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German Pages 293 Year 1977
WOLFGANG MAASSEN
Privatrechtsbegriffe i n den Tatbeständen des Steuerrechts
Schriften
zur
Rechtstheorie
Heft 68
Privatrechtsbegriffe in den Tatbeständen des Steuerrechts Zur Grundlegung einer steuerrechtlichen Hermeneutik
Von
Dr. Wolfgang Maaßen
D U N C K E R
& H U M B L O T
/
B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten © 1977 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 03997 1
Vorwort
Wer sich m i t den rechtstheoretischen Publikationen der letzten Jahre beschäftigt, w i r d sehr schnell feststellen, daß die Grundlagen des j u r i stischen Denkens und Handelns auch nicht mehr das sind, was sie früher einmal waren: Die herkömmliche Vorstellung vom unabhängigen, objektiv entscheidenden, unpolitischen Richter ist (und war schon immer) unhaltbar; die Funktion der traditionellen Auslegungslehre erschöpft sich weitgehend darin, die rhetorischen M i t t e l zur Verfügung zu stellen, m i t deren Hilfe die subjektiven Erzeugnisse der richterlichen Tätigkeit als neutrale Ware verkauft werden können; hinter einer Fassade der Objektivität verbirgt sich eine Ideologie, die den Richter als bloßen Vollstrecker des Gesetzes begreift und jeden Hinweis auf den subjektiven oder politischen Gehalt einer Rechtsentscheidung als Plädoyer für richterliche W i l l k ü r denunziert. Eigentlich müßten solche Thesen das Selbstverständnis der Juristen schwerwiegend erschüttern. Zumindest geben sie genügenden Anlaß, an der überkommenen Ideologie der juristischen „Auslegung" und „Rechtsanwendung" zu (ver)zweifeln. Die an sich zu erwartenden Zweifel sind aber weitgehend ausgeblieben, da die Mehrzahl der Betroffenen weder die Zeit noch den Nerv hat, gegen die sprachlichen Barrieren anzurennen, hinter denen so mancher Autor seine theoretischen Einsichten verbirgt. Die Wiikungslosigkeit der rechtstheoretischen A n strengungen ist aber auch darauf zurückzuführen, daß sich die zur Rechtsentscheidung berufenen Juristen z. B. gegen eine Zerstörung ihrer Neutralitätsillusion wehren, solange diese Krücke ihres Selbstverständnisses nicht durch eine andere Stütze ersetzt wird. Insoweit hat aber die Rechtstheorie nicht viel anzubieten. Die dadurch bedingte Entfremdung zwischen Theorie und Praxis verhindert eine Weiterentwicklung der überkommenen Denk- und Verfahrensweisen. Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist die Überlegung, daß jede K r i t i k der traditionellen Auslegungslehre und die Entwicklung einer alternativen Hermeneutik von einer Fragestellung auszugehen hat, die dem an der Praxis orientierten Juristen aus seiner täglichen Arbeit vertraut ist. Denn nur ein praktisches Interesse und die Hoffnung, daß die Theorie zur Bewältigung der juristischen Alltagsprobleme beitragen kann, w i r d zu einer Rezeption theoretischer Erkenntnisse führen.
6
Vorwort
Die Privatrechtsbegriffe sind das troj anische Pferd, das für eine bereitwillige Aufnahme meiner rechtstheoretischen und sprachphilosophischen Thesen sorgen soll. Privatrechtlich geprägte Begriffe, die i n den Tatbeständen des Steuerrechts Verwendung gefunden haben, führen i m Rahmen einer Rechtsentscheidung immer wieder zu Interpretationsschwierigkeiten. Das Stichwort wirtschaftliche Betrachtungsweise , kennzeichnet den Aspekt, unter dem man dieses Problem bisher betrachtet hat. Ähnliche Probleme sind aus anderen Rechtsbereichen bekannt. Wie gesagt: Die Privatrechtsbegriffe sind nur M i t t e l zum Zweck. Mein eigentliches Anliegen ist es, zur Veränderung des hermeneutischen Bewußtseins beizutragen. M i r geht es darum, die traditionelle juristische Hermeneutik m i t der philosophischen Hermeneutik zu konfrontieren und die allseits betriebene Auslegungslotterie auf den Boden der hermeneutischen Tatsachen zurückzuführen. Die Absicht, eine veränderte hermeneutische Denkweise anhand einer praxisnahen Problemstellung zu vermitteln, erklärt einerseits, weshalb die Arbeit i n einer rechtstheoretischen Schriftenreihe erscheint, und sie liefert andererseits eine Erklärung dafür, daß der Titel dieser Untersuchung auf das Problem der Privatrechtsbegriffe abstellt. Eine notwendige Konsequenz meiner Überlegungen ist der Vorschlag, eine politische Steuerrechtstheorie zu entwickeln und damit die politische Privatrechtstheorie zu ergänzen, die von Wiethölter gefordert wird. U m diesen Vorschlag zu begründen, war es notwendig, eine Fülle von Fragen i n abgekürzter Form zu behandeln. Die Darstellung dieser Fragen soll die Reichweite der behandelten Probleme verdeutlichen. Eine umfassende Untersuchung über die politische Funktion des Steuerrechts kann sie nicht ersetzen. Die Arbeit ist von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der RuhrUniversität Bochum i m Wintersemester 1976/77 als Dissertation angenommen worden. Bedanken möchte ich mich bei Professor Dr. Heinrich Wilhelm Kruse, der m i t manchen Thesen dieser Untersuchung ganz und gar nicht einverstanden ist und mich dennoch auf vielfältige Weise bei der Durchführung meines Vorhabens unterstützt hat. Düsseldorf, Juni 1977
W. M.
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung: Z u r Absicht der Untersuchung
13
§1. Zur Problematik der Privatrechtsbegriffe im Steuerrecht
15
A . Sprachliche Parallelen zwischen Privatrecht u n d Steuerrecht
15
I. Begriffliche Identität I I . Begriffliche Ähnlichkeit u n d mittelbare Übereinstimmung I I I . Privatrechtsbegriffe (Definition) B. Stand der Meinungen I. Kennzeichnung I I . Begründung I I I . Methode C. Abgrenzung des Problembereichs I. Privatrechtsbegriffe als Problem der begrifflichen Prägung I I . Privatrechtsbegriffe u n d funktionaler Zusammenhang
15 22 25 26 27 38 49 59 59 63
§ 2. Z u den Vorbedingungen einer Problemlösung
68
A . Idee u n d W i r k l i c h k e i t der Sinnbestimmung
68
I. Grundzüge der traditionellen Auslegungslehre II. Kritik B. Philosophische u n d methodologische Hermeneutik I. Verstehen u n d Methode I I . Verstehen, Auslegen, Interpretieren I I I . Aufgabenstellung
68 72 81 82 86 91
nsverzeichnis §3. Der Sinnbegriff
93
A . Semantische Grundlegung
93
I. Definitionen und Differenzierungen
93
I I . Semantische Theorien
98
B. Bestimmung des Sinnbegriffs
105
I. Sprache, Konzeption u n d W i r k l i c h k e i t
106
I I . Sinn als Relation
110
I I I . Sinn und K o n t e x t
113
C. Tatbestand u n d Sinnbegriff I. Tatbestand, Konzeption u n d Wirklichkeit
122 123
I I . Die „Sache Recht"
126
I I I . Sinn u n d K o n t e x t
131
§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
137
A . Hermeneutische Grundlegung
137
I. Strukturmomente des Verstehens I I . Verstehen als wirkungsgeschichtlicher Vorgang I I I . Vorverständnis u n d hermeneutischer Z i r k e l B. Philosophische Hermeneutik i n der K r i t i k
137 142 148 156
I. Z u r Möglichkeit einer Trennung von Vergangenheit u n d Gegenw a r t i m Verstehen 156 I I . Z u r Möglichkeit einer Disziplinierung der Vorurteile
165
I I I . Z u r Notwendigkeit einer ideologiekritischen Fundierung der V e r stehensprozesse 171 C. Juristische Hermeneutik I. Tatbestand u n d Sinnerkenntnis I I . Tatbestand u n d Rechtsfall I I I . Tatbestand u n d Typus
175 175 184 195
nsverzeichnis
9
§ 5. Das Verstehen der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale i m Steuerrecht 199 A. Möglichkeiten u n d Grenzen der steuerrechtlichen Hermeneutik
199
I. Hermeneu tische Ausgangslage
199
I I . Konsequenzen
206
B. Privatrechtsbegriffe als Fehlbestimmungen des positiven Rechts
219
I. Fehlbestimmungen i n den Tatbeständen des Steuerrechts
220
I I . Lösungsmöglichkeiten
232
I I I . „Rechtliche Zulässigkeit" einer korrigierenden Auslegung
238
§ 6. Die Richtigkeit des Verstehens und der richterlichen Entscheidung . . 251 A . Verstehen u n d Entscheiden I. Rechtsanwendung, Rechtsentscheidung u n d Verbindlichkeit Gesetze I I . Entscheidungsrichtigkeit u n d politische F u n k t i o n des Richters B. Richtigkeitskontrolle I. Theorie I I . Praxis
251 der 251 256 263 263 270
Literaturverzeichnis
271
Verzeichnis der verwerteten Gerichtsentscheidungen
288
Abkürzungsverzeichnis a. Α. Abs. AcP a. F. AG AktG Anm. AO ARSP Art. AsA AT BB BerlinFG betr. BewG BFH BFHE BGB BGH BGHSt Β GHZ BörsG BRK BStBl. BVerfG BVerfGE DB DJZ DStR D S t Z / A (B) EFG EGBGB ErbStG EStG FG FinArch FR FS GA GBO GS
anderer Ansicht Absatz A r c h i v f ü r die civilistische Praxis alte Fassung Aktiengesellschaft Aktiengesetz Anmerkung Abgabenordnung v o m 16. März 1976 A r c h i v f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie Artikel A r c h i v f ü r schweizerisches Abgabenrecht Allgemeiner T e i l Der Betriebsberater Berlinförderungsgesetz betreffend Bewertungsgesetz Bundesfinanzhof Sammlung der Entscheidungen u n d Gutachten des Bundesfinanzhofs Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Strafsachen Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Zivilsachen Börsengesetz Becker/Riewald/Koch (Kommentar) Bundessteuerblatt Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Der Betrieb Deutsche Juristenzeitung Deutsche Steuer-Rundschau Deutsche Steuer-Zeitung Ausgabe A (bzw. B) Entscheidungen der Finanzgerichte Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Erbschaft- u n d Schenkungsteuergesetz Einkommensteuergesetz Finanzgericht Finanzarchiv Finanz-Rundschau Festschrift Goltdammers Archiv f ü r Strafrecht Grundbuchordnung Gedächtnisschrift, Gedenkschrift
Abkürzungsverzeichnis GmbH GmbHG GmbHR GrEStG GWB HFR HGB HHSp h. M. i. d. R. Inf i. S. d. i. S. v. JB1. JR JurJb JuS JW JZ KG KStG LS m. w . N. N. N. F. NJW ÖStZ PrOVG RAO RFH RFHE RG Rspr. RStBl. Rz. seil. StAnpG StbJb StGB StRK StudGen Sp.
stw
TK Urt. UStG UStR VJSchrStuFR WDStRL
11
Gesellschaft m i t beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften m i t beschränkter H a f tung GmbH-Rundschau Grunderwerbsteuergesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung Handelsgesetzbuch Hübschmann/Hepp/Spitaler (Kommentar) herrschende Meinung i n der Regel Die Information über Steuer u n d Wirtschaft f ü r Industrie, Handel, Handwerk u n d Gewerbe i m Sinne des/der i m Sinne v o n Juristische Blätter Juristische Rundschau Juristen-Jahrbuch Juristische S d i u l u n g Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kammergericht Körperschaftsteuergesetz Leitsatz m i t weiteren Nachweisen Fußnote Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift österreichische Steuer-Zeitung Preußisches Oberverwaltungsgericht Reichsabgabenordnung v o m 22. M a i 1931 Reichsfinanzhof Sammlung der Entscheidungen u n d Gutachten des Reichsfinanzhofs Reichsgericht Rechtsprechung Reichssteuerblatt Randziffer scilicet (nämlich) Steueranpassungsgesetz Steuerberater-Jahrbuch Strafgesetzbuch Steuerrechtsprechung i n K a r t e i f o r m Studium Generale Spalte Steuer u n d Wirtschaft Tipke/Kruse (Kommentar) Urteil Umsatzsteuergesetz Die Umsatzsteuer-Rundschau Viertel Jahresschrift f ü r Steuer- u n d Finanzrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
12 WM Wpg WuW ZAkDR Ziff. ZRP ZSR
Abkürzungsverzeichnis Wertpapier-Mitteilungen Die Wirtschaftsprüfung Wirtschaft u n d Wettbewerb Zeitschrift der Akademie f ü r Deutsches Recht Ziffer Zeitschrift f ü r Rechtspolitik Zeitschrift f ü r Schweizerisches Recht
Vorbemerkung Z u r Absicht der Untersuchung
1. Rechtstheoretiker sind sich längst darüber einig, daß „die hermeneutische Forschung die überkommene Interpretationsmethodologie überrollt" hat 1 . Diese Entwicklung scheint allerdings an der Rechtsprechungspraxis spurlos vorübergegangen zu sein. Offenbar ist es der Theorie bisher nicht gelungen, den praktischen Wert der Untersuchungen zur juristischen Hermeneutik zu verdeutlichen. Bei allen theoretischen Überlegungen, die sich m i t dem Verstehen von Rechtstexten befassen, muß der Beweis erbracht werden, daß sie für den Richter, den Finanzbeamten, den Rechtsanwalt etc. relevant sind. Andernfalls ist kaum damit zu rechnen, daß sie die nötige Beachtung finden. Es genügt also nicht, beispielsweise die grundlegenden Gedanken der philosophischen Hermeneutik zu referieren und i m übrigen darauf zu bestehen, daß deren Bedeutsamkeit ohne weiteres einleuchtet. Vielmehr w i r d es darüber hinaus notwendig sein, die juristische Praxis über den Nutzen der hermeneutischen Theorie aufzuklären. 2. I m Bereich des Steuerrechts scheint man bis heute nicht bemerkt zu haben, daß der traditionellen Methodologie längst der theoretische Boden entzogen ist. Die Entwicklung der allgemeinen Hermeneutik von Schleiermacher bis Gadamer wurde kaum zur Kenntnis genommen 2 . Wer daher den Versuch unternimmt, philosophisch-hermeneutische Erkenntnisse bei der Lösung eines steuerrechtlichen Problems zu verwerten, u m auf diese Weise deren praktische Relevanz nachzuweisen, kann nicht auf vorhandenen Fundamenten aufbauen, sondern muß diese Fundamente erst noch schaffen. Notwendig ist deshalb zunächst die Vermittlung eines Basiswissens über den Sinnbegriff und den Vorgang juristischer Sinnerkenntnis 3 . Damit ist die Grundlegung einer steuerrechtlichen Hermeneutik als Aufgabe formuliert. Die Bedeutung der hermeneutischen Theorie für die steuerrechtliche Praxis läßt sich am Beispiel der privatrechtlich geprägten Merkmale, 1
Simon, Unabhängigkeit S. 77; vgl. auch Rüssmann JuS 1975, 353. So beschränkt sich z. B. Gassner (Interpretation S. 10 N. 20) auf bloße Literaturhinweise, ohne die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Eine Rezeption philosophisch-hermeneutischer Grundgedanken ist i m Bereich des Steuerrechts bislang eigentlich n u r bei Kruse ( T K § 1 StAnpG Rz. 1 ff.; ÖStZ 1975, 195 ff.) zu verzeichnen. 3 Dazu §§ 3, 4 der Arbeit. 2
14
Vorbemerkung
die i n den Tatbeständen des Steuerrechts verwendet werden, besonders eindringlich demonstrieren. Das Problem der Privatrechtsbegriffe soll daher Ausgangs- und Zielpunkt der allgemeinen Überlegungen zur juristischen bzw. steuerrechtlichen Hermeneutik sein 4 . Es w i r d sich zeigen, inwieweit die theoretischen Erkenntnisse zu einer Lösung dieses immer wieder auftauchenden Problems beitragen können. 3. Jede Aufklärung über die praktische Relevanz hermeneutischer Einsichten wäre unvollständig ohne einen Hinweis auf den Stellenwert, den das hermeneutische Verfahren innerhalb des gesamten richterlichen Urteilsprozesses einnimmt. Damit ist vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Verstehen und Entscheiden gestellt. Eine Uberprüfung dieser Frage soll klarstellen, wo die eigentlichen Schwierigkeiten des juristisch-praktischen Handelns liegen 5 . Nur so w i r d man einer Uberschätzung der Verstehens- und Interpretationsproblematik vorbeugen können. 4. Eine Untersuchung, die darauf abzielt, die (hermeneutische) Theorie m i t der (steuerrechtlichen) Praxis zu versöhnen, muß mit K r i t i k von beiden Seiten rechnen. Der Theoretiker w i r d die Anbindung an die Bedürfnisse der steuerrechtlichen Praxis als Ballast empfinden und eine Beeinträchtigung der Analyse des Verstehensphänomens befürchten. Dem Praktiker mag eine solche Analyse, die notwendigerweise den Bereich der Jurisprudenz verläßt, überflüssig erscheinen, weil es i h m zunächst schwerfällt zu erkennen, daß die theoretische Darstellung seine Probleme berührt. Die vorliegende Arbeit w i l l versuchen, dieser K r i t i k durch einen Kompromiß zu entgehen. Deshalb sollen einerseits manche Positionen, die i n der theoretischen Diskussion u m Probleme der juristischen Verstehens- und Entscheidungsprozesse vertreten werden, keine Berücksichtigung finden 6. Andererseits w i r d es kaum möglich sein, auf eine theoretische Grundlegung zu verzichten oder den Nutzen der philosophischen Hermeneutik detailliert an konkreten Fällen aus der steuerrechtlichen Praxis zu erörtern. Es bleibt zu hoffen, daß trotz dieser Verkürzungen neue Erkenntnisse über den Vorgang der Sinnerkenntnis und vor allem auch über das Verstehen der privatrechtlich geprägten Tatbestandsmerkmale des Steuerrechts vermittelt werden können. 4
Dazu v o r allem §§ 1, 2 u n d § 5 der Arbeit. Dazu § 6 der Arbeit. 6 So muß etwa auf eine Auseinandersetzung m i t der K r i t i k der philosophischen Hermeneutik durch Albert (in: „Hermeneutik u n d Real Wissenschaft") verzichtet werden. Auch die Darstellung der v o n Luhmann (ζ. B. i n : „ L e g i t i mation durch Verfahren") verteidigten Systemtheorie, die insbesondere i m Zusammenhang m i t der Frage nach der „Richtigkeit" des juristischen V e r stehens u n d Entscheidens Bedeutung erlangt, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. 5
§ 1. Zur Problematik der Privatrechtsbegriffe im Steuerrecht A. Sprachliche Parallelen zwischen Privatrecht und Steuerrecht Gegenstand der folgenden Untersuchung sind Begriffe, die sowohl i m Privatrecht als auch i n den Tatbeständen des Steuerrechts verwendet werden. Es ist die Frage zu beantworten, welche Auswirkungen die Begriffsverwendung i m Privatrecht auf das Verständnis der steuerrechtlichen Tatbestände hat, i n denen dieselben oder ähnliche Begriffe Verwendung gefunden haben. Das Wort „Begriff" meint i n diesem Zusammenhang jeden sprachlichen Ausdruck, der Teil eines Tatbestandes (Tatbestandsmerkmal) sein kann. „Tatbestand" soll derjenige Teil eines Rechtstextes heißen, der die Voraussetzungen für den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen zur Sprache bringt 1 . Der Bereich des privaten Rechts umfaßt das Bürgerliche Recht 2 , das Handels-, Gesellschafts-, Wertpapier-, Urheber- und Wettbewerbsrecht sowie das Arbeitsrecht 3 . I. Begriffliche
Identität
Bei Begriffen, die zunächst nur i n privatrechtlichen Tatbeständen oder i n der privatrechtlichen Dogmatik verwendet worden sind und erst zu einem späteren Zeitpunkt Eingang i n steuerrechtliche Tatbestände ge1 Ä h n l i c h Engisch, Einführung S. 33, u n d Kruse, Lehrbuch S. 26, die allerdings nicht den T e x t selbst, sondern den T e x t i n h a l t als Tatbestand betrachten. 2 A l s „Bürgerliches Recht" (gleichbedeutend: „Zivilrecht") bezeichnet m a n gewöhnlich denjenigen T e i l des Privatrechts der auf dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) u n d seinen Ergänzungsgesetzen (ζ. B. GBO) beruht; vgl. Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner T e i l S. 2; ebenso Polland, Privatrecht S. 51 N. 216; Brandt, Beurteilung S. 2 N. 2. 3 Vgl. Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner T e i l S. 2 ff. Die Einteilung i n öffentliches Recht ( = ius publicum) u n d Privatrecht ( = ius privatum) geht auf römische Rechtsvorbilder (Ulpian) zurück, ist also historisch bedingt u n d keineswegs logisch notwendig; vgl. Wiethölter, Rechtswissenschaft S. 167; anders w o h l Radbruch, Rechtsphilosophie S. 224 ff. Es mag dahingestellt bleiben, ob diese Gegenüberstellung nicht überholt ist u n d n u r noch dazu dient, „vordergründige Systematisierungsbedürfnisse zu befriedigen" (Wiethölter), Dagegen w i r d noch zu k l ä r e n sein, i n w i e w e i t die Beschränkung der U n t e r suchung auf Begriffe aus dem Privatrecht v o n der Problematik her gerechtfertigt ist; dazu § 1 C.
16
§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
funden haben 4 , ergibt sich auf Grund der äußeren, sprachlichen Parallelität die Frage, ob und inwieweit auch eine inhaltliche Ubereinstimmung zwischen dem Steuerrecht und dem Privatrecht besteht. Die A n t wort fällt leicht, sofern die Steuergesetze i n den Fällen der begrifflichen Identität durch ausdrückliche Verweisung auf die privatrechtliche Begriffsbestimmung klarstellen, daß eine privatrechtskonforme Deutung maßgebend sein soll 5 . Unproblematisch erscheint die Interpretation 6 auch dann, wenn das Steuerrecht zwar ein Tatbestandsmerkmal des privaten Rechts verwendet (ζ. B. „Wohnsitz", § 21 Abs. 1 BerlinFG), i h m aber durch besondere Vorschriften (§ 8 AO) einen steuerspezifischen Inhalt gibt 7 . Schwierigkeiten ergeben sich eigentlich erst dort, wo der steuerrechtliche und der privatrechtliche Sprachgebrauch identische Begriffe aufweist, ohne daß sich aus den Gesetzen besondere Hinweise auf inhaltliche Parallelen oder Divergenzen ergeben 8 . 1. Das Problem ist sofort erkennbar, wenn der i m Steuerrecht verwendete Begriff m i t dem Merkmal eines privatrechtlichen Tatbestandes übereinstimmt. Jeder Interpret, der diese sprachliche Parallele bemerkt, muß sich die Frage stellen, ob die begriffliche Identität eine inhaltliche Konformität bedingt. Die Praxis zeigt, daß die Antworten unterschiedlich ausfallen, je nachdem welcher Begriff von wem inhaltlich bestimmt wird. a) Bei dem Wort „Gegenstand", das nicht nur i n einigen bürgerlichrechtlichen Tatbeständen (etwa § 351 BGB), sondern z.B. auch i n § 3 Abs. 1 UStG auftaucht, ist man sich über die Notwendigkeit und Zulässigkeit einer eigenständigen steuerrechtlichen Begriffsbestimmung weitgehend einig. „Gegenstand" w i r d i m BGB ebenso wenig definiert wie i m UStG. Aus § 90 BGB ist allerdings zu ersehen, daß zu den Gegenständen nicht nur Sachen gehören. Für den Bereich des Bürgerlichen Rechts läßt sich daher feststellen, daß der Gegenstandsbegriff auch Vermögensrechte, 4 Die Formulierung, das Steuerrecht habe diese Begriffe aus dem P r i v a t recht „übernommen" (so ζ. B. Gassner, Interpretation S. 130/131), w i r d bew u ß t vermieden, u m den Eindruck einer sachlichen Priorität des Privatrechts zu vermeiden u n d die Problemlösung nicht zu präjudizieren. 5 Dazu Crisolli, Lehrbuch S. 38; BühlerIStrickrodt, Steuerrecht S. 174/175; Wenz, Speyer-FS S. 309 f.; v. Wallis, Spitaler-GS S. 209; Spanner, Wacke-FS S. 181. 6 „Interpretation" u n d „Auslegung" werden vorläufig dem üblichen V e r ständnis entsprechend i. S. v. „Begriffsdeutung" gebraucht (vgl. etwa Gassner, Interpretation S. 10). Ob damit die Wortbedeutung richtig erfaßt ist, w i r d noch zu prüfen sein; dazu § 2 Β . I I . 7 Vgl. Bühlerl Strickrodt, Steuerrecht S. 175; Wenz, Speyer-FS S. 311 f.; Spanner, Wacke-FS S. 181. 8 So auch Wenz, Speyer-FS S. 312.
Α . Sprachliche Parallelen zwischen Privatrecht u n d Steuerrecht
17
immaterielle Güterrechte sowie rein tatsächliche Verhältnisse erfaßt, die einen gewissen Vermögenswert haben (wie etwa Kundschaft, Geschäftsgeheimnisse, Zeitungstitel oder auch das „Geschäft", das „Unternehmen") 9 . Wäre diese Interpretation auch für das Umsatzsteuerrecht maßgebend, so hätte man beispielsweise ein Verlagsrecht, das i m B ü r gerlichen Recht unbestritten zu den Gegenständen gehört, auch als Gegenstand i. S. d. § 3 Abs. 1 UStG zu behandeln. Die Übertragung eines solchen Rechts müßte dann als Lieferung anerkannt werden — m i t der Folge, daß die Übertragung ausländischer Verlagsrechte u. U. nicht der deutschen Umsatzbesteuerung unterläge (§ 3 Abs. 6 UStG). Der BFH 1 0 lehnt eine privatrechtkonforme Interpretation ab und geht statt dessen davon aus, daß mit „Gegenstand" (§ 3 Abs. 1 UStG) nur körperliche Gegenstände ( = Sachen i. S. d. § 90 BGB), Sachgesamtheiten sowie solche Wirtschaftsgüter gemeint sind, die i m Wirtschaftsverkehr wie Sachen behandelt werden (z.B. elektrischer Strom). „Rechte sind dagegen keine gegenstände 4 , die i m Rahmen einer Lieferung übertragen werden können" 1 1 . Aus diesem Grunde betrachtet die Rechtsprechung nicht nur die Übertragung von Verlagsrechten, sondern ζ. B. auch die Nachrichtenübermittlung durch Presseagenturen, bei der die Übertragung des Rechts der Veröffentlichung wesentlich ist, als sonstige Leistung 1 2 — mit der Folge, daß sich die Möglichkeit einer deutschen Umsatzbesteuerung nach § 3 Abs. 10 UStG bestimmt. b) M i t der gleichen Entschiedenheit, m i t der er bei der inhaltlichen Bestimmung des Ausdrucks „Gegenstand" (§ 3 Abs. 1 UStG) eine Bindung an das bürgerlich-rechtliche Begriffsverständnis ablehnt, geht der 5. Senat des B F H bei der Deutung des Grundstücksbegriffs, der i n § 4 Nr. 12 a) UStG als Tatbestandsmerkmal genannt ist, davon aus, daß dieser Privatrechtsbegriff i m Umsatzsteuerrecht grundsätzlich dieselbe Bedeutung hat wie i m Bürgerlichen Recht 13 . I n der privatrechtlichen Dogmatik w i r d „Grundstück" normalerweise definiert als „katastermäßig vermessener und bezeichneter Teil der Erd9 Vgl. dazu Staudinger /Coing, Kommentar § 90 Rz. 5, m i t Hinweisen auf die Rspr. des RG; Westermann i n Erman, Handkommentar § 90 Rz. 1. 10 BStBl. 1970, 706; vgl. auch Wauer UStR 1971, 34; Plückebaum/Malitzky, Kommentar § § 1 - 3 Rz. 847/2. 11 B F H BStBl. 1970, 706 (707). 12 Dazu R F H RStBl. 1942, 285; PlückebaumlMalitzky, Kommentar § § 1 - 3 Rz. 847/1. Auch Filmaufführungsrechte, die durch sog. Filmleihverträge übertragen werden, werden nicht als Gegenstand einer Lieferung i. S. d. § 3 Abs. 1 UStG angesehen; vgl. R F H RStBl. 1944, 446; 1944, 614; B F H BStBl. 1957, 93. 13 Vgl. B F H BStBl. 1967, 209; so auch schon das Schleswig-Holsteinische F G EFG 1957, 222 (223); Hinweise dazu bei PlückebaumlMalitzky, Komment a r § 4 Nr. 12 Rz. 410; Polland, Privatrecht S. 89.
2 Maaßen
18
§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
Oberfläche, der i m Grundbuch als »Grundstück 4 (...) geführt w i r d " 1 4 . Als Grundstück sind nach Bürgerlichem Recht auch die wesentlichen Bestandteile eines Grundstücks (§ 94 BGB) zu behandeln, nicht dagegen die Scheinbestandteile, „die nur zu einem vorübergehenden Zwecke m i t dem Grund und Boden verbunden sind" (§ 95 Abs. 1 BGB). Der B F H 1 5 vertritt die Auffassung, daß dem Grundstücksbegriff des § 4 Nr. 12 a) UStG kein anderer Inhalt gegeben werden darf, „als er durch die §§ 94 und 95 BGB erhalten hat". Die damit postulierte A n lehnung an das Bürgerliche Recht bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den Kreis der Umsätze, die gemäß § 4 Nr. 12 a) UStG von der Umsatzsteuer befreit sind: Während für die Vermietung und Verpachtung von Gebäuden, die auf Grund des § 94 Abs. 1 BGB zu den wesentlichen Bestandteilen eines Grundstücks gehören, nach Ansicht des B F H keine Umsatzsteuer zu entrichten ist, soll die Befreiungsvorschrift des § 4 Nr. 12 a) UStG nicht für die Vermietung und Verpachtung von Gebäuden gelten, die nur zu einem vorübergehenden Zweck auf dem Grundstück errichtet worden sind und daher auch nicht zu den Bestandteilen eines Grundstücks gehören (§ 95 Abs. 1 BGB). c) I n welches Dilemma die Rechtsprechung durch die Verwendung privatrechtlicher Tatbestandsmerkmale i m Steuerrecht gebracht wird, hat sich i n der Vergangenheit an der wechselhaften Deutung des Ausdrucks „stiller Gesellschafter" besonders deutlich gezeigt. Es handelt sich dabei u m einen Privatrechtsbegriff, der sowohl i n § 335 Abs. 1 HGB als auch — zum Beispiel — i n § 8 Nr. 3 GewStG verwendet wird. Handelsrechtlich ist jemand stiller Gesellschafter, wenn er sich an dem Handelsgewerbe eines anderen (des Inhaber des Handelsgeschäfts) i n der Weise beteiligt, daß er i n das Vermögen des Geschäftsinhabers eine Vermögenseinlage leistet und dafür am Gewinn des Geschäftsbetriebs teilnimmt, §§ 335, 336 HGB 1 8 . I m Steuerrecht w i r d nun die Frage akut, ob man bei der Anwendung des § 8 Nr. 3 GewStG an den handelsrechtlichen Begriff der stillen Gesellschaft gebunden ist oder von dieser Begriffsbestimmung abweichen kann, indem etwa auf eine Vermögenseinlage oder die Beteiligung an einem Handelsgewerbe verzichtet und z.B. auch ein Darlehens-, Arbeits- oder Pachtverhältnis als stille Gesellschaft i. S. d. Gewerbesteuerrechts akzeptiert wird. 14 Baur, Lehrbuch S. 123; vgl. auch Staudinger/Seufert, Kommentar, V o r bem. § 873 Rz. 1; Wolff/Raiser , Sachenrecht S. 113; Wolf, Sachenrecht S. 13. 15 BStBl. 1967, 209; a. A . Wegemer UStR 1957, 109ff.; vgl. auch die K o n troverse QualenjWegemer UStR 1957, 175 f. 1β Vgl. auch Schlegelberger/Geßler, Handelsgesetzbuch § 335 Rz. 1; Reinhardt, Gesellschaftsrecht S. 127 (vor A n m . 290); Lenski/Steinberg, Kommentar § 8 Nr. 3 Rz. 2.
Α . Sprachliche Parallelen zwischen Privatrecht u n d Steuerrecht
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Die Rechtsprechung hat diese Frage früher anders beantwortet als heute. Der RFH ging noch davon aus, daß der Begriff des stillen Gesellschafters i m Gewerbesteuerrecht „freier" und „weiter" zu fassen ist als i m Handelsrecht und daß daher die Voraussetzungen des § 8 Nr. 3 GewStG auch dann erfüllt sind, wenn eine stille Beteiligung i. S. d. §§ 335, 336 HGB zwar nicht vorliegt, statt dessen aber ein „gesellschaftsähnliches Dauerverhältnis" gegeben ist 1 7 . Der B F H übernahm zunächst die Rechtsprechung des RFH 1 8 , hatte dann allerdings „Bedenken, an der ausdehnenden Auslegung des § 8 Ziff. 3 GewStG hinsichtlich des Begriffs der stillen Gesellschaft festzuhalten" 19 . Schließlich gab der B F H 2 0 diese Rechtsprechung auf und zog nunmehr aus der Verwendung „feststehender" privatrechtlicher Begriffe durch den Steuergesetzgeber die Schlußfolgerung, daß damit i. d. R. an das Privatrecht angeknüpft werden soll. Somit kann nach der geänderten Auffassung des B F H für die Gewerbesteuer kein anderer Begriff des stillen Gesellschaftsers zugrundegelegt werden, als er i n §§ 335, 336 HGB festgelegt ist 2 1 . Diese grundsätzliche Bindung an die Begriffsbestimmung des Handelsrechts w i r d von der Rechtsprechung allerdings dadurch unterlaufen, daß sie für die Annahme einer stillen Gesellschaft die Beteiligung an einem Gewerbe schlechthin genügen läßt, eine Beteiligung an einem Handeisgewerbe demnach nicht für erforderlich hält 2 2 . Während eine stille Gesellschaft nach Handelsrecht überhaupt nicht entstehen kann, wenn dem Inhaber eines Gewerbebetriebs die Kaufmannseigenschaft fehlt 2 3 , braucht der Gewerbetreibende, m i t dem eine stille Gesellschaft 17
So R F H RStBl. 1938, 556; 1940, 915. So ausdrücklich B F H BStBl. 1956, 4; vgl. aber auch B F H BStBl. 1958, 278; 1959, 49; H F R 1962, 270; H F R 1963, 111. Heinlein (DStZ/A 1962, 185) stimmt dieser Rspr. zu, während Birkholz (DB 1963, 1445) sie ablehnt. 19 B F H BStBl. 1963, 370 (371); vgl. auch B F H BStBl. 1964, 511 (512): „Der Senat teilt diese (seil.: i n dem U r t . v. 27. 2. 1963 — B F H BStBl. 1963, 370 — geäußerten) Bedenken gegen eine v o m Zivilrecht abweichende Verwendung bürgerlich-rechtlicher Begriffe i m Steuerrecht."; vgl. die zustimmende A n m . v o n Paulick S t R K - A n m . GewStG § 8 Ziff. 2 - 9 R. 49 S. 1. I n beiden Entscheidungen wurde zu dieser Frage nicht abschließend Stellung genommen, da jedenfalls die handelsrechtlichen Voraussetzungen einer stillen Gesellschaft vorlagen. 20 BStBl. 1965, 49; 1965, 51; dazu Paulick S t R K - A n m . GewStG § 8 Ziff. 2 - 9 R. 49 S. 2; R. 56 S. 1. 21 So auch B F H S t R K GewStG § 8 Ziff. 2 - 9 R. 72 m i t A n m . Paulick; S t R K GewStG § 8 Ziff. 2 - 9 R. 79; BStBl. 1965, 558 m i t A n m . Paulick S t R K - A n m . GewStG § 8 Ziff. 2 - 9 R. 70; BStBl. 1966, 95; 1968, 356; 1971, 815; 1972, 187 m i t A n m . Paulick S t R K - A n m . GewStG § 8 Ziff. 2 - 9 R. 107. I n der L i t e r a t u r wurde die Änderung der Rspr. allgemein begrüßt; vgl. etwa Blümich/Boyens, Gewerbesteuergesetz § 8 A n m . 18 (S. 777/778); Lenski! Steinberg, Kommentar § 8 Ziff. 3 Rz. 2 (S. 6). 22 Vgl. B F H BStBl. 1963, 370; 1965, 49 (50); S t R K GewStG § 8 Ziff. 2 - 9 R. 79; BStBl. 1965, 558 (559); 1966, 95; 1971, 308; 1972,187 (188). 23 Dazu Schlegelberger/Geßler, Handelsgesetzbuch § 335 Rz. 7, 10; Reinhardt, Gesellschaftsrecht S. 128 (Anm. 293); so auch Paulick StRK-Anm. GewStG § 8 Ziff. 2 - 9 R. 49 S. 2. 18
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
i. S. d. Gewerbesteuerrechts Zustandekommen soll, nicht i m Handelsregister eingetragen zu sein, auch wenn er gemäß § 2 HGB nur durch Eintragung i n das Handelsregister Kaufmann und sein Unternehmen nur dadurch zum Handelsgewerbe werden kann 2 4 . Einerseits sollen also die Voraussetzungen einer stillen Gesellschaft i. S. d. § 8 Nr. 3 GewStG nach den Grundsätzen des Handelsrechts bestimmt werden, andererseits w i r d aber diese Bindung an das Privatrecht durch den Verzicht auf das Merkmal „Handelsgewerbe" wieder aufgehoben 25 . 2. Interpretationsprobleme ergeben sich nicht nur i n den Fällen der Teilidentität eines privatrechtlichen Tatbestandes m i t einem steuerrechtlichen Text, vielmehr stellt sich die Frage der Verbindlichkeit privatrechtlicher Deutungen auch bei solchen Begriffen, die zwar nicht i n einem Tatbestand des privaten Rechts, wohl aber i n der privatrechtlichen Dogmatik verwendet werden. Als Beispiel sei das Wort „übereignet" genannt, das zwar i n § 75 Abs. 1 AO zu finden ist, i n einer privatrechtlichen Vorschrift dagegen — soweit ersichtlich — nicht auftaucht. Dennoch w i r d auch bei diesem Begriff eine Verbindung zum Privatrecht sofort erkennbar, denn es ist bekannt, daß man die Übertragung des Eigentums an beweglichen Sachen gemäß §§ 929 ff. BGB i n der bürgerlich-rechtlichen Dogmatik gewöhnlich als „Ubereignung" bezeichnet. A u f Grund dieser begrifflichen Parallelität liegt die Vermutung nahe, daß das Merkmal „übereignet" i n § 75 Abs. 1 AO lediglich als Synonym für die Eigentumsübertragung nach Bürgerlichem Recht (§§ 929 ff. BGB) aufgeführt wird 2 6 . I m Steuerrecht überwiegt allerdings die Auffassung, daß es bei § 75 Abs. 1 AO nicht auf eine Ubereignung i m bürgerlich-rechtlichen Sinne ankommt, sondern auf die Schaffung eines tatsächlichen Zustandes, der 24
Lenski/Steinberg (Kommentar § 8 Ziff. 3 Rz. 2 [S. 5]) weisen darauf hin, daß damit gewerbesteuerrechtlich auch ein stilles Gesellschaftsverhältnis an einer BGB-Gesellschaft möglich ist, sofern diese eine gewerbliche Tätigkeit ausübt. 25 Wenn der B F H (BStBl. 1965, 558 [560]) außerdem davon ausgeht, daß die Vermögenseinlage (§ 335 Abs. 1 HGB) auch i n Dienstleistungen bestehen kann, so liegt darin keine Abweichung v o m Handelsrecht, denn auch i m Rahmen des § 335 H G B k a n n die Leistung v o n Diensten Vermögenseinlage sein; vgl. dazu SchlegelbergerlGeßler, Handelsgesetzbuch § 335 Rz. 14 m. w . N.; Lenski/Steinberg, Kommentar § 8 Ziff. 3 Rz. 2 (S. 4). 26 Eine solche Bedeutungsgleichheit unterstellt ζ. B. das F G Nürnberg EFG 1957, 421. Die amtliche Begründung zu § 21 Nr. 11 S t A n p G (RStBl. 1934, 1398 ff., insbes. S. 1414) — m i t dieser Vorschrift wurde der Begriff „veräußert" i n § 116 Abs. 1 R A O (inzwischen: § 75 Abs. 1 AO) durch „übereignet" ersetzt — geht ebenfalls davon aus, daß m i t dem Begriff der Übereignung eine Eigentumsübertragung i. S. d. §§ 929 ff. B G B gemeint ist; dazu Habscheid FR 1968, 347; Hessisches F G EFG 1956, 237; F G Bremen E F G 1957, 249. Offenbar meint auch Cerutti (DStZ/A 1957, 289 f.), daß eine inhaltliche Übereinstimm u n g m i t dem bürgerlich-rechtlichen Begriff der Übereignung besteht.
Α . Sprachliche Parallelen zwischen Privatrecht u n d Steuerrecht
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sich i n wirtschaftlicher Hinsicht als Übertragung des gesamten Unternehmens darstellt 27 . Akzeptiert man diese Auffassung, so liegt eine Ubereignung i. S. d. § 75 Abs. 1 AO immer dann vor, wenn der Erwerber eines Unternehmens i n die Lage versetzt wird, wirtschaftlich wie ein Eigentümer darüber zu verfügen — gleichgültig, ob man i h n auch nach Bürgerlichem Recht als Eigentümer behandeln müßte oder nicht 2 8 . M i t dieser Begriffsbestimmung ist es möglich, einerseits bei der Ubertragung von Sachen unter Eigentumsvorbehalt bereits von einer haftungsbegründenden Ubereignung (§ 75 Abs. 1 AO) auszugehen 29 und andererseits eine solche Ubereignung i m Falle der Eigentumsübertragung zu Sicherungszwecken zu verneinen 30 . Außerdem können — falls man der „wirtschaftlichen" Interpretation folgt — nach § 75 Abs. 1 AO auch Forderungen und sonstige Rechte „übereignet" (bürgerlichrechtlich: „abgetreten") werden 31 . Diese Begriffsbestimmung w i r d normalerweise als „Abweichung" vom Privatrecht empfunden 32 , obwohl der Ubereignungsbegriff i n den privatrechtlichen Tatbeständen keine Verwendung gefunden hat. Insoweit genügt es schon, daß der Ausdruck „übereignet" mit einer i n der privatrechtlichen Dogmatik verwendeten Bezeichnung identisch ist. Gerade w e i l diese sprachliche Ubereinstimmung auf eine inhaltliche Identität 27 Vgl. etwa B F H H F R 1961, 256 m . w . N . ; BStBl. 1967, 684; Schleswig-Holsteinisches F G EFG 1972, 258; F G B e r l i n E F G 1973, 292 (293); v. Wallis H H S p § 116 A O Rz. 6 (S. 7); Schulze zur Wiesche DStR 1972, 561; vgl. auch Kruse, Lehrbuch S. 103 (betr. § 11 Nr. 1, 2 StAnpG). 28 Kruse T K § 116 A O Rz. 6 (S. 318); Hessisches F G E F G 1956, 237; Niedersächsisches F G D S t Z / B 1960, 479; Hessisches F G 1968, 327 (328); SchleswigHolsteinisches F G EFG 1972, 258 (259); F G B e r l i n EFG 1973, 292 (293); so i m Grunde auch Hessisches F G EFG 1971, 465: Einerseits hält der Senat grds. eine bürgerlich-rechtliche Übereignung f ü r notwendig, andererseits schränkt er diesen Grundsatz so stark ein, daß er letztlich zu denselben Ergebnissen w i e die h. M. k o m m t ; ähnlich B F H B B 1966, 1438; BStBl. 1969, 303. 29 So B F H BStBl. 1957, 309; S t R K A O § 116 R. 4; H F R 1961, 256; H F R 1963, 449; BStBl. 1967, 684 m i t A n m . Habscheid FR 1968, 347 ff.; vgl. auch Kruse T K § 116 A O Rz. 6 (S. 318); v. Wallis H H S p § 116 A O Rz. 6 (S. 7); a. A . F G Nürnberg EFG 1957, 421. 30 So z . B . R F H RStBl. 1935, 1354; B F H DStRu 1952, 177; S t R K A O § 116 R. 5; H F R 1961, 256; BStBl. 1962, 455; H F R 1963, 449; BStBl. 1967, 684; vgl. auch v. Wallis H H S p § 116 Rz. 6 (S. 8); Cerutti D S t Z / A 1957, 289 f. I m Bürgerlichen Recht w i r d i n einem solchen F a l l eine wirksame Ubereignung angenommen. Umstritten ist lediglich, ob der Sicherungseigentümer i m Wege der Drittwiderspruchsklage (§ 771 ZPO) vorgehen k a n n ; vgl. dazu Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung § 805 A n m . 1. 31 B F H StRK A O § 116 R. 4; H F R 1961, 256; BStBl. 1969, 303; Hessisches F G EFG 1956, 237; F G Düsseldorf DStZ/B 1962, 407; Schleswig-Holsteinisches F G E F G 1972, 258; F G B e r l i n E F G 1973, 292 (293f.); υ. Wallis H H S p § 116 A O Rz. 6 (S. 7). 32 Vgl. etwa B F H S t R K A O § 116 R. 4; H F R 1961, 256; BStBl. 1962, 455; 1967, 684; Hessisches F G E F G 1971, 465 (466); Schleswig-Holsteinisches F G E F G 1972, 258/259; F G B e r l i n E F G 1973, 292 (293).
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
hinzuweisen scheint, w i r d i n manchen Entscheidungen ausdrücklich vermerkt, daß die inhaltliche Bestimmung eines Merkmals wie „übereignet" an sich dem Bürgerlichen Recht zu folgen habe. Der damit aufgestellte Grundsatz w i r d allerdings unmittelbar darauf wieder eingeschränkt durch die lapidare Feststellung, daß § 75 Abs. 1 A O „den Begriff ,übereignet' i n einer gegenüber dem bürgerlichen Recht erweiterten (...) Bedeutung" verwende 33 . IL Begriffliche
Ähnlichkeit
und mittelbare
Übereinstimmung
Eine privatrechtliche Orientierung kann sich bei der inhaltlichen Bestimmung steuerrechtlicher Tatbestände auch dann anbieten, wenn eine begriffliche Identität zwischen dem Steuerrecht und dem Privatrecht nicht besteht. Insoweit genügt bereits eine begriffliche Ähnlichkeit oder eine mittelbare Übereinstimmung des steuerrechtlichen Sprachgebrauchs mit dem des privaten Rechts. 1. Derselbe rechtliche Inhalt läßt sich durch unterschiedliche Sprachzeichen zum Ausdruck bringen. Oft genug sind dabei die sprachlichen Divergenzen so gering, daß sich der Interpret allein schon wegen der daraus resultierenden begrifflichen Ähnlichkeit die Frage vorlegen muß, ob nicht bei aller Verschiedenheit der Formulierungen dieselbe Sache gemeint ist. Beispielhaft ist insoweit der Ausdruck „gesetzlich unterhaltsberechtigte Person" (§ 12 Nr. 2 EStG), dessen Deutung durch die privatrechtlichen Regelungen zur gesetzlichen Unterhaltspflicht (§§ 1360 f., 1601 ff., 1708 ff. BGB; §§ 58 ff. EheG) 34 determiniert zu sein scheint. Denn: Eine gesetzlich unterhaltsberechtigte Person ist nichts anderes als eine Person, der gegenüber eine Unterhaltspflicht kraft Gesetzes besteht; eine gesetzliche Regelung der Unterhaltspflicht findet sich nur i n bürgerlichrechtlichen Vorschriften; somit liegt die Vermutung nahe, daß i n dem Begriff der gesetzlich unterhaltsberechtigten Person lediglich die verschiedenen Formulierungen, m i t denen das private Recht den Kreis der unterhaltsberechtigten Personen beschreibt, auf eine kurze Formel gebracht sind. Wer § 12 Nr. 2 EStG i n diesem Sinne versteht, w i r d eine Zuwendung für „nicht abzugsfähig" halten, sofern sie der Erfüllung eines Unterhaltsanspruchs dient, der auf Grund privatrechtlicher Normen gegen den Steuerpflichtigen geltend gemacht werden kann 3 5 . E i n solcher Anspruch 33
B F H BStBl. 1967, 684. Vgl. dazu auch Staudinger/Gotthardt, Kommentar, Vorbem. § 1601 Rz. 22 m i t Hinweisen auf weitere Unterhaltsregelungen. 85 So z. B. F G Freiburg EFG 1955, 361. 34
Α . Sprachliche Parallelen zwischen Privatrecht u n d Steuerrecht
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besteht grundsätzlich nur dann, wenn sowohl die sachlichen als auch die persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind 36 . Entfällt also z.B. die Bedürftigkeit (§ 1602 BGB), so wäre derjenige, dem die Verwandten bis dahin gemäß § 1601 ff. BGB Unterhalt gewähren mußten, nicht mehr gesetzlich unterhaltsberechtigte Person. N u n hat sich allerdings i m Steuerrecht die Auffassung durchgesetzt, es sei unerheblich, ob „nach bürgerlichem Recht unter Berücksichtigung der persönlichen Bedürftigkeit oder Leistungsfähigkeit der Beteiligten ein Unterhaltsanspruch tatsächlich besteht" 37 . Vielmehr genüge insoweit eine potentielle Unterhaltspflicht. Und das bedeutet: I m Steuerrecht soll allein darauf abgestellt werden, ob der Empfänger der Zuwendungen nach Bürgerlichem Recht einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch haben kann 38. Zuwendungen an eine gesetzlich unterhaltsberechtigte Person (§12 Nr. 2 EStG) können demzufolge selbst dann vorliegen, wenn der Empfänger der Leistung tatsächlich keinen Unterhaltsanspruch hat oder die Zuwendungen über das hinausgehen, was der Empfänger nach Bürgerlichem Recht beanspruchen darf 3 9 , schließlich auch dann, wenn der Empfänger auf einen i h m zustehenden Unterhaltsanspruch bei gleichzeitiger Einräumung eines vertraglichen Anspruchs verzichtet hat 4 0 . Die Rechtsprechung ist sich durchaus bewußt, daß der Ausdruck „gesetzlich unterhaltsberechtigte Person" normalerweise eine privatrechtsorientierte Interpretation motivieren dürfte. Wohl aus diesem Grunde bildet die bürgerlich-rechtliche Regelung der gesetzlichen Unterhaltspflicht zumeist den Ausgangspunkt der finanzgerichtlichen Entscheidungen 41 . Und dementsprechend w i r d jede Begriffsbestimmung, die m i t dem 86 Dazu Gernhuber, Lehrbuch S. 463; Staudinger/Gotthardt, Kommentar, Vorbem. § 1601 Rz. 21. 87 B F H BStBl. 1961, 188 (Satz 2 des 1. LS); vgl. auch R F H RStBl. 1931, 23; 1936, 1133; 1943, 516; B F H BStBl. 1953, 265; 1957, 207; 1959, 172; S t R K EStG § 12 Ziff. 2 R. 40; BStBl. 1970, 115; 1973, 778; ebenso Littmann, Kommentar § 12 Rz. 103; Herrmann! Heuer, K o m m e n t a r § 12 EStG Rz. 10 (E 37). 88 So R F H RStBl. 1933, 1008; 1936, 1133; 1943, 516; B F H BStBl. 1959, 172; 1961, 188 u n d 535 m i t A n m . Hippe S t R K - A n m . EStG § 12 Ziff. 2 R. 31; B F H S t R K § 12 Ziff. 2 R. 40; B F H BStBl. 1970, 115; 1970, 376; 1971, 99; 1973, 776; 1974, 86. 89 Herrmann/Heuer, K o m m e n t a r § 12 EStG Rz. 10 (E 37) m . w . N . ; B F H BStBl. 1973, 776; a. A . F G Freiburg E F G 1955, 361. 40 B F H BStBl. 1970, 115 (116); 1970, 376 (377); 1971, 99 (101); 1973, 776 (777); 1974, 86 (LS). Das Abzugsverbot des § 12 Nr. 2 EStG soll allerdings nicht eingreifen, w e n n den Zuwendungen bei Fehlen eines konkreten privatrechtlichen Unterhaltsanspruchs eine Gegenleistung gegenübersteht; so R F H RStBl. 1933, 1287; B F H BStBl. 1957, 207 (209); 1961, 188 (189). 41 Vgl. etwa B F H BStBl. 1974, 86 (87): „ O b eine gesetzliche Unterhaltspflicht i m Sinne des § 12 Nr. 2 EStG besteht, richtet sich nach bürgerlichem Recht."; dazu auch R F H RStBl. 1928, 5; B F H BStBl. 1961, 188 (190); 1970, 115 (116); 1970, 376; 1971, 99 (100); 1973, 776 (778).
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. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
Inhalt der privatrechtlichen Unterhaltsregelungen nicht mehr übereinstimmt, als besonders zu rechtfertigende Abweichung empfunden. Es zeigt sich also, daß derjenige, der eine begriffliche Ähnlichkeit zwischen dem Steuerrecht und dem Privatrecht zu bemerken glaubt, prinzipiell vor den gleichen Problemen steht, die er i n den Fällen der begrifflichen Identität zu lösen hat. 2. Privatrechtliche Assoziationen werden sich vielfach auch dann einstellen, wenn eine Ähnlichkeit oder Identität steuerrechtlicher Tatbestandsmerkmale mit Begriffen der privatrechtlichen Sprachwelt nicht erkennbar ist. Denn mancher sprachliche Ausdruck, der sich als steuerrechtlicher Eigenbegriff darstellt, ist trotz seiner begrifflichen Eigen-Art auf indirekte Weise m i t dem Privatrecht verknüpft 4 2 . So läßt sich ζ. B. bei dem Begriff der verdeckten Gewinnausschüttung (§ 8 Abs. 3 Satz 2 KStG) ein Zusammenhang m i t dem privaten Recht nachweisen, obwohl es diesen Ausdruck oder eine damit vergleichbare Formulierung i m Privatrecht nicht gibt. Wenn eine körperschaftsteuerpflichtige Gesellschaft einem ihrer Gesellschafter „Zinsen" für ein Darlehen des Gesellschafters an die Gesellschaft auszahlt, so stellt sich die Frage, ob diese „Zinszahlung" nicht als verdeckte Gewinnausschüttung i. S. d. § 8 Abs. 3 Satz 2 K S t G zu behandeln ist. Betrachtet man den Gewinn einer Kapitalgesellschaft als Ertrag des von den Gesellschaftern eingezahlten Stammkapitals, so kann allerdings die Zahlung von „Darlehenszinsen" nur dann als (verdeckte) Ausschüttung eines Gewinns angesehen werden, wenn diese Zuwendung tatsächlich nicht auf eine Darlehensgewährung, sondern auf die Einzahlung von Stammkapital durch den betreffenden Gesellschafter zurückzuführen ist. Demnach hängt die Verwirklichung des Merkmals „verdeckte Gewinnausschüttung" jeweils davon ab, ob die vorhergehende Zahlung des Gesellschafters an die Gesellschaft als Gewährung eines Darlehens oder als Stammeinlage zu qualifizieren ist. Damit werden aber die Begriffe „Darlehen" und „Stammeinlage", die beide i n privatrechtlichen Tatbeständen zu finden sind 43 , mittelbar zu Tatbestandsmerkmalen des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG 4 4 . E i n Interpret, der diese mittelbare Ubereinstimmung des steuerrechtlichen Sprachgebrauchs m i t dem des privaten Rechts bemerkt, w i r d sich fragen müssen, inwieweit z.B. bei der inhaltlichen Bestimmung des Ausdrucks „Darlehen" dessen privatrechtliche Bedeutung maßgebend ist. Legt man eine am Bürgerlichen Recht orientierte Interpretation zugrunde, so hängt die Annahme einer Darlehensgewährung und die 42
Ä h n l i c h Heintz DStZ 1938, 418. Der Begriff „Stammeinlage" ζ. B. i n g 3 Abs. 1 N r . 4, §g 5, 14, 19 ff., 24 G m b H G ; der Begriff „Darlehen" i n g 607 ff. BGB. 44 So auch Haubrichs, Steuerrecht S. 22. 43
Α. Sprachliche Parallelen zwischen Privatrecht u n d Steuerrecht
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A b l e h n u n g e i n e r v e r d e c k t e n G e w i n n a u s s c h ü t t u n g a l l e i n d a v o n ab, ob die V o r a u s s e t z u n g e n des § 608 A b s . 1 B G B e r f ü l l t sind. D i e Rechtsprec h u n g h a t sich jedoch f ü r eine steuerspezifische B e g r i f f s b e s t i m m u n g e n t schieden u n d geht deshalb selbst b e i e i n e r b ü r g e r l i c h - r e c h t l i c h w i r k samen D a r l e h e n s v e r e i n b a r u n g zwischen d e m Gesellschafter u n d d e r Gesellschaft n i c h t v o n e i n e r D a r l e h e n s g e w ä h r u n g aus, s o n d e r n v o n e i n e r E r h ö h u n g der S t a m m e i n l a g e , sofern die Z u w e n d u n g a n die Gesellschaft „ z w i n g e n d als E i n l a g e h ä t t e gegeben w e r d e n m ü s s e n " 4 5 , 4 e . Diese „ w i r t s c h a f t l i c h e " D e u t u n g des m i t t e l b a r z u m S t e u e r t a t b e s t a n d geh ö r e n d e n M e r k m a l s „ D a r l e h e n " w i r d a l l e r d i n g s n i c h t i m m e r als A b w e i c h u n g v o n der i m P r i v a t r e c h t ü b l i c h e n B e g r i f f s b e s t i m m u n g e r k a n n t u n d als solche besonders g e r e c h t f e r t i g t , w e i l d e r B F H d e n F a l l des Gesellschafterdarlehens h ä u f i g u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t d e r S t e u e r u m g e h u n g b e h a n d e l t 4 7 u n d s o m i t g a r n i c h t als I n t e r p r e t a t i o n s p r o b l e m i n den Blick bekommt. III.
Privatrechtsbegriffe
(Definition)
A u f d e r G r u n d l a g e d e r b i s h e r g e w o n n e n e n E r k e n n t n i s s e i s t es m ö g lich, d e n G e g e n s t a n d d e r U n t e r s u c h u n g n u n m e h r g e n a u e r z u definieren. 45 Vgl. B F H BStBl. 1956, 179; 1959, 197; 1960, 10; 1965, 119. D a m i t w i r d v o m 1. Senat des B F H die Rspr. des R F H fortgeführt; vgl. R F H E 16, 296; 34, 194; 44, 343. Der 4. Senat hat sich dieser Rspr. i n dem U r t . v. 18. 3. 1966 angeschlossen (BStBl. 1966, 197). I m Gegensatz zu den Ertragsteuersenaten v e r trat der 3. Senat des B F H lange Zeit die Auffassung, ein Gesellschafterdarlehen sei bei der Einheitsbewertung des Betriebsvermögens einer K a p i t a l gesellschaft n u r dann als verdecktes Stammkapital zu behandeln, w e n n die Z u f ü h r u n g weiterer M i t t e l o b j e k t i v notwendig u n d das Einspringen eines Gesellschafters deshalb zwingend w a r , w e i l das erforderliche K a p i t a l i m Wege der Aufnahme v o n Fremdkrediten nach den Umständen des Einzelfalles nicht hätte beschafft werden können; vgl. etwa B F H BStBl. 1953, 208; 1953, 328; 1960, 400; 1968, 74; 1969, 430. M i t der Entscheidung v. 10. 3. 1972 (BStBl. 1972, 518) Schloß sich der Bewertungssenat dann der Rspr. der E r tragsteuersenate an; vgl. auch B F H E 111, 534 u n d die Urteile des Niedersächsischen F G EFG 1971, 471; 1973, 199. 46 Ä h n l i c h die Rspr. des B G H : Der Gesellschafter einer unterkapitalisierten G m b H oder A G , der die sonst nicht lebensfähige Gesellschaft statt durch eine wirtschaftlich notwendige Kapitalzufuhr durch ein kapitalersetzendes Darlehen zu stützen suche, müsse die gezahlten Gelder w i e haftendes K a p i t a l behandeln lassen; vgl. B G H Z 31, 258 (268ff.); B G H N J W 1969, 1719; W M 1972, 74; vgl. allerdings auch Hofmann N J W 1966, 1941 ff.; Stauder GmbHR 1968, 72ff.; Winkler B B 1969, 1202ff.; Kamprad, Gesellschaftsdarlehen S. 88ff.; Reinhardt, Gesellschaftsrecht S. 303 (Rz. 771); Wiedemann , Großkommentar A k t G § 262 A n m . 25. I n dieser BGH-Rspr. deutet sich bereits an, daß nicht n u r privatrechtliche Begriffe i m Steuertatbestand, sondern auch bürgerlich-rechtliche Begriffe, die i n einem Tatbestand des Gesellschaftsrechts Verwendung gefunden haben, zu einem Interpretationsproblem werden können; dazu noch § 1 C I . l.b). 47 Dazu Kamprad, Gesellschafterdarlehen S. 44 ff. A u f diese falsche E t i kettierung v o n Interpretationsproblemen w i r d noch einzugehen sein; vgl. § 5 Β . I I . 2.
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
Z u überprüfen sind privatrechtliche Begriffe, die i n den Tatbeständen des Steuerrechts Verwendung gefunden haben. Privatrechtsbegriff i n diesem Sinne ist jeder sprachliche Ausdruck, der unmittelbar oder m i t telbar zu den Merkmalen eines steuerrechtlichen Tatbestandes gehört und m i t Begriffen, die i n einem privatrechtlichen Tatbestand oder i n der privatrechtlichen Dogmatik verwendet werden, identisch ist oder zumindest gewisse Ähnlichkeiten m i t solchen Begriffen aufweist. B. Stand der Meinungen Privatrechtliche Begriffe sind i m Steuerrecht weit häufiger als i n anderen Bereichen des öffentlichen Rechts zu Tatbestandsmerkmalen erhoben. Diese sprachlichen Anleihen geben immer wieder Anlaß zu der Frage, ob die Verwendung von „Fremdbegriffen" 48 i n steuerrechtlichen Tatbeständen eine Veränderung der Begriffsinhalte bedingt. Bisher ist man i n der Literatur und Rechtsprechung stets davon ausgegangen, daß nur eine Klärung der Beziehungen zwischen Steuerrecht und Privatrecht eine Beantwortung dieser Frage ermöglicht. Die damit verbundene Verschiebung der Perspektive scheint eine der Ursachen dafür zu sein, daß die Probleme, die sich i m Zusammenhang m i t der inhaltlichen Bestimmung der Privatrechtsbegriffe ergeben, bis heute kontrovers diskutiert werden. Das Verhältnis des Steuerrechts zum Privatrecht ist für die Frage nach der Verbindlichkeit privatrechtlicher Begriffsinhalte nicht unmittelbar erheblich. Wer beispielsweise einen „Vorrang der Privatrechtsordnung" unterstellt, muß nicht unbedingt auch der Meinung sein, daß ein privatrechtlicher Begriff i n den Steuergesetzen stets i n völlig gleichem Sinn wie i m Privatrecht verwendet wird 4 9 . Die Darstellungen zur Geschichte der Beziehungen zwischen Steuerrecht und Privatrecht können deshalb nur unzureichenden Aufschluß über die Entwicklung des Problems der Privatrechtsbegriffe geben. Soviel scheint jedenfalls sicher zu sein: Die Beurteilung der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale ist von der oft konstatierten Tendenz zur zunehmenden Verselbständigung des Steuerrechts nach 1918 und der rückläufigen Entwicklung seit etwa 195050 relativ unberührt geblieben 51 . Bisher hat 48 So die Bezeichnung bei Hensel, Lehrbuch S. 53; Wenz, Speyer-FS S. 312 ff. 49 Vgl. dazu die Bemerkung v o n Flume , Steuerwesen S. 19 N. 25. 50 Vgl. zu Einzelheiten die Arbeiten v o n Polland u n d C. ff. Esser. 51 Demgegenüber behauptet Kruse (Lehrbuch S. 102), die Ansicht über die B i n d u n g an privatrechtliche Bedeutungen habe sich i n der Vergangenheit grundlegend gewandelt. Offenbar identifiziert auch er die Auseinandersetzung u m die Interpretation der Privatrechtsbegriffe m i t der Diskussion u m das Verhältnis des Steuerrechts zum Zivilrecht.
Β . Stand der Meinungen
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eigentlich jede Auffassung, die bei der Frage der Verbindlichkeit privatrechtlicher Begriffsprägungen denkbar ist, zu jedem Zeitpunkt einen Verfechter gefunden 52 . I. Kennzeichnung I n der Auseinandersetzung u m die Interpretation der Privatrechtsbegriffe sind die theoretischen Positionen nicht immer klar voneinander zu unterscheiden. Das ist einmal darauf zurückzuführen, daß an sich eindeutige Bekenntnisse zur Verbindlichkeit oder Unverbindlichkeit privatrechtlicher Begriffsinhalte durch das gleichzeitige Zugeständnis weitgehender Ausnahmen ihre Eindeutigkeit verlieren 5 3 . Z u m anderen lassen sich manche Meinungsverschiedenheiten, die scheinbar die Sache betreffen, auf rein verbale Unterschiede reduzieren 54 . Tatsächlich bestehende sachliche Divergenzen stehen erstaunlich oft i m Gegensatz zu der Einigkeit der Kontrahenten bei der Verwirklichung ihrer Theorien i n der praktischen Rechtsanwendung 55 . Zudem fällt es schwer, einige grundsätzliche Positionen zu benennen, denen die einzelnen Auffassungen zugeordnet werden können. I m Laufe der Zeit hat sich ein breites Spektrum von Meinungen m i t zahlreichen Nuancen herausgebildet. Jede schematische Behandlung der Äußerungen, die das Problem der Privatrechtsbegriffe betreffen, muß daher willkürlich erscheinen. Dennoch soll der Versuch unternommen werden, die bisher i n der Literatur und Rechtsprechung vertretenen Ansichten geordnet darzustellen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß eine solche Darstellung notwendigerweise m i t Vereinfachungen verbunden ist. Die Zuordnung einer Auffassung zu der einen oder anderen Theorie kann immer nur eine ungefähre Kennzeichnung sein. 1. Sprachliche Ubereinstimmungen sind i. d. R. ein Indiz für eine inhaltliche Identität der betreffenden Sprachgebilde. A u f dieser Er52
Lediglich die Namen wechseln: Hießen die Kontrahenten früher Geiler, Hensel u n d Ball, so heißen sie heute Paulick, Gassner u n d Kruse. 53 So relativiert etwa der B F H (BStBl. 1973, 680 [681 f.]) die klare A n e r kennung einer B i n d u n g an die privatrechtliche Interpretation privatrechtlicher Begriffe durch den vieldeutigen Zusatz: „ ( . . . ) soweit sich aus dem Gesetz nicht ein anderes ergibt". 54 Das zeigt sich z . B . bei Kruse (Paulick-FS S. 409 N. 38; T K § 1 S t A n p G Rz. 17), der die „extreme" Ansicht v o n Ball ablehnt, obwohl er selbst dieselbe Position v e r t r i t t ; zu Einzelheiten § 1 N. 122. 55 Beispielhaft ist insofern die Beurteilung des Merkmals „übereignet" i n § 75 Abs. 1 A O ; vgl. dazu B F H BStBl. 1967, 684; Paulick, Lehrbuch Rz. 523; Kruse, Lehrbuch S. 103. Schon Boethke (StW 1928 I Sp. 1203) mußte feststellen, daß die verschiedenen Auffassungen i m praktischen Ergebnis meist auf dasselbe hinauskommen.
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
fahrungstatsache basieren alle Äußerungen zum Problem der Privatrechtsbegriffe, i n denen die Verbindlichkeit der privatrechtlichen Begriffsprägungen zum Grundsatz erhoben wird 5 6 . Zwar spricht sich kaum jemand für eine absolute Bindung an die i m Privatrecht übliche Interpretation privatrechtlicher Tatbestandsmerkmale aus 57 . Oft genug w i r d jedoch der privatrechtlichen Prägung eine derart große Bedeutung beigemessen, daß ein Abweichen von dem „normalen" (und das soll heißen: privatrechtlichen) Inhalt dieser Merkmale nur i n seltenen Ausnahmefällen möglich zu sein scheint. So geht beispielsweise Papier 58 davon aus, daß privatrechtliche Begriffe wegen ihrer besonderen Prägung „ i m Wortsinn eindeutige" Tatbestandsmerkmale sind, denen grundsätzlich kein vom Privatrecht abweichender Inhalt gegeben werden darf. Die oft gleichbleibende Ubereinstimmung von Wortlaut und Inhalt bei verändertem Verwendungszusammenhang ist nach dieser Auffassung keine bloße Regelmäßigkeit, sondern eine sprachliche Regel, deren Befolgung notwendig ist, u m eine „babylonische Sprachverwirrung" zu verhindern 5 9 . Von dieser Regel werde man „ n u r mit der allergrößten Vorsicht" abweichen dürfen 60 . Immerhin werden aber trotz dieser grundsätzlichen Bindung an das Privatrecht gewisse Abweichungen für möglich gehalten. Privatrechtlichen Begriffsinhalten soll auch i m Steuerrecht eine maßgebende Bedeutung nur zukommen, „solange sich aus ihrer Übertragung auf das Steuerrecht nicht offenbare Unsinnigkeiten oder Unstimmigkeiten herleiten oder solange sich nicht aus dem Inhalt der Steuergesetze und den 56 Vgl. etwa Blumenstein, E. Huber-FS S. 216 f.; Hensel, Zitelmann-FS S. 242 f.; dens. StW 1925 Sp. 1966 ff.; Geiler StW 1927 Sp. 517 ff.; Boethke StW 1928 Sp. 1203; dens. J W (I) 1928, 944 f.; v. Siemens, Gesetzmäßigkeiten S. 220ff.; Littmann W p g 1951, 81; dens., Kommentar, v o r § 1 Rz. 93 ff. (96); Hutzier, Steuerrecht S. 158; Hartz, Auslegung S. 43; Eckhardt StbJb 1961/62, 137; Leibrecht, B F H - F S S. 60 ff. (62); Spanner, Wacke-FS S. 185 f.; Paulick D B 1968, 1869 f.; dens. DStR 1975, 566 f., 577; dens., Lehrbuch Rz. 287; dens. S t R K - A n m . GewStG § 8 Ziff. 2 - 9 R. 49 u n d R. 56; Papier, Demokratieprinzip S. 185 ff.; ähnlich Isay, B a n k - A r c h i v 1920/21, 57; Storck, Auslegungsprobleme S. 10, 62 f.; Haubrichs, Steuerrecht S. 7 f., 17, 37. Auch die Rspr. befürwortet i n einigen Entscheidungen eine strikte Bindung an das Privatrecht; vgl. R F H E 1, 207 (A); B F H BStBl. 1957, 306; 1959, 201 (202); 1961, 188 (190); 1962, 52 (53), 304 (305); 1963, 370; 1964, 511 (512); 1966, 95; 1967, 209; F G Freiburg E F G 1955, 361 (362); zu dieser Rspr. auch Hartz JurJb 1969/70, 53 ff. 57 Lediglich i n der Rspr. des P r O V G u n d des R G wurde bis etwa 1918 ein recht rigoroser Standpunkt vertreten; vgl. dazu die Hinweise bei Polland, Privatrecht S. 7 ff., u n d C. H. Esser, Privatrecht S. 21 ff. Ä h n l i c h kompromißlos ist auch Storck, Auslegungsprobleme S. 62 f. 58 Demokratieprinzip S. 185 ff. 59 So Hartz, Auslegung S. 43. 60 Geiler StW 1927 Sp. 519.
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erkennbaren Absichten des Gesetzgebers ihre Nichtanwendbarkeit ergibt" 8 1 . Ein widersprüchlicher Wortlaut oder ein zweifelhafter Wortsinn können also durchaus ein hinreichender Anlaß sein, von der privatrechtsorientierten Deutung der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale abzugehen und ein Steuergesetz u. a. auch nach seinem Sinn und Zweck, d.h. nach seiner wirtschaftlichen Bedeutung auszulegen 62 . I m übrigen kommt etwa für Leibrecht 63 eine vom Privatrecht abweichende Interpretation „nur unter den strengen Voraussetzungen einer Auslegung gegen den Wortlaut i n Frage (...), nämlich dann, wenn die herkömmliche und damit wortgetreue Auslegung zu einem offenbar sinnwidrigen Ergebnis führen würde" 6 4 . Paulick 65 geht noch einen Schritt weiter und spricht der privatrechtlichen Bedeutung eines Tatbestandsmerkmals nur insoweit auch steuerrechtliche Maßgeblichkeit zu, als sich nicht „aus dem ausdrücklichen oder implizierten Willen des Gesetzgebers etwas anderes ergibt". Bei der Prüfung der Frage, was „der Gesetzgeber sagen wollte", soll dann auch der Sinnzusammenhang des Gesetzes eine besondere Rolle spielen 66 . Das dürfe allerdings nicht dazu verleiten, „die Teleologie des Gesetzes ungeachtet des Gesetzes Wortlauts zu berücksichtigen" 67 , u m so „vom Wortlaut eines Steuergesetzes nicht gedeckte Steuertatbestände zu konstruieren oder zu fingieren" 68. M i t dem Hinweis auf einen „implizierten Willen des Gesetzgebers", der möglicherweise Abweichungen vom Privatrecht gebietet, w i r d der Grundsatz der Verbindlichkeit privatrechtlicher Begriffsprägungen bereits stark relativiert, denn ein solcher Wille dürfte kaum jemals eindeutig fixierbar und eine Negation der „sonst üblichen Inhalte" privatrechtlicher Tatbestandsmerkmale deshalb unschwer zu rechtfertigen. Ein vergleichbarer Effekt w i r d erzielt, wenn man nicht mehr auf die gesetzgeberischen Absichten, sondern ganz allgemein darauf abstellt, ob für eine vom Privatrecht abweichende Beurteilung sachlich einleuchtende Gründe vorliegen 69 . I n solchen und ähnlichen Ausnahmeregelungen setzt sich die Einsicht durch, daß die Eigenständigkeit steuerrechtlicher Tatbestände und Tatbestandsmerkmale einer strikten Bindung an privatrechtliche Inhaltsbestimmungen entgegensteht. 61
Paulick DStR 1975, 577. Vgl. Papier, Demokratieprinzip S. 185/186; ebenso Hensel, Zitelmann-FS S. 242 f. es B F H - F S S. 62. 62
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So auch B F H BStBl. 1962, 52 (53). D B 1968, 1869. 66 So ausdrücklich B F H BStBl. 1961, 188 (189). 67 Papier, Demokratieprinzip S. 187. 68 Paulick DStR 1975, 566. 69 So z . B . BVerfGE 29, 104 (117) m . w . N . ; vgl. auch Eckhardt 62, 137. 65
StbJb 1961/
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
Wer sich allerdings i m Grundsatz zu einer solchen Bindung bekannt hat, w i r d das Verbindlichkeitsprinzip nicht allzu unverbindlich handhaben dürfen. Manches Zugeständnis an die Eigenständigkeit des Steuerrechts w i r d aus diesem Grunde m i t der Einschränkung verknüpft, daß bei einer vom Privatrecht abweichenden Interpretation die „relevanten Elemente" eines Privatrechtsbegriffs nicht verloren gehen dürfen, der privatrechtlich bestimmte „Begriffskern" also unverändert bleiben muß 70 . Der Wert einer solchen Begrenzung bleibt jedoch fraglich, solange man m i t Littmann 11 davon ausgeht, daß die Bindung an das Privatrecht durchaus unterlaufen werden kann, „indem entweder eine (...) anderweitige Auslegung des Sachverhalts erfolgt oder indem bei Vorliegen der Voraussetzungen auf § 6 StAnpG zurückgegriffen w i r d " 7 2 . A u f diese Weise sollen trotz Anerkennung der Verbindlichkeit privatrechtlicher Deutungen die i m Einzelfall als negativ empfundenen Konsequenzen einer solchen Bindung ausgeschaltet werden. 2. Der Forderung nach einer prinzipiell einheitlichen Deutung gleichlautender Begriffe w i r d entgegengehalten, daß eine Interpretation stets die jeweils eigene Teleologie eines rechtlichen Subsystems 73 beachten müsse 74 . Den privatrechtlichen Tatbestandsmerkmalen sei gerade i m Hinblick auf ihre spezifischen Funktionen i m Bereich des Steuerrechts oft ein anderer Sinn zuzuschreiben als i m Privatrecht 7 5 . Deshalb kann nach dieser Auffassung ein privatrechtlich geprägter Begriff, der i n einem Tatbestand des Steuerrechts Verwendung gefunden hat, nur „aus dem jeweiligen Bedeutungzusammenhang, aus dem Zweck und der Funktion der jeweiligen steuerlichen Norm verstanden werden" 7 6 . Nicht generell, sondern von Fall zu Fall sei darüber zu entscheiden, welchen Sinn ein Privatrechtsbegriff habe 77 . Dabei werde allerdings „die privat70
Vgl. zu dieser Beschränkung Teichmann, Bartholomeyczik-FS S. 382. Wpg 1951, 81. 72 Eine andere Möglichkeit, diese B i n d u n g zu unterlaufen, besteht darin, das Problem der Privatrechtsbegriffe einfach zu negieren, indem m a n entweder die Begriffsgleichheit bestreitet (so Littmann, Kommentar, v o r § 1 Rz. 96) oder davon ausgeht, daß der betreffende Begriff nicht v o m P r i v a t recht, sondern v o m allgemeinen Sprachgebrauch geprägt ist (so B F H E 115, 223 [228]). 73 Z u diesem Begriff Tipke, Steuerrecht S. 19 f. 74 So Tipke JZ 1975, 560: ähnlich bereits R F H E 9, 167 (170); 11, 157 (171). 75 Gassner, Interpretation S. 134 f.; vgl. auch Hensel V V D S t R L 1927, 90; Ebert, Auslegungsgrundsatz S. 48; Bühler/Strickrodt, Steuerrecht S. 175; C. H. Esser, Privatrecht S. 121; Huber-Krebs StW 1966 Sp. 632. 76 Tipke JuS 1970, 152; ders., Steuerrecht S. 84; ebenso Flume, Steuerwesen S. 19 N. 25; Barske, Reichsabgabenordnung S. 33; Gassner, Interpret a t i o n S. 134 ff.; vgl. auch Blumenstein ZSR 1933, 223 a; Gygi A s A 1965/66, 42; dens., Privatrecht S. 48 ff. 77 Vgl. Merk, Reichsgericht S. 97; Mattern N J W 1952, 371; Kaiser, Auslegungsgrundsätze (1960) S. 59; Borstelmann I n f 1962, 297; Wenz, Speyer-FS 71
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rechtliche Bedeutung den Ausgangspunkt der steuerlichen Erwägungen bilden müssen" 78 . Eine Abweichung vom Privatrecht soll nur dann i n Frage kommen, „wenn ein aus dem Sinn des Steuergesetzes sich ergebender Anlaß besteht" 79 . M i t dieser Einschränkung w i r d anerkannt, daß es durchaus erstrebenswert ist, zu einer möglichst einheitlichen Begriffsbestimmung und Auslegung i m Steuerrecht und Privatrecht zu gelangen 80 . Barske 81 bezweifelt allerdings, „ob diese ideale Forderung bei den nun einmal gegebenen Besonderheiten der einzelnen Rechtsgebiete je erfüllt werden kann". Das Steuerrecht „hat ja eine ganz andere Aufgabe zu erfüllen als das bürgerliche Recht; die angemessene Verteilung der Steuerlast erfordert die Beachtung anderer Prinzipien als die Regelung der rechtlichen Beziehungen, i n denen die einzelnen untereinander stehen" 82 . Das heißt aber: Privatrechtliche Begriffe dienen i m Steuerrecht anderen Zwecken als i m Privatrecht, „sie sind je nach der zu ordnenden Materie unterschiedlich (teleologisch) ausgerichtet, von der jeweiligen spezifischen Regelungsaufgabe geprägt" 83 . Diese Erkenntnis verknüpft Gassner 84 m i t der Feststellung, daß sich aus den unterschiedlichen Funktionen gleichlautender Begriffe auch Unterschiede i m Verständnis ergeben können 85 . M i t anderen Worten: Bei der Übernahme privatrechtS. 305, 312; Raupach, Durchgriff S. 56; Spanner H H S p § 1 S t A n p G Rz. 7; Haas D S t Z / A 1975, 363. 78 Gassner, Interpretation S. 135; ebenso Tipke JuS 1970, 152; ders., Steuerrecht S. 84; Barske, Reichsabgabenordnung S. 33; vgl. auch Blumenstein ZSR 1933, 212 a, u n d Huber-Krebs StW 1967 Sp. 489/490, die v o n einer widerlegbaren Vermutung zugunsten einer privatrechtsorientierten Interpretation ausgehen. 79 Flume, Steuerwesen S. 19 N. 25; so auch Kaiser, Auslegungsgrundsätze (1960) S. 61, 68; Wenz, Speyer-FS S. 305, 308; Raupach, Durchgriff S. 57; Tipke JuS 1970, 152; Gassner, Interpretation S. 136; ähnlich Haußmann StW 1933 Sp. 48; Liebisch, Privatrecht S. 163 ff.; Barske, Reichsabgabenordnung S. 33; Ebert, Auslegungsgrundsatz S. 43ff.; Borstelmann I n f 1962, 297; ν . Wallis, Spitaler-GS S. 222; Herrmann/Heuer § 2 EStG Rz. 45; Spanner H H S p § 1 S t A n p G Rz. 7; Gygi A s A 1965/66, 42. Auch die Rspr. stellt i n einigen Entscheidungen darauf ab, ob sich nicht eine v o m Privatrecht abweichende Begriffsbestimmung „zwingend aus dem Sinn u n d Zweck des Steuerrechts" ergebe, bzw. ob nicht „die Eigenart der Steuergesetze" zu einer v o m Privatrecht abweichenden Auslegung nötige; vgl. etwa R F H E 1, 283 (A); 9, 347 (348); 11, 157 (170), 219 (224); B F H BStBl. 1965, 49 (57); 1966, 5 (6); 1967, 733; S t R K EStG § 12 Nr. 2 R. 88 (S. 81). 80 So ausdrücklich Borstelmann I n f 1962, 297; C. H. Esser, Steuerrecht S. 145; Riewald B R K S. 587. 81 Reichsabgabenordnung S. 33. 82 Riewald B R K S. 588; ebenso v. Wallis, Spitaler-GS S. 221. 83 Tipke, Steuerrecht S. 84; vgl. auch Thiel, Spitaler-GS S. 196. 84 Interpretation S. 134/135. 85 Vgl. auch Hensel ( W D S t R L 1927, 90; Lehrbuch S. 53), der die P r i v a t rechtsbegriffe aus diesem Grunde „Funktionsbegriffe" nennt.
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
licher Tatbestandsmerkmale ins Steuerrecht ist eine inhaltliche „ U m formung durch den Zweck der Rechtsnorm" denkbar 86 . Aus der bloßen Verwendung eines privatrechtlich geprägten Begriffs kann daher nicht ohne weiteres geschlossen werden, daß er ausschließlich i n dem Sinn zu verstehen ist, den das Privatrecht i h m beilegt, denn jeder Begriff „ist nur verständlich aus seiner Rolle, der Verwirklichung eines bestimmten Normzwecks zu dienen" 87 . Was ein Privatrechtsbegriff bedeutet, das soll sich erst bei der Überprüfung seiner steuerrechtlichen Funktionen erweisen 88 . Damit ist keineswegs gesagt, daß die Tatbestandsmerkmale m i t privatrechtlicher Prägung i m Steuerrecht immer anders verstanden werden müßten als i m Privatrecht. Die Funktionsanalyse w i r d vielfach zu dem Ergebnis führen, daß ein spezifisch steuerrechtlicher Zweck, der eine abweichende Interpretation rechtfertigen könnte, nicht nachweisbar ist 8 9 . Das soll vor allem dann der Fall sein, wenn steuerrechtliche Vorschriften unmittelbar an die Begriffe des Privatrechts anknüpfen und sie zur maßgebenden Grundlage der Steuerpflicht oder Steuerbefreiung erheben 90 . Denn unter solchen Umständen ist nach einer häufig vertretenen Auffassung 91 davon auszugehen, daß die Gesetze „gerade formale Vorgänge und äußere Erscheinungsformen des rechtlichen und wirtschaftlichen Verkehrs erfassen wollen" 9 2 und eine vom Privatrecht abweichende Interpretation der verwendeten Privatrechtsbegriffe daher dem Gesetzeszweck zuwiderläuft 9 3 . Aus diesem Grunde hält Wenz 94 bei allen Steuergesetzen, die den Steuergegenstand prinzipiell nach Rechtsformen des Privatrechts bestimmen und privatrechtliche Rechtsgeschäfte zum Tatbestand oder Tatbestandsmerkmal der Besteuerung erheben, eine Beachtung der privatrechtlichen Begriffsprägungen für geboten. „Dies trifft für ganze Rechtsgebiete zu, z.B. für die Erbschaftsteuer oder für die Verkehrsteuern, wo das Steuerrecht unmittelbar auf den Begriffen des bürgerlichrechtlichen Rechts fußt" 9 5 . 86
Vgl. Raupach, Durchgriff S. 56. Tipke, Steuerrecht S. 84. 88 So Gassner, Interpretation S. 135, 136. 89 So ζ. B. Tipke, Steuerrecht S. 84; Raupach, Durchgriff S. 56. 90 Crisolli, Lehrbuch S. 40. 91 Vgl. etwa Hensel StW 1925 Sp. 1968, 1974 f.; dens. V V D S t R L 1927, 91; dens., Lehrbuch S. 53; Barske, Reichsabgabenordnung S. 33; Spanner H H S p § 1 StAnpG Rz. 7 d; Wenz, Speyer-FS S. 308, 313; Leibrecht, B F H - F S S. 60; Löhlein, R. Schmidt-GS S. 138 ff.; Raupach, Durchgriff S. 52; Tipke JuS 1970, 150 f.; vgl. auch R F H E 11, 157 (171); BVerfGE 13, 331 (340). 92 Wenz, Speyer-FS S. 308. 93 Vgl. dazu allerdings Kruse, Paulick-FS S. 408: „Es ist ein I r r t u m , die Steuergesetze danach einteilen zu wollen, ob sie die Besteuerung an w i r t schaftliche Vorgänge, Zustände u n d Veranstaltungen oder an Rechtsformen u n d Rechtsgestaltungen des Privatrechts anknüpfen." 94 Speyer-FS S. 313; ähnlich Löhlein, R. SchmidtGS S. 141/142. 95 Wenz, Speyer-FS S. 313; vgl. auch Tipke JuS 1970, 151. 87
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Demnach kommen Abweichungen vom Privatrecht von vornherein nur bei solchen Steuergesetzen i n Betracht, die nicht an Rechtsformen und Rechtsgestaltungen des Privatrechts, sondern an wirtschaftliche Vorgänge, Zustände und Veranstaltungen anknüpfen. M i t Hensel 96 wäre deshalb bei der Beurteilung der Verbindlichkeit privatrechtlicher Begriffsprägungen darauf abzustellen, ob das Steuerrecht die Privatrechtsbegriffe lediglich als „Hilfsbegriffe" verwendet. Eine derartige Funktion w i r d den privatrechtlichen Tatbestandsmerkmalen immer dann zugeschrieben, wenn die Steuergesetze durch Verwertung dieser Merkmale wirtschaftliche Vorgänge zu erfassen suchen, wenn also für die Besteuerung nicht ein formaler Rechtsakt maßgebend ist, sondern die wirtschaftliche Gestaltung, die sich hinter der Rechtsform verbirgt. I n einem solchen Fall soll sich die Interpretation nicht an der privatrechtlichen Prägung, sondern an der wirtschaftlichen Bedeutung der privatrechtlichen Begriffe orientieren 97 . Oft bleibt allerdings fraglich, was denn nun eigentlich vom Gesetz erfaßt werden soll; es stellen sich Zweifel ein, ob die Besteuerung an die formale Rechtsgestaltung oder aber an den zugrundeliegenden w i r t schaftlichen Vorgang anknüpft. Insoweit w i r d dann die am Privatrecht orientierte Interpretation zur Regel erhoben 98 . So geht etwa Wenz 99 davon aus, daß die aus anderen Rechtsgebieten entlehnten Begriffe i m Zweifelsfall so anzuwenden sind, wie sie dort ausgelegt werden 1 0 0 . M i t dieser widerlegbaren Vermutung soll eine weitgehende Bindung an privatrechtliche Begriffsinhalte sichergestellt und zugleich verhindert werden, daß es „zu einer Rechtsprechung nach den Normen des Steuerrechts, aber i m Geiste des Zivilrechts" 1 0 1 kommt. Man w i l l also einerseits der Forderung entsprechen, daß i n der Rechtssprache geprägte Begriffe allgemein die gleiche Bedeutung haben sollten, andererseits aber auch Ergebnisse vermeiden, die m i t dem Zweck der Besteuerung unvereinbar sind. 3. Wer darum bemüht ist, i n möglichst vielen Fällen zu einer Ubereinstimmung gleichlautender Begriffe zu gelangen, w i r d die Verbindlichcheit privatrechtlicher Begriffsprägungen zur Regel erklären und 96 Lehrbuch S. 53; ebenso Ebert, Auslegungsgrundsatz S. 49; Wenz, SpeyerFS S. 313 f. 97 So Wenz, Speyer-FS S. 314. 98 Anders jedoch Crisolli, Lehrbuch S. 40: „Der Regel nach ist f ü r das Steuerrecht nicht die bürgerlich-rechtliche Beurteilung, sondern die w i r t schaftliche Lage maßgebend." 99 Speyer-FS S. 305, 308. 100 Ebenso Tipke JuS 1970, 152; Gassner, Interpretation S. 135, 136; Flume , Steuerwesen S. 19 N. 25; Ebert, Auslegungsgrundsatz S. 47. 101 υ. Wallis, Spitaler-GS S. 222.
3 Maaßen
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die Nichtübereinstimmung m i t dem Privatrecht dementsprechend als Ausnahme („Abweichung") betrachten. Zu einem solchen Regel-Ausnahme-Prinzip bekennen sich auch diejenigen, die das Ideal einer privatrechtskonformen Interpretation m i t der Forderung nach einer angemessenen Berücksichtigung der steuergesetzlichen Teleologie verknüpfen 1 0 2 . Gerade darin scheint allerdings ein gewisser Widerspruch zu liegen. Eine Interpretation, die sich an der spezifischen Teleologie des Steuerrechts orientieren soll, w i r d ohne Rücksicht auf irgendwelche begrifflichen Prägungen von vornherein ihren eigenen Weg gehen müssen, so daß bei einem Ausbleiben der inhaltlichen Übereinstimmung m i t dem Privatrecht von einer Abweichung eigentlich gar keine Rede sein kann 1 0 3 . Deshalb stößt die Annahme, der privatrechtsorientierten Auslegung sei trotz grundsätzlicher Maßgeblichkeit der steuergesetzlichen Teleologie die Verbindlichkeit einer Regel zuzuschreiben, i n der Literatur 1 0 4 und auch i n der Rechtsprechung 105 auf Bedenken. Es w i r d betont, daß die bloße Verwendung privatrechtlicher Begriffe noch nichts darüber aussage, wie man diese Tatbestandsmerkmale zu verstehen habe 106 . Es lasse sich nicht einmal vermuten, daß gleichlautende Begriffe i n verschiedenen Gesetzen auch inhaltsgleich seien 107 . Notwendig sei stets eine eigenständige steuerrechtliche Begriffsbestimmung 108 . Der besondere Sinn und Zweck der einzelnen Rechtsnormen realisiert sich für Eps 109 i n einer spezifischen Erfassung der Wirklichkeit. Seiner Meinung nach lassen die verschiedenen Tatbestände die Dinge und Geschehnisse der realen Welt unter einem jeweils anderen Gesichtspunkt sichtbar werden 1 1 0 . Die Notwendigkeit einer eigenständigen Interpretation der privatrechtlichen Begriffe ergebe sich gerade daraus, daß das 102
Das w i r d besonders deutlich bei Gassner, Interpretation S. 136. So auch E. Becker StW 1939 Sp. 754. 104 Bali, Privatrecht S. 11, 117 ff., 123 ff., 149; E. Becker StW 1924 Sp. 168; ders. StW 1924 Sp. 1028 f.; ders. StW 1928 Sp. 883 f.; ders., Reichsabgabenordnung S. 57; ders. StW 1932 Sp. 503ff.; ders., Einleitung S. X X I ; ders. D J Z 1934 Sp. 1107 f.; ders. StW 1989 Sp. 753 f., 759; Emge, Gratisaktien S. 28 ff., 38ff.; ders. A c P 129, 61 f.; Bruns, Befreiung S. 107 ff., 123 ff., 159 ff.; Eps, Beurteilung S. 47 ff.; Buchwald JR 1958, 88; ders. StW 1960 Sp. 474; Kruse, Paulick-FS S. 407 ff.; ders., Lehrbuch S. 101 ff.; ders. ÖStZ 1975, 198 f.; ders. T K § 1 S t A n p G Rz. 16 f.; ähnlich Lion VJSchrStuFR 1927, 132 ff.; vgl. auch Bank StW 1925 Sp. 1023 ff.; Helpenstein Z A k D R 1935, 646ff.; Heintz DStZ 1938, 417 ff.; Böhmer, E r f ü l l u n g S. 6 ff., 48 ff. 105 Vgl. etwa RGZ 51, 103; B F H BStBl. 1928, 781 (783); 1970, 706 (707). 106 So z. B. Kruse ÖStZ 1975, 198. 107 Vgl. E. Becker, Einleitung S. X X I ; ebenso Kruse T K § 1 StAnpG Rz. 17. 108 Ä h n l i c h Bruns, Befreiung S. 107 ff., 117 ff., der i m Hinblick auf die i n Straftatbeständen verwendeten Privatrechtsbegriffe v o n einer „originären Selbständigkeit" der Bedeutungen spricht (z. B. S. 121). 109 Beurteilung S. 47 ff. 110 So auch Brandt, Beurteilung S. 135. 103
Β . Stand der Meinungen
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Steuerrecht bestimmte Vorgänge, Zustände und Veranstaltungen durch eine andere „ B r i l l e " betrachte als das Privatrecht. Die unterschiedliche Betrachtungsweise findet normalerweise i n unterschiedlichen Begriffen auch einen sprachlichen Ausdruck. Wer beispielsweise einen Warenaustausch nach Bürgerlichem Recht beurteilt, w i r d diesen Vorgang als „Ubereignung" einordnen, während sich derselbe Vorgang unter (umsatz)steuerrechtlichen Gesichtspunkten möglicherweise als „Lieferung" i. S. d. § 3 Abs. 1 UStG darstellt. Oft bestimmt allerdings ein Steuergesetz den Steuergegenstand nach den Rechtsformen und Rechtsgestaltungen des Privatrechts, m i t Begriffen also, die sonst nur zur Kennzeichnung einer privatrechtlichen Perspektive dienen. I n diesen Fällen ergibt sich die Frage, ob die privatrechtliche Beurteilung der Wirklichkeit auch für das Steuerrecht verbindlich sein soll. Ball 111 geht davon aus, daß die spezifische Teleologie des Steuerrechts eine Übernahme privatrechtlicher Betrachtungsweisen grundsätzlich ausschließt. Die Verwendung privatrechtlicher Tatbestandsmerkmale sei i. d. R. nur ein Notbehelf 112 , u m bestimmte wirtschaftliche Beziehungen, für die das Steuerrecht noch keine eigenen Bezeichnungen entwickelt habe, begrifflich erfassen zu können 1 1 3 . So gesehen haben die Privatrechtsbegriffe lediglich hinweisende („deiktische") Funktionen: Eine Lebenserscheinung, die man unter verschiedenen Gesichtspunkten, u. a. also auch privatrechtlich betrachten und entsprechend kennzeichnen kann, soll unter Anknüpfung an die privatrechtliche Kennzeichnung einer steuerrechtlichen Beurteilung zugeführt werden 1 1 4 . Wenn daher ein Steuergesetz ζ. B. eine „Übereignung" mit bestimmten Rechtsfolgen belastet, dann soll dieser Begriff auf einen Vorgang verweisen, der aus privatrechtlicher Sicht als „Ubereignung" zu kennzeichnen wäre. I m Steuerrecht w i r d nicht an die privatrechtliche Beurteilung, sondern an das Beurteilte angeknüpft, wenngleich die Vorgänge, Zustände und Veranstaltungen, die der Gesetzgeber einer steuerrechtlichen Betrachtung zugänglich machen w i l l , m i t den Begriffen des Privatrechts beschrieben werden 1 1 5 . 111
Privatrecht S. 117 ff. So v o r allem E. Becker StW 1924 Sp. 1028; ders., Reichsabgabenordnung S. 57; ders. StW 1932 Sp. 504; ders. DJZ 1934 Sp. 1107; ders. StW 1939 Sp. 748, 751, 753, 759; vgl. auch Ball, Privatrecht S. 11, 118, 125; Eps, Beurteilung S. 50; Buchwald JR 1958, 88; ausdrücklich a. Α . ; Lion VJSchrStuFR 1927, 134. 113 Nach E. Becker (Reichsabgabenordnung S. 57) dienen die Privatrechtsbegriffe (als Bezeichnung) „zur Umschreibung noch nicht eingebürgerter steuerrechtlicher Wirtschaftsbegriffe" („Begriffe" meint bei E. Becker nicht die Bezeichnung, sondern das Bezeichnete); ähnlich bereits R F H E 11, 219 (224). 114 Dazu Emge A c P 129, 61. 115 Vgl. Kruse, Paulick-FS S. 408; dens., Lehrbuch S. 101; dens. ÖStZ 1975, 198; dens. T K § 1 S t A n p G Rz. 16. 112
3*
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
Die Verwendung privatrechtlicher Tatbestandsmerkmale weist den Interpreten darauf hin, daß der betreffende Tatbestand grundsätzlich dieselben Lebenserscheinungen erfassen w i l l , die auch die Privatrechtsbegriffe — allerdings unter Hervorhebung der privatrechtsrelevanten Gesichtspunkte — zur Erkenntnis bringen 1 1 6 . Bei der Beurteilung der bezeichneten Wirklichkeit soll i m Steuerrecht vor allem eine wirtschaftliche Perspektive maßgebend sein 117 . Dem entspricht die Feststellung, daß nicht die privatrechtliche, sondern allein eine wirtschaftliche Betrachtungsweise der Teleologie des Steuerrechts angepaßt sei. Während nämlich eine Beurteilung nach privatrechtlichen Prinzipien darauf abziele, bestimmte Lebenserscheinungen einem rechtlichen „Soll" entsprechend zu regeln, gehe es i m Steuerrecht u m eine Erfassung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, des wirtschaftlichen „Ist" 1 1 8 . Dieser steuerspezifische Gesichtspunkt könne nur i n einer wirtschaftlichen, von jeder Bindung an privatrechtliche Beurteilungen gelösten Deutung der Privatrechtsbegriffe zur Geltung kommen. Folgt man dieser Auffassung, so müssen privatrechtliche und andere gleichlautende Begriffe „ m i t Rücksicht auf die Normzwecke und die sonstigen Eigenarten der jeweiligen Rechtsgebiete verschieden ausgelegt werden" 1 1 9 . Damit soll keineswegs gesagt sein, daß ein Vorgang, der i m Bürgerlichen Recht als „Übereignung" zu werten ist, nicht zugleich das steuerrechtliche Tatbestandsmerkmal der Ubereignung erfüllen kann. I m 'Gegenteil: „Wie die Praxis des Lebens zeigt, decken sich die Begriffe meist, oder, richtiger ausgesprochen, erfüllen die Tatbestände des Lebens meist sowohl den steuerrechtlichen wie den privatrechtlichen Begriff" 1 2 0 . Solche Ubereinstimmungen sind aber nicht etwa darauf zurückzuführen, daß die Begriffsbestimmung des Steuerrechts dem Privatrecht „folgt" und den privatrechtlichen Begriffsinhalt „übernimmt". Vielmehr kommt es nur deswegen zu einer kongruenten Auslegung, weil dieselbe Lebenserscheinung, die sich bei einer privatrechtlichen Betrachtung unter den Privatrechtsbegriff „subsumieren" läßt, auch unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten das (privatrechtliche) Tatbestandsmerkmal erfüllt. Dasselbe Prinzip w i r d bei den divergenten Auslegungen wirksam, die dadurch Zustandekommen, daß die steuerspezifische Inhaltsbestimmung der Privatrechtsbegriffe den Bereich der erfaßten Wirklichkeit gegenüber dem Privatrecht ausdehnt oder 116 Dementsprechend bezeichnet der B F H (BStBl. 1970, 706 [707]) die p r i vatrechtliche Deutung dieser Tatbestandsmerkmale als „Auslegungshilfe". 117 So v o r allem Kruse, Lehrbuch S. 100; ders. ÖStZ 1975, 198 f. 118 Die Unterscheidung nach „ I s t " u n d „Soll" geht zurück auf Ball, P r i v a t recht S. 120 f. 119 Kruse ÖStZ 1975, 199. 120 Ball, Privatrecht S. 124 („Begriff" meint auch bei Ball das Bezeichnete).
