Zur Grundlegung der Ontologie 9783110823851, 9783110001488


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German Pages 316 [320] Year 1965

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Table of contents :
Einleitung
1. Überkommene Denkform, Denkzwang und Denkgewohnheit
2. Problemlosigkeit, Problemmüdigkeit, Relativismus
3. Das Seinsproblem in den idealistischen Systemen
4. Ontologischer Hintergrund des Relativismus
5. Metaphysischer Hintergrund der Naturwissenschaft
6. Die Metaphysik der organischen Lebens
7. Das Metaphysische im Seelenleben
8. Das Metaphysische im objektiven Geiste
9. Das Metaphysische in der logischen Sphäre
10. Der Verfall des Erkenntnisproblems
11. Phänomenologie und Metaphysik der Erkenntnis
12. Die Metaphysik des Ethos und der Freiheit
13. Metaphysik der Werte
14. Metaphysik der Kunst und des Schönen
15. Metaphysik der Geschichte
16. Der geschlossene Rahmen der metaphysischen Probleme
17. Das ontologische Element in den metaphysischen Problemen
18. Der Gedanke einer neuen philosophia prima
19. Philosophia prima und philosophia ultima
20. Darstellung, Einteilung und Begrenzung
21. Verhältnis der neuen zur alten Ontologie
Erster Teil Vom Seienden als Seienden überhaupt
I. Abschnitt. Der Begriff des Seienden und seine Aporie
1. Kapitel. Die ontologische Grundfrage
2. Kapitel. Ein heutiger Versuch. Fehler im Ansatz
3. Kapitel. Einstellung der ontologischen Erkenntnis
4. Kapitel. Stellung und Verwurzelung des Seinsproblems
II. Abschnitt. Traditionelle Fassungen des Seienden
5. Kapitel. Naiver und substantieller Seinsbegriff
6. Kapitel. Das Seiende als Universales und als Singuläres
7. Kapitel. Das Seiende als Aufbauelement und als Ganzes
III. Abschnitt. Bestimmungen des Seienden aus der Seinsweise
8. Kapitel. Wirklichkeit, Realität, Seinsgrade
9. Kapitel. Reflektierte Fassungen des Seienden
10. Kapitel. Die Grenze der Diesseitsstellung
Zweiter Teil Das Verhältnis von Dasein und Sosein
I. Abschnitt. Die Aporetik von „Daß“ und „Was“
11. Kapitel. Realität und Existenz
12. Kapitel. Die Trennung von Dasein und Sosein
13. Kapitel. Aufhebung der Trennung
14. Kapitel. Die Urteilstypen und ihre Überführbarkeit
II. Abschnitt. Ontisch positives Verhältnis von Dasein und Sosein
15. Kapitel. Aufhebung des ontologischen Scheines
16. Kapitel. Die Fehler im Modalargument
17. Kapitel. Konjunktiver und disjunktiver Gegensatz
III. Abschnitt. Das innere Verhältnis der Seinsmomente
18. Kapitel. Das Dasein im Sosein und das Sosein im Dasein
19. Kapitel. Identität und Verschiedenheit der Seinsmomente
20. Kapitel. Das Ergebnis und seine Konsequenzen
21. Kapitel. Gegebenheitsweisen und Seinsweisen
Dritter Teil Die Gegebenheit des realen Seins
I. Abschnitt. Die Erkenntnis und ihr Gegenstand
22. Kapitel. Gnoseologisches und ontologisches Ansichsein
23. Kapitel. Die Transzendenz des Erkenntnisaktes
24. Kapitel. Die Antinomien im Erkenntnisphänomen
25. Kapitel. Transobjektivität und Übergegenständlichkeit
26. Kapitel. Die Grenzen der Erkennbarkeit
II. Abschnitt. Die emotional-transzendenten Akte
27. Kapitel. Emotional-rezeptive Akte
28. Kapitel. Abstufungen des Erfahrens und Einheit der Realität
29. Kapitel. Die emotional-prospektiven Akte
30. Kapitel. Eigentliche Gefühlsakte prospektiver Art
31. Kapitel. Emotional-spontane Akte
32. Kapitel. Innere Aktivität und Freiheit
III. Abschnitt. Reales Leben und Realitätserkenntnis
33. Kapitel. Der Lebenszusammenhang als seiender
34. Kapitel. Besondere Sphären der Einbettung in die reale Welt
35. Kapitel. Erkenntnis und emotionale Gegebenheit
36. Kapitel. Die Sonderstellung der Erkenntnis
37. Kapitel. Die Stellung der Wissenschaft
Vierter Teil Problem und Stellung des idealen Seins
I. Abschnitt. Die Gegebenheit des mathematischen Seins
38. Kapitel. Ontologische Aporetik der Idealität
39. Kapitel. Theorien und Auffassungen
40. Kapitel. Idealerkenntnis und objektive Gültigkeit
41. Kapitel. Idealerkenntnis und Realerkenntnis
II. Abschnitt. Verbundenheit des idealen und realen Seins
42. Kapitel. Das Verschwinden der idealen Gegenstände im Er¬kenntnisfelde
43. Kapitel. Die dreifache Hintereinanderschaltung
44. Kapitel. Relative Selbständigkeit des idealen Seins
45. Kapitel. Indifferenz und Gebundenheit
III. Abschnitt. Das ideale Sein im Realen
46. Kapitel. Die Phänomenologie der Wesenheiten
47. Kapitel. Wesensschau und Evidenz
48. Kapitel. Das Reich des Logischen und seine Gesetze
49. Kapitel. Das Reich der Werte und seine Seinsweise
50. Kapitel. Seinsweisen und Sphärenlagerung
51. Kapitel. Bewußtseinsnähe und Idealtranszendenz
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Zur Grundlegung der Ontologie
 9783110823851, 9783110001488

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NICOLAI HARTMANN ZUR GRUNDLEGUNG DER ONTOLOGIE

ZUR GRUNDLEGUNG DER

ONTOLOGIE VON

NICOLAI HARTMANN

VIERTE AUFLAGE

WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUN G . J. GUTTENTAG VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER · KARL J. TRÜBNER VEIT & COMP.

B E R L I N 1965

( Archiv-UV. 42 55 65/1 Copyright 1905 by Walter de Gruyter Co., vormals O. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Keimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. — Printed In Germany. — Alle Hechte des Nachdrucks, der photomechanlechen Wiedergabe, der Übersetzung, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise vorbehalten. Druck: Buchdruckerei Richard Hahn (H. Otto), Leipzig 0 5, Oststr. 24/26

Vorwort Die vier Untersuchungen, die ich in diesem Buche zusammengefaßt vorlege, — über das Seiende als Seiendes, Dasein und Sosein, die Realitätsgegebenheit und das ideale Sein — bilden den Auftakt zu einer Ontologie, die ich seit zwei Jahrzehnten in Arbeit habe, deren nächstfolgende Teile im Entwurf bereitliegen und in absehbarer Zeit folgen sollen. Das geplante Ganze bildet den fundamentalphilosophischen Hintergrund meiner seither erschienenen systematischen Arbeiten — der „Metaphysik der Erkenntnis", der „Ethik" und des „Problems des geistigen Seins" —, hat sich wohl auch in deren Aufbau wiederholt angekündigt. Es fertigzustellen war eine Aufgabe, die erst langsam der Verwirklichung entgegenreifen konnte. Es liegt im Wesen eines Hauptwerkes, daß es einem anderen Entwicklungsgesetz unterliegt als die Behandlung peripherer Teilgebiete; es erlangt seine Spruchreife später, weil das Feld des Gegebenen, auf dem seine Ausgänge liegen, sich über die Teilgebiete hin erstreckt, und alle philosophische Erfahrung erst auf diesen gesammelt wird. Es bestätigt sich darin das Gesetz des Aristoteles, daß der Weg alles Erkennens vom für uns Früheren zum an sich Früheren und Fundamentaleren fortschreitet. Die Richtung des Weges läßt sich, wenn Philosophie nicht in Spekulation ausarten soll, nicht umkehren. Es ist die Ungeduld des spekulativen Bedürfnisses, die es anders will. Sie ist jederzeit bereit, das Ganze vorwegzunehmen, aus ihm Folgerungen abzuleiten und für Einsichten auszugeben. Aber sie hat eben zu schweigen, wo es gilt, wirkliche Einsicht zu gewinnen. Die Zeiten der alten, aprioristisch-dekuktiven Ontologie wieder heraufzuführen, kann das Anliegen heutiger Bemühung nicht sein. Wohl müssen manche der alten Themen in neuem Gewände wiederkehren; Probleme stehen und fallen ja nicht mit den Methoden, die sich an ihnen versuchen. Aber die Behandlungsweise ist eine andere geworden. Die philosophische Errungenschaft der neuzeitlichen Jahrhunderte, die Schule des kritischen Denkens, ist an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Eine neue, kritische Ontologie ist möglich geworden. Sie zu verwirklichen ist die Aufgabe. Ihr Verfahren läßt sich nicht zum voraus darlegen, es entspricht keinem der hergebrachten einfachen Methodenschemata. Es wird sich erst im Fortschreiten an seinem Gegenstande ausweisen und rechtfertigen können. Für eine Überschau, von der aus es sich abschließend beurteilen ließe, reichen auch die vier Untersuchungen dieses Bandes noch keineswegs aus.

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Vorwort

Diese Untersuchungen machen den Anspruch nicht, ein geschlossenes Ganzes zu bilden; sie sind nur das erste Glied einer natürlichen Probleinfolge, aus deren Fortgang sie ihr Gewicht erst erhalten. Es wäre vielleicht gewagt, sie gesondert vorzulegen, wenn nicht die breite Masse des ganzen Problemzusammenhanges gebieterisch eine vorläufige Grenzsetzung vorschriebe. Praktisch ist es nicht möglich, eine so gewaltige Reihe von Untersuchungen, wie das Gesamtthema der Ontologie sie erfordert, in einem Buche zusammenzufassen. — Zugleich mache ich hiermit den Anfang, eine alte Schuld einzulösen. Es hat in meinen früheren Arbeiten nicht an ontologischen Voraussetzungen gefehlt, die ich machen mußte, ohne sie zureichend begründen zu können. Durch eine Reihe kleinerer Abhandlungen („Wie ist kritische Ontologie möglich", „Kategoriale Gesetze" u. a.) habe ich diesem Mangel zu begegnen gesucht. Das konnte auf die Dauer nicht genügen, da es sich ja nicht um Klärung von Randfragen, sondern um die Grundlegung eines Ganzen handelte. Das Fragmentarische solcher Behandlung mußte selbst wiederum Mißverständnisse heraufbeschwören. In der Beurteilung der Fachgenossen sind die Mißverständnisse denn auch nicht ausgeblieben. Ihnen im einzelnen entgegenzutreten, ohne selbst etwas Geschlossenes vorzulegen, schien mir aussichtslos. Das geschlossene Ganze aber ließ sich nicht gewaltsam vortreiben. Noch mehr glaube ich denen eine Art Rechenschaft schuldig zu sein, die aus meinen Arbeiten auf eigene Faust Folgerungen von allgemein systematischer Art gezogen haben. Was es damit auf sich hat, dafür möchte ich als Beispiel nur die Tatsache anführen, daß vor einigen Jahren eine Dissertation über meine „Ontologie" erschienen ist, aus der ich zu meiner Verwunderung erfuhr, daß das noch ungeschriebene und selbst in meinem Kopf noch nicht ausgereifte Werk schon längst im Kopfe eines geschwinderen Zeitgenossen abgeschlossen, mit einem Ismus abgestempelt und aufs sauberste Punkt für Punkt widerlegt sei. Man halte das nicht für einen schlechten Witz. Die kleine Arbeit war so übel nicht; was sie widerlegte, ist zu Recht widerlegt. Sie widerlegte nur eine andere Ontologie, nicht die meinige. Der Fall steht auch nicht ganz vereinzelt da. Willkürlichen Ergänzungen bin ich bei den meisten meiner Beurteiler begegnet. Und stets bewegen sich die Ergänzungen in dem eingefahrenen Geleise irgend eines der traditionellen Systemtypen. Sie beruhen nicht nur auf freier Erfindung, sie arbeiten vielmehr auch mit blind übernommenen Begriffen und Denkgewohnheiten, und zwar in der Regel mit eben denjenigen, die ich als fehlerhaft verworfen hatte. Die Erfinderischen zu warnen fruchtet wenig. Es war auch kein genügendes Bollwerk gegen Verunstaltungen, daß ich selbst die weltanschaulichen Folgerungen in aller Ausdrücklichkeit ablehnte. Bloße Abwehr überzeugt nicht; man mag sich verwahren, wie man will, es glaubt es einem keiner. Ein jeder wittert Unausgesprochenes und meint ein Recht zu haben, es seinerseits aus besserem Wissen heraus auch ohne jede wei-

Vorwort

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tere Untersuchung auszusprechen. Die Erfahrung der Wissenschaft lehrt etwas ganz anderes: vor jedes Begreifen und jede Errungenschaft haben die Götter den Schweiß der Arbeit gesetzt. Und die Arbeit ist es, was erst geleistet werden muß, hier wie überall, im Lesen wie im selbständigen Denken. Ohne sie wird alle Philosophie zur Spekulation. — Was ich nun meinerseits hier vorlege, ist immerhin ein Stück Arbeit, das sich nicht mit Bruchstücken begnügt, sondern von unten auf beginnt, wenn es die Abrundung nach oben auch nicht gleich mitbringt. Es ist der grundlegende Teil der Ontologie und umfaßt die unerläßlichen Vorfragen alles weiteren Forschens nach dem Aufbau der seienden Welt. Es gehört insofern mit größerem Recht als alles Speziellere unter den umfassenden Titel „Ontologie", als er allein vom Sein im allgemeinen handelt und das entsprechende Thema der alten Seinslehre „de ente et essentia" der Sache nach aufgreift. Am Titel freilich liegt nicht allzuviel, die Sache muß ihn ohnehin erst mit neuem Inhalt erfüllen. Ich hätte den von Aristoteles geprägten Namen „philosophia prima" vorgezogen, wenn die Aussicht bestünde, ihn wieder einzubürgern. Die Aussicht schien mir nicht zu bestehen. Von „Ontologie" haben wir in den letzten Jahrzehnten mancherlei gehört. Nicht nur was den Titel führt, wie die Werke von H. Conrad-Martius und Günther Jacoby, gehört hierher. Auch Meinonas Gegenstandstheorie, Schelers metaphysische Ansätze, Heideggers „Sein und Zeit" sind hier zu nennen, desgleichen manche weniger beachtete Versuche. Das Aufkommen dieser Tendenz hängt aufs engste mit dem Wiedererwachen der Metaphysik zusammen, das seinerseits als Reaktion gegen die inhaltliche Leere des niedergehenden Neukantianismus, Positivismus und Psychologismus im Beginn unseres Jahrhunderts einsetzte. Es kündete sich darin offensichtlich eine Bewegung allgemeinen Auflebens des philosophischen Geistes an, und sie wäre wohl in größerem Maßstabe durchgedrungen, wenn nicht in eben diese Zeit die Höhe des Historismus gefallen wäre, der durch seine Relativierung des Wahrheitsbegriffs ein skeptisch hemmendes und auflösendes Gegengewicht zur Seinsproblematik bildete. Wohin ich blicke in diesen Ansätzen, ich finde überall nur die Ankündigung der kommenden Ontologie, nirgends einen Versuch, sie selbst wirklich durchzuführen. Teils bleiben sie in der Voruntersuchung hängen, die das Verhältnis von Erkenntnis und Sein betrifft — wobei dann der ontologisch ungeklärte Erkenntnisbegriff alles weitere a limine illusorisch macht; teils verwechseln sie die Seinsfrage mit der Gegebenheitsfrage, oder gar das Seiende selbst mit dem subjektbezogenen „Gegenstande": teils suchen sie nach Cartesischer Art den Ansatzpunkt überhaupt im Subjekt — einerlei ob dieses nun als der Mensch, die Person oder das „Dasein" ausgelegt wird —, wobei von vornherein die Indifferenz des Seienden gegen jede Art von Erkennen und Verhalten des Subjekts verfehlt wird.

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Vorwort

Man muß es aussprechen: es ist im Ganzen bei der Ankündigung geblieben, die Ontologie selbst ist nicht gefolgt. Ihr Thema wurde gar nicht eigentlich gestellt, geschweige denn in Angriff genommen — nicht weil man es nicht im Ernst gewollt hätte, sondern weil man es nicht zu fassen wußte. Es zu fassen ist auch weder im Geleise der hergebrachten Theorien, noch mit deren bloßer Destruktion möglich; das erstere beweist plastisch der Versuch Jacobys, das letztere der Heideggers. Eine besondere Stellung dagegen nimmt Hans Pichler ein. Er ging als einer der ersten voran mit seinem kleinen, aber gewichtigen Buch „Über die Erkennbarkeit der Gegenstände" (1909), einer Schrift, die ihrem Titel zum Trotz weit mehr ontologisch als erkenntnistheoretisch angelegt ist und wohl eben deswegen zu wenig gewürdigt worden ist. Auch Pichler freilich ist weit entfernt, eine Durchführung zu geben. Doch hat er das hohe Verdienst, als Einziger das Seinsproblem wirklich getroffen zu haben; wie denn seine ausdrückliche Bezugnahme auf Wolfs Lehre von der ratio sufficiens, sowie seine spätere Schrift über „Christian Wolfs Ontologie" (1910), seine Orientierung an der maßgebenden geschichtlichen Quelle bekundet. Pichlers Vorgang war es, der mich seinerzeit in der Überzeugung, den rechten Weg eingeschlagen zu haben, bestärkte. Er gab mir gleichzeitig in meiner Einschätzung Wolfs recht, mit der ich mich damals wie heute so gut wie allein sah. Diese Einschätzung macht aus Wolf keineswegs einen bahnbrechenden Philosophen. Kein Zweifel, Wolf hat nur zusammengestellt, was wirklich führende Köpfe erarbeitet, und dabei gewiß auch manches verwässert. Aber eben die Zusammenstellung ist bei der weitverzweigten Problematik des Seins, ihrer langen Vorgeschichte und ihrer unübersichtlichen Zersprengtheit in die Kleinarbeit scholastischer Streitfragen eine Leistung von hohem Wert. Und dieser Wert steigt noch bedeutend, wenn man erwägt, daß Wolfs „Philosophia prima sive ontologia" (1730) die einzige kompendiarische Darstellung der ganzen Seinsproblematik geblieben ist. Weder Johannes Clauberg vor ihm noch Hegel nach ihm reicht daran heran. Jener erreichte weder die Tiefe noch die Ganzheit der einschlägigen Fragen; dieserstellte—bei ungleich höherem Niveau des Denkens — alles in den Dienst seines dialektischen Vernunftidealismus und brach damit allem Forschen nach der eigentlichen Seinsweise die Spitze ab. Das Verdienst der Hegeischen Logik, die in ihren ersten beiden Teilen allerdings eine Ontologie ist und von Hegel selbst als eine solche bezeichnet ist, sehe ich in ganz anderer Richtung. Sie schlug den Weg in die Besonderung des Seienden ein und hat damit Bahn gebrochen für das Verständnis der kategorialen Mannigfaltigkeit, ja für die innere Einheit von Ontologie und Kategorienlehre überhaupt. Sie ist die größte durchgeführte Kategorialanalyse, die wir besitzen, und ist sie die einzige geblieben, die in diesem Felde etwas Durchschlagendes geleistet hat. Sie philosophisch auszuschöpfen ist bis auf den heutigen Tag noch keineswegs

Vorwort

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gelungen. Als Ontologie verstanden aber blieb sie in derselben Halbheit stecken, die allen spekulativen Systemen eigen ist, sofern es ihnen letzten Endes um die Rechtfertigung metaphysischer Thesen zu tun ist. Die Ausweitung der Hegeischen Logik ist eine Aufgabe der speziellen Kategorien lehre, nicht die einer Ontologie der ersten Grundlagen. — Andererseits führt von Wolf aus die Perspektive auch rückwärts. Sieht man in seiner Ontologie von der Zentralstellung des Leibnizischen principium rationis sufficientis ab, so ist die Reihe seiner Themen durchweg der mittelalterlichen Metaphysik entnommen. Wie er selbst aus Suarez schöpfte, so dieser aus Thomas, Duns Scotus, Occam, ja aus Anseimus und Abälard. Man wird hiermit direkt in die Jahrhunderte des großen Universalienstreites hineinversetzt. Dieser Streit war von Anbeginn eine ontologische Angelegenheit. Es ging in ihm um die Stellung der Wesenheiten (essentiae), an diesen aber hing die Seinsweise von Ding, Welt, Mensch, Geist, der niederen also nicht weniger als der höchsten Seinsstufen. Es macht das innere Gewicht des Universalienstreites aus, daß er im Antagonismus der mittelalterlichen Schulen nicht entfernt aufgeht. Er stammt aus der klassischen Philosophie der Griechen und hat bereits in Platon und Aristoteles seinen ersten Höhepunkt. In der Scholastik gerade ist sein Sinn durch eine Reihe unerfreulicher Scheinprobleme verdunkelt worden, die ihn unausgesetzt begleiten und mit der Zeit immer mehr beherrschen. Man denke an die Spitzfindigkeiten, wie sie z. B. die Besorgnis um das Sein der „Engel" in das von Hause aus durchaus ernsthafte und an wirklichen Phänomenen orientierte Problem der Individuation hineingetragen hat. Eine strenge problemgeschichtliche Würdigung der ontologischen Errungenschaften, die wir den Meistern des Begriffsrealismus und ihren Gegnern verdanken, gibt es meines Wissens noch nicht. Sie ist auch nicht zu erwarten von einem Geschlecht, das den ursprünglichen Sinn des Seinsproblems verloren hat und eine Ontologie als philosophische Disziplin gar nicht kennt. Ich kann im Rahmen meiner Aufgabe die Geschichte des Universalienstreites nicht ableuchten. Das ist Sache des Historikers. Ich kann dem Historiker nur die systematische Basis schaffen, von der aus das Problem dieses gewaltigen Ringens ihm wieder lebendig und gegenwärtig werden könnte. Der Universalienstreit ist nicht abgetan, nicht eine Sache ferner Vergangenheit, über die wir glücklich hinausgewachsen wären. Er ist, so möchte ich behaupten, noch eine heutige Angelegenheit. Was uns an ihm fast absichtlich vorbeisehen läßt, als wäre er ein Atavismus, den man belächeln dürfte, das ist die eigene ontologische Problemlosigkeit unserer Zeit. Man sollte nicht vergessen: er ist die Form, in der von Aristoteles bis auf Leibniz die führenden Denker nach dem Prinzipiellen und Bleibenden in der Welt gesucht haben. Und er ist unendlich lehrreich für uns Heutige, weil sich auf seinem Boden das Problem der allgemeinsten Seins-

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Vorwort

kategorien — das Grundproblem also der philosophia prima — bis zu einer gewissen Spruchreife herausgebildet hat. Oder ist es etwa nicht wahr, daß dem Kategorienbegriff heute noch dieselbe Zweideutigkeit anhaftet, die damals die Streifrage der Universalien hervorrief? Ob Kategorien Auffassungsweisen des Menschen oder unabhängig von aller Auffassung bestehende Grundzüge der Gegenstände sind, ist heute noch die ontologische Grundfrage der Kategorienlehre. Was aber war es, worum zwischen Boscellin und Anseimus, Thomisten und Occamisten die Kontroverse ging? Es ist, bezogen auf die fundamentalsten Wesensstücke alles Prädizierbaren, eben diese Frage, ob sie bloß in mente oder auch in rebus (resp. gar ante res) bestünden. Sieht man hier von den extremsten Zuspitzungen ab, so zeigt sich, daß die Grundfrage immer noch dieselbe ist, und daß der alte Gegensatz von Nominalismus und Realismus ein immer noch fortbestehendes Kardinalproblem ausmacht. Die scholastischen Theorien haben das Problem nur weit allgemeiner gefaßt und eine größere Mannigfaltigkeit der Auffassungen hervorgebracht, als dem heutigen Denken geboten scheinen würde. Doch dürfte gerade das heutige Denken hier einer Selbsttäuschung unterliegen. Denn fast in gleicher Ausdehnung findet sich auf seinen eigenen Spezialgebieten das Problem wieder. Es fehlt nur das Wiedererkennen des Alten im neuen Gewände. Was heißt es denn, wenn heute die exakte Wissenschaft von Naturgesetzen redet, an denen es in ihrer eigenen Auffassung höchst fraglich bleibt, inwieweit sie wirklich Gesetze bestehender Naturzusammenhänge, inwieweit bloße Gesetze wissenschaftlichen Denkens sind? Daß der heutige Positivismus von dieser Zweideutigkeit bis in die Wurzeln zersetzt ist, daß es unter seinen Vertretern Köpfe gibt, die ohne es zu ahnen, bei ausgesprochen nominalistischen Folgerungen angelangt sind, ist kein Geheimnis. Die Konsequenz aber finde ich' nirgends gezogen. Hier geht es zwar nicht um die ontisch fundamentalen Wesenheiten, sondern um weit speziellere. Aber eben das ist lehrreich. Das Problem ist nur dem besonderen Inhalt nach verschoben; im Prinzip ist es das alte: ob das, was man als Wesensstücke des Erkannten heraushebt und in Urteilen ausspricht, ein Sein in rebus hat, oder bloß post rem, d. h. in der Abstraktion, besteht. — Die große geschichtliche Linie des Seinsproblems stellt sich, wiewohl vielfach unterbrochen, verdunkelt, überwuchert, doch als klar und eindeutig heraus. Weder skeptische noch kritische Philosophie hat sie ablenken können. Verfolgt man sie bis zu ihrem Quellpunkt zurück, so stößt man auf die Aristotelische „Metaphysik". Der Titel dieses Werkes, im heutigen Sinne des Wortes verstanden, führt irre, stammt auch nicht von seinem Schöpfer. Es ist — mit Ausnahme vielleicht des 12. Buches — durchaus keine Metaphysik, sondern eine Seinstheorie. Aristoteles nannte sie „Erste Philosophie" und definierte diese als „Wissenschaft vom Seienden als Seienden". Die beiden grundlegenden Kategorienpaare, die das

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Ganze beherrschen, — Form und Materie, Potenz und Aktua — lassen auch inhaltlich hierüber gar keinen Streit zu. Diese „Metaphysik" — selbst schon ein Spätprodukt des griechischen Geistes und in bewußter Auseinandersetzung mit Platon und den Altmeistern der Vorsokratik entstanden — ist für alle Zeiten das Grundwerk der Ontologie geblieben. Mit ihr vor allem muß auch heute noch jeder neue Versuch sich auseinandersetzen. Er muß es um so mehr, je mehr er von den hier eingeschlagenen Wegen abweicht, die zwei Jahrtausende überdauert haben. Die methodische Strenge der Aristotelischen Untersuchungsweise, sowie der Reichtum ihrer Aporien rechtfertigen das durchaus. Man braucht deswegen keineswegs zum Aristoteliker zu werden, genau so wenig, als man durch das Lernen an Christian Wolf zum Wolfianer zu werden braucht. Aristotelische Ontologie ist heute so wenig möglich wie Wolfische. Aber als Problemquelle und Gegenhalt ist die eine wie die andere nicht zu entbehren. Einmal aufgedeckte Probleme haben ihr Eigengesetz in der Geschichte. Solange sie nicht endgültig gelöst werden, verjähren sie nicht, wieweit auch der Brennpunkt jeweiliger Interessiertheit von ihnen abweichen mag. Von endgültiger Lösung aber ist die große Problemgruppe des „Seienden als Seienden" heute wie ehedem weit entfernt. So eben steht es im Seinsproblem, daß man sich seine Vorgänger in beträchtlicher geschichtlicher Ferne suchen muß. Das ist die Folge des fast zweihundertjährigen Schlafes, in dem die Ontologie gelegen hat. Sie zu erwecken erfordert ein weites Ausholen. Die oben genannten Versuche der jüngsten Vergangenheit haben ein solches nicht zuwege gebracht. Das ist der Grund, warum sie bis zu einem wirklich ontologischen Ansatz nicht gelangt sind. Die Aufgabe also ist neben aller aufbauenden Arbeit eine doppelte: die alte Ontologie in ihrem Problembestande wiederzugewinnen und zugleich Distanz gegen sie zu gewinnen. Das letztere ist durch die Tatsache geboten, daß sie von Anbeginn mit spekulativ-metaphysischen Problemen belastet war, die den Bestand der reinen Seinsfrage verunklärt haben. Was uns für alle Zeiten von ihr trennt, ist die Kantische Neugestaltung der Erkenntnistheorie. Die Kritik der reinen Vernunft wandte sich zwar, soweit sie überhaupt die Ontologie betraf, nur gegen deren deduktivapriorischen Charakter; aber eben damit traf sie doch manche der ersten Voraussetzungen, die man von jeher gemacht hatte. Darüber hinaus zeigte sie, daß es erkenntnistheoretische Bedingungen gibt, deren Klarstellung auch für das Seinsproblem unentbehrlich ist. Zu der Erkenntnis aber, daß sie ihrerseits auch ontologische Voraussetzungen machte — zwar notwendige Voraussetzungen, aber keineswegs gesicherte und kritisch ausgewogene —, drang sie nicht durch. Wie denn Kant auch nicht in Rechnung zog, daß er selbst in weitem Maße mit den Kategorien der alten Ontologie arbeitete. Was der Kritik fehlte, war gerade das Gerüst einer neuen, kritisch angelegten Ontologie. Alt- und Neukantianer haben den Mangel empfunden,

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Vorwort

aber nicht erkannt. Sie suchten ihm durch Überspitzung des Idealismus zu begegnen, haben ihn damit aber nur vergrößert. Das Umgekehrte war erfordert. Das Erfordernis wuchs und trieb schließlich den Umschlag hervor, die Rückwendung zum Seinsproblem. In dieser Rückwendung stehen wir heute. Sie ist es, aus der jene Ankündigung einer neuen Ontologie kam, die bislang unerfüllt geblieben ist. Es ist an der Zeit, endlich einen Vorstoß zu ihrer Erfüllung zu machen. Berlin, September 1934

Vorwort zur dritten Auflage Als ich diese „Grundlegung" im Jahre 1941 in zweiter Auflage erscheinen ließ, lagen bereits die zwei folgenden Bände vor: „Möglichkeit und Wirklichkeit" (1938) und „Der Aufbau der realen Welt" (1940). Die Zusammengehörigkeit dieser Werke ergab sich mit solcher Selbstverständlichkeit, daß jedes vorgeschaltete Wort darüber unnötig schien. Heute, beim Erscheinen der dritten Auflage, ist es damit anders. Die drei ontologischen Werke haben das Schicksal mancher anderen Bücher in diesen Jahren geteilt, sie wurden in kürzester Zeit ausverkauft und konnten seither nicht neu aufgelegt werden; sie haben daher bis jetzt auf dem Büchermarkt gefehlt; sie fehlten natürlich auch im akademischen Studium, dem sie vor allem hatten dienen sollen, ja sogar in den Bibliotheken der Fachgenossen, wie zahlreiche Anfragen der letzten Jahre beweisen. Diesem Zustande soll die Neuausgabe ein Ende machen. Indessen hat die Arbeit an der Ontologie nicht stillgestanden. In den Jahren 1941—43 entstand der vierte Band, der von Anfang an mit geplant war und auf den die ersten drei an vielen Stellen voraus verweisen. Er enthält die „spezielle Kategorienlehre", soweit sie die niederen Schichten der realen Welt, das Reich der Natur, betreifen. Auch dieses Werk liegt nun bereits seit fünf Jahren da und wartet auf seine Veröffentlichung. Es hatte aber keinen Sinn, es gesondert erscheinen zu lassen, solange die ersten drei Bände im Buchhandel fehlten. Ich habe es daher zurückgehalten, bis diese wieder erscheinen könnten. Damit erweitert sich die Perspektive, welche die „Grundlegung" eröffnet. Sie kündigt sich bei ihrem erneuten Erscheinen als Prolegomenon eines größeren Ganzen an, das zwar nicht abgeschlossen, in heutiger Problemlage wohl auch nicht abschließbar ist, aber doch um ein wesentliches Glied erweitert dasteht. Denn von Anbeginn — d. h. seit den ersten Entwürfen, die heute mehr als drei Jahrzehnte zurückliegen — ist sie mit auf die spezielle Kategorienlehre angelegt, und jeder der vier Bände wurde im Lauf der Zeit im Hinblick auf die enge Zusammengehörigkeit mit ihr entworfen. In einem solchen Zusammenhange versteht es sich von selbst, daß nicht in jedem Teile die ganze Fülle der Gesichtspunkte und

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Argumente neu entfaltet werden kann, daß vielmehr stets die in einem Teil entwickelten mit für die anderen gelten. Das ist bei der durchgehend festgehaltenen vorwiegend analytischen Art des Vorgehens ebenso rückwärts wie vorwärts zu verstehen: die eigentlichen Erkenntnisgründe des Vorhergehenden liegen oft genug ebensosehr beim Nachfolgenden wie die des Nachfolgenden beim Vorhergehenden. Der Gang der Darstellung ist eben nicht identisch mit dem Aufbau der Sache. Und er kann es aus inneren Gründen nicht sein. Charakteristisch ist dafür unter anderem die Stellung, welche die Rechenschaft über das Verfahren im Themenkreise des Ganzen einnimmt. Das Schema das in den systematischen Hauptwerken des 19. Jahrhunderts üblich war, die methodologische Erörterung vorzuschicken, hat sich in der veränderten Problemsituation als undurchführbar erwiesen: Methode kann erst dort in sinngerechter Weise aufgewiesen werden, wo das Denken im Inhaltlich-Gegenständlichen seine Erfahrungen gemacht hat und heimisch geworden ist. Sonst bleibt alle Reflexion auf das Verfahren abstrakt. Ich habe deswegen die nötige Rechenschaft über die methodologischen Voraussetzungen an den Schluß des dritten Bandes („Der Aufbau der realen Welt") verlegt und bin auch heute der Meinung, daß sie dort am ehesten ihren richtigen Platz hat. Ich nehme sie deswegen auch bei der Neuausgabe nicht in die „Grundlegung" hinein, wo man sie vielleicht erwartet, sondern lasse sie unverändert an ihrer Stelle stehen. Dieses Beispiel zeigt am besten, in welcher Weise die vier Werke aufeinander angewiesen sind, zusammen ein Ganzes bilden und, voneinander losgerissen, in der Luft schweben. Indem ich ihre Serie nunmehr um einen Band erweitert vorlege, bin ich mir der hohen Anforderung wohl bewußt, die ich damit an den Leser stelle, sehe aber keine Möglichkeit, den Weg zu selbständiger Beurteilung und Auswertung für ihn zu verkürzen. Ich lasse es auf das Wagnis solcher Anforderung ankommen — in dem Vertrauen auf die hohe Empfangs- und Lernbereitschaft der heutigen philosophisch Interessierten, insonderheit der akademischen Jugend, deren echt philosophische, suchende Grundhaltung mir aus langjähriger Erfahrung wohlbekannt ist. Daß nicht so leicht jemand sich einfallen lassen wird, aus den einführenden Untersuchungen dieser „Grundlegung" sich ein voreiliges Weltbild zurechtzuzimmern oder gar sie einer mitgebrachten Weltanschauung anzupassen, ist dabei die stillschweigende Voraussetzung, die ich dem Ernst und der Sachlichkeit heutiger deutscher Schicksalsgenossen schuldig zu sein glaube. Sie gilt allen denen, die es inmitten des Überangebots leichtfertiger Konstruktion und Gedankenspielerei begriffen haben, daß Weltanschauung etwas ist, was man nicht in die philosophische Forschung hineinträgt, sondern erst aus ihr zu gewinnen hoffen kann. Göttingen, im Oktober 1948 Nicolai Hartmann

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Einleitung 1. Überkommene Denkform, Denkzwang und Denkgewohnheit 2. Problemlosigkeit, Problemmüdigkeit, Relativismus 3. Das Seinsproblem in den idealistischen Systemen 4. Ontologischer Hintergrund des Relativismus 6. Metaphysischer Hintergrund der Naturwissenschaft 6. Die Metaphysik der organischen Lebens 7. Das Metaphysische im Seelenleben 8. Das Metaphysische im objektiven Geiste 9. Das Metaphysische in der logischen Sphäre 10. Der Verfall des Erkenntnisproblems 11. Phänomenologie und Metaphysik der Erkenntnis 12. Die Metaphysik des Ethos und der Freiheit 13. Metaphysik der Werte 14. Metaphysik der Kunst und des Schönen 16. Metaphysik der Geschichte 16. Der geschlossene Rahmen der metaphysischen Probleme 17. Das ontologische Element in den metaphysischen Problemen 18. Der Gedanke einer neuen philosophia prima 19. Philosophia prima und philosophia ultima 20. Darstellung, Einteilung und Begrenzung 21. Verhältnis der neuen zur alten Ontologie

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Erster Teil Vom Seienden als Seienden überhaupt I. Abschnitt. Der Begriff des Seienden und seine Aporie 1. Kapitel. Die ontologische Grundfrage a) Ausgang diesseits von Idealismus und Realismus b) Sein und Seiendes. Formaler Sinn der Grundfrage c) Die Aristotelische Fassung der Frage 2. Kapitel. Ein heutiger Versuch. Fehler im Ansatz a) Abwegigkeit der modifizierten Seinsfrage b) Seinsfrage und Sinnfrage 3. Kapitel. Einstellung der ontologischen Erkenntnis a) Ungreif barkeit und Undefinierbarkeit des Seins b) Grundsätzliches zum weiteren Vorgehen c) Natürliche und reflektierte Einstellung d) Intentio recta und intentio obliqua

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Inhalt

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4. Kapitel. StellungundVerwurzelungdes Seinsproblems a) Natürliches, wissenschaftliches und ontologisches Verhältnis zur Welt b) Gemeinsames Verhältnis zum Seienden. Der natürliche Realismus c) Inhaltliche Unterschiede und Einheit des Gegenstandsfeldes d) Der gegebene Aspekt des Seienden und seine Verfehlung

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II. Abschnitt. Traditionelle Fassungen des Seienden 5. Kapitel. Naiver und substantieller Seinsbegriff a) Das Seiende als Ding, Gegebenes, Weltgrund b) Die ontologischen Motive im antiken Substanzgedanken c) Das Seiende als Substrat und als Bestimmtes (Materie und Form) d) Die Gleichsetzung von ens und bonum 6. Kapitel. Das Seiende als Universales und als Singuläres a) Das Seiende als Wesensheit (essentia) b) Individualisierung des Eidos c) Das Seiende als das Existierende 7. Kapitel. Das Seiende als Aufbauelement und als Ganzes a) Individualität und Allgemeinheit, Individuum und Allheit b) Das Seiende als Individuum, Element, Glied c) Grenzen der atomistischen Seinsauffassung d) Das Seiende als Allheit, Ganzheit, System e) Der Fehler im Seinsgedanken der Ganzheit

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III. Abschnitt. Bestimmungen des Seienden aus der Seinsweise 8. Kapitel. Wirklichkeit, Realität, Seinsgrade a) Das Seiende als actu ens b) Das Seiende als Reales c) Seinsschichten, Seinsstufen und Seinsgrade d) Zur Kritik der Seinsgrade e) Die Seinseinheit der realen Welt 9. Kapitel. Reflektierte Fassungen des Seienden a) Das Seiende als Gegenstand, Phänomen und Zuhandenes b) Das Seiende als Transobjektives und Irrationales c) Die Subjekttheorien des Seienden 10. Kapitel. Die Grenze der Diesseitsstellung a) Die Phänomenbasis der subjektivistischen Bestimmungen b) Das korrelativistische Vorurteil c) Sein des Phänomens und des Erkenntnisverhältnisses

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Zweiter Teil Das Verhältnis von Dasein und Sosein I. Abschnitt. Die Aporetik von „Daß« und „Was" 11. Kapitel. Realität und Existenz a) Die Indifferenzen des Seienden b) Unstimmigkeit der traditionellen Begriffe

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c) Essentia und ideales Sein i 83 d) „Daß" und „Was" des Seienden. Die quidditas 85 12. Kapitel. Die Trennung von Dasein und Sosein 86 a) Ontologische Zuspitzung des Gegensatzes 86 b) Logische und gnoseologische Argumente 87 c) Metaphysische Zuspitzungen 88 d) Fehlerhafte Fassung der Begriffe „in mente" und ,,extra mentem" ... 89 e) Falsche Anwendung der Kantischen Begriffe 91 13. Kapitel. Aufhebung der Trennung 93 a) Gssetzeserkenntnis und Existenz der Fälle 93 b) Das gnoseologisch Irritierende in der Erkenntnis a priori 94 c) Der schiefe Maßstab der Definierbarkeit 96 14. Kapitel. Die Urteilstypen und ihre Überführbarkeit 97 a) Sonderstellung des Existenzialurteils und das esse praedicativum ... 97 b) Überführung der Daseinsurteile in Soseinsurteile 98 c) Nackte und bezogene Daseinsaussage 99 d) Überführung der Soseinsurteile in Daseinsurteile 100 II. Abschnitt. Ontisch positives Verhältnis von Dasein and Sosein 15. Kapitel. Aufhebung des ontologischen Scheines a) Ontologischer Mißbrauch der Substratkategorie b) Die vermeintliche Indifferenz und Zufälligkeit des Daseins c) Der Sinn der Indifferenz und ihre Aufhebung 16. Kapitel. Die Fehler im Modalargument a) Falsche Argumentation mit Möglichkeit und Wirklichkeit b) Richtigstellung der Fehler c) Das Lehrreiche in den Fehlern der Argumente 17. Kapitel. Konjunktiver und disjunktiver Gegensatz a) Der Begriff des ontisch neutralen Soseins b) Der Sphärenunterschied als Gegensatz der Daseins-Weise c) Konjunktion der Seinsmomente und Disjunktion der Seinsweisen ... d) Exposition und Reduktion des Grundschemas e) Die Rolle des neutralen Soseins im Universalienstreit f) Die Stellung der phänomenologischen „Wesenheiten" . Abschnitt. Das innere Verhältnis der Seinsmomente 18. Kapitel. Das Dasein im Sosein und das Sosein im Dasein a) Verbundenheit und Relativität im Verhältnis der Seinemomente b) Primäres Weltbewußtsein. Sprache und logische Form c) Inhaltliche Relativität von „Daß" und „Was" d) Besondere Umformungen der Urteile und ihr ontologischer Sinn 19. Kapitel. Identität und Verschiedenheit der Seinsmomente ... a) Die fortlaufend verschobene Identität von Dasein und Sosein im Ganzen des Seinszusammenhanges b) Das Sosein als Dasein von etwas „an" etwas c) Reichweite der Identität von Sosein und Dasein d) Die ontische Grenze der Identität e) Der Richtungsunterschied in der verschobenen Identität

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Inhalt

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20. Kapitel. Das Ergebnis und seine Konsequenzen a) Zusammenfassung der Resultate b) Ausblick auf weitere Aufgaben c) Der Schein der Getrenntheit und sein ontologischer Grund d) Der erkenntnistheoretische Grund der Trennung

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21. Kapitel. Gegebenheitsweisen und Seinsweisen

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a) Dreifache Überlagerung und dreifaches Grenzverhältnis 134 b) Berichtigung des Schemas. Wahre Stellung der Gegebenheitsweisen .. 136 c) Gespaltenheit der Erkenntnis und Schein der ontischen Spaltung . . . . 137 Dritter Teil Die Gegebenheit des realen Seine I. Abschnitt. Die Erkenntnis und ihr Gegenstand

22. Kapitel. Gnoseologisches und ontologisches Ansichsein a) Aufhebung der ontologischen Neutralität b) Erkenntnistheoretischer Hintergrund des Ansichseinsbegriffe c) Aufhebung der Reflektiertheit im ontologischen Ansichsein d) Das Gesetz des Erkenntnisgegenstandes und das Seiende 23. Kapitel. Die Transzendenz des Erkenntnisaktes a) Beweiskraft der Skepsis und Problem der Realitätsgegebenheit b) Konsequenzen. Die Frage nach dem „Wie" der Seinsgegebenheit . . . . c) Erkenntnis als transzendenter Akt d) Der erfassende Akt und sein Gegenstand 24. Kapitel. Die Antinomien im Erkenntnisphänomen a) Phänomen und Theorie. Der natürliche Realismus b) Die Antinomie von Ansichsein und Gegenstandsein c) Die Antinomie der Phänomentranszendenz d) Die Lösung der Antinomie und ihr Restproblem 25. Kapitel. Transobjektivität und Übergegenständlichkeit a) Problembewußtsein und Erkenntnisprogreß b) Das Ansichsein des Transobjektiven und des Objizierten 26. Kapitel. Die Grenzen der Erkennbarkeit a) Das Auftreten des gnoseologisch Irrationalen b) Begriff und Stellung des „für uns" Unerkennbaren c) Das Seinsgewicht des unendlichen Restes d) Das Ansichsein des Irrationalen

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II. Abschnitt. Die emotional-transzendenten Akte

27. Kapitel. Emotional-rezeptive Akte a) Stellung und Struktur der ontisch fundamentalen Akte b) Eigenart der emotional-rezeptiven Akte c) Widerfahmis und Betroffensein. Härte des Realen und Ausgeliefertsein d) Die Schicksalsidee. Erfahren und Erfassen 2

H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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28. Kapitel. Abstufungen des Erfahrene und Einheit der Realität a) Wideretanderfahren und Dingrealität b) Zur Klärung des ontologisohen Realitätebegriffs c) Realität und Zeitliohkeit d) Erkenntnis und emotionales Realitätsbewußtsein 29. Kapitel. Die emotional-prospektiven Akte a) Das Leben im Vorgriff und das Vorbetroffensein b) Reelle Antizipation. Erwartung und Bereitschaft c) Sekundäre Formen der Vorfühlung 30. Kapitel. Eigentliche Gefühlsakte prospektiver Art a) Die Akttranszendenz im emotional-selektiven Vorgreifen b) Das Rechnen mit der Glückschance c) Das Illusorische im Vorbetroffensein und die Grenze der Akttranszendenz d) Metaphysische Vorspiegelung und Scheinargumentation 31. Kapitel. Emotional-spontane Akte a) Die Aktivität und ihre Art von Akttranszendenz b) Unmittelbare Spontaneität und mittelbare Rezeptivität c) Das Rückbetroffensein der Person in der eigenen Handlung d) Das Realitätsgewicht von Personen für Personen e) Scheinbare Gespaltenheit der Realität. Fehler der Theorie 32. Kapitel. Innere Aktivität und Freiheit a) Die Eigenart interpersonaler Verbundenheit b) Die primäre Gegebenheit in der Stellungnahme c) Die Rolle der Situation und ihre Gegebenheitsform

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III. Abschnitt. Beates Leben und BealitStserkenntnis 33. Kapitel. Der Lebenszusammenhang als seiender a) Der Inbegriff der Akttranszendenz als realer Lebensmodus b) Das Realitätsgewicht in den Wertbezügen o) Die praktische Gegebenheit der Dingwelt d) Der Gegenstand der „Sorge" 34. Kapitel. Besondere Sphären der Einbettung in die reale Welt a) Das Realphänomen der „Arbeit" b) Die Gegebenheitsform der weiteren Realzusammenhänge c) Das Leben im kosmischen Zusammenhang 35. Kapitel. Erkenntnis und emotionale Gegebenheit a) Identität der Welt und Ausschnitte der Gegebenheit b) Schlußfolgerung aus der Transzendenz der emotionalen Akte c) Weitere Konsequenzen d) Die Abstufung der Phänomentranszendenz und die Erkenntnis 36. Kapitel. Die Sonderstellung der Erkenntnis a) Homogeneität und Gegensatz im Aktzusammenhang b) Soseins- und Daseinsgegebenheit in der Aktmannigfaltigkeit c) Überlegenheit der Erkenntnis und intellektualistisches Vorurteil d) Verselbständigung und Sachentfremdung der Wissenschaft e) Wissenschaftskritik und Phänomenologie

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Inhalt

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37. Kapitel. Die Stellung der Wissenschaft a) Methodische Irrtümer und Mißverständnisse b) Einbettung der Wissenschaft in den Lebenszusammenhang c) Richtigstellung wissenschaftskritischer Vorurteile d) Ontologische Einbettung der Erkenntnis

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Vierter Teil Problem und Stellung dee idealen Seins I. Abschnitt. Die Gegebenheit des mathematischen Seins

38. Kapitel. Ontologische Aporetik der Idealität a) Die Grundaporie und ihre Folgen b) Ideales Sein und Idealerkenntnis c) Ansatz der Seinsgegebenheit in der mathematischen Erkenntnis d) Einwände und Kritik der Einwände e) Mathematisches Urteil und mathematischer Gegenstand f) Weitere Beispiele und Folgerungen 39. Kapitel. Theorien und Auffassungen a) Mathematischer Subjektivismus b) Mathematischer Intuitivismus c) Verhängnisvolle Konsequenzen d) Der erkenntnistheoretische Grundfehler e) Die Gegenprobe: Mathematik ohne Erkenntnis 40. Kapitel. Idealerkenntnis und objektive Gültigkeit a) Immanente und transzendente Apriorität b) Ideale Apriorität und Notwendigkeit c) Denknotwendigkeit und Seinsnotwendigkeit 41. Kapitel. Idealerkenntnis und Realerkenntnis a) Das Zutreffen mathematischer Erkenntnis auf Realverhältnisse b) Apriorische Realerkenntnis c) Die Äquivokation im Begriff der Idealität

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. Abschnitt. Verbundenheit des idealen und realen Seins

42. Kapitel. Das Verschwinden der idealen Gegenstände im Erkenntnisfelde 246 a) Das Vorgelagertsein des Begriffes 246 b) Aufdringlichkeit und Unaufdringlichkeit des Gegenstandes 247 c) Die Stellung des Erkenntnisgebildes in der Idealerkenntnis 248 d) Zweierlei Verschwinden. Vorstellung und Begriff 250 43. Kapitel. Die dreifache Hintereinanderschaltung 251 a) Die Nahstellung des idealen Seins zum Bewußtsein 251 b) Nominalismus und Realismus

c) Die unaufhebbare Täuschung 44. Kapitel. Relative Selbständigkeit des idealen Seins a) Rolle der Idealität im Realpriorismus b) Echte Selbständigkeit und falsche Isolierung des idealen Gegenstandes 2*

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c) Keine und angewandte Mathematik 267 d) Die „Zufälligkeit" des Realen und der „Möglichkeitebereich" des Idealen 259 45. Kapitel. Indifferenz und Gebundenheit 260 a) Die „Ungenauigkeit" der Realfälle 260 b) Irrige und zutreffende Schlußfolgerungen 261 c) Sinn und Grenzen der Indifferenz des idealen Seins 262

III. Abschnitt. Das ideale Sein im Realen 46. Kapitel. Die Phänomenologie der Wesenheiten a) Die Einklammerung und das Herausheben b) Die Wesenheit und ihr Verhältnis zum Realen c) Freie und anhangende Idealität d) Einheit der Wesenheiten und Zweiheit der Zugänge 47. Kapitel. Wesensschau und Evidenz a) Die Idee der mathesis universalis b) Grenzen der inhaltlichen Gewißheit c) Subjektive und objektive Evidenz d) Positiver Sinn der Evidenztäuschung 48. Kapitel. Das Reich des Logischen und seine Gesetze a) Die Doppelgesetzlichkeit des Denkens b) Ideal-ontologischer Charakter der logischen Gesetzlichkeit c) Verhältnis des Logischen zur anhangenden Idealität d) Logische Gesetze und Realgesetzliehkeit e) Objektive Gültigkeit des Logischen und Möglichkeit der Realwissenschaften 49. Kapitel. Das Reich der Werte und seine Seinsweise a) Die Sonderstellung der Werte unter den Wesenheiten b) Wertbewußtsein und Werterkenntnis c) Realität des Wertgefühls und Determinationskraft der Werte d) Der Wandel des Wertbewußtseins und das Sein der Werte e) Konsequenzen. Scheinbarer Widerspruch und Lösung 50. Kapitel. Seinsweisen und Sphärenlagerung a) Schweben der Sphäre und Immanenz der Seinsweise b) Der haltbare Sinn des „Schwebens" der Sphäre c) Das Verhältnis der Seinsweisen im Individuellen d) Der Nimbus der „Erhabenheit" e) Idealontologie und Realontologie 51. Kapitel. Bewußtseinsnähe und Idealtranszendenz a) Innere Gegebenheit und reine Apriorität b) Idealtranszendenz und Realtranszendenz c) Das Irrationale im Reich des idealen Seins

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Einleitung 1. Überkommene Denkform, Denkzwang und Denkgewohnheit

Warum eigentlich sollen wir zur Ontologie zurückkehren? War nicht einst das Fundament der ganzen Philosophie ontologisch? Und ist das Fundament nicht unter ihr zusammengebrochen, sie selbst und alles, was mit ihr stand, in den Sturz hineinreißend? Es ist die Skepsis nicht allein, was sie unterwühlt hat. Die kritische Philosophie von Descartes bis auf Kant war durchaus nicht skeptisch eingestellt; und doch ist sie es, welche die Frage nach dem „Seienden als solchem" immer weiter zurückgedrängt und schließlich als überhaupt anstößig verworfen hat. Die Frage ,,wie können wir vom an sich Seienden etwas wissen" wird abgelöst durch die Frage, „wie können wir auch nur eindeutig davon reden", ja es „meinen". Im Reden und Meinen ist es ja schon „gesetzt", ist etwas „für uns" und nicht an sich Bestehendes. Die kantischen Schulen am Anfang wie am Ende des 19. Jahrhunderts haben das in aller Schroffheit ausgesprochen und durch Überlegungen erhärtet, die mit dem Fall der idealistischen Theorien durchaus nicht ohne weiteres hinfällig werden. Man darf es mit dieser Gegnerschaft gewiß nicht leicht nehmen, obgleich sie in der heutigen Philosophie nicht mehr die Führung hat. Die Formen, in denen sich unser Denken bewegt, sind doch noch die ihrigen, die Begriffe sind die von ihr geschaffenen. Es ist eine Gegnerschaft geworden, die uns von innen her anfällt, weil sie in den Zuschnitt unserer Überlegungen mit eingeht. Ihr begegnen heißt die Begriffe von Grund auf revidieren, sie umbilden und mit den umgebildeten arbeiten lernen. Es ist aber schwer, eingefahrene Bahnen im eigenen Denken umleiten und die neuangelegten sicher befahren lernen. Nichts geringeres bedeutet für heutiges Denken die Aufgabe der Ontologie. Und nichts geringeres als der Zwang einer zum mindesten 150J ährigen, traditionsfest gewordenen Denkgewohnheit ist es, was ihr entgegensteht. Die Gegner der Seinsfrage sind heute nicht mehr eigentliche Idealisten. Es sind aber durchweg Erben idealistischer Denkform. Und gerade weil sie das nicht mehr wissen, halten sie mit bleierner Schwere am überkommenen Erbgute des Gedankens fest, das den Werdegang ihres Denkens bestimmt hat. Es handelt sich hierbei in erster Linie um erkenntnistheoretische Begriffe und Voraussetzungen. Ein jeder bringt solche mit, einerlei ob er darum weiß oder nicht. Da aber die Erkenntnistheorie sich fast ausschließlich auf idealistischem Boden entwickelt hat, so sind es vorwiegend

Einleitung

idealistisch unterbaute Begriffe. Es gehört zu den Aufgaben, die im weiteren zu lösen sein werden, diese erkenntnistheoretischen Begriffe auf ihre Tragkraft hin zu untersuchen und, soweit nötig, abzubauen. Ist nun die Aufgabe so groß und schwierig, reicht sie gleich bei den ersten Schritten bis in die stillschweigenden Voraussetzungen des philosophischen Denkens hinein, warum müssen wir uns ihr dann eigentlich unterziehen? Sollten wir den suchenden und tastenden Gang der Forschung, wie er auf mannigfachen Geleisen an der Arbeit ist, nicht lieber sich selbst überlassen, statt wie die Metaphysik alter Zeit den fragwürdigen Griff an die ersten Grundlagen zu wagen, über die am Ende doch nicht Endgültiges auszumachen ist? Warum — so ist allen Ernstes zu fragen — sollen wir denn durchaus zur Ontologie zurückkehren? 2. Problemlosigkeit, Problemmüdigkeit, Relativismus

Die Antwort darauf zu geben, ist das Anliegen dieser Einleitung. Man könnte sie vorwegnehmen und einfach erklären: wir müssen deswegen zur Ontologie zurück, weil die metaphysischen Grundfragen aller Forschungsgebiete, auf denen philosophisches Denken arbeitet, ontologischer Natur sind, und weil diese Fragen damit, daß man sie „kritisch" ignoriert oder geflissentlich umgeht, nicht aus der Welt zu schaffen sind. Es ließe sich weiter darauf hinweisen, daß der inhaltliche Bestand solcher Fragen nicht ein willkürliches Produkt menschlicher Fragelust, auch nicht ein bloß geschichtlich gewordener Ballast des Gedankens, sondern die ewige Rätselhaftigkeit der Welt selbst und in ihrer Beschaffenheit verwurzelt ist. Daraus ergäbe sich ohne weiteres, daß der Mensch dauernd und unaufhebbar vor sie gestellt ist. Ja, man könnte sich hier schließlich auf Kant berufen, der in den ersten Zeilen des Vorwortes zur Kritik der reinen Vernunft dieser Sachlage Rechnung trägt. Aber das alles genügt für heutiges Denken nicht. Zu sehr hat sich dieses Denken gewöhnt, unbequeme Fragen zu übergehen. Ist es doch durchaus üblich geworden, Problembestand und Problemstellung zu verwechseln; mit der letzteren aber hat man leichtes Spiel; denn man kann sie nach Bedarf umprägen oder ablehnen. Daß es in den großen Problemgehalten etwas Unabweisbares gibt, was zu ändern in keines Menschen Macht steht, ist zur Zeit keineswegs Gemeingut des Wissens. Das muß dem heutigen Denken erst wieder zum Bewußtsein gebracht und nachgewiesen werden. Und da es kein anderes als das eigene eng gegenwärtige Problemfeld kennt, so muß man es ihm auf eben diesem seinem eigenen Problemfelde nachweisen; d. h. man muß ihm beweisen, daß es selbst die großen unabweisbaren Problemgehalte enthält und nur das Wissen darum nicht hat. Anders kann auch die Berufung auf geschichtliche Autorität hier nicht fruchten. Was Kant als ein allgemeines Schicksal der Vernunft hinstellte, betraf überdies keineswegs das Ganze des metaphysischen Problem-

Einleitung

bestandes, geschweige denn dessen ontologische Fundamentalschicht. Kant hielt sich einfach an die bekannten drei Hauptgebiete der spekulativen Philosophie — Kosmos, Seele, Gottheit —, sah aber keineswegs, daß auch im Allernächsten und scheinbar Selbstverständlichen metaphysische Problemhintergründe enthalten sind, nicht geringer als die der genannten Gebiete, aber weit dringlicher als sie. Zu alledem kommt, daß es im heutigen philosophischen Denken eine gewisse Problem-Müdigkeit gibt. Der tief eingerissene Relativismus — in Deutschland am bekanntesten in der Form des Historismus — hat hier erschlaffend gewirkt. Um Probleme eindeutig sehen und in Angriff nehmen zu können, muß man den Sinn von wahr und unwahr einsehen; denn alle forschende Arbeit geht auf Erringung der Wahrheit. Wie aber, wenn als wahr alles gilt, was der geschichtlichen Geisteslage einer bestimmten Zeit konform ist? Da wird das Ringen selbst illusorisch, weil der Sinn dessen, wonach man ringt, sich aufzulösen scheint. Und dann kann es auch keine Problembestände mehr geben, die unaufhebbar wären und irgend etwas unnachsichtig von uns erheischen könnten. Scheinen sie doch selbst der gleichen Relativität zu unterliegen wie die Teilerningenschaften der Erkenntnis, an denen sie haften. So glaubt man schließlich nicht mehr an Probleme. Man nimmt sie so wenig ernst wie die Wahrheit, auf die man mit ihnen abzielt. Und damit hebt man den Sinn der Forschung auf — zugleich aber auch den eindeutigen Sinn der Position, die man mit eben dieser Aufhebung einnimmt. Es ist die Selbstaufhebung des philosophischen Denkens. 3. Das Seineproblem in den idealistischen Systemen

Ein wirklich problemlos gewordenes Denken wäre wahrscheinlich auch nicht belehrbar. Soweit aber ist es nun doch nicht gekommen. Aller Gegentendenz zum Trotz hat jede Zeit ihren Problembestand, kein Relativismus kann ihn ohne weiteres auskehren. Was in unserer Zeit der Erweckung bedarf, das sind vielmehr nur die metaphysischen Hintergrundsprobleme. Und dem kommt das spontane Erwachen des Sinnes für metaphysische Fragen überhaupt entgegen, das seit dem Beginn des Jahrhunderts sich meldet und nur vom Relativismus niedergehalten worden ist. Warum eigentlich hat der theoretische Idealismus sich überlebt? Er war doch einst der Träger und Formgeber einer wahrhaft bahnbrechenden Philosophie des Geistes, und die Problemfülle, die seine Höhe in der großen Periode von Kant bis Hegel aufschloß, ist auch heute noch keineswegs erschöpft. Der Idealismus eben hatte noch eine andere, seinstheoretische Seite — man kennt sie als idealistische Erkenntnistheorie —, und diese trat nach Überschreitung seines Höhepunktes mehr und mehr in den Vordergrund. Diese Seite war es, die sich gleich in den Anfängen mit der Bekämpfung des „Dinges an sich" ankündigte und im Neukantianismus die schroffste Zuspitzung erfuhr.

Einleitung

Man begegnet bis heute der Ansicht, der konsequente Idealismus brauche die Frage nach dem „Seienden als solchem" gar nicht zu stellen, ja, er habe sie auch tatsächlich niemals gestellt. Wie aber soll man es verstehen, wenn man sieht, daß die einschlägigen Theorien in aller Form die „Idealität des Seins" zu erweisen bemüht sind? Kann man denn sagen, daß ein solches Unterfangen es nicht mit der Seinsfrage aufnehme und keine Seinstheorie sei? Kant ließ die „empirische Realität" der Dinge gelten, erklärte sie aber für bloße Erscheinung, für „transzendental ideal". Fichte ließ sie vom Ich produziert sein; da das Ich sie aber im Leben für real hält, so kann es um die Produktion nicht wissen. Schelling nannte das direkt „unbewußte Produktion". Das ist eine Theorie, die gewiß künstlich anmutet, sie hat sich geschichtlich auch keineswegs gehalten. Aber wie bedenklich ihre Konsequenzen immer sein mögen, kein Zweifel kann doch daran sein, daß es eine Seins- und Realitätstheorie ist. Die Realität wird hier zwar für Schein erklärt, aber eben diese Erklärung ist doch eine Erklärung dessen, was es mit dem Realitätsphänomen und seiner Gegebenheit auf sich habe. Es ist also genau so gut wie jede realistische Erklärung eine Theorie vom Seienden als solchem. Die Seinsfrage selbst ist dieselbe, und zwar auf Grund derselben Phänomene. Sie wird nur anders beantwortet. Dasselbe gilt von den Formen des logischen Idealismus bei den Neukantianern. Man kann eben statt von Funktionen des Ich auch vom prädikativen Sein im Urteil ausgehen und alle Realität auf logische Geltung zurückführen. Das mag sehr willkürlich sein, aber es ist schließlich auch eine Erklärung der Seinsweise. Um den ontologischen Einschlag kommen also auch diejenigen Theorien nicht herum, von denen am ehesten man erwarten könnte, daß sie ihn wirklich ganz umgehen. Auch der äußerste Subjektivismus kann nicht umhin, wenigstens den „Schein" des Seins irgendwie zu erklären. Wobei er dann die Erfahrung macht, daß es um nichts leichter ist, den Schein zu erklären als das Sein selbst. Darum fallen die Systeme dieser Art so gekünstelt aus. Sie überheben sich gleichsam am Gewicht der Seinsfrage und müssen die Anmaßung mit innerer Gebrochenheit büßen. Sogar bei der Skepsis ist es noch dasselbe, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Auch sie kann es nicht vermeiden, vom Realen zu handeln, und zwar gerade indem sie es als fragwürdig erweist. Der Seinsweise der Gegenstände gilt ja in erster Linie die , bei der sie sich verzichtend bescheidet. Und an der Skepsis am reinsten sieht man es ein, warum dem so ist und sein muß. Ein theoretisches Denken, das nicht im Grunde ontologisch wäre, gibt es in keiner Form und ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist offenbar das Wesen des Denkens, daß es nur „etwas", nicht aber „nichts" denken kann. So hat es schon Parmenides ausgesprochen. Das „Etwas" aber tritt jederzeit mit einem Semsanspruch auf und beschwört die Seinsfrage herauf.

Einleitung 4. Ontologischer Hintergrund des Relativismus

Dasselbe läßt sich mutatis mutandis von allen Theorien zeigen, die den Wahrheitsbegriff relativieren, einerlei ob sie von pragmatistischen oder historischen Argumenten getragen sind. Es ist oft gezeigt worden, wie solche Theorien sich selbst aufheben, indem sie den strengen Sinn von wahr und unwahr, den sie in ihren Aufstellungen für sich selbst beanspruchen, grundsätzlich für unmöglich erklären. Ins Positive gewandt bedeutet das, daß sie in Wirklichkeit nur die Geltung in der Überzeugung der Zeitalter relativieren, nicht das Wahrsein selbst. Ein bescheidenes Resultat, das auch ohne so große Aufmachung niemand bestreitet. Es ist eben nicht ein und dasselbe, ob etwas wahr „ist" oder für wahr „gilt". Auch Irrtümer können einer langen Folge von Generationen als Wahrheit gelten, auch Wahres kann ihrem Denken verborgen oder unverständlich sein und, wo es ausgesprochen wird, als Irrtum verschrieen werden. Das ist eine einfache Überlegung. Sie genügt vollkommen, um das Phänomen geschichtlicher Geltungsrelativität zu klären, das diesen Theorien vorschwebt. Freilich steckt hinter der Verwechselung von Wahrheit und Geltung eine weit gefährlichere: die von Wahrheit und Wahrheitskriterium. Diese ist erkenntnistheoretischer Art und reicht viel tiefer an die Grundlagen unseres Wissens um das Seiende heran. Wäre Wahrheit ein greifbares Merkmal am Erkenntnisinhalt, so müßte das Unwahre sich im Bewußtsein jederzeit von selbst ankündigen — sei es als Unstimmigkeit oder sonstwie -—, und kein Irrtum könnte sich im Bewußtsein halten. Das Gesetz des Irrtums ist eben, daß er sich aufhebt, sobald er als solcher erkannt wird. Wahrheit wäre dann in der Tat die „Norm ihrer selbst und des Unwahren". So aber steht es nicht im Haushalt menschlichen Erkennens. Irrtum und Erkenntnis besteht ununterscheidbar vermengt auf allen Lebens- und Wissensgebieten; alles Weiterkommen mit der Einsicht ist ein fortschreitendes Berichtigen von Irrtümern, und stets muß die Kritik des Irrtums erst in weitem Ausholen errungen werden. Hier liegt der innere Grund der scheinbaren Relativität des Wahren, sowohl der privaten in der persönlichen Ansicht als auch der objektiv-historischen im Wechsel der Zeitalter. Sofern aber der historische Relativismus auch das Seinsproblem antastet, begeht er einen noch weit gewichtigeren Fehler. Diese Ausdehnung der Theorie liegt nah, weil Wahrsein nun einmal das Zutreffen auf Seiendes bedeutet. Auch die Realität der Welt wird demnach als relativ auf die Geistesart der Zeit verstanden. Und damit meint man nicht nur die Selbstverständlichkeit, daß in der realen Welt selbst sich vieles ändert, sondern die Veränderlichkeit eines und desselben einmaligen Geschehens, je nach der geschichtlichen Geformtheit des Geistes, der es zu seinem Gegenstande macht. Über die Extravaganz solcher Schlüsse ist kein Wort zu verlieren. Wohl aber ist es lehrreich, daß die Theorie gerade von dieser Konsequenz

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Einleitung

her eine Korrektion erfährt, die sie vernichtet. Der Wandel der Geformtheit des Geistes ist nämlich hier selbst als ein realer vorausgesetzt, und nur unter dieser Voraussetzung kann er jene „Veränderlichkeit" bewirken. Dann aber gehört er derselben realen Welt an, deren Relativität auf die Geformtheit des Geistes gefolgert wurde. Es wird also entweder seine Realität oder diese Relativität aufgehoben. Im ersteren Falle ist der Wandel des Geistes kein wirklicher, kann also auch keine Relativität des Seienden bewirken; im letzteren Falle besteht er zwar zurecht, aber das Seiende kann nicht auf ihn relativ sein. Das klingt, wenn man es so ausspricht, reichlich gekünstelt. Nur liegt die Künstlichkeit in der Theorie, nicht in der Widerlegung. Das schlicht positive Resultat dieser Überlegung aber ist die Einsicht, daß selbst der extreme Relativismus noch ein ontologisches Fundament voraussetzt. Woraus man denn wohl schließen darf, daß Theorien, die ohne ein solches auskämen, ein Ding der Unmöglichkeit sind. 5. Metaphysischer Hintergrund der Naturwissenschaft

Wichtiger indessen als das Zeugnis der Theorien und Systeme ist das der inhaltlichen, nach Problembeständen sich gliedernden philosophischen Arbeitsgebiete1). Man kann hier — um bei dem Lieblingsthema heutiger Spekulation, der Relativität, noch zu verweilen — gleich bei der Naturphilosophie einsetzen. Hier steht es nicht mehr wie zu Schellings Zeiten, niemand denkt mehr daran, die Natur nach Analogie des Geistes zu verstehen. Aber auch die Methodologie der exakten Wissenschaft befriedigt nicht mehr. Ist doch diese selbst in ihren Grenzgebieten höchst konstruktiv geworden. Die Exaktheit der positiven Wissenschaft wurzelt im Mathematischen. Dieses als solches macht aber die kosmischen Verhältnisse nicht aus. Alles quantitativ Bestimmte ist Quantität „von etwas". Substrate der Quantität also sind in aller mathematischen Bestimmung vorausgesetzt. Sie selbst als solche, einerlei ob es sich um Dichte, Druck, Arbeit, Gewicht, Dauer oder räumliche Länge handelt, bleiben identisch in der quantitativen Mannigfaltigkeit, und man muß sie schon anderweitig kennen, wenn man auch nur verstehen will, was die mathematischen Formeln besagen, in welche die Wissenschaft ihre besonderen Verhältnisse faßt. Hinter ihnen selbst aber steht eine Reihe kategorialer Grundmomente, die selbst offenkundig substrathaften Charakter haben und sich aller quantitativen Fassung entziehen, weil sie Voraussetzungen der realen Quantitätsverhältnisse sind. Von dieser Art sind vor allem Raum und l

) Die genauere Rechenschaft über die Gesamtlage der Metaphysik in unserer Zeit findet sich in meinem Beitrag zu der von H. Schwarz herausgegebenen Sammlung „Deutsche Systematische Philosophie nach ihren Gestaltern", Berlin 1931, S.283ff.; 3. Aufl. als Sonderdruck 1935.

Einleitung

Zeit, nächst ihnen aber nicht weniger auch Materie, Bewegung, Kraft, Energie, Kau^alprozeß u. a. m. Um diese Kategorien der Natur ist von jeher der Streit gegangen. Auch heute sind es die Thesen der Relativitätstheorie, die sich auf sie beziehen. Das Metaphysische dieser Theorie besteht in dem Versuch, die Substratmomente in Raum, Zeit, Materie usw. aufzulösen. Sie stößt, vom Quantitativen ausgehend, in das Wesen der unquantitativ-ontischen Fundamente vor. Sie setzt in der Sphäre der Messung ein, stößt auf die Grenzen eindeutiger Meßbarkeit; statt aber hierin die Grenzen des Quantitativen in der Natur zu erkennen, zieht sie die Konsequenz nach der anderen Seite: sie relativiert die Substrate möglicher Maßverhältnisse. Statt zu fragen: welche Begrenzung des mathematisch Formulierbaren genügt dem Wesen von Raum und Zeit? fragt sie vielmehr: Welche Begrenzung des Wesens von Raum und Zeit genügt den mathematischen Formern? So werden die Folgerungen vom ontisch Sekundären aus in die Region des Primären hineingetrieben. Die Substrate der Beziehung werden in Bezogenheiten aufgelöst. Man bemerkt nicht, daß man damit in die Sackgasse des leeren Relationalismus gerät. Man kann hieraus ohne Schwierigkeit die Lehre ziehen, daß die methodische Grenzüberschreitung des mathematischen Denkens geradeswegs das Gegenteil dessen beweist, