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German Pages 484 Year 2004
Soziologische Schriften Band 76
Objektive Hermeneutik in der Polizeiausbildung Zur sozialwissenschaftlichen Grundlegung eines Curriculums
Von
Thomas Ley
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
THOMAS LEY
Objektive Hermeneutik in der Polizeiausbildung
Soziologische Schriften Band 76
Objektive Hermeneutik in der Polizeiausbildung Zur sozialwissenschaftlichen Grundlegung eines Curriculums
Von
Thomas Ley
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Eingereicht als Habilitationsschrift am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-11259-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
„Ich behaupte jetzt mal, vielleicht etwas kühn, wer hier in dem Praktikum zwei Jahre lang gesessen hat oder drei, das ist ein point of no return. Auf ein bestimmtes methodisches Denken kann der nicht wieder zurückfallen, das ist meine Überzeugung, das geht nicht, bin ich sicher.“ Ulrich Oevermann1 „Der kritische Weg ist nicht bloß formal, sondern auch material.“ Theodor W. Adorno2 „. . . in der Wissenschaft ist der Inhalt wesentlich an die Form gebunden.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel3 „Jede lebendige Situation hat, wie ein Neugeborenes, trotz aller Ähnlichkeit ein neues Gesicht, nie dagewesen, nie wiederkehrend.“ Martin Buber4 „Verstehen heißt hier: Stehen auf den Phänomenen.“ Martin Wagenschein5
Vorwort Den Anstoß zu dieser Untersuchung erhielt ich von Ulrich Oevermann, den ich im September 1992 im Rahmen des von ihm geleiteten Sommerkurses zur Einführung in die objektive Hermeneutik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main kennen lernte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits in Bielefeld bei Niklas Luhmann promoviert. Dass ich diesen Sommerkurs in der Woche vom 21. bis 25. September besuchte, verdanke ich im Grunde genommen meiner Frau, die mich auf die Ankündigung des Sommerkurses in der FAZ aufmerksam machte, dessen Programmatik und Arbeitsform mich interessierte und zur Teilnahme motivierte.
1
Im Forschungspraktikum am 5. Januar 1996. (1997 d), S. 557. 3 (1995), S. 13. 4 Reden über Erziehung. Zit. n. Newe (1960), o. S. (Motto vor dem Inhaltsverzeichnis). 5 (1989), S. 144. 2
6
Vorwort
Eine Folge des Besuchs dieses Seminars, zu dem ich einen Polizeibericht mitbrachte, der dort unter der mich interessierenden Frage – Welche Erkenntnisse kann man mittels der objektiv hermeneutischen Methode über einen in Berichtsform vorliegenden Polizeieinsatz gewinnen? – analysiert wurde, war, dass ich zunächst sporadisch, dann kontinuierlich an dem an der Frankfurter Universität allwöchentlich stattfindenden Seminar „Ständiges Forschungspraktikum. Anwendung von Verfahren der objektiven Hermeneutik in der Datenerhebung und -auswertung“ teilnahm. Mit dem Versuch, die Methode der Sequenzanalyse in der Polizeiausbildung umzusetzen, begann ich im Jahre 1996, drei Jahre nachdem ich am neu gegründeten Fachbereich Polizei der Thüringer Verwaltungsfachhochschule Dozent für Soziologie wurde. Seitdem habe ich die Methode in insgesamt fünf Studienjahrgängen eingesetzt. Sie ist seit 1996 curricularer Bestandteil der Soziologieausbildung und wurde von mir auch im Rahmen von Aus- und Fortbildungsseminaren von Spezialeinheiten angewandt, die ich im Auftrag des Landeskriminalamtes durchführte. Zu Dank verpflichtet bin ich einer Vielzahl von Personen. Zum einen den Teilnehmern des ständigen Forschungspraktikums, in dem Materialanalysen durchgeführt wurden, die in die vorliegende Arbeit eingegangen sind. Zweitens Frau Kock, Bibliothekarin an der Polizei-Führungsakademie in Münster-Hiltrup, die mir in Archiven lagernde Quellen zum Ursprung der Notruftechnik zugänglich machte. Dann auch Andreas Müller-Tucholski für die vielen Stunden, in denen wir über grundlegende theoretische und methodische Fragen diskutierten. Weiterhin Matthias Jung und meiner Frau Elisabeth für ihre konzentrierte, kritische Durchsicht der Arbeit. Und nicht zuletzt den am Fachbereich Polizei Studierenden der Jahrgänge 1995–1999 sowie den Kollegen vom Fachbereich Polizei. Meiningen, im Juli 2003
Thomas Ley
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begründung für die Wahl des Ausbildungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . 2. Praxisform des Polizeinotrufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
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A. Der Fachbereich Polizei als Institution zur Ausbildung von Polizeibeamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fachbereich Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Studienverlauf, Studienziele und Status des Faches Soziologie . . . . . . . . 4. Organisation der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Objektive Daten zu meinem Bezugsjahrgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21 21 21 23 26 28
B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erste Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Modellfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Modellfall 1: ,hebt die Buden zoamm‘ I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Exkurs: Notruftechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Exkurs: Normalfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Modellfall 1: ,hebt die Buden zoamm‘ II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Modellfall 2: ,en wahnsinniger Krach‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Exkurs: Stellenwert des Leistungsnachweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Exkurs: Gruppenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Exkurs: Benotung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Zweite Phase: Einübung in die Intervention (Gesprächsführung) I . . . . 13. Exkurs: Tätigkeits- oder Neuigkeitseintragungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Zweite Phase: Einübung in die Intervention (Gesprächsführung) II . . . 15. Dritte Phase: Abschlussstudium und Staatsexamen . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Ergebnis des schriftlichen Staatsexamens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Projektarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Mündliche Staatsexamensprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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31 31 32 34 35 37 43 44 51 59 60 62 64 67 69 71 74 75 75
C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analytisch-diagnostische Leistung des Normalfallmodells . . . . . . . . . . . 3. Datenbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Exkurs: Qualität der Verschriftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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77 77 78 79 80
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Inhaltsverzeichnis 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23.
Aufbau der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 1: Autoaufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 2: Wer hat denn heute Dienst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung zu Fällen des Typs 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 3: Verkehrsunfall am Heidenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 4: Faxgerät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 5: Schlägerei auf dem Schützenfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 6: Mopedunfall vor Weida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 7: Hausbrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 8: Medizinischer Notruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 9: Autounfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 10: Unfallflucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 11: Randale am Zeitungskiosk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung zu Fällen des Typs 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 12: Anzeige eines Autoaufbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 13: Fußballfan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall 14: Herr Schlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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83 84 86 87 89 90 99 100 107 114 119 124 129 137 146 155 156 164 169
D. Rezeptionsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vollständiger Rezeptionsvergleich eines Falles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausgangsfall für die studentische Fallrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Studentische Fallrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bewertung der Rezeptionsanalyse: Formale versus materiale Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Auswertung von Schlüsselstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Exkurs: Zur Pragmatik der Materialauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Fall 1: Autoaufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Fall 2: Wer hat denn heute Dienst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Fall 3: Verkehrsunfall am Heidenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Fall 4: Faxgerät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Fall 5: Schlägerei auf dem Schützenfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Fall 6: Mopedunfall vor Weida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Fall 7: Hausbrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Exkurs: Verlaufsskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16. Fall 8: Medizinischer Notruf. Erste Sequenzstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Fall 8: Medizinischer Notruf. Zweite Sequenzstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Fall 9: Autounfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Exkurs: Studenten in der Forscherrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. Fall 10: Unfallflucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Fall 11: Randale am Zeitungskiosk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176 176 177 179 179 249 250 251 252 258 264 269 277 282 286 287 289 293 296 299 300 302
Inhaltsverzeichnis
9
22. Exkurs: Auslegung der ersten Zeile „Notruf“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23. Exkurs: Wirksamkeit studentischer Forschungsarbeit und dozentische Bewertungsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24. Exkurs: Totale Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Fall 12: Anzeige eines Autoaufbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26. Fall 13: Fußballfan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27. Fall 14: Herr Schlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28. Erfahrungen mit Gruppenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29. Diagnostisch-pädagogische Bedeutung der Gruppenanalysen . . . . . . . . .
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E. Rollenspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rollenspielanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Analyse I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analyse II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Analyse III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Analyse IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Analyse V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Analyse VI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Analyse VII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Exkurs: Schwierigkeiten bei der Sensibilisierung für die Notrufpraxis und deren Bewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345 345 348 348 350 352 355 358 361 364
F. Wirksamkeit der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Methodische Sensibilisierung für die Berufspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Berufliches Handeln I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorbemerkung zum Fall Scheler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Fall Scheler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Berufliches Handeln II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorbemerkung zur Einführung der Sequenzanalyse in die Thüringer Verhandlungsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einführung der Sequenzanalyse in die Thüringer Verhandlungsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Umsetzung der Methode auf der institutionellen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . 1. Curricularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Durchsetzung zur Prüfungsnormalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Sequenzanalyse als Basismethode für eine interdisziplinär ausgerichtete Ausbildung I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Exkurs: Nachfolgende Examen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Sequenzanalyse als Basismethode für eine interdisziplinär ausgerichtete Ausbildung II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
315 318 322 327 332 335 341
367 371 382 382 382 386 386 387 394 394 394 401 401 402 405 405 409
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Inhaltsverzeichnis
H. Konsequenzen für eine klinische Soziologie als Scharnierstelle zwischen Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Empfehlungen für eine praxisorientierte Ausbildung von Soziologen im Berufsfeld Dozent für Soziologie im Polizeibereich . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anforderungsprofil für einen in der Polizeiausbildung lehrenden Soziologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
411 411 414 417
I. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anhang I. Schreiben vom 15.5.1996 (mitsamt Anlage) zwecks Vorlage in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anhang II. Anwesenheitsliste von Kurs 1 (Februar 1998) . . . . . . . . . . . . 3. Anhang III. Auszug aus einem Kursbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anhang IV. Notrufaufzeichnungsgerät der Marke UHER . . . . . . . . . . . . . 5. Anhang V. Staatsexamensklausur für das Fach Sozialwissenschaften mitsamt Musterlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Anhang VI. 100er-Bewertungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Anhang VII. Vollständiges Notrufprotokoll (zu Exkurs: Totale Kritik) . 8. Anhang VIII. Rollenspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Anhang IX. Tiptel-Anrufaufzeichnungsmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Anhang X. Auftrag des FBL zur Veränderung des Curriculums vom 16.6.1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Anhang XI. Im Seminar analysiertes Täterschreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Anhang XII. LKA-Schreiben vom 18.05.2000 und 15.12.2000 . . . . . . . . 13. Anhang XIII. Schreiben von Kriminalhauptkommissar Döhne im Holzmindener Polizistenmord-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
429 429 431 432 433 434 446 447 450 451 452 453 454 457
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480
Einleitung Die vorliegende Arbeit kann man unter verschiedenen Gesichtspunkten lesen: Als Beitrag zur Polizeisoziologie, weil es sich bei den analysierten Materialien um Fälle aus dem Polizeialltag handelt, oder als Beitrag zur Unterrichtsforschung, wenn man Unterricht weiter fasst als die Praxis, die ausschließlich konkret im Klassenraum stattfindet,1 oder aber, und diese Lesart präferiere ich selbst, als Beitrag zu einer klinischen Soziologie, weil sie davon handelt, wie ich als in der Praxis lehrender Soziologe versuchte,2 die Methode der Sequenzanalyse, die im Zentrum der von Oevermann entwickelten objektiven Hermeneutik steht, an einem exemplarischen Gegenstandsbereich in die sozialwissenschaftliche Lehre einer Fachhochschule für angehende Polizeikommissare umzusetzen.3 In diesem Sinne lässt sich die Arbeit als eine Art Rechenschaftsbericht über einen Versuch verstehen, der in dieser Form bisher nicht unternommen wurde und der u. a. auch nur deswegen möglich war, weil ich die mit der so genannten ,Wende‘ verbundene historisch-biographische Chance hatte, zu den Dozenten zu gehören, die im April 1993 den Lehrbetrieb am neu gegründeten Fachbereich Polizei, einem von insgesamt drei Fachbereichen der Thüringer Verwaltungsfachhochschule, aufnahmen und ich von meinem unmittelbaren Vorgesetzten den Auftrag und das Vertrauen erhielt, das soziologische Curriculum zu gestalten. Damit konnte ich in der soziologischen Ausbildung selbstständig einen Weg einschlagen, der sich erheblich von dem unterschied, der für das Fach Soziologie curricular vorgesehen war.4 Wobei es sich beim vorgesehenen Curriculum um eine Kopie dessen aus Rheinland-Pfalz5 handelte, das ein1
Krummheuer (1997), S. 3. Das Präteritum habe ich gewählt, um deutlich zu machen, dass ich aus der Perspektive eines inzwischen abgeschlossenen Versuches spreche. 3 An der Thüringer Verwaltungsfachhochschule – Fachbereich Polizei –, einer verwaltungsinternen Fachhochschule für angehende Polizeibeamtinnen und -beamte des gehobenen Polizeivollzugsdienstes. 4 Wie ich beim Lesen von Dokumenten feststellte, die ich im Geschäftszimmer unseres Fachbereiches in einem Aktenordner entdeckte, der offensichtlich von der vom Innenministerium mit der Errichtung der Fachhochschule beauftragten Arbeitsgruppe ,Aus- und Fortbildung der Thüringer Polizei‘ angelegt worden war. 5 Dass hier das rheinland-pfälzische Curriculum kopiert bzw. importiert werden sollte, ist damit zu erklären, dass der Leiter des Aufbaustabes aus Rheinland-Pfalz 2
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deutig theoretisch ausgerichtet war. So gehörten zu den im Grundstudium6 zu lehrenden Themen: Sozialisation, soziale Rolle, soziale Gruppe, und im Hauptstudium:7 Organisationssoziologie, Jugendsoziologie, Schichtung und Mobilität, Gesellschaft im Wandel sowie Polizei und Gesellschaft. Wenngleich ich zu Beginn meiner Lehrtätigkeit keineswegs über klare curriculare Vorstellungen verfügte, so war für mich vorentschieden, dass ich diesen theoretischen Weg nicht einschlagen wollte, sondern es für die Ausbildung wesentlich instruktiver sei, die Polizeibeamten anhand von Materialien zu schulen, die aus dem Polizeialltag stammten. Diese Vorentscheidung resultierte aus einer Erfahrung, die ich im Zusammenhang mit der Teilnahme an einem von Ulrich Oevermann geleiteten Sommerseminar der ,Arbeitsgemeinschaft objektive Hermeneutik‘ im September 1992 gewann, zu dem ich einen Fall mitbrachte – einen Polizeibericht über eine Hotelrandale –, der unter Oevermanns Anleitung sequenzanalytisch ausgewertet wurde. Dabei überzeugten mich die strikt methodische Orientierung am Berichtstext, das Ableiten von soziologischen Begriffen und Modellen aus dem Text selbst (und nicht umgekehrt: das Einsortieren des Textes unter vorgegebene Kategorien) und das Ergebnis der Fallanalyse davon, dass die Methode der objektiven Hermeneutik, und speziell das Verfahren der Sequenzanalyse, geeignet ist, Materialien aus dem Polizeialltag methodisch kontrolliert und sachhaltig zu analysieren, und es darüber hinaus auch möglich sein könnte, die soziologische Lehre in der Polizeiausbildung (von der ich zu diesem Zeitpunkt nur träumte8) so zu gestalten, dass sie dem entsprach, was Skolnick indirekt mit seiner Frage – „Inwieweit paßt die Ausbildung zu dem Job, den der Polizeibeamte auszuführen hat?“9 – forderte, nämlich die Polizeiausbildung praxisgerecht zu gestalten. Es entspräche aber nun nicht den Tatsachen, zu behaupten, dass ich von Beginn an strikt fallorientiert vorgegangen wäre, wobei der Grund dafür in erster Linie darin zu sehen ist, dass ich noch nicht über die methodische Sicherheit verfügte, die man braucht, um einen Unterricht in dieser Weise ausrichten zu können.10 Vielmehr praktizierte ich zunächst eine Kombinakam. Das Curriculum wurde zu diesem Zeitpunkt in Rheinland-Pfalz bereits einer Revision unterzogen; dies zeigt auf, was passieren kann, wenn man Lehrpläne ungeprüft übernimmt. 6 Für das curricular 20 Stunden vorgesehen waren. 7 Das Curriculum sah hier 30 Stunden vor. 8 Dieser Traum war im Grunde genommen die Motivation zur Aufnahme meines Soziologiestudiums im Jahre 1982. 9 Skolnick (1971), S. 193. 10 Man muss hierbei sehen, dass ich von 1984–1992 in Bielefeld bei Niklas Luhmann studierte, in dessen Vorlesungen und Seminaren zur Systemtheorie metho-
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tion von Begriffssoziologie und Fallanalysen, vermittelte also theoretische Begriffe und arbeitete zugleich mit Fallmaterialien aus dem Polizeialltag, die ich mit den Studenten im Sinne der objektiven Hermeneutik zu analysieren versuchte. Die notwendige methodische Sicherheit gewann ich erst durch kontinuierliche Teilnahme an den von Ulrich Oevermann geleiteten wöchentlichen Praktikumssitzungen an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt, in denen unterschiedlichste Materialien einer fallrekonstruktiven Analyse unterzogen wurden. Durch die Teilnahme an diesen Praktikumssitzungen gewann ich im Laufe der Zeit immer mehr die Überzeugung, dass eine begriffsorientierte, theoretische Ausrichtung im Fach Soziologie zwar zum Erwerb eines expliziten, in Kategorien aufgehobenen Wissens führt, dieses Wissen aber keine aufschließende Wirkung für die Analyse von Praxissachverhalten hat und sich daher auch für die Ausbildung von Polizeibeamten kaum eignet. Mit der fallorientierten Ausbildung, die man in sozialwissenschaftlicher Terminologie auch als Ausbildung im Sinne einer materialen soziologischen Strukturanalyse11 bezeichnen kann, begann ich im Jahre 1996. Methodisch folgte ich mit dem von mir praktizierten fallanalytisch-fallrekonstruktiven Ansatz in der Polizeiausbildung einem Vorschlag von Oevermann und Simm, die bereits 1985 im BKA-Band „Zum Problem der Perseveranz in Delikttyp und modus operandi“12 schrieben, dass „weder die standardisiert curricularisierte Vermittlung sozialwissenschaftlicher Theorien und Forschungsergebnisse noch eine in abstrakten Kategorien vermittelte kriminalistische Handlungslehre“13 geeignet seien, Kriminalpolizeibeamte, die sich später in der Praxis bewähren sollen, so zu schulen, dass sie fallangemessen handeln und „resistent“ sind „gegen die passive Selbst-Subsumtion unter die Logik bürokratisch-formaler Zwänge der Erledigung von Aufgaben“.14 Der Unterschied zum Oevermann’schen Vorschlag besteht in der Ausrichtung meiner Schulung auf die schutzpolizeiliche Praxis. Er ist nicht methodisch-methodologische Fragen zur Auswertung von Texten nicht thematisiert wurden und in dessen Schriften die objektive Hermeneutik auch in Fußnoten nicht vorkommt. 11 Hierzu Oevermann (1981); ders. (1983 a); Oevermann/Simm (1985), S. 320; Oevermann (1996 a); ders. (1996 d); ders. (1997 b); ders. (2000 c). 12 Spurentext-Auslegung, Tätertyp-Rekonstruktion und die Strukturlogik kriminalistischer Ermittlungspraxis. Zugleich eine Umformung der Perseveranzhypothese aus soziologisch-strukturanalytischer Sicht. Wiesbaden 1985. 13 Oevermann/Simm (1985), S. 319. 14 Ebd.
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disch bedingt, sondern steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Wahl eines anderen – nicht kriminalpolizeilichen – Gegenstandsbereiches, der für die schutzpolizeiliche Praxis von hoher Relevanz ist. Ich meine hier den Polizeinotruf. Wichtiger als dieser Unterschied im Gegenstandsbereich der Ausbildung ist die methodische Gemeinsamkeit mit dem Oevermann’schen Vorschlag, denn sein Aufgreifen bedeutete, dass ich in der Polizeiausbildung im Fach Soziologie einen Weg einschlug, der abwich von dem traditionellen in der Soziologielehre an Fachhochschulen, einen Weg, der, um einen von Oevermann gebrauchten Terminus zu verwenden, nicht begriffssoziologisch15 orientiert war, also Soziologie nicht verstand als theoretische Indoktrination mit soziologischen Begriffen,16 als Vermittlung soziologischen „Buchwissen(s)“,17 sondern darauf zielte, die Studenten im Sinne einer mäeutischen Pädagogik, „über konkrete Analysen“ 18 von Fällen aus dem polizeilichen Berufsalltag auf diesen vorzubereiten, und damit die Polizeiausbildung komplementär zu dem insbesondere in den Rechtsfächern eingeübten subsumtionslogischen Denken durch eine rekonstruktionslogisch-hermeneutische Komponente zu ergänzen und durch das praktische Einüben in eine Kunstlehre und Handlungspraxis19 „den inneren Zusammenhang zwischen Sprachverwendung und Denk- und Problemlösungspraxis wie selbstverständlich herzustellen“.20 Wenngleich man von soziologischer Seite gegen den von mir eingeschlagenen Weg einwenden könnte, dass dieser in der Soziologielehre sehr spezifisch sei und keineswegs das Fach als Ganzes repräsentiere,21 so möchte ich diesem möglichen Einwand entgegnen, dass ich mich für diesen Weg entschied, weil er mir am besten geeignet erschien, dem zu entsprechen, was von einem Lehrfach an einer Fachhochschule auch gesetzlich erwartet wird: Nämlich eine Vermittlung von Praxis und Theorie zu leisten, ohne 15 Zu einem Beispiel dessen, was ich unter Begriffssoziologie verstehe, vgl. von Harrach (1994), S. 116. 16 Wenngleich, wie Adorno [(1997 e), S. 580] einmal formuliert hat, „keine Wissenschaft, gleichgültig welcher Art, (. . .) ohne eine gewisse Terminologie (auskommt)“. 17 Vgl. Oevermann (1995 a), S. 71; ders. (1997 a), S. 123; ders. (2000 b), S. 75. 18 Oevermann (1983 a), S. 234; ders. u. a. (1979), S. 359; ders. (1981), S. 4; ders. (1993 b), S. 256. 19 Oevermann (1995 a), S. 71. 20 Ebd., S. 131. 21 Doch wer kann dies von sich behaupten, zumal, wie Adorno in seinem Aufsatz „Soziologie und empirische Forschung“ schreibt, „die unter dem Namen Soziologie als akademische Disziplin zusammengefaßten Verfahrensweisen (. . .) nur in einem höchst abstrakten Sinn miteinander verbunden (sind): dadurch, daß sie allesamt in irgendeiner Weise Gesellschaftliches behandeln“. Adorno (1997 a), S. 196.
1. Begründung für die Wahl des Ausbildungsgegenstandes
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„damit“, wie Ohlhaver und Wernet es jüngst in einem Beitrag zur Schulund Unterrichtsforschung formulierten, „einer inadäquaten Szientifizierung der Berufspraxis Vorschub zu leisten“.22 Genau diese Szientifizierung galt es zu vermeiden. Ziel war vielmehr, die Studenten durch den Erwerb methodischer Kompetenz an konkretem Fallmaterial, das aus ihrer Berufspraxis stammte, für diese Praxis zu sensibilisieren und Einstellungen und Deutungsmuster, die für ein berufsangemessenes Handeln hinderlich sind, zu verändern.
1. Begründung für die Wahl des Ausbildungsgegenstandes Als Gegenstand der fallorientierten Ausbildung wählte ich den Handlungsbereich des Polizeinotrufes. Dies aus drei Gründen: 1. Es handelt sich hier um einen schutzpolizeilich bedeutsamen Praxisausschnitt,23 der in exemplarischer Weise für den Strukturkern polizeilichen Handelns steht: Den routinisierten Umgang mit Krisen. Denn die Schutzpolizei tritt typischerweise in Tätigkeit angesichts von Krisen, und die Reaktion auf die Krise muss routinisiert sein. D. h., das polizeiliche Handeln setzt ein, wenn die Krise eingetreten ist. Das ist die Grundlogik polizei22
Ohlhaver/Wernet (1999), S. 15. Als Stichwort sei nur genannt: Erster Angriff, wobei es sich bei diesem Begriff nicht, wie man vermuten könnte, um einen militärischen Ausdruck handelt, sondern um einen kriminalistischen Terminus technicus, dessen Bedeutung auf Luther verweist: „eine arbeit, ein werk angreifen“. Grimm/Grimm (1984 a), Sp. 356. Zu diesem kriminalistischen Terminus technicus heißt es in einem Kriminalistikfachbuch aus der ehemaligen DDR: „Der erste Angriff ist die Gesamtheit aller nach Bekanntwerden eines kriminalistisch-relevanten Ereignisses im Anfangsstadium durchzuführenden kriminalistischen Operationen und Untersuchungshandlungen. Er umfaßt die kriminaltaktischen, kriminaltechnischen und leitungsorganisatorischen Maßnahmen in einer relativ begrenzten Phase zur schnellen und gründlichen Suche, Sicherung und Auswertung aller vorhandenen Beweismittel und Spuren zum Zwecke der schnellen Täterermittlung und Schaffung der Voraussetzungen zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung.“ Autorenkollektiv unter Leitung von Oberstleutnant d. K. Rolf Ackermann (1977), S. 18. Und in einem westdeutschen Standardwerk der Kriminalistik ist zu lesen: „Erster Angriff, Bezeichnung aller unaufschiebbaren Feststellungen und Maßnahmen zur Aufklärung einer Straftat; der E. A. umfaßt in der Regel den Sicherungsangriff und den Auswertungsangriff; vgl. PDV 100 Nr. 2.3.2.“ Rupprecht (1986), S. 131. In diesem Lexikon finden sich dann auch die Definitionen der beiden Angriffsarten: „Sicherungsangriff, Bezeichnung für unaufschiebbare Feststellungen und Maßnahmen zur Sicherung des Tatortes, zur Aufklärung einer Straftat und zur Fahndung nach Tatverdächtigen. Vgl. PDV 100 Nr. 2.3.2.2“. Ebd., S. 366. „Auswertungsangriff, Bezeichnung aller unaufschiebbaren Feststellungen und Maßnahmen zur Aufklärung einer Straftat durch Sammeln und Auswerten von Erkenntnissen; vgl. PDV Nr. 2.3.2.3.“ Ebd., S. 48. 23
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lichen Handelns, der nicht-standardisierbare Kern, der professionalisierungsbedürftig ist. Es geht letzten Endes um Existenzprobleme, es geht um Krisenintervention bei Menschen, die sich in akuten Krisensituationen befinden und in dieser Situation die Polizei über den Polizeinotruf alarmieren. Polizisten müssen zunächst am Notruftelefon und dann auch nachgeschaltet vor Ort fallorientiert denken, um überhaupt sachgerecht handeln zu können. Das erfolgreiche Handeln von Polizisten in solchen Krisen ist davon bestimmt, das Krisenhafte der Situation richtig einzuschätzen und situationsangemessen zu reagieren. Dies gelingt nur in dem Maße, in dem ihr Handeln weder vollständig routinisiert (technokratisch, subsumtionslogisch) ist, weil sie dann nicht mehr dem Fall angemessen handeln würden; noch ohne jede entlastende Routine ist, weil die Krise sie dann selbst in die Krise bringen würde und sie handlungsunfähig machen könnte. Routinisierte Krisenbewältigung besteht folglich darin, in Krisensituationen weder das Krisenhafte des konkret vorliegenden Falles zu leugnen, noch angesichts der Krise selbst ,in die Krise‘ zu geraten und damit handlungsunfähig zu werden.24 2. Es handelt sich um einen organisationsintern relativ gut protokollierten25 Handlungsbereich, was für mich von nicht zu unterschätzender Bedeutung für den Unterricht war, weil somit die Studenten selbst relativ leicht die Daten erheben konnten,26 die sie anschließend analysieren sollten, und ich damit der Gefahr entging, in die aus der Ethnologie bekannten Fußangel des Bongo-Bongoismus27 zu geraten, in die ich hätte geraten können, wenn ich zu Unterrichtszwecken nur Fälle aus meiner eigenen Forschungspraxis28 verwendet hätte. Zudem versprach ich mir durch den Vergleich der studentischen Fallanalysen mit meinen eigenen Analysen ihrer Fälle einen für sie höheren Erkenntnisgewinn, weil ich ihnen dann am Material zeigen konnte, was man sehen kann, was man vorher nicht gesehen hat, wenn man
24 Vgl. hierzu Müller-Tucholski/Ley (1998), wo dies am Handlungsausschnitt der Überbringung von Todesnachrichten diskutiert wird. 25 Eingehende Polizeinotrufe werden tontechnisch aufgezeichnet (s. Anhang IV.) und für eine gewisse Zeit konserviert. 26 Um den Zugriff zu gewährleisten, gab ich den Studenten ein Schreiben mit, in dem ich die Dienststellen um Unterstützung zu Unterrichtszwecken bat (s. Anhang I.). Wie mir berichtet wurde, gab es nur in einem Fall (N = 20 Gruppen) ein Problem, weil die Echtheit dieses Schreibens angezweifelt wurde. Doch auch dieses Problem war nach einer ,Rücksprache‘ zu lösen. 27 „Die in der Weise funktioniert, daß angesichts einer provisorisch formulierten Verallgemeinerung sofort irgendein Feldforscher aufsteht und bemerkt: ,Das ist ja alles soweit gut und schön, aber bei den Bongo-Bongo sieht die Sache völlig anders aus!‘“. Douglas (1986), S. 7. 28 Von 1988 bis 1990 bei der rheinland-pfälzischen Polizei.
2. Praxisform des Polizeinotrufs
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Fälle nach der Methode der Sequenzanalyse interpretiert, und wie entscheidend es ist, protokollierte sprachliche Details ernst zu nehmen. 3. Es sich beim Polizeinotruf um einen überschaubaren, d. h. von der Kontextuierung nicht zu komplexen, abgeschlossenen Handlungsbereich aus dem realen Polizeialltag handelt, der für eine vollständige (totale) und streng am Text orientierte Einübung in die objektiv hermeneutische Fallanalyse methodologisch wie geschaffen ist.29 Bevor ich in den beiden nächsten Kapiteln auf Rahmendaten der Ausbildung und den faktischen Ausbildungsverlauf zu sprechen kommen werde, zunächst noch eine Bemerkung zur Praxisform des Polizeinotrufs.
2. Praxisform des Polizeinotrufs Zunächst ist zu sagen, dass beim Notruf im Unterschied zu dem von Ulrich Oevermann und Andreas Simm in ihren beiden Studien aus den Jahren 1985 und 1994 hinreichend analysierten polizeilichen Ermittlungshandeln30 ein spezieller Fall vorliegt, denn im Unterschied zum Ermittlungshandeln kommt es beim Notruf nicht darauf an, möglichst viele mit dem Spurentext kompatible Lesarten zu entwickeln,31 sondern so zu reagieren, dass die für 29 Oevermann spricht hier von der Bedeutung zweier wichtiger Prinzipien bei der Sequenzanalyse. Das erste lautet: „Das Totalitätsprinzip: Welches Protokoll auch immer analysiert wird – für den zur Sequenzanalyse ausgewählten Protokollabschnitt gilt grundsätzlich, daß darin alles, d. h. jede noch so kleine und unscheinbare Partikel in die Sequenzanalyse einbezogen und als sinnlogisch motiviert bestimmt werden muß. Es darf nichts durch eine Vorselektion von der Fragestellung her ausgelassen werden, weil es angeblich nicht von Bedeutung sei. Über die Relevanz eines Datenmaterials ist bei der Auswahl des Falles und des ihn verkörpernden Protokolles zu entscheiden. Die Sequenzanalyse des gewählten Protokolls muß dagegen unselektiv total sein.“ Das zweite Prinzip nennt er „das Wörtlichkeitsprinzip: Während das Totalitätsprinzip vorgängige selektiv wirkende Beschränkungen der Datenanalyse auflösen soll, richtet sich das Wörtlichkeitsprinzip umgekehrt auf die Einhaltung von Beschränkungen. Es soll dazu anhalten, nur das in die Rekonstruktion von sinnlogischen Motivierungen einfließen zu lassen, das auch tatsächlich im zu analysierenden Text bzw. Protokoll lesbar oder – bei nicht-sprachlichen Ausdrucksgestalten – wahrnehmbar, d. h.: hörbar, sichtbar, fühlbar, riech- oder schmeckbar markiert und deshalb vom Text ,erzwungen‘ ist. Komplementär dazu sind alle Lesarten verboten, die zwar mit einer Ausdrucksgestalt kompatibel sind, aber nicht in ihr markiert und deshalb nicht von ihr erzwungen sind.“ Oevermann (1998 a), o. S. [Hervorhebung im Original durch Unterstreichung, T. L.]; vgl. auch Oevermann (1996 a), S. 32; oder ders. (2000 c), S. 100 ff. 30 Wenngleich die von ihnen zur Verbesserung der Praxis vorgeschlagene curriculare Umsetzung in Form einer institutionalisierten Kunstlehre kriminalistischen Handelns in der polizeilichen Ausbildung bis heute noch weitgehend aussteht. 31 Um zu verhindern, dass man sich bei der kriminalistischen Suche nach dem unbekannten Täter zu früh auf einen bestimmten Tätertyp festlegt, d. h. zu früh von
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die Polizeiarbeit wertvolle Informationssubstanz möglichst schnell verarbeitet und in praktisches Handeln umgesetzt wird.32 Die Fallstruktur des Notrufs besteht darin, dass es sich hier um eine krisenhafte erste Kontaktaufnahme mit der Polizei handelt bezüglich einer vollkommen ungefilterten ersten Auffälligkeit. Und der den Notruf entgegennehmende Polizeibeamte hat die Aufgabe, zu filtern, was relevant und was nicht relevant ist, ob und wie reagiert wird, und dies dem Anrufer mitzuteilen, wobei – so Oevermann u. a. in Kapitel III ihres BKA-Gutachtens – „nicht wenige Einsätze (. . .) zielgerichteter und erfolgreicher (hätten) verlaufen können, wenn der Beamte, der einen Hinweis aus der Bevölkerung am Telefon entgegennahm, besser zugehört hätte, sich mehr bemüht hätte, sich durch Hineindenken in die Situation des Anrufers ein anschaulicheres Bild von der gemeldeten Situation zu machen und durch gezieltes, vor allem interessiertes und den Anrufer prinzipiell anerkennendes Nachfragen einen präziseren Eindruck des gemeldeten Ereignisses oder Geschehens zu erhalten und dann entsprechend an die Einsatzbeamten weiterzugeben“.33 Voraussetzung für diese Aufgabenerfüllung ist eine Interpretationssicherheit als Element einer Reaktionssicherheit unter Handlungsdruck, was diese polizeiliche Aufgabe vergleichbar macht mit der eines Notarztes, der ebenso wie der Polizeibeamte in krisenhaften Situationen sehr schnell und treffsicher reagieren muss. Berücksichtigt man diese Fallstruktur, ist evident, dass es bei der Ausbildung bezüglich der Behandlung von Notrufen nicht ausreicht, nur die Interpretation verschrifteter Notrufaufzeichnungen zu üben, sondern die Polizei-
Phase 1 (Ermittlungshandeln) in Phase 2 (beweiskräftige Überführung) wechselt. Hierzu Oevermann/Simm (1985), 286: „Ein wesentliches Problem kriminalistischer Praxis besteht darin, diesen Wechsel [von der ersten in die zweite Phase, T. L]) zum einen nicht zu früh eintreten zu lassen, also nicht beim erstbesten Verdächtigen alles schon auf die Operation der beweissichernden Überführung zu konzentrieren, zum anderen auch dann, wenn ein sehr stark indizierter Verdächtiger konkret aufgefunden worden ist, virtuell sich für die erste Phase der Ermittlungstätigkeit weiterhin offenzuhalten, solange jedenfalls, bis die Akten an die Staatsanwaltschaft zur Prüfung einer Anklageerhebung endgültig übergeben worden sind.“ 32 Nach Oevermann [(1997 a), S. 82] handelt es sich hier um „die primäre Phase der aktiv-praktischen Entscheidung“ bei der Krisenbewältigung, „die immer auch schon eine spontane, reflexartige, intuitiv von der Richtigkeit überzeugte Entschließung ist“. 33 Oevermann u. a. (1994), S. 258 f. Und ihre Schlussfolgerung lautet: „Es liegt auf der Hand, daß auch hier ein erschließender, fallverstehender habitueller Zugang zum Daten- und Informationsmaterial eine große Unterstützung böte. Wir halten jedenfalls eine intensive entsprechende Schulung und exemplarische fallbezogene Ausbildung der das Telefon bedienenden Beamten unter diesem Aspekt für eine wenig aufwendige, wirkungsvolle und vielversprechende Maßnahme.“ Ebd., S. 259.
3. Aufbau der Arbeit
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beamten auch im Sinne praktischer Gesprächsführung geschult werden müssen, wozu sich methodisch der Einsatz von Rollenspielen anbietet.34
3. Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in neun Kapitel. Im ersten Kapitel (A.) werde ich kurz auf die Institution zu sprechen kommen, an der ich die sequenzanalytische Methode in den Soziologieunterricht einführte. Danach werde ich im zweiten Kapitel (B.) beschreiben, wie ich die Ausbildung didaktisch aufbaute, um die Studenten mit der Methode der Sequenzanalyse bekannt zu machen, welche Unterrichtseinheiten ich hier durchführte und worauf ich bei der Durchführung der Unterrichtseinheiten achtete. Im dritten Kapitel (C.) werde ich die von den Studenten erhobenen Notrufprotokolle analysieren, um dann im vierten Kapitel (D.) der Arbeit auf der Basis dieser Materialanalysen vergleichen zu können, wie die Polizeistudenten die Methode am Fall anzuwenden verstanden, wie sie die Polizeipraxis anhand der Protokolle evaluierten und welche Schwierigkeiten hierbei auftraten.
34 Im polizeilichen Fachschrifttum finden sich erst zu Beginn der siebziger Jahre, mit der Einstellung von Psychologen und Soziologen in die Polizeiorganisation, Hinweise auf den sinnvollen Einsatz von Rollenspielen. So schreiben z. B. Hornthal/Krappen (1974), S. 179 f.: „Das Rollenspiel (. . .) ist eine Trainingsart und ,empfiehlt sich (. . .) zur Vorbereitung auf Ernstsituationen, denen wir freier und wirkungsvoller begegnen können, wenn wir gelernt haben, die wahrscheinlichen Folgen unserer eigenen Verhaltensweisen vorauszusehen‘ (Hofstätter 1972, Seite 221). Es ist vergleichbar mit dem Falltraining an der Lehrrevierwache oder Lehrstraße, mit Unternehmerspielen oder (Personal-)Planspielen, mit Voll-/Rahmenübungen oder mit Manövern. In jedem Fall geht man von einer konkreten, praktischen Situation aus und teilt zwei oder mehreren Spielern Rollen zu.“ Interessant erscheint mir besonders der Hinweis auf die Vergleichbarkeit des Rollenspiels mit dem ,Falltraining‘ an der ,Lehrrevierwache‘ oder ,Lehrstraße‘, Begriffen, die dem Fach Polizeidienstkunde zuzuordnen sind, dem in der Polizeiausbildung die Aufgabe zufiel, für die Praxisnähe der Ausbildung zuständig zu sein. Ein weiterer in der Polizeidienstkunde gebrauchter Begriff für das, was später Rollenspiel genannt wurde, ist der der „praktischen Übung“. So schreibt Polizei-Oberkommissar Werner Giese in seinem sehr instruktiven Aufsatz „Wesen, Bedeutung und Umgang des Faches Polizeidienstkunde“: „Was für den Artisten die Probe, für den Anatom das Präparat, was für den Physiker das Experiment, ist für den Polizisten die praktische Übung in der Polizeidienstkunde“. Giese (1958), S. 81. Der Rollenspielbegriff gehört heute zum normalen Sprachgebrauch in der Polizeiorganisation, was zu tun hat mit einer seit den 80er Jahren eingeleiteten ,kommunikativen Wende‘ in der Polizeiausbildung.
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Im fünften Kapitel (E.) werde ich ausschnitthaft analysieren, wie die Studenten in Notruf-Rollenspielen handelten, wie angemessen sie ihre Aufgaben bewältigten und welche Schwierigkeiten bei der praktischen Gesprächsführung festzustellen waren. Im sechsten Kapitel (F.) gehe ich der Frage nach, ob und inwieweit die sequenzanalytische Ausbildung das Denken und Handeln der ausgebildeten Polizeibeamten veränderte. Im siebten Kapitel (G.) folgen Ausführungen zu Erfahrungen bei der Umsetzung der Methode auf der institutionellen Ebene. Im achten Kapitel (H.) gehe ich auf Konsequenzen für die klinische Soziologie ein, die sich aus meiner Sicht aus der Studie ergeben, ehe ich im neunten Kapitel (I.) die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen werde. Es folgt dann, die Arbeit abrundend, der Anhang, in den ich u. a. Texte aufgenommen habe, die belegen sollen, dass die Umsetzung und Anwendung der Methode in meiner Berufspraxis erfolgreich war, und abschließend die Auflistung der bei der Erstellung der Arbeit benutzten Literatur.
A. Der Fachbereich Polizei als Institution zur Ausbildung von Polizeibeamten 1. Vorbemerkung Ehe ich im nächsten Kapitel darauf eingehen werde, wie ich die Methode der Sequenzanalyse in die Polizeiausbildung umzusetzen versuchte, halte ich es für notwendig, dem Leser zunächst einige Informationen über die Lehrinstitution zu geben, an der dieser Umsetzungsversuch erfolgte. Zudem möchte ich den Leser über den Studienverlauf, das Lehrangebot und den Status des Faches Soziologie informieren, in dem die Umsetzung der objektiv hermeneutischen Sequenzanalyse in die Lehre erfolgte. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit objektiven Daten der Polizeibeamten, mit denen ich in der Polizeiausbildung einen neuen methodischen Weg beschritt.1
2. Fachbereich Polizei Der Fachbereich Polizei ist nach dem Thüringer Gesetz über die Verwaltungsfachhochschule (ThürVFHG2) einer von drei Fachbereichen der Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung (Verwaltungsfachhochschule). Der Sitz des Fachbereiches Polizei ist in Meiningen, der der Fachbereiche Kommunalverwaltung/staatliche Verwaltung und Steuern in Gotha. 1 Wenn Behr schreibt: „Einen Neubeginn hat es für die Polizeien der neuen Bundesländer nicht gegeben. Organisatorisch wurden alte Konzepte der jeweiligen Patenländer verwendet“ [(1996), S. 20], so stimmt sein Urteil in dieser Totalität nicht. Es ist zutreffend, dass es curriculare Importe aus den alten in die neuen Bundesländer gab. Und sicherlich wurden auch manche Lehrinhalte, die in den alten Bundesländern vermittelt wurden, auch in den neuen Bundesländern ,offeriert‘, obwohl sie dringend der Überarbeitung bedurft hätten. Und dennoch: Es gab Ausnahmen. Und dazu zählt u. a. mein Versuch, eine fallorientiert-fallrekonstruktive Soziologielehre zu institutionalisieren und damit in der Polizeiausbildung einen Weg zu beschreiten, der so ohne weiteres in einem der alten Bundesländer nicht hätte beschritten werden können, weil dort die institutionellen Rahmenbedingungen deutlich ungünstiger waren. Als Stichworte seien genannt: Nebenfachcharakter des Faches Soziologie, verkrustete Curriculumstrukturen. 2 Vom 23. März 1994 (GVBl. S. 313), geänd. durch Art. 2 ThürHSG 1997 v. 16.12.1996 (GVBl. S. 315) u. durch Art. 1 G z. Änd. d. ThürVFHG u. d. ThürFAG v. 27.7.1999 (GVBl. S. 458).
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A. Fachbereich Polizei – Institution zur Ausbildung von Polizeibeamten
Die Verwaltungsfachhochschule ist eine verwaltungsinterne Einrichtung des Freistaats Thüringen, deren Aufgabe nach § 1 Abs. 1 ThürVFHG in der „Ausbildung der Beamten der Laufbahnen des gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienstes“ besteht. Nach § 1 Abs. 2 ThürVFHG untersteht der Fachbereich Polizei der Aufsicht des Innenministeriums. Die Aufsicht beschränkt sich aber nach § 1 Abs. 3 ThürVFHG „im Bereich von Wissenschaft, Forschung und Lehre (. . .) auf die Sicherstellung der Rechtmäßigkeit und der Erfüllung der Aufgaben der Verwaltungsfachhochschule, insbesondere auf die Vollständigkeit des Lehrangebotes und die Einhaltung der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen sowie der Studienpläne“. Der Fachbereich Polizei nahm im April 1993 seinen Lehrbetrieb auf3 und wurde im Juni desselben Jahres offiziell gegründet, zwei Jahre nachdem im Thüringer Innenministerium die Arbeitsgruppe ,Aus- und Fortbildung der Thüringer Polizei‘ damit beauftragt worden war, eine Konzeption für die Thüringer Polizei zu erarbeiten.
3 Ort der Lehre ist – bis auf eine Unterbrechung von achtzehn Monaten – eine Wehrmachtskaserne, die oberhalb des Stadtzentrums von Meiningen auf dem Drachenberg gelegen ist. Die Drachenberg-Kaserne wurde, wie Schmidt-Raßmann (1998, S. 56) schreibt, „1935 (. . .) in Tag- und Nachtarbeit aus dem Boden gestampft“. Die Einweihung erfolgte am 5. Januar 1936. „Nach einem Marsch vom Markt aus“ [Schmidt-Raßmann (1998), S. 56] zog das „II. Bataillon Schützenregiment 2“ [Schmidt-Raßmann (1998), S. 56 und Zeigert (1998) S. 255] in die Kaserne ein. „Dem Schützenregiment 2 folgte das aus dem österreichischen Bundesheer übernommene Schützenregiment 12“. Zeigert (1998), S. 256. Nach dem II. Weltkrieg wurde die Drachenberg-Kaserne durch Akt vom 24. Dezember 1946 durch den Chef des Stabes der Sowjetischen Militäradministration (SMA) Thüringen, General-Major Smirnow, dem Land Thüringen übergeben (s. hierzu ein Schreiben vom Land Thüringen, Ministerium des Innern, Amt für Kommunal- und Bauwesen, vom 21. Januar 1947 an das Staatliche Hochbauamt in Hildburghausen). Eine genaue Rekonstruktion der weiteren Nutzungsgeschichte der Drachenberg-Kaserne ist aufgrund der Quellenlage sehr schwierig. Von einem Zeitzeugen, einem ehemaligen Innendienstleiter der 2. und 5. Kompanie der „13. Bereitschaft“ in Meiningen, erhielt ich die Information, dass die Drachenberg-Kaserne ab Mitte der 50er Jahre Stationierungsort der für die Grenzsicherung zuständigen „Grenztruppen“ der DDR (1955–1973 NVA-Grenzbataillon, von 1974–1990 Grenzregiment 9 „Konrad Blenkle“), der „7. Bereitschaftspolizei“ (1956–1958) und von 1958 bis 1990 der „13. Bereitschaft“ war.
3. Studienverlauf, Studienziele und Status des Faches Soziologie
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3. Studienverlauf, Studienziele und Status des Faches Soziologie Das Studium gliedert sich in a) b) c) d) e)
ein ein ein ein ein
Grundstudium I (6 Monate), Grundpraktikum (6 Monate), Grundstudium II (6 Monate), Hauptstudium (6 Monate), Führungspraktikum (6 Monate)
und f) ein Abschlussstudium (6 Monate).4 Es schließt mit der Staatsprüfung ab, die zugleich Laufbahnprüfung für den gehobenen Polizeivollzugsdienst ist.5
Grundstudium I
Grundpraktikum
Grundstudium II
Hauptstudium
Führungspraktikum
Abschlussstudium
Die Studienabschnitte weisen jeweils eine Dauer von 24 Wochen auf; insgesamt 96 Wochen fachtheoretische und 48 Wochen fachpraktische Ausbildungszeit. In den fachtheoretischen Studienabschnitten sind die Zeiten der zu erbringenden Leistungsnachweise (Klausuren, Fachgespräche, Referate usw.); des Kolloquiums (am Ende des Grundstudiums); der Diplomarbeit (zum Ende des Hauptstudiums/Beginn des Führungspraktikums 4 Wochen während der fachtheoretischen und 2 Wochen während der fachpraktischen Studienzeiten); der schriftlichen und mündlichen Prüfung enthalten. Der über die Studienunterbrechung (4 Wochen im Sommer) hinaus zustehende Jahresurlaub ist vornehmlich während der fachpraktischen Ausbildungszeit in Anspruch zu nehmen.
Abbildung 1: Studienabschnitte 4 So der in der Ausbildungs- und Prüfungsordnung (APO) beschriebene Regelfall, von dem dann aber in der Praxis abgewichen wurde. So gab es am Fachbereich neben dem dreijährigen Studium auch a) zwei einjährige Studienjahrgänge für Polizeibeamte, die bereits in der DDR eine dem Fachhochschulstudium analoge Polizeiausbildung durchlaufen hatten [bis heute 99 Polizeibeamte, von denen 90 das Staatsexamen bestanden]; b) zwei zweijährige Studienjahrgänge für Praxisaufsteiger [bis heute 105 Studenten, von denen 103 das Examen bestanden]. Zu den verkürzten Studienzeiten kam es, weil in der Praxis ein erheblicher Bedarf an geeignetem Führungspersonal bestand, der möglichst schnell gedeckt werden sollte. 5 Hierzu § 2 APO.
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A. Fachbereich Polizei – Institution zur Ausbildung von Polizeibeamten
Wie aus dem Wechsel von Studienabschnitten und Praktikaabschnitten ersichtlich, gliedert sich das Studium in fachtheoretische und fachpraktische Ausbildungsteile. Ziel der fachtheoretischen Ausbildung ist es, den Studierenden6 „für ihre künftige Berufsarbeit die erforderlichen wissenschaftlichen Kenntnisse und Methoden so zu vermitteln, daß sie diese in der Praxis anwenden können und zu eigenverantwortlichem Handeln in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat befähigt werden“,7 um in der Praxis „Aufgaben der Führung und Sachbearbeitung wahrzunehmen“.8 Geht es im fachtheoretischen Teil der Ausbildung um eine „berufsorientierte Auseinandersetzung mit Wissensbeständen“,9 so besteht das Ziel der fachpraktischen Studienzeit darin, „die Studierenden auf der Grundlage der während des fachwissenschaftlichen Studiums erworbenen theoretischen Kenntnisse an den praktischen Polizeivollzugsdienst heranzuführen“.10 Das Lehrangebot setzt sich aus Lehrveranstaltungen in den vier Fachgebieten11 a) Rechtswissenschaften, b) Einsatz- und Kriminalwissenschaften, c) Sozialwissenschaften sowie d) Führungswissenschaften zusammen, die nach § 24 APO Prüfungsfächer sind, also Hauptfachstatus haben, wobei „die Verteilung der Fächer in den Studienabschnitten, ihr jeweiliger Umfang, die dabei bestehenden Wahlmöglichkeiten und die zu er6
Der Begriff „Studierende“ ist in § 11 ThürVFHG definiert: „(1) Studierende sind die Beamten auf Widerruf im Vorbereitungsdienst der Laufbahnen des gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienstes [Seiteneinsteiger, T. L.]. Die zum Aufstieg zugelassenen Beamten des mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienstes [Aufsteiger, T. L.] werden während der Teilnahme an dem Studiengang den Studierenden gleichgestellt.“ 7 Hierzu § 5 Abs. 1 APO. 8 Ebd. 9 Oevermann u. a. (1980), S. 63. 10 Hierzu § 11 Abs. 1 APO. Näheres regeln die „Richtlinien für die praktische Studienzeit“ (derzeit gültige Fassung vom 16.11.1999). U. a. sind hier die Praktikumsstationen für „Seiteneinsteiger“ und „Aufsteiger“ im Grund- und Führungspraktikum geregelt, aber auch die Kriterien zur Bewertung der Praktikumsleistungen festgelegt, was aus dem Grunde wichtig ist, weil die im Praktikum erzielten Bewertungen mit zehn Prozent in die Gesamtnote der Laufbahnprüfung eingehen. 11 Hierzu § 6 APO.
3. Studienverlauf, Studienziele und Status des Faches Soziologie
Abbildung 2: Fächerverteilungsplan
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A. Fachbereich Polizei – Institution zur Ausbildung von Polizeibeamten
bringenden Leistungsnachweise“ im vorangehend abgebildeten „Fächerverteilungsplan“ dargestellt sind.12 Wie aus dem Fächerverteilungsplan zu ersehen ist, gehört das Fach Soziologie zum Fachgebiet Sozialwissenschaften, woraus folgt, dass es anders als in anderen Bundesländern, wo es als „Nichtprüfungsfach“13 eher einen „marginalen Rang“14 im Polizeistudium einnimmt und teilweise als mehr oder mehr weniger „unterhaltsames Erholungsfach“15 in der Ausbildung gesehen wird,16 eine nicht unerhebliche Bedeutung hat.17
4. Organisation der Lehre Die Studierenden werden in Kursen unterrichtet, die, durchaus vergleichbar mit Schulklassen, über den gesamten Studienverlauf hinweg zusammenbleiben.18 Neben dieser „dem schulischen Lernen vergleichbaren“19 Lernsituation gibt es auch andere strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Schulunterricht und dem Studium an der Fachhochschule. So besteht ein von der Studienverwaltung in Zusammenarbeit mit der Fachbereichsleitung erarbeiteter Wochenstundenplan, in dem genau festgelegt ist, an welchen Tagen welche Fächer unterrichtet werden,20 die Studierenden also nicht wie bei 12
Hierzu § 4 APO. von Harrach (1983), S. 162 f. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Es waren solche Erfahrungen aus den alten Bundesländern, die bei der Gestaltung des Curriculums und der Ausbildungs- und Prüfungsordnung mit eingingen, wobei die Weichenstellung in Richtung Hauptfach auch deswegen erfolgte, weil der Fachbereichsleiter von Hause aus Soziologe war (er hatte in Wuppertal u. a. bei Manfred Brusten studiert) und selbst über hinreichend Lehrerfahrungen verfügte, die dem in den zuvor zitierten Textstellen Geschilderten sehr nahe kamen. 17 Und zwar sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen Staatsexamen. Im mündlichen Staatsexamen, das zumeist unter Leitung eines Ministerialbeamten durchgeführt wurde, wurden drei bis fünf Studierende von je einem Vertreter aus den Fachgruppen Rechtswissenschaften, Einsatz- und Kriminalwissenschaften, Führungs- und Sozialwissenschaften geprüft. Hierzu wurde den Prüfungskandidaten ein Fall ausgeteilt, zu dem dann die vier Fachgruppenvertreter Fragen stellten. Das mündliche Staatsexamen hatte eine durchschnittliche Länge von 180 Minuten (vier Unterrichtsstunden). 18 Für einen Dozenten bedeutet dies bei drei Kursen, dreimal an einem Tag in etwa den gleichen Lernstoff zu vermitteln. Was nicht leicht ist – und ich mir das eine oder andere Mal wie ein Papagei vorkam. 19 Oevermann u. a. (1980), S. 63. 20 Der Unterrichtsplan wurde wöchentlich neu erstellt. Dies hatte zur Konsequenz, dass sich sowohl die Studenten als auch die Dozenten von Woche zu Woche auf unterschiedliche Unterrichtszeiten in den einzelnen Fächern einstellen mussten. 13
4. Organisation der Lehre
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Abbildung 3: Stundenplan
einem Universitätsstudium ihren Studienplan selbst erstellen können, sondern der Ausbildungsprozess von Beginn an relativ hoch organisiert und durchrationalisiert ist.21 Zudem besteht eine in der APO geregelte „Teilnahmepflicht“ am Unterricht, nach der die Studierenden „verpflichtet“ 22 sind, „an den Lehrveranstaltungen teilzunehmen“,23 womit es ein funktionales Äquivalent zu „der für alle modernen Gesellschaften geltenden gesetzlichen Schulpflicht“24 gibt, die „die Verpflichtung zum Schulbesuch (. . .) zu einer fremdbestimm21 Hierzu gehört, dass die Dozenten dienstlich verpflichtet waren, die von ihnen gehaltenen Unterrichtsstunden in ein ihnen von den Kurssprechern gegen Ende des Unterrichts vorgelegtes Kursbuch (s. Anhang III.) einzutragen. Und die Kurssprecher hatten die Weisung vonseiten der Fachbereichsleitung, das Kursbuch allwöchentlich der Studienverwaltung vorzulegen. Dies interessierte verwaltungstechnisch aus zwei Gründen. Erstens zur Kontrolle des Lehrdeputats. Dozenten hatten eine Lehrverpflichtung von 684 Stunden in einem Kalenderjahr, über deren Erfüllung in der Verwaltung Buch geführt wurde. Und zweitens zum Nachweis der curricular vorgesehenen Stunden, um bei eventuellen Verwaltungsgerichtsklagen sicherzustellen, dass das Curriculum formal erfüllt worden war. 22 § 8 APO. 23 Ebd.
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A. Fachbereich Polizei – Institution zur Ausbildung von Polizeibeamten
ten, durch externe Autorität erzwungenen Verpflichtung“25 macht und sie „der Militärpflicht vergleichbar behandelt“,26 wobei sich diese Verpflichtung bei den studierenden Polizeibeamten aus dem Dienstrecht ergibt.27 So gilt die Studienzeit als Dienstzeit und ein unentschuldigtes Fernbleiben vom Unterricht kann disziplinarrechtliche Konsequenzen zur Folge haben.28
5. Objektive Daten zu meinem Bezugsjahrgang Zu dem in die Methode eingeübten Studienjahrgang gehörten 68 Polizeibeamtinnen und -beamten,29 die sich hinsichtlich ihrer formalen Bildung, ihrer vorpolizeilichen Berufserfahrung30 und ihren praktischen Polizeierfah24 Oevermann (1997 a), S. 162. Auch wenn zu sehen ist, dass diese im Normalfall nur bis zum 10. Schuljahr, also bis zum Alter von 14 bis 16 Jahren besteht (vgl. ebd., S. 166), erscheint mir der obige Vergleich zur Teilnahmepflicht am Unterricht dennoch legitim, weil der Besuch der Fachhochschule die einzige Chance war, eine Karriere in der Polizei zu machen, der erfolgreiche Schulbesuch also entscheidend für das berufliche Weiterkommen war, und ein erfolgreicher Schulbesuch voraussetzte, die Norm zur Teilnahme am Unterricht zu beachten. Der Besuch der Schule konnte zwar nicht erzwungen werden, er war eine autonome Entscheidung der Studierenden, aber diese Freiwilligkeit ist zu sehen vor dem Hintergrund des möglichen Aufstiegs in einer hierarchisch gegliederten Institution. Und dieser war ohne den erfolgreichen Abschluss der Fachhochschule nicht möglich. 25 Oevermann (1997 a), S. 163. 26 Ebd. 27 So gab es Studierende, die bereits Lebenszeitbeamte waren; daneben so genannte Beamte auf Probe und Beamte auf Widerruf. Zu Letzteren gehörten die Seiteneinsteiger. 28 Aus diesem Grund mussten die Kurssprecher so genannte „Anwesenheitslisten“ führen. Vgl. hierzu Anhang II. Zu sehen ist, dass die „Teilnahmepflicht“ am Unterricht Fachhochschule „tendenziell zu einer totalen Institution“ [Oevermann (1997 a), S. 163] macht, den Studierenden strukturell „Neugierde und Lernmotivation“ abspricht (ebd.) und Lernwilligkeit korrelativ dazu „als Ausdruck einer streberhaften Konformität mit der Autorität des Lehrers“ (ebd., S. 164) gilt und dieser „Geruch“ (ebd.) selbst jener Lernleistung noch anhängt, „die tatsächlich von einem Schüler aufgrund intrinsischer und nicht nach Notenerfolgen schielender extrinsischer Motivation ,erbracht‘ wurde.“ (ebd.) 29 Ein Student brach krankheitsbedingt sein Studium nach dem Grundstudium ab. 30 Unter ihnen waren Elektro-Facharbeiter und Diplom-Ingenieure für Elektronik, ein Diplom-Ingenieur-Pädagoge für Maschinenbau, eine Diplomlehrerin für Germanistik/Kunsterziehung, ein Diplom-Gesellschaftswissenschaftler, ein Student der Erziehungswissenschaften (mit Vordiplom), ein Unterstufenlehrer, ein Student der Politwissenschaften (sechs Semester, ohne Abschluss), ein Nachrichtentechniker (fünf Semester, ohne Abschluss), ein Student der Sportwissenschaften (drei Semester, Fernstudium), eine Studentin des Faches Biomedizinische Kybernetik (zwei Semester), ein Elektronik-Facharbeiter, ein Nachrichtenmechaniker, ein Landmaschinenschlosser, ein Fahrzeugschlosser, ein Facharbeiter für Bergbautechnologie und ein Krankenpfleger.
5. Objektive Daten zu meinem Bezugsjahrgang
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rungen nicht unerheblich unterschieden, denen aber gemeinsam war, dass sie das Auswahlverfahren31 für den gehobenen Polizeidienst bestanden und damit die laufbahnrechtliche Voraussetzung erfüllt hatten, um die Fachhochschule besuchen zu dürfen und nach bestandenem Examen32 in den gehobenen Polizeivollzugsdienst aufsteigen zu können. Unter den 68 Studierenden gab es 19 Seiteneinsteiger33 und 49 Praxisaufsteiger,34 davon 23 K- und 26 S-Beamte,35 die entsprechend dem Thüringer Integrationsmodell,36 das eine prinzipielle Austauschbarkeit von Schutz31 Das Eignungsauswahlverfahren (EAV) wurde an zwei Tagen durchgeführt. Es bestand aus zwei Komponenten: Erstens einem Intelligenztest, der mit seinen Subtests – mathematisches Denken – deduktives Denken – Konzentration/Leistung – sprachgebundenes Denken – Orthographie – räumliche Orientierung – Allgemeinwissen „Selektionscharakter“ [EAV, (o. J.)] hatte, dem also die Aufgabe zukam, „Bewerber auszuschließen, bei denen aufgrund ihrer intellektuellen Voraussetzungen eine ungünstige Prognose für das erfolgreiche Absolvieren des Studiums gegeben ist“. Und einem zweiten Teil, in dem die Bewerber in der festgelegten Reihenfolge 1. Polizeifachlicher Test 2. Vortrag 3. Verhaltensprobe Gruppenübung 4. Rollenspiel 1 5. Rollenspiel 2 6. Vortrag 2 getestet wurden. Die Leistungsbewertung erfolgte mit einer Bewertungsskala, in die alle Beurteiler zuvor eingewiesen worden waren. Konkret muss man sich das so vorstellen, dass auf eine Testgruppe von vier bis sechs Bewerbern dieselbe Anzahl von Beurteilern (Ratern) kam, die allesamt dem höheren Dienst angehören mussten. Aufgrund des mathematisch errechneten Gesamtergebnisses des ersten und zweiten Teils des EAV stellte das für die Aus- und Fortbildung zuständige Referat im Innenministerium eine Rangliste auf, nach der die Zulassung zum Studium erfolgte, wobei die Bewerber, die aufgrund ihres Rangplatzes nicht zum Studium zugelassen wurden, für zwei Jahre in einen „Bewerberpool“ eingingen, ohne erneut an einem Auswahlverfahren teilnehmen zu müssen. 32 Das zugleich Laufbahnprüfung war. Vgl. § 36 APO: „(1) Mit dem Bestehen der Prüfung erwirbt der Studierende die Befähigung für den gehobenen Polizeidienst.“ 33 Davon neun weiblich und zehn männlich. 34 Davon 15 weiblich und 34 männlich. 35 Die Berufserfahrung zum Zeitpunkt des Studienbeginns betrug bei den K-Beamten 4,9 Jahre, bei den S-Angehörigen 5,0 Jahre. 36 Vehemente, teilweise sehr polemische Kritik gegen die Einheitsausbildung wird seit Jahren vor allem im Standesblatt der Kriminalisten formuliert. Hierzu u. a.
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A. Fachbereich Polizei – Institution zur Ausbildung von Polizeibeamten
und Kriminalpolizeibeamten in der polizeilichen Praxis vorsieht, einheitlich37 – in den im Fächerverteilungsplan genannten Fächern – unterrichtet wurden.38
Bleibtreu/Jaeger (1993), S. 389 ff.; Quambusch (1998), S. 282 ff.; ders. (1999), S. 226 ff.; Bleibtreu (1999), S. 186 ff.; Träger (2000), S. 2 ff. 37 Allerdings konnten die Studierenden im Abschlussstudium (AS) entscheiden, ob sie einen Leistungsnachweis in Kriminologie oder Verkehrslehre erwerben wollten. 38 Was es dem Innenministerium ermöglichte, die Studierenden nach Studienabschluss nach Bedarf zu verwenden. Aufgrund des Integrationsmodells war es auch unproblematisch, dass ich mich mit dem Polizeinotruf für einen im Grunde genommen klassisch schutzpolizeilichen Handlungsbereich entschied, zumal ich mir durch die fallorientierte, an Texten erfolgende Einübung in die Methode der Sequenzanalyse auch Ausstrahlungseffekte auf die kriminalistische Ermittlungspraxis (z. B. Auswertung inkriminierten Schriftmaterials) versprach. Denn: „Gründliche Arbeit an einer Sache strahlt aus. Wer gelernt hat, nach der Methode der objektiven Hermeneutik Texte zu erschließen, hat neu zu lesen gelernt.“ Schröter (1997), S. 229.
B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse 1. Vorbemerkung Wenngleich in der Zwischenzeit eine Vielzahl von Publikationen zur Methode der Sequenzanalyse (SA) vorliegen,1 verzichtete ich im Unterricht ganz bewusst auf deren Einsatz, sondern versuchte vielmehr, die Methode in einer möglichst einfachen, an die Umgangssprache angelehnten Sprache darzustellen. Für diesen Verzicht gab es zwei Gründe. Der erste war meine Befürchtung, die Studierenden durch eine für sie ungewohnte Theoriesprache vor der Methode abzuschrecken2 und damit selbst im Unterricht zu scheitern.3 Der zweite war meine Zuversicht, die Grundzüge der Methode so darstellen zu können, dass die Studierenden hiernach in der Lage wären, die SA unter Verwendung ihres naturwüchsigen intuitiven Regelwissens4 zur Analyse von Fällen aus ihrer Berufspraxis einzusetzen und dadurch für die strukturelle Problematik der Notrufinteraktion sensibilisiert zu werden.5 Die Vermittlung der Methode zielte mithin darauf, die Studenten durch den Erwerb analytisch-diagnostischer Fähigkeiten an konkretem Fallmaterial, das aus ihrer Berufspraxis stammte, für die strukturelle Problematik der Notrufinteraktion zu sensibilisieren und Deutungsmuster und Habitusforma-
1 Grundlegend Oevermann (1990), S. 9 ff.; ders. (1993 b), S. 251 ff.; ders. u. a. (1994), S. 166; ders. (1995 b), S. 41 ff.; ders. (1996 a), S. 5 ff.; ders. (1998 a), o. S. 2 Und damit der Versuch, die Methode zu vermitteln, wie Bruno Hildenbrand am 20.9.1997 auf der 5. Jahrestagung der „Arbeitsgemeinschaft objektive Hermeneutik e.V.“ in Frankfurt am Main formulierte, nicht zu einem „Eigentor“ werde. 3 Ich wollte mithin kein „Flachkopf von Pädagoge“ sein, der ich allerdings aus meiner Sicht gewesen wäre, wenn ich das von Oevermann formulierte Verfahren der SA wortwörtlich, seine Schriften zitierend, ,zum Gesetz‘ erklärt hätte. Vgl. hierzu Hildenbrand (1999), S. 7. Zur Bedeutung der Umgangssprache im Unterricht s. Wagenschein (1989), S. 142 ff.; ders. (1995 a), S. 130 ff.; ders. (1995 b), S. 25 f. und 133 ff. 4 Hierzu Oevermann (1986), S. 19. 5 Dieses Lernziel legte ich den Studenten vor Beginn der Einübung in die Methode der Sequenzanalyse dar. Zudem skizzierte ich den weiteren Ablauf der Ausbildung: Im ersten Schritt Einübung in die sequenzanalytische Methode der Interpretation von Notruftexten aus der Polizeipraxis, anschließend praktisches Einüben in die Gesprächsführung in Form von Rollenspielen und Rollenspielevaluation.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
tionen, die für ein berufsangemessenes Handeln hinderlich sind, zu verändern.6 Dabei lag meinen methodischen Überlegungen ein idealtypisches Modell zu Grunde, das davon ausging, dass die naturwüchsige Interpretationsfähigkeit der auszubildenden Polizeibeamten, d. h. ihre gestaltrichtige implizite Wahrnehmungsfähigkeit, durch ihre dem Studium an der Fachhochschule vorausgehende Einsozialisation in eine tendenziell bürokratisierte und technisierte, also nicht mehr naturwüchsige Berufspraxis7 verschüttet ist, was zu einer gestaltverzerrten impliziten Fallwahrnehmung führt. Diese Fähigkeit, so meine pädagogische Prämisse, lasse sich aber über eine sequenzanalytisch-explizite Rekonstruktion von Fällen wieder freilegen,8 wobei ich meine pädagogische Aufgabe genau darin sah, die Polizeistudenten durch eine möglichst genaue – die Prinzipien der Totalität und der Wörtlichkeit beachtende – Rückmeldung zur Reflexion ihrer bisherigen Erfahrungen und habituellen Denkweisen zu bringen. Nachfolgend möchte ich aufzeigen, wie mein an der Wagenscheinpädagogik orientiertes, mehrphasiges Unterrichtsprogramm aussah, das die auszubildenden Polizeibeamten für die strukturale Problematik der Notrufinteraktion sensibilisieren sollte.9 Wenn nachfolgend drei Phasen unterschieden werden, so erfolgt diese Einteilung in Anlehnung an die zeitliche Abfolge der Studienabschnitte Grundstudium, Hauptstudium und Abschlussstudium.
2. Erste Phase Die basale Einübung in die Methode der SA erfolgte in Phase 1, die mit dem zweiten Teil des Grundstudiums (dem so genannten GII) begann. 6 Vgl. hierzu Ohlhaver/Wernet (1999), S. 15 f.; oder auch Loer (1999), S. 59: „Die Vermittlung von theoretischen Kenntnissen und methodischen Fertigkeiten ist natürlich Moment der gefragten Sensibilisierung, aber dieses Vermittelte bleibt lediglich theoretischer Besitz, wenn es nicht eingeht in eine praktische Rekonstruktion . . .“. 7 „Organisation und Technisierung – beide Begriffe gehören der Substanz nach zusammen“, schreibt Adorno (1997 b), S. 441. 8 Oevermann (1995 a), S. 131. 9 Durchaus affin zu meinem Vorgehen ist das Imdahl’sche Programm, Arbeiter und Angestellte des Bayer Werkes Leverkusen durch eine sokratische Gesprächsführung für moderne Kunst aufnahmebereiter zu machen. Vgl. Imdahl (1982), S. 12. Der pädagogisch-didaktische Unterschied zu Imdahl, der ehemaliger Professor für Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum war, besteht ,nur‘ in dem Punkt, dass ich zu Sensibilisierungszwecken vorab die Methode der Sequenzanalyse vermittelte, er hingegen unmittelbar in die Sache einstieg und so doch, wie die transkribierten Tonbandaufnahmen zeigen, nachweisbar eine Öffnung des Blicks für moderne Kunst schaffte.
2. Erste Phase
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Zur Explikation der SA ging ich von einem einfachen Modell einer „two-party conversation“10 nach Schegloff aus (wie sie u. a. für Telefonkommunikation typisch ist11), das ich wie folgt an der Tafel skizzierte: a b
a b a
b a
Abbildung 4: Tafelskizze
Anhand dieser Skizze erläuterte ich nun, dass es bei der Sequenzanalyse darauf ankomme, dem Interaktionsverlauf (a-b-a-b-a-b-a usw.) schrittweise zu folgen, Zeile für Zeile zu interpretieren, nach jeder interpretierten Zeile Hypothesen über den weiteren Verlauf aufzustellen, in der nächsten Zeile zu überprüfen, welche der aufgestellten Hypothesen tatsächlich realisiert wurde(n), diese Auswahl ihrerseits zu interpretieren, Hypothesen über den weiteren Verlauf aufzustellen usw. – und in dieser Weise bis zum Ende des Falles zu verfahren.12
10 Schegloff (1967) verwendet den conversation-Begriff, wie er schreibt, „in an inclusive way.“ Ebd., S. 52. Hierzu führt er aus: „I do not intend to restrict its reference to the ,civilized art of talk‘ or to ,cultured interchange‘ (. . .) or to require that it be sociable, joint action, identity related, etc. (. . .) I mean to include chats as well as service contacts, therapy sessions as well as asking for and getting the time of day, press conferences as well as exchanged whispers of ,sweet nothings‘. I have used ,conversation‘ with this general reference in mind . . .“. Ebd. 11 Es handelt sich hier um das abababab-Modell. Zu diesem schreibt Schegloff im zweiten Kapitel seiner Dissertation „The first five seconds. The order of conversational opening“: „It is an easily noticeable fact about two-party conversations that their sequencing is alternating; that is to say, two-party conversational sequence can be described by the formula abababab, where ,a‘ and ,b‘ are the parties to the conversation.“ Schegloff (1967), S. 52 [Hervorhebung im Original durch Unterstreichung, T. L.]; und Schegloff (1968), S. 1076.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
Nachdem ich die Methode in dieser Form dargestellt hatte, ging ich in einem weiteren Schritt dazu über, die Anwendung der Methode an zwei Praxisfällen vorzuführen, die zuvor im objektiv hermeneutischen Forschungspraktikum an der Johann Wolfgang Goethe-Universität unter der Leitung von Ulrich Oevermann13 evaluiert worden waren. Die Vorstellung der Fälle erfolgte über einen Zeitraum von vier Unterrichtsstunden.14 Ich gab den Studenten Kopien der Notrufprotokolle und sprach diese dann schrittweise durch, wobei ich mich an die beiden hier vorliegenden Fallbesprechungen anlehnte.15
3. Modellfälle Beim ersten Fall handelt es sich um die Verschriftung eines Notrufes, die ich von einem Studenten eines vorhergehenden Studienjahrgangs erhalten hatte. Der Fall ereignete sich im südthüringischen Raum (Raum Sonneberg). Wann der Anruf erfolgte (Tag, Uhrzeit), war auf der Basis der Bandaufzeichnung nicht zu rekonstruieren. Der zweite Fall stammt aus der Zeit meines Feldaufenthaltes bei der Schutzpolizei einer Dienststelle im Rheinland. Auch hier war aufgrund der Bandaufzeichnung nicht zu rekonstruieren, wann der Anruf erfolgte.16
12 Erst beim Schreiben der Arbeit fiel mir auf, dass ich an dieser Stelle deutlicher auf die Bedeutung von Hypothesenbildung hingewiesen hatte, als dies in den beiden nachfolgend dargestellten Modellfällen zum Ausdruck kommt. Den Grund dafür sehe ich neben didaktischen Erwägungen (die Einübung der Studenten in Hypothesenbildung) auch darin, dass ich mich bei meinem Vorgehen stark an Oevermanns BKA-Schriften orientierte, in denen er aber mit dem kriminalistischen Ermittlungshandeln eine Praxisform analysierte, in der die Hypothesenbildung eine praktisch noch größere Rolle spielt als beim Polizeinotruf. Diese Einsicht bewog mich, für die Ausbildung nachfolgender Studentenjahrgänge ein Notruf-Hypothesenmodell zu entwickeln. Ich komme hierauf im Schlusskapitel zurück. 13 Dafür schulde ich Prof. Dr. Ulrich Oevermann und den Teilnehmern des ständigen Forschungspraktikums ausdrücklich Dank. 14 In allen drei Kursen meines Bezugsjahrgangs. 15 Die Skepsis von Ohlhaver/Wernet [(1999), S. 19] gegen das „bloße“ Vorstellen von Interpretationsergebnissen teile ich, und zwar insbesondere dann, wenn man jemandem die Methode vermitteln will. Oder anders formuliert: Eine Präsentation von Ergebnissen, ohne gleichzeitig mit anzugeben, wie man sie gewann, woraus man sie ableitete, gleicht dem Eintrichtern von Wissen. 16 Das Notrufaufzeichnungsgerät, mit dem das nachfolgend analysierte Protokoll aufgezeichnet wurde, ist im Anhang (IV.) abgebildet.
4. Modellfall 1: ,hebt die Buden zoamm‘ I
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4. Modellfall 1: ,hebt die Buden zoamm‘ I 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
P: AM:
P: AM: P: AM: P: AM: P: AM: P:
AM: P: AM: P: AM:
Polizeinotruf17 N’abend, können Sie mal in die [Fritz Meier Straße 46] kommen? (2.0) Meine Mutti ihr Freund dreht durch, der is besoffen [Fritz Meier Straße 45]? 46 46 (1.0) Wie is’n Ihr Name? [Lehmann], fünfter Stock [Lehmann] Ihr Mutter häst a18 [Lehmann]? Ja (1.5) Um woas, um woas geht’s denn da, was is’n los? Na der ihr Freund is stechfett19 und hebt die Buden zoamm20 Hm (1.5) Ja, wir schicken jemanden vorbei Ja = aber a bor21 Mann wenn’s geht Ja mach ma scho Ja Geht in Ordnung, gut (1.0) Hm [Knacken/Ende des Telefonates]
01 P: Polizeinotruf Geht man vom formalen Schema aus, dann ist ein Substantiv, das in einem Sprechakt22 allein gebraucht wird,23 ein Kandidat für eine Prädizierung.
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Transkriptionssymbolik: Polizeibeamter (geschätztes Alter: 30–40 Jahre) Anrufer männlich (geschätztes Alter: 16–23 Jahre) schneller Sprechanschluss alle anonymisierten Daten, Pseudonyme und Anmerkungen des Verschrifters markiert eine Frage Pause in Sekunden. 18 Sonneberger Dialekt. Häst a = heißt auch? 19 stechfett = total betrunken/besoffen. 20 hebt die Buden zoamm = schlägt die Bude kaputt/randaliert in der Wohnung. 21 a bor = ein paar/mehrere. 22 Sprechakte sind nach Searle [(1990 a), S. 30] „die grundlegenden oder kleinsten Einheiten der sprachlichen Kommunikation“.
P AM = [] ? (2.0)
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
Es kann sich erstens um eine einfache Prädizierung handeln, in der jemand in elliptischer Form erklärend feststellt, dass dies ein Polizeinotruf ist, so wie man es jemand anderem erklären würde.24 Es kann sich zweitens um eine Prädizierung einer Praxis handeln, um ein Sich-Melden einer angerufenen Stelle im Sinne einer identifikatorischen oder identifizierenden Feststellung.25 Und es kann sich drittens um einen Ruf handeln, den jemand artikuliert, um a) Unterstützung in einer krisenhaften Situation zu bekommen26 oder b) auf eine krisenhafte Situation hinzuweisen (Krisenhinweis, Krisenverkündigung) beziehungsweise vor ihr zu warnen (Krisenwarnung, Warnungsejektion).27 Nimmt man an dieser Stelle als Kontextwissen hinzu, dass es sich bei dem Sprecher um einen Polizeibeamten handelt, der damit ein Telefonat eröffnet, dann scheiden die erste und die dritte Lesart aus und wir stoßen auf eine Paradoxie. Denn wenn sich der Polizeibeamte auf diese Weise meldet, bezeichnet er genau genommen das, was der Anrufer macht, wenn er die Polizei in einer Notsituation anruft und einen Polizeinotruf durchgibt, während der Polizeibeamte den Notruf nur entgegennimmt und sich daher eigentlich mit ,Polizeinotrufempfangsstelle‘ oder ,Empfangsstelle für Polizeinotrufe‘ melden müsste.28 23 Grammatisch spricht man hier auch von Kurzsätzen oder Einwortsätzen. Vgl. Duden [(1995), Bd. 4], S. 683. 24 Vgl. hierzu Freud [(1982), S. 42], der davon spricht, dass der „medizinische Lehrer vorwiegend die Rolle eines Führers und Erklärers (spielt), der [die zu Unterrichtenden, T. L.] durch ein Museum begleitet“. 25 Unterfälle hiervon sind 2.1. Es kann sich um einen damit verbundenen Hinweis handeln, dass man bereit ist, einen Polizeinotruf entgegenzunehmen. 2.2 Es kann sich um einen Appell oder eine Ermahnung handeln, sprecherseitig zu beachten, dass es sich um einen Notruf der Polizei handelt. 26 Wie zum Beispiel „die Parole ,Haltet den Dieb‘“. Vgl. Adorno (1997 b), S. 452. 27 Vgl. hierzu aus etymologischer Sicht: „NOTHRUF, m. der ruf aus noth, hilferuf (vergl. nothschrei)“. Grimm/Grimm (1984 b), Sp. 950. Verwandt „NOTHGESCHREI, n. clamor violentiae (. . .) vgl. nothruf, nothschrei“. Ebd., Sp. 937; „. . . aus der noth (aus dem nothstande heraus) schreien, rufen“. Ebd., 1984, Sp. 908. Oder auch „NOTHSCHREI, m. schrei den die not einem auspreszt, schrei nach hilfe (vergl. nothruf)“. Ebd., Sp. 951 f. 28 Damit haben wir es mit einem ähnlichen Phänomen zu tun wie bei der Bezeichnung ,Anrufbeantworter‘, denn der Anrufbeantworter beantwortet keine Fragen, sondern nimmt sie nur entgegen und speichert sie, sodass dieser Apparat eigentlich Anrufentgegennehmer und nicht Anrufbeantworter heißen müsste. Vgl. hierzu Müller-Tucholski (1993), Kap. 1. 6. Die „Hemmungen, ,mit‘ solch einem Gerät zu sprechen, (sind) inzwischen Legende“. Lange (1989), S. 38. Ebenso ihre Bewertung als „failed calls“ (Ebd., 43). Von daher gibt es auch Überlegungen zur
5. Exkurs: Notruftechnik
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Durch diese Umkehrung der realen Verhältnisse29 wird eine vollendete Kommunikation prätendiert, also der rein technische Vorgang des Sich-Meldens schon zu einer praktisch vollzogenen Kommunikation gemacht. Diese Praxis wurde aber faktisch noch nicht vollzogen, denn der Polizeibeamte meldete sich nur in höchst gestauchter, unpersönlicher, technisch-verdinglichter30 Form als die Stelle, die Polizeinotrufe entgegennimmt.31
5. Exkurs: Notruftechnik Im Grunde genommen handelt es sich bei dieser technischen Meldung um die Übernahme der Bezeichnung der alten Notruftechnik in die Telefonkommunikation.32 Dazu muss man wissen, dass die Ursprünge des heutigen Gestaltung von Ansagetexten, die diese Hemmungen reduzieren sollen. Vgl. Herrmann/Grabowski (1994), S. 482 ff. 29 Dass es sich hier um eine Umkehrung der Verhältnisse handelt, kann man im Übrigen auch linguistisch ableiten, wenn man in Rechnung stellt, dass es sich bei „Polizeinotruf“ um ein Substantivkompositum handelt, das aus dem ,head‘ [Leuninger/Keller (1991), S. 57 f.; vgl. auch Grewendorf/Hamm/Sternefeld (1987), S. 261 ff.] ,Ruf‘ und den beiden Bestimmungswörtern ,Not‘ und ,Polizei‘ besteht. Entsprechend der linguistischen Regel, dass der ,head‘ rechts steht und die semantische Bedeutung des Kompositums sich von rechts nach links ergibt, kommt man dann nämlich zur Lesart, dass es sich um einen Ruf [das Wort verweist auf das Verb ,rufen‘, das heißt auf den Gebrauch der Stimme – oder auch den „Schall der Stimme“, vgl. Duden (1988), Bd. 2, S. 573.] in Not [„die noth ist zunächst und im allgemeinen das drängende, beengende und hemmende, sowie der hilfsbedürftige zustand des gedrängten, beengten und gehemmten“. Grimm/Grimm (1984 b), Sp. 905. Und: „. . . eine äuszere oder innere beklemmung und bedrängnis, eine bedrängte, hilfsbedürftige lage der mannigfaltigsten art und stärke“. Ebd., Sp. 906] nach Polizei handelt. 30 In meinem Datenmaterial fand ich einen Fall, in dem sich ein Polizeibeamter vollständig selbst-verdinglicht hatte. So begründete er einem Anrufer, warum dieser eine andere Notrufnummer wählen solle, dies mit den Worten „. . . weil ich hier der Polizeinotruf bin“. Hier hatte der wörtlichen Bedeutung nach die Verwandlung von Person in Technik schon stattgefunden. Der Polizeibeamte war zu einer „entmenschlichten Apparatur“ [Adorno (1997 b), S. 440] geworden. 31 Nachdem jemand zuvor die 110 gewählt hat und das Notruftelefon klingelt. Ein komplexer Prozess, den man mit dem Schegloff ’schen summons-answer-Modell nachzeichnen kann: „It seems that we could well regard the telephone ring as a summons. Let us consider the structure of summons-answer sequences. It can be noted at the outset that a summons – often called an ,attention-getting device‘- is not a telephone-specific occurence. Other classes besides mechanical devices, such as telephone rings, include: (1) terms of address (. . .) (2) courtesy phrases (. . .) (3) Physical devices (. . .) Some typical summons-answer sequences are: telephone ring – ,hello‘; ,Johnny?‘ – ,yes‘; ,Excuse me‘ – ,Yes‘; ,Bill?‘ – looks up.“ Schegloff (1968), S. 1080. 32 So ist denn auch zu erklären, dass die Eröffnung von Notrufen in Deutschland mit der technischen Bezeichnung und nicht mit der Nennung der Telefonnummer
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
Polizeinotrufes in Deutschland in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts liegen. Bei dem technischen Vorläufer der heutigen Telefonkommunikation handelte sich um so genannte Polizei-Notruf-Anlagen,33 die auch Notrufmelder,34 Privat-Notrufmelder35 oder Polizei-Notruf-PrivatHauptmelder36 genannt wurden. Jede Polizeinotruf-Anlage, so Polizeioberst L. Voit, in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts Leiter des Nachrichtentechnischen Amtes im Polizeipräsidium Berlin, „besteht zunächst aus dem Hauptmelder. (. . .) Der Hauptmelder enthält ein Laufwerk, das zur Übermittlung des PolizeiNotrufes an das Überfallkommando37 dient. Ausgelöst wird der Hauptmelder durch Zug an dem Griff wie bei der Notbremse (. . .) Die Auslösung des Hauptmelders führt seinen Ablauf herbei. Er gibt auf der Verbindungsleitung zum Überfallkommando eine Nummer durch und bewirkt eine Alar(110) erfolgt, wie dies in den USA oder in England geschieht, weil der Notruf ursprünglich ein Meldersystem war, während das Telefon die technisch spätere Entwicklung ist. Der Polizeinotruf war erst nach dem zweiten Weltkrieg ein Telefonsystem, und die Notrufnummer 110 wurde erst 1951 in Düsseldorf und dann schließlich 1957 bundesweit eingeführt. Hierzu schreibt Gramatte (1978), S. 90: „. . . diesen besonderen Dienst der DBP (gibt es seit) 1951 in Düsseldorf und bundesweit als Eintrag im Amtlichen Fernsprechbuch seit Januar 1957 (. . .) Zunächst war es die Rufnummer 01, mit der das Überfallkommando der Polizei alarmiert werden konnte. Später mußte dafür aus technischen Gründen die Nummer 81 verwendet werden. In den Jahren 1951/52 hatte sich die Erkenntnis der Zweckmäßigkeit eines einheitlichen Notrufes, auch oder gerade wegen der ersten Erfahrungen in Düsseldorf, so stark gefestigt, daß die Angelegenheit nunmehr ununterbrochen fortgeschrieben und der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen (BMP) intensiv damit befaßt wurde.“ 33 Von diesen Anlagen sind die „Notruf-Polizei-Meldeanlagen“ zu unterscheiden, „die eine unmittelbare Fernsprechverbindung des Beamten auf der Straße mit dem nächsten Revier ermöglichen und eine automatische Hilferufeinrichtung zum nächsten Überfallkommando enthalten“. Diese waren nur für die polizeiinterne Alarmierung vorgesehen. Vgl. Die Polizei, Nr. 19, 1926, letzte Seite des Heftes. 34 So Fritz Lein, Direktor der Berliner Notruf A. G. [(1926), S. 561]: „Die Notrufmelder sind kleine Kästchen, mit einem Handgriff. (. . .) Zieht man an dem Griff, so wird ein Uhrwerk ausgelöst und auf der Zentrale des Überfallkommandos erscheint die Nummer des gezogenen Melders, wie bei dem Straßenmelder. Der Beamte ersieht aus einer Kartei den Teilnehmer und das Überfallkommando rückt aus, nachdem vorher dem Teilnehmer durch ein Summerzeichen bekanntgegeben wurde, daß sein Ruf angekommen und das Überfallkommando ausrückt. Damit das Überfallkommando bei verschlossenen Häusern oder Geschäftsräumen ebenfalls hineinkommt, kann bei dem Überfallkommando in plombierten Kästchen der betreffende Schlüssel aufbewahrt werden. Dies ist dann auf der Karteikarte ausdrücklich vermerkt.“ 35 Die Polizei, Nr. 19, 1926, letzte Seite des Heftes. 36 Voit (1932), S. 216. 37 Folgt man den Ausführungen von Polizeioberst L. Voit [(1932), S. 214], so gab es im Jahre 1932 in Berlin 20 einsetzbare Überfallkommandos.
5. Exkurs: Notruftechnik
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mierung bei der Empfangszentrale. (. . .) Hier wird die Meldung unter Angabe der Meldernummer auf einem Papierstreifen abgedruckt. (. . .) Aus der Zahl kann der Beamte entnehmen, von welcher Anlage der Alarm ausgeht. In einer nach den anrufenden Nummern geordneten Kartei liegt für jede Anlage eine Karte, auf der Name, Wohnung des Hilferufenden sowie Anfahrtsweg verzeichnet sind. Aus einem unter Plombenverschluß befindlichen Schlüsselschrank können die zum Aufschließen der Räumlichkeiten des Hilferufenden vorhandenen Schlüssel entnommen werden. Bereits bei Eingang der Alarmmeldung hat sich das Überfallkommando fertiggemacht, und nach etwa ein bis zwei Minuten fährt die Polizei zu dem Hilferufenden“.38 Die Rufanlagen39 waren, wie Voit herausstellte, ein Verdienst der Fernmeldetechnik, waren eine technische Errungenschaft, die im Falle der Privat-Notrufmelder dem Zweck dienten, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Polizei „nicht überall da sein (kann), wo Gefahren drohen. Sie kommt sofort, wenn ein Hilferuf zu ihr gelangt (. . .) wenn Gefahr im Verzuge ist“,40 womit der Sinn der Einrichtung klar formuliert war. Dieser ging auch eindeutig aus dem Runderlass II M 16 Nr. 15 (S. 731) des Ministeriums des Innern vom 23.7.1926 hervor. In diesem stand geschrieben: „Die Polizei=Notruf=Anlagen dürfen nur im Falle der Gefahr betätigt werden“, wobei zugleich geregelt war, dass „der Polizeipräsident berechtigt ist, für jeden Fall unberechtigten Alarms einen Betrag von 20 RM zu verlangen“, und bei wiederholtem Fehlalarm41 eine Sperrmöglichkeit42 bestand. Zudem gab es eine juristische Absicherungsklausel, um Schadensersatzansprüche auszuschließen.43 Denn Hilfe wurde nicht in jedem Fall zugesichert: „Polizeiliche Hilfe wird gewährt, soweit dies die polizeilichen Interessen im Rahmen der vorhandenen Kräfte zulassen.“44 Und weiter: „Auf jedem (sic) bei der Zentrale einlaufenden Melderuf wird unverzüglich, soweit dies möglich ist, polizeiliche Hilfe geleistet.“45 38
Wiederum Voit (1932), S. 217. Rufanlagen gab es ab 1927 auch in Frankfurt: „Wie in allen größeren Städten Deutschlands sehr bald nach dem vorgenannten Preußischen Erlaß von 1926, wurde auch von dem Polizeipräsidenten in Frankfurt am Main am 16. April 1927 für den Preußischen Fiskus ein Konzessionsvertrag mit der damaligen Firma ,ElektrozeitA.G.‘ (später T & N) abgeschlossen. Er räumte dieser Firma das ausschließliche Recht ein, in seinem Dienstbezirk ,Rufanlagen zum Zwecke der Herbeirufung polizeilicher Hilfe‘ zu errichten und zu betreiben.“ Scholl (1977), S. 58. 40 Voit (1932), S. 216. 41 RdErl. D. MdI. v. 23.7.1926 – II M 16 Nr. 15, 724, 727 und 731. Quelle: Ministerial-Blatt für die Preußische innere Verwaltung 1926. 42 Ebd., S. 731. 43 Ebd. 44 Ebd.. 39
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
Abbildung 5: Polizei-Notruf-Privat-Hauptmelder46
Die Polizei-Notruf-Melder wurden zunächst nur zum Einbau in Räumlichkeiten an Privatpersonen vermietet.47 Daher auch der Name Privat-Notrufmelder. Jemand, der einen Notrufmelder haben wollte, musste einen Mietvertrag mit der den Melder anbietenden Firma (Siemens & Halske und Berliner Notruf A.G.) schließen. Diese wiederum hatte einen Vertrag mit 45 46 47
Ebd., S. 726. Voit (1932), S. 216. Voit (1932), S. 216.
5. Exkurs: Notruftechnik
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Abbildung 6: Polizei-Straßenmelder 48
dem Preußischen Fiskus, der ihr das Recht zusicherte, „in den Wohnungen oder in den Geschäftsräumen von Privatpersonen usw. gegen Entgelt Ruf= 48 Auch Notruf=Polizei=Melde=Anlage genannt. Die Abbildung stammt aus der Fachzeitschrift Die Polizei, Nr. 19, 1926, letzte Seite. Sie erhielt ich von Frau Kock, Bibliothekarin an der Polizei-Führungsakademie (PFA) in Münster-Hiltrup.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
Abbildung 7: Polizei-Straßenmelder- und Privat-Notrufmelder-System (Polizeinotrufnetz)
und Raumschutzanlagen anzulegen, die in einer Zentrale des zuständigen Überfallkommandos der Polizei enden“,49 von wo aus dann das Überfallkommando zum Einsatz geschickt wurde. Im Gegenzug verpflichtete sich die Firma dazu, „für die ersten 20, von da ab für je weitere 10 Rufanlagen (. . .) unentgeltlich einen öffentlichen Straßenmelder aufzustellen, der lediglich von Beamten der Polizei genutzt werden darf.“50 Dies führte zum Aufbau eines für den Staat kostenlosen Polizeinotrufnetzes, das in den dreißiger Jahren in Berlin bereits aus mehr als 850 PolizeiNotruf-Anlagen (im Sinne von Privat-Notrufmeldern) und 80 Straßenmeldern (Polizei-Meldeanlagen) bestand.51 – Ende des Exkurses Wenngleich man sehen muss, dass die Kürze der Eröffnung praktisch motiviert ist, stellt sich aus kommunikationspragmatischer Sicht die Frage, ob die Eröffnung „Polizeinotruf“, die die kommunikative Praxis im Grunde genommen auf einen technischen Vorgang reduziert, der keine wirkliche Kommunikation darstellt und zudem noch dramatisierend wirkt,52 geeignet 49
RdErl. D. MdI. v. 23.7.1926 - II M 16 Nr. 15, S. 720 f. Ebd., S. 721. 51 Vgl. Voit (1932), S. 218. 52 Ich spiele hier auf den im Kompositum ,Polizeinotruf‘ enthaltenen Wortteil ,Not‘ an. Wer dieses Wort in einer Krise heraushört, dürfte nicht beruhigter sein. 50
6. Exkurs: Normalfall
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ist, um eine auf den Normalfall des Polizeinotrufs bezogene Kommunikation möglichst schnell zu realisieren.
6. Exkurs: Normalfall Der Normalfall eines Polizeinotrufes bedeutet, dass, solange es diese gesellschaftliche Institution gibt, dieser konstitutiv darin besteht, dass eine akute Gefahr für Leib/Leben und/oder Eigentum besteht53 und polizeiliche Hilfe unabdingbar erforderlich ist, selbst wenn es empirisch nur in einem ganz geringen Prozentsatz wirklich so ist. Man muss folglich die Institution des Notrufs von den tatsächlichen Verhältnissen unterscheiden, muss also eine klare Trennung zwischen einem statistischen, quantitativ-empiristischen Kriterium, einem Häufigkeitskriterium, und einem regelgeleiteten Kriterium ziehen, d. h. man muss zwischen einem statistischen Normalfall und einem strukturalistischen Normalfall im Sinne eines Modells regelgeleiteten Handelns unterscheiden. Während man in erstem Falle bei der Feststellung, dass es sich in 80 Prozent der ankommenden Fälle um keine richtigen Notrufe handelt, schlussfolgern würde, dass dies der statistische Normalfall ist, so wäre aus einer strukturalistischen Sicht selbst dann, wenn in 99 Prozent der Fälle keine richtigen Notrufe einlaufen, immer noch davon auszugehen, dass es sich hier nicht um den Normalfall handelt, da Normalität nicht Effekt empirischer Verteilung ist.54 Dann erst kommen die Abweichungen von diesem Modell, also die missbräuchliche Verwendung, die ent53 Historisch ist zu sehen, dass der Notruf in den zwanziger Jahren der Weimarer Republik als eine Meldereinrichtung in die Praxis eingeführt wurde, die zur Alarmierung des Überfallkommandos vorgesehen war. Und dieses durfte nur in Fällen alarmiert werden, wenn eine akute Gefahr für Leib/Leben und/oder Eigentum bestand. So steht im Runderlass des preußischen Ministeriums des Innern vom 23.7.1926 (II M 16 Nr. 15, S. 731): „Die Polizei=Notruf=Anlagen dürfen nur im Fall der Gefahr betätigt werden.“ Und Voit ergänzt, dass unter Gefahr „Gefahr im Verzuge“ [(1932), S. 216] gemeint ist. 54 Vgl. hierzu aber Durkheim [(1984), S. 148], der im dritten Kapitel („Regeln zur Unterscheidung des Normalen und des Pathologischen“) seines Werkes „Die Regeln der soziologischen Methode“ schreibt: „Wir werden diejenigen Tatbestände normal nennen, die die allgemeinsten Erscheinungsweisen zeigen, und werden den anderen den Namen krankhaft oder pathologisch beilegen. Kommt man überein, als Durchschnittstypus jenes schematische Gebilde zu bezeichnen, das man erhält, indem man die in der Art häufigsten Merkmale mit ihren häufigsten Erscheinungsformen zu einem Ganzen, zu einer Art abstrakter Individualität zusammenfaßt, so wird man sagen können, daß der normale Typus mit dem Durchschnittstypus in eins zusammenfließt und daß jede Abweichung von diesem Schema der Gesundheit eine krankhafte Erscheinung ist. Es ist richtig, daß der Durchschnittstypus nicht in derselben Reinheit festgestellt werden kann wie der individuelle Typus, da seine konstitutiven Eigenschaften nicht schlechterdings fest, sondern veränderungsfähig sind. Daß er aber festgestellt werden kann, steht schon deshalb außer Zweifel, weil er
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
weder auf a) strategisches Täuschen oder b) Selbsttäuschen über den Sinn des Notrufes verweisen. – Ende des Exkurses
7. Modellfall 1: ,hebt die Buden zoamm‘ II Es stellt sich mithin die Frage, ob der einen Polizeinotruf entgegennehmende Polizeibeamte vonseiten des Anrufers nicht viel schneller eine routinisierte Krisenschilderung erhielte,55 wenn er nach der Vorstellung mit seinem Namen sagen würde: ,Womit kann ich Ihnen helfen?‘ oder ,Wie kann ich Ihnen helfen?‘.56 Denn damit wäre erstens ein persönlicher Kontakt zum Anrufer hergestellt. Zweitens wäre der Anrufer gleich zu Beginn des Gespräches eingeladen, zu schildern, worum es geht. Und drittens wäre ihm damit signalisiert, dass der den Notruf entgegennehmende Polizeibeamte für ihn da ist, dass er ihm zuhört und sich ihm in der Krise annimmt.57 Das einzige, was die Meldung mit „Polizeinotruf“ rechtfertigen kann, ist, dass dadurch geklärt ist, dass sich der Anrufer nicht verwählt hat, dass er den nmittelbaren Stoff der Wissenschaft bildet und mit dem Typus der Gattung übereinstimmt.“ 55 Die er benötigt, um entscheiden zu können, ob tatsächlich eine behandlungsbedürftige Krise vorliegt [vgl. Shearing (1984), S. 84; Eglin/Wideman (1986), S. 348], und in welcher Reihenfolge er welche Maßnahmen veranlassen muss, um die offene Krisensituation zu schließen. Dass es sich hier um eine sehr verantwortungsvolle, hochkomplexe, nicht-taylorisierbare Arbeit handelt, liegt auf der Hand. 56 An dieser Stelle traf ich auf deutlichen Widerstand. Die Haupteinwände gegen die von mir ins Spiel gebrachten Eröffnungsvarianten lauteten: „Dies dauert viel zu lang“, „hierdurch wird zu viel Zeit verloren“, „die Anrufer erwarten eine kurze, knappe Eröffnung“. Zum dritten Punkt vgl. die strukturell ähnliche Argumentation von Whalen/Zimmerman (1987), S. 181: „Caller selects and dials a specific number and expects to hear [Hervorhebung durch T. L.] a categorical identification relevant to the purpose of the call; answerer selects an identification-relevant response on the institutionally given assumption of the type of call it is, and then monitors caller’s first turn for evidence that this is the case. (. . .) Identification, not recognition, is the issue for institutional calls (cf. Schegloff, 1979; Meehan, 1983). Categorical selfidentification is usually understood as a ,business‘ form (Schegloff, 1986; pp. 122– 23) which callers to such numbers expect to hear [Hervorhebung durch T. L.], although the ,business‘ and the identification can vary within the same dispatching operation . . .“. Theorietechnisch erinnert diese konversationsanalytische Argumentation stark an Luhmanns Theoriefigur der „Erwartungserwartung“. Luhmann (1983), S. 65. 57 Was passiert hingegen bei der Eröffnung mit „Polizeinotruf“? Wenn der Anrufer verschreckt, aufgeregt und nicht geübt ist, steht er wie vor einer Mauer, was man sich gedankenexperimentell klar machen kann, wenn man sich in die Lage einer alten Dame versetzt, in deren Wohnung gerade eingebrochen wurde. Wenn diese „Polizeinotruf“ hört, dann hört sie eigentlich nur ein Echo auf sich, aber es ist keine zum Dialog einladende Konstellation. Sie weiß im Grunde genommen nur, dass sie an der richtigen Stelle ist, aber die gesamte Strukturierungsleistung der Darstellung obliegt ihr.
7. Modellfall 1: ,hebt die Buden zoamm‘ II
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richtig beim Polizeinotruf angekommen ist. Doch dies weiß er auch so, wenn er sich nicht verwählt hat (was der Normalfall ist). 02 AM: N’abend, \. . .58 Der Anrufer grüßt, womit er im Grunde genommen das polizeiliche Eröffnungsschema korrigiert, was indiziert, dass er sich als soziales Wesen verpflichtet fühlte, eine kommunikative Praxis zu eröffnen, die durch den Polizeibeamten noch nicht eröffnet wurde. Dies zeigt, dass die scheinbare Kürze der Meldung nicht die Folge hat, die mit ihr intendiert ist, weil sich der Anrufer offenbar unwohl, wenn nicht gar unmenschlich fühlt, wenn er nicht Grüßen kann, und dies ein Beleg für die These ist, dass die Reziprozität eine Eigenlogik ist, die nicht an der Peripherie der Sozialität liegt, sondern deren Kern ausmacht.59 Und diese Sozialität wäre ohne die vorgenommene Korrektur zerstört, weswegen die Praxis selbst im Notfall eröffnet werden muss, was hier nicht geschah.60 02 AM: . . ./ 61 können Sie mal in die [Fritz Meyer Straße 46] kommen? In diesem Kontext ist die Formulierung ein typischer impliziter Sprechakt, zwar wörtlich eine Frage, aber implizit eine Aufforderung oder eine Bitte. Der Anrufer sagt sein Begehren, wenngleich er nicht sagt, was sich an dem von ihm genannten Ort ereignet beziehungsweise ereignet hat, was aber der Polizeibeamte wissen muss, um fallangemessen handeln zu können. Entsprechend ist zu erwarten, dass der Polizeibeamte im nächsten Turn fragen wird, warum der Anrufer polizeiliche Hilfe benötigt. 03: (2.0) Es folgt nun eine für einen Notruf lange Pause, was die Frage aufwirft, worauf der Polizeibeamte, der nun am Zuge wäre, wartet. Denn im Sinne einer möglichst schnellen Gestaltkonkretisierung hätte er jetzt schon fragen müssen, worum es geht, um Informationen zu bekommen, damit er entscheiden kann, was der Fall ist und welche Maßnahmen er einleiten muss, 58
Dieses Notationszeichen, das ich in den nachfolgenden Fallanalysen wiederholt verwenden werde, zeigt an, dass die Äußerung nach dieser Stelle fortgesetzt wird. 59 Vgl. Oevermann (1996 a), S. 3 f. 60 Mein Befund kontrastiert mit der Beobachtung von Whalen/Zimmerman [(1987), S. 177]: „Recognitionals, greetings and ,howareyous‘ are, however, routinely absent in emergency and other types of service calls. Such calls move directly from the completion of the summons/answer/acknowledgement sequence to the issue of the (legitimate) reason for the call.“ 61 Auch dieses Notationszeichen, das das Pendant zu dem in Fußnote 58 erläuterten Zeichen darstellt, werde ich in der vorliegenden Arbeit wiederholt verwenden. Es bedeutet, dass die Äußerung bereits vor dieser Sequenzstelle begann.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
um die Krise zu bewältigen. Der Polizeibeamte fragt aber nicht, sondern schweigt, wobei das Bild einer psychoanalytischen Sitzung gleicht, in der der Therapeut nichts sagt und dieses Schweigen eine indirekte Aufforderung für den Patienten darstellt, weiterzureden. 04 AM: Meine Mutti ihr Freund dreht durch, \. . . Was denn auch geschieht, womit die Pause immerhin wirksam gewesen ist. Es folgt eine unterschichtentypische Genitivbildung, die im Ruhrgebiet sehr geläufig ist (wie z. B. ,die Stadt ihr Park‘), „meine Mutti ihr Freund“. Also hier ruft ein Sohn an62 und teilt mit, dass der Freund seiner Mutter durchdreht, woraufhin sich die Frage stellt, was dies konkret bedeutet. Denn Durchdrehen kann verschiedenes meinen: Der Mann kann gerade die Wohnungseinrichtung zerschlagen, er kann die Mutter des Anrufers schlagen, er kann aber auch, um hier nur eine dritte Ausformungsmöglichkeit zu nennen, drohen, sich umzubringen. Aus diesem Grund erfordert der Fall dringend eine Spezifikation. 04 AM: . . ./ der is besoffen Diese liefert im Grunde genommen der Anrufer. Denn mit dieser Information kann der Polizeibeamte im Sinne des Normalfalls erschließen, dass der Mann offensichtlich im besoffenen Zustand randaliert, also gewalttätig ist, und ihn kein anderer bändigen kann. Es wäre falsch und bedeutete einen schweren Handlungsfehler, wenn der Polizeibeamte jetzt unterstellen würde, dass kein Notfall vorliegt, weil er von der Grundregel ausgehen muss, dass der Anrufer bis zum Beweis des Gegenteils mit den Kriterien des Normalfalls (akute Krise, die ohne die Polizei nicht bewältigt werden kann) übereinstimmt, auch wenn die Struktur logisch noch offen ist, denn diese Offenheit ist geschlossen durch eine darüber liegende Regel, die für Polizeinotrufe insgesamt gilt und die besagt, dass es ohne Polizei nicht mehr geht. Im Sinne einer auf den Normalfall bezogenen Sparsamkeitsregel ist folglich indiziert, dass ein Polizeieinsatz notwendig ist, sodass der Polizeibeamte nur noch fragen sollte, ob der Mann bewaffnet ist, um diese Information seinen vor Ort fahrenden Kollegen mit auf den Weg zu geben. 05 P: [Fritz Meyer Straße 45?] Stattdessen aber fragt er nach der Adresse, die der Anrufer bereits zu Beginn angegeben hatte, wobei an seiner Frage auffällt, dass er die Haus62 Was man im vorliegenden Protokoll aus der Verschriftungssymbolik ableiten kann, da hier markiert ist, dass es sich um einen männlichen Anrufer handelt.
7. Modellfall 1: ,hebt die Buden zoamm‘ II
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nummer entweder nicht richtig gehört oder aber sich nicht richtig gemerkt hat.63 Das ist ein Fehler, der am Notruf nicht passieren darf, nicht nur, weil hierdurch auf der Ebene der Informationsabgleichung Zeit verschwendet wird, sondern auch, weil der Anrufer sich beziehungsmäßig nicht anerkannt fühlen könnte, weil ihm der Polizeibeamte nur ungenau zuhörte. 06 AM: 46 Der Anrufer korrigiert diesen Fehler im nächsten Turn umgehend. 07 P: 46 (1.0) Wie is’n Ihr Name? Woraufhin der Polizeibeamte noch einmal die Hausnummer wiederholt, was indiziert, dass er sich diese notiert, ehe er nach einer kurzen Pause nach dem Namen des Anrufers fragt. Diese Frage lässt zwei Lesarten zu: Erstens kann es sich hier um die Frage handeln, wohin die Polizeibeamten genau zu kommen haben, und zweitens kann es sich auch um eine bürokratische Formularfrage nach dem Namen des Mitteilers handeln.64 08 AM: [Lehmann], fünfter Stock Wie die Antwort des Anrufers erkennen lässt, hat der Anrufer die Frage im Sinne der ersten Lesart verstanden, als Frage danach, wohin die Polizeibeamten kommen sollen. 09 P: [Lehmann] Woraufhin der Polizeibeamte nur den Namen des Anrufers wiederholt, während er die für die gezielte Entsendung der Polizeibeamten entscheidende Information nicht wiederholt. Was die Lesart nahe legt, dass für den Polizeibeamten die formale Rationalität im Vordergrund steht, dass er bürokratisch handelt. 10 P: Ihr Mutter häst a [Lehmann]? Was sich nachfolgend bestätigt.65 Denn während ihm der Anrufer mit „Lehmann, fünfter Stock“ die wichtige einsatzrelevante Information gab, wohin die Polizeibeamten kommen sollen, nämlich zu Lehmann im fünften 63 Was nicht gerade für sein Kurzzeitgedächtnis spräche, das man aber trainieren könnte. 64 Die formale Rationalität fordert von ihm vorrangig, die für die Bürokratie notwendigen Daten zu erfassen. So verlangt das Berichtsschema u. a. Angaben zur Personenart und zum Namen des Mitteilers. Vgl. Ley (1992); oder ders. (2000), S. 326. 65 Und die zudem erkennen lässt, dass der Polizeibeamte in diesem Fall von Familienverhältnissen ausgeht, die nicht dem Normalmodell von Familie entsprechen.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
Stock (eines, so kann man nun erschließen, mehrstöckigen Hauses), stellt er hier eine für die Krisenintervention unwichtige Frage, handelt er nun ausschließlich im Sinne einer bürokratisch-formalen, nicht material krisenbezogenen Rationalität.66 11 AM: Ja Der Anrufer bestätigt, dass auch seine Mutter Lehmann heißt. 12: (1.5) Es folgt nun wiederum eine Pause von 1.5 Sekunden, in welcher der Polizeibeamte offensichtlich überlegt, wie er handeln soll. 13 P: Um woas, um woas geht’s denn da, was is’n los? Anstatt dem Anrufer nun endlich eine Einsatzzusage zu geben, indizieren seine Fragen, dass er aus den Äußerungen des Anrufers noch nicht erschlossen hat, dass der Mann offensichtlich im besoffenen Zustand randaliert, also gewalttätig ist, und ihn kein anderer bändigen kann. Wobei sein Gestalterfassungsproblem damit zu erklären ist, dass für ihn zunächst die bürokratisch-formale Rationalität im Vordergrund stand und nicht die Bewältigung der akuten Krise. Womit er einen Strukturfehler macht, weil er nicht in der Lage ist, den von ihm zu leistenden Spagat zwischen formaler Rationalität und materialer Rationalität, zwischen Bürokratie und Krisenbewältigung auszuführen. 14–15 AM: Na der ihr Freund is stechfett und hebt die Buden zoamm Daraufhin wiederholt der Anrufer zunächst noch einmal, diesmal im süddeutschen Dialekt, dass der Mann stockbetrunken ist, und liefert dann eine 66 Vgl. hier Oevermann/Simm (1985), S. 150 und 301. Zu sehen ist, dass der Polizeibeamte neben seiner Notruftätigkeit auch dem polizeilichen Berichtswesen Rechnung tragen muss. Das heißt, der Polizeibeamte muss im Grunde genommen zwei Aufgaben bewältigen, die zueinander in einer widersprüchlichen Beziehung stehen. Die formale Rationalität fordert von ihm vorrangig, die für die Bürokratie notwendigen Daten zu erfassen; die materiale Rationalität erfordert hingegen vorrangig, die notwendige Krisenintervention zu leisten. Der in der Praxis stehende Polizeibeamte steht folglich vor dem zu bewältigenden Problem, einen fallangemessenen Spagat zwischen formaler und materialer Rationalität, zwischen Bürokratie und Krisenbewältigung zu leisten. Vgl. Ley (2000), S. 326. Eine Analogie hierzu gibt es, wie Oevermann/Simm und Oevermann u. a. in den BKA-Studien aus den Jahren 1985 und 1994 herausgearbeitet haben, bei der kriminalistischen Ermittlung, wo in der Doppelstruktur von subsumtionslogisch formal-rationaler Aktenverwaltung und sachhaltigem Ermittlungshandeln das sachhaltige Ermittlungshandeln nicht auf der Strecke bleiben darf, wenngleich genau dieses tendenziell totgeschlagen wird durch den formal-rationalen, bürokratischen Komplex.
7. Modellfall 1: ,hebt die Buden zoamm‘ II
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Information, die erkennen lässt, dass der Mann gewalttätig ist, dass er die Wohnung ,auseinander nimmt‘, womit klar angezeigt ist, dass eine interventionsbedürftige Krise vorliegt und die Polizei zum Handeln verpflichtet ist. 16 P: Hm 17: (1.5) Nach einem Verstehen signalisierenden „hm“ folgt nun wiederum eine Pause von 1.5 Sekunden, in welcher der Polizeibeamte erneut überlegt, wie er handeln soll. Die wiederholten Pausen bedeuten bei einem Notruf unnötigen Zeitverlust, kurzum: der Polizeibeamte hätte schneller handeln müssen. 18 P: Ja, wir schicken jemanden vorbei Das klingt sehr nach ,Abservieren‘. Denn was heißt jemanden vorbeischicken? Den Pfarrer oder die Gemeindeschwester? Der Polizeibeamte müsste sagen, ,wir schicken eine Streifenwagenbesatzung vorbei‘. Die Art und Weise, wie er formuliert, passt wieder zur Eröffnung „Polizeinotruf“ und zu der Reduktion des Notrufs auf das bloß Technische. Es fehlt die personale Kommunikation, denn wenn man sagt „jemand“, ist das unpersönlich, ist das im Grunde genommen abwiegelnd. Zudem ist die Formulierung zeitlich unbestimmt, weil nicht mitgeteilt wird, wann jemand vorbeikommen wird, was für denjenigen, der die Polizei in einer Krisensituation herbeiruft, eine wichtige Information wäre. 19 AM: Ja, aber bor Mann wenn’s geht Das heißt: Ein paar Mann, wenn es geht, zwei alleine reichen nicht. Diese Äußerung ist der vorhergehenden des Polizeibeamten geschuldet, die im Grunde genommen schon eine Abweichung vom Normalfall darstellt, weil der Polizeibeamte hier kommuniziert, als handle es sich um einen Routinefall, obwohl alles darauf hindeutet, dass es sich um einen wirklichen Notfall handelt. Und darauf macht ihn der Anrufer hier implizit aufmerksam. Denn „aber a bor Mann“ heißt in Langschrift formuliert, dass ein Überfallkommando67 kommen soll, dass eine Streifenwagenbesatzung hier nicht ausreicht. 67 Folgt man den Ausführungen von Polizeioberst L. Voit, dem Leiter des Nachrichtentechnischen Amtes im Polizeipräsidium Berlin, so gab es bereits im Jahre 1932 in Berlin 20 einsetzbare Überfallkommandos. Voit (1932), S. 214. Er schrieb auch: „Über Berlin verteilt liegen in steter Einsatzbereitschaft Überfallkommandos der Polizei. Auf schnell beweglichen Kraftwagen fahren sie zu Hilferufenden. Der Verkehr steht still, wenn das Signal des Überfallwagens ertönt, und in kürzester Frist ist die Polizei zur Stelle. In Berlin werden zur Zeit 20 Kommandos eingesetzt.“ (Ebd.) Personell bestand ein Überfallkommando aus sechs bis zwölf Polizei-
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
20 P: Ja mach ma scho 21 AM: Ja 22 P: Geht in Ordnung, gut 23 (1.0) 24 AM: Hm [Knacken/Ende des Telefonats] Jetzt merkt man, wie der Anrufer abgewimmelt wird. Der Polizeibeamte tut so, als ob er das sowieso gemacht hätte, ,das machen wir schon, ja, ja‘. Es wird also eine Ermahnungssituation daraus. Der Anrufer fordert und der Polizeibeamte fühlt sich belästigt. Und das ist eine Abwieglerstrategie. Der Polizeibeamte müsste eigentlich von sich aus fragen, ob eine Streifenwagenbesatzung ausreicht. Und gegebenenfalls müsste er dann eben sagen, ,gut, wir schicken zwei Streifenwagenbesatzungen‘, und dem Anrufer in etwa die Zeit nennen, die voraussichtlich bis zu ihrem Eintreffen vergehen wird (,die brauchen ungefähr‘), damit sich dieser darauf einstellen kann, um den Freund irgendwie hinzuhalten und/oder abzulenken. Dass der Polizeibeamte dies nicht sagt, ist schlechte Routine.68 Ergebnis Der Polizeibeamte handelte in diesem Fall bürokratisch. Er machte einen Strukturfehler, indem er die Spannung zwischen formaler und materialer Rationalität einseitig zugunsten der formalen Rationalität auflöste.69 beamten. Mindestens ein Polizeibeamter führte einen Schäferhund mit. Vgl. hierzu Schmidt (1930), S. 499; und Scholl (1977), S. 60. 68 Wenngleich auch Bergmann bei der Untersuchung von Feuerwehrnotrufen auffiel, „auf welch sorglose, ja nachlässige Weise die Vertreter der Feuerwehr in diesen Notrufgesprächen jeweils das Einsatzversprechen abgeben“ [die Formulierungen lauteten u. a.: „Ja mir kumme mol vorbei (. . .) Mir kommen amol vorbei (. . .) Joa mir fahren mol hin; gell? (. . .) Ja isch guat mir komme vorbei (. . .) Ja, Gut. Wir schauen amol vorbei. ne (. . .) Ja mir gucket vorbei (. . .) J:a mir komme nachher mal vorbei und schaue die Sache an“; T. L., vgl. Bergmann (1990), S. 47], deutete er dies aber hinsichtlich der in den Formulierungen zum Ausdruck kommenden zeitlichen Unbestimmtheit nicht als schlechte Praxis, sondern „spezifisch motiviert als Technik, mittels derer vermieden werden kann, daß die Feuerwehr dem Anrufer gegenüber sich durch eine präzise Angabe vorzeitig auf einen zeitlichen Ablauf festlegt und damit zumindest einen Teil ihrer Entscheidungsautonomie einbüßt“. Bergmann (1990), S. 48 f. 69 Folgt man Oevermann (1997 a), der „für die Krisenbewältigung im Vollzug einer autonomen Praxis (. . .) grundsätzlich zwei Momente bzw. zwei Phasen“ unterscheidet: „die primäre Phase der aktiv-praktischen Entscheidung zu einer Aktion, die immer auch eine spontane, reflexartige, intuitiv von der Richtigkeit überzeugte
8. Modellfall 2: ,en wahnsinniger Krach‘
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Neben der Formulierung der Telefoneröffnung, mit welcher der Polizeinotruf auf das Technische reduziert wird, ist auch die Formulierung der Einsatzzusage zu kritisieren, weil sie den Eindruck vermittelt, dass es sich für den Polizeibeamten um einen Routinefall handelt, während aufgrund des mitgeteilten Sachverhalts davon auszugehen war, dass hier eine akute Krise vorliegt, die ohne polizeiliche Hilfe nicht mehr zu beheben ist.
8. Modellfall 2: ,en wahnsinniger Krach‘ 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
P: AM:
P: AM:
P: AM: P:
AM: P: AM:
Polizeinotruf70 Ja, guten Abend, mein Name iss [Müller], ich wohne hier in Remagen = Kripp, gegenüber dem Fährhaus Ja En wahnsinniger Krach hier unten Das iss also Wahnsinn. Ich muss morgen zur Arbeit [im Hintergrund hohe Musiklautstärke] in der Gaststätte (uv) volle Lautstärke. Was kann man denn da machen? Herr [Müller], sind Sie Gast in diesem Hause? Nee, isch wohne hier, iss ja auch en Wohnhaus gleichzeitig Mhm Haben Se (den) Gastwirt mal drauf angeschprochen? (2.8) Das, dat wär vielleischt der naheliegendste Weg, = und wenn dat net hilft, = sinn wir gerne bereit, = Ihnen da weiterzuhelfen Mhm Wenn er net leiser dreht, = sinn wir da, kein Problem Isch ruf den mal an, und dann sag isch Ihnen noch mal Bescheid, wenn er sisch (sperrt)
Entschließung ist“ (ebd., S. 82) – und die Phase, die „in der Rekonstruktion dieser spontanen, selbst-charismatisierten Entschließung“ (ebd., S. 83) besteht, hatte der Polizeibeamte Probleme in der primären Phase. 70 Transkriptionssymbolik: P Polizeibeamter AM Anrufer männlich = schneller Sprechanschluss [] alle anonymisierten Daten, Pseudonyme und Anmerkungen des Verschrifters ? markiert eine Frage (uv) unverständliche Äußerung (den) unsichere Transkription (2.0) Pause in Sekunden.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse 27 P: 28 AM: 29 P: 30
Alles klar Ja, schönen Dank Bitte schön, = wiederhören
01 P: Polizeinotruf Auch im zweiten Fall eröffnet der Polizeibeamte das Gespräch mit der bereits analysierten Formulierung „Polizeinotruf“, womit er sich nicht als Kommunikant meldet, sondern als technische Instanz. 02–05 AM: Ja, guten Abend, mein Name iss [Müller], ich wohne hier in Remagen = Kripp, gegenüber dem Fährhaus Nachdem der Anrufer mit der Partikel „Ja“ signalisiert hat, dass er an der richtigen Stelle angekommen ist, korrigiert er (wie auch der Anrufer im ersten Fall) die technische Kommunikation des Polizeibeamten und eröffnet die kommunikative Praxis dadurch, dass er den sich hinter der technischen Formulierung verbergenden Polizeibeamten zunächst grüßt, sich dann namentlich vorstellt und im Anschluss hieran angibt, wo er wohnt, wobei die genaue Angabe seines Wohnortes indiziert, dass dieser von Bedeutung ist für die im Sinne des Normalfalls nachfolgend noch zu erwartende Krisenmitteilung. 06 P: Ja Der Polizeibeamte signalisiert, dass er verstanden hat und der Anrufer weiterreden kann. Was bedeutet, dass er die weitere Gesprächsstrukturierung dem Anrufer überlässt, anstatt selbst durch eine strukturierende Frage (z. B. ,Wie kann ich Ihnen helfen?‘) die Initiative zu übernehmen und möglichst schnell in Erfahrung zu bringen, was der Fall ist. 07 AM: En wahnsinniger Krach hier unten Es folgt nun eine eher unspezifische Angabe des Anrufgrundes, wobei der elliptisch formulierende Anrufer unterstellt, dass der Polizeibeamte weiß, ,ich meine gegenüber dem Fährhaus, da wohne ich oben und unten im Haus, da ist ein wahnsinniger Krach‘. Das Auffällige an der Angabe der Anrufgrundes ist, dass damit zweierlei gemeint sein kann: Zum einen kann es sich hier um die Bezeichnung für wahnsinnigen Lärm, zum anderen kann es sich aber auch um die in dieser Region gebräuchliche Bezeichnung für Streit handeln.71 71 Ein native speaker würde zu einem Streit in synonymer Weise auch Krach sagen können.
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08–10 AM: Das iss also Wahnsinn. Ich muss morgen zur Arbeit [im Hintergrund hohe Musiklautstärke] in der Gaststätte (uv) volle Lautstärke \. . . Der Anrufer gibt nun in expressiver Weise zu verstehen, wie er den wahrgenommenen Krach empfindet, und argumentiert dann, dass er ruhebedürftig ist, dass er schlafen muss, um morgen ausgeschlafen zur Arbeit gehen zu können, womit er durch diese Rechtfertigung offensichtlich zu verhindern versucht, als Querulant angesehen und vom Polizeibeamten abgewimmelt zu werden. Wenngleich zu sehen ist, dass ruhestörender Lärm (Krach) unterschiedlich produziert sein kann, lässt sich aus den verschrifteten Hintergrundgeräuschen und der im Protokoll markierten Mitteilung des Anrufers klar erschließen, dass es dem Anrufer um seine Ruhebedürftigkeit geht, womit im Sinne des Normalfalls kein Notruf vorliegt. Es handelt sich nicht um einen Notruf, sondern um die Anzeige72 einer Ruhestörung. Dies legt die Vermutung nahe, dass es sich hier wirklich um einen Querulanten handelt, denn wenn dieser wirklich so ruhebedürftig ist, kann man fragen, warum er dann offensichtlich über einer Gaststätte wohnt. Zur Überprüfung dieser Vermutung wäre eine weitere wichtige Information73 die Uhrzeit des Anrufs. Denn wenn es jetzt nachts nach zwei Uhr wäre, wäre die Sperrstunde überschritten und es eher gerechtfertigt, die Polizei anzurufen, als wenn es erst acht Uhr abends wäre. 11 AM: . . ./ Was kann man denn da machen? Nachdem der Anrufer expressiv geschildert hat, dass er sich durch den Lärm in der Gaststätte in seiner Ruhebedürftigkeit gestört fühlte, indiziert die nachfolgende Frage, dass er versucht, den Polizeibeamten für die Lösung seines Problems zu gewinnen. Auffällig ist die unpersönliche Form, in der er formuliert. Er sagt nicht: was kann ich denn machen, er sagt auch nicht, was können Sie machen. Die erste Formulierung würde für ihn die Gefahr bergen, dass der Polizeibeamte daraufhin erwidert: ,ja rufen Sie doch einmal den Gastwirt an und sprechen mit ihm‘. Und die zweite Formulierung implizierte die Gefahr, dass sich der Polizeibeamte durch den Anrufer in seiner Entscheidungsautonomie beeinträchtigt fühlte und aus diesem Grund seiner Bitte nicht nachkommt. Der Anrufer formuliert geschickter, wobei der Satz ein typischer impliziter Sprechakt ist, zwar wörtlich eine Frage, aber implizit eine Aufforderung oder eine Bitte an den Polizeibeamten, hier etwas zu tun, hier Abhilfe zu 72 73
Im Sinne von Mitteilung. Die aber im Protokoll nicht markiert ist.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
schaffen. Was die Frage aufwirft, ob er bereits selbst etwas unternommen hat, beispielsweise selbst schon einmal mit dem Gastwirt gesprochen und ihn um Ruhe gebeten hat. Oder ob er in seiner Erregung unmittelbar die Polizei anrief, was für querulatorisches Verhalten keineswegs untypisch wäre, um sie in einer alten Dynamik der Auseinandersetzung mit dem Gastwirt zu Koalitionszwecken zu gewinnen und sie zu einem Instrument für die eigenen Interessen zu machen. 12 P: Herr [Müller], sind Sie Gast in diesem Hause? Die Antwort des Polizeibeamten indiziert, dass es für die Frage der Interventionsbedürftigkeit der Situation einen Unterschied macht, ob der Anrufer zu Gast in diesem Hause ist oder ob er dort wohnt, wobei die Beschwerde, so das implizite Argument, im ersten Falle eher berechtigt wäre als im zweiten. Die sehr höflich gestellte Gegenfrage indiziert, dass der Polizeibeamte mitdenkt und abzuprüfen bemüht ist, ob der Anrufer nicht vielleicht doch Gast ist, sodass eine polizeiliche Intervention eher angezeigt wäre als im zweiten Fall. 13–14 AM: Nee, isch wohne hier, iss ja auch en Wohnhaus gleichzeitig Jetzt merkt man, dass der Anrufer querulatorisch wird, denn mit seiner Äußerung stellt er implizit die Frage, was hier überhaupt eine Gaststätte zu suchen hat. Er beschwert sich also im Grunde genommen darüber, dass sich in dem Wohnhaus auch eine Gaststätte befindet, wobei das „auch“ in Abhängigkeit von seiner Betonung sowohl einen adversativen als auch einen additiven Sinn haben kann. Die erste Bedeutung, bei Betonung des „auch“, ist: ,Ist ja auch ein Wohnhaus und nicht nur eine Gaststätte‘. Und die zweite Bedeutung ist: ,Ist ja auch ein Wohnhaus, und was hat hier überhaupt eine Gaststätte verloren?‘ Kurzum: der Anrufer sagt, ich habe eine Berechtigung, hier Ruhe einzufordern. 15 P: Mhm Die Reaktion des Polizeibeamten in Form des therapeutischen „mhm“ indiziert, dass er jetzt umstellt, dass er erkannt hat, dass er hier pazifizieren muss, dass nun gewissermaßen die Behandlung beginnt, um, so kann man vermuten, den Anrufer loszuwerden. 16 P: Haben Se (den) Gastwirt mal drauf angeschprochen? \. . . Der Polizeibeamte fragt nach, ob der Anrufer den Gastwirt auf sein Ruhebedürfnis angesprochen hat: ,Haben Sie ihn angesprochen?‘ Womit er ihn implizit zur Selbsthilfe ermahnt. Dabei formuliert er nicht vorwurfsvoll
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,Hören Sie mal, da können Sie doch von selbst mal was machen‘, sondern im Sinne einer Deeskalation sachlich-nüchtern. 16 P: . . ./ (2.8) Es entsteht eine deutliche Pause von 2,8 Sekunden. Das Schweigen des Anrufers indiziert, dass der Polizeibeamte mit seiner Äußerung genau den Nerv getroffen hat: Der Anrufer hatte vor Einschaltung der Polizei noch nicht selbst versucht, den Gastwirt anzusprechen, sondern unmittelbar die Polizei eingeschaltet, um sie zu Koalitionszwecken für eigene Interessen zu gewinnen. 17–20 P: Das, dat wär vielleischt der naheliegendste Weg, = und wenn dat net hilft, = sinn wir gerne bereit, = Ihnen da weiterzuhelfen Doch dieser Koalitionsversuch scheitert, denn der Polizeibeamte weist den Anrufer sehr freundlich darauf hin, doch zunächst einmal selbst den Gastwirt anzusprechen, was indiziert, dass es noch nicht so spät in der Nacht ist, dass es dem Anrufer nicht zumutbar gewesen wäre, den Gastwirt selber anzusprechen, und man daraus erschließen kann, dass wahrscheinlich die Sperrstunde noch nicht überschritten war. 21 AM: Mhm Die Reaktion des Anrufers zeigt an, dass er nun ins Grübeln kommt. 22–23 P: Wenn er net leiser dreht, = sinn wir da, kein Problem Und der Polizeibeamte schließt an seine vorherigen Ausführungen an, indem er dem Anrufer erläutert, dass er zunächst einmal selbst den Gastwirt anrufen soll, um ihn zu bitten, die Musik leiser zu drehen, und dann, wenn dies nicht hilft, noch einmal anzurufen. Womit er dem Anrufer in einer sachlich-bestimmten Weise zu verstehen gibt, die Polizei erst dann um Hilfe zu bitten, wenn dies wirklich erforderlich ist, sie aber nicht zum Ersatz für eigene Bemühungen zu machen. 24–26 AM: Isch ruf den mal an, und dann sag isch Ihnen noch mal Bescheid, wenn er sisch (sperrt) Die Antwort des Anrufers zeigt an, dass er mit dem Vorschlag des Polizeibeamten einverstanden ist, wobei aus seinen nachfolgenden Ausführungen hervorgeht, dass er ein Scheitern seines Versuches für möglich hält und in diesem Fall dann noch einmal anrufen wird. Ob der Anrufer noch einmal
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
die Polizei anruft, ist nun abhängig davon, wie das Gespräch mit dem Gastwirt verläuft. 27 P: Alles klar Diese Reaktion zeigt, dass der Polizeibeamte froh ist, den Anrufer jetzt loszuwerden. 28 AM: Ja, schönen Dank 29–30 P: Bitte schön, = wiederhören Woraufhin dann das Telefonat in geregelter Weise zu Ende geht. Ergebnis Der Polizeibeamte führte das Gespräch mit dem Anrufer insgesamt angemessen, denn obwohl er dessen Absicht erkannte, die Polizei für seine eigenen Interessen einzuspannen, fuhr er ihn nicht vorwurfsvoll an, sondern behandelte er ihn freundlich und verständnisvoll, ohne im Sinne des Normalfalls aus den Augen zu verlieren, ihm deutlich zu machen, die Polizei erst dann einzuschalten, wenn es wirklich nicht mehr anders geht. Nachdem ich die Studenten über einen Zeitraum von acht Unterrichtsstunden74 mit der Methode der Sequenzanalyse bekannt gemacht hatte, stellte ich ihnen in sechs weiteren Unterrichtsstunden exemplarisch zwei Notationssysteme75 vor, die in der hermeneutischen Sozialwissenschaft verwandt werden, damit tontechnische Aufzeichnungen in schriftliche Protokolle transkribiert werden können,76 wobei ich den Studenten sagte, dass es sinnvoll sei, das Notationssystem zu verwenden, das ihnen zum Zwecke der Verschriftung der Notrufe und der anschließenden Falldiskussion am praktikabelsten (lesbarsten) erscheine. 74 Pro Kurs. Für mich stellte es das größte praktische Problem dar, an einem Unterrichtstag nahezu dreimal die gleichen Lerninhalte zu vermitteln. Ich kam mir daher insbesondere zu Beginn meiner dozentischen Tätigkeit so vor wie ein Papagei, der sich selbst imitiert, woraus ich für mich den Schluss zog, dass es besser für mich (und für die Studenten) sei, einen Rahmenplan zu erstellen, innerhalb dessen ich die Vermittlung eines bestimmten Lehrstoffs zu erreichen versuchte, und nicht anzustreben, an jedem Unterrichtstag in jedem Kurs möglichst identisch zu unterrichten, was ich zum Teil durch die Auswahl der Fälle erreichte, die ich im Unterricht besprach. 75 Vgl. Bergmann (1987), S. 263; Oevermann (1993 a), S. 109. 76 Also gesprochene Sprache „von einer Dimension der sinnlichen Wahrnehmung (der akustischen) in eine andere (die optische)“ umzusetzen [Ehlich (1996), S. 12] beziehungsweise eine Hör- in eine Sehwelt zu verwandeln. Gross (1979), S. 157.
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Nach dieser basalen Einübung in die Verschriftung von akustischem Material instruierte ich die Studenten, zum Zwecke des Erwerbs des verpflichtend im Fach Soziologie vorgeschriebenen Leistungsnachweises Gruppen von drei bis vier Teilnehmern77 zu bilden, mindestens drei Notrufe zu erheben,78 diese in Anlehnung an die vorgestellten Notationssysteme zu 77 Dabei nahm ich keinen Einfluss darauf, wie sich in den jeweiligen Kursverbänden die Gruppen zusammensetzten und wie die Aufgaben (Erhebung und Verschriftung des Notrufmaterials, Transkription der Fallanalyse) verteilt wurden, sondern beschränkte mich darauf, zu protokollieren, in welchen Unterkunftsräumen sich die einzelnen Arbeitsgruppen zu treffen beabsichtigten. Insgesamt bildeten sich 20 Gruppen, davon acht Gruppen mit drei Teilnehmern und eine Kleingruppe mit vier Teilnehmern in Kurs 1 (N = 28), fünf Gruppen mit vier Teilnehmern in Kurs 2 (N = 20) und vier Gruppen mit drei Teilnehmern und zwei Gruppen mit vier Teilnehmern in Kurs 3 (N = 20). Bis auf zwei Gruppen, in denen sich ausschließlich vier bzw. drei Seiteneinsteiger zusammenfanden, handelte es sich um gemischte Praxisaufsteiger- und Seiteneinsteigergruppen. 78 Um zu gewährleisten, dass die Studenten Zugriff auf die Notrufdaten erhielten, gab ich denen, die dies für erforderlich hielten, ein Schreiben zwecks Genehmigung der Datenerhebung mit (s. Anhang I.), das sie bei eventuell auftauchenden Legitimationsproblemen auf den Dienststellen vorlegen konnten, um auf diese Weise Zugang zu den Daten zu erhalten. Zusätzlich gab ich den Rat, bei Fragen seitens der leitenden Polizeibeamten das Forschungsanliegen als ein zeitlich beschränktes darzustellen und neben dem bereits im Forschungsantrag formulierten Hinweis, datenschutzrechtliche Bestimmungen genau zu beachten und alle personenbezogenen Daten bei der Darstellung in der Seminararbeit zu maskieren, explizit zu versichern, sich nur so lange wie zum Überspielen des Materials erforderlich auf den Dienststellen aufzuhalten, was nicht mehr als etwa 45 Minuten Dienststellenaufenthalt notwendig mache, sodass der Dienstbetrieb nicht zu lange gestört werde. Ich sagte dies aufgrund eigener Forschungserfahrungen, die sich auch mit den in der Forschungsliteratur zu findenden Hinweisen hierzu decken, dass die Praxis an der Bewältigung ihres Alltags interessiert ist und dann am ehesten kooperativ handelt, wenn der Forscher dies berücksichtigt. Vgl. Deusinger (1995), S. 706. Um die Notrufe zu überspielen, bat ich die Studierenden weiterhin, sich mit eigenen Aufzeichnungsgeräten auszustatten, zumal es zu diesem Zeitpunkt noch keine für diese Zwecke vorgesehenen tontechnischen Aufzeichnungsgeräte an unserer Einrichtung gab. Wie ich später bei Durchsicht der 20 Seminararbeiten feststellte, wurde mein Begleitschreiben bis auf einen Fall problemlos anerkannt. Nur eine Gruppe berichtete: „. . . in der PD [Polizeidirektion, T. L.] (X) [maskiert durch T. L.] und der PD (Y) [ebenfalls maskiert, T. L.] bedurfte es der Vorlage des der Arbeit beigefügten Schreibens vom Polizeipräsidium (PP) Thüringen und der Verwaltungsfachhochschule. In einem Fall wurde selbst die Korrektheit dieses Schreibens angezweifelt und Rücksprache mit dem PP gehalten“, wobei ursächlich für diese Schwierigkeit ein mehr oder weniger latenter Konflikt zwischen einem Direktionsleiter und der Führung des PP war. In vier von 12 zur Datengewinnung aufgesuchten Polizeidienststellen war zum Erhebungszeitpunkt die polizeiliche Aufzeichnungstechnik defekt. In zwei Fällen half ich den Studenten auf ihre Bitte mit Tonkonserven von Polizeinotrufen aus, die ich von einer ehemaligen Studentin aus der Polizeipraxis (PD Gotha) erhalten hatte.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
verschriften, einen dieser drei Fälle nach der Methode der Sequenzanalyse zu diskutieren, die Diskussion ihrerseits tontechnisch aufzuzeichnen und zu verschriften, die wesentlichen Ergebnisse in Form einer Skizze über den Verlauf der Diskussion anzufertigen79 und mir dann abschließend sowohl die Tonbandkassetten als auch die Verschriftungen zu geben, wobei ich darum bat, die Texte so zusammenzustellen, dass sie den Anforderungen an eine Seminar- oder Hausarbeit Rechnung trugen.80
In sieben von 20 Seminararbeiten fand ich einen expliziten Hinweis auf die schlechte bis sehr schlechte Tonqualität der erhobenen Notrufe. In zwei Seminararbeiten war markiert, dass es für die Auswertung von Gesprächen einen Unterschied macht, ob Kassetten- oder Magnetbänder ständig be- bzw. überspielt werden oder ob nach bestimmter Zeit das Aufzeichnungsmaterial gewechselt wird: (1) „Bei der Sichtung des noch auf Tonträgern der PI [Polizeiinspektion, T. L.] gespeicherten Materials stellte sich heraus, daß bedingt durch eine ständige Be- und Überspielung der Tonträger die Tonqualität nicht zufriedenstellend war. Eine einigermaßen verwertbare Aufzeichnung kann nur erfolgen, wenn neuwertige Tonbandkassetten bespielt werden.“ (2) „Die Tonbandgeräte zum Mitschnitt der Notrufgespräche waren auf allen drei PI’s im Einsatz. Uns fiel jedoch auf, daß sie durch die Dienstgruppen eher stiefmütterlich behandelt werden. Entsprechend schlecht war die Tonqualität der überspielten Bänder, da diese nicht häufig genug ausgewechselt werden, was die Menge der auswertbaren Gespräche, trotz Vorliegen von genug Ausgangsmaterial, stark einschränkte.“ 79 Mit dieser Skizze wollte ich die Studenten methodisch darin einüben, sich reflexiv über ihre eigene Fallanalyse zu beugen, die typischen Schwierigkeiten, die bei ihr auftraten, aufzuzeigen und auf diese Weise eine Intensivierung der Auseinandersetzung mit dem Notrufmaterial zu erreichen. Diese Fähigkeit, sich reflexiv über Fälle beugen zu können, wäre in der Praxis immer dann wichtig, wenn die Routine in einem Krisenfall nicht mehr funktioniert, um sich dann – wie Münchhausen – am eigenen Schopf aus ihr zu ziehen. Vgl. Watzlawick (1988), Kap. 10. Alternativ zur Verlaufsskizze akzeptierte ich auch die Darstellung der wesentlichen Diskussionsergebnisse in Thesenform. Dies aus dem Grund, weil ich den Studenten diese Aufgabenstellung zu Beginn der Seminararbeit schriftlich gegeben hatte und ich diese erst zwei Wochen später, nach einer von Ulrich Oevermann geleiteten Sitzung zur klinischen Fallkonferenz, umformulierte. Wenngleich ich im Unterricht versuchte, die Studenten zur Anfertigung einer Verlaufsskizze umzudirigieren, und ich ihnen genau darlegte, was unter einer Verlaufsskizze im hier von mir gemeinten Sinne zu verstehen ist, erreichte ich nur knapp die Hälfte mit meinen Ausführungen. 80 Dies heißt, dass die Arbeiten formal einem bestimmten wissenschaftlichen Stand entsprechen sollten. Hierzu ist anzumerken, dass ich im ersten Teil des Grundstudiums (im Fach Methodik) mit den Studenten Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens eingeübt hatte.
9. Exkurs: Stellenwert des Leistungsnachweises
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9. Exkurs: Stellenwert des Leistungsnachweises Es handelte sich hier um einen von insgesamt 11 im Grundstudium zu erbringenden Leistungsnachweisen,81 von denen mindestens acht mit der Note ausreichend (bzw. der Punktzahl 5 auf einer 15er Skala82) benotet sein mussten, um zum Kolloquium zugelassen zu werden, mit dem das Grundstudium abschloss und der Beginn des Hauptstudiums eingeleitet wurde.83 Welche Bedeutung die Tatsache hatte, dass es sich um einen benoteten Leistungsnachweis handelte, wurde mir beim Lesen einer Seminararbeit sehr deutlich: „In der Vorbereitungsphase für die vorliegende Seminararbeit wurde der Inhalt und die Zielstellung derselben von uns eher belächelt. Somit bestand zunächst auch der Hauptantrieb für die Bearbeitung der gestellten Aufgabe darin, in einem Leistungsnachweis eine möglichst gute Note zu bekommen. Erst später wurde uns bewusst, dass wir hier eine gute Möglichkeit angeboten bekamen, für unsere spätere polizeiliche Tätigkeit zu lernen. So wurde uns hier erstmals die Möglichkeit gegeben, einen tieferen Einblick in den Aufgabenbereich des Notrufbeamten zu erhalten. Da wir hierbei auch auf unzulängliche Verhaltensweisen im Umgang mit dem Bürger trafen, eröffnete sich uns die Möglichkeit nach besseren Handlungsalternativen zu suchen.“84
Wie aus dem Text deutlich wird, bestand zunächst die Hauptmotivation der Studenten für die Erstellung der Seminararbeit darin, eine möglichst gute Note zu erhalten, während die Einsicht in die Sinnhaftigkeit der Seminararbeit (also ,der Sache‘) erst später kam, aber möglicherweise überhaupt nicht entstanden wäre, wenn nicht zu Beginn der Wunsch nach Erhalt einer möglichst guten Note gestanden hätte.85 – Ende des Exkurses 81 Die LN waren in folgenden Fächern zu erbringen: Einsatzlehre, Staats- und Verfassungsrecht, Führungslehre, Methodik, Kriminalistik, Strafrecht, Allgemeines Verwaltungsrecht, Psychologie, Eingriffsrecht, Bürgerliches Recht, Soziologie. Jeder Leistungsnachweis hatte einen Anteil von ca. 8 Prozent an dem im Grundstudium erzielten Durchschnittspunktwert, der mit 25 Prozent in die Abschlussnote einging. 82 s. hierzu Anhang VI. 83 Vgl. § 14 APO: „Zwischenbewertung: [1] Bis zum Ende des Grundstudiums haben die Studierenden nachzuweisen, daß ihre Studienleistungen den Mindestanforderungen entsprechen. Die Mindestanforderungen sind erfüllt, wenn in mindestens acht (8) von insgesamt elf (11) zu erbringenden Leistungsnachweisen der Punktwert fünf (5) erreicht wird (§ 28). (. . .) [2] Die Zwischenbewertung besteht aus den zu erbringenden Leitungsnachweisen am Ende des Grundstudiums (s. § 12 Abs. 2) und dem sich anschließenden Kolloquium. [3] Das Kolloquium wird als Leistungsnachweis gewertet. Es kann einmal wiederholt werden, wenn der Studierende ansonsten die Zwischenbewertung nicht besteht. [4] Die Zwischenbewertung hat bestanden, wer in mindestens neun (9) der zwölf (12) Leistungsnachweise den Punktwert fünf (5) erreicht (§ 28). [5] Wer die Mindestanforderungen der Zwischenbewertung nicht erfüllt, scheidet aus der Ausbildung aus.“ 84 Auszug aus einer Seminararbeit.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
10. Exkurs: Gruppenarbeit Mit der Kleingruppenarbeit entschied ich mich für eine Lehr- und Lernmethode, die „auch heute noch den ,touch‘ eines alternativen Unterrichts“86 hat, „obwohl (sie) seit Jahrzehnten diskutiert wird, propagiert und erprobt wird“.87 Für diese Methode entschied ich mich aus zwei Gründen. Erstens, weil mir Gruppenarbeit aus pädagogischer Sicht geeignet erschien, die Studenten in die für ihre polizeiliche Berufsarbeit bedeutsame Teamarbeit einzuüben. Und zweitens, weil mir diese Lernform methodisch-methodologisch am sinnvollsten erschien, um bei der Interpretation der Protokolle a) eine maximale Lesarten- und Ideenvielfalt zu gewährleisten und b) verzerrte Individualurteile zu korrigieren.88 Die Gruppenarbeiten führte ich in allen drei Kursen meines Bezugsjahrgangs durch.89 Damit praktizierte ich einen Unterricht, der sich deutlich vom traditionellen Frontalunterricht unterschied, der auch heute noch, wie Norbert Kuse, ein seit längerer Zeit in Diensten der Polizei stehender Pädagoge, schreibt, an Fachhochschulen vorherrschend praktiziert wird: „In der Fachhochschule wird überwiegend im Klassenverband gelernt und gelehrt. Die Sitzordnung der Studenten entspricht dem in der Regel durchgeführten ,Frontalunterricht‘. Diese Lehrform orientiert sich am Dozenten, über den die 85
Aus dieser Erfahrung heraus kann ich zwar Otto Herz [(1997), S. 14] zustimmen, dass ein Lehrer, der gegen Noten ist, damit nicht auch gegen Anstrengung sein muss, er aber in einer Institution, in der es das Bestreben eines Fachhochschülers sein muss, eine gute Abschlussnote zu erzielen, um später einen möglichst guten Berufserfolg zu haben, und sich diese Note aus den Leistungen zusammensetzt, die curricular gefordert sind, riskiert, dass sein Fach, weil es für die weitere berufliche Promotion nicht zählt, zu einem unwichtigen Fach wird, dem bestenfalls der Rang eines unterhaltsamen Erholungsfaches eingeräumt wird. Vgl. von Harrach (1983), S. 162 f. 86 Krummheuer (1997), S. 3. 87 Ebd. 88 Zu diesen zwei Funktionen vgl. Kellerhof/Witte (1990), S. 250 ff.; vgl. hierzu auch Heinze (1992), S. 77 und 188. 89 Ich ging dabei so vor, wie dies Schröter für die erste Phase der Lehrerbildung empfohlen hatte: „Die Aneignung von Lernstoff tritt zurück zugunsten eines forschenden Lernens am Fall. Dabei wird gleichzeitig eine Sache erschlossen und eine Methode der Erschließung gelernt. Das Datenmaterial in Form von ,natürlichen‘ Texten wird von den Studenten und Studentinnen aus eigener Praxis, etwa aus dem Schulpraktikum, mitgebracht.“ Schröter (1997), S. 228.
