungen - offenzuhalten. Die Richtlinien postulieren in ihren Begründungserwägungen „die Gleichheit vor dem Gesetz und den Schutz aller Menschen vor Diskriminierungen als allgemeines Menschenrecht".5 Der grundlegende Unterschied zwischen der Gleichheit vor dem Gesetz und einem allgemeinen Menschenrecht bleibt unbeachtet. Das Prinzip der Gleichheit im Verhältnis der Menschen zueinander wiederholt nur die Frage nach Inhalt und Grenzen ihrer Rechte und Pflichten. Freie Gesellschaften sind antagonistische Gesellschaften, weil sich die Menschen in vergleichender Selbstliebe als ungleich erfahren. Aus den legitimen Gegensätzen der Meinung und der Interessen folgt in unserer Gesellschaft kraft der Vereinigungsfreiheit die Vielfalt rivalisierender Gruppen und Verbände. Diese Struktur kenn-

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Übereinstimmende Begründungserwägungen in den zitierten Richtlinien.

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zeichnet die Herausforderungen an das Recht, die gleiche Freiheit unter allgemeinen Regeln zu gewährleisten. Die Richtlinien beschränken sich nicht auf den privatrechtlichen Rechtsschutz von Diskriminierungsopfern. Die Mitgliedstaaten sind darüber hinaus verpflichtet, Verbände, Organisationen und andere juristische Personen, die ein Interesse an der Einhaltung der Antidiskriminierungsvorschriften haben, zu fördern und ihnen Klagebefugnisse einzuräumen. Wir sollten die qualitativen Veränderungen jedoch nicht außer Acht lassen, die sich bei Individualrechten vollziehen, wenn sie kollektiv wahrgenommen werden. Es ist ein Irrtum anzunehmen, daß gesellschaftliche Gruppen in der Wahrnehmung moralisch motivierter Rechte gegenüber Mitmenschen rücksichtsvoller sind als der Staat. Lange vor den schlimmen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit indoktrinierten Gesellschaften hat ]ohn Stuart Mill auf die weltweiten Gefahren der zunehmenden gesellschaftlichen Kontrolle der Einzelnen hingewiesen. Sie sei um so drückender, wenn sie durch die Gesetzgebung unterstützt werde: „Die Neigung der Menschengattung, sei es als Herrscher oder als Mitbürger, die eigenen Meinungen und Neigungen anderen als Regel vorzuschreiben, wird so nachhaltig gefördert von einigen der besten und einigen der schlimmsten Eigenarten der menschlichen Natur, daß sie kaum je wirksam begrenzt werden konnte, außer durch einen Mangel an Macht" (Mill 1957, part III, p. 15).

Der homo oeconomicus ohne Macht oder Privilegien gehört zu den weniger gefährlichen Mitmenschen.

III. Strukturmerkmale der Wirtschafts- und Währungsunion In den Antidiskriminierungsrichtlinien zeigt sich die Tendenz, alle am Binnenmarkt teilnehmenden Unternehmen gesellschaftlich zu kontrollieren. Das widerspricht Strukturmerkmalen der Wirtschafts- und Währungsunion.

1. Mitgliedstaaten als Unternehmen Der europäische Gesellschaftsvertrag hat von Anfang an und in seinem Vollzug zu einem grundlegenden Wandel im Verständnis der tradierten Kategorien des Staats- und Völkerrechts geführt. Die Auflösung des Begriffs der unteilbaren und nicht übertragbaren Souveränität ist dafür das wichtigste, aber nicht das einzige Beispiel. In den Kernbereichen der Integration, in der Währungsunion, im Binnenmarkt, im Wettbewerbs- und Beihilfenrecht und in Teilen der Außenwirtschaftspolitik, haben die Staaten die Rolle des Souveräns mit der des regelgebundenen Akteurs vertauscht. Für die marktbezogenen oder marktwirksamen Tätigkeiten orientieren sich diese Regeln an privatwirtschaftlichen und privatrechtlichen Kategorien. Die Staaten können nicht mehr frei darüber entscheiden, ob sie den Purpur des Hoheitsträgers ablegen und sich als Fiskus auf die Ebene des Privatrechts begeben wollen. Das Gemeinschaftsrecht entscheidet darüber, ob die Tätigkeit der Staaten im Binnenmarkt hoheitlich oder unternehmerisch ist.

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2. Unabhängige Institutionen Das Unwahrscheinliche des europäischen Projekts folgt ebenso aus seinem Gegenstand, aus dem Vorhaben nämlich, die politische Integration mit Hilfe einer rechtlich geordneten Wirtschaftsgemeinschaft zu verwirklichen. Wer das Politische an der Wirtschaftsgemeinschaft vermißt, sollte bedenken, daß sie an die Stelle der im französischen Parlament gescheiterten europäischen Verteidigungsgemeinschaft getreten ist. Aus leicht einsehbaren Gründen reichte bei unseren Nachbarn die Erinnerung an den Krieg nicht aus, um auf das einseitige Recht der Selbstverteidigung zu verzichten. Die gut dokumentierte Entstehungsgeschichte läßt bis heute wirksame Kräfte und Gegenkräfte erkennen: Konrad Adenauer und Walter Hallstein kam es im Verhältnis zu Frankreich aus politischen Gründen auf gemeinsame Institutionen an; Ludwig Erhard dachte mehr an den Markt und fürchtete die Gefahren des Dirigismus. Dieses Spannungsverhältnis hat die Entwicklung der EG, zum Beispiel im Verhältnis von Wettbewerbspolitik und Industriepolitik, begleitet. Die Prinzipien, die hauptsächlich zum Erfolg beigetragen haben, verweisen nicht auf fortschreitende Politisierung, sondern auf unabhängige, an Rechtsregeln gebundene Institutionen. Das Vertrauen in unabhängige Institutionen, repräsentiert durch deutsche Erfahrungen mit dem Bundesverfassungsgericht und der Bundesbank, war der wohl wichtigste deutsche Beitrag zur Verfassungsstruktur der EG. Es geht nicht um „Entpolitisierungen". Es geht vielmehr um die Selbstbindung von Staaten. Sie sind in Kenntnis ihrer eigenen Anfälligkeit für Opportunismus bereit, in bestimmten Bereichen auf die Wahrnehmung kurzfristiger Eigeninteressen zugunsten der von ihnen mitbestimmten Gemeinschaftsinstitutionen zu verzichten. Dazu gehören der Europäische Gerichtshof, der „das Recht" zu wahren hat, das in den Texten der Gemeinschaftsverträge nur in Umrissen formuliert ist, die Kommission, die das Gemeinschaftsinteresse eigenständig zu wahren hat und schließlich die Unabhängigkeit der europäischen Zentralbank.

3. Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit Das für die EU grundlegende Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit überwindet einen Kern des traditionellen Staatsegoismus: Das Verbot gewährleistet für die Bürger der Gemeinschaft den gleichen Zugang zu den Rechts- und Wirtschaftsordnungen der Mitgliedstaaten. Damit unvereinbar ist die Begrenzung der vom Staat zur Verfügung gestellten öffentlichen Güter auf die eigenen Staatsangehörigen. Auch die Freiheiten, die den Binnenmarkt konstituieren, gehen auf dieses Diskriminierungsverbot zurück, sind darauf jedoch nicht mehr beschränkt. Sie gelten nach dem Prinzip des Herkunftslandes auch für unterschiedslos anwendbare Beschränkungen, die aus der Verschiedenheit der nationalen Rechtsordnungen folgen. Den Abstand, der zwischen Grundsatz und Umsetzung bestehen kann, hat der politische Widerstand gegen die Diensdeistungsrichtlinie gezeigt, die das Prinzip des Herkunftslandes für alle Dienstleistungen verwirklichen sollte. Das Europäische Parlament hat davon wenig übriggelassen.

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Grenzen von Binnenmarkt und Wettbewerb sind auch in den Bereichen deutlich geworden, die in den romanischen Ländern zum service public gehören und in unserem Land den schnell um- und aufgewerteten Begriff der Daseinsvorsorge unterfallen. In Frankreich gehört der service public zum Kern der Souveränität. Die Sprengkraft der hier zu lösenden Probleme zeigt die Energiewirtschaft. Man mag in dem Bündel der hier zu bedenkenden wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und geopolitischen Interessen den Beleg für die letztlich dominierende Macht des nur Politischen sehen. Wenn man die Geschichte der europäischen Energiepolitik bedenkt, die einmal als Kohlepolitik begonnen hat, gibt es jedoch gute Gründe, die Teilprobleme mit den Mitteln des Gemeinschaftsrechts abzuarbeiten, die einer solchen Lösung zugänglich sind. Die Telekommunikation beweist, daß diese Aufgabe auch in den traditionellen Bereichen der Daseinsvorsorge und des service public gelingen kann. Aber selbst das Ende des Telefonmonopols, an das wir uns kaum noch erinnern, wird im Namen der Daseinsvorsorge, der Unmoralität des Wettbewerbs und der europäischen Deregulierungswut beklagt. Verloren haben wir ein Monopol, das unter verfassungsrechtlichem Schutz Gebühren erheben konnte, wenn es nach den Regeln kameralistischer Buchhaltung Finanzmittel benötigte, das sich von Rechts wegen auf alle neuen Kommunikationstechniken erstreckte und jede im selbstdefiniertem öffentlichen Interesse der Deutschen Bundespost liegende Tätigkeit finanzieren durfte.

4. Negative und positive Freiheiten Die Unternehmen, die von den Grundfreiheiten Gebrauch machen, nehmen damit am Binnenmarkt und am System unverfälschten Wettbewerbs teil. Der funktionale Zusammenhang von offenen Märkten und Wettbewerb ist wirtschaftswissenschaftlich evident, normativ aber nicht selbstverständlich. In der europapolitischen Diskussion weckt der Wettbewerb als Rechtsprinzip in seiner Anwendung auf staatliche Maßnahmen sehr alte Vorbehalte. Hegel hat sie in Auseinandersetzung mit der „Staatsökonomie" von Adam Smitb und Ricardo vorausgesehen. Der Vemünftigkeit, die im System der Bedürfnisse aufscheint, stellt er das Feld gegenüber „wo der Verstand der subjektiven Zwecke und moralischen Meinungen seine Unzufriedenheit und moralische Verdrießlichkeit ausläßt" (Hegel 1821/1955, § 189). Verdrießlich sind die Kritiker, die auf der Suche nach Politik oder Moral in und für Europa sind. Im Mittelpunkt der Kritik stehen die Grundfreiheiten als subjektive und negative Rechte. Sie wirken negativ in dem Sinne, daß Eingriffe in den Binnenmarkt verboten sein können, ohne daß der EuGH verpflichtet ist, über Alternativen zu den gemeinschaftsrechtswidrigen Maßnahmen zu urteilen. In den planwirtschaftlichen Systemen des Sozialismus war dies bei planwidrigen Entwicklungen die Aufgabe der staatlichen Schiedsgerichte. Im Binnenmarkt übernimmt diese Aufgabe im Grundsatz der unverfälschte Wettbewerb. Mit dem Gegensatz von negativen und positiven Freiheiten kommt eine der großen Kontroversen der Gegenwart in den Blick: Es ist das Verhältnis von bloß negativ wirkenden Freiheitsrechten und den positiven Rechten auf die Teilhabe an der richtig verstandenen Freiheit. Die negative Freiheit schützt unsere Selbständigkeit, die richtig verstandene positive Freiheit appelliert an unser besseres Selbst. Isaiah Berlin (2001) hat gezeigt, warum die positiven Freiheiten immer in Gefahr sind, zum Vorwand für Herrschaft zu werden. Er

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zeigt, daß die diktatorischen Regime des vorigen Jahrhunderts keine Schwierigkeiten hatten, das bessere Selbst für ihre eigenen Untertanen und für unterworfene Fremde zu definieren. Deshalb ist bei dem vielfach geforderten Übergang von der durch nur negative Freiheiten definierten negativen Integration zur positiven Integration Umsicht geboten. Auch die EU entgeht nicht der Dynamik des Gleichheitssatzes und nicht der Antinomie der negativen und positiven Freiheiten. Teilfragen werden in der Europäischen Union bei der Rechtsangleichung und in der Sozialpolitik praktisch. Zum Binnenmarkt gehört neben den Grundfreiheiten die Rechtsangleichung. Sie ist der Ursprung des großen Unbehagens an einer Gemeinschaftsgesetzgebung, die in ihrer oft pedantischen Detailliertheit zum Inbegriff der europäischen Bürokratie geworden ist. Bei aller Kritik: Die Grenzen des Marktes müssen in Auseinandersetzung mit tradierten und oft gegensätzlichen Präferenzen der Mitgliedstaaten ermittelt werden. Der Ausgleich zwischen Wettbewerb und zwingenden öffentlichen Interessen gehört zu den großen Herausforderungen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten. Der Wettbewerb der Regulierungssysteme gibt nur eine Teilantwort. Kriterien für die politischen Entscheidungen folgen aus den Grundsätzen der Einzelermächtigung für die Organe der EU, den Prinzipen der Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität und den Vorbehalten zugunsten zwingender öffentlicher Interessen der Mitgliedstaaten. Zu beherzigen ist die Warnung von Benjamin Constant (2003, p. 73): "Grosse Staaten, gegründet auf Freiheit und Gleichheit, erliegen gleichwohl dem Irrglauben an die Überlegenheit uniformer Systeme."

5. Sozialgemeinschaft? Die EU ist eine Wirtschaftsgemeinschaft, sie ist keine Sozialgemeinschaft. Die Systeme sozialer Sicherheit sind weiter in der fast ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Das Nebeneinander von Binnenmarkt und staatlichen Sozialsystemen wird vielfach als unerträglicher Widerspruch empfunden: auf Gemeinschaftsebene als ungelöste Zukunftsaufgabe, auf der Ebene der Mitgliedstaaten als Diskrepanz zwischen der Einbuße an wirtschaftspolitischer Gestaltungsfähigkeit und staatlicher Verantwortung für das Sozialsystem. Einen konkreten Vorschlag, den Gegensatz von nur negativer und positiver Integration zu überwinden, hat Frit^ W. Scharpf (1998) vorgelegt. Er möchte Sozialdumping verhindern. Darunter versteht er Auswirkungen des grenzüberschreitenden Wettbewerbs, die geeignet sind, in den betroffenen Mitgliedstaaten zur Reduzierung von Sozialleistungen zu führen. Kompetitive Deregulierungen und Steuervergünstigungen seien zu verbieten. Der Maßstab sei eine zwischen den Mitgliedstaaten zu vereinbarende Untergrenze nationaler Sozialausgaben. Dafür sei die Korrelation zwischen Wohlstand und Sozialausgaben statistisch zu ermitteln und für die Mitgliedstaaten in Abhängigkeit von dieser Korrelation festzuschreiben. Der Vorschlag stellt in Rechnung, daß es unrealistisch wäre, einen gemeinsamen Sozialstandard zu erreichen und durchzusetzen. Er stellt nicht in Rechnung, daß es wenig aussichtsreich erscheint, den hohen deutschen Sozialstandard gegen den Wettbewerb im Binnenmarkt abzuschirmen. Er stellt ferner nicht in Rechnung, daß ein Fallrecht gegen unlauteren Wettbewerb der Regulierungssysteme das Ende von Binnenmarkt und Wettbewerbssystem bedeuten würde.

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Die Europäische Union kann und wird uns die Last der Neuordnung der eigenen Sozialsysteme nicht abnehmen. Mit einer umverteilenden europäischen Sozialpolitik ist unter vorhersehbaren Bedingungen nicht zu rechnen, und sie ist auch nicht zu wünschen. Trotzdem bestätigt die Europäische Union „die sanft zivilisierende Kraft des Rechts". Es bildet zugleich den Rahmen für die Wirtschafts- und Währungsunion, die offenen Märkten und Wettbewerb verpflichtet ist. Wer europäische politische Herausforderungen sucht, findet hier ein weites, noch zu bestellendes Feld.

Literatur Beck, Ulrich und Edgar Grande (2004), Das kosmopolitische Europa, Frankfurt am Main. Berlin, Isajah (2001), Two Concepts of Liberty, in: Henry Hardy (ed.), Liberty, Oxford, pp. 166-217. Coing; Helmut (1983), Gersingen in: Orden pour le mérite für Wissenschaften und Künste, Reden und Gedenkworte, 19. Band, S. 55-69. Constant, Benjamin (2003), Political Writings, Cambridge. Epstein, Richard (2003), Skepticism and Freedom: A modern casefor classical liberalism, Chicago and London. Europäische Kommission (2004), Grünbuch: Gleichstellung sonde Bekämpfung von Diskriminierungen in einer erweiterten Europäischen Union, Brüssel. Habermas, Jürgen (1998/2005), Zur Legitimation durch Menschenrechte, in: Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main. Habermas, Jürgen (1998/2005), Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1821 /1955), Grundlinien der Philosophie des Rechts, 4. Auflage, hrsg.v. Johannes Hofmeister, Hamburg 1955. Kant, Immanuel (1934), Kants handschriftlicher Nachlaß, Bd. VI: Moralphilosophie, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie, Akademieausgabe, Bd. 19: Reflektionen zur Rechtsphilosophie, 8051, Berlin und Leipzig. Locke, John (1832), Two Treatises of Government, London. Luhmann, Niklas (1992), Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main. Mill, John Stuart (1957), On Liberty, in: Milton Mayer (ed.), The Tradition of Freedom, New York and London, Part III, pp. 1-90. Posner, Eric A. (2005), International Law: A Welfarist Approach, Chicago. Scharpf, Fritz W. (1998), Regieren in Europa, Frankfurt am Main. Schmitt, Carl (1928/1954), Verfassungslehre, Neudruck Berlin 1954. Skouris, Vassilios (2006), Das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten im europäischen Gemeinschaftsrecht, DÖV, S. 89-93. Weiler, Joseph, H. H., (1999), Constitution of Europe, Cambridge.

Zusammenfassung Die Europäische Union, deren Kern eine Wirtschafts- und Währungsunion ist, fordert neue Antworten auf die alte Frage nach der Legitimation von Herrschaft. Prüfsteine für ihre Legitimation sind wirtschaftliche Freiheitsrechte, die Binnenmarkt und System unverfälschten Wettbewerbs konstituieren. Entgegen einer gesellschaftspolitisch begründeten Kritik ist die Rechtsordnung der Gemeinschaft bestimmt und geeignet, die staatlichen und privaten Herrschafts- und Machtpotentiale, die mit marktwirtschaftlichen Systemen verbunden sind, so zu begrenzen, daß sie mit der Selbständigkeit und dem Wohlstand der europäischen Bürger vereinbar bleiben. Die politische Leistung der Europäischen Union,

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ihrer Mitglieder und ihrer Bürger besteht darin, bisher getrennte Volkswirtschaften und Märkte durch rechtlich ermöglichten und geordneten Wettbewerb zu integrieren. Diese politische Leistung war und ist nur im Rahmen einer Rechtsordnung möglich, die in ihren Regeln und Sanktionen von den Beteiligten respektiert wird. Die Bindung der Institutionen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten an gemeinsame Ziele, zu denen Währungsunion, Binnenmarkt und Wettbewerb zwingend gehören, fügt die einzelnen Teile des Systems zu einer Wirtschaftsverfassung zusammen. Neue Gefahrdungen und Herausforderungen gehen von Art. 31 EGV und den Gleichbehandlungsrichtlinien aus.

Summary European Touchstones of dominion and Law The European Union, based on a monetary and economic union, calls for new answers to the old question of legitimacy of dominion. Touchstones for its legitimacy are the economic freedoms that constitute the internal market and the system of undistorted competition. Contrary to a criticism, that is inspired by anti-neo-liberalism, the community's legal order is no mere superstructure for uncontrolled and uncontrollable economic processes. Its very purpose is to subject governmental and private power positions to the rule of law. The EU proves the important contribution of economic freedoms to social cohesion. It is the political accomplishment of the EU, its Member States and its citizens to integrate so far separate national economies and markets through open markets and free competition. This political achievement is possible only in the context of a legal order, the rules of which and its sanctions in case of infringements are respected. As community institutions and member states alike are bound to common aims including the strict rules of the monetary union, the internal market and the system of competition, this system can be interpreted as an economic constitution. There are new challenges and even dangers flowing from the new Art. 13 EC Treaty and the policy of anti-discrimination directives.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2007) Bd. 58

Egon Görgens und Karlheinz Ruckriegel

Zentralbanken zwischen staatlichem Machtanspruch und Stabilitätsinteresse Inhalt I. Zur Notwendigkeit von (staatlichen) Zentralbanken II. Anbindung der Geschäftsbanken an die Zentralbank III. „Institutions matter" 1. Zentralbanken als Institutionen 2. Institutionelles Design: Eurosystem versus Federal Reserve System 3. Institutionen ohne Bestandsgarantie IV. Fazit

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Central banks between government power and stability interest

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I.

Zur Notwendigkeit von (staatlichen) Zentralbanken

Die Diskussion über die Notwendigkeit einer (staatlichen) Zentralbank und ihren mehr oder weniger autonomen Handlungsspielraum zur Sicherung der Preisstabilität ist fürwahr nicht neu. Das Spektrum der Ansichten reicht von rechtlich/politisch abhängiger über rechtlich/politisch autonomer staatlicher Zentralbank bis zur Abschaffung des staatlichen Monopols und Ersetzung durch den wettbewerblichen Ausleseprozeß. Vorherrschend ist die Überzeugung, daß für die Verfolgung des makroökonomischen Ziels „Preisstabilität" die Institution „Zentralbank" benötigt wird, da Geschäftsbanken in marktwirtschaftlichen Systemen mikroökonomisch auf Gewinnerzielung, nicht aber makroökonomisch auf die Aufrechterhaltung von Preisniveaustabilität ausgerichtet sind (siehe hierzu auch White 1999, p. 80). Mit der Schaffung einer Zentralbank allein ist es jedoch nicht getan. Vor allem zwischen einem stabilitätspolitischen Wollen von Zentralbanken und ihrem politisch abhängigen Können bestand nicht selten eine große Kluft. Soll diese vermieden werden, müssen der Zentralbank eindeutige und exklusive Zuständigkeiten zugewiesen werden: „After decades of instability, central bankers, governments, and economists have reached a consensus that the appropriate role of a central bank in the prevailing fiat-money regime includes: (1) the clear assignment or the responsibility for inflation to the central bank; (2) agreement that inflation should be low and stable ..." ( B W 2 0 0 5 , p. 1).

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Mit dem Maastrichter Vertrag, der Preis Stabilität als oberstes Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) festlegt und ihr Autonomie bei der Zielerreichung zuweist, scheint die Diskussion über Aufgabe und Status der Zentralbank im Sinne von Wood entschieden zu sein. Es mehren sich jedoch Stimmen nicht nur, aber vor allem in Frankreich, die die Unabhängigkeit der EZB schwächen wollen. Manche Äußerungen mögen innenpolitischen Auseinandersetzungen in Frankreich geschuldet sein, doch hat die ablehnende Haltung gegenüber einer unabhängigen Zentralbank in den verschiedenen politischen Lagern Frankreichs durchaus Tradition. Die Aushöhlung der Autonomie wird auch von anderer Seite betrieben, weniger direkt, aber gleichwohl durchsichtig, wenn etwa regelmäßige „Beratungen" zwischen Regierungen und der EZB angeregt werden oder eine demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments zur Formulierung eines — den politischen Vorgaben für das Federal 'Reserve System in den USA (Fed) entsprechenden und vermeintlich vorbildhaften — Zielspektrums für die EZB (im Widerspruch zum Maastrichter Vertrag!) behauptet wird. Ist Hajek doch wieder aktuell? Hajek sah in seinem Werk - „Die Verfassung der Freiheit" — das Original erschien 1960 auf Englisch — eine unabhängige Zentralbank zunächst als die beste Lösung an, um Geldwertstabilität zu gewährleisten (Hajek 1983, S. 420). Später gelangte er aber - historisch durchaus begründet — zu der Überzeugung, daß Zentralbanken wegen staatlichen Drucks ihr Hauptziel de facto nicht hinreichend verfolgen würden. Statt von einer Enthaltsamkeit des Staates gegenüber „seiner" Zentralbank sei von einem andauernden Interesse des Staates an einer schuldbefreienden Inflation (Inflationssteuer) auszugehen. Er forderte deshalb eine vollkommene „Entnationalisierung des Geldes" {Hajek 1990), deren Konsequenz u. a. eine Aufgabe der Anbindung der Geschäftsbanken an die (monopolistische) Zentralbank bei der Geldschöpfung wäre. Heutzutage werden diese Überlegungen von der „Free Banking"-Schule vertreten (siehe Dowd 2003; 1992). Hajek glaubte, das Problem übermäßiger Geldemission und damit inflatorischer Entwicklungen durch Wettbewerb unter den Geldemittenten in Schach halten zu können. Er argumentierte, daß im Wettbewerb nur die Währungen überleben würden, die eine stabile Kaufkraft aufwiesen. Im Lichte dieses Vorschlags muß das, was mit der Einführung der gemeinsamen Währung in der Europäischen Währungsunion (EWU) geschah, als geradezu aberwitzig erscheinen: Denn statt der Konkurrenz der Währungen haben wir es beim Euro mit einem wettbewerbsbeschränkenden Zusammenschluß zu tun. Anstatt vorher prinzipiell möglicher — wenn auch nicht wirklich existenter — Konkurrenz zwischen dreizehn (ab 2008 vermutlich fünfzehn) nationalen Zentralbanken gibt es nur noch eine Währung, eine Geldpolitik und eine ausschließlich zuständige Instanz. Zu fragen ist allerdings zum einen, ob die Befürchtungen von Hajek trotz der jüngsten Diskussion unter den aktuellen institutionellen Bedingungen der EWU (noch) ihre Berechtigung haben. Zum anderen sind auch die Folgen zu bedenken, die mit der Umsetzung des Hajek- Vorschlags verbunden wären. Das Vorstellungsbild einer Zentralbank, die dem politischen Willen der nationalen Regierung unterworfen ist, galt bereits in der Vergangenheit nicht uneingeschränkt, so daß — wie etwa im Falle der Deutschen Bundesbank — eine Bezeichnung ihrer Geldpolitik als

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„staatliche Geldpolitik" zumindest interpretationsbedürftig wäre.1 Die Übertragbarkeit des Vorstellungsbildes von der Geldpolitik des Staates auf das Eurosystem unterliegt noch weiteren Einschränkungen schon allein deshalb, weil es in der EWU eine (gegenüber dem Eurosystem oder der EZB2 möglicherweise weisungsbefugte) Zentralregierung nicht gibt. Dies schließt freilich nicht aus, daß über - oben angedeutete — verschiedene politische Wirkungskanäle ein Instabilitäts-Bias im Vergleich zur Hayeksehen Konkurrenzlösung dennoch erwachsen könnte. Abgesehen von der Nicht-Relevanz unter den derzeitigen institutionellen Regeln in der EWU, wäre die Umsetzung des Hayek-Vorschlags zudem mit einer Reihe von (gravierenden) Problemen verbunden: Zwar würden im Zuge des Wettbewerbsprozesses „instabile" Währungen ausscheiden. Durch diese instabilen Währungen wäre der Wettbewerbsprozeß selbst aber durch Inflation gekennzeichnet. Man hätte es also mit einem langwierigen inflationären Ubergangsprozeß zum langfristigen Gleichgewicht zu tun. Auch wäre es keineswegs sichergestellt, daß die Währungen), die wegen ihrer Kaufkraftstabilität übrig bliebe^), für alle Zeiten stabil bliebe(n), da alte und neu auftretende Emittenten jederzeit der Versuchung unterliegen könnten, mit Hilfe übermäßiger, d. h. inflationärer Emission die Seigniorage-Einnahmen zu steigern. Schließlich gäbe es, zumindest während des Wettbewerbsprozesses, eine große Zahl von Währungen, so daß der Nutzen des Geldes als Recheneinheit und zur Einsparung von Transaktions-, speziell Suchkosten stark beeinträchtigt würde. Gibt es nämlich nicht nur einen Preis für jedes Gut, sondern bei n Währungen n Preise, so kompliziert sich das Preissystem unnötig, wodurch die Transaktionskosten des Tausches steigen, also Wohlfahrtsverluste entstehen (siehe hierzu Issing 2000, p. 17 f.). Die im Zuge dieses „Ausleseprozesses" auftretenden Bankenzusammenbrüche könnten zudem zu Panikreaktionen der Bankkunden fuhren, wodurch die gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsverluste noch spürbar erhöht würden. Ein weiterer Grund für das Entstehen von staatlichen Zentralbanken war deshalb auch, Panikreaktionen durch ihre Funktion als „lender of last resort" entgegenzuwirken (siehe hierzu auch Gorton and Huang 2003, p. 181 f.; White 1999, p. 74). So wird etwa die Gründung des Federal Reserve Systems in den USA im Jahre 1913 gerade darauf zurückgeführt (vgl. Board of Governors 2005, p. 1 f.).3 Angesichts der Risiken, die einem Experimentieren mit dem Hayek-Vorschlag anhaften, erscheint es zweckmäßiger, die institutionelle Absicherung der Preisstabilität mit einer staatlichen Zentralbank zu verknüpfen. Dies bedeutet selbstverständlich, daß die Geschäftsbanken an der Leine der Zentralbank hängen müssen, eine Leine, die Hayek mit seinem Vorschlag kappen wollte.

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Issing (2000, p. 10) erwähnt eingangs seiner Hayek Memorial Lecture einen diesbezüglichen Dissens mit Hayek. Er wollte den Beitrag von Hayek zur Währungskonkurrenz in einen Readings-Band zur Geldpolitik aufnehmen und dem Text eine deutsche Übersetzung des folgenden Zitats voranstellen: „Inflation is made by government and its agents. Nobody eise can do anything about it." Trotz langer Korrespondenz hätten sie sich jedoch nicht über die deutsche Übersetzung für „government" einigen können, so daß es schließlich bei der englischsprachigen Formulierung blieb. Die Bezeichnungen Eurosystem und EZB werden vielfach synonym gebraucht. Zuständig und verantwortlich für die Geldpolitik in der EWU ist jedoch das Eurosystem, das aus der EZB und nationalen Zentralbanken (derzeit 13) besteht. Zu den Motiven, die hinter der Gründung einzelner Zentralbanken standen, siehe Siklos 2002, p. 11.

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II. Anbindung der Geschäftsbanken an die Zentralbank Geschäftsbanken fragen Zentralbankgeld in Form von Banknoten und von Guthaben (Einlagen) bei der Zentralbank nach, wobei letztere den geldpolitischen Ansatzpunkt im Rahmen der operativen Umsetzung der Geldpolitik des Eurosystems, des Fed und der Bank of England darstellen. Neben der Nachfrage nach Banknoten ziehen die Verpflichtung zur Haltung von Mindestreserven sowie der Wunsch, Guthaben zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs (IVorking Balances) bei der Zentralbank zu halten, eine Nachfrage nach Guthaben bei der Zentralbank seitens der Kreditinstitute nach sich. Zentralbankgeld kann aber nur geschaffen werden, wenn die Kreditinstitute Geschäfte mit der Zentralbank tätigen. Hier kommt die Aktivseite der Zentralbankbilanz ins Spiel. Im wesentlichen gibt es drei Möglichkeiten für die Bereitstellung von Zentralbankgeld: Entweder die Zentralbank ist bereit, Fremdwährungsforderungen anzukaufen, oder die Kreditinstitute verschulden sich bei der Zentralbank, oder die Zentralbank kauft von den Kreditinstituten (staatliche) Wertpapiere an. Die traditionelle Geldangebotstheorie basiert auf dem Geldbasiskonzept und betrachtet die Zentralbankgeldmenge, d. h. die Geldbasis (Banknoten + Guthaben bei der Zentralbank) als operatives Ziel der Geldpolitik. Sowohl das Eurosystem als auch das Fed und die Bank of England betreiben allerdings keine Geldbasissteuerung, d. h. sie setzen nicht unmittelbar an einer quantitativen Steuerung des Zentralbankgeldes an. Zentraler Ansatzpunkt und operatives Ziel ist vielmehr der Zinssatz für Tagesgeld, also der Zinssatz, zu dem Guthaben bei der Zentralbank auf dem Tagesgeldmarkt unter Banken gehandelt werden. Damit eine Zentralbank allerdings den Tagesgeldsatz kontrollieren kann, muß eine ausreichende Nachfrage nach Guthaben bei der Zentralbank bestehen. Dies wird entweder durch den Zwang zur Haltung von Mindestreserven (Eurosystem und Fed) oder durch Anreize zur freiwilligen Haltung von Working Balances (Fed und Bank of England) erreicht.4 Entgegen dominierenden Lehrbuchdarstellungen steuert also weder das Eurosystem (EZB 2004, S. 75) noch das Fed (Board of Governors 2005, p. 16) noch die Bank of England (Bank of England 2005, p. 3) die Geldbasis oder die Geldmenge. Ihr operatives Ziel ist vielmehr der Tagesgeldsatz (im einzelnen hierzu ¥MCkriegel und Seit^ 2006). In der EWU richtet sich das Augenmerk auf den sog. EONLA („Euro Overnight Index Average"). In den USA steht die Federal Funds Rate im Mittelpunkt. Die Zentralbanken streben am Tagesgeldmarkt den Zins an, den sie als angemessen ansehen. Dieser Zins ist der Hebel, mit dem die letztendlichen Ziele, vor allem Preis Stabilität, erreicht werden sollen. Dementsprechend wird er üblicherweise als operatives Ziel der Geldpolitik bezeichnet (vgl. hierzu auch Görgens et al. 2006).

III. „Institutions matter" „Classicals and Keynesians agree that, for disinflation to be achieved without high unemployment costs, reducing the public 's expected inflation rate is important. Perhaps the most important factor determining

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Im Eurosystem ist das Mindestreserve-Soll so hoch, daß damit auch die Nachfrage nach abgedeckt ist.

Working Balances

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how quickly expected inflation adjusts is the credibility, or believability ... a strong and independent central bank, run by someone with well-known anti-inflation views, may have credibility with the public when it announces a disinflationary policy" (Abel and Bernanke 2005, p. 462).

Zentralbanken können mit zinspolitischen Maßnahmen über komplexe Transmissionsprozesse nur indirekt auf das Verhalten der wirtschaftlichen Akteure einwirken (Görgens und Ruckriegel 2005). Dies macht bereits deutlich, daß die geldpolitische Steuerung nicht eine bloße Technik darstellt, die es mittels einfacher Hebel ermöglicht, ein bestimmtes Regelwerk zu beherrschen. Zunehmend wächst auch die Einsicht, daß neben den traditionellen Zinswirkungen (Zinskanal) der Erwartungskanal die Wirksamkeit der Geldpolitik maßgeblich bestimmt. Danach kommt es darauf an, daß die Zentralbank die Inflationserwartungen niedrig hält (Weber 2005, S. 4; siehe hierzu auch Woodford 2003, p. 15). Diese Erwartungen wiederum hängen wesentlich vom institutionellen Zuschnitt der Zentralbank ab, da dieser ihre Handlungsmöglichkeiten entscheidend markiert.

1. Zentralbanken als Institutionen Die Bedeutung von Institutionen (wieder) ins Bewußtsein der Theorie der Wirtschaftspolitik gehoben zu haben ist das Verdienst der Neuen Institutionenökonomik. „Funktionell gesehen, können Institutionen als Einrichtungen verstanden werden, die helfen, die Ungewißheiten des menschlichen Lebens zu verringern, das Treffen von Entscheidungen zu erleichtern und die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen zu fördern, so daß im Ergebnis die Kosten der Koordination wirtschaftlicher und anderer Aktivitäten abnehmen" (Richter und Furubotn 2003, S. 8).

Während bereits Schmoller (1900, S. 61) frühzeitig die Bedeutung von Institutionen herausgearbeitet und den Begriff geprägt hat (siehe hierzu auch Backhaus 1989, S. 35 f.), werden im Rahmen der neoklassischen Theorie Institutionen weithin vernachlässigt. „Ihre Schwäche liegt eben in ihrer Institutionenneutralität bzw. ihrer Tendenz, eine ernsthafte Beschäftigung mit institutionellen Nebenbedingungen und Transaktionskosten eher zu vermeiden. Die neoklassische Wirtschaftstheorie kann daher nur in sehr abstraktem Sinn auf Fragen der Allokation von Ressourcen angewendet werden." 5

Wie wichtig formelle und informelle Regeln als handlungsleitende Institutionen sind, läßt sich beispielsweise an neueren Ansätzen in der Wachstumstheorie erkennen. So stellen Mall und Jones die soziale Infrastruktur, zu der auch die Institutionen gehören, als die entscheidenden Bestimmungsgrößen für das Wirtschaftswachstum heraus.

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Richter und Furubotn (2003, S. 2), siehe hierzu auch Himmelweit et al. (2001, p. 3), die den neoklassischen Ansatz des methodologischen Individualismus, der auf dem Konstrukt des „homo oeconomicus" basiert, mit einem institutionellen Ansatz kontrastieren, der soziale Normen explizit in die Analyse einbezieht und auf Erkenntnisse der Psychologie, der Soziologie und der Politikwissenschaft zurückgreift. In dieselbe Richtung geht jüngst Akerloj(2007, p. 6), der in seiner Presidential Address zur 119. Tagung der American Economic Association „The Missing Motivation in Macroeconomics" soziale Normen in den Mittelpunkt der ökonomischen Analyse stellt. Die auf dem „homo oeconomicus" basierende Neoklassik komme zu falschen Schlüssen, „since they fail to incorporate the social norms of the decision makers. Those norms reflect how the respective decision makers think they and others should or should not behave, even in the absence of frictions."

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Egon Görgens und Karlheinz Ruckriegel „The government poücies and institutions that make up the social infrastructure of an economy determine investment and productivity, and therefore also determine the wealth of nations."6

Auch der Internationale Währungsfonds und die Weltbank tragen verstärkt der Bedeutung von Institutionen für wirtschaftliches Wachstum Rechnung (vgl. Stark 2005, S. 3).7 Erst in jüngerer Zeit sind institutionenökonomische Überlegungen auch für Fragen geldpolitischer Steuerung fruchtbar gemacht und dem institutionellen Design der Zentralbank eine entscheidende Rolle zugewiesen worden: „In der traditionellen MakroÖkonomik spielen die Institutionen der Geldpolitik keine wesentliche Rolle. Dies änderte sich erst, nachdem die Literatur zur Glaubwürdigkeit von Geldpolitik gezeigt hatte, daß der institutionelle Rahmen potentiell ein wichtiger Faktor zur Beeinflussung der Erwartungen des privaten Sektors ist" (Hagen et al. 2002, S. 11).

Diese Vernachlässigung bzw. Nichtbeachtung institutioneller Faktoren im Rahmen der „Mainstream-Theorien" verwundert allerdings, da es insbesondere seit 1957 mit der Deutschen Bundesbank eine Zentralbank gibt, deren Erfolg im wesentlichen mit den im internationalen Vergleich keineswegs üblichen institutionellen Bedingungen, die ihr weitgehende politische Unabhängigkeit verschaffen, verbunden ist.8 Man hätte also leicht feststellen können, daß „institutions matter". Die Forderung nach einer unabhängigen, auf das Ziel der Preisstabilität ausgerichteten Zentralbank geht in der Nachkriegszeit in Deutschland auf den „Ordoliberalismus" zurück. Auch bei dessen Vorschlägen ging es darum, einen monetären Rahmen zu schaffen, um die Erwartungen zu stabilisieren (Starbatty 2002, S. 260). So führte etwa Röpke hierzu 1953 aus: „Freilich müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein, wenn die Marktwirtschaft auch befriedigend und ohne ernste Störungen ... funktionieren soll. ... Die erste und auch dem Rang nach oberste ist die Stabilität der Währung. ... Insbesondere ist die Unabhängigkeit der Zentralbank gegenüber allen (insbesondere politischen) Inflationsinteressenten zu sichern" (Röpke 1997, S. 50).

Im Bundesbankgesetz, welches 1957 in Kraft trat, wurde in § 12 die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank von Weisungen der Bundesregierung verankert. Die Begründung im Regierungsentwurf entsprach der Röpkes {Deutscher Bundestag 1956, S. 24-26). 6 Jones (2002, p. 149); Hall and Jones (1999); Römer (2006, pp. 144 ff.) sowie Snowdon and Vane (2005, pp. 635 ii)\Acemoglu, Johnson and Robinson (2005, pp 385-472). 7

Mit diesem Strang der Wachstumsforschung wird freilich kein wirkliches Neuland betreten, wie ein Blick auf die Euckenscht Ordnungstheorie und daraus abzuleitende Wachstumskonsequenzen ebenso zeigt wie auf einen Teil der (deutschsprachigen) Wachstumsforschung - vor allem unter dem Einfluß von Ernst Dürr. Es dominierten in der Vergangenheit aber freilich von Ordnungsüberlegungen „freie" keynesianische und neoklassische Sichtweisen. Erst mit dem Einfluß der „Neuen Institutionenökonomik" ist die Wachstumsbedeutung von Institutionen nachhaltig in ein breiteres Bewußtsein getragen worden. 8 Bereits mit dem Autonomiegesetz vom 22.5.1922 und dem Bankgesetz vom 30.8.1924 erlangte die Reichsbank eine von der Reichsregierung unabhängige Stellung: „Die Reichsbank ist eine von der Reichsregierung unabhängige Bank ...", so die eindeutige Formulierung im Bankgesetz. Sie nutzte ihre Unabhängigkeit aber nicht zur Stabilisierung des Geldwerts, sondern finanzierte staatliche Budgetdefizite mit Notenbankkrediten (siehe hierzu Jarchow 2003, S. 411 f.). Institutionelle Unabhängigkeit einer Zentralbank ist wohl angesichts des politischen Inflationsbias eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Verfolgung von Preisstabilität. Die nach dem II. Weltkrieg gegründeten Landeszentralbanken unterlagen zwar der staatlichen Aufsicht, die Landesregierungen hielten sich aber mit Weisungen zurück. Die 1948 nach dem US-amerikanischen Vorbild eines zweistufigen und dezentralen Zentralbanksystems als Kopfstelle geschaffene Bank deutscher Länder war zwar unabhängig von deutschen Regierungsstellen, nicht aber von der „Alliierten Bankenkommission" (zu den Einzelheiten Zeitler 2007).

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Gut 30 Jahre später wurde diese „Einsicht", von den USA kommend und primär in Folge der von Kydland und Prescott (1977) aufgeworfenen Zeitinkonsistenz-Problematik der Geldpolitik, wieder entdeckt und setzte sich in den 90er Jahren nach der Untersuchung von Alesina und Summers (1993) durch, so daß Kydland und Wynne später konstatieren konnten: „In the 1990s, a consensus emerged in the academic Community that one of the most assured routes to price stability was to grant central banks greater independence from the political authorities, on the grounds that such independence seems to deüver better Inflation Performance at no cost in terms of real activity" (Kydland and Wynne 2002, p. 4).

Bei politischer Unabhängigkeit tragen die Zentralbanken Verantwortung für die Geldpolitik. In der Literatur lassen sich hier zwei unterschiedliche Ansätze identifizieren: Rogoff (1985) schlägt vor, die Geldpolitik in die Hände von konservativen Zentralbankern zu legen, nach Walsh (1995) soll ein Vertrag zwischen der Regierung und den Zentralbankern das Ziel der Geldwertstabilität festschreiben. Der Vorschlag von Walsh läuft letztlich auch darauf hinaus, daß zwischen der Regierung und dem Vorstand der Zentralbank ein Vertrag geschlossen wird, wonach dessen Bezahlung vom Erreichen der vorgegebenen Inflationsziele abhängig ist (siehe hierzu auch Goodhart 2003, p. 67). Das Vereinigte Königreich und Neuseeland werden häufig als Beispiele für den Walshschtn Vetrags-Ansatz - wenn auch nicht hinsichtlich der Bezahlung - , die Deutsche Bundesbank und das Eurosystem als Beispiele für den Rogo^schen angeführt. Während im ersten Fall das Inflationsziel konkret von der Regierung vorgegeben wird, kann im zweiten Fall die Zentralbank das Inflationsziel selbst näher operationalisieren, wobei das Ziel als solches aber von der Politik vorgegeben ist.

2. Institutionelles Design: Eurosystem versus Federal Reserve System Da dem institutionellen Design von Zentralbanken bei der Frage der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik eine maßgebliche Bedeutung zukommt, erscheint ein Vergleich der beiden weltweit bedeutendsten Zentralbanken unter institutionellen Gesichtpunkten von besonderem Interesse. Das vorrangige Ziel des Eurosystems ist, Preis Stabilität zu gewährleisten, wobei es dem Eurosystem obliegt, dieses Ziel zu operationalisieren (Wahl des Preisindex, quantitative Definition von Preisstabilität, relevanter Zeithorizont). Nur soweit es ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist, soll das Eurosystem die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EU unterstützen. Das Eurosystem besitzt also, ebenso wie das Fed, keine Zielunabhängigkeit. Damit das Eurosystem sein vorrangiges Ziel, die Gewährleistung der Preisstabilität, effektiv verfolgen kann, sind die E Z B und die nationalen Zentralbanken in ihren Entscheidungen von Weisungen der sonstigen Träger der Wirtschaftspolitik auf nationaler wie auch auf EU-Ebene unabhängig. Im Rahmen des ihm vorgegebenen Ziels ist das Eurosystem frei (unabhängig) bei der Wahl der Mittel. Einschränkend ist jedoch zu berücksichtigen, daß nach Art. 105 EG-Vertrag das Eurosystem im Einklang mit den Grundsätzen einer offenen Marktwirtschaft bei freiem Wettbewerb zu handeln hat. Bestimmte Instrumente,

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etwa quantitative Beschränkungen der Kreditvergabe, dürfen somit nicht eingesetzt werden. Die Unabhängigkeit des Eurosystems ruht auf vier Säulen: (1) der institutionellen Unabhängigkeit, die die Freiheit der nationalen Zentralbanken sowie der EZB und ihrer Beschlußorgane von Weisungen Dritter verbürgt; (2) der personellen Unabhängigkeit, die lange Vertragslaufzeiten der Entscheidungsträger vorsieht (acht Jahre bei Mitgliedern des EZB-Direktoriums ohne Möglichkeit der Wiederernennung); (3) der finanziellen Unabhängigkeit und (4) der funktionellen Unabhängigkeit (Ausrichtung auf das Ziel der Preisstabilität, Kontrolle des geldpolitischen Handlungsrahmens, vgl. Görgens etal. 2004, S. 88-90). Während die Geldpolitik ausschließlich dem Eurosystem zugewiesen wurde, liegen die wechselkurspolitischen Kompetenzen weitestgehend beim Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der Europäischen Union, dem sog. Ecofin-Rat. Daraus können jedoch Probleme für die Unabhängigkeit des Eurosystems und sogar mit der Zielvorgabe des Maastricht-Vertrages resultieren, wenn das Eurosystem aufgrund von wechselkurspolitischen Vorgaben durch den Ecofin-Rat seine Zinspolitik am Wechselkurs ausrichten müßte. Verglichen mit anderen großen Zentralbanken besitzt das Eurosystem einen hohen Grad an Unabhängigkeit (vgl. hierzu auch den von Siklos aktualisierten Cukierman V Central Bank Independence Index, Siklos 2002, p. 68). Das geldpolitische Ziel des Eurosystems ist klar auf Preis Stabilität ausgerichtet, und dem Eurosystem obliegt es auch, dieses Ziel zu konkretisieren. Die mögliche Androhung einer Revision seiner Entscheidungen (z. B. durch das Europäische Parlament, die EU-Kommission oder den Ecofin-Rat) stößt auf hohe Hürden. Die gesetzliche Grundlage bildet der EG-Vertrag. Da es sich hierbei um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den EU-Mitgliedstaaten handelt, bedarf eine Veränderung des Statuts des Eurosystems der Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten. Beim Federal Reserve System fehlt eine klare Ausrichtung auf das Ziel der Preisstabilität. Im Federal Reserve Reform Act aus dem Jahr 1977 wurde die „Mehrzielorientierung" des Fed klargestellt: „maximum employment, stable prices, and moderate long-term interest rates" (Board of Govemors 2005, p. 15). Auch ist die rechtliche Stellung des Fed deutlich schwächer. Die Unabhängigkeit des Fed beruht nur auf dem Verfahren zur Bestellung der Governors und der Präsidenten der Federal Reserve Banks (FRBs) sowie auf der Tatsache, daß das Fed nicht auf finanzielle Zuweisungen aus dem Staatshaushalt angewiesen ist, sondern sich aus seinen Einnahmen finanzieren kann (Federal Reserve Bank of San Francisco 2004, p. 1 f.). Sie umfaßt also nur die finanzielle Unabhängigkeit und Teilaspekte der personellen Unabhängigkeit. Entscheidend bei der Berufung der Governors ist einerseits, daß die Verträge zu unterschiedlichen Terminen auslaufen, so daß ein U.S.-Präsident nur begrenzt die Zusammensetzung des Board of Governors beeinflussen kann, und andererseits, daß die Verträge eine Laufzeit von 14 Jahren haben, also weit über die Legislaturperioden hinausgehen. Die Präsidenten der FRBs hingegen werden von den Direktoren der FRBs nach Zustimmung durch den Board of Governors ernannt. Im Gegensatz zum Eurosystem, dessen rechtliche Grundlage ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten ist, der nur einstimmig geändert werden kann, kann das Fed nie ausschließen, daß der Kongress die rechtliche Grundlage nach seinen Vorstellungen ändert (siehe hierzu etwa auch De Nederlandsche Bank 2001, p. 57

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und Ha/ke 2003, S. 195 f.). Dies hat natürlich auch Konsequenzen für die „alltägliche" Geldpolitik: „One possible factor explaining why the Fed is sometimes slow to increase interest rates and so smooths out their fluctuations is that it wishes to avoid a conflict with the president and Congress over increases in interest rates" {Mishkin 2004, p. 351).