Β . Stand der Meinungen
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einschränkt. Solche Divergenzen sind keine „Abweichungen von der Regel", sondern das Ergebnis einer eigenständigen steuerrechtlichen Beurteilung der bezeichneten Dinge und Geschehnisse121. Wer die steuergesetzliche Teleologie nicht verfehlen w i l l , muß die Wirklichkeit nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilen, u m auch bei einer Verwendung privatrechtlicher Begriffe die für die Besteuerung relevanten Momente einer Lebenserscheinung erkennen zu können. So gesehen hat jedes privatrechtliche Tatbestandsmerkmal i m Steuerrecht eine eigenständige Bedeutung, w e i l es die Dinge und Vorgänge der realen Welt stets i n steuerspezifischer Weise sichtbar werden läßt 1 2 2 . Eine Verbindlichkeit der privatrechtlichen Begriffsbestimmungen w i l l E.Becker 123 daher ebensowenig anerkennen wie eine vermutungsweise zu unterstellende Allgemeingültigkeit der überkommenen Prägungen. Es sei notwendig, sich von der Vorstellung einer Bindung an die privatrechtlichen Deutungen „gründlich frei zu machen und steuerrechtlich unter Beachtung des Zwecks des einschlagenden Steuergesetzes, der wirtschaftlichen Bedeutung der von i h m behandelten Tatbestände unter Beachtung der Lebensanschauungen und der Volksauffassung, das herauszufinden und vorsichtig als werdendes Recht zu gestalten, worauf es f ü r d i e B e s t e u e r u n g ankommt" 1 2 4 . Vor allem dürfe man die Ubereinstimmung der Begriffe auf keinen Fall als die Regel und die Nichtübereinstimmung als eine besonders zu rechtfertigende Ausnahme betrachten 125 . Die damit akzeptierte Eigenständigkeit der steuerrechtlichen Begriffsbestimmung w i r d i m Grunde auch von Lion 126 gefordert. Er wendet sich zwar gegen eine Veränderung der „privatrechtlichen Inhalte" (der „zivilrechtlichen Begriffe"), spricht sich aber gleichzeitig dafür aus, daß „die steuerrechtlichen Folgen über den zivilrechtlichen Begriff hinaus ausgedehnt oder darunter eingeengt werden können", wenn das i m 121
So Ball, Privatrecht S. 124/125. Vgl. Buchwald JR 1958, 88: „Die Begriffe des einen Rechtszweiges stehen selbständig neben den Begriffen der anderen Rechtszweige." („Begriffe" soll hier die Bedeutungen bzw. Inhalte der Tatbestandsmerkmale kennzeichnen.) Davon geht auch Kruse (ÖStZ 1975, 198f.; T K § 1 S t A n p G Rz. 17) aus, wenngleich er sich i n seiner K r i t i k an Ball scheinbar gegen die Annahme wendet, eine inhaltliche Identität der Begriffe (Bezeichnungen) sei wegen der unterschiedlichen Perspektiven des Steuerrechts u n d des Privatrechts u n möglich (Paulick-FS S. 409 N. 38; ÖStZ 1975, 199). Diese K r i t i k w i l l w o h l n u r klarstellen, daß eine Kongruenz der Auslegungen trotz fehlender Ident i t ä t der Begriffsinhalte denkbar ist. Das w i r d allerdings auch v o n Ball nicht geleugnet; vgl. dens., Privatrecht S. 124. 123 Einleitung S. X X I ; ebenso Kruse T K § 1 S t A n p G Rz. 17. 124 E. Becker StW 1939 Sp. 753. 125 So Kruse ÖStZ 1975,199; ebenso Ball, Privatrecht S. 124 f. 126 VJSchrStuFR 1927, 132 ff. 122
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
Hinblick auf die steuergesetzliche Teleologie notwendig sei 127 . Eine solche „ausdehnende" oder „einengende" Anwendung eines steuerrechtlichen Tatbestandes ist aber doch nichts anderes als eine fallbezogene „Ausweitung" oder „Einschränkung" der tatbestandlichen Bedeutung und damit auch der „privatrechtlichen Inhalte" einzelner Tatbestandsmerkmale. Offenbar w i l l auch Lion m i t seiner Forderung nach einer Gesetzesanwendung, die der Teleologie des Steuerrechts angemessen ist, die Selbständigkeit des Steuerrechts bei der Behandlung der Privatrechtsbegriffe gewährleisten. Der von Lion besonders betonte Gegensatz zu Ball und E. Becker schein somit eher formaler (bzw. verbaler) Natur zu sein. IL
Begründung
Die Auseinandersetzung u m die „richtige" Interpretation der Privatrechtsbegriffe hat eine Fülle von Argumenten für und gegen eine Bindung an die privatrechtlichen Deutungen hervorgebracht. Es wäre allerdings ein I r r t u m zu glauben, daß den verschiedenen Theorien auch jeweils unterschiedliche Begründungsformeln zugeordnet werden können. Die wichtigsten Argumente (etwa: „Einheit der Rechtsordnung", „Rechtssicherheit", „Steuergerechtigkeit", „Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit") sind nicht auf eine bestimmte Theorie fixiert, sondern allgemein verwertbar. Die Wahl der Gründe, die zur Stützung der eigenen Auffassung angeführt werden, richtet sich allein danach, ob i m Einzelfall — sei es als Grundsatz oder als Ausnahme von der Regel — eine Kongruenz oder eine Divergenz zwischen der steuerrechtlichen und der privatrechtlichen Auslegung eines Privatrechtsbegriffs gerechtfertigt werden soll. Wer weder die eine noch die andere Interpretationsmöglichkeit von vornherein ausschließen w i l l ( und das ist eigentlich bei allen Theorien der Fall, die sich m i t dem Problem der privatrechtlichen Begriffsprägungen befassen), ist auf beide Argumentationsstrategien und damit auf den gesamten Bestand von Begründungen angewiesen 128 . Die Unterschiede zwischen den theoretischen Positionen spiegeln sich allerdings i n den Argumentationen insoweit wider, als derjenige, der von einer prinzipiellen Verbindlichkeit privatrechtlicher Begriffsprägungen ausgeht, beispielsweise dem Gedanken der Rechtssicherheit eine größere Bedeutung beimessen w i r d als derjenige, der eine eigen127
Vgl. Lion VJSchrStuFR 1927, 135. Das mag auch erklären, weshalb sich k a u m jemand m i t den verschiedenen Argumenten ernsthaft auseinandersetzt: Jede kritische Überprüfung der einen oder anderen Rechtfertigungsstrategie könnte zu einer Zerstörung der Argumnetationsbasis führen, auf die m a n bei einer anderen Gelegenheit vielleicht selbst einmal angewiesen ist. 128
Β . Stand der Meinungen
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ständige Interpretation der Privatrechtsbegrifïe fordert 1 2 9 . Charakteristisch für eine bestimmte Theorie ist aber jedenfalls nicht das Argument als solches, sondern die Bevorzugung bestimmter Argumentationsmuster und die damit verbundene Hervorhebung einzelner Gründe. Die Begründungen, mit denen man die Verbindlichkeit bzw. Unverbindlichkeit der privatrechtlichen Begriffsprägungen nachzuweisen versucht, lassen sich i n vier Gruppen ordnen. Diese Aufteilung orientiert sich an den zentralen Themen der Argumentationen, die das Problem der Privatrechtsbegriffe betreffen. 1. Eine erste Gruppe von Argumenten befaßt sich m i t den Konsequenzen, die sich für die inhaltliche Bestimmung der Privatrechtsbegriffe aus dem Gedanken der Rechtseinheit ergeben. Dabei geht es vor allem u m die Frage, inwieweit eine eigenständige Deutung der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale i m Steuerrecht die Einheit der Rechtsordnung gefährdet. a) Die „Einheit der Rechtsordnung" ist nicht so sehr eine Beschreibung des Gegebenen, sondern eher eine Forderung an die Gesetzgebung und an die Auslegung 130 . Was der Grundsatz der Rechtseinheit postuliert, ist eine Integration der einzelnen Rechtsbereiche i n die Gesamtrechtsordnung. Dieses Verlangen nach Einheitlichkeit resultiert aus der Überlegung, „daß unser gesamtes Recht — öffentliches und privates — eine Einheit bildet und daß jeder einzelne Teil sich i n das große Ganze einfügen muß, w e i l eins vom anderen abhängt" 1 3 1 . Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Steuerrecht? Offenbar müssen auch die steuerrechtlichen Normen als Bestandteile der rechtlichen Ordnung m i t den anderen Rechtsnormen, insbesondere m i t denen des privaten Rechts, i n eine möglichst große Kongruenz gebracht werden. Fraglich ist allerdings, ob eine solche Kongruenz zur allgemeinen Rechtsordnung und vor allem zum Privatrecht angesichts der Eigenart des i n erster Linie fiskalischen Zwecken dienenden Steuerrechts überhaupt erreichbar ist. Das BVerfG 1 8 2 geht davon aus, daß trotz der spezifischen Zielsetzungen des Steuerrechts eine Ubereinstimmung m i t dem Privatrecht jedenfalls dort möglich ist, „ w o das Steuerrecht nicht nur an die gegebe129
Vgl. auch Raupach, Durchgriff S. 51. So jedenfalls Riewald B R K S. 587; vgl. auch Barske, Reichsabgabenordnung S. 32/33; Eckhardt StbJb 1961/62, 85: Die „innere Einheit der Rechtsordnung" sei nicht v o l l v e r w i r k l i c h t , vielmehr sei die Rechtsordnung „ m a n nigfaltig von Dissonanzen u n d Disharmonien erfüllt". 131 Boethke StW 1928 Sp. 1203. 132 BVerfGE 13, 331 (340). 130
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
nen Lebensverhältnisse und damit auch an ihre zivilrechtliche Ordnung anknüpft, sondern den Steuergegenstand prinzipiell nach Rechtsformen des bürgerlichen Rechts bestimmt". Bei jeder derartigen Anknüpfung liege es nicht nur i m Interesse der Klarheit und Einheit, sondern vor allem der inneren Autorität der Rechtsordnung, „die Entsprechung von Privat- und Steuerrecht durchgehend zu wahren, also die Ordnungsstruktur des Zivilrechts zu achten". Der B F H 1 3 3 hat diesen Gedanken aufgegriffen und unter Berufung auf die „Ordnungsfunktion des bürgerlichen Rechts" eine kongruente Auslegung der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale zu rechtfertigen versucht. Die Integration des Steuerrechts i n die Gesamtrechtsordnung soll sich offenbar als Anpassung an die „zivilrechtliche Ordnungsstruktur" vollziehen. Divergenzen zwischen dem Steuerrecht und dem Privatrecht werden beseitigt, indem man ganz allgemein von einem „Primat des bürgerlichen Rechts vor dem Steuerrecht" ausgeht 134 . U m den Gedanken der Rechtseinheit verwirklichen zu können, soll die an sich akzeptierte Eigenständigkeit des Steuerrechts weitgehend unberücksichtigt bleiben: „Das Steuerrecht ist grundsätzlich so zu gestalten und auszulegen, daß seine Normen m i t den Rechtsgrundsätzen und Rechtsinstituten des jeweils nächstverwandten Rechtsgebietes — das ist ζ. B. für das Steuerschuldverhältnis das bürgerliche Recht, für das Steuerpflichtverhältnis das allgemeine Verwaltungsrecht, für das Steuerprozeßrecht das Verwaltungs- und Zivilprozeßrecht — weitgehend übereinstimmen" 1 3 5 . b) Wer beständig die Übereinstimmung und Abstimmung des Steuerrechts m i t den anderen Bereichen der Rechtsordnung sucht, ist allerdings leicht i n Gefahr, unter Berufung auf die Einheit der Rechtsordnung die besondere Teleologie des Steuerrechts zu mißachten und das Steuerrecht als nachgeordnetes Recht und vor allem als bloßes Folgerecht („Anhängsel") des Privatrechts zu begreifen 136 . Dem Verlangen nach Rechtseinheit, das auf eine kongruente Auslegung der Privatrechtsbegriffe abzielt, w i r d deshalb von denjenigen, die auf die Möglichkeit divergenter Auslegungen hinweisen wollen, die Forderung nach einer angemessenen Berücksichtigung der Eigenarten des Steuerrechts entgegengesetzt. Die Einheit der Rechtsordnung soll damit als Zielvorstellung zwar nicht aufgegeben, aber zumindest relativiert werden, u m notwen133
Vgl. etwa B F H BStBl. 1964, 511 (512) m. w . N. So ausdrücklich B F H E 90, 122 (125) m . w . N. V o n einem „Vorrang der Zivilrechtsordnung v o r der Steuerordnung" spricht auch Flume , Steuerwesen S. 18 f., insbes. N. 25; zur K r i t i k Klein F i n A r c h N F 14, 6. 135 Eckhardt StbJb 1961/62, 137. 138 So v o r allem Tipke J Z 1975, 560; vgl. auch C. H. Esser, Privatrecht S. 114. 134
Β . Stand der Meinungen
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dige Abweichungen von den überkommenen Begriffsdeutungen zu ermöglichen. Für Kruse 137 ist die Integration des Steuerrechts i n die Gesamtrechtsordnung kein absoluter Wert, dessen Verwirklichung eine Einebnung oder Negation der spezifischen Teleologie dieser Rechtsdisziplin rechtfertigen könnte. Seiner Meinung nach erfordert der Grundsatz der Rechtseinheit keineswegs eine Interpretation, die gleichlautenden Begriffen verschiedener Gesetze trotz unterschiedlicher Zielrichtung denselben Inhalt zuschreibt. Denn: „Die Einheit des Rechts besteht nicht darin, daß alles über einen K a m m geschoren w i r d " 1 3 8 . Nicht die Anpassung u m jeden Preis, sondern die Vermeidung von Widersprüchen i n der Rechtsordnung 139 sollte das Ziel einer Auslegung sein, die sich an dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung orientiert 1 4 0 . Allerdings ist auch dieses Ziel nicht immer erreichbar; nicht alle Widersprüche können i m Wege der Auslegung beseitigt werden. So sind beispielsweise „gesetzestechnische Widersprüche", die aus der Verwendung gleichlautender Tatbestandsmerkmale zur Kennzeichnung unterschiedlicher Inhalte resultieren 141 , nur dadurch zu beseitigen, daß der Gesetzgeber den Gesetzeswortlaut ändert und die inhaltlichen Unterschiede auch i n der Begriffswahl zum Ausdruck bringt. Solche „gesetzestechnischen Widersprüche" ergeben sich auch aus der Verwendung privatrechtlicher Begriffe i m Steuerrecht. Jede Nichtübereinstimmung zwischen der privatrechtlichen und der steuerrechtlichen Deutung eines Privatrechtsbegriffs weist auf einen „Mißgriff der Gesetzestechnik" hin, den der Interpret allenfalls konstatieren, aber nicht beseitigen kann. I n derartigen Fällen mag man es zwar für wünschenswert halten, daß der Gesetzgeber verschiedene Inhalte auch m i t unterschiedlichen Begriffen bezeichnet 142 . Die oft unzureichende Realisierung dieses Prinzips berechtigt jedoch keinesfalls zu der Annahme, daß divergente Auslegungen gleichlautender Begriffe i m Hinblick auf die zu erstrebende Einheit der Rechtsordnung unzulässig sind 143 . Damit verliert aber das Argument der Rechtseinheit die überragende Bedeutung, die 137 T K § 1 S t A n p G Rz. 17; ebenso Tipke JZ 1975, 560. 138
Helpenstein Z A k D R 1935, Θ46. Engisch, Einführung S. 156 fï., unterscheidet zwischen „gesetzestechnischen Widersprüchen", „Normwidersprüchen", „Wertungswidersprüchen", „teleologischen Widersprüchen" u n d „Prinzipienwidersprüchen" ; ebenso Eckhardt StbJb 1961/62, 85 f. 140 So Tipke JZ 1975, 560. 141 Dazu Engisch, Einführung S. 157 f. 142 So ζ. B. Kruse ÖStZ 1975, 198. 143 So Barske, Reichsabgabenordnung S. 32f.; Kruse T K § 1 S t A n p G Rz. 17; ders. ÖStZ 1975, 198 f.; vgl. auch Engisch, Einführung S. 158; Larenz, Methodenlehre S. 308 f. 139
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
i h m vor allem von der Rechtsprechung i n der Auseinandersetzung u m das Problem der Privatrechtsbegriffe zugeschrieben wird. 2. Eine zweite Gruppe von Argumenten soll glaubhaft machen, daß die jeweils geforderte (oder auch praktizierte) inhaltliche Bestimmung eines privatrechtlichen Tatbestandsmerkmals durch das Rechtsstaatsprinzip geboten ist. Die Rechtsstaatsidee konkretisiert sich einerseits i n dem Grundsatz der Rechtssicherheit, umfaßt andererseits aber auch den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung 144 . Diese beiden Verfassungsprinzipien können leicht miteinander i n Widerstreit geraten 145 . Das erweist sich gerade bei der Frage der Verbindlichkeit der privatrechtlichen Begriffsprägungen: Wer unter Berufung auf das Gebot der Rechtssicherheit eine Übereinstimmung zwischen der steuerrechtlichen und der privatrechtlichen Interpretation eines Privatrechtsbegriffs fordert 1 4 8 , ist zumeist dem Einwand ausgesetzt, diese Forderung gefährde die Gleichmäßigkeit der Besteuerung; umgekehrt w i r d sich derjenige, der durch divergente Auslegungen eine gleichmäßige und gerechte Besteuerung gewährleisten möchte 147 , m i t dem V o r w u r f auseinandersetzen müssen, er habe dem Grundsatz der Rechtssicherheit zu wenig Beachtung geschenkt. a) Rechtssicherheit erfordert nach traditionellem Verständnis die Vorhersehbarkeit der behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß der Rechtsfriede und der notwendige Vertrauensschutz nur dann gewahrt werden können, wenn die staatlichen Reaktionen auf ein Verhalten oder einen Zustand für den Bürger berechenbar sind. N u r eine klare und vor allem gleichförmige Interpretation der Tatbestände und Tatbestandsmerkmale vermag dem Postulat größtmöglicher Rechtssicherheit gerecht zu werden. Die erforderliche Gleichförmigkeit ist allerdings nur dann erreichbar, wenn der Gesetzgeber innerhalb der einheitlichen Rechtsordnung auch eine einheitliche Sprache spricht 148 . Man müßte insbesondere unterstellen können, daß inhaltliche Unterschiede i n den Begriffen einen entsprechenden Ausdruck 144 V 145
g L
paulick,
Lehrbuch Rz. 18 ff.
Dazu Paulick, Lehrbuch Rz. 19; vgl. auch Engisch, Einführung S. 163. 146 „Rechtssicherheit" u n d „Einheit der Rechtsordnung" werden i n den Argumentationen oft miteinander v e r k n ü p f t ; vgl. dazu etwa Hopfenmüller B B 1959, 969; Paulick D B 1968, 1969; Haubrichs, Steuerrecht S. 32; Raupach, Durchgriff S. 51; Gassner, Interpretation S. 132; Spanner, Wacke-FS S. 191; zur Rspr. C. ff. Esser, Privatrecht S. 123 ff.; vgl. insbes. BVerfGE 13, 331 (340); B F H BStBl. 1959, 369 (371); 1961, 188 (190); 1962, 304 (305). 147 So ζ. Β . E. Becker, Einleitung S. X X I ; Kaiser, Auslegungsgrundsätze (1960) S. 59; Thiel, Spitaler-GS S. 204; v. Wallis, Spitaler-GS S. 221. 148 Vgl. Leibrecht, B F H - F S S. 60.
Β . Stand der Meinungen
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finden oder auf andere Weise sprachlich erkennbar gemacht werden. Die Auseinandersetzung u m die Verbindlichkeit privatrechtlicher Begriffsprägungen betrifft u. a. die Frage, ob und inwieweit eine derartige Unterstellung möglich ist. Geiler 1* 9 setzt offenbar großes Vertrauen i n die sprachlichen Fähigkeiten des Gesetzgebers. Er geht davon aus, daß bei einer Identität des Ausdrucks grundsätzlich auch eine inhaltliche Parallelität beabsichtigt ist. Der Gesetzgeber werde schon zu erkennen geben, wann „ i m Steuerrecht ein mit dem Privatrecht gleichlautender Begriff einen Sonderinhalt haben" soll. Die Möglichkeit einer Fehlleistung des Gesetzgebers bei der Formulierung der Tatbestände bleibt unerwähnt 1 5 0 . Rechtssicherheit reduziert sich damit auf den Schutz der Steuerpflichtigen vor einer Interpretation, die geprägte Begriffe ohne erkennbaren Anlaß „umdeutet": Jede Abweichung von der herkömmlichen Auslegung eines Begriffs w i r d als Verstoß gegen die rechtsstaatlichen Prinzipien der Rechtssicherheit, der Rechtsklarheit und des Vertrauensschutzes gewertet, sofern nicht der Gesetzgeber selbst durch besondere Verweisungen oder sprachliche Abwandlungen die Bindung an die begrifflichen Prägungen gelockert hat 1 5 1 . Demgegenüber weist E. Becker 152 darauf hin, „daß die Steuergesetze, weil besondere steuerrechtliche Begriffe erst nach und nach entwickelt werden können, vorerst genötigt sind, bei anderen Rechtsgebieten A n leihen zu machen, daß die Steuergesetze zur Zeit und auf absehbare Zeit Stückwerk sind und Stückwerk sein werden". Die gesetzgeberischen Absichten fänden somit i n den Tatbeständen des Steuerrechts oft nur einen unvollkommenen Ausdruck. Rechtssicherheit sei deshalb auch nicht vom Gesetz, sondern allein von der Rechtsprechung zu erwarten 1 5 3 . Wenn aber erst die Rechtsprechung die notwendige Berechenbarkeit des (Steuer-)Rechts zu gewährleisten vermag, dann läßt sich eine Bindung des Richters an die privatrechtliche Deutung eines Privatrechtsbegriffs kaum noch m i t dem Argument der Rechtssicherheit rechtfertigen. Denn bei klarer Rechtsprechung ist dieses rechtsstaatliche Prinzip selbst dann gewahrt, wenn man den privitrechtlichen Tatbestandsmerkmalen i m Steuerrecht einen anderen Inhalt gibt als i m Privatrecht 1 5 4 . Entscheidend 149
StW 1927 Sp. 519 f. Lion (VJSchrStuFR 1927, 134) lehnt diese Möglichkeit sogar ausdrücklich ab. 151 Vgl. etwa Geiler StW 1927 Sp. 518 ff.; Papier, Demokratieprinzip S. 186; dazu auch Hensel W D S t R L 1927, 89; Blumenstein ZSR 1933, 218 a. 152 StW 1932 Sp. 504. 153 So E. Becker StW 1932 Sp. 506. 154 Ball (Privatrecht S. 127) meint sogar, daß oft erst die divergente A u s legung eine Rechtsunsicherheit beseitige, die durch die vorherige Kongruenz der Interpretationen entstanden sei. 150
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
ist lediglich, daß derartige Abweichungen durch eine konstante Rechtsprechung vorhersehbar werden 1 5 5 . b) Jede Ubersteigerung des Prinzips der Rechtssicherheit kann die Gleichmäßigkeit der Besteuerung gefährden 156 . Die Forderung nach einer gleichmäßigen Besteuerung w i r d ebenso wie das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit aus der Gerechtigkeitsidee abgeleitet 1 5 7 . Dieser Idee ist zwar das Steuerrecht, nicht aber das Privatrecht verpflichtet 158 , so daß sich die Frage stellt, ob nicht eine Bindung an die privatrechtlichen Begriffsprägungen zu einer Betrachtungsweise führt, die die spezifische Zielsetzung des Steuerrechts unberücksichtigt läßt. I m Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Steuerrecht hält v. Wallis 159 eine absolute Bindung an die privatrechtlichen Interpretationen für bedenklich, weil das „zu einer Rechtsprechung nach den Normen des Steuerrechts, aber i m Geiste des Zivilrechts" führen könnte. Seiner Meinung nach darf und muß das Steuerrecht „gegenüber einer mit seinen Interessen nicht konformen bürgerlichen Rechtsordnung Vorbehalte machen", wenn eine gleichmäßige und gerechte Besteuerung möglich sein soll 1 8 0 . „Wo die obersten Grundsätze der Besteuerung eine Eigenständigkeit gebieten, müssen auch die Einheitsbestrebungen ihre Begrenzung einsehen" 161 . M i t anderen Worten: Abweichungen vom Privatrecht sind möglich, wenn die Verwirklichung der Steuergerechtigkeit eine divergente Auslegung erfordert 1 8 2 . Eine gerechte Besteuerung muß den Grundsatz beachten, daß Steuern nur von dem tatsächlich Belastbaren, dem Leistungsfähigen, erhoben werden. Kruse 163 geht davon aus, daß die Frage der Leistungsfähigkeit nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten beantwortet werden kann. Notwendig sei deshalb eine wirtschaftliche Beurteilung der steuerlich relevanten Lebenserscheinungen. Eine derartige Betrachtungsweise werde aber bei einer Bindung an die i m Privatrecht üblichen Interpretationen geradezu verhindert, weil diese stets aus einer Beurteilung der Wirklichkeit nach privatrechtlichen Gesichtspunkten resultieren. Eine eigenständige Deutung der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale 155
Das meint w o h l auch Riewald B R K S. 589. Vgl. Thiel, Spitaler-GS S. 204. 157 Dazu Paulick, Lehrbuch Rz. 20; Kruse ÖStZ 1975, 198 N. 49. 158 So auch Spitaler DStR 1962, 29 ff. 159 Spitaler-GS S. 222. 160 ν > Wallis, Spitaler-GS S. 221. 161 v. Wallis, Spitaler-GS S. 222. 162 Ebenso E. Becker, Einleitung S. X X I ; Wilser, Durchgriff S. 68. 163 Lehrbuch S. 100; Paulick-FS S. 407/408; ÖStZ 1975, 198; vgl. auch Böhmer, Erfüllung S. 5, 48; Brandt, Beurteilung S. 134. 156
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und die damit verbundene Relativierung des Prinzips der Rechtssicherheit läßt sich demnach auch mit dem Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit rechtfertigen. 3. Eine dritte Gruppe von Argumenten versucht nachzuweisen, daß sich die Verbindlichkeit der privatrechtlichen Begriffsbestimmungen als Konsequenz aus den verfassungsrechtlichen Bindungen der Rechtsprechung ergibt. Dabei w i r d die Unzulässigkeit einer eigenständigen steuerrechtlichen Interpretation der Privatrechtsbegriffe vor allem aus dem rechtsstaatlichen Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung 1 6 4 , aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung 1 6 5 oder aus einem behaupteten Analogieverbot 1 6 6 hergeleitet. Das Gebot der Tatbestandsmäßigkeit besagt, daß eine Steuer nur dann erhoben werden darf, wenn i m Einzelfall der Tatbestand v e r w i r k licht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft 1 6 7 . Papier 1 6 8 spricht i n diesem Zusammenhang von einer „verfassungsrechtlich abgesicherten Garantiefunktion des Gesetzestatbestandes". Jede Auslegung, die einen steuerbegründenden Tatbestand „über den möglichen Wortsinn des Gesetzes hinaus" ausweitet, w i r d diesem Grundsatz entsprechend als unzulässig betrachtet. Sofern daher ein Tatbestandsmerkmal „ i m Wortsinn eindeutig" ist, w e i l es „eine ganz bestimmte, nämlich eine zivilrechtliche Bedeutung" besitzt 169 , darf es weder „überdehnt" noch „verengt" werden — auch nicht unter Berufung auf die Teleologie des Gesetzes. Zwischen dem Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und dem Grundsatz der Gewaltenteilung besteht ein enger Zusammenhang, weil jede unzulässige Ausweitung eines Tatbestandes bereits als verfassungswidrige Ausübung gesetzgeberischer Befugnisse durch den Richter betrachtet werden kann. Wer bei der Deutung eines privatrechtlichen Tatbestandsmerkmals eine Abweichung vom herkömmlichen Verständnis für notwendig hält, muß sich u. U. m i t dem Vorwurf auseinandersetzen, seine Interpretation verändere das Gesetz und überschreite damit den richterlichen Kompetenzbereich 170 . I n diese Richtung zielt beispielsweise der Hinweis von Papier 171, ein Widerspruch zwischen dem 184
Vgl. Paulick D B 196«, 1870; Thiel, Spitaler-GS S. 204; Tipke JuS 1970, 152; Kruse, Paulick-FS S. 410. 165 Dazu v o r allem Papier, Demokratieprinzip S. 186 f.; Hensel, Z i t e l m a n n FS S. 242f.; ders. StW 1925 Sp. 1969f.; Blumenstein, E. Huber-FS S. 209, 216 f.; Storck, Auslegungsprobleme S. 62 f.; Haubrichs, Steuerrecht S. 7; Huber-Krebs StW 1967 Sfc. 486; Paulick D B 1968, 1870. 166 Papier, Demokratieprinzip S. 177 ff., 185. 187 Paulick, Lehrbuch Rz. 136. 168 Demokratieprinzip S. 185. 189 Z u dieser Schlußfolgerung Storck, Auslegungsprobleme S. 10, 63. 170 Vgl. Storck, Auslegungsprobleme S. 62. 171 Demokratieprinzip S. 186; ähnlich Hensel, Zitelmann-FS S. 243.
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(steuerrechtlichen) Gesetzeszweck und dem (privatrechtlichen) Wortsinn könne nicht durch eine Interpretation aufgelöst werden, weil nur der Gesetzgeber die Möglichkeit habe, einen Steuertatbestand m i t eigenständigen, von der Privatrechtsordnung abweichenden Begriffen zu bestimmen. Die Anerkennung der Maßgeblichkeit einer privatrechtlichen Prägung w i r d so zu einer Frage der Gesetzestreue 172 . Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung wäre allerdings ausgeschlossen, wenn sich die an der steuergesetzlichen Teleologie orientierenden Auslegungen unter dem Gesichtspunkt der Analogie rechtfertigen ließen. Soweit jedoch ein Analogie verbot besteht, findet die an sich zulässige und auch gebotene teleologische Interpretation ihre Grenze an dem möglichen Wortsinn des Gesetzes. Papier 173 geht davon aus, daß diese „ v o m Rechtsstaatsprinzip geforderte Grenze zulässiger Gesetzesinterpretation überschritten und der Sache nach — verbotene — Analogie betrieben" wird, wenn man die privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale als bloßen „Notbehelf" zur Umschreibung noch nicht eingebürgerter steuerrechtlicher Wirtschaftsbegriffe betrachtet 174 und dementsprechend deutet. Wer die geforderte Ubereinstimmung zwischen der steuerrechtlichen und der privatrechtlichen Begriffsdeutung unter Berufung auf die verfassungsrechtlichen Bindungen der Rechtsprechung begründet, verweist stets i n irgendeiner Form auf den „möglichen Wortsinn" des Gesetzes. Nun w i r d aber von denjenigen, die eine divergente Auslegung befürworten, keineswegs behauptet, eine derartige Interpretation widerspreche dem Gesetz der betreffenden Vorschrift. I m Gegenteil: Erst durch die Abweichung glaubt man zu einem sinngerechten Verständnis zu gelangen. Daran w i r d erkennbar, daß der Hinweis auf das Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit, auf den Grundsatz der Gewaltenteilung und auf das Analogieverbot i m Grunde an den Problemen vorbeigeht. Nicht die Befolgung dieser Grundsätze steht i n Frage, sondern die Grenze des „möglichen Wortsinns". 4. Eine vierte Gruppe von Argumenten thematisiert die Absichten des Gesetzgebers. Es w i r d die Frage aufgeworfen, welchen Inhalt denn die an der Gesetzgebung beteiligten Personen m i t den Privatrechtsbegriffen verbunden haben. Muß man nicht davon ausgehen, daß jemand, der einen geprägten Begriff ohne besondere Hinweise auf einen eventuell abweichenden Inhalt verwendet, die übliche Bedeutung dieses Begriffs i n seinen Willen aufnimmt? 172 173 174
So ausdrücklich Storck, Auslegungsprobleme S. 63. Demokratieprinzip S. 185. Wie z. B. E. Becker, Reichsabgabenordnung S. 57.
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a) Divergente Auslegungen eines privatrechtlichen Tatbestandsmerkmals werden oft deswegen abgelehnt, weil sie die Autorität des Gesetzgebers untergraben könnten. Diese Befürchtung bringt z. B. Lion 1 7 5 zum Ausdruck: Seiner Meinung nach bedeutet es „ein Armutszeugnis sondergleichen für den Gesetzgeber, wenn man i h m nicht zutraut, daß er einen Tatbestand für das Steuerrecht besonders formulieren könne, sondern sich dazu als ,Notbehelf die von i h m auf anderen Gebieten geschaffenen Ausdrücke ausleihen müsse, diese aber i n einem ganz anderen Sinn meinen soll". A u f Grund der zeitlichen Priorität und der daraus resultierenden prägenden Wirkung des Privatrechts ist es nur natürlich, daß ein Interpret m i t einem privatrechtlichen Begriff normalerweise auch eine p r i vatrechtliche Bedeutung verbindet. Daraus schließt Storck 116, daß auch der Steuergesetzgeber, wenn er einen solchen Begriff verwende, kaum an eine wirtschaftliche Betrachtungsweise gedacht, sondern das privatrechtliche Tatbestandsmerkmal allenfalls i n einem „normalen" Sinn verstanden habe. Zumindest dürfe aus der Verwertung eines Privatrechtsbegriffs eine gewisse Vermutung dafür abgeleitet werden, daß die jeweils bezeichnete Lebenserscheinung „auch i m Steuerrecht i n der nämlichen Weise aufzufassen und zu werten ist, wie dies i m Privatrecht geschieht" 177 . Dafür schien auch § 6 StAnpG (inzwischen: § 42 AO) 1 7 8 zu sprechen. Diese Vorschrift ging offenbar davon aus, daß ein an privatrechtliche Gestaltungen anknüpfender Steuertatbestand als abschließende Regelung zu verstehen ist und nur dann erfüllt sein kann, wenn die normierten Formen gewählt sind 1 7 9 . „§ 6 StAnpG wäre sinnlos und überflüssig, läge bei bloßer Identität der wirtschaftlichen Zwecke und Wirkungen trotz tatbestandsrelevanter Abweichungen i n der Rechtsform (...) Tatbestandserfüllung vor, wäre also Umgehungsschutz allein schon durch Norminterpretation möglich" 1 8 0 . b) Demgegenüber betonen B a l i 1 8 1 und E. Becker 182, „daß die Verwendung desselben Wortbegriffs i n verschiedenen Rechtsgebieten m i t ab175
VJSchrStuFR 1927, 134. Auslegungsprobleme S. 62. 177 Blumenstein ZSR 1933, 211 a. 178 § 42 A O unterscheidet sich v o n § 6 S t A n p G eigentlich n u r dadurch, daß die neue Vorschrift ganz allgemein den Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts (§ 6 Abs. 1 StAnpG: des bürgerlichen Rechts) regelt: Die A O - A u t o r e n sind davon ausgegangen, daß auch Gestaltungsmöglichkeiten des öffentlichen Rechts mißbräuchlich verwendet werden können. Was zu § 6 S t A n p G gesagt w i r d , ist daher durchaus auf § 42 A O übertragbar. 179 So jedenfalls Papier, Demokratieprinzip S. 187; ebenso Tipke, Lehrbuch S. 84. 180 Papier, Demokratieprinzip S. 187. lei privatrecht S. 11, 118, 125. 176
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gewandelter Bedeutung darauf zurückzuführen ist, daß beiden Gebieten dieselbe Lebenserscheinung zugrunde liegt, und daß man sich m i t dieser Doppelverwendung, da der Sprache nicht genügend lebende Bezeichnungen zur Verfügung stehen, abfinden muß" 1 8 3 . Die formale privatrechtliche Anknüpfung sei „ i n der Regel nur ein Notbehelf wegen Ä h n lichkeit der Sache" 184 . Der Gesetzgeber verwende den Begriff des Privatrechts, vermeide dadurch die Notwendigkeit, einen neuen Begriff zu formulieren, und meine mit dem privatrechtlichen Merkmal nicht die besondere privatrechtliche, sondern die wirtschaftliche Bedeutung 183 . Man könnte die Doppelverwendung von Rechtsbegriffen als einfachen „Mißgriff der Gesetzestechnik" betrachten, wenn eine jeweils eigenständige Bezeichnung des Gemeinten möglich wäre. Oft genug werden aber die unterschiedlichen Inhalte nicht nur aus Bequemlichkeit, sondern auch „wegen der A r m u t unserer Sprache" 185 durch dasselbe Wort zum Ausdruck gebracht: „Da die Sprache nicht die genügende Anzahl verschiedener Bezeichnungen für die gleiche Lebenserscheinung hat, so muß man sich m i t der Verwendung desselben Lebensbegriffs auf verschiedenen Rechtsgebieten i n verschiedener Bedeutung abfinden" 186 . § 6 StAnpG (§ 42 AO) läßt nach dieser Auffassung keineswegs darauf schließen, daß allein ein privatrechtskonformes Verständnis der Privatrechtbegriffe dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Die Mißbrauchsbestimmung sei lediglich eine Klarstellung und eine Bekräftigung der Auffassung, daß die Gesetzesinterpretation nicht am Wortlaut kleben dürfe, sondern die Teleologie der einzelnen Vorschrift berücksichtigen müsse und deshalb auch Umgehungen zu erfassen habe 187 . Damit w i r d eine selbständige Bedeutung des § 6 StAnpG (§ 42 AO) bestritten. 5. Die bisher genannten Argumente spielen zwar i n der Auseinandersetzung u m das Problem der Privatrechtsbegriffe eine dominierende Rolle, sie sind aber nicht die einzigen Gründe, die zur Rechtfertigung der kongruenten oder divergenten Auslegungen angeführt werden. So verweist z.B. Spanner 188 auf den Grundsatz der Vertragsfreiheit zur Begründung seiner Auffassung, daß bei einer Anknüpfung der 182
StW 1924 Sp. 1028; Reichsabgabenordnung S. 57; StW 1932 Sp. 504; D J Z 1934 Sp. 1107; StW 1939 Sp. 748, 751, 753, 759. 183 Ball, Privatrecht S. 125. 184 Ball, Privatrecht S. 118; vgl. auch Crisolli, Lehrbuch S. 39; Eps, Beurteilung S. 50; Kaiser, Auslegungsgrundsätze (1960) S. 15 f. 185 Buchwald JR 1958, 88; ders. StW 1960 Sp. 474. 186 Ball, Privatrecht S. 11. 187 So vor allem Ball, Privatrecht S. 131 f., 151; E. Becker StW 1924 Sp. 154; ders. StW 1924 Sp. 443; ders., Reichsabgabenordnung S. 111. 188 Wacke-FS S. 191 m i t Nachweisen zur Rspr.
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Steuertatbestände an die Rechtsformen und Rechtsgestaltungen des Privatrechts grundsätzlich eine privatrechtliche Beurteilung der bezeichneten Lebenserscheinungen geboten sei. Und Löhlein 189 bewertet jede steuerliche Abweichung von der Wirkungsbreite der privatrechtlichen Rechtsformen als unzulässiges „venire contra factum proprium". Der B F H 1 9 0 versucht i n manchen Fällen, eine fehlende Übereinstimmung zwischen der steuerrechtlichen und der privatrechtlichen Begriffsbestimmung m i t dem „Wesen der Besteuerung als eines Massenverfahrens" zu begründen. Eine privatrechtliche Beurteilung der Wirklichkeit erschwere oft die Abgrenzung der steuererheblichen Lebenserscheinungen von den unerheblichen Fällen und wäre deshalb auch mit dem Prinzip der Einfachheit der Besteuerung unvereinbar 1 9 1 . III.
Methode
Aus der privatrechtlichen Prägung einiger Tatbestandsmerkmale ergeben sich bei der Rechtsanwendung häufig Schwierigkeiten, deren gemeinsame Ursache nicht immer richtig erkannt wird. Manche Fragen, die sich nur deswegen stellen, weil ein steuerrechtlicher Tatbestand einen privatrechtlichen Begriff verwendet, werden daher auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Verbindlichkeit einer privatrechtlichen Begriffsbestimmung, sondern unter einem anderen Aspekt erörtert. Obwohl es i n allen Fällen u m dasselbe Problem geht, sind die Methoden der Problembewältigung sehr unterschiedlich, weil man verkennt, daß sich die entstandenen Schwierigkeiten auf einen Nenner bringen lassen. 1. Wer die Problematik zutreffend beurteilt, d.h. zu der Erkenntnis gelangt, daß sich die Rechtsanwendung durch die Verwendung von Privatrechtsbegriffen erschwert, der w i r d versuchen, diese Schwierigkeiten durch eine Interpretation (Auslegung, Deutung) 1 9 2 der betreffenden Begriffe zu überwinden 1 9 3 . Die Interpretation ist nach herkömmlichem Verständnis ein methodisches Verfahren, das darauf abzielt, durch deduktives Folgern und Schließen den Inhalt eines Tatbestandes und seiner 189
R. Schmidt-GS S. 141/142. Vgl. z . B . B F H BStBl. 1961, 188 (189); S t R K EStG § 12 Ziff. 2 R. 88 (S. 81). 191 Dazu auch Ackermann, Bedeutung S. 6. 192 E i n Unterschied i m Gebrauch der Vokabeln „Interpretation", „Auslegung", „Deutung" w i r d eigentlich n u r bei Gassner (Interpretation S. 10 ff.) erkennbar. Meist werden diese Bezeichnungen synonym verwendet; dazu Keller, Interpretation S. 44 N. 43; zur K r i t i k vgl. § 2 Β . I I . 193 Vgl. dazu etwa Crisolli, Lehrbuch S. 39; C. H. Esser, Privatrecht S. 118; Gassner, Interpretation S. 134 ff.; Kruse ÖStZ 1975, 198 f.; dens. T K § 1 StAnpG Rz. 17; Tipke JuS 1970,150 f.; dens., Lehrbuch S. 82 ff. 190
4 Maaßen
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Merkmale zu ermitteln. Eine zutreffende Inhaltsbestimmung w i r d insbesondere von der Festlegung eines Erkenntnisziels — „Wille des Gesetzgebers" oder „Wille des Gesetzes" — und von der Anwendung bestimmter Erkenntnis- bzw. Auslegungsmethoden erwartet 1 9 4 . a) Die Zielsetzung der steuerrechtlichen Auslegungsverfahren ist zwar umstritten 1 9 5 . Einigkeit besteht jedoch darüber, daß die von der Rechtswissenschaft entwickelten allgemeinen Auslegungsprinzipien auch i m Steuerrecht zur Geltung gelangen 198 . Ob daher ein Privatrechtsbegriff i n einem vom privaten Recht abweichenden Sinn zu verstehen ist, w i l l die steuerrechtliche Literatur und Rechtsprechung i n erster Linie „ m i t den allgemeinen Methoden der Sinnermittlung erforschen" 197 . I m Normalfall w i r d die Interpretation beim Wortlaut beginnen (grammatikalische Auslegung). „Schon aus dem Gesetzes Wortlaut kann sich aber ergeben, daß ein bürgerlich-rechtlicher Begriff nicht i m strengen zivilrechtlichen Sinn aufgefaßt werden darf" 1 9 8 . Wenn insoweit Unklarheiten bestehen bleiben, „hat die Auslegung den Bedeutungszusammenhang, und zwar der einzelnen Teile eines Rechtssatzes wie der sinnhaft aufeinander bezogenen Rechtssätze untereinander und m i t dem Sinnganzen der Gesamtrechtsordnung, zu beachten" (logisch-systematische Auslegung) 199 . Auch die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes kann bei der Ermittlung der Bedeutung eines privatrechtlichen Begriffs u . U . eine Rolle spielen (historische Auslegung) 200 . I m übrigen w i r d aber „das Schwergewicht darauf zu legen sein, ob die wirtschaftlichen Zielsetzungen der jeweiligen Steuervorschrift und die Funktion des Privatrechtsbegriffs i n der betreffenden Vorschrift eine Abweichung vom Zivilrecht gebieten" (teleologische Auslegung) 201 . Gerade bei der Interpretation der Privatrechtsbegriffe hält man die teleologische Methode für besonders geeignet, weil sie eine an den spe194
Dazu ausführlicher § 2 Α . I. Vgl. B F H BStBl. 1961, 188 (189) einerseits („Wille des Gesetzgebers") u n d Eckhardt StbJb 1961/62, 137 andererseits („Wille des Gesetzes"). Der Streit zwischen der subjektiven u n d der objektiven Auslegungstheorie w i r d also auch i m Steuerrecht ausgetragen; dazu auch Kruse, Lehrbuch S. 91. 196 So z . B . Spitaler StbJb 1949, 267ff.; ders. StbJb 1956/57, 106ff.; Niemann, Spitaler-GS S. 10ff.; Klein, Spitaler-GS S. 147 ff.; Paulick, Spitaler-GS S. 166 ff.; ders., Lehrbuch Rz. 251 ff.; Kaiser, Auslegungsgrundsätze (1960) S. 30 ff.; Thiel StbJb 1963/64, 168 ff. 197 Gassner, Interpretation S. 134. 198 Raupach, Durchgriff S. 57. 199 Paulick, Lehrbuch Rz. 256. 200 So beispielsweise R F H E 1, 283 (A.); B F H BStBl. 1961, 188 (189). 201 Gassner, Interpretation S. 136; vgl. auch Lion VJSchrStuFR 1927, 180 f.; Hensel, Lehrbuch S. 53; Flume, Steuerwesen S. 19 N. 25; Kaiser, Auslegungsgrundsätze (1960) S. 70; Raupach, Durchgriff S. 56. 195
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ziellen Zielvorstellungen des Steuerrechts ausgerichtete Anschauungsweise von gesetzlichen Begriffen ermöglicht, „die ursprünglich i m Rahmen einer anderen Materie nicht von diesen Zielvorstellungen geprägt worden sind" 2 0 2 . Die Unterschiede zwischen der privatrechtlichen und der steuergesetzlichen Teleologie verweisen den Interpreten möglicherweise eher auf die Notwendigkeit einer eigenständigen Deutung der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale als beispielsweise der Wortlaut, die Systematik oder die Entstehungsgeschichte des betreffenden Steuergesetzes. Allerdings kann die Auslegung nach dem Sinn und Zweck durchaus auch zu dem Ergebnis führen, daß es i m Sinn der Norm liegt, die privatrechtliche Begriffsbestimmung zu übernehmen 203 . Damit der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung nicht gefährdet wird, soll die teleologische Auslegung — wie jede andere Auslegung auch — ihre Grenze an dem möglichen Wortsinn der anzuwendenden Vorschrift finden 204. Hensel 205 w i l l dem Zweck des Gesetzes vor dem Wortlaut „ein gewisses Ubergewicht" nur dann zuerkennen, wenn das Gesetz selbst widerspruchsvoll ist. Bei einem Widerspruch zwischen dem Zweck und dem (in sich widerspruchslosen) Wortlaut habe dagegen letzterer unbedingt vorzugehen. „Was darüber hinausgeht, ist Gesetzesänderung, nicht Gesetzesauslegung" 206 . b) Zu den Interpretationselementen des Steuerrechts gehört auch die wirtschaftliche Betrachtungsweise 207 . M i t Hilfe der wirtschaftlichen Betrachtungsweise soll u.a. die Verbindlichkeit der privatrechtlichen Begriffsbestimmungen überprüft werden 2 0 8 . Obwohl die wirtschaftliche Betrachtungsweise i n den Prinzipienkatalogen der allgemeinen Auslegungslehre nicht genannt ist, hält man diesen Kanon nicht für eine Besonderheit der steuerrechtlichen Interpretation. Vielmehr w i r d die — bisher auf § 1 Abs. 2 StAnpG (§ 4 RAO 202
Teichmann, Bartholomeyczik-FS S. 381. So Raupach, Durchgriff S. 56. 204 V g L Paulick D B 1968, 1870; Kruse, Paulick-FS S. 410; dens. T K § 1 S t A n p G Rz. 16. 203
205
Zitelmann-FS S. 242 f. Hensel, Z i t e l m a n n - F S S. 243; Papier, Demokratieprinzip S. 186. 207 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise findet nicht n u r als Auslegungsprinzip f ü r Gesetzesnormen, sondern auch als Wertungsprinzip f ü r Tatsachen Verwendung; so bereits E. Becker, Reichsabgabenordnung S. 50; vgl. auch Hübschmann, Spitaler-FS S. 112/113; Hartz, Auslegung S. 12/13; Wennrich, Betrachtungsweise S. 19; Kaiser, Auslegungsgrundsätze (1960) S. 73 ff.; gleichlautend ders., Auslegungsgrundsätze (1970) S. 93 ff.; C. H. Esser, Privatrecht S. 116; Raue, Mißbrauchstatbestand S. 50; Paulick, Lehrbuch Rz. 284; Kruse, Lehrbuch S. 98 ff.; Gassner, Interpretation S. 19 ff. Z u der zweiten Verwendungsweise vgl. § 1 B. I I I . 2. 208 So ζ. B. Kruse, Paulick-FS S. 409; ders. ÖStZ 1975, 199. 206
4·
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
1919) gestützte — Beurteilung der Steuergesetze nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten allgemein dem Bereich der teleologischen Auslegung zugeordnet 209 . So gesehen enthielt die Anordnung des § 1 Abs. 2 StAnpG, bei der Auslegung auch die wirtschaftliche Bedeutung der Steuergesetze zu berücksichtigen, kein spezifisch steuerrechtliches Gedankengut, sondern eine Auslegungsregel, die man nach den Grundsätzen der allgemeinen Auslegungslehre ohnehin anzuwenden hat 2 1 0 . Daß die w i r t schaftliche Betrachtungsweise i m Steuerrecht dennoch so sehr i n den Vordergrund getreten ist, liegt offenbar an dem besonderen Gegenstand der steuerrechtlichen Gesetzgebung: Die Steuergesetze stellen auf die wirtschaftlichen Gegebenheiten ab und müssen deshalb nach Gesichtspunkten ausgelegt werden, auf die es bei anderen Gesetzen nicht so sehr ankommt 2 1 1 . „So rechtfertigt es die Materie des Steuerrechts eben i n besonderem Maße, den wirtschaftlichen Sinn und Zweck der einzelnen Regelungen zu berücksichtigen" 212 . Mancher Autor w i l l die wirtschaftliche Betrachtungsweise vor allem dazu benutzen, Privatrechtsbegriffe für das Steuerrecht i n einem w i r t schaftlichen Sinn „abzuwandeln" 2 1 3 . So betrachtet etwa Thiel 214 die teleologisch-wirtschaftliche Betrachtungsweise als ein Prinzip, das „es gestattet, bürgerlich-rechtliche Merkmale des Steuertatbestands i m Wege der Gesetzesauslegung den steuerlichen Notwendigkeiten anzupassen". Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß die i n den Steuertatbeständen verwendeten „Soll"-Begriffe (Privatrechtsbegriffe) letztlich dazu dienen, die tatsächlichen Machtverhältnisse, das wirtschaftliche „Ist", zu erfassen, und daß gerade die wirtschaftliche Betrachtungsweise eine Interpretation ermöglicht, die — wie die Steuergesetze selbst — „von den Machtverhältnissen des Lebens ausgeht und i n dieser Beziehung gleichartige Lebenserscheinungen gleichsetzt" 215 . Aus diesem Grunde geht man i m Steuerrecht davon aus, daß eine wirtschaftliche Betrach-
209 Vgl. Spitaler StbJb 1962/63, 407; Paulick, Spitaler-GS S. 169; v. Wallis, Bühler-FS S. 253; a. A . Kruse T K §1 S t A n p G Rz. 15, der die wirtschaftliche Betrachtungsweise f ü r eine F o r m der logisch-systematischen Auslegung hält. Ulmer (WuW 1971, 882) mißt diesem Streit n u r terminologische Bedeutung zu. 210 Vgl. auch Hartz, Auslegung S. 37; Gast, Entwicklung der Verhältnisse S. 37 ff. Aus diesem Grunde ist eine vergleichbare Vorschrift i n der neuen A O nicht mehr zu finden. 211 So Riewald B R K S. 565. 212 Gassner, Interpretation S. 123/124. 213 Tipke JuS 1970, 151; ders., Lehrbuch S. 83; Gassner, Interpretation S. 20. 214 Spitaler-GS S. 198. 215 Z u dieser Definition der wirtschaftlichen Betrachtungsweise Ball, P r i vatrecht S. 119.
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tungsweise bei der Ermittlung der Bedeutung privatrechtlicher Tatbestandsmerkmale nützliche Dienste zu leisten vermag 2 1 8 . 2. Eine andere Methode, das Problem der Privatrechtsbegriffe zu bewältigen, ist die selbständige „Beurteilung der Sachverhalte" m i t Hilfe der wirtschaftlichen Betrachtungsweise 217 . Das Verfahren der Sachverhaltsbeurteilung zielt darauf ab, einer von der Begriffsbestimmung des privaten Rechts abweichenden Deutung der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale auszuweichen und allein durch die spezifische Konstitution der Sachverhalte eine Anwendung des gesetzlichen Tatbestandes zu ermöglichen bzw. zu vermeiden. Nach (noch) herrschender Lehre 2 1 8 ist jeder Sachverhalt vor der „Subsumtion" unter den Gesetzestatbestand wirtschaftlich zutreffend zu beurteilen 219 . Der Sinn einer Sachverhaltsbeurteilung besteht dieser Auffassung zufolge darin, „gleiche wirtschaftliche Vorgänge ausnahmslos derselben steuerrechtlichen Behandlung" zu unterwerfen, „ i n welche äußeren Rechtsformen sie sich auch kleiden mögen" 2 2 0 . Dabei geht man „von der Tatsache aus, daß bei den steuerrechtlich relevanten, sich i n (privat)rechtlichen Formen und Gestaltungen darstellenden Sachverhalten nicht selten eine formal-rechtliche Einkleidung gewählt ist, die den wirklichen wirtschaftlichen Gehalt des Vorgangs oder Zustands verzerrt 216 Vgl. Blumenstein ZSR 1933, 260 a, 265 a, 267 a; ebenso Ball, Privatrecht S. 118 f.; E. Becker StW 1924 Sp. 1028ff.; ders. StW 1939 Sp. 757; Hübschmann, Spitaler-FS S. 120; vgl. auch R F H E 3, 246 (247); 11, 219 (224); B F H H F R 1961, 256; BStBl. 1962, 127 (128); 1967, 733»; S t R K EStG § 12 R. 88. Demgegenüber gehen Paulick (DB 1968, 1870; Lehrbuch Rz. 285; DStR 1975, 566) u n d Spanner (Wacke-FS S. 182 f., 191) davon aus, daß eine Erfassung der tatsächlichen Gegebenheiten bereits durch die Bestimmungen der §§ 133, 157 B G B i n ausreichendem Maße ermöglicht w i r d , eine besondere wirtschaftliche Betrachtungsweise insoweit also nicht notwendig ist. 217 So ausdrücklich Littmann W p g 1951, 81. Normalerweise beruft m a n sich allerdings i n der Praxis auf die Sachverhaltsbeurteilung, ohne dieses V e r fahren w i r k l i c h als „Methode" zur Lösung des Problems der Privatrechtsbegriffe zu begreifen. Daß m i t der „wirtschaftlichen Beurteilung" eines Sachverhalts zugleich die Frage nach der Verbindlichkeit privatrechtlicher Begriffsbestimmungen ausgeräumt w i r d , bleibt zumeist unerwähnt u n d u n e r kannt. Offenbar hat das Bewußtsein die W i r k l i c h k e i t der Rechtsanwendung insoweit noch nicht eingeholt. 218 Vgl. etwa Hübschmann, Spitaler-FS S. 112ff., 120 ff.; Böhmer, E r f ü l l u n g S. 5 ff.; v. Wallis H H S p § 1 S t A n p G Rz. 51 f.; Kruse, Lehrbuch S. 103 ff.; w e i tere Nachweise bei Gassner, Interpretation S. 27 N. 17. 219 Die Sachverhaltsbeurteilung wurde bis v o r kurzem auf § 1 Abs. 3 S t A n p G gestützt. I n der neuen A O gibt es keine vergleichbare Vorschrift. Dennoch ist zu vermuten, daß die steuerrechtliche Beurteilungslehre auch i n Z u k u n f t ihre Vertreter finden w i r d , denn i m m e r h i n hat E. Becker (StW 1924 Sp. 145 ff.) eine wirtschaftliche Beurteilung v o n Sachverhalten schon f ü r zulässig gehalten, als er sich noch nicht auf eine besondere gesetzliche G r u n d lage berufen konnte. 220 Hübschmann, Spitaler-FS S. 121.
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Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
oder verschleiert" 221 . I n diesen Fällen soll durch die gesonderte Beurteilung der Sachverhalte der „wahre wirtschaftliche Gehalt" der beurteilten Vorgänge erfaßt und zugleich eine Prüfung der Frage ermöglicht werden, „ob die bürgerlich-rechtliche Form oder Bezeichnung das, was die Beteiligten wollten und wirtschaftlich erstrebten, zutreffend wiedergibt" 2 2 2 . Kommt man dabei zu dem Ergebnis, daß sich die bürgerlich-rechtliche Form nicht mit dem wirtschaftlichen Inhalt eines Rechtsgeschäfts deckt, so besteht nach Ansicht der steuerrechtlichen Beurteilungslehre die Möglichkeit, die juristische Einkleidung einfach beiseitezuschieben und allein auf den wirtschaftlichen Gehalt eines Vorgangs abzustellen. Die Rechtsprechung ist darum bemüht, den Gedanken der Sachverhaltsbeurteilung i n die Praxis umzusetzen. U m einmal ein Beispiel zu nennen, sei auf das Urteil des B F H vom 22.11.1963 223 verwiesen. I n dieser Entscheidung ging es u m die Frage, ob bei einem Steuerpflichtigen, der einem Verwandten auf Grund bürgerlich-rechtlich wirksamer Verträge zunächst einen Vermögensbetrag schenkt und sich das Geld sodann wieder als langfristiges unkündbares Darlehen zur Verfügung stellen läßt, die daraufhin geleisteten Zinszahlungen als Schuldzinsen (§10 Abs. 1 Ziff. 1 EStG a.F.) abzugsfähig sind. Der B F H kam zu dem Ergebnis, daß den (bürgerlich-rechtlich wirksamen) Rechtsgeschäften die steuerliche Anerkennung zu versagen sei, w e i l sich wirtschaftlich gesehen nichts Wesentliches geändert habe. Der Sachverhalt sei demnach so zu beurteilen, als habe der „Beschenkte" nicht den i n dem Schenkungsvertrag festgesetzten Vermögensbetrag, sondern lediglich die „Darlehenszinsen" erhalten. Die Zinszahlungen müsse man aber wegen der steuerlichen Nichtanerkennung des zugrundeliegenden Darlehensvertrages als freiwillige Zuwendung (§12 Nr. 2 EStG) betrachten, so daß das Merkmal „Schuldzinsen" (§ 10 Abs. 1 Ziff. 1 EStG a. F.) auf keinen Fall erfüllt sei 224 . Was der B F H i n diesem Fall m i t Hilfe einer selbständigen Sachverhaltsbeurteilung zu bewirken glaubt, könnte man allerdings ebensogut als das Ergebnis einer Rechtsanwendung betrachten, der ein vom Privatrecht abweichendes, „wirtschaftliches" Verständnis des privatrechtlichen Merkmals „Schuldzinsen" 225 zugrundeliegt. Eine genaue Unterscheidung 221
Papier, Demokratieprinzip S. 191. B F H BStBl. 1964, 74 (75); ebenso F G Nürnberg EFG 1973, 485 (486). 223 BStBl. 1964, 74. Diese BFH-Entscheidung bestätigt das U r t e i l des Hessischen F G v. 15. 5. 1962 (EFG 1963, 61). 224 Vgl. auch F G Nürnberg E F G 1973, 485; zustimmend Herrmann/Heuer, Kommentar § 12 EStG Rz. 11 (E 43); a. A . Böttcher StbJb 1963/64, 105. 225 Das W o r t „Schuldzinsen" ist zwar nicht m i t einem Begriff des p r i v a t rechtlichen Sprachgebrauchs identisch. I m m e r h i n besteht aber eine gewisse Ähnlichkeit zwischen „Schuldzinsen" u n d dem Zinsbegriff, der ζ. B. i n § 608 B G B verwendet w i r d . 222
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zwischen der inhaltlichen Bestimmung des Tatbestands und der „ w i r t schaftlichen Beurteilung" des Sachverhalts scheint insoweit jedenfalls kaum möglich zu sein. Davon gehen auch die K r i t i k e r der steuerrechtlichen Beurteilungslehre aus 226 . Ihrer Meinung nach ist die Beurteilung der Lebensverhalte notwendigerweise i n den Prozeß der Rechtsanwendung eingebunden; eine selbständige, von der inhaltlichen Bestimmung und Anwendung der Steuergesetze abgetrennte Sachverhaltsbeurteilung nach den Prinzipien der wirtschaftlichen Betrachtungsweise sei gar nicht denkbar. Vielmehr gehöre es zu den unabänderlichen Bedingungen einer jeden Rechtsanwendung, daß die Tatbestände immer nur i m Hinblick auf die Rechtsfälle verstanden und die zur Beurteilung stehenden Rechtsfälle auch nur i m Hinblick auf den jeweiligen Tatbestand rechtlich qualifiziert werden könnten 2 2 7 . Dementsprechend sei die „wirtschaftliche Beurteilung" eines Sachverhalts „nichts anderes als die vom Gesetz gesteuerte Tatsachenermittlung und Sachverhaltsformung" 2 2 8 . Wenn aber der juristisch erhebliche Sachverhalt von dem Beurteiler stets i m Hinblick auf die vorzunehmende rechtliche Beurteilung und damit auf die (vielleicht) anzuwendenden Rechtssätze gedanklich geformt werde, dann sei m i t der endgültigen Feststellung des Sachverhalts eine Subsumtion unter den gesetzlichen Tatbestand immer schon vollzogen bzw. über die Unmöglichkeit einer solchen Subsumtion bereits abschließend entschieden. Für ein zusätzliches, nach der Sachverhaltsfeststellung und vor der Subsumtion stattfindendes Verfahren, das der „Aufbereitung" des Sachverhalts, dem „Herausschälen" des „wirtschaftlichen Kerns" etc. dienen könnte, bleibe somit gar kein Raum 2 2 9 . Wer dennoch losgelöst vom Gesetz m i t einem wirtschaftlichen Sachverhalt, einem wirtschaftlichen Gehalt als solchen operiere, breche aus der Gesetz- und Tatbestandsmäßigkeit aus, leite den Geltungsgrund für die Rechtsfolge statt aus dem Gesetz aus dem Sachverhalt her und verabsolutiere das Wirtschaftliche ohne Rücksicht darauf, ob der Gesetzesbegriff, unter den zu subsumieren sei, i m Einzelfall einen w i r t schaftlichen Sinn habe 230 . Damit w i r d die Sachverhaltsbeurteilung als wirksame Methode zur Lösung des Problems der Privatrechtsbegriffe zunächst einmal i n Frage 226 Vgl. insbes. Eps, Beurteilung S. 14 ff.; Brandt, Beurteilung S. 106 ff.; Tipke T K § 1 S t A n p G Rz. 45 ff.; dens., Steuerrecht S. 84 ff.; Gassner, I n t e r pretation S. 36ff.; Papier, Demokratieprinzip S. 191 ff., 198ff.; dazu aber auch Spitaler StbJb 1949, 269; ders. StbJb 1950, 86; Hartz, Auslegung S. 52; Bühler/Strickrodt, Steuerrecht S. 159; Hopfenmüller StbJb 1961/62, 241 f.; ders., Spitaler-GS S. 122 ff.; Thiel StbJb 1963/64, 183; Spanner, Wacke-FS S. 191 f. 227 So allerdings auch Kruse, Lehrbuch S. 103/104. 228 Papier, Demokratieprinzip S. 193 (Hervorhebung v o m Verfasser). 229 Vgl. Gassner, Interpretation S. 38. 230 So Tipke, Steuerrecht S. 86; vgl. auch Papier, Demokratieprinzip S. 198 ff.
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gestellt. Angesichts der zunehmenden K r i t i k an diesem Verfahren stellen sich Zweifel ein, ob die selbständige Wertung eines Sachverhalts nach wirtschaftlichen Maßstäben überhaupt zu verwirklichen ist. Vor allem ist zu prüfen, inwieweit unter dem Deckmantel der „wirtschaftlichen Beurteilung" von Sachverhalten eine „Umdeutung" der privatrechtlichen Merkmale eines Steuertatbestandes stattfindet. Eine solche Überprüfung setzt allerdings eine Aufklärung über das Verfahren der Rechtsanwendung und über den Zusammenhang der Norminterpretation m i t der Konstitution der Sachverhalte voraus. Erst wenn die hermeneutischen Bedingungen aufgeklärt sind, denen jeder rechtsanwendende Interpret und jedes Verstehen von Rechtstexten unterliegt, kann über die Durchführbarkeit einer von der inhaltlichen Bestimmung der Tatbestände unabhängigen Sachverhaltsbeurteilung sinnvoll geredet werden. 3. Manche Fragen, die sich aus der Verwendung privatrechtlicher Merkmale i n einem Steuertatbestand ergeben, werden i n der steuerrechtlichen Literatur und Rechtsprechung dem Problemkreis der Steuerumgehung (§ 42 AO) zugeordnet 231 . Die Beurteilung von Rechtsfällen unter dem Gesichtspunkt des möglicherweise vorliegenden Mißbrauchs rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten ist ebenso wie das Verfahren der Sachverhaltsbeurteilung darauf gerichtet, einerseits eine Deutung der Privatrechtsbegriffe zu vermeiden, die man als Abweichung von der privatrechtlichen Begriffsbestimmung besonders rechtfertigen müßte, und andererseits eine Rechtsanwendung sicherzustellen, die dem (wirtschaftlichen) Grundgedanken der jeweils anzuwendenden Norm gerecht wird232. § 42 AO geht davon aus, daß bei einem Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts der Steueranspruch so entsteht, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entstanden wäre. Nach der i m Steuerrecht vorherrschenden Auffassung 233 hat diese Mißbrauchsbestimmung die Funktion eines selbständigen Rechtsinstituts, das immer erst dann zum Zuge kommt, wenn „die Auslegungskunst zu versagen beginnt" 2 3 4 . Als ergänzende Vorschrift 231
Darauf hat schon Ball (Privatrecht S. 130 ff., 151) hingewiesen. So w o h l auch Littmann W p g 1951, 81; Tipke JuS 1970, 153; Gassner, Interpretation S. 22. 233 Vgl. etwa Hensel, Zitelmann-FS S. 217 ff., 237 ff.; dens., Lehrbuch S. 99; Böhmer, E r f ü l l u n g S. 74 ff.; Spanner H H S p § 6 S t A n p G Rz. I f f . ; Mattem/ Meßmer, Reichsabgabenordnung Rz. 2656; Tipke T K § 6 S t A n p G Rz. 1; Kruse StW 1958 Sp. 156/157; dens., Lehrbuch S. 112ff.; Papier, Demokratieprinzip S. 182 ff., 187 ff.; dazu auch Ebert B B 1957, 673ff.; Raue, Mißbrauchstatbestand S. 104 ff.; Riedel, Steuerumgehung S. 86 ff. 234 So Hensel, Z i t e l m a n n - F S S. 244, 261; dazu aber auch Ackermann, Bedeutung S. 29; Kruse, Lehrbuch S. 114; Tipke T K § 6 S t A n p G Rz. 1 (S. 1414 f.); Papier, Demokratieprinzip S. 187. 232
Β . Stand der Meinungen
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soll § 42 AO vor allem zu solchen Steuertatbeständen hinzutreten, deren Merkmale privatrechtliche Gestaltungen und Vorgänge zur Sprache bringen, ohne damit jedoch die von den Gesetzesverfassern für eine steuerliche Belastung vorgesehenen Gegebenheiten vollständig zu erfassen. „Hier t r i t t dann ganz offensichtlich eine Diskrepanz zwischen dem Wortlaut und dem immanenten Sinn und Zweck des Gesetzes (...) zutage" 235 . Nach den Grundsätzen der allgemeinen Rechtslehre handelt es sich dabei u m eine Gesetzeslücke, die nicht mehr m i t Hilfe der Interpretation, sondern nur noch durch Analogie zu schließen ist 2 3 6 . I m Steuerrecht w i l l man dementsprechend — als „Sonderfall der Analogie" 2 3 7 — § 42 AO anwenden: „Er ermächtigt die normanwendenden Organe zum Eingriff über den vom Wortlaut der speziellen Steuergesetze gezogenen Rahmen hinaus nach Maßgabe des Gesetzeszwecks und -sinns und der vorgestellten ökonomischen Zustände und Vorgänge" 238 . Welche Wirkungen die Mißbrauchsbestimmung i n der Praxis entfaltet, zeigt sich am Beispiel der Rechtsprechung zu § 17 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG 2 3 9 . Nach Ansicht des B F H ist diese Vergünstigungsvorschrift an sich nur „ f ü r die Fälle vorgesehen, i n denen ein Erwerbsvorgang derart rückgängig gemacht wird, daß die Beteiligten, auch der Veräußerer, aus ihren vertraglichen Bindungen entlassen werden und daß der Veräußerer seine unsprüngliche Rechtsstellung wiedererlangt" 2 4 0 . Eine Anwendung des § 17 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG soll daher ausgeschlossen sein, wenn der Vertrag über den Erwerb eines Grundstücks zwar rechtzeitig „aufgehoben", gleichzeitig jedoch eine andere Vereinbarung i n Kraft gesetzt wird, die darauf abzielt, dem ersten Erwerber auch nach der Aufhebung des ersten Vertrages einen entscheidenden Einfluß auf die Weiterveräußerung des Grundstücks an einen bestimmten Dritten zu sichern und so das wirtschaftliche Ergebnis des Erwerbsvorgangs aufrechtzuerhalten 2 4 1 . Zur Begründung dieser Auffassung beruft sich der B F H allerdings nicht auf die Grundsätze der teleologischen Interpretation, sondern auf § 6 StAnpG (§ 42 AO): „Der Satz, daß die vereinbarte A u f hebung eines Erwerbsvorgangs vor Eigentumsübertragung und vor 235
Papier, Demokratieprinzip S. 183/184. So jedenfalls Tipke StW 1972, 266; Hopfenmüller, Spitaler-GS S. 130 f. 237 Vgl. Tipke T K § 6 StAnpG Rz. 1 (S. 1414). 238 Papier, Demokratieprinzip S. 187/188. 239 Vgl. etwa B F H BStBl. 1953, 284; 1954, 21; H F R 1961, 34 (Nr. 35); H F R 1961, 228; S t R K GrEStG § 17 R. 14, R. 15; BStBl. 1969, 495; 1969, 560; 1969, 630; 1970, 22; 1972, 864; dazu auch Boruttau/Klein, Kommentar § 1 GrEStG Rz. 142 ff.; § 17 GrEStG Rz. 83 ff.; Schultze/Förger, Kommentar § 17 GrEStG Rz. 9. 240 B F H BStBl. 1969, 630 (LS); ebenso B F H BStBl. 1972, 864. 241 Vgl. B F H BStBl. 1969, 560; 1969, 630 (631). 236
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
Ablauf von zwei Jahren nicht gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG zum Wegfall der Steuer führe, wenn der Käufer den Verkäufer nicht aus seinen Vertragspflichten entlassen, sondern das von i h m erworbene Grundstück einem anderen auf dem Wege eines neuen Kaufs zwischen diesem und dem ursprünglichen Verkäufer zuwenden w i l l " , könne „bei dem sinnvoll eindeutigen Wortlaut des § 17 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG nur auf Grund und nach Maßgabe des § 6 Abs. 1 und 2 StAnpG gelten" 2 4 2 . Oder anders formuliert: Da der Wirkungsbereich des § 17 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG durch den „klaren Wortlaut" begrenzt sei, könne man dem „Sinn und Zweck" dieser Vergünstigungsvorschrift nur dadurch gerecht werden, daß man die Grunderwerbsteuerpflicht unter Berufung auf das Analogiegebot des § 42 AO über ihr „eigentliches" Maß hinaus ausdehne bzw. die Steuerbefreiungsmöglichkeiten entsprechend reduziere. Was der B F H i n diesem Fall m i t Hilfe der Mißbrauchsbestimmung bewirken w i l l , kann allerdings nach Meinung der K r i t i k e r 2 4 3 der herrschenden steuerrechtlichen Umgehungslehre ohne weiteres durch eine Interpretation erreicht werden, die den i n § 17 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG verwendeten Privatrechtsbegriff „Eigentum" — der gesetzlichen Teleologie entsprechend — nicht privatrechtskonform deutet, sondern statt dessen darauf abstellt, ob der Verkäufer i n wirtschaftlicher Hinsicht die Stellung eines (privatrechtlichen) Eigentümers erlangt hat. § 42 A O stehe dem nicht entgegen, denn diese Vorschrift enthalte lediglich eine K l a r stellung und eine Bekräftigung der Auffassung, daß die Norminterpretation nicht am Wortlaut kleben dürfe. Letztlich sei das Umgehungsund Mißbrauchsproblem immer eine Frage der Gesetzesanwendung, „die durch eine Interpretation gelöst werden kann, die den Sinn und Zweck der Gesetze gehörig berücksichtigt und damit Umgehungen vereitelt, die sich sinnwidrig auf den Wortlaut des Gesetzes zu stützen suchen" 244 . Eine inhaltliche Bestimmung, die der Teleologie einer steuerrechtlichen Vorschrift gegen deren Wortlaut zur Geltung verhelfe, u m dadurch auch die Fälle des Mißbrauchs rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten zu erfassen, halte sich stets innerhalb des gesetzlichen Rahmens und bedürfe daher — als ein Fall teleologischer Interpretation — keiner besonderen Rechtfertigung 245 . Wer diese Ansicht teilt, w i r d davon ausgehen, daß die „Anwendung" des § 42 AO immer nur eine für die Besteuerung unerhebliche Folge 242
B F H BStBl. 1970, 22 (1. LS)/22(24). Vgl. v o r allem E. Becker, Reichsabgabenordnung S. 111; Ball, P r i v a t recht S. 130ff.; Hartz, Auslegung S. 55f.; Paulick StbJb 1963/64, 391, 393, 409; dens., Lehrbuch Rz. 347 ff.; Thiel StbJb 1963/64, 198; Gassner, Interpretation S. 88 ff. 244 Gassner, Interpretation S. 96. 245 Auch die allgemeine Umgehungslehre betrachtet die Gesetzesumgehung inzwischen als Interpretationsproblem; Nachweise dazu bei Gassner, I n t e r pretation S. 76 ff., 82 ff. 243
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C. Abgrenzung des Problembereichs
juristischer Interpretationen sein kann, solcher Interpretationen vor allem, die auf einem vom Privatrecht abweichenden Verständnis privatrechtlicher Tatbestandsmerkmale basieren. Damit ist aber die selbständige Bedeutung der steuerrechtlichen Mißbrauchsbestimmung zunächst einmal i n Frage gestellt. Es scheint, daß § 42 A O i m Rahmen der Rechtsanwendung nichts bewirken kann, was nicht bereits ohne diese Regelung geschieht. Ob diese Vermutung den Tatsachen entspricht, läßt sich allerdings erst feststellen, wenn die Zusammenhänge zwischen dem Verstehen privatrechtlicher Begriffe und der Verwendung des § 42 AO aufgeklärt sind. Das setzt wiederum voraus, daß man sich über den Vorgang juristischer Sinnerkenntnis ausreichend Klarheit verschafft. C. Abgrenzung des Problembereichs Die Beschränkung der Untersuchung auf Begriffe aus dem Bereich des privaten Rechts, die i n einem Tatbestand des Steuerrechts verwendet werden, ist von der Problematik her eigentlich nicht gerechtfertigt. Denn bei den Fragen, die sich i m Zusammenhang mit der inhaltlichen Bestimmung privatrechtlicher Tatbestandsmerkmale ergeben, handelt es sich i m Grunde nur u m die Spitze eines Eisberges 246 . Die Interpretationsschwierigkeiten, die aus einer sprachlichen Ubereinstimmung des Steuerrechts m i t dem Privatrecht resultieren, lassen sich auf ein allgemeineres Problem zurückführen, das man einerseits als Problem der begrifflichen Prägung, andererseits aber auch als Problem der inhaltlichen Anpassung rechtlicher Begriffe an den jeweiligen funktionalen Zusammenhang kennzeichnen kann. I. Privatrechtsbegriffe
als Problem der begrifflichen
Prägung
Begriffe, denen man immer wieder dieselbe Bedeutung zuschreibt, erhalten i m Laufe der Zeit eine bestimmte Prägung, über die sich wohl niemand ohne weiteres hinwegsetzen kann. Solche begrifflichen Prägungen werden problematisch, sobald sich für den Interpreten bei einer Veränderung des gewohnten sprachlichen Zusammenhangs Anhaltspunkte dafür ergeben, daß ein Begriff nun nicht mehr i n der üblichen Weise zu verstehen ist. Auch bei denjenigen Merkmalen, die zunächst nur i n privatrechtlichen Tatbeständen enthalten waren und erst zu einem späteren Zeitpunkt Eingang i n die Tatbestände des Steuerrechts gefunden haben, w i r d die inhaltliche Bestimmung allein dadurch zu einem Problem, daß eine gleichförmige Auslegung i m privatrechtlichen Bereich zu einer begrifflichen Prägung geführt hat, die i m steuerrecht246
So schon E. Becker StW 1924 Sp. 1026; vgl. auch Ball, Privatrecht S. 7 ff.; Bruns, Befreiung S. 3 ff., 123 ff.; Teichmann, Bartholomeyczik-FS S. 380 ff.
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
liehen Bereich einer angemessenen Deutung des jeweiligen Tatbestandes i m Wege steht. 1. Privatrechtliche und vor allem bürgerlich-rechtliche Begriffsprägungen führen allerdings nicht nur i m Steuerrecht, sondern auch i n anderen Rechtsgebieten zu Interpretationsproblemen. a) Manche Tatbestände des Strafrechts enthalten Merkmale, die ein Interpret normalerweise m i t privatrechtlichen Inhalten verknüpft 2 4 7 . Dazu gehört z.B. das Wort „Verwandte" i n § 11 Abs. 1 Nr. 1 a) bzw. § 173 StGB, dessen Bedeutung — jedenfalls für den Bereich des Bürgerlichen Rechts — i n § 1589 BGB festgelegt ist, oder der Begriff des Kommissionärs i n § 95 Abs. 1 BörsG, den man aus dem Handelsrecht (§ 383 HGB) kennt. Ähnlich wie i m Steuerrecht stellt sich hier die Frage, ob diese Privatrechtsbegriffe i m Strafrecht einen anderen Inhalt haben können als i m privaten Recht. Was den Verwandtschaftsbegriff anbetrifft, so hat der B G H entschieden, daß die Anforderungen, die beispielsweise an das Bestehen eines Verwandtschaftsverhältnisses i. S. d. § 173 StGB gestellt werden müssen, nicht nach Bürgerlichem Recht, sondern allein auf Grund strafrechtlicher Erwägungen festzulegen sind 2 4 8 . Auch das Tatbestandsmerkmal „Kommissionär" (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 BörsG) soll strafrechtsspezifisch gedeutet, d. h. i n einem von der handelsrechtlichen Begriffsbestimmung abweichenden Sinn verstanden werden 2 4 9 . Begründet werden diese Abweichungen m i t dem Hinweis, daß bei der Anwendung der Strafgesetze die besonderen Ziele des Strafrechts durchgesetzt werden müßten, was bei einer Bindung an die privatrechtliche Bedeutung eines Begriffs nicht möglich sei. Die Rechtsprechung verfährt damit i m Strafrecht nach dem gleichen Prinzip, das i m Steuerrecht unter der Bezeichnung „wirtschaftliche Betrachtungsweise" zur Anwendung kommt und i n der strafrechtlichen Dogmatik gewöhnlich „tatsächliche Betrachtungsweise" genannt wird 2 5 0 . b) Sogar bei einer Verwendung desselben sprachlichen Ausdrucks in verschiedenen Teilbereichen des Privatrechts kann sich die Auslegung auf Grund spezifischer begrifflicher Prägungen als schwierig erweisen. 247 Beispiele finden sich bei Bruns, Befreiung S. 171 ff., u n d Maurach, Strafrecht A T S. 103. 248 Vgl. B G H G A 1957, 218; ebenso B G H S t 7, 245 (246); Maurach, Strafrecht A T S. 103; dazu auch Bruns, Befreiung S. 172 ff., der darauf hinweist, daß A r t . 33 E G B G B f ü r die strafrechtliche Deutung des Verwandtschaftsbegriffs die Möglichkeit einer v o n seiner „zivilrechtlichen Bedeutung abweichenden Betrachtungsweise so gut w i e ausdrücklich anerkannt hat" (S. 172). 249 So BGHSt 11, 102 (103); vgl. auch Bruns JZ 1958, 461 f. 250 So Teichmann, Bartholomeyczik-FS S. 380.
C. Abgrenzung des Problembereichs
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Deshalb kam es beispielsweise i m Zusammenhang m i t der „Teerf arben"Entscheidung des B G H 2 5 1 zu einer Auseinandersetzung u m den bürgerlich-rechtlich geprägten Begriff „Vertrag", der auch i m Kartellgesetz i n verschiedenen Tatbeständen (§ 1 Abs. 1 Satz 1; §§ 2 - 8; § 38 Abs. 1 Nr. 1 GWB) zu finden ist. I n der genannten Entscheidung geht der B G H davon aus, daß aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen 252 von Unternehmen wegen des fehlenden Merkmals der Einigung nicht unter den Vertragsbegriff subsumiert werden können 2 5 3 . Eine erweiternde Auslegung „ i n der Richtung, daß unter Verzicht auf das Merkmal der Einigung auch andere Formen bewußt gleichförmigen Verhaltens erfaßt (...) werden", w i r d ausdrücklich abgelehnt 254 . Damit orientiert sich der B G H an der bürgerlich-rechtlichen Bedeutung des Merkmals „Vertrag" 2 5 5 . Es fehlt allerdings nicht an Versuchen, bei der inhaltlichen Bestimmung der GWB-Tatbestände einen selbständigen, vom Bürgerlichen Recht abweichenden Vertragsbegriff zugrundezulegen. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Feststellung, daß auf oligopolistischen Märkten häufig rudimentäre Formen gegenseitiger Verständigung ausreichten, ein kartellgleiches Verhalten hervorzubringen 256 . Deshalb könne es i m Rahmen des GWB auch nicht darauf ankommen, ob die Erfüllung des Merkmals „Vertrag" nach Bürgerlichem Recht eine Willenseinigung voraussetzt 257 . Insbesondere m i t Hilfe der wirtschaftlichen Betrachtungsweise werde es gelingen, auch abgestimmte Verhaltensweisen als „Vertrag" i. S. d. GWB zu erfassen 258 . 251
BGHSt 24, 54. 252 Vgl. z u diesem Begriff die Erläuterungen bei Sandrock W u W 1971, 858, u n d Martens JuS 1971, 458 f. 253 Die Entscheidung ist stark umstritten; vgl. dazu die Zusammenstellung der vorgebrachten Einwendungen bei Ulmer, Kartellrecht S. 44 N. 81. 254 Zustimmend Deringer/Tessin N J W 1971, 521 f.; Bartholomeyczik, H. Kaufmann-FS S. 39 ff. 255 Dagegen scheint das K G B e r l i n (BB 1970, 1148 f.) v o n einem gesonderten Vertragsbegriff f ü r das Kartellrecht auszugehen, denn es w i l l nicht n u r rechtlich verbindliche Willensübereinstimmungen, sondern auch vertragsähnliche Abstimmungen w i e die gentlemen's agreements als „Vertrag" i. S. d. G W B behandeln; so auch die h. M . i m Schrifttum; vgl. die Nachweise bei U. Huber, Hefermehl-FS S. 87 N. 9; a . A . ; Rüge B B 1970, 1149 f. Der B G H hat sich i n der „Teerfarben"-Entscheidung zu einer Einbeziehung der gentlemen's agreements i n den Vertragsbegriff nicht geäußert; so jedenfalls Willoweit N J W 1971, 2049; anders Raiser JZ 1971, 394/395. 256 So Raiser JZ 1971, 394. Auch Martens (JuS 1971, 456) weist darauf hin, daß neben den Verträgen k r a f t Einigung noch der „zahlenmäßig nicht ganz geringe Bereich pathologischer — rechtsgeschäftsaffinitiver — Korrespondenzverhältnisse" bestehe. 257 U. Huber, Hefermehl-FS S. 90; so auch Sandrock W u W 1971, 862 ff.; ders., Wirtschaftsordnung S. 43ff., 57 f.; Raiser JZ 1971, 394f.; vgl. auch Martens JuS 1971, 455 f. 258 So v o r allem Sandrock W u W 1971, 862 ff.; ders., Wirtschaftsordnung S. 43 ff.; ähnlich Raiser JZ 1971, 395; zur Bedeutung der wirtschaftlichen Be-
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
Diese Auseinandersetzung zeigt, daß sich i m Kartellrecht ähnlich wie i m Steuerrecht die Frage stellt, inwieweit bei der Deutung geprägter Begriffe des Bürgerlichen Rechts die allgemeinen wirtschaftlichen Grundlagen der GWB-Normen durchsetzbar sind 2 5 9 . Schon die Erwähnung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise indiziert diese Problemidentität. 2. Begriffliche Prägungen sind i n allen Bereichen des Rechts möglich, nicht nur i m privaten Recht. M i t den privatrechtlich geprägten Begriffen ist daher auch nur ein Teil der Fälle erfaßt, die zum Problem werden können. Hinzu kommen noch diejenigen Rechtsbegriffe, deren gleichförmige Auslegung i m öffentlichen Recht eine gewisse Fixierung auf bestimmte Inhalte bewirkt hat. Dazu gehört etwa das Merkmal „Beamter", das durch beamtenrechtliche Regelungen (Art. 33 Abs. 4 GG; § 2 Abs. 1 BRRG; § 2 Abs. 1 BBG i . V . m. §§ 5 BRRG, 6 BBG) i n einem staatsrechtlichen Sinne geprägt worden ist 2 6 0 . Wegen dieser inhaltlichen Festlegung stellt sich die Frage, ob man ζ. B. auch bei § 839 BGB von einem öffentlich-rechtlichen Begriffsverständnis auszugehen hat. I m Bereich des Strafrechts, dessen Tatbestände (§§ 331 ff. StGB a.F.) ebenfalls das Merkmal „Beamter" enthielten, wurde die Lösung dieses Problems i n der Vergangenheit nur dadurch erleichtert, daß § 359 StGB a. F. den Beamtenbegriff ausdrücklich abweichend von der staatsrechtlichen Begriffsbestimmung definierte. Die inzwischen erfolgte Ersetzung von „Beamter" durch den Ausdruck „Amtsträger" soll offenbar letzte Mißverständnisse ausräumen. Letztlich zieht diese Änderung nur die notwendigen Konsequenzen aus der Erkenntnis, daß der Beamtenbegriff vom öffentlichen Recht „besetzt" ist. Es zeigt sich also, daß ein Interpret immer dann m i t Schwierigkeiten rechnen muß, wenn ein Tatbestand Begriffe enthält, die einerseits i n spezifischer Weise geprägt sind, andererseits jedoch nicht i n demselben Sinnzusammenhang verwendet werden, aus dem die geprägte Begriffsbedeutung hervorgegangen ist. Die privatrechtliche Prägung eines Ausdrucks bzw. dessen Verwendung i n einem Tatbestand des Steuerrechts kann insoweit immer nur eine untergeordnete Rolle spielen.
trachtungsweise bei der A n w e n d u n g des G W B vgl. auch Ulmer W u W 1971, 878 ff.; Teichmann, Bartholomeyczik-FS S. 377 ff. 259 Diese Feststellung gilt übrigens f ü r das gesamte Wirtschaftsrecht; vgl. Sandrocky Wirtschaftsordnung S. 47 ff.; Fröhler, Wirtschaftsrecht S. 168 f. 280 Vgl. dazu auch Ball, Privatrecht S. 9; Bruns, Befreiung S. 194 ff.; Mäurach, Strafrecht A T S. 103.
C. Abgrenzung des Problembereichs
IL Privatrechtsbegriffe
und funktionaler
63
Zusammenhang
Ein sprachlicher Ausdruck hat, sofern er i n mehreren Tatbeständen verwendet wird, wegen der nun einmal gegebenen inhaltlichen Besonderheiten der einzelnen Rechtstexte unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen. Diese funktionalen Unterschiede finden jedoch bei der inhaltlichen Bestimmung geprägter Tatbestandsmerkmale normalerweise keine Berücksichtigung: Selbst bei verändertem Sprach- und Sinnzusammenhang kommt es i. d. R. zu einer Sinndeutung, die auf die Funktion des jeweils interpretierten Ausdrucks i n nur einem der i n Frage kommenden Bereiche — bei einem Privatrechtsbegriff z.B. auf dessen Funktion i m privaten Recht — zugeschnitten ist. Aus diesem Grunde entspricht die von der begrifflichen Prägung beeinflußte Sinnbestimmung nicht immer der Aufgabe, die ein Begriff innerhalb eines Tatbestandes zu erfüllen hat. Wer sich daher m i t dem Problem der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht auseinandersetzen w i l l , muß der Frage nachgehen, ob und inwieweit bei der Deutung geprägter Rechtsbegriffe eine inhaltliche Anpassung an den jeweiligen funktionalen Zusammenhang stattfinden kann 2 6 1 . 1. Welche Rolle der funktionale Zusammenhang bei der Deutung einzelner Begriffe spielt, zeigt sich am Beispiel des Merkmals „alle", das i n § 1 Abs. 3 GrEStG zu finden ist. Durch § 1 Abs. 3 GrEStG w i r d die Vereinigung und Weiterübertragung „aller Anteile einer Gesellschaft" dem Erwerb eines Grundstücks dieser Gesellschaft gleichgestellt. Eine solche Anteilsvereinigung liegt unstreitig dann vor, wenn jemand bürgerlich-rechtlich 100% der Gesellschaftsanteile erwirbt 2 6 2 . Fraglich ist aber, ob von einer Vereinigung aller Anteile schon die Rede sein kann, wenn zwar noch Anteile von der Vereinigung ausgeschlossen sind, aber zugleich feststeht, daß es sich dabei nur u m wirtschaftlich unbedeutende Zwerganteile handelt 2 6 3 . Der R F H hat das Wort „alle" nach dem Inkrafttreten des GrEStG (1940) nicht i m Sinne der Ausschließlichkeit verstanden, sondern eine besteuerungswürdige Anteilsvereinigung auch bei einem Verbleib von Zwerganteilen i n den Händen anderer Personen angenommen 264 . Das 261 Ä h n l i c h Teichmann, Bartholomeyczik-FS S. 380, der die Privatrechtsbegriffe als ein Problem der „fachspezifischen Anpassung fachfremder Rechtsbegriffe" betrachtet. 262 Vgl. Boruttau/Klein, Kommentar § 1 GrEStG Rz. 185. 263 D a m i t vergleichbar sind die Fälle, i n denen ein Anteilseigner den Rest der Anteile durch einen Strohmann, einen Treuhänder oder eine abhängige Person erwerben läßt; vgl. dazu Gassner, Anteilsvereinigung S. 73 ff.; Boruttau/Klein, Kommentar § 1 GrEStG Rz. 186 ff. 264 Vgl. R F H RStBl. 1942, 1011; 1943, 814. Bis zum I n k r a f t t r e t e n des GrEStG (1940) hatte der R F H die Entstehung einer Steuerschuld immer v e r neint, w e n n noch Zwerganteile i n Fremdbesitz waren; vgl. dazu die Nachweise bei Gassner, Anteilsvereinigung S. 78 N. 370.
64
§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
Gericht begründete seine Auffassung damit, daß das GrEStG weitgehend wirtschaftlichen Gesichtspunkten Rechnung trage und daß insbesondere § 1 Abs. 2 GrEStG nicht auf die rechtliche, sondern auf die wirtschaftliche Verfügungsmacht abstelle 265 . Damit hebt der RFH den funktionalen Zusammenhang hervor, i n den das Wort „alle" eingegliedert ist. Der B F H 2 6 6 und die Lehre 2 6 7 stellen dagegen nicht die Funktion, sondern die begriffliche Prägung i n den Vordergrund. Es w i r d auf das „natürliche Wortverständnis" 2 6 8 bzw. auf den „klaren und eindeutigen Wortlaut" 2 6 9 der Redewendung „alle Anteile der Gesellschaft" verwiesen. Man betrachtet den Begriff „alle" für sich, isoliert von dem Sprachund Sinngefüge, i n das er eingebettet ist; wegen seiner spezifischen Prägung durch den allgemeinen Sprachgebrauch verbindet man dieses Tatbestandsmerkmal nur m i t der Bedeutung, die es i n der außerrechtlichen Sprachwelt erhalten hat. Dort bedeutet „alle" aber „100 °/o", so daß von einer Vereinigung aller Anteile nicht gesprochen werden kann, solange noch Zwerganteile von der Vereinigung ausgeschlossen sind. Es sind dann — wiederum nach dem allgemeinen Sprachgebrauch — lediglich fast alle Anteile i n einer Hand vereinigt. „Fast alle sind aber nicht alle Anteile" 2 7 0 . Obwohl die RFH-Rechtsprechung und die heutige Auffassung bei der Interpretation des § 1 Abs. 3 GrEStG zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, erscheint weder die eine noch die andere Ansicht vollkommen verfehlt. Offenbar werden nur verschiedene Aspekte derselben Sache unterschiedlich stark betont. So hebt der RFH allein den funktionalen Zusammenhang hervor und kommt auf Grund dieser „teleologischsystematischen Auslegung" zu dem Ergebnis, daß entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch eine Vereinigung aller Anteile bereits dann angenommen werden kann, wenn sich Zwerganteile noch i n den Händen Dritter befinden. Demgegenüber betont die heute herrschende Meinung, daß das Wort „alle" für sich betrachtet einen eindeutig bestimmbaren Inhalt habe und damit die Grenze einer möglichen Inhaltsbestimmung des § 1 Abs. 3 GrEStG festlege. M i t Hilfe der „wörtlichen Auslegung" w i r d die geprägte Bedeutung gegen den funktionalen Zusammenhang ausgespielt — m i t der Folge, daß man von einer Anteils265
So R F H RStBl. 1942, 1011 (1012). BStBl. 1966, 378; B F H E 115, 284. 267 Brandt, Beurteilung S. 53ff., 88ff.; Gassner, Anteilsvereinigung S. 80 f.; ders., Interpretation S. 106ff.; Tipke T K § 1 S t A n p G Rz. 44 (S. 1358); Boruttau/Klein, Kommentar § 1 GrEStG Rz. 200. 268 Brandt, Beurteilung S. 90. 269 Gassner, Anteilsvereinigung S. 80. 270 So Gassner, Interpretation S. 107. 266
C. Abgrenzung des Problembereichs
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Vereinigung gemäß § 1 Abs. 3 GrEStG erst dann ausgeht, wenn sich 100 % der Gesellschaftsanteile i n einer Hand befinden. Bei der Beantwortung der Fragen, die sich i m Zusammenhang mit der Deutung privatrechtlicher Begriffe i m Steuerrecht ergeben, scheint ein ähnlicher Gegensatz der Positionen zu bestehen. Während die einen die „allgemeinen wirtschaftlichen Grundlagen der Steuergesetze" bei der Interpretation durchsetzen und damit den funktionalen Zusammenhang berücksichtigen wollen, stellen andere auf die „privatrechtliche Bedeutung" der einzelnen Tatbestandsmerkmale ab und entsprechen damit der begrifflichen Prägung. 2. Wenn die Probleme, die bei der inhaltlichen Bestimmung geprägter Begriffe auftauchen, wirklich aus der Veränderlichkeit der begrifflichen Funktionen resultieren, so stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien denn diese Funktionen zu bestimmen sind und unter welchen Voraussetzungen von der Verwendung eines sprachlichen Ausdrucks i n unterschiedlichen funktionalen Zusammenhängen gesprochen werden kann. Kommt es insoweit nur auf eine Verwendung i n verschiedenen Rechtsgebieten an? Oder ist es darüber hinaus von Bedeutung, i n welchem Gesetz 271 oder Rechtssatz der betreffende Begriff aufgeführt wird? a) A m Beispiel des Leistungsbegriffs, der sowohl i n bürgerlich-rechtlichen Tatbeständen (z. B. § 241 BGB) als auch i n einigen Tatbeständen des Steuerrechts (§ 22 Nr. 3 EStG; § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 und 8 UStG) enthalten ist, läßt sich nachweisen, daß nicht nur das jeweilige Rechtsgebiet, sondern vor allem auch der Kontext des Gesetzes, i n den ein sprachlicher Ausdruck eingebunden ist, dem funktionalen Zusammenhang das entscheidende Gepräge gibt. Bei der Interpretation des Merkmals „Leistung" stellt sich i m Steuerrecht zunächst die Frage, ob die privatrechtliche Begriffsbedeutung 272 maßgebend ist. Insofern macht sich bemerkbar, daß dieser Begriff sowohl i m Privatrecht als auch i m Steuerrecht verwendet wird. M i t einer Beantwortung dieser Frage — etwa i n dem Sinne, daß der privatrechtlichen Begriffsbestimmung i m Steuerrecht keine Bedeutung zukommt — sind aber noch nicht alle Probleme aus dem Weg geräumt. Es muß außerdem noch geklärt werden, ob dann, wenn man eine Abweichung von der privatrechtlichen Bedeutung des Merkmals „Leistung" für zulässig hält, nicht wenigstens i m Einkommen- und Umsatzsteuerrecht von einem einheitlichen Leistungsbegriff auszugehen ist. 271 Z u r Klarstellung: „Gesetz" meint i n diesem Zusammenhang einen K o m p l e x von Rechtssätzen, w i e er ζ. B. i m EStG, UStG, B G B etc. enthalten ist. 272 Dazu Staudinger/Weber, Kommentar § 241 Rz. 10 ff.; Sirp i n Erman, Handkommentar § 241 Rz. 1 ff.; J. Esser, Schuldrecht A T S. 22 f.
5 Maaßen
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§ 1. Z u r Problematik der Privatrechtsbegriffe i m Steuerrecht
I n der Rechtsprechung und Lehre überwiegt die Auffassung, daß bei der inhaltlichen Bestimmung des Leistungsbegriffs keine Bindung an die privatrechtliche Bedeutung besteht (wenngleich die Auslegung nach Bürgerlichem Recht i n den meisten Fällen als erster Ansatzpunkt für eine Entscheidung dient) 2 7 3 . Darüber hinaus geht man aber auch davon aus, daß der Leistungsbegriff i n § 22 Nr. 3 EStG nicht unbedingt dieselbe Bedeutung haben muß wie i n § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 und 8 UStG. Eine Ubereinstimmung zwischen dem Einkommen- und Umsatzsteuerrecht läßt sich zwar noch insofern feststellen, als sowohl § 22 Nr. 3 EStG als auch § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG nur dann erfüllt sein sollen, wenn eine Leistung i m wirtschaftlichen Sinn vorliegt 2 7 4 . Unterschiede sind aber insofern erkennbar, als i m Rahmen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG oder des § 3 Abs. 1 und 8 UStG zur Erfüllung des Merkmals „Leistung" bereits eine bloße Leistungsbereitschaft ausreichen soll 2 7 5 . I m Umsatzsteuerrecht w i r d damit eine Ausweitung des Leistungsbegriffs über die privatrechtliche Begriffsbedeutung hinaus erkennbar. Diese Ausweitung steht i m Gegensatz zu den Bemühungen i m Einkommensteuerrecht, die Bedeutung des Merkmals „Leistung" gegenüber dem Bürgerlichen Recht einzuschränken, damit die Vorschrift des § 22 Nr. 3 EStG nicht zu einer allgemeinen Ergänzungsklausel wird, die stets dann zur Anwendung kommt, wenn die anderen Einkunftsarten ver273 Vgl. etwa zu § 22 Nr. 3 EStG die Entscheidung des B F H BStBl. 1965, 361, i n der zunächst (S. 362) jedes Tun, Dulden oder Unterlassen als Leistung bezeichnet w i r d . Anschließend heißt es dann aber, daß ein Veräußerungsgeschäft — anders als i m Bürgerlichen Recht — keine Leistung i. S. d. § 22 Nr. 3 EStG beinhalte; ebenso bereits R F H RStBl. 1937, 338; 1940, 996; E. Becker StW 1935 Sp. 794; ders. StW 1936 Sp. 1671; ders. StW 1938 Sp. 876; vgl. auch B F H BStBl. 1967, 69 (70); F G Münster EFG 1966, 409 (410); Hessisches F G EFG 1973, 430; Littmann, Kommentar §§ 22, 23 EStG Rz. 66. I n ähnlicher Weise geht der B F H i n zwei Entscheidungen v. 18. 4. 1962 (BStBl. 1962, 292; S t R K UStG § 1 Ziff. 1 R. 231) zunächst davon aus, daß das M e r k m a l „Leistung" i n § 1 Abs. 1 Nr. 1 U S t G dem Leistungsbegriff des § 241 B G B nachgebildet ist, u m dann allerdings festzustellen, daß n u r „Leistungen i m wirtschaftlichen Sinne" der Umsatzsteuer unterliegen; vgl. dazu auch die K r i t i k v o n Kupsch S t R K - A n m . U S t G § 1 Ziff. 1 R. 213. 274 So bzgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 U S t G der B F H BStBl. 1969, 637; H F R 1970, 76; vgl. auch B F H BStBl. 1962, 292 (293); a . A . PlückebaumlMalitzky, Kommentar § § 1 - 3 U S t G Rz. 477/1. Ebenso bzgl. § 22 N r . 3 EStG F G Bremen E F G 1968, 357; 1972, 333; so auch Littmann, Kommentar §§ 22, 23 Rz. 66; ausdrücklich a . A . B F H BStBl. 1970, 185: „Der Begriff der Leistung erfordert keineswegs, daß diese einen wirtschaftlichen Wert, einen M a r k t w e r t haben muß". V o n der Entscheidung dieses Streits zwischen dem B F H u n d dem F G Bremen hängt es ab, ob die Einkünfte v o n Prostituierten als „ E i n k ü n f t e aus Leistungen" (§ 22 Nr. 3 EStG) besteuert werden können. Für eine solche Besteuerung hat sich der B F H ausgesprochen; vgl. dazu die Entscheidung des Großen Senats v. 23. 6. 1964 (BStBl. 1964, 500); ebenso B F H BStBl. 1970, 620; anders noch B F H BStBl. 1962, 465. 275 So R F H RStBl. 1941, 132; B F H BStBl. 1970, 363.
C. Abgrenzung des Problembereichs
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sagen 276 . Diese Interpretationsdivergenzen lassen erkennen, daß die Problematik nur unzureichend erfaßt wäre, wenn man lediglich auf die Verwendung privatrechtlich geprägter Begriffe i m Steuerrecht abstellen wollte. Wesentlich ist auch, i n welchem Steuergesetz ein Privatrechtsbegriff Verwendung gefunden hat, weil gerade der gesetzliche Kontext die begrifflichen Funktionen mitzubestimmen scheint. b) Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und feststellen, daß auch solche Begriffe, die i n verschiedenen Tatbeständen desselben Gesetzes verwendet werden, i n unterschiedliche funktionale Zusammenhänge gestellt sind. Das zeigt sich etwa an dem i m Kartellgesetz mehrfach verwendeten Vertragsbegriff. Es ist umstritten, ob das Merkmal „Vertrag" bei der Anwendung des § 1 GWB, der einen Kartellvertrag privatrechtlich für nichtig erklärt, dieselbe Bedeutung hat wie bei §§ 2 bis 8 GWB, die die Möglichkeit einer verwaltungsrechtlichen Genehmigung vorsehen, oder bei § 38 Abs. 1 Nr. 1 GWB, der die Durchführung eines Kartellvertrags als Ordnungswidrigkeit erfaßt. Sandrock 277 geht davon aus, daß der Ausdruck „Vertrag" i n allen Tatbeständen des GWB stets dieselbe Bedeutung haben muß. Demgegenüber w i l l Ulmer 278 nicht ausschließen, daß der Inhalt des Vertragsbegriffs wechselt, je nachdem i n welchem GWB-Tatbestand dieses Merkmal eine Aufgabe zu erfüllen hat. Diese Auseinandersetzung deutet für den Bereich des Steuerrechts darauf hin, daß es von der Problematik her offenbar nicht gerechtfertigt ist, allein auf die Verwendung eines privatrechtlich geprägten Begriffs i n einem bestimmten Steuergesetz abzustellen. Entscheidend ist, i n welchem Steuertatbestand der betreffende Begriff auftaucht 279 , denn die spezifische Funktion eines Merkmals w i r d offenbar erst durch den Tatbestand, zu dem es gehört, abschließend bestimmt 2 8 0 .
276 V g l > v o r a l l e m E Becker StW 1935 Sp. 793/794; dens. StW 1936 Sp. 1671; dens. StW 1938 Sp. 876; dazu auch Gericke S t R K - A n m . EStG § 19 Abs. 1 Ziff. 1 R. 434; F G Bremen EFG 1968, 357 ff.; 1972, 333 f. 277 Wirtschaftsordnung S. 22. 278 W u W 1 9 7 1 > 8 8 4 1 279
Ä h n l i c h Lion VJSchrStuFR 1927, 182; Wenz, Speyer-FS S. 314. Es sind sogar Fälle denkbar, i n denen m a n noch präziser werden muß, w e i l der Tatbestand seinerseits i n unterschiedliche Verwendungszusammenhänge gestellt sein k a n n : Da z. B. § 22 R A O zugleich strafrechtliche und verwaltungsrechtliche F u n k t o n zu erfüllen hatte, bestimmte sich der f u n k tionale Zusammenhang des (strafrechtlich geprägten) Begriffs „unbefugt" (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 - 3 RAO) auch danach, ob § 22 R A O i m Einzelfall als Strafn o r m oder als verwaltungsrechtliche N o r m verwendet w u r d e ; dazu Maaßen DStR 1973, 171 ff. 280
5*
§ 2. Zu den Vorbedingungen einer Problemlösung A. Idee und Wirklichkeit der Sinnbestimmung I n der Literatur und Rechtsprechung werden die Probleme, die sich aus der Verwendung privatrechtlich geprägter Begriffe i n den Tatbeständen des Steuerrechts ergeben, unter dem Aspekt der Sinnbestimmung (Interpretation, Auslegung), der Sachverhaltsbeurteilung oder der Gesetzesumgehung behandelt, wobei allerdings die selbständige Beurteilung der Sachverhalte auf der Grundlage einer „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" und die Anwendung der UmgehungsVorschrift des § 42 AO zunehmend auf K r i t i k stößt 1 . Uber den Wert und die Praktikabilität der Interpretation gibt es dagegen keine Diskussionen; es w i r d nicht bezweifelt, daß sich die Bedeutung der Privatrechtsbegriffe prinzipiell durch die Anwendung allgemeiner Auslegungsgrundsätze „klarstellen" läßt. Umstritten sind allenfalls die Ergebnisse einer solchen Sinnbestimmung, d.h. man ist sich nicht einig, ob die Interpretation auch zu einer Abweichung vom privaten Recht führen kann (oder darf). N u n geben aber gerade die Meinungsverschiedenheiten darüber, welche Begriffsdeutungen bei einer Anwendung der allgemeinen Auslegungsmethoden möglich sind, zu der Frage Anlaß, ob die Interpretation als (steuerbares) Verfahren zur Beseitigung von Unklarheiten über die Bedeutung privatrechtlicher Tatbestandsmerkmale überhaupt funktioniert. Ein Gegensatz zwischen der Idee einer zweifelsfreien „ K l a r stellung" der Inhalte qua Interpretation und der durch Zweifel und Kontroversen gekennzeichneten Wirklichkeit der Sinnbestimmung ist jedenfalls unverkennbar. Geht also die steuerrechtliche Auslegungslehre — was die Möglichkeiten, den Ablauf und die Logik des Interpretationsverfahrens anbetrifft — von falschen Voraussetzungen aus? Anscheinend bedarf die herkömmliche Theorie der Sinnermittlung einer Uberprüfung ihrer Prämissen. I. Grundzüge der traditionellen
Auslegungslehre
Die beabsichtigte K r i t i k der traditionellen Auslegungslehre setzt eine Aufklärung ihrer Grundlagen voraus. Erst wenn man weiß, welche 1 Ob diese K r i t i k berechtigt ist, w i r d später noch zu prüfen sein; dazu § 5 Β . I I . 2.
A . Idee u n d Wirklichkeit der Sinnbestimmung
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hermeneutischen Prinzipien der bisher propagierten Interpretationstheorie als Richtschnur dienen, w i r d man über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer darauf aufbauenden Lösung des Problems der Privatrechtsbegriffe urteilen können. 1. Die herkömmliche Theorie geht davon aus, daß ein Rechtssatz erst nach Klarstellung seiner maßgeblichen Bedeutung auf einen konkreten Fall angewendet werden kann 2 . Die Ermittlung der Bedeutung eines Rechtstextes ist (der Theorie zufolge) das Ziel der Interpretation (Auslegung) 3 , der damit die Aufgabe zufällt, „dem Juristen Inhalt und Umfang der Rechtsbegriffe zu vergegenwärtigen" 4 . Als „ M i t t e l zur K l a r stellung des Gesetzes"5 soll die Interpretation dazu beitragen, „das epistemologische Problem des Verstehens zu lösen"®. Dementsprechend kennzeichnet Betti 7 die Auslegung als ein Verfahren, dessen Erfolg und zielgemäßes Ergebnis ein Verstehen ist 8 . Dieser Funktionsbestimmung entspricht die Annahme, zwischen der Auslegung und dem Verstehen bestehe ein „teleologisches Verhältnis" 9 , vergleichbar m i t dem Verhältnis zwischen Handlung und Erfolg. 2. Wer sich auf die übliche Diskussion über Interpretations- und Auslegungsprobleme einläßt, verfängt sich bald i n einem Dickicht juristischer Methodenfragen, die stets verknüpft sind mit der Frage nach dem Ziel der Interpretation. Die Kontroversen u m die Zielbestimmung und die bei der Auslegung anzuwendenden Methoden sind so sehr zu einem zentralen Thema der juristischen Auslegungslehre geworden, daß das Problem des Verstehens von Rechtstexten demgegenüber längst i n den Hintergrund getreten ist 1 0 . a) Bei der Frage nach dem Ziel der Interpretation geht es darum, ob der „Interpret den historischen Willen des Gesetzgebers zu erforschen 2 Vgl. Enneccerus/Nipper dey, Allgemeiner T e i l S. 311 ff.; Gassner, I n t e r pretation S. 10. 3 So Sauer, Methodenlehre S. 29S; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner T e i l S. 323/324; Hätz, Rechtssprache S. 23; Mennicken, Gesetzesauslegung S. 10; vgl. auch Gassner, Interpretation S. 10f.; Leinhäuser, Auslegung S. 30; Kaiser, Auslegungsgrundsätze (1970) S. 26; ders., Auslegungsgrundsätze (1960) S. 27 N. 57; Paulick, Lehrbuch Rz. 251. 4 Engisch, Einführung S. 70; ähnlich Radbruch, Rechtsphilosophie S. 210; Coing, Hermeneutik S. 13. 5 Sauer, Methodenlehre S. 292. 6 So Betti, Rabel-FS S. 91; ders., Hermeneutik S. 11. 7 Nachweise i n N. 6. 8 Ebenso Coing, Hermeneutik S. 13; ders., Rechtsphilosophie S. 313; vgl. aber auch J. Esser, Vorverständnis S. 116 („Interpretation als Weg zum V e r ständnis"). 9 Betti, Rabel-FS S. 91 N. 14 b). 10 Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 3, 90 f.