10. Exkurs: Gruppenarbeit
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Lernsituation gesteuert wird. Unterstützt durch Tafelarbeit bzw. Folienpräsentationen und Textarbeit dominiert der Vortragsstil, unterbrochen durch Lehrgespräche.“90
„Auf diese ausschnitthaft skizzierte Situation“, so der pädagogische Rat Kuses an die Adresse der Lernenden, „sollten Sie sich einstellen (. . .) Sie sollten – sich anhand des Lehrplans bzw. des Lehrbuches auf den Unterricht vorbereiten, d. h. schon einen gewissen Überblick über das Thema haben, – evtl. Fragen zum Thema aufschreiben, – sich bei Verständnisschwierigkeiten durch Fragen an den Vortragenden wenden, – sich aktiv an Diskussionen beteiligen, – darauf achten, an welchen Stellen der Referent besondere Akzente setzt, um auf diese Weise wesentliche und unwesentliche Dinge zu unterscheiden, – Blickkontakt zum Lehrenden halten, da Sie über die Wahrnehmung nonverbaler Signale oft mehr erkennen können als über das gesprochene Wort, – beobachten können, welche Inhalte durch Medien (Folie, Tafel, eigener Text) besonders verstärkt werden.“91
Das Arbeiten in Kleingruppen führte über mehrere Wochen zu einer anderen Unterrichtspraxis, denn der Unterricht fand in dieser Zeit kaum noch in den vorgesehenen Kursräumen im Gebäude zwischen Haus 7 und Haus 8 statt,92 wo sich auch die Bibliothek befand, sondern in erster Linie in den Unterkunftszimmern der Studenten,93 die in Haus 7 internatsmäßig untergebracht waren. Nachdem ich die studentischen Gruppenarbeiten korrigiert hatte, führte ich mit den einzelnen Gruppen Auswertungs- bzw. Rückmeldegespräche durch, in denen ich mit den Gruppenmitgliedern über ihre Arbeit sprach und ihnen die Note für die von ihnen erbrachte Leistung begründete. – Ende des Exkurses 90
Kuse (1995), S. 7 Ebd. 92 Dass der reguläre Unterrichtsraum während dieser Zeit leer blieb, hätte leicht zum Vorwurf führen können, dass ich meine Aufgabe nicht wahrnehme, d. h. mein Lehrdeputat nicht erfülle, weswegen ich die von mir gewählte Form des Unterrichts vorweg mit der Fachbereichsleitung abstimmte und deren Einverständnis hierzu erhielt. 93 In dieser Ausbildungsphase über einen Zeitraum von etwa zwei Monaten suchte ich die Kleingruppen in ihren Zimmern auf, um mit ihnen über eventuell aufgetretene Probleme zu sprechen. Auf diese Weise praktizierte ich einen Unterricht im Stile eines teaching by walking around, der pädagogisch im Sinne Maria Montessoris so ausgerichtet war, den Studenten dann zu helfen, wenn sie Hilfe für notwendig erachteten. 91
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
Abbildung 8: Lageskizze94
11. Exkurs: Benotung Ein Problem, das im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Versuch der Durchsetzung einer fallorientierten Ausbildung auftauchte, bestand darin, dass bei dieser Art der sich an Fallrekonstruktionen orientierenden, material aufschließenden Ausbildung die Notengebung sofort schwieriger wurde, weil ein subsumtionslogischer Ansatz und standardisierte Fragen (multiple choice) für eine Notengebung wie geschaffen sind (selbstevidente Lösung der Notengebung), dagegen die Notengebung bei der von mir gewählten Vorgehensweise wesentlich schwieriger und aufwendiger war und sich einer Standardisierung widersetzte. So musste ich, um einen Korrekturmaßstab für die insgesamt 20 studentischen Notrufanalysen zu bekommen, jeden der analysierten Fälle auch selbst analysieren, um vom Ergebnis her zu wissen, wie die richtige Erfassung des Gegenstandes hätte aussehen müssen.95 Dies verlangte ein konkretes Sich-Einlassen auf den jeweiligen Fall, um die 94 Der ehemaligen Wehrmachtskaserne. Zu Geschichte und Nutzung der Anlage s. Kapitel A. der Arbeit, Fußnote 3. 95 Wobei es sich (dem Praxisdruck geschuldet) um abgekürzte Sequenzanalysen handelte, die nicht identisch sind mit den hier präsentierten expliziten Materialanalysen.
11. Exkurs: Benotung
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Sache in ihrer Konkretion zur Sprache zu bringen,96 und war mit einem hohen Korrekturaufwand verbunden.97 Bei der Benotung der Seminararbeiten orientierte ich mich an den Kriterien, die ich den Studenten vorweg genannt hatte: 1. Das erste Kriterium war die Verschriftungsgenauigkeit des Notrufmaterials, die Güte der Verschriftung. 2. Das zweite Kriterium bezog sich auf die Analyseleistung, also darauf, inwieweit sich die Interpreten in ihren Falldiskussionen an die von ihnen verschrifteten Notruftexte hielten98 und im Zuge ihrer Fallbesprechungen herausarbeiteten, inwieweit die Polizeibeamten fallangemessen handelten. 3. Das dritte Kriterium war die Güte der schriftlichen Zusammenfassung der Diskussionsergebnisse. 4. Und das vierte Kriterium bezog sich auf das in den Arbeiten objektiv zum Ausdruck kommende Engagement der Studenten und die formale Sauberkeit ihrer Materialpräsentation. Da mein angestrebtes Lernziel in der ersten Ausbildungsphase u. a. in der Einübung in Teamkooperation bestand, entschied ich mich für eine Benotung der Gesamtgruppenleistung ohne individuelle Leistungsdifferenzierung. Bei der Notengebung stellte ich in Rechnung, dass es sich bei allen Studenten um Anfänger auf dem Gebiet der Sequenzanalyse handelte, die nur eine relativ kurze Einübung in diese Methode erhalten hatten. – Ende des Exkurses Der zweite Teil des Grundstudiums endete mit dem Kolloquium, einem fachgruppenübergreifenden Prüfungsgespräch.99 96 Vgl. Oevermann (1983 a), S. 234 f.; ders. (1993 b), S. 141. Zudem Adorno (1997 d), S. 557: „Die Sache muß in der Methode ihrem eigenen Gewicht nach zur Geltung kommen, sonst ist die geschliffenste Methode schlecht. Das involviert aber nicht weniger, als daß in der Gestalt der Theorie die der Sache erscheinen muß. (. . .) Der kritische Weg ist nicht bloß formal, sondern auch material.“ 97 Die Bewertung war sehr arbeits- und zeitintensiv. Zum einen hatte ich etwa 800 Seiten zu lesen. Zum anderen erforderte die Korrektur des Materials ein Kontrollhören von ungefähr zwei Stunden tontechnischer Notrufprotokolle und etwa zehn Stunden Diskussionsaufzeichnungen. Und hinzu kam drittens die Zeit, die ich für die Analyse der Fälle benötigte, die auch von den Studenten analysiert worden waren, um eine materiale Basis für die Rückmeldegespräche zu erhalten. 98 Zu den bei der Sequenzanalyse wichtigen Prinzipien der Totalität und der Wörtlichkeit vgl. Oevermann (1998 a), o. S. 99 Geprüft wurde Stoff aus den Fachgruppen Rechtswissenschaften, Führungswissenschaften, Einsatz- und Kriminalwissenschaften und Sozialwissenschaften. Vgl. hierzu § 14 APO.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
12. Zweite Phase: Einübung in die Intervention (Gesprächsführung) I 100 In der zweiten Phase, nach der Zwischenbewertung, im Hauptstudium, begann ich mit der Einübung in die praktische Gesprächsführung am Telefon.101 Zu diesem Zweck bereitete ich mit einigen Studenten in einer Arbeitsgruppe102 Rollenspiele vor. Um diese möglichst realitätsnah103 zu gestalten, sahen wir im ersten Schritt meine über einen Zeitraum von mehreren Jahren angelegte Sammlung von Notrufprotokollen104 nach Fällen durch, die sich für die Einübung in diese kommunikative Praxisform eigneten.105 Im zweiten Schritt destillierten wir dann aus den uns geeignet erscheinenden Notrufprotokollen fallweise die Informationen heraus, die von den Anrufern im Verlauf der Notrufgespräche mitgeteilt wurden. Im Fall des hier wiedergegebenen Notrufprotokolls – 01 DGL: Polizei Notruf106 02 A: Ja (-) äh = Verkehrsunfall = am = Heidenberg hh in der Höhe des 100
„Statt an toten Gegenständen zu üben, müssen Situationen simuliert werden . . .“. Stiebitz (1985), S. 17. 101 Zu den mit den Rollenspielen verbundenen Lernzielen s. Kapitel E. der Arbeit. 102 Die AG, an der nach Unterrichtsende zwischen sechs und 14 Studenten teilnahmen, traf sich insgesamt sechsmal. 103 Becker-Mrotzek/Brünner [(1996), S. 1] formulieren: „authentisch“. Vgl. hierzu auch Loer (1996 b) und (2000). 104 Zu ihr gehörten zum einen die von den Studenten im Rahmen ihrer Seminararbeit erhobenen und verschrifteten Notrufe, zum anderen auch Notruftexte, die mir Studenten vorhergehender Jahrgänge gegeben hatten, und drittens Fälle, die aus meiner eigenen polizeilichen Feldforschung stammten. Vgl. hierzu Ley (1992). 105 Ein wichtiges studentisches Auswahlkriterium war: „mit was hab ich draußen zu tun?“ Geeignete Kandidaten waren: Verkehrsunfälle (1), Einbrüche (2), Medizinische Notfälle (3), Familienstreit (4), Suizidankündigung (5), Brandalarm (6), alte, verwirrte oder alkoholisierte Menschen (8): „Geist kommt unter Heizung hervor und bedroht mich“. 106 Transkriptionssymbolik: DGL Dienstgruppenleiter A Anrufer [] gleichzeitiges Sprechen von zwei Parteien = schneller Anschluss einer nachfolgenden Äußerung oder schnelles Sprechen innerhalb einer Äußerung (-) kurzes Absetzen oder kurze Pause (0.5) Pause in Sekunden hh hh hörbares Atmen uv unverständlich ; fallende Intonationskurve ? steigende Intonationskurve
12. Zweite Phase: Einübung in die Intervention (Gesprächsführung) I 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
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Ärztehauses = mein Name is Petri; DGL: Ja Moment (-) Petri? [Vorname?] A: [Is n ] Auto vorn Lichtmast gefahrn DGL: Ja (-) Petri Vorname bitte? A: Gerd (-) Petri DGL: Gerd (-) sie wohnen wo? A: Heidenberg hh (1.0) hunderteinundzwanzich = gegenüber vom Ärztehaus is das (-) beim Heidenberg (1.0) DGL: Dort ein Pkw (-) ja? A: E Pkw vorn Laternenmahl äh = äh = vorn DGL: Ja A: Lichtmast gefahrn; DGL: Ja (-) gibs verletzte Personen? A: Bitte? DGL: Gibs verletzte Personen? A: Kann = ich = im = Moment = noch = nich = sachen hh (-) ich guck noch mal aus em Fenster hh (-) das Auto knaddert noch = der Motor hh DGL: Ja das Auto steht noch = und keine Person kommt raus; A: Ja ich weiß nich ob da ob da (3 Worte uv) sin = kann ich nich sehn DGL: Könn se nich sehn; (-) ja gucken se = bitte sofort mal nach (-) un rufen se uns dann nochmal an = ich schicke die Kollegen los ja?107
– waren dies die folgenden Informationen: – – – – – – –
Anrufer: Gerd Petri wohnhaft: Am Heidenberg 123, gegenüber dem Ärztehaus schaut aus dem Fenster Auto vor den Lichtmast gefahren Totalschaden weiß nicht, ob es Verletzte gegeben hat Auto knattert noch (Motor läuft noch)
Im dritten Schritt ergänzten wir die Informationen durch die Protokollierung der ersten Sequenz, die der Anrufer im konkreten Fall gesprochen108 hatte: Ja äh Verkehrsunfall am Heidenberg hh in der Nähe des Ärztehauses mein Name ist Petri is n Auto vorn Lichtmast gefahrn 107 Der Fall ging hier noch weiter, und der Polizeibeamte machte einen weiteren, hier nicht zu analysierenden Fehler: er hielt den Anrufer am Telefon fest und ließ ihn die polizeiinterne Kommunikation mithören. Dies führte zu nicht unerheblicher Verwirrung des Anrufers; s. Kapitel C.: 10. Fall 3: Verkehrsunfall am Heidenberg. 108 Diese stellte die Einstiegssequenz für den Rollenspiel-Anrufer dar.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
Im vierten Schritt passten wir die in den Rollenspielvorlagen enthaltenen realen Ortsangaben an eine fiktive Stadtkarte109 (genannt Nordstadt) an:
Abbildung 9: Nordstadt
Im fünften Schritt wurden die Rahmenbedingungen für das polizeiliche Handeln festgelegt: Stärke 1/11110 FUNK LEINA 16111 (Zentrale) Streifenwagen 16/11112 16/12 16/13 16/14 16/15 Amtsleitung 03693-6110 Rettungsleitstelle 112 109
Auf die Notwendigkeit dieser Anpassung wies mich eine Studentin aus der Projektgruppe hin. Ihr Hinweis lautete, dass die Anpassung der realen Ortsdaten an eine fiktive Stadtkarte erforderlich sei, um Orientierungsschwierigkeiten zu vermeiden, die lediglich der künstlichen Rollenspielsituation geschuldet wären, weil in der Realität typischerweise sowohl der Anrufer und erst recht der den Notruf entgegennehmende Polizeibeamte über lokale Kenntnisse verfügten. Vgl. hierzu etwa Shearing (1984), S. 107. 110 Verwendetes Kürzel für ein Beamter gehobener Dienst (Kommissarlaufbahn), 11 Beamte des mittleren Polizeidienstes (Polizeimeister bis Polizeihauptmeister). 111 Funkkennung der Einsatzzentrale. 112 Funkkennung der Streifenwagen 16/11 bis 16/15.
13. Exkurs: Tätigkeits- oder Neuigkeitseintragungen
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Im sechsten Schritt wurde über das räumliche Setting der Rollenspiele gesprochen. Dabei kamen wir zum Ergebnis, dass – um die für telefonische Kommunikation typische Reduktion der Wahrnehmbarkeit auf die Stimme zu gewährleisten113 – zwei getrennte Räume mit jeweils einem Telefon erforderlich sind,114 und in dem Raum, wo die Notrufe entgegengenommen werden, ein Aufzeichnungsgerät115 zu installieren ist. Vor Beginn der Rollenspiele sprach ich mit den Studenten im Unterricht einführend über die Bedeutung des Berichtswesens. Sinn dieser Thematisierung war, möglichst viel formale Realität in die Rollenspiele einzuziehen, um in den Rollenspielen abgreifen zu können, ob die Studenten den Spagat zwischen formaler und materialer Rationalität angemessen ,hinbekamen‘.
13. Exkurs: Tätigkeits- oder Neuigkeitseintragungen Die Polizei ist auf der Streifen- oder Revierebene gehalten, für alle Tätigkeiten, die fallbezogen sind, also für alle Formen des Ersten Angriffs, Eingaben in ein polizeiliches Computersystem zu machen. Die Hauptfunktion dieser so genannten Tätigkeits- oder Neuigkeitseintragungen116 besteht in der Sicherung des polizeilichen Informationsflusses. Hierzu muss man wissen, dass der Polizeidienst in Schichten verrichtet wird, und diese Arbeitsorganisation es erfordert, dass Informationen über einen Fall, der in seiner Auswirkung und seiner zeitlichen Ausdehnung der Bearbeitungswürdigkeit eine Schichtlänge überschreitet und Anschlussmaßnahmen erforderlich macht, auch von den Nachfolgeschichten abgerufen werden können. Entsprechend haben auf diese Eintragungen auch alle Polizeibeamten der Dienststelle Zugriff, die sich ein Bild vom vergangenen Geschehen machen wollen. Die Problematik dieser allgemeinen Zugriffsmöglichkeit besteht darin, und das ist die zweite Funktion der Tätigkeitseintragungen, dass zu 113 Vgl. Schegloff (1979), S. 23 f.: „The speakers do not have sensory access to each other except through their voices and speaking. (. . .) the parties lack visual access to one another.“ 114 s. hierzu Anhang VIII. 115 Die Installation einer solchen Maschine (s. hierzu Anhang IX.) stellte im Vorfeld der Rollenspiele das größte Problem dar und wurde auch erst einen Tag vor Trainingsbeginn technisch gelöst. Um die Rollenspiele tontechnisch aufzuzeichnen, besorgte ich eine hinreichende Anzahl von Mikrokassetten. Für das Abspielen dieser Kassetten und die tontechnische Aufzeichnung der Rollenspielanalysen ließ ich zudem über unseren Verwaltungsleiter sechs Diktiergeräte, sechs Normalkassettenrekorder (mitsamt Mikrofonen und Kopfhörern) und eine hinreichende Anzahl von Normalkassetten besorgen. Jede Gruppe erhielt zu Trainingsbeginn ein Equipment, bestehend aus einem Diktiergerät, einer Mikrokassette, einem Normalkassettenrekorder, einer Normalkassette, einem Mikrofon und einem Kopfhörer. 116 Früher sprach man auch von Rapporten.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
den potentiellen Lesern auch die Statusoberen in der Polizeiorganisation gehören, wodurch die Eintragungen in hohem Maße eine Kontrollfunktion117 bekommen. Denn wenn eine Beschwerde bei der Polizei über Beamte eingeht, schaut in der Regel der zuständige Vorgesetzte in den Eintragungen nach und spricht dann erst mit den Polizeibeamten. Und das ist für einen Beamten immer eine außerordentlich folgenreiche, sehr störende und belastende Angelegenheit, weil er, was ein Laie vielleicht nicht so nachvollziehen kann, hier unter erhebliche Beweislast gerät. Er muss nämlich sehr umfangreich begründen, warum die Beschuldigung, die ausgesprochen wurde, nicht stimmt. Zudem haben Eintragungen eine nicht geringe Bedeutung für die Beförderung, weil Polizeibeamte – was man als Hintergrund hier wissen muss – entscheidend nach dem Schriftverkehr beurteilt werden. Leistung geht folglich nur so weit in die polizeiliche Karriere ein, findet nur so weit Berücksichtigung, so weit sie im Schriftverkehr sich niedergeschlagen hat. Alles andere bleibt auf der Ebene statusgleicher Kollegen. Das ist das Strukturproblem bei der Polizei. Ein Polizeibeamter muss also, wenn er Karriere machen will, alles dransetzen, korrekte Berichtseinträge anzufertigen.118 Und das bedeutet, dass er diese so abzufassen hat,119 dass sie nicht 117 Berichte sind daher zweckrational abgefasst, auch wenn sich viele Formulierungen „traditional“, „durch eingelebte Gewohnheit“ [Weber (1985), S. 12], eingeschliffen haben und zu einem ,tacit knowledge‘ geworden sind. Es handelt sich hier aber nicht um authentische Ausdrucksgestalten für einen Polizeieinsatz, sondern um subjektiv-strategisch hergestellte Verdichtungen zum Zweck der innerorganisatorischen Information – mit dem Wissen, dass damit die Arbeit durch die Vorgesetzten bewertbar wird. Berichte sind daher tendenziell ungeeignet, die polizeiliche Tätigkeit vor Ort zu rekonstruieren. Hierzu benötigt man natürliche Protokolle (Tonbandaufnahmen, Videoaufzeichnungen) oder Interviews von Polizeibeamten, die vor Ort handelten. Was man aus Polizeiberichten lernen kann, ist (und das ist für die Einsozialisation von rookies oder Novizen sehr wichtig), wie man Texte verfasst, wie Texte auszusehen haben, welche formalen Merkmale Polizeiberichte vertextet aufweisen müssen. Da aber das, was vertextet wurde, die protokollierte Wirklichkeit, nicht gleichzeitig erscheint, könnte man aus ihnen nicht lernen, wie die zu protokollierende Wirklichkeit, die auf einer anderen Ebene liegt, zu vertexten gewesen wäre. Man könnte mithin nicht rekonstruktiv erfahren, wie man vertexten muss, sondern nur subsumtionslogisch-standardisiert. Es sei denn, man verfügte gleichzeitig über ein Beobachtungsprotokoll der protokollierten Realität. Vgl. hierzu Ley (1992) und (1996 a). 118 Wozu er bestimmte schriftsprachliche Fähigkeiten braucht. Nicht zuletzt aus diesem Grund hielt ich es in meiner Verantwortung als Lehrender für meine Aufgabe, bei Klausurkorrekturen sprachliche Fehler als solche zu markieren. Denn die Polizeikarriere ist im bestimmten Sinne eine „Deutschnotenkarriere“, wie Oevermann im Rahmen des Sommerkurses am 24. September 1992 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main ausführte. 119 Berichten leitet sich etymologisch ab von „melden, erzählen“, „etwas melden, einrichten, richten, erzählen, in die rechte ordnung bringen“. Grimm/Grimm (1984 a), Sp. 1521.
14. Zweite Phase: Einübung in die Intervention (Gesprächsführung) II
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unwesentlich den formalen Erwartungen seiner Vorgesetzten entsprechen120, wozu es erforderlich ist, sich an dem Schema zu orientieren, das ihm auf der ersten Computerseite vorgegeben ist. Denn ansonsten könnte es zu unerwünschten Rücksprachen kommen, die negative Auswirkungen für die weitere berufliche Karriere haben. Anders formuliert: Einträge müssen möglicht so abgefasst werden, dass sich für die Polizeibeamten keine negativen Konsequenzen ergeben. Denn: „Final and actual termination occurs when the ,right paper‘ is written which insures that the termination ,will not come back on you‘“.121 Eine Aussage, die ich bei Gesprächen mit Polizeibeamten im Rahmen einer eigenen Polizeistudie bestätigt fand.122 So wurde mir erklärt: „Es wird so geschrieben, daß nichts nachkommt“; oder: „Ich pinkel mir doch nicht selber ans Bein“.123 – Exkurs endet hier –
14. Zweite Phase: Einübung in die Intervention (Gesprächsführung) II Danach kam ich dann noch einmal auf die Methode der Sequenzanalyse zu sprechen, wobei ich meine Ausführungen an nachfolgend abgebildetem Schema orientierte, das ich den Studenten dann auch als eine Art ,Merkblatt‘ an die Hand gab: Sequenzanalyse – der Spur des Falles schrittweise folgen (diachronische Betrachtung) – Abdecktechnik (alle bis auf die bereits interpretierten oder schrittweise zu interpretierende Zeile(n) mit Blatt oder anders abdecken) – schrittweise Interpretation der Bedeutung von Äußerungen – Welche Äußerung kann anschließen (Hypothesenbildung angesichts Zukunftsoffenheit)? – Überprüfung der Hypothesen: welche Äußerung schloß tatsächlich im fortlaufenden Fall an (Realisierung der Zukunft)? – Was bedeutet die Realisierung dieser und nicht jener Äußerung (Fallstruktur)?
Die Rollenspiele wurden in Kleingruppen von drei bis vier Studenten durchgeführt.124 Nach vorheriger Empathieinstruktion125 – 120 „Als Strukturmerkmale der Verwaltungssprache können ein nominaler, abstrakter und unpersönlicher Stil, Streben nach Genauigkeit, Klarheit und Objektivität der Aussage, Verzicht auf Ausschmückungen und der Gebrauch von Formeln und formelhaften Wendungen hervorgehoben werden.“ Wagener, zit. n. Bosetzky/ Heinrich (1994), S. 136. 121 Manning (1982), S. 127. 122 Ley (1992) und (1996 a). 123 Ebd. 124 Kursweise an jeweils zwei Tagen. Dies stellte zum einen die Studienverwaltung vor gewisse Planungs- und Dozentenverteilungsprobleme. Denn zwei Tage Trai-
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
Stellen Sie sich vor, Sie sind in folgender Situation126 und rufen über den Notruf die Polizei an! Stellen Sie sich vor, Sie sind der den Anruf entgegennehmende Polizeibeamte!
– übernahm jeder Teilnehmer abwechselnd einmal die Polizisten- und die Anruferrolle.127 Jede Gruppe erhielt den Auftrag, ein Gespräch zu verschriften und dieses der nachfolgenden bzw. vorausgehenden Gruppe zur Analyse zu geben.128 Die Auswertung der Rollenspielprotokolle (nach der Methode der Sequenzanalyse) erfolgte in Kleingruppen. Die Auswertungsergebnisse wurden zum Abschluss des Trainings kursweise im Plenum vorgestellt.129 Die zweite Ausbildungsphase, an die sich dann unmittelbar das sechsmonatige Führungspraktikum anschloss, endete mit einem Fachgespräch.130 ning in einem Kurs bedeuteten jeweils 12 Unterrichtsstunden Vorlauf in den beiden anderen Kursen, der wieder ausgeglichen werden musste. Und zum anderen war dies auch für meine Kollegen keineswegs unproblematisch, weil es für sie bedeutete, dass sie an einem nachfolgenden Unterrichtstag nicht – wie gewohnt – in allen Kursen das gleiche Pensum lehren konnten, was von einigen Dozenten, die nach einem genauen Plan Unterrichtsstoff vermittelten, durchaus kritisch gesehen wurde. 125 Durch meinen Kollegen aus der Fachgruppe Führungswissenschaften, mit dem ich dieses Vorgehen vorweg, am 28.11.1997, besprochen hatte. Da ich zu dieser Zeit keinen Mitarbeiter in der Fachgruppe hatte, war ich zwingend auf die Hilfe meines Kollegen aus dem Führungsbereich angewiesen, wozu ich ihm zu Dank verpflichtet bin. 126 Jeder Anrufer erhielt ein Blatt Papier, auf dem sowohl die Einstiegssequenz als auch weitere Fallinformationen festgehalten waren. 127 Der Sinn dieses Rollenwechsels bestand darin, die Studenten für beide Seiten zu sensibilisieren und ihnen damit Gelegenheit zu geben, sich in beide Situationen zu versetzen. Dies sah in einer 4er-Gruppe (Rollenspieler I-IV) wie folgt aus: Zunächst Rollenspiel zwischen Rollenspieler (Rsp.) I (Rolle P) und Rsp. II (Rolle A). Dann Rollentausch Rsp. I (Rolle A) und Rsp. II (Rolle P). Anschließend Rsp. III (Rolle P) und Rsp. IV (Rolle A). Dann Rollentausch Rsp. III (Rolle A) und Rsp. IV (Rolle P). 128 Gruppe A ! B, B ! A usw. 129 Diese Vorgehensweise erwies sich als nicht unproblematisch, weil zum Teil latente Konflikte zwischen Studenten eine sachbezogene Bewertung von Fallanalysen behinderten. Es wurde teilweise nicht vorurteilsfrei die Sache analysiert, sondern stattdessen wurden Personen unsachlich kritisiert, was ich im Rahmen der mir curricular zur Verfügung stehenden Zeit nicht wirklich angemessen in Nachbesprechungen thematisieren konnte. Zur Bedeutung kollegialer Binnenkritik s. grundlegend Oevermann (1997 a), S. 180. 130 Nach § 12 APO handelt es sich hier um eine von fünf möglichen Formen, einen Leistungsnachweis zu erbringen. Das Fachgespräch führte ich zusammen mit einem Kollegen aus der Fachgruppe Führungswissenschaften. Geprüft wurde in Gruppenstärke von drei bis vier Studenten, wobei diese wählen konnten, in welchem Fach die Prüfung durchgeführt werden sollte: in Soziologie, Psychologie oder Pädagogik oder in einer Kombination dieser Fächer. Von 67 Studenten entschieden
15. Dritte Phase: Abschlussstudium und Staatsexamen
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15. Dritte Phase: Abschlussstudium und Staatsexamen In der dritten Ausbildungsphase wiederholte ich die Prinzipien der Sequenzanalyse und ging noch einmal in komprimierter Form auf typische Interventionsfehler ein.131 Es folgte dann das schriftliche Staatsexamen, das sich nach § 24 APO aus jeweils einer fünfstündigen Klausur in den Fachgruppen Rechtswissenschaften, Einsatz- und Kriminalwissenschaften, Führungswissenschaften und Sozialwissenschaften zusammensetzte. Die sozialwissenschaftliche Klausur132 bestand aus insgesamt zehn Aufgaben, wozu mit der Sequenzanalyse des nachfolgenden Notrufprotokolls – Zeile 1 Zeile 2 Zeile 3
PB: A: PB:
Polizeinotruf133 Ja guten Tag = hier in Suhl wird gerade eingebrochen Guten Tag
sich 40 für Soziologie (59,70 Prozent), 15 wählten die Kombination von Soziologie/ Psychologie (22,38 Prozent) und 12 Studenten die Kombination Soziologie/Psychologie/Pädagogik (17,91 Prozent). Im Fach Soziologie ging es zentral um Fallverstehen, um den Nachweis, dass die Studenten in der Lage waren, Notruffälle sequenzanalytisch zu bearbeiten. Um dies zu prüfen, legte ich den Prüflingen Fälle aus meiner Sammlung protokollierter Notrufe vor, die sie dann – je nach Stärke der Gruppe – zu dritt oder viert – analysieren sollten. Die im Fachgespräch erzielten Noten reichten von acht bis 15 Punkten (15 Punkte entsprechen der Note sehr gut, acht Punkte der Note noch befriedigend; zum Bewertungssystem s. Anhang VI.). Die Durchschnittsnoten waren in den einzelnen Kursen vergleichbar gut: Kurs 1 = Durchschnitt 12,11; Kurs 2 = 12,16; Kurs 3 = 12,8. 131 Zudem legte ich den Studenten in einer Übungsklausur einen Notruf vor, den sie in einem Zeitraum von 90 Minuten bearbeiten sollten. Die Ergebnisse zeigten mir, dass 90 Minuten für die Bearbeitung ausreichten, sodass ich einen Anhaltswert für die von mir zu konzipierenden zwei Examensvorschläge hatte, in denen ich jeweils eine sequenzanalytische Aufgabe ,unterzubringen‘ gedachte. 132 Für deren Erstellung (s. hierzu Anhang V.) ich als Fachgruppenleiter verantwortlich war. Dies bedeutete einen nicht zu unterschätzenden Vorteil, weil ich auf diese Weise mitbestimmen konnte, welche Inhalte geprüft wurden, auch wenn ich bei der Auswahl der Aufgaben an das gebunden war, was in den Fächern Psychologie und Kriminologie gelehrt worden war. 133 Die Notationszeichen setzte ich als Reaktion auf das Feedback der Studenten nach einer Übungsklausur an erster Stelle, vor Beginn des Falls. Dies sei methodisch-didaktisch besser, so der studentische Hinweis, weil man dann nicht auf der Suche nach der Zeichenlegende zur Gesamtbetrachtung des zu analysierenden Textes verleitet werde. Verwendete Notationszeichen: PB Polizeibeamter A Anrufer = schneller Anschluss einer nachfolgenden Äußerung ? Frageintonation ! ansteigende Intonation
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse Zeile Zeile Zeile Zeile Zeile
5134 6 7 8 9
Zeile Zeile Zeile Zeile Zeile Zeile Zeile Zeile Zeile Zeile Zeile Zeile Zeile Zeile
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
A: PB: A: PB: A:
In der Meininger Straße = Baubetrieb Firma Noll Wo is des? In der Meininger Straße = Baubetrieb Noll Und da wird eingebrochen? Ja = kommen Sie schnell! Da machen se mit em Eisen an der Tür rum PB: Wie is denn Ihr Name? A: Kiesler PB: Kiesler? A: Ja PB: Und Ihr Vorname? A: Ferdinand PB: Und Sie wohnen wo? A: In der Meiningerstraße, bin der Nachbar PB: Hausnummer? A: 20 = Mensch machen Sie schnell! PB: Ja Herr Kiesler ich schicke mal jemand da hin A: Bitte machen Sie schnell! PB: Ja machen wir A: Ja gut [Ende der Aufzeichnung, gleichzeitig Ende des Gesprächs]135
– auch eine objektiv hermeneutische Aufgabe136 gehörte, zu der ich folgende Lösungsskizze entwickelte: Es kommt hier entscheidend darauf an, die Methode der Sequenzanalyse, die im Zentrum der von Ulrich Oevermann entwickelten objektiven bzw. strukturalen Hermeneutik steht,137 richtig anzuwenden. Von Bedeutung ist insbesondere, in134
Der Nummerierungsfehler fiel mir erst bei der Korrektur der Examensarbeiten
auf. 135 Bei diesem Fall handelt es sich um ein Kunstprodukt. Der Fall hat sich real nicht ereignet. Er war nie „historische Realität“ [Käsler (1998), S. 233], wenngleich ihm die Realität als Vorlage diente, das heißt, er „aus der historischen Wirklichkeit gewonnen“ wurde (ebd., S. 232). Entsprechend sind sämtliche im Protokoll vorkommenden Namen, die Orts- und Straßenbezeichnung und die Hausnummer frei erfunden. Das Arbeiten mit konstruierten, künstlich-reinen Fällen ist im linguistischen Bereich durchaus nicht unüblich. Hierzu Bergmann (1985), S. 300. Man denke hier nur an Levinsons Untersuchung pragmatisch anomaler Sätze [s. Levinson (1990), S. 57]; oder Searles [(1990 a), S. 38 ff.] Sprechaktuntersuchungen. 136 Die Aufgabenstellung lautete: „Bearbeiten Sie den folgenden Protokollausschnitt sequenzanalytisch und fassen Sie zum Schluß dann noch einmal thesenförmig zusammen, wie das polizeiliche Handeln in diesem Fall zu bewerten ist!“ 137 Hierzu grundlegend a) Ulrich Oevermann und Andreas Simm: Zum Problem der Perseveranz in Delikttyp und modus operandi. Spurentext-Auslegung, TätertypRekonstruktion und die Strukturlogik kriminalistischer Ermittlungspraxis. Zugleich eine Umformung der Perseveranzhypothese aus soziologisch-strukturanalytischer Sicht. In: U. Oevermann; L. Schuster; A. Simm: Zum Problem der Perseveranz in Delikttyp und modus operandi. Spurentext-Auslegung, Tätertyp-Rekonstruktion und die Strukturlogik kriminalistischer Ermittlungspraxis. Zugleich eine Umformung der
15. Dritte Phase: Abschlussstudium und Staatsexamen
73
wiefern die Interpreten ein methodisches Bewußtsein für die Bedeutung des Details aufweisen und in der Lage sind, den Protokollausschnitt in der Sprache des Falles angemessen zu analysieren. Im Zuge der Besprechung sollte inhaltlich u. a. auf folgende Punkte eingegangen werden: Aktuelle Krise liegt vor; Chance, den Täter in flagranti zu ertappen. Der Polizeibeamte handelt jedoch nicht fallangemessen; es erfolgt keine angemessene Fallabklärung und keine schnelle Entsendung von Einsatzkräften. Der Polizeibeamte handelt bürokratisch (Zeile 10 bis Zeile 18). Er handelt formal rational (jedoch nicht material rational; zu diesem Unterschied s. Max Weber: Rechtssoziologie). Hypothesen zur Motivierung der Art der Gesprächsführung: a) Bürokratische Sozialisation und entsprechende Habitusformation: Routine geht vor Krisenbewältigung b) Abfrageroutine c) Formular- bzw. Berichtswesen (Computermaske) Die Einsatzzusage des Polizeibeamten läßt nicht erkennen, daß die Polizei schnell vor Ort kommt (Formulierung: „ich schicke mal jemand hin“).138
Dabei war es für mich ein persönlicher Erfolg, dass weder der Fachbereichsleiter als mein unmittelbarer Vorgesetzter noch das im Ministerium für Ausbildungs- und Prüfungsfragen zuständige Referat Einwände gegen die Integration dieser Aufgabe in das sozialwissenschaftliche Staatsexamen hatten und beide vorgesetzte Stellen damit einverstanden waren, dass der Aufgabe mit 30 Prozent der erreichbaren Punkte ein gewichtiger Stellenwert zukommen sollte.139 Perseveranzhypothese aus soziologisch-strukturanalytischer Sicht. Wiesbaden 1985, S. 186 ff. u. 275 ff.; und b) Ulrich Oevermann; Erwin Leidinger und Jörg Tykwer (Hg., unter Mitarbeit von A. Simm und K. Störmer): Abschlußbericht zum Forschungsprojekt „Empirische Untersuchung der tatsächlichen Abläufe im kriminalpolizeilichen Meldedienst und der an der Zusammenführung beteiligten kriminalistischen Schlußprozesse – unter Berücksichtigung des Stellenwertes der EDV. In: U. Oevermann; E. Leidinger; J. Tykwer; A. Simm; K. Störmer: Kriminalistische Datenerschließung. Zur Reform des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes. Wiesbaden 1994, S. 165 ff. 138 Mit Blick auf die ministerialen Stellen versuchte ich bei der Erstellung der Lösungsskizze deutlich den wissenschaftlichen Anspruch zu markieren, den ich mit der gestellten Aufgabe verband. Aus diesem Grunde die beiden einleitenden Sätze „Es kommt hier entscheidend darauf an, die Methode der Sequenzanalyse, die im Zentrum der von Ulrich Oevermann entwickelten objektiven bzw. strukturalen Hermeneutik steht, richtig anzuwenden. Von Bedeutung ist insbesondere, inwiefern die Interpreten ein methodisches Bewußtsein für die Bedeutung des Details aufweisen und in der Lage sind, den Protokollausschnitt in der Sprache des Falles angemessen zu analysieren.“ Und deswegen auch der Fußnotenhinweis auf die in höheren Ministerialkreisen durchaus bekannten BKA-Studien von Oevermann.
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
16. Ergebnis des schriftlichen Staatsexamens Von insgesamt 67 Examenskandidaten bestanden 16 die sozialwissenschaftliche Klausur nicht.140 Dies lag indes nicht an der sequenzanalytischen Aufgabe. Denn von den 16 Studenten, welche die Klausur nicht bestanden, hätten sie 11 bestanden, wenn in der Klausur nur diese Aufgabe abgeprüft worden wäre. D. h.: Nur in fünf Fällen141 gab es eine Korrespondenz von nicht bestandener Klausur und nicht bestandener Fallanalyse, so139 Maximal kontrastiv zu der sequenzanalytischen Aufgabe war Aufgabe 1 „Bei einer Verkehrskontrolle halten Sie einen Pkw-Fahrer an. Als dieser das Seitenfenster herunterkurbelt, sehen Sie in sein Gesicht, das Ihnen auf Anhieb unsympathisch ist, weil es Sie an einen unangenehmen ,Kunden‘ erinnert. Wie nennt man dieses Phänomen?“. Bei dieser Aufgabe handelte es sich im Grunde genommen um einen Vokabel- oder Fremdwörterkenntnistest, der keine Bedeutung für die Praxis hat, was man sich daran klar machen kann, dass es für das praktische Handeln keinen Unterschied macht, ob ein Polizeibeamter diese Vokabel kennt oder ob er sie nicht kennt, folglich ein Polizeibeamter, der diese Vokabel nicht kennt, sich in der Praxis dennoch richtig verhalten kann, und umgekehrt ein Polizeibeamter, der diese Vokabel kennt, sich in der Praxis keineswegs richtig zu verhalten braucht. Anders ist dies bei der Sequenzanalyse, wo derjenige, der Fehler bei der praxisentlasteten Interpretation eines Notruftextes nicht erkennt, diese in praxi (unter Handlungsdruck stehend) höchstwahrscheinlich selber machen wird. Man könnte nun, was hier nicht Aufgabe sein soll, alle Examensaufgaben daraufhin durchsehen, inwieweit es sich um Aufgaben mit oder ohne Praxisrelevanz handelte, und daraufhin eine Aufgabentypologie erstellen. 140 Das arithmetische Mittel lag bei 19,66 von 30 zu erreichenden Punkten. Die Varianz (s2) betrug 19,98, die Standardabweichung (s) 4,47 Punkte. 141 Bei diesen fünf Studenten handelte es sich um tendenziell ängstliche Studenten, die nicht dem entsprachen, was man im Schüler- und Lehrerjargon ,Prüfungstypen‘ nennt. Dass es gerade ängstliche Studenten waren, die im Examen mit der Sequenzanalyse nicht zurechtkamen, verwunderte mich nicht. Denn die Sequenzanalyse ist ein offenes Verfahren, ein riskanter, offener Forschungsprozess, der in sich nicht standardisiert ist. Jede Fallrekonstruktion simuliert eine praktische Krise, und man weiß zumindest bei vorher noch nicht präparierten Fällen nicht, was bei der Fallrekonstruktion herauskommen wird. Die Analyse kann scheitern, d. h. ergebnislos bleiben. In dieser Situation ist man nie, wenn man ein Buch liest oder mit standardisierten Methoden arbeitet. Was ich damit sagen will, ist, dass diese Offenheit auch eine Beunruhigung für jemanden darstellen kann, dass sie etwas Bedrohliches hat und Ängste wecken kann. Und das ist der Punkt, an dem die Sache kippen kann, wenn die Bedrohlichkeit zu stark wird. Man braucht idealerweise eine außerordentlich entspannte, aber gleichzeitig sachlich anfordernde Atmosphäre, und aus diesem Grund tun sich vor allem die Leute schwer, die ohnehin schon Angst vor Prüfungen haben und denen in dieser von ihnen als bedrohlich empfundenen Situation nicht nur ihr Gelerntes nicht wieder einfällt, sondern die darüber hinaus keine innere Ruhe aufbringen, um einem Fall Schritt für Schritt, Zeile für Zeile, die Prinzipien der Totalität und Wörtlichkeit beachtend, zu folgen und geduldig „die Sache, die es zum Sprechen zu bringen gilt“ [Oevermann (1993 b), S. 256], auszubuchstabieren.
18. Mündliche Staatsexamensprüfung
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dass man sagen kann, dass die Sequenzanalyse eine durchaus schonende Methode war. Klausur bestanden/Fallanalyse bestanden Klausur bestanden/Fallanalyse nicht bestanden Klausur nicht bestanden/Fallanalyse bestanden Klausur nicht bestanden/Fallanalyse nicht bestanden
51 = 76,12 Prozent 0 =
0
Prozent
11 = 16,42 Prozent 5 =
7,46 Prozent
17. Projektarbeit Im Anschluss an das schriftliche Staatsexamen sah die APO eine zweiwöchige Projektarbeit vor,142 deren pädagogische Intention darin bestand, die Erfahrungsbildung in kooperativen Arbeitsformen und unter fächerübergreifenden Anforderungen in den Mittelpunkt zu stellen.143 Zu diesem Zweck sollten die Studenten in Form von Gruppenarbeit ein aus der Praxis stammendes Problem auf der Grundlage wissenschaftlicher Grundkenntnisse und nach wissenschaftlichen Methoden untersuchen und einen Beitrag zur Lösung des Problems entwickeln. In diesem Zusammenhang erhielt ich von einer Gruppe von neun Studenten, die teilweise auch schon zuvor im Hauptstudium in der Arbeitsgruppe ,Rollenspiele‘ mitgewirkt hatten, den Themenvorschlag: „Erstellen eines Planes für einen mehrtägigen Lehrgang im Rahmen der Fortbildung von Polizeibeamten zum Thema: Notrufkommunikation – Einsatzkommunikation“, den ich umgehend akzeptierte, weil er mir zeigte, dass ich diese Studenten mit meinem Notrufthema ,erreicht‘ hatte und sie nun dabei waren, das Thema im Hinblick auf Fortbildungsveranstaltungen eigenständig weiterzudenken.144
18. Mündliche Staatsexamensprüfung Die Ausbildung endete mit einer fächerübergreifenden mündlichen Staatsexamensprüfung. Während ich beim Fachgespräch festgestellt hatte, dass sich die sequenzanalytische Bearbeitung von Fällen sehr gut für Prüfungszwecke eignete, ergaben sich für mich hier nun Schwierigkeiten, die dadurch bedingt waren, dass ich nun nicht mehr (wie beim Fachgespräch) 142 Die Projektarbeit hatte den Stellenwert eines Leistungsnachweises. Vgl. § 6 Abs. 4 und § 12 Abs. 4 APO. 143 Vgl. § 7 Abs. 1 APO. 144 Die Arbeit begann denn auch mit den Worten: „Mit der vorliegenden Projektarbeit wurde durch die Verfasser versucht, ein Konzept für ein Schulungsprogramm von Notrufsprechern in der Thüringer Polizei zu entwerfen. Die dem Projekt zugrunde liegende Idee entstand während der sozialwissenschaftlichen Ausbildung der Projektteilnehmer an der VFHS Thüringen, Fachbereich Polizei.“
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B. Einübung in die Methode der Sequenzanalyse
allein über die Fallbasis entscheiden konnte, sondern mit Prüfungsfällen ,hinkommen‘ musste, die von einem vom Fachbereichsleiter beauftragten Dozenten ausgesucht worden waren. Diese Fälle wiesen für meine Zwecke eine Schwachstelle auf, weil es sich hier (bis auf einen Fall) um Texte handelte, in denen die kommunikative Notrufpraxis entweder überhaupt nicht protokolliert war, a) da der Fall erst im Streifenwagen begann und nicht nachzuvollziehen war, auf welchem Wege die Polizei Fallkenntnis erlangte: Fallschilderung: Es ist morgens 06.30 Uhr; über Funk erhalten Sie den Auftrag, einen Unfall mit einer verletzten Person aufzunehmen. Unter Inanspruchnahme von Sondersignalen fahren Sie mit Ihrer(m) Kollegin(en) zum Unfallort.
oder b) die kommunikative Notrufrealität bereits vollständig in die für Polizeiberichte typische Form der indirekten Rede transformiert worden war: Fallschilderung: Über Notruf geht um 02.10 Uhr beim DGL der PI Suhl die tel. Mitteilung der Ehefrau des Restaurantbesitzers vom ,Tivoli‘ ein, daß sie soeben vor dem im gleichen Ort befindlichen Wohnhaus durch 2 unbek., männl. Personen überfallen und ausgeraubt worden sei. Die Tageseinnahmen betrugen mehrere Tausend DM. Die Täter sollen in einem hellen Pkw in Richtung Stadtmitte unterwegs sein.
Daher entschied ich mich dazu, zusätzlich Fälle aus meiner Fallsammlung in die Prüfung ,einzuschmuggeln‘, was von meinen Kollegen145 und dem Prüfungsvorsitzenden nicht kritisiert wurde, zumal ich sie durch mein Handeln nicht davon abhielt, ihren Lehrstoff anhand der anderen Fälle abzuprüfen, ich ihnen also nicht ,ins Gehege‘ kam.
145 Für die galt, was Wagenschein [(1989, S. 43] als Lehrer an einer Darmstädter Oberrealschule im Jahr 1932 über seine Kollegen schrieb: „Es war kein gefährlicher Mensch im Kollegium . . .“.
C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle „Die Sache muß in der Methode ihrem eigenen Gewicht nach zur Geltung kommen, sonst ist die geschliffenste Methode schlecht.“ Theodor W. Adorno1
1. Vorbemerkung Zur Auswertung der von den Studenten in der Polizeipraxis erhobenen Notrufaufzeichnungen orientiere ich mich am bereits im zweiten Kapitel explizierten strukturalistischen Normalfallmodell,2 dessen analytisch-diagnostische Bedeutung für eine fallorientierte Ausbildung zunächst kurz skizziert werden soll.3 Danach folgen Ausführungen zur Datenbasis und Anmerkungen zum Aufbau der Darstellung. 1
(1997 d), S. 557. Dieses strukturalistische Modell unterscheidet sich grundlegend von dem – wie ich es nennen möchte – intentionalistischen Normalfallmodell von Dreher und Feltes, demzufolge „ein Notruf (. . .) jede fernmündliche Mitteilung des Bürgers an die Polizei (ist), die eine baldige polizeiliche Reaktion zur Intension (sic) hat“. Dreher/ Feltes (1996), S. 13. Nach diesem Modell wären alle über die Nummer 110 eingehenden Anrufe, in denen sich Bürger eine baldige polizeiliche Reaktion wünschen, als Notrufe zu behandeln. Damit wäre der Notruf Sammelbecken für polizeiliche Interventionswünsche aller Art. Vgl. hierzu auch – im Anschluss an Feltes – Geck (1996), S. 249: „Wer den Notruf 110 wählt, möchte in aller Regel polizeiliche Hilfe vor Ort. Dem sollte sich (sic) die Polizei, wenn sie sich an den Bedürfnissen der Bürger orientiert, möglichst entsprechen.“ Diese Ausführungen sind im Zusammenhang mit der Feltes’schen Unterscheidung von „gemeinwesenbezogener Polizeiarbeit“ im Unterschied zu „herkömmlicher Polizeiarbeit“ zu lesen. Werden Notrufe nach Feltes bei „herkömmlicher Polizeiarbeit“ „vor dem Hintergrund von Straftaten gesehen“, so stellen sie nach dem Gemeinwesen-Modell eine „große Gelegenheit“ dar, „den Bedürfnissen der Bürger entgegenzukommen“. Feltes (1994), S. 145, zit. n. Geck (1996), S. 271. 3 Zum möglichen Einwand, dass die Fälle mit dem Normalfallmodell methodisch klassifikatorisch, subsumtionslogisch und nicht – wie es tatsächlich der Fall war – fallkonkret-rekonstruktiv analysiert wurden, sei angemerkt, dass das Normalfallmodell in der Forschungspraxis durch die Analyse der ersten verschrifteten Äußerung des Polizeibeamten in Zeile 1 des ersten Modellfalls gewonnen wurde, also material aus der Explikation von Fallmaterial generiert wurde. 2
78
C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
2. Analytisch-diagnostische Leistung des Normalfallmodells Die analytisch-diagnostische Leistung des Modells besteht darin, dass sich mit ihm das gesamte Notrufmaterial typologisch in zwei Grundformen der Abweichung vom Normalfall und zwei Grundformen der Übereinstimmung mit dem Normalfall ordnen lässt:4 B teilt einen Notfall mit
A handelt daraufhin
A handelt dem Normalfall entsprechend
B teilt keinen Notfall mit A behandelt den Fall auf der Notrufleitung nicht weiter
A handelt dem Normalfall entsprechend
B teilt einen Notfall mit
A handelt vom Normalfall abweichend
A behandelt den Notfall nicht krisenbezogen
B teilt keinen Notfall mit A behandelt den Fall wie einen Notfall
A handelt vom Normalfall abweichend
Eine Abweichung vom Normalfall liegt dann vor, wenn ein von B mitgeteilter Notfall von A nicht angemessen als Krise behandelt wird. In diesem Fall spreche ich nachfolgend von einer Abweichung des Typs 1. Oder wenn ein von B mitgeteilter Fall, der offensichtlich kein Notfall ist, von A wie ein Notfall auf der Notrufleitung weiterbehandelt wird und es damit faktisch zur Blockierung einer Leitung kommt, die für Notfälle vorgesehen ist. In diesem Fall spreche ich von einer Abweichung des Typs 2.5 Eine Übereinstimmung mit dem Normalfall liegt indes dann vor, wenn ein von B mitgeteilter Notfall von A wie ein Notfall behandelt wird oder 4 Der Fall ist das Handeln des Polizeibeamten, das sich allerdings in der Interaktion vollzieht. Um das Handeln des Polizeibeamten bewerten zu können, kann man methodisch die Sprechakte des Anrufenden nicht unberücksichtigt lassen. Sie sind im Interaktionsverlauf abwechselnd Reiz und Response. 5 Damit definiere ich den Notruf anders als Wolff [(1999), S. 14], der im Anschluss an Feltes [vgl. hierzu Geck (1996), S. 249] vier Notrufkategorien unterscheidet und von Notrufen nicht nur in Fällen spricht, „die ein sofortiges polizeiliches Einschreiten vor Ort unabdingbar erfordern (ca. 5%)“ (Kategorie 1), sondern auch in Fällen, bei denen „eine Reaktion vor Ort nur innerhalb weniger Stunden notwendig“ ist (Kategorie 2), bei denen „der Anrufer auf einen mündlichen Bericht oder eine mündliche Beratung auf dem Revier oder der Wache verwiesen werden (kann)“ (Kategorie 3) oder bei denen sich „das Problem (. . .) direkt am Telefon lösen (läßt), z. B. durch Weitervermittlung oder telefonische Beratung“ (Kategorie 4). Diese Klassifikation halte ich material für nicht sachhaltig, weil damit – bis auf die Fälle der ersten Kategorie – Notrufsituationen in Routinesituationen verwandelt werden, für die typischerweise eben nicht gilt, dass ein schnelles polizeiliches Handeln vor Ort erforderlich ist.
3. Datenbasis
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wenn ein von B mitgeteilter Fall, der im hier verstandenen Sinne kein Notfall ist, von A auf der Notrufleitung nicht weiterbehandelt wird. Über die typologische Ordnung des Materials hinaus besteht die Leistung des Modells darin, dass man mit ihm bei sequenzanalytischen Fallrekonstruktionen an jeder gegebenen Sequenzstelle in einem Handlungsprotokoll, wo nach dem Schegloff ’schen abababab-sequencing-Modell6 der Notrufentgegennehmende am Zuge ist,7 gedankenexperimentell den Spielraum der Handlungsmöglichkeiten ausbuchstabieren kann, der ihm zur Verfügung steht, um im Sinne des Normalfalls zu handeln,8 damit dann auf der Kontrastfolie der tatsächlich gewählten Optionen an der nächsten Sequenzstelle bestimmt werden kann, ob und inwieweit er im Sinne des Normalfalls handelte.9 Bei einer Abweichung ist dann die Frage nach der kausalen Zurechnung der Abweichung zu stellen und nach sinnmotivierten Lesarten für das faktisch vom Normalfall abweichende Handeln zu suchen.10
3. Datenbasis Als Datenbasis der nachfolgenden Fallanalysen dienen mir weitgehend die von den Studenten erstellten Notruftranskriptionen, die insgesamt eine gute Verschriftungsqualität aufwiesen, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass die Studenten bisher noch keine Erfahrung bei der Verschriftung von mündlicher Kommunikation hatten und die zu transkribierenden Tonbandaufzeichnungen überdies noch zum Teil von schlechter tontechnischer Qualität waren.11 So weit ich dennoch Transkriptkorrekturen für erforderlich hielt, habe ich sie in den abgebildeten Notrufprotokollen mit einer Hochzahl markiert und zum Vergleich die ursprüngliche studentische Verschriftung in der Fußnote festgehalten.12 6 „It is an easily noticeable fact about two-party conversations that their sequencing is alternating; that is to say, two-party conversational sequence can be described by the formula abababab, where ,a‘ and ,b‘ are the parties to the conversation.“ Schegloff (1967), S. 52 [Hervorhebung im Original durch Unterstreichung; T. L.]; und ders. (1968), S. 1076. 7 Vgl. hierzu auch den Begriff des „turn-taking“ von Sacks u. a. (1974), S. 696 ff.; vgl. auch Schegloff (1979), S. 23. 8 An dieser Stelle liegt der Unterschied dieses Modells zu konversationsanalytischen Notrufstudien, bei denen die Explikation des Normalfalls fehlt. Vgl. hierzu die Studien von Whalen/Zimmerman (1987) und Whalen/Zimmerman (1990). 9 Vgl. Oevermann u. a. (1994), S. 166. 10 Vgl. Oevermann (1995 b), S. 41 f. 11 Zur Bedeutung von Erfahrung als entscheidendem Faktor bei der Transkription von Gesprächsmaterial vgl. Oevermann (1993 b), S. 266. In diesem Sinne auch Schegloff (1967), S. 45: „The experience of other investigators has indicated that even good transcribers under the best of conditions in transcribing tapes made under natural conditions cannot produce transcripts of maximum fidelity on the first try.“
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
4. Exkurs: Qualität der Verschriftung Abweichungen von den Tonbandprotokollen zeigten sich a) in der Nichtverschriftung von dialektalen Elementen (z. B. Verschriftung von ,Tag‘ statt ,Tach‘ oder ,komm‘ statt ,kumm‘); b) im falschen oder fehlenden Setzen von Markierungen für Betonungen, überlappende Äußerungen, Hintergrundgeräusche; c) in der Verwendung von Notationszeichen ohne Explikation ihrer Bedeutung (äh . . . Brand); d) bei der Verschriftung von Gesprächsanfängen.
Zu Punkt d) zu erwähnen sind zwei Fälle, wo die Verschriftung in der „first line“ mit dem Sprechbeitrag der anrufenden Seite – 01 A: Schön guten Tach hier ich bin uf da zweiunneunzsch kurz vor Weida. Da liecht än Schwerverletzter uf der Stroße. Moped_ äh unfall mit n’em PKW, äh
– begann, obwohl nach dem Schegloff ’schen abababab-Modell oder auch der von ihm formulierten „distribution rule for first utterances“13 die angerufene Seite am Telefon irgendetwas gesagt haben musste, was die Bandaufnahme auch enthielt, aber nicht verschriftet wurde, oder die Bandaufnahme nicht enthielt und in diesem Fall als fehlend hätte verzeichnet werden müssen, wobei der nachfolgende Auszug aus dem bei der Rückgabe der Seminararbeit mit den Studenten geführten – mit ihrer Erlaubnis tontechnisch aufgezeichneten – Gespräch14 erkennen lässt, wie ihr Fehler motiviert war:15
12 Auf Korrekturen der Orthographie, der Syntax und der Interpunktion habe ich weitgehend verzichtet. 13 Vgl. Schegloff (1968), S. 1076: „A first rule of telephone conversation, which might be called a ,distribution rule for first utterances,‘ is: the answerer speaks first. Whether the utterance be ,hello,‘ ,yeah,‘ ,Macy’s,‘ ,shoe department,‘ ,Dr. Brown’s office,‘, ,Plaza 1 5000,‘ or whatever, it is the one who picks up the ringing phone who speaks it.“ [Hervorhebung im Original, T. L.] Und ebd., 1077: „The distribution rule provides that the answerer normally talks first, immediately upon picking up the receiver.“ Zur Interpretation eines „ja“ zu Beginn eines Transkripts vgl. auch Oevermann (1993 b), S. 143. 14 Am 27.8.96. Zur Erklärung: D = Dozent (= der Autor), B = Student. 15 Zur Motiviertheit von Fehlern vgl. Oevermann (1993 b), S. 188: „Fehler sind (. . .) für den objektiven Hermeneuten (wie ja auch für den Psychoanalytiker in seiner Praxis) immer motiviert und das heißt: Sie sind nicht einfach nur das Ergebnis eines Versagens, sondern der Inhalt des im Versagen Produzierten ist seinerseits motiviert beziehungsweise determiniert und damit rekonstruierbar.“
4. Exkurs: Qualität der Verschriftung
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D: Warum haben sie denn den Anfang nicht verschriftet? B: (Es) is es is auch wieder so en Fall was uns von mehreren Lehrern als Aufstiegsbeamten immer vorgehalten wird das sin so Selbstverständlichkeiten das so selbstverständlich D: Ja B: dass me da überhaupt keinen Gedanken dran verschwendet D: Ja B: dass des jetz hier fehlt sagen dann bloß na ja klar das is nich mit aufgenommen worden D: Ja B: aber die melden sich sowieso immer mit diesem Polizeinotruf D: Ja B: dass me uns auch da keinen Kopf weiter drüber gemacht haben dass des jetz fehlt dass des jetz äh für den für den Leser jetz komisch (wirkt) dass der so ins Leere hinein guten Tach ich bin der und der sacht
B sprach sinngemäß vom ,Weglassen des Selbstverständlichen‘, also von dem, wovon man ,eh ausgehen kann‘ und was folglich nicht expliziert werden muss, womit ein Praktikerhabitus16 zum Ausdruck kam, der genau dem entgegengesetzt war, was die beiden bei der Sequenzanalyse zu beachtenden Prinzipien der Totalität und der Wörtlichkeit fordern, nämlich „in die Rekonstruktion von sinnlogischen Motivierungen alles einfließen zu lassen, das auch tatsächlich im zu analysierenden Text bzw. Protokoll lesbar (. . .) markiert und deshalb vom Text ,erzwungen‘ ist“.17
Dieser Habitus war nicht nur im Hinblick auf die möglichst genaue Rekonstruktion von sozialwissenschaftlichen Sachverhalten hinderlich, sondern ließ überdies zu diesem relativ frühen Zeitpunkt in der Ausbildung Probleme in all den Unterrichtsfächern prognostizieren, in denen es ebenfalls auf ein möglichst genaues Lesen und Auswerten von Sachverhalten ankam und in denen nichts schädlicher war, als ,Selbstverständliches‘ zu unterstellen.18 Dass sich die ungenaue Verschriftung auf die Qualität der Interpretation negativ auswirkte, zeigte sich denn auch in der studentischen Falldiskussion, die wie folgt begann: 16 Begriffsverwandt zu Habitus ist „geistige Haltung“ [Simmel (1993), S. 197] oder auch Handeln im Sinne eines der Aufgabe angemessenen „Ethos“, einer „ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung“, „Gesinnung“ oder „Berufspflicht“, also einer „Verpflichtung, die der Einzelne empfinden soll und empfindet gegenüber dem Inhalt seiner ,beruflichen‘ Tätigkeit, gleichviel worin sie besteht . . .“. Weber (1920), S. 32, 36 ff., 49. 17 Oevermann (1998 a), o. S. 18 In erster Linie denke ich hier an den Rechtsbereich, an ein genaues Lesen und Auswerten von Texten. Vgl. Laudenklos (1997); und Oevermann (1996 a), S. 37. Und weiter auch an den kriminalistischen Bereich.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
1. D: Ja also. In der ersten Zeile [die mit „Schön guten Tach“ anfing, T. L.] würd ich sagen, gibt sich der Anrufer Mühe, die wichtigsten Aussagen zu dem Unfall sofort dem Polizeibeamten zu übermitteln, daß der eben weiß was los is, was passiert ist und wie’s passiert ist. Ja.
Denn in dieser wurde mit keinem Wort darauf eingegangen, dass ein Gespräch nach dem Schegloff ’schen abababab-Modell so nicht beginnen konnte, sondern wahrscheinlich mit der Standardmeldung „Polizeinotruf“ oder den Meldevarianten „Notruf“ oder „Polizei“ eröffnet wurde, woran man sehen kann, dass die schlechte Verschriftung Folgen für die Interpretation des Falles hatte, weil mit der fehlenden Verschriftung der „first remark“ des Angerufenen (nach dem abababab-Modell die Sequenzstelle a) die materiale Basis fehlte, um die nachfolgende Äußerung des Anrufenden (die Sequenzstelle b) mit der vorhergehenden Zeile (a) in Beziehung setzen zu können und so zumindest die Frage zu stellen, inwieweit das „Schön guten Tach“ eine Reaktion auf die technische Kommunikation des Polizeibeamten darstellt und als ,Reparatur‘ oder ,Heilung‘ der durch den Polizeibeamten noch nicht eingerichteten kommunikativen Praxis zu interpretieren ist. Schlecht verschriftet war auch der Anfang des zweiten Falls: 01 AM: ä . . . Brand Sehligenthal, Atzerode. Es brennt ein Haus in 02 Atzerode(-). Das Gästehaus wahrscheinlich oben. 03 PM: (ins Wort fallend) richtig 04 AM: ä . . .
Denn nicht nur war es auch hier nach dem Schegloff ’schen ababababModell und der „distribution rule for first utterances“ äußerst unwahrscheinlich, dass „mit dieser Äußerung eine Interaktionspraxis ihren Anfang nahm“,19 sondern überdies ging aus der Verschriftung nicht hervor, ob der Anrufer atemlos, schubweise hintereinander „ä . . . Brand Seligenthal, Atzerode“ sagte oder ob das eine ruhige Antwort auf die eventuell zuvor gestellte Frage ,Ja was ist denn da los?‘ war.20 Wie bereits im ersten Fall hatte die ungenaue Verschriftung des Beginns auch hier Folgen für die Qualität der Interpretation, wie sich an der von 19
Vgl. Oevermann (1993 b), S. 143. Es kam hier die Abweichung des Typs c – Verwendung von Notationszeichen, ohne Explikation ihrer Bedeutung (äh . . . Brand) – hinzu. Wobei das Kontrollhören des Bandes ergab, dass die ersten Zeilen insgesamt unpräzise übersetzt waren. Sie hätten lauten müssen: 01 A: (uv) Born (-) (Seligental) Atzerode (-) brennt ein Haus in 02 Atzero:::de (-) (uv haus) wahrscheinlich oben 03 P: Richtisch Als Materialbasis meiner Sequenzanalyse (s. Fall 7: Hausbrand) habe ich diese (korrigierte) Transkription verwendet. 20
5. Aufbau der Darstellung
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den Studenten protokollierten Falldiskussion zeigte, die nach kurzer Einleitung zum methodischen Vorgehen wie folgt begann: 17 J: 18 19 20 M: 21 22 23 24
Ja, die erste Zeile wär’ dann der Anrufer männlich . . . äußert: ä . . . Brand Seligenthal, Atzerode. Es brennt ein Haus in Atzerode. Das Gästehaus wahrscheinlich oben. Ja, da sind mer eigentlich schon beim ersten Problem, beim Wort oder, wie gesagt, beim ersten Laut: dieses „Äh“. Meiner Meinung nach versucht der (-).. das is’ne normale, ganz normale Floskel, die wählt ja jeder. So beim Sprechen, jeder hat so sein äh. (-)
Denn in dieser wurde von M nicht auf die fehlende Eröffnung Bezug genommen, womit auch die Basis für die Erklärung des „äh“ fehlte. Die Folge war, dass das „äh“ von M normalisiert, als Alltagsfloskel interpretiert wurde, die „jeder“ beim Sprechen wählt, während es zumindest hypothetisch denkbar war, das „äh“ im Zusammenhang mit der Eröffnung des Anrufs durch den angerufenen Polizeibeamten zu sehen und folglich den „äh“Laut zu verstehen als Reaktion auf die Reduktion der Kommunikation auf einen technischen Vorgang. Doch dieser Zusammenhang wurde nicht gesehen, auch wenn zum Schluss der Arbeit – „. . . Aufgefallen ist uns zum einen das Fehlen der Gesprächseröffnung seitens des Polizeibeamten. Wir gehen davon aus, daß üblicherweise der Beamte als Angerufener die Erstinformation, nämlich das Klingelsignal erhält. Die logische Reaktion darauf ist dann die Eröffnung des eigentliches Gesprächs durch den Beamten. (. . .) Auf Grund der Tatsache, daß auf dem Tonband vor dem Gespräch knackende Geräusche wahrzunehmen sind, ist ein technischer Fehler anzunehmen.“
– nachträglich angemerkt wurde,21 „daß üblicherweise der Beamte als Angerufener (. . .) das Klingelsignal erhält“ und daraufhin das Gespräch eröffnet. Doch genau dies war in der Falldiskussion nicht thematisch, was zeigt, wie bedeutsam es für eine die Sache aufschließende Fallrekonstruktion ist, sich dem Fall von Beginn an schrittweise anzuschmiegen und auch eine nach der Schegloff ’schen „distribution rule“ fehlende Sequenz in die Fallrekonstruktion einzubeziehen. – Ende des Exkurses
5. Aufbau der Darstellung Um einen möglichst übersichtlichen Eindruck von der Mannigfaltigkeit der Abweichungen vom Normalfall zu geben, habe ich die Darstellung der materialen Analysen an den in der Typologie22 abgebildeten beiden Grundformen der Abweichung vom Normalfall orientiert. 21
In der Zusammenfassung zur Interpretation auf S. 22 der Seminararbeit.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
Doch zuvor werde ich exemplarisch zwei Fälle analysieren, an denen zu sehen ist, dass es im Fallmaterial auch zumindest mehr oder weniger dem Normalfall entsprechende, gelungene Fälle gab,23 die keinen gravierenden Strukturfehler enthielten. Was für meine Ausbildungspraxis hilfreich war, weil ich dadurch nicht Gefahr lief, die Praxis lediglich theoretisch zu kritisieren oder gar technokratisch zu bevormunden, sondern den Studenten auch „geburtshelferisch (. . .) von der Praxis gefundene vernünftige Lösungen“24 nahe zu bringen, d. h. die Praxis als durchaus vereinbar mit Wissenschaft zu behandeln und ihre Bedeutung als mögliche Lehrmeisterin zu betonen.
6. Fall 1: Autoaufbruch [Nebengeräusch]25 01 B: [Müller, Franz, A-Stadt] 02 P: Was? 03 B: [Müller, Franz, A-Stadt, Feldstraße neun, neun] 04 Da macht sich einer an nem Auto zu [Unterbrechung durch Gesprächspartner] 05 P: bißchen lauter sprechen 06 B: Ja, [Müller, Franz A-Stadt (.) Feldstraße neun, neun] 07 P: Was ist dort? 08 B: Bei mein Nachbar macht sich einer am Auto zu schaffen 09 P: Was macht der? 10 B: Da macht sich einer am Auto zu schaffen 11 P: Am Auto zu schaffen? 12 B: Ja 13 P: Beim Haus? 22 Diese Typologie wurde in der Forschungspraxis am Fall (Autoaufbruch) entwickelt. Sie ist Ergebnis materialer Fallanalyse und kein bloß theoretisches Konstrukt. 23 Vgl. hierzu die in der Typologie aufgeführten ersten beiden Handlungsmuster. Neben diesen beiden Fällen gab es im Fallmaterial noch drei weitere Fälle, in denen die Polizeibeamten keine gravierenden Fehler machten, sondern die Probleme mehr auf der Seite der Anrufer lagen. 24 Oevermann (1998 a), o. S. 25 Verzeichnis der von den Studenten verwandten Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamter (geschätztes Alter: 30–40 Jahre) B Bürger (geschätztes Alter: 20–25 Jahre) [ ] alle anonymisierten Daten und Anmerkungen der Verschrifter ? kennzeichnet eine Frage (.) kurze Pause (ca. 1 Sekunde)
6. Fall 1: Autoaufbruch 14 B: 15 P: 16 B:
Ja Wir fahren los Ja
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[Hintergrundgeräusch, -gespräch]
Wenngleich aus dem Protokoll zu erschließen ist, dass der Polizeibeamte offensichtlich akustisch bedingte Verständnisschwierigkeiten hat, macht er dennoch keinen gravierenden Fehler, weil er sich relativ schnell zur Entsendung von polizeilichen Einsatzkräften entscheidet, also die „Phase der aktiv-praktischen Entscheidung zu einer Aktion“26 nicht zu lange dauert. Dies ist in einem solchen Fall27 von entscheidender Bedeutung für die Tataufklärung, wenn man „nüchtern in Rechnung stellt, daß nur ein sehr geringer Teil der Aufklärungserfolge heutzutage noch auf genuine kriminalistische Durchermittlung von Spuren zurückgeht, sondern vor allem darauf, daß Täter in flagranti oder bei Routine-Kontrollen auffällig werden oder aber sich durch Ungeschicklichkeiten selbst verraten“.28 Wenngleich man zu Recht sagen kann, dass der Polizeibeamte ein wenig schneller hätte reagieren können, ist der Fehler im Vergleich zu den anderen Fällen jedoch eher harmlos, denn die polizeiliche Intervention erfolgt relativ schnell. Und das ist im Hinblick auf die Ermittlung des Täters und damit – im Hegel’schen Sinne – auf die Wiederherstellung des Rechts das, worauf es gesellschaftlich ankommt. Denn „indem Eigentum und Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gesetzliche Anerkennung und Gültigkeit haben, (. . .) ist das Verbrechen nicht mehr nur Verletzung eines subjektiv Unendlichen, sondern der allgemeinen (gesellschaftlichen, T. L.) Sache“.29 Und die Polizei als „die sichernde Macht des Allgemeinen“30 hat die Aufgabe, Verbrechen zu verhindern „oder zur gerichtlichen Behandlung zu bringen“.31
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Oevermann (1997 a), S. 82. Dass es sich um einen solchen Versuch handelt, ist aus dem vom Anrufer Mitgeteilten zu erschließen, zumal es keinen Hinweis darauf gibt, dass der Anrufer keine vernünftigen Maßstäbe anlegt. Kurzum: Nach dem Normalfall muss der Polizeibeamte von der Ernsthaftigkeit des Falles ausgehen. Er hätte ein falsches Beweislastmodell, wenn er davon ausginge, dass bis zum Beweis des Gegenteils kein Notfall vorliegt. Dann hätte er die Krise in eine Routine verwandelt. 28 Oevermann u. a. (1994), S. 258. 29 Hegel (1995), S. 371 f. 30 Ebd., S. 382. 31 Ebd., S. 383. 27
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
7. Fall 2: Wer hat denn heute Dienst? 01 P: ( )1-truf 32 02 AW: Ja:, einfach mal ’ne, ich hab mal ’ne Frage, wer hat denn heute Die::nst? Dass hier kein emergency-Fall vorliegt, kann man bereits aus der zweiten Zeile ablesen. Denn die Anruferin formuliert hier kein emergency-Anliegen, sondern stellt eine Auskunftsfrage, wobei aufgrund der Verwendung des Fragepronomens „wer“ sprachlich nicht eindeutig zu erkennen ist, ob sie damit in Erfahrung bringen will, 1. ob ein bestimmter, von ihr als Adressat gewünschter Polizeibeamter an diesem Tag im Dienst ist – oder 2. ob sie wissen will, welche Dienstgruppe an diesem Tag ihren Dienst verrichtet. Während ihrer Frage also nicht klar zu entnehmen ist, was konkret sie mit ihr bezweckt, ist für den Polizeibeamten aber klar zu erschließen, dass hier kein Notfall vorliegt. Entsprechend wäre es nun angemessen, wenn er die Anruferin auffordern würde, sich mit ihrer Frage der Amtsleitung zu bedienen, ihr zu diesem Zweck die entsprechende Telefonnummer zu geben und dann möglichst schnell die Beendigung des Gesprächs einzuleiten, damit die Notrufleitung frei wird für wirkliche emergency-cases, für: „serious happening(s) or situation(s) needing prompt action“.33
32 Fall 2: Notruf 2 Gesamtzeit: 12 Sekunden. Schreibmaschinengeklapper im Hintergrund. Die Anmerkungsziffer 1 wurde von den Studenten gesetzt. Von den Studenten verwendete Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamter AW Anrufer weiblich (1:9) Pause in Sekunden ? markiert eine Frage ja: Dehnung eines Mitlauts oder Vokals W o r t Betonung eines Wortes || gleichzeitige Sprechanteile der Gesprächsteilnehmer 33 Vgl. Oxford Advanced Learner’s Dictionary of Current English (1974), S. 286. Begrifflich wird „emergency“ im Oxford’s Duden klar von „trouble“ (ebd., S. 944) unterschieden. Entsprechend ist auch meine Position: der Polizeinotruf ist institutionell vorgesehen für Notfälle, indes nicht für alle trouble-Fälle. Zu einer anderen Position vgl. Shearing (1984), S. 85.
8. Überleitung
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03 P: (1,9) 04 AW: |Ich hab hier ’n::: | 05 P:
|Fragen Sie über | die [1 2 3 4] bitte
Was der Polizeibeamte denn nachfolgend, nach kurzem Nachdenken, auch macht. Denn gleichzeitig mit ihrem Sprechbeitrag fordert der Polizeibeamte sie freundlich auf, ihre Frage über die von ihm angegebene vierstellige Nummer zu stellen, womit er ihr die Nummer der Amtsleitung nennt, die für Routinefälle dieser Art zuständig ist. 06 AW: 1? | 2 | 07 P:
| 2 |- 3 - 4
Wobei sein anschließendes Handeln anzeigt, dass er aufs Tempo drückt, weil er die Anruferin möglichst schnell aus der Notrufleitung haben will. 08 AW: Ja D a n k e : Die Reaktion der Anruferin indiziert, dass sie nunmehr die vollständige Telefonnummer verstanden hat und ihr mit der Nennung der anderen Telefonnummer geholfen wurde.
8. Überleitung Im Folgenden werde ich zunächst schrittweise auf Fälle des ersten Abweichungstyps zu sprechen kommen und die in ihnen zum Ausdruck kommenden polizeilichen Handlungsfehler durch eine möglichst detaillierte Sequenzanalyse zur Sprache bringen.34 Nach jeder Fallrekonstruktion folgt ein kurzes Resümee, in dem noch einmal in komprimierter Form die herausgearbeiteten typischen Fehler expliziert werden.35 34
Oevermann (1981), S. 4. Zum Darstellungsproblem bei einer detaillierten Sequenzanalyse vgl. Oevermann (1993 b), S. 265: „. . . die Sequentialität des analysierten Materials (darf) nicht verletzt werden. Die Darstellung muß dieser Sequentialität strikt folgen. Daher lassen sich thematische Gruppierungen oder systematisch-klassifikatorische Ordnungen gegen die Sequentialität nicht durchführen, was die thematische Übersichtlichkeit der Analyse erheblich erschwert.“ Zur Typusbestimmung bzw. Strukturgeneralisierung genügt nach Oevermann bereits ein Fall: „Jede einzelne Fallrekonstruktion ist schon als solche eine Strukturgeneralisierung. Denn ihr je konkretes Ergebnis, das man früher als Darstellung eines Typus bezeichnet hätte (. . .), bildet einen konkreten Fall in seiner inneren Gesetzlichkeit ab, die seine Autonomie bzw. den Grad seiner Autonomie als das Ergebnis seiner Individuierungsgeschichte ausmacht. Wie häufig dieser Fall sonst noch vergleichbar oder ähnlich auftaucht, wieviele weitere ,token‘ dieses ,type‘ es also em35
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
Im Anschluss daran erfolgt eine Analyse von drei Fällen, die dem zweiten Abweichungstypus zuzurechnen sind. Im Unterschied zum analytischen Vorgehen bei den Fällen des ersten Abweichungstyps werde ich hier im Sinne der von Oevermann explizierten Methode der „Sequenzen von maximal kontrastierenden Fällen statt Stichproben“36 vorgehen und die insgesamt drei Fälle so in Beziehung setzen, dass sie bezüglich des in ihnen abgebildeten Fehlers möglichst stark kontrastieren, um so den Erscheinungsspielraum der Fehler innerhalb des Gegenstandsbereichs für die Zwecke der Fehlerdarstellung maximalistisch auszuschöpfen.37 pirisch gibt, ist für diese Hinsicht der Strukturgeneralisierung vollständig unerheblich. Denn es wäre absurd, wollte man willkürlich ein Kriterium einführen, wonach erst ab einer bestimmten absoluten oder relativen Frequenz dieser je konkret rekonstruierte ,Typus‘ als solcher eine Realität hätte. Im Unterschied dazu lassen sich natürlich empirische Generalisierungen von Anfang an und wesensgemäß nur auf der Basis einer Mehrzahl von Beobachtungen treffen.“ Oevermann (1996 a), S. 14 f. 36 Oevermann (1996 a), S. 19. [Hervorhebung im Original durch Unterstreichung, T. L.] 37 Oevermann (1996 a), S. 19 ff.: „Natürlich wird man auch in der objektiven Hermeneutik eine Untersuchungsfrage nicht durch eine einzige Fallrekonstruktion, sondern eine Reihe von Fallrekonstruktionen empirisch beantworten. Aber in scharfer Differenz zur Logik der Ziehung einer Zufallsstichprobe für die statistische Hypothesenüberprüfung bzw. die Schätzung von relativen Frequenzen auf der Basis empirischer Generalisierungen, bei der die einzelnen Elemente voneinander unabhängig sein müssen, werden hier die Fälle einer Untersuchungsreihe sequentiell in Abhängigkeit voneinander nach dem Kriterium des maximalen Kontrastes ausgewählt. Die Logik der Sequenzanalyse wird also sinngemäß auch auf die Anordnung der Fallerhebungen und Fallauswertungen einer zusammenhängenden Untersuchung angewendet. Man geht dabei in der folgenden Weise vor: Es werden zunächst Protokolle nur eines Falles ausgewählt oder erhoben, der für die jeweilige Untersuchungsfrage zentral ist. Natürlich müssen auch die Protokolle selbst aus der Lebenspraxis des Falles Ausschnitte abbilden, die für die Untersuchungsfrage thematisch von Belang sind. Dann analysiert man das Material dieses ersten Falles einer Reihe detailliert und ausführlich, so daß an seinem Beispiel möglichst viele Antworten zur Untersuchungsfrage entwickelt werden und möglichst präzise erste Strukturgesetzlichkeiten des die Untersuchungsfrage betreffenden Gegenstandsbereiches herauspräpariert werden können. Erst wenn das maximal geleistet ist, erhebt man das Material des nächsten Falles. Dieser wird nun so ausgewählt, daß er nach Maßgabe der Erkenntnis zum ersten Fall maximal mit diesem kontrastiert. Wiederum wertet man dieses Material aus, bevor man den nächsten Fall so erhebt, daß er seinerseits maximal mit den vorausgehenden Fällen kontrastiert. Man schreitet so immer weiter voran. Die Auswertungen werden beim jeweils nächsten Fall exponentiell abnehmend kürzer, weil immer weniger an Erkenntniszuwachs über die den Gegenstand kennzeichnenden Strukturgesetzlichkeiten hinzukommt. Man bricht die Fallreihe ab, wenn evident geworden ist, daß der Erscheinungsspielraum innerhalb des Gegenstandsbereichs für die Zwecke der Modellrekonstruktion im wesentlichen ausgeschöpft ist. Dafür kann ein prinzipielles Kriterium nicht angegeben werden, aber die Erfahrung zeigt, daß angesichts des Umstandes, daß mit jeder Fallrekonstruktion immer mehr Fälle als der im Fallmaterial tatsächlich verkörperte zur Geltung kommen, in der
9. Vorbemerkung zu Fällen des Typs 1
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9. Vorbemerkung zu Fällen des Typs 1 Nachdem ich oben die beiden möglichen Grundformen der Abweichung vom Normalfall benannt habe, werde ich nachfolgend anhand der sequentiellen Analyse von insgesamt neun Fällen Handlungsfehler thematisieren, die dem ersten Abweichungstyp zuzurechnen sind. (Tabelle Zeile 3). B teilt einen Notfall mit
A handelt daraufhin
A handelt dem Normalfall entsprechend
B teilt keinen Notfall mit A behandelt den Fall auf der Notrufleitung nicht weiter
A handelt dem Normalfall entsprechend
B teilt einen Notfall mit
A handelt vom Normalfall abweichend
A behandelt den Notfall nicht krisenbezogen
B teilt keinen Notfall mit A behandelt den Fall wie einen Notfall
A handelt vom Normalfall abweichend
Es handelt sich folglich um Fälle, bei denen der Polizeibeamte einen Notfall nicht oder zumindest nicht idealtypisch wie einen Notfall behandelte, weil er entweder den Fall von einer Krise in eine Routine verwandelte oder weil er die Bürokratie in den Vordergrund rückte und dabei die Krise für eine gewisse Zeit aus dem Blick verlor.
Regel zehn bis zwölf Fallrekonstruktionen auch für komplexere Untersuchungsfragen ausreichen, um hinreichend gesicherte Antworten zu erhalten. Man ist dann in der Strukturerkenntnis und in den Strukturgeneralisierungen so weit vorangekommen, daß die Erforschung von strukturtheoretischen Folgefragen ökonomischer ist, als die weitere Detaillierung der gesuchten Antworten. Diese Detaillierung zu vervollständigen, lohnt sich dann letztlich nur noch im Hinblick darauf, relative Häufigkeiten über die Verteilung von verschiedenen Typen und – darauf beruhend – Schätzungen über die relative Stärke des Zusammenhangs zwischen einzelnen Strukturelementen zu erhalten. Dazu sind dann die üblichen spezifischen, auf standardisierten Messungen beruhenden Erhebungen in größeren Stichproben als Ergänzung zum Zwecke der verwaltungsrationalen Entscheidung über den Einsatz standardisierter praktischer Problemlösungen unter Kostengesichtspunkten notwendig.“ [Hervorhebung im Original durch Unterstreichung, T. L.]
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
10. Fall 3: Verkehrsunfall am Heidenberg 01 P: Polizei Notruf 38 Wie in der Mehrzahl der von den Studenten erhobenen Notrufprotokolle39 eröffnet der Polizeibeamte das Gespräch mit der technischen Standardformel „Polizei Notruf“.40 38
Die Studenten hatten die Notrufzeilen nicht durchnummeriert. Sie benutzten folgende Sigeln und Notationszeichen: ANR1 erster Anrufer [] gleichzeitiges Sprechen von zwei Parteien = schneller Anschluss einer nachfolgenden Äußerung oder schnelles Sprechen innerhalb einer Äußerung (-) kurzes Absetzen oder kurze Pause (0.5) Pause in Sekunden hh hh hörbares Ein- bzw. Ausatmen ; fallende Intonationskurve ? steigende Intonationskurve ICH Laut (Telefonklingeln) Informationen zur Situation ºjaº leise ººjaºº sehr leise Das Zeichen (uv) habe ich gewählt. Es markiert eine unverständliche Äußerung. Abweichend von der studentischen Verschriftung benutze ich als Symbol für den Angerufenen P. Die Studenten hatten hier das Kürzel „DGL“ verwendet. Vgl. hierzu 11. Zusatzbemerkung. 39 N = 65. Vgl. hierzu Kapitel D.: 22. Exkurs: Auslegung der ersten Zeile „Notruf“. 40 Dies war also die Realität, vor deren Hintergrund meine Bemühungen zu verstehen sind, die Studenten in der Ausbildung für einen anderen Beginn zu sensibilisieren, wobei es sich hier um einen mühevollen Prozess handelte. Vgl. hierzu aber – unabhängig von meinen Überlegungen – zwei Vorschläge, die der Zentrale Psychologische Dienst München im Rahmen einer von ihm im Jahre 1991 durchgeführten Projektstudie zur Eröffnung der kommunikativen Praxis vorschlug: „Es wäre mit den Beamten zu überlegen, ob nicht eine verbindliche Anrede (Vorschlag: ,PolizeiNotruf, Grüß Gott!‘ oder ,Polizei-Notruf, wie kann ich Ihnen helfen?‘) am schnellsten Abhilfe schafft. Die einheitliche, Hilfsbereitschaft signalisierende Form würde jeden einzelnen zu einem zuvorkommenden Verhalten von Anfang an verpflichten.“ Ebd., S. 10. [Hervorhebung im Original in Fettschrift, T. L.] Geradezu ein Gegenmodell wurde in der ehemaligen DDR praktiziert. So fanden Gubert/Bergmann (1997) in ihrer von mir mentoriell betreuten Diplomarbeit heraus, dass in Dienstanweisungen geregelt war, dass sich Polizeiangehörige am Telefon grundsätzlich nur mit ihrer Apparatnummer zu melden hatten. Eine Nennung des Namens bzw. des Dienstgrades und Namens hatte erst zu erfolgen, wenn sich der Anrufer selbst vorgestellt hatte. Hatte sich der Anrufer selbst nicht ausreichend vorgestellt, wurde der Anruf durch den Polizeiangehörigen sofort abgebrochen: „Benutzung technischer Nachrichtenmittel – Berechtigung und Regeln für die Benutzung technischer Nachrichtenmittel (. . .): Die Meldung der Fernsprechteilnehmer hat mit der Apparat- bzw. Anschlußnummer zu erfolgen. Erst nachdem sich der Anrufende vorgestellt hat, nennt der Angerufene seinen Dienstgrad und Namen. Bei
10. Fall 3: Verkehrsunfall am Heidenberg
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02 ANR1: Ja (-) äh = Verkehrsunfall = am = Heidenberg hh (-) in der Höhe des 03
Ärztehauses = mein Name is Petri;
Nachdem der Anrufer mitgeteilt hat, dass sich an einem von ihm genauer bezeichneten Ort ein Verkehrunfall ereignet hat,41 müsste der Polizeibeamte im Sinne des Normalfalls jetzt schnellstmöglich versuchen, in Erfahrung zu bringen, ob jemand beziehungsweise wie viele Personen verletzt wurden, um dann so schnell wie möglich entscheiden zu können, wie die Krise zu behandeln ist und welche Rettungsmaßnahmen einzuleiten sind. 04 P: Ja Moment (-) Petri? 05
[Vorname?]
Die Äußerung „Ja Moment“ indiziert, dass der Polizeibeamte in diesem Moment nicht aufnahmebereit ist, dass er einen Augenblick braucht, um mit der Behandlung des Falles beginnen zu können. Aufschlussreich ist auch die im Anschluss an die Wiederholung des Nachnamens „Petri“ gestellte Frage, weil sie indiziert, dass der Polizeibeamte, obwohl er im Sinne des Normalfalls von einer behandlungsbedürftigen Krise ausgehen muss, die schnelles Handeln erforderlich macht, nicht krisenbezogen nachfragt, sondern bürokratisch-formal handelt und damit einen Strukturfehler begeht.42 Auf diese Weise wird der Fall objektiv von einem möglichst schnell zu behandelnden Krisen- in einen Routinefall verwandelt. Dies stellt eine Abweichung vom Normalfall eines Polizeinotrufs dar. Denn der Polizeibeamte am Notruf muss mit Abheben des Telefonhörers darauf eingestellt sein, dass es sich um einen emergency-Fall handelt, und so lange von einem Krisenfall ausgehen, in dem jede Sekunde zählt, ungenügender Auskunftsbereitschaft des Anrufers ist das Gespräch abzubrechen.“ Teilausgabe der Ordnung Nr. 51/84 des Ministers des Inneren und Chefs der DVP über den Geschäftsverkehr – Geschäftsordnung – Teil B vom 26. November 1984, Bl. 24. 41 Die Notationszeichen markieren, dass der Anrufer sehr aufgeregt ist. 42 Für die von Schegloff beobachtete Praxis – „While indeed in many of our phone calls ,Police Desk‘ is followed by some self-identification of the caller, this is not invariable, and, furthermore, when it does not occur the police do not necessarily inquire after it, either as a prerequisite to continuing to talk about other matters or, indeed, at any point in the phone call.“ – Beispiel # 83: „D: Police Desk / C: Uh uh a car accident at 4700 East Lincoln, Taylor’s Lane and Lincoln./ D: 4700 East Lincoln? / C: Yes. / D: Anybody hurt there? / C: I don’t believe so. / D: O.K. . . . I’ll have somebody check. / C: Thank you“ – fand ich in meinem Material keine Entsprechung. Bei Unfallmeldungen wurde ohne Ausnahme nach dem Namen des Melders gefragt, was im Zusammenhang mit der Pflicht zur bürokratischen Erfassung von Fällen in Computerdateien zu sehen ist. Schegloff (1967), S. 150 f.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
bis er einen klaren Beleg für das Gegenteil hat. Indes verschenkt er durch seine bürokratische Reaktion viel Zeit. Fragt man nun, wie dieser Fehler motiviert ist, ist zu sehen, dass der den Notruf entgegennehmende Polizeibeamte zwei Aufgaben zu bewältigen hat, die in einer widersprüchlichen Beziehung43 stehen. So hat er zum einen als Notrufbeamter für eine schnelle Intervention in akuten Krisenfällen zu sorgen, zum anderen darf er hierbei nicht aus den Augen verlieren, dass es der ,blue print‘ der Organisation verlangt, diese Krisenfälle nach einem bestimmten Schema zu dokumentieren,44 weil er ansonsten mit erheblicher interner Kritik rechnen muss.45 Diese doppelte Anforderung verlangt von ihm einen Spagat zwischen Krisenfallbehandlung und Bürokratie, wobei dieser Spagat im Sinne einer materialen Krisenbewältigung idealerweise so ausgeführt werden müsste, dass sich der Polizeibeamte zunächst dem Krisenfall zuwendet, er also zunächst die Krise im Hinblick auf ihre Interventionsbedürftigkeit prüft, er dann gegebenenfalls die zur Behandlung der Krise notwendigen Maßnahmen ergreift und abschließend den Dokumentationsanforderungen, die sich aus der bürokratisch-formalen Rationalität46 ergeben, nachkommt.
43 Vgl. hierzu das Weber’sche Begriffspaar formale/materiale Rationalität [s. auch Wernet (1997)]. Die formale Rationalität fordert von dem Beamten vorrangig, die für die Bürokratie notwendigen Daten zu erfassen; die materiale Rationalität erfordert hingegen vorrangig, die notwendige Krisenintervention zu leisten. 44 Diese Berichtsmaske (s. hierzu Abbildung 11) ist wie ein Korsett, wie ein Prokrustesbrett. Sie verlangt vom Polizeibeamten Angaben zur Personenart, Name (des Mitteilers), Vorname(n), Postleitzahl/Wohnort, Straße, Hausnummer, Telefon und Geburtsdatum. 45 Genau darin besteht das Strukturproblem polizeilicher Arbeit: Dass in der Praxis in erster Linie Berichte prämiert werden, während die „real police work“ [Ainsworth/Pease (1987), S. 116], die nicht schriftlich protokolliert wird, wozu u. a. die kommunikative Arbeit am Notruf zählt, weitgehend unsichtbar bleibt. Wiederholt hörte ich von Studenten, die aus ihrem Praktikum zurück an die Fachhochschule kamen, dass ihre Dienstgruppenleiter bei der allmorgendlichen Durchsicht der Neuigkeitsberichte vorrangig darauf achteten, ob die Mitteilerdaten vollständig eingetragen wurden: „Und das zählt, Deine wirkliche Arbeit interessiert nicht“ (studentische Äußerung). Vgl. hierzu Adorno (1997 b), S. 447: „Wer über Organisation und Gesellschaft nachdenkt, muß sich hüten, das Schlechte der Organisation unmittelbar aus Individuen abzuleiten, während die Individuen deren Anhängsel sind und bis in ihre innersten Reaktionsweisen nach ihr sich richten müssen.“ Und: „So wenig aber jenes Ganze vom Leben, von der Kooperation und dem Antagonismus seiner Elemente abzusondern ist, so wenig kann irgendein Element auch bloß in seinem Funktionieren verstanden werden ohne Einsicht in das Ganze, das an der Bewegung des Einzelnen selbst sein Wesen hat. System und Einzelheit sind reziprok und nur in ihrer Reziprozität zu erkennen.“ Adorno (1997 d), S. 549 f. 46 Vgl. Oevermann/Simm (1985), S. 232 und 292 ff.
10. Fall 3: Verkehrsunfall am Heidenberg
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06 ANR1: [Is n ] Auto vorn Lichtmast gefahrn Der Anrufer setzt zeitgleich mit der bürokratischen Frage des Polizeibeamten seine Krisenschilderung fort, was indiziert, dass es ihm um die Mitteilung der akuten Krise geht, und er sich auch nicht durch den Polizeibeamten aus dem Konzept bringen ließ, der bürokratisch fragte. Damit leistet der Anrufer von sich aus eine wertvolle Gestaltkonkretisierung, die es nahe gelegt hätte, dass der Polizeibeamte spätestens jetzt gefragt hätte, ob jemand verletzt und eventuell im Auto eingeklemmt wurde,47 um dann umgehend die Rettungsleitstelle zu informieren. 07 P: Ja (-) Petri Vorname bitte? Während das „Ja“ indiziert, dass der Polizeibeamte die Schilderung des Anrufers verstanden hat, zeigt die anschließende Frage, dass der Polizeibeamte dennoch rigide einer formalen Rationalität folgt, ohne sich material für die Krise zu interessieren. 08 ANR1: Gerd (-) Petri Auffällig ist, dass der Anrufer mitmacht, dass er nicht lautstark protestiert. 09 P: Gerd (-) sie wohnen wo? Der Polizeibeamte fragt bürokratisch weiter, obwohl die Situation vor Ort dramatisch sein kann und der Polizeibeamte im Sinne des Normalfalls davon ausgehen müsste, dass es sich um einen Krisenfall handelt, in dem jede Sekunde zählt.48 10 ANR1: Heidenberg hh (1.0) hunderteinundzwanzich gegenüber vom 11
Ärztehaus is das (-) beim Heidenberg (1.0)
12 P: Dort ein Pkw (-) ja? Die Fragerichtung des Polizeibeamten ändert sich erst in Zeile 12, nachdem er offenbar alle für ihn maskenrelevanten Mitteilerdaten erfragt hat, wobei seine Frage in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich ist. 47 Zu unfallbedingten Schäden am Fahrzeug, damit einhergehenden typischen Verletzungsmustern und möglichen schweren Komplikationen vgl. Lehmann/ Schmucker (1994), S. 80. 48 Denn: „Wo Not am Mann ist, drängt die Zeit“. Schmidt (1930), S. 498. Und daher gilt: „Nur schnelle Hilfe ist wirkliche Hilfe!“. Peuker (1967), S. 30. Zur Bedeutung des Zeitfaktors in Notfallsituationen s. auch Erler (1973), S. 5; Kurze (1978), S. 26; Smentek/Garms-Homolová (1997), S. 7; Schneider (1995), S. 46 und 55.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
Erstens zeigt sie, dass der Polizeibeamte auch hier nicht nach eventuell Verletzten fragt, diese Frage für ihn also nicht an erster Stelle steht. Zweitens ist diese Frage dahingehend aufschlussreich, weil sie, wie bereits in Zeile 7, indiziert, dass der Polizeibeamte zwar offensichtlich dem Anrufer zugehört hatte, aber dennoch den Fall wie einen Routinefall und nicht wie einen Notfall behandelt. Und drittens zeigt sie, dass der Polizeibeamte die mundane Ausdrucksweise des Anrufers (Auto) in die Sprache des Formularwesens („Pkw“) übersetzt, und diese Korrektur zu seiner bürokratischen Handlungsweise genau passt. 13 ANR 1: E Pkw vor Laternenmahl äh = äh = vorn 14 P: Ja 15 ANR1: Lichtmast gefahrn; Auffällig ist nun, dass der Anrufer die Ausdrucksweise („Pkw“) des Polizeibeamten übernimmt und sich dann verspricht, wobei diese Fehlleistung („Laternenmahl“49) noch vor der semantischen Korrektur ein Beleg für die Verunsicherung und Aufgeregtheit des Anrufers und das Versagen des Beamten ist, ihm diese zu nehmen.50 16 P: Ja (-) gibs verletzte Personen? Erst jetzt stellt der Polizeibeamte die längst überfällige Frage, die in einem emergency-Fall an erster Stelle hätte stehen müssen. Bis hier ist schon sehr viel Zeit vergangen, Zeit, die zur Einleitung eventuell erforderlicher Hilfs- und Rettungsmaßnahmen unwiederbringlich vorbei ist.51 17 ANR1: Bitte? 18 P: Gibs verletzte Personen?
49
Bei der es sich um eine Zusammenziehung von ,Mast‘ und ,Pfahl‘ handelt. Die von der Sache her unnötige sprachliche Korrektur (in Zeile 12) erwies sich mithin als ungünstig für die Gesprächsführung. 51 „Bei der Rettung und erfolgreichen Behandlung von Notfallpatienten spielt (. . .) der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle.“ Eberl (1994), S. 12; Rossi/Binder (1996), S. 11 ff.; Erler (1973), S. 5; Kurze (1978), S. 26; oder auch Politische Verwaltung des Ministeriums des Innern der Deutschen Demokratischen Republik (1975), S. 38: „Oft genug ist schnelles und entschlossenes Eingreifen erforderlich, wenn Leben oder Gesundheit von Menschen in Gefahr sind. In Sekundenschnelle die richtige Entscheidung zu treffen, um weiteren und größeren Schaden zu verhüten, ist dann notwendig.“ 50
10. Fall 3: Verkehrsunfall am Heidenberg
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19 ANR1: Kann = ich = im = Moment = noch = nich = sachen hh (-) ich guck nochmal aus em 20
Fenster hh (-) das Auto knaddert noch = der Motor hh
Während der Anrufer die Frage des Polizeibeamten zunächst offensichtlich nicht verstanden hat, wiederholt dieser seine Frage noch einmal, wobei die anschließende Antwort erkennen lässt, dass der Anrufer den Unfall vermutlich aus dem Fenster seiner Wohnung beobachtet hat und er nun noch einmal ans Fenster geht, um nach Verletzten Ausschau zu halten, jedoch nur davon berichten kann, dass der Motor noch läuft. Auch wenn der Anrufer offensichtlich keine genaueren Angaben zu machen in der Lage ist, müsste für den Polizeibeamten klar sein, dass er im Sinne des Normalfalls vom ,worst case‘ auszugehen hat. Entsprechend müsste er umgehend die Rettungsleitstelle verständigen und eigene Einsatzkräfte vor Ort schicken. 21 P: Ja das Auto steht noch = und keine Person kommt raus; Auffällig ist nun, dass der Polizeibeamte hierauf etwas sagt, was ihm der Anrufer so nicht mitteilte. Denn während er davon sprach, dass er nicht sehen könne, ob sich jemand im Auto befindet, spann der Polizeibeamte den Fall zu ,es kommt keine Person heraus‘ weiter. 22 ANR1: Ja ich weiß nich ob da ob da (3 Worte uv) sin = kann ich nich sehn Woraufhin ihn der Anrufer korrigiert. 23 P: Könn se nich sehn; (-) ja gucken se = bitte sofort mal nach (-) un rufen se uns dann nochmal 24
an = ich schicke die Kollegen los ja
Auffällig ist nun, dass der Polizeibeamte den Anrufer instruiert, sofort mal vor Ort nachzuschauen und dann noch einmal anzurufen, während er seine Kollegen losschicken werde. Auffällig ist die Instruktion deswegen, weil der Polizeibeamte den Anrufer nicht etwa auffordert, erste Hilfe zu leisten oder einen eventuellen Kabelbrand zu löschen, sondern weil er ihn zum Melder umfunktioniert, was aber im konkreten Fall wenig sinnvoll ist, weil der Polizeibeamte mit der Einleitung von Maßnahmen nicht warten kann, bis der Anrufer den Ernstfall bestätigt, sondern er im Sinne des Normalfalls davon ausgehen muss, dass es sich aufgrund des dargestellten Sachverhaltes um einen akuten Notfall handelt und aus diesem Grund unverzüglich alle für die Notfallbehandlung notwendigen Maßnahmen zu ergreifen sind.
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25 ANR1: Moment (-) bleim se dran Die Reaktion des Anrufers auf die Aufforderung des Polizeibeamten indiziert, dass er es für sinnvoller hält, unmittelbar nachzuschauen, wie sich die Situation jetzt darstellt. Bedenkt man, dass der den Notruf entgegennehmende Polizeibeamte auch derjenige ist, der auf der Einsatzleitstelle den gesamten Einsatz zu koordinieren hat, dass er also eine zentrale Koordinierungsfunktion52 zu erfüllen hat, wäre es nun sachangemessen, wenn der Polizeibeamte dem Anrufer im nächsten Turn erwiderte, dass sie das Gespräch beenden müssen, weil er umgehend alle erforderlichen Rettungsmaßnahmen einzuleiten habe. 26 P: Ja ich bleib dran Dies macht der Polizeibeamte aber nicht, wie man nachfolgend am Protokoll verfolgen kann: 27 (15) [im Hintergrund klingelnde Telefone, Gesprächsbruchstücke und Funkverkehr] 28 ANR1: Hier das Auto läuft noch = das is äh (-) a = fürchterlicher Krach = ich kann niemanden (uv) 29 P: [zu seinen Beamten, die im Dienstzimmer stehen] Also wahrscheinlich Person noch im Auto; (-) 30
Betrieb meine Herrn
31 ANR1: Wie bitte? 32 P: Nein (-) nich Sie (-) ich schicke nur die Leute los; (-) 33
(mit Rettungsleitstelle sprechend): Polizei (-) ja
34 ANR1: ICH VERSTEH SIE NICH 35 P: [zur Rettungsleitstelle]: Ja (0.5) weiß ich schon (2.0) ich kann dir doch nischt genaures als der 36
Anrufer sachen (-) das Auto läuft noch auf Hochtouren er weiß nich genau
52 Auf diese Funktion gehen u. a. Don H. Zimmerman – [zit. nach Eglin/Wideman (1986), S. 348]: „A gross characterization of the work tasks of the police phone man/woman would include establishing police identity, receiving and accepting/declining the complaint, gathering information to determine the organizational seriousness of the complainable, deciding on and communicating the disposition and closing the call . . .“ – und Clifford D. Shearing (1984) – „classification for an incident“ (ebd., S. 99); „decide what type of call they had received“ (ebd., S. 124); „decision to dispatch/not to dispatch a patrol unit in response to a citizens request for police intervention“ (ebd., S. 84); „filtering out unwanted requests for police intervention“ (ebd., S. 89) – nicht ein.
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37 ANR1: Das Auto is Totalschaden nehm ich an = das sieht so aus (1) 38 P: (zur Rettungsleitstelle) Ja, ich ruf dich (dann) zurück;; 39 ANR1: Is erledicht 40 P: Ja, wir wissen soweit Bescheid 41 ANR1: gut 42 P: Schicken se mal bitte sofort = mal = jemanden = runter = zu = gucken = ob (uv) verletzt (uv) 43 ANR1: Ja Moment äh 44 P: erste Hilfe leisten 45 ANR1: die sin schon unterwegs 46 P: (zu?): Jawoll is in Ordnung (-) rufen se 47 ANR1: Moment (3) 48 P: [zu ANR2] Polizei Notruf 49
(im Hintergrund) Telefonklingeln 2x
50 P: Ja wissen sie = obs da Verletze gibt? 51
(im Hintergrund) Telefonklingeln 2x
52 P: Gut is in Ordnung (im Hintergrund Telefonklingeln 2x) 53
wir sind schon unterwegs (uv)
54 (Telefonklingeln fortlaufend) 55 P: Polizeinotruf (4.0) 56 ANR1: Hallo? 57 P: ºJaº 58 ANR1: ººS Auto is in Flamm’n aufgegang’nºº (4) 59
ººS Auto brennt in vollen Tourn’nºº
60 P: (zur Rettungsleitstelle) Hallo? (3.0) Ja: das Auto is in Flamm’n aufgegang’n (1) 61 ANR1: Was? (-) ja ich hab’s doch (ja habe ich doch gesacht) (3.0) 62 P: (zur Rettungsleitstelle) (3 Worte uv) tschüs (2.0) 63 ANR1: Ja ich kann ihnen (uv) 64 P: (zu seinen Beamten über Funk) (uv) Auto is in Flamm’n aufgegang’n (-) ich habe Feuerwehr 65
und äh Rettungswagen schon verständischt; (2.0)
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(uv) (im Hintergrund reger Funkverkehr: u. a. Heidenberg)
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
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(PB übernimmt Gespräch mit ANR1)
68 PB: Hallo? (1) 69 ANR1: Ja das is (-) das Auto brennt (2.0) 70 PB: Es brennt 71 ANR1: Ob da jemand nun noch drinne is, kann ich nich sagen 72 PB: Wir sin unterwegs 73 ANR1: ºIs in Ordnungº, Dies führt zu nicht unerheblicher Verwirrung des Anrufers (vgl. Zeilen 31, 34) und stört den Polizeibeamten bei der Koordinierung des Einsatzes. Ergebnis Die Sequenzanalyse des Falles hat zwei polizeiliche Handlungsfehler aufgezeigt. Der erste Fehler besteht darin, dass sich der Polizeibeamte ab Zeile 04 – abweichend vom Normalfall – nicht unmittelbar der Krise zuwendet, sondern – vergleichbar dem in nachfolgender Karikatur in Form einer Sprechblase (mit Sprechfragmenten, die auf Formularfragen schließen lassen) symbolisierten Notrufsprecher – bürokratisch-formal handelt.
Abbildung 10: Notrufkarikatur53
11. Zusatzbemerkung
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Und der zweite Fehler ist, dass der Beamte dem Anrufer im Anschluss an Zeile 25 nicht unmissverständlich zu verstehen gibt, dass es im Sinne einer möglichst störungsfreien Behandlung der Krise nicht sinnvoll ist, das Gespräch fortzusetzen, damit umgehend mit der Einleitung von Maßnahmen begonnen werden kann. Handlungsfehler 1. Frage nach Anrufer- bzw. Melderdaten vor Krisenabklärung (ab Zeile 04). 2. Weiterführung des Gesprächs in Zeile 26, statt Konzentration auf eine krisenangemessenere Intervention.
11. Zusatzbemerkung Einen besonderen Stellenwert haben die beiden aufgezeigten Handlungsfehler, weil es sich bei dem real den Notruf Entgegennehmenden nicht um irgendeinen Polizeibeamten handelte, sondern um einen Dienstgruppenleiter,54 das heißt einen „Vorgesetzten der Beamten seiner Dienstgruppe“,55 der sowohl „für die Überwachung des Schriftverkehrs“56 und die „Überwachung der ordnungsgemäßen Führung der Dienstbücher und Verzeichnisse“57 als auch für die „Durchführung von Sofortmaßnahmen bei besonderen Vorkommnissen“58 und die „Übernahme der vorläufigen Einsatzleitung bei Soforteinsätzen“ verantwortlich war. Dies zeigt, wie wichtig es ist, auch Vorgesetzte (die nicht an der Fachhochschule ausgebildet wurden59) für richtiges Handeln am Telefon zu sensibilisieren, weil sie ansonsten 53 Es handelt sich hier um eine Collage (bestehend aus der Abbildung und dem über dieser eingefügten Label „Polizeinotruf“. Die Originalvorlage stammte aus einer Autozeitschrift). Sie wurde von neun Studenten einer von mir begleiteten Projektgruppe erstellt, die damit ihre Arbeit „Konzeption für die Aus- und Fortbildung von Polizeibeamten im Handlungsbereich Notruf“ auf dem Titelblatt begannen. Dass sie so begannen, zeigte mir, dass sie den bürokratischen Strukturfehler erkannt hatten. 54 Dies ging aus der Verschriftung der Studenten hervor (vgl. Fußnote 38). Inwieweit das Handeln des Dienstgruppenleiters durch die Anwesenheit eines Studenten beeinflusst war, der den Notruf als Beobachter im Feld erhob, bleibt spekulativ. Doch auszuschließen ist ein solcher Hawthorne-Effekt nicht. 55 Ich zitiere aus einer von mir nicht näher bestimmbaren Quelle, die mir unser Praktikumskoordinator gab. Ziff. 2.2.5. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Die ersten Absolventen der Fachhochschule, die ich sequenzanalytisch ausgebildet hatte, wurden 1998 in die Praxis entlassen. Wenngleich einige von ihnen unmittelbar Dienstgruppenleiter oder stellvertretende Dienstgruppenleiter wurden, gab es zu diesem Zeitpunkt wesentlich mehr Dienstgruppenleiter, denen eine solche Schulung fehlte.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
Abbildung 11: Berichtsmaske
nicht nur selbst falsch am Telefon handeln, sondern darüber hinaus die Gefahr besteht, dass sie ihre Mitarbeiter in eine falsche (formal-rationale) Richtung kontrollieren und sie dazu anleiten, den Praxisspagat zwischen Krisenbewältigung und Bürokratie zu unterlaufen.60
12. Fall 4: Faxgerät Ich möchte nun auf einen Fall zu sprechen kommen, in dem ein Polizeibeamter vom Normalfall abwich, indem er einen akuten Krisen- in einen Routinefall verwandelte. 60 Dass das Handeln des Dienstgruppenleiters durch das Kontrollverhalten seines Vorgesetzten mitbestimmt ist – und dieses wiederum durch das Kontrollverhalten von dessen Vorgesetzten etc. –, muss bei der Analyse berücksichtigt werden [vgl. hierzu Adorno (1997 b), S. 447; oder ders. (1997 d), S. 549 f.] und verweist auf die Notwendigkeit von Organisationsberatung in der Polizei. Mit Blick auf den medizinischen Bereich vgl. hierzu Oevermann (1993 b), S. 170.
12. Fall 4: Faxgerät
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Betrachten wir hierzu insbesondere die Protokollzeilen 05 und 06: Polizeinotruf;;61 Ja (-) schön guten Tag Schmatz62 Guten Tag Ich habn Notfall eh- *** 05 PB: Klein Moment bitte;; (9,0) *** 64 06 So (-), ihr Name war nochmal?;; 01 02 03 04
PB: A: PB: A:
Bei Betrachtung dieser Sequenzstellen fällt auf, dass der Polizeibeamte im Anschluss an den redundanten Hinweis65 des Anrufers („Ich hab’n Notfall“) und dem im Protokoll markierten technischen Signal eines Faxgerätes, das eine weitere Kommunikation am Arbeitsplatz des Polizeibeamten ankündigt, zum Anrufer sagt:
61 Die Studenten hatten die Notrufzeilen nicht durchnummeriert. Sie benutzten folgende Transkriptionssymbolik: PB Polizeibeamter A Anrufer ;; steigende Intonationskurve ; fallende Intonationskurve (-) Kurzes Absetzen, kurze Pause (ca. 0,25 sec.) Abbruch eines Wortes oder einer Äußerung *** starke Hintergrundgeräusche = schneller Anschluss einer nachfolgenden Äußerung ja: Dehnung eines Vokals hh hörbares Ein- bzw. Ausatmen (9,0) Pause, Dauer in Sekunden Informationen zur Situation> ººjaºº sehr leises Sprechen 62 Im Original war der Name an dieser Stelle nicht verschriftet. Er war jedoch auf dem Tonband zu verstehen. 63 Im Original nur: *** . Korrektur nach Anhören der Tonbandaufnahme. 64 Ab hier bis zum Ende des Gesprächs fast durchgehend. 65 Denn wenn der Anrufer den Polizeinotruf wie vorgesehen benutzt, wovon im Sinne des Normalfalls auszugehen ist, ist ohnehin klar, dass irgendein Krisen- oder Notfall vorliegt. Die Redundanz indiziert, dass der Anrufer Schwierigkeiten hat, zur Sache zu kommen. Statt unmittelbar zu sagen, was der Fall ist, verwandelt er das Gespräch allmählich in eine unlebendige, formale Situation, in der (wie bei formalisierten Geschäftsschreiben) unnötige Explizitheit herrscht, wobei diese durch die Abstraktheit des Anfangs („Polizeinotruf“) und die Tatsache induziert sein kann, dass der Polizeibeamte den Notruf an ein normales Gespräch („. . . schön guten Tag“) anglich und der Anrufer sich deshalb gezwungen sah, die Notrufkommunikation erst durch diese Metaäußerung einzurichten.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
05 PB: Klein Moment bitte;; \. . . Damit fragt er ihn nicht unmittelbar nach der Art des Notfalls, sondern bittet ihn vielmehr in Form einer sprachlichen Mimimalentschuldigung66 um eine kleine Auszeit, was im Zusammenhang mit der vorhergehenden Zeile die Lesart nahe legt, dass das technische Signal seine Aufmerksamkeit auf sich zog. 05 PB: . . ./ (9,0) *** Es folgen neun Sekunden Pause, der Hinweis auf starke Hintergrundgeräusche und Gespräche in der Notrufzentrale. Spätestens an der Stelle, an welcher die neun Sekunden währende Pause vermerkt ist, die im Übrigen alles andere als einen kleinen Moment bedeutet, ist evident, dass der Polizeibeamte nicht im Sinne des Normalfalls handelt, folglich die eigentümliche Dialektik des Polizeinotrufes, die darin besteht, dass es die spezielle Aufgabe einer Routine ist, sich auf eine Krise zu beziehen, nicht funktioniert. Denn statt den Anrufer hinsichtlich der Krise zu befragen, wendet er sich offensichtlich dem Faxgerät zu. Dabei gibt es drei Argumente, auf die hin ganz klar der Notruf Priorität hat: Erstens: Ein Faxgerät ist nicht explizit für die Kommunikation in Notfällen vorgesehen, während die Telefonnummer 110 genau hierfür reserviert ist. Zweitens: Die Kommunikation via Fax steht nicht in einem Reziprozitätsverhältnis. Sie ist zeitlich und räumlich vollständig entkoppelt, während das für die laufende Telefonkommunikation nicht gilt. Bei einem Fax handelt es sich mithin nicht um eine lebendige Kommunikation, sondern um eine rein technische. Es kommt etwas an, und darauf kann man, vollkommen abgelöst davon, antworten. Drittens: Das ankommende Fax behält seine Aktualität auch dann, wenn es fünf Minuten später gelesen wird, was für den Notruf nicht gilt, weil hier unmittelbar gehandelt werden muss. Jetzt kann man daraus schließen, dass der Polizeibeamte, der hier den Notruf bedient, von der Grundregel ausgeht, bis auf den Beweis des Gegenteils liegt keine Krise, kein behandlungsbedürftiger Notfall vor. Wenn er 66 Auf die ich auch im Rahmen einer von mir im Jahr 2000 durchgeführten Mystery-Shopping-Studie für die Westdeutsche Landesbank stieß, in der ich gezielt Telefonzentralen deutscher Banken anrief, um zu testen, wie sie mit meiner Frage zu einer Geldanlage umgingen.
12. Fall 4: Faxgerät
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nämlich von der Regel ausginge, bis auf den Beweis des Gegenteils muss ich vom schlimmsten Fall ausgehen, dürfte er auf keinen Fall den Hörer aus der Hand legen. Hier jedoch wird die Beweislast umgedreht. Es erfolgt eine Verwandlung von Krise in Routine. Der Polizeibeamte handelt nicht routinisiert auf Krise hin, sondern auf Routine. Und damit hat er das ihm abverlangte Routinehandeln, das paradox scheinender Weise gerade darin besteht, sich auf eine Krise zu beziehen, dadurch gelöst, dass er die Routine an die falsche Stelle legt. Und mit dieser Beweislastumkehrung hat er einen Kategorienfehler gemacht. Fragt man nun nach der Motiviertheit dieses Handelns, so bieten sich verschiedene Lesarten an. Es kann zum Beispiel so sein, dass sein Handeln motiviert ist durch die Routine des Polizeibetriebs, oder es kann dadurch motiviert sein, dass der Polizeibeamte bezogen auf Routinehandeln unbedingt die Regel einhalten will, ,da ist noch ein Gerät, ich muss jetzt erst mal auf dieses Gerät reagieren, bevor ich mir da was einhandle‘, er also nicht auf der Ebene des situationsangemessenen Handelns eine Entscheidung trifft, sondern sich unter Regeln subsumiert. Man kann sich leicht vorstellen, dass empfindliche Menschen, die einmal eine solche Reaktion eines Polizeibeamten erlebt haben, die einmal eine solche Haltung heraushörten, nach der ein Polizeibeamter davon ausgeht, dass ohnehin die meisten Anrufer sich unberechtigterweise an den Polizeinotruf wenden, sich durch die Polizei infantilisiert, pädagogisiert oder bevormundet fühlen und nie wieder oder nur noch mit großen Bedenken, wenn es wirklich überhaupt nicht mehr anders geht, die Polizei anrufen. 06 PB: So (-), ihr Name war nochmal?;; Nach neun Sekunden kommt der Polizeibeamte zurück und fragt: „So, ihr Name war noch mal?“ Die Routine setzt sich also fort, denn die Frage lautet nicht, ihr Notfall war noch mal, sondern zunächst wird formularhaft der Name erfasst, der Notfall interessiert später. Das ist bürokratisch und hat mit Krisenbewältigung nichts zu tun. Dabei könnte es ja sein, dass der Anruf im Angesicht eines sich gerade vollziehenden Mordes erfolgt, also eine hoch dramatische Situation vorliegt, oder gerade eine Explosion stattfand mit vielen Verletzten. Und die cirka 15 Sekunden, die bis jetzt bereits vergangen sind, bedeuten für akut Verletzte eine sehr lange Zeit. Das könnte alles sein, wobei auffallend und für die Struktur des Falles kennzeichnend ist, dass sich der Polizeibeamte danach gar nicht erkundigt, weil es ist für ihn offensichtlich schon klar ist, dass es sich hier, wie in 90 Prozent der Fälle, nur um eine Bagatelle handelt. Doch so darf der Polizeibeamte nicht schließen. Das ist ein empiristischer Fehlschluss, der an diesem Arbeitsplatz zu fatalen Konsequenzen führen kann.67
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07 A: Ja, mein Name is Schmatz 08 PB: Schmalz?;; 09 A: Schmatz;; (-) wie laut schallender Kuß (-) TE (-) ZET 10 PB: Schmatz? 11 A: Ja 12 PB: Un der Vorname?;; 13 A: Rolf;; 14 PB: Rolf; 15 A: Ja Es folgt nun eine Passage, in der es eindeutig um das Erfragen von Daten für das polizeiliche Protokoll geht. Die Krise tritt vollkommen in den Hintergrund. 16 PB: Un wo sind sie wohnhaft Herr Schmalz;; (-) eh Schmatz?;; 17 A: Schmatz ja (1,0) Un eh hier meine Schwiegermutter (-) 18 PB: Ja? 19 A: Schillerstraate (-) Schillerstraße68 20 PB: Mhm 21 A: Gotha hier 22 PB: Ja (1.0) 23 A: Welche Hausnummer Helga69?;; (2.0) Schillerstraße zwölf; 24 PB: Zwölf;;
67 Vgl. hierzu den von Whalen u. a. (1988) analysierten, strukturell vergleichbaren Dallas-Fall, wo ein Anrufer verzweifelt versuchte, Mitarbeiter in einer Emergency-Zentrale davon zu überzeugen, dass seine Stiefmutter ärztliche Hilfe benötige, diese Hilfe aber nicht unmittelbar eingeleitet wurde, weil das Emergency-Personal offensichtlich nicht vom Normalfall ausging, sondern die Ernsthaftigkeit der Situation aufgrund der restringierten Schilderung des Anrufers bezweifelte. Ein fataler Fehler. Die Tragik des Falles lag darin, dass die Frau starb, während ihr Sohn vergeblich versuchte, das für die Krisenintervention zuständige Personal von der Ernsthaftigkeit der Situation zu überzeugen. Der Fall erregte öffentliches Aufsehen, führte zu intensiven Ermittlungen und hatte personelle Konsequenzen: „At the conclusion of the investigation, the nurse who handled this call was fired and several of her supervisors were reprimanded or demoted.“ Whalen u. a. (1988), S. 340. 68 Von mir gewählter Deckname. Die nachfolgenden Zeilen wurden von mir nach Kontrollhören der Tonbandaufnahme des Falles leicht korrigiert. 69 Ebenfalls ein von mir gewählter Deckname.
12. Fall 4: Faxgerät
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Daran ändert sich auch selbst dann nichts, als der Anrufer ansatzweise zur Sprache bringt, dass die Krise im Zusammenhang mit seiner Schwiegermutter steht. Denn anstatt wenigstens hier das Abfragen der Daten zu beenden und konkret zu fragen, was mit der Schwiegermutter passiert ist, worin der Notfall besteht, um dann schnellstmöglich die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten, fragt der Polizeibeamte genau so nicht, sondern fragt nach den Mitteilerdaten. Zu erschließen ist übrigens, dass der Anrufer erkannt hat, dass es offensichtlich keinen Zweck hat, dem Polizeibeamten den Notfall genauer zu schildern, bevor er ihm nicht alle von ihm erfragten Daten mitgeteilt hat. 25 A: Die braucht unbedingt en Notarzt Entsprechend kommt der Anrufer auch erst nach Abklärung der bürokratischen Daten auf den Fall zu sprechen, wobei seine Äußerung indiziert, dass es sich hier um eine akute medizinische Krise handelt, in der es auf jede Sekunde ankommt. Doch stattdessen hat der Polizeibeamte durch sein Handeln bereits unverantwortlich viel Zeit verstreichen lassen. 26 PB: En Notarzt; (1,0) um was geht’s da Herr Schmatz?;; 27 A: Ja, eh, das kann ich hier (-) so:: nich feststellen 28 PB: Ja, was is mit ihrer Schwiegermutter? 29 A: Liegt hier im Flur 30 PB: Die liegt im Flur?;; 31 A: Ja 32 PB: Leblos oder eh?;; 33 A: Nein (2.0) 34 PB: Atmet se schwer, weil die eh den 35 A: Atmet (-) noch ja 36 PB: Eh, schwer oder was, weil der 37 A: Nee (-) abwesend 38 PB: Is also eh (-) ohnmächtig wollmer so sagen?;; 39 A: Ja woll mer ma so sagen (4.0) Erst nach der Erfassung der von ihm als wichtig erachteten bürokratischen Daten fragt der Polizeibeamte zum ersten Mal krisenbezogen nach, wobei das weitere Gespräch zeigt, welche Probleme der Anrufer hat, auf die für die Abklärung des medizinischen Notfalls laienhaften Fragen des Polizeibeamten als medizinischer Laie angemessen zu antworten.70
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40 PB: So (-) un sie selber sin wohnhaft Herr Schmatz?;; 41 A: Ja, ich bin wohnhaft in (X-Dorf 71) (-) Kreis (Y 72) (2.0) 42 PB: (X-Dorf)?;; (-) un welche Straße dort?;; 43 A: Straße der Einheit (-) Nummer acht 44 PB: Straße der Einheit (-) acht 45 A: Ja Was nun folgt, kann man durchaus als skandalöse Routine bezeichnen. Denn statt unverzüglich die Rettungsleitstelle zu informieren, erfragt der Polizeibeamte auch noch die Daten des Anrufers, was ein im Hinblick auf die Bewältigung der emergency-Situation dysfunktionales Handeln ist. Wiederum geht wertvolle Zeit verloren. Und wiederum handelt der Polizeibeamte, als läge keine akute Krise vor, als hätte der Fall genügend Zeit und bedürfe nicht der schnellen Intervention. Kurzum: Die oben explizierte Fallstruktur, die Verwandlung einer Krise in eine nicht eilbedürftige Routine, reproduziert sich hier. 46 PB: Gut Herr Schmatz (-) ich werde Notarzt 47 A: ººschickenºº 48 PB: oder die Rettungsleitstelle verständigen ja (-) un die schicken dann 49 A: Ja (1.0) 50 PB: Ne (-) alles klar;; 51 A: Recht schönen Dank; 52 PB: Bitte (-) wiederhörn; Dem entspricht, dass der Polizeibeamte dem Anrufer erst jetzt, nachdem er die von ihm für die Bürokratie benötigten Daten erfragt hat, mitteilt, dass er die zuständige Stelle informieren werde. Sehr aufschlussreich ist auch die Selbst-Korrektur des Polizeibeamten in Zeile 48. Denn diese zeigt an, dass er offensichtlich unsensibel dafür ist, dass durch diese unnötige Korrektur wiederum nur Zeit verbraucht wird, die für die schnellstmögliche Information der Rettungskräfte verloren geht.
70 71 72
Sacks [(1967), S. 204] unterscheidet zwischen „laymen“ und „professionals“. Von mir vorgenommene Anonymisierung des Wohnortes. Auch den Namen des Landkreises habe ich anonymisiert.
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Ergebnis Der Fall stellt eine eklatante Abweichung vom Normalfall eines Notrufs dar. Er ist skandalös, weil der Polizeibeamte in einer Situation, in der er so schnell wie möglich hätte klären müssen, was für eine Krise konkret vorliegt, um dann unverzüglich die Maßnahmen einzuleiten, die erforderlich waren, um diese zu bewältigen, genau dies nicht tat, sondern den Notruf für neun Sekunden verließ73 und damit eine Krise in eine Routine verwandelte. Wobei diese Transformation genau genommen schon in Zeile 03 – mit der Normalisierung der Notrufkommunikation durch die bloße Erwiderung des Tagesgrußes, ohne die Krise weiter abzuklären – begann und sich nach Rückkehr an den Notruf in Zeile 06 mit bürokratischen Fragen fortsetzte, obwohl der Polizeibeamte im Sinne des Normalfalls davon hätte ausgehen müssen, dass hier jede Sekunde zählt. Handlungsfehler 1. Normalisierung der Kommunikation (ohne die Krise weiter abzuklären). 2. Verlassen des Notrufs für neun Sekunden. 3. Bürokratisches Handeln nach Rückkehr an den Notruf.
13. Fall 5: Schlägerei auf dem Schützenfest 01 P: -. . .zeinotruf 74 02 A: Nja, Guten Abend hier ist [Schulze] Die Anruferin75 zögert kurz („nja“), ein schwacher Indikator dafür, dass sie ratlos ist und nicht weiß, wie sie beginnen soll; dann entbietet sie einen 73
Eine bereits schon für ein normales Telefonat viel zu lange Zeit – und am Notruf eine Ewigkeit. 74 Von den Studenten verwendete Transkriptionssymbolik: P Polizeibeamter A Anruferin ja Äußerung ist mit Lachen unterlegt (1) kurze Pause in Sekunden
Anmerkung/Information zur Situation [] anonymisierte Daten, Pseudonyme ºº leise gesprochen ºº. . .ºº sehr leise gesprochen ? fragend A:::h Dehnung eines Vokals ... Abbruch eines Wortes oder einer Äußerung = schneller Sprechanschluss ..hh hh.. hörbares Ein- und Ausatmen 75 Dass es sich hier um eine Anruferin handelt, geht aus der vorhergehenden Transkriptionssymbolik hervor.
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Abend-Gruß und stellt sich hierauf kurz mit ihrem Nachnamen vor, wobei die Begrüßung durch Entbieten der Tageszeit zum Ausdruck bringt, dass sie sich verpflichtet fühlte, eine gemeinsame Praxis herzustellen, was durch die kurze Meldung „Polizeinotruf“, bei der es sich, wie vorhergehend analysiert, nur um eine technische Meldung handelt, versäumt wurde.76 Dabei bedeutet das Entbieten des Grußes genau genommen nur die initiale „Eröffnung einer Eröffnung“77 einer noch herzustellenden sozialen Praxis, die erst dann hergestellt ist, wenn sich die angerufene Seite durch die Entgegnung eines Grußes ihrerseits gebunden hat.78 03 P: Ja, Morgen Der Polizeibeamte sagt daraufhin „Ja, Morgen“. Während die „Ja“-Partikel indiziert, dass er die Anruferin verstanden hat, ist nun auffällig, dass er auf den von ihr im Futur II geäußerten Wunsch,79 dass der Abend für ihn ein guter werde, eine andere Tageszeit nennt, er zwar auf die Begrüßung der Anruferin mit der Entbietung eines Grußes antwortet, dieser Gruß sich jedoch auf eine andere Tageszeit bezieht und auch nicht den Wunsch enthält, dass der Morgen ein guter werde. Damit weicht der Polizeibeamte von der Regel ab, dass im Sinne einer zweckfreien Reproduktion von Sozialität gleichlautende Grüße ausgetauscht werden.80 Bezüglich der Motivierung dieser Abweichung gibt es nun mehrere Lesarten. Die erste, am wenigsten sparsame Lesart ist, dass der Polizeibeamte die Anruferin korrigiert, weil er sie für verrückt hält, da sie Morgen mit Abend verwechselt hat. Die zweite, sparsamere Lesart besagt, dass der Polizeibeamte die Begrüßung der Anrufenden karikiert und indirekt damit ausdrückt, dass sie auf76 Woraus man ableiten kann, dass die kurze Nennung „Polizeinotruf“, die eigentlich der Abkürzung dienen sollte, die ganze Sache nur verzögerte, weil die Anrufende erst mal die Kommunikation als Praxis einrichten musste, und sie vermutlich viel schneller zur Darstellung der Krise gekommen wäre, wenn der Polizeibeamte zu Beginn gesagt hätte: ,Polizeikommissar Müller, womit kann ich Ihnen helfen?‘ Denn dann hätte sie gleich motiviert sagen können, worum es ihr geht. Und so kann sie das nicht, muss sie erst einmal die Kommunikation einrichten und damit den Eröffnungsfehler heilen. Der Polizeinotruf ist im Übrigen ein guter Kandidat für den Beleg, dass wenn Menschen die Möglichkeit zur Reaktion haben, sie basale Regelverletzungen korrigieren. 77 Oevermann (1996 d), S. 3. 78 „Die Begrüßung ist (. . .) ein elementares Beispiel für das Strukturmodell von Sozialität und deren Strukturgesetzlichkeit von Reziprozität überhaupt. (. . .) eine zweckfreie Reproduktion von Sozialität.“ Ebd., S. 4. 79 Ebd., S. 2. 80 Ebd., S. 3 f.
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grund der Uhrzeit genau so gut ,Guten Morgen‘ hätte sagen können, womit er im Grunde genommen die Begrüßungshandlung blasphemisiert. Und die dritte, sparsamste Lesart ist, dass die Anruferin kurz nach Mitternacht anruft81 und für sie ihre am Abend begonnene Praxis zeitlich noch andauert, sodass sie den Abend-Gruß äußert, während der Polizeibeamte in der beckmesserischen Logik desjenigen, dessen Dienst noch einige Stunden dauert82 und der im Logbuch83 das Datum des neu angebrochenen Tages eintragen muss, das der frühen Tageszeit entsprechende „Morgen“ verwendet. Wie auch immer die Korrektur subjektiv motiviert ist, bezogen auf den Normalfall eines Polizeinotrufes bedeutet sie, dass der Polizeibeamte hier objektiv einen schweren Fehler macht, weil er nicht, wie es dem Sinn des Notrufes entspricht, so schnell wie möglich herauszufinden versucht, was konkret der Fall ist, sondern stattdessen mit der von der Sache her unnötigen Grußkorrektur die Regel der zweckfreien Reproduktion von Sozialität unterläuft und den Turn wieder an die Anruferin zurückgibt, ohne das Gespräch in Richtung Abklärung des Falles vorzustrukturieren. Das bedeutet, dass unnötig Zeit verloren geht, die für eine schnelle Krisenintervention wichtig sein könnte, zumal der Polizeibeamte im Sinne der Notruflogik von einer akuten Krise ausgehen muss. Und zu diesem Zweck hätte er an dieser Sequenzstelle fragen müssen: ,Ja, was kann ich für Sie tun?‘ bzw. ,wie kann ich Ihnen helfen?‘ 04 A: Also ..äh.. Guten Morgen, j a (1) \. . . Die Reaktion der Anrufenden zeigt, dass die Äußerung des Polizeibeamten sie verunsichert hat und sie nicht weiß, wie sie beginnen soll. Sie stammelt, sucht nach Worten, geht dann auf die Korrektur ein und kommentiert diese mit einem Lachen, so wie man es tut, wenn man merkt, dass man sich offensichtlich vertan und einen blöden Fehler gemacht hat. 81 Dass die Anruferin zur Nachtzeit mit „Guten Abend“ und nicht mit „Gute Nacht“ grüßt, ist begrüßungstechnisch damit zu erklären, dass man generell nicht mit „Gute Nacht“ begrüßen kann. Begrüßen kann man nur mit „Guten Morgen“, „Guten Tag“ und „Guten Abend“, aber nicht mit „Gute Nacht“, denn dies bedeutet automatisch eine Verabschiedung oder eine ironisierte Verwendung im Sinne von „hör auf, es ist zu Ende“. „Würde man mit diesem Gruß ein Lokal betreten oder in eine Gruppe eintreten, so käme das einem Krisenexperiment gleich. Allenfalls ließe sich das als sarkastische Erinnerung daran entschlüsseln, daß jetzt aber Schluß zu sein hat.“ Oevermann (1996 d), S. 2 f. 82 Eine Korrektur, die nach Auskunft von Andreas Müller-Tucholski, der in Frankfurt längere Zeit als Taxifahrer tätig war, eine gute Chance ist, jemandem als Taxifahrer „einen auszuwischen“, eine gute Möglichkeit, „persönlichen Frust loszuwerden“. 83 Im Fachjargon Neuigkeitsbogen, früher Tätigkeitsbericht oder Rapport genannt. Vgl. hierzu Ley (1992).
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0584 A: . . ./ ..hh hh.. wir sin in [Adorf] jetzt \. . . Auch die nachfolgende Reaktion zeigt, dass sie Darstellungsschwierigkeiten hat, denn statt unmittelbar zu sagen, was der Fall ist, beginnt sie mit einer umständlichen lokalen Kontextuierung des Falles, aus der nur zu erschließen ist, dass sie sich augenblicklich zusammen mit zumindest einer weiteren Person in einem Dorf aufhält und von dort aus anruft. 06 A:. . ./ ..äh.. oben ..äh.. aufn Schützenfest Während die Anruferin zunächst nicht mitteilte, wo genau sie sich in diesem Dorf aufhalten, wird hier deutlich, dass sie sich auf einem Schützenfest befinden, wobei man aus der Rahmung „oben“ erschließen kann, dass das Festzelt oder die Schützenhalle oberhalb des Dorfes, auf einem Berg oder einer Anhöhe liegt. 07 P: Ja 08 A: = und da is a ganz gro- großer Trubel (1) alsos Wahnsinn (0.5), Sie müssen sofort komm Damit ist die Außeralltäglichkeit schon mal erreicht, auch wenn man noch nicht weiß, wie sich diese konkret darstellt, was also „Trubel“ und „Wahnsinn“ konkret bedeuten. Wenngleich der Polizeibeamte habituell davon ausgehen muss, dass die Anruferin bis zum Beweis des Gegenteils vernünftige Maßstäbe anlegt und mit den Kriterien eines Notrufes übereinstimmt, denn ansonsten hätte er ein falsches Beweislastmodell, muss er im nächsten Zug nachfragen, worauf sich die Anruferin mit „Trubel“ und „Wahnsinn“ konkret bezieht, welches Signifikat mit diesen beiden Signifikanten designiert85 werden soll: eine blutige Schlägerei zwischen zwei um eine Frau kämpfenden Männern oder gar eine Massenschlägerei, um hier 84 Ab hier ist die Zeilennummerierung nicht mehr identisch mit der in der studentischen Verschriftung. Dies aus dem Grund einer leichteren Lektüre der Fälle, die durch eine unübersichtliche Nummerierung der Notrufzeilen möglicherweise beeinträchtigt würde. 85 Ich formuliere bewusst im Sinne der Eco’schen Zeichentheorie, um anzudeuten, dass solche Fallstellen hervorragend geeignet waren, die Sequenzanalysen durch Theoriestücke aus dem Bereich der Sprach- beziehungsweise Kommunikationstheorie anzureichern. Wenngleich man zu Recht einwenden könnte, dass diese Theoriestücke nicht unbedingt erforderlich waren, um die Studenten über die Einübung in die sequenzanalytische Methode für typische Praxisfehler zu sensibilisieren und bei ihnen einen angemessenen Praxishabitus auszubilden, vermittelte ich sie dennoch, weil ich mich an meine eigenen curricularen Vorgaben halten musste, die ich in der Zeit vor Beginn der Einübung in die Methode der Sequenzanalyse formuliert hatte. Der Grund für die damalige curriculare Verankerung von Kommunikationstheorie bzw. kommunikationstheoretischen Modellen war, dass vom Fach Soziologie in diesem Bereich Zubringerdienste für die anderen Fächer erwartet wurden.
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nur zwei konkrete Ausformungsmöglichkeiten zu nennen.86 Die Klärung dieser Frage ist wichtig, um ein möglichst gestaltprägnantes Lagebild zu erhalten, das die Grundlage für die Einleitung fallspezifischer Maßnahmen darstellt. 09 P: Ja, was für a Trubel? Diese Frage stellt dann auch der Polizeibeamte. 10 A: Also da da schloagen sich welche Woraufhin die Anrufende eine Gestaltkonkretisierung leistet. Damit ist die Sache klar. Es handelt sich um eine Schützenfestschlägerei, die, so muss der Polizeibeamte erschließen können, eskalationsträchtig ist, weil hier zumeist enthemmend wirkender Alkohol im Spiel ist. 11 P: Ja im Moment is es nich möglich \. . . Diese Reaktion ist sehr merkwürdig. Denn anstatt der Anruferin Hilfe zuzusagen, gibt er ihr zu verstehen, dass es ihm in der aktuellen Situation nicht möglich ist, Einsatzkräfte zu schicken. 12 P: . . ./ mir ham en sehr schweren Verkehrsunfall in [Edorf] . . . An dieser Sequenzstelle wird deutlich, warum er keine Einsatzkräfte zur Verfügung hat. Wenngleich realistisch zu sehen ist, dass auch die Mittel der Polizei begrenzt sind, handelt der Polizeibeamte hier dennoch zum zweiten Mal notrufunangemessen. Denn er darf nicht apodiktisch sagen, ,das geht nicht, ich habe im Moment keine Einsatzkräfte‘. Er darf mithin sein Ressourcenproblem nicht zum Problem der Anrufenden machen, darf also mit anderen Worten nicht seine Handlungskrise zur Krise der Notrufenden werden lassen. Vielmehr müsste er ihr zu verstehen geben, dass er umgehend Mit der curricularen Verankerung der Sequenzanalyse in der Ausbildung im Jahre 1998 hätte ich die Möglichkeit gehabt, den Bereich der Kommunikationstheorie aus dem Soziologie-Curriculum zu streichen. Dennoch behielt ich ihn bei, um auch den Studenten, denen die Methode der Sequenzanalyse weniger lag und die im Fach Soziologie mehr Theorie erwarteten, zumindest Bruchstücke von Theorie anzubieten, die ich dann auch bei Prüfungen abfragen konnte. Dies gefiel insbesondere dem Fachgruppenleiter Rechtswissenschaften, weil er hier sah, wie man Modelle (subsumtionslogisch) anwenden kann. Was mir wiederum half, die Akzeptanz im Kollegenkreis zu finden, die ich brauchte, um die Methode der Sequenzanalyse curricular institutionalisieren zu können. 86 Im Sinne der Sparsamkeitsregel [vgl. hierzu Leber/Oevermann (1994), S. 419] kann man indes ausschließen, dass es sich um eine Ruhestörung handelt. Denn zu unterstellen, die Anrufende wolle mitteilen, dass sie sich auf einem Schützenfest befinde, auf dem es zu laut sei, bedeutete die Unterstellung einer Pathologie.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
dafür sorgen wird, dass Kräfte vor Ort kommen, und zu diesem Zweck entweder Polizeibeamte vom Unfallort abziehen oder um Unterstützung durch Kräfte der Nachbardienststelle ersuchen. 13 A: A:::h Die Anrufende reagiert darauf expressiv im Sinne von ,oh jeh‘ oder ,ach du meine Güte‘, wobei ihre Reaktion verständlich ist, weil es in der Tat für jemanden, der sich in einer Krise befindet bzw. als Zeuge einer akut stattfindenden Schlägerei polizeiliche Hilfe anfordert, wenig hilfreich ist, wenn der um Hilfe Gebetene einem zu verstehen gibt, dass er nicht helfen kann, weil alle Kräfte in einem Einsatz, der offensichtlich Priorität hat, gebunden sind. 14 P: = . . . wahrscheinlich mit an Toten oder mit . . . Der Polizeibeamte legt argumentativ nach, wobei seine Argumentation implizit lautet: Da gibt es einen viel schlimmeren Fall als die Schützenfestschlägerei. Der um Hilfe gebetene Polizeibeamte sagt keine Hilfe zu, sondern begründet stattdessen, warum er nicht helfen kann. 15 A: Ach so (0,25) hm Die Äußerung indiziert, dass die Anrufende der Argumentation folgt und sich nicht beschwert, was in dieser Situation eine durchaus angemessene Reaktion wäre. 16 P: Also im (0,5) müssen Se Verständnis haben; ge ,Also im Moment‘ meint der Polizeibeamte wahrscheinlich, ,müssen Sie Verständnis haben, nicht wahr‘,87 wobei hier deutlich wird, dass er den Fall egozentrisch sieht und ausschließlich um Verständnis für seine Situation bittet, was sehr viel von der Anruferin verlangt ist, zumal ihr damit in keiner Weise geholfen ist. Die Situation gleicht einer Szene aus einem absurden Theaterstück. A will Hilfe von B. Und B bittet A um Verständnis dafür, dass er nicht helfen kann. 17 A: Ja aber es is wirklich sehr schlimm Wenngleich die Anrufende auf der einen Seite schon Verständnis für den Polizeibeamten hat, gibt sie auf der anderen Seite durch das adversative „aber“ auch zu verstehen, dass ihr damit nicht geholfen ist, weil es 87 Das „ge“ ist die thüringische Variante von ,nicht wahr‘, das die gleiche Funktion hat wie das von Jefferson [(1981), S. 53] untersuchte „ne“, bei dem es sich um eine „Response Solicitation“ handelt, „roughly translated as Right?“.
13. Fall 5: Schlägerei auf dem Schützenfest
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sich in dem hier von ihr mitgeteilten Fall wirklich um eine schlimme Situation handelt. 18 P: Na ja das da gibts ja a eingesetzte Kräfte Diese Äußerung ist sehr aufschlussreich, denn sie indiziert die Annahme des Polizeibeamten, dass in diesem Fall nicht unbedingt polizeiliche Hilfe gebraucht wird, dass es doch auch eingesetztes Ordnungspersonal des Veranstalters gibt, das helfen kann. Damit weicht er zum dritten Mal deutlich vom Normalfallmodell ab, denn die Anruferin hat mit keinem Wort zu verstehen gegeben, dass die aktuelle Krise anders als durch eine polizeiliche Intervention zu bewältigen ist. Doch genau dies unterstellt der Polizeibeamte, womit er im Sinne von there is someone other than the police to turn to88 argumentiert, wobei er offensichtlich nicht sieht, dass es die originäre Aufgabe der Polizei ist, Gefahren abzuwehren und Straftaten zu verfolgen. Im Prinzip hätte hier die Anrufende ihm sagen müssen: ,Sie kümmern sich jetzt um diesen Fall oder ich werde mich hier beschweren‘, damit sich der Polizeibeamte endlich angemessen verhält. 19 A: Hm Das macht sie aber nicht, wie Zeile 19 zeigt. 20 P: also ich hab schowieder enn Notruf, (0,5) ge Die anschließende Äußerung des Polizeibeamten dokumentiert, dass sich die Situation durch den neuerlichen Notruf für ihn nun verschärft. Zudem kann man aus ihr ableiten, dass der Polizeibeamte den jetzigen Anruf zwar durchaus als Notruf ansieht, aber eher in einem formellen Sinne, was erkennen lässt, dass er für die Notrufhandhabung nicht hinreichend kompetent ist und dringend einer Nachschulung bedarf. 21 A: Ja Die Anruferin antwortet hierauf entsprechend ihrer vorherigen Reaktionen mit „Ja.“. Sie hat aufgegeben. 22 P: ºgut wiederhörnº 23 A: ººgut wiederhörnºº Der Fall endet dann mit der wechselseitigen Verabschiedung, wobei die von der Anruferin sehr leise gesprochene Verabschiedung unterstreicht, dass 88
Vgl. hierzu Shneidman (1967).
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
sie resigniert hat, was verständlich ist, wenn man den Verlauf des Gespräches bedenkt. Ergebnis In diesem Fall sind mehrere Handlungsfehler des Polizeibeamten enthalten, die sich für einen Rezeptionsvergleich anbieten. Zum einen die beckmesserische Grußkorrektur in Zeile 03 und die nicht unmittelbar auf die Klärung des Falles bezogene Handlungsweise. Zweitens das apodiktische „nich möglich“ in Zeile 11, mit dem der Polizeibeamte sein Ressourcenproblem zum Problem der Anrufenden werden lässt, anstatt ihr zuzusichern, so schnell wie möglich Einsatzkräfte vor Ort zu schicken, und entweder Einsatzkräfte vom Unfallort abzuziehen oder über Funk von der Nachbardienststelle anzufordern. Und der dritte Fehler besteht darin, dass der Polizeibeamte in Zeile 18 davon ausgeht, dass die aktuelle Krise auch noch anders als durch polizeiliche Intervention bewältigt werden könnte, während er wie selbstverständlich (habituell) davon hätte ausgehen müssen, dass bis zum Beweis des Gegenteils eine polizeiliche Intervention erforderlich ist. Handlungsfehler 1. Die beckmesserische Grußkorrektur in Zeile 03 und die nicht unmittelbar material sachbezogene Handlungsweise im Anschluss daran. 2. Das apodiktische „nich möglich“ (im Sinne von ,geht nicht‘) in Zeile 11, womit der Polizeibeamte sein Ressourcenproblem zum Problem der Anrufenden macht. 3. Der Hinweis auf andere Kräfte in Zeile 18, der die Annahme des Polizeibeamten impliziert, dass die aktuelle Krise auch ohne polizeiliche Intervention bewältigt werden kann.
14. Fall 6: Mopedunfall vor Weida 01 A: Schön guten Tach89_ hier_ ich bin uf da zweiundneunsch kurz vor Weida. Da liecht än Schwerverletzter uf der Stroße. Moped_ äh unfall mit em PKW, äh.90 Ich beginne mit der sequenzanalytischen Betrachtung im Anschluss an den ersten Turn.91 89 Wenngleich der Anfang nicht protokolliert ist, also am Material nicht beobachtet werden kann, was der Angerufene sagte, kann man aus der Response des Anrufenden rückschließen, dass er wahrscheinlich auch „Notruf“ oder „Polizeinotruf“ sagte, also diese relativ aufwendige, ornamentierte Begrüßung der Tatsache geschuldet ist, dass von der polizeilichen Seite die Eröffnung praktischer Kommunikation unterlassen wurde.
14. Fall 6: Mopedunfall vor Weida
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An dieser Sequenzstelle ist klar, dass sich auf der Bundesstraße 92 ein Verkehrsunfall zwischen einem Moped und einem PKW ereignet hat, bei dem eine Person schwer verletzt wurde. Wenngleich nicht mitgeteilt wurde, ob es sich bei dem Schwerverletzten um den Moped- oder den PKW-Fahrer handelt, kann man erschließen, dass es sich wahrscheinlich um den Mopedfahrer handelt. Da unabhängig von der Frage, wer schwer verletzt wurde, unzweifelhaft feststeht, dass ein emergency-Fall92 vorliegt, muss der Polizeibeamte, um die Rettungsleitstelle gezielt informieren zu können, nur noch fragen, aus welcher Richtung kurz vor Weida sich der Unfall ereignet hat. 02 P: Die 92 Richtung? Diese Frage stellt nun auch der Polizeibeamte, wenngleich die elliptische Formulierung die Gefahr birgt, dass der Anrufer nicht augenblicklich erfasst, dass der Polizeibeamte wissen will, ,aus welcher Richtung kurz vor Weida sich der Unfall ereignet hat‘, und er aus diesem Grund nachfragt und dadurch wertvolle Zeit verloren geht. 03 A: Die zweiunneunsch kurz vor Weida Gera Richtung Weida Wie aus der Antwort zu ersehen ist, hat die Frage funktioniert. Der Anrufer hat verstanden, was der Polizeibeamte von ihm wissen muss. Damit ist die Sachlage klar. Der Unfall hat sich, in Langschrift formuliert, auf der B 92 – aus Richtung Gera gesehen – kurz vor Weida ereignet. 04 P: Ja. Da liecht en Schwerverletzter? Statt nun, nachdem klar ist, wo sich der Unfall genau ereignet hat, unverzüglich die Rettungsleitstelle zu informieren und zusätzlich eigene Kräfte vor Ort zu schicken, stellt der Polizeibeamte eine von der Sache her unnötige, weil Zeit verbrauchende Kontroll- oder Rückversicherungsfrage. 90
Von der Arbeitsgruppe benutzte Transkriptionssymbolik: Anrufer Polizeibeamter – fortlaufende Ordnungsnummern – kennzeichnet eine Frage, die im Text als Aussage formuliert wurde – sehr kurze Pause, d. h. merkliche Unterbrechung des Sprech-Flusses – fragliche Entzifferung der Bandaufnahme Schneller Anschluss einer nachfolgenden Äußerung, oder auch schnelles Sprechen innerhalb einer Äußerung – Pause, Dauer in Sekunden 91 Mit dem die studentische Fallverschriftung begann. 92 Emergency heißt: „Serious happening or situation needing prompt action“. Oxford Advanced Learner’s Dictionary of Current English (1974), S. 286. [Hervorhebung durch T. L.] A P 01.. (?) _ /../ =
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
05 A: Ä Schwerverletzter. = Der kann sich kaum mehr regen. = \. . . Wenngleich es an dieser Stelle durchaus nachvollziehbar gewesen wäre, wenn der Anrufer dem Polizeibeamten daraufhin geantwortet hätte, dass er dies doch bereits zu Beginn gesagt habe, geht er relativ ruhig auf die Frage des Polizeibeamten ein, noch einmal wiederholend, dass es sich um einen Schwerverletzten handelt, wobei seine Beschreibung „der kann sich kaum mehr regen“ indiziert, dass er nicht weiß, wie er den Fall genauer beschreiben soll, was man von einem medizinischen Laien93 auch nicht erwarten kann. 0594 A: . . ./ Wir /ham ’nen jetzt aus der Piste gehoubn. \. . . Im Anschluss schildert er, dass bereits mehrere Personen den Schwerverletzten schon von der Straße runter gehoben haben. Was sie aus medizinischer Sicht wegen der Gefahr einer Querschnittslähmung vielleicht besser nicht getan hätten. Schwerverletzte soll man möglichst bis zum Eintreffen ärztlicher Hilfe an der Unfallstelle unverändert liegen lassen und nur dafür sorgen, dass sie atmen können und nicht an Erbrochenem ersticken. 05 A: . . ./ Könntn se da ma jemand schicken? Die zweisekündige Pause, die man konversationsanalytisch als ,slot‘ für die Übernahme des Gesprächs bezeichnen kann, indiziert, dass der Anrufer offensichtlich erwartete, dass der Polizeibeamte das Gespräch übernimmt, was er aber nicht macht. Daraufhin stellt der Anrufer eine Frage, die er nicht hätte stellen müssen, wenn ihm der Polizeibeamte zuvor schnellstmögliche Hilfe zugesagt hätte. 06 P: = Also das ist im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall? Ja? Diese Frage ist nun wirklich überflüssig. Denn genau dies hatte der Anrufer bereits klar expliziert. 07 A: Jaja, = Jaja. Woraufhin denn auch der Anrufer ungeduldig wird und er den Polizeibeamten implizit zum schnellen Handeln auffordert. So im Sinne von: ,Hab ich doch alles schon gesagt, machen Se schnell!‘ 93
Zum Begriff des Laien formuliert Ickler (1981), S. 63: „Der Laie drückt (. . .) auf seine gemeinsprachliche Weise nur ziemlich vage aus, was er jeweils meint . . .“. 94 Ich habe hier die studentische Turn-Nummerierung beibehalten, da sich der im nachfolgenden Kapitel durchgeführte Rezeptionsvergleich auch auf einen Turn bezieht, wenngleich die Studenten von „Zeile“ sprachen. Vgl. hierzu Kapitel D., Fußnote 29.
14. Fall 6: Mopedunfall vor Weida
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08 P: Ja,_ wie isn ihr Name? Während es allerspätestens jetzt erforderlich gewesen wäre, dem Anrufer mitzuteilen, dass die Rettungsleitstelle informiert wird, stellt der Polizeibeamte nun eine Frage, die material nichts zur Bewältigung der Krise beiträgt, sondern lediglich einer formalen Handlungsrationalität folgt, was aufgrund des dadurch bedingten Zeitverlustes katastrophale Folgen haben kann.95 Denn den Namen des Anrufers braucht der Polizeibeamte nur für die Bürokratie, für den Bericht. Wie bereits im dritten Fall, misslingt der Spagat zwischen Krisenbewältigung und Bürokratie, dominiert die formale über die materiale Rationalität. 09 A: /Hä is/ der Herr Klaus, bin LKW-Fahrer, ich muß aba die Kreuzung hier räumen. Das ist ein klassisches Beispiel für das, was man in der Sprachwissenschaft als „restringierten Code“ bezeichnet. Der Anrufer spricht auf einem geringen Abstraktionsniveau, sehr konkretistisch, ohne klare Signalisierung der subjektiven Intention seiner Formulierungen.96 So kann man nur erschließen, dass er offensichtlich an der Unfallstelle angehalten hat und erst mal – wahrscheinlich ganz vernünftig – eine Absperrung errichtet hat, um zu verhindern, dass dort noch weitere Unfälle sich ereignen. Nun jedoch muss er die Straße räumen, weil in der Zwischenzeit ein Stau entstanden ist. Indirekt sagt er dem Polizeibeamten, nun beeile dich mal. Interessant ist, dass er diese bürokratische Abfragerei nicht mitmacht. Er ist einer der wenigen Anrufer, die zumindest implizit zu verstehen geben, dass die Praxis der Krisenbewältigung Vorrang vor der Bürokratie hat, dass keine Zeit für die Klärung bürokratischer Details vorhanden ist, weil die Praxis drängt. 10 P: Ja, ich äh._ Sie bleiben aber mit dort da Herr Klaus? Man merkt richtig, dass der Polizeibeamte leicht aus dem Konzept kommt, wie er krampfhaft versucht, den Anrufer am Unfallort zu halten. 95 Eine genaue Analogie gibt es, wie Oevermann/Simm (1985) in ihrer BKA-Studie herausgearbeitet haben, bei der kriminalistischen Ermittlung, wo in der Doppelstruktur von subsumtionslogisch formal-rationaler Aktenverwaltung und sachhaltigem Ermittlungshandeln das sachhaltige Ermittlungshandeln tendenziell totgeschlagen wird durch den formal-rationalen, bürokratischen Komplex: „. . . von der Sache her (besteht) ein strukturimmanenter Widerspruch zwischen der Logik kriminalistischen Handelns einerseits und der bürokratisch-administrativ geforderten Standardisierung von Verfahren andererseits, zwischen der materialen Rationalität fallspezifischer Rekonstruktions- und Deutungsarbeit einerseits und der formalen Rationalität schematisierter bürokratischer Formen der Erledigung von Vorgängen andererseits.“ Ebd., S. 292. 96 Vgl. hierzu Oevermann (1972), S. 185. Zum restringierten Code grundlegend Bernstein (1970), S. 19 ff.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
11 A: Ich bleib dort. Ich hab aber nichts gesehen. Ne. Der auch zusagt, am Unfallort zu bleiben, dabei aber zugleich darauf hinweisend, dass er kein Unfallzeuge war und entsprechend auch keine Angaben zum Unfallhergang machen kann. 12 P: Nee nee, is richtig, aber_ wir sind sofort dort. Damit ist klar, dass der Polizeibeamte den Anrufer nicht als Zeugen benötigt, sondern weil er dessen Personalien für den Bericht erheben muss. 13 A: Alles klar! Okay. Worauf dann der Anrufer zu verstehen gibt, am Unfallort zu bleiben. Ergebnis Der Polizeibeamte handelt nach dem ersten Turn falsch. Denn statt unverzüglich die Rettungsleitstelle zu informieren und polizeiliche Einsatzkräfte vor Ort zu entsenden, hat er offensichtlich, wie seine Sprechakte in den Turns 04 und 06 indizieren, Probleme, die Krise so zu erfassen, dass dies für sein Handeln im Sinne einer zügigen Beilegung der Krise folgenreich wäre. Zudem wird er im Verlauf der Fallhandhabung immer bürokratischer, wie seine Frage in Turn 08 zeigt, mit der er in Langschrift formuliert fragt: Wer ist denn der Mitteiler oder Melder des Falles? Dass der Fall nicht noch länger bürokratisch abgehandelt wurde, ist im Grunde genommen das Verdienst des Anrufers, der in Turn 09 offensichtlich antizipiert, in welche Richtung der Polizeibeamte fragen will. Deshalb weist er ihn vorbeugend darauf hin, dass er die Kreuzung zu räumen habe, was man interpretieren kann als: Die Praxis hat Vorrang vor bürokratischen Fragen. Wie der Beginn von Turn 10 zeigt, kommt der Polizeibeamte daraufhin leicht aus dem Tritt, wobei man an seinen nachfolgenden Äußerungen erkennen kann, dass er den Anrufer auf jeden Fall (fast zwanghaft) vor Ort halten will, was dieser auch zusagt. Aus dem Text geht nicht hervor, ob der Polizeibeamte die Rettungsleitstelle über den Fall in Kenntnis setzte, wenngleich seine Formulierung „wir sind sofort dort“ indiziert, dass in nächster Zukunft gemeinschaftliche Hilfe vor Ort sein wird, und diese Formulierung zur Beruhigung des Anrufers durchaus geeignet ist.97
97 Dass Hilfe herbeigeholt wird oder bereits unterwegs ist, hat für den sich in einer Krise Befindenden oder die Krise Mitteilenden eine tendenziell beruhigende Wirkung. Und dies muss man als Helfer antizipieren und darauf sein Handeln abstellen können. Vgl. hierzu Smentek/Garms-Homolová (1997), S. 57.
15. Fall 7: Hausbrand
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Handlungsfehler 1. Keine umgehende Information der Rettungsleitstelle in Turn 04. 2. Probleme bei der Erfassung der aktuellen Krisensituation in den Turns 04 und 06. 3. Ab Turn 08 geradezu zwanghaft bürokratisches Handeln.98
15. Fall 7: Hausbrand 01 A: (uv) Born (-) Seligental Atzerode (-) brennt ein Haus in 02 Atzero:::de (-) (uv) haus wahrscheinlich oben.99 Ich beginne die Sequenzanalyse im Anschluss an Zeile 02.100 An dieser Sequenzstelle ist klar, dass es sich um einen emergency-Fall handelt. Wenngleich man argumentieren könnte, dass der Anrufer in diesem Fall besser die Feuerwehr angerufen hätte, weil diese originär für Brände zuständig ist, muss bedacht werden, dass die Polizei hier genauso wie in Fällen, in denen ihr medizinische Notfälle gemeldet werden, für die Erstbehandlung strukturell zuständig ist,101 weil es sich bei einem Brand um eine akute Krise beziehungsweise eine akute Gefahr handelt – und die Polizei gesetzlich verpflichtet ist, „die allgemein oder im Einzelfall bestehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren“.102 98
Vgl. Merton (1964), S. 195 ff. Das studentische Original der Notrufvertextung wurde von mir überarbeitet, da es stark von der Tonbandaufzeichnung abwich. Von mir benutzte Transkriptionssymbolik: A Anrufer P Polizeibeamter (-) kurzes Absetzen G a s t a n k betont uv unverständliches Wort ? Frageintonation ja: Dehnung eines Vokals. 100 Wenngleich auch hier wie im vorhergehenden Fall der Anfang nicht protokolliert ist, also am Material nicht beobachtet werden kann, was der Angerufene sagte, kann man aus der Response des Anrufers rückschließen, dass er sich wahrscheinlich auch mit „Notruf“ oder „Polizeinotruf“ meldete, also diese relativ aufwendige, ornamentierte Begrüßung wiederum der Tatsache geschuldet ist, dass von der polizeilichen Seite die Eröffnung praktischer Kommunikation unterlassen wurde. Dass der Angerufene etwas gesagt haben muss, was auf der Tonbandaufnahme nicht enthalten war, kann man aus der Schegloff ’schen „distribution rule for first utterances“ [Schegloff (1968), S. 1076 f.] ableiten. Vgl. hierzu Fußnote 13. 101 Auf diesen Punkt komme ich ausführlich in der Rezeptionsanalyse des Epilepsiefalles zu sprechen. 102 In Thüringen geregelt in § 2 Abs. 1 Polizeiaufgabengesetz (PAG). Aus dieser gesetzlichen Verpflichtung heraus ergibt sich auch die juristisch so genannte Garantenstellung des Polizeibeamten. Hierzu ist im deutschen Rechtslexikon [(1992), 99
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
03 P: Richtisch Die Reaktion des Polizeibeamten indiziert, dass er bereits einen diesbezüglichen Anruf hatte, folglich schon von dem Brand weiß (,Ja, ist schon bekannt‘). Doch auch dann, wenn er schon von dem Brand weiß, rechtfertigt dieses Wissen nicht, so zu reagieren. Der Polizist hätte dem Anrufer sagen sollen: ,Ja, vielen Dank, wir haben schon eine Meldung diesbezüglich erhalten, es ist schon jemand unterwegs‘. Dann hätte er den Anrufer ernst genommen. Doch so ist dies wie eine Lehrerbenotung: ,Ja, Meier, stimmt, richtige Antwort‘. Und damit desavouiert er den gemeinwohlbezogen handelnden Anrufer. Was eine schwere Regelverletzung darstellt und auch hinsichtlich der Bürgerbeteiligung für den polizeilichen Erfolg103 schädlich ist, weil ein Anrufer, der merkt, dass er hier nicht ernst genommen wird, wahrscheinlich ein zweites Mal nicht mehr anrufen wird. 04 A: äh Man merkt, dass der Anrufer nun nicht weiß, was er sagen soll, dass er aus dem Tritt geraten ist, was man auf das Konto der vorhergehenden polizeilichen Reaktion buchen kann. 05 P: Ja die Feuerwehr is unterwegs und äh (-) die Polizei auch Der Polizeibeamte gibt eine ziemlich unfreundliche Antwort. Er hätte sich wenigstens für den Anruf bedanken können, denn der Bürger hat sich im Sinne des Gemeinwohls betätigt. 06 A: Da müßt ihr ma en Finger ziehn (-) \. . . Es erfolgt nun eine Formulierung, die sinngemäß bedeutet: ,Jetzt müsst ihr mal richtig Gas geben‘, ,ein paar Briketts zusätzlich auflegen‘. Die pragmatische Funktion dieser Formulierung104 besteht darin, den Polizeibeamten auf die Eilbedürftigkeit der Situation hinzuweisen und ihn zu schnelBd. 3] zu lesen: „Derjenige, der es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört [und hierzu zählt § 323 c StGB – Unterlassene Hilfeleistung –, wonach jemand bestraft wird, wenn er ,bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbes(ondere) ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist‘; ebd., S. 811; T. L.], ist gem(äß) § 13 StGB nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt. Er muß sich in einer Garantenstellung befinden, die eine Garantenpflicht zur Folge hat. Die G(aranten)stellung kann beruhen auf Gesetz, tatsächlicher Übernahme der Gewähr für ein Rechtsgut, einem besonderen Vertrauensverhältnis oder aus vorangegangenem gefahrschaffenden Tun.“ Ebd., S. 814. 103 Vgl. Oevermann u. a. (1994), S. 258. 104 Die im Bereich der neuen Bundesländer z. B. im Bauarbeitermilieu verwendet wird.
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lem Handeln zu ermahnen, was zum Ausdruck bringt, dass der Anrufer das Bild einer wenig leistungsfähigen Polizei vor Augen hat, die man auf Trab bringen muss.105 07 A: . . ./ Da is en G o a s t a n k daneben (-) mit sechstausend Liddern Jetzt wird deutlich, warum der Anrufer den Polizeibeamten zum schnellen Handeln ermahnt. Denn neben dem brennenden Haus befindet sich nach seinen Angaben ein 6000 Liter fassender Gastank, was das Gefährdungspotential des Brandes dramatisch erhöht und für die Kriseninterventionskräfte unter Umständen eine wichtige neue Information darstellt, sodass der Polizeibeamte ihnen diese dann umgehend über Funk mitteilen müsste, um sie vor der Gefahrenquelle zu warnen. 08 P: G a s t a n k daneben mit sechstausend Lidder Im Unterschied zur dritten Zeile, wo der Polizeibeamte auf die Mitteilung des Anrufers ein „richtisch“ (im Sinne von ,ja, is schon bekannt‘) erwiderte, wiederholt er an dieser Sequenzstelle nur das, was ihm der Anrufer zuvor mitteilte. Im Zusammenhang mit seiner Intonation der ersten Satzpartikel legt seine Wiederholung die Lesart nahe, dass er sich offensichtlich erst selbst klar zu machen versucht, was er bis dahin noch nicht wusste. Dabei ist zu sehen, dass der Polizeibeamte diese wichtige Information wahrscheinlich nicht erhalten hätte, wenn sich der Anrufer durch die Haltung des ,Schon-Bescheid-Wissens‘ davon hätte abhalten lassen, ,nachzulegen‘, sodass man sagen kann, dass auf das polizeiliche Handeln in diesem konkreten Fall zutrifft, was bereits Oevermann/Simm in ihrem BKA-Abschlussbericht106 kritisch zum polizeilichen Telefonhandeln anmerkten: „. . . nicht wenige Einsätze hätten zielgerichteter und erfolgreicher verlaufen können, wenn der Beamte, der einen Hinweis aus der Bevölkerung am Telefon entgegennahm, besser zugehört hätte, sich mehr bemüht hätte, sich durch Hineindenken in die Situation des Anrufers ein anschaulicheres Bild von der gemeldeten 105 Das schlechte Image der Schutzpolizei führte in der DDR zu einer den bundesdeutschen Ostfriesen-Witzen vergleichbaren Kategorie von Vopo-Witzen. Vgl. hierzu auch Behr, der nach der ,Wende‘ den Alltag von Schutzpolizisten in Thüringen beobachtete: „Um ein Verständnis für die Unterschiede früherer und heutiger Handlungsanforderungen zu bekommen, befaßte ich mich auch mit dem Berufsbild und dem Anforderungsprofil der Volkspolizei der DDR. Vermittelt wurde mir der Zugang über einen ,Umweg‘, nämlich als ,Bildungsproblem der Polizei‘. Es tauchten Polizei-Witze in meiner Erinnerung auf, die meine bislang einzige Information über die VP der DDR überhaupt darstellten: in diesen Witzen wurden die Bediensteten der VP in der Tat als ,intellektuell leicht unterbelichtet‘ charakterisiert . . .“. Behr (1993), S. 87. 106 Überschrift des Abschnitts: „Die Bedeutung der Bürgerbeteiligung für den kriminalistischen Erfolg.“
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
Situation zu machen und durch gezieltes, vor allem interessiertes und den Anrufer prinzipiell anerkennendes Nachfragen einen präziseren Eindruck des gemeldeten Ereignisses oder Geschehens zu erhalten und dann entsprechend an die Einsatzbeamten weiterzugeben.“107
09108 A: Nehmt e ma es technische H i l f s w e r k oder irgendsowas mit (-) das tut gleich en Böllerschlag und dann steht hier oben n i x mehr Während der Polizeibeamte die Mitteilung des Anrufers nur wiederholt, ohne die Gesprächsführung zu übernehmen (beispielsweise, indem er sich für die Information bedankt oder die Frage stellt: ,Haben Sie sonst noch irgendeine wichtige Mitteilung?‘) und dann umgehend über Funk die Meldung an die Einsatzkräfte weiterzugeben, nimmt wiederum der Anrufer das Heft in die Hand. Dabei spricht er zu dem Polizeibeamten wie ein Vorgesetzter zu seinem Mitarbeiter, den er instruieren muss, daran zu denken, das Technische Hilfswerk oder ein funktionales Äquivalent einzusetzen, womit er sich im Grunde genommen zum Einsatzleiter macht; darin drückt sich erneut aus, dass der Anrufer kein positives Bild von der polizeilichen Leistungsfähigkeit hat. 10 P: Das letzte Gebäude auf der rechten Seite? Anstatt sich spätestens jetzt beim Anrufer zu bedanken und dann umgehend die eingesetzten Kräfte über Funk über die Gefahrenquelle zu informieren, stellt der Polizeibeamte eine Frage, mit der er offensichtlich abklären will, ob er und der Anrufer auch wirklich über das gleiche Gebäude sprechen, folglich sich der Gastank auch wirklich in der Nähe des brennenden Gebäudes befindet. 11 A: Ja (-) was ma Puff werden soll Was ihm der Anrufer, der offensichtlich gut über die Baunutzung im Ort informiert ist, bestätigt. 12 P: Ja (-) alles klar Der Polizeibeamte signalisiert, dass er verstanden hat. 107 Oevermann u. a. (1994), S. 258 f. Woraus die Autoren für die Polizeiausbildung schlussfolgerten: „Es liegt auf der Hand, daß auch hier ein erschließender, fallverstehender habitueller Zugang zum Daten- und Informationsmaterial eine große Unterstützung böte. Wir halten jedenfalls eine intensive entsprechende Schulung und exemplarische fallbezogene Ausbildung der das Telefon bedienenden Beamten unter diesem Aspekt für eine wenig aufwendige, wirkungsvolle und vielversprechende Maßnahme.“ Ebd., S. 259. In diesem Sinne verstehen sich auch meine Ausbildungsbemühungen. 108 s. Fußnote 84.
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13 A: Leute zieht en Finger Wiederum mahnt der Anrufer zur Eile. 14 P: Wer is denn (-) ihr Name? Anstatt aber nun tatsächlich ,den Finger zu ziehen‘, also umgehend über Funk die brisante Information mitzuteilen, stellt der Polizeibeamte eine Frage, die in diesem Zusammenhang unangemessen ist. Denn wenn ein Gastank mit 6000 Litern in die Luft zu gehen droht, kommt es auf jede Sekunde an.109 Dass er dennoch die Personalien erfasst, kann man damit erklären, dass er die routinisierende Verpflichtung im Kopf hat, die Daten des Mitteilers für das Berichtswesen erfassen zu müssen.110 15 A: B o r n (-) ich bin der letzte (-) wo (-) auch en Anwohner (-) wie der (uv) (-) auf der andern Seite Der Anrufer sagt nicht: ,Ich wohne im letzten Haus‘, sondern er benutzt eine verdinglichende Kürzelsprache (,Ich bin der letzte‘). Er identifiziert sich ganz mit seinem Haus als dem Ort der Sesshaftigkeit seiner Lebenspraxis. 16 P: Ja (-) is klar Statt wenigstens jetzt dem Anrufer für seine Information zu danken und ihm zu versichern, dass die Gefahr beim Einsatz berücksichtigt wird, reagiert der Polizeibeamte lakonisch. 17 A: Schickt da Leute mit (-) irgendwelche woas Spezialisten (-) so ne normale Feuerwehr wird da wahrscheinlich nich reichen Dass dies dem Anrufer nicht reicht, zeigt die anschließende Bemerkung. Er hat offensichtlich wirklich Angst, als Nachbar des brennenden Hauses mit in die Luft zu fliegen. Er sitzt auf heißen Kohlen und ist ziemlich misstrauisch, was die Kompetenz der eingesetzten Kräfte anbetrifft. Deswegen auch die Forderung nach Spezialisten, nach Experten.111
109 Nicht nur bei einer schönen Frau kommt es auf die Sekunde an, wie Johannes Heesters und Peter Alexander sangen, sondern auch beim Polizeinotruf. 110 Und dies verweist auf seine Sozialisation in einer bürokratischen Organisation. Vgl. Adorno (1997 b), S. 447. 111 Ein Misstrauen, was auch damit zusammenhängen kann, dass er ein bisschen viel Fernsehen gesehen hat. Beispielsweise Hans Meiser: „Notruf“. Eine RTL-Sendung, in der dem Fernsehzuschauer in der Logik von Reality-TV besonders dramatische Rettungsaktionen in ungewöhnlichen Notsituationen vorgestellt werden, die – so die Programmankündigung in einer Fernsehzeitschrift – „Schlagzeilen“ machten.
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18 P: Ja is gut Statt dem Anrufer wenigstens jetzt zu versichern, dass er umgehend alles in die Wege leiten werde, reagiert er wiederum lakonisch. 19 A: Okay (-) tschüs Woraufhin der Anrufer nun auch kurz reagiert und das Gespräch mit einem dialektalen „tschüs“ beendet. Ergebnis Der Hauptfehler in diesem Fall besteht darin, dass der Polizeibeamte den Anrufer, der als Bürger gemeinwohlorientiert handelt, desavouiert. Statt nämlich ihm für seine den eingesetzten Kräfte offensichtlich noch nicht bekannte Mitteilung zu danken, behandelt er den Anrufer tendenziell wie ein Lehrer einen Schüler, der gerade eine richtige Antwort gegeben hat. Handlungsfehler 1. Regelverletzung durch Nichtanerkennung der gemeinwohlorientierten Handlungsweise des Anrufers. 2. Keine unmittelbare Weitergabe der für die Lagebeurteilung wichtigen Information.
16. Fall 8: Medizinischer Notruf 01 B112: ---hh—hh---113 02 P: Notruf. 03 B: Ja, ich brauch schnell einen Krankenwagen nach Wittmannsgereud ---hh—hh--04
ähm, mir ist jetzt schnell keine andere Nummer eingefallen.
112 Dies war einer von drei Fällen (N = 20), in denen die Studenten den Anrufer mit der Sigel B (für Bürger) kennzeichneten. In späteren Jahrgängen, in denen ich schon eine gewisse Routine im Umgang mit der Analyse von Notrufen hatte, problematisierte ich den Bürger-Begriff im Unterricht und fragte, ob es nicht begrifflich angemessener wäre, besser nur schlicht von Anrufern zu sprechen, zumal es sich bei denjenigen, die über Polizeinotruf um Hilfe ersuchten, auch um Ausländer oder Asylanten handeln könne, die im rechtlichen Sinne keine Staatsbürger seien, und es natürlich auch hier darauf ankomme, im Sinne der Notrufinstitution zu handeln: der Notruf sei nicht nur für Bürger da, sondern für alle Leute, die in einer akuten Notrufsituation stecken. 113 Von den Studenten benutzte Transkriptionssymbolik: –hh–hh– hörbares Einatmen bzw. Ausatmen [ Beginn einer Überlappung
16. Fall 8: Medizinischer Notruf
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Ich beginne die Sequenzanalyse in Zeile 03. Wie man aus dem Text ersehen kann, bestellt die Anrufende über den Polizeinotruf einen Krankenwagen, wobei sie dem von ihr offensichtlich antizipierten Einwand, dass sie hier aber die falsche Nummer gewählt habe, mit dem Argument vorbaut, dass ihr „jetzt schnell“ in dieser Situation keine andere Telefonnummer eingefallen sei.114 Idealtypisch müsste nun der Polizeibeamte im nächsten Redezug fragen, was der Grund für die Bestellung des Krankenwagens ist und wohin dieser kommen soll,115 wie also die konkrete Notfalladresse lautet, um unverzüglich und gezielt die Rettungsleitstelle informieren zu können. 05 P: [ºWittmannsgereud.º Der Polizeibeamte wiederholt nur leise den Ortsnamen, was indiziert, dass er sich diesen notiert. Indes stellt er keine strukturierende Frage. 06 B: Wittmannsgereud, bei Schwobe, mein Mann der ist total verkrampft –hh–hh] Woraufhin dann die Anrufende von sich aus mitteilt, dass sie sich „bei Schwobe“116 aufhält. Aus ihrer medizinisch-laienhaften Beschreibung ] Ende einer Überlappung ºjaº leise () Äußerungen des Textverschrifters Von mir nach Kontrollhören der Tonbandaufnahme ergänzte Sigelerläuterung: P Polizeibeamter B Bürgerin. 114 In meinem Notrufmaterial, das in den Jahren 1993–1996 aufgezeichnet wurde, gab es nicht wenige Fälle, in denen sich Anrufer in medizinischen Krisenfällen an die Polizei und nicht die eigentlich zuständige Rettungsleitstelle wandten. Hier muss man sehen, dass sich mit der Wende eine kulturelle Veränderung für die Bürger der ehemaligen DDR ergab: Während in der DDR in medizinischen Notfällen die 115 zu wählen war [„DRK-Notruf“, vgl. hierzu Kurze (1978)], wurde diese Nummer nach der Wende durch die 112 ersetzt. Die 112 war in der DDR (wie im Übrigen auch noch regional verschieden bis heute in Westdeutschland) der ,Feuerwehrnotruf‘. Konstant blieb nur die 110 des Polizeinotrufes (in der DDR „VP-Notruf 110“ genannt). Vgl. Meininger/Heyse (1985), S. 69. 115 In der Literatur zur Krisenintervention wird wiederholt darauf hingewiesen, dass man Gespräche durch ein angemessenes Fragen-Stellen führen kann. So schreibt u. a. Fertig (1997 a), S. 331: „Lenke das Gespräch durch gezielte, geschickt plazierte Fragen“. 116 Wenngleich es sich nach dem Prinzip der Wörtlichkeit „bei Schwobe“ auch um eine Ortsbezeichnung handeln könnte, ist diese Lesart dennoch eher unwahrscheinlich, weil die Meldung in diesem Falle viel zu unspezifisch wäre. Und zu unterstellen, dass jemand, der einen Krankenwagen bestellt, so unspezifisch kommuniziert, ist eine extrem unsparsame Lesart. Für den Polizeibeamten in der Praxis, der über lokales Wissen verfügt, stellt sich die Frage ehedem nicht. Er weiß, dass
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
(„mein Mann der ist total verkrampft“) ist zu erschließen, dass ein akuter Krisenfall vorliegt und schnelle medizinische Hilfe erforderlich ist.117 Von daher gilt es nun, keine weitere Zeit zu verlieren. Der Polizeibeamte müsste deshalb im nächsten Zug nach der genauen Adresse (Straße und Hausnummer) fragen, zu welcher der Krankenwagen kommen soll. 07 P: Schrobe? Wie man sehen kann, fragt er stattdessen nach dem ihm mitgeteilten Namen, wobei seine Frage indiziert, dass er den Namen „Schwobe“ phonetisch falsch wahrgenommen hat, also statt des Konsonanten w einen r-Konsonanten hörte, was erwarten lässt, dass die Anrufende noch einmal den korrekt ausgesprochenen Namen wiederholt. 08 B: Äh, äh, äh, Fink118 –hh–hh– Wie man nun sehen kann, kommt die Anruferin durch diese Frage aus dem Rhythmus, ist sie verwirrt, weil sie offenbar nicht davon ausging, dass der Polizeibeamte sich nur vergewissern wollte, den Namen auch richtig verstanden zu haben, sondern die Intention seiner Frage darin sah, den Namen ihres Mannes wissen zu wollen. Daraus lässt sich ableiten, dass es für eine reibungslose Kommunikation besser gewesen wäre, wenn der Polizeibeamte auf die kurze Nachfrage verzichtet und stattdessen die Frage gestellt hätte: ,Wohin genau soll der Krankenwagen kommen?‘. Da nun aber die Irritation entstanden ist, müsste der Polizeibeamte spätestens jetzt die Kommunikation klarer strukturieren. Er sollte mithin nicht auf den Namen „Fink“ eingehen, sondern, um weitere Konfusion zu vermeiden, die Frage stellen, wohin der Krankenwagen kommen soll. 09 P: der heißt Fink? Die Frage des Polizeibeamten führt in eine falsche Richtung, weil der Name des Mannes für die Krisenintervention unerheblich ist. Entscheidend ist der Krisenort, wohin ein Krankenwagen kommen soll. Und dieser befindet sich (wie aus Zeile 06 zu erschließen) „bei Schwobe“.
es sich bei „Wittmannsgereuth“ um ein kleines südthüringisches Dorf handelt und es in der Nähe keinen Ort namens „Schwobe“ gibt. 117 Ein Schluss, der zusätzlich dadurch erhärtet wird, dass offenbar der Mann nicht in der Lage ist, selbst anzurufen, sondern dies stellvertretend für ihn seine Frau unternehmen muss. 118 Von mir gewähltes Pseudonym.
16. Fall 8: Medizinischer Notruf
127
10 B: Ortsstraße 33 Trotz dieser für die Abklärung des Krisenortes ungeeigneten Frage gibt die Anrufende nun von sich aus die Informationen, die hinreichen, damit der Polizeibeamte umgehend die Rettungsleitstelle informieren kann. Fallangemessen wäre es nun, wenn der Polizeibeamte das Gespräch mit der Zusage beenden würde, dass er umgehend die Rettungsleitstelle benachrichtigen und ihrem Mann somit unverzüglich geholfen werde. 11 P: Ortsstraße [33 12119 B:
33] aber sofort der is total verkrampft (fordernde Stimmlage)
Während der Polizeibeamte noch einmal die Angaben wiederholt, was die Lesart nahe legt, dass er sich diese notiert, verweisen die nachfolgenden Äußerungen der Anruferin darauf, dass es ihr nicht schnell genug geht. Sie fordert nachdrücklich, dass sofort etwas geschehen müsse, weil ihr Mann „total verkrampft“ sei, womit sie noch einmal ihre laienhafte Beschreibung des Krankheitszustandes wiederholt. 13 P: Mann ist total verkrampft Statt die Zusage zu machen, umgehend die Rettungsleitstelle über den Notfall zu informieren, bedeutet die Wiederholung des propositionalen Gehaltes des vorhergehenden Sprechaktes wiederum Zeitverlust, der für den sich in einer akuten Krise befindenden Mann erhebliche Folgen haben kann. 14 B: Ja (Erleichterung) 15 P: Äh, ok 16 B: Gut, dankeschön 17 P: Mm. Es kommt nun zu einer relativ schnellen Gesprächsbeendigung, an der allerdings auffällig ist, dass der Polizeibeamte keine explizite Hilfezusage gibt, sondern die Anrufende im Grunde genommen aus dem „äh, ok“ heraushören muss, dass der Polizeibeamte nun das Richtige veranlasst.
119
s. Fußnote 84.
128
C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
Ergebnis Der Polizeibeamte hätte die Anrufende bereits in Zeile 03 fragen sollen, wohin der Krankenwagen zu kommen hat. Da er dies aber nicht macht, sondern nach dem ihm mitgeteilten Namen fragt, kommt es im Anschluss an Zeile 07 zu einer Irritation, die wahrscheinlich nicht entstanden wäre, wenn er stattdessen gleich nach dem genauen Krisenort gefragt hätte. Obwohl der Polizeibeamte bezogen auf ein idealtypisches Notrufhandeln nicht fehlerfrei handelte, machte er indes aber auch keinen gravierenden Strukturfehler. So verwies er die Anrufende in einer akuten medizinischen Krisensituation nicht, wie dies sein Kollege im noch zu besprechenden Epilepsie-Fall120 tat, an die formal zuständige Stelle, sondern übernahm für sie stellvertretend das Informieren dieser Stelle, auch wenn er ihr dies angemessener hätte mitteilen können.121 Handlungsfehler 1. Nachfrage nach phonetisch falsch verstandenem Nachnamen statt Frage nach dem konkreten Krisenort: ,Wohin genau soll der Krankenwagen kommen?‘. 2. Keine explizite Hilfezusage.
120 Im Epilepsie-Fall handelte der Polizeibeamte falsch, weil er ein Kind, das einen medizinischen Notfall mitteilte, an die für solche Fälle zuständige Stelle verwies. Eine Handlungsweise, die man damit erklären kann, dass er bürokratisch zwischen medizinischen und polizeilich relevanten Notrufen unterschied. Die Folge seines Handelns war, dass das Kind noch einmal die Rettungsleitstelle anrufen musste, was in der Krisensituation unnötige Risiken bedeutete, die der Polizeibeamte aber offensichtlich nicht antizipierte. 121 Zur Sensibilisierung für eine notrufangemessene Einsatzzusage instruierte ich die Studenten bei Fallbesprechungen von Schlusssequenzen wiederholt, sich in die Rolle des Anrufers zu versetzen und sich vorzustellen, wie sie es in einer Krise empfänden, wenn ein Polizeibeamte zu ihnen sagte: „Ja, ist gut, kommt mal einer vorbei“ – oder „Äh, ok“ (wie in diesem Fall). Zudem sprach ich mit ihnen im Psychologieunterricht über folgende Sätze Freuds, die ich ihnen zum Thema Einsatzzusage vorlas: „Worte waren ursprünglich Zauber, und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt. Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt der Lehrer sein Wissen auf die Schüler [und manchmal eben auch nicht, wie man an manchen Klausurnoten festmachen könne, so eine mit Lachen erwiderte Bemerkung meinerseits – man sieht: Unterricht war nicht nur eine bierernste Sache, es wurde auch gelacht; T. L.], durch Worte reißt der Redner die Versammlung der Zuhörer mit sich fort [oder predigt die Kirchen leer, auch dies eine mit Lachen quittierte Ergänzung; T. L.] und bestimmt ihre Urteile und Entscheidungen. Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der Menschen untereinander.“ Freud (1982), S. 43.
17. Fall 9: Autounfall
129
17. Fall 9: Autounfall 01 PB: Notruf, bitte122 02 MT: h Ja Bergmann123 mein Name guten Tach äh ich möchte ’n 03
= schwern Unfall melden auf der B 89 Ortsausgang
04
= Hildburgbausen Richtung Hiesel // (0,2) äh Heßberg
Ich beginne die Analyse unmittelbar im Anschluss an Zeile 04.124 Zu diesem Zeitpunkt steht fest, dass sich auf der Bundesstraße 89, zwischen Hildburghausen und Heßberg, ein schwerer Verkehrsunfall ereignet hat. Der Polizeibeamte müsste den Anrufer125 nun im nächsten Turn nach Informationen fragen, die ihm eine gestaltprägnante Lageeinschätzung ermöglichen, um daraufhin die fallspezifisch angemessenen Maßnahmen einleiten zu können. An erster Stelle würde sich hier die Frage anbieten, wie viele Personen verletzt wurden, um die Zahl der benötigten Rettungswagen abschätzen zu können. 05 PB: Moment ne so schnell (-) \. . . Statt aber nun eine für die Konkretisierung des Lagebildes geeignete Frage zu stellen, folgt eine bezogen auf den Sinn der Notrufinstitution geradezu paradoxe Formulierung. Denn der Notruf ist vorgesehen für die Mitteilung akuter Krisen, in der es auf jede Sekunde ankommt. Von daher müsste der den Notruf entgegennehmende Polizeibeamte eher den Anrufer auffordern, schneller zu reden. Dass der Polizeibeamte in der hier protokollierten Weise kommuniziert, zeigt, dass ihm die Mitteilung zu schnell erfolgte, dass er nicht alles mitbekam oder sich so schnell nicht alles merken konnte. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass er zum Zeitpunkt der Ent122
Von den Studenten verwendete Transkriptionssymbolik: Polizeibeamter Mitteiler schneller Sprechanschluss Ein/Ausatmen kurze Pause Abbruch einer Äußerung Frageintonation Überlappende Äußerung Einatmen 123 Von mir gewähltes Pseudonym. 124 Anzumerken ist, dass es auch in diesem Fall dem Anrufer überlassen blieb, die kommunikative Praxis zu eröffnen und damit das nachzuholen, was durch den bloßen Signalaustausch versäumt wurde. 125 Dies ist einer von wenigen Fällen, in denen der Anrufer „Mitteiler“ genannt wurde. PB MT = h (-) // ? [] (s)
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
gegennahme des Notrufs nicht voll konzentriert war, dass er seine Aufmerksamkeit nicht voll auf die Entgegennahme der Krisenmeldung richtete, was bei einem normalen Telefongespräch, bei dem man nicht auf einen Krisenfall vorbereitet zu sein braucht, passieren kann, aber bei einer Institution wie dem Notruf nicht passieren darf.126 06127 PB: . . ./ so \. . . Die Textpartikel „so“ markiert, dass der Polizeibeamte jetzt so weit ist, dass er sich nun gesammelt hat und nun bereit ist, den Fall aufzunehmen,128 was die Annahme bestätigt, dass er mit der falschen Grundhaltung den Notrufhörer abnahm. Denn im Sinne des Normalfalls hätte er auf die Entgegennahme eines Notfalls eingestellt sein müssen und dem Anrufer von Beginn an aufmerksam und schreibbereit zuhören müssen. 07 PB: . . ./ wo war des noma Ortsausgang? Die Frage des Polizeibeamten ist schlecht gestellt, denn wenn der Anrufer korrekt auf sie antworten würde, wüsste der Polizeibeamte immer noch nicht, wo sich der Unfall genau ereignet hat. Der Anrufer müsste schon selber erahnen, was der Polizeibeamte wissen will. 08 MT: Ortsausgang Hibu Richtung Heßberg Dass der Anrufer erahnt, was der Polizeibeamte wissen will, legt die Lesart nahe, dass er außerordentlich konzentriert bei der Sache ist, weil er weiß, dass keine Zeit zu verlieren ist. Hierzu passt, dass der Anrufer in seiner Wiederholung nicht mehr die Langform Hildburghausen benutzt, sondern die regional gebräuchliche, zeitsparendere Kurzform „Hibu“. 09 PB: Hibu Richtung Heß [berg] Dass der Polizeibeamte die Angaben des Anrufers wiederholt, indiziert, dass er sich diese offensichtlich notiert, was die Frage aufwirft, ob von einem Polizeibeamten am Notruf nicht verlangt werden kann, sich bestimmte Dinge im Kurzzeitgedächtnis zu merken, zumindest Sachverhalte, die im 126 Denn, wie Hornschuh [(1990), S. 338] schreibt: „Mit zwei Faktoren muß bei auftretenden Krisen immer gerechnet werden: mit dem Faktor Zeit (Hilfe muß schnell erfolgen.) und mit dem Schutzbedürfnis des Betroffenen.“ Zum Zeitfaktor s. auch Stauß (1990), S. 343; Schneider (1995), S. 46 und 55; Smentek/Garms-Homolová (1997), S. 68. 127 s. Fußnote 84. 128 Zur Auslegung der so-Partikel verweise ich auf die Ausführungen von Leber/ Oevermann (1994), S. 391 f.
17. Fall 9: Autounfall
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unmittelbaren Bezug zur mitgeteilten Krise stehen.129 Ganz abgesehen davon verbraucht das Mitschreiben einfach zu viel Zeit, die für die Einleitung von lebensrettenden Maßnahmen hätte genutzt werden können. 10 MT:
[Ja]
11 PB: So beteiligte Fahrzeuge? (0,5) Das überlappende „ja“ markiert, dass dem Anrufer die Behandlung des Falles zu langsam geht. Diese Äußerung bedeutet eine durchaus von der Sache her berechtigte, allerdings sehr implizite Kritik am polizeilichen Handeln. Denn nachdem der Polizeibeamte alle ortsbezogenen Daten erhalten hat, müsste er spätestens jetzt fragen, wie viele Personen bei dem Unfall verletzt wurden, um so schnell wie möglich die Rettungsleitstelle davon in Kenntnis zu setzen. Er dürfte keine weitere Zeit verlieren, zumal hier jede Sekunde von Bedeutung sein kann. Statt aber nach der Anzahl verletzter Personen zu fragen, folgt der Polizeibeamte einer bürokratisch-formalen Logik und fordert den Anrufer implizit zur Auflistung der beteiligten Fahrzeuge auf, was aber verglichen mit der Frage nach der Anzahl verletzter Personen von absolut nachrangiger Bedeutung für die Bewältigung der Krise ist, denn entscheidend für die Einleitung lebensrettender Maßnahmen ist die Anzahl der verletzten Personen. Dass nämlich bei dem Unfall Personen verletzt wurden und es sich nicht nur um einen Unfall mit einem Blechschaden handelt, präsupponiert nach dem Wörtlichkeitskriterium schon die Bezeichnung ,schwerer Unfall‘. 12 MT: äh zwei PKW Die „äh“-Reaktion des Anrufers indiziert, dass er offensichtlich mit dieser Frage nicht gerechnet hat und kurz nachdenken muss. Aus seiner anschließenden Antwort geht hervor, dass es sich um einen Unfall zweier Personenkraftwagen handelt, die er mit dem Kürzel „PKW“ bezeichnet. Diese Antwort ist sehr präzise, denn während der Polizeibeamte allgemein nach beteiligten Fahrzeugen fragte, antwortet er von sich aus: „zwei PKW“, womit klar ist, dass es sich bei den verunfallten Fahrzeugen um eine bestimmte Kategorie von Fahrzeugen handelt: um Personenkraftwagen und nicht um Lastkraftwagen, Busse, Motorräder oder Fahrräder, um hier nur einige Beispiele zu nennen, die sich unter die Kategorie ,Fahrzeug‘ subsumieren lassen. Spätestens jetzt, nachdem klar ist, dass es sich um einen schweren Verkehrsunfall zweier PKW handelt, müsste der Polizeibeamte im nächsten 129 Das Einüben von Mnemotechniken könnte ich mir durchaus als sinnvolle Ergänzung zum Notruftraining vorstellen.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
Turn nach der Anzahl verletzter Personen fragen, um einschätzen zu können, wie viele Rettungswagen benötigt werden. 13 PB: Heßberg zwei PK // \. . . Doch so fragt er nicht. Vielmehr verschenkt er durch das langsame Mitnotieren des Mitgeteilten wiederum Zeit, die für die Rettung der verunfallten Personen lebenswichtig sein könnte. 14 PB: . . ./ (s) gibt’s Verletzte? Erst jetzt wendet er sich der Frage zu, ob es Verletzte gibt. Wenngleich es sich hier um eine Frage handelt, die man zwar im Sinne der Verifikation einer Vermutung stellen kann, wäre es von der Sache angemessener gewesen, wenn der Polizeibeamte den Anrufer nach der Anzahl der verletzten Personen gefragt hätte. Denn immerhin hatte dieser bereits zu Beginn zu verstehen gegeben, dass es sich um einen ,schweren Unfall‘ handelt, was nach dem Wörtlichkeitskriterium präsupponiert, dass zumindest eine Person verletzt wurde.130 15 MT: Ja ja ja Verletzte Die Antwort des Anrufers lässt sich verstehen im Sinne von: ,Was fragen Sie, ich hab doch gesagt schwerer Unfall. Und schwerer Unfall präsupponiert, dass mehrere Personen verletzt wurden.‘ Unklar ist bis jetzt noch immer, wie viele Personen verletzt wurden, woran sich zeigt, dass der Polizeibeamte besser direkt nach deren Anzahl gefragt hätte. So weiß er immer noch nicht, wie viele Rettungswagen benötigt werden, was allerdings ihm und nicht dem Anrufer anzulasten ist, der nur auf die Frage des Polizeibeamten antwortete, ohne zu antizipieren, dass der Polizeibeamte möglicherweise mit der Frage „gibt’s Verletzte?“ die Anzahl der verletzten Personen in Erfahrung bringen wollte.131
130 Zumindest dann nicht, wenn man, was man nach dem Normalfallmodell tun muss, unterstellt, dass der Anrufer bis zum Beweis des Gegenteils vernünftige Maßstäbe anlegt. 131 Solche Textstellen nutzte ich denn auch, um auf die pragmatische Bedeutung genauer Kommunikation hinzuweisen und dies anhand von Modellen (z. B. de Saussure oder Eco) zu erklären. Das Modell von de Saussure entnahm ich aus der „Kleine(n) Enzyklopädie Deutsche Sprache“ [(1983), S. 349], das von Eco aus dessen Schrift „Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte“ (1977), S. 28 f.
17. Fall 9: Autounfall
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16 PB: (s) Mehrere ja? Die Frage ist merkwürdig, denn der Anrufer hatte mit dem Gebrauch des Plurals in der vorhergehenden Zeile sprachlich eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass es sich um mehrere Verletzte handelt.132 17 MT: Mehrere = ich hab schon äh die 115 probiert \. . . Der Anrufer beantwortet zunächst sehr sachlich die an sich redundante Frage des Polizeibeamten und gibt dann, wie um sich beim Polizeibeamten dafür zu entschuldigen, dass er nun die 110 gewählt habe, zu verstehen, dass er vor dem Anrufen dieser Telefonnummer bereits die „115“ anzurufen versuchte. Zu dieser dreistelligen Zahl ist anzumerken, dass es sich hier um eine Telefonnummer handelt, die in der DDR die Notrufnummer der schnellen medizinischen Hilfe beziehungsweise des „DRK-Notrufs“133 war. Diese Nummer wurde nach der ,Wende‘, zu Beginn der neunziger Jahre, abgeschaltet und durch die 112 ersetzt.134 Aus der Tatsache, dass der Anrufer zunächst die 115 wählte, kann erstens geschlossen werden, dass es ihm um das Herbeirufen medizinischer – und nicht polizeilicher135 – Hilfe ging und er nur versehentlich beim Polizeinotruf ,gelandet‘ war, sowie zweitens, dass es sich beim Anrufer um einen Bürger der Ex-DDR handelte, der bis zum Zeitpunkt seines Anrufes noch nicht bemerkt hatte, dass sich im Bereich des Notruf- oder Rettungswesens ein gesellschaftlich-kultureller Wandel vollzogen hatte.136 18 MT: . . ./ aber da hört kenner Dass der Anrufer von diesem Wandel noch nichts weiß, bestätigt sich hier, wobei die Formulierung erkennen lässt, dass er als Motiv für das Nichterreichen der angerufenen Stelle einen bürokratischen Schlendrian un132 Die Frageformulierung des Polizeibeamten indiziert (was sich im Übrigen auch aus seiner ungenauen Fragestellung in Zeile 13 schlussfolgern lässt), dass er sprachlich unbeholfen ist. Dies lässt ihn für den Notruf tendenziell ungeeignet erscheinen, falls keine kompensatorischen Maßnahmen (Fortbildung, Qualifizierung) ergriffen werden. 133 Meininger/Heyse (1985), S. 69. 134 Die Nummer der Rettungsleitstelle. 135 Denn diese Nummer war auch in der ehemaligen DDR die 110. Vgl. Meininger/Heyse (1985), S. 69: „. . . man erreicht die Volkspolizei über die Fernsprechverbindung des VP-Notrufes 110, der für alle Orte der DDR einheitlich ist.“ Lesenswert hierzu auch die Diplomarbeit von Oschatz u. a. (1998). 136 Der Anruf erfolgte im Jahr 1996, drei Jahre nach Abwicklung der 115. Dass der Anrufer, der sich ansonsten durchaus kompetent zum Absetzen eines Notrufes zeigte, von dieser Umstellung nicht wusste, spricht nicht für die PR-Arbeit im Bereich des Rettungswesens.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
terstellt. So nach dem Motto: ,Ich habe da anzurufen versucht, aber da hört keiner, weil die mal wieder schlafen oder mit irgendetwas anderem beschäftigt sind.‘ 19 PB: Mehrere Verletzte (0,3) h Verletz // ihren Namen brauch ich dann als Meldender Statt spätestens jetzt nach der Anzahl der verletzten Personen zu fragen und dann umgehend die Rettungsleitstelle zu benachrichtigen und Polizeikräfte zum Unfallort zu entsenden, handelt der Polizeibeamte nun endgültig bürokratisch. Denn nachdem er noch einmal laut vor sich hinsprach, was er offensichtlich gerade mitschrieb, was schon ein an sich bezüglich einer angemessenen Krisenintervention unsinniges Handeln darstellt, weil das Mitschreiben jedes Details viel zu zeitraubend ist, fordert er nun den Anrufer auf, seinen Namen zu nennen, den er, so kann man erschließen, für das Ausfüllen des Neuigkeitsbogens – also für die Durchführung einer bürokratisch-formalen Erledigungshandlung – braucht. 20 MT: Ja Bergmann 21 PB: Bergmann mit Berta ja? 22 MT: Ja 23 PB: Bergmann (0,6) Vorname? 24 MT: Horst (0,2) 25 PB: Horst = sie wohnen wo? 26 MT: Hibu 27 PB: Hibu weiter? 28 MT: Altbauer Straße 20137 29 PB: Theodor Altbauer Straße 20 30 MT: m Es folgt nun das Abspulen einer bürokratischen Frageroutine, wobei die Pedanterie, die der Polizeibeamte bei der richtigen Schreibweise des Anrufernamens und der vollständigen Protokollierung des Straßennamens an den Tag legt, an Robert Mertons Beschreibung des „bureaucratic virtuoso“138 erinnert, der Polizeibeamte also wie eine „bureaucratic personality“139 137 138 139
Angaben wurden von mir maskiert. Merton (1964), S. 199. Ebd., S. 195 ff.
17. Fall 9: Autounfall
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handelt, die überkonform auf die Einhaltung geforderter Berichtsstandards achtet und aus diesem Grund unfähig ist, dem Klienten sachangemessen zu helfen.140 31 PB: h so ich schick ihnen sofort DRK raus und 32 [mir komm auch ge ] Die Formulierung ist in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich. Erstens, weil das „ich schick ihnen“ zeigt, dass der Polizeibeamte überhaupt nicht erkannt hat, dass der Anrufer als Bürger gemeinwohlorientiert in Tätigkeit tritt und stellvertretend für andere medizinische Hilfe anfordert. Zweitens, weil das „sofort“ (objektiv) authentischer Ausdruck eines (subjektiv) falschen Notrufbewusstseins ist. Denn „sofort“ bedeutet in diesem Zusammenhang, ,jetzt‘, nachdem die bürokratischen Daten erfasst wurden. Und das war in diesem Krisenfall viel zu spät. Drittens, weil die Formulierung „DRK“ zur 115 passt,141 also nicht nur der Anrufer in der ,alten‘ DDR sozialisiert wurde, sondern auch der Polizeibeamte, bei dem es sich offensichtlich um einen ,alten‘ Volkspolizisten handelt. Viertens, weil der Polizeibeamte eine Einsatzzusage macht, obwohl er noch gar nicht in Erfahrung gebracht hat, wie viele Verletzte es sind, also eine für die Entsendung einer hinreichenden Zahl von Rettungswagen entscheidende Information142 nicht erhoben hat. Und fünftens, weil er unbestimmt lässt, wann Polizeikräfte entsandt werden. 33 MT: [m m]
[okay]
34 PB:
[gut ]
35 MT:
[wiederhörn] [alles
]
klar ja danke
Es folgt nun eine geregelte Gesprächsbeendigung, bei der auffällig ist, dass der Anrufer ruhig und sachlich bleibt, obwohl der Polizeibeamte wie 140 Jemand „who never forgets a single rule binding his action and hence is unable to assist many of his clients“. Ebd., S. 199 f. 141 Auf einem alten Telefon, das ich von einem Absolventen geschenkt bekam, stand u. a.: „115 Rotes Kreuz“. Vgl. hierzu auch Meininger/Heyse (1985), S. 69: „Notrufmelder gibt es nur in bestimmten Städten unserer Republik. Ebenso schnell erreicht man die Volkspolizei über die Fernsprechverbindung des VP-Notrufes 110, der für alle Orte der DDR einheitlich ist. Gleiches gilt für den Feuerwehrnotruf 112 und den DRK-Notruf 115.“ 142 „Ein Unterschied, der einen Unterschied ausmacht“, wie man im Anschluss an Gregory Bateson [(1985), S. 582] formulieren kann.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
ein Oberbürokrat handelte, der durch sein stereotypes Handeln143 den konkreten Krisenfall aus dem Blick verlor und dadurch wertvolle Zeit für die rechtzeitige Rettung von Leben vergeudete. Ergebnis Der Fall ist als eine schwere Pflichtverletzung des Polizeibeamten am Notruf zu werten, geht man vom idealtypischen Modell eines Notrufes aus. Denn es wird zu viel Zeit (u. a. durch bürokratische Fragen) vertan, bis eine Intervention eingeleitet wird, wobei ungeklärt bleibt, wie viele Personen verletzt wurden, und somit nicht klar ist, wie viele Rettungswagen vor Ort zu entsenden sind. Diese Information hätte der Polizeibeamte vom Anrufer unbedingt ,rausholen‘ müssen. Dies nicht getan zu haben, ist ein gravierender Fehler. Ein anderer, im Vergleich dazu weniger bedeutender Fehler besteht darin, dass der Polizeibeamte überhaupt nicht erkannt hat, dass es sich hier nicht um eine Leistung für den Anrufer handelt, sondern dieser vielmehr gemeinwohlorientiert als Bürger in Tätigkeit tritt, weswegen es angemessen gewesen wäre, sich bei dem Anrufer zu bedanken, was der Polizeibeamte aber unterlässt. Womit er objektiv nichts dazu beiträgt, das Image einer höflichen,144 bürgernahen145 Polizei zu stärken. Handlungsfehler 1. Nicht aufnahmebereit (falsche Grundhaltung). 2. Unpräzise Frageformulierungen (Anzahl der verletzten Personen wird nicht erhoben). 3. Bürokratisches (statt krisenbezogenes) Handeln. 4. Keine Anerkennung der objektiv gemeinwohlorientierten Handlungsweise des Anrufers.
143 „Stereotyped behavior is not adapted to the exigencies of individual problems.“ Merton (1964), S. 202. 144 „Höflichkeit ist neben allen der heutigen Polizei zur Verfügung stehenden rechtlichen oder technischen Mitteln das menschlich Wirksamste, weil echte Höflichkeit ,entwaffnet‘ und dadurch Konfliktsituationen entspannt und darüber hinaus noch erzieherischen Wert hat“, schreibt Hunold (1968), S. 147. Des Weiteren Dietel (1986), S. 381; von Schwerin (1993), S. 147. 145 Vgl. hierzu die Beiträge von Amft/Schmidt (1995), S. 2 ff.; Kuhleber (1995 b), S. 7 ff. oder Schipper (1995), S. 25 ff.
18. Fall 10: Unfallflucht
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18. Fall 10: Unfallflucht 01 P: Polizeinotruf
hallo146
02 A: Öh Entschuljung bin ich eh mit dar Polizei Jena verbundn? 03 P: No hier is der Polezeinotruf 04 A: Jena ja? 05 P: Jaja Die Sequenzanalyse beginnt im Anschluss an Zeile 05, nachdem für den Anrufer klar ist, dass er die Stelle erreicht hat, mit der er sprechen wollte.147 06 A: Ich befinde mich jetz hier zwischen eh Lobeda un dar Stadt \. . . Der Anrufer beginnt nun mit der Kontextuierung des Falles, aus der zu erschließen ist, dass er sich momentan zwischen Lobeda und der Altstadt von Jena befindet, wo sich, wie man im Sinne des Normalfallmodells unterstellen muss, ein emergency-Fall ereignet hat. 07148 A: . . ./ wir hattn ebn hier nen Fahrradunfall \. . . Nachdem der Anrufer zunächst das Personalpronomen der ersten Person Singular gebrauchte, um seinen gegenwärtigen Standort mitzuteilen, verwendet er nun das Personalpronomen der ersten Person Plural. Er sagt nicht, ,ich hatte eben einen Fahrradunfall‘, sondern „wir hatten eben einen Fahrradunfall“. Was kann dies nun bedeuten? Zunächst einmal kann man daraus formal schlussfolgern, dass er damit (a) mindestens zwei Personen meint, es aber auch (b) mehr Personen sein können.
146
Von den Studenten verwendete Transkriptionssymbolik: Polizeibeamter Anrufer (männliche Person, ca. 30 Jahre alt) Kennzeichnung einer Gesprächsüberlappung. mir benutztes Zeichen ? Frageintonation. 147 Wiederum – wie bereits zuvor in den Fällen 4 und 5 – kann man aus den Schwierigkeiten, die der Anrufer mit der abstrakten Meldung „Polizeinotruf“ hat, ableiten, wie wichtig es wäre, die Kommunikation so einzurichten, dass sich der Anrufer bereits mit der Eröffnung des Polizeinotrufes durch den angerufenen Polizeibeamten richtig aufgehoben fühlt, was beispielsweise dann der Fall wäre, wenn der Polizeibeamte den Anrufer nach Vorstellung mit Namen und Dienstgrad fragte: ,Wie kann ich Ihnen helfen?‘. 148 s. Fußnote 84.
P A [] Von
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
Im ersten Fall (a), in dem der Anrufer mit dem Personalpronomen wir auf zwei Personen referierte, könnte er als kompetentes Mitglied der deutschen Sprachgemeinschaft, das über ein intuitives Wissen über sprachliche Regeln verfügt, nur dann regelgerecht formulieren: ,wir sind eben verunglückt‘, wenn er selbst mit in den Unfall verwickelt wäre. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn er mit seiner Frau auf einem Tandem gefahren und hierbei gegen einen Baum geprallt wäre. So könnte er aber nicht regelkonform formulieren, wenn man das Beispiel nur geringfügig abwandelte: Anrufer und Ehefrau fahren auf zwei separaten Fahrrädern nebeneinander, bis unversehens die Ehefrau die Kontrolle über ihr Fahrrad verliert und gegen einen Baum prallt. In diesem Fall würde der Anrufer formulieren: ,Meine Frau ist eben verunglückt‘ – und nicht sagen: ,Wir sind eben in den Graben gefahren.‘ Im zweiten Fall (b), in dem der Anrufer mit dem Personalpronomen wir auf mehr als zwei Personen referierte, wäre es für eine regelkonforme Verwendung nicht notwendig, dass er selbst in den Unfall verwickelt wäre. Voraussetzung für den korrekten Gebrauch des „wir“ wäre hier nur, dass sich der Anrufer als zugehörig zu einer Gemeinschaft sähe. So könnte er mithin von „wir“ sprechen, wenn er zum Ausdruck bringen wollte: ,Wir hier 1. in unserem Dorf, 2. in unserer Straße oder auch 3. in unserer Fahrradgruppe hatten eben einen Fahrradunfall‘. In diesem Fall bedeutete wir: Der Anrufer rief stellvertretend für eine Gemeinschaft an und teilte der Polizei mit: ,einer von uns hatte eben einen Fahrradunfall‘. 08 A: . . ./ da isn Fahrar im weißn VW Passat J FE149 sechsnzwanzig der is offn Fahrradweg eh zurückgeschobn un da gabs nen Unfall \. . . Während aus der Darstellung des Anrufers bis dahin nicht hervorgeht, wie man sich den Fahrradunfall vorzustellen hat, um einen Zusammenprall zweier Radfahrer, wie ihn Max Weber beschrieben hat,150 oder um eine Kollision mit einem anderen Fahrzeug, wird nun deutlich, dass es sich hier 149
Die beiden Buchstaben wurden von mir maskiert. Die genaue Textstelle lautet: „Nicht jede Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters, sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des andern orientiertes eignes Verhalten. Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wären ihr Versuch, dem andern auszuweichen, und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung ,soziales Handeln‘“. Weber (1985), S. 11. 150
18. Fall 10: Unfallflucht
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nicht um den von Max Weber beschriebenen Radfahrerunfall handelt, sondern um eine Kollision zwischen einem auf den Fahrradweg zurücksetzenden Auto und mindestens einem Fahrrad. Auffällig an der ansonsten detaillierten Schilderung des Anrufers ist, dass sie sich ausschließlich auf die Unfallverursacherseite bezieht, also ausschließlich verursacherfixiert ist, hingegen nicht darauf eingeht, ob bei dem Zusammenprall mit dem Auto ein Radfahrer verletzt oder gar schwer verletzt wurde, was aus diesem polizeilich relevanten Unfall zusätzlich einen medizinischen emergency-Fall machen würde. 09 A: . . ./ un der Fahrar is natürlich weg Damit müsste für den Polizeibeamten klar sein, dass ihm hier alltagssprachlich eine Unfallflucht mitgeteilt wird, die einen Straftatbestand darstellt.151 Idealerweise müsste der Polizeibeamte nun in der nächsten Sequenz zunächst fragen, ob bei dem Unfall der Radfahrer verletzt wurde, um dann gegebenenfalls die Rettungsleitstelle zu benachrichtigen, und dann so schnell wie möglich eine Funkfahndung152 nach dem flüchtenden Autofahrer einleiten, wofür er vom Anrufer bereits wesentliche Informationen (Marke, Typ, Farbe und amtliches Kennzeichen) erhalten hat.153 10 P: Der Fahrar is weg? Statt zu fragen, ob jemand bei der Kollision verletzt wurde, stellt der Polizeibeamte hier eine wirklich überflüssige Kontrollfrage, als wollte er vom Anrufer noch einmal bestätigt haben, was dieser zuvor bereits sagte. So nach dem Motto: ,Da sind Sie sich sicher, dass der Fahrer weg ist?‘.
151
142 StGB. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Formulierung „is natürlich weg“ deswegen, weil das, was der Anrufer sagt, von dem abweicht, was von einem Unfallverursacher sowohl rechtlich als auch moralisch-ethisch verlangt wird, nämlich vor Ort zu bleiben, und man somit seine Äußerung als Urteil über den sittlichen Zustand der Gesellschaft interpretieren kann. 152 Zum Thema „Verkehrsunfall mit Flucht (Polizeiliche Fahndung)“ ist in einem Einsatzlehrebuch zu lesen: „Polizeiliche Fahndungsmaßnahmen müssen sich grundsätzlich am Fluchtverhalten des oder der Täter orientieren (. . .) Eine zeitnahe Tatortbereichsfahndung mit allen verfügbaren Kräften begünstigt die Feststellung und Ermittlung des oder der Flüchtigen (. . .) Eine Mitfahndung durch Verkehrsbetriebe, Taxizentralen (. . .) erhöht das Entdeckungsrisiko für den oder die Täter“. Kuhleber (1995 a), S. 81. 153 Ziele polizeilichen Handelns sind in einem solchen Fall u. a. die zeitnahe Ermittlung des Unfallflüchtigen, die Gewährleistung eines beweissicheren Strafverfahrens und die Sicherung der zivilrechtlichen Ansprüche des Geschädigten. Vgl. wiederum Kuhleber (1995 a), S. 81.
140
C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
11 A: Der Fahrar is weg
[ja]
Worauf der Anrufer bestätigt, was er bereits zuvor in Zeile 09 gesagt hatte. 12 P:
[un] wer is da jetz noch mitbeteidscht der Fohrrodforrar?154
Wie die Äußerung des Polizeibeamten indiziert, geht er, was aus der vorhergehenden Mitteilung auch zu erschließen war, von einem Radfahrer aus. Doch statt nun den Anrufer zu fragen, ob der in den Unfall verwickelte Radfahrer verletzt wurde und medizinische Hilfe erforderlich ist, fragt der Polizeibeamte hier sehr abstrakt nach weiteren Mitbeteiligten, was den Anrufer verwirren kann. 13 A: Der Fahrradfahrar ja das Fahrrad is eigentlich im Eimer un eh Wie man hier sehen kann, reagiert der Anrufer darauf tatsächlich verwirrt. 14 P: Un verletzt? Erst jetzt fragt der Polizeibeamte, was er bereits früher hätte fragen müssen. 15 A: Ja verletzt \. . . Der Anrufer bestätigt zunächst, dass der Fahrradfahrer verletzt wurde – 16 A: . . ./ es geht also momentan \. . . – und gibt dann zu verstehen, dass zumindest im Augenblick die Situation für den Verunfallten nicht lebensbedrohlich erscheint. 17 A: . . ./ erstmal zu sehn is nichts \. . . Zumindest – so kann man aus der Äußerung des Anrufers erschließen – sind keine äußeren Verletzungen sichtbar, also keine klaffenden Wunden, abgetrennte oder abstehende Gliedmaßen. 18 A: . . ./ aber es sind bestümmt starke Prellungen da \. . . Dieser Hinweis indiziert, dass der Anrufer aber starke Prellungen nicht ausschließt, auch wenn er diese offensichtlich nicht selbst gesehen hat, sondern aufgrund des Unfallhergangs nur vermutet. 154
s. Fußnote 84.
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19 A: . . ./ aber wir brauchn off jeden Fall keinn eh keinn Arzt oder so erstemal Dennoch, so wird durch das die nachfolgende Formulierung des Anrufers einleitende adversative „aber“ deutlich, lassen es die Prellungen nach seiner Einschätzung155 nicht notwendig erscheinen, dass ein Arzt oder anderes medizinisches Personal vor Ort kommt, wenigstens zunächst nicht. Bedenkt man, dass die Beschreibungen und laienhaften Einschätzungen des Anrufers medizinisch eher unpräzise sind, wird deutlich, wie schwierig es für den Polizeibeamten ist, sich ein gestaltprägnantes Bild von der Lage zu machen und auf dieser Basis die richtigen Entscheidungen zu treffen. Da er am Notruf nicht nicht entscheiden kann,156 muss er abwägen, ob er prophylaktisch die Rettungsleitstelle um die Entsendung eines Krankenwagens ersucht, oder ob er dies unterlässt, weil ihm diese Maßnahme hier nicht notwendig erscheint. Und wie auch immer er sich entscheidet: Er muss seine Entscheidung so treffen, dass er sie auch im Nachhinein begründen kann. Denn „die Einlösung der Begründungsverpflichtung (kann zwar) aufgeschoben werden, sie kann aber nicht aufgehoben werden“.157 Nach dieser Entscheidung müsste er dann gegebenenfalls zunächst die Rettungsleitstelle informieren und sich dann umgehend der Verfolgung der Verkehrsunfallflucht, die eine Straftat darstellt, zuwenden. So wäre eine fahndungsrelevante Frage, in welche Richtung der flüchtende Autofahrer fuhr. 155
Er äußert sich wiederum im Plural, was erschließen lässt, dass er stellvertretend für eine Gemeinschaft spricht. 156 Die Notrufpraxis ist ein Unterfall von autonomer Lebenspraxis. Autonomie der Lebenspraxis bedeutet, dass das Subjekt permanent im Hier und Jetzt der Gegenwart aus einem Set von Handlungsalternativen eine Handlung aussucht und vollzieht. Diese Entscheidungen sind aber keine Funktionen eines Zufallsgenerators, sondern das handelnde Subjekt muss seine Wahl vor dem Hintergrund der Handlungsalternativen begründen können. Dies ist kein Problem, wenn in der Entscheidungssituation selbst schon die Entscheidung begründet ist oder diese sich schon in ähnlichen Situationen bewährt hat (Routine), es sich also nicht um genuine Entscheidungen handelt, sondern Entscheidungen nach einem Richtig-Falsch-Kalkül. Erst in dem Maße, in dem die Entscheidung wirklich offen ist, wird sie auch zu einem Problem, zu einer Krise. Dennoch müssen auch in Krisen Entscheidungen mit Anspruch auf Begründbarkeit getroffen werden. Die Krise ist somit der konstitutionstheoretische Normalfall, auf den bezogen die Routine nur eine Vorkehrung zur Vermeidung der die handelnde Instanz tendenziell überfordernden Dauerkrise ist. Für die Praxis selbst verhält es sich genau umgekehrt: Die Routine ist der Normalfall und die Krise die dramatische, weil unwägbare Ausnahme. Polizeiarbeit zeichnet sich genau dadurch aus, dass sie einsetzt, wenn eine autonome Praxis in der Krise ist. Vgl. hierzu Oevermann (1993 b), S. 258; ders. (1995 a), S. 10 f.; oder ders. (1996 a), S. 9. 157 Oevermann (1997 a), S. 131.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
20 P: Un wo isn das nochmal genau Anstatt aber nun aber nach der Unfallfluchtrichtung zu fragen und dann so schnell wie möglich eine gezielte Funkfahndung einzuleiten, fragt er den Anrufer nach dem genauen Unfallort, den er sich offensichtlich zu Beginn nicht genau gemerkt oder notiert hatte. 21 A: Hier schräg also off dar Richtung in Stadt in de Stadt und schräg 22 gegenübar von der BP Tankstelle 23 P: Also off dar Saaleseite dort? 24 A: Ja
[genau]
25 P:
[wo dar] Fohrradweg is?
26 A: Genau genau da isses mm 27 P: (Ja) In den nächsten Zeilen, die hier abweichend vom strengen Prinzip der Sequenzanalyse betrachtet werden sollen, geht es ausschließlich um die genaue Bestimmung des Unfallortes. Dagegen werden vom Polizeibeamten keine Informationen erfragt, die für die Einleitung einer Fahndung unmittelbar relevant wären; er denkt also nicht fahndungsorientiert, was ein schwerer Handlungsfehler ist, wenn man bedenkt, dass er nichts unternimmt, um eine angezeigte Straftat zeitnah zu verfolgen und den Täter schnellstens dingfest zu machen. 28 A: Und wie solln mar uns da verhaltn solln mar jetz zu ihnn kommn un solln was weiß ich ne Fahndungsmeldung \. . . Die Frage des Anrufers indiziert, dass er im Grunde genommen vom Polizeibeamten Hinweise erwartet beziehungsweise erwartet hatte, wie sich die Gruppe in dieser krisenhaften Situation verhalten soll. Eine Frage, die objektiv eine Kritik am bisher gezeigten Verhalten des Polizeibeamten zum Ausdruck bringt, denn in der Tat sagte dieser bis dahin hierzu nichts. 29 A: . . ./ also ich find das einfach kann nich sein von dem Autofohrar das der da einfach zurückschiebt auf dem Fohrradweg un sich nich einweisen läßt \. . . Der Anrufer ist erkennbar entrüstet über das Verhalten des Autofahrers, der nach seiner Beschreibung rückwärts auf den Fahrradweg fuhr, ohne sich sicherheitshalber einweisen zu lassen – 30 A: . . ./ und einer von den Fahrradfahrern bredderd da einfach drauf \. . ., – dadurch die Ursache für den Unfall setzte –
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31 A: . . ./ ohne dasser sich da irgendwo kenntlich macht un dann noch eh ebm abhaut \. . . – und im Anschluss die Flucht ergriff. 32 A: . . ./ das is ja die Frechheit Der Anrufer bezeichnet das Verhalten des Autofahrers mit der moralischen Kategorie der „Frechheit“. Dies zeigt an, dass es sich bei ihm um einen juristischen Laien handelt, denn de facto stellt dieses Verhalten eine Straftat dar, die zu ermitteln Aufgabe der Polizei ist.158 33 P: Wer is noch vor Ort der Fohrradfohrar un sie ja oder was? 34 A: Ja wir sind insgesamt ne Gruppe von eh jetz noch zehn Leuten Anstatt allerspätestens jetzt zu fragen, in welche Richtung sich der Autofahrer vom Unfallort entfernte, ob in Altstadtrichtung oder in Richtung Lobeda, fragt der Polizeibeamte überflüssigerweise, wer sich noch alles vor Ort befinde. 35 P: Namn noch mal Und fordert dann den Anrufer im Kommisston auf, seinen Namen zu nennen, den er, so kann man erschließen, für sein Formular, also seine bürokratische Routine, benötigt. 36 A: Heinze159 37 P: Heinze 38 A: Heinze ja 39 P: Wart mal isch spresch mal mit den Kollegn eh 40 A: Ja 41 P: in der PI am Steiger wie wir am günstschn verbleibn bleimse ma drann160 Nachdem er sich den Namen notiert hat, fordert er den Anrufer zu warten auf, um sich mit seinen Kollegen aus der Polizeiinspektion besprechen zu können. Diese Handlungsweise ist nun in dreifacher Weise unangemessen: Zum einen duzt er den Anrufer und begeht damit eine elementare Regelverletzung. 158
Nach § 163 StPO, Legalitätsprinzip. Von mir gewähltes Pseudonym. 160 Das anschließende Gespräch mit einem Kollegen der benachbarten PI war auf der Bandaufzeichnung nicht enthalten. 159
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
Zweitens verwendet er hier ein polizeispezifisches Kürzel für Polizeiinspektion, was für den Anrufer verwirrend sein dürfte. Und drittens kündigt er hier eine Beratungsrunde am Notruf an und verwandelt damit potentiell eine im Polizeijargon so genannte „Sofortlage“, in der schnelles Handeln erforderlich ist, in eine „Zeitlage“.161 42 A: Ja danke Im Grunde genommen hätte der Anrufer sich über die bürokratisch langsame Handlungsweise nun beschweren können, was er aber unterlässt.162 43 P: Noch ma den Pkw Typ könnse was dazu sagn? Ausdruck schlechter polizeilicher Handlungspraxis ist auch, dass der Polizeibeamte den Anrufer wiederum im Kommisston auffordert, Informationen zum unfallverursachenden „Pkw“ zu machen, wobei seine Aufforderung indiziert, dass er dem Anrufer zu Beginn des Gesprächs entweder nicht genau zuhörte oder er diese Informationen, weil er sie nicht unmittelbar mitschrieb, im weiteren Gesprächsverlauf vergaß, denn diese Informationen hatte ihm der Anrufer präzise mitgeteilt. 44 A: Ja Pkw Typ warn weißar VW Passat J FE sechsnzwanzig Auch über diese im Grunde redundante Frage hätte sich der Anrufer beschweren können, was er aber nicht macht. Er wiederholt seine Angaben. 45 P: Da kommt jemand raus bleimse ma dort vor Ort ja? Die Formulierung klingt sehr nach ,Abservieren‘. Denn was heißt „jemand kommt raus“? Der Polizeibeamte müsste sagen, wir schicken umgehend eine Streifenwagenbesatzung vorbei. Die Art und Weise, wie er formuliert, passt zu der Eröffnung „Polizeinotruf“ und dazu, dass der Notruf auf das Technische reduziert wird. Es fehlt die personale Kommunikation, denn wenn man sagt „jemand“, ist das unpersönlich, ist das im Grunde genommen abwiegelnd, zumal keine Angaben dazu gemacht werden, wann jemand kommen wird, ob sofort, in einer Stunde oder noch später. Die Formulierung ist noch in weiterer Hinsicht Ausdruck schlechter Handlungspraxis. Erstens, weil sie keinen Dank an den Anrufer dafür ent161 Zu dem in der Kriminalistik und polizeilichen Einsatzlehre gebräuchlichen Begriffspaar vgl. Clages (1997), S. 31. 162 In nur einem von insgesamt 65 Fällen, der mir in verschrifteter Form vorlag, beschwerte sich ein Anrufer über eine polizeilich unangemessene Verhaltensweise. Ansonsten galt die Maxime: Der Obrigkeit widerspricht man nicht.
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hält, dass er mit der Anzeige einer Straftat gemeinwohlorientiert handelte. Und zweitens, weil in ihr ein Hinweis darauf fehlt, dass umgehend nach dem flüchtigen Täter gefahndet werde, um diesen dingfest zu machen, worauf es dem Anrufer vordringlich ankam. 46 A: Alles klar danke Dennoch zeigt sich der Anrufer mit der polizeilichen Aussage einverstanden. 47 P: Gut tschüß Worauf das Gespräch vom Polizeibeamten beendet wird. Ergebnis Im vorliegenden Text sind mehrere polizeiliche Handlungsfehler dokumentiert. Der erste Fehler besteht darin, dass der Polizeibeamte den Anrufer im Anschluss an dessen Mitteilung nicht unmittelbar fragt, ob der Radfahrer verletzt wurde (sondern stattdessen unnötige Kontrollfragen stellt), um daraufhin erforderlichenfalls die Rettungsleitstelle informieren zu können. Der zweite Fehler ist, dass der Polizeibeamte es unterlässt, den Anrufer gezielt nach der Fluchtrichtung des Unfallverursachers zu fragen und ihm dann zuzusichern, dass umgehend eine Funkfahndung eingeleitet wird, um den Täter dingfest zu machen. Der dritte Fehler besteht in der Art und Weise der Kommunikation mit dem Anrufer, den er duzt, womit er eine elementare Regelverletzung begeht, und mit dem er insiderhaft im polizeilichen Kürzeljargon spricht. Der vierte Handlungsfehler besteht darin, dass der Polizeibeamte am Notruf eine Beratungsrunde einlegt, womit er den Fall tendenziell von einer akuten Krise in einen Routinefall verwandelt. Und der fünfte Handlungsfehler besteht in der Art und Weise, wie er die Einsatzzusage formuliert. Denn er benennt in ihr weder, wer „vor Ort“ kommt, noch wann dies geschehen wird. Handlungsfehler 1. Im Anschluss an die Sachverhaltsschilderung des Anrufers erfolgt zunächst keine auf die Verletzung des Radfahrers bezogene Frage. 2. Keine gezielte Frage nach der Fluchtrichtung des Unfallverursachers und keine unmittelbare Einleitung einer Funkfahndung. 3. Art und Weise der Kommunikation mit dem Anrufer (Duzen, Insiderjargon). 4. Verwandlung des Falles von einer Krise in einen Routinefall durch Einlegen einer Beratungsrunde. 5. Unpräzise Einsatzzusage.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
19. Fall 11: Randale am Zeitungskiosk 01 P: Polizei! 163 02 A: Ja eh Ich beginne die Sequenzanalyse im Anschluss an die first line, in der sich die Notruf entgegennehmende Seite wiederum fast naturgesetzlich unpersönlich meldet und dem Anrufenden die komplette Strukturierungslast bei der Krisendarstellung überträgt, was für ihn eine Überforderung bedeuten kann, zumal wenn er sich selbst in einer Krise befindet und hierbei seine sprachliche Leistungsfähigkeit nicht unerheblich eingeschränkt ist.164 Wie die Äußerung von A zeigt, hat sie165 in der Tat Schwierigkeiten, ins Gespräch zu kommen. 03 A: (1.0) kleinen Moment166 Im Anschluss an eine einsekündige Pause, die die Anrufende offensichtlich zur kognitiven Planung ihrer Krisendarstellung benötigt, überraschen die nachfolgenden Worte aus dem Munde derjenigen, die den Notruf gewählt hat, weil sie damit die Unverzüglichkeitserwartung verletzt, die man an denjenigen richtet, der sich in einer akuten Krise befindet oder der zumindest eine akute Krise mitteilen will. Dass sie dennoch so formuliert, legt die Lesarten nahe, dass sie entweder a) gerade im Moment der Gesprächseröffnung in ihrem face-to-face-Handlungsraum gestört wurde (sie sah etwas) und einen Moment Zeit benötigt, um ein ungestörtes Telefonieren zu ermöglichen bzw. auf das Gespräch wieder umzuschalten; 163 Von den Studenten verwendete Transkriptionssymbolik: P Polizeibeamter A Anruferin D dritte Person (-) kurze Pause (2,0) Pause in Sekunden = schneller Sprechanschluss # lang gesprochen >< sich abwendend sprechen [ Überlappungsbeginn, d. h. gleichzeitiges Sprechen von zwei Parteien ] Überlappungsende ºº leise ºº ºº sehr leise KLEIN laut 164 Vgl. hierzu Wahlster u. a. (1995); oder auch Weyrath (1997). 165 Bei A handelt es sich, wie in der Transkriptionssymbolik markiert, um eine Anruferin. 166 s. Fußnote 84.
19. Fall 11: Randale am Zeitungskiosk
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oder b) nach der einsekündigen Pause immer noch nicht weiß, wie sie ihre Krisendarstellung beginnen soll. 04 A: (1.0) Hier ist die Frau Friedrich167 aus’m Zeitungskiosk Nach wiederum einer Sekunde Pause folgt dann eine umständliche Kontextuierung des Falles, wobei aus der Art und Weise, wie sich die Frau vorstellt, zu schließen ist, dass sie unterstellt, dass sie in der kleinen Community bekannt ist: ,Sie wissen schon, ich bin die allseits bekannte Frau Friedrich aus dem Zeitungskiosk‘, denn der bestimmte Artikel macht aus dem Eigennamen eine bekannte Person. Wenngleich bis zu dieser Textstelle immer noch unklar ist, worin der Notfall besteht und warum konkret die Frau anruft, müsste ein erfahrener Polizeibeamter in der Lage sein, aus ihrer Darstellung am Telefon herauszuhören168, dass er hier mit einer Frau spricht, die zwar möglicherweise einen Notfall hat, aber kaum in der Lage ist, sich aus ihrem Konkretismus herauszuarbeiten, und er müsste den Fall von sich aus möglichst schnell auf den Punkt bringen169, wozu sich Fragen wie 1. ,Frau Friedrich, was ist denn passiert?‘ 2. ,Was kann ich für Sie tun?‘ oder 3. ,Wie kann ich Ihnen denn helfen?‘ anbieten würden. Damit hätte die Frau eine Hilfe erhalten, zu einer geordneten Krisendarstellung zu kommen. 05 P: Mhm Es fällt auf, dass der Polizeibeamte so nicht fragt. Er sagt nur „mhm“, womit er die Gesprächsführung nicht übernimmt, sondern den Turn wieder an die Anruferin zurückgibt, was der Frau aber nicht hilft, zur Sprache zu kommen.
167
Von mir gewähltes Pseudonym. Es geht hier – durchaus vergleichbar mit der pädagogischen Praxis – um ein implizites Begreifen der Bedeutungsstruktur der Äußerung der Anruferin und um ein praktisches Aufgreifen dieser Bedeutungsstruktur in Form eines sokratischmäeutischen Fragens. Vgl. hierzu Loer (1999), S. 55; und ders. (2000), S. 335. 169 „Eine der Schwierigkeiten der Kommunikation am Telefon besteht in der Begrenztheit der Ausdrucksfähigkeit.“ Fertig (1997 a), S. 325. 168
148
C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
06 A: Und hier ist der Andreas \. . . Während diese schon vorher so sprach, als könne sie voraussetzen, dass der Polizeibeamte aufgrund ihrer „lokal verdichteten“170 Beschreibung schon wisse, um wen es sich bei ihr handle und von wo aus sie anrufe, setzt sie ihre Beschreibung in vergleichbar impliziter Weise fort, wobei das deiktische „hier“171 darauf verweist, dass sich „der Andreas“ bei ihr am Zeitungskiosk aufhält und „Andreas“, so kann man abduktiv erschließen, in irgendeiner Weise die Krisenzone darstellt. Dabei indiziert die Hinzufügung des bestimmten Artikels vor seinen Vornamen, dass sie auch ihn, wie zuvor sich selbst, als bekannt unterstellt, womit sie implizit zu verstehen gibt, dass sich bei ihr am Zeitungskiosk gegenwärtig der stadt- und polizeibekannte Andreas befindet. Wiederum formuliert sie also auf einem sehr geringen Abstraktionsniveau, ohne die subjektive Intention des Verbalisierten zu explizieren,172 sodass der Polizeibeamte nur erschließen kann, dass der designierte Andreas die Krisenzone darstellt, wobei noch offen ist, ob er am Zeitungskiosk wieder einmal zu viel Alkohol zu sich genommen hat und ins Koma gefallen ist, was ein medizinischer Notfall wäre, oder ob er aufgrund seines hohen Alkoholisierungsgrades zu randalieren beginnt, die Frau bedroht oder den Zeitungskiosk ,auseinander nimmt‘, womit es sich um einen polizeirelevanten Randalefall handelte. 07A: . . ./ >Wie heißt Du?< Die Tatsache, dass die Anrufende nun den von ihr so bezeichneten „Andreas“ nach seinem Nachnamen fragt, indiziert erstens, dass er noch ansprechbar ist, womit die Koma-Lesart ausfällt, und zweitens, dass sie ihn nur mit seinem Vornamen kennt, was hinsichtlich der Kiosk-Kultur erschließen lässt, dass es sich hier um eine milieuspezifische Vergemeinschaftungsform handelt, in der man sich mit Vornamen anspricht, ohne notwendigerweise den Nachnamen zu kennen. 08 D: #KLEIN173# Er antwortet daraufhin lang gedehnt, lang gesprochen „KLEIN“, also wahrscheinlich schon mit schwerer Zunge, schwer alkoholisiert. 09 A: Klein \. . . Und sie wiederholt seinen Namen. 170
Bernstein (1971 a), S. 65. Vgl. Leber/Oevermann (1994), S. 392. 172 Kurzum: Sie spricht im restringierten Code. Vgl. hierzu grundlegend Bernstein (1970), S. 17 ff.; ders. (1971 b), S. 99 ff.; Oevermann (1970), S. 174 ff.; ders. (1972), S. 77 ff. 173 Von mir gewähltes Pseudonym. 171
19. Fall 11: Randale am Zeitungskiosk
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10 A: . . ./ [und der ist, eh] 11 D: [Hä ] 12 A: ist Alkoholiker und total voll. Und setzt, kurz unterbrochen durch Andreas, ihre Beschreibung fort, wobei sie durchaus angemessen zwischen „ist Alkoholiker“ und ist „total voll“ unterscheidet. Denn wenn man Alkoholiker ist, ist man nicht immer total voll, und wenn man total voll ist, ist man deswegen noch kein Alkoholiker. Daraus kann man nun erschließen, wenn Andreas „total voll“ und „Alkoholiker“ ist, sich aber noch bei Bewusstsein befindet, was offensichtlich der Fall ist, weil er sonst nicht auf die Frage der Frau hätte antworten können, dann befindet er sich in einem Zustand, in dem er kaum mehr vernünftig handeln kann, wobei aufgrund der restringierten Schilderung der Anruferin noch unklar ist, worin sich diese Unvernünftigkeit manifestiert, das heißt, worin der Notfall eigentlich besteht. Aus diesem Grund müsste der Polizeibeamte jetzt schnell eruieren, welcher Notfall hier vorliegt. Zu diesem Zweck wäre es angemessen, der Anrufenden, die aufgrund ihres restringierten Codes größte Probleme hat, den für sie komplexen Sachverhalt zu verbalisieren und strukturiert darzustellen, konkrete Fragen zu stellen, um ihr so durch die Übernahme der Gesprächsführung zu helfen, ihr Anliegen auszudrücken, was ihr aufgrund ihrer geringen sprachlichen Performanz174 sehr schwer fällt. 13 P: Mhm Es fällt auf, dass der Polizeibeamte so nicht fragt. Wiederum sagt er nur „mhm“, womit er die Gesprächsführung nicht übernimmt, sondern den Turn wieder an die Frau zurückgibt.175 14 A: Und eh, er wollte mit’n Kühns-Taxi nach (1,0) eh, Eisenach fahr’n. Die daraufhin erwartungsgemäß immer noch nicht konkret zur Sache kommt, sondern wiederum umständlich versucht, den Fall zu explizieren, wobei sie erneut auf eine Weise formuliert, welche die ganze Kontextuierungsleistung („mit’n Kühns-Taxi“) dem Polizeibeamten zumutet.176 Auf174
Zum Performanzbegriff s. Chomsky (1969), S. 178; Oevermann (1970), S. 171. Woraus abzuleiten ist, dass die Bourdieu’sche Aussage, dass „feed-back-Zeichen (. . .) diese ,Jaja‘, ,aha‘, ,selbstverständlich‘, diese ,oh‘ und das zustimmende Kopfnicken, die Blicke, das Lächeln und all die information receipts, körperliche und verbale Zeichen der Aufmerksamkeit, des Interesses, der Zustimmung, der Ermunterung und der Anerkennung (. . .) Voraussetzung für den guten Fortgang des Austausches“ [Bourdieu (1997), S. 783; Hervorhebung im Original, T. L.] sind, in dieser generalisierenden Form nicht zutrifft. Auch nicht für den interaktiven Sonderfall des Interviews, worauf Bourdieu seine Aussage bezieht. Denn auch hier dürfte gelten, dass es für die Interviewführung einen Unterschied macht, ob ein Interviewee über einen restringierten oder einen elaborierten Code verfügt. 175
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
fällig ist in diesem Zusammenhang, dass sie nicht im Präsens von „will“ spricht, sondern die Vergangenheitsform benutzt („wollte“), was indiziert, dass die Krise in irgendeiner Weise damit zusammenhängen muss, dass „der Andreas“ mit dem Taxi der Firma Kühn, so in etwa kann man die Formulierung in Langschrift übersetzen, nach Eisenach fahren wollte, die Firma sich aber entweder weigerte, den alkoholisierten Mann zu transportieren, weil sie Zahlungsschwierigkeiten oder andere Unannehmlichkeiten177 antizipierte, oder weil der Mann seinen Willen änderte und sich entschied, seinen Aufenthalt am Zeitungskiosk fortzusetzen. 15 P: Mhm Statt nun genau nachzufragen, worin sich denn nun der Notfall ausdrückt, kommentiert der Polizeibeamte die Äußerung der Frau wiederum nur mit einem „mhm“. Bedenkt man, dass nach dem Beweislastmodell auch an dieser Sequenzstelle keineswegs ausgeschlossen ist, dass tatsächlich ein Notfall vorliegt, ist klar, wie unangemessen der Polizeibeamte mit dem „mhm“ handelt. Denn statt aktiv den Fall auf einen Notfall hin zu eruieren, handelt er so, als habe der Fall Zeit, als handle es sich nicht um eine akute Krise, was eine Abweichung vom idealtypischen Modell des Normalfalls darstellt. 16 A: S’hört aber keiner, \. . . Diese Äußerung lässt zwei Lesarten zu. Die erste Lesart ist: Die Anrufende will zum Ausdruck bringen, dass es zu dieser Fahrt nicht kam, weil sich niemand in der Taxizentrale der Firma Kühn meldete oder niemand ans Telefon ging oder kein Taxifahrer den Ruf des Mannes nach einem Taxi faktisch hörte. Und die zweite Lesart lautet: Sie will, wie vorherge176 Dieses Verhalten, nicht die Perspektive eines Gesprächpartners übernehmen und die Explikation an dem ausrichten zu können, was man bei diesem an Kontextwissen unterstellen kann, ist kennzeichnend für den restringierten Code. 177 Zum Beispiel: Ins Taxi kotzen, was einen unangenehm säuerlichen Geruch verursacht. „Die soziale Frage ist“ – wie bereits Georg Simmel in seinem „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ formulierte – „nicht nur eine ethische, sondern auch eine Nasenfrage“. Simmel (1992 b), S. 734. Und das heißt: „Kein Anblick der Proletariermisere, noch weniger der realistischste Bericht über sie, wird uns, von allerkrassesten Fällen abgesehen, so sinnlich und unmittelbar überwältigen, wie die Atmosphäre, wenn wir in eine Kellerwohnung oder in eine Kaschemme treten.“ Ebd. Und weiter: „Daß wir die Atmosphäre jemandes riechen, ist die intimste Wahrnehmung seiner, er dringt sozusagen in luftförmiger Gestalt in unser Sinnlich-Innerstes ein, und es liegt auf der Hand, dass bei gesteigerter Reizbarkeit gegen Geruchseindrücke überhaupt dies zu einer Auswahl und zu einem Distanznehmen führen muß, das gewissermaßen eine der sinnlichen Grundlagen für die soziologische Reserve des modernen Individuums bildet.“ Ebd., S. 735.
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hend hypothetisch unterstellt, zum Ausdruck bringen, dass sich die Firma weigerte, den alkoholisierten Mann zu transportieren, weil sie Zahlungsschwierigkeiten antizipierte. Wenngleich aufgrund ihrer restringierten Sprache nicht mit Sicherheit zu entscheiden ist, warum es nicht zur Taxifahrt nach Eisenach kam, kann man sich jetzt dennoch vorstellen, dass der Grund des Anrufes bei der Polizei im Zusammenhang damit steht, dass „Andreas“ seinen Unmut oder Zorn über das Nichtzustandekommen der Fahrt in irgendeiner Weise am Kiosk abreagiert. 17 A: . . ./ nejetz randaliert er hier rum. \. . . Zu der letztgenannten Lesart passt denn auch die anschließende Formulierung, wobei der Begriff „randaliert“ zur Klärung der Frage, ob hier eine polizeiliche Eingreifnotwendigkeit besteht, immer noch recht unpräzise ist, weil mit ihm nicht klar bezeichnet wird, was konkret dort geschieht, also ob der Mann nur seine Flasche Bier wütend auf den Boden geschmissen hat oder ob er bereits begonnen hat, den Zeitungskiosk in seine Einzelteile zu zerlegen und vorbeigehende Passanten zu belästigen, oder ob er gar bereits in seiner Wut angekündigt hat, die Anrufende tätlich anzugreifen. 18 A: . . ./ Ha ich gesat, da läßt dich von der Polizei holen in die Ausnüchterungszelle. Die anschließende Äußerung liest sich, als ob die Anrufende dem Mann in dieser Situation zur Beruhigung vorschlug, sich von der Polizei in die im Volksmund so genannte „Ausnüchterungszelle“ bringen zu lassen. Ein Vorschlag, an dem man en miniature sehen kann, wie die Polizei wie selbstverständlich in der Logik der traditionalen Vergemeinschaftung zur Problemlösung mit eingebaut wird, wie der Streifenwagen zum funktionalen Äquivalent für ein Taxi und die „Ausnüchterungszelle“ zum Äquivalent für eine Übernachtungsmöglichkeit gemacht werden. Dabei ist zu sehen, dass dieser Vorschlag (im Sinne von: ,Wenn Dich das Taxi nicht nach Eisenach fährt, fährst Du eben mit der Polizei, die Dich in die Ausnüchterungszelle bringt‘) für den Mann natürlich nur dann akzeptabel ist, wenn es ihm nur darauf ankommt, ein Dach über dem Kopf zu haben, aber absolut unbefriedigend, wenn er aus irgendwelchen anderen Gründen nach Eisenach will. 19 P: Mhm Während es spätestens jetzt erforderlich gewesen wäre, dass der Polizeibeamte die Anruferin nach situativen Details fragte, um zu einem prägnan-
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
ten Lagebild zu kommen, reagiert er wie zuvor wieder nur mit einem bloßen „mhm“, womit er wiederum der Anruferin die Darstellungslast nicht abnimmt. 20 A: Ist das richtig? \. . . Die nachfolgende Frage liest sich, als wollte die Frau nun vom Polizeibeamten bestätigt haben, dass das, was sie dem Mann riet, richtig war. Um diese Frage zu beantworten, müsste der Polizeibeamte aber zunächst einmal in Erfahrung bringen, was überhaupt konkret der Fall ist. Hierzu müsste er beispielsweise wissen, ob sich der Mann in seinem alkoholisierten Zustand in einer hilflosen Lage befindet und nicht mehr in der Lage ist, sich einen anderen Schlafplatz zu besorgen, oder ob er gewalttätig ist und damit die Bedingungen erfüllt sind, die eine Verbringung in das Gewahrsam erforderlich machen.178 Der Polizeibeamte müsste folglich unbedingt eine Gestaltkonkretisierung leisten. Denn bisher hat er nur fragmentarische Informationen, die er sich nur zu einem ungefähren Bild zusammenreimen kann. 21 A: . . ./ Egal, ihm is’es jet’s egal. – unverständlich- und schmeißt hier alles rum. Diese Konkretisierung leistet nun aber die Anrufende selbst, die zunächst in Kurzform auf das referiert, was der Mann sagte, nämlich: ,Es ist jetzt egal‘, und dann präzisiert, worin sich das Randalieren manifestiert. Ihre Darstellung zeigt, dass die Situation keineswegs entspannt ist, was vermuten lässt, dass der Vorschlag der Frau für den Mann nicht akzeptabel war, weil er offensichtlich nach Eisenach wollte. Und da sich dieses Vorhaben nun nicht realisieren lässt, reagiert er seinen Frust durch Umschmeißen von Gegenständen, die sich in Kiosknähe befinden, ab. Damit ist die Situation im Unterschied zur vorherigen Zeile klar. Anlass des Anrufes ist die Randale des schwer alkoholisierten „Andreas“. Und damit ist ein Polizeieinsatz gerechtfertigt, zumal die Anruferin nicht in der Lage ist, den Fall selbst zu regeln, und nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Mann auch gegen sie Gewalt anwenden könnte. Von daher müsste
178 Das ist der Fall, wenn „1. das zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib und Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet oder 2. das unerläßlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung zu verhindern . . .“. § 19 Abs. 1 Thüringer PAG.
19. Fall 11: Randale am Zeitungskiosk
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der Polizeibeamte im nächsten Turn zu der Frau sagen: ,Frau Friedrich, ich schicke Ihnen umgehend eine Streifenwagenbesatzung vorbei.‘ 22 P: (1,0) Mhm, Klein heißt der, ja? Statt nun eine Einsatzzusage zu geben, erfolgt noch einmal eine Art Rückversicherungsfrage, wie um sicher zu gehen, den Namen des Randalierers auch richtig verstanden zu haben. 23 A: (1.0) Der ist Alkoholiker Woraufhin aber nicht die Wiederholung seines Namens erfolgt, sondern die Etikettierung „der ist Alkoholiker“, wobei die Anruferin so spricht, als ob es sich hier um dessen Berufsbezeichnung handeln würde. 24 P: ºº-unverständliches murmeln-ºº Nur of da an’ern Seite [ist die Polizei179] 25 A: [Ja180] 26 P: zum ausnüchtern sin’ mar ja auch nich nur da. 27 A: Ja181 28 P: Aber ich schick ma die Kollegen hoch, wenn’r da ohm randaliert. Um die Darstellung nicht zu unübersichtlich und redundant werden zu lassen, weiche ich an dieser Stelle vom strikten Modell der Sequenzanalyse ab und werde die folgende Passage zusammenhängend interpretieren, ohne jedes Mal auf die Kommentierung der Anruferin mit „ja“ einzugehen. In Zeile 24 ist zunächst ein unverständliches Murmeln des Polizeibeamten verschriftet, woraufhin dann aus dem nachfolgenden Protokoll zu erschließen ist, dass der Polizeibeamte der Anruferin zu verstehen gibt, dass es nur unter anderem die Aufgabe der Polizei sei, schwer Alkoholisierte zum Ausnüchtern mit in das Gewahrsam zu nehmen, er aber aufgrund des Randalierens des Mannes Kollegen vorbeischicken werde, um den Fall zu regeln. Dabei gibt der Polizeibeamte nicht an, wann er seine Kollegen vor Ort schicken werde, ob unverzüglich oder erst Stunden später. 29 A: Ja. Der macht sonst alles hier kaputt. Der hm hm. Hah, ich zitter schon. Worauf die Anruferin expressiv unterstreicht, dass der Polizeieinsatz auch notwendig ist. 179 180 181
Das Wort „Polizei“ fehlte in der studentischen Verschriftung. In der studentischen Verschriftung „Hä“. s. vorhergehende Fußnote.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
30 P: Naja, ist klar. Die Antwort des Polizeibeamten ist doppeldeutig. Zum einen kann sie heißen: ,Nun ja, ich habe Sie verstanden, blöde Situation‘; zum anderen kann sie aber auch gelesen werden als: ,Nun ja, das mussten Sie ja jetzt sagen‘. 31 A: Gä. Wobei die Artikulation des „gä“, der sächsisch-thüringischen Variante von ,gelle‘ oder ,nicht wahr‘, anzeigt, dass die Anrufende die Äußerung im Sinne der ersten Lesart verstanden hat. 32 P: Das ist oben Penny-Markt, ja? Der Polizeibeamte fragt nun in verdichteter Form, ob es sich um den Zeitungskiosk beim Penny-Markt handelt, wohin er die Kollegen schicken soll.182 33 A: Mh nä nä, nä nä. Hier unten am Zeitungskiosk am Bahnhof. Die expressive Antwort der Frau indiziert, dass sie wie selbstverständlich davon ausging, dass der Polizeibeamte wusste, von wo aus sie anrief, um welchen Kiosk es sich handelte, was aber offensichtlich nicht der Fall war. 34 P: Bahnhof unten? Der Polizeibeamte fragt nun noch einmal nach, wobei seine Nachfrage zeigt, dass sich der Kiosk in der genau entgegengesetzten Richtung befand, in der er ihn verortet hatte, also nicht ,oben‘ auf dem Berg oder der Anhöhe, sondern „unten“ am Bahnhof. 35 A: Ja. 36 P: Ja,
[alles klar.]
37 A:
[Gä
] Gut, Tschüß
38 P: Tschüß – klacken (auflegen des Hörers) – Nachdem die Frau die Nachfrage mit „ja“ bestätigt hat, was der Polizeibeamte seinerseits noch einmal bestätigt, gibt er abschließend zu verstehen, dass er keine weiteren Informationen mehr brauche, woraufhin dann die Anrufende in Zeile 37 die Beendigung der kommunikativen Praxis einleitet, die durch den Polizeibeamten in Zeile 38 abgeschlossen wird. 182 Vgl. Eglin/Wideman (1986), S. 350: „If the police are going to send a car they need to know where, and precisely where . . .“.
20. Vorbemerkung zu Fällen des Typs 2
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Ergebnis In diesem Fall bestand der Hauptfehler des Polizeibeamten darin, dass er es unterließ, der hoch restringiert sprechenden Anruferin durch klare Fragen zu helfen, sich aus ihrem Konkretismus herauszuarbeiten und den Fall so schnell wie möglich auf einen Notfall hin zu eruieren. Statt mit der Anruferin quasi non-direktiv zu sprechen, hätte er sie früher fragen müssen: ,Worum geht’s denn Frau Friedrich, was kann ich für Sie tun?‘. Er hätte ihr mithin helfen müssen, schneller zur Sprache zu kommen, damit sie in der Lage gewesen wäre, konkret zu sagen, worin die Krise besteht; damit hätte sich der Fall wesentlich schneller klären lassen.183 Kritisch anzumerken ist ferner, dass der Polizeibeamte die Einsatzzusage zeitlich unbestimmt formulierte, womit er nicht alles unternahm, um die sich in einer Krise befindende Anruferin zu beruhigen. Handlungsfehler 1. Zu passive Gesprächsführung. 2. Zeitlich unbestimmte Einsatzzusage.
20. Vorbemerkung zu Fällen des Typs 2 Nachdem ich vorhergehend Abweichungen des ersten Typs behandelt habe, also Fälle, in denen ein von B mitgeteilter Notfall von A nicht angemessen als Krise behandelt wurde (Tabelle Zeile drei), werde ich nunmehr in exemplarischer Weise auf drei Fälle des zweiten Abweichungstyps eingehen, in denen ein von B mitgeteilter Sachverhalt, der erkennbar keinen Notfall darstellt, von A wie ein Notfall auf der Notrufleitung weiterbehandelt wird und es damit faktisch zur Blockierung einer Leitung kommt, die ausschließlich für Notfälle vorgesehen ist (Tabelle Zeile vier).184 183 Wobei der Fall exemplarisch zeigt, dass non-direktive Kommunikation kein Patentrezept für die Gesprächsführung darstellt, auch wenn sie in einigen Kommunikationshandbüchern und -trainingsmanuals so dargestellt wird. Vgl. Smentek/GarmsHomolová (1997), S. 51. Hingegen Fertig (1997 a), S. 329: „Unsere Aufgabe ist es, zu einer strukturierten Notfallmeldung zu verhelfen“. Und diesbezüglich kommt dem Fragen eine wichtige Bedeutung zu: „Lenke das Gespräch durch gezielte, geschickte Fragen“. Ders. (1997 a), S. 331. 184 Dass das Feststellen von Abweichungen bei institutionellen Abläufen nicht ohne ein Normalfallmodell möglich ist, liegt auf der Hand. Hier liegt denn auch der Unterschied zu den ansonsten mikroskopisch genauen konversationsanalytischen Notrufstudien, denn diese verfügen über ein solches Modell nicht. Wobei zu sehen ist, dass sie auch ein anderes Erkenntnisinteresse haben und von einer anderen Prämisse ausgehen. So schreibt Garfinkel, der Begründer der Ethnomethodologie, aus der die Konversationsanalyse hervorging: „I use the term ,ethnomethodology‘ to refer to the investigation of the rational properties of indexical expressions and
156
C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
B teilt einen Notfall mit
A handelt daraufhin
A handelt dem Normalfall entsprechend
B teilt keinen Notfall mit A behandelt den Fall auf der Notrufleitung nicht weiter
A handelt dem Normalfall entsprechend
B teilt einen Notfall mit
A handelt vom Normalfall abweichend
A behandelt den Notfall nicht krisenbezogen
B teilt keinen Notfall mit A behandelt den Fall wie einen Notfall
A handelt vom Normalfall abweichend
Bevor ich auf die Fälle des Abweichungstyps 2 zu sprechen kommen werde, eine kurze Anmerkung zu den Prämissen, die meinen Ausführungen zu Grunde liegen. 1. Der einen Notruf entgegennehmende Polizeibeamte muss bis zum Beweis des Gegenteils von einem Notfall bzw. einer akuten Krise ausgehen. Er hätte ein falsches Beweislastmodell, wenn er davon ausginge, dass der mitgeteilte Fall bis zum Beweis des Gegenteils keinen Notfall darstellt.185 2. Wenngleich der Polizeibeamte bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgehen muss, dass der Anrufer gemäß den Abwägungskriterien des Normalfalls handelt, muss er komplementär hierzu bei Beweis des Gegenteils dafür sorgen, dass die Notrufleitung möglichst schnell wieder frei wird für wirkliche Notfälle, was ein wichtiger Anforderungsparameter für diese kommunikative Praxis ist.
21. Fall 12: Anzeige eines Autoaufbruchs Beginnen wir mit dem ersten Fall, der ab Zeile 03 genauer betrachtet werden soll. 01 2 x Klingeln =186 02 P: Notruf der Polizei?187 03 A: Ja guten Tag (-) Preuner mein Name (-) mir ham ses Auto aufgebrochen \. . . other practical actions as contingent ongoing accomplishments of organized artful practices of everyday life.“ Garfinkel (1967), S. 11. Und seine Prämisse lautet: „. . .there is order in the most ordinary activities of everyday life in their full concreteness . . .“. Ders. (1996), S. 7. Und diese Ordnung gilt es zu rekonstruieren. Vgl. hierzu Bergmann (1987), S. 51 f.; ders. (1981), S. 21 ff. 185 Vgl. Ley (1998) oder Oevermann u. a. (1994), S. 258 f.
21. Fall 12: Anzeige eines Autoaufbruchs
157
Wie man sehen kann, nimmt der Anrufer zunächst eine Korrektur des technischen Meldeschemas vor und teilt dann einen Sachverhalt mit, der in 186
Von den Studenten verwendete Sigeln und Notationszeichen: Polizeibeamter (geschätztes Alter: 32–37 Jahre) Anrufer (geschätztes Alter: 20–25 Jahre) schneller Sprechanschluss einer nachfolgenden Äußerung oder auch schnelles Sprechen innerhalb einer Äußerung : Dehnung eines Vokals (Anzahl der Doppelpunkte entspricht Länge der Dehnung) (1,5) Pause, Dauer in Sekunden {räuspern} Umschreibung von paralinguistischen, mimisch-gestischen und gesprächsexternen Ereignissen bzw. Informationen zur Situation und zum Kontext des Gesprächs ; schwach fallende Intonationskurve JA laut ? ansteigende Intonationskurve () unverständliche Passage º leise ºº sehr leise. Von mir zusätzlich verwendetes Zeichen: (-) Kurze Pause. 187 Es handelt sich hier um die einzige studentische Fallverschriftung, an der man das von Schegloff entwickelte „Summons-Answer Sequences“-Modell [Schegloff (1968), S. 1080 f.] nachzeichnen kann, nach dem das Klingeln des Telefons das „summons“ oder die „attention getting device“ und die „first remark“ der angerufenen Seite die „answer“ darstellt, die die „SA Sequence“ komplettiert und die Gelegenheit für den Anrufer darstellt, mit dem Gespräch fortzusetzen: „If a called person’s first remark is treated as an answer to the phone ring’s summons, it completes the SA sequence, and provides the proper occasion for talk by the caller.“ Ebd., S. 1087. Dass es nun für Anrufer keineswegs so leicht ist, ein Gespräch nach einer technischen „first remark“ fortzusetzen, ist ein Aspekt, den ich in der Ausbildung betonte, der aber weder von Schegloff noch von anderen konversationsanalytisch inspirierten Autoren [vgl. u. a. Whalen/Zimmerman (1987), S. 174 ff.; Whalen/Zimmerman (1990), S. 469; Whalen u. a. (1988), S. 344] thematisiert wurde. Dass diese Frage von Konversationsanalytikern systematisch nicht gestellt wurde, steht im Zusammenhang mit der von ihnen aus der Ethnomethodologie übernommenen Basisannahme [vgl. Psathas (1995), S. 2 f.] „there is order in all points“ [Sacks, zit. n. Jefferson (1983), S. 1], die es methodologisch gebietet, „any piece of data as, hypothetically, an ordered and methodically produced phenomenon“ [Schegloff (1967), S. 246 f.] zu behandeln. Es stellt denn auch nur eine scheinbare Abweichung von diesem analytischen Umgang mit Notruferöffnungen dar, wenn sich Schegloff im fünften Kapitel seiner Dissertation mit der Frage nach einem alternativen oder kumulativen Identifikationsterm auseinandersetzt. Denn der methodische Grund dafür ist, dass Schegloff bei der Sichtung seines Datenmaterials [(1967), S. 187 ff.] entdeckte, dass auf die polizeiliche Eröffnungsutterance „police desk“ von Anruferseite ein „Who’s This?“ [„the ,WT‘-form“, ebd., S. 194] folgte: „It is a notable and important feature of that question [who’s this?, T .L.] as it occurs in our materials that it follows the opening remark of the dispatcher, ,police desk‘.“ Ebd., S. 211. Und diese Entdeckung führte Schegloff zu der Frage, wie das Zustandekommen dieser Äußerung methodisch zu P A =
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
der Vergangenheit und nicht in der Gegenwart liegt.188 Denn der Anrufer sagt nicht ,mein Auto wird gerade aufgebrochen, kommen Sie schnell!‘, sondern er spricht im Perfekt, mit dem entsprechend den sprachlichen Regeln der Abschluss oder Vollzug eines Geschehens oder einer Handlung festgestellt wird.189 Damit kann man dem Wörtlichkeitsprinzip folgend bereits an dieser Sequenzstelle sagen, dass im Sinne des Normalfalls keine akute Krise vorliegt, zu deren Bewältigung die Polizei unmittelbar handeln müsste. Vielmehr ist zu schließen, dass der Anrufer im Grunde genommen einen Tatbestand zur Anzeige bringen will. Entsprechend klingt denn auch erklären ist: „When it follows ,police desk‘, ,who’s this?‘ is heard to ask for a cumulative and perhaps alternative identificatory term, using ,police desk‘ as a point of departure.“ Ebd., S. 211. Wobei er zum Ergebnis kam, dass die Frage gestellt wurde, weil sich der Anrufer einen alternativen oder kumulativen Term wünschte, was – nebenbei bemerkt – nur eine mögliche Lesart zur Motiviertheit seiner Frage darstellt, denn genauso gut kann man die Lesart haben, dass der Anrufer irritiert war, weil sich der „police desk“ selbstverdinglicht als Technik und nicht als Kommunikant meldete. Methodisch aufschlussreich ist auch, welche Überlegungen Schegloff anstellt, um zu einer ,Lösung‘ zu kommen: „If we were to ask from what domain alternatives or additional identifications to ,police desk‘ might be chosen, we might inquire what classes it was a member of as a way of finding from what classes alternatives ought to be chosen.“ Ebd., S. 211. Denn wie das Zitat belegt, richtet er seine Alternativensuche an der Frage aus, zu welcher Begriffsklasse der Term „police desk“ gehört, woraus nach Schegloff folgt: „ . . .alternative terms to police desk are ,security desk‘, ,records clerk‘, ,captain’s office‘, etc. We note from this the obvious fact that one class of which ,police desk‘ is a member is the class of organizational positions. On the other hand, it is perfectly clear that when the dispatchers announce as their first remark ,police desk,‘ they are offering a term of self-reference (not of address, although easily transformable into correlative address forms, such as ,police?‘, or ,dispatcher?‘). In this way we (. . .) encounter (. . .) the alternative classes ,organizationals positions‘, and ,terms of personal reference‘.“ Ebd., S. 211 f. Kurzum: Schegloffs Suche nach einer alternativen oder kumulativen Formulierung erfolgte, um die methodische Geordnetheit der Äußerungsproduktion von „Who’ This“ aufzuzeigen. Ihm ging es nicht um die Beantwortung der Frage, wie man die kommunikative Praxis besser einrichten könne, sondern um eine methodisch-formale Erklärung der bestehenden kommunikativen „machinery“: „We may add further that one of the dispatchers, or Complaint Clerks, in our materials, does not answer the phone with a mere ,police desk‘, he adds a phrase to it. That phrase, however, does not inquire as to the identity of the caller, it does not ask, for example, ,Who is it?‘, it asks rather for the matter about which the caller has called. His complete response, then, is ,Police Desk, what is it please?‘ Indeed, when the caller does not identify himself, the dispatcher does not ,pick it up‘.“ Ebd., S. 151. Dieser formalen Orientierung entspricht, dass Schegloff nicht sieht, dass es sich bei der Formulierung „. . . what is it please?“ um eine für die Gesprächsstrukturierung durchaus sinnvolle Ergänzung handelt. Er bemerkt hierzu nur lapidar: „he [der Sprecher, T. L.] adds a phrase to it.“ 188 Auch wenn man zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, wie lange er in der Vergangenheit liegt. 189 Duden [(1995), Bd. 4], S. 145.
21. Fall 12: Anzeige eines Autoaufbruchs
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„Mir ham ses Auto aufgebrochen“ wie eine Tatbestandsschilderung als Einleitung zu einer Anzeige, worauf nun eine Auflistung der Gegenstände folgen könnte, die entwendet wurden: ein Autoradio, ein CD-Wechsler usw.190 Nachdem fest steht, dass kein Notruf, sondern die Meldung eines Autoaufbruchs vorliegt, müsste der Polizeibeamte nun gemäß der Maxime handeln, dass die Notrufleitung freizuhalten ist für wirkliche Notfälle. Deshalb müsste er jetzt dafür sorgen, dass das Gespräch von der Notrufleitung wegkommt, wozu es sich anbieten würde, dem Anrufer freundlich die Telefonnummer der Stelle zu geben, die seine Anzeige aufnimmt, und dann das Gespräch so schnell wie möglich zu beenden. 04 A: . . ./ (-) jetzt wollte ich das irgendwie bei ihnen melden? Die Äußerung bestätigt, dass hier in keinem Fall eine Notrufrelevanz gegeben ist, also objektiv kein Notfall vorliegt, wenngleich der Anrufer subjektiv wie selbstverständlich davon ausgeht, dass der Polizeinotruf die richtige Adresse ist, um der Polizei den Autoaufbruch zu melden. Wie nachfolgend am Protokoll zu sehen ist,191 leitet der Polizeibeamte aber eine Beendigung des Gesprächs nicht ein. Vielmehr beginnt er mit der Abfrage der für die Anzeige notwendigen Daten – 05 06 07 08 09 10
P: A: P: A: P: A:
Preuner? Ja (-) Preuner mit Paula (1,5) ººPaula is schon klarºº Richard Emil Uta Nordpol Emil Richard (1,0) Vorname? Jeannot (-) J E A (2,0) dann EN EN (O) Te (0,5) Jeannot mit doppel EN (-) 11 P: Ja (-) äh Te wie Theodor? 12 A: Ja? 190 Interessant an dieser Tatbestandschilderung ist, dass der Anrufer sagt: mir haben sie es („ses“) Auto aufgebrochen, und nicht sagt, mir haben welche oder mir hat irgendjemand das Auto aufgebrochen. Er nennt mithin keinen Platzhalter, sondern ein Personalpronomen, was rein sprachlich präsupponiert, dass der Referent schon bekannt ist, dass es sich um die bekannte Kategorie von Autoaufbrechern handelt, die immer Autos aufbrechen. Daraus lässt sich ableiten, dass er offensichtlich schon eine bestimmte Interpretation von Autoaufbrechern im Kopf hat und damit im Grunde genommen schon die bürokratische Interpretation polizeilichen Ermittlungshandelns im Sinne von Perseveranz und Modus Operandi übernimmt. 191 Ich gehe hier in größeren Abschnitten voran, da in der Sequenzanalyse der entscheidende polizeiliche Fehler bereits klar expliziert wurde.
160
C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
13 P: gut äh wie spät isn jetzt, 8 Uhr 58 und wo war das Herr Preuner? 14 A: Das is in der Mittelstraße 17 (2,0) beziehungsweise zwischen 17 und dem Haus 15 daneben ( ) 16 P: was is das fürn Fahrzeusch? 17 A: en VW Golf 18 P: VWe Golf (-) ä:h (-) Kennzeichen? 19 A: I eL ä:h = ich mein ich hab jetz= I Ka (1,0) 20 P: Ja 21 A: ä: h(-) Te Jot (1,0) 91 (-) ºwenn ich mich nich täuscheº [ich hab en neues Kennzeichen 22 P: [91 ] 23 Was ham sen gemaust?192 24 A: Ä:h Radio (-) CD-Wechsler (1,0) ä:h (-) mehr hab ich noch nich reingeschaut? (-) Beide 25 Scheiben sind kaputt (-) oder nee eine Scheibe is auf jeden Fall eingeschlagen? (-) Die 26 andere kann runter gelassen sein = aber sieht sehr rampuniert aus=die Tür is rampuniert 27 (-) alles is im Arsch; 28 P: ºmmh, mmh, mmhº 29 A: Könn sie vorbeikommen oder soll ich bei ihnen vorbeifahrn=ne bei ihnen vorbeifahrn 30 is n bischen kalt bei dem Auto 31 P: Hab ich momentan kein Woagen frei (-) die sin alle mit Verkehrsunfällen weg, – wobei man im Anschluss an die Frage des Anrufers in den Zeilen 29 und 30 sehen kann, dass der Polizeibeamte gegenwärtig über keine freie Streifenwagenbesatzung verfügt. 32 A: MHM (-) na soll ich bei ihnen vorbeifahrn? (-) na gut das kleine Stück von der 33 Mittelstraße [bis hier obm is nich weit] 34 P: [ja da wäre nich das ] Problem (-) das Problem is welche Spuren ham denn 35 die Täter hinterlassen; 192
s. Fußnote 84.
21. Fall 12: Anzeige eines Autoaufbruchs
161
Zudem zeigt seine Reaktion auf die anschließende Frage des Anrufers, dass für ihn das Problem in der Sicherung von Spuren besteht und er den Anrufer aus diesem Grund nicht zur Dienststelle fahren lassen will.193 Anstatt folglich dem Anrufer mitzuteilen, dass er ihm die erste frei werdende Streifenwagenbesatzung zur Spurensicherung an seinem Auto194 vorbeischicken wird, führt er das Gespräch in eine Richtung, die von vornherein wenig sinnvoll ist, weil die Frage nach erkennbaren Täterspuren ein Wissen des Anrufers voraussetzt, das er nur haben kann, wenn es sich bei ihm um einen erfahrenen Kriminalisten oder um einen kriminalistisch versierten Schutzpolizeibeamten handelte, nicht aber um einen polizeilichen Laien. 36 A: ja das kann ich ihnen 37 P: am Datort? 38 A: ä:h (-) ä: h{pusten}ich hab nur ma von außen son bischen reingeschaut 39 = ich hab mich noch garnicht reingesetzt oder so 40 P: = nee ich mein was für Spurn ringsrum sin? 41 A: SPURN ringsrum? 42 P: Ja? 43 A: Ä:h ich hab nich gekuckt (-) muß ich ehrlich sagen (1,0) ich hab halt gesehn 44 P: das steht 45 doch auf auf der Stroaße? 46 A: es steht an der Straße ja 47 P: mhm 48 A: ich hab da jetz nich groß rumgekuckt = ich hab mir gedacht naja ich seh daß die 49 Scheibe eingeschlagen is 50 P: Mh 51 A: (und jetzt) nich mehr dran weiter 52 kurz reingekuckt ob was alles so (-)was me ma halt normal sieht was fehlt is halt des 53 un des 54 P: Des mußsch mar doch am Datort angucken {leichtes räuspern} 55 Wie lange sind sie denn zu Hause? 193 194
Was ansonsten der Regelfall ist. Vgl. David (1998), S. 118. Ebd.
162
C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
56 A: Ja ich hätt da jetzt dann um (-) ne (-) halben dreiviertel Stunde ne Vorlesung das is das 57
Problem (-) die werd ich wahrscheinlich e:h ausfallen lassen müssen (-) weil ich muß
58
ja irgendwie des Auto jetzt zum reparieren bringen oder?
59 P: richtich 60 A: Ja (-) dacht ich mir 61 P: {Säufzer195} ºwas mach ich n jetzeº? Es verwundert denn auch nicht, dass die Frage nicht weiter führt. Anstatt dem Anrufer zu sagen, dass er ihm die erste frei werdende Streifenwagenbesatzung vor Ort schicken wird und der Anrufer bis dahin Zuhause bleiben soll, indiziert seine Äußerung in Zeile 59, dass er dessen Frage missverstand, denn im Sinne der Rezensregel,196 die in jeglichem Sprechen material gilt, hätte er dem Anrufer auf seine letzte Äußerung sagen müssen: ,Zunächst müssen wir die Spuren sichern, dann können Sie das Auto in die Werkstatt zur Reparatur bringen‘. Doch dies sagt er nicht, wobei dann in Zeile 61 markiert ist, dass der Polizeibeamte mit seinem ,Latein‘ am Ende ist, dass er nicht weiß, was er im Hier und Jetzt seiner Handlungspraxis tun soll, er also selbst in eine Krise geraten ist. 62 A: hier öfters in X-Stadt197? Also bis jetz hat ich gar kein Probleme damit (-) 63 P: Seit ungefähr 14 Tachen ham mar so was; 64 A: (ja?) 65 P: Verstärkt wird immer mol ens aufgemacht un e Radio gemaust aber 66 A: [ja] das is es ja 67
also des (-) wie des gemacht worden is is dilettantisch
68 P: richtich (-) genau das ist das intressante an dem Fall 69 A: Find ich sehr dillettantisch gemacht (-) also Scheibe eingeschlagen (-) das Schloß 70
aufgebrochen (-) nachdem das Schloß nich aufbekommen haben (-) habn se die Scheibe
71
eingeschlagen=also sehr dilettantisch (-) ham se uns in Holland schon besser das Auto
195
Orthographisch korrekt ist „Seufzer“. Nach dieser Regel beziehen sich Bezüge auf Vorausgehendes immer, wenn nichts anderes markiert ist, auf das unmittelbar Vorausgehende (das Rezente). 197 Im Original stand der Name einer bekannten thüringischen Hochschulstadt. 196
21. Fall 12: Anzeige eines Autoaufbruchs
72
163
geknackt
73 P: richtich (1,0) ihre Mitkomminitonen ham ja da allerhand Schwierichkeiten (-) was 74
abgestellt war oben bei Kirchhoffsch (-) schtroaße (-) ä:h (-) da hat ma
75
auch einige Angriffe
76 A: JA? 77 P: ja 78 A: mhm mhm 79 P: Zum Teil nich ma was gemaust (-) nur kaputt gemacht; 80 A: mh Insofern bedeutet es für ihn eine entlastende Hilfe, dass der Anrufer nun eine Frage stellt, die vom konkreten Fall wegführt und über Zeilen hinweg zu einem Plaudern über das kriminalistische Lagebild und die Bewertung des Modus Operandi in X-Stadt im Vergleich zu Holland führt, was man in einem kriminologischen Seminar hätte machen können, aber hier am Notruf nicht zu erörtern ist. 81 P: ºDreiviertel Stunde:º (-) Moment bleim se ma dran 82 A: Ja 83 P: (4,0) 84
1612 FÜR LEINA 16 (2,0) FAHREN SIE X-STADT? (-) MITTELSTRASSE
85
17 (-) DORT ANGEGRIFFENER PKW (2,0) (
86
(Der) der kommt die nächste (-) viertel Stunde
)
87 A: Alles klar (-) ich sehs ausm Fenster wann sie kommen 88 P: = jaja 89 A: gu:t wiederhö:rn 90 P: Wiederhörn {Ende des Telefonates} Erst in Zeile 84 instruiert der Polizeibeamte über Funk eine Streifenwagenbesatzung, vor Ort zu fahren, was er bereits sehr viel früher hätte machen können. Er teilt dies dem Anrufer mit, der damit auch einverstanden ist, woraufhin das Gespräch geregelt beendet wird.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
Ergebnis Wenngleich bereits ab Zeile 03 klar zu erschließen ist, dass es sich beim Anruf nicht um einen Notruf im Sinne des Normalfalls handelt, sondern vielmehr um einen Fall für die polizeiliche Anzeigenaufnahme, und der Polizeibeamte dem Anrufer sinnvollerweise die Telefonnummer hätte geben sollen, wo er die Anzeige hätte unterbringen können, behandelte der Polizist den gemeldeten Autoaufbruch noch geschlagene drei Minuten und zwanzig Sekunden198 auf der Notrufleitung weiter, was für einen solchen Fall zu lang ist und schon ein quantitatives Indiz für die Abweichung vom Normalfall darstellt. Der Grund für die Länge des Gesprächs ist darin zu sehen, dass der Polizeibeamte im Zuge der bürokratischen Erfassung des Falles bemerkte, dass er Angaben zur Spurenlage benötigte, die nach seiner ,Philosophie‘ die Entsendung einer Streifenwagenbesatzung vor Ort erforderlich machten, über die er aber im Moment aufgrund der Einsatzlage nicht verfügte. Dies führte zeitweilig dazu, dass er selbst in die Krise geriet.
22. Fall 13: Fußballfan Nachdem zuvor die Abweichung vom Normalfall darin bestand, dass ein Fall, der kein Notfall war, im Sinne einer bürokratischen Erledigungsroutine behandelt wurde, geht es nun um eine Abweichung, die hierzu maximal kontrastiv ist. Ich beginne mit der expliziten Sequenzanalyse dieses Falles im Anschluss an die first line – 01 P: Notruf Polizei Jena199, – die sich von den bisher besprochenen Notrufopenings nur darin unterscheidet, dass mit der Hinzufügung der Ortsbezeichnung Jena eine kleine Arabeske hinzukommt.200 198
Was 77 Zeilen oder 2 DIN-A4-Seiten Transkript entspricht. Von den Studenten verwendete Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamter AM Anrufer männlich = schneller Anschluss einer nachfolgenden Äußerung ? stark steigende Intonationskurve : schwach steigende Intonationskurve GROSS laut gesprochen Dehnung eines Wortes (je nach Anzahl der Querbalken starke bzw. sehr starke Dehnung) ( ) Sprecher unbekannt oder Inhalt der Äußerung unverständlich (0,8) Pause, Dauer in Sekunden geschätzt #lachen# Lachen durch Sprecher /\ Hintergrundgeräusche oder unverständliche Stimmen aus dem Hintergrund 199
22. Fall 13: Fußballfan
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02 AM: JA UNSER JENA 4:1 GEWONNEN201 Wie man aus dieser Zeile erschließen kann, handelt es sich hier offensichtlich um einen Anruf eines Jena-Fans, dessen Mannschaft vier zu eins gegen eine andere Mannschaft gewonnen hat, wobei die Lautstärke, in der er seine überschwängliche Freude am Notruf zum Ausdruck bringt, indiziert, dass er wahrscheinlich ziemlich betrunken ist. Dabei kann man aus seiner Mitteilung im Grunde genommen bereits an dieser Sequenzstelle ableiten, dass hier im Sinne des Normalfalls kein Notfall vorliegt, sondern ein klassischer Fall eines Notrufmissbrauchs gegeben ist. Ein Fall, wo ein Fan sich in seiner Ausgelassenheit an die Polizei wendet, um ihr ein freudiges Ereignis mitzuteilen. Hier bereits lässt sich sagen, dass es zu den Pflichten des Polizeibeamten gehörte, diesen Anruf so schnell wie möglich zu beenden, wobei es zur Vermeidung unnötiger Eskalation taktisch klug wäre, die Beendigung möglichst sachlich und trocken auszuführen, also den Anrufer nicht durch „,harshness‘“202 unnötig zu provozieren. 03 P: Ja = 04 AM: = EINS A WAS? Der Polizeibeamte leitet indes noch keine Gesprächsbeendigung ein, sondern reagiert auf die Äußerung des Mannes mit einem schlichten „ja“, woraufhin dann der Anrufer laut ,nachlegt‘, was die Hypothese erhärtet, dass er offensichtlich schwer alkoholisiert ist. 05 P: Prima ge: Während es spätestens jetzt angemessen wäre, das Gespräch zu beenden, reagiert der Polizeibeamte auf eine sich mit dem Anrufer solidarisierende Weise. 06 AM: DA STAUNT ER WAS? Der Anrufer erwidert daraufhin sinngemäß: ,Das hättet ihr von uns wohl nicht erwartet?‘, womit er die Polizeibeamten nicht unter die Fans eingemeindet, sondern sie eher als Gegner sieht, als die Repräsentanten der Ge200 Wie mir ein Student sagte, sei dies eine spezifische Variante in diesem Direktionsbereich, sich bei Handy-Anrufen mit der Ortsbezeichnung zu melden, damit die Anrufer wissen, wo sie angekommen sind und selbst beurteilen können, ob sie richtig angekommen sind. 201 Nach Kontrollhören der Tonbandaufnahme des Notrufes weiche ich an dieser Stelle von der studentischen Verschriftung – „JA UNSER JENA GE 4:1 GEWONNEN“ – leicht ab. 202 Bakke, zit. nach Merton (1964), S. 203.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
sellschaft, die der Gemeinschaft der Fans den Sieg nicht gönnt. Auffällig an der Redeweise des Anrufers ist ferner, dass er so kommuniziert, als habe er persönlich vier zu eins gewonnen. 07 P: Bistde froh ge? Der Polizeibeamte macht mit, er begibt sich auf die gleiche Sprachebene wie der Anrufer, was erwarten lässt, dass dieser im nächsten Turn hieran anschließt und das Gespräch noch nicht zum Ende kommen wird. 08 AM: NA KLAR EJ -Der Anrufer erwidert tatsächlich im Werner-Stil.203 09 P: Kannste dir noch ene inde Birne gießen (
) kugelrund 204
Der Polizeibeamte sagt nun nicht, wie es im Sinne der Normalfalls angemessen gewesen wäre, ,also hör mal, mach keinen Unsinn, das ist hier ein Notruf‘, sondern er kommuniziert vielmehr auf der Sprachebene des Anrufers mit diesem. Aus dem, was hier fragmentarisch vertextet vorliegt, kann man erschließen, dass er den Anrufer dazu auffordert, auf den Sieg noch einen zu trinken. In Langschrift formuliert: ,Da kannst Du Dir noch einen in die Birne schütten, bis Du kugelrund bist‘. 10 AM: Das hammer schon so oder so Der ihm auf seine Aufforderung hin zu verstehen gibt, dass sie das „schon so oder so“ gemacht haben, was man sich plastisch vorstellen kann. Kurzum: Es ist ganz klar. Hier wird eine Institution angerufen im Sinne von Klamauk und Unfug. 11 P: #lachen# Das nachfolgende Lachen indiziert, dass der Polizeibeamte den Anruf genießt, dass er sich amüsiert. 12 AM: Wir gehen jetzt och von der Straße runter ge Der Anrufer sucht offensichtlich Ansprache, er ist schwer alkoholisiert und braucht irgendwie einen Gesprächspartner.205 Dem er nun zu verstehen 203
Im Sprachstil von Werner, der Comicfigur von Rötger Feldmann. s. Fußnote 84. 205 Es handelt sich bei diesem Phänomen um eine Art von Entgrenzung: Schwer alkoholisierte Personen brauchen irgendwie einen Ansprechpartner. Sie können sich 204
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gibt, dass ,sie‘ (also der Anrufer und noch mindestens eine weitere Person, ein weiterer Fan) auch jetzt von der Straße runter gehen, womit er implizit sagt, dass ,sie‘ im Moment gerade möglicherweise den Verkehr behindern und sich oder andere Verkehrsteilnehmer gefährden. Im gewissen Sinn wird nun der Notruf umgedreht, denn es wird am Notruf Wohlverhalten angekündigt. 13 P: Ja paßt off 14 AM: Ja 15 P: Dasser nicht unter de Räder kommt Der Polizeibeamte reagiert besorgt, so als handele es sich um seine eigenen Kumpel. 16 AM: Ach ne = 17 P: = Sonst kratzmer euch widder vom Fahrbahnbelag ab= Er spricht im Grunde dieselbe Sprache wie der Anrufer. 18 AM: = Ne viel Spaß 19 P: /Ja Tschüß\ 20 AM: Macht mer keine Einsätze ge 21 P: #lachen# machmer och noch Das Verhalten des Anrufers entspricht dem, was man in der Psychiatrie für Alkoholiker das ,Kleben‘ nennt. ,Kleber‘ können nicht aufhören, es muss immer noch was hinzukommen. Sie können zum Beispiel auch den Telefonhörer nicht auflegen, es muss immer noch mal ein Satz folgen. Man kann sich von ihnen auch nur ganz schwer verabschieden. Man darf eigentlich keinen ,kleinen Finger‘ geben, sonst wird man sie nicht mehr los. Nun hätte der Polizeibeamte mit dem Gespräch sicherlich schon früher Schluss machen müssen. Er spielt aber mit, weil ihm dies Spaß macht, woraus man ableiten kann, dass der Polizeibeamte mit Sicherheit keine „bureaucratic personality“206 ist, kein „bureaucratic virtuoso, who never forgets
nicht mehr disziplinieren, woran man im Übrigen merkt, dass Distanzwahrung normalerweise Einsatz und Kraft fordert. Haltung zu bewahren ist keine anstrengungslose Sache. Und wenn Menschen betrunken sind, geht dieses Haltung-Bewahren weg. Und wenn sie dann keinen anständigen Ansprechpartner haben, besteht eben eine Möglichkeit darin, die Polizei anzurufen. 206 Merton (1964), S. 195 ff.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
a single rule binding his action“,207 sondern jemand, der kein Zwangspolizist ist. Ergebnis Der Fall ist objektiv kein Notfall, was bereits in Zeile 02 zu erkennen ist, und damit wäre es für den Polizeibeamten legitimierbar gewesen, das Gespräch früher zu beenden. Stattdessen kommuniziert er unnötig mit dem Anrufer auf eine informelle Weise. Dass er sich an der Distanzlosigkeit des Anrufers freundlich beteiligt, ist aber für eine Polizeifunktion nicht notwendig, wie man generell sagen kann, dass es keine polizeiliche Funktion gibt, die das erfordert. Denn man wird nicht dadurch funktionale Polizei, dass man sich anbiedert. Der Polizeibeamte hätte das Gespräch funktional beenden können, ohne den Anrufer schroff abweisen zu müssen. Von daher wäre es auch falsch, ein Kategorienfehler bzw. eine Abweichung vom Normalfall zur anderen Seite hin, ihm das freundliche Eingehen auf den Anrufer als eine polizeiliche Leistung im Sinne eines effektiven Eingehens auf den Bürger anzurechnen. Denn es hat keinen größeren Effekt im Sinne der Gefahrenvermeidung, als wenn er das Gespräch freundlich, aber bestimmt beendet hätte, zumal durch das Eingehen auf den Anrufer die Gefahrensituation keineswegs beseitigt wird, da dieser hierdurch nicht weniger betrunken und nicht weniger distanzlos wird. Man kann sich gut vorstellen, wie dieses Verhalten des Polizeibeamten motiviert ist, denn wenn man hinter dem Wachpult sitzt, gibt es sicherlich auch Zeiten, in denen man sich langweilt. Und dann kommt so ein Anruf nicht ungelegen. Kurzum: Der Polizeibeamte reagiert privatistisch. Er macht sich einen kleinen Spaß, wobei er allerdings aus dem Blick verliert, dass das Gespräch auf der Notrufleitung stattfindet und die Notrufleitung damit für wirkliche Notfälle blockiert ist.208
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Ebd., S. 199 f. Selbst der Einwand, dass der Polizeibeamte durch optische Zeichen angezeigt bekommt, wann der nächste Notruf eingeht, und er aus diesem Grund doch so lange mit dem Anrufer in dieser Weise sprechen könnte, ist nicht überzeugend. Denn auch in diesem Fall hätte er den Notruf blockiert und gegen den Sinn der Institution gehandelt. Anders formuliert: Es handelt sich um jeden Fall um eine Abweichung vom Normalfall. Und es ist eine andere Frage, ob man diese Abweichung hinnehmen will oder ob man sie kritisiert. 208
23. Fall 14: Herr Schlecht
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23. Fall 14: Herr Schlecht Es handelt sich hier im Grunde genommen um einen Sonderfall, weil die nicht angemessene Behandlung eines Nichtnotrufes (also eines Anrufs des zweiten Typs) dazu führte, dass der Notruf durch zwei Folgeanrufe für eine geraume Zeit für wirkliche Notfälle blockiert war, ohne dass demjenigen, der sich in einer persönlichen Krise nicht anders zu helfen wusste, als den Polizeinotruf anzurufen, geholfen worden wäre, an die richtige Stelle zu gelangen, auch wenn dies auf relativ einfache Weise möglich gewesen wäre. 01 P: Polizeinotruf! 209 Das Gespräch beginnt wiederum mit der schon eingehend analysierten stereotypen technischen Standardformel. 02 B: Schön’ Gut’n Abend (--) \. . . Der Anrufer antwortet darauf mit einer ornamentierten Grußformulierung. Wenngleich freundlichkeitserheischende Eröffnungen in dem Maße getilgt sind, in dem eine Sache wirklich dringend ist, ist damit noch nicht gesagt, dass in diesem Fall kein Notfall vorliegt, weil es sich um eine gewohnheitsmäßige Begrüßung handeln kann, um eine Grußfloskel, mit der die elementare Regelverletzung, dass der Polizeibeamte mit der technischen Meldung „Polizeinotruf“ keine kommunikative Praxis eröffnet, unter der Hand korrigiert wird.210 Auffällig ist dann die deutliche Pause nach diesem Gruß, die zwei Lesarten zulässt. Die erste lautet: B lässt einen ,slot‘ für die Grußerwiderung durch den Polizeibeamten. Oder, und dies ist die zweite Lesart, er benötigt Zeit, um zu überlegen, wie er mit dem Gespräch fortsetzen soll. 209 Von den Studenten verwendete Notationszeichen: ºº. . . . . .ºº sehr leise |. . . . . . . . . . . .| Beginn und Ende einer Überlappung HERR laut ;;„ stark bzw. schwach fallende Intonationskurve „;; stark bzw. schwach steigende Intonationskurve (--) mittlere Pause (–) kurze Pause bzw. kurzes Absetzen /Hummel/ unsichere Transkription („“) Stimmhöhe gleichbleibend bei längeren Äußerungen. Von mir nach Kontrollhören der Tonbandaufnahme ergänzte Sigelerläuterung: P Polizeibeamter B Bürger. 210 „Die Begrüßung konstituiert, indem sie mit einem bestimmten Zukunftswunsch eine gemeinsame Praxis eröffnet, Sittlichkeit oder Reziprozität zwischen Subjekten, sie erzeugt also konkrete Sozialität.“ Oevermann (1996 d), S. 3.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
03211 B: . . ./ Ich bin’s (-) \. . . Die nun anschließende – distanzlose – Formulierung präsupponiert, dass der Anrufer davon ausgeht, dass ihn der Angerufene an der Stimme erkennt.212 Das würde indes voraussetzen, dass er entweder mit dem Polizeibeamten gut bekannt ist oder – und dies ist die zweite Lesart – dass er mit dem Angerufenen verabredet ist, was beides für einen Notruf äußerst ungewöhnliche Umstände wären. 04 B: . . ./ der Herr Schlecht \. . . Da man Namen in der deutschen Sprache in der Regel nur dann mit einem Artikel versieht, wenn man über jemanden spricht, nicht jedoch, wenn man von sich selbst spricht, objektiviert sich der Anrufer hier selbst, wobei die Objektivierung durch das Versehen des Eigennamens mit einem Artikel eine Typisierung darstellt. Das heißt, der Anrufer typisiert sich selbst als jemand, der bekannt ist. Er macht sich zu einem öffentlichen Original, zu einem bunten Hund, zum amtsbekannten Herrn Schlecht. 05 B: . . ./ aus [Name einer Stadt] 213 [. . . . . . . . .] weg 10c Es erfolgt nun eine exakte Angabe seiner Adresse, womit er von sich aus die Daten nennt, die normalerweise von Seiten der Polizei abgefragt werden, um den Neuigkeitsbogen auszufüllen. Damit subsumiert sich der Anrufer selbst unter das Formularwesen, was indiziert, dass er mit der Bürokratie vertraut ist. 06 P: Ja Der Polizeibeamte äußert hierauf ein kurzes Verstehenstoken, durch welches er dem Anrufer signalisiert, dass er ihn verstanden hat. Zugleich bedeutet diese Äußerung die implizite Aufforderung an die Adresse des Anrufers, weiterzureden. 07 B: Und zwar geht’s DA drum (--) \. . . Woraufhin der Anrufer seine Darstellung fortsetzt. 08 B: . . ./ „Die Frau /Hummel214 / hat ’ne Anzeige gemacht;;„“ Er spielt auf einen bürokratischen Vorgang an, über den er jetzt sprechen will, wobei man an der Formulierung des Anrufers merkt, dass er im 211
s. Fußnote 84. Analog gilt, dass man sich als Anrufer nur mit „hi“ oder „hallo“ melden kann, wenn man erwarten kann, dass der Angerufene einen an der Stimme erkennt. Zum Beispiel: „,Hi, ’r my kids there?‘“. Schegloff (1979), S. 30. 213 Die Studenten nahmen hier keine Maskierung vor. 212
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Grunde genommen voller Angst ist wegen der Folgen dieser Anzeige, die sich eigentlich nur gegen ihn richten kann. Spätestens hier steht fest, dass im Sinne des Normalfallmodells kein Notfall vorliegt und es sich auch nicht um einen Fall für eine Anzeigenaufnahme handelt, sondern der Anrufer sich wahrscheinlich nur wegen einer Anzeige erkundigen oder über sie sprechen will. Da es sich hier also auf keinen Fall um einen Notruf handelt, hätte der Polizeibeamte den Anrufer ganz sachlich fragen müssen: ,Welchen Notfall haben Sie mitzuteilen?‘ – oder – ,Welcher Notfall liegt bei Ihnen vor?‘, und ihm dann, wenn er keinen Notfall hätte benennen können, die Telefonnummer der Amtsleitung mitteilen müssen, um auf diese Weise das Gespräch so schnell wie möglich zu beenden. 09 P: Ah, Herr Schlecht, daß is’ aber kei’ Notruf. Geh! Der Polizeibeamte, der offensichtlich nun weiß, mit wem er telefoniert, reagiert indes mit dem „ah“ emotional, was falsch ist. Er hätte hier viel distanzierter, souveräner handeln müssen, weil er durch seine expressive Reaktion auf die Distanzlosigkeit – ,ich bin bei Ihnen bekannt‘ – eingeht, das Distanzüberwindungsangebot reproduziert und dem Anrufer damit schon ,den kleinen Finger gibt‘.215 Dies hat der Polizeibeamte offensichtlich nicht erkannt, wobei das Vermeiden dieses Fehlers auch eine gewisse Erfahrung erfordert, über die der Polizeibeamte im konkreten Fall offensichtlich nicht verfügte. 10 P: Sie müssen scho’ |ma’ . . .| Wenngleich der hier artikulierte Satz des Polizeibeamten fragmentarisch bleibt, was damit zusammenhängt, dass der Polizeibeamte vom Anrufer unterbrochen wurde, lässt sich aus dem inneren Kontext des Falles erschließen, dass es sich hier um die Aufforderung an den Anrufer handelt, zu beachten, dass es sich bei seinem Anliegen nicht um einen Notfall handelt. 11 B:
|Nein! |
Das „Nein!“ ist die Reaktion auf die aus der Äußerung des Polizeibeamten erschlossene Abweisung. Der Anrufer hat herausgehört, dass er abgewiesen werden soll. Er will aber nicht abgewiesen werden, er will jetzt mit 214
Von mir gewähltes Pseudonym. Zur Bedeutung persönlicher und emotionaler Distanz insbesondere in spannungsgeladenen Situationen vgl. Dietel (1986), S. 381: „Der polizeiliche Umgang mit Menschen soll auch und gerade in spannungsgeladenen Situationen mit der notwendigen persönlichen und emotionalen Distanz, also kontrolliert und professionell erfolgen.“ 215
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
dem Polizeibeamten sprechen, er braucht unmittelbar jemanden, den er adressieren kann, worin sich das Distanzlose reproduziert. 12 P: . . . die öffentliche anrufen. ( – ) Auf Wiedersehen. Aufgelegt Der Polizeibeamte geht hierauf nicht ein, sondern formuliert sehr abgekürzt, sehr wenig kompetent216 „die öffentliche anrufen“, womit er offensichtlich die Amtsleitung meint. Doch statt nun dem Anrufer die Nummer der Amtsleitung mitzuteilen und ihn zu bitten, diese Nummer anzurufen, sagt er nach einer kurzen Pause „Auf Wiedersehen“ und legt einseitig von sich aus den Hörer auf, womit er den Anrufer abwimmelt, ohne ihm geholfen zu haben. Darauf folgt ein zweiter Anruf.217 13 P: Polizeinotruf! Der Polizeibeamte beginnt wieder mit „Polizeinotruf!“. 14 B: Wo soll ich’n da anrufen? („“) Woraufhin der Anrufer von vorher fragt: „Wo soll ich’n da anrufen?“, was indiziert, dass er mit dem Hinweis „öffentliche anrufen“ nichts anfangen konnte. Auffällig ist, dass der Anrufer sich nun nicht mehr mit seinem Namen meldet, sondern gleich zur Sache kommt und damit unterstellt, dass der Polizeibeamte ihn an seiner Stimme erkennen kann: ,Sie kennen mich doch, ich bin’s‘. Womit das „ich bin’s“ aus Zeile 03 noch gesteigert wird. Der Anrufer zieht den Polizeibeamten richtig in eine Nähe rein, was kenn216 U. a. auch deswegen, weil die Formulierung präsupponiert, dass der Anrufer eine private Nummer anrief. Und das ist schlicht Nonsens. Der Notruf ist ebenso wie die Amtsleitung eine öffentliche Leitung. Lediglich in den Anfängen des Notrufs, in den 20er Jahren der Weimarer Zeit, gab es private Notrufmelder, die man sich von Firmen wie Siemens oder Halske & Co. mieten musste, um an das Nachrichtennetz der Polizei angeschlossen zu werden. So regelte der Runderlass des Ministeriums des Inneren (RdErl. D. MdI.) vom 23.7.1926 (- II M 16 Nr. 15, 720 f.): „Die Anlagekosten [für die privaten Notrufmelder, T. L.] müssen (. . .) von der die Anlage bauenden Firma [u. a. Siemens & Halske und Berliner Notruf A. G., T. L.] allein getragen werden. Die Firma erhält dann das Recht, in den Wohnungen oder in den Geschäftsräumen von Privatpersonen usw. gegen Entgelt [Vertrag zwischen der aufstellenden Firma und dem Nutzer, T. L.] Ruf= und Raumschutzanlagen anzulegen, die in einer Zentrale des zuständigen Überfallkommandos der Polizei enden.“ Wie unschwer abzuleiten ist, war der private Notruf damit in erster Linie ein Ruf für die wohlbetuchten Gesellschaftsschichten, während die Armen die Polizei auf andere Weise alarmieren mussten. 217 Ein „repeat call“. Hierzu Ainsworth/Pease (1987), S. 116.
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zeichnend ist für psychotischen Schub. Dass der Mann noch einmal anruft, spricht für seine Hilflosigkeit. Denn offensichtlich weiß er nicht, wohin er sich wenden soll. Und genau dies müsste ihm der Polizeibeamte im nächsten Turn sagen. 15 P: TELEFONBUCH! Jetzt sagt der Polizeibeamte laut: „Telefonbuch“. Was so viel heißen soll wie: ,Schauen Sie im Telefonbuch nach!‘ Das ist wiederum inkompetent, wobei man sofort die Verärgerung des Polizeibeamten über den erneuten Anruf merkt. Ärger, den er hätte vermeiden können, wenn er schon beim ersten Telefonat dem Anrufer statt „öffentliche“ die Nummer der Dienststelle genannt hätte. Genau dies macht er aber auch jetzt nicht. Vielmehr kommuniziert er wiederum abgekürzt und schroff, was die Gefahr in sich birgt, dass der Anrufer noch einmal anrufen wird, weil er sich nicht zu helfen weiß, da er sich in einem psychotischen Schub befindet und er in seiner akuten Krise entweder keinen Zugriff auf ein Telefonbuch hat oder er krisenbedingt nicht in der Lage ist,218 die richtige Telefonnummer aus dem Telefonbuch219 herauszusuchen. 16 B: ºº|. . . . . . . . . . . .|ºº Aufgelegt Wiederum, wie beim ersten Anruf, wird das Telefonat nicht geregelt beendet. Wiederum legt der Polizeibeamte von sich aus auf, was die Gefahr birgt, dass sich die Struktur reproduziert und der Anrufer, dem erneut nicht geholfen wurde, noch einmal anruft. In der Tat folgt nun ein dritter Anruf. 17 P: Polizeinotruf! Der Polizeibeamte meldet sich wieder mit „Polizeinotruf!“.
218 Vgl. hierzu Schegloff (1967), S. 170: „Persons who list in the yellow pages rely on the ability of members of the society to see in some set of circumstances in which they find themselves the relevance of some category or set of categories in terms of which the yellow pages are organized. They rely on members of the society scrutinizing their own circumstances and finding those circumstances summarized and listed by some title in the phone book which they may then consult in order to find that set of persons to whom they might turn, and thus in the phone book find the way in which they might come to consult such persons.“ 219 Schegloff [(1967), S. 170] thematisiert das Telefonbuch als „collection of methods provided by some members of the society for other members of the society to generate encounters with them“.
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C. Materialanalysen: Analysen der Notrufprotokolle
18 B: Schön’ gut’n Abend. Ich bin’s noch ma’. Der Anrufer meldet sich erneut mit „Schön’ gut’n Abend. Ich bin’s noch ma’“, wobei er so tut, als ob der Polizeibeamte immer ganz freundlich zu ihm gewesen wäre, was nicht der Fall war. Das, was vorher war, wird einfach verleugnet. Es findet keine Transformation statt, was die Lesart erhärtet, dass der Anrufer ein Psychotiker ist. Denn für Psychotiker ist kennzeichnend, dass bei ihnen zwar einerseits die formale Intelligenz und Sprachlichkeit funktioniert, sie aber andererseits absolut unfähig sind, Nähe und Distanz zu trennen, Nähe- und Distanzregelungen einhalten zu können. Dort, wo Distanz geboten ist, produzieren sie Nähe, und wo Nähe geboten ist, produzieren sie Distanz. 19 P: HERR SCHLECHT, wenn Sie NOCHEINMAL den Notruf anrufen, (–) mach ich ’ne Anzeige 20
gegen Sie. ;;„
21 B: Es geht da drum „;; Aufgelegt Wenngleich das Auflegen zwar prinzipiell eine nachvollziehbare Reaktion ist, weil der Polizeibeamte den Anrufer, der in seiner Krise am Polizeibeamten förmlich ,klebt‘, los werden muss, muss bedacht werden, dass diese Androhung einer rechtlich-formalen Maßnahme zu vermeiden gewesen wäre, wenn der Polizeibeamte bereits zu Beginn erkannt hätte, dass sich der Anrufer in einer psychischen Krise befand, in der er auf Hilfe angewiesen war, und er ihm schon beim ersten Anruf ganz sachlich die Telefonnummer der sachbearbeitenden Dienststelle oder des für sein Anliegen zuständigen Sachbearbeiters gegeben hätte. Ergebnis Es ist offenkundig, dass das polizeiliche Handeln in diesem Fall nicht im Einklang mit dem steht, was man von einem professionellen Polizeibeamten im Verhältnis zu einem Klienten erwartet, „der aus der Konkretion einer existentiellen Lage heraus eine spezifische Dienstleistung benötigt oder nachfragt“.220 Aufgabe des Polizeibeamten wäre es gewesen, im Sinne einer „sensiblen Souveränität“221 zu erkennen, dass der Anrufer offensichtlich ein ihn persönlich betreffendes Problem hatte und sich nicht anders zu helfen wusste, als die Nummer des Polizeinotrufes anzurufen. Er hätte dem Anrufer helfen müssen, den richtigen Ansprechpartner zu finden, statt ihn 220 221
Oevermann (2000 b), S. 58. Zu diesem Begriff Loer (2000), S. 339.
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auf diese unfreundliche Weise zu behandeln.222 Dass der Polizeibeamte sich nicht in dieser Weise verhielt, ist Ausdruck schlechter polizeilicher Handlungspraxis, die mit Bürgernähe nicht zu vereinbaren ist, worüber man in der Praxis mit dem Polizeibeamten unbedingt sprechen müsste, weil er mit seinem Verhalten ein schlechtes Licht auf die Polizeiinstitution wirft und damit ihr Image mit Sicherheit nicht verbessert.
222 Der Polizist war also weder Freund noch Helfer. Nebenbei bemerkt: Der Slogan „Die Polizei, Dein Freund und Helfer“ stammt aus der Weimarer Zeit. Er „geht auf Bemühungen (. . .) zurück, Polizei und Bürger einander näherzubringen“. Büchmann (1986), S. 397. Denn „Polizei im modernen Volksstaat (ist und will) eine Volkspolizei (. . .) sein“. Ebd. Vgl. auch Bessel (1992), S. 336 f. Aus der Literatur geht nicht zweifelsfrei hervor, wer diesen Freund und HelferSlogan prägte, Carl Severing oder Albert Grzesinski. Vgl. hierzu auch Kapitel D., Fußnote 114.
D. Rezeptionsvergleich 1. Vorbemerkung Nachdem ich im vorherigen Kapitel auf der materialen Basis der von den Studenten erhobenen und verschrifteten Notrufe herauszuarbeiten versuchte, welche polizeilichen Handlungsfehler in den Notruftexten abgebildet sind, werde ich in diesem Kapitel nach einer ausführlichen sequenzanalytischen Rekonstruktion der von mir korrigierten Transkription einer tontechnisch aufgezeichneten studentischen Falldiskussion, in der ein Notruf nach der Methode der Sequenzanalyse1 besprochen werden sollte, exemplarisch auf Sequenzstellen aus studentischen Falldiskussionen zu sprechen kommen, an denen vorwiegend ein dem idealtypischen Modell nicht entsprechendes, fehlerhaftes polizeiliches Handeln abgebildet ist.2 Auf diese Weise soll überprüft werden, ob die Studenten die Methode so anzuwenden verstanden, dass sie vermittels der Sequenzanalyse die fehlerhafte Praxis erkannten. Um diese Überprüfung vornehmen zu können, war es methodisch unerlässlich, vorweg Analysen der Notrufprotokolle anzufertigen, um diese dann als Bezugs- oder Abgleichfolien verwenden zu können. Der Grund für die hier gewählte Vorgehensweise, die Analyse ausgewählter Textstellen exemplarisch darzustellen, besteht darin, dass ich die Arbeit, die aufgrund der Vielzahl an Materialanalysen vom Leser ehedem bereits „viel Geduld und wohlwollende Konzentration“3 abverlangt, lesbar halten möchte, zumal sie bezüglich des, wie Wernet schreibt,4 auffälligsten Charakteristikums der objektiven Hermeneutik, der Analyse geringer Textmengen, ohnehin schon wegen ihres Umfangs aus dem Rahmen fällt. 1
Die ich in ihren Grundzügen den Studenten in der ersten Phase der Ausbildung vermittelt hatte. 2 Im Sinne von Hildenbrand könnte man hier auch von „schönen Stellen“ sprechen, womit Textstellen gemeint sind, die „in besonders augenfälliger Weise eine Fallstruktur zum Ausdruck bringen“. Hildenbrand (1999), S. 16. Wie bereits Wernet [(1995), S. 186] in seiner Dissertation ausgeführt hat, unterliegt „ein Herausgreifen von spezifischen Sequenzpositionen“ zwar einer „gesteigerten Begründungsverpflichtung“, ist aber methodisch durchaus zulässig und sinnvoll: „Würde uns beispielsweise lediglich die Urteilsverkündigung interessieren, könnten wir in den Protokollen von Gerichtsverfahren begründet die Sequenzposition aufsuchen, an der die Urteilsverlesung beginnt.“ 3 Oevermann (1993 b), S. 141. 4 (2000), S. 32.
2. Vollständiger Rezeptionsvergleich eines Falles
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2. Vollständiger Rezeptionsvergleich eines Falles Nachfolgend möchte ich dem Leser anhand der exemplarischen Analyse eines Diskussionsprotokolls demonstrieren, wie zwei Seiteneinsteiger, Studentin M5 und Student S,6 sowie ein Praxisaufsteiger, Student B,7 die zusammen eine Arbeitsgruppe bildeten, einen von ihnen in der Polizeipraxis erhobenen und anschließend transkribierten Notruffall rezipierten.8 Dabei werde ich mich bei der Analyse nicht auf die studentische Transkription der aufgezeichneten Falldiskussion beziehen, sondern auf die von mir nach einem Kontrollhören der Tonbandaufzeichnung korrigierte Transkription des Diskussionsverlaufsprotokolls.9 Bei der Kontrolle der Bandtranskription stellte sich nämlich heraus, dass diese an einigen Stellen von der protokollierten Situation abwich,10 weshalb ich, um eine möglichst große Annähe5
Jahrgang 1975. Abiturientin. Jahrgang 1969. Abiturient. Wehrdienst von 1988–1990. Danach Krankenpfleger. 7 Jahrgang 1963. Fünf Jahre Einzeldienst bei der Schutzpolizei (S). 8 Auch wenn es m. E. ausgereicht hätte, die Analyse nur bis zu Formulierung der Hypothese bezüglich der Motivierung für die Fehlinterpretation darzustellen und dann ab Äußerung 190 M 72 den reinen Interaktionsablauf zu dokumentieren und nur an Stellen, die eine Widerlegung bedeuten, die Interpretation noch einmal aufzunehmen, habe ich darauf verzichtet, weil es mir im wörtlichen Sinne um die Darstellung einer vollständigen Analyse einer studentischen Diskussion geht, mit allen Wiederholungen, die hier auftreten und mit denen ein in der Praxis stehender Soziologe pädagogisch angemessen umgehen muss. 9 Die Korrekturen beziehen sich auf die Textstellen, wo die Verschriftung mit der Tonbandaufnahme nicht übereinstimmte. Indes habe ich im analysierten Protokoll – wie auch in den nachfolgenden Rezeptionsanalysen von Fallstellen – auf eine Korrektur falscher Syntax, Orthographie und Interpunktion verzichtet, womit der Leser auch einen Eindruck von der schriftsprachlichen Leistungsfähigkeit der Studenten erhält. 10 Die Unterschiede bestanden u. a. in der fehlenden Verschriftung von „mhms“ und Sprechpausen, aber auch in der Tendenz, grammatikalisch falsch gesprochene Sätze grammatisch korrekt zu schreiben. Für die ungenaue Verschriftung gibt es aus meiner Sicht unterschiedliche Erklärungen: 1. Die fehlende Übung (und der damit einhergehende hohe zeitliche Aufwand) bei der detailgetreuen Transkription von mündlicher Rede, was damit zusammenhängt, dass wir zwar, wie Heinz Schlaffer (1997, S. 14) schreibt, reden, aber dennoch in keiner mündlichen Kultur mehr leben: „Alles, womit es uns ernst ist – Religion, Recht, Wissen – (. . .) begegnet uns schon immer als Niederschrift.“ Und zwar als Niederschrift, so kann man ergänzen, die von uns in der Regel nicht selbst angefertigt wurde. Zur Bedeutung von Transkriptionserfahrung für das Erstellen einer guten Materialbasis vgl. Oevermann (1993 b), S. 266; Schegloff (1967), S. 45. 2. Die teilweise schlechte Qualität der tontechnischen Diskussionsprotokolle [zur Bedeutung der „Qualität der Datenbasis“ vgl. Oevermann (1993 b), S. 266; Hildenbrand (1999), S. 31 f.], die daraus resultierte, dass die Studenten über kein professionelles Aufnahmeequipment verfügten. 3. Die Annahme, dass die eigene Diskussion in der Seminararbeit in mehr oder wenigem gutem Deutsch abzugeben sei, um keine schlechte Note zu erhalten 6
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D. Rezeptionsvergleich
rung an die protokollierte Realität 11 zu erhalten, ein Protokoll benötigte,12 in welchem die protokollierte Wirklichkeit detaillierter abgebildet war.13 Die Diskussion dauerte 27 Minuten. In ihr sollte die Auswertung nach der im Unterricht explizierten Methode der Sequenzanalyse durchgeführt werden.
[„Educated speakers use good grammar“, vgl. Holst/Kniffka (1994), S. 175]. Hierzu passt ein Protokollauszug aus einem Rückmeldegespräch, das ich (I) mit den Studenten S und W führte. Meine Frage lautete, warum das tontechnisch aufgezeichnete Diskussionsprotokoll nicht wortgetreu verschriftet worden sei: „S: . . . ich hab mir gedacht, naja, machste des mal schön, damit es gut aussieht und so I: Mh S: und war eben falsch, naja, mein Gott. W: Ja, das Problem war ja, als wir den Notruf verschriftet ham, ham mer bei manchen Stellen gesagt, so spricht doch keiner, wie spricht denn die? Weil diese abgehackten Sätze, oder aus dem Zusammenhang rausgerissen, einfach nur so ein Wort reingeschmissen. Dann haben wir festgestellt bei der Diskussion, naja (lacht), fast genauso wie in dem Notruf und dann I: Und dann haben Sie gedacht, das wird sanktioniert oder was, wenn Se das so hinschreiben? W: So in der Art. S: So in der Art, ja.“ 11 Zum Verhältnis von Protokoll und protokollierter Wirklichkeit oder Realität/ Protokolle schreibt Oevermann (1993 b), S. 258: „Protokolle setzen immer eine protokollierte Wirklichkeit voraus. (. . .) Es existiert zwar fraglos eine protokollierte Wirklichkeit, aber sie läßt sich für den analysierenden Dritten beziehungsweise für den methodisch kontrollierten, intersubjektiv nachprüfbaren Zugriff immer nur in Gestalt von Protokollen erfassen. Methodologisch läßt sich die durch Protokolle bezeichnete Grenze nicht überschreiten auf das Terrain der protokollierten Wirklichkeit, die nicht selbst ein Protokoll ist.“; vgl. hierzu auch Oevermann (1986), S. 48 ff.; Leber/Oevermann (1994), S. 385 f.; oder Oevermann (2000 c), S. 79 ff. 12 Oevermann unterscheidet terminologisch zwischen Protokoll und Text, um zum Ausdruck zu bringen, „daß im ersteren Fall das methodentechnische Problem der Erzeugung von Protokollen einer zu untersuchenden konkreten sozio-historischen Wirklichkeit im Blick ist, während im zweiten Falle es um die grundsätzliche Bestimmung der methodologischen Operationen im Gegenstandsbereich der sinnstrukturierten Welt geht“. Oevermann (1986), S. 48. Um den Leser nicht zu verwirren, werde ich nachfolgend gleichsinnig von Text und Protokoll sprechen. 13 Wenngleich es sich auch bei meinem Versuch, die Wirklichkeit genauer zu protokollieren, um ein Limesunternehmen handelte, wie ich mit Bezug auf den Schützschen „Limesbegriff“ [vgl. Schütz (1981), S. 42] formulieren möchte. Im hier von mir verstandenen Sinne eines Limesunternehmens vgl. auch Schegloff (1967), S. 45: „Great pains were taken to make the revised transcript as accurate and true to the tape recordings as is possible, although, I am sure, that a further check would yield some errors that have, nonetheless, slipped through.“ Wenngleich Schegloff nach seiner Aussage nicht glaubt, dass es sich hier um material entscheidende Fehler handelt: „I do not, however, believe that these errors would be of such a character as to materially affect the analysis and the conclusions of this study.“ Ebd., S. 45 f.
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3. Ausgangsfall für die studentische Fallrezeption14 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13
P: Notruf15 A: Hallo. Moment mal, hier is’n, hier is’n Notruf. Und zwar nur ein schicken Sie mir. Meine Mutter is umgefallen, sie hat etiplep-, etipleptische Anfälle. P: Epileptische Anfälle ja! A: Ja P: Äh’m a leg mal noch mal auf, und wä-, wähl mal gleich eins eins zwo, (-) den Notarzt. A: Okay P: eins eins zwo A: Okay P: Ja A: Danke
4. Studentische Fallrezeption16 1 M 1: Epileptischer Anfall \. . . M eröffnet das Gespräch mit dem Label, das die Arbeitsgruppe dem Fall aufklebte. Aus diesem geht hervor, dass es sich offensichtlich um einen medizinischen Notfall handelt, der über die polizeiliche Notrufleitung einging.17 14 Die Arbeitsgruppe präsentierte die Notrufverschriftung unter der Überschrift „Fall 1, Epileptischer Anfall“. 15 Ich beziehe mich hier auf die studentische Notruftranskription und die hierbei von ihnen verwendeten Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamter A Anrufer (-) Pause unbeendetes Wort, Satz oder Äußerung. 16 Transkriptionssymbolik: 1M1 Erste Zeile und erster Beitrag von M \. . . Äußerung geht nach der zitierten Stelle weiter .../ Äußerung wird fortgesetzt ? Frageintonation (-) kurze Pause, merkliche Unterbrechung des Sprech-Flusses (--) deutliche Pause (2.0) Pause in Sekunden uv unverständlicher Redeteil Anmerkungen des Verschrifters abgeAbbruch einer Äußerung „. . .“ Markierung einer aus dem Notrufprotokoll zitierten Stelle 17 Wie ich bei Durchsicht meines Datenmaterials feststellte, ein keineswegs seltener Fall. Vgl. hierzu die von mir betreute Diplomarbeit von Oschatz u. a. (1998).
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2 M 1: . . ./ Wir beginnen mit der ersten Zeile (-) die Meldung des Polizeibeamten mit „Notruf“ Es folgt die methodische Bemerkung, dass die Analyse „mit der ersten Zeile“ anzusetzen hat. Damit folgt M dem, was ich im Unterricht expliziert hatte. An diesen methodischen Hinweis schließt die Bezeichnung der Handlung des Polizeibeamten mit dem Nomen agentis von ,melden‘ an. Auf diese Äußerung könnte nun eine Diskussion über die Angemessenheit dieser im Polizeialltag am Notruf routinehaft gebrauchten Meldeformel folgen und auf den technischen Charakter der Formulierung hingewiesen werden, wie dies in den von mir vorgestellten Modellfällen erfolgte. In diesem Zusammenhang könnte auch herausgearbeitet werden, dass es sich hier um eine im Vergleich zur Meldung ,Polizeinotruf‘ noch schlechtere Eröffnung handelt, weil in der abgemagerten Form Notruf noch nicht einmal mehr zu erkennen ist, dass der Anrufer den Polizeinotruf erreicht hat, was ihn in der Krisensituation zusätzlich irritieren könnte, sodass nun im Anschluss der Anrufer die Frage stellen könnte, ob er den Polizeinotruf erreicht hat. 3 B 1: Tja, warum (-) diese Zeile nur „Notruf“? Die Formulierung indiziert, dass B etwas an der Meldung „Notruf“ vermisst, wobei seine Frage offen lässt, was er damit genau gemeint. Ob er andeuten will, so die erste Lesart, dass die Formulierung „Notruf“ im Vergleich zu der ansonsten verwendeten Formel ,Polizeinotruf‘ bzw. ,Notruf der Polizei‘ unvollständig ist; oder ob er sagen will, dass im Anschluss an „Notruf“ eine die weitere Kommunikation vorstrukturierende, dem Anrufer ins Gespräch helfende Frage fehlt (zum Beispiel: ,Wie kann ich Ihnen helfen?‘18), über deren kommunikationspragmatische Relevanz ich mit den Studenten im Zusammenhang mit der Vorstellung der Modellfälle gesprochen hatte. 4 S 1: Möglich wär’s ja, daß das Polizei nich mit draufgekommen is S hat die Äußerung von B offensichtlich im Sinne der ersten Lesart verstanden. Diese Lesart ist aber im Protokoll des Notrufs nicht markiert. Sie 18 Vgl. hierzu Whalen/Zimmerman [(1987), S. 179], die Notrufmaterial analysierten, in welchem der Dispatcher das Gespräch mit der Formulierung – „01 D: ! This is thuh Sheriff ’s Department. Do you [02] need some help?“ – begann. Vgl. hierzu auch die vom Zentralen Psychologischen Dienst des Polizeipräsidiums München formulierten Eröffnungsvorschläge: „Es wäre mit den Beamten zu überlegen, ob nicht eine verbindliche Anrede (Vorschlag: ,Polizei-Notruf, Grüß Gott!‘ oder ,Polizei-Notruf, wie kann ich Ihnen helfen?‘) am schnellsten Abhilfe schafft. Die einheitliche, Hilfsbereitschaft signalisierende Form würde jeden einzelnen zu einem zuvorkommenden Verhalten von Anfang an verpflichten.“ (1991), S. 10. [Hervorhebung im Original in Fettschrift, T. L.]
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wäre nur dann zutreffend, wenn im Protokoll festgehalten wäre, dass hier Wortpartikel fehlten, was aber nicht der Fall ist. S weicht somit vom Wörtlichkeitsprinzip19 ab und liefert eine Interpretation, die aufgrund der Protokollierung ausgeschlossen ist. 5 M 2: Also für mich hört’s sich an, als ob der Polizeibeamte ganz gelangweilt oder richtich genervt (-) lästig schon wieder sagt „Notruf“. So ungefähr na ja schon wieder Notruf (-) \. . . Diese Lesart ist zwar nicht, wie die vorhergehende von S, ausgeschlossen, jedoch nicht durch das Protokoll erzwungen, zumal im Protokoll keine Intonationskonturen markiert sind, die auf Langeweile oder Genervtheit schließen lassen. Nach dem Wörtlichkeitsprinzip soll „nur das in die Rekonstruktion von sinnlogischen Motivierungen einfließen, das auch tatsächlich im zu analysierenden Text bzw. Protokoll lesbar und deshalb vom Text ,erzwungen‘ ist“, während hingegen „alle Lesarten verboten (sind), die zwar mit einer Ausdrucksgestalt kompatibel sind, aber nicht in ihr markiert und deshalb nicht von ihr erzwungen sind“.20 Dass M dennoch zu dieser Lesart kommt, steht offensichtlich, wie ihre Formulierung „für mich hört’s sich an“ zeigt, im Zusammenhang damit, dass sie in Kenntnis der Tonbandaufnahme interpretierte21 und aufgrund der Sprechweise des Polizeibeamten attribuierte, dass er den eingehenden Notruf von Beginn an als uninteressante, lästige, nervende Störung ansah, womit sie unterstellt, dass der Polizeibeamte einen falschen Notrufhabitus hat. 6 M 2: . . ./ Da stellt sich doch die Frage (-) was das für eine Wirkung auf den Anrufer hat? M fragt nun, welche Wirkung es auf den Anrufer haben kann, wenn ein Polizeibeamter am Notruftelefon den Eindruck erweckt, den sie gewonnen hat: nämlich „ganz gelangweilt“ oder „richtich genervt“ zu sein und den Anruf habituell als eine lästige Störung anzusehen, also die Haltung ,schon wieder ein Notruf‘ zeigend.
19 Hierzu Oevermann (1998), o. S.; ders. (2000 c), S. 97 und 100 ff.; oder auch Wernet (2000), S. 23 ff. 20 s. vorhergehende Fußnote. 21 Das Problem bestand in der Herstellung „künstlicher Naivität“ [Oevermann (1993 b), S. 142], was mich zu der Überlegung führte, inwieweit es für die Einübung in die Methode der Sequenzanalyse methodisch-didaktisch nicht günstiger sei, in der Ausbildung mit Fällen zu arbeiten, welche die Studenten nicht kannten.
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7 B 2: Der könnt total deprimiert sein \. . . B antwortet auf diese Frage von M im Sinne von völliger Niedergeschlagenheit des Anrufers. An dieser Äußerung von B ist zweierlei auffällig. Zum einen beantwortet er die Frage von M, ohne die Gültigkeit ihrer Interpretation in Frage zu stellen, was material durchaus berechtigt gewesen wäre. So hätte er zu M sagen können: ,Dein Eindruck ist eine zwar mögliche, mit dem Protokoll vereinbare, jedoch nicht vom Protokoll erzwungene Lesart‘. Zum anderen interpretiert er sie nur in Richtung psychischer Niedergeschlagenheit, während es auch möglich ist, dass der Anrufer hierauf verwirrt oder wütend reagiert, um nur zwei andere psychische Zustände zu nennen. 8 B 2: . . ./ Aber wie sich aus dem Fall erkennen läßt, handelt’s sich hierbei um ein Kind (-) wie dann in der zweiten Zeile zu lesen is, das Hilfe für seine Mutter brauch Nachdem B zunächst im Sinne von M’s Fragestellung in elliptischer Form vom Anrufer spricht, leitet er mit dem adversativen „aber“ eine Korrektur ein, die nicht klar erkennen lässt, worauf er mit ihr referiert. Ob er hiermit zum Ausdruck bringen will, dass er den von ihm gewählten bestimmten Artikel „der“ für nicht angemessen hält, weil es sich hier nicht um einen erwachsenen Anrufer handelt, sondern um ein Kind, das Hilfe für seine Mutter braucht. Oder ob sich das adversative „aber“ auf die Prädizierung des Anrufers als „deprimiert“ bezieht. Dann würde der Einwand darauf hinauslaufen, dass Kinder durch solch ein polizeiliches Handeln nicht deprimiert werden können. Unterstellt man nun im Sinne der Sparsamkeitsregel, dass B von solch einer dem gesunden Menschenverstand widersprechenden Annahme nicht ausgeht, sondern sich mit dem adversativen „aber“ tatsächlich auf den Artikel „der“ bezieht, dann kann man feststellen, dass diese Lesart durch den Text keineswegs erzwungen ist. Vermutlich erkannte B bei der Verschriftung der tontechnischen Aufzeichnung an der Stimme des Anrufers, dass es sich um ein Kind handelt – und bezog diesen stimmlichen Eindruck in die Interpretation ein.22 Zudem wird, was den Hinweis auf die notwendige Hilfe für die Mutter betrifft, gegen die sequenzanalyti22
Dass Studenten den Höreindruck aus der Verschriftung des Tonbandprotokollierung des Notrufes in die Interpretation eingehen ließen, war eine typische methodische Schwierigkeit bei den von ihnen durchgeführten Sequenzanalysen. Wenngleich richtig ist, wie Ehlich (1996), S. 12 f., ausführt, dass die Übertragung in die Schriftlichkeit ein unverzichtbarer Bearbeitungsschritt ist, um akustisch aufgezeichnete „Daten“ überhaupt erst für weitere analytische Verfahren aufzubereiten und dieser Aufbereitungsprozess „die wissenschaftsmethodologisch wichtige Herausbildung eines Bewußtseins davon erleichtert, daß in der Umsetzung vom Akustischen zum Optischen ein Interpretationsprozeß vorliegt“, ist er, wie ich aus eigenen pädagogischen Erfahrungen sagen kann, im Hinblick auf das methodische Erlernen der Sequenzanalyse nicht unproblematisch, weil er die Interpreten zu einer „Flucht vor
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sche Grundregel verstoßen, Sequenz für Sequenz zu analysieren,23 also keine erst aus späteren Sequenzen sich ergebende Kontextinformation einfließen zu lassen. Denn dass die Mutter Hilfe braucht, ist erst in Zeile 03 des zu analysierenden Notruftextes markiert. 9 M 3: Mhm (-) aber es is ja auch öh Amtssprache sich nur mit Notruf oder Polizeinotruf zu melden \. . . Nachdem M dieser Interpretation zunächst zustimmt, was anzeigt, dass auch M zum Zeitpunkt der Diskussion wusste, dass es sich hier um ein anrufendes Kind handelt, bezieht sich die anschließende Äußerung auf die Meldung mit „Notruf“, wobei M mit dem Hinweis auf „Amtssprache“24 offensichtlich darauf hinweisen will, dass trotz aller bisher vorgebrachten Kritik zu bedenken ist, dass sich in der behördlichen Praxis mit ,Notruf‘ bzw. ,Polizeinotruf‘ gemeldet werde. Implizit argumentiert sie, es ist die übliche Praxis, sich so zu melden, es hat alles seine Richtigkeit. 10 M 3: . . ./ um praktisch schnell zu erfahren (-) was der Anrufer für en Problem hat M unterstellt hier, dass diese beiden Meldevarianten in der Praxis mit der Absicht eingesetzt werden, schnell zu erfahren, was der Anrufer für ein dem [schriftlichen, T. L.] Text“ [vgl. Fehlhaber/Garz (1999), S. 68] beziehungsweise einer Zuflucht zur Tonbandaufzeichnung verleitet. 23 Zum Prinzip der Sequenzanalyse schreibt Oevermann (1996 a), S. 5 ff.: „Das Analyseverfahren, durch das sich die objektive Hermeneutik von allen anderen Methodenansätzen radikal unterscheidet, ist die Sequenzanalyse. Sie lehnt sich an die Sequentialität an, die für humanes Handeln konstitutiv ist. Dabei wird unter Sequentialität nicht ein triviales zeitliches oder räumliches Nacheinander bzw. Hintereinander verstanden, sondern die mit jeder Einzelhandlung als Sequenzstelle sich von neuem vollziehende Schließung vorausgehend eröffneter Möglichkeiten und Öffnung neuer Optionen in eine offene Zukunft. Insofern jedes Protokoll ausschnitthaft je konkrete Lebenspraxen authentisch ausdrückt, die sich darin verkörpern, bildet es auch den realen sequentiellen Prozeß ab, in dem sich diese konkreten Lebenspraxen, die an einer protokollierten Wirklichkeit handelnd beteiligt sind, ganz konkret in eine offene Zukunft entfalten.“ [Hervorhebung im Original durch Unterstreichung, T. L.] Zum Verfahren der Sequenzanalyse s. auch Oevermann (1990), S. 9 ff.; ders. (1993 b), S. 251 ff.; ders. u. a. (1994), S. 166; ders. (1995 b), S. 41 ff.; ders. (1998 a), o. S.; ders. (2000 c), S. 64 ff.; Leber/Oevermann (1994), S. 387; Wernet (2000), S. 16 ff. 24 Zum Begriff der Amtssprache s. Daum (1981), S. 84: „Richtig ist es wohl, die gesamte Sprache des Rechtslebens als eine, und zwar nur eine Fachsprache anzusehen, mag man sie nun – am einfachsten und wohl am besten – Rechtssprache (DÖLLE 1949; HORN 1966; GEYL 1972) oder Gesetzes- und Amtssprache oder juristisch-administrative Sprache oder Amtsdeutsch (OTTO 1978) oder Gerichtsund Behördenterminologie oder Rechts- und Verwaltungssprache nennen.“ Siehe auch Heinrich (1994), S. 66.
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Problem hat. Sie argumentiert mithin so, als handelte es sich hier um zweckrationales Handeln,25 während viel wahrscheinlicher ist, dass die Äußerungen unreflektiert,26 ritualisiert erfolgen, dass es sich hier um Routineeröffnungen handelt, um unpersönliche Meldeformeln, die in der Alltagspraxis unhinterfragt gebraucht werden. Im Idealfall müssten nun S und B einwenden, dass beide Formulierungen wenig geeignet sind, um den Anrufer zu einer möglichst schnellen Darstellung seines Anliegens zu bringen, weil ihm beide die Strukturierungslast der weiteren Kommunikation überlassen, und dadurch möglicherweise mehr Zeit, als durch die kurze Eröffnung mit „Notruf“ eingespart wird, im weiteren Verlauf der Interaktion verbraucht wird, weil der Anrufer erst selbst die Kommunikation einrichten muss, um die Krise sachgerecht mitteilen zu können. 11 S 2: Ja, das sehe ich auch so (-) daß keine Höflichkeitsfloskeln hier eigentlich angebracht sind Diese Kritik bleibt indes aus. Vielmehr stimmt S seiner Kollegin M unmittelbar zu, wobei seine Argumentation indiziert, dass er die Ausführungen von M ausschließlich im Sinne der Unangemessenheit von Höflichkeitsfloskeln verstanden hat, was aus ihren Ausführungen nicht zwingend zu erschließen ist. Mir zeigte dies, dass er meine Ausführungen zu einer notrufangemessenen Gesprächseröffnung nicht verstanden hatte, zumal ich wiederholt betont hatte, dass es hier um eine sachangemessene, die weitere Kommunikation vorstrukturierende Eröffnungsfrage geht, um dem Anrufer zu helfen, die Krise möglichst schnell und gestaltprägnant zur Sprache zu bringen,27 und nicht um die Verwendung von Höflichkeitsfloskeln.28 25
Weber (1985), S. 12. Also – in Abgrenzung zum zweckrationalen Handeln – „nur (um) ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize“. Weber (1985), S. 12. 27 Dieser Aspekt wurde auch nicht von Harvey Sacks gesehen, der Tonbandaufzeichnungen von Anrufen beim „Suicide Prevention Center“ in Los Angeles analysierte. Wie Psathas schreibt: „He [Sacks, T. L.] noticed that the utterance [des sich im Suizid-Präventions-Zentrum am Telefon meldenden ,social workers‘, T. L.], ,This is Mr. Smith may I help you,‘ provides a ,slot‘ for the caller to give their name.“ Psathas (1995), S. 14. Wichtiger ist aus meiner Sicht, dass der ,slot‘ kommunikationspragmatisch geeignet war, um einen Fall möglichst schnell zur Sprache zu bringen. 28 Die Formulierung impliziert eine Deutung von Grußhandlungen, auf die in einem späteren Fall detaillierter eingehen werde. Doch so viel vorweg: Bei Grußentbietungen handelt es sich um „die elementarste Form der Eröffnung einer sozialen Handlung (. . .) denn mit ihr wird die face-to-face-action als der Normalfall von Sozialität überhaupt eröffnet. Sie ist die Eröffnung eines Handlungsraumes“. Oevermann (1983 a), S. 235. 26
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12 M 4: Gut, kommer zur zweiten Zeile. (-) „Hallo. Moment mal, hier is’n, hier is’n Notruf. Und zwar nur ein schicken Sie mir. Meine Mutter is umgefallen, sie hat etiplep- etipleptische Anfälle.“ (-) \. . . Mit der nachfolgenden Äußerung fordert M implizit die Gruppe auf, zur zweiten Zeile zu kommen, womit sie, vergleichbar einer Museumsführerin, die Führung durch den Text übernimmt. Wie man dann an den Markierungen, mit denen die nachfolgende Formulierung als Zitat ausgewiesen ist, erkennen kann, liest sie wörtlich aus der Fallverschriftung vor, was vermuten lässt, dass sie diese offensichtlich als Lesevorlage zur Hand hat. Dabei stellt sich die Frage, ob die erste Sequenz überhaupt erschöpfend analysiert wurde. Denn zwar wurde eine ,bürokratische‘ Lesart entfaltet, aber die kommunikationspraktische Problematik dieser Meldung wurde nicht herausgearbeitet, was indiziert, dass die Studenten bei der Einführung in die Sequenzanalyse nur mitbekamen, dass die Eröffnung mit ,Polizeinotruf‘ oder ,Notruf‘ irgendwie unangemessen ist, während sie die Begründung für die Unangemessenheit dieser Formulierung offensichtlich nicht verstanden hatten und entsprechend nicht in der Lage waren, diese hier nun in ihrer Falldiskussion zu reproduzieren. Vergleicht man nun, wozu M die anderen beiden Gruppenmitglieder implizit aufforderte, nämlich zur zweiten Zeile überzugehen, mit dem Text, den sie dann vorliest, ist festzustellen29, dass sie nicht nur Zeile 02, sondern zudem auch noch die Zeilen drei und vier vorliest, was die methodische Gefahr mit sich bringt, dass nachfolgend zum einen das Prinzip der Sequentialität 30 verletzt wird, also der Text nicht Schritt für Schritt analysiert wird, zum anderen das Prinzip der Totalität 31 nicht befolgt wird, weil durch dieses zu schnelle Vorgehen möglicherweise nicht „jede noch so kleine und unscheinbare Partikel“32 in die Analyse einbezogen und als sinnmotiviert bestimmt wird. 13 M 4: . . ./ Also das „Hallo“, das ist erst mal en Hilferuf des Kindes. \. . . Da weder S noch B die kurze Sprechpause nutzten, um den Turn zu übernehmen, beginnt M nun mit der Interpretation, wobei sie zunächst ein29 Wörtlich genommen liest sie den zweiten Redezug (Turn) vor. Kennzeichnend für die protokollierte Diskussion ist, dass die Studenten auch nachfolgend durchgehend von Zeile sprechen, hiermit aber objektiv einen Turn bezeichnen. Was das Lesen des Protokolls nicht gerade vereinfacht, mich aber dafür sensibilisierte, bei der Einübung in die Methode der Sequenzanalyse genauer zu erläutern, was man bei einer Verschriftung unter einer Zeile versteht, wo eine Zeile beginnt und wo sie endet. 30 Instruktiv hierzu Wernet (2000), S. 27. 31 Oevermann (1998), o. S.; ders. (2000 c), S. 97 und 100 ff. 32 Oevermann (2000 c), S. 100.
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mal davon ausgeht, dass es sich bei dem „Hallo“ um einen Hilferuf „des Kindes“ handelt. An dieser Interpretation sind zwei Dinge auffällig. Erstens interpretiert sie das „Hallo“ unmittelbar als Hilferuf, als illokutionären Akt,33 mit dem ein Sprecher darauf zielt, Hilfe zu erhalten, während ihr offensichtlich die Lesart, dass es sich hier auch um das in der telefonischen Kommunikation gebräuchliche eröffnende „Hallo“34 im Sinne eines Sich-Meldens oder, und dies ist die dritte Lesart, um ein Kontakt- oder Prüf-Hallo (,Hallo, ist da überhaupt jemand?‘, ,Hallo, wer hat sich da gemeldet?‘) handeln könnte, nicht in den Sinn kommt. Und zweitens interpretiert M den Hilferuf nicht als Hilferuf eines Sprechers/Anrufers, sondern als Hilferuf des Kindes, wobei der genitivus subjectivus indiziert, dass für sie bereits an dieser Stelle feststeht, wer der Anrufer ist, was darauf hindeutet, dass die Interpretation des „Hallo“ in Kenntnis der Tonbandaufnahme (d. h. der sinnlich-akustischen Wahrnehmung) erfolgte. 14 M 4: . . ./ Also an der Stimme würd ich sagen, das is en Kind. (--) \. . . Diese Lesart (sinnlich-akustische Wahrnehmung) wird nachfolgend von M explizit bestätigt. 15 M 4: . . ./ Und so nach dem Motto, is da überhaupt wer? \. . . M setzt hier ihre Interpretation des „Hallo“ fort, wobei sie nun auf das „Hallo“ im Sinne der zuvor von mir explizierten dritten Hallo-Lesart zu sprechen kommt und es als Kontakt- oder Prüf-Hallo interpretiert, womit sie implizit ihrer Hilferuf-Lesart widerspricht, denn der intendierte Ruf nach Hilfe setzt voraus, dass der Anrufer, der um Hilfe ruft, weiß, dass er eine Stelle erreicht hat, an die er seinen Hilferuf adressieren kann.
33 Searle (1990 a), S. 39 ff.; ders. (1990 b), S. 8. Searle unterscheidet „fünf allgemeine Kategorien von illokutionären Akten. Wir sagen andern, was der Fall ist (Assertive), wir versuchen, sie dazu zu bekommen, bestimmte Dinge zu tun (Direktive), wir legen uns selbst darauf fest, gewisse Dinge zu tun (Kommissive), wir bringen unsere Gefühle und Einstellungen zum Ausdruck (Expressive), und wir führen mit unseren Äußerungen Veränderungen in der Welt herbei (Deklarationen)“. Searle (1990 b), S. 8. Es ist nicht ganz leicht zu bestimmen, in welche Kategorie das aufmerksamkeitserzeugenwollende Hallo fällt, was damit zusammenhängt, dass die Intention Aufmerksamkeit-erzeugen-wollen fallspezifisch mehrere Nebenintentionen haben kann. 34 Vgl. hierzu Schegloff (1967), S. 139; ders. (1979), S. 28.
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16 M 4: . . ./ Das „Hallo“ bezieht sich ebend auf diese, auf diese, auf dieses Wort von diesem Polizeibeamten „Notruf“ (-) Oder nich? Ausgehend von ihrer Interpretation, dass es sich hier um ein nachfragendes Hallo handelt, läge nun der Schluss nahe, dass die Eröffnung des Polizeibeamten möglicherweise doch nicht geeignet war, weil sie zur Irritation des anrufenden Kindes geführt hat, das zurückfragen muss, ob da überhaupt jemand am Telefon ist, mit dem es sprechen kann. Diesen Schluss zieht aber M nicht. Vielmehr stellt sie nach einer deutlichen Pause, in der sich erneut weder S noch B zu Wort melden, die Zustimmung erheischende Frage „oder nich?“, die sich in Langschrift formulieren lässt als: ,Oder stimmt das etwa nicht?‘. 17 S 3: Doch man merkt so bißchen die Aus-, die Aufregung des Kindes (-) und auch, daß es der ganz Situation vielleicht nich ganz gewachsen is. Dadurch daß es sich mehrfach verspricht (-) und auch erst mal (-) öh (-) na ziemlich durcheinander seine Angaben macht S geht – im Sinne von ,doch, da hast Du Recht, man merkt . . .‘ – kurz bestätigend auf die Frage von M ein und spricht dann nachfolgend davon, sich hier pauschal auf die Zeilen 02 bis 04 beziehend, dass das Kind „so bißchen“ aufgeregt und der Situation „vielleicht nich ganz gewachsen“ sei. Diese Äußerungen zeigen, dass er die im Protokoll zum Ausdruck kommende Gestalt des Falles falsch interpretiert, dass er den Fall falsch einschätzt. Denn die Kommunikation des Kindes verweist auf höchste Aufregung (nicht auf ein bisschen Aufregung), auf höchste Dramatik, zumal es schließlich um das Leben der Mutter geht. Anders formuliert: Die Kommunikation des Kindes legt vom Protokoll her zwingend die Lesart nahe, dass es in der Anrufsituation sehr aufgeregt ist und wie ein nach Luft schnappender Fisch an der Notrufangel zappelt. Gemessen daran muss die Handlungsweise des Kindes hier eher sogar als besonnen und überlegt angesehen werden. 18 M 5: Durch die, durch den nächsten Satz „Moment mal, hier is’n, hier is’n Notruf“ M stimmt von der Sache her S zu, wobei sie offensichtlich zugleich bemüht ist, S auf ein sequentielles Vorgehen am Notruftext zu verpflichten. Während man also die Äußerung von M als methodisch implizite Kritik am Vorgehen von S lesen kann, zu dem sie allerdings mit dem Vorlesen der Zeilen 02 bis 04 selbst das Terrain bereitete, unterbleibt ihre Kritik an dessen gestaltverzerrter Rezeption. Denn das Kind ist nicht nur ein bisschen aufgeregt, es ist sehr aufgeregt. Woraus man zurückschließen kann, dass die technische Meldung „Notruf“ alles andere als günstig war, um dem Kind den Einstieg in die Kommunikation zu erleichtern. So führt die Meldefor-
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mel in diesem Fall zur Irritation des Kindes, das offensichtlich die Paradoxie bemerkt, die in der Meldung mit „Notruf“ steckt, zumal es doch selbst in Not ist und Hilfe benötigt. Daher die implizite Richtigstellung: ,Moment mal, nicht Du hast eine Krise und sendest einen Notruf ab, sondern ich. Nicht bei Dir ist ein Notruf, sondern hier bei mir‘. Man sieht daran, dass dem Kind die ganze Strukturierungsleistung der Darstellung obliegt. Dagegen, wenn der Polizeibeamte gesagt hätte, ,Polizeikommissar Meier, womit kann ich Ihnen helfen?‘, hätte er den Anrufer zum Gespräch eingeladen, hätte er einen persönlichen Kontakt zum Anrufer hergestellt. Und damit wäre auch wirklich eine kommunikative Praxis eingeleitet worden, eine Einladung, sich dem den Notruf entgegennehmenden Polizeibeamten anzuvertrauen, von ihm angenommen zu werden.35 19 S 4: Genau S stimmt dieser Äußerung von M zu, obwohl bereits ein nur kurzes Durchlesen seiner vorhergehenden Äußerung zeigt, dass er sich keineswegs nur auf diesen Satz bezog. 20 B 3: Ja (-) die Möglichkeit besteht ja auch, daß das Kind (-) unter (-) ner Schockwirkung steht und jetzt anruft. Das weiß sich erst mal gar nich zu helfen. Und es wiederholt ja auch (-) das, was der Polizist beziehungsweise der Polizeibeamte gesagt hat (-) „Notruf“ (-) ne? Während S der Lesart von M exakt zustimmte, indiziert die anschließende Formulierung von B, dass er eine andere Motivierung für die redun35
Was in der Literatur zur Notfallmedizin eine große Rolle spielt. So lautet ein Lehrhinweis für Notärzte: „Der beste Informant ist der Patient. Bringen Sie diese Quelle nicht zum Versiegen! Ob der Patient bereit und in der Lage ist, durch seine persönlichen Aussagen zum Krankheitsbild einen zentralen Beitrag zur Diagnosefindung zu leisten, hängt entscheidend von den ersten Sekunden des Arzt-PatientenKontakts ab. Ängstigen Sie den Patienten nicht! Ein Patient, der von der überflüssigen Hektik des im Rendezvous-System bis zu siebenköpfigen Notfallteams angesteckt wird, ist kaum in der Lage zu einem strukturierten Bericht über seine Beschwerden. Schaffen Sie eine Vertrauensbasis! Gehen Sie ruhig auf den Patienten und nicht auf einen der Sanitäter oder Angehörigen zu! Sprechen Sie mit dem Patienten und nicht über den Patienten! Sehen Sie dabei auf den Patienten und nicht auf das EKG! Setzen oder knien Sie sich zum Patienten, sprechen Sie ihn mit seinem Namen an, und stellen Sie sich namentlich vor, z. B. ,Guten Tag, Frau Meier, mein Name ist Dr. Müller. Ich habe heute Notarztdienst. Wie kann ich Ihnen helfen?‘. Ein Patient, der erleben muß, wie in einer für ihn existenziellen Situation (im wahrsten Sinn des Wortes) über seinen Kopf hinweg von fremden, hektischen Personen sein weiteres Geschick gesteuert wird, ohne daß er Einfluß nehmen kann, wird ein nie dagewesenes Gefühl der Hilflosigkeit und Ausgeliefertheit erfahren!“ Lehmann/Schmucker (1994), S. 82. [Hervorhebung durch T. L.]
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dante Kommunikationsweise des anrufenden Kindes hat, die er im physiopsychischen Zustand sieht, in dem es sich – so seine mögliche Assoziation – infolge eines plötzlich auftretenden, unerwarteten und katastrophenartigen Ereignisses befindet. Ein Zustand, der mit starker Erregung einhergeht und – wenngleich nur kurze Zeit andauernd – Ausgangspunkt für eine traumatische Neurosenentwicklung sein kann.36 Gegen diese Hypothese spricht erstens, dass das Kind bei genauer Betrachtung des Textes das Wort „Notruf“ nicht wiederholt, sondern eine sachlich völlig angemessene Richtigstellung der kommunikativen Praxis vornimmt. Und zweitens, wie man aus dem Notruftext zweifelsfrei erschließen kann, dass es – obwohl es sich in einer akuten Krise befindet – die Notsituation klar wiedergeben kann. Dass es dabei Probleme bei der Aussprache eines relativ schwer auszusprechenden medizinischen Fachbegriffs hat, ist eigentlich nicht weiter verwunderlich und nicht weiter schlimm. Denn immerhin kann es das Fremdwort so deutlich artikulieren, dass man erkennen kann, was es damit zum Ausdruck bringen will. Und das ist entscheidend, nicht die phonetisch richtige Aussprache. Denn schließlich geht es um die Mitteilung eines Notfalles und nicht um ein Vorsprechen im Theater. 21 M 6: Das sicherlich die Aufregung jetzt von em Kind (-) Der Hilferuf M stimmt der Lesart von B zu. 22 B 4: Sie übernimmt im Prinzip die Wortwahl \. . . 23 M 7: Genau 24 B 4: . . ./ (des) Polizeibeamten (-) um sich auszudrücken B wiederholt hier noch einmal sinngemäß, was er bereits im letzten Satz sagte, von M zustimmend kommentiert, dass sich für ihn die Hilflosigkeit des Anrufers in der Übernahme der Wortwahl des Polizeibeamten manifestiert, wobei an seiner Argumentation auffällt, dass er hier das Personalpronomen „sie“ und nicht das zu Kind passende Personalpronomen ,es‘ gebraucht,37 was die Lesart nahe legt, dass es sich hier um einen weiblichen Anrufer, um ein Mädchen, handelt. Weiterhin ist zu sehen, dass sich die Studenten nun endgültig in die Lesart verrannt haben, dass das Kind mit dem Notruf überfordert sei, wozu es faktisch im Text keinerlei Anhalts36 Ich beziehe mich hier auf Meyers Enzyklopädisches Lexikon [(1977), Bd. 21, S. 215], Stichwort „Schock“. 37 „Sie“ ist spezifischer als „es“, auch wenn die Lesart „Mädchen“ beim Gebrauch des Personalpronomens „es“ möglich gewesen wäre; denn das zu Mädchen gehörende Personalpronomen ist „es“.
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punkte gibt, denn das Kind wiederholt überhaupt nicht die Worte des Polizeibeamten, sondern es korrigiert die von ihm falsch begonnene Kommunikation. 25 M 8: Ja und der Hilferuf wird ja im Prinzip verstärkt durch „Und zwar nur ein schicken sie mir“ M stimmt dieser Argumentation von B zu und erweitert das Argument, indem sie die von ihr zitierte Anschlussäußerung des Kindes als Verstärkung des Hilferufes interpretiert. Eine Interpretation, die voraussetzt, dass der Satz „und zwar nur“ nicht mit einer entdramatisierenden Bestimmung des Falls fortgesetzt wird (z. B. „und zwar nur“ ein blauer Fleck, eine Verstauchung etc.), wobei der Abbruch des Satzes und die anschließende Formulierung „schicken sie mir“, mit der eine noch zu konkretisierende Maßnahme („schicken sie mir“ einen Krankenwagen, einen Notarzt) gefordert wird, die Dramatik des Falls unterstreicht und mit der Interpretation von M vereinbar ist. 26 B 5: Es braucht dringend Hilfe \. . . 27 M 9: Mhm 28 B 5: . . ./ weil es wird alleine mit der Situation nicht fertig, ne B stimmt dieser Argumentation zu und erkennt im Unterschied zu S gestaltrichtig, dass das Kind dringend auf Hilfe angewiesen ist, wobei an dieser Sequenzstelle, folgt man dem Protokoll streng sequenzanalytisch, noch offen ist, warum das Kind in der Situation überfordert ist, denn die Äußerung „Meine Mutter is umgefallen, sie hat etiplep-, etipleptische Anfälle“ folgt erst im Anschluss. 29 M 10: Genau M stimmt dieser Interpretation zu. 30 B 6: Sie sa31 M 11: Sie sa- (-) \. . . Das in den überlappenden Anschlussäußerungen artikulierte Personalpronomen „sie“ indiziert wiederum, dass es sich bei dem anrufenden Kind um ein Mädchen handelt. 32 M 11: . . ./ sie sagt ja dann auch „meine Mutter is umgefallen“ M schließt hier ungenau an die vorherige Äußerung von B in Zeile 28 an. Denn der Grund dafür, dass das Kind mit der Situation alleine nicht
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fertig wird, besteht nicht „auch“ darin, dass seine Mutter umgefallen ist. Vielmehr besteht die Krise konstitutiv darin, dass seine Mutter umgefallen ist und das Kind nun telefonisch versucht, Hilfe herbeizuholen. An dieser Sequenzstelle wäre nun der Hinweis angemessen, wie wichtig hier die Fähigkeit des Polizeibeamten wäre, aus der Aussage des Kindes mäeutisch zu verstehen,38 dass es sich um eine akute medizinische Krise handelt, und dies Verstehen dem Gesprächspartner ,zurückzuspiegeln‘, damit dieser sich bei ihm ,aufgehoben‘ fühlt. 33 B 7: Mhm 34 M 12: Jetzt kommt eigentlich die wichtigste Aussage \. . . Nachdem B ihre Aussage zustimmend kommentiert hat, argumentiert M, dass nun „die wichtigste Aussage“ kommt, was die Lesart nahe legt, dass nun seitens des Kindes der konkrete Anlass für den Notruf genannt wird. Die Argumentation von M zeigt, dass sie bemüht ist, bei der Analyse sequentiell vorzugehen, auch wenn sie selbst in Zeile 12 mit dem Vorlesen der kompletten Notrufmitteilung dafür keine gute Basis schuf. 35 B 8: Mhm 36 M 12: . . ./ für den Polizeibeamten (-) was überhaupt los is. \. . . Nachdem B auch diese Äußerung zustimmend kommentiert hat, wird nun klar, dass M tatsächlich darauf referiert, dass nun seitens des Kindes expliziert wird, worin die Notsituation material besteht. Genau genommen begann das Kind mit der Explikation dessen, „was überhaupt los ist“, bereits zuvor mit dem „meine Mutter is umgefallen“, sodass nunmehr nur noch eine Spezifizierung des ,Umfall-Grundes‘ folgen kann. 37 M 12: . . ./ Ja und die Wiederholung jetzt (-) oder vielleicht is es auch ein Sprachfehler „etiplep- etipleptische Anfälle“ (-) \. . . Auffällig an der nachfolgenden Äußerung von M ist, dass sie zunächst von „Wiederholung“ und dann als alternative Lesart von „Sprachfehler“ spricht, wobei sich beide Lesarten auf die Sequenzstelle „etiplep- etipleptische Anfälle“ beziehen. Während zur ersten Lesart zu sagen ist, dass es sich hier im Grunde genommen um eine klassifizierende Bezeichnung für die zitierte Lautfolge handelt, indiziert der Gebrauch des Terminus „Sprachfehler“, dass M als ursächlich für diese Lautproduktion eine Sprachpathologie unterstellt, womit sie von der Sparsamkeitsregel abweicht, nach der man in der objektiven Hermeneutik gehalten ist, „die folgernde Zuschreibung von gra38
Vgl. Loer (1999), S. 53.
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vierenden Pathologien und Unregelmäßigkeiten so lange zurückzustellen (. . .), bis selbst nach gewissenhaftester Suche nach ,normalisierenden‘ Lesarten eine entsprechende sinnlogische Auflösung des Rätsels nicht gefunden worden ist“.39 38 M 12: . . ./ entweder weist’s ebend drauf hin, daß es auf-, in ner Aufregung is, oder daß es ebend auch ziemlich kleines Kind is, daß es von der Sprache her das noch nicht so ausdrücken kann \. . . Während M zuvor die Lautfolge als „Wiederholung“ beschrieb und als alternative Lesart von „Sprachfehler“ sprach, indizieren ihre nachfolgenden Ausführungen, dass sie implizit zwei unterschiedliche Erklärungsmodelle für die Äußerungsproduktion anbietet. Das erste Erklärungsmodell könnte man ein performanztheoretisches40 Modell nennen. Es geht davon aus, dass das Kind Schwierigkeiten hat, weil es in der Anrufsituation aufgeregt ist. Und das zweite Erklärungsmodell, das (ebenso wie das erste) mit dem Modell ,Sprachpathologie‘ nicht kompatibel ist, könnte man ein kompetenztheoretisches41 Modell nennen, das einen Zusammenhang zwischen kindlichem Alter beziehungsweise Entwicklungsstand und sprachlicher Äußerungsproduktion unterstellt. Ursächlich für die Schwierigkeiten des Kindes wäre demnach, dass es von der Sprachentwicklung her noch nicht in der Lage ist, solch ein schwierig zu artikulierendes, selten gebrauchtes Fremdwort fehlerfrei auszusprechen, welches das Kind mutmaßlich auch nur kennt, weil es mit dem Krankheitsbild der Mutter vertraut ist.
39 Leber/Oevermann (1994), S. 419; Heinze (1992), S. 79; Wernet (2000), S. 35; oder Leber (1994), S. 228 f.: „Nach den Regeln der Kunst [der objektiven Hermeneutik, T. L.] ist man angehalten, die Äußerungen solange wie möglich mit der Unterstellung eines vernünftigen, sprachkompetenten und sich seiner Äußerungen bewußten Subjekts zu interpretieren. Es ist für ein nicht zirkulär vorgehendes Verfahren von grundlegender Bedeutung, bei der Generierung von Lesarten nicht Sonderbedingungen als geltend zu unterstellen, sondern – soweit wie möglich – nur solche ,normalen‘ Situationen und Kontexte einzuführen, die für das Verständnis des Textes notwendig sind. Diese ,Sparsamkeitsregel‘ bedeutet auch, auf das Wissen über den ,realen‘ empirischen Kontext, in der die Äußerung gefallen ist, zu verzichten und Spezifika, etwa ,Pathologien‘, nicht ohne vom Text zu deren Annahme gezwungen zu sein, als gegeben anzunehmen; denn erst auf der Folie unterstellter Wohlgeformtheit gewinnt das Besondere seine charakteristische Gestalt, die dann als rekonstruktiv nachgewiesen und nicht von außen herangetragen gelten kann.“ 40 Chomsky (1969), S. 178; Oevermann (1970), S. 171; ders. (2000 a), S. 2; ders. (2000 c), S. 68. 41 Ebd.
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Während M hier durchaus im Einklang mit Modellen aus der Linguistik und der Sprachpsychologie argumentiert, ohne dass diese zuvor im Unterricht behandelt wurden, geht sie an dieser Stelle nicht auf die Bedeutung dieser Äußerungsproduktion für die Erfassung des Falls durch den Polizeibeamten ein. So wäre eine wichtige Feststellung gewesen, dass der den Anruf entgegennehmende Polizeibeamte spätestens hier hätte erkennen müssen, dass es sich um eine akute Krise handelt, dass ein medizinischer Notfall vorliegt, der einer sofortigen medizinischen Hilfe bedarf. Denn Epileptiker, die einen grand mal42 haben, sind hoch gefährdet und vollkommen unkontrollierbar; ein epileptischer Anfall kann letal ausgehen. Kurzum: Nachdem der Polizeibeamte von dem Kind die Notfalladresse erfragt hätte, hätte er so schnell wie möglich den Notarzt dorthin schicken müssen.43 39 M 12: . . ./ aber es weiß jedoch, daß die Mutter diese Krankheit hat, also \. . . 40 B 9: Mhm 41 M 12: . . ./ Eleptiker is (-) Epileptiker is M setzt mit dem adversativen „aber“ ihre Argumentation fort, darauf hinweisend, dass das Kind dennoch wisse, dass die Mutter diese Krankheit habe und auch mit dem Namen der Krankheit vertraut sei. Auffällig – ja geradezu eine Ironie der Geschichte – ist nun, dass M selbst Schwierigkeiten hat, das Wort richtig auszusprechen, was indiziert, dass es sich auch für sie um ein schwer aussprechbares, weil in seiner Gestalt von der typischen deutschen Wortbildung abweichendes, selten ge42
Loch/Knuth (1995), S. 262 ff. Ein besseres, wenngleich aufgrund seiner Redundanz in der neunten Zeile (das Kind hatte bereits in Zeile 2 gesagt, was der Opa für Beschwerden hat) nicht ideales Modell der Kommunikation mit einem Kind in einer Notrufsituation fand ich in einem Kinderbuch von Trelenberg/Nicolas (1998), Bl. 4: „1 ,Rettungsleitstelle. Guten Tag. Was ist passiert?‘ 2 ,Mein Opa bekommt ganz schlecht Luft.‘ 3 ,Wie heißt du denn?‘ 4 ,Ich heiße Laura Berg.‘ 5 ,Und wo bist du gerade?‘ 6 ,Ich bin bei meinem Opa, in der Vogelstraße 9.‘ 7 ,Kann dein Opa denn nicht selbst an das Telefon kommen?‘ 8 ,Nein, es geht ihm so schlecht.‘ 9 ,Was hat er denn für Beschwerden?‘ 10 ,Er hat gesagt, daß er starke Herzschmerzen hat.‘ 11 ,In Ordnung, Laura. Wir kommen sofort zu euch. Wie heißt Dein Opa denn?‘ 13 ,Er heißt Heinrich Radel.‘ 14 ,Gut, Laura. Wir sind gleich da.‘“ [Zeilennummerierung durch T. L.] 43
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brauchtes Fremdwort handelt, dessen richtige Aussprache durch Aufregung noch schwieriger wird, weshalb man an dieser Stelle schließen kann, dass M während der Diskussion aufgeregt war. 42 B 10: Ja das, das Kind lebt sicherlich damit, mit diesem, mit dieser Krankheit der Mutter 43 M 13: Mhm 44 B 11: Hat das auch schon ma gehört, aber eben kann sich in diesem Wort noch nich so richtig ausdrücken B stimmt der Lesart von M zu, wobei die implizite Argumentation lautet, dass die Krankheit der Mutter für ein Kind in einer Familie, wenngleich in unterschiedlichen Explizitheitsgraden, mitthematisch ist, folglich das Kind mit Sicherheit schon einmal das Wort Epilepsie gehört hat, es aber dieses Wort zum Zeitpunkt des Anrufes noch nicht richtig aussprechen kann. B argumentiert somit im Sinne des von M implizit skizzierten zweiten Erklärungsmodells. 45 M 14: Noch was zu der Zeile? (-) Kommer zur nächsten Zeile \. . . Wiederum, wie bereits zu Beginn, übernimmt M die Führung und leitet zur nächsten Zeile über. Es hat fast den Anschein, dass sie regelrecht drängelt, um weiterzukommen, was sowohl der für einen Kriminalisten sinnvollen Einstellung, eine Sache in Muße auf sich wirken zu lassen, als auch der für einen Schutzmann sinnvollen Einstellung des souveränen, gelassenen Umgangs mit Krisen widerspricht, zu der gehört, eine Sache auf Distanz bringen zu können. Kritisch anzumerken ist, dass von ihr mit keinem Wort versucht wird, eine mögliche Anschlussäußerung des Polizeibeamten zu entwerfen, auf die hin dann die wirkliche Anschlussstelle hätte analysiert werden können.44 44 „Über die Struktur oder Strukturiertheit der Realität erfahren wir“ nach Oevermann u. a. [(1994), S. 168] erst dann etwas, „wenn wir dazu übergehen, die Sequenzstellen im protokollierten tatsächlichen Ablauf zu bestimmen und an diesen Sequenzstellen gedankenexperimentell die Möglichkeiten zu explizieren, die in der Gegenwart des praktischen Handelns selbst tatsächlich bestanden haben und mit Bezug auf die das Beobachtete eine Auswahl darstellt. Erst auf der Kontrastfolie dieser ausgeschlossenen, aber der Realität selbst zugehörigen Möglichkeiten erhält das protokollierte Handeln seine objektive Bedeutung“. Vgl. hierzu auch das von mir entwickelte holzschnittartige Merkblatt zur Sequenzanalyse: Sequenzanalyse – der Spur des Falles schrittweise folgen (diachronische Betrachtung) – Abdecktechnik (alle bis auf die bereits interpretierten oder schrittweise zu interpretierenden Zeilen mit einem Blatt oder anders abdecken) – schrittweise Interpretation der Bedeutung von Äußerungen
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46 M 14: . . ./ vom Polizeibeamten „Epileptische Anfälle ja!“ Das im Prinzip ne Wiederholung (-) \. . . Sie liest zunächst Zeile fünf des Transkripts vor und liefert im unmittelbaren Anschluss hieran die Interpretation, dass es sich hier im Grunde genommen um eine Wiederholung handelt. Diese Interpretation ist nun nicht richtig, denn im Grunde genommen liegt hier eine Sprachkorrektur in Form einer korrekten Aussprache eines zuvor zweimal falsch ausgesprochenen Fremdwortes vor, die mit einem „ja!“ abgeschlossen wird.45 Eine Korrektur, die von der Sache her nicht erforderlich war, weil der Polizeibeamte, wie seine Korrektur selbst belegt – trotz der Schwierigkeiten des Kindes bei der Artikulation dieses (auch für einen Erwachsenen) schwierigen Fremdwortes – bereits erfasst hat, dass es sich um epileptische Anfälle handelt, und es auch kein mit einem ähnlich klingenden Wort bezeichnetes Krankheitsbild gibt, mit dem sie verwechselt werden könnten. Indem der Polizeibeamte so kommuniziert, spielt er – um in der Fußballersprache zu formulieren – den Ball an das Kind zurück, welches daraufhin wiederum gefordert ist, das Gespräch zu strukturieren. Dabei ist zu erwarten, dass das Kind bestätigen wird, dass es sich tatsächlich um epileptische Anfälle handelt. Der Handlungsfehler besteht darin, dass durch die Rückgabe der Kommunikation in dieser emergency-Situation kostbare Zeit vergeudet wird, die der Polizeibeamte hätte nutzen können, um das Kind, das sich verständlicherweise in höchster Aufregung befand, zu fragen, wohin der Notarzt kommen soll. Doch so fragt er nicht und weicht damit vom idealtypischen Modell möglichst schneller Hilfe ab. 47 M 14: . . ./ vielleicht zum Verständnis M liefert nun eine Lesart für die Motiviertheit des polizeilichen Handelns, wobei aus ihrer Formulierung nicht hervorgeht, zu wessen Verständnis der Polizeibeamte die Formulierung wiederholte, zum eigenen Verständnis, um sich selbst klar zu machen, was für ein Fall vorliegt, oder um sich vom Anrufer bestätigen zu lassen, ob er mit seiner Formulierung epilepti– Welche Äußerung kann anschließen (Hypothesenbildung angesichts Zukunftsoffenheit)? – Überprüfung der Hypothesen: welche Äußerung schloß im fortlaufenden Fall tatsächlich an (Realisierung der Zukunft)? – Was bedeutet die Realisierung dieser und nicht jener Äußerung? (Fallstruktur) 45 Die Interpretationsproblematik des Notruftextes ergibt sich an dieser Stelle aus der Verwendung eines Ausrufezeichen-Symbols, dessen Bedeutung in der Transkriptionslegende nicht angegeben ist. Daraus kann man schließen, dass die Studenten, die über noch keine großen Verschriftungserfahrungen verfügten, die übliche grammatische Bedeutung dieses Zeichens zu Grunde legten und es sich daher wahrscheinlich um ein nachdrückliches, die Korrektur betonendes „ja“ handelt.
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sche Anfälle meint; beide Lesarten sind durch die Verschriftung nicht erzwungen. 48 S 5: oder auch als fead 46 back, daß er das verstanden hat \. . . 49 M 15: Ja 50 S 5: . . ./ was das Kind meint Wie auch immer die Formulierung des Polizeibeamten tatsächlich motiviert war: Es ist festzuhalten (und daran ändert auch die nun anschließende Lesart nichts, dass der Polizeibeamte mit seiner Wiederholung dem Kind ein „fead back“ habe geben wollen), dass bis zu dieser Sequenzstelle von keinem der drei Studenten gestaltrichtig erkannt wurde, dass ein kompetenter Polizeibeamter aus der Formulierung des Kindes zwingend das Vorliegen eines Notfalls hätte erschließen und daher umgehend nach der Notfalladresse hätte fragen müssen, um daraufhin unverzüglich einen Notarzt zu verständigen. 51 M 16: Obwohl es kli- (-) für mich klingts mehr so gelangweilt, und, als ob nichts dabei is, „Epileptische Anfälle ja!“, so ungefähr, als ob’s ihm gleichgültig is (-) alltäglich is, so (-) kommst jedenfalls rüber (-) für mich Das adversative „obwohl“ lässt erkennen, dass M mit den Ausführungen von S nicht übereinstimmt, dass sie der Feedbackthese nicht zustimmt. Damit liefert M wiederum eine psychologisierende Deutung, die – wie bereits zuvor in Zeile 5 M 2 – durch das Protokoll nicht erzwungen ist, zumal in diesem keine Intonationskonturen markiert sind, die auf diese ,KlangLesart‘ schließen lassen. Daraus kann man ableiten, dass die Deutung auch hier aus dem Eindruck resultiert, den M durch das Anhören der Tonbandaufnahme gewann.47 52 53 54 55 56
B 12: Der, der geht absolut nich auf das Kind drauf ein M 17: Genau B 13 Ne? (-) Das is für ihn \. . . M 18: Mhm B 13: . . ./ halt so hingenommen, och is halt passiert oder so
In der nachfolgenden Passage geht nun erstmals auch B auf Zeile fünf ein. Seine Äußerung indiziert, dass er mit der Handlungsweise des Polizei46
Der Fehler indiziert, dass der Verschrifter nur über eingeschränkte Englischkenntnisse verfügte. Ein generelles studentisches Problem des untersuchten Jahrgangs. 47 Zum Prinzip der Wörtlichkeit s. Fußnote 19.
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beamten nicht einverstanden ist und die in ihr zum Ausdruck kommende Haltung („halt so hingenommen, och is halt passiert oder so“) als falschen Habitus kritisiert, womit er der vorhergehenden Lesart von M zustimmt. 57 M 19: Mhm (-) Na un das Kind dann in der nächsten Zeile (-) antwortet ja dann mit „ja“ Wie bereits zuvor, leitet M die Gruppe zur nächsten Zeile, zur Partikel „ja“. 58 S 6: Abwartend irgendwie, ne? Die nun von S als Ausdruck von Abwarten interpretiert wird, was nur eine mögliche Lesart darstellt. Denn neben dieser Lesart, die impliziert, dass das Kind an dieser Stelle mit einer weiteren Äußerung hätte fortfahren können, zum Beispiel an das „ja“ ein ,Bitte kommen Sie schnell!‘ hätte anschließen können, ist nicht auszuschließen, dass es sich schlicht um ein Bestätigungstoken handelt. Ferner kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Kind aufgrund der vorhergehenden Äußerung des Polizeibeamten nicht wusste, was es anderes als ein „ja“ antworten sollte, zumal es den Sachverhalt bereits hinreichend geschildert hatte. 59 M 20: Ja so erleichtert, daß der Polizeibeamte das geschnallt hat Es folgt nun mit wiederum eine im Grunde genommen psychologische Lesart, die im Text nicht markiert und deshalb keineswegs zwingend ist, zumal das Kind aus der unnötigen Korrektur durchaus hätte heraushören können, dass der Polizeibeamte gerade nicht „geschnallt“ hat, dass höchste Eile geboten ist. 60 S 7: In der Hoffnung, daß jetzt \. . . 61 M 21: Mhm 62 S 7: . . ./ irgendwie das Problem irgendwie gelöst wird \. . . 63 M 22: Ja 64 S 7: . . ./ daß der einfach das verstanden hat Dieser Einwand unterbleibt. Vielmehr deutet S das „ja“ des Kindes als Ausdruck von „Hoffnung“, mit der Problemdarstellung durchgedrungen zu sein, damit „das Problem irgendwie gelöst wird“. Wiederum handelt es sich um nicht textgedeckte Annahmen48 über den innerpsychischen Zustand des Kindes,49 handelt es sich um eine psychologische Textauslegung. 48
Die Zustimmungspartikel „ja“ ist für diese Feststellung nicht hinreichend.
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65 M 23: Genau, daß jetzt Hilfe kommt M stimmt den von S aufgestellten Lesarten zu und ergänzt sie dahingehend, dass mit dem „ja“ sich die Hoffnung des Kindes ausdrückt, dass jetzt Hilfe kommt. Man sieht, hier wird viel in das Protokoll hineininterpretiert, viel hinzuassoziiert, was durch das Protokoll nicht erzwungen ist und methodisch eine Verletzung des „Wörtlichkeitsprinzips“ darstellt. 66 B 14: Da in der Zeile null drei öh (-) da hat der Polizeibeamte vielleicht auch schon en bißchen falsch reagiert gegenüber dem Kind \. . . B’s Kritik am polizeilichen Handeln fällt zögerlich und moderat aus angesichts des gravierenden Handlungsfehlers, den der Polizeibeamte beging. Wobei B sich hier offensichtlich nicht, wie er sagt, auf Zeile 03 des Handlungsprotokolls bezieht, sondern auf den dritten Turn: „Epileptische Anfälle ja!“.50 67 B 14: . . ./ Er hätte vielleicht mit’ner andern (--) Formulierung \. . . 68 M 24: Mhm 69 B 14: . . ./ oder andere Fragestellung \. . . 70 M 25: Mhm 71 B 14: . . ./ dem Kind vielleicht etwas Erleichterung schaffen \. . . 72 M 26: Mhm 73 B 14: . . ./ können Wenngleich B nicht expliziert, welche Formulierung beziehungsweise welche Frage ihm hier vor Augen steht, die dem Kind Erleichterung verschaffen könnte, ist zu erkennen, dass B immerhin vorsichtig Kritik an der Handlungsweise des Polizeibeamten artikuliert. Wichtig wäre nun, diesen Faden aufzunehmen und deutlich zu formulieren, dass, geht man vom Nor49 Wobei mich die Art der Textauslegung an eine Museumsszene erinnert, die Heinz von Foerster im Rahmen seiner Ausführungen zur menschlichen Wahrnehmung geschildert hat: Ein Mann steht vor einem Bild und kommentiert dies mit den Worten „wie obszön“, was nach Heinz von Foerster mehr über den Betrachter als über das Kunstwerk aussagt: „There is at aperiodic intervals a ritual performed by the supreme judges of this land in which they attempt to establish once and for all a list of all the properties that define an obscene object or act. Since obscenity is not a property residing within things (for if we show Mr X a painting and he calls it obscene, we know a lot about Mr X but very little about the painting), when our lawmakers will finally come up with their imaginery list we shall know a lot about them but their laws will be dangerous nonsense.“ Vgl. von Foerster (1979), S. 6 f.; und ders. (1985), S. 66. 50 Vgl. Fußnote 29.
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malfall aus, der Polizeibeamte dem Kind unmittelbar hätte zu verstehen geben müssen, dass er es verstanden hat und er nur noch wissen müsse, wohin er den Notarzt entsenden soll. Eine geeignete Frage wäre beispielsweise gewesen: ,Ja, ich habe Dich verstanden, wohin soll der Notarzt kommen?‘ 74 M 27: Hätte mehr auf das Kind eingehen sollen Nachdem nun B Kritik an der Handlungsweise des Polizeibeamten geübt hat, stimmt auch M zu, wobei auch sie nicht expliziert, wie der Polizeibeamte konkret hätte handeln sollen beziehungsweise was unter „mehr auf das Kind eingehen“51 zu verstehen ist. 75 B 15: Ja (-) erst mal beruhigend wirken \. . . 76 M 28: Mhm 77 B 15: . . ./ oder so B setzt seine Kritik fort, wobei sein Vorschlag, dass der Polizeibeamte erst einmal beruhigend auf das Kind hätte wirken sollen, in diesem Fall nicht sinnvoll war. Denn das Kind hatte klar zum Ausdruck gebracht, was der Fall ist. Es brauchte in dieser Hinsicht nicht beruhigt zu werden, sondern benötigte umgehend einen Notarzt für seine sich in einer akuten medizinischen Krise befindende Mutter. Eine Kommunikation nach dem Muster: ,Mach Dir keine Sorgen. Es wird schon alles wieder gut‘ usw. hätte in diesem Fall nur unnötigen Zeitverlust bedeutet. 78 M 29: Ja aber trotzdem denk ich mal, daß das Kind erleichtert is, daß der das verstanden hat mit diesem „ja“ Wenngleich M zunächst der Kritik zustimmt, gibt sie dann zu bedenken, dass das Kind dennoch „erleichtert“ ist, dass der Polizeibeamte „das verstanden hat“. Damit kommt sie auf ihre in Zeile 59 explizierte Erleichterungs-Lesart zurück, was indiziert, dass sie zum Ausdruck bringen will, dass der Polizeibeamte „trotzdem“, obwohl es auch nach ihrer Ansicht besser gewesen wäre, das Kind zu beruhigen, hier keinen gravierenden Fehler machte. Genau dies kann man allerdings im Sinne einer idealtypischen Notrufhandhabung bestreiten. 79 B 16: Mmh, ja das is Ausdruck ne davon? (-) hhh Stein vom Herzen gefallen B lenkt daraufhin ein, gibt seine Beruhigungsversion auf und schließt sich mit der allegorischen Formulierung „Stein vom Herzen gefallen“ der 51
[Hervorhebung durch T. L.]
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nach dem Wörtlichkeitsprinzip keineswegs vom Text erzwungenen Erleichterungslesart von M an. 80 M 30: Genau 81 S 8: Gleichzeitig noch ne Erwartungshaltung, was kommt jetzt \. . . Nachdem M der Interpretation von B zugestimmt hat, schaltet sich nun wieder S in die Analyse ein, der zunächst ebenfalls der Erleichterungs-Interpretation zustimmt und sie dann dahingehend erweitert, dass im artikulierten „ja“ gleichzeitig noch eine „Erwartungshaltung“ des Kindes zum Ausdruck kommt, wie das Telefongespräch weiter verlaufen wird, womit er im Grunde genommen seine Lesart aus Zeile 58 reproduziert, wo er von „abwartend irgendwie“ sprach. 82 M 31: Ja 83 B 17: Mhm Dieser Interpretation stimmen nachfolgend zunächst M und dann B zu. 84 S 8: . . ./ Wie löst der Polizeibeamte jetzt das Problem? Im Anschluss hieran führt S seine zuvor in Zeile 81 begonnene Argumentation fort, wobei deutlich wird, dass er das Bestätigungstoken des Kindes als Ausdruck von dessen Frage interpretiert, wie der Polizeibeamte im Hier und Jetzt das „Problem“ löst, womit S offensichtlich auf die aktuelle Krise referiert, in der sich das anrufende Kind an den Polizeibeamten wendet. 85 M 32: Was sagt er jetzt? \. . . Während S eher allgemein formulierte, übersetzt M seine Aussage auf die Ebene der telefonischen Kommunikation, wobei ihre Frage methodisch geeignet ist, um gedankenexperimentell auszubuchstabieren, wie der Polizeibeamte entsprechend dem Normalfall handeln sollte oder sogar müsste,52 um dann im nächsten Schritt zu überprüfen, wie er tatsächlich handelte und was dies für die Struktur des Falles bedeutet.53 52 Vgl. Oevermann (1995 b), S. 41 f.: „Ich unterscheide in der Sequenzanalyse zwischen Regeln, die wie ein Algorithmus operieren und an einer gegebenen Sequenzstelle den Spielraum sinnlogisch möglicher Anschlüsse erzeugen bzw. festlegen (Parameter I), und dem Ensemble von Faktoren, Dispositionen und Motiven, die für eine gegebene Handlungsinstanz welchen Aggregierungsniveaus auch immer, eine Lebenspraxis also, determinieren, welche Auswahl aus dem Spielraum von Anschlußmöglichkeiten tatsächlich getroffen wird (Parameter II).“ [Hervorhebung im Original, T. L.] 53 „Mit dieser grundlegenden Differenzierung der Parameter I und II bzw. von Regel und Prinzip respektive von Regel und Fallstrukturgesetzlichkeit ist die Se-
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86 M 32: . . ./ Sagt er, es kommt jetzt Hilfe? Woraufhin sie eine Äußerungsoption nennt, die zwar in die richtige Richtung geht, nämlich dem Kind zuzusagen, dass sofort Hilfe kommt. Diese Zusage müsste allerdings sinnvollerweise mit der Frage nach der Adresse, wohin der Notarzt kommen soll, gekoppelt sein, denn die Notfalladresse ist neben dem Sachverhalt die wichtigste Einsatzinformation. 87 B 18: Ja hilft er mir, ne? B schließt hieran an, wobei an seiner Äußerung zu erkennen ist, dass er den Fall aus einer zu M komplementären Perspektive sieht, nämlich aus der Perspektive des bangend fragenden Kindes, ob ihm denn vom Polizeibeamten jetzt geholfen werde. 88 M 33: Genau. Un ich mein in der nächsten Zeile (-) vom Polizeibeamten „Äh’m a leg mal noch mal schnell auf und wähl- wähl mal gleich eins eins zwo (-) den Notarzt“ M stimmt dieser Interpretation zu und liest dann, obwohl sie sprachlich nur auf die nächste Zeile referiert, zusammenhängend die nächsten beiden Zeilen vor was – wie bereits in Zeile 12 analysiert54, – für die weitere Analyse die Gefahr mit sich bringt, dass die Prinzipien der „Sequentialität“ und der „Totalität“ verletzt werden. 89 B 19: Das is so (-) das is schlimm B reagiert hierauf mit einem expressiven Kommentar, der erkennen lässt, dass er die Handlungsweise des Polizeibeamten für falsch hält. Dies zeigt, dass er die Gestalt des Falles richtig erkannt hat. 90 M 34: „Äh’m“, so ungefähr, was mache ich jetzt mit dem Kind, ge, das is \. . . 91 B 20: Mhm Während B mit einer Gesamtbewertung der ,utterance‘ des Polizeibeamten einsteigt, geht M noch einmal zum ersten Wort „äh’m“ zurück, das von quenzanalyse der objektiven Hermeneutik fest im Strukturalismus verankert.“ Oevermann (1995 b), S. 42 f. [Hervorhebung im Original, T. L.] 54 Vgl. Fußnote 29. Im Übrigen ein schöner Beleg für die These, „daß kein in einem Interaktionstranskript auftauchendes Textelement als Zufallselement“ zu betrachten ist, sondern im Gegenteil als „Bestandteil einer sich im Handeln der Beteiligten reproduzierenden Ordnung“. Bergmann (1987), S. 51. Anders formuliert: Die Studenten hatten in diesem Fall einen Zeilenbegriff, der von dem in der Konversationsanalyse oder der objektiven Hermeneutik gebräuchlichen Zeilenbegriff abwich. Was mir durch die Analyse ihres Protokolls klar wurde.
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ihr als Ausdruck für hörbares Überlegen, als so genannte „gefüllte Pause“55 interpretiert wird, womit sie an dieser Stelle das Totalitäts- und das Wörtlichkeitkeitsprinzip sehr konsequent befolgt, denn die Partikel „ähm“ ist Bestandteil der Äußerung des Polizeibeamten in der siebten Zeile. 92 M 34: . . ./ als ob er selber nich weiß, noch nie so ne Situation hatte un „ach leg doch mal auf und ruf mal woanders an“ Während M zunächst das „ähm“ als Ausdruck für das hörbare Überlegen des Polizeibeamten interpretierte, wird nun deutlich, dass sie es nun als Zeichen der Ratlosigkeit und Überforderung des Polizeibeamten deutet, „als ob“ dieser nicht wisse, was er machen soll, weil er überfordert ist und so eine Situation noch nie hatte. Dies ist freilich nur eine mögliche Lesart. Denn ebenso gut kann man die Hypothese aufstellen, dass der Polizeibeamte in diesem Fall keineswegs überfordert war, sich aber als sachlich nicht zuständig ansah, weil es sich um einen medizinischen Notfall handelte. 93 B 21: Aufgaben abwälzen Während M zuvor das Handeln des Polizeibeamten hypothetisch mit dessen Ratlosigkeit und Überforderung erklärte, bezeichnet B die Tatsache, dass der Polizeibeamte mit dem Kind so sprach, wie dies im Protokoll festgehalten ist, als „Aufgaben abwälzen“. Womit er implizit zum Ausdruck bringt, dass es die Aufgabe des Polizeibeamten gewesen wäre, dem Kind zu helfen. 94 M 35: Genau, im Prinzip weiß doch der P, also der Polizeibeamte gar nich, ob das Kind überhaupt in der Lage is, jetz noch mal neu zu wählen \. . . M kommt nun auf einen Aspekt zu sprechen, der das Handeln des Polizeibeamten in einem besonders schlechten Licht erscheinen lässt. Denn weil er nicht wissen konnte, ob das Kind „überhaupt in der Lage“ war, aufzulegen und noch einmal die Nummer der richtigen Stelle zu wählen, hätte er antizipieren müssen, dass sein an das Kind gerichteter Handlungsappell hätte scheitern können, zumal sich die Situation vor Ort dramatisch zuspitzen konnte und das Kind aufgrund der situativen Umstände womöglich gar nicht mehr hätte anrufen können. Weiter ist zu sehen, und darauf geht M nicht ein, dass selbst dann, wenn das Kind tatsächlich in der Lage gewesen wäre, noch einmal die richtige 55 Vgl. hierzu Grießhaber (1994), S. 46: „Dieses Element [Äh(m)] zeigt an, daß der Sprecher noch bei der Planung der anschließenden Äußerung ist. Solche gefüllten Pausen . . .“; oder auch Brons-Albert (1994), S. 123.
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Stelle anzurufen und den Fall noch einmal zu schildern, ein unwiederbringlicher Zeitverlust entstanden wäre.56 95 M 35: . . ./ un was das überhaupt für ne Schwierigkeit war jetzt en Notruf anzurufen und das Problem rüberzubringen M setzt hier ihre Argumentation aus der vorherigen Zeile damit fort, indem sie weiter ausführt, dass der Polizeibeamte sich im Grunde genommen nicht in die Situation des Anrufers hineinversetzen konnte, womit sie ihm implizit mangelnde Empathiefähigkeit attestiert. Eine berechtigte Kritik, denn grundsätzlich muss jeder Polizeibeamte, der einen Notruf entgegennimmt, sich vorstellen können, dass ein Notruf für den Anrufer keine Routine darstellt, weshalb die Fähigkeit, das mit einem solchen Anruf verbundene Krisenhafte antizipieren zu können, eine wesentliche Kompetenz darstellt, über die ein Notrufbeamter verfügen muss. 96 B 22: (Ja) das Kind is im Prinzip froh, daß es (-) jemand diese Information rübergeben konnte \. . . 97 M 36 : Mhm 98 B 22: . . ./ und jetzt nich mehr allein gelassen is. Es is jemand da (-) der ihm jetzt ’ne Hilfestellung geben könnte \. . . 99 M 37: Mhm B liefert hier nun, von M zustimmend kommentiert, eine Lesart, die an der hier thematischen Sequenzstelle sehr unwahrscheinlich ist. Denn das Kind wurde in der Krise allein gelassen. Es erhielt keine Hilfe, sondern musste sich selbst um diese bemühen. Weil diese Lesart nun völlig mit den bislang von B gemachten Ausführungen zum Handeln des Polizeibeamten kollidiert, muss man davon ausgehen, dass er hier nicht auf die Rückdelegation des Problems in die Hände des Kindes referiert, sondern auf die Sequenz davor, als das Kind nach seinem „Ja“ erwarten konnte, dass ihm geholfen wird. Diese Lesart ist auch durch die zuvor gemachte Äußerung M’s hinreichend motiviert. 100 B 22: . . ./ Naja (uv) jetzt jetzt läßt sich aber nich aus dem gesamten Gesprächstext rauserkennen (-) is das Kind nu erleichtert, wie nimmst das auf \. . . 101 M 38: Mhm 56 Ein Zeitverlust, der im Übrigen auch dann entstanden wäre, wenn ein Erwachsener in einer medizinischen Notsituation angerufen hätte, sodass man sagen kann, dass das hier gezeigte polizeiliche Handeln auch in jenem Fall falsch gewesen wäre, weil es nicht der emergency-Logik entsprochen hätte.
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102 B 22: . . ./ jetzt diese Aussage, die Zeile null fünf 57 des Polizeibeamten „Äh’m leg doch mal auf“ ne (-) Sieht halt nicht die Gestik Diese Textsequenz ist in mehrfacher Weise aufschlussreich. Zum einen indiziert sie, dass B bereits das gesamte Protokoll gelesen und in seine Interpretation einbezogen hat, womit er vom Prinzip der Sequentialität abwich. Zum Zweiten lässt sie erkennen, dass B offensichtlich nicht, wie man dies im Schütz’schen Sinne einer pragmatisch motivierten, idealisierenden Annahme von der Reziprozität der Perspektiven58 erwarten könnte, von seiner Bewertung der polizeilichen Reaktion in Zeile 89 („Das is so (-) das is schlimm“) auf eine vergleichbare Bewertung des Kindes schließt. Und drittens zeigt sie, dass sich B bei seiner Interpretation nicht strikt auf das bezieht, was im zu analysierenden Text markiert ist, nämlich: 09 10 11 12 13
A: P: A: P: A:
Okay eins eins zwo Okay Ja Danke
Dann hätte er nämlich zur Feststellung kommen müssen, dass die verschrifteten Äußerungen des Kindes indizieren, dass es offensichtlich die Instruktionen des Polizeibeamten verstand und nicht verzweifelt reagierte. Wobei zu seiner Lesart grundsätzlich anzumerken ist, dass man zum Erkennen von Erleichterung oder Verzweiflung nicht unbedingt auf die Wahrnehmung von Gestik angewiesen ist, wie B im Sinne einer „Variante des restringrierten Codes“59 für das Verstehen von Kommunikation paradigmatisch anzunehmen scheint.60 103 M 39: Ja Nachdem sich M den Ausführungen von B angeschlossen hat –
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Vgl. Fußnote 29. Wie Schütz [(1971), S. 365] schreibt: „Ich setze (. . .) selbstverständlich voraus, daß mein Mitmensch und ich typisch die gleichen Erfahrungen von der gemeinsamen Welt machen würden, wenn wir unsere Plätze austauschen, wenn sich also mein ,Hier‘ und sein ,Hier‘, für mich jetzt noch ein ,Dort‘, in mein ,Hier‘ verwandelte.“ 59 Bernstein (1971 b), S. 105. 60 Es gibt nicht nur körperliche Zeichen, sondern auch verbale, die für die Analyse von Telefonkommunikation von entscheidender Bedeutung sind. Zu einem weiten Zeichenbegriff vgl. Bourdieu (1997), S. 783. 58
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104 B 23: Sagts jetzt (uv) ich ruf jetzt die eins eins zwo an? Wird’s mit der Situation fertig und macht das noch mal, oder ,o Gott, was jetzt‘, ne?, – operiert B nun der Methode der Sequenzanalyse angemessen, indem er fragt: Sagt das Kind jetzt, dass es die 112 anruft? Wird es mit der Situation fertig? Oder verzweifelt das Kind? Dies sind für den weiteren Verlauf des Notrufgesprächs wichtige Fragen, vor deren Hintergrund man dann in der nächsten Sequenz überprüfen kann, wie das Kind faktisch reagierte, und woraus sich erschließen lässt, wie die objektiv unangemessene Reaktion des Polizeibeamten auf es wirkte. 105 M 40: Aber ich meine (-) aber für den Polizeibeamten wärs doch ganz (-) viel einfacher gewesen, selber schnell die eins eins zwo zu wählen \. . . Auf diese Fragen geht M nicht ein. Vielmehr leitet sie mit dem adversativen „aber“ einen Einwand ein, den sie zunächst abbricht, um ihn dann erneut zu formulieren. Dieser lautet in Langschrift, dass es für den Polizeibeamten „doch ganz“ einfach oder „viel einfacher gewesen“ wäre, „selber schnell die eins eins zwo zu wählen“. Womit sie offenbar zum Ausdruck bringen will, dass es für ihn doch viel einfacher als für das Kind gewesen wäre, die Rettungsleitstelle zu informieren, weil er, wie man abduktiv schlussfolgern kann, nicht selbst in der Krise ist und über die technischen Möglichkeiten einer unmittelbaren Verständigung der Rettungsleitstelle verfügt. Was M nicht sieht, ist, dass ihre Formulierung auch eine zweite Lesart zulässt. Denn der Komparativ „einfacher“, der Vergleichbarkeit und damit ein Gegenüber voraussetzt, mit dem verglichen wird, muss sich nicht zwingend auf das Kind beziehen. Nur dann bedeutet „einfacher“: Für den Polizisten ist es viel einfacher als für das Kind, die Rettungsleitstelle zu informieren. Er kann sich auch zweitens auf den erforderlichen Arbeits- bzw. Zeitaufwand beziehen. Und dann bedeutet „einfacher“: Es ist einfacher, dem Kind die Telefonnummer der richtigen Stelle zu geben, als diese Aufgabe selbst wahrzunehmen. Dass M an die zweite Lesart von „einfacher“ im Sinne von ,sich die Sache einfacher machen‘ nicht denkt, ist wahrscheinlich dadurch motiviert, dass sie wie selbstverständlich, ,aus dem Bauch heraus‘, nur von derjenigen Bedeutung von „einfacher“ ausgeht, die ihrer persönlichen Einstellung, ihrer Haltung beziehungsweise ihrem Habitus entspricht. Daraus kann man ableiten, dass sie in dieser Situation anders gehandelt hätte.
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106 M 40: . . ./ und vor allem, ich meine der Polizeibeamte war jetzt einmal in dem Gespräch drinne. Diese Annäherungsphase mit diesem Anrufer, mit diesem Kind, war ja schon durchgeführt worden. Und die kamen jetzt zur Kontaktphase und zur öh praktisch öh Frage-Antwort-Phase \. . . M setzt hier ihre Argumentation aus der vorhergehenden Zeile fort und begründet nun, warum es aus ihrer Sicht für den Polizeibeamten „einfacher“ gewesen wäre, selber die Rettungsleitstelle zu informieren. Dabei indizieren die von ihr verwendeten Fachtermini, dass sie das Notrufgespräch analog der Gesprächsführung in einer Vernehmungssituation in einer Phase61 sieht, in welcher der Kontakt bereits hergestellt ist und man zur Sache kommen kann – 107 M 40: . . ./ Er hätte ja jetzt nachfragen können, ja wo wohnst du denn? un (-) wie is dein Name? \. . ., – indem der Polizeibeamte das Kind nun nach der Wohnadresse und dem Namen hätte fragen können, wobei ihre erste Frage erkennen lässt, dass sie wie selbstverständlich davon ausgeht, dass das Kind von Zuhause anruft, wo sich auch der epileptische Anfall seiner Mutter ereignet, also Wohnort und Krisenort identisch sind. Da dies aber durchaus nicht zwingend der Fall sein muss, kann man schlussfolgern, dass die Frage ,Wohin soll der Arzt kommen?‘ der Frage „wo wohnst du denn?“ vorzuziehen gewesen wäre. 108 M 40: . . ./ Ich meine, wenn jetz das Kind noch mal anruft, dann muß es noch mal den ganzen Weg durchgehen bis man überhaupt soweit kommt wieder (-) zu diesem Punkt, wo man dann wieder nachfragen kann. Und das ist ja auch ne Zeitfrage M kommt jetzt darauf zu sprechen, dass das Kind im Falle, dass es erneut versuchen sollte, Hilfe zu erhalten, noch einmal die Schritte Wählen, Kommunikationseröffnung und Darlegung des Anliegens zurücklegen muss, und bei diesem ganzen Procedere wertvolle Zeit verloren geht, die nicht verloren gegangen wäre, so das implizite Argument, wenn der Polizeibeamte krisenangemessen gehandelt hätte. 61 Exemplarisch seien drei Phasenmodelle der Vernehmung angeführt. Modell I: Kontaktgespräch – Erzählphase – Befragungsphase. Vgl. Stüllenberg (1992), S. 22 ff.; Modell II: Kontaktphase – Anhörung – Befragung. Vgl. Weihmann (1992), S. 131 ff.; und Modell III: Begegnungs- oder Kontaktphase – Erzählphase – Befragungsphase – Protokollierung. Mündliche Auskunft meines Kollegen R. Guth, Fachgruppenleiter Kriminalistik/Einsatzlehre an der Thüringer Verwaltungsfachhochschule, Fachbereich Polizei.
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109 B 24: Ja, es vergeht viel Zeit bis zur eigentlichen \. . . 110 M 41: Genau 111 B 24: . . ./ Hilfeleistung 112 M 42: Mhm B stimmt dieser Interpretation zu, wobei auch seine Argumentation impliziert, dass es noch zu einer Hilfeleistung kommt, was aber voraussetzt, dass das Kind auch nach dem Gespräch mit dem Polizeibeamten noch in der Lage war, die Notrufnummer 112 zu wählen, und die verständigte Rettungsleitstelle noch rechtzeitig reagieren konnte, um das Leben der Epileptikerin zu retten. 113 B 25: Er hätte im Prinzip das Kind erstmal beruhigen sollen (-) so hät ich vielleicht gehandelt (-) hätte gesagt „Warte mal en Augenblick, ich informiere andere Leute“ \. . . 114 M 43: Mhm 115 B 25: . . ./ daß es am (-) Telefon halt bleibt \. . . 116 M 44: Mhm 117 B 25: . . ./ und wenn irgend welche Rücksprachen \. . . 118 M 45: Mhm 119 B 25: . . ./ genau sind, wo das is \. . . 120 M 46: Mhm 121 B 25: . . ./ was halt jetzt mit der Mutter is genau daß er das dann \. . . 122 M 47: Mhm 123 B 25: . . ./ an die Einsatzzentrale \. . . 124 M 48: Mhm 125 B 25: . . ./ oder Rettungswagen oder (was da) hingeschickt wird (-) oder Notarzt so was (-) auch gleich en paar Anweisungen hätte rübergeben können \. . . Das Argument von B lautet, dass der Polizeibeamte das Kind erst einmal hätte „beruhigen sollen“, wobei an seiner nachfolgenden Äußerung zu erkennen ist, dass er sich an dieser Protokollstelle gedanklich in die Rolle des den Notruf entgegennehmenden Polizeibeamten versetzt und sich konjunktivisch ausmalt, wie er gehandelt hätte, was er gesagt hätte. Die von ihm verwendete Formulierung lässt erkennen, dass für ihn an erster Stelle gestanden hätte, dem Kind in einer kindgemäßen Sprache mitzuteilen, dass es einen Augenblick am Telefon warten solle, während er „andere Leute“ informiere. Wenngleich unzweifelhaft zu erkennen ist, dass es für B wichtig
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ist, die richtige, kindgemäße Sprachebene zu finden, ist kritisch anzumerken, dass er aufgrund der bisherigen Kommunikation noch nicht wüsste, wohin ein Notarzt kommen soll, ihm mithin eine einsatznotwendige Information fehlte, um einen Einsatz gezielt einleiten zu können. Denn ein Einsatz ohne Kenntnis des Einsatzortes ergäbe keinen Sinn, er wäre geradezu absurd, so dass die Frage nach der Adresse nicht erst bei eventuellen Rücksprachen zu stellen wäre, sondern möglichst an erster Stelle: ,Wohin soll der Arzt kommen?‘. Überhaupt ist zu bedenken, ob es tatsächlich sinnvoll wäre, das Kind zu lange am Telefon zu halten und ihm weitere Fragen zum aktuellen Zustand der Mutter zu stellen, zumal dies das Kind wirklich überfordern könnte und der alarmierte Notarzt im Sinne der notärztlichen Normalfall-Logik ehedem von ,the worst case‘, also generalisierend von einem tonisch-klonischen Anfall ausginge, einer Anfallsform, die ein „lebensbedrohliches Ereignis“62 darstellt,63 das „sofortiger stationärer intensivmedizinischer Behandlung bedarf“.64 Oder ob es nicht sinnvoller wäre, dem Kind die Instruktion zu geben, zu seiner Mutter zu gehen und bis zum Eintreffen des Arztes, der in wenigen Minuten komme, bei ihr zu bleiben, und dem Notarzt die Tür zu öffnen. 126 B 25: . . ./ Daß es halt \. . . 127 M 49: Genau 128 B 25: . . ./ in in diesem Augenblick \. . . 129 M 50: Mhm 130 B 25: . . ./ jetzt so und so steht um die Mutter, ne Während also von den Studenten hätte erörtert werden müssen, ob es im vorliegenden Fall sinnvoll gewesen wäre, das Kind zu lange am ,Draht‘ zu halten, zumal es durch zu viele Nachfragen in der Tat hätte überfordert werden können, setzt B seine Argumentation, von M zustimmend kommentiert, in dieser Richtung fort. 131 M 51: Weil man is ja schon im Gespräch richtig drinne, denn man hat ja gemerkt in der zweiten Zeile von dem Anrufer, von dem Kind, daß es ja in Aufregung is und erst mal sich an den, an diesen (-) Mann, an diesen Polizeibeamten (-) bemerkbar machen muß, also (-) „Hier is’n Notruf“, erst mal die Hemmschwelle oder (-) sagen mer mal die Aufregung \. . . 132 B 26: Mhm 62 63 64
Noachtar (1994), S. 418. Mit einer Letalität von 10 Prozent. Vgl. ebd. Ebd.
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133 M 51: . . ./ zu überwinden Diese bekräftigt dann auch noch einmal B’s Gesprächsvariante, wobei ihre Begründung nicht überzeugend ist, weil es hier ja um die Protokollsequenz geht, nach der das Kind dem Polizeibeamten mitgeteilt hat, dass seine Mutter epileptische Anfälle hat, also der Fall klar ist und sich nun, wie bereits ausgeführt, die Frage stellt, ob es Sinn ergibt, das Kind über den aktuellen Zustand des epileptischen Anfalls zu befragen, da sich dieser bereits im nächsten Moment zum Schlechteren verändert haben kann und gerade dies den Notfall ausmacht. 134 S 9: Wobei ich hier doch mal Partei für den Polizeibeamtenergreifen möchte (-) denn die meisten Anrufe, die im Notrufeingehen, sind eben Anrufe, die nich direkt den Notrufüberhaupt betreffen, und er sicherlich überwiegend Anrufe tatsächlich abwälzen muß, weil sie nich zuständig dafür sind. \. . . Nun schaltet sich S ein, dem offensichtlich die gemeinsam von seinen beiden Kollegen formulierte Kritik an der polizeilichen Interventionspraxis missfallen hat. S gibt zu verstehen, dass er an dieser Stelle „Partei für den Polizeibeamten ergreifen möchte“, er also dessen Standpunkt verteidigen will, was indiziert, dass er offensichtlich eine praktische Perspektive zum Gegenstand der Diskussion einnimmt und keine methodisch-distanzierte. Wobei seine Begründung, es handele sich bei den meisten über den Polizeinotruf eingehenden Anrufen um solche, die diesen nicht direkt betreffen und die der Polizeibeamte deshalb abwälzen muss, weil er nicht zuständig für sie ist, präsupponiert, dass es sich beim vorliegenden Anruf um einen Fall eines solchen Typs handelt. Interessant scheint mir an dieser Stelle die Kontextinformation zu sein, dass es sich bei S um einen Seiteneinsteiger handelt und nicht, wie man hier hätte vermuten können, um einen praxiserfahrenen ,alten Hasen‘, der aus eigener Erfahrung sprach. S kannte die Praxis nur aus einem halbjährigen Praktikum. Und dennoch argumentierte er so, als ob er über langjährige Praxiserfahrung verfügte, so als wolle er damit sein Novizentum überspielen. 135 S 9: . . ./ Und hier ist er sich sicherlich in der Situation überhaupt nicht dessen bewußt, daß es en Kind is, sondern is wieder mal en Anruf, der eigentlich nich den Polizeinotruf betrifft S setzt hier seine Verteidigung beziehungsweise Ex-post-Rationalisierung des polizeilichen Handelns fort, die sich wie folgt dechiffrieren lässt:
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Erstens: Der Polizeibeamte war sich in der Situation „überhaupt nicht dessen bewußt“, dass der Anrufer ein Kind war. Wenn er sich dessen bewusst gewesen wäre, hätte er anders gehandelt. Zweitens: Der Polizeibeamte ging davon aus, dass ihm ein Fall mitgeteilt wurde, der im Grunde genommen gar „nich den Polizeinotruf betrifft“. Zum ersten Punkt ist anzumerken, dass das hier vorgetragene Argument auf ganz schwachen Beinen steht, weil der Polizeibeamte dem Sinn der Notrufinstitution entsprechend auch dann nicht so handeln durfte, wenn ein Erwachsener angerufen hätte. Wobei die Tatsache, dass der Polizeibeamte den Anrufer duzte, im Zusammenhang mit der Äußerung in Zeile 03 des Notrufprotokolls „meine Mutter is . . .“ indiziert, dass er an der Stimme erkannte, dass er mit einem Kind sprach. Während deshalb das Duzen angemessen ist, ist die daran anschließende Forderung, noch mal aufzulegen, umso unangemessener. Denn indem der Polizist erkennt, dass der Anrufer ein Kind ist, ist seine Reaktion so skandalös. Diese Textstelle ist für mich die zentrale Schlüsselstelle, weil hier der Polizeibeamte gravierend unangemessen handelt. Das Kind wendet sich in einer akuten Krisensituation an die Polizei. Und der Polizeibeamte gibt ihm praktisch zu verstehen, dass es bei der falschen Stelle angerufen hat, dass für diesen Fall die Polizei inhaltlich nicht zuständig ist. Während M die Ursache für die falsche Handlungsweise des Polizeibeamten in dessen Überforderung sieht, kann man, weniger psychologisch interpretierend, den Fehler des Polizeibeamten darin sehen, dass er offensichtlich ein Zuständigkeitsmodell im Kopf hat, das strikt zwischen eingehenden Polizeinotrufen unterscheidet, die einen unmittelbaren inhaltlichen Bezug zur Polizeiarbeit haben, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Ein bürokratisches Zuständigkeitsmodell, das die Zuständigkeit für Krisen auf der inhaltlichen Ebene verzweigt und nicht berücksichtigt, dass der den Polizeinotruf entgegennehmende Polizeibeamte auch in medizinischen Notfällen, Brandmeldungen oder Flutkatastrophen für deren Entgegennahme und Weiterleitung strukturell zuständig ist, weil es sich um akute Krisen handelt und diese ansonsten nicht angemessen behandelt werden könnten.65 65 Woraus man ableiten kann, dass die im Hinblick auf akute Krisen inhaltlich bzw. material zuständigen Stellen (wie Feuerwehr, Notärzte, Polizei) eine Art Krisenverbund bilden, deren Zusammenarbeit in Deutschland allerdings soziologisch noch unerforscht ist. Wie man überhaupt sagen kann, dass die Arbeit der Polizei in der deutschen Polizeisoziologie bislang kaum untersucht wurde, wenn man unter Arbeit nicht nur oder vorrangig die Komponenten polizeilichen Handelns versteht, die unmittelbar mit der Kriminalitätsbekämpfung zu tun haben. Eine Übersicht zum Forschungsstand der deutschen Polizeisoziologie geben u. a. Funk (1990), S. 105 ff.; Kreissl (1991), S. 375 ff.; Reichertz/Schröer (1992), S. 1 ff.;
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Die adäquate Reaktion des Polizeibeamten wäre in dem aktuellen Fall gewesen, dass er zunächst vom Kind die Notfalladresse erfragt und dann umgehend notärztliche Hilfe zum Notfallort geschickt hätte. Doch genau dies erkannte S nicht. Vielmehr zeigt seine bürokratische Lesart, dass er sich als Novize überangepasst bezüglich der bürokratischen Komponente polizeilichen Handelns verhält. Hieran lässt sich ablesen, wie wichtig es wäre, wenn ihm nachfolgend jemand im Sinne einer geburtshelferischen, mäeutischen Pädagogik die Fehlerhaftigkeit seines Handelns aufzeigen würde,66 um die Momente seiner Krisenbewältigungskompetenz zu stärken und gegen seinen bürokratischen Habitus vorzugehen, zu dessen Ausprägung schon wenige Monate Berufspraxis ausreichend waren. 136 B 27: Aber ich denke (-) Notruf stellt’s schon dar, ne? Die Äußerung von B indiziert, dass er mit dieser Interpretation nicht ganz einverstanden ist. Entsprechend leitet das adversative „aber“ einen Einwand ein, der ausformuliert lautet: ,Auch wenn es sich hier um einen Anruf handelt, der den Polizeinotruf im Grunde genommen nicht betrifft, um einen Notruf handelt es sich schon. Da stimmst Du mir doch zu, oder nicht?‘.67 Dieser Einwand belegt, dass für B die inhaltliche Frage nicht entscheidend war, sondern er wie selbstverständlich von der strukturellen Zuständigkeit der Polizei in dieser Krise ausgeht, was erkennen lässt, dass ihm die bürokratische Logik von S fremd war, dass er einen anderen Habitus hatte, der sein Handeln intuitiv in die richtige Richtung lenkte. 137 S 10: Natürlich S stimmt schnell zu: Selbstverständlich handelt es sich um einen Notruf. 138 B 28: Das is ne Situation B legt nach, wobei seine elliptische Äußerung verstanden werden kann als nachdrücklicher Hinweis, dass hier eine Notsituation vorliegt. Lehne (1992), S. 34 ff.; Reichertz/Schröer (1996), S. 7 ff.; Ley (1997), S. 266 ff.; BKA-Kriminalistisch-kriminologische Forschungsgruppe (1998); Ohlemacher (1999); Reichertz (2000); Ahlf (2000); Mokros (2001). Es gibt nur wenige Arbeiten im deutschen Sprachraum, die sich mit dem Polizeinotruf auseinandergesetzt haben. So etwa die Studien von Hanak (1991), Feltes (1995/1990) und Dreher/Feltes (1996). Alle drei untersuchen jedoch nicht das, was Konversationsanalytiker „talk-in-interaction“ [Whalen/Zimmerman (1990), S. 467] nennen. Vgl. hierzu jedoch meine Untersuchung eines Polizeinotrufes im Rahmen der BKA-Reihe Forum 1998; oder auch Ley (2000), S. 317 ff. 66 Wobei der Geburtshelfer nicht notwendigerweise der Dozent sein muss! Diese Rolle können in der Gruppenarbeit sinnvollerweise auch die Gruppenmitglieder übernehmen. 67 Zur Bedeutung des „ne“ vgl. Jefferson (1981), S. 53.
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139 S 11: Natürlich Worauf S wiederum zustimmt. 140 B 29: Jetzt mußt du davon ausgehen wieweit, wieweit denkt das Kind \. . . 141 S 12: Mhm 142 B 29: . . ./ ne? is es in der Lage, mit eins eins null, Polizei (-) die helfen das kann’s in Verbindung bringen B spricht hier geradezu eindringlich auf S ein, dass er in dieser Situation bedenken müsse, inwieweit das Kind in der Lage sei, jetzt die richtige Stelle anzurufen. Mit der 110 habe es die Polizei als Helfer in Verbindung bringen können, eine Erwartung, die im Hinblick auf Hilfe eher enttäuscht wurde. Fraglich sei daher, ob das Kind in der Lage ist, der Aufforderung des Polizeibeamten zu folgen und noch einmal anzurufen. Womit B, der im Unterschied zu S bereits über einige Jahre Berufserfahrung verfügte, im Sinne der von mir eben angesprochenen mäeutischen Pädagogik argumentiert, was erstens ein Beleg für die grundsätzliche methodisch-didaktische Geeignetheit von Gruppenarbeit bei Sequenzanalysen ist, und zweitens einen Beleg für die Vernünftigkeit der Vermischung der Seminargruppen mit Berufsanfängern und Praxisaufsteigern darstellt. 143 M 52: Da müßte man jetzt definieren, was is Notruf \. . . Während B fast beschwörend auf S einsprach, verweist M nun auf die Notwendigkeit, zu definieren, was unter Notruf zu verstehen ist. Diese Äußerung dokumentiert, dass sie genau wie B nicht erkennt, dass S ein bürokratisches Zuständigkeitsmodell im Kopf hat, und es im Sinne einer Auseinandersetzung mit seiner Sicht sinnvoller gewesen wäre, ihn zu fragen: ,Wie definierst Du Polizeinotruf? Für welche Fälle ist nach Deiner Meinung der Polizeinotruf zuständig?‘. Da aber M so nicht fragt, ist ihr Hinweis, dass es notwendig ist, Notruf zu definieren, in diesem Diskussionskontext wenig hilfreich, weil S zuvor nicht abstritt, dass es sich um einen Notruf handelt, er aber zwischen Notruf und Polizeinotruf kategorial unterschied. 144 M 52: . . ./ Zählt es da mit dadrunter? \. . . Entsprechend ist ihre Frage, ob der diskutierte Fall unter die Kategorie des Notrufs zu subsumieren sei, nicht geeignet, um das Notrufverständnis von S zu klären.
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145 M 52: . . ./ und meiner Meinung nach zählt es dadrunter, weil das Kind is in dem Moment in er(-) das weiß ebend nich, was es machen soll, das brauch ebend Hilfe. Und – Wobei für sie die Sache klar ist. Der Fall zählt mit darunter, weil das Kind in einer hilfsbedürftigen Lage ist. 146 B 30: Nich das Kind brauch Hilfe M wird nun durch B unterbrochen, der an dieser Stelle eine beckmesserische, tendenziell oberlehrerhafte Korrektur vornimmt, die so nicht angebracht ist, denn wenngleich klar ist, dass nicht das Kind sich in einem medizinischen Notzustand befand, sondern seine Mutter, benötigte es die Hilfe des Polizeibeamten, um Hilfe für die Mutter zu erhalten. 147 M 53: Naja (-) Unterstützung für die Mutter jetzt M korrigiert sich, hierbei zum Ausdruck bringend, dass sie das ja gemeint habe, womit sie implizit zu verstehen gibt, dass die Korrektur in der vorgenommenen Form überzogen war. 148 B 31: Das Kind erbittet Hilfe für \. . . 149 M 54: Ja genau 150 B 31: . . ./ die Mutter, ne, weil’s sonst nicht zurecht kommt Während B zuvor M tendenziell oberlehrerhaft kritisierte, führt er mit seinem hier vorgetragenen Argument, dass das Kind Hilfe für die Mutter erbittet, „weil’s sonst nicht zurecht kommt“, diese Kritik selbst ad absurdum. Denn im Sinne seiner vorhergehenden Kritik hätte er formulieren müssen: ,Weil sie‘ oder „weil die Mutter sonst nicht zurecht kommt“. Was nun M, die ihm einleitend zustimmte, nachfolgend kritisieren könnte. 151 M 55: Aber ich sag mal, das is so’ ne (-) Notruflage 152 B 32: Auf alle Fälle M lenkt indes die Diskussion wieder in eine andere Richtung, indem sie noch einmal ihre Einschätzung des Falles gibt. Sie verwendet dabei an dieser Stelle einen Begriff, der zur Fachsprache in der Einsatzlehre gehört: den Begriff der Notruflage. 153 M 56: Ich meine, wenn wir irgendwo en Unfall haben (-) da wird automatisch dann auch der Notarzt informiert M schließt an, indem sie – sich ähnlich wie S als ,alter Hase‘ stilisierend – zu berichten weiß, dass in der Polizeipraxis bei Unfällen generell der
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Notarzt informiert werde. Was, wenn man ihre Äußerung wörtlich nimmt68 und unterstellt, dass sie im Praktikum richtig beobachtet hat, auf ein Praxisproblem hinweist: Der fallunspezifische Anforderungs-Automatismus führt nämlich zu einem inflationären polizeilichen Anfordern des Notarztes in Nicht-Notfällen, was alles andere als sinnvoll ist, weil der Notarzt – wie der Name es sagt – ein Arzt für den Notfall ist. Demzufolge sind „Notfallpatienten“, wie Rossi und Binder in ihrem Buch „Notfallmedizin in der Praxis“69 schreiben, „Verletzte oder Erkrankte, die sich in Lebensgefahr befinden oder bei denen eine schwere gesundheitliche Schädigung zu befürchten ist, wenn sie nicht unverzüglich medizinische Hilfe erhalten“.70 154 B 33: (Na) jetzt (-) noch mal vielleicht drauf zurückgehen, was der S gesagt hat (--)? \. . . B lenkt nun noch einmal auf einen Gesprächsbeitrag von S, wenngleich aus dem indexikalischen Hinweis71 nicht genau herauszulesen ist, auf welche Stelle sich hier B bezieht. Man kann nur erschließen, dass es sich um die Diskussionsstelle handelt, an welcher S Partei für den Polizeibeamten ergriff, indem er ausführte, dass beim Polizeinotruf faktisch viele Anrufe eingehen, die entweder keine Notrufe sind oder den Polizeinotruf im Grunde nicht betreffen, und es daher erforderlich ist, solche Anrufe abzuwälzen. 155 B 33: . . ./ Man muß jetzt vielleicht mal die Tageszeit einschätzen (-) wie lange is der Polizeibeamte \. . . 156 M 57: Mhm 157 B 33: . . ./ schon im Dienst \. . . 158 M 58: Mhm 68 Vgl. Wernet (2000), S. 26: „Die methodologische Grundausrichtung der Objektiven Hermeneutik als Verfahren der Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen vor allem in Abgrenzung zu einer inhaltsparaphrasierenden und auf Aussage- und Sprecherintentionen orientierten Text- und Sinninterpretation findet in dem Prinzip der Wörtlichkeit seinen (sic) methodentechnischen Niederschlag. Wer den Text beim Wort nimmt, hat schon durch diese einfache Operation den entscheidenden Schritt getan, die Beschränkungen einer intentional-deskriptiven Interpretation zu überwinden.“ [Hervorhebung im Original, T. L.] 69 (1996). 70 Ebd., 11. 71 Im ethnomethodologischen Sprachgebrauch handelt es sich bei „indexical expressions“ um kontextgebundene Aussagen, die im Unterschied zu objektiven Ausdrücken ohne Berücksichtigung des Sprechkontextes nicht angemessen zu verstehen sind. Grundlegend Garfinkel/Sacks (1970), S. 338 ff.; instruktiv auch Handel (1982), S. 41.
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159 B 33: . . ./ Wenn er en Zwölfstundendienst hat und ist meinstwegen schon in der zehnten Stunde seines Dienstes (-) das, das schon belastend, es kann schon mal sein \. . . 160 M 59: Mhm 161 B 33: . . ./ daß du da \. . . 162 M 60: is richtig 163 B 33: . . ./ auf Durchgang schaltest, du hörst das zwar, du nimmst das auch \. . . 164 M 61: Mhm 165 B 33: . . ./ alles wahr, aber du handelst (-) nich so wie es sein müßte (-) im Prinzip, ne, daß du ebend deinen ganzen Ablauf hast, deinen chronologischen Ablauf, Verständigung der Einsatzzentrale un so, daß diese ganzen B kommt nun auf das Thema Belastung durch/im Schichtdienst zu sprechen.72 Dabei skizziert er die Möglichkeit, dass sich der Polizeibeamte bereits in der zehnten Stunde seiner zwölf Stunden dauernden Schicht befand, und argumentiert, dass es dann schon einmal vorkommen könne, dass nicht so gehandelt werde, wie am Notruf gehandelt werden müsste. Zu dieser Lesart sind zwei Dinge anzumerken: Erstens: Sie weicht vom Prinzip der Wörtlichkeit ab. Denn im Notruftext ist nicht markiert, wie lange der Polizeibeamte bei Eingang des Notrufes bereits im Dienst war. Zweitens: Für die Bewertung der polizeilichen Handlungsweise ist es (nach dem Normalfall) unerheblich, wie viele Stunden der Polizeibeamte bereits Notrufe entgegennahm. So, wie er diesen Notruf behandelte, durfte er ihn auf keinen Fall behandeln. 166 M 62: Ja, das scheint auch hier der Fall zu sein, denn so wie der jetz auch sich meldet und dann mit diesem Kind redet, das is so, man merkt, daß er genervt is und schon (--) nich mehr so konzentriert is. (-) \. . . M stimmt vorsichtig dieser Belastungs-Lesart zu, wobei zu ihren nachfolgenden Begründungen zu sagen ist, dass beide nicht nach dem Wörtlichkeitsprinzip aus dem Notruftext abgeleitet sind. Denn weder findet sich dort ein markierter Hinweis darauf, dass der Polizeibeamte genervt ist, noch dass er weniger („nich mehr so“) konzentriert ist als zu Beginn seines Dienstes. 72 Ein bei den Studenten recht beliebtes Thema. Vgl. hierzu die Projektarbeit von Delgado u. a. (1996).
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D. Rezeptionsvergleich
167 M 62: . . ./ Das ist jetz (-) fraglich, ob er nun das aus-(-) so ge- reagiert hat wegen der Konzentration un (-) dem Arbeitsstreß, oder ob es wirklich is, um die Aufgabe wegzu (-) weiterzuleiten (-) wegzuschieben Während M zunächst tentativ der Belastungs-Lesart von B folgte, also Arbeitsstress und mangelnde Konzentration als ursächlich für die Reaktionsweise des Polizeibeamten ansah, indiziert ihre Nachfolgeäußerung, dass sie auch nicht ausschließt, dass dessen falsche Reaktion mit seiner Arbeitshaltung (,weg von mir – hin zu den anderen‘) zusammenhing, für die sie – wie die Formulierung „wegzu (-) weiterzuleiten (-) wegzuschieben“ indiziert – eine passende Bezeichnung sucht, die sie schließlich auch findet. Denn was der Polizeibeamte faktisch tat, war kein Weiterleiten des Telefongesprächs, dann hätte er das Kind zumindest mit einer anderen Stelle verbinden müssen, sondern in der Tat ein Wegschieben seiner Aufgabe. Er gab das Gespräch an das Kind zurück, das daraufhin dann noch einmal die von ihm genannte Stelle anrufen musste. 168 B 34: Wegzudeligieren (Lachen) Während M von Arbeit „weiterzuleiten“ und „wegzuschieben“ sprach, verwendet B nun lachend das Wort „wegzudeligieren“. Es handelt sich hier um ein Kompositum, dessen Stamm das Wort ,delegieren‘ ist. ,Delegieren‘ bedeutet von seiner etymologischen Herkunft aus de-legare her, jemanden mit einer gesetzlichen Vollmacht auszustatten und ihm Zuständigkeiten zu übertragen. Von daher könnte man sagen, dass der Polizeibeamte am Notruf gesetzlich de-legiert ist, die ihm mitgeteilten Gefahren für Leib/Leben und/ oder Eigentum abzuwehren und im Rahmen seiner Aufgabe Straftaten zu verhüten oder für deren Verfolgung zu sorgen.73 Das Kind indes de-legiert nichts, sondern nutzt die Einrichtung des Polizeinotrufs, um Hilfe in einer objektiv gegebenen Notsituation zu erhalten. Das Wort „wegzudeligieren“ ist folglich an dieser Stelle nicht nur unpassend, weil der Polizeibeamte am Notruf nicht ermächtigt ist, seine ihm gesetzlich übertragene Aufgabe auf das Kind zu übertragen. Es ist auch unpassend, weil das, was hier geschah, die Verweigerung der Behandlung einer Krise, mit De-legieren nicht im Entferntesten etwas zu tun hat. Fragt man nun, wie das Lachen von B motiviert ist, da der fehlerhafte Gebrauch des Wortes für sich genommen das Lachen nicht hinreichend erklärt, liegt die Lesart nahe, dass es sich hier um die Verballhornung eines schulisch vermittelten, bekannten Fachterminus handelt. Dazu passt, dass der Begriff, so wie er hier von B gebraucht wurde, geradezu konträr zu 73
Vgl. § 2 Thüringer Polizeiaufgabengesetz (PAG).
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dem im Fach Führungswissenschaften vermittelten Sinn von ,delegieren‘ steht, ja geradezu eine Karikatur dieses hier positiv besetzten Begriffes74 darstellt. 169 M 63: Genau (Lachen) Was von M, offenbar die Karikatur bemerkend, lachend bestätigt wird. 170 B 35: Aber wenn man dann die Zeile null fünf, die wir hatten \. . . 171 M 64: Mhm 172 B 35: . . ./ wo er dann dem Kind Kind das sagt, „eins eins zwo, den Notarzt“ \. . . 173 M 65: Ja dann 174 B 35: . . ./ reagiert ja das Kind dann in Zeile null sechs nur mit dem einen Wort „Okay“ \. . . 175 M 66: Mhm 176 B 35: . . ./ Es scheint das ja vielleicht doch irgendwo verstanden zu haben, das, was der Polizeibeamte gesagt hat Mit der adversativen Konjunktion „aber“ leitet nun B eine Einschränkung bezüglich der Reaktion des Kindes auf die Verweigerung des Polizeibeamten ein, den Notruf entgegenzunehmen, wobei sich die Einschränkung in Langschrift wie folgt übersetzen lässt: Aber dennoch „scheint“, wie das „okay“ indiziert, das Kind vielleicht doch verstanden zu haben, dass der Polizeibeamte „eins eins zwo, den Notarzt“ sagte. Was eine dem Wörtlich74 Zu Delegation heißt es in den beiden Standardbänden der Führungslehre von Altmann/Berndt: „Grundlage kooperativer Führung ist die Übertragung von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung an die Mitarbeiter (Delegation) als einen fest umgrenzten Aufgabenbereich. Der Vorgesetzte darf in den Aufgabenbereich prinzipiell nicht eingreifen, andererseits aber auch keine ,Rückdelegation‘ dulden.“ Altmann/Berndt (1992), S. 241. Und ergänzend: „Der Delegation [als Ordnungsprinzip, T. L.] liegt die Überlegung zugrunde, daß bei dem heutigen Grad der Spezialisierung zu erfüllender Aufgaben ein Vorgesetzter nicht mehr alles allein machen und auch nicht alles besser wissen kann, so daß auf den Sachverstand des selbständig denkenden Mitarbeiters nicht verzichtet werden kann. Aufgabenwahrnehmung, Kompetenzausübung und Verantwortungsübernahme müssen so auf die einzelnen Stelleninhaber verteilt sein, daß die Organisation flexibel bleibt und in schneller Reaktion des einzelnen Mitarbeiters an den Stellen entscheidet und handelt, an denen es für die Organisation am zweckmäßigsten ist. In diesem Sinne ist Delegation in der Regel als das Abgeben von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung an nachgeordnete Stellen zu beschreiben. Das Schwergewicht liegt dabei auf der Abgabe von Aufgaben mit Entscheidungskompetenz.“ Altmann/Berndt (1994), S. 162. [Hervorhebung im Original in Fettschrift, T. L.]
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D. Rezeptionsvergleich
keitsprinzip entsprechende Lesart darstellt. Denn das Wort „okay“, das aus dem Amerikanischen stammt und in die deutsche Umgangssprache eingebürgert wurde, bedeutet nach dem Duden „abgemacht, einverstanden“75 und „in Ordnung, gut“.76 177 M 67: Na gut, aber dem Kind wurde auch keine andere Wahl gelassen (-) \. . . Die Reaktion von M indiziert, dass sie mit B’s vorhergehender Bemerkung, die sie offenbar als Rechtfertigung für die falsche Handlungsweise des Polizeibeamten missverstanden hat, nicht einverstanden ist. Deshalb erfolgt von ihr nun der Einwand, dass dem Kind auch keine andere Wahl gelassen wurde als zu verstehen. 178 M 67: . . ./ Noch es, es muß ja noch mal anrufen, \. . . M fährt hier mit ihrem Einwand fort, als gelte es B zu überzeugen, dass der Polizeibeamte falsch handelte, was indes von B gar nicht behauptet wurde. 179 M 67: . . ./ ich mein, es hat ja nich gesagt „okay ich rufe eins eins null an“ oder (-) äh „können sie nich anrufen?“ (uv) sagt einfach „okay“. Ich meine, das sagt im Prinzip für mich nichts aus M fährt mit der Klage fort, dass das „okay“ für sie im Grunde genommen nichts aussage, und expliziert, es hätte für sie einen Unterschied gemacht, wenn das Kind entweder „okay ich rufe eins ein null an“ gesagt hätte oder es den Polizeibeamten aufgefordert hätte, stellvertretend für es anzurufen: „Können sie nich anrufen?“. Zu ihrer Lesart, dass das „okay“ im Grunde genommen für sie nichts aussage, ist anzumerken, dass – wie bereits ausgeführt – „okay“ „abgemacht, einverstanden“77 und „in Ordnung, gut“78 bedeutet, und damit im zu analysierenden Notruftext klar markiert ist, dass das Kind die Aufforderung des Polizeibeamten verstand. Zweitens ist anzumerken, dass die von M für geeigneter gehaltene explizitere Formulierung: „Okay ich rufe eins eins null an“ für die Interaktion wesentlich problematischer gewesen wäre, weil sie zum einen zeitaufwendi75 76 77 78
Duden [(1982), Bd. 5], S. 536. Ebd. Ebd. Ebd.
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ger gewesen wäre. Und zum anderen, weil sie objektiv zum Ausdruck gebracht hätte, dass das Kind den Polizeibeamten falsch verstanden hatte. Denn dieser hatte dem Kind die Nummer 112 genannt. Und drittens ist anzumerken, dass die Tatsache, dass das Kind die zweite von ihr ins Spiel gebrachte Variante „können sie nich anrufen“ nicht benutzte, geradezu ein Beleg dafür ist, dass das Kind offenbar verstanden hatte, wo es anrufen soll, es folglich durchaus in der Lage war, die ihm gegebene Nummer selbst anzurufen. Dies ändert allerdings kein Jota daran, dass es vom Polizeibeamten in einer emergency-Situation objektiv abgewiesen wurde, und dieses Abweisen einen schweren Handlungsfehler des Polizeibeamten darstellt. 180 Öffnen und kurz darauf Zuschlagen einer Tür: Weibliche Stimme (WS): Ihr wollt doch wohl nicht die Pause durch machen! Seid ihr noch ganz!? Kurz darauf betritt eine weibliche Person den Raum, in dem die Gruppe den Fall diskutiert. Auffällig ist, dass sie vor dem Eintreten nicht anklopft, was indiziert, dass sie Anklopfen nicht für notwendig hält. Dies kann man damit erklären, dass sie zu den Zugangsberechtigten des Raumes gehört, weil sie entweder dort wohnt oder aus einem anderen Grund eine Zugangsberechtigung hat: Weil es ihr Arbeitsraum, ihr Büro oder ihr Klassenzimmer ist. Denn wenn sie nicht zu den sowieso Zugangsberechtigten des Raumes gehörte, müsste sie bereits nach kurzer Abwesenheit wieder anklopfen. Zur Lesart, dass sie zu den Zugangsberechtigten des Raumes gehört, passt, dass sie die im Zimmer anwesenden Gruppenmitglieder nicht grüßt, was im Sinne der Sparsamkeitsregel erschließen lässt, dass sie diese zuvor schon einmal gesehen hatte und beim Betreten des Raumes wusste, wer sich in diesem Raum aufhält. Und hierzu passt auch, dass sie die Gruppenmitglieder kollektiv duzt, sie unmittelbar anredet und ihnen unmissverständlich zu verstehen gibt, was sie davon hält, dass diese zu Pausenbeginn noch zusammensitzen und den Fall diskutieren, denn der abgebrochene Satz „Seid ihr noch ganz!“ kann eigentlich nur mit ,dicht‘ oder ,sauber‘ oder ,normal‘ beendet werden. Die Eintretende legt damit ein typisch schülerhaftes Verhalten an den Tag, wobei ihr implizit zum Ausdruck gebrachtes Argument lautet, dass man in der Schule nur das leisten soll, wozu man auch gezwungen ist, während jede weitere Anstrengung ein Zugeständnis an die Lehrer darstellt und im Verdacht von Strebertum steht. Und genau dieser Vorwurf wird hier von ihr erhoben: ,Ihr arbeitet in der Pause, ihr macht mehr als vorgeschrieben‘. Sie bringt damit eine Haltung zum Ausdruck, die einem Schüler, nicht aber einem Studenten entspricht, wobei diese Haltung, wie man unter Hinzuzie-
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hung von äußerem Kontextwissen sagen kann, objektiv der Tatsache geschuldet ist, dass das Studium an der Fachhochschule wie Schulunterricht organisiert war, und dazu gehörte ein Stundenplan, auf dem die Pausenzeiten genau ausgewiesen waren.79 181 M 68: Pscht (-) Öhm. Wo warn mer jetzt? Ja „okay“. M reagiert hier sehr souverän auf den schülerhaften Vorwurf der eintretenden Person. Weder rechtfertigt sie sich, noch geht sie sonst irgendwie auf sie ein, sondern sie weist sie nur zur Ruhe und macht deutlich, dass sie den Fall weiter diskutieren will. Ihre Äußerung „öhm“ zeigt, dass sie durch das Hereinplatzen von WS in der Diskussion gestört wurde und daher kurz nachdenken muss, an welcher Stelle sie in der Diskussion waren, wobei sie die Stelle relativ schnell findet. Es ist die Stelle, an der das Kind „okay“ sagte. 182 B 36: Wir könn aber immer noch in die Zeile nullfünf zurückgehn. Wir machen erst mal en Päuschen [Tastendruck] Während M offensichtlich weiterdiskutieren will, lässt sich indes B von dem schülerhaften Vorwurf der Eintretenden verleiten, eine Pause einzuleiten, woraufhin das Tonaufnahmegerät abgestellt wird. Die Reaktion von B ist interessant, weil er sich kehrseitig zu der Stelle, an der S sein Polizeinovizentum durch eine Praxisattitüde zu überspielen versuchte, den Umgangsformen des Schulbetriebs anpasst und damit die für ihn außeralltägliche Schulsituation kompensieren will. 183 M 69: Zeile fünf. Da kann ma ja noch froh sein, daß er nach „eins eins zwo“ gesagt hat, „den Notarzt“, vielleicht hat das Kind ja gar nicht gewußt (wens) dann anruft, also was unter eins eins zwo für ne Stelle is. 184 B 37: Mhm Wie von B vorgeschlagen, setzt M nach der Pause die Analyse mit „Zeile fünf“80 fort. Dabei indiziert ihre Äußerung, dass sie zwar die vom Polizeibeamten gewählte Variante als durchaus nicht ideal bewertet, es aber aus ihrer Sicht noch schlechter gewesen wäre, wenn er nur die Zahlenfolge 112 genannt hätte, weil sich dann das Kind vermutlich nicht hätte vorstellen können, wen es anruft, mit welcher Stelle es spricht. Womit M auch Recht hat, weil die Artikulation von drei Zahlen abstrakter ist als die Nennung des Namens der anzurufenden Stelle.81
79 80
Vgl. hierzu Kapitel A., Abbildung 3. Vgl. Fußnote 29. Es handelt sich hier genau genommen um Turn 5.
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185 M 70: Ja, das sin alles so (-) Fragen (-) keine andere Wahl muß noch mal anrufen 186 S 13: Finde aber, daß der Beamte doch drauf eingegangen is auf das Kind, in dem er noch mal die „eins eins zwo“ noch mal wiederholt hat und noch mal \. . . 187 M 71: in Zeile sieben? 188 S 13: . . ./ das „ja“, ja genau (-) in Zeile neun ja dann „ja“, quasi noch mal en, eine Nachfrage is, ob das verstanden ist Im Anschluss an M, die nochmals richtigerweise betont, dass dem Kind ja durch den Polizeibeamten keine andere Wahl gelassen worden sei als erneut anzurufen, wendet nun S ein, dass nach seiner Ansicht der Polizeibeamte auf das Kind eingegangen sei, dies daran festmachend, dass der Polizeibeamte die Zahlen noch einmal wiederholt habe und abschließend mit dem „ja“ noch mal nachgefragt habe, ob das Kind die Zahlen verstanden habe. Wie bereits zuvor legitimiert S das Handeln des Polizeibeamten, wobei seine Argumentation in zweierlei Hinsicht aufschlussreich ist: Sie zeigt erstens, dass er dem Notruftext nicht strikt sequenzanalytisch folgt. Denn ansonsten hätte ihm auffallen müssen, dass das „ja“ nicht auf die Sequenzstelle „eins eins zwo“ folgt, sondern im Schegloff ’schen Sinne82 eine ,answer‘ auf das ,summons‘ „okay“ darstellt. Und sie zeigt zweitens, dass er vom Prinzip der Wörtlichkeit abweicht, weil im zu analysierenden Schrifttext nicht markiert ist, dass es sich bei dem „ja“ um eine Fragepartikel handelt. 189 B 38: Er wartet Prinzip (-) in Zeile nullneun, ob ne Rückmeldung noch mal erfolgt von dem Kind, hat es nu das das aufgenommen, was der Polizeibeamte ihm sagen wollte oder hat es es nich, ne. B folgt, noch einmal das eben Gesagte paraphrasierend, dieser Lesart.
81
Wenngleich man einwenden könnte, dass der Hinweis auf „den Notarzt“ von der Sache her analytisch unpräzise ist, weil das Kind beim Wählen der 112 nicht unmittelbar mit dem Notarzt, sondern mit einem Disponenten der Rettungsleitstelle verbunden wird, ist zu sehen, dass analytische Klarheit nicht notwendigerweise praktische Verständlichkeit bedeutet. D. h.: Das Kind hätte durch den Hinweis ,Rettungsleitstelle‘ verwirrt werden können. Von daher ist der Hinweis auf „den Notarzt“ sprechpragmatisch in Ordnung. 82 Vgl. Schegloff (1968), S. 1080.
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190 M 72: gut, wir waren bis „okay“ gekommen, Zeile sechs. Kommer jetz zur Zeile sieben, damit mir nich so große Sprünge machen, \. . . Während hingegen M, die offensichtlich bemerkt hat, dass S und B im Text „vorsprangen“, die beiden an das sequentielle, zeilenweise Vorgehen erinnert, das ich den Studenten im Unterricht anhand des Schegloff ’schen abababab-Modells erläutert und anhand der Analyse zweier Modellfälle exemplarisch vorgeführt hatte.83 191 M 72: . . ./ „eins eins zwo“ das im Prinzip noch mal die Wiederholung (-) aber auch ja „na wähl doch schon!“ so ungefähr, kann’s ja auch bedeuten jetz Noch einmal kommt M auf die Äußerung „eins eins zwo“ zu sprechen, diese erstens, wie B und S, als Wiederholung interpretierend, und sie zweitens als Appell auslegend. Während die erste Lesart durch das Protokoll erzwungen ist, handelt es sich bei der zweiten um eine zwar mögliche, aber durch den Schrifttext keineswegs erzwungene Lesart, zumal hier Intonationskonturen und Stimmqualitäten84 nicht verschriftet wurden und damit keine Protokollrealität darstellen. 192 S 14: Naja, aber so würde ich das nich verstehen, auch von der, von der (--) na (--) von der, von der Tonwahl des Beamten (-) finde ich nich, daß es gelangweilt klingt, sondern eher noch mal nachdrücklich „eins eins zwo“ Der nachfolgende Einwand von S indiziert erstens, dass er sich bei seiner Interpretation auf den Tonbandtext bezieht, denn er redet hier von „Tonwahl“. Und zweitens, dass er M’s vorhergehende Äußerung „na wähl doch schon!“ so interpretierte, als wollte sie mir ihr zum Ausdruck bringen, dass der Polizeibeamte am Notruf gelangweilt klang, was eine zwar mögliche, wenngleich nicht zwingend so auszulegende Interpretation ihrer Äußerung darstellt, der er nun seine Lesart entgegenstellt, dass für ihn die Stimme des Polizeibeamten „nachdrücklich“ klang. 193 B 39: Er unterstützt im Prinzip das, was er in Zeile fünf gesagt hat „Wähl mal gleich eins eins zwo den Notarzt“ B schließt sich dieser Interpretation an, wenngleich er durchaus richtig sieht, dass der Polizeibeamte mit dieser Äußerung nicht das Kind stützt, 83
Vgl. hierzu auch Wernet (2000), S. 27 ff. Vgl. hierzu Vieregge (1989), S. 1; Künzel (1987), S. 142 ff.; Lipold (1992), S. 213 ff. 84
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sondern seine eigene Entscheidung, sodass man sagen kann, dass es sich hier – systemtheoretisch formuliert – um eine selbstreferentielle Operation handelt, die man auch als Abweichungsverstärkung85 bezeichnen kann. 194 M 73: Liegt aber vielleicht schon Zweifel (-) in, in der Wortwahl des Polizeibeamten, indem er’s noch mal wiederholt „eins eins zwo“, so mit dem Hintergrund naja, vielleicht (-) scha- äh is das Kind nich in der Lage jetzt un und wiederholt’s aus diesem Grund noch mal Wiederum liefert M eine zwar mit dem Text kompatible, wenngleich durch ihn nicht erzwungene Lesart. Denn ebenso ist die Lesart möglich, dass der Polizeibeamte die Zahlen wiederholte, um das Kind möglichst schnell aus der Leitung zu bekommen, damit er seine Ruhe hatte. 195 B 40: (4 Worte uv) 196 M 74: Das vielleicht indirekt schon selber mitbekommen, ja, is es so richtig, daß das Kind jetz noch mal anruft? Im Anschluss an eine nicht zu verstehende Äußerung von B setzt M ihre zuvor explizierte Zweifel-Lesart fort, indem sie die Äußerung des Polizeibeamten als Indikator für seine beginnende Selbstreflexion sieht, als Ausdruck seines sich meldenden Gewissens, ob denn nun das, wozu er das Kind veranlasst hat, auch richtig ist. Auch diese Lesart ist vom Text nicht erzwungen, sondern im Grunde genommen eine psychologisierende Annahme über die Aussageintention des Polizeibeamten, für die es im zu analysierenden Text keine markierte Ableitungsbasis gibt. 197 S 15: Mh, das mag schon möglich sein (-) Aber auf alle Fälle (-) merkt man schon en berechtigtes Interesse dadran, daß öh, er möchte das ja, (daß das) Kind das versteht und daß das auch alles seinen Gang geht, also es ihm nich gleichgültig is \. . . 198 M 75: Mhm 199 S 15: . . ./ was passiert, nachdem das Kind wieder aufgelegt hat 200 M 76: Mhm Indem S diese Reflexions-Lesart von M nur möglicherweise für zutreffend hält, markiert er einen Zweifel und leitet damit argumentationsstrategisch eine Entgegnung ein, die mit dem adversativen „aber“ im nächsten Satz entfaltet wird. Diese Entgegnung besteht nun in einer nachdrücklich 85
Vgl. Maruyama (1963).
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vorgetragenen Rechtfertigung des Polizeibeamten. Das engagiert vorgetragene Argument lautet, dass man an der Äußerung des Polizeibeamten erkennen könne, dass er auf jeden Fall ein berechtigtes Interesse daran habe, dass das Kind seine Instruktion verstehe und es ihm nicht gleichgültig sei, was passiere, wenn das Kind wieder aufgelegt habe. Womit S das falsche Handeln des Beamten unter der Hand in ein angemessenes Handeln uminterpretiert und damit aus der falschen Handlungspraxis tendenziell fast schon eine richtige Praxis macht. Was S nicht erkennt, und das ist für die Bewertung der praktischen Handlungsweise des Polizeibeamten entscheidend, dass dieser nicht, wie es ein angemessener Notrufhabitus erforderte, dem Kind in der akuten Krisensituation hilft, indem er stellvertretend für es handelt und von sich aus die Adresse erfragt, wohin der Notarzt kommen soll, sondern ihm den Ball zurückspielt, was objektiv bedeutet, dass das Hilfegesuch des Kindes zurückgewiesen wird. Dieses polizeiliche Handeln stellt einen eklatanten Fehler dar, der auf einen bezüglich einer angemessenen Krisenbewältigung deformierten, bürokratischen Habitus hinweist. Ein Habitus, der offensichtlich auch schon bei S ausgeprägt war, was erklären kann, warum er die falsche, weil bürokratische Handlungsweise des Polizeibeamten nicht kritisierte, sondern sie im Gegenteil verteidigte. Über seine unangemessene Deutung konnte ich im Rahmen des im Anschluss an die Seminararbeit stattfindenden Rückmeldegesprächs mit ihm sprechen und hatte damit zumindest die Chance, ihn für ein angemesseneres Handeln zu sensibilisieren,86 während ich diese Einwirkungs- oder Sensibilisierungsmöglichkeit bei dem in der Praxis handelnden Polizeibeamten nicht hatte. 201 B 41: Ja, es erregt jetzt den Augenschein (-), daß er’s, daß es ihm bei diesem Zeitpunkt, wo, das hat er sich jetzt vielleicht alles durch den Kopf gehen lassen noch mal \. . . 202 M 77: Mhm 203 B 41: . . ./ sich doch sagt, okay, da ist jemand, der Hilfe brauch, jetz hast du so reagiert und nun muß du das irgendwie abschließen, unterstütz das doch mal. \. . . B sucht nach einer Motivierung für die Wiederholung der Rufnummer des Notarztes und spielt zu diesem Zweck hier gedankenexperimentell durch, wie der Polizeibeamte sich noch nach Vollzug seiner Entscheidung 86
Vgl. Loer (1999), S. 56 f.
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selbstreflexiv über diese beugt und diese begutachtet. Dabei kommt er – so B’s Gedankenexperiment – zum Ergebnis, dass dem Polizeibeamten erst nach der Reflexion bewusst wird, dass hier „jemand“ ist, „der Hilfe braucht“, wobei B mit der Formulierung „sich doch sagt . . .“ implizit dessen Habitus als notrufunangemessen bewertet, denn nur dann ist die in der Formulierung „doch“ ausgedrückte Überlegung überhaupt motiviert, nicht aber, wenn der Polizeibeamte von Beginn an bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgegangen wäre, dass ein emergency-Fall mitgeteilt wird. Wenngleich also B der vorhergehenden Lesart von S (Zeilen 197 und 199) scheinbar zustimmt, erfolgt hier eine mehr oder weniger implizite Kritik des polizeilichen Handelns, indem B das Modell eines fiktiv zu sich selbst sprechenden Polizeibeamten entwirft, dem im Hier und Jetzt seiner Handlungspraxis bewusst wird, dass er anders hätte reagieren können, der aber dennoch aufgrund seiner Reflexion entscheidet, den Fall im Sinne der gezeigten Reaktion abzuschließen.87 B unterstellt dem Polizeibeamten somit, wenigstens ansatzweise eine Ahnung davon zu haben, dass er in diesem Fall möglicherweise besser hätte handeln können. 204 B 41: . . ./ Daß es ja, daß es wirklich nicht falsch (-) weitergeht oder so, daß es wirklich (-) eins eins zwo den Notarzt (anruft) \. . . Es folgt die Fortsetzung des fiktiven Selbstgespräches des Polizeibeamten, das zwei Lesarten zulässt: Die erste Lesart ist, dass der Polizeibeamte subjektiv davon ausgeht, dass bis hier noch nichts falsch gelaufen ist und er darum besorgt ist, dass sich dies auch so fortsetzt, also das Kind auch wirklich den Notarzt anruft. Und die zweite Lesart, die zu der an der vorherigen Sequenzstelle explizierten Lesart im Passungsverhältnis steht, lautet, dass dem Polizeibeamten zwar subjektiv bewusst ist, dass er im Hier und Jetzt seiner Lebenspraxis zwar möglicherweise besser hätte handeln können, er aber dennoch von seinem eingeschlagenen Weg nicht abweicht und hofft, dass das Kind in der Lage ist, nachfolgend die richtige Stelle anzurufen. 205 B 41: . . ./ Weil er kann dem Kind jetzt keine weitere Hilfe geben oder so Während zuvor durch das Personalpronomen in der zweiten Person Singular markiert war, dass B ein fiktives Selbstgespräch vortrug, indiziert der Gebrauch des Personalpronomens „er“, dass er an dieser Stelle in die kommentierende Beobachterrolle überwechselt und noch einmal abschließend 87 In der Sozialpsychologie wird dies Entscheidungsverhalten unter der Bezeichnung „Entrapment“ diskutiert. Vgl. Lück (1987), S. 110.
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mit der Konjunktion „weil“ begründet, warum der Polizeibeamte so handelte. Wenngleich das Auxiliar „kann“ zwei Lesarten ermöglicht,88 ist aufgrund der bisherigen Ausführungen von B auszuschließen, dass er hier zur Rechtfertigung des Polizeibeamten darauf hinweisen will, dass es diesem real nicht möglich war, das Kind mit dem Notarzt zu verbinden. Vielmehr dürfte die Lesart zutreffen, dass B dem Polizeibeamten unterstellt, er wäre habituell nicht in der Lage gewesen, seine einmal getroffene Entscheidung zu revidieren und dem Kind „weitere Hilfe“ zu geben. Wobei diese Formulierung sehr aufschlussreich ist, denn sie präsupponiert, dass B dem Polizeibeamten im Sinne der in Zeile 204 explizierten ersten Lesart wohlwollend unterstellt, dieser habe subjektiv angenommen, dem Kind mit der Angabe der Telefonnummer geholfen zu haben, auch wenn sein Handeln, so kann man die implizite Argumentation B’s ergänzen, objektiv falsch war. B diagnostiziert im Grunde genommen ein zweites Habitusdefizit, das man auch als falsches beziehungsweise unangemessenes Hilfebewusstsein bezeichnen könnte. 206 M 78: Mhm 207 B 42: (uv) es wird ja ne ärztliche Hilfe gebraucht \. . . 208 M 79: Mhm 209 B 42: . . ./ und die kann er dem Kind nich geben (-) ja \. . . Die nachfolgende Begründung unterstreicht die letztgenannte Habitusdefizit-Lesart. Denn der Polizeibeamte hätte dem Kind ja nicht unmittelbar selbst ärztliche Hilfe leisten müssen, wie dieser nach B’s Interpretation zu denken scheint, sondern es hätte in dieser Situation völlig ausgereicht und seiner Aufgabe entsprochen, stellvertretend für das Kind die Rettungsleitstelle zu informieren, damit diese so schnell wie möglich einen Notarzt vor Ort entsenden kann. Die Unangemessenheit dieses Habitus für die Krisenhandhabung am Notruf kann man sich daran verdeutlichen, wenn man bedenkt, dass der Polizeibeamte mit einer vergleichbaren Begründung auch einen Anrufer, der einen Wohnhausbrand meldet, hätte auffordern können, selbst die Feuerwehr anzurufen, weil er kein Feuer löschen kann. 210 B 42: . . ./ Un vielleicht jetz, er is auch nich in der Situation, daß er sich mit diesen (-) ganzen Sachen da ma irgendwie angefreundet hat, daß er sagen könnte, du machst jetz das und das \. . . 211 M 80: Mhm
88 Kann im Sinne von „faktisch Können“ und kann im Sinne von „Kompetenz“ oder „Habitus“. Vgl. Duden [(1995), Bd. 4], S. 93.
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212 B 42: . . ./ sprich beruhigend auf deine Mutter ein oder irgendwas, ne \. . . 213 M 81: Mhm 214 B 42: . . ./ Das kann er nich, \. . . Während B zuvor ausführte, dass der Polizeibeamte nach seinem eigenen Selbstverständnis dem anrufenden Kind keine ärztliche Hilfe geben konnte, indizieren die nachfolgenden Zeilen, dass B eine denkbare Erklärung für die praktische Inkompetenz des Polizeibeamten, mit dem Kind krisenangemessen zu sprechen, in dessen Einstellung zu Fällen sieht, die eine sozialarbeiterisch-therapeutische und keine klassisch polizeiliche Dimension haben. Dieser Praktikerhabitus, so das implizite Argument, hielt ihn vermutlich davon ab, darüber nachzudenken, wie man in solchen Krisen angemessen kommunizieren kann.89 Womit B dem Polizeibeamten ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellt. Allerdings ist zu B’s Ausführungen kritisch anzumerken, dass es in diesem Fall völlig hinreichend gewesen wäre, wenn der Polizeibeamte den Notarzt verständigt hätte, und Ratschläge oder andere Verhaltenshinweise im Verhältnis hierzu nachrangig waren. Denn entscheidend war, dass die Mutter möglichst schnell ärztlich versorgt wurde, und hierzu musste so schnell wie möglich der Notarzt informiert werden. 215 B 42: . . ./ also hofft er dadrauf, daß er, wenn er jetz die Nummer weitergibt, das Kind dann ebend ärztlichen \. . . 216 M 82: Mhm 217 B 42: . . ./ Beistand erhält oder Ratschlag, ne \. . . 218 S 16: Mhm 219 B 42: . . ./ was es halt machen könnte, schon mal in der Situation. \. . . Nachdem zuvor B dem Polizeibeamten attestierte, aufgrund seines Praktikerhabitus nicht in der Lage zu sein, mit dem Kind krisenangemessen zu sprechen, zieht er hier eine Schlussfolgerung, die im zu analysierenden Notruftext nicht markiert und von daher von ihm nicht erzwungen ist. Diese lautet: Der Polizeibeamte hofft, dem Kind mit der Weitergabe der Telefonnummer der zuständigen Stelle geholfen zu haben. Zu dieser Lesart ist zusätzlich anzumerken, dass selbst dann, wenn der Polizeibeamte dies subjektiv hoffte, er dennoch objektiv falsch handelte.
89 Zum Zusammenhang von Habitus und Interaktionsverhalten s. von Harrach u. a. (2000), S. 81 ff.
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220 B 42: . . ./ In der Zeit, wenn dann die Leitstelle schon en Notarzt hinschickt, können die ja schon, weil die ja doch irgendwo aus dem Fachbereich kommen (oder) aus dem Fach, sagen, „hör ma zu, jetz machst du das oder das, schau mal, ob diese Medikamtente irgendwo stehen oder so“ Die weiteren Ausführungen zeigen, dass B ein Modell von medizinischer Fernbehandlung über Telefon im Kopf hat, dem der Polizeibeamte im konkreten Fall in keiner Weise entspricht. Denn anstatt von sich aus als in der Einsatzleitstelle den Notruf entgegennehmender Polizeibeamter den Notarzt zu verständigen und bis zum Eintreffen des Notarztes mit dem Kind zu sprechen, macht er faktisch weder das eine noch das andere, sondern instruiert das Kind, von sich aus noch einmal die richtige Stelle anzurufen, womit er für sich die Handlungskomplexität maximal reduziert90 und kehrseitig für das Kind maximal erhöht. 221 M 83: Ja das, das ganze Verhältnis zwischen dem Anrufer, dem Kind, und dem Polizeibeamten ist doch ziemlich, also (-) bürokratisch oder amtlich, also nich irgendwie öh persönlich was, daß se da sich näherkommen, das geht alles ziemlich schnell, würd ich sagen „leg mal auf, und wähl mal eins eins zwo“ un das Kind dann so „okay“ un „eins eins zwo“ M stimmt B’s Ausführungen vorbehaltlos zu und charakterisiert dann das Verhältnis zwischen Anrufer und Polizeibeamten als sehr bürokratisch oder amtlich, dieses kontrastierend mit einem persönlichen, „sich näher kommen(den)“ Verhalten. Die richtige Kontrastfolie hätte aber in einem dem Notruf angemessenen, krisenbezogenen Handeln bestehen müssen. Und dieses hätte darin bestanden, dass der Polizeibeamte unmittelbar die Informationen erfragte, die für die Entsendung eines Notarztes erforderlich waren, um diesen dann so schnell wie möglich informieren zu können. Zudem ist zu sehen, dass sich der Polizeibeamte zwar bürokratisch verhält, dies allerdings nicht deswegen, weil er das Kind nicht persönlich anspricht, denn immerhin duzt er es in Zeile 07 des Notrufprotokolls zweimal: „. . . leg mal noch mal auf, und wä-, wähl mal gleich . . .“, sondern weil er aufgrund der ihm mitgeteilten Krise entscheidet, dass es sich hier um einen medizinischen – und keinen polizeilichen – Notfall handelt, für dessen Behandlung er inhaltlich nicht zuständig ist. Dies ist der Grund dafür, warum er das Gespräch „ziemlich schnell“ beendet.
90 Zur Reduktion von Komplexität vgl. Luhmann (1973), S. 23 ff.; von Foerster (1985), S. 48.
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Methodisch ist an dieser Stelle auffällig, dass M wiederum vom strengen Prinzip der Sequenzanalyse abweicht, indem sie nacheinander drei Zeilen vorliest.91 Aus diesem Vorlesen ergibt sich erneut das mögliche Problem, dass man in der weiteren Diskussion nicht mehr genau verfolgen kann, auf welche Sequenzstelle sich die Lesartenerstellung stützt. 222 S 17: Das is ja auch ne dringende Situation, wo man möglichst nicht viel Zeit ver- verstreichen lassen soll. \. . . S entgegnet M mit dem Einwand, im Notfall muss schnell gehandelt werden. Dieser Einwand ist vorderhand sachhaltig, denn der Polizeibeamte muss nur so weit auf das Kind „persönlich“ eingehen, wie es zur Erlangung der notwendigen Informationen notwendig ist. Wenn nun aber S mit dem Einwand das offensichtlich falsche Verhalten des Beamten legitimieren will, schießt er über das Ziel hinaus. Dass er dies macht, ist aber nicht aus der einzelnen Äußerung in dieser Zeile ersichtlich, sondern nur dadurch, dass sie im Zusammenhang steht mit seinen bisherigen Ausführungen, die alle darauf abzielten, das Verhalten des Polizeibeamten mit dem Verweis auf die bürokratische Zuständigkeit zu legitimieren. Die Ursachen für diese Legitimationsbemühungen sind darin zu sehen, dass S genauso wie der im Protokoll handelnde Polizeibeamte ein bürokratisches Zuständigkeitsmodell im Kopf hat und aus diesem Grund nicht sieht oder nicht sehen kann,92 dass die Abweisung des Kindes einen schweren Handlungsfehler darstellte, weil dadurch auf jeden Fall wertvolle Zeit verloren ging, die bedeutsam sein konnte, um das Leben der Epileptikerin zu retten.93 223 S 17: . . ./ Und da gibt’s eben nur die eine Möglichkeit, entweder der Polizeibeamte nimmt den Anruf entgegen und leitet ihn weiter oder aber er beendet schnell dieses Telefonat, \. . . S setzt hier seine Argumentation aus der vorhergehenden Zeile fort, wobei an ihr ein logischer Widerspruch auffällt, denn zunächst führt er aus, dass es in dieser Situation nur eine Handlungsmöglichkeit gibt, während er nachfolgend von zwei Handlungsalternativen spricht –
91
Vgl. Fußnote 29. In der biologisch-kybernetischen Erkenntnistheorie spricht man hier von einem „cognitive blind spot“. Vgl. von Foerster (1979), S. 6. 93 Epileptische Anfälle werden in der Notfallmedizin als „neurologisch-pychiatrische Notfälle“ [Ellinger u. a. (1996), S. 151 ff.] oder „zerebrale Notfälle“ [Ziegenfuß (1996), S. 255 ff.] klassifiziert. Insbesondere der „grand mal“ erfordert eine umgehende notärztliche Behandlung. Hierzu Loch/Knuth (1995), S. 262 ff.; und Ziegenfuß (1996), S. 258 f. 92
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224 S 17: . . ./ damit das Kind die Möglichkeit hat, so schnell wie möglich den Notarzt persönlich zu verständigen, – dann aber nur die Sinnhaftigkeit der zweiten Handlungsmöglichkeit begründet. Zu dieser Begründung ist anzumerken, dass S nicht sieht, dass es die Pflicht des Polizeibeamten gewesen wäre, den Notarzt oder die Rettungsleitstelle zu verständigen94, und dies auf keinen Fall dem Kind „persönlich“ zu überlassen. Der Gesundheitszustand der Mutter hätte sich nämlich dramatisch verschlechtern können, und eine völlige Überforderung des Kindes war nicht auszuschließen, auch wenn es bis zu dieser Textstelle durchaus den Eindruck macht, in der Lage zu sein, den Anweisungen des Polizeibeamten folgen und nach Beendigung des Gesprächs noch einmal die richtige Stelle anrufen zu können. 225 M 84: Wenns in der Lage is Während S zuvor offensichtlich keinen Zweifel hatte, dass das Kind in der Lage war, den Notarzt persönlich zu verständigen, indiziert der Konditionalsatz, dass es für M nicht sicher ist, dass das Kind noch zu einem weiteren Anruf in der Lage ist. Sie formuliert damit einen impliziten Einwand gegen S’ zweite Lesart, wenngleich auch sie nicht erkennt, dass der Polizeibeamte aufgrund der ihm mitgeteilten Krise im Sinne des Normalfalls verpflichtet war, für das Kind zu handeln. Dass M so nicht argumentiert, zeigt, dass auch sie kein Modell von der strukturellen polizeilichen Zuständigkeit in akuten Krisen im Kopf hat.95 226 S 18: Wenns dazu in der Lage is Woraufhin S wiederholt, woran für ihn offenbar kein Zweifel besteht. 227 B 43: Aber was jetzt auch eben im Prinzip nur subjektiv beurteilt werden kann Im Anschluss hieran bringt nun B implizit die Unterscheidung subjektiv/ objektiv ins Spiel, indem er argumentiert, dass man über die Frage, ob das Kind dazu in der Lage ist, erneut anzurufen, nur subjektiv urteilen kann. Zu dieser Lesart ist nun zweierlei zu sagen. Erstens: Sie indiziert ein methodisches Missverständnis. Denn die objektive Hermeneutik hat es mit der Rekonstruktion von objektiven Bedeutungs94
Was wiederum die Habitusdefizit-Lesart bestätigt. Daraus lernte ich für mein weiteres Vorgehen in der Ausbildung, in die Modellfälle einen medizinischen Notfall aufzunehmen und an diesem dieses Strukturmodell zu explizieren. 95
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strukturen von Texten zu tun, die durch Regeln erzeugt werden, und diese Regeln gilt es bei der Rekonstruktion zu beachten.96 Zweitens: Dass auch B nicht auf die strukturelle Zuständigkeit der Polizei für akute medizinische Krisen hinweist, indiziert, dass auch er nicht über das Strukturmodell einer prinzipiellen polizeilichen Zuständigkeit für akute Krisen verfügt. 228 M 85: Ja, klar (-) Neue Zeile null acht97 (-) „Okay“ Nachdem M der Feststellung B’s zugestimmt hat, führt sie die Gruppe in die nächste Zeile, in der das Kind auf die didaktische Operation des Polizeibeamten noch einmal mit einem „okay“ antwortet. 229 B 44: Ja das Kind unterstützt im Prinzip jetzt noch mal durch dieses „Okay“, daß es das verstanden hat, was es jetz machen soll In der Formulierung „unterstützt im Prinzip jetzt noch mal durch dieses ,Okay‘“98 kommt die Annahme B’s zum Ausdruck, dass das „okay“ des Kindes betonte, dass es dem Polizeibeamten folgen konnte. Womit B im Grunde genommen seiner Subjektivitäts-Lesart selbst widerspricht, denn er argumentiert hier mit klarem Bezug auf den Text. 230 M 86: Aber ich denk mal, mit diesen kurzen Antworten immer, dieses „Okay, okay“ kann aber auch eigentlich öh (-) oder wird auch vielleicht gezeigt, daß das Kind vielleicht auch gar nicht so weiß, was so richtig los is (-) denn es äußert sich ja groß nich (-) weiter, sondern immer nur „Okay, okay“. Die adversative Konjunktion „aber“, mit der M ihre nachfolgenden Ausführungen einleitet, markiert, dass sie B nicht zustimmt, sondern bei ihrer bereits in Zeile 179 explizierten Lesart bleibt, der gemäß das „okay“ „im Prinzip nichts aussagt“. Wobei ihre nachfolgende Argumentation erkennen lässt, dass sie nicht genau am Text operiert. Denn das Kind sagte nicht „okay, okay“, sondern in der Interaktionssequenz an zwei Stellen schlicht „okay“,99 ein für die Lesartenkonstruktion bedeutsamer Unterschied, denn während das einfache „okay“ die Lesart nahe legt, dass es sich hier um ein Bestätigungstoken handelt, könnte man das „okay, okay“ im Sinne von: ,Ist ja schon gut, hab ich ja schon verstanden‘ interpretieren. 96 Vgl. hierzu Oevermann (1993 b), S. 245 ff.; Leber/Oevermann (1994), S. 386 f.; Oevermann u. a. (1994), S. 166; ders. (1995 b), S. 41 ff.; ders. (1996 a), S. 5 f.; ders. (2000 c), S. 64 ff. 97 Die Studenten beziehen sich hier offensichtlich auf den achten Turn. Vgl. Fußnote 29. 98 [Hervorhebung durch T. L.]
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231 B 45: Ja es kann en gewisser Ausdruck von Hilflosigkeit \. . . 232 M 87: Ja 233 B 45: . . ./ sein \. . . 234 M 88: genau 235 B 45: . . ./ ne? Während B zuvor die Textstelle gestaltrichtig interpretierte, gibt er nach der Intervention von M seine richtige Lesart auf, wobei sich seine Interpretation offensichtlich auf das „okay, okay“ bezieht, mithin M’s ungenaues Operieren am Text folgenreich ist für seine Textauslegung, woran man schön sehen kann, wie wichtig es ist, genau am Text zu bleiben und nur das in die Produktion von Lesarten einzubeziehen, was auch tatsächlich lesbar im Text markiert ist.100 236 M 89: Ich mein, der Polizeibeamte dann in der nächsten Zeile, neunte Zeile, verstärkt das noch mal dieses „eins eines zwo“ mit „ja“ \. . . Wiederum leitet M zur nächsten Zeile über. Der Vergleich mit dem Notrufprotokoll zeigt, dass sie erneut ungenau operiert. Denn wie die nachfolgend kursiv markierte Sequenzstelle dokumentiert, folgt das „Ja“ des Polizeibeamten dem „Okay“ des anrufenden Kindes.101 08 09 10 11 12
P: A: P: A: P:
(. . .) den Notarzt Okay eins eins zwo Okay Ja
237 M 89: . . ./ so ungefähr (-) öh ,ja, das ist die Nummer, die du jetzt wählen mußt‘ 238 B 46: Ja oder er will versuchen, dem Kind zu sagen, das is richtich, was du jetzt machst, das anzurufen \. . .
99 07 P: Äh’m a leg mal noch mal auf, und wä-, wähl mal gleich eins eins 08 zwo, (-) den Notarzt. 09 A: Okay 10 P: eins eins zwo 11 A: Okay 100 s. Fußnote 19. 101 Konversationsanalytisch würde man hier von einer Paarsequenz („adjacency pair“) sprechen, wobei das „ja“ hier die Funktion hat, das „okay“ abzuschließen. Vgl. hierzu Bergmann (1990), S. 20.
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239 M 90: Mhm 240 B 46: . . ./ mit dem „Ja“, genau das \. . . 241 M 91: Mhm 242 B 46: . . ./ dieser Schritt, den du jetzt machst, eins eins zwo anzurufen, das is richtich. „Ja“, mit dieser Untermalung noch mal Wie man am Text sehen kann, interpretieren sowohl M als auch B viel in das „Ja“ hinein, was besonders deutlich wird an B’s Hinweis auf die intonatorische „Untermalung“ des „Ja“, die im Protokoll nicht markiert ist. 243 M 92: Und in er zehnten Zeile das „Danke“, das öh (5.0) (uv) denke ich mal das Kind, das „Danke“ drückt irgenwie auch aus, daß das Kind trotzdem glücklich is, daß der Polizeibeamte geholfen hat, indem er gesagt hat, ruf schnell den Notarzt M kommt nun auf die nächste Zeile des Notruftextes zu sprechen, wobei die im Diskussionstext markierte längere Pause indiziert, dass sie relativ lange nach einer Lesart für das „Danke“ sucht. Diese besteht darin, dass das „Danke“ auf irgendeine Art und Weise „auch“ zum Ausdruck bringe, dass das Kind „trotzdem glücklich“ sei, dass der Polizeibeamte dem Kind half, indem er ihm mitteilte, „schnell den Notarzt“ zu rufen. M interpretiert mithin das „Danke“ tiefenpsychologisch als eine Form des Ausdrucks von Glücklich-Sein über die vom Polizeibeamten erhaltene Hilfe, wobei sich das von ihr gebrauchte Adverb „trotzdem“ wahrscheinlich auf die insgesamt zum Glücklich-Sein widrigen Umstände bezieht und die Lesart nahe legt: Trotz der glückswidrigen Umstände war das Kind glücklich, weil ihm geholfen wurde. Und deshalb erfolgte das „Danke“. M’s Deutung präsupponiert, dass das Kind das Handeln des Polizeibeamten tatsächlich als Hilfe empfand, was aber keine zwingende Lesart darstellt. Denn ebenso kann das „Danke“ des Kindes dadurch motiviert gewesen sein, dass es das Gespräch höflich beenden wollte, auch wenn es nicht das Gefühl hatte, dass ihm angemessen geholfen wurde. 244 S 19: Hm, da würd ich dir zustimmen. Ich glaube, das Kind hat jetzt doch das Gefühl, daß ihm geholfen wurde, \. . . Es überrascht nicht, dass S dieser durch den Text keineswegs erzwungenen Interpretation zustimmt, weil M hier im Wesentlichen nur das ausführte, was S bereits zuvor mehr oder minder deutlich zum Ausdruck brachte.
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245 S 19: . . ./ obwohl man sicherlich, nachdem wir das nun lange jetz durchdiskutiert haben, sagen können, daß es sicherlich andere Möglichkeiten und bessere Möglichkeiten gegeben hätte, diesen Anruf zu bearbeiten und dem Kind zu helfen Überraschender ist eher, dass er dann einschränkend von anderen oder besseren Möglichkeiten spricht, die es gegeben hätte, den Anruf zu bearbeiten und dem Kind zu helfen, zumal S bis zu diesem Punkt die im Protokoll zum Ausdruck kommende Handlungsweise des Polizeibeamten nicht kritisierte, sondern sie im Gegenteil als durchaus angemessene Form von Hilfe bewertete. Dabei ist nicht klar zu erkennen, wie die Äußerung motiviert ist. Ob damit S – dies ist die erste Lesart – zum Ausdruck bringen will, wie bedeutsam die gemeinsame Diskussion für das Erkennen von alternativen Handlungsoptionen war. Oder ob er mit ihr im Sinne seiner bisherigen Rechtfertigungsargumentation ausdrücken will, dass die anderen beziehungsweise besseren Möglichkeiten eigentlich erst nach langer Diskussion zu erkennen waren, folglich der Polizeibeamte, der im Hier und Jetzt seiner Handlungspraxis schnell entscheiden musste, sie nicht erkennen und entsprechend nicht ihnen gemäß handeln konnte. 246 M 93: (uv) trotzdem hat das Kind ja keinen anderen Weg jetzt Hilfe zu holen, das zeigt doch eigentlich jetzt auch das „Danke“, die Hilflosigkeit (-) oder das, de, das hilfsbe-, das hilfsbedürftige Kind oder wie hilfbedürftig das Kind war jetzt im Prinzip, dieses „Danke“. Das ist ja irgendwie ne Geste M äußert, dass der Polizeibeamte von den möglichen Handlungsoptionen, die S eben ins Spiel brachte, eine vollzogen hat und diese daher an der verhandelten Sequenzstelle nicht mehr offen ist. Dann deutet sie wiederum das „Danke“ tiefenpsychologisch, jedoch diesmal nicht als Ausdruck von Glücklichsein, sondern als Anzeichen von Hilflosigkeit beziehungsweise Hilfsbedürftigkeit, womit sie wiederum eine Lesart produziert, die gegen das Wörtlichkeitsprinzip verstößt, „das dazu anhalten soll, nur das in die Rekonstruktion von sinnlogischen Motivierungen einfließen zu lassen, das auch im zu analysierenden Text bzw. Protokoll lesbar (. . .) markiert und deshalb vom Text ,erzwungen‘ ist“.102 Zudem formuliert M, „Danke“ sei eine Geste, womit sie offensichtlich eine vokale103 Dankes-Geste meint. 102
s. Fußnote 19. Nach Mead (1973) ist die vokale Geste „einer jener gesellschaftlichen Reize, der das sie gebrauchende Wesen auf die gleiche Weise beeinflußt, wie er es beeinflussen würde, wenn er von einem anderen Wesen käme. Das heißt, daß wir uns selbst sprechen hören können, wobei die Bedeutung des Gesagten für uns die glei103
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247 S 20: Ja, aber ich glaub schon, daß das Kind sich öh geholfen fühlt, also daß es (es) Gefühl hat, ihm wurde geholfen. \. . . Worauf nun S, der M’s Bemerkung offensichtlich als Einwand auf seine vorherige Bemerkung interpretierte, noch einmal sein Argument wiederholt, er glaube, dass das Kind das Gefühl habe, dass ihm geholfen worden sei. Die Wiederholung seines Arguments indiziert, dass er die vermeintliche Kritik nicht unkommentiert stehen lassen will. 248 S 20: . . ./ Sicherlich war ihm nur die Nummer eins eins null überhaupt als Notrufnummer bekannt, und die eins eines zwo \. . . 249 M 94: Mhm 250 S 20: . . ./ is ja doch ne Nummer, die nich gleich jeder sofort parat hat, wenn’s dadrum geht Notarzt. \. . . Wenngleich es S an dieser Stelle offensichtlich darum geht, zu begründen, in welcher Form dem Kind geholfen wurde, belegt seine Argumentation, dass für ihn polizeiliche Hilfe bedeutet, dem Kind die richtige Telefonnummer der sachlich zuständigen Stelle zu geben, womit er implizit die Aufgabe des einen medizinischen Notruf entgegennehmenden Polizeibeamten sachunangemessen auf die Rolle eines Telefonauskunftsbeamten reduziert. Eine Denkweise, die zu seinem bereits vorher zum Ausdruck kommenden bürokratischen Habitus passt. 251 S 20: . . ./ Die eins eins null is eigentlich äh einzig wirklich bekannte Nummer, die jeder von Klein bis Groß weiß An dieser Stelle führt S dann seine in Zeile 244 begonnene Argumentation mit dem Hinweis fort, dass es sich bei der 110 um die einzig wirklich generationenübergreifend bekannte Telefonnummer handelt.104 Dabei realiche ist wie für andere. Wenn der Spatz den Ton des Kanarienvogels verwendet, dann löst er in sich selbst die gleiche Reaktion aus wie die, die der Ton des Kanarienvogels auslöste.“ Ebd., S. 101 f. Und weiter: „Die vokale Geste ist (. . .) wichtiger als alle anderen Gesten. Wir können uns selbst nicht sehen, wenn unser Gesicht einen bestimmten Ausdruck annimmt. Aber wir hören uns selbst sprechen und sind daher zur Aufmerksamkeit fähig.“ Ebd., S. 105. 104 Zwar besagt eine EU-Richtlinie aus den frühen 90er Jahren, dass europaweit Feuerwehr, Notarzt und weitere Rettungsdienste unter der einheitlichen Notrufnummer 112 erreichbar sein sollen, doch ist die Umsetzung dieser Richtlinie eher schleppend. Vielmehr herrscht ein „kompliziertes Nummerndickicht“. Hierzu Minutillo (1997), S. 134 f. Ein Sonderproblem stellen Handy-Anrufe über die 112 dar. Aufgrund der Tatsache, dass das GSM-Netz nur eine Notrufnummer vorsieht, wird die 112 grundsätzlich zu der Polizeistation weitergeleitet, die der Kopfstation des jeweiligen Netzanbieters zugeordnet ist.
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siert er aufgrund seines bürokratischen Zuständigkeitsdenkens in Kombination mit seinem sachunangemessenen Modell des Notrufbeamten als Telefonauskunftsbeamten nicht, dass der Polizeibeamte, der dies in Rechnung gestellt hätte, insbesondere weil es sich beim Anrufer um ein Kind handelte, dessen Mutter sich in einer akuten Krise befand, so auf keinen Fall hätte reagieren dürfen.105 252 B 47: (4.0) Bloß was mir halt auffällt an dem ganzen Fall, du kannst diesen Polizeibeamten durch jedweder andere Person austauschen. Das könnte ganz normal Ottonormalverbraucher sein, das Kind hätte jetzt irgend ne Nummer gewählt \. . . 253 M 95: Mhm 254 B 47: . . ./ diese Auskunft hätte ihm en ganz anderer Bürger auch geben können. Im Prinzip is es für en Polizeibeamten (-) schwach \. . . 255 M 96: Ja 256 B 47: . . ./ was er dort gemacht hat Der mit „bloß“ eingeleitete Einwand von B indiziert, dass er von einem Polizeibeamten ein anderes Handeln erwartet hätte, denn so wie dieser handelte, so die sehr deutliche Kritik, hätte er durch „jedwede andere Person“ ausgetauscht werden können, also auch durch den im Volksmund so genannten „Ottonormalverbraucher“, das heißt in diesem Fall, den polizeilichen Laien. Damit wird deutlich, dass B ein anderes Modell von der Aufgabe eines einen Notruf entgegennehmenden Polizeibeamten hat als S. Ihm reicht es nicht, dass der Polizeibeamte dem Anrufer die Telefonnummer der zuständigen Stelle mitteilt, was, so das implizite Argument, keine besondere Handlungskompetenz verlangt und prinzipiell von einem anderen „Bürger“ auch hätte geleistet werden können. B argumentiert also, dass der Polizeibeamte andere Möglichkeiten hatte als der „Ottonormalverbraucher“ und deshalb auch anders handeln musste. Womit B die Sache sehr schön auf den Punkt bringt, auch wenn er idealistisch davon ausgeht, dass die Kenntnis der Nummer der Rettungsleitstelle so verbreitet ist, dass dem Anrufer im Grunde genommen nahezu jeder andere Bürger auch die Auskunft des Polizeibeamten hätte geben können.
105 Dass es sich beim Anrufer um ein Kind handelt, erhöht die Skandalosität des polizeilichen Handelns, macht sie aber nicht aus. D. h.: Das polizeiliche Handeln wäre auch dann unangemessen gewesen, wenn es sich beim Anrufer um einen Erwachsenen gehandelt hätte.
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257 M 97: Er hat ja ne Garantenstellung Auch M stimmt zu, dass der Polizeibeamte schlecht handelte, zumal der Polizeibeamte eine „Garantenstellung“106 hat, woraus folgt, dass er eine sich rechtlich vom Normalbürger abhebende Verpflichtung zu einem verantwortungsvollen Handeln hat. 258 B 48: Ja, das is, pff, das „Danke“, das Danke hätte an jeden erfolgen können, ne? \. . . B schließt an sein ,Ottonormalverbraucher-Argument‘ an, darauf hinweisend, dass das „Danke“ des Kindes an jeden anderen hätte erfolgen können, womit B noch einmal deutlich macht, dass er von einem Polizeibeamten ein anderes Handeln erwartet hätte. 259 B 48: . . ./ Er hätte, er war vielleicht in „ner ganz anderen Situation (-) un hätte sagen können (-) ich helf dir jetzt irgendwie \. . . 260 M 98: Mhm Auch nachfolgend ist zu erkennen, dass für B der Aspekt der Hilfe wichtig war, wobei er im Unterschied zu S Hilfe anders definierte, nicht als Nennung der Telefonnummer der zuständigen Stelle, sondern persönlicher im Sinne von: ,Ich helfe Dir jetzt in Deiner Situation‘. 261 B 48: . . ./ Is alles schwammich an diesem Ding Es folgt nun eine Bewertung, die nicht zutreffend ist und mit der B im Grunde genommen seine vorausgegangene eigene Kritik am Handeln des Polizeibeamten unterläuft. Denn der Fall ist alles andere als „schwammich“,107 sondern prägnant zu bestimmen: Es kann nämlich eindeutig festgestellt werden, dass in dem hier vorliegenden Protokoll eine falsche polizeiliche Handlungsweise abgebildet vorliegt, die keinen Zweifel daran lässt, dass der Polizeibeamte hier gravierend fallunangemessen handelte. 262 M 99: Also263 B 49: Man kann unheimlich viel hineininterpretieren, wenn man will Während M offenbar zu einer Schlussfolgerung ansetzen will, wird sie von B unterbrochen, der nun davon spricht, dass man, „wenn man will“, „unheimlich viel hineininterpretieren“ kann. Eine Formulierung, die indiziert, dass er die Methode der Sequenzanalyse noch nicht ganz verstanden 106
M verwendet hier eine juristische Figur. Vgl. hierzu Kapitel C., Fußnote 102. Dass B das Verhalten des Polizeibeamten als schwammig bezeichnet, kann man ausschließen, weil er sonst nicht von „diesem Ding“ gesprochen hätte. 107
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hat. Denn weder geht es bei der Sequenzanalyse um ein ,von Außen‘ in den Text hineininterpretieren, noch steht es im freien Belieben des Interpreten, wie er den Text interpretiert. Vielmehr geht es um das sequentielle Aufschließen der Bedeutungsstrukturen von Texten, um ein Zur-SpracheBringen des latenten Sinngehalts,108 wobei nur das in die Interpretation einbezogen werden darf, was nach den von Oevermann so genannten „beiden sich ergänzenden Prinzipien der Totalität und der Wörtlichkeit“ 109 im Text markiert ist. 264 M 100: Ja gut, der Polizeibeamte hätte jetz unter Streß stehen können oder zwölf Stunden, genervt, aber trotzdem is für meiner Auffassung nach, die die Aufgabe gewesen des Polizeibeamten, oder die Pflicht sogar, das, Hilfe zu holen. \. . . M schließt an diese Bemerkung von B an, wobei sie deutlich macht, dass man zwar hineininterpretieren kann, dass der Polizeibeamte möglicherweise „unter Streß“ steht oder sich bereits „zwölf Stunden“ im Dienst befindet und „genervt“ ist, dies „aber trotzdem“ ihrer „Auffassung nach“ nichts daran ändert, dass es nicht nur „Aufgabe“, sondern geradezu „Pflicht“ des Polizeibeamten gewesen wäre, „Hilfe zu holen“, womit sie deutlich macht, dass sie vom Polizeibeamten erwartet hätte, stellvertretend für das Kind, das sich an die Polizei wandte, zu handeln – 265 M 100: . . ./ Daß er vielleicht selber den Notarzt gerufen hätte \. . ., – indem „er vielleicht selber den Notarzt gerufen hätte“ und dies nicht, wie tatsächlich geschehen, dem Kind überließ. 266 M 100: . . ./ und dadurch, daß er auch er auch einmal im Gespräch war, zu, zu rauszubekommen, wo das is un welche Straße, wie, wie der Name is, \. . . M konstruiert durch die kopulative Konjunktion „und“110 ein Ergänzungsverhältnis zwischen dem Notarztruf und dem Erfragen der Notfalladresse, als ob die Frage nach der Adresse eine Ergänzung zum Rufen des Notarztes durch den Polizeibeamten wäre. Dabei ist die Erfragung der Adresse die Bedingung der Möglichkeit, den Notarzt stellvertretend für das Kind zu rufen. Folglich hätte sie sprachlich angemessener anschließen können mit einer kausalen Konjunktion111 wie z. B. mit ,zumal‘ oder ,weil‘. 108
Vgl. hierzu Wernet (2000), S. 28. Oevermann (1998), o. S.; ders. (2000 c), S. 100 ff.; s. auch Wernet (2000), S. 23 ff. 110 Duden [(1995), Bd. 4], S. 391. 109
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267 M 100: . . ./ und nich das Kind jetzt so abzuweisen und sich selber wieder zu überlassen und Hilfe zu bekommen, ja? \. . . Und nicht als Notrufbeamter das Kind „so abzuweisen“ und „sich selbst wieder zu überlassen“, womit M deutlich macht, dass sie das Handeln des Polizeibeamten keineswegs als Hilfeleistung ansieht. 268 M 100: . . ./ Vor allem man weiß ja auch nicht das Alter, ob’s in der Lage war. \. . . Insbesondere, so ihr implizites Argument, weil man das Alter des Kindes nicht kennt und demzufolge nicht einschätzen kann, ob es alters- beziehungsweise entwicklungsbedingt bereits „in der Lage war“, anderweitig Hilfe herbeizuholen. An dieser Stelle ist anzumerken, dass zwar die Kritik von M durchaus angemessen ist, aber noch grundsätzlicher hätte ausfallen können, weil, was allerdings weder M noch B explizierten, das Handeln des Polizeibeamten auch dann falsch gewesen wäre, wenn es sich beim Anrufer nicht um ein Kind, sondern um einen Erwachsenen gehandelt hätte. 269 M 100: . . ./ Ich mein, es gibt auch Telefonapparate, da is direkt, wenn man jetz weiß, die Mutter is krank, so ne Nummer eingespeichert, wenn die Mutter umfällt, daß das Kind praktisch nur noch den Te- Telefonhörer hochhebt un irgendwo draufdrückt \. . . 270 B 50: Ja 271 M 100: . . ./ un dann automatisch diese, dieser Hilferuf verb-, also durch (-) gewählt wird (-) Ne das sin alles so Sachen. (-) \. . . M kommt nun auf eine Technik zu sprechen, die aus ihrer Sicht geeignet wäre, um zu gewährleisten, dass Kinder in vergleichbar gelagerten Fällen schnell die richtige Stelle erreichen. Eine Lösung, die in der Tat die Polizei von medizinischen Notrufen entlastete, die aber damit korrespondierend auch dazu führen könnte, dass die Polizeibeamten sich generell (und nicht nur wie in diesem Fall – ,speziell‘) für Anrufe dieses Typs nicht mehr zuständig fühlen und einen Habitus ausprägen würden, der auch für die Bewältigung anderer psycho-sozialer Krisen ungünstig wäre. Außerdem würde auf der Seite des Kindes dadurch nur eine spezifisch am eigenen Telefon funktionierende Routine eingeübt, die nicht mehr funktionieren würde, wenn das Kind von einem anderen Telefon anruft.
111
Ebd., S. 397.
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272 M 100: . . ./ Und da hätte eben der Beamte irgendwie nachhaken müssen. Vor allem, für ihn wärs ne Kleinigkeit gewesen \. . . 273 B 51: Mhm 274 M 100: . . ./ Notarzt anzurufen. So seh ich das.(-) \. . . Nach dem kleinen technischen Intermezzo kommt M wieder auf den Beamten zu sprechen, für den es nach ihrer Ansicht eine Kleinigkeit gewesen wäre, den Notarzt zu verständigen. 275 M 100: . . ./ Wenn man das jetzt anders betrachtet, von Streß her, Arbeitsstreß, oder jetz, sagtest, er hat nun schon zwölf Stunden gearbeitet, dann is ja die Frage, ob’s sinnvoll is (-) den Beamten zwölf Stunden im Dienst zu lassen Noch einmal kommt M auf die bereits zuvor von B formulierte, im Text allerdings nicht markierte und daher von ihm nicht erzwungene Belastungslesart zu sprechen, wobei sie im Unterschied zu B, der von zehn Stunden sprach, noch einmal zwei Stunden hinzugibt und dann die eher rhetorische Frage stellt, ob es sinnvoll sei, den Beamten zwölf Stunden im Dienst zu lassen.112 276 B 52: (4.0) Im Dienst vielleicht schon, aber (-) sag’n mer mal \. . . 277 M 101: in so ner Funktion 278 B 52: . . ./ in, an so ner \. . . 279 M 102: Mhm 280 B 52: . . ./ sensibelen Stelle \. . . 281 M 103: Mhm 282 B 52: . . ./ ne (-) \. . . Woraufhin B eine Unterscheidung macht zwischen normalem Polizeidienst und Dienst im Sinne von Entgegennahme von Notrufen. Diese Unterscheidung präsupponiert, dass der normale Polizeidienst weniger belastend ist, dass man hier also eher zwölf Stunden arbeiten kann. Wie auch immer man zu dieser Frage steht, klar ist, dass durch die Fokussierung auf die Belastungsfrage völlig ausgeblendet wird, dass der Grund für das Handeln des Beamten in keiner Weise mit seiner Belastung zusammenhängen muss, sondern in diesem Fall viel eher mit dem bürokratischen Habitus des Polizeibeamten erklärt werden kann, der eingehende Notrufe nach inhaltlichen 112 Das „Tückische“ an der Belastungslesart ist, dass man mit ihr nahezu jeden Fehler erklären kann, ohne genauer hinschauen zu müssen. Sie lädt ein zu einem subsumierend-klassifizierenden Denken. Vgl. Wernet (2000), S. 19.
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Kriterien sortiert und Fälle ohne eindeutige Polizeirelevanz an die zuständige Stelle verweist. 283 B 52: . . ./ Weil, du mußt ja ständich aufnahmebereit sein (-) du mußt ständich situationsbedingt reagieren können. \. . . B argumentiert weiter in Richtung Belastung und spricht zwei Punkte an, auf die näher einzugehen ist. Erstens spricht er von dem Erfordernis ständiger Aufnahmebereitschaft, und zweitens von dem Erfordernis ständig situationsbedingter Reaktionsfähigkeit. Hierzu ist zunächst zu sagen, dass der am Notruf sitzende Polizeibeamte genau genommen dann (und erst dann) aufnahmebereit sein muss, wenn das Notruftelefon klingelt. Erst dann muss er situationsbedingt reagieren können. Von daher ist das Bild ununterbrochen erforderlicher Aufnahmebereitschaft und Reaktionsfähigkeit tendenziell überzeichnet. Zutreffender ist die Vorstellung, dass die Ruhe jederzeit durch ein Telefonklingeln unterbrochen werden kann, und es dann gilt, aufnahmebereit zu sein.113 284 B 52: . . ./ Du kannst grade in (-) an solch einer Stelle (-) kannst du nich irgendwie ausfallend werden oder so \. . . 285 M 104: Mhm 286 B 52: . . ./ selbst wenn’s dir \. . . 287 M 105: Mhm 288 B 52: . . ./ schwer fällt, \. . . Während B zuvor davon sprach, dass es am Notruf erforderlich sei, ständig aufnahmebereit zu sein, um situationsbedingt reagieren zu können, kommt er nun auf einen Aspekt zu sprechen, der in diesem Zusammenhang eher überrascht. B spricht nämlich davon, dass man gerade am Notruf nicht irgendwie ausfallend werden kann, selbst wenn man dies will oder wenn einem die Selbstbeherrschung schwer fällt. Offensichtlich denkt er an eine Reaktion, die er aus der Praxis kennt und die er zumindest für nicht unwahrscheinlich hält, zumal dann, so kann man aus seinen vorherigen Äußerungen erschließen, wenn man schon zu viele Stunden im Dienst war. 289 B 52: . . ./ du mußt immer en gut- guten Kontakt \. . . 290 M 106: Mhm 291 B 52: . . ./ zu dem Bürger halten, ne (-) Eben grade (-) was diese ganze Sache Notruf anbelangt 113
Vgl. Bergmann (1990), S. 4 ff.
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D. Rezeptionsvergleich
Als würde er aus einer Dienstvorschrift vorlesen beziehungsweise die Weisung eines Vorgesetzten an seine Untergebenen wiedergeben, formuliert B nun Regeln oder Handlungsmaximen, die man insbesondere als Notrufbeamter befolgen soll. So lautet Regel 1: Beachte! Nicht ausfallend werden, selbst wenn’s Dir schwer fällt! Und Regel 2: Beachte! Auch wenn’s Dir schwer fällt, halte immer einen guten Kontakt zum Bürger! Die zweite Regel erinnert an die „Freund und Helfer“-Formel,114 wenngleich sie im Unterschied zu dieser das polizeiliche Klientel auf „Bürger“ reduziert. Was – wenn man unterstellt, dass B hier von „Bürger“ im Sinne von „Staatsbürger“ spricht115 – eine Einschränkung darstellt, die bezüglich 114 Diese Formel sollte nach Duden [(1993), Bd. 12, S. 361] dazu dienen, „der Polizei ein besseres, ein freundliches Image zu verschaffen“. Sie geht „vermutlich“, so der Duden weiter, „auf ein Wort des Politikers Albert Grzesinski (1879-1947) zurück. Dieser bemühte sich als zeitweiliger Chef des preußischen Landespolizeiamtes, als Polizeipräsident von Berlin und als preußischer Innenminister (1926-1930) in besonderer Weise um eine Demokratisierung von Verwaltung und Polizei. Im Vorwort zu einem Buch anläßlich einer Polizeiausstellung in Berlin 1926 spricht er von der Devise der Polizei, ,Freund, Helfer und Kamerad der Bevölkerung zu sein‘“. Ebd. Lüddecke [(1988), S. 7] schreibt hingegen diesen PR-Slogan zur Imageverbesserung der Polizei Carl Severing zu: „Im Jahr 1926 formulierte der damalige Preußische Staatsminister Carl Severing den markanten Satz ,Bitte treten Sie näher, die Polizei – Dein Freund und Helfer‘. Damit drückte er aus, daß das Bild des Königlich-Preußischen Schutzmannes mit gezwirbeltem Schnauzbart, Säbel und dem unwirschem ,Drei Schritte vom Leibe!‘ einer neuen Polizei weichen sollte. (. . .) Dieser Reformwille war eine bewußte Abkehr vom Obrigkeitsstaat alter Prägung, wie er durch die Auffassung des Berliner Polizeipräsidenten von Jagow gekennzeichnet war. Dessen berühmtberüchtigte Bekanntmachung über das Recht auf die Straße, die lediglich dem Verkehr zu dienen habe, endete mit dem Satz: ,Ich warne Neugierige!‘ (1919).“ [Hervorhebung im Original, T. L.] 115 Vgl. hierzu Verwaltungslexikon (1991), S. 148, Stichwort „Bürger“: „Vollberechtigter Einwohner eines Staates (. . .) Die Rechtsstellung des B. im ! Staat bestimmt sich nach den Rechten und Pflichten, die durch ! Verfassung und ! Gesetze festgelegt sind (! B. rechte).“ Aus rechtssoziologischer Sicht wird ein Bürger in einen Nationalstaat hineingeboren. Dabei ist Nationalstaat Gemeinschaft in dem Sinne, dass er die moderne Form politischer autonomer Praxis ist, nach Hegel [(1995), S. 398] „die Wirklichkeit der sittlichen Idee.“ Staatsbürger ist man als ganze Person. Dies wird daran deutlich, dass einem Staatsbürger die geschichtlich gewachsene Identität seines Nationalstaats anhängt, ob er will oder nicht. Wenn er z. B. im Ausland ist, dann ist er dort als Bürger seines Landes, dies mag er leugnen oder tarnen, es bleibt dennoch an ihm. In einer Krise des Nationalstaats muss der Bürger, ob er will oder nicht, für diesen Nationalstaat einstehen. Nur in Ausnahmefällen ist es möglich, die Staatsbürgerschaft zu wechseln. Für diesen Wechsel ist jedoch die Einwilligung der aufnehmenden Gemeinschaft notwendig. Zum Bürger-Begriff s. auch Duden [(1997), Bd. 7, S. 106]: „Bürger: (. . .) im rechtlichen Sinne seit dem 12. Jh. das vollberechtigte Mitglied eines (städtischen) Gemeinwesens.“ [Hervorhebung im Original in Fettschrift, T. L.]
4. Studentische Fallrezeption
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des Polizeinotrufs nicht dem Sinn dieser gesellschaftlichen Institution entspricht. Denn der Polizeinotruf ist nicht ausschließlich eine Leitung für deutsche Staatsbürger, also in diesem Sinne kein Bürgertelefon,116 sondern eine gesellschaftliche Hilfeinstitution, an die sich alle Personen wenden können, die sich in einer Krise befinden, die anders nicht mehr zu bewältigen ist als durch die mittelbare oder unmittelbare Intervention der Polizei. Also auch Ausländer, die keine deutschen Staatsbürger sind.117 Und auch auf diese müsste sich die Regel erstrecken, die also richtigerweise lauten müsste: Halte immer einen guten Kontakt zum Notrufenden!118 116 Diesen Eindruck vermittelt aber die Notrufdefinition von Dreher/Feltes (1996), S. 13: „. . . Notruf ist jede fernmündliche Mitteilung des Bürgers an die Polizei, die eine baldige polizeiliche Reaktion zur Intension (sic) hat.“ Wenngleich diese Definition in verschiedener Hinsicht ungenau ist, soll hier nur darauf hingewiesen werden, dass mit ihr eine Beschränkung potentieller Anrufer auf „Bürger“ und damit eine implizite Exklusion von Ausländern erfolgt. Es sei denn, die Autoren verwendeten einen diffusen Weltbürger-Begriff. 117 Zum Beispiel Asylanten, hier arbeitende Ausländer oder ausländische Touristen, denn diese sind im staatsrechtlichen Sinne keine Bürger. Zum Bürger-Begriff s. auch von Harrach u. a. (2000), S. 80. 118 Dass es auch in einem anderen Bereich der öffentlichen Verwaltung nicht leicht ist, eine Bezeichnung für die die Verwaltung Kontaktierenden zu finden, wird eingehend von von Harrach u. a. (2000), S. 79 ff. diskutiert. Für völlig unangemessen halte ich im Übrigen den „Kunden“-Begriff, der im Zuge der Verbetriebswissenschaftlichung der Polizei immer mehr Verbreitung findet. Vgl. hierzu Polizeipräsidium Hagen (1998); oder Polizei NRW (o. J. a), wo sich auf Seite 12 die aufschlussreiche Überschrift findet: „Bürger-(Kunden-)Zufriedenheit“. Zur Kritik des Kunden-Begriffes schreibt Oevermann (2000 b, S. 57 f.): „Seit einiger Zeit erlebt der gesamte öffentliche Dienstleistungsbereich einen spezifischen, im betriebswirtschaftlichen Diskurs verankerten Rationalisierungsschub, in dem – auch zu Zwecken höherer formaler Außen-Evaluierbarkeit – die darin Tätigen gehalten werden, ihre Dienstleistungen als – in ihrer Qualität möglichst messbare – ,Produkte‘ zu bestimmen und ,kundenorientiert‘ möglichst erfolgreich auf einem wie auch immer simulierten ,Markt‘ anzubieten. Der klassische Klient, der aus der Konkretion einer existentiellen Lage heraus eine spezifische Dienstleistung benötigt oder nachfragt, wird so zum ,Kunden‘, dem man etwas anbietet, das er nach Möglichkeit auch ,kaufen‘ soll. Dass es sich dabei um eine gänzlich unangemessene, ja zynische Metaphorik und Rhetorik handelt, liegt ja offen zutage: Als ,Kunde‘ müsste der Klient der Sozialverwaltung für eine Dienstleistung aus seiner privaten Schatulle zahlen. Dass er das ökonomisch nicht kann, macht ihn aber definitionsgemäß gerade zum Klienten der Sozialverwaltung. Zum Wesen der Sozialverwaltung gehört gerade, dass an diejenigen, die sich selbst nicht mehr vollständig versorgen können, gesetzlich vorgesehene öffentliche Subventionen gezahlt werden, damit sie dort, wo sie tatsächlich Kunde sein können müssten: an einem wirklichen Markt von lebensnotwendigen Waren (,Lebensmitteln‘) und Diensten, also von wirklich kaufbaren Produkten, aber aufgrund von Armut nicht sein können, ein solcher wieder werden können. Sie jedoch im Empfang solcher Subventionen als ,Kunde‘ zu bezeichnen, geht faktisch in die Richtung jener Ironisierung, die in der gebräuchlichen informellen Rede von mit Kontrollaufgaben befassten Amtsträgern über ihre ,Pappenheimer‘ oder ihre ,Kundschaft‘ schon vorzufinden ist. Allerdings gerät diese
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D. Rezeptionsvergleich
292 M 107: Mhm (4.0): Du hast ja die Funktion eines Notrufes, zu helfen \. . . 293 B 53: Mhm Das nachfolgende „mhm“ indiziert, dass M ihrem Vorredner zustimmt, wobei sie nach einer deutlichen Pause, die auf Überlegen hindeutet, auf die Funktion des Notrufs zu sprechen kommt, die man am Notruf hat, wobei sie deutlich macht, dass dem Notruf eine helfende Funktion zukommt. 294 M 107: . . ./ Un dann immer in der Lage zu sein (-) \. . . Und man als Notrufbeamter dann auch tatsächlich immer fähig sein muss, diese Hilfe zu leisten, wenn sie gebraucht wird, womit M implizit argumentiert, dass es sich hier um eine Aufgabe handelt, bei der man sich als Notruf entgegennehmender Polizeibeamter permanent bewähren muss. 295 M 107: . . ./ was vielleicht auch sogar trainiert werden könnte oder müßte (4.0) \. . . Was, wie M fortführt, möglicherweise sogar trainiert werden könnte oder müsste, womit sie einen Punkt anspricht, den auch andere Studenten in ihren Arbeiten thematisierten und der mich in meiner Absicht bestätigte, im nächsten Ausbildungsabschnitt mit der praktischen Einübung in die Intervention zu beginnen.119 296 M 107: . . ./ Kann mir vorstelln, wenn da es erste mal dran sitzt am Notruf und hast dann solche (-) Notrufeinläufe (-) das schon nich so einfach (-) richtig zu reagieren Die nun anschließende Argumentation von M indiziert, dass sie bei der Sinnhaftigkeit beziehungsweise Notwendigkeit von Training an diejenigen denkt, die zum ersten Mal am Notruf sitzen, die also noch nicht über die notwendige Routine verfügen und von daher handlungsunsicher sind. Womit sie im Grunde genommen das Problem aus ihrer Sicht, der einer Seiteneinsteigerin, sieht, die noch praxisunerfahren ist. Dagegen sieht sie nicht, in sich die tatsächlichen Strukturbedingungen der Beziehung zum Klienten durchaus noch authentisch ironisierende Metapher zum Zynismus, wenn sie im offiziellen Sprachspiel von ,Produkt‘ und ,Kundenorientierung‘ zum vollen Ernst mutiert, und darin vordergründig gar noch die Funktion einer De-Stigmatisierung durch distanzierende formale Rationalisierung übernehmen soll. Der Empfänger von nur begrenzt standardisierbaren Dienstleistungen der Sozialverwaltung ist nach gesetzlich vorgegebenen Kriterien der Berechtigung Klient, weil er sich in einer von ihm selbst nicht mehr eigenständig lösbaren Krise befindet, und alles andere als ein Kunde, der am Markt etwas tauschen möchte.“ 119 s. hierzu Kapitel E. der Arbeit.
4. Studentische Fallrezeption
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dass das Problem auch darin bestehen kann, dass Polizeibeamte kehrseitig auch aus einem Zuviel an Routine120 nicht auf Krise eingestellt sein können und deshalb unangemessen handeln.121 297 B 54: Ja und du kannst ja für die Notrufe selber, kannst du ja auch kein Schemata anlegen \. . . 298 M 108: Mhm B stimmt M in ihrer Bewertung der Schwierigkeit der Aufgabe zu, diese noch zusätzlich dadurch unterstreichend, dass man für Notrufe kein Schema beziehungsweise keine Schablone anlegen kann. Ein richtiges Argument, denn die angemessene Behandlung von Notrufen erfordert, dass der Polizei120 Die durch eingelebte Gewohnheit entstanden ist, wie man im Anschluss an Max Weber [(1995), S. 12] sagen kann. In der Einsatzlehre warnt man insbesondere bei Einsätzen in Folge von Bankalarmauslösungen vor Routinedenken und hat für dieses Denken bzw. diese Einstellung den Begriff „Fehlalarmmentalität“ geprägt. Wie Kuhleber schreibt: „In der Praxis handelt es sich bei der überwiegenden Anzahl der Alarmauslösungen um Fehlalarme! (. . .) Die Alarmauslösung ist ein polizeilicher Einsatzanlaß, der sich im städtischen Bereich mehrere hundert Mal im Jahr ereignet. Viele Polizeibeamte verfügen deshalb über eigene Einsatzerfahrungen. Sie haben eine solche Lage bereits mehrmals erlebt. Sie kennen die emotionale Anspannung auf der Fahrt zum Einsatzort, sie wissen aber auch um die Frustration, die ein Fehlalarm, u. a. wegen der unnötigen Einsatzbelastung, verursacht. Andere, nicht derart einseitig ausgelegte Erfahrungen sammeln nur die Kräfte, die eine Reallage erlebt haben. Der tatsächlich verübte Bankraub ist aber die Ausnahme. (Der Anteil der Banküberfälle in Relation zu den bei der Polizei eingehenden Alarmauslösungen liegt unter 5%.) Erhalten nun Beamte des Streifendienstes in der Praxis den Einsatz ,Alarmauslösung‘, werden sie zunächst die verfügbaren Informationen zur Lage in einen Zusammenhang mit ihren Erfahrungen aus vergleichbaren Einsätzen bringen. Dieser vorwiegend mentale Vorgang führt dann zur Ableitung individueller Schlußfolgerungen. Als unerwünschtes Ergebnis des beschriebenen Prozesses kann eine ausgeprägte und sehr gefahrenträchtige ,Fehlalarmmentalität‘ entstehen. Diese Gefahr ist besonders groß, wenn im Bewußtsein der Beamten bereits während der Fahrt zum Einsatzort die Erkenntnis dominiert, es könne sich ja nur um einen Fehlalarm handeln. Das fatale Ergebnis kann folgendermaßen aussehen: Die erforderliche Konzentration bei der Annäherung weicht einem eher oberflächlichen Einsatzverhalten, notwendige Absprachen unterbleiben, verdächtige Personen oder Fahrzeuge werden nicht wahrgenommen, eventuell werden die eingesetzten Kräfte sogar im Nahbereich durch eine unerwartete Konfrontation mit den bewaffneten Bankräubern überrascht. Den aufgezeigten Risiken kann insbesondere mit einer gefahren- und verantwortungsbewußten Einstellung begegnet werden. Eine Alarmauslösung ist keine Routineangelegenheit. Jeder Einsatz ist bis zur abschließenden Überprüfung im Objekt wie ein tatsächlicher Bankraub zu behandeln!“ Kuhleber (1993), S. 5 f. [Hervorhebung im Original in Fettschrift, T. L.] 121 Vgl. hierzu meinen Routineaufsatz: Ley (1996 b), S. 174 ff. Aufgrund von Routine auch die Relevanz von Supervisionen oder Fallkonferenzen. Vgl. Oevermann (1993 b), S. 162.
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D. Rezeptionsvergleich
beamte möglichst schnell, und hier handelt es sich um eine Paradoxie von Krise und Routine, ein umfassendes, gestaltrichtiges Bild von der Krise erhält, damit er daraufhin routinisiert ihre Gesamtgestalt in eine Sequenz nach Prioritäten zerlegen und das Wesentliche in der richtigen Reihenfolge veranlassen kann. Der Standardfall ist im Grunde genommen Diagnostik und fallspezifische Intervention, was schon deswegen schwer ist, weil für die polizeilichen Notrufe konstitutiv ist, dass sie außerordentlich variabel sein können, dass sie per se nicht standardisierbar sind und von der Sache her für eine schematische Abarbeitung nicht geeignet sind. 299 B 54: . . ./ Das wirklich immer (-) es entsteht diese Situation (-) und die mußt du abhandeln (-) mit, mit gewissem Gefühl auch ne (-) \. . . 300 M 109: Mhm Weil es sich stets um neue Situationen handelt, mit denen man im Hier und Jetzt zu tun bekommt, die man „abhandeln“ beziehungsweise mit denen man „fertig werden“ muss, wobei der Nachschub „mit gewissem Gefühl auch“ indiziert, dass B offensichtlich das Wort „abhandeln“ als zu schematisch vorkam. 301 B 54: . . ./ Du hast auch keine Zeit, dich irgendwie in diese Lage reinzuversetzen groß \. . . 302 M 110: Mhm B setzt seine Argumentation zur Schwierigkeit der Aufgabe fort, hierbei wie jemand redend, der aus Erfahrung zu berichten weiß, dass man am Notruf keine Zeit hat, sich „groß“ in die „Lage reinzuversetzen“, womit er offensichtlich die Lage der sich in einer Krise befindenden Personen vor Ort meint. 303 B 54: . . ./ weil größtenteils, wenn’s en Notruf is \. . . 304 M 111: Ne Sofortlage 305 B 54: . . ./ Sofortlage is, un du mußt sofort handeln, ne. (-) Is halt auch wieder schwer Was er damit begründet, dass man zumeist, wenn es sich um einen wirklichen Notfall handelt, im Polizeijargon auch Sofortlage122 genannt, wie 122 Vgl. hierzu Kuhleber (1996), S. 34. Ebd. ist auch markiert, dass die Sofortlage begrifflich von der Zeitlage unterschieden wird. Während man in Sofortlagen, wie das Wort es suggeriert, sofort handeln muss, ist kennzeichnend für eine Zeitlage, dass man Planungszeit hat. Vgl. weiterhin Clages (1997), S. 31 f.
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M ergänzt, sofort handeln muss, was „schwer“ ist. Damit beschreibt er die Handlungsproblematik durchaus angemessen, wenngleich diese Beschreibung nicht zu dem Schluss führen darf, dass diese Schwierigkeiten ein Handeln wie das in diesem Fall vom Polizeibeamten gezeigte in irgendeiner Weise rechtfertigen. 306 M 112: Ad hoce Entscheidungen Weil es sich, wie M – wiederum in Anlehnung123 an den Polizeijargon – die Ausführungen von B fortsetzt, um so genannte „ad hoce Entscheidungen“ handelt, also Entscheidungen, die vom Notruf entgegennehmenden Polizeibeamten aus dem Augenblick heraus,124 im Hier und Jetzt seiner unmittelbaren Lebenspraxis zu treffen sind. 307 (8.0, dann Abschalten des Tonbandes, danach) Es folgt nun eine achtsekündige Pause und dann das Abschalten des Tonbandes. 308 S 21: Unter Abwägung aller hervorgebrachten Argumente \. . . Nach einer auf der Basis des vorliegenden Protokolls nicht rekonstruierbaren Zeit beginnt S mit einer formelhaften Wendung, die anzeigt, dass er nunmehr stellvertretend für die beiden anderen Gruppenmitglieder ein Ergebnis formuliert, auf das sie sich in einem Diskurs geeinigt haben, wobei zu diesem Zeitpunkt noch unbestimmt ist, welche gegensätzlichen Argumente abgewogen wurden. 309 S 21: . . ./ hat jeder zwar seine subjektive Meinung zu dem gesamten Telefonat(-) \. . . Es folgt nun eine Feststellung subjektiver Meinungsunterschiede zum Telefonat, die durch ein „zwar“ eingeschränkt wird, wobei diese Einschränkung erwarten lässt, dass der Markierung der Differenz nun eine Markierung der Gemeinsamkeiten folgen wird. Vor dem Hintergrund der Meinungsverschiedenheit zwischen dem Sprecher und den beiden anderen Interpreten125 ist fraglich, inwieweit Gemeinsamkeiten bezüglich der Bewertung des Handelns des Polizeibeamten bestehen. 123 In Anlehnung deswegen, weil im Polizeijargon üblicherweise von „Ad-hocEntscheidungen“ gesprochen wird, während M hier durch Umwandlung des Adverbs „ad hoc“ in das Adjektiv „ad hoce“ ein neues Wort geschaffen hat. 124 Duden [(1982), Bd. 5], S. 32. 125 Vgl. hier insbesondere die Textzeilen 134 und 135, in denen S argumentierte, dass es sich im vorliegenden Fall eigentlich nicht um einen Notruf handle, was von den beiden anderen Mitdiskutanten anders gesehen wurde.
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D. Rezeptionsvergleich
310 S 21: . . ./ es kann jedoch zusammenfassend erkannt werden, daß \. . . Darauf folgt ein durch ein adversatives „es kann jedoch126 zusammenfassend erkannt werden, dass . . .“ (im Sinne von „es kann aber“) eingeleiteter Schwenk, an dem Folgendes auffällig ist. Erstens: Der Sprecher benutzt das Auxiliar „kann“, womit er von einem möglichen und nicht von einem aus der gemeinsamen Abwägung der Argumente heraus zwingenden Urteil spricht.127 Zweitens: Er spricht unpersönlich. Drittens: Er lässt sprachlich unbestimmt, ob er dem noch auszusprechenden Urteil zustimmt, was angesichts der vorherigen Fallrekonstruktion eher auszuschließen ist. 311 S 21: . . ./ so wie in diesem Fall der Polizeibeamte auf den Anruf reagiert hatte, das nicht einem (4.0) Mann in dieser Position in der Notrufzentrale (-) äh (3.0) würdich ist, sondern daß eben hätte anders reagiert werden müssen S formuliert nun das Urteil, an dessen Formulierung „nicht (. . .) würdich ist“ zu erkennen ist, dass es sich hier nicht um ein analytisches, sondern um ein normativ-moralisches Urteil handelt, mit dem – wie bei einem Schuldspruch vor Gericht – eine persönliche Schuldzuweisung verbunden ist. S verkündet also hier gewissermaßen ein Gerichtsurteil. Er spielt sich zum Richter auf, obwohl er selbst, wie die vorhergehende Fallrekonstruktion ergab, wahrscheinlich genau so gehandelt hätte wie der ,verurteilte‘ Polizeibeamte, weil er ebenso wie dieser in einer bürokratischen Zuständigkeitslogik dachte.128 312 M 113: (4.0) Aus diesem Grund haben wir uns auch für diesen Notruf entschieden, den zu analysieren Nach einer deutlichen Pause nennt M im Anschluss das Um-zu-Motiv129 für die Fallauswahl, wobei man im Kontext mit den vorherigen Ausführungen abduktiv erschließen kann, dass der Fall von ihr oder von B ausgesucht 126
[Hervorhebung durch T. L.] Zur Formulierung: „auf etwas erkennen“ s. Duden [(1988), Bd. 2], S. 248. 128 Erst bei der Analyse dieser Sequenzstelle wurde mir bewusst, dass diese Art von „double standard“ zur Biographie von S passte. Gegen S wurde nämlich zu Beginn seiner Studienzeit von der Gauck-Behörde wegen inoffizieller Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit ermittelt. Wie ich von seinen Studienkollegen hörte, war er tatsächlich vom Ministerium für Staatssicherheit angeworben worden. Dennoch wurde er nicht ,rausgegauckt‘, wobei ich die Gründe für diese Entscheidung nicht kenne. Sie wurden von S nie dargelegt. 129 Schütz (1981), S. 115 ff. 127
5. Formale versus materiale Gerechtigkeit
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wurde, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von S. Denn während M und B die Handlungspraxis des Polizeibeamten kritisierten, erkannte S den im Notrufprotokoll abgebildeten Strukturfehler nicht.
5. Bewertung der Rezeptionsanalyse: Formale versus materiale Gerechtigkeit Die Vorzüge der Sequenzanalyse des Diskussionsprotokolls gegenüber dem Lesen der studentischen Ergebniszusammenfassung sind unmittelbar evident, wenn man sich den nachfolgenden Auszug aus ihrer „Schlußbemerkung“ ansieht. „Dieser Polizeibeamte hat sich nicht angemessen verhalten, wie zum Beispiel bei – dem Umgang mit dem Kind, – der Personalienabfrage, – der Informationsgewinnung über die Situation/Sachverhalt (Mutter), – der Hilfeleistung. (. . .) Aus unserer Sicht waren sehr oft routinebedingte Gleichgültigkeit, Konzentrationsschwächen und auch Unaufmerksamkeit beim Zuhören des Anrufers gegeben.“130
Denn während die Sequenzanalyse des Diskussionsprotokolls zeigte, dass S über einen völlig unangemessenen Notrufhabitus verfügte, der verhinderte, dass er die unangemessene Handlungsweise des Polizeibeamten als solche erkannte, erfolgt hier eine gemeinschaftliche Kritik des polizeilichen Verhaltens, aus welcher nicht mehr zu rekonstruieren ist, dass S die mit Abstand schlechteste Analyseleistung in der Gruppe zeigte und er im Sinne materialer Gerechtigkeit eine schlechte Note hätte bekommen müssen. Dass er dennoch die gleiche Note wie die beiden anderen Interpreten erhielt,131 stand im Zusammenhang mit meiner vor Beginn der Analysen getroffenen Entscheidung, allen Gruppenmitgliedern dieselbe Note zu geben. Diese Entscheidung traf ich, weil es aus meiner Sicht unglaubwürdig gewesen wäre, individuelle Noten zu geben, wenn es darum geht, die Studenten in Teamarbeit einzuüben. Aus dieser Entscheidung, individuelle Leistungen nicht getrennt zu benoten, ergab sich in der Folge, wie in diesem Fall sehr deutlich zum Ausdruck kommt, ein Gerechtigkeitsproblem, weil aufgrund der Auswertung der studentischen Rezeptionsanalysen zwar eine differenzierte, individuelle Notengebung material möglich, wenn nicht sogar von der Sache her erforderlich gewesen wäre, diese aber mit meiner formalen Entscheidung kolli130 131
Seminararbeit, S. 16 f. 11 Punkte, die Note gut.
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D. Rezeptionsvergleich
dierte, die ich nicht korrigieren wollte, um vor den Studenten nicht als unglaubwürdig dazustehen, denn dies hätte nach meiner Einschätzung das Ende der Chance bedeutet, mit ihnen mäeutisch zu arbeiten.
6. Auswertung von Schlüsselstellen Wenngleich zu sehen ist, dass die materiale Bedingung zur sachgemäßen Einschätzung der studentischen Leistungen in einer vorgängigen, unabhängigen und vollständigen Analyse der Protokolle bestand, die von den Studenten interpretiert wurden, um so eine Bezugsfolie für die Bewertung ihrer Leistungen zu haben,132 wie ich dies unter der Bedingung der Handlungsentlastetheit in expliziter Form beim Epilepsie-Fall vorführte, werde ich mich nachfolgend auf eine möglichst detaillierte Sequenzanalyse von Textausschnitten aus den tontechnisch aufgezeichneten studentischen Diskussionen beschränken, an denen die Studenten Notrufsequenzen interpretierten, die von mir bei der Erstellung der Bezugsfolie kriterial als „Schlüsselstellen“133 bestimmt worden waren. Darunter sollen Sequenzpositionen verstanden werden, an denen sich zeigt, ob das im Protokoll abgebildete polizeiliche Handeln fallangemessen (im Sinne des Normalfalls) oder fallunangemessen (im Sinne einer Abweichung des Typs 1 oder 2) war.134
132
Dabei zeigte sich, dass Analysen im Hinblick auf die Totalität eines Protokolls nicht ausschließlich gestaltrichtig oder gestaltverzerrt waren, sondern vielmehr einzelne Protokollstellen gestaltrichtig und andere gestaltverzerrt analysiert wurden, und es bei Fallbesprechungen auch vorkam, dass die Protokollstellenauslegungen der Gruppenmitglieder deutlich voneinander abwichen, also beispielsweise zwei von drei Gruppenmitgliedern die schlechte Praxis erkannt und kritisiert hatten, während das dritte Gruppenmitglied diese sogar in Schutz nahm. Während der letztgenannte Punkt für die Bewertung keine Rolle spielte, weil ich den Studenten vorweg zu verstehen gegeben hatte, dass es sich um eine Gruppenarbeit handele und ich daher auch keine gruppeninternen Differenzierungen vornehmen werde, erforderte der erste Punkt ein fallspezifisches Bestimmen der Sequenzstellen, die für die Bewertung der analysierten Notrufpraxis von Bedeutung waren. Und dies war beim bereits besprochenen Epilepsie-Fall die Sequenzstelle, an welcher der Polizeibeamte das Kind faktisch abwies. Wenn dies von keinem aus der Gruppe bemerkt worden wäre, hätte ich die Analyse auch dann nicht besser als mit der Note gut bewertet, wenn alle anderen Textstellen richtig interpretiert worden wären. Denn hier ging es um das Erkennen des Wesentlichen. 133 Im Sinne von Hildenbrand könnte man hier auch von „schönen Stellen“ sprechen, womit gemeint ist, Textstellen, die „in besonders augenfälliger Weise eine Fallstruktur zum Ausdruck bringen“. Hildenbrand (1999), S. 16 und 64. 134 Zur methodischen Legitimität eines solchen Vorgehens vgl. wiederum Wernet (1995), S. 186.
7. Exkurs: Zur Pragmatik der Materialauswertung
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7. Exkurs: Zur Pragmatik der Materialauswertung Es versteht sich, dass die Analysen, die ich erstellen musste, um insbesondere die sequenzanalytische Leistung der Studenten sachgemäß zu bewerten, nicht annähernd so ausführlich sein konnten wie die hier vollständig abgebildete, detaillierte Analyse des Epilepsie-Falls. Diese Explizitheit und Detailliertheit war in meiner dozentischen Praxis nicht möglich. Denn „nur befreit vom Druck der Praxis läßt sich in der Muße der Forschungssituation, die lückenlose Sequenzialität der Praxis aus natürlichen Protokollen rekonstruieren und bewußt machen“.135 Diese Muße hatte ich aber in meiner Handlungspraxis nicht. Vielmehr stand ich unter nicht geringem Handlungsdruck, zum einen, weil ich nicht nur in meinem Bezugsjahrgang unterrichtete, sondern auch noch in zwei anderen Kursen eines anderen Jahrgangs, ich mich folglich nicht ausschließlich auf die Analyse der Arbeiten konzentrieren konnte. Und zum anderen, weil ich aufgrund des kurzen Semesters und dem im Verhältnis hierzu großen zeitlichen Aufwand für die Einübung in die Methode der Sequenzanalyse nur drei Wochen Zeit für die Korrektur von 20 Seminararbeiten hatte, zu deren Zweck es erforderlich war, mich auf mehreren ,Analyse-Ebenen‘ zu bewegen. Erstens musste ich mir die Originalaufnahmen der Notrufe anhören, um daraufhin die Qualität der studentischen Notrufvertextungen beurteilen zu können. Zweitens musste ich die studentisch rezipierten Notrufprotokolle zunächst selbst analysieren, um einschätzen zu können, wie sie sachgemäß zu beurteilen sind. Drittens musste ich, um die studentischen Analyseleistungen einschätzen und bewerten zu können, die studentischen Diskussionsprotokolle daraufhin durchsehen, ob bzw. inwieweit ihre Fallrezeptionen sich mit meinen Bezugsfolien deckten. Und viertens musste ich, um die Qualität der studentischen Verlaufsskizzen bemessen zu können, die Diskussionsprotokolle daraufhin durchsehen, ob der Diskussionsverlauf angemessen wiedergegeben war. Auch wenn der zeitliche Aufwand für die Durchsicht der Arbeiten nicht unerheblich war, reichte die zur Verfügung stehende Zeit dennoch aus, um termingerecht fertig zu werden, wenngleich ich bei nachträglicher Rekonstruktion der Fälle feststellte, dass ich den einen oder anderen Rezeptionsfehler entweder nicht oder nicht hinreichend klar genug auf den Punkt brachte. Eine Tatsache, die aber nicht gegen die Anwendbarkeit der Methode spricht, sondern damit zu erklären ist, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht über die sequenzanalytische Begutachtungs- bzw. Bewertungserfahrung verfügte, die notwendig ist, um die Methode „in der unter Zeitdruck stehenden Praxis so abkürzen zu können, dass dabei kein verzerren135 Schröter [(1997), S. 222], im Anschluss an Oevermann (1993 b), S. 247; ders. (1996 a), S. 33.
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D. Rezeptionsvergleich
der Gestaltfehler unterläuft und das Modell dem ,Geiste nach‘ richtig erhalten bleibt.“136 – Ende des Exkurses
8. Fall 1: Autoaufbruch Ich komme nun auf einen dem Normalfall mehr oder weniger nahe kommenden Fall zu sprechen, bei dem polizeilich relativ schnell reagiert wurde, ohne unnötige (z. B. bürokratische) Details zu erfragen, sodass die Chance gegeben war, den Täter in flagranti zu ertappen. Für den Rezeptionsvergleich habe ich die Textstelle ausgewählt, an welcher der Polizeibeamte sagt: „wir fahren los“. Wobei die hier interessierende Frage ist, ob die studentische Arbeitsgruppe, bestehend aus den Studenten B, A und D und Studentin C, allesamt Praxisaufsteiger mit bereits einigen Jahren Berufserfahrung, erkannten, dass der Polizeibeamte hier fallangemessen handelte. 1 B: . . .137 elementare Sachen fehlen (uv) zum Beispiel (-) Is ein Täter? () sind das mehrere Täter? 138 (-) sin die mit dem Auto da? (-) sin die mit dem Fuß da? [eh zu Fuß da?] 2 C:
[Ja ich frag ]
3 B: Sind die mit em Fahrrad da (-) das is (-) er muß ja dann auch (-) wenn die ihm gegen (-) Täter ihm entgegenkommen (-) wissen daß es sich um die (-) (uv) vermutlich Täter handeln könnte (-) Also (-) die (2–3 Worte uv) los (-) un is nur halb informiert (1.0) Er selber Ich beginne mit der Analyse der Interpretationsinteraktion an der Textstelle, wo B auf die Einsatzzusage „Wir fahren los“ zu sprechen kommt. Wie aus seinen engagiert vorgetragenen Ausführungen herauszulesen ist, 136 Oevermann (1993 b), S. 246. Zu sehen ist, dass – ähnlich wie bei der Transkription von tontechnischen Aufzeichnungen – bei der sequenzanalytischen Rekonstruktion von Fallmaterial Übung der entscheidende Faktor ist [vgl. Oevermann (1993 b), S. 266]. Und diese kann man nur durch konkrete Analysen gewinnen. 137 Die drei Punkte zu Beginn einer zu rezipierenden Textstelle markieren hier – wie auch in den nachfolgenden Fällen –, dass der Sprechakt bereits vor der protokollierten Textstelle begann. 138 Notationszeichen: (uv) unverständlich (-) kurzes Absetzen ? Frageintonation [] Überlappen (LACHEN) Umschreibung von paralinguistischen Informationen zur Situation (2.0) Pause in Sekunden „. . .“ Markierung einer aus dem Notrufprotokoll zitierten Stelle.
8. Fall 1: Autoaufbruch
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geht er mit dem polizeilichen Handeln hart ins Gericht, wirft er dem Polizeibeamten implizit vor, eine Einsatzzusage gegeben zu haben, obwohl er „elementare“, grundlegend wichtige Informationen noch nicht erhoben habe. So wisse er weder, ob es 1. sich um einen oder mehrere Täter handle, noch ob sie 2. mit dem Auto, zu Fuß oder mit dem Fahrrad da seien. Informationen, die aber – wie man aus seinen restringiert formulierten Ausführungen erschließen kann – fundamental wichtig seien, wenn dem Polizeibeamten die Täter auf der Fahrt zum Tatort „entgegenkommen“. Kurzum: So wie der Fall sich darstelle, würden Polizeibeamte „los fahren“, obwohl der zuvor das Telefonat führende Polizeibeamte „selber“ nur „halb informiert“ sei. Zu dieser Kritik ist Folgendes zu sagen: 1. Bezogen auf den ersten Punkt, die Anzahl der Täter, ist sie nicht zutreffend. Denn wie aus dem zu analysierenden Text139 hervorgeht, wies der Anrufer dreimal explizit darauf hin, dass sich am Auto „einer“ zu schaffen mache, womit nach dem Wörtlichkeitsprinzip zwingend feststeht, dass es sich hier nur um einen Täter handelt. 2. Bezogen auf den zweiten Punkt ist nicht zu sehen, dass B’s Fragen geeignet gewesen wären, einen Fahndungserfolg zu erzielen. Auch ist kritisch anzumerken, dass durch das Stellen dieser von B für sinnvoll gehaltenen Fragen nicht unerhebliche Zeit verbraucht worden wäre,140 die man wesentlich besser hätte nutzen können – wie es der Polizeibeamte auch faktisch tat –, um sich so schnell wie möglich auf den Weg zum Tatort zu begeben und dort den Täter in flagranti zu erwischen. Was im Übrigen auch rechtspolitisch von Bedeutung ist, wenn man „nüchtern in Rechnung stellt, daß nur ein sehr geringer Teil der Aufklärungserfolge heutzutage noch auf genuine kriminalistische Durchermittlung von Spuren zurückgeht, sondern vor allem darauf, daß Täter in flagranti oder bei Routine-Kontrollen auffällig werden oder aber sich durch Ungeschicklichkeiten selbst verraten.“141 Dass B indes bereits die Hoffnung, den Täter noch vor Ort zu er139 04 B: Da macht sich einer an nem Auto zu (. . .) 08 B: Bei mein Nachbar macht sich einer am Auto zu schaffen (. . .) 10 B: Da macht sich einer am Auto zu schaffen. 140 Da es dann im Schegloff ’schen Sinne zu mehreren „summons-answer sequences“ gekommen wäre. Vgl. Schegloff (1968), S. 1080 ff.; des Weiteren Godard (1977), S. 214 ff. 141 Oevermann u. a. (1994), S. 258. Bei Autoaufbruch und -diebstahl sind die Aufklärungsquoten sehr gering. Sie liegen bei etwa 22 Prozent (im Jahr 1999) bundesweit. Von daher wäre es ein großer Erfolg, wenn man einen Täter in flagranti ertappen würde, zumal man dann meistens einen Mehrfachtäter gefasst hätte.
254
D. Rezeptionsvergleich
wischen, bereits implizit aufgegeben hat, wird durch seinen Hinweis auf das mögliche Entgegenkommen der Täter angezeigt, denn damit ist zwingend präsupponiert, dass die Tathandlung schon beendet war. 4 C: Ich nehme aber mal an (-) daß es erstmal wichtiger ist überhaupt etwas zu ha- (-) zu handeln(-) Er sagt ja „Wir fahren los!“ (-) Und danach kann man doch diese Fragen (-) die du jetzt gesagt hast (-) immer noch stellen (-) Es geht doch jetzt erst mal darum (-) daß was eingeleitet wird (-) und das man schnell vor Ort kommt Von C, die bereits zuvor schon einmal zu einem Beitrag ansetzte, aber aufgrund des engagierten Vortrags von B nicht weiter zu Wort kam, erfolgt nun der Einwand, dass es „aber“ zunächst einmal „wichtiger“ sei, „was einzuleiten“, d. h. Einsatzkräfte vor Ort zu entsenden, um möglichst schnell vor Ort zu kommen und dort – so kann man ihren Satz ergänzen – den Täter in flagranti zu erwischen. Womit C im Sinne meiner Bezugsfolie argumentiert, der zufolge der Polizeibeamte richtig handelt, weil er sich relativ schnell zur Entsendung von polizeilichen Einsatzkräften entscheidet, d. h. die „Phase der aktiv-praktischen Entscheidung zu einer Aktion“142 nicht zu lange dauert. Weiter lässt sich aus ihren Ausführungen ein Handlungsmodell ableiten, nach dem bei gesichertem Vorliegen einer akuten Krise die Polizei unverzüglich zu handeln hat (also sich vor Ort zu begeben hat) und sie nicht im Sinne einer falschen Ausführlichkeit und Detailliertheit warten kann, bis alle vermeintlich wichtigen Informationen erfragt wurden, weil dies unnötig Zeit kostet, die für eine möglichst schnelle Krisenbewältigung verloren ist.143 5 A: Genau Den Ausführungen C’s stimmt A uneingeschränkt zu. 6 C: Und diese näheren Beschreibungen wieviele Täter sin es un (-) un so weiter und so fort (-) das kann man doch später noch machen (-) nachdem erst mal erste Maßnahmen eingeleitet wurden (-) Und das kann man über Funk den (-) Einsatzbeamten immer noch (-) durchgeben Woraufhin dann C noch einmal an ihre vorhergehenden Ausführungen anknüpft und erneut zum Ausdruck bringt, dass es wichtig ist, zunächst 142
Oevermann (1997 a), S. 82. Im Grunde genommen handelt es sich hier um eine spezifische Ausprägung des bereits thematisierten Krisen-Bürokratie-Spagat-Modells in Kapitel B. dieser Arbeit. 143
8. Fall 1: Autoaufbruch
255
Einsatzkräfte vor Ort zu schicken, also mit der Krisenintervention zu beginnen, und erst später weitere Informationen den Einsatzbeamten über Funk mitzuteilen. Damit entwirft C ein praxistaugliches Handlungsmodell. Der einzige Fehler in C’s Argumentation ist, dass auch sie – wie B – argumentiert, als sei noch die Frage zu klären, um wie viele Täter es sich handelt. Ein Fehler, der bereits in ihrer vorhergehenden Formulierung „Und danach kann man doch diese Fragen (-) die du jetzt gesagt hast (-) immer noch stellen (-)“ implizit enthalten war. Die Übernahme dieses Fehlers könnte dadurch motiviert sein, dass sie bei ihrer Kritik in erster Linie das Ziel verfolgte, darauf hinzuweisen, dass umgehend gehandelt wird und dann erst weitere Fragen gestellt werden, ohne hierbei über die objektive Angemessenheit der Fragen nachzudenken und damit dann auch den Fehler, der in B’s Argumentation enthalten war, unhinterfragt zu reproduzieren. 7 D: Weil wie lange braucht me denn um so en Auto zu knacken? Die Frage von D hat sprachpragmatisch eine Begründungsfunktion. D begründet, warum C’s Überlegungen richtig sind, implizit darauf hinweisend, dass der Zeitaspekt von entscheidender Bedeutung ist, weil man ein Auto eben recht schnell „knacken“ kann, womit D eine sehr praxis- oder lebensnahe Interpretation vornimmt. 8 C: Denn wir könn ja nicht erstmal alle Tat (-) Tat öh (-) Um (-) Zusammenhänge klären im Vorfeld (-) un (-) un ham noch gar nisch eingeleitet (-) Da unterhalten wir uns ne halbe Stunde (LACHEN) (2.0) un (-) es wird nichts eingeleitet (-) So kanns ja nun auch nich gehen (-) Also ich find das schon in Ordnung so An diese Interpretation schließt C nun nahtlos an, indem sie noch einmal betont, dass der Zeitaspekt hier eine wichtige Rolle spielt und es doch eine merkwürdige Vorstellung wäre, dass der Polizeibeamte sich mit dem Anrufer „ne halbe Stunde“ unterhält, um „alle“ Tatumstände oder Tatzusammenhänge abzuklären, ohne zu dieser Zeit bereits Maßnahmen eingeleitet zu haben. Sie zeichnet fast schon die Karikatur einer Notruf-Plauderrunde, die implizit eine recht starke Kritik an B’s Argumentation bedeutet. 9 B: Du sollst nicht ’ne halbe Stunde fragen(-)du sollst in kurzen knappen Stücken (4-5 Worte uv) Gegen diese Karikatur setzt sich B nun auch zur Wehr, C darauf hinweisend, dass es hier nicht um eine halbe Stunde gehe, sondern der Polizeibeamte „in kurzen knappen Stücken“ die wichtigsten Informationen erfragen solle. B’s Einwand indiziert, dass er offensichtlich das Modell einer abzuarbeitenden Checkliste im Kopf hat.144 Womit er tendenziell bürokratisch
256
D. Rezeptionsvergleich
argumentiert, ohne zu sehen, dass durch weitere Fragen unnötig viel Zeit vergeht. B realisiert nicht, dass es in diesem emergency-Fall um Sekunden und nicht um Minuten geht. 10 C: Für ihn hats in diesem Fall aber gereicht (-) und er hat Maßnahmen eingeleitet 11 A: Gut 12 C: und das ist eigentlich auch in Ordnung. Anstatt nun deutlich zu explizieren, dass es in Fällen dieses Typs generell um Sekunden geht, argumentiert C – auf der Linie ihrer vorhergehenden Argumentation „Also ich find das schon in Ordnung so“ –, als sei die Frage, was richtig und falsch ist, eine Frage der subjektiven Bewertung, und nicht eine, die objektiv mit ihrem zuvor skizzierten Modell zusammenhängt. Denn dann hätte sie deutlich sagen können: In einem solchen Fall kommt es entscheidend darauf an, schnell zu handeln. 13 A: Gut (1.0) 14 D: Würd ich auch so sehen (3.0) 15 A: Stimme dem Gesagten zu C’s Interpretation stimmen A und D vorbehaltlos zu. 16 B: So auf alle Fälle sagt er erstmal: „Wir fahren los.“ (-) Un (-) un der (uv) bestätigt das mit ja B schließt mit dem „so auf alle Fälle“ die Interpretation der Textstelle ab und leitet zur nächsten Zeile über, ohne der Bewertung seiner Kollegen zugestimmt zu haben. B lieferte an dieser Stelle die schlechteste Interpretation, denn seine Argumentation hätte praktisch bedeutet, dass der Polizeibeamte mit der Einleitung von Maßnahmen gewartet hätte, bis er weitere Informationen erhoben hatte. Was indiziert, dass B ein falsches, tendenziell bürokratisches Checklisten-Modell im Kopf hatte, das sehr gut zu seinem bürokratischen Habitus passte.145 144
Was man je nach Einsatzlehre- oder Kriminalistik-Dozent auch so lernt und was auch in nicht wenigen Lehrbüchern so vermittelt wird. So gibt es zu nahezu allen polizeirelevanten Themen Checklisten. 145 B war, wie sich auch an anderen Textstellen und im Verlauf der Ausbildung zeigte, der Prototyp eines „bureaucratic virtuoso“ [Merton (1964), S. 199], eines Bürokraten, wie er im Buche stand. Was sich denn auch deutlich im Rollenspiel zeigte, wo er zu den wenigen Studenten gehörte, die den Spagat zwischen Krisenbewältigung und Bürokratie [vgl. Ley (2000)] eindeutig zugunsten der Bürokratie ausführten.
8. Fall 1: Autoaufbruch
257
Ergebnis Wie die Interpretation der studentischen Interpretationsinteraktion gezeigt hat, wurde die Textstelle von den Studenten A, D und C im Wesentlichen richtig ausgewertet, indem sie herausarbeiteten, dass der Polizeibeamte angemessen schnell handelte. Der Fehler von B lag darin, dass er nicht sah, dass Zeit hier eine entscheidende Rolle spielt. Daher argumentierte er im Sinne einer falschen Ausführlichkeit, was falsch war, weil dadurch zu viel Zeit vergangen wäre, um den Täter noch in flagranti ertappen zu können. Methodologisch interessant erscheint mir an dieser Stelle, dass man anhand dieses Fehlers erkennen kann, dass zwar die Methode der Sequenzanalyse sehr ausführlich ist, aber die Rekonstruktion der zu analysierenden Praxis dennoch auf Effizienz angelegt ist. Folglich kann man mit dieser Methode genau zeigen, dass ein Polizeibeamter, der – wie B – an der falschen Stelle schematisch und subsumtionslogisch verfährt, krisenunangemessen – weil tendenziell bürokratisch – handelt,146 da er zu viel Zeit in einer emergency-Situation verschenkt, anstatt unmittelbar zu handeln.147 Das Paradox der Methode kann man auch auf den Punkt bringen: Rekonstruktionsmethodologisch muss man mit der Methode im Sinne des Totalitäts- und Wörtlichkeitsprinzips sequentiell ausführlich sein.148 Aber bei der Rekonstruktion des Falles kann man klar zeigen, und das ist eben das Prinzip der Sachhaltigkeit, dass die dem Polizeibeamten mitgeteilten Informationen nach dem Sparsamkeitskriterium für den Einsatz ausreichen und alle weiteren Fragen von der Sache her unnötig bzw. redundant sind. Kurzum: Der wissenschaftliche, methodisch explizite Einsatz der Sequenzanalyse ist nicht zu verwechseln mit den aus ihr gewonnenen Schlussfolgerungen für die Praxis, denn diese müssen in der Praxis in abgekürzter Form gezogen werden.149
146
Vgl. Merton (1964), S. 199. Denn die polizeiliche Intervention erfolgt relativ schnell. Und das ist im Hinblick auf die Ermittlung des Täters und damit – im Hegel’schen Sinne – auf die Wiederherstellung des Rechts das, worauf es gesellschaftlich ankommt. Hegel (1995), S. 371 f. und 382 f. 148 Wie Oevermann [(1996 a), S. 32] schreibt: „Eine detaillierte, unvoreingenommene, das Prinzip, daß jede les-, hör- und sichtbare Partikel eines Protokolls explizit einzubeziehen ist, befolgende Sequenzanalyse ist der sicherste und zuverlässigste Weg dazu, die Aufmerksamkeit auf tatsächlich vorliegende Zusammenhänge zu lenken.“ Vgl. auch Oevermann (2000 c), S. 97 und 100 ff. 149 Vgl. Oevermann (1993 b), S. 245 f. 147
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D. Rezeptionsvergleich
9. Fall 2: Wer hat denn heute Dienst? Nachdem beim vorhergehenden Rezeptionsvergleich die Frage war, ob die Studenten erkannten, dass der Polizeibeamte angemessen handelte, weil er relativ schnell reagierte und damit die Chance gegeben war, dass der Täter auf Tat erwischt wird, geht es hier nun darum, ob die Studentinnen AH und CM und die Studenten KG und DL aus der in diesem Fall bereits zu Beginn artikulierten Formulierung – 02 AW: Ja:, einfach mal ’ne, ich hab mal ’ne Frage, wer hat denn heute Die::nst? – erschlossen, dass kein emergency-Fall vorliegt, weil die Anruferin eine bloße Auskunftsfrage stellt, sodass der Polizeibeamte nun nicht mehr im Sinne der Beweislastverteilung davon ausgehen musste, dass ein Notfall vorliegt. Um diese Frage zu untersuchen, werde ich selektiv auf die Protokollstellen zugreifen, in denen über die Einstufung des Falles gesprochen wurde.150 122151 AH: Na im zweiten Notruf meldet sich ja auch der Beamte wieder mit (1:21) Notruf (0:86) 123
offensichtlich (1:48) un die weibliche Anruferin is ja sehr unsicher (1:68) Sie beginnt
124
mit ’nem Ja:::, mit ’ner langgezogenem Ja:: fängt den Satz an (1:03) unterbricht ’n kurz
125
und sagt dann eigentlich äh was sie will (2:15) Un das is ä erkennbar eigentlich
126
die Unsicherheit die sie hat. Sie weiß auch, daß sie ’n Notruf benutzt (0:96) und is aber
127
selbst nich in Not das’s is ist eigentlich gut erkennbar
Wie aus der Formulierung der Studentin AH abzulesen ist, geht sie davon aus, dass die Anruferin „selbst nich in Not“ ist, womit sie eine Formulierung wählt, die zwar in die richtige Richtung weist, jedoch nicht eindeutig zum Ausdruck bringt, dass hier nach dem Normalfallmodell kein Notruf vorliegt. Denn nach ihrer Formulierung ist es immer noch möglich, dass sich ein anderer in Not befindet und die Anruferin nur stellvertretend für 150
Notationszeichen: Pause in Sekunden Dehnung eines Mitlauts oder Vokals 151 Nur in diesem Fall habe ich die Zeilennummerierung beibehalten, die die Gruppe in ihrer Vertextung wählte. Dies, um einen möglichst authentischen Eindruck vom Verlauf der Diskussion zu geben, in der nicht durchgehend, nicht strikt sequentiell, über die hier interessierende zweite Notrufzeile gesprochen wurde. (1:48) Ja::
9. Fall 2: Wer hat denn heute Dienst?
259
ihn anruft. Doch auch hiervon ist im Sinne des Wörtlichkeitsprinzips und der Sparsamkeitsregel nicht auszugehen, weil man sonst von einem pathologischen Anrufertypus ausgehen müsste, für den die Frage, welche Schicht zum Anrufzeitpunkt Dienst hat, eine für die Anforderung von Interventionskräften entscheidende Frage wäre. Die Irrationalität eines solchen Vorgehens kann man sich unmittelbar klar machen, wenn man die Situation gedankenexperimentell zu Ende denkt. Die Anruferin fragt den Polizeibeamten: „Wer hat denn heute Dienst?“ Der Polizeibeamte antwortet, „die A-Schicht“. Und sie antwortet daraufhin: „Na, dann lieber nicht, zur Bewältigung des Notfalls hätte ich die C-Schicht benötigt“. 195 CM: . . . bei dem ich hab hier ’n 196
Problem, daß die da, wenn er praktisch (0:67) aufgehört hätte, sondern zuh,
198
dann wär die Frau vielleicht auch zu ihrem Problem gekommen und es hät sich
199
vielleicht ’n richtiger Notruf ergeben können. So könnte man jetzt denken, (0:72)
200
es könnt’n Notrufmißbrauch sein (2:05), aber andererseits eben wenn ’se halt
201
ausgesprochen, also wenn sie aussprechen hätte können, (0:78) dann wär’s
202
vielleicht ’n richtiger Notruf
203
geworden. Das is hier auch ein Problem was ma (0:56) denken könnte
Während AH zumindest in die richtige Richtung interpretierte, indiziert die Argumentation der Studentin CM, dass für sie auch in Zeile 04 – AW: |Ich hab hier ’n::: | – des Notrufprotokolls noch nicht feststeht, dass kein Notruf vorliegt, sondern sich dieser immer „noch (hätte) ergeben können“, wenn der Polizeibeamte die Anruferin nicht durch sein – 05 P: |Fragen Sie über |die [1 2 3 4] bitte – unterbrochen hätte, sondern sie hätte ausreden lassen. Was eine deutliche Kritik an seinem Handeln bedeutet, denn im Grunde genommen hält CM ihm vor, mit seiner Unterbrechung verhindert zu haben, dass die Anruferin möglicherweise noch „zu ihrem Problem gekommen“ wäre. Auffällig an CM’s Argumentation ist zweierlei. Zum einen basiert ihre Kritik auf einer zwar möglichen, aber nicht zwingenden Ergänzung des Fragments - AW: |Ich hab hier ’n::: |. Zum anderen geht sie mit keinem Wort darauf ein, dass es sich bei der vorhergehenden Frage der Anruferin um eine Auskunftsfrage handelt, aus
260
D. Rezeptionsvergleich
der für den Polizeibeamten klar zu erschließen war, dass kein Notfall vorliegt. Denn es gab keine Indikation für ein „serious happening“,152 das eine unverzügliche Intervention als erforderlich angezeigt hätte. Aus dieser Textauslegung resultiert, dass CM das dem Normalfall angemessene Handeln des Polizeibeamten als falsches Handeln bewertet, womit sie die Verhältnisse auf den Kopf stellt und den Polizeibeamten zu Unrecht kritisiert. 205 KG: Also ich seh hier nich unbedingt ’ne Not jetz die Frau würd ich sagen. (0:91) Sie 206 sagt jetzt nich ich habe kein Problem (1:28) das stimmt aber (0:65) sie kommt halt 207 ziemlich zur Sache und betont das Dienst. Sie will also das die will die Auskunft 208 nach dem Dienst. (1:78) Und äh (1:52) 209 CM: Ja wenn die 210 der Polizeibeamte überlegt kurz denk ich (1:59) und dann äh (1:16) antwortet er 211 so äh (1:17) 212 AH: wie er es einfach muß 213 KG: das es (0:59) das es erkennen lässt, dass sie auf der falschen Leitung is ja? 152 Vgl. Oxford Advanced Learner’s Dictionary of Current English (1974). Begrifflich wird hier „emergency“ (ebd., S. 286) von „trouble“ (ebd., S. 944) unterschieden. Vgl. hingegen Shearing (1984), S. 85; oder auch Bercal (1970), S. 683 ff.: „. . . the police are requested to provide assistance when other services such as gas, electricity, telephone, and water fail; to provide information when something out of the ordinary happens as in the occurrence of sonic booms, high winds, electric storms, and the like; or just to listen in order that the caller may relieve his tensions. Even when a patrol is dispatched in response to a call for assistance, the majority of runs are noncrime related (. . .) The police are asked to provide health care through ambulance service and emergency first aid, mediate family and neighbor arguments (. . .) and to handle environmental disturbances, which may or may not be crimes, such as ,disorderly conduct‘ and ,drunkenness‘. In effect, they are asked to intervene in any situation in which the caller perceives ,trouble‘“. Ich erinnere noch einmal an die hier vertretene strukturalistische Position: Entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob ein Polizeinotruf im Sinne des Normalfallmodells vorliegt, ist nicht, ob jemand eine Situation als „trouble“ erlebt (denn dies kann empirisch sehr verschiedene Ausprägungen haben), sondern ob die Kriterien des Normalfalls eines Polizeinotrufs erfüllt sind, ob also eine akute Krise vorliegt, die ohne sofortige polizeiliche Intervention nicht mehr bewältigt werden kann.
9. Fall 2: Wer hat denn heute Dienst?
261
Der Einwand von KG (205-208 und 213) indiziert, dass er die Gestalt des Falles richtig erkannt hat. Aus der Interpretation der Frage zieht er im Sinne des Wörtlichkeitsprinzips den richtigen praktischen Schluss, dass es sich hier nicht um einen Notruf handelt und die Anruferin folglich „auf der falschen Leitung“ anruft. 235 DL: Sie spricht dann (2:06) einige Sätze (0:78) und endet mit der Betonung wer 236
hat denn heute Dienst. Wir ham jetzt das Gespräch mehrfach gehört.
237
Wir müssen davon ausgehen, dass der Polizist da ja nur einmal hört genau in
238
dieser Situation (0:90) \. . .
In Zeile 235 kommt dann auch DL auf die zweite Zeile des Notrufprotokolls zu sprechen. Dabei lässt seine Argumentation erkennen, dass es für die Auslegung dieser Textstelle einen Unterschied macht, ob man sie „mehrfach“ anhören konnte – wie die Studenten im Rahmen ihrer Seminararbeit – oder „nur“ ein einziges Mal, wie der in praxi handelnde Polizeibeamte. Womit DL implizit argumentiert, dass der Polizeibeamte in einer ungünstigeren Situation als die Studenten war, um die Äußerung angemessen zu interpretieren. 239
. . ./ nachdem wie wir’s jetzt gehört ham, liegt ja die
240
Betonung eindeutig auf dem Dienst und auf dem Ende und es kann schon sein,
241
daß er nur das mitbekomm’n hat und dann so wie das schon gesagt hast
242
[VN v.153 AH] is es schon so, dass das kein Thema ist für’n Telefongespräch(0:49) weder
243
auf ’ner normalen Leitung und schon gar nicht auf der Notrufleitung. (1:65) \. . .
Die nachfolgende Argumentation ist äußerst merkwürdig. Denn gerade wenn die Studenten nach mehrfachem Abhören zum Ergebnis kamen, dass aus der Betonung des Sprechaktes abzulesen war, dass die Anruferin eine Auskunftsfrage stellte, und der Polizeibeamte „nur das mitbekomm’n hat“, dann hatte er genau das mitbekommen, was hinreichend war, um zum rich-
153
[VN v.] bedeutet „Vorname von“. Von mir vorgenommene Maskierung.
262
D. Rezeptionsvergleich
tigen praktischen Schluss zu kommen, nämlich dass hier kein Notfall vorliegt.154 Während der im Protokoll abgebildete Polizeibeamte angemessen handelte, indem er der Anruferin die Telefonnummer der Amtsleitung gab, kann man aus DL’s Argumentation ablesen, dass er in praxi falsch gehandelt hätte, wenn er die Frage der Anruferin tatsächlich nicht beantwortet hätte, weil er sie für eine generell unzulässige Frage hielt.155 244
. . ./ Wir haben dann weiterhin den Satz, wo er sie im Prinzip überfährt, gleichzeitig
245
mit ihr spricht, das heißt das was bei uns in Zeile vier dargestellte worüber du
246
jetzt [VN v.156 CM] gesagt hast, das könnte sein, dass hier’n richtiger No:truf
247
kommen könnte das hat er ja wahrscheinlich gar nich gehört. Er hat ja
248
gleichzeitig gesprochen, das heißt das Gespräch hat er gar nicht mitbekommen
249
so daß wie also se sagen müssen, daß im Prinzip von Zeile zwo das letzte Dienst
250
(0:98) is im Prinzip die Aktion, auf die er in Zeile 5 reagiert (AH: Hmm) Fragen sie
251
über (0:78) und dann nennt er die Nummer
Nachdem DL zuvor – im Anschluss an AH und KG – argumentierte, dass der Polizeibeamte das Gespräch auf jeden Fall hätte beenden müssen, 154
Zumal sie mit ihrer Frage das Kriterium verletzte, dass es in einer Notsituation vor allem darauf ankommt, möglichst schnell zu helfen, und es von nachgeordneter Bedeutung ist, wer im Hier und Jetzt als „nothhelfer“ in Frage kommt. Zu diesem Begriff s. Grimm/Grimm (1984 b), Sp. 939. Man braucht nur wenig Phantasie, um hieraus eine Szene aus dem absurden Theater zu entwerfen. Ein Mann oder eine Frau, die in akuter Not die Polizei anrufen, die hier von der Anruferin gestellte Frage formulieren und nach erhaltener Antwort zu verstehen gaben: „Na, dann lieber doch nicht.“ 155 Bei DL handelte es um einen ehemaligen NVA-Offizier, der nach der ,Wende‘ in die Polizei übernommen wurde. Wie an anderer Stelle der Falldiskussion deutlich wurde, hielt er die Frage der Anruferin für unzulässig, weil sie ihm geeignet erschien, die Stärke der Polizei auszuspionieren. Dieses militärisch-strategisch-taktische Denken ist am Notruf jedoch unangemessen. Was ich DL in der Rückmeldung sagte, der daraufhin erwiderte, dass ihm meine Kritik einleuchte, wenngleich er bis dahin anders gedacht habe. 156 s. Fußnote 153.
9. Fall 2: Wer hat denn heute Dienst?
263
argumentiert er im Anschluss – vergleichbar CM – so, als sei es immer noch möglich, dass sich im weiteren Gesprächsverlauf noch herausstellen könne, dass tatsächlich ein Notruf vorliegt, wenn der Polizeibeamte der Anruferin nach ihrer Frage noch zugehört und sie nicht ,überfahren‘ hätte. Deutlich ist das Bemühen DL’s erkennen, eine vermittelnde Position einzunehmen. Fragt man nun, wie diese in sich unstimmige Interpretation von DL motiviert sein könnte, liegt die Lesart nahe, dass er sich in der Gruppe als Vermittler sah, ohne darüber zu reflektieren, dass bei einer das Prinzip der Wörtlichkeit157 beachtenden Interpretation keine Vermittlung zwischen den Positionen von AH und KG auf der einen und CM auf der anderen Seite möglich war. Wie zu sehen ist, schließt sich KG (259-265) – 259
KG: . . . er nimmt sich genau die 1,9 Sekunden Zeit hier
260
zu entscheiden knallhart das ist keine Sache für diese Leitung (0:80) und äh er antwortet
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entsprechend. (1:12) Alledings halt ich’s für fraglich, ob wirklich ne Notrufsituation
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besteht oder bestehen (0:65) sollte hier in dem Gespräch (0:91) Wahrscheinlich
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ist die richtig verwiesen worden denk ich ma
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besteht oder bestehen (0:65) sollte hier in dem Gespräch (0:91) Wahrscheinlich
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ist die richtig verwiesen worden denk ich ma
– konsequenterweise denn auch nicht der vermittelnden Lesart von DL158 an, sondern wiederholt noch einmal seine Lesart aus den Zeilen 205-213, bleibt also bei seiner Schlussfolgerung, dass die Frau „wahrscheinlich (. . .) richtig verwiesen worden“ ist. Ergebnis Während AH und KG die Gestalt des Falles im Kern richtig erfassten – und entsprechend zum Ausdruck brachten, dass kein Notruf vorliegt –, argumentierten CM und DL gestaltunangemessen. 157
s. Fußnote 19. Dieses Insistieren auf dem sachlich Richtigen war kennzeichnend für den Habitus von KG, der zu den im Examen Jahrgangsbesten gehörte. 158
264
D. Rezeptionsvergleich
10. Fall 3: Verkehrsunfall am Heidenberg Ich beginne die Rezeptionsanalyse mit der Untersuchung der Frage, ob die Studenten C und A und Studentin M, die alle Seiteneinsteiger sind, bei der Interpretation des Notruftextes erkannten, dass der Polizeibeamte ab Zeile 04 formal-bürokratisch und nicht material krisenbezogen handelte und damit den zu leistenden Spagat zwischen der vorgeschriebenen Bürokratie und der am Notruf zu leistenden Krisenbewältigung zuungunsten der Letzteren ausführte. 1 C : . . .159 als nächstes (-) „Petri (-) Vorname?“ (-) Das heißt (-) für ihn ist jetz erstmal wichtich (-) ähm (-) den Namen des Anrufers zu erfahren Die Analyse setzt an der Stelle ein, wo C mit der Interpretation der Notrufzeilen 04 und 05 beginnt. Aus ihnen, so C, könne man erkennen, dass es für den Polizeibeamten („ihn“) zunächst einmal „wichtich“ sei, „den Namen des Anrufers zu erfahren“. Die Erläuterung C’s ist im Sinne des Wörtlichkeitsprinzips ungenau, weil der Polizeibeamte hier nicht allgemein nach dem „Namen des Anrufers“ fragt, sondern konkret nach dem Vornamen des Anrufers, während er dessen Nachnamen nur wiederholt. Dabei indiziert seine Frage, dass für ihn die Bürokratie im Vordergrund steht, dass er einer bürokratisch-formalen, routinehaften Verwaltungsrationalität folgt, der zufolge die Angabe des Vornamens in dem von ihm nach dem Notruftelefonat auszufüllenden Berichtsvordruck unmittelbar nach dem Nachnamen gefordert wird. Eine Angabe, die für eine materiale Krisenbewältigung ohne jede Bedeutung ist. Anders formuliert: Bereits an dieser Sequenzstelle ist klar zu erkennen, dass der Polizeibeamte formal rational und nicht material krisenbezogen handelt, weil die von ihm erfragte Information nur Sinn ergibt in Bezug auf das Polizeiberichtswesen. In diesem Sinne müsste nun nachfolgend C oder ein anderer aus der Gruppe argumentieren, um den Fall angemessen zur Sprache zu bringen. 2 A: Ähm (-) der Anrufer hat sich (-) aber noch gar nich drauf eingestellt (-) ne (-) \. . . Eine solche Kritik erfolgt indes nicht. Vielmehr argumentiert A so, als habe der Anrufer einen Fehler gemacht, als müsste sich der Anrufer auf den Polizeibeamten einstellen und nicht umgekehrt der Polizeibeamte auf den Anrufer, womit an dieser Textstelle klar zum Ausdruck kommt, dass A 159 Das Notationszeichen (-) steht für ein kurzes Absetzen oder eine kurze Pause eines Sprechers. Das Fragezeichen markiert eine steigende Intonationskurve. Die Anführungszeichen („. . .“) markieren eine aus dem Notrufprotokoll zitierte Stelle.
10. Fall 3: Verkehrsunfall am Heidenberg
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ein falsches Verständnis der Institution des Notrufs im Allgemeinen und des den Notruf entgegennehmenden Polizeibeamten im Besonderen hat. Zudem wird deutlich, dass A den Anrufer im Sinne obrigkeitsstaatlichen Denkens nicht als Bürger sieht, sondern als Untertan, als Bittsteller, der vor dem Obrigkeitsstaat steht und devot zu sein hat. 3 A: . . ./ Also es kommt ja (auch) (-) in dem Moment auch zu ner Überschneidung (-) Der Anrufer will eigentlich (-) wieder einsetzen (-) in der Beschreibung (-) seines Sachverhalts (-) indem er (-) öh (-) erläutert: „Is en Auto vorn Lichtmast gefahrn“ (-) \. . . Als Beleg für das ,sich noch nicht darauf eingestellt haben‘ des Anrufers führt A nun an, dass „in dem Moment“, als der Polizeibeamte nach dem Vornamen des Anrufers fragt, dieser mit der Krisenschilderung fortsetzt und es daher zu einer „Überschneidung“ der Sprechakte kommt. Damit werden im Grunde genommen die Verhältnisse auf den Kopf gestellt: Problematisch ist nach A nicht die formale Routine, sondern das Schildern der Krise. Problematisch ist nicht, dass der Polizeibeamte nicht krisenbezogen handelt, sondern dass der Anrufer auf die formale Routine nicht eingeht. 4 A: . . ./ Also (-) er hat sich noch gar nich mit dem Polizienten (-) mit dem Polizisten (-) auf ein Niveau begeben (-) \. . . Diese unangemessene Interpretation setzt sich fort. Was klar zeigt, dass A offensichtlich über ein falsches Verständnis des Sinnes der Notrufinstitution verfügt, sonst hätte er genau umgekehrt argumentieren müssen: Gerade weil alles darauf hindeutet, dass es sich um einen Notfall handelt, hätte sich der Polizeibeamte auf den Anrufer einstellen müssen. 5 A: . . ./ Der Polizist will jetzt erstmal (-) Personalien wissen (-) und der (-) Anrufer is eigentlich noch mittendrin im Erzählen Es findet keine Transformation statt. Der Fehler reproduziert sich auch an dieser Stelle. A geht nach wie vor davon aus, dass der Polizeibeamte hier richtig handelt. Und er erkennt nicht, dass genau in dem, was er hier beschreibt, der Strukturfehler liegt. 6 M: Das kommt aber auch dadurch (-) dass der Polizeibeamte den Anrufer durch [unverständlich]: „Ja Moment (-) Petri“ (-) total in seinem Redensfluss und seinem Gedankensfluss (-) öh unterbrochen hat. (-) Dadurch kommt das auch dass er noch auf der anderen Ebene is Während zuvor A das polizeiliche Handeln als angemessen interpretierte und den Fehler ausschließlich auf der Seite des Anrufers sah, indiziert die
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D. Rezeptionsvergleich
Äußerung von M, dass sie zwar nicht anzweifelt, dass sich der Anrufer „noch“ auf einer „anderen Ebene“ befindet, aber immerhin vorsichtig zu bedenken gibt, dass der Polizeibeamte durch seine Kommunikation zumindest dazu mit beigetragen hat. 7 C: Ja aber der Polizeibeamte setzt ja für sich jetzt selbst die Prioritäten (-) was muß ich als erstes wissen? (-) Und für ihn (-) für sich selbst setzt er halt fest (-) Ich will jetz erstmal (-) die Personalien des Anrufers (-) \. . . Von C erfolgt nun ein Einwand, der auf der Linie der Argumentation von A liegt. Sein implizites Argument lautet: ,Der Polizeibeamte handelte richtig. Es war durchaus angemessen, dass er selbst die Prioritäten setzte, dass er für sich entschied, zunächst einmal die Personalien des Anrufers in Erfahrung zu bringen.‘ Auch C sieht somit nicht, dass der Polizeibeamte hier falsche Prioritäten setzt und genau in diesem bürokratischen Prozedere der Strukturfehler liegt. 8 C: . . ./ Er fragt ja auch (-) ja (-) eh (-) er wiederholt ja auch noch (uv) einmal (-) „Ja (-) Petri (-) Vorname bitte“ (-) \. . . Diese Formulierung ist im Grunde genommen redundant, weil sie nur noch einmal zum Ausdruck bringt, was bereits zuvor expliziert wurde. 9 C: . . ./ Und erst dann stellt sich der Anrufer darauf ein (-) und sagt (-) „Gerd Petri“ (-) \. . . Noch einmal wird deutlich, dass C auf der Argumentationslinie von A liegt, wobei die Formulierung „und erst dann“ präsupponiert, dass die Frage des Polizeibeamten sinnvoll war, um das erwünschte ,Sich-Einstellen‘ des Anrufers auf den Polizeibeamten zu erreichen. Womit aus dem krisenunangemessenen polizeilichen Handeln fast schon ein empfehlenswertes Handlungsmodell wird. 10 C: . . ./ Ja (-) im weiteren Verlauf (-) fragt der Polizeibeamte (-) „Gerd (-) Sie wohnen wo?“ (-) Das heißt er will jetz noch ma wissen (-) zu den Personalien (-) die Wohnanschrift Anschließend leitet C zu der nächsten Zeile über, in der sich die bürokratische Handlungsweise des Polizeibeamten fortsetzt. Eine angemessene Rezeption müsste diese krisenunangemessene, bürokratisch-formale Handlungsweise des Polizeibeamten klar zur Sprache bringen.
10. Fall 3: Verkehrsunfall am Heidenberg
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11 A: Ich würd auch sagen (-) er fragt erstma nach den Personalien (-) weil (-) öh (-) aus der Schilderung (-) des Anrufers geht noch nich hervor (-) dass irgends (-) öh (-) ne schlimme Folge eingetreten ist (-) \. . . Doch diese Kritik erfolgt nicht. Stattdessen kommt A noch einmal auf die Personalienabfrage zu sprechen, wobei an seiner Begründung für diese Handlungsweise zu erkennen ist, dass er die Mitteilung des Anrufers unangemessen interpretiert hat. Denn dieser hatte immerhin davon gesprochen, dass ein Auto gegen einen Lichtmast gefahren sei, was beträchtliche Folgen haben kann. Zudem zeigt die Begründung, dass A ein unangemessenes Beweislastmodell zu Grunde legt. Denn eigentlich müsste er habituell unterstellen, dass bis zum Beweis des Gegenteils von einem emergencyFall auszugehen ist, der ohne polizeiliche Hilfe nicht bewältigt werden kann, während er hier unterstellt, dass bis zum Beweis des Gegenteils eine akute Krise nicht zu unterstellen ist, was eine unangemessene Rezeption darstellt.
12 A: . . ./ Er sagt zum Beispiel nich „Ja (-) ja hier liegen Verletzte rum (-) und (-) schreien nach Hilfe“ (-) Deswegen (-) is für ihn erstma wichtich (-) Personalien (-) ja wie Du schon gesagt hast (-) Darauf wollt ich noch ma hinweisen Diese Rezeption setzt sich auch in der nächsten Zeile fort. Denn als Beleg für seine Annahme, dass ein Routinefall vorliegt, führt er an, dass der Anrufer im vorliegenden Fall nicht dramatisierend kommuniziert bzw. keine dramatisierenden Details schildert. Eine fallunangemessene Sichtweise, weil A damit die Informationen unterschätzt, die der Anrufer dem Polizeibeamten gab.
13 C: Ja (-) aber ich glaube (-) der Polizeibeamte konnte gar nicht verarbeiten daß der Anrufer sagt (-) „Is en Auto vorn Lichtmast gefahrn“ (-) \. . . Während C bis zu dieser Sequenzstelle der Argumentation von A folgte, ist hier zu erkennen, dass er dessen Routinefallannahme nicht zustimmt. So lautet sein vorsichtig formulierter Einwand, dass er „glaube“, der Polizeibeamte habe die vom Anrufer erhaltene Information „Is en Auto vorn Lichtmast gefahrn“ gar nicht richtig verarbeiten können, wobei die Formulierung „konnte gar nicht verarbeiten“ im Zusammenhang mit seinen bisherigen Ausführungen indiziert, dass er das Handeln des Polizeibeamten rechtfertigen will, weil dieser, so C’s Argument, in dieser Situation faktisch nicht in der Lage gewesen sei, die Informationen zu verarbeiten. Denn für die
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D. Rezeptionsvergleich
zweite Lesart von „konnte gar nicht“ – im Sinne von „konnte nicht aufgrund eines Habitusdefizits“ – gibt es im Text keinen Anhaltspunkt. 14 C: . . ./ Und das is für mich doch eigentlich en Zeichen (-) dass es ziemlich (-) äh (-) gefährlich werden könnte Die Nichtübereinstimmung mit der Routinefallannahme zeigt sich auch daran, dass C – im Unterschied zu A – konjunktivisch davon spricht, dass dieses Nicht-Verarbeiten-Können ein „Zeichen“ dafür sei, „dass es ziemlich (. . .) gefährlich werden könnte“. Damit interpretiert C deutlich besser als A, wenngleich auch er nicht sieht, dass es nach dem Normalfallmodell nahe gelegen hätte, von einer gegenwärtigen – und nicht einer zukünftigen – Gefährdung auszugehen, und zwar bis zum Beweis des Gegenteils. Gerade deswegen wäre es umso wichtiger gewesen, dass der Polizeibeamte möglichst krisenbezogen gehandelt hätte. 15 A: Naja (-) aber mußt auch bedenken (-) für den Polizeibeamten is das en ganz alltäglicher Notruf (-) und er hat (-) nur gehört erstmal (-) „Verkehrsunfall (-) Höhe des Ärztehauses“ (-) Und das is für ihn erstmal (-) en (-) ne Bearbeitungs (-) fall wie jeder andere (-) wie gestern und heute Dieser Lesart stimmt A nicht zu. Noch einmal wird deutlich, dass er den Fall nicht richtig erfasst hat, dass er ihn von einem Krisen- in einen bürokratischen Routinefall verwandelt hat. A argumentiert so, als habe der Polizeibeamte bis auf den Beweis des Gegenteils davon auszugehen, dass keine behandlungsbedürftige Krise vorliege. Dies ist jedoch ein falsches Notrufverständnis, das auf einen falschen Habitus verweist. 16 C: Gut (-) Auf die Frage (-) nach dem (-) nach der Wohnanschrift antwortet der Anrufer (-) äh (-) „Heidenberg hundertdreiundzwanzich (-) gegenüber vom Ärztehaus is das“ Während zuvor C der Interpretation von A nicht zustimmte, erfolgt hier keine Korrektur. Vielmehr schließt C die Besprechung der Sequenzstelle mit dem „gut“ ab und leitet nach einer kurzen Sprechpause zur Interpretation der nächsten Sequenzstelle über. Ergebnis Es handelte sich bei den Interpreten durchweg um Seiteneinsteiger, die im Rahmen des ersten Praktikums erst ein halbes Jahr in der Berufspraxis
11. Fall 4: Faxgerät
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waren. Auffällig ist daher, dass sie bereits nach dieser kurzen Zeit eine Haltung verinnerlicht hatten, aus der heraus sie den in der Praxis handelnden Polizeibeamten, der objektiv bürokratisch und nicht material krisenbezogen handelte, in Schutz nahmen, was mir neben der offensichtlich bereits sehr früh einsetzenden Wirkung der Polizeisozialisation auch zeigte, dass die Studenten meine Ausführungen zur Bedeutung eines unmittelbar krisenbezogenen Handelns nicht verstanden hatten. Dies war am deutlichsten bei Student A festzustellen, der über ein unangemessenes Verständnis der Notrufinstitution im Allgemeinen und des den Notruf entgegennehmenden Polizeibeamten im Besonderen verfügte. Dieser Fehler machte mir deutlich, dass ich zukünftig stärker auf den am Notruf zu leistenden Spagat zwischen formaler Rationalität und materialer Krisenbewältigung hinweisen musste, um die Studenten für ein krisenangemessenes Handeln zu sensibilisieren, für das sie naturwüchsig bzw. nach bereits einem halben Jahr Berufspraxis noch nicht oder nicht mehr sensibilisiert waren. Hierfür bot sich didaktisch die Auswahl eines Modellfalls an, in dem ein bürokratischer Strukturfehler abgebildet war.
11. Fall 4: Faxgerät Bei diesem Rezeptionsvergleich geht es um die Untersuchung der Frage, ob die Studentinnen S und K sowie Student M den in Zeile 05 des Notrufprotokolls abgebildeten polizeilichen Handlungsfehler erkannten. 01 PB: Polizeinotruf ;; 02 A: Ja (-) schön guten Tag Schmatz160 03 PB: Guten Tag 04 A: Ich habn Notfall eh- *** 05 PB: Klein Moment bitte;; (9,0) *** 161 Der Fehler bestand darin, dass sich der Polizeibeamte offensichtlich für neun Sekunden vom Notruf abwandte und damit viel Zeit vertat, obwohl er bis zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nichts über den Charakter des Notfalles wusste und die Situation wirklich dramatisch sein konnte.
160 Im Original war der Name an dieser Stelle nicht verschriftet. Er war jedoch auf dem Tonband klar zu verstehen. 161 Ab hier bis zum Ende des Gesprächs fast durchgehend.
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D. Rezeptionsvergleich
1 S: Und mit dem Piepton des Faxgerätes bricht ja das ganze ab (1.0)162 \. . . Ich beginne die Analyse an der Stelle, wo S auf den Piepton des Faxgerätes zu sprechen kommt. Ihr implizit vorgetragenes Argument lautet, dass „mit dem Piepton“ das Gespräch abbricht, was präsupponiert, dass der Anrufer mehr als nur „ich hab en Notfall hh eh-“ hätte sagen können, wenn er nicht durch das technische Signal des Faxgerätes unterbrochen worden wäre, das offensichtlich – so kann man erschließen – auf der Seite des angerufenen Polizeibeamten stand. 2 S: . . ./ Das heißt (-) er wird in seinem ganzen Redefluß (-) in dem (-) was er eigentlich mitgeteilt hat (-) wieder unterbrochen (-) \. . . Mit der Formulierung „das heißt“ leitet S nun eine Erläuterung ihrer vorgehenden Interpretation ein, zu der nun Folgendes anzumerken ist. Erstens: Dass der Anrufer „in dem“, was er „mitgeteilt“ hat, „wieder“ unterbrochen wird, macht logisch keinen Sinn. Denn wenn man etwas „mitgeteilt hat“, ist dieses abgeschlossen und kann damit im strengen Sinne des Wortes nicht mehr unterbrochen werden. Zweitens: Die Lesart, dass der Anrufer durch das Piepen des Faxgerätes unterbrochen wurde, ist streng genommen durch den Text nicht gedeckt. Denn im Sinne einer sequentiellen, die Prinzipien der Totalität und der Wörtlichkeit163 beachtenden Analyse ist indiziert, dass die Unterbrechung durch die im Text markierten lauten Hintergrundgeräusche verursacht wurde.164 Und drittens bedeutet das Adverb „wieder“, dass der Anrufer bereits vorher in seiner Rede „unterbrochen“ worden war. 3 S: . . ./ Erst am Anfang schon mal (-) wo das guten Tach abgewürgt worden is (-) \. . . Und zwar, wie S nun ausführt, zuerst „am Anfang“ des Gesprächs, wo der Polizeibeamte im Anschluss an „A: Ja (-) schön guten Tag Schmatz“165 ein „Guten Tag“ erwidert. 162 Notationszeichen: (-) kurze Sprechpause (1.0) Pause in Sekunden „. . .“ Markierung einer aus dem Notrufprotokoll zitierten Stelle. 163 Oevermann (1998 a), o. S.; ders. (2000 c), S. 97 und 100 ff. 164 Die Studenten wurden hier Opfer ihrer Verschriftung. 165 Im Original war an dieser Stelle der Name nicht verschriftet. Er war jedoch auf dem Tonband klar zu verstehen.
11. Fall 4: Faxgerät
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Die Argumentation trifft in dieser Form die Sache nicht. Denn was der Polizeibeamte zu Beginn des Gespräches machte, war eine Erwiderung des Grußes des Anrufers, was kategorial zu unterscheiden ist von einem ,Abwürgen‘. Denn diese Handlung setzt voraus, dass der Polizeibeamte dem Anrufer noch während des Redens ins Wort fiel, ihn bei der Darstellung unterbrach, ihm das Wort abschnitt, was hier aber nicht der Fall war. Eine sinnvolle Kritik der polizeilichen Grußerwiderung hätte höchstens lauten können, dass der Polizeibeamte damit die Notrufkommunikation im Grunde genommen an ein normales Gespräch anglich, ohne zumindest im Anschluss an seine Grußerwiderung die Strukturierung des Gesprächs zu übernehmen und den Anrufer nach dem Grund seines Anrufes zu fragen oder die im Unterricht besprochene Variante: ,Wie kann ich Ihnen helfen?‘ zu verwenden, um ihn so schnell wie möglich zu einer Krisendarstellung zu bringen. 4 S: . . ./ und jetz wieder (-)„ich hab en Notfall“ und der Piepton unterbricht das (-) also Und an dieser Sequenzstelle wird der Anrufer – so S – „wieder“ unterbrochen, wobei S noch einmal zum Ausdruck bringt, dass der Piepton die Mitteilung des Anrufers unterbrach. 5 M: Mhm 6 K: Mhm Nachdem M und K dieser Interpretation zustimmen – 7 M: So (-) der Polizeibeamte (-) sagt dann (-) „klein Moment bitte“ \. . ., – leitet M die Analyse mit einer zäsurierenden und resümierenden Markierung166 zur Protokollstelle „Klein Moment bitte“ über. 8 M: . . ./ (-) So und indem der sagt „klein Moment bitte“ würd ich vielleicht sagen (-) öh (-) daß gerade diesen „kleinen Moment bitte“ (-) meint er (-) bleiben se auf jeden Fall dran (-) gehen sie mir nich weg (1.0) als wenn der jetz einfach gesagt hätte (-) „ja warten se mal“ Für die er dann im Anschluss eine Lesart liefert, die sinngemäß lautet, dass der Polizeibeamte mit dem „kleinen Moment“ nachdrücklich zum Ausdruck bringen wollte, dass der Anrufer auf jeden Fall am Notruftelefon bleiben solle, dass er auf keinen Fall auflegen solle. Das implizite Argu166
Leber/Oevermann (1994), S. 391.
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D. Rezeptionsvergleich
ment von M lautet folglich: ,Das hat der Polizeibeamte doch sehr höflich gemacht. Man hätte es auch unhöflicher machen können‘, woraus man erschließen kann, dass er als Bezugsfolie für seinen Vergleich das NegativModell eines obrigkeitsstaatlichen Polizeibeamten vor sich hat, während er in der Ausbildung gelernt hat, dass es im Sinne von Bürger- und Kundenfreundlichkeit167 angemessener ist, „klein(en) Moment bitte“ zu sagen als ,Moment mal‘ oder ,warten Se mal‘. Damit hat M im Grunde genommen die Beweislast schon umgekehrt, nach der ein Polizeibeamter bis zum Beweis des Gegenteils von einer ernst zu nehmenden Krise ausgehen und daraufhin handeln muss, weil selbst eine rhetorisch gut verpackte Aufforderung zum Warten am Notruf objektiv zum Ausdruck bringt, dass der Polizeibeamte im Moment des Anrufes (aus welchen Gründen auch immer) nicht aufnahmebereit ist. Dies wäre allerdings nur ein mittelschwerer Analysefehler, wenn M oder seine Kolleginnen S und K im Zuge der Fallbearbeitung dann bemerken würden, dass im Anschluss an diese Sequenzstelle der explizite Hinweis auf eine längere Pause erfolgt, das heißt im Text markiert ist, dass das Telefonat, bei dem es sich ja schließlich um einen Polizeinotruf handelt,168 für neun Sekunden unterbrochen wird, eine für einen Notruf unglaublich lange Zeit, die der Polizeibeamte hätte nutzen müssen, um unverzüglich in Erfahrung zu bringen, was genau der Fall ist, um daraufhin die für die Krisenbewältigung erforderlichen Maßnahmen einzuleiten. Dass er dies hier nicht tut, ist ein schwerer Praxisfehler, den die Studenten in ihrer Falldiskussion herausarbeiten müssten. 9 S: (2.0) Das is vielleicht auch noch damit (-) verbunden (-) da ja im Hintergrund starke Hintergrundgeräusche sind \. . . Statt aber nun auf die im unmittelbaren Anschluss an die Äußerung „Klein Moment bitte“ markierte Pause einzugehen, versucht S nun das Handeln des Polizeibeamten zu verstehen, wobei an ihrer Argumentation auffällt, dass sie hier nun im Unterschied zu vorher nicht mehr explizit auf das Piepen des Faxgerätes eingeht, sondern als „auch noch“ mögliches Motiv 167 Auch neuerdings, im Zuge der Verbetriebswissenschaftlichung der öffentlichen Verwaltung, „Kundenfreundlichkeit“ genannt. So schreiben Friedrich/Schneider (1998), S. 2: „Jeder kennt den Ausspruch ,Der Kunde ist König‘. Das gilt auch für Verwaltungshandeln: die Leistungen an den Bedürfnissen der Kunden bzw. Bürger orientieren. So stellt sich die Zufriedenheit des Kunden durch eine gelungene Kunden-Lieferanten-Beziehung dar.“ Zur Kritik am Kundenbegriff s. Oevermann (2000 b), S. 57 f. 168 Sprich einer im Polizeijargon so genannten Sofortlage. Vgl. Kuhleber (1996), S. 34; Clages (1997), S. 31 f.
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für dieses „klein(en) Moment“ auf die markierten starken Hintergrundgeräusche anspielt. 10 S: . . ./ (-) Der Polizeibeamte is also in (-) in der mißlichen Lage (-) er versteht eigentlich gar nich(-) was der am Telefon ihm (-) sagen will Ihr implizites Argument lautet, dass der Polizist aufgrund der starken Hintergrundgeräusche im Grunde genommen gar nicht verstehen kann, was ihm der Anrufer mitteilen will, weswegen er „klein(en) Moment“ sagt, um für Ruhe zu sorgen. 11 M: Mhm Ein Argument, dem M zustimmt.169 12 S: Er (-) kann eigentlich auch gar nich das woahrnehmen (-) daß der (-) Probleme in seiner Mitteilung hat (-) sondern (-) es sin akustische Probleme die sich da einfach ergeben und deswegen sagt er „en kleinen Moment bitte“ \. . . Wiederum referiert S auf die starken Hintergrundgeräusche, auf akustische Probleme am Arbeitsplatz des Polizeibeamten, die verhindern, dass der Polizeibeamte wahrnehmen kann, dass der Anrufer Probleme bei seiner Krisenschilderung hat, und zum anderen der Grund dafür sind, dass der Polizeibeamte „klein Moment bitte“ sagt. Es handelt sich hier um eine Deutung, die erstens durch den Text nicht gedeckt ist, weil die starken Hintergrundgeräusche erst im Anschluss an die Mitteilung des Anrufers im Protokoll markiert sind, und die zweitens im Widerspruch zu ihrer eigenen Interpretation in Zeile 1 steht. Denn dort hatte sie ausgeführt, dass der Anrufer in seiner Darstellung durch das Piepen des Faxgerätes aus dem Redefluss kam, während die Hintergrundgeräusche keine Rolle spielten. 13 S: . . ./ (-) Er hat ja gar keine an- andre Cha- eh Chance auf den einzuwirken einzugehen auf sein (-) Gesagtes. Damit sagt sie, dass der Polizeibeamte in dieser Situation so handeln musste, dass er gar nicht anders konnte, womit sein Handeln formell unter das Schema ,es hat alles seine Richtigkeit‘ subsumiert und damit ex post gerechtfertigt wird.
169 Es handelt sich hier um ein Feedback-Zeichen beziehungsweise ein response token. Vgl. hierzu – mit Hinweis auf Schegloff – Bourdieu (1997), S. 783.
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D. Rezeptionsvergleich
14 M: Aber dadurch er gerade diesen (-) diesen „kleinen“ (-) „Moment bitte“ wählt (2.0) also er sagt nich (1.0) „Moment ma“ (-) er sagt „kleinen Moment“ (-) er will dem Anrufer meiner Meinung nach damit vermitteln (-) das Ding ist gleich behoben (-) warte ich helf dir gleich Damit greift M wieder sein Argument aus Zeile 8 auf. Er gibt also noch einmal zu verstehen, dass der Polizeibeamte dem Anrufer mit der Äußerung „klein Moment bitte“ zu verstehen geben will, dass er sich nur einen kleinen Moment gedulden soll. Er schreibt dem Polizeibeamten folglich hier eine gute Absicht zu. Er interpretiert, dass der Polizeibeamte dem Anrufer helfen will, dass dieser sich nur einen kleinen Moment gedulden soll, weil dann „das Ding gleich behoben“ ist, womit er in unspezifischer Weise auf die Behebung der situativen Umstände anspielt. 15 K: Hm (-) aber (-) auch dadurch daß er dieses „kleinen Moment“ sagt (-) bin ich der Meinung daß er sich dem (-) Notfall (-) den der Anrufer hat (-) jetzt bewußt wird (-) in der Situation Statt nun S zu fragen, worauf er mit „Ding“ referiert, wird die Situation von K geradezu umgedreht interpretiert, wird also das Mitteilen des „klein(en) Moment“ zum Indikator dafür, dass sich der Polizeibeamte über den Notfall des Anrufers bewusst wird. Zu dieser Lesart ist zweierlei anzumerken: Erstens: Dass der Polizeibeamte hier so reagiert, indiziert im Gegenteil, dass er sich offensichtlich überhaupt nicht des Notfalls des Anrufers bewusst wird, denn ansonsten hätte er auf jeden Fall am Notrufapparat bleiben müssen. Und zweitens: Selbst dann, wenn sich der den Notruf entgegennehmende Polizeibeamte jetzt des Notfalls bewusst geworden wäre, hätte er immer noch fehlerhaft gehandelt. Denn im Sinne des Normalfalls hätte er bereits mit Abheben des Notrufhörers habituell darauf eingestellt sein müssen, dass ein emergency-case mitgeteilt wird, der seine volle Aufmerksamkeit verlangt. 16 M: Denk ich auch (-) ja Die Lesart von K wird bestätigt. Es besteht Übereinstimmung, womit die falsche Lesart reproduziert wird. 17 K: Weil er (-) weil der Anrufer ja Notfall sagt \. . . K führt die falsche Lesart fort. Weil der Anrufer „Notfall“ sagt, so ihr Argument, wird sich der Polizeibeamte bewusst, dass es sich um einen Not-
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fall handelt. Genau dies scheint hier eben nicht der Fall zu sein, denn der Polizeibeamte fragt nicht sachbezogen nach dem Fall, sondern bittet um eine ,Auszeit‘. 18 K: . . ./ Und ich glaub (-) das is so das kleine Schlüsselwort (-) öhm (-) wo’s bei dem (-) ich sach ma, bei dem Polizeibeamten das Relais umschaltet Folgt man der Argumentation von K, würde dies heißen, dass das NotrufRelais des Polizeibeamten erst mit dem Schlüsselwort Notruf von der Schalterposition „kein Notruf“ (,da ruft en Spinner an‘ usw.) auf „Notfall“ umschaltete. Doch für diese Umschaltung auf Notfall gibt es im Protokoll keinen Hinweis, sondern vielmehr dafür, dass es auf Routine schaltete. 19 M: Mhm Wobei M dieser falschen Lesart folgt. 20 K: Denn sonst würde er ja sagen (-) warten se ma (-) oder sowas Und K noch einmal das Argument von M aufgreift, womit auch sie an dem im Grunde genommen belanglosen Unterschied zwischen „klein Moment“ und „warten se ma“ operiert, der nur eine Verpackungsdifferenz darstellt, deren rhetorischer Faszination – 21 S: (2.0) Mhm (-) find ich auch (-) aber (-) ich weiß nich (-) aus der ganzen Situation (-) die sich hier ergibt (-) sollte ma vielleicht auch ma ne Schlußfolgerung ziehen \. . . – nachfolgend auch S erliegt, wobei ihr anschließender Hinweis („sollte ma vielleicht auch ma ne Schlußfolgerung ziehen“) zwar prinzipiell richtig ist, es sich aber die Frage stellt, welche Schlussfolgerung hier gezogen werden soll. 22 S: . . ./ wo überhaupt jetzt so eh Notruf (-) geräte geschaltet werden sollten Dies ist nun eine technische Schlussfolgerung. S folgt damit der Logik der akustischen Störung. Das Argument geht in die Richtung, Notrufgeräte möglichst so zu installieren, dass der sie bedienende Polizeibeamte durch andere Geräusche möglichst wenig gestört wird. Im Hintergrund steht offensichtlich das Modell einer schalldichten Vakuumkabine. 23 M: Denk ich auch \. . . M stimmt zunächst dieser technischen Schlussfolgerung zu, mit der im Grunde genommen der Polizeibeamte exkulpiert ist. Dem Polizeibeamten,
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so das Argument, muss technisch geholfen werden. Er hat keinen Fehler gemacht. 24 M:. . ./ aber \. . . Wobei M’s adversatives „aber“ eine Gegenargumentation einleitet – 25 S: Und zwar, – die zunächst von S unterbrochen wird, die zur Präzisierung und Fortsetzung ihrer in Zeile 21 begonnenen Ausführungen ansetzt – 26 M: . . ./ besser wäre wahrscheinlich (-) wir schlußfolgern das im Endeffekt wenn mer das (-) wenn mer den Text im ganzen sehen (-) un noch ma analysieren \. . ., – S aber ihrerseits von M unterbrochen wird, der sich sehr unklar ausdrückt und offensichtlich meint, sie sollten das besser erst ganz am Ende ihrer Diskussion schlussfolgern. Damit formuliert er pleonastisch, denn eine Schlussfolgerung ist nur dann eine Schlussfolgerung, wenn sie am Ende gezogen wird. Die Intention von M besteht offensichtlich darin, die Teamarbeit zu straffen und zu organisieren, wobei sein implizites Argument lautet: ,Wir brauchen uns jetzt noch nicht um die Schlussfolgerung zu kümmern, so weit sind wir noch nicht, das machen wir am besten am Ende.‘ Im Grunde genommen handelt es sich hier um das Aussprechen einer Warnung vor Partikularität, vor Vereinzelung. 27 M: . . ./ Also drunter dann als (-) als Schlußfolgerung (-) Denk ich jetz nich (-) daß mer das (-) jedes einzeln machen Darauf erläutert M noch einmal, was er meint, nämlich Schlussfolgerungen erst unterm Strich zu ziehen und nicht bereits bei jeder Einzelheit. 28 S: (2.0) Na gut (-) okay Ein Vorschlag, dem S zustimmt. 29 M: Also wenn ma weiter gehen wollen (-) nach diesem „kleinen Moment bitte“ (-) sofort im Anschluß: „So ihr Name war noch mal?“ Woraufhin M zur nächsten Zeile überleitet, wobei seine Formulierung „sofort im Anschluß“ indiziert, dass er im Protokoll offensichtlich überlesen hat, dass zwischen dem „sofort . . .“ und dem „So ihr Name war nochmal?“ 9 Sekunden lagen, die in die Sequenzanalyse nicht einbezogen wurden, was eine Abweichung vom Totalitätsprinzip bedeutet.
12. Fall 5: Schlägerei auf dem Schützenfest
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Ergebnis Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Studentinnen S und K sowie Student M das im Protokoll zum Ausdruck kommende fehlerhafte polizeiliche Handeln nicht erkannten. Fragt man sich, wie diese schlechte Analyseleistung zustande kam, ist an mehrere Aspekte zu denken. Zum einen erlagen alle drei der rhetorischen Faszination eines Verpackungsarguments. Zum anderen zogen sie keine Verbindung zwischen dem im Text markierten Signal des Faxgerätes und dem sich anschließenden „Klein Moment“ des Polizeibeamten, obwohl zumindest S darauf hingewiesen hatte, dass der Anrufer durch dieses Signal in seinem Sprachfluss gestört worden sei, womit sie – auch wenn sie an dieser Sequenzstelle nicht strikt sequentiell operierte – eine Lesart formulierte, die sich geeignet hätte, um herauszuarbeiten, wie das nachfolgende „Klein Moment“ sinnlogisch motiviert war. Und drittens überlasen sie die im Protokoll markierte Pause von neun Sekunden und bezogen damit die für die Diagnose des gravierendsten polizeilichen Handlungsfehlers bedeutsame Textpartikeln in die Sequenzanalyse nicht mit ein, womit sie vom Totalitätsprinzip abwichen.170
12. Fall 5: Schlägerei auf dem Schützenfest Im nachfolgenden Abschnitt soll analysiert werden, ob die Studenten A, B und C, allesamt Polizeipraktiker, die vor dem Studium bereits mehrere Jahre im Schichtdienst tätig waren, die im Notrufprotokoll in Zeile 03 abgebildete Abweichung vom Normalfall erkannten. Diese bestand darin, dass der Polizeibeamte auf das – 02 A: Nja, Guten Abend hier ist [Schulze] – mit einem – 03 P: Ja, Morgen – reagierte, was nicht nur eine objektiv unnötige Korrektur der Anruferin171 bedeutete,172 sondern zugleich indizierte, dass der Polizeibeamte nicht in 170 171
Zur Bedeutung dieses Prinzips vgl. u. a. Oevermann (2000 c), 100 ff. Dass es sich um eine Anruferin handelt, war in der Notationssymbolik markiert.
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D. Rezeptionsvergleich
der Logik desjenigen dachte, der am Notruf bis zum Beweis des Gegenteils von einem emergency-Fall173 ausgeht, in dem jede Sekunde zählt. Denn dann hätte er unmittelbar krisenbezogen Handeln müssen, was er mit der Grußkorrektur nicht tat. Die Analyse beginnt an der Textstelle174 – 1 A: Ja, man kann ja im weiteren Verlauf feststellen, daß das irgendwann in den (1) späten Nachtstunden bzw. (1) .hh hh. . . . äh . . . frühen Stunden des neuen Tages sein muß, weil (1) er . . . sie fängt ja an mit „Guten Abend“ und er sagt „Ja. Guten Morgen“ oder „Ja. Morgen“, – an der A aus der ,summons-answer sequence‘ „Guten Abend“ – „Ja. Morgen“ richtig erschließt, dass es sich um einen zeitlichen Zwischenbereich zwischen später Nacht und frühen Morgenstunden handeln „muß“. Die Analyse wäre an dieser Sequenzstelle vollkommen gelungen, wenn nun einer der drei Studenten zur Sprache bringen würde, dass es sich bei der Äußerung des Polizeibeamten um eine unangemessene Grußkorrektur handelt. Erstens, weil die Korrektur die Gefahr barg, dass die Anruferin, die ehedem schon Probleme hatte, den Fall strukturiert zur Sprache zu bringen, nun total aus dem Rederhythmus kam. Und zweitens, weil der Polizeibeamte mit seiner Äußerung nichts dafür tat, um – wie es seiner Aufgabe am Notruf entsprochen hätte – von der Anrufenden so schnell wie möglich in Erfahrung zu bringen, was konkret der Fall ist. Damit wich er vom Normalfall ab, nach dem er davon ausgehen musste, dass eine akute Krise vorliegt, die ohne schnelle polizeiliche Intervention nicht mehr bewältigt werden kann.
172
Womit er von der Regel abweicht, dass bei der Begrüßung – im Sinne einer zweckfreien Reproduktion von Sozialität – „gleichlautende, selbstbindende Wünsche“ [Oevermann (1996 d), S. 3 f.] ausgetauscht werden. 173 Hierzu auch die Internet-Seite der Polizei Düsseldorf „Der Polizeinotruf 110“, die den Untertitel trägt „Wenn jede Sekunde zählt.“ Internet: www.polizei.nrw.de/ duesseldorf/alltag/110.htm (Ausdruck vom 14.11.99). Im maximalen Kontrast hierzu die material nicht-sachhaltige Klassifizierung in vier Notrufkategorien von Wolff (1999), S. 14. Vgl. Kapitel C., Fußnote 5. 174 Sigeln und Notationszeichen: A,B,C Diskussionsteilnehmer (1) Pause in Sekunden .hh hh. hörbares Ein-Ausatmen Anmerkungen/Informationen zur Situation ... Abbruch/Verzögerung eines Wortes oder einer Äußerung „. . .“ Markierung einer aus dem Notrufprotokoll zitierten Stelle ?! Bedeutung wurde von Studenten nicht erläutert, T. L.
12. Fall 5: Schlägerei auf dem Schützenfest
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2 B: Er verbessert sie . . . also \. . . B erkennt, dass es sich hier um eine Korrektur handelt und setzt seine Ausführungen mit einem schlussfolgernden „also“ fort, an das nun die richtige Diagnose anschließen müsste, dass an dieser Sequenzstelle eine Abweichung vom Normalfall festzustellen ist. Dann wäre die Textstelle gestaltrichtig ausgelegt, d. h. der im Protokoll abgebildete Praxisfehler richtig diagnostiziert und die analytische Leistung der Studenten an dieser Stelle mit gut bis sehr gut zu bewerten. 3 B: . . ./ man kann davon ausgehen das es im Prinzip so (1) nach Mitternacht is (1), \. . . Die Schlussfolgerung bezüglich der Abweichung vom Normalfall bleibt aus. Stattdessen erfolgt nur eine Schlussfolgerung bezüglich der Zeit. 4 B: . . ./ weil wenn er „Guten Morgen“ sagt - da geh ich mal davon aus, daß es so um eins um zwei rum is . . . Wenngleich diese Lesart mit dem Text kompatibel ist, ist natürlich ein Erschließen der exakten Uhrzeit nicht möglich. Wichtiger als die Diskussion über die Zeit wäre nun, zu explizieren, was diese von der Sache her unangemessene Korrektur für die Bewertung des polizeilichen Handelns bedeutet. 5 C: Gut, es gibt aber auch Menschen, die sagen den ganzen Tag (0,5) „Morgen“, wie se auch den ganzen Tag „Mahlzeit“ sagen. Also das . . . Statt aber diese Stelle im Hinblick auf ihre Bedeutung für den Normalfall zu diskutieren, wird auf skurrile, von gesellschaftlichen Normen abweichende Ausnahmen rekurriert. 6 B: Nja, gut. Man kanns nicht unbedingt herausnehmen. \. . . Woraufhin B die Gültigkeit seiner Lesart einschränkt bzw. relativiert, was von der Sache her nicht erforderlich war – 7 B: . . ./ aber ich würd sagen bei uns in Breitengraden (1) . . . gerade wenn man davon ausgeht, daß es hier en Schützenfest is (0.5) . . . Da ham die eben gefeiert bis zum (1) Umfallen (1) Und jetzt is es nach Mitternacht (1) und die ruft eben hier an \. . ., – sie aber nachfolgend mit der Argumentation stützt, dass es in der hiesigen Kultur – insbesondere bei Schützenfesten – üblich ist, „bis zum (1)
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D. Rezeptionsvergleich
Umfallen“ zu feiern, und das Umfallen – so kann man schließen – auf eine Zeit nach Mitternacht hindeutet. Womit B eine sehr lebensnahe Textinterpretation liefert, zu der allerdings methodisch anzumerken ist, dass sie unter Zuhilfenahme einer Kontextinformation erfolgt, über die B an dieser Sequenzstelle noch nicht verfügen konnte, wenn er sich strikt an das Prinzip der Sequentialität gehalten hätte. Denn erst in der fünften Zeile des Notrufprotokolls sagt die Anrufende, dass sie sich gemeinsam mit anderen Personen „auf em Schützenfest“ befindet. 8 B: . . ./ und der (1) junge Mann oder der Polizist sagt dann eben (1) .hh hh. „Guten Morgen“, weil er sich eben vorstellt endlich ist die Schicht bald vorbei. (1) .hh hh. . . . dauert nicht mehr allzu lange – die Mitternacht is rum Auch diese Interpretation ist sehr lebensnah. Denn in der Tat kann man sagen, dass „der Polizist“ in der beckmesserischen Dienstlogik desjenigen spricht, der sich „vorstellt“, dass seine „Schicht bald vorbei“ ist, d. h. sein Dienst nicht „mehr allzu lange“ dauert. Wobei die Formulierung „der (1) junge Mann“ indiziert, dass B in Kenntnis der Tonbandaufnahme interpretiert. Denn das Alter war weder im Notruftext noch in der diesem Text beigefügten Transkriptionssymbolik markiert. 9 A: . . . aus denkbar, daß er das vielleicht sogar n bisschen . . . äh . . . mit nem Witz unterlegen wollt oder n bisschen ironisch klingen wollte . . . is ja nicht abwägig Diese Lesart entspricht in etwa175 der in meiner Bezugsfolie erstellten zweiten Lesart,176 wobei anzumerken ist, dass wenn der Polizeibeamte die Korrektur an dieser Sequenzstelle tatsächlich mit „Witz unterlegen“ wollte oder er ein „bisschen ironisch klingen wollte“, er ein grundlegend falsches Handlungsverständnis hat. Denn für Witz und Ironie war hier absolut kein Platz, zumal der Polizeibeamte im Sinne des Normalfalls davon ausgehen musste, dass ein wirklicher Notfall vorliegt, der dringender Hilfe bedarf. Deshalb wäre es seine Aufgabe gewesen, möglichst schnell in Erfahrung zu bringen, was der Fall ist, um dann unverzüglich die notwendigen Maßnahmen einleiten zu können. Und genau dies tat er nicht. 175 „In etwa“ deswegen, weil bei den Studenten der Hinweis auf die Blasphemisierung der Begrüßung fehlt. Sie interpretieren die Karikatur tendenziell als witzig, ironisch – aber nicht als objektiv unangemessen (s. nachfolgende Fußnote). 176 Diese Lesart lautet, dass der Polizeibeamte die Begrüßung der Anrufenden karikiert und indirekt damit ausdrückt, dass sie aufgrund der Uhrzeit auch ,guten Morgen‘ hätte sagen können, womit er im Grunde genommen die Begrüßungshandlung blasphemisiert.
12. Fall 5: Schlägerei auf dem Schützenfest
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10 B: Hat se ja dann auch. Hat se dann auch was wir in Zeile . . . Zeile 4 sehen (1). Hat se dann auch witzig aufgefaßt (0,5) – mit dem Lachen, ja?! Statt nunmehr klar auf den Punkt zu bringen, dass der Polizeibeamte hier falsch handelte, wird seine Handlungsweise mit Hinweis auf dessen perlokutionäre Wirkung177 geradezu gerechtfertigt. Dabei ist zu sehen, dass selbst wenn die Anruferin seine Äußerung als witzig aufgefasst hätte, was aus dem Notruftext nicht hervorgeht, weil man das Lachen durchaus auch als Verlegenheitslachen o. ä. interpretieren kann, diese Äußerung dennoch falsch gewesen wäre. Denn zum einen bedeutete sie Zeitverlust in einer potentiellen Krisensituation, und zum anderen bedeutete sie keine Hilfe zur Strukturierung der Krisenschilderung, die durchaus angebracht gewesen wäre, da die Anruferin, wie im Text zu sehen, große Schwierigkeiten hatte, zur Sprache zu kommen. Kurzum: Bis zu dieser Sequenzstelle wurde der Strukturfehler noch nicht erkannt. Ich werde nunmehr in der Analyse schneller fortschreiten und den nachfolgenden Text bis zu der Stelle, wo die Interpreten im Zuge ihrer sequentiellen Fallbesprechung die hier interessierende dritte Protokollzeile verließen, daraufhin durchsehen, ob der Fehler noch erkannt wurde. 11 A: genau 12 C: Ja gut, sie läßt sich dann verbessern und nimmt das an also (1) wahrscheinlich wird das auch in son nem Zeitraum gewesen sein wo’s keine klare Abgrenzung gibt - Is es schon Morgen? Is’s noch Abend oder Nacht? - Ja, „Gute Nacht“ sagt man ja meistens nur, wenn man sich ins Bett legt oder so. Das sagt man ja ansonsten nicht 13 B: Zumindestens damit, daß er se verbessert hat hat er ihr schon mal die Spannung genommen, denn durch dieses Lachen (1) . . . was man dann noch merkt, ja - wird sie dann auch gleich etwas ruhiger 14 A: Gelöster 15 B: . . . sie wird gelöster, genau, wie schon sagst 16 A: Hmm 17 C: Und sie sagt ja gleich (1) um was es geht. (1) Wir sin in A-Dorf aufm Schützenfest Wie man an nachfolgenden Zeilen sehen kann, erfolgt auch hier kein Hinweis auf die praktische Unangemessenheit der Korrektur des Polizeibe177 Die Grußkorrektur wird damit in den perlokutiven Akt der Aufheiterung (um)interpretiert. Zum Begriff des perlokutiven Aktes vgl. Searle (1990 a), S. 42.
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D. Rezeptionsvergleich
amten, also keine Kritik an der polizeilichen Handlungspraxis. Vielmehr wird die polizeiliche Korrektur als erfolgreich interpretiert, wird sie als wirksames Mittel zur Entspannung und Beruhigung der Anruferin bewertet. Die wortgenaue Analyse des Protokolls zeigt indes, dass diese nach der Korrektur aus dem Rhythmus gerät und ihre Schilderung sehr umständlich kontextuiert,178 was keineswegs dafür spricht, dass sie ,innerlich‘ ruhiger wurde, sondern im Gegenteil die Lesart nahe legt, dass sie sehr aufgeregt war und deswegen Schwierigkeiten hatte, den Fall prägnant zur Sprache zu bringen. Ergebnis Die Abweichung vom Normalfall wurde nicht erkannt. Die Praxis wurde nicht kritisiert. Vielmehr wurde aus einem objektiv unangemessenen Handeln ein intentional witzig oder ironisch gemeintes, die Anruferin ,entspannen-wollendes‘ Handeln gemacht, das dann auch die intendierte Wirkung hatte. Diese falsche Lesart wurde durch A in Zeile 9 eingeleitet, durch B’s Hinweis auf die perlokutionäre Wirkung in Zeile 10 bekräftigt, durch A noch einmal in Zeile 11 verstärkt und durch C abgeschlossen, der nicht dagegenhielt, sondern die Interpretation in Zeile 12 mit einem „Ja gut“ passieren ließ.
13. Fall 6: Mopedunfall vor Weida Bei diesem Fall geht es um die Untersuchung der Frage, ob die Studenten C, D und B, allesamt Schutzpolizeibeamte mit Diensterfahrung, erkannten, dass der Polizeibeamte mit seinen Fragen – „06 P: Also das ist im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall? Ja?“ – für eine schnelle Krisenintervention wertvolle Zeit verschwendete und damit von einem idealtypischen Modell polizeilicher Krisenintervention abweichend handelte. 1 C: Ja, ich seh in den Fragen 5 und 6 wiederum, daß der Anrufer mit dem Satz „Können se mal jemand schicken?“ das Interesse verfolgt, daß so schnell wie möglich en Arzt vor Ort kommt und den Verletzten, also, behandelt und der Polizeibeamte in seinem äh Folgesatz, „Also das is im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall?“ \. . .179 Ich beginne die Analyse an der Stelle, an welcher C auf die hier interessierende Zeile im Notruftext zu sprechen kommt. 178
04-05 A: Also ..äh.. Guten Morgen, ja (1)..hh hh.. wir sin in [Adorf] jetzt .. äh.. oben ..äh.. aufn Schützenfest. 179 Das von den Studenten benutzte Fragezeichen markiert eine Frageintonation. „. . .“ bedeutet: Markierung einer aus dem Notrufprotokoll zitierten Stelle.
13. Fall 6: Mopedunfall vor Weida
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Im Sinne einer gestaltprägnanten Interpretation müsste er hier nun deutlich zum Ausdruck bringen, dass das Handeln des Polizeibeamten bezogen auf eine möglichst schnelle Krisenintervention genau genommen Zeitverschwendung bedeutet, weil der Anrufer bereits zu Beginn davon sprach, dass ein Schwerverletzter auf der Straße liegt – „. . . ich bin uf da zweiundneunsch kurz vor Weida. Da liecht än Schwerverletzter uf der Stroße“ –, und man aus seiner anschließenden Formulierung – „Moped_ äh unfall mit em PKW, äh“ – zweifelsfrei erschließen konnte, dass es sich bei dem Schwerverletzten um eine der am Unfall beteiligten Personen handelt. Der Polizeibeamte hätte nun unverzüglich handeln, also umgehend die Rettungsleitstelle informieren müssen, damit diese sofort einen Notarzt vor Ort schicken konnte. Dass der Polizeibeamte dennoch auf diese Weise fragt, indiziert, dass er entweder dem Anrufer zu Beginn nicht aufmerksam zuhörte oder aber sein schlussfolgerndes Denken nicht besonders gut ausgeprägt ist. Und genau dies müsste nun Gegenstand der studentischen Kritik sein. 2 C: . . ./ is im Prinzip total losgelöst von der obrigen Frage, \. . . C referiert nun indexikalisch auf die Anruferfrage in Zeile 05: „Könntn] se da ma jemand schicken? =“. 3 C: . . ./ und daran sehe, also, daran sehe ich, das der Polizeibeamte in dem Moment en anderes Interesse hat. Das er nur darauf bedacht ist Informationen zu gewinnen um eventuell dann die eingesetzten Kräfte, Polizei und Notarzt und und und, dann zu koordinieren und mit Informationen zu versorgen, die sie für ihren Einsatz brauchen \. . . Doch anstatt die Anruferfrage als Ungeduld zum Ausdruck bringende Reaktion auf die als zu langsam empfundene Handlungsweise des Polizeibeamten zu interpretieren und die Frage des Polizeibeamten im Hinblick auf eine schnelle Krisenbewältigung als unangemessen zu kritisieren, erfolgt im Gegenteil eine den Polizeibeamten in Schutz nehmende Deutung. C unterstellt nämlich dem Polizeibeamten, dass dieser mit seiner Frage die Absicht verfolgte, einsatzbedeutsame, für die Koordination der einzusetzenden Kräfte wichtige Informationen zu gewinnen. Damit wird aus der objektiv nicht krisenangemessenen Praxis eine intendiert vollzogene, fast lehrbuchmäßige Handlungspraxis, was eine unangemessene Rezeption darstellt. Die Unangemessenheit dieser Interpretation wird noch deutlicher, wenn man die Textstelle im Sinne des Totalitätsprinzips vollständig interpretiert (was C unterlässt) und die Ja-Fragepartikel in die Analyse mit einbezieht, also nicht nur die Frage „Also das is im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall?“ interpretiert, sondern auch das unmittelbar darauf folgende
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D. Rezeptionsvergleich
„Ja?“. Da sich nämlich das „Ja?“ im Sinne der Rezensregel auf die vorhergehende Frage bezieht, bedeutet dies, dass es dem Polizeibeamten hier um eine Bestätigung für das Fragliche geht, also um eine Bestätigung der Frage, ob es zu der Schwerverletzung im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall kam. 4 C: . . ./ als der Polizeibeamte fragt, äh, „Also is das im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall“, dann antwortet der Anrufer, „JaJa, JaJa“. Also ich erkenne daraus, daß der Polizeibeamte und der Anrufer auf einer Wellenlänge liegen \. . . C thematisiert nun die Reaktion des Anrufers,180 aus der er schlussfolgert, dass die beiden Gesprächspartner „auf einer Wellenlänge“ liegen. Dies ist nun eine äußerst merkwürdige Interpretation, wenn man den Ausdruck „auf einer Wellenlänge liegen“ wörtlich nimmt. Denn „auf einer Wellenlänge liegen“ heißt, mit jemandem übereinstimmen, harmonieren, sich wie von selbst gut verstehen. Und genau dies ist an der vorliegenden Sequenzstelle gerade nicht indiziert. Vielmehr lässt die Reaktion des Anrufers erkennen, dass er ungeduldig wird, dass es ihm viel zu langsam geht und er den Polizeibeamten darum implizit zum schnelleren Handeln auffordert. 5 C: . . ./ und das der Polizeibeamte mit seiner Frage, oben, genau den Punkt getroffen hat, den der Anrufer gemeint hat. C erkennt dies nicht und sieht vielmehr die Reaktion des Anrufers als Indikator dafür, dass der Polizeibeamte mit seiner Frage „genau den Punkt getroffen hat, den der Anrufer meint“. Diese Lesart ist wirklich abstrus, denn dass der Anrufer so reagiert, ist geradezu umgekehrt ein Indikator dafür, dass der Polizeibeamte den vom Anrufer intendierten Punkt nicht getroffen hat. Schon eher könnte man sagen, dass die Reaktion des Anrufers anzeigt, dass der Polizeibeamte dessen wunden Punkt traf, dessen Schmerzpunkt. 6 D: Also ich denk, das der Anrufer mit diesem „JaJa JaJa“ zum Ausdruck bringt, daß er das ja wohl schon am Anfang gesagt hat. Er wird zwar nicht unhöflich, aber es ist schon, äh, zu erkennen das ihm das zum gewissen Teil lästisch is, das dieser Polizeibeamte, äh, dieses Schema abfragt und nich auf seine Frage eingeht und somit auch nich, äh, ich sag mal, veranlaßt, das schnell jemand geschickt wird, \. . . Es erfolgt nun eine angemessene Korrektur der vorhergehenden Interpretation. D sieht richtig, dass sich der Anrufer und der Polizeibeamte keines180
Die er abweichend von der Analysevorlage noch um ein „JaJa“ ergänzt.
13. Fall 6: Mopedunfall vor Weida
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wegs „auf einer Wellenlänge“ befinden, sondern der Anrufer vielmehr nachdrücklich, wenn auch nicht unhöflich zu erkennen gibt, dass ihm die schematische Abfrage des Polizeibeamten „lästisch“ ist, dass es ihm nicht schnell genug geht. D liefert also an dieser Stelle eine gestaltrichtige Interpretation. 7 D: . . ./ seiner Meinung nach. Das natürlich der Polizeibeamte die Information braucht um das zu koor (-) koordinieren zu können. Ich nehme an, das weiß der Anrufer nicht unbedingt. Diese Interpretation zerstört er jedoch nachfolgend wieder. Seine Argumentation lautet, dass der Anrufer als polizeilicher Laie nicht wissen konnte, dass der Polizeibeamte so handeln musste, um Informationen zu gewinnen, die er für das Koordinieren der eingesetzten Kräfte benötigt. 8 B: Ja, bezogen auf diese Zeile 7 möchte ich mich möchte ich mich auch meinem Vorredner anschließen, also bei dieser Äußerung des Anrufers „JaJa JaJa“ möchte ich also dazu sagen, daß der Anrufer damit zu verstehen gibt, das eben eine schnelle Versorgung dieses Verletzten eingeleitet werden soll und daß diese Fragestellung eigentlich für ihn jetzt erst mal uninteressant is, weil ja schon eigentlich von sich, glaub ich, so seh ich das, meint, äh, die meisten Dinge oder das was wichtig is, dem Polizeibeamten übermittelt zu haben Dieser Argumentation folgt nun auch B, der damit zwar auch die Intention der Anrufer-Reaktion durchaus angemessen interpretiert, aber – wie D – nicht zu einer Kritik der polizeilichen Handlungspraxis gelangt, weil auch er davon ausgeht, dass der Anrufer „zwar meint“, dem Polizeibeamten im Grunde genommen die wichtigsten Informationen gegeben zu haben, dies aber nur die Sicht eines Nicht-Polizisten ist, der eben nicht weiß, welche Informationen ein Polizeibeamter in einer solchen Situation benötigt. Womit B einen ähnlichen Praktikerhabitus aufweist wie D,181 der für beide auch 181 Mit diesem Habitus muss man als Dozent umgehen können, um in der pädagogischen Praxis nicht zu scheitern. Dabei gilt, was von Harrach [(1994), S. 116] einmal (aus ihrer Dozentinnen-Perspektive) so formulierte: „Wer als Lehrende meint, aus einer vermeintlich moralischeren Perspektive heraus diese Alltagserfahrungen [von Studenten, T. L.] negativ beurteilen zu müssen, verliert das Vertrauen der Gruppe sofort. Eine gute emotionale Grundstimmung in und mit der Gruppe wiederum ist aber die Ausgangsbasis, von der aus überhaupt nur auf der Einstellungsebene erfolgreich gearbeitet werden kann.“ Dies alles heißt natürlich nicht, den Studenten nach dem Mund zu reden. Schon eher, ein Urteil über Praxis analytisch begründen können. Im Übrigen erinnert mich die Haltung der beiden Studenten an Max Webers ketzerische Bemerkung über die gottähnliche Stellung der Polizei: „Es führt ein
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D. Rezeptionsvergleich
bei nachfolgenden Materialanalysen hinderlich war, weil es ihnen nicht gelang, genügend Distanz zu dem zu analysierenden Fallmaterial zu gewinnen. Sie gingen stattdessen mit einer Haltung an Notruftexte heran, welche die agierenden Polizeibeamten tendenziell in Schutz nahm.182 Ergebnis Wie die Analyse der hier zum Rezeptionsvergleich ausgewählten Schlüsselstelle zeigt, wurde das fehlerhafte Handeln des Polizeibeamten von den Studenten nicht herausgearbeitet. Wenngleich zu sehen ist, dass keiner von ihnen den Fehler erkannte, sondern insgesamt die Tendenz bestand, den Polizeibeamten in Schutz zu nehmen, ist festzuhalten, dass die mit Abstand schlechteste Analyseleistung Student C183 zeigte, während sich die (ebenfalls schlechten) Leistungen von B und D die Waage hielten.
14. Fall 7: Hausbrand Nachdem ich zuvor zum Zweck des Rezeptionsvergleichs nahezu ausschließlich auf Daten zurückgriff, bei denen es sich um von mir korrigierte Fassungen der studentisch vertexteten, tontechnisch aufgezeichneten Diskussionswirklichkeit handelte, greife ich nun auf einen Auszug aus einer Verlaufsskizze zurück, in der die Studenten zum Abschluss noch einmal in komprimierter, verdichteter Form beschreiben sollten, welche Ergebnisse sie bei der Interpretation erzielten, welche Probleme auftraten und wo und möglicherweise warum sie in die falsche Richtung interpretierten, wobei idealerweise am Ende eine schlüssige Begründungskette stehen sollte.184 stetiger Weg von der bloß sakralen oder bloß schiedsrichterlichen Beeinflussung der Blutfehde, welche die Rechts- und Sicherheitsgarantie für den Einzelnen gänzlich auf die Eideshilfe- und Rachepflicht seiner Sippegenossen legt, zu der heutigen Stellung des Polizisten als des ,Stellvertreters Gottes auf Erden‘.“ Weber (1985), S. 561. 182 Während sich allerdings bei B im Laufe der Zeit eine Habitustransformation – in Richtung eines mehr analytischen Blicks – zeigte und er dann im Staatsexamen bei der sequenzanalytischen Aufgabe mit 24 von 30 Rohpunkten ein gutes Ergebnis erzielte, verhielt sich dies bei D anders, der im Staatsexamen nur 10 von 30 Punkten und damit nur ein mangelhaftes Ergebnis erreichte. 183 C war einer von sieben Studenten, die sowohl bei der Materialanalyse als auch beim Rollenspieltraining [vgl. hierzu die Rollenspiel-Analyse IV in Kapitel E. der Arbeit] und der sequenzanalytischen Aufgabe in der sozialwissenschaftlichen Examensklausur eine schlechte Leistung zeigten. So erreichte er bei der Sequenzanalyse nur 14,5 von 30 Rohpunkten, was umgerechnet der Note ausreichend entspricht. 184 Hierbei traten – wie ich bei der Korrektur der Seminararbeiten feststellte – Schwierigkeiten auf. Denn nur in knapp der Hälfte (neun) der Fälle (N = 20) wurde
15. Exkurs: Verlaufsskizze
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15. Exkurs: Verlaufsskizze Die methodische Intention des Anfertigen-Lassens der Verlaufsskizze bestand darin, die Studenten dahingehend zu befähigen, über eine komprimierte Darstellung des argumentationslogischen Verlaufs ihrer Diskussion hinaus methodisch einzuüben, sich reflexiv über einen Fall zu beugen und die typischen Schwierigkeiten, die bei der Fallbearbeitung auftraten, aufzuzeigen (wie z. B.: Wo sind wir in eine falsche Richtung gegangen?), und auf diese Weise eine Intensivierung der Auseinandersetzung mit dem Material zu erreichen. Die Fähigkeit, sich reflexiv über Fälle beugen zu können, wäre in der Praxis immer dann wichtig, wenn die Routine nicht mehr funktioniert, wenn die Polizeibeamten selbst in die Krise geraten sind, um sich auf diese Weise selbst wieder aus der Krise rauszuziehen.185 Das müsste idealerweise in der Praxis später so aussehen, dass – wie etwa bei Ärzten üblich – ein Schichtteam sich einmal in der Woche einundeinhalb Stunden zusammensetzt und den problematischsten Fall der Woche verhandelt, etwa wenn ein Teammitglied selbst in die Krise geraten ist. Die Institutionalisierung eines solchen Vorgehens wäre der Test, ob die Einsatznachbereitung (in einem mehr als nur einsatztaktischen Sinne) professionell läuft oder nicht; sie bedeutete zudem die Weckung von immanentem Weiterbildungsbildungspotential und wäre auch eine Basis für das wechselseitige Anerkennen der sozialen Tatsache, dass jeder Polizeibeamte, der in Krisen operiert, selbst einmal in eine Krise geraten kann und deswegen nicht gleich ein Versager ist.186 Ideal wären hier regelmäßig stattfindende Fallkonferenzen für problematische Praxisfälle, in deren Rahmen sich die Polizeibeamten einer Dienstgruppe einmal in der Woche über diese beugen und diese besprechen könnten.187 – Ende des Exkurses in den Verlaufsskizzen der argumentationslogische Verlauf der Diskussion festgehalten und aufgetretene Interpretations- und Auslegungsprobleme dokumentiert, was, wie mir ein Student im Rückmeldegespräch sagte, damit zusammenhing, dass ich zwar von einer Zusammenfassung der Ergebnisse gesprochen hätte, aber er und seine Kollegen darunter verstanden hätten, dass es sich hier um eine Zusammenfassung der Analyseergebnisse handeln sollte, also eine Skizze über den Verlauf des Notrufs. Da ich nicht ausschließen konnte, dass es hier zu einem Missverständnis gekommen war, weil ich mich möglicherweise nicht klar genug bei der Aufgabenformulierung ausgedrückt hatte, akzeptierte ich auch Ergebnisdarstellungen in der von dem Studenten angesprochenen Form. 185 Vgl. hierzu Watzlawick (1988), S. 135 ff. 186 Im Studentenjargon auch ,Weichei‘ genannt. 187 Voraussetzung für die Art von kollegialer Binnenkritik, in die auch wie selbstverständlich jüngere Polizeibeamte mit hineinsozialisiert werden könnten, wäre i) „eine unbedingte Kollegialität“ [Loer (2000), S. 338], die sicherstellt, dass Problem-
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D. Rezeptionsvergleich
Den nachfolgend interpretierten Textauszug aus der Verlaufsskizze habe ich ausgewählt, um zu untersuchen, ob die Studenten die in der Sequenzanalyse in Kapitel C.188 herausgearbeitete schwere Regelverletzung erkannten, die darin bestand, dass der Polizeibeamte den Anrufer, der gemeinwohlorientiert handelte, wie jemanden behandelte, der nur mitteilte, was eh schon bekannt war, anstatt sich bei ihm für den Hinweis zu bedanken und sich durch ein interessiertes Nachfragen die Möglichkeit offen zu halten, ihn als Informationsquelle zu nutzen.189 Es erfolgt nun also ein Blick auf die Textstelle in der Verlaufsskizze,190 in der die Studenten hätten feststellen müssen, dass das Handeln des den Notruf entgegennehmenden Polizeibeamten fehlerhaft war: Als zweites ist uns aufgefallen, daß der Mitteiler den Beamten, zumindest im ersten Teil des Gespräches, keine neuen Informationen vermitteln konnte. Dieser Umstand war unserer Meinung nach entscheidend für den weiteren Verlauf des Gespräches. Der Beamte war nicht von Anfang an mit einem unbekannten Problem konfrontiert, da er bereits vom Brand wußte. Seine Reaktion ist daher nachvollziehbar. Bei Betrachtung der ersten drei Sätze kann man erschließen, dass die Studenten im zu analysierenden Fall das Problem darin sehen, dass der Anrufer dem Polizeibeamten zumindest zu Beginn des Gesprächs – „im ersten Teil“ – keine „neuen Informationen“ geben konnte und „dieser Umstand (. . .) für den weiteren“ Gesprächsverlauf entscheidend war. Nicht von ihnen reflektiert wird indes, dass der Anrufer dem Polizeibeamten im weiteren Gesprächsverlauf durchaus noch „neue Informationen“ geben konnte. Informationen, so kann man schlussfolgern, die der Polizeibeamte nicht erhalten hätte, wenn der Anrufer bemerkt hätte, dass man ihn (in der Attitüde des ,Schon-Bescheid-Wissens‘) nicht ernst nimmt, mithin der Beamte nicht so handeln durfte, wie dies im Notruftext abgebildet ist. Die Schlussfolgerung der Studenten lautet aber anders: Weil dem so war, dass der Polizeibeamte schon Bescheid wusste, war seine Reaktion „nachvollziehbar“, verständlich und damit auch zu entschuldigen.
oder Fehleranalysen nicht „zum Niedermachen unliebsamer (Kollegen, T. L.) benutzt werden“ [vgl. Loer (2000), S. 338]; und ii), dass aus dem Eingestehen von krisenhaften Erfahrungen und bestimmten (rechtlich noch vertretbaren) Handlungsfehlern (Grenze: Grundsatz der Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns) keine Behinderung von Aufstiegschancen resultieren würde. Zum Modell einer professionalisierten Binnenkritik vgl. Oevermann (1997 a), S. 180. 188 Fall 7: Hausbrand. 189 s. hierzu bereits die Kritik von Oevermann u. a. [(1994), S. 258 f.] im einleitenden Kapitel. 190 Auszug aus einer Seminararbeit.
16. Fall 8: Medizinischer Notruf. Erste Sequenzstelle
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Ergebnis Das Ergebnis hätte lauten müssen, dass der Polizeibeamte am Notruf objektiv unangemessen handelte, dass er einen Fehler machte. Der Fehler wurde aber von den Studenten nicht erkannt, womit eine entscheidende Fallstelle in ihrer Bedeutungsstruktur falsch interpretiert wurde.191
16. Fall 8: Medizinischer Notruf. Erste Sequenzstelle Im achten Fall soll zunächst untersucht werden, wie Studentin C und ihre Kollegen H, T und A die medizinisch-laienhafte Beschreibung der Anruferin in Zeile 06 des Notrufprotokolls192 interpretierten und welche Schlussfolgerung sie daraus für ein fallspezifisch angemessenes polizeiliches Handeln zogen. Die idealtypisch angemessene Reaktion hätte darin bestanden, keine weitere Zeit zu verlieren und unmittelbar nach der genauen Notfalladresse zu fragen, zu welcher der Krankenwagen kommen soll. 1 C: Jetzt stellt sich natürlich die Frage, total verkrampft193 Ich beginne die Analyse mit der Textstelle, an der C zur Analyse von Zeile 06 überleitet. Ihre Formulierung indiziert, dass sie hier nun die Frage in den Raum stellt, was „total verkrampft“ bedeuten kann. Womit sie implizit dazu auffordert, die Bedeutung des Wortes „verkrampft“ zu explizieren. 2 H: Ja, was kann sich der Polizeibeamte unter total verkrampft vorstellen? Was denn auch geschieht. H stellt hier gewissermaßen eine zeichentheoretische Frage, im Sinne von: Was kann sich der Polizeibeamte unter dem Lautbild194 „total verkrampft“ vorstellen. Die Antwort müsste im Grunde genommen lauten: Welches Krankheitsphänomen auch immer sich der Poli191
Wenngleich ich bei Anlegung eines strengen Maßstabes die Arbeit aufgrund dieses Fehlers nicht besser als mit der Note ausreichend hätte bewerten dürfen, erhielten die Studenten dennoch eine schwach gute Zensur, weil es sich hier um die erste Analyse handelte, die sie nach einer doch sehr kurzen Einübung in die Methode durchführten – und sie sich zudem bei der Verschriftung und Präsentation der Fallmaterialien große Mühe gegeben hatten. Im Rückmeldegespräch ging ich mit ihnen auf den Analysefehler ein. 192 Diese lautet: „. . . mein Mann der ist total verkrampft –hh-hh“. 193 Notationszeichen: (-) kurze Pause ? Frageintonation 194 Die Zeichentheorie von de Saussure hatte ich ebenso wie die Zeichentheorievariante von Eco im Soziologieunterricht behandelt.
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D. Rezeptionsvergleich
zeibeamte darunter vorstellt, entscheidend für ein fallangemessenes Handeln wäre, dass er im Sinne der Sparsamkeitsregel davon ausgeht, dass sich der Mann in einer akuten Notlage befindet, in der er dringend ärztlicher Hilfe bedarf, und es aus diesem Grund darauf ankommt, keine Zeit zu verlieren, sondern möglichst schnell in Erfahrung zu bringen, wohin ärztliche Hilfe kommen soll, damit der Polizeibeamte stellvertretend für die Anruferin die Rettungsleitstelle benachrichtigen kann. 3 C: Hier müßten vom Polizeibeamten im Anschluß daran eigentlich weitere medizinische Fragen kommen, zum Beispiel Herzleiden oder ähnliche Krankheiten, da total verkrampft ja in mehr Richtungen gehen kann. Die nachfolgenden Ausführungen von C sind nun dahingehend aufschlussreich, dass sie nicht reflektiert, dass, welche Krankheit auch immer in dem „total verkrampft“ zum Ausdruck kommt, in jedem Fall ein Notfall vorliegt, der schnelles Handeln erfordert, und weitere Fragen des Polizeibeamten zum Krankheitsbild des Mannes weder sachlich sinnvoll gewesen wären (zumal schon vorher zu erkennen war, dass es sich bei der Anruferin um einen medizinischen Laien handelt, der aufgrund des akuten Krisenzustandes des Mannes in heller Aufregung ist, und mit weiteren diagnostischen Fragen womöglich überfordert gewesen wäre), noch zeitlich zu vertreten gewesen wären, da durch sie nur wertvolle Zeit verstrichen wäre, ehe es zur Einleitung erforderlicher Hilfsmaßnahmen gekommen wäre. 4 T: Wie wirkt sich das aus? Was ist das? Atmet er schlecht? Ist es vielleicht eine Embolie oder eine Kolik? Auch T stellt nun Fragen, die man zwar sinnvoll in einem diagnostischen Kolloquium stellen kann, wo kein Handlungs- beziehungsweise Zeitdruck herrscht, die aber die Kommunikation am Notruf mit Sicherheit zum Kollabieren gebracht hätten. 5 H: Deswegen müßten wir jetzt weitergehen und schauen, was macht der Polizeibeamte H geht nicht weiter auf die Fragen von T ein, sondern schlägt vor, weiter im Text vorzugehen, um zu sehen, was der Polizeibeamte wirklich machte. Womit er implizit dazu auffordert, zu überprüfen, ob der Polizeibeamte faktisch so handelte, wie dies zuvor von C und T postuliert wurde.
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6 C: Jetzt kommts darauf an, was steht in der nächsten Zeile. C schließt sich der Argumentation von H an, wobei ihre Formulierung indiziert, dass sowohl sie als auch H methodisch sequentiell vorgehen195 und offensichtlich die Abdecktechnik anwenden, die ich bei meiner Explikation der Modellfälle zu Beginn von Phase 1 ebenfalls angewandt hatte. 7 A: Für sie ist das jetzt abgeschlossen; sie hat dem Polizeibeamten gesagt, was los ist, nochmal wo es ist, bei wem das ist und was ist A schreitet nun jedoch nicht unmittelbar zur nächsten Zeile fort, sondern fasst noch einmal Zeile 06 des Notrufprotokolls in seinen Worten zusammen. Dabei gibt er – wie der Vergleich mit der Lesevorlage zeigt – die Reihenfolge des von der Anruferin faktisch Mitgeteilten (wo – bei wem – was ist los?) in einer anderen Reihenfolge wieder und wiederholt am Ende noch einmal das „was los ist“, mit dem er seine Zusammenfassung begann; dies zeigt an, dass er hier nicht strikt am Notruftext operiert. 8 H: Und sie geht davon aus, daß der Polizeibeamte mit total verkrampft etwas anfangen kann Wenngleich man kommunikationspragmatisch unterstellen kann, dass die Anruferin davon ausgeht, dass ihr Gesprächspartner mit dem von ihr Mitgeteilten „etwas anfangen kann“, weil sie diesen schließlich ja anruft, um Hilfe für ihren Mann zu erhalten, kann man dies aus dem Notrufprotokoll nicht unmittelbar ablesen. Mit anderen Worten: Es handelt sich hier zwar um eine nach dem Wörtlichkeitsprinzip196 mögliche, aber keineswegs zwingende Lesart. An dieser Stelle zeigt sich im Übrigen die Differenz von methodischem und alltagspraktischem Verstehen: In einer alltagspraktischen Sicht unterstellt man im Sinne praktischer Verständigung stillschweigend, dass der Adressat das, was man ihm mitteilen will, auch verstehen wird, was in den meisten Fällen im Sinne eines abkürzenden Verstehens auch gelingt,197 ohne dass dabei reflektiert wird, wie der Adressierende das Gemeinte gesagt hat und warum er das gesagt hat.198 195
Zur Bedeutung des Prinzips der Sequentialität s. Wernet (2000), S. 27. s. hierzu Fußnote 19. 197 Dieses im Alltag wirksame „principle of charity“ gilt indes bei der objektiv hermeneutischen Rekonstruktion von Texten nicht. Hier verpflichtet im Gegenteil „das Prinzip der Wörtlichkeit (. . .) die Interpretation, den Text ,auf die Goldwaage zu legen‘ in einer Weise, die uns in alltäglichen Verstehenskontexten als inadäquat und kleinlich erscheinen würde“. Wernet (2000), S. 24; oder auch Loer (1996 a), S. 84. Verwandt mit dem aus der pragmatischen Sprachphilosophie (Quine, Davidson) stammenden charity-Prinzip ist das in der Ethnomethodologie so genannte „let it pass“-Prinzip. Vgl. hierzu Auer (o. J.), S. 16. 196
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D. Rezeptionsvergleich
9 C: Das einzige Problem ist, wir wissen noch nicht wo in Wittmannsgereuth Die anschließende Äußerung von C stellt genau genommen eine Kritik der vorhergehenden Äußerung von A dar. Denn während dieser sagte, dass die Anruferin mitgeteilt habe, wo sich und bei wem sich der Notfall ereignete, und er diese Angaben nicht problematisierte, indiziert ihre Äußerung, dass ihr wichtige Details zum Notfallort fehlen, die – so ihr implizites Argument – noch genauer erfragt werden müssten. Womit sie offensichtlich an die Frage nach der genauen Adresse (Straße, Hausnummer) des Krisenortes denkt, die von der Anruferin nicht genannt wurde. Eine in der Tat einsatzwichtige Frage, die der Polizeibeamte hätte stellen müssen. 10 A: Da geht es ja jetzt weiter in unserem Text Während C die noch nicht hinreichende Informationsbasis kritisiert, zeigt die nachfolgende Äußerung von A, dass er C implizit zu verstehen geben will, geduldig zu bleiben, weil es mit der Behandlung dieser Frage „ja jetzt weiter“ im „Text“ gehe, womit A auf den weiteren Text referiert, und zwar genau genommen auf Zeile 10, in der die Anruferin diese Daten nennt. Sein Hinweis lässt erkennen, dass er vom Prinzip der Sequentialität 199 abweicht, denn diese Information hätte er bei einem strikt sequentiellen, den Text schrittweise aufdeckenden Vorgehen nicht haben können. 11 T: Es wäre ja jetzt vielleicht auch mal ganz wichtig für uns nachzuschauen, was heißt überhaupt Krampf? „Krampf – unwillkürliche Muskelkontraktion. Tonische Krämpfe sind Dauerkontraktionen der quergestreiften Skelettmuskulatur. Bei klonischen Krämpfen folgen aufeinander Kontraktionen und Erschlaffungen in raschem Wechsel. Die Kolik ist eine Verkrampfung der glatten Eingeweidemuskulatur.“ (aus: Bertelsmann Universallexikon) Während A offensichtlich im Text ,vorsprang‘, argumentiert nachfolgend T, dass es für die Gruppe „vielleicht auch mal ganz wichtig“ sei, „nachzuschauen“, wie „Krampf“ definiert wird, wobei das nachfolgende Zitat und die markierte Quellenangabe zeigen, dass T der Gruppe aus dem Bertelsmann-Universallexikon vorliest, was dort unter dem Eintrag „Krampf“ steht. Damit schlägt T genau genommen eine szientifische Analyserichtung ein, die man als „Flucht“ zu einem anderen Text200 bezeichnen kann. Eine 198
Vgl. Wernet (2000), S. 24. Vgl. Wernet (2000), S. 27. 200 Hingegen sprach Axel Fehlhaber 1993 auf der ersten Arbeitstagung der „Arbeitsgemeinschaft objektive Hermeneutik e.V. in Frankfurt“ von einer „Flucht vor 199
17. Fall 8: Medizinischer Notruf. Zweite Sequenzstelle
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„Flucht“, die zur Analyse des polizeilichen Handelns nicht notwendig war, weil aus dem Text eindeutig hervorging, dass ein Notfall vorliegt, der schnelles Handeln erforderlich macht. Diese Flucht stellt einen schönen Beleg für die These dar, dass eine Orientierung an „Buchwissen“201 zu einem unpraktischen Denken202 führen kann, das für die Polizeipraxis, in der es auf das spontane Erschließen einer Gestalt ankommt, eher kontraproduktiv ist und zur Ausprägung eines falschen Habitus führen kann, wenn die Studenten nicht für dieses Problem sensibilisiert werden. Ergebnis Die Arbeitsgruppe zog aus der medizinisch-laienhaften Beschreibung der Anruferin nicht den praktischen Schluss, dass es in diesem Fall notwendig gewesen wäre, so schnell wie möglich die Notfalladresse in Erfahrung zu bringen. Stattdessen schlug sie eine szientifische Analyserichtung ein, indem sie wie in einem medizinischen Kolloquium darüber sprach, was man sich hier unter „Krampf“ vorzustellen habe.
17. Fall 8: Medizinischer Notruf. Zweite Sequenzstelle Bei der zweiten Sequenzstelle, die nachfolgend analysiert werden soll, geht es um die Beantwortung der Frage, ob die studentische Arbeitsgruppe erkannte, dass der Polizeibeamte mit seiner Nachfrage „Schrobe?“ Verwirrung stiftete. Und ob sie aus diesem Befund die Schlussfolgerung zog, dass der Polizeibeamte fallangemessener nach dem Ort hätte fragen sollen, wohin der Krankenwagen kommen soll, um diese Information so schnell wie möglich der Rettungsleitstelle weitergeben zu können, damit diese unverzüglich einen Krankenwagen vor Ort entsenden kann. 1 Zeile 7203: „Äh, äh, äh, äh Fink“204 dem Text“, womit er auf das in der Ausbildung von Religionslehrern zu beobachtende Phänomen anspielte, dass biblische Texte nicht hinreichend gelesen würden. Vgl. hierzu auch Garz/Fehlhaber (1999), S. 68. 201 Vgl. Oevermann (1995 a), S. 71; ders. (1997 a), S. 123; ders. (2000 b), S. 75. 202 Vgl. Ohlhaver/Wernet (1999), S. 15. 203 Ich hatte bereits an anderer Stelle (s. Fußnote 29) darauf hingewiesen, dass die Zeilennummerierungen der in den Seminararbeiten abgedruckten Notruftexte m. E. nicht mit den in den Falldiskussionen genannten Zeilennummern übereinstimmten. In diesem Fall lag die Sache noch etwas anders. Die Studenten hatten das Notrufprotokoll nicht durchnummeriert, hätten aber beim Durchzählen der Protokollzeilen zu einer gleichen Ordnung kommen müssen wie ich (Kapitel C.: 16. Fall 8). Indes zählten sie anders: nicht die Zeilen, sondern die Turns, wenngleich sie von Zeilen sprachen.
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D. Rezeptionsvergleich
2 T: Und jetzt kommt die Berichtigung der Anruferin, sie sagt nämlich oder sie stottert eher schnell vor sich hin, aufgeregt und sagt „äah äah äah äah Fink“. Also nicht Schwobe; das heißt sie heißt gar nicht Schwobe oder Schrobe, sondern Fink. Ja, und was ist nun? Heißt die Frau jetzt Schwobe und der Mann Fink oder ruft sie von woanders an zum Beispiel von der Familie Schwobe? 3 H: Hier wäre reinzuinterpretieren, daß sie Fink heißt und sich die Vermutung bestätigt, die wir geäußert haben, daß sie sich bei Schwobe befindet. 4 T: Genau, daß sie von einem anderen Anschluß aus anruft, weil sie eventuell kein eigenes Telefon hat. 5 A: Dieses Stottern vor der Namensnennung, den man dann auf sie anwenden könnte, daß sie die Frau Fink ist, könnte hier eine kurze Pause darstellen, um ihre Gedanken fassen zu können. Weil sie ist ja jetzt aufgeregt: es liegt ihr Mann da und höchstwahrscheinlich sieht sie ihn noch, dann ist sie bei Schwobe und nun sagt der Polizeibeamte wieder den Namen Schwobe so wie er ihn verstanden hat und sie merkt, jetzt läuft was falsch hier. Ich bin doch nicht Schwobe, sondern ich bin doch Fink und nun will sie dieses Stottern nutzen, um ihre Gedanken fassen zu können und dem Polizeibeamten solche Informationen zu geben, wo sie denkt, daß die richtig sind. Und sie kann jetzt nur davon ausgehen, daß sie jetzt diesen Namen sagen sollte, weil eben der Polizeibeamte vielleicht nur nochmal so ein Schwobe einbringt und nicht nochmal fragt: „Sind sie die Frau Schwobe? Oder „Ist ihr Mann bei Schwobe?“, sondern sie denkt, sie macht das jetzt richtig, daß sie jetzt ihren Namen einbringt. 6 T: Das verwirrt ein bißchen. Deswegen sagt der Polizeibeamte auch nachfolgend „Der heißt Fink?“, der Mann also, wobei die Frau gar nicht nochmal so richtig darauf eingeht und das bestätigt, sondern ich vermute, daß sie die Frage gar nicht richtig verstanden hat. Denn nachfolgend sagt sie ja auch gleich „Ortsstraße 33“; sie gibt also den Ort an. Sie bestätigt praktisch nicht, daß sie oder ihr Mann Fink heißt oder sich woanders befindet, dies läßt sie hier offen. Sie geht gleich weiter und sagt „Ortsstraße 33“, eine konkrete Hausnummer gibt sie jetzt an.
204 Von mir gewähltes Pseudonym. „. . .“ bedeutet: Markierung einer aus dem Notrufprotokoll zitierten Stelle.
17. Fall 8: Medizinischer Notruf. Zweite Sequenzstelle
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7 C: Ich möchte aber noch einen Gedanken anbringen. Mit dem Wort Schwobe. Es kann ja genausogut sein, daß die beiden gar nicht verheiratet sind. Zu meinem Lebenspartner sage ich auch mein Mann, obwohl wir nicht verheiratet sind. Vielleicht hat sie jetzt das Bedürfnis mitzuteilen, daß es hier zwei Namen gibt, er vielleicht Fink und sie Schwobe heißt. Es kann aber auch durchaus sein, daß sie sich bei Schwobe aufhält. Beide Namen sind für den Polizeibeamten relevant. Wie man aus dem Text ablesen kann, bemerkt zwar T zu Beginn in Turn 2 gestaltangemessen, dass sich die Anruferin in „Zeile 7“205 des Notrufprotokolls berichtigt und man aus ihrem schnellen Stottern ablesen kann, dass sie sehr aufgeregt ist. Doch den nahe liegenden Schluss, dass sie durch die Nachfrage des Polizeibeamten aus dem Rhythmus kam, dass er mit seiner Nachfrage Verwirrung stiftete und besser gefragt hätte, wohin denn konkret der Krankenwagen kommen soll, ziehen weder er noch die anderen Studenten. Dabei stand A mit seiner Formulierung in Turn 5 – „. . . nun sagt der Polizeibeamte wieder den Namen Schwobe so wie er ihn verstanden hat und sie merkt, jetzt läuft was falsch hier“ – kurz vor der richtigen Lösung, fand sie aber nicht, weil er sich zwar nachvollzugshermeneutisch in die Perspektive der Anrufenden hineindachte und zum Ergebnis kam, dass sie erkannte, dass hier jetzt etwas falsch läuft, er aber nicht reflektierte, welchen Anteil der Polizeibeamte an dem von der Anruferin bemerkten ,Schief-Laufen‘ hatte. Mit anderen Worten: A bemerkte zwar die perlokutionäre Wirkung des illokutionären Sprechaktes des Polizeibeamten – wie auch implizit T im sechsten Turn –, zog daraus aber nicht den richtigen praktischen Schluss auf die Unangemessenheit des polizeilichen Handelns. Die unangemessenste Interpretation der vier Studenten liefert Studentin C im siebten Turn.206 Denn im Grunde genommen rechtfertigt sie mit ihrer Feststellung – „Beide Namen sind für den Polizeibeamten relevant“ – den bürokratischen Habitus des Polizeibeamten, weil für eine möglichst schnelle Krisenintervention nur der Name des Krisen- oder Notfallortes zählte, während der Name des Mannes hierfür bedeutungslos war. Dieser hatte nur Relevanz für die Bürokratie, für die formal-bürokratische Rationalität.
205
Ich folge an dieser Stelle der studentischen Zählweise. In meiner Fallbesprechung fragte der Polizeibeamte in Zeile 7 nach, was zur Verwirrung bzw. Irritation der Anruferin in Zeile 8 führte. 206 Und dies nicht nur bezüglich der polizeilichen Leistung, sondern auch familiensoziologisch. Doch darauf sei nur kurz hingewiesen. Denn der Fall war die polizeiliche Interaktionsleistung.
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D. Rezeptionsvergleich
Ergebnis Der Handlungsfehler des Polizeibeamten wurde von der Analysegruppe nicht herausgearbeitet. Es wurde nicht erkannt, dass der Polizeibeamte mit seiner Nachfrage – P: Schrobe? –, die in Zeile 7 des Notrufprotokolls207 abgebildet ist, Verwirrung stiftete.
18. Fall 9: Autounfall Nachdem im vorhergehenden Fall der Handlungsfehler des Polizeibeamten darin bestand, dass er nicht konkret nach der vom Krankenwagen anzufahrenden Notfalladresse fragte, galt es für die studentische Arbeitsgruppe im vorliegenden Protokollabschnitt, am Material herauszuarbeiten, dass der Polizeibeamte nach Erhalt aller krisenrelevanten Informationen nicht krisenbezogen handelte, sondern mit der bürokratischen Erfassung der persönlichen Daten des Mitteilers begann, womit er im Merton’schen Sinne wie ein „bureaucratic virtuoso“208 handelte. 1 T3: beim zweiten mal Verle- bricht er ab und ihm kommt dann (–) ah ich brauch ja den noch als Meldenter, weil des eben bei uns, in unserem Schema so is, daß noch der Meldende mit auszuführen is. \. . .209 T3 erkennt, dass der Polizeibeamte hier mit der Erfassung der bürokratischen Daten beginnt, was er nun, wenn er nicht selber über einen bürokratischen Habitus verfügt, kritisieren müsste. Denn an der von den Studenten erreichten Sequenzstelle hatte der Polizeibeamte bereits alle Informationen erhalten, die notwendig waren, um die Rettungsleitstelle über den Fall zu informieren. Selbst wenn man dem Polizeibeamten zugesteht, dass er die bürokratischen Daten benötigte, um von seinem Vorgesetzten nicht kritisiert zu werden, hätte er an dieser Stelle anders handeln müssen, wäre es wichtig gewesen, zunächst einmal die Rettungsleitstelle zu informieren und eigene Kräfte vor Ort zu schicken und danach erst die Mitteilerdaten abzufragen.
207
Vgl. Fußnote 203. Merton (1964), S. 199. 209 Notationszeichen: (-) kurze Pause Verle- Abbruch einer Äußerung (uv) unverständlich (also) unsichere Transkription 208
18. Fall 9: Autounfall
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Handlungsmodell210 (nach Erhalt der wichtigsten krisenrelevanten Informationen) 1. Anrufer bitten, am Apparat zu bleiben. 2. Information der Rettungsleitstelle und eigener Kräfte. 3. Fortsetzung des Gesprächs mit dem Anrufer. 4. Erfragen der notwendigsten bürokratischen Daten.
2 T3: . . ./ Und wo ich das eben nich versteh, er hat ja oben sicherlich schon die Namen notiert und jetz brauch er das noch ma als Meldenter. \. . . T3 artikuliert ein Nichtverstehen der polizeilichen Handlungsweise, wobei sich dieses nicht grundsätzlich auf die bürokratischen Fragen bezieht, sondern damit im Zusammenhang steht, dass er davon ausgeht, dass sich der Polizeibeamte bereits zu Beginn die Daten des Meldenden aufschrieb, dieser also von Beginn an aufmerksam, aufnahme- und schreibbereit war, womit er ihm implizit einen notrufangemessenen Habitus unterstellt. Diese Lesart ist jedoch mit dem Text nicht vereinbar. Im Gegenteil: Im Text abgebildet ist das Handeln eines Polizeibeamten, der zunächst einen Moment braucht, um aufnahmebereit zu werden. 3 T3: . . ./ Ich nimm (–) meiner Meinung nach hätte ich jetz jetzt erst mal den Mitteiler die Sicherheit gegeben daß die Sofortmaßnahmen getroffen sin. Er zögert das jetz durch die ganzen Nachfragen über den Meldenten noch mal ziemlich weit raus, den Mitteilenden zu beruhigen Nachfolgend merkt man, dass T3 an dieser Stelle wiederum nicht genau auf den Text eingeht, nicht dessen objektive Bedeutungsstruktur expliziert, sondern sich vielmehr selbst in die praktische Rolle des Polizeibeamten versetzt und aus dieser heraus formuliert, was er in der Situation gemacht hätte. Interessant ist hierbei, dass T3 dem Polizeibeamten unterstellt, zu diesem Zeitpunkt bereits Sofortmaßnahmen getroffen zu haben. Eine Lesart, die im Text nicht markiert ist. Wenngleich es sich hier um eine sequenzanalytisch schlechte Interpretationsleistung handelt, indizieren T3’s Ausführungen, dass er in dieser Situation dennoch das Richtige gemacht hätte, was nur zu erklären ist über einen stillschweigend operierenden Habitus. 4 T1: Ja (also) für mich is des (also) hier steht des ja nicht als behoben dar Die anschließende Bemerkung bezieht sich auf die vorhergehende Unterstellung, dass bereits Sofortmaßnahmen getroffen sind. Das, so T1, ist „für 210
Das Modell stellt einen von mir aufgestellten idealtypischen Ablauf dar.
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D. Rezeptionsvergleich
mich“ noch nicht „behoben“. Hier müssen seitens des Polizeibeamten noch Sofortmaßnahmen getroffen werden. 5 T3: Nee, ich meine 6 T1: (uv) 7 T3: ich meine, er, also, hier hätte ich jetz erst mal den Mitteiler beruhigt. „Ja also mit Verletzten, wir inform- informieren sofort die Rettungsleitstelle und kommen selber raus“. Hät ich jetzt an der Stelle schon gebracht, um den Mitteiler zu beruhigen. Stattdessen fängt er jetzt erstmal an, die Personalien abzufragen und beruhigt ihn vielleicht dann im Nachhinein erst. Die Reaktion von T3 indiziert, dass er sich falsch verstanden fühlt, wobei seine nachfolgenden Ausführungen die Lesart bestätigen, dass er über einen krisenangemessenen Habitus und ein dementsprechend angemessenes Handlungsverständnis verfügt. 8 T4: Das is jetz en Punkt, wo (–) wo ich der Meinung bin, da müsste vielleicht in Zukunft mal konkret auf solche Polizeibeamten, die am Notruf sitzen, äh eingegangen werden mit Schulung oder ähnlichem, \. . . T4 kommt nun auf die aus diesem Befund zu ziehenden praktischen Konsequenzen zu sprechen. Dabei macht er deutlich, dass er es für wichtig hält, dass zukünftig auf „solche“ am Notruf sitzenden Polizeibeamten mit „Schulung oder ähnlichem“ „eingegangen“ wird, wobei er offen lässt, was er mit letzterem Punkt meint: Training, Supervision oder kollegiale Unterweisung. 9 T4: . . ./ äh das vorausgesetzt werden kann, der Polizeibeamte, der am Notruf sitzt, der müßte (–) der müßte von Anfang an auf der Höhe sein. So wie der den Hörer abnimmt müßte der schon da sitzen, schreibbereit sein und sobald der Mitteiler die ersten äh Sachen jetzt rüber bringt äh von seiner Mitteilung, müßte der jetzt schon mitschreiben. Diese mehr oder weniger pädagogischen Interventionen wären nach T4 erforderlich, damit gewährleistet werden kann, dass die Polizeibeamten „von Anfang an auf der Höhe“ sind. Damit meint er, wie aus seinen nachfolgenden Ausführungen zu erkennen ist, dass Polizeibeamte mit Abnehmen des Hörers schreibbereit sein müssten.
19. Exkurs: Studenten in der Forscherrolle
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Ergebnis Die Studenten arbeiteten am Fall gut heraus, dass der Polizeibeamte nicht krisenbezogen handelte, und zogen daraus den nachvollziehbaren praktischen Schluss, dass es für die Zukunft wichtig wäre, Schulungen für Polizeibeamte am Notruf durchzuführen, um Fehler des analysierten Typs zu vermeiden.
19. Exkurs: Studenten in der Forscherrolle Zusätzlich zu den von mir im Rahmen der Seminararbeit geforderten Leistungen begaben sich in diesem Fall die Studenten in eine Forscherrolle. So suchten sie den Polizeibeamten, dessen Handeln sie zuvor sequenzanalytisch ausgewertet hatten, auf und baten ihn um ein Interview, das er ihnen auch gewährte.211 Dabei galt ihr Interesse der Frage, wie der Polizeibeamte sein Handeln nach Anhören der authentischen Tonbandaufnahme bewertete. „Herr X, Sie haben sich den Notruf mehrmals anhören können. Wie ist Ihrer Meinung nach der Gesprächsverlauf bezüglich des Inhaltes und des Ablaufes zu werten?“ „Für mich persönlich war das ein ganz normaler Notruf ohne jegliche Besonderheiten. Der Anrufer wirkte zwar ziemlich aufgeregt und sprach deshalb sehr schnell, was in solchen Situationen aber den Regelfall darstellt. Daraufhin habe ich dann die wichtigsten Informationen nach den gewohnten Schemen abgefragt und diese Informationen in das dafür vorgesehene Buch eingetragen. Hier wird nach dem Ereignis, dem Ort, den verletzten Personen, beteiligten Fahrzeugen und den Personalien des Anrufers gefragt.“ „Würden Sie aus heutiger Sicht auf Grundlage der jetzigen Nachbetrachtung einen anderen Gesprächsverlauf anstreben?“ „Ich sehe keine Veranlassung etwas zu ändern, da die Informationen ausreichend waren, um entsprechende Maßnahmen einzuleiten und es ein normaler Notrufeingang war. Außerdem hat sich dieses System in der Praxis bewährt.“
Aus seinen Antworten geht hervor, dass er seine objektiv bürokratische Handlungsweise nicht als Abweichung vom Normalfall interpretierte. Entsprechend sah er auch „keine Veranlassung“ dazu, „etwas zu ändern“, so211 Zur Erhebungssituation ist anzumerken, dass das Interview außerhalb des Dienstverkehrs stattfand. Dennoch erlaubte der Polizeibeamte den Studenten keine Tonbandaufnahme, sodass es sich bei den hier wiedergegebenen Interviewauszügen um mitstenographierte Dialogsequenzen handelt. Auch wenn die Studenten in der Seminararbeit keine weiteren Angaben zur Erhebungssituation machten (Raum, Anzahl der anwesenden Personen, Anwesenheit von Kollegen des Polizeibeamten usw.), handelte es sich nach Rückfrage um ein Gespräch zwischen ihnen und dem Polizeibeamten, bei dem keine weitere Person anwesend war.
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dass man sagen kann, dass eine erhebliche Diskrepanz zwischen seiner subjektiven Sicht und dem Ergebnis der Fallrekonstruktion bestand.212 Eine Diskrepanz, die diagnostisch interessant ist, weil sie 1. indiziert, welche Probleme für Polizeinovizen entstehen können, die von Beamten mit einem solchen Habitus in der Praxis angelernt werden; 2. deutlich macht, wie wichtig eine Sensibilisierung für die Problematik dieser Handlungsweise ist.213 – Ende des Exkurses
20. Fall 10: Unfallflucht Abschließend möchte ich anhand eines Protokollauszugs zeigen, dass die Studentinnen IR und IE214 bei der Interpretation des von ihnen erhobenen Notruftextes schnell erkannten, dass der Polizeibeamte unangemessen handelte.
212 Wie Oevermann [(1990), S. 8] schreibt, ist „das Verhältnis von Selbstbild [zur Fallstrukturierungsgesetzlichkeit, T. L.] (. . .) in sich ein für die Einschätzung der praktischen Problemstellung wichtiger Sachverhalt. (. . .) Es liegt auf der Hand, daß natürlich die Erfassung des Selbstbildes für sich noch nicht aussagekräftig ist. Erst wenn man es auf die zugleich bzw. vorab rekonstruierte objektive Fallstrukturierungsgesetzlichkeit beziehen kann, wird daraus ein wichtiges Datum.“ Zur „Differenz zwischen objektiven, sozialen, kulturellen oder geistigen Strukturen einerseits und ihren subjektiven mentalen Repräsentanzen andererseits“ vgl. auch Oevermann (1983 b), S. 115 f.; ders. (1997 a), S. 159; ders. u. a. (1979), S. 360. Oder auch Leber/Oevermann (1994), S. 388: „Von diesen Fallstrukturen sind nun scharf die Selbstbilder oder die Konzeptionen zu unterscheiden, die Fälle aufgrund ihrer sprachlich konstituierten Reflexionsfähigkeit von sich selbst haben. Ein entscheidender Fehler vieler Auffassungen in den Sozialwissenschaften beruht darin, die Selbstbilder von Fällen mit deren Besonderheit gleichzusetzen. Fallstrukturen sind objektive Gebilde, die nur in Grenzfällen subjektiv authentisch ein Bild von sich selbst haben. Demgemäß ist diesem subjektiven Begriff von Authentizität ein objektiver Begriff von Authentizität vorgelagert. Er meint die objektive Relation der Gültigkeit einer Ausdrucksgestalt zur Fallstruktur bzw. Lebenspraxis, die sich darin ausdrückt.“ 213 Der Polizeibeamte wäre indes noch kein Kandidat für eine Supervision im klassischen Sinne gewesen. Denn ihm fehlte der Leidensdruck: weder war er ratlos, noch hatte er ein ungelöstes Problem. Zum Begriff der Supervision s. Oevermann (1993 b), S. 163. Es handelt sich hier „primär“ um „Kontrollen darüber, daß ein berufliches Handeln (. . .), das nicht in einem determinierten und damit programmierbaren technischen Ablauf besteht, sondern dem Geiste nach ein idealtypisches Modell fallspezifisch konkret und offen je angemessen realisieren soll, nicht in falsche Routinen oder angesichts der spezifischen Problematik konkreter Fälle in unbemerkte Abweichungen vom idealtypischen Modell abgleitet. Die Kompetenz im Sinne des Bewußtseins vom idealtypischen Modell muß immer wieder aufgefrischt werden“. Oevermann (1993 b), S. 162. 214 Eine Seiteneinsteigerin und eine Praxisbeamtin.
20. Fall 10: Unfallflucht
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So konstatierte IR215 im unmittelbaren Anschluss an IE’s Hinweis, dass „der Bürger gleich den Pkw“ angab, „welcher sich vom Unfallort da entfernt hat (. . .) und auch das Kennzeichen“ – 1 IR: So wäre auch eh ne Fahndungsmaßnahme gleich möglich also man könnte sie gleich einleidn, – dass mit dieser Information gleich die Einleitung einer Fahndung möglich gewesen wäre. 2 IE: Die Angabn des Bürgers (Lachen) sind erst mal ausreichend (--) nachdem (-) der Polizist eine kurze Sachverhaltsschilderung ah erfahren hat, hätte er hier zum Beispiel anstatt (-) zu wiederholn der Fahrer is weg (-) hätte er nach Verletzten fragen können (-) und wo sich der Unfall genau befindet (-) um eventuell die Rettungswagen dort hinzuschickn Die nachfolgenden Ausführungen lassen erkennen, dass IE zwar grundsätzlich der Schlussfolgerung ihrer Kollegin IR zustimmt, es aber für wichtiger hält, dass der Polizeibeamte zunächst nach der Anzahl verletzter Personen und nach dem genauen Krisenort fragt und erst dann Fahndungsmaßnahmen einleitet. Damit kritisiert sie nicht nur das Handeln des Polizeibeamten in Zeile 10 des Notruftextes als fallunangemessen, sondern korrigiert implizit auch IR, die als erste Maßnahme an die Einleitung einer Fahndung dachte. Zugleich entwirft sie ein Handlungsmodell, nach dem die Abklärung der Krise Vorrang vor der Einleitung von Ermittlungs- und Verfolgungsmaßnahmen hat. Handlungsmodell 216 Abklärung der Krisenhaftigkeit der Situation bezüglich verletzter Personen geht vor Einleitung von Fahndung zwecks Täterermittlung/Strafverfolgung
Daraus folgt, dass der Polizeibeamte am Notruf nicht nur, wie bereits an anderer Stelle expliziert, einen fallangemessenen Spagat ausführen muss zwischen bürokratischer Erledigungshandlung und Krisenintervention, sondern auch zwischen Krisenintervention und Täterermittlung/Strafverfolgung. Was von IE naturwüchsig erkannt wurde.217
215 Notationszeichen: (-) Kurzes Absetzen, kurze Pause (--) längere Pause (ca. 2 Sekunden) 216 Auch bei diesem Modell handelt es sich um einen von mir aufgestellten idealtypischen Ablauf.
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Ergebnis Die Studentinnen arbeiteten am Fall gut heraus, dass der Polizeibeamte unangemessen handelte. Dabei entwarf Studentin IE implizit ein Handlungsmodell, das durchaus Eingang in ein Einsatzlehrebuch hätte finden könnte.
21. Fall 11: Randale am Zeitungskiosk Nachfolgend werde ich mich der Frage zuwenden, ob die Studenten R, F und U im Zuge ihrer sequentiellen Besprechung des Notrufprotokolls erkannten, dass sich der Polizeibeamte zu Beginn der Interaktion zu passiv verhielt, dass er bei der restringiert sprechenden Anruferin die Gesprächsinitiative hätte übernehmen müssen, wozu sich beispielsweise die Frage ,Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Friedrich?‘ angeboten hätte. 1 R: In der dritten Zeile \. . . R’s Bezugnahme auf die dritte Zeile, bei der es sich um die hier zu analysierende Textstelle handelt, lässt im Abgleich mit der in der Seminararbeit präsentierten Notrufverschriftung218 zwei Lesarten zu. Entweder wurde der ursprünglich diskutierte Text ,redaktionell‘ überarbeitet.219 Oder R referierte mit Zeile 3 auf Turn 3 des Gesprächs.220
217 Naturwüchsig deswegen, weil sie dieses Modell noch nicht schulisch vermittelt bekommen hatte (z. B. im Fach Einsatzlehre), wie meine Nachfrage ergab. Die Verwandtschaft ihres Modells zu dem von mir zu Beginn der Einübung in die Methode erläuterten Spagatmodell ist offensichtlich. 218 01 P: Polizei! 02 A: Ja eh, 03 (1,0) 04 kleinen Moment, 05 (1,0) 06 hier ist die Frau Friedrich aus’m Zeitungskiosk. 07 P: Mhm 08 A: Und hier ist der Andreas >Wie heißt Du?< 219 Eventuell aus textästhetischen Gründen. Oder um die interpretationsrelevanten Pausen klarer herauszustellen. Notationszeichen: (antwortet) unsichere Transkription (1.0) Pause in Sekunden (-) Kurzes Absetzen = schneller Sprechanschluss ? Frageintonation º leise gesprochen „. . .“ Markierung einer aus dem Notrufprotokoll zitierten Stelle. 220 Vgl. hierzu Fußnote 29.
21. Fall 11: Randale am Zeitungskiosk
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2 R: . . ./ (antwortet) der Polizist natürlich dazwischen und sagt „Mhm“ (1.0) \. . . Wie seine anschließende Äußerung zeigt, interpretiert er den zu analysierenden Text so, als habe der Polizeibeamte die Anruferin221 in ihrem Redefluss durch das „mhm“ unterbrochen. Diese Lesart ist indes vom Text nicht gedeckt, entspricht also nicht dem Wörtlichkeitsprinzip, denn weder ist durch ein Notationszeichen markiert, dass die Anruferin unterbrochen wurde, noch legt die Satzstruktur diese Lesart nahe. Vielmehr lässt sich aus dem Text ablesen, dass es sich hier um ein Feedback-Zeichen handelt,222 welches signalisiert, dass der Polizeibeamte den Ausführungen der Frau gefolgt ist, dass er sie verstanden hat und sie ruhig weiter sprechen kann. Und genau hier liegt das zu erkennende Problem. Ein kompetenter Polizist hätte nämlich in diesem Fall heraushören müssen, dass eine Frau anruft, die zwar möglicherweise einen Notfall hat,223 aber nur sehr eingeschränkt in der Lage ist, sich aus ihrem Konkretismus224 herauszuarbeiten und den Fall von sich aus möglichst knapp auf den Punkt zu bringen.225 Aus diesem Grund hätte es sich angeboten, die Anruferin ganz sachlich zu fragen: ,Ja warum geht’s denn Frau Friedrich, was können wir denn da tun?‘; oder: ,Frau Friedrich, wie können wir Ihnen denn helfen?‘. Und dann abzuwarten, was sie erwidert, um einschätzen zu können, ob es sich hier tatsächlich um einen akuten Notfall handelt, der schneller polizeilicher Intervention bedarf. Genau dies macht der Polizeibeamte aber nicht. Womit er einen Fehler macht, den R an dieser Textstelle nicht erkennt. 3 R: . . ./ Das ist eigentlich ein bißchen wenig. Im Sinne der Sparsamkeitsregel226 kann man hier davon ausgehen, dass sich die anschließende Wertung auf die Leistung des Polizeibeamten und nicht auf die Feststellung bezieht. Die Kritik lautet folglich: Dass der Polizeibeamte die Anruferin mit dem „mhm“ unterbrach, war „ein bißchen wenig“. Und sie lautet nicht, dass die Frau doch „eigentlich ein bißchen wenig“ durch den Polizeibeamten unterbrochen wurde. 221 Dass es sich hier um eine Anruferin handelt, geht aus dem bis an dieser Stelle interpretierten Text hervor. 222 Zu diesem Zeichenbegriff vgl. Bourdieu (1997), S. 783. 223 Der Polizeibeamte muss, bis er definitiv etwas anderes weiß, von der Grundregel ausgehen, dass die Situation ohne polizeiliche Intervention nicht mehr bewältigt werden kann. 224 Oevermann (1972), S. 185. 225 Dass sie im restringierten Code kommuniziert, indiziert auch, dass sie große Schwierigkeiten hat, ihre subjektive Intention klar zu signalisieren. Oevermann (1972), S. 184 f. 226 Vgl. hierzu Fußnote 39.
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D. Rezeptionsvergleich
4 F: = Bißchen schwach, eigentlich hätte er jetzt sagen müssen, wie kann ich Ihnen helfen? \. . . Einer Wertung, der sich auch F anschließt, der dann noch hinzufügt, dass der Polizeibeamte „jetzt“ genau genommen „wie kann ich Ihnen helfen?“ hätte „sagen müssen“. Damit gibt er implizit zu verstehen, dass der Polizeibeamte die Kommunikation durch diese Hilfe anbietende Frage aktiver hätte gestalten müssen. 5 F: . . ./ ºweil wenn man annimmt, daß man einen Notruf wählt, daß es sich wirklich um eine Notsituation handelt, also sowas, was dringend unter den Nägeln brenntº Er begründet dies damit, dass man in Fällen, wo jemand den Notruf anruft, davon ausgehen muss, dass ein Notfall vorliegt, wo jemand ein dringendes Problem hat, das man möglichst schnell in Erfahrung bringen muss. 6 R: Vielleicht ist das aber auch nur so’n Pausenfüller, weil die Frau ja noch nicht fertig war mit erzählen. Er wollte eh (-) der Anruferin eigentlich die Gelegenheit geben auszusprechen \. . . Dieser Lesart stimmt R nicht zu. Stattdessen schlägt er eine andere Interpretationsrichtung ein, indem er zum Ausdruck bringt, dass er es „auch“ für möglich hält, dass das „mhm“ vom Polizeibeamten als „Pausenfüller“ benutzt wurde und die Funktion hat, der Frau „die Gelegenheit zu geben auszusprechen“. Womit er – wie bereits in Zeile 2 – eine Lesart liefert, die im Text nicht markiert ist. 7 R: . . ./ Das kommt dann in der vierten Zeile ganz gut rüber (1.0) in der Zeile sagt die Anruferin dann wieder „ja, eh und hier ist der Andreas, wie heißt du“ und wendet sich bei dem „wie heißt du“ ab, also ist davon auszugehen, daß sie nicht alleine ist (1.0) R laboriert in der falschen Richtung weiter. Denn was „in der vierten Zeile ganz gut rüber“ kommt, ist im Grunde genommen, dass die Anruferin sich aus ihrem Konkretismus nicht befreien kann, dass sie jetzt sogar noch einen Dritten in ihre Krisenerzählung mit einbezieht. In dieser Form wäre das wahrscheinlich nicht erfolgt, wenn der Polizeibeamte mit der Frage ,Wie kann ich ihnen helfen?‘ das Gespräch strukturiert hätte. Denn dann wäre die Anruferin kommunikativ entlastet gewesen, hätte sie auf Fragen antworten können, während ihr durch die Nicht-Gesprächsübernahme die Strukturierungslast der weiteren Kommunikation obliegt, die sie eindeutig überfordert.
21. Fall 11: Randale am Zeitungskiosk
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8 F: Da möchte ich dazu sagen, vielleicht hat der Polizist durch sein „Mhm“ die Dame ein bißchen aus dem Konzept gebracht in der Form, \. . . Während F zuvor richtig interpretierte, schlägt nun auch er einen falschen Interpretationsweg ein. Denn seine Lesart, dass die Frau durch das „mhm“ „aus dem Konzept gebracht“ wurde, präsupponiert, dass sie ein Konzept hatte, weil man logischerweise nur jemanden aus dem Konzept bringen kann, der über ein solches verfügt.227 9 F: . . ./ weil die hatte wahrscheinlich gesagt oder wollte den Sachverhalt schildern, \. . . Wovon nun auch F – wie seine anschließende Formulierung indiziert – auszugehen scheint. 10 F: . . ./ weil er so dann gesagt hat „Mhm“, hat sie sich dann überfordert gefühlt bei der ganzen Sache \. . . In der Folge stellt er die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf. Dass sich die Frau „überfordert“ fühlte, so seine Argumentation, sei Folge der Unterbrechung durch das „mhm“ gewesen. Was heißt: Hätte der Polizeibeamte sie nicht unterbrochen, wäre es nicht zu der Überforderung gekommen. 11 F: . . ./ Und hat dann eigentlich das von hinten aufgezogen Und dann wäre es für sie kein Problem gewesen, den Sachverhalt richtig darzustellen. Doch so zog sie die Darstellung „von hinten“ auf. Was andernfalls, so kann man ergänzen, nicht passiert wäre. 12 U: Ich würde sagen, das „Mhm“ war von dem Polizeibeamten taktisch sehr unklug an dieser Stelle. \. . . Nun schaltet sich auch U in die Diskussion ein, der gewissermaßen das Urteil verkündet. Es lautet: Der Polizeibeamte handelte an dieser Sequenzstelle „taktisch sehr unklug“. Wobei nun interessant ist, wie er das Urteil begründet. Ob die Begründung lautet: Er handelte „sehr unklug“, weil er die Anruferin durch das „mhm“ unterbrach, wie dies zuvor von R und F formuliert wurde; dann wäre dies eine nicht sachangemessene Begründung.
227 Und nur dann ist es im eigentlichen Sinne manchmal ärgerlich. Wer kein Konzept hat, beruft eine Arbeitskommission ein, wie es scherzhaft im Ministerialbereich heißt.
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D. Rezeptionsvergleich
Oder ob die Begründung lautet: Er handelte taktisch sehr unklug, weil er nicht erkannte, dass sein non-direktives „mhm“ nicht geeignet war, um der Anruferin, die enorme Darstellungsschwierigkeiten hatte, zur Sprache zu helfen. Dann handelte es sich um eine gestaltrichtige Begründung. 13 U: . . ./ Er hätte die Frau, die Anruferin aussprechen lassen können, weil, sie schildert ja dann erstmal den Sachverhalt im Zusammenhang. Da kann man sich doch als Polizeibeamter in der Notrufsituation ein besseres Bild von dem ganzen Sachverhalt machen. Wenn ich jetzt die Frau durch das „Mhm“ unterbreche, wie das hier der Fall ist, wird ja der Denkablauf der guten Frau, die jetzt Hilfe sich erwünscht, unterbrochen und dadurch kommt es zu ner Störung im Ablauf ihrer Gedanken. Wie man sehen kann, argumentiert U im Sinne der ersten Lesart, der gemäß das „mhm“ eine Unterbrechung der Schilderung des Sachverhalts und des „Gedankenablaufs“ der Anruferin bewirkte. Diese Lesart ist indes im Text nicht markiert, und das heißt, von ihm nach dem Wörtlichkeitsprinzip nicht erzwungen und damit methodisch verboten.228 Ergebnis Ich breche die Sequenzanalyse an dieser Stelle ab. Sie hat gezeigt, dass sich F durch die Intervention seines Kollegen R von seiner zuvor richtigen Diagnose abbringen ließ und die Sequenzstelle in der weiteren Folge dann nicht gestaltangemessen ausgelegt wurde, weil auch U unangemessen interpretierte. Das Problem bestand nämlich nicht, wie die Studenten diagnostizierten, darin, dass die Anruferin durch das „mhm“ unterbrochen wurde, sondern im Gegenteil darin, dass der Polizeibeamte das Gespräch durch sein non-direktives „mhm“ nicht aktiv führte, dass er zu passiv und zu wenig geburtshelferisch war, um das Problem der Anruferin möglichst schnell zur Sprache (und damit ,zur Welt‘) zu bringen.
22. Exkurs: Auslegung der ersten Zeile „Notruf“ Nachdem ich bereits in der vollständigen Rezeptionsanalyse kurz beschrieben habe, wie die Studenten mit der Eröffnung „Notruf“ analytisch umgingen, möchte ich nun anhand eines Falles detaillierter untersuchen, wie die Studenten H229, T, A und Studentin C die Eröffnungsformel „Not228
s. Fußnote 19. H war Seiteneinsteiger, während die anderen Diskutanten bereits über Berufserfahrungen in der Polizeipraxis verfügten. 229
22. Exkurs: Auslegung der ersten Zeile „Notruf‘‘
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ruf“ analysierten, die zusammen mit der Formulierung „Polizeinotruf“ den statistischen Normalfall darstellt, wie meine Auszählung der Eröffnungsformulierungen – Eröffnungen N = 65 Polizeinotruf Polizeinotruf [Stadt] Notruf Polizei Notruf der Polizei Notruf Polizei [Stadt] Notruf 110 Notruf Notruf, bitte Polizei Polizei [Stadt] Nichtprotokollierter Anfang
25 2 2 4 1 1 11 1 3 1 14
– in den studentisch erhobenen Fällen zeigte. 1 H: Was sagt uns jetzt Notruf? \. . .230 H beginnt methodisch so, wie im Unterricht besprochen, mit der Frage nach der Bedeutung der ersten Zeile, die auf eine Explikation der Bedeutung von „Notruf“ zielt. 2 H: . . ./ Notruf (–) der Polizeibeamte sagt zwar jetzt Notruf, aber nicht Polizeinotruf, weil es gibt ja verschiedene Notrufe \. . . Da kein anderer aus der Gruppe das Wort ergreift, schließt H an seine eingangs gestellte Frage an und bemerkt, dass der Polizeibeamte nicht „Polizeinotruf“ sagt, sondern nur „Notruf“. Damit gibt er implizit zu verstehen, dass die Meldung mit „Notruf“ im Verhältnis zu „Polizeinotruf“ unspezifisch ist. Ein richtiger Hinweis, wobei an der Argumentation auffällt, dass H wie selbstverständlich von „Polizeinotruf“ als normaler Eröffnung ausgeht, was im Sinne eines empiristischen Modells auch stimmt, wenngleich eben daraus nicht zwingend folgt, dass diese Formulierung damit der Kritik enthoben ist. Dies sagt H an dieser Stelle auch nicht, im Unterricht aber war dies ein typischer Einwand gegen meine Kritik.
230
Notationszeichen: (–) kurze Pause.
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D. Rezeptionsvergleich
3 H: . . ./ Da weiß die Anruferin erst mal gar nicht, wo sie gelandet ist Nachdem H zunächst richtig feststellte, dass die Formulierung „Notruf“ unpräzise ist, fällt an seiner Anschlussäußerung erstens auf, dass er an dieser Sequenzstelle wie selbstverständlich von einer „Anruferin“ spricht. Da in der Transkriptionssymbolik nicht markiert ist, ob es sich um einen Anrufer oder um eine Anruferin handelt, kann man erschließen, dass H in Kenntnis der Tonbandaufnahme interpretiert. Zweitens ist dieser Äußerung zu entnehmen, dass H wie selbstverständlich davon ausgeht, dass die Anruferin aufgrund der unspezifischen231 Meldung nicht „weiß (. . .), wo sie gelandet ist“, was eine zwar mögliche, aber nicht strikt aus dem vorliegenden Text abgeleitete Lesart ist. Denn ein textgedeckter Schluss auf das Bewusstsein der Anruferin lässt sich aus der technischen Meldung nicht ziehen. Wenngleich durchaus richtig ist, dass es sich bei „Notruf“ um eine unpräzise Meldung handelt, folgt daraus nicht zwingend, dass die Anruferin nicht „weiß (. . .), wo sie gelandet“ ist. Sequentiell gesehen gibt erst die nachfolgende Äußerung von A Aufschluss über die perlokutionäre Wirkung des polizeilichen Sprechaktes. Man könnte höchstens zur Lesart kommen: ,Es kann sein, dass A nun nicht weiß, wo sie gelandet ist.‘ Aber so formuliert H nicht. 4 C: Naja, ich meine, ob der da nun „Polizeinotruf“ sagt oder „Notruf“232 (–) ich finde, die Begrüßung ist kurz und präzise und irgendwo weiß sie ja doch, daß sie an der richtigen Stelle ist Daraufhin erwidert nun C widerwillig, H nicht zustimmend, dass sie die Differenz für unbedeutend hält. Sie finde die „Begrüßung“ kurz und präzise. Zu dieser Interpretation ist zu sagen, dass eben die Eröffnung mit „Notruf“ keine Begrüßung darstellt.233 Vielmehr handelt es sich um die un231
Wie ein kurzer Blick in regionale und überregionale Tageszeitungen zeigt, gibt es Notrufe für die unterschiedlichsten Notfälle. Hierzu zählen u. a. der PolizeiNotruf, der Giftnotruf, der Gas-Notruf, der Strom-Notruf, der Opfer-Notruf, der Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen. 232 Wie schwer die Sensibilisierung für eine notrufangemessene Kommunikation war, kann man daran ablesen, dass in der Seminararbeit von nur sechs Studenten (N = 68) eine Kritik an den Formulierungen „Polizeinotruf“ oder „Notruf“ erfolgte. 233 Wie Müller-Tucholski in seiner Diplomarbeit aus dem Jahre 1993 herausgearbeitet hat, ist die Eröffnung von Telefongesprächen – wobei er „mundane talk-ininteraction“ und keine „institutional talk-in-interaction“ untersuchte [zu dieser Differenz s. Whalen/Zimmerman (1990), S. 467] – kulturspezifisch verschieden geregelt. Während sich nämlich in Deutschland und Holland der Angerufene in der Regel mit Namen meldet, ist es in England die Regel, dass der Angerufene sich mit der Nummer meldet, und in den USA, in Frankreich und in den meisten anderen westeuropäischen Ländern erfolgt die Meldung durch „hello“, „âllo“ oder „pronto“ oder einen vergleichbaren Zuruf. Aus der Differenz zwischen der Eröffnung des Telefon-
22. Exkurs: Auslegung der ersten Zeile „Notruf‘‘
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persönliche, technische Meldung einer angerufenen Stelle, die zwar kurz, aber keineswegs präzise ist. Denn die Anruferin kann der Meldung im Sinne des Wörtlichkeitsprinzips nicht entnehmen, wie von H zuvor richtig gesehen, welchen Notruf sie erreicht hat, während nun C argumentiert, dass die Anruferin schon „irgendwo“ wisse, dass sie an der richtigen Stelle sei. Damit formuliert sie implizit, dass es für die Orientierung der Anruferin nicht wichtig ist, ob der Polizeibeamte jetzt „Notruf“ oder „Polizeinotruf“ sagt, der Polizeibeamte folglich nicht falsch gehandelt hat. 5 T: Ich würde sagen, das ist von dem Polizeibeamten hier richtig gemacht \. . . T schließt sich hier kritiklos der Argumentation von C an. 6 T: . . ./ Ohne große Floskeln (–) Guten Tag (-) Schönen guten Tag (–) hier gleich Notruf \. . . Und begründet dann, warum der Polizeibeamte richtig handelte. An seiner Begründung fällt auf, dass er die beiden Grußvarianten „Guten Tag“ und „Schönen guten Tag“ als „Floskeln“ bezeichnet, als formelhafte, „nichts sagende Redewendungen“,234 was natürlich mit einer struktural hermeneutischen Analyse von Begrüßung als Beispiel für „elementare Formen der Sozialität“235 nichts zu tun hat. Denn dann hätte die Argumentation lauten müssen, dass es sich bei „Guten Tag“ und „Schönen guten Tag“ um Grußvarianten und Sprechakte zur Eröffnung eines Gesprächs handelt, wobei das Gespräch erst wirklich eröffnet und konkrete Spezialität erst hergestellt ist, „wenn das begrüßte Subjekt (. . .) seinerseits sich durch Begrüßung gebunden hat, wenn also Wechselseitigkeit in der Bindung aneinander hergestellt ist“.236 Doch so argumentiert T, wie im Übrigen auch die Studenten, welche die Methode der Sequenzanalyse ansonsten gut anzuwenden gesprächs mit und ohne Namensnennung ergeben sich letztlich zwei verschiedene Eröffnungsmodelle. Erstens das deutsch-holländische Modell: 1. Klingeln – 2. Meldung des Angerufenen durch Namensnennung – 3. Identitätseröffnung des Anrufers – 4. Begrüßung des Anrufers durch den Angerufenen – 5. Erwiderung der Begrüßung durch den Anrufer und Beginn der Füllung der Telefongesprächspraxis. Und zweitens das Modell: 1. Klingeln – 2. Hallo, „hello“ [Schegloff (1979); Psathas (1995), S. 14], „âllo“ [Godard (1977)], „pronto“, Nennung der Telefonnummer [britische Variante] – 3. Identitätseröffnung des Anrufers – 4. Identitätseröffnung des Angerufenen – 5. Begrüßung des Angerufenen durch den Anrufer – 6. Erwiderung der Begrüßung durch den Angerufenen und Beginn der Füllung der Telefongesprächspraxis. 234 Duden [(1997), Bd.7], S. 196. 235 Oevermann (1996 d), S. 2. 236 Ebd., S. 3.
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D. Rezeptionsvergleich
verstanden, nicht,237 was mich dazu bewog, in nachfolgenden Jahrgängen die Regelgeleitetheit sozialen Handelns am Beispiel des Begrüßungshandelns mit in die Einführung in das Fach Soziologie aufzunehmen.238 7 T: . . ./ die Frau weiß sofort, daß sie richtig gewählt hat, daß sie jetzt loslegen kann, die ist richtig verbunden \. . . T argumentiert auf der Linie von C, wobei für ihn fest steht, dass die Anruferin sofort weiß, „daß sie jetzt loslegen kann“, dass ihr praktisch geholfen werden wird. Genau dies ist aber aus der diskutierten Sequenzstelle
237
Auch diese Studenten sprachen durchgängig von Begrüßungsfloskeln. Dies erfolgte erstmals im Jahr 2000, als ich Andreas Müller-Tucholski als Lehrbeauftragten meiner Fachgruppe damit beauftragte, die Begrüßung struktural hermeneutisch [vgl. Oevermann (1983 a), S. 237 ff.; ders. (1995 b), S. 42 f.; ders. (1996 a), S. 6 ff.; ders. (2000 c), S. 66] zu behandeln. Das Problem, was sich in der Praxis zeigte, war, die theoretischen Ausführungen Oevermanns zu „Regeln, die wie ein Algorithmus operieren und an einer gegebenen Sequenzstelle den Spielraum sinnlogisch möglicher Anschlüsse erzeugen bzw. festlegen (Parameter I), und dem Ensemble von Faktoren, Dispositionen und Motiven, die für eine gegebene Handlungsinstanz welchen Aggregierungsniveaus auch immer (. . .) determinieren, welche Auswahl aus dem Spielraum von Anschlußmöglichkeiten tatsächlich getroffen wird (Parameter II)“ [(1995 b), S. 42; Hervorhebungen im Original; des Weiteren auch Oevermann (1996 a), S. 6 ff.], in eine für die Polizeistudenten – die wohlgemerkt nicht Soziologie studierten – verständliche Sprache zu übersetzen, ohne das Oevermann’sche Modell zu deformieren. Dabei fand die folgende Abbildung recht gute Resonanz: 238
Die Begrüßungsregel
Grußerwiderung Grußinitiierung A
B Grußverweigerung
Initiierungsverweigerung
Bedeutung: Die Grußinitiierung bedeutet ein Angebot zur Konstitution einer gemeinsamen Praxis. Die Initiierungsverweigerung bedeutet die Verweigerung einer gemeinsamen Praxis (tendenziell Feindschaft). Die Grußerwiderung bedeutet die Annahme des Angebots einer gemeinsamen Praxis und ist damit die Beschließung der Grußhandlung und zugleich die Besiegelung der Einrichtung einer gemeinsamen Praxis.
s. Müller-Tucholski (2001), S. 2.
22. Exkurs: Auslegung der ersten Zeile „Notruf‘‘
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nicht zu erkennen. Weder kann nämlich T an dieser Sequenzstelle wissen, ob die Anruferin weiß, dass sie richtig gewählt hat und richtig verbunden ist, noch kann er wissen, ob die Anruferin weiß, dass sie unmittelbar „loslegen kann“. T kann beides nur vermuten, unterstellen oder kognitiv oder normativ erwarten, wie man in Anlehnung an das Luhmann’sche Erwartungsmodell239 sagen kann. 8 T: . . ./ Ihr wird praktisch jetzt geholfen T urteilt, dass der Frau nun praktisch geholfen wird, wobei man im Hinblick auf die Gesprächsführung eher sagen könnte, dass ihr durch das ,opening‘ nicht geholfen wird, weil sie mit der Darstellung der Krisensituation beginnen muss und ihr (aufgrund einer fehlenden Einstiegsfrage) die volle Strukturierungslast der Kommunikation obliegt. Im schlimmsten Fall ist die Frau sogar irritiert, wenn sie „Notruf“ hört, denn faktisch ist sie es, die den „Notruf“ absetzt, und nicht der Polizeibeamte, der sich so meldet. Und das könnte sie daran hindern, eine abstrakte Übermittlung der Krisensituation noch durchführen zu können. Wichtig für die praktische Nutzanwendung wäre es daher, ein Schema einzurichten, das auf jeden Fall verhindert, dass die auf den Normalfall des Notrufs bezogene Kommunikation sich nicht realisiert. Man müsste mithin alles dafür tun, dass die Notrufkommunikation sich erst mal realisiert, also der Anrufer möglichst schnell zur Sprache bringen kann, was der Fall ist. In diesem Kontext brachte ich dann den Vorschlag, dass die Einleitung: ,Wie kann ich Ihnen helfen?‘ angemessener für die Gesprächsführung sei, als wenn der Polizeibeamte nur sagte „Polizeinotruf“. Denn die Eröffnung „Polizeinotruf“ reduziert die kommunikative Praxis auf einen technischen Vorgang, auf einen Signalaustausch, der keine wirkliche Kommunikation darstellt. Zudem weiß bei dieser Eröffnung der Sender nur, dass er richtig gewählt hat, er weiß aber nicht, mit wem er spricht, weil sich der angerufene Polizeibeamte bei dieser Form von „institutional talk“240 im ersten Turn nicht persönlich meldet, sondern mit dem Namen der Institution und/ oder der Nummer der erreichten Stelle. Was zu analogen Problemen führen kann wie bei Eröffnungen nach dem zweiten Eröffnungsmodell, wo der Anrufer ebenfalls nicht weiß, mit welcher Person er konkret spricht, und genau dies Probleme verursachen kann, ins Gespräch zu kommen, insbesondere in Krisensituationen, in denen man der konkreten Ansprache bedarf.241 239
Luhmann (1983), S. 40 ff. Whalen/Zimmerman (1990), S. 467. 241 Zur generellen Bedeutung persönlicher Ansprache im Erstkontakt von Helfern und Patienten s. Lasogga/Gasch (1997), S. 37. Spezifisch bezogen auf Telefonkommunikation s. Fertig (1997 a), S. 327. 240
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D. Rezeptionsvergleich
9 A: Na klar \. . . A stimmt der falschen Interpretation von T zu. 10 A: . . ./ das Wort Notruf heißt ja einerseits Not, also hier bin ich richtig, wenn ich Not habe, \. . . Und begründet dann seine Zustimmung, indem er zunächst auf die Bedeutung der linken Seite des Kompositums Notruf eingeht und weiter ausführt, dass „Notruf“ das Wort Not beinhalte und bei der Anruferin wie selbstverständlich, sozusagen routinehaft zur Schlussfolgerung führe, dass sie die richtige Stelle erreicht habe, wenn sie sich in Not befinde. 11 A: . . ./ hier kann ich rufen, hier kann ich was sagen, wenn ich Not habe Danach geht er auf den zweiten Teil des Wortes ein, wobei er hier nahtlos an seine vorherige Interpretation anschließt, indem er davon ausgeht, dass die Anruferin, die verstanden hat, dass sie in ihrer Notsituation an der richtigen Stelle angekommen ist, hier nunmehr rufen bzw. etwas mitteilen „kann“. Indes geht er an dieser Stelle mit keinem Wort darauf ein, dass es keineswegs sicher ist, dass die Äußerung Notruf in dieser unproblematischen Weise verstanden wird, ja dass man sich sogar vorstellen kann, dass ein Anrufer, der hört, dass die seinen Notruf entgegennehmende Stelle sich mit Notruf meldet, verstört wird, weil er es doch ist, der einen Notruf hat oder durchgibt und nicht die andere Seite. Da aber A das Wort ausschließlich aus der Perspektive der Anruferin interpretiert, hingegen nicht analysiert, wie im Sinne der objektiven Hermeneutik der Sachverhalt zu interpretieren ist, wenn ein Polizeibeamter, der für die Entgegennahme von Notrufen zuständig ist, sich zu Beginn eines eingehenden Telefonats mit „Notruf“ meldet, entgeht ihm auch die Paradoxie dieses ,openings‘, auf die ich die Studenten im Unterricht im Rahmen der Vorstellung der Modellfälle aufmerksam zu machen versucht hatte.242 12 C: Was anderes gibt’s hier auch nicht dazu zu sagen C schließt nun die Auslegung der ersten Zeile des Notrufprotokolls apodiktisch ab, womit sie den anderen Diskutanten implizit zu verstehen gibt, dass man bei der Sequenzanalyse des Falles weiter kommen muss und es nicht länger lohnt, sich an dieser Stelle aufzuhalten.
242 ,Nur‘ (aber immerhin!) ein Student argumentierte in der Gruppendiskussion zumindest in diese Richtung, auch wenn seine Argumentation die Paradoxie nicht klar benannte: „Ja, das [Polizeinotruf, T. L.] klingt wie ne Maschine ,Polizeinotruf‘, wie en Anrufbeantworter.“
22. Exkurs: Auslegung der ersten Zeile „Notruf‘‘
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Wenngleich es sich aus meiner Sicht durchaus gelohnt hätte, zur ersten Zeile mehr zu sagen, weil diese noch keineswegs erschöpfend analysiert worden war, stellte ich bei Durchsicht der Seminararbeiten fest, dass sich in zumindest drei Arbeiten ein manifestes Unbehagen feststellen ließ, noch länger über die Eröffnung zu sprechen. Zudem indizierte mir die Formulierung eines Studenten, dass er meine Thematisierung einer besseren Eröffnungsvariante als Indoktrinationsversuch interpretierte. So sagte er in der Falldiskussion: „Wenn (1.0) so weit dann die Vorstellungen doch dahin geht, dass das [Eröffnung mit einem „wie kann ich Ihnen helfen?, T. L.] gemacht werden soll – wegen mir (1.5) Ich kann mich da also gut damit abfinden“.
Worauf ich in meiner schriftlichen Rückmeldung wie folgt zu sprechen kam: „Es ging mir nicht darum, daß Sie sich mit etwas Abfinden sollten (Z. 045), und wenn bei ihnen dieser Eindruck entstanden ist, habe ich mein Anliegen vielleicht nicht deutlich genug formuliert. Mir ging es darum, auf die aus meiner Sicht kommunikationspsychologisch ungünstige Eröffnung mit Polizeinotruf hinzuweisen und Sie zum Nachdenken über alternative Eröffnungsmöglichkeiten zu motivieren. Dies aus dem Grund, weil es sich bei Notrufkommunikation um Kommunikation von Menschen mit Menschen handelt und nicht um Maschinen- oder Roboterkommunikation.“
Es waren insbesondere die ablehnenden Reaktionen auf die von mir in die Diskussion gebrachten Alternativvorschläge, die mich zum Nachdenken über das Verhältnis von Wissenschaft und pädagogischer Praxis führten. Wenngleich für mich unzweifelhaft war, dass es eine hermeneutische Sozialforschung u. a. leisten kann, a) die Basis für eine Kritik praktischer Maßnahmen zu liefern und b) konkurrierende Vorschläge zur Verbesserung der Praxis zu machen,243 zeigten mir die Reaktionen, dass man als Lehrender aufpassen muss, nicht in eine Haltung der pädagogisierenden Bevormundung der Praxis durch Wissenschaft zu verfallen und wissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse wie feststehende Vokabeln einzutrichtern, weil man sonst in eine „Trichterpädagogik“ abgleitet, in der „dem Schüler als Normalität suggeriert (wird), Wissen durch mechanisches Lernen und ,Pauken‘ nach dem Modell des im Fremdsprachenerwerb durchaus notwendigen Vokabellernens sich anzueignen“.244 Eine solche „Trichterpädagogik“ ist aber einer mäeutischen Pädagogik, in der es Aufgabe des Lehrers ist, „sich zum Geburtshelfer von Problemlösungen (zu machen), die der Schüler letztlich aus sich selbst he243 244
Oevermann/Simm (1985), S. 134 und 319. Oevermann (1995 a), S. 130.
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raus in der Zuspitzung von Problemstellungen entwickeln soll“,245 diametral entgegengesetzt. Erst allmählich wurde mir bewusst, was ich bis dahin theoretisch nicht durchdacht hatte, dass ich mit der Problematisierung der Meldeformel „Polizeinotruf“ eine Geltungsfrage bezüglich eines „milieuspezifisch gültigen Deutungsmusters“246 aufwarf, ohne – und dies war das wirklich Krisenhafte an diesem Versuch247 – empirische Evidenz anbieten zu können, dass die von mir ins Spiel gebrachte Eröffnungsvariante ,Polizeinotruf, wie kann ich Ihnen helfen?‘ von den Anrufern überhaupt akzeptiert würde. – Ende des Exkurses
245
Ebd., S. 138. Oevermann (2000 a), S. 41. Bei Deutungsmustern handelt es sich um „krisenbewältigende Routinen, die sich in langer Bewährung eingeschliffen haben und wie implizite Theorien verselbständigt operieren, ohne das jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muß“. (Ebd., S. 4 f.). Es handelt sich bei ihnen um „einen Typus von implizitem Wissen“ (ebd., S. 31), um „unbewußt operierende, auf die Praxis als Praxis bezogene Gebilde“ (ebd., S. 5), deren Funktion darin besteht, dass sie „Konzepte bzw. Deutungen (enthalten), in deren Geltungshorizont für die handelnden Subjekte die implizite Interpretation von Welt, die ihrer Praxis deutend und strukturierend zugrunde liegt, wie selbstverständlich als stimmig und konsistent unterstellt werden kann. Sie werden aber so gut wie nie als solche explizit gemacht, sondern machen sich nur indirekt und implizit in wie selbstverständlich für gültig gehaltenen scharf geschnittenen Angemessenheitsurteilen bemerkbar“. Ebd., S. 41. 247 Deutlich stärkeren Widerstand erfuhr ich als Lehrbeauftragter für das Fach Soziologie im Wintersemester 1997 an der Verwaltungsfachhochschule in Wiesbaden (Fachbereich Polizei), wo ich in einer Unterrichtsstunde versuchte, in einem Kurs von Praxisaufsteigern ein Notrufprotokoll nach der objektiv hermeneutischen Methode zu analysieren. Der Widerstand setzte ein, nachdem ich bezogen auf Zeile 1 („Polizeinotruf“) anmerkte, dass die am Notruf üblicherweise gebrauchte Meldeformel „Polizeinotruf“ unpersönlich sei und dem Anrufer nicht helfe, zur Sprache zu kommen, und daher der Gedanke nahe liege, die Notrufkommunikation mit ,Polizeikommissar Müller, wie kann ich Ihnen helfen?‘ bzw. ,Was kann ich für sie tun?‘ zu eröffnen. Meinen Ausführungen wurde heftigst widersprochen. Dass ein Polizeinotruf mit „Polizeinotruf“ eröffnet werde, sei gängige Praxis, meine Ausführungen hingegen praxisfremd. Es sei überhaupt nicht einsichtig, warum man sich am Notruf so melden solle, wenn dann auch noch in vielen Fällen zum Dank in den Hörer „reingerülpst“ werde. Zudem werde die Eröffnung mit „Polizeinotruf“ von den Anrufern erwartet. Warum also etwas verändern? Nach etwa einer halben Stunde merkte ich, dass ich keine Chance hatte, gegen die Gruppe zu argumentieren, weil man mich, wie ich den Eindruck hatte, für einen polizeilichen Nestbeschmutzer hielt, der kritisierte, was gängige Praxis war und was zu kritisieren einer Kritik der Praxis gleichkam. 246
23. Exkurs: Wirksamkeit studentischer Forschungsarbeit
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23. Exkurs: Wirksamkeit studentischer Forschungsarbeit und dozentische Bewertungsunterschiede Ein Wandel in der Akzeptanz dieser Formulierung zeichnete sich erst ab, als zwei Studenten im Rahmen ihrer Diplomarbeit248 in einer empirischen Befragung herausfanden, dass die von ihnen befragten Personen (N = 68) der vorgeschlagenen Alternativvariante mehrheitlich zustimmten. Um dies herauszufinden, hatten die Studenten den Befragten folgende tontechnisch aufzeichneten Meldevarianten – Nr. Nr. Nr. Nr. Nr. Nr.
1 2 3 4 5 6
Polizeinotruf, Name der Stadt [Meiningen] Polizeinotruf! Wie kann ich Ihnen helfen? Polizeinotruf, Name [Müller], Guten Tag Notruf, Name [Müller] 110 Polizeinotruf
– vorgespielt und ihnen dann im Anschluss insgesamt sieben Fragen gestellt, von denen die erste lautete: „Welche der vorgespielten Varianten ist für Sie persönlich die geeignetste Notruferöffnung?“.249 Das Ergebnis war eindeutig: Vier Befragte entschieden sich für die Routinevariante Nr. 6, 29 für Variante Nr. 2, 23 für Variante Nr. 3, vier für Variante Nr. 1, sieben für Variante 4 und ein Befragter für Variante Nr. 5. Wenngleich man aus streng methodischer Sicht hätte einwenden können, dass die Auswahl der befragten Personen nicht repräsentativ war, spielte dies bei der Bewertung der Arbeit keine Rolle. Denn mir ging es nicht darum, die Studenten zu Soziologen oder Sozialstatistikern auszubilden. Im Vordergrund stand die Sensibilisierung für die Berufspraxis.250 Anzumerken ist, dass der Zweitkorrektor die Diplomarbeit im Unterschied zu mir sehr kritisch sah. Zum einen unter formalen Aspekten (Orthographie, Syntax etc.), zum anderen aus methodisch-inhaltlicher Sicht. So hielt er den beiden Diplomanden in seinem Gutachten u. a. das „Fehlen ei248 Es handelte sich hier um die Diplomarbeit der Studenten Gubert/Bergmann (1997), die in der Bibliothek der Fachhochschule einzusehen ist. 249 Gubert/Bergmann (1997), Anlage Nr. 19. 250 Wie Adorno [(1997 c), S. 543] einmal treffend formulierte: „Wer im Bereich der empirischen Sozialforschung intensiv gearbeitet hat, wird bestätigen, daß man unablässig vor der Wahl steht zwischen absolut hieb- und stichfesten Befunden, die sich verallgemeinern lassen, aber vielfach trivial sind, und solchen, bei denen im Ernst etwas herausschaut, die aber nicht ebenso rigoros den Spielregeln folgen.“
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D. Rezeptionsvergleich
ner sich anbietenden Synthese“251 vor, womit er, wie man aus seinen Randbemerkungen in der Diplomarbeit ablesen konnte, darauf anspielte, dass die Studenten aufgrund der von den Befragten präferierten Meldevarianten Nr. 2 (,Polizeinotruf! Wie kann ich Ihnen helfen?‘) und 3 (,Polizeinotruf, Müller, guten Tag‘) zum Ergebnis hätten kommen müssen, dass die ideale Meldevariante eine Namensnennung des Polizeibeamten notwendig machte. Denn „das Wörtchen ,ich‘ (wie kann ich Ihnen helfen?) setzt voraus, dass der Beamte aus seiner institutionellen Anonymität (Polizeinotruf) hervortritt“252. Und: „Offensichtlich ist doch, dass die befragten Bürger neben dem Polizeinotruf den Namen des Beamten und die freundliche, hilfsbereite Aufforderung zum Dialog hören wollen.“253 Eine Schlussfolgerung, welche die beiden Studenten bezüglich der Namensnennung aber nicht zogen, weil sie die Gefahr sahen, dass der Polizeibeamte damit „persönlich angreifbar wäre“. Was der Zweitkorrektor mit den Worten kommentierte: „Dies ist m. E. nicht hinreichend begründet und eher auf eine überkommene, der anfangs zitierten GHO254 entsprechende Einstellung zurückzuführen!“.255 Es war nicht zuletzt diese Kritik, die mir indizierte, dass der Zweitkorrektor über ein gänzlich anderes pädagogisches Modell verfügte als ich. Denn während ich die Studenten auf ihrer „eigentätigen“ Suche nach Alternativen unterstützen wollte, weil ich mir nur durch ein solches pädagogisches Vorgehen versprach, eine „Transformation von Wissens-, Erfahrungsund Denkstrukturen“256 zu erreichen, war ihm das erzielte Ergebnis, das aus meiner Sicht nicht weniger bedeutete als ein Vorschlag zur Veränderung eines Deutungsmusters, offensichtlich zu wenig, wollte er offensichtlich eine perfekte Lösung und sah er nicht, dass die beiden Studenten mit ihrem Vorschlag, die Formulierung ,Polizeinotruf! Wie kann ich Ihnen helfen?‘ zu einer „einheitlichen Regelung“ für die Thüringer Polizei zu machen, bereits einen großen Schritt in Richtung einer besseren Praxis gemacht hatten. Da es mein Ziel war, dass die gezeigte Leistung der Studenten zumindest mit der Note gut benotet wird, erstens, weil mir dies für die Diplomarbeit angemessen zu sein schien, und zweitens, weil sie nach den Richtlinien des Fachbereiches nur dann in die Bibliothek eingestellt werden durfte und nur dann gesichert war, dass sie auch von Studenten der Nachfolgejahrgänge gelesen werden konnte, sprach ich mit dem Zweitkorrektor (der ursprünglich die Arbeit mit sieben Punkten, d. h. der Note ausreichend, benoten wollte) und einigte mich mit ihm darauf, dass er die Arbeit mit neun Punk251 252 253 254 255 256
Zitat aus dem Zweitgutachten. Ebd. Ebd. [Geheimhaltungsordnung in der DDR, T. L.] s. Fußnote 251. Oevermann (1995 a), S. 130.
23. Exkurs: Wirksamkeit studentischer Forschungsarbeit
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ten (der Note befriedigend) und ich sie mit 12 Punkten (gut) bewerten würde, was in der Mittlung zum Gesamtergebnis gut (11 Punkte) führte. Eine Einigung, die nicht zuletzt dadurch zustande kam, weil er nicht wollte, dass über die Note letztendlich von der Prüfungskommission entschieden wurde (in der zumeist ein Vertreter aus dem Innenministerium den Prüfungsvorsitz hatte), was aber unvermeidlich gewesen wäre (denn weniger als 12 Punkte hätte ich auf keinen Fall gegeben), wenn die Bewertungen um mehr als drei Rangpunkte voneinander abgewichen wären.257 Folgten mir zu Beginn nur vier Studenten bezüglich der Variante ,Polizeinotruf, wie kann ich Ihnen helfen?‘, konnte ich bei der Durchsicht der Staatsexamen feststellen, dass 19 von 68 Studenten im Sinne der Alternativformulierung argumentierten und immerhin 38 Kritik an der Eröffnung „Polizeinotruf“ übten.258 Wenngleich man nun einwenden könnte, dass sich die Studenten eben im Sinne erwünschter Antworten verhielten, ist zu sehen, dass 29 Studenten, und das sind umgerechnet fast 43 Prozent der Examenskandidaten, der Praxismeldeformel unkritisch begegneten und davon sogar sieben sie mehr oder weniger deutlich verteidigten:
257 Denn § 29 APO lautete: „. . . (3) Weichen die Bewertungen um nicht mehr als drei Punkte voneinander ab, so gilt die Durchschnittspunktzahl. Dabei werden die Stellen hinter dem Komma auf die nächste volle Punktzahl aufgerundet. (4) Bei größeren Abweichungen entscheidet die Prüfungskommission mit Stimmenmehrheit. Stimmenthaltung ist nicht zulässig. (5) (. . .) die Bewertung durch Kommissionsentscheidung (darf) nicht mehr geändert werden.“ Ein vergleichbares Ergebnis wie die Arbeit von Gubert/Bergmann (1997) zeigte eine Nachfolgeuntersuchung der Studentin Bernt (2000), die insgesamt 43 Personen danach fragte, welcher der genannten Vorschläge – Nr. 1 Polizeinotruf Nr. 2 Polizeinotruf. PI [Name der Stadt] Nr. 3 Polizeinotruf. Wie kann ich Ihnen helfen? Nr. 4 Polizeinotruf. Müller. Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen? – nach ihrer Meinung am besten geeignet sei, den Notruf seitens des Polizeibeamten zu eröffnen. Hier entschieden sich 21 für Nr. 3 (das sind ungefähr 43 Prozent), zehn für Nr. 1, acht für Nr. 4 und vier für Nr. 2. 258 Wobei sich für mich grundsätzlich die Frage stellt, ob pädagogischer Erfolg eine Frage der Quantität ist, wie moderne Lehrevaluationen suggerieren [vgl. hierzu el Hage (1996); oder Rindermann (1998), S. 295 ff.; kritisch Kromrey (1995), S. 105 ff.; oder ders. (1996), S. 153 ff.], oder ob man als Pädagoge nicht froh sein soll über jeden, den man erreichen konnte und der einem ein Stück weit auf dem gebahnten Weg folgt (wie Scheler, vgl. hierzu Kapitel F. der Arbeit). Sicherlich spielen hierbei Sympathie-Beziehungen eine Rolle: Denn Studenten, die einem gerne zuhören, nehmen in der Regel vermittelte Lehrinhalte auch bereitwilliger und damit leichter an. Mir ging dies im Übrigen in der Schule nicht anders.
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D. Rezeptionsvergleich
„Die Eröffnung des Gesprächs durch den Polizeibeamten ist gut gewählt. ,Polizeinotruf!‘ Der Anrufer weiß sofort, daß er eine Nummer gewählt hat, die . . .“ „Das Wort Polizeinotruf ist geeignet, ein solches Gespräch zu eröffnen.“ „Ich persönlich bewerte die Eröffnung durch den Pb als ausreichend.“ „. . . erscheint ausreichend, um das Gespräch zu eröffnen.“ „Die Aussage ist sehr nüchtern und entbehrt jeglicher Höflichkeitsfloskel, die auch hier nicht nötig ist“. „. . . durch einen Zusatz zum Wort ,Polizeinotruf‘ würde kostbare Zeit vergehen, die aber zum Retten von Menschen, zur Gefahrenabwehr notwendig ist“. „. . . Ist für den Beginn vertretbar, da man immer mit einer Krisensituation rechnen muß und somit wenig Zeit nur brauchen darf, um zum Anliegen des Anrufers (A) zu kommen“.
Dies wäre, wie man im Sinne des Sparsamkeitsprinzips unterstellen kann, mit Sicherheit nicht passiert, wenn die Studenten das Gefühl gehabt hätten, dass sie die von mir genannte Variante hätten hinschreiben müssen, um eine gute Note zu erhalten.259 – Ende des Exkurses
24. Exkurs: Totale Kritik Während die Studenten in ihren Analysen fast überwiegend die Tendenz hatten, den im Material handelnden Polizeibeamten in Schutz zu nehmen, gab es indes auch einen Fall, der sich hiervon maximal unterschied. So formulierte eine Gruppe, bestehend aus vier Praxisaufsteigern, im Resümee ihrer Seminararbeit: „Bei der Diskussion sind wir uns einig gewesen, daß der Polizeibeamte das Gespräch falsch geführt hat. Übereinstimmend wurde festgestellt, daß der Beamte in keiner Phase des Gespräches auf den Anrufer und dessen Problem einging. (. . .) Abschließend kann von uns gesagt werden, daß der Gesprächsführung seitens des Polizeibeamten keine positiven Aspekte beigemessen werden konnten.“260
Womit sie eine, wie ich dies hier nennen möchte, totale Kritik übten und kein ,gutes Haar‘ an der polizeilichen Gesprächsführung ließen, obwohl der Polizeibeamte261 das Gespräch mit dem sich in einer schweren psychischen Krise befindenden Anrufer relativ gut führte,262 auch wenn 259 Ich hatte bereits ausgeführt, dass ich mich im Anschluss an Phase 1 mit Alternativvorschlägen zurückhielt und nicht auf dem (aus meiner Sicht) Richtigen insistierte, weil dies nur zu einem Einbläuen oder Eintrichtern von Vokabeln vergleichbaren Lernverhalten geführt und die Gefahr bedeutet hätte, die Studenten zu stark nach ihrer Haltung zu bewerten. 260 Seite 33. 261 Der bei diesem Anruf als Notruf entgegennehmender Polizeibeamter zu einem im Polizeijargon so genannten polizeilichen ,Erstsprecher‘ wurde. Dessen Aufgaben
24. Exkurs: Totale Kritik
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1. seine Formulierung in Zeile 011 in der sprachlichen Form misslungen war. Denn das „Ja was wollen Sie denn?“ hat etwas Adversatives, Ablehnendes, Zurückweisendes im Sinne von „ja, was wollen Sie eigentlich?“ Und das war eingedenk der Tatsache, dass der Anrufer sich in einer psychischen Krise befindet, zu schroff formuliert. Besser wäre hier die Formulierung ,wie kann ich Ihnen helfen?‘ gewesen, weil sie mehr eine Einladung an den Anrufer dargestellt hätte, dass er sich weiter öffnen soll; 2. er sich in Zeile 031 ,versprach‘,263 was indizierte, wie er über den Anrufer wirklich dachte: ,Asozialer, Schrott‘. bestehen in der psychischen Stabilisierung des Täters, in der Gewinnung von Erkenntnissen über die Situation vor Ort und im Zeitgewinnen für das rechtzeitige Herbeiholen von Spezialkräften, die in solchen Fällen zu alarmieren sind. Hierzu gibt es bundesländerspezifische Regelungen [vgl. hierzu die Diplomarbeit von Bräutigam (1999)], die als Verschlusssachen allesamt der Geheimhaltung unterliegen und von mir an dieser Stelle nicht wörtlich wiedergegeben werden dürfen. 262 Denn erstens desavouierte er den Anrufer nicht, was sich u. a. daran zeigt, dass er dessen Berufsehre nicht verletzte (Zeilen 087, 090 und 092). Zweitens brachte er den Anrufer durch sein beharrliches Nachfragen u. a. dazu, Informationen über seine biographische Situation zu geben, die für die Aufklärung der Situation vor Ort wichtig waren (ab Zeile 085). Und drittens war seine Gesprächsführung im Sinne einer täterstabilisierenden Gesprächsführung und unter der Zielstellung, Zeit zu ,schinden‘, völlig angemessen (vgl. hierzu u. a. die Zeilen 042, 046 und 048). Allerdings hätte auf jeden Fall noch während des laufenden Gesprächs eine Streifenwagenbesatzung losgeschickt (und die polizeilichen Spezialkräfte alarmiert) werden müssen [ob diese Maßnahmen wirklich schon eingeleitet worden waren, ging aus dem Notrufprotokoll nicht hervor, ist aber auch für die Bewertung des studentischen Gesamturteils nicht wichtig, weil sich dieses nicht auf diesen Punkt erstreckte]. Denn wenn der Polizeibeamte die ganze Zeitverlängerung nur unternahm, um zu überprüfen, wie ernst der Fall ist, wäre dies zu riskant gewesen und hätte eine Abweichung vom Normalfall bedeutet. Denn auch wenn sich empirisch in solchen Fällen meistens später herausstellt, dass die Täter nicht über die angegebenen Drohmittel verfügten (was auch hier der Fall war), folglich die Situation nicht wirklich gefährlich war, musste der Polizeibeamte bis zum Beweis des Gegenteils vom ,worst case‘ ausgehen. Wie R. Weber (1999) im Rahmen seiner Diplomarbeit recherchierte, hatte der Täter kein hoch explosives Nitroglycerin bei sich, sondern ein nicht explosives Ammoniakgemisch. Er ließ sich drei Stunden nach dem Anruf in seiner Wohnung festnehmen. Das vollständige Protokoll des Notrufs befindet sich im Anhang dieser Arbeit (s. Anhang VII.). 263 Im Sinne von Freud handelt es sich hier um eine „Fehlleistung“, um einen „psychischen Akt“, den es zu deuten gilt, um seinen Sinn verstehen zu können, was nach Freud nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Alltag von Bedeutung ist. Denn: „Jeder von uns, der auf längere Lebenserfahrung zurückblicken kann, wird sich wahrscheinlich sagen, daß er sich viele Enttäuschungen und schmerzliche Überraschungen erspart hätte, wenn er den Mut und Entschluß gefunden, die kleinen Fehlhandlungen der Menschen als Vorzeichen zu deuten und als Anzeichen ihrer noch geheimgehaltenen Absichten zu verwerten. Man wagt es meist nicht . . .“.
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D. Rezeptionsvergleich
In diesem Fall traf auf die Beurteilung des polizeilichen Handelns zu, was Friedrich Schiller einmal als Manko in der Darstellung von Geschichte benannte, die eine „Schule der Bildung“264 sein will: „Es bleibt eine Lücke zwischen dem historischen Subjekt und dem Leser, die alle Möglichkeit einer Vergleichung oder Anwendung abschneidet und statt jenes heilsamen Schreckens, der die stolze Gesundheit warnet, ein Kopfschütteln der Befremdung erweckt. Wir sehen den Unglücklichen, der doch in eben der Stunde, wo er die Tat beging, so wie in der, wo er dafür büßet, Mensch war wie wir, für ein Geschöpf fremder Gattung an, dessen Blut anders umläuft als das unsrige, dessen Wille andern Regeln gehorcht als der unsrige; seine Schicksale rühren uns wenig, denn Rührung gründet sich ja nur auf ein dunkles Bewußtsein ähnlicher Gefahr, und wir sind weit entfernt, eine solche Ähnlichkeit auch nur zu träumen.“265
Dabei stellte sich im Rückmeldegespräch heraus, wie dieses studentische Urteil motiviert war. Zwei Studenten kannten den hier sprechenden Polizeibeamten, von dem sie ein negatives Bild hatten. Kurzum: Das Urteil über die Leistung am Notruf erfolgte in Kenntnis der Person des Polizeibeamten.266 Um dieser Tendenz der „Erhebung über die Praxis“267 entgegenzuwirken, sah ich mich im Rückmeldegespräch dazu veranlasst, den Studenten deutlich zu verstehen zu geben, dass es ihre Aufgabe gewesen sei, den Notruftext sequenzanalytisch zu analysieren, ohne hierbei das persönliche Urteil über den Polizeibeamten268 in die Begründung von Lesarten eingehen zu lassen. Freud (1992), S. 79. Methodisch entspricht das akribische Ausdeuten des „Abhub(s) der Erscheinungswelt“ (ebd., S. 51) dem Einhalten des Wörtlichkeitsprinzips in den Sozialwissenschaften. Vgl. Wernet (2000), S. 24. 264 Schiller (o. J.), S. 360. 265 Ebd., S. 359 f. 266 Eine analoge Beobachtung machte ich bei einer polizeilichen Übungsnachbesprechung. So sprach der Polizeiführer davon, dass die Erstsprecherin wenig überzeugt habe. Er sagte dies ohne Anhören der Bandaufnahme. Auf meine Frage, was denn an der Sprechleistung der Beamtin schlecht gewesen sei, gab er mir eine Antwort, die indizierte, dass er ein fertiges Bild über die Beamtin hatte, das zu dem Urteil führte. Was mir zeigte, wie bedeutsam für eine professionelle Einsatznachbereitung es wäre, Einsatzprotokolle sequenzanalytisch auszuwerten, die gegenwärtig – wenn überhaupt – eher naturwüchsig besprochen werden, ohne vorhergehende Einübung in eine Kunstlehre. 267 Oevermann (1993 b), S. 247. 268 Einen ehemaligen Vopo. Seitens eines Teils der hier von mir so genannten Nach-Wende-Polizisten (Einstellungsjahrgang 1990 und später), wozu die vier Interpreten gehörten, gab es z. T. erhebliche Vorbehalte gegenüber Vor-Wende-Polizisten, denen insgesamt wenig soziale und fachliche Kompetenz zugeschrieben wurde. Wenngleich mir mein Datenmaterial zeigte, dass die Leistungen einiger ehemaliger Vopos als eher schlecht einzustufen waren, wurde ich durch diesen Fall (in dem die
24. Exkurs: Totale Kritik
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Des Weiteren sprach ich mit ihnen darüber, dass sie sich bei Praxisanalysen immer vor Auge halten sollten, nichts anderes hierbei zu tun, „als unter der privilegierten Voraussetzung der Praxisenthobenheit, das heißt ohne Zeitdruck, mikrologisch detailliert Zusammenhänge zu studieren, die der Praktiker gestaltrichtig intuitiv in einer gemessen daran unglaublichen Geschwindigkeit und Treffsicherheit erfassen können muß“,269 folglich „die Kritik (ihres) analytischen Urteils“ unter der privilegierten Voraussetzung der Entlastetheit von praktischem Handlungsdruck im Hier und Jetzt erfolgt und sich die Kritik an einem idealtypischen Modell des Normalfalls orientiert, den praktisch vollständig zu realisieren ein Limesunternehmen darstellt.270 Über dieses Thema der Praxis-Analyse-Differenz sprach ich dann auch nach Rückgabe der Seminararbeiten im Unterricht, was mir wichtig erschien, um nicht Absolventen heranzuziehen, die keinen realen Bezug mehr zu einer Praxis haben, in der sie „riskant in einem noch nicht routinisierten und auch in Zukunft nur bedingt routinisierbaren Handlungs- und Problemfeld Existenznöte stellvertretend zu bewältigen (haben)“.271 Kurzum: Dieser pädagogische Exkurs erschien mir erforderlich, um zu vermeiden, dass in der Praxis erbrachte Leistungen per se nicht anerkannt werden,272 dass nicht gesehen wird, dass es keineswegs so leicht ist, in der Praxis fallangemessen zu handeln. Meine Intention war mithin, zu vermeiden, dass sich die Studenten später gegenüber den berufserfahrenen Praktikern als Besserwisser aufführten, was mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu geführt hätte, dass sich die älteren Kollegen durch die Jüngeren angegriffen fühlten und ihrerseits die Jüngeren nicht so an ihrer Berufserfahrung partiziStudenten die keineswegs schlechte Leistung des Polizeibeamten in Grund und Boden kritisierten) dafür sensibilisiert, dass es im Hinblick auf eine berufsangemessene Schulung wichtig ist, gegen das „vorurteilsvolle Einsortieren der verschiedenen Altersgruppen und Generationen in feststehende Klischees“ [Oevermann (1997 a), S. 180] vorzugehen und nicht die Tendenz zu fördern, ehemalige Vopos unter ein voreingerichtetes Negativschema (nicht leistungsfähig, kein Erfahrungsvorsprung) zu subsumieren, zumal sich dieses Über-einen-Leisten-Schlagen nicht mit der einzelfallrekonstruktiven Methode vertragen hätte. 269 Oevermann (1993 b), S. 247. 270 All dies sagte ich mit Bezug auf die entsprechende Textstelle bei Oevermann [(1993 b), S. 247], wenngleich ich versuchte, die Aussage möglichst vereinfacht auszudrücken. 271 Oevermann (1993 b), S. 248. 272 Zwei der vier Studenten [die mehr oder weniger „verdeckten Schlüsselpersonen“, Breuer (1998), S. 252] hatten denn in der Praxis große Probleme, weil sie älteren Kollegen gegenüber als Besserwisser auftraten. Dies waren jedoch Ausnahmefälle. Die meisten Studenten hatten in der Praxis hier keine Probleme. Im Gegenteil, sie berichteten von großer Bereitschaft der älteren Kollegen, neue Kenntnisse aufzunehmen.
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D. Rezeptionsvergleich
pieren ließen, wie dies sinnvoll wäre, sondern im Gegenteil eine Tendenz zur wechselseitigen Abqualifizierung bestünde.273 Aus den bisherigen Ausführungen kann man erschließen, dass es mir im Fach Soziologie neben der Vermittlung methodischen Wissens auch darum ging, bei den Studenten einen Habitus auszuprägen, der geeignet war, in der polizeilichen Berufspraxis ein kollegiales Verhältnis zwischen „praktisch Erfahrenen und Novizen“274 zu gewährleisten, weil ich nur dann die Chance sah, dass jüngere und ältere Kollegen wechselseitig voneinander lernen und damit die Organisation wirklich zu dem wird, was in der Literatur unter dem Schlagwort „lernende Organisation“275 diskutiert wird. – Ende des Exkurses
25. Fall 12: Anzeige eines Autoaufbruchs Nachdem im vorherigen Kapitel herausgearbeitet wurde, dass der Polizeibeamte den zweiten Fall, der objektiv kein Notfall war, über die Notrufleitung weiter behandelte, obwohl er ihn hätte abzweigen müssen, geht es mir nun darum, anhand der Untersuchung einer Textstelle, an der klar markiert ist, dass kein Notfall vorliegt,276 herauszuarbeiten, ob die Studentinnen C, D und I diese Abweichung vom Normalfall erkannten und ob sie daraus den richtigen Schluss zogen, dass der Fall aus diesem Grunde von der Notrufleitung abzuzweigen sei. 1 C: oben in der Zeile 3 wird kurz gesagt (-) Auto is aufgebrochen (-) jetz wollt ich das bei ihnen melden (-) und dann wird nur über die Namen diskutiert \. . .277 Die Analyse der Interpretationsinteraktion beginnt an der Sequenzposition, an der klar abgebildet ist, dass es sich bei diesem Fall nicht um einen Notfall im Sinne des Normalfallmodells handelt. Denn wenn jemand die 273 Es herrschte dann die Wechselwirkungsform des „Gegeneinander“. Vgl. Simmel (1992 a), S. 18. 274 Oevermann (1997 a), S. 180. 275 Vgl. Polizei NRW (o. J. b), S. 16. 276 Zu diesem selektiven Vorgehen s. Wernet (1995), S. 186; oder Oevermann (1998), o. S., der formuliert, dass für die detaillierte Sequenzanalyse „die Segmente ausgewählt werden (sollten), deren inhaltlicher Bezug für die Untersuchungsfrage von großer Bedeutung ist“. 277 Notationszeichen: ? Frageintonation (-) Kurzes Absetzen (1,0) Pause in Sekunden (räuspern) nonverbales Verhalten
25. Fall 12: Anzeige eines Autoaufbruchs
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Polizei anruft und mitteilt, dass ein Auto aufgebrochen wurde, ist dies ein Fall für eine Anzeigenaufnahme. Entsprechend müsste C nun argumentieren, dass der Polizeibeamte dem Anrufer mitteilen müsste, dass er zum Zweck der Anzeigenaufnahme entweder über die Nummer der Amtsleitung anrufen solle (die er ihm zu diesem Zweck noch mitteilen könnte) oder auf der Dienststelle vorbeikommen solle, wo die Anzeige dann von einem Kollegen aufgenommen werde. C kommt indes nicht auf die Bedeutung der Textstelle zu sprechen. Dass es sich hier nicht um einen Notfall handelt, wird von ihr nicht herausgearbeitet. Dagegen kommt sie unmittelbar darauf zu sprechen, hier schon die nächsten Zeilen des Protokolls einbeziehend, dass nachfolgend nur noch „über die Namen diskutiert“ wird, womit sie zum einen methodisch vom strikt sequentiellen Vorgehen278 bei der Sequenzanalyse abweicht, zum anderen das Wort ,Diskutieren‘ in einer sinnentstellten Bedeutung gebraucht. Denn bei dem, worauf sie mit diesem Wort referiert, handelte es sich lediglich um ein bürokratisches Erfragen bzw. Abfragen von Personaldaten. 2 C: . . ./ warum macht das eigentlich der Polizeibeamte? 3 I oder D: Mhm 4 C: Warum legt er so en Wert auf den Name (-) auf die richtiche Schreibweise (-) un auf die Anschrift? (-) Ist das wirklich so wichtich für den Sachverhalt? Daraufhin stellt sie in leicht abgewandelter Weise drei in die gleiche Richtung zielende Fragen, in denen es um die Motivierung für das polizeiliche Handeln geht. Die Antworten hierauf müssten entsprechend der Bezugsfolie lauten, dass der Polizeibeamte so viel Wert auf die richtige Erfassung der Daten legt, weil er mit der schriftlichen Aufnahme der Anzeige begonnen hat. Für den Sachverhalt als Anzeigenaufnahme, der ein bürokratischer Vorgang ist, sind diese Daten wichtig, was aber nichts daran ändert, und das ist hier der entscheidende Punkt, dass der Polizeibeamte den Fall nicht auf der Notrufleitung bearbeiten durfte, sondern ihn vielmehr hätte abzweigen müssen. 5 D: Für den Sachverhalt nich (-) aber für en Computer Diese Diagnose erfolgt aber nicht. Stattdessen macht dige Unterscheidung zwischen ,nicht wichtig für den wichtig für den Computer‘, die in sich nicht stimmig ist. die Daten für den Sachverhalt der Anzeigenaufnahme 278
D eine merkwürSachverhalt, aber Denn erstens sind durchaus wichtig.
Vgl. hierzu Leber/Oevermann (1994), S. 404; Oevermann (1997 b), S. 295.
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Und zweitens sind sie damit auch für den Computer wichtig, denn Anzeigen werden in ein polizeiliches Computersystem eingegeben.279 6 I: Für die Neuigkeitsmeldung (-) na klar (-) Da muß der Name rein (-) der Mitteiler muß ja rein Die nachfolgende Reaktion von I indiziert, dass ihr nun klar geworden ist, warum der Polizeibeamte diese Daten erfragt, wobei sie Computer mit „Neuigkeitsmeldung“280 gleichsetzt. Dies stimmt insofern, als der Neuigkeitseintrag die Basis für die Erstellung der Anzeige darstellt, also Daten, wozu u. a. der Mitteilername gehört, die zum Schreiben des Eintrags erfasst wurden, auch für die Anzeigenformulierung verwendet werden können. 7 C: Also geht der Polizeibeamte gar nich auf die Bedürfnisse (-) of das Anliegen des Anrufers ein (-) sondern Die Schlussfolgerung von C ist falsch. Der Fehler des Polizeibeamten bestand keineswegs darin, nicht auf die Bedürfnisse des Anrufers eingegangen zu sein. Er bestand im Gegenteil darin, dass er den Fall über die Notrufleitung weiter behandelte, also mit der Aufnahme von Daten begann, obwohl aus dem vom Anrufer mitgeteilten Sachverhalt klar zu erschließen war, dass es sich hier nicht um einen Notfall handelt und daher die Notrufleitung möglichst schnell wieder frei werden musste für wirkliche Notrufe. 8 I: Nee (-) das ham ma ja schon gesacht \. . . 9 C: Ja 10 I: . . ./ is mehr in Richtung Bürokratie Woraufhin dann auch I – ermuntert durch C – die falsche Lesart bestätigt, wobei ihre Formulierung erkennen lässt, dass sie den Fehler darin sieht, dass der Polizeibeamte „mehr in Richtung Bürokratie“ gehandelt habe. I weiß zwar, dass man am Notruf krisenbezogen und nicht bürokratisch handeln soll, erkennt aber nicht, dass es sich hier um einen in sich bürokratischen Fall handelt, der nun bürokratisch abgearbeitet wird. 11 D: Im Moment noch nich \. . . Der falschen Lesart C’s – aus Zeile 7 – schließt sich auch D an. Denn ihre Formulierung „im Moment noch nich“ präsupponiert, dass der Polizei-
279 Dieses System wurde in der hier untersuchten Praxis ab 1993 flächendeckend eingeführt. 280 Auch Tätigkeitsbericht oder Rapport genannt.
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beamte zumindest gegenwärtig – bis zu dieser Sequenzstelle – „noch nich“ auf die Bedürfnisse des Anrufers eingegangen ist. Auch sie erkennt nicht, dass der Fehler des Polizeibeamten nicht darin besteht, nicht auf die Bedürfnisse des Anrufes eingegangen zu sein, sondern vielmehr darin, einen Fall, der abweicht von den normalen, erwartbaren Beweislastkriterien des Notrufs (es handelt sich um eine akute Krise, die ohne die Polizei nicht bewältigt werden kann), auf der Notrufleitung weiterzubehandeln. 12 D: . . ./ un da könn ma froh sein, daß das so en gelagerter Sachverhalt is un nich irgendetwas ernstes 13 I: hm 14 C: hm 15 D: Denn bis dahin kann ja vieles zu spät sein (-) bis se das ausdiskutiert ham 16 C: Ja 17 D: Wie er nun heißt un wie er (-) geschrieben wird (1,0) Die anschließende Formulierung bestätigt, dass D das Normalfallmodell nicht verstanden hat. Zwar erkennt sie, dass im vorliegenden Fall „nich irgendetwas ernstes“ vorliegt. Aber den praktischen Schluss, dass eben aus dem Grund, weil „nichts ernstes“ vorliegt, das Gespräch auf der für emergency-Fälle vorgesehenen Notrufleitung möglichst schnell beendet werden müsste, zieht sie nicht. 18 C: Weil da kann eigentlich schon (1,0) im Notfall (-) kann der schon gestorben sein (-) wenn mas richtich sieht C entwirft hier ein Szenario, das mit dem Notrufprotokoll nichts zu tun hat. Denn aus dem Text geht klar hervor, dass kein Notfall vorliegt, sondern der Polizeibeamte am Notruf eine Anzeige aufnimmt und damit die Notrufleitung für andere Anrufer, die sich wirklich in einer akuten Krise befinden, blockiert. 19 I: Ja gut (1,0) der Polizeibeamte weiß aber, daß es um e Autoaufbruch geht, \. . . Gegen diese Lesart wendet nun I ein, dass der Polizeibeamte „aber“ wisse, dass es sich im vorliegenden Fall um einen „Autoaufbruch“ handelt. Und zwar, so müsste man genauer formulieren, um einen bereits ausgeführten Autoaufbruch, welcher der Polizei mitgeteilt wird. Und deshalb, so müsste die Schlussfolgerung lauten, hätte der Polizeibeamte das Gespräch
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von der Notrufleitung abzweigen müssen, weil diese ansonsten sinnwidrig für wirkliche emergency-Fälle blockiert ist. 20 I: . . ./ also von von daher ist es schon (räuspern) hat er die Zeit jetz an sich auch schon da schon ma nach dem Namen zu fragen Genau diesen Schluss zieht I nicht. Stattdessen argumentiert sie, dass der Polizeibeamte – eben weil es sich um einen Autoaufbruch handelt – auch „die Zeit“ hat, den Anrufer „nach dem Namen zu fragen“. Was zeigt, dass auch sie das Normalfallmodell nicht verstanden hat. Und dies führt dazu, dass sie die objektiv bürokratische Handlungsweise des Polizeibeamten rechtfertigt. 21 C: Wobei nun wieder die Frage ist, \. . . Eine Lesart, der C offensichtlich nicht zustimmt; ihre Bemerkung lässt sich als Vorbereitung einer Entgegnung interpretieren. 22 C: . . ./ Notruf soll ja so kurz wie möglich abgehandelt werden, soll ja frei sein für weitere Notfälle Die dann auch entfaltet wird, wobei ihre Nachfolgeäußerungen indizieren, dass sie mit der vorhergehenden Lesart nicht einverstanden ist, weil sie die von ihr als gültig unterstellte Handlungsmaxime, dass Notrufe so schnell wie möglich abzuhandeln sind, verletzt sieht. Die Kritik lautet folglich: Der Polizeibeamte würde durch die Frage (die Zeit in Anspruch nimmt) nach dem Namen des Anrufers den Notruf unnötig lange blockieren. Sie lautet indes nicht: Der Polizeibeamte handelte falsch, weil er am Notruf einen Fall weiterbehandelte, der gar kein Notfall war, womit er vom Normalfall abwich. Dass C im vorliegenden Fall von einem „Notruf“ ausgeht, denn dies präsupponiert die Formulierung „Notruf (. . .) soll ja frei sein für weitere Notfälle“,281 verweist darauf, dass sie über ein formal-technologisches Notrufverständnis verfügt, wonach alle Anrufe, die über die Notrufleitung eingehen, Notrufe sind.282 Ein Verständnis, das mit dem strukturalistischen Notrufverständnis, das ich im Unterricht zu vermitteln versuchte, nichts zu tun hat. 281
[Hervorhebung durch T. L.] Ich sehe hier eine gewisse Affinität zu dem von Dreher/Feltes [(1996), S. 13] definierten Notrufbegriff, wobei die beiden Autoren diesen nicht formal-technologisch, wie dies bei C der Fall ist, definieren, sondern formal-intentionalistisch, weil sie die Intention des Anrufers als entscheidendes Kriterium für die Klassifikation als Notruf sehen. 282
26. Fall 13: Fußballfan
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23 I: Nja is richtich (3,0) müßte ma wissen wieviel Zeit das wäre (-) ge? 24 D: (1,0) Wäre ma interessant Über dieses strukturalistische Notrufverständnis verfügen offensichtlich auch I und D nicht, denn von ihrer Seite erfolgt keine Korrektur, kein Einwand, dass es sich beim vorliegenden Fall überhaupt nicht um einen Notfall handelt. Vielmehr argumentiert I dahingehend, dass man nun einmal konkret die Zeit ausmessen müsste, um zu wissen, so das implizite Argument, wie das Handeln des Polizeibeamten zu bewerten ist. Womit sie empiristisch283 und nicht, wie dies dem Normalfallmodell entsprochen hätte, strukturalistisch argumentiert.284 Denn dann hätte sie erkennen müssen, dass es sich in diesem Fall nicht um einen Notruf handelt. Doch dieses Strukturproblem wurde hier nicht erfasst. Ergebnis Die Sequenzanalyse der hier vorgelegten studentischen Interpretation hat gezeigt, dass die Studentinnen die Abweichung vom Normalfall nicht erkannten. So kam in der Diskussion nicht einmal die Frage auf, ob es sich in diesem Fall überhaupt um einen Notruf handelt, weil – wie sich gegen Ende herausstellte – alle drei ein formal-technologisches Notrufverständnis hatten, wonach jeder Anruf, der über die Notrufleitung eingeht, ein Notruf ist. Dieses Verständnis zeigte mir an, dass alle drei das Normalfallmodell nicht verstanden hatten, was ich dann im Rückmeldegespräch mit ihnen thematisierte.285
26. Fall 13: Fußballfan Im folgenden Rezeptionsvergleich soll untersucht werden, ob die Studenten P und L sowie Studentin M286erkannten, dass der Polizeibeamte das Gespräch, bei dem es sich erkennbar um einen Notrufmissbrauch handelte, 283 „Was nicht verdinglicht ist, sich zählen und messen läßt, fällt aus.“ Adorno (1997 g), S. 52. 284 Auf die Argumentation – „Was wir hier analysieren, sind doch nur Sekunden. Sind diese denn so wichtig?“ – traf ich in meiner Lehrpraxis zu Beginn der Einführung in die Analyse von Notrufen häufiger. Ich vertrat hierzu konsequent den Standpunkt, dass am Notruf jede Sekunde zählt. 285 Was denn auch zumindest zum Teil erfolgreich war. C und I erzielten später im Staatsexamen 17 bzw. 19 von 30 Rohpunkten in der sequenzanalytischen Aufgabe, was umgerechnet der Note befriedigend entsprach. Lediglich bei D hatte keine Transformation stattgefunden. Sie erreichte nur 12 von 30 Rohpunkten [= (schwach) ausreichend, 5 Punkte]. C bestand denn auch das Examen erst beim zweiten Anlauf.
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D. Rezeptionsvergleich
ganz schnell hätte beenden müssen, und den Anrufer nicht, wie im Fall geschehen, zu weiteren Ausführungen zu animieren. Die Analyse beginnt an der Stelle, an welcher die Studenten, nachdem sie den Fall bereits einmal komplett durchgesprochen hatten, noch einmal den Notruftext ab Zeile 4 thematisieren, wo der Polizeibeamte im Anschluss an das „= EINS A WAS?“ mit einem „Prima ge:“ reagiert. 1 P: An der Stelle hätte er anders reagieren müssen. An der Stelle hätte er merken müssen, daß der Notruf hier nicht für den (uv 1 Wort) 287 da is und hätte das Gespräch dann langsam unterbinden müssen. \. . . P stellt richtig fest, dass der Polizeibeamte an dieser „Stelle hätte (. . .) merken müssen“, dass es sich hier nicht um einen Notfall handelt und aus diesem Grund das „Gespräch langsam“ hätte unterbinden müssen. Womit P entsprechend dem Normalfallmodell argumentiert und aus dem ihm vorliegenden Notruftext den gestaltrichtigen Schluss zieht, dass der Polizeibeamte anders hätte reagieren müssen, weil der Anrufer von den normalen Kriterien eines Notrufs abweicht und damit der Beweis erbracht ist, dass ein Notrufmissbrauch vorliegt. Damit hat P die Gestalt des Falles klar erkannt, und die anderen Gruppenmitglieder bräuchten nur noch seiner Interpretation zustimmen. Dann wäre der Fall richtig gelöst. 2 P: . . ./ Das war ja dann bei der Hälfte ungefähr und dann kommt dann nochmals so en langes Gespräch zusammen, ungefähr die gleiche Hälfte noch mal, von der Länge her. P führt hier nur noch einmal aus, was in seinem ersten Satz bereits implizit enthalten war. Womit er eine gestaltrichtige Interpretation liefert, im Vergleich zu der das Detail, dass die hier zu interpretierende summons-answer-Sequenz bereits im ersten Drittel des Textes stand und nicht erst „bei der Hälfte ungefähr“, vernachlässigenswert ist. Denn der Strukturfehler wurde erkannt.
286
Bei Student P und Studentin M handelte es sich um Seiteneinsteiger, bei L um einen Kriminalbeamten mit mehrjähriger Berufserfahrung. 287 Das Notationszeichen uv steht für unverständliche Äußerung. „. . .“ bedeutet: Markierung einer aus dem Notrufprotokoll zitierten Stelle.
26. Fall 13: Fußballfan
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3 M: Na ja, ich denk mal, er hat das nicht unterbunden, weil circa in der Hälfte heißt es ja dann: „Wir gehen jetzt och von der Straße runter“, vom Anrufer her und der Polizeibeamte reagiert im Prinzip dann aktiv drauf und sagt: „Na paßt auf, dass er nicht unter die Räder kommt, sonst kratz’mer euch wieder vom Fahrbahnbelag ab“. Das ist ja im Prinzip der Grund, warum das Gespräch dann weiter geht. Die daran anschließende Begründung für das polizeiliche Handeln ist nun in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Erstens zeigt sie, dass M nicht in der Sequenz interpretiert, sondern von der nachfolgenden Reaktion des Anrufers auf die Motiviertheit des polizeilichen Handelns schließt. Was einen methodisch nicht zulässigen Schluss von b auf a darstellt, der dadurch induziert worden sein könnte, dass sie in Kenntnis des gesamten Textes interpretierte und hierbei gegen das methodische Postulat der „künstlichen Naivität“288 verstieß. Und zweitens fällt an ihrer Argumentation auf, dass sie das polizeiliche Handeln so begründet, als könne sie aus der Erfahrung sprechen und auf das Praxiswissen eines ,alten Hasen‘ zurückgreifen, während es sich bei ihr um eine Polizeinovizin handelt, die erst wenige Monate in der Polizeipraxis Erfahrungen gesammelt hatte.289 4 P: Ja, aber er hat doch vorher schon P folgt ihrer Begründung nicht. Er entgegnet, dass der Polizeibeamte aber doch vorher schon so reagiert habe, also vor der Äußerung des Anrufers, womit er implizit auf M’s vorhergehenden Zirkelschluss hinweist. Er liefert also methodisch eine den Prinzipien der Wörtlichkeit und Sequentialität entsprechende Interpretation. 5 M: Ja, weil sich hier im Endeffekt ne Gefahr ergibt Der sich aber M nicht anschließt, die weiterhin die Angemessenheit der polizeilichen Reaktion mit der im Text erst später markierten Äußerung des Anrufers legitimiert, was zeigt, dass sie nach wie vor zirkulär argumentiert und aus der impliziten Korrektur von P nicht gelernt hat. 288
Das Oevermann [(1993 b), S. 142] wie folgt formuliert hat: „Für die Sequenzanalyse der objektiven Hermeneutik ist kennzeichnend, daß ein mögliches spezifisches Vorwissen über den zu analysierenden Gegenstand beziehungsweise Fall methodisch bewußt und kontrolliert (,in künstlicher Naivität‘) ausgeschlossen wird, soweit es um die Begründung von Lesarten und Interpretationen geht.“ Vgl. auch Oevermann (1986), S. 52 f.; ders. (2000 c), S. 104 f. 289 Und zwar im Grundpraktikum, im Anschluss an den ersten Teil des Grundstudiums.
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D. Rezeptionsvergleich
6 P: Er hat aber vorher schon ema gesagt: „Kannste dir noch ene in die Birne gießen“. Damit hat er eigentlich das Gespräch nochmal angekurbelt. Und von dem Punkt aus hier, denk ich mal, hät er das nicht gesagt, hät der Anrufer auch nicht mehr viel zu sagen gehabt. Dadurch hat er nochmal den Anrufer provoziert, nochmal was zu sagen oder dazu nochmal irgendwas, seinen Beitrag zu leisten. \. . . P lässt sich aber nicht beirren, sondern bleibt ganz beharrlich dabei, dass der Polizeibeamte durch seine Kommunikation den Stimulus für die weitere Gesprächsführung setzte, wobei er hier im Unterschied zu vorher nun auf die Textstelle referiert. 7 P: . . ./ Vielleicht war ihm auch gerad langweilig, das weiß ich nich, \. . . Und im Anschluss daran noch eine mögliche psychologische Deutung für das polizeiliche Handeln liefert. 8 P: . . ./ aber wenn man an nem Notruf sitzt, muß man eigentlich wissen, daß selbst, wenn das en kurzes Gespräch is, der Notruf wichtig is und freizuhalten is für wirklich ernste Sachen. P lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass es selbst bei kurzen Notrufgesprächen wie diesem „wichtig“ ist, den Notruf „freizuhalten“ für „ernste Sachen“, für wirkliche Notfälle. Womit noch einmal deutlich wird, dass P das Normalfallmodell verstanden hat und es – ohne es als solches zu bezeichnen – dem Geiste nach richtig anzuwenden versteht, was eine wirklich hervorragende Interpretationsleistung darstellt.290 9 L: Vermutlich war es an nem Samstag oder auch Sonntag gewesen und das Fußballspiel war also in Jena. Am Wochenende ist da halt in der Regel wenig los, deswegen hat da auch der Polizeibeamte Zeit gehabt und konnte darauf reagieren, ne \. . . L schließt nun an P’s vorhergehende Motivrekonstruktion an. Dabei kommt er zur Lesart, dass der Polizeibeamte aufgrund des geringen Arbeitsaufkommens am Wochenende unter keinem großen Arbeitsdruck stand und aus diesem Grund auch Muße hatte, sich auf ein solches Gespräch einzulassen.
290 P schnitt dann auch später im Staatsexamen weit überdurchschnittlich ab. Bei der Sequenzanalyse erreichte er 24 von 30 Rohpunkten, was umgerechnet der Note gut entspricht.
26. Fall 13: Fußballfan
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10 L: . . ./ Im Endeffekt kann man schon sagen, eh, die Art und Weise find ich halt war gut, nich hier sozusagen ganz streng, hier ist Notruf und gehen sie raus aus der Leitung, weil dann hätte vielleicht der Anrufer ja aggressiv reagiert und nochmal angerufen und diesen Notruf noch öfters blockiert Hat man ja auch häufig, daß nun solche Leute, die halt die Polizei ärgern wollen, nun aus Protest dann weiter eh pieksen \. . . Wobei er im Anschluss daran zum Ausdruck bringt, dass er die „Art und Weise“, wie der Polizeibeamte kommunizierte, „gut“ fand, weil dieser nicht „ganz streng“ reagierte und damit die Gefahr reduziert war, dass der Anrufer „aggressiv reagiert“, noch einmal anruft und damit faktisch den Notruf weiter „blockiert“. Der Unterschied zu P’s Interpretation liegt auf der Hand. Während nämlich dieser im Sinne des Normalfalls klar zum Ausdruck brachte, dass der Notruf prinzipiell freizuhalten sei für wirkliche Notfälle, argumentiert L, dass das polizeiliche Handeln effektiv gewesen sei, zumal der Polizeibeamte damit eine erneute Blockierung des Notrufs vermieden habe. Womit L dem Polizeibeamten sein tendenziell privatistisches Handeln als eine polizeiliche Leistung anrechnet, was einen Kategorienfehler bedeutet. Denn wenngleich es sicherlich nicht sinnvoll gewesen wäre, den Anrufer zu provozieren, indem man ihn schroff abblockt, weil er dann wirklich renitent hätte werden können, hätte ihm der Polizeibeamte durchaus sachlich zu verstehen geben können, dass er über den Notruf anrufe, und er ihn bitte, da es sich hier nicht um einen Notruf handle, wieder aufzulegen und die Leitung wieder freizugeben für wirkliche Notfälle. Das wäre keine Provokation. 11 L: . . ./ aber eh sicherlich auch sollte das nächste Mal solche Sachen weglassen, wie: „Kannste dir ene inde Birne gießen“. Der Satz, weil der Satz, nochmal also das Gespräch aktiviert und der Anrufer darauf reagiert. Er hätte also dann ja sagen sollen, „ja Tschüß“ und irgendwas anderes, aber er hats Gespräch so nochmal in die Länge gezogen. Während L zunächst auf den Einwand von P bei seiner falschen Lesart blieb, ist an dieser Sequenzstelle zu erkennen, dass er nun auf die Linie von P einschwenkt,291 dass auch er die Formulierung „Kannste dir ene inde Birne gießen“ für ungünstig hält, weil damit noch einmal das „Gespräch aktiviert“ wurde. Von daher, so L, wäre eine Formulierung wie „Ja Tschüß“ besser gewesen, um das Gespräch möglichst schnell zu beenden. 291 Was von daher interessant ist, weil es sich bei P um einen Seiteneinsteiger und bei L um einen Praxisaufsteiger handelte. Dass ein Praxisaufsteiger auf die Linie eines Seiteneinsteigers einschwenkte, war keine Selbstverständlichkeit, hing aber bei L mit dessen Habitus zusammen. Er war sehr kritikfähig und damit lernoffen.
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D. Rezeptionsvergleich
12 P: Mhm Eine Interpretation, der P zustimmen kann. Ergebnis Betrachtet man die Interpretationsinteraktion, war P eindeutig derjenige, der die beste Leistung zeigte, weil er im Unterschied zu seinen beiden Kollegen den Strukturfehler klar erkannte. Hingegen zeigte M die schlechteste Leistung, nicht nur, weil sie methodisch fehlerhaft operierte, sondern auch, weil sie aus der Korrektur von P nicht dazulernte. Im Unterschied zu L, der sich von P implizit lenken ließ und damit immerhin zum Ergebnis kam, dass das Handeln des Polizeibeamten nicht idealtypisch dem entsprach, was man von einem Polizeibeamten in einer solchen Situation erwarten kann.
27. Fall 14: Herr Schlecht Zum Abschluss des Rezeptionsvergleichs werde ich darauf eingehen, ob die Studenten 1 bis 4, bei denen es sich allesamt um Seiteneinsteiger handelte, die Unangemessenheit der polizeilichen Kommunikation in Fall 14 erkannten, die darin bestand, dass der Polizeibeamte – nachdem er herausgehört hatte, dass es sich bei diesem Anruf nicht um einen Notruf handelte – sachunangemessen reagierte, indem er den Anrufer in sehr abgekürzter, unfreundlicher Weise dazu aufforderte,292 „die Öffentliche anzurufen“, anstatt ihm die Nummer der Amtsleitung mitzuteilen und ihn zu bitten, unter dieser Nummer anzurufen, um dort seine Nachfrage zu stellen. Zu diesem Zweck werde ich auf die Protokollstelle aus der Diskussionsverschriftung zugreifen, in der die Studenten auf die Bewertung der Formulierung „die öffentliche anzurufen“ zu sprechen kommen. Der Textstelle voraus ging eine Sequenz, in der Student 2 artikulierte, dass der Polizeibeamte mit dem „Geh!“ „ziemlich barsch“ sprach. 2293: Und er hätte wirklich sag’n (-) man kann das mit einfach’n Wort’n sag’n: „Hier soll’n Notrufe eingehn, wenn was passiert“ (-) und dann kann man halt sag’n ehm, „sie müss’n schon mal die Öffentliche anruf’n!“ Wobei die „Öffentliche“, das muß ich 292 In der Polizeiliteratur wird wiederholt auf die Bedeutung von Höflichkeit [vgl. Hunold (1968); von Schwerin (1993)] und persönlicher und emotionaler Distanz insbesondere in spannungsgeladenen Situationen hingewiesen. Zu letzterem Punkt schreibt Dietel (1986), S. 381: „Der polizeiliche Umgang mit Menschen soll auch und gerade in spannungsgeladenen Situationen mit der notwendigen persönlichen und emotionalen Distanz, also kontrolliert und professionell erfolgen.“
27. Fall 14: Herr Schlecht
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eigentlich auch kritisier’n was die Öffentliche? Ich mein’ da kann man sag’n: „die öffentliche Amtsleitung“ oder „die, die normale Amtsleitung“, so was. Die „Öffentliche“ weiß keiner, oder der Bürger weiß gar nich, was isn das jetzt? 294 Auf diese Äußerung beziehen sich denn auch nachfolgend seine Überlegungen, wie man an dieser Stelle angemessener hätte formulieren können. Aus dem Text geht eindeutig hervor, dass 2 erkannt hat, dass es sich in diesem Fall nicht um einen Notruf handelt. Wie man nun an seinen weiteren Formulierungen erkennen kann, fällt es 2 aber gar nicht so leicht, eine angemessenere Formulierung zu finden. Zwar erkennt er, dass die Instruktion, „die Öffentliche anzuruf ’n“, für den Bürger wenig hilfreich ist, zumal davon auszugehen ist, dass dieser sich hierunter nichts vorstellen kann. Doch auch seine Formulierung „die öffentliche Amtsleitung“ ist im Grunde genommen genauso Nonsens295 wie die Formulierung „die Öffentliche anruf ’n“, weil es keine private Amtsleitung gibt und der Anrufer nun immer noch nicht wüsste, wo er anrufen soll. Was anders wäre, wenn er dem Anrufer sagte: ,Herr Schlecht, bitte wählen Sie die Nummer xxx, dann sind Sie mit der zuständigen Stelle verbunden.‘ Doch so formuliert der Polizeibeamte nicht, weil er offensichtlich über den Anruf des Mannes verärgert ist und ihn aus diesem Grund schnellstmöglich aus der Notrufleitung haben will. 4: Ich denk mal der Polizeibeamte hat einfach das Problem nicht erkannt, wenn er, äh, erstmal sagt: „Sie müssen dann die Öffentliche anruf’n!“, is’ meine Meinung \. . . Gemäß der Argumentation von Student 4 handelte der Polizeibeamte auf diese Weise, weil er nicht antizipierte, dass der Anrufer mit dieser Information nichts anfangen kann, was eine mit dem Text vereinbare Lesart darstellt, die dem Polizeibeamten zumindest kein bezogen auf die Folgen seines Handelns ethisch verantwortungsloses Motiv unterstellt und ihn in die293 Von den Studenten gewählte Kennzeichnung des Sprechers. Um Irritationen zu vermeiden, habe ich in diesem Text auf eine zusätzliche Zeilennummerierung verzichtet. 294 Notationszeichen: (-) kurze Pause ? Frageintonation ! Mit Nachdruck 295 Inkompetent u. a. auch deswegen, weil die Formulierung indiziert, dass der Anrufer eine private Nummer anrief. Und das ist falsch. Der Notruf ist ebenfalls eine öffentliche Leitung. Lediglich in den Anfängen des Notrufs, in den 20er Jahren der Weimarer Zeit, gab es ausschließlich private Notrufmelder. Diese wurden entsprechend als „Privat-Notrufmelder“ oder auch „Polizei-Notruf-Privat-Hauptmelder“ bezeichnet; s. hierzu Kapitel B., Fußnote 34 und Abbildung 5.
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D. Rezeptionsvergleich
sem Sinne in Schutz nimmt. Nach dem Motto: Denn er wusste nicht, was er mit seiner Formulierung anrichtete. Hätte er dies gewusst, hätte er womöglich anders gehandelt. 4: . . ./ hätte er an dieser Stelle ganz einfach sag’n könn’n: „Die öffentliche Nummer, die lautet so und so.“ Die nachfolgende Äußerung zeigt, dass Student 4 im Unterschied zu Student 2 praxisangemessener denkt. Denn um zu erreichen, dass der Anrufer beim nächsten Mal wirklich die richtige Stelle anruft, benötigt er die Telefonnummer dieser Stelle. Und diese müsste ihm der Polizeibeamte geben. 2: Zum Beispiel. Die nachfolgende Bemerkung indiziert, dass Student 2 zwar grundsätzlich in der Richtung zustimmt, die Formulierung indes für ihn nur eine von mehreren geeigneten Formulierungen darstellt. 4: Und dann wär’ das, wär das okay gewes’n 2: Ganz freundlich gewesen 1: Ja 3: Also ich seh’, ich seh’ das auch so Einer Sichtweise, der nachfolgend auch die anderen Gruppenteilnehmer zustimmen, sodass man sagen kann, dass die objektive Unangemessenheit des polizeilichen Sprechaktes klar auf den Punkt gebracht wurde. Ergebnis Insgesamt handelt es sich hier um eine gute Interpretationsleistung, wobei besonders die Leistung von Student 4 hervorzuheben ist, der mit seinen Ausführungen die richtige Lösung des Falles aufzeigte. Student 4 war dann auch nachher Jahrgangsbester, wobei kennzeichnend für seinen Habitus war, dass er – wie auch im vorliegenden Fall – Probleme immer recht kurz auf den Punkt brachte, ohne viele Worte zu verlieren. Dieser Habitus wurde ihm auch von seinen praxiserfahrenen Kollegen im Kurs hoch angerechnet, die in ihm den scharf denkenden Pragmatiker sahen.296 296 In der sozialwissenschaftlichen Examensklausur erhielt Student 4 die Note gut (12 Punkte). Dabei erzielte er in der sequenzanalytischen Aufgabe 21,5 von 30 Rohpunkten.
28. Erfahrungen mit Gruppenarbeit
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28. Erfahrungen mit Gruppenarbeit Im nachfolgenden Kapitel möchte ich auf Erfahrungen im Zusammenhang mit der von mir als Lehrform gewählten Methode der Gruppenarbeit eingehen.297 Ging ich zu Beginn der Ausbildung von der Annahme aus, dass Gruppenarbeit eine ideale Methode sei, um eine maximale Lesarten- und Ideenvielfalt zu ermöglichen und verzerrte Individualurteile zu korrigieren,298 zeigten mir die Sequenzanalysen der studentischen Diskussionsprotokolle, dass die Methode der Gruppenarbeit dieses keineswegs automatisch leistet. So kam es in nur wenigen Gruppenarbeiten zu einer Korrektur falscher Lesarten, und war die Gruppenleistung dadurch nur in diesen Fällen zumindest so gut wie die Leistung ihres besten Gruppenmitgliedes.299 Exemplarisch hierfür sei Fall 1 angeführt, in dem B zunächst eine unangemessene Lesart entwickelte, die dann aber gemeinsam von C, A und D korrigiert wurde, so dass am Ende die richtige Lesart stehen blieb und B mit den Worten: „So auf alle Fälle (. . .)“ in die nächste Zeile überleitete.
297 In einem Fall scheiterte ich mit meinem heimlichen Lernziel, die Studenten in Teamarbeit einzuüben. So stellte sich heraus, dass die Tatsache, dass auf dem Deckblatt einer Seminararbeit der Name eines von vier Arbeitsgruppenmitgliedern fehlte, dadurch motiviert war, dass drei Studenten, die in der Unterkunft zusammen auf einer Stube lagen, ihren Kollegen aus der Gruppe ausgeschlossen hatten, weil dieser, wie sie sagten, an der Gruppendiskussion nicht teilgenommen habe, obwohl sie ihn gegen Ende des Sommerurlaubs ausdrücklich dazu aufgefordert hätten. Zur Bedeutung von Stubengemeinschaften vgl. bereits Palm (1933), S. 22 f. Da sich für mich die Situation völlig unübersichtlich darstellte, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil ich wusste, dass die drei Stubengenossen mehr oder weniger Eigenbrödler und Dickschädel waren, denen sich mit B ein Student hinzugesellt hatte, der unter seinen Kollegen den Ruf hatte, andere Prioritäten zu setzen (bzw. „etwas faul zu sein“ – mündliche Äußerung eines Kollegen von ihm), und er genau genommen nur deshalb zu der Gruppe hinzukam, weil er bei der Gruppenaufteilung im Kurs nicht anwesend war, so dass nur noch die Gruppe der Dickschädel übrig blieb, entschied ich aufgrund der unübersichtlichen Verhältnisse, auch B die Note zu geben, welche die anderen erhalten hatten, zumal sich in der Seminararbeit ein Protokoll fand, das (wie aus dem Vorspann hervorging) von ihm erhoben und transkribiert worden war. 298 Zu diesen zwei Funktionen vgl. Kellerhof/Witte (1990), S. 250 ff.; oder auch Heinze (1992), S. 77 und 188. 299 Von Synergieeffekten kann keine Rede sein. Zumindest dann nicht, wenn man Synergie wie Stumpf [(1999), S. 193] definiert: „In einer Gruppe liegt Synergie vor, wenn die Gruppe eine Leistung erreicht, die I. besser ist als die Leistung des besten Gruppenmitgliedes, und II. besser ist als jede Kombination der individuellen, d. h. allein erbrachten Leistungen der Gruppenmitglieder.“ [Hervorhebung im Original, T. L.]
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D. Rezeptionsvergleich
Eine solche Korrektur erfolgte auch im neunten Fall. Denn T1 brachte T3 mit seinem Einwand „Ja (also) für mich is des (also) hier steht des ja nicht als behoben dar“ zur Konkretisierung seiner Textauslegung. Eine Verbesserung zum Richtigen erfolgte auch im zehnten Fall, wo IE ihre Kollegin IR in Zeile 02 implizit korrigierte und damit auf den Punkt brachte, dass die Frage nach verletzten Personen Vorrang vor der Einleitung von Fahndungsmaßnahmen hat, womit sie ein Handlungsmodell explizierte, das durchaus Eingang in ein Fachbuch der Einsatzlehre hätte finden können.300 Ein typisches Problem bei den Gruppendiskussionen bestand darin, dass sich Studenten mit gestaltangemessenen Lesarten nicht durchsetzen konnten, wenn sie keine Unterstützung durch den Meinungsführer301 in der Interpretationsgruppe fanden, der typischerweise nicht nur das Gegenargument vorbrachte, sondern auch entschied, wann die Interpretation einzelner Sequenzstellen nicht mehr sinnvoll war.302 So hielt N303 bei der Rezeption der ersten Notrufzeile304 H nicht nur entgegen, dass es für die Praxis unerheblich sei, ob sich der Polizeibeamte mit „Polizeinotruf“ oder „Notruf“ melde, sondern beendete auch die Auslegung der Sequenzstelle in Zeile 12 mit den Worten: „Was anderes gibt’s hier auch nicht dazu zu sagen.“ Womit sie im Grunde genommen den anderen zu verstehen gab, dass der Diskurs damit beendet sei.305 In vergleichbarer Weise geschah dies auch in einem anderen Fall:306 N: . . . So (-), jetzt würd ich mal fragen, also „Polizei“, haben wir hier oben, wär es nicht vielleicht günstiger gewesen, daß man „Polizeinotruf“ sagt. Oder? M: Nö (-), also ich bin der Meinung (-) äh (-), daß allein dieses „Polizei“ läßt alles offen, man weiß (-) der Anrufer wird im Prinzip, äh, (--) dem wird nicht gesagt, ob es der Notruf oder ne andere Stelle der Polizei is. Ich find „Polizei“ eigentlich als (--), als allgemeiner Anlaufpartner eigentlich verhältnismäßig gut. 300
Hierzu affin Kuhleber (1995 a), S. 81 f. Zur Bedeutung von Machtverhältnissen in Interpretationsgruppen und der beeinflussenden Wirkung von Meinungsführern s. Nolda (2000), S. 83. 302 Woran man sehen kann, dass in den Gruppen die Logik des besseren Arguments kaum zählte, dass hier kein wissenschaftlicher Diskurs stattfand, sondern eine Diskussion unter (noch) nicht professionalisierten Kollegen. So auch im dritten Fall, wo M mit ihrer Äußerung in Zeile 6 umgehend von C korrigiert wurde, der mit seiner Argumentation auf der Linie des informellen Führers A lag. 303 Eine Studentin, die vor ihrer Polizeizeit zwei Semester Biokybernetik studiert hatte. 304 s. hierzu: 22. Exkurs: Auslegung der ersten Zeile „Notruf“. 305 Womit sie objektiv autoritär handelte. 306 Einen in dieser Arbeit nicht analysierten Fall, der typologisch zu den Fällen gehörte, bei denen der Polizeibeamte mehr oder minder im Sinne des Normalfalls handelte. 301
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L: Ich seh das genauso wie de [Koseform von M], und zwar das Polizei läßt auch alles offen und ich geh davon aus, daß der Anrufer die 110 gewählt hat und auch weiß, daß er da mit Polizeinotruf verbunden is. Deswegen find ich, ist das „Polizei“ vollkommen ausreichend (--) M: Gut N: Naja gut, ich würd zwar eher sagen das Notruf günstiger (-), also das „Polizeinotruf“, günstiger gewesen wäre (-) und das er zumindest eventuell seinen Namen genannt hätte, weil es is schon besser, wenn man nen Ansprechpartner hat, mit ’nem Namen (-), weil dann wird die Organisation Polizei, personifiziert, würd ich sagen M: Hm (-), ich, also ich geh mal davon aus, also im Verlauf des Gesprächs wird man’s rauskriegen, daß das daß das für diesen Mann nicht wichtig is. Es reicht also „Polizei“ als als als Einleitung, im Prinzip, eines Gespräches, auf nem Notrufkanal, den er ja gewählt hat, reicht das vollkommen aus. L: Eben N: Ja (-), naja gut, dann schließe ich mich mal der Meinung an, nich wahr? L: Da hamm wir bei Zeile zwei: „Schön guten Tach“.
Auch hier leitete die informelle Führerin307 M die argumentative Gegenbewegung ein und brachte dann im Zusammenspiel mit ihrem Verbündeten L N dazu, ihre richtige Lesart aufzugeben,308 wobei man den Diskussionsverlauf – und damit das koordinierte Vorgehen gegen das Argument von N – wie folgt skizzieren kann: N: M: L: M: N: M: L: N: L:
Fragt: Polizeinotruf günstiger? Stimmt N nicht zu: „Nö“ Stimmt M zu Stimmt L zu Stimmt M + L nicht zu: Polizeinotruf + Name des Polizeibeamten, Personifizierung der Organisation Stimmt N nicht zu Schließt sich M an Schließt sich M + L an und gibt richtige Kritik auf Führt in die nächste Zeile
Neben Fällen, in denen sich einzelne Gruppenmitglieder mit ihren fallangemessenen Lesarten nicht durchsetzen konnten,309 gab es auch solche Fälle, in denen überhaupt kein Diskussionsteilnehmer den Text richtig aus307 Im Sinne von Breuer [(1998), S. 252] kann man hier auch von informeller „Schlüsselposition“ sprechen. 308 Eine Gruppe kann auch jemanden ,einnorden‘, wie man im Polizeijargon sagt. Und dies gilt sowohl für Arbeitsgruppen im Studium als auch für Dienstgruppen in der polizeilichen Praxis.
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legte, entweder weil alle – wie im vierten, sieben oder achten Fall310 – den Text ungenau rezipierten, mit der Folge, dass weder die Unangemessenheit des polizeilichen Handelns herausgearbeitet noch der Fehler in seiner sinnlogischen Motiviertheit rekonstruiert wurde,311 oder weil keiner die Abweichung vom Normalfall erkannte.312 So stellte zwar B im fünften Fall fest, dass der Polizeibeamte den Anrufer in Zeile 03 korrigierte, doch daraus zogen weder er noch seine Kollegen den praktischen Schluss, dass diese Korrektur eine Abweichung vom Normalfall bedeutete. In vergleichbarer Weise kam keiner der drei Interpreten in Fall 12 darauf, dass bereits in Zeile 04 feststand, dass kein Notfall vorliegt. Entsprechend erfolgte keine Kritik des polizeilichen Handelns, die material berechtigt gewesen wäre. Denn indem der Polizeibeamte am Notruf eine Anzeige aufnahm, handelte er bürokratisch, und genau dies hätte als unangemessenes Handeln herausgearbeitet werden sollen. Hingegen gab es nur eine Gruppe, in der eine Schlüsselstelle gemeinschaftlich angemessen interpretiert wurde. Es handelte sich hier um eine reine Seiteneinsteigergruppe, die klar herausarbeitete, dass der Polizeibeamte in Fall 14 gravierend fallunangemessen handelte. Trotz dieser objektiv sehr guten Leistung kam die Gruppe in ihrer die Seminararbeit beschließenden Reflexion zu einer selbstkritischen Sicht über die Zusammensetzung der Gruppe: „Unsere Gruppe, die nur aus sogenannten ,Seitensteigern‘ bestand, hatte sich bewußt in dieser Formation zusammengefunden. Im Vorfeld der Seminararbeit hatten wir darüber diskutiert und waren zu dem Schluß gekommen, daß wir nicht auf den Erfahrungsschatz der ,Aufsteiger‘ zurückgreifen wollten, da diese sich, wie uns aufgefallen war, durch ihre Vorkenntnisse oft auf vorgezeichneten Bahnen bewegen. Wir waren der Meinung, daß für eine umfassende Bearbeitung des Themas und seine Beleuchtung aller Problemfacetten unsere Unvoreingenommenheit nur von Nutzen sein konnte. Wie sich später in unserer Diskussion herausstellte, hatte diese Art der Gruppenzusammenstellung jedoch neben der erwarteten Vorteilen auch Nachteile, die sich aus unseren mangelnden Kenntnissen zur Notrufaufnahme ergaben.“ 309
Wozu auch Fall 11 gehört, wo F seine richtige Lesart in den Zeilen 4 und 5 nach der Intervention von R aufgab. 310 Und zwar sowohl bei der Auslegung der ersten als auch bei der Interpretation der zweiten Sequenzstelle. 311 Und sich daher alle auf dem falschen Dampfer befanden, wobei kennzeichnend für solche Interpretationsinteraktionen das Phänomen der Abweichungsverstärkung war. Der Standpunkt des objektiven Hermeneuten lautet: „Fehler sind (. . .) immer motiviert und das heißt: Sie sind nicht einfach nur das Ergebnis eines Versagens, sondern der Inhalt des im Versagen Produzierten ist seinerseits motiviert beziehungsweise determiniert und damit rekonstruierbar.“ Oevermann (1993 b), S. 188. 312 Hingegen gab es nur einen Fall (Fall 14), in dem alle Gruppenteilnehmer eine Schlüsselstelle richtig auslegten, also die Formulierung einer richtigen Lesart nicht zu einer Gegenbewegung führte. Ich komme hierauf unten näher zu sprechen.
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Zu sehen ist nun, dass sich diese – wie die Gruppe formulierte – „mangelnden Kenntnisse“ objektiv in keiner Weise negativ auf die Auslegung des zu rezipierenden Notruftextes auswirkten, sodass ich in meiner Praxis vor der keineswegs leichten Aufgabe stand, die Seiteneinsteiger hinsichtlich ihrer offensichtlich ungetrübten Interpretationsfähigkeit zu stützen, ohne ihnen damit gleichzeitig zu verstehen zu geben, dass praktische Kenntnisse unerheblich seien. Diesen Spagat zwischen einer von mir als wichtig angesehenen mäeutischen Stützung der „Befähigung zur intuitiv angemessenen Primärerfassung sozialer Sachverhalte“313 und einem Offen-Halten für die Praxiserfahrungen versuchte ich dadurch zu leisten, dass ich ihnen in der Rückmeldung sagte, dass sie den Fall methodisch angemessen interpretierten, wenngleich ich ihre Aussage über ihre mangelnden Kenntnisse zur Notrufaufnahme durchaus ernst nehme. Natürlich sei es in der Praxis wichtig, sich hier auszukennen. Dennoch sollten sie mit auf den Weg nehmen, dass sie im konkreten Fall ohne diese Praxiskenntnisse auskamen, was zeige, dass man mit der Methode auch dann zu angemessenen Ergebnissen kommen könne, wenn man seinen gesunden Menschenverstand walten lasse.314 Neben Gruppen, die den Fall nicht gestaltangemessen zur Sprache brachten, weil entweder alle Interpreten am Text vorbei interpretierten oder weil das Gruppenmitglied, das eine angemessene Text-Lesart produzierte, aufgrund von Gruppenmechanismen keine Chance zur Durchsetzung dieser Lesart hatte, stieß ich bei der Durchsicht der Diskussionsprotokolle im zweiten Fall auf das von Alexander Thomas so genannte Phänomen der „inadäquaten Mitte“.315 So nahm in diesem Fall Student DL eine vermittelnde Position zwischen den Lesarten von AH, KG und CM ein, obwohl nach dem Prinzip der Wörtlichkeit eine vermittelnde Position nicht möglich war. DL baute mithin an der Stelle Homogenität auf, wo das Markieren von Heterogenität angemessen und eine Entscheidung bezüglich der richtigen Lesarten von AH und KG erforderlich gewesen wäre. Kontrastiv hierzu ist das Diskussionsverhalten einer Gruppe zu sehen, in der es zu einer internen Kontroverse um die richtige Lesart kam.316 Im Unterschied zur vorhergehenden Gruppe wurde hier nicht eine inadäquate 313
Oevermann u. a. (1979), S. 393. Es handelt sich hier um eine sinngemäße Wiedergabe dessen, was ich im Rückmeldegespräch sagte. Da ich kein Tonbandgerät einsetzte, bin ich hier auf eine Erinnerungsnotiz angewiesen. 315 Thomas (1999), S. 119. Ebd. schreibt er: „Eine Gruppe kann durchaus eine inadäquate Mitte finden, indem sie in bezug auf die ,falschen‘ Aspekte Heterogenität abbaut und Homogenität aufbaut.“ 316 Dieser Fall wurde in der Arbeit nicht näher analysiert. Er gehört typologisch zu den Fällen, in denen Polizeibeamte mehr oder minder idealtypisch im Sinne des Normalfalls handelten. 314
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D. Rezeptionsvergleich
Mitte formuliert, sondern die unterschiedlichen Lesarten von jeweils zwei Diskutanten in der Verlaufsskizze klar zum Ausdruck gebracht: „. . . (dass) der Notrufbeamte lediglich ,wozu‘ fragte, gab Anstoß zu einem Diskussionsabschnitt, in dem erstmals Konflikte auftraten. (. . .) Die Diskussionsrunde wurde hier in zwei Lager gespalten. Die Gruppe mit den o. g. Argumenten (MA und SK) vertrat die Meinung, dass . . .. Demgegenüber hielt die andere Gruppe (KW und JL) dieses ,wozu‘ im konkreten Anruf für die optimale Aufforderung zur Sachverhaltsschilderung durch die Anruferin. (. . .) Eine endgültige Übereinstimmung konnte letztendlich in diesem Diskussionsabschnitt nicht erzielt werden . . .“.
Zum einen hing dies damit zusammen, dass die Gruppe sich offensichtlich nicht von dem Deutungsmuster leiten ließ, dass eine gute Gruppendiskussion notwendigerweise eine harmonische Gruppendiskussion sei und es deshalb darauf ankomme, sich gruppenintern möglichst wenig zu widersprechen. Und zum anderen ist dies dadurch zu erklären, dass sich in den beiden Lesarten-Gruppen jeweils ein informeller Führer befand, beide gestandene Praktiker, für die habituell kennzeichnend war, dass sie auch in Unterrichtsdiskussionen nur dann nachgaben, wenn man sie argumentativ von einer Sache wirklich überzeugt hatte. Im Kontrast zu dieser immerhin die Unterschiede markierenden Interpretationsinteraktion ist die Leistung der Interpreten im sechsten Fall317 zu sehen, die in ihrer Verlaufsskizze betonten, dass sie „einstimmig“ zum Ergebnis kamen, dass „jeder ähnliche Interpretationen und Rückschlüsse vornahm“ und dies „die konstruktive und harmonische Zusammenarbeit in der Gruppe während dieser Arbeit dokumentiert“. Wenngleich diese Selbstbeschreibung bezüglich Harmonie durchaus zutreffend war, da in der Tat alle ähnlich interpretierten,318 handelte es sich objektiv dennoch um eine schlechte Analyseleistung, weil am Fall nicht herausgearbeitet wurde, dass der Polizeibeamte an der zu interpretierenden Sequenzstelle gravierend unangemessen handelte. Die Motivierung für die kollektive Fehlinterpretation319 ist darin zu sehen, dass alle drei habituell (wie selbstverständlich) davon ausgingen,320 dass Außenstehende (polizeiliche Laien) tendenziell nicht das erforderliche Wissen besitzen, um polizeiliches Handeln angemes317
Fall 6: Mopedunfall vor Weida. Auch wenn D im Anschluss an C immerhin dessen Lesart korrigierte, dass die Äußerung des Anrufers in Zeile 7 des zu rezipierenden Notruftextes klar zum Ausdruck bringt, dass der Polizeibeamte „den Punkt getroffen hat, den der Anrufer gemeint hat“. 319 Dies sah in der Diskussion so aus, dass das objektiv unangemessene Handeln des Polizeibeamten mit Hinweis auf dessen Interesse an der Gewinnung einsatznotwendiger Informationen legitimiert wurde. 320 Es handelte sich hier um drei Schutzpolizeibeamte mit Praxiserfahrung. 318
29. Diagnostisch-pädagogische Bedeutung der Gruppenanalysen
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sen bewerten und damit kritisieren zu können, wobei ihr Habitus an Max Webers Formulierung von „der heutigen Stellung des Polizisten als des ,Stellvertreters Gottes auf Erden‘“321 denken lässt.322 Wie bedeutsam für die Analyse- oder Interpretationsleistung einer Gruppe es ist, wenn ein Gruppenmitglied auch bei einem Einwand gegen sein vorgebrachtes Argument dieses argumentativ verteidigt, zeigt Fall 13.323 Denn an ihm ist klar abzulesen, dass sich P trotz der Einwände von M (in den Zeilen 3 und 5) nicht von seinem Weg abbringen lässt, sondern an der richtigen Lesart festhält und damit auch L, der zunächst (in Zeile 10) dazu tendierte, das Handeln des Polizeibeamten für durchaus fallangemessen zu halten, auf den richtigen Weg brachte (Zeile 11), sodass am Ende der Interpretation das richtige Ergebnis stand, was mit Sicherheit nicht der Fall gewesen wäre, wenn P nachgegeben hätte.324
29. Diagnostisch-pädagogische Bedeutung der Gruppenanalysen Es waren insbesondere diejenigen Gruppenarbeiten, in denen es zu einer Korrektur zum Falschen oder zu einer gemeinschaftlichen Fehlinterpretation kam, die mir indizierten, dass es für die Lesartenbildung in Gruppen wichtig ist, Interpretationsinteraktionen intensiver zu begleiten325 und in diesem Prozess darauf zu achten, dass die Studenten 321 Weber (1985), S. 561. Wie mir zu Ohren kam, verhielt sich C nach dem Studium in der Praxis tatsächlich in dieser ,aufgeblasenen‘ Weise, und zwar nicht nur gegenüber dem polizeilichen Klientel, sondern auch gegenüber anscheinend weniger versierten (nicht studierten) Mitarbeitern. 322 Harmonie ist eben nicht, worauf die sozialpsychologische Forschung aufmerksam macht, ein Garant für Gruppeneffektivität. Vgl. hierzu Thomas (1999), S. 117; s. hierzu aber auch bereits Oevermann u. a. [(1979), S. 393], die im Sinne einer möglichst angemessenen Ausübung der objektiven Hermeneutik als Kunstlehre von den Textinterpreten einfordern, „geradezu streitsüchtig ihre Interpretationen möglichst lange mit Argumenten gegen Einwände aufrechtzuerhalten, damit sie, wenn sie scheitern, möglichst informationsreich scheitern“. Denn „ein generalisiertes Kompromißbemühen, daß (sic) für demokratisch-politische Entscheidungen konstitutiv ist, wäre hier ebenso Fehl (sic) am Platze wie die unverbindliche Nettigkeit, die heutzutage häufig als Ergebnis von Selbsterfahrungssitzungen gehandelt und strategisch als Überlebenstechnik eingesetzt wird“. Ebd. 323 Fall 13: Fußballfan. 324 Wie bedeutsam es ist, sich bei der Anwendung der Methode der Sequenzanalyse nicht beirren zu lassen, zeigt auch der Scheler-Fall. 325 Ich meine hier Begleitung im Sinne einer mäeutisch-sokratischen Begleitung, das heißt: dann Fragen stellen, wenn keiner eine – von der Sache her notwendige – Frage stellt, dort korrigieren, wo sich die Gruppe kollektiv bei der Lesartenerstellung verrannt hat.
342
D. Rezeptionsvergleich
1. die Texte möglichst genau nach den Prinzipien der a) Sequentialität, b) Totalität, c) Wörtlichkeit und d) unter Beachtung des strukturalistischen Normalfallmodells auslegen; 2. bei ihrer Interpretation so vorgehen, „die Alltagspraxis des Motivverstehens gegen den Strich zu bürsten, indem gerade nicht [wie im Polizeialltag typischerweise erforderlich, T.L] möglichst treffsicher und möglichst schnell die Absicht des Handlungspartners entschlüsselt werden soll, sondern umgekehrt möglichst ausführlich“;326 3. ihre Interpretationen möglichst lange mit Argumenten gegen Einwände aufrechterhalten327 und diese nicht aus einem falsch verstandenen Konsens- oder Harmonieverständnis heraus zurückziehen oder korrigieren. Analysen diesen Typs waren für mich in meiner pädagogischen Praxis auch deswegen aufschlussreich, weil sie mir ermöglichten, die innere Strukturiertheit von Gruppen zu erfassen, die Stellung einzelner Studenten „in dieser Binnenstrukturierung zu erkennen und diese Kenntnis für die Ausgestaltung des individuellen Arbeitsbündnisses mit (ihnen) in Rechnung zu stellen“.328 Dass sich bestimmte Studenten im Unterricht zurückhielten, wenn ich eine Frage in den Raum stellte, ergab für mich in Kenntnis der Analysen Sinn. Es wurde mir klar,329 dass Zurückhaltung fallspezifisch Ausdruck von Angst sein konnte, sich im Klassenverband als Streber zu profilieren und von anderen als solcher gehänselt zu werden, oder auch durch die Unsicherheit motiviert sein konnte, mit dem Gesagten im Kurs falsch zu liegen und sich damit vor den Kurskollegen lächerlich zu machen.330 Dass es diese Tendenzen gab, bestätigte mir indirekt ein Student in einem im Anschluss an die Rückgabe der Seminararbeit geführten Gespräch, indem er mir auf meine Frage, wie er denn die Gruppenarbeit erlebt habe, antwortete:
326
Oevermann u. a. (1979), S. 393. Ebd. 328 Oevermann (1997 a), S. 176. 329 Was ich eigentlich noch aus meiner Schulzeit her noch hätte wissen müssen, mir aber im Laufe der Zeit in Vergessenheit geriet. 330 Zu typischem Pennälerverhalten an Fachhochschulen s. von Harrach (1994), S. 117. 327
29. Diagnostisch-pädagogische Bedeutung der Gruppenanalysen
343
S: . . . das is ne ungezwungene Situation gewesen. D: Ja. S: Das ganze Drumherum ne. Mein, das ist eben diese drei Personen. D: Mh mh S: Man kennt sich unternander doch ein bisschen D: Mh mh S: und da geht man ungezwungener miteinander um. D: Ja S: Da läuft dann auch ein ins andere D: Ja. S: Man nimmt den Stichpunkt auf und baut das ein bisschen auf und so D: Es ist kein Großverband. S: Ja, man kennt die doofen Nölereien oder dumme Bemerkungen D: Ja S: Die von teilweise von Seiten kommen und so. D: Ja. S: Ich weiß nicht, wenn´s auch vielleicht nur en Ablenken ist von seinen eigenen Fehlern oder so. Aber wenn man Fehler hat, soll man auch dazu stehen, wenn man es selber weiß ne. D: Also es sollte so sein. S: Ja, nur es gibt genügende, die versuchen dann irgendwo das zu überspielen ne. D: Ja. S: Den Ball wieder weiterzugeben ne.331
Kontrastiv zu dieser Äußerung fand ich in einer Seminararbeit auch einen expliziten Hinweis darauf, dass die Gruppenarbeit alles andere als ungezwungen erlebt wurde, was damit zusammenhing, dass die Rezeption des Notrufprotokolls tontechnisch aufgezeichnet werden sollte und die Studenten nun befürchteten, schlecht bewertet zu werden, wenn sie nicht stilistisch einwandfrei oder druckreif sprechen,332 und diese Angst vor einer schlechten Bewertung dann auch dazu führte, dass die tontechnisch aufgezeichnete Interpretationsinteraktion in der Seminararbeit in sprachlich bereinigter Form wiedergegeben wurde, um das „mal schön“ zu machen, „damit es gut aussieht“, denn: „das eigentliche Problem war ja, als wir den Notruf verschriftet ham, ham mer bei manchen Stellen gesagt, so spricht doch keiner, 331 Textauszug aus einem Gespräch, das ich mit vorheriger Erlaubnis des Studenten auf Tonband aufzeichnen durfte. 332 Äußerung in einer Seminararbeit.
344
D. Rezeptionsvergleich
wie spricht denn die? Weil diese abgehackten Sätze, oder aus dem Zusammenhang rausgerissen, einfach nur so ein Wort reingeschmissen“.333
333 Dass die Studenten bei ihrer Sprachglättung im Grunde genommen davon ausgingen, dass ich die mitgelieferten Tonbandaufnahmen nicht mit ihrer Vertextung abgleichen werde, sei nur angemerkt. Umso überraschter waren sie, als ich sie auf die Abweichungen ansprach. Vor diesem Hintergrund ist denn auch die Äußerung eines Studenten zu lesen, der zu mir im Rückmeldegespräch sagte: „Da warn wir wirklich erstaunt, dass Sie alle Texte, die hier irgendwo vorgekommen sind, auch wirklich abgehört haben (. . .) Hätten wir uns zum, zum Anfang gar nicht so vorgestellt (. . .) da war ich baff, da war ich überrascht, ne.“ In einem Fall führte die Antizipation dieser Abgleichmöglichkeit zusammen mit der Befürchtung, dass ich trotz meiner Zusage, keine individuellen Noten zu geben, mit dem Tonbandmitschnitt eine materiale Basis gehabt hätte, um individuell zu benoten, zur Nichtabgabe der tontechnischen Aufzeichnung der Gruppendiskussion. Wenngleich ich dies formal hätte beanstanden können, tat ich genau dies nicht, sondern sprach mit den Studenten bei der Rückgabe der Seminararbeit über zwei Stunden lang über ihre Rezeption, in der sie das Handeln des Polizeibeamten total kritisiert hatten (s. 24. Exkurs: Totale Kritik). Wir gingen noch einmal den Fall durch. Am Ende der Analyse bekam ich dann von ihnen als Feedback, dass sie erkannt hätten, dass ihre Kritik überzogen gewesen sei.
E. Rollenspiele 1. Vorbemerkung Nachdem ich im ersten Ausbildungsschritt die Studenten in die Methode der Sequenzanalyse eingeführt hatte und sie anschließend in Kleingruppen von ihnen selbst erhobene Notrufe analysieren ließ, bestand der zweite Ausbildungsschritt darin, sie mittels der Methode des Rollenspiels in die Interventionspraxis am Polizeinotruf einzuüben. Hiermit verband ich zwei Lernziele: Das erste – allgemeinere – Lernziel bestand darin, den Studenten, von denen die meisten bis dahin in der Realität noch keine Polizeinotrufe entgegengenommen hatten, Gelegenheit zu geben, sich einmal selbst in der praktischen Gesprächsführung zu erleben und sie durch eine sokratisch begleitete Auswertung der Rollenspielinteraktionen zur Reflexion über ihre Fallhandhabung anzuregen, damit sie die Möglichkeit haben, selbst etwas über ihre Leistungsfähigkeit zu erfahren. Das zweite – spezifischere – Lernziel bestand in einer Stärkung der durch die exemplarischen Fallanalysen angebahnten Sensibilisierung für die strukturelle Problematik der Notrufinteraktion. Es ging mir mithin darum, bei den Studenten eine Haltung zu verstärken, die man entsprechend der Normalfalltypologie als eine „Haltung der sensiblen Souveränität“1 bezüglich des Verhältnisses von Krise und Routine2 bezeichnen kann. Entsprechend dieser Haltung kommt es bei der Intervention darauf an, eine paradoxe Leistung zu vollbringen, nämlich eine Krise auf routinisierte Weise zu bewältigen,3 ohne hierbei 1
Loer (2000), S. 339. Zum Verhältnis von Krise und Routine s. Oevermann (1995 a), S. 11: „Routinen ergeben sich aus Krisen als sich bewährende Lösungen. Aber nicht ergeben sich in vergleichbarer Weise Krisen aus Routinen. Denn bezogen auf Routinen bedeuten Krisen deren Scheitern und damit ein manifestes Wieder-Öffnen der Zukunft, wohingegen Routinen immer die Schließung einer ursprünglichen Krise darstellen und insofern material aus dieser hervorgehen, also material und dynamisch aus ihr sich ableiten lassen.“ Oder auch: „. . . die Routine leitet sich material als deren Schließung aus der Krise ab; zur Routine wird, was sich als einstige Krisenlösung bewährt hat. Dagegen ist die Krise ein plötzliches Aufbrechen eingespielter vorausgehender Routinen, seien es Techniken, Praktiken oder Überzeugungen, und damit ein unvorhersehbares Öffnen eines Geschlossenen. Die Krise ist deshalb nicht aus der Routine ableitbar, dagegen die Routine aus der Krise.“ Ders. (1996 c), S. 7. 2
346
E. Rollenspiele
a) ausschließlich routiniert zu handeln, indem man einen Fall unter ein bürokratisches Schema subsumiert,4 ihn also bloß formal rational, entsprechend der Routine des Verwaltungsablaufs,5 und nicht material rational, d. h. krisenbezogen, behandelt; b) selbst in eine Krise zu geraten, was der Fall wäre, wenn man entweder nicht über eine hinreichende „Fähigkeit der Distanznahme“6 oder ein für die Bewältigung von Krisen nicht ausreichendes Erfahrungswissen verfügt. Routinisierte Krisenbewältigung besteht im Wesentlichen darin, den unüberwindbaren Widerspruch zwischen Routine und Krise stillschweigend anzuerkennen und damit zugleich in Krisen praktisch so routiniert zu agieren, dass weder das Krisenhafte des konkret zu verhandelnden Falles geleugnet wird, noch der Polizist angesichts der Krise selbst ,in die Krise‘ gerät und damit handlungsunfähig wird. Daraus folgt, dass sowohl völlige Routinisierung wie auch die Konstitution der Dauerkrise zur Krisenlösung des konkreten Falles unangemessen sind. Die völlige Routinisierung führte dazu, den Fall nicht mehr ernst zu nehmen zugunsten einer möglichst schnellen Überführung des Befremdlichen und Fremden in Bekanntes. Verfiele der Polizist kehrseitig aufgrund der Krisenkonfrontation in völlige Lähmung, wäre er nicht mehr in der Lage, die Krise zu bewältigen. Diese Gratwanderung zwischen erstarrter Routine und Dauerkrise ist für polizeiliches Handeln konstitutiv.7 3 Vgl. Ley (1998). Der den Notruf entgegennehmende Polizeibeamte muss im Grunde genommen zwei Aufgaben bewältigen, die zueinander in einer widersprüchlichen Beziehung stehen. Die formale Rationalität fordert von ihm vorrangig, die für die Bürokratie notwendigen Daten zu erfassen; die materiale Rationalität erfordert hingegen vorrangig, die notwendige Krisenintervention zu leisten. Das heißt: Der Polizeibeamte hat erstens für eine schnelle Intervention in einem akuten Krisenfall zu sorgen; zweitens darf er nicht aus den Augen verlieren, dass es der ,blue print‘ der Organisation verlangt, die von ihm telefonisch behandelten Krisenfälle nach einem vorgegebenen Schema in ein Computersystem einzugeben, das von ihm an erster Stelle Angaben zur Personenart, Name des Mitteilers, Vorname(n), Postleitzahl/Wohnort, Straße, Hausnummer, Telefon und Geburtsdatum verlangt. 4 Hierzu bezogen auf die Sozialverwaltung Loer (2000), S. 332. Und grundlegend Oevermann (2000 b). 5 Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, fand ich in meinem Datenmaterial für die von Schegloff beobachtete Praxis (s. Kapitel C., Fußnote 42) keine Entsprechung. 6 Loer (2000), S. 335. 7 Die Ausführungen dieses Absatzes stimmen überein mit Überlegungen, die ich zusammen mit Andreas Müller-Tucholski im Zusammenhang mit dem Thema ,Überbringung einer Todesnachricht‘ anstellte. Zu diesem Thema führten wir vom 30. bis 31.10.1998 an der privaten Trauerakademie von Pütz-Roth in Bergisch Gladbach ein Seminar durch. Zum Thema Überbringung einer Todesnachricht vgl. auch Müller-Tucholski/Ley (1998).
1. Vorbemerkung
347
Geht man davon aus, dass Polizeiarbeit hauptsächlich in der routinisierten Krisenbewältigung im oben beschriebenen Sinne besteht, stellt sich die Frage, wie die Polizei mit dieser Zuständigkeit für Krisen umgeht, wie sie auf der institutionellen Ebene polizeiliches Krisenbewusstsein realisiert und wie habituelle Krisenbewältigungskompetenz bei der Polizei erworben wird. Die hier gegebene Antwort lautet: Durch Einübung in eine Interventionspraxis, die tontechnisch protokolliert und analog zu der Lehreraus- und -fortbildung, in der Videoprotokolle über Probestunden besprochen werden, sequenzanalytisch rekonstruiert wird.8 Nachfolgend werde ich anhand der Analyse von Rollenspielprotokollen darauf eingehen, ob beziehungsweise welche Handlungsschwierigkeiten in den Rollenspielen festzustellen waren. Die durchgeführten Analysen sollen dem Leser damit eine Antwort auf die Frage erlauben, inwieweit mein Versuch, die auszubildenden Polizeibeamten für eine sachangemessene Fallhandhabung zu sensibilisieren, wirksam war, oder ob die Einübung in die praxisentlastete Analyse von Notrufprotokollen keinen nachweisbaren Effekt für die praktische Fallhandhabung hatte, sondern im Gegenteil, in den Rollenspielen auf eine vergleichbare Weise fallunangemessen gehandelt wurde wie in der zuvor analysierten Praxiswirklichkeit. Beginnen möchte ich mit der Frage, inwieweit in den Rollenspielen vergleichbar unangemessen gehandelt wurde wie in den analysierten Notrufprotokollen, inwieweit auch hier a) die Abfrage von bürokratischen Daten vor der Abklärung der Krise erfolgte und damit der zu leistende Spagat zwischen formellen Vorgaben und Erfordernissen und materialer Krisenbewältigung zu Ungunsten der Krisenbewältigung ausgeführt wurde; b) Fälle, bei denen es sich objektiv nicht um Notfälle handelte, dennoch als Notfälle auf der Notrufleitung weiterbehandelt wurden, was zu einer Blockierung der Notrufleitung führte; c) medizinische Krisenfälle, vergleichbar dem Epilepsiefall, von der Leitung verwiesen wurden, was weder rechtlich angemessen noch verantwortungsethisch im Sinne Max Webers zu legitimieren war. Abschließen werde ich meine Ausführungen mit Erkenntnissen, die ich aus den Rollenspielen für eine handlungsorientierte Ausbildung gewann.
8 Die technischen Protokolle wurden weitgehend von den Studenten transkribiert. Materialer Gegenstand der Sequenzanalysen sind mithin überwiegend ihre Rollenspielvertextungen.
348
E. Rollenspiele
2. Rollenspielanalysen a) Analyse I Betrachtet man das nachfolgende Rollenspielprotokoll9 – 01 P: 02 A: 03 04 05 P: 06 A: 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17
P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P:
Polizeinotruf Ihr Problem bitte?10 (1.0) h Ja äh äh äh Verkehrsunfall in der Büchner Straße äh hh in der Nähe des Ärztehauses hh (1.0) äh mei mein Name is Petri h äh da is’n Auto vorn Lichtmast gefahrn Mhm wann is das passiert? Jetzt gerade h äh ich hab aus’n Fenster geschaut hh (1.0) direkt vorm Haus Ja (1.0) gibt’s Verletzte? h Äh weiß ich nicht obs Verletzte gegeben hat Herr Petri ich bräuchte mal Ihren Vornamen und Ihre Adresse hh Gerd Petri Ja h wohne in der Fritz Büchner 12 das is gegenüber em Ärztehaus Ja (Hintergrundgeräusche) hh Schnell Hm H Äh Herr Petri können Sie mir noch mehr sagen? Wieviel Fahrzeuge sin denn beteiligt?
9 Rollenspiel 33 – Verkehrsunfall. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer: Situation: – Donnerstag, 10 Uhr morgens – Anrufer: Gerd Petri – wohnhaft Fritz Büchner-Straße 12, gegenüber dem Ärztehaus – schaut aus dem Fenster – Totalschaden – weiß nicht, ob es Verletzte gegeben hat – Auto knattert noch Sequenz: Ja äh Verkehrsunfall in der Büchner-Straße hh in der Nähe des Ärztehauses mein Name ist Petri is n Auto vorn Lichtmast gefahrn Kürzelerklärung: hh Einatmen Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Donnerstag, 10 Uhr morgens. 10 Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamter; A Anrufer; Petri Betont; hh Atmen; schnelles Sprechen; | | Überlappung; (1.0) Pause in Sekunden.
2. Rollenspielanalysen 18 19 20 21
A: P: A: P:
22 23 24 25 26 27
A: P: A: P:
28 A: 29 P: 30 A:
349
hh das is ein ein PKW der is vorn Lichtmast gefahrn |hh | |ein PKW| Das sieht aus wie Totalschaden Ja hh und können Sie erkennen ob irgendwelche Verletzten vielleicht vorhanden sind? Das kann ich nich sehn ich weiß auch nich wieviel drinne sin es könnte sein das’s Verletzte gegeben hat Ja Herr Büchner wir werden äh die Rettungsleitstelle benachrichtigen und können sie mir ihre Telefonnummer noch ma geben? hh Ja in Meiningen die 32841 32841 kann möglich sein daß ich noch mal auf sie zurückkomme ja Herr Büchner? Ja Gut wiederhören Wiederhörn
– im Hinblick auf die Frage, ob der Polizeibeamte krisenangemessen und nicht bürokratisch formal handelte, ist mehreres auffällig:11 1. Der Rollenspieler P handelt zwar im Anschluss an die Mitteilung des Anrufers (A) nicht strukturgleich wie der Polizeibeamte im Vergleichsfall,12 da er in den Zeilen 05 und 07 zwei krisenbezogene Fragen stellt. 2. Dennoch verfällt er ab Zeile 09 in ein bürokratisches Schema. Denn obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass es Verletzte gibt, sondern der gesunde Menschenverstand dies im Gegenteil eher nahe legt, und es folglich an dieser Sequenzstelle sinnvoll gewesen wäre, unverzüglich die Rettungsleitstelle zu informieren, um schnellstmögliche medizinische Hilfe zu gewährleisten, handelt P nun bürokratisch. 3. Erst in Zeile 17 geht P wieder auf den Krisenfall ein. Doch bis dahin ist viel Zeit vergangen. 4. Erst in Zeile 24 gibt P dem Anrufer zu verstehen, die Rettungsleitstelle zu informieren. Dies hätte in diesem Fall aber bereits in Zeile 09 erfolgen sollen. Ergebnis P handelte deutlich besser als der Polizeibeamte im Vergleichsfall. Er vermied zu Beginn den Strukturfehler aus dem Protokoll des realen Falls, verfiel dann aber dennoch in ein bürokratisches Schema, ehe er in Zeile 17
11 Ich gehe nachfolgend aus darstellungsökonomischen Gründen nicht sequenzanalytisch vor. Der Ergebnispräsentation liegt aber eine Sequenzanalyse zu Grunde. 12 Vgl. hierzu den in Kapitel C. analysierten „Heidenberg“-Fall.
350
E. Rollenspiele
wieder auf den Fall zurückkam und dem Anrufer dann in Zeile 24 Hilfe zusagte. Dass P nach kurzer Zeit bürokratisch handelte, indiziert, dass er – wenngleich in die richtige Richtung sensibilisiert – noch nicht über genügend Handlungssicherheit verfügte und eine fallangemessene Intervention mehr Übung erforderte, als dies im Rahmen eines Rollenspieltrainings möglich war. Den Wunsch, mehr üben zu können, erhielt ich nahezu einheitlich von den Studenten als Feedback.13 Aus diesem Wunsch ergab sich für mich die Folgerung, in späteren Jahrgängen mehr Zeit für das praktische Üben einzuplanen,14 ohne allerdings auf die Analyse von Rollenspielen zu verzichten, die aus meiner Sicht ein unabdingbares Moment einer auf die Berufspraxis vorbereitenden Ausbildung war.15 b) Analyse II Besser als in diesem Fall handelte eine Studentin, die mir bereits bei der Durchsicht der studentischen Sequenzanalysen durch eine gestaltangemessene Fallinterpretation aufgefallen war. So hatte sie bei der Rezeption des Falls 1 „Autoaufbruch“ darauf hingewiesen, dass der Polizeibeamte aufgrund der ihm vom Anrufer mitgeteilten akuten Krisensituation unmittelbar
13 s. hierzu Kapitel F. (im Anschluss an Hochzahl 13). Zur Bewertung des Trainings setzte ich den nachfolgend abgebildeten Rückmeldebogen ein, den ich die Studenten nach dem Training auszufüllen bat: Zur Evaluation des Trainings möchte ich Sie bitten, mir folgende Fragen zu beantworten! 1. Wieviel Jahre waren Sie vor Beginn der Ausbildung an der Fachhochschule im polizeilichen Einzeldienst? (. . . . .) Jahre 2. Wieviel Jahre davon waren Sie bei der Schutzpolizei? (. . . .) Jahre 3. Haben Sie in der Praxis bereits Notrufe entgegengenommen? 4. Hat die Auseinandersetzung mit dem Thema Notruf Ihre Einstellung bzw. Ihr Denken zu diesem Handlungsbereich verändert? (. . . . .) Ja (. . . . .) Nein 5. Wenn ja, wie hat sich Ihre Einstellung bzw. Ihr Denken verändert? .......................................................... .......................................................... .......................................................... .......................................................... ............................... 6. Halten Sie es für sinnvoll, zukünftige Jahrgänge im Bereich des Notrufs zu schulen? (. . . . .) Ja (. . . . .) Nein 14 Also das Training von zwei auf drei Tage zu verlängern. Da ich dies zu Beginn im Curriculum nicht vorgesehen hatte, musste ich auf einen entsprechende curriculare Änderung hinwirken. Zumal, wie Basil Bernstein treffend bemerkt, „das Curriculum (festlegt), was als gültiges Wissen zählt“ [(1981), S. 293]. Und nur dieses kann Eingang in Prüfungen finden. 15 Analog für den Bereich der Lehrerausbildung s. Loer (1999), S. 59.
2. Rollenspielanalysen
351
Einsatzkräfte zum Tatort schicken muss. Entsprechend schnell entschied sie sich in dieser Situation16 – (Telefonklingeln)17 01 S1: Polizeinotruf 02 S2: Ja guten Tag, bin ich denn bei der Polizei jetzt gelandet? 03 S1: Sie sind hier beim Polizeinotruf gelandet! 04 S2: Ich hab da nen Problem, können Sie mir da helfen? 05 S1: Welches Problem haben Sie denn? 06 S2: Ich stehe hier B 92 vorm Supermarkt, und äh, da liegt einer, der blutet 07 S1: Vorm Supermarkt, da liegt einer, der blutet 08 S2: Ja, und da ist noch hh hh nen Auto umgekippt 10 S1: Ja, bleiben se mal nen Moment dran bitte 11 (Telefonat mit der Rettungsleitstelle) 18 12 Ja, hier ist die Polizei, wir haben eine verletzte Person auf der B 92 vor dem Supermarkt,
– zur umgehenden Informierung der Rettungsleitstelle, ohne durch vorhergehende bürokratische Fragen Zeit zu verschenken, die in der emergencySituation überlebenswichtig sein konnte.19 Statistisch anzumerken ist, dass in neun von 52 Rollenspielfällen, in denen eine akute Krise vorlag, die Studenten unmittelbar nach Feststehen der Krise die Rettungsleitstelle benachrichtigten und/oder polizeiliche Einsatzkräfte vor Ort entsandten, während in 31 von 52 Fällen vergleichbar gehandelt wurde wie in diesem Fall. Dies zeigt aus meiner Sicht an, dass eine Sensibilisierung für die richtige Reihenfolge von Krisenzuwendung und for16 Rollenspiel 28 – Verkehrsunfall. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer : Situation: – Mittwoch, 14 Uhr – Trabi hat sich überschlagen – Person leicht verletzt (Platzwunde) – Unfallort: vor B 92 vor Supermarkt, lange Gerade – Anrufer steht mit Auto am Unfallort (B 92 vor Supermarkt) – Anrufer-Personalien: Michael Rausch, wohnhaft am Flugplatz Sequenz: Ja schönen guten Tach äh Schicken sie mal bitte einen Streifenwagen zum Supermarkt hier hat’s en Unfall gegeben Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Mittwoch, 14 Uhr. 17 Sigeln und Notationszeichen: S1 Sprecher(in) 1; S2 Sprecher 2; hh Ein-/Ausatmen; ? Frageintonation; ja Betonung; (Telefonklingeln) gesprächsexterne Ereignisse. 18 Im Modus des ,als ob‘. Als Funk diente ein auf dem Schreibtisch platziertes Diktiergerät, was ich vorweg mit den Studenten bei der Einweisung in die Rollenspiele besprochen hatte. 19 Die Studentin erreichte später im Staatsexamen 26 von 30 erreichbaren Punkten bei der Sequenzanalyse.
352
E. Rollenspiele
meller Routine gelang, auch wenn damit noch nicht gesichert ist, dass die Studenten mit dieser „Haltung der sensiblen Souveränität“20 auch in ihrer späteren Berufspraxis handeln, besonders dann nicht, wenn sie bemerken werden, dass sich ihre diesbezüglich nicht sensibilisierten Kollegen anders verhalten.21 c) Analyse III Der maximale Kontrast zu dieser schnellen, unbürokratischen Handlungsweise ist in nachfolgendem Protokoll22 – 01 02 03 04
P: A: P: A:
05 06 07 08 09 10 11 12 13 14
P: A: P: A: P: A: P: A:
15 16 17 18 19 20 21 22 23
P: A: P: A: P: A: P: A:
20
Polizeinotruf [Meier] guten Tag Ja guten Tag ich befinde mich zwischen Stadttor und Viadukt öh wir Hm hattn gerade einen Fahrradunfall da issn Fahrer im weißen öh Passat öh zurückgeschoben aufn ( ) öh aufn Fahrradweg in unsere Gruppe hinein und da gabs en Unfall und der Fahrer is jetz natürlich weg Der Fahrer is weg is jemand verletzt? Ja es is en Kind verletzt Hm Das hat Prellungen würden Sie bitte schnell en Arzt herschicken Ja weil ich bin hier mit zehn Kindern Hm un es is (reich) mächtich Wuhling öh un ich weiß jetz nich wie schwer das Kind verletzt is ( Arzt) Hm, is klar, wie heißen Sie denn? Mein Name is Herold Herold, hm Herold Irene Irene (Ja ) Wann sind Sie geboren wenn ich? ( )
Loer (2000), S. 340. Dies gilt natürlich auch für die Formulierung ,Wie kann ich Ihnen helfen?‘. Probleme, so berichteten mir aus dem Führungspraktikum an die Fachhochschule zurückgekehrte Studenten, gab es mit dieser Formulierung nicht mit den Anrufern, sondern mit den Kollegen und Vorgesetzten, bei denen es sich teilweise noch um alte Volkspolizisten handelte, deren Haltung alles andere als sensibel souverän, sondern vielmehr obrigkeitsstaatlich autoritär war. 22 Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamter; A Anruferin; (reich) unsichere Transkription; ( ) unverständliche Äußerung; hh Einatmen/Luftholen; ? Frageintonation. [Meier] Maskierung. 21
2. Rollenspielanalysen 24 25 26 27 28
P: A: P: A: P:
353
Ja wenn ich fragen dürfte. Wann sind Sie geboren? Äh ja am siebenten Januar bin ich geboren Mhm un welches Jahr? Äh äh neunundsechzich neununsechzich
– abgebildet, in dem P trotz des Hinweises auf einen Notfall (Zeile 10)23 zunächst bürokratisch reagiert (Zeile 16–28) und auch nachfolgend – 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 23
A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P:
Würden Sie bitte schnell en Arzt schicken wegen dem verletzten Kind Na klar (weil ich bin) wie schwer? ja alleine ich bin ja mit einer Gruppe unterwegs Gibts schlimme Verletzungen? eh ja das eine was jetzt direkt angefahren wurde hat Prellungen Prellungen und eh liegt noch aufn Boden Liegt noch aufn Boden. Aber wird versorgt ja? Ja, ja Is auch ansprechbar? Es sind schon Erwachsene hier und die sin Mhm (stehen)geblieben ich bin noch schnell rübergerannt Hm gegenüber von der BP-Tankstelle sind wir Mhm äh Mhm un sin jetzt ne Menge Erwachsene da die da schon mal Mhm
Rollenspiel 16 – Verkehrsunfall. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer : Situation: – Dienstag, 16 Uhr – Name des Anrufers: Herold – Gruppe von 10 Fahrradfahrern – Fahrrad kaputt – Prellungen – gegenüber BP-Tankstelle – PKW setzte zurück auf Fahrradweg Sequenz: Ich befinde mich jetz hier zwischen Stadttor und Viadukt wir hatten ebn hier nen Fahrradunfall da isn Fahrar im weißen VW Passat der is of en Fahrradweg eh zurückgeschoben un da gabs nen Unfall und der Fahrar is natürlich weg Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Dienstag, 16 Uhr.
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E. Rollenspiele
52 53 54 55 56 57 58 59 60
A: P: A: P: A: P: A: P: A:
61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76
P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P:
77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97
A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P:
schauen aber es is eben kein Arzt dabei Mhm mhm und das Schlimme is der Fahrar is auch weg der Fahrar is weg Ja weißer Passat sagten Sie ne? Ja Das Kennzeichen? äh das hab ich nich gesehen ich weiß jetz nicht ob da einer von den Erwachsenen öh mitnotiert hat ich selber kanns ihnen jetzt nich sagen Mhm der is weg Mhm Der hat zurückgeschoben un is weggefahren und Ja es is wegen des Kindes Ja darum geht’s mir Ja Eh ich bin hier mit zehn Kindern Ja unterwegs Ja Daß sie vielleicht erst mal schnell en Arzt herschicken (Kein Problem) der Arzt wird verständicht sie sagten zwischen Viadukt und öh und dem Stadttor also wir sind auf dem Fahrradweg ich bin jetzt gegenüber der BP-Tankstelle Hm is klar In der Telefonzelle un da is das auch? Ja das is das passiert Bleibn Sie mal bitte das heißt Bleiben sie bitte vor Ort Ja ich bin da Mhm also der is jetzt direkt zurückgeschoben in unsere Fahrradgruppe hinein Hm un is einfach weitergefahren Welche Richtung isn der denn gefahrn? äh Richtung Fechta hinaus hh [Luftholen] Richtung Fechta hinaus Ja Hm un das Fahrrad is kaputt hh [Luftholen] Hm
2. Rollenspielanalysen 98 A: 99 P: 100 A: 101 P: 102 A: 103 P: 104 A: 105 P: 106 A: 107 P: 108 A: 109 P: 110 111 A: 112 P: 113 A: 114 P:
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äh und das Kind hat eben starke Prellungen Starke Prellungen. Und wo? Äh wir sind gegenüber von der BP-Tankstelle Okay (un) wo sind die Prellungen? Äh Am Kopf oder so? Äh Arme, Arme, ja un am Kopf ne Schürfwunde am Kopf ne Schürfwunde Ja Frau Herold Ja bitte schicken sie schnell en Arzt Ja falls Sie falls Sie das Kennzeichen noch äh irgendwie ( ) einfällt rufen sie mich bitte noch mal zurück Ja na vielleicht kommt (an ihrer) Dienststelle jemand vorbei Alles klar ich schick was vor Ort ne Ja gut auf wiederhören wiederhörn
– in keiner Weise so handelt, wie es die Situation erfordert:24 1. Der Anruferin mitzuteilen, dass er stellvertretend für sie die Rettungsleitstelle informieren werde. 2. Sie zu bitten, in der Zwischenzeit am Apparat zu bleiben. 3. In dieser Zeit die Rettungsleitstelle zu verständigen. 4. Dann die Daten zu erfragen, die erforderlich sind, um eine Funkfahndung einleiten und den Straftäter dingfest machen zu können. 5. Der Anruferin für ihren Hinweis zu danken. 6. Die Funkfahndung einzuleiten. d) Analyse IV Ein bezüglich der bürokratischen Handhabung einer Krise strukturgleicher Fall25 ist im nachfolgenden Protokoll abgebildet.26 24 Während es im vorhergehenden Fall eine Korrespondenz zwischen einer guten Materialanalyse in Phase 1 und einer guten Rollenspielleistung gab, korrespondierten in diesem Fall beide Leistungen im negativen Sinne. So tat sich Rollenspieler P bereits bei der Sequenzanalyse sehr schwer und gehörte zu der Gruppe, welche die Desavouierung des Anrufers in Fall 7 (Hausbrand) nicht erkannte. Er steigerte sich dann aber im Laufe des Studiums und erreichte bei der sequenzanalytischen Staatsexamensaufgabe immerhin 17 von 30 Rohpunkten, was der Note befriedigend entsprach. 25 Rollenspiel 10 – Pferd auf der Straße. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer: Situation: Dienstag, 7 Uhr morgens. Anrufer: Christian Bickel, wohnhaft in Nähe der Tankstelle, erstes Haus, Klinkerbau, Pferd des Bauern B läuft auf dem Tankstellengelände
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E. Rollenspiele
1 P: 2 A: 3 4 P: 5 A: 6 P: 7 A: 8 P: 9 A: 10 P: 11A: 12 P: 13 A: 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29
P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P:
30 31 A: 32 33 P: 34 A:
Polizeinotruf (1.0) hh Ja schön guten Morgen hier is Bickel hh (-) auf em Tankstellengelände läuft en Pferd frei rum (-) ich ich befürchte daß es in die Stadt läuft (1.0) Aha (1.0) Schicken Se doch mal en Streifenwagen her (-) was denken Se nur was hier los is? (1.0) Ja Moment (-) wo haben Se das Pferd gesehen? (-) Auf dem Tankstellengelände Tankstellengelenke äh gelän äh gelände (2 Worte uv) Aha (-) an der Bepetankstelle (-) ja? Ja genau Alles klar (4 Worte uv) die Frauen un die Kinder un die (-) Fußgänger die nehmen schon reiß aus hier (-) kein Autofahrer traut sich zu tanken (1.0) Aha (-) und Ihr Name war? (-) wie? (1.0) Bickel Bickel? Bickel Vorname? (1.0) Christian Christian (1.0) Herr Bickel wo wohnen Sie denn? (2.0) Ich wohne in Meiningen (1.0) Meiningen? Jah Un die Straße? (1.0) Leipziger Straße 11 Leipziger Straße 11 Beeilen Se sich eh hier noch jemand äh umgerannt wird von dem Pferd Ja jetzt ma ne Frage Herr Bickel (-) äh (-) das Pferd (-) direkt auf der B 92 also auf der Straße (-) oder im Tankstellenbereich? Ich hab Ihnen doch gesacht im Tankstellengelände is es noch aber das is aber das is ja alles frei das kann auch auf die auf die Hauptstraße da laufen Gut (1.0) Ja vielen Dank Herr Bickel wir schicken da jemanden vorbei (1.0) Ja aber beeilen se sich
Sequenz: Ja, guten Morgen, hier ist [Nachname] Auf dem Tankstellengelände läuft’n Pferd frei herum ich befürcht es wird in die Stadt laufen Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Dienstag, 7 Uhr morgens. 26 Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamter; A Anrufer; (1.0) Pause in Sekunden; hh Einatmen; (-) kurzes Absetzen; ? Frageintonation; uv unverständlich.
2. Rollenspielanalysen 35 P: 36 A: 37 P:
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Ja is klar (1.0) Ja auf wiederhörn Wiederhörn
Auffällig an diesem Protokoll ist, dass P genau an der Sequenzstelle, an welcher eindeutig markiert ist, dass eine akute Krise vorliegt, die schnelles Handeln erforderlich macht, mit der bürokratischen Erfassung der Anruferdaten beginnt (Zeile 15), und sich diese bürokratische Prozedur über 17 Zeilen hinweg erstreckt, bis er dann in Zeile 33 dem Anrufer endlich zusagt, „jemanden“ vorbeizuschicken. Neben dieser zu langsamen – bürokratischen – Fallbehandlung ist kritisch anzumerken, dass diese Zusage sehr allgemein ist, denn weder geht aus ihr hervor, wann er „jemanden“ zum Krisenort schicken wird, noch teilt er mit, wen er dorthin zu schicken beabsichtigt: Seine Kollegen, die Feuerwehr oder einen Tierarzt, um nur drei mögliche Kandidaten zu nennen. Wie das im Protokoll zum Ausdruck abgebildete bürokratisch-formale Handeln motiviert war, wurde mir im Rahmen des im Anschluss an das Rollenspiel stattfindenden Rückmeldegesprächs deutlich. So antwortete mir P auf die Frage: „Wie war jetzt Ihr Eindruck? Wie ham Se den Fall jehandhabt?“
folgendermaßen: „Naja, ich muss sagen, also Pferd auf der Straße is ja nich alltäglich, hab ich auch noch nie gemacht. Ich wüsste auch jetz nich sofort, was ich da für Maßnahmen einleite.“27
Womit er zum Ausdruck brachte, dass er sich in dieser Situation überfordert fühlte, weil er mit einem solchen Fall in der Praxis noch nicht konfrontiert worden war, ihm also die hierzu erforderliche Praxiserfahrung fehlte, und er sich bis dahin auch noch nicht gedankenexperimentell mit der Frage auseinandergesetzt hatte, was man in einem solchen Fall für Maßnahmen treffen muss, um eine Krise dieses Typs angemessen zu handhaben.28 Da er aber nun im Rollenspiel nicht nicht handeln konnte, handelte er so, wie ihm dies sein in der Berufssozialisation erworbenes „tacit knowledge“29 nahe legte: bürokratisch.
27 Die Sequenz wurde von mir mit Erlaubnis des Studenten tontechnisch aufgezeichnet und später transkribiert. 28 Woraus man ableiten kann, wie wichtig es für eine handlungsorientierte Ausbildung wäre, auch solche Fälle in der Ausbildung zu behandeln. 29 Oevermann (2000 a), S. 22.
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E. Rollenspiele
e) Analyse V Zu den gravierenden Handlungsfehlern, die in den von den Studenten in der ersten Ausbildungsphase rezipierten Notruftexten abgebildet waren, gehörte u. a. jener aus dem Epilepsie-Fall, in dem ein Polizeibeamter ein Kind, das in einem medizinischen Krisenfall den Polizeinotruf anrief, an die für medizinische Notfälle zuständige Stelle verwies, weil er ein bürokratisches Zuständigkeitsmodell im Kopf hatte, nach dem er nur zuständig war für polizeilich relevante Notrufe, nicht hingegen für medizinische Krisen. Die Folge seines Handelns war, dass das Kind noch einmal die Rettungsleitstelle anrufen musste, was in der Krisensituation durchaus hätte scheitern können. Diese Möglichkeit antizipierte der Polizeibeamte aber offensichtlich nicht, was zu fatalen Konsequenzen hätte führen können. Der Zufall30 wollte es, dass der Student, der den Fehler im Rahmen der Falldiskussion nicht erkannte (worüber ich mit ihm bei der Rückgabe der Seminararbeit eingehend sprach), den Epilepsie-Fall zugelost bekam,31 sodass ich nun am Fall sehen konnte, ob und wie er aus der Fehlerbesprechung gelernt hatte. Bei Betrachtung des folgenden Rollenspielprotokolls32 – 1 P: 2 A: 3 4 5 P:
Polizei(not)ruf (-) guten Morgen = O = o Moment mal hier is’n Notruf hh (-) meine Mu(tt)er Mutter is umgefalln (-) die etiplet hh (-) äh etiplep (-) etipleptische Anfälle hh (-) äh die schlägt um sich = ich weiß nich was ich machen soll Ja Augenblick (-) ja
30 Zufall deswegen, weil die Rollenspielfälle pro Trainingsgruppe ausgelost wurden, was konkret so aussah, dass ein Mitglied der Gruppe nach einer kurzen Einweisung in das mit den Rollenspielen verbundene Lernziel je nach Gruppengröße drei bis vier Karten aus einem Topf ziehen musste, auf dem die Nummern der Rollenspielfälle standen, zu denen ich dann die entsprechenden Instruktionen (aus der im Zusammenarbeit mit einigen Studenten erstellten) Rollenspielmappe heraussuchte. Und die Auslosung ergab dann diese Konstellation. 31 Rollenspiel 12: Medizinischer Notruf. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer: Situation: Mittwoch, 7.30 Uhr. Sohn (18 Jahre) ruft an (ist aufgeregt). Seine Mutter (48 Jahre), die so weit er zurückdenken kann, an epileptischen Anfällen leidet, hat einen akuten Anfall bekommen. Sequenz: Moment mal, hier is’n Notruf. Meine Mutter is umgefallen, sie etiplep-, etipleptische Anfälle Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Mittwoch, 7.30 Uhr. 32 Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamter; A Anrufer; (not) unsichere Transkription; (-) kurzes Absetzen; ? Frageintonation; ja: Dehnung eines Vokals; = schneller Sprechanschluss.
2. Rollenspielanalysen 6 A: 7 P: 8 A: 9 P: 10 A: 11 P: 12 A: 13 P: 14 A: 15 P: 16 A: 17 P: 18 A: 19 P: 20 A: 21 P: 22 A: 23 24 25 26 27 28 29
P: A: P:
A:
30 31 32 P: 33 A: 34 P:
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Ja das is Wie ist dein aber akut Wie is denn dein Name? Mein Name? (-) Meier Meier (1.0) un Vorname? Walter Walter hh (2. 0) und du wohnst wo? Ja ich wohn in der Fritz-Büchner-Straße 18 (1.0) Büchner-Straße 18 = (Also es) muß aber mal jemand her komm hier (-) ich meine Mutter die is wirklich (1.0) Ja:: die etipleptischen An (-) also Das (de) sie hat sicher epileptische Anfälle (-) ge? = un ich wird den Not Was? (-) die hat epileptische Anfälle = un ich wird den Notarzt gleich ma verständigen Ja was soll ich jetz machen? = die schlägt hier um sich = die haut schon vor die Möbel = die is schon verletzt = kommt da jemand her um hier ma mitzuhelfen? Komm (-) kommt gleich jemand her (-) Ich (werd mich) Da muß was gemacht werden (für die) Ja: (1.0) Das das is (-) ich ruf jetz gleich den Notarzt an (1,0) und du kannst scho ma beim Fenster rausgucken = wenn er kommt machste die Tür auf (-) ja? = Ja ich muß ja meine Mutter festhalten (-) sonst kullert die noch in der ganzen Wohnung rum oder was hier = die haut sich ja überall alles auf = an den Möbeln = komm se bitte schnell her Jah es wurde in die Wege geleitet (-) ja? Jah Alles klar (-) tschüss
Knacken, Ende des Telefonates, – ist mehreres auffällig: 1. Zwar vermeidet er den Strukturfehler, da er den Anrufer nicht abweist. 2. Dennoch handelt er keineswegs ideal. 3. Denn anstatt den Anrufer nach der Krisenmitteilung unmittelbar zu fragen, wohin denn der Notarzt kommen soll, um ihn so schnell wie möglich über den Notfall in Kenntnis zu setzen, zeigt seine Reaktion in Zeile 5, dass er zum Zeitpunkt des Anrufs nicht aufnahmebereit ist.
360
E. Rollenspiele
4. Statt A unmittelbar nach der Notfalladresse zu fragen, stellt er Formularfragen, die fallspezifisch nur relevant sind, wenn die Notfalladresse wirklich mit der Wohnadresse des Anrufers identisch ist, wovon P stillschweigend auszugehen scheint. 5. Weiterhin duzt er den Anrufer, obwohl weder aus dem Mitgeteilten noch aus der auf dem Tonband zu hörenden Stimme hervorgeht, dass der Anrufer ein Kind ist,33 wobei dieser Fehler dadurch motiviert gewesen sein dürfte, dass P wie selbstverständlich davon ausging, dass es sich bei A wie im Realfall um ein anrufendes Kind handelte.34 6. Auch sagte er dem Anrufer in Zeile 15 noch keine Hilfe zu, als ihm die Notfalladresse bekannt war. 7. Und schließlich vertat er ab Zeile 17 unnötig wertvolle Zeit, indem er versuchte, persönlich auf das Kind einzugehen, anstatt unmittelbar die erforderliche notärztliche Hilfe anzufordern. Ergebnis Im Unterschied zum Realfall, bei dem der Polizeibeamte den Anrufer abwies, nahm sich hier S dem Notruffall an, was indiziert, dass in dieser Hinsicht das im Anschluss an die Seminararbeit durchgeführte Rückmeldegespräch Wirkung hinterlassen hatte. So sagte er im Anschluss an das Rollenspiel: „Ich hab jetzt versucht, nich den Fehler zu machen, den der Polizeibeamte dort gemacht hatte, nämlich zu sagen, leg wieder auf un ruf die eins eins zwo an, sondern hätte den Notarzt angerufen, Hilfe geschickt.“35
Seine Äußerung belegte aber auch, dass bei ihm das Handlungswissen noch nicht habituell verankert war,36 dass es in einer solchen Situation entscheidend darauf ankommt, dem Anrufer so schnell wie möglich medizinische Hilfe zukommen zu lassen, weil epileptische Fälle letal ausgehen können und daher jede Sekunde zählt.37 33
A war 30 Jahre alt. Auch hatte er seine Stimme nicht kindlich verstellt. Was aber im Rollenspiel nicht der Fall war. 35 Vgl. Fußnote 30. 36 Die von mir angestrebte Sensibilisierung war ein eher – wenngleich fallspezifisch variierend – mühevoller Prozess. Vgl. hierzu auch Loer [(1999), S. 56], mit Bezug auf „Lehrerausbildung als Praxis der Professionalisierung“. 37 Auch in anderen Fächern hatten meine Kollegen den Eindruck, dass S nicht wusste, worauf es bei der Polizeiarbeit ankommt. S schied später, nach zweimaligem Nichtbestehen des Examens, aus dem Polizeidienst aus. Sein Antrag auf Einstellung in den mittleren Dienst wurde abgelehnt. S galt als für die Polizei nicht tragbar. Womit letzten Endes ein Urteil gefällt wurde, was sich tendenziell schon in der Sequenzanalyse des Notrufs abzeichnete. Dies brachte mich auf die Idee, einem 34
2. Rollenspielanalysen
361
f) Analyse VI Neben Fällen, bei denen es sich unzweifelhaft um wirkliche Notruffälle handelte, die polizeilich zu behandeln waren, nahm ich in meine Rollenspielsammlung auch Fälle auf, die erkennbar keine wirklichen emergencyFälle waren. Dies, um zu sehen, wie die Studenten mit diesen Fällen umgingen, ob sie bemüht waren, die Notrufleitung wieder möglichst schnell freizubekommen, oder ob sie die Fälle dennoch am Notruf weiterbehandelten, was faktisch eine sachunangemessene Blockierung der nur für Notfälle vorgesehenen Telefonleitung bedeutete. Ich werde zunächst auf einen Fall zu sprechen kommen, den ich im Anschluss an die Rückgabe der Seminararbeiten im Unterricht besprochen hatte. Es handelt sich hier um den im vorherigen Kapitel detailliert analysierten Anzeige-Fall, in dem der Polizeibeamte den Fehler machte, am Notruf eine bürokratische Erledigungshandlung zu vollziehen, d. h. eine Anzeige aufzunehmen. Dabei kommt es mir bei der Analyse des nachfolgenden Rollenspieltextes darauf an, material herauszuarbeiten, ob P den Fehler vermied oder ihn strukturgleich reproduzierte.38
mit der Personalauswahl beauftragten Institut vorzuschlagen, sequenzanalytische Aufgaben dieses Typs als Testfragen im Eignungsauswahlverfahren einzusetzen. Denn, so mein Argument, was ich am Fall von S exemplarisch erläuterte, wer einen solch deformierten Habitus aufweise, sei für Polizeiarbeit, die zu einem nicht unwesentlichen Teil faktisch Sozialarbeit darstelle [vgl. Oevermann u. a. (1994); Ley (1998); Oevermann (2000 b), S. 64], von vornherein ungeeignet. Dass S den Polizeiberuf nach Abbruch einer Lehre als Krankenpfleger wählte, indiziert, dass er davon ausging, hier einen weniger sozialen Beruf zu ergreifen. Methodisch stellt dies im Übrigen ein Argument für eine detaillierte, sequenzanalytische Auswertung biographischer Daten von potentiellen Bewerbern dar, nicht nur im polizeilichen Bereich. 38 Rollenspiel 2: Anzeigenerstattung. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer: Situation: Montag, 9.15 Uhr. Student ruft an und teilt mit, daß sein PKW aufgebrochen worden sei. Er wollte gerade zur Vorlesung, als er den Schaden bemerkt habe; zumindest eine Scheibe sei eingeschlagen, die zweite möglicherweise runtergelassen; zudem sei die Tür ramponiert. Tatort und zugleich Ort, von wo der Student anruft: Nordstadt, Mittelstraße 17 bzw. zwischen Hausnummer 17 und dem Haus daneben. PKW-Typ: VW Golf. Amtliches Kennzeichen: IK TJ 91 (nicht ganz sicher, da neues Kennzeichen). Entwendet wurden: ein Radio und ein CD-Wechsler Sequenz: Ja guten Tag Prenner mein Name mir ham se s Auto aufgebrochen jetzt wollte ich das irgenwie bei ihnen melden Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Zeit des Anrufs Montag, 9.15 Uhr. Dramaturgischer Hinweis: Momentan ist kein Streifenwagen frei; mehrere Verkehrsunfälle.
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E. Rollenspiele
Betrachtet man das vorliegende Rollenspielprotokoll,39 – 1 P: 2 A: 3
Polizeinotruf (-) guten Morgen (1.0) Ja guten Tach (-) Prenner mein Name hh (1.0) mir ham se es Auto aufgebrochen (-) jetzt wollte ich das irgendwie bei Ihnen melden (-),
– ist bereits in Zeile 3 evident, dass kein Notfall vorliegt, sondern ein Fall für eine Anzeigenaufnahme. 4 P: 5 A: 6 P: 7 A: 8 P: 9 A: 10 P: 11 12 A: 13 P: 14 A: 15 P: 16 17 A: 18 P: 19 20 A: 21 22 23 24 25 26 27
P: A: P: A: P: A: P:
28 29 A: 30 P: 31
Ihnen ham se es Auto aufgebrochen? Mhm Wo äh (-) von wo aus rufen Sie an? (-) wo steht Ihr Auto? Na von Zuhause ruf ich an Ja und Sie wohnen wo? Na hier in Nordstadt In Nordstadt? (-) welche sch (-) welche (-) welche Straße wohnen Sie da (-) wo steht das Auto (-) in welcher Straße? (1.0) Eh (-) was wolln Se denn jetzt wissen (-) wo es Auto steht oder wo (-) ich wohne? hh (-) sagen Se me erst ma wo Sie sich zur Zeit befinden Na ich in meiner Wohnung (1.0) hh Nordstadt (uv) wo wohnen Sie denn (-) nennen Sie mir doch mal die Straße und die (uv) und die Hausnummer bitte Mittelstraße 17 hh Mittelstraße 17 hh (-) und äh (-) können Sie mir sagen welche Beschädigungen am (-) Pekawe sind? (-) Wie sieht das Auto aus? Naja (-) das is die (-) die Scheibe wurde eingeschlagen und äh (-) dann is die Tür noch kaputt Tür is kaputt So eingedellt (-) is die Aha (-) äh Herr Prenner (is) das richtig verstanden? Prenner ja ja (-) mit Paula Äh wie isn Ihr Vorname Herr Prenner? Ingold (3.0) Ähm (-) Herr Prenner (-) ähm (-) wo steht denn Ihr Pekawe jetze? (-) ich hab schon gehört der steht nicht Mittelstraße Doch der steht in der Mittelstraße (-) aber nich vor meinem Haus (1.0) Alles klar (-) äh Herr Prenner folgendes Problem (-) wir haben zur Zeit keinen äh (-) Streifenwagen frei (-) ähm (-) ich denke mal daß in etwa ner halben Stunde jemand vorbeikommt
39 Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamter; A Anrufer; (1.0) Pause in Sekunden; hh Einatmen; (-) kurzes Absetzen; ? Frageintonation; uv unverständlich.
2. Rollenspielanalysen 32 A: 33 34 P: 35 36 A: 37 38 P: 39 40 A: 41 P: 42 43 44 A: 45 P: 46 47 48 A: 49 50 P: 51 52 53 54 55 56 57 58 59
A: P: A: P: A: P:
60 61 62 63 64 65
A: P: A: P: A:
363
Zu spät (1.0) das is (-) is zu spät (-) ich bin Student (-) ich hab heut ne ganz wichtige Klausur (-) hh (-) also ich muss jetz mit em Zug weg (-) das schaff ich grad noch so hh Herr Prenner (-) Sie (-) äh sind sicher mit mir einer Meinung (-) daß auch wir hier (-) ähm (-) wichtige Sachen zu tun haben (-) und Ich weiß nich ob Sie schon studiert haben aber für mich is es wichtig für meine Karriere (-) ich will ja nicht Polizist werden (1.0) hh ja das is ja klar (-) aber wir wollen uns doch ma auf der sachlichen Ebene unterhalten Herr Prenner (4 Worte uv) deswegen hab ich das ja gemeldet Und ich hab Ihnen gesagt daß ich vor ner halben Stunde wahrscheinlich keine Streifenwagen (-) wir werden uns auf alle Fälle kümmern und es wir jemand vorbeikommen (-) ich kanns Ihnen momentan keine andere Auskunft geben Hm Da müss mer erst ma so verbleiben (-) es kommt auf alle Fälle ein Streifenwagen vorbei (-) nimmt die Anzeige auf und äh (1.0) ich bemühe mich das so schnell wie möglich abzuhandeln (1.0) (gut) wolln wer so verbleiben Herr Prenner? (-) Ja (-) Ihr Wort in Gottes Namen (-) nur hier is (-) is ja schon mehrfach aufgebrochen worden (-) bei mein Nachbarn (und) Ja das is mir bekannt (1.0) hh und äh wie gesagt also momentan (-) Sie wissen es is Montag (-) da is immer viel los (-) Einbrüche und äh Unfälle ham mer momentan und (-) ich kann das auch nich andere Leute haben früher angerufen (-) die wollen genauso behandelt werden wie Sie auch und die verlangen auch von uns daß wer gute Arbeit leisten (-) das geht jetz nich anders (2.0) Also wann kommen Sie? Etwa in ner halben Stunde Also neun Uhr 45 sin sie da? (2.0) Etwa (1.0) Hm (1.0) Sind Se damit erst mal? (1.0) soweit zufrieden (-) andere Auskünfte kann ich Ihnen im Moment nicht geben Ja zufrieden nich aber ich wird ja wohl damit leben müssen Ja (-) tut mir leid (-) Herr Prenner Ja Kommt auf alle Fälle jemand vorbei Jaja (1.0) alles klar
364
E. Rollenspiele
66 P: 67 A: 68 P: 69 70 71 72 73 74 75
A: P: A: P: A:
Alles in Ordnung jetzt? (1.0) Nee (-) is nichts in Ordnung (-) weil ja mein Auto kaputt is Herr Prenner passen Se auf äh (-) Sie sind hier auf ner Notrufleitung (-) ich kann Ihnen keine anderen Auskünfte geben (-) wir müssen das hier jetzt abbrechen äh (-) es wird jemand vorbeikommen ja? Ja Verbleiben mer so Ja Wiederhörn Ja
Wie im analysierten Realfall handelt auch P im Rollenspiel fallunangemessen. Denn anstatt den Anrufer zu bitten, seine Anzeige über die Amtsleitung mitzuteilen und ihm zu diesem Zweck die Nummer dieser Leitung zu nennen, führt P das Gespräch noch 2 Minuten und 45 Sekunden beziehungsweise 72 Textzeilen über die Notrufleitung weiter. Erst in Zeile 68 gibt er dem Anrufer zu verstehen, dass das Gespräch über die Notrufleitung nicht weiter geführt werden kann. Auch wenn P möglicherweise die Beendigung des Gesprächs bereits in Zeile 30 mit einer Einsatzzusage eingeleitet hätte, wenn er über einen freien „Streifenwagen“ verfügt hätte, der ihm aber laut Rollenspielanweisung nicht zur Verfügung stand, hätte sein Handeln auch dann nicht dem Normalfall entsprochen, weil er die Beendigung des Gesprächs bereits früher hätte einleiten müssen. g) Analyse VII Besser, weil dem Sinn der Notrufinstitution entsprechend, machte es Student L40 in der Rolle von P,41 – 40 Nur in diesem von insgesamt acht Fällen, in denen objektiv kein Notfall vorlag, erfolgte die Verweisung auf die Amtsleitung. L erreichte im Staatsexamen bei der Sequenzanalyse 29,5 von 30 erreichbaren Rohpunkten, was der Note sehr gut entspricht. 41 Auch wenn es zu einem Artefakt kam, das darin bestand, dass P den männlichen Rollenspieler, der sich laut Rollenspielanweisung mit einem weiblichen Namen melden sollte, dennoch als männlich behandelte. Zu diesem Artefakt kam es, weil ich in der Rollenspielanweisung das Geschlecht des Anrufers festgelegt hatte und mein mir assistierender Kollege aus dem Führungsbereich die Studenten die Rolle spielen ließ, die in den Rollenspielinstruktionen beschrieben war, weil er dies für eine gute Übung zur Rollenübernahme hielt. Noch ausgeprägter war das Artefakt in nachfolgendem Fall, in dem ein Student die Rolle eines weiblichen Anrufers übernehmen sollte – Rollenspiel 4 – Auskunftsersuchen. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer: Situation: Samstag, 16 Uhr; Frau ruft an. Ihr Mann hat Schwindelanfälle.
2. Rollenspielanalysen 01 P: 02 A:
365
Polizeinotruf (--)42 Ja (schön) guten Morgen = hier geht’s um folgendes = ich hab e großes Problem = äh = am
Sequenz: Ich möchte mal wissen, wer hh Bereitschaft hat in Kreis Nordstadt Land Kürzelerklärung: hh = hörbares Einatmen (außer Atem). – Was gänzlich misslang, wie nachfolgender Interaktionstext zeigt: 1 P: Polizeinotruf guten Tag 2 A: Ja hiers hier is Schindler guten Tag 3 P: Guten Tag Herr Schindler 4 A: Ich nee Margot Schindler Margot Schindler hh 5 Ich wollte eigentlich nur wissen wer wer Bereitschaft hat (meinem) Mann dem geht’s schlecht 6 der hat Schwindelanfälle und Schweißausbrüche hh und der kriegt keine Luft 7 und ich weiß nicht wen ich anrufen kann ich krieg keinen Arzt un eh 8 können Sie mir helfen? 9 P: Selbstverständlich kann ich Ihnen helfen Herr Schindler Herr Schindler wo sind Sie 10 denn zu Hause? 11 A: Frau Frau Schindler ich bin ich bin die Margot Schindler ich wohn ich wohn in 12 der Heinrich Herz Straße zwölf 13 P: Aha weil Sie Sie klingen so männlich 14 A: Ja aber äh das das liegt an meiner Stimme hh ab(er) mein Mann der der braucht Hilfe 15 der kriegt keine Luft mehr und ich will nicht daß er stirbt 16 P: Ja is in Ordnung Frau Schindler Wir schicken Ihnen dann umgehend en Notwagen hin ja? 17 In der Heinrich Herz Straße. Die Nummer noch ma bitte 18 A: Ja Heinrich Herz Straße zwölf aber bitte beeilen Sie sich dem geht’s wirklich schlecht 19 P: Die Heinrich Herz Straße bei uns hier in der Stadt? 20 A: Ja in in der Nordstadt 21 P: In der Nordstadt? 22 A: In der Nordstadt gleich hinter der Bushaltestelle is das 23 P: Mhm mhm 24 A: Hh ja? 25 P: Is in Ordnung 26 A: Bitte beeilen Sie sich das wirklich dringend 27 P: Ja das mach ich 28 A: Ne danke 29 P: Wiederhörn Nach dem ersten Trainingstag sprach ich mit meinem Kollegen über die mir aufgefallenen Probleme, und wir kamen überein, dass dieser Versuch der Rollenübernahme zumindest in dieser Phase der Ausbildung nicht sinnvoll sei. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Bei meinem Kollegen aus dem Führungsbereich handelte es sich (trotz der unterschiedlichen Sicht in diesem einen Punkt) um einen wichtigen pädagogischen Verbündeten, um einen Partner, der in Sachen Training in die gleiche Richtung dachte. Ohne ihn hätte ich das Training in dieser Form nicht durchführen können, zumal ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Mitarbeiter in meiner Fachgruppe hatte, die diesen Part hätten übernehmen können.
366
E. Rollenspiele
03 04 05 P: 06 A: 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P:
21 22 A: 23 P: 24 25 A: 26 P: 27 A: 28 29 P:
20ten Januar = is dort en Unfall passiert aufm Grenzhammer hh (--) un äh da sind doch alle Namen und alle Zeugen aufgenommen worden (--)43 Ja:h? (--) Ja = ich hab ein großes Problem und zwar öh (--) es war mein erster Unfall gewesen (--) un ich war da mitbeteilischt hh un ich brauch die Angaben mit den anderen Beteilischten ich hab die Zettel (--) verbummelt und jetz (hab ich Angst ) Wie is denn Ihr Name? (--) Öh mein Name is Müller (--) Ja = Müller Herr Müller Augenblick ( ) Müller Frieda (--) Bitte? Müller Frieda Müller Frieda? Jawoll (--) Hh ja:h (--) hh Herr Müller Frieda (--) folgendes Frau Müller Frieda (--) Frau Müller Frieda hh (--) ja:h Frau Müller folgendes hh (--) öh es iss ja jetz nich daß Ihr Leben oder Ihre Gesundheit jetz auf dem Spiel steht ich würde Sie bitten hier über die offizielle Amtsleitung (ich hab) anzurufen hh (--) öh dieser Anruf dieser Anschluß hier muß frei bleiben für Leute die in den eben erwähnten Ich hatte ( ) bedrohlichen Situationen sind Ich hatte vorhin ich hatte vorhin schon mal die einundseschzisch gewählt = hat sich aber niemand gemeldet (--) Hh ja:h haben Sie was zu schreiben Herr Müller = dann geb ich Ihnen jetz mal schnell die
42 Rollenspiel 1 (G1) – Auskunftsersuchen. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer: Situation: Anruf am 24. Januar. Anruferin (50 Jahre) kennt nicht die richtige Nummer 6110, sondern hatte vorher die 61 gewählt; da hatte sich niemand gemeldet. Sie wählte dann die 110. Sequenz: Ja, schön’ guten Morchen = jetzt gehts um Folgendes = [X] mein Name = Ääh am 20. Januar is doch n Unfall auf dem Grenzhammer passiert abends und ääh da sin doch alle Namen un alle Zeugen aufgenommen worden Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Nummer der Amtsleitung ist die 6110 (Vorwahl 03693). Der Unfall wurde in einer anderen Schicht aufgenommen. 43 Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamter; A Anrufer; (--) deutliche Pause; (schön) unsichere Transkription; = schneller Sprechanschluss; Ja: Dehnung eines Vokals; Ihr Name Betont; ( ) unverständliche Äußerung.
3. Exkurs: Schwierigkeiten bei der Sensibilisierung für die Notrufpraxis 30 31 32 33 34 35 36
A: P: A: P: A: P:
37 38 A: 39 P: 40 A:
367
Amtsleitung die Nummer (--) Ja (--) Hh so das die null drei sechs neun drei (--) Mhm (--) Sechs eins eins null (--) Un Sie könn mir jetz nich weiterhelfen? (--) Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen Herr Müller versuchen Se’s bitte über diese Leitung = ja? wenn Se so freundlich wären (--) Ja danke schön Bitte schön auf wiederhören (Ja),
– der, nachdem er aus der Mitteilung von A heraushörte, dass kein emergency-Fall vorliegt, ihm zunächst (beginnend in Zeile 19) zu verstehen gab, dass die Leitung für wirkliche Notfälle frei bleiben muss,44 und ihm anschließend in den Zeilen 32 und 34 die Nummer der Amtsleitung nannte, unter der er noch einmal anrufen soll. Damit handelte P fallangemessen, denn A konnte nun gezielt diese Nummer anrufen,45 um die Daten der anderen Unfallbeteiligten zu erfragen, die er vermutlich – so kann man abduktiv46 erschließen – für die Schadensmeldung an seine Versicherung brauchte.
3. Exkurs: Schwierigkeiten bei der Sensibilisierung für die Notrufpraxis und deren Bewältigung Wie mir die Beobachtung der Rollenspiele zeigte, war es schwierig, die Studenten in Richtung einer angemessenen Handhabung von Nichtnotfällen (also Fällen des Typs 2) zu sensibilisieren. So erfolgte nur in zwei von zehn Fällen, in denen aus der Mitteilung der Anrufer eindeutig hervorging, 44
Worüber ich mit den Rollenspielern im Nachhinein sprach. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Problematik des erneuten Wählens der Nummer der Amtsleitung nicht entstünde, wenn der Polizeibeamte am Notruf die Möglichkeit hätte, den Anrufer per Tastendruck an die richtige Stelle (Amtsleitung) zu lenken. Zum möglichen Einwand, dass der Notrufbeamte insbesondere auf kleineren Dienststellen typischerweise auch derjenige ist, der den Anruf über die Amtsleitung entgegennehmen muss, ist zu sagen, dass die Polizeiorganisation hier über eine zweckmäßige Arbeitsorganisation nachdenken müsste. Dies könnte ein klinischer Fall für eine Organisationsberatung sein. Vgl. hierzu Oevermann (1990); und ders. (1993 b), S. 170. 45 Dies erneute Anrufen könnte man – wie bereits in der letzten Fußnote ausgeführt – durch eine entsprechende Technik vermeiden. Noch besser wäre, wenn die PR-Arbeit der Polizei die Wirkung hätte, dass die Telefonnummern der Polizeidienststellen wirklich im Bewusstsein der potentiellen Anrufer wären. 46 Zum Begriff der Abduktion s. Peirce (1993), S. 95 ff.; zur Bedeutung abduktiven Schlussfolgerns bei der Hypothesenbildung in der kriminalistischen Praxis vgl. Oevermann/Simm (1985); Reichertz (1991); und Schmitz (1995).
368
E. Rollenspiele
dass kein Notfall vorliegt, der Hinweis auf die Nummer der zuständigen Polizeidienststelle.47 Wenngleich ich zunächst vermutete, dass es sich hier um ein Rollenspielartefakt handelte, das der Tatsache geschuldet war, dass die Studenten unbedingt üben wollten, wurde mir in den im Anschluss an die Rollenspiele geführten Rückmeldegesprächen klar, dass die Schwierigkeiten anders motiviert waren. Genau genommen gab es zwei unterschiedliche Motivtypen. Zu Typ 1 gehörten zwei Studenten, die im Sinne einer formalen Rationalität davon ausgingen, dass es sich bei jedem Anruf, der über die Notrufleitung eingeht,48 um einen Notruf handelt, was einem technologischen Notrufhabitus entsprach.49 Und zu Typ 2 gehörten sechs Polizeibeamte, die im Sinne der Dreher/Feltes’schen Notrufdefinition50 zum Ausdruck brachten, 47 Die wir, um Artefakte zu vermeiden, vorher festgelegt und für jeden Rollenspieler sichtbar auf ein Flip-Chart-Papier (um im Trainerjargon zu sprechen) geschrieben hatten. 48 Dass es sich hier um eine fiktive Notrufleitung handelte, spielte keine Rolle. Sie sahen diese Leitung für die Zeit des Rollenspiels als Notrufleitung an. 49 Vgl. hierzu die Analyse von Fall 12: Anzeige eines Autoaufbruchs. 50 Dreher/Feltes (1996), S. 13; oder auch Feltes (1994), zit. nach Geck (1996), S. 249: „Wer den Notruf 110 wählt, möchte in aller Regel polizeiliche Hilfe vor Ort. Dem sollte sich (sic) die Polizei, wenn sie sich an den Bedürfnissen der Bürger orientiert, möglichst entsprechen.“ Im Unterricht kam ich denn auch u. a. darauf zu sprechen, dass der institutionelle Sinn des Polizeinotrufs nicht identisch mit dem Sinn der ,Polizeirufsäule‘ ist. Polizeirufsäulen bzw. Polizeirufanlagen, im Volksmund auch „Eiserner Schutzmann“ [Gramatte (1978), S. 243] genannt, bedeuteten „eine taktisch wertvolle Erweiterung des örtlichen polizeilichen Fernsprechnetzes.“ O. A. (1958), S. 459. Dabei musste, wie Gramatte weiter schreibt, „allen Beteiligten, auch der Bevölkerung, (. . .) von Beginn der Ausstattung mit Polizeirufanlagen an [in Nordrhein-Westfalen schon seit 1954, T. L., vgl. Hörath (1957), S. 15] bekannt sein, daß diese Einrichtungen nicht unter Notrufeinrichtungen einzuordnen waren. Ihre Zweckbestimmung, taktisch aus polizeilicher Sicht, aber auch vom Schutzbedürfnis der Bevölkerung her, ist viel umfangreicher als die von Notrufeinrichtungen. Die Rufanlagen sind dazu bestimmt, das ausführliche Gespräch mit der Polizei in allen den Staatsbürger bedrückenden Fragen zu führen, um Auskunft und Hilfe zu erlangen. Das Spektrum der Anliegen ist bei den Rufanlagen nicht eingeschränkt wie zwangsläufig bei Notrufmeldern oder überhaupt im Notrufsystem 73 und auch bei Überfall- und Einbruchmeldeanlagen. Bei den Rufanlagen ist jede Frage, auch die nach einer Hausnummer oder Sehenswürdigkeit, zugelassen. Die Hilfeersuchen in den beiden anderen Systemen dagegen beziehen sich auf ganz spezielle Anliegen, nämlich beim Notrufsystem auf Notrufe, entstanden aus konkreter Notfallsituation mit hohem Gefährdungsanteil einschließlich Lebensgefahr und ihrer Abwendung. Zum anderen bei den Überfall- und Einbruchmeldeanlagen, mit oder ohne Anschluß an die Polizei, in einer Reaktion der Ordnungsmacht auf einen durch den Alarm angezeigten, meist rechtswidrigen Angriff, der gegen Personen oder/und Sachen gerichtet ist. Hier ist gezielte Hilfe erforderlich, dort sollten die Auskunft oder eine möglichst präzise Unterrichtung über das weitere Verhalten in der Mehrzahl aller Fälle ausreichend sein.“ Gramatte
3. Exkurs: Schwierigkeiten bei der Sensibilisierung für die Notrufpraxis
369
dass die Polizei auch Nichtnotruffälle am Notruf weiterbehandeln müsse, weil die Polizei eine Serviceorganisation sei, eine Organisation, die sich an den Bedürfnissen der Bürger51 zu orientieren habe. Im Sinne des zweiten Motivtyps (Bürgerorientierung und -freundlichkeit) kritisierte denn auch eine Studentin das in Zeile 06 des nachfolgenden Notrufprotokolls52 – 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14
Pm: Aw: Pm: Aw: Pm: Aw:
P: Aw: Pm:
Notruf he Polizeinotruf Ja guten Tach hier ist Alt Jena ich brauche ganz dringend en Streifenwagen Wozu? Äh hier belästigt mich ein Gast und er hat behauptet er hat schon bezahlt un er (-) donnert hier auf ’n Tisch und macht Theater Geben Sie mir mal bitte Ihren Namen Otto Ramona Frau Otto ja? (2,0) In der Gaststätte Alt Jena
(1978), S. 242 f. Zum Sinn dieser Säule s. auch Hoffmann (1959), S. 96: „Die Polizeirufsäule soll (. . .) die infolge der organisatorischen Veränderungen innerhalb der Polizei evtl. auftretenden Kontaktlücken zwischen der Bevölkerung und der Polizei schließen. Sie ermöglicht es dem Bürger, sich in allen Anliegen – seien es Hilfeersuchen, allgemeine Auskünfte oder sachdienliche Hinweise – direkt an die Polizei zu wenden.“ 51 „Bürgernähe“ und „Bürgerorientierung“ sind Schlagworte, die bereits seit mindestens 20 Jahren im polizeilichen Diskurs verwendet werden. Im Zuge der Vertriebswissenschaftlichung der Polizei werden diese Begriffe neuerdings in Verbindung mit dem Kundenbegriff gebracht. So schreibt Volkmann (1998), S. 293: „Damit Bürgernähe und Bürgerorientierung (. . .) nicht zu unverbindlichen Forderungen und zu Schlagworten für Festtagsreden verkümmern, müssen sie inhaltlich gefüllt und mit Handlungsorientierungen verbunden werden. Dabei kann eine Ausrichtung am übergeordneten Begriff der Kundenorientierung [Hervorhebung im Original, T. L.], wie er im Produkt- und Dienstleistungsmarketing schon seit längerem eingeführt ist, hilfreich sein. (. . .) Ohne hier die Unterschiede zwischen der Polizei und gewerblichen Unternehmungen verwischen zu wollen, so kann doch die polizeiliche Tätigkeit als Erbringen von Dienstleistungen verstanden werden, die dann eine hohe Akzeptanz bei den Bürgern (,Kundenbindung‘) finden, wenn sie das Kriterium der Bürgerorientierung (,Kundenorientierung‘) erfüllen.“ Zum Begriff der „Kundenorientierung“ s. auch Fittkau/Bensch (2000), S. 223. Kritisch Oevermann (2000 b), S. 57 f. 52 Es handelt sich hier um ein Protokoll eines realen Falles (vgl. hierzu die bereits in Kapitel C. analysierten Fälle), der von den Studenten in der Polizeipraxis erhoben und anschließend transkribiert wurde. Von ihnen benutzte Sigeln und Notationszeichen: Pm Polizeibeamter männlich (sic); Aw Anruferin weiblich (sic); (2,0) Sprechpausen mit Längenangabe; (-) kurze Sprechpause; kursiv Betont.
370 15 16 17 18 19 20
E. Rollenspiele Aw: P: Aw: Pm: Aw:
Gaststätte Alt Jena aber schnell bitte Is auf ’m Markt he? Ja Alles klar gut Gut {Knacken}
– abgebildete Handeln des Polizeibeamten mit den Worten: 352 353 354 355 356 357 358
(. . .) ich finds eigentlich aber, das wozu aber auch irgendwo typisch, das is so ungefähr, ich bestimme wann en Streifenwagen kommt un nun sagt die einfach, „ich brauche dringend en Streifenwagen“, das ist eh (-) das wundert mich direkt, daß er nicht gesagt hat, „ja, wenn einer kommt, das bestimm ich immer noch“.
Dabei handelte der Beamte durchaus angemessen, weil er sehr sachlich nach dem Anforderungsgrund für den Streifenwagen fragte,53 den die Anruferin bei ihrer Bestellung nicht nannte, womit sie im Grunde genommen übergriffig agierte, weil sie ohne den Fall als Notruf zu deklarieren einen Streifenwagen bestellte und damit so tat, als handle es sich hier um eine selbstverständliche Bestellung, um eine Routineanforderung in einem schon eingeölten Kommunikationsnetz, auf die sich der Polizeibeamte auf keinen Fall einlassen darf, weil er sich sonst auf korrupte Strukturen einlassen würde.54 Nach dem Motto: ,Schickt der mal einen Streifenwagen, die braucht wieder einen, Ihr wisst doch, sie spendet jährlich ein Fass Bier‘. Denn das bedeutete, sich von der Anruferin instrumentalisieren zu lassen. Meine pädagogische Aufgabe bestand nun erstens darin, den Studenten darzulegen, dass nicht alle über die Notrufleitung eingehenden Anrufe Notrufe im Sinne des Normalfallmodells darstellen und folglich auch nicht auf der Notrufleitung zu behandeln sind. Und sie bestand zweitens darin, sie dafür zu sensibilisieren, dass eine funktionale Polizei nicht verwechselt werden darf mit einer unfreundlichen.
53 Der Polizeibeamte muss den Anforderungsgrund in Erfahrung bringen: „A gross characterization of the work tasks of the police phone man/woman would include establishing police identity, receiving and accepting/declining the complaint, gathering information to determine the organizational seriousness of the complainable, deciding on and communicating the disposition and closing the call.“ Eglin/ Wideman (1986), S. 348. [Hervorhebung durch T. L.] 54 Der Fall verweist auf die Problematik der intentionalistischen Notrufdefinition von Feltes/Dreher (1996), S. 13. Denn nach ihr handelte es sich auch bei dieser Routinebestellung der Polizei um einen Notruf, um eine „große Gelegenheit (. . .), den Bedürfnissen der Bürger entgegenzukommen“. Feltes (1994), S. 45, zit. nach Geck (1996), S. 271.
4. Resümee
371
In diesem Zusammenhang machte ich deutlich, dass es eine wichtige polizeiliche Aufgabe wäre, die Bevölkerung besser darüber aufzuklären, für welche Fälle 1. der Polizeinotruf, 2. die Amtsleitung der regional zuständigen Dienststelle vorgesehen ist, und die Telefonnummer der Letzteren über eine sinnvolle PR-Arbeit zumindest regionalweit publik zu machen.55 Es sollte sich dabei um eine einprägsame, einheitliche Nummer handeln, die man nicht zeitaufwendig im Telefonbuch heraussuchen muss,56 zumal nicht jeder in seiner persönlichen Aufregung in der Lage ist, die Nummer der zuständigen Dienststelle nachzuschlagen, und es Situationen gibt, in denen man eben gerade kein Telefonbuch zur Hand hat. – Ende des Exkurses
4. Resümee Wie mir die Durchsicht der Rollenspielprotokolle57 zeigte, war mein Versuch, die Studenten durch eine methodisch explizite Rekonstruktion von Praxisfällen für die Handlungsproblematik am Notruf zu sensibilisieren, weitgehend gelungen. Die Methode der Sequenzanalyse erwies sich als geeignet, um Rollenspiele auszuwerten, und zwar in abgekürzter Weise, dem Geiste nach, wie man nach meinen Erfahrungen die Methode generell gut im Bereich von Handlungstrainings einsetzen kann, um Teilnehmer für ein angemessenes Handeln zu sensibilisieren.58 55 Dies leistet der Aufklärungsfilm „Notruf 110. Bürger und Polizei gemeinsam für Sicherheit“ (des PP Frankfurt a. M., Medienzentrale P IV/22, Nr. 238/93, deutsche und türkische Version, je 8 Min.) eindeutig nicht. Im Gegenteil: Er stellt die Weichen falsch. Denn die ,Polizei anrufen‘ wird hier mit die ,110 anrufen‘ gleichgesetzt. Die Formeln lauten: 110 = Polizei, Polizei = 110. Auf die Differenz zwischen der 110 und der Amtsleitung wird mit keinem Wort hingewiesen. Dass der Film, in dem zwei türkische Arbeiter die Protagonisten sind, objektiv ausländerfeindlich ist, weil diese als Arbeiter ohne jegliche Leistungsethik dargestellt werden, ist aus meiner Sicht skandalös. Dass er – wie ein einmaliger Einsatz des Films im Unterricht zeigte – auf Rezipienten so wirkt, verwundert denn auch nicht. Eine Studentin äußerte treffend: „Einfach lächerlich.“ 56 Eine interessante Lösung gibt es im Touristikbereich: „1 94 33 für ganz Deutschland Mühsames Durchfragen und teure Telefonauskunft sind jetzt passé. Ob Kurverwaltung, kommunales Gästeamt, Fremdenverkehrsverein oder Verkehrsamt: Vorwahl des Urlaubsziels, dann die Nummer 194 33 wählen, und es melden sich zwischen Meersburg und Westerland in mehr als vierhundert Orten direkt die Mitarbeiter der jeweiligen Touristeninformation.“ O. A. (1998), S. 96. 57 N = 60.
372
E. Rollenspiele
Es gab nur zwei Rollenspiele, die vergleichbar formalistisch gehandhabt wurden wie der Fall Heidenberg.59 In der Mehrzahl der Fälle handelten die Studenten nicht bürokratisch-formal, sondern material krisenbezogen, wenn auch viele Studenten nach der anfänglichen Krisenorientierung wieder in ein bürokratisches Schema verfielen, was damit zu erklären ist, dass die vorhergehende Einsozialisation in die Praxis Spuren hinterlassen hatte, die nicht einfach auszuwischen waren. Neben bürokratischem Handeln, das offensichtlich durch die Einsozialisation in eine bürokratische Praxis zu erklären war, gab es auch bürokratische Handlungsmuster, die durch Überforderung motiviert waren und dann auftraten, wenn die Rollenspieler in der simulierten Krisensituation selbst in eine Krise gerieten und sich nicht mehr anders zu helfen wussten, als die offene Krisensituation durch die bürokratische Routine zu schließen, um nicht gänzlich handlungsunfähig zu werden. Exemplarisch dafür steht der analysierte vierte Rollenspielfall. Eine praxisorientierte Ausbildung sollte aus meiner Sicht didaktisch so gestaltet werden, dass vor der praktischen Übung in Form von Rollenspielen zunächst über Interventionsziele bei den zu übenden Falltypen gesprochen60 und ein Fall jedes Typs exemplarisch analysiert wird. Zumindest 58 Die Rollenspiele wurden von den Studenten fast durchweg als Chance gesehen, einmal selbst erleben zu können, wie man mit einer Notrufsituation fertig wird. So wurden selbst die Studenten, die schon über einige Jahre Berufserfahrung verfügten und bei der Rollenspieleinweisung noch ein Lächeln auf den Lippen hatten, auffallend ernst bei der Einnahme des Notrufplatzes – und war aus ihren Gesichtern Anspannung über das abzulesen, was wohl kommen wird. Die Rollenübernahme misslang nur in den Fällen, in denen Studenten Frauenrollen spielen sollten (aber nicht umgekehrt!); s. hierzu Fußnote 41. 59 In beiden Fällen handelte es sich um Studenten, die vorher in so genannten ,geschlossenen‘ Einheiten, bei der Bereitschaftspolizei, ihren Dienst verrichteten. Sie hatten offensichtlich die Bürokratie verinnerlicht und den dort noch vereinzelt anzutreffenden Kasernenton in ihren Habitus übernommen. Während einer von ihnen seinen Habitus veränderte und merkbar krisenorientierter und sprachlich einfühlsamer wurde, gelang dies bei dem anderen nicht. Acht Jahre VP (Volkspolizei) hatten bei ihm tiefe Spuren hinterlassen. Er zeigte denn auch im Staatsexamen bei der sequenzanalytischen Aufgabe eine schlechte Leistung. 60 Hierzu würde es sich für die Ausbildung anbieten, die vom Thüringer LKA erstellten Materialien zu nutzen. Da es sich hier ausschließlich um Verschlusssachen handelt, kann ich hier aus verständlichen Gründen nicht konkreter werden. Instruktive Anmerkungen zur Gesprächsführung bei „critical incidents“ stammen aus dem Bereich des FBI. Vgl. Slatkin (1996), der im Untertitel seines Aufsatzes „Enhancing Negotiator Training“ von „therapeutic communication“ spricht, was ich für ein irreführendes Label halte. Denn es geht in diesen akuten Krisensituationen nicht um Heilung (polizeilicher Klienten), sondern um instrumentell-strategisches Handeln zur polizeilichen Lagebewältigung. In diesem Sinne zitierte denn auch ein von mir betreuter Diplomand in seiner Arbeit über die „Aus- und Fortbildung von Verhand-
4. Resümee
373
kann dadurch einem dem „Praxisschock“61 verwandten Phänomen vorgebeugt werden, das ich zur Ausbildung einer fallsensiblen Handlungsfähigkeit für kontraproduktiv halte, wenn – wie in meinem Fall – nicht genügend Zeit zur Verfügung steht, um die Studenten auf dem Weg zu mehr Handlungssicherheit sokratisch zu begleiten. Zudem sollte man bei der Konstruktion von Rollenspielen auf den Schwierigkeitsgrad der Fälle achten, um die Studenten nicht unnötig zu überfordern,62 wobei es sinnvoll wäre, hier interdisziplinär mit anderen Fachgruppen zusammenzuarbeiten, um die Fälle dem curricular zu vermittelnden Lernstoff anzupassen.63 Über die bereits dargestellten Interventionsprobleme hinaus zeigten sich in den Rollenspielen weitere Interventionsprobleme bei Gesprächen mit Personen, die sich in psychischen Krisensituationen befanden. Diese bestanden darin, dass die Studenten „zu vorschnellen therapeutischen Ratschlägen (neigten) oder die persönliche Notlage (der) Patienten64 verharmlosend (relativierten),“65 anstatt sie mit Geduld und emphatischer Anteilnahme aufzufordern, in aller Ruhe „über (ihre) verzweifelte Situation zu sprechen und Gründe für (ihr) Verhalten zu schildern“.66 Exemplarisch sei hier der Fall einer Seiteneinsteigerin genannt, die in der Rolle von P unangemessen handelte, indem sie einem Anrufer, der androhte, sich und „die halbe Stadt (. . .) in die Luft zu jagen“,67 weil ihn lungsgruppen“ [Bräutigam (1999), S. 6] den Dichter Fortune de Felice: „Selten ist es ratsam, gegen Vorurteile und Leidenschaften frontal anzugehen. Stattdessen ist es besser, mit ihnen scheinbar konform zu gehen, um Zeit für ihre Bekämpfung zu gewinnen. Man muß gegen den Wind segeln und lavieren können, bis der Wind wieder günstig steht.“ 61 Zu diesem in der Pädagogik gebräuchlichen Begriff vgl. Stiebitz (1985), S. 17; und Oevermann (1997 a), S. 179. 62 Ansonsten kann es zu einem dem „Praxisschock“ analogen Rollenspiel- oder Simulationsschock kommen. 63 Dass dies in praxi bezüglich des Faches, zu dem meine Ausbildung die größte inhaltliche Affinität hatte, dem Fach Einsatzlehre, zunächst nicht funktionierte, stand im Zusammenhang mit einer gestörten Beziehung zum Einsatzlehredozenten. Die Situation hat sich seit seiner Pensionierung deutlich gebessert. 64 Das Zitat stammt aus einem Lehrbuch für Notfallmedizin. Vgl. Madler u. a. (1994). Die Polizei hat es am Notruf freilich nicht mit Patienten zu tun, sondern mit Klienten oder Anrufern. 65 Vgl. Kapfhammer (1994), S. 695. 66 Ebd., S. 694. 67 Rollenspiel 11 – Drohung mit Nitroglyzerin. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer: Situation: – Donnerstag, gegen 14 Uhr – möchte das erste Mal in seinem Leben akzeptiert werden (kein Lösungsgeld) – hat Leben verspielt – ruft von Zuhause an
374
E. Rollenspiele
seine Freundin mit einem „Wessi“ betrogen habe und er nun „arbeitslos geworden“ sei, genervt antwortete: „Hörn Sie, deswegen besteht doch kein Grund mit Nitro(kri) mit Nitroglyzerin noch andere Menschen in Gefahr zu bringen (. . .). Das sind ihre privaten Probleme jetz, lange kein Grund, fremde Leute dadurch mit in Gefahr zu bringen, daß Se jetzt mit Nitroglyzerin, ähm, in der Fritz Büchner Straße etwas in die Luft jagen wollen“.68 Woraufhin der Anrufer das Gespräch abbrach. P war nun im Nachhinein „völlig fertig mit der Welt“69, weil ihr klar wurde, dass sie in der Situation falsch gehandelt hatte: „Ich hab gedacht, es sin private Probleme. Na, ich hab eben überlegt, das Private öh (uv), ob das jetz noch auf en Notruf gehört, dass er mir ausschüttet, dass er arbeitslos is und was seine Freundin macht.“70 Meine Aufgabe bestand nun zu einem nicht geringen Teil darin, sie zu stützen, zumal sie als Seiteneinsteigerin nach einem nur halben Jahr Praktikum noch nicht über praktische Gesprächserfahrungen mit Anrufern in solchen Situationen verfügen konnte und ihr auch ein zur Bewältigung einer solchen Situation erforderliches Handlungswissen fehlte, weil dies – wie ich erst bei der Besprechung des Rollenspiels feststellte – bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Ausbildung vermittelt worden war.71 Entsprechend wusste sie nicht, dass es zu den vorrangigen Gesprächszielen eines im Polizeijargon so genannten ,Erstsprechers‘ gehört, die Lage zu entspannen, die Persönlichkeit des Täters zu stabilisieren und möglichst viel Zeit zu gewinnen, und es zur Erreichung dieser Ziele in diesem Fall gesprächsführungstaktisch sinnvoll gewesen wäre, die „private(n) Probleme“ des Anrufers auf der Notrufleitung zu behandeln.72 Auch zeigten sich Probleme beim genauen Zuhören und gestaltgenauen Auswerten restringiert mitgeteilter Sachverhalte.73 So schlussfolgerten zwei Rollenspieler aus der Mitteilung: – zwei Jahre Chemieerfahrung/Mikroelektroniker/Testbereich – arbeitslos – Freundin will ihn verlassen Sequenz: Hörn Sie zu, Fritz Büchner-Straße 34 Ich habe hier zirka einen halben Liter Nitroglyzerin bei mir (2.0) ja!? Ich bin zu allem bereit = ich habe nichts zu verlieren (3.0) = alles klar? Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Donnerstag, gegen 14 Uhr. 68 Auszug aus der studentischen Rollenspielverschriftung. 69 [Ihre Worte, T. L.] 70 Ihre Kommentierung im Anschluss an das Rollenspiel. 71 Was mich ich in meiner Haltung bestätigte, wie bedeutsam ein curricular mit anderen Fachgruppen abgestimmter Unterricht für eine handlungsorientierte, auf die Berufspraxis bezogene Ausbildung ist. 72 Vgl. hierzu Salewski (1977), S. 58 ff.; Thiessen (1995), S. 26 ff.; LKA (o. J. a und b).
4. Resümee 02 A: 03 04 05 #1 15 P: 16 17 A:
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Ja:: schönen guten Tag74 Hh (1.0) Ich hätte gerne einen Streifenwagen in die Altstraße dreiunddreissich (-) bei mir is de Scheibe eingeschlagen worden (-) von jemanden aus dem Haus (-) und ich bin alleine75 |Und das direkt vor| der (eh) Hausnummer dreiunddreissich? (1.0) Stehen Sie da am Auto? (1.0) Ne Ne äh (-) das is nich’s Auto (-)
bzw. #2 14 P: 15 A:
Und Ihr Auto steht da vor dem Haus oder was? Nein es geht um die Wohnungstür
Wobei ihr Fehler damit zu erklären ist, dass beide stillschweigend davon ausgingen, dass es hier nur die Lesart gibt, dass es sich bei der Scheibe um eine Autoscheibe handeln muss, während die Sparsamkeitsregel76 im Gegenteil die Lesart nahe gelegt hätte, dass es sich wahrscheinlich um die Wohnungsscheibe handelt und die Anruferin in ihrer Wohnung Angst hatte, dass der Täter zurückkommt, zumal sie alleine in der Wohnung war.77 73 Zur berufspraktischen Relevanz rekonstruktiv-mäeutischen Verstehens restringierter Sprache s. Loer (2000), S. 335. 74 Sigeln und Notationszeichen: A Anrufer; P Polizeibeamter; (1.0) Pause in Sekunden; Ja:: Dehnung eines Vokals; Hh Einatmen; Alleine Betont; | | Markierung einer Überlappung; ? Frageintonation. 75 Rollenspiel 30 – Strafanzeige. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer: Situation: – Mittwoch, 10.30 Uhr – Anruferin: Frau Ritter – will Strafanzeige erstatten – Scheibe zur Wohnungstür – Anruferin weiß, wo Täter wohnt (Nachbarschaftsstreit) Sequenz: Guten Tag, ich hätte gerne einen Streifenwagen in die Altstraße 33 Bei mir is die Scheibe eingeschlagen worden Von jemandem aus em Haus und ich bin alleine Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Mittwoch, 10.30 Uhr. 76 Die in der objektiven Hermeneutik zu beachtende Sparsamkeitsregel soll sicherstellen, dass bis auf den Beweis des Gegenteils von der Vernünftigkeit der Subjekte ausgegangen wird. Erst dann geht man von pathologischen Fällen aus. Vgl. hierzu Leber/Oevermann (1994), S. 419; Heinze (1992), S. 79; Wernet (2000), S. 35; oder Leber (1994), S. 228 f. 77 Die Lesart: Es wurde die Autoscheibe der Anruferin eingeschlagen, sie kennt den Täter, der im gleichen Haus wohnt, und sie hat nun Angst, weil sie alleine ist,
376
E. Rollenspiele
Und in einem anderen Fall78 – 1 P: 2 A: 3 4 P: 5 A: 6 P: 7 A: 8 P: 9 A: 10 P: 11 A: 12 P: 13 A: 14 P: 15 A: 16 P: 17 A: 18 P: 19 A: 20 P: 21 A: 22 P: 23 A: 24 P: 25
Notruf Ja hier is Scholz (-) kommen Sie bitte? (-) Meine Tür wird aufgebrochen (-) Hilfe kommen Sie schnell79 Ja wo is en das? Ich soll um mein Leben betteln Ja wo is en das bitte? Ha ich halt es nicht aus (-) gleich sind sie drin (-) es wird noch gebohrt Ja:: (-) hallo? Ja Ich brauch noch die Straße Ja e: (-) Schleizer Straße Mhm Schleizer Straße is ö: (-) mein Name is Scholz Ja (-) das hab ich (-) Schleizer Straße (-) Nummer? Bin ganz alleine (-) sie sind gleich drin Welche Nummer? (-) Frau Scholz? Schleizer Straße 20 Ja (-) is okay (-) Moment ma (2.0) Hallo? Ja? Ja (-) sie sind gleich drin Ja:: (-) Frau Scholz (-) ich hab schon jemand losgeschickt Soll um mein Leben winseln Ja (-) wir kommen vor Ort (2.0) Verbarrikadieren Sie sich am besten so wie es geht (-) und dann (-) sin wir auch gleich bei Ihnen
ist unsparsamer, zumal sie voraussetzt, dass die Anruferin überhaupt ein Auto besitzt, was im Text nicht markiert ist. 78 Rollenspiel 20 – Geistig verwirrte Person. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer: Situation: - Freitag, 21.30 Uhr - psychisch gestörte Person - verwitwet - schwerhörig (hört nicht richtig) - „es wird noch gebohrt“ - „die sind dran“ Beteiligte: Polizeibeamter und Anrufer Sequenz: Ja hier is Scholz komm Se bitte meine Türe wird aufgebrochen Ich soll um mein Leben betteln Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Freitag, 21.30 Uhr 79 Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamtin; A Anruferin (gespielt von einem Studenten); Ja: Dehnung eines Vokals; schnell Betont; uv unverständlich; ? Frageintonation.
4. Resümee 26 27 28 29 30 31
A: P: A: P: A: P:
32 33 34 35 36 37
A: P: A: P:
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Ja ja aber die bohren an der Tür (-) gleich sind Sie Jah (-) da (5–6 Worte uv) Ich bin ganz allein Hallo? (-) Frau Scholz? Ja Jah (-) wir sin doch gleich bei ihnen (-) ne? (-) Ich hab schon en Wagen losgeschickt (-) der is gleich bei Ihnen (-) der war bei Ihnen in der Nähe (-) und is gleich da (1.0) Ja aber (-) kommen Sie schnell (-) ja? Ja:h (-) wir sin unterwegs Mhm Wiederhören
– hörte P aus der Darstellung von A nicht heraus, dass es sich beim Anrufer um eine geistig verwirrte Person handelte, und behandelte den Fall wie einen sich aktuell ereignenden Einbruch. Darüber hinaus sprachen die Studenten in den Rückmeldegesprächen davon, dass es ihnen zum Teil schwer gefallen sei, den Anrufern Ratschläge oder Verhaltenshinweise zu geben – #3 L: Also ich fands am schwierigsten diesen Ratschlag zu geben (-) was jetz machen (--) Alles andere is Abfragen (-) okay das mag ja gehen (-) reicht erst ma aus (-) aber ne (--) das Problem dabei (--) D: Okay L: den Ratschlag zu geben80
– oder die von den Anrufern mitgeteilten Daten zu memorieren und mitzuschreiben – #4 S: Er hat gesagt, er heißt Klaus Meier, aus Nordstadt, gleich losgelegt mit allen Daten, die er so hatte, da kam man gar nicht hinterher.81
Neben Interventions- oder Gesprächsführungsproblemen in Fällen, die ich bis dahin noch nicht eingehend mit den Studenten besprochen hatte, traten diese indes auch bei bereits im Unterricht besprochenen Fällen auf. So machte ich eine pädagogische Erfahrung, die sich mit der von Heinrich Bauersfeld – „. . . eine Veränderung und Bereicherung der individuellen Deutungsgewohnheiten (. . .) läßt sich beim Studenten nur durch eine engagierte Teilnahme in Interpretationsprozessen anbahnen, d. h. durch das (angeleitete) eigene, interessierte Interpretieren und damit durch das aktive Herausfordern und Infragestellen der erwor80 Vgl. Fußnote 30. Sigeln und Notationszeichen: L = Student L; D = Dozent; (-) Kurzes Absetzen; (--) Deutliche Sprechpause; Ratschlag Betont. 81 Vgl. Fußnote 30. S = Student S.
378
E. Rollenspiele
benen Sinnzuschreibungen und deren Änderung im Prozeß, – nicht aber über eine bloß verbale Vermittlung der Interaktionsprodukte Anderer“82
– deckt, der in diesem Zusammenhang von der in der Pädagogik bekannten „Fragwürdigkeit bloß sprachlicher Belehrung“83 oder der Begrenztheit der Wirkung des „Maulbrauchen(s)“84 sprach. Denn wie mir die Durchsicht der Rollenspielprotokolle zeigte, hatte meine „bloß“ verbale Explikation der beiden Modellfälle eine recht geringe Wirkung für ein fallangemessenes polizeiliches Handeln. In beiden – den Modellfällen nachgebildeten – Rollenspielen handelten die Polizeibeamten fallunangemessen. So hätte P im ersten Fall85 – 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10
P: A: P: A: P: A: P: A: P: A:
11 12 P: 13A: 14 P: 15 A: 16 P: 82
Polizeinotruf86 Ja guten Tag ich bräuchte ma dringend die Polizei und en Notarzt Ja (-) wer bräuchte den? Ich Ja wer sind Sie denn? Sagen Se ma bitte Ihren Namen [Vorname, Nachname] ist mein Name [Vorname, Nachname] Kommen se bitte ganz schnell (-) Ich brauch se unbedingt Warum brauchen Sie mich denn? Ähm (1.0) meine (-) meine Mutter wird von ihrem Mann (-) geschlagen (-) Und ich weiß nich (-) ich glaub der hat och en Messer mit dabei gehabt (-) also ich befürchte wirklich das Schlimmste Mutter von Kommen se ganz schnell Mutter von Mann wird mit Ihrem (1.0) Meine Mutter Ihre Mutter wird
(1999), S. 203. Ebd., S. 202. Das vollständige Zitat lautet: „Die Pädagogik weiß schon seit langem um die Fragwürdigkeit bloß sprachlicher Belehrung, von Deweys ,learning by doing‘ bis zu Herman Nohl: ,Keine Kraft des Lebens entwickelt sich durch Wort-Belehrung, sondern immer nur durch die Tat-Handlung . . .“. Ebd. 84 Ein Lutherwort zitierend. Ebd. 85 Rollenspiel 38 – Familienstreit. Rollenspielinstruktionen für den Anrufer: Situation: Freitag, 20.20 Uhr. Sohn ruft Polizei an. Seine Mutter hat ihn beauftragt, die Polizei zu informieren, weil sie von ihrem Mann tätlich angegriffen worden sei. Wie schwer die Verletzungen der Mutter sind, weiß der Sohn nicht. Er ist am Telefon aufgeregt. Er befürchtet das Schlimmste. Sequenz: Ja schönen guten Tag ich bräucht dringend die Polizei und en Notarzt Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Freitag, 20.20 Uhr. 86 Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamtin; A Anrufer; (-) kurzes Absetzen; [Vorname] Anmerkung der Verschrifter; ? Frageintonation; (1.0) Pause in Sekunden; (uv) unverständlich. 83
4. Resümee 17 18 19 20 21
A: P: A: P: A:
22 23 P: 24 A: 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A: P: A:
44 45 P: 46 A: 47 48 P: 49 A: 50 P: 51 A: 52 P: 53 54 55 56 57
A: P: A: P: A:
379
Ja von ihrem Mann geschlagen Mhm Und das is wirklich ganz schlimm (-) Die hat mich jetzt hier her geschickt (-) ich bin schnell zur Telefonzelle gelaufen (-) um sie anzurufen Also Sie befinden sich an einer Telefonzelle (-) Also wo is denn diese Telefonzelle? Die is in der Schleizer Straße gleich neben der Tierklinik (-) da is eine (-) aber bitte kommen sie doch bitte schnell (-) das is jetz Ja (-) bleiben Se ma ganz ruhich (-) ich brauch en paar Daten erst Ja was brauchen Se denn alles noch? Ich brauch zum Beispiel noch wo Ihre Mutter wohnt Ja wir wohnen in der Schleizer Straße 23 (-) das is Und Sie befinden sich in der Telefonzelle in der Schleizer Straße? Ja Richtig? Und wo? 100 Meter weg von unserem Haus Mhm (2.0) Und wie alt sind Sie denn? Ja ich bin 18 aber (uv) Aber kommen se schnell (-) ich kann nichts machen Ja is in Ordnung (-) Ihr Vater hat (-) also is Ihr Vater, ja? Nein is nich mein Vater Ach so Is der Mann von meiner Mutter Und der hat (-) en Messer Der schlägt meine Mutter (-) und die hat mich jetzt hergeschickt (-) ich soll se anrufen (-) weil ich hab gesehen (-) der hat och en Messer mit dabei gehabt Gut (1.0) Und öh is das schon öfter vorgekommen? Ja das is schon en paar mal vorgekommen und sie wurde auch schon mehrmals (-) stark verletzt (-) deshalb brauch ich auch unbedingt Notarzt Ach so (-) ja das is kein Problem (-) ich hab schon Leute losgeschickt Sin schon los? Ja die sin schon los und ich ver (-) ständige auch sofort en Notarzt (-) okay Ja ja Sie bleiben an der Telefonzelle (-) sie werden dort von (-) (Polizeibeamten) abgeholt Ja Ein (-) Einverstanden? Ja Und wir gehen dann gemeinsam (da) hin Gut
380 58 59 60 61 62
E. Rollenspiele P: A: P: A: P:
Ne? Kommen se schnell Ja (-) keine Angst (-) wir kommen sofort Gut (-) tschüss Tschüss
– bereits in Zeile 12 die Frage nach der Notfalladresse stellen müssen, um daraufhin so schnell wie möglich Einsatzkräfte vor Ort zu schicken. Doch genau so handelt sie87 nicht. Vielmehr zeigt das Protokoll, dass P selbst große Probleme bei der Erfassung der Krisensituation bekommt (Zeile 1218, 30, 34, 38-42), d. h. selbst in die Krise gerät, weil sie offensichtlich über keine „krisenbewältigende Routine“88 verfügt. Auch im zweiten Fall89 ist ein fallunangemessenes Handeln von P abgebildet.90 00 01 02 03 04 05
P: A: P: A:
06 07 P: 08 A: 09 10 P: 11 A: 87
Telefonklingeln91 Polizeinotruf (-) was kann ich für Sie tun? Ja (-) GUTEN ABEND (-) MEIN NAME IST HOLGER BERGMANN Ich wohne in der ALTSTRAßE und dort ist schon wieder LÄRM Mhm Ich hab hier letzte Woche schon mal angerufen (-) ab und zu (-) is ja wirklich (-) da unten ist ne Kneipe Mhm und? Und da ist ständig laut die Musik an, meine Kinder können nicht schlafen (-) also wissen Se (-) Sie müssen da endlich mal was tun Und Sie wohnen über der Gaststätte (-) oder? Ja genau (-) genau oben drüber (-) ich hör alles
P war eine Praxisaufsteigerin mit vierjähriger Polizeiberufserfahrung. Oevermann (2000 a), S. 4. 89 Rollenspiel 46 – Ruhestörung (Gaststättenlärm). Rollenspielinstruktionen für den Anrufer: Situation: Mittwoch, 22 Uhr. Bewohner eines Hauses Altstraße, in dem sich eine Gaststätte befindet. Es ist 22 Uhr. Beschwerde über Lärm aus Musikbox. Kann nicht schlafen, muß morgen zur Arbeit. Hat unmittelbar die Polizei angerufen, ohne vorher mit dem Wirt zu sprechen. Wirt ist Vermieter. Anrufer wohnt seit drei Wochen in diesem Haus. Sequenz: Ja guten Abend mein Name ist [Nachname] ich wohne hier über der Gaststätte Zum Krug En wahnsinniger Krach hier unten das ist also Wahnsinn Rollenspielinstruktionen für den angerufenen Polizeibeamten: Mittwoch, 22 Uhr. 90 Auch wenn P das Gespräch im Anschluss an die Standardmeldung „Polizeinotruf“ angemessen einleitet. 91 Sigeln und Notationszeichen: P Polizeibeamtin; A Anrufer (gespielt von einer Studentin); ? Frageintonation; (-) kurzes Absetzen; (1.0) Pause in Sekunden; JA Laut gesprochen. 88
4. Resümee 12 13 14 15
P: A: P: A:
16 17 P: 18 A: 19 P: 20 21 22 23 A: 24 P: 25 26 27 (. . .) 79 P: 80 A: 81 P:
381
im Objekt Das ist so LAUT (-) ja Mhm Und da würde ich Sie bitten (-) schicken Sie mal einen vorbei (-) also ich muss früh zur Arbeit Ja (-) das kann ich gut verstehen (1.0) Das kann ich gut verstehen (-) ähm Die Gaststätte heißt „Zum Krug“ (-) Wissen Se ja wo das is (-) oder? Ja (-) ja wissen wir (-) no Wissen Se was (-) ich schick eine Streifenwagenbesatzung vorbei (-) aber ich sag Ihnen gleich (-)dass wir da höchstwahrscheinlich nicht sehr viel machen KÖNNEN Na schön (-) jetzt fängt das schon wieder an (-) Sie können nichts machen Nein nein (-) das habe ich nicht gesagt (-) so gesagt (-) ich habe nicht gesagt wir können nichts machen (1.0) die Streifenwagenbesatzung wird sich dort mal mit dem Wirt unterhalten (-) wird dort mal ein zwei drei Worte reden (-) dass die mal ein bisschen ruhiger sind Verbleiben wir dann erst mal so? Ja alles klar (-) tschüss Tschüss
Denn erstens behandelt P92 den Fall bis Zeile 81 auf der Notrufleitung, obwohl spätestens in Zeile 08 klar ist, dass kein Notfall vorliegt. Was eine Abweichung vom Normalfall des Typs 2 bedeutet. Zweitens stellt sich P in Zeile 17 auf die Seite des Anrufenden, verlässt mithin ihre neutrale Position, ohne die Gegenseite gehört zu haben. Und drittens sagt P in Zeile 20 die Entsendung einer Streifenwagenbesatzung zu und gibt in gleichem Atemzug dem Anrufer zu verstehen, dass die Polizei in diesem Fall „höchstwahrscheinlich nicht sehr viel machen“ kann. Damit läuft P Gefahr, dass der Anrufer mit dieser Aussage nicht zufrieden ist, was denn auch tatsächlich der Fall ist, bis schließlich P versichert, dass sich die Streifenwagenbesatzung „dort mal mit dem Wirt unterhalten“ wird.
92 Auch hier war P eine Praxisaufsteigerin, die über eine mehrjährige polizeiliche Berufserfahrung verfügte.
F. Wirksamkeit der Methode 1. Vorbemerkung Wie bereits in der Einleitung ausgeführt, ging ich in der soziologischen Ausbildung der Polizeibeamten von der Prämisse aus, dass eine fallbezogene, fallorientierte Ausbildung wirksamer für ihre spätere Berufspraxis sei als eine sozialwissenschaftliche Indoktrination oder eine für die Polizeiarbeit stilisierte Curricularisierung des sozialwissenschaftlichen Beitrages. Entsprechend versuchte ich, die Studierenden nach einer grundlegenden Einführung in die Methode der Sequenzanalyse Fälle aus dem Berufsalltag analysieren zu lassen, um sie durch diese fallexemplarische Vorgehensweise für ihr späteres Berufsfeld zu sensibilisieren.1 Nachfolgend werde ich zunächst aufzuzeigen versuchen, inwieweit durch das „interpretativ-fallanalytische Vorgehen“2 in der Ausbildung eine Sensibilisierung für die falldiagnostisch und interventionspraktisch höchst verantwortungsvolle Aufgabe der Notrufbehandlung3 gelang.
2. Methodische Sensibilisierung für die Berufspraxis Die Wahl des Polizeinotrufs als Gegenstand der Ausbildung stieß zu Beginn keineswegs auf das ungeteilte Interesse der Studierenden, ja „der Auftrag, eine Notrufanalyse zu erstellen, (wurde) zuerst belächelt“. Dieses Denken veränderte sich erst mit der Rekonstruktion des Fallmaterials. So fand 1
Vgl. hierzu Oevermann (2000 b), S. 75. Ohlhaver/Wernet (1999), S. 19. 3 Auch wenn für diese „außerordentlich komplexe, vielfältige und wenig standardisierbare“ [Oevermann (2000 b), S. 63] Aufgabe gilt, was für viele Bereiche in der Dienstleistungsbürokratie gilt: dass der formale Status und „die faktisch materiale abgeforderte Problemlösungskompetenz“ (ebd.) in einem strukturellen Widerspruch zueinander stehen. Wie Oevermann weiter schreibt: „Ein Wach- und Streifenpolizist muss außerordentlich komplexe, vielfältige und wenig standardisierbare Krisenbewältigung permanent betreiben, von deren Erfolg außerordentlich viel abhängt, während der in der formalen Organisation der Polizeiorganisation Höherrangige es weitgehend nur noch mit eher eindimensionaler formaler Rationalität von Verwaltungsabläufen zu tun hat.“ Ebd. Diese „fehlende Strukturkorrelation von Status und Qualifikation“ (ebd.) wird von Polizeiführern selten reflektiert und wurde auch soziologisch bisher kaum beachtet. Vgl. aber immerhin Oevermann u. a. (1994), oder Ley (1997). 2
2. Methodische Sensibilisierung für die Berufspraxis
383
ich in verschiedenen Gruppenarbeiten Formulierungen, die indizierten, dass die Studierenden durch die Materialanalysen und -vertextungen4 entweder einen ersten Blick für die Komplexität und Vielfältigkeit der am Notruf zu behandelnden Fälle bekommen hatten – „Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Bearbeitung bzw. die Auseinandersetzung mit den Notrufen einen Einblick verschaffen hat, wie vielschichtig und unterschiedlicher Art Notrufe sind, welche bei der Polizei durch die Bürger eingehen.“
– oder aber sich ihr Blick auf die Notrufpraxis, und hier insbesondere die Aufgabe des Polizeibeamten, verändert hatte: „Während der Bearbeitungszeit ging in uns ein Gedankenwandel vor sich, im Gegensatz zur Vergangenheit, in der wir den Beamten am Notruftelefon eher als fünftes Rad am Wagen betrachteten, sehen wir ihn und seine Aufgabe nun in einem völlig anderen Licht. Uns wurde deutlich, daß seine Aufgabe nicht nur für die Informationsaufnahme und -weiterleitung an die eingesetzten Kräfte und somit unmittelbar für die polizeiliche Aufgabenbewältigung von maßgeblicher Bedeutung ist, sondern er durch sein Handeln und Tun auch das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit prägt.“
Zudem stellte ich fest, dass die sequenzanalytische Auseinandersetzung mit dem Material zu einer Reflexion über die Frage führte, wie man sich selbst am Notruf verhalten sollte – „Ich glaub nicht, dass mir noch mal so etwas passieren würde. Ich hab vorhin schon so bei mir gedacht, okay, das kannst du dir annehmen, dass du in Zukunft, halt wenn du am Notruf sitzt, anders agierst.“5,
– und es zu einer berufspraktisch wertvollen Reflexion über „Rollenverantwortlichkeit“6 oder „der Fähigkeit, sich verantwortungsvoll gegenüber jenen Leuten zu verhalten“,7 mit denen man „durch seine Arbeit in Berührung 4 Von habitustransformierender Bedeutung war hier die studentische (eigene) Verschriftung des Notrufmaterials und der Gruppendiskussion: „Durch die intensive Verschriftung jedes Details und der anschließenden Diskussion wurde uns deutlich, wie wichtig es ist, sich am Notruftelefon konkret und situationsangemessen zu verhalten.“ Zitat aus einer Seminararbeit. Oder wie eine andere Gruppe schrieb: „Im Nachhinein, bei der Verschriftung [der Diskussion, T. L.], waren wir oft über unser Deutsch erstaunt, speziell über die Wortwahl, den Einsatz von Floskeln und die Satzbildung. Doch dadurch konnten wir den oft nicht perfekten Ausdruck sowie die Schwere der Gesprächsführung der Polizeibeamten am Notruf besser nachvollziehen, denn auch sie müssen spontan unvorbereitet auf die Aussagen und Argumente der Anrufer reagieren.“ 5 Ein Seiteneinsteiger nach der Analyse von Fall 14 (Herr Schlecht), wo der Anrufer vom Polizeibeamten am Notruf äußerst unfreundlich abgewiesen angewiesen wurde, aber dennoch noch zweimal anrief, weil er sich in seinem psychotischen Zustand nicht anders zu helfen wusste. 6 Parsons (1997), S. 162. 7 Ebd.
384
F. Wirksamkeit der Methode
kommt“,8 kam, wobei aus den Formulierungen der Studierenden die Erkenntnis abzulesen war, dass sie in ihrer späteren Berufspraxis zum einen selbst gefordert sind, angemessen zu handeln, und zum anderen die Aufgabe haben, als Multiplikatoren des im Soziologieunterricht Gelernten darauf hinzuwirken, dass ihre Kollegen nicht fehlerhaft handeln. „In Zukunft wird es auch an uns liegen, solche Fehler zu vermeiden und dafür zu sorgen, daß sie auch in unserem Umfeld, sprich unserer Dienstgruppe nicht mehr auftreten.“ „Unsere Aufgabe wird zukünftig in der Praxis darin liegen wesentlichen Einfluß darauf [auf eine Vermeidung gravierender Fehler und unangemessene Kommunikation, T. L.] zu nehmen und eventuell als Multiplikator in dieser Richtung zu agieren.“ „Wie wir aus eigener Erfahrung nach dieser Arbeit sagen können, muß den Beamten in der Einsatzzentrale die Möglichkeit gegeben werden, einmal selbst lesen zu können, wie sie im Notrufgespräch reagiert bzw. agiert haben.“
Kurzum: Die Materialanalysen wurden von den Studierenden als sehr aufschlussreich für ihre spätere Berufspraxis erlebt („sehr praxisnah“) und brachten mir von ihrer Seite positive Kritik ein, wofür exemplarisch nachfolgender Ausschnitt aus einer transkribierten Fallanalyse stehen soll:9 „2: Also ich muß wirklich ma’ den Herrn Ley lob’n, daß so was überhaupt gemacht wird. Also das in unserer Schule so was überhaupt gemacht wird, das wir erstma’ ’n Einblick bekomm’n, uns überhaupt erstma’ Gedank’n mach’n könn’n, wie was falsch gemacht wird am Notruf (. . .) is’n Fortschritt für die Polizei, dass wir so was behandeln und darüber diskutier’n, welche Fehler wurd’n gemacht und die dann eventuell in der Zukunft abstell’n oder gar nich erst einschleich’n lassen 1: Genau, bei uns werd’n jetzt ja Grundsteine gelegt. (. . .) 4: (. . .) auch wichtig und interessant, daß halt dieses Thema in unserem Unterrichtsbereich auch eingeführt wird, daß wir einfach ma’ drüber diskutieren und neue Lösungsvorschläge sammeln, und ich mein, das hört sich jetzt ein bißch’n hochtrabend an, aber wir sind wirklich zukünftige Polizeiführungskräfte und wir könn’n nur draus lernen, daß wirklich in unserem weiteren Bereich, wo wir später arbeiten werden, natürlich eh zusamm’n mit unseren Erfahrungen, daß wir auch so was durchsetz’n und weitergeb’n, daß auch was gelernt werden kann. Und das kann eigentlich nichts Schlechtes werd’n 2: Nochmal, das man halt wirklich diesen Vorschlag macht, wirklich Seminare für Polizeibeamte einführt: Wie verhalte ich mich am Notruf? Das ist ganz, ganz wichtig 4: Un’ das is’n wichtiges Kriterium für die Polizei.“10
8
Ebd. Die ich hier bezogen auf Orthographie, Syntax und Interpunktion unverändert wiedergebe. 9
2. Methodische Sensibilisierung für die Berufspraxis
385
Dagegen war die Aufgeschlossenheit für Rollenspiele von Beginn an gegeben,11 und die Studenten fanden die dann im Hauptstudium durchgeführten Trainings,12 wie mir die Rückmeldungen zeigten, durchweg instruktiv, wobei ihren Formulierungen zu entnehmen war, dass sich ihr Blick bezüglich der Bedeutung der Notrufinstitution im Allgemeinen und der Komplexität der Aufgabe des den Notruf entgegennehmenden Beamten im Besonderen, der sich durch die Materialanalysen bereits ansatzweise herausbildete, durch die praktische Erfahrung am Fall verfestigt hatte:13 „Is gut, daß wir so was üben können, wenn wir in der Praxis sind, ist es zu spät.“ (Seiteneinsteigerin) „Ich fand das Training sehr lehrreich, da Übungen, die man selber durchführt, viel einprägsamer und wirkungsvoller sind als solche, die man nur miterlebt. Außerdem hat das Training zusammen mit den Kollegen viel Spaß gemacht.“ (Seiteneinsteiger) „Entgegennahme von Notrufen hat sich als komplizierter + komplexer herausgestellt, als ich annahm. Besonders auf der sozialen Ebene (Umgang mit Anrufer) ergaben sich für mich neue Gesichtspunkte. Dies beziehe ich hauptsächlich auf die Problematik der Gesprächführung, -lenkung u. - kontrolle eines Notrufgespräches durch den Pb.“ (Seiteneinsteiger) „Das Notruftraining finde ich sehr sinnvoll und effektiv, da man für diese Situationen sensibilisiert wird und die Schwierigkeiten erkennen kann, die bei der Notrufentgegennahme entstehen. Der Notruf ist Ausgangspunkt für polizeiliches Einschreiten. Daher ist die richtige Informationsgewinnung und -auswertung wichtig. Das Training vermittelt die Fähigkeit, Aussagen richtig zu deuten und dementsprechend zu handeln (! richtige Gesprächsführung)“. (1 1 / 2 Jahre S und 1 1 / 2 Jahre K14) „Ich fand vor allem das Notrufrollenspiel sehr lehrreich, bei dem man als entgegennehmender Polizeibeamter die Streßsituation erahnen konnte und in der Kürze der Zeit Entscheidungen treffen mußte.“ (1 1 / 2 Jahre bei S und 1 1 / 2 Jahre bei K) „Mir ist die Notwendigkeit der Schwierigkeit der Notrufentgegennahme bewußt geworden. Ich bin deshalb der Meinung, daß man für diese Aufgabe besonders in 10 Bei den Studierenden 1, 2 und 4 handelt es sich um Seiteneinsteiger, die Fall 14 (Herr Schlecht) sehr gut rezipierten. Ich zitiere aus ihrer Seminararbeit. 11 So fand ich in mehreren Seminararbeiten den mehr oder weniger deutlich formulierten Wunsch nach einem „Training des Telefonverhaltens der Polizeibeamten“ bzw. „Trainings- und Schulungsmaßnahmen in Form von Rollenspielen mit authentischem Charakter/Fallsimulationen“ (Zitate aus zwei Seminararbeiten). 12 Bei deren Vorbereitung mir eine ganze Reihe von Studierenden halfen, was nicht zuletzt dadurch motiviert war, dass sie sich einen handlungsorientierten Unterricht wünschten, und diese Handlungsorientierung in anderen Fächern kaum gegeben war. 13 Damit ist zwar noch nicht gesichert, dass es sich hier um eine dauerhafte Habitusänderung handelt, wie Loer [(2000), S. 340] angemerkt hat, doch eine Grundlage ist gelegt. 14 S und K sind Kürzel für Schutz- bzw. Kriminalpolizei.
386
F. Wirksamkeit der Methode
der Gesprächsführung geschulte Polizeibeamte einsetzen sollte. Der Notruf stellt auch ein Bindeglied zum Bürger dar und ist mitentscheidend für das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit. Versäumnisse bei der Notrufentgegennahme führen zu Mißverständnissen und möglicherweise zu ungeeigneten polizeilichen Maßnahmen.“ (1 1 / 2 Jahre bei S und 1 1 / 2 Jahre bei K) „Denken und Einstellung hat sich dahingehend geändert, dass . . . sich über den Notrufbeamten und seine Tätigkeiten ein ganz anderes Bild ergeben hat und die Notrufproblematik als ein sehr tiefgreifendes und wichtiges Gebiet von mir jetzt aus einem ganz anderen Blickpunkt betrachtet wird. Besonders den Notrufentgegennehmenden sehe ich nicht mehr nur als ,Mann am Telefon‘, sondern als einen Menschen, der sehr umsichtig, erfahren und vielseitig sein muss, um diese wichtige Aufgabe zu übernehmen.“ (Seiteneinsteiger) „Mir wurde klar, wie wichtig dieser Posten ist. Erst überlegen, dann reden, nachdem ich zugehört habe. Es ist zwar wichtig, die Daten für den Neuigkeitsbogen zu erfragen, wichtiger ist jedoch, daß der Anrufer Gelegenheit erhält, sein Anliegen zusammenhängend vorzutragen.“ (8 Jahre S) „Es ist zwar wichtig, die Daten für den Neuigkeitsbogen zu erfragen, wichtiger ist jedoch, dass der Anrufer Gelegenheit erhält, sein Anliegen zusammenhängend vorzutragen.“ (8 Jahre S) „Probleme werden systematischer analysiert, Erweiterung des Blickfeldes im Hinblick auf Lösungsmöglichkeiten bei Problemen (Hypothesenbildung), bewußterer Gebrauch der Sprache, Sensibilisierung für soziologische Themen in der Polizei (Verhalten von Notruf-Polizeibeamten in der jeweiligen Situation, Notwendigkeit der Kommunikationsschulung innerhalb der Polizei).“ (3 Jahre K) „Mir war zuvor die Belastung des entgegennehmenden Beamten nicht so bewußt. Die Achtung ggü. diesem Beamten ist gestiegen und ich bin für eine umfangreiche, gezielte Schulung für die Notrufentgegennehmenden. Es müßte auch versucht werden, ein optimales Umfeld mit guten Arbeitsbedingungen für die Notrufbereiche zu schaffen.“ (6 Jahre K und 1 Jahr S) „Training ist unbedingt notwendig.“ (6 Jahre K) „Das hat was gebracht.“ (Seiteneinsteiger)
15
3. Berufliches Handeln I a) Vorbemerkung zum Fall Scheler Ich werde nun auf einen Fall zu sprechen kommen, an dem sich aufzeigen lässt, dass die methodische Einübung in die Sequenzanalyse das berufliche Handeln eines Studenten, ich nenne ihn Scheler,16 bestimmte; es han15 Die Daten wurden mittels dem bereits in Kapitel E. (Fußnote 13) erwähnten Rückmeldebogen erhoben. Die Zitate wurden lediglich um Interpunktionsfehler bereinigt.
3. Berufliches Handeln I
387
delt sich hierbei um das berufliche Handeln im Bereich der kriminalpolizeilichen Ermittlungstätigkeit. b) Der Fall Scheler17 Scheler war ein sehr leistungsorientierter Student, allerdings kein Streber im negativen Sinne, kein sich anbiedernder Mann, sondern jemand, der seine eigene Meinung hatte und diese auch deutlich machen konnte, ohne hierbei rhetorisch zu brillieren. Ein Mann mit guten Umgangsformen, sehr zuverlässig, äußerst selbstkontrolliert. Einmal sagte er mir, dass ihm das Fach Psychologie18 nicht liege, weil es sehr theoretisch sei und er nicht so recht wisse, was er konkret mit den psychologischen Begriffen und Modellen anfangen könne. Indes war Scheler von Beginn an sehr aufgeschlossen für die sequenzanalytische Untersuchung von Notrufen. So erzählte er mir einmal kurz nach Unterrichtsschluss, ich packte gerade meine Unterlagen zusammen, dass er am Rande einer Weihnachtsfeier der Dienstgruppe, bei der er im Sommer19 Notrufe erhoben habe, gefragt worden sei, wie er mit ihnen verfahren sei, woraufhin ich ihn bat, weil ich einen dringenden Termin hatte, mir einmal kurz schriftlich zu skizzieren, welche Fragen ihm die Kollegen gestellt hätten und was er ihnen gesagt habe. Wenige Tage später erhielt ich von Scheler folgende Darstellung: Im Sommer 1996 erhob ich bei einer Dienstgruppe der Pl [A]20 Notrufe. Am Rande einer Weihnachtsfeier mit dieser Dienstgruppe, wurde ich befragt, was ich denn nun genau mit den Notrufen gemacht habe. Ich erklärte nochmals Zweck, Verfahren und Aufbau der Arbeit zum Thema Notruf. Der Beamte der Einsatzzentrale sagte mir, daß er das Thema sehr interessant findet und er sich bis zu meiner Erhebung noch keine dahin gehenden Gedanken gemacht habe. Vielmehr stellte die Einrichtung Notruf für ihn bis dahin ein notwendiges Übel zur polizeilichen Aufgabenerfüllung dar. Diesbezüglich sprach er sich gleichzeitig über den Nachteil der Computererfassung von Notrufbenutzern aus. Dies sei besonders beim Verstehen der Notlage des Anrufers oft nachteilig.
16
Der Name wurde fiktiv gewählt. Jahrgang 1964, in A-Dorf/Südthüringen geboren, verheiratet, zwei Kinder. 18 In dem zunächst ein Lehrbeauftragter und später eine Dozentin aus meiner Fachgruppe unterrichtete. 19 Er spielte hier auf die Zeit im Grundstudium II an, in der die Studenten im Zusammenhang mit der Erstellung der Seminararbeit Notrufe erhoben. 20 Eine Polizeiinspektion in der Nähe von Schelers Wohnort. 17
388
F. Wirksamkeit der Methode
Den Dienstgruppenleiter sprach ich auf die zum Teil schlechte Tonqualität der Notrufbänder an. Er versicherte mir und davon konnte ich mich an Ort und Stelle überzeugen, daß er bzw. der Einsatzbeamte die Bänder regelmäßig wechselt und zumindest veranlaßt, daß die Technik (Telefone und Zubehör) in gepflegten Zustand sind. Diese Versicherung konnte er jedoch nur für seine Dienstgruppe geben. Für mich sind diese Aussagen sehr erfreulich, habe ich doch offensichtlich schon mit der Erhebung der Notrufe einen im Vergleich kleinen aber positiven Gedankenprozeß in dieser Dienstgruppe ausgelöst, nämlich sich gedanklich und technisch mit dem Notruf und der damit verbundenen Gesprächsführung zu beschäftigen. Wilhelm21 Scheler
Diese Darstellung zeigte mir, dass sich Scheler über den Unterricht hinaus mit dem Thema Notruf auseinander setzte, dass er sich selbständig eigene Gedanken zu diesem Thema machte und, was in seiner Darstellung deutlich zum Ausdruck kam, als Multiplikator meines Unterrichts gewirkt hatte. Und er war es auch, der mir nach Absolvieren des Führungspraktikums, ein halbes Jahr vor Abschluss der Ausbildung, einen schriftlichen Bericht über seine Erfahrungen gab, die er mit dem Einsatz der Sequenzanalyse in diesem Praktikum bei der Kriminalpolizei22 gemacht hatte. Erfahrungen mit Notrufen im Bereich der Strafverfolgung am konkreten Fall23 Im Führungspraktikum war ich u. a. dem Kommissariat 11 der KPI [X] zugeordnet. Auf Grund der Einsatzsituation wurde mir die Bearbeitung einer Serie von Bombendrohungen, welche sich in jedem Fall gegen eine Regelschule richteten, beauftragt. Die Ermittlungen ergaben, dass diese Drohungen jedesmal über Notruf 112 bei dem Diensthabenden der Rettungsleitstelle des Landkreises [X] getätigt wurden. Da diese Notrufe aufgezeichnet wurden, konnten sie als Beweismittel gesichert werden und standen mir zu meinen Ermittlungen zur Verfügung.
21 Der Vorname soll zum Ausdruck bringen, dass Scheler sehr preußisch wirkte, im Sinne von korrekt, zuverlässig, diszipliniert. Selbstredend, dass Scheler (der ja auch in Wirklichkeit nicht so hieß) in der Realität nicht den Vornamen Wilhelm hatte. 22 Dies war Schelers erster Praxisaufenthalt bei der Kriminalpolizei. Vor Aufnahme des Studiums war er bei der Schutzpolizei gewesen. Anzumerken ist, dass in Thüringen die Polizeiausbildung des gehobenen Dienstes nach dem so genannten Integrationsmodell durchgeführt wird. Entsprechend werden an der Fachhochschule Schutz- und Kriminalpolizisten einheitlich ausgebildet. Es gibt nur einen kleinen Unterschied im Abschlussstudium, denn hier haben die Studenten die Wahlmöglichkeit, sich entweder für einen Leistungsnachweis im Fach Kriminologie oder einen im Fach Verkehrslehre zu entscheiden. 23 Originalabschrift, die sich inhaltlich vom Original nur durch die von mir vorgenommen X-ungen unterscheidet.
3. Berufliches Handeln I
389
Die Aufzeichnungen sind größtenteils frei von Neben- und Hintergrundgeräuschen, also von guter Qualität. Nach mehrmaligen Anhören der insgesamt 4 Notrufe, die mir pro Notruf doppelt zur Verfügung standen, entschloss ich mich, die Notrufe zu verschriften. Da alle anderen Ermittlungen erfolglos verliefen, sah ich in der Analyse dieser Notrufe die einzige Möglichkeit um den Täter ermitteln und der Tat überführen.24 Erste Erkenntnisse brachte bereits das mehrfache Anhören. Hinsichtlich des gesprochenen Dialekts und der Phonetik des Täters konnte ich mit hoher Sicherheit sagen, dass er nicht aus dem Raum Südthüringen stammt. Jedoch musste sich der Täter zur Tatzeit im Lkr. [X] aufgehalten haben, da aus technischen Gründen diese Notrufnummer aus anderen Lkr. nicht anwählbar ist, bzw. bei der dortigen Leitstelle eingeht. Außerdem konnte ich feststellen, dass der Täter eine nach meiner Auffassung ungewöhnlich klare jugendliche Stimme hatte. Nach Rücksprache mit einem Kollegen und dem Diensthabenden der Rettungsleitstelle kamen wir weiterhin zu dem Schluss, dass der Täter auf Grund seiner langsamen Sprechweise und der ungewöhnlichen Melodik einzelner Wortsilben möglicherweise zum Tatzeitpunkt unter Alkohol oder anderer berauschender Mittel (Rauschmittel) gestanden haben könnte. Aus der durch mich und einen Kollegen durchgeführten Interpretation und der anschließenden Verlaufsskizze konnten wir folgende Thesen hinsichtlich weiterer Ermittlungen aufstellen: der Täter ist männlich. der Täter ist ca. 14–17 Jahre alt. der Täter stammt nicht aus Südthüringen, sondern möglicherweise aus dem Raum Sachsen-Anhalt/Berlin, hat sich aber zur Tatzeit hier aufgehalten. der Täter hat einen geringen Grad der Eloquenz. in Bezug auf die verwendete Grammatik, insbesondere hinsichtlich der syntaktischen Fehler i.V. m. der jugendlichen Stimme, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um einen Schüler bzw. ehemaligen Schüler dieser Schule handelt. Diese Tatsachen rechtfertigen weiterhin die Annahme, dass der Täter, wenn er aus dem Schulbereich kommt, Leistungsprobleme zumindest im Fach Deutsch haben dürfte. der Täter könnte aus der Drogenszene stammen. Diese auf Grundlage der Sequenzanalyse aufgestellten Hypothesen halfen bis dahin den Täterkreis erheblich einzuengen. Die anschließenden Befragungen von Lehrern und das dabei gleichzeitige Vorspielen der Tonträgeraufzeichnungen, führten auf Grund des Wiedererkennens der Stimme bei Lehrern auf die Spur des Täters. Der Abgleich der Zeugenaussagen, in denen der Täter hinsichtlich der aufgestellten Hypothesen beschrieben wurde, mit den Hypothesen ergab eine, bis auf den möglichen Drogenkonsum völlige Übereinstimmung. 24
Der Satz ist unvollständig. Es fehlen hier die Worte: „. . . zu können“ [T. L.].
390
F. Wirksamkeit der Methode
Bei der durchgeführten Beschuldigtenvernehmung machte der Täter jedoch keinerlei Angaben bezüglich der ihm vorgeworfenen Tat (Bombendrohung). Jedoch gestand er einen erheblichen Konsum verschiedener harter Drogen. Er gab an, dass er nach der Einnahme dieser Drogen öfters einen „black out“ hatte und die Möglichkeit besteht, dass er in diesem Zustand den Notruf 112 getätigt hat. Auf Grund der Stimme des Täters bei der Vernehmung und der Stimme auf dem Tonband, waren Gemeinsamkeiten in der Melodik des Dialekts und der Grammatik zu erkennen. In der Folge wurden Vergleichsaufnahmen vom Täter gemacht und an das LKA [X] mit dem Antrag auf kriminaltechnische Begutachtung geschickt. Ergebnis: a) In dieser Sache war die Aufstellung von Hypothesen auf Grundlage der Sequenzanalyse die einzige Möglichkeit den Täterkreis einzuengen, Indizien zu sammeln und den Täter zu ermitteln. b) Kriminalistisches und kriminaltaktisches Wissen und Erfahrungen konnten gezielt, auf Grund der Hypothesen eingesetzt werden. c) Durch die Notrufanalyse und die anschließend aufgestellten Hypothesen konnte der Ermittlungs- und Zeitaufwand bis zur Beschuldigtenvernehmung und der Abgabe der Akten an die StA erheblich verkürzt werden. d) Kollegen und Vorgesetzte im Kommissariat waren begeistert von der Sequenzanalyse und dem Beitrag den sie für Ermittlungen im Bereich Kriminalpolizei leisten kann.
Scheler hatte also im Praktikum das im Unterricht Gelernte dem Geiste nach richtig angewendet und nutzte die Methode, um aus einer Ermittlungskrise zu gelangen, indem er mittels der Methode den Täterkreis einengte und schließlich aus dem Unbekannten einen Bekannten25 machte. Ferner zeigte mir der Bericht, dass Scheler die Erfahrung machte, dass die Sequenzanalyse zu einem schnellen Ermittlungsergebnis führen kann, dass sie in der Praxis anwendbar ist und dass man hiermit Erfolg haben kann, was mit Sicherheit a) für seinen Status als Praktikant in der Dienstgruppe förderlich war, b) positiven Einfluss auf seine Praktikumsbeurteilung hatte, die zu zehn Prozent in die Gesamtnote des Staatsexamens einging und c) ihn in seiner Überzeugung weiter bekräftigt haben dürfte, dass die Methode der Sequenzanalyse nicht nur zur Analyse der kommunikativen Struktur von Polizeinotrufen anwendbar sei, wie ich dies mit den Studenten im Unterricht geübt hatte, sondern ebenso zum Zwecke kriminalistischer Ermittlung und Überführung von anonymen Bombendrohern. 25
Oevermann/Simm (1985), S. 136.
3. Berufliches Handeln I
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Etwa ein dreiviertel Jahr nach Ende des Studiums26 rief ich Scheler an, um ihn zu fragen, ob er bereit sei, noch einmal mit mir über seinen Erfahrungsbericht zu sprechen. Er sagte spontan zu, und so hatte ich noch am selben Tag Gelegenheit, ihm Fragen zu stellen, die mir bei der Analyse seines Erfahrungsberichts aufgekommen waren. Meine erste Frage bezog sich auf die von ihm in seinem Bericht erwähnte Verlaufsskizze, weil mich interessierte, wie er denn nun genau vorgegangen sei.27 Er erklärte mir daraufhin, dass er sämtliche Bombendrohungen, die real zwischen 12 bis 50 Sekunden dauerten, vertextet habe, um sie in einem nächsten Schritt miteinander vergleichen zu können. Dabei habe er die Texte u. a. daraufhin untersucht, ob die Gespräche einen vergleichbaren Aufbau hatten, wie die Drohungen in den einzelnen Fällen formuliert waren und welche Ausdrücke (dia- oder soziolektal) gebraucht wurden. Meine zweite Nachfrage bezog sich auf die Drogenhypothese, genauer: wie Scheler zur Drogenhypothese kam, worauf er mir sagte, dass er vom Drogenkonsum des Anrufers ausging, weil dieser zwar sehr langsam und laut lallend sprach, so wie alkoholisierte Menschen dies tun, andererseits aber klar formulierte, was gegen Alkoholkonsum sprach, so dass hier der Schluss nahe lag, Drogenkonsum hypothetisch in Erwägung zu ziehen. Meine dritte Nachfrage bezog sich auf den Einsatz der Methode und zielte dahin, was denn seine Vorgesetzten und Kollegen im Vorfeld des Einsatzes der Sequenzanalyse gesagt hätten, ob sie von Beginn an (wie er am Ende berichtet hatte) begeistert waren oder ob sie die Sache anfangs eher skeptisch betrachteten. Er sei zunächst belächelt worden, und man habe zu ihm gesagt: „Mensch Scheler, wenn Du falsch ermittelst, dann blamierst Du Dich schön“. Er sei jedoch von der Methode „überzeugt“ gewesen, er habe sich gesagt, „damit bekomme ich das heraus. Ich muss die Methode nur genau anwenden. Ich probier das aus und lass mich nicht irre machen“. Entscheidend war somit, wie man im Anschluss an Peirce formulieren kann, die Überzeugung von der Wirksamkeit der Methode, denn: „Die Überzeugung (. . .) versetzt uns in die Lage, uns auf bestimmte Art zu verhalten, wenn die Gelegenheit da ist.“28 26
Im Februar 1999. Scheler schrieb in der sozialwissenschaftlichen Staatsexamensklausur die Note befriedigend (8 Punkte). In der Sequenzanalyse, die 30 Prozent des Staatsexamens ausmachte, erreichte er 20 von 30 Rohpunkten; eine Teilleistung, die ebenfalls der Note befriedigend (10 Punkte) entsprach. Dass er nicht noch besser abschnitt, hing entscheidend damit zusammen, dass er einige Textstellen des Prüfungsfalles zu wenig explizit auslegte. Dennoch lag er mit dieser Leistung im vorderen Drittel der Examensabsolventen. 27
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F. Wirksamkeit der Methode
Diese Gelegenheit im Peirce’schen Sinne war im vorliegenden Fall die aktuelle Ermittlungskrise, während die Überzeugung aus der Unterrichtserfahrung resultierte und zur Anwendung der Methode führte, mithin also die Überzeugung die Form der Bearbeitung der Ermittlungskrise vorstrukturierte. Schematisch kann man diesen Zusammenhang zwischen Erfahrung, Überzeugung und Anwendung der Methode wie folgt darstellen: I.
Erfahrung bei der Fallanalyse in der Schulung: man bekommt (auch wenn man die Analyse zunächst als krisenhaftes Unterfangen betrachtet) damit etwas heraus
+ II. Überzeugung: bringt mich in aktueller Ermittlungskrise weiter
+ III. Anwendung der Methode
+ IV. Erfolg: Erfahrung, dass man etwas herausbekommt
+ V.
Überzeugung: bringt mich in aktueller Ermittlungskrise weiter
+ VI. Danach wiederum III – dann IV. – dann V. – dann III. – usw.
In diesem Zusammenhang erzählte Scheler weiter, dass er vor Eintritt in die Polizei im Jahre 1991 elf Jahre lang als Werkzeugmacher gearbeitet habe. Hier sei es auch darauf angekommen, möglichst präzise zu arbeiten, Formen auszuschneiden, Passungen herzustellen – Millimeterarbeit: „Entweder es passt oder es passt nicht, en bisschen schwanger gibt’s nicht.“ Es war wohl diese konkrete Orientierung am Material, die notwendige Präzision bei der Arbeit, die eine Affinität hatte zu den konkreten Materialanalysen, die wir im Unterricht durchführten. Eine Affinität, die zusammen mit Schelers Überzeugung, dass die Methode nicht falsch sein könne, dass sie zu sinnvollen Ergebnissen führen müsse, wenn man sie nur präzise anwende, und mit seiner konsequenten Haltung, das zu tun, wovon er aufgrund eigener Erfahrung überzeugt war, ohne sich von Zweiflern oder Kritikern irritieren zu lassen, zu ihrem Einsatz in der Praxis führte. Im Gespräch interessierte mich nun, woher diese Haltung kam. Deshalb sagte ich Scheler, dass mir bereits im Studium diese konsequente Haltung aufgefallen sei, und fragte ihn, ob er diesem Eindruck zustimme und wenn ja, wie er sich diese Haltung erkläre. 28
Peirce (1992), S. 69.
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Daraufhin erzählte er mir zunächst von seinem Vater. Dieser, Jahrgang 1939, mit seinen Eltern29 zwangsweise aus dem Sudetenland nach Thüringen übersiedelt worden, von Beruf Werkzeugmacher, sei ein sehr konsequenter Mann gewesen, jemand, der dann, wenn er eine Entscheidung getroffen habe, sich nicht mehr von ihr habe abbringen lassen. So beispielsweise in dem Fall, als er auf seinem Grundstück, an dem ein Feldweg entlang lief, zu bauen beabsichtigte. Da sein Vater gewusst habe, dass dieser Weg später zu einer Straße ausgebaut werden sollte, und er berechnete, dass die Straße dann einen halben Meter höher liege als der Feldweg, habe er sich entschieden, das Haus vorbeugend einen halben Meter höher zu bauen, um auf jeden Fall zu vermeiden, dass es nach dem Straßenbau tiefer liege als die Straße. Zu diesem Zweck habe er sich Erde besorgt und das Grundstück damit um einen halben Meter erhöht. Die Dorfbewohner hätten seinen Vater, als er ihnen von seinem Vorhaben erzählte, ausgelacht, hätten sich darüber amüsiert, dass er das Haus einen halben Meter höher bauen wollte, und hätten sein Haus spöttisch ein „Hühnerhaus“ genannt, was aber seinen Vater, und ein gewisser Stolz schwang in seiner Stimme mit, nicht an der Entscheidung habe zweifeln lassen. Er sei, wie in vielen anderen Fällen auch, konsequent seinen Weg gegangen, habe sich „nicht irre machen lassen“ und habe mit seiner Entscheidung auch Recht behalten, denn die Straße sei gebaut worden, die Berechnungen seines Vaters hätten gestimmt. Auch seine Mutter, wie sein Vater, mit ihren Eltern30 aus dem Sudetenland stammend, Jahrgang 1939, sei eine sehr konsequente Frau gewesen. Eine staatlich examinierte Kindergartenleiterin, eine gebildete Frau, die genau wie sein Vater nicht in der SED gewesen sei, weswegen man ihr mehrere Steine in den Weg geworfen habe. So sei sie des Öfteren zum Kreisschulrat bestellt worden, und man habe sie danach mehrmals in Gegenden versetzt, wohin die Verkehrsanbindung sehr ungünstig gewesen sei. Nachdem Scheler mir dies erzählt hatte, begriff ich, wie seine konsequente Haltung zu erklären war. Sie hing eng mit seiner Familiengeschichte 29 An diese konnte sich Scheler nur vage erinnern. Zu seiner Erinnerung gehörte, dass sein Großvater relativ lang in Kriegsgefangenschaft gewesen war, während die Großmutter und sein Vater bereits in Thüringen als Erntehelfer in der Landwirtschaft arbeiteten. Sein Vater habe dann wie dessen Vater (nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft) einen Beruf im metallverarbeitenden Bereich ausgeübt. 30 Hier war Schelers Erinnerung wesentlich besser. So erzählte er, dass sein Großvater Portier in einem renommierten Karlsbader Hotel gewesen sei und mehrere Sprachen fließend in Wort und Schrift beherrschte, während seine Großmutter, aus der Landwirtschaft stammend, Hausfrau gewesen sei, die aufgrund der Stellung ihres Mannes nicht habe arbeiten müssen. Nach dem zweiten Weltkrieg seien die Großeltern zunächst als Erntehelfer in Thüringen eingesetzt worden, erwarben später jedoch ein Stück Land und konnten ihre eigene Fläche bewirtschaften.
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zusammen, mit der Geschichte seiner Eltern und Großeltern, die sich, nach dem zweiten Weltkrieg aus dem Sudetenland nach Thüringen zwangsweise umgesiedelt, hier eine neue Existenz aufbauen mussten und dies auch schafften, ohne sich konformistisch zu verhalten, was insbesondere an der Mutter deutlich wurde, die trotz Schikanen nicht in die Partei eintrat. Diese nonkonformistische Haltung, gepaart mit seiner Leistungsorientierung und seinem Sinn für das Konkrete, der ihn für die Methode der Sequenzanalyse aufgeschlossen machte, war kennzeichnend für seinen Habitus. Und diese nonkonformistische Haltung war auch entscheidend dafür verantwortlich, dass er selbst in der Situation, als seine Kollegen ihn belächelten und vor einer Blamage warnten, unbeirrbar die Methode, von deren Leistungsfähigkeit er überzeugt war, einsetzte – und hiermit erfolgreich war.
4. Berufliches Handeln II a) Vorbemerkung zur Einführung der Sequenzanalyse in die Thüringer Verhandlungsgruppe Abschließend werde ich von Erfahrungen berichten, die ich bei der Durchsetzung der Methode in der Thüringer Verhandlungsgruppe machte, welche Schwierigkeiten hier zu überwinden waren und welche Rolle bei der Durchsetzung der Methode in diesem polizeilichen Handlungsfeld die von mir sequenzanalytisch ausgebildeten ehemaligen Fachhochschulstudenten hatten.31 b) Einführung der Sequenzanalyse in die Thüringer Verhandlungsgruppe Den Anlass dazu, die Methode der Sequenzanalyse in die Fortbildung der Thüringer Verhandlungsgruppe32 umzusetzen, war ein Gespräch mit dem Leiter der Verhandlungsgruppe,33 der mir nach dem Besuch einer Tagung von der Bedeutung der „Kriminalistisch-kriminologische(n) Fallanalyse 31 Im Unterschied zu Abrami [(1990), S. 221, zit. n. Kromrey (1996), 154], der nach Auswertung von Forschungsbefunden zum Ergebnis kam: „Instructors may have genuinely small effects on what students learn“, machte ich eher die Erfahrung, dass man mir folgte auf meinem Weg. Vgl. hierzu die von Schröter [(1997), S. 204] zitierte Merleau-Ponty-Textstelle. 32 Es handelt sich hier um eine Spezialeinheit, die in Fällen schwerer Gewaltkriminalität (Geiselnahmen, Entführungen, Erpressungen, sonstige besondere Bedrohungs- oder Konfliktlagen) zum Einsatz kommt. Zur Zusammensetzung und Funktionsweise einer Verhandlungsgruppe Salewski/Schäfer (1979), S. 284 ff.
4. Berufliches Handeln II
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(KKF)“ berichtete. Eine Auswertungsmethode, die vom BKA entwickelt worden sei34 und die sich auch für den Einsatz in der Verhandlungsgruppenarbeit anbiete. Woraufhin ich ihm zu verstehen gab, dass ich bereits seit drei Jahren mit der Sequenzanalyse eine Methode vermittle, welche die methodische Basis der KKF darstelle. Kurz und gut: Ich bot ihm an, diese in einem Seminar vorzustellen, sodass es nicht erforderlich sei, dass die Gruppe zu einer Schulungsmaßnahme zum BKA reisen müsse oder aber Vertreter des BKA nach Thüringen kommen müssten. Diesem Vorschlag stimmte der Verhandlungsgruppenleiter zu. Die Vorstellung der Methode begann mit der exemplarischen Analyse des Falles, eines Täterschreibens. Entsprechend der vorher abgesprochen Zielvereinbarung, den Verhandlungsgruppenteilnehmern die Anwendung der Methode am Fall zu erklären, ging ich bei der Analyse gezielt langsam vor. Nachdem ich nach zwei Stunden den Text bis etwa zur Hälfte analysiert hatte, unterbrach mich der Verhandlungsgruppenleiter und erklärte, dass ihm dies alles zu langsam gehe. Mit der Checkliste35 sei schneller gearbeitet worden, womit er im Grunde genommen zu verstehen gab, dass er die Methode zur Analyse für nicht geeignet hielt. Die Analyse habe ihm gezeigt, dass das Vorgehen zu zeitaufwendig sei. Es bestehe offensichtlich ein Unterschied zwischen Wissenschaft und Praxis. „Was tun“, so seine dramatisierende Frage, „wenn 5 Schreiben zu bewerten sind?“. An dieser Stelle kam es zu einer von mir in dieser Form nicht erwarteten Reaktion. Denn nunmehr bezogen drei der acht Gruppenteilnehmer, ehemalige Studenten, die ich während des Studiums mit der Methode bekannt gemacht hatte, explizit Position für das schrittweise, sequentielle Analysieren des Textes. Sie hätten mit der Methode der Sequenzanalyse Erfolg gehabt, also „etwas rausgekriegt“, und die Methode erscheine ihnen daher durchaus sinnvoll. Auch sei nicht zu unterschätzen, dass sie auf die mögliche Frage des Polizeiführers, wie sie denn zu einem Ergebnis gekommen seien, antworten könnten, dass es sich hier um ein wissenschaftlich erprobtes, bereits im Polizeibereich angewandtes Verfahren handle,36 während der Hinweis auf die Wissenschaftlichkeit im anderen Fall nicht möglich sei.37 Das Ergebnis dieser Intervention war, dass der Verhandlungsgruppenleiter mich bat, die Ana33 Den ich zu diesem Zeitpunkt, im Frühjahr 1998, schon fünf Jahre kannte. Er war vor seiner Tätigkeit in der Verhandlungsgruppe Mitglied des Spezialeinsatzkommandos (SEK), einer aktionszentrierten Polizeieinheit, die seinen Habitus geprägt hatte. 34 s. hierzu Vick (1996) und ders. (1998). 35 Die von ihm erstellt wurde und mit der bis dato Täterschreiben ausgewertet wurden. Weil es sich hier um eine polizeiliche Arbeitsunterlage handelt, die den Status einer Verschlusssache hat, kann ich diese leider nicht publizieren. 36 Sie spielten hier auf die BKA-Studien von Oevermann/Simm und Oevermann u. a. aus den Jahren 1985 und 1994 an.
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lyse zu beenden, was ich dann auch tat. Hieran schloss sich – wie vorgesehen – eine Gruppenübung an, in der die Gruppe die Methode an einem aufgeklärten Echtfall, einem Drohschreiben,38 dessen Autor polizeilich bereits ermittelt worden war,39 ausprobieren sollte. Die Übung ging – wie vorgesehen – über einen Zeitraum von 3 Stunden. Das Ergebnis der Analyse stimmte fast vollständig mit dem tatsächlichen Ermittlungsergebnis überein. Was den Verhandlungsgruppenleiter zu der Aussage bewog: „Dies hat mich überzeugt, dass man doch damit arbeiten kann.“ Wobei ihm seine vorher eher ablehnende Haltung die Kritik der Gruppe eintrug, die meinte, er habe sich „aufgeführt“ wie „ein alter Hauptmeister.“ Nach dem Seminar bot ich dem Leiter der Verhandlungsgruppe an, im Rahmen der im Abschlussstudium stattfindenden Projektarbeitwoche zusammen mit einigen Studenten, die sich bereits zuvor im Unterricht für die Anwendung der Methode im kriminalistischen Handlungsbereich interessierten, die Methode zur Bewertung von Täterschreiben am konkreten Fall anzuwenden, Erfahrungen bei der Analyse zu dokumentieren und diese der Verhandlungsgruppe in einem nachfolgenden Seminar vorzustellen. Ein Vorschlag, der auf das Interesse des Verhandlungsgruppenleiters stieß, der dann der Projektgruppe einen authentischen Fall zur Verfügung stellte, welcher durch die Verhandlungsgruppe eines anderen LKA bearbeitet worden war.40 Wie die studentische Analyse zeigte, kam es auch hier zu einer fast vollständigen Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Ermittlungsergebnis. Wie vereinbart stellte dann die Projektgruppe41 die Ergebnisse und die bei der Analyse gemachten Erfahrungen auf dem nächsten Seminar vor. Zudem unterstützte sie mich bei der im Anschluss daran durchgeführten 37
Wenngleich natürlich nach wie vor gültig bleibt, dass es in der Ausbildung von Polizeibeamten keinen Sinn ergeben würde, „einer inadäquaten Szientifizierung der Berufspraxis Vorschub“ [Ohlhaver/Wernet (1999), S. 15] zu leisten, kann man am studentischen Argument ablesen, dass es für die Bewährung in der Praxis insbesondere gegenüber hierarchisch Vorgesetzten, die aufgrund ihrer formalen Ausbildung teilweise über nicht unerhebliches „Buchwissen“ verfügen, durchaus nützlich sein kann, auf Wissenschaft verweisen zu können. Hier vor der Gefährlichkeit von „Halbbildung“ [vgl. Adorno (1997 h) und (i)] zu warnen, würde der Sache nicht gerecht. 38 s. hierzu Anhang XI. 39 Und dessen Ermittlungsergebnis nur der Verhandlungsgruppenleiter kannte. 40 Wobei nur ihm das Ermittlungsergebnis bekannt war, während die Gruppe nur die Fallmaterialien zur Verfügung hatte, die auch damals der Auswertegruppe des anderen LKA vorlagen. 41 Alle drei waren gute Schüler. Zwei sind heute in der Praxis sehr gute Kriminalisten, einer ein anerkannter Schutzpolizist. Zusammen mit zwei weiteren Studenten schrieben sie eine sehr instruktive Projektarbeit zum Thema: „Die Methode der Sequenzanalyse zur Bewertung von Erpresserschreiben. Eine Untersuchung der Anwendbarkeit am praktischen Fall.“ Bräutigam u. a. (1999).
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Gruppenübung, bei der insgesamt drei Kleingruppen gebildet wurden, die Fallmaterial erhielten, das sie innerhalb eines Zeitraumes von zwei Stunden analysieren sollten. Wobei das Feedback insgesamt positiv war: „systematisches Vorgehen“, „weniger Informationsverlust als mit der Checkliste“ „Analyse genauer“, „es geht nicht so viel unter“ „als angenehm empfunden“.
Vereinzelte kritische Stimmen bezogen sich zum einen auf die zeitliche Intensität der Analyse („zeitraubend“), zum anderen auf Probleme bei der Protokollierung der Ergebnisse. Doch insgesamt überwog „das Positive“, sodass ich nach dem Seminar davon ausging, beim nächsten Seminar problemlos mit der Einübung in die Methode fortfahren zu können. Hierbei unterschätzte ich allerdings, dass der Verhandlungsgruppenleiter nach dem Seminar offenbar davon ausging, dass die Methode bereits „sitze“ und die Gruppe daher in der Lage sei, sie auch unter extremem Handlungsdruck anzuwenden.42 Dies war jedoch nicht der Fall, wie sich bei der etwa ein halbes Jahr später angesetzten Praxisübung zeigte,43 in welcher Probleme bei der Anwendung der Methode auftraten, die im Grunde genommen dadurch zustande kamen, dass der Polizeiführer von der Verhandlungsgruppe innerhalb einer für die Auswertung von Tatschreiben ungewöhnlich kurzen Zeit von einer halben Stunde eine möglichst präzise Täterschreibenbewertung im Sinne einer Gefährdungsprognose forderte. Womit er eine Leistung verlangte, die ich mit der Gruppe noch nicht geübt hatte. So war denn auch 42 Es ist nicht auszuschließen, dass der Verhandlungsgruppenleiter damit die Methode der Sequenzanalyse – unbewusst – als nicht praxistauglich diskreditieren wollte, um durch die Hintertür wieder die Checkliste ins Spiel zu bringen. Dagegen spricht allerdings, und dies halte ich für ein sehr gewichtiges Argument, dass bei einem objektiven Versagen der Gruppe auch für ihn viel Prestige auf dem Spiel stand. Denn das Versagen der Gruppe wäre auch ihm zugerechnet worden, was er als alter Praktiker genau wusste. Für wahrscheinlicher halte ich daher, dass er bei der Drehbucherstellung nicht bedachte, dass die Analyse unter diesen Bedingungen noch nicht trainiert worden war und dass der Gruppe die hierzu notwendige Erfahrung fehlte, die man einfach nach acht bis zehn Stunden Sequenzanalyse noch nicht erwarten konnte, zumal noch erschwerend hinzukam, dass bei der Praxisübung einige Verhandlungsgruppenmitglieder dabei waren, die an den beiden Einführungen in die Methode nicht teilgenommen hatten. Es gab mithin Fluktuations- bzw. Kontinuitätsprobleme, die daraus resultierten, dass es sich hier nicht um eine Hauptamtlergruppe handelte. Die Mitglieder in der Verhandlungsgruppe waren allesamt Polizeibeamte, die ansonsten ,normalen‘ Polizeidienst leisteten, sodass sie je nach Arbeitsanfall in ihrer Praxis an den Schulungen der Verhandlungsgruppe nicht teilnehmen konnten. 43 An der ich aus beruflichen Gründen nicht teilnehmen und daher auch nicht unterstützend wirken konnte.
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wenig verwunderlich, dass die Gruppe unter dem bestehenden Handlungsdruck, nach etwa der Hälfte der Zeit, als sie bemerkte, dass sie nicht schnell genug vorwärts kam, zum wilden Interpretieren überging, um innerhalb des vom Polizeiführer gesetzten Zeitraums vom 45 Minuten „überhaupt ein Ergebnis vorweisen zu können“. Woraufhin ich vom Verhandlungsgruppenleiter das Feedback erhielt, dass die Gruppe bei der Analyse des Täterschreibens große Problem gehabt habe, weil – wie er sagte – die „Methode“ nicht „zur Dynamik der Lage“ gepasst habe. Er bat mich deshalb, noch einmal den Versuch zu unternehmen,44 die Methode hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit vorzustellen. Was ich denn auch beim nächsten Seminar unternahm. Zu diesem Zweck wählte ich folgendes Vorgehen: Zunächst begann ich mit Ausführungen zur Methode der Sequenzanalyse, wobei ich insbesondere auf die bei der Analyse zu beachtenden Prinzipien der Sequentialität, Totalität und Wörtlichkeit einging, die ich den Seminarteilnehmern dann auch in Form eines Merkzettels an die Hand gab. Das Prinzip der Sequentialität Man soll dem Text Schritt für Schritt folgen und nicht auf der Suche nach brauchbaren Textstellen durch den Text wandern. Für die Sequenzanalyse ist es ausgesprochen wichtig, den Text, der einer zu interpretierenden Sequenzstelle folgt, nicht zu beachten. Das Prinzip der Totalität Welcher Text auch immer analysiert wird – für den zur Sequenzanalyse ausgewählten Textabschnitt gilt grundsätzlich, dass darin alles in die Sequenzanalyse einbezogen und als sinnlogisch motiviert bestimmt werden muss. Es darf nichts ausgeschlossen werden, weil es angeblich nicht von Bedeutung ist. Das Prinzip der Wörtlichkeit Richtet sich auf die Einhaltung von Beschränkungen. Es soll dazu anhalten, nur das in die Textanalyse einfließen zu lassen, das auch tatsächlich im zu analysierenden Text lesbar ist. Komplementär dazu sind alle Lesarten verboten, die im Text nicht markiert und deshalb von ihm nicht erzwungen sind.
Im zweiten Schritt erfolgte eine Erklärung der Prinzipien anhand des mir von der Seminarleitung vorgegebenen Textes, bei dessen Bewertung in der Übung Probleme aufgetreten waren. Im dritten Schritt sprach ich über die Bedeutung der Klärung der Frage, was der Fall sein soll, wie die Fragestellung lautet: Denn „erst die Fragestellung macht aus dem Protokoll der Wirklichkeit einen Fall“.45 Damit wollte 44 Dass er mich noch einmal bat, die Methode vorzustellen, indizierte mir, dass er mir und der Methode wohlgesonnen war und von seiner Seite kein Interesse bestand, zur alten Checkliste zurückzukehren.
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ich zum Ausdruck bringen, dass es einen Unterschied macht, ob ein Text im Sinne kriminalistischer Ermittlung eher ausführlich und detailliert untersucht werden soll (Phase 1) oder ob es im Sinne einer unter extremem Handlungsdruck stehenden Analyseanforderung – wie in der Praxisübung – darum geht, sehr schnell zu einer gestaltprägnanten Gefahrenbewertung zu kommen. Im zweiten Fall, so mein mit Rekurs auf Oevermann formulierter Hinweis, komme es viel stärker als im ersten Praxisbereich (der durch eine andere Handlungszeitlichkeit gekennzeichnet sei46) darauf an, das Modell der Sequenzanalyse so abzukürzen, „daß dabei kein verzerrender Gestaltfehler unterläuft und das Modell dem ,Geiste nach‘ richtig erhalten bleibt.“47 Im vierten Schritt führte ich dann vor der Gruppe die Sequenzanalyse des Falles durch. Hierbei ging ich wie folgt vor: Zunächst stellte ich die Normalfallhypothese auf, dass bis zum Beweis des Gegenteils bei einem Schreiben, in dem ein Unbekannter androht, eine massive Rechtsverletzung zu begehen, von dessen Vernünftigkeit und damit Ernsthaftigkeit auszugehen sei. Dann begann ich, den Fall schrittweise (aber keineswegs langsam) daraufhin laut durchzulesen,48 ob sich in ihm Anhaltspunkte fanden, die diese Hypothese bestärkten oder sie abschwächten, und diese Punkte während der Analyse in Form einer Gegenüberstellung (von Pro- und Contra-Punkten) zu skizzieren, sodass ich dann am Ende der Analyse ein Ergebnis auf dem Papier stehen hatte. Im Zusammenhang meiner Ausführungen über die methodische Geeignetheit von Sequenzanalysen zur Interpretation von Texten in Arbeitsgruppen (wie der Verhandlungsgruppe) betonte ich, dass es wichtig sei, dass die Interpretationsgruppen nicht zu groß sind (nicht mehr als fünf bis sieben Teilnehmer) und es entscheidend auf eine am Text orientierte Führung ankommt. Die anschließenden Gruppenarbeiten zeigten, dass die Teilnehmer die Methode anzuwenden verstanden,49 was sich nicht zuletzt darin dokumentierte, dass sie in der festgesetzten Übungszeit (von 45 Minuten) zu guten Ergebnissen kamen. Es traten folglich keine Zeitprobleme auf. 45 Wernet (2000), S. 57. In diesem Sinne sprach auch U. Oevermann am 17.9. 2000 in seinem am Institut für Sozialforschung gehaltenen Vortrag über die Krise der Arbeitsgesellschaft von der „Relevanz der Fragestellung“ für eine sozialwissenschaftliche Studie. 46 Im Polizeijargon: mehr den Charakter einer Zeit- als einer Sofortlage hat. 47 Oevermann (1993 b), S. 246. 48 Der Text wurde mittels eines Overheadprojektors an die Wand projiziert, sodass die Teilnehmer ihn gleichzeitig mitlesen konnten. 49 Wobei die Methode eher untechnisch ist. Vgl. Oevermann (1986), S. 19.
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Und das Feedback – „Jeder ist an der Sequenz geblieben . . .“ „Ist gelaufen wie ein Uhrwerk . . .“ „Methode erscheint anwendbarer als vorher . . .“
– indizierte mir, dass ein wichtiger Schritt50 auf dem Weg zur Institutionalisierung der Methode zurückgelegt war.51
50 Ein Verhandlungsgruppenmitglied sagte mir nach dem Seminar: „Dies war eine Schlüsselveranstaltung.“ Zur Akzeptanz der Methode in der praktischen Arbeit s. auch die Schreiben vom 18.5. und 20.12.2000 (Anhang XII.). 51 Inwieweit dieser Weg auch in Zukunft beschritten werden wird, ist abhängig davon, inwieweit den Gruppenteilnehmern in der Praxis damit Ermittlungserfolge gelingen werden. Auf dem Weg dahin sehe ich meine Aufgabe darin, die Gruppe mäeutisch zu begleiten und ihr zu helfen, wenn sie meinen Rat braucht.
G. Umsetzung der Methode auf der institutionellen Ebene 1. Curricularisierung Wenngleich die Curricularisierung von Lerninhalten an Ausbildungseinrichtungen in der Regel mit intensiven Diskussionen über den richtigen Weg verbunden ist, insbesondere wenn verschiedene Auffassungen von Soziologie vertreten werden,1 war dies in meinem Fall aus zwei Gründen anders: Erstens, weil mir der Fachbereichsleiter (FBL)2 bei der Gestaltung des Soziologiecurriculums keine Vorgaben machte, sondern mich das Fach selbst entwickeln ließ. Und zweitens, weil ich zu diesem Zeitpunkt der einzige hauptamtliche Dozent war, der im Fach Soziologie lehrte. Entsprechend spiegelt dann die Entwicklung des Soziologiecurriculums von 1993 bis 2001 auch meine eigene soziologische Entwicklung wider. Lehrte ich in der ersten Phase bis 1995 Soziologie als eine Kombination von Begriffssoziologie und ethnomethodologisch-konversationsanalytischer Materialanalyse,3 änderte sich dies 1996 mit der Einübung des in dieser Ar1
Zum Zustand des Studienfaches Soziologie s. Oevermann (1990), S. 2 ff.; sehr aufschlussreich auch von Harrach (1994), S. 119 f.: „Bei einer Befragung von 72 Hochschullehrern, die 1988/89 eine Einführungsveranstaltung in die Soziologie abhielten, wurden 64 (!) verschiedene Buchtitel genannt, die man tatsächlich benutzt habe. Nur die Hälfte der Befragten befürwortete einen minimalen Wissenskonsens, die andere Hälfte lehnte auch eine ,Bindung im Minimum‘ für sich ab (Kolbe/Sommerkorn 1990, S. 121.).“ In ähnlicher Weise formuliert Käsler (1999), S. 12: „Diskussionen darüber, ob es einen verbindlichen Kanon für das Fach gibt, bewegen nicht nur die wissenschaftliche Soziologie. Der Streit darüber, ob es so etwas wie eine verbindliche Liste von Autoren und Texten geben soll, über deren Kenntnis definiert werden kann, ob jemand zu einem Gebiet zugelassen wird oder nicht, ist so alt, wie die Versuche, einen solchen Kanon zu kodifizieren.“ 2 Ein diplomierter Soziologe und (wie ich selbst) früherer Polizeibeamter. Ich war von 1978 bis 1980 Polizeibeamter des Landes Rheinland-Pfalz, holte dann nach dem Weggang von der Polizei mein Abitur nach und begann 1983 mit dem Studium von Soziologie, Politologie und Philosophie an der TH Aachen. 1985 wechselte ich an die Universität Bielefeld, wo ich 1987 meine Prüfung zum Diplom-Soziologen bestand. 3 Denn genau dies hatte ich in meinem Studium in Bielefeld gelernt. Die Begriffssoziologie bei Niklas Luhmann und die Ethnomethodologie und Konversationsanalyse im Eigenstudium, als Reflex auf mein Unbehagen über eine zu abstrakte Systemtheorie, mit der ich das, was mich schon damals interessierte, die Polizeipra-
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G. Umsetzung der Methode auf der institutionellen Ebene
beit analysierten Studienjahrgangs in die Methode der Sequenzanalyse. Die Erfahrungen, die ich mit der Methode im Unterricht machte, bewogen mich dazu, die Sequenzanalyse im Fach Soziologie curricular zu verankern.4
2. Durchsetzung zur Prüfungsnormalität Die Durchsetzung der Methode zur Normalität im Prüfungsbereich war letztlich leichter, als ich mir dies mir zu Beginn gedacht hatte.5 Weder gab es irgendwelche ministerialen Widerstände, noch gab es Widerstände im Fachbereich, weil die Denkweise des FBL affin zu meiner war, obwohl er kein gelernter objektiver Hermeneut war und mit der Methode erst durch mich in Kontakt kam. Die Affinität in der Denkweise erklärte ich mir damit, dass er als ehemaliger Polizeipraktiker, der nach einem berufsbegleitenden Soziologiestudium federführend bei der Konzeption der Integrierten Fortbildung (IF) in Nordrhein-Westfalen war,6 erkannte, dass die von mir im Soziologieunterricht gelehrte Methode der Sequenzanalyse zur Evaluation von Praxis und simulierter Praxis in Form von Rollenspielen oder Handlungstrainings gexis, nicht analysieren konnte. Dass ich in Bielefeld nicht auf die Idee kam, dass für mein Erkenntnisinteresse die objektive Hermeneutik die richtige Methode sei, stand im Zusammenhang damit, dass diese Methode in Bielefeld nicht gelehrt wurde und Luhmann, an dessen Seminaren ich regelmäßig teilnahm, den Namen Oevermann nie erwähnte. Für Luhmann war Hermeneutik verbunden mit Namen wie Dilthey, Gadamer oder Habermas. 4 Sieht man sich die Soziologiecurricula der anderen Bundesländer durch, wird man feststellen, dass die objektive Hermeneutik dort nicht vorkommt. Dass ich die Methode ohne ministeriale Widerstände in das Curriculum einbauen konnte, ist im Zusammenhang damit zu sehen, dass unserem Fachbereich seitens des Ministeriums großer inhaltlicher Gestaltungsspielraum gelassen wurde. 5 Dies war auch Gegenstand einer Sitzung zur klinischen Soziologie am 3. Juni 1996. 6 Hierzu schreibt er: „Professionelle Kompetenz setzt zielorientierte Aus- und Fortbildungsmaßnahmen voraus. Demnach müssen Aus- und Fortbildung die für die Berufsausbildung erforderlichen theoretischen und praktischen Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, damit der Polizeibeamte die ihm übertragenen Aufgaben selbständig und eigenverantwortlich erfüllen kann. Hier setzt die Integrierte Fortbildung (IF) an. Im Gegensatz zu den bisherigen Bildungsmaßnahmen werden im Rahmen der IF Anlässe stets fächerübergreifend, d.h. aus rechtlicher, taktischer, psychologischer und auch technischer Sicht beleuchtet, diskutiert, hinsichtlich einer Problemlösung optimiert und schließlich im Rollenspiel trainiert. Indem nicht nur die für eine Situation wichtigen Rechtsnormen erarbeitet werden, sondern im Rollenspiel ihre interaktionelle Umsetzung erfolgt, entsteht durch affektive Prozesse zugleich ein höherer Verfestigungsgrad. Damit ist die Basis für mehr Handlungssicherheit im Rahmen polizeilichen Handelns gegeben.“ Bernt (1989), S. 222 [Hervorhebung im Original in Fettschrift, T. L.]; vgl. hierzu auch Höhere Landespolizeischule „Carl Severing“ (o. J.).
2. Durchsetzung zur Prüfungsnormalität
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Abbildung 12: Auszug aus dem Soziologiecurriculum (Grundstudium)
eignet war und sich als Basismethode für eine fächerübergreifende Ausbildung anbot.
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G. Umsetzung der Methode auf der institutionellen Ebene
Unsere Übereinstimmung im Denken zeigte sich sehr deutlich bei der Korrektur der Staatsexamensarbeit. So betrug die mittlere Abweichung der unabhängig voneinander korrigierten sequenzanalytischen Aufgabe7 nur 1,76 von 30 erreichbaren Punkten, obwohl ich ihm über die dem Ministerium vorgelegte Musterlösung hinaus keine detailliertere Lösungsskizze gegeben hatte. Die Bewertungen waren in neun Fällen identisch, was einem Prozentsatz von 13,64 entspricht, wobei ich, wie der Korrekturvergleich – Zweitkorrektur durch FBL (N = 348) In 23 Fällen (69,70 Prozent) höhere Bewertung als EGO In 8 Fällen (24,24 Prozent) niedrigere Bewertung als EGO In 2 Fällen (6,06 Prozent) mit Bewertung von EGO übereinstimmend Zweitkorrektur durch EGO (N = 33) In 8 Fällen (24,24 Prozent) höhere Bewertung als FBL In 18 Fällen (54,55 Prozent) niedrigere Bewertung als FBL In 7 Fällen (21,21 Prozent) mit Bewertung von FBL übereinstimmend
– zeigt, etwas strenger bewertete, was für mich aber durchaus vorteilhaft war, weil ich mich damit nach seiner Meinung abhob von Sozialwissenschaftlern an anderen Verwaltungsfachhochschulen, die tendenziell dazu neigten, zu gut zu bewerten und Noten zu ,verschenken‘ und damit dazu beitrügen, dass ihr Fach im Spektrum der ,harten Fächer‘ nicht ernst genommen würde. Insgesamt gab es also keine Probleme bei der Bewertungsfrage, was ein wichtiger Punkt für die Institutionalisierung der Methode in der Ausbildung war, denn sich hier zeigende Diskrepanzen hätten mein Unternehmen scheitern lassen können. Da dies nicht der Fall war und der FBL auch inhaltlich mit der sequenzanalytischen Aufgabe zufrieden war, weil nach seinem Korrektureindruck die Studenten mit der Methode etwas herausbekamen, hatte sich die Methode im Prüfungsbereich bewährt.
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Entsprechend dem Erlass des IM vom 25.2.1998 (Aktenzeichen 40-2926-00001) teilten wir die 67 Examensklausuren so auf, dass jeder in etwa die gleiche Anzahl an Erst- und Zweitkorrekturen hatte, und tauschten die Klausuren nach zwei Wochen Korrekturzeit über Kreuz aus. 8 Ein Fall war – wie ich bei späterer Durchsicht feststellte – nicht auswertbar, da auf dem Korrekturblatt des FBL die Angabe der Punktzahl fehlte.
4. Exkurs: Nachfolgende Examen
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3. Die Sequenzanalyse als Basismethode für eine interdisziplinär ausgerichtete Ausbildung I Eine Folge der erfolgreichen Anwendung im Staatsexamen war, dass ich vom FBL den Auftrag erhielt, auch in den nachfolgenden Jahrgängen den Notruf als exemplarischen Anwendungsbereich der Methode beizubehalten und im Examen abzuprüfen sowie die Methode dann schrittweise auf andere Praxisbereiche auszudehnen, weil ihm die Korrektur der Examensarbeiten gezeigt habe, dass diese von den Studenten – und zwar sowohl Seiten- als auch Praxisaufsteigern – verstanden worden sei und die Studenten mit der Methode zu wirklich interessanten Ergebnissen gekommen seien.9 Daher sei die Vermittlung der Methode hinsichtlich einer praxisangemessenen Ausbildung wichtig, wichtiger als die bloße Vermittlung von theoretischen Vokabeln oder Modellen, die keinen Bezug zur Praxis aufwiesen. Womit er im Grunde genommen so sprach wie Wagenschein.10
4. Exkurs: Nachfolgende Examen Entsprechend der Bewährung im ersten Staatsexamen wurden sequenzanalytische Aufgaben auch in den nachfolgenden Jahrgängen integraler Bestandteil des schriftlichen sozialwissenschaftlichen Staatsexamens.11 Exemplarisch seien hier zwei Prüfungsaufgaben aus den Examensklausuren der nachfolgenden Jahrgänge abgebildet. Zunächst die Aufgabe aus dem Examen des Jahrgangs 1/96:12 9
s. hierzu Anhang X. Der im Bereich der Naturwissenschaften vor der verdunkelnden Wirkung von physikalischem „Scheinwissen“ [Wagenschein (1999), S. 66] warnte und damit eine vergleichbare dialektische Sicht von Aufklärung hatte wie Adorno, der in der „Einleitung zu einer Diskussion über die ,Theorie der Halbbildung‘“ schrieb: „Es gibt in geistigen Dingen keinen Approximationswert von Wahrheit. Das halb Verstandene und halb Erfahrene ist nicht Vorstufe der Bildung sondern ihr Todfeind.“ Adorno (1997 h), S. 576. 11 Zumal sich die Sequenzanalysen klar bewerten ließen und sich somit „für die Formalisierung und Außenlegitimation von Prüfungen und von Prüfungsstoff“ [Oevermann (1995 a), S. 150] eigneten. 12 Anmerkungen zur Lösung von Aufgabe 3: „Es kommt hier entscheidend darauf an, die Methode der Sequenzanalyse, die im Zentrum der von Ulrich Oevermann entwickelten objektiven bzw. strukturalen Hermeneutik steht, richtig anzuwenden. Von Bedeutung ist insbesondere, inwiefern die Interpreten ein methodisches Bewußtsein für die Bedeutung des Details aufweisen und in der Lage sind, den Protokollausschnitt in der Sprache des Falles angemessen zu analysieren. Im Zuge der Besprechung sollte inhaltlich u. a. auf folgende Punkte eingegangen werden: Der Polizeibeamte hat offensichtlich Probleme bei der Erfassung der aktuellen Krisensituation (interpretierbar ab Zeile 7, manifest in Zeile 11). 10
406
G. Umsetzung der Methode auf der institutionellen Ebene
Aufgabe 3 Bearbeiten Sie den folgenden Protokollausschnitt sequenzanalytisch! Transkriptionssymbolik P Polizeibeamter A Anrufer (1.0) Pause in Sekunden ? Frageintonation = schneller Sprechanschluss 01 P: Polizeinotruf 02 A: Schön guten Tach = hier ich bin uf da zweiundneunsch kurz 03 vor Weida. Da liecht än Schwerverletzter uf der Stroße 04 = Moped äh unfall mit nem PKW (2.0) äh 05 P: Die 92 (0.5) Richtung? 06 A: Die zweiundneunsch. Kurz vor Weida (0.5) Gera Richtung Weida. 07 P: Ja (0.5) Da liecht ä Schwerverletzter? 08 A: Ä Schwerverletzter = Der kann sich kaum mehr regen = 09 Wir ham nen jetzt aus der Piste gehouben (2.0) 10 Könnten se da ma jemand schicken? 11 P: = Also das ist im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall ja? 12 A: Jaja = jaja 13 P: Ja wie isn Ihr Name? 14 A: Hier is der Herr Klaus. Ich bin LKW-Fahrer. Ich muß aber die Kreuzung 15 hier räumen 16 P: Ja ich äh (1.0) Sie bleiben aber mit dort ja Herr Klaus? 17 A: Ich bleib dort = ich hab aber nichts gesehen = ne 18 P: Nee nee is richtich aber (0.5) wir sind sofort dort. 19 A: Alles klar (0.5) Okay [Ende der Aufzeichnung, gleichzeitig Ende des Gesprächs] Der Anrufer hatte zu Beginn geschildert, daß es sich um einen Moped-PKWUnfall handelt (Zeile 4). Unfälle mit Mopedfahrern sind extreme Krisen. Es ist zu vermuten, daß der Mopedfahrer von getragen wurde. Hier sind Schwerstverletzungen zu erwarten, was bedeutet: Hier zählt nun jede Sekunde. Eine möglichst schnelle Information des Notarztes ist erforderlich. Auffallend: Der Polizeibeamte fragt nicht nach, ob bereits ein Notarzt verständigt wurde. Die Frage in Zeile 13 ist zu werten als tendenziell bürokratische Frage im Sinne von: Wer ist denn der Mitteiler des Falles? Der Anrufer antizipiert offensichtlich, in welche Richtung der Polizeibeamte fragen will. Er weist den Polizeibeamten darauf hin, daß er die Kreuzung zu räumen habe, was man interpretieren kann als: Die Praxis hat Vorrang vor bürokratischen Fragen. Wie der Beginn von Zeile 16 zeigt, kommt der Polizeibeamte leicht aus dem Tritt. Er will den Anrufer auf jeden Fall (fast zwanghaft) vor Ort halten, was dieser auch zusagt. In Zeile 18 erfolgt dann die Einsatzzusage.“ Die Aufgabe machte 25 Prozent der sozialwissenschaftlichen Staatsexamensklausur aus.
4. Exkurs: Nachfolgende Examen
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Und weiter die Prüfungsaufgabe aus dem Examen des Jahrgangs 1/98,13 mit dem ich die hier geforderte Metaanalyse zuvor im Unterricht exemplarisch eingeübt hatte: Aufgabe 4 Beurteilen Sie anhand der nachfolgend abgedruckten Materialien, dem als Ausgangsmaterial vorliegenden Notrufprotokoll und dem Analyseprotokoll, wie die Analyseleistung von L zu bewerten ist! Gehen Sie zur Beurteilung von L’s Leistung sequenzanalytisch vor! Notrufprotokoll Transkriptionssymbolik [] = (-) (0.5) hh hh ; ? ANR DGL
gleichzeitiges Sprechen von zwei Parteien schneller Anschluss einer nachfolgenden Äußerung oder schnelles Sprechen innerhalb einer Äußerung kurzes Absetzen oder kurze Pause Pause in Sekunden hörbares Ein- bzw. Ausatmen fallende Intonationskurve steigende Intonationskurve Anrufer Dienstgruppenleiter
13 Zu der ich folgende Lösungsskizze fertigte: „Auf folgende Punkte ist bei der Lösung einzugehen: 1. Beurteilung im Sinne einer Rezeptionsanalyse setzt zunächst die Evaluation des Notrufprotokolls bis Zeile 5 voraus. Diagnose muß lauten, daß der Polizeibeamte im konkreten Fall unangemessen (bürokratisch) handelte, daß er vom Normalfall abwich, demzufolge bis zum klaren Beleg für das Gegenteil davon auszugehen ist, daß es sich um einen akuten Krisenfall handelt, der ohne polizeiliche Hilfe nicht mehr bewältigt werden kann. 2. Beurteilung erfordert im zweiten Schritt, daß die Falldiskussion mit Zeile 04 des Notrufprotokolls beginnt, folglich L’s Leistung ab hier zu beurteilen ist. 3. Im Zuge der Analyse des Diskussionsprotokolls ist dann auf folgende Punkte einzugehen: a) L geht davon aus, daß sich der Anrufer auf den Polizeibeamten einzustellen hat (nicht umgekehrt, wie man es von einer Bürgerpolizei erwarten würde). b) Er betrachtet das ,Erzählen‘ des Anrufers als unangemessenes Handeln (gewissermaßen als Störung des Polizeibeamten). c) Er erkennt nicht, daß der Polizeibeamte vom Normalfall abweicht. Vielmehr geht er von einem falschen Beweislastmodell (bis auf den Beweis des Gegenteils wird der Fall kein ernster Fall sein) aus (,alltäglich‘, ,nichts Besonderes‘). 4. Insgesamt ist seine Leistung an dieser Diskussionsstelle negativ zu bewerten. Hinweis: Für die Bewertung der Aufgabe ist bedeutsam, daß die Studierenden die Methode der Sequenzanalyse richtig anzuwenden verstehen. Von Bedeutung ist insbesondere, inwiefern die Interpreten ein methodisches Bewußtsein für die Bedeutung des sprachlichen Details aufweisen.“ Die Aufgabe machte 30 Prozent der sozialwissenschaftlichen Staatsexamensklausur aus.
408 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14
G. Umsetzung der Methode auf der institutionellen Ebene DGL: Polizei Notruf ANR: Ja (-) äh = Verkehrsunfall = am = Heidenberg hh in der Höhe des Ärztehauses = mein Name is Petri; DGL: Ja Moment (-) Petri? [Vorname?] ANR: [Is n ] Auto vorn Lichtmast gefahrn DGL: Ja (-) Petri Vorname bitte? ANR: Gerd (-) Petri DGL: Gerd (-) Sie wohnen wo? ANR: Heidenberg(o.5) hundertdreiundzwanzig = gegenüber vom Ärztehaus ist das (-) DGL: beim [ Heide] ANR: [ Heidenberg] DGL: Dort ein Pkw (-) ja?
Analyseprotokoll C: . . . Und dann fragt der Polizeibeamte als nächstes: „Petri Vorname?“. Das heißt, für ihn ist jetzt erstmal wichtig, ähm, den Namen des Anrufers zu erfahren. L: Ähm, der Anrufer hat sich aber noch gar nicht darauf eingestellt, ne. Also es kommt ja in dem Moment auch zu ’ner Überschneidung. Der Anrufer will eigentlich wieder einsetzen in der Beschreibung des Sachverhalts, indem er äh erläutert: „Is n Auto vor’n Lichtmast gefahr’n“. Also er hat sich noch gar nicht mit dem Polizisten auf ein Niveau begeben. Der Polizist will jetzt erstmal Personalien wissen, und der Anrufer ist eigentlich noch mittendrin im Erzählen. C: Ja, der Polizeibeamte setzt ja für sich jetzt selbst die Prioritäten: ,Was muß ich als erstes wissen?‘. Und für ihn, für sich selbst setzt er halt fest: ,Ich will jetzt erstmal die Personalien des Anrufers.‘. Er fragt ja auch: „Ja“, äh, er wiederholt ja auch noch einmal: „Ja Petri Vorname bitte“. Und erst dann stellt sich der Anrufer darauf ein und sagt: „Gerd Petri“. Ja, im weitem Verlauf fragt der Polizeibeamte: „Gerd Sie wohnen wo?“. Das heißt, er will noch mal wissen, die Personalien, die Wohnanschrift. L: Ich würde auch sagen, er fragt erstmal nach den Personalien, weil äh aus der Schilderung des Anrufers geht noch nicht hervor, daß irgend äh ’ne schlimme Folge eingetreten ist. Er sagt zum Beispiel nicht: ,Ja, äh hier liegen Verletzte ’rum und schreien nach Hilfe.‘ Deswegen is für ihn erstmal wichtig, Personalien, ja wie Du schon gesagt hast. Darauf wollte ich noch mal hinweisen. Denn Du mußt ja auch bedenken: für den Polizeibeamten ist das ’n ganz alltäglicher Notruf, und er hat nur gehört erstmal: „Verkehrsunfall Höhe des Ärztehauses“. Und das ist für ihn erstmal ’n Bearbeitungsfall wie jeder andere, wie gestern und heute. C: Gut. Auf die Frage nach dem, nach der Wohnanschrift antwortet der Anrufer, äh: „Heidenberg 123 gegenüber vom Ärztehaus ist das“. . . .
– Ende des Exkurses
5. Die Sequenzanalyse als Basismethode für die Ausbildung II
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5. Die Sequenzanalyse als Basismethode für eine interdisziplinär ausgerichtete Ausbildung II Eine zweite Folge bestand darin, dass mich der FBL mit der Leitung einer Arbeitsgruppe beauftragte, um auf der methodischen Basis der Sequenzanalyse mit der Entwicklung von Ausbildungsmodulen zu beginnen,14 worunter exemplarische Themen15 wie zum Beispiel Familienstreit oder Vernehmung zu verstehen sind, die nicht mehr – wie dies traditionell geschah – im Laufe des Studiums mehr oder weniger unkoordiniert zu verschiedenen Zeitpunkten in unterschiedlichen Fächern (Eingriffsrecht, Soziologie, Psychologie, Einsatzlehre, Kriminologie) behandelt werden, sondern interdisziplinär während einer bestimmten Studienphase. Die mit meinen Kollegen durchgeführten Besprechungen zeigten mir, dass es möglich ist, auf dem von uns eingeschlagenen Weg zu einer ganzheitlichen Ausbildung zu gelangen.16 Zudem wurde ich in meiner Ansicht bestätigt, dass das, was Ulrich Oevermann mit Blick auf die Einheit in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften schrieb – „Die Methodologie einer hermeneutischen Methodologie vermag ihrerseits auch einen Beitrag zur Wiederannäherung zwischen den verschiedenen Disziplinen der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften zu leisten, so wie diese Disziplinen ursprünglich sich mit der naturwissenschaftlichen Forschung unter dem gemeinsamen Dach der Philosophischen Fakultät in der Humboldtschen Universität gebildet haben. Denn insofern die soziologische Hermeneutik sich explizit in konstitutionstheoretischer Hinsicht den konstitutiven Eigenschaften der sinnstrukturierten Welt zuwendet und diese elementar zu bestimmen versucht, wird sie notwendig
14
Und damit eine Revision des Gesamtcurriculums einzuleiten. Man könnte hier auch von „Insel“-Themen sprechen, wobei der Begriff der „Insel“ vom Philologen Ebeling verwendet wurde. Der Erziehungswissenschaftler W. Flitner sprach gleichsinnig von einer „Verdichtung“ des Stoffes, der Historiker Heimpel vom „paradigmatischen Lehren“, der Philologe Heinrichs vom „mustergültig-präsentativen Fall“ und der Pädagoge M. Wagenschein u. a. von der „exemplarischen Tiefbohrung“ und von „Nestern der Gründlichkeit“. Vgl. hierzu Stiebitz/ Amft (1971), S. 13. Wie Amft [(1981), S. 6] schreibt, begann Fritz Stiebitz seine pädagogische Tätigkeit unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg an der Polizeischule Düsseldorf und setzte diese ab 1949 am ehemaligen Polizei-Institut Hiltrup (heute Polizei-Führungsakademie) fort. Er war „Initiator der Polizeilehrerseminare“. Ebd. 16 Auch wenn das Erreichen des Ziels eine Lösung von alten curricularen Inhalten und Zeitansätzen erforderte. Eine nicht unbedeutsame Affinität zu meinem Beharren auf einer genauen Textanalyse bestand zu den Juristen des Fachbereichs, bei denen ich nicht zuletzt wegen meiner Textorientierung ernst genommen wurde. Zur Textorientierung im juristischen Bereich s. Laudenklos (1997). 15
410
G. Umsetzung der Methode auf der institutionellen Ebene
auch zur Klärung der methodologischen Grundlagen der anderen Disziplinen beitragen und darin sich mit diesen in einem gemeinsamen Bezugsrahmen treffen.“17,
– in vergleichbarer Weise auch für die Möglichkeit zur Annäherung der verschiedenen Disziplinen in der Polizeiausbildung zutrifft. So könnte in der Tat die objektive Hermeneutik die methodische Basis für einen ganzheitlichen, an exemplarischem Fallmaterial orientierten Unterricht darstellen und damit die wissenschaftliche Basis für ein Fach legen, das, wie Polizeioberkommissar Werner Giese im Jahre 1958 schrieb, an den Polizeischulen „unterschiedlich als Revierdienstkunde, Revierkunde, Praktischer Polizeidienst oder Polizeidienstkunde bezeichnet wird“,18 dem „Fach der stärksten Praxisnähe“,19 dessen „Wesen“ darin bestehe, „theoretisch erlerntes Wissen aus allen Fachgebieten in praktischen Übungen auszuwerten und anzuwenden“20 und damit, wie Schweers und Gerards formulierten, den „Brückenschlag von der Theorie zur Praxis“21 zu leisten. Dass die objektive Hermeneutik diesen „Brückenschlag“ zu leisten vermag, zeigte sich in meiner Lehrpraxis sowohl bezogen auf die Analyse von transkribierten Notrufaufzeichnungen aus der Polizeipraxis als auch hinsichtlich der Auswertung von Rollenspielen.22
17
Oevermann (1990), S. 22 f. Giese (1958), S. 81. 19 Ebd. Dass dieses Fach an Fachhochschulen der Polizei bisher nicht gelehrt wird, sondern nur in der Ausbildung des so genannten mittleren Polizeidienstes, ist für mich kein Argument, dass es hierbei bleiben muss, zumal mein Eindruck ist, dass das an Fachhochschulen stattdessen gelehrte Fach der Einsatzlehre m. E. nicht dazu beiträgt, theoretisch erlerntes Wissen in praktischen Übungen auszuwerten, sondern in erster Linie selbst theoretisches Checklisten-Wissen vermittelt. Eine Ausnahme stellen für mich die Einsatzlehrebücher von Kuhleber dar. Sie sind sehr praxisnah und kommen im Grunde genommen an das heran, was ursprünglich Polizeidienstkunde hieß. 20 Giese (1958), S. 81. 21 Schweers/Gerards (1978), S. 9. Zur Frage, „wie eine Brücke vom Lehren und Lernen zum Leben geschlagen werden kann, vom gelernten Wissen zur Umsetzung ins Handeln“, s. Stiebitz (1981), S. 55. 22 „Was für den Artisten die Probe, für den Anatom das Präparat, was für den Physiker das Experiment, ist für den Polizisten die praktische Übung in der Polizeidienstkunde.“ Giese 1958, S. 81. Zur Bedeutung von praktischen Übungen s. auch Stiebitz (1985), S. 17; Bernt (1989) und Schöneberger (1990), S. 147 ff. 18
H. Konsequenzen für eine klinische Soziologie als Scharnierstelle zwischen Theorie und Praxis 1. Vorbemerkung Wie eingangs ausgeführt, versteht sich die Arbeit als Beitrag zu einer klinischen Soziologie auf der methodischen Grundlage der objektiven Hermeneutik. Dabei soll mit dem „Beiwort ,klinisch‘ “1 zweierlei zum Ausdruck gebracht werden: „Zum einen, daß der Gegenstand der klinischen Soziologie immer ein in der Praxis zu lösendes konkretes Problem und die darauf bezogene Tätigkeit des Soziologen eine praktische ist; zum anderen, daß der wissenschaftliche Charakter dieser soziologischen Tätigkeit nicht nur auf der Anwendung problemspezifischer Theorien beruht, sondern insbesondere sich in der spezifischen Methodik einzelfallbezogenen, nicht-standardisierten Vorgehens gründet.“2
Woraus folgt, dass die klinische Soziologie „letztlich in einer professionalisierten, im Namen soziologischer Theorie und vor allem Methodik durchgeführten praktischen Tätigkeit, die in konkreten Einzelfällen bezogen auf praktische Problemstellungen und Krisen dieser Einzelfälle beratend, evaluierend und evtl. interventionistisch aufgrund eines Auftrages aus der Praxis abgerufen wird“,3 besteht, wobei „sich hinter diesem Namen (gleichzeitig) die wissenschaftliche Ausbildung (verbirgt), in der die entsprechende Professionalisierung des klinischen Soziologen geleistet und entsprechende Qualifikationen verbindlich vermittelt werden“4 sollen. Das praktisch zu lösende Problem bestand für mich in der Beantwortung der Frage, wie es gelingen könnte, eine Soziologie zu lehren, die geeignet ist, die auszubildenden Polizeibeamten angemessen auf den Kernbereich ihrer späteren Berufstätigkeit, die Intervention bei existentiellen Krisenfällen, vorzubereiten und die Ausprägung eines für diese Aufgabenwahrnehmung wichtigen sachangemessenen Habitus5 zu fördern.6 1
Oevermann (1990), S. 1. Ebd. [Hervorhebung im Original durch Unterstreichung, T. L.] 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Zum Habitusbegriff vgl. Oevermann (1995 a), S. 71; ders. (1998 b), S. 10. 6 Ein solches Ziel ist mit der ideologischen Position von Brusten (1975) nicht auf einen Nenner zu bringen, die sich gegen „eine nach polizeilichen Brauchbarkeitskriterien bestimmte ,Integration‘ der Ausbildungsfächer Psychologie und Soziologie in 2
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H. Konsequenzen für eine klinische Soziologie
Entsprechend ging ich in der Soziologielehre nicht so vor,7 zunächst Begriffe und Modelle vorzustellen, sondern vermittelte den Studenten in einem ersten Schritt die Methode der Sequenzanalyse und leitete sie dann dazu an, von ihnen selbst in der Polizeipraxis erhobenes Fallmaterial zu analysieren.8 Damit bezog ich Position gegen eine theoretische Indoktrination mit „Buchwissen“9 und gab stattdessen dem praktischen Einüben in eine Kunstlehre und Handlungspraxis den Vorzug.10 Damit folgte ich einem anderen pädagogischen Modell als dem einer Trichterpädagogik, in der „dem Schüler als Normalität suggeriert (wird), Wissen durch mechanisches Lernen und ,Pauken‘ nach dem Modell des im Fremdsprachenerwerb durchaus notwendigen Vokabellernens sich anzueignen“.11 Auf genau dieses Einpauken von soziologischem Detailwissen kam es mir nicht an. Vielmehr darauf, die Studenten im mäeutischen Sinne anzuleiten, „selbständig die richtigen Fragen“12 zu stellen und sie „durch Vergegenwärtigung einer Problemstellung“13 zu motivieren, „Vermutungen in die richtige Richtung“14 zu entwickeln und diese „schrittweise selbständig“15 zu überprüfen sowie „den inneren Zusammenhang zwischen Sprachverwendung und Denk- und Problemlösungspraxis wie selbstverständlich herzustellen“.16
die übrigen, von der Polizei ,kontrollierten‘ Lehrangebote“ wendet. Ders. (1975), S. 16. 7 Wie dies an Verwaltungsfachhochschulen für die Polizeiausbildung in anderen Bundesländern auch praktiziert wird. 8 Wie Schröter [(1997), S. 228] schreibt: „Die Aneignung von Lernstoff tritt zurück zugunsten eines forschenden Lehrens am Fall. Dabei wird gleichzeitig eine Sache erschlossen und eine Methode der Erschließung gelernt.“ Den Auftrag zu diesem einzelfallorientierten, objektiv hermeneutischen Vorgehen bekam ich indirekt von meinem unmittelbaren Vorgesetzten, der sich am Fachbereich – wie er mir in Gesprächen zu verstehen gab – eine handlungsorientiertere, praxisbezogenere, fallorientiertere, wenngleich nicht wissenschaftsferne Ausbildung wünschte, woraus ich für mich entnahm, dass für ein solches Ziel die Methode der Sequenzanalyse geeignet sei, von deren Leistungsfähigkeit ich mich in den von Ulrich Oevermann geleiteten Kolloquien überzeugt hatte. 9 Vgl. Oevermann (1995 a), S. 71; ders. (1997 a), S. 123; ders. (2000 b), S. 75. 10 Zur Sinnhaftigkeit eines solches Vorgehens s. Oevermann (2000 b), S. 75; ders. (1997 a), S. 177; oder auch Loer (1999, S. 58); und ders. (2000, S. 331 ff.) 11 Oevermann (1995 a), S. 130. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 131. Wobei ich mich als mentorieller Begleiter eines pädagogischen Prozesses sah.
1. Vorbemerkung
413
Bei diesem Vorgehen wurde mir klar, dass eine Affinität von Oevermanns methodisch-methodologischer Grundposition17 – „Theorieentwicklung und Erkenntnisfortschritt (sind) in der Soziologie nur über konkrete Analysen zu sichern (. . .), die die Sache selbst zum Sprechen bringen, indem sie sich an sie anschmiegen und durch dieses unvoreingenommene, radikale Sicheinlassen auf die jeweilige Besonderheit des Gegenstandes hindurch zum zugleich klärenden wie kritisch überwindenden, allgemeinen Begreifen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gelangen.“18
– mit der Wagenscheinpädagogik bestand, dass Oevermanns Appell „Zur Sache“ seelen- oder wahlverwandt mit Wagenscheins didaktischem Appell „Rettet die Phänomene!“19 war. Denn erstens ging Wagenschein in ähnlicher Weise wie Oevermann davon aus, dass es wichtig sei, den empirischen Gegenstand20 als Ausgangspunkt eines sachorientierten Unterrichts zu nehmen,21 da dieser die „primäre Grundlage des Verstehens“22 bildet und das Fundament von Erkenntnis darstellt.23 Und zweitens ging auch er von der Prämisse aus, dass es zum wirklichen Verstehen der Gegenstände wichtig sei, nicht verfrüht oder übereilt „in das Reich (. . .) der nur nachgeahmten Fachsprache, der nur bedienten Formeln, der handgreiflich mißverständlichen Modellvorstellungen“24 einzumarschieren, weil dieses Vorgehen, so Wagenscheins auf den Physikunterricht in der Schule gemünzte Warnung, dazu führe, dass dadurch für viele Schüler „schon in frühen Schuljahren unwiederbringlich die Verbindung zu den Naturphänomenen“25 zerrissen werde, was sowohl die „Sensibilität für Phänomene“26 als auch „für Sprache gleichermaßen“27 zerstöre und die Gefahr eines ontologischen Missverständnisses der Physik mit sich bringe.28 17 Hilfreich waren hier auch die Gespräche mit Hiltrud Schröter, der Autorin des Buches „Arabesken“. 18 Woraus folgt, dass „Theoriebildung und Datenanalyse (. . .) sich in der Perspektive des Sachhaltigkeitsprinzips (. . .) nicht voneinander trennen (lassen)“. Oevermann (1983 a), S. 234; Schröter (1997), S. 201 ff. 19 Wagenschein (1989), S. 109. 20 Wagenschein sprach hier von den „Phänomenen“, Oevermann in äquivoker Weise von der „Sache“. 21 Wagenschein (1989), S. 152. 22 Ebd., S. 150. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 151. 25 Wagenschein (1989), S. 151. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 „Denn abstrakte Begriffe, die nicht in ihrer Herkunft aus den Phänomenen (,genetisch‘) zustande gekommen sind, werden mißverstanden: als nicht von uns konstruierte, sondern als vorgefundene, grob materielle oder auch magische Wesenheiten, von denen man dann glaubt, daß sie als letzte Ursachen hinter allem ste-
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H. Konsequenzen für eine klinische Soziologie
Entsprechend der beiden skizzierten methodisch-methodologischen Grundpositionen versuchte ich die Methode der Sequenzanalyse in möglichst einfacher Sprache darzustellen und Fachbegriffe und Modelle erst im Verlauf der Rekonstruktion von Fallmaterial einzuführen.29
2. Empfehlungen für eine praxisorientierte Ausbildung von Soziologen im Berufsfeld Dozent für Soziologie im Polizeibereich Abschließend möchte ich darauf zu sprechen kommen, wie ich mir eine universitäre Ausbildung von Soziologen, die nach ihrem Studium im Berufs- oder Praxisfeld einer Fachhochschule für Polizei arbeiten wollen, in einem innerhalb der allgemeinen Soziologieausbildung eigenen Studiengang für klinische Soziologie vorstellen könnte.30 Dabei orientiere ich mich an Ulrich Oevermanns Vorschlägen zu einer organisierten Ausbildung zum klinischen Soziologen, die er vor nunmehr mehr als zehn Jahren als „Anstöße zur Diskussion“31 zur Reform der Ausbildung in der wissenschaftlichen Betriebseinheit Sozialisation/Sozialpsychologie und des Fachbereichs Gesell-
cken, was es gibt, und die Phänomene verursachen: das ontologische Mißverständnis der Physik.“ Ebd., S. 144. Aus diesem Grund, so Wagenschein in seinem Programm einer zukünftigen Pädagogik der Physik, sollten „Fachsprache, Mathematisierung, Modellvorstellungen (. . .) nicht eher auftreten, als bis sie von einem beunruhigenden, problematischen Phänomen gefordert werden“. Ebd., S. 143. 29 So erklärte ich beispielsweise den von mir leicht abgewandelten Eco’schen Referentenbegriff im Zusammenhang mit der Rekonstruktion des Notrufprotokolls aus dem Holzmindener Polizistenmord-Fall. Wie die Analyse des Protokolls zeigte, hatte ein männlicher Anrufer über eine Notrufsäule mitgeteilt, dass sich ein Wildunfall ereignet habe (ich zitiere hier aus Originalunterlagen: „Guden Tach Meier mein Name . . . eh . . . n Wildunfall gehabt (. . .) Könnten se wohl jemand vorbeischicken? Is keiner verletzt, nur n bißchen an der Stoßstange“). Tatsächlich hatte sich aber kein Wildunfall ereignet. Der Signifikant Wildunfall hatte in diesem Fall keinen situativen Referenten. Tatsächlich stellte sich die Situation als Hinterhalt heraus. Die beiden Polizeibeamten, die den Einsatz wahrnahmen, wurden bei Eintreffen vor Ort erschossen. Ihre Leichen fand man erst eine Woche nach der Tat. Für die Überlassung des Fallmaterials danke ich ganz herzlich Herrn Kriminalhauptkommissar Döhne, der die polizeilichen Ermittlungen in diesem Fall leitete (s. Anhang XIII.). 30 Auf diese Tätigkeit werden in der Regel Soziologen an der Universität nicht angemessen vorbereitet. Und dies erweist sich für später an Fachhochschulen dozierende Soziologen als problematisch, denn „ein wesentlicher Punkt auf dem Forderungskatalog von Ausbildungsbehörden und Studierenden [an Fachhochschulen, T. L.] ist die so genannte ,Praxisrelevanz‘ der Fächer. In diesem Bereich fehlt den in der Fachhochschullehre tätigen Soziologen nachweislich die Vorbereitung durch das Studium“, schreibt von Harrach (1994), S. 120. 31 Oevermann (1990), S. 27.
2. Empfehlungen für eine praxisorientierte Ausbildung von Soziologen
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schaftswissenschaften (insgesamt) an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main formuliert hat. 1. Als einen zentralen Bestandteil einer Ausbildung zu einem in der Polizeiausbildung tätigen Soziologen betrachte ich das Absolvieren von berufsvorbereitenden Praktika. So sollte jeder Soziologe während des Studiums zumindest jeweils drei Monate Erfahrungen im Praxisfeld32 der Schutzpolizei und der Kriminalpolizei gesammelt haben. 2. Diese Praktika sollten während des Soziologiestudiums gut vorbereitet werden, worunter ich zum einen das materiale Befassen mit Organisationsstrukturen verstehe, was beispielsweise durch das Einlesen in Dienstanweisungen, Organigramme und Dienstpläne geleistet werden könnte, zum anderen „die sachhaltige, materiale Einarbeitung in die Probleme des Praxisfeldes“33 durch das Lesen von Feldberichten.34 3. Während dieser Praktika sollten interessierende Abläufe möglichst vollständig protokolliert werden, um eine hinreichende Materialbasis zu haben, die in den die Praktika begleitenden Seminarveranstaltungen rekonstruktionsmethodologisch analysiert werden könnte. 4. Wichtig wäre es auch, dass parallel zu diesen Seminarveranstaltungen Methodenveranstaltungen der objektiven Hermeneutik angeboten würden, um den Studenten, die später einmal im Praxisfeld der Polizeiausbildung zu arbeiten beabsichtigen, neben ihrer generellen Qualifikation als Soziologen eine entsprechende methodisch-sequenzanalytische Fähigkeit zu vermitteln,35 um Fallmaterialien rekonstruktionsmethodologisch „in der Sprache des Falles“36 aufschließen zu können.37 32 Zur Bedeutung von Felderfahrung (für Lehrer der Anthropologie) s. LéviStrauss (1991, S. 398): „Wir wollen zunächst den Fall der zukünftigen Lehrer für Anthropologie betrachten. Welches auch die Bedingungen für das Lehrfach sind (. . .) so sollte niemand den Anspruch erheben dürfen, Anthropologie zu unterrichten, der nicht mindestens eine wichtige Untersuchung im Gelände durchgeführt hat. (. . .) Man muß ein für allemal mit der Illusion Schluß machen, daß man die Anthropologie im geschlossenen Raum mit Hilfe einer vollständigen (oder sehr oft einer gekürzten) Ausgabe des Golden bough und anderer Kompilationen, welches auch ihre Vorzüge sein mögen, lehren kann.“ [Hervorhebung im Original, T. L.] Sehr instruktiv auch Grimminger (1986), dessen Hinweis auf eine freie Dozentenstelle an der neu zu gründenden Fachhochschule für Polizeibeamte in Thüringen ich nicht zuletzt meine Laufbahn verdanke. 33 Oevermann (1990), S. 25. 34 Hierzu zähle ich m. E. Feest/Blankenburg (1972); Waldmann (1977); ders. (1978); Behr (1993); Savelsberg (1994). 35 Wie Loer [(2000), S. 340] schreibt: „Die Ausbilder selbst müssten neben ihrer generellen Qualifikation als Soziologen über die erforderliche fallanalytische methodische Kompetenz verfügen. Diese wäre in entsprechenden fallanalytisch orientierten methodischen Fortbildungen zu festigen.“ Oder auch Schröter (1997, S. 228), deren Buch mir viele Anregungen gab: „Professionalität erwirbt man nicht durch
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H. Konsequenzen für eine klinische Soziologie
5. Sehr wichtig wäre auch, „einen regelmäßigen Kontakt zu den vom Schwerpunkt ausgebildeten, in der Praxis tätigen klinischen Soziologen zu institutionalisieren“,38 um deren „praktische Erfahrungen in die primäre Ausbildung der Studenten am Schwerpunkt ein(zu)bringen“.39 „Dazu“, so Oevermann, „sollten sie selbst Lehrveranstaltungen durchführen, möglichst in Kooperation mit einem hauptamtlich am Schwerpunkt tätigen Soziologen, damit es zu einer fruchtbaren Konfrontation zwischen der akademischen Lehre und der Berufspraxis kommt. Der aus der Praxis kommende, zugleich ein Kontaktstudium absolvierende Soziologe sollte die Funktion wahrnehmen, die Probleme der Praxis gegen die Sprödigkeit der Theorien und Methoden stark zu machen, und der hauptamtlich lehrende Soziologe sollte diese Probleme in die Sprache der Theorie und die Modelle der Methodologie übersetzen bzw. diese an den festgehaltenen praktischen Problemen erproben.“40
Aneignung von Fachliteratur, sondern vor allem über Praxis und die nachträgliche Erschließung von Praxis, wie es in der Psychoanalyse und der Medizin mit der Ausbildung am Fall üblich ist. Für die Erschließung der Strukturebene von Praxis braucht man geeignete Forschungsmethoden, wie zum Beispiel die objektive Hermeneutik.“ Diese „fallanalytische methodische Kompetenz“ ist zum einen wichtig, wenn man als Dozent gehalten ist, schriftliche Leistungen zu benoten. Und sie ist nicht minder wichtig bezogen auf die Unterrichtspraxis. Denn ohne die Beherrschung der Kunst zum schnellen, intuitiven, abgekürzten Fallverstehen [Schröter (1997), S. 223] wird man nicht in der Lage sein, fallorientiert zu unterrichten. 36 Oevermann (1981), S. 4; vgl. auch Oevermann (1993 b), S. 249. 37 Wie wichtig solche Veranstaltungen sind, kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Denn die von Ulrich Oevermann geleiteten Seminare waren der Ort, an dem ich die Methode in ihrer Anwendung lernte und wo ich die Möglichkeit hatte, Fälle aus meiner Praxis auswerten zu lassen, was mir die notwendige Sicherheit für meine Unterrichtspraxis gab. Insofern traf bezogen auf den ersten Punkt die unter Fachdidaktikern verbreitete Diagnose „Lehrer lernt man, indem man Schüler war“ [Ohlhaver/Wernet (1999), S. 12] im Sinne des üblichen Schülerbegriffs auf mich nicht zu. Denn die Methode, die ich im Unterricht einsetzte, lernte ich erst kennen, als ich mich bereits in der Berufspraxis befand. 38 Oevermann (1990), S. 26. Die Aufgabe zur Ausbildung klinischer Polizeisoziologen könnte auch zukünftig, nach ihrer Umgestaltung in eine Hochschule, die Polizei-Führungsakademie übernehmen. Vielleicht am Anfang im Zusammenspiel mit in der Region bereits bestehenden gesellschaftswissenschaftlichen Fachbereichen anderer Universitäten. Dies würde eine Innovation in der institutionalisierten Ausbildung von Soziologen und Polizeipraktikern der höheren Führungsebene bedeuten. 39 Oevermann (1990), S. 26. 40 Ebd.
3. Anforderungsprofil für in der Polizeiausbildung lehrende Soziologen
417
3. Anforderungsprofil für einen in der Polizeiausbildung lehrenden Soziologen Abschließend noch einige aus den vorhergehenden Ausführungen abgeleitete Gedanken zum Anforderungsprofil, das ein in der Polizeiausbildung lehrender Soziologe erfüllen sollte. Er sollte 1. über methodische Kenntnisse und Erfahrungen im Bereich von Fallrekonstruktion(en) verfügen; 2. bereits Praktika in der Polizeipraxis absolviert haben und Interesse an diesem Praxisfeld zeigen; 3. Interesse an Inhalten aus anderen Polizeifächern haben und bereit sein, über den Tellerrand seines Faches hinauszublicken; 4. die Kunst der Vereinfachung bzw. Komplexitätsreduktion beherrschen und nicht einfach nur Exekutant eines szientifischen Theorie- oder Methodenprogramms sein; 5. den Studenten mit einer „Haltung des Ernstnehmens“41 entgegentreten und ihnen auf dem durchaus mühevollen Weg zur Sensibilisierung für das sprachliche Detail und eine fallangemessene Interventionspraxis Hilfe geben, wenn sie diese von ihm einfordern. Wer indes als Dozent davon ausgeht, aus einer vermeintlich moralisch besseren Perspektive heraus die Alltagserfahrungen von Polizeistudenten negativ beurteilen zu müssen, wird schnell das Vertrauen der Gruppe verlieren, welches man benötigt, um auf der Einstellungsebene erfolgreich arbeiten zu können.42
41 42
Loer (1999), S. 56. Vgl. hierzu von Harrach (1994), S. 116.
I. Schlussbetrachtung Wie bereits in der Einleitung ausgeführt, bestand das Ziel meines fallexemplarisch-fallrekonstruktiv ausgerichteten Soziologieunterrichts darin, die auszubildenden Polizeibeamten durch „eine intensive Schulung und exemplarische fallbezogene Ausbildung“1 für fehlerhafte Strukturen und Prozesse zu sensibilisieren und bei ihnen einen „wie ein ,schweigendes Wissen‘ operierenden Habitus“2 auszuprägen. Ein Lernziel, so die Prämisse meines Vorgehens, das ich durch einen begriffssoziologisch ausgerichteten Unterricht nicht hätte erreichen können.3 Denn die bloße Vermittlung von soziologischem „Buchwissen“4 hätte bestenfalls dazu geführt, dass die Polizeibeamten ein Selbstdarstellungswissen erworben hätten,5 das ohne aufschließende Wirkung für ihre spätere Berufspraxis wäre6 und dort, wo es funktionierte, sie von ihrer wirklichen polizeilichen Arbeit abhielte, dort aber, wo es nicht funktionierte, zusätzlich zur Folge hätte, die Soziologie für eine „Laberwissenschaft“7 zu halten. Das Krisenhafte des fallanalytisch-rekonstruktiven Vorgehens in der Ausbildung bestand darin, dass ich zu Beginn weder über Erfahrungen bei der Vermittlung der Methode der Sequenzanalyse noch über Bewertungs- oder Benotungserfahrungen bei Fallanalysen verfügte. Daher beschritt ich nach drei Jahren Dozententätigkeit Neuland, wobei ich nicht wusste, wie ich selbst aus diesem ,Abenteuer‘ herauskam. So hätte die Anwendung der Methode der objektiven Hermeneutik in der Polizeiausbildung scheitern können.8 1
Oevermann u. a. (1994), S. 259. Ebd., S. 319. 3 Das bedeutet nicht, dass im Rahmen der durchgeführten Fallanalysen nicht auch theoretische Einschüsse erfolgten. Dies aus zwei Gründen. Zum einen, weil das Fach Soziologie auch eine Art Dienstleistungsfunktion für andere Fächer hatte. Zum anderen, um im Staatsexamen eine von meiner Person unabhängige Abprüfbarkeit von Soziologie zu sichern. 4 Vgl. Oevermann (1995 a), S. 71; ders. (1997 a), S. 123; ders. (2000 b), S. 75. 5 Ich will damit nicht sagen, dass Selbstdarstellungswissen gänzlich nutzlos ist. Es gibt Situationen, in denen man dieses durchaus auch schon einmal aus Schutzbzw. Legitimationsgründen mobilisieren können sollte. Vgl. hierzu Fußnote 37 in Kapitel F. der Arbeit. 6 Oevermann nannte dies einmal: Ausbildung zu „Westentaschen-Adornos“. Mündliche Äußerung im Forschungspraktikum am 5. August 1995. 7 Vom gängigen Vorurteil, dass „Soziologie hauptsächlich im ,Schwallen und Schwafeln‘ bestünde“, berichtet von Harrach (1995), S. 179. 2
I. Schlussbetrachtung
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Wie ich aus heutiger Sicht sagen kann, bewährte sich der Einsatz der Methode. Denn erstens stellte sich die Methode als didaktisch gut vermittelbar heraus.9 Zweitens eignete sich der Polizeinotruf als exemplarischer Gegenstand einer fallrekonstruktiven Soziologielehre,10 weil er ziemlich genau dem entsprach, was der Pädagoge Martin Wagenschein als bedeutsam für die Wahl eines exemplarisch zu behandelnden Unterrichtsthemas forderte: Dass dieses zum einen objektseitig, vom Gegenstand her, geeignet sei, „das Ganze des Faches, oder doch einer seiner ,Provinzen‘ oder ,Verkehrsadern‘ ,aufzuschließen‘ oder ,aufzurollen‘, ja sogar in besonders günstigen Fällen das Ganze der ,geistigen Welt‘ anzurühren“,11 und zum anderen auch „nach der Subjektseite hin, im Hinblick also auf die personhafte Betroffenheit des Menschen“12 geeignet sei, den Lernenden zu interessieren und sein Denken herauszufordern: „Und zwar auf eine lange Strecke hin; strategisch, nicht nur taktisch“,13 ohne dabei nur an seinen Intellekt zu appellieren.14 So stellte ich fest, dass die Studenten in einigen Fällen sich wirklich tiefgehende Gedanken darüber machten, wie sich ein Notrufe entgegennehmender Polizeibeamter im Allgemeinen gegenüber dem „Bürger“15 verhalten sollte, sodass man sagen kann, dass es in diesen Fällen zu einer berufspraktisch wertvollen Reflexion über „,Rollenverantwortlichkeit‘ “16 oder „der 8 Die Studenten hatten am Fachbereich eine starke Stellung. Erstens, weil es wöchentlich stattfindende Gesprächsrunden mit dem FBL gab, in denen die Kurssprecher über Probleme im Zusammenhang mit dem Studium berichten konnten. Und zweitens, weil sie nach § 9 Abs. 1 ThürVFHG mit drei für die Dauer eines Jahres gewählten Studierenden im Fachbereichsrat vertreten waren und auch hier Kritik artikulieren konnten. Von daher ist zu sehen, dass mein Versuch durchaus hätte scheitern können, was erhebliche Konsequenzen für meine eigene Karriere hätte nach sich ziehen können, zumal ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht verbeamtet war und meine Verbeamtung von der Beurteilung des FBL abhing. 9 War also keineswegs sperrig gegenüber einer Operationalisierung, wie Reichertz [(1987), S. 53] meint: „Auffallendes Merkmal der Kunstlehre [der objektiven Hermeneutik, T. L.] ist ihre Sperrigkeit gegenüber einer Operationalisierung“. 10 Und zwar insbesondere für die Seiteneinsteiger, die durch die Materialanalysen einen ersten Einblick in die Berufswelt der Polizei erhielten. 11 Wagenschein (1995 b), S. 231. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ich hatte bereits an anderer Stelle gesagt, dass ich den Bürger-Begriff durch einen Klienten-Begriff ersetzen würde, weil der Bürger-Begriff (wenn man nicht einen Weltbürger-Begriff verwendet) sprachlich zur Exklusion von Ausländern führt. 16 Parsons (1997), S. 162.
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I. Schlussbetrachtung
Fähigkeit, sich verantwortungsvoll gegenüber jenen Leuten zu verhalten“,17 mit denen man „durch seine Arbeit in Berührung kommt“,18 kam, wobei die sequenzanalytische Behandlung des Falles zu diesem Diskurs stimulierte.19 Drittens führte die Anwendung der Methode am Gegenstandsbereich von Polizeinotruftexten zu einer hohen Anschaulichkeit im Unterricht, da die „Analysen und Ergebnissicherungen (. . .) fallnah und sehr gegenstandskonkret“20 waren, sodass ich auch nicht mit dem an Soziologen in der Polizeiausbildung üblicherweise adressierten Theorie-Vorwurf (,Sie sind hier zu abstrakt, zu theoretisch‘ oder ,Wo ist der Bezug zur Polizeipraxis?‘)21 konfrontiert wurde, sondern in einer Seminararbeit sogar das Argument las, dass eine Notrufanalyse „theoretisches Vordenken“ erfordere und nicht ohne einen „theoretischen Exkurs“22 durchführbar sei.23 17
Ebd. Ebd. 19 Für weniger gravierend halte ich indes, dass die Studenten bei ihren Reflexionen den zu analysierenden Text m. E. aus den Augen verloren, wie im Epilepsie-Fall ab Zeile 190 M 72. Denn immerhin hatte erst die methodisch angeleitete Analyse des Textes zu dieser Reflexion geführt. Wohlgemerkt: Ziel der Ausbildung war nicht die Ausbildung zu „Minisoziologen“ [von Harrach (1994), S. 123]. Es ging mir um eine Sensibilisierung für die berufliche Praxis, und es ging mir um Habitusformation. 20 Oevermann (1996 a), S. 34. 21 Zu Vorwürfen an die Polizeiausbildung, zu theoretisch und damit zu praxisfern zu sein, s. Monjardet (1987), S. 57 ff. Lesenswert zu Überlegungen einer dem Polizeiberuf angemessenen Ausbildung Skolnick (1971) und Schöneberger (1990). 22 Die vollständige Passage lautet: „. . . unabdingbare Voraussetzung für praktikable Lösungen (erfordert) theoretisches Vordenken. Aus diesem Grund betrachten die Autoren den folgenden theoretischen Exkurs [1] als notwendig, wenngleich er auch den üblichen Rahmen einer Einleitung sprengt. Er ist, wenn auch nur skizzenhaft, doch Grundübereinkunft der Autoren: Kommunikation wird zunächst als Prozeß verstanden. Er kann beschrieben werden, indem man fragt: ,Er (Sender) sagt was (Nachricht) zu wem (Empfänger) wie (Medium) und mit welchem Effekt!‘. Weiterhin unterliegt sie bestimmten Gesetzmäßigkeiten, wie z. B. 1. Immer wenn Menschen interagieren, findet Kommunikation statt. 2. Kommunikation hat stets einen Inhalts- und Beziehungsaspekt. 3. Der Kommunikationsprozeß ist strukturiert (Gesprächseröffnung, Gesprächsmitte, Gesprächsbeendigung als Makrophasen).“ [Fn 1:] – als Grundlage dienten Krauthan, G.: Psychologisches Grundwissen für Polizeibeamte, Weinheim 1990, 2. Auflage, S. 43 ff.; – Marx, J.: Verhandlungsverhalten von Polizei und Täter bei fernmündlichen Erpressungen – eine deskriptive Studie zu Verlauf und Merkmalen, Dipl. Arbeit 1992, S. 2 ff. – Schulz von Thun, F.: Miteinander reden, Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Hamburg 1981, Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, S. 23 ff.).“ [Hervorhebung im Original, T. L.] Dass der Hinweis auf die Notwendigkeit von Theorie in dieser Gruppe erfolgte, war nicht zufällig, sondern stand im Zusammenhang damit, dass der Kopf der 18
I. Schlussbetrachtung
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Dies war aber auch die einzige – mehr implizite Kritik – an der fallorientiert-fallrekonstruktiven Vorgehensweise. Ansonsten machte gerade das Eingehen auf Material aus der Praxis einen wesentlichen Teil meines pädagogischen Erfolgs aus, weil ich damit gewissermaßen eine im sonstigen Studium von den Studenten vermisste Praxis-,Lücke‘ ausfüllen konnte, um sie angemessen auf ihre spätere Berufspraxis vorzubereiten. Dies galt sowohl für jene 11 Seiteneinsteiger, die nach erfolgreichem Studienabschluss als stellvertretende Dienstgruppenleiter oder gar als Dienstgruppenleiter eingesetzt wurden, als auch für die 15 Praxisaufsteiger,24 die nun die Führungsfunktionen des Dienstgruppenleiters25 oder stellvertretenden Dienstgruppenleiters erhielten.26 Viertens ließ sich „die Gültigkeit von Sequenzanalysen (. . .) unmittelbar am Text bzw. Protokoll selbst direkt und lückenlos überprüfen“,27 womit Gruppe (der Leitwolf) bereits in der ehemaligen DDR an der Offiziershochschule für Landstreitkräfte ein Studium als Diplomgesellschaftswissenschaftler abgeschlossen hatte und sich seiner Sonderrolle (seines sehr guten Ergebnisses beim Eignungsauswahlverfahren, seiner sehr guten Allgemeinbildung und Belesenheit) bewusst war. Nicht vergessen werde ich, wie er in der ersten Unterrichtsstunde mit einem Buch von Max Weber unter dem Arm im Soziologieunterricht erschien. 23 Eine noch andere Erfahrung machte ich als Lehrbeauftragter für Soziologie im Sommersemester 1995 an der Verwaltungsfachhochschule in Wiesbaden, wo mein Versuch, eine praxisbezogene Lehre durchzuführen, unterschiedlich bewertet wurde. So sagte eine Studentin: „Mir war der Polizeibezug einfach zu viel, weil wir müssen uns halt jeden Tag damit beschäftigen. Soziologie ist für mich an sich mehr. Ich hät lieber gehabt Informationen von der Außenwelt, von der Umwelt.“ Worauf dann ein Student erwiderte: „Also ich bin nicht ihrer Meinung. Denn wir machen ja hier ne ganz bestimmte Ausbildung und sollen dann halt auch in gewissen Bereichen Kompetenz mitbringen, und dann denke ich schon, dass ein Polizeibezug auf jeden Fall von Bedeutung ist. Du kannst ja, es ist Dir ja völlig unbenommen, dass Du Dir ein Buch über Soziologie kaufst – oder Du schreibst Dich in Mainz an der Uni ein und belegst da ein paar Semester Soziologie.“ Ich zitiere hier aus meinem Tagebuch, das ich zu dieser Zeit führte. 24 Zumal auch heute noch gilt, was Giese bereits im Jahre 1958 über den Begriff der Erfahrung schrieb: „Kein Argument ist in den letzten Jahren – und das ist bedauerlich – als rhetorische Korsettstange und Leistungssurrogat solchermaßen missbraucht und vergewaltigt worden wie dieser Begriff. Entscheidend sind doch nicht der Umfang der gesammelten eigenen Erfahrungen und deren dauernde Überbetonung, sondern entscheidend ist, was der Erfahrungsträger daraus gemacht hat und wozu er es auf Grund dieser Erkenntnisse gebracht hat.“ Giese (1958), S. 82. 25 Es handelt sich hier um die m. E. wichtigste Führungsfunktion im Alltag der Schutzpolizei. 26 Ausgenommen die K-Funktionen, die eine vergleichbare Krisenausrichtung haben wie der schutzpolizeiliche Notruf, galt dies indes nur eingeschränkt für die 32 Studenten, die im K-Bereich verwendet wurden. Und hierzu zähle ich insbesondere den Kriminaldauerdienst. In diesen Bereich wurden insgesamt drei Absolventen versetzt, davon zwei Seiteneinsteiger. 27 Oevermann (1996 a), S. 30.
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I. Schlussbetrachtung
sich die Methode für die Bewertung und Benotung von Leistungen als geeignet erwies,28 weil mit ihr „die intersubjektive Nachprüfbarkeit der Ergebnisse (. . .) unmittelbar mit Bezug auf die analysierten Protokolle möglich und gegeben“29 war und weil sie keineswegs zu aufwendig war,30 um mit ihr auch große Datenmengen verarbeiten zu können.31 Spürbaren Widerstand gegen die Methode erlebte ich zu Beginn der Ausbildung bei der Besprechung der ersten Notrufzeile „Polizeinotruf“. So sahen nicht wenige Studenten in meiner Interpretation dieses Sprechaktes eine ungerechtfertigte Praxiskritik. Entsprechend kritisch wurden meine Ausführungen zu sinnvolleren Eröffnungsalternativen aufgenommen. Die Schwierigkeit, die ich in dieser Phase krisenhaft erlebte, bestand darin, mich ungewollt in einer Situation wiederzufinden, die mit dem, was ich wollte, nämlich die Studenten durch eine explizite Analyse der Sache für die Problematik der Praxis zu sensibilisieren, wenig zu tun hatte, ja ich mich im Gegenteil in der Nähe einer Eintrichterungspädagogik sah, die programmatisch den Studenten das einbläuen will, was diese weder einsehen noch akzeptieren wollen. Diese Kritiken bewogen mich, in späteren Jahrgängen die Modellfälle so auszuwählen, dass von ihnen eine zwingendere „Suggestion in Richtung auf produktive Problemexposition und -lösung“32 ausging, das heißt Fälle, in denen unmittelbar im Anschluss an die erste Zeile deutlich zum Ausdruck kam, dass der Anrufer Schwierigkeiten hatte, zur Darstellung der Krise zu kommen.33 Aus der Auswahl der beiden Modellfälle resultierte noch ein anderes Problem. So erklärte ich zu Beginn der Ausbildung, dass der Normalfall eines Polizeinotrufes in der Unterstellung besteht, dass eine akute Gefahr für Leib/Leben und/oder Eigentum vorliegt und polizeiliche Hilfe unabdingbar erforderlich ist, selbst wenn dies empirisch nur in einem ganz geringen Prozentsatz wirklich der Fall ist.
28
Zur Bedeutung abprüfbarer Lerninhalte vgl. von Harrach (1994), S. 117. Oevermann (1996 a), S. 34. 30 Vgl. Küchler [(1980), S. 383], der kritisch anmerkt, dass das Verfahren der objektiven Hermeneutik nicht geeignet sei, große Datenmengen zu verarbeiten. Es sei außerordentlich zeitaufwendig, da man für einen dreiminütigen Interpretationsausschnitt zehn bis 15 Stunden Interpretationszeit in einer Gruppe von drei bis sieben Mitgliedern benötige. Zudem sei es zu umfangreich, da eine komplette Interpretation 40–60 Seiten lang sei. Oder auch Kleining [(1982), S. 228], der von der Umständlichkeit und Aufwendigkeit der objektiven Hermeneutik spricht. 31 So korrigierte ich in drei Wochen neben 603 ,normalen‘ sozialwissenschaftlichen Staatsexamensaufgaben 67 Notrufanalysen, was einem Analysematerial von ca. 600 DIN-A4-Seiten (handgeschrieben) entspricht. 32 Oevermann (1997 a), S. 161. 33 Zum Beispiel: 1 P: Polizeinotruf 2 A: Ja (-) äh (-) äh (-) ich. 29
I. Schlussbetrachtung
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Wenngleich diese Normalfallbestimmung durchaus sachhaltig war, zeigte mir das Problem des Studenten S in der ausführlich vorgenommenen Analyse der studentischen Fallrezeption, dass es bei der Explikation des Normalfalls wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass die Polizei auch dann zu Hilfe verpflichtet ist, wenn es sich nicht um genuin polizeiliche Fälle handelt, sondern um akute Krisen anderer Art (Brände, medizinische Notfälle); und unter Hilfe dann minimal zu verstehen ist, dass die für die Krisenbewältigung originär zuständigen Stellen (Rettungsleitstelle oder Feuerwehr) von der Polizei benachrichtigt werden. Entsprechend dieser Erfahrung nahm ich neben polizeilichen Fällen im engeren Sinne des Wortes dann auch einen medizinischen Fall34 und einen Feuerwehrfall in meine Modellfallsammlung auf. Ein anderes Problem, das ich bei der Durchsicht der Rezeptionsanalysen feststellte, bestand darin, dass die Studenten zum Teil nicht nur den transkribierten Notruftext diskutierten. Dafür sehe ich im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen hatten die Studenten offensichtlich teilweise noch die Tonbandaufnahme im Ohr, was sie dazu verleitete, das zu interpretieren, was sie zuvor gehört, aber nicht verschriftet hatten, womit sie das bei der Sequenzanalyse wichtige Prinzip der Wörtlichkeit an vielen Sequenzstellen nicht befolgten. Diese Beobachtung führte mich in meiner weiteren Praxis dazu, bei der Einführung in die Methode der Sequenzanalyse die beiden sich ergänzenden Prinzipien der Totalität und Wörtlichkeit stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Zudem ließ ich die Studenten der nachfolgenden Studienjahrgänge nicht weiter die Fälle analysieren, die sie selbst vertextet hatten, sondern Texte, die aus den Erhebungen des Vorgängerjahrganges stammten.35 34 Die Tatsache, dass ich bei dem hier analysierten Jahrgang keinen medizinischen Notruf als Modellfall besprach, führte dazu, dass ich mit den Studenten S, M und B ungewollt einen Habitustest durchführte, der zeigte, dass M und B dem Kind naturwüchsig geholfen hätten, während S – im Sinne einer bürokratischen Zuständigkeitslogik denkend – das anrufende Kind an die sachlich zuständige Stelle verwiesen hätte. Der Fall S führte mich zur Erkenntnis, dass man die Sequenzanalyse eignungsdiagnostisch im Sinne eines projektiven Tests [hierzu Adorno (1997 f.), S. 349] einsetzen kann, um wichtige berufliche Grund- und Werthaltungen abzutesten, zumal S – völlig unabhängig von meinem Befund, den ich den anderen Dozenten nicht mitteilte – aus dem Polizeidienst ausschied, weil er zweimal durch das Staatsexamen fiel und auch sein Antrag auf Einstellung von einer Prüfungskommission (der ich nicht angehörte) abgelehnt wurde, weil seine „Gesamtpersönlichkeit“ (mündliche Äußerung eines Kommissionsmitglieds) keine Erfolgsprognose zuließ (und damit eine kriterienbezogene Validität für den Habitustest vorlag). 35 Was auch mit der um ein Jahr kürzeren Studienzeit zusammenhing, die zu thematischer Verdichtung zwang, auch wenn den Studenten damit die Lernerfahrung
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I. Schlussbetrachtung
Zum anderen, weil sie in den meisten Fällen mit einer Haltung an den Text herangingen, den im Protokoll handelnden Polizeibeamten tendenziell in Schutz zu nehmen, was u. a. auch damit zusammenhing, dass sie diese als Berufskollegen sahen, denen man bei ihrem Handeln immer schon einen guten Teil an Rationalität unterstellte.36 Beide Aspekte behinderten eine „in künstlicher Naivität“37 vorzunehmende Analyse der Texte. Ein weiteres Problem, das von einigen Studenten ein halbes Jahr vor dem Staatsexamen artikuliert wurde, bestand darin, dass sie sich von mir eine verbindliche Antwort auf die Frage wünschten, wie viele Hypothesen sie denn an jeder Sequenzstelle eines Protokolls aufstellen müssten. Während ich ihnen daraufhin zu verstehen gab, dass zur Bestimmung der Angemessenheit oder Unangemessenheit meist bereits zwei bis drei Hypothesen ausreichten, was ich ihnen dann an einigen Fällen demonstrierte, nahm ich die in ihren Fragen zum Ausdruck kommende Interpretationsunsicherheit zum Anlass, um das im Hauptstudium eingesetzte holzschnittartige Sequenzanalyseschema – – der Spur des Falles schrittweise folgen (diachronische Betrachtung) – Abdecktechnik (alle bis auf die bereits interpretierten oder schrittweise zu interpretierenden Zeilen mit einem Blatt oder anders abdecken) – schrittweise Interpretation der Bedeutung von Äußerungen
fehlte, wie man eine Tonbandaufzeichnung angemessen schriftlich vertexten kann und welche Konsequenzen eine fehlerhafte Vertextung für die Interpretation von Fallmaterial hat. Dass das Einüben in die Transkription von tontechnischem Material das Handeln eines hierin eingeübten Polizeibeamten nachhaltig prägte [zur methodologischen Bedeutung der Übertragung akustischer in optische Wahrnehmung für Interpretationsprozesse s. Ehlich (1996), S. 11 f.], konnte ich aus folgender Bemerkung herauslesen, die er im Zusammenhang mit der Schilderung seiner Erfahrungen im Grundpraktikum im Rahmen von Telefonüberwachungsmaßnahmen im Drogenbereich artikulierte: „. . . im BTM-Bereich [Betäubungsmittel, T. L.], und wir mussten das ja auch verschriften. Zum Anfang haben wir das noch vom LKA bekommen, und dann hatten wir aber die ganze Station bei uns stehn, wir mussten im Prinzip aufzeichnen, vertexten (. . .). Und die Transkriptionssymbolik, die wir hier [im Soziologieunterricht, T. L.] gemacht haben, hätte ja im Prinzip dort auch rein gemusst, um die Aussagekraft zu verstärken des Gesagten. Und daran merkt man erst mal, wenn man so was dann gemacht hat, wie oberflächlich man gearbeitet hat, ne. Also das ist schon erstaunlich . . .“. 36 Wie dies im Übrigen auch die Konversationsanalytiker in der Nachfolge Garfinkels tun. Denn die Prämisse lautet: „there is order in all points“. Und diese Ordnung gilt es zu rekonstruieren. Vgl. Bergmann [(1987), S. 51 f.], der auf das „komplementäre Verhältnis der beiden Forschungsansätze“ (ebd.) der Konversationsanalyse und der objektiven Hermeneutik bezüglich „einer Ordnungsprämisse“ (ebd.) hinweist. 37 Oevermann (1993 b), S. 142.
I. Schlussbetrachtung
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– Welche Äußerung kann anschließen (Hypothesenbildung angesichts von Zukunftsoffenheit)? – Überprüfung der Hypothesen: welche Äußerung schloß im fortlaufenden Fall tatsächlich an (Realisierung der Zukunft)? – Was bedeutet die Realisierung dieser und nicht jener Äußerung? (Fallstruktur)
– durch das folgende, explizit auf die Analyse des polizeilichen Interaktionshandelns am Notruf bezogene, den Normalfall eines Notrufes und damit die zeitliche Dringlichkeit einer fallangemessenen Reaktion bei der Hypothesenbildung berücksichtigende, Idealsequenz-Modell zu ersetzen:38 1. Der Spur des Notruftextes schrittweise folgen; Beginn mit der ersten Textzeile. Abdecktechnik einsetzen (d.h. alle bis auf die bereits interpretierten oder schrittweise zu interpretierenden Zeilen mit einem Blatt oder anders abdecken.) 2. Zeilenweise Textinterpretation (der Fall ist das Interaktionshandeln des Polizeibeamten) 3. Hypothesenbildung: Welche Äußerung des Polizeibeamten sollte idealerweise anschließen? 4. Hypothesenüberprüfung: Welche Äußerung schloß im fortlaufenden Fall faktisch an? 5. Wie ist die Realisierung dieser und nicht jener Äußerung im Hinblick auf die Institution des Notrufs zu bewerten (Stichwort „Normalfall“)? 6. Dann wiederum 3 7. Dann 4 8. Dann 5
38
Auch wenn hier eine gewisse gedankliche Nähe zu Weber besteht, gibt es dennoch nicht unerhebliche Unterschiede. Während nämlich bei Weber der Idealtypus eine mehr oder weniger gedankenexperimentelle „Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns“ [(1985), S. 3] ist, „um das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Affekte, Irrtümer) beeinflußte Handeln als ,Abweichung‘ von dem bei rein rationalem Verhalten zu gewärtigenden Verlaufe zu verstehen“ (ebd.), handelt es sich beim Normalfall eines Polizeinotrufes nicht um ein idealistisches Konstrukt, sondern um ein strukturalistisches Modell, das aus der Analyse des Sinns der untersuchten (Polizeinotruf)Institution gewonnen wurde. Zudem ist zu sehen, dass der Normalfall gerade deswegen von analytischer Bedeutung ist, weil man noch nicht weiß, wie sich der Fall weiterentwickelt, da es sich um eine krisenhaft offene Situation handelt, in der man entscheiden muss und nicht nicht entscheiden kann, ohne zu wissen, ob sich die Entscheidung als richtig oder falsch herausstellt. Im Sinne von Oevermann [(1996 a), S. 11] kann man sagen, dass sich „im Vollzug solcher krisenhaften Entscheidungen (. . .) die Autonomie der Lebenspraxis (konstituiert)“. Vgl. hierzu des Weiteren Oevermann (1993 b), S. 253; ders. (1995 a), S. 13 ff.; ders. (1996 c), S. 5 ff.; ders. (1996 d), S. 13 ff.; ders. (1997 b), S. 283 f. Das modifizierte Sequenzanalyseschema setzte ich in den Jahrgängen 1996, 2/1998 und 1/1999 ein. Es fand gute Resonanz.
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I. Schlussbetrachtung
9. Dann 3 10. Dann 4 11. Dann . . . (bis zum Ende des Textes) Algorithmus (Wortwurzel: arithmós = Zahl. Bedeutung: Rechenvorgang, der nach einem bestimmten Schema abläuft)
Ein weiterer methodischer Unterschied zur Ausbildung des hier analysierten Jahrgangs resultierte daraus, dass ich die Studenten der nachfolgenden Studienjahrgänge aufgrund der von den Studenten bereits gesammelten Fälle und meiner „in der Sprache des Falles selbst“39 durchgeführten Materialrekonstruktionen schulen konnte. Dies ermöglichte es mir, aus didaktischen Erwägungen heraus Fälle40 zu verwenden, in denen unterschiedliche Fehlertypen abgebildet waren,41 um die auszubildenden Polizeibeamten gezielt für diese zu sensibilisieren, damit sie diese später in der Praxis nicht selber machen. Wenngleich mir die hier analysierten Rollenspiele zeigten, dass bei den allermeisten Studenten eine Sensibilisierung für die Bürokratieproblematik am Notruf gelungen war, gab es dennoch einige Punkte, die ich nachfolgend korrigierte. Denn erstens traten deutliche Handlungsschwierigkeiten in den Rollenspielen auf, die zuvor im Unterricht noch nicht besprochen worden waren.42
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Oevermann (1981), S. 4. Ein für mich zu lösendes Problem bestand in der Folgezeit darin, meine Fallsammlung für Unterrichtungs- und/oder Prüfungszwecke durch neue Fälle anzureichern. Da ich aufgrund beruflicher Eingebundenheit kaum in der Lage war, mir selbst Fälle aus der Praxis zu besorgen, bat ich von Zeit zu Zeit Studenten, mir Materialien aus dem Praktikum mitzubringen. 41 Vgl. hierzu Oevermann (1996 a), S. 14 f.: „Jede einzelne Fallrekonstruktion ist schon als solche eine Strukturgeneralisierung. Denn ihr je konkretes Ergebnis, das man früher als Darstellung eines Typus bezeichnet hätte (. . .), bildet einen konkreten Fall in seiner inneren Gesetzlichkeit ab, die seine Autonomie bzw. den Grad seiner Autonomie als das Ergebnis seiner Individuierungsgeschichte ausmacht. Wie häufig dieser Fall sonst noch vergleichbar oder ähnlich auftaucht, wieviele weitere ,token‘ dieses ,type‘ es also empirisch gibt, ist für diese Hinsicht der Strukturgeneralisierung vollständig unerheblich. Denn es wäre absurd, wollte man willkürlich ein Kriterium einführen, wonach erst ab einer bestimmten absoluten oder relativen Frequenz dieser je konkret rekonstruierte ,Typus‘ als solcher eine Realität hätte. Im Unterschied dazu lassen sich natürlich empirische Generalisierungen von Anfang an und wesensgemäß nur auf der Basis einer Mehrzahl von Beobachtungen treffen. (. . .) Eine Fallrekonstruktion ist als Strukturgeneralisierung immer eine genuine, ursprüngliche Typusbestimmung.“ 42 Ich denke hier vor allem an die im fünften Kapitel der Arbeit besprochenen Fälle: Pferd auf der Straße und Nitroglyzerin. Wichtig erscheint mir aus heutiger 40
I. Schlussbetrachtung
427
Zweitens kam es zu vermeidbaren Artefakten,43 weil ich bei der Drehbucherstellung einen Fehler gemacht hatte, der von meinem mir bei den Rollenspielen assistierenden Kollegen nicht korrigiert, sondern im Gegenteil noch zur Tugend gemacht wurde, indem er die Studenten instruierte, sich in die im Drehbuch beschriebene Geschlechtsrolle des Anrufenden zu versetzen und diese Rolle zu spielen, was in den meisten Fällen nicht funktionierte. Wobei mir die Problematik erst nach dem Anhören der Bänder des ersten Trainings auffiel, woraufhin ich mit meinem Kollegen sprach,44 der nachfolgend die Studenten anders instruierte. Drittens erwies es sich im Hinblick auf die Sensibilisierung für die Angemessenheit einer alternativen Praxiseröffnung mit ,Polizeinotruf, wie kann ich Ihnen helfen?‘ oder einer funktional äquivalenten Meldevariante als ungünstig, dass ich die Anrufer zum Zwecke der Strukturierung des Rollenspiels mit im Drehbuch festgelegten ,responses‘ beginnen ließ, weil nun weder der sich alternativ meldende Rollenspieler P noch der Anrufende erleben konnten, wie sich diese Formulierung auf die Kommunikation auswirkte. Und ein vierter Punkt bezieht sich auf die Auswertung der Rollenspiele. Während ich es zunächst für günstig hielt, die Rollenspielprotokolle über Kreuz auswerten zu lassen,45 stellte ich bei der Präsentation der Ergebnisse im Plenum fest, dass es günstiger gewesen wäre, die Analysen gruppenintern vornehmen zu lassen. Denn ein wesentliches Problem bestand in der Dosierung der Kritik im Kursverband. So kam es in zwei Fällen nicht zu einem vorurteilsfreien Sich-Einlassen auf die Sache, sondern im Gegenteil zu einem unsachlichen Kritisieren der Vortragenden,46 was ich in dieser Form nicht antizipiert hatte und im Rahmen der mir curricular zur Verfü-
Sicht, auf den Schwierigkeitsgrad der Fälle zu achten. Stichwort: Stufenweiser Aufbau, d. h. vom einfachen zum komplexen Sachverhalt. 43 s. hierzu das Rollenspielkapitel, wo ich auf diesen Fehler in Fußnote 41 eingehe. 44 Bei diesem Gespräch wurde mir klar, dass mein Kollege einem verhaltentheoretischen Paradigma folgte. Er berief sich denn auch auf den „Fliegel“, einem Standardwerk der Verhaltenstherapie. Wohlgemerkt: Dass es zu diesem Artefakttyp kam, hatte ich zu verantworten. Denn ich hätte die Drehbücher so schreiben müssen, dass mein Kollege gar nicht erst in Versuchung kam, die Studenten in dem von ihm vorgenommenen Sinne zu instruieren. Ihm schulde ich indes Dank. Denn ohne ihn hätte ich die Trainings nicht durchführen können. 45 Ich folgte hier einer studentischen Anregung. Nach dem Muster: Gruppe A wertet das ihr von Gruppe B zur Verfügung gestellte Rollenspielprotokoll (in dem das polizeiliche Rollenspielhandeln eines Gruppenmitglieds der Gruppe B abgebildet ist) aus – und umgekehrt. 46 Zu einem „Niedermachen unliebsamer Mitstudenten“ [Loer (2000), S. 338], das nichts zu tun hatte mit einer Kultur kollegialer Binnenkritik.
428
I. Schlussbetrachtung
gung stehenden Zeit auch nicht wirklich angemessen nachbesprechen konnte. Wenngleich die hier vorgelegten Ergebnisse einen Forschungsbeitrag zur klinischen Soziologie darstellen, ist zu sehen, dass das, was hier zum Forschungsgegenstand wurde, die fallorientierte Soziologielehre an einer Fachhochschule für Polizei, ursprünglich meine eigene berufliche Praxis war. Es waren nicht zuletzt die hier vorgelegten Materialanalysen, die mir halfen, einen anderen Blick auf meine Praxis zu bekommen und noch einmal genauer zu bedenken, welche Schwierigkeiten bei der Einübung in die sequenzanalytische Rekonstruktion von Notruftexten auftraten und was ich zum Zweck der pädagogischen Vermittlung der Methode hätte besser machen können. Die Materialanalysen hatten für mich folglich den Charakter von Lehranalysen, die „Rückschlüsse auf den vorangegangenen Unterricht“47 zuließen, auch wenn ich in den Protokollen nicht unmittelbar vorkam, sondern nur mittelbar über methodische Hinweise und Modellvorstellungen, die ich den Studenten zu vermitteln versucht hatte. Wenngleich ich keineswegs verhehlen will, dass mir manches, was ich in den vergangenen neun Jahren in den neuen Bundesländern an Ausbildungsinhalten an Verwaltungsfachhochschulen für Polizei sah, nicht gefiel, ist es dennoch nicht zutreffend, wenn Behr schreibt: „Einen Neubeginn hat es für die Polizeien der neuen Bundesländer nicht gegeben. Organisatorisch wurden alte Konzepte der jeweiligen Patenländer verwendet.“48 Zumindest stimmt sein Urteil in dieser Allgemeinheit für Polizeifachhochschulen nicht. Zwar gab es ohne Zweifel auch hier curriculare Importe aus den alten in die neuen Bundesländer. Und sicherlich wurden manche Lehrinhalte, die in den alten Bundesländern vermittelt wurden, auch in den neuen Bundesländern vermittelt, obwohl sie dringend der Überarbeitung bedurft hätten. Und dennoch: es gab Ausnahmen. Und dazu zähle ich den hier beschriebenen Versuch, eine fallorientiert-fallrekonstruktive Soziologielehre zu institutionalisieren und damit in der Polizeiausbildung einen Weg zu beschreiten, der auf diese Weise in einem alten Bundesland nicht ohne weiteres hätte beschritten werden können, weil dort die institutionellen Rahmenbedingungen deutlich ungünstiger waren.
47 48
Krummheuer (1997), S. 4. (1996), S. 20.
Anhang 1. Anhang I. Schreiben vom 15.5.1996 (mitsamt Anlage) zwecks Vorlage in der Praxis
430
Anhang
Anhang 2. Anhang II. Anwesenheitsliste von Kurs 1 (Februar 1998)
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432
Anhang 3. Anhang III. Auszug aus einem Kursbuch
Anhang 4. Anhang IV. Notrufaufzeichnungsgerät der Marke UHER
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Anhang 5. Anhang V. Staatsexamensklausur für das Fach Sozialwissenschaften mitsamt Musterlösung
Anhang
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436
Anhang
Anhang
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438
Anhang
Anhang
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Anhang
Anhang
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Anhang
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Anhang
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Anhang 6. Anhang VI. 100er-Bewertungssystem
100 Punkte-Bewertungssystem 0– 20 0– 10 11– 20 21– 40 21– 26 27– 33 34– 40 41– 55 41– 45 46– 50 51– 55 56– 70 56– 60 61– 65 66– 70 71– 85 71– 75 76– 80 81– 85 86–100 86– 92 93–100
ungenügend (6)
mangelhaft (5)
ausreichend (4)
befriedigend (3)
gut (2)
sehr gut (1)
0– 1 0 1 2– 4 2 3 4 5– 7 5 6 7 8–10 8 9 10 11–13 11 12 13 14–15 14 15
Für Form, Stil, Aufbau, Ausdruck, Rechtschreibung u. Grammatik können 10–15 vergeben werden sehr gut gut befriedigend ausreichend mangelhaft
ungenügend
Notenpunkte
Notenpunkte
Notenpunkte
Notenpunkte
Notenpunkte
Notenpunkte
Bewertungspunkte
(1) Eine den Anforderungen in besonderem Maße entsprechende Leistung (2) Eine den Anforderungen voll entsprechende Leistung (3) Eine im Allgemeinen den Anforderungen entsprechende Leistung (4) Eine Leistung, die zwar Mängel aufweist, aber im Ganzen den Anforderungen noch entspricht (5) Eine den Anforderungen nicht entsprechende Leistung, die jedoch erkennen lässt, dass die notwendigen Grundkenntnisse vorhanden sind und die Mängel in absehbarer Zeit behoben werden können (6) Eine den Anforderungen nicht entsprechende Leistung, bei der selbst die Grundkenntnisse so lückenhaft sind, dass die Mängel in absehbarer Zeit nicht behoben werden können.
Anhang
447
7. Anhang VII. Vollständiges Notrufprotokoll (zu Exkurs: Totale Kritik) 001 002 003 004 005 006 007 008 009 010 011 012 013 014 015 016 017 018 019 020 021 022 023 024 025 026 027 028 029 030 031 032
PB A PB A PB A PB A PB A PB A
PB A PB A PB A
PB A PB A PB
Polizeinotruf (1.0)1 Ja Notruf Polizei (-) Ist das richtisch? JA is richtisch Hörn Sie zu (-) (Franz Müller Straße 34)2 Mhm Ich habe hier zirka ein halben Liter Nitro glyzerin bei mir (2.0) ja? Mhm Ich bin zu allem bereit (-) ich habe nichts zu verlieren (3.0) alles klar? Ja was wollen Sie denn? Ich möchte im Prinzip überhaupt nichts (2.0) ja? Mhm Ich möchte folgendes (2.0) endlich s’erste Mal in meinem Leben akzeptiert zu werden (1.0) Ja? Wer’n Sie denn nich akzeptiert? Bitte? Wer’n Sie denn nicht akzeptiert? Nein ich werde nich akzeptiert Mhm Sie können tun und lassen was Sie woll’n mit mir (3.0) das letzte was ich möchte (2.0) ist eine Polizeikugel in mein Kopf gekricht Warum? Ja oder nein? Warum denn das? (2.0) Äh (-) weil ich mein Leben verspielt hab (-) Okay? Ist Ihr Leben denn so viel wert (-) äh so wenich mein ich
1 Leicht korrigierte Fassung der studentischen Falltranskription. Verzeichnis der Notationszeichen: A Anrufer PB Polizeibeamter (-) kurzes Absetzen, kurze Pause (ca. 1 / 4 sec) (2.0) Pause in Sekunden ? Fragintonation ! Betonung HALLO laut gesprochen (Text) Anmerkung der Verschrifter uv unverständliche Äußerung [gut] unsichere Transkription 2 Es handelt sich hier um eine Deckangabe.
448
Anhang
033 034 035 036 037 038 039 040 041 042 043 044 045 046 047 048 049 050 051 052 053 054 055 056 057 058 059 060 061 062 063 064 065 066 067 068 069 070 071 072 073 074 075 076 077
A
3
Ebd.
PB A PB A PB A PB A
PB A PB A PB A PB A PB A PB A PB A PB A
PB A PB A PB A PB A PB
Nein (-) Kollege (-) versuchen Sie jetz mich nich zu (-) überzureden (1.0) zu überreden oder (-) oder sonst was (-) ja ? Ja Sie wissen genau (1.0) Ja was das bedeutet (1.0) n’halber Liter Mhm Ja? Was woll’n Sie denn machen damit? Äh (-) ich brauch die Flasche nur zu schütteln ich hab nichts zu verlieren (2.0) ja? Ja was hätten Sie denn davon? Was ich davon halte? Was Sie davon hätten wenn Sie’s schütteln? Äh (-) ich möchte so viel mitnehmen wie ich nur kann Mhm Okay? (2.0) Und warum (1.0) warum das? Warum das? (4.0) Na okay das mein Problem Mhm (3.0) Ausfall der Bandaufzeichnung / Technikproblem Ich mach jetz kein Scherz mehr Ja was ham sie denn jetzt vor? Kann ich Ihnen jetzt auch nur noch sagen (-) 10 Minuten Mhm (Nicht verständlich, da Gespräche über Funk in der Einsatzleitzentrale zu laut sind. Dauer ca. 2 sec) Mhm (Nicht verständlich, da Gespräche über Funk im Hintergrund zu laut sind. Dauer ca. 2 sec) und dann passiert das (2.0) Ja was ham Sie denn davon? Kann ich ihnen sagen (-)eine Brandbratwurscht (1.0) Okay? Rufen Sie von zu Hause an jetzt? Ganz genau Mhm Sie können Fangschaltung machen (-) (Franz Müller Straße 34)3 (-) Sie können sofort kommen Wie iss’n Ihr Name? (1.0) Ist doch egal wie mein Name is Aja wenn Sie mir schon sagen wo se wohnen
Anhang 078 079 080 081 082 083 084 085 086 087 088 089 090 091 092 093 094 095 096 097 098 099 100 101
A
102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115
PB A
PB A PB A PB A PB A PB A PB A
PB A
PB A PB A
449
Nee (-) wenn’s knallt dann wissen se genau Bescheid (-) ne? (1.0) Der eine legt en Brand (-) der andre macht das so auf die Art und Weise Naja bloß Ich muß Ihnen dazu sagen (-) horchen Sie [gut] Mhm Ich habe zwei Jahre Chemieerfahrung (1.0) Ja? Mhm Ich war damals Mikroelektronik (1.0) wir ham gewisse Sachen ausjetestet (3.0) ja? Ja Und ich weiß mein Fach (-) Okay? Ja (-) das glaub ich ihnen schon (Im Hintergrund weibliche Stimme: Kommen se her) Wenn Nitroglyzerin Ja mit Kupfer und ne (uv) elektrode (-) ich brauche Ihnen nichts weiter zu sagen (-) ja? (Im Hintergrund unverständliche weibliche Stimme) Hier (-) horchen Sie mal die Frau (2.0) das ist zwar keine Geisel (Weibliche Stimme: Kommen se sofort her!) (2.0) HALLO? Das war jetzt keine Geisel oder sonst was (-) ne (2.0) Aber ich bin zu allem bereit (-) Okay is’n Wort=ja? Ja aber Sie müssen doch irgend en Zweck damit verfolgen? Ich befolge (-) etliche Zwecke damit (-) Ich möchte kein Lösegeld oder sonst was (-) aber ich möchte eins (-) endlich mal für voll genommen zu werden (-) Okay? Ja Alles klar? Ich nehm Sie doch für voll = Wir sprechen uns in der 34 wieder (-) UN TSCHÜS
450
Anhang 8. Anhang VIII. Rollenspielräume
Oberes Bild: Raum des anrufenden Rollenspielers Unteres Bild: Raum des den Anruf entgegennehmenden Polizeibeamten
Anhang 9. Anhang IX. Tiptel-Anrufaufzeichnungsmaschine
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452
Anhang 10. Anhang X. Auftrag des FBL zur Veränderung des Curriculums vom 16.6.1999
Anhang 11. Anhang XI. Im Seminar analysiertes Täterschreiben
453
454
Anhang 12. Anhang XII. LKA-Schreiben vom 18.05.2000 und 15.12.2000
Anhang
455
456
Anhang
Anhang 13. Anhang XIII. Schreiben von Kriminalhauptkommissar Döhne im Holzmindener Polizistenmord-Fall
457
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Sachverzeichnis abababab-Modell 33, 79 f., 82, 222 Abdecktechnik 69, 194, 291, 424 f. Abduktion 367 Abhub der Erscheinungswelt 320 Abschlussstudium 23, 30, 32, 71 ff., 388, 396 Absolventen 99, 135, 321, 391, 421 Abstraktionsniveau 117, 148 Abweichung vom Normalfall 49, 78, 83, 89, 91, 107, 164, 168, 277, 279, 282, 299, 319, 322, 327, 338, 381 Aktenverwaltung 48, 117 Alarmierung/Alarmauslösung 38, 43, 245 Algorithmus 200, 310, 426 Amtsleitung 66, 86 f., 171 f., 262, 323, 332 f., 364, 366 f., 371 Amtssprache 183 Analysen der Notrufprotokolle s. Kap. C. Anforderungsprofil (für Soziologen) 417 Angst vor Prüfungen 74 Anrufbeantworter 36, 312 Anschaulichkeit im Unterricht 420 Ansprache im Erstkontakt 311 Anwendung der Methode der Sequenzanalyse 341 Anwesenheitsliste 431 Ausbildungs- und Prüfungsordnung (APO) 23 f., 26 f., 29, 59, 63, 70 f. 75, 317 Ausbildungsverlauf 17 Auswertung der Rollenspielprotokolle 70, s. Kap. E. Autonomie der Lebenspraxis 141, 425 Basale Regelverletzungen 108 Begriffssoziologie 13 f., 401 Begrüßungsregel 310
Begutachtungserfahrung 251 Benotung (s. auch Notengebung) 62 f., 418, 422 Berichtsmaske 92, 100 Berichtsschema 47 Berichtstext 12 Berichtswesen 48, 67, 73, 123, 264 Beweislast 68, 103, 272 Beweislastmodell 85, 110, 150, 156, 267, 407 Beweislastumkehrung 103 Beweislastverteilung 258 Bewertungs-/Benotungserfahrung 251, 418 Bewertungssystem 71, 446 Buchwissen 14, 293, 396, 412, 418 Bürgerbeteiligung 120 f. Bürokratie 47 f., 89, 92, 106, 117, 170, 254, 256, 264, 295, 324, 346, 372, 382, 426 Bürokratieproblematik 426 Bürokratisch-formale Zwänge 13 Bürokratisches Zuständigkeitsdenken 210, 248 Checkliste 255, 257, 395, 397 f., 410 Computer– dateien 91 – erfassung 387 – maske 73 – system 67, 324, 346 Curricularisierung 382, 401 f. Curriculum 11 f., 21, 26 f., 111, 350, 401 ff., 409, 452 Datenerhebung (studentische) 57 Datenmengen 422
Sachverzeichnis Delegation 217 Deutschnotenkarriere 68 Deutungsmuster 15, 31, 314, 316, 340 Didaktisch 19, 32, 34, 71, 181, 212, 231, 269, 372, 413, 419, 426 Dienstleistungen der Sozialverwaltung 244 Dienstleistungsbürokratie 382 Diskussionsverlaufsprotokoll 177 Emergency (im Unterschied zu trouble) 86, 260 Emergency-Fall 86, 91, 94, 115, 119, 137, 139, 225, 256, 258, 267, 278 Emergency-Situation 106, 195, 219 Fächerverteilungsplan 25 Fachgruppen 26, 63, 70 f., 111, 310, 365, 373 f., 387 Fachhochschule – Fachbereich Polizei 11, 21 ff., 75, 206, 314 Fachsprache 183, 213, 413 f. Fallanalysen 13, 16, 45, 70, 79, 345, 418 Fallauswahl 248 Fallkonferenzen 245, 287 Fallorientierte Ausbildung 13, 15, 62, 77, 382 Fallorientierte Soziologielehre 21, 428 Fallrekonstruktion 62, 74, 83, 87 ff., 248, 300, 417, 426 Fallrezeption (studentische) s. Kap. D. Fallsensible Handlungsfähigkeit 373 Fallstruktur 18, 69, 106, 176, 195, 250, 300, 425 Fallstruktur- bzw. -strukturierungsgesetzlichkeit 200 f., 300 Fehlalarm 39, 245 Flucht vor dem Text 182 f., 292 f. Formularwesen 94, 170 Freund und Helfer 175, 242 Frontalunterricht 60
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Grundstudium 12, 23, 28, 32, 58 ff., 329, 387, 403 Gruppenarbeit 60 f., 75, 211 f., 250, 335 ff., 383, 399 Habitus 31, 73, 81, 110, 181, 197, 205, 211, 224 ff., 230, 235, 239 f., 249, 256, 263, 268, 285 f., 293, 295 ff., 322, 331, 334, 341, 361, 368, 372, 383, 385, 394 f., 411, 418, 420, 423 Halbbildung 396, 405 Haltung 103, 121, 167, 181, 197, 205, 219, 269, 285 f., 313, 318, 345, 352, 374, 392 ff., 417, 423 f. Hauptstudium 12, 23, 32, 59, 64, 75, 385, 424 Homogenität 339 Idealsequenz-Modell 425 Idealtypus 425 Inadäquate Mitte 339 Individuum 150 Integrationsmodell (Ausbildung) 29 f., 388 Interpretationsleistung 297, 330, 334, 341 Klinische Soziologie 11, 20, 411 ff. Korrekturaufwand (bei Sequenzanalysen) 63 Krise und Routine 246, 345 f. Krisenverbund 210 Kundenorientierung 244, 369 Künstliche Naivität 181, 329, 424 Laie 68, 105, 116, 285 Latente Sinnstruktur 214 Lehranalysen 428 Lehrevaluationen 317 Lernen am Fall 60 Mäeutische Pädagogik 14, 147, 211 f., 250, 313 Mäeutisches – Anleiten zum Fragen 412 – Begleiten 341, 400
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Sachverzeichnis
– Fragen 147 – Verstehen 191, 375 Medizinische Krise 105, 191, 231, 347, 358 Medizinischer Notfall 148, 193 Medizinischer Notruf 124 ff., 289 ff., 358 Melden in technisch-verdinglichter Form 37 Meldeschema (technisch) 157 Merkblatt (zur Methode der Sequenzanalyse) 69, 194 Methodische Sensibilisierung 382 ff. Normalfall (Polizeinotruf) – intentionalistischer Normalfall 77 f., 326, 370 – statistischer Normalfall 43 – strukturalistischer Normalfall 43 Normalfallhypothese 399 Normalfallmodell 77 ff., 113, 132, 137, 155, 171, 258, 260, 268, 322, 325 ff., 342, 370 Notengebung (s. auch Benotung) 62 f., 249 Notrufmelder 38 ff., 135, 172, 333, 368 Notrufmissbrauch 165, 327 f. Notrufstudien 79, 155 f., 211 Notruftechnik 37 ff.
Polizeinotruf 14 ff., 30, 34 ff., 42 ff., 46, 49, 51 f., 57, 71, 81 f., 86, 91, 97, 99, 101 ff., 108 f., 114, 119, 123 ff., 133, 137, 144, 159, 169, 172 ff., 180, 183, 185, 209 ff., 243, 260, 269, 272, 278, 307 ff., 311 ff., 336 f., 345, 348, 351 f., 356, 358, 362, 365, 368 f., 371, 378, 380, 382, 390, 406, 419 f., 422, 425, 427, 447 Polizeinotrufnetz 42 Polizeirufsäule 368 f. Polizeisoziologie 11, 210 f. Pragmatik der Materialauswertung 251 f. Praxisform des Polizeinotrufs 15 ff. Praxisorientierte Ausbildung von Soziologen 414 ff. Principle of charity 291 Prinzip der Sequentialität 185, 201, 204, 229, 280, 291 f., 329, 342, 398 Prinzip der Totalität 17, 32, 63, 74, 81, 185, 201 f., 238, 257, 270, 276 f., 283, 342, 398, 423 Prinzip der Wörtlichkeit 17, 32, 63, 74, 81, 196, 202, 214 f., 221, 238, 257, 263, 270, 291, 339, 342, 398, 423
Objektive (strukturale) Hermeneutik 6, 11 ff., 30 f., 72 f., 88, 176, 183, 191 f., 201, 214, 230, 292, 309 f., 312, 329, 341, 375, 402, 405, 409 ff., 415 f., 418 f., 422, 425 Ordnung (ethnomethodologisch-konversationsanalytisch) 156, 201, 424 Organisation der Lehre 26 ff. Organisationsberatung 100, 367
Rationalität – formale 47 f., 50, 67, 73, 92 f., 117, 264, 269, 295, 346, 368 – materiale 48, 50, 67, 73, 92, 117, 346 Reflexion 32, 223, 225, 300, 338, 345, 383, 419 f. Restringierter Code (restringierte Sprache) 117, 148 ff., 303 Rezeptionsvergleich s. Kap. D. Reziprozität 45, 92, 102, 108, 169, 204 Routinisierte Krisenbewältigung/routinisierter Umgang mit Krisen 15 f., 345 ff.
Paradox der Methode (der Sequenzanalyse) 257 Paradoxie von Krise und Routine 246 Polizei-Meldeanlagen (Straßenmelder) 38, 42
Scheinwissen 405 Sensibilisierung für – Berufspraxis (Notrufpraxis) 315, 367 ff., 382 ff., 420 – Bürokratieproblematik am Notruf 426
Sachverzeichnis – fallangemessene Interventionspraxis 417 – notrufangemessene Kommunikation 128, 308, 427 – sprachliches Detail 417 – strukturelle Problematik der Notrufinteraktion 345, 351 f. Sensible Souveränität 174, 345, 352 Sequenzanalyse – Aufgabe in sozialwissenschaftlicher Staatsexamensklausur 71 ff., 405 ff. – Einüben die die Methode der Sequenzanalyse s. Kap. B. – Methode der Sequenzanalyse 11, 17, 19, 21, 30, s. Kap. B., 110 f., 176, 178, 181, 185, 205, 237, 251, 257, 309, 341, 345, 371, 382, 390, 394 ff., 402, 405, 407, 412, 414, 418, 423 – Prinzip der Sequenzanalyse 142, 183, 229 – Verfahren der Sequenzanalyse 12, 31, 183 – Wirksamkeit der Methode s. Kap. F. Sequenzen von maximal kontrastierenden Fällen 88 Sozialarbeit 361 Spagat zwischen – formaler und materialer Rationalität 48, 67, 269, 347 – Krisenbewältigung und Bürokratie 92, 100, 117, 256, 264 – Krisenintervention und Täterermittlung/Strafverfolgung 301 Sparsamkeitsregel (-prinzip) 46, 111, 182, 191 f., 219, 259, 290, 303, 318, 375 Staatsbürger 124, 242 f., 368 Staatsexamen 23, 26, 71 ff., 286, 317, 327, 330, 351, 355, 364, 372, 390 f., 404 ff., 418, 422 ff., 434 ff. Status des Faches Soziologie 21, 23 ff. Strukturierungslast bei der Krisendarstellung 146, 184, 304, 311
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Strukturierungsleistung der Darstellung 44, 188 Strukturkern polizeilichen Handelns 15 Strukturkorrelation von Status und Qualifikation 382 Strukturmodell von Sozialität (s. auch Begrüßungsregel) 108 Strukturproblem (bei Polizei) 68, 92 Studienverlauf 21, 23 ff. Subsumtionslogisch 14, 16, 48, 62, 68, 77, 111, 117, 257 Summons-answer 37, 157, 253, 278, 328 Supervision 245, 298, 300 Sympathie-Beziehungen 317 Synergie 335 Szientifizierung der Berufspraxis 15, 396 Tafelskizze 33 Theorieentwicklung 413 Theoriesprache 31 Trichter- bzw. Eintrichterungspädagogik 313, 412, 422 Trouble (im Unterschied zu emergency) 86, 260 Typusbestimmung 87 f., 426 Umgangssprache 31, 218 Verbetriebswissenschaftlichung – der öffentlichen Verwaltung 272 – der Polizei 243 Verschriftungsgenauigkeit 63 Verwaltungsrationalität (verwaltungsrational) 89, 264 Verwandlung von Person in Technik 37 Wagenscheinpädagogik 32, 413 Zeitfaktor (Bedeutung in Notfallsituationen) 93, 130