Besonders problematisch wirkt hier die „Mehrzielorientierung" des Fed, da der Kongreß insbesondere das Fed mit dem Argument unter Druck setzten kann, es tue zu wenig für Vollbeschäftigung (Apel2()0?>, p. 40). Wie subtil politische Abhängigkeiten der Notenbank faktisch aussehen können, zeigt folgendes Beispiel: So weist Bindseil (2004, p. 5 and 19) darauf hin, daß das Fed anfangs der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts sogar eine Theorie erfunden hat, um davon abzulenken, daß es aufgrund politischen Drucks nicht in der Lage war (bzw. nicht gewagt hat), die Zinsen zu erhöhen, um Inflation zu verhindern {Bindseil 2004, p. 6). Das Fed machte für die Inflation nicht die Tatsache verantwortlich, daß sie nicht die kurzfristigen Zinsen erhöht hat, sondern „excessive borrowing by the banks through the discount window, i.e. not the rates were the problem, but quantities" {Bindseil 2004, p. 19). So entstand die „reserve position doctrine" (RPD). Eine Spielart dieser Doktrin ist die „Geldbasissteuerung" (zu den weiteren Einzelheiten siehe Bindseil2004, p. 12). Daß das Fed im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder auf die RPD Bezug nahm, wird in der Literatur häufig damit begründet, daß sie damit die „Verantwortung" für von ihr zur Inflationsbekämpfung gewollten Zinserhöhungen dem „Markt" zuschieben konnte. Dadurch kam die Geldpolitik des Fed weniger in die Schußlinie der Politik (siehe hierzu Bindseil 2004, p. 30 f.; Ruckriegel und Seit% 2002, S. 38 und die dort angegebene Literatur). Die „Erfindung" der RPD durch das Fed hatte aber auch entscheidenden Einfluß auf die akademische Welt. „It appears that with RPD, academic economists developed theories detached from reality, without resenting or even admitting this detachment" (Bindseil 2004, p. 5). Zusammenfassend kann hier festgehalten werden: „The endurance of RPD is explained by a symbiosis of central bankers who may have partially sympathised with RPD since it masked their responsbility for short term interest rates, and academics who were too eager to simplify away some key features of money markets and central bank operations." (Bindseil 2004, p. 4).

Ein weiteres Bespiel stammt aus den 80er Jahren. So schob das Fed 1979-1982 Geldmengenziele in den Vordergrund, um dahinter ihre Absicht, die Zinsen zu erhöhen und die Inflation zu bekämpfen, zu verbergen. Damit wollte sie verhindern, politischem Druck ausgesetzt zu sein (Hubbard2004, p. 491). Vom institutionellen Zuschnitt her ist das Eurosystem also vergleichsweise gut gewappnet, Instabilitätsinteressen zu begegnen. Und wenn im Aufgabenbündel des Fed das Vorbild für eine konzeptionelle Änderung der europäischen Geldpolitik gesehen wird, sollte man sich der damit verbundenen Relativierung des Preisstabilitätsziels bewußt sein. Dieser positiven Einschätzung könnte mit dem Hinweis begegnet werden, daß die vergleichsweise besseren makroökonomischen Ergebnisse in den USA die Relevanz der unterschiedlichen institutionellen Bedingungen in Frage stellten. Hier ist jedoch Vorsicht geboten. Zum einen ist im Lichte von Theorie und Empirie generell fraglich, ob von der Geldpolitik überhaupt andauernde reale Effekte bei Produktion und Beschäftigung ausgehen. Die besseren Resul-

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täte in den USA als in Deutschland bzw. der EWU sind eher Ergebnis höherer Flexibilität und intensiveren Wettbewerbs auf den amerikanischen Güter- und Faktormärkten. Zum anderen datieren der Geldpolitik möglicherweise zurechenbare Erfolge in der Form niedriger Inflationsraten erst seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Diese Erfolge sind wohl auch der Ausnahmeerscheinung Alan Greenspans zuzuschreiben, dessen hohe Reputation, die in der Öffentlichkeit viel dazu beigetragen hat, die Inflationserwartungen niedrig zu halten, sozusagen als Ersatz für eine weitgehend fehlende institutionelle Absicherung der Unabhängigkeit des Fed gewertet werden kann. Sein Nachfolger Ben Bernanke versuchte, das „inflation targeting" im Zielbündel des Fed höherrangig zu verankern, weil ein Inflationsziel die Glaubwürdigkeit des Fed bei der Inflationsbekämpfung stärken und den Märkten helfen würde, die Entscheidungen des Fed nachzuvollziehen. Dies rief jedoch massive Proteste von Kongressmitgliedern hervor. Barney Frank, der Vorsitzende des Finanzausschusses des Repräsentantenhauses, kritisierte, ein solches Inflationsziel gehe auf Kosten der Gleichbehandlung des anderen Hauptziels, nämlich der Beschäftigung (Guha und Schrörs 2007, S. 18).

3. Institutionen ohne Bestandsgarantie Institutionelle Regelungen können jedoch prinzipiell — wenn auch im Falle des Eurosystems bei weitem nicht so einfach wie im Falle des Fed — geändert werden. Für die eingangs erwähnte Vermutung, daß institutionelle Regeln zur Vermeidung einer politischen Vereinnahmung der geldpolitischen Entscheidungsträger durchkreuzt werden könnten, sprechen jedoch die Versuche zur Aushöhlung der Unabhängigkeit des Eurosystems im Vorfeld des (einstweilen gescheiterten) Europäischen Verfassungsvertrags. Bei Ratifikation des Vertrages von Maastricht durch den Deutschen Bundestag und den Bundesrat im Jahr 1992 schien es „undenkbar, daß die institutionellen Grundlagen der Währungsunion aufgebrochen werden könnten. Doch nun geben der vorliegende Entwurf für eine EU-Verfassung ... und der leichtfertige Umgang mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt dem Vorstand der Deutschen Bundesbank Anlaß zu großer Sorge" (Deutsche Bundesbank 2003b, S. 1). Der Grund für diese außergewöhnliche und drastische Stellungnahme des Vorstands der Deutschen Bundesbank lag darin, daß der Verfassungsentwurf in entscheidenden Punkten vom Vertrag von Maastricht abwich: 1. im Ziel der Preisstabilität für die gesamte Union, 2. in der Unabhängigkeit der teilnehmenden nationalen Notenbanken, 3. in der Stellung der EZB in der Union. 4. Zudem bestand die Gefahr einer Ermächtigungsklausel für erleichterte Änderungen des EZB-Statuts (Änderungen der Zusammensetzung und der Aufgaben des EZBRates und EZB-Direktoriums). Zu 1: Im EG-Vertrag ist in den Art. 2 und 4 „nichtinflationäres Wachstum" bzw. „PreisStabilität" als ein Ziel der EU vorgegeben. Der Verfassungsentwurf sprach im Zielka-

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talog (Teil I, Art. 3) hingegen nur von „ausgewogenem Wirtschaftswachstum". Welche Inflationsraten tolerabel wären, unterliegt weitem Interpretationsspielraum. „Redaktionelle Unachtsamkeit als Grund für die Abweichung vom EG-Vertrag scheidet aus, denn die Frage ist im Konventspräsidium kontrovers erörtert worden. Nach Ansicht mancher Beobachter steht hinter der weicheren Formulierung des Konvententwurfs die Vorstellung, Stabilität und Wachstum stünden in einem Zielkonflikt, und man könne mit etwas größerer Geldentwertung höhere Wachstumsraten .einkaufen' " {Zeitler 20Q3, S. 54).

Die Aufweichung der Preis stabilitätsnorm hätte der bislang erfolgreichen Eindämmung von Inflationserwartungen durch die EZB entgegengewirkt. Zu 2: Während im Art. 108 EG-Vertrag sowohl die Unabhängigkeit der EZB als auch der nationalen Zentralbanken gesichert ist, wurde im Verfassungsentwurf in Teil I (Art. 29 Abs. 3) nur die Unabhängigkeit der EZB, nicht aber die der nationalen Zentralbanken festgelegt. Die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken (NZBen) wird erst im operationellen Teil III geregelt. Da die Präsidenten der NZBen im EZB-Rat mitwirken und die NZBen die Geldpolitik operativ umsetzen, ist eine „ungleiche" Behandlung ihrer Unabhängigkeit eher geeignet, die Position der NZBen in ihren jeweiligen Ländern zu schwächen. Zu 3: Der Vertrag von Maastricht hat auf eine Einordnung der EZB als „Organ" der Gemeinschaft verzichtet und EZB und ESZB (Europäisches System der Zentralbanken) als „Institution sui generis" behandelt. Im Verfassungsentwurf hingegen wird die EZB ausdrücklich als „Organ" bezeichnet. Aus der Organstellung der EZB folgt aber die Pflicht zur „loyalen Zusammenarbeit" mit den anderen Organen. Gerade aber der Status der EZB als Institution sui generis sollte verhindern, „daß die Notenbank durch die Einbindung in die allgemeine wirtschaftspolitische Koordinierung der Union dazu gezwungen werden kann, ihr vorrangiges Ziel der Preisstabilität zu vernachlässigen" (Deutsche Bundesbank 2003b, S. 3). Zu 4: Hierbei handelt es sich um einen Vorschlag der EU-Kommission, der vorsieht, daß der Europäische Rat einstimmig das EZB-Statut (Art. 10-12 und 43) ändern kann, ohne daß es noch einer Ratifizierung in den einzelnen Staaten bedarf. Unter diese Neuregelung würden etwa auch die Fragen der Vertragslaufzeit des Direktoriums, der Veröffentlichung der Ergebnisse der Beratungen des EZB-Rates usw. fallen. Die institutionellen Rahmenbedingungen der Geldpolitik könnten so verhältnismäßig leicht verändert werden, die damit bewirkte „grundsätzliche Abänderbarkeit der Währungsordnung würde deren Maastrichter Grundlagen in Frage stellen" {Seidel2004, S. 9). Die EZB hatte deshalb ersucht, zu den Punkten 1 . - 3 . entsprechende Änderungen am Vertragsentwurf vorzunehmen (vgl. hierzu EZB 2003a und EZB 2003b) bzw. Punkt 4 nicht in den Vertrag aufzunehmen (EZB 2003c). Aufgrund schwerwiegender Bedenken des EZB-Rates wurde der Vorschlag Punkt 4 dann auch fallen gelassen (EZB 2004b, S. 139). -Am 30.4.2004 hatte sich der Präsident der EZB, Jean-Claude Triebet, nochmals an den Präsidenten des EU-Rats mit der Bitte um Änderungen im Entwurf des Verfassungsentwurfs gewandt {EZB 2004c). Während dem Anliegen des Eurosystems bei Punkt 1 in der Endfassung des Verfassungsvertrages Rechnung getragen wurde, fanden die Änderungswünsche zu den Punkten 2 und 3 keine Berücksichtigung (¿Zeitler 2004).

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Die Diskussionen über den Vertrag zur Europäischen Verfassung bzw. über die Neufassung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank zeigen deutlich, daß die Politik immer wieder versucht, die Zentralbank unter ihren Einfluß zu bringen (siehe Hafke 2003, S. 185 und die dort angegebene Literatur). Bei einem neuen Anlauf zur Schaffung einer Europäischen Verfassung sind deshalb mögliche Änderungen am institutionellen Design des Eurosystems frühzeitig zu kontrollieren. Vermutlich gravierender sind fiskalpolitische Entwicklungen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 ist mit seinen Verschuldungsgrenzen als institutionelle Stütze der stabilitätsorientierten Geldpolitik anzusehen. Der laxe Umgang einiger Mitgliedsländer der EWU mit diesen Regelungen und das Ausbleiben vertraglich vorgesehener Sanktionen können die auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik unter politischen Druck setzen. „Bei hoher staatlicher Verschuldung und einem - gerade in der derzeitigen Situation historischer Niedrigzinsen nicht auszuschließenden — höheren Zinsniveau wächst die Gefahr, die nominale Schuldenlast durch Druck auf die Notenbank, eine lockerere Geldpolitik zu betreiben, zu akkommodieren, also stabilitätspolitisch notwendige Zinserhöhungen zu unterlassen oder hinauszuschieben. Sicherlich wirkt diesem Druck eine glaubwürdige Geldpolitik und die institutionelle Absicherung der Unabhängigkeit der EZB und der nationalen Notenbanken in Artikel 108 des EG-Vertrages entgegen. Der Stabilitätspakt setzt aber nicht an einem bereits eingetretenen Konfliktfall an, sondern will aus weiser politischer Erfahrung heraus bereits das Entstehen eines Konflikts zwischen Finanz- und Geldpolitik vermeiden" (Zeitler 2005, S. 4).

Gegen das Eintreten der H a r s c h e n Befürchtung einer Vereinnahmung der Zentralbank durch „ihre" Regierung spricht zwar, daß es diese (eine) Regierung in Europa (noch) nicht gibt. Allerdings ist die Gefahr, daß die einzelnen (nationalen) Regierungen auch weiterhin gemeinsam politischen Druck ausüben, durchaus nicht von der Hand zu weisen. In diese Richtung könnte z.B. die Lockerung der Vorschriften zum Stabilitäts- und Wachstumspakt im Frühjahr 2005 interpretiert werden. Das Eurosystem bindende Interventionsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments bestehen wegen seiner Unabhängigkeitsposition zwar nicht. Dies schließt jedoch ebenfalls nicht aus, daß - wie im Jahre 2005 - ein politischer Druck durch kritische Resolutionen gegenüber der stabilitätsorientierten Geldpolitik ausgeübt wird. Auch sollte man die Langzeitwirkung wiederholter Forderungen, die von der EZB zu verfolgenden Ziele der Kontrolle durch das demokratisch legitimierte Europäische Parlament zu unterwerfen, nicht unterschätzen. Irgendwann mag dann die Überzeugung wachsen, der Maastrichter Vertrag sei nicht demokratisch legitimiert.

IV. Fazit Eine an makroökonomischen Zielen ausgerichtete Geldpolitik erfordert eine staatliche Zentralbank. Für eine effiziente Geldpolitik, die insbesondere auch auf eine Steuerung der Erwartungen abzielt, ist wiederum die Frage der Glaubwürdigkeit zentral. In diesem Zusammenhang kommt den Unsicherheiten reduzierenden institutionellen Designs einer Zentralbank eine wesentliche Rolle zu. Hierzu gehört die unzweifelhafte Garantie ihrer Unabhängigkeit. Für die Unabhängigkeit des Eurosystems hatte die Deutsche Bundesbank eine gewisse Vorbildfunktion. Verglichen mit der Fed ist das institutionelle Design des Eurosystems überlegen, da nicht nur die Zielvorgabe eindeutig, sondern auch seine unabhängige Stellung rechtlich klar geregelt ist. Im institutionellen Design des Fed ist die Unabhängig-

Zentralbanken zwischen staatlichem Machtanspruch und Stabilitätsinteresse

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keit weniger ausgeprägt. Hier hängt es viel stärker von Personen ab, welche Freiräume die Zentralbank faktisch hat und welchen Grad an Glaubwürdigkeit die Geldpolitik besitzt. In Deutschland hingegen existierte aufgrund historischer Erfahrungen mit großen inflationsbedingten Vermögensverlusten ein ausgeprägtes Stabilitätsinteresse der Bevölkerung, das die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank gegen Versuche politischer Einflußnahme verteidigte. Solche gesellschaftlichen Wertvorstellungen schlagen sich schließlich auch im institutionellen Gefuge der Zentralbank nieder, so daß man (bei Austausch von „Inflationsrate" durch „Zentralbank") mit Issing (1992, S. 8) festhalten kann: „Jede Gesellschaft hat letztlich die Zentralbank, die sie verdient und im Grunde auch will." Ob sich im Euroraum bereits eine europäische Stabilitätskultur gefestigt hat, mit deren Unterstützung die EZB nötigenfalls rechnen kann, bleibt abzuwarten.

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Egon Görgens und Karlheinz Ruckriegel

Zusammenfassung Staatliche Zentralbanken waren nicht selten Instrumente ihrer Regierungen für eine schuldbefreiende Inflationspolitik. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß staatliche Zentralbanken als „lender of last resort" eine wichtige Rolle zur Bewältigung finanzieller Krisen gespielt haben. Ob die Nachteile der staatlichen Monopollösung vermieden und zugleich deren Vorteile genutzt werden können, ist einmal eine technische Frage, vor allem aber eine des institutionellen Zuschnitts. In technischer Hinsicht muß eine feste Bindung der Geschäftsbanken an die Zentralbank bestehen. In institutioneller Hinsicht benötigen Zentralbanken politische Autonomie bei der Verfolgung ihnen exklusiv vorgegebener Ziele, vor allem der Preis Stabilität. Ein Vergleich zeigt, daß die diesbezüglichen institutionellen Voraussetzungen des Eurosystems denen des Federal Reserve Systems in den USA überlegen sind.

Summary Central banks between government power and stability interest Central banks were frequently used by their governments as instruments for a monetary policy reducing national debt by inflation. On the other hand it must be seen that central banks as lenders of last resort helped to prevent and contain financial disruptions. Perceiving this role — and avoiding inflationary pressures — two conditions must be fulfilled, a technical and especially an institutional one. Technically the banks must be tied to the central bank. Institutionally the central bank needs political autonomy in pursuing exclusively assigned objectives, especially price stability. In this paper it will be shown that the institutional prerequisites of the Eurosystem are superior to those of the US Federal Reserve System.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2007) Bd. 58

André Schmidt und Stefan Voigt

Bessere europäische Wettbewerbspolitik durch den „more economic approach"? Einige Fragezeichen nach den ersten Erfahrungen Inhalt I. Einleitung II. „Rule of reason" vs. „per se-rule" in der Wettbewerbspolitik III. Kosten- und Nutzenkalküle 1. „Per se"-Regeln 2. „Rule of Reason" TV. Kosten und Nutzen des „more economic approach" 1. Grundsätzliche Überlegungen 2. Erste Erfahrungen mit dem „more economic approach "im Fall Sony/BMG 3. Die politökonomische Dimension des ökonomischeren Ansatzes V. Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: Does the more economic approach lead to a better competition policy? Some question marks after the first experiences

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I.

Einleitung

Es besteht kein Zweifel, der „more economic approach" in der europäischen Wettbewerbspolitik ist auf dem Vormarsch. Nach der Neuordnung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 81 und 82 EGV durch die VO 1 /2003 und der grundlegenden Revision der europäischen Fusionskontrolle im Jahr 2004 stehen nun die Mißbrauchsaufsicht gegenüber marktbeherrschenden Unternehmen und die Beihilfenkontrolle auf dem Prüfstand. Der „more economic approach" scheint sich zu einem neuen, alles bestimmenden wettbewerbspolitischen Leitbild der europäischen Wettbewerbspolitik zu entwickeln. In diesem Beitrag wird der „more economic approach "aus ordnungsökonomischer Perspektive bewertet. Dabei steht die Fusionskontrolle im Mittelpunkt, weil bereits einige Erfahrungen mit ihr vorliegen. Zunächst wird gefragt, was eigentlich mit dem ökonomischeren Ansatz in der europäischen Wettbewerbspolitik gemeint ist. Dabei geht es um Zielset-

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André Schmidt und Stefan Voigt

zung und Ausgestaltung des „more economic approach". Die Meinungen sowohl der Ökonomen als auch der Kartelljuristen über den neuen Ansatz in der Wettbewerbspolitik sind gespalten (vgl. Immenga 2006; Schmidtchen 2006b). Während einerseits die Möglichkeit gesehen wird, die bisher im Strukturdenken verhaftete „orthodoxe" Wettbewerbspolitik zugunsten einer an der ökonomischen Effizienz orientierten Wettbewerbspolitik zu überwinden (vgl. Schmidtchen 2005; 2006a), werden andererseits die Risiken einer wohlfahrtsökonomischen Instrumentalisierung der Wettbewerbspolitik betont. Für jede dieser Meinungen gibt es auf den ersten Blick eine Reihe von guten Argumenten, und a priori läßt sich nicht bestimmen, ob die Skeptiker oder die Befürworter die besseren Argumente auf ihrer Seite haben. Viel hängt davon ab, wie der ökonomischere Ansatz in der europäischen Wettbewerbspolitik tatsächlich umgesetzt wird. Der vorliegende Beitrag fragt, ob der ökonomischere Ansatz auch tatsächlich eine ökonomischere Fusionskontrolle garantiert und hinterfragt damit die teilweise euphorischen Erwartungen seiner Befürworter. Zweifel sind erlaubt, ob der neue Ansatz die an ihn gestellten Erwartungen erfüllen kann. Bei der Fusionskontrolle etwa scheint die Europäische Kommission (2004, S. 5) primär vom Ziel getrieben zu sein, im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung die ökonomischen Effekte des jeweils zu untersuchenden wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens zu erfassen. Im Mittelpunkt steht hierbei die sogenannte Einzelfallbeurteilung (vgl. auch Rßller 2005 S. 39). Die Europäische Kommission möchte in jedem einzelnen Fall die vorliegenden ökonomischen Bedingungen überprüfen, in dem sie eine Vielzahl von Einflußgrößen berücksichtigt, um dann im Einklang mit den zugrundeliegenden industrieökonomischen Modellen die jeweiligen Entscheidungen zu treffen. Die spezifischen Marktbedingungen sowie das entsprechende Marktverhalten sollen daher im konkreten Einzelfall berücksichtigt werden. Aus ordnungsökonomischer Sicht ist jedoch zu bezweifeln, ob dieser neue ökonomische Ansatz im Vergleich zur bisherigen, stärker am Marktbeherrschungskriterium orientierten Fusionskontrolle tatsächlich zu mehr Effizienz in der Wettbewerbspolitik führt. Mehr Effizienz bedeutet hier, daß der Nutzen dieser neuen Art von Wettbewerbspolitik größer ist als die durch ihn hervorgerufenen Kosten. So besteht die Gefahr, daß die angestrebte Einzelfallorientierung zu geringerer Rechtssicherheit und damit zu Ineffizienzen in der europäischen Wettbewerbspolitik führt. Den verschiedenen Vorschlägen der Kommission zur Umsetzung des „more economic approach" ist eines gemeinsam: Die angestrebte stärkere Einzelfallbeurteilung soll durch eine Aufwertung der „rule of reason" erfolgen. Im Umkehrschluß bedeutet das somit eine Abwertung von „per se"-Regeln. Im Rahmen einer ordnungsökonomischen Analyse ist daher zu fragen, ob die Kommission mit der Entscheidung, die Wettbewerbspolitik stärker als bisher an einer „rule of reason" auszurichten, nicht gleichzeitig auch eine sehr kostenträchtige Entscheidung trifft, weil sie auf die ökonomischen Vorteile von „per se"-Regeln in der Form von mehr Transparenz, einem höheren Grad an Rechtssicherheit und geringeren Transaktionskosten verzichtet. Darüber hinaus reduzieren „per se"-Regeln die diskretionären Entscheidungsspielräume der jeweiligen Wettbewerbsbehörde, was insbesondere aus politökonomischer Sicht von hoher Relevanz ist. Auf Grundlage dieser Überlegungen wird der neue Ansatz der europäischen Wettbewerbspolitik hier diskutiert. Im ersten Schritt werden die Vor- und Nachteile von „per se"-

Bessere Wettbewerbspolitik durch den „more economic approach " ?

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Regel und „rule of reason" in der Wettbewerbspolitik diskutiert. Darauf aufbauend werden im dritten Teil die Kosten und Nutzen des „more economic approach" im Vergleich zum bisherigen Verfahren untersucht und erste Erfahrungen mit dem neuen Ansatz (im Fall Impala) gewürdigt. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und einem kurzen Ausblick.

II. „Rule of reason" vs. „per se-rule" in der Wettbewerbspolitik Prinzipiell können mit einem „ökonomischeren Ansatz" ganz unterschiedliche Dinge gemeint sein: Erstens kann es darum gehen, zur Vorbereitung der Entscheidungsfindung vermehrt auf ökonomische Modelle zurückzugreifen. Zweitens könnte mit einem ökonomischeren Ansatz auch gemeint sein, daß der erforderliche Ressourcenaufwand geringer ist als bei der Nutzung anderer, bisher genutzter Ansätze, und drittens schließlich könnte ein ökonomischerer Ansatz an den ökonomischen Konsequenzen der Entscheidungsfindung interessiert sein (Voigt und Schmidt 2004, S. 580). Die Kommission scheint primär vom ersten Ziel getrieben zu sein. Im Vordergrund steht der Rückgriff auf hinreichend spezifizierte ökonomische Modelle in der Entscheidungsfindung. Die Kommission hofft offenbar, im Rahmen einer Einzelfallabwägung Einzelfallgerechtigkeit erreichen zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, wird sie in Zukunft noch mehr auf die „rule of reason" setzen — und im Umkehrschluß: noch weniger auf „per se"-Regeln. Welche Vorteile besitzt die „rule of reason" im Vergleich zu „per se"-Regeln? Und welche Nachteile? Der ökonomischere Ansatz ist nur dann sinnvoll, wenn der mit ihm verbundene (erwartete) Nettonutzen höher ist als unter einer stärker an „per se"-Regeln orientierten Wettbewerbspolitik. Daher sind im nächsten Schritt zunächst die grundsätzlichen Aspekte der Anwendung einzelfallbezogener Regelungen im Vergleich zur Anwendung von Universalklauseln zu erörtern. „Per se"-Regeln grenzen erlaubte von verbotenen Handlungen ab. Erlaubnis bzw. Verbot gelten prinzipiell, und die Besonderheiten eines Einzelfalls spielen bei den Entscheidungen der Wettbewerbsbehörde keine Rolle. Unter der „rule of reason" wird hingegen versucht, die Vor- und Nachteile einer Handlung im spezifischen Entscheidungskontext einzeln zu bewerten — und dann ein Urteil über die Rechtmäßigkeit einer bestimmten Handlung zu treffen. Bei der Abwägung zwischen „per se"-Regeln und einer „rule of reason" geht es, vereinfacht ausgedrückt, um die Frage des Differenzierungsgrads von Wettbewerbsregeln. Während „per se"-Regeln die wettbewerbsbeeinträchtigenden Strategien nahezu undifferenziert verbieten, geht die „rule of reason" regelmäßig mit einem höheren Differenzierungsgrad einher (vgl. Arthur 2000; Tom and Pak 2000). In der Praxis der Wettbewerbspolitik werden „per se"-Regeln häufig mit „rule of reason"-Regeln kombiniert angewendet (Areeda 1992, S. 42 f.). Im deutschen Wettbewerbsrecht etwa sind Kartelle generell verboten („per se"-Regel), eine Vielzahl von Ausnahmen aufgrund ökonomischer Abwägungen ist jedoch möglich („rule of reason") (Christiansen und Kerber 2006). Der optimale Differenzierungsgrad ist dann erreicht, wenn es der Wettbewerbspolitik gelingt, simultan Entscheidungsfehler und Entscheidungskosten zu minimieren (vgl. Polinsky and Shavell 1989; Joskoif 2002; Evans and Padilla 2005). Mit anderen Worten, die zentrale Frage lautet,

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André Schmidt und Stefan Voigt

inwieweit es möglich ist, einen .optimalen' Regelstandard zwischen „per se"-Regeln und einer „rule of reason" zu finden. Aus theoretischer Sicht sind dabei die Grenznutzen und Grenzkosten einer jeweiligen Änderung der Regeln — entweder mehr in Richtung „rule of reason" oder „per se rule" — gegeneinander abzuwägen. Mit der Entscheidung der Europäischen Kommission zur Verwirklichung des „more economic approach" hat sich die Kommission dafür entschieden, eine stärkere „rule of reason" — Anwendung zu verfolgen. Daher sollen im nächsten Abschnitt die Kosten und Nutzen der verschiedenen Regeln diskutiert werden.

III. Kosten- und Nutzenkalküle 1. „Per se"-Regeln Der Nutzen von „per se"-Regeln ist in erster Linie darin zu sehen, daß nur geringe diskretionäre Handlungsspielräume auf Seiten der Entscheidungsträger vorhanden sind. Dies bedeutet einen erheblichen Zugewinn an Rechtssicherheit für die Unternehmen bei gleichzeitiger hoher Transparenz und Operationalität der Regelungen. Das führt tendenziell zu einer Reduktion der Transaktionskosten für die betroffenen Parteien. Gleichzeitig reduzieren „per se"-Regeln, da sie den Entscheidungsträgern keine Ermessensspielräume zugestehen, die Möglichkeiten der Beeinflussung durch Interessengruppen. Die Entscheidungsträger sind im Rahmen ihrer Entscheidung lediglich dazu verpflichtet, die „per se"-Regel anzuwenden. Für eine Bevorzugung einzelner Interessengruppen geben „per se"-Regeln nur wenige Möglichkeiten (Baum 1982). Die Notwendigkeit von „per se"-Regeln läßt sich daher auch aus der Public Choice-Perspektive begründen. Unterstellt man, daß sich die Bürokraten und Politiker nicht wohlfahrtsmaximierend, sondern eigenutzmaximierend verhalten, so können existierende diskretionäre Handlungsspielräume dazu genutzt werden, Partikularinteressen zum Durchbruch zu verhelfen. Insofern ist das Mißtrauen gegenüber solchen diskretionären HandlungsSpielräumen gerechtfertigt (Vgl. auch Mant^avinos 2005, S. 219). Daher wird vor allem in ordnungsökonomischen Ansätzen immer wieder die Notwendigkeit solcher „per se"-Regeln betont. Unter Rückgriff auf Hayek fordert insbesondere Hoppmann (1968, S. 36 f.) die Einführung von „per se"-Regeln in der Wettbewerbspolitik. Mit einem Hinweis auf den konstitutionellen Wissensmangel, dem die Wettbewerbspolitiker ausgesetzt sind, lehnt Hoppmann (1967, S. 181 ff.) die Anwendung einer „rule of reason" für die Wettbewerbspolitik ab. Vielmehr sollten sämtliche freiheitsbeschränkende Verhaltensweisen „per se" verboten werden (Hoppmann 1988, S. 324 ff.). Allerdings übersieht Hoppmann, daß auch das Setzen von „per se"-Regeln unter einem konstitutionellen Wissensmangel erfolgt, was dazu führen kann, daß „per se"-Regeln dann zu unerwünschten Ergebnissen führen können. Jedoch ist der Ansatz von Hoppmann mit einer an wohlfahrtsökonomischen Kriterien orientierten Betrachtungsweise schwer vereinbar.1 So können von zahlreichen wettbe1

Vgl. hierzu die Kritik an dem Ansatz der Österreichischen Schule bei Gerber (1998, S. 232 ff..); Venit (2005, S. 1157 ff.); sowie die Argumentation bei Weizsäcker (2003).

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werbs- bzw. freiheitsbeschränkenden Verhaltensweisen nicht nur wettbewerbsschädliche, sondern eben auch wohlfahrtsfördernde und wettbewerbsintensivierende Wirkungen ausgehen. Dies kann beispielsweise für effizienzsteigernde Unternehmenszusammenschlüsse oder auch vertikale Vereinbarungen gelten. Auch bei zahlreichen horizontalen Wettbewerbsbeschränkungen ist nicht immer davon auszugehen, daß sie wettbewerbsschädlich sind. Der von Hoppmann zitierte konstitutionelle Wissensmangel wirkt daher in beide Richtungen. Nicht nur, daß die wettbewerbsfördernden Wirkungen nicht mit Sicherheit prognostiziert werden können, es können auch umgekehrt die wettbewerbsschädlichen Aspekte des Verhaltens nicht immer mit Sicherheit vorhergesagt werden. Die Forderung nach „per se"-Regeln auf der Basis des konstitutionellen Wissensmangels hat also den Preis, wohlfahrtsökonomisch zu suboptimalen Ergebnissen zu führen, da man die freiheitsbeschränkenden Wirkungen möglicher wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen nicht hinreichend genau prognostizieren kann. Darüber hinaus würde ein „per se"-Verbot von Unternehmenszusammenschlüssen zu einer unverhältnismäßigen Beeinträchtigung der Vertragsfreiheit führen. Daher kann es in der Wettbewerbspolitik erforderlich sein, die gesamten relevanten Verhaltens- und Bedingungskonstellationen des konkreten Einzelfalls zu beurteilen.

2. „ R u l e o f R e a s o n " Aus theoretischer Sicht scheint insofern vieles für den Schritt der Europäischen Kommission zu sprechen, die Effizienz der europäischen Wettbewerbspolitik durch eine noch stärker am Einzelfall orientierte Praxis zu erhöhen. Im Erfolgsfall wäre eine höhere Entscheidungsqualität in Form der Reduktion der jeweiligen Entscheidungsfehler der ersten und zweiten Ordnung die Konsequenz (vgl. Hildebrand 2005; Hofer, Williams und Wu 2005; Rälkr 2005, S. 39). So könnten mit Hilfe des ökonomischeren Ansatzes ungerechtfertigte Freigaben (Fehlertyp 1. Ordnung) und ungerechtfertigte Untersagungen (Fehlertyp 2. Ordnung) reduziert werden. Insgesamt würde dies zu Wohlfahrtserhöhungen führen, da direkte Wohlfahrtsverluste durch wettbewerbsschädliche Verhaltensweisen vermieden und gleichzeitig potentielle Effizienzgewinne realisiert werden könnten. Die Vorteile des ökonomischeren Ansatzes bestehen vorwiegend in der Reduktion von Fehlerkosten (Christiansen 2006). Diesen Vorteilen sind jedoch die jeweiligen Kosten gegenüberzustellen. Sie bestehen in der Gefahr einer faktischen Verringerung an Rechtssicherheit und einem höheren Verfahrensaufwand. In bezug auf die Wettbewerbspolitik bedeutet Rechtssicherheit, daß die Unternehmen Erwartungen über die Reaktion der Wettbewerbsbehörden bilden können, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als richtig erweisen werden. Im Bereich der Zusammenschlußkontrolle sind angekündigte, aber durch die Wettbewerbsbehörden untersagte Fusionen mit hohen versunkenen Kosten für die betroffenen Unternehmen verbunden. Gescheiterte Fusionsvorhaben können darüber hinaus mit Reputationsverlusten verbunden sein, Unsicherheit und Widerstand in der Belegschaft sind weitere Kostenkomponenten. Unterstellt man vollkommene Rechtssicherheit, so würden Fusionen nur dann angemeldet werden,

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wenn die betroffenen Unternehmen auch davon ausgehen können, daß ihre Fusionsvorhaben die Zustimmung der Wettbewerbsbehörden finden würden. Rechtssicherheit ist auch eine Konsequenz von früheren Entscheidungen — und hat damit eine Erfahrungskomponente: Nach der Verabschiedung eines neuen Gesetzes herrscht zunächst Unsicherheit über dessen Interpretation durch die Wettbewerbsbehörden. Mit zunehmender Anwendungspraxis können die Unternehmen auf immer mehr Erfahrungswissen zurückgreifen, so daß die Unsicherheit im Zeitablauf abnimmt. Neben der inhaltlichen Dimension besitzt Rechtssicherheit aber auch eine zeitliche Dimension. Im Fall eines Fusionsverbotes müssen die davon betroffenen Unternehmen die Chance haben, die Entscheidung überprüfen zu lassen. Wenn bis zu einer endgültigen Entscheidung allerdings Jahre vergehen, dann kommt das der Abwesenheit von Rechtssicherheit gleich. Mit der stärkeren Anwendung der „rule of reason" ist dabei zu befurchten, daß nicht nur die Entscheidungen selbst schwieriger prognostizierbar werden, sondern daß auch die Anfechtungswahrscheinlichkeit erhöht wird, da Einzelfallentscheidungen prinzipiell mit höheren diskretionären Ermessensspielräumen einhergehen und gerade die Ausübung hoher Ermessensspielräume die Umstrittenheit einzelner Entscheidungen drastisch erhöhen kann. Gleichzeitig werden dann die entsprechenden Anfechtungsverfahren vor den Gerichten ebenfalls mit höheren prozessualen Aufwendungen verbunden sein. Dies würde nicht nur eine weitere Reduktion der Rechtssicherheit bedeuten, sondern auch erhöhten Ressourceneinsatz und - spiegelbildlich - geringere Effizienz. Der höhere Verfahrensaufwand ergibt sich daraus, daß geeignete institutionelle Strukturen gefunden werden müssen, die sicherstellen, daß die Wettbewerbspolitik nicht von einzelnen Interessengruppen instrumentalisiert und Rechtssicherheit auch unter Entscheidungen mit hohen diskretionären Ermessensspielräumen gewährleistet werden kann. Dabei wird deutlich, daß die institutionellen Gestaltungsaufgaben bei einer „rule of reason" ungleich komplexer sind als bei der Verwendung von „per se"-Standards. Die Ermessenspielräume dürfen zum einen nicht unbegrenzt sein, sondern sollten durch rechtlich überprüfbare Ermessengrenzen beschränkt sein. Zum anderen müssen Entscheidungen unter Ausübung des Ermessens transparent sein, damit die Ausübung der Ermessensspielräume überprüft werden kann. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, daß die Institutionalisierung einer „rule of reason" aufwendiger und komplexer ist und mit höheren Kosten einhergeht als die Verwendung von „per se"-Kriterien. Diese höheren Kosten sind als Preis dafür anzusehen, daß man dadurch stärker am Einzelfall orientiert entscheidet — und damit möglicherweise auch effizienter. Weiterhin sind bei Einzelfallentscheidungen höhere Entscheidungskosten zu erwarten. Die Qualität der Entscheidungen wird maßgeblich davon abhängen, inwieweit es der Wettbewerbsbehörde gelingt, die entscheidungsrelevanten Informationen zu beschaffen und adäquat zu verarbeiten. In der europäischen Fusionskontrolle zeigt sich bereits jetzt, daß der Verfahrensaufwand gegenüber den alten Regelungen beträchtlich gestiegen ist (Ungos et al. 2004). Sowohl Unternehmen als auch Wettbewerbsbehörden müssen Zeit und Geld investieren (vgl. bereits Neven, Nuttal uns Seabright 1993). Gleichzeitig erhöhen sich die Kosten der Informationsverarbeitung. Die Aussagekraft der im Rahmen der Einzelfallprüfung

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angewandten industrieökonomischen und ökonometrischen Modelle hängt entscheidend von der Qualität und Vollständigkeit der verfügbaren Daten ab, da ansonsten die Wahrscheinlichkeit des Treffens von Fehlentscheidungen ansteigt, was zu Wohlfahrtsverlusten fuhren kann (vgl. Bundeskartellamt 2004, S. 6; Schmidtchen 2006c, S. 185). Auch diese Kosten müssen den jeweiligen Nutzen einer höheren Entscheidungsqualität gegenübergestellt werden. Zusammenfassend läßt sich daher konstatieren, daß eine stärkere Orientierung zur „rule of reason" mit zahlreichen Kosten behaftet ist. Neben den höheren Verfahrens- und Entscheidungskosten ist es vor allem der Verlust an Rechtssicherheit. Wird die wettbewerbspolitische Beurteilung unternehmerischer Verhaltensweisen von ihren konkreten Marktauswirkungen abhängig gemacht, so steht die dazu notwendige einzelfallbezogene Wettbewerbsanalyse in einem Zielkonflikt mit der Notwendigkeit normativer Generalisierung und Vorhersagbarkeit (Drexlund Conde Gallego 2006, S. 3).

IY. Kosten und Nutzen des „more economic approach" 1. Grundsätzliche Überlegungen Der „more economic approach" wird die europäische Wettbewerbspolitik nur dann verbessern, wenn es mit ihm gelingt, die Zahl der Entscheidungsfehler zu vertretbaren Kosten zu reduzieren. Anders formuliert: Ein positiver Nettonutzen ist nur dann zu erwarten, wenn die Vorteile aus einer höheren Entscheidungsqualität die Nachteile der höheren Entscheidungs- und Informationskosten sowie den Verlust an Rechtssicherheit zumindest aufwiegen. Daher wird im nächsten Schritt gefragt, inwieweit mit dem ökonomischeren Ansatz in der Wettbewerbspolitik die Entscheidungsqualität tatsächlich gesteigert werden kann. Die Europäische Kommission beabsichtigt, durch Rückgriff auf industrieökonomische Modelle das Verhalten der Wettbewerber im Einzelfall zu würdigen. Unternehmerisches Verhalten soll dann geahndet werden, wenn aufgrund der Modelle zu erwarten ist, daß sich aus dem Verhalten negative Auswirkungen für die Konsumentenwohlfahrt ergeben würden. Ob die Wettbewerbspolitik tatsächlich besser wird, hängt damit davon ab, ob die genutzten industrieökonomischen Modelle geeignet sind, robuste Ergebnisse bezüglich des zu beurteilenden Marktverhaltens abzuleiten. Es sind jedoch leise Zweifel erlaubt, ob dies eine erfolgversprechende Strategie zur Erhöhung der Entscheidungsqualität ist. Worauf stützt sich diese Skepsis? Damit die quantitativen Methoden eine höhere Entscheidungsqualität im Einzelfall generieren können, müssen sie im wesentlichen zwei Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen in der Lage sein, die gegenwärtigen Wettbewerbsbedingungen auf dem zu untersuchenden Markt adäquat abzubilden, und die mit ihrer Hilfe gewonnenen Ergebnisse müssen in justitiable Entscheidungen münden, die einer gerichtlichen Überprüfung zumindest potentiell standhalten können. Fraglich ist, ob sich mit Hilfe industrieökonomischer Modelle Markt- und Wettbewerbsprozesse adäquat abbilden lassen. Dagegen spricht bereits die Tatsache, daß es sich

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bei Wettbewerbsprozessen generell um vielschichtige und komplexe Phänomene handelt (Hayek 1972, S. 25 ff.). Damit ist es aus theoretischer Sicht nur schwer möglich, alle relevanten Bedingungen und Funktionsweisen sowie Wirkungen von Wettbewerbsprozessen herauszuarbeiten. Wird der Wettbewerb als ein offener Prozeß charakterisiert, dessen ökonomische Ergebnisse nicht genau vorhergesagt werden können, dann sind einer exakten Prognose von Ergebnissen dieses Prozesses enge Grenzen gesetzt (Hoppmann 1968, S. 17) Insofern lassen sich bezüglich der Ergebnisse von Wettbewerbsprozessen allenfalls Mustervorhersagen treffen. Eine exakte Wettbewerbstheorie, die unter den jeweiligen Bedingungen die wohlfahrtsökonomischen Auswirkungen des jeweiligen Marktverhaltens prognostizieren kann, ist nicht existent (Schmalensee 1987, S. 42). Die Nutzung spieltheoretischer Modelle ist häufig hervorragend geeignet, die Struktur von Interaktionssituationen zu benennen. Problematisch wird es jedoch, wenn man aus den mit Hilfe der Spieltheorie generierten Ergebnissen bestimmte Handlungsempfehlungen für die Wettbewerbspolitik ausspricht, ohne auf die Begrenztheit der Ergebnisse hinzuweisen. So ist beispielsweise bei der Verwendung spieltheoretischer Modelle die Annahme, daß die Akteure alle potentiellen Handlungsoptionen kennen und die Ergebnisse („pay-offs") dieser Handlungsoptionen genau abschätzen können, zu kritisieren. Diese Bedingung mag innerhalb eines kurzfristigen Zeitraums möglicherweise noch erfüllt sein, es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, daß die Akteure auch über mehrere Perioden hinweg stabile Erwartungen bilden können (vgl. hierzu insbesondere die Kritik von Güth (1992, S. 272)). Ist diese Annahme nicht erfüllt, so kann es bereits zu erheblichen Abweichungen zwischen spieltheoretisch prognostiziertem und tatsächlich beobachtbarem Marktverhalten kommen. Die experimentelle Ökonomik hat in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, daß Verhaltensprognosen, die mit Hilfe einer einfachen Rationalitätsannahme getroffen werden, sich systematisch als falsch erweisen (Camerer 2003). Auch ist keineswegs gesichert, daß die Anwendung spieltheoretischer Modelle zu einheitlichen Ergebnissen führt. Dabei ist weniger die Existenz multipler Gleichgewichte ein Problem als vielmehr das Fehlen einer geeigneten Theorie bezüglich der Gleichgewichtsauswahl. Auf diese Problematik machte bereits Louis Phlips (1995, p 11) als prominenter Vertreter der Anwendung spieltheoretischer Modelle in der Wettbewerbstheorie aufmerksam: „...1 know that much work remains to be done on practical questions, such as how a given industry can be identified as being in a Nash equilibrium, how it gets into such an equilibrium, how it gets out of it, and how it moves from one such equilibrium to another one. "

Daher sind die mit Hilfe der Spieltheorie generierten Ergebnisse zur Beurteilung der wohlfahrtsökonomischen Effekte wettbewerblicher Handlungsstrategien stets vor dem Hintergrund der häufig restriktiven Annahmen zu betrachten. Damit keine Mißverständnisse auftreten: Dieser Beitrag richtet sich keineswegs gegen die Industrieökonomik. Im Gegenteil: die industrieökonomische Forschung und ihre Ergebnisse insbesondere auch im Rahmen der empirischen Industrieökonomik sind für eine erfolgreiche Wettbewerbspolitik elementar und unverzichtbar. Industrieökonomische Modelle bilden die theoretische Basis der Wettbewerbspolitik, fraglich ist nur, ob das Treffen von Einzelfallentscheidungen auf der Basis spezifischer industrieökonomischer Modelle zu einer Erhöhung der Entscheidungsqualität führt.

Bessere Wettbewerbspolitik durch den „more economic approach " ? Die oben dargestellten Zweifel bezüglich der zuverlässigen und konsistenten Übertragbarkeit industrieökonomischer Modelle in die wettbewerbspolitische Praxis lassen gleichsam auch an der zweiten Voraussetzung, nämlich der Schaffung einer klaren Justitiabilität, erhebliche Zweifel aufkommen. Der Übertragbarkeit abstrakter Modelle in empirische Anwendungen und Tests, die gerichtsverwertbare Tatsachen liefern, sind enge Grenzen gesetzt (Tiro/e 1999, S. 833). Das liegt auch daran, daß häufig umstritten ist, welches Modell einen konkreten empirischen Fall am besten abzubilden vermag (Fisher 1989). Angewandt auf die Einzelfallentscheidungen bedeutet dies, daß die Wettbewerbsbehörde bzw. die Generaldirektion Wettbewerb entscheiden muß, welche Modelle für den jeweiligen Einzelfall relevant sind, womit sich wiederum die diskretionären Entscheidungsspielräume erhöhen würden. Kommt es dann gar zu einer gerichtlichen Überprüfung, so müßten die Gerichte über die Geeignetheit einzelner ökonomischer Modelle in der wettbewerbspolitischen Entscheidungspraxis urteilen. Auch hier zeigt sich, daß die angestrebte Ökonomisierung der Wettbewerbspolitik zu einem Rückgang an Rechtssicherheit führen könnte. Eine ähnlich skeptische Beurteilung gilt auch für die geplante stärkere Verwendung von Simulationsanalysen zur Beurteilung der wettbewerbsschädigenden Effekte, insbesondere unilateraler Preiseffekte. Hierbei ist kritisch zu fragen, inwieweit modellbasierte Simulationsanalysen überhaupt in der Lage sind, dynamische Wettbewerbsprozesse abzubilden. Leise Zweifel ergeben sich insbesondere aus dem Tatbestand, daß es sich bei den Simulationsstudien zugrundeliegenden Modellen zumeist um komparativ-statische Modelle handelt, die nicht mit dynamischen Modellen verwechselt werden dürfen. Eine dynamische Wettbewerbstheorie, die in der Lage ist, den Wettbewerb als evolutionären Prozeß darzustellen, ist bis heute nicht existent. Insofern besteht die Gefahr, daß mit Hilfe auch noch so aufwendig gestalteter Simulationsstudien eine Fehlerpotenzierung stattfindet. Eine nachhaltige Verbesserung der Wettbewerbspolitik erscheint unter diesen Bedingungen äußerst zweifelhaft. Auch der häufig gemachte Verweis, man benötige für die entsprechenden Simulationen nur die Preiselastizität der Gesamtnachfrage, die individuelle Preiselastizität gegenüber den jeweiligen Produkten und die entsprechenden Grenzkosten verkennt, daß die Ableitung der Preiselastizitäten hauptsächlich durch Abgrenzung des relevanten Marktes bestimmt wird. Bereits deren Abgrenzung ist jedoch mit riesigen Problemen verbunden. Damit zeigt sich, daß eine spürbare Verbesserung der Entscheidungsqualität aus den oben genannten Gründen nicht zu erwarten ist. Dieses eher theoretisch hergeleitete Urteil wird von den ersten praktischen Erfahrungen mit dem „more economic approach" — zumindest vorläufig — bestätigt: Dies zeigt die Entscheidung des Gerichts Erster Instanz im Fall Sony/ BMG bzw. Impala.

2. Erste Erfahrungen mit dem „more economic approach "im Fall Sony/BMG Der Entscheidung der Kommission im Fall Sony/BMG kommt im Hinblick auf die Anwendung des ökonomischeren Ansatzes eine Schlüsselrolle zu, weil es sich um einen der ersten bedeutsameren Entscheidungsfälle im Rahmen der europäischen Fusionskontrolle

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handelt, bei dem die Europäische Kommission explizit den ökonomischeren Ansatz anwendete. Allerdings wurde hier noch das alte Untersagungskriterium (Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung;) angewandt (Eberl 2004). Nachdem die Entscheidung der Kommission im Sommer 2006 durch das Europäische Gericht Erster Instanz revidiert wurde, zeigt dieser Fall exemplarisch die Probleme bzw. Schwächen des „more economic approach" auf und belegt auch, daß durch ihn die Entscheidungsqualität nicht zwangsläufig verbessert wird, sondern vielmehr das Gegenteil droht, also weniger Rechtssicherheit. In dieser Entscheidung ging es darum, daß 'Bertelsmann und Sony die Zusammenlegung ihres weltweiten Tonträgergeschäfts in dem konzentrativen Joint Venture Sony/BMG beantragten. Geschäftszweck des Gemeinschaftsunternehmens ist die Talentsuche und Förderung von Künsdern sowie die Vermarktung und der Verkauf von bespielten Tonträgern. Die Marktstruktur des Marktes für bespielte Tonträger ist durch das Vorliegen eines Oligopols mit fünf weltweit tätigen Tonträgerherstellern und einer nicht unbedeutenden Anzahl kleinerer Tonträgerfirmen, sogenannten unabhängigen Labels, gekennzeichnet. Im Mittelpunkt der wettbewerblichen Untersuchung im Zusammenhang mit dem angemeldeten Joint Venture stand die Frage, inwieweit die Zusammenlegung der Aktivitäten und damit die Reduktion von fünf auf vier Anbieter bezüglich des Marktes für bespielte Tonträger zu einer Verstärkung einer kollektiv marktbeherrschenden Stellung auf dem Tonträgermarkt führt. In ihrer Untersuchung stützte sich die Kommission im wesentlichen auf die Vorgaben des Gerichts Erster Instanz aus der Entscheidung Airtours/First Choice 2. Im Rahmen ihres Urteils hatten die Richter eine stärker an ökonomischen Kriterien — insbesondere anhand spieltheoretischer Erkenntnisse — orientierte Analyse bei der Feststellung oligopolistischer Marktbeherrschung gefordert. Demnach könne nur dann eine Schaffung oder Verstärkung einer kollektiven Marktbeherrschung angenommen werden, wenn die Marktbedingungen keinerlei Anreize zu abweichendem Verhalten bieten würden. Voraussetzung dafür ist, daß das abweichende Verhalten jederzeit von den anderen Marktteilnehmern aufgedeckt und ohne größere Verzögerung bestraft werden kann. Diese Bedingungen waren in der Verbotsentscheidung der Kommission im Fall Airtours ¡First Choice nach Ansicht des Gerichtes nicht erfüllt (vgl. hierzu auch Motta 2000; Schwalbe 2003). Auf diesem Urteil aufbauend, kam die Kommission im Fall Sony/BMG zu dem Ergebnis, daß die Bedingungen für das Vorliegen einer kollektiv marktbeherrschenden Stellung nicht erfüllt seien und erklärte das geplante Joint Venture ohne Auflagen und Bedingungen für vereinbar mit dem Gemeinsamen Markt. Hintergrund für diese Entscheidung bildete die ökonomische Untersuchung der Kommission. Zum einen untersuchte die Kommission das bisherige Marktverhalten der Oligopolisten anhand der Entwicklung der Durchschnittsnettopreise, der veröffentlichten Listenpreise, der Unterschiede zwischen Bruttound Nettopreisen sowie entsprechender Preisnachlässe mit Hilfe ökonometrischer Untersuchungen. Hierbei kam sie zu dem Ergebnis, daß sich keine Indizien für bewußte Preisabsprachen finden ließen. Darüber hinaus kam die Kommission zu dem Ergebnis, daß trotz einer hohen Markttransparenz die Unternehmen auf dem Tonträgermarkt über keine Mög2

Vgl. Airtours/Kommission

der EG, in: Gel Slg. 2000 Rs. T 329/99.

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lichkeiten verfügen würden, potentielle Transparenzdefi2ite in der Preisnachlaßpolitik 211 überwinden. Insofern gäbe es stets ausreichende Anrei2e für abweichendes Verhalten, die eine stabile Kollusion erschweren würden. Gleichfalls waren bisher noch keine Vergeltungsmaßnahmen in Form des Ausschlusses von Joint-Ventures beobachtbar, da die Kommission keine Hinweise fand, daß solche Mittel angewendet oder auch nur angedroht worden wären. Die Kommission hat folglich keine ausreichenden Beweise dafür gefunden, daß das geplante Joint Venture zu einer kollektiv marktbeherrschenden Stellung auf einem der nationalen Tonträgermärkte fuhren würde. Gegen die von der Kommission ergangene Freigabe klagte das Unternehmen Impala eine unabhängige Tonträgerfirma - vor dem Europäischen Gericht Erster Instan2. Impala machte dabei geltend, daß der Kommission in ihrer Entscheidung schwerwiegende Beurteilungsfehler unterlaufen seien: So habe sie nicht ausreichend gewürdigt, daß bereits vor der Realisierung des Joint Ventures die Bedingungen einer kollektiven Marktbeherrschung erfüllt gewesen seien, womit die Freigabeentscheidung der Kommission zu einer Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung führen würde. Darüber hinaus wären die Spezifika des Marktes für Online-Musiklizenzen nicht ausreichend berücksichtigt worden. Weiterhin wären der Europäischen Kommission eine Reihe ökonomischer Bewertungsfehler („manifest errors of assessment") unterlaufen. Die Bedenken des Klägers Impala wurden von den Richtern des Gerichts Erster Instanz geteilt. So wiesen die Richter der Kommission nach, daß sie aus ihren ökonometrischen Preisstudien die falschen Schlüsse gezogen habe. So seien die über mehrere Perioden hinweg existierenden Preisanpassungen ein klares Indiz für das Bestehen kollusiven Marktverhaltens, so daß bereits hier von der Existenz oligopolistischer Marktbeherrschung hätte ausgegangen werden müssen. Gleichzeitig hätte die Kommission nicht alle zur Verfügung stehenden Daten zur Beurteilung der Markttransparenz genutzt, so daß der Schluß, es würde keine ausreichenden Mechanismen 2ur Überwindung des Transparen2defizits bei Nachlaßkäufen geben, nicht v o m Gericht geteilt wurde. Weiterhin wiesen die Richter der K o m mission eine Fehlbeurteilung bezüglich der Bewertung potentieller Bestrafungsmechanismen nach. So sei aus der empirischen Beobachtung, daß es bisher noch keinen Ausschluß aus Kompilation-Joint-Ventures gegeben hätte bzw. ein solcher Ausschluß noch nicht angedroht worden sei, nicht automatisch der Schluß zu ziehen, daß dies auch in Zukunft so sein müsse. Daher hoben die Richter die Freigabeentscheidung der Kommission im Fall Sonj/BMG

auf.

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts Erster Instanz hat damit, wahrscheinlich unbeabsichtigt, die gravierenden Schwächen des „more economic approach" offengelegt. D e n n anscheinend gelingt es der Kommission nicht, auch unter Zuhilfenahme des ökonomischeren Ansatzes mit Hilfe von Simulationsstudien und industrieökonomischen Modellen, die Entscheidungsqualität zu verbessern. Ökonomisch ausgedrückt bedeutet dies nichts anderes, als daß der Nettonutzen des neuen Ansatzes in Form einer höheren Entscheidungsqualität in Zweifel zu ziehen ist. Vielmehr überwiegen die gestiegenen Kosten in Form höherer Rechtsunsicherheit. Die Hauptschwächen des „more economic approach" sind — wie bereits oben ausgeführt — in der mangelnden Justitiabilität und den unter diskretionären

Ermessensspielräumen getroffenen Einzelfallentscheidungen zu sehen. Genau

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hier zeigen sich die elementaren Schwächen einer ausgedehnten „rule of reason"Anwendung. Die geringe Justitiabilität des ökonomischeren Ansatzes gewinnt vor allem dann an Bedeutung, wenn die Kommission nicht nur eine Untersagung in Wettbewerbssachen beweisen, sondern auch - wie im Fall Sony/BMG — im Zuge einer Konkurrentenklage ihre Freigabeentscheidungen mit stichhaltigen Beweisen belegen muß. Die Anwendung der vielschichtigen und nicht immer eindeutigen ökonomischen Modelle führt dann zu dem paradoxen Ergebnis, daß die Kommission weder den Nachweis erbringen kann, daß ein bestimmtes Vorhaben oder Verhalten den Wettbewerb behindert, noch kann sie umgekehrt den Nachweis erbringen, daß dieses Verhalten den Wettbewerb nicht behindert bzw. daß daraus keine Wohlfahrtsverluste für die Verbraucher resultieren. Damit besteht die reale Gefahr, daß die Kommission in komplizierten und dann auch kontroversen Wettbewerbsfallen nicht mehr in der Lage ist, konsistente Entscheidungen zu treffen. Die Konsequenz wäre dann, daß stets an die Stelle der Kommissionsentscheidung die Rechtsprechung des Gerichts Erster Instanz bzw. auch des Europäischen Gerichtshofes treten würde. Die Gerichte müßten dann über die Angemessenheit der ökonomischen Modelle im Einzelfall urteilen. Damit würden die Richter zur eigentlichen europäischen Wettbewerbsbehörde mutieren. Unter Berücksichtigung der dabei entstehenden langen Verfahrensdauern kann dies jedoch nicht im Sinne der Rechtssicherheit sein. Darüber hinaus ist zu bezweifeln, ob Richter über besseres Wissen verfügen als die Europäische Kommission. Auch Richter können nur unter Abwägung der dem Einzelfall zugrundeliegenden Fakten entscheiden. Inwieweit sie dann tatsächlich bessere Entscheidungen treffen, bleibt ebenso fraglich wie bei den Einzelfallentscheidungen der Kommission. Insofern verschärft der „more economic approach" nur das Wissensproblem in der Wettbewerbspolitik. Bemerkenswert dabei ist, daß die Rechtssicherheit mit der Umsetzung des ökonomischeren Ansatzes nicht nur — wie oben bereits diskutiert - für die Unternehmen gesunken ist, sondern auch für die Europäische Kommission selbst. Sie muß jetzt stets damit rechnen, daß die auf der Basis von Simulationsstudien und industrieökonomischen Modellen ergangenen Entscheidungen vor Gericht keinen Bestand haben. Zur Reduktion dieser Unsicherheit besteht für die Kommission ein höherer Anreiz, in allen Fällen, die ein minimales Komplexitätsniveau überschreiten, das Hauptverfahren (Phase 2) zu eröffnen, um so Gelegenheit zu erhalten, die Entscheidungen umfassender abzusichern. Es ist also damit zu rechnen, daß sich die durchschnittlichen Verfahrensdauern erhöhen, ein weiterer Kostenaspekt. Wenn die Kommission jedoch in Anfechtungsverfahren weder das Eine noch das Andere stichhaltig beweisen kann, so ließe sich die Rechtsunsicherheit nur dadurch reduzieren, daß das Klagerecht von Drittparteien eingeschränkt würde. Dies würde jedoch einer am Rechtsschutz orientierten Fusionskontrolle widersprechen. Insofern hat die Entscheidung des Gerichts Erster Instanz die Grenzen einer allzu optimistischen Beurteilung des ökonomischeren Ansatzes in der europäischen Wettbewerbspolitik deutlich gemacht. Es ist daher zu fragen, ob im Rahmen der Diskussion über den ökonomischeren Ansatz die Risiken dieses Ansatzes nicht systematisch unterschätzt worden sind.

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Im Kern geht es um die Frage, inwieweit durch eine stärkere Einzelfallbeurteilung die Qualität der Kommissionsentscheidungen erhöht werden kann. Grundsätzlich fuhrt jede Anwendung von differenzierten Regeln, mit deren Hilfe die Vor- und Nachteile einer Maßnahme abgewogen werden, zu einer Reduktion der Rechtssicherheit. Dieser Verlust von Rechtssicherheit ist dann gerechtfertigt, wenn er durch die Reduzierung von Entscheidungsfehlern (erster und zweiter Art) vollständig kompensiert wird, so daß ein positiver Nettonutzen resultiert. Ist das nicht der Fall, dann erhöht sich für die Unternehmen nur das strategische Risiko einer Unternehmensübernahme, da sie die Entscheidung nicht sicher prognostizieren können. Wohlfahrtsökonomisch ist nichts gewonnen, wenn die Entscheidungsqualität nicht erhöht wird, aber gleichzeitig das strategische Risiko der Unternehmen steigt.

3. Die politökonomische Dimension des ökonomischeren Ansatzes Neben den Wirkungen auf die Rechtssicherheit dürfte der ökonomischere Ansatz auch politökonomische Konsequenzen haben. Bereits eingangs wurde darauf hingewiesen, daß eine stärkere Einzelfallbeurteilung immer mit höheren diskretionären Ermessensspielräumen einhergeht. Dies geht mit der Gefahr einher, daß Interessengruppen sich einen wesentlichen Einfluß auf die Wettbewerbspolitik sichern können (Baum 1982.). In der Vergangenheit hat es immer wieder Belege für eine solche Politisierung der europäischen Wettbewerbspolitik gegeben (Schmidt 1999). Die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung der europäischen Wettbewerbspolitik könnte mit Hilfe universaler Regeln in Form von „per se "-Regeln reduziert werden {Voigt 2006, S. 211). Insbesondere die materiell-rechtlichen Reformen des europäischen Wettbewerbsrechts im Zuge der Realisierung des „more economic approaches" haben die Entscheidungsspielräume der Europäischen Kommission massiv erhöht. Hierzu zählen unter anderen die Einführung des neuen sogenannten SIEC-Tests als Untersagungskriterium in der Fusionskontrolle und die Berücksichtigung von Effizienzwirkungen (Voigt und Schmidt 2004). Die materiell-rechtliche Umsetzung des „more economic approach" hat zu einer Verschärfung der Aufgreifkriterien geführt, so daß sie jetzt auf eine größere Anzahl von Fällen anwendbar sind.3 Gleichzeitig sind jedoch auch Instrumente eingeführt worden, die im Rahmen einer entsprechenden Einzelfalluntersuchung eine Genehmigung des wettbewerbsschädlichen Verhaltens legitimieren können. Als Beispiel sei hier nur die Berücksichtigung von Effizienzüberlegungen im Rahmen der Fusionskontrolle genannt. Auf den ersten Blick erscheint dies widersprüchlich, da es Aufgabe des ökonomischeren Ansatzes ist, die Wettbewerbspolitik stärker an der Konsumentenwohlfahrt auszurichten. Dies würde eher für eine Absenkung der Aufgreifkriterien sprechen, da von vielen Zusammenschlüssen zunächst positive Wirkungen auf die Konsumentenwohlfahrt ausgehen können. Hierbei

3

So beispielsweise die Einfuhrung des neuen Untersagungskriteriums in der europäischen Fusionskontrolle „significant impediment to effective competition", das der Kommission im Vergleich zur bisherigen Verbotsregel erlaubt, eine restriktivere Fusionskontrolle zu implementieren. Es muß jedoch nicht zu einer restriktiveren Fusionskontrolle kommen, weil ja gleichzeitig auch der diskretionäre Entscheidungsspielraum der Kommission erhöht wurde.

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sei nur an mögliche Größenvorteile oder „economies of scope" erinnert, die zu einer höheren Konsumentenrente führen. Dieser Widerspruch läßt sich nur dann auflösen, wenn man unterstellt, daß die Generaldirektion Wettbewerb bzw. die Europäische Kommission mit der Umsetzung des „more economic approach" indirekt beabsichtigt, grundsätzlich den Anwendungsbereich der europäischen Wettbewerbspolitik auszudehnen. Dabei geht es ihr nicht mehr nur um die Realisierung wettbewerbspolitischer Ziele, sondern vielmehr um eine generelle Aufsicht über die wettbewerblichen Strukturen innerhalb der Europäischen Union. Eine solche Ausdehnung des Anwendungsbereichs, der sich bürokratietheoretisch erklären läßt, ist jedoch besonders kritisch zu sehen. Denn hiervon wären nicht nur die sich wettbewerbswidrig verhaltenden Unternehmen betroffen, sondern auch eine Reihe von kleinen und mittleren Unternehmen oder besonders innovative Unternehmen, die aufgrund der marktlichen Strukturen die nun abgesenkten Aufgreifkriterien erfüllen. Aus ordnungsökonomischer Sicht wäre diese Entwicklung sehr bedenklich und würde weitere Kosten des ökonomischeren Ansatzes nach sich ziehen. Zur Reduktion dieser Kosten wäre aber eine grundsätzlich neue Institutionalisierung der europäischen Wettbewerbspolitik, beispielsweise durch die Schaffung eines unabhängigen Kartellamtes erforderlich {Schmidt und Voigt 2005). Bedauerlicherweise waren institutionelle Aspekte jedoch nicht Gegenstand der jüngeren Reformen. Auf der Ebene der europäischen Wettbewerbspolitik sind den materiell-rechtlichen Änderungen des ökonomischeren Ansatzes keine entsprechenden prozeduralen Änderungen gefolgt.

V.

Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick

Der vorliegende Beitrag fragt, wie ökonomisch der neue ökonomischere Ansatz in der europäischen Fusionskontrolle ist. Insbesondere aus ordnungsökonomischer Sicht ist es mehr als zweifelhaft, ob mit dem neuen Ansatz tatsächlich Fortschritte erzielt werden. Ob der „more economic approach" tatsächlich ökonomisch ist, ist zu bezweifeln, da der zusätzliche Nutzen in der Form besserer Entscheidungen mehr als vage ist. Dem stehen jedoch zusätzlichen Kosten in Form höherer Rechtsunsicherheit, höherer Verfahrens- und Entscheidungskosten sowie die Gefahr von Wohlfahrtsverlusten durch wachsende Möglichkeiten der Einflußnahme auf die jeweiligen Entscheidungen gegenüber. Ökonomisch ausgedrückt besteht die Gefahr, daß die zusätzlichen Kosten den zusätzlichen Nutzen bei weitem überschreiten, kurz: daß die Wettbewerbspolitik schlechter wird. Die Ursachen für diese skeptische Beurteilung sind leicht ausgemacht. Grundsätzlich ist gegen eine ökonomisch fundierte Entscheidungsfindung und Effizienzorientierung in der Wettbewerbspolitik nichts einzuwenden. Hauptproblem ist jedoch das Verständnis der Europäischen Kommission bezüglich des ökonomischeren Ansatzes. Nach Lesart der Kommission bedeutet der ökonomischere Ansatz nicht die Erhöhung der Effizienz der Entscheidungsfindung oder die stärkere Berücksichtigung der ökonomischen Konsequenzen der jeweiligen Entscheidungen, sondern primär einen stärkeren Rekurs auf die „rule of reason" unter Berücksichtigung ökonomischer Modelle. Die in diesem Beitrag geäußerte Kritik wendet sich primär gegen dieses Verständnis bzw. diese Umsetzung des ökonomischeren Ansatzes, nicht jedoch gegen die Intention des Ansatzes selbst.

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Die Umsetzung des „more economic approach" sollte daher nicht bei der Regeianmndung ansetzen, sondern vielmehr bei der RegeLri/^««g. Hierin ist der Konstruktionsfehler des ökonomischeren Ansatzes auf der europäischen Ebene zu sehen. In der bisherigen Anwendungspraxis zeigt sich, daß der ökonomischere Ansatz durch Einzelfallentscheidungen realisiert werden soll. Die Schwierigkeiten, die eine solche Einzelfallorientierung mit sich bringen kann, wurde hier mit Hilfe theoretischer Argumente aufgezeigt, und es zeigt sich beispielsweise im Fall Sony/BMG, daß diese Argumente in der Realität durchaus von Relevanz sind. Vielmehr sollte daher der ökonomischere Ansatz an der Regelset^ung ansetzen. D. h., die Erkenntnisse der ökonomischen Theorie sollten sich bereits in den Wettbewerbsregeln widerspiegeln und nicht der Regelauslegung durch die Kartellbehörden bzw. die Gerichte unterliegen. Eine an der Einzelfallgerechtigkeit orientierte Wettbewerbspolitik wird dagegen nicht in der Lage sein, Rechtssicherheit und damit auch institutionelle Effizienz zu generieren. Sowohl sachverständigen Beamten und Richtern wird es nicht möglich sein, im Rahmen von Einzelfallentscheidungen konsistente Entscheidungen über den Zeitablauf zu treffen (Easterbrook 1982, S. 818). So hat bereits Friedrich August von Hayek (1975, S. 132) daraufhingewiesen, daß es bereits aufgrund der fehlenden Operationalisierbarkeit von Wohlfahrt und Gerechtigkeit in der Natur einer letztlich auf Einzelfallgerechtigkeit bedachten Politik liegt, daß sie ihr Ziel niemals erreichen wird und damit Gefahr läuft, die Grundlagen einer freiheitlichen Ordnung zu gefährden. Für die Ökonomen stellt sich die anspruchsvolle Aufgabe, die Erkenntnisse aus der Industrieökonomik und der Spieltheorie in die Regelsetzung zu transferieren und diese in justitiable Größe zu übersetzen, da die Regelbezogenheit der Wettbewerbspolitik auf fundierten ökonomischen Theorien basieren soll. Aus ordnungsökonomischer Sicht sollte daher hier die Schwerpunktsetzung erfolgen und weniger in dem Versuch, durch eine umfangreiche „rule of reason "-Anwendung Effizienz im Einzelfall verbunden mit Einzelfallgerechtigkeit herzustellen. In seiner jetzigen Form ist der „more economic approach" alles andere als ein ökonomischerer Ansatz. Insbesondere aus ordnungsökonomischen Überlegungen sind die aktuellen Entwicklungen im Bereich der europäischen Wettbewerbspolitik mit Sorge zu beobachten. Eine Verschiebung in der sowohl wissenschaftlich als auch politisch geführten Diskussion hin zu einem stärker an den Kriterien der Rechtssicherheit orientierten ökonomischeren Ansatz ist daher als wünschenswert anzusehen.

Literatur Areeda, Phillip (1992), Antitrust Law as Industrial Policy: Should Judges and Juries Make it?, in: Thomas Jorde und David Teece (eds.), Antitrust, Innovation, and Competitiveness, New York und Oxford, pp. 29-46. Arthur, T. C. (2000), A Workable Rule of Reason: A Less Ambitious Antitrust Role for the Federal Courts, Antitrust Law Journal, Vol. 68, pp. 337-389. Baum, Thomas (1982), Per se Rule versus Rule of Reason und Kartellrechtsautonomie: Eine Hypothese auf der Basis der Public Choice Theorie, Wirtschaft und Wettbewerb, Jg. 32, S. 912-919. Bundeskartellamt (2004), Wettbemrbsschut% und Verbraucherinteressen im Lichte neuer ökonomischer Methoden, Bonn. Camerer, Colin (2003), Behavioral Game Theory: Experiments in Stratege Interactions, Princeton.

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Diese Urgemeinschaft geht jeder künstlich konstruierten Ordnung, namentlich dem Staat, voraus, und ihr Recht ist daher älter als das jeder anderen Institution, wie ihr von der empirischen Forschung bestätigt, vom liberalen Naturrecht darüber hinaus postuliert und

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von der katholisch-christlichen Soziallehre noch einmal normativ überhöht wird (Kompendium 2006, S. 167-198). Dennoch - und trotz (oder wegen?) aller sogenannten Förderung büßt sie namentlich in den westlichen Wohlfahrtsstaaten ständig an Funktionen, Bedeutung und Prestige ein, wie in jedem sozialpolitischen Handbuch zu verfolgen ist (Lampert und Bossert 2001; Molitor 1987; Wingen 1997). Suchen wir nach den ursächlichen Faktoren für diesen Vorgang, so ist dies gewiß einerseits der Kulturfortschritt im Rahmen der sozialen Differenzierung und Arbeitsteilung. Die arbeitsteilige Markt- und Tauschwirtschaft hat viele der Funktionen übernommen, die ursprünglich Sache der ,familia' und allgemein der Hauswirtschaft waren und tut dies weiterhin. Wer wird diese Entwicklung zurückdrehen wollen? Sie hat die Familien nicht nur geschwächt, sondern ihr neue Lebensmöglichkeiten erschlossen, das Leben für ihre Glieder leichter und erfreulicher gemacht und deren Selbständigkeit und Individualisierung' gefördert. Wer will (vielleicht mit Ausnahme einiger ,Anarchos', die vorstaatliche Zeiten idealisieren) in die Zeit der Stämme oder des patriarchalen Despotismus zurück? Der Markt, die technische Entwicklung vermag sogar die Funktionen der Familie wieder zu stärken, indem sie der familiären Eigenwirtschaft neue Möglichkeiten erschließt. Man denke z. B. daran, was sich durch das ,Heimwerken', gestützt durch die erstaunliche Entwicklung unserer Baumärkte, die Entwicklung der Haushaltstechnik und das Ausmaß an Freizeit an neuen Wirtschaftsmöglichkeiten für die Familie erschließt (Habermann 1999). Hier ergänzen sich die familiäre Eigenwirtschaft und die Märkte als deren Zulieferer und ,Diener' der Haushalte auf das Beste!

II. Eigentum und Familie als Gegner des sozialen Konstruktivismus Nicht gleicherweise erfreulich für die Stabilität und die Anziehungskraft der Familie ist indessen das, was unter dem Titel .Familienpolitik' in Deutschland (und anderen westeuropäischen Ländern) vor sich geht, zumal sie mit direktem und indirektem Zwang verbunden ist. Die Institution der ,Familie' befindet sich seit langem in Konkurrenz zu dem Anspruch des Staates, die Untertanen oder Bürger einzeln an sich zu binden, zu homogenisieren und hierbei jede Konkurrenz auszuschließen. Die Familie war und ist Konkurrent im Anspruch an Loyalität und Gehorsam, sie ist eine Quelle der Ungleichheit und eines kollektiven ,Privategoismus', weswegen sie schon Piaton zumindest für die Herrschaftselite abschaffen wollte. Auf Piatons Spuren geht insoweit auch der moderne soziale Konstruktivismus, speziell der marxistische Sozialismus (Enge/s 1884/1984; Bebel 1895/1964). Es ist ein Kompliment an die ethische Überlegenheit und Faszinationskraft, daß er versucht, das, was diese Gemeinschaft an .sozialer Wärme', Liebe und gegenseitiger Hilfe bietet und sie so faszinierend und anziehend macht (hierzu besonders das genannte Kompendium 2006), auf die Ebene sich gegenseitig unbekannter Millionen Menschen einer anonymen ,Großgesellschaft' zu erstrecken (Hayek 2003; Popper 1973). Das Experiment mit dieser erweiterten Familienethik ist indessen gescheitert. Der Versuch, die Familie vollständig aufzulösen, wurde aufgegeben (russischer „Kriegskommunismus" 1917-1921, chinesische „Kulturrevolution": Schafaremtsch 1980, Feldmann 1997). In geschwächter und beaufsichtigter Form mußte die Familie schließlich auch im sozialistischen System geduldet werden.

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Unser moderner Wohlfahrtsstaat mit dem Anspruch der möglichst gleichen Lebenschancen für alle (.soziale Gerechtigkeit") führt den egalitär-atomistischen Sozialismus weiter, nicht in dessen gewaltsamen Methoden, wohl aber in den letzten Idealen und Zielen (von Hayek 2003, S. 345 ff.). Dies betrifft nicht nur eine skeptische Einstellung gegen das Privateigentum, sondern ebenso gegen die Autonomie der Familie. Die ,Familienpolitik' in ihren Varianten und begleitenden Maßnahmen ist Ausdruck dieser Bestrebung, die Familie weitgehend durch künstliche Organisationen zu ersetzen, wobei sie von einem egalitären .Feminismus' unterstützt wird, der ein bestimmtes, von männlichen Rollenmustern abgeleitetes Leitbild für alle Frauen verbindlich machen möchte (Meuster und Neusäss 2004; Kuby 2006, sehr kritisch: van Creveld 2003). Es geht bei allen familienpolitischen und angeblich kinderfreundlichen Maßnahmen des Wohlfahrtsstaates darum, diese .Urgemeinschaft' in ihren Funktionen und ihrer hierarchischen Gliederung zu schwächen und von sich abhängig zu machen, so daß alle Bürger dem Staat in größtmöglicher Gleichheit gegenüberstehen. Am weitesten ist diese Politik in den skandinavischen Staaten gelangt, vor allem in Schweden (Gount und Nyström 2005), tendenziell auch in Frankreich und ebenso in Deutschland folgt die offizielle Familienpolitik immer mehr diesem Leitbild. Der prinzipielle Widerstand gegen diese Entwicklung ist hierzulande bisher eher schwach. Allenfalls einzelne Bischöfe der Katholischen Kirche sind mit kraftvollen Worten zu vernehmen, außerdem der Verein familie-ist-zukunft.de.

III. Die erste Phase der Verstaatlichung der Familienfunktionen Ein zentraler Einbruch in die Autonomie der Familie ist in vielen europäischen Staaten weniger der allgemeine elementare Bildungszwang, für den sich gute Argumente finden lassen, sondern der darüber hinausgehende Zwang, öffentliche Schulen zu vom Staat festgesetzten Konditionen und Inhalten in staatlich finanzierten und bereitgestellten Räumen zu besuchen: „Abnahmezwang für staatliche Bildungsgüter", wie Artur Woll (1992, S. 275 ff.) dies nennt, überhaupt die Tendenz, Bildung als ein .öffentliches Gut' zu reklamieren, über die Elementarbildung an Grundschulen hinaus. In Deutschland ist das Bildungs- und Ausbildungswesen entweder direkt staatlich oder doch in einem solchen Maße vom Staat reguliert, daß von .privater Autonomie' in der Bestimmung der Bildungsinhalte und Bildungsformen nicht die Rede sein kann. Kollektive Privateinrichtungen sind genehmigungspflichtig, finanziell benachteiligt und eben gerade nur so geduldet (Klein 2007; Unternehmerinstitut der ASU 2002). Exklusiver Hausunterricht (.Homeschooling') ist in Deutschland im Unterschied zu den meisten westlichen, namentlich angelsächsischen Ländern nicht mehr erlaubt (Edel 2007), und wo Eltern — wie kürzlich in Baden-Württemberg — ihr ursprüngliches Erziehungs- und Bildungsrecht (vgl. Art. 6 des Grundgesetzes) gegen den staatlichen Monopolanspruch, der inzwischen bis in die Intimitäten der Sexualerziehung hineinreicht, reklamieren, wird selbst vor spektakulären Polizeiaktionen nicht zurückgeschreckt. Ein Einbruch von ähnlicher Tragweite war die Schaffung der Arbeiterversicherung durch Bismarck, die sich als .Sozialversicherung' inzwischen (in Deutschland noch nicht vollständig;) über alle Gesellschaftsschichten erstreckt und eine Zwangsvorsorge der Obrig-

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keit gegen alle .normalen' Lebens- bzw. Einkommensrisiken darstellt. Die Kosten für diese ,Enteignung' ihrer Zuständigkeiten müssen die Enteigneten selber tragen. Sie sind bei einer Sozialabgabenlast von inzwischen über 40 Prozent in Deutschland zur Eigenvorsorge kaum mehr in der Lage — sind sie doch mit ihren eigenen Mitteln von staatlichen Versorgungseinrichtungen abhängig gemacht (Habermann 1997). Auch hierbei wurde wieder die .Familienethik' auf die Großgesellschaft ausgedehnt. Man spricht vom nationalen .Generationenvertrag', der doch nur eine pathetische Fiktion ist und allein in der gelebten Solidarität der konkreten Familie ein echtes Substrat finden kann. Diese Sicherung ist zudem mit dem folgenreichen Systemfehler des Umlageverfahrens verbunden, so daß nicht nur die Kapitalbildung verhindert oder beeinträchtigt wird, sondern, in ihrer deutschen Form, auch Kinderlose in den unverkürzten Genuß staatlicher Rentenleistungen kommen. Praktisch ist dies eine Art Prämie auf Kinderlosigkeit und konsumtiv orientierten Individualismus. Der Ertrag des Kollektivs der Kindergeneration wurde in dieser Weise .sozialisiert', während die Finanzierung noch weitgehend eine Sache der ursprünglichen Familien blieb. Eine Halbheit, die durch .Familienpolitik' nun nach und nach korrigiert wird. Inzwischen sind bereits ca. 50 Prozent der Familienkosten sozialisiert (Rosenscbon 2006).

IV. Der Typ bürgerlich-konservativer Familienpolitik: Sozialisierung der Kosten Man kann in der in dieser Weise sozialisierenden Familienpolitik zwei Varianten unterscheiden. Die eine läßt sich als bürgerlich-konservativ charakterisieren. Es handelt sich hier um einen Komplex von Eingriffen, in denen die .Opportunitätskosten' der Familie, die direkten Kinderkosten, sozialisiert werden. Kinder werden als eine Art .öffentliches Gut', als ein .Opfer' für die Gemeinschaft der Nation dargestellt. Eltern avancieren hier in die Rolle von sozusagen staatlich bestellten .Reproduktionsagenten' der politischen Gemeinschaft {Schüller 2002). Es soll den Familien eine Entschädigung für die zusätzlichen Ausgaben und für die entgangenen Einkommen, meist der Frau, zugewendet werden, und zwar zunehmend unabhängig vom Gesichtspunkt der .Bedürftigkeit'. Nicht als demütigender Gnadenakt für arme Familien, als mildtätige ,Sozialhilfe', sondern als durchsetzbarer Rechtsanspruch! Mit dieser Art Politik begann bekanntlich das Dritte Reich (Frerich 1996), und schon in den fünfziger Jahren, heftig kritisiert z. B. von Alexander von Rüstow (1963) oder Hans Willgerodt (1956), wurde von der Bundesrepublik diese Tradition weitergeführt (.Familienlastenausgleich'). Die immateriellen Vorteile einer Familie, die sich einer objektiven Bilanzierung entziehen, und auch ihre materiellen (Dienstleistungen der Kinder im fortgeschrittenen Alter) wurden dabei nicht betrachtet. Kinder sollen nichts kosten müssen, auch eine Einbuße an materiellem Lebensstandard soll denen, die Kinder haben, nicht zugemutet werden. Man möchte sozusagen den Kuchen essen und ihn gleichzeitig behalten! Zu diesem Komplex gehört das vielfaltige Angebot von Kindergeldern, Erziehungsgeldern, neuerdings das Elterngeld, demnächst vielleicht ein ,Betreuungsgeld', früher das Baukindergeld, in einer Art Wettbewerb von Bund, Ländern und Gemeinden den Familien zugewendet. Hinzu kommt ein (zunehmend angegriffenes) Ehegattensplitting, daß das Haushaltseinkommen besonders in dem Fall begünstigt, daß ein Elternteil wenig oder gar nichts zusätzlich verdient, wenn es sich auf elterliche Funktionen konzentriert, also ebenfalls als

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materielle Familienförderung gedacht. Dahin gehört auch die sogenannte Erziehungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung und der sogenannte Erziehungsurlaub (teilweise) auf Betriebskosten. Familienpolitik dieser Art ist in dem Sinne konservativ, daß sie zwar die ökonomische und gewiß auch die psychologische Basis der Familie schwächt und ihre Solidarität aufbricht, jedoch im übrigen ihre traditionellen Funktionen zunächst nicht weiter antastet. Die Familie wird eben einfach auf Staatsbezahlung umgestellt!

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Die sozialistische Familienpolitik: Sozialisierung der Funktionen

In diesem Komplex von Maßnahmen geht es um die Ersetzung der familiären Urzuständigkeit des Betreuens und eigenverantwortlichen Bildens und Erziehens der Kinder durch kollektive Einrichtungen, die vom Staat bereitgestellt (Idealfall: mit .Rechtsanspruch") und weitestgehend finanziert werden. Die elterlichen Funktionen werden auf staatliche bezahlte Funktionäre übertragen. So werden entsprechende Einrichtungen für Kleinstkinder (bald nach der Geburt), für Klein- und Schulkinder aufgebaut. Im Interesse der Gleichheit wird von den Anhängern dieser Politik ungern gesehen, daß sich die Eltern, namentlich die Mutter, weitestgehend selber um ihre Kinder kümmern, sondern diese Aufgaben werden auf professionelles Betreuungspersonal übertragen (natürliche Eltern gelten überdies erzieherisch als Dilettanten"). Es soll damit - im Interesse der Geschlechterparität — auch erreicht werden, daß die Berufs- und Karrieremuster des Mannes, der bisher häufig für die Finanzierung der nicht berufstätigen Mutter und der Kinder zuständig war, auch der Frau unverkürzt erschlossen werden, mit dem Ziel möglichst paritätischer Besetzung auch aller beruflichen Leitungsfunktionen. Gewiß auch im Interesse des Finanzministers an zusätzlichen Einnahmen und im Interesse der Personalbedürfnisse der privaten Wirtschaft (der BDI unterstützt diese Art Familienpolitik), sollen zwei Hauptrollen der Frau miteinander verbunden werden (.Vereinbarkeit von Familie und Beruf). Nach den Auswirkungen dieser Kollektivierung auf das .Kindeswohl' oder auf die Belastung der Mutter (vgl. dazu kritisch Radisch 2007; Herman 2006; Gaschke 2005) wird weiter nicht gefragt bzw. mit schönfärberischen Studien und politischer Reklame darüber hinweggetäuscht. Es geht den Reformern namentlich auch darum, das traditionelle Ideal hausfraulichen Lebens zu diskreditieren (Niehuss 2004). Als man — in Schweden und in der DDR - sah, daß dieses Ideal wegen unerwünschter Nebenwirkungen nicht in radikaler Form durchzuführen war, führte man übrigens in beiden Fällen (1973 bzw. 1980) ein .Elterngeld' ein, das es der Mutter und im Idealfall auch dem Vater erlauben sollte, sich wenigstens für ein halbes oder maximal ein Jahr um die eigenen Kinder zu kümmern. Gleichwohl bringt es offenbar inzwischen mehr Prestige ein, sich als bezahlte ,Tagesmutter' oder staatliche Betreuungsperson um fremde Kinder zu kümmern als um die eigenen. Namentlich (abgesehen von der untergegangenen DDR) in Schweden kann man sehen, wie ein gut ausgebautes, kollektives, überwiegend staatlich finanziertes Kinderbetreuungsangebot aussieht: Hier werden die Kinder zu einem großen Teil in staatlichen Kitas, dann (ab einem Jahr) in staatlichen Vorschulen (der Kindergarten wurde abgeschafft), dann in Grundschulen mit angeschlossenen Freizeitheimen unterge-

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bracht. Für die Pflege kranker Kinder gibt es 120 bezahlte Pflegetage. Dies ist auch das Ideal eines sozialdemokratischen Egalitariers wie Karl Lauterbach (2007). Ein liberaler schwedischer Kritiker bemerkte hierzu: „Wenn durch erhaltene Vergünstigungen die individuelle Verantwortung für das eigene Leben delegiert wird, schafft man damit eine neue Art Mensch — unreif, verantwortungslos und abhängig. Was der Wohlfahrtsstaat tatsächlich geschaffen hat, ist eine Bevölkerung von psychologischen und moralischen Kindern, wie Eltern, die ihre Kinder vor jedem Problem abschirmen, sie nie Verantwortung übernehmen, nie eigene Lösungswege finden lassen und damit ihre Kinder bedürftig, verwöhnt und immer fordernder werden lassen ... Der Wohlfahrtsstaat hat die egoistischen Monster geschaffen, vor denen er uns zu schützen vorgibt — indem er Privilegien und Wohltaten auf,niemandes' Kosten verteilt" (Byhmd 2007).

VI. Weitere Daten zur Schwächung von Ehe und Familie Begleitende Maßnahmen sind die Deinstitutionalisierung der Ehe als Rechtsgemeinschaft und ihre schließlich vollkommene .Privatisierung' - auch hierin ist derzeit Schweden am weitesten gelangt. Dort sind alle Formen des familiären Zusammenlebens gleichgestellt: Ob ,freie' Ehegemeinschaft ohne Vertragsgrundlage, ob eine vertraglich vereinbarte Ehe und Familie - beides wird Steuer- und transfermäßig gleichbehandelt. Fragmentarische Familien — jAlleinerziehende' — werden, da sie das traditionelle Muster einer vollständigen Familie in Frage stellen, (wie inzwischen auch in Deutschland) gern gesehen und subventioniert. Es wird ihnen damit ein Anreiz genommen, in eine vertraglich gesicherte Lebensgemeinschaft mit einem Partner überzugehen (Bartholomen/ 2004, pp. 249 f£). Nur der Vollständigkeit halber sollen hier auch die Entkriminalisierung des ehelichen Vertragsbruchs und die zunehmende Toleranz gegenüber Geschlechtsverkehr von Minderjährigen erwähnt werden. Die Ehe verlor mit alldem das Monopol legitimen Geschlechtsverkehrs und damit einen wichtigen Anreiz zur dauerhaften Bindung für den Mann (Schwank% 2003, S. 58). Sogar die professionelle Liebe der „Liebesarbeiterinnen" wurde Steuer- und sozialversicherungsrechtlich in Deutschland gleichgestellt, um sie sozusagen als weiterer Typus der Geschlechterbegegnung zu „normalisieren" (Rasonji 2007). Einen Höhepunkt findet diese auflösende und relativierende Entwicklung darin, auch homosexuelle Gemeinschaften (warum eigentlich nur mit einem Partner und warum nicht auch alle anderen innigen Gemeinschaften?) sogar verbal und rechtlich der Ehe gleichzustellen. So wundert es nicht, daß in Schweden Hochzeiten und Familienfeste immer seltener werden. Daß in Schweden (wie zunehmend auch in Deutschland, z. B. durch die sogenannte Hartz IV-Regelung) selbst die gesetzliche Unterstützungserwartung von Kindern gegenüber ihren Eltern bzw. umgekehrt gemäß dem Subsidiaritätsprinzip aufgehoben ist, kann in dem Zusammenhang ebenfalls nicht überraschen. Es gibt eben nur noch den Staat auf der einen und die Individuen auf der anderen Seite (inkl. rein individueller Besteuerung!), der wichtigste „Corps intermédiaire", die Familie, ist entscheidend geschwächt. Sogar die Forderung nach der Verankerung von selbständigen „Kindergrundrechten" in der Verfassung ist zu hören. Man spricht in diesem Geiste auch von einer speziellen „Kinderarmut". Nicht der familiäre Haushalt, sondern das aus der Hausgemeinschaft isolierte Kind wird als Adressat für staatliche Unterstützungsleistungen ausgemacht.

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So überrascht es schließlich nicht mehr, daß Ehe und Familie nach Umfragen zunehmend nur als eine der möglichen, prinzipiell gleichwertigen Lebensoptionen gewertet werden. Muß man sich da noch wundern, daß der Wohlfahrtsstaat, der die Kapitalbildung verhindert oder zumindest erschwert, in der Logik seiner Ideale schließlich auch die biologische Substanz einer Gesellschaft gefährdet? (Zu den Ursachen des Geburtenschwundes knapp und zutreffend Mirow 1996, S. 669 f.). In allen westlichen Wohlfahrtsstaaten wird die Reproduktion der Gesellschaft zu einem ernsten Problem, während dort, wo staatliche Familienpolitik nur ansatzweise oder gar nicht existiert, namentlich in den USA, und wo überdies auch noch starke religiöse Ideale die Familienbildung fördern, diese Entwicklung bisher nicht oder nicht in diesem Maße eingetreten ist (B/ume 2007). Die bestürzend ähnliche Entwicklung der japanischen Gesellschaft läßt freilich einige Fragen offen.

VII. Typ 3: Eine freiheitliche Familienpolitik Im großen und ganzen läßt sich also sagen, daß sich parallel zu dieser geschilderten Familienpolitik und zweifellos in einem kausalen Zusammenhang damit die Attraktivität der Familie psychologisch und materiell vermindert hat und die demographischen Reproduktionsdaten sich verschlechtern. Sollte man darum immer weiter in diese Richtung gehen, wie dies Famüienministerin von der Leyen anstrebt? Oder ist nicht vielmehr eine Rückkehr von diesem Weg geboten? „Weniger Staat" sollte primär auch heißen: „weniger Familienpolitik" ("öntemehmerinstitut 2006). Es ist im Letzten ein Kampf der Werte und Ideale, der über die Weiterexistenz einer freiheitlichen Gesellschaft entscheidet, die von dieser Seite im Kern bedroht wird (eine alternative Meinung hierzu: Hondrich 2007). So muß eine soziale Aufwertung von Familie und Familienarbeit als eine Aufgabe der gesellschaftlichen Kräfte' am Anfang stehen, verbunden mit einer Rückgabe der Mittel und Verantwortlichkeiten an die Familie. Der demographische Schwund ist schließlich das Todesurteil für den Wohlfahrtsstaat, nicht nur für seine Familienpolitik, sondern auch für das Umlageverfahren und seine weit verzweigte .soziale Sicherung'. In den unvermeidlich bevorstehenden Umbrüchen könnte, durch die Logik der Dinge verstärkt, das liberale Konzept von .Familie' darum wieder seine Stunde haben ( O p a s c h o m k i 2004). Aber es gibt keine Automatismen der Korrektur, die unabhängig sind vom individuellen Bemühen, diesen Ideen und Werten wieder zur Anerkennung zu verhelfen. Staatlich verordnen läßt sich ,Familienfreundlichkeit' nicht. Schon viel gewonnen wäre aber damit, wenn die Regierung aufhörte, bestimmte familienfeindliche Leitbilder zu fördern und finanziell zu unterstützen ( Fabio 2005). Im Augenblick jedoch ist die Situation in Deutschland noch so, wie sie ein kritischer kirchlicher Beobachter in einem plastischen Bild beschrieb: „... gleicht die Entwicklung zur kinderlosen Gesellschaft einem Tsunami, demgegenüber man sich verhält wie ein ahnungsloser Tourist: das Wasser zieht sich zurück, die Menschen betrachten das eigenartige Phänomen vom Ufer aus und bleiben ruhig, obwohl die Flutwelle bereits am Horizont auftaucht. Einige fotografieren die heranstürzenden Schaumkronen in der Meinung, sie seien lediglich Zeugen eines seltenen Naturschauspiels, während sie längst um ihr Leben rennen müßten. Ebenso werden in leeren Kinderzimmern .Flutwellen' von Problemen folgen, deren Tragweite möglicherweise so manche Voraussage übertreffen wird" (Latin 2006).

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Ist die Wiederherstellung der Selbständigkeit der Familie, die Erhöhung ihrer Anziehungskraft und Kräftigung ihrer Solidarität eine sozialromantische Ambition? Aber wer ist ein Romantiker? Ist es jemand, der, wie man sagt, das Rad der Geschichte zurückdrehen will? Ist dergleichen gemeint, so wird man entgegnen müssen, daß man sich damit einer gedankenlosen Phrase bedient, „weil vorausgesetzt wird, daß es erstens niemals in der Geschichte eine Revision selbst des Unhaltbaren und Törichten geben kann und zweitens daß es sie nicht geben darf' {Röpke 1965). Resümee: Die beste Familienpolitik wäre es, die Familie in Ruhe zu lassen und keine Politik dieser Art schwächender Patronage zu betreiben. Auch entschiedenste Liberale sollten sich klar machen, daß der Fortbestand ,freier' Gesellschaften nur gesichert ist, wenn auch der individuelle Wille fortbesteht, empfangenes Leben weiterzugeben. Freilich steht es gleichwohl jedem frei, die Fortexistenz seiner nationalen Gemeinschaft oder seines Kulturkreises nicht als ,Wert' zu empfinden und sich darauf zu konzentrieren, nach der Maxime Max Stirners („Mir geht nichts über mich") nur die eigene Person für den engeren Zeithorizont ihrer Existenz ganz auszukosten.

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Zusammenfassung Der Aufsatz geht aus von der traditionellen Rivalität zwischen staatlichem Herrschaftsanspruch und dem Eigenrecht und der Autonomie der Familie. Der soziale Konstruktivismus (Sozialismus) sucht die Familie durch das Angebot von Staatsleistungen oder öffentlichen Gütern aus egalitären Gründen möglichst vollständig zu ersetzen. Zwar geht der deutsche Wohlfahrtsstaat bisher nicht so weit, aber er zeigt ebenfalls die Tendenz, die öko-

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nomische Unabhängigkeit und das Eigenrecht der Familie zurückzudrängen und wenigstens ihre Finanzierung, aber vermehrt auch ihre Funktionen durch z. B. staatlich finanzierte Betreuungseinrichtungen zu übernehmen. Dies ist im besonderen das Ziel der .Familienpolitik', die eine bürgerlich-konservative und eine sozialistische Variante hat, aber in beiden Versionen die Familie entsolidarisiert und schwächt. Der Autor plädiert für eine liberale Enthaltsamkeit des Staates gegenüber der Familie, der am meisten gedient ist, wenn der Staat ihr Eigentum und Verantwortung beläßt bzw. zurückgibt, so wenig man den einzelnen auch dazu zwingen kann und darf, das erhaltene Leben weiterzugeben.

Summary: Three Types of Family Politics The essay is based on the traditional rivalry between the state claim to sovereignty and the private rights and autonomy of the family. Social constructivism (socialism) seeks essentially to replace the family through the offer of state benefits or public goods. The German welfare state is not this extensive to date, but it does demonstrate a tendency to repress the economic independence and private rights of the family and to assume its function, for example, through state financed support systems. This is in particular the objective of 'Family Polities', which manifests itself as bourgeois-conservative or socialist in nature, but in both cases dissipates solidarity and weakens the family. The author appeals — as the third type - for liberal restraint of the state on the matter of the family, which is best served when the state allows it to keep - or returns - its property and responsibility.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2007) Bd. 58

Christian Müller

Frühkindliche Bildung und Betreuung in Tageseinrichtungen als Staatsaufgabe Inhalt I. II. III. IV. V.

Das Kind in der Krippe Nutzen der Kinder Nutzen der Gesellschaft Die Gefahr von Staatsversagen Zusammenfassung und Schluß

131 133 137 141 143

Literatur

145

Zusammenfassung

148

Summary: The Governmental Provision of Early Childhood Education and Care.... 148

I.

Das Kind in der Krippe

Der Ausbau von Erziehung, Bildung und Betreuung von Kleinkindern unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen („Krippen")1 gilt in Deutschland als eine Aufgabe aller Ebenen des föderalen Bundesstaates. Insbesondere für die westdeutschen Bundesländer wird dabei ein erheblicher Nachholbedarf diagnostiziert. Während in den neuen Bundesländern in den Jahren 2005/2006 39,8 Prozent aller Kinder unter drei Jahren über einen Betreuungsplatz verfugten, waren es im alten Bundesgebiet inklusive Berlin nur 9,6 Prozent; für ganz Deutschland beträgt die Platz-Kind-Relation 13,7 Prozent (vgl. Bundesministerium 2006, S. 6). Bereits die rot-grüne Bundesregierung versuchte, dem von ihr konstatierten Rückstand Abhilfe zu schaffen, und brachte das sog. Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) durch den Bundestag, das Anfang 2005 in Kraft trat und das seit 1991 geltende Achte Buch des Sozialgesetzbuches (Kinder- und Jugendhilfegesetz) ergänzte. Ziel des TAG war der „qualitätsorientderte, bedarfsgerechte und flexible Ausbau der Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen" (Bundesministerium 2004, S. 3). Während Kinder vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt einen „Anspruch auf den Besuch einer Tageseinrichtung" erhalten, ist für Kinder im Alter von unter drei Jahren zumindest „ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege vorzuhalten" (§ 24 Abs. 1 und

1

Als „Krippen" werden üblicherweise Tageseinrichtungen für Kinder unter drei Jahren bezeichnet; vgl. OECD (2004), S. 8.

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2 SGB VIII). Eine Pflicht zum Vorhalten von Plätzen mindestens in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege besteht danach dann, wenn „1. die Erziehungsberechtigten oder, falls das Kind nur mit einem Erziehungsberechtigten zusammen lebt, diese Person einer Erwerbsarbeit nachgehen oder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, sich in einer beruflichen Bildungsmaßnahme, in der Schulausbildung oder Hochschulausbildung befinden oder an Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit im Sinne des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt teilnehmen oder 2. ohne diese Leistung eine ihrem Wohl entsprechende Förderung nicht gewährleistet ist" (§ 24 Abs. 3 SGB VIII).

Verantwortlich für die Produktion dieses Mindestvorsorgeniveaus sind nach dem TAG die Träger der öffentlichen Jugendhilfe (Kreise, kreisfreie Städte, Gemeinden mit einem Jugendamt), die mit den Wohlfahrtsverbänden und anderen freien Trägern zusammenwirken sollen. Noch die Regierung Schröder plante, bis zum Jahr 2010 insgesamt 230.000 zusätzliche Betreuungsplätze zu schaffen. Je ein Drittel davon sollten auf neue Krippenplätze, die Betreuung durch Tagesmütter und die Öffnung bestehender Kindergärten für Kinder unter drei Jahren entfallen. Jedes fünfte Kleinkind sollte bis dahin einen Betreuungsplatz erhalten. Nach Regierungsangaben können die im TAG angestrebten Ausbauziele auch tatsächlich erreicht werden. 80 Prozent aller Jugendämter hätten bereits im Herbst 2005 konkrete Ausbaupläne für ein bedarfsgerechtes und qualitativ hochwertiges Angebot für UnterDreijährige zur Verfügung stellen können; ein knappes Drittel der Jugendämter strebe sogar an, ihr Ausbauziel vor 2010 zu erreichen (Bundesministerium 2006, S. 35 und 37). Den Plänen der von der Großen Koalition getragenen Bundesregierung zufolge soll die Zahl der Krippenplätze bis 2013 nun sogar auf 750.000 verdreifacht werden; 35 Prozent aller Eltern von Unter-Dreijährigen hätten damit einen Betreuungsplatz für ihr Kind. Von 2013 an soll es auch einen formalen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren geben. Von den Kosten, die auf rund zwölf Milliarden Euro geschätzt werden, wird der Bund nach den Regierungsbeschlüssen ein Drittel übernehmen. Der Bund plant, sich nicht nur an den Investitions-, sondern auch an den Betriebskosten zu beteiligen, deren Aufbringung bislang allein Ländersache ist (O.V. 2007a). In diesem Beitrag werde ich argumentieren, daß der staatliche Ausbau der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen nach den üblichen ökonomischen Kriterien zur Begründung von Staatseingriffen nicht gerechtfertigt werden kann. Wie ein kurzer Überblick über neuere empirische Forschungsergebnisse zeigt, sind nicht nur die Nutzen für die betreuten Kinder fraglich; vielmehr können für sie selbst Risiken nicht ausgeschlossen werden (Abschnitt 2). Externe Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft, insbesondere aber für die betroffenen Eltern, sind zwar möglich, können nach den üblichen ökonomischen Rechtfertigungstheorien aber weder eine Produktion dieser Leistungen durch den Staat noch ihre Finanzierung durch den Bund ökonomisch rechtfertigen (Abschnitt 3.). Überdies dürfte ein vorrangiges Ziel — die Verbesserung der Situation von Kindern in sog. Problemfamilien — mit dieser Politik grundsätzlich verfehlt und damit gegebenenfalls ein Wohlfahrtsverlust induziert werden (Abschnitt 4).

Frühkindliche Bildung und Betreuung in Tageseinrichtungen als Staatsaufgabe

II.

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Nutzen der Kinder

Die Erziehung, Bildung und Betreuung in Kindergärten kann, wie internationale empirische Studien überzeugend belegen, sich in vielfacher Weise vorteilhaft auf die Entwicklung und den langfristigen Bildungserfolg von Kindern auswirken.2 Umstritten ist hingegen, ob auch die Erziehung von Kindern unter drei Jahren in Tagesstätten in ähnlicher Weise positive Folgen haben kann. Die empirischen Studien, die zu diesem Thema vorliegen, differenzieren dabei üblicherweise nach Wirkungen auf die kognitiven Leistungen, auf die emotionale und soziale Kompetenz sowie auf die Gesundheit der Kinder. a) Tatsächlich gibt es zahlreiche Studien, die zeigen, daß der Besuch einer Kindertageseinrichtung schon in sehr frühen Phasen des menschlichen Lebens die kognitiven Leistungen von Kindern steigern kann. Diese empirischen Arbeiten zeigen übereinstimmend, daß zumindest Kinder, die hochwertige Betreuungseinrichtungen besuchen, kognitive Leistungsvorteile gegenüber Kindern aufweisen können, die zu Hause oder in informellen Betreuungsarrangements betreut werden.3 Diese Vorteile einer Betreuung in Tageseinrichtungen erklären sich daraus, daß das Personal in Tageseinrichtungen tendenziell höher qualifiziert ist und ganz gezielt auf eine verbale und kognitive Stimulation hinarbeitet, die das Lernen der Kinder fördert (vgl. Waldfogel 2006, p. 54). Zahlreiche empirische Studien zeigen demgegenüber jedoch auch, daß die außerhäusüche Unterbringung von Kindern zumindest während ihres ersten Lebensjahres — besonders im Falle einer sehr langen beruflichen Abwesenheit der Eltern - sehr wohl auch mit schlechteren kognitiven Leistungen verbunden sein kann, wenn diese Kinder im Alter von drei, vier oder fünf Jahren wieder getestet werden.4 Diese Wirkungen variieren dabei zum einen in Abhängigkeit von der Art und Qualität der Betreuung, welche das Kind bezieht; zum anderen spielt auch die sozioökonomische Situation der Familie eine Rolle.5 Beide Effekte können miteinander korreliert sein, wenn etwa Familien mit einem höheren Einkommen qualitativ hochwertige Betreuungsangebote nachfragen (vgl. Waldfogel2006, p. 51). Es spricht manches dafür, daß diese Effekte persistent und damit auch in späteren Lebensjahren der Kinder nachweisbar sind.6

2

Vgl. z. B. für Deutschland Büchel, Spieß und Wagner (1997), Becker und Lauterbach (2004), Anger, Plünnecke und Tröger (2007). Einen Überblick über internationale Studien geben z. B. ßiedinger und Becker (2006). 3 Vgl. z. B. Gregg et al. (2005) für Großbritannien sowie die Übersichten bei Waldfogel (2002) oder ClarkeStewart and Allhusen (2005). 4 Blau and Grossberg (1992) und Waldfogel, Han and Brooks-Gunn (2002) finden negative Effekte für das Kind im ersten Jahr der Berufstätigkeit von Müttern und einige positive Wirkungen im zweiten und dritten Lebensjahr. Nach Gregg et al. (2005) kann im Durchschnitt nur die Vollzeitarbeitsaufnahme der Mutter vor dem 18. Lebensmonat ihres Kindes negative Konsequenzen aufweisen, während Teilzeitarbeit sowie eine Arbeit nach 18 Monaten nicht schädlich sind. Siehe auch Baydar and Brooks-Gunn (1991), Desai, ChaseLansdale and Michael (1989), Han, Waldfogel and Brooks-Gunn (2001). Ruhm (2004) zeigt zudem einige negative Effekte der Berufstätigkeit von Müttern auf Kinder auch in ihrem zweiten oder dritten Lebensjahr auf. 5 Vgl. Howes (1988), Howes (1990), Desai, Chase-Lansdak and Michael (1989), Field (1991), Baydar and BrooksGunn (1991), VandellanA Ramanan (1992), Caughy, DiPietro and Strobino (1994). 6 Eine Persistenz der Effekte finden die Studien von Han, Waldfogel and Brooks-Gunn (2001), Waldfogel, Han and Brooks-Gunn (2002); keine Persistenz jedoch Harvey (1999).

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Von besonderer Bedeutung bei der Einschätzung der Einflüsse frühkindlicher außerfamiliärer Betreuung ist die National Institute of Child Health and Human Development Study of Earlj Child Care (NICHD-SECC 2003), die auch in der öffentlichen Diskussion in Deutschland immer wieder eine Rolle spielte. Für diese Studie wurden kognitive Tests mit Kindern im Alter von 15, 24 und 36 Monaten durchgeführt. Im Ergebnis zeigte diese Studie, daß die außerhäusliche Berufstätigkeit von Müttern bis zum neunten Monat mit einer niedrigeren Schulfähigkeit im Alter von drei Jahren zusammenhängt, wobei die Effekte um so deutlicher ausfielen, wenn die Mütter dreißig oder mehr Stunden pro Woche arbeiteten. Kinder, deren Mütter bis zum neunten Lebensmonat einer Vollzeitbeschäftigung nachgingen, erhielten danach auch eine weniger einfühlsame Betreuung durch ihre Mutter bis zum Alter von drei Jahren - ein Ergebnis, das sich mit den Erkenntnissen der vorangegangenen NICHD-Studie deckt; zudem genossen sie tendenziell auch Betreuung schlechterer Qualität als solche Kinder, deren Mütter in den ersten neun Lebensmonaten nur Teilzeittätigkeiten ausübten. Insgesamt zeigt die empirische Literatur, daß Kinder tendenziell schlechtere kognitive Testergebnisse im Alter von drei Jahren und später aufweisen, wenn ihre Mütter im ersten Lebensjahr einer (Vollzeit-)Beschäftigung nachgehen. Dann allerdings, wenn die Beschäftigung der Mutter das Familieneinkommen erhöht und dies in eine hochwertige Betreuungsqualität investiert wird, können sich die Effekte verbessern. Ein eindeutiger Schluß, daß sich die Betreuung und Erziehung in Tageseinrichtungen stets oder doch im Regelfall positiv auf die kognitive Entwicklung von Kindern unter drei Jahren auswirken werde, ist nach alledem nicht zu ziehen. Nach dem Stand der empirischen Forschung dürfte es vielmehr von den familiären Umständen abhängen, ob der Nettoeffekt positiv oder negativ ist (vgl. Waldfogel2006, p. 55 f.). b) Für die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenz hat die sog. Bindungsforschung schon seit einigen Jahrzehnten auf die besondere Bedeutung einer sicheren MutterKleinkind-Beziehung hingewiesen. Eine sichere persönliche Beziehung hilft danach dem Kind in seinen ersten Lebensmonaten, die es umgebende Welt zu entdecken und Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen.7 Empirische Studien in diesem Bereich brachten zutage, daß, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Kinder, deren Mütter im ersten Lebensjahr arbeiten gingen, bei Untersuchungen im Alter von vier Jahren häufiger Verhaltensprobleme aufwiesen. Besonders stark war ein aggressives und impulsives Verhalten von Kindern — vor allem von Jungen —, wenn die Mütter im ersten Lebensjahr eine Vollzeittätigkeit aufnahmen.8 Auch die NICHDForschungsgruppe kam in jüngerer Zeit zu ähnlichen Ergebnissen. Je mehr Zeit Kinder bis zum Alter von viereinhalb Jahren in außerhäuslicher Betreuung verbrachten, desto aggressiver waren sie nach Angaben ihrer Mütter, Betreuer oder Lehrer (vgl. NICHD 2003). Dieser Zusammenhang von früher und ausgiebiger Kinderbetreuung und späteren Verhaltensproblemen erwies sich dabei auch als relativ unabhängig von der Qualität des Elternhauses sowie von jener der Betreuungseinrichtung. Als negativ stellten sich auch die Effekte früh-

7 8

Vgl. z. B. Ainsworth and IVittig (1969) sowie z. B. Spangler and Grossmann (1993). - Der Einfluß einer Bindung an den Vater ist dagegen wenig erforscht. Siehe näher Grossmann et al. (2002). Vgl. beispielsweise Baydar and Brooks-Gunn (1991), Belsky and Eggebeen (1991), Greenstein (1995).

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kindlicher Betreuung auf die so2iale Kompetenz und die Konflikthäufigkeit im Verhältnis zur Tageseinrichtung heraus. Die Bildungsökonomin Jane Waldfogel faßt ihre Betrachtung der amerikanischen Literatur zur Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenz von Krippenkindern wie folgt zusammen: „Taken together, these articles and commentaries raise a red flag as to the potential adverse effects of long hours of nonmaternal child care in the first three years of live. But they also point to the importance of child, family, and child care provider characteristics" {Waldfogel 2006, p. 59).

Europäische Studien deuten zudem darauf hin, daß Säuglinge und Kleinkinder ihre Umgebung in der Betreuungseinrichtung während der ersten Zeit als Streß empfinden. Die Notwendigkeit, sich in einer neuen Umgebung ohne ihre Mütter zurechtfinden zu müssen, löst bei vielen Kindern Kummerreaktionen aus, die erst allmählich, bei zunehmender Vertrautheit mit der Tageseinrichtung, wieder abnehmen. In Studien, die von Fein (1995,1996) und Mitarbeitern (Fein, Gariboldi und Boni 1993) in einer italienischen Kleinstadt durchgeführt wurden, zeigten Krippenkinder im Durchschnittsalter von 8,3 bzw. 10,8 Monaten im wesentlichen die schon von Boiv/by (1969/2005) analysierten Drei-Phasen-Reaktionen von Protest, Verzweiflung und Gleichgültigkeit, wenngleich nicht in dem von ihm beschriebenen Ausmaß. Kinder, die schon beim Eintritt in die Gruppenbetreuung wenig soziale Kontakte hatten, wendeten sich nun häufiger von den Menschen ab und ihrem Spielzeug zu. Umgekehrt wurden sie auch von den Erzieherinnen zunehmend weniger beachtet als ausdrucksstarke Kinder. Die Kummerreaktionen klangen nur allmählich ab. Nach drei Monaten war der Rückgang nur moderat und wurde erst nach sechs Monaten in der Gruppenbetreuung wesentlich. Die Säuglinge und Kleinkinder weinten nun weniger, sie lächelten häufiger, sprachen mehr und spielten und beschäftigen sich mehr mit den anderen Kindern. Ebenfalls zu Eingewöhnungsschwierigkeiten, die jedoch deutlich kürzer sind, kommt es nach der Studie von Ahnert und Richert (2000, S. 199 f.), die 70 Kleinkinder in Ostberlin mit einem Durchschnittsalter von 15 Monaten bei ihrer Aufnahme in Kindertagesstätten untersuchten, die besonders gute Aufnahmebedingungen boten (darunter attraktiv gestaltete Räume und Nischen, kleine Gruppen, stabile Eingewöhungserzieherin) und in denen die Eingewöhnungsphasen individuell gestaltet werden konnten. Dabei kam es nach der Beobachtung der Autorinnen „zu dramatischen Reaktionen" für 45 der beobachteten Kinder. 71 Prozent der Kinder mit einer sicheren und 58 Prozent der Kinder mit einer unsicheren Mutter-Kind-Bindung „weinten, schrieen, quengelten oder reagierten mit Wut und Ärger, nachdem die Mütter den Gruppenraum verlassen hatten". Die Annahme, eine sichere Bindung zwischen Mutter und Kind könne helfen, die Belastungen durch die Trennung zu vermindern, ließ sich nicht bestätigen. Während der ersten Trennungswoche war das emotionale Befinden der Kinder „überwiegend negativ und die Belastung hoch." Im Gegensatz zu den Studien von Fein et al. (1993) ließen diese Streßindikatoren jedoch schon nach vierwöchiger Eingewöhnung in die Kindertagesstätte nach. c) Neben der kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung kann nach den empirischen Erkenntnissen die Betreuung von Kindern in Krippen auch die Gesundheit der Kinder beeinträchtigen. Eltern, die arbeiten, haben weniger Zeit für Gesundheitskontrollen und Arztbesuche ihrer Kinder. Es ist auch damit zu rechnen, daß Kinder von Müttern, die kurz nach der Geburt an den Arbeitsplatz zurückkehren, mit größerer Wahrscheinlichkeit auf-

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hören, ihr Kind zu stillen. Empirische Untersuchungen belegen diese Vermutungen. Danach gibt es beträchtliche Verbindungen, die eine kausale Beziehung nahe legen zwischen einer frühen Rückkehr von Müttern an den Arbeitsplatz und Verringerungen des Stillens und der Durchführung von Impfungen in den USA. Die Rückkehr der Mütter in die Erwerbsarbeit reduziert danach nicht nur die Wahrscheinlichkeit, daß die Kinder gestillt werden, sondern auch die Dauer des Stillens selbst. Diese Ergebnisse sind dabei um so stärker, je früher die Mütter innerhalb von 12 Wochen nach der Geburt zu einer Vollzeitbeschäftigung zurückkehren (vgl. Betger, Hill und Waldfogel 2005). Auch für andere OECD-Länder läßt sich nachweisen, daß eine Unterbrechung der mütterlichen Erwerbsarbeit Auswirkungen haben kann auf die Gesundheit von Kindern und insbesondere die Kindersterblichkeit anhebt und die Wahrscheinlichkeit von Impfungen senkt (Tanaka 2005). Ob und inwieweit die im Vergleich zu einer familiären Betreuung nachweisbare Erhöhung des Streßhormons Kortisol Anlaß zur Sorge um die Gesundheit von Kindern gibt, die in Tageseinrichtungen betreut werden, ist dagegen bisher schwer einzuschätzen (vgl. Watamura, Don^ella, Alwin und Gunnar 2003). d) Betrachtet man die empirische Literatur, die an dieser Stelle allenfalls kursorisch und keinesfalls umfassend referiert werden kann9, im Gesamtzusammenhang, so muß das Ergebnis beunruhigen. Die außerfamiliäre Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern ist nicht ohne Risiken - für die Kinder wie für die Gesellschaft. Zu diesem ernüchternden Schluß kommt etwa der britische Kleinkindforscher Jay Belsky (2001, p. 855) nach einer gründlichen Auswertung der empirischen Literatur: „No longer is it tenable for developmental scholars and child-care advocates to deride the noüon that early and extensive nonmaternal care of the kind available in most communities poses risks for young children and perhaps the larger society as well. ... Moreover, appreciation is growing that child-care quality may not have as substantial an impact on child development as was often presumed was the case."

Belsky räumt ein, daß die negativen Auswirkungen der Krippenerziehung nicht groß seien; aber angesichts der Tatsache, daß immer mehr Kinder in Tageseinrichtungen betreut werden, könne ein kleiner Einfluß auf viele von deutlich größerer sozialer Bedeutung sein als ein großer Einfluß auf wenige Kinder. Soweit sich solche Urteile wesentlich auf Studien beziehen, die in anderen Ländern durchgeführt wurden, wird man ihre Ergebnisse nur mit großer Vorsicht auf die Verhältnisse in Deutschland übertragen können.10 Aber auch hierzulande gibt es unüberhörbare Stimmen, die vor den Gefahren einer Ausweitung der Krippenbetreuung warnen. Nach einer ausführlichen Diskussion der Merkmale guter Gruppenbetreuung warnt etwa die Regensburger Bindungsforscherin Karin Grossmann (1999, S. 182): „Aus Sicht der Bindungstheorie muß man die ganztägige Betreuung von Kindern unter 3 Jahren in Gruppen gleichaltriger Kinder mit größter Skepsis sehen. Damit diese Art der Betreuung aber zu keinem Risiko für ein Kind wird, müssen zahlreiche Bedingungen erfüllt sein. Die Bedingungen könnte man auf einen kurzen Nenner folgendermaßen zusammenfassen: Empfindet sich das Kind als liebenswert durch den Umgang, den es mit seinen Eltern, mit seinen Betreuern und mit anderen Kindern erfährt?"

9 Für umfassendere Übersichten siehe z. B. Lamb (1998), Belsky (2001a), 10 Bedingungen der Übertragbarkeit diskutiert bensei (1994).

Waldfogel {2Q06), p. 36-82.

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Die Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen kommt in einem Gutachten, in welchem sie für den Landeswohlfahrtsverband Baden die Kindergartentauglichkeit Zweijähriger prüfte, zu einem ähnlichen Ergebnis (Bensei und Haug-Schnabel 1998, S. 26): „Insgesamt läßt sich abschließend festhalten, daß es für 2jährige im Kindergarten nicht viel zu gewinnen, aber viel zu verlieren gibt. Es ist beim momentanen Kindergartenstandard nicht zu erwarten, daß den Erzieherinnen die strukturellen und konzeptionellen Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt werden, die es ihnen erlauben würden, tatsächlich als für 2jährige akzeptable Bezugspersonen für die Zeit außer Haus wichtige Funktionen der familiären Bezugspersonen zu übernehmen."

Daß die Betreuung in Krippen für Kinder durchweg unbedenklich oder gar von Nutzen sei, wird man angesichts des Standes der fachwissenschafitlichen Diskussion kaum behaupten können. Das bedeutet nicht, daß auch eine Krippenbetreuung für Kinder per Saldo von Nutzen sein kann. Wo Kinder nämlich individuelle Wertschätzung erfahren und gut behütet werden, kann eine Krippenbetreuung für Kinder aus Familien mit hinreichend liebevoller Zuwendung sehr wohl „als günstige Erweiterung ihrer Erfahrungen" gesehen werden {Grossmann 1999, S. 183).

III. Nutzen der Gesellschaft In der bildungspolitischen Diskussion wird nicht nur argumentiert, daß der Ausbau einer weitverzweigten Betreuungsinfrastruktur im Interesse des Kindes liege. Vielmehr könne auch die Gesellschaft insgesamt davon profitieren, wenn Kinder schon in den ersten Lebensmonaten außerfamiliär betreut und erzogen würden. Ein frühkindliches Betreuungsund Bildungsangebot wird daher nicht als eine ausschließlich privat zu erfüllende Aufgabe angesehen, sondern es wird auf wohlfahrtsstiftende Wirkungen verwiesen, die über jene für die betreuten Kinder hinausgehen. Solche positiven Extemalitäten — also Nutzen einer Transaktion, die bei anderen als den Transaktionspartnern anfallen - stellen sich hiernach nicht nur bei den Eltern der betroffenen Kinder ein, sondern auch für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt. Daß auch die Eltern, wie üblicherweise unterstellt, Empfanger externer Nutzen aus der Bereitstellung von Krippenplätzen sein sollen, ist dabei nicht selbstverständlich. Sie selbst schließen ja die Betreuungsverträge mit Kindertageseinrichtungen bzw. deren Trägern ab. Diese Perspektive interpretiert die Rolle der Eltern mithin als die von uneigennützigen Sachwaltern und Vertretern der Interessen ihrer Kinder als den eigentlichen Vertragspartnern. Als externe Nutzen der Krippenerziehung für die Eltern wird in der Literatur die Gleichberechtigung von Frauen angesehen, die dadurch entsteht, daß es ihnen — angesichts des außerfamiliären Betreuungsangebots — leichter fällt, ihre Interessen in Familie und Beruf miteinander in Einklang zu bringen. Überdies soll es Paaren auf diese Weise erleichtert werden, eine Entscheidung für ein Kind zu treffen.11 Auch die Wirtschaft kann externe Nutznießerin sein, insofern der Ausbau von Struktur und Niveau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten die Standortattraktivität für Unternehmen 11 Siehe zu den hier aufgezählten externen Nutzen für Eltern, Wirtschaft und Gesellschaft näher z. B. OECD (2006), S. 1 f.; Döring (2007); Apolte und Funcke (2007); Krashinsky (2007); Anger, Plünnecke und Trvger (2007).

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steigern kann. Es wird darauf hingewiesen, daß sich ein familienfreundliches Umfeld positiv auf die Entscheidung, eine Arbeit aufzunehmen, auswirken kann, und nicht zuletzt auf die Arbeitsleistungen der Beschäftigten selbst. Schließlich realisiert nach den üblichen Annahmen auch die Gesellschaft insgesamt externe Nutzen aus einer erhöhten Frauenerwerbsbeteiligung: So werde eine Entwertung des Humankapitals der arbeitenden Frauen, das durch die Betreuung und Erziehung von Kindern nicht hinreichend genutzt werde, vermieden. Die höhere Erwerbsbeteiligung führe außerdem aus staatlicher Sicht zu Mehreinnahmen von Steuern. Und insbesondere mit Blick auf alleinerziehende Mütter könne eine Steigerung ihrer Erwerbsbeteiligung zudem zu einer Reduktion finanzieller Unterstützungsleistungen in Form von Sozialtransfers führen. Überdies finden sich in der Literatur Verweise auf mögliche Beschäftigungs- und Multiplikatoreffekte — einerseits aus der Erhöhung der Kaufkraft der erwerbstätig gewordenen Mütter, andererseits aus dem Ausbau der Betreuungsinfrastruktur selbst. Schließlich erhöhe eine frühzeitige Förderung von Kindern in Kindertageseinrichtungen auch die Wahrscheinlichkeit, daß diese später ein eigenständiges Lebenseinkommen erzielen und entsprechend weniger wahrscheinlich sozialleistungsabhängig oder kriminell werden. Angesichts solcher positiven Externalitäten wird eine Infrastruktur von Tagesbetreuungsangeboten für Unter-Dreijährige in der Literatur auch als ein „öffentliches Gut" bezeichnet bzw. als ein „Gut mit signifikanten .öffentlichen Guts'-Eigenschaften mit zahlreichen positiven Externalitäten"12. Gemessen an diesen externen Nutzen, die für die Allgemeinheit insgesamt durch ein frühkindliches Bildungsangebot erzielt werden könnten, würden viele Eltern die Leistungen von Kindertageseinrichtungen in zu geringem Maße nachfragen. Das im privatwirtschaftlichen Wettbewerb bereitgestellte Angebot in diesem Bereich wäre somit zu gering; es stelle sich, mit anderen Worten, ein „Marktversagen" ein (siehe z. B. Krashinskj 2007, S. 5 ff.). Diese Einstufung der Krippeninfrastruktur als ein öffentliches Gut erscheint jedoch als verfehlt. a) Öffentliche Güter sind solche, die allen Betroffenen nützen. Nach der üblichen finanzwissenschaftlichen Terminologie werden sie bereitgestellt, um Paretavetbessenmgen zu realisieren, insofern hierdurch mindestens einige Individuen besser-, niemand aber schlechtergestellt wird. Das bereitzustellende Angebot müßte, mit anderen Worten, von allen Betroffenen überhaupt für ein Gut gehalten werden. Gerade dies ist nach dem dargestellten Stand der empirischen Forschung aber durchaus fraglich. Es besteht die Gefahr, daß über die Interessen der am meisten von dieser Politik Betroffenen — jene der Kinder — zugunsten der positiven Wirkungen für Dritte hinweggegangen wird. Diesen Eindruck nährt etwa die wichtige vergleichende Länderstudie der OECD (2006, S. 1) nach welcher die externen Nutzen, die für Dritte anfallen, der eigentliche Grund für das angestrebte zusätzliche staatliche Angebot von Tageseinrichtungen für Kinder unter drei Jahren sei. „Das große Interesse der Regierungen an diesen Fragen", heißt es dort, „erklärt sich hauptsächlich aus dem Bestreben, die Frauenerwerbsbeteiligung zu erhöhen."

12 In diesem Sinne äußert sich z. B. Krashinsky (2007, S. 6, meine Übersetzung; d. Verf.). Anger, Träger (2007, S. 17) betrachten die Bildung in einem Kindergarten als „öffentliches Gut".

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Die empirische Forschung betonte traditionell eher die Gefahren von nicht-mütterlicher Betreuung; daß auch sie heute eher nach den Nutzen für die Kinder fragt, ist dabei nicht zuletzt mit einer „veränderten Frauenrolle" (Biedinger und Becker 2006, S. 3) zu erklären. Es mehren sich daher sarkastische Stimmen wie jene von Pechstein (2003, S. 128), der aus kinderärztlicher Sicht warnt, die Institutionen der Ganztagsbetreuung von der Krippe bis zum Hort seien „in Wahrheit Einrichtungen zur Hilfe für Erwachsene ... Dem Kindeswohl widersprechen sie: Je jünger die Kinder sind, desto mehr!" b) Noch aus einem anderen Grund ist es irreführend, das Angebot von Betreuungsplätzen als ein öffentliches Gut zu bezeichnen. Öffentliche Güter weisen nach ihrer Lehrbuchdefinition zwei Eigenschaften auf (vgl. z. B. Zimmermann und Henke 2005, S. 50 ff.): Zum einen konkurrieren ihre Nutzer nicht um ihre Nutzung; der Konsum des einen Nutzers schränkt den Konsum eines anderen nicht ein. Zum anderen kann von der Nutzung eines Kollektivgutes, wenn es einmal bereitsteht, niemand ausgeschlossen werden, und zwar auch dann nicht, wenn der einzelne Nutzer nichts zu seiner Bereitstellung beigetragen hat. In dieser fehlenden Ausschlußmöglichkeit liegt gerade die Rechtfertigung dafür, solche Güter unter Anwendung der staatlichen Zwangsgewalt - mittels Steuern oder anderer Zwangsabgaben - bereitzustellen. Insofern nämlich bei rein freiwilliger Beitragsleistung nicht jeder Nutzer einen Anreiz hätte, seine wahre marginale Zahlungsbereitschaft für das Gut anzugeben, sondern sich durch Untertreibung einer vollen Leistung seines anteiligen Beitrags zu entziehen, würden diese Güter ohne einen staatlichen Eingriff im Extremfall nicht bereitgestellt - und dies, obwohl alle Beteiligten davon profitieren und eine Bereitstellung wünschen würden. Im Fall von Kindertageseinrichtungen ist die Situation aber eine völlig andere. Ein Ausschluß nicht-zahlungsbereiter Nachfrager ist hierbei sehr wohl möglich, und er wird, etwa im Kindergartenbereich, über die Nutzungsgebühren auch tatsächlich ausgeübt. Nach den üblichen Kriterien der ökonomischen Theorie handelt es sich bei einer Kindertagesstätte ganz unabhängig vom Alter der Kinder, für die sie bereitgestellt wird - nicht um ein öffentliches, sondern vielmehr um ein sog. „Clubgut".13 Ein Clubgut ist eines, um dessen Konsum die Nutzer zunächst nicht rivalisieren, für das ab einer bestimmten Anzahl von „Clubmitgliedern" aber Überfüllungskosten auftreten.14 Das Ausschlußprinzip läßt sich bei solchen Gütern indes unter Anwendung vertretbarer Kosten durchsetzen, so daß, wie in der theoretischen Literatur grundlegend gezeigt wurde, solche Güter privatwirtschaftlich — über Märkte - bereitgestellt werden können.15 Daß öffentliche Güter kollektiv, Clubgüter aber grundsätzlich privat bereitzustellen sind, ist auch eine Folge des Subsidiaritätsprinzips, das allgemein verlangt, daß der Aufbau einer Gesellschaft „von unten nach oben" erfolgen solle. Der „Staat soll nur da eingreifen, wo seine Mithilfe in keiner Weise zu entbehren ist" (Eucken 2004, S. 348). Insofern das Han-

13 Vorausgesetzt ist allerdings, daß alle Nutzer eines Clubs hiervon auch tatsächlich profitieren, was im vorliegenden Fall der betreuten Kinder, wie gezeigt, fraglich ist. - Zur Theorie der Clubs siehe grundlegend Buchanan (1965). Überbücke über die Literatur geben Sandler und Tschirhart (1980, 1997), Apolte (1995). 14 In einen Kegel- oder Sportclub tritt man ein, gerade weil man seine Freizeit gemeinsam mit Freunden und Bekannten verbringen möchte; erst wenn die Mitgliederzahl unüberschaubar groß wird und man sich gegenseitig nicht mehr kennt, beginnen die Mitglieder um den Konsum des Gutes zu rivalisieren. 15 Siehe für den Fall der Clubgüter bei Verglas (1976,1981), Berglas und Pims (1980).

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dein des Staates immer in der einen oder anderen Weise mit Zwang verbunden ist, läßt sich das Subsidiaritätsprinzip auch als ein Prinzip der Vermeidung von Zwang auffassen.16 Wer also Clubgüter wie Betreuungseinrichtungen für Kinder öffentlich bereitstellt und über nicht-äquivalente Steuern finanziert, entkoppelt zumindest teilweise die Leistung von der Gegenleistung: Auf der einen Seite würden die Nachfrager nur im Ausnahmefall die vollen Kosten der von ihnen beanspruchten Nutzungseinheiten bezahlen; auf der anderen Seite müßten auch Menschen, die von den privat anfallenden Nutzen dieser Güter ausgeschlossen sind, zur Bereitstellung von Gütern beitragen, von denen sie nicht profitieren, was einen unnötigen - und damit illegitimen — staatlichen Zwang implizieren würde. c) Man mag eine solche Entkoppelung von Leistung und Gegenleistung zumindest teilweise als gerechtfertigt ansehen, wenn und insoweit Externalitäten der beschriebenen Art vorliegen. Doch auch die Existenz externer Nutzen einer Krippenerziehung rechtfertigt nach den üblichen ökonomischen Legitimationskriterien nicht, daß es der Staat ist, der diese Güter herstellt. Denn in der Finanzwissenschaft ist die Frage, ob ein Gut mit Externalitäten staatlich bereitgestellt werden sollte, von jener zu trennen, ob der Staat auch die Produktion dieses Gutes zu übernehmen hat (vgl. Zimmermann und Henke 2005, S. 51 f.). Insofern Kindertageseinrichtungen in ihrer Eigenschaft als Clubgüter marktgängig sind, besteht kein Grund für eine staatliche Produktion dieser Güter. Nach dem Subsidiaritätsprinzip wäre eine private einer öffentlichen Produktion vorzuziehen. Ein wettbewerbliches Angebot von privaten Trägern von Tageseinrichtungen würde nicht nur Kostenvorteile gegenüber einer staatlichen Monopolproduktion realisieren, sondern es auch erlauben, auf bestehende Präferenzunterschiede der Nachfrager besser einzugehen. Nur in dem Maße, in dem man staatlicherseits das private Produktionsniveau aufgrund möglicher externer Nutzen nicht für ausreichend hält, hätte der Staat einzugreifen. Eine ordnungspolitisch wünschenswerte Form des Staatseingriffs wäre hier sicher nicht die staatliche Herstellung von Gütern, für die auch ein privates Angebot möglich wäre, sondern der indirekte Weg der Gewährung von Anbieter- oder Nachfragersubventionen in einem Ausmaß, das die jeweils wahrgenommene Höhe der hierdurch erzielbaren externen Nutzen nahe legt. In dem Maße, in dem sich der Staat als Produzent zurückhält und private Träger der Wohlfahrtspflege in ihrem Angebot — zur Internalisierung bestehender Externalitäten — unterstützt, wäre die gegenwärtige Politik danach also auf einem guten Weg. d) Nach der Theorie des fiskalischen Föderalismus17 wären reine öffentliche Güter auf der obersten Ebene eines mehrstufigen föderalen Staatsgebildes bereitzustellen und zu finanzieren (vgl. Samuelson 1954). Was aber gilt für Clubgüter wie Kindertagesstätten, von denen in gewissem Ausmaß externe Nutzen ausgehen? Nach dem Dezentralisierungstheorem von Oates (1972) ist grundsätzlich die dezentrale Bereitstellung einer öffentlich zu finanzierenden Leistung einer Bereitstellung durch eine höhere gebietskörperschaftliche Ebene vorzuziehen. Nur insoweit die dezentralen Güter räumliche Externalitäten aufweisen, kommt eine Bereitstellung durch die Landes- oder die Bundesebene in Frage. In dem Maße etwa, in dem Clubgüter wie Theater oder Schwimmbäder auch von den Einwohnern 16 Nach einer Formulierung von Herne! (1949, S. 229) dient das Subsidiaritätsprinzip dazu, „das gemeinschaftliche Leben der Völker mit einem Mindestmaß an öffentlicher Macht und einem Höchstmaß an einzelmenschlicher Freiheit zu ermöglichen." 17 Siehe z. B. die Übersichten bei Oates (1999) und Blankart und Borck (2000).

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umliegender Gemeinden genutzt werden, wären höhere föderale Ebenen zu beteiligen. Nach Olsons Prinzip der fiskalischen Äquivalenz sollen alle Nutznießer einer Leistung für deren Finanzierung verantwortlich sein, wodurch räumliche ,Spillovers' internalisiert und effiziente Bereitstellungsniveaus lokal bereitgestellter Güter ermöglicht werden sollen (Olson 1969). Es dürfte indes schwer sein, sich vorzustellen, daß die oben genannten positiven Externalitäten einer dezentralen Bereitstellung von Tageseinrichtungen für Kinder unter drei Jahren eine mehr als nur regionale Bedeutung haben können. Das gilt nicht nur für die Vorteile, welche die Eltern der in Krippen betreuten Kinder aus der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ziehen, ist doch das hieraus fließende Einkommen ein rein privates Gut der Eltern. Vielmehr gilt dies auch für das Argument, daß eine familienfreundliche Betreuungsinfrastruktur aus der Sicht von Unternehmen ein positiver Standortfaktor sei; die Attraktivität eines Standortes kann schon per definitionem wohl nie mehr als nur ein lokales Kollektivgut sein, für dessen Finanzierung nicht auch die Einwohner anderer Regionen herangezogen werden können. Schließlich dürften die für die Allgemeinheit anfallenden externen Nutzen nicht von nationaler Bedeutung sein. Die Beschäftigungseffekte des Infrastrukturausbaus dürften wohl kaum mehr als die jeweils regionalen Arbeitsmärkte beleben. Auch ist das Ziel, durch die Förderung der Erwerbsaufnahme von Frauen Sozialtransfers einsparen zu wollen, schon dadurch von wesentlich regionaler Relevanz, als die Finanzierung der Sozialhilfe Aufgabe von Ländern und Kommunen ist. Daß die Erwerbsaufnahme von Frauen zusätzliche Steuereinnahmen erschließt, wie es in der Literatur auch angeführt wird (Krasbinsky 2007, S. 7), darf bei der Einschätzung der Vor- und Nachteile einer Förderung von Tagesbetreuungsangeboten schließlich überhaupt nicht ins Gewicht fallen, insofern die Maximierung des Steueraufkommens wohl kaum als ein wohlfahrtsrelevanter Zweck der Staatstätigkeit aufzufassen ist. Es erscheint angemessen, die Existenz mancher der genannten externen Effekte auch als einen Grund für eine mehr als nur private Finanzierung des Angebots von Tageseinrichtungen von Unter-Dreijährigen anzusehen - etwa unter Beteiligung der Kommunen und Bundesländer. Der Plan der Bundesregierung, ein Drittel der Ausbaukosten zu übernehmen, dürfte indessen klar der Idee der fiskalischen Äquivalenz widersprechen.18

IV. Die Gefahr von Staatsversagen Daß intakte Elternhäuser wichtige Voraussetzungen schaffen für die Gesundheit, die Ausbildung kognitiver Fähigkeiten sowie die soziale und emotionale Kompetenz von Kindern, wird im allgemeinen von keiner Seite bestritten. Auch, daß die Qualität von Tageseinrichtungen sehr hoch sein muß, wenn sie die Betreuungs- und Bildungsqualität dieser Elternhäuser substituieren sollen, ist weitgehender Konsens in der Diskussion. Die Befürworter des Ausbaus von Kindertageseinrichtungen haben aber auch zumeist nicht solche

18 Eine Beteiligung des Bundes an den Finanzierungskosten ließe sich - statt mit diesen allokativen Gründen - allenfalls noch mit Hilfe distributiver Argumente rechtfertigen.

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„.normalen' Familien" {Matjejcek 1989, S. 1092) im Blick; gezielt wird vor allem auf die tendenziell bildungsfernen und einkommens schwachen sog. Problemfamilien, in denen die Eltern - aus welchen Gründen auch immer - mit ihrer Erziehungsaufgabe überfordert sind. Es ist naheliegend, daß Kinder aus solchen benachteiligten Familien durch das Angebot von Tageseinrichtungen im frühkindlichen Bereich insgesamt wohl sehr profitieren können.19 Zu bezweifeln ist indes, daß es gerade der staatlich forcierte Ausbau von Kinderkrippen ist, welcher dieser Zielgruppe helfen wird. Als Ökonom wird man unterstellen, daß die Anreize, Leistungen von Kindertageseinrichtungen nachzufragen, ceteris paribus mit den Zeitopportunitätskosten der in Frage kommenden Familien steigen. Diese bestehen in dem Arbeitslohn, der dem Elternteil während der eigenen Kinderbetreuungszeit entgeht. Unterstellt man plausiblerweise, daß Problemfamilien eher bildungsfern sind, über geringe Einkommen verfügen und häufig auch einen Migrationshintergrund haben, dann dürften gerade die problematischen Haushalte die Angebote von Kinderkrippen mit geringerer Wahrscheinlichkeit nachfragen als bildungsnahe mit üblicherweise höheren entgangenen Markteinkommen. Für letztere wird der Nettonutzen aus der Erzielung von Arbeitseinkommen einerseits und der entgeltlichen Fremdbetreuung ihrer Kinder andererseits positiv sein; erstere hingegen werden sehr häufig eine Betreuung ihrer Kinder zu Hause einer qualitativ hochwertigen, kostenpflichtigen Förderung ihrer Kinder in Tageseinrichtungen vorziehen (müssen). Empirisch läßt sich dieser Verdacht bestätigen. Danach steigt die Nutzungsintensität von Tageseinrichtungen in Abhängigkeit von der sozioökonomischen Situation der Eltern: Mit steigender Bildung, steigendem Einkommen und mit zunehmender Berufstätigkeit der Mutter läßt sich - innerhalb von Deutschland mit etwas unterschiedlicher Gewichtung eine verstärkte Nutzung von Kindertageseinrichtungen nachweisen. In Westdeutschland nimmt die Wahrscheinlichkeit des Besuchs einer Kindertageseinrichtung mit dem Einkommen der Eltern zu; in Ostdeutschland gilt dies zumindest für die Ganztagsplätze. In Westdeutschland werden die bisher wenigen Ganztagsplätze vorrangig von Akademikerinnen für ihre Kinder in Anspruch genommen (vgl. Spieß, Büchel und Frick 2002; Kreyenfeld 2004). Auch hat eine nicht-deutsche Staatsangehörigkeit einen negativen Effekt auf die Nutzungshäufigkeit von Krippe und Kindergarten (vgl. Kreyenfeld 2004). Wenn es aber stimmt, daß gerade in bildungsnahen Familien die Bildungs- und Betreuungsleistungen im Durchschnitt von höherer Qualität sind, als Kindertageseinrichtungen sie gewährleisten können (vgl. z. B. Matejcek 1989), dann wäre zu erwarten, daß durch den verstärkten Ausbau von Kindertagesstätten für Unter-Dreijährige die Betreuungsqualität im Durchschnitt zurückgeht. Insofern diejenige Personengruppe, die man eigentlich im Blick hat, kaum erreicht, eine andere im Vergleich zum Status quo jedoch schlechter gestellt wird, müßte das zusätzliche Angebot an Krippenplätzen die Wohlfahrt ceteris paribus senken, nicht aber steigern.20

19 Vgl. z. B. Grossmann (1999), S. 183; empirische Belege z. B. bei Vandell and Ramanan (1992), Caughy, DiPietrv and Strobino (1994); Harvey (1999). 20 Diesen gegenläufigen Effekt finden z. B. Caughy, DiPietro und Strobino (1994). Danach erzielen Kinder aus Problemfamilien kognitive Vorteile aus dem Besuch einer Tageseinrichtung im ersten Lebensjahr, während sich die Leistungen von Kindern mit einer stimulierenderen familiären Umgebung hierdurch tendenziell verschlechtern. Siehe auch Desai, Chase-Lansdale and Michael (1989); Milm et al. (1986); Ruhm (2006).

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Nicht einmal eine Pflicht zum Besuch des Kindergartens und sogar der Betreuungs- und Bildungsangebote für Unter-Dreijährige, wie sie gelegentlich gefordert wird, könnte daran etwas ändern. Denn dann würden zwar die Problemfamilien gezielt erreicht; die Kinder aus intakten Familien indes würden in Tageseinrichtungsprogramme gelenkt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die gleichen Leistungen erzielen werden wie die Erziehung in ihren Familien. Hierin liegt eine besondere Problematik der derzeitig verfolgten Politik: „Wenn ... den Eltern durch öffentliche Einrichtungen quasi versprochen wird, daß ihre Kinder hier gut aufgehoben werden, die Bedingungen einer liebevollen, individuellen selbstwertfördernden Betreuung jedoch nicht gegeben sind, dann wird Eltern und Kindern die Chance genommen, eine bessere frühkindliche Betreuung zu finden, z. B. durch eine Verwandte oder Tagesmutter" (Grossmann 1999, S. 182).

Wenn schon nicht zu einer Paretoveibessemng, so könnte der Ausbau der öffentlichen Tagesbetreuung für Unter-Dreijährige im Extremfall also sogar zu einer ParetovetscUechterung führen, durch die niemand besser, einige aber schlechter gestellt werden. Statt als ein öffentliches Gut erwiese sich das staatliche Angebot in diesem Fall als ein „öffentliches Übel". Der Versuch, das diagnostizierte Marktversagen zu heilen, resultierte dann sogar in einer Verschlechterung der Situation und damit in einem Fall von Staatsversagen.

V.

Zusammenfassung und Schluß

Der massive staatliche Ausbau einer Infrastruktur von Tageseinrichtungen für Kinder unter drei Jahren, wie er von der gegenwärtigen Bundesregierung forciert wird, ist nach den üblichen ökonomischen Kriterien zur Begründung von Staatseingriffen nicht zu rechtfertigen. Die empirische Literatur kann, wie der kurze Überblick über einige zentrale Forschungsergebnisse zeigte, Nachteile für die betreuten Kinder nicht ausschließen. Schon das allein wäre ein Grund für eine staatliche Zurückhaltung in dieser Frage, sind doch Politiker nach ihrem Amtseid angesichts von Risiken bereits zur Abwehr von Gefahren verpflichtet (vgl. Bensei 1994, S. 322). Das Angebot von Kindertageseinrichtungen kann darüber hinaus aber auch nicht, wie in der Literatur angeführt, als ein öffentliches Gut betrachtet werden, dessen Bereitstellung einen bundespolitischen Handlungsbedarf rechtfertigen würde. In der gängigen finanzwissenschaftlichen Diktion handelt es sich bei solchen Leistungen vielmehr um Clubgüter, die grundsätzlich privat bereitgestellt werden können. Daß solche Clubgüter zudem auch eine Reihe positiver Nutzen für Dritte — für Wirtschaft, Gesellschaft und nicht zuletzt für die Eltern — aufweisen können, kann nicht die staatliche Produktion dieser Güter begründen, sondern allenfalls eine Bezuschussung privatwirtschaftlicher Anbieter oder Nachfrager dieser Leistungen. Auch steht der föderalismustheoretische Grundsatz der fiskalischen Äquivalenz einer Finanzierung solcher Leistungen über den Bundeshaushalt entgegen. Schließlich habe ich argumentiert, daß der gegenwärtige Ausbau der Betreuungsinfrastruktur auch sein Ziel verfehlen kann: An der eigentlichen Zielgruppe - den sog. „Problemfamilien", deren Kinder von dem Ausbau besonders profitierten könnten — dürfte das staatliche Zusatzangebot im wesentlichen vorbeigehen. Keine Benachteiligung findet dagegen Gmnstein (1995), wonach gut ausgebildete Mütter und Mütter mit höheren Einkommen regelmäßig eine qualitativ hochwertige Tageseinrichtung wählen.

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Solche Zusammenhänge aufzuzeigen, bedeutet nicht, einem rückwärtsgewandten Familien- oder gar Frauenbild das Wort zu reden. Und selbstverständlich bedeutet es auch nicht, die in vielen Fällen zweifellos gegebene Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Krippenerziehung generell zu bestreiten. Nicht ohne Polemik, aber doch treffend bringt dies Belskj (2001b, p. 2) auf den Punkt: ,Just because hundreds of thousands of families rely upon child care does not mean that disconcerting news should be censored and downplayed in ways that more pleasing news never is. And just because one reports disconcerting news about child care does not mean one is against child care. By the latter logic which is so widespread as to make one wonder whether there has been an outbreak of brain disease, one would have to regard the weatherman as being against sunshine when he says it is going to rain or an economist against growth when he says we are in recession."

Welche Implikationen für die Erziehungspolitik lassen sich aus der voranstehenden Diskussion ziehen? Zentral erscheinen dabei vor allem Versuche, Eltern in die Lage zu versetzen, selbst für ihre Kinder zu sorgen und von Tagesbetreuungsangeboten weniger abhängig zu werden (vgl. Belskj 2001a, S. 856). Ein Schritt in die richtige Richtung könnte dabei, was hier nur angedeutet werden kann, die Einführung eines „Erziehungseinkommens" für Eltern — Mütter wie Väter - sein, wie es immer wieder in der öffentlichen Diskussion auftaucht (z. B. Wingert 2000), gekoppelt mit entsprechenden Möglichkeiten einer Mitgliedschaft in den gesetzlichen Sozialversicherungen, um Verteilungsnachteile zu vermeiden.21 Ob und inwieweit ein solcher Einkommenszuschuß den Rechtfertigungskriterien der ökonomischen Theorie entsprechen könnte, wird von seiner konkreten Ausgestaltungsform sowie von der Art seiner Finanzierung (und seiner Finanzierbarkeit) abhängig sein und kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Insbesondere sind jene ordnungspolitischen Stimmen ernstzunehmen, die in diesem Zusammenhang vor einer weiteren Verstaatlichung des Sozialen und einer abermaligen Zunahme der Bürokratie warnen. Immerhin hätte ein solcher Einkommenszuschuß aber den wesentlichen Vorteil, die Opportunitätskosten der Kindererziehung zu reduzieren und die Eltern in die Lage zu versetzen, eine wirklich freie, von ökonomischen Zwängen unbelastete Wahl zu treffen, ob sie ihr Kind selbst erziehen oder in die Obhut einer Erziehungseinrichtung geben wollen, der sie persönlich vertrauen können. Die auf diese Weise erhöhte elterliche Kaufkraft ließe auch einen raschen privatwirtschaftlichen Ausbau eines wettbewerblichen und wirklich bedarfsorientierten Angebots an Kindertageseinrichtungen erwarten. Vor allem aber dürfte ein solcher direkter Einkommenstransfer den Wünschen der betroffenen Eltern am nächsten kommen. So äußerten sich kürzlich in einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IPSOS ('0. V. 2007b) knapp 70 Prozent aller befragten Frauen, im Falle echter, mit einem problemlosen Wiedereinstieg in den Beruf verbundener Wahlfreiheit selbst für die Bildung und Betreuung ihres Kindes zuständig sein zu wollen, wenn man ihnen im Gegenzug die Kosten für einen Krippenplatz direkt auszahlte.

21 Für eingehende Diskussionen politischer Handlungsoptionen siehe z. B. Brady-Smitb et al. (2001); (2006, p. 62 ff.).

Waldfogel

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Christian Müller

Zusammenfassung In diesem Beitrag wird untersucht, ob der gegenwärtig von Bund und Ländern betriebene Ausbau von frühkindlicher Erziehung und Betreuung von Kleinkindern in Tageseinrichtungen nach den üblichen ökonomischen Standardkriterien für Staatshandeln gerechtfertigt ist. Wie einige neuere Ergebnisse der empirischen Forschung zeigen, weist eine außerhäusliche Betreuung nicht nur Nutzen für Säuglinge und Kleinkinder auf, sondern birgt für sie auch Risiken. Mögliche externe Nutzen für die Gesellschaft insgesamt, vor allem für die Eltern, sind zudem nicht groß genug, um ein Engagement des Bundes in der Kinderbetreuung zu rechtfertigen. Schließlich dürften die frühkindlichen Bildungsprogramme das Ziel, die Situation von Kindern in ökonomisch benachteiligten Familien zu verbessern, verfehlen. Unter Anreizgesichtspunkten könnte der staatliche Ausbau der Kinderbetreuung sogar eher in einem Wohlfahrtsverlust als einem -gewinn resultieren.

Summary The Governmental Provision of Early Childhood Education and Care In this article it is argued that the extension of early childhood education and care, as currendy pursued by both the German federal government and the federal states, cannot be justified by standard economic criteria of government action. Some recent results of empirical research indicate that early child care carries both benefits and risks for infants and toddlers. In addition, potential external gains for society as a whole, especially for parents, are not large enough to justify federal state involvement in child care provision. Finally, early childhood education programs may be expected to fail to improve the situation of children in economically disadvantaged families. Taking into account the incentives provided society might experience welfare loss rather than gain.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2007) Bd. 58

Manfred E. Streit

Das Wissenspfoblem der Ökonomik aus Hayekschef Sicht Inhalt I. Überblick

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II. Wissensverwertung: das olympische Modell

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III. Wissenserwerb: das neoklassische Kalkül

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IV. Die neurobiologische Dimension des Wissenserwerbs

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V. Wissensverbreitung: die Katallaxie als Kommunikationsprozeß

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VI. Schlußfolgerungen

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: The Knowledge Problem in Economics in the view of F. A. Hayek

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„The phenomen of human knowledge is no doubt the greatest miracle in our universe. It constitutes a problem that will not soon be solved." K R. Popper (1971)

I.

Überblick

Die Ökonomik dürfte weitgehend eine angewandte Theorie der Wahlhandlungen oder Entscheidungen sein. Entscheidungen setzen Wissen über die Handlungsmöglichkeiten sowie die erwart- und bewertbaren Handlungsfolgen voraus. Der entscheidungsorientierte Umgang mit Wissen im Sinne von Informationen über Gegebenheiten der Außenwelt des Menschen (Lorenz 1997, S. 38) führt zu den nachstehenden Untersuchungsschritten: Zunächst (Teil 1) wird der Verwertung vorhandenen Wissens nachgegangen. Sodann (Teil 2) wird geprüft, wie Wissen erworben wird. Damit verbunden sind subjektive Wahrnehmungsvorgänge, womit eine neurobiologische Dimension angesprochen wird (Teil 3). Schließlich (Teil 4) gilt die Aufmerksamkeit dem Prozeß, durch den Wissen in einem marktwirtschaftlichen System verbreitet wird. Die genutzten Verfahrensweisen sind entsprechend mit Rationalität, Kognition bzw. Kommunikation in der marktwirtschaftlichen Ordnung oder Katallaxie (Hayek 2003, S. 258 ff.) beschrieben.

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Manfred E. Streit

II. Wissensverwertung: das olympische Modell Verfugbares Wissen wird nach den in der Ökonomik gängigen Vermutungen perfekt rational zur Handlungsvorbereitung verwertet. Zweckrational handelt, „wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt" (lVeber 1921/2002, S. 13). Symbol für eine perfekte Wissenswertung in diesem Sinne ist in der Ökonomik der viel kritisierte homo oeconomicus, der automatengleich und modellkonform alles Wissen nutzt, um optimierend zu handeln. In aller Schärfe kritisierte Hayek (1937/1952., S. 65) diese Abstraktion wie folgt: „Man möchte fast glauben, daß das Hausgespenst in unserem Schrank, der homo oeconomicus, den wir mit beten und fasten ausgetrieben haben, durch die Hintertüre wieder hereingekommen ist in der Gestalt eines quasi allwissenden Einzelmenschen."

Im Hinblick auf die damit verbundenen Wissensanforderungen ist seine Vorgehensweise „olympisch" im Sinne von Herbert Simon (1983, S. 3). Sie ist den Bewohnern des Göttersberges vorbehalten und beschreibt das Modellverhalten eines Allwissenden.

III. Wissenserwerb: das neoklassische Kalkül Die kritische Annahme eines allwissenden Akteurs läßt die Frage entstehen, wie Wissen über die Außenwelt eines Akteurs überhaupt erworben wird. Die Antwort gab einer der Begründer der Informationsökonomik, George J. Stigler (1961/1971, S. 66): Bei der Suche nach entscheidungsrelevanter Information wäre ein Optimum erreicht, „wenn die Grenzkosten der Suche dem erwarteten Grenzertrag der Information entsprächen, genau so, wie dies für die Analyse des Käuferverhaltens gilt" (eigene Übers.). Vermutlich unwissentlich widersprach dem Kenneth Arrow (1962/1971, S. 148) mit seinem „fundamentalen Paradoxon in der Bestimmung der Nachfrage nach Information". Danach ist der Wert einer Information einem Akteur unbekannt, solange er sie nicht hat. Hat er sie jedoch, dann wurde sie kostenlos erworben. Das Stiglenszhc Nachfragekalkül wird so illusorisch. Mit seinem unwissentlichen Gegenargument handelte sich Arrow eine Fehlinterpretation der Realität ein. Seinem Argument stellte er die Feststellung voran, Information sei ein unteilbares Gut (Arrow op. cit., S. 147): Demgegenüber haben Information und Wissen eine neurobiologische Dimension. Sie sind Produkte menschlicher Wahrnehmung und deren mentaler Verarbeitung, also Produkte menschlichen Geistes oder Bewußtseins {Streit 2003, S. 115 ff.). Damit wird die Hayeksehe Frage aufgeworfen „What is mind?" (Was ist Geist oder Bewußtsein?).

IV. Die neurobiologische Dimension des Wissenserwerbs Mit der vorangegangenen Frage wird zugleich ein Thema angesprochen, das vor allem Psychologen wie von Heimholt^ du Bois-Reymond, Fechner und Mach in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bearbeitet haben und das gegenwärtig die Neurobiologie oder Hirnforschung beschäftigt. Es wurde bereits 1910 von Hayek bei seiner

Das Wissensproblem der Ökonomik aus Hayekscher Sicht

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kritischen Analyse von Machs Analyse der Empfindungen aufgegriffen und schlug sich später in seiner „sensorischen Ordnung" (Hayek 1952/2006) nieder.1 Hinsichtlich der Wahrnehmung und ihrer Verarbeitung, also beim Wissenserwerb, vermutete er, daß die Wahrnehmung auf einem Abgleich von Mustern beruht. Am Beginn des Wahrnehmungsprozesses steht die vor-sensorische Erfahrung (Hayek op. cit., S. 160), welche in abstrakten Mustern geronnen ist, die mit konkreten Sinneseindrücken verglichen und zur Entwicklung neuer Muster als Grundlage zukünftiger Erkenntnisleistungen fuhrt. Konrad Lonn% (1997, S. 150) hat ähnlich wie Hayek vermutet, daß jegliches Erkennen und Wiedererkennen realer Gegebenheiten darauf beruht, „daß in den Sinnesdaten obwaltende Konfigurationen oder Muster mit solchen zur Deckung gebracht werden, die entweder aus der Erfahrung oder aus der Stammesgeschichte gewonnnen, als Grundlage wei2 terer Erkenntnis bereit liegen — pattern-matching im Sinne von Karl Poppen".

Die Verbindung der Mustererkennung zum menschlichem Gehirn stellt Roth (1997, S. 250) her, indem er vermutet, daß Wahrnehmungsreize in der Regel von Aktivitätsmustern von Nervenzellen repräsentiert werden. Das erinnert an die Theorie neuronaler Netze (Palm 1990, Grauel 1996). Folgt man dieser Vermutung, so werden Erkenntnis und darauf fußendes Wissen zu einer ausschließlich subjektiven Kategorie und der Ansatz der Ökonomik, den beobachteten Akteur auf der Grundlage von „Daten", die diesem und dem beobachtenden Ökonomen bekannt sind, rationale Anpassungen vornehmen zu lassen, zu einer reduktionistischen Objektivierung. Als Reduktion ist die Modellierung des Marktgeschehens insofern zu verstehen, als die „Daten"3 , an die sich alle Akteure anpassen, vorgedachte Lösungen für ein allgemeines Allokationsgleichgewicht sind, dessen Logik auch die Akteure unter dem Druck eines als vollkommen angenommenen Wettbewerbs notwendig folgen müssen, wenn sie perfekt rational handeln wollen. Bleibt schließlich noch der Stellenwert zu klären, den die aufgezeigten Ergebnisse der neurobiologischen Kognitionstheorie für die Ökonomik haben. Danach muß die Modellierung des repräsentativen Akteurs, der im Zentrum der ökonomischen Analyse steht, fragwürdig erscheinen. Ebenso fragwürdig ist die Vorwegnahme seiner kognitiven Fähigkeiten, die dadurch geschieht, daß er mit entscheidungsrelevantem Wissen ausgestattet modelliert

1 2

3

Die Arbeit mit dem Titel „Beiträge zur Theorie des Bewußtseins" ist im Anhang zu Hayek. (1952/2006) S. 199-226 abgedruckt. In der Neurobiologie wird ähnliches unter „Gestaltsgesetze der Wahrnehmung" (Roth 1997, S. 258) vermutet. Danach kann die Mustererkennung auf Arbeiten von Gestaltspsychologen wie Köhler, Metzger und Wertheimer zurückgeführt werden, deren Erkenntnisse in den letzten Jahren an „besonderer Aktualität" (Ruth op. cit.) gewonnen haben. Hayek (1952/2006) verwertete bei seiner Arbeit Erkenntnisse der Gestaltspsychologie, wie aus der Nennung von Arbeiten von Köhler und Metzger im Literaturverzeichnis und im Text hervorgeht. Auch die Theorie neuronaler Netze schien er vorgedacht zu haben, als er mit Termini wie „linkages" oder „Verknüpfungen" (Hayek op. cit., S. 100) oder gar „Netzwerk von Verbindungen" (S. 111) operierte. Hayek (1937/1952, S. 57) beurteilte die Verwendung von „Daten" wie folgt kritisch: „Es scheint kein Zweifel möglich zu sein, daß diese beiden Begriffe des ,Datums', einerseits als objektive reale Tatsachen, die als dem beobachtenden Nationalökonomen bekannt angenommen werden, und andererseits im subjektiven Sinne als Dinge, die der Person, deren Verhalten wir zu erklären suchen, bekannt sind, wirklich grundlegend verschieden sind und sorgfaltig auseinander gehalten werden müssen. Und die Frage, wieso die Daten im subjektiven Sinn mit den objektiven Daten je zu einer Übereinstimmung gelangen, ist eines der Hauptprobleme, die wir zu lösen haben."

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Manfred E. Streit

wird, das dem beobachtenden Ökonomen in Form von Tatsachen oder Daten bekannt ist. Den Wissenserwerb selbst zu modellieren käme dem Versuch gleich, mentale Vorgänge im menschlichen Gehirn darstellen zu wollen. Dazu bedürfte es aber eines Supergehirns, das eine noch größere Komplexität als der menschliche Kognitionsapparat aufweisen müßte. Hayek (1952/2006, S. 181) mußte dazu, seinen eigenen Erklärungsversuch nutzend, resignierend feststellen, „daß wir niemals mit Hilfe des Gehirns detailliert erklären können, wie es unter den jeweiligen Umständen arbeitet, oder vorhersagen, welche Ergebnisse seine Aktivitäten hervorbringen, obwohl wir seinen modus operandi im großen und ganzen verstehen mögen oder, anders ausgedrückt, eine Erklärung des Prinzips, nach dem es arbeitet, haben mögen." In der Ökonomik wird die Wahrnehmung des von ihr betrachteten repräsentativen Akteurs4 und deren Verarbeitung, also sein Wissen, in einer Weise modelliert, mit der Erkenntnisse der modernen Kognitionstheorie, insbesondere des sog. radikalen Konstruktivismus {Schmidt 1987, S. 11 ff.), per Annahme beiseite geschoben werden. Demgegenüber legt gerade diese Theorie Zurückhaltung bei Aussagen über Wahrnehmungsvorgänge bzw. Vorgänge im menschlichen Gehirn nahe. Denn bei ihm handelt es sich, folgt man diesen Erkenntnissen, um „... ein kognitiv in sich abgeschlossenes System ..., das nach eigenentwickelten Kriterien neuronale Signale deutet und bewertet, von deren wahrer Herkunft es absolut nichts Verläßliches weiß" (Roth 1997, S. 235). Die von der ökonomischen Modellierung des Wahrnehmungs- und Entscheidungsverhaltens des betrachteten Akteurs abweichende Schlußfolgerung der modernen Kognitionstheorie könnte größer nicht sein, wenn festgestellt wird: „... die von uns erlebte sinnliche Welt ist demnach nur ein Konstrukt des Gehirns, wenn auch keineswegs ein willkürliches Konstrukt" (Roth op. cit.).

V.

Wissensverbreitung: die Katallaxie als Kommunikationsprozeß

Ausgangstatsache dürfte sein, daß das Wissen der Akteure über ihre ökonomische Umwelt, insbesondere die Knappheitsbedingungen, mit denen sie konfrontiert sind, in der betrachteten Gesellschaft breit gestreut und dem beobachtenden Ökonomen in seiner Gesamtheit unzugänglich ist.6 Nur in einem unrealistischen Extremfall gibt es annahmegemäß bei einem Beobachter zentralisiertes Wissen über alle allokationsrelevanten Tatsachen. Wie zuvor erwähnt, ist dies der Fall eines allgemeinen AUokationsgleichgewichts, wie es von der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik modelliert wird. Dort gilt das Wissen als effizienzfördernd verbreitet, wenn alle Akteure mit den gleichen, das AUokationsgleichgewicht widerspiegelnden Knappheits- oder Preisrelationen als Wissenselemente konfrontiert werden. Ihre perfekt rationale Anpassung an diese „Daten" führt dann unter dem Druck idealen (vollkommenen) Wettbewerbs zu einem wohlfahrtsökonomischen Optimum. Im Grunde wäre es dazu erforderlich, daß auch der beobachtende Ökonom wie eine „freischwebende

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6

Vgl. zum repräsentativen Individuum kritisch Kirnan (1992). Hayek (1942a/1952, S. 81) schien diesen Befund aus seiner subjeküvistischen Sicht zu antizipieren, als er formulierte: „Kurzgesagt, in den Sozialwissenschaften sind die Dinge das, wofür die Menschen sie halten." Hayek (1937/1952, S. 70) nennt es das Problem der „Wissensteilung" mit Verweis auf v. Mises.

Das Wissensproblem der Ökonomik aus Hayekscher Sicht

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Intelligenz" (Hayek 1959/2004, S. 92) all diese Daten in einem Maximierungskalkül unter Berücksichtigung der realwirtschaftlichen Bedingungen ermittelt und den Akteuren gewissermaßen vorgibt. Mit diesem Kalkül wäre er bei Millionen von Akteuren und auf Tausende von Gütern bezogenen individuellen Nutzenfunktionen hoffnungslos überfordert. Das mußte selbst Pareto, auf den diese Überlegung zurückgeht (Hayek 2004, S. 121 ff.) einräumen. Wäre dies dennoch möglich, könnte behauptet werden, daß alles allokationsrelevante Wissen verbreitet und verwertet wäre. Ansonsten könnte gefragt werden, wie denn das geschilderte Problem der „Wissensteilung" (Hayek 1937/1952, S. 70) bewältigt werden könnte. Unabhängig von dem beschriebenen Einwand des Rechenaufwands würde Hayeks theoriekritische Antwort lauten: „Das Problem ist (daher) in keiner Weise gelöst, wenn wir zeigen können, daß alle Fakten, wenn sie dem Einzelnen bekannt wären (so wie wir hypothetisch annehmen, daß sie dem beobachtenden Nationalökonomen gegeben sind), sie eine Lösung eindeutig bestimmen würden; statt dessen müssen wir zeigen, wie eine Lösung durch das Zusammenwirken von Menschen hervorgebracht wird, von denen jeder nur Teilkenntnisse besitzt."

Angesprochen ist damit die Interaktion im wissensgenerierenden marktwirtschaftlichen Prozeß, der Hayek sehen Katallaxie. Die Wissensgenerierung ist für den einzelnen Akteur nicht kostenlos. Ihm und seinen Tauschpartnern entstehen dabei Transaktionskosten (Streit und Wegner 1995, S. 35 ff.). Angebot und Nachfrage auf allen Märkten in Übereinstimmung zu bringen erfordert einen Such- und Signalisierungsprozeß, die Fesdegung der Tauschbedingungen, setzt Verhandlungen sowie Vertragsabschlüsse voraus, und die Durchsetzung eines Vertrages erfordert eine Kontrolle. Die damit angesprochenen Transaktionskostenelemente wären für die Wohlfahrtsökonomik kein wirkliches Problem, wenn sie sich analytisch wie bekannte Transportkosten behandeln ließen. Stigler (1967, S. 297) griff dies mit folgenden Worten auf: „Informationskosten sind gleichsam die Kosten für den Transport von der Unwissenheit zur Allwissenheit, und selten kann sich ein Käufer die ganze Fahrt leisten" (eigene Übers.). Wie wenig überzeugend dies ist, wurde bereits mit dem Hinweis auf Arrows Informationsparadox gezeigt. Wissen wird also im Marktprozeß unter Aufwand von Transaktionskosten generiert und durch Preissignale „in verschlüsselter Form" (Hayek 2003, S. 268) kommuniziert. Ein nationalökonomischer Beobachter, der das Geschehen vollständig überblickt und optimierend auswertet, ist dazu nicht erforderlich. „Anzunehmen, daß alle Kenntnis einem Einzelnen gegeben ist, in derselben Weise, in der wir annehmen, daß sie uns als erklärenden Nationalökonomen gegeben sind, heißt das Problem schon in den Annahmen auszuschalten und das zu vernachlässigen, was in der realen Welt wichtig und bedeutsam ist" (Hayek 1942b/1952, S. 120).

Dem so eindringlich unter Wissensaspekten kritisierten Gleichgewichtsdenken7 liegt darüber hinaus eine Vorgehensweise zugrunde, mit der ein weiteres ökonomisches Phänomen auf analytische Handhabbarkeit reduziert wird, der Wettbewerb. Das geschieht dadurch, daß vom Ergebnis, dem ermittelten Gleichgewicht, aus deduziert wird. Wenn es existiert und stabil ist, muß nach dem Verhalten und den Handlungsbedingungen der Ak-

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Mit Hayeks ambivalenter Behandlung von Gleichgewicht und Gleichgewichtstendenz beschäftigt sich Loy (1988).

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teure gefragt werden, die zu diesem vorgedachten Ergebnis fuhren. Auf das marktwirtschaftliche System bezogen, ist dann zu fragen, wie muß die Struktur aller gleichgewichtsrelevanten Märkte beschaffen sein, damit sich die Akteure gleichgewichtskonform verhalten? g

Die Antwort führte zum Verhalten im perfekten Polypol, zur vollkommenen Konkurrenz . Mit diesem Marktstruktur-, Marktverhaltens-, Marktergebnisansatz war für die Ökonomik der analytische Zugang zum Wettbewerb als einem komplexen Phänomen nachhaltig versperrt. Hayek (1968/2003, S. 132) erinnerte im Widerspruch zu diesem ergebnisorientierten Ansatz daran, „daß überall dort, wo wir uns des Wettbewerbs bedienen, dies nur damit gerechtfertigt werden kann, wenn wir die wesentlichen Umstände nicht kennen, die das Handeln der im Wettbewerb Stehenden bestimmen". In Umkehrung dieses Arguments und als Kritik an dem gleichgewichtsorientierten Ansatz wurde der Wettbewerb für ihn zu einem „Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen ..., die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden" (Hayek op. cit.). Folglich fiel Hayeks Urteil über den kritisierten analytischen Ansatz eindeutig aus: „Die Theorie den Informationen anzupassen, die wir haben,..., ist ein falsches wissenschaftstheoretisches Prinzip" (Hayek op. cit., S. 135).

VI. Schlußfolgerungen Die Behandlung des Wissensproblems durch die Ökonomik erwies sich - folgt man den angeführten Hayek sehen Darlegungen - aus den folgenden Gründen als problematisch: 1.

2.

3.

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Die Verwertung verfügbaren Wissens wird geprägt durch das „olympische Modell" (Simon). Sie setzt den viel kritisierten homo oeconomicus voraus, der dieses Problem perfekt zweckrational bewältigt und im Grunde dem Modellverhalten eines Allwissenden entspricht. Der Erwerb von Wissen erwies sich beim Vergleich von Betrachtungsweisen neoklassisch orientierter Informationsökonomen (Arrow, Stigler) als strittig. Anlaß bildete eine Vorstellung von Information als einem Gut. Hingegen konnte in Anlehnung an Hayek argumentiert werden, daß der Wissenserwerb subjektbezogen neurophysiologisch abgebildet werden kann und sich deshalb einer objektivierenden ökonomischen Interpretation entzieht. Die Verbreitung von Information wird von der Wohlfahrtsökonomik modelltheoretisch abgekürzt. Die Interaktion der Wirtschaftssubjekte im Marktprozeß bleibt unterbelichtet und damit auch der Umstand, daß dabei Wissen durch Aufwand von Transaktionskosten generiert und durch Preissignale kommuniziert werden muß. Hingegen impliziert die Wohlfahrtsökonomik einen allwissenden nationalökonomischen Beobachter, der mit einer selbst von Pareto bezweifelten Rechenoperation die Bedingungen für ein effizientes Allokationsgleichgewicht ermittelt und diese den perfekt konkurrierenden Akteuren als „Daten" vorgibt.

Eine ausführliche, kritische Analyse des Modells der vollkommenen Konkurrenz findet sich in Hayek (1946/1952)

Das Wissensproblem der Ökonomik aus Hayekscher Sicht

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Literatur Arrow, K. J. (1962/1971), Economic Welfare and the Allocation of Resources for Invention in: D. M. Lamberton (ed.), Economics of Information and Know/edge, Harmondworth 1971, pp. 141-159. Grauel, A. (1996): Neuronale Netze, in: Mannheimer Forum 95/96 - Ein Panorama der Naturwissenschaften, München, S. 11-74. Hayek, F. A. (1937/1952), Wirtschaftstheorie und Wissen, in: F. A. Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach-Zürich 1952, S. 49-77. Hayek, F. A. (1942a/1952): Die „Tatsachen" der Sozialwissenschaften, in: F. A. Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung Erlenbach-Zürich 1952, S. 78-102. Hayek, F. A. (1942b/1952): Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft; in: F. A. Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung Erlenbach-Zürich 1952, S. 103-121. Hayek, F. A. (1946/1952), Der Sinn des Wettbewerbs, in: F. A. Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach-Zürich 1952, S. 122-140. Hayek, F. A. (1952/2006), Die Sensorische Ordnung — Eine Untersuchung der Grundlagen der theoretischen Psychologe, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Bd. B5, herausgegeben und übersetzt von M. E. Streit, Tübingen 2006. Hayek, F. A. (1959/2004), Missbrauch und Verfall der Vernunft- Ein Fragment, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Bd. B2, herausgegeben von V. Vanberg, Tübingen 2004. Hayek, F. A. (1968/2003): Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren; in F. A. Hayek, Rechtsordnung und Handelnsordnung — Aufsätze %ur Ordnungsökonomik, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Bd. A4, herausgegeben von M. E. Streit, Tübingen 2003, S. 132-149. Hayek, F. A. (2003), Recht, Geset\ und Freiheit, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Bd. B4, herausgegeben von V. Vanberg, Tübingen. Hayek, F. A. (2004), Wissenschaft und Sozialismus — Aufsätze %ur So^aHsmuskritik, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Bd. A7, herausgegeben von M. E. Streit, Tübingen. Kirman, A. P. (1992): Whom or What Does the Representative Individual Represent? Journal of Economic Perspectives, Vol. 6, pp. 117-136. Lorenz, K. (1997), Die Rückseite des Spiegels - Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München. Loy, C. (1988): Marktsystem und Gleichgewichtstendenz, Tübingen. Palm, G. (1990): Assoziatives Gedächtnis und Gehirntheorie; in: W. Singer (Hg.), Gehirn und Kognition, Heidelberg, S. 164-174. Popper, K. R. (1971), Objective Knowledge - An Evolutionary Approach, Oxford. Roth, G. (1997): Das Gehirn und seine Wirklichkeit - Kognitive Neurobiologie und ihre philosophische Konsequenzen, Frankfurt/Main. Schmidt, S. J. (Hg.) (1987), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/Main. Simon, H. (1983), Reason in Human Affairs, Oxford. Stigler, G. J. (1961/1971), Economics of Information, in: D. M. Lamberton (ed.), Economics of Information and Knowledge, Harmondworth 1971, pp. 6 1 - 8 2 . Stigler, G. J. (1967), Information in Labour Market, Journal of Political Economy, Vol. 70 (Supplement), pp. 94 - 1 0 5 . Streit, M. E. (2003): Menschliches Wissen — Dimensionen eines komplexen Phänomens, ORDO, Bd. 54, S. 113-122. Streit, M. E. und G. Wegner (1995): Information, Transaktion und Katallaxie - Überlegungen zu einigen Schlüsselkonzepten evolutorischer Markttheorie; in: M. E. Streit (Hg.): Freihurger Beiträge %ur Ordnungsökonomik, Tübingen, S. 29-56. Weber, M. (1921/2002): Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Aufl. Studienausg., Nachdruck Tübingen 2002.

Zusammenfassung Da die Ökonomik als angewandte Theorie der Wahlhandlungen oder Entscheidungen angesehen wird, erlaubt dies eine entsprechende Behandlung des damit verbundenen Wis-

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Manfred E. Streit

sensproblems und diesen Essay wie folgt zu gliedern: In einem ersten Teil wird die Verwertung von Wissen überprüft, wie sie in der neoklassischen Ökonomik modelliert wird. In Teil 2 wird gefragt, wie dieses Wissen erworben wird. Das führt zur subjektiven Wahrnehmung, die eine neurobiologische Dimension hat (Teil 3). In Teil 4 gilt die Aufmerksamkeit dem Prozeß, durch den Wissen in einem marktwirtschaftlichen System verbreitet wird. Die Ergebnisse der Ökonomik zur Verwertung, zum Erwerb und zur Verbreitung von Wissen werden im Lichte entsprechender Erkenntnisse von R A Hayek kritisch gewürdigt.

Summary: The Knowledge Problem in Economics in the view of F. A. Hayek Since economics is considered to be an applied theory of choice or of decisions, a corresponding treatment of the knowledge problem allows to organize this essay as follows: In the first part the use of knowledge, available to decisions, as it is modelled in neoclassical economics, will be assessed. In part 2, it will be asked, how such knowledge will be acquired. This leads to perception which has a neurobiological dimension (part 3). In part 4, attention will be paid to the process through which knowledge is disseminated in a market system. The findings of economics related to the processing, acquisition and dissemination Hayek. of knowledge will be critically assessed by drawing on corresponding views of

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2007) Bd. 58

Chrysostomos

Mantyavinos

Zur Verteidigung des institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbildes* Inhalt I. Einleitung II. Wissenschaftstheoretische Grundlagen des IE-Wettbewerbsleitbildes: Zur Konkurrenz von Erkenntnisprogrammen III. Normative Grundlagen des IE-Wettbewerbsleitbildes: Das Prinzip der Kritischen Prüfung IV. Schutz des Wettbewerbs durch regelgeleitete Wettbewerbspolitik V. Fazit

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: A Defense of the Institutional-Evolutionary Antitrust Model

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I.

Einleitung

Zwei Ideen sind sowohl für die theoretische als auch füir die praktische Wettbewerbspolitik von größter Bedeutung: Erstens, daß der Wettbewerb ein evolutionärer Prozeß ist, zweitens, daß der Wettbewerb einen regelgeleiteten Steuerungsmechanismus darstellt. Diese beiden Ideen, die nicht nur für die erfahrungswissenschaftliche Erfassung des sozialen Phänomens des Wettbewerbs relevant sind, sondern auch eine normative Ausprägung besitzen, habe ich im Rahmen meines institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbilds zu entwickeln versucht (Mant^avinos 2005). Dieter Schmidtchen hat im letzten Band dieses Jahrbuches eine ausführliche Auseinandersetzung mit meinem institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbild (kurz: IE-Wettbewerbsleitbild) veröffentlicht, die eine Reihe interessanter kritischer Punkte gegen meinen Ansatz enthält. Ich möchte meine Erwiderung so konzipieren, daß ich in Auseinandersetzung mit den Auffassungen von Dieter Schmidtchen drei Hauptargumente zur Unterstützung des IE-Wettbewerbsleitbildes ausführlicher präsentiere. Ich werde zunächst wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Unterstützung meines Ansatzes darlegen (Teil II), mich dann mit seinen normativen Grundlagen befassen (Teil III) und dann zum Schutz des Wettbewerbs durch regelgeleitete

* Ich bin Prof. Dr. Knut hange und Dr. Christoph Schmidt-Petri für hilfreiche Hinweise sehr dankbar.

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C. Mantzavinos

Wettbewerbspolitik Stellung nehmen (Teil IV), bevor ich mit einem kurzen Fazit meine Bemerkungen abschließen werde (Teil V).

II. Wissenschaftstheoretische Grundlagen des IE-Wettbewerbsleitbildes: Zur Konkurrenz von Erkenntnisprogrammen Im Unterschied zu dogmatischen Glaubenssystemen zeichnet sich die moderne Wissenschaft dadurch aus, daß sie pluralistisch abläuft. Wissenschaft ist kein monolithisches Gebäude, das durch die Herrschaft eines Meinungssystems gekennzeichnet ist. Es ist vielmehr so, daß es kaum eine wissenschaftliche Disziplin gibt, die frei von theoretischen Kontroversen jeglicher Art wäre. Debatten über Problembereiche, Forschungstechniken, statistische Methoden und geeignete Modellierungen stellen einen konstitutiven Bestandteil jeder wissenschaftlichen Disziplin dar. Die miteinander in Konkurrenz auftretenden wissenschaftlichen Meinungen und Praktiken werden gewöhnlich nicht zusammenhanglos vertreten, sondern sind in theoretischen Traditionen verwurzelt und in Erkenntnisprogrammen strukturiert. Solche Erkenntnisprogramme umfassen sowohl die relevanten Problemstellungen als auch die allgemeinen Theorien, die konkreteren Modelle, die anzuwendenden Forschungstechniken und oft auch Heuristiken für die Anwendung der entsprechenden theoretischen Zusammenhänge in der Praxis — sie stellen das Vehikel unseres Erkenntnisfortschritts dar.1 Die Wettbewerbstheorie stellt keine Ausnahme dar — auch hier werden unterschiedliche Ansätze vertreten, die in unterschiedlichen Traditionen verwurzelt sind und auf unterschiedliche Art und Weise das Phänomen des Wettbewerbs zu erfassen versuchen. Insofern dürfte wenig verwunderlich sein, daß industrieökonomische Ansätze, die eher in der neoklassischen Tradition verwurzelt sind, neben evolutionsökonomischen Ansätzen, die eher von der Schumpeterschcn und österreichischen Tradition inspiriert sind, unterschiedliche Erklärungen des Wettbewerbsphänomens anbieten und mit weiteren Ansätzen in Konkurrenz treten. Wenig verwundern sollte auch die Tatsache, daß die unterschiedlichen Ansätze nicht immer in allen ihren Dimensionen vergleichbar sind. Hinzu kommt, daß die im Rahmen der Wettbewerbsökonomie angebotenen Ansätze sehr oft als Reaktionen auf konkrete Nöte der praktischen Wettbewerbspolitik entwickelt worden sind und sie somit kryptonormative Dimensionen beinhalten (Mantzavinos 1994). Angesichts dieser Lage stellt sich natürlich die Frage, wie man als Wettbewerbstheoretiker vorgehen sollte. Meines Erachtens gibt es zwei mögliche Strategien. Entweder versucht man an einem bestimmten Ansatz festzuhalten, ihn theoretisch weiterzuentwickeln, empirisch soweit wie möglich zu überprüfen und aus ihm Konsequenzen für die Wettbewerbspolitik zu ziehen, oder aber man versucht, die unterschiedlichen Wettbewerbskonzepte 1

Wie Hans Albert zutreffend feststellt (1977/1993, S. 57): „Unter diesem Gesichtspunkt kommt es darauf an, den Kosmos des Wissens nicht statisch zu sehen, als ein Gebäude einmal erreichter und damit gültiger Resultate, die sich der Axiomatisierung, der Formalisierung und der Kodifizierung mit Hilfe eines umfassenden einheitlichen Systems anbieten, sondern dynamisch, als ein Gefüge sich entwickelnder Ansätze für die Lösung von Erkenntnisproblemen, innerhalb dessen sich miteinander unvereinbare theoretisch-methodische Traditionen der Problemlösung finden und Innovationen verschiedener Art - neue Ideen, Methoden und Beobachtungen - den Erkenntnisprozeß vorantreiben."

Zur Verteidigung des institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbildes • 159 unter einen Hut zu bringen und Wege zu finden, sie zu synthetisieren. Das erste Hauptargument von Dieter Schmidtchen (2006, S. 172 ff.) setzt genau hier an: Er befürwortet die zweite Option und plädiert für die Koexistenz von Gleichgewichtstheorie, Marktprozeßtheorie und Evolutionstheorie. Nun ergeben sich hier zwei Fragen: Erstens, ist es überhaupt möglich, vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung der betreffenden Ansätze, sie miteinander irgendwie zu verbinden und wenn ja, wie genau könnte dies geschehen? Zweitens, wäre dies - bei gegebener Möglichkeit der Verbindung — eine im Hinblick auf den angestrebten Erkenntnisfortschritt wünschenswerte Strategie? Bezüglich der ersten Frage der Möglichkeit der Verbindung der betreffenden Ansätze sollte nach der Auffassung Schmidtchens „keine der drei Theorien einen imperialistischen Anspruch innerhalb der Nationalökonomie erheben[...]. Theoretisch viel fruchtbarer erscheint es, die drei in einer Beziehung der Koexistenz stehend anzusehen" (S. 173). Man darf hier plausiblerweise davon ausgehen, daß der Autor nicht den paradigmatischen Fall der Verbindung wissenschaftlicher Theorien im Auge hat, das heißt die Reduktion einer Theorie auf eine andere, allgemeinere Theorie. In der Tat versteht Schmidtchen die Koexistenz der Theorien eher wie folgt (S. 173): „Während Gleichgewichtstheorie und Marktprozeßtheorie unter der Annahme gegebener Normen und Institutionen arbeiten, wird der Evolutionstheorie gerade diese Annahme zum wissenschaftlichen Problem."

Diese These ist jedoch unzutreffend, da die Evolutionstheorie nicht nur die Normen und Institutionen zum Gegenstand haben kann, sondern natürlich auch den Wettbewerb selber, der innerhalb der Normen und Institutionen als Prozeß abläuft, wie es zum Beispiel bei Nelson und Winter (1982) prominenterweise der Fall ist. Der Forschungsansatz der Evolutionsökonomik ist ein allgemeiner Ansatz, der sich auf unterschiedliche Problembereiche anwenden läßt (Herrmann-Pillath 2002); bei dem hier interessierenden Fall nämlich sowohl auf die Erklärung der Entstehung von Regelwerken (Normen und formalen Institutionen) als auch auf die Erklärung von den Wettbewerbsprozessen, die innerhalb dieser Regeln ablaufen. Insofern sind die Ansätze nicht komplementär, sondern im Hinblick auf den hier interessierenden Fall des Wettbewerbsprozesses klar substitutiver Natur. Als weitere Möglichkeit der Verbindung der verschiedenen Theoriestränge deutet sich nach Auffassung Schmidtchens (2006, S. 174) die evolutionäre Spieltheorie an, die „z.B. mit dem Konzept der evolutionär stabilen Strategien einen Gleichgewichtszustand definiert". Diese scheint mir in der Tat die einzige Möglichkeit der Synthese zu sein. Es fragt sich jedoch, ob das Konzept der evolutionär stabilen Strategie denselben Sachverhalt erfaßt wie das Konzept des Marktgleichgewichts in der traditionellen neoklassischen Theorie. Daß während eines evolutionären Prozesses einige Strategien die Immunität gegenüber einem Eindringling gewährleisten, liefert eine Erklärung eines Geschehens in einem Kontext der Variation und Selektion von Strategien, eine Erklärung, die mit dem Zusammentreffen von aggregierten Angebots- und Nachfragekurven auf einem Partial- oder Gesamtmarkt nur wenig zu tun hat. Es scheint also schwierig zu sein, die unterschiedlichen Ansätze miteinander zu verbinden. Aber auch wenn dies möglich sein sollte, bleibt immer noch die Frage, ob dies im Hinblick auf den angestrebten Erkenntnisfortschritt überhaupt wünschenswert ist. Es ist zum Beispiel durchaus vorstellbar, daß man an der Entwicklung einer evolutorischen

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C. Mantzavinos

Wettbewerbstheorie weiter arbeitet, und zwar in bewußtem Kontrast zu der alternativen Gleichgewichtstheorie2, weil man der Überzeugung ist, daß das heuristische Potential dieses Ansatzes noch nicht ausgeschöpft ist. Freilich besteht hier das altbekannte Problem, wie denn eine rationale Entscheidung zu fällen ist, an einem Erkenntnisprogramm festzuhalten oder es eher aufzugeben. Dazu bräuchte man ein Kriterium, das das heuristische Potential eines Forschungsprogramms festzustellen vermag. Das Fehlen eines solchen Kriteriums, mit dessen Hilfe die zukünftigen Leistungen eines Forschungsprogramms geschätzt werden könnten, ist bekanntlich die Achillesferse der Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme von Imre Lakatos (1970)3. Als Ausweg kann auch nicht das übliche Verfahren in der Wissenschaftstheorie dienen, anhand der verfügbaren Evidenz zu entscheiden, welche Theorie aussagekräftiger ist (Glymour 1980, Worrall 2002). Auch wenn man zu dem Ergebnis käme, daß eine bestimmte Theorie besser bestätigt ist als die alternativ vorhandenen, würde das weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die korrekte Einschätzung ihres heuristischen Potentials darstellen (Nick/es 2006). Es ist somit nicht eindeutig, daß die von Schmidtchen vorgeschlagene Strategie, die unterschiedlichen Wettbewerbsansätze unter einen Hut zu bringen, im Hinblick auf den angestrebten Erkenntnisfortschritt überhaupt eine wünschenswerte Strategie ist, und zwar auch wenn es irgendwie gelingen sollte, sie miteinander zu verbinden. Es bliebe dann die erste der oben erwähnten Strategien übrig, mit dem Problem der Vielfalt von Wettbewerbsansätzen umzugehen, und zwar an den Ansätzen fürs Erste festzuhalten und zu versuchen, sie weiterzuentwickeln, empirisch soweit wie möglich zu überprüfen und daraus Konsequenzen für die Wettbewerbspolitik zu ziehen. Als Fazit dieser Überlegungen ist festhalten, daß man sehr weit davon entfernt ist, die unterschiedlichen Wettbewerbsansätze zu einer theoretisch überzeugenden Synthese zusammenzufügen. Schmidtchen selber mag den ersten Schritt schon sehr früh gewagt haben (Schmidtchen 1990), aber von einer theoretisch ausgereiften Synthese von Gleichgewichtstheorie und Evolutionsökonomik kann momentan nicht die Rede sein. Aber auch wenn diese Strategie der Verschmelzung von konträren Erkenntnisprogrammen sich als möglich erweisen sollte, bleibt davon die Legitimität des Festhaltens und des Weiterarbeitens an dem Erkenntnisprogramm der Evolutionsökonomik untangiert. Es ist, mit anderen Worten, durchaus vernünftig, mit den theoretischen Mitteln und Forschungsmethoden der Evolutionsökonomik an der Weiterentwicklung einer evolutorischen Wettbewerbstheorie zu arbeiten und somit die erfahrungswissenschaftliche Grundlage des institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbildes zu elaborieren.

III. Normative Grundlagen des IE-Wettbewerbsleitbildes: Das Prinzip der Kritischen Prüfung Wenn Ökonomen normativ argumentieren, dann lassen sie sich gewöhnlich von der Wohlfahrtsökonomie oder der Konstitutionenökonomie inspirieren. In meinem Aufsatz

2 3

Für eine ausführliche Gegenüberstellung der Gleichgewichtsorientierung der Neoklassik und der Prozeßorientierung der Evolutorischen Ökonomik im allgemeinen vgl. Fehl (2005). Für eine ausführliche Diskussion vgl. Andersson (1988, S. 64 ff.)

Zur Verteidigung des institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbildes

'161

(Mant^avinos 2005) habe ich zu zeigen versucht, daß sowohl die Wohlfahrtsökonomie als auch die Konstitutionenökonomie unter anderem deshalb problematisch sind, weil sie von der Idee der positiven Rechtfertigung ausgehen. Diese Idee habe ich dem Prinzip der kritischen Prüfung gegenübergestellt, das das „Münchhausen Trilemma" zu vermeiden vermag. Dieter Scbmidtchen geht in seiner kritischen Auseinandersetzung mit meinem Aufsatz nicht darauf ein. Statt dessen plädiert er für die Verwendung des Effizienzprinzips, das für ihn eine tragfahige Lösung für das Problem darstellt, wie eine Entscheidung bezüglich der „Konkurrenz der Gerechtigkeitskonzepte" zu treffen sei {Schmidtchen 2006, S. 176). Und er fuhrt fort: „Man mag bezweifeln, daß Mant^avinos sich aus evolutorischer Sicht dem Effizienzkriterium im Coaseschen Sinn anschließen kann. Schließlich entstehen seiner Ansicht nach durch den Evolutionsprozeß die .besten' Regeln. Selbst ein Mann wie Hayek gesteht zu, daß die Evolution des Rechts in Sackgassen enden könne und daß Richter und Gesetzgeber die Fehlentwicklungen korrigieren sollten" (S. 177).

Nirgendwo habe ich die naive Auffassung vertreten, daß durch den Evolutionsprozeß die .besten' Regeln entstehen. Vielmehr habe ich gezeigt, welche Rolle tradierte Lösungen bei der Anwendung des Prinzips der kritischen Prüfung spielen und wie man damit umgehen sollte. Ich erlaube mir hier den relevanten Passus in extenso wiederzugeben (Mant^avinos 2005, S. 215): „Die Konstruktion alternativer Lösungsvorschläge erfolgt immer nur im Kontext der schon vorhandenen Lösungen, wobei stets zu beachten ist, daß die vorhandenen Lösungen selbst schon das Produkt eines Prozesses der kulturellen Evolution sind (Hayek 1960). Jedes Mal, wenn eine Lösung zu einem neuen Problem ansteht, ist somit zu berücksichtigen, daß bereits ein Bestand von Lösungen zu gleichartigen oder ähnlichen Problemen vorhanden ist, die in einem evolutionären Prozeß des kollektiven Lernens zustande gekommen sind. Dieser Fundus von Lösungen kann je nachdem die Lösung des in Betracht kommenden Problems erleichtern oder erschweren. In jedem Fall definiert er den spezifischen Problemlösungskontext für die Lösung des neuen Problems. Für den politischen Bereich bedeutet dies, daß es keine voraussetzungslosen Problemlösungen gibt, sondern daß die real vorliegenden Bedingungen neuer Lösungen, die gewissermaßen ein institutionelles a priori darstellen, stets mitberücksichtigt werden müssen. Die Anwendung des Prinzips der kritischen Prüfung stellt dann sicher, daß die Tradierung überlebender Lösungen nicht unbedingt hinzunehmen ist, ohne in der Tat allerdings auszuschließen, daß schon vorhandene Lösungen die jeweils angenommenen Wertgesichtspunkte und Kriterien am besten erfüllen."

Ich kann natürlich an dieser Stelle nicht die komplexe Problematik der Bewertung von Institutionen behandeln und werde mich deshalb nur mit einer Bemerkung begnügen müssen. Bekanntlich sind die wichtigsten Bewertungskriterien von Institutionen innerhalb des Rahmens individualistischer Ansätze die Freiheit, die Wohlfahrt, die Gerechtigkeit als substanzielle Kriterien und der Konsens als prozessuales Kriterium. Diese Kriterien werden im Rahmen der entsprechenden Debatten näher erläutert: Die Wohlfahrt wird zum Beispiel als Pare/o-Kriterium oder als Kaldor-Hicks-Y*nten\xm spezifiziert, der Konsens als die Einstimmigkeitsregel bei der Entscheidung bezüglich der fundamentalen Regeln einer Verfassung usw. Es ist offensichtlich, daß bei der Spezifikation der Kriterien verschiedenartige Probleme normativer und sachlicher Art entstehen, wie zum Beispiel der Ursprung, der Allgemeinheitsgrad und die Anwendbarkeit und Operationalisierung der jeweiligen Kriterien, die uns hier nicht zu interessieren brauchen. Abgesehen von all diesen Problemen, besteht immer das grundsätzlichere Problem, welches Kriterium bei der Beurteilung von institutionellen Arrangements heranzuziehen ist. Dieses Problem kann nicht automatisch dadurch gelöst werden, indem man das Effizienzkriterium heranzieht, mit dem Argument, daß die

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C. Mantzavinos

„ökonomische Analyse des Rechts [...] unter Rückgriff auf die Instrumente der neoklassischen Theorie [zeigt], daß sich Evolution und das Effizienzkriterium miteinander versöhnen lassen" (Schmidtchen 2006, S. 177). Auch wenn Evolution und Effizienz sich miteinander versöhnen lassen können, heißt dies noch lange nicht, daß andere Kriterien dadurch weniger wichtig geworden sind. Es stellt ja auch keinen Ausweg aus der Problemlage dar, wenn man ein Meta-Kriterium einführt, aufgrund dessen man eines der Kriterien der Bewertung von Institutionen auswählen würde, aus dem einfachen Grund, daß dann auch hinsichtlich der Vorzugswürdigkeit dieses Meta-Kriteriums dieselben Probleme entstehen würden. Hierin liefert meines Erachtens die Einführung des Prinzips der kritischen Prüfung eine zufriedenstellende Lösung. Man kann alle Kriterien als hypothetisch gültig annehmen, um dann im Rahmen einer Sozialtechnologie herauszuarbeiten, in welchem Maße die vorgeschlagenen Maßnahmen diese Kriterien zu erfüllen vermögen. Man kann also durchaus Effizienz (nachdem man sie hinreichend spezifiziert hat) als Bewertungskriterium von Institutionen heranziehen und dann überprüfen, wie unterschiedliche Maßnahmen zur Erhöhung und Verminderung der Effizienz führen. Genausogut kann die Freiheit (nachdem man sie hinreichend spezifiziert hat) als Bewertungskriterium von Institutionen herangezogen werden, und es kann dann überprüft werden, wie unterschiedliche Maßnahmen die Freiheit erweitern oder einschränken würden. Das Prinzip der kritischen Prüfung operiert somit auf einer höheren Ebene, da es als ein allgemeines Prinzip des Vernunftgebrauches konzipiert ist, das eine rationale Praxis erlaubt. Es schließt nicht a priori alle anderen Gesichtspunkte bzw. Bewertungskriterien zugunsten der Effizienz aus, nur weil Effizienz der Denkweise vieler Ökonomen am natürlichsten entspricht.

IV. Schutz des Wettbewerbs durch regelgeleitete Wettbewerbspolitik Als hypothetisch angenommene Zielsetzung bin ich in meinem Aufsatz von dem „Schutz des Wettbewerbs" ausgegangen und habe gefragt, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann, wenn man von einem institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsverständnis ausgeht.4 Dabei habe ich betont, daß sich dieses Verständnis von der Vorstellung verabschiedet, daß der Wettbewerb zu konkreten Ergebnissen zielgenau lenkbar sei, sowie von der Auffassung, daß es ,optimale' bzw. ,zweit-beste' Lösungen gibt. Ich habe alternativ dafür plädiert, daß sachgerechte wettbewerbspolitische Debatten in den beiden Alternativen ,Wettbewerb' oder ,kein Wettbewerb' geführt werden sollten.

4

Die Behandlung dieser Frage hat mit dem Versuch, das wahre Wesen des Wettbewerbs zu reflektieren, überhaupt nichts zu tun. Schmidtchen (2006, S. 167) schreibt nämlich: „Man kann sich bei der Lektüre auch nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß der Versuch, ein institutionenökonomisch-evolutionäres Wettbewerbsleitbild zu entwerfen, tatsächlich auf die Definition eines Wettbewerbsbegriffs hinausläuft, von dem behauptet wird, das ,wahre' Wesen des Wettbewerbs der Lebenswirklichkeit zu reflektieren. Die Frage danach, was die richtige, die ,wahre' Definition des Begriffs Wettbewerb ist, hat zwar lange Zeit die theoretische und praktische Diskussion beherrscht, sie kann aber leicht in die Untiefen des methodologischen Essentialismus fuhren." Der Eindruck, daß ich nach der einzig wahren Definition von ,Wettbewerb' suchen könnte, ist ungerechtfertigt — ich lehne den methodologischen Essentialismus ab. Vgl. Mantzavinos (2006).

Zur Verteidigung des institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbildes • 163 Die Verabschiedung des Optimalitätsgedankens bedeutet jedoch nicht, die Allokationswirkung des Wettbewerbsprozesses zu leugnen, wie Schmidtchen mir wiederholt in seinem Aufsatz vorwirft. Ich habe nirgendwo behauptet, „daß die Frage der Allokation von Ressourcen eine nicht besonders bedeutsame Frage darstellt" (Schmidtchen 2006, S. 169), sondern statt dessen betont, daß die traditionelle Theorie „[...] die Definition und Durchsetzung von Eigentumsrechten mittels einer ceteris paribus-Annahme als exogen gegeben [annimmt] und [...] sich auf die Ausarbeitung von Marktformen bzw. Marktstrukturen und deren Auswirkungen auf das ökonomische Verhalten [konzentriert]. Diese Vorgehensweise hat sich aber - ebenso wie die Eliminierung der Möglichkeit des Auftretens von Neuerungen - als eine unfruchtbare Simplifikation des Wettbewerbsprozesses erwiesen" (Mant^avinos 2005, S. 209).

Wenn man den Standpunkt akzeptiert, daß der Wettbewerb ein evolutorischer Prozeß ist, der innerhalb von Regeln abläuft, dann erscheint er als ein beständiger Strom von Aktivitäten lern fähiger Agenten, der mit einem Gleichgewichtskonzept im neoklassischen Sinne kaum erfaßbar ist. Die Abwesenheit perfekter Koordination ergibt sich aus der Entscheidung, in der Wettbewerbstheorie auch menschlicher Kreativität den gebührenden Platz einzuräumen. Folglich ist eine dauerhafte „Fehlallokation von Ressourcen" im Sinne der traditionellen Theorie in realen Wettbewerbsprozessen allgegenwärtig. Wie ich an anderer Stelle ausführlicher gezeigt habe (Mantspvinos 2007, S. 225 ff.), ist aus einer institutionenökonomisch-evolutionären Perspektive das Problem der Koordination der Wirtschaftspläne so zu beleuchten, daß es zwei Ebenen der Koordination gibt: erstens die institutionelle Ebene, die in der traditionellen Analyse nicht vorkommt, und zweitens natürlich die Ebene der Preisbildung auf dem Markt. Beide Ebenen bewirken die Koordination der Wirtschaftspläne. Der Vorzug eines Wettbewerbsprozesses, der eine Preisbildung erlaubt, bezieht sich nicht auf die Tatsache, daß dadurch eine optimale oder effiziente Ressourcenallokation stattfindet - Preissignale sind, gemessen an einem externen Vollkommenheitsstandard immer zu bemängeln. Entscheidend ist, daß insgesamt ein Preissystem das Problem der Koordination der Wirtschaftspläne und somit der Ressourcenallokation in einer Gesellschaft besser löst, als in einem alternativen institutionellen Arrangement, wo es kein Preissystem gäbe.5 Dieses Denken in tatsächlich existierenden Alternativen, das für den institutionenökonomischen Ansatz charakteristisch ist, kommt auch bei zwei anderen Punkten zum Tragen, die ich abschließend diskutieren möchte. Zunächst ist darauf aufmerksam zu machen, daß bei der Konzipierung eines wettbewerbspolitischen Leitbildes die Umstände der politischen Implementierung natürlich stets mitberücksichtigt werden müssen. Es ist nicht davon auszugehen, daß Parlamente, Gerichte und Kartellbehörden in allen Ländern über ausreichende Ressourcen verfügen, eine wie auch immer konzipierte Wettbewerbspolitik anzuwenden. Bei Transformationsländern sowie bei Entwicklungsländern dürfte dies zum Beispiel 5

Vgl. zum Beispiel Coase (1964, S. 195): „Contemplation of an optimal system may provide techniques of analysis that would otherwise have been missed and, in certain special cases, it may go far to providing a solution. But in general its influence has been pernicious. It has directed economists' attention away from the main question, which is how alternative arrangements will actually work in practice. It has led economists to derive conclusions for economic policy from a study of an abstract of a market situation. It is no accident that in the literature... we find a category ,market failure' but no category .government failure'. Until we realize that we are choosing between social arrangements which are all more or less failures, we are not likely to make much headway."

C. Mantzavinos

164

kaum der Fall sein. Gerade dort dürfte es wohl besonders wünschenswert sein, daß eine auf Wettbewerb basierte Wirtschaftsordnung herrscht, weil dort der Wettbewerb die noch unbekannten Möglichkeiten des produktiven Umgangs mit den sich immer ändernden Umständen am ehesten zu entdecken vermag und somit zum Wirtschaftswachstum fuhren kann.6 Dies scheint mir ein wichtiges Argument zugunsten einer Wettbewerbspolitik des Minimalismus zu sein, wie sie dem IE-Wettbewerbsleitbild zugrunde liegt. Darüber hinaus stellt sich das Problem der konkreten Umsetzung der Wettbewerbspolitik aus dieser Sicht völlig anders. Aus institutionenökonomischer Perspektive ist die Regelbindung gerade deshalb wichtig, weil dadurch Rechtssicherheit gewährleistet wird, Erwartungen stabilisiert werden und damit eine Koordination der Wirtschaftspläne erfolgen kann. Wie Stefan Okruch (2006, S. 165) es im ordnungsökonomischen Kontext zutreffend ausgedrückt hat: „Freilich ist mit dem ordnungsökonomischen Argument für Transparenz und Sicherheit die Vorstellung einer Regelbindung verbunden, die den konkreten Einzelfall gerade außer Betracht läßt. Es geht beim Primat der Ordnungspolitik um die .Vernunft von Regeln' nicht um die Rationalität von Einzelentscheidungen nach bewährten ,Regeln der Vernunft'. Oder anders gewendet: Die Ordnungsökonomik adressiert zuerst die grundlegende Frage, ob die Wettbewerbspolitik mit per se-Regeln operieren oder aber einer ,rule of reason' folgen soll, bevor die rule of reason eventuell institutionenökonomisch-empirisch ,hochgerüstet' wird."

Die Vorzugswürdigkeit der per se-Regeln basiert gerade darauf, daß man von den spezifischen Charakteristika des Einzelfalles bewußt absieht, weil man auf die positiven Auswirkungen der per se-Regeln auf den Wettbewerbsprozeß vertraut. Dieses Vertrauen basiert einerseits auf empirischen Erkenntnissen - wobei hier klar einzuräumen ist, daß erheblicher Bedarf für weitere empirische Erforschung der Wirkung von Typen von per se-Regeln auf das Verhalten der Wettbewerber besteht. Andererseits basiert es jedoch gerade auch auf dem Umstand, daß die per se-Regeln im Vergleich zu der „rule of reason" auf jeden Fall die Operationalität, Justiziabilität und Rechtssicherheit bei der konkreten Umsetzung der Wettbewerbspolitik ermöglichen.

V.

Fazit

Als Fazit dieser Überlegungen ist festzuhalten, daß bei den diskutierten Punkten im Rahmen dieser kurz gehaltenen Replik die Kritik von Dieter Schmidtchen nicht stichhaltig ist. Es gibt eine Reihe von anderen interessanten Kritikpunkten am institutionenökonomischevolutionären Leitbild im Aufsatz von Schmidtchen, die hier aus Platzgründen keine Erwähnung finden konnten, die aber, dies sei mir gestattet, auch nicht stichhaltig sind. Begrüßenswert ist jedenfalls, daß die Diskussion um angemessene Leitbilder für die Wettbewerbspolitik nach einigen Jahrzehnten des Stillstandes wieder in den Vordergrund gerückt worden ist. 6

Das sollte natürlich nicht heißen, daß es bei der Implementierung von Wettbewerbspolitik in Entwicklungs- und Transformationsländern nur auf die ausreichenden Ressourcen der formalen Institutionen ankommt, sondern auch auf geeignete informelle Institutionen. Nur wenn interinstitutionelle Konflikte bzw. eine Inkonsistenz der gesamt-institutionellen Entwicklung vermieden werden können, ist mit effektiven neuen Regeln zu rechnen. (Ich danke einem anonymen Gutachter für diesen Hinweis).

Zur Verteidigung des institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbildes • 165 Literatur Albert, Hans (1977/1993), Die Einheit der Sozialwissenschaften, in: Ernst Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften, Athenäum, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 12. Auflage, S. 53-70. Andersson, Gunnar (1988), Kritik und Wissenschaftsgeschichte, Tübingen. Fehl, Ulrich (2005), Warum Evolutorische Ökonomik?, ORDO, Bd. 56, S. 77-93. Coase, Ronald (1964), The Regulated Industries: Discussion, American Economic Review, Vol. 54, pp. 194-197. Glymour, Clark (1980), Theory and Evidence, Princeton. Hayek, Friedrich A. von (1960), The Constitution of Liberty, London. Herrmann-Pillath, Carsten (2002), Grundriß der Evolutionsökonomik, München. Lakatos, Imre (1970), Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes, in: Imre Lakatos and Alan Musgrave (eds.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge, pp. 91196. Mantzavinos, Chrysostomos (1994), Wettbewerbstheorie. Eine kritische Auseinandersetzung, Berlin. Mantzavinos, Chrysostomos (2005), Das institutionenökonomisch-evolutionäre Wettbewerbsleitbild, Jahrbücherfür Nationalökonomie und Statistik, Bd. 225/2, S. 205-224. Mantzavinos, Chrysostomos (2006), The Role of Definitions in Institutional Analysis, in: Frank Daumann, Stefan Okruch und Chrysostomos Mantzavinos (Hg.), Wettbewerb und Gesundheitswesen: Konzeptionen und Felder ordnungsökonomischen Wirkens. Festschrift für Peter Obertnder zu seinem 65. Geburtstag, Budapest, S. 85-92. Mantzavinos, Chrysostomos (2007), Individuen, Institutionen und Märkte, Tübingen. Nelson, Richard and Sidney Winter (1982), An Evolutionary Theory of Economic Change, Cambridge/Mass. Nickles, Thomas (2006), Heuristic Appraisal: Context of Discovery or Justification?, in: Jutta Schickore und Friedrich Steinle (Hg.), Revisiting Discovery andJustification, Dordrecht, S. 159-182. Okruch, Stefan (2006), Die EU-Wettbewerbspolitik zwischen Einheitlichkeit und Vielfalt, in: Frank Daumann, Stefan Okruch und Chrysostomos Mantzavinos (Hg.), Wettbewerb und Gesundheitswesen: Konzeptionen und Felder ordnungsökonomischen Wirkens. Festschrift für Peter Oberender seinem 65. Geburtstag, Budapest, S. 161-172. Schmidtchen, Dieter (1990), Preise und spontane Ordnung - Prinzipien einer Theorie ökonomischer Evolution, in: Ulrich Witt (Hg.), Studien zurEvolutorischen Ökonomik I, Berlin, S. 75-113. Schmidtchen, Dieter (2006), Wettbewerbsschutz durch regelgeleitete Wettbewerbspolitik - Anmerkungen zum institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbild, ORDO, Bd. 57, S. 165- 189. Worrall, John (2002), Philosophy of Science: Classic Debates, Standard Problems, Future Prospects, in: Peter Machamer and Michael Silberstein (eds.), The Blackwell Guide to the Philosophy of Science, pp. 18-36. Zusammenfassung Dieter Schmidtchen hat mein insütationenökonomisch-evoluüonäres Wettbewerbsleitbild einer kritischen Würdigung unterzogen. In dieser Replik werden drei Arten von Argumenten zugunsten meines Wettbewerbsleitbildes vorgetragen. Zunächst wird mit Hilfe von wissenschaftstheoretischen Argumenten gezeigt, daß die Konkurrenz von Erkenntnisprogrammen auch im Fall der Wettbewerbstheorie durchaus wünschenswert ist. Dann werden die normativen Grundlagen des Leitbildes erläutert und gezeigt, wie das Prinzip der Kritischen Prüfung zum Tragen kommt. Schließlich wird für eine regelgeleitete Wettbewerbspolitik plädiert, die den Schutz des Wettbewerbs als minimalistisches Ziel anstrebt.

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C. Mantzavinos

Summary: A Defense of the Institutional-Evolutionary Antitrust Model Dieter Schmidtchen has provided a detailed critical appraisal of my institutionalevolutionary antitrust model. Three kinds of arguments come into fore in this reply of mine. Firstly, I show with the aid of methodological arguments that the competition between research programmes is desirable also in the case of the theory of competition. In a second step the normative foundations of the model are illustrated and it is argued that the principle of critical examination should be applied to issues of antitrust analysis. I plead finally for a rule-based competition policy that aims at the protection of competition as its objective

ORDO -Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2007) Bd. 58

Charles B. Blankart und Gerrit B. Koester

Theoretischer und empirischer wissenschaftlicher Fortschritt Eine kritische Analyse des Buches von Alesina und Spolaore: „The Size of Nations"* Inhalt I. Einleitung 167 II. Fortschritt in der Wirtschaftswissenschaft 168 III. Integration und Sezession: Wie erklärt sich die Größe von Nationen? 169 1. Ausgangslage 169 2. Theorie: Die optimale Größe eines Staates: Normative Analyse 170 3. Die optimale Größe eines Staates: Positive Analyse 172 4. Empirie: Ein Meilenstein wissenschaftlichen Fortschritts? 172 5. Ursachen der empirischen Ergebnisse und Konsequenzen für institutionelle Verbesserungen 174 IV. Schlußfolgerungen

176

Literatur

177

Zusammenfassung

178

Summary: Theoretical and empirical scientific progress A critical assessment of the book „The Size of Nations" by Alesina and Spolaore 179

I.

Einleitung

Noch nie ging es den Menschen so gut wie heute, und kaum jemand wird die Bedeutung des wissenschaftlichen Fortschritts für das Erreichte bezweifeln. Aus dieser Bedeutung resultiert wohl auch die allgemeine Hochschätzung des wissenschaftlichen Fortschritts. Wirtschaftswissenschafder tragen zum wissenschaftlichen Fortschritt zunächst einmal auf indirekte Weise bei. Sie untersuchen den Einfluß ökonomischer Bedingungen auf die Entstehung wissenschaftlichen Fortschritts. Darauf basierend können sie Empfehlungen geben, wie die Rahmenbedingungen zu verändern sind, um den Fortschritt in der Wissenschaft voranzutreiben und wohlfahrtsverbessernd einzusetzen. Aber was tragen die Ökonomen selbst direkt zum wissenschaftlichen Fortschritt bei? Oder anders gefragt: Gibt es Fortschritt in der ökonomischen Wissenschaft selber? Joseph Schumpeter (1954, p.3) hat in seinem posthum veröffentlichten Werk „die intellektuellen Anstrengungen untersucht, die Menschen erbracht haben, um ökonomische Beobachtungen zu erklären" (eigene Überset-

168

Charles B. Blankart und Gerrit B. Koester

zung). Wie beeindruckend das Ringen der Ökonomen um Erkenntnis in Schumpeten Darstellung auch ist, im Gesamtbild des wissenschaftlichen Fortschritts treten Ökonomen kaum in Erscheinung. Charles Murray (2003) listet in der wohl umfassendsten quantitativen Studie von Exzellenz unter 4.139 Personen in Wissenschaft und Kunst von 800 v. Chr. bis zum Jahre 1950 Adam Smith als einzigen Ökonomen im engeren Sinne auf. Von Ricardo, Marx, Keynes und Friedman fehlt jede Spur.1 Daher stellt sich die Frage: Wie steht es denn mit dem wissenschaftlichen Fortschritt in der Ökonomik? Was ist der theoretische, was der empirische wissenschaftliche Fortschritt in der Ökonomik? Wie ist der theoretische, wie der empirische wissenschaftliche Fortschritt in der Ökonomik zu erfassen? Diesen Problemen ist der folgende zweite Teil dieses Aufsatzes gewidmet. Im dritten Teil werden die zwei unterschiedlichen Fortschrittskonzepte an einem praktischen Beispiel erörtert: der Integration und Sezession von Staaten und damit kurz der Größe von Staaten, so wie sie von Alberto Alesina und Enrico Spolaore mit ihrem Buch „The Size of Nations" (2003) zur Diskussion gestellt wurde. Wir haben dieses Beispiel ausgewählt, weil es gemeinhin als wichtiger Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt, ja sogar als Quantensprung in der ökonomischen Analyse gesehen wird (vgl. Redding 2005). Schlußfolgerungen werden im vierten Teil gezogen.

II. Fortschritt in der Wirtschaftswissenschaft Verankert ist das Konzept des wissenschaftlichen Fortschritts vor allem in den Naturwissenschaften, während es — am anderen Ende der Skala — in den schönen Künsten kaum Anwendung finden kann. Hier kann man sich vielleicht gerade noch auf den Begriff der Exzellenz — wie Charles Murray (2003) es tut - verständigen. Auch wenn sie ihr in vielem nacheifert, so ist die Ökonomie doch sicher keine Natur-, sondern eine Sozialwissenschaft. Ist das Konzept wissenschaftlichen Fortschritts hier dennoch anzuwenden? Basierend auf Schumpeters Definition, daß „jede Art von Wissen, welches bewußt zu verbessern gesucht wird" (Schumpeter 1954, p. 7), Wissenschaft ist, könnte man die Ökonomie zumindest schon einmal klar als Wissenschaft kennzeichnen. Hinsichtlich des Fortschritts selber ist in der Ökonomie zu unterscheiden. Das engste Konzept wäre mit „theoretischem Fortschritt" (Blaug 2002, p. 22) zu umschreiben. Eine Verfeinerung des Analyseinstrumentariums, der Präzision theoretischer Aussagen und auch der Ausweitung des Analysebereichs kann im engen Sinn bereits als theoretischer Fortschritt begriffen werden (Backhouse 1997, Kapitel 8). Demnach wäre jede Variation eines bestehenden theoretischen Modells bereits theoretischer Fortschritt. Doch ist theoretischer Fortschritt als Konzept für die Ökonomie ausreichend? Das Konzept „empirischen Fortschritts" würde hier deutlich widersprechen. Fortschritt wäre demnach nur eine substantielle Verbesserung unseres Verstehens ökonomischer Prozesse,

1

Dies hängt allerdings auch damit zusammen, daß ökonomische Theorien früher vielfach von Philosophen entwickelt worden sind, z. B. von Aristoteles, Lecke und Montesquieu und deren Werke bei Murray in anderen Listen erscheinen.

Theoretischer und empirischer wissenschaftlicher Forschritt

•169

und das heißt, vergangene Prozesse besser zu erklären und zukünftige besser vorherzusagen (Blaug 1992, p. 7 ff., vertiefende Diskussion in Blaug

1994).

Ein Beispiel für einen engagierten Vertreter des Ansatzes „empirischen Fortschrittes" ist Mi/ton Friedman.

A u s seiner Sicht sind Theorien v o r allem nach ihrer empirischen Erklä-

rungskraft zu beurteilen. 2 Theoretischer Fortschritt allein ö f f n e t der Beliebigkeit ökonomischen Denkens Tür und T o r und gibt ein zentrales Ziel angewandter Wissenschaft auf: einen wissenschaftlich fundierten Beitrag zur Verbesserung v o n Institutionen und Wirtschaftspolitik zu liefern.

III. Integration und Sezession: Wie erklärt sich die Größe von Nationen? 1. Ausgangslage Gerade der begrenzte Umfang dieses Aufsatzes macht die Beschränkung auf einen eng begrenzten Bereich wirtschaftswissenschaftlichen Forschens notwendig. W i r konzentrieren uns hier auf die Frage nach Integration und Sezession v o n Staaten. Oder: W i e erklärt sich die G r ö ß e v o n Nationen? Konkret analysieren wir v o r allem die Arbeiten v o n Alesina die sehr ehrgeizig auftreten und eine allgemeine Theorie „der G r ö ß e v o n Nationen" sinas, und Spolaores

Buchtitel, der offenbar auf ein W e r k v o n ähnlicher Bedeutung wie

et al., AleAdam

Smiths, „Der Reichtum v o n Nationen" hindeuten soll — entwickeln wollen. D e r Ansatz besteht sowohl aus einer normativen als auch aus einer positiven Analyse und wurde insbesondere in den Arbeiten Alesina sina, Spolaore

2 3

and Wacyarg

and Spolaore

(1997, 2003), Alesina

(2000, 2 0 0 3 , 2004) und Alesina

and Wacsiarg

and La Ferrara

(1998), Ale-

(2003) entwickelt. 3

"Viewed as a body of substantive hypotheses, theory is to be judged by its predictive power for the class of phenomena which it is intended to 'explain' " (Friedman 1953, p. 7). Wie immer gibt es wichtige Vorgänger. Am Beginn stand David Friedmans (1977) Beitrag „A Theory of the Size and Shape of Nations". Friedman brachte Integration und Sezession als die Prozesse, die Anzahl, Größe und Form von Staaten bestimmen, auf die Agenda der ökonomischen Forschung. Er entwickelte ein Modell zur Erklärung der Größe und Form eines Staates: Machthaber maximieren darin die Steuereinnahmen aus Handels-, Grund- und Lohnsteuer abzüglich der Kosten für die Eintreibung dieser Steuern. Zehn Jahre später entwickelten Buchanan und Faith (1987) ihre „internal exit"-Theorie der Abspaltung als Erweiterung von Tiebouts „external exit"-Theorie durch eine „Abstimmung mit den Füßen". Das Modell von Buchanan und Faith baut auf der „Theorie der Clubs" auf und zeigt, wie die Abspaltungsandrohung zu einer Begrenzung der maximal möglichen Steuerrate führen kann. In den 1990er Jahren kam eine neue Forschungsrichtung, die im großen und ganzen unabhängig von der .Public Choice' war, auf. Casella und Feinstein (1990) lenkten die Aufmerksamkeit von der Umverteilung auf die Auswirkungen von Integration und Abspaltung auf die Bereitstellung öffentlicher Güter und Entwicklung privater Märkte. Sie argumentieren, daß politische Integration einerseits Transaktionskosten senkt und dadurch ökonomische Integration und wirtschaftliches Wachstum fördert. Andererseits hängt in ihrem Modell die Befriedigung aus der Bereitstellung öffentlicher Güter ebenfalls negativ mit politischer Integration zusammen. Je größer ein Staat, desto weniger entsprechen die tatsächlich bereitgestellten öffentlichen Güter den bei wachsender Bevölkerung immer heterogener werdenden Präferenzen. (Ahnliche Zusammenhänge treten auf, wenn statt öffentlicher Güter Umverteilung betrachtet wird. Siehe hierzu: Bolton and Roland 1997.) Es war diese Diskussion von Trade-offs zwischen Integration und Wachstum auf der einen und Verlusten bei der

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Wir werden hier die Kurzform Alesina et al. verwenden, wenn wir uns auf diese Beiträge beziehen.4

2. Theorie: Die optimale Größe eines Staates: Normative Analyse Basierend auf ihrem hochgesteckten Ziel, eine allgemeine Theorie über die Größe einer Nation zu entwickeln, stellen Alesina et al. die grundlegende normative Frage: Was ist die optimale Größe einer Nation? Sie analysieren dieses Problem für eine geschlossene Volkswirtschaft, basierend auf dem Trade-off zwischen der Heterogenität von Präferenzen (die mit zunehmender geographischer Entfernung des Individuums vom Zentrum des Staates, d. h. mit zunehmender Staatsgröße, wächst) und Skalenerträgen bei der Bereitstellung öffentlicher Güter, die mit der Größe des Staates ansteigen (Alesina and Spolaore 2003)5. Alesina et al. verweisen darauf, daß ein Sozialplaner zwar die optimale Größe eines Staates auf Basis dieses Trade-offs bestimmen könnte, aber daß es schwierig für ihn ist, diese Lösung in der realen Welt zu implementieren (Alesina and Spolaore 2003, Kapitel 2-5). Aus der Argumentation von Alesina et al. folgt, daß Staaten unter einer diktatorischen Leviathan-Regierung zu groß sind (weil die Maximierung der Steuereinnahmen durch eine Leviathanregierung zu einer Steuerbasis führt, die größer als das Optimum ist) und in einer Demokratie eine zu geringe Größe aufweisen (da Regionen, die weit vom Zentrum entfernt liegen, dazu tendieren, sich abzuspalten). Im Fall der demokratischen Regierung wäre zwar ein Verhandlungsprozeß im Sinne von Coase (1960) denkbar, bei dem Bewohner des Zentrums Pauschaltransfers an Bewohner der Peripherie zahlen (siehe Alesina and Spolaore 2003, p. 55). Doch letztlich kann eine solche Lösung des Dilemmas nicht zustande kommen, da die Mehrheitsregel eine Fortführung der Verhandlungen, so lange bis eine optimale Staatsgröße erzielt worden ist, verhindern würde. 6 Was kann daraus geschlossen werden? Was folgt aus dem Ergebnis, daß Länder unter einer demokratischen Regierung zu klein und unter einer Leviathanregierung zu groß sind?

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Zufriedenheit mit bereitgestellten öffentlichen Gütern auf der anderen Seite (Casella and Feinstem 1990), die die Tür für das umfassende Forschungsprogramm zur Größe von Nationen von Aksina et al. öffnete. Die Denkschule, zu der wir Alesina et al. zählen, bezeichnen wir im folgenden als „Political Economics" (siehe Blankart und Koester 2006). Andere, hier nicht diskutierte Modelle sind die von Wei (1991) und Wittman (2000). Wei schlägt ein Modell vor, in dem politische Integration notwendig ist, um den Grad der Offenheit zu erhöhen. Wie im CasellaFeinstein-Modell (1990) beschrieben, geht auch er von einem negativen Zusammenhang zwischen Integration und Zufriedenheit mit der Präferenzerfüllung bei der Bereiststellung öffentlicher Güter aus. Im Gegensatz zum Casella-Feinstein-TtaAt-oii zwischen der Bereitstellung öffentlicher Güter und ökonomischem Wachstum sowie Wohlfahrtsverlusten, leitet Wei einen Trade-off zwischen Gewinnen aus zusätzlichem Handel und Wohlfahrtsverlusten bei der Bereitstellung öffentlicher Güter her. Das umfassendste Modell präsentierte jedoch Wittmann (2000). Es basiert im wesentlichen auf dem Trade-off zwischen ökonomischen Gewinnen aus größer werdenden Märkten und Verlusten in der Zufriedenheit mit den bereitgestellten öffentlichen Gütern. Dieser Zusammenhang wird von Wittmann jedoch um wichtige Faktoren ergänzt. Es werden Rüstungsausgaben und der Einfluß von staatlichem Zwang, verschiede Produktionsfunktionen und variierende Effektivität politischer Institutionen in das Modell integriert. Aksina et al. zeigen, daß ein Transfersystem, dem es an Glaubwürdigkeit fehlt, allgemein nicht in der Lage ist, die optimale Größe von Staaten zu erzeugen, solange Abspaltungsanreize nicht durch hohe Skalenerträge kompensiert werden (siehe Aksina and Spolaore 2003, pp. 53-67).

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Sollte eine Demokratie wie die Vereinigten Staaten weniger demokratisch werden, nur um auf diese Weise näher an ihre optimale Größe zu kommen? Und Europa? Könnte das demokratische Defizit der EU vorteilhaft sein, da es ermöglicht, sich der optimalen Größe anzunähern? Alesina et al. umgehen diese Fragen, wahrscheinlich aus gutem Grund. Eine gründliche Diskussion würde die undemokratische Natur ihres Denkansatzes enthüllen und die Grenzen der Anwendbarkeit des Konzeptes der optimalen Staatsgröße in der Realität aufzeigen. Darüber hinaus ist es erstaunlich, daß sich Alesina et al. zwar des Trade-offs zwischen Skalenerträgen bei der Bereitstellung öffentlicher Güter und der Befriedigung lokaler Präferenzen (jeweils abhängig von der Größe der Gebietskörperschaft) aus der Theorie des fiskalischen Föderalismus bedienen (siehe z. B. Oates 1972), die traditionell eigentlich von der positiven Finanzwissenschaft und in der ,Public Choice'-Schule bei der Analyse von Staaten genutzt wird, jedoch größtenteils die Erkenntnis mißachten, daß ein mehrstufiger Staat (mit mehreren föderalen Ebenen) in der Lage ist, diesen Trade-off abzuschwächen oder sogar aufzulösen. In Wirklichkeit sind fast alle Staaten mehrstufig organisiert, unabhängig von ihrer Größe. Sie bestehen aus verschiedenen, sich überlappenden Gebietskörperschaften mit unterschiedlichen Aufgabengebieten und Einnahmen. Nach Tiebout (1956) stellt Migration die Abstimmung der Individuen über die einzelnen Gebietskörperschaften dar. Manche Autoren gehen sogar so weit, die rein geografische Definition der Gebietskörperschaften zu verlassen und sie durch eine Definition funktional überlappender konkurrierender öffentlicher Körperschaften (Functional Overlapping Competing Jurisdiction FOCJ) zu ersetzen (Frey und Eichenberger 1999). Folgt man dem FOCJ-Konzept, könnte jeder Bürger jeweils Mitglied einer individuellen Kombination unterschiedlicher öffentlicher Körperschaften werden, die die von ihm gewünschten öffentlichen Güter bereitstellen. In diesem Fall würde der Trade-off zwischen Präferenzanpassung und Skalenerträgen bei der Bereitstellung öffentlicher Güter komplett verschwinden und mit ihm jede Notwendigkeit der kollektiven Optimierung. Alesina et al. waren sich von Anfang an der Herausforderung bewußt, die die Theorie des Fiskalen Föderalismus7 für ihre Theorie der optimalen Größe der Nationen darstellt. Dennoch haben sie lediglich in ihrem neuesten Buch („The Size of Nations') ein Föderalismus-Kapitel hinzugefügt (Alesina and Spolaore 2003). Und sogar dort bleibt die Diskussion der Theorie des Fiskalischen Föderalismus äußerst oberflächlich. Sie schreiben: „In diesem Kapitel schweifen wir nicht in das weite Feld des fiskalischen Föderalismus ab, sondern führen lieber die aus unserer Sicht geeignete Literatur zur politischen Grenzziehung an" (p. 14). In der Tat, wird einfach ein großer Teil der Literatur zum fiskalischen Föderalismus ignoriert. 8 Und obwohl Alesina et al. die Möglichkeit von sich überschneidenden Gebietskörperschaften diskutieren, scheinen sie nicht einräumen zu wollen, daß der Tradeoff zwischen Präferenzheterogenität und Skalenerträgen nicht allein die Grundlage der 7 Alesina and Spolaore (1997) schließen daraus: „Mit anderen Worten, die Lösung des Trade-offs zwischen Skalenerträgen und Heterogenität liegt in eitler dezentralisierten Regierungsstruktur. Diese Argumentation würde eine Verbindung zur Literatur desfiskalischenFöderalismus herstellen, ein Weg, der es wert ist, erforscht zu werden" (p. 1046). 8 Siehe z. B. Oates (1972), Wallis and Oates (1991), Nelson (1986), Pommrebne, Kirchgässner und Feld (1996) und Oates (1985,1989).

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Diskussion über die optimale Größe eines Landes darstellen kann. Denn dies würde die Notwendigkeit aufdecken, auch die föderalen Strukturen berücksichtigen zu müssen. Es scheint, daß Alesina et al. es vorziehen, sich aus diesem „intellektuellen Minenfeld" zurückzuziehen, und sich lieber auf eine positive Analyse der Größe einer Nation konzentrieren.

3. Die optimale Größe eines Staates: Positive Analyse Für den positiven, empirischen Teil ihrer Analyse lassen Alesina et al. ihre Theorie der optimalen Staatsgröße zunächst beiseite. Sie konzentrieren sich auf das internationale Handelsregime, das sie als die entscheidende Variable zur Erklärung von Integration und Abspaltung einführen. Ihre Argumentation lautet wie folgt: In einer Situation des weltweiten Protektionismus werden Staaten politisch fusionieren, um intern größere Märkte zu schaffen, und zwar trotz der Kosten, die aus einer einheitlich-zentralen Bereitstellung öffentlicher Güter durch zunehmende Heterogenität der Präferenzen (die mit der geografischen Distanz des Individuums vom Zentrum eines Staates ansteigen) entstehen. Im Gegensatz dazu spalten sich Staaten unter einem Regime freien internationalen Handels ab, weil sie die Vorteile größerer Märkte wahrnehmen können, ohne dabei an eine einheitlich-zentrale Bereitstellung von öffentlichen Gütern gebunden zu sein. Dies führt zu folgender Vorhersage: Ein protektionistisches internationales Handelsregime führt zu weniger und größeren Staaten, während Freihandel zu einer größeren Anzahl kleinerer Staaten führt.

4. Empirie: Ein Meilenstein wissenschaftlichen Fortschritts? Im ersten Teil haben wir argumentiert, daß das Konzept des „empirischen Fortschritts" für unsere Analyse ausschlaggebend sein sollte. Wie schneidet der Ansatz von Alesina et al. in der empirischen Analyse ab? Bei der Suche nach empirischen Beweisen für ihren Ansatz beschreiben Alesina et al. die Entstehung und das Verschwinden von Staaten im Zeitraum von 1870 bis 1994 anhand einer geografischen Analyse {Alesina, Spolaore and Waaqarg 2000, p. 1292, Abb. 5; Alesina and Spolaore 2003, p. 195). Fünf größere Phasen können dabei aufgezeigt werden: (a) die Integration von 18 deutschen Staaten in das Deutsche Reich 1871, (b) die Entstehung von neun souveränen Staaten in Europa nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, (c) die Überführung von Kolonien in Asien und Afrika in unabhängige Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg, (d) die Integration der Europäischen Union nach 1958 und (e) der Fall des Kommunismus und die Entstehung neuer Staaten in Ost- und Mitteleuropa nach 1989. Die von den Autoren dargestellten empirischen Belege unterstützen ihre Hypothesen jedoch kaum: a) Die politische Integration von 26 unabhängigen Staaten in das Deutsche Kaiserreich 1871 kann schwerlich als Konsequenz eines vorherrschenden Protektionismus (wie von Alesina angeführt) angesehen werden, da der Einigung eine Periode von über 40 Jahren stetig steigenden Freihandels zwischen den deutschen Staaten im Deutschen Zollverein vorausgegangen war, die 1828 begann und im Norddeutschen Bund von 1867 bis 1871 und darüber hinaus weitergeführt wurde. Die Wende zum Protektionismus fand erst

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1879/1880 statt, viel später als die Integration und dauerte dann bis zum Zweiten Weltkrieg an. b) Der politische Zerfall, der auf den ersten Weltkrieg folgte, führte zu einer Bildung von neun neuen souveränen Staaten in Europa. Diese Periode war jedoch nicht durch einen Freihandel gekennzeichnet (der die Hypothese von Alesina et al. bestätigen würde), sondern durch andauernden Protektionismus (was im Widerspruch zur Theorie von Aksina et al. steht). Erstaunlicherweise bleibt diese Entwicklung von Alesina et al. aber unkommentiert. 9 c) Nach dem Zweiten Weltkrieg stellt die Etablierung des GATT im Jahr 1947 einen Wendepunkt zu einem sich allmählich erweiternden Freihandel dar. Zur selben Zeit wurde eine große Anzahl von neuen Nationen geschaffen. Während einige der neu entstandenen Nationen am GATT-Abkommen teilnahmen, lehnten die meisten den freien Handel mit ihrem ehemaligen Mutterland und auch mit den anderen neuen Staaten ab. Wenn nicht Zölle, dann kamen gezielte Steuern, direkte Handelskontrollen und andere nicht tarifare Handelshemmnisse in diesen Ländern zumindest in den ersten Jahrzehnten häufig zum Einsatz. Es bleibt damit fraglich, ob Freihandel einen Einfluß auf Unabhängigkeitsentscheidungen hatte. Für andere Teñe der Welt sind die Beobachtungen nicht nur unklar, sondern sogar konträr zum Ansatz von Alesina et al. So wäre zu fragen, warum Kanada und die USA als große Länder sich nicht mit zunehmendem Freihandel hätten auflösen müssen. In der Realität hat sich allerdings weder Quebec von Kanada abgespalten, noch versuchte ein Bundesstaat der USA unabhängig zu werden. d) Ebenso wurde im Jahr 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet, (entgegen Alesinas Hypothese) trotz des durch das GATT-Abkommen entstehenden freien Handels. Die EWG begann mit internem Freihandel, aber ihr Ziel war und ist immer noch die politische Integration „... für einen immer engeren Zusammenschluß", wie es in der Präambel der Römischen Verträge von 1957 heißt. Heute basieren bereits zwei Drittel der nationalen Gesetzgebungen innerhalb der Europäischen Union auf EUEntscheidungen. Die EU kann daher als eine Union bezeichnet werden, die auf dem Weg zu einem Föderalstaat ist. Die Integration verlief also vom freien Handel hin zur politischen Integration und nicht umgekehrt. Alesina et al. halten trotzdem an ihrem Ansatz fest, indem sie davon ausgehen, daß die EU-Mitgliedstaaten dazu neigen, sich unter dem größer werdenden Dach des gemeinsamen Marktes aufzulösen. Genauer betrachtet sieht man jedoch, daß lediglich ein paar Mitgliedstaaten ihre nationalen Verfassungen entsprechend verändert haben und unter diesen nur Belgien und Spanien wesentliche politische Kompetenzen von Besteuerung und Staatsausgaben von der nationalen auf eine untere Ebene weitergegeben haben {Stegarescu 2004). e) Der Zusammenbruch des ehemaligen Sowjetblocks in eine Vielzahl kleinerer Staaten kann - folgt man Aksina et al. - als Schritt in die Selbstständigkeit, hervorgerufen durch international freien Handel, angesehen werden. Aber der Zusammenhang zwischen Unabhängigkeit und Freihandel ist nicht besonders stark. Bis 2004 traten lediglich 14 der ehemals 22 kommunistischen Staaten der WTO bei.

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Der weit verbreitete Protektionismus dieser Zeit ist in James (2002) dokumentiert.

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Diese detaillierte Betrachtung zeigt, daß vier der fünf wichtigsten Prozesse von Integration und Sezession zwischen 1870-1994 die Theorie von Alesina et al. widerlegen und einer von ihnen uneindeutig ist. Allgemein harmonisiert Freihandel mit Integration, während Sezession Hand in Hand mit dem Protektionismus geht, wobei Fall (e) wegen Uneindeutigkeit ausgeklammert bleibt.

5. Ursachen der empirischen Ergebnisse und Konsequenzen für institutionelle Verbesserungen In diesem Teil wollen wir untersuchen, welche Gründe für das Verfehlen eines empirischen wissenschaftlichen Fortschrittes durch das Werk „The Size of Nations" verantwortlich sein können, sowie welche Implikationen sich für theoretisch fundierte institutionelle Verbesserungen - das Hauptziel empirischen wirtschaftswissenschaftlichen Fortschritts ergeben.

Vergleich hinsichtlich empirischen Fortschritts Wie können diese verheerenden empirischen Ergebnisse erklärt werden? Und wie kann der Zusammenhang zwischen Freihandel, Integration und Sezession genau in der entgegengesetzten zu der von Alesina et al. angeführten Richtung wirken? Aus unserer Sicht liegt dies darin begründet, daß Alesina et al. die falsche Frage stellen. Um den Einfluß von Handelsregimen auf Integration und Abspaltung von Staaten zu erklären, ist es erforderlich, insbesondere zwei Probleme zu lösen: Erstens: Was sind die Variablen, die die internationale Handelspolitik bestimmen und somit konsequenterweise auch das Handelsregime? Zweitens: Was sind die Folgen der Handelspolitik eines Staates und des internationalen Handelsregimes auf politische Integration bzw. Sezession? Um das erste Problem zu lösen, hätten Alesina et al. sich auf zahlreiche Untersuchungen in der Literatur stützen können, wie die Wahlkampfspenden-Analyse von Magee, Brock und Young (1989) und die Analyse von Parteispenden von Grossman und Helpman (1994), alle mit einer guten empirischen Basis.10 Beide Beiträge helfen, die ausschlaggebenden inländischen Faktoren für Freihandel zu verstehen, welche auf den Interessen von Industrie und Politikern sowie auf den politischen Institutionen eines Landes beruhen. Da nationale Regierungen genauso bei bilateraler wie multilateraler Handelsliberalisierung (GATT und WTO) zustimmen müssen, ist die Zahl von freihandelsorientierten Regierungen ausschlaggebend für das Ausmaß der gesamten internationalen Handelsintegration. Während unser Verständnis der Determinanten der nationalen Handelspolitik vergleichsweise weit verbreitet ist, ist das zweite Problem, der Zusammenhang zwischen Handelspolitik, Freihandel und Integration und Sezession, bisher stark vernachlässigt worden. Für eine überzeugende Analyse ist es aber zentral, die nationale Entstehung der Handelspolitik zu berücksichtigen, wenn das Zusammenspiel zwischen Handelspolitik und Integration 10 Siehe für eine detaillierte Diskussion z. B. Uillman (1989), Rodrik (1995), Adserä and Boix (2003).

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und Abspaltung untersucht wird, und nicht einfach nur an2unehmen, daß der Freihandel schlicht eine exogene Variable ist, wie es Alesina et al. tun.11 Sobald Freihandels-Befürworter auf nationaler Ebene die Macht erlangen, scheint es nur logisch zu sein, daß sie nicht nur an offenen Grenzen interessiert sind, sondern genauso daran, den Handel sicherer zu machen, indem sie grenzüberschreitende Rechtsstabilität und daher politische Integration fördern. Je mehr Staaten den Freihandel unterstützen, desto mehr politische Integration kann erwartet werden. Falls jedoch die Interessen der Protektionisten die nationale Politik dominieren, scheint es eher unwahrscheinlich, daß sich kleinere Staaten mit größeren zusammenschließen, wie das Alesina et al. behaupten. Es ist viel plausibler, daß sich größere Staaten in kleinere aufspalten, weil Protektionisten größere Märkte mit mehr Wettbewerb fürchten (siehe Fall (b) oben). Deswegen ist eher eine mit dem Protektionismus zunehmende Zahl von Abspaltungen zu erwarten. Berücksichtigt man also, daß Entscheidungen über internationalen Freihandel oder Protektionismus aus der nationalen Handelspolitik resultieren, können wir eine Erklärung dafür bieten, warum die beobachtbare Beziehung zwischen Freihandel und Integration und Abspaltung genau entgegengesetzt wie von Alesina et al. Behauptet verläuft.

Institutionelle Verbesserungen Daß Alesina et al. nicht in der Lage sind zu erklären, was sie zu erklären beabsichtigen, ist eine Sache. Wir sehen allerdings die viel größere Schwierigkeit in ihrer fehlenden Fähigkeit, institutionelle Verbesserungen vorzuschlagen, die positive Wohlfahrtseffekte haben und die individuelle Freiheit erweitern könnten. In der Volkswirtschaftslehre herrscht weitgehender Konsens, daß Freihandel die Wohlfahrt steigert und daher im allgemeinen erstrebenswert ist. Das motiviert Ökonomen, Vorschläge zur Verbesserung von Institutionen zu entwickeln, die eine liberale Handelspolitik fördern. Alesina et al. jedoch tragen zu diesen Anstrengungen gar nicht bei, da sie das internationale Handelsregime schlicht als exogen annehmen. Zudem vernachlässigen Alesina et al. zumindest teilweise die Bedeutung von individueller Freiheit und individueller Wohlfahrt. Die normative Analyse der optimalen Staatsgröße ignoriert die individuelle Freiheit komplett, indem sie lediglich eine kollektive Optimierung vornimmt. In der positiven Analyse richten Alesina et al. ihren Fokus auf den vermeintlichen Trade-off zwischen Marktvergrößerung und lokaler Präferenzbefriedigung durch die Bereitstellung öffentlicher Güter. Sie suchen aber nicht nach Wegen, diesen Trade-off aufzulösen, z. B. durch fiskalischen Föderalismus oder Migration innerhalb von Gebietskörperschaften. Sie fragen nicht einmal danach, wie Institutionen verändert werden sollten, um den Grad an individueller Freiheit zu erhöhen und die Bereitstellung von öffentlichen Gütern besser an die individuellen Präferenzen anzupassen. Damit fallen sie hinter dem in der ökonomischen Literatur etablierten Ansatz des Fiskalischen Föderalismus, der diese Aspekte ausgiebig diskutiert, zurück.

11 Auch in neueren Arbeiten der Alesina-SdnxAe wird von der Exogenität des internationalen Handelsregimes ausgegangen, vgl. Etro (2006).

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IV. Schlußfolgerungen Was zeigt unsere Analyse des wissenschaftlichen Fortschritts im Bereich der Forschung zur Integration und Sezession von Staaten? 1. Friedmans Postulat, den Wert einer Theorie an ihren empirischen Erkenntnissen zu messen, wird ebenso von Alesina et al. geteilt, wie das Ziel, aufbauend auf einer positiven Analyse, normative Vorschläge zur Verbesserung von politischen und wirtschaftlichen Institutionen abzuleiten.12 2. In der Detailanalyse wird jedoch deutlich, daß der Anspruch des empirischen wissenschaftlichen Fortschrittes weitgehend uneingelöst bleibt. Der in dem Buch „The Size of Nations" dargestellte Ansatz zur Integration und Sezession von Nationen hat sich als wenig überzeugend herausgestellt. In der normativen Analyse scheint der Ansatz der optimalen Größe von Nationen nicht angebracht zu sein. Er beruht auf einer kollektiven Optimierung der Staatsgröße und ist somit grundlegend undemokratisch. Weil davon ausgegangen wird, daß Staaten eine feste Struktur haben, werden Verbesserungsmöglichkeiten die z. B. in Konzepten wie dem Fiskalischen Föderalismus hergeleitet werden, nicht berücksichtigt. In der positiven Analyse fuhrt die Annahme, daß die Ausprägung des in einem Land bestehenden Handelsregimes exogen determiniert wird, zu inkonsistenten, der Wirklichkeit widersprechenden Aussagen. Ganz abgesehen davon, wird durch die Behandlung der zentralen Variablen des Handelsregimes als exogene Variable die Möglichkeit aus der Hand gegeben, Vorschläge zur Verbesserung politischer Institutionen herzuleiten. 3. Vielmehr ist interessant festzustellen, daß hier der empirische Fortschritt weitgehend dem reinen theoretischen Fortschritt geopfert wird. Eine einseitige Konzentration auf die Modellierbarkeit und technische Feinheiten, anstatt auf praktische Anwendbarkeit, macht den Ansatz nach dem Maßstab des empirischen Fortschrittes besonders verwundbar. Das Aufstellen von Modellen wird zu einem reinen Selbstzweck. 4. Besonders verwunderlich erscheint zudem, daß Alesina et al. die ökonomische Bedeutung des Systemwettbewerbs in ihrem Buch nahezu vollkommen ignorieren. Bereits Hume, Montesquieu, Kant und Gibbon haben sich mit der ökonomischen Begründung der Staatenvielfalt befaßt13 und dem friedlichen Systemwettbewerb eine zentrale Rolle zugeschrieben. Daß dieser Ansatz bei einer ökonomischen Diskussion über die Größe von Staaten gar keine Rolle spielt, ist sehr irritierend. Zusammenfassend bleibt festzustellen, daß das Konzept des empirischen wissenschaftlichen Fortschritts zwar - vor allem in der polit-ökonomischen Analyse - als Ziel hohes und weitreichendes Ansehen zugesprochen bekommt, in der Anwendung - so wie hier im Buch „The Size of Nations" - jedoch oft in der Gefahr steht, zugunsten des rein theoretischen Fortschritts geopfert zu werden. Als Maßstab zur Analyse und Beurteilung der For-

12 Siehe für eine Diskussion im Rahmen ähnlicher Ansätze z. B. Persson and Tabellini (1990, p. 2 ff.; 2000, p. 1 ff.). 13 Die entsprechenden Konzepte der genannten Autoren werden diskutiert in Benthof und Vaubel (2004) und Blankart (2007).

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schungsentwicklung bleibt das Konzept des empirischen Fortschritts jedoch unerläßlich und - auch wenn die Ergebnisse so ernüchternd sein können wie hier — aufschlußreich.

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Zusammenfassung Das Buch „The Size of Nations" von Alesina und Spolaore wird gemeinhin als wichtiger Beitrag zum neuesten wissenschaftlichen Fortschritt in der Ökonomie gesehen. Doch ist diese Einschätzung wirklich gerechtfertigt? Wendet man das in der Ökonomie weithin akzeptierte Konzept des empirischen wissenschaftlichen Fortschritts auf die zentralen Argumente des Buches „The Size of Nations" zur Integration und Sezession von Staaten an, so ergeben sich zentrale Schwächen. Die normative Analyse von Alesina und Spolaore krankt vor allem an einer Vernachlässigung des Konzeptes des fiskalischen Föderalismus und des Systemwettbewerbs, während die positive Analyse nicht nur auf einem wackeligen empirischen Fundament steht, sondern zudem auch noch den Freihandel wenig überzeugend als exogene Variable behandelt. Zusammengenommen führt dies dazu, daß auf der Basis der Analyse von Alesina und Spolaore keinerlei fundierte Vorschläge für institutionelle Verbesserungen hergeleitet werden können und das Ziel eines empirischen Fortschritts weitgehend einem nur theoretischen Fortschritt geopfert wird. Dies relativiert den möglichen Beitrag des Buches zum wissenschaftlichen Fortschritt in der Ökonomie grundlegend.

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Summary: Theoretical and empirical scientific progress A critical assessment of the book „The Size of Nations" by Alesina and Spolaore Alesina' s and Spolaore's „The Size of Nations" is often seen as an important contribution to recent progress in economic research. But is this assessment really justified? An application of the widely accepted concept of empirical scientific progress to central arguments of the book „The Size of Nations" reveals substantial weaknesses. The normative assessment of the integration and secession of states by Alesina und Spolaore suffers from an almost complete neglection of the concepts of fiscal federalism and systems competition, while the positive analysis disposes only of weak empirical support and is not convincing in treating free trade as exogenous variable. As a consequence of the general approach Alesina and Spolaore are unable to derive meaningful suggestions for institutional improvements and the goal of empirical scientific progress is largely scarified for pure theoretical progress. This largely reduces the contribution of „The Size of Nations" to scientific progress in economics.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2007) Bd. 58

Hardy Bouillon

Von der spontanen Ordnung zur geordneten Anarchie. In memoriam Gerard Radnitzky Inhalt I. Einleitung II. III. IV. V.

Der Individualist Radnitzky Wissenschaftstheorie und Politische Philosophie Erste Schritte in der Politischen Philosophie: der Hayekianer Radnitzky Die Suche nach der Synarchie

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Literatur

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Zusammenfassung

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Summary: From spontaneous order to ordered anarchy. In memoriam Gerard Radnitzky

192

I.

Einleitung

Als Gerard Radnitzky am 11. März 2006 in seinem Haus in Korlingen starb, verlor die Wissenschaft nicht nur einen herausragenden und weltweit hoch renommierten Wissenschaftstheoretiker, sondern auch einen ungewöhnlich hellsichtigen Politischen Philosophen und unerschrockenen Mahner gegen die sogenannte politische Korrektheit. Daß Radnitzky als enger Freund von Karl Popper und Friedrich August von Hayek Fragen zur Politischen Philosophie zunächst aus traditional liberaler Warte beantworten würde, hat wohl nur wenige überrascht, die seine ersten Abhandlungen in diesem Feld zur Kenntnis nahmen. Daß er sich dann aber von zentralen Elementen des Klassischen Liberalismus abwenden und libertär-anarchistischen Vorstellungen zuwenden würde, haben indes viele, vor allem jene, die sich der ordoliberalen Tradition verpflichtet fühlen, mit einer gehörigen Portion Verwunderung aufgenommen. Dabei ist diese Entwicklung vor dem Hintergrund seiner auf logische Strenge ausgerichteten Grundhaltung, mit der er auch die Wissenschaftstheorie betrieb, alles andere als verwunderlich. Radnitzky war alles Doktrinäre fremd, und er scheute sich nicht, das vermeintlich „Unerhörte" zu denken und zu Papier zu bringen, wenn es ihm der Wahrheit näher zu sein schien als die mit ihm konkurrierenden Theorien. Dieser Essay, der zugleich als Nekrolog fungiert, ist in gewisser Weise der Versuch, diese Entwicklung umrißhaft nachzuzeichnen und als ein Ergebnis darzustellen, das sich nahezu zwangsläufig aus den Zufallen des Lebens, denen Radnitzky in seiner wechselvollen

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Vita ausgesetzt war, und der um stetige Erkenntniserweiterung bemühten Disposition, die ihm eigen war, einstellte.

II.

Der Individualist Radnitzky

Historiker zählen die Berichte von Zeitzeugen zu den unsichersten Quellen der Geschichtsforschung überhaupt. Sie verweisen dabei auf die Neigung des Menschen, die eigene Geschichte im Rückblick mit verklärtem Blick zu betrachten. Insofern ist eine Autobiographie zwar eine aufschlußreiche Quelle zur Erforschung einer Vita und zum Selbstverständnis ihres Autors, aber sie ist auch cum grano salis zu lesen. Daher mag der Leser gegen meine Absicht, die oben genannte These durch Verweise auf Radnit^kys Memoiren zu erhärten, nicht zu Unrecht Vorbehalte anmelden - so er sie denn hat. Ob es mir gelingt, diese etwaigen methodischen Bedenken zu zerstreuen, muß er letztlich selbst beurteilen. Doch bevor ich auf diese Memoiren zu sprechen komme, will ich hier eine kurze Schilderung der Vita von Gerard Radnitzky geben. Gerard Alfred Karl Norbert Maria Hans Radnitzky wurde am 2. Juli 1921 im südmährischen, an Niederösterreich grenzenden Znaim geboren. Der Vater war Chefarzt am Znaimer Krankenhaus. Gerard Radnitzky wuchs wohlbehütet auf. Die Familie schätzte das tolerante Milieu der Habsburger Monarchie und blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg dem Hause Habsburg stets sentimental verbunden.1 Die neugegründete Tschechoslowakische Republik, die sich Südmähren nach 1918 einverleibt hatte, wurde entgegen allen Versprechungen kein Nationenstaat, sondern ein Nationalstaat, aber sie bot aus Radnit^kys Sicht im Alltag viel mehr an kleinen Freiheiten als z. B. die später von ihm erlebte Bundesrepublik. Der „Anschluß" des Grenzgebietes an das Deutsche Reich im Jahre 1938 bereitete den kleinen Freiheiten des Alltags, auch seinen, ein jähes Ende. Am Znaimer Gymnasium legte Radnitzky die Reifeprüfung ab. Der Abiturient begeisterte sich für die Fliegerei und entdeckte man kann sagen: folgerichtig — sein Interesse für die Luftfahrttechnologie, was seinen Einsatz als Pilot während des Zweiten Weltkrieges erklärt. Zunächst war er Kampfflieger, später Abfangjäger auf dem ersten Düsenjäger, der Messerschmitt 262 (Me 262). Er sei, so sagte er später gelegentlich, ein „schlechter Soldat, aber ein guter Kämpfer" gewesen. Rechtzeitig, am 18. April 1945, setzte Radnitzky sich auf dem Luftweg nach Schweden ab.

Seitdem fühlte er sich — wie er es gerne ausdrückte — als „gelernter Heimatloser". In Schweden verbrachte er den Großteil seines Lebens, erwarb schließlich die schwedische Staatsbürgerschaft. Für fast 30 Jahre war Schwedisch seine erste Sprache. Mit ihr brachte er es auf sieben aktive Sprachen (daneben Deutsch, Tschechisch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch). Hinzu kamen Griechisch und Latein als passive Sprachen. Das Schweden der Nachkriegszeit empfand Radnitzky als ein idyllisches Milieu. Dann merkte er, wie der Reichtum des Landes in den 60er und 70er Jahren allmählich aufgezehrt wurde. Zum dritten Mal (nach den Erfahrungen mit der CSR und dem Dritten Reich) spürte er am eigenen Leibe, wie es mit einem Land, das dem Kollektivismus anheim fiel, bergab ging. 1

Um so mehr freute es Radnitzky, daß kein Geringerer als Otto von Habsburg sowohl für seine Festschrift Libertarians and Uberalism als auch für seine Lebenserinnerungen „Das verdammte 20, Jahrhundert" eine Zureichung für die Buchrückseite verfaßte.

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In Schweden nahm Radnitzky das Studium der Psychologie und Statistik auf, studierte dann Philosophie und Wissenschaftstheorie. Sein zweibändiges Werk „Contemporary Schools of Metascience" von 1968 wurde ein großer Erfolg in der schwedischen Philosophie und brachte ihm auch internationale Anerkennung. Es folgte 1972 ein Ruf an die Ruhr-Universität Bochum auf den Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie. Er nahm ihn während einer Gastprofessur an der State University of New York (SUNY) in Stony Brook an. 1976 wechselte er an die Universität Trier und blieb dort bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1989. Er lehrte auch als Emeritus noch einige Jahre. Erst im Sommersemester 2003 stellte er seine Seminare ein und konzentrierte sich fortan auf seine Memoiren, deren Erscheinen er allerdings nicht mehr erleben durfte. Radnitzky starb am 11. März 2006 in seinem Haus in Korlingen nahe Trier. Radnitsfkys Memoiren sind — soviel sei hier vorweggeschickt — keine Memoiren im engeren Sinne. Er verstand sein Buch „Das verdammte 20. Jahrhundert", das drei Tage nach seinem Tode erschien, als Reflexionen eines Zeitzeugen zur Geschichte, das zwei Zwecken dienen sollte: „Erstens, ich will das Leben, das hinter mir liegt, besser verstehen, und das kann nur vor dem Hintergrund der objektiven Geschichte geschehen. Zweitens, ich will Leuten, die gewisse Dinge" ebenso wenig mögen wie ich, Argumentationsmaterial und Wissen über historische Ereignisse zur Verfügung stellen, die ihnen helfen können, sich von der geschichtspolitisch verordneten Amnesie befreien und die Geschichtsklitterungen, die ihnen von den öffentlich-rechtlichen Medien serviert werden, nicht mehr unkritisch hinzunehmen" (Radnitzky 2006, S. 19).

Für mich, der ich das Glück hatte, Radnitzky fast ein Vierteljahrhundert lang als Schüler, Assistent und schließlich Freund zu begleiten, klingt diese Motivationscharakterisierung aufrichtig. Ich kannte Radnitvfy nie anders als einen überaus wissbegierigen Menschen, den es freute, wenn er andere etwas lehren konnte, in der Hoffnung, dadurch wiederum besser zu verstehen. Insofern war er in erster Linie Forscher und erst in zweiter Linie Lehrer. Er wollte verstehen, was sein Interesse zu fesseln in der Lage war. Das galt für alle seine Interessen, auch für die beruflichen und damit auch für die Wissenschaftstheorie, die Politische Philosophie und die Zeitgeschichte. Die eigene Vita hielt er, wie er des öfteren in Gesprächen der letzten Jahre, in denen er an seinem letzten Buch arbeitete, nicht für mitteilenswert. Sie war Privatsache und gehörte nicht an die Öffentlichkeit.2 „Allgemeines Interesse kann die Schilderung von Selbsterlebtem jedoch nur dann haben, wenn sie sich in die wissenschaftliche (Zeit)Historiographie einfügt und somit selbst zur Zeitgeschichte wird"3 (ebenda, S. 19).

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Nicht nur das. Das Private, die Privatsphäre als Ausdruck der Grundfreiheiten, war für Radnitzky das eigentliche Gut, das vom Staat zu schützen war. „Im Zentrum meiner Selbstauffassung standen die elementaren Freiheiten, also diejenigen Bereiche, die in einer einigermaßen freien Sozialordnung vor Eingriffen anderer, insbesondere des Staates, geschützt sind: die Privatsphäre" (ebenda, S. 330). Eine kleine Anekdote mag verdeutlichen, wie ernst es ihm mit der Rolle war, die seine Lebenserinnerungen spielen sollten. Als ihm verlagsseitig eine Bildercollage, aus der ein Schülerfoto von ihm hervorstach, als Umschlagsentwurf vorgelegt wurde, war er äußerst ungehalten, weil auf diese Weise nicht die Bedeutung seines Buches als zeitgeschichtliche Reflexionen zum Ausdruck käme. Seine Frau Majken stellte dann eine andere Collage zusammen, die seinen Wünschen mehr entsprach und schließlich Grundlage des Umschlags wurde.

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Liest man seine Lebenserinnerungen, dann fällt auf, daß Radntt^ky sich rückblickend als einen von Anfang an individualistisch denkenden und empfindenden Menschen betrachtete. „Rückblickend darf ich feststellen, daß es in meinem Leben bezüglich des Wertsystems einen roten Faden gibt. Aus der prägenden Kinderzeit habe ich fürs ganze Leben die Einstellung behalten, daß das Individuum autonom ist und selbst dafür zu sorgen hat, daß es seine Individualität bewahrt, daß es also für das Recht auf sich selbst, für die self-onmership, kämpfen muß. Eigentum in diesem Sinn und Individualität sind zwei Seiten derselben Medaille" (ebenda, S. 20).

Ich glaube, daß diese Auffassung keine Klitterung der eigenen Geschichte ist. Die individualistische Grundeinstellung erklärt das Verhaltensmuster, das Radnit^ky in vielen Schlüsselerlebnissen, von denen er einige in seinem Buch wiedergibt, an den Tag legte. Ein Beispiel mag sein Wechsel von der Ruhr-Universität Bochum an die Universität Trier sein. War sein Bochumer Lehrstuhl vorzüglich ausgestattet, so verfügte jener in Trier über weitaus bescheidenere Mittel und Mitarbeiterstellen. Aber Radnit^ky zog die vergleichsweise ruhige Arbeitsatmosphäre einer kleinen Universität dem hektischen Getriebe einer großen Hochschule vor. „Ich ging an die kleine, miserabel ausgestattete Provinzuniversität, die eigentlich nur eine Hälfte der Universität „Trier-Kaiserslautern" war und vom Mainzer Kultusministerium auf Sparflamme gehalten wurde. Wir siedelten uns in einem Dorf an, nahe dem idyllischen, alten Städtchen Trier. (Dessen Lage unmittelbar an der Grenze zu Luxembourg bringt manche Vorteile: Die Trierer tanken dort [keine Ökosteuer], bringen ihre Ersparnisse dorthin [keine Zinsbesteuerung und vor allem Bankgeheimnis, keine staatliche Überwachung aller Konten], und oft lassen sie sich sogar dort bestatten [kein Friedhofszwang, kein Urnenzwang usf.]. Kurz, eine Oase. ...)" (ebenda, S. 302).

Eine Oase hat auch ihre Opportunitätskosten. Das wußte auch Radnit^kj. „Die Studenten in Stony Brook [wo er vor seiner Bochumer Zeit lehrte] waren die besten, die ich je gehabt habe, eine Elite. Die Universität mit entrance examinatiom, wie in Japan, nahm nur etwa zehn Prozent der Bewerber an. Meist war es jüdische Mittelklasse aus New York, Jugendliche, deren Eltern ihre Kinder lieber in Long Island studieren ließen als in Manhattan mit seiner hohen Kriminalitätsrate" (ebenda, S. 301).

Eine solche Elite fand er in Trier nicht vor. Doch er verstand, das Fehlen inspirierender Gesprächspartner vor Ort wettzumachen. Radnit^ky organisierte gerne Tagungen, um auf diese Weise mit den besten Leuten ihres Faches in Kontakt zu kommen. Die Möglichkeit, Arbeitsgruppen zu organisieren — vor allem im Rahmen der International Conferences on the Unity of the Sciences (ICUS) bot Radnit^ky sehr fruchtbare Inspirationsquellen, „invisible Colleges", wie er sie nannte, und führte zu einem weltweiten Kontaktnetz aus Forschern, die wie er an Grundlagenproblemen interessiert waren. Aus solchen Arbeitstagungen gingen immerhin 25 Sammelbände hervor. Viele der Konferenzen wurden vom Gründer der Mun-Sekte finanziert, was Radnit^ky gelegentlich Ärger einbrachte, ihn aber nicht scherte.

Daß trotz alledem seine Jugenderinnerungen einen so großen Raum im Buch einnehmen, kann nicht als Argument für die These dienen, so ganz uninteressant bzw. nicht mitteilenswert sei ihm sein eigenes Leben letztlich nicht erschienen. Viele mußten ihm stark zureden, damit er mehr von seiner eigenen Vita preisgab. Ihr Argument war, daß er auf diese Weise seine Leserschaft noch stärker für das begeistern könne, was ihm vorrangig am Herzen lag.

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III. Wissenschaftstheorie und Politische Philosophie Gerard Radnitzky hatte von Anfang an ein Interesse für interdisziplinäres Arbeiten, ein Interesse, das während seiner Zeit in Schweden stark genährt wurde. Dort hatte er - im Anschluß an seine Flucht aus Deutschland im Jahre 1945 - nach einigen entbehrungsreichen Jahren und einem kurzen Zwischenspiel im Bankfach das Studium der Psychologie und Statistik an der Universität Stockholm aufgenommen. 4 Bei den Stockholmer Philosophen5 fand er zwar nicht die erhoffte Wissenschaftstheorie, aber die Einsicht, daß gewisse Fertigkeiten der formalen Logik für die Analyse wissenschaftlicher Probleme unentbehrlich sind. Außer von Anders Wedberg wurde Radnitzky in Schweden vor allem von Hakan Tömebohm geprägt. Tömebohm teilte Radnitt{kys Auffassung, daß die Wissenschaftstheorie ihre Kontakte nicht auf die Philosophie beschränken, sondern auf die empirischen Disziplinen ausdehnen sollte. Radnitzky meinte immer wieder in Gesprächen, von empirischen Forschern weit mehr gelernt zu haben als von Fachphilosophen. In gewisser Weise war Tömebohm für Radnitzky auch der erste Schritt zu Popper. Dessen Idee, Camaps Konfirmationstheorie mit Poppers Falsifikationismus in Einklang zu bringen, hielt er allerdings für eine Sackgasse. Über Karl-Otto Apel lernte Radnitzky dann Jürgen Habermas kennen. Dessen Kritische Theorie vermochte ihn für eine kurze Zeit anzuziehen, doch nicht für lange. Radnitzky hielt die Erhebung der therapeutischen Situation in der Psychoanalyse auf die Ebene des Politischen für verfehlt und fand seine wissenschaftstheoretische Bleibe beim Kritischen Rationalismus. Wie auch immer, ob Frankfurter Schule oder Kritischer Rationalismus: Radnitzky schloß Freundschaften mit einigen Vertretern beider Richtungen: mit Karl Popper, Hans Albert und mit Karl-Otto Apel. Auch mit Paul Feyerabend, dem Dissidenten des Kritischen Rationalismus verband ihn eine enge Freundschaft. Wenn er gelegentlich ins Plaudern verfiel, dann waren es vor allem die Erinnerungen an gemeinsame Gespräche und Erlebnisse mit ihm, die Radnitzky das größte Vergnügen bereiteten. Obgleich er Feyerabends späte Wissenschaftstheorie für einen Irrweg hielt, konnte dieser ihn als Person scheinbar weit mehr fesseln als Popper. Ich glaube, daß dieses Faktum vor allem in der spielerischen Art6, mit der Feyerabend sein Geschäft betrieb, und darin, daß — zumindest in Radnifi^kys Augen — Feyerabend seine Individualität über die Respektabilität des Forscherlebens gestellt hatte7, zu suchen ist. Ich glaube nicht, daß Radnit^kys Bewunderung für Feyerabend in dessen Anarchismus zu suchen wäre, ich bezweifle auch, daß seine späte Hinwendung zum sogenannten libertären Anarchismus in einer Vorliebe für anarchistisches Denken per se gründete. Meines Erachtens 4 5

6 7

Als Ausländer war ihm der Zugang zur Technischen Hochschule verwehrt. Nur zu gerne hätte er eine Naturwissenschaft studiert. Die schwedische Philosophie stand zu jener Zeit stark unter dem Einfluß des Logischen Positivismus. Radnit^kfs erster Lehrer war Anders Wedberg, der Doyen der schwedischen Philosophie. Zu dieser Phase in Radmtykys Leben vgl. Bouillon (2006, S. 206 ff.). Nicht im Sinne von Naivität, sondern im Sinne von gambling. Ein Vermögen, das Radnitzky zu bewundern schien, aber wohl nie als etwas ansah, das seiner eigenen Person vergönnt gewesen wäre. Immer wieder erzählte er, geradezu verzückt, wie Feyerabend ihm gegenüber einmal erwähnt habe, er sei zwar schlecht auf seine nächste Lehrveranstaltung vorbereitet, aber das kümmere ihn nicht, denn er „would do some clowning".

186 sind die Gründe für ders zu suchen.

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Radnit^kys

Wandlung innerhalb seiner Politischen Philosophie woan-

Zunächst gilt aber festzuhalten, daß Radnit^ky die Politische Philosophie vornehmlich mit den Instrumenten eines strengen Wissenschaftstheoretikers behandelte. Dieses Bild drängt sich einem geradezu auf, wenn man seine Publikationen der letzten Jahre aufschlägt. Meistens beginnen sie mit wissenschaftstheoretischen Vorbemerkungen und/oder enthalten methodologische Analysen des gewählten Untersuchungsgegenstandes.8 Es stellt sich aber auch ein, wenn man einen Blick in seine rein wissenschaftstheoretischen Arbeiten wirft. So griff Radnit^ky in einem Lexikonartikel zum Thema Explikation z.B. den Begriff des Bruttosozialproduktes auf, um an ihm mißbräuchliche Explikationsversuche zu illustrieren. „Der Begriff des Bruttosozialproduktes (BSP)", so Radnit^ky (1989b, S. 79), „wird von Politikern und Journalisten oft als Explikatum des Begriffs »materieller Wohlstand« oder »Volksvermögen« angeboten. ... De facto ist der Begriff des BSP jedoch bestenfalls ein Explikat für den Begriff des »Tätigkeitsvolumens einer Nation«. Wird BSP als Explikat des Begriffs »materieller Wohlstand« angeboten, dann erfüllt er nicht die notwendigen Bedingungen jeder Explikation: ein Mindestmaß an Ähnlichkeit zwischen Explikandum und Explikatum." Radnit^ky (1989a, S. 30) legte großen Wert auf die Feststellung, daß Definition und Explikation nicht dasselbe seien. Von einer Explikation sei zu sprechen, wenn es sich um eine Begriffserweiterung handele, die vor dem Hintergrund einer Theorieentwicklung stattfinde. Eine Explikation sei der Versuch, „einen vorhandenen Begriff — sei es ein Begriff der Umgangssprache oder ein Begriff, der ein bestimmtes Stadium der Wissenschaftsentwicklung repräsentiert — für die Arbeit an bestimmten theoretischen Problemen durch eine verbesserte Version, d. h. durch einen »neuen«, aber dem »alten« doch verwandten Begriff (das Explikatum) zu ersetzen" (Radnit^ky 1989b, S. 75). Von einem explizierten Begriff könne man erwarten, daß er ein „besseres intellektuelles Werkzeug zur Bewältigung der gestellten Probleme ist, daß er in diesem Sinn fruchtbarer ist als der „alte Begriff' (ebenda, S. 74 f.).

Die Unbekümmertheit bzw. das Unvermögen, mit denen Kollegen der eigenen oder anderer Professionen ihre Theorien mit Begriffsdefinitionen und Begriffsexplikationen anreicherten, riefen bei Radttit^ky mal Zorn und Widerwillen, mal Kopfschütteln und Schulterzucken hervor, je nach Stimmungslage. Vor allem derlei Fehlleistungen in der Politischen Philosophie hatten es ihm angetan und neben dem nüchternen Analytiker gelegentlich auch den mit spitzer Feder räsonierenden Kommentator in ihm geweckt.

IV. Erste Schritte in der Politischen Philosophie: der Hayekianer Radnitzky Als ich im Wintersemester 1982/83 zum ersten Mal auf Gerard Radnitzky traf, hatte sich sein Interesse für die Politische Philosophie bereits Bahn gebrochen. Obwohl er schon einige Arbeiten publiziert bzw. herausgegeben hatte, die dieses Interesse dokumentierten (z. B. 1983, S. 121 ff. und 1982, S. 63 ff.), wurde er, soweit ich das beurteilen kann, von der Fachwelt erst durch seinen 1984 erschienenen Aufsatz, der Hayeks Idee spontaner Ordnungen galt (Radnitzky 1984), wahrgenommen. Dieser, auch heute noch in der Literatur oft 8

Als Beispiele mögen hier dienen Radnitzky (2002a, S. 342 ff.) und Radnitzky (2001, S. 260 ff.).

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zitierte Aufsatz, ist eine Art Hommage an von Hayek und dessen erkenntnis- wie wissenschaftstheoretische Untermauerung des Klassischen Liberalismus. Seither galt Radnit^ky vielen als Hayefäaner bzw. — aufgrund seines bis zum Lebensende von ihm vertretenen Kritischen Rationalismus - als eine Art Verschmelzung von Hayek und Popper und damit für den deutschen Sprachraum als eine Bereicherung der im weitesten Sinne ordoliberal geprägten Tradition in den Moralwissenschaften. Trafen Charakterisierungen wie diese anfangs zu, so begannen sie doch Mitte der 80er Jahre sich aufzulösen. Der entscheidende Auslöser war Radnit^kys damalige Begegnung mit Anthony de Jasay.9 Als Zeitzeuge, der ich als Radnit^kys Mitarbeiter war, ist es schwer, diesen schleichenden Prozeß an bestimmten Ereignissen festzumachen.10 Eine amerikanische Zeitung nannte ihn Ende der 90er Jahre einmal einen „right-wing anarchist". Er faßte diese Bezeichnung als Kompliment auf, kokettierte sogar ein wenig damit - ein Verhalten, das ihm sonst eher fremd war. Dennoch konnte dieses Etikett seine Haltung nur unzureichend beschreiben. Es spiegelte nicht sein Ideal der fremdherrschaftsfreien Gesellschaft wider, einer Gesellschaft, die ja nicht frei von jeder Herrschaft, sondern nur von fremder, aufgezwungener Herrschaft sein sollte und daher eher den Namen „Synarchie" verdiente als die Bezeichnung „Anarchie". Außerdem rubriziert man - vor allem im amerikanischen Sprachraum - unter „rightwing anarchist" die property-rights-anarchists um Murray Rothbard und Hans-Hermann Hoppe. Zu ersterem trat Radnitzky in Briefkontakt, doch dieser riß durch Rothbards frühen Herztod im Jahre 1995 jäh ab. Intensiver war der Austausch mit Hans-Hermann Hoppe. Wie auch immer, mit vielen Ausgangsthesen von Rathbard und Hoppe konnte er sich, trotz weitgehender Einigkeit im Ziel einer fremdherrschaftsfreien Welt, nicht anfreunden. Radnitzky hielt seine kritisch-rationale Position aufrecht und lehnte den Apriorismus und naturrechtlichen Ansatz von Rothbard und Hoppe ab. Er konnte bei Rothbard und Hoppe kein Argument entdekken, das eine Dogmatisierung synthetischer Aprioris erlaubt hätte. Zwar glaubten weder Radnitzky noch Hoppe, daß einer den anderen überzeugen könnte, doch es gibt immerhin eine kleine publizierte Diskussion ihrer gegensätzlichen Positionen im ersten Band von „Values and the Social Order".11 Gleichwohl verdankte Radnitzky Rothbard eine wichtige Einsicht, nämlich die Erkenntnis, daß die entscheidende Frage einer freiheitlich verfaßten Gesellschaft - anders als er zunächst durch Hayeks Einfluß vermutet hatte - nicht lautet: „Ist die Gesellschaftsordnung spontan oder geplant?", sondern: „Ist sie freiwillig oder erzwungen?"12 Mit anderen Wor9

Wie viele andere auch war Radnitzky durch das 1985 erschienene Buch „The State" auf Anthony de Jasay aufmerksam geworden. 10 Und noch schwerer fällt es mir, solche Schlüsselereignisse durch Verweise auf Radnit^kys Schriften zu belegen. Radnitzky unterhielt zu den zentralen Thesen seiner Penaten eine Loyalität, die auch dann nicht abbrach, wenn er diesen Auffassungen nicht mehr (ganz) folgte. Seine Kritik, so er sie denn äußerte, spielte er gerne als letztlich unbedeutende Randbemerkung herunter. Insofern muß ich mir den Vorwurf, so er denn gemacht werden sollte, gefallen lassen, hier nur meinen (letztlich unüberprüfbaren) Eindruck wiederzugeben. 11 Hoppe (1995) und Radnitzky (1995); vgl. auch Bouillon (1998, S. 28 ff.). 12 Insofern klingt nicht nur der 3. Band von „Values and the Social Order", sondern auch der Titel des von Radnitzky (1997, S. 17 ff.) dazu verfaßten langen einleitenden Aufsatzes geradezu programmatisch: „Sorting social systems - Voluntary vs. coercive Orders".

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ten: Er erkannte, daß die Genese der Gesellschaftsordnung für die Frage nach der Charakteristik der Gesellschaftsordnung nicht entscheidend ist.

V.

Die Suche nach der Synarchie

Die Suche nach der Synarchie, der fremdherrschaftsfreien Welt, war im Falle Radtiit^kjs zugleich auch eine Abkehr vom Staat, gewachsen aufgrund einer zunehmenden Enttäuschung über die Gestalt, die dieser in der erlebten Geschichte annahm. Am Ende seines Lebens, gebeutelt von vier kollektivistischen und/oder diktatorischen Regimes, hatte Radnit^ky (2006, S. 327) nur noch vernichtende Kommentare für den Staat und dessen Akteure, die Politiker, übrig: „Den Staat definiere ich als diejenige Instanz, zu der es in einem bestimmten Territorium keinen Rekurs gibt. Er ist also eine Art stationärer Bandit. ... Die These der Libertarians, daß das größte Unheil vom Staat (verstanden als monopolistische Zwangsorganisation) ausgeht und daß der Staat ein Kriegstreiber par excellence ist, der durch seine ausfuhrenden Organe laufend Kriegsverbrechen begeht, hat durch die jüngste Zeitgeschichte reichlich Illustrationsmaterial erhalten. ... Das heißt, daß Wesen des Staates ist Gewalt, Raub, Eroberung - der Krieg ist sein Geschäft. ... Die Politiker sind gewissermaßen die Verkörperung der kriminellen Organisation, die wir „Staat" nennen. Sie sind eine sich-selbst-auswählende Gruppe (self-selected). Die schlimmsten unter den Zeitgenossen werden Politiker."

Und schließlich: „Meine Einstellung zum Staat, zu Kollektivismus und Etatismus, blieb jedoch mein ganzes Leben konstant. Kollektivismus und Etatismus ... blieben das Hassenswerte an sich, meine Hauptfeinde. ... gegenüber dem Staat meines derzeitigen Wohnlandes, der BRD, alias „DDR-Light" (Günter Zehm), empfinde ich nur Abstand bis Abscheu" (ebenda, S. 328 f.).

Aussagen wie diese mögen abgeklärt, ja verbittert klingen. Wie auch immer, sie dokumentieren, daß die Politische Philosophie zu einer sehr persönlichen Angelegenheit für Gerard Radnit^ky wurde — zumindest am Ende seines Lebens. Doch die Ursachen für Radnit^kys Abkehr vom Klassischen Liberalismus, der am Staat als Ordnungsinstanz festhielt, ist nicht nur in der zunehmenden persönlichen Abscheu vor der Einrichtung Staat zu suchen, sondern auch in den Konstruktionsfehlern des Staates und in den strukturellen Fehlern der Politik als solchen. Wenn Politik verstanden wird als Methode, nach der in einer nicht vollkommen konsensualen Gemeinschaft Entscheidungen von einigen für andere getroffen werden, dann — so könnte man Radnit^kys Auffassung kurzfassen — besteht das Problem nicht darin, wie die Politik ist, sondern darin, daß sie ist. Politik ist per se (und die Demokratie, als eine ihrer Spielarten, im besonderen) eine Einladung an einige, auf Kosten der Freiheit anderer, Entscheidungen durchzusetzen - eine Einladung, die, wenn überhaupt, nur selten ausgeschlagen wird. Darin besteht das moralische Grundproblem der Politik.13 Die Mißbrauchsmöglichkeit der Politik beruht letztlich auf dem künstlichen Gewaltmonopol des Staates, in dem die Politik stattfindet. In einem seiner letzten großen Aufsätze hat sich Radnit^ky (2002a, S. 145 ff.) dieser Thematik ausführlich gewidmet. Dort analysiert

13 "State coercion is used to impose the will of some on all, including on those who would reject it if they could. This is the moral problem of poütics, any poütics" Rainit^ky (1999, S. 341).

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er die Kriegslüsternheit (Bellikosität) der Demokratie als Ausdruck eines solchen Mißbrauchs und Verstoßes gegen die individuelle Freiheit. Die mit dem Klassischen Liberalismus verhaftete Auffassung, daß der Staat trotz all seiner ihm innewohnenden Übel letztlich notwendig sei, um die individuelle Freiheit zu wahren, hielt er — unter dem Einfluß von Anthony de Jasay — für falsch: „Mein Freund Anthony de Jasay hat es in seinem Buch Against Politics von 1997 unübertrefflich prägnant formuliert: „Der Staat ist etwas Aufgezwungenes, eine Zumutung (an imposition): manchmal nützlich, manchmal ein Mühlenstein, immer kostspielig, niemals legitim und - entgegen dem, was allgemein geglaubt wird - keine notwendige Bedingung für bindende Verträge" (Radnitzky 2006, S. 83).

Radnit^ky (ebenda, S. 333) glaubte: „Die Grundkonventionen Eigentum und Vertrag genügen, um eine Sozialordnung aufzubauen und zu erhalten. Wenn die Vertragskonvention hält, lassen sich auch andere Konventionen darauf aufbauen. Es zeigt sich, daß eine „geordnete Anarchie" (ordered anarchy, Anthony de Jasay) möglich und damit der Staat überflüssig ist."14

Diese geordnete Anarchie (oder Synarchie) strebte er an und versuchte Argumente zu finden, die den rationalen Akteur überzeugen könnten, für diese Option einzustehen. Dabei schloß er sich Jasays Auffassung an, daß zwischen Rechten und Grundfreiheiten (rights and liberties) zu unterscheiden sei.15 „Der Ausdruck »Recht« wird so oft mißbraucht für Anrechte, das heißt für die von den Machthabern zur Zeit gewährten Forderungen, für ein verbreitetes Anspruchsdenken, das man mit ihm vorsichtig umgehen muß. Wenn A ein bestimmtes Recht hat, dann gibt es einen ß, der eine entsprechende Obligation hat, zugunsten des A bestimmte Handlungen auszuführen. Die Beweislast liegt bei demjenigen, der behauptet, er habe ein bestimmtes Recht. Er kann das beweisen, indem er einen entsprechenden Vertrag mit B vorweist" (ebenda, S. 330).

Für Grundfreiheiten lägen die Dinge anders, so Radnitzky. Dennoch gebe es gute Gründe, die Grundfreiheiten unangetastet zu lassen. Zum einen führte er zur Begründung Argumente ins Feld, die in Anlehnung an Hayek hervorhoben, daß Gesellschaften, die Vertragstreue und Respekt vor Eigentum zu ihren zentralen Werten rechnen, sich bewährt und große Aussichten auf Fortbestand haben (Radnitzky 2002, S. 346 ff.). Neben solchen moralphilosophischen Überlegungen war sein wichtigstes Argument logischer Natur. Er entwickelte es in Anlehnung an die Falsifikationsidee Kart Poppers. Ausgangspunkt seiner Überlegung war dabei - einmal mehr — ein Ansatz von Anthony de Jasay. Dieser plädierte im Zweifelsfall für die Freiheit analog der im Rechtswesen standardisierten Unschuldsvermutung in dubio pro reo. Radnitzky erweiterte diesen Gedanken, indem er auf die Analogie zur Verifikation und Falsifikation in den Wissenschaften hinwies. Laut Popper können empirisch-wissenschaftliche Theorien nicht bewiesen (verifiziert) werden, weil die Liste der möglichen Widerlegungen offen und somit abzählbar unendlich ist. So ist 14 Und in der daher dazugehörigen Fußnote heißt es: „Der „Klassiker" auf diesem Gebiet ist Anthony de Jasays Buch von 1997 Against Politics. On Government, Anarchy, and Order." 15 Naturrechtstheorien, mit denen man Rechte aus der Natur des Menschen oder - wie im Falle Retbbard und Hoppe - aus den praktischen Erfordernissen der Lebenserhaltung ableiten zu können glaubt, und die damit herhalten sollen, normative Sätze aus deskriptiven Sätzen zu generieren, hielt er bestenfalls für dubios, da sie gegen Humes Sein/Sollen-Distinktion verstießen, derzufolge es deshalb logisch unmöglich ist, Sollen-Sätze aus Ist-Sätzen abzuleiten, weil dies hieße, mehr für die Konklusion anzunehmen, als die Prämissenmenge enthält.

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z. B. die Liste möglicher Widerlegungen der Theorie „Alle Schwäne sind weiß" offen. Sie ist zwar auch endlich (in einem absoluten Sinne), aber für uns Menschen abzählbar unendlich. Mit anderen Worten: Wir können es in unserem Leben nicht schaffen, alle möglichen Widerlegungen zu zählen oder gar zu testen. Das heißt, es ist logisch und somit auch praktisch unmöglich16, die Wahrheit einer empirischen Theorie zu beweisen. Zur Widerlegung (Falsifikation) braucht es indes nur ein Gegenbeispiel.17 Insofern scheint es nur recht und billig, von den Verfechtern einer für den betrachteten Zeitraum bewährten und somit unproblematischen Theorie nicht das Unmögliche (nämlich den Beweis der Wahrheit ihrer Theorie) zu verlangen, sondern diese so lange als unproblematisch zu betrachten, bis jemand mit einer Falsifikation aufwarten kann. Der Ball ist also bei dem, der die bewährte Theorie in Frage stellt. Ahnliches gilt laut Radnit^ky auch für die sogenannten Grundfreiheiten. Grundfreiheiten umfassen für ihn all jene HandlungsSpielräume der Individuen, für die in der jeweils geltenden Sozialordnung keine Einschränkungen vereinbart sind. Die Annahme solcher Grundfreiheiten widerspiegelt sich z.B. in der Behauptung einer Person A, frei zu sein, bestimmte Handlungen auszuführen. Man kann diese Behauptung auch als Theorie formulieren: „Alle meine Handlungen, gegen deren Durchführung in der geltenden Sozialordnung keine Einwände vorliegen, sind frei." Laut Radnit^ky stellt dieser Fall ein Analogon zum oben genannten Fall empirischer Theorien dar. Insofern sei auch Entsprechendes zu fordern. „Die Beweislast liegt bei demjenigen, der verneint, daß A — oder eine beliebige Person - eine bestimmte Grundfreiheit habe, der verneint, daß eine x-beliebige Person frei sei zu handeln, solange gegen diese Art von Handlung keine in der relevanten Sozialordnung gültigen Einwände vorliegen. Der Gegenredner hat die Aufgabe, gegebenenfalls solche Einwände vorzubringen. Damit kann er seine Behauptung verifizieren. Der Handlungswillige dagegen kann den Einwand des Gegenredners nicht falsifizieren, wenn - wie es normalerweise der Fall ist - die Liste der gültigen Einwände offen und daher abzählbar unendlich ist. Denn dann ist es logisch unmöglich, B's Einwand zu falsifizieren. Deshalb muß ein rationaler Gesetzgeber die Beweislast dem Gegenredner auferlegen" (Radnii^fy 2006, S. 330 f.).

Radnit^ky wußte natürlich, daß die Welt nicht mit rationalen Gesetzgebern gesegnet ist. Er verstand sich nicht als Weltverbesserer. „Das ganze Leben war ich lieber Beobachter als Akteur" (ebenda, S. 25). Der Beobachter Radnit^ky war am Erkennen der Welt, nicht am Verbessern ihrer Menschen interessiert. „Fortschritt gibt es, aber nur im wissenschaftlichen und technischen Bereich. Einen Sinn kann dem Leben nur das Individuum selbst geben" (ebenda, S. 330). Und dies zu tun — nach eigenen Anschauungen und Werten — betrachtete er als Privatsache eines jeden Einzelnen, in die sich einzumischen niemand ein Recht, aber zu respektieren jeder die Pflicht habe.

16 Sollen impliziert können. D. h., man kann rational von anderen nur solche Handlungen verlangen, die sie ausfuhren können. 17 Genauer gesagt: Es braucht für eine Falsifikation nur einen Basissatz, der mit der Theorie in Widerspruch steht und als weniger problematisch erachtet wird als diese. Die Aussage „Am 16. Mai 1934 stand ein schwarzer Schwan zwischen 10 und 11 Uhr morgens vor dem Denkmal der Kaiserin Elisabeth im Volksgarten in Wien" wäre ein solcher Basissatz. Vgl. dazu Popper {1989, S. 83 ff.).

Von der spontanen Ordnung zur geordneten Anarchie. In memoriam Gerard Radnitzky

191

Literatur Bouillon, Hardy (1998), Libertärer Anarchismus - eine kritische Würdigung, Aufklärung und Kritik, 5. Jg., Sondernummer, S. 28-40. Bouillon, Hardy (2006), Gerard Radnitzky: Vom Wissenschaftstheoretiker zum Politischen Philosophen, Aufklärung und Kritik, 13. Jg., Heft 2, S. 206-216. Hoppe, Hans-Hermann (1995), Commentary on Radnitzky, in: Gerard Radnitzky and Hardy Bouillon (eds.), Values and the Soäal Order, Vol. 1: Values and Soäety, Aldershot, pp. 179-188. Popper, Karl (1989), Falsifizierbarkeit, zwei Bedeutungen von, in: Helmut Seiffert und Gerard Radnitzky (Hg.) Handlexikon %ur Wissenschaftstheorie, München, S. 82-86. Radnitzky, Gerard (1968), Contemporary Schools of Metasäence, Göteborg. Radnitzky, Gerard (1982), Das Verhältnis von individuellen Freiheitsrechten und Sozialrechten: Zeitgeist im Zeichen des Fetisch der Gleichheit, in: Lothar Bossle und Gerard Radnitzky (Hg.), Selbstgefährdung der offenen Gesellschaft, Würzburg, S. 63-126. Radnitzky, Gerard (1983), Über die Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie für die politische Philosophie, Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste, Bd. 4: Sudetendeutsche Traditionen in der Theologie, Ethik und Pädagogik, München, S. 121-145. Radnitzky, Gerard (1984), Die ungeplante Gesellschaft: Friedrich von Hayeks Theorie der spontanen Ordnungen und selbstorganisierenden Systeme, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialpolitik, 29. Jg., S. 9-33. Radnitzky, Gerard (1989a), Definition, in: Helmut Seiffert und Gerard Radnitzky (Hg.), Handlexikon %ur Wissenschaftstheorie, München, S. 27-33. Radnitzky, Gerard (1989b), Explikation, in: Helmut Seiffert und Gerard Radnitzky (Hg.), Handlexikon %ur Wissenschaftstheorie, München, S. 73-80. Radnitzky, Gerard (1995), Reply to Hoppe - On Apriorism in Austrian economics, in: Gerard Radnitzky and Hardy Bouillon (eds.), Values and the Social Order, Vol. 1: Values and Soäety, Aldershot, pp. 189-194. Radnitzky, Gerard (1997), Sorting social systems - Voluntary vs. coercive orders, in: Gerard Radnitzky (ed.), Values and the Soäal Order. Vol. 3: Voluntary versus Coeräve Orders, Aldershot, pp. 1776. Radnitzky, Gerard (1999), Against politics: Review article of Anthony de Jasay .Against Politics: On Government, Anarchy, and Order' (1997), Cato Journal, Vol. 19, pp. 339-344. Radnitzky, Gerard (2001), Die Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus und das Argument zugunsten der Freiheit, in: Dariusz Aleksandrowicz und Hans Günther Ruß (Hg.), Realismus - Disziplin — Interdissiplinarität, Amsterdam/Atlanta, S. 260-275. Radnitzky, Gerard (2002a), Das moralische Problem der Politik, Erwägen. Wissen. Ethik, 13. Jg., S. 345-358. Radnitzky, Gerard (2002b), Is democracy more peaceful than other forms of government?, in: Hans-Hermann Hoppe (ed.) The Myth of National Defense, Auburn, Al., pp. 145-212. Radnitzky, Gerard (2006), Das verdammte 20. Jahrhundert: Erinnerungen und Reflexionen eines politisch Unkorrekten, Hildesheim. Radnitzky, Gerard und Hardy Bouillon (eds.) (1995), Values and the Soäal Order, Vol. 1: Values and Soäety, Aldershot.

Zusammenfassung Dieser Essay ist ein Nachruf auf den im März 2006 verstorbenen, international renommierten Wissenschaftstheoretiker und Sozialphilosophen Gerard Radnitzky. Im Mittelpunkt stehen zweierlei: zum einen Radnit^kys Wandlung vom klassisch liberalen Hayekianer zum strikten Libertären im Stile Anthony de Jasays und zum anderen die Gründe, die zu Radmt^

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Hardy Bouillon

kys Priorisierung der geordneten Anarchie gegenüber der spontanen Ordnung geführt haben dürften. In diesem Sinne ist der Nekrolog ein Versuch, Radnit^kys Entwicklung als Politischer Philosoph skizzenhaft nachzuzeichnen und als Wechselspiel darzustellen, das einerseits aus Radnit^kys stetem Bemühen um eine auf exakter Problemanalyse gründender Erkenntniserweiterung und andererseits aus den Kollisionen mit diversen Kollektivismen, denen der „gelernte Heimadose" ausgesetzt war, hervorging.

Summary: From spontaneous order to ordered anarchy. In memoriam Gerard Radnitzky This necrology is devoted to Gerard Radnitzky, the distinguished and widely renowned philosopher of science and political philosopher, who died, aged 84, in March 2006. It focuses on two things: firsdy, on Radnitt(ky\ gradual change from a HayeMan-type classical liberal to a strict libertarian in the style of Anthony de Jasay, and secondly, on the reasons that might have lead him finally to give priority to ordered anarchy over spontaneous order. Against this background, the obituary tries to sketch Radnit^kfs development as political philosopher and argues that this process is the result of an interplay, namely an interplay of his endless endeavour to promote knowledge based on a precise problem analysis on the one hand and his collisions with collectivism of all sorts that he had experienced in his lifetime as a "learned displaced person" on the other hand.

ORDO • Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Lucius & Lucius, Stuttgart 2007) Bd. 58

Reinhold Veit +

Karl Friedrich Maier (1905 -1993) Theoretiker des allgemeinen Gleichgewichts und der MikroÖkonomie* Inhalt I. Lebensweg 193 II. Gleichgewicht als Koordination einzelwirtschaftlicher Pläne 196 III. Forschung 201 1. Goldwanderungen über Landesgrenzen: der Fall Frankreich 1928 - 1930..201 2. Mikro-ökonomische Geldtheorie 203 3. Mikro-ökonomische Zinstheorie 206 4. Konjunkturtheorie 208 5. Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsablauf 210 IV. Bibliographie Karl Friedrich Maier 211 Literatur

212

Zusammenfassung

214

Summary: Karl Friedrich Maier (1905-1993) A Master of General Equilibrium and Micro-Economic Analysis

215

I.

Lebensweg

Karl Friedrich Maier kam 1929 nach Freiburg, zu einer Zeit, als Walter Euchen junge, begabte Wissenschaftler ermutigte, sich der ökonomischen Theorie zuzuwenden und sie neu zu beleben. Seit Jahrzehnten hatte in Deutschland die jüngere historische Schule der Nationalökonomie, angeführt von Gustav Schmoller, dem theoretischen Denken kaum noch einen Raum gelassen. „ ... Schmoller [wußte] nichts mit dem abstrakten Denkapparat der nationalökonomischen Theorie anzufangen. Er sah nicht, daß ohne dessen Verwendung keine wahren Erkenntnisse über die Zusammenhänge der wirtschaftlichen Wirklichkeit er-

*

Karl Friedrich Maier wurde am 21. Mai 1905 in Schramberg (Württemberg) geboren; er starb dort am 18. April 1993. Der folgende Aufsatz ist die erweiterte Fassung des Vortrages, gehalten anläßlich einer Feierstunde, die das Walter Eucken Institut auf Initiative seines Direktors, Professor Dr. Viktor Vanberg, am 27. Juni 2005 im Haus zur lieben Hand in Freiburg i. Br. veranstaltet hat. Eine kurze, in Teilen ähnliche Würdigung des Werkes von K. F. Maierist zu seinem 75. Geburtstag in Ordo erschienen (Veit 1980).

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zielbar sind."1 Theoretisch begabte Wirtschaftswissenschaftler, zu denen Karl Friedrich Maier zählte, fanden damals in Freiburg eine ideale Stätte der Forschung. Im Vorwort zu seiner Habilitationsschrift bringt er seine Freude und seinen Dank zum Ausdruck, einem Kreis von Nationalökonomen und Wirtschaftsjuristen angehört zu haben, deren „gemeinsames Streben nach einer größeren und lebensnahen Wissenschaft... jene Atmosphäre geschaffen [hat], die, voll von Anregungen, die streng wissenschaftliche und besonders die theoretische Arbeit begünstigt und fördert" {Maier 1935, S. VI). K F. Maier hat hier die Forschungs- und Lehrgemeinschaft von Volkswirten und Juristen im Auge, die Walter Eucken, Hans Großmann-Doerth und Fran% Böhm im Wintersemester 1933/34 ins Leben riefen und von der das Denken in Ordnungen der später so genannten Freiburger Schule seinen Ausgang nahm. Walter Eucken drückt in seinem Werk „Die Grundlagen der Nationalökonomie" demselben Kreis seinen Dank für mannigfache Förderung aus: „Wissenschaftliche Freunde, mit denen ich häufig diskutierte, haben Erfassung und Durchdenkung der Probleme dieses Buches vielfach gefördert. Die einmalige Gemeinsamkeit eines in Freiburg entstandenen Arbeitskreises vereinte uns alle" (Eucken 1940, S. 300). Unter diesen Freunden nennt Walter Eucken auch K F. Maier. Die akademische Ausbildung K F. Maiers war im besten Sinne europäisch. Nach dem Besuch des Realgymnasiums in Stuttgart und kurzer praktischer Tätigkeit studierte er je zwei Semester an den Universitäten Neuchätel (Schweiz), Madrid und London (London School of Economics and Political Science). So erwarb er schon in jugendlichem Alter nicht nur grundlegende Kenntnisse in den Wirtschaftswissenschaften, sondern auch die Beherrschung der wichtigsten europäischen Sprachen. Nach weiteren drei Semestern an der Handelshochschule in Berlin legte er dort die Diplomprüfung für Kaufleute ab. Von Berlin führte ihn sein Weg an die Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, wo er weitere fünf Semester studierte und gleichzeitig eine Doktorarbeit über das Thema „Die Goldpolitik der Bank von Frankreich 1928 - 1930" anfertigte (veröffentlicht 1931). Sie wurde von Geheimrat Karl Diehl, der der rechtshistorischen Schule der Nationalökonomie angehörte, betreut. Korreferent dieser Arbeit war Walter Eucken. Er erkannte die hohe theoretische Begabung K F. Maiers und bewog ihn zur Abfassung einer Habilitationsschrift. Sie galt dem Thema „Goldwanderungen — Ein Beitrag zur Theorie des Geldes" und erschien 1935 als Band 4 der von Walter Eucken begründeten Schriftenreihe „Probleme der theoretischen Nationalökonomie"2. Nach seiner Habilitation sah K. F. Maier aufgrund der seit 1933 völlig veränderten politischen Verhältnisse in Deutschland davon ab, eine Lehrtätigkeit aufzunehmen. Er war kurze Zeit in der Wirtschaftsredaktion der „Frankfurter Zeitung" tätig und sodann im väterlichen Unternehmen Gustav Maier in Schramberg — einem mittelständischen Unternehmen der Papierverarbeitung, das er bis kurz vor seinem Tod leitete. Es gelang ihm, trotz der 1936

1 2

Böhm, Rucken und Großmann-Doerth (1936, S. XV). Sperrungen in den Zitaten sind kursiv gesetzt. Der Verleger war Gustav Fischer in Jena. Autor von Heft 1 dieser Reihe war Walter Bücken. Diese Schrift mit dem Titel „Kapitaltheoretische Untersuchungen" enthält eine einleitende Abhandlung zur Frage „Was leistet die naüonalökonomische Theorie?". F. W. Meyer bemerkt im Nachwort zur 2. Auflage der „Kapitaltheoretischen Untersuchungen": „ ... die Einleitung... gehört zu den schönsten Zeugnissen seines Geistes. Sie in der theoriefeindlichen Zeit nach 1933 zu veröffentlichen, war eine mutige Tat." (Meyer 1954, S. 334).

Karl Friedrich Maier (1905 - 1993)

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eingeführten Planwirtschaft, trotz schlimmer Kriegs- und chaotischer Nachkriegszeit das Unternehmen zu erhalten, zu modernisieren und später zu erweitern. Die zum Zeitpunkt der Währungsreform im Juni 1948 von Ludwig Erhard erkämpfte Freigabe der Preise behielt er zeidebens als befreiende Tat, die die Marktwirtschaft wieder ins Leben rief, in lebendiger Erinnerung. Die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Problemen, denen sich Unternehmer ständig gegenübersehen, die weitreichende Kenntnis des Wirtschaftslebens, vor allem der Märkte und ihrer stetigen Veränderung, ließen in Karl Friedrich Maier einen Erfahrungsschatz wachsen, den er zur Gewinnung allgemein gültiger theoretischer Erkenntnisse fruchtbar zu machen wußte. Dies verschaffte seinem Denken, gerade auch, wenn es sich um höchst abstrakte Theorie handelte, eine beeindruckende Wirklichkeitsnähe. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahm K F. Maier an der Albert-LudwigsUniversität in Freiburg als Dozent eine Lehrtätigkeit auf. 1953 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Seine Vorlesungen und Übungen hielt er regelmäßig am Freitag. Mit Walter Hucken und dessen Frau Edith Eucken-Erdsiek, bei denen er häufig freitags zu Gast war, verband ihn ein nahes, freundschaftliches Verhältnis. Anfang der fünfziger Jahre, nach dem allzu frühen Tod Walter Euchens im März 1950, haben Karl Friedrich Maier und Friedrich A. Lu% wie Edith Euchen im Vorwort zu dem posthum erschienenen großen Werk Walter Euchens, „Grundsätze der Wirtschaftspolitik", dankend zum Ausdruck bringt, durch „ständige Beratung" bei Herausgabe des Werkes „wertvollen Beistand" geleistet. Ohne ihre und die Hilfe des Mitherausgebers K Paul Hensel, sagt sie, wäre „die Herausgabe des Buches nicht möglich gewesen" (Edith Euchen 1952, S. VI). Als im Januar 1954 das Walter Eucken Institut gegründet wurde, gehörte Karl Friedrich Maier zu den Gründern. Gemeinsam mit Friedrich A. Lut^ mit dem er befreundet war, bestimmte und förderte er in völlig selbstloser Weise die vielfaltigen Aktivitäten des Walter Eucken Instituts, vor allem auf dem Gebiet der Forschung. Nachdem Friedrich A. Lut% 1953 einen Ruf an die Universität Zürich annahm und K Paul Hensel, damals Dozent an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, einem Ruf an die Philipps-Universität Marburg folgte, wirkte K F. Maier als einziger, Euchen besonders nahe stehender Schüler noch an der Universität Freiburg. Ohne ihn hätte das Forschungs- und Veranstaltungsprogramm des Walter Eucken Instituts nicht durchgeführt werden können. So ist vor allem K F. Maier zu danken, daß Freiburg durch das Walter Eucken Institut ein Ort geblieben ist, an dem im Geist und in der Tradition der Freiburger Schule wirtschaftswissenschaftliche und wirtschaftsrechtliche Forschung sowie das „Denken in Ordnungen" weiterhin gepflegt werden. Das Arbeitsfeld von K F. Maier war außerordentlich breit gefächert: Er war selbständiger Unternehmer, Forscher, Universitätslehrer und langjähriger wissenschaftlicher Leiter des Walter Eucken Instituts. Er wußte seine herausragende theoretische Begabung zu wissenschaftlichen Leistungen zu nutzen, die Beachtung verdienen.3 3

Nach der Erzählung seiner Frau äußerte Eucken im Familienkreis Bedauern über die Unternehmertätigkeit K F. Maiers und fugte mit dem ihm eigenen Humor hinzu, man müßte ihn in ein Kloster oder Gefängnis stecken oder seine Fabrik anzünden, damit er seinen Kopf ausschließlich der Wissenschaft widmen könnte.

196

Reinhold Veit

K F. Maier war eine außergewöhnliche Erscheinung, ein Mann von hoher Kultur. Sein Denken und Handeln war geleitet von den Grundsätzen einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Wie Walter Euchen besaß er die Gabe, in der Welt der Dinge wie in der geistigen Welt stets Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. Im Bilde von Archilochos: Der Fuchs weiß vieles, der Igel aber weiß, worauf es ankommt.

II.

Gleichgewicht als Koordination einzelwirtschaftlicher Pläne Ordnung ist kein Druck, den man von außen her auf die Gesellschaft ausübt, Ordnung ist Gleichgewicht, das in ihrem Inneren hergestellt wird. José Ortegay Gasset (1927/1955, S. 378)

The existence of general economic equilibrium demonstrates that the outcome of free choices by economic agents in a system of competitive markets results not in chaos but in order. Martin J. Beckmann (1990, S. 59)

Das Denken K F. Maiers ist, wie alle seine Analysen wirtschaftlicher Erscheinungen zeigen, durchdrungen von der Idee des „großen", allgemeinen Gleichgewichts4, das alle in den Wirtschaftsplänen der Einzelwirtschaften vorkommenden Größen umschließt. Das statische Gleichgewicht, das K. F. Maier seinen theoretischen Arbeiten zugrunde legt, ist ein Zustand, bei dem die zu erklärenden Größen oder abhängigen Variablen des wirtschaftlichen Systems — die Austauschverhältnisse oder Preise sämtlicher Güter und Leistungen und die von allen Einzelwirtschaften angebotenen und nachgefragten Mengen — bei Konstanz der unabhängigen Variablen oder Daten keiner Änderung mehr unterworfen sind; denn Gleichgewichtspreise sind Preise, bei denen auf wettbewerblichen Märkten die angebotenen und die nachgefragten Mengen auf jedem einzelnen Markt zum Ausgleich kommen, das heißt alle Märkte geräumt sind. Bei Störungen des Gleichgewichts durch Datenänderungen treten auf den Märkten Kräfte auf, die in einem dynamischen Anpassungsprozeß direkt oder indirekt ein neues Gleichgewicht hervorbringen. Der Gleichgewichtsgedanke steht seit den Klassikern der Nationalökonomie bei den meisten Ökonomen im Zentrum ihres theoretischen Arbeitens, handele es sich hierbei um die Analyse kurzfristiger oder langfristiger, partieller oder gesamtwirtschaftlicher Erscheinungen. Ohne das Instrument des Gleichgewichts hätte keine Theorie der Preise von Gütern und Leistungen der Produktionsfaktoren samt der den Preisen zuzuordnenden Mengen entwickelt werden können. Eine Vervollkommnung und klare Fassung der Idee des allgemeinen wirtschaftlichen Gleichgewichts erfolgte erst durch die Begründer der modernen Theorie der Nationalökonomie {Menger, Jevons, Walras), vor allem durch Léon Walras. Unter den Theoretikern des Gleichgewichts stand er mit seinen Arbeiten K F. Maier wohl am nächsten. Das von Walras in seinem Werk „Éléments d'économie politique pure ou théorie de la richesse sociale" (Walras 1874) veröffentlichte System simultaner Gleichungen zur Gewinnung aller Gleichgewichtspreise und -mengen von Gütern und Leistungen schuf die Grundlage zu einem

4

Zur Definition des „großen", allgemeinen Gleichgewichts bei K. F. Maier siehe nachfolgend S. 198.

Karl Friedrich Maier (1905 - 1993)

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umfassenden Bild der wirtschaftlichen Wirklichkeit. Sie wird in der Vielfalt ihrer Erscheinungen und der tausendfachen Verästelungen der zu erklärenden, abhängigen Variablen als ein höchst komplexes System von Preisen und der ihnen zuzuordnenden Mengen dargestellt, wenngleich im Lichte höchst abstrakter mathematischer Form.5 Mit diesem Gleichungssystem vermochte Walras die allseitige Interdependenz der Elemente oder Teile der wirtschaftlichen Wirklichkeit und ihre Verknüpfung untereinander durch die Preise sichtbar zu machen. Walras ist, wie Schumpeter (1954, S. 242) sagt, als eigentlicher Entdecker dieser Interdependenz anzusehen. Das von Walras entworfene und von der Lausanner Schule, insbesondere von Pareto weiterentwickelte System, das Schumpeter (ebenda) als die Magna Carta der Wirtschaftstheorie bezeichnet, zeigt jedoch nicht nur die Interdependenz aller in ihm enthaltenen Elemente auf, es stellt überdies die wirtschaftliche Welt ihrer Natur entsprechend als eine Ganzheit und in einer Vollkommenheit dar, die kein anderer Versuch dieser Art vor und nach ihm erreicht hat. Das Gleichungssystem von Walras zeigt, so möchte man mit Faust in der Geisterszene sagen: „Wie alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt." Alle wirtschaftlichen Erscheinungen erklären sich, wie K. F. Maier sagt, letzten Endes aus der Beschaffenheit der Daten, den unabhängigen Variablen des Systems, die vom Theoretiker nicht mehr zu erklären sind: „Die Daten bilden gleichsam einen Kranz und was er an wirtschaftlichen Erscheinungen umschließt, ist das Untersuchungsobjekt der ökonomischen Wissenschaft" {Maier 1935, S. 65).6 Walter Hucken definiert in seinem klassischen Werk „Die Grundlagen der Nationalökonomie" die Daten als „diejenigen Tatsachen, die den ökonomischen Kosmos bestimmen, ohne selbst unmittelbar von ökonomischen Tatsachen bestimmt zu sein. An den faktischen, gesamtwirtschaftlichen Daten endigt die theoretische Erklärung" (Euchen 1940, S. 184). Der Zweck des Arbeitens mit Daten ist es, aus der unendlichen Fülle der Wirklichkeit einen Ausschnitt zu bilden, ihn von anderen Wirklichkeitsbereichen abzugrenzen, um ihn mit Hilfe der Theorie einer Erklärung zugänglich und damit allgemeine Züge der Wirklichkeit sichtbar zu machen, die bei unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung dem Beobachter verborgen bleiben. Unsichtbares zu entdecken und sichtbar zu machen ist die wesentliche Aufgabe wirklicher Wissenschaft — nicht nur der Naturwissenschaften (vgl. dazu Villey 1955, bes. S. 34 f. und auch Heisenberg 1989, S. 45 ff.). K F. Maier unterscheidet wie später Euchen (1938, 1940) zwischen gesamtwirtschaftlichen und einzelwirtschaftlichen Daten. Jene bestehen, wie bekannt, aus den Bedürfnissen, den verfugbaren Mengen der drei Arten von Produktionsfaktoren, dem technischen Wissen sowie der rechtlichen und sozialen Ordnung. Sie bilden den „Datenkranz", den äuße5

6

Pareto würdigt diese theoretische Leistung mit den Worten: „C'est Léon Wakas qui, le premier, a trouvé un des ces systèmes d'équation, celui qui se rapporte au cas de libre concurrence. Cette découverte est capitale et l'on ne saurait trop priser le mérite de ce savant" (Pareto 1902, zitiert nach Gide et Rist (1922), p. 635, n. (2)). Das von Walras 1874 veröffentlichte Gleichungssystem ist wiedergegeben von Stigler (1952, S. 290-295). Es ist später von Walras und anderen in vielfacher Weise ergänzt und erweitert worden. K F. Maier zitiert an dieser Stelle Böhm-Bawerk: „Die theoretische Erklärung leistet alles, was einer theoretischen Erklärung überhaupt zuzumuten ist, und endigt erst an ,Daten', deren eigene weitere Erklärung nicht mehr Sache der ökonomischen Theorie ist" (Böbm-BawerM 1912, S. 209). Vgl. auch Lut% (1932, S. 65 f. und S. 167 f.), ferner Keynes (1936, ch. 18).

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ren Rahmen, innerhalb dessen der Wirtschaftsprozeß in einer Verkehrs- oder Marktwirtschaft über Angebot und Nachfrage auf den Märkten und über die sich daraus ergebende Preisbildung für Güter und Leistungen abläuft. Bei Betrachtung des Wirtschaftssystems als Ganzes sind die angebotenen und die nachgefragten Mengen sowie die Preise die gesuchten abhängigen Variablen. D e n Einzelwirtschaften hingegen sind bei der Aufstellung ihrer Wirtschaftspläne bei Wettbewerb auf den Märkten die Preise als Daten vorgegeben, stellen demnach, neben den einzelwirtschaftlichen Anteilen an den gesamtwirtschaftlichen Daten, für sie unabhängige G r ö ß e n bei Ermittlung der abhängigen Variablen ihrer Pläne dar. K, F. Maier (1935, S. 67 f.) sagt dazu: „Diese Preise spiegeln für jede Einzelwirtschaft die Mengendispositionen aller anderen wider, sei es, daß es sich um die Beziehungen zwischen Konkurrenten oder zwischen Käufern und Verkäufern handelt. Dieser ,Index der Dispositionen aller anderen' hat zur Wirkung, daß bei der Aufstellung des eigenen Wirtschaftsplanes alle übrigen berücksichtigt werden, er bewirkt ... die Koordination aller Einzelpläne ... ."7 „Anstatt von der Koordination der Einzelpläne zu sprechen, kann man, den Gedankengang umkehrend, sagen, die Preise seien die Injektion der äußersten Grenzen der Verkehrswirtschaft, also der Daten, an die Grenzen der Einzelwirtschaft, an den Stellen, wo sie die Daten nicht unmittelbar berührt, und zwar unter gebührender Berücksichtigung aller anderen Einzelwirtschaften." Uber die „steuernde K r a f t des Preissystems" oder, wie Fran^Böhm zutreffend sagt, des „Signalsystems"

8,

(1966, S. 91 ff.) sehr

bestehend aus Myriaden v o n Einzelpreisen, erfolgt

die Zusammenfügung oder die Koordination der einzelwirtschaftlichen Pläne v o n Millionen Unternehmen und Haushalten zu einem „Netz v o n Teilplänen", „so daß ein großer, v o n den sechs Daten des Systems bestimmter Gesamtplan sich ergibt" (Maier 1948, S. 75). Die vollständige Koordination oder Übereinstimmung aller einzelwirtschaftlichen Pläne ist gleichbedeutend mit dem, wie K F. Maier

sagt, „großen" Gleichgewicht, das „alle öko-

nomischen Tatsachen" umfaßt und durch die Eigenschaft gekennzeichnet ist, „daß alle Produktivkräfte in die für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse wichtigsten Verwendungen geleitet sind in dem Rahmen, den die rechtliche und soziale Ordnung und das technische Wissen stecken" (Maier 1 9 4 8 , S. 72). Und ferner (ebenda, S. 73): „Es ist ein großartiges Bild, dieses Gleichgewicht von Millionen von unabhängig scheinenden Einzelkräften, die in den verschiedensten Stärken und Richtungen auftreten, dieses Gleichgewicht, das sich in automatischem Prozeß sofort neu bildet, wenn es durch eine Datenänderung gestört wurde, in einem Prozeß,

7

Walter Eucken zitiert diesen Satz — seiner Bedeutung wegen — in „Nationalökonomie — wozu?" (Euchen 1938,2. Aufl. 1947, S. 41 f.). 8 Böhm nennt das Marktpreissystem, neben Sprache, Privatrecht und Geld, eines jener Signalsysteme, die „im Laufe ganzer geschichtlicher Zeiträume ... ohne Zutun bewußter menschlicher Einsicht durch unbewußt intelligentes Alltagsverhalten zahlloser Generationen von Individuen zurechtgeschliffen und zurechtpoliert worden sind" (Böhm 1966, S. 91). Bei F. A. v. Hayek findet sich der Ausdruck „Signalsystem" in der Vorbemerkung zum Aufsatz „Der Strom der Güter und Leistungen". Er führt aus: „In jenen Vorträgen [an der London School of Economics 1931, veröffentlicht unter dem Titel „Preise und Produktion"] verwendete ich auch erstmals, was dann das Leitthema der meisten meiner späteren Werke wurde, nämlich eine Analyse der Signalfunktion der Preise bei der Lenkung der Produktion; ein Konzept, das ich ein paar Jahre später in meiner Ansprache als Präsident des London Economic Club über ,Wirtschaftstheorie und Wissen' [erschienen 1937 mit dem Titel „Economics and Knowledge", Hayek 1937b] zum ersten Mal systematisch entwickelte. Seitdem ist es immer mehr zum Mittelpunkt meines Denkens über ökonomische Theorie geworden" (Hayek 1984/2001, S. 162 f.).

Karl Friedrich Maier (1905 - 1993)

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der theoretisch auch den entferntesten Punkt des Systems berührt und in dem gleichzeitig mit der Störung die zum neuen Gleichgewicht führenden Gegenkräfte wirksam werden."

Im Blick auf ordnungs- und gesellschaftspolitische Sachverhalte fuhrt K F. Maier (1950, S. 21 f.) Klage darüber, daß „Millionen von Menschen, Mehrheiten in großen Völkern, ... sich zurückgeworfen [fühlen] ... auf eine Wirtschaftsordnung, gegen die sie Ressentiments haben und deren Grundgesetze sie nicht verstehen; sie können nicht sehen, daß in einem sozialen Prozeß, den niemand erdacht hat, und der ebenso bewundernswert ist wie andere Erscheinungen der Natur, ein Maximumproblem gelöst wird, das von keinem noch so genialen menschlichen Verstand zu bewältigen wäre; sie können deshalb kein Vertrauen in die gleichgewichtsstrebenden Kräfte dieser Wirtschaftsordnung haben und sie können nicht wissen, daß Gleichgewicht bei Wettbewerb vielleicht die beste Art von sozialer Gerechtigkeit ist."

Der von K. F. Mater geprägte Begriff der „Koordination der Einzelpläne"9 sollte Schule machen. Er ist zu einem Schlüsselbegriff der Ablaufs- und Ordnungstheorie geworden und findet sich vielfach in den Schriften der Autoren der Freiburger Schule. Walter Eucken stellt ihn in seinem Werk „Die Grundlagen der Nationalökonomie" (1940, S. 105) in den Mittelpunkt seiner systemtheoretischen Überlegungen. Frati% Böhm spricht im Falle eines dezentral, von Preisen gesteuerten Wirtschaftssystems mehrfach von einem „Koordinierungsverfahren" oder von „Koordinationsordnung".10 Leonhard Miksch (1948, 1950) bezeichnet die Koordination der einzelwirtschaftlichen Pläne durch die Preisbildung auf wettbewerblichen Märkten als „innere Koordination", die zentrale Lenkung des Wirtschaftsprozesses durch Befehl oder Zwang als „äußere Koordination". F. A. Lut% (1965/1971, S. 30) bemerkt, daß „die Neoliberalen wie die Altliberalen ... eine auf dem Koordinationsprinzip und nicht, wie die zentralgeleitete Wirtschaft, auf dem Subordinationsprinzip beruhende Wirtschaftsordnung [wollen]." Auch bei F. A. v. Hayek findet sich die Vorstellung der Koordination der einzelwirtschaftlichen Pläne in verschiedenen Schriften sowie bei Definition des Gleichgewichts in seinem Sinne.11 Gegen die Idee eines allgemeinen Gleichgewichts und die mit ihr verbundene Art, wirtschaftliche Erscheinungen zu analysieren, wurden zahlreiche Einwände erhoben. Die Kritik an der Theorie des allgemeinen Gleichgewichts richtet sich meist gegen ihren hohen Abstraktionsgrad, ihren mathematischen Formalismus und ihren statischen Charakter, vor allem aber gegen die zentrale Idee des Gleichgewichts an sich, ja gegen die Eignung der neoklassischen Theorie zur Erklärung der wirtschaftlichen Wirklichkeit überhaupt. 9

„... auf das Problem der Koordination der Einzelpläne' hat zuerst K. F. Maier (Goldwanderungen, 1935) aufmerksam gemacht" (Böhm 1957, S. 110). Zur Frage der Koordination verweist Böhm an dieser Stelle auf seinen Aufsatz „Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung" (Böhm 1950b, S. 11 ff.). 10 Z. B im Prolog zu ORDO, Band 3 (Böhm 1950a) über „Die Idee des Ordo im Denken Walter Euckens"; ferner in seinen Aufsätzen „Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft" (Böhm 1966) und „Wirtschaftsordnung und Geschichtsgesetz" (Böhm 1971). 11 Vgl. dazu seine Ausfuhrungen in der Abhandlung „Rechtsordnung und Handelnsordnung". Hayek (1967/2003, S. 41) sagt: „Die ökonomische Theorie hat den Idealfall einer ... Ordnung, in der alle bestehenden Erwartungen wenigstens erfüllt werden könnten (weil sie nicht miteinander im Widerspruch stehen), als das Marktgleichgewicht bezeichnet." In der anschließenden Anmerkung führt Hayek aus: „Diese Definition des wirtschaftlichen Gleichgewichts findet sich scheinbar zum ersten Mal ausdrücklich ausgesprochen in meinem Vortrag aus dem Jahre 1936, „Economics and Knowledge" [Hayek 1937b]. Grundsätzlich dieselbe Idee liegt aber auch K. F. Maiers Behandlung des Problems der .Koordination der Einzelpläne' (Goldwanderungen, Jena 1935, insbes. S. 67) zugrunde, die dann durch Walter Euckens Schriften weite Verbreitung erlangte."

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Kritiker sollten bedenken, daß die Theorie des allgemeinen Gleichgewichts die einzige Theorie ist, die eine Erklärung der Einzelpreise sämtlicher Güter und Leistungen ermöglicht. Sie erkennen oft nicht, daß die von Haushalten und Betrieben gänzlich selbständig, eigenverantwortlich und in voller Freiheit entsprechend ihrer jeweiligen Datenlage erstellten Wirtschaftspläne über die Preise koordiniert werden und daß die Preise bei Wettbewerb auf den Märkten überdies die verfügbaren Produktionsfaktoren ihrer Knappheit und den einzelwirtschaftlichen Plänen gemäß in die günstigsten Verwendungen steuern (vgl. hierzu u. a. Bosch, Kos/owski und Veit 1990). Den Gelehrten der Freiburger Schule war die Idee des Gleichgewichts als Grundlage der Preistheorie Mittelpunkt ihres Denkens. Die Preise bilden als „Preis- oder Signalsystem", an dem sich das Handeln der Wirtschaftsbeteiligten auszurichten gehalten ist, das entscheidende Instrument, dem gesamten Wirtschaftsprozeß und allen seinen Teilen eine zureichende Lenkung zur bestmöglichen Überwindung der allseitigen Knappheit an Gütern und Leistungen zu geben; dies gilt, sofern ein System allgemeiner Regeln verwirklicht ist, das Wettbewerb auf sämtlichen Märkten gewährleistet. Man kann das System der Preise, die sich auf wettbewerblichen Märkten bilden, als unsichtbare Hand — sichtbar zwar in Teilen, nicht aber im Ganzen — verstehen. Die Preise als Anzeiger der Knappheit von Gütern und Leistungen rufen die Kräfte hervor, die alle Teile der Wirtschaft zusammenfügen und zusammenhalten. Das Preissystem erzeugt so eine allumfassende Ordnung. Die zentrale Rolle, die Euchen und seine Mitstreiter dem Preissystem bei der Steuerung des Wirtschaftsprozesses und dem Wettbewerb bei der Gestaltung der Wirtschaftsordnung als einer Ordnung des Gleichgewichts beilegten, mögen Zitate von Fran% Böhm und Walter Hucken erhellen. Fran^Böhm (1971, S. 36) sagt: „Die großen ökonomischen Klassiker haben durch ihre Entdeckung des Marktmechanismus ... es möglich [gemacht], die Aufgabe der Steuerung eines so unübersehbaren Sozialvorgangs, wie es eine funktionenteilige Volkswirtschaft ist, eine Aufgabe also, die ihrer Natur nach eine politische Führungsaufgabe ist, aus den Regierungszuständigkeiten herauszulösen und einem automatisch arbeitenden Signal- und Kontrollverfahren, dem Marktpreissystem anzuvertrauen und die Aufgabe der Unternehmensplanung in die autonome Zuständigkeit von der Privatrechtsordnung unterworfenen Privatpersonen zu verlagern (Gewerbefreiheit)."

Und Walter Hucken sieht in der Herstellung eines funktionierenden Preissystems vollständiger Konkurrenz „die Kernfrage der modernen Wirtschaftspolitik" {Euchen 1952, S. 254) und betont (ebenda, S. 255): „Die Hauptsache ist es, den Preismechanismus funktionsfähig zu machen. Jede Wirtschaftspolitik scheitert, der dies nicht gelingt. Das ist der strategische Punkt, von dem aus man das Ganze beherrscht und auf den deshalb alle Kräfte zu konzentrieren sind: Beharren auf der Bedeutung der Schlüsselstellung - das ist für die Wirtschaftspolitik ebenso wichtig, wie für die Strategie. Hier liegt unser ,Toulon'."12

12 In einer Anmerkung erläutert Euchen (1952, S. 255) unter Bezugnahme auf einen Essay seiner Frau Edith Eucken-Erdsiek (1950, S. 69 f.): „'Hier liegt Toulon!', wiederholte Napoleon hartnäckig, indem er - statt auf die Stadt Toulon - auf die Mündung der Reede wies, die die Schlüsselstellung für die Eroberung Toulons bildete. Und errang so seinen ersten großen Sieg."

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III. Forschung Als ein Ziel seiner Habilitationsschrift nennt K F. Maier (1935, S. V) „eine möglichst wirklichkeitsnahe und praktisch verwendbare Theorie ...; dieses Ziel stand mir, der aus der wirtschaftlichen Praxis zur theoretischen Forschung kam, stets vor Augen." Im Gegensatz zu manch anderem Theoretiker seiner Zeit sah er Theorie nie als Gedankenspiel, nie als Selbstzweck an, sondern als ein unentbehrliches Werkzeug, um die Wirklichkeit in ihren vielfaltigen Zusammenhängen zu erfassen. Er vollzog theoretische Untersuchungen deshalb nie in partieller oder gar nur punktueller Art; sein Blick war stets auf das Wirtschaftssystem als Ganzes gerichtet, handele es sich hierbei um den Wirtschaftsablauf oder um die Wirtschaftsordnung als Teil der Gesellschaftsordnung. Diese Sichtweise des Verhältnisses von Theorie und der zu untersuchenden Wirklichkeit stellt ein Charakteristikum der Freiburger Schule dar. Der so geartete Forschungsansatz bildet den ökonomischen Kern des programmatischen Geleitwortes von Böhm, Rucken und Großmann-Doerth zur Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft", erschienen 1936 mit dem Titel „Unsere Aufgabe" (vgl. hierzu Veit-Bachmann 2002). Die Arbeiten von K F. Maier zeichnen sich aus durch eine klare Problemstellung, durch eine beispielhafte Genauigkeit in der Gedanken- und Beweisführung sowie eine klare Darbietung der Lösung des gestellten Problems. Die wichtigsten theoretischen Leistungen erbrachte er auf den Gebieten der Goldbewegungen über Landesgrenzen sowie der Geld-, Zins- und Konjunkturtheorie (vgl. dazu auch Veit 1980). Auf allen diesen Gebieten beschritt K. F. Maierneue Wege. Er befaßte sich ferner in einigen gehaltvollen, knapp abgefaßten Aufsätzen mit Fragen des Wirtschaftsablaufs und der Wirtschaftsordnung.

1. Goldwanderungen über Landesgrenzen: der Fall Frankreich 1928 -1930 Die von K F. Maier schon mit dreißig Jahren abgeschlossene Habilitationsschrift „Goldwanderungen" mit dem Untertitel „Ein Beitrag zur Theorie des Geldes" ist eine außergewöhnliche wissenschaftliche Leistung (Maier 1935).13 In dieser Untersuchung stellte er sich die Aufgabe, die Ursachen des mächtigen Goldstromes aufzudecken, der sich, nachdem Frankreich am 25. Juni 1928 de iure zur Goldwährung übergegangen war, in den folgenden zweieinhalb Jahren in dieses Land ergoß. Der Umfang des Zustroms „goldener Milliarden" nach Frankreich war absolut und relativ zur Größe des Landes „riesenhaft"; er betrug ca. 25 Mrd. Goldfranken, im Durchschnitt 10 Mrd. je Jahr. Die Aufdeckung der Ursachen dieses unter Goldwährungsländern und mitten im Frieden ungewöhnlichen Ereignisses war einer Untersuchung besonders würdig, zumal die Geschehnisse bereits in die ersten Jahre der großen Depression von 1929-1932 reichten. Unzufrieden mit dem vorgefundenen theoretischen Apparat zur Erklärung von Einfuhr- und Ausfuhrüberschüssen suchte K. F. Maier einen eigenen Weg zur Lösung des Problems. Bereits der Zugang war ungewöhnlich (S. 115):

13 Nachfolgende bloße Seitenangaben beziehen sich auf diese Schrift.

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„Da wir Wert auf Wirklichkeitsnähe und auch auf die Wahrung des Systemgedankens der modernen Theorie legen, haben wir das Problem nicht von der Güterseite her aufgerollt und die Geldwanderungen zu einem .Restposten' des internationalen Handels gemacht, sondern wir versuchten die Lösung von der Geldseite her."14

Indem K F. Maier Goldbewegungen „nicht als Ein- oder Ausfuhr der Ware Gold zum Ausgleich eines Saldos der Zahlungsbilanz auffaßt, sondern ... darin eine Sendung von Geld erblickt" (S. 21), eröffnet sich ihm die Möglichkeit, die Ursachen der Gold- und Geldbewegungen bei den Entscheidungen der Einzelwirtschaften über die Höhe ihrer Kassenbestände aufzudecken (S. 20 ff.). „Das Arbeiten mit dem einzelwirtschaftlichen Kassenbestand" nennt er das „eigentlich ... natürliche Verfahren für denjenigen, der auf dem Boden der modernen Theorie steht" (S. 25). Als Vorgänger erwähnt er Menger, Walras und andere. Bereits in dieser frühen Schrift verband K. F. Maier mit diesem Vorgehen das hochgesteckte Ziel, die nach seiner Meinung „immer noch fehlende Einordnung der Geldtheorie in die allgemeine Theorie" (S. V), d. h. in die Theorie des allgemeinen Gleichgewichts, einer Lösung näher zu bringen. Bausteine seiner mikro-ökonomischen Geldtheorie, die er im Wege der Grenzanalyse entwickelte (u. a. S. 82 ff.), sind die Offenlegung der Determinanten der Nachfrage nach Geld der einzelnen Betriebe und Haushalte, und zwar für Transaktionszwecke sowie für Hortungs- und Liquiditätszwecke, ferner die Bestimmung der Höhe des Kassenbestandes jeder Einzelwirtschaft im Gleichgewicht sowie die Analyse des Entstehens eines einzelwirtschaftlichen relativen Geldüberflusses oder -mangels.15 Diese Art der Analyse des einzelwirtschaftlichen Kassenbestandes sieht K F. Maier als Grundlage und zugleich als Schlüssel für die Erklärung der Geldbewegungen über Landesgrenzen hinweg an (S. 118): „Hat man die Bestimmungsgründe für die Höhe der [einzelwirtschaftlichen] Kassenbestände, so sind damit auch die Ursachen ihrer Veränderung gefunden. Die Folge einer Kassenbestandsänderung ist eine Ge/Wwanderung. Geldwanderungen zwischen Summen von Einzelwirtschaften, z. B Landesfe//««, sind die Folgen der summierten individuellen Kassenänderungen; und Go/iAvanderungen sind nichts anderes als Geldwanderungen zwischen verschiedenen Ländern, denn Gold ist nur eine der vielen Formen, welche das allen Goldländern gemeinsame Geld annehmen kann, nämlich die internationale Form."16

Nach Auffassung von K F. Maier ist die von ihm entwickelte Theorie bei entsprechender Modifikation auch geeignet, „andere Probleme des Geldwesens, wie sie z. B. Inflationen usw. stellen, zu lösen" (S. 123). Es wäre ein Irrtum, zu glauben, sie tauge nur zur Erklärung von Gold- oder Geldbewegungen über Landesgrenzen hinweg. Theorien müßten 14 Hier vollzog K F. Maier die Wende zu einem neuen zahlungsbilanztheoretischen Ansatz, den zwei Vertreter dieser sogenannten monetären Zahlungsbilanztheorie später wie folgt kennzeichnen: „The main characteristic of the monetary approach to the balance of payments can be summarised in the proposition that the balance of payments is essentially a monetary phenomenon" (Frenke/ and Johnson 1976, p. 21). Vgl. nachfolgend S. 203. 15 Die beiden Begriffe relativer Geldüberfluß bzw. relativer Geldmangel gehen auf Ricardo zurück, der sie jedoch, anders als K. F. Maier (vgl. S. 25, Anm. 2), auf ein Land als Ganzes, nicht auf eine Einzelwirtschaft bezieht. 16 Bereits in der Dissertation äußert K. F. Maier (1931, S. 14 f., S. 68, S. 86 f.) den Gedanken, daß ein Abweichen der in einem Lande vorhandenen Geldmenge von der Geldmenge bei Gleichgewicht in Goldwährungsländern zu Goldbewegungen über Landesgrenzen führt. Überdies weist er darauf hin, daß die Preisniveaus der Goldwährungsländer zusammengekoppelt sind, der Einfluß der Zentralbank auf das inländische Preisniveau also nur über die Beeinflussung des Weltpreisniveaus erfolgen kann und deshalb sehr gering ist.

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allgemeiner Natur sein. Und einmal gebaut, müsse eine Theorie geeignet sein, „nicht nur einen, sondern ungezählte konkrete Fälle" zu meistern (S. VI). Mittels der im I. Teil der „Goldwanderangen" entwickelten Theorie vollzog K F. Maier im II., dem empirischen Teil die Erklärung des erwähnten mächtigen Goldstromes nach Frankreich mit dem Ziel, die „quantitative Analyse weiter zu fuhren als es im allgemeinen geschieht" (S. V). Die Erklärung ist ihm, so darf man wohl sagen, in beispielhafter Weise gelungen. Mit dieser Untersuchung hat K F. Maier bereits als junger Wissenschaftler außerhalb unseres Landes Beachtung gefunden. Charles Rist, ein zu dieser Zeit nicht nur in Frankreich, sondern auch international sehr angesehener Ökonom, der die wirtschaftlichen und besonders die monetären Verhältnisse seines Landes genau kannte, schrieb in der „Revue d'économie politique", daß der Autor nicht nur die geldtheoretische, sondern auch die empirische Analyse „avec un grand esprit scientifique" durchgeführt habe; zusammenfassend sagt er: „un excellent livre, digne à tous égards d'être médité et qui, à mon avis, fait faire un progrès considérable à la théorie des phénomènes monétaires" (Rist 1938, p. 228). Auch F. A. v. Hajek erwähnt K F. Maier zustimmend in seiner Untersuchung über „Monetary Nationalism and International Stability" aus dem Jahre 1937 (Hayek 1937a, p. 20). Der englische Ökonom P. Barrett Whale (1937/1953, p. 156) äußert sich ähnlich in einem Aufsatz über „The Working of the Pre-War Goldstandard". Die in den „Goldwanderungen" gewonnenen geldtheoretischen Erkenntnisse K F. Maiers bilden das Kernstück der bereits erwähnten monetären Zahlungsbilanztheorie, die in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts vornehmlich von den beiden kanadischen Ökonomen Harry G. Johnson und Robert A. Mundeil entwickelt worden ist (vgl. dazu Frenkel and Johnson 1976). Die Vorwegnahme ihrer Gedanken durch K F. Maier wird von den Vertretern dieser Lehre unter Bezugnahme auf den zuvor genannten Aufsatz von Barrett Whale ausdrücklich anerkannt (siehe dazu auch McCloskey and Zecher 1976, bes. p. 369 und p. 370). Im Walter Eucken Institut entstanden einige Arbeiten, die sich in wichtigen Teilen auf die geldtheoretischen Erkenntnisse K. F. Maien stützen (Bosch und Veit 1957, 1966a, 1966b; vgl. dazu Bernhard 1967).

2. Mikro-ökonomische Geldtheorie Die im I. Teil der „Goldwanderungen" entworfene Geldtheorie hat K. F. Maier in dem Aufsatz „Mikro-ökonomische Ableitung des Geldpreises" (1962) weiter ausgebaut und vertieft. Das Ziel, das er mit diesem Walter Eucken gewidmeten Aufsatz verfolgte, blieb dasselbe: die Einordnung der Geldtheorie in die allgemeine mikro-ökonomische Theorie, also in die Theorie des allgemeinen Gleichgewichts. Die Geldtheoretiker hätten das Geldwert- oder Geldpreisproblem allein schon deshalb zu lösen verfehlt, weil sie sich dabei der makro-ökonomischen und nicht der mikro-ökonomischen Methode bedienten, die von den Begründern der modernen Theorie — Menger, Jevons, Walras — mit so großem Erfolg bei der Erklärung der Preisbildung von Gütern und Leistungen benutzt worden war. In der Tat wird seit David Hume über Ricardo bis heute die Erklärung des Geldwerts überwiegend auf der Grundlage der Quantitätstheorie vorgenommen, dargestellt in Form der Verkehrsglei-

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chung oder statt ihrer der sogenannten Cambridge-Gleichung. Sie habe, so sagt K F. Maier in den „Goldwanderungen", unter gewissen Voraussetzungen, als „abgekürztes Verfahren", ihren Platz in der modernen Theorie, für sich allein genommen sei sie ungenügend und systemwidrig. In der Quantitätstheorie werden ausschließlich makro-ökonomische, das sind nach K. F. Maier (1935, S. 18) künstlich gebildete, unwirkliche Größen wie das allgemeine Preisniveau, das Handelsvolumen, die Umlaufs- oder Einkommensgeschwindigkeit des Geldes etc. verwendet. K F. Maier weiß sich hierin einig mit F. A. von Hayek, der 1931 in seinem Buch „Preise und Produktion" den Satz aufstellte, „daß nach der Natur der ökonomischen Theorie Durchschnittsgrößen nie ein Glied in ihren Ableitungen bilden dürfen" (Hayek 1931, S. 5). Eine Grenzanalyse, wie sie in der mikro-ökonomischen Theorie selbstverständlich ist, kann in der Quantitätstheorie des Geldes nicht stattfinden. Anders verfährt K. F. Maier. Er stellt sich die Aufgabe, den Geldpreis, das ist das Austauschverhältnis von Geld - genauer von einer Geldeinheit - zur Anzahl der Mengeneinheiten eines jeden einzelnen Gutes oder die Reziproken dieser Austauschverhältnisse, das sind die in Geldeinheiten genannten absoluten Preise aller einzelnen Güter, mit Hilfe der Methode von Walras, d. h. der Theorie des allgemeinen Gleichgewichts, zu bestimmen. „Nichts hindert, Preise in Mengeneinheiten irgendeines Gutes auszudrücken. Der Preis eines gewissen Regenschirmes sei 50 Mark; der Preis des Geldes ist dann 1/50 Regenschirm der gewissen Art. Es gibt somit n-1 Preise für die Geldmengeneinheit, wenn das Geld eines von n Gütern ist. Ebenso gibt es n-1 Preise für jedes andere Gut - nicht nur den einen in Geld benannten Preis" (Maier 1962, S. 76).

Bei dem Unterfangen, das Geldwertproblem auf diese Art zu lösen, ist K, F. Maier gehalten, die Methode von Walras anzuwenden, weil es ihm anders nicht möglich wäre, Einzelpreise in einem umfassenden theoretischen System mit außerordentlich hohem Abstraktionsgrad zu bestimmen. Darüber hinaus sind weitere Hürden zu überwinden (Maier 1935, S. 102 ff.; ferner 1962, S. 87), an denen nach K. F. Maier die meisten Geldtheoretiker bislang gescheitert sind. Hierzu zählt u. a. die Klärung folgender Fragen: Welchen Gutscharakter besitzt Geld; welche Dienste leistet es, und wie sind sie zu bewerten; sind Zahlungseingänge und -ausgänge bei Betrieben und Haushalten und die Lage ihrer jeweiligen Termine für sie extern, institutionell vorgegeben oder im Rahmen der Analyse der einzelwirtschaftlichen Pläne, auf die K F. Maier das Schwergewicht legt, als zu bestimmende, d. h. abhängige Variable anzusehen; welche Motive der Nachfrage nach Geld seitens der Einzelwirtschaft gibt es unter stationären bzw. dynamisch-evolutorischen Bedingungen; in welcher Art ist Geld in die Wirtschaftspläne von Betrieben und Haushalten einzuordnen; welche Rolle spielt der Zins bei der Nachfrage nach Geld seitens der Einzelwirtschaften. Diese und weitere, hier nicht aufgeführte Fragen bedürfen einer Klärung, ehe der Versuch unternommen wird, die Lösung des Geldwertproblems in Angriff zu nehmen. Nach K. F. Maier (1935, S. 102-110) haben Ökonomen mit durchaus nicht unbekannten Namen wie die Österreicher von Wieser, Schumpeter, aber auch von Mises und der in den dreißiger Jahren sehr bekannte italienische Geldtheoretiker Del Vecchio diese oder einen Teil dieser Fragen nicht gelöst. K. F. Maier behandelt Geld „wie irgendein anderes Gut" (Maier 1935, S. 73, S. 117), und zwar als ein dauerhaftes Gut, näherhin als ein Produktivgut oder Produktionsmittel, das einen Ertrag abwirft wie andere Kapitalgüter auch (Maier 1935, S. 91, S. 117 f.), als ein „Gut höherer als zweiter Ordnung" (Maier 1962, u. a. S. 87), um in der Gütereinteilung der

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„österreichischen Schule" zu sprechen. „Das Geld ist", sagt er bereits in den „Goldwanderungen", „ein Gut unter Gütern, und die Geldphänomene erklären sich aus der Gestaltung der Daten wie die anderen wirtschaftlichen Erscheinungen auch" {Maier 1935, S. 120). Die Definition von Geld als Gut von der Art eines dauerhaften, Ertrag abwerfenden Produktionsmittels bildet den Schlüssel zum Verständnis der Geldtheorie von K F. Maier. Manche, die seine Theorie nicht kennen, mag diese Auffassung von Geld als Produktionsmittel überraschen. Zweifler an dieser Ansicht mögen zwei Zitate von Milton Friedman, in denen gleichartige Gedanken ausgesprochen werden, beruhigen. In seinem Aufsatz „The Quantity Theory of Money: A Restatement" sagt er: „To the productive enterprise, money is a capital good, a source of productive services that are combined with other productive services to yield the products that the enterprise sells" (Friedman 1956/1969, p. 52). In einem späteren Aufsatz äußert er sich ähnlich: „The value of these services [of money] does depend on the amount of cash balances the individual holds, so one must distinguish between average and marginal return. The relevant magnitude is the marginal return ... or marginal product of money" (Friedman 1969, p. 18). Geld ist, nach K F. Maier, geeignet, in einer arbeitsteiligen Wirtschaft vier verschiedenartige Dienste zu leisten. Es leistet erstens den Dienst, den indirekten Tausch zu ermöglichen, und verschafft dadurch Tauscherleichterungen — was die Währungsreform von 1948 in Westdeutschland drastisch vor Augen führte. Es leistet zweitens den Dienst der indirekten Lagerung {Maier 1935, S. 86); dabei tritt, wie er sagt, ein von der Einzelwirtschaft nach Größe und Dauer zu wählender Geldbestand an die Stelle von Beständen anderer Güter. Diese beiden Dienste liegen der sogenannten Nachfrage nach Transaktionskasse zugrunde. In einer sich entwickelnden Wirtschaft leistet Geld drittens den Dienst indirekter Lagerung als Vorsorge zur Wahrnehmung günstiger Kaufgelegenheiten und als Vorsorge, um Notfallen begegnen zu können {Maier 1935, S. 86 f.; 1968, S. 55), sowie viertens den Dienst der Wertaufbewahrung oder Hortung und der Spekulation auf den Kapitalmärkten {Maier 1935, S. 117 f.; 1968, S. 55). Die Nachfrage nach Geld, die in den beiden letzten Diensten ihren Ursprung hat, begründet Keynes in der „Allgemeinen Theorie" mit dem Vorsichts- bzw. Spekulationsmotiv. Nach K F. Maier muß jeder dieser Dienste unabhängig von den anderen begründet und bewertet werden. Die Wahl der Höhe des Kassenbestandes durch die Einzelwirtschaften steht bei K F. Mater im Mittelpunkt der Erklärung des Geldwertes. Er unternimmt sie unter Zugrundelegung eines stationären, nicht evolutorischen Modells „einer geschlossenen vollbeschäftigten Marktwirtschaft mit vollständigem Wettbewerb ohne nennenswerte Staatstätigkeit mit nur einer Geldart" {Maier 1962, S. 76). Zur ersten Orientierung der planenden Einzelwirtschaften führt er, neben den üblichen sechs Datengruppen des Systems, als Hilfskonstruktion vorübergehend einen siebten Katalog von beliebig gewählten, in Geldeinheiten genannten Preisen für alle Güter der Modellwirtschaft ein {Maier 1962, S. 77). Der Betriebsplan jedes Betriebes hat zwei Teile, eine Kostenrechnung und eine Investitionsrechnung, in der der Kassenbestand enthalten ist {Maier 1962, S. 78). Unter der Annahme eines vorgegebenen Preiskosmos werden „die einzelnen Investitionsstellen, also Grundstücke, Gebäude, Maschinen, Vorräte, Schuldner, Kasse aus der gewählten Investitionssumme so dotiert ..., daß eine hypothetische kleine zusätzliche Investitionssumme an jeder beliebigen Stelle angefügt den Gesamtertrag gleich viel wachsen ließe" {Maier 1962,

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S. 78).17 Auf diese Weise ergibt sich der höchstmögliche Netto-Ertrag der eingesetzten Investitionssumme oder die Minimalkosten-Kombination. Gleichgewicht im Wirtschaftsplan eines Betriebes ist erreicht, wenn die Investitionssumme so gewählt wird, daß der interne Ertragssatz der Kombination dem Marktsatz gleich ist (Maier 1962, S. 78). Analoges gilt für die Haushalte. Zwar hat im üblichen Konsumplan der Haushalte Geld als Produktionsmittel keinen Platz. K. F. Maier begegnet dieser Schwierigkeit, indem er in den Plänen der Haushalte mit der ihm eigenen scharfen Beobachtungsgabe unterscheidet zwischen eigentlichen Konsumgütern, die Bedürfnisse unmittelbar befriedigen wie Brot, und Gütern höherer Ordnung wie Kleider, die Leistungen abgeben, die Bedürfnisse befriedigen, und Gütern, die dazu dienen, Konsumgüter hervorzubringen, wie ein Kochherd. Güter, die wie die zuletzt genannten als Güter höherer Ordnung Bedürfnisse nur mittelbar befriedigen, sind Produktionsmittel (Maier 1962, S. 87). K. F. Maier schaltet deshalb im Haushaltsplan dem eigentlichen Konsumplan einen Betriebsplan vor, der wie in den NurBetrieben einen Produktionsplan und einen Investitionsplan umfaßt. In diese dreigeteilten Haushaltspläne kann Geld als Produktionsmittel problemlos eingeordnet und der optimale Kassenbestand anhand seines Grenzertrages wie in den Plänen der Nur-Betriebe durch Maximierungsverfahren aus den einzelwirtschaftlichen Datengruppen errechnet werden (Maier 1962, S. 87 f.; 1968, S. 56 ff.). Gleichgewicht im System als Ganzes ist erreicht, wenn „die internen Ertragssätze aller Betriebe einander und dem Marktsatz gleich sind" (Maier 1962, S. 78), eine Bedingung, die auch in den Betriebsplänen aller Haushalte erfüllt sein muß (Maier 1962, S. 88; 1968, S. 58). Die Summe der Nachfrage nach Geld aller Einzelwirtschaften entspricht im allgemeinen Gleichgewicht der von der Zentralbank geschaffenen ausstehenden Geldmenge. Im Ungleichgewicht, bei dem die ausstehende Geldmenge mit der gesamten Nachfrage nach Geld nicht übereinstimmt, führen die sich dann abspielenden Marktprozesse über Preis- und Mengenänderungen zum Gleichgewicht des Systems als Ganzes, d. h. sowohl zum Gleichgewicht in den einzelwirtschaftlichen Plänen von Betrieben und Haushalten als auch zum Gleichgewicht auf den Märkten. Mit den Worten von K. F. Maier (1962, S. 90): „Sämtliche Zellen des Systems, wechselseitig miteinander verbunden, oszillieren dem walrasianischen Gleichgewicht zu, das gekennzeichnet ist durch den Gleichgewichtszustand jedes Haushaltsplanes, jedes Betriebsplanes und jedes Marktes."

3. Mikro-ökonomische Zinstheorie Geleitet von dem Gedanken, nicht nur für die Bestimmung des Geldwertes im Rahmen der Theorie des allgemeinen Gleichgewichts eine systemgerechte Lösung zu finden, suchte K F. Maier (1968) auch das Zinsproblem auf der Grundlage einer mikro-ökonomischen, statischen Totalanalyse zu lösen. Er war der Auffassung, daß außer beim Geld auch beim Zins eine solche Lösung immer noch fehle. 17 Den gleichen Gedanken fuhrt K. F. Maier später (1968, S. 54) wie folgt aus: „Es wäre ein Irrtum, den Geldbestand eines Betriebes als eine Restgröße zu betrachten ... Die Wahl muß auch im Falle des Geldbestandes so getroffen werden, daß die interne Ertragsrate des Geldbestandes gleich ist der internen Ertragsrate irgendeines anderen dauerhaften Produktionsmittels im Betriebsplan."

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Die zinstheoretische Analyse vollzieht K. F. Maier in drei Stufen. Wie F. A. von Hajek (1941/2006, S. 147, S. 170; vgl. dazu Lut% 1967, S. 56 ff.) geht er aus von einer beliebigen, nicht-gleichgewichtigen Zusammensetzung der vorhandenen Kapitalgüter, das sind „Vorrichtungen und Vorräte", die aus der Ersparnisbildung früherer Perioden hervorgegangen sind. Das Ziel ist es, den Aufbau oder die Zusammensetzung des Produktionsapparates nach Arten und Mengen der Kapitalgüter im Gleichgewicht und damit auch den Zins zu erklären. Die Aufgabe stellt er sich so: Ableitung des Zinses und der n-1 absoluten, nämlich in Geld genannten Preise der n Güter des Modells uno actu aus den Daten des ökonomischen Systems" {Maier 1968, S. 29). Das Modell (ebenda, S. 30 ff.) ist ähnlich demjenigen, das er bei der geldtheoretischen Analyse verwendet. Der Rahmen des Modells besteht aus sechs Datengruppen (Bedürfnisse, Arbeit, Boden, Kapital, technisches Wissen, rechtliche und soziale Ordnung). Anders als bei Walras findet während der Untersuchungsperiode keine Neubildung von Kapital statt, um aus der vorzunehmenden statischen Totalanalyse partialanalytische Betrachtungen auszuschließen. Zur Orientierung der planenden Einzelwirtschaften werden die sechs Datengruppen vorübergehend durch einen siebten Katalog von willkürlich angenommenen Preisen ergänzt. In den ersten beiden Stufen der Analyse gibt es kein Geld; die Preise werden in einer abstrakten Recheneinheit ausgedrückt, sind also relative Preise (Maier 1968, S. 32 ff.). Die in der Ausgangslage in beliebiger, nicht-gleichgewichtiger Zusammensetzung vorhandenen Kapitalgüter werfen zunächst unterschiedliche Ertragsraten ab. Die aus der Nutzung der Kapitalgüter anfallenden Abschreibungen werden daher von den Eigentümern teilweise in andere Kapitalgüter umdisponiert, die Arten und Mengen der Kapitalgüter und ihre Preise ändern sich, bis die internen Ertragsraten aller Kapitalgüter einander gleich sind {Maier 1968, S. 43). Nach der Einführung eines einheitlichen Marktes für Wertsummen in der zweiten Stufe der Analyse sind im Gleichgewicht die internen Ertragsraten dem Marktzinssatz gleich {Maier 1968, S. 45 ff.). Die zunächst willkürlich angenommenen Preise sind durch Gleichgewichtspreise ersetzt. Sie sind in den ersten beiden Stufen noch in einer abstrakten Recheneinheit ausgedrückt, sind also relative Preise. In der letzten Stufe der Analyse wird die abstrakte Recheneinheit beseitigt. Geld wird als eines der n Güter eingeführt. Die Preise der n-1 Güter sind somit absolute, in Geld ausgedrückte Preise {Maier 1968, S. 51 ff.). Diese letzte Stufe liefert die Gleichgewichtswerte der oben aufgeführten gesuchten Größen oder abhängigen Variablen der Untersuchung: den Zins und die n-1 absoluten, in Geld ausgedrückten Güterpreise zusammen mit ihren Korrelaten, den Gleichgewichtsmengen {Maier 1968, S. 61 f.). Seit der Arbeit an den „Goldwanderungen" war die Integration der Geldtheorie in die Theorie des allgemeinen Gleichgewichts, später auch der Zinstheorie, das Ziel der Forschung von K. F. Maier. Mittels einer mikro-ökonomischen statischen Totalanalyse nach dem Vorbild von Walras suchte er die Geldpreise oder absoluten Preise aller Güter und Leistungen im Gleichgewicht — und ihre Korrelate, die Gleichgewichtsmengen - zusammen mit dem Zins zu erklären. Dies ist ihm mit den beiden Aufsätzen zur mikroökonomischen Ableitung des Geldpreises und des Zinses als Krönung seiner Forschung in einzigartiger Weise gelungen.

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In hohem Alter hat K, F. Maier die damals entbrannte Diskussion über die Rolle der Transaktionskosten bei Tauschakten in der Marktwirtschaft und ihre Bedeutung in der Gleichgewichtstheorie zum Anlaß genommen, sich mit Transaktionskosten zu befassen {Maier 1989). In diesem Aufsatz kommt er zu dem Ergebnis, daß die von ihm entwickelte Geld- und Zinstheorie und deren Einfügung in die Theorie des allgemeinen Gleichgewichts von den Erkenntnissen der Theorie der Transaktionskosten unberührt bleiben.

4. Konjunkturtheorie Ein weiteres Problem, mit dem sich K. F. Maier auch in seinen Vorlesungen befaßte, liegt auf dem Feld der Konjunkturtheorie.18 In einem höchst originellen Aufsatz mit dem Titel „Gleichgewichtsgedanke und Konjunkturpolitik"19 unternahm er 1948 den Versuch, auch konjunkturelle Schwankungen, wie sie in der Wirklichkeit mit ihrem ständigen Auf und Ab der wirtschaftlichen Tätigkeit zu beobachten sind, mittels der Theorie des allgemeinen Gleichgewichts zu erklären.20 Bislang habe die Konjunkturtheorie keinen Rückgriff auf diese Theorie genommen. Zwischen beiden Theorien klaffe „eine Lücke. Und so stehen jetzt, wie zwei isolierte Blöcke, allgemeine und Konjunktur-Theorie nebeneinander" (Maier 1948, S. 74). Die Aufgabe läßt sich nach K. F. Maier (1948, S. 74 f.) lösen durch Bereitstellung zusätzlicher, zur Theorie des allgemeinen Gleichgewichts passender Werkzeuge, einer „Theorie des Überganges von einem Gleichgewicht zum andern" (S. 81). Bei Störungen des allgemeinen Gleichgewichts als Folge von Datenänderungen unterscheidet K F. Maier drei Arten des Ubergangs vom bisherigen zum neuen Gleichgewicht. Beim „klassischen" Übergang wird — gemäß dem 5