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§ 2. Z u den Vorbedingungen einer Problemlösung
oder einen gegenwartsnahen, vom historischen Ursprung des Gesetzes mehr oder weniger unabhängigen Sinngehalt zu ermitteln" hat 1 1 . Zu diesem Problem werden innerhalb der juristischen Auslegungslehre unterschiedliche Meinungen vertreten. So muß nach Auffassung der „subjektiven Theorie" 1 2 das Ziel der Gesetzesauslegung die E r m i t t lung des historisch-psychologischen Willens des Gesetzgebers sein 13 , also: „die Erkenntnis derjenigen Gedankeninhalte, welche nach dem Willen des tatsächlichen Gesetzgebers durch dessen Erklärung zum Ausdruck kommen sollten" 1 4 . Demgegenüber hält die „objektive Theorie" 1 5 die Erschließung des dem Gesetz „innewohnenden" vernünftigen Sinnes für das richtigerweise anzustrebende Ziel der Interpretation 1 6 ; juristische Auslegung soll nicht „Nachdenken eines Vorgedachten, sondern Zuendedenken eines Gedachten" sein 17 . Die „Vereinigungstheorien" sind schließlich darum bemüht, zwischen diesen Extremen zu vermitteln und Elemente beider Theorien miteinander zu verbinden, u m dadurch die Spannung zwischen den Stabilitätsinteressen, die hinter der „subjektiven Theorie" stehen, und der materialen Gerechtigkeit, die auf Rechtsfortbildung drängt und insofern die „objektive Theorie" begründet, aufzulösen 18 Hat man sich erst einmal für ein bestimmtes Auslegungsziel entschieden, so w i r k t diese Festlegung auf die Auswahl der Auslegungsmethoden zurück; die methodischen Kriterien werden „subjektiv" oder „objektiv" sein, je nachdem ob der „Wille des Gesetzgebers" oder der „Wille des Gesetzes" als Ziel der Interpretation fungiert 1 9 . Es ist daher nur konsequent, die Zielbestimmung m i t der Frage nach der anzuwendenden Interpretationsmethode zu verknüpfen. 11
Gassner, Interpretation S. 10/11; vgl. auch Engisch, Einführung S. 88. Nachweise bei Engisch, Einführung S. 88 f.; Mennicken, Gesetzesauslegung S. 19 f. 13 Vgl. Mennicken, Gesetzesauslegung S. 19 N. 2, der darauf hinweist, daß diese Theorie absolutistischen Gedankengängen entspricht. Auch Engisch (Einführung S. 94 f.), Zippelius (Methodenlehre S. 26 f.) u n d A. Kaufmann (Rechtsphilosophie S. 361) erkennen einen Zusammenhang zwischen der „subj e k t i v e n Theorie" u n d der Idee der absoluten Monarchie oder des nationalsozialistischen Führerstaates. 14 Keller, Interpretation S. 88/89. 15 Nachweise bei Engisch, Einführung S. 88, 277 f. N. 96 a); Mennicken, Gesetzesauslegung S. 24 f. 18 Dazu Mennicken, Gesetzesauslegung S. 24 f t , 48 ff. 17 Radbruch, Rechtsphilosophie S. 211. 18 Vgl. Engisch, E i n f ü h r u n g S. 228 N. 96 b); S. 230 ff. N. 106 b); Sax, A n a logieverbot S. 53ff.; Bartholomeyczik, Gesetzesauslegung S. 44ff.; Betti, A u s legungslehre S. 632; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 361 ff.; Zippelius, Methodenlehre S. 28 ff.; Mennicken, Gesetzesauslegung S. 29 f., 58 ff., 78 ff., 106; Larenz, Methodenlehre S. 302 ff.; Kruse T K § 1 S t A n p G Rz. 4 (S. 1337). 19 Vgl. auch Mennicken, Gesetzesauslegung S. 15; Engisch, Einführung S. 96; Hruschka, Verstehen S. 10. 12
A . Idee u n d W i r k l i c h k e i t der Sinnbestimmung
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b) Die Festlegung auf eine bestimmte Methode der Interpretation betrachtet man allgemein als notwendige Voraussetzung für die Objektivität und eine gesicherte Nachprüfbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse 20 . Dementsprechend gilt (neben der Zielbestimmung) der Entwicklung einer hermeneutischen Methodologie das eigentliche Interesse der traditionellen Auslegungslehre. Angestrebt w i r d die steuerbare und nachzuprüfende Benutzung von Erkenntnismitteln zu Erkenntniszwecken. Die herkömmliche Interpretationstheorie sucht den (objektiven) W i l len des Gesetzes oder den (subjektiven) Willen des Gesetzgebers dadurch zu ermitteln, daß sie den Wortlaut, die Entstehungsgeschichte sowie den logisch-systematischen Zusammenhang der Rechtstexte überprüft oder den Sinn und Zweck (das „telos", die „ratio") einer Regelung ins Auge faßt 21 . A u f diese Weise w i l l man — ohne Rücksicht auf den jeweils zu beurteilenden Rechtsfall — die Bedeutung der Gesetze ermitteln, u m anschließend den (gesondert festgestellten) Sachverhalt mittels eines syllogistischen Schlusses zu subsumieren. „Dem Anspruch nach besteht Interpretation (...) also prinzipiell i m bloßen Nachvollzug eines präexistenten (objektiven oder subjektiven) Willens, der durch jene Methoden unabhängig von dem zu lösenden Problem m i t objektiver Gewißheit ermittelt werden kann" 2 2 . Mißt man allerdings die Theorie an ihren eigenen Maßstäben, fordert man also die Uberprüf barkeit und Objektivität der (vorgeblich) durch eine Anwendung bestimmter Methoden gewonnenen Erkenntnisse, so zeigt sich, daß die bloße Aufzählung von Auslegungskriterien („canones"), auf die man sich bei der Interpretation berufen kann, diesen Anforderungen nicht genügt. Notwendig wäre darüber hinaus die Festsetzung von Anfangsbedingungen: Es müßte klargestellt werden, wann die canones der juristischen Methodenlehre eigentlich anwendbar sind 23 . Da außerdem m i t der Möglichkeit zu rechnen ist, daß beispielsweise die teleologische Interpretation zu anderen Ergebnissen führt als eine Auslegung, die sich auf den logisch-systematischen Zusammenhang oder die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift stützt 2 4 , müßte es das Ziel der 20 Vgl. etwa Latenz, Methodenlehre S. 306: „Soll die Auslegung nicht dem Gutdünken des Auslegers überlassen bleiben, sondern i n einer gesicherten u n d nachprüfbaren Weise v o r sich gehen, dann bedarf es bestimmter A u s legungskriterien, nach denen der Auslegende sich richten kann."; ebenso ders., E. R. Huber-FS S. 293 f. 21 Dazu bereits oben § 1 B. I I I . 1. a). Einen Überblick über die verschiedenen Auslegungsmethoden geben Gassner, Interpretation S. 12 f.; Paulick, Lehrbuch Rz. 251 ff.; Kruse, Lehrbuch S. 92 ff. 22 So die Charakterisierung v o n Hesse, Grundzüge S. 22. 23 Vgl. auch Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 30; ähnlich J. Esser, Vorverständnis S. 125. 24 Ebenso Engisch, Einführung S. 82; Zippelius, Methodenlehre S. 64.
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§ 2. Z u den Vorbedingungen einer Problemlösung
Auslegungslehre sein, die einzelnen Methoden i n ihrem Rang und i n ihrer Reichweite aufeinander abzustimmen und Präferenzregeln anzugeben, u m dadurch das Element der Beliebigkeit aus der juristischen Interpretation zu verbannen. Bisher ist es jedoch nicht gelungen, über eine gesicherte Rangordnung der verschiedenen Auslegungselemente eine Einigung zu erzielen. Man ist sich nicht einmal darüber einig, ob das Ideal eines Katalogs von Interpretationsstufen überhaupt v e r w i r k licht werden kann. 3. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Auslegung nach traditionellem Verständnis i n erster Linie ein Problem der Zielbestimmung und der Methodenwahl ist. Wollte man diesen Ansatz übernehmen, so müßten die Bemühungen u m eine Lösung des Problems der Privatrechtsbegriffe i n den Versuch münden, durch die Festlegung eines Auslegungsziels („Wille des Gesetzgebers" oder „Wille des Gesetzes") und durch die Anwendung bestimmter Methoden (vornehmlich der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise") zu Erkenntnissen über die Bedeutung der privatrechtlich geprägten Merkmale eines Steuertatbestandes zu gelangen. II.
Kritik
Die juristische Auslegungslehre befindet sich seit längerer Zeit i n einer Krise; ihre grundlegenden Prinzipien werden immer häufiger i n Frage gestellt. Zu den K r i t i k e r n der herkömmlichen Methodologie gehören nicht nur Juristen, sondern auch „Außenstehende", die sich von einem „nicht-juristischen" Standpunkt aus m i t dem Verfahren der Sinnbestimmung und Entscheidungsfindung auseinandersetzen 25 . 1. Die K r i t i k befaßt sich vor allem m i t der Frage, ob es tatsächlich möglich ist, das Interpretationsverhalten der zur Rechtsanwendung Berufenen (Richter, Staats- und Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamte etc.) methodisch zu disziplinieren bzw. anzuleiten. Hesse 26 geht davon aus, daß die angebotenen Auslegungskriterien als Richtlinien einer Sinnbestimmung kaum i n Betracht kommen. Denn der Wortlaut sage häufig noch nichts Eindeutiges über die Wortbedeutung; die „systematische Interpretation" könne unterschiedlich gehandhabt 25 Es handelt sich dabei i n erster L i n i e u m Autoren, deren Arbeiten i n ihrem Ansatz die gesellschaftliche Abhängigkeit u n d Verflochtenheit des Rechts berücksichtigen u n d allein schon deswegen kritisch gegenüber einer Rechtswissenschaft eingestellt sein müssen, „die sich — obwohl sie m i t sozialen Problemen zu t u n hat — als Geisteswissenschaft begreift u n d i n der juristischen Dogmatik die i h r adäquate Methode sucht" (Reich JuS 1974, 269). Literaturnachweise dazu bei Hassemer JuS 1973, 660 ff.; Reich S. 269 ff. 26 Grundzüge S. 23.
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werden, je nachdem ob man den sprachlichen oder den funktionalen Zusammenhang ins Auge fasse; die „teleologische Interpretation" sei schließlich „kaum mehr als ein Blankett, weil m i t der Regel, daß nach dem Sinn eines Rechtssatzes zu fragen ist, nichts für die entscheidende Frage gewonnen ist, wie dieser Sinn zu ermitteln sei" 27 . Unklarheit bestehe auch über das Verhältnis der einzelnen Methoden zueinander: „Es ist eine offene Frage, welcher von ihnen jeweils zu folgen oder der Vorzug zu geben ist, vollends, wenn sie zu unterschiedlichen Ergebnissen führen" 2 7 . Die daraus resultierenden Bedenken bezüglich der Wirksamkeit juristischer Auslegungsregeln fänden eine Bestätigung i n der Tatsache, daß sich die Praxis von den von ihr selbst anerkannten Kriterien der Interpretation oft weit entferne 28 . J.Esser 29 gelangt zu ähnlichen Erkenntnissen. Seiner Meinung nach bedeutet „unsere akademische Methodenlehre dem Richter weder Hilfe noch Kontrolle" 3 0 . Die Praktiker ließen entweder „die doktrinären Darstellungen der Rechtstheorie m i t aller Achtung an ihrem Platz stehen", da sie ihre Probleme nicht berührten 3 1 , oder benutzten „sie nur, u m die nach ihrem Rechts- und Sachverständnis angemessenste Entscheidung lege artis zu begründen" 30 . Auch Rottleuthner 32 weist darauf hin, daß die juristische Methodenlehre bloße Theorie geblieben ist. I n der Praxis funktionierten die bislang erarbeiteten Interpretationskriterien lediglich als „Argumentations-Instanzen i n einem Handlungsgefüge (...), das objektiv ganz anderen Regeln als den subjektiv vermeinten folgt" 3 3 . Von einer „ M o t i v fähigkeit juristischer Dogmatik" 3 4 könne keine Rede sein: Der Richter werde nicht dadurch zu einer bestimmten Sinndeutung motiviert, daß er sich an den juristisch-dogmatischen Kriterien der Auslegungslehre orientiere, daß er sie zu seinem Motiv mache. Die meisten Motivationen seien „vordogmatischer A r t " 3 5 , so daß eine Berufung auf die herkömmlichen Methoden nur begrenzten Aufschluß darüber geben könne, wie eine Interpretation tatsächlich zustande komme 3 6 . Nun wäre diese K r i t i k an der juristischen Methodenlehre an die falsche Adresse gerichtet, wenn sich das von der Theorie entwickelte 27
Hesse, Grundzüge S. 24. Vgl. dazu die Analyse des „Schallplatten"-Urteils (BGHZ 46, 74) bei Rottleuthner (Richterliches Handeln S. 28ff.; Rechtswissenschaft S. 194ff.). 29 Vorverständnis S. 7 ff., 43 ff., 74 ff., 116 ff. 30 J. Esser, Vorverständnis S. 7. 31 So J. Esser, Vorverständnis S. 10. 32 Richterliches Handeln S. 1 ff., 7 ff., 27 ff. 33 Rottleuthner, Rechtswissenschaft S. 74. 34 Z u dieser Formulierung Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 4. 35 Vgl. J. Esser, Vorverständnis S. 12. 36 So auch Hesse, Grundzüge S. 25. 28
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Modell i n der Praxis verwirklichen ließe. Es müßten dann die Praktiker dazu angehalten werden, „korrekte Rechtsanwender" zu sein und die Deutung eines Rechtstextes ζ. B. nicht an dem als gerecht vorgestellten Ergebnis zu orientieren, sondern von vornherein m i t einem Methodenschlüssel zielsicher zu arbeiten 37 . Tatsächlich gibt die Auslegungstheorie vor, daß bei einer Anwendung entsprechend sinngerecht gewählter Interpretationsmittel der Sinn eines Rechtstextes ohne weiteres „hervorspringt", dem dogmatisch korrekt Verfahrenden also ohne subjektives Dazutun fertige Ergebnisse „geliefert" werden könnten. „Rechtserkenntnis ist nach unseren Lehrdarstellungen durch Anwendung bestimmter Methoden i n einem bestimmten Erkenntnisverfahren objektiv erlangbar und gewährleistet" 38 . Diese Vorstellung w i r d jedoch von der K r i t i k als unrealistisch verworfen 3 9 . Die stereotype Behauptung, der Richter müsse nur richtig, d. h. entsprechend den „Regeln" der Methodenlehre subsumieren, erweise sich „als eine der verfänglichsten Verschleierungen wirklich relevanter Urteilsvorgänge" 40 . Wer richterliches Verhalten i n seinem faktischen Ablauf richtig wiedergeben wolle, der dürfe den Richter nicht länger m i t einem mechanischen Vollstrecker der Gesetze und methodischen Maximen verwechseln, der das Zustandekommen eines betrüblichen Ergebnisses nur bedauern, aber nicht verhindern könne 41 . Vielmehr müsse man erkennen und akzeptieren, daß die Verbindlichkeit der Tatbestandskriterien ebenso wie die Relevanz der Sachverhaltsmerkmale „ganz i n der Hand des Rechtsanwenders" liege 42 . Wenn die herkömmliche Methodologie daran festhalte, daß ihre Anweisungen für den Interpreten zu verbindlichen Maßstäben werden können, so müsse man das als Versuch werten, den juristischen Interpretationen rechtfertigende Motive anstelle der wirklichen unterzuschieben. So gesehen sei der Verdacht der Ideologie der traditionellen Auslegungslehre gegenüber durchaus gerechtfertigt 43 . Daß die Idee m i t der Wirklichkeit der Sinnbestimmung nicht übereinstimmt, liegt also nach Meinung der K r i t i k e r keineswegs an der Praxis, sondern an der Theorie, die nicht zu verwirklichen sei. Nicht die man37 So offenbar Larenz, Methodenlehre S. 188: „Es mag sein, daß manche Richter i n der v o n Esser beschriebenen Weise verfahren. Aber f ü r legitim können w i r ein derartiges Verfahren nicht ansehen."; ähnlich Engisch, E i n führung S. 201. 38 J. Esser, Vorverständnis S. 21. 39 So z. B. J. Esser, Vorverständnis S. 36. 40 J. Esser, Vorverständnis S. 63. 41 So aber Scheuerle A c P 167, 307. 42 J. Esser, Vorverständnis S. 54. 43 Vgl. J. Esser StudGen 1959, 98, der v o n der „Ideologie der Rechtsanwendung" spricht.
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gelnde Korrektheit der rechtsanwendenden Interpreten, sondern das Versagen der herkömmlichen Auslegungsregeln habe die juristische Methodologie ins Zwielicht gebracht 44 . 2. Die wachsende Ablehnung der überkommenen Interpretations Vorstellungen findet ihre Ursache letztlich i n der Einsicht, daß die traditionelle Auslegungstheorie von einem falschen Modell der Rechtsanwendung ausgeht. Jedenfalls w i r d immer wieder der Versuch unternommen, die bisherige Einschätzung des juristischen Sinnbestimmungs- und Entscheidungsprozesses zu widerlegen. Besonders einleuchtend erscheint i n diesem Zusammenhang die K r i t i k von Rottleuthner 45, der sich m i t der üblichen Charakterisierung der Rechtsanwendung als Regelbefolgung auseinandersetzt 46 . a) Rechtsnormen zielen ebenso wie Verkehrs- oder Spielregeln darauf ab, das Verhalten von Menschen zu bestimmen, wobei dieses Verhalten auch darin bestehen kann, daß der Richter die betreffenden Normen seiner Entscheidungsfindung zugrundelegt 47 . Jede Rechtsnorm ist somit als staatliches Entscheidungsprogramm (auch) an den Richter adressiert, für den sie nicht bloß Orientierungshilfe, sondern verbindliche Entscheidungsregel sein soll (Art. 20 Abs. 3 GG) 48 . Richterliches Handeln läßt sich dementsprechend (idealtypisch) als regelgeleitetes bzw. regelbefolgendes Handeln beschreiben. Was aber heißt es, einer Regel zu folgen? Wie hat man sich die Regelbefolgung durch den Richter vorzustellen? Geht man vom traditionellen Verständnis der Rechtsanwendung aus, so lassen sich dazu die folgenden Thesen formulieren: (1) Rechtsanwendung ist als Regelbefolgung ein monologischer Prozeß. Die juristische Methodenlehre betrachtet es als Aufgabe des Rechtsanwenders, die maßgebenden Rechtsnormen zu finden und ihren Sinn zu bestimmen 49 . Sie geht davon aus, daß prinzipiell jeder für sich die Bedeutung der Rechtstexte entdecken und die Entscheidungsregeln „einsam" befolgen kann 5 0 . 44
Hesse, Grundzüge S. 25. Richterliches Handeln S. 15 ff. 46 Rottleuthner orientiert sich dabei v o r allem an dem Konzept der Regel bei Wittgenstein. 47 So Larenz, Engisch-FS S. 155. Diese Feststellung gilt übrigens unabhängig davon, ob m a n Rechtsnormen als „Imperative" (so ζ. B. Engisch, E i n f ü h rung S. 22 ff.) oder als „Bestimmungssätze" betrachtet (so ζ. B. Larenz a. a. O. S. 150 ff.). 48 Vgl. dazu auch J. Esser, Vorverständnis S. 36 ff. 49 Vgl. etwa Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner T e i l S. 313/314. 50 Dazu auch Rottleuthner, Rechtswissenschaft S. 30; ders., Richterliches Handeln S. 26, 27. 45
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(2) Die rechtlichen Regeln sind als fertige Gebilde vorgegeben. Die Auslegungslehre vermittelt die Vorstellung, die richtige Entscheidung könne i m Text „gefunden", aus i h m „hergeleitet" werden. Die Rechtsregel stehe fest und sei daher ausreichende Grundlage für die Gewinnung von Rechtserkenntnissen 51 . Die Norm bedürfe zur Rechtsanwendung nur der „Konkretisierung" auf das hic et nunc von ihr Gebotene 52 . (3) Die Rechtsregeln werden ihrerseits nach Regeln angewendet. Der juristischen Methodologie liegt die Annahme zugrunde, daß bei Anwendung der herkömmlichen Interpretationskriterien der Inhalt der Rechtstexte ohne weiteres ermittelt werden kann. Die Regeln, nach denen die rechtlichen Regeln ( = Rechtsnormen) ihrerseits angewendet werden sollen, seien demzufolge m i t der grammatikalischen, logischsystematischen, historischen und teleologischen Auslegungsmethode vorgegeben. b) Die Problematik einer Charakterisierung der Rechtsanwendung als regelgeleitete bzw. regelbefolgende Handlung w i r d deutlich, wenn man zu den Thesen der traditionellen Auslegungslehre die Gegenthesen formuliert und begründet. (1) Es gibt keine private Regelbefolgung. Damit der Richter gleiche Fälle gleich behandelt, soll er den rechtlichen Regeln folgen. Dieser Forderung, die i n A r t . 20 Abs. 3 GG ihren verfassungsrechtlichen Niederschlag gefunden hat, ist allerdings nicht schon dadurch Genüge geleistet, daß der Richter i n seiner Entscheidung angibt, er sei dieser oder jener Rechtsnorm gefolgt. „Ob der Richter einer Regel folgt — und d. h. immer: ihr richtig folgt — ist nicht seinem Verständnis der Regel überlassen" 53 . Ob jemand bei seiner Entscheidung wirklich der von i h m genannten rechtlichen Regel gefolgt ist, läßt sich nicht einsam, sondern nur i m Hinblick auf, die Reaktion anderer bestimmen 54 . Denn einer Regel kann 51 Vgl. auch Rottleuthner, Rechtswissenschaft S. 29: „Juristen behandeln nämlich rechtliche Regeln w i e präexistente Wesenheiten, die es also ,an sich' i m m e r schon gibt, die n u r entdeckt, gleichsam per Deduktion auf die Erde herabgeholt werden müssen."; ebenso ders., Richterliches Handeln S. 25; ähnlich Müller, N o r m s t r u k t u r S. 20. 52 Vgl. J. Esser, Vorverständnis S. 74, der diese Auffassung allerdings ablehnt. 53 Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 19. 54 Vgl. Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 18.
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man nur dann folgen, wenn dabei Fehler gemacht werden können, die zu entsprechenden Sanktionen (Kritik, Strafe) führen; einen Fehler kann man aber nicht einsam begehen, „sondern nur i m Hinblick auf andere, für die meine Handlungsregel, die ich durchbrochen haben mag, zur Bewertungs-, Kritik-Regel meines Gebrauchs werden kann" 5 5 . Die Kontrolle des regelgeleiteten Handelns — auch des richterlichen Handelns — ist demnach „ n u r auf der Ebene der Intersubjektivität möglich" 5 6 . Wenn also der Richter sagt, er sei einer Rechtsnorm gefolgt, so meint er bloß, der gesetzlichen Regel zu folgen. Ob er ihr wirklich gefolgt ist, kann er allein gar nicht sagen — das zeigt sich (ζ. B. an der Reaktion der übergeordneten gerichtlichen Instanz) 57 . „ U n d darum kann man nicht der Regel,privatim' folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen" 5 8 . Derjenige, der Recht anzuwenden hat, kann sich demnach zwar an einer rechtlichen Regel orientieren oder eine solche Regel zur Rechtfertigung seiner Entscheidung heranziehen. „Aber das heißt eben noch nicht, daß er ihr auch folgt" 5 9 . Wenn man also den Vorgang der Rechtsanwendung entsprechend dem herkömmlichen Verständnis als monologischen und nicht als kommunikativen Prozeß begreift, kann sich kein Richter seiner Interpretationen sicher sein, denn es ist nicht auszuschließen, daß er unter diesen Umständen unbemerkt Fehler begeht 60 . Und diese Fehler verschwinden nicht dadurch, „daß der Richter den ,guten Willen 4 zur Regelbefolgung hatte, sich ans Gesetz gebunden fühlte" 6 1 . Letztlich ist somit der Sinn einer Rechtsnorm abhängig von einem intersubjektiv geteilten Konsens 62 . (2) Die richterlichen Entscheidungsregeln sind nicht vorgegeben, sondern aufgegeben. 55 56 57
S. 19. 58
Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 18/19. Habermas, L o g i k S. 234. So Rottleuthner, Rechtswissenschaft S. 30; ders., Richterliches Handeln
Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 202. Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 24. 60 Das widerspricht allerdings juristischem Selbstverständnis. Die j u r i s t i sche Ausbildung „ist j a so angelegt, daß der Richter als befähigt angesehen w i r d , allein m i t Gesetz u n d Gewissen, i n Klausur, ein U r t e i l zu »finden'. Der Richter meint nicht bloß, daß er die gesetzliche Regel befolgt; er muß sich seiner Interpretationen auch sicher sein können." (Rottleuthner, Rechtswissenschaft S. 30). 61 Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 25. 62 Darauf w i r d noch ausführlicher einzugehen sein; vgl. § 6 Β . I. 1. b). 59
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Nach der herkömmlichen Theorie ist Rechtsanwendung zu begreifen als logisch gesicherte Auswertung und Ausführung „vorhandener" Regelungen. Wenn man aber jede Rechtsnorm als etwas fertig Vorgegebenes behandelt und bereit ist, i h r „einen evidenten, für den Normvollzug bereitstehenden generellen Gehalt" zuzuerkennen 63 , so setzt man damit unausgesprochen die Rechtsnorm m i t ihrem Wortlaut gleich: „Die Untersuchung von Worten und logischen Figuren soll unmittelbar zu Informationen über das rechtliche Wesen der benannten Gegenstände und ihres Zusammenhangs führen" 6 4 . Tatsächlich hat aber der Normtext nur indikative Bedeutung für den rechtlichen Sinn 6 5 ; die „rechtlichen Sachgehalte sind i n den sprachlichen und damit notwendigerweise ungenauen Elementen der Rechtssätze bei weitem nicht so ,enthalten', daß diese zu Momenten logischer Schlüsse gemacht werden könnten" 6 6 . Eine gesetzliche Vorschrift enthält lediglich mehr oder weniger abschließende Gesichtspunkte für den i n die Zukunft hinein offenen und unabgeschlossenen Inbegriff der Entscheidungen, die ihr zulässigerweise zugerechnet werden können 67 . Oder anders formuliert: Rechtsnormen verkörpern nicht eine konkrete Ordnung, sondern ein Ordnungsziel, eine i m Urteilsakt jeweils neu aktualisierte Ordnungsabsicht 68 . „Ziele aber müssen i m Auge behalten werden, bis sie erreicht sind, sie sind nicht i n einer programmierten Weise automatisch wirksam. Die Norm muß (...) ins Ziel gesteuert werden, sie trifft nicht logisch, sondern nur teleologisch ins Schwarze" 69 . Wenn aber die Entscheidung nirgends voll dem Rechtssatz zu entnehmen und die Entscheidungsnorm deshalb auch „nicht vorgegeben ist, sondern aufgegeben" 70 , dann hat Rechtsanwendung notwendigerweise den Charakter „normorientierter Rechtsschöpfung" 71 . Der Richter findet also die normative Aussage nicht als etwas Fertiges vor, vielmehr w i r d die fertige Entscheidungsregel von i h m erst hergestellt 72 . Aus diesem Grunde haben die Gerichte bei Streitigkeiten über die Bedeutung einer Norm auch nicht die Funktion, die i n Frage stehende Rechtsregel „ k l a r zustellen". Tatsächlich w i r d die Regel durch das Gericht überhaupt erst 63 So z . B . Forsthoff, C. Schmitt-FS S. 47; dazu auch Canaris , Systemdenken S. 145 ff., 148. 64 Müller, N o r m s t r u k t u r S. 20; ders., Methodik S. 113 f. 85 So auch Müller, N o r m s t r u k t u r S. 151. 66 Müller, N o r m s t r u k t u r S. 41; ebenso J. Esser, Vorverständnis S. 72/73. 67 Vgl. Müller, Methodik S. 116. 68 So J. Esser, Vorverständnis S. 34/35. 69 J. Esser, Vorverständnis S. 34. 70 J. Esser, Vorverständnis S. 132, 135. 71 So Müller, Methodik S. 126; vgl. auch J. Esser, StudGen 1959, 100. 72 Vgl. J. Esser, Vorverständnis S. 197; Müller, Methodik S. 119, 122, 125.
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verbindlich festgelegt 73 . Daß eine Partei die rechtliche Regel „falsch" ausgelegt habe, ist — so gesehen — eine Verdrehung der Tatsachen, die darüber hinwegtäuscht, daß erst der Richter die Regel bestimmt hat. (3) Rechtliche Regeln werden nicht nach den „Regeln" der juristischen Methodenlehre angewendet. Die Annahme der Auslegungslehre, daß richterliche Entscheidungsregeln ihrerseits mittels dogmatischer Regeln, insbesondere nach Maßgabe der methodischen canones angewendet werden können, erscheint i n zweifacher Hinsicht fraglich: (a) W i r d die Anwendung einer Regel wirklich durch andere Regeln „bestimmt"? (b) Kann man die canones der juristischen Methodenlehre überhaupt als „Regeln" bezeichnen, die der Rechtsanwendung „zugrundeliegen"? Zu (a): Die A n t w o r t auf die Frage, wie man eine Regel anwenden kann, scheint zu lauten: wieder durch eine Regel. Von diesem Konzept geht auch die traditionelle Methodologie aus: Die Rechtsnorm (Regeli) werde entsprechend den Regel der Auslegungslehre (Regeh) angewendet. Nun könnte man aber fragen, nach welcher Regel (Regele) denn die methodischen Kriterien (Regek) ihrerseits angewendet werden. Und dieses Spiel läßt sich fortsetzen, indem man immer weiter zurückfragt: Nach welcher Regel denn Regeh angewendet w i r d etc. Allerdings: So käme man nie von der Stelle, weil für jeden „Regel-Hasen" immer schon ein „Regel-Igel" da wäre 7 4 . Ein solcher „unendlicher Regreß" läßt sich einmal dadurch vermeiden, daß man auf das Vorverständnis verweist, das insgeheim die Auswahl und den Vorrang der methodischen Regel (Regek) bestimmt habe 75 . Das Vorverständnis w i r d auf diese Weise zum Auffangbecken für die Frage, nach welchen Regeln Regeln angewendet werden. Es blockt den unendlichen Regreß ab 76 . 73 Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 23; ders., Rechtswissenschaft S. 31: „Die juristische F i k t i o n ist dann die, daß es heißt, eine Partei habe sich eben über den wahren Sinn der N o r m geirrt, zu dessen Erkenntnis der Richter privilegiert sei: durch seine Ausbildung, seine Neutralität." 74 Rottleuthner, Rechtswissenschaft S. 30. 75 So z. B. J. Esser, Vorverständnis S. 10: Das Vorverständnis sei ein durch soziale Erfahrung gewonnener kategorialer Apparat, „ m i t dessen Hilfe der Richter die »offensichtlich' relevanten Merkmale eines Falles u n d der »geeigneten' Normen zu dessen Lösung schon unbewußt auswählt, registriert u n d einordnet."; kritisch dazu Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 31, 34; ders., Rechtswissenschaft S. 30. 76 Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 34.
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Zum anderen kann man eine unendliche Regel-Hinterfragung dadurch vermeiden, daß man eine „Unmittelbarkeit der Praxis" unterstellt. M i t Wittgenstein 77 wäre dann festzustellen, daß sich zwar theoretisch nach den Regeln fragen läßt, die die Anwendung einer anderen Regel bestimmen, daß es jedoch unsinnig ist anzunehmen, eine Handlung werde i n der Praxis durch Gründe oder Regeln „bestimmt". Wer eine Regel befolgt, schaut sie nicht an, als bestimme sie sein Tun 7 8 . „Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind" 7 9 . U m der Regel folgen zu können, muß man sie nicht einmal kennen. „Ob ich ihr folge — das zeigt sich" 80 . Auch richterliches Handeln wäre nach diesem Konzept „blinde" Regelbefolgung, d. h. die Rechtsanwendung wäre nicht durch die Regeln der juristischen Methodenlehre bestimmt. Die richterlichen Entscheidungsregeln werden also nicht mittels einer Gebrauchsregel angewendet; den rechtlichen Regeln ( = Rechtsnormen) folgen ist eine Praxis 8 1 . Zu b): Gegen die These von der Unmittelbarkeit der juristischen Praxis ließe sich einwenden, daß die Rechtsanwendung keine „blinde" Handlung ist, sondern eine Behandlung von Rechtsnormen. Akzeptiert man diese Unterscheidung zwischen einer „normalen" und der richterlichen Regelbefolgung, so kann man es auch nicht als widerlegt betrachten, daß Rechtsnormen als explizite Regeln nach den „impliziten, aber explizierbaren Regeln" 82 der traditionellen Auslegungslehre angewendet werden. Was man jedoch i n Frage stellen muß, ist die Annahme — daß es sich bei den methodischen Kriterien u m Regeln handelt und — daß sie als Gebrauchsregeln der Anwendung der Rechtsnormen zugrundeliegen, also implizit sind. Die juristischen Interpretationskriterien können nur dann als Regeln eingestuft werden, wenn sich ihre Anfangsbedingungen und Konsequenzen benennen lassen, wenn also genau bestimmt werden kann, unter welchen Voraussetzungen und m i t welcher Wirkung sie zur Anwendung gelangen 83 . Die tradierte Methodologie läßt jedoch offen, wann die I n terpretationsmittel zur Anwendung gelangen und welche Auswirkungen damit jeweils verbunden sind. Außerdem gibt es keine Präferenzregel, 77
Philosophische Untersuchungen §§ 211, 217. So Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 237. 79 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 219. 80 Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 19. 81 Vgl. auch Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 202. 82 Z u der Unterscheidung zwischen zugrundeliegenden („impliziten") Gebrauchsregeln u n d expliziten Regeln vgl. Rottleuthner, Richterliches H a n deln S. 19, 27. 83 So Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 30: „Eine Regel hätte also die Form: »wenn A dann B'." 78
Β . Philosophische u n d methodologische Hermeneutik
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mit deren Hilfe man entscheiden könnte, i n welcher Reihenfolge die verschiedenen canones heranzuziehen sind. Entweder werden sie gleichberechtigt nebeneinander angewendet 84 . Oder es w i r d zwar einem der genannten Auslegungskriterien der Vorrang eingeräumt, ohne aber klarzustellen, welche Gründe i m Einzelfall für die Entscheidung über die Gewichtigkeit der methodischen Elemente ausschlaggebend gewesen sind 85 . Die herkömmlichen „Methoden" kann man somit kaum als „Regeln" und erst recht nicht als „implizite Gebrauchsregeln" bezeichnen. Zwar berufen sich die Richter immer wieder auf die verschiedenen Interpretationskriterien, doch ist damit keineswegs gesagt, daß die zitierten „Regeln" dem jeweiligen Verhalten auch tatsächlich zugrundeliegen, daß sie also zum „operativen" Grund ( = Motiv) der Rechtsanwendung geworden sind 86 . I n Wirklichkeit sollen derartige Hinweise auf die Prinzipien der (historischen, teleologischen etc.) Auslegung nur der nachträglichen Rechtfertigung juristischer Sinnbestimmungen und Entscheidungen dienen 87 . So findet sich schon bei Radbruch 88 die Feststellung, daß die juristischen „Methoden" lediglich die Funktion hätten, „nachträglich aus dem Text zu begründen, was i n schöpferischer Ergänzung des Textes bereits gefunden" sei. Damit sind aber die methodischen canones als implizite „Regeln" disqualifiziert. B. Philosophische und methodologische Hermeneutik Die traditionelle Auslegungslehre bietet ihren K r i t i k e r n eine Vielzahl von Angriffsmöglichkeiten. Eine umfassende, über die bisherige Darstellung hinausgehende Aufzählung und Uberprüfung der Mängel und Schwachstellen unserer juristischen Methodologie ist jedoch i m Rahmen dieser Untersuchung weder möglich noch zweckmäßig. Es genügt die Erkenntnis, daß von der herkömmlichen Interpretationstheorie i m H i n blick auf die Lösung des Problems der Privatrechtsbegriffe offenbar wenig zu erwarten ist. Damit w i r d auf die Notwendigkeit verwiesen, den bisherigen Lösungsansatz der methodologischen Hermeneutik zu überdenken und Gegenvorstellungen zu entwickeln, wobei sich insbesondere die philosophische Hermeneutik als Alternative empfiehlt. 84 Vgl. ζ. B. Coing , Hermeneutik S. 12; dens., Rechtsphilosophie S. 316, 324; Gassner, Interpretation S. 13. 85 Dazu auch die K r i t i k v o n J. Esser, Vorverständnis S. 125. 86 Vgl. auch Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 186 f. 87 So auch Hinderling, Verstehen S. 212. 88 Einführung S. 166.
6 Maaßen
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I. Verstehen und Methode Die privatrechtlich geprägten Merkmale, die i n den Steuertatbeständen verwendet werden, müssen inhaltlich erfaßt und somit verstanden werden. Wie ein solches Verstehen ermöglicht werden kann (und ob ζ. B. die Anwendung von „Auslegungsmethoden" zum Verstehen führt), läßt sich erst dann beurteilen, wenn über das Verstehensphänomen selbst Klarheit besteht. Es soll sich erweisen, daß die bislang gepflegte Methodenlehre die grundlegende Frage nach dem Verstehensphänomen schon von ihrem Ansatz her überhaupt nicht beantworten kann. Aus einer K r i t i k dieses (methodologischen) Ansatzes w i r d der Ausgangspunkt der philosophischen Hermeneutik zu entwickeln sein. 1. Nach herkömmlichem Verständnis muß das Ziel der Auslegung, das Verstehen von Rechtstexten, auf dem „richtigen Weg" (met-hodos) erreicht werden 89 . Dementsprechend waren die Bemühungen der juristischen Auslegungslehre immer schon darauf gerichtet, eine Methodologie i m wirklichen Wortsinn zu sein: eine „Rede von Dem-(richtigen-)Wegentlang-Gehen" 90 . Das zeigt sich gerade an der Dauerdebatte u m das Ziel und die Kriterien der Interpretation, die ja nichts anderes ist als eine Auseinandersetzung u m den einzuschlagenden Weg. Es fragt sich allerdings, ob nicht durch diese methodologische Fragestellung der Blick auf das Verstehensphänomen von vornherein verstellt wird. a) Bei der herkömmlichen Diskussion u m die Ziele und Wege (Methoden) der Auslegung bleibt die Frage ausgeklammert, von welchem Ausgangspunkt aus der jeweilige Weg zu dem jeweiligen Ziel beschritten werden soll. Es w i r d nicht danach gefragt, „was der Urteiler voraussetzt und mitbringt, was er voraussetzen und mitbringen muß, u m die Auslegungsarbeit beginnen zu können" 9 1 . Dennoch w i l l die traditionelle Auslegungstheorie wie jede Methodologie auf das Erkenntnisverhalten des Interpreten Einfluß nehmen. Dieser Versuch der Einflußnahme ist aber nur dann sinnvoll, wenn das intendierte Verhalten einerseits möglich, also nicht prinzipiell ausgeschlossen ist und andererseits auch nicht von vornherein als notwendiges Verhalten feststeht 92 . Daher müssen die methodologischen Lehrsätze der Jurisprudenz, die ja offenbar von ihrer eigenen Relevanz ausgehen, stets voraussetzen, „daß die von ihnen als zulässig oder unzulässig, als ge89 90 91 92
Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 10. Z u m Begriff der Methodologie Bochenski, Denkmethoden S. 16 f. Hruschka, Verstehen S. 92. Vgl. Hruschka, Verstehen S. 11/12.
Β . Philosophische u n d methodologische Hermeneutik
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boten oder nicht geboten beurteilten Verhaltensweisen einerseits nicht unmöglich und andererseits nicht notwendig sind" 9 3 . Stimmen aber diese Voraussetzungen m i t den tatsächlichen Gegebenheiten überein? Die juristische Methodenlehre kann diese Frage nicht beantworten, denn sie bemüht sich nicht u m eine Aufklärung der tatsächlich möglichen oder notwendigen Ausgangspunkte des Erkenntnisverhaltens, sondern versucht statt dessen, diese Ausgangspunkte nach der Bestimmung des Ziels und der Methode festzulegen, indem sie diejenigen Bedingungen als gegeben voraussetzt, die die Relevanz ihrer jeweiligen Ziel- und Methodenwahl nicht erschüttern. Korrekt und sachgerecht ist aber nur der umgekehrte Weg: Erst muß die Ausgangsbasis feststehen, bevor man entscheiden kann, welche Ziele erreichbar und welche Wege zu dem jeweiligen Ziel gangbar sind, denn es besteht doch die Möglichkeit, „daß eine bestimmte Ausgangsbasis bestimmte Ziele oder Wege fordert oder — umgekehrt — ausschließt" 94 . Deshalb müssen vor jeder Diskussion u m die Wege und Ziele der Auslegung die Bedingungen aufgeklärt werden, unter denen Verstehen geschieht. Die Frage, wie Verstehen möglich ist, liegt allem methodischen Verhalten, den „Normen" und „Regeln" der Methodenlehre schon voraus 95 ; erst durch eine Analyse des Verstehens werden die Grenzen möglicher Fragen nach dem „richtigen Weg" und dem Ziel der Auslegung abgesteckt 96 . Wollte man sich dennoch — wie es die Auslegungslehre praktiziert — allein auf die Methode und das Auslegungsziel konzentrieren und die Frage nach den tatsächlichen Bedingungen des Verstehens „ i n der Naivität des Methodenglaubens" unbeantwortet lassen, so könnte eine „Deformation der Erkenntnis" die Folge sein 97 . b) Die methodologische Fragestellung der herkömmlichen Theorie ist also verfehlt, solange die Bedingungen des Verstehens von Rechtstexten nicht aufgeklärt sind. Wichtig ist nicht, wie sich der Interpret verhalten soll, zu fragen ist vielmehr, wie er sich schon immer verhält, wenn er einen Rechtstext versteht 98 . Damit ändert sich aber die Problemstellung der juristischen Hermeneutik, denn i m Vordergrund steht nunmehr „die Analyse jener spezifischen Erkenntnisleistung, die schon vor aller Steuerung durch die Rechtssätze der traditionellen Auslegungstheorien erbracht wird, er93 94 95 96 97 98
6*
Hruschka, Verstehen S. 12. Hruschka, Verstehen S. 91. Vgl. auch Gadamer, Wahrheit S. X V I I / X V I I I . So auch Hruschka, Verstehen S. 11,12. Dazu Gadamer, Wahrheit S. 285. Vgl. Hruschka, Verstehen S. 10.
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bracht werden kann und erbracht werden muß" 9 9 . Aus der methodologischen Fragestellung w i r d so eine philosophische: „Nicht, was w i r tun, nicht, was w i r t u n sollten, sondern was über unser Wollen und T u n hinaus mit uns geschieht, steht i n Frage" 1 0 0 . Es geht also nicht darum, irgendeine Methode vorzuschlagen, vielmehr w i r d zunächst zu beschreiben sein, was immer schon geschieht 101 . Man muß über das Methodenproblem hinausdenken und danach fragen, „welche Vorgänge und Verhaltensweisen i m Rahmen eines Erkenntnisvollzuges, der als das Verstehen von Rechtstexten bezeichnet werden kann, notwendig ablaufen bzw. vollzogen werden und — soweit ein gewisser Spielraum bleibt, soweit eine Notwendigkeit also nicht festgestellt werden kann — welche Vorgänge und Verhaltensweisen i n diesem Rahmen überhaupt möglich sind" 1 0 2 . Die Möglichkeiten und Grenzen einer juristischen Methodologie lassen sich erst beurteilen, wenn man die „hermeneutische Ausgangslage" 1 0 3 kennt, die Bedingungen also, denen jedes Verstehen unterliegt. Aus diesem Grunde stehen die methodologische und die philosophische Fragestellung i n einem Subordinationsverhältnis zueinander. Die philosophische Fragestellung ist die grundlegendere und geht der methodologischen sachlich voraus 104 . Die Anerkennung einer solchen Reihenfolge dispensiert zwar nicht gänzlich vom „Geschäft der Methodologie" 105 , verweist aber jedenfalls das Methodenproblem auf den zweiten Platz 1 0 2 . Was zuerst geleistet werden muß, ist die Klärung des Verstehensphänomens. Die traditionelle Auslegungslehre w i l l der Frage, was Verstehen eigentlich bedeutet und was i m Verstehen von Rechtstexten geschieht, ausweichen. Sie gibt zu erkennen, daß sie das Problem der Hermeneutik nur als Methodenproblem zu denken vermag 1 0 6 . 2. Die Abkehr von der methodologischen und die Hinwendung zu einer philosophischen Fragestellung erfordert eine Korrektur der bisherigen Vorstellung von Hermeneutik. M i t dieser Korrektur w i r d aller99
Hruschka, Verstehen S. 92. Gadamer , Wahrheit S. X V I . 101 So auch Gadamer , i n einem Brief an Betti (wiedergegeben bei Betti, Hermeneutik S. 51 N. 118, u n d Gadamer , Wahrheit S. 483 f.). 102 Hruschka, Verstehen S. 11. 103 So die Formulierung bei Habermas, Universalitätsanspruch S. 127. 104 So auch Hruschka, Verstehen S. 12. 105 Das betont Habermas, Logik S. 281. 106 So auch der E i n w a n d v o n Gadamer (Wahrheit S. 484) gegen Betti. Betti (Hermeneutik S. 52) w i r f t Gadamer vor, die „quaestio facti" m i t der „quaestio iuris" zu vermengen: Es gehe nicht darum festzustellen, was bei der Auslegung tatsächlich geschieht, sondern darum zu wissen, was m a n dabei t u n soll. (Gadamer würde w o h l einwenden: Was nutzt dieses Wissen, w e n n man nicht weiß, ob m a n sich auch entsprechend dem „Sollen" verhalten kann?) 100
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dings nur die inhaltliche Änderung nachvollzogen, die der Begriff der Hermeneutik vor allem durch die Arbeiten von Heidegger 107 und Gadamer erfahren hat 1 0 8 . a) Das traditionelle Verständnis der Hermeneutik basiert auf ihrer Charakterisierung als Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen 109 . Die ältere Hermeneutik wollte „regelbewußte A n leitung eines kunstgerechten Verstehens und Verständlichmachens" sein 110 und so das erkenntnistheoretische Problem des Verstehens lösen helfen 111 . Insbesondere Schleiermacher, der die (in der juristischen Methodologie heute noch weitgehend anerkannte) hermeneutische Theorie v. Savignys beeinflußt haben dürfte 1 1 2 , bekennt sich zu dem Ideal der Kunstlehre. I h m folgt Dilthey, der die Hermeneutik als kunstmäßige Ausbildung des Vorgangs vom Verstehen begreift 113 . Dieses Verständnis hat die juristische Methodologie bis heute konserviert 114 . Dementsprechend sieht man den Sinn der Hermeneutik darin, eine allgemeine Theorie der Interpretation zu sein und ein System von Kunstregeln bereitzustellen, die das Verstehen von Rechtstexten anzuleiten vermögen. Daher gilt auch den Methoden, die den Auslegungsprozeß auf den „richtigen Weg" führen sollen, das eigentliche Interesse. Die Einstellung und Argumentation ist — diesem Verständnis entsprechend — methodologisch. b) Die philosophische Hermeneutik w i l l die „perspektivische Einengung, die der Methodengedanke mit sich führt", nicht akzeptieren 115 . Aufgabe der Hermeneutik sei es nicht, ein Verfahren des Verstehens 107 Z u m Hermeneutik-Verständnis Heideggers vgl. Gadamer, Wahrheit S. 240 ff.; Hufnagel, Hermeneutik S. 15 ff. 108 Einen Überblick über die Geschichte der Hermeneutik geben Gadamer, Wahrheit S. 162 ff.; Hinderling, Verstehen S. 4ff.; Hufnagel, Hermeneutik S. 9 ff. 109 Vgl. Gadamer, Wahrheit S. 250; Hinderling, Verstehen S. 3/4. 110 Vgl. Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 34. 111 Das w i r d besonders deutlich bei Betti, Rabel-FS S. 91; vgl. auch dens., Hermeneutik S. 11. 112 Dazu Gadamer, Wahrheit S. 175, 369 N. 1. 113 Z u r hermeneutischen Theorie Diltheys vgl. ausführlicher Habermas, Erkenntnis S. 178 ff.; Gadamer, Wahrheit S. 295 ff. 114 Vgl. etwa Coing, Hermeneutik S. 5 ff. Auch Hätz (Rechtssprache S. 16 ff.) stellt die Auffassung Schleiermachers v o m Wesen der Hermeneutik nicht i n Frage. Ebenso versteht Engisch (Einführung S. 71 ff., 77 ff.) „Hermeneutik" i m methodologischen Sinne. Forsthoff (Sprache S. 3) konnte zu recht davon ausgehen, daß v. Savignys erster Band des „Systems des heutigen römischen Rechts" den letzten A b r i ß eines (methodologischen) hermeneutischen Systems darstellt. 115 So Gadamer, Wahrheit S. 516.
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zu entwickeln, sondern die Bedingungen aufzuklären, unter denen Verstehen geschieht 116 . Philosophische Hermeneutik reflektiert demnach i m Gegensatz zu einer Hermeneutik, die sich als Kunst des Verstehens begreift, über dieses Können und das Wissen, auf dem es beruht 1 1 7 . „Sie dient also nicht mehr der Uberwindung bestimmter Schwierigkeiten des Verstehens, wie sie gegenüber Texten oder i m Gespräch m i t anderen Menschen begegnen" 117 . Statt dessen w i l l die philosophische Theorie der Hermeneutik Anstoß geben zu einer Selbstreflexion, i n der das verstehende Subjekt der Erkenntnisbedingungen und seiner Abhängigkeiten von Sprache inne wird 1 1 8 . Erstrebt w i r d ein „hermeneutisches Bewußtsein" 11 8 , ein „kritisches Reflexionswissen" 117 , das dazu befähigt, die Frage nach dem Verstehensphänomen zu beantworten. Kritisch ist die hermeneutische Reflexion insofern, als sie darauf abzielt, den „naiven Objektivismus", i n dem die traditionelle Auffassung von Hermeneutik befangen ist, aufzudecken 119 und das Selbstverständnis des stets geübten Verstehens zu berichtigen 120 . Die hermeneutische Fragestellung ist außerdem philosophisch, w e i l nicht die Absicht besteht, die theoretischen Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Arbeit zu erforschen, u m die gewonnenen Erkenntnisse i n praktische Verhaltensanweisungen umzumünzen 121 . Philosophische Hermeneutik darf daher auch nicht als eine — „richtige" oder „falsche" — Methodenlehre (miß-) verstanden werden 1 2 2 . Nicht die methodischen Einzelheiten der Auslegungsregeln sind das Thema einer so verstandenen Hermeneutik, sondern die Reflexion auf die grundlegenden Bedingungen jeder Erkenntnisleistung. IL Verstehen, Auslegen, Interpretieren Es erscheint notwendig, nicht nur durch eine Abkehr von der methodologischen Zielsetzung der traditionellen Auslegungstheorie, sondern darüber hinaus auch durch eine veränderte inhaltliche Bestimmung der Begriffe „Auslegung" und „Interpretation" eine Klärung des Verstehensphänomens zu gewährleisten. 116
Gadamer , Wahrheit S. 279. Gadamer , Replik S. 287. 118 Vgl. Habermas, Universalitätsanspruch S. 126. 119 Vgl. Gadamer, Replik S. 287, der diesen Objektivismus auf die Absolutsetzung eines Ideals der Wissenschaft zurückführt, das sich seinerseits an den Naturwissenschaften orientiere; dazu auch ders., Wahrheit S. 516. 120 Gadamer, Wahrheit S. 250. 121 Vgl. Gadamer, Wahrheit S. X V I . 122 Gadamer , Wahrheit S. 484. 117
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Was dabei als „Veränderung" der bisherigen Sinnbestimmung bezeichnet wird, ist i m Grunde nichts anderes als eine Beseitigung der Sprachverwirrung, die i n der juristischen Methodenlehre gerade auf diesem Gebiet herrscht. „Nicht nur, daß Auslegung und Interpretation einerseits und das Verstehen von Rechtstexten andererseits häufig m i t einander verwechselt und fast nie klar auseinandergehalten werden — das ließe sich noch durch die gewiß engen Beziehungen zwischen Auslegung und Verstehen erklären —, paradoxerweise droht vielmehr den herkömmlichen Auslegungstheorien auch das Auslegungsphänomen selbst zu entgleiten, sehen diese Theorien auch ihr Ausgangsphänomen schon gar nicht mehr, von dem sie doch ihren Namen ableiten" 1 2 3 . Eine genaue Analyse dessen, was „Auslegen" und „Interpretieren" eigentlich bedeuten, w i r d zeigen, daß nicht zuletzt die bisher übliche Charakterisierung der Auslegung (und der Interpretation) als Erkenntnisvorgang bzw. als Technik der Sinnermittlung einer angemessenen Beschreibung des Verstehens i m Wege steht. 1. Der einfachste Weg zur Erkenntnis des Auslegungsphänomens ist das „Hören auf die Sprache" 124 . Es kommt nur darauf an, das Wort „Auslegung" selbst beim Wort zu nehmen. „Auslegung" ist zunächst der Name für eine Tätigkeit, durch die etwas Zusammengepacktes, Zusammengefaltetes oder Zusammengerolltes auseinandergebreitet wird. Bezeichnet w i r d durch dieses Sprachgebilde also primär ein anschaulicher, sinnlich wahrnehmbarer Vorgang: das Auseinanderlegen, Auseinanderrollen und Entfalten empirisch vorfindlicher Dinge i n einem Raum 1 2 5 . Nun ist ohne weiteres erkennbar, daß das Wort „Auslegung" i m hermeneutischen Sprachgebrauch etwas anderes bezeichnen soll als das räumliche Auseinanderbreiten. Allerdings besteht Anlaß zu der Vermutung, daß der Vorgang, den dieser Ausdruck i n seiner übertragenen Bedeutung meint, m i t dem primär bezeichneten Vorgang, dem A k t des räumlichen Auseinanderbreitens, unter irgendeinem Gesichtspunkt vergleichbar ist, da sich sonst kaum die Übernahme des Begriffs „Auslegung" i n den hermeneutischen Sprachbereich angeboten hätte 1 2 6 . Diese Vergleichbarkeit besteht offenbar darin, daß auch i m Zusammenhang m i t der inhaltlichen Bestimmung von Rechtstexten eine „Auseinanderlegung" vollzogen w i r d 1 2 7 . Allerdings kann es sich dabei nicht mehr u m 123
Hruschka, Verstehen S. 3. Vgl. Hruschka, Verstehen S. 4. 125 Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 4/5. 126 So Hruschka, Verstehen S. 5. 127 Vgl. dazu auch Larenz, Methodenlehre S. 299; Kruse Rz. 3 (S. 1336). 124
T K § 1 StAnpG
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ein Ausbreiten und Entfalten i n einem Raum handeln — und gerade hierin besteht bei aller Vergleichbarkeit der Unterschied zwischen der primären Verwendungsweise des Wortes „Auslegung" und dessen Gebrauch i m übertragenen Sinne. Die Bedeutungsänderung, die diese Vokabel durch ihre Übertragung i n den hermeneutischen Sprachbereich erfährt, vollzieht sich gerade i n der Veränderung des Auslegungsmediums, wobei als der einzig sinnvolle Ort des Entfaltens und Auseinanderlegens nur noch die Sprache i n Betracht kommt 1 2 8 . Bedeutet also Auslegung primär, daß empirisch vorfindliche Dinge i n einem Raum ausgebreitet werden, so ist dieses Wort i n seiner übertragenen Bedeutung der Name für eine Tätigkeit, durch die eine Sache i n der Sprache auseinandergelegt wird. Oder anders formuliert: Auslegung ist das Bemühen, einer Sache einen Ort i n der Sprache zu verschaffen 129. „Auslegung i m übertragenen Sinne ist daher stets ein sprachlicher A k t , so wie die Auslegung i m ursprünglichen Sinne i m Raum und durch den Raum geschieht" 130 . Sprache ist ohne einen äußeren Vorgang, ohne eine Artikulation i n Lauten, Gesten oder Schriftzeichen nicht denkbar; zu jeder Sprache gehört notwendig die nach außen gewendete Äußerung. „Darum enthält auch jede Auslegung, ist jede Auslegung, eben weil sie sich i n diesem Medium bewegt, immer eine ,Äußerung'" 1 3 0 . Als Äußerung muß sich auch die Auslegung i n sinnlich wahrnehmbaren Zeichen manifestieren: Wer auslegt, der faßt etwas i n Worte, der versucht, durch die Verwendung sprachlicher Zeichen 131 einer Sache einen angemessenen Ausdruck zu verleihen 132 . Auslegung erzeugt sprachliche Ausdrücklichkeit. 2. Da Auslegung lediglich Vorhandenes mit den Mitteln der Sprache zum Vorschein bringen w i l l , kann sie — als bloßer sprachlicher A k t — kein Erkenntnisvorgang sein 133 . Ihre Aufgabe besteht allein darin, Erkanntes zu versprachlichen. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß jede Auslegung mit einer Erkenntnisleistung, dem Verstehen von Texten, irgendwie verknüpft ist. Eine solche Verknüpfung zeigt sich sogar i n zweifacher Hinsicht: 128
Vgl. Hruschka, Verstehen S. 5, 6. So Hruschka, Verstehen S. 53. 130 Hruschka, Verstehen S. 6; dazu auch Gadamer , Wahrheit S. 376: „Sprachliche Auslegung ist die F o r m der Auslegung überhaupt." 131 Es gibt auch Formen der Auslegung, die zwar nicht sprachlich sind, die aber i n Wahrheit die Sprachlichkeit doch voraussetzen; dazu Gadamer, Wahrheit S. 376. 132 Ä h n l i c h Hruschka, Verstehen S. 6; vgl. auch Gadamer, Wahrheit S. 376: „Die Auslegung legt die Sache gleichsam auf die Waage der Worte." 133 So Hruschka, Verstehen S. 6; kritisch dazu Larenz, Methodenlehre S. 181 N. 43. 129
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— Auslegung ist Artikulation leistung.
und Manifestation
der
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Erkenntnis-
— Auslegung leistet die Vermittlung von Erkenntnissen. a) I m Verstehen kommt der wirkliche oder vermeintliche Sinn eines Textes zwar zur „Gegebenheit" 134 , aber erst durch eine Versprachlichung des Erkannten w i r d der i m Verstehen bewußt gewordene Sinn auch „zugänglich". Das ist wörtlich zu nehmen: Ohne die Entäußerung des Textsinnes i n der Auslegung gäbe es keinen Ort, an dem dieser Sinn greifbar wäre. Dieser Ort w i r d i h m erst durch einen A k t der sprachlichen Objektivierung verschafft. M i t der Auslegung w i r d demnach die Erkenntnisleistung artikuliert und manifestiert 135 . Als die sprachliche Gestalt der Erkenntnis bleibt sie stets Ausdruck des Erkannten „und w i r d nicht etwa zur Erkenntnis selbst" 136 . Auslegung kann daher weder als der Vollzug einer Erkenntnis noch als Technik der Sinnermittlung gedeutet werden, denn sie „bringt das Verstehen nur zur ausdrücklichen Ausweisung" 1 3 7 . Sie ist also nicht ein Mittel, durch das ein Verstehen herbeigeführt wird, sondern die „explizite Form des Verstehens" 138 , gleichsam das „Endresultat" oder die „Außenseite" des Erkenntnisvorgangs 139 . Daraus dürfen allerdings keine falschen Schlüsse gezogen werden. Die bisherige Unterscheidung zwischen dem Verstehen als dem A k t des Erkennens und der Auslegung als dem A k t der Versprachlichung des Erkannten bedeutet nicht, daß eine Trennung von Verstehen und Auslegen auch i m Prozeß der Sinnerkenntnis möglich ist 1 4 0 . Die formale Gegenüberstellung sollte lediglich klarstellen, was „Auslegen" i m Vergleich zu „Verstehen" eigentlich bedeutet. I n Wirklichkeit lassen sich Verstehen und Auslegung nicht auseinanderreißen; beide Momente „sind auf eine unlösliche Weise miteinander verschlungen" 141 . Daher kann man auch das Verhältnis von Verstehen und Auslegen nicht so deuten, daß „die auslegenden Begriffe zum Verstehen hinzutreten, indem sie aus einem sprachlichen Vorratsraum, i n dem sie schon bereitliegen, je nach Bedarf herbeigezogen werden" 1 4 2 . Die Auslegung ist kein 134
Hruschka, Verstehen S. 92. So Hruschka, Verstehen S. 6, 7. iss vgl. Hruschka, Verstehen S. 7; davon geht auch Gadamer (Wahrheit S. X X V I I ) aus, w e n n er v o n „der rechten Auslegung des Verstandenen" spricht. 135
137 138 139 140 141 142
Gadamer , Wahrheit S. 376. Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 291. Hruschka, Verstehen S. 6/7. Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 92. Gadamer , Wahrheit S. 376. Gadamer , Wahrheit S. 366.
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Vorgang, der nachträglich zum Verstehen hinzukommt 1 4 3 . Vielmehr verhalten sich Verstehen und Auslegen zueinander „wie Lichtquelle und Lichtstrahl, die erst zusammen Licht ergeben" 144 . Die Auslegung ist also notwendiges Moment des Verstehens selbst, denn wirkliches Verstehen kann sich nur i m Medium der Sprache vollziehen: „(...) das Verstehen von Sprache ist immer auch schon ein Verstehen durch die Sprache" 144 . Das bedeutet zwar nicht, daß Verstehen und Auslegen ein und dasselbe sind. Es w i r d jedoch deutlich, daß erst das Zusammenwirken beider Momente Sinnerkenntnis ermöglicht, weil der Sinn eines verstandenen Textes — auch für den Verstehenden selbst — erst i n der Auslegung greifbar und damit verständlich wird. So gesehen heißt „Verstehen" immer schon „Auslegen" 1 4 5 . b) Die Auslegung ist allerdings nicht nur dadurch m i t der Erkenntnisleistung verknüpft, daß sie dem Erkannten einen angemessenen Ausdruck verleiht. Darüber hinaus w i r d auch durch die sprachliche Artikulation (Auslegung) ein neues Erkenntnisobjekt geschaffen, das Anstoß zu neuen Erkenntnisvorgängen geben kann 1 4 6 . So w i r d eine weitere Funktion der Auslegung erkennbar: Sie erbringt eine Vermittlungsleistung, denn sie eröffnet anderen einen Weg zu der Sache, von der jeweils die Rede ist. Demnach bestätigt sich auch unter diesem Aspekt die These, daß die Auslegung nicht als „steuerbare Benutzung von Erkenntnismitteln zu Erkenntniszwecken" gedeutet werden kann. Auslegung dient der Vermittlung, nicht aber der Ermittlung von Erkenntnissen 146 . 3. Genau diese Vermittlungsfunktion der Auslegung w i r d durch das Wort „Interpretation" bezeichnet, denn das lateinische Substantiv „interpretatio" bedeutet bei genauer Ubersetzung „Vermittlung" 1 4 7 . Das heißt nun keineswegs, daß die bisher praktizierte Gleichsetzung von „Auslegung" und „Interpretation" gerechtfertigt ist. Zwar bedeuten beide Wörter dieselbe Sache, aber jedes Wort eröffnet den Blick auf diese Sache aus einer anderen Perspektive, so daß sie letztlich unter zwei verschiedenen Aspekten erscheint. Während nämlich das Wort „Auslegung" den Vorgang der sprachlichen Objektivierung i n seinem 143 So Gadamer , Wahrheit S. 291; anders w o h l Hirsch, Interpretation S. 167: „Es ist offensichtlich, daß das Verständnis gegenüber der Interpretat i o n den zeitlichen Vorrang besitzt (...)." 144 Hruschka, Verstehen S. 92. 145 Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 366: „Alles Verstehen ist Auslegen."; S. 377: „Verstehen enthält i m m e r Auslegung." 146 Vgl. Hruschka, Verstehen S. 7. 147 Einzelheiten dazu bei Hruschka, Verstehen S. 7/8.
Β . Philosophische u n d methodologische Hermeneutik
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Ablauf beschreibt, „bringt das Wort Interpretation' eine genaue Kennzeichnung der i n der Auslegung erbrachten Leistung" 1 4 8 . Diese Differenzierung ist dem heutigen Sprachgebrauch (noch) weitgehend fremd. Die damit i n Kauf genommene Doppeldeutigkeit des Ausdrucks „Auslegung" bzw. „Interpretation" ist vergleichbar m i t der Doppeldeutigkeit des Wortes „Definition", das sowohl den Vorgang des Definierens als auch dessen Ergebnis, das Definitum, bezeichnet 149 . III.
Aufgabenstellung
Es hat sich gezeigt, daß die Suche nach einem „richtigen Weg" zur Sinnerkenntnis i n die Irre führen muß, solange die hermeneutische Ausgangslage des Interpreten unbekannt ist. Wer daher zur Lösung der Probleme beitragen w i l l , die sich aus der Verwendung privatrechtlich geprägter Merkmale i n den Tatbeständen des Steuerrechts ergeben, sollte sich nicht u m die Erarbeitung einer Theorie der „Interpretation" und ihrer Methoden, sondern u m eine Aufklärung der Bedingungen bemühen, die den Verstehensvorgang als solchen konstituieren. Dazu w i r d es notwendig sein, sich dem gewohnten methodologischen Ritus, den die bisherigen Untersuchungen zur „Auslegung" der Privatrechtsbegriffe praktiziert haben, zu entziehen und statt dessen einen Weg zu gehen, der wohl nur diejenigen Juristen überraschen dürfte, die die traditionelle Auslegungstheorie bisher nicht i n Frage gestellt haben. 1. Wollte man darauf verzichten, sich über die Grundbedingungen des Verstehens und die hermeneutische Ausgangslage der verstehenden Subjekte Klarheit zu verschaffen, so wäre jede Untersuchung darüber, welche Bedeutung die privatrechtlich geprägten Begriffe haben und wie diese Bedeutung jeweils erfaßt werden kann, bloße Spekulation. Deshalb muß man über die methodologische Hermeneutik hinausgehen und zu einer philosophisch-hermeneutischen Fragestellung vordringen. Die damit geforderte Analyse des Verstehens ist von unterschiedlichen Ansatzpunkten aus möglich. Wer beispielsweise die hermeneutische Frage empirisch-psychologisch stellt, w i r d die ablaufwirksamen Gründe (Motive) untersuchen, die jemanden einen Rechtstext so verstehen lassen, wie er i h n schließlich versteht 150 . Es ist jedoch fraglich, ob eine solche Untersuchung jemals über Einzelfallaussagen hinauskäme. Jedenfalls könnte derjenige, der die i n einem einzelnen Verstehensprozeß (zufällig) wirksam gewordenen konkreten Motive zu erfassen sucht, kaum den Anspruch erheben, auf diese Weise alle Kon148 140 150
So Hruschka, Verstehen S. 8. Dazu Hätz, Rechtssprache S. 18. So etwa Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 61 ff.
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stituentien zu erfassen, die i n jedem Verstehensprozeß notwendig wiederkehren 1 5 1 . Außerdem muß man erkennen, daß jedes empirischpsychologische Fragen seinerseits bereits eine ausdrückliche oder unausdrückliche Bestimmung des Verstehensphänomens voraussetzt, da es sonst über keinerlei K r i t e r i e n für die Beantwortung der Frage verfügen würde, ob dieser oder jener F a l l nun zu der beobachtungswürdigen Gruppe gehört oder nicht 1 5 2 . „Das hermeneutische Problem des Verstehens von Rechtstexten kann daher nur logisch-phänomenologisch, nicht aber empirisch-psychologisch angegangen werden" 1 3 3 . Dementsprechend soll versucht werden, das Phänomen, das m i t dem W o r t „Verstehen" bezeichnet wird, unmittelbar zu erkennen u n d (erneut) i n die Sprache auszulegen 154 . 2. „Verstehen ist das Erfassen von Sinn und Sinn das i m Verstehen Erfaßte" 1 5 5 . „Verstehen" ist damit als ein Erkenntnis!;organg („Erfassen") definiert, der sich auf ein bestimmtes Erkenntnisobjekt („Sinn") bezieht. Entsprechend dieser Aufteilung läßt sich das Verstehensphänomen unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten: — Entweder fragt man nach dem Erkannten, dem „objektiven" K o r relat des Erkennens. Die Problematik muß dann vom Sinn der Rechtstexte her angegangen werden. Das ist die semantische Perspektive 1 5 6 . — Oder man schaut auf den Erkenntnisproze β, stellt also darauf ab, was den Verstehens Vorgang als solchen konstituiert. Insoweit kann man von der (eigentlichen) hermeneutischen Perspektive sprechen 157 . Die nachfolgende Untersuchung w i r d das Problem des Verstehens zunächst aus der semantischen Perspektive betrachten (§ 3), denn eine Aussage über den Vorgang der Sinnerkenntnis setzt voraus, daß erst einmal klargestellt w i r d , was das überhaupt ist: der Sinn eines sprachlichen Ausdrucks. Anschließend soll dann aus einer hermeneutischen Perspektive neu angesetzt werden (§ 4). Beide Betrachtungsmodi ergänzen einander, so daß eine Analyse sowohl der Erkenntnisweise (hermeneutischer Aspekt) als auch der „Seinsweise des Erkannten" (semantischer Aspekt) eine umfassende Beschreibung des Verstehensphänomens ermöglichen w i r d . 151
Vgl. Hruschka, Verstehen S. 12. Genauso Hruschka, Verstehen S. 12/13. Hruschka, Verstehen S. 13. 154 Vgl. zu Einzelheiten der phänomenologischen Methode Bochenski, Denkmethoden S. 22 if. 155 Hruschka, Verstehen S. 42; vgl. auch Hätz, Rechtssprache S. 20: „Indem der Jurist sucht, jenseits der formalen Gegenständlichkeit der gestalteten Rechtsregel deren Sinn zu erfassen, übt er juristisches Verstehen." 156 Vgl. Hruschka, Verstehen S. 42 f., 27 ff. 157 Dazu auch Hruschka, Verstehen S. 43. 152
153
§ 3. Der Sinnbegriff Α. Semantische Grundlegung Verstehen ist darauf gerichtet, einen Sinn zu erfassen, den man einem sprachlichen Ausdruck, einem B i l d oder einem musikalischen Kunstwerk zuschreibt. Juristisches Verstehen hat es mit der geschriebenen Sprache der Rechtstexte zu tun. I. Definitionen
und Differenzierungen
Texte, Sätze und Wörter sollen einem Sinn Ausdruck verleihen. Als Ausdrucksmittel haben die Wörter und Wortkombinationen (Sätze, Texte) eine echte Zeichenfunktion: Sie sind Zeichen für etwas Bezeichnetes. Die Sprache ist das Medium 1 , das einen Sinn be-greifbar werden läßt 2 . 1. I n ihrer Funktion als menschliche Ausdruckszeichen sind die Wörter Gegenstand der Semiotik 3 . Die Semiotik ist eine allgemeine Zeichentheorie, eine Lehre von den menschlichen, insbesondere sprachlichen Ausdrucksformen. a) Die Semiotik umfaßt einen syntaktischen, einen semantischen und einen pragmatischen Aspekt 4 . Diese Unterscheidung basiert auf der Erkenntnis, daß jedes Sprachzeichen drei verschiedenen Dimensionen angehört. 1 Die Übermittlungsfunktion der Sprache w i r d auch v o n Hätz (Rechtssprache S. 81) hervorgehoben. 2 Insoweit besteht k e i n Unterschied zwischen der Sprache u n d (beispielsweise) dem gemalten B i l d : Sprachliche u n d malerische M i t t e l wollen einem Sinn Ausdruck verleihen, wobei jeweils ein anderes Medium — die Sprache einerseits, das Gemälde andererseits — als angemessen betrachtet w i r d . Das hat schon René Magritte m i t seinen „Sprach-Bildern" nachzuweisen versucht; vgl. dazu Schneede, Magritte S. 34 ff. 3 Vgl. v. Kutschern, Sprachphilosophie S. 31; Bochenski, Denkmethoden S. 37 ff.; W. G. Becker, Engisch-FS S. 172 ff. Der Name „Semiotik" stammt von Charles Morris („Foundations of the Theory of Signs", 1938). 4 Diese Einteilung geht ebenfalls auf Morris zurück; vgl. Bochenski, D e n k methoden S. 38; Hruschka, Verstehen S. 28 N. 1; Brekle, Semantik S. 23 f.; ν . Kutschera, Sprachphilosophie S. 30 f.
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§ 3. Der Sinnbegriff
Die syntaktische Dimension ergibt sich aus der Beziehung eines Wortes zu anderen Wörtern 5 . Innerhalb eines Textes ist jedes Wort von anderen Wörtern umgeben. Es erhält zwischen den anderen Sprachzeichen einen Standort und t r i t t dadurch zu ihnen i n eine (syntaktische) Beziehung. Die Syntaktik interessiert sich nur für diese Beziehung der Wörter zueinander. Unerheblich ist unter syntaktischen Gesichtspunkten der Sinn oder die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks. Die semantische Dimension w i r d konstituiert durch die Beziehung eines Sprachzeichens zu dem, was es meint®. Ein sprachlicher Ausdruck ist aus semantischer Perspektive stets Zeichen für etwas. Wer den Sinn (die Bedeutung, den Inhalt) 7 von Wörtern oder Wortkombinationen erfassen w i l l , muß die (semantische) Beziehung der Sprachzeichen zu ihrem „semantischen Gegenstück" 8 , d.h. zu dem was durch sie zum Ausdruck gebracht werden soll, aufklären. „Sinn", „Bedeutung" und „Inhalt" sind also semantische Begriffe 9 ; die Bestimmung des Sinnbegriffs ist ein Grundproblem der Semantik 10 . Die pragmatische Dimension bezieht den Menschen und den praktischen Verwendungszusammenhang ein. Wörter werden von Menschen ausgesprochen oder niedergeschrieben und an andere Menschen gerichtet. Diese Beziehung der Sprachzeichen zu ihren Benutzern, zwischen den Wörtern und Menschen, die sie gebrauchen, gehört zum Bereich der Pragmatik 1 1 . b) Die verschiedenen Beziehungen eines sprachlichen Ausdrucks zu den anderen Wörtern, dem Gemeinten und den Menschen stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern sind ihrerseits miteinander verknüpft. Das Verhältnis zwischen den drei A r t e n von Beziehungen w i r d üblicherweise so beschrieben, daß bei einer syntaktischen Untersuchung 5 Dazu Bochenski, Denkmethoden S. 39; Menne A E S P 1962, 508; Lampe, Semantik S. 12; W. G. Becker, Engisch-FS S. 175; vgl. auch Hassemer, T a t bestand S. 26 ff. 6 Vgl. Bochenski, Denkmethoden S. 39, 55; Menne ARSP 1962, 508; dazu auch Hassemer, Tatbestand S. 34 ff. 7 „ S i n n " u n d „Bedeutung" werden bei Lampe (Semantik S. 17, 21) gleichgesetzt. Dagegen w i r d bei Frege (Funktion S. 38 ff.) u n d Hirsch (Interpretat i o n S. 23 u n d öfter) zwischen „ S i n n " u n d „Bedeutung" genau unterschieden. Dazu § 3 A . I I . 1. c); § 4 Β . I. 2. b). 8 Bochenski, Denkmethoden S. 45. 9 Vgl. Menne ARSP 1962, 508 f. 10 Hruschka, Verstehen S. 27 ff. D a m i t w i r d allerdings der syntaktische u n d pragmatische Aspekt nicht ohne weiteres ausgeschaltet; dazu § 3 B. I I I . 11 Dazu Bochenski, Denkmethoden S. 39 f.; v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 31; Menne A R S P 1962, 508/509; Lampe, Semantik S. 12; W. G. Becker, Engisch-FS S. 175.
A . Semantische Grundlegung
der semantische und pragmatische Aspekt ausgeschieden werden kann, während die semantische Dimension zumindest die syntaktische zur Voraussetzung hat und die Pragmatik sogar alle drei Faktoren — den Menschen, die anderen Sprachzeichen, das Gemeinte — i n die Untersuchung einbeziehen muß 12 . Diese Beschreibung ist allerdings nicht unproblematisch, denn es ist fraglich, ob die damit praktizierte Trennung von Semantik und Pragmatik möglich ist. Semantik läßt sich eigentlich nur dann ohne Berücksichtigung der pragmatischen Dimension betreiben, wenn man den realistischen semantischen Theorien folgt. Diese Theorien verstehen unter „Sinn", „Bedeutung" oder „Inhalt" die konventionelle Beziehung der Sprachgebilde zu einer konkreten Entität, die unabhängig von den sprachlichen Zeichen gegeben ist. Nach Auffassung der realistischen Semantik „hängt die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nicht von seinem Gebrauch i n konkreten Situationen ab, sondern der Gebrauch richtet sich nach der Bedeutung, so daß eine scharfe Trennung zwischen Semantik und Pragmatik möglich ist" 1 3 . Demgegenüber betonen die pragmatischen semantischen Theorien, daß das Sprechen und Schreiben eine menschliche Verhaltensweise ist, die i n den Kontext des gesamten menschlichen Lebenszusammenhangs eingeordnet ist 1 4 . Daher sei das, was man die „Bedeutung" des Geschriebenen oder Gesprochenen nennt, stets auf dem Hintergrund dieses Zusammenhangs zu analysieren. „Der realistische Ansatz, nach dem die semantische Funktion, die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks sich unabhängig vom Kontext seines Gebrauchs bestimmen läßt, ist daher falsch" 14 . Nach dieser Auffassung läßt sich Semantik nicht unabhängig von der Pragmatik betreiben. Eine abschließende Klärung des Verhältnisses zwischen Semantik und Pragmatik ist an dieser Stelle nicht notwendig. Ob die Einbeziehung des pragmatischen Aspektes i n eine semantische Untersuchung unabdingbar ist, w i r d sich bei der Bestimmung des Sinnbegriffs ergeben. 2. Nicht nur Wörter, sondern auch Sätze und Texte werden als „sinnvoll" betrachtet 15 . Das deutet darauf hin, daß es i n der Sprache unterschiedliche Sinn- bzw. Bedeutungseinheiten gibt. Die kleinsten bedeutungstragenden Gestalteinheiten („Morpheme") kann man mit den 12 Vgl. Brekle, Semantik S. 27 f.; Lampe, Semantik S. 12; Hassemer, T a t bestand S. 34 N. 50. 13 v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 118. 14 v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 163; vgl. auch Brekle, Semantik S. 99 ff. 15 Vgl. Hruschka, Verstehen S. 40 f.
§ 3. Der Sinnbegriff
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Wörtern identifizieren 16 . Eine Kombination dieser semantischen Elemente kann eine neue Einheit mit einer eigenständigen Bedeutung hervorbringen: den Satz. Sätze können ihrerseits wiederum i n einem bestimmten Text- und Sinnzusammenhang stehen 17 . a) Die Wörter sind die semantischen Grundelemente, aus denen sich eine Sprache zusammensetzt 18 . Sie sind nicht identisch mit den Wortlauten oder Wortbildern. Der Ausdruck „Wortlaut" kennzeichnet das Wort i n „seiner raumzeitlich individuellen Gegebenheit" 19 . Die Betonung liegt auf der zweiten Silbe: Wort-Laut. Wenn z.B. i n der Semiotik von gesprochenen „Wörtern" die Rede ist, so sind stets die Wort-Laute gemeint, d. h. es geht allein u m das „materielle Wort" 2 0 . Das Wort w i r d als „Lautung" 2 1 begriffen, ills eine „Gruppe von Luftwellen" 2 2 . Dem Wort-Laut beim gesprochenen Wort entspricht das Wort-Bild i n der Schriftsprache 19 . Unter semiotischen Gesichtspunkten ist das geschriebene Wort „eine Reihe von kleinen Häufchen trockener Tinte auf Papier" 2 2 . Wörter können als Wortlaute oder Wortbilder — als rein materielle Fakten also — ungefähr die gleiche Form oder den gleichen Klang aufweisen und dadurch gleichförmig erscheinen. Diese Gleichförmigkeit ist auch wiederholbar, denn es können weitere Wörter m i t einer vergleichbaren klanglichen oder graphischen Gestalt gesprochen oder geschrieben werden, wenn das zugrundeliegende gemeinsame Strukturprinzip erst einmal erkannt ist. Was i n der Semiotik als gemeinsames Strukturprinzip gleichförmiger Wörter (Wortlaute, Wortbilder) beschrieben wird, ist das Wort i m Sinne der Umgangssprache 23 . Wenn man also umgangssprachlich „dasselbe Wort" sagt, so meint man, daß verschiedene Wortlaute oder Wortbilder eine gemeinsame graphische bzw. klangliche Struktur oder Form aufweisen. „Die — eigentlichen — Wörter sind daher die einer materiellen Grundlage, den Wortlauten und Wortbildern, aufgeprägten äußeren Formen" 2 4 . Erst diesen Formen kann man einen Sinn oder eine Bedeu16
So auch v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 33; ebenso Hruschka, V e r stehen S. 40. I n dieser Feststellung liegt allerdings eine gewisse Vereinfachung. So setzt sich z.B. das Wort „Bücherregal" i m Grunde aus zwei Bedeutungseinheiten („Bücher" u n d „Regal") zusammen. 17 Vgl. dazu Hassemer, Tatbestand S. 88. 18 Vgl. Hätz, Rechtssprache S. 80. 19 Hruschka, Verstehen S. 28. 20 So Bochenski, Denkmethoden S. 41. 21 Hassemer, Tatbestand S. 67. 22 Bochenski, Denkmethoden S. 41. 23 Dazu auch Bochenski, Denkmethoden S. 40/41; Brekle, Semantik S. 44 ff. 24 Hruschka, Verstehen S. 29.
. Semantische Grundlegung
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tung zuschreiben 24 . Wortlaute oder Wortbilder kommen dagegen als „Sinnträger" nicht i n Frage 25 . b) Aus den kleinsten sprachlichen Einheiten, den Wörtern, kann man komplexe sprachliche Ausdrücke bilden: die Sätze. Die Regeln für die Komposition von Sätzen aus den Grundeinheiten einer Sprache werden von der Grammatik der jeweiligen Sprache zur Verfügung gestellt 26 . c) Sätze sind die Elemente, aus denen sich Texte zusammensetzen. I m vorliegenden Zusammenhang soll eine Abfolge von Sätzen nur dann als Text betrachtet werden, wenn durch das Zusammenspiel der kleineren Bedeutungseinheiten („Wörter", „Sätze") eine neue bedeutungstragende Gestalteinheit („Text") geschaffen wird 2 7 . Zwischen den Sätzen, die einen Text bilden sollen, darf also nicht nur eine äußere, rein faktische Verbindung bestehen. Hinzukommen muß vielmehr noch eine Verknüpfung dieser Sätze zu einer selbständigen Sinneinheit. Texte i n diesem Sinne sind die geschriebenen Gesetze28. Sie sind nicht lediglich eine äußerlich abgeschlossene Aneinanderreihung von Sätzen, sondern ein einheitlich geordnetes Ganzes, d.h. eine an bestimmten Gesichtspunkten orientierte Kombination von Sätzen, die einen eigenen Aussagewert hat 2 9 . Die i n den Gesetzen aufgeführten Abschnitte, die darin zusammengefaßten Paragraphen (bzw. Artikel) und deren Absätze sind i n sich geschlossene Teile der Gesetzestexte. Auch sie kann man als selbständige, aus Sätzen kombinierte Bedeutungseinheiten (Texte) betrachten 30 . 25 Anders Hassemer, Tatbestand S. 67, der davon ausgeht, daß die Bedeutung eines Wortes m i t der L a u t u n g genannt sei. Diese Formulierung ist genauso irreführend w i e der Ausdruck „Auslegung gegen den W o r t l a u t " : Wie sollte m a n gegen einen W o r t - L a u t auslegen können? Weder gegen die L a u t u n g noch gegen das W o r t als gemeinsames Strukturprinzip w i r d „ausgelegt", sondern allenfalls gegen den Sinn (die Bedeutung) eines Wortes. 26 Vgl. υ. Kutschera, Sprachphilosophie S. 32. 27 Insoweit besteht ein Unterschied zu Hruschka, Verstehen S. 28, der jede „ r e i n faktische Abfolge v o n Wörtern" als „ T e x t " bezeichnet. 28 Damit sind hier die einzelnen Gesetzesbücher gemeint, also z . B . das Bürgerliche Gesetzbuch, die Abgabenordnung, das Strafgesetzbuch etc. 29 Der tragende Gedanke des GewStG läßt sich beispielsweise wie folgt formulieren: „Die Gewerbesteuer w i l l die Ertragskraft inländischer Gewerbebetriebe erfassen, als deren wesentliche Komponenten der Gewerbeertrag, das Gewerbekapital u n d die Lohnsumme anzusehen sind" (Klunzinger JuS 1972, 436). 30 Es ließen sich noch weitere (Text-) Sinneinheiten anführen. So könnte m a n beispielsweise das GewStG, das GrEStG, das Einführungsgesetz zu den Realsteuergesetzen u n d weitere Texte zusammen betrachten u n d jedes dieser Gesetze als Element der Bedeutungseinheit „Realsteuergesetze" auffassen. Der gemeinsame Gedanke der so miteinander verknüpften Gesetzestexte könnte lauten: Die zu leistende Steuer w i r d allein nach dem Ertrag eines bestimmten Wirtschaftsgutes (Gewerbebetrieb oder Grundstück) bemessen, ohne Rücksicht auf das Gesamteinkommen des Steuerschuldners, seinen
7 Maaßen
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§ 3. Der Sinnbegriff
IL Semantische Theorien I n der Sprachphilosophie gibt es sehr verschiedenartige Theorien über den Sinn, die Bedeutung, den Inhalt sprachlicher Äußerungen. W i l l man diese Theorien zur semantischen Funktion der Sprache kategorisieren, so kann man vereinfachend zwischen der Gruppe der realistischen semantischen Theorien einerseits und der Gruppe der pragmatischen Bedeutungstheorien andererseits unterscheiden 31 . I m Rahmen dieser Untersuchung ist es nicht möglich, auf die einzelnen Bedeutungstheorien einzugehen und sich mit ihnen i m Detail auseinanderzusetzen. Deshalb werden i m folgenden lediglich die Grundgedanken der realistischen und pragmatischen Semantik dargestellt. Sie sollen die Grundlage für eine eigene Bestimmung des Sinnbegrifïs bilden. 1. Die realistischen semantischen Theorien (Abbildtheorien) gehen „von der Idee aus, daß die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke i n einer abbildenden Beziehung zu den Dingen besteht, die konventionell festgelegt ist und i n deren Betrachtung man prinzipiell sowohl von der Beziehung der Ausdrücke zu Sprecher und Hörer abstrahieren kann, wie von der jeweiligen konkreten Situation ihrer Verwendung" 3 2 . a) Nach Ansicht der Abbildtheorien stehen sprachliche Ausdrücke i n einer Zuordnungsbeziehung zu Entitäten. Wer verstehen w i l l , muß sich darum bemühen, zu jedem sprachlichen Ausdruck die jeweils bezeichnete Entität zu erkennen. Grundlegend ist insoweit der Gedanke, daß man nicht manuelle Zeigevorgänge, sondern auch durch sprachliche auf Dinge hinweisen kann. Eine solche Bezeichnung durch der Sprache setzt voraus, daß man die Dinge i n der Sprache Sprachliche „Abbilder" verschaffen dem Abgebildeten einen Sprache und lassen es so für andere be-greifbar werden.
nur durch Ausdrücke die Mittel „abbildet". Ort i n der
I n der Benennung sprach jenseitiger Entitäten besteht die eigentliche Funktion der Sprache. Wörter und Wortkombinationen muß man begreifen als auslegende „Sage" für eine Sache, die sie be-sagen, als Zeichen für etwas, auf das sie zeigen 33 . Die semantische Funktion einer sprachlichen Äußerung ergibt sich (unter anderem) aus dem Bezug zu Familienstand oder sonstige, seine persönliche Leistungsfähigkeit beeinflussenden Umstände (Klunzinger JuS 1972, 436). 31 Vgl. zu dieser A u f t e i l u n g v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 117 ff., 162 ff. 32 υ. Kutschera, Sprachphilosophie S. 162. 33 So Hruschka, Verstehen S. 30.
A. Semantische Grundlegung
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der durch sie bezeichneten Entität. Diese 'Zuordnungsbeziehung nennt man „Namensrelation" 3 4 . Die bezeichneten Entitäten können Gegenstände, Attribute oder Sachverhalte sein 35 . Man weist ζ. B. auf einen Stern am Himmel und sagt „Das ist die Venus". Der Planet ist der Gegenstand und „Venus" ist der Ausdruck, der als Name für diesen Gegenstand fungieren soll 36 . Attribute sind die Eigenschaften, die man an einem Gegenstand beobachten kann (z.B. „kugelförmig"), oder die Beziehungen, durch die verschiedene Gegenstände miteinander verbunden sind (z.B. „größer als") 36 . Attribute werden durch die Prädikate zur Sprache gebracht, während Sachverhalte i n den Sätzen ihren Ausdruck finden. Sätze besagen, daß ein Gegenstand so und so beschaffen ist. So bezeichnet etwa der Satz „Die Venus ist kugelförmig" den Sachverhalt, daß die Venus kugelförmig ist; der Satz „Die Sonne ist größer als die Venus" bezeichnet den Sachverhalt, daß die Sonne größer ist als die Venus 36 . Dabei zeigt sich, daß die Bedeutung eines Satzes abhängig ist von der Bedeutung der i n i h m vorkommenden Wörter und von der Stellung dieser Wörter i m Satz 37 . Jeder Text besteht aus Sätzen und ist damit Ausdruck für ein Gefüge von Sachverhalten. Auch dieses Sachverhaltsgefüge kann man als besondere, durch den Text bezeichnete Entität auffassen. b) Wenn man Wörter als Instrumente zur Bezeichnung sprach jenseitiger Entitäten betrachtet, so stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, daß ein sprachlicher Ausdruck als Name für eine Entität Verwendung findet. Die realistischen Bedeutungstheorien gehen insoweit von einer konventionellen Beziehung zwischen den Zeichen und den bezeichneten Entitäten aus. Diese konventionalistische Auffassung wendet sich gegen einen semantischen Naturalismus. Nach naturalistischem Verständnis besteht eine natürliche Affinität zwischen der Lautgestalt eines Wortes und seiner Bedeutung 38 . Eine solche Position w i r d etwa bei Gadamer 39 erkennbar, wenn er meint, das Wort sei nicht nur Zeichen, sondern auch fast so etwas wie ein Abbild: „Dem Wort kommt auf eine rätselhafte Weise Gebundenheit an das ,Abgebildete*, Zugehörigkeit zum Sinn des 34
Dazu v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 126. Vgl. dazu auch Wittgenstein, Tractatus 2. 36 Vgl. v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 125. 37 Z u m letzten P u n k t bringt v. Kutschera (Sprachphilosophie S. 125/126) folgendes Beispiel: „ F r i t z schlägt Hans" bedeutet etwas anderes als „Hans schlägt Fritz", obwohl i n beiden Sätzen dieselben Wörter vorkommen, so daß also auch die A n o r d n u n g der Wörter i m Satz eine wichtige Rolle spielt. 38 Vgl. dazu v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 119 ff.; Gadamer, Wahrheit S. 383 ff. 39 Wahrheit S. 394. 35
7*
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§ 3. Der Sinnbegriff
Abgebildeten zu." Das Wort gehöre soweit zur Sache selbst, daß es nicht nachträglich der Sache als Zeichen zugeordnet werden könne. Die konventionalistische Theorie sieht demgegenüber i n der Eindeutigkeit des Sprachgebrauchs, wie sie durch Übereinkunft und Übung erreicht wird, die einzige Quelle der Wortbedeutungen 40 . Die Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem sei w i l l k ü r l i c h und beruhe auf Konventionen. Wörter erhielten ihre Bedeutung durch ein Namengeben: Ein Gegenstand werde gleichsam auf einen Namen getauft, indem man i h m einfach ein Wort zuordne, das i h m i n der Sprache Ausdruck verleihen soll 41 . Dem semantischen Konventionalismus ist allerdings insoweit eine Grenze gesetzt, als nicht jedermann beliebig umändern kann, was Wörter bezeichnen sollen, denn sonst wäre eine Verständigung durch Sprache kaum möglich 42 . „Wie man nicht m i t beliebigen Werkzeugen beliebige Materialien bearbeiten kann, sondern nur mit solchen Werkzeugen, die zum Material und dem jeweiligen Bearbeitungsvorgang passen, so kann man nicht m i t beliebigen sprachlichen Ausdrücken beschreiben, unterscheiden, usw., sondern nur m i t einem solchen sprachlichen Organon, das sachgerecht konstruiert ist" 4 3 . Daraus folgt nach Auffassung der realistischen Bedeutungstheorien, daß die sprachlichen Ausdruckszeichen der „Ontologie des Gegenstandsbereichs" entsprechen müssen, auf den sie sich beziehen 44 . Insofern w i r d aber die Sprache als abstraktes Zeichensystem durch den Sinnbereich, den sie darstellen soll, mitbestimmt. Konventionell sind dann nur noch die verschiedenen verwendeten Realisierungen der Sprache 45 . c) Die Zuordnung von Sprachzeichen und Bezeichnetem ist nicht gleichzusetzen m i t der Festlegung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Durch die Namengebung w i r d zunächst nur ein Bezug der sprachlichen Äußerung zu der Entität hergestellt, die sie bezeichnet. Von dem Bezug der Wörter und Wortkombinationen ist aber deren Bedeutung zu unterscheiden. So darf etwa die Bedeutung eines Eigennamens 46 nicht m i t dem Gegenstand identifiziert werden, den er bezeichnet. Andernfalls müßte der 40
Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 383; v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 121. Dazu Gadamer , Wahrheit S. 386. Daraus erklärt sich die Bezeichnung der extremen konventionalistischen Theorie als „Nominalismus". 42 So auch ν . Kutschera, Sprachphilosophie S. 122; Gadamer, Wahrheit S. 384. 43 v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 123. 44 Vgl. Hassemer, Tatbestand S. 76 N. 32. 45 So ν . Kutschera, Sprachphilosophie S. 124. 46 Vgl. zu diesem Begriff Lewandowski, Wörterbuch 1 S. 162/163; v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 37, 39; dazu auch Frege, F u n k t i o n S. 39; Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 15. 41
A . Semantische Grundlegung
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sprachliche Ausdruck allein schon dadurch seine Bedeutung verlieren, daß die bezeichnete Entität aufhört zu existieren 47 . Das ist aber nicht der Fall 4 8 . Daher kann der Bezug eines Wortes nicht konstitutiv für dessen Bedeutung sein. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die sprachlichen Ausdrücke außer der Benennung sprach] enseitiger Gegebenheiten auch noch eine andere semantische Funktion erfüllen, die letztlich ihre Bedeutung ausmacht. Der Unterschied zwischen dem Bezug und der Bedeutung eines Ausdrucks läßt sich an den Wörtern „Morgenstern" und „Abendstern" verdeutlichen 49 . Es entspricht dem üblichen Verständnis, daß die Bedeutung des Satzes „Der Morgenstern ist m i t dem Morgenstern identisch" verschieden ist von der des Satzes „Der Morgenstern ist m i t dem Abendstern identisch". „Da nun die Bedeutung eines Satzes nur von der Bedeutung der i n i h m vorkommenden Wörter abhängen kann und ihrer Stellung i m Satz, und da sich die beiden Sätze nur durch die Wörter ,Morgenstern' und ,Abendstern' unterscheiden, so muß die Bedeutung dieser beiden Wörter verschieden sein, obwohl sie den gleichen Gegenstand bezeichnen" 50 . Zwar sind beide Ausdrücke Bezeichnungen 51 für den Planeten Venus, aber trotzdem haben sie nicht dieselbe Bedeutung. Eine Verschiedenheit der Bedeutungen kommt dadurch zustande, „daß der Unterschied des Zeichens einem Unterschiede i n der A r t des Gegebenseins des Bezeichneten entspricht" 52 . „Abendstern" ist die Venus nur als Planet am Westhimmel; und nur dann, wenn sie am Osthimmel steht, paßt der Name „Morgenstern". Die beiden Wörter benennen also nicht nur einen bestimmten Gegenstand (Venus), sondern sind zugleich Ausdruck für die „ A r t des Gegebenseins", d. h. für die A r t und Weise, wie der bezeichnete Gegenstand durch den Namen gegeben ist (als Stern am West- bzw. am Osthimmel). Durch den Bezug w i r d lediglich der Umfang („extensio") 53 des objektiven Begriffs festgelegt: „Morgenstern" und „Abendstern" bezeichnen 47 Vgl. v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 132; dazu auch Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 40. 48 Der Eigenname „Sokrates" ist auch heute, w o es Sokrates nicht mehr gibt, i m m e r noch bedeutungsvoll. 49 Vgl. zu diesem Beispiel Frege, F u n k t i o n S. 39 u n d S. 45; v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 131. E i n anderes Beispiel findet sich bei Brekle, Semant i k S. 56 f. 50 v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 131. 51 Der Ausdruck „Bezeichnung" w i r d v o n Bochenski (Denkmethoden S. 58) als Name f ü r das Bezeichnete (die Entität) verwendet; ebenso Brekle, Sem a n t i k S. 54 ff., insbes. S. 57. H i e r soll dieses W o r t dagegen das Bezeichnende (den sprachlichen Ausdruck) kennzeichnen. 52 Frege, F u n k t i o n S. 39. 53 Dazu Bochenski, Denkmethoden S. 58; Brekle, Semantik S. 56.
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§ 3. Der Sinnbegriff
die Venus und nicht etwa den Mond. Die Bedeutung eines Wortes entspricht dagegen dem Inhalt („intensio") 53 des Begriffs: Das eine Wort meint die Venus als Stern am Westhimmel, das andere Wort ist der Name für die Venus als Stern am Osthimmel. „Die verschiedenen Ausdrücke entsprechen verschiedenen Auffassungen und Seiten derselben Sache" 54 . d) Von dem Bezug und der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist die mit i h m verknüpfte Vorstellung zu unterscheiden 55 . Wer die Bedeutung eines Wortes oder einer Wortkombination erfassen w i l l , muß den Gegenstand, der durch den sprachlichen Ausdruck benannt wird, i n seiner Vorstellung nachbilden, d. h. er muß sich ein psychisches A b b i l d des Bezeichneten schaffen 56. Ein solches inneres B i l d ist notwendig von subjektiven Faktoren beeinflußt 57 . Daraus erklärt sich die Tatsache, daß verschiedene Menschen und manchmal auch dieselben Menschen nicht immer dieselbe Vorstellung m i t demselben Wortinhalt verbinden. „Die Vorstellung ist subjektiv: Die Vorstellung des einen ist nicht die des anderen" 58 . Für Frege unterscheidet sich die Vorstellung vor allem dadurch wesentlich von der Bedeutung eines Wortes, daß die Bedeutung „gemeinsames Eigentum von vielen sein kann und also nicht Teil oder Modus der Einzelseele ist" 5 8 . Die Wortbedeutung hat also überpersönlichen Charakter, denn sie ist nicht nur für eine Person „intentionales Objekt", sondern für viele 5 9 . Während man daher ohne weiteres von der Bedeutung eines Wortes sprechen kann, müßte man bei der Vorstellung eigentlich immer hinzufügen, wem sie angehört und zu welcher Zeit 6 0 . 2. Die pragmatischen Bedeutungstheorien 61 wenden sich gegen die von der realistischen Semantik betriebene Isolierung der Sprache von 54
So Frege , F u n k t i o n S. 18. So Frege , F u n k t i o n S. 41 ; vgl. dazu auch Brekle, Semantik S. 64 f. 56 Vgl. auch Bochenski, Denkmethoden S. 11. 57 Nach Frege (Funktion S. 41) ist es „oft m i t Gefühlen getränkt". 58 Frege, F u n k t i o n S. 42. 59 So auch Hirsch, Interpretation S. 273. 60 Diesen Zusammenhang versucht Frege (Funktion S. 43) durch folgendes B i l d zu verdeutlichen (die W o r t w a h l ist der hier verwendeten Terminologie angepaßt): Jemand betrachtet den Mond. Ich vergleiche den M o n d selbst m i t dem Bezug; er ist der Gegenstand der Beobachtung, die v e r m i t t e l t w i r d durch das reelle Bild, welches v o m Objektivglase i m I n n e r n des Fernrohrs entworfen w i r d , u n d durch das Netzhautbild des Betrachtenden. Jenes v e r gleiche ich m i t der Bedeutung, dieses m i t der Vorstellung oder Anschauung. Das B i l d i m Fernrohr ist zwar n u r einseitig; es ist abhängig v o m Standort; aber es ist doch objektiv, insofern es mehreren Beobachtern dienen kann. 61 Unter diesen Sammelnamen fallen so verschiedenartige Theorien wie etwa die behavioristischen Bedeutungstheorien (Morris, Skinner), die v o n 55
A . Semantische Grundlegung
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ihrem Gebrauchskontext 62 und die Verabsolutierung der abbildenden Funktion sprachlicher Ausdrücke. a) Die Bedeutung der Sprachzeichen ergibt sich nach pragmatischem Verständnis nicht aus der Zuordnung einer sprachjenseitigen Entität, die durch den Ausdruck i n der „ A r t ihres Gegebenseins" benannt wird, sondern allein aus dem Sprachgebrauch. Pragmatische Theorien gehen davon aus, daß die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks sprachimmanent ist, d.h. erst i n der Sprache konstituiert w i r d und nichts neben der Sprache ist 6 3 . Wenn man daher die Bedeutung eines Wortes oder einer Wortkombination erkennen w i l l , darf man nicht nach konkreten oder abstrakten Entitäten Ausschau halten, die dem Wort angeblich zugeordnet sind und durch das Wort benannt werden, sondern man muß prüfen, wie das Wort verwendet wird 6 4 . „Erst i m Gebrauch, i n der Realisierung von Sprache erschließt sich die Bedeutung, d. h. die eigenartige Leistung von sprachlichen Ausdrücken, etwas zu bedeuten, liegt i n der eigentümlichen A r t und Weise ihrer Verwendung" 6 3 . Die Bedeutung eines Wortes ist nichts anderes als sein Gebrauch i n der Sprache 65 . Wörter und Sätze haben nach Auffassung der pragmatischen Bedeutungstheorien nicht als Objekte, sondern nur als Handlungsform eine Bedeutung. Insofern sind sie etwa m i t einem Wegweiser vergleichbar, der nur deshalb zum bedeutungsvollen Zeichen wird, weil er so angebracht ist, daß man zum Ziel gelangt, wenn man i h m folgt 6 6 . Die Bedeutung dieses Zeichens besteht lediglich i n dieser Leistung. Es muß i h m also nicht erst eine Bedeutungsentität kraft Konvention zugeordnet werden. A u f die Sprache übertragen heißt das, daß graphische oder phonetische Zeichen als bloße Resultate einer Sprachhandlung nicht von sich aus bedeutungsvoll sind, sondern nur i n der Anwendung durch Menschen67. „Bedeutung" kann man daher definieren als die spezifische Leistung sprachlicher Ausdrücke, die durch die besondere A r t ihres Gebrauchs begründet ist 6 8 . Quine entwickelte Sprachphilosophie sowie Wittgensteins Sprachphilosophie i n den „Philosophischen Untersuchungen"; dazu ausführlich v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 162 ff., 179 if., 218 ff. Referiert w i r d hier i n erster L i n i e die „Gebrauchstheorie" Wittgensteins. 62 Es sei noch einmal an die Grundthese der pragmatischen Theorien erinnert: Semantik läßt sich nicht unabhängig v o n der Pragmatik betreiben. 63 v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 238. 64 I n diesem Zusammenhang w i r d oft auf den Ausspruch Wittgensteins verwiesen: „Don't look for the meaning of a word, look sor its use!"; vgl. etwa Brekle , Semantik S. 59. 65 So Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 43. 68 Dazu Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 454. 67 Vgl. auch v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 256 f. 68 v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 238/239.
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§ 3. Der Sinnbegriff
b) Die pragmatische Theorie widerspricht der realistischen A u f fassung, daß den Sprachzeichen sprachunabhängige und ohne Vermittlung der Sprache erf aßbare Entitäten zugeordnet sind. Nach Wittgenstein 69 gibt es keine Wirklichkeit an sich, die durch die Sprache nur abgebildet wird. Die Wirklichkeit ist uns niemals unabhängig von der Sprache gegeben, sondern immer nur i n der sprachlichen Beschreibung 70 . Wenn aber die Entitäten nicht unabhängig von der Sprache gegeben sind, weil die Welt nur durch die Sprache erschlossen werden kann, so w i r d damit der realistischen Theorie der sprachlichen Bedeutungen der Boden entzogen. Denn dann kann bei der Deutung eines Wortes nicht mehr auf „außersprachliche" Entitäten zurückgegriffen werden. Damit verschwindet zugleich das zentrale Problem der realistischen Semantik, wie diese Entitäten erfaßt werden können. Akzeptiert man diesen Ansatz, dann läßt sich die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nicht so erklären, daß i h m durch Konvention irgendeine Entität als Bedeutung zugewiesen wird 7 1 . Das den realistischen Bedeutungstheorien zugrundeliegende System von Gegenständen, Attributen und Sachverhalten w i r d damit entbehrlich 72 . c) Sprache ist als Sprachhandlung m i t verschiedenen Situations- und Handlungskontexten („Lebensformen") verbunden. Während nun die realistischen semantischen Theorien die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks an die Benennung einer unveränderlichen Entität knüpfen und deswegen als Konstante auffassen können, ist nach pragmatischer Auffassung die Bedeutung eines Wortes veränderlich, w e i l sie stets vor dem Hintergrund seines jeweiligen Verwendungskontextes zu bestimmen ist 7 3 . Wer die Wortbedeutung erkennen w i l l , muß also wissen, zu welcher Lebensform der sprachliche Ausdruck gehört. Die Verwendung von Sprache ist m i t einem Spiel vergleichbar 74 . „So viele Lebensformen, so viele Situations- und Handlungskontexte es 69
Philosophische Untersuchungen §§ 371, 373, 381, 383 u n d öfter. Dazu auch Hassemer, Tatbestand S. 75: Sprachgebilde könnten n u r dann A b b i l d der W i r k l i c h k e i t sein, w e n n W i r k l i c h k e i t außerhalb der Sprache begreifbar sei. „Dies aber ist unmöglich, da ein Begriff v o n was i m m e r n u r ein Begriff innerhalb der Sprache sein kann, da nichts außerhalb der Sprache begriffen werden kann. Begriffene W i r k l i c h k e i t ist i m m e r sprachlich begriffene Wirklichkeit." 71 So auch υ. Kutschera, Sprachphilosophie S. 220. 72 Vgl. v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 227. 73 Die Bedeutung des jeweiligen Verwendungskontextes versucht Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen § 23) durch den Hinweis zu veranschaulichen, daß Sprache gebraucht w i r d zum Befehlen, Beschreiben, Lügen, Danken, Grüßen etc. Das „Werkzeug" (Sprache) sei dem jeweiligen „Bearbeitungsvorgang" (Verwendungskontext) angepaßt; so Wittgenstein § 11. 74 Dazu Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §§ 7, 23. 70
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
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gibt, so viele Verwendungsformen von Sprache, so viele Sprachspiele gibt es auch" 75 . Für jedes Sprachspiel gibt es besondere Regeln, die man gelernt haben muß, u m das Spiel richtig spielen zu können 76 . W i l l man also eine Äußerung verstehen, so muß man wissen, welches Spiel gerade gespielt w i r d und welches Regelsystem für dieses Spiel gilt. Wittgensteins Spielmetapher macht deutlich, daß sprachliche Äußerungen grundsätzlich nur von ihrem Gebrauch i n bestimmten praktischen Situationen her verstanden werden können. Zwar sind die Wörter i n gewissen Grenzen invariant gegenüber den verschiedenen pragmatischen Kontexten, i n denen sie Verwendung finden, so daß ihre Bedeutungen nicht ohne weiteres von Anwendungsfall zu Anwendungsfall verschieden sind, sondern i n etwa konstant bleiben 77 . Diese Gleichsinnigkeit sprachlicher Ausdrücke i n verschiedenen Sprachspielen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie als Teile verschiedener Lebensformen jeweils eine andere Funktion zu erfüllen haben. Deshalb ist bei allen sprachlichen Äußerungen eine Sinnerkenntnis nur möglich bei gleichzeitiger Erfassung des pragmatischen Kontextes, i n den diese Äußerung eingegliedert ist. Insoweit muß man eben davon ausgehen, „daß Wortinhalte letztlich nur durch die konkrete Wortverwendung erkennbar werden" 7 8 . B. Bestimmung des Sinnbegriffs Weder den realistischen noch den pragmatischen Bedeutungstheorien kann man vorwerfen, sie beruhten auf einem Irrtum. Die unterschiedlichen Ansätze bei der Bestimmung des Sinnbegriffs führen nicht einmal unbedingt zu Widersprüchen: Die Feststellung, daß die Benennung von Entitäten für die Bedeutung eines Wortes oder einer Wortkombination konstitutiv ist, schließt nicht aus, daß (auch) die Funktion der sprachlichen Äußerungen i n dem jeweiligen Sprachspiel Einfiuß auf deren Bedeutung hat. Beide Konzeptionen geraten eigentlich nur dadurch i n einen Gegensatz zueinander, daß sie richtig Erkanntes verabsolutieren, indem beispielsweise erklärt wird, die Bedeutung der Wörter, Sätze oder Texte ergebe sich nur aus ihrem Gebrauch i n der Sprache 79 oder bestehe allein darin, daß sie sprachjenseitige Entitäten i n der A r t ihres Gegebenseins benennen 80 . 75
ν . Kutschera, Sprachphilosophie S. 223. Dazu auch Hirsch, Interpretation S. 95. 77 Darauf w i r d bei ν . Kutschera (Sprachphilosophie S. 224) besonders h i n gewiesen. 78 Hassemer, Tatbestand S. 69. 79 So Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 43. 80 Vgl. Frege, F u n k t i o n S. 39, 42 u n d öfter. 76
106
§ 3. Der Sinnbegriff
Hat man sich erst einmal über diesen Absolutheitsanspruch hinweggesetzt, so w i r d erkennbar, daß sich die verschiedenen semantischen Theorien nicht i n jeder Beziehung widersprechen, sondern i n mancher Hinsicht ergänzen 81 . Deshalb kann es auch nicht das Ziel der nachfolgenden Bestimmung des Sinnbegriffs sein, sich zu der einen oder anderen Sinnkonzeption zu bekennen. Statt dessen soll versucht werden, die wesentlichen Ideen der realistischen und pragmatischen Semantik zu verwerten. Bereits m i t diesem Ansatz w i r d der Auffassung wiedersprochen, der Sinn oder die Bedeutung sei i n den sprachlichen Ausdrücken „beschlossen", also quasi ein A t t r i b u t der Wörter, Sätze oder Texte. Eine solche Vorstellung vom Sinn als einer dem Wort irgendwie zukommenden eigenbestimmten Qualität w i r d weder durch die realistischen noch durch die pragmatischen Bedeutungstheorien gestützt 82 . Es bleibt den traditionellen juristischen Auslegungslehren vorbehalten, die These von der Sinnimmanenz zu vertreten: Sie sprechen über den Sinn der Rechtstexte, als sei er diesen rechtserheblichen sprachlichen Äußerungen angeheftet oder i n sie hineingesenkt 83 . Der Entwurf einer an den Einsichten der realistischen und pragmatischen Semantik orientierten Sinnkonzeption w i r d diese gesetzespositivistischen Vorstellungen widerlegen. I. Sprache, Konzeption und Wirklichkeit Wer anderen ein Wissen über etwas vermitteln w i l l , bedient sich gewöhnlich der Sprache als Medium 8 4 . Dadurch, daß man die Dinge „zur Sprache bringt", werden sie be-greifbar. „Sprache zeigt auf die Dinge, Wörter kann man insofern ,Gesten' nennen" 85 . Sprachgebilde muß man begreifen als über sich selbst hinausweisende Zeichen für etwas, das seinerseits einen grundsätzlich außersprachlichen Charakter hat, wenngleich es nur i n der Sprache und durch die Sprache offenbar werden kann 8 6 . 81 Dazu auch v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 236: „Es ist also nicht so, daß alle Aussagen der realistischen Semantik v o m pragmatischen Ansatz der Identifizierung v o n Bedeutung u n d Gebrauch her als inadäquat u n d falsch erwiesen würden." 82 Dazu auch Hruschka, Verstehen S. 39. 83 Exemplarisch ist insoweit die Bemerkung von Gassner, Interpretation S. 11: „Die Auslegung dient der Klarstellung (!) u n d der Verdeutlichung des i m Gesetz beschlossenen (!) Sinnes." Nach diesem Verständnis gilt bereits als metajuristisch, was als rechtlicher Sinn außerhalb des Normtextes erfaßbar ist; so Müller, N o r m s t r u k t u r S. 20; zur K r i t i k vgl. auch A. Kaufmann, Larenz-FS S. 38/39. 84 Dazu auch Heyde, Sinn S. 79. 85 Hassemer, Tatbestand S. 82, m i t Hinweis auf Lipps, Logik S. 89. 86 Vgl. Hruschka, Verstehen S. 29; Hassemer, Tatbestand S. 67: „Wörter/ Sätze haben einen verweisenden Charakter, sie nennen etwas anderes als sich selbst."
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
107
1. Die Sprache verweist zwar auf Erscheinungen der realen Welt 8 7 , sie ist jedoch kein Spiegel der Wirklichkeit i n dem Sinne, daß sie die benannten Dinge als Fakten abbildet oder repräsentiert. Wörter und Wortkombinationen vermitteln keine Informationen über Wirklichkeit, sondern eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit 8 8 . a) Sprachzeichen meinen also nicht das Einzelding „als Faktum oder Angeschautes", sondern „die Eigen-Art des Dinges" 88 . „Wer die Sprache versteht, sieht das Bezeichnete so, wie es die Sprache sieht" 8 9 . Die Sprache sagt uns, wie die Wirklichkeit zu sehen ist, d. h. „sie weist uns i n ihre Sicht ein und teilt dadurch die Offenbarkeit der Dinge mit, die sie eröffnet" 90 . Wer beispielsweise einen Menschen als „Steuerpflichtigen" bezeichnet, hat sich damit bereits für einen bestimmten Gesichtspunkt entschieden, unter dem er die Wirklichkeit betrachten w i l l . Denn das Wort „Steuerpflichtiger" erfaßt nicht alles, was i m Gegebenen vorhanden ist, sondern nur einen bestimmten Aspekt der Wirklichkeit: die Teilhabe des betreffenden Menschen an einem Steuerrechtsverhältnis. Das Wort „Amtsträger" kann möglicherweise denselben Menschen zutreffend bezeichnen, nur meint dieser Ausdruck etwas ganz anderes: die Funktion des Benannten i m öffentlichen Dienst. Je nachdem unter welchem Gesichtspunkt man das Gegebene (Mensch) betrachtet, kann die eine oder andere Eigenschaft (Beteiligung an einem Steuerrechtsverhältnis; Funktion i m öffentlichen Dienst) wesentlich sein. Die Sprache vermittelt demnach kein Abbild, sondern eine „Konzeption" 9 1 der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist i n der Sprache nicht als fertige „gehabt", sondern unter verschiedenen Gesichtspunkten als veränderliche „gesehen" 92 . Nur aus der von der Sprache vermittelten „Richtung der Fraglichkeit" 9 3 können w i r uns den Dingen nähern. Wer verstehen w i l l , muß daher wissen, i n welcher Hin-Sicht er die Dinge sehen soll 94 . Er muß der Sprache nachfolgen können auf dem Weg und i n der A r t und Weise, wie sie die Wirklichkeit offenbar werden läßt 9 5 . 87 Eine Ausnahme bilden insoweit die „Allgemeinbegriffe", die nichts darüber aussagen, ob es überhaupt eine W i r k l i c h k e i t gibt, auf die sie zutreffen; vgl. dazu Engisch, Konkretisierung S. 241 f, 88 Hassemer, Tatbestand S. 110 u n d öfter. 89 Hassemer, Tatbestand S. 83/84. 90 Hassemer, Tatbestand S. 83. I n der Terminologie der realistischen Sem a n t i k heißt das: Die Sprache zeigt die Dinge i n einer bestimmten „ A r t ihres Gegebenseins"; vgl. dazu nochmals § 3 Α . I I . 1. c). 91 Vgl. Lipps, L o g i k S. 55 ff. 92 So Hassemer, Tatbestand S. 80. 93 Vgl. Lipps, Sprache S. 26 ff. 94 Vgl. auch Lipps, F a l l S. 23/24. 95 Hassemer, Tatbestand S. 83.
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§ 3. Der Sinnbegriff
b) Die regelmäßige Verknüpfung zwischen den sprachlichen Äußerungen (den Wörtern, Sätzen, Texten), der Konzeption (der Hin-Sicht, dem Gesichtspunkt, der Richtung der Fraglichkeit) und den bezeichneten Entitäten (den Signifikaten) ist derart, daß den Sprachgebilden eine bestimmte Konzeption und dieser wiederum ein bestimmtes Signifikat entspricht 96 . Dasselbe Signifikat kann — entsprechend der möglichen Anzahl von Gesichtspunkten, unter denen man es betrachten kann — durch verschiedene Wörter und Wortkombinationen bezeichnet werden. Die Regel, daß ein sprachliches Zeichen etwas Gegebenes jeweils i n einer bestimmten Hin-Sicht erkennbar werden läßt, w i r d i n den Fällen der Synonymie und der Homonymie durchbrochen: So sind etwa die Wörter „Ubereignung" und „Eigentumsübertragung" Ausdruck für denselben Gesichtspunkt, unter dem man eine Erscheinung der realen Welt betrachten kann. Sie sind gegeneinander austauschbar, ohne daß sich der Gesichtspunkt oder das Signifikat ändert. Beide Ausdrücke können also synonym verwendet werden 97 . Verschiedene Signifikate können durch lautlich übereinstimmende sprachliche Zeichen, also: durch dasselbe Wort bezeichnet werden. Ein solches Sprachgebilde repräsentiert dann unterschiedliche Gegenstände i n einer bestimmten „ A r t ihres Gegebenseins": „Schloß" meint sowohl das Gebäude als auch den Verschluß 98 . Das Wort ist homonym (polysem) 99 , denn es bringt Aspekte unterschiedlicher Erscheinungen der realen Welt zum Ausdruck. c) I m Verstehen werden Sprache und Wirklichkeit i n einem bestimmten Gesichtspunkt zur Ubereinstimmung gebracht. Wer verstehen w i l l , muß einen solchen gemeinsamen Gesichtspunkt finden, ein tertium comparationis also, das einerseits einen Ort i n der Sprache erhalten hat und andererseits auf die Wirklichkeit zutrifft 1 0 0 . Der Weg zu diesem tertium führt durch die sprachlichen Gegebenheiten, die das verstehende Subjekt i n die jeweils maßgebliche Sicht der Wirklichkeit einweisen.
96
Vgl. dazu auch Bochenski, Denkmethoden S. 58. Vgl. zur Synonymie Bochenski, Denkmethoden S. 13; Brekle, Semantik S. 88 ff. 98 Z u diesem Beispiel Lewandowski, Wörterbuch 1 S. 261. 99 Die Grenze zwischen Homonymie u n d Polysemie ist nicht eindeutig zu ziehen; vgl. dazu auch v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 197. 100 Ä h n l i c h Hassemer, Tatbestand S. 118; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 266, 308. Diese F u n k t i o n als t e r t i u m comparationis w i r d bei der Rechtsanwendung bedeutsam; dazu § 4 C. I I . 2. b). Daß der Gesichtspunkt nicht n u r als „ M i t t e " zwischen W o r t u n d Wirklichkeit, sondern auch noch i n anderer Hinsicht ein t e r t i u m ist, bemerkt Hassemer S. 80. 97
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
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2. Sprache fotografiert die Dinge nicht einfach ab, sondern konstituiert das Gegebene insoweit originär, als sie es stets i n einer neuen A r t und Weise offenbar werden läßt 1 0 1 . a) Die Wörter bringen also nicht konkrete Dinge der realen Welt, sondern „ideale" Gegenstände zur Sprache. Zwischen den sprachlichen Ausdrücken und den wirklichen Dingen (Personen, Sachen) besteht keine direkte, abbildende Beziehung. Nur durch Zwischenschalten einer Konzeption, die einen Aspekt des Gegebenen hervorhebt und dadurch die Dinge i n einer bestimmten „ A r t des Gegebenseins" sichtbar werden läßt, kann die Sprache Wirklichkeit bezeichnen 102 . Je nachdem unter welchem Gesichtspunkt man die bezeichneten Entitäten betrachtet, werden unterschiedliche Wesenszüge des Gegebenen sichtbar. Daß beispielsweise eine Geldzahlung eine „durch den Betrieb veranlaßte" Leistung ist, ist aus der Sicht des § 4 Abs. 4 EStG ein wesentliches Merkmal dieses Vorgangs, während es i n schenkungsteuerlicher Hin-Sicht vor allem darauf ankommt, daß es sich bei demselben Vorgang u m eine „unentgeltliche" Leistung handelt. Durch die Benennung bestimmter Konzeptionen w i r d die Richtung der Fraglichkeit festgelegt. Wenn etwa von „Einkünften aus Kapitalvermögen" die Rede ist, so w i r d damit zum Ausdruck gebracht, daß die Herkunft einer Einnahme aus einer bestimmten Quelle der maßgebende Gesichtspunkt ist, unter dem man die Wirklichkeit betrachten soll. b) Das Signifikat der Sätze sind Sach- oder Lebenszusammenhänge. Sätze lassen das Bezeichnete i n einer bestimmten Hin-Sicht erkennbar werden, d. h. sie konstituieren es als Sachverhalt. So ist etwa der Satz „Es liegt ein Kaufvertrag vor" Ausdruck für den Sachverhalt, daß ein Kaufvertrag vorliegt. Die Konstitution eines solchen Sachverhalts setzt voraus, daß man den bezeichneten Lebenszusammenhang (hier: die Beziehung zwischen Personen) unter dem Gesichtspunkt seiner (schuld)rechtlichen Relevanz betrachtet. Welchen Sachverhalt ein Satz benennt, w i r d bestimmt durch das Zusammenspiel der Wörter i m Satz. Umgekehrt hat die Auswahl der Konzeption, unter der man einen Sach- oder Lebenszusammenhang erfaßt, Einfluß auf die Zusammenstellung der verwendeten Sprachgebilde 103 . c) Dem Sachverhalt bei den Sätzen entspricht ein Gefüge von Sachverhalten bei den Texten. Texte bezeichnen umfassende Sach- oder 101 102 103
Vgl. Hassemer, Tatbestand S. 75, 81, 83. Vgl. dazu auch Brekle, Semantik S. 59. Vgl. auch v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 49 f.
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§ 3. Der Sinnbegriff
Lebenszusammenhänge, die i n einem bestimmten Gesichtspunkt übereinstimmen. Legt man diesen Gesichtspunkt bei der Betrachtung des Signifikats zugrunde, so w i r d ein geordnetes Gefüge von Sachverhalten erkennbar, das der Text versprachlicht. Auch dazu ein Beispiel: Die Sätze, die der Text des UStG zusammenfaßt, bringen jeweils unterschiedliche Sachverhalte zum Ausdruck. Diese Sachverhalte sind allerdings ein geordnetes Gefüge, denn dieselben Sach- oder Lebenszusammenhänge, die durch die einzelnen Sätze des UStG bezeichnet und i n einer bestimmten Hin-Sicht ins Blickfeld gerückt werden, sind zugleich unter einem übergeordneten Gesichtspunkt erfaßt. Damit ist auf diejenige Konzeption verwiesen, die durch das UStG als Ganzes eine sprachliche Existenz erhält 1 0 4 . 3. Die soeben geschilderten Zusammenhänge werden i n der Abbil-' dung 1 noch einmal verdeutlicht. Sprachliche Äußerungen erfüllen eine zweifache semantische Funktion: Sie bezeichnen ihren Bezugspunkt i n der (konkreten oder vorgestellten) Wirklichkeit — das Signifikat — und geben zugleich die Richtung der Fraglichkeit an, aus der man sich dem Signifikat zu nähern hat — den Gesichtspunkt, die Konzeption, die Hin-Sicht, das tertium comparationis. Eine direkte Beziehung zwischen den Sprachgebilden (Wörtern, Sätzen, Texten) und den Signifikaten gibt es nicht (das soll durch die gestrichelte Linie angedeutet werden). Die Sachen und Personen sowie die Sach- und Lebenszusammenhänge werden immer nur i n dieser oder jener Hin-Sicht erkennbar 105 . Wenn die bezeichnete Wirklichkeit (das Signifikat) aus der jeweils maßgeblichen Richtung der Fraglichkeit erschlossen ist, kenne ich das „semantische Gegenstück" zu der sprachlichen Äußerung, die mich auf die Sache gebracht hat. Die semantische Entsprechung konstituiert sich aus der Beziehung zwischen der Konzeption und dem Signifikat; Wörter, Sätze und Texte bringen das i n einer bestimmten Hin-Sicht gesehene Signifikat zum Ausdruck. Oder anders formuliert: Wörter meinen den Gegenstand i n einer bestimmten „ A r t des Gegebenseins", Sätze be-sagen einen Sachverhalt und Texte ein Gefüge von Sachverhalten. IL Sinn als Relation Die spezifische Leistung der Wörter und Wortkombinationen (Sätze, Texte) besteht darin, daß sie die Wirklichkeit i n einer besonderen Hin104
Z u r Konzeption des U S t G vgl. Schlüter JuS 1972, 634. Die Sprache bringt mich zwar auf die Sache, sie gibt sie m i r aber nicht, sondern zeigt sie m i r i m m e r n u r i n einer bestimmten Hin-Sicht; so Lipps, Logik S. 8. 105
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
111
Sicht offenbar werden lassen, d. h. „ideale" Gegenstände, Sachverhalte oder ein Gefüge von Sachverhalten be-deuten. Von dieser Leistung des Bedeutens ist der Gegenstand des Bedeutens zu unterscheiden, den man den „Inhalt" der Sprachgebilde nennen kann. Der Inhalt eines Wortes, Satzes oder Textes ist das, was i m Kommunikationsprozeß „zur Sprache gebracht" w i r d 1 0 6 . „ I n h a l t " meint somit das unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtete Signifikat. Zwischen dem Bedeuteten (dem Inhalt) und dem Bedeutenden (den Wörtern, Sätzen, Texten) besteht eine Wechselbeziehung, die den Sinn (die Bedeutung) einer sprachlichen Äußerung ausmacht. a)
Wörter
b)
Sätze
c)
Texte
Signifikat
Konzeption
( Wirklichice i t a l s Sache, Person, Gegenstand bzw. a l s Sach- oder Lebenszusammenhang)
(Gesichtspunkt, Hin-Sicht, Richtung der F r a g l i c h k e i t , tertium comparationis)
Abbildung 1
io« Y g i dazu auch Lewandowski, S. 276 („Inhalt").
Wörterbuch 1 S. 89 („Bedeutung") u n d
112
§ 3. Der Sinnbegriff
1. Der Sinn ist weder ein A t t r i b u t der Sprachgebilde noch etwas wesenhaft Besonderes neben dem Wort und der (mittels einer bestimmten Konzeption erfaßten) Sache 107 . „Sinn" ist kein Wesensbegriff, sondern ein Beziehungsbegriff: „(...) mit dem Worte S I N N w i r d nichts als eine B e z i e h u n g ausgedrückt, dergestalt, daß m i t i h m etwas (Bi) — als das eine Beziehungsglied — ausschließlich i n d i e s e r s e i n e r b e s o n d e r e n B e z i e h u n g zu einem Anderen (B2) — als dem zweiten Beziehungsglied — getroffen w i r d " 1 0 8 . Der Ausdruck „Sinn" läßt sich daher „sinnvoll" nur begreifen als Kennzeichen für die spezifische Relation zwischen den Wörtern, Sätzen und Texten einerseits und den „idealen" Gegenständen, den Sachverhalten oder einem Gefüge von Sachverhalten andererseits 109 . Wer durch die Sprache i n eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit eingewiesen ist, w i r d sich den realen Erscheinungen aus einer bestimmten Richtung der Fraglichkeit nähern. I m Rückblick von der so erfaßten Wirklichkeit w i r d der Bezug zu dem sprachlichen Ausdruck festgestellt, der das verstehende Subjekt „auf die Sache gebracht" hat 1 1 0 . „ U n d wegen dieser besonderen Beziehung (...) vermag man umgekehrt i m H i n blick vom bestimmten Wort auf die gewußte Sache h i n eben dieses Wort nun als ,sinnhaft', als ,sinn v o l l ' einzusehen" 111 . Der Sinn einer sprachlichen Äußerung läßt sich nur aufzeigen, wenn man mehr oder minder bewußt das i n einer bestimmten Hin-Sicht offenbar werdende Signifikat i m Auge hat 1 1 2 . Aus diesem Grunde ist der Sinn nicht eine Qualität der Sprachgebilde, sondern deren Relation auf die konzipierte, d.h. unter einem bestimmten Gesichtspunkt gesehene Wirklichkeit 1 1 3 . 2. Die Bestimmung des Sinnbegriffs als Relation zwischen Sprache und konzipierter Wirklichkeit ist allerdings nur eine erste, vorläufige Kennzeichnung, die noch spezifiziert werden muß. 107 So Heyde, Sinn S. 78, 79; ebenso Hruschka, Verstehen S. 39, 40. Auch Hirsch (Interpretation S. 42) glaubt nicht, „daß linguistische Zeichen auf irgendeine Weise ihren eigenen Sinn besäßen — ein mystischer Gedanke, der bislang noch nie überzeugend verteidigt worden ist." 108 Heyde, Sinn S. 78. 109 Dazu auch Heyde, Sinn S. 80; Hruschka, Verstehen S. 39. 110 Hruschka (Verstehen S. 40 N. 16) weist darauf hin, „daß die Begriffe »Ausdruck* u n d ,Sinn' Parallelbegriffe sind, die genau dieselbe Beziehung bezeichnen, n u r daß diese Beziehung bald v o m Text, bald v o n der Sache her betrachtet w i r d : Eine Sache w i r d gesehen ,als' der Sinn eines Textes u n d der Text ,als' Ausdruck dieser Sache." 111 Heyde, Sinn S. 80. 112 Vgl. auch Heyde, Sinn S. 81. 118 Dazu auch Hruschka, Verstehen S. 29.
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
113
Wer den Sinn der Wörter oder Wortkombinationen erkennen w i l l , w i r d zu den Sprachzeichen ein zweites Beziehungsglied suchen. Dieses „semantische Gegenstück" zu den Wörtern, Sätzen und Texten ist aber nicht einfach „vorhanden", sondern w i r d dadurch konstituiert, daß man ein Signifikat unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet. Eine Beziehung zwischen den sprachlichen Äußerungen und einem „idealen" Gegenstand, einem Sachverhalt oder einem Gefüge von Sachverhalten w i r d nur dann erkennbar, wenn man weiß, welches Signifikat durch die Sprache bezeichnet w i r d (extensionaler Aspekt) und wenn man die Konzeption kennt, unter der die bezeichnete Wirklichkeit zu sehen ist (intensionaler Aspekt) 114 . Der Sinn ist also i m Grunde auf zweifache Weise relational: Er gibt sich aus der Beziehung der sprachlichen Zeichen zu einem Gesichtspunkt und aus deren Beziehung zu Erscheinungen der realen Welt, wobei allerdings das Wirkliche erst erfaßt werden kann, wenn der maßgebliche Gesichtspunkt bekannt ist. Dementsprechend erfordert jede Sinnerkenntnis zwei Schritte: Man muß zunächst die Konzeption feststellen, unter der die Wirklichkeit erfaßt werden soll, u m dann überprüfen zu können, welche Erscheinungen der realen Welt i n dieser Hin-Sicht ins Blickfeld geraten. Erst aus dem Zusammenwirken beider Faktoren (Konzeption und Signifikat) ergibt sich das zweite Beziehungsglied der spezifischen Relation, die den Sinn ausmacht. III. Sinn und Kontext Wenn sprachliche Äußerungen i n der Relation zu einer konzipierten Wirklichkeit ihren Sinn finden, dann hängt jede Sinnerkenntnis davon ab, ob und wie diese Beziehung erfaßt wird. Dabei darf man sich den Sinn allerdings nicht als eine immer schon vorhandene Verknüpfung zwischen den Sprachgebilden und den i n einer bestimmten Hin-Sicht offenbar werdenden Signifikaten vorstellen — als wäre m i t den Zeichen zugleich auch deren Bedeutung ausgemacht. Jedes Wort ist i n einen semantischen, syntaktischen und pragmatischen Kontext eingeordnet und ohne i h n nicht gänzlich zu verstehen, denn der Kontext bestimmt die semantische Funktion der einzelnen Wörter und beeinflußt damit den Sinn sprachlicher Äußerungen 115 . 1. Es gehört zum Wesen sprachlicher Zeichen, daß sich ihr Sinn oder ihre Bedeutung nach der Stellung richtet, die sie innerhalb der Gesamt114
Z u m „intensionalen" u n d „extensionalen" Aspekt vgl. auch Bocheùski , Denkmethoden S. 58; Lewandowski, Wörterbuch 1 S. 189 f. („Extension") u n d S. 288 („Intension"). 115 Ä h n l i c h Hassemer, Tatbestand S. 67 ff. 8 Maaßen
114
§ 3. Der Sinnbegriff
heit inhaltlich benachbarter Ausdrücke einnehmen 116 . Die inhaltlichen Nachbarn bilden unter sich und m i t dem Einzelwort, dessen Bedeutung i n Frage steht, ein gegliedertes Ganzes, ein Gefüge, das man „Wortfeld" oder „sprachliches Zeichenfeld" nennen kann 1 1 7 . Der Sinn eines Wortes w i r d erst erkannt, wenn man den Wortinhalt gegen den Inhalt der benachbarten und opponierenden Wörter abgrenzt. „Das Wortzeichenfeld als Ganzes muß gegenwärtig sein, wenn das einzelne Wortzeichen verstanden werden soll, und es w i r d verstanden i m Maße der Gegenwärtigkeit des Feldes" 116 . Ein Wort „bedeutet" nur i n diesem Ganzen und kraft dieses Ganzen. Außerhalb eines solchen semantischen Kontextes kann es ein Bedeuten nicht geben. a) Die „Feldtheorie" der Wortbedeutungen basiert auf der Erkenntnis, daß das gesprochene oder geschriebene Wort i m Bewußtsein des Autors oder des verstehenden Subjekts nicht so vereinzelt dasteht, wie man aus seiner äußeren Vereinsamung schließen könnte 1 1 7 . Jedes Wort „steht vor der zum Feld sich ordnenden Fülle seiner Nachbarn" 118 . Es hebt sich von ihnen ab und ordnet sich ihnen doch — auf Grund semantischer Affinitäten oder kategorialer Gemeinsamkeiten 1 1 9 — an bestimmter Stelle ein 1 1 8 . Das Einzelwort erhält seine inhaltliche Bestimmtheit i m M i t - und i m Gegeneinander zu den inhaltlichen Nachbarn i m sprachlichen Feld, denn „erst infolge des Vorhandenseins eines Wortes i m Feld hebt sich der Einzelinhalt -aus dem vor i h m vorhandenen Inhaltskomplex klar heraus" 120 . So hätte beispielsweise das Wort „sittenwidrig" eine andere Bedeutung, gäbe es nicht daneben noch „unmoralisch", „eigennützig", „selbstsüchtig", „egoistisch" usw. oder würde eines dieser Wörter i m Katalog fehlen oder ein anderes dazukommen 121 . Die Wörter i n einem Wortfeld stehen i n gegenseitiger Abhängigkeit voneinander 118 . Sie sind deshalb nur verständlich, wenn das sprachliche Feld gegenwärtig ist 1 2 2 . „Sind nicht sämtliche Ausdrücke des Wortfeldes präsent, so ist das Wort verschwommen, seine Bedeutung ist verschoben" 123 . Der Inhalt eines Wortes ist u m so klarer, je deutlicher und 116
Vgl. Trier, Wortschatz S. 5. Trier, Wortschatz S. 1. 118 Trier, Wortschatz S. 2. 119 Vgl. Brekle, Semantik S. 82. 120 Trier, Wortschatz S. 2; vgl. auch Hassemer, Tatbestand S. 72; Dubischar, Vorstudium S. 92. 121 Dieses Beispiel k n ü p f t an die Überlegungen Jherings zur Bedeutung des Wortes „das Sittliche" an (Zweck S. 15); vgl. dazu auch Hassemer, T a t bestand S. 72 N. 25: „Reflexion über Wortbedeutung setzt bei Jhering grundsätzlich m i t einem Abschreiten des sprachlichen Feldes ein." 122 Vgl. Hassemer, Tatbestand S. 73/74; Trier, Wortschatz S. 7. 117
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
115
vollständiger die inhaltlichen Nachbarn i m Bewußtsein des Autors oder des Interpreten darliegen 123 . Das sprachliche Feld gewinnt meist „keine körperlich wahrnehmbare Erscheinungsform i n äußerer Lautung" 1 2 4 . Es bleibt ungesagt oder sogar ungedacht, bildet also einen „Hof von Unausdrücklichem" 125 u m das gesprochene (oder geschriebene) Wort 1 2 6 . Deswegen ist es jedoch „nicht weniger wirksam, nicht weniger einwirkend auf den Sinn des Wortes, nicht weniger dem Bewußtsein zugänglich" 124 . b) Wenn man allerdings davon ausgeht, „daß die M i t - und Gegenwörter, welche die Bedeutung eines Wortes mitbestimmen, ungesagt und allermeist auch ungedacht bleiben" 1 2 6 , dann ist der semantische Kontext nicht so sehr ein Gefüge von Sprachgebilden, also ein Wortfeld, sondern eher ein Komplex von Wortinhalten 127, dessen Versprachlichung allenfalls der Veranschaulichung des grundsätzlich außersprachlichen semantischen Kontextes dient, i n den ein Wort gestellt ist. Der Inhalt eines Wortes ergibt sich aus der Konzeption (dem Gesichtspunkt) und der Wirklichkeit, auf die diese Konzeption zutrifft 1 2 8 . Es ist denkbar, daß zwischen mehreren Konzeptionen, die i n unterschiedlichen Wörtern zum Ausdruck kommen, gewisse Affinitäten bestehen, die sie als „semantische Nachbarn" erkennbar werden lassen. So verweisen zwar die Wörter „Einkommen" (§ 2 Abs. 2 Satz 1 EStG), „Einkunft" oder „Einnahme" (§ 8 Abs. 1 EStG) auf eine jeweils andere Konzeption, doch es w i r d zugleich erkennbar, daß zwischen den benannten Gesichtspunkten auch kategoriale Gemeinsamkeiten bestehen. Deshalb läßt sich der Inhalt des einen Wortes (ζ. B. „Einkommen") nur dann genau bestimmen, wenn er gegen die benachbarten oder opponierenden Inhalte, wie sie i n den anderen Wörtern (z.B. „Einkunft" oder „Einnahme") zur Sprache gebracht werden, abgegrenzt ist. Genauer gesagt: Gegeneinander abzugrenzen sind Konzeptionen, denn der Sinn oder die Bedeutung eines Wortes richtet sich danach, welche Stellung die i n i h m genannte Konzeption innerhalb der Gesamtheit benachbarter Konzeptionen einnimmt. Die durch bestimmte Gemeinsamkeiten miteinander verbundenen Konzeptionen bilden den semantischen Kontext, der den Sinn eines sprachlichen Ausdrucks mitbestimmt. Die einzelne Konzeption kann nur 123
Hassemer, Tatbestand S. 74. Trier, Wortschatz S. 4. 125 Lipps, Logik S. 71. 126 So auch Hassemer, Tatbestand S. 73. 127 Auch Trier (Wortschatz S. 2 u n d öfter) spricht manchmal — statt v o n einem „Wortfeld" — v o n einem „Inhaltskomplex". 128 Dazu nochmals § 3 Β . I. 124
6*
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§ 3. Der Sinnbegriff
dann klar erfaßt werden, wenn zugleich das konzeptionelle Umfeld gewußt ist. 2. Wörter sind zumeist i n einen syntaktischen Kontext eingebunden, d. h. sie sind Teil eines Satzes oder eines Textes. Nicht nur der semantische, sondern auch der syntaktische (sprachliche) Kontext beeinflußt die Wortbedeutung, denn Wörter haben als Einzelerscheinung eine gewisse Unbestimmtheit i n ihrer semantischen Funktion, die erst i m Kontext aufgehoben w i r d 1 2 9 . Der Sinn oder die Bedeutung eines Wortes, das i n eine Wortkombination (Satz, Text) eingegliedert ist, kann daher nur verstanden werden, wenn man (auch) die Beziehung analysiert, i n der es i m Satz oder Text zu den anderen Wörtern steht. a) Es w i r d zuweilen die Auffassung vertreten, kein Wort habe für sich eine Bedeutung; diese entstehe erst, wenn das Wort, dessen Bedeutung zu erfassen sei, durch einen Satz m i t anderen Wörtern syntaktisch verknüpft werde 1 3 0 . Daran ist sicher soviel richtig, daß bei der Isolierung eines Wortes von den übrigen Wörtern, m i t denen es i n einem syntaktischen Kontext verbunden ist, immer nur Aussagen darüber möglich sind, was ein Wort bedeuten kann, nicht aber darüber, was es i n dem betreffenden Kontext tatsächlich bedeutet. Die Sprache ist als „langue" lediglich ein System sprachlicher Möglichkeiten, die einer Sprachgemeinschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt zur Verfügung stehen. Von den Sinnmöglichkeiten, die die „langue" bilden, werden einige — aber niemals alle zugleich — i n den tatsächlichen Äußerungen, d. h. i n den Verwendungsweisen der Sprache („parole") aktualisiert 1 3 1 . Das heißt aber: Solange Wörter unverbunden nebeneinander stehen und nicht i n einen syntaktischen Kontext gestellt sind, solange sie also Elemente der „langue" („Wörter") und nicht ein Stück „parole" („Worte") sind, werden sie immer nur Ausdruck für die möglichen Bedeutungen sein, die man ihnen zuschreiben kann. Immerhin hat ein Wort auch dann, wenn es nicht durch einen Satz mit anderen Wörtern verknüpft ist, eine Bedeutung. Allerdings handelt es sich dabei u m die lexikalische Bedeutung, die zu unterscheiden ist von der wirklichen Bedeutung eines Wortes i n einem konkreten syntaktischen Kontext. Unter „lexikalische" Bedeutung ist der Komplex derjenigen Beziehungen des betreffenden Wortes zu „idealen" Gegenständen zu verstehen, die kontextunabhängig i m System der Sprache 129 So v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 49; vgl. dazu auch Larenz, Methodenlehre S. 183. 130 So z. B. Hjelmslev (zitiert bei Lewandowski, Wörterbuch 1 S. 91). 131 Die grundlegende Unterscheidung v o n „langue" u n d „parole" geht zurück auf F. de Saussure („Cours de linguistique générale", 1931).
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
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möglich sind 1 3 2 . Die „wirkliche" Bedeutung eines Wortes ergibt sich demgegenüber als Verengung und Konkretisierung der lexikalischen Wortbedeutung aus dem Verhältnis des Wortes zu anderen Wörtern i m Satz 133 . Sie kann nur vor dem Hintergrund des sprachlichen Kontextes bestimmt werden. Diese Kontextabhängigkeit der wirklichen Wortbedeutung zeigt sich vor allem bei mehrwertigen oder mehrdeutigen Wörtern 1 3 4 . So hat etwa das Wort „Schloß" verschiedene konkrete Bedeutungen, die zusammen die lexikalische Wortbedeutung ergeben. Der syntaktische Kontext „Es steckt ein Schlüssel i m Schloß" spezifiziert die lexikalische Bedeutung zu der Wortbedeutung hic et nunc: „Schloß" be-deutet nicht das Gebäude, sondern den Verschluß. b) Der syntaktische Kontext, aus dem sich die spezifische Wortbedeutung ergibt, kann ein Satz oder auch ein geordnetes Satzgefüge, also ein Text sein 135 . Der Sinn oder die Bedeutung eines Satzes bestimmt sich aus den Bedeutungen der i n i h m enthaltenen Wörter — nicht aus ihren lexikalischen Bedeutungen, sondern aus „den spezifischen, konkreten Bedeutungen der Wörter hic et nunc" 1 3 6 . Die spezifische Bedeutung der einzelnen Wörter i m Satz beruht ihrerseits wiederum auf dem Kontext, d. h. auf „der Beziehung, i n der sie i m Satz zu den anderen Wörtern stehen" 137 . Was den Satz zum Satz macht, ist also nicht die bloße Summierung von Wörtern m i t jeweils festen Relationen zu bestimmten Inhalten, sondern das Verhältnis einzelner Wörter untereinander, „etwa ihre Verbindung durch die Kopula, ihre gegenseitige Beschränkung und Eingrenzung, ihre Behauptungsmodalität usw." 1 3 8 . Die Beziehung zwischen den Sinneinheiten „ W o r t " und „Satz" erweist sich somit als funktional: „Wie die Satzbedeutung aus der konkreten Wortbedeutung entsteht, so entsteht die konkrete Wortbedeutung aus der Satzbedeutung" 1 3 9 . 132
Vgl. auch W. Schmidt, Bedeutung S. 33 f. Dazu Hassemer, Tatbestand S. 70. 134 Vgl. zur Mehrdeutigkeit u n d Mehrwertigkeit („Homonymie", „Polysemie") v o n Wörtern v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 196 f.; dazu auch schon oben § 3 Β. I. 1. b). 135 E i n Text ist allerdings nicht nach grammatischen Regeln aufgebaut u n d insofern eigentlich k e i n „syntaktischer" K o n t e x t . Er ist aber jedenfalls ein sprachlicher K o n t e x t , der auf die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks e i n w i r k e n kann. 136 Hassemer, Tatbestand S. 70/71. 137 v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 49. 138 Hassemer, Tatbestand S. 70. 139 Hassemer, Tatbestand S. 71. 133
118
§ 3. Der Sinnbegriff
Diese funktionale Beziehung w i r d erweitert, wenn die zu einem Satz verbundenen Wörter zugleich Bestandteil eines Textes sind. Der Text bestimmt nicht nur den Satzsinn, sondern w i r k t über den Satz auch auf die Bedeutung der einzelnen Wörter ein — so wie umgekehrt die Bedeutung des Textes auf den Bedeutungen der Sätze und Wörter beruht, aus denen er sich zusammensetzt. Wort, Satz und Text bestimmen ihren Sinn also gegenseitig 140 . Die semantische Funktion eines Wortes ist demnach nur verständlich, wenn man sowohl den syntaktischen Kontext des Satzes als auch den umfassenden sprachlichen Kontext des Textes berücksichtigt. Das gilt i n ähnlicher Weise auch für den Satz, dessen Sinn durch die Beziehung zwischen Wort und Satz einerseits und zwischen Satz und Text andererseits mitbestimmt wird. 3. Wörter, Sätze und Texte werden von Menschen i n bestimmten Situationen formuliert und an andere Menschen gerichtet. Die damit beschriebene pragmatische Dimension sprachlicher Zeichen ist für die Sinnentfaltung ebenso konstitutiv wie die semantische oder syntaktische Dimension, denn was als der Sinn oder die Bedeutung eines Sprachgebildes erfaßt wird, hängt nicht zuletzt davon ab, aus welcher Situation eine sprachliche Äußerung hervorgegangen ist und welchen Erkenntnisbedingungen derjenige unterworfen ist, der die gesprochene oder geschriebene Sprache versteht. Die semantische Funktion eines Wortes oder einer Wortkombination w i r d — m i t anderen Worten — auch durch den pragmatischen Kontext mitbestimmt. a) Jede Sprachhandlung ist den Bedingungen der Situation unterworfen, i n der sie vollzogen ist; jedes Wort, jeder Satz und jeder Text ist i n einer konkreten Lage gesprochen, sprachlich auf diese Lage bezogen „und ohne sie nicht gänzlich zu verstehen" 141 . Deshalb ist auch m i t den sprachlichen Zeichen allein die Bedeutung dieser Zeichen noch nicht ausgemacht. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß dieselbe sprachliche Äußerung i n verschiedenen Sprechsituationen Verschiedenes bedeuten, einen unterschiedlichen Inhalt haben kann. Nicht nur wegen der Mitbestimmung der Wortbedeutung durch den syntaktischen Kontext, sondern gerade auch i m Hinblick auf diese Verknüpfung zwischen Sprache und Sprechsituation sind lexikalische Festlegungen immer nur von bedingtem Nutzen 1 4 2 . Generelle („lexikalische") Sinnbestimmungen abstrahieren von der Sprechsituation und bekunden deshalb nur, was ein Wort bedeuten kann, nicht aber, was es wirklich 140
141 142
Vgl. dazu Hassemer, Tatbestand S. 13, 70 f., 87 f.
Hassemer, Tatbestand S. 68, 86 f. So auch Hassemer, Tatbestand S. 69.
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
119
bedeutet. „Das Herauslösen aus der Sprechsituation verhindert eine eindeutige Aussage über die Wortbedeutung" 1 4 2 . Der Sinn sprachlicher Ausdrücke ist letztlich nur erkennbar, wenn man die besonderen Bedingungen der jeweiligen Sprechsituation berücksichtigt. So gesehen ist es richtig, wenn Wittgenstein 143 erklärt, die Bedeutung eines Wortes ergebe sich aus seinem Gebrauch i n der Sprache. Vielleicht sollte man einschränkend hinzufügen, daß es nicht allein der Sprachgebrauch ist, der den Wortsinn beeinflußt. Jedenfalls steht aber die Wortbedeutung ebenso wie die Bedeutung der Sätze oder Texte i n einem Zusammenhang m i t der konkreten Situation, i n der diese Äußerungen getan werden. Denn erst der pragmatische Kontext der Sprechsituation spezifiziert die generelle Bedeutung zu der jeweils maßgeblichen konkreten Bedeutung. b) Wann immer Sprachgebilde und Inhalte sich zu einer Sinneinheit verbinden, ist es ein Mensch, der diese Verbindung herstellt. Erst i m menschlichen Bewußtsein kann es überhaupt zu einer Beziehung zwischen der Sprache und der konzipierten Wirklichkeit kommen. Sinn und Bedeutung sind eine Sache des Bewußtseins 144 . „Es gibt kein Wunderland der Bedeutungen außerhalb des menschlichen Bewußtseins" 145 . Wenn aber Wörter, Sätze und Texte erst i m Bewußtsein des Interpreten zu sinnvollen Äußerungen werden, dann kann bei der Bestimmung der semantischen Funktion sprachlicher Zeichen die Person des verstehenden Subjekts und die Situation, i n der es sich befindet, nicht ausgeschaltet werden. Der pragmatische Kontext w i r d aber noch auf andere Weise wirksam. Es zeigt sich, daß der Sinn eines Wortes auch dann erfaßt werden kann, wenn man das Bezeichnete nicht wirklich sieht. Es genügt, daß man sich den bezeichneten Gegenstand i n einer bestimmten Hin-Sicht vorstellt. I n diesem Fall w i r d aber das Wort nicht durch die Verknüpfung mit einer realen Erscheinung sinnvoll. Vielmehr findet es bei genauer 143
Philosophische Untersuchungen § 43. So v o r allem Hirsch, Interpretation S. 18, 19, 42, 57; vgl. auch Hätz, Rechtssprache S. 80 f. Mißverständlich ist i n diesem Zusammenhang die folgende Äußerung v o n Gadamer , Wahrheit S. 369/370: „Was schriftlich fixiert ist, hat sich sozusagen vor aller Augen i n eine Sphäre des Sinnes erhoben, an der ein jeder gleichen A n t e i l hat, der zu lesen versteht." Nach Ansicht v o n Hirsch (S. 304) impliziert diese Bemerkung, „daß der Textsinn irgendwie unabhängig v o n einem individuellen Bewußtsein existieren kann." Aus dem Zusammenhang der Ausführungen Gadamers ergibt sich allerdings ein anderes B i l d : Offenbar wollte Gadamer lediglich zum Ausdruck bringen, daß Sinn sich auch außerhalb des Bewußtseins des Autors entfalten k a n n u n d Sinnerkenntnis deshalb nicht unbedingt als „ e i n Wiederholen v o n etwas V e r gangenem" zu begreifen ist; vgl. Gadamer, Wahrheit S. 370. 145 Hirsch, Interpretation S. 19. 144
120
§ 3. Der Sinnbegriff
Betrachtung allein i n der Relation zu der Vorstellung von einer solchen Erscheinung seinen Sinn14®. Regelmäßig ist bei jeder Sinnerkenntnis lediglich das Wort als reale Erscheinung vorgegeben, während man sich den Inhalt — die konzipierte Wirklichkeit, die ein Wort zum Ausdruck bringt — erst noch (geistig) vor-stellen muß, u m einen Sinn erkennen zu können 147 . Auch Sachverhalte oder Gefüge von Sachverhalten werden als „vorgestellte" Erscheinungen m i t den Sätzen oder Texten verknüpft. Da aber die Vorstellung notwendig von der Situation der Erkenntnissubjekte und von anderen subjektiven Faktoren beeinflußt wird, werden verschiedene und manchmal sogar dieselben Menschen m i t einem Sprachgebilde nicht stets denselben Inhalt verbinden. 4. Was i m Einzelfall als der Sinn eines Wortes oder einer Wortkombination erfaßt wird, hängt also davon ab, i n welchen sprachlichen und außersprachlichen Zusammenhang die Wörter, Sätze und Texte gestellt sind. Somit ist der „Sinn" zu definieren als eine vom jeweiligen semantischen, syntaktischen und pragmatischen Kontext bestimmte SpracheInhalt-Relation. a) Die Beziehung zwischen den Sprachgebilden und dem semantischen, syntaktischen und pragmatischen Kontext, i n den sie jeweils eingegliedert sind, ist funktional. Das bedeutet für die Sinnbestimmung, daß Wörter, Sätze und Texte nur von ihrer Funktion her begriffen werden können. I m Verhältnis der Wörter zu ihren inhaltlichen Nachbarn liegt ein gegenseitiges Sich-Bestimmen und Sich-Mitkonstituieren vor. „So wie das Wort vom Wortfeld her Bedeutung bekommt, so w i r d das Wortfeld von seinen einzelnen Gliedern konstituiert" 1 4 8 . Das einzelne Wort und sein Wortfeld sind also funktional aufeinander bezogen. Diese Funktion hat eine ähnliche Struktur wie die zwischen Wort und Satz oder zwischen Satz und Text: Texte und Sätze sind über ihre Teile, diese Teile aber wiederum nur über einen Satz oder Text zu erfassen 149 . Wörter, Sätze und Texte stehen also m i t dem syntaktischen bzw. sprachlichen Gefüge, i n das sie eingegliedert sind, ebenfalls i n einem funktionalen Zusammenhang. Funktional ist auch das Verhältnis zwischen den Sprachgebilden und der Sprechsituation. Es ist nicht nur der Sinn einer sprachlichen Äußerung von der Situation abhängig, aus der sie hervorgegangen ist, vielmehr w i r d auch die Sprechsituation durch die (noch nicht spezifizierte, 146 147 148 149
Dazu bereits § 3 Α . I I . 1. d). Vgl. auch Gerber, Sprache S. 19 ff. Hassemer, Tatbestand S. 74. Vgl. Hassemer, Tatbestand S. 14, 70 f.
Interpret Situation der Sinnerkenntnis
/
\
Sprechsituation
Autor
Pragmatische Dimension
Abbildung 2
Text
V
Satz
Vort Τ
^^
^^^
/
\
c)
b)
/
\
Gefüge von \ Sachverhalten \
Sachverhalt
Signifikat
konzeptio— nelles \ Umfeld \ / \ t> Konzeption
/
Semantische Dimension
^ a) Gegenstand in / ^ bes. "Art des / ^^ Gegebenseins" /
Syntaktische Dimension
Bestimmung des Sinnbegriffs
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs 121
122
§ 3. Der Sinnbegriff
also: „lexikalische") Wortbedeutung mitkonstituiert. „Die Sprechsituation hängt also von der Wortwahl und der unspezifischen Wortbedeutung ab, die Spezifizierung der Wortbedeutung aber von der Sprechsituation" 1 5 0 . Schließlich w i r d auch i m Vorgang der Sinnerkenntnis so etwas wie eine Funktion erkennbar, denn der Sinn der Wörter, Sätze und Texte kann nur erfaßt werden, wenn man die sprachlichen Äußerungen „schon m i t gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin" auffaßt 151 . Der Sinn eines Wortes oder einer Wortkombination ist also nur erkennbar, wenn ein Sinn bereits vor-verstanden ist. Die vorgreifende Bewegung des Vorverständnisses w i r d ihrerseits bestimmt durch den Sinn der Sprachgebilde, der sich i m Verstehen erschließt. Das weist auf einen (hermeneutischen) Zirkel hin, der die Erkenntnissituation des Verstehenden miteinbezieht, und es stellt sich die Frage, ob dieser Zirkel des Verstehens ein methodischer Zirkel ist oder ob er ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens beschreibt 152 . b) Die Bedeutung des semantischen, syntaktischen und pragmatischen Kontextes für den Sinnbegriff sowie das funktionale Verhältnis der Wörter, Sätze und Texte zu ihrem jeweiligen Kontext soll durch die Abbildung 2 noch einmal verdeutlicht werden. C. Tatbestand und Sinnbegriff Sinnerkenntnis ist darauf gerichtet, eine vom jeweiligen semantischen, syntaktischen und pragmatischen Kontext bestimmte SpracheInhalt-Relation zu erfassen. Juristisches Verstehen hat es i n erster Linie m i t dem Sinn von Tatbeständen 153 zu tun. Tatbestände sind Kombinationen von Wörtern, Sätzen oder Texten, die sich von anderen sprachlichen Äußerungen dadurch unterscheiden, daß sie Wirklichkeit unter rechtlichen Gesichtspunkten sichtbar werden lassen 154 . Sie verweisen stets auf eine „Sache Recht" 155 .
150
Hassemer, Tatbestand S. 70. Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 251. 152 Dazu Gadamer, Wahrheit S. 277. Diese Frage w i r d i n § 4 ausführlich zu untersuchen sein. 153 Z u r Definition: v o r § 1 Α. I. 154 Tatbestände sind Bestandteile der Rechtssätze u n d sagen daher etwas Rechtserhebliches aus; dazu auch Lampe, Semantik S. 29 ff., insbes. S. 34. 155 So die Bezeichnung bei Hruschka, Verstehen S. 29 ff.; 56 ff.; vgl. auch Larenz, Methodenlehre S. 180; A. Kaufmann, Larenz-FS S. 38 f.; vgl. zu E i n zelheiten § 3 C. I I . 151
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
123
I. Tatbestand, Konzeption und Wirklichkeit Auch i m Bereich der Rechtssprache beruht Sinnerkenntnis darauf, daß eine Beziehung hergestellt w i r d zwischen der sprachlichen Äußerung, die verstanden werden soll, und dem i n einer bestimmten Hin-Sicht erkennbar werdenden Signifikat. Dabei ist für den rechtsanwendenden Juristen, der einen praktischen Fall einer rechtlichen Beurteilung zu unterziehen hat, der Tatbestand die zentrale Sinneinheit. 1. Tatbestände sind Bestandteile der Rechtssätze (Rechtsnormen) 156 . Ein Rechtssatz ergibt sich aus der Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge 157 . Rechtssätze verweisen auf Möglichkeiten der Lösung von konfliktgeladenen Situationen 158 . Wer sich daher vor die Aufgabe gestellt sieht, einen sozialen K o n f l i k t durch die Anwendung von Recht zu lösen, w i r d nach einem Rechtssatz suchen, dessen Rechtsfolge einen Ausweg aus der Konfliktsituation eröffnet und dessen Tatbestand auf den zu beurteilenden Lebensvorgang „zutrifft". Dabei ergibt sich die Frage der „Anwendbarkeit" einzelner Rechtssätze, d. h. es muß geprüft werden, ob bestimmte Konsequenzen, die i n einem Rechtssatz vorgesehen sind, gezogen werden können. Das ist nur dann möglich, wenn der zu beurteilende Fall den gesetzlichen Tatbestand „erfüllt". Es kommt also darauf an, ob der Tatbestand auch die Konfliktsituation meint, die durch die Anwendung des i n Frage kommenden Rechtssatzes gelöst werden soll. I m Rahmen der Rechtsanwendung ist somit das Verständnis der Tatbestände entscheidend. Wer den Sinn eines Tatbestandes erkennen w i l l , muß sich allerdings auf jeden Fall auch u m eine Deutung der Tatbestandselemente (der Wörter, Sätze, Texte) bemühen. Darüber hinaus ist es erforderlich, das Gefüge von Rechtssätzen zu verstehen, i n das der betreffende Tatbestand eingegliedert ist. Juristische Sinnerkenntnis hat es also nicht nur m i t Tatbeständen, sondern außerdem m i t einer Vielzahl anderer „Sinnträger" zu tun. Die Bemühungen u m ein Verstehen der rechtserheblichen sprachlichen Äußerungen zielen jedoch letztlich darauf ab, die Anwendung von Recht zu ermöglichen. Deshalb bilden die Rechts-Sätze und vor allem die Tatbestände als deren wesentlichster Bestandteil den eigentlichen Bezugspunkt des Verstehens. Die inhaltliche Bestimmung der größeren und 156
Vgl. dazu Engisch, Einführung S. 15 ff. Eine sprachliche Äußerung, die lediglich eine Definition enthält (ζ. B. § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG), ist also k e i n Rechtssatz; vgl. Lampe, Semantik S. 34. Sie k a n n allenfalls einen „Rumpftatbestand" u n d dessen Rechtsfolge zu einer anwendbaren N o r m ergänzen; dazu Zippelius, Methodenlehre S. 41. 158 So Hruschka, Verstehen S. 56 f., 65. 157
124
§ 3. Der Sinnbegriff
kleineren Sinneinheiten, m i t denen ein Tatbestand i m syntaktischen Kontext verbunden ist, bleibt für den rechtsanwendenden Interpreten ohne Bedeutung, solange der Tatbestand noch nicht verstanden ist. Dementsprechend stehen die Tatbestände als Sinneinheit i m Mittelpunkt des hermeneutischen Interesses. 2. Tatbestände sind der sprachliche Ausdruck für eine bestimmte j u r i stische Konzeption der Wirklichkeit 1 5 9 . Sie bezeichnen reale Erscheinungen und nennen zugleich einen rechtlichen Gesichtspunkt (eine Konzeption, Hin-Sicht oder Richtung der Fraglichkeit), unter dem die bezeichneten Lebensverhalte (Signifikate) zu betrachten sind 1 6 0 . Die semantische Entsprechung der Tatbestände konstituiert sich aus der Beziehung zwischen der juristischen Konzeption und der bezeichneten Wirklichkeit. a) Tatbestände haben einen Wirklichkeitsbezug eigener A r t . „Sie vermitteln, und das ist letztlich ihre Aufgabe, dem Auslegenden nicht eine Information über Wirklichkeit, sondern vielmehr eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit; m i t ihrer Hilfe soll Wirklichkeit i n einer bestimmten Weise hermeneutisch konstituiert werden, etwa ein Lebensvorgang als Diebstahl oder als Verfügungshandlung i m Sinne des Gesetzes" 161 . Der Tatbestand und seine Merkmale meinen nicht die Wirklichkeit als factum brutum, sondern die Wirklichkeit i n ihrer rechtlichen Relevanz. Nicht ein „Lebensverhalt" als reiner, ungegliederter und unausgegrenzter Vorgang oder Zustand i n der Tatsachenwelt w i r d i n den Tatbeständen zur Sprache gebracht, sondern ein „Sachverhalt", eine unter rechtlichen Gesichtspunkten betrachtete Wirklichkeit 1 6 2 . I m Sachverhalt sind die Fakten bereits geordnet und gedeutet, die Wirklichkeit ist schon i n eine bestimmte Hin-Sicht gerückt. Dem verstehenden Subjekt w i r d also durch den Tatbestand und seine Merkmale nicht eine ungeordnete Ansammlung von Fakten vermittelt, sondern eine „zubereitete" Wirklichkeit 1 6 3 ; Tatbestände meinen Lebensverhalte, die i n 159 Ä h n l i c h Lampe, Semantik S. 34, der davon ausgeht, „daß die rechtliche Aussage niemals bloße N a t u r w i r k l i c h k e i t , sondern stets konstruktive Rechtsw i r k l i c h k e i t abbildet." 160 Ä h n l i c h w o h l Müller, N o r m s t r u k t u r S. 184ff.; ders., Methodik S. 107 ff.; ders., Sprache S. 38 ff. Die bezeichnete W i r k l i c h k e i t ist bei Müller der „ N o r m bereich"; den Gesichtspunkt, unter dem diese W i r k l i c h k e i t (rechtlich) gesehen w i r d , könnte m a n m i t dem „Normprogramm" identifizieren. 161 Hassemer, Tatbestand S. 110. 162 Z u der Unterscheidung zwischen Lebensverhalt u n d Sachverhalt vgl. Hruschka, Verstehen S. 12; dens ARSP 1964, 486 N. 4; Hassemer, Tatbestand S. 56. 163 So auch Hassemer, Tatbestand S. 110: Tatbestände „nehmen zwar den Bezug zur W i r k l i c h k e i t auf, sehen aber diese W i r k l i c h k e i t n u r als vermittelte u n d als verformte."
Β . Bestimmung des Sinnbegiffs
125
einer bestimmten rechtserheblichen Hin-Sicht, d.h. als Sachverhalte konstituiert sind. Sachverhalte bilden demnach das „semantische Gegenstück" zu den Tatbeständen. b) Die Konstitution der Sachverhalte ist stets das Ergebnis einer Befragung der Wirklichkeit. Indem man nach dem juristisch Relevanten i n den realen Erscheinungen fragt, werden die Fakten, die sich zu einem Lebensverhalt summieren, geordnet und gedeutet, das Wesentliche w i r d vom Unwesentlichen getrennt 1 6 4 . „ M i t der Frage w i r d das Befragte i n eine bestimmte Hinsicht gerückt" 1 6 5 . Wie aber läßt sich diese Hin-Sicht bestimmen? Was ist das: der Gesichtspunkt, unter dem die Lebensverhalte betrachtet werden? Jeder Lebensverhalt ist eine zusammengewachsene Einheit einzelner Vorgänge und Zustände i n der Tatsachenwelt. Wenn man einige der Fakten, die einen Lebensverhalt ausmachen, von dem betrachteten Geschehnis wie auch gegen andere Fakten desselben Lebensvorgangs abhebt, werden gewisse Zusammenhänge erkennbar, die man — sofern es sich u m rechtlich relevante Zusammenhänge handelt — als juristische Sachverhalte bezeichnen kann. Die Sachverhalte sind demnach das Ergebnis einer Abstraktion aus vorgegebenen Lebensverhalten 166 . Eine solche Abstraktion ist aber nur möglich, wenn ein Maßstab für die Auswahl und Abhebung einzelner Fakten aus dem Ganzen eines Lebensverhalts zur Verfügung steht. Es muß also ein K r i t e r i u m vorhanden sein, nach dem sich die Relevanz der einzelnen Momente einer realen Erscheinung oder eines Ereignisses bemißt. M i t anderen Worten: Sachverhaltskonstruktionen setzen voraus, daß der Betrachtung der Wirklichkeit eine bestimmte juristische Konzeption zugrundeliegt, ein Gesichtspunkt also, der die einzelnen Lebensverhalte nicht i n der Fülle aller ihrer Momente, d. h. i n ihrer „Ganzheit" erkennbar werden läßt, sondern den Blick von vornherein nur auf die rechtlich relevanten Fakten lenkt. Wer den Sinn eines gesetzlichen Tatbestandes erfassen w i l l , muß sich also darum bemühen, den i m Tatbestand zur Sprache gebrachten Gesichtspunkt und die Lebensverhalte zu erkennen, die sich i n dieser H i n Sicht als gleich erweisen, weil sich bei ihnen dieselben rechtserheblichen Momente nachweisen lassen. Der Gesichtspunkt ist der gemeinsame Nenner, der verschiedene Lebensverhalte miteinander verbindet und zu Signifikaten desselben Tatbestandes werden läßt. Er ist der Maßstab für die Einschätzung der rechtlichen Relevanz von Fakten. 164 Dazu auch Lipps, Logik S. 64; Hruschka, K o n s t i t u t i o n S. 20ff.; Hassemer, Tatbestand S. 103. 165 Gadamer, Wahrheit S. 345. 166 Ebenso Hassemer, Tatbestand S. 103 N. 106 m i t weiteren Nachweisen.
126
§ 3. Der Sinnbegriff
IL Die „Sache Recht" Jedes Verstehen sprachlicher Äußerungen ist ein Sachverstehen; Sinnerkenntnis zielt darauf ab, die Sache zu begreifen, die i n den Wörtern, Sätzen und Texten jeweils zur Sprache gebracht w i r d 1 6 7 . Auch juristisches Verstehen ist letztlich ein Problem „der rechten Verständigung über die Sache" 168 , denn Tatbestände verweisen stets auf eine „Sache Recht" 169 . Was aber ist die „Sache Recht", das „Rechtliche" oder einfach: das „Recht", das einen Tatbestand zu dem macht, was er ist, nämlich zu einer rechtserheblichen sprachlichen Äußerung? 1. Diese Frage führt zunächst zu einer negativen, ausschließenden Antwort. Die „Sache Recht" ist nicht identisch m i t ihren sprachlichen Objektivationen, den Tatbeständen. Als Kombination sprachlicher Zeichen können Tatbestände das „Rechtliche" darstellen, aber sie können es niemals sein; „(...) die ,Sache Recht4 w i r d i n ihnen zwar angesprochen, aber sie ist i n ihnen nicht enthalten" 1 7 0 . Recht ist also den Rechtstexten gegenüber ein aliud, und es ist „u-topisch" i n dem Sinne, daß es keinen Ort (topos) i n der Sprache hat 1 7 1 . Damit das Recht erkennbar ist, muß es allerdings i n die Sprache ausgelegt werden. Es muß — wie Arthur Kaufmann 172 es formuliert — zur Realisation gelangen, leibhafte Gestalt gewinnen. „Dieser Leib des wirklich daseienden Rechts ist das, was w i r seine Positivität nennen" 1 7 2 . Der Begriff der „Positivität des Rechts" bekommt vor diesem Hintergrund einen neuen Sinn. Nach der herrschenden, noch i n positivistischen Vorstellungen befangenen Auffassung ist ein Rechtssatz „positiv", weil i n dieser oder jener Weise eine Autorität hinter i h m steht 173 . Tatsächlich ergibt sich aber die Positivität einer Rechtsnorm nicht daraus, „daß sie von einem Subjekt gesetzt worden ist" 1 7 4 , sondern allein daraus, daß sie das „Rechtliche" erkennbar werden läßt. Positiv i m strengen Sinne ist Recht daher immer dann, wenn es i n der Sprache ausgelegt ist, d. h. i n den Rechtssätzen einen Ort i n der Sprache gefunden hat 1 7 5 . So gesehen 167 Dazu Gadamer , Wahrheit S. 276, 278, 364 f. u n d öfter; Hruschka, stehen S. 44; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 188. lee v g L z u dieser Formulierung Gadamer , Wahrheit S. 362. 169 170
N. 38. 171
Hruschka, Verstehen S. 44, 56 ff. Hruschka, Verstehen S. 54; anders w o h l Larenz,
Ver-
Methodenlehre S. 180
So Hruschka, Verstehen S. 52. Rechtsphilosophie S. 19 u n d S. 113. 173 Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 21, 24. 174 So aber Marcic JZ 1960, 200. 175 So Hruschka, Verstehen S. 22 („Die Positivität des Rechts ist seine A u s gelegtheit.") 172
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
127
„heißt Positivität soviel wie Anwesenheit, Leibhaftigkeit, Dasein des Rechts — anders ausgedrückt: Positivität des Rechts bedeutet ein solches Maß der Aktualisierung und Konkretisierung seines Wesens, daß es ,justiziabel' ist, das heißt, daß w i r es feststellen, handhaben, anwenden können" 1 7 6 . Solange das „Rechtliche" nicht i n sprachlichen Zeichen positiviert ist, ist es noch nicht wirklich existent; „(...) es ist die Möglichkeit von Recht, die erst durch die Positivierung Realität w i r d " 1 7 7 . Das Recht ist also i n seiner Existenz und Wirksamkeit von den Rechts-Auslegungen abhängig. Diese Abhängigkeit ist jedoch nicht einseitig, vielmehr besteht eine umfassende Wechselbeziehung zwischen den rechtserheblichen sprachlichen Äußerungen, den positiven Rechtstexten, und der extrapositiven „Sache Recht", die sie meinen: „Sowenig die positiven Rechtstexte verstanden, und das heißt: wirksam werden können ohne einen Hinblick auf die ,Sache Recht4, sowenig hat das extrapositive ,Rechtliche' ohne die positiven Rechtstexte eine Wirklichkeit; es kann ohne sie nicht w i r k sam werden. Die Extrapositivität des ,Rechtlichen' findet damit ihre Ergänzung i n den allenthalben zu beobachtenden Positivierungen, die sich als notwendig erweisen, und sein u-topischer Charakter findet seine Entsprechung i n den auslegenden Er-örterungen, durch die für das Recht immer wieder ein Ort i n der Sprache gesucht w i r d und gesucht werden muß" 1 7 8 . 2. Recht kann also auf Grund seiner Extrapositivität i n den Rechtssätzen nicht gefunden werden, denn diese weisen als sprachliche Objektivationen stets über sich selbst hinaus. Aber auch i n den Lebensverhalten ist Recht nicht einfach vorhanden, sondern nur als eine Möglichkeit angelegt: Man kann die Wirklichkeit i m Hinblick auf ihre Rechtserheblichkeit betrachten. Das „Rechtliche" selbst liegt offenbar i n der Mitte und ist zu definieren als der Punkt, i n dem ein Tatbestand und verschiedene Lebensverhalte übereinkommen. a) Eine Verbindung zwischen den Tatbeständen und den Lebensverhalten ist m i t der Konstitution der Sachverhalte nach Maßgabe der jeweils benannten Konzeption hergestellt. Während der einzelne Lebensverhalt eine ungeordnete Wirklichkeit ist, i n der das „rote Hemd des Individuums von gleicher Wichtigkeit ist wie dessen Name, die Tageszeit, der Ort des Geschehens, das Wetter, die Motive und die Handlungsweise des Individuums" 1 7 9 , sind die Fakten 176 177 178 179
A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 114, 161. A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 113. Hruschka, Verstehen S. 53. Hassemer, Tatbestand S. 56.
128
§ 3. Der Sinnbegriff
i m Sachverhalt einer bestimmten juristischen Konzeption zugeordnet. Legt man diese Konzeption bei der Beurteilung der Wirklichkeit zugrunde, so können ζ. B. die Bekleidung und der Name des Individuums irrelevant sein, wohingegen sich der Ort des Geschehens und die Handlungsweise des Individuums möglicherweise als rechtserheblich erweisen. Demselben Tatbestand lassen sich stets mehrere Sachverhalte zuordnen. Die Sachverhalte, die ein Tatbestand meint, sind nicht miteinander identisch, sondern unterscheiden sich i n ähnlicher Weise voneinander wie die Lebensverhalte, auf die sie sich beziehen. Sie sind allerdings als Sachverhalte, die durch denselben Tatbestand zur Sprache gebracht werden, dennoch miteinander vergleichbar, weil ihnen ein gemeinsames Strukturprinzip zugrundeliegt. Was dabei als „Strukturprinzip" bezeichnet wird, ist i m Grunde nur ein anderer Name für den Gesichtspunkt (die Konzeption, die Hin-Sicht, die Richtung der Fraglichkeit), auf den die einzelnen Tatbestände verweisen. Wer die juristische Konzeption und damit den Maßstab kennt, an dem sich die rechtliche Relevanz der faktischen Vorgänge und Zustände bemißt, weiß zugleich, welche Struktur die Sachverhalte haben müssen, die dem betreffenden Tatbestand entsprechen sollen. Der jeweils maßgebende rechtliche Gesichtspunkt ist demnach nicht nur der gemeinsame Nenner für eine Vielzahl von Lebensverhalten, bei denen sich die gleichen rechtserheblichen Momente nachweisen lassen, sondern zugleich Grundlage für die Konstruktion der Sachverhalte, die aus diesen Lebensverhalten abstrahiert werden. Als rechtliche Strukturprinzipien sind die i n den Rechtstexten objektivierten Gesichtspunkte Mittler zwischen den Tatbeständen und der Wirklichkeit. Sie sind das tertium comparationis, i n dem Tatbestand und Wirklichkeit übereinkommen 180 . b) Es zeigt sich, daß allein der Verweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt bzw. auf ein Prinzip, das bei der rechtlichen Strukturierung der Fakten zugrundegelegt werden kann, den Tatbestand zu einer rechtserheblichen sprachlichen Äußerung werden läßt. Die i n den Tatbeständen zur Sprache gebrachten Gesichtspunkte (Strukturprinzipien) sind deshalb nicht nur der Punkt, i n dem Tatbestand und Wirklichkeit i n die Entsprechung gebracht werden können, sondern sie sind zugleich das „Rechtliche" selbst, das sich i n der Sachverhaltskonstruktion verwirklicht. Rechtsfindung zielt dementsprechend darauf ab, Tatbestand und Lebensverhalt i n einem tertium, der „Sache Recht", zur Deckung zu bringen, d. h. einen Gesichtspunkt zu erkennen, der einerseits i m Tat180
Dazu bereits § 3 Β . I. 1. c).; vgl. auch Hassemer, Tatbestand S. 118 f.
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
129
bestand genannt ist und andererseits auch an den zu beurteilenden Lebensverhalt „herangetragen" werden kann. Man kann die Gesichtspunkte (Strukturprinzipien), die eine Auswahl der rechtlich relevanten Fakten aus der ungeordneten Wirklichkeit ermöglichen, als „Rechtsphänomene" bezeichnen 181 . E i n Rechtsphänomen ist „jene besondere Sache, die durch den jeweils zu verstehenden Rechtstext hindurch unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht und, indem sie auf diese Weise i n Erscheinung t r i t t , das Verstehen des Textes ermöglicht" 1 8 2 . M i t dem gemeinten Rechtsphänomen w i r d i m Vorgang der Sinnerkenntnis zugleich die „Sache Recht" erkannt, auf die ein Tatbestand verweist. Den Sachverhaltskonstruktionen liegen die Rechtsphänomene immer schon zugrunde. Sie ermöglichen erst die Strukturierung der Wirklichkeit, die dann — als rechtserheblicher Zusammenhang — „Steuerumgehung" oder „Diebstahl" genannt wird. „Ohne einen Blick auf das Rechtsphänomen, oder besser: ohne einen Durchblick durch das Rechtsphänomen Diebstahl wäre die Zusammenfassung und Klassifizierung eines konkreten Verhalts als Diebstahl überhaupt nicht möglich. Das Phänomen gibt den Rahmen tab, i n dem so etwas wie ein Diebstahl erst möglich wird, es erst stiftet die qualifizierende Einheit für die Fülle von Vorkommnissen und Geschehnissen, die ohne diese Einheit sich nicht aufeinander beziehen und völlig auseinanderfallen würden" 1 8 3 . c) Die Bezeichnung der juristischen Konzeption und damit des „Rechtlichen" selbst als „Rechtsphänomen" bedarf noch einer Erläuterung. M i t dieser Benennung soll keineswegs der phänomenologische Standpunkt übernommen werden, daß rechtliche Gebilde — beispielsweise die verdeckte Gewinnausschüttung, die Organschaft oder andere Rechtsphänomene — „ein Sein besitzen so gut wie Zahlen, Bäume oder Häuser" 1 8 4 . M i t der Verwendung des Wortes „Rechtsphänomen" soll vielmehr auf einen anderen Aspekt der rechtsphänomenologischen Untersuchungen hingewiesen werden: Rechtsphänomene sind prinzipiell unabhängig von den rechtlichen Positivierungen 185 . Die positiven Rechtssätze, genauer: die Tatbestände stehen m i t den phänomenologischen Auslegungen 186 auf einer Stufe, denn auch die mit 181 182 183 184 185 186
9
So Hruschka, Verstehen S. 65. Hruschka, Verstehen S. 66. Hruschka, Verstehen S. 66 N. 19. So aber Reinach, Phänomenologie S. 14, Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 65 f. Dazu Bochenski, Denkmethoden S. 30.
Maaßen
130
§ 3. Der Sinnbegriff
der „Wesensschau 4 ' 186 verbundenen Beschreibungen des Geschauten bringen die Rechtsphänomene lediglich „zur Sprache" 187 . I n gleicher Weise stehen die Tatbestände der „Sache Recht" als deren Objektivationen und Positivierungen gegenüber. I m Hinblick darauf erscheint es gerechtfertigt, sich dem Sprachgebrauch der Phänomenologen anzuschließen und „das i n einer Beschreibung Beschriebene, die i n einem Text zum Gegenstand gewordene Sache ein ,Phänomen' zu nennen" 1 8 7 . Beschrieben w i r d i n den Tatbeständen die „Sache Recht". Deren Bezeichnung als „Rechtsphänomen" soll die Extrapositivität des „Rechtlichen" besonders hervorheben. Recht steht immer i n einer anderen Dimension als seine positiven Objektivierungen. 3. Die geschilderten Zusammenhänge werden durch die Abbildung 3 noch einmal verdeutlicht. Tatbestände erfüllen eine zweifache semantische Funktion: Sie bezeichnen Lebensverhalte und verweisen zugleich auf eine „Sache Recht", die man i m Hinblick auf ihre Extrapositivität auch als Rechtsphänomen bezeichnen kann. Eine direkte Beziehung zwischen dem Signifikat (den Lebensverhalten) und dem Tatbestand gibt es nicht. Die Lebensverhalte werden immer nur i n einer bestimmten rechtlichen Hin-Sicht erkennbar. Deshalb muß erst das jeweils gemeinte Rechtsphänomen (die juristische Konzeption; das rechtliche Strukturprinzip) 1 8 8 erkannt sein, damit man weiß, unter welchem Gesichtspunkt die Wirklichkeit zu betrachten ist. Die „Sache Recht" erweist sich insofern als Mittler zwischen Tatbestand und Wirklichkeit 1 8 9 . Wenn die bezeichnete Wirklichkeit aus der jeweils maßgeblichen Richtung der Fraglichkeit erschlossen ist, sind die Sachverhalte bekannt, die dem Tatbestand entsprechen. Die semantische Entsprechung konstituiert sich aus der Beziehung zwischen der „Sache Recht" und dem Signifikat. Die „Sache Recht" funktioniert dabei als Strukturprinzip, als Grundlage einer rechtlichen Strukturierung der Lebens verhalte. 187
Dazu Hruschka, Verstehen S. 66. „Gesichtspunkt" oder „Konzeption" sind passende Bezeichnungen, w e n n die „Sache Recht" zu den Lebensverhalten i n Beziehung gesetzt w i r d , denn dann funktioniert sie als Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Wirklichkeit. Soll m a n dagegen die F u n k t i o n des „Rechtlichen" bei der K o n s t r u k t i o n der Sachverhalte beschreiben, so ist das Wort „ S t r u k t u r p r i n z i p " eine zutreffende Kennzeichnung. 189 Eine rechtsontologische Qualifizierung ist damit nicht verbunden. Es erscheint allerdings bemerkenswert, daß die semantische Einordnung der „Sache Recht" als t e r t i u m comparationis zwischen Tatbestand u n d W i r k l i c h keit offenbar ein rechtsontologisches Analogon i n der Denkform der „ N a t u r der Sache" hat; vgl. dazu Hassemer, Tatbestand S. 113, u n d A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 308 f. 188
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
131
Sinnerkenntnis erfordert zwei Schritte: Es muß zunächst die „Sache Recht" erfaßt werden, u m dann überprüfen zu können, welche Erscheinungen der realen Welt unter dem so erkannten rechtlichen Aspekt ins Blickfeld geraten. Tatbestand
\
\
\
\
\
\
\
\ \ Sachverhalte
\
\
\
\
\
\
\
\
\ \ ^
••Sache
Signifikat
Recht"
(=Lebensverhalte)
R e c h t sphänomen einerseits: andererseits:
S t r u k t u r p r i n z7 i pΛ Gesichtspunkt
Abbildung 3
III. Sinn und Kontext Ein Tatbestand findet wie jedes andere Sprachgebilde seinen Sinn und seine Bedeutung i n der Relation zu einer (rechtlich) strukturierten Wirklichkeit. Sinnerkenntnis hängt davon ab, ob und wie diese Verknüpfung zwischen den rechtserheblichen sprachlichen Äußerungen und dem Gemeinten erfaßt wird. Dabei spielt der semantische, syntaktische und pragmatische Kontext, i n den der einzelne Tatbestand eingeordnet ist, eine entscheidende Rolle, denn der Kontext beeinflußt die semantische Funktion des Tatbestandes und seiner Merkmale 1 9 0 . Des190
So auch Haft JuS 1975, 482, der sich allerdings n u r z u m syntaktischen u n d pragmatischen K o n t e x t äußert. 9*
\
132
§ 3. Der Sinnbegriff
halb hängt es von dem jeweiligen sprachlichen und außersprachlichen „Umfeld" ab, was i m Einzelfall als der Sinn eines Tatbestandes erfaßt wird. „Sinn" ist also auch i m Bereich der rechtserheblichen sprachlichen Äußerungen als eine vom semantischen, syntaktischen und pragmatischen Kontext bestimmte Sprache-Inhalt-Relation zu definieren. 1. Verschiedene Tatbestände oder Tatbestandsmerkmale können inhaltlich miteinander verbunden sein und ein semantisches Gefüge bilden. Jeder Tatbestand, der Teil eines solchen Gefüges ist, erhält seine konkrete Bedeutung erst i m M i t - und Gegeneinander zu seinen inhaltlichen Nachbarn. Der Inhalt eines Tatbestandes ergibt sich aus der jeweils gemeinten juristischen Konzeption und der „konzeptionsadäquaten" Wirklichkeit. Inhaltlich benachbart sind einzelne Tatbestände, falls sich die Konzeptionen (Rechtsphänomene), auf die sie verweisen, zwar einerseits voneinander abheben, andererseits aber auch — auf Grund gewisser Affinitäten und kategorialer Gemeinsamkeiten — einander zuordnen lassen und sich so zu einem Ganzen zusammenfügen. Als Beispiel könnte man die Rechtsphänomene „Diebstahl" (§ 242 StGB) und „Unterschlagung" (§ 246 StGB) nennen. Die durch bestimmte Gemeinsamkeiten miteinander verbundenen juristischen Konzeptionen bilden einen semantischen Kontext, der den Sinn der einzelnen Tatbestände und ihrer Merkmale mitbestimmt. Auch bei den rechtserheblichen sprachlichen Äußerungen richtet sich also die Bedeutung der Wörter, Sätze und Texte nach der Stellung, die sie innerhalb der Gesamtheit inhaltlich benachbarter Ausdrücke einnehmen. Erst durch eine Abgrenzung gegen benachbarte u n d opponierende Inhalte hebt sich der Inhalt eines einzelnen Tatbestandes aus dem Gefüge heraus, zu dem er gehört. Nur i n dem Ganzen des sprachlichen Feldes und kraft dieses semantischen Kontextes kann ein Tatbestand etwas bedeuten. Der Inhalt eines Tatbestandes ist u m so eindeutiger, je deutlicher und vollständiger das angrenzende Feld der inhaltlichen Nachbarn i m Bewußtsein des Verstehenden gegenwärtig ist 1 9 1 . 2. Der Sinn eines Rechtstextes w i r d nicht nur durch das semantische „Umfeld" beeinflußt, sondern auch durch den syntaktischen Kontext, i n den er gestellt ist. Welcher Inhalt einem Tatbestand zugeordnet wird, hängt also nicht zuletzt davon ab, aus welchen Tatbestandsmerkmalen er sich zusammensetzt und i n welches System von Rechtssätzen er eingeordnet ist. Was über die funktionale Beziehung zwischen Wort, Satz und 191
Dazu auch Hassemer, Tatbestand S. 93.
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs
133
Text gesagt wurde 1 9 2 , gilt i n gleicher Weise für das Verhältnis von Tatbestandsmerkmal, Tatbestand und übergeordnetem Normensystem. So ist etwa die Bedeutung der Tatbestandsmerkmale nur dann zu erkennen, wenn man sie als Einzelglieder einer größeren Sinneinheit auffaßt und aus diesem Grunde i n dem jeweiligen Bezug beläßt, von dem sie ihre Bedeutung empfangen. Wer dagegen das einzelne Merkmal aus seinen tatbestandlichen Bezügen löst, indem er von dem jeweiligen syntaktischen Kontext abstrahiert und das Tatbestandsmerkmal für sich betrachtet, ist zu einer Aussage über seinen maßgeblichen Inhalt nicht fähig 1 9 3 . „Die isolierte (...) Betrachtung des einzelnen Begriffs würde ja nur dann zum Ziel führen, wenn es ein Vokabular von kontextunabhängigen Termini gäbe, was aber (...) nicht der Fall ist" 1 9 4 . Wie die Teile nur aus dem Ganzen des Tatbestandes verständlich sind, so bestimmt sich der Sinn eines Tatbestandes aus dem Sinn der i n i h m enthaltenen Tatbestandsmerkmale. Außerdem ist zu beachten, daß jeder Tatbestand seinerseits wieder „ i n einem bestimmten Normen- und Sinnzusammenhang steht, der auch seine sprachliche Bedeutung mitkonstituiert" 1 9 5 . Welcher Inhalt also beispielsweise dem Tatbestand des § 4 Nr. 12 a) UStG zuzuordnen ist, hängt nicht nur davon ab, was die einzelnen Tatbestandsmerkmale („Vermietung", „Verpachtung", „Grundstücke" etc.) bedeuten, sondern bestimmt sich auch nach dem Sinn des Systemzusammenhangs, i n den die fragliche Vorschrift eingeordnet ist, i n diesem Fall also nach dem Sinn des UStG. Die Bedeutung eines Tatbestandes w i r d auch durch die mit i h m i m Rechtssatz verbundene Rechtsfolgenanordnung mitbestimmt 1 9 6 . So w i r d etwa bei der Bestimmung dessen, was der Tatbestand des § 42 AO meint, die Tatsache eine Rolle spielen, daß bei einem „Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts" als Rechtsfolge eine Steuererhebung angeordnet ist, wie sie „bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung" zu erfolgen hätte. Diese „Sanktion" rechtsmißbräuchlicher Maßnahmen ist ein Indiz dafür, daß der Sinn der Verhaltensbeschreibung i n § 42 Satz 1 AO offenbar darin besteht, rechtliche Gestaltungen zu erfassen, die dem jeweiligen (wirtschaftlichen) Hintergrund „nicht angemessen" sind. Damit erweist sich die Rechtsfolgenanordnung i n § 42 Satz 2 AO als M i t t e l zur Erkenntnis des Rechtsphänomens „Steuerumgehung". 192 198 194 195 196
Dazu nochmals § 3 B. I I I . 2. b). So Hassemer, Tatbestand S. 98. Haft JuS 1975, 482. Hassemer, Tatbestand S. 88. Vgl. dazu Hassemer, Tatbestand S. 94/95.
134
§ 3. Der Sinnbegriff
3. Rechtssätze sind i n einer konkreten Lage verfaßt und als sprachliche Äußerungen an Menschen gerichtet, die sich i n einer bestimmten Situation befinden und dadurch i n ihrem Sinnverständnis beeinflußt werden. Was als der Sinn oder die Bedeutung eines Tatbestandes erfaßt wird, ist demnach abhängig von der „Sprechsituation" der Gesetzesverfasser einerseits und der Erkenntnissituation der rechtsanwendenden Interpreten andererseits. Oder anders formuliert: Die semantische Funktion eines Tatbestandes w i r d durch den pragmatischen Kontext mitbestimmt. a) „Als Sprachgebilde ist auch die Norm den Bedingungen der Sprechsituation unterworfen" 1 9 7 . Deshalb kann der Sinn einer rechtserheblichen sprachlichen Äußerung nur dann erkannt werden, wenn man die besonderen Umstände bei der Formulierung des Textes berücksichtigt. Diese Feststellung basiert auf der Erkenntnis, idaß die Bedeutung sprachlicher Zeichen von ihrem Gebrauch i n der Sprache abhängig ist. Der Sprachgebrauch w i r d durch verschiedene Faktoren beeinflußt. Z u diesen Faktoren, die auch bei der Zusammenstellung sprachlicher Gebilde zu einem Tatbestand wirksam werden, gehört etwa der wirtschaftliche und soziale Hintergrund, vor dem die Gesetzesverfasser agiert haben, die Denk- und Ausdrucksweise der Zeit, i n der ein Gesetz entsteht, oder auch die Fähigkeit der Autoren, die gemeinte „Sache Recht" angemessen zu versprachlichen. Ohne eine Berücksichtigung dieser Situationsbedingungen sind die Tatbestände nicht gänzlich zu verstehen. b) Ein Tatbestand ist „sinnvoll" oder „bedeutungsvoll", sobald sich das Sprachgebilde i m Bewußtsein des Verstehenden m i t einem rechtserheblichen Inhalt verknüpft. Außerhalb des Bewußtseins gibt es kein Bedeuten. Wenn aber der Tatbestand und seine Merkmale erst i m Bewußtsein der Erkenntnissubjektive Sinn entfalten können, dann darf bei der Bestimmung der semantischen Funktion einer rechtserheblichen sprachlichen Äußerung von der Person dessen, der sich u m Sinnerkenntnis bemüht, ebensowenig abgesehen werden wie von der Situation, i n der er sich befindet. Damit ist allerdings der pragmatische Kontext noch nicht vollständig beschrieben. Es kommt hinzu, daß das „semantische Gegenstück" zu den Tatbeständen nicht wirklich vorhanden ist, sondern — i m Gegensatz zu den Sprachgebilden, deren Sinn zu ermitteln ist — i n der Vorstellung des Interpreten erst noch ausgebildet werden muß. Die Sachverhalte, die ein Tatbestand meint, werden daher lediglich als vorgestellte Er197
Hassemer, Tatbestand S. 86.
Tatbestand J Rechtssatz (Rechtsfolge) ^
t V
Tatbestandsmerkmale
i Rechtsanwender Rechtssatzsystem (Interpret) ( z . B . AO, BGB) Erkenntnissituation
tc
\
^
^^
^^
^^
Sachverhalte
\
\
/ χ,
/
/
\
/ benachbarte Rechts\ Phänomene \ (konzeptionelles Um— \ f eld) \ ^^ Rechtsphänomen ^J (juristische Konzeption)
/
(Lebensverhalte)
/
Sprechsituation
Semantische Dimension
Signifikat
Syntaktische Dimension
Gesetzgeber (Autor)
Pragmatische Dimension
Tatbestand und Sinnbegriff
Abbildung 4
Β . Bestimmung des Sinnbegriffs 135
136
§ 3. Der Sinnbegriff
scheinungen m i t dem sprachlichen Ausdruck verbunden. Damit finden aber die rechtserheblichen sprachlichen Äußerungen ihren Sinn i n der Relation zu etwas Vorgestelltem. Und das bedeutet, daß die SpracheInhalt-Beziehung, die den Sinn ausmacht, einen ihrer Bezugspunkte i m Subjektiven hat. Das mag erklären, weshalb derselbe Tatbestand von verschiedenen Menschen oft unterschiedlich „ausgelegt" wird. 4. Die Bedeutung des semantischen, syntaktischen und pragmatischen Kontextes für den Sinnbegriff soll durch die Abbildung 4 noch einmal verdeutlicht werden. Das Verhältnis zwischen den Tatbestandsmerkmalen, dem Tatbestand, der Rechtsfolge und dem übergeordneten Rechtssatzsystem ist als funktionale Beziehung bereits beschrieben. Allerdings sind nicht nur der Tatbestand und sein syntaktischer Kontext funktional aufeinander bezogen, vielmehr w i r d auch i m Verhältnis der Tatbestände zu ihrem semantischen und pragmatischen Kontext so etwas wie eine Funktion erkennbar. Die funktionale Verknüpfung m i t dem jeweiligen pragmatischen Kontext w i r d Gegenstand der anschließenden hermeneutischen Überlegungen sein.
§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis A . Hermeneutische Grundlegung
Die semantischen Erkenntnisse sollen durch eine Untersuchung der (eigentlichen) hermeneutischen S t r u k t u r e n des Verstehensphänomens ergänzt werden. Erst w e n n außer dem Erkenntnisobjekt auch der E r kenntnisVorgang beschrieben ist, w i r d das Verstehensphänomen v o l l ständig begreifbar sein. Wer sich über den Vorgang der Sinnerkenntnis K l a r h e i t verschaffen w i l l , muß danach fragen, w i e Verstehen möglich ist. Das aber ist eine Frage, die dem methodischen Verhalten der verstehenden Wissenschaften, ihren Normen u n d Regeln, immer schon vorausliegt 1 . „Nicht, was w i r tun, nicht, was w i r t u n sollten, sondern was über unser Wollen u n d T u n hinaus m i t uns geschieht, steht i n Frage" 2 . Es geht also nicht darum, ein Erkenntnisverfahren zu entwickeln, sondern darum, die Bedingungen aufzuklären, unter denen Verstehen geschieht 3 . I n diesem Sinne versucht die nachfolgende Untersuchung, über die Methodenlehre hinauszudenken u n d i n prinzipieller Allgemeinheit darzustellen, was i m m e r schon geschieht. Eine solche philosophische Theorie der Hermeneutik darf nicht als eine richtige oder falsche („gefährliche") Methodologie mißverstanden werden 4 . I . Strukturmomente
des Verstehens
Der Umgang m i t Sprachgebilden, deren Sinn erfaßt werden soll, ist m i t dem Vorgang der Verständigung i n einem Gespräch vergleichbar. Z w a r stimmt die hermeuneutische Situation gegenüber den schriftlich fixierten Äußerungen nicht genau m i t der zwischen zwei Gesprächspersonen überein, denn der eine Partner des „hermeneutischen Gesprächs", der sprachliche Ausdruck, k a n n überhaupt n u r durch den anderen Partner, den Interpreten, zu W o r t kommen. Gleichwohl geht es auch bei der 1
Dazu Gadamer , Wahrheit S. X V I I / X V I I I , 514, 518. Gadamer, Wahrheit S. X X I . 3 Vgl. Gadamer, Wahrheit S. 279; Hruschka, Verstehen S. 10/11. 4 Vgl. Gadamer, Wahrheit S. 484, gegen Betti (Hermeneutik S. 34 f., 38, 42ff., 50ff.; Auslegungslehre S. 165ff., 620ff.); zu den Absichten der philosophischen Hermeneutik vgl. auch Habermas, Universalitätsanspruch S. 120 f.; Gadamer, Replik S. 287; Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 34. 2
138
§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
„Verständigung" m i t einem Sprachgebilde darum, die gemeinte Sache zur Sprache zu bringen. Insofern ist es aber „wie beim wirklichen Gespräch, daß die gemeinsame Sache es ist, die die Partner, hier den Text und den Interpreten, miteinander verbindet" 5 . Man kann also die hermeneutische Aufgabe durchaus als ein In-das-Gespräch-Kommen mit einer sprachlichen Äußerung und das Verstehen selbst als dialogischen Prozeß begreifen 6 . Vor allem erscheint die Annahme berechtigt, daß die Bedingungen, unter denen eine Verständigung m i t dem „ D u " i m Gespräch steht, zugleich bestimmend sind für die „Kommunikation" m i t Wörtern, Sätzen oder Texten. Die Gesprächssituation w i r d damit zu einem Modell, an dem die wesentlichsten Strukturmomente des Verstehens sichtbar werden 7 . 1. Ein Gespräch w i r d begonnen, u m jemandem etwas be-greiflich zu machen. Erstrebt w i r d ein Einverständnis i n der Sache. Insofern ist jedes echte Gespräch 8 ein Vorgang der Verständigung 9 . Über die Strukturmomente eines Gesprächs geben vor allem die gestörten und erschwerten Situationen der Verständigung Aufschluß. Dazu gehören die Fälle, i n denen ein Gespräch i n zwei einander fremden Sprachen allein durch die Ubersetzung ermöglicht wird 1 0 . „Die Ubersetzung ist nur die extreme Variante einer Leistung, auf die sich jedes normale Gespräch verlassen muß" 1 1 . Wenn die Gesprächspartner verschiedenen Sprachgemeinschaften angehören und die Sprache des einen dem anderen nicht bekannt ist, w i r d eine Kommunikation zunächst blockiert, weil jeder der Beteiligten i n seiner eigenen Sprachwelt lebt. Eine Verständigung setzt voraus, daß ein Übersetzer das Gemeinte i n die jeweils andere Sprache auslegt. Anders formuliert: Er muß „den zu verstehenden Sinn i n den Zusam5
Gadamer, Wahrheit S. 365. Vgl. Gadamer, Wahrheit S. 350, 361 ff.; ebenso Habermas, L o g i k S. 254; ders., Erkenntnis S. 226 („Das hermeneutische Verstehen bindet den I n t e r preten an die Rolle eines Dialogpartners.") u n d S. 227 („Verstehen ist k o m m u n i k a t i v e Erfahrung."). 7 Vgl. dazu auch Hauff, Hermeneutik S. 19; a . A . Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 45 ff., der eine solche „Dialogisierung des Verstehens" k r i tisiert. 8 „Unecht" ist etwa das therapeutische Gespräch, bei dem m a n den Gesprächspartner als I n d i v i d u u m i m Auge hat u n d nicht als den A u t o r einer M i t t e i l u n g ; vgl. dazu Gadamer, Wahrheit S. 363. A l s „unecht" müssen aber auch die Gespräche gelten, bei denen eine Verständigung v o n vornherein unmöglich ist, w e i l der Gesprächspartner nichts aussagen w i l l oder zu einer Aussage nicht fähig ist. 9 So Gadamer, Wahrheit S. 363. 10 Vgl. Gadamer, Wahrheit S. 362; Bultmann, Hermeneutik S. 218. 11 Habermas, L o g i k S. 254; ebenso Gadamer, Wahrheit S. 363. β
Α. Hermeneutische Grundlegung
139
menhang hinübertragen, i n dem der Partner des Gesprächs lebt" 1 2 . Der Sinn soll zwar bei diesem Vorgang der Übertragung erhalten bleiben, „aber da er i n einer neuen Sprachwelt verstanden werden soll, muß er i n ihr auf neue Weise zur Geltung kommen" 1 2 . Dadurch entsteht immer ein Abstand zwischen dem Sinn des ursprünglichen Wortlauts des Gesagten und dem der Wiedergabe, dessen Uberwindung nie ganz gelingen wird 1 2 . Der Sinn erfährt also durch die Übertragung i n eine andere Sprachwelt eine Veränderung. Die Situation des Gesprächs, das auf eine Ubersetzung des Gesagten angewiesen ist, verdeutlicht zugleich, daß eine Verständigung i m Gespräch nicht so sehr eine sprachliche Verständigung ist, sondern ein sachliches Einverständnis voraussetzt: Verständlich ist die fremdsprachige Äußerung des Gesprächspartners, wenn sowohl das zu übersetzende Sprachgebilde als auch das sprachliche Produkt des Ubersetzungsvorgangs auf dieselbe Sache verweisen. Die richtige Sprachbeherrschung ist demnach keine entscheidende Bedingung eines Gesprächs, und ebensowenig kommt es darauf an, sich i n den Gesprächspartner zu versetzen und dessen Erlebnisse nachzuvollziehen. Notwendige Voraussetzung dafür, daß man mit einem anderen ins Gespräch kommt, ist allein die Möglichkeit einer rechten Verständigung über die Sache i m Medium der Sprache 13 . A u f welche Sache i n einem Gespräch hingewiesen werden soll läßt sich nur durch ein Fragen nach dem Gemeinten ermitteln. Jedes sacherschließende Erkennen ist auf das M i t t e l der Frage angewiesen 14 und deshalb hat jedes Gespräch, das eine Verständigung über eine Sache bezweckt, notwendig die Struktur von Frage und A n t w o r t 1 5 . Dabei ist die Befragung des Gesprächspartners stets durch ein bestimmtes Woraufhin geleitet 16 ; sie ist nicht auf ein zufälliges Finden abgestellt, sondern man sucht etwas: die gemeinte Sache17. 2. Auch das Verhältnis der Erkenntnissubjekte zu einem Gebilde der Schriftsprache ist ein Wechselverhältnis von der A r t eines Gesprächs. „Zwar redet ein Text nicht so zu uns wie ein Du. Wir, die Verstehenden, müssen i h n von uns aus erst zum Reden bringen" 1 8 . Aber sobald das 12
Gadamer , Wahrheit S. 362. Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 361/362; ebenso Larenz, Methodenlehre S. 179/180; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 188. 14 Vgl. auch Gadamer , Wahrheit S. 345: „ E i n Reden, das eine Sache aufschließen soll, bedarf des Aufbrechens der Sache durch die Frage." 15 So Gadamer , Wahrheit S. 349. 16 Dazu auch Bultmann, Hermeneutik S. 217/218; Gadamer , Wahrheit S. 345. 17 Ä h n l i c h Hruschka, K o n s t i t u t i o n S. 22. 18 Gadamer , Wahrheit S. 359. 13
140
§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
gelingt, werden die Wörter, Sätze und Texte, deren Sinn das verstehende Subjekt begreifen w i l l , zu einem echten Kommunikationspartner, m i t dem man sich über das jeweils Gemeinte verständigen kann 1 9 . Wenn man allerdings das Interpretandum und den Interpreten als Partner i n einem kommunikativen Prozeß begreift, dann ist die Beziehung zwischen dem Interpreten und seinem Erkenntnisobjekt als Verhältnis von beobachtendem Subjekt und beobachteten Gegenstand nicht richtig erfaßt 20 . Subjekt und Objekt des Erkenntnisverfahrens stehen sich keineswegs unvermittelt, sondern i m Verhältnis von teilnehmendem Subjekt und Gegenspieler gegenüber 21 . Sinnerkenntnis als „rechte Verständigung über die Sache" w i r d durch die Interaktion beider vermittelt. Jedes hermeneutische Verfahren ist „auf die Wahrung der Intersubjektivität der Verständigung gerichtet" 22 . Die Gefahr eines Kommunikationsabbruchs besteht vor allem i m Verhältnis zwischen der (sprachlich objektivierten) Uberlieferung und der Gegenwart. Was i m Verstehen geleistet werden muß, ist eine Uberbrückung von Abständen zwischen den Generationen 23 , ein Hinübertragen dessen, was die sprachlichen Objektivationen meinen, i n den Zusammenhang, i n dem w i r als Partner des Gesprächs m i t der Uberlieferung stehen. Die Strukturmomente eines solchen Übertragungsvorgangs werden — ähnlich wie beim Dialog — an dem extremen Fall der Ubersetzung aus einer fremden Sprache besonders deutlich. „Die Nachbildungsaufgabe des Ubersetzers ist nicht qualitativ, sondern nur graduell von der allgemeinen hermeneutischen Aufgabe verschieden, die jeder Text stellt" 2 4 . Die grundlegende Differenz zwischen der Sprache des Textes und der Sprache dessen, der verstehen w i l l , kann der Ubersetzer nicht aufheben 25 , sondern allenfalls dadurch überbrücken, daß er den zu verstehenden Sinn aus der Sprachwelt des Textautors i n den Lebenszusammenhang des „Dialogpartners" hinüberträgt. I n jedem F a l l w i r d zwischen dem Verstehenden und dem Text auch bei gelungener Ubersetzung ein Abstand bleiben. Das gilt nicht nur für Ubersetzungen auf horizontaler Ebene zwischen konkurrierenden Sprachgemeinschaften, sondern i n gleicher Weise für solche „Ubersetzungen", die zwischen den 19
So Gadamer , Wahrheit S. 340. So aber Betti (Hermeneutik S. 12 f.; Auslegungslehre S. 181 ff.), der dam i t an Schleiermacher anknüpft. 21 Vgl. dazu v o r allem Habermas, Erkenntnis S. 227. 22 Vgl. Habermas, Erkenntnis S. 221/222. 23 So Habermas, Logik S. 257. 24 Gadamer, Wahrheit S. 365; ebenso Habermas, L o g i k S. 254. 20
Α . Hermeneutische Grundlegung
141
Generationen und Epochen notwendig sind 23 . Auch das i n sprachlicher Form Überlieferte ist uns — selbst wenn der Text die Sprache unserer Sprachgemeinschaft spricht — zunächst entfremdet und muß deshalb „ i n die lebendige Gegenwart des Gesprächs zurückgeholt" werden 26 . Dabei kann das verstehende Subjekt „den offenen Horizont der eigenen Lebenspraxis nicht einfach überspringen und den Traditionszusammenhang, durch den seine Subjektivität gebildet ist, nicht schlicht suspendieren, u m i n den subhistorischen Lebensstrom einzutauchen, der die genießende Identifikation aller m i t allen erlaubt" 2 7 . Vielmehr bleibt man stets der eigenen Situation verhaftet. Die Übersetzung eines Textes ist nicht als eine Wiedererweckung des ursprünglichen seelischen Vorgangs des Schreibens zu begreifen, sondern als eine Nachbildung des Textes i n einer anderen Sprache, die durch das Verständnis des i n i h m Gesagten geführt wird 2 8 . Wahrhaft nachbilden w i r d nur der Übersetzer, „der die i h m durch den Text gezeigte Sache zur Sprache bringt" 2 9 . Es muß zu einem Einverständnis i n der Sache kommen, wenn die Übersetzung gelingen soll 30 . Insofern ist es „wie beim wirklichen Gespräch, daß die gemeinsame Sache es ist, die die Partner, hier den Text und den Interpreten, miteinander verbindet. So wie der Übersetzer als Dolmetsch die Verständigung i m Gespräch nur dadurch ermöglicht, daß er an der verhandelten Sache teilnimmt, so ist auch gegenüber dem Text die unentbehrliche Voraussetzung für den Interpreten, daß er an seinem Sinn teilnimmt" 3 1 . Die jeweils gemeinte Sache w i r d i n einem Gespräch durch das Wechselspiel von Frage und A n t w o r t sichtbar gemacht. Auch Texte geben ihren Sinn i n einer Befragung preis 32 . Jeder Text ist als A n t w o r t von einer Frage her verstehbar, auf die er A n t w o r t ist 3 3 . Wer die Frage kennt, die der Text beantwortet, hat den Text bereits verstanden. Die Dialektik von Frage und A n t w o r t kann also dem Interpreten auch den Sinn eines Textes erschließen, sofern es i h m gelingt, den Text zum 25
So Gadamer , Wahrheit S. 363. Gadamer , Wahrheit S. 350. 27 Habermas, Erkenntnis S. 227/228. 28 Vgl. auch Gadamer , Wahrheit S. 363, u n d Bultmann, Hermeneutik S. 216. 29 Gadamer , Wahrheit S. 364. 30 Dazu Gadamer , Wahrheit S. 276; Hruschka, Verstehen S. 45: „ W e r einen Text verstehen w i l l , muß also auf die Sache sehen, über die der T e x t spricht, u n d er vermag den T e x t n u r insoweit zu verstehen, als er sich einen Blick auf die Sache verschaffen kann." 31 Gadamer, Wahrheit S. 365. 32 Vgl. dazu auch Hinderling, Verstehen S. 21/22; Hruschka, Konstitution S. 20 ff. 33 So Gadamer, Wahrheit S. 352. 26
142
§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
Heden zu bringen und so eine Wechselbeziehung zwischen sich und dem Befragten herzustellen. II.
Verstehen
als wirkungsgeschichtlicher
Vorgang
Das Gesprächsmodell verdeutlicht nur einige der Strukturmomente, die den Verstehensprozeß bestimmen. M i t dem Hinweis auf einzelne Bedingungen der Sinnerkenntnis ist aber das Verstehen selbst noch nicht erklärt. Dieser Vorgang ist erst durchschaut, wenn man das Strukturprinzip kennt. Bei Gadamer heißt dieses Prinzip „Wirkungsgeschichte"; Verstehen w i r d als „wirkungsgeschichtlicher Vorgang" begriffen 34 . 1. Jedes Verstehen „ist eingebettet i n ein Uberlieferungsgeschehen, das den individuellen Erkenntnisprozeß (...) trägt und umgreift" 3 5 . Das verstehende Subjekt kann sich von der sprachlich objektivierten Überlieferung nicht so weit distanzieren, daß es ein gegenständliches Wissen von i h r erlangt. Aus diesem Grunde ist auch i n unserem Verhalten zur Vergangenheit, die uns i n den sprachlichen Äußerungen begegnet, nicht Abstand und Freiheit vom Überlieferten das wesentliche Anliegen, sondern die Integration von Vergangenheit und Gegenwart i m Verstehen 38 . a) Zwischen dem Vorgang der sprachlichen Objektivierung eines Gemeinten und dem Erkenntnisprozeß, i n dem das Sprachgebilde verstanden werden soll, besteht ein zeitlicher Abstand. Die Zeit ist allerdings kein Abgrund, der überwunden werden muß, weil er trennt und fernhält. „ I n Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist nicht ein gähnender Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, i n deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt" 3 7 . Die Überwindung des historischen A b standes zwischen dem verstehenden Subjekt und dem Erkenntnisobjekt vollzieht sich i n einer beständigen Vermittlung der Vergangenheit mit der Gegenwart von selbst 38 . Was der Interpret somit als Uberlieferung erkennt, ist stets eine an die Gegenwart bereits vermittelte, eben eine „überlieferte" Vergangenheit; „(...) die Kontinuität der Uberlieferung hat faktisch den Abstand des Interpreten zu seinem Gegenstand immer schon überbrückt" 3 9 . 34 Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 283 u n d öfter; dazu auch die Hinweise bei Hufnagel, Hermeneutik S. 57 ff. 35 Hauff, Hermeneutik S. 22. 36 Vgl. dazu Gadamer , Wahrheit S. X X , 266, 274. 37 Gadamer , Wahrheit S. 281. 38 So Gadamer , Wahrheit S. 274. 39 Habermas, Logik S. 264.
Α . Hermeneutische Grundlegung
143
Die Vergangenheit ist also m i t der Gegenwart i m Überlieferungsgeschehen verbunden. Der Interpret selbst ist ein Teil dieses Geschehens, denn er steht „ständig i n Überlieferungen, und dieses Darinstehen ist kein vergegenständlichendes Verhalten, so daß das, was die Überlieferung sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre — es ist immer schon Eigenes, Vorbild und Abschreckung, ein Sichwiedererkennen, i n dem für unser späteres historisches Nachurteil kaum noch Erkennen, sondern unbefangenste Anverwandlung der Überlieferung zu gewahren ist" 4 0 . M i t anderen Worten: Man ist i n das Überlieferungsgeschehen verstrickt und kann sich deshalb vom Überlieferten nicht einfach ablösen, indem man es als Gegenstand der Erkenntnis von sich selbst abhebt. Die eigene Subjektivität ist durch den Traditionszusammenhang gebildet, i n dem w i r stehen 41 ; unser Bewußtsein ist i m Gang der Geschichte erwirkt und durch die Geschichte bestimmt 4 2 . W i r bleiben stets einem Traditionszusammenhang verhaftet, dem w i r ebenso als Moment angehören wie unser Erkenntnisgegenstand 43 . Der „offene Horizont der eigenen Lebenspraxis" läßt sich nicht einfach überspringen 44 , weil man sich selbst nicht i n einen Gegensatz zur Überlieferung bringen kann. „Die Hermeneutik muß davon ausgehen, daß wer verstehen w i l l , m i t der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden ist und an die Tradition Anschluß hat oder Anschluß gewinnt, aus der die Überlieferung spricht" 4 5 . Die beständige Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart i m Überlieferungsgeschehen bewirkt letztlich eine Mitzugehörigkeit der überlieferten Erkenntnisobjekte zur gegenwärtigen Welt 4 6 . „Sie verstehen, heißt nicht primär, auf vergangenes Leben zurückschließen, sondern bedeutet gegenwärtige Teilhabe an Gesagtem" 47 . Verstehen ist somit keine Reproduktion des Vergangenen, sondern Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn 4 8 . Die unaufhebbare Verstrickung der verstehenden Subjekte i n einen Traditionszusammenhang läßt das erkennende Verhalten zum Sein dessen gehören, was verstanden wird: „Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken i n ein Uberlieferungsgeschehen, i n dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln" 4 9 . 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Gadamer , Wahrheit S. 266. So Habermas, Erkenntnis S. 228. Vgl. Gadamer , Wahrheit S. X X I / X X I I . Dazu auch Habermas, Logik S. 263. So auch Habermas, Erkenntnis S. 227/228. Gadamer, Wahrheit S. 274. So Gadamer, Wahrheit S. 274. Gadamer, Wahrheit S. 369. Vgl. Gadamer, Wahrheit S. 370. Gadamer, Wahrheit S. 274/275.
144
§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
Verstehen ist also durch die Geschichtlichkeit der verstehenden Subjekte bestimmt. Aus diesem Grunde ist i n jedem Verstehen immer auch die Geschichte wirksam: als „Wirkungsgeschichte". Verstehen ist i n ein Überlieferungsgeschehen eingebettet und deshalb „seinem Wesen nach ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang" 5 0 . b) I n allem Verstehen w i r d die wirkungsgeschichtliche Verflechtung der Erkenntnissubjekte wirksam — ob sich die Interpreten dessen bewußt sind oder nicht. Die Wirkungen der Wirkungsgeschichte lassen sich vorläufig so beschreiben, daß „das nachkommende Verstehen der ursprünglichen Produktion gegenüber eine prinzipielle Überlegenheit besitzt und deshalb als ein Besserverstehen formuliert werden kann" 5 1 . Zwischen dem Interpreten und dem Urheber einer sprachlichen Äußerung besteht eine unaufhebbare Differenz, die durch den geschichtlichen Abstand gegeben ist 5 1 . Der Interpret bleibt stets seiner hermeneutischen Ausgangslage verhaftet und kann sich deshalb nicht i n die seelische Verfassung des Autors versetzen. Der Vorgang der Sinnerkenntnis wäre daher als „geheimnisvolle Kommunion der Seelen" mißverstanden 52 . Ziel aller Verständigung und des Verstehens ist allein das Einverständnis i n der Sache. Diese „Sache" ist nicht einfach vorhanden und durch ein Hineinversetzen i n den Autor ohne weiteres zu entdecken, sondern sie konstituiert sich i n der Integration von Vergangenheit und Gegenwart beim jedem Verstehen neu. I m Verstehen zeigt sich die Überlieferung, das „Andere", so sehr von der Gegenwart, also vom „Eigenen" her, „daß es gar nicht mehr als Eigenes und Anderes zur Aussage kommt" 5 3 . Statt dessen w i r d i n dem Erkenntnisobjekt das Andere des Eigenen und damit das Eine wie das Andere erkennbar 54 . Der Sinn eines Ausdrucks ist verstanden, wenn sich das Eine und das Andere zu einer Einheit verbinden, wenn also Vergangenheit und Gegenwart integriert sind. Demnach verweist das Sprachgebilde auf eine Sache, „die nicht nur meine oder die meines Autors, sondern eine gemeinsame Sache ist" 5 5 . Verstehen ist dementsprechend als „Teilhabe am gemeinsamen Sinn" zu begreifen 56 . Was als „Sinn" der Wörter, Sätze und Texte erfaßt wird, ist also „immer auch durch die geschichtliche Situation des Interpreten m i t bestimmt" 5 7 . Das bedeutet aber, daß die Ausschöpfung des wahren 50 51 52 53 54 55 56
Gadamer , Wahrheit S. 283. Gadamer , Wahrheit S. 280. Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 276. Dazu Gadamer, Wahrheit S. 284. So Gadamer, Wahrheit S. 283. Gadamer, Wahrheit S. 366. Dazu Gadamer, Wahrheit S. 276.
Α . Hermeneutische Grundlegung
145
Sinnes einer sprachlichen Objektivation nicht irgendwo und irgendwann zum Abschluß kommt, sondern wie das Uberlieferungsgeschehen selbst ein unendlicher Prozeß ist. „Es werden nicht nur immer neue Fehlerquellen ausgeschaltet, so daß der wahre Sinn aus allerlei Trübungen herausgefiltert wird, sondern es entspringen stets neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren" 58 . Daran w i r d deutlich, daß der Sinn einer sprachlichen Äußerung nicht nur gelegentlich, sondern immer ihren Autor übertrifft, w e i l i n jede „Wiedererweckung des Textsinnes" eigene, durch das Ganze der Uberlieferung bestimmte Gedanken der Erkenntnissubjekte einfließen 59 . „Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten" 6 0 . Jede Zeit w i r d eine überlieferte sprachliche Äußerung auf ihre Weise verstehen — zwar nicht unbedingt besser, wohl aber anders als der Autor 6 0 . c) Die Macht der Wirkungsgeschichte hängt nicht von ihrer Anerkennung ab, vielmehr setzt sie sich auch dort durch, „wo man i m Glauben an die Methode die eigene Geschichtlichkeit verleugnet" 6 1 . Das w i r kungsgeschichtliche Moment ist und bleibt demnach i n allem Verstehen von Uberlieferung wirksam. Denn jeder Interpret ist durch denselben Traditionszusammenhang m i t seinem Gegenstand verbunden und kann sich aus diesem Lebensverhältnis zur Überlieferung nicht einfach herausreflektieren 62 . Wer diese Wirkung der Wirkungsgeschichte i n der „Naivität des Methodenglaubens" bestreitet, w i r d entweder deren Macht als eine vis a tergo erfahren oder eine tatsächliche Deformation der Erkenntnis i n Kauf nehmen müssen 63 . 2. Jede Situation vermittelt einen Standort, der den Gesichtskreis („Horizont") und damit die Möglichkeit des Sehens beschränkt 64 . Der hermeneutische Standort w i r d u. a. durch die sprachlichen Möglichkeiten des jeweiligen Interpreten bestimmt; dessen Gesichtskreis ist (auch) durch die Umgangssprache, die er gelernt hat und i n die er hineingewachsen ist, abgesteckt 65 . Die Grenzen des eigenen Gesichtskreises sind nicht nur für die Wirklichkeitserkenntnis, sondern auch für jede Sinnerkenntnis bestimmend. 57 58 59 60 61 62 63 64 65
Gadamer , Wahrheit S. 280; ebenso ders., Wörterbuch Sp. 1069/1070. Gadamer , Wahrheit S. 282. Vgl. auch Gadamer , Wahrheit S. 280, 354, 366. Gadamer , Wahrheit S. 280. Gadamer , Wahrheit S. 285. Gadamer , Wahrheit S. X X I , 343. So Gadamer , Wahrheit S. 285, 343. Dazu Gadamer , Wahrheit S. 286. Vgl. auch Hauff, Hermeneutik S. 27, 28, m i t Hinweis auf Habermas.
10 Maaßen
146
§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
I m Verstehensprozeß sind zunächst immer zwei Horizonte einander gegenübergestellt: der Horizont der Gegenwart, i n dem das Erkenntnissubjekt lebt, und der Horizont der Vergangenheit, der die zu verstehende sprachliche Äußerung umgibt 6 6 . Der Horizont der Gegenwart ist allerdings nicht durch einen festen Bestand persönlicher Möglichkeiten bestimmt und begrenzt, so daß sich die Andersheit der Vergangenheit dagegen wie gegen einen festen Grund abhebt. „Es macht die geschichtliche Bewegtheit des menschlichen Daseins aus, daß es keine schlechthinnige Standortgebundenheit besitzt und daher auch niemals einen wahrhaft geschlossenen Horizont" 6 7 . Der Horizont der Gegenwart ist vielmehr „ i n steter Bildung begriffen" 68 ; er ist zu begreifen als etwas, „ i n das w i r hineinwandern und das m i t uns mitwandert" 6 7 . M i t der Zeit verschieben sich die Horizonte, wobei vor allem die Begegnung mit der Vergangenheit und das Verstehen der Uberlieferung, aus der w i r kommen, eine Horizontveränderung bewirken kann. Denn i m Verstehen lassen sich Vergangenheit und Gegenwart nur dann integrieren, wenn der historische Horizont der sprachlichen Objektivation i n den Gegenwartshorizont des Verstehenden aufgenommen wird. A u f diese Weise werden aber die vermeintlich für sich seienden Horizonte der Gegenwart und der Vergangenheit, des Interpreten und des Interpretandum, i m Vorgang der Sinnerkenntnis miteinander verschmolzen. Dadurch bilden sie sich gegenseitig fort, d.h. es kommt zu einer Verschiebung der Horizonte. Verstehen ist demnach nicht nur als Einfühlung i n die Individualität des Autors einer sprachlichen Äußerung, sondern auch als Unterwerfung des Autors oder seiner Äußerung unter die eigenen Maßstäbe mißverstanden. Verstehen „bedeutet immer die Erhebung zu einer höheren Allgemeinheit, die nicht nur die eigene Partikularität, sondern auch die des anderen überwindet" 6 7 . Für den Verstehenden geht es stets darum, historischen Horizont zu gewinnen, d. h. über seine eigene Situation hinauszusehen, nicht u m von ihr abzusehen, sondern u m sie i n einem größeren Ganzen und i n richtigeren Maßen besser zu sehen 69 . Richtiges Verstehen setzt voraus, daß der Horizont der Gegenwart nicht etwa ausgelöscht, sondern m i t dem Horizont, aus dem die Uberlieferung stammt, verschmolzen wird 7 0 . „ I m Vollzug des Verstehens geschieht eine wirkliche Horizontverschmelzung, die m i t dem Entwurf des historischen Horizontes zugleich dessen Aufhebung vollbringt" 7 1 . 66 67 68 69 70 71
Vgl. Hruschka, Verstehen S. 47. Gadamer , Wahrheit S. 288. Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 289. So Gadamer , Wahrheit S. 288/289. Dazu Habermas, Logik S. 261 f. Gadamer , Wahrheit S. 290.
Α. Hermeneutische Grundlegung
147
Jede Horizontverschmelzung ist ein Prozeß der Erfahrung. Der Gegenwartshorizont und der Horizont der sprachlichen Äußerung, unser Wissen und sein Gegenstand, ändern sich angesichts der Erfahrung, die man an diesem Gegenstand macht. Eine Erfahrung, die man „macht", durchkreuzt immer eine Erwartung: Etwas verhält sich nicht so, wie man zunächst angenommen hat 7 2 . „Wenn w i r an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, daß w i r die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht" 7 3 . Der Prozeß der Erfahrung ist also wesentlich negativ, aber diese Negativität hat einen „eigentümlich produktiven Sinn" insofern, als sie dem Erfahrenden Einsichten und damit ein gesteigertes Wissen, kurz: einen neuen Horizont vermittelt 7 4 . Zugleich verändert sich für den, der die Erfahrung macht, der Gegenstand der Erfahrung, den er nun besser kennt. Hermeneutische Erfahrung hat es m i t der sprachlich objektivierten Uberlieferung zu tun; sie ist es, die zur Erfahrung kommen soll 75 . 3. I m Verstehen findet „immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten" statt 7 6 . Die Anwendung („Applikation") t r i t t zum Verstehen nicht erst nachträglich hinzu, sondern ist ein integrierender Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs 77 . Demnach muß man sich nicht nur Verstehen und Auslegen, sondern dazu auch Verstehen und Anwenden als i n einem einheitlichen Vorgang begriffen denken 78 . Wenn aber die A p p l i kation das Verstehensphänomen von vornherein und i m Ganzen m i t bestimmt, dann darf der Interpret einer sprachlichen Äußerung nicht von sich selbst und der konkreten hermeneutischen Situation, i n der er sich befindet, absehen wollen. „ E r muß den Text auf diese Situation beziehen, wenn er überhaupt verstehen w i l l " 7 9 . 72
Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 337, 338. Gadamer , Wahrheit S. 336. 74 So Gadamer , Wahrheit S. 335, 336. 75 Gadamer , Wahrheit S. 340. 76 Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 291; ebenso Habermas, Antrittsvorlesung S. 158; ders., Logik S. 275. 77 So Gadamer , Wahrheit S. X X , 291, 307; ders., Wörterbuch Sp. 1068; Habermas, Logik S. 275 ; Hinderling, Verstehen S. 27. 78 Gadamer, Wahrheit S. 291. 79 So Gadamer, Wahrheit S. 307. I m Rahmen dieser Untersuchung wäre der falsche Weg beschritten, w e n n m a n das applikative Moment i m Verstehen am Beispiel der juristischen H e r meneutik nachweisen wollte, w i e es etwa bei Gadamer (S. 307 ff.) geschieht. Anders als bei Gadamer soll hier der Nachweis geführt werden, daß die Bedingungen, unter denen Verstehen ganz allgemein geschieht, auch i m Bereich der juristischen Hermeneutik w i r k s a m sind. Wollte man daher Gadamers These v o n der exemplarischen Bedeutung der juristischen H e r meneutik übernehmen, u m damit die allgemeine Vollzugsweise des Verstehens zu erläutern, so wäre als Voraussetzung genommen, was erst noch nachgewiesen werden soll. 73
10·
§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
148
III.
Vorverständnis
und hermeneutischer
Zirkel
„Wer einen Text verstehen w i l l , vollzieht immer ein Entwerfen. Er w i r f t sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn i m Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. I m Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen i n den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht" 80 . 1. Verstehen ist ohne ein Vor-Verstehen nicht möglich; Vor-Urteile sind die Bedingungen möglicher Erkenntnis 8 1 . Wer den Sinn einer sprachlichen Äußerung erfassen will, trägt immer schon eine bestimmte Sinnantizipation an das Sprachgebilde heran, d.h. er entwirft sich i m Vor-Verständnis des Gemeinten einen Sinnzusammenhang, i n den er den Text einordnet und von dem aus der Text verständlich erscheint 82 . Sinnerkenntnis ohne ein Vor-Urteil 8 3 über die Sache, die der Text anspricht, ist ebensowenig möglich wie die präzise Fragestellung ohne ein bestimmtes Woraufhin der Befragung 84 . Verstehen kann man nur etwas, von dem man bereits eine (richtige oder falsche) Vorstellung hat 8 5 . Verstehen ist also auf inhaltliche Vor-Meinungen des Verstehenden angewiesen, auf dessen Sinnerwartungen, Vorverständnisse und Vorurteile. „Vorurteil" soll i n diesem Zusammenhang allerdings nicht das falsche Urteil bezeichnen, sondern ein Urteil, das vor der endgültigen Prüfung aller sachlich bestimmenden Momente gefällt w i r d und sich an den Sachen selbst erst noch bewähren muß 86 . Vorurteile können sich nur i n dem Maße bewähren, als sich die Sache ihrem Zugriff nicht entzieht 87 . Sie müssen deshalb an der jeweils gemeinten Sache erprobt und auch korrigiert werden, falls das wirklich Gemeinte nicht i n den Interpretationsrahmen des Vorverständnisses paßt, falls es also den Sinnerwartungen des Interpreten widerspricht 88 . 80
Gadamer , Wahrheit S. 251. Vgl. dazu Heidegger, Sein u n d Zeit S. 152; Gadamer , Wahrheit S. 254 („wesenhafte Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens"); Habermas, Logik S. 284; dens., Universalitätsanspruch S. 122. 82 Vgl. Hauff, Hermeneutik S. 24; Hinderling, Verstehen S. 14. 83 Gegen die Bezeichnung der inhaltlichen Vormeinungen als „Vorurteile" wendet sich Larenz, Methodenlehre S. 186. 84 Ä h n l i c h Bultmann, Hermeneutik S. 216, 218. 85 So Kruse ÖStZ 1975, 196. 86 So Gadamer, Wahrheit S. 255: Erst durch die A u f k l ä r u n g habe der Begriff des Vorurteils die uns gewohnte negative Akzentuierung gefunden. 87 Habermas, Logik S. 274. 88 Vgl. auch Hauff, Hermeneutik S. 24. 81
Α . H e n e u t i s c h e Grundlegung
149
I n der Modifikation eines inhaltlichen Vorgriffs, der sich an der Sache selbst nicht bewährt hat, w i r d ein neues, beim nächsten hermeneutischen Schritt wiederum leitendes Vorverständnis ausgebildet, das ebenfalls einer Uberprüfung bedarf 89 . Jedes Erkenntnissubjekt ist solange zu einer Änderung seiner Interpretationsentwürfe gezwungen, bis sein Vorverständnis durch den Text bestätigt wird. Letztlich geht es darum, die sachliche Wahrheit gegen die eigenen Vormeinungen auszuspielen, u m von der Sache her das rechte Verständnis zu gewinnen 90 . Denn Verstehen heißt primär: sich i n der Sache verstehen 91 . Ob es zu einem sachlichen Einverständnis zwischen dem Text und seinem Interpreten kommt, hängt allerdings nicht von dem Entschluß des Verstehenden ab, bestimmte Vorurteile, die er an den Text herangetragen hat, zu revidieren oder beizubehalten. Denn die Sinnantizipationen, die das Textverständnis leiten, sind keine Handlungen der Subjektivität, und die Vorurteile und Vormeinungen, die das Bewußtsein des Interpreten besetzt halten, stehen i h m nicht als solche zur freien Verfügung 9 2 . Zudem vermögen die Vormeinungen, die für das Sinnverständnis bestimmend sind, ganz unbemerkt zu bleiben 93 . Deshalb ist das erkennende Subjekt auch nicht imstande, von sich aus vorgängig die „richtigen" Vorurteile, die durch den Text bestätigt werden, von solchen Vormeinungen zu unterscheiden, die das tatsächlich Gemeinte verfehlen und deshalb ein Mißverständnis motivieren. Diese Scheidung ist nur i m Verstehen selbst möglich 94 . Dabei kommt es lediglich darauf an, „der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst i n seiner Andersheit darstellt und damit i n die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen" 95 . Jedes Verstehen setzt voraus, daß der Verstehende aus dem „Bannkreis der eigenen Vormeinungen" herausfindet und offen ist für das, was i h m die sprachlich objektivierte Uberlieferung sagt. Die voreilige Angleichung der Vergangenheit an die eigenen Sinnerwartungen w i r d eine sachliche Verständigung hemmen. Eine solche Angleichung scheint allerdings auch gar nicht ohne weiteres möglich zu sein, denn die Meinung des Gesprächspartners oder des Textes kann nicht beliebig verstanden werden: Wer beständig „an dem vorbeihört, was der andere 89
Dazu Habermas, Universalitätsanspruch S. 123. Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 253/254; ähnlich Heidegger, Sein u n d Zeit S. 153. 91 Gadamer , Wahrheit S. 278. 92 SO Gadamer , Wahrheit S. 277, 279. 93 Gadamer , Wahrheit S. 253; ebenso Hruschka, Verstehen S. 46. 94 So Gadamer , Wahrheit S. 279. 95 Gadamer , Wahrheit S. 253/254. 90
150
§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
wirklich sagt, w i r d das Mißverstandene am Ende auch der eigenen vielfältigen Sinnerwartung nicht einordnen können" 9 6 . Der Interpret w i r d also — falls es i h m wirklich auf eine Verständigung ankommt — an seiner eigenen Vormeinung über die gemeinte Sache nicht blindlings festhalten, sondern bereit sein, sich vom Text etwas sagen zu lassen 96 . Die Offenheit für das, was uns die Uberlieferung zu sagen hat, schließt immer schon ein, daß man die Meinung des Textes zu dem Ganzen der eigenen Meinung i n ein Verhältnis setzt. Die Vormeinungen des Interpreten bilden dabei einen Horizont der Gegenwart insofern, als das verstehende Subjekt (zunächst) über diesen Bereich hinaus nicht zu sehen vermag 97 . Dem ist der historische Horizont gegenübergestellt, aus dem der Text herkommt. Wer die Verständigung i n der Sache sucht, w i r d sich bemühen, über die eigene hermeneutische Situation, die durch seine Vorurteile bestimmt ist, hinauszugelangen und historischen Horizont zu erwerben, damit sich die Uberlieferung als Andersmeinung von den Vor-Meinungen des Interpreten abheben kann. Sobald aber ein Vorurteil auf diese Weise zur Abhebung gebracht ist, ist es als Vorurteil durchschaut und i n seiner Geltung suspendiert: „Die transparent gemachte Vorurteilsstruktur kann nicht mehr i n der A r t des Vorurteils fungieren" 9 8 . Das fraglich gewordene Vorurteil w i r d allerdings nicht einfach beiseitegesetzt m i t der Folge, daß sich die Uberlieferung an seiner Stelle unmittelbar zur Geltung bringt. Wenn sich ein Vorurteil nicht an der Sache bewährt, w i r d ein neues erkenntnisleitendes Vorverständnis, ein neuer Horizont ausgebildet, wobei die Erkenntnisse aus der Erprobung der inzwischen verworfenen Vorurteile Verwertung finden. Das Vorverständnis des Interpreten verändert sich also i n der Uberprüfung der Vorentwürfe ständig: Die sprachliche Äußerung w i r d immer besser verstanden. Aber erst die vollendete Integration von Vergangenheit und Gegenwart i n der Horizontverschmelzung vermag zu bewirken, daß sich Sinnantizipation und sprachlich objektivierte Uberlieferung nicht mehr voneinander abheben, daß also das Vor-Verstehen zu einem w i r k lichen Verstehen wird. 96
Gadamer , Wahrheit S. 253. Vgl. Gadamer , Wahrheit S, 289. A l s horizontbegrenzende Faktoren entfalten die Vorurteile durchaus auch eine negative W i r k u n g , der n u r durch eine beständige Ausbildung des eigenen Horizontes begegnet werden kann. Es liegt i m Begriff des Vorurteils, daß es positiv und negativ gewertet werden k a n n ; so Gadamer S. 255; vgl. auch Larenz, Methodenlehre S. 189, der zwischen dem (positiv zu bewertenden, w e i l verständnisfördernden) Vorverständnis u n d dem (negativ zu bewertenden, w e i l verständnishemmenden) V o r urteil unterscheidet; ähnlich Hirsch, Interpretation S. 316. 98 Habermas, L o g i k S. 284. 97
Α . Hermeneutische Grundlegung
151
2. Das Verstehen sprachlicher Äußerungen kann als dialektischer Prozeß beschrieben werden. I m Vorgang der Sinnerkenntnis vollzieht sich eine Vermittlung der dialektischen Positionen von Vergangenheit und Gegenwart, von Interpret und Text, von Vorurteil und Sachstruktur, von Sinnganzem und Detail". Diese i m Vollzug des hermeneutischen Zirkels erkennbar werdende dialektische Struktur des Verstehens findet i n dem zirkulären Verhältnis von Ganzem und Teil ein Erklärungsmodell. Die Beziehung zwischen einem Ganzen und seinen Teilen ist unter hermeneutischen Gesichtspunkten dadurch bestimmt, daß das Ganze nur aus dem Einzelnen und das Einzelne seinerseits nur aus dem Ganzen verstanden werden kann. Diese Zirkularität w i r d i n jedem Verstehensprozeß wirksam: Die Antizipation von Sinn i m Vor-Verständnis — jenem Ganzen i m Erwartungshorizont des Interpreten einem Text, der Uberlieferung, den Spuren der eigenen Lebensgeschichte gegenüber 1 0 0 — führt nur deswegen zu einem wirklichen Verstehen, weil die Teile, die sich vom Ganzen her bestimmen, ihrerseits auch dieses Ganze bestimmen 101 . a) Die Zirkularität von Ganzem und Teil w i r d i m Verstehen als „ I n einanderspiel der Bewegung der Uberlieferung und der Bewegung des Interpreten" erkennbar 102 . Das Ganze i m Erwartungshorizont des I n terpreten ist i m Vorgang der Sinnerkenntnis i n ein Verhältnis gesetzt zu einer überlieferten sprachlichen Äußerung, die Teil der eigenen Lebensgeschichte ist 1 0 3 . Die daraus resultierende Spannung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Erkenntnisobjekt ist eine grundlegende Bedingung des Verstehens. Einen Verstehensprozeß w i r d nur der Interpret erfolgreich abschließen können, dem es gelingt, die sprachlich objektivierte Uberlieferung zu dem Ganzen der eigenen Meinung i n ein Verhältnis zu setzen und beides i n einer zirkelhaften Bewegung aufeinander einzustimmen — ein Vorgang, der vorher schon als Integration von Gegenwart und Vergangenheit beschrieben wurde. „Das Ausbleiben solcher Einstimmung bedeutet Scheitern des Verstehens" 104 . 99
Vgl. dazu auch Hauff, Hermeneutik S. 24. Vgl. Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 41. 101 So auch Gadamer , Wahrheit S. 275. 102 Gadamer , Wahrheit S. 277. 103 D e r Verstehende selbst ist damit ebenso i n den Z i r k e l einbezogen wie das überlieferte Sprachgebilde. Das Verhältnis v o n Ganzem u n d T e i l ist also weder subjektiviert zu einem Verhältnis innerhalb eines lebensgeschichtlichen Erlebniszusammenhangs noch objektiviert zu einem Verhältnis im gegebenen Text oder i n der Geschichte; so aber noch die Beschreibung der Z i r k e l s t r u k t u r des Verstehens bei Dilthey ; vgl. dazu Gadamer, Wahrheit S. 2 1 0 f t ; Habermas, Erkenntnis S. 214ff.; Rottleuthner, Richterliches H a n deln S. 34 ff. F ü r Gadamer ist dieses Verhältnis „weder subjektiv noch obj e k t i v " (S. 277). 100
104
Gadamer, Wahrheit S. 275.
152
§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
Die Vollzugsweise des hermeneutischen Zirkels ist als dialektische Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart und als sachliche Erprobung inhaltlicher Vorgriffe bereits beschrieben. Der Verstehensprozeß erweist sich als ein beständiges Entwerfen von Sinnmöglichkeiten und als ein fortwährendes Uberprüfen der eigenen Vorentwürfe. Die vorgefaßten Meinungen werden fraglich, sobald sich i n der sprachlichen Objektivation für die jeweiligen inhaltlichen Vorgriffe keine Bestätigung findet. Ein Interpret, der seine Sinnerwartungen enttäuscht sieht, w i r d ein verändertes Vorverständnis ausbilden, das i n der Begegnung m i t der Uberlieferung erneut erprobt werden muß. A u f diese Weise kommt es zu einer zirkulären Bewegung zwischen Vorverständnis und Sachstruktur. Zugleich vollzieht sich i m hermeneutischen Zirkel eine Vermittlung der dialektischen Positionen von Interpret und Text. Diese Vermittlung ist verbunden m i t einer Annäherung von Vergangenheit und Gegenwart i n der Verschmelzung des Gegenwartshorizontes, i n dem der Verstehende lebt, m i t dem historischen Horizont, aus dem die sprachliche Äußerung herkommt. Nun stehen sich allerdings das verstehende Subjekt und das Erkenntnisobjekt zu Beginn des Verstehensprozesses nicht i n einem vollkommenen Gegensatz gegenüber. I n gewisser Weise hat der Interpret das Überlieferte, mit dem er konfrontiert ist, immer schon verstanden, denn er „gehört als Moment demselben Traditionszusammenhang an wie sein Gegenstand" 105 . Sein Erwartungshorizont ist durch die i n den Texten objektivierte Uberlieferung immer schon vorgeformt 1 0 5 . Diese Verbundenheit mit der Uberlieferung bewirkt eine Zugehörigkeit des Verstehenden zu der überlieferten sprachlichen Äußerung 1 0 8 . Das Verstehen ist selber i n den objektiven Zusammenhang eingeordnet, der i n i h m sich reflektiert 1 0 7 . Deshalb „darf auch die Uberwindung des Zeitenabstandes nicht als eine Konstruktion des erkennenden Subjekts aufgefaßt werden: die Kontinuität der Uberlieferung hat faktisch den Abstand des Interpreten zu seinem Gegenstand immer schon überbrückt" 1 0 8 . Ebenso wie die Uberbrückung des zeitlichen Abstandes zwischen Vergangenheit und Gegenwart kann auch die Zirkelbewegung des Verstehens nicht einem Subjekt zugerechnet werden, an das sich methodische Postulate adressieren ließen. „Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns m i t der Überlieferung verbindet. (...) Der Zirkel des Verstehens ist also 105
Habermas, Logik S. 263; vgl. auch dens., Erkenntnis S. 228. Vgl. auch Gadamer , Wahrheit S. 312; Rottleuthner, Richterliches H a n deln S. 41/42. 107 So Habermas, L o g i k S. 264. 108 Habermas, Logik S. 264; ebenso Gadamer , Wahrheit S. 274, 281. 106
Α . Hermeneutische Grundlegung
153
überhaupt nicht ein ,methodischer' Zirkel, sondern beschreibt ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens" 109 . Jedes Verstehen ist als wirkungsgeschichtlicher Vorgang von der vorgreifenden Bewegung eines Vorverständnisses dauerhaft bestimmt. Selbst i m vollendeten Verständnis w i r d die Zirkelbewegung des Verstehens nicht zur Aufhebung gebracht, „sondern i m Gegenteil am eigentlichsten vollzogen" 110 . Die Zirkelstruktur des Verstehens hat also — weil erst durch sie eine Verständigung i n der Sache ermöglicht w i r d — durchaus einen positiven Sinn. Und deshalb wäre der Verstehensprozeß von Grund auf mißverstanden, wenn man den hermeneutischen Zirkel als vitiosum begreifen und nach Wegen Ausschau halten wollte, i h n zu vermeiden 111 . „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern i n ihn nach der rechten Weise hineinzukommen" 1 1 2 . Denn der Zirkel des Verstehens ist keine methodische Forderung, sondern „die Vollzugsform des verstehenden Auslegens selbst" 1 1 3 ; er ist „der Ausdruck der existenzialen Vorstruktur des Daseins selbst" 112 . Das B i l d vom „ Z i r k e l " trifft das Gemeinte allerdings nicht ganz genau. Sofern die sachliche Überprüfung der inhaltlichen Vorentwürfe dazu führt, daß dem Verstehenden das eigene Vorverständnis fraglich wird, gewinnt er neue Einsichten, die i n sein verändertes Vor-Verstehen einfließen. Die Kreisbewegung des Verstehens kehrt also nicht einfach an ihren Ausgangspunkt zurück — der Interpret käme dann nie von der Stelle —, sondern hebt das Verständnis einer sprachlichen Äußerung auf eine „höhere" hermeneutische Ebene: I n der Modifikation und Revision von Vorurteilen schälen sich immer mehr die Konturen der gemeinten Sache heraus, d. h. der Interpret versteht das Sprachgebilde immer besser. Insofern ist der Verstehensprozeß eher m i t einer Spirale als mit einem Zirkel vergleichbar 114 . b) Die Spiralbewegung des Verstehens findet i n der bereits beschriebenen 115 funktionalen Beziehung zwischen den Sprachgebilden und ihrem jeweiligen pragmatischen Kontext eine semantische Erklärung. Nun sind derartige Funktionen nicht nur i n der pragmatischen, sondern 109
Gadamer , Wahrheit S. 277. Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 277; ähnlich A. Kaufmann, Gallas-FS S. 20. 111 So v o r allem Heidegger, Sein u n d Zeit S. 153; vgl. aber auch Geldsetzer, Hermeneutik S. 78: Der hermeneutische Z i r k e l sei nicht vitios, sondern entspreche dem Verfahren der Hypothesenflndung u n d -prüfung i n allen Wissenschaften; ebenso Simon, Unabhängigkeit S. 75. 112 Heidegger, Sein u n d Zeit S. 153. 113 Gadamer , Wahrheit S. 251. 114 So schon Hassemer, Tatbestand S. 107; A. Kaufmann, Gallas-FS S. 20; Larenz, Methodenlehre S. 184; vgl. dazu auch Kamlah/Lorenzen, Propädeutik S. 52; kritisch Simon, Unabhängigkeit S. 76. 115 Vgl. § 3 B. I I I . 4. 110
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
auch i n der syntaktischen und semantischen Dimension der Sprachzeichen erkennbar. Für die „semantische" Beziehung zwischen der gemeinten Konzeption und ihrem „konzeptionellen Umfeld" und ebenso für das (syntaktische) Verhältnis der einzelnen Sinneinheiten zueinander scheint dieselbe zirkelhafte — oder besser: spiralförmige — Bewegtheit konstitutiv zu sein, die das Verhältnis des Interpreten zu einer sprachlichen Äußerung prägt. Offenbar lassen sich auch die funktionalen Beziehungen i m syntaktischen und semantischen Bereich auf das grundlegende Verhältnis von Ganzem und Teil reduzieren. Die syntaktischen und semantischen Funktionen fänden dann ihre hermeneutische Erklärung darin, daß das Verständnis des Einzelnen (der einzelnen Konzeption oder Sinneinheit) bereits das Vor-Verständnis des Ganzen (des konzeptionellen Umfeldes oder der übergeordneten Sinneinheit) voraussetzt, daß aber ein vorläufiges Verständnis des Ganzen nur auf dem Weg über das vor-verstandene Einzelne zu gewinnen ist 1 1 8 . Der Inhalt eines sprachlichen Ausdrucks ist für den Verstehenden u m so eher zu erkennen, je vollständiger das Ganze der inhaltlichen Nachbarn i n seinem Vor-Verständnis begriffen ist. Das inhaltliche, konzeptionelle Umfeld ist allerdings seinerseits nur begreifbar auf dem Weg über ein vorläufiges Verständnis der Einzelinhalte, die auf Grund semantischer Affinitäten oder kategorialer Gemeinsamkeiten ein Feld benachbarter Inhalte bilden. Deshalb w i r d der Interpret i m Vorgang der Sinnerkenntnis — sobald sich für i h n i n der sprachlichen Äußerung ein erster Sinn zeigt — immer schon auf das Ganze des Inhaltsfeldes vorgreifen, u m zu überprüfen, ob sich sein Vor-Verständnis des Einzelinhaltes i n den übergeordneten inhaltlichen Zusammenhang einordnen läßt. Gegebenenfalls muß das Erkenntnissubjekt seine Vormeinungen über das Einzelne oder das Ganze so lange modifizieren oder revidieren, bis es zu einer Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen kommt. Was soeben als „gegenseitiges Sich-Bestimmen und Sich-hermeneutisch-Mitkonstituieren" i m Verhältnis von Einzelinhalt und inhaltlichem Umfeld beschrieben wurde, ist keine isolierte Operation innerhalb des Verstehensprozesses, denn die als Inhalt erfaßte Sache w i r d beständig i n Relation gesetzt zu dem Sprachgebilde, das den Verstehenden „auf die Sache gebracht" hat. Dieses Sprachgebilde (ζ. B. ein Satz) ist aber i n einen syntaktischen Kontext eingeordnet, so daß es einerseits Teil eines Ganzen (des Textes) und andererseits — i m Verhältnis zu den Einzelgliedern, aus denen es sich zusammensetzt (den Wörtern) — selbst ein Ganzes ist, das die Funktion seiner Teile mitbestimmt und zugleich i n 116 Vgl. auch Gadamer , Wahrheit S. 275; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 366; dens., Gallas-FS S. 17; Habermas, Erkenntnis S. 216; dens., L o g i k S. 263.
Α . Hermeneutische Grundlegung
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seiner eigenen Funktion von diesen Teilen abhängig ist. Das Verständnis solcher sprachlichen Äußerungen „hängt von einer Wechselbeziehung zwischen der Interpretation der ,Teile 4 durch ein zunächst diffus vorverstandenes ,Ganzes' und der Korrektur dieses Vorgriffs durch die i h m subsumierten Teile ab" 1 1 7 . Die Teile einer sprachlichen Objektivation kann der Interpret nur verstehen, wenn er ein Verständnis des Ganzen antizipiert; und umgekehrt kann er diesen Vorgriff nur i n dem Maße korrigieren, i n dem er einzelne Teile zum Verständnis bringt 1 1 8 . Die komplexen Vormeinungen über das Ganze und das Einzelne haben insofern den Stellenwert variabler Auslegungsschemata 117 : „(...) weil die jeweilige Bedeutung des Wortes erst aus dem Sinnzusammenhang des Textes, dieser aber endgültig erst aus der (...) Bedeutung der i h n bildenden Wörter und Wortzusammensetzungen zu entnehmen ist, muß der Interpret (...) bei den einzelnen Worten schon auf den von i h m erwarteten Sinn des Satzes und des Textes i m ganzen voraus-, von diesem aus aber wenigstens dann, wenn sich Zweifel einstellen, auf die zunächst von i h m angenommene Wortbedeutung zurückblicken und gegebenenfalls entweder diese oder sein weiteres Textverständnis so lange berichtigen, bis sich eine durchgehende Ubereinstimmung ergeben hat" 1 1 9 . Eine solche Übereinstimmung ist allerdings ohne die gleichzeitige Einstimmung der Einzelinhalte zum Ganzen der benachbarten Inhalte nicht erreichbar. Die zirkulären Bewegungen i n der syntaktischen Dimension einerseits und der semantischen Dimension andererseits gehen ineinander über. Die wechselseitige Funktionsbestimmung, die sowohl i n der semantischen als auch i n der syntaktischen Dimension das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen bestimmt, ist einbezogen i n den hermeneutischen Zirkel, i n die Vermittlung der dialektischen Positionen von Interpret und sprachlicher Äußerung. Das gegenseitige Sich-Bestimmung i n dem Verhältnis der einzelnen Sinneinheiten zueinander oder i n der Beziehung zwischen einer Konzeption und ihrem konzeptionellen U m feld ist also kein ausschließlich objektiver Vorgang. Maßgebend für die „Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen" ist stets die vorgreifende Bewegung des Vor Verständnisses. Eine Ubereinstimmung zwischen größeren und kleineren Sinneinheiten oder zwischen einer Einzelkonzeption und dem Ganzen der benachbarten Konzeptionen ist deshalb nur i m Verstehen selbst zu erreichen: i n einer spiralförmigen Bewegung zwischen dem erkennenden Subjekt (dem Verstehenden) und dem Erkenntnisobjekt (der sprachlichen Äußerung). 117 118 119
Habermas, Erkenntnis S. 216. Habermas, Logik S. 263. Larenz, Methodenlehre S. 184.
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
B. Philosophische Hermeneutik in der Kritik Die philosophische Hermeneutik, die den Verstehensprozeß als w i r kungsgeschichtlichen Vorgang begreift, findet keineswegs überall Zustimmung. Die K r i t i k , die von verschiedenen Seiten geäußert wird, reicht von der Ablehnung des grundlegenden Prinzips der Wirkungsgeschichte bis zur Bemängelung einiger Unklarheiten bei der Analyse des Verstehens. Die Darstellung der wesentlichen Zielpunkte der K r i t i k w i r d den eigenen hermeneutischen Standort verdeutlichen. I. Zur Möglichkeit einer Trennung von Vergangenheit und Gegenwart im Verstehen Wegen des stets wirksamen Prinzips der Wirkungsgeschichte muß man sich damit abfinden, daß die „Ausschöpfung des wahren Sinnes" einer sprachlichen Äußerung nicht irgendwo zum Abschluß kommt, sondern i n Wahrheit ein unendlicher Prozeß ist 1 2 0 . Die Geschichtlichkeit des Verstehenden bedingt die Geschichtlichkeit des Verstehens selbst. Als wirkungsgeschichtlicher Vorgang ist der Verstehensprozeß eine beständige Vermittlung der Vergangenheit mit einer stets veränderten Gegenwart i n der Horizontalverschmelzung. Dieses Verständnis des Verstehens hat allerdings nach Auffassung einiger K r i t i k e r der philosophischen Hermeneutik notwendig eine „chaotische Demokratie der ,Verständnisse'" 121 zur Folge: Wenn der Horizont der Gegenwart i m Verstehen nicht ausgelöscht, sondern mit dem Horizont, aus dem die Uberlieferung stammt, verschmolzen werde, verwandele sich der Sinn einer sprachlichen Äußerung infolge der Verknüpfung der sprachlich objektivierten Vergangenheit mit der Gegenwart i n eine unerschöpfliche Reihe möglicher Sinne, die auf eine unendliche Zahl möglicher Interpreten warteten 1 2 2 . Die Objektivität des hermeneutischen Verfahrens sei gefährdet, wenn man den Autor, dessen Standpunkt und Gestaltungswille für die Sinnbestimmung allein maßgeblich sein sollen 123 , mit dem Hinweis auf die Geschichtlichkeit der Verstehens eliminiere, denn dadurch werde — weil „ein Text seinen Sinn ja von irgend jemandem erhalten muß" 1 2 4 — der Interpret als „Sinngeber" akzeptiert 125 . Objek120
So Gadamer , Wahrheit S. 282. Hirsch, Interpretation S. 19. 122 So Hirsch, Interpretation S. 305. 123 Vgl. Betti, Hermeneutik S. 14/15; Hirsch, Interpretation S. 15, 18, 21, 162 u n d öfter. 124 Hirsch, Interpretation S. 18. 125 Betti, Hermeneutik S. 14: Wer sich dem Text, d. h. der Meinung des Autors nicht unterordne, lege i n die sinnhaltige Form n u r das hinein, was er später aus i h r heraushole. 121
Β . Philosophische Hermeneutik i n der K r i t i k
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tives und richtiges Verstehen gründet sich für diese K r i t i k e r „auf das Wiedererkennen dessen, was ein Autor meinte" 1 2 6 . I m Verstehen soll sich demzufolge nicht die Integration von Vergangenheit und Gegenwart, sondern die vom Gegenwärtigen (weitgehend) unbeeinflußte Rekonstruktion des Vergangenen vollziehen. Damit w i r d aber die Macht der Wirkungsgeschichte bestritten und die Möglichkeit einer Trennung von Vergangenheit und Gegenwart „ i m Lichte einer kontemplativen Betrachtung" behauptet 127 . 1. Wenn man mit der philosophischen Hermeneutik davon ausgeht, daß der Interpret als Moment demselben Traditionszusammenhang angehört wie sein Gegenstand 128 , dann erweist sich die Subjekt-ObjektDifferenz i m Verstehen als bloße Abstraktion 1 2 9 . I n Wirklichkeit gehört der Interpret seinem Gegenstand zu: Das erkennende Subjekt ist von der Seinsart des Erkenntnisobjektes 130 . Gegen diese wirkungsgeschichtlich bedingte Verschmelzung von Objekt und Subjekt der Sinnerkenntnis wendet sich Betti . Er betrachtet die Eigenständigkeit der Erkenntnisobjekte — und das heißt zugleich: die Trennung von Vergangenheit und Gegenwart i m Verstehensprozeß — als eine grundlegende Voraussetzung für die Möglichkeit von Objektivität i m Verstehen, wobei „Objektivität" i n erster Linie die Ausschaltung der Subjektivität des Verstehenden meint. U m die Wissenschaftlichkeit der Interpretation und die Objektivität des zu erzielenden Ergebnisses zu sichern, postuliert Betti eine A u f hebung der wirkungsgeschichtlichen Verbundenheit des Interpreten mit seinem Gegenstand i n der Auslegung 131 . Der Interpret soll sich das sprachlich Mitgeteilte „als ein Anderssein, als etwas Objektives und Fremdes gegenüberstellen" 132 . Dem „Anderssein" der Objekte entspricht ein „Fürsichsein" der verstehenden Subjekte. Dementsprechend erweist sich das Verstehen als ein Problem der Subjekt-Objekt-Spaltung und die „Auslegung" als der Versuch, diese Spaltung methodisch zu überbrücken 133 . Hat man aber erst einmal das wirkungsgeschichtliche M i t 126 Hirsch, Interpretation S. 162; ebenso Betti , Auslegungslehre S. 181; ders., Hermeneutik S. 12. 127 Dazu Hinderling, Verstehen S. 40. 128 Vgl. Habermas, L o g i k S. 263; dens., Erkenntnis S. 228. 129 So auch Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 41/42. 130 Gadamer, Wahrheit S. 312, 499. 131 „Auslegung" ist f ü r Betti (Hermeneutik S. 11) nicht die Versprachlichung des bereits Verstandenen, sondern „ e i n Verfahren (Handlung), dessen zielgemäßes Ergebnis (Erfolg) ein Verstehen i s t " ; zur K r i t i k dieser Begriffsbestimmung vgl. bereits § 2 Β . I I . 132 Betti, Hermeneutik S. 13. 133 Vgl. dazu auch Hinderling, Verstehen S. 32/33.
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
einander von Interpret und sprachlicher Objektivität i n eine „Konfrontation des interpretatorischen Geistes mit dem zu interpretierenden Objekt" 1 3 4 umgekehrt, dann erscheint es nur folgerichtig, die inhaltlichen Vorgriffe des Verstehenden negativ zu bewerten, w e i l sie die „rechte Einsicht verbauen, indem sie sich zwischen den Interpreten und seinen Gegenstand einschieben" 135 . Ebenso konsequent ist es, wenn das Verhältnis von Ganzem und Teil aus der Spannung von Subjekt und Objekt gelöst und zu einem Verhältnis i m gegebenen Text objektiviert w i r d : Die Zirkelbewegung des Verstehens läuft an dem Text h i n und her und ist i n dessen vollendetem Verständnis aufgehoben 136 . I m Gegensatz zur philosophischen Hermeneutik beschreibt Betti die „Auslegung" nicht als ein Geschehen, i n das die verstehenden Subjekte verstrickt sind, sondern als ein Verhalten des Interpreten gegenüber einer Objektivität, als eine dem Subjekt verfügbare Methode 137 . Damit ist zugleich gesagt, daß jedes Verstehen von der M i t w i r k u n g eines Subjektes abhängig ist, daß also das Erkenntnisobjekt und das erkennende Subjekt auf jeden Fall zueinander i n ein Verhältnis geraten. Betti 1 3 8 beschreibt dieses Verhältnis so: Bei jedem der Partner des „hermeneutischen Gesprächs" müsse die gleiche Taste des eigenen geistigen Instruments angeschlagen werden, u m Gedanken zu erregen, die denen des fremden Geistes entsprechen, der sich i n den sinnhaltigen Formen objektiviert. Die Aufgabe der erkennenden Subjekte soll darin bestehen, die Auffassung des Autors nachzudenken und von innen heraus nachzukonstruieren, u m so die sprachlichen Objektivationen wieder m i t dem „inneren Ganzen" zu verbinden, das sie erzeugt hat 1 3 9 . „ M a n hat es 134
Hinderling, Verstehen S. 33. Betti, Auslegungslehre S. 200. Notwendig sei daher eine „ehrliche u n d entschlossene" Überwindung der eigenen Vorurteile durch „demütige Selbstentäußerung" (Hermeneutik S. 53) bzw. „Selbstverleugnung, Demut, Stille der Seele" (Auslegungslehre S. 194/195). 136 Vgl. Betti, Auslegungslehre S. 220; dens., Hermeneutik S. 15/16. Genauso verlegt auch Schleiermacher den hermeneutischen Z i r k e l i n den obj e k t i v e n Bereich; dazu Gadamer, Wahrheit S. 277. 137 Vgl. auch Hinderling, Verstehen S. 38. 138 Hermeneutik S. 9. 139 Vgl. Betti, Rabel-FS S. 93; dens., Hermeneutik S. 11/12; dens., Auslegungslehre S. 182. Der Kreis der zum richtigen Verstehen Berufenen w i r d v o n Betti (Auslegungslehre S. 230) durch die Feststellung eingeschränkt, daß „ n u r ein Geist gleichen Ranges u n d gleicher Veranlagung i m Stande ist, den zu i h m sprechenden Geist i n sinnadäquater Weise zu verstehen."; ähnlich ders., Hermeneutik S. 53: Der Interpret müsse bemüht sein, sich durch demütige Selbstentäußerung eine kongeniale u n d dem auszulegenden Gegenstand eng v e r wandt fühlende Einstellung zu schaffen. Hinderling (Verstehen S. 89) ist darin zuzustimmen, daß es angesichts dieser Einschränkung m e r k w ü r d i g anmutet, w e n n Betti (Auslegungslehre S. 170 ff.) der philosophischen Hermeneutik v o r w i r f t , sie schränke die Möglichkeit des Verstehens auf einen begrenzten Personenkreis ein. 135
Β . Philosophische Hermeneutik i n der K r i t i k
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demnach mit einer Umkehrung (Inversion) des schöpferischen Prozesses i m Auslegungsprozeß zu tun, einer Umkehrung, derzufolge der Interpret auf seinem hermeneutischen Wege den schöpferischen Weg i n umgekehrter Richtung durchlaufen muß, dessen Nachdenken er i n seinem Innern durchzuführen hat" 1 4 0 . N u n erfordert aber die Umkehrung des Schaffensprozesses i n der Auslegung eine Umstellung des Sinnes i n die Subjektivität des Interpreten 141 . Diese Assimilation an die eigene Lebensaktualität vollzieht sich gleichsam von selbst, weil alles, wovon unser Geist Besitz ergreift, i n die Welt von Vorstellungen und Begriffen eintritt, die w i r bereits i n uns tragen und mitbringen 1 4 2 . M i t der Übertragung eines fremden Gedankens i n ein anderes Subjekt geschieht also genau das, was die philosophische Hermeneutik als beständige Vermittlung der Vergangenhat m i t der Gegenwart beschreibt. Dennoch glaubt Betti , die Vergangenheit losgelöst von ihren aktuellen Bezügen betrachten zu können, und deshalb hält er an seiner Vorstellung von der Eigenständigkeit der erkennenden Subjekte und der Andersartigkeit der Erkenntnisobjekte fest. Dadurch kommt es zu einer Antinomie hermeneutischer Forderungen: Einerseits soll der Interpret i n „demütiger Selbstentäußerung" den Sinn, d. h. die Meinung des Autors aus der sprachlichen Objektivation selbst gewinnen, andererseits soll er aber durch seine Subjektivität dem Sinngehalt der objektiven Form zur Aktualität verhelfen — womit die Standortgebundenheit des Interpreten zu einem integrierenden Moment des Verstehens w i r d 1 4 3 . Daß es zu einem solchen Gegensatz zwischen der Forderung nach Objektivität des Verstehens und der Einsicht i n die Abhängigkeit jeder Interpretation von der Subjektivität des Verstehenden kommt, scheint eine Bestätigung dafür zu sein, daß sich die Dialektik des Verstehensprozesses i n jedem Vorgang der Sinnerkenntnis durchsetzt und auch methodisch nicht zu beseitigen ist. Vor dieser Erkenntnis schreckt Betti allerdings zurück: I n dem Bemühen, die Objektivität des hermeneutischen Verfahrens zu sichern, fordert er den Interpreten auf, seine Subjektivität dem Erkenntnisobjekt „nicht von außen aufzudrängen", sondern die i n den sinnhaltigen Formen objektivierte Auffassung „nachzudenken", u m so ein Zurück- und Zusammenführen u n d Wieder verbinden jener Formen m i t dem „inneren Ganzen" zu ermöglichen, das sie erzeugt hat und von welchem sie sich getrennt haben 144 . Damit fällt Betti i n den „Psychologismus romanti140 141 142 143 144
Betti , Rabel-FS S. 93/94. So auch Betti , Hermeneutik S. 45/46. Das w i r d auch v o n Betti (Hermeneutik S. 19/20) anerkannt. Dazu Gadamer , Wahrheit S. 482; Hinderling, Verstehen S. 88. Vgl. Betti , Rabel-FS S, 93; dens., Hermeneutik S. 38.
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
scher Prägung" zurück, der das Verstehen als divinatorisches Verhalten, als ein Nachbilden des schöpferischen Aktes begreift 1 4 5 . Wer i n der Interpretation eine psychologische Adäquation herstellen w i l l , erhebt Forderungen, die i m Verstehensprozeß nicht zu verwirklichen sind, w e i l das Verstehen ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang und keine dem Subjekt verfügbare Methode ist. Verstehen ist kein subjektives Verhalten einem Erkenntnisobjekt gegenüber, sondern ein „Einrücken i n ein Uberlieferungsgeschehen, i n dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln" 1 4 6 . Zu dieser Erkenntnis ist Betti allerdings nicht i n der Lage, weil „er das Problem der Hermeneutik nur als ein Methodenproblem zu denken vermag, tief i n den Subjektivismus befangen, u m dessen Uberwindung es geht" 1 4 7 . Indem er die methodische Sicherung des Verstehensergebnisses i n das Zentrum jeder hermeneutischen Beschäftigung stellt, wendet sich für ihn die von der philosophischen Hermeneutik gestellte Frage nach dem faktischen Wie des Verstehens i n die Frage nach dem normativen Soll des Verfahrens 148 . Welchen Nutzen haben aber Forderungen, deren Erfüllbarkeit zweifelhaft bleibt? Die Trennung von Vergangenheit und Gegenwart, von Erkenntnisobjekt und erkennendem Subjekt i m Verstehen bleibt eine methodische Forderung, deren Erfüllung an den Realitäten des Erkenntnisprozesses scheitern muß. 2. Das Prinzip der Wirkungsgeschichte bedingt eine gewisse „semantische Autonomie" der Wörter, Sätze und Texte: Wenn der Sinn einer sprachlichen Äußerung „immer auch durch die geschichtliche Situation des Interpreten mitbestimmt" ist 1 4 9 , dann w i r d der Interpret die objektivierte Uberlieferung stets anders verstehen als der Autor 1 5 0 . Dadurch w i r d allerdings der Verstehensprozeß keineswegs zu einer „ A r t Picknick, zu dem der Autor die Wörter und der Leser den Sinn" mitbringt 1 5 1 , denn der historische Horizont, aus dem ein Sprachgebilde herkommt, w i r d i m Verstehen nicht etwa ausgelöscht, sondern mit dem Gegenwartshorizont des Interpreten verschmolzen. Insofern entfaltet die Subjektivität des Autors i m Vorgang der Sinnerkenntnis durchaus eine Wirkung. Es ist allerdings richtig, daß die Wirkungsgeschichte den Autor als allein bestimmendes Element für den Sinn eines sprachlichen Ausdrucks eliminiert und dem pragmatischen Kontext der Gegenwart eine den 145
So die K r i t i k v o n Gadamer , Wahrheit S. 483. Gadamer , Wahrheit S. 274/275. 147 Gadamer , Wahrheit S. 484. 148 So Hinderling, Verstehen S. 92. 149 Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 280. 150 Dazu auch Gadamer, Wahrheit S. 280: „Nicht n u r gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor." 151 Vgl. das Z i t a t von Northrop Frye bei Hirsch, Interpretation S. 15. 146
Β . Philosophische Hermeneutik i n der K r i t i k
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Sinn mitbestimmende Funktion einräumt. Diese Wirkungen der W i r kungsgeschichte werden jedoch von Hirsch 152 nicht akzeptiert. U m die Objektivität des hermeneutischen Verfahrens zu sichern, glaubt er, den Autor von einer „Verbannung" durch die „Theorie von der Unwichtigkeit des Autors" 1 5 3 — damit ist die philosophische Hermeneutik gemeint — bewahren zu müssen: „Den ursprünglichen Autor als sinnbestimmendes Element zu eliminieren, bedeutete die Verneinung des einzigen zwingenden, normativen Prinzips, das einer Interpretation Gültigkeit verleihen konnte" 1 5 4 . Wer i n dieser Weise den Autor als den einzigen sinnbestimmenden Faktor begreift, muß der hermeneutischen Situation des Verstehenden jeglichen Einfluß auf das, was als „Sinn" eines sprachlichen Ausdrucks erfaßt wird, absprechen, d. h. er muß eine Trennung von Vergangenheit und Gegenwart und damit eine Durchbrechung des wirkungsgeschichtlichen Prinzips i m Verstehen für möglich halten. a) Ansatzpunkt der K r i t i k an dem wirkungsgeschichtlichen Verständnis des Verstehensprozesses ist für Hirsch die von Gadamer 155 vertretene Auffassung, eine verstehende Aneignung tradierter Objektivationen sei nur i n der Horizontverschmelzung möglich. „Wie kann ein Interpret zwei Perspektiven — seine eigene und die des Textes — verschmelzen, solange er sich nicht die ursprüngliche Perspektive irgendwie angeeignet und mit seiner eigenen amalgamiert hat" 1 5 6 ? Eine solche Verschmelzung könne doch nur dann stattfinden, wenn man zuvor die zu verschmelzenden Elemente jeweils für sich aktualisiert, also: den ursprünglichen Sinn der sprachlichen Äußerung verstanden habe. Damit wäre aber ein vorgängiges Verständnis nachgewiesen, das ohne eine Bezugnahme auf die hermeneutische Situation des Interpreten auskäme. Für die darin sich andeutende Möglichkeit einer Trennung von Vergangenheit und Gegenwart scheint auch die folgende Überlegung zu sprechen: Wenn man es für denkbar hält, daß der Interpret eine neue, aus einer Verschmelzung hervorgegangene Perspektive annehmen kann, so bedeutet das zugleich, daß ein Ausbrechen aus der eigenen, gegenwartsbezogenen Perspektive möglich ist. Warum sollte man sich dann nicht auch i n die Perspektive des Autors versetzen können, u m so den ursprünglichen Sinn einer sprachlichen Objektivation zu begreifen? Diese Frage läßt deutlich werden, daß Hirsch den Vorgang der Horizontverschmelzung i n seinem tatsächlichen Ablauf verkennt. Schon die Ausgangssituation ist nicht richtig erfaßt: Die Gegenüberstellung von 152 153 154 155 156
11
Interpretation S. 15 ff., 301 fï. Hirsch, Interpretation S. 16. Hirsch, Interpretation S. 20. Wahrheit S. 289 f. Hirsch, Interpretation S. 310.
Maaßen
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
Gegenwart und Vergangenheit, von aktuellem und historischem Horizont ist ebenso wie die Subjekt-Objekt-Spaltung eine bloße Abstraktion. Ohne die Vergangenheit ist eine Horizontbildung bei den verstehenden Subjekten gar nicht denkbar: „Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte" 1 5 7 . Die Horizontverschmelzung ist ein beständiger Prozeß, so daß es gar nicht erst zu einer wirklichen Differenz zwischen den verschmelzenden Horizonten kommt. Sobald der Interpret das Spannungsverhältnis zwischen Text und Gegenwart bewußt entfaltet und den Horizont der Überlieferung von dem eigenen Horizont abhebt, nimmt sein Bewußtsein i n einer Gleichzeitigkeit, die beide Akte zu einem einzigen Geschehnis verbindet, „das voneinander Abgehobene sogleich wieder zusammen, u m i n der Einheit des geschichtlichen Horizontes, den es sich so erwirbt, sich m i t sich selbst zu vermitteln" 1 5 8 . Der Vorgang der Horizontverschmelzung wäre daher nicht richtig beschrieben, wenn man diese Gleichzeitigkeit i n ein zeitliches Nacheinander von vorgängigem Sprachverständnis und nachträglicher Verknüpfung („Applikation") m i t der Gegenwart verkehren wollte. I n der Horizontverschmelzung gewinnt der Interpret zwar einen neuen Horizont, der sich von seinem ursprünglichen Horizont unterscheidet, das impliziert aber keineswegs, daß er sich von seiner hermeneutischen Ausgangslage vollkommen lösen und i n die Perspektive des Autors versetzen könnte. Der Horizont der Gegenwart w i r d i m Verstehen nicht ausgelöscht, sondern durch die Verschmelzung m i t dem historischen Horizont, aus dem das Sprachgebilde herkommt, erweitert. Das heißt aber: Das verstehende Subjekt kann den Horizont der eigenen Lebenspraxis i m Vorgang der Sinnerkenntnis nicht einfach überspringen 159 (in der Diktion von Hirsch: es kann nicht aus seiner eigenen Perspektive ausbrechen), sondern allenfalls die Grenzen seines eigenen Gesichtskreises durch eine Rezeption der historischen Perspektive weiter hinausschieben. b) Den Wirkungen der Wirkungsgeschichte hofft Hirsch u. a. dadurch zu entgehen, daß er einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Sinn eines Textes und der Bedeutung dieses Sinns für eine gegenwärtige Situation konstruiert 1 6 0 . Seiner Meinung nach besteht der Sinn „ i n dem, was der Autor durch eine bestimmte Zeichenfolge ausdrücken wollte", während sich aus der „Beziehung zwischen dem Sinn und einer 157
Gadamer , Wahrheit S. 289. Gadamer , Wahrheit S. 290. 159 Vgl. auch Habermas, Erkenntnis S. 227/228. 160 Hirsch w i l l damit bei Frege anknüpfen; zu Freges Unterscheidung v o n Bezug u n d Bedeutung vgl. bereits § 3 A . I I . 1. c). 158
Β . Philosophische Hermeneutik i n der K r i t i k
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Person, einer Konzeption, einer Situation oder irgendeines ganz beliebigem" die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ergeben soll 1 6 1 . Der Sinn sei determiniert, die Bedeutung dagegen veränderlich und „nicht für alle Menschen gleich, da die Menschen selbst und folglich auch ihre persönliche Beziehung zu einem bestimmten Wortsinn verschieden sind" 1 6 2 . Entsprechend dieser Unterscheidung trennt Hirsch 163 den Verstehensprozeß i n zwei verschiedene Vorgänge: Ein Vorgang sei die Wiedergewinnung der historischen Perspektive des Autors, also die Erschließung des ursprünglichen Sinns durch den Interpreten; davon zu unterscheiden sei die Verknüpfung des bereits erschlossenen Sinns m i t der eigenen hermeneutischen Situation. Diese nachfolgende Verknüpfung „könnte man Horizontverschmelzung nennen, doch sollte man es genauer als Erfassen der Bedeutung, die ein Text annimmt, wenn sein Sinn zu einer gegenwärtigen Situation i n Beziehung gesetzt wird, bezeichnen" 164 . M i t dieser Differenzierung w i r d allerdings das Prinzip der W i r kungsgeschichte nicht wirklich i n Frage gestellt. Hirsch 165 weist selbst darauf hin, daß w i r den A k t der Sinnerkenntnis nicht künstlich von all jenen anderen Vorgängen, Auffassungen, Assoziationen und Urteilen isolieren können, die diesen Vorgang begleiten und die eine instrumentale Rolle spielen, wenn w i r dabei sind, diesen A k t auszuführen. Er bestätigt damit i m Grunde die Feststellung, daß die Horizontverschmelzung der Gewinnung der historischen Perspektive zeitlich nicht nachfolgt, sondern m i t diesem A k t i n einem einzigen Geschehnis verbunden ist. M i t anderen Worten: Die Applikation, d. h. die Bezugnahme auf die hermeneutische Situation des Interpreten w i r d auch von i h m als integrierender Bestandteil des Verstehens selbst anerkannt. Die Gleichzeitigkeit dieser Vorgänge ist allenfalls i n der Abstraktion als ein Nacheinander zu vollziehen. Was ein Sprachgebilde besagt, w i r d also entweder unmittelbar i n eine Beziehung zur Gegenwart gebracht oder gar nicht erst verstanden. Die Restauration eines ursprünglichen Sinns wäre „angesichts der Geschichtlichkeit unseres Seins ein ohnmächtiges Beginnen" 1 6 6 . Damit w i r d keineswegs gegen die Möglichkeit einer Kommunikation zwischen historischen Epochen argumentiert 1 6 7 , denn solange der sprachliche Ausdruck erhalten bleibt, ist auch gewährleistet, daß die 161 Dazu Hirsch, Interpretation S. 23: „Bedeutung impliziert also immer eine Beziehung; der eine feste, unveränderlche Pol jener Beziehung ist der Sinn des Textes." 162 Hirsch, Interpretation S. 60 (auch: S. 23, 81, 270, 310 u n d öfter). 163 Interpretation S. 311/312. 184 Hirsch, Interpretation S. 312. 165 Interpretation S. 179 u n d S. 182. 166 Gadamer, Wahrheit S. 159. 167 So aber Hirsch, Interpretation S. 312.
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
i n der Objektivation zur Sprache gebrachte Sache uns anspricht und so den Verstehensprozeß i n Gang gebracht 168 . c) Die philosophische Hermeneutik beschreibt das Verstehen primär als „geschichtliche Vermittlung der Vergangenheit m i t der Gegenw a r t " 1 6 9 . Durch diese Betonung der Geschichtlichkeit unseres Seins und des hermeneutischen Vollzugs entsteht der Eindruck, Sinnerkenntnis erschöpfe sich i n der Uberbrückung von Abständen zwischen verschiedenen historischen Epochen. Demgegenüber weist Hirsch 170 darauf hin, daß die K l u f t zwischen Menschen und nicht die zwischen irgendwelchen Epochen und Perioden die eigentliche ontologische K l u f t sei. Denn die Notwendigkeit, durch einen Verstehensprozeß eine Kommunikation herbeizuführen, ergebe sich immer nur deswegen, w e i l die Menschen sich wesentlich voneinander unterscheiden, und nicht etwa deshalb, weil verschiedene Epochen i n sich selbst einheitlich und von anderen verschieden sind. Tatsächlich läßt sich kaum bestreiten, daß nicht der zeitliche Abstand, sondern allein die Verschiedenheit der Menschen und ihrer hermeneutischen Situationen eine sachliche Verständigung notwendig werden läßt. Wie sollte es anders zu erklären sein, daß Menschen der gleichen Epoche i n ihrem Verhältnis zueinander ebenso auf eine Verständigung angewiesen sind wie diejenigen, die das „hermeneutische Gespräch" m i t vergangenen Generationen suchen, u m den Sinn tradierter Objektivationen zu begreifen? So muß etwa auch ein gerade erst erlassenes Gesetz „verstanden" werden, denn die Gesetzesverfasser und die gesetzesanwendenden Personen sind nicht miteinander identisch, weswegen der zu verstehende Sinn erst aus der gesetzgeberischen Situation i n den Zusammenhang hinübergetragen werden muß, i n dem der Rechtsanwender lebt 1 7 1 . Zwar mag i n diesem Fall wegen des fehlenden zeitlichen Abstandes noch eine gewisse (aber keineswegs eine vollständige) Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Horizonten bestehen, das läßt jedoch eine Verständigung nicht überflüssig werden, sondern trägt allenfalls zu einer erleichterten Sinnerkenntnis und Applikation bei. Somit ist nicht durch die Zeit, sondern durch den Menschen und die 168
Vgl. auch Hinderling, Verstehen S. 79. Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 274. 170 Interpretation S. 312 f. 171 Daß es dabei zu denselben Divergenzen zwischen den „Absichten des Gesetzgebers" u n d dem Gesetzesverständnis der Richter kommen k a n n wie bei der A n w e n d u n g älterer Gesetze, hat sich erst kürzlich bei der erstmaligen A n w e n d u n g des § 138 a StPO i m Baader-Meinhof-Prozeß i n aller Deutlichkeit gezeigt; vgl. dazu die Notiz i n der Frankfurter Rundschau v. 22. 5. 1975 (S. 1: „Justizministerium gibt Bundesanwalt recht") u n d den K o m m e n tar v. 5. 6. 1975 (S. 3: „Der K o n f l i k t beginnt an der Stammheimer Haustür"). 169
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Individualität seiner hermeneutischen Ausgangslage die entscheidende Bedingung gesetzt, die einen Verstehensprozeß i n Gang bringt. Jede Differenz der hermeneutischen Ausgangspositionen begründet also die Notwendigkeit einer Vermittlung i m Verstehen. I n dieser Vermittlung besteht gerade die Funktion hermeneutischer Verfahren, die darauf abzielen, „die Intersubjektivität der Verständigung i n der umgangssprachlichen Kommunikation und i m Handeln unter gemeinsamen Normen zu sichern" 172 . Gestört w i r d die Intersubjektivität nicht nur durch eine zeitliche, sondern ebensosehr durch eine kulturelle oder intellektuelle Distanz derer, die verstanden werden sollen. Das Verstehen muß die Gefahr eines Kommunikationsabbruchs i n beiden Richtungen bannen: „(...) sowohl i n der Vertikale der eigenen individuellen Lebensgeschichte und der kollektiven Uberlieferung, der man zugehört, wie auch i n der Horizontale der Vermittlung zwischen Überlieferungen verschiedener Individuen, Gruppen und Kulturen" 1 7 3 . Somit ist nicht nur die Verschränkung eines aktuellen m i t einem historischen Horizont, sondern jede Verschmelzung vermeintlich für sich seiender Horizonte, die sich — aus welchen Gründen auch immer — voneinander unterscheiden, als Verstehen zu begreifen. Das bedeutet aber, daß das Prinzip der Wirkungsgeschichte i n jeder Vermittlung dialektischer Positionen, die auf die Herbeiführung einer sachlichen Verständigung abzielt, zur Wirkung gelangt. Eine historische Verengung dieses Prinzips ließe sich daher kaum rechtfertigen 174 . Verstehen ist eben nicht nur ein vertikaler, sondern oft auch ein horizontaler Vorgang. M i t dieser Feststellung werden die Wirkungen der Wirkungsgeschichte keineswegs bestritten, sondern i m Gegenteil bestätigt und erweitert 1 7 5 . IL Zur Möglichkeit
einer Disziplinierung
der Vorurteile
Jedes Verstehen nimmt an der wirkungsgeschichtlichen Bewegung teil, i n die der Interpret gestellt ist; Verstehen erweist sich selber als ein Geschehen176. Sinnerkenntnis ist deshalb kein methodisches Verhalten i n dem Sinne, daß sich das erkennende Subjekt einem von i h m 172
Habermas, Erkenntnis S. 221. Habermas, Erkenntnis S. 221; ders., L o g i k S. 278. 174 Daß eine derartige Verengung auch v o n Gadamer nicht beabsichtigt ist, zeigen seine Ausführungen zur „Sprache als M e d i u m der hermeneutischen Erfahrung" (Wahrheit S. 361 ff.), i n denen er den Verstehensprozeß m i t einem Gespräch vergleicht (das j a stets auf horizontaler Ebene stattfindet). 175 Insofern zieht Hirsch (Interpretation S. 213 f.) aus seiner an sich berechtigten K r i t i k unangemessene Schlußfolgerungen, w e n n er das Gegenteil behauptet. 176 Gadamer, Wahrheit S. 293. 173
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
gewählten Gegenstand zuwendet und i h n zu objektiver Erkenntnis bringt 1 7 6 . Die Erkenntnisbedingungen sind dem Verstehenden immer schon vorgegeben, d. h. er vermag sie nicht von sich aus — als Methode — zur Anwendung zu bringen 1 7 7 . Diese „Ontologisierung des Verstehens" 178 ergreift sämtliche Strukturmomente des hermeneutischen Vorgangs. So ist insbesondere die vorgreifende Bewegung des Vorverständnisses, die den Verstehensprozeß vorantreibt, ontologisch begründet und nicht als eine subjektiv beherrschbare Handlung zu begreifen 179 . Der ontologische Charakter der inhaltlichen Vorgriffe und der daraus resultierenden spieralförmigen Abläufe scheint den Vorgang der Sinnerkenntnis einer rationalen Kontrolle völlig zu entziehen. Welche Garantien bestehen dann aber noch für die Objektivität des zu erzielenden Ergebnisses? W i r d nicht m i t dem Nachweis der ontologischen Verwobenheit alles Verstehens i n eine wirkungsgeschichtliche Substanz das Private und Arbiträre subjektiver Voreingenommenheit legitimiert? Wer diese Gefahr sieht, muß sich die Frage stellen, ob nicht trotz der ontologischen Struktur des hermeneutischen Verfahrens eine Disziplinierung der Vorverständnisse möglich ist. 1. Obwohl die verständnisleitenden Vormeinungen „ganz unbemerkt zu bleiben vermögen" 1 8 0 , setzt Gadamer 181 voraus, „daß der Ausleger nicht geradezu, aus der i n i h m bereiten Vormeinung lebend, auf den Text zugeht, vielmehr die i n i h m lebenden Vormeinungen ausdrücklich auf ihre Legitimation, und das ist: auf Herkunft und Geltung prüft". Eine derartige Kontrolle hält man allgemein für notwendig, damit die Vor Verständnisse „nicht unkontrollierbare Fehlerquellen bilden" 1 8 2 und die Sache, die i n den Wörtern, Sätzen und Texten zur Sprache gebracht wird, „vollen Disziplinierungswert behält" 1 8 3 . Denn es „sind die undurchschauten Vorurteile, deren Herrschaft uns gegen die i n der Uberlieferung sprechende Sache taub macht" 1 8 4 . Verstehen werde nur, wer dazu imstande sei, die „produktiven" („wahren") Vorurteile, die das Verstehen ermöglichten, von den „destruktiven" („falschen") Vorurteilen zu scheiden, die das Verstehen verhinderten und zu Mißverständnissen führten 1 8 5 . 177
Vgl. auch Gadamer , Wahrheit S. 279. Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 40. 179 So Gadamer , Wahrheit S. 279: „Die Vorurteile u n d Vormeinungen, die das Bewußtsein des Interpreten besetzt halten, sind i h m als solche nicht zu freier Verfügung." 180 Gadamer , Wahrheit S. 253. 181 Wahrheit S. 252. 182 So Müller, Methodik S. 124; ders., N o r m s t r u k t u r S. 50. 183 Gadamer , Wörterbuch Sp. 1070. 184 Gadamer, Wahrheit S. 254. 185 So Gadamer, Wahrheit S. 279, 282; vgl. auch Müller, Normstruktur S. 50; dens., Methodik S. 124; Hesse, Grundzüge S. 26. 178
Β . Philosophische Hermeneutik i n der K r i t i k
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Wie aber soll eine solche Auslese möglich sein, wenn die inhaltlichen Vorgriffe dem Verstehenden selbst nicht bewußt werden? Insoweit vertraut man auf die K r a f t der Reflexion: „ E i n m i t methodischem Bewußtsein geführtes Verstehen w i r d bestrebt sein müssen, seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewußt zu machen, u m sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen" 1 8 6 . Gefordert w i r d eine explizite Ausarbeitung der eigenen Sinnantizipationen. „Sie soll verhindern, daß die eigenen Vor-Meinungen sich unerkannt ins Spiel bringen und ein Verstehen des Textes unmöglich machen" 187 . Diese Hoffnung gründet sich auf der Erkenntnis, daß eine i n der Reflexion transparent gemachte Vorurteilsstruktur nicht mehr i n der A r t des Vorurteils fungieren kann 1 8 8 . „Revision und Suspension sachunkundiger Vorurteile werden eben nur durch ihre Abhebung und Klärung möglich" 1 8 7 . Diese Überlegungen zur reflexiven Selbstaufklärung des Interpreten über die i m Verstehen wirksam werdenden Vorverständnisse sind bestimmt von dem Ideal einer rationalen Haltung des Individuums, das seine Antriebe und Motivationen kontrolliert und bewußt wirksam werden läßt. I m Vertrauen auf die „ K r a f t der Reflexion" 1 8 9 w i r d die Möglichkeit unterstellt, daß die verstehenden Subjekte dazu i n der Lage sind, die verständnisleitenden Vorurteile i n der Reflexion, d.h. durch ein bewußtes und kontrollierbares Verhalten zur Abhebung zu bringen und als Vor-Urteile zu durchschauen. Die transparent gewordene Vorurteilsstruktur kann aber nicht mehr i n der A r t eines Vorurteils fungieren 190 , so daß m i t der Zuerkennung der Fähigkeit, Vormeinungen reflexiv aufzuklären, die vorgreifende Bewegung des Vorverständnisses für den Verstehenden zu einem kontrollierbaren Geschehen wird: Er kann seine Sinnantizipationen durchschauen und dadurch i n ihrer Wirkung blockieren; Vor-Verstehen erweist sich als eine dem Subjekt verfügbare Methode. M i t dieser Disziplinierung des Vorverständnisses w i r d der Verstehende aus seinen wirkungsgeschichtlichen Verflechtungen gelöst und zugleich die ontologische Struktur des Verstehens i n Frage gestellt. Denn wer die eigenen Vorurteile i n der Reflexion suspendieren kann, vermag auch den von Vorverständnissen geleiteten Verstehensprozeß zu kontrollieren. 186 Gadamer , Wahrheit S. 254. Auch J. Esser (Vorverständnis S. 10, 15) spricht v o m „Bewußtmachen" der eigenen Vorverständnisse u n d v o n einer „Selbstkontrolle"; ähnlich Müller, Methodik S. 121, 124, 125; ders., N o r m s t r u k t u r S. 49 ff. 187 188 189 190
Hruschka, Verstehen S. 46. So Habermas, L o g i k S. 284. Habermas, Logik S. 284. Insoweit ist Habermas (Logik S. 284) durchaus zuzustimmen.
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
Damit führt das Reflexionsideal i n der Konsequenz zu einer Disziplinierung des Verstehens selbst. Aus Sorge u m die Objektivität des hermeneutischen Verfahrens w i r d verkannt, daß für den Vorgang der Sinnerkenntnis nicht ein bewußtes oder bewußtseinsfähiges Vorverständnis bestimmend ist, sondern ein wirkungsgeschichtliches Geschehen, i n das jedes Vorverständnis einrückt 1 9 1 . Als Strukturelement eines wirkungsgeschichtlichen Vorgangs ist das Vorverständnis jeder Disziplinierung enthoben 192 . Die erwünschte Suspension der eigenen Vorurteile kann daher nicht i n einer kontrollierten und das Vor-Verstehen kontrollierenden Reflexion bewußt ausgelöst werden. 2. Eine Korrektur der inhaltlichen Vormeinungen ist nur i m Verstehen selbst möglich 193 . Jeder Verstehensprozeß entwickelt seine eigene Dynamik, durch die eine voreilige Angleichung des Sinnverständnisses an die Sinnerwartungen des Interpreten weitgehend verhindert wird 1 9 4 . a) Dieser Eigendynamik, die sich als Konsequenz aus der Ontologisierung des Verstehens ergibt, scheint Gadamer allerdings wenig Vertrauen entgegenzubringen. Anders läßt es sich kaum erklären, daß er die Feststellung, eine Korrektur der Vormeinungen sei i m Vorgang der Sinnerkenntnis möglich, m i t Forderungen an den Interpreten verknüpft: Das verstehende Subjekt soll sich der Meinung des Textes öffnen und bereit sein, „sich von i h m etwas sagen zu lassen" 195 ; notwendig sei das Eingeständnis des persönlichen Engagements 196 und die Anerkennung, „daß ich i n m i r etwas gegen mich gelten lassen muß" 1 9 7 . M i t der Formulierung solcher Postulate geht Gadamer von der Analyse des Gegebenen zu der Schilderung einer idealen Situation des 191 Die Haltung v o n Gadamer bleibt i n diesem P u n k t recht unklar. Einerseits stimmt er Habermas zu, „daß ein hermeneutisches Vorverständnis i m mer i m Spiele ist u n d daher der reflexiven A u f k l ä r u n g bedarf" (Wahrheit S. 517). U n d er geht auch davon aus, „daß, w e n n m a n verstehen w i l l , m a n bestrebt sein muß, sich v o n den eigenen Sachmeinungen Abstand zu v e r schaffen" (S. 530). A u f dieser L i n i e liegt auch seine Forderung an- den I n t e r preten, sich die Sinnantizipationen bewußt zu machen, u m sie zu kontrollieren (S. 254; ebenso S. 252, 282). Andererseits hält er aber eine „völlige A u f k l ä r u n g für illusionär" (S. 517), w e i l das, was der Reflexion unterworfen werden könne, stets begrenzt sei gegenüber dem, was durch vorgängige Prägung bestimmt werde (S. 534). Offenbar geht Gadamer davon aus, daß die Vorverständnisse zumindest i n einem gewissen Umfang reflexiv aufzuklären sind; dazu sogleich unter 2 a). 192 Vgl. dazu Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 58. 193 So auch Gadamer, Wahrheit S. 279; ebenso Müller, N o r m s t r u k t u r S. 50; ders., Methodik S. 124; Hruschka, Verstehen S. 46. 194 Davon geht w o h l auch Gadamer (Wahrheit S. 253) aus: „Die hermeneutische Aufgabe geht von selbst i n eine sachliche Fragestellung über." 195 Gadamer, Wahrheit S. 253, 343. 196 Gadamer, Wahrheit S. X V I . 197 Gadamer, Wahrheit S. 343; ähnlich Larenz, Methodenlehre S. 188/189.
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„hermeneutischen Gesprächs" über: „Der erfahrene Hermeneut versichert sich des Mitgehens des Partners, stellt sich unter die Führung der Sache, d.h. er entfaltet die immanente sachliche Konsequenz von Meinungen, er erwägt wirklich das Gewicht der anderen Meinung, bringt das Gesagte zu seiner vollen Stärke, läßt es nicht bei der bloßen Meinung bewenden, arbeitet das gemeinsam Gemeinte, den ,Logos' heraus" 198 . Offenbar ist für Gadamer nur i n dieser idealisierten Erkenntnissituation gewährleistet, daß der Verstehensprozeß i n einer spiralförmigen Bewegung i n das vollendete Verständnis mündet. Wer allerdings den Erfolg des Verstehens i n dieser Weise mit der persönlichen Bereitschaft des Verstehenden verknüpft, beschreibt den Vorgang der Sinnerkenntnis i m Grunde als eine subjektiv beherrschbare Handlung: Ob und wie der Interpret eine sprachliche Äußerung versteht, hängt allein von i h m selbst ab. Insofern erscheint der Einwand berechtigt, daß Gadamer „ i n der Ontologisierung des Verstehens nicht konsequent ist" 1 9 9 . b) Aber wie läßt sich die Suspension und Modifikation der inhaltlichen Vormeinungen „ i m Verstehen selbst" denken, ohne daß der Interpret diesen Vorgang kontrollierend beeinflußt? Insoweit muß (erneut) auf die besondere Dynamik der Verstehensprozesse verwieden werden. Jedes Verstehen läuft von selbst darauf hinaus, daß sich die sachliche Wahrheit, die i n den Objektivationen zur Sprache gebracht wird, gegen die Vormeinungen des Interpreten ausspielt. Die gemeinte Sache (die „sachliche Wahrheit") bildet den Bezugspunkt für sprachlich verfaßte „Gesten". U m diesen — zunächst noch unbekannten — Bezugspunkt auf dem Weg zur Sinnerkenntnis nicht zu verfehlen, w i r d sich das erkennende Bewußtsein i m Vor-Verstehen beständig ein Ziel vorgeben, durch das dem Verstehen die Richtung gewiesen wird. Eine Modifikation dieser Zielprojektion vollzieht sich i m Verlauf des Verstehensprozesses immer dann, wenn es zu einer Differenz zwischen dem tatsächlich Gemeinten und der i m Vorverständnis erfaßten Sache kommt 2 0 0 . A u f diese Weise gewinnt der Interpret „von den Sachen her das rechte Verständnis" 2 0 1 . 198 Diese Charakterisierung, i n der lediglich Äußerungen von Gadamer zusammengefaßt sind, findet sich bei Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 46. 199 Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 47. 200 N u r j m Hinblick auf diese Modifikation ist die Unterscheidung zwischen „produktiven" u n d „destruktiven", zwischen „richtigen·" u n d „falschen" V o r urteilen überhaupt sinnvoll: „Richtig" sind solche Vorverständnisse, die sich an der Sache bewähren u n d deshalb auch i m vollendeten Verstehen nicht zur Auflösung gebracht werden; dagegen erweisen sich diejenigen Vorurteile als „falsch", die i m Verlauf des Verstehensprozesses korrigiert werden, w e i l sich die Sache ihrem Zugriff entzieht. 201
Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 254.
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
Es fragt sich allerdings, wie eine Differenz zwischen dem erwarteten und dem „wirklichen" Sinn eine Korrektur der inhaltlichen Vormeinungen motivieren kann, wenn das Gemeinte erst i m vollendeten Verstehen wirklich begriffen ist, so daß eine eventuelle Differenz während des Verstehensprozesses an sich unbemerkt bleiben müßte. Eine Erklärung ergibt sich aus dem besonderen Verhältnis zwischen den Sprachzeichen und der bezeichneten Sache. Die Sprache verweist nicht nur auf eine Sache, sondern ist selbst „immer schon auf die Sache verwiesen" 2 0 2 . Auf Grund einer natürlichen oder konventionellen oder aber aus beidem sich konstituierenden Affinität zwischen den Zeichen und dem Bezeichneten und wegen ihrer gegenseitigen Verwiesenheit w i r d uns bereits durch die Sprache eine Richtung gewiesen. M i t der sprachlichen Geste ist zugleich — wenn auch unausdrücklich — deren Bezugspunkt wahrgenommen. Aus diesem Grunde 2 0 3 haben w i r das sprachlich Objektivierte, mit dem w i r konfrontiert sind, „ i n gewisser Weise immer schon verstanden". Dieses ursprüngliche Begreifen des Gemeinten t r i t t zu den verständnisleitenden Vorurteilen über die gemeinte Sache i n ein Spannungsverhältnis, dessen dialektische Aufhebung ein Verstehen überhaupt erst ermöglicht 202 . Einerseits gibt das ursprüngliche Begreifen dessen, was erst noch verstanden werden soll, der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses eine bestimmte Richtung und motiviert eine Modifikation solcher Vorurteile, die den wirklichen Sinn nicht treffen. Andererseits konstituiert aber das Vor-Verstehen das ursprünglich Begriffene neu, denn das „Vorverständnis ist i n der Sache als einer verstandenen dialektisch ,aufgehoben', also noch insofern wirksam, als es die ,Richtigkeit' des sprachlichen Begreifens bestimmt" 2 0 2 . Jede Gegensätzlichkeit zwischen dem ursprünglichen Begreifen und dem Vor-Verstehen drängt das erkennende Bewußtsein zu einer A n näherung der dialektischen Positionen. Dadurch gerät der Verstehende i n die zirkuläre Bewegung, die zuletzt i n ein vollendetes Verstehen mündet. Ausgelöst w i r d diese Bewegung nicht durch den Entschluß des Interpreten, eigene Vorurteile zu revidieren, sondern allein durch die Konfrontation des Vorverständnisses m i t der gemeinten Sache, die uns zwar nicht durch die Sprache „gegeben" wird, die aber immer schon ursprünglich und unausdrücklich mitbegriffen ist, wenn w i r uns mit Sprache befassen. Solche Konfrontationen zwischen Interpret und sprachlicher Äußerung, zwischen Vorverständnis und Sachstruktur, setzen stets eine Bewegung i n Gang, die eine Aufhebung bestehender Gegensätze bewirkt. Denn: „Sowenig w i r einen Sprachgebrauch dauernd 202
Hassemer, Tatbestand S. 82. Habermas (Logik S. 263) nennt als weiteren G r u n d die Tatsache, daß der Interpret als Moment demselben Traditionszusammenhang angehört w i e sein Gegenstand. 203
Β . Philosophische Hermeneutik i n der K r i t i k
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verkennen können, ohne daß der Sinn des Ganzen gestört wird, so wenig können w i r an unserer eigenen Vormeinung über die Sache blindlings festhalten, wenn w i r die Meinung eines anderen verstehen" 204 . Auf diese Weise werden die inhaltlichen Vorurteile i m Verstehen selbst diszipliniert. III. Zur Notwendigkeit einer ideologiekritischen Fundierung der Ver stehensprozesse Verstehen ist ein kommunikativer Prozeß. Kommunikation w i r d durch Sprache ermöglicht. Die Sprache ist allerdings nicht nur Kommunikationsmittel, sondern auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht, sofern sie der „Legitimation von Beziehungen organisierter Gew a l t " dient 2 0 5 . Ihre legitimierende Wirkung macht die Sprache zu einem Mittel der Täuschung: Sie zeigt die Verhältnisse nicht so, wie sie sind, sondern so, wie sie sich selbst sehen. Sprache ist daher auch ideologisch, soweit die sprachlichen Äußerungen, die als Legitimationen funktionieren, „das Gewaltverhältnis, dessen Institutionalisierung sie ermöglichen, nicht aussprechen, soweit dieses i n den Legitimationen sich nur ausdrückt" 2 0 5 . Wer sich daher allein auf den i n einer sprachlichen Äußerung liegenden Sinn beruft und damit „die Verhältnisse naiv an dem allein mißt, wofür sie sich subjektiv halten" 2 0 8 , trägt zu einer Ideologisierung des Verstehens bei. Vom Ideologieverdacht ist ein Sinnverständnis erst dann befreit, wenn die Abhängigkeit der Sprachgebilde und ihrer Deutungen von den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen, die sie bewirkt haben, transparent gemacht wird. Damit ist aber eine ideologiekritische Fundierung der Verstehensprozesse gefordert 207 . 1. Die Sprache einer Gesellschaft ist lediglich Moment eines umfassenden Zusammenhangs, der sich aus Sprache, Arbeit und Herrschaft konstituiert 2 0 8 . Die sprachlich verfaßte Uberlieferung ist deshalb keine absolute Macht, sondern durch andere Momente des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs (Arbeit und Herrschaft) relativiert. Diese Relativität zeigt sich vor allem darin, daß gesellschaftliche Gewaltverhältnisse auch hinter dem Rücken der Sprache wirksam werden 2 0 9 . Eine 204
Gadamer , Wahrheit S. 253. Habermas, Logik S. 287; vgl. auch Leicht, Rechtstheorie S. 75. 206 Habermas, D i a l e k t i k S. 18. 207 Vgl. dazu auch Habermas, Logik S. 281 if.; Apel, Ideologiekritik S. 36 ff.; Hauff, Hermeneutik S. 43 if. 208 So Habermas, Logik S. 289; Leicht, Rechtstheorie S. 75: Realität u n d Sprache könnten nicht gleichgesetzt werden, „als sei die Sprache Realität schlechthin". 209 Vgl. Müller, Sprache S. 37: „Gewalt k a n n auch ohne sprachliche V e r m i t t l u n g auskommen, w e n n sie sich auch vielfach sprachlicher V e r m i t t l u n g bedient." 205
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
Sprache, die derart hintergangen werden kann, ist nicht nur der Ort möglicher Wahrheit und faktischen Verständigtseins, sondern „zugleich auch der Ort faktischer Unwahrheit und fortdauernder Gewalt" 2 1 0 , denn sie vermag die tatsächlichen Strukturen von Herrschaft und sozialer Macht zu verschleiern. Damit ist aber die Sprache als das „andere Sein" der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse disqualifiziert: Das reale Ganze des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs „geht nicht i n der Dimension intersubjektiv vermeinten und symbolisch überlieferten Sinnes auf" 2 0 8 . Wer daher als Interpret einer sprachlichen Objektivation auf die Analyse der konkreten Gesellschaftsverhältnisse (der geschichtlichen Wirklichkeit) verzichtet und statt dessen gesellschaftliche Prozesse ganz zu kultureller Uberlieferung sublimiert, verfällt einem „Idealismus der Sprachlichkeit" und begibt sich selbst des Anspruchs, Wahrheit zu vermitteln 2 1 1 . „Eine Wahrheit, die nicht m i t der geschichtlichen Wirklichkeit, d. h. der wirklichen Geschichte vermittelt ist, verfällt dem Ideologieverdacht" 212 . a) Wer die Grenzen der kommunikativen Funktion und den beschränkten Wahrheitswert der Sprache erkannt hat und aus diesem Grunde eine Analyse der objektiven gesellschaftlichen Bedingungen der sprachlich verfaßten Überlieferungen und ihrer Interpretationen fordert, bestreitet die Universalität der menschlichen Sprachlichkeit und damit den von Gadamer erhobenen Universalitätsanspruch der Hermeneutik. Für Gadamer ist die Sprache „die Grundvollzugsweise unseres Inder-Welt-Seins, die alles umgreifende Form der Weltkonstitution" 2 1 3 . Sprachliche Äußerungen betrachtet er als Auslegungen und Auslebungen der tatsächlichen sozialen Verhältnisse „ i n den realen Abhängigkeiten von Arbeit und Herrschaft so gut wie i n allem anderen, das unsere Welt ausmacht" 214 . Nach diesem Verständnis liegen also auch die realen Faktoren von Arbeit und Herrschaft nicht außerhalb, sondern innerhalb der Grenzen der Sprache. Die menschliche Sprachlichkeit w i r d eben als etwas Universales aufgefaßt, „als ein i n sich grenzenloses Element, das alles trägt, nicht nur die durch Sprache überlieferte Kultur, sondern schlechthin alles, w e i l alles i n die Verständlichkeit hereingeholt wird, i n der w i r uns miteinander bewegen" 215 . 210 211 212 213 214 215
Vgl. Wellmer, Gesellschaftstheorie S. 48/49. Dazu Habermas, Logik S. 287, 289; Hauff, Hermeneutik S. 33. Hauff, Hermeneutik S. 33. Gadamer, Universalität S. 101. Gadamer, Rhetorik S. 72. Gadamer, Rhetorik S. 64; vgl. auch dens., Replik S. 291.
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Wenngleich Gadamer die Behauptung für absurd hält, alle unsere Welterfahrung sei nichts als ein Sprachvorgang 216 , so erliegt er dennoch dem Idealismus totaler Sprachlichkeit insofern, als für i h n alles Sein, das verstanden werden kann, Sprache ist 2 1 7 . Diese These verknüpft sich mit der Uberzeugung, daß die Intentionen, die einer sprachlichen Äußerung zugrunde liegen, prinzipiell mitteilbar sind und auch tatsächlich i n die Sprache transformiert werden. Unter dieser Voraussetzung w i r d aber die Aufklärung über objektive gesellschaftliche Zusammenhänge immer schon i m Verstehen selbst geleistet, weil durch die Transformation dieser Zusammenhänge i n die Sprache deren hermeneutische Erfassung stets gewährleistet ist 2 1 8 . b) Der universale Anspruch des hermeneutischen Ansatzes läßt unberücksichtigt, daß sich bei einem „hermeneutischen Gespräch" ein System von Mißverständnissen, der Schein eines Konsenses oder — auf Grund einer „Täuschung mit Sprache" 219 — ein falscher Konsens herausbilden kann 2 2 0 . „ E i n Dialog ist noch nicht »gelungen4, wenn zwei sich miteinander unterhalten und meinen, sich zu verstehen" 221 . I n diesen Fällen verzerrter Kommunikation w i r d die Wahrheit nur durch einen Rückgriff auf die „wahren" Intentionen des Gesprächspartners oder auf die „wirklichen", durch das Gespräch jedoch verschleierten Zusammenhänge entdeckt. Hier zeigen sich die Grenzen der Hermeneutik: Die „Universalität" der Sprachlichkeit ist auf solche Situationen reduziert, i n denen die Handlungen und Intentionen vollständig i n die Sprache transformiert und daher i m Rahmen einer umgangssprachlichen Kommunikation auch verständlich sind 2 2 2 . Die Deutung neurotischer Handlungen oder psychosomatischer Störungen als symptomatische Äußerungen unbewußter Motive 2 2 3 hat auch für das Verständnis der Sprache etwas Erhellendes: Sprachliche Äußerungen können Ausdruck einer Intention oder eines Zusammenhangs sein, den (die) sie selbst nicht aussprechen. Sprache ist insoweit mit einer symptomatischen Reaktionsweise vergleichbar, die ihre Ursprungsbedingungen nicht mehr erkennbar werden läßt — weder für den Sprechenden noch für den Kommunikationspartner. Ein Konsens ist unter diesen Umständen zwar möglich, die Hermeneutik vermag jedoch nicht 216
Gadamer , Replik S. 290. Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 450; ebenso ders., Rhetorik S. 71. 218 Vgl. auch Gadamer , Rhetorik S. 71, u n d den Hinweis bei Bubner, losophie S. 222 N. 12. 219 Habermas, Logik S. 287. 220 Vgl. Habermas, Universalitätsanspruch S. 134. 221 Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 53. 222 Vgl. auch Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 54 ff. 223 Dazu Habermas, Universalitätsanspruch S. 133 ff. 217
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
zwischen wahrem und falschem Konsens zu unterscheiden 224 . Sie stößt bei dem Versuch einer solchen Differenzierung gleichsam von innen an die Wände der Sprache 225 . Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die Notwendigkeit einer Selbstbeschränkung des universalen hermeneutischen Ansatzes. Das hermeneutische Verfahren allein schützt nicht vor einer Verkennung der Wahrheit. Eventuelle Mißverständnisse werden erst dann entdeckt, wenn man die objektiv wirksamen Faktoren einer Kommunikation analysiert. Deshalb w i r d das Verstandene hinter dem Rücken der kommunizierenden Subjekte stets an dem zu messen sein, was w i r k l i c h ist 2 2 6 . Ein Interpret kann sich also nicht auf eine Vermittlung der Vergangenheit m i t der Gegenwart beschränken, vielmehr muß er „zugleich auch die objektiv distanzierende Erkenntnishaltung eines Arztes oder besser: eines Psychotherapeuten gegenüber dem Verhalten und den Sinnansprüchen der Uberlieferung und der Zeitgenossen einnehmen" 227 . 2. Die damit geforderte ideologiekritische Hinterfragung der Verstehensprozesse ist allerdings nicht i m Verstehen selbst möglich, sondern nur als ein zusätzlicher Vorgang denkbar. Denn zunächst muß man den Sinn eines Textes erkennen und die Verhältnisse als das betrachten, wofür sie sich subjektiv halten, bevor man sie an dem messen kann, was sie wirklich sind 2 2 6 . Somit läßt sich der Vorgang der Sinnerkenntnis immer nur durch eine nachträgliche Aufklärung der wirklichen Intentionen und Zusammenhänge, die einer Verständigung i m „hermeneutischen Gespräch" zugrunde liegen, ergänzen 228 . Ideologiekritik ändert zwar nichts an der Tatsache, daß die Verstehensprozesse auf Grund ihrer ontologischen Struktur einer subjektiven Beherrschung weitgehend entzogen sind. Immerhin w i r d aber dadurch, daß man den sprachlichen Zusammenhang überschreitet und das i m Verstehen Erkannte i n ein außersprachliches Bezugssystem stellt, die Sprache als M i t t e l der Täuschung durchschaubar und sprachlich legitimierte Herrschaft als ungerechte Herrschaft kritisierbar 2 2 9 . Durch eine nachträgliche Analyse der objektiven Bedingungen, die einem Text und seinen Deutungen zugrunde liegen, kann Ideologie als solche erkannt und der sachlichen Autorität sprachlich verfaßter Traditionen „das, was an ihr bloße Herrschaft war, abgestreift und i n den gewaltloseren Zwang von Einsicht und rationaler Entscheidung aufgelöst werden" 2 3 0 . 224 So Habermas, Universalitätsanspruch S. 153; dazu auch Richterliches Handeln S. 53. 225 Ä h n l i c h Habermas, Logik S. 287. 226 So auch Habermas, D i a l e k t i k S. 18. 227 Apel, Ideologiekritik S. 39/40. 228 Vgl. auch Habermas, L o g i k S. 285. 229 Vgl. Habermas, L o g i k S. 284 f.; Leicht, Rechtstheorie S. 75. 230 Habermas, Logik S. 285.
Rottleuthner,
C. Juristische Hermeneutik
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Somit darf man auf keinen Fall i n einer positivistischen Haltung verharren und sich allein an dem orientieren, was die Sprache sagt. Notwendig ist vielmehr eine Verknüpfung der hermeneutischen Prozeduren mit den objektivierenden Verfahren kausalanalytischer Wissenschaft 231 . Anzuwenden wäre beispielsweise eines der verschiedenen handlungstheoretischen Konzepte, die von den Sozialwissenschaften erarbeitet worden sind 232 . Auch eine historische Analyse w i r d zu einer kausalen Erklärung individueller sprachlicher Ereignisse beitragen können. M i t dem Postulat einer ideologiekritischen Analyse der Situation des Interpreten und der konkreten gesellschaftlichen bzw. geschichtlichen Bedingungen, die den sprachlichen Objektivationen und ihren Inhaltsbestimmungen zugrunde liegen, w i r d der philosophische Ansatz der Hermeneutik durch einen kritischen Aspekt ergänzt. Das ursprüngliche, allein an der Sprache orientierte Verständnis eines Wortes, Satzes oder Textes bleibt so nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zu einer ideologiekritisch fundierten Sinnerkenntnis. C. Juristische H e r m e n e u t i k
Tatbestände bringen eine „Sache Recht" zur Sprache und erweisen sich aus diesem Grunde als sinnvolle sprachliche Äußerungen. Der Sinn der einzelnen Tatbestände w i r d i n einem hermeneutischen Verfahren erkennbar, das denselben Bedingungen unterliegt, die i n jedem Vorgang der Sinnerkenntnis wirksam sind 2 3 3 . Besonderheiten ergeben sich für die juristische Hermeneutik allerdings daraus, daß sich das Bemühen um Sinnerkenntnis bei dem rechtsanwendenden Interpreten stets m i t einem praktischen Interesse an der Lösung eines konkreten Falles verbindet. Insoweit sind die bisher vermittelten Erkenntnisse der allgemeinen Hermeneutik ergänzungsbedürftig. I. Tatbestand und Sinnerkenntnis Juristisches Verstehen bewirkt eine Verständigung über die „Sache Recht" i m Medium der Sprache 234 . Zwar zielt das Verstehen i m Rahmen der Rechtsanwendung nicht auf alles, was ein Tatbestand bedeutet, 281
Vgl. Habermas, D i a l e k t i k S. 17/18; Apel Ideologiekritik S. 43/44. 232 Dazu Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 61 ff.
233 Demgegenüber geht Haft (JuS 1975, 481) davon aus, daß Gesetze „nicht hermeneutisch zu erschließende Aussagen des Gesetzgebers, sondern potentielle Handlungsschemata" sind. Dieser Satz ist nicht recht verständlich. Weshalb sollten wegen der normativen F u n k t i o n juristischer Sinneinheiten die Kategorien der Auslegung u n d des Verstehens bei Gesetzen irrelevant sein (so Haft )? 284 Vgl. auch Larenz, Methodenlehre S. 179/180.
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
vielmehr ist der Sinn der Tatbestände, der notwendigerweise allgemein gehalten ist, stets i m Hinblick auf die Besonderheit des jeweiligen Falles zu konkretisieren 235 . Aber auch diese fallbezogene Sinnerkenntnis ist nach dem Prinzip der Wirkungsgeschichte strukturiert. Als wirkungsgeschichtlicher Vorgang w i r d das juristische Verstehen wie jeder andere hermeneutische Prozeß von der vorgreifenden Bewegung der Vorverständnisse bestimmt. 1. Jeder Tatbestand weist einen zweifachen Bezug auf. Er ist einerseits i n einer bestimmten geschichtlichen Situation verwurzelt, die sich aus den allgemeinen historischen Bedingungen der Entstehungsperiode und der subjektiven Konditionierung des „Gesetzgebers" konstituiert 2 3 8 . Andererseits w i r d ein Tatbestand i m Vorgang der Sinnerkenntnis stets auf eine aktuelle Situation bezogen, die ihrerseits durch die objektiven Bedingungen der Aneignungsperiode und die subjektive Einstellung des Interpreten geprägt ist. „Für ein adäquates Verstehen kommt es darauf an, diese beiden geschichtlich differenten Situationen derart zu vermitteln, daß der Text i n beiden dieselbe Valenz hat" 2 3 7 . Das Verständnis einer rechtserheblichen sprachlichen Äußerung setzt voraus, daß der Interpret zu der hermeneutischen Situation vordringt, aus der das Sprachgebilde jeweils hervorgegangen ist, damit sich das, was verstanden werden soll, i n seinen wahren Maßen darstellt. „Wer es unterläßt, derart sich i n den historischen Horizont zu versetzen, aus dem die Uberlieferung spricht, w i r d die Bedeutung der Überlieferungsinhalte mißverstehen" 238 . Diese Einsicht verknüpft sich allerdings mit der Erkenntnis, daß „ w i r die Entstehungsperiode nie unvermittelt mit der ,Brille' der Zeitgenossen sehen können, sondern — u m auch hier i m B i l d zu bleiben — nur mehr m i t dem zusätzlichen ,Brillenaufsatz 4 der zwischen uns und dem Autor liegenden Geschichte" 237 . Der Interpret kann den Horizont der eigenen Lebenspraxis nicht einfach überspringen und das Prinzip der Wirkungsgeschichte nicht schlicht suspendieren 239 , d.h. er vermag das 235 Dazu Larenz, Methodenlehre S. 191; Mayer-Maly JB1. 1969, 414; zu Einzelheiten § 4 C. I I . 236 Auch eine Rechtsnorm, die erst kurze Zeit v o r ihrer erstmaligen A n wendung Gültigkeit erlangt hat, gehört bereits der Geschichte an u n d k a n n daher w o h l n u r durch eine „vertikale" K o m m u n i k a t i o n i n die aktuelle Situation ihrer Verwendung übertragen werden. Allerdings könnte m a n w e gen der zeitlichen Nähe beider Situationen durchaus auch v o n einer „horizontalen" K o m m u n i k a t i o n zwischen dem zeitgenössischen Rechtstext u n d dem Rechtsanwender sprechen. Eine Abgrenzung dürfte insoweit schwierig sein, da i m Grunde „jeder Moment eine neue Epoche (...) bedeutet." (Hirsch, Interpretation S. 313) ; sie wäre hier jedenfalls ohne Bedeutung. 237 Leicht, Rechtstheorie S. 72. 238 Gadamer , Wahrheit S. 286. 239 Dazu nochmals Habermas, Erkenntnis S. 227/228.
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tradierte Sprachgebilde und dessen historisch-pragmatischen Kontext nur durch die „ B r i l l e " der eigenen hermeneutischen Situation zu sehen. Das bedeutet zunächst einmal, daß die Möglichkeit, historischen Horizont zu gewinnen, durch den jeweiligen Horizont der Gegenwart beschränkt ist. Darüber hinaus w i r d das Erkenntnissubjekt bei seinem Bemühen, einen i n der Vergangenheit formulierten Tatbestand zu verstehen, mit dem für dieses Verständnis an sich notwendigen Entwurf des historischen Horizontes zugleich auch dessen Aufhebung vollbringen 240 . Eine solche Aufhebung geschieht i n der Horizont Verschmelzung, ist also immer auch m i t einer Veränderung der hermeneutischen Situation des Interpreten verbunden. Juristisches Verstehen überwindet somit nicht nur die historische Ausgangssituation eines Tatbestandes, sondern zugleich die Partikularität des aktuellen Kontextes, i n den der Tatbestand bei jeder neuen Sinnerkenntnis gestellt ist. Vor diesem Hintergrund verliert die Frage, ob bei der „Auslegung" der Tatbestände der „Wille des Gesetzes" oder der des „Gesetzgebers" maßgeblich ist, ihre Bedeutung. Der „Wille des Gesetzgebers" — er konstituiert sich aus der Regelungsabsicht, den Wertungen, Bestrebungen und sachlichen Überlegungen der Autoren rechtserheblicher Sprachgebilde — bildet zusammen m i t anderen subjektiven Faktoren und den allgemeinen geschichtlichen Bedingungen, die bei der Versprachlichung eines Rechtsgedankens wirksam sind, den historischen Horizont eines Tatbestandes, der allerdings bei jeder Aktualisierung des Textsinnes m i t dem Gegenwartshorizont des Interpreten verschmolzen wird. Demnach bleibt ein Tatbestand einerseits seinem Ursprung verhaftet, weil jedes Sinnverständnis darauf angewiesen ist, daß der Interpret historischen Horizont gewinnt. Insoweit enthält die subjektive Theorie durchaus eine Wahrheit. Andererseits vermag jedoch das verstehende Subjekt einen tradierten Sinn nur durch die „ B r i l l e " der eigenen hermeneutischen Situation zu sehen — als einen an die Gegenwart bereits vermittelten Sinn. Demnach kommt es auch i m juristischen Verstehen zu einer beständigen Integration von Vergangenheit und Gegenwart, so daß jeder Tatbestand an der wirkungsgeschichtlichen Entwicklung teilnimmt. Darin liegt die Wahrheit der objektiven Theorie. Letztlich können allerdings beide Theorien nur Teilwahrheiten vermitteln, weil ihre Ausgangsfrage — „Wille des Gesetzgebers" oder „Wille des Gesetzes" — als Rechtsfrage gestellt ist: Welcher „ W i l l e " soll maßgeblich sein? Das „Ziel der Gesetzesauslegung" läßt sich aber nicht nach rechtlichen K r i t e rien festlegen, sondern ist dem Verstehenden immer schon vorgegeben 241 . Jedes Verstehen zielt ab auf eine Horizontverschmelzung; ermittelt w i r d 240 Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 290; Leicht, Rechtstheorie S. 72: „ I n d e m w i r einen Text lesen, transzendieren w i r stets seine Entstehungsumwelt." 241 Ebenso Hruschka, Verstehen S. 90. 12
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
kein objektiv-historischer Sinn, sondern ein auf die konkrete hermeneutische Situation des Interpreten applizierter Sinn 2 4 2 . Der verstehende Jurist „sucht dem ,Rechtsgedanken4 des Gesetzes zu entsprechen, indem er es mit der Gegenwart vermittelt" 2 4 3 . Sinnerkenntnis setzt also die Einbeziehung der hermeneutischen Situation des Interpreten i n den Verstehensprozeß voraus. Jede Veränderung dieser Situation bedingt ein verändertes Verständnis der Tatbestände 244 . Das juristische Verstehen nimmt somit an derselben geschichtlichen Bewegung teil, i n der das Leben selbst steht. Deshalb wäre es sinnlos, an die Möglichkeit einer jemals vollendeten Sinnerkenntnis zu glauben. Die Ausschöpfung des „wahren Sinnes" einer rechtserheblichen sprachlichen Äußerung ist i n Wirklichkeit ein unendlicher Prozeß 245 , denn das Verstehen hat ebensowenig wie der Zeitenabstand, der eine Horizontverschmelzung notwendig werden läßt, eine abgeschlossene Größe 246 . Indem der rechtsanwendende Interpret einen Tatbestand von seiner eigenen hermeneutischen Position aus betrachtet (und auch betrachten muß, wenn Verstehen möglich sein soll), vermag er aus der sprachlichen Objektivation Entscheidungen „herauszulesen", die der Verfasser möglicherweise gar nicht „hineingelegt" hat. „Der Ausleger kann das Gesetz besser verstehen, als es seine Schöpfer verstanden haben, das Gesetz kann klüger sein als seine Verfasser" 247 . Denn wegen der wirkungsgeschichtlichen Verstrickung der Menschen ist kein Sinnverständnis endgültig — auch nicht das des „Gesetzgebers". Jedes Neuverstehen der Tatbestände knüpft an die Kette der vergangenen Interpretationen an. Insoweit ist das, was als „rechtlicher Sinn 44 erfaßt wird, ein Aggregat abgelagerter Verständnisse, die sich fortwährend aus neuen Retrospektiven ergeben 248 . Daran zeigt sich, daß 242 Vgl. dazu auch Sax, Analogieverbot S. 63 ff.; Heller, Logik S. 104 ff. (107); Mennicken, Gesetzesauslegung S. 78 ff. (106); Larenz, Methodenlehre S. 302 ff. (305); Hesse, Grundzüge S. 26. 243 Gadamer, Wahrheit S. 311. 244 Ä h n l i c h Larenz, Methodenlehre S. 338ff.; vgl. auch Wieacker, Richterkunst S. 4. 245 Auch Sax (Analogieverbot S. 76) betrachtet die „Auslegung" als eine „ewige Aufgabe". 246 Ebenso Sax, Analogieverbot S. 73 ff.; Larenz, Methodenlehre S. 305; Hassemer, Tatbestand S. 99; Schroth, Wertneutralität S. 107. 247 Radbruch, Rechtsphilosophie S. 211; ebenso J. Esser StudGen 1954,375; Heller, Logik S. 105; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 164, 305; ders., Peters-FS S. 305. Die Diskussion darüber, ob das Gesetz oder aber der Gesetzesanwender k l ü ger ist als der „Gesetzgeber", ist ein bloßer Streit u m Worte; anders offenbar Engisch, Einführung S. 105; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 165; Haft JuS 1975, 481; Simon, Unabhängigkeit S. 107. 248 So Habermas, Logik S. 266; vgl. auch Hassemer, Tatbestand S. 100: Jedes Verstehen sei richtungweisend u n d horizontbestimmend f ü r spätere Verstehensprozesse.
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der Sinn wie der hermeneutische Vorgang selbst die „Zeitstruktur der Geschichtlichkeit" 249 aufweist. Wenn also ein Tatbestand heute anders verstanden w i r d als i m Zeitpunkt seines Inkrafttretens, so ist das durch seine geschichtliche Zeitstruktur gerechtfertigt, i n der sich das Prinzip der Wirkungsgeschichte durchsetzt 250 . Der Sinn rechtserheblicher Sprachgebilde ist m i t h i n ein zeitbestimmter, geschichtlicher Sinn, der m i t dem Fortgang des Uberlieferungsgeschehens jeweils neu erschlossen werden muß 2 5 1 . Dementsprechend w i r d i n jedem Verstehensprozeß die „Sache Recht", auf die ein Tatbestand verweist, originär konstituiert 2 5 2 . „Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten" 2 5 3 . Das heißt aber: Jede richterliche Interpretation ist „schöpferische Arbeit am Gesetz" 254 , „ein Stück echter und originärer Entscheidung über die Rechtsordnung" 255 . Was von den verstehenden Subjekten als die „Sache Recht" erfaßt wird, kann ihnen deshalb durch die Autoren der Tatbestände nicht vorgegeben, sondern allenfalls aufgegeben werden 256 . Damit soll keineswegs gesagt sein, daß das Verstehen der Tatbestände i n das Belieben einzelner Personen gestellt ist. Die zur Sinnerkenntnis führende Horizontverschmelzung ist keine Konstruktion der erkennen249 250
305.
G. Husserl, Recht u n d Zeit S. 22. Vgl. G. Husserl, Recht u n d Zeit S. 26; Larenz,
Methodenlehre S. 166,
251 Die Geschichtlichkeit der Tatbestände u n d ihrer Inhalte findet i n der Geschichtlichkeit des Rechts eine rechtsontologische Entsprechung; vgl. dazu A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 22: „Recht ist nicht als bloßes F a k t u m i n der Zeit, so daß es w i e die ungeistige N a t u r keinen Bezug zur Zeit hätte. Es ist vielmehr i n seinem Sein durch die Zeit bestimmt u n d muß daher je u n d je neu v e r w i r k l i c h t werden, u m zu sich selbst zu kommen."; vgl. auch Hassemer, Tatbestand S. 126; Radbruch, Rechtsphilosophie S. 222. 252 Ä h n l i c h Leicht, Rechtstheorie S. 73; Hassemer, Tatbestand S. 100; A. Kaufmann, Larenz-FS S. 38; J. Esser StuGen 1954, 375; Hinderling, Verstehen S. 145 ff.; vgl. auch Gadamer, Wahrheit S. 315, der darauf hinweist, „daß aber gleichwohl dieses auslegende T u n sich vollständig an den Sinn des Textes gebunden hält". 253 Gadamer, Wahrheit S. 280; ebenso J. Esser, Vorverständnis S. 76. 254 A. Kaufmann/Hassemer, Grundprobleme S. 71; so auch Rittner, Verstehen S. 59; A. Kaufmann, Peters-FS S. 306; ders., Rechtsphilosophie S. 163 f., 364. 255 Wannagat (zitiert nach Larenz, E. R. Huber-FS S. 292); ebenso Sax, Analogieverbot S. 67; Less, Wesen S. 66; J. Esser StudGen 1959, 100; ders., Grundsatz S. 117; Mennicken, Gesetzesauslegung S. 100 f.; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 166; Papier, Demokratieprinzip S. 173f.; Hesse, Grundzüge S. 25 f.; Kruse T K § 1 S t A n p G Rz. 2. 256 So J. Esser, Vorverständnis S. 135. Unter hermeneutischen Gesichtspunkten erweist sich somit die Bindung des Richters an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) durchaus als problematisch; vgl. dazu auch Larenz, E. R. H u b e r - F S S. 291 ff.; Rupp N J W 1973, 1769ff.; zu Einzelheiten § 5 B. I I I . 2. Ebenso problematisch ist die Bezeichnung der Gesetzesverfasser als „Gesetz-Geber". 12*
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
den Subjekte, sondern ontologisch begründet. Wer sich um das Verständnis eines Tatbestandes bemüht, rückt stets i n das Uberlieferungsgeschehen ein, i n dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln. Juristisches Verstehen erweist sich selber als ein Geschehen, als ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang, der die Interpreten an einem aktuellen Sinn der Tatbestände teilhaben läßt. 2. Der Sinn eines Tatbestandes läßt sich nur dann erschließen, wenn man die rechterhebliche sprachliche Äußerung schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Demnach ist auch das juristische Verstehen auf die vorgreifende Bewegung der Vorverständnisse angewiesen 257 . Dabei bezieht sich das Vorverständnis (die Vormeinung, das Vorurteil) des rechtsanwendenden Interpreten stets auf die „Sache Recht", die der betreffende Tatbestand zur Sprache bringt, und damit zugleich auf die soziale Wirklichkeit, die unter dem vorgefaßten rechtlichen Gesichtspunkt ins Blickfeld geraten müßte 258 . Die Ausbildung der Vorverständnisse w i r d einerseits von der „Sache Recht" her bestimmt, ist aber andererseits auch von der hermeneutischen Situation des Verstehenden abhängig 259 . So w i r d etwa bei einem Juristen, der sich u m die Interpretation eines Tatbestandes bemüht, das gesamte Wissen u m rechtliche Probleme, Denkformen und Lösungsmöglichkeiten des geltenden Rechts und vor allem auch u m die Sprache, deren sich der „Gesetzgeber" zu bedienen pflegt, i n die notwendige A n t i zipation des rechtlichen Sinnes einfließen. „Sein Vorverständnis ist das Ergebnis eines langwierigen Lernprozesses, i n den sowohl die während seiner Ausbildung oder später erworbenen Kenntnisse, wie mannigfache berufliche und außerberufliche Erfahrungen, vor allem solche über soziale Tatsachen und Zusammenhänge eingegangen sind" 2 6 0 . Die i m hermeneutischen Zirkel sich vollziehende Revision und Modifikation dieses Vorverständnisses initiiert weitere Lernprozesse und führt damit bei dem Interpreten zu einer Horizontverschiebung. 257 Vgl. auch Engisch, Einführung S. 201, 206; Hassemer, Tatbestand S. 82 u n d öfter; Müller, N o r m s t r u k t u r S. 49f.; dens., Methodik S. 124; J. Esser, Vorverständnis S. 43 ff., 53 ff., 134 ff.; Hinderling, Verstehen S. 143 ff.; A. Kaufmann, Peters-FS S. 302; Larenz, Methodenlehre S. 185; Hesse, Grundzüge S. 26; Kruse T K § 1 S t A n p G Rz. 2; dens. ÖStZ 1975, 196. I n der juristischen Verwendung des Vorverständnis-Begriffs bestehen allerdings (vor allem bei J. Esser u n d Müller) zahlreiche Unklarheiten über die Bedeutung dieser Vokabel u n d über den Status der Vorverständnisse i m Verstehensprozeß; dazu kritisch Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 42 ff. 258 Ähnlich Larenz, Methodenlehre S. 185, 187. Müller (Methodik S. 107 ff.; N o r m s t r u k t u r S. 184ff.; Sprache S. 38ff.) spricht insoweit v o m „ N o r m p r o gramm" u n d „Normbereich", die vor-verstehend erfaßt werden. 259 Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 94. 260 Larenz, Methodenlehre S. 185, m i t Hinweis auf J. Esser, Vorverständnis S. 10. Daß daneben auch andere subjektive Momente w i e ζ. B. politische Einstellung, persönliche Sympathien bzw. A n t i p a t h i e n etc. i n das V o r v e r -
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Damit ist bereits darauf hingewiesen, daß die inhaltlichen Vormeinungen — sofern sie sich nicht an der „Sache Recht" bewähren — laufend von dem her korrigiert werden, was sich bei einem weiteren Eindringen i n den rechtlichen Sinn eines Tatbestandes ergibt. Juristisches Verstehen erweist sich als ein beständiges Entwerfen von Sinnmöglichkeiten und als ein fortwährendes Uberprüfen der eigenen Sinnentwürfe. Auf diese Weise kommt es zu einer spiralförmigen Bewegung zwischen Tatbestand und Erkenntnissubjekt, i n der sich die sachliche Wahrheit gegen die Vorurteile des Interpreten auszuspielen vermag. Der Verstehensprozeß ist erst abgeschlossen, wenn sich die „Sache Recht" dem Zugriff des Vorverständnisses nicht mehr entzieht. I n die hermeneutische Vermittlung der dialektischen Positionen von Interpret und Tatbestand, von Vorverständnis und „Sache Recht", von Gegenwart und Vergangenheit, sind auch die bereits beschriebenen 281 spiralförmigen Abläufe i n der syntaktischen und semantischen Dimension einbezogen. I n dem Verhältnis zwischen einem Tatbestand und den i h m über- bzw. untergeordneten Sinneinheiten und i n der Beziehung der i m Tatbestand objektivierten juristischen Konzeption (der „Sache Recht", des Rechtsphänomens) zu ihrem konzeptionellen Umfeld w i r d die „Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen" durch dieselbe vorgreifende Bewegung des Vorverständnisses dirigiert, die am Ende des Verstehensprozesses zur Horizontverschmelzung führt. Innerhalb dieses hermeneutischen Zirkels vollzieht sich außerdem auch die A n näherung von Lebensvorgang und Tatbestand, die i n der Rechtsanwendung zu leisten ist 2 6 2 . Die Spiralbewegung des juristischen Verstehens ist kein methodisches Verhalten der erkennenden Subjekte, sondern ontologisch begründet. Selbst i n der geglückten Sinnerkenntnis w i r d der hermeneutische Zirkel nicht zur Aufhebung gebracht, sondern — i m Gegenteil — am eigentständnis einfließen, w i r d von Larenz verschwiegen (oder nicht gesehen). Z u r Vermeidung v o n Mißverständnissen sei noch besonders darauf hingewiesen, daß die Einstellung des Interpreten, dessen subjektive Konditionierung, nicht m i t dem Vorverständnis identisch ist. Die persönliche Einstellung ist lediglich einer v o n mehreren Faktoren, die das Vorverständnis beeinflussen; anders offenbar Müller, N o r m s t r u k t u r S. 200, der das Vorverständnis definiert als einen „unreflektierten·, zum großen T e i l sprachlich v e r m i t t e l ten Komplex v o n Haltungen, Meinungen, inhaltlichen Vorgriffen". Diesem Verständnis der „Vorverständnisse" entspricht die Unterscheidung zwischen einem „allgemeinen" u n d einem besonderen „juristischen" Vorverständnis; vgl. etwa Müller, N o r m s t r u k t u r S. 51; dens., Methodik S. 125; dens., Sprache S. 37; Müller verkennt, daß sich das Vorverständnis i m Zusammenhang m i t Tatbeständen i m m e r auf eine „Sache Recht" bezieht u n d insoweit stets ein „juristisches" Vorverständnis ist, das allerdings — u n d darauf w i l l Müller w o h l hinweisen — auch durch die „nicht-juristische" Einstellung des I n t e r preten mitbestimmt w i r d . 261 282
Vgl. § 4 A . I I I . b). Dazu ausführlicher § 4 C. I I .
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
lichsten vollzogen 263 . Wenn aber das Verstehen der Tatbestände von der vorgreifenden Bewegung des Vor-Verstehens dauerhaft bestimmt bleibt, dann läßt sich das „Subjektive" bei der juristischen Sinnerkenntnis niemals ganz ausschalten. „Der Erkennende bleibt nicht außerhalb des Erkenntnisprozesses, sondern er nimmt — mit all seinen Vorurteilen, Uberzeugungen, Interessen — an diesem Prozeß teil" 2 6 4 . Das Bestreben, die verständnisleitenden Vorurteile reflexiv aufzuklären, damit sie nicht mehr i n der A r t der Vorurteile fungieren können, ist nur ein vergeblicher Versuch, die ontologische Struktur des Verstehens zu eliminieren. Das Entscheidende ist nicht, aus dem hermeneutischen Zirkel herauszukommen ( das dürfte dem Interpreten ohnehin nicht gelingen), sondern richtig i n i h n hineinzukommen, u m dadurch eine Korrektur sachunangemessener („falscher") Vorurteile i m Verstehen selbst zu ermöglichen 265 . M i t dieser Erkenntnis erweist sich das bisher i n der Hechtswissenschaft gepflegte Ideal einer naturwissenschaftlichen Objektivität des hermeneutischen Verfahrens als unerreichbar 266 . I n jeden Verstehensprozeß ist das geschichtliche Sein des Interpreten einbezogen; die Erkenntnis rechtserheblicher Inhalte kann von der Subjektivität des Rechtsanwenders und von dessen Vormeinungen über die gemeinten Rechtsphänomene nicht abgetrennt werden 2 6 7 . Eine absolute Objektivität läßt sich auch nicht dadurch gewährleisten, daß man die subjektiven Momente, die unabhängig vom Willen der Interpreten i n jedem Vorgang der Sinnerkenntnis wirksam werden, einfach verschleiert. I m Gegenteil: Wer die Einbeziehung des „Subjektiven" i n den Verstehensprozeß für vermeidbar hält und vorgeblich nur dem „objektiv Gegebenen" folgt, überläßt das juristische Verstehen erst recht richterlichem Subjektivismus 2 6 8 , w e i l er die wirklich relevanten Vorgänge des hermeneutischen Vollzugs verdeckt und dadurch eine Überprüfung der Sinnerkenntnis zumindest erschwert 269 . 263
Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 277; A. Kaufmann, Gallas-FS S. 20. A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 367. 265 Insoweit ist nochmals auf die Eigendynamik der Verstehensprozesse zu verweisen; vgl. dazu bereits § 4 B. I I . 2. b). A u f eine besondere B e r e i t w i l l i g keit des Verstehenden zur K o r r e k t u r seiner Vorurteile k o m m t es nicht an; anders Larenz, Methodenlehre S. 188/189. 269 So auch A. Kaufmann, Peters-FS S. 304; ders. JZ 1975, 341; ebenso Müller, Methodik S. 121; Leicht, Rechtstheorie S. 73. 287 Hruschka, Verstehen S. 94; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 57 if., 101, 367; J. Esser, Vorverständnis S. 18, 80, 122 u n d öfter; Rittner, Verstehen S. 56 f. 268 So auch A. Kaufmann, Peters-FS S. 305 f., m i t Hinweis auf Stöcker JZ 1968, 690 f. 289 Gerade i n der Nachprüfbarkeit der Sinnerkenntnis erblicken viele einen Maßstab f ü r O b j e k t i v i t ä t ; vgl. etwa Müller, N o r m s t r u k t u r S. 74; dens., Methodik S. 121. 284
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M i t dem Hinweis auf den unvermeidlichen Einfluß der Subjektivität des Verstehenden bei der Ausbildung der inhaltlichen Vormeinungen ist keineswegs gesagt, daß der Ablauf des Verstehensprozesses i n das Belieben der erkennenden Subjekte gestellt ist. Das ergibt sich schon daraus, daß die Vorverständnisse keinen rationalen, sondern einen vorrationalen Ursprung haben, der sie einer subjektiven Beherrschung entzieht. Darüber hinaus ist das Verstehen der Tatbestände aber auch deswegen „objektiv", w e i l sich die vorgreifende Bewegung der Vorverständnisse stets an einer „Sache Recht" orientiert und der Interpret dadurch letztlich immer „von der Sache her" das rechte Verständnis gewinnt 2 7 0 . 3. Die Rechtssprache ist ideologisch, soweit sie nicht die Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse vermittelt, sondern die objektiven Zusammenhänge verdeckt, so daß sich gesellschaftliche Herrschaftsinteressen unerkannt durchsetzen können 271 . Auch die Sprache des Rechts — sei es nun die Sprache der Gesetzesvorschriften oder die Sprache der an das Gesetz anknüpfenden Auslegungen — dient vielfach der (verdeckten) Legitimation von Beziehungen organisierter Gewalt. Erkennbar w i r d die legitimierende Funktion eines Tatbestandes an der Nichtübereinstimmung zwischen dem sprachlich verfaßten Recht und dem, was als Recht faktisch i n einer Gesellschaft gelebt wird. I n diesem Sinne ideologisch ist etwa die Sprache zahlreicher bürgerlich-rechtlicher Tatbestände, die eine Illusion von allgemeiner Vertragsfreiheit vorspiegeln, obwohl die Realität der Vertragsabschlüsse nicht durch den frei ausgehandelten Einzelvertrag, sondern durch das einseitige Diktat der privaten wirtschaftlichen Macht gekennzeichnet ist 2 7 2 . Solche Tatbestände, die einerseits die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht zur Sprache bringen, andererseits aber i. V. m. einer Rechtsfolge diese Wirklichkeit bewertend „richten" sollen 273 , können soziale Gewalt Verhältnisse nicht mehr regulieren, sondern nur legitimieren, weil die w i r k lich relevanten Herrschaftszusammenhänge sprachlich gar nicht erfaßt sind. Wer diesen Widerspruch nicht aufdeckt und sich allein an das hält, 270 Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 94; dens., K o n s t i t u t i o n S. 73 (betr. die Konstitution der Rechtsfälle). 271 Vgl. dazu auch Maihof er, Ideologiekritik S. X I ff.; dens., Ideologie u n d Recht S. 2 ff.; Leicht, Rechtstheorie S. 75. 272 D a m i t w i r d v o r allem auf das Problem der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) verwiesen; vgl. dazu Emmerich JuS 1972, 361. Die bzgl. der Vertragsfreiheit festgestellte Differenz zwischen dem faktischen u n d dem gesetzlichen Recht ist allerdings nicht erst m i t dem A u f k o m m e n der A G B entstanden, sondern w a r i m m e r schon vorhanden. Z u r Ideologie des B G B vgl. auch Wieacker, Sozialmodell S. 16 ff., 18 ff.; Wiethölter, Rechtswissenschaft S. 180. 273 So Hassemer, Tatbestand S. 110.
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was i n den Tatbeständen zur Sprache gebracht ist, w i r d bei der sprachlichen Auslegung des Verstandenen selbst zum Ideologieproduzenten. Unter Ideologieverdacht steht aber auch ein Interpret, der sich selbst nicht eingestehen w i l l , daß er von der aktuellen Situation und dem persönlichen Bevorzugen von Interessen und Meinungen beherrscht ist, und der deshalb glaubt, außerhalb der „Sphäre ideologischen Meinungskampfes" zu stehen 274 . Denn eine Auslegung, die ihre aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen nicht nennt (z.B. weil der Auslegende sie nicht kennt), läuft ebenfalls auf eine bloße Legitimation faktischer Herrschaf tsinteressen hinaus. Wer nicht unbewußt zum Handlanger des stärksten gesellschaftlichen Interesses und zum Sprachrohr der jeweils vorherrschenden Weltanschauung werden w i l l , muß sich daher u m eine ideologiekritische Fundierung seiner Verstehensprozesse bemühen 275 . Notwendig ist eine Analyse der Bedingungen, die der rechtserheblichen sprachlichen Äußerung und ihrer inhaltlichen Bestimmung objektiv zugrunde liegen. Ein Jurist, der darauf verzichtet, solche Zusammenhänge aufzudecken, ist nicht imstande, K r i t i k an ungerechter Herrschaft zu üben 2 7 6 und Entscheidungen zu treffen, die der i h m übertragenen Verantwortung für das Recht gerecht werden. Das allein an der Sprache orientierte Verständnis der Tatbestände kann also immer nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zu einer ideologiekritischen Fundierung der Sinnerkenntnis sein 277 . IL
Tatbestand
und
Rechtsfall
Obgleich das Prinzip der Wirkungsgeschichte und die darin begründete Spiralbewegung des hermeneutischen Vollzugs auch für die j u r i stische Sinnerkenntnis konstitutiv sind, ist das Verstehen der Tatbestände — anders als etwa das Verstehen literarischer Äußerungen — als wirkungsgeschichtlicher Vorgang noch nicht vollständig beschrieben. Die besondere Zielsetzung juristischer Verstehensprozesse läßt eine Ergänzung der allgemeinen hermeneutischen Erkenntnisse notwendig werden. 274 V o r allem J. Esser (Vorverständnis S. 24, 78, 165) scheint die Abhängigkeit der Richter von Herrschaftsinteressen zu verkennen. Er hält das richterliche Selbstverständnis (etwa: bei der Rechtsanwendung v o n Interessen u n abhängig zu sein) bereits f ü r eine adäquate Beschreibung der W i r k l i c h k e i t — u n d setzt sich damit selbst einem Ideologieverdacht aus. Anders dagegen A. Kaufmann, Peters-FS S. 306; ders., Rechtsphilosophie S. 367: „Der nach Rechtserkenntnis Strebende muß sich selbst unter Ideologieverdacht stellen, muß i n kritischer Reflexion Einsicht i n seine Abhängigkeiten zu gewinnen suchen, u m sich v o n ihnen befreien zu können."; vgl. dazu auch Dubischar, Vorstudium S. 165 f. 275 Vgl. auch Maihof er, Ideologie u n d Recht S. 35. 276 Leicht, Rechtstheorie S. 75. 277 Dazu auch noch § 6 Α . I I .
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Aufgabe des interpretierenden Richters ist es, Recht zu finden und auf die Wirklichkeit anzuwenden, u m so konkrete Konflikte („Rechtsfälle") zu lösen. Dementsprechend w i r d i m Rahmen der Rechtsanwendung (Rechtsfindung) 278 der Sinn der Tatbestände vom Rechtsfall her und u m dieses gegebenen Falles w i l l e n erfaßt 279 . Aus dieser Situation ergeben sich besondere Konsequenzen für den hermeneutischen Prozeß, den der rechtsanwendende Interpret durchläuft: Das erkennende Subjekt hat i m Verstehen nicht nur den zeitlichen Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart durch eine Horizontverschmelzung zu überwinden, sondern zugleich auch den Abstand zwischen der notwendigen Allgemeinheit des Tatbestandes, der für die Konfliktlösung i n Frage kommt, und der Besonderheit des konkreten Falles zu überbrücken 280 . Dabei ist allerdings die Konkretisierung der Tatbestände, deren A n wendung auf den Rechtsfall, kein gesonderter Vorgang neben der A p p l i kation, die i n der Vermittlung der Vergangenheit m i t der Gegenwart geschieht, sondern ein integrierender Bestandteil dieser Aktualisierung des Uberlieferten. Der Richter w i r d also die Anwendung eines i n der Vergangenheit formulierten Tatbestandes auf die eigene Situation i n der Gegenwart immer schon als Anwendung der tradierten Objektivation auf den konkreten Rechtsfall vollziehen. Insoweit ist juristisches Verstehen stets „fallbezogen". 1. Der Unterschied zwischen dem „fallbezogenen", „konkretisierenden" Verstehen und dem „normalen" hermeneutischen Prozeß soll durch eine Analyse der spezifischen Bedingungen juristischer Sinnerkenntnis noch verdeutlicht werden. a) Die Bemühungen des Richters, Recht zu finden und anzuwenden, werden letztlich immer durch ein vorrationales, praktisches Regelungsinteresse motiviert, das sich i n kritischen und konfliktgeladenen Lebenslagen nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen, sondern auch bei den nur mittelbar Beteiligten (dem Richter, dem Rechtsanwalt) einzustellen 278 Beide Vokabeln erfassen das Gemeinte eigentlich n u r ungenau, denn das konkrete Recht ist nicht vollständig u n d fertig i n den Rechtssätzen enthalten, so daß man es n u r zu „finden" u n d „anzuwenden" brauchte; vgl. A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 286. 279 Vgl. auch Gadamer , Wahrheit S. 308; Mayer-Maly Grundzüge S. 26; Kruse T K § 1 S t A n p G Rz. 3.
JB1. 1969, 414; Hesse,
280 So v o r allem Larenz, Methodenlehre S. 191, u n d Mayer-Maly JB1. 1969, 414. Diese Überlegung scheint die v o n Gadamer (Wahrheit S. 307 ff.) behauptete „exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik" zu relativieren. Jedenfalls besteht ein Unterschied zwischen dem Verstehen des Rechtsanwenders u n d dem des Rechtshistorikers, auf den auch Apel (Ideologiekritik S. 33) verweist, der jedoch bei anderen Autoren nicht deutlich w i r d ; vgl. etwa Hinderling, Verstehen S. 83 ff.; Hassemer, Tatbestand S. 17, 98 ff.
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
pflegt 281 . Solche Konfliktsituationen wecken ein gefühlsmäßig sich aufdrängendes, unreflektiertes Bedürfnis nach einer Konfliktlösung. Wer dieses praktische Bedürfnis empfindet, w i r d die Wirklichkeit von vornherein unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Regelung betrachten. Bei Personen m i t richterlichen Funktionen w i r d nun allerdings der Gesichtskreis nicht nur dadurch beschränkt, daß ein Interesse an dem Eintreten künftiger Regelungen die Wirklichkeitsbetrachtung leitet. Es kommt noch hinzu, daß die Möglichkeiten einer Lösung von konfliktbehafteten Situationen für diejenigen, die -an „Gesetz und Recht" gebunden und zu einer Rechtsentscheidung berufen sind, durch die Rechtsidee eingeengt werden: Für den Richter kommt nur eine rechtliche Regelung i n Betracht 282 . Diese Ausrichtung auf die Rechtsidee bewirkt eine Betrachtung der Lebensverhalte allein unter rechtlichen Gesichtspunkten. Bei einer derart vorbestimmten Hin-Sicht kommen zwar „nicht nur die Fakten i n den Blick, aus denen die schließlich getroffene Entscheidung begründet werden kann, sondern alle Fakten, aus denen sich überhaupt rechtliche Regelungen der Situation begründen lassen" 283 . Jedenfalls stellt sich aber m i t der Regelungsbedürftigkeit der Situation zugleich eine erste Ordnung und Auslese des Tatsachenmaterials ein, insofern die Rechtsidee als Bezugspunkt des richterlichen Regelungsinteresses die Perspektive des Rechtsanwenders und damit den Bereich der relevanten Fakten festlegt 284 . Demnach werden die rechtserheblichen Züge eines Lebensverhalts grundsätzlich ohne Bezugnahme auf irgendwelche Tatbestände erkannt, denn die rechtliche Bedeutsamkeit der Fakten ergibt sich nicht erst nach deren Betrachtung durch die „ B r i l l e " einer Norm, sondern unmittelbar aus der Regelungsbedürftigkeit einer Situation i n Verbindung mit der durch die Rechtsidee bestimmten Richtung, i n welcher die Entscheidung zu suchen ist 2 8 5 . Die m i t dem praktischen Regelungsinteresse vorgegebene rechtliche Perspektive konstituiert also den Lebensvorgang — da er bereits unter einem bestimmten Gesichtspunkt gesehen w i r d — für den Richter immer schon als Sachverhalt, bevor überhaupt ein Rechtssatz ausdrücklich erkannt ist. Erst wenn auf diese Weise die Umrisse eines Sachverhalts bereits entstanden sind, kommt es zu einer Einbeziehung der Tatbestände i n den Vorgang der Rechtsanwendung. 281 Vgl. Hruschka, K o n s t i t u t i o n S. 35 ff., insbes. S. 37 f., 40; ebenso ders. ARSP 1964, 489. 282 Die rechtlichen Regelungsmöglichkeiten werden gerade deswegen angeboten, u m andere (ζ. B. handgreifliche) Konfliktlösungen auszuschließen. 283 Hruschka, Konstitution S. 41/42. 284 Vgl. Hruschka, Konstitution S. 40, 43; dazu Lipps, F a l l S. 14, 28. 285 So Hruschka, Konstitution S. 42, 49, 55.
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Wie aber gelangen die entscheidungsrelevanten Tatbestände überhaupt i n das Blickfeld des Richters? Insoweit ist auf eine Parallele zwischen der Tätigkeit des Rechtsanwenders und der Leistung des „Gesetzgebers" zu verweisen, die ein „Wiedererkennen" der maßgeblichen Tatbestände i n den vorgängig konstituierten Sachverhalten ermöglicht. Wer eine an der Rechtsidee orientierte Konzeption an die Wirklichkeit heranträgt, erfaßt i n einem Lebensverhalt immer nur diejenigen Zusammenhänge, die rechtlich bedeutsam sind. Solche Zusammenhänge sind von der Wirklichkeit ablösbar und können als Sachverhalte unabhängig von dem zugrunde liegenden Lebensvorgang betrachtet werden 286 . Die Ablösbarkeit solcher Zusammenhänge ist nun aber auch für die gesetzgeberische Tätigkeit eine notwendige Voraussetzung. Die Gesetzesverfasser wählen ebenfalls zunächst einen bestimmten rechtlichen Gesichtspunkt, u m dann von der so gesehenen Wirklichkeit die rechtlich bedeutsamen, als Sachverhalte erf aßbaren Zusammenhänge zu abstrahieren und ihre gemeinsamen Strukturelemente als Tatbestand zur Sprache zu bringen 2 8 7 . Die Tatbestände sind somit das Ergebnis einer Tätigkeit, die ebenso wie das durch praktische Regelungsinteressen motivierte Geschehen zu Beginn einer Rechtsanwendung auf die Ablösung rechtlicher Bedeutungszusammenhänge von der Wirklichkeit gerichtet ist 2 8 8 . Sofern daher ein Sachverhalt, der sich für den an einer rechtlichen Regelung interessierten Richter schon bei einer ersten Betrachtung von der zu regelnden Wirklichkeit ablöst, dieselben Strukturelemente aufweist, die der „Gesetzgeber" bereits i n einem Tatbestand zur Sprache gebracht hat, w i r d dem juristisch geschulten Rechtsanwender der betreifende Tatbestand ohne weiteres i n den Blick kommen 2 8 9 , weil er den vorgängig erfaßten Sachverhalt i m Tatbestand „wiedererkennt" 2 9 0 . Sobald der Richter einen Tatbestand und damit eine bestimmte Möglichkeit der rechtlichen Konfliktregulierung ins Auge faßt, konkretisiert sich die Rechtsidee — bis dahin nur ein allgemeiner Maßstab für die Relevanz der Fakten — zu der „Sache Recht", die i n dem betreifenden Tatbestand zum Ausdruck kommt. „Rechtlich relevant bleiben dann nur solche Tatsachen, die auf Regelungsmöglichkeiten hinweisen, welche innerhalb des vom Gesetz belassenen Spielraums von Regelungsmög286
Dazu auch Hruschka, Konstitution S. 50. Dabei w i r d die Konfliktbeschreibung i m Tatbestand stets m i t einer Konfliktlösung i n F o r m einer Rechtsfolgenanordnung zu einem Rechtssatz verknüpft. 288 Vgl. Hruschka, Konstitution S. 51; dens. A R S P 1964, 490. 289 Zumindest w i r d aber der Urteiler die Fähigkeit besitzen, die einschlägigen Bestimmungen i m System des Gesetzes aufzufinden; vgl. auch Hruschka, Konstitution S. 55. 290 Vgl. dazu auch A . Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 161, 305. 287
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
lichkeiten liegen" 2 9 1 . Oder anders formuliert: M i t dem Hineinspielen der Tatbestände i n die Rechtsanwendung ist für den Richter bei der Beurteilung der Lebensverhalte nur noch wesentlich, was sich i m Hinblick auf die Tatbestände und die damit verknüpften Rechtsfolgen als bedeutsam erweist — wie auch umgekehrt bei der Betrachtung der Tatbestände von vornherein nur das wichtig erscheint, was sich auf den zu regelnden Rechtsfall bezieht 292 . b) Rechtsanwendung beginnt also damit, daß ein praktisches Regelungsinteresse den Richter motiviert, einen bestimmten Lebensverhalt unter dem Gesichtspunkt einer rechtlichen Regelung zu betrachten. Die damit bereits eingeleitete Abhebung rechtserheblicher Zusammenhänge von der zu regelnden Wirklichkeit lenkt den Blick auf solche Tatbestände, die gerade diese Zusammenhänge (Sachverhalte) zur Sprache bringen. Von dort wandert der Blick zurück zu den Fakten, deren Relevanz nunmehr präziser beurteilt werden kann. Daraus erhellt, daß das allgemeine Interesse, die „InterSubjektivität der Verständigung" zu sichern, für den rechtsanwendenden Interpreten noch kein ausreichender Anlaß ist, ein hermeneutisches Verfahren einzuleiten. Erst die Regelungsbedürftigkeit einer Situation weckt sein Interesse an einer rechtlichen Regulierung und damit an der Erkenntnis dessen, was die Rechtssätze, i n denen mögliche Regelungen zur Sprache gebracht werden, tatsächlich bedeuten 293 . Der Rechtsfall gibt also den Anlaß zu juristischen Verstehensprozessen; ihr eigentlicher Zweck ist die Lösung dieser Konfliktsituation. Genau das besagt auch die Feststellung, daß die Fragen der juristischen Hermeneutik nicht von den Tatbeständen, sondern von den Rechtsfällen her gestellt werden. Damit ist zugleich der wesentliche Unterschied zwischen dem „konkretisierenden" Verstehen der Tatbestände und anderen hermeneutischen Vorgängen nachgewiesen. Normalerweise ist das Verstehen darauf gerichtet, den sprachlich benannten Gesichtspunkt zu erfassen, u m alles zu sehen, was i n der gewählten Hin-Sicht ins Blickfeld gerät. Demgegenüber konzentriert sich die juristische Sinnerkenntnis von vornherein auf die Frage, ob ein einzelner, regelungsbedürftiger Lebensverhalt von der rechtlichen Konzeption erfaßt wird, auf die ein Tatbestand verweist, bzw. ob aus diesem Lebensverhalt ein Sachverhalt konstituiert werden kann, der dem i m Tatbestand objektivierten Strukturprinzip entspricht 294 . Unerheblich bleibt i m Rahmen der Rechts291
Hruschka, Konstitution S. 53. Dazu auch noch unter 2. a). Vgl. auch Müller, Methodik S. 118: Das leitende Interesse, das jeder Erkenntnis zugrundeliege, sei i n der Rechtswissenschaft u n d Rechtspraxis ein Entscheidung sinteresse. 294 Z u m Begriff des Strukturprinzips vgl. nochmals § 3 C. I I . 2. 292
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anwendung, ob die gemeinte Konzeption (das Strukturprinzip) noch auf andere Lebensverhalte (bzw. Sachverhalte) zutrifft. Das juristische Verstehen erfaßt also nicht den gesamten Inhalt einer rechtserheblichen sprachlichen Äußerung, sondern nur die Sinnmomente, die i m Hinblick auf den zur Entscheidung vorgelegten Rechtsfall erheblich sind 295 . Die damit praktizierte Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfall w i r d nicht zuletzt dadurch ermöglicht, daß die verständnisleitenden Vorurteile des Interpreten aus dem konkreten Fall erwachsen 296 . Denn der Richter, der einen Konflikt lösen soll, w i r d von dem ins Auge gefaßten Rechtssatz erwarten, daß er gerade seinen Fall einer Lösung zuführt. „Dadurch werden die Rechtssätze als Ganzes schon immer i n einem bestimmten Lichte gesehen, das dann auch den einzelnen Tatbestandsmerkmalen seine eigentümliche Färbung verleiht" 2 9 7 . Sofern sich diese fallbezogene Sinnerwartung an der „Sache Recht" nicht bewährt, bildet sich ein neues, wiederum am Fall orientiertes Vorverständnis aus. A u f diese Weise w i r d die spiralförmige Bewegung zwischen Vorurteil und Sachstruktur durch eine ähnliche Bewegung zwischen Vorverständnis und Rechtsfall erweitert. I m Rahmen der Rechtsanwendung werden die verständnisleitenden Vorurteile des Interpreten somit nicht nur von der „Sache Recht", sondern auch vom Rechtsfall her mitbestimmt. 2. Jede Rechtsanwendung erfordert eine Abhebung der rechtserheblichen Zusammenhänge (eines Sachverhalts) von einem vorgegebenen Lebensverhalt und zugleich eine Entscheidung darüber, ob dieser Sachverhalt i n den Geltungsbereich eines bestimmten Tatbestandes fällt. Beide Vorgänge sind „ i n einer dialektischen Weise" 2 9 8 miteinander verknüpft. Denn: „Der Sachverhalt als Aussage erhält seine endgültige Fassung erst i m Hinblick auf die Rechtssätze, nach denen er beurteilt w i r d ; diese aber werden ihrerseits ausgewählt und, soweit erforderlich, konkretisiert i m Hinblick auf den zu beurteilenden Sachverhalt" 299 . a) Der anzuwendende Rechtssatz und der durch i h n zu regelnde Rechtsfall „liefern auf verschiedene, aber komplementäre A r t die für die Rechtsentscheidung erforderlichen Elemente" 3 0 0 . I m Rahmen der Rechts295
Vgl. auch Mayer-Maly JB1. 1969, 414. Dazu Hruschka A R S P 1964, 497. 297 Hruschka A R S P 1964, 494. 298 Vgl. Heller, Logik S. 100; Hassemer, Tatbestand S. 118; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 266; Larenz, Methodenlehre S. 192. 299 Larenz, Methodenlehre S. 265. 300 Müller, Methodik S. 118; vgl. dazu auch A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 264: „Erst aus Sachverhalt und N o r m ist das Recht zu finden."; so w o h l auch Lipps, F a l l S. 31. 296
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anwendung ist deshalb der Rechtssatz vom Rechtsfall nicht ablösbar. Dementsprechend vollzieht sich die Ermittlung der Sachverhalte und das Verstehen der Tatbestände (die „Rechtsfindung") nicht i n zwei getrennten Akten, die erst nachträglich, i m Vorgang der Rechtsanwendung, miteinander verknüpft werden. Vielmehr ist die rechtliche Relevanz der konkreten Lebensverhalte von vornherein nur i m Hinblick auf die i n Betracht kommenden Rechtssätze (Rechtsfolgen und Tatbestände) zu beurteilen und der Sinn der Rechtssätze nur über eine rechtliche Qualifizierung der Lebens verhalte zu erschließen 301 . Jeder Tatbestand benennt einen rechtlichen Gesichtspunkt, dem jeweils eine Vielzahl von Lebensverhalten zugeordnet werden kann. Dieser Wirklichkeitsbezug der rechtserheblichen Sprachgebilde konkretisiert sich für den rechtsanwendenden Interpreten von Anfang an zu einer Beziehung zwischen dem jeweils maßgeblichen Tatbestand und dem zu regelnden Rechtsfall. I h m kommt es nicht darauf an, die gesamte Wirklichkeit zu erfassen, die unter dem gemeinten Gesichtspunkt ins Blickfeld gerät. Wichtig ist nur, ob dieser Gesichtspunkt auch auf die Konfliktsituation zutrifft, die durch die Anwendung des betreffenden Rechtssatzes gelöst werden soll. Deshalb w i r d sich für den Richter allein i n der Begegnung mit dem entscheidungsbedürftigen Lebens verhalt der Sinn eines Tatbestandes entfalten und offenbaren 302 . „Das Gesetz muß sich stets i n der jeweiligen geschichtlichen Situation konkretisieren, erst am Fall und durch den Fall w i r d verständlich, was das Gesetz überhaupt,meint 4 " 3 0 3 . Umgekehrt ist nun aber auch eine rechtliche Qualifizierung der konfliktbehafteten Lebenslage nur unter dem i m Tatbestand benannten Gesichtspunkt möglich. „Was an einem Lebenssachverhalt juristisch relevant ist und was nicht, ergibt sich aus diesem Sachverhalt selber nicht, sondern erst aus seiner Beziehung auf die Norm, die auf i h n angewendet werden soll" 3 0 4 . Demnach muß nicht nur der vom Rechtsfall abgehobene Sachverhalt befragt werden, ob sich i n i h m das Strukturprinzip verwirklicht, das der Tatbestand meint. Vielmehr muß auch an den Tatbestand die Frage gestellt werden, ob er eine Konzeption zur Sprache bringt, die eine rechtliche Strukturierung der Fakten ermöglicht 3 0 5 . Dabei werden i m Verstehen der Tatbestände von vornherein 301 So Heller, Logik S. 66; Hassemer, Tatbestand S. 106; A. Kaufmann, Gallas-FS S. 17 m. w . N.; Simon, Unabhängigkeit S. 76. 302 Ebenso Engisch, Konkretisierung S. 122. 303 A. Kaufmann JZ 1975, 339; vgl. auch dens., Rechtsphilosophie S. 303; Hruschka ARSP 1964, 497; Hassemer, Tatbestand S. 104; Mennicken, Gesetzesauslegung S. 92; Müller, Methodik S. 118. 304 A. Kaufmann/Hassemer, Grundprobleme S. 69; vgl. dazu auch Lipps, F a l l S. 32; Heller, Logik S. 66; Mennicken, Gesetzesauslegung S. 93; Kruse T K § 1 StAnpG Rz. 2; dens. ÖStZ 1975, 196. 305 Ä h n l i c h A. Kaufmann, Larenz-FS S. 39; ders. J Z 1975, 339.
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nur diejenigen Sinnmomente erfaßt, die auf den konkreten Fall Bezug haben, während am konkreten Fall nur das als wesentlich anerkannt wird, was auf den Rechtssatz und vor allem auch auf den Tatbestand Bezug hat 3 0 8 . Die Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfall geschieht i n der vorgreifenden Bewegung des Vor-Verstehens. Wer i n einer konkreten Konfliktsituation zur Entscheidung berufen ist, w i r d sich i m Vorverständnis eine bestimmte rechtliche Konzeption vorauswerfen, die eine sinnvolle Ordnung der Fakten ermöglicht. Sofern sich diese Konzeption an der i m Tatbestand objektivierten „Sache Recht" nicht bewährt, w i r d der rechtsanwendende Interpret ein neues Vorverständnis ausbilden, d. h. eine andere (mehr oder weniger stark veränderte) Konzeption ins Auge fassen. Dieses neue Strukturprinzip muß wiederum an der W i r k lichkeit überprüft werden. Dabei w i r d die Wirklichkeitserkenntnis von der Frage geleitet, ob sich der zu regelnde Lebensverhalt i n der vorbegriffenen A r t und Weise strukturieren läßt. Die A n t w o r t gibt möglicherweise Anlaß zu einer erneuten Korrektur der inhaltlichen Vormeinung, die dann wieder m i t der „Sache Recht" konfrontiert w i r d etc. 307 . A u f diese Weise vollzieht sich jede Rechtsanwendung i n einem „gedanklichen Prozeß, i n dessen Verlauf der ,Roh-Sachverhalt' zum endgültigen Sachverhalt (als Aussage), der Normtext (gleichsam der Rohzustand der Norm) zu der für die Beurteilung dieses Sachverhalts hinreichend konkretisierten Norm umgeformt w i r d " 3 0 8 . Indem die Tatbestände „fallgerecht" und die Lebensverhalte „normgerecht" gemacht werden, entfaltet sich das Vor-Verstehen zum vollen Verstehen 309 . I n dem „ H i n - und Herwandern des Blickes" zwischen Tatbestand und Rechtsfall 310 w i r d die Bewegung des hermeneutischen Zirkels erkennbar, die sich eigentlich gar nicht wie ein Kreis, sondern eher wie eine Spirale vollzieht. Denn die beiden Pole des juristischen Verstehensprozesses, Tatbestand und Rechtsfall, bestimmen sich gegenseitig nicht einmal und auf derselben hermeneutischen Ebene, sondern mehrmals und jeweils auf anderen („höheren") hermeneutischen Ebenen 311 . „Es ist nicht ein so« Y g i v o r allem Engisch, Logische Studien S. 14/15; Hruschka, Konstit u t i o n S. 55; Kruse ÖStZ 1975, 196. 307 Ebenso Hassemer, Tatbestand S. 120: „Der Lebensvorgang, der zur Entscheidung steht, verweist auf einen Tatbestand als Entscheidungsregel, dieser wiederum weist i n eine vorläufige Qualifizierung des Lebensvorgangs ein usw." 308 Larenz, Methodenlehre S. 265; vgl. auch Scheuerle, Rechtsanwendung S. 23; Rittner, Verstehen S. 53 f. 309 Vgl. A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 266, 302 f. 310 Z u dieser oft zitierten Beschreibung Engisch, Logische Studien S. 15. 311 So Hassemer, Tatbestand S. 107/108; vgl. auch Larenz, Methodenlehre S. 184; A. Kaufmann, Gallas-FS S. 20; so w o h l auch Rittner, Verstehen S. 53.
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,Hinüber und Herüber' des Blicks, sondern es sind mehrere" 3 1 2 , und bei jedem neuen Hinsehen w i r d ein anderes („verbessertes") Vorurteil über die i m konkreten Fall maßgebliche rechtliche Konzeption an den Tatbestand oder den Lebensverhalt herangetragen. Dabei ist das H i n und Her zwischen Tatbestand und Lebensverhalt (Rechtsfall) nicht als ein Nacheinander (als Deduktion und Induktion und Deduktion ...) zu denken, sondern als ein „Zugleich", als eine Entfaltung von Tatbestand und Rechtsfall aneinander i n der Kategorie der Gleichzeitigkeit 312 . Ziel des juristischen Verstehens ist die Erkenntnis der „sachlichen Wahrheit": Welche „Sache Recht" w i r d i m Tatbestand zur Sprache gebracht? Wer durch die Anwendung eines Rechtssatzes einen Rechtsfall regeln soll, w i r d sich darum bemühen, durch die schrittweise Annäherung und Angleichung von Vormeinung und Sachstruktur eine zunächst vorhandene Differenz zwischen dem tatsächlich Gemeinten und der i m Vorverständnis erfaßten Sache aufzuheben. Ein Tatbestand, dem ein Sachverhalt „subsumiert" werden soll, ist erst dann vollständig verstanden, wenn der Interpret endgültig zu entscheiden vermag, ob der Tatbestand auf eine Konzeption (eine „Sache Recht") verweist, die bei der rechtlichen Strukturierung der zu regelnden Lebenslage zugrunde gelegt werden kann. Jede Rechtsanwendung zielt darauf ab, ein solches tertium comparationis zu finden, i n dem die beiden Pole des juristischen Verstehensprozesses zur Deckung gelangen 313 . Ist erst einmal auf diese Weise eine „sachliche Konvergenz" 3 1 4 bzw. „materiale Kongruenz" 3 1 5 zwischen dem Rechtsfall und einem Tatbestand erwiesen, so kann prinzipiell auch die m i t dem betreffenden Tatbestand verknüpfte Rechtsfolge angeordnet werden. b) Die Struktur der Rechtsanwendung und der juristischen Verstehensprozesse soll durch die Abbildung 5 noch einmal verdeutlicht werden. Die rechtlichen Regelungsmöglichkeiten, die i n den Rechtssätzen als Rechtsfolgen zur Sprache gebracht werden, sind i n einer konkreten Konfliktsituation nur dann zu realisieren, wenn i n den mit geeigneten 312
Hassemer, Tatbestand S. 108. Vgl. auch A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 266, 801, 308; Hassemer, Tatbestand S. 118. Z u r Klarstellung: E i n derartiges „In-die-Entsprechung-Bringen" vollzieht sich nicht i n einer Angleichung von Tatbestand u n d Lebensverhalt. Der T a t bestand bleibt i m Verstehensprozeß als Sprachgebilde ebenso unverändert wie der Lebensverhalt als geschichtliches Ereignis. Verändert w i r d lediglich das V o r u r t e i l über die „Sache Recht" u n d über den durch sie bestimmten Sachverhalt. Insoweit mißverständlich A. Kaufmann S. 307; ebenso Kruse ÖStZ 1975, 196. 314 Müller, Methodik S. 120. 315 Hassemer, Tatbestand S. 121; vgl. auch J. Esser, Vorverständnis S. 70. 313
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Rechtsfolgen verknüpften Tatbeständen ein rechtlicher Gesichtspunkt benannt ist, dem sich die regelungsbedürftigen Lebensverhalte zuordnen lassen. Eine Rechtsanwendung ist gelungen, wenn aus dem zu regelnden Rechtsfall ein Sachverhalt abstrahiert werden kann, der sich auf das i m Tatbestand objektivierte Strukturprinzip zurückführen läßt. Erst der Rechtsfall verweist den zur Entscheidung Berufenen auf einen Tatbestand. Dementsprechend ist das Vorverständnis, das der Richter an den Tatbestand heranträgt, vom Rechtsfall her bestimmt: Er w i r f t sich eine bestimmte rechtliche Konzeption (Ki) voraus, die eine sinnvolle Strukturierung der Fakten zu einem Sachverhalt (Si) ermöglicht. Der Tatbestand verweist den Interpreten auf die gemeinte „Sache Recht". Sofern es dabei zu einer Differenz zwischen dem wirklich Gemeinten und dem ersten inhaltlichen Vorgriff kommt, w i r d eine Modifikation des Vorverständnisses initiiert. Der Richter w i r d den Rechtsfall unter einem anderen Gesichtspunkt (K2) betrachten, d. h. eine veränderte Strukturierung der Wirklichkeit (S2) erproben. Wenn sich daraufhin der Rechtsfall einem Zugriff entzieht, muß das Vorverständnis erneut angepaßt werden (K3, S3). Dieser Prozeß w i r d sich fortsetzen (K4, S 4 etc.). Der vorgreifenden Bewegung der Vorverständnisse ist durch das wirklich Gemeinte ( die „sachliche Wahrheit") die Richtung gewiesen, weil der Tatbestand, der die gemeinte „Sache Recht" (die Konzeption, den Gesichtspunkt, das Strukturprinzip) zur Sprache bringt, „nicht nur auf die Sache verweist, sondern ebenso immer schon auf die Sache verwiesen ist" 3 1 6 und deshalb nicht beliebig verstanden werden kann. Erst wenn das Vorurteil über den Sinn eines Tatbestandes weder vom Tatbestand noch vom Rechtsfall her korrigiert werden muß, ist die wirklich gemeinte Konzeption (K) und die sinnentsprechende Ordnung der Fakten (S) erkannt. Das Vorverständnis hat sich an der „Sache Recht" bewährt. Jede Veränderung der inhaltlichen Vorurteile hebt das Verstehen auf eine höhere Ebene der Erkenntnis, w e i l bei der Ausbildung neuer Vorverständnisse stets die Erfahrung mit den inzwischen revidierten Vormeinungen Verwertung findet. Rechtsanwendung und juristisches Verstehen vollziehen sich i n immer „enger" werdenden spiralförmigen Bewegungen als Annäherung der Vorverständnisse an die „sachliche Wahrheit" — ein Vorgang, bei dem auch die gemeinte Sache nicht unverändert bleiben kann 3 1 7 . Diese Einsichten lassen die Fragwürdigkeit der herkömmlichen Subsumtionsvorstellungen erkennbar werden. Die traditionelle Methoden31β 317
Hassemer, Tatbestand S. 82. Z u diesem letzten P u n k t nochmals § 4 C. I.
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lehre beschreibt den Vorgang der Rechtsanwendung als einen syllogistischen Schluß 318 . Die Problematik dieses logischen Schlußverfahrens liegt vor allem i n der richtigen Bildung des sogenannten „Untersatzes", der sich aus der Unterordnung („Subsumtion") eines Lebensverhalts unter den Tatbestand eines Rechtssatzes ergibt 3 1 9 . Der Subsumtionsvorgang als solcher bereitet allerdings kaum Schwierigkeiten, „sofern nur erst die Prämissen feststehen" 320 . Deshalb besteht der entscheidende A k t der Rechtsanwendung i m Finden der Prämissen. Das heißt aber: Der jeweilige Tatbestand muß i m Hinblick auf den Rechtsfall verstanden und der zur Beurteilung stehende Lebensverhalt i m Hinblick auf den Tatbestand rechtlich qualifiziert werden 3 2 1 . Erst wenn die Prämissen „ i n ihrer wechselseitigen Entsprechung" 322 hergestellt sind, ist ein Subsumtionsschluß möglich — aber dann ist eine „sachliche Konvergenz" von Tatbestand und Rechtsfall schon längst erreicht und die Rechtsanwendung bereits abgeschlossen323. III.
Tatbestand und Typus
Die Tatbestände und ihre Merkmale sollen zwar rechtserhebliche Inhalte vermitteln, sie vermögen jedoch diesen Inhalten keine festen Konturen zu geben. Denn was als der maßgebliche Sinn einer sprachlichen Äußerung erfaßt wird, hängt nicht nur von den (unveränderlichen) Sprachgebilden ab, sondern auch von einer Reihe anderer Faktoren, die gewissen Veränderungen unterliegen und deshalb eine — jedenfalls i m Prinzip — konstante Sinnerkenntnis von vornherein unmöglich machen. Zu diesen Faktoren gehört etwa der semantische und syntaktische Kontext, i n den ein Tatbestand oder ein Tatbestandsmerkmal gestellt ist. Juristisches Verstehen ist aber auch abhängig vom jeweiligen pragmatischen Kontext — nicht nur von der Subjektivität des Verstehenden, die über die inhaltlichen Vormeinungen i n den Verstehens318 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre S. 255 ff.; Engisch, Logische Studien S. 8 ff.; dens., Einführung S. 43 ff.; Hassemer, Tatbestand S. 17 ff. 319 Dazu Larenz, Methodenlehre S. 256 f. 320 A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 164, 286; ebenso ders., Peters-FS S. 299; ders. JZ 1975, 339; Engisch, Logische Studien S. 13; J. Esser, V o r v e r ständnis S. 31, 53 f., 63; Zippelius, Methodenlehre S. 106f.; Kruse ÖStZ 1975, 197. 321 Vgl. auch Hruschka ARSP 1964, 485. 322 A. Kaufmann JZ 1975, 339. 323 So Hruschka A R S P 1964, 485; zur K r i t i k der herkömmlichen Subsumtionsvorstellungen vgl. auch A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 156, 163, 264; Wieacker, Richterkunst S. 5; J. Esser StudGen 1959, 97 ff.; dens., V o r verständnis S. 9, 31, 53, 63, 74 u n d öfter; Rittner, Verstehen S. 53f.; Müller, N o r m s t r u k t u r S. 18 f.; dens., Methodik S. 115, 119; Larenz, Methodenlehre S. 189. 13*
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prozeß einfließt, sondern auch von der Person des „Gesetzgebers", z.B. von dessen Fähigkeit, dem Gemeinten einen Ort i n der Sprache zu verschaffen. Und schließlich w i r d der Sinn eines rechtserheblichen Ausdrucks auch durch die Wirklichkeit mitbestimmt, die ein Tatbestand i n einer bestimmten Hin-Sicht i n das Blickfeld des Verstehenden rücken soll. Diese Wirklichkeit ist kein Zustand, sondern ein Geschehen, das sich geschichtlich i n einem nie zu Ende kommenden Prozeß ereignet. Dementsprechend können die gemeinten Sachverhalte, die von den stets neu geschehenden Lebensverhalten abgehoben werden, nicht immer dieselben sein. Der rechtserhebliche Sinn ist daher allein schon wegen der Vielfalt und Veränderlichkeit der Lebenslagen keine abgeschlossene Größe; er nimmt selbst an dem wirkungsgeschichtlichen Geschehen teil 3 2 4 . Der Wirklichkeitsbezug der Tatbestände erfordert m i t jedem Verstehen eine Aktualisierung ihrer potentiellen Inhalte. Diese Erkenntnis gibt Aufschluß über die begriffslogische Qualität der Tatbestände und ihrer Merkmale. W i l l man diese Sprachgebilde richtig einordnen, so muß man sie „Typen" nennen 325 . Die Tatbestände sollen dem Verstehenden eine rechtliche Sicht der Wirklichkeit vermitteln. Deshalb müssen sie zwar den Bezug zur W i r k lichkeit aufnehmen, gleichzeitig aber auch von der Wirklichkeit i n einer bestimmten Weise abgesetzt sein, damit die Dinge i n ihrer jeweiligen Relevanz sichtbar gemacht werden können. Daraus resultiert eine gewisse Bipolarität der Tatbestände: Sie bezeichnen einerseits „ein immer Neues", insofern sie als Sprachgebilde auf die Wirklichkeit verweisen und dadurch „an der Lebendigkeit und dem Fluß der Dinge" teilnehmen; andererseits be-deuten sie aber auch etwas Allgemeines, denn sie bringen einen Gesichtspunkt zur Sprache, dem man eine Vielzahl von Dingen der realen Welt zuordnen kann 3 2 6 . Durch ihren Wirklichkeitsbezug unterscheiden sich die rechtserheblichen Sprachgebilde vom Allgemeinbegriff 327, der als reine Abstraktion den Kontakt m i t der Wirklichkeit verloren hat. Umgekehrt ist jedoch ein Tatbestand auch nicht wie ein Eigenname 328 auf eine bestimmte reale Erscheinung fixiert, etwa i n der Weise, daß er immer nur dieses eine Signifikat meinen könnte und sonst nichts. Vielmehr sind die sprachlichen Äußerungen, m i t denen es die juristische Hermeneutik zu t u n hat, zwischen dem abstrakt-allgemeinen Begriff und dem Namen einzuordnen, denn sie sind wirklichkeitsbezogen und merkmalbezogen 324 325 326 327 328
Ä h n l i c h Hassemer, Tatbestand S. 110; A. Kaufmann So Hassemer, Tatbestand S. 111. Dazu auch Hassemer, Tatbestand S. 109 f. Z u r Erläuterung Engisch, Konkretisierung S. 241 f. Dazu die Hinweise § 3 N. 46.
JZ 1975, 339.
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(d. h. sie nehmen den Bezug zu einem Gesichtspunkt auf, der nicht nur auf einen, sondern auf mehrere Lebensverhalte zutrifft) 3 2 9 . Gerade darin zeigt sich aber die typologische Struktur der Tatbestände und ihrer Merkmale, denn auch der Typus steht zwischen der begrifflichen A b straktion und dem konkreten Seienden. „Der Typus bildet die Mittelhöhe zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, er ist ein vergleichsweise Konkretes, ein universale i n re" 3 3 0 . „Typus" meint nicht das Bezeichnete, sondern das Bezeichnende 331 . Der Tatbestand ist als Typus das hermeneutische Instrument, mit dem die realen Dinge i n ihrer besonderen Relevanz gezeigt werden können. Das Signifikat ist demgegenüber „Konkretion eines Typus", der I n begriff der „Rechts-Fälle" m i t denselben „typischen" Merkmalen. Die Typen werden durch das Signifikat, das „reale Substrat des Typus", m i t konstituiert — wie auch umgekehrt die bezeichnete Wirklichkeit sich am Typus konstituiert. Denn einerseits verweist ein Tatbestand nicht einfach auf das Seiende, sondern er läßt die Wirklichkeit i n einer bestimmten „ A r t des Gegebenseins" sichtbar werden und schafft somit das, was i h n überhaupt erst zu einer sinnvollen sprachlichen Äußerung werden läßt, selber 332 . Andererseits w i r d die aktuelle hermeneutische Dimension eines Tatbestandes i m Augenblick seiner Anwendung immer schon durch den konkreten Rechtsfall mitkonstituiert, „ebenso wie etwa i n der Psychologie die konkreten Fälle von Athletikern den hermeneutischen Typus des Athletikers mitkonstituieren" 3 3 3 . Somit entfaltet sich die Wirklichkeit am Typus und der Typus an seinen Konkretionen. Jeder Rechtsfall verändert die hermeneutische Dimension der Tatbestände und Tatbestandsmerkmale, die deshalb niemals endgültig verstanden sind, sondern immer wieder neu konkretisiert werden müssen. Außerhalb des konkreten Verstehensprozesses kann nur „annäherungsweise von ihrem Umfang und Inhalt geredet werden, nämlich nur davon, was sie ganz sicher oder ganz sicher nicht bedeuten oder zum Inhalt haben" 3 3 4 . Denn als Typen sind die rechtserheblichen Sprachgebilde ein abstufbares hermeneutisches Instrument, mit dessen Hilfe nicht — wie bei den Allgemeinbegriffen — i m Sinne eines „entwederoder", sondern nur i m Sinne eines „mehr-oder-weniger" geurteilt wer329 Vgl. dazu Hassemer, Tatbestand S. 110/111; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 310 f. 330 A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 310; ebenso Engisch, Konkretisier u n g S. 238 f. Nachweise zum Schrifttum über den Typus finden sich bei Hassemer, Tatbestand S. I l l N. 126, 127. 331 So ausdrücklich Hassemer, Tatbestand S. 113 N. 134, S. 153 f.; ebenso Radbruch, Klassenbegriffe S. 53. 332 Vgl. Hassemer, Tatbestand S. 112. 333 Hassemer, Tatbestand S. 113. 334 Hassemer, Tatbestand S. 114.
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§ 4. Der Vorgang der Sinnerkenntnis
den kann 3 3 5 . Die Unberechenbarkeit gegenwärtiger und künftiger Rechtsfälle sorgt dafür, daß die i m Verstehen jeweils neu gezogenen Grenzen rechtlicher Typen „immer wieder i n Frage gestellt werden, immer wieder als fließende sich erweisen" 336 . Typologische Qualität haben sowohl der Tatbestand als auch die Tatbestandsmerkmale. Wenn „Mitunternehmer" nur typologisch entfaltet werden kann und nicht von vornherein begrifflich „zur Hand" ist, so ist damit zugleich die Begrifflichkeit des betreffenden Tatbestandes („Einkünfte aus Gewerbebetrieb", § 15 Nr. 2 EStG) ausgeschlossen und Typizität bewiesen 337 . Die Struktur des Typus w i r d bei allen Tatbeständen und Tatbestandsmerkmalen erkennbar, die eine Wirklichkeit außerhalb des Systems der rechtserheblichen Objektivationen unter einem rechtlichen Gesichtspunkt konstituieren 3 3 8 und „deshalb erst i m Prozeß der Entfaltung an dieser Wirklichkeit voll verstehbar werden" 3 3 9 . Die typologische Qualität einer juristischen Sinneinheit w i r d also durch ihren notwendigen Wirklichkeitsbezug begründet und nicht etwa durch die Unbestimmtheit von Tatbeständen und Tatbestandsmerkmalen oder durch allgemeine Schwierigkeiten bei ihrer Anwendung. Der „Gesetzgeber" hat keineswegs die Wahl, ob er das Gemeinte i n begrifflicher oder typologischer Form beschreiben w i l l 3 4 0 . Selbst die als Begriff 3 4 1 gemeinten Merkmale eines Tatbestandes bewahren „heimlich und unbewußt" den Charakter eines Typus 3 4 2 .
335 So Hassemer, Tatbestand S. 115; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 311; Radbruch, Klassenbegriffe S. 46 ff. 336 Radbruch, Klassenbegriffe S. 53. 337 Dazu auch Hassemer, Tatbestand S. 115. 338 Demnach sind Wörter, die — ohne Wirklichkeitsbezug — lediglich die gramatische S t r u k t u r der Tatbestände festlegen (etwa: „wenrt-so", „ u n d " , „oder") nicht als Typen anzusehen; so auch Hassemer, Tatbestand S. 112 N. 129. 339 Hassemer, Tatbestand S. 116. 340 So aber Larenz, Methodenlehre S. 202; Leenen, Typus S. 96 ff. 341 „Begriff" meint i n diesem Zusammenhang den definierten sprachlichen Ausdruck, also: ein Sprachgebilde m i t festen inhaltlichen Grenzen (wie es ζ. B. der Allgemeinbegriff ist). 342 Vgl. Radbruch, Klassenbegriffe S. 53; dazu auch Müller-Erzbach, Relat i v i t ä t S. 3, 8: „Es müssen eben auch die Rechtsbegriffe (...) sich eine gewisse Relativität wahren, wollen sie dem Leben, das i m m e r neue Bedürfnisse entstehen läßt, i n allen Stücken gewachsen bleiben."
§ 5. Das Verstehen der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale im Steuerrecht A. Möglichkeiten und Grenzen der steuerrechtlichen Hermeneutik Wie werden die privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale i m Steuerrecht verstanden? A u f der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse über den Sinnbegriff und den Ablauf juristischer Verstehensprozesse scheint nunmehr eine abschließende Beantwortung dieser Ausgangsfrage möglich zu sein. Sobald die Bedingungen bekannt sind, denen das Verstehen der Privatrechtsbegriffe unterliegt, w i r d man die hermeneutischen Möglichkeiten und Grenzen einer Problemlösung beurteilen können. I. Hermeneutische
Ausgangslage
Das Verstehen sprachlicher Gebilde, die sowohl i m Privatrecht als auch i m Steuerrecht Verwendung gefunden haben, ist den allgemeinen Erkenntnisbedingungen unterworfen. Dazu gehört bei dem rechtsanwendenden Interpreten auch ein praktisches Interesse an der Lösung konkreter Rechtsfälle. Als besonderer Faktor kommt noch die privatrechtliche Prägung dieser Begriffe hinzu. 1. Jeder Verstehensprozeß, der sich m i t dem Sinn der privatrechtlichen Merkmale eines Steuertatbestandes befaßt, ist wirkungsgeschichtlich strukturiert. Das „Ziel der Gesetzesauslegung" ist damit bereits festgelegt: Ermittelt w i r d kein objektiv-historischer Sinn, sondern ein auf die aktuelle Situation des Interpreten applizierter Sinn 1 . Die Privatrechtsbegriffe bleiben stets durch eine Kette von Interpretationen mit der historisch-pragmatischen Situation verbunden, aus der sie hervorgegangen sind. Das verstehende Subjekt stellt den Bezug zur Gegenwart her, indem es die tradierten Sprächgebilde durch die „ B r i l l e " der eigenen hermeneutischen Situation betrachtet Sinnerkenntnis resultiert aus der Verschmelzung des historischen Horizontes m i t dem Horizont der Gegenwart — einem Vorgang, der ontologisch begründet und deshalb einer methodischen Beherrschung entzogen ist. 1 Es ist w o h l nicht überflüssig, an dieser Stelle erneut darauf hinzuweisen, daß der Interpret seinem Verstehen k e i n Z i e l setzen kann. Das Z i e l ist dem Verstehenden i m m e r schon vorgegeben.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
Weil die Einbeziehung der hermeneutischen Gegenwartssituation für jedes Verstehen konstitutiv ist, w i r d eine Veränderung dieser Situation zugleich ein neues Verständnis der Privatrechtsbegriffe motivieren. Der Sinn dieser Sprachgebilde ist also keine abgeschlossene Größe. Erneut w i r d hier die „Zeitstruktur der Geschichtlichkeit" erkennbar. Als zeitbestimmtes, geschichtliches Moment ist der Sinn der privatrechtlichen Begriffe niemals vorgegeben, sondern immer nur aufgegeben, also: mit dem Fortgang des Uberlieferungsgeschehens jeweils neu zu konstituieren. Notwendige Bedingung des Verstehens ist somit ein produktives (und nicht nur ein reproduktives) Verhalten des Interpreten. Wer einen Privatrechtsbegriff verstehen w i l l , ist auf die vorgreifende Bewegung seiner Vorverständnisse angewiesen. Dabei w i r d vor allem das Wissen u m die „normale", d. h. i m Privatrecht übliche Auslegung der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale i n die notwendige A n t i zipation des rechtlichen Sinnes einfließen. Die privatrechtliche „Prägung" eines Begriffs ergibt sich gerade daraus, daß sich sprachliche Ausdrücke selbst dann, wenn sie ausnahmsweise einmal außerhalb der Tatbestände des privaten Rechts Verwendung finden, i m Vorverständnis des Interpreten zunächst immer m i t dem Inhalt verbinden, der ihnen i m Privatrecht zugeschrieben wird. Derartige Sinnerwartungen bedürfen dann allerdings einer Revision oder Modifikation, wenn der betreffende Privatrechtsbegriff i m Steuerrecht nicht denselben rechtlichen Gesichtspunkt meint, den er bei seiner Verwendung i n den privatrechtlichen Tatbeständen bezeichnet. I n einem solchen Fall w i r d sich das von der privatrechtlichen Begriffsdeutung beeinflußte Vorverständnis nicht an der „Sache Recht" bewähren, die der Begriff innerhalb des steuerrechtlichen Kontextes zur Sprache bringen soll. Auch das Verstehen der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale vollzieht sich i m hermeneutischen „Zirkel" als beständiges Entwerfen von Sinnmöglichkeiten und als fortwährendes Uberprüfen der eigenen Sinnentwürfe an dem, was diese Merkmale tatsächlich meinen. Der Verstehensprozeß ist erst abgeschlossen, wenn sich die jeweils bezeichnete „Sache Recht" dem Zugriff des Vorverständnisses nicht mehr entzieht, weil eine hermeneutische Vermittlung der dialektischen Positionen von Interpret und Privatrechtsbegriff, von inhaltlicher Vormeinung und sachlicher Wahrheint, von Gegenwart und Vergangenheit gelungen ist. Die Bildung der verständnisleitenden Vorurteile, ihre Korrektur und die daraus resultierende Spiralbewegung i m hermeneutischen Vollzug, die letztlich zu einer Horizontverschmelzung und damit zum Verstehen führt, sind nicht die Folge eines methodischen Verhaltens der erkennenden Subjekte. Jeder Vorgriff auf den möglichen Sinn eines privatrechtlichen Begriffs findet seine Erklärung i n der Struktur unseres Daseins.
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Vorverständnisse sind ontologisch begründet; sie haben keinen rationalen, sondern einen vorrationalen Ursprung. Eine reflexive Aufklärung der i m Einzelfall wirksam gewordenen Vorurteile ist nicht möglich. Veränderungen i n der Vorurteilsstruktur können allenfalls dadurch ausgelöst werden, daß sich die sachliche Wahrheit i m Verstehen selbst gegen die inhaltlichen Vormeinungen des Interpreten durchsetzt. 2. Sinnerkenntnis zielt darauf ab, die Beziehung zwischen einer sprachlichen Äußerung und ihrem Inhalt zu erfassen. Der Inhalt der Privatrechtsbegriffe konstituiert sich aus dem jeweils bezeichneten rechtlichen Gesichtspunkt und der sozialen Wirklichkeit, die unter diesem Gesichtspunkt ins Blickfeld gerät. Aus der Verwendung desselben sprachlichen Ausdrucks i n den Tatbeständen unterschiedlicher Rechtsgebiete kann eine inhaltliche Ubereinstimmung nicht ohne weiteres hergeleitet werden. Wer nur auf die formale Identität abstellt, läßt außer Betracht, daß der Sinn der einzelnen Tatbestandsmerkmale durch Faktoren bestimmt wird, die von dem jeweiligen Verwendungszusammenhang abhängig sind. Jede Veränderung dieses Zusammenhangs kann zugleich ein verändertes Sinnverständnis motivieren. Welcher Sinn einem privatrechtlichen Tatbestandsmerkmal i m Einzelfall zugeschrieben wird, hängt davon ab, i n welchen semantischen, syntaktischen und pragmatischen Kontext dieses Merkmal gestellt ist. Dabei ist das praktische Interesse des rechtsanwendenden Interpreten an der Regelung eines konkreten Rechtsfalles als ein besonderes Moment des pragmatischen Kontextes zu berücksichtigen. a) Zu den sinnbestimmenden Faktoren gehört zunächst der semantische Kontext: das Gefüge inhaltlich benachbarter Begriffe, die sich einerseits von dem Privatrechtsbegriff, dessen Sinn erfaßt werden soll, i n bestimmter Weise abheben, andererseits aber gerade diesem Merkmal auf Grund gewisser Affinitäten und kategorialer Gemeinsamkeiten zugeordnet werden können. Erst i n der Abgrenzung gegen diese benachbarten und opponierenden Inhalte w i r d für den Interpreten die Bedeutung eines privatrechtlichen Begriffs erkennbar. Das semantische Gefüge, i n das die privatrechtlich geprägten Tatbestandsmerkmale eingegliedert sind, ist nicht so sehr ein Wortfeld, sondern eher ein Komplex rechtlicher Gesichtspunkte bzw. juristischer Konzeptionen, für die die Wörter lediglich der sprachliche Ausdruck sind. Die Konzeption, die ein Privatrechtsbegriff zur Sprache bringt, kann nur dann richtig erfaßt werden, wenn zugleich das angrenzende „konzeptionelle Umfeld" i m Bewußtsein des Verstehenden gegenwärtig ist.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
So wie ein Begriff des privaten Rechts von dem semantischen Kontext her Bedeutung bekommt, so w i r d dieser Kontext (das Ganze) von seinen einzelnen Gliedern (den Teilen) konstituiert, d. h. er w i r d auch durch die juristische Konzeption mitbestimmt, die i n dem Privatrechtsbegriff zum Ausdruck kommt. Wer also — u m das einmal an einem Beispiel zu verdeutlichen — das Wort „übereignet" (§ 75 Abs. 1 AO) zunächst der privatrechtlichen Begriffsbestimmung entsprechend vorversteht, w i r d diesem Tatbestandsmerkmal vermutlich Begriffe wie „veräußert", „verkauft", „abtritt", „überträgt" etc. als inhaltliche Nachbarn zuordnen — wie auch umgekehrt das Ganze der privatrechtsspezifischen Konzeptionen, die i n der genannten Begriffsreihe zur Sprache kommen, den Interpreten dazu veranlassen dürfte, m i t dem Privatrechtsbegriff „übereignet" denselben rechtlichen Gesichtspunkt zu assoziieren, der i m Privatrecht durch dieses Merkmal bezeichnet werden soll. M i t jeder Modifikation des Vorverständnisses ändert sich auch der semantische Kontext, i n den ein sprachlicher Ausdruck gestellt ist. Denkbar ist insbesondere ein Einrücken der ursprünglich ins Auge gefaßten (privatrechtlichen) Konzeption i n das konzeptionelle Umfeld eines privatrechtlichen Tatbestandsmerkmals. Das setzt allerdings voraus, daß der Interpret von der üblichen, d. h. privatrechtlichen Deutung abrückt und den betreffenden Begriff statt dessen vor-verstehend als Ausdruck einer eigenständigen steuerrechtlichen Konzeption begreift. Denn nur dann w i r d er eine Bestätigung seines Vorverständnisses u. a. auch i n einer Abgrenzung gegen die privatrechtliche Konzeption suchen. Die damit verbundene Veränderung i m semantischen Gefüge w i r d ihrerseits nicht ohne Einfluß auf die Sinnerwartung des Interpreten bleiben. b) Beeinflußt werden die inhaltlichen Vorurteile auch dadurch, daß jeder Privatrechtsbegriff als Bestandteil eines privatrechtlichen oder steuerrechtlichen Tatbestandes i n ein syntaktisches Gefüge eingegliedert ist. Dieses Gefüge konstituiert sich aus den Beziehungen, welche die einzelnen Tatbestandsmerkmale untereinander und m i t dem tatbestandlichen Ganzen verbinden. Was ein Merkmal mit privatrechtlicher Prägung bei seiner Verwendung i m Steuerrecht bedeutet, kann immer nur aus der gesamten Struktur der syntaktischen Relationen erschlossen werden. Wer daher die Begriffe des privaten Rechts als kontextunabhängige Termini zu reflektieren versucht, w i r d den i m Einzelfall maßgeblichen Sinn kaum richtig erfassen können. Die sinnbestimmende Wirkung des syntaktischen Kontextes w i r d bei der Interpretation des Merkmals „übereignet" (§ 75 Abs. 1 AO) besonders deutlich. Diese Vorschrift knüpft eine Haftung des Erwerbers an die Voraussetzung, daß ein Unternehmen „ i m ganzen übereignet" wird.
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Nun kennt aber das Bürgerliche Recht nur die Übereignung einzelner Sachen, während bei den Forderungen, Vermögensrechten etc. allenfalls eine Abtretung, nicht aber eine Übereignung möglich ist. Die als Unternehmen zusammengefaßten Sachen und Rechte können deshalb auch nicht „ i m ganzen" übereignet werden — es sei denn, man rückt von dem privatrechtlichen Verständnis des Ubereignungsbegriffs ab und gibt diesem Tatbestandsmerkmal eine eigenständige steuerrechtliche Bedeutung 2 . Ein derart verändertes Sinnverständnis wäre ohne weiteres mit der Eingliederung des Wortes „übereignet" i n das syntaktische Gefüge des § 75 Abs. 1 AO ( „ i m ganzen") zu erklären. Die privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale haben als Elemente eines syntaktischen Gefüges eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Diese A u f gabe kann man ganz allgemein so beschreiben: Verweist der Tatbestand als Ganzes auf einen bestimmten rechtlichen Gesichtspunkt, so sollen seine Merkmale auf die besonderen Momente dieses Gesichtspunktes oder doch wenigstens auf einige von ihnen hinweisen 3 . Die Teile eines Tatbestandes bilden zwar eine selbständige Sinneinheit, denn sie bringen durchaus eigene juristische Konzeptionen zur Sprache. Diese Einzelkonzeptionen sind allerdings i m Idealfall der tatbestandlichen Konzeption i n der Weise zugeordnet, daß jede von ihnen den Interpreten ein Stück näher an den Sinn des betreffenden Tatbestandes heranführt. Auch die Verwendung der Privatrechtsbegriffe dient dem Zweck, einen rechtlichen Gesichtspunkt zu bezeichnen und so i m Zusammenwirken mit anderen sprachlichen Objektivationen den Inhalt eines Tatbestandes erkennbar zu machen. Daraus erklären sich manche Sinnverschiebungen bei den Tatbestandsmerkmalen des privaten Rechts: Wegen der inhaltlichen Unterschiede zwischen den privatrechtlichen und den steuerrechtlichen Tatbeständen, i n denen diese Merkmale enthalten sind, werden durch denselben sprachlichen Ausdruck jeweils unterschiedliche semantische Funktionen erfüllt. Was die privatrechtlich geprägten Begriffe bedeuten, läßt sich deshalb nur beurteilen, wenn man sie i n ihrem syntaktischen Kontext beläßt und dementsprechend als funktionsbestimmte Sprachgebilde auffaßt 4 . U m den Sinn der Privàtreòhtsbégriffe erkennen zu können, muß der Interpret die betreffenden Tatbestände bereits vorverstanden haben. Die 2 So z . B . Kruse, Lehrbuch S. 103; vgl. auch B F H H F R 1961, 256; BStBl. 1967, 684; Hessisches F G E F G 1956, 237; Schleswig-Holsteinisches F G EFG 1972, 258; F G B e r l i n E F G 1973, 292. 3 Dazu Hruschka, Verstehen S. 83. 4 Ä h n l i c h bereits Hensel V V D S t R L 1927, 90: Es sei notwendig, einen großen T e i l der Rechtsbegriffe als Funktionsbegriffe anzuerkennen u n d davon auszugehen, „daß die Funktion, die ein Rechtsbegriff (...) i m typischen Einzelfall zu erfüllen berufen ist, maßgebend f ü r seinen I n h a l t sein muß". Vgl. auch Larenz, Methodenlehre S. 179.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
Bedeutung der Tatbestände ist ihrerseits nur über ein Vor-Verständnis der einzelnen Tatbestandsmerkmale zu erschließen. Sinnerkenntnis vollzieht sich so i m hermeneutischen „ Z i r k e l " als Verknüpfung der Teile m i t dem Ganzen bzw. als Vermittlung zwischen den Begriffen des privaten Rechts und dem sprachlichen Gefüge, i n das sie eingegliedert sind. Die Tatbestände sind als Elemente des syntaktischen Kontextes selbst nur Teil eines größeren Ganzen: des übergeordneten Normensystems, das ihren Sinn mitbestimmt und damit auch den Inhalt der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale beeinflußt. Darüber hinaus ist es für das Verstehen der Privatrechtsbegriffe auch von Bedeutung, m i t welcher Rechtsfolge der jeweilige Tatbestand zu einem Rechtssatz verknüpft ist. Zusammenfassend läßt sich also feststellen: Ob beispielsweise das Wort „Gegenstand" i n § 816 Abs. 1 BGB oder aber i n § 3 Abs. 1 UStG verwendet wird, ob der Tatbestand, zu dessen Merkmalen dieser Ausdruck gehört, Bestandteil des Bürgerlichen Gesetzbuches oder des Umsatzsteuergesetzes (und weiter: des privaten Rechts oder des Steuerrechts) ist, und ob schließlich die Erfüllung des betreffenden Tatbestandes mit der Begründung einer öffentlich-rechtlichen Leistungspflicht als Rechtsfolge verbunden ist oder nicht, das alles w i r k t darauf ein, welcher Sinn dem privatrechtlichen Begriff „Gegenstand" letztlich zugeschrieben wird. c) Der Sinn eines solchen Tatbestandsmerkmals w i r d außerdem noch durch den jeweiligen pragmatischen Kontext mitbestimmt. Jeder Privatrechtsbegriff weist einen zweifachen pragmatischen Bezug auf: Er ist einerseits i n einer bestimmten geschichtlichen Situation („Sprechsituation") verwurzelt, andererseits aber auch mit der aktuellen Situation des Interpreten („Erkenntnissituation") verbunden. Beide Situationen — man könnte auch sagen: der historische Horizont und der Horizont der Gegenwart — werden i m Vorgang der Sinnerkenntnis miteinander verknüpft, d. h. es kommt zu der bereits beschriebenen Horizontverschmelzung. Wer ein privatrechtliches Tatbestandsmerkmal verstehen w i l l , muß sich darum bemühen, historischen Horizont zu gewinnen. Dabei kann allerdings der Horizont der eigenen Lebenspraxis nicht einfach übersprungen werden; der rechtsanwendende Interpret vermag den historischpragmatischen Kontext nicht unvermittelt, sondern nur durch die „Brille" seiner eigenen hermeneutischen Situation zu sehen. Die „Erkenntnissituation" des Interpreten ist demnach i n jeden Verstehensprozeß einbezogen. Damit soll gesagt sein, daß der Sinn der Privatrechtsbegriffe stets durch die objektiven Bedingungen der Aneignungsperiode und die subjektive Einstellung des Verstehenden mitbestimmt wird.
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Genauer: Der aktuelle pragmatische Kontext w i r k t auf das Vorverständnis ein und beeinflußt dadurch die Zirkelbewegung des hermeneutischen Vollzugs, die zur Sinnbestimmung führt. Der Zusammenhang zwischen den Erkenntnisbedingungen und den erkenntnisleitenden Vorurteilen läßt sich an dem Verhalten des rechtsanwendenden Interpreten verdeutlichen. I m Rahmen der Rechtsanwendung gibt stets ein praktisches Interesse an der Regelung eines konkreten Rechtsfalles den Anstoß zu einem hermeneutischen Prozeß. Es gilt einen Rechtssatz zu finden, durch den eine bestimmte Konfliktlage überwunden werden kann. I n einer derartigen Situation werden an die Tatbestände und Tatbestandsmerkmale immer schon bestimmte Erwartungen herangetragen. Der zur Rechtsanwendung Berufene stellt sich vor, daß die ins Auge gefaßten Texte einen rechtlichen Gesichtspunkt zur Sprache bringen, der gerade auf seinen Fall zutrifft. Das praktische Regelungsbedürfnis, das der Richter angesichts eines Rechtsfalles empfindet, beeinflußt demnach seine Vorverständnisse und damit zugleich das Ergebnis des Verstehensprozesses. Gerade darin zeigt sich die sinnbestimmende W i r k u n g des aktuellen pragmatischen Kontextes: Die Tatbestände werden „von der gegenwärtigen Situation aus begriffen und für diese Situation nutzbar gemacht" 5 ; den Sinn der Privatrechtsbegriffe erfaßt der rechtsanwendende Interpret dementsprechend vom Rechtsfall her und u m dieses gegebenen Falles willen. Die hermeneutische Situation der Erkenntnissubjekte ist i n das w i r kungsgeschichtliche Geschehen einbezogen und somit veränderlich. Damit ist zugleich erklärt, weshalb das Verstehen der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale nicht irgendwo und irgendwann zu einem A b schluß kommen kann. Die Inkonstanz des aktuellen pragmatischen Kontextes verhindert eine Festschreibung der Verstehensergebnisse für die Zukunft. 3. Die privatrechtlichen Merkmale eines steuerrechtlichen Tatbestandes haben eine typologische Struktur, denn sie nehmen den Bezug zur Wirklichkeit auf und verweisen zugleich auf einen Gesichtspunkt, dem sich eine Vielzahl von Lebensverhalten zuordnen läßt. Privatrechtliche Begriffe wie „Gegenstand" (§ 3 Abs. 1 UStG), „Veräußerung" (§ 23 EStG) oder „Ubereignung" (§ 75 Abs. 1 AO) sind also privatrechtliche, d. h. ursprünglich nur i n den Tatbeständen des Privatrechts verwendete Typen. Als Typen sind die privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale — i m Gegensatz zu den Allgemeinbegriffen — hermeneutisch nie „zur Hand"; ihr Inhalt und Umfang w i r d immer erst i m Vorgang der Sinnerkenntnis 5
Hruschka
ARSP 1964, 497.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
bestimmt. Was etwa „stiller Gesellschafter" (§ 8 Nr. 3 GewStG) bedeutet, läßt sich außerhalb des konkreten Verstehensprozesses n u r annäherungsweise bestimmen. Erst i m Prozeß der Entfaltung dieses Typus an der bezeichneten W i r k l i c h k e i t (und der gleichzeitig vollzogenen Entfaltung der W i r k l i c h k e i t am Typus) konstituiert sich seine aktuelle hermeneutische Dimension. U n d sie konstituiert sich m i t jedem Verstehen neu, denn die Wirklichkeit, auf die der Verstehende verwiesen ist, unterliegt einer beständigen Veränderung, so daß die Inhaltsbestimmungen, auf die jeder hermeneutische Prozeß abzielt, i m m e r wieder i n Frage gestellt werden. Die Grenzen der privatrechtlichen Typen erweisen sich als fließend. Gerade darin zeigt sich der Unterschied zu den allgemeinen Begriffen®. E i n Begriff ist inhaltlich immer schon begrenzt („definiert"), die Grenzen der Privatrechtsbegriffe müssen dagegen m i t jedem Verstehen neu gezogen werden. Während ein Begriff das reale Vorkommen der Dinge, die i h m zugeordnet werden können, überhaupt nicht oder doch n u r als möglich voraussetzt u n d deshalb ohne den Bezug zur W i r k l i c h k e i t bestimmbar ist, erhält ein privatrechtlicher Typus inhaltliche Bestimmtheit ausschließlich i n der Entfaltung an der bezeichneten Wirklichkeit. Was privatrechtliche Begriffe ( i. S. v. „Sprachgebilde") bedeuten, steht also nicht i m vorhinein fest — das zeigt sich erst noch. II.
Konsequenzen
Das Problem der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale i m Steuerrecht läßt sich nicht einfach dadurch lösen, daß m a n die Verbindlichkeit bzw. Unverbindlichkeit der privatrechtlichen Begriffsbestimmungen ohne Rücksicht auf die hermeneutische Ausgangslage der Erkenntnissubjekte zur Interpretationsmaxime erklärt. Wie sich ein Interpret verhalten soll, läßt sich sinnvoll erst dann beurteilen, w e n n m a n weiß, wie er sich verhalten kann. Deshalb muß v o r jeder E r k l ä r u n g zur Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Abweichung v o n der herkömmlichen Deutung der Privatrechtsbegriffe nach den Konsequenzen gefragt w e r den, die sich aus der wirkungsgeschichtlichen S t r u k t u r der Verstehensprozesse u n d vor allem auch aus der Kontextabhängigkeit u n d dem typologischen Charakter der privatrechtlich geprägten Begriffe ergeben. Die Möglichkeiten u n d Grenzen einer Problemlösung bestimmen sich nach den hermeneutischen Möglichkeiten der Interpreten. 1. Was also kann i m Hinblick auf die Sinndeutung bei den p r i v a t rechtlich geprägten Tatbestandsmerkmalen aus der Erkenntnissituation u n d aus der Qualität des Erkenntnisobjektes gefolgert werden? Diese 6
Hier zu verstehen i n dem oben § 4 N. 341 bezeichneten Sinne.
Α . Möglichkeiten u n d Grenzen der steuerrechtlichen Hermeneutik
Frage führt zunächst zu einer negativen, ausschließenden Antwort. Manche Forderungen, die von der traditionellen Auslegungslehre i m Zusammenhang m i t der Interpretation der Privatrechtsbegriffe erhoben werden, sind unerfüllbar, weil sie entweder dem Interpreten ein Erkenntnisverhalten abverlangen, zu dem er nicht fähig ist, oder weil sie darauf abzielen, die notwendige Relativität der Sinnbestimmungen zu überwinden. a) Die herkömmlichen Darstellungen zum Problem der privatrechtlichen Prägung eines sprachlichen Ausdrucks gehen davon aus, daß der Sinn der privatrechtlichen Typen durch Anwendung bestimmter Methoden zu ermitteln ist. Diese Forderung entspricht der methodologischen Zielsetzung der Auslegungstheorien: Dem Verstehen soll der „richtige Weg" gewiesen werden. Es ist jedoch fraglich, ob sich das Verstehen überhaupt i n eine bestimmte Richtung lenken läßt. Kann man den Vorgang der Sinnerkenntnis tatsächlich als einen steuerbaren Prozeß begreifen und die Auslegungsmethoden als operative Instrumente handhaben, deren Verwendung ein wirkliches Erkennen garantiert? Die Bildung der Vor Verständnisse, deren Korrektur und die daraus resultierende Spiralbewegung i m hermeneutischen Vollzug, die zu einer Horizontverschmelzung und damit zum Verstehen führt, ist kein methodisches Verhalten i n dem Sinne, daß sich das erkennende Bewußtsein einem von i h m gewählten Gegenstand zuwendet und i h n zu objektiver Erkenntnis bringt 7 . Sinnerkenntnis vollzieht sich nicht als reflektierte Tätigkeit, sondern als vorrationales Geschehen, i n das der Interpret verwickelt ist und das er methodisch nicht disziplinieren kann. Die Faktoren, die das Erkenntnisverhalten beeinflussen, bringen sich auch ohne und sogar gegen den Willen der erkennenden Subjekte ins Spiel. „Der Zirkel des Verstehens ist also überhaupt nicht ein ,methodischer' Zirkel, sondern beschreibt ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens" 8 . Und auch die anderen Erkenntnisbedingungen sind durchaus nicht „von der A r t eines ,Verfahrens 4 oder einer Methode, so daß man als der Verstehende sie von sich aus zur Anwendung zu bringen vermöchte" 9 . Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe ist demnach kein subjektiv beherrschbarer Prozeß. A u f Grund der ontologischen Struktur der Verstehensabläufe bleibt der Vorgang der Sinnerkenntnis einer rationalen Kontrolle weitgehend entzogen. Die „Methoden" der steuerrechtlichen Auslegungslehre können nichts bewirken, was nicht bereits ohne sie 7
Dazu Gadamer , Wahrheit S. 293. Gadamer , Wahrheit S. 277. • Gadamer , Wahrheit S. 279.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegrife
geschieht 10 . Die Vorstellung, das Sinnverständnis arbeite zielsicher mit einem Methodenschlüssel, geht somit an den tatsächlichen hermeneutischen Gegebenheiten vorbei 1 1 . Als operative Instrumente der Sinnerkenntnis sind die von der Methodenlehre entwickelten „Regeln" jedenfalls untauglich. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß die methodischen canones bei der Interpretation der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale ohne jede Bedeutung sind. I m Rahmen der sprachlichen Auslegung des Verstandenen können sie z.B. als Begründungs- und Uberzeugungsargumente (topoi) durchaus eine Funktion erfüllen 1 2 . Die Methodenwahl ist dann allerdings nur noch „ein von dem zirkelhaft produktiven Verstehen vorbestimmtes sekundäres Moment" 1 3 . Die „Methoden" selbst erhalten den Status von „Argumentations-Instanzen" 14 , auf die sich der Interpret berufen kann, u m sein Sinnverständnis abzustützen und seiner Rechtsentscheidung die notwendige Uberzeugungskraft zu geben. M i t dieser Funktionsbestimmung w i r d übrigens i n der Theorie lediglich nachvollzogen, was Rechtsprechung und Lehre schon immer praktiziert haben 15 . Da die „Regeln" der juristischen Methodenlehre das Verstehen nicht anleiten, sondern allenfalls das Verstehensergebnis nachträglich rechtfertigen können, ist von ihrer Anwendung keine Lösung der Probleme zu erwarten, die sich beim verstehenden Erfassen der Privatrechtsbegrifïe einzustellen pflegen. Zwar läßt sich kaum bestreiten, daß die „grammatikalischen" bzw. „logisch-systematischen" Auslegungskriterien auch innerhalb des hermeneutischen Vollzugs eine gewisse Rolle spielen. Wer einen steuerrechtlichen Tatbestand verstehen w i l l , w i r d ζ. B. nach dem „Wortsinn" fragen und den „Bedeutungszusammenhang des Gesetzes" erforschen. Daraus darf aber keinesfalls geschlossen werden, die Anwendung bestimmter Methoden könne den Verstehenden zur Sinnerkenntnis führen. Denn was die Auslegungstheorie als methodische Forderung zur Sprache bringt, geschieht i m Verfahren der Sinnermittlung ohnehin, weil anders ein Verstehen nicht möglich ist. So stützt sich etwa die „systematische Auslegungsmethode" auf die Tat10 Vgl. auch Sax, Analogieverbot S. 75: „Es gibt keine juristischen Regeln, die das Auslegungsverfahren immanent beeinflußten." 11 Vgl. dazu auch J. Esser, Vorverständnis S. 32; ebenso Viehweg, Topik S. 91: Der Schwerpunkt der Operationen liege bei der „ I n v e n t i o n " ; die Logik sei auf den zweiten Platz verwiesen. 12 Vgl. etwa Müller, N o r m s t r u k t u r S. 74. 13 Hinderling, Verstehen S. 153. 14 Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 31; ders., Rechtswissenschaft S. 74. 15 Dazu auch J. Esser, Vorverständnis S. 7.
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sache, daß ein Tatbestand nicht verstanden werden kann ohne den Sinnzusammenhang, der seine sprachliche Bedeutung mitkonstituiert 1 6 . Die herkömmliche Methodenlehre begeht den Fehler, einige unselbständige Momente des einheitlichen Verstehensprozesses, die grundsätzlich unabhängig von einem Entschluß des Verstehenden wirksam werden, als selbständige Auslegungsmethoden handhaben zu wollen, über deren Einsatz allein der Interpret entscheidet; es w i r d „ i n ein methodologisches Gebot verwandelt (und damit als grundsätzlich zur Disposition des ,Auslegers' stehend angesehen), was hermeneutisch notwendig ist (und also nicht zur Disposition des Verstehenden steht)" 17 . Dadurch soll die Sinnermittlung i n einer rationalen Haltung der Erkenntnissubjekte begründet werden. Tatsächlich kann aber niemand den Wirkungen der Wirkungsgeschichte auf diese Weise entgehen. Das hermeneutische Geschehen läßt sich nicht einfach durch methodologische Postulate i n ein kontrolliertes Verhalten des Interpreten überführen. Vielmehr hat die Ontologisierung des Verstehens zur Folge, daß sich die inhaltliche Bestimmung der Privatrechtsbegriffe einer methodischen Disziplinierung entzieht. b) Der Methodengedanke w i r d zumeist m i t dem Hinweis auf die Notwendigkeit eines objektiven Interpretationsverfahrens verteidigt. Objektivität betrachtet man allgemein als eine „moralische Grundlage der Wissenschaft" 18 . Fraglich ist nur, unter welchen Voraussetzungen ein juristischer Verstehensprozeß eigentlich „objektiv" vollzogen ist 1 9 . Bisher haben sich fast alle Auslegungstheorien mehr oder weniger deutlich an einem naturwissenschaftlichen Objektivitätsideal orientiert 2 0 . Die Äußerungen zur Interpretation der Tatbestände sind dementsprechend von der Vorstellung beherrscht, bei jedem hermeneutischen Verfahren müsse ein hoher Grad an Genauigkeit und logischer Stringenz erreicht werden. Gefordert w i r d eine Ausschaltung der Subjektivität des Interpreten i n der Auslegung. Das erkennende Bewußtsein soll dem Text ohne Voraussetzungen gegenübertreten. Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob diese Postulate erfüllbar sind 21 . Ist es wirklich möglich, das Verstehen der steuerrechtlichen Tatbestände und die Deutung der Privatrechtsbegriffe als logischen Prozeß zu voll16
Vgl. auch Hassemer, Tatbestand S. 88. Hruschka, Verstehen S. 84 (betr. die „systematische Auslegungsmethode"). 18 Dubischar, Vorstudium S. 32. 19 Diese Frage steht i m Zusammenhang m i t dem Problem der „Richtigkeit" juristischer Sinnerkenntnis; vgl. auch Engisch, Wahrheit S. 18; dazu noch §6. 20 Vgl. dazu A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 359. 21 Dazu bereits § 4 C. I. 2. 17
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ziehen, aus dem die handelnden Subjekte ausgeblendet werden können? Ist das verstehende Subjekt überhaupt i n der Lage, eine Sinnbestimmung voraussetzungslos zu beginnen? Ein privatrechtliches Tatbestandsmerkmal ist „sinnvoll", sobald sich der sprachliche Ausdruck i m Bewußtsein des Verstehenden mit einem rechtserheblichen Inhalt verbindet. Der Sinn ist also eine Sache des Bewußtseins 22 . Schon aus diesem Grunde w i r d i n das Erkannte immer auch etwas vom erkennenden Subjekt m i t einfließen 23 . Die Persönlichkeit dessen, der zur Rechtsanwendung und damit zur Deutung juristischer Texte berufen ist, läßt sich als mitentscheidende Instanz der Sinnerkenntnis nie ausschalten 24 . „Der Erkennende bleibt nicht außerhalb des Erkenntnisprozesses, sondern er nimmt — m i t all seinen Vorurteilen, Überzeugungen, Interessen — an diesem Prozeß teil" 2 5 . Die völlige Auflösung des Ich und die gänzliche Hingabe an den Gegenstand ist deshalb kein geeignetes K r i t e r i u m für die Objektivität eines hermeneutischen Verfahrens 26 . Juristische Objektivität wäre auch als „Voraussetzungslosigkeit" des Erkenntnisverfahrens mißverstanden. Niemand vermag einem Rechtstext oder einem rechtserheblichen sprachlichen Ausdruck ohne Voraussetzungen gegenüberzutreten 27 . Solche Voraussetzungen sind immer schon mit der subjektiven Einstellung des Interpreten gegeben, die seine inhaltlichen Vorurteile mitbestimmt und so den Verstehensprozeß beeinflußt. Sie w i r k e n „als Kenntnis sachlicher Zusammenhänge, erfahrungsmäßiger Daten und vor allem als rechtstheoretische, staatstheoretische, verfassungstheoretische, dogmatische, recht- und verfassungspolitische Positionen, Bestrebungen und Sachgehalte und damit als der einzelnen Konkretisierung vorausliegende motivierende Kräfte" 2 8 . Die Forderung nach einer weitgehenden Objektivität des hermeneutischen Vollzugs bleibt unerfüllbar, solange sie darauf abzielt, diese subjektiven Faktoren auszuschalten. Der Verstehende muß seine eigenen Voraussetzungen ins Spiel bringen, wenn ein Verstehen der Privatrechtsbegriffe möglich sein soll. Damit w i r d keineswegs das Private und Arbiträre subjektiver Voreingenommenheit legitimiert, viel22
Vgl. nochmals § 3 C. I I I . 3. b). Vgl. auch A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 57, 101, 367. 24 So Engisch, Wahrheit S. 22; Rittner, Verstehen S. 56 f.; Hruschka, V e r stehen S. 94. 25 A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 367. 26 So auch A. Kaufmann, Peters-FS S. 304; ders. J Z 1975, 341; Rupp N J W 1973, 1773. 27 So Gadamer, Wörterbuch Sp. 1069; Müller, N o r m s t r u k t u r S. 74 f.; ders., Methodik S. 121 ff. 28 Müller, Methodik S. 122/123. 23
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mehr geht es darum, die schon immer vorhandenen, aber meist verschleierten subjektiven Momente des Verstehens bewußt zu machen 29 . Legt man den naturwissenschaftlichen Objektivitätsbegriff zugrunde, so vermögen die hermeneutischen Erkenntnisverfahren immer nur eine relative Objektivität zu gewährleisten 30 . Denn jeder Verstehensprozeß — also auch das Verstehen der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale — ist zunächst einmal subjektiv, insofern er von der Subjektivität des Interpreten und von dessen Vor-Urteilen über die jeweils bezeichnete „Sache Recht" nicht abgetrennt werden kann. Er ist allerdings zugleich objektiv, insofern die von der subjektiven Einstellung abhängigen Vorverständnisse auch durch die „Sache Recht" mitbestimmt werden 31 , darüber hinaus aber auch deswegen, w e i l die Sinnantizipationen des erkennenden Bewußtseins keinen rationalen, sondern einen vorrationalen Ursprung haben 32 , so daß die Sinnbestimmung einer subjektiven Beherrschung und damit zugleich der W i l l k ü r des Interpreten entzogen ist. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Forderung nach Objektivität „nicht i m Sinn eines ,absoluten' Idealbegriffs erhoben werden" kann 3 3 . Die Interpretation der Privatrechtsbegriffe w i r d niemals die Stringenz erreichen, die etwa einer Deduktion i m mathematischen Bereich am Leitfaden der axiomatischen Methode gesichert werden kann 3 4 . c) I n der Rechtsprechung und i n den Lehrdarstellungen zum Problem der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale w i r d häufig der Versuch unternommen, eine Bindung der Interpreten an die i m Privatrecht üblichen Inhaltsbestimmungen herbeizuführen. Damit w i l l man der Forderung entsprechen, eine prinzipiell einheitliche Deutung gleichlautender Merkmale zu gewährleisten 35 oder zumindest i n einigen Bereichen des Steuerrechts — etwa bei den Erbschaft- und Verkehrsteuern — und darüber hinaus auch „ i n Zweifelsfällen" eine privatrechtskonforme Interpretation sicherzustellen 36 . Relative, d. h. nur für einen be29
Ebenso A. Kaufmann JZ 1975, 341. Vgl. auch Rittner, Verstehen S. 57; Müller, N o r m s t r u k t u r S. 74; ders., Methodik S. 121. 31 So Hruschka, Verstehen S. 94. 32 Ebenso Hruschka, K o n s t i t u t i o n S. 73, i m Hinblick auf die O b j e k t i v i t ä t der Sachverhaltsbildung. 33 Vgl. Müller, Methodik S. 121. 34 Vgl. Engisch, Wahrheit S. 18; ebenso Larenz, Methodenlehre S. 222; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 359; vgl. auch Hassemer, Tatbestand S. 17 ff., 47 ff. 35 Dazu die Nachweise § 1 Β. I. 1., insbes. N. 56. 36 So etwa Hensel, Lehrbuch S. 53; Wenz, Speyer-FS S. 305, 308, 313; w e i tere Nachweise § 1 Β . I. 2. 30
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stimmten Tatbestand oder einen bestimmten Zeitpunkt gültige Begriffsdeutungen werden abgelehnt, weil sie angeblich eine Prognose der Verstehensergebnisse erschweren und aus diesem Grunde m i t dem Prinzip der Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren sind. Es fragt sich allerdings, ob die Relativität der Sinnverständnisse überhaupt vermeidbar ist. Was können allgemeine Bekenntnisse zur Verbindlichkeit der privatrechtlichen Interpretationen bewirken angesichts der Tatsache, daß der Sinn der privatrechtlichen Begriffe zeitbestimmt und vom jeweiligen Kontext abhängig ist? Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe nimmt an derselben geschichtlichen Bewegung teil, i n der das Leben selbst steht, denn es „ist gebunden an die Menschen, die sich u m die Sinndeutung des Gesetzes bemühen, an die Werterlebnisse und Wertvorstellungen, die diese selbst als Glieder eines selbst sinnerfüllten, örtlich und zeitlich begrenzten Kulturganzen haben und an denen sie bewußt oder unbewußt ihre geistige Einstellung zu Gegebenheiten ausrichten, die geistig erfaßbar sind" 3 7 . Jede Veränderung der hermeneutischen Situation eines Interpreten bedingt ein verändertes Verständnis der steuerrechtlichen Tatbestände und ihrer privatrechtlichen Merkmale. Veränderlich ist allerdings nicht nur der aktuelle pragmatische Kontext, sondern auch die Wirklichkeit, die durch den jeweils verwendeten Privatrechtsbegriff i n einer bestimmten Hin-Sicht erkennbar gemacht werden soll. Diese W i r k lichkeit ist ein Geschehen, das sich geschichtlich i n einem nie zu Ende kommenden Prozeß ereignet. Insoweit bezeichnen die privatrechtlich geprägten Tatbestandsmerkmale „ein immer Neues" 38 ; als Sprachgebilde nehmen sie teil „an der Lebendigkeit und an dem Fluß der Dinge" 3 8 . Diese Teilnahme vollzieht sich i n einer immerwährenden Ausdehnung und Restriktion des Wortsinnes, i n einer hermeneutischen Veränderung dieser Merkmale in ihrer und durch ihre Auslegung und Anwendung auf den Fall 3 9 . Der Zeitfaktor begründet somit bei den Begriffen des privaten Rechts eine gewisse 40 Dynamik aller Sinnbestimmung, die eine endgültige inhaltliche Fixierung unmöglich macht. „Es wäre gefährlich, diese Dynamik verdunkeln zu wollen; sie ist i m Gegenteil betont hervorzuheben, damit es deutlich und bewußt erkannt wird, daß Auslegung eine ewige Aufgabe ist, die sich auch angesichts äußerlich unverändert bleibender Gesetze stets von neuem stellt und die stets eine neue Lösung erheischt, da der Sinnzusammenhang, i n den Gesetz und Deuter hinein37
Sax, Analogieverbot S. 75. Hassemer, Tatbestand S. 110. 39 Vgl. auch Ecker J Z 1969, 477 ff.; Hesse, Grundzüge S. 25. 40 Larenz (Methodenlehre S. 338) weist darauf hin, daß „nicht jeder W a n del der Verhältnisse sogleich auch eine Änderung des Norminhalts nach sich" zieht. 38
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gestellt sind, einem steten unmerklichen oder auch deutlich erkennbaren Wandel unterliegt und dieser Wandel auf die dem Deutungsobjekt und dem Deuter entstammenden Gesetzessinnelemente, sie ebenfalls wandelnd, rückwirkt" 4 1 . Damit ist zugleich gesagt, daß sich ein bestimmtes Verständnis der Privatrechtsbegriffe, das irgendwann und irgendwo einmal richtig gewesen sein mag, für die Zukunft nicht festschreiben läßt. „Es ist statische Rechtsbetrachtung, wenn man vermeint, ein für allemal richtige Auslegungsergebnisse gewinnen zu können" 4 2 . A n ihrem Wirklichkeitsbezug erweist sich die typologische Struktur der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale. Der Inhalt und Umfang dieser Typen ist nur i m Vorgang der Sinnerkenntnis eindeutig bestimmbar. Was ein Privatrechtsbegriff bedeutet, steht nicht schon vorher fest — das zeigt sich erst noch. Wenn aber außerhalb der Verstehensprozesse über den wirklichen Sinn dieser Sprachgebilde nur inadäquat geredet werden kann, dann ist damit die Nutzlosigkeit allgemeiner, vom konkreten Verstehen abgelöster Grundsätze zur Verbindlichkeit der privatrechtlichen Begriffsbestimmungen erwiesen. Dennoch ist die steuerrechtliche Dogmatik darum bemüht, die Interpretation der Privatrechtsbegriffe zu eindeutigen, d. h. ein für allemal, jederorts und für jedermann gültigen Ergebnissen zu führen. Durch die Verpflichtung der Interpreten zu privatrechtskonformen Sinndeutungen w i l l man das Resultat künftiger Verstehensprozesse i m voraus festlegen. Derartige Versuche, die privatrechtlichen Begriffe inhaltlich zu begrenzen (zu „definieren"), sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie den notwendigen Wirklichkeitsbezug, der bei allen Tatbestandsmerkmalen mit typologischen Qualitäten besteht, einfach ignorieren. Wer aber das inkonstante Element der Wirklichkeit bei seinen Überlegungen nicht berücksichtigt, darf sich nicht wundern, wenn den doktrinären Darstellungen zur I n haltsbestimmung der Privatrechtsbegriffe i n der Praxis keine Beachtung geschenkt wird, weil sie an den wesentlichen Problemen vorbeigehen 43 . Man muß sich damit abfinden, daß es keine Kriterien gibt, die unabhängig vom Verfahren der typologischen Entfaltung 4 4 eine abschließende inhaltliche Bestimmung der privatrechtlich geprägten Tatbestandsmerkmale ermöglichen. Uber den tatsächlichen Sinn dieser Sprachgebilde kann vor dem Verfahren der Begriffsdeutung und außerhalb des konkreten Verstehensprozesses sinnvoll gar nicht geredet werden. 41
Sax, Analogieverbot S. 76. Sax, Analogieverbot S. 78. 43 Vgl. dazu auch J. Esser, Vorverständnis S. 10; ähnlich Müller-Erzbach, Relativität S. 3: Wo die Dogmatik versucht habe, feste, geschlossene Begriffskategorien zu bilden, werde die Theorie m i t ihren Begriffen an die Seite geschoben, „da das Leben sich nicht so leicht überwältigen läßt". 44 Damit ist der Vorgang gemeint, der bereits als „ H i n - u n d Herwandern des Blickes" beschrieben wurde. 42
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
Einmal gewonnene Erkenntnisse lassen sich auch nicht verallgemeinern. Ein Sinnverständnis, das bei dem einen Tatbestand das Gemeinte richtig erfaßt, kann sich bei einem anderen Tatbestand, der dasselbe Merkmal verwendet, durchaus als falsch erweisen. Das gilt nicht nur in dem Verhältnis der steuerrechtlichen Tatbestände zu den Tatbeständen des Privatrechts, sondern auch für solche Tatbestände, die demselben Rechtsgebiet oder sogar demselben Gesetz angehören. Es kommt eben immer auf den syntaktischen Kontext an, der als sinnbestimmender Faktor das Verstehen der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale beeinflußt und auf diese Weise zusammen mit anderen Faktoren zu einer (unvermeidlichen) Relativität der Interpretationen beiträgt. Die Bedeutung der Privatrechtsbegriffe kann also immer nur von Fall zu Fall und von Zeit zu Zeit festgestellt werden. Es lassen sich keine Regeln aufstellen, sonderen allenfalls Regelmäßigkeiten erkennen, die für das Verstehen selbst ohne Folgen bleiben. Die bloße Verwendung von Tatbestandsmerkmalen m i t einer privatrechtlichen Prägung sagt jedenfalls noch nichts darüber aus, wie diese Begriffe zu verstehen sind 45 . Wegen der unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge kann man nicht einmal vermuten, daß gleichlautende Merkmale unterschiedlicher Tatbestände auch inhaltsgleich sind 46 . Solche inhaltlichen Übereinstimmungen lassen sich auch mit den herkömmlichen Verbindlichkeitspostulaten nicht herbeireden. 2. M i t dieser negativen Bestimmung der Konsequenzen, die sich aus der hermeneutischen Ausgangssituation der Erkenntnissubjekte ergeben, sind zunächst nur die Grenzen der steuerrechtlichen Hermeneutik aufgezeigt. Nunmehr gilt es die Frage zu beantworten, welche Möglichkeiten den Interpreten verbleiben. Können sie überhaupt einen positiven Beitrag zur Deutung der steuerrechtlichen Tatbestände leisten, der über die bloße „Teilnahme" an einem hermeneutischen Geschehen hinausgeht? Der Vorgang der Sinnerkenntnis entzieht sich zwar einer subjektiven Beherrschung, nicht aber der Beeinflussung durch die Subjektivität des Verstehenden. Insoweit genügt der Hinweis, daß jedes inhaltliche Vorurteil und damit auch das Ergebnis der Sinnbestimmungen schon immer durch die hermeneutische Situation der verstehenden Subjekte mitbestimmt wird. Nun sind m i t dieser Abhängigkeit des Verstehens von den subjektiven Erkenntnisbedingungen durchaus positive Möglichkeiten verbunden, die Qualität einer Interpretation zu verbessern. So w i r d 45
So auch Kruse ÖStZ 1975, 198. So schon E. Becker, Einleitung S. X X I ; ebenso Kruse Rz. 17. 46
T K § 1 StAnpG
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insbesondere durch eine Erweiterung des Gegenwartshorizontes und durch die daraus resultierende Veränderung der subjektiven Voraussetzungen, die jemand i n einen Verstehensprozeß einbringt, eine Verbesserung 47 der Verständnismöglichkeiten erreichbar sein. Der Horizont der Gegenwart ist begrenzt und bestimmt durch die Meinungen, Wertungen und Erfahrungen der Interpreten, durch deren Wissen und zahlreiche andere Momente der Subjektivität 4 8 . Wer sein Wissen vertieft und seinen Erfahrungsbereich vergrößert, erweitert seinen Horizont und schafft damit die Voraussetzungen für ein verbessertes oder zumindest verändertes Verstehen der sprachlichen Äußerungen, auf die sich das Wissen und die Erfahrungen beziehen. Je mehr beispielsweise über die i n der Vergangenheit vollzogenen Inhaltsbestimmungen eines steuerrechtlichen Tatbestandes gewußt ist, desto mehr ist über den Tatbestand gewußt; je mehr aber über den Tatbestand gewußt ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Erfassung seines Inhalts 4 9 . Sinnerkenntnis erweist sich insofern als „ein Sich-Auskennen i n etwas" 50 , als ein „Können" 5 1 i m Umgang mit dem Text, das der Verstehende durch fachmännisches Wissen und spezifische Erfahrungen erworben hat 5 2 . Ein solches Können und die damit verbundenen Einsichten, Fähigkeiten und Fertigkeiten kann man zwar nicht als eine notwendige Bedingung des Verstehens betrachten 53 , aber 47 „Verbessert" sind die hermeneutischen Möglichkeiten i m m e r dann, w e n n sich die Chancen, einen T e x t „richtig" zu verstehen, erhöht haben. Der Richtigkeitsmaßstab w i r d i n § 6 Α. I I . noch zu bestimmen sein. 48 Es sei allerdings nochmals darauf hingewiesen, daß sich die Grenzen ständig verschieben, daß also der Horizont der Gegenwart „ i n steter B i l d u n g begriffen" ist (Gadamer , Wahrheit S. 289). 49 Vgl. auch Hassemer, Tatbestand S. 141. 50 Gadamer , Wahrheit S. 246. 51 Hruschka, Verstehen S. 44; Hassemer, Tatbestand S. 140; Gadamer, Wahrheit S. 291 („subtilitas") ; ähnlich Wittgenstein, Philosophische U n t e r suchungen § 150. 52 A u f diesen Zusammenhang zwischen Verstehen u n d Können verweisen Redewendungen w i e „er versteht sein Fach" oder „er versteht sich auf diese oder jene Sache"; dazu auch Hruschka, Verstehen S. 44; Gadamer, Wahrheit S. 246. 53 So aber Hruschka, Verstehen S. 44, unter Bezugnahme auf Bultmann, Hermeneutik S. 219: Mancher Text sei manchen Menschen je nach Alter, B i l d u n g u n d Können verschlossen. Soll das heißen, daß die Rechtstexte, die doch allgemein verbindliche Normen zur Sprache bringen wollen, n u r für Fachleute, also: n u r f ü r einen T e i l der Betroffenen verständlich sind? Es mag sein, daß einige Gesetze — v o r allem zahlreiche Steuergesetze — dem „juristischen Laien" Verständnisschwierigkeiten bereiten. M a n macht es sich aber w o h l etwas zu leicht, w e n n man zur Begründung dieses unerfreulichen Zustandes auf das fehlende Können der Interpreten verweist. Umgekehrt w i r d ein Schuh daraus: Oft genug erschweren die Gesetzesverfasser das V e r stehen der Rechtstexte, w e i l sie sich — ohne Rücksicht auf die vorhandenen Sprachbarrieren — einer schichten- u n d fachspezifischen Sprache bedienen.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
man muß wohl anerkennen, daß die Suche nach der sachlichen Wahrheit durch eine entsprechende Vorbildung und Ausbildung der Interpreten wesentlich erleichtert wird. Bei der Interpretation eines steuerrechtlichen Tatbestandes kann sich insbesondere die Kenntnis wirtschaftlicher Probleme und Problemzusammenhänge als nützlich erweisen, weil zahlreiche Normen des Steuerrechts von wirtschaftlichen Interessen oder von wirtschaftspolitischen Zielsetzungen bestimmt sind und darüber hinaus i n weiten Bereichen ökonomische Sachverhalte ( = unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtete Lebens verhalte) zum Gegenstand haben 54 . Ein Richter, der die Funktion der vom Gesetz zur Verfügung gestellten Organisationsformen i n der entwickelten kapitalistischen Wirtschaft versteht und auch die Fähigkeit besitzt, den Wert von wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Argumenten wirklich beurteilen zu können, vermag die Konzeption eines steuerrechtlichen Tatbestandes und der darin enthaltenen Merkmale besser und schneller zu begreifen als andere Interpreten, die über die sozial-ökonomischen Erscheinungen und Zusammenhänge nicht informiert sind 55 . Das Wissen u m die Institutionen, Beziehungen und Abläufe i m Bereich der Wirtschaft w i r d bei derartig vorgebildeten Erkenntnissubjekten i n die Vorverständnisse einfließen und dadurch ein wirklich sachbezogenes Verstehen ermöglichen. Die Orientierung über die wirtschaftlichen Grundlagen des Steuerrechts ist nur eine von mehreren Möglichkeiten, die subjektiven Erkenntnisbedingungen zu verbessern. Ein anderer Weg w i r d z.B. m i t der historischen Analyse eines Rechtstextes beschritten. Die Ermittlung der geschichtlichen Ursachen und Begleitumstände einer rechtlichen Normierung gibt möglicherweise Aufschluß über den Inhalt der betreffenden Regelung 56 . Dabei können die Gründe, die ζ. B. die Verwendung eines privatrechtlichen Tatbestandsmerkmals veranlaßt haben, einmal anhand der hinterlassenen Äußerungen der Gesetzesverfasser über ihre Motive erforscht werden, zum anderen aber auch durch die Ermittlung von objektiv wirksamen Faktoren, die den Autoren als Beweggründe 54 Vgl. dazu auch Kruse, Lehrbuch S. 100; etwas allgemeiner Coing , W i r t schaftswissenschaften S. 2 u n d S. 5. 55 Vgl. dazu auch Coing , Wirtschaftswissenschaften S. 2 ff. 56 Z u r Klarstellung: Die historische Analyse ist nicht gleichzusetzen m i t der Erschließung des historischen Horizontes i m Verstehen. E i n Interpret, der historischen Horizont zu gewinnen versucht, w i l l eine i n der Vergangenheit hervorgebrachte Sprache-Inhalt-Relation rekonstruieren. Dieser hermeneutische Vorgang k a n n ergänzt werden durch zusätzliche Ermittlungen, etwa durch eine historische Analyse, die das Ziel hat, die Situation bzw. die Motive u n d Absichten der Gesetzesverfasser aufzuhellen.
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vielleicht gar nicht bewußt geworden sind 57 . Die Kenntnis der Ursachen eines Gesetzes oder einzelner Formulierungen kann dazu beitragen, der vorgreifenden Bewegung der inhaltlichen Vorurteile eine neue Richtung zu geben. U m eine allgemeine „historische Erklärung" der Privatrechtsbegriffe haben sich Ball und E. Becker bemüht. Ihrer Meinung nach läßt sich die Verwendung der privatrechtlich geprägten Tatbestandsmerkmale auf die besonderen sprachlichen Bedingungen zurückführen, unter denen die Tatbestände der meisten Steuergesetze gebildet werden mußten. Als sich der Gesetzgeber vor die Aufgabe gestellt sah, die Wirklichkeit nach steuerrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen und an diese Beurteilung steuererhebliche Rechtsfolgen zu knüpfen, habe i h m kein begriffliches Instrumentarium zur Verfügung gestanden, mit dessen Hilfe eine angemessene Umsetzung der steuerrechtlichen Konzeptionen i n die Sprache möglich gewesen wäre 5 8 . Zwar bestand prinzipiell die Möglichkeit, ein solches Instrumentarium zu schaffen, aber „die selbständige Begriffsbildung ist eine schwere Arbeit, und der Gesetzgeber ist ihr nur i n besonderen Fällen gewachsen" 59 . U m i n dieser Notsituation bestehen zu können, sei es notwendig gewesen, die i m Privatrecht übliche Ausdrucksweise zu verwenden, eine Sprache also, die sich „wegen Ähnlichkeit der Sache" 60 angeboten habe und zudem „ausgezeichnet durchgebildet" 6 1 sei. Damit ist aber den Privatrechtsbegriffen eine historischpragmatische Situation erschlossen, die ihre Eingliederung i n die Tatbestände des Steuerrechts als bloßen „Notbehelf" 6 2 erscheinen läßt, m i t dem man sich abfinden muß, weil „der Sprache nicht genügend lebende Bezeichnungen zur Verfügung stehen" 63 . Wer diese historische Analyse nachvollzieht, w i r d wohl die privatrechtlichen Begriffsbestimmungen nicht ohne weiteres übernehmen wollen — sofern nicht i m Verstehen andere Faktoren wirksam werden, die zu einem privatrechtlichen Sinnverständnis Anlaß geben. Zu einer Horizonterweiterung kann neben der Aufklärung der historischen Bedingungen auch eine teleologische Analyse beitragen 64 . Die 57 So können etwa die (nicht i m m e r literarisch belegbaren) Interessenkonstellationen zum Zeitpunkt der Gesetzgebung über die w i r k l i c h e n Gründe einer W o r t w a h l Aufschluß geben; vgl. i n diesem Zusammenhang auch Apel, Ideologiekritik S. 40 f. 38 So v o r allem E. Becker StW 1932 Sp. 504; ders. StW 1939 Sp. 751. 59 Ball, Privatrecht S. 125. 60 Ball, Privatrecht S. 118. 61 E. Becker StW 1939 Sp. 751. 62 So ausdrücklich E. Becker StW 1924 Sp. 1028; ders. StW 1932 Sp. 504; ders., Reichsabgabenordnung S. 57; ders. D J Z 1934 Sp. 1107; ders. StW 1939 Sp. 748, 751, 753, 759; ebenso Ball, Privatrecht S. 118. 63 Ball, Privatrecht S. 125. 64 Die teleologische Analyse ist von der Folgenbetrachtung zu unterscheiden. Während die Erforschung des Zwecks auf diejenigen A u s w i r k u n g e n ab-
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
Frage nach dem Zweck („telos") einer rechtlichen Regelung zielt darauf ab, die Rechtssätze unter dem Gesichtspunkt ihrer Eignung als Mittel zum Zweck zu überprüfen 65 . Jeder Zweck erfordert bestimmte Mittel, so daß eine Zweckfeststellung immer auch gewisse Rückschlüsse auf das Instrument zuläßt, dessen Anwendung eine Verwirklichung des jeweiligen Zwecks ermöglichen soll. Wer den Zweck einer rechtlichen Regelung kennt (oder einen solchen unterstellt), w i r d i m Verlauf der Auslegung normalerweise nur solche Sinnbestimmungen ins Auge fassen, die das Gesetz oder den Rechtssatz als ein taugliches M i t t e l der Zweckerfüllung ausweisen. Die teleologischen Erkenntnisse finden insoweit als nützliche Anhaltspunkte bei der Ausbildung der inhaltlichen Vorurteile Verwendung 6 6 . Auch das Verstehen der steuerrechtlichen Tatbestände und ihrer privatrechtlich geprägten Merkmale könnte durch eine Zweckanalyse gefördert werden. Der Zweck der steuergesetzlichen Regelungen bestimmt sich nach der antizipierten Vorstellung von den politischen, ökonomischen oder sonst sozialen Auswirkungen der einzelnen Rechtsnorm 6 7 . Oft genügt eine Pauschaleinschätzung der Zwecke als Anhaltspunkt für die Sinnbestimmung 68 . Fraglich ist nur, auf wessen Zweckvorstellungen es dabei eigentlich ankommt. „Dürfen die Motive des Autors der Regelung, wie sie aus den Gesetzesmaterialien zu rekonstruieren sind, für maßgeblich erachtet werden? Oder allein die aus dem Wortlaut der Regelung ablesbaren Zwecke? Oder dürfen gar zielt, die m i t einer Regelung erreicht werden sollen, befaßt sich die Folgenbetrachtung m i t den tatsächlichen Auswirkungen eines Gesetzes oder einer Rechtsentscheidung. Beide Betrachtungsweisen setzen die Kenntnis sozialer Funktionszusammenhänge voraus u n d werden deshalb oft m i t dem Sammelbegriff „Funktionsanalyse" bezeichnet. 65 Nicht alle Gesetze lassen sich eindeutig m i t einem Zweck verbinden. Nicht selten besteht der Zweck von Bestimmungen i n politisch hart u m kämpften Gesetzen allein darin, „ i m Sinne von Delegationsnormen die E n t scheidung dem Richter anheimzustellen" (Dubischar, Vorstudium S. 99). A u f jeden F a l l sind m i t einer teleologischen Betrachtung stets subjektive öder jedenfalls subjektiv vermittelte Wertungen verbunden; die K r i t e r i e n der Nützlichkeit erlangen Bedeutung; Zweckbetrachtungen i n allen A r t e n des Utilitarismus, Opportunismus u n d Pragmatismus bilden die gedankliche Kulisse; so Dubischar S. 95; Müller, Methodik S. 148. 66 M a n sollte vielleicht hinzufügen, daß die teleologische, aber auch die historische Analyse der vorgreifenden Bewegung der Vorverständnisse i m Gegensatz zur grammatikalischen bzw. logisch-systematischen „Methode" keine textimmanenten, sondern texttranszendente Anhaltspunkte liefert. 67 Vgl. Kruse ÖStZ 1975, 197; Dubischar, Vorstudium S. 95. 68 Dubischar, Vorstudium S. 95. Eine solche Pauschaleinschätzung der steuergesetzlichen Zwecke findet sich z.B. bei Kruse ÖStZ 1975, 198: „Der Zweck der Steuergesetze besteht darin, den K o n f l i k t zu lösen zwischen dem seiner Natur nach unerschöpflichen Finanzbedarf der öffentlichen Hände einerseits u n d dem ebenso natürlichen Interesse des Steuerpflichtigen andererseits, möglichst wenig Steuern zu zahlen."
Β . Privatrechtsbegriffe als Fehlbestimmungen des positiven Rechts
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Zwecke für verbindlich erachtet werden, wie sie derjenige für erstrebenswert hält, der heute mit einer Regelung von gestern zu einem brauchbaren Ergebnis gelangen möchte?" 69 Ob man sich für die eine oder andere Möglichkeit entscheidet, ist für das Verstehen selbst ohne Bedeutung, weil die teleologischen Vorstellungen, die der Interpret möglicherweise ohne Rücksicht auf die Gesetzesmaterialien oder die i n den Rechtstexten enthaltenen Hinweise entwickelt hat, als Element seiner Subjektivität den hermeneutischen Vollzug auch dann beeinflussen, wenn man die Zwecksetzungen der Gesetzesverfasser oder „die aus dem Wortlaut der Regelung ablesbaren Zwecke" für das allein maßgebliche K r i t e r i u m hält 7 0 . A u f die Möglichkeit einer historischen und teleologischen Analyse verweisen auch die traditionellen Auslegungstheorien. Dabei w i r d allerdings verkannt, daß die Erforschung des Zwecks und des geschichtlichen Hintergrundes einer rechtlichen Regelung immer nur eine Horizonterweiterung bewirken kann, deren Auswirkungen auf den Verstehensprozeß nicht vorherzubestimmen ist. Die historischen und teleologischen Erkenntnisse treten stets i n eine Wechselbeziehung zu den sonstigen Kenntnissen und Erkenntnissen, der Interpreten, zu deren Einstellungen, Meinungen, Wertungen und den anderen Momenten der Subjektivität. Welcher dieser Faktoren letztlich einen bestimmenden Einfluß auf den Vorgang der Sinnerkenntnis gewinnt und damit zum ablaufwirksamen Grund („Motiv") des Verstehens wird, das zu bestimmen liegt nicht i n der Hand der Erkenntnissubjekte 71 . W i l l man daher die Funktion der historischen bzw. teleologischen „Methode" richtig einschätzen, so kann man sie nicht als eine Regel begreifen, die das hermeneutische Verfahren anleitet, sondern nur als eine Anweisung oder Aufforderung zur Verbesserung der subjektiven Erkenntnisbedingungen 72 . Was eine solche Verbesserung i m Einzelfall bewirkt, das zeigt sich. B. Privatrechtsbegriffe als Fehlbestimmungen des positiven Rechts Die Bedeutung der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale i m Steuerrecht kann also immer nur von Fall zu Fall und von Zeit zu Zeit ermittelt werden. Es lassen sich keine Regeln aufstellen, die das Verstehen dieser Sprachgebilde anleiten und zu einem vorherbestimmbaren 69
Dubischar, Vorstudium S. 98. Solche Festlegungen sind allenfalls f ü r die abstützende Argumentation bedeutsam, m i t der das Verstehensergebnis nachträglich gerechtfertigt w e r den soll. 71 Das mag erklären, weshalb es bis heute nicht gelungen ist, sich auf eine Rangfolge der methodischen canones zu einigen. Das Verstehen läßt sich eben keine Präferenzregeln aufzwingen. 72 Ä h n l i c h Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 30, 106. 70
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
Ergebnis führen könnten. Ob es i m Vorgang der Sinnerkenntnis zu einer inhaltlichen Kongruenz zwischen dem Steuerrecht und dem Privatrecht kommt, das zeigt sich. Der Interpret muß sich darauf beschränken, immer wieder neu zu verstehen, was die steuerrechtlichen Tatbestände und ihre privatrechtlich geprägten Merkmale be-sagen. Sofern er dabei zu der Einsicht gelangt, daß die privatrechtliche Deutung der Privatrechtsbegriffe das i m Steuerrecht Gemeinte nicht richtig erfaßt, stellt sich für ihn die Frage nach der „rechtlichen Zulässigkeit" einer abweichenden Interpretation. Immerhin haben diese Begriffe auf Grund ihrer Verwendung i m privaten Recht eine bestimmte inhaltliche Prägung erhalten, über die sich ohne besondere Skrupel wohl nur derjenige hinwegzusetzen vermag, der von der mehr oder weniger beliebigen Verwendbarkeit der benutzten Sprachelemente ausgeht. Wer dagegen die Sprache nicht als ein bloßes Zeichensystem begreift, sondern davon ausgeht, daß zwischen der Lautgestalt eines Wortes und seiner Bedeutung eine natürliche oder zumindest konventionelle Beziehung besteht 73 , dem werden Zweifel kommen, ob eine mit dem Kontext und dem zeitlichen Ablauf sich ändernde Auslegung bei unverändertem Wortlaut zulässig ist. I n dieser Situation könnte die Überlegung weiterhelfen, daß es sich bei den abweichend verstandenen Privatrechtsbegriffen möglicherweise u m Fehlbestimmungen des positiven Rechts 74 handelt, deren Berichtigung i n der Auslegung unvermeidlich ist. I. Fehlbestimmungen
in den Tatbeständen des Steuerrechts
Aufgabe der Rechtstexte ist es, der extrapositiven „Sache Recht" einen Ort i n der Sprache zu geben und dadurch den Zugriff auf sie zu erleichtern. Rechtstexte sind immer schon Interpretationen des Rechtlichen, die sprachliche Objektivation einer Rechts-Ansicht des „Gesetzgebers", der sich insoweit von anderen Interpreten nur dadurch unterscheidet, daß i h m eine besondere Autorität zugeschrieben wird 7 5 . „Wer einen Rechtstext versteht, be-greift das jeweilige Rechtsphänömen also immer schon durch die Auslegung einer — zunächst fremden und vorgegebenen — Rechtsansicht hindurch" 7 6 . Dabei besteht nun die Möglichkeit, daß die Rechtsauslegung der Gesetzesverfasser von einem Urteiler, der eine andere Ansicht von der 73
Vgl. dazu die Hinweise oben S. 99 f. Dazu auch Hruschka, Verstehen S. 76 ff. 75 So Hruschka, Verstehen S. 22, 76, 79 N. 6. 76 Hruschka, Verstehen S. 76. Z u r Erläuterung des Begriffs nomen" vgl. nochmals § 3 C. I I . 2. b) c). 74
„Rechtsphä-
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bezeichneten „Sache Recht" gewonnen hat, als unvollkommen empfunden wird, und das „nicht nur, weil der Rechtstext das von i h m angezielte Rechtsphänomen — angesichts der grundsätzlichen Scheidung der positiven und der extrapositiven Sphäre des Rechts — überhaupt nur annäherungsweise i n den Griff bekommen konnte und eben nur eine Ansicht von der jeweiligen Sache vermitteln kann, sondern w e i l der Rechtstext — immer nach der Auffassung des Urteilers — darüber hinaus das fragliche Phänomen i n wichtigen Punkten verfehlt" 7 6 . Zu derartigen Fehlleistungen könnte es auch bei der Formulierung einiger steuerrechtlicher Tatbestände gekommen sein. I n diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage, ob nicht die Verwendung der Privatrechtsbegriffe i n den Tatbeständen des Steuerrechts zu Fehlbestimmungen durch das positive Recht geführt hat. 1. Der rechtliche Gesichtspunkt 77 , den ein Privatrechtsbegriff als Merkmal eines steuerrechtlichen Tatbestandes zur Sprache bringen soll, ist immer nur ein besonderes Moment der übergeordneten Konzeption, die durch den Tatbestand i n seiner Gesamtheit eine sprachliche Gestalt erhält 7 8 . Wenn etwa § 16 Abs. 1 EStG die Voraussetzungen für ein Entstehen der Einkommensteuerpflicht dahingehend bestimmt, daß sich die Lebensverhalte unter dem Gesichtspunkt der Betriebsveräußerung als rechtserheblich erweisen müssen, so besteht die Aufgabe der Tatbestandsmerkmale darin, auf die verschiedenen Einzelmomente des Rechtsphänomens „Betriebsveräußerung" hinzuweisen — beispielsweise auf das Moment der Eigentumsübertragung, das m i t dem Merkmal „Veräußerung" angesprochen werden soll. Diese Verweisungsfunktion w i r d nun von den privatrechtlich geprägten Begriffen i n den einzelnen Steuertatbeständen unterschiedlich gut erfüllt. a) Ein i m Privatrecht gebräuchlicher Ausdruck w i r d der i h m zugedachten Funktion i m Steuerrecht immer (aber auch nur) dann gerecht, wenn sich die durch i h n bezeichnete Konzeption als Einzelmoment ohne weiteres i n die übergeordnete Konzeption einfügt, die der Steuertatbestand meint. Sind die Tatbestände und Tatbestandsmerkmale derart aufeinander eingestimmt, so kann von einer Fehlbestimmung durch das positive Recht keine Rede sein. Einen Privatrechtsbegriff verknüpft der Interpret normalerweise auch i m Steuerrecht zunächst mit dem privatrechtlichen Inhalt, d. h. er geht davon aus, daß dieses Sprachgebilde als Merkmal eines steuerrechtlichen Tatbestandes denselben Einzelgesichtspunkt meint, den es bei seiner 77 Statt „Gesichtspunkt" könnte es auch heißen: rechtliche Hin-Sicht, j u r i stische Konzeption, „Sache Recht", Rechtsphänomen. 78 Vgl. dazu auch Hruschka, Verstehen S. 83, 84.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
Verwendung i m Privatrecht bezeichnen soll. Sofern dieses „privatrechtliche" Vorverständnis eines einzelnen Merkmals dazu führt, daß der Interpret den Tatbestand als Ganzes richtig versteht, w i r d man das privatrechtliche Tatbestandsmerkmal — jedenfalls bei diesem Tatbestand, bei diesem Rechtsfall und bei diesem Interpreten — als zutreffenden Ausdruck des Gemeinten begreifen, denn es verweist den Verstehenden über die (privatrechtliche) Einzelkonzeption auf die (steuerrechtliche) Gesamtkonzeption, die i n der übergeordneten Sinneinheit, dem Tatbestand, ihren sprachlichen Ausdruck findet. Daß ein privatrechtlich geprägtes Merkmal i n den Tatbeständen unterschiedlicher Rechtsgebiete denselben Gesichtspunkt zur Sprache bringt, ist allerdings keineswegs selbstverständlich. A n sich müßte doch ein solches Sprachelement — da es auf die besonderen Momente der „Sache Recht" verweisen soll, die der jeweilige Tatbestand meint — i m Steuerrecht etwas anderes be-deuten als i m Privatrecht, weil auch der steuerrechtliche Tatbestand normalerweise eine andere „Sache Recht" bezeichnet als die Tatbestände des privaten Rechts. Wie kommt es also, daß einem Privatrechtsbegriff dennoch i m Steuerrecht und i m Privatrecht — nach Auffassung der Erkenntnissubjekte — manchmal dieselbe Bedeutung zuzuschreiben ist? Eine Erklärung mag sich daraus ergeben, daß oft erst die Betrachtung der Wirklichkeit unter einem privatrechtlichen Gesichtspunkt den Sachverhalt erkennbar werden läßt, auf den es für die Besteuerung ankommt. Den Steuergesetzen geht es i n erster Linie u m die Erfassung wirtschaftlicher Potenzen 79 . Die wirtschaftliche Bedeutung der sozialen Vorgänge, Zustände und Veranstaltungen resultiert aber i n vielen Fällen gerade daraus, daß ein privatrechtlicher Tatbestand „erfüllt" und eine Rechtsfolge des privaten Rechts ausgelöst wird. So werden bestimmte Lebensverhalte für die Erbschaftsbesteuerung überhaupt nur dadurch interessant, daß sie bürgerlich-rechtlich als „Erbfall" oder als „Schenkungsversprechen von Todes wegen" zu beurteilen sind und deswegen — vor allem i m Hinblick auf die Rechtsfolge des § 1922 Abs. 1 BGB — auch gewisse wirtschaftliche Wirkungen entfalten. Soweit daher die ökonomische Relevanz nur ein Reflex der privatrechtlichen Tatbestandsverwirklichung und Rechtsfolgenanordnung ist, w i r d der Interpret die durch ein Tatbestandsmerkmal benannte privatrechtliche Konzeption als Bestandteil der steuerrechtlichen Konzeption begreifen, die 79
Das erklärt sich aus dem eigentlichen Zweck der Steuern, die Einkünfte von Bund, Ländern u n d Gemeinden zu vermehren. I n letzter Zeit w i r d zwar die Lenkungsfunktion mancher Steuergesetze stärker hervorgehoben; vgl. etwa die Nachweise bei Kruse T K § 1 Rz. 7. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß die Steuergesetzgebung — auch w e n n sie Wirtschafts-, Sozialoder K u l t u r p o l i t i k zu betreiben versucht — v o r allem auf den wirtschaftlichen Aspekt der sozialen Gegebenheiten abstellt.
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der Steuertatbestand als Ganzes anspricht. Er w i r d also z.B. davon ausgehen, daß sich ein Vorgang i n privatrechtlicher Hin-Sicht als „Veräußerung" darstellen muß, wenn die steuerrechtliche Konzeption des § 16 Abs. 1 EStG („Betriebsveräußerung") auf i h n zutreffen soll 80 . Nur weil die privatrechtliche Betrachtung der Wirklichkeit i n diesem Fall zugleich wirtschaftliche Erkenntnisse ermöglicht, kann sie zum Verständnis des steuerrechtlichen Tatbestandes beitragen. Sobald jedoch der privatrechtliche Sachverhalt, der aus einem Lebensverhalt abstrahiert wird, m i t dem für die Besteuerung allein maßgeblichen wirtschaftlichen Sachverhalt nicht mehr übereinstimmt, weil die jeweils benannte Konzeption des privaten Rechts nach Ansicht des Verstehenden nur einen Teil der Vorgänge erfaßt, die für eine Besteuerung i n Frage kommt, w i r d man dem verwendeten Privatrechtsbegriff einen anderen als den privatrechtlichen Gesichtspunkt zuordnen wollen, damit alle relevanten Lebensverhalte ins Blickfeld geraten. b) Solange ein dem Privatrecht entlehnter Ausdruck funktionsgerecht verwendet wird, dürfte es kaum Schwierigkeiten bereiten, das privatrechtsorientierte Vorverständnis eines solchen Tatbestandsmerkmals m i t dem Ganzen des wirklich Gemeinten i n Übereinstimmung zu bringen. Hermeneutische Probleme ergeben sich eigentlich erst dann, wenn das betreffende Sprachelement die von dem steuerrechtlichen Tatbestand angezielte Konzeption i n wichtigen Punkten verfehlt. Derartige Fehlleistungen werden bemerkt, weil sich der bezeichnete (privatrechtliche) Einzelgesichtspunkt i n das Sinnganze des Tatbestandes nicht widerspruchslos einfügt. Unter diesen Umständen kann dem Verstehenden das Gemeinte nur unzureichend vermittelt werden. Der Privatrechtsbegriff erweist sich als eine Fehlbestimmung des positiven Rechts. Jede fehlerhafte Bestimmung der steuerrechtlichen Gesamtkonzeption durch ein privatrechtlich geprägtes Merkmal ist ein Indiz für den prinzipiellen Unterschied zwischen den „Normprogrammen" 8 1 des Steuerrechts und des privaten Rechts. Zwar befassen sich die Tatbestände beider Rechtsgebiete meist mit denselben Vorgängen, Zuständen und Veranstaltungen, d. h. es besteht eine weitgehende Kongruenz der „Normbereiche" 81 . Doch w i r d die Wirklichkeit jeweils unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet 82 . Während sich das Steuerrecht i n der Regel nur für die wirtschaftlichen Auswirkungen bestimmter A b läufe und Gegebenheiten interessiert, liegt der privatrechtlichen Beur80 Inzwischen sollte deutlich geworden sein, daß es sich dabei n u r u m eine Vermutung handeln kann. Ob sich die Interpreten tatsächlich so v e r halten, das zeigt sich. 81 Vgl. dazu den Hinweis i n § 3 N. 160. 82 So auch Eps, Beurteilung S. 47; ähnlich Ball, Privatrecht S. 125.
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teilung die Frage zugrunde, durch welche Mittel diese (oder andere) Wirkungen erzielt worden sind. Dazu ein Beispiel: Ein Geschehen, das sowohl i n § 16 Abs. 1 EStG als auch i n § 932 Abs. 1 Satz 1 BGB als „Veräußerung" beschrieben wird, ist für die Einkommensbesteuerung nur i m Hinblick auf den erzielten Gewinn, also: unter dem Gesichtspunkt seiner wirtschaftlichen Konsequenzen von Bedeutung; demgegenüber stellt die bürgerlich-rechtliche Vorschrift auf die Ursache ab, die den steuerlich relevanten Wirkungen zugrunde liegt, darauf also, daß es sich bei dem beurteilten Vorgang u m eine Eigentumsübertragung handelt. Offenbar findet die Beziehung des Steuerrechts zum Privatrecht ihre Grundlage i n dem Verhältnis von Ursache und W i r k u n g (Mittel und Zweck, Handlung und Erfolg). Wenngleich für die Besteuerung grundsätzlich nur die wirtschaftlichen Auswirkungen der Geschehnisse und Gegebenheiten wesentlich sind, so ist es dennoch nicht i n jedem Fall notwendig, die Wirklichkeit i m Steuerrecht aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten als i m Privatrecht. Denn solange der wirtschaftliche Erfolg, den ein Steuertatbestand zu erfassen sucht, nur m i t den Mitteln und auf den Wegen erreichbar ist, die i n den privatrechtlichen Tatbeständen und Tatbestandsmerkmalen beschrieben werden 83 , stimmen die unter dem privatrechtlichen Gesichtspunkt gesehenen Ereignisse und Zustände ( = die privatrechtlichen Sachverhalte) stets m i t den wirtschaftlichen bzw. steuerrechtlichen Sachverhalten überein ( = den unter dem Gesichtspunkt ihrer wirtschaftlichen Wirkung betrachteten Lebensverhalten). Die steuerrechtliche Relevanz der Fakten ergibt sich insoweit als Reflex aus der Verwirklichung der privatrechtlichen Konzeption 84 . Wenn unter dieser Voraussetzung i n einem Tatbestand des Steuerrechts privatrechtlich geprägte Begriffe eingegliedert werden, erreicht man denselben Erfolg, der sonst nur durch die Verwendung „Steuerrechtlicher Wirtschaftsbegriffe" 85 zu erzielen ist: Der Rechtstext rückt trotz (oder gerade wegen) der privatrechtlichen Prägung einzelner Ausdrücke genau die Vorgänge, Zustände und Veranstaltungen i n das Blickfeld der Interpreten, auf die es für die Besteuerung ankommt. Vielfach können jedoch die für das Steuerrecht maßgebenden W i r kungen durch unterschiedliche Gestaltungen herbeigeführt werden, so 83 Dabei ist ζ. B. an den F a l l gedacht, daß die wirtschaftliche Stellung eines Eigentümers n u r durch eine bürgerlich-rechtliche Eigentumsübertragung erlangt werden kann. 84 A u f diesen Zusammenhang wurde bereits oben unter 1. a) hingewiesen; vgl. auch Papier, Demokratieprinzip S. 183. 85 D a m i t sollen i m vorliegenden Zusammenhang diejenigen Merkmale eines steuerrechtlichen Tatbestandes gekennzeichnet sein, die den Interpreten — i m Gegensatz zu den Privatrechtsbegriffen — auf eine steuerrechtliche („wirtschaftliche") Konzeption verweisen.
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daß ein Steuertatbestand, der durch die verwendeten Privatrechtsbegriffe auf nur eine der jeweils i n Frage kommenden Ursachen festgelegt ist, nicht alle Geschehnisse und Gegebenheiten erfassen kann, die sich unter dem Gesichtspunkt ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen als gleich oder vergleichbar erweisen und deshalb an sich zu besteuern wären 8 8 . Umgekehrt erzielen die Maßnahmen, die sich unter privatrechtlichen Gesichtspunkten als „der gleiche Vorgang" darstellen, oft unterschiedliche Wirkungen, so daß ein steuerrechtlicher Tatbestand — gemessen an dem wirtschaftlichen Erfolg, auf den es i h m ankommt — möglicherweise ungerechtfertigte Gleichstellungen vornimmt, wenn er nicht auf den konkreten Erfolg, sondern statt dessen auf die privatrechtliche Gestaltung abstellt. So w i r d beispielsweise nicht nur durch die Ubereignung i m bürgerlich-rechtlichen Sinne, sondern auch durch die Abtretung von Forderungen oder eine Übertragung von Sachen unter Eigentumsvorbehalt eine wirtschaftliche Wirkung erzielt, die eine Haftung gemäß § 75 Abs. 1 AO begründet 87 . Der Privatrechtsbegriff „übereignet" nennt insoweit nur eine von mehreren denkbaren Ursachen, wobei nicht einmal gesagt ist, daß die privatrechtliche Übereignung auch tatsächlich immer den Erfolg herbeiführt, auf den es bei § 75 Abs. 1 AO ankommt. Das zeigt sich bei der Übereignung zu Sicherungszwecken, die dem Erwerber nicht die wirtschaftliche Position verschafft, die eine Haftung für Steuerschulden rechtfertigen könnte 88 . I n diesem Fall ermöglicht also die privatrechtliche Konzeption, auf die das Merkmal „übereignet" verweist, nicht die Konstitution der wirtschaftlichen Sachverhalte, wie sie dem Tatbestand des § 75 Abs. 1 AO eigentlich zuzuordnen wären. Daran zeigt sich, daß die privatrechtliche Betrachtungsweise eine eigenständige steuerrechtliche Beurteilung der Wirklichkeit oft kaum zu ersetzen vermag. Ein privatrechtlich geprägter Begriff, der i n einem Steuertatbestand Verwendung gefunden hat, kann die i h m zugedachte Aufgabe jedenfalls nicht erfüllen, solange er den Interpreten auf einen privatrechtlichen Gesichtspunkt verweist, obwohl unter den gegebenen Umständen nur eine an den wirtschaftlichen Auswirkungen der Geschehnisse und Zustände orientierte Betrachtungsweise der i m Tatbestand benannten „Sache Recht" angemessen wäre. Deshalb müßte der grundlegende Unterschied zwischen den „Normprogrammen" des Steuerrechts und des Privatrechts zumindest dort i n der Verwendung „steuerrechtlicher Wirtschaftsbegriffe" einen entsprechenden Ausdruck finden, 86
Ä h n l i c h Eps, Beurteilung S. 48. Z u r Klarstellung: Auch diese Feststellung k a n n sich nicht auf einen irgendwie feststehenden Sinn des § 75 Abs. 1 A O stützen, sondern n u r auf eine (allerdings weitverbreitete) Ansicht v o n der „Sache Recht", die § 75 Abs. 1 A O meint. 88 So jedenfalls R F H RStBl. 1935, 1354; B F H BStBl. 1962, 455; 1967, 684. 87
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§5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
wo der privatrechtliche mit dem steuerrechtlichen „Normbereich" nicht mehr zur Deckung gebracht werden kann, weil i n privatrechtlicher HinSicht entweder Dinge rechtserheblich sind, auf die es für die Besteuerung nicht ankommt, oder weil die privatrechtliche Konzeption bestimmte Vorgänge, Zustände und Veranstaltungen, die sich unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten als wesentlich erweisen, gar nicht erst sichtbar werden läßt. Die i n vielen Bereichen des Steuerrechts notwendige „wirtschaftliche Betrachtungsweise", die auf eine Beurteilung der Lebens verhalte unter dem Gesichtspunkt ihrer wirtschaftlichen Wirkung abzielt, steht den Interpreten nicht einfach als eine Methode zur Verfügung. Ob der W i r k lichkeitsbetrachtung eine privatrechtliche oder eine wirtschaftliche bzw. steuerrechtliche Konzeption zugrunde liegt, steht grundsätzlich nicht zur Disposition der Erkenntnissubjekte, sondern bestimmt sich danach, was i m Einzelfall hermeneutisch notwendig ist 8 9 . Was das bedeutet, zeigt sich gerade am Beispiel der Privatrechtsbegriffe. Diese Sprachgebilde w i r d man normalerweise als Auslegungen eines privatrechtlichen Gesichtspunktes begreifen; das hermeneutische Verfahren w i r d den Verstehenden zu einer privatrechtlichen Betrachtungsweise veranlassen. Und solange die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Beurteilung der Fakten hermeneutisch nicht erwiesen ist, fehlt jeglicher Anstoß zu einer Änderung dieser Betrachtungsweise. Einen solchen Anstoß erhält der Interpret nur dann, wenn er bei einem weiteren Eindringen i n den Rechtstext erkennt, daß i n privatrechtlicher Hin-Sicht nicht die Dinge sichtbar werden, die der Text als Ganzes vor Augen führen w i l l , daß sich also die Konzeption, die der privatrechtlich geprägte Ausdruck benennt, mit der durch den Steuertatbestand zur Sprache gebrachten Konzeption nicht i n Einklang bringen läßt. I n einem solchen Fall w i r d der Privatrechtsbegriff seiner Verweisungsfunktion nicht gerecht, weil er kein besonderes Einzelmoment der steuerrechtlichen Gesamtkonzeption bezeichnet bzw. einen Einzelgesichtspunkt meint, der sich i n das Sinnganze des Tatbestandes nicht widerspruchslos einfügt. Aus dieser Fehlbestimmung des Gemeinten resultiert eine gewisse Irreführung des Erkennenden: Statt die Lebensverhalte von vornherein unter dem Gesichtspunkt ihrer wirtschaftlichen Wirkungen zu betrachten, fragt er zunächst nach den Ursachen, u m erst später zu merken, daß dabei die steuerlich relevanten Fakten gar nicht oder nur unzureichend erfaßt werden. Bedeutet es nun aber nicht „ein Armutszeugnis sondergleichen für den Gesetzgeber" 90 , wenn man davon ausgeht, daß seine sprachlichen 89 Insoweit besteht keinerlei Unterschied zwischen der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" u n d den anderen „Methoden" der Auslegung. 90 Lion VJSchrStuFR 1927, 134.
Β . Privatrechtsbegriffe als Fehlbestimmungen des positiven Rechts
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Auslegungen die angezielten Rechtsphänomene vielfach i n wichtigen Punkten verfehlen? Diese Frage mag man zwar stellen, ihre Beantwortung bringt jedoch kaum etwas ein. Tatsache ist, daß die geprägten Begriffe des privaten Rechts so manchen Interpreten i n eine hermeneutische Notlage bringen, weil sie die Sinnerwartungen nicht erfüllen, die der steuerrechtliche Tatbestand geweckt hat, bzw. weil sie Sinnerwartungen wecken, die der steuerrechtliche Tatbestand i n seiner Gesamtheit nicht erfüllt. Auch die Autorität eines „Gesetzgebers" kann solche Fehlleistungen nicht aus der Welt schaffen. Wie aber konnte es zu derartigen Fehlbestimmungen durch das positive Recht kommen? I n der steuerrechtlichen Literatur verweisen manche Autoren auf die erschwerten sprachlichen Bedingungen, unter denen die Tatbestände der meisten Steuergesetze formuliert werden mußten 91 . Die wirtschaftlichen Wirkungen, an die das Steuerrecht eigentlich anknüpfen w i l l , sind wesentlich schwerer zu beschreiben als die Ursachen, die solche Wirkungen hervorzurufen pflegen. Wann jemand i n der Lage ist, w i r t schaftlich wie ein Eigentümer über ein Unternehmen zu verfügen, kann sprachlich nicht so leicht erfaßt werden wie ζ. B. die Übertragung von Eigentum an beweglichen Sachen, die i n dem Wort „Ubereignung" einen angemessenen sprachlichen Ausdruck findet. Das mag erklären, weshalb die Gesetzesverfasser i n § 75 Abs. 1 AO das Merkmal „übereignet" verwendet haben, obwohl nicht die Eigentumsübertragung, sondern der wirtschaftliche Erfolg gemeint ist, der auch (aber eben nicht nur) durch die bürgerlich-rechtliche Übereignung zu erzielen ist. Ein anderer Grund für die fehlerhafte Verwendung der privatrechtlich geprägten Merkmale w i r d darin zu sehen sein, daß die an der Gesetzgebung Beteiligten tatsächlich geglaubt haben, die für die Besteuerung erheblichen Wirkungen könnten nur mit den Mitteln herbeigeführt werden, die der jeweils verwendete Privatrechtsbegriff zur Sprache bringt. Meist gibt es aber für die Betroffenen mehrere Wege, ihr Ziel zu erreichen, und nicht alle Maßnahmen, durch die man einer Besteuerung zu entgehen versucht, sind so ungewöhnlich oder unangemessen, daß sie als Steuerumgehung (§ 42 AO) erfaßt werden können. Wachsende steuerliche Belastungen machen erfinderisch, so daß sich der Versuch, einen wirtschaftlichen Erfolg über seine Ursachen zu erfassen, i n vielen Fällen als ein hoffnungsloses Unterfangen darstellt. Der „Gesetzgeber" hat bei der Verwendung der Privatrechtsbegriffe nicht immer bedacht, daß der Hinweis auf einen privatrechtlichen Ge91
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Nachweise oben N. 58 ff.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
sichtspunkt oft nicht ausreicht, u m alle steuererheblichen Geschehnisse und Gegebenheiten ins Blickfeld der Interpreten zu rücken 92 . Eine zureichende Beschreibung der gemeinten Rechtsphänomene durch die Tatbestände des Steuerrechts und ihre privatrechtlichen Merkmale scheitert schließlich i n manchen Fällen einfach an der „inneren Begrenztheit einer jeden Auslegung" 9 3 . Die Sprache w i r d das, was sie be-sagen w i l l , immer nur verkürzt wiedergeben können. Daher ist längst nicht jede widersprüchliche Auslegung des eindeutig Erkannten ein vermeidbares Mißgeschick. Die Grenze zwischen der Mangelhaftigkeit einer Auslegung und ihrer notwendigen inneren Begrenztheit läßt sich allerdings nicht ohne weiteres ziehen. Jedenfalls w i r d man aber eine Fehlbestimmung durch die Privatrechtsbegriffe dem „Gesetzgeber" immer dann als wirkliche Fehlleistung anrechnen müssen, wenn sich die einzelnen Momente der steuerrechtlichen Gesamtkonzeption „widerspruchsfrei i n die Sprache einfangen lassen, ohne daß der zugrunde gelegte Rechtstext das gleichfalls t u t " 9 3 . 2. Die erkennbaren Fehlinterpretationen werden von Hruschka 94, i n drei Gruppen eingeteilt. Er unterscheidet ganz allgemein zwischen einer Überbestimmung, einer Unterbestimmung und einer gänzlichen Fehlbestimmung der Rechtsphänomene durch das positive Recht. Wer diese Einteilung akzeptiert, w i r d die Privatrechtsbegriffe — sofern sie ihre Verweisungsfunktion unzureichend erfüllen — entweder als überbestimmende oder als unterbestimmende Teilauslegungen der „Sache Recht" begreifen, die der Tatbestand i n seiner Gesamtheit zur Sprache bringt. Daß ein privatrechtlich geprägter Ausdruck das angezielte Phänomen gänzlich fehlbestimmt, ist dagegen kaum denkbar. Eine Überbestimmung des Gemeinten liegt immer dann vor, wenn die mit dem Gesamttatbestand genannte steuerrechtliche Konzeption durch die verwendeten Tatbestandsmerkmale des privaten Rechts zwar getroffen, aber nicht i n ihrer ganzen Breite erfaßt wird. Beispielhaft ist insoweit der Ausdruck „Veräußerung" i n § 23 Abs. 1 EStG. Legt man die heute herrschende Anschauung des Spekulationsgeschäftphänomens zugrunde 95 , so hängt die Erfüllung des Steuertatbestandes nur aus92
Engisch (Einführung S. 173) spricht insoweit von einem „ M o t i v i r r t u m " der Gesetzesverfasser; ebenso Sax, Analogieverbot S. 85. 93 Hruschka, Verstehen S. 77. 94 Verstehen S. 77 ff. 95 Dazu R F H RStBl. 1928, 180; 1930, 330; 1933, 477; 1933, 424; B F H BStBl. 1962, 127; H F R 1964, 157; D B 1965, 1309; BStBl. 1967, 73; 1967, 390; 1968, 142; 1970, 806; 1972, 452; B F H E 112, 31; F G Rheinland-Pfalz E F G 1959, 49; F G Nürnberg EFG 1961, 494; F G Karlsruhe EFG 1961, 300; Niedersächsisches F G EFG 1962, 256; F G Düsseldorf EFG 1962, 153; F G Baden-Württemberg E F G 1967, 125; vgl. auch Herrmann/Heuer, Kommentar § 23 EStG Rz. 4—5 (E 7 f.); Littmann, Kommentar §§ 22, 23 Rz. 51.
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nahmsweise davon ab, daß die erworbenen Wirtschaftsgüter innerhalb der genannten Fristen bürgerlich-rechtlich wirksam weiterveräußert werden. Entscheidend ist, ab wann der Spekulant eine Sache auf Grund der rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse nicht mehr „an der Hand" hat. Das ist regelmäßig bereits mit dem Abschluß des Verpflichtungsgeschäfts der Fall, so daß die Veräußerung i. S. d. Bürgerlichen Rechts als maßgebender Zeitpunkt nur dann i n Betracht kommt, wenn die Beteiligten das dingliche Rechtsgeschäft schon vor Abschluß oder Wirksamwerden des obligatorischen 'Geschäfts vollziehen. Wollte man sich daher an dem privatrechtlichen Gesichtspunkt der Veräußerung orientieren, so könnte man immer nur einen Teil der Lebensverhalte erkennen, die den „Normbereich" des § 23 Abs. 1 EStG bilden. Diese Verengung des Blickfeldes ist die unmittelbare Folge einer überbestimmenden Auslegung: Der Privatrechtsbegriff „Veräußerung" schneidet aus dem Einzelmoment der übergeordneten „Sache Recht", das er von seiner semantisch-syntaktischen Funktion her an sich zu bezeichnen hätte, nur einen kleinen Teil heraus, und dadurch w i r d von dem angezielten Rechtsphänomen selbst ebenfalls nur ein Teil erkennbar. U m die Konzeption „Spekulationsgeschäft" vollständig und widerspruchsfrei i n die Sprache auszulegen, hätte es eines Ausdrucks bedurft, der auf einen steuerrechtlichen Gesichtspunkt verweist und den Interpreten von vornherein zu einer Betrachtungsweise veranlaßt, die auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Vorgänge abstellt. Das Merkmal „Veräußerung" ist jedenfalls zu eng, denn es nennt zwar eine Ursache für diese Wirkungen, aber eben nur eine von mehreren denkbaren Ursachen. Sofern die privatrechtlich geprägten Tatbestandsmerkmale das steuerrechtliche Phänomen, das der Tatbestand i n seiner Gesamtheit benennt, nicht präzise genug beschreiben, weil sie zu weit gefaßt sind, kann man von einer Unterbestimmung sprechen. Ein Beispiel für eine unterbestimmende Auslegung bietet das Merkmal „Gegenstand" i n § 3 Abs. 1 UStG. Wenngleich dieses Wort seiner privatrechtlichen Bedeutung entsprechend die Sachen und Rechte erfaßt, ist nach allgemeiner Auffassung 96 nur die Verschaffung der Verfügungsmacht an körperlichen Gegenständen, den Sachen i. S. d. § 90 BGB, der Umsatzbesteuerung unterworfen. Wer daher seiner Wirklichkeitsbetrachtung den privatrechtlichen Gesichtspunkt zugrunde legt, den der Ausdruck „Gegenstand" nun einmal bezeichnet, erfaßt bei der Interpretation des § 3 Abs. 1 UStG auch solche Vorgänge und Veranstaltungen, die außerhalb des „Normbereichs" dieser Vorschrift liegen. Die steuerrechtliche Gesamtkonzeption w i r d durch den verwendeten Privatrechtsbegriff zwar getroffen, aber dennoch fehlerhaft bestimmt, weil „Gegenstand" über diese Kon96
Nachweise oben § 1 N. 10 ff.
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zeption noch hinausverweist und damit eine unangemessene Ausweitung der tatbestandlichen Bedeutung bewirkt. Daher bedarf das, was mit „Gegenstand" nur ungenau bezeichnet wird, i m Einzelfall der Präzisierung mittels einer eigenständigen steuerrechtlichen Bestimmung. Dasselbe privatrechtliche Tatbestandsmerkmal kann ein Rechtsphänomen überbestimmen und zugleich eine unterbestimmende Teilauslegung eben dieses steuerrechtlichen Phänomens sein. Insoweit ist wiederum auf das Beispiel „übereignet" i n § 75 Abs. 1 AO zu verweisen. Nach herrschender Anschauung 97 ist der Übereignungsgesichtspunkt einerseits zu eng, weil nicht nur bei der bürgerlich-rechtlichen Übereignung, sondern darüber hinaus bei der Übertragung von Sachen unter Eigentumsvorbehalt eine Haftung des Erwerbers begründet erscheint; andererseits ist die privatrechtliche Konzeption aber auch zu weit, weil sie die Eigentumsübertragung zu Sicherungszwecken erfaßt, obwohl ein solcher Vorgang noch keine Haftung nach § 75 Abs. 1 AO eintreten läßt. Die privatrechtliche Betrachtungsweise führt somit, je nachdem welcher Lebensverhalt gerade zu beurteilen ist, entweder zu einer Überdehnung oder zu einer kaum gerechtfertigten Einengung des „Normbereichs". Offenbar entspricht der steuerrechtlichen Gesamtkonzeption des § 75 Abs. 1 AO nur eine Betrachtungsweise, die sich an dem (vielfach auch, aber nicht nur durch die privatrechtliche Übereignung erreichbaren) wirtschaftlichen Erfolg der Geschehnisse orientiert. Wenn m i t dem Merkmal „übereignet" dennoch auf einen privatrechtlichen Gesichtspunkt verwiesen wird, so liegt darin i n zweifacher Hinsicht eine Fehlbestimmung des Gemeinten durch das positive Recht. Der privatrechtliche Gesichtspunkt, den die i m Steuerrecht verwendeten Privatrechtsbegriffe benennen, rückt allerdings auch dann, wenn er sich nicht widerspruchsfrei i n das Sinnganze des steuerrechtlichen Tatbestandes einordnen läßt, zumindest einen Teil der zum jeweiligen „Normbereich" gehörenden Lebens verhalte i n das Blickfeld des Interpreten. Daher bieten die fehlbestimmenden Merkmale des privaten Rechts trotz aller Mängel immer noch eine gewisse Hilfestellung bei der Bestimmung der Rechtsphänomene, auf die es für die Besteuerung ankommt. Die Ursache, die ein privatrechtliches Tatbestandsmerkmal bezeichnet, läßt stets gewisse Rückschlüsse auf die Wirkung zu, die der Steuertatbestand i n seiner Gesamtheit meint. Und weil die spezifische Fehlleistung der privatrechtlich geprägten Ausdrücke eigentlich immer darin besteht, daß sie auch dort auf die Ursache (das Mittel) abstellen, wo an sich die Wirkung (der Zweck) zu nennen wäre, liegen sie niemals gänzlich neben der Sache, d.h. sie lenken den Blick nicht auf einen 97
Vgl. die Nachweise oben § 1 N. 27 ff.
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Komplex von Lebensverhalten, der m i t dem tatsächlichen „Normbereich" i n keinem Punkt übereinstimmt 9 8 . 3. Obwohl einige Privatrechtsbegriffe ihre Verweisungsfunktion nur unzureichend erfüllen, ist es nicht etwa so, daß die steuerrechtlichen Phänomene, auf deren besondere Momente die privatrechtlichen Sprachgebilde eigentlich hinweisen sollen, deswegen völlig unbemerkt bleiben müßten. Irgendwie erreicht ein Steuertatbestand — auch wenn seine Merkmale das Gemeinte teilweise fehlerhaft bestimmen — das angezielte Rechtsphänomen doch immer, nur eben so mangelhaft, daß die Fehlleistung auffällt 9 9 . Wie ist so etwas möglich? Was sich hier bemerkbar macht, ist der Unterschied zwischen dem Ganzen und der Summe seiner Teile, genauer: zwischen dem Sinn eines Tatbestandes und der Kombination des Sinnes seiner Merkmale 1 0 0 . Jeder Tatbestand ist eine selbständige Sinneinheit. Er hat seine eigene Bedeutung und steht den Tatbestandsmerkmalen insoweit gleichgewichtig gegenüber 101 . Daher darf der Sinn eines Steuertatbestandes mit der bloßen Addition der Gliedbedeutungen nicht verwechselt oder gleichgesetzt werden. Es ist durchaus denkbar, daß ein steuerrechtlicher Text mit seinem Gefügesinn die gemeinte Konzeption erreicht, daß er jedoch i n der Explikation dieser Konzeption, d.h. m i t dem Sinn der sie i m Detail zur Sprache bringenden Einzelwörter hinter dieser Leistung zurückbleibt, weil die Bestandteile des Rechtstextes (insbesondere die Sprachelemente m i t einer privatrechtlichen Prägung) die besonderen Momente des Sinnganzen „zwar treffen, dabei aber entweder noch andere Momente mitbezeichnen, die dem jeweiligen Phänomen nicht zugeordnet werden können (worin eine Unterbestimmung liegt), oder aber einige Momente des Phänomens ausschließen (worin eine Überbestimmung liegt)" 1 0 2 . Wenn die Relation zwischen dem tatbestandlichen Ganzen und den Einzelgliedern derart gestört ist, w i r d der betreffende Tatbestand, da er einerseits einen Blick auf seine Gesamtkonzeption 98 Daß auch solche Fehlbestimmungen durch das positive Recht grundsätzlich möglich sind, zeigte sich bei § 1 Abs. 3 StAnpG. Was der Interpret auf Grund der Fehlbestimmung „Tatbeständen" zunächst als Signifikat erkannte, w a r vollkommen verschieden von dem gewollten Bezug dieser V o r schrift. Die gemeinte Konzeption wurde nicht n u r i n wichtigen Punkten, sondern gänzlich verfehlt, so daß sie n u r noch aus dem Zusammenhang des § 1 Abs. 2 m i t Abs. 3 StAnpG begreifbar war. 99 Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 77: Die grundsätzliche Erkennbarkeit des Phänomens sei sogar die notwendige Voraussetzung f ü r die Erkennbarkeit von Deutungen als Fehldeutungen. 100 Dazu Hruschka, Verstehen S. 83 f. 101 Entsprechendes gilt f ü r das Rechtssatzsystem, i n das der Tatbestand m i t seinen Merkmalen eingegliedert ist; vgl. Hassemer, Tatbestand S. 92. 1 0 2 Hruschka, Verstehen S. 83.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
vermittelt, andererseits aber keine inhaltlich befriedigende Explikation dieser Konzeption liefert, durch seinen Gliedsinn die Erwartungen enttäuschen, die er mit seinem Gefügesinn geweckt hat. Einzelne Merkmale erweisen sich als positiv-rechtliche Fehlbestimmungen des extrapositiven Rechtsphänomens, w e i l „die Verwiesenheit sich nicht realisiert" 1 0 3 . Daß ein Steuertatbestand als Ganzes auch dann auf die von i h m angezielte Konzeption verweist, wenn die privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale das Gemeinte i n wichtigen Punkten verfehlen, läßt die Unterscheidung zwischen dem Gefügesinn und dem Gliedsinn und die darauf sich stützende Bewertung mancher Privatrechtsbegriffe als Fehlbestimmungen keineswegs bedeutungslos werden. „Denn es genügt ja nicht, daß ein Rechtstext auf die intendierte Sache hinweist, er muß sie u m seiner hermeneutischen Funktion w i l l e n auch genauer zur Sprache bringen, d. h. ihr auf der Ebene der Positivität die notwendigen Konturen verschaffen" 104 . Dazu ist es notwendig, die fehlbestimmenden Merkmale des privaten Rechts durch „steuerrechtliche Wirtschaftsbegriffe" zu ersetzen 105 . Je genauer die steuerrechtlichen Phänomene expliziert werden, desto größer ist die Chance, das jeweilige Rechtsphänomen auch wirklich i n den Griff zu bekommen 106 . II.
Lösungsmöglichkeiten
Wenn ein Privatrechtsbegriff, der i n einem Tatbestand des Steuerrechts Verwendung gefunden hat, die steuerrechtliche Gesamtkonzeption fehlerhaft bestimmt, so kann sich der rechtsanwendende Interpret nicht darauf beschränken, diesen Verhalt zu konstatieren. Ein Richter muß konkrete Konfliktsituationen nach rechtlichen Maßstäben regulieren und hat deshalb ein praktisches Interesse an der Realisierung der Regelungsmöglichkeit, die als Rechtsfolge m i t dem betreffenden Steuertatbestand verbunden ist. Er w i r d also danach fragen, wie er der fehlbestimmten „Sache Recht" trotz ihrer mangelhaften sprachlichen Auslegung durch den „Gesetzgeber" zur Geltung verhelfen kann. 1. Als Ausweg aus der hermeneutischen Notlage, i n die der Verstehende durch eine Fehlbestimmung gebracht wird, bietet sich eine erneute Auslegung des gemeinten, i m Tatbestand aber fehlerhaft zur Sprache gebrachten Rechtsphänomens an. „Es ist evident, daß sich die 103
Hassemer, Tatbestand S. 91/92. Hruschka, Verstehen S. 82. 105 Das k a n n selbstverständlich n u r durch den „Gesetzgeber" geschehen, da es hierbei nicht mehr u m Fragen der Interpretation, sondern u m k o n krete Veränderungen am Text geht. 106 Ebenso Hruschka, Verstehen S. 82/83. 104
Β . Privatrechtsbegriffe als Fehlbestimmungen des positiven Rechts
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Auslegung dabei nur an dem vom Text intendierten Phänomen und nicht an dem als mangelhaft erkannten Text selbst orientieren kann, zumal eine ,Auslegung des Textes', der ja als mangelhaft vorausgesetzt wird, dem Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen vergleichbar wäre, der sich an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpf herauszieht" 107 . Der Interpret kann dem fehlerhaften Rechtstext lediglich zu Hilfe kommen, indem er das angesprochene Phänomen, das der „Gesetzgeber" nicht i n einem ausreichenden Maße ausgelegt, d. h. zur Sprache gebracht hat, erneut i n der Sprache auseinanderlegt. Eine solche Hilfestellung ist keineswegs ungewöhnlich. Jede sprachliche Objektivation erreicht das von ihr angezielte Phänomen immer nur annäherungsweise. Denn einerseits können die Tatbestände und Tatbestandsmerkmale lediglich eine An-Sicht von der jeweiligen „Sache Recht" vermitteln; andere „Rechtsansichten" sind denkbar 108 . Andererseits sind den gesetzlichen Positivierungen durch die Sprache und die sprachlichen Fähigkeiten der Gesetzesverfasser von vornherein Grenzen gesetzt 109 . Demnach bleiben alle Rechtsphänomene „stets auslegungsbedürftig, selbst wenn sie schon sehr oft ausgelegt worden sind, w e i l die Arbeit an ihren Konturen nie zu Ende kommt" 1 1 0 . Die immer wieder notwendig werdende Neuinterpretation ist allerdings unproblematisch, solange kein Widerspruch zu dem maßgeblichen Rechtstext entsteht. Probleme ergeben sich eigentlich erst dann, wenn der Interpret glaubt, diesem Text und der darin zum Ausdruck gebrachten Rechtsansicht des „Gesetzgebers" widersprechen zu müssen, weil nach seiner Ansicht von dem angezielten Rechtsphänomen eine Fehlbestimmung des Gemeinten vorliegt. Was bei einer Fehlbestimmung i n Frage steht, ist nicht die Notwendigkeit einer korrigierenden Auslegung, sondern allein deren „rechtliche Zulässigkeit". Wer erst einmal erkannt hat, daß ein privatrechtliches Tatbestandsmerkmal die steuerrechtliche Gesamtkonzeption i n wichtigen Punkten verfehlt, der w i r d auch bemerken, daß die V e r w i r k lichung der intendierten Konzeption vielfach ein Hinweggehen über den privatrechtlichen Einzelgliedsinn erfordert und dann notwendigerweise m i t einer Abweichung von der als fehlerhaft vorausgesetzten Interpretation der Gesetzesverfasser verbunden ist. Als Alternative verbleibt nur die Hinnahme eines textimmanenten Widerspruchs und damit 107
Hruschka, Verstehen S. 85/86. Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 22, 67, 76. 109 Die „innere Begrenztheit einer jeden Auslegung" hat schon E. Becker bemerkt. Er betont, „daß auch die beste Formulierung das Wesen der Sache n u r unzureichend, oft entstellt u n d verzerrt wiedergibt" (Reichsabgabenordnung S. 51). 110 Hruschka, Verstehen S. 86 f. 108
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
letztlich einer Sinnlosigkeit des betreffenden Tatbestandes. Sofern daher der rechtsanwendende Interpret überhaupt noch voraussetzt, daß der Steuertatbestand als Ganzes einen Sinn hat, muß er von dem i m Textgefüge insgesamt angesprochenen steuerrechtlichen Phänomen ausgehen und sich über den abweichenden Sinn der verwendeten Privatrechtsbegriffe hinwegsetzen 111 . Damit kommt es aber zu einer korrigierenden Auslegung. Der als maßgeblich vorausgesetzte Rechtstext erfährt eine inhaltliche Richtigstellung: Dem fehlbestimmenden Merkmal eines steuerrechtlichen Tatbestandes w i r d statt des alten nunmehr ein neuer engerer oder ein neuer zusätzlicher und damit insgesamt weiterer Sinn zugeschrieben; die betreffenden Privatrechtsbegriffe „werden aus teleologischen Gründen, d. h. vom Ziel her, das dem Sinn der Einzelglieder durch den Gefügesinn des Textzusammenhangs gesetzt ist, i n ihrem Sinn entweder reduziert, wenn sie eine Unterbestimmung enthalten, oder traduziert, wenn i n ihnen eine Überbestimmung liegt" 1 1 0 . Solche teleologischen Reduktionen 112 oder Traduktionen 1 1 3 sind das erkennbare Ergebnis einer Modifikation der ursprünglichen, an der privatrechtlichen Bedeutung orientierten Vor V e r s t ä n d n i s s e , die sich mit der zutreffenden Erfassung des Gefügesinns ohne weiteres vollzieht 1 1 4 . 2. Bei einer Fehlbestimmung des übergeordneten Rechtsphänomens durch die privatrechtlichen Merkmale eines Steuertatbestandes bleibt man somit stets auf eine Auslegung angewiesen. Offenbar hält man aber i n der steuerrechtlichen Literatur und Rechtsprechung eine Auslegung, die sich nur an dem vom Tatbestand intendierten Phänomen und nicht an dem als mangelhaft erkannten privatrechtlichen Ausdruck orientiert, für unzulässig. Jedenfalls fehlt es nicht an Versuchen, das Problem der Privatrechtsbegriffe auf andere Weise zu lösen 115 . Dabei zeigt sich allerdings, daß die „Anwendung" steuerrechtlicher „Sondermethoden", auf die solche Versuche letztlich hinauslaufen, doch immer nur eine korrigierende, von der gesetzlichen Fehldeutung abweichende Auslegung 111
Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 86 f. Z u der üblichen Deutung dieses Begriffs vgl. Larenz, Methodenlehre S. 377 ff. 113 Einzelheiten dazu bei Hruschka, Verstehen S. 87 N. 22. 114 Z u r Klarstellung: Die revidierte bzw. modifizierte privatrechtliche V o r meinung w i r d niemals endgültig, sondern immer n u r solange verdrängt, wie der Interpret den privatrechtlich geprägten Ausdruck als unselbständigen T e i l des Ganzen zu verstehen sucht. W i r d dagegen ein Privatrechtsbegriff f ü r sich betrachtet u n d der Gliedsinn isoliert v o m Gefüge erfaßt, so stellt sich auch das privatrechtliche Vorverständnis wieder ein. N u r so k a n n es überhaupt zu einem Gegensatz zwischen dem (steuerrechtlichen) Gefügesinn u n d dem (privatrechtlichen) Gliedsinn kommen. 115 Dazu bereits oben § 1 B. I I I . 2. u n d 3. 112
Β . Privatrechtsbegriffe als Fehlbestimmungen des positiven Rechts
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derjenigen steuerrechtlichen Konzeption ist, die das tatbestandliche Gefüge zur Erkenntnis bringt. a) Vielfach glaubt man, durch eine vom jeweiligen Steuertatbestand gelöste „Beurteilung der Sachverhalte" eine Interpretation vermeiden zu können, die sich über die i n dem mangelhaften Text zum Ausdruck gebrachte Rechtsansicht der Gesetzesverfasser hinwegsetzt. Die Mängel der fehlbestimmenden Tatbestandsmerkmale des privaten Rechts sollen in einem methodischen Verfahren ausgeglichen werden, das unabhängig von den hermeneutischen Vorgängen mittels einer „wirtschaftlichen Betrachtungsweise" aus den Lebens verhalten den „wirtschaftlichen Kern" herausschält und sich nicht u m die „äußere Form, die Aufmachung, Einkleidung, Zurechtstellung, Verkleidung und Maskierung" der realen Geschehnisse und Gegegebenheiten durch den Steuerpflichtigen kümmert 1 1 6 . M i t Hilfe einer solchen Beurteilung lassen sich — nach Auffassung der steuerrechtlichen Beurteilungslehre — auch ohne eine besondere „Umdeutung" der fehlerhaft verwendeten Privatrechtsbegriffe die wirtschaftlichen Sachverhalte konstituieren, die den gesetzlichen Tatbestand erfüllen. Eine selbständige, vom Verstehensprozeß abgetrennte „wirtschaftliche Sachverhaltsbeurteilung" erweist sich jedoch als undurchführbar. I m Rahmen der Rechtsanwendung kann die Aufbereitung der Fakten von der Sinnerkenntnis gar nicht getrennt werden. „Was an einem Lebenssachverhalt juristisch relevant ist und was nicht, ergibt sich aus diesem Sachverhalt selber nicht, sondern erst aus seiner Beziehung auf die Norm, die auf i h n angewendet werden soll" 1 1 7 . Wie i m Verstehen der Tatbestände von vornherein nur diejenigen Sinnmomente erfaßt werden, die auf den Rechtsfall Bezug haben, so w i r d man auch am konkreten Fall nur das als wesentlich anerkennen, was auf den Tatbestand Bezug hat. Der rechtsanwendende Interpret w i r d daher die zur Beurteilung stehenden Lebensverhalte immer schon i m Hinblick auf den Tatbestand rechtlich qualifizieren 118 . „ A l l e i n das Gesetz steuert die rechtliche Beurteilung des Lebensvorganges und damit seine Umformung i n den Sachverhalt als des konkreten Gegenstücks zum abstrakten Tatbestand des Gesetzes" 119 . Unter diesen Umständen besteht aber für den Richter überhaupt keine Möglichkeit, unabhängig vom Verfahren der Sinnerkenntnis durch eine besondere, den hermeneutischen Kreis116 Grundlegend E. Becker, Reichsabgabenordnung S. 43ff.; vgl. auch die Nachweise oben § 1 N. 218. 117 A. Kauf mann!Hassemer, Grundprobleme S. 69. 118 Dazu bereits ausführlich § 4 C. I I . 119 Brandt, Beurteilung S. 182; ebenso Tipke JuS 1970, 153.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
lauf zwischen Tatbestand und Rechtsfall unterbrechende „Sachverhaltsbeurteilung" auf das Ergebnis der Rechtsanwendung einzuwirken 1 2 0 . Wer dennoch vorgibt, er könne die Beurteilung der Wirklichkeit nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten von der Interpretation trennen und bei einer Fehlbestimmung der steuerrechtlichen Gesamtkonzeption durch ein privatrechtlich geprägtes Merkmal allein mit Hilfe der Ermittlung und Erforschung des „wahren wirtschaftlichen Gehalts der Sachverhalte" den betreffenden Rechtsfall und den i n Frage kommenden Rechtssatz i n die Entsprechung bringen, der verdeckt die eigentlich relevanten Urteils Vorgänge. Eine „Sachverhaltsbeurteilung" ist immer nur innerhalb der Verstehensprozesse denkbar: als Strukturierung der konfliktbehafteten Lebenslage nach Maßgabe der i n einem Tatbestand benannten rechtlichen Konzeption. I m Steuerrecht ist diese Konzeption i n der Regel wirtschaftlicher Natur, so daß es an sich zu einer Beurteilung der Lebensverhalte nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten kommen müßte, wenn der Interpret einen steuerrechtlichen Tatbestand versteht. Die Abhebung eines wirtschaftlichen Sachverhalts von der Wirklichkeit erweist sich insoweit als hermeneutische Notwendigkeit, als ein Geschehen also, das nicht zur Disposition der Erkenntnissubjekte steht und daher auch nicht durch methodologische Gebote oder gesetzliche Vorschriften (früher etwa § 1 Abs. 3 StAnpG) gesteuert werden kann 1 2 1 . Zwar ist die Bildung der steuererheblichen Sachverhalte zunächst i n Frage gestellt, wenn einzelne Tatbestandsmerkmale — i m Gegensatz zum tatbestandlichen Gefüge — wegen ihrer besonderen Prägung auf ein privatrechtliches Strukturprinzip bzw. Rechtsphänomen verweisen. Aber ein Interpret, der die verwendeten Privatrechtsbegriffe (bewußt oder unbewußt) als Fehlbestimmungen des positiven Rechts akzeptiert und sich aus diesem Grunde i m Verfahren der Rechtsanwendung, seinen hermeneutischen Einsichten folgend, nicht mehr an dem mangelhaften Rechtstext, sondern nur noch an dem vom Gesamttatbestand intendierten Phänomen selbst orientiert, w i r d die für die Besteuerung maßgebenden Vorgänge am Ende doch zutreffend erfassen. Nur ist dabei die richtige Konstitution der Sachverhalte eben nicht das Produkt eines vom Verstehen abgelösten Verfahrens der „wirtschaftlichen Beurteilung der Sachverhalte", sondern eine notwendige Teiloperation i m Rahmen des fallbezogenen (konkretisierenden) Verstehens der „Sache Recht", die i n dem Steuertatbestand, wenn auch unzulänglich, zur Sprache gebracht wird. Diejenigen, die ihre Entscheidung auf die Anwendung einer besonderen Methode der „Sachverhaltsbeurteilung" zurückführen, haben 120 Ebenso Eps, Beurteilung S. 54ff.; Brandt, Beurteilung S. 116ff.; Tipke T K § 1 StAnpG Rz. 45 ff.; ders., Lehrbuch S. 84 if.; Gassner, Interpretation S. 36 ff.; ζ. T. anders Papier, Demokratieprinzip S. 191 ff. 121 Ä h n l i c h Brandt, Beurteilung S. 182.
Β . Privatrechtsbegriffe als Fehlbestimmungen des positiven
echts
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also i n Wirklichkeit durch eine erneute, die gesetzliche Fehlbestimmung korrigierende Auslegung des angezielten Rechtsphänomens eine Rechtsanwendung ermöglicht. b) A u f einer von dem fehlerhaften Text abweichenden Auslegung beruhen auch solche Rechtsentscheidungen, die scheinbar aus § 42 A O abgeleitet werden. Es zeigt sich, daß ein Lebensverhalt überhaupt n u r dann als „Steuerumgehung" (§ 42 AO) für die Besteuerung relevant werden kann, wenn man i n einem hermeneutischen Prozeß zuvor zu der Erkenntnis gelangt ist, daß die privatrechtlichen Merkmale eines Steuertatbestandes den betreffenden Vorgang oder Zustand deswegen nicht erfassen, w e i l sie das übergeordnete Rechtsphänomen unter- bzw. überbestimmen und dadurch den gesetzlichen „Normbereich" entweder überdehnen oder zu sehr einengen. Was i n § 42 AO als „Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts" umschrieben wird, ist nichts anderes als die bewußte Herbeiführung der steuererheblichen Wirkungen durch eine andere Gestaltung als die, die der „Steuergesetzgeber" m i t ein/ein privatrechtlichen Ausdruck bezeichnet hat. Die Steuerumgehung ist somit ein Problem, das sich aus der Fehlbestimmung der steuerrechtlichen Gesamtkonzeption durch privatrechtlich geprägte Tatbestandsmerkmale ergibt: Obwohl der wirtschaftliche Erfolg, auf den der jeweilige Steuertatbestand abstellt, durch unterschiedliche M i t t e l zu erzielen ist, w i r d durch die verwendeten Privatrechtsbegriffe nur eine der i n Frage kommenden Ursachen genannt, so daß manche Geschehnisse und Gegebenheiten, die zum „Normbereich" gehören, nicht erfaßt werden. Nur wer die darin liegende Fehlleistung der Gesetzesverfasser durch eine erneute, die gesetzliche Interpretation korrigierende Auslegung des intendierten Phänomens aufdeckt, w i r d i n der Lage sein, einen Vorgang, auf den der als Tatbestaaidsmeifonal verwendete Ausdruck des privaten Rechts nicht zutrifft, als „Handeln gegen die ratio legis" und damit als „Rechtsmißbrauch" oder „Steuerumgehung" zu bewerten. Eine Anwendung des § 42 AO ist dann aber gar nicht mehr notwendig, w e i l der betreffende Lebensverhalt nach der Ansicht, die der Interpret von der m i t dem tatbestandlichen Gefüge angesprochenen „Sache Recht" gewonnen hat, ohnehin ein Bestandteil des „Normbereichs" der steuerrechtlichen Vorschrift ist und als solcher der Besteuerung unterliegt 1 2 2 . Wenn dennoch zur Rechtfertigung der angeordneten Steuererhebung auf § 42 AO ver122 I m Ergebnis ähnlich diejenigen Autoren, die i n der Mißbrauchsbestimmung bloß eine Klarstellung u n d eine Bekräftigung der Auffassung sehen, daß die Gesetzesinterpretation „nicht am Wortlaut kleben" dürfe; vgl. etwa Ball, Privatrecht S. 131 f.; E. Becker, Reichsabgabenordnung S. 111; Paulick StbJb 1963/64, 371; dens., Lehrbuch Rz. 347 ff.; Hartz, Auslegung S. 55 f.; Gassner, Interpretation S. 88 ff.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
wiesen wird, so soll damit wohl nur die Tatsache verdeckt werden, daß sich der rechtsanwendende Interpret über die (off ensichtlich unvollkommene) An-Sicht des „Gesetzgebers" von dem gemeinten Rechtsphänomen hinweggesetzt hat. III.
„Rechtliche
Zulässigkeit"
einer korrigierenden
Auslegung
Wer i m Vorgang der Sinnerkenntnis den hermeneutischen Einsichten entsprechend von einer gesetzlichen Fehlinterpretation abweicht, muß sich mit der Frage nach der „rechtlichen Zulässigkeit" einer solchen Berichtigung auseinandersetzen 123 . Es geht dabei u m die Vereinbarkeit der (unvermeidlichen) korrigierenden Auslegungen m i t einigen grundlegenden Rechtsprinzipien. Die Gegner einer Interpretation, welche den Sinn der privatrechtlich geprägten Merkmale eines Steuertatbestandes entweder reduziert oder traduziert und damit der „Rechtsansicht" der Gesetzes Verfasser widerspricht, verweisen insoweit vor allem auf die Grundsätze der Rechtseinheit, der Gesetzesbindung und der Rechtssicherheit 124 . 1. Die „Einheit der Rechtsordnung" w i r d i. d. R. nicht nur als legislative Maxime, sondern darüber hinaus auch als methodologisches Postulat begriffen. Der Richter soll die steuerrechtlichen Tatbestände und die darin enthaltenen Privatrechtsbegriffe möglichst so „auslegen", daß Widersprüche innerhalb der Rechtsordnung, insbesondere zwischen dem Steuerrecht und dem privaten Recht, vermieden werden. I m Zusammenhang m i t der fehlerhaften Verwendung eines privatrechtlichen Ausdrucks impliziert der Hinweis auf das Einheitsprinzip zweierlei: einmal, daß der Interpret die erwünschte Harmonie planvoll herbeiführen kann, und zum anderen, daß gerade die einheitliche Deutung gleichlautender Begriffe dazu beiträgt, Widersprüche zu vermeiden und die Einheit der Rechtsordnung zu verwirklichen. Schon die erste Annahme erweist sich als unzutreffend. Auf Grund der ontologischen Struktur aller Verstehensprozesse ist von vornherein auszuschließen, daß die vorhandenen Antinomien einzelner Rechtsirihalte durch eine entsprechende Steuerung der hermeneutischen Abläufe gezielt beseitigt werden können. Zwar werden bei einer „Auslegung aus dem Zusammenhang" 125 etwaige Widersprüche zwischen der 123 Davon zu unterscheiden ist die weitere Frage, ob das i n einer berichtigenden Auslegung zur Sprache gebrachte Verstehensergebnis auch i n eine Rechtsentscheidung umgesetzt werden darf; dazu noch unten § 6. 124 Vgl. dazu die Nachweise oben § 1 Β . I I . 125 Die „systematische Auslegung" w i r d von Engisch (Einheit S. 70) als eine der „wichtigsten m i t der Einheit der Rechtsordnung i n Zusammenhang stehenden rechtslogischen Verfahrensweisen" betrachtet; vgl. auch Müller, Methodik S. 156, 157 (betr. „Einheit der Verfassung").
Β . Privatrechtsbegriffe als Fehlbestimmungen des positiven Rechts
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jeweils begriffenen „Sache Recht" und dem (vorgestellten) Gesamtrechtsgefüge harmonisierend aufeinander abgestimmt, die dadurch erreichte „Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen", die zum Verstehen führt 1 2 6 , ist jedoch nicht das Ergebnis einer freiwilligen Befolgung methodologischer Gebote, sondern der Endpunkt einer gedanklichen Bewegung, die hermeneutisch notwendig ist und deshalb nicht zur Disposition des Erkennenden steht 1 2 7 . Somit ergibt sich die geforderte „Integration durch Interpretation" 1 2 8 nahezu zwangsläufig aus der Teilnahme des Interpreten an dem hermeneutischen Geschehen, so daß von einer bewußten oder gar planvollen Harmonisierung keine Rede sein kann. Auch die zweite Annahme muß i n Frage gestellt werden. Zwar läßt sich kaum bestreiten, daß eine unterschiedliche Deutung desselben Ausdrucks widersprüchlich erscheint. Doch ist die Divergenz zwischen der steuerrechtlichen und der privatrechtlichen Inhaltsbestimmung, die bei einer Berichtigung der fehlbestimmenden Privatrechtsbegriffe entsteht, nur die eine Seite der Medaille. Man darf nicht vergessen, daß erst die korrigierende Auslegung einen anderen Widerspruch beseitigt: den zunächst vorhandenen Gegensatz von Gefügesinn und Gliedsinn, der auf Grund der fehlerhaften Verwendung eines privatrechtlich geprägten Merkmals i n einem Steuertatbestand entstanden ist. So gesehen ist die Disharmonie zwischen dem Steuerrecht und dem Privatrecht die notwendige Folge einer Harmonisierung innerhalb des steuerrechtlichen Verständniszusammenhangs. Denn der Gegensatz zum privaten Recht entsteht nur deswegen, w e i l das privatrechtskonforme Vorverständnis i m Vorgang der Sinnerkenntnis modifiziert wird, u m so einen Widerspruch innerhalb des Steuerrechts auszuräumen. Die Konkordanz i n dem einen Bereich w i r d m i t einer Beeinträchtigung des Einheitsprinzips i n einem anderen Bereich erkauft. Die unterschiedliche Deutung der fehlerhaft verwendeten Privatrechtsbegriffe bewirkt daher zugleich eine Gefährdung und eine Förderung der Rechtseinheit. Umgekehrt gilt dasselbe: Das Verbot einer divergenten Sinribestimmung verhindert zwar einen Widerspruch zwischen dem Steuerrecht und dem Privatrecht, gefährdet aber gleichzeitig die Einheit des Steuerrechts. Es bleibt offenbar nur die Wahl zwischen zwei Übeln. Demnach geht es bei der Beurteilung der „rechtlichen Zulässigkeit" einer Abweichung vom Privatrecht gar nicht um eine grundsätzliche Entscheidung für oder gegen die Einheit der Rechtsordnung, sondern allein darum, ob der auf jeden Fall zu relativierende Einheitsgedanke durch ein Berichtigungsverbot einzuschränken ist oder durch eine Kor126 127 128
Vgl. Gadamer , Wahrheit S. 275. Vgl. auch Hassemer, Tatbestand S. 88; Hruschka, Verstehen S. 84. Z u dieser Formulierung Göldner, Verfassungsprinzip S. 53 ff.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
rektur der erkennbaren Divergenzen zwischen dem steuerrechtlichen Gefügesinn und dem privatrechtlichen Sinn einzelner Gefügeglieder. Insoweit dürfte vor allem die Überlegung ausschlaggebend sein, daß die Verknüpfung eines privatrechtlichen Ausdrucks m i t unterschiedlichen Inhalten lediglich zu „gesetzestechnischen Widersprüchen" führt 1 2 9 . Die daraus resultierende Relativierung des Prinzips der Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung „betrifft nicht eigentlich die Substanz des Rechts" 130 . Dagegen käme es bei einem Verbot der teleologischen Reduktion oder Traduktion fehlbestimmender Tatbestandsmerkmale zu konzeptionellen Widersprüchen, d. h. zu einer Unvereinbarkeit der Gesichtspunkte, die durch den jeweiligen Privatrechtsbegriff einerseits und das tatbestandliche Gefüge andererseits zur Sprache gebracht werden. Die Folge wäre eine (partielle) Sinnlosigkeit der als maßgeblich vorausgesetzten Rechtstexte 131 . Und das bedeutet: Die fehlerhaften Tatbestände des Steuerrechts könnten — sofern die privatrechtlich geprägten Merkmale i n ihrer herkömmlichen Bedeutung „zu kurz" sind — auf manche Lebensverhalte ihres „Normbereichs" überhaupt nicht angewendet werden. Damit würde aber von vornherein die Wirkung der betreffenden Rechtssätze eingeschränkt und die Geltung der steuerrechtlichen Rechtsnormen zumindest teilweise i n Frage gestellt. Dieser Eingriff i n die „Substanz des Rechts" läßt sich nur vermeiden, wenn man eine inhaltliche Korrektur der erkennbaren Fehlbestimmungen als „rechtlich zulässig" akzeptiert und die technischen Widersprüche als notwendige Konsequenz einer fehlerhaften Verwendung der Privatrechtsbegriff e i n Kauf n i m m t 1 3 2 . 2. Bei jeder Abweichung von einer gesetzlichen Fehlinterpretation stellt sich die Frage, ob die darin liegende „Umdeutung" m i t dem Prinzip der Gesetzesbindung 133 zu vereinbaren ist. Das Postulat der richterlichen Bindung an „Gesetz und Recht" soll ein Gewaltenteilungssystem absichern, das nach traditionellem Verständnis dadurch gekennzeichnet ist, daß allein der „Gesetzgeber" das Recht einer Gemeinschaft hervorbringt und die Gerichte sowie die übrigen Organe es nur anwenden. Das Alternativschema von (richterlicher) Rechtserkenntnis und (dem „Gesetzgeber" vorbehaltener) Rechtsetzung erweist sich jedoch angesichts der bisherigen hermeneutischen Erkenntnisse als unrealistisch. Vor allem deshalb erscheint es zweifelhaft, ob m i t Hilfe der Gesetzes129
Vgl. dazu Engisch, Einheit S. 44 f.; dens., Einführung S. 157 f. Engisch, Einführung S. 158. 131 Ebenso Hruschka, Verstehen S. 87. 132 So auch Engisch, Einheit S. 45, 84; ders., Einführung S. 158. 133 Die Bindung des Richters an das Gesetz ist durch A r t . 20 Abs. 3 GG u n d A r t . 97 Abs. 1 GG zum Verfassungsgrundsatz erhoben; vgl. aber auch § 1 G V G u n d § 25 DRiG. 130
Β . Privatrechtsbegriffe als Fehlbestimmungen des positiven Rechts
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bindungsformel eine korrigierende Sinnbestimmung der fehlerhaft verwendeten Privatrechtsbegriffe unterbunden und der rechtsanwendende Interpret auf eine erkennbare Fehlbestimmung der gemeinten „Sache Recht" verpflichtet werden kann. a) Die herkömmliche Gewaltenteilungsdoktrin basiert auf einem überholten Rechtsanwendungsverständnis, das die Entscheidungstätigkeit des Richters noch als eine rein logische, allein durch das Gesetz determinierte Operation und den Richter selbst als bloßen „ M u n d des Gesetzes" 134 begreift. Inzwischen ist nachgewiesen, daß das Verstehen der Tatbestände und Tatbestandsmerkmale „kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten" 1 3 5 und die Auslegung des Verstandenen „keineswegs einfach Vollzug des Gesetzes, sondern immer schon eigene Entscheidung des auslegenden Richters" ist13®. Eine strikte Trennung zwischen regelgebender Normsetzungsinstanz und judiziellem Gesetzesvollzug ist also unmöglich, w e i l „Legislative und Judikative sich i n der Person des Richters treffen" 1 3 7 und der Rechtserkennende daher zugleich als „Mitgestalter des Rechts" 138 anzusehen ist 1 3 9 . Bei der inhaltlichen Bestimmung des Gewaltenteilungsprinzips kann man den rechtsschöpferischen Aspekt der Rechtsanwendung nicht einfach beiseiteschieben 140 . Denn ein System der Gewaltenteilung, das die hermeneutischen Vorgegebenheiten ignoriert, müßte als „Modus der Freiheitssicherung durch Machtbalancierung" 141 unwirksam bleiben, da es niemals die tatsächlich vorhandenen Machtstrukturen erfaßt und reguliert. Wenn daher der Gewaltenteilungsgedanke nicht ins Leere greifen soll, muß man die eigen-mächtige 142 Rechtserzeugung durch den 134 Der Satz „Les juges (...) ne sont que la bouche q u i prononce les paroles de la loi" stammt v o n Montesquieu (Nachweis bei Göldner, Verfassungsprinzip S. 152 Ν . 10). 135 Gadamer , Wahrheit S. 280. 136 So Α . Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 166. Diese u n d die folgenden Feststellungen gelten nicht n u r f ü r den Richter u n d die Rechtsprechung, sondern mehr oder weniger f ü r alle, die zu konkreten Rechtsentscheidungen berufen sind (ζ. B. Rechtsanwalt, Verwaltungsbehörden). 137 Simon, Unabhängigkeit S. 9. 138 Göldner, Verfassungsprinzip S. 152/153. 139 Ebenso Geiger, Vorstudien S. 196; Engisch, Einführung S. 107; Schneider, Richterrecht S. 26 f., 31. 140 Dazu auch Göldner, Verfassungsprinzip S. 157 f. 141 Z u dieser Funktionsbestimmung Göldner, Verfassungsprinzip S. 151 m. w . N.; Hinderling, Verstehen S. 169. 142 Vgl. Simon, Unabhängigkeit S. 107; anders Hinderling, Verstehen S. 169: Die richterliche Rechtsfindung sei keine eigene Machtausübung. Auch Kruse (Richterrecht S. 12 ff.) scheint die Wahrnehmung legislativer F u n k t i o nen durch den Richter als abgeleitete Machtausübung, als schlichte E r f ü l l u n g einer v o m „Gesetzgeber" delegierten Aufgabe zu begreifen: Der Richter dürfe n u r die „ i h m offengelassenen Stücke der Gesetzgebung" ausfüllen u n d 16
Maaßen
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
Richter als eine unausweichliche Konsequenz des juristischen Verstehens berücksichtigen. Für die Aufteilung der staatlichen Funktionen werden dann allerdings andere Gesichtspunkte als bisher wesentlich. Denn nun geht es nicht mehr u m eine (ohnehin nie erreichbare) Abgrenzung von „Auslegung" und Rechtsetzung, sondern nur noch darum, wie die rechtsschöpferische Tätigkeit des Richters „ m i t der konkurrierenden gesetzgeberischen Rechtsbildung abzustimmen ist" 1 4 3 , wie sich also die gemeinsame Aufgabe der Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung auf Gesetzgebung und Rechtsprechung verteilt 1 4 4 . Damit erlangt aber auch der Gedanke der Gesetzesbindung eine neue Qualität. Hat man nämlich erst einmal erkannt, daß die legislative Funktion auf Parlament und Judikative verteilt ist und der Richter an der Bildung des Gesetzes, dem er unterworfen sein soll, selbständig m i t w i r k t 1 4 5 , so w i r d die Vorstellung einer strengen und methodisch abgesicherten Determinierung der Rechtsanwendung durch „Gesetz und Recht" unhaltbar. Das Rechtliche, das i n den Gesetzestexten positiviert ist, kann für den Richter letztlich nicht mehr sein als ein Bezugspunkt, an dem sich die Sinnerkenntnis orientiert 1 4 6 . Gebunden ist der rechtsanwendende Interpret nur insofern, als sich seine 'inhaltlichen Vorurteile an der jeweils benannten „Sache Recht" bewähren müssen, w e i l sonst ein Verstehen nicht möglich ist 1 4 7 . Aber gerade diese Orientierung des hermeneutischen Vollzugs an dem Gemeinten sorgt für die notwendige Koordinierung der parlamentarischen und jud'iziellen Rechtsbildung. Zu einem unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung relevanten Gegensatz zwischen „Gesetzgeber" und Richter kommt es erst, wenn ein „von der Sache her" gewonnenes richterliches Verständnis aus irgendwelchen Gründen nicht i n den Urteilsspruch umgesetzt wird 1 4 8 . Die Frage der Gesetzesbindung stellt Sich dann erneut, aber sie habe i m übrigen die Grenze des „ i n t r a legem" zu beachten, w e i l er sonst „ i n den Kernbereich der Legislative" eingreife. Wer das Richterrecht solchermaßen als bloße Rand-Erscheinung betrachtet, hat sich offenbar v o n dem herkömmlichen Schema der Gewaltenteilung noch nicht gelöst. 143 Göldner, Verfassungsprinzip S. 167. 144 Vgl. Schneider, Richterrecht S. 33; Göldner, Verfassungsprinzip S. 166. 145 Dazu auch J. Esser, v. Hippel-FS S. 113: „Der Richter ist frei u n d n u r dem Gesetz unterworfen — das Gesetz aber ist das, was er selbst darunter pflichtgemäß versteht." Dieser Satz f ü h r t i n seiner Konsequenz zu der Behauptung v o n Less, Wesen S. 58: „Nicht mehr ist der Richter dem Gesetz, sondern das Gesetz dem Richter unterworfen." 146 Ä h n l i c h Göldner, Verfassungsprinzip S. 166, der „Normgebundenheit" nicht mehr als Normdeterminierung, sondern als Normorientierungf deutet; vgl. auch Simon, Unabhängigkeit S. 2: Das Gesetz sei f ü r den Richter n u r ein Gesichtspunkt. 147 A n dieser Stelle sei allerdings nochmals darauf hingewiesen, daß die „Sache Recht" nicht vorgegeben ist, sondern i n einem dialektischen Wechselspiel zwischen Interpret u n d Text jedesmal neu konstituiert w i r d . 148 Vgl. dazu ausführlicher unten § 6 A .
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stellt sich i n anderer Weise als bei der hier zu behandelnden Auslegung des Verstandenen. b) Nach den bisherigen Erkenntnissen entspricht also eine Sinnbestimmung den Prinzipien der Gewaltenteilung und der richterlichen Bindung an das Gesetz, wenn sie sich an dem vom Gesetzestext intendierten Rechtsphänomen orientiert 1 4 9 . Auch bei einer korrigierenden Auslegung kann es deshalb nur darauf ankommen, ob die m i t dem Steuertatbestand angezielte „Sache Recht" den Bezugspunkt für eine inhaltliche Berichtigung der fehlbestimmenden Privatrechtsbegriffe bildet. Eine weitergehende Begrenzung der Auslegung durch den „möglichen Wortsinn" oder eine Bindung an die „Rechtsansicht" der Gesetzesverfasser scheint weder notwendig noch berechtigt zu sein. Demnach ist ein Widerspruch zwischen der „Rechtsansicht" des Interpreten, die i n einer korrigierenden Auslegung zum Ausdruck kommt, und der i m Gesetzestext positi vierten An-Sicht, die der „Gesetzgeber" von einer „Sache Recht" hat, m i t dem Grundsatz der Gesetzesbindung durchaus zu vereinbaren, sofern nur eine Übereinstimmung „ i n der Sache" besteht. Zu derartigen Widersprüchen w i r d es immer dann kommen, wenn die i n dem Rechtstext geäußerte Auffassung, das „psychologisch Gewollte und dementsprechend Ausgedrückte" 150 , nach Meinung des Rechtserkennenden von der „gesetzgeberischen Intention" 1 5 0 abweicht, wenn also — m i t anderen Worten — ein privatrechtlich geprägtes Tatbestandsmerkmal die jeweils angezielte steuerrechtliche Gesamtkonzeption i n wichtigen Punkten verfehlt, weil ζ. B. die für die Besteuerung erheblichen Auswirkungen entgegen der Vorstellung des „Gesetzgebers" nur teilweise m i t den Mitteln erreichbar sind, die der privatrechtliche Ausdruck bezeichnet. Es leuchtet ein, daß sich ein Richter, der unter dieser Voraussetzung von der privatrechtlichen Sinnbestimmung eines Ausdrucks abweicht, nicht gegen die Gesetzesbindung auflehnt, sondern — i m Gegenteil — „sich treulich auf den Boden des Gesetzgebers, seines Wollens und Zweckstrebens stellt" 1 5 1 . Bindend ist für den Interpreten somit „nicht das vordergründig Ausgedrückte, wenn es auch psychologisch so gewollt war, sondern die es bedingende sinngebende Intention, die der Legislator zu materialisieren vermeinte" 1 5 2 . Daher ist bei den fehlbestimmenden Privatrechtsbegriffen eine „Korrektur des Gesetzes", d. h. eine Anpassung der privatrechtlichen Einzelkonzeptionen an die übergeordnete „Sache Recht" nicht 149 Z u r Klarstellung: Diese Orientierung ist nicht n u r geboten, sondern auch hermeneutisch notwendig. 130 Sax, Analogieverbot S. 85. 151 Engisch, Einführung S. 175. 152 Sax, Analogieverbot S. 85. 16·
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
nur gestattet, sondern i m Hinblick auf das Bindungspostulat sogar geboten (und i m übrigen hermeneutisch notwendig). Auch der „klare Wortlaut" und der „mögliche Wortsinn" eines sprachlichen Ausdrucks bilden für eine korrigierende Auslegung keine unüberwindliche Grenze. Zunächst ist es schon fraglich, ob diese Formeln überhaupt geeignet sind, irgendeine faßbare Auslegungsbegrenzung herbeizuführen 153 . Denn wie sollte der „sprachlich noch mögliche Wortsinn" zu fixieren sein, da doch der Sinn immer eine Sache des individuellen Bewußtseins ist? Einen objektiven Maßstab gibt es also nicht, und deshalb ist jeder Wortsinn möglich, den ein Interpret i m konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung des jeweiligen Sinnzusammenhangs für möglich hält. Das heißt aber: Nicht der Wortlaut, sondern die an der „Sache Recht" orientierte Auslegung des rechtsanwendenden Interpreten steckt „die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten" ab 154 . Es kommt hinzu, daß der Wortlaut die i h m zugeschriebene Grenzfunktion ohnehin nicht erfüllen kann, wenn er — wie das bei manchen Privatrechtsbegriffen der Fall ist — die besonderen Momente der steuerrechtlichen Gesamtkonzeption fehlerhaft bestimmt 1 5 5 . Der Gedanke der Gesetzesbmdung rechtfertigt daher zumindest i n diesen Fällen eine Berichtigung, die „die Grenzen des Wortsinnes durchbricht" 1 5 6 (falls man solche feststehenden Grenzen nicht sowieso von vornherein als eine Fata Morgana betrachtet). 3. Die „rechtliche Unzulässigkeit" einer inhaltlichen Berichtigung der fehlbestimmenden Privatrechtsbegriffe w i r d vielfach damit begründet, daß jede Abweichung von der gewohnten privatrechtlichen Sinnbestimmung die Rechtssicherheit gefährde. Der Hinweis auf die drohende Rechtsunisicherheit bildet meist „den krönenden Schlußstein des Argumentationsgebäudes, der weiter nicht abgestützt oder ,hinterfragt' wird, gleichsam als könne es Meinungsverschiedenheiten über den fundamentalen Wert der Rechtssicherheit nicht geben" 157 . Tatsächlich verliert jedoch m i t der Zerstörung des traditionellen Gesetzesbegriffs und der herkömmlichen Bindungsvorstellungen auch das Argument der 153 So auch Sax, Analogieverbot S. 80; anders dagegen Canaris , Lücken S. 22 f.; Larenz, Methodenlehre S. 309; Müller, Methodik S. 140 ff. 154 Anders Müller, Methodik S. 140; ähnlich dagegen J. Esser, Vorverständnis S. 197. iss Darauf verweist auch Müller, Methodik S. 141. 156 Engisch, Einführung S. 175; so i m Ergebnis auch Papier, Demokratieprinzip S. 176; vgl. allerdings dens. S. 178,185 ff. 157 So Wiedemann, Larenz-FS S. 199, dessen Feststellung sich zwar n u r auf das Zivilrecht bezieht, prinzipiell aber f ü r juristische Diskussionen i n allen Rechtsbereichen u n d v o r allem auch f ü r die Auseinandersetzung u m das Problem der Privatrechtsbegriffe gültig ist.
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Rechtssicherheit seine Evidenz 158 . Es erscheint daher fraglich, ob sich ein Verbot korrigierender Auslegungen auf den Rechtssicherheitsgedanken bzw. auf die daraus abgeleitete Idee des Vertrauensschutzes stützen könnte. a) Das Prinzip „Rechtssicherheit" w i r d normalerweise i n die Elemente „Rechtsbestimmtheit", „Rechtsfriede" und „Rechtsmacht" unterteilt 1 5 9 . Das Postulat der Rechtsbestimmtheit zielt darauf ab, daß der „Gesetzgeber" durch Klarheit, Einfachheit und Übersichtlichkeit der rechtlichen Regelungen die zweifelsfreie Erkennbarkeit der Rechtsinhalte und damit die Voraussehbarkeit der richterlichen Interpretationen und Entscheidungen bzw. den Ausschluß unvorhersehbarer W i l l k ü r gewährleistet. U m den Rechtsfrieden zu sichern, fordert man einerseits eine weitgehende Stabilität des Rechts, andererseits aber auch die Einheitlichkeit und Kontinuität der Rechtsprechung. Die Rechtsmacht soll sich schließlich i n der Sicherheit der Rechtsbewährung, d. h. i n der Unverbrüchlichkeit und Durchsetzbarkeit des Rechts erweisen. Damit ist zunächst nur ein Programm formuliert, doch es stellt sich sogleich diie Frage, ob dieses Programm überhaupt eine Chance hat, verwirklicht zu werden. Die Forderung der Rechtssicherheit bezieht ihre A t t r a k t i v i t ä t vor allem aus der Vorstellung, daß es eine Form von Rechtsbestimmtheit geben könnte, die es jedermann gestattet, das Ergebnis der juristischen Auslegungen vorauszusehen und damit zu kalkulieren 1 6 0 . Eine solche Bestimmtheit «ist aber schon deswegen unerreichbar, w e i l die Rechtstexte die von ihnen angezielten Rechtsphänomene immer nur annäherungsweise i n den Griff bekommen können 1 6 1 . Es kommt hinzu, daß die rechtserheblichen sprachlichen Äußerungen stets einen zeitbedingten (geschichtlichen) und durch die individuelle Subjektivität mitbestimmten Sinn haben, der m i t dem Fortgang des Uberlieferungsgeschehens und m i t jedem Wechsel i n der Person des Verstehenden immer wieder neu zu erschließen ist 1 6 2 . Eine endgültige Fixierung der Rechtsinhalte wäre genauso unmöglich wie die Ausschaltung des Prin158
Vgl. Simon, Unabhängigkeit S. 10, 19 f. So ζ. B. Wiedemann , Larenz-FS S. 104. Ähnliche Unterscheidungen finden sich bei Radbruch, Vorschule S. 28 f.; Henkel, Rechtsphilosophie S. 335 ff.; Bockelmann, Einführung S. 59 ff.; vgl. auch Rümelin, Rechtssicherheit S. 9ff.; Germann, Grundlagen S. 50ff., 69. Zippelius (Wesen S. 125ff.) nennt i m Anschluß an Geiger (Vorstudien S. 101 ff.) als Komponenten der Rechtssicherheit die Orientierungssicherheit u n d die Realisierungssicherheit, wobei er die Rechtsbestimmtheit u n d den Rechtsfrieden der ersten u n d die Rechtsmacht der zweiten Komponente zuordnet; vgl. auch Henkel S. 335, 337. loo v g l a u c h Simon, Unabhängigkeit S. 19. 159
161 162
Dazu Hruschka, Verstehen S. 67, 77. Vgl. bereits oben § 4 C. I.; dazu auch Bendix,
Rechtssicherheit S. 166 ff.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
zips der Wirkungsgeschichte. Die daraus resultierende Ungewißheit läßt sich weder durch eine besondere Sorgfalt der Gesetzesverfasser bei der Formulierung der Rechtstexte noch durch eine strikte Gesetzesbindung beseitigen (eine Bindung zumal, über deren Inhalt letztlich der Richter selbst entscheidet). Demnach ist das Ideal der Rechtssicherheit i n seiner Ausprägung als Rechtsbestimmtheit nicht zu verwirklichen. Damit w i r d zugleich die Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit der Verste'hensergebnisse i n Frage gestellt 163 . Nur ein Hellseher könnte ein zukünftiges geschichtliches Ereignis — und dazu gehört auch die richterliche Bestimmung des geschichtlichen Faktors „Sinn" — i n seinem genauen Ablauf sicher voraussagen 164 . Die Idee der Rechtssicherheit darf nicht dazu verleiten, die soeben beschriebene „Zeitstruktur der Geschichtlichkeit" zu übergehen. Bisher hat man unter dem Motto „Rechtssicherheit" bzw. „Stabilität des Rechts und der Rechtsprechung" zu sehr das statistische Element i m Recht betont und die Dynamik des Rechtlichen entweder nicht gesehen oder zu eliminieren versucht 165 . Gerade deswegen steht der Rechtssicherheitsgedanke vor allem bei denen hoch i m Kurs, die an der Erhaltung und Festigung bestehender Machtpositionen interessiert sind 1 6 6 . Dieses konservative Anliegen bestimmt oft schon die Definitionen. So geht beispielsweise Coing 167 davon aus, daß sich hinter der Formel von der Sicherheit des Rechts nichts weiter verbirgt als der Grundsatz, „daß einmal begründete Rechte, Macht- und Besitzpositionen unangefochten und unbeeinträchtigt bestehen bleiben, daß einmal gefällte Rechtsentscheidungen aufrechterhalten werden". Die damit vollzogene Verknüpfung der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens m i t der Verteidigung des rechtlichen (und damit auch des gesellschaftlich-politischen) Status quo gegen den „Ansturm des immer Neuen" verdeckt den ursprünglichen 163 Ob die Richter-Soziologie hier wirksame Abhilfe schaffen könnte, erscheint zweifelhaft, da die Untersuchung der richterlichen Alltagstheorien u n d Wertorientierungen, auf die ζ. B. Rottleuthner (Rechtswissenschaft S. 31 f.) eine Prognose der juristischen Interpretationen u n d Entscheidungen stützen möchte, i m m e r n u r einen T e i l der Faktoren erfaßt, die das Verstehen u n d die Auslegung des Verstandenen beeinflussen. Abgesehen davon unterliegen auch diese soziologischen Daten einem ständigen Wandel. 164 Vgl. auch Bendix, Rechtssicherheit S. 168, 175. 165 So Fröhler, Wirtschaftsrecht S. 168. 1ββ Dazu auch Brassloff, Rechtssicherheit S. 29 f., 31: „Es leuchtet ein, daß jene Bevölkerungsgruppen, welche durch die i n Geltung stehenden Normen ihre ökonomischen u n d sonstigen Interessen gefördert sehen, den lebhaften Wunsch hegen, daß sie auch i n aller Z u k u n f t i n K r a f t bleiben u n d es entspricht vollkommen dieser Einstellung, w e n n sie den hohen Wert der Rechtssicherheit (gegenüber der Angemessenheit des Inhalts der Rechtssätze) m i t besonderem Nachdruck betonen (...)."; ähnlich bereits Rümelin, Rechtssicherheit S. 54 ff. 167 Rechtsphilosophie S. 143/144; ebenso Bockelmann, Einführung S. 59 f.
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Zusammenhang von Rechtssicherheit und Freiheit 1 6 8 . Kehrt man zu diesem Ursprung zurück, so w i r d man bald erkennen, daß die Gewährleistung der Freiheit durch das Recht nicht die Unveränderlichkeit, sondern gerade den stetigen Wandel der Rechtsordnung erfordert. „Entfernt sich nämlich i m Zuge der Entwicklung die Wirklichkeit des sozialen und wirtschaftlichen Lebens mehr und mehr von den Postulaten der staatlichen Rechtsordnung, so daß beide i n fortschreitender Weise nicht mehr zur Deckung gebracht werden können, so vermag infolge dieser Diskrepanz die Rechtsordnung ihrer fundamentalen Funktion, Ordnung des sozialen Lebens zu sein, nicht mehr gerecht werden" 1 6 9 . Die Folge dieser faktischen Rechtlosigkeit wäre eine (noch stärkere) Gefährdung der Freiheit des sozial Schwachen durch die herrschende Klasse 170 . E i n Entwicklungs- und Wandlungsprozeß des Rechts ist also notwendig — und auch unvermeidlich: „Wie wahrhaft menschliches Leben niemals Ruhe ist, sondern immerwährender Prozeß, so ist auch das Recht (und der Rechtsstaat) niicht etwas Fertiges, Feststehendes, Statisches — bloß die Summe der bestehenden Gesetze —, sondern etwas, was man immerzu machen, gestalten, realisieren muß" 1 7 1 . Das Recht ist also dynamisch, und deshalb ist die Sicherheit des Rechts nur durch eine Interpretation zu gewährleisten, die dieser Dynamik gerecht wird 17 " 2 . Eine konservative, sich verfestigende Deutung der Rechtstexte, die alles beim alten beläßt, könnte allenfalls eine Minderheit zufriedenstellen und keinen wirklichen Rechtsfrieden (im Sinne einer Befriedung durch das Recht und der Zufriedenheit m i t dem Recht) herbeiführen. Was aber bleibt vom Grundsatz der Rechtssicherheit übrig, wenn weder die Bestimmtheit noch die Unveränderlichkeit des Rechts zu gewährleisten und die rechtliche Stabilität (i. S. v. Unwandelbarkeit) darüber hinaus als rechtspolitisches Ziel auch nicht akzeptabel ist? Unter den hermeneutischen Bedingungen der Rechtsanwendung muß man sich wohl auf die Sicherheit der Rechtsbewährung und des Rechtsschutzes beschränken. Unter „Rechtssicherheiit" wäre dann nur noch eine relative Sicherheit zu verstehen, die darin besteht, daß der „Gesetzgeber" Konflikte normativ regelt, daß er auf die Respektierung der Rechtsnormen dringt und Kontroversen über das „richtige" Verständnis 168 A u f diesen Zusammenhang verweisen Rümelin, Rechtssicherheit S. 10 ff.; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 356; Simon, Unabhängigkeit S. 19. 169 Fröhler, Wirtschaftsrecht S. 168. 170 So auch A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 355 f. 171 A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 356; vgl. auch Henkel, Rechtsphilosophie S. 337: »„Stabilität', als Unveränderlichkeit des Rechts verstanden, wäre also eine seinsgesetzwidrige Erwartung." 172 Vgl. auch Sax, Analogieverbot S. 75.
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
und die „richtige" Anwendung dieser Normen ordnet, d. h. überall Rechtswege eröffnet 173 . Über die möglichen Rechtsinhalte w i r d damit nichts ausgesagt, so daß insbesondere eine korrigierende Interpretation bei einer solchen Bestimmung des Prinzips „Rechtssicherheit" keineswegs i n den Bereich des „rechtlich Unzulässigen" abgedrängt werden kann. b) Wenn schon die Rechtssicherheitsidee ein Verbot der korrigierenden Deutung privatrechtlich geprägter Tatbestandsmerkmale nicht zu begründen vermag, dann erscheint es auch von vornherein zweifelhaft, ob der Gedanke des Vertrauensschutzes ein solches Verbot rechtfertigt. Denn das Vertrauensschutzinteresse ist lediglich eine Variante des allgemeinen Interesses an der Vorhersehbarkeit juristischer Interpretationen und Entscheidungen (Rechtssicherheitsinteresse) 174. Man sollte daher annehmen, daß Vertrauensschutz — entsprechend der Bestimmung der Rechtssicherheit als bloße Rechtsschutzsicherheit — nur zu realisieren ist als Schutz des Vertrauens auf eine geordnete Schlichtung der Kontroversen, die i m Zusammenhang m i t den steuerrechtlichen Normen entstehen. Papier 175 meint allerdings, daß auch das Vertrauen des Bürgers, „nur m i t solchen Maßnahmen belastet zu werden, die er aus dem Normtext — i m Rahmen des möglichen Wortsinns — zu entnehmen vermag", durch ein Analogieverbot bzw. das Verbot einer inhaltlichen Berichtigung der Privatrechtsbegriffe zu schützen sei. Dieser Forderung liegt die Vorstellung zugrunde, ein privatrechtlicher Ausdruck habe einen eindeutigen, nicht „auslegungsfähigen", privatrechtlichen Wortsinn, durch den der inhaltlichen Bestimmung dieser Tatbestandsmerkmale eine Grenze gesetzt sei; bei einer korrigierenden, an einem steuerrechtlichen Phänomen orientierten Auslegung werde bereits Analogie betrieben 1 7 6 . Nun ist jedoch der Wortlaut oder Wortsinn der privatrechtlichen Tatbestandsmerkmale nur eindeutig, soweit der Interpret zu dem Ergebnis kommt, daß er eindeutig ist 1 7 7 . M i t anderen Worten: Es gibt keine objektiven Kriterien, m i t denen man die Grenze des „möglichen Wortsinns" bestimmen könnte 1 7 8 . Wo also hält sich eine Auslegung noch „ i m Rahmen des möglichen Wortsinns", wo w i r d diese „Grenze zulässiger Gesetzesinterpretation" überschritten und Analogie betrieben? Eine praktikable Abgrenzung ist unmöglich. 178 Vgl. Ryffel, Grundprobleme S. 233; dazu auch Bendix, S. 173/174. 174 Dazu Rümelin, Rechtssicherheit S. 17 ff. 175 Demokratieprinzip S. 177 ff., 185 ff. 176 Vgl. v o r allem Papier, Demokratieprinzip S. 185/186. 177 So auch Rittner, Verstehen S. 63. 178 Dazu bereits oben unter 2. b).
Rechtssicherheit
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Abgesehen davon läßt sich die herkömmliche Gegenüberstellung von Auslegung und Analogie ohnehin nicht aufrechterhalten. „Denn wenn man sagt, die Auslegung reiche bis zum ,möglichen Wortsinn', so ist man bereits mitten i n der Analogie" 1 7 9 , w e i l der rechtliche Gesichtspunkt, m i t dem ein Wort durch die Sinnrelation verbunden ist, immer als ein tertium comparationis fungiert, i n dem die beiden Pole des Verstehensprozesses — Tatbestand und Lebensverhalt — zur Deckung gebracht werden 1 8 0 , und w e i l gerade solche „Gleichsetzungen von Ungleichem nach Maßgabe eines sich als wesentlich erweisenden Gesichtspunktes" das analogische Verfahren kennzeichnen 181 . Demnach hat auch die Denkbewegung, die zur Ermittlung des „möglichen Wortsinns" führt, stets einen analogischen Charakter 1 8 2 . Ein „Analogieverbot" beinhaltete daher genaugenommen ein Verbot jeglicher Sinnermittlung 1 8 3 . Jedenfalls rechtfertigt der Analogiegedanke keine Unterscheidung zwischen der privatrechtskonformen Deutung der Privatrechtsbegriffe und der korrigierenden Sinnbestimmung dieser Tatbestandsmerkmale. Wie also sollte das Verbot einer inhaltlichen Berichtigung der fehlbestimmenden Privatrechtsbegriffe zu begründen sein, da man auf das — nunmehr als unbrauchbar erwiesene — Argument des steuerrechtlichen Analogieverbots verzichten muß? Die „rechtliche Unzulässigkeit" einer solchen Korrektur ließe sich nicht einmal unmittelbar aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes ableiten. Angesichts der geringen Abhängigkeit der Wirtschaftsunternehmen 184 von den gesetzlichen und judiziellen Daten erscheint es schon fraglich, ob das allgemein unterstellte „Vertrauen der Wirtschaft" auf eine privatrechtsorientierte Deutung der Privatrechtsbegriffe tatsächlich i n dem Maße besteht, daß n u r durch die Hinnahme eines Gegensatzes von steuerrechtlichen Gefügesmn und privatrechtiichem Einzelgliedsinn eine schwere Vertrauenskrise abzuwenden ist. Außerdem muß man wohl auch bezweifeln, ob das Vertrauen darauf, daß ein privatrechtlicher Ausdruck stets privatrechtlich verstanden wird, überhaupt einen Schutz beanspruchen könnte. Insoweit ist zu bedenken, daß das Prinzip „Vertrauensschutz" ebenso wie die Idee der Rechtssicherheit 179
A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 276. Vgl. Hassemer, Tatbestand S. 118. 181 So A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 294. 182 Vgl. auch Hruschka, Verstehen S. 102; ausführlich A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 272 ff., insbes. S. 302ff.; Hassemer, Tatbestand S. 118, 160 ff.; ähnlich bereits Sax, Analogieverbot S. 79ff., 94 ff., 152 ff.; Heller, Logik S. 135 ff. 183 Ebenso Hassemer, Tatbestand S. 161. 184 A u f „die Wirtschaft" oder „das Wirtschaftsleben" werden die A r g u mente „Vertrauensschutz" u n d „Rechtssicherheit" i n erster L i n i e bezogen; vgl. etwa Wiedemann , Larenz-FS S. 204; kritisch dazu Simon, Unabhängigkeit S. 19/20. 180
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§ 5. Das Verstehen der Privatrechtsbegriffe
darauf abzielt, richterliche Willkürakte zu unterbinden. Dieser Grundgedanke ginge verloren, wenn man den Richter generell an die (möglicherweise irrigen) Erwartungen der Betroffenen binden wollte. Vertrauensschutz darf nicht mit der Gewährleistung bestimmter Verstehensergebnisse verwechselt werden. Geschützt ist allenfalls das Vertrauen darauf, daß sich der rechtsanwendende Interpret innerhalb der vom Text gesetzten Grenzen bewegt 185 . Wo diese Grenzen liegen, läßt sich allerdings niemals genau vorherbestimmen, das zeigt sich i m mer erst i m Verlauf der Sinnerkenntnis. Denn die steuerrechtlichen Tatbestände und Tatbestandsmerkmale sind typologisch strukturiert, ihre Grenzen erweisen sich -als fließend 186 . Der Spielraum juristischen Verstehens kann daher ebensowenig endgültig fixiert werden wie das Rechtliche selbst. Wie aber kann man unter diesen Umständen sicher sein, daß sich der Interpret auch wirklich innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegt? Offenbar bleibt nur die Möglichkeit, das Vertrauen auf eine „dem Gesetz entsprechende" Interpretation dadurch zu schützen, daß wenigstens eine geordnete Schlichtung der Kontroversen u m die „richtige" Deutung der Privatrechtsbegriffe gewährleistet wird. Die Konsequenzen sind eindeutig: Ein derart relativiertes Vertrauensschutzargument vermag das Verbot einer korrigierenden inhaltlichen Bestimmung der privatrechtlichen Fehldeutungen nicht länger zu stützen.
185 Nicht mehr besagen auch die Äußerungen von Papier, zip S. 178. 186 Vgl. nochmals § 5 Α. I. 3.
Demokratieprin-
§ 6. Die Richtigkeit des Verstehens und der richterlichen Entscheidung A. Verstehen und Entscheiden Bisher war nur vom Verstehen und von der Auslegung des Verstandenen die Rede. Es bleibt zu prüfen, inwieweit juristische Verstehensprozesse die Rechtsentscheidung determinieren. Damit ist die Frage gestellt, welcher Zusammenhang zwischen der fallbezogenen Sinnerkenntnis (Rechtsanwendung) und dem richterlichen Urteil besteht. I. Rechtsanwendung, Rechtsentscheidung und Verbindlichkeit der Gesetze Wer i n einem hermeneutischen Prozeß die Bedeutung eines Rechtstextes erkennt, hat zugleich das „bindende Gesetz" erfaßt 1 . Der Verbindlichkeitsanspruch, der m i t dem Gesetzessinn verbunden ist, zielt darauf ab, den rechtsanwendenden Interpreten auf den Vollzug des Gesetzes zu verpflichten. Fraglich ist nur, ob der Richter diesem A n spruch i n jedem Fall ent-sprechen muß oder ob er dem Bindungsappell auch wider-sprechen kann. 1. „Verstehen" heißt immer schon „Anwenden", doch ist mit der A n wendung eines Tatbestandes auf einen konkreten Rechtsfall noch nicht die Regelungsmöglichkeit realisiert, die m i t dem betreffenden Tatbestand als Rechtsfolge verbunden ist. Dazu bedarf es erst noch einer besonderen Rechtsfolgenanordnung durch den Urteilsspruch, der seinerseits eine Rechtsentscheidung (ein Urteil) voraussetzt. Wenn man nun davon ausgeht, daß diese Rechtsentscheidung durch den Erkenntnisund Anwendungsprozeß, der zur Ermittlung des „bindenden Gesetzes" führt, vorprogrammiert bzw. von diesem Vorgang überhaupt nicht abtrennbar ist, so löst sich das Verbindlichkeitsproblem von selbst: Der Richter entscheidet immer „dem Gesetz entsprechend", denn ein Gegensatz zwischen seinem Urteil und dem, was als „bindendes Gesetz" erkannt wird, ist unter diesen Umständen nicht möglich. Tatsächlich vertreten manche Autoren 2 die Auffassung, die Vorgänge des Verstehens und Entscheidens seien untrennbar miteinander ver1
Vgl. Ebsen, Gesetzesbindung S. 34. Vgl. J. Esser, Vorverständnis S. 136 ff.; Mennicken, S. 95, 100 f. 2
Gesetzesauslegung
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§ 6. Die Richtigkeit des Verstehens u n d der Rechtsentscheidung
bunden. Die damit behauptete Identität von Erkenntnis und Urteil w i r d m i t dem Einfluß „finaler Entscheidungsvorstellungen auf die Rechtsanwendung" begründet 3 . Der Urtedler sei stets einem Entscheddungszwang ausgesetzt, dem er sich nicht entziehen könne, und deshalb stehe seine Normbefragung von Anfang an unter dem „entscheidungsbezogenen Vorverständnis der Konfliktsituation" 3 . Der Sinn eines Gesetzes werde nur dann wirklich begriffen, wenn man bereits ein Vor-Urteil (hier i. S. e. Vor-Entscheidung über den jeweils zu beurteilenden Konflikt) an den Rechtstext herantrage und so für eine Abstimmung der subjektiven Regelungserwartungen m i t den gegebenen Verständnismöglichkeiten sorge. M i t anderen Worten: Wenn das Ergebnis der Rechtsanwendung den Entscheidungsvorstellungen des rechtsanwendenden Interpreten widerspricht, so hat dieser auch den Rechtstext nicht verstanden und das „bindende Gesetz" noch gar nicht ermittelt. Nun läßt sich kaum bestreiten, daß rechtserhebliche sprachliche Äußerungen nicht nur fallbezogen, sondern auch entscheidungsbezogen verstanden werden. Wer i n einer konkreten Konfliktsituation ein Urteil zu fällen hat, geht an einen Gesetzestext immer schon m i t der Erwartung heran, daß gerade sein F a l l dadurch einer Rechtsentscheidung zugeführt wird 4 . Das Entscheidungsinteresse bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den Erkenntnisprozeß: Die Aussicht, eine i n dem Rechtssatz normierte Regelung anwenden und so den anstehenden Konflikt nach rechtlichen Maßstäben lösen zu können, sofern nur der betreffende Tatbestand erfüllt ist, w i r d bereits die Bildung der inhaltlichen Vorurteile beeinflussen, die der Interpret an den Text heranträgt. Aber selbst wenn die durch richterliche Interessen stimulierte Erwartung, das überprüfte Gesetz werde eine Entscheidung ermöglichen, am Ende bestätigt wird, w e i l sich i m Vorgang der Sinnerkenntnis herausstellt, daß der gesetzliche Tatbestand auf den Rechtsfall „anwendbar" und die m i t dem Tatbestand verknüpfte Rechtsfolge somit prinzipiell realisierbar ist, so ist damit dennoch die Entscheidungsaufgabe noch nicht erledigt. Denn die Richter sollen ja nicht nur über einen Konflikt „irgendwie" entscheiden, vielmehr sind sie darüber hinaus für ihre Entscheidungen auch „ i n dem Sinne verantwortlich, daß sie für grundsätzliche inhaltliche ,Riditigkeit' ZU sorgen haben" 5 . Eine Rechtsfolgenan3 J. Esser, Vorverständnis S. 139: „Es werden mögliche Ergebnisse vorweg ins Auge gefaßt, u n d an ihnen w i r d die Verstehbarkeit des Textes ausgemacht." 4 Vgl. Hruschka ARSP 1964, 494. 5 Ebsen, Gesetzesbindung S. 36. Diese Auffassung w i r d allerdings nicht allgemein akzeptiert; vgl. etwa Adomeit JuS 1972, 628ff.; dens. JuS 1973, 207. A u f Ablehnung stößt das Postulat der Entscheidungsrichtigkeit v o r allem bei denen, die einen systemtheoretischen Standpunkt vertreten; vgl. Luhmann, Legitimation S. 21: „ E i n
Α. Verstehen u n d Entscheiden
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Ordnung, die nicht den Anspruch erheben könnte, auf einem „richtigen" Urteil zu basieren, wäre nur eine belanglose Aussage, u m die sich niemand zu kümmern brauchte®. Somit bleibt der Richter aufgerufen, das Ergebnis der Rechtsanwendung an dem (wie auch immer zu bestimmenden) Richtigkeitsmaßstab zu überprüfen und sich u m eine Anpassung seiner endgültigen Entscheidung an diesen Maßstab zu bemühen. J. Esser 7 geht allerdings davon aus, daß eine gesonderte Überprüfung des Erkannten gar nicht notwendig ist, weil die Richtigkeitskriterien bereits i m Vorgang der Rechtsanwendung als Kontrollinstanz wirksam werden. Seiner Meinung nach steht ein hermeneutischer Prozeß bei den zur Rechtsentscheidung berufenen Juristen von vornherein unter der erkenntniisleitenden Frage, ob anhand der gesetzlichen ratio ein „befriedigendes" („brauchbares", „sachgerechtes", „richtiges") Urteil gefällt werden kann oder nicht. Die Erwartung einer „richtigen" (und das heißt bei J. Esser: einer „gerechten und vernünftigen") Entscheidung begrenze und erschließe immer schon die Verständnismöglichkeiten. Die vorgreifende Bewegung der Vorverständnisse leiste demnach beides zugleich: die Einstimmung von Vergangenheit und Gegenwart, von Interpret und Text, von Gefügesinn und Gliedsinn, die letztlich zum Verstehen des Rechtstextes und damit zur Erkenntnis der gesetzlichen Regelungsmöglichkeit führt, und die Abstimmung dieses Ergebnisses mit dem Richtigkeitsmaßstab. Tatsächlich besteht jedoch zwischen beiden Anpassungsvorgängen ein Unterschied, der vor allem als Unterschied i n der Haltung des Verstehenden/Entscheidenden zu erkennen ist 8 . Die Vermittlung dialektischer Positionen, die sich i m Rechtsanwendungs- und Verstehensprozeß vollzieht, geschieht i m vorrationalen Bereich, ohne daß es einer bewußten Initiative des Interpreten bedarf (abgesehen vielleicht von dem Entschluß, überhaupt >an einem hermeneutischen Geschehen teilzunehmen). Anders verhält es sich dagegen bei der Überprüfung der „Richtigkeit" von Entscheidungen, welche der juristische Erkenntnisprozeß als „gesetzliche Lösungen" zutage fördert. Diese „Richtigkeitskontrolle" ist nur so denkbar, daß sich der Richter von dem, was er i m Vorgang der Rechtsanwendung ermittelt, bewußt absetzt, damit das Erkannte überhaupt zum Objekt einer Beurteilung nach dem Maßstab „wahr"/„falsch" werden kann. Innerhalb des Verstehens- und Anwendungsprozesses System, das die Entscheidbarkeit aller aufgeworfenen Probleme garantieren muß, k a n n nicht zugleich die Richtigkeit der Entscheidung garantieren. Funktionale Spezifikation i n der einen Richtung schließt die i n der anderen aus." 6 Ebenso Larenz, E. R. Huber-FS S. 301. 7 Vorverständnis S. 138 fï., 142 ff. 8 Dazu Ebsen, Gesetzesbindung S. 39 f.
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§ 6. Die Richtigkeit des Verstehens u n d der Rechtsentscheidung
wäre eine solche Distanzierung unmöglich, denn für das hermeneutische Geschehen ist ja gerade die (wirkungsgeschichtlich bedingte) Verschmelzung von Subjekt und Objekt, die „Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstande" 9 , ein konstitutives Moment. Demnach bleibt immer nur die Möglichkeit, zunächst den Gesetzessinn (das „bindende Gesetz") zu ermitteln, u m dann zu prüfen, ob es nach den für maßgeblich erachteten Richtigkeitskriterien zu verantworten ist, entsprechend dem Gesetzessinn zu entscheiden 10 . M i t der i m Verstehen praktizierten Anwendung eines Tatbestandes auf einen Rechtsfall w i r d somit zwar die gesetzlich vorgesehene Regelung einer Konfliktsituation ermittelt, nicht aber das „richtige" Urteil des Richters vorprogrammiert. Die endgültige Rechtsentscheidung ist immer nur unabhängig vom Vorgang der Rechtsanwendung zu vollziehen, so daß sich die Frage, inwieweit das „bindende Gesetz" für den Entscheidenden verbindlich ist, auf keinen Fall von selbst erledigt. 2. Das Postulat der normativen Verbindlichkeit erscheint unproblematisch, solange der Vollzug des „bindenden Gesetzes" ein „richtiges" Ergebnis gewährleistet. Schwierigkeiten ergeben sich erst, wenn der Bindungs- oder Verbindlichkeitsanspruch i n einen Gegensatz gerät zu der Forderung, daß der Richter für die inhaltliche „Richtigkeit" der von i h m zu treffenden Entscheidungen zu sorgen hat. Die Annahme, i n einem solchen Fall sei stets die gesetzliche Entscheidung verbindlich, ist nicht akzeptabel. Denn die Bindung an „Gesetz und Recht" ist ja kein Selbstzweck, sondern überhaupt nur dadurch zu rechtfertigen, daß dem Richter m i t dem „bindenden Gesetz" angeblich ein „wertvoller" Maßstab für künftiges Handeln, d. h. eine Entscheidungsrichtlinie für ein „richtiges" Urteil an die Hand gegeben ist 11 . Bei einem Gesetz, das dem Anspruch, „richtige" Konfliktlösungen zu ermöglichen, nicht gerecht wird, entfällt jeder Grund für eine zustimmende Stellungnahme zu dem erhobenen Verbindlichkeitsanspruch. Demnach kann das Argument der Rechtsbindung die richterliche Entscheidung immer n u r insoweit legitimieren, als zugleich die „Richtigkeit" der gesetzlichen Konfliktregulderung nachgewiesen wird. Die Notwendigkeit einer Relativierung des Verbindlichkeitsprinzips durch das Richtigkeitserfordernis w i r d durch eine andere Überlegung bestätigt. Dem Richter ist das „bindende Gesetz" nicht vorgegeben, sondern aufgegeben. Was somit als Entscheidung des „Gesetzgebers" er9
Gadamer , Wahrheit S. 249, 312. So auch Ebsen, Gesetzesbindung S. 40. 11 Vgl. Hruschka, Verstehen S. 64 f. 10
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mittelt wird, ist immer auch eigene „Entscheidung" 12 des rechtsanwendenden Interpreten, so daß man die rechtsprechende Tätigkeit selbst dort, wo „lediglich das Gesetz vollzogen" wird, als originäre Rechtskonstitution betrachten muß 13 . Wer einen Rechtsfall lösen soll, kann niemals bloßer Gesetzesvollstrecker („Mund des Gesetzes") sein. Das heißt zugleich: Er kann die Verantwortung für seinen Urteilsspruch nicht einfach den Parlamenten zuschieben, da die legislativen Funktionen auf „Gesetzgebung" und Rechtsprechung verteilt sind, vielmehr muß er seine Entscheidungen stets als eigene Wertungen rechtfertigen. Kurz: Der Richter ist für sein Handeln und für die „Richtigkeit" seiner Konfliktlösungen selbst verantwortlich 1 4 . Wie aber sollte für i h n unter diesen Umständen der Gesetzessinn zu einer generell verbindlichen Urteilsrichtlinie werden können? Entscheidungsverantwortung u n d strikte Bindung an „das Gesetz" schließen sich insoweit gegenseitig aus. Wer dennoch das VerbindMchkeitsprinzip zum absoluten Wert erhebt, verkehrt nur die Verantwortlichkeit des Richters für „sein" (d. h. subjektiv mitbestimmtes) Recht i n eine Verantwortlichkeit vor „dem" (d. h. objektive vorgegebenen) Recht 15 , u m so „störende Fragen nach der Legitimation der Entscheidungen" abzublocken 16 . Das „bindende Gesetz" kann dem Richter die Verantwortung für ein „richtiges" Urteil nicht abnehmen. Daher muß i m Anschluß an den Vorgang der Rechtsanwendung immer noch geprüft werden, ob die Umsetzung des jeweils Erkannten i n ein Urteil m i t den Richtigkeitskriterien vereinbar ist. Dem Verbindlichkeitsanspruch braucht also nicht i n jedem Fall entsprochen zu werden. I m Gegenteil: Der zur Rechtsentscheidung Berufene ist zum Wider-Spruch verpflichtet, falls die gesetzliche Regelung kein „richtiges" Ergebnis gewährleistet. 12 Der Begriff „Entscheidung" ist insofern ungenau, als sich die subjektive Beeinflussung des Verstehensergebnisses durch den Richter i m vorrationalen Bereich vollzieht u n d deshalb — anders als das „richtige" Urteil, das der Rechtsanwendung folgen soll — nicht als bewußtes Entscheiden gewertet werden k a n n ; „eigene Entscheidung" ist daher auch n u r so zu verstehen, daß die gesetzliche Entscheidung (das „bindende Gesetz") durch die Subjektivität des Interpreten mitbestimmt w i r d . 13 Simon, Unabhängigkeit S. 107 f.; vgl. dazu auch § 5 B. I I I . 2. a). 14 Ebenso Ebsen, Gesetzesbindung S. 47; Simon, Unabhängigkeit S. 106. 15 Vgl. dazu Wiethölter, Rechtswissenschaft S. 60, dem es i n erster L i n i e darum geht, den „Schein einer ,höheren' Verankerung von Rechtsgeschehen" i n einem theologiefreien Naturrecht zu zerstören u n d den Menschen auf seine Eigenverantwortlichkeit f ü r Recht zu verweisen. Diese K r i t i k läßt sich aber auch gegen einen Positivismus vorbringen, der das Recht allein „ i n den Gesetzen" verankert sieht u n d den unvermeidlichen Einfluß der S u b j e k t i v i tät auf die Bestimmung des Rechtlichen verschleiert. 16 So Ebsen (Gesetzesbindung S. 41/42) i n seiner K r i t i k an J. Esser (Vorverständnis S. 197), der ausdrücklich feststellt, die Bindung des Richters an das gesetzliche Regelungsmodell werde nicht dadurch aufgehoben, daß die „fertige N o r m " v o n i h m erst hergestellt werde.
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§ 6. Die Richtigkeit des Verstehens und der Rechtsentscheidung
II. Entscheidungsrichtigkeit
und politische Funktion
des Richters
Die Bestimmung der Kriterien, nach denen sich die Richtigkeit einer Rechtsentscheidung bemißt, darf nicht dem Entscheidenden überlassen bleiben, wenn eine wirksame Kontrolle der richterlichen Tätigkeit gewährleistet sein soll. Es fragt sich allerdings, ob eine verbindliche Fixierung solcher Wertungskriterien überhaupt möglich ist 1 7 . Ideal wäre natürlich die Entdeckung eines gesamtgesellschaftlich akzeptierten Wertprogramms, an dem sich dann das „richtige" Urteil ausmachen ließe. Angesichts der antagonistischen Interessenstrukturen i n unserer Gesellschaft erscheint jedoch die Hoffnung auf einen allgemeinen Wertekonsens unrealistisch 18 . A u f eine breite Zustimmung stoßen allenfalls die politisch-rechtlichen Grundlagenentscheidungen der Verfassung. Deshalb soll geprüft werden, inwieweit die konstitutionellen Konzeptionen dem Richter eine Orientierungshilfe bieten können bei der Beurteilung der Richtigkeit seiner Entscheidungen. 1. Die Verfassung des Grundgesetzes e i k l ä r t den demokratischen Rechts- und Sozialstaat zum Prinzip gesellschaftlicher Strukturierung und Organisation. Damit ist ein Programm formuliert, das wegen seiner inhaltlichen Unbestimmtheit als praktische Handlungsanweisung zunächst wenig taugt. Als Richtlinie und Maßstab juristischer Urteile kommt diese Verfassungsgrundentscheidung erst dann i n Betracht, wenn sie präzisiert w i r d i n einer aus kritischer Empirie und Reflexion zu gewinnenden Gesellschaftstheorie einerseits und einer daraus abgeleiteten Theorie des Rechts und seiner gesellschaftlichen Funktionen i n einer sozial- wie rechtsstaatlich verfaßten Demokratie andererseits 19 . Auf dieser Grundlage könnte man einer Rechtsentscheidung, i n der sich das gesellschaftstheoretische, rechtstheoretisch präzisierte Konzept eines demokratischen Rechts- und Sozialstaates verwirklicht, das Prädikat „richtig" zuerkennen. Die postulierte Sozialtheonie muß eine veraltete politische Ordnungsvorstellung ablösen, derzufolge Staat und Gesellschaft durch eine klare Grenze voneinander getrennt sind 20 . Die Bedingungen für eine Spaltung 17 Die Aufzählung v o n Leerformeln genügt nicht. J. Esser (Vorverständnis S. 24 u n d öfter) macht es sich w o h l etwas zu einfach, w e n n er die „Gerechtigkeit u n d Vernünftigkeit" einer Entscheidung zum Richtigkeitskriterium erhebt, ohne das Gemeinte zu präzisieren; dazu auch Schwerdtner JuS 1972, 359 f. 18 Ebenso Simon, Unabhängigkeit S. 114. 19 Vgl. Wiethölter, Böhm-FS S. 48 f.; dens., Rechtswissenschaft S. 10, 179 u n d öfter; dens., Anforderungen S. 19, 24, 28 f.; dazu auch Simon, Unabhängigkeit S. U l f . , 114f. 20 F ü r dieses Trennungsdenken ist eine v o n vier CDU-Politikwissenschaft lern erarbeitete Richtlinie „ P o l i t i k i m Unterricht" charakteristisch, i n der „Staat" definiert w i r d als die „organisierte zentrale Entscheidungsinstanz,
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von politischem Staat und unpolitischer bürgerlicher Gesellschaft sind längst aufgehoben 21 . Soziale Gewalt ist nicht mehr i m Staate „monopolisiert, sondern auf zahlreiche intermediäre Bildungen zwischen Staat und Bürger verteilt" 2 2 . Heutzutage w i r d unsere Staatlichkeit „von Parteien, Gewerkschaften, Gruppen, Verbänden, Öffentlichkeit, Führungsschichten und Großunternehmen bestimmt" 2 3 , d. h. es müssen neu entstandene bzw. bisher ignorierte politische Instanzen zur Kenntnis genommen werden. Doch m i t der bloßen Registrierung der soziologischen Gegebenheiten ist es nicht getan. Man muß verhindern, daß die genannten Machtfaktoren i m Rücken der Gesellschaft, also: losgelöst von den Interessen der Gemeinschaft und außerhalb jeder gesellschaftlichen Kontrolle wirksam werden, wenn der demokratische Grundsatz, wonach alle Gewalt — und damit alles politische Handeln — „vom Volke" ausgeht, nicht nur eine Forderung bleiben soll. Notwendig ist deshalb die Preisgabe des dualistischen Modells ( = Spaltung von Staat und Gesellschaft) und die Ausrichtung auf eine politische Gemeinschaft 24 , die den Staat als ihren Staat betrachtet (und nicht als anonymen Apparat, der über der Gesellschaft waltet wie zuvor der Monarch) und die vor allem die ausgeübte politische Gewalt als ihre Herrschaft begreift (und dementsprechend jede Machtentfaltung auf ihre soziale Legitimation h i n überprüft). Von einem derart veränderten Gesellschafts- und Staatsverständnis her wären die Abgrenzung von Sozial- und Individualbereich und damit zugleich die Grundlagen und Grenzen für den Gestaltungsauftrag des „Gesetzgebers" und der Rechtsprechung zu gewinnen 2 3 . Die postulierte Rechtstheorie muß die soziale und politische Relevanz der juristischen Kategorien und Dimensionen, soweit sie bisher als unpolitisch galten, aufweisen 25 . Zu erklären ist die politische Funktion des Rechts, seine Aufgabe also, i n einem demokratischen Staatswesen die Durchsetzung und Entfaltung der „vom Volke" ausgehenden umfassenden Staatsgewalt zu gewährleisten 26 und so zur Verwirklichung einer die, auf Konsens angewiesen, die Rechtsordnung der Gesellschaft festlegt u n d f ü r die Gesellschaft Leistungen erbringt. Seine Rolle ist die eines formalen allgemeinverbindlichen Konfliktregelungsmechanismus, der den einzelnen vor ideologischen Exklusivzumutungen, Gruppenegoismus u n d Gruppenindolenz bewahrt." (zitiert nach Roloff, Frankfurter Rundschau v. 20. 5. 1976 S. 13). 21 Ausführlich Wiethölter, Böhm-FS S. 45 ff.; ders., Rechtswissenschaft S. 37, 41; zustimmend Simon, Unabhängigkeit S. 111. 22 Wiethölter, Böhm-FS S. 45. 23 Vgl. Wiethölter, Böhm-FS S. 48. 24 Dazu auch Wiethölter, Rechtswissenschaft S. 37, 41; ders., Anforderungen S. 18 f., 28 ff. 25 So Wiethölter, Böhm-FS S. 48, am Beispiel einer (noch zu entwickelnden) Privatrechtstheorie. 26 Vgl. Wiethölter, Anforderungen S. 28. en
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§ 6. Die Richtigkeit des Verstehens u n d der Rechtsentscheidung
„guten Ordnung" des Gemeinwesens beizutragen 27 . Recht darf nicht länger mißverstanden werden als (politisches) Instrument zur Absicherung der unpolitischen bürgerlichen Gesellschaft. Einem solchen Rechtsverständnis entgeht die Wirklichkeit, die zu behandeln es vorgibt; Recht bleibt so bloßes Klassenrecht, das den unerkannt wirkenden Inhabern sozialer, ökonomischer und politischer Herrschaft die unkontrollierte Transformation ihrer Gewalt über Recht i n Rechtsmacht erlaubt 2 8 . Es ist also notwendig, sich neu zu orientieren. Die rechtsprechende Gewalt darf die politische Gesellschaft nicht i n Schach halten, sondern muß zu ihrer Verwirklichung beitragen. A u f der Grundlage dieser Erkenntnis wären Handlungsanweisungen zu entwickeln, anhand derer der Richter m i t seinem Urteil die Grundlagenentscheidungen der Verfassung transferieren und vollziehen kann. Eine allgemeine politische Rechtstheorie ließe sich zu einer Steuerrechtstheorde konkretisieren, die dem Steuerrecht eine Funktion zuweist bei der Durchsetzung der inneren, materiellen Demokratisierung einer sozial- wie rechtsstaatlich verfaßten politischen Gesellschaft. Auch dabei käme es zunächst darauf an, den hinfällig gewordenen Dualismus von Staat und Gesellschaft zu überwinden und den i n der Realität vorhandenen Pluralismus der politischen Instanzen rechtlich zu erfassen. Ein solches Umdenken ist unumgänglich, weil sonst ζ. B. die politische Relevanz der gemeinhin zum unpolitischen Gesellschaftsbereich gezählten wirtschaftlichen Interessengruppen und die Beschränkung der staatlichen Steuerhoheit durch wirtschaftliche Macht unbemerkt bliebe. Es muß gewährleistet sein, daß sich wichtige wirtschaftliche Potenzen einem belastenden Zugriff nicht unerkannt und unkontrolliert entziehen können. Deshalb ist die faktisch entprivatisierte ( = politisierte) Wirtschaft 29 auch i m Bereich des Steuerrechts als politischer Faktor zu behandeln. Und das bedeutet konkret: Bei der steuerrechtlichen Beurteilung einer — aus Gründen der Steuerersparnis errichteten — GmbH & Co K G steht nicht mehr die Privatautonomie zur Debatte, sondern die soziale Legitimität der beabsichtigten Steuereinsparung. Nur so kann man verhindern, daß „private" Macht das Steuerrecht i n wichtigen Bereichen funktionsunfähig werden läßt, w e i l sie sich als politische, rechtlich aber nicht erfaßte Herrschaft gegen die Interessen der Gemeinschaft durchzusetzen vermag. Die Konzeption einer politischen Steuerrechtstheorie setzt zutreffende Vorstellungen über den Menschen und über das Verhältnis von W i r t 27 Z u r Definition des Begriffs „politisch" vgl. auch Wiethölter, Rechtswissenschaft S. 179; Schwerdtner Z R P 1969, 137/138. 28 Dazu auch Wiethölter, Anforderungen S. 18. 29 Z u r Politisierung der Wirtschaft vgl. ausführlich Wiethölter, Rechtswissenschaft S. 246 ff.; Jaeggi, K a p i t a l u n d A r b e i t S. 106 ff.
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schaft und Gesellschaft voraus. Zu revidieren ist das i n den Steuergesetzen ausgemalte B i l d von der Wirklichkeit, das wegen der umfangreichen Rezeption privatrechtlicher Tatbestände und Tatbestandsmerkmale weitgehend m i t dem Gesellschafts-, Wirtschafts- und Menschenbild des privaten Rechts 30 übereinstimmt. Man sollte zur Kenntnis nehmen, daß w i r es i m Steuerrecht zu t u n haben m i t einer Gesellschaft, die das reibungslose Funktionieren der großen „privaten" Wirtschaftsgruppen längst als eine Existenzfrage betrachten muß und i n deren Rechtswelt das Steuerrecht dementsprechend (auch) eine den Großunternehmen dienende Rolle übernommen hat, m i t einer Wirtschaft, für die das Privatrecht nicht mehr das „Verfassungsrecht einer herrschaftsfreien Ordnung unter gleichgestellten Bürgern", sondern nur noch „ein Arsenal rechtlicher Gebilde zum beliebigen Gebrauch" ist 3 1 , so daß die steuerrechtlichen Normen, soweit sie an das Privatrecht anknüpfen, vielfach ins Leere greifen, und schließlich m i t Menschen, die i n ihrer großen Mehrzahl keineswegs freie, gleiche, vernünftige und ausschließlich nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung strebende Individuen sind, sondern i n tausend Abhängigkeiten verstrickte „salariés" 3 2 , denen schon immer die Freiheit gefehlt hat, „ihre Rechtsverhältnisse so zu gestalten, daß sie möglichst wenig Steuern zu zahlen haben" 33 . Wie sehr heute noch statt der tatsächlich gegebenen Verhältnisse eine „ideologische" Realität für die Besteuerung maßgebend ist, zeigt sich am Beispiel des Körperschaftsteuergesetzes, das i n § 1 Abs. 1 KStG den Eindruck erweckt, die Anknüpfung an die Rechtsform der juristischen Person sei ein adäquates M i t t e l der Wirklichkeitserfassung. Die wirtschaftliche Entwicklung m i t ihren Tendenzen zur ökonomischen Konzentration und zu anderen Formen ökonomischer Kooperation hat i n vielen Fällen längst zur Aufhebung der ursprünglichen Einheit von juristischer Person und betriebenem Unternehmen geführt. Die faktische Zusammenfassung von Produktionskapazitäten unter einheitlicher Leitung hat neue ökonomische „Körper" entstehen lassen, die einerseits wirtschaftliche und andere soziale Potenzen entwickeln, andererseits aber wegen der gleichzeitigen Bewahrung einer rechtsformalen Vielheit dem rechtlichen Zugriff weitgehend entzogen sind. Hinter der Fassade einer Machtverteilung auf mehrere Unternehmen, die untereinander einen „scharfen Wettbewerb" austragen und dadurch 30 Z u m Wirklichkeitsbild des Bürgerlichen Rechts Wiethölter, Rechtswissenschaft S. 180. 31 Vgl. Biedenkopf, Böhm-FS S. 115, der allerdings glaubt, insoweit n u r eine drohende Gefahr u n d nicht schon die Wirklichkeit zu beschreiben. 32 Wiethölter, Böhm-FS S. 49. 33 A u f diese v o n Steuerrechtlern gern beschworene Freiheit verweist ζ. B. Paulick, Lehrbuch Rz. 342.
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ihren Einfluß gegenseitig begrenzen, verbirgt sich immer häufiger eine wirtschaftliche Einheit, die die gesellschaftsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten dazu benutzt, die tatsächliche Machtkonzentration zu verschleiern und „dem Publikum Sand i n die Augen zu streuen" 34 . Die Selbständigkeit der Rechtsfiguren, i n denen die konzentrierte ökonomische Macht „juristische Realität" gewinnt, ermöglicht insbesondere „die Manipulation steuerpflichtiger Vorgänge, namentlich des steuerpflichtigen Gewinns" 3 4 . Die formale Zergliederung kann sich zwar gelegentlich auch nachteilig für das Unternehmen auswirken, meist ist aber nur das Gegenteil der Fall: Es werden beträchtliche Steuerersparnisse erzielt 35 . Solange daher die Körperschaftsteuerpflicht bedingungslos an die Rechtsform anknüpft 3 6 , w i r d sich die Besteuerung gegen die Herrschaftsinteressen einzelner Gruppen kaum durchsetzen können, w e i l die konkreten Machtstrükturen durch die vom Gesellschaftsrecht zur Verfügung gestellten Formen nicht mehr erfaßt werden 3 6 \ Insoweit werden auch i m Steuerrecht die Auswirkungen einer allgemeinen Entwicklung erkennbar, die man -als Begrenzung der staatlichen Handlungsfreiheit (und konkret: der Steuerhoheit) durch die „private" W i r t schaft beschreiben kann 3 7 . 2. Rechtsprechung ist nur dann demokratisch legitimiert, wenn sie die politisch-rechtlichen Grundlagenentscheidungen unserer Verfassung vollzieht. Deshalb muß sich richterliches Handeln an der Zielvorstellung von einer dem Rechts- wie Sozialstaatsprinzip verpflichteten demokratischen Gesellschaft orientieren. Dem Richter ist damit eine politische Funktion zugewiesen, die er durch bewußt politische, d. h. an der Idee einer durchgehend demokratischen Ordnung des Gemeinwesens ausgerichtete Entscheidungen zu erfüllen hat 3 8 . a) Die Forderung nach einem politisch entscheidenden Richter w i l l die Politisierung der Rechtsprechung nicht herbeiführen, sondern ihre vorhandene Politisierung i n eine legitime Verfassung bringen 39 . Es wäre falsch, das unpolitische juristische Selbstverständnis für eine adäquate Beschreibung der Praxis zu halten. Recht hat noch nie über 34 Pohmer, Wirtschaftswissenschaft S. 63; vgl. auch Biedenkopf, Böhm-FS S. 113 ff. 35 Vgl. dazu Pohmer, Wirtschaftswissenschaft S. 64. 38 Diese A n k n ü p f u n g w i r d n u r selten i n Frage gestellt; vgl. etwa B F H BStBl. 1959, 369 (371) betr. die Einmanngesellschaften. 3ea Vgl. auch Biedenkopf, Böhm-FS S. 119/120. 37 Vgl. auch Jaeggi, K a p i t a l u n d A r b e i t S. 78. 38 Vgl. Wiethölter, Rechtswissenschaft S. 38 u n d öfter; dens., Anforderungen S. 6, 25 ff., 29; Simon, Unabhängigkeit S. 104 if., 113. 39 Dieses Anliegen verkennen Fikentscher, Demokratie S. 38 ff., u n d Mayer-Maly Z R P 1970, 265 ff.
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der Politik gestanden, sondern war immer schon Aus drucksform politischer Verhältnisse 40 . Den Richtern w i r d es deshalb niemals gelingen, zwischen Politik und Recht eine „wertende Distanz" einzuschieben 41 . Denkbar ist allenfalls eine Abhebung des politisch annehmbaren von dem politisch abzulehnenden Recht (ζ. B. auf der Grundlage einer Dezision für den demokratischen Rechts- und Sozialstaat) 42 . Wie sollte man auch von der Justiz ein „Nein zur P o l i t i k " 4 3 erwarten können, da sie in der Gesellschaft und wegen der Gesellschaft existiert und damit eine politische Funktion dieser Gesellschaft ist? Selbst eine Rechtsprechung, die sich unpolitisch gibt, spielt i n W i r k lichkeit eine höchst politische Rolle: Da sie ihre Aufgabe, an einer umfassenden Demokratisierung unserer Gesellschaft mitzuwirken, nicht akzeptiert, trägt sie zur Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse bei, zur Wahrung einer politischen Ordnung also, i n der einzelne Interessengruppen unerkannt u n d unkontrolliert soziale Herrschaft ausüben können. Der neutrale, apolitische Richter ist somit ein politisch entscheidender Richter, der — unbewußt oder jedenfalls unexpliziert — die Idee einer vom Staat abgekoppelten bürgerlichen Gesellschaft zu verwirklichen trachtet und sich dieser Ideologie entsprechend „durch seine Neutralitätsbehauptung politisch legitimiert" 4 4 . So gesehen verschleiern das „Recht-vor-Politik-Programm" und die damit verknüpfte „Neutralitätsmystik" i m Ergebnis „die Durchsetzung konservierender Traditionen gegen demokratische Fortschrittlichkeit" 4 0 . Die „nicht mehr wirksam kontrollierbare Übernahme politischer Inhalte" ist demnach das Charakteristikum einer scheinbar unpolitischen Rechtsprechung 45 . Das Anliegen der politischen Jurisprudenz ist dagegen die offene Ausrichtung der Rechtsentscheidung auf eine bestimmte, i n der Verfassung angelegte politische Ordnungskonzeption, u m so eine wirksame Kontrolle der richterlichen Urteile zu ermöglichen. Trotz gegenteiliger Beteuerungen 46 gibt es keinen „starken, i n der Eigenart rechtlichen Denkens begründeten Faktor", der „dem eingeborenen Machthunger der Ideologien normative Grenzen" setzt. Der (verfehlte) Hinweis auf solche juristischen „Naturgesetze" lenkt nur ab von 40
Wiethölter, Anforderungen S. 23. Vgl. auch Rottleuthner, Richterliches Handeln S. 168: „Dafür, was als politisch, was als rechtlich gilt, gibt es keine festen Kriterien." 42 Ä h n l i c h Wiethöltery Rechtswissenschaft S. 164. 43 So die Forderung von Fikentscher, Demokratie S. 41. 44 Simon, Unabhängigkeit S. 113; vgl. auch Wiethölter, Anforderungen S. 22, der die Neutralitätsideologie als „Lebenslüge des Obrigkeitsstaats" bezeichnet. 45 Der entsprechende V o r w u r f von Fikentscher (Demokratie S. 40), der die politische Jurisprudenz treffen soll, fällt also auf i h n selbst zurück. 46 Vgl. etwa Rüthers, Auslegung S. 441. 41
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§ 6. Die Richtigkeit des Verstehens und der Rechtsentscheidung
der politischen Verantwortlichkeit des Richters für seine Entscheidungen. Notwendig ist eine Aufklärung über den Zusammenhang von Recht und Politik, nicht aber die Wiedererweckung eines „politisch neutralen" Richters, dem die Dogmatik und die „Regeln" der juristischen Methodenlehre ideologische Seitensprünge angeblich verwehren 47 . Zu fordern ist ein Entscheidungsverhalten, das aus der Unvermeidbarkeit politischer Wertungen eine demokratische Tugend macht und sich deshalb bewußt an der (rechtstheoretisch zu konkretisierenden) Idee einer politischen, demokratisch organisierten Gesellschaft orientiert. b) Es fragt sich allerdings, wie eine solche Sozialtheorie — unter Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen Interessen und Entscheidungen — zu entwickeln wäre. Schon die empirische Analyse unserer gegenwärtigen (unpolitischen) Gesellschaft, die den Ausgangspunkt einer Reflexion über die künftige (politische) Gesellschaft bilden müßte, dürfte zu Kontroversen u m die Methode und die Richtigkeit der Ergebnisse führen. Ungleich problematischer ist der Entwurf einer konsensfähigen materialen Verfassungstheorie, die das Bekenntnis zum demokratischen Rechts- und Sozialstaat i n ein gesellschaftliches Strukturierungsprogramm umwandelt. Wer angesichts dieser Schwierigkeiten zur Resignation neigt, sollte zumindest den Versuch unternehmen, m i t Hilfe sozialwissenschaftlicher Handlungsmodelle die heutzutage i n den Urteilen wirksam werdenden politischen Motive der Richter aufzudecken 48 . Damit wäre jedenfalls sichergestellt, daß die zur Rechtsentscheidung herangezogenen Kriterien aus dem Dunstkreis verschwiegener politischer Ordnungsvorstellungen heraus- und einer rationalen Erörterung zugeführt werden. M i t einer Aufklärung der realen politischen Grundlagen richterlichen Handelns ist es jedoch nicht getan. Es müßte auf jeden Fall erreicht werden, daß die Rechtsprechung generell die politisch-rechtlichen Grundlagenentscheidungen der Gesellschaft ohne emanzipatorisches 47 Auch Rüthers (Auslegung S. 442 ff.) muß zugeben, daß die Methodenlehre als Schranke „gegen totalitäre Rechtsperversionen" untauglich ist. Da allerdings seiner Meinung nach der Richter „Diener u n d nicht Herr des Gesetzes" ist, lehnt er eine „ K o r r e k t u r fundamentaler Wertungsperversionen des Gesetzgebers" durch den Richter ab (S. 445). Die damit i n der Theorie vollzogene Instrumentalisierung u n d Entpolitisierung der Justiz befreit die Richterschaft i m Grunde v o n jeder Verantwortung f ü r die juristische A b sicherung u n d Förderung des Nationalsozialismus. Gerade dadurch (und nicht etwa durch die u m A u f k l ä r u n g über die richterliche Verantwortung bemühte politische Jurisprudenz) werden aber die Weichen — erneut — auf ein Gleis gestellt, „das i n Orwells Vision f ü r 1984, das auch i n Auschwitz enden k a n n " — ein V o r w u r f , den Fikentscher (Demokratie S. 42) eigentlich an die Adresse der politischen Jurisprudenz gerichtet sieht, der aber ebenfalls an den Adressanten zurückzugeben ist. 48 Vgl. zu dieser Möglichkeit ausführlich Rottleuthner, Richterliches H a n deln S. 61 ff.
Β . Richtigkeitskontrolle
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oder konservatives Sektierertum mitvollzieht 4 9 . Deshalb wäre zu überlegen, ob es nicht ein Verfahren gibt, das eine mehrheitlich akzeptierte, auf die Bereitstellung juristischer Handlungsorientierungen abzielende Konkretisierung des demokratischen „Wertehimmels" erlaubt 5 0 . Damit ist eine Arbeitsaufgabe formuliert, von deren Erfüllung die Möglichkeit einer demokratischen Legitimation und Kontrolle des richterlichen Handelns abhängt. B. Richtigkeitskontrolle Eine Theorie des Steuerrechts und seiner Funktion i n einer der Rechts- wie Sozialstaatsidee verpflichteten Demokratie kann i m Rahmen dieser Untersuchung nur gefordert, nicht schon präsentiert werden 51 . Der Maßstab, an dem sich die Entscheidungsrichtigkeit bemißt, muß dementsprechend ungenau (und für die Praxis unbrauchbar) bleiben. Aber selbst wenn es i n absehbarer Zukunft gelingen sollte, die Richtigkeitskriterien zu konkretisieren, so wären damit keineswegs alle Schwierigkeiten beseitigt. Zu lösen bleibt dann immer noch das Problem der Richtigkeitskontrolle, das sich sowohl bei den hermeneutischen Prozessen als auch bei der eigentlichen Urteilstätigkeit des Richters ergibt. Denn m i t der bloßen Behauptung des Entscheidenden, er habe einen Rechtstext richtig verstanden und mit dem Vollzug bzw. m i t der Ablehnung des „bindenden Gesetzes" auch eine richtige Entscheidung getroffen, darf man sich nicht zufriedengeben. Somit ist die Frage gestellt, wie die zutreffende Erfassung des Gesetzessinns und die Übereinstimmung des schließlich gefällten Urteils m i t der Konzeption eines demokratischen Rechts- und Sozialstaates wirksam überprüft werden kann. I. Theorie Die Frage nach der Richtigkeitskontrolle des Verstehens und der richterlichen Entscheidungen führt hinein i n die allgemeine Diskussion 49 Vgl. Simon, Unabhängigkeit S. 123, der sich allerdings zu den Chancen einer V e r w i r k l i c h u n g dieser Forderung skeptisch äußert. 50 E i n solches Verfahren könnte ζ. B. der Diskurs sein, der seiner Idee nach die Möglichkeit bietet, normative Aussagen — also auch Aussagen über die konkreten Handlungsnormen, die sich f ü r den Richter aus der Entscheidung f ü r den demokratischen Rechts- u n d Sozialstaat ergeben — i n i n t e r subjektiven Auseinandersetzungen stets neu zu begründen u n d dadurch akzeptationsfähig zu machen; vgl. dazu den Überblick bei Rüssmann JuS 1975, 353 ff. A u f das von Habermas entwickelte Diskurs-Modell w i r d i n einem anderen Zusammenhang noch (kritisch) einzugehen sein; dazu unter Β. I. 1. b). 51 Es müßte ohnehin zunächst eine Gesellschaftstheorie erarbeitet werden, die den rechtstheoretischen Bemühungen eine Grundlage gibt.
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§ 6. Die Richtigkeit des Verstehens u n d der Rechtsentscheidung
über die Möglichkeit, die Wahrheit 5 2 assertorischer Behauptungen (empirischer Sätze) und die Richtigkeit 5 2 normativer Aussagen (Werturteile) zu verbürgen 53 . Es geht dabei um die Chancen und das Verfahren einer Überprüfung von Geltungsansprüchen, wie sie m i t dem Anspruch, eine wahre Aussage über empirische Gegebenheiten zu treffen, oder m i t dem Anspruch, von richtigen Handlungsnormen bzw. angemessenen Bewertungsnormen auszugehen, erhoben werden. Die folgende Darstellung muß sich darauf beschränken, den augenblicklichen Stand der theoretischen Bemühungen u m das Problem der Richtigkeit und der Richtigkeitskontrolle m i t wenigen Worten zu skizzieren. Deswegen läßt sich abschließend 54 allenfalls ein Arbeitsziel beschreiben, das durch eine Ausarbeitung der vorgestellten Konzeptionen erst noch zu verwirklichen wäre. 1. Der sichere Nachweis der Richtigkeit (bzw. Unrichtigkeit) einer Rechtsanwendung oder Rechtsentscheidung scheint eine notwendige Voraussetzung dafür zu sein, daß richterliche W i l l k ü r chancenlos bleibt. Wer diese Sicherheit anstrebt, w i r d allerdings die Bedingungen nennen müssen, unter denen er einer Aussage über den Gesetzessinn oder einer juristischen Wertung, die sich ihrem Anspruch nach an der Idee einer umfassenden Demokratisierung unserer Gesellschaft orientiert, das Prädikat „richtig" zusprechen w i l l 5 5 . Bei der Festlegung solcher Bedingungen könnte sich die Korrespondenztheorie 58 oder die Konsensustheorie der Richtigkeit (Wahrheit) 57 eventuell als hilfreich erweisen 58 . 52 M a n k a n n „ W a h r h e i t " u n d „Richtigkeit" als gegeneinander austauschbare oder wenigstens voneinander abhängige Begriffe betrachten. Meist w i r d allerdings unterschieden zwischen der Übereinstimmung einer Erkenntnis m i t ihrem Gegenstand, die „ W a h r h e i t " begründet, u n d dem „Richtigen", das m a n m i t dem Maßstab des Handelns bzw. m i t dem Maßstab einer Wertung identifiziert. Dazu auch Engisch, Wahrheit S. 4 f. 53 Einzelne Aspekte dieser Diskussion werden bei J. Schmidt (JuS 1973, 204 ff.) u n d Rüssmann (JuS 1975, 352 ff.) erläutert. 54 Vgl. unter I I . 55 Z u r Klarstellung Oben S. 256 heißt es, daß man einer Rechtsentscheidung das Prädikat „richtig" i m m e r dann zusprechen kann, w e n n sich i n i h r das gesellschaftstheoretische Konzept eines demokratischen Rechts- u n d Sozialstaates v e r w i r k l i c h t . D a m i t sind die materiellen Bedingungen der Richtigkeit genannt. Nunmehr geht es u m die formellen Bedingungen einer A n erkennung als „richtig". 56 Der Korrespondenzbegriff der Wahrheit w i r d i n den Kontexttheorien modifiziert, durch die Kohärenztheorie teilweise ersetzt u n d von der Evidenztheorie vorausgesetzt; vgl. zu Einzelheiten v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 158 f.; J. Schmidt JuS 1973, 205 f. A l l e diese Theorien, von denen hier n u r die grundlegende Korrespondenz- bzw. Adäquationstheorie behandelt werden soll, lassen sich unter der Bezeichnung „semantischer W a h r heitsbegriff" zusammenfassen; so Lorenz, Wahrheitsbegriff S. 112. 57 Die Konsensustheorie bildet zusammen m i t der (weniger bedeutsamen) Nützlichkeitstheorie des William James (Pragmatism, London/New Y o r k 1907 S. 257 ff.) unter dem Etikett „pragmatischer Wahrheitsbegriff" die A l t e r -
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•a) Folgt man der Korrespondenztheorie, so verdient eine Aussage das Prädikat „richtig" („wahr"), wenn sie den Tatsachen entspricht 59 . Eine Überprüfung der Richtigkeit (Wahrheit) findet i m Experiment statt, das die betreffende Aussage durch eine unmittelbare Beobachtung der angesprochenen Wirklichkeit verifiziert oder falsifiziert 60 . „Wahrheitsfähig" sind dementsprechend nur wirklichkeitsbezogene Äußerungen, die außerhalb des Systems der Sprache (experimentell) bestätigt oder als „inadäquat" („nicht m i t der Wirklichkeit korrespondierend") identifiziert werden können. Aussagen über den Gesetzessinn sind zwar auf die Wirklichkeit bezogen, denn sie bringen einen Sachverhalt ( = die unter einem bestimmten rechtlichen Gesichtspunkt gesehene Wirklichkeit) m i t dem gesetzlichen Tatbestand i n eine Sinnrelation. Doch erheben solche Aussagen nicht den Anspruch, eine zutreffende Tatsachenprognose zu enthalten, welche naturwissenschaftlich beobachtbar eintreten könnte, vielmehr w i r d mit einer juristischen Auslegung lediglich behauptet, daß ein Rechtstext die i h m zugemessene Bedeutung hat, bzw. daß ein Tatbestand auf den i n die Sprache ausgelegten Sachverhalt zutrifft, was sich experimentell weder bestätigen noch falsifizieren läßt 6 1 . Denn es „gibt kein Experiment, m i t dessen Hilfe w i r verifizieren könnten, daß Diebe zu bestrafen sind" 6 2 , und es läßt sich ebensowenig außerhalb des sprachlichen Systems nachweisen, daß ein realer Vorgang ζ. B. den Tatbestand der Übereignung (§ 75 Abs. 1 AO) erfüllt. Demnach sind die Kategorien „richtig" („wahr") und „falsch" auf juristische Aussagen über das „bindende Gesetz" gar nicht anwendbar, sofern man den Korrespondenzbegriff der Richtigkeit (Wahrheit) zugrundelegt. Diese Feststellung gilt auch für die Werturteile, die als Rechtsentscheidungen getroffen werden. Die normativen Maßstäbe „demokratisch", „rechtsstaatlich" und „sozialstaatlich", denen die richterlichen Urteile entsprechen sollen, sind keine Tatsachen, die sich durch andere native zum semantischen Wahrheitsbegriff; vgl. auch Lorenz, Wahrheitsbegriff S. 112; J. Schmidt JuS 1973, 206. 58 N u r der Vollständigkeit halber sei noch auf den Versuch von Lorenz (Wahrheitsbegriff S. 111 ff., insbes. S. 118 ff.) verwiesen, m i t einem „dialogischen Wahrheitsbegriff" sowohl der Korrespondenztheorie der Wahrheit einen vernünftigen Sinn zu geben als auch die Konsensustheorie i n ihrem Anspruch zu bestätigen. Diese Theorie ist erst als Skizze ausgearbeitet. 59 Grundlegend ist der Satz „veritas est adaequatio intellectus ad r e m " ; dazu Engisch, Wahrheit S. 5 f.; v. Kutschera, Sprachphilosophie S. 157. Diese Formel besagt konkret: Die Aussage „Schnee ist weiß" ist w a h r genau dann, w e n n Schnee weiß ist. Dieses Beispiel von Tarski zitiert Adomeit JuS 1972, 629; vgl. auch v. Kutschera S. 160. 60 Adomeit JuS 1972, 630; vgl. auch Hassemer, Tatbestand S. 129). 61 Ebenso Hassemer, Tatbestand S. 129. 62 Adomeit JuS 1972, 630.
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als sprachliche M i t t e l bestätigen ließen. Schon aus diesem Grunde ist der experimentelle Beweis einer Übereinstimmung zwischen der j u r i stischen Regelung und der vorgegebenen Wertungsrichtlinie ausgeschlossen. Die Korrespondenztheorie erlaubt somit keine Beantwortung der Frage, ob der m i t einer Rechtsfolgenanordnung verknüpfte A n spruch, eine maßstabgerechte Wertung zu vollziehen, auch wirklich berechtigt ist. b) Folgt man der Konsensustheorie, so darf einer Aussage das Prädikat „richtig" bzw. „ w a h r " zugesprochen werden, wenn auch jeder andere, mit dem man i n ein Gespräch eintreten könnte, derselben Aussage das gleiche Prädikat zusprechen würde. M i t anderen Worten: „Die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen ist die potentielle Zustimmung aller anderen" 63 . Das Verfahren, durch das — i m Vorgriff auf eine ideale Gesprächssituation — die geforderte Verständigung über die Richtigkeit (Wahrheit) herbeigeführt bzw. kontrolliert werden soll, ist der Diskurs 64 . Die Konsensustheorie geht davon aus, daß jede Feststellung der Richtigkeit oder Wahrheit von Aussagen auf die Sicherheit ihrer universellen Anerkennung bedacht sein muß, w e i l sie sonst wirkungslos und somit uninteressant bleibt. Deshalb w i r d die Übereinstimmung i n der Anerkennung einer Aussage als „richtig" („wahr") zur Bedingung für die Richtigkeit (Wahrheit) dieser Aussage erhoben 65 . Die Richtigkeitskontrolle soll dementsprechend als Rekurs auf einen (potentiell) universellen Konsensus zu vollziehen sein 66 . Die faktische Übereinstimmung w i r d allerdings als wirksames Richtigkeitskriterdum nur anerkannt, sofern es sich dabei u m einen „vernünftigen" („sachgemäßen", „echten") Konsensus handelt. Damit ist auf die Notwendigkeit einer 63
Habermas, Vorbereitende Bemerkungen S. 124. So jedenfalls Habermas, Vorbereitende Bemerkungen S. 129 ff.; vgl. auch dens., Erkenntnis S. 382 ff.; dens., Theorie S. 23 ff.; etwas anders Kamlah/Lorenzen, Propädeutik S. 118 ff., die ein „vernünftiges", d. h. v o n Emotionen u n d Traditionen unabhängiges, durch Sachverstand u n d Aufrichtigkeit ausgezeichnetes Gespräch als Bedingung der Möglichkeit einer Konsensbildung nennen; dazu auch Apel, Kommunikationsgemeinschaft S. 10, der die Anerkennung einer intersubjektiv verbindlichen „ M i n i m a l e t h i k " der A r g u mentation voraussetzt. 65 Ähnlich J. Esser, Vorverständnis S. 9, 13, 21, 28, 87, 94, 118 u n d öfter, der von einem „Konsens über die Vernünftigkeit zwischen Wertungsvorstellungen des Rechtsanwenders u n d der Rechtsbetroffenen" spricht (S. 118) u n d den Konsens als das einzig verifizierbare Indiz für die „soziale Richtigkeit" bezeichnet (S. 28). 66 Vgl. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen S. 124: „Ich nehme, u m wahre von falschen Aussagen zu unterscheiden, auf die Beurteilung anderer Bezug — u n d zwar auf das U r t e i l aller anderen, m i t denen ich je ein Gespräch aufnehmen könnte (wobei ich kontrafaktisch alle die Gesprächspartner einschließe, die ich finden könnte, w e n n meine Lebensgeschichte m i t der Geschichte der Menschenwelt koextensiv wäre)." 64
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diskursiven Verständigung verwiesen, eines Verfahrens also, das auf der Basis von Hedegleichheit und Handlungsfreiheit eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuüben, verbürgt 6 7 . „Der i n Diskursen allein zugelassene Zwang ist der des besseren Argumentes; das einzig zugelassene Motiv ist das kooperativer Wahrheitssuche. Diskurse sind auf Grund ihrer Kommunikationsstruktur von Handlungszwängen freigesetzt; sie geben auch keinen Raum für Prozesse der Gewinnung von Informationen; Diskurse sind handlungsentlastet und erfahrungsfrei. Informationen gibt man i n Diskurse hinein, und der Ausstoß von Diskursen besteht i n der Einlösung (Anerkennung) oder der Auflösung (Ablehnung) von problematischen Geltungsansprüchen. I m diskursiven Prozeß w i r d nichts erzeugt außer Argumenten" 6 8 . I m Diskurs könnte theoretisch auch ein Konsensus darüber erzielt werden, daß die Geltungsansprüche, die m i t einer Aussage über den Sinn eines Rechtstextes oder einem richterlichen Urteil verknüpft sind, eine Anerkennung oder Ablehnung verdienen. Es erscheint jedoch fraglich, ob ein Diskurs praktisch durchführbar wäre. Denn immerhin sind diskursive Prozesse auf eine Gesprächssituation angewiesen, „ i n der die Kommunikation nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert wird, die aus der Struktur der Kommunikation selbst sich ergeben" 69 . Solche idealen Sprechsituationen lassen sich i n der gesellschaftlichen Wirklichkeit nirgends nachweisen 70 . Man kann sie allenfalls „kontrafaktisch" unterstellen und so einen „konstitutiven Schein" erzeugen 71 . Doch was wäre damit gewonnen? Der Vorgriff auf ideale Gesprächsbedingungen schließt keineswegs aus, daß die Gesprächsteilnehmer i n Wahrheit einem Handlungszwang ausgesetzt sind, der die Kommunikation systematisch verzerrt 72 . Und außerdem: Da die Bedingungen für eine ideale 67 Dazu Habermas, Vorbereitende Bemerkungen S. 134 ff.; kritisch insoweit Lorenz, Wahrheitsbegriff S. 117: Da sich die Prinzipien der Redegleichheit u n d Handlungsfreiheit nicht jenseits eines (damit j a erst herbeizuführenden) Konsensus ansiedeln ließen, müsse m a n zunächst eine Verständigung darüber herbeiführen, daß die genannten Prinzipien den „vernünftigen" K o n sensus auszeichnen sollen — was wiederum ein Gespräch betr. die K r i t e r i e n einer „vernünftigen" Verständigung über diese Frage voraussetze. Letztlich gerate m a n so i n einen Z i r k e l der gegenseitigen Zurückführung von „ v e r n ü n f t i g " auf „Konsensus" u n d umgekehrt. 88 Habermas, Erkenntnis S. 386. 69 Habermas, Vorbereitende Bemerkungen S. 137. 70 Vgl. auch Rüssmann JuS 1975, 355. 71 Dementsprechend Habermas, Vorbereitende Bemerkungen S. 136, 139, 141. 72 Vgl. dazu allerdings Habermas, Vorbereitende Bemerkungen S. 136: Der Vorgriff auf die ideale Sprechsituation könne aber jedenfalls als kritischer
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Sprechsituation zugleich die Bedingungen für eine ideale Lebensform enthalten 73 , w i r d mit jedem Vorgriff auf ideale Kommunikationsstrukturen immer auch eine adäquate Lebensform unterstellt, d. h. es w i r d eine gesellschaftliche Situation konstruiert, die jede „Herrschaftsausübung qua rechtlicher Entscheidung und zwangsweiser Entscheidungsdurchsetzung obsolet machen würde" 7 4 . Man müßte also, um einen Diskurs unterstellen zu können, von einer Wirklichkeit ausgehen, i n der sich die Ausgangsfrage nach der Richtigkeit juristischen Verstehens und Entscheidens gar nicht erst ergeben hätte. Unter diesen Umständen erscheint die K r i t i k von Rüssmanri 75 gerechtfertigt, das Diskurs-Modell leiste „nichts für die Frage, wie Juristen die von ihnen unausweichlich zu fällenden Werturteile m i t einem einlösbaren Anspruch auf Richtigkeit begründen könnten". Den „Vorgriff auf eine ideale Gesprächssituation" hält er jedenfalls für einen Fehlgriff, „ w e i l sich m i t i h m allenfalls Hoffnungen verbinden können, das Richtige getroffen zu haben". Der theoretische Anspruch, einen sicheren Nachweis der Richtigkeit (Wahrheit) zu ermöglichen, werde allenfalls i m idealkonstruktiven Entwurf eingelöst, nicht aber i n einer realitätsnahen, für Juristen praktikablen methodischen Anweisung 7 6 . 2. Es bleibt zu überlegen, ob man nicht darauf verzichten sollte, die Richtigkeit des juristischen Verstehens und Entscheidens zwingend nachweisen zu wollen. Sicherheit i. S. e. unumstößlichen Letztbegründung scheint nach den bisherigen Erkenntnissen kaum erreichbar zu sein. Offenbar besteht nur die Möglichkeit, die Richtigkeit von Aussagen i n einer kritischen Prüfung und Diskussion zu erproben, ohne jemals endgültige Gewißheit zu erlangen 77 . Die kritische Überprüfung einer Aussage setzt voraus, daß die Richtigkeit der darin geäußerten Auffassung zunächst einmal i n Frage gestellt wird. Nur wer seine Erkenntnisse als bloße Hypothesen begreift, die prinzipiell der K r i t i k und der Revision unterliegen, w i r d seinen Uberzeugungen auch die Gelegenheit geben, an Widerständen aller A r t Maßstab fungieren, „ a n dem jeder faktisch erzielte Konsensus auch i n Frage gestellt u n d daraufhin überprüft werden kann, ob er ein zureichender I n d i kator f ü r wirkliche Verständigung ist". 73 Habermas, Vorbereitende Bemerkungen S. 139. 74 Rüssmann JuS 1975, 355: „Wer danach juristische Dogmatik am Diskurs messen möchte, sagt eigentlich, daß es dogmatische Sätze m i t Richtigkeitsanspruch i n der gegenwärtigen Gesellschaft nicht geben könnte." 75 JuS 1975, 355. 76 Ä h n l i c h die K r i t i k von Simon, Unabhängigkeit S. 115 f. 77 So jedenfalls Albert, T r a k t a t S. 29 ff., insbes. S. 35; ders., K o n s t r u k t i o n 21 f., 159 ff. u n d öfter; ebenso Hassemer, Tatbestand S. 127 ff., insbes. S. 135, 137/138; vgl. auch A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 367; dens. JZ 1975, 341; Engisch, Wahrheit S. 14 ff.
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zu scheitern — etwa am Widerstand anderer, von anderen Subjekten herrührender Erkenntnisse über dieselbe Sache. Ziel einer solchen Infragestellung muß es sein, Irrtümer zu erkennen und mittels einer Korrektur dieser Irrtümer der Richtigkeit (Wahrheit) näher zu kommen. „ U m das zu können, müssen w i r allerdings das (...) Streben nach Gewißheit opfern und die permanente Ungewißheit i n Kauf nehmen, ob sich unsere Auffassungen auch i n Zukunft weiter bewähren und damit aufrechterhalten lassen" 78 . Somit schließt die „Idee der kritischen Prüfung" eine Verifizierung des Erkannten grundsätzlich aus. Möglich ist aber immerhin eine „Evidierung" 7 9 der Rechtsanwendung und Rechtsentscheidung. Fragt man nach den Kriterien einer kritischen Uberprüfung der Richtigkeit von Aussagen, so w i r d man zunächst auf die Rolle der Logik als „Organon der K r i t i k " verwiesen 80 . U m eine wirkliche Erprobung der persönlichen Meinungen zu ermöglichen, ist nach Ansicht von Albert 81 außerdem die „Ablehnung jeder Autorität und jedes Dogmas" notwendig, da ζ. B. der Hinweis auf den „Willen des Gesetzgebers" oder die „herrschende Meinung" die Schwächen einer Sinndeutung nur kaschieren und mögliche Verbesserungen nur verhindern würde. Sofern die Richtigkeit eines richterlichen Urteils überprüft wird, kommen noch andere Gesichtspunkte hinzu. Z u nennen wäre etwa das Kongruenz-Postulat, „das eine K r i t i k an normativen Behauptungen ermöglichen würde, die, u m sinnvoll zu sein, die Existenz von Faktoren und Zusammenhängen involvieren müßten, die für die Erkenntnis nicht i n Betracht kommen" 8 2 . Ein weiteres K r i t e r i u m w i r d m i t dem Realisierbarkeits-Postulat genannt, das i m Rahmen der kritischen Diskussion über ein Werturteil zu der Überlegung Anlaß geben soll, ob die auf Grund vorausgesetzter Wertprinzipien anzustrebenden Ziele überhaupt erreichbar sind 83 . Darüberhinaus müßte gewährleistet sein, daß die Ergebnisse des wissenschaftlichen Denkens berücksichtigt werden 84 . Und schließlich wären die Prinzipien, an denen Sich die Rechtsentscheidung 78 Albert, T r a k t a t S. 33. Daß stets ein Rest v o n Unsicherheit notwendig bestehen bleibt, betonen auch Hassemer, Tatbestand S. 138, u n d A. Kaufmann, Rechtsphilosophie S. 62. 79 Hassemer, Tatbestand S. 131. 80 Vgl. Albert, T r a k t a t S. 76, 43 (mit Hinweis auf Popper); dens., K o n struktion S. 162; dazu auch Simon, Unabhängigkeit S. 118. 81 K o n s t r u k t i o n S. 162. 82 Albert, T r a k t a t S. 77. 83 Vgl. Albert, T r a k t a t S. 76: „Sollen impliziert Können." 84 So Albert, K o n s t r u k t i o n S. 162, 242/243: Eine autonome Jurisprudenz, die dem Stand der Erkenntnis i n anderen Wissenschaften nicht Rechnung trage, sei schwerlich i n der Lage, „die Wirkungszusammenhänge des sozialen Lebens adäquat zu berücksichtigen" ; vgl. auch Simon, Unabhängigkeit S. 118.
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orientiert, „ i m Lichte ihrer Konsequenzen zu sehen" 85 . Damit ist auf die Möglichkeit einer Werturteilsbegründung durch Folgendiskussion verwiesen 86 . II. Praxis Der Wert theoretischer Darlegungen zur Richtigkeitskontrolle bleibt fraglich, solange deren Praktikabilität nicht nachgewiesen ist. Gerade bei den soeben skizzierten Theorien fällt es allerdings schwer, Relevanz und Nutzen für die praktische Arbeit des Richters einzusehen. Wie sollte beispielsweise unter den restriktiven Bedingungen des Justizsystems 87 ein Diskurs möglich sein, da doch eine diskursive Kommunikation nur unter der Voraussetzung funktioniert, daß alle Beteiligten von Handlungszwängen freigestellt sind? Und wie steht es m i t der Durchführbarkeit einer kritischen Diskussion über die Auslegungen und Entscheidungen des Richters? Angesichts der hinlänglich bekannten Bedingungen, unter denen i n der Praxis ein Urteil gefällt werden muß 88 , dürfte ζ. B. die Forderung nach einer durch den Richter (mit wem?) zu führenden Folgendiskussion nur zu sarkastischen Bemerkungen über die Ignoranz einiger Theoretiker Anlaß geben. M i t Hinweisen auf die theoretischen Modelle ist es also nicht getan. Vielmehr müßte durch eine Modifikation der einen oder anderen Theorie ein praktikables Verfahren der Richtigkeitskontrolle erst noch entwickelt werden. Auszugehen wäre dabei von der Situation einer Strafkammer am Landgericht Frankfurt oder eines Senats beim Finanzgericht Düsseldorf. „Vorschläge, die von dort aus als absonderliche Professoraldsmen erscheinen müssen, können kaum die angestrebte Wirkung erreichen" 89 .
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Albert, K o n s t r u k t i o n S. 162. Z u r S t r u k t u r u n d Leistung der Folgendiskussion vgl. Rüssmann JuS 1975, 357 f.; dazu auch Simon, Unabhängigkeit S. 116 f.; Dubischar, Vorstud i u m S. 171 ff. 87 Dazu Simon, Unabhängigkeit S. 21 ff. 88 Vgl. Simon, Unabhängigkeit S. 117/118, der insbesondere auf Entscheidungszwang, Zeitnot u n d relative Ungewißheit über die Entscheidungsfolgen verweist. 8 9 Simon, Unabhängigkeit S. 142. 86
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RGZ
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2. Ordentliche Gerichte a) Reichsgericht 18. 3. 1902 b) 24. 11. 19. 14. 30. 22. 17. 29.
Rep V I I 22/02
Bundesgerichtshof 4 StR 613/54 3. 1955 1 StR 347/56 1. 1957 1 StR 438/57 11. 1957 I I ZR 187/57 12. 1959 K Z R 5/65 6. 1966 5. 1968 V I I I ZR 133/66 K R B 1/70 12. 1970 11. 1971 I I ZR 121/69
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Berlin K a r t 5—11/68
BGHSt GA BGHSt Β GHZ NJW BGHSt WM
7, 245 1957, 218 11, 102 31, 258 46, 74 1969, 1718 24, 54 1972, 74
BB
1970, 1148
3. Finanzgerichte a) Reichsfinanzhof 16. 9. 1919 12. 11. 1919 25. 6. 1920
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I A 139/19 I I A 291/19 I I D 4/20 (Gutachten) I A 10/22 V I A 123/22 I A 20/22 21/22 199/21 I V aA 70/22 I A 102/24 V I A 181/27
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V I A 376/27 V I A 156/29 V I A 779/30
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RFHE
1, 207 (A) 1, 283 (A) 3, 246 9, 167 9, 347 11, 157
RStBl. RFHE RStBl.
RFHE RStBl.
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V I A 185/33 I A 272/31 V I A 203/33 I V A 25/35 V I A 652/36
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V I A 367/35 V I 154/38 I 271/38 I V 113/40 V I 177/40 V 346/39 V 109/40 I I 99/42 V I 434/42 I I 47/43 V 1/43
28. 16. 30. 11. 17. 21. 21. 22. 14. 26. 25. 6. b)
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V 53/43
3. 1952 5. 1953 6. 1953
I V 421/51 I I I 103/52 S I V 391/52 U
12.
8. 1953
I I 65/52 S
18. 9. 1953 25. 11. 1953
I I I 64/53 U I I 216/52 U
22. 11. 1955
I 139/54 S
20.
3. 1956
I 178/55 U
31.
1. 1957
V 245/56 S
8.
2. 1957
V I 27/56 U
23. 6. 1957 25. 7. 1957 17. 4. 1958 18. 11. 1958 13. 1. 1959 2. 1959
I 50/55 U V ζ 196/56 U I V 593/56 U I 108/58 U I 44/57 U V I 273/56 U
24. 2. 1959 5. 5. 1959 6. 10. 1959
I 197/58 U I 11/58 S I 136/59 U
9. 12. 1959 19. 5. 1960 2. 6. 1960
I I 76/56 V 55/58 V 71/58
19
RFHE RStBl. RFHE RStBl.
RFHE RStBl.
1933, 1008 34, 194 1933, 1287 1935, 1354 1936, 1133 40,9 1937, 338 1938, 556 44, 343 1940, 996 1940, 915 1941, 132 1942, 285 1942, 1011 1943, 516 1943, 814 1944, 446 54, 65 1944, 614
Bundesfinanzhof
13. 15. 3.
20.
RFHE RStBl.
Maaßen
DStRu BStBl. I I I
BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I
BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I
BFHE HFR StRK A O
1952, 177 1953, 208 1953, 265 57, 694 1953, 284 57, 748 1953, 328 1954, 21 58, 279 1956, 4 62,9 1956, 179 62, 482 1957, 93 64, 245 1957, 207 64, 550 1957, 306 1957, 309 1958, 278 1959, 49 1959, 197 68, 515 1959, 172 68, 449 1959, 201 1959, 369 1960, 10 70,24 1961, 34 § 116 R. 4 R. 5
290 15. 25. 26. 24. 8. 5. 13. 29. 18.
Gerichtsentscheidungen 7. 8. 10. 2. 9. 12. 12. 3. 4.
1960 1960 1960 1961 1961 1961 1961 1962 1962
I I I 114/57 U V 190/58 I I 62/59 V I 84/60 U V I 227/60 U I 106/60 U V I 133/60 U V I 105/61 U V 46/61
18.
4. 1962
V 246/59 S
8. 22.
5. 1962 6. 1962
I 145/61 V I 112/59 S
30.
8. 1962
V 32/60 U
18. 10. 1962 31. 1. 1963 27. 2. 1963
I V 224/60 V 67/60 I 236/59 U
28.
6. 1963
25. 9. 1963 9. 10. 1963 22. 11. 1963 22. 11. 1963 5. 6. 1964
V I 192/61 II II VI VI IV
185/60 44/62 120/62 178/62 U 213/60 S
5.
6. 1964
I V 108/63 U
23.
6. 1964
GrS 1/64 S
3.
7. 1964
V I 355/62 U
28. 10. 1964 20.
1. 1965
I 198/62 U V 214/62
11. 2. 1965 9. 4. 1965 23. 4. 1965 6. 7. 1965
I 138/63 V I 82/63 V I 189/64 I 339/62
8. 7. 1965 22. 10. 1965 11. 11. 1965 16. 3. 1966
I V 30/63 U I I I 145/62 U I V 82/62 U I I 70/63
18.
3. 1966
I V 218/65
30.
8. 1966
V I R 284/64
BStBl. I I I HFR BStBl. I I I
BStBl. I I I StRK UStG BStBl. I I I BFHE HFR BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE HFR BStBl. I I I BFHE S t R K EStG S t R K GrEStG HFR BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE S t R K GewStG Ziff. 2—9 BB BStBl. I I I DB S t R K GewStG Ziff. 2—9 BStBl. I I I
BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE
1960, 400 1961, 256 1961, 228 1961, 188 1961, 535 1962, 52 1962, 127 1962, 304 § 1 Ziff. 1 R. 231 1962, 292 75, 67 1962, 270 1962, 465 75, 537 1962, 455 75, 518 1963, 111 1963, 449 1963, 370 77, 145 § 12 Ziff. 2 R. 40 § 17 R. 14 R. 15 1964, 157 1964, 74 1965, 49 81, 138 1965, 51 81, 143 1964, 500 80, 73 1964, 511 80, 103 1965, 119 81, 329 § 8 R. 72 1966, 1438 1965, 361 1965, 1309 § 8 R. 79 1965, 558 1966, 5 1966, 95 1966, 378 85, 117 1966, 197 84, 539 1967, 69 87, 131
Gerichtsentscheidungen 23. 9. 1966 15. 12. 1966
V I 147/65 V 252/63
1967 7. 1967 7. 1967
a.
V I R 259/66 I 204/64 V 240/64
26. 7. 1967 6. 10. 1967 27. 10. 1967 7. 2. 1968 27. 8. 1968 19. 12. 1968 21. 3. 1969
I 138/65 I I I 230/64 V I R 127/66 I 233/64 I I R 82/67 V 225/65 I I I R 18/68
17. 12. 20.
1. 4. 1969
I I 7/64
1. 4. 1969 6. 5. 1969
I I 83/64 I I 141/64
24. 31.
6. 1969 7. 1969
I I R 132/66 V 94/65
31. 7. 1969 31. 10. 1969
V R 149/66 V I R 60/68
14. 11. 1969
V I 50/68
28. 11. 1969
V I R 128/68
22.
1. 1970
V R 118/66
17.
4. 1970
V I R 164/68
16.
7. 1970
V R 95/66
7. 8. 1970 6. 11. 1970
V I R 166/67 V I R 94/69
20. 1. 1971 28. 7. 1971 6. 10. 1971 19. 10. 1971 10. 3. 1972
I R 17/69 I R 78/68 I R 215/69 V I I I R 84/71 I I I R 52/69
14. 25.
6. 1972 5. 1973
I I R 17/71 V I R 375/69
13. 13.
7. 1973 7. 1973
V I R 222/71 V I R 108/72
31. 10. 1973
V I R 206/70
19*
BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I BFHE BStBl. I I I II
BFHE BStBl. I I BFHE BStBl. I I BFHE BStBl. I I BFHE HFR BStBl. I I BFHE BStBl. I I BFHE BStBl. I I BFHE BStBl. I I BFHE BStBl. I I BFHE BStBl. I I BFHE BStBl. I I BFHE BStBl. I I BStBl. I I
BFHE BStBl. I I BFHE BStBl. I I BFHE S t R K EStG BStBl. I I
1967, 73 1967, 209 87, 508 1967, 390 90, 122 1967, 684 89, 466 1967, 733 1968, 74 1968, 142 1968, 356 1968, 781 1969, 303 1969, 430 95, 402 1969, 495 95, 555 1969, 560 1969, 630 96, 326 1970, 22 1969, 637 96, 331 1970, 76 1970, 115 97, 303 1970, 376 98, 240 1970, 185 97, 378 1970, 363 98, 225 1970, 620 99, 200 1970, 706 99, 429 1970, 806 1971, 99 100, 456 1971, 308 1971, 815 1972, 187 1972, 452 1972, 518 105, 160 1972, 864 1973, 680 109, 445 1973, 776 1973, 778 109, 570 § 12 R. 83 1974, 86
292
15. 22. 20. 26.
Gerichtsentscheidungen
1. 2. 2. 2.
V I I R 63/68 I I I R 5/73 I V R 15/71 I I R 130/67
1974 1974 1975 1975
BFHE BFHE
110, 547 112, 31 111, 534 115, 223 115, 284
c) Finanzgerichte Baden-Württemberg 25. 10. 1966 Berlin 25. 10. 1972 Bremen 22. 2. 1957 5. 4. 1968 10. 3. 1972 Düsseldorf 18. 8. 1961
I I 47/66
EFG
1967, 125
I I 68/72
1973, 292
I 190—193/56 I 26/67 I 71—72/71
1957, 249 1968, 357 1972, 333
I I 150/60 E
1962, 153
Freiburg 25. 8. 1955
I 534/54
1955, 361
Hessen 2. 3. 1956 15. 5. 1962 21. 11. 1967 18. 2. 1971 9. 3. 1973
I V 827/54 I 105/62 V I 1667/66 V I 1450/67 V I I I b 153/70
1956, 237 1963, 61 1968, 327 1971, 465 1973, 430
Karlsruhe 14. 3. 1961
I 287/60
1961, 300
Münster 18. 2. 1966
V I a 312/65
1966, 409
Niedersachsen 2. 6. 1960 15. 8. 1961 9. 7. 1971 8. 12. 1972
V 47/58 V I I 472/58 I 17/69 I 98/71
Nürnberg 28. 5. 1957 30. 1. 1961 25. 5. 1973
I I I 253/56 I 196—197/58 I I 165/70
DStZ/B EFG
1960, 479 1962, 256 1971, 471 1973, 199 1957, 421 1961, 494 1973, 485
Schleswig-Holstein 26. 2. 1957 I I I 366/56 18. 1. 1972 I I I 82/68
1957, 222 1972, 258
Rheinland-Pfalz 19. 9. 1958
1959, 49
I 302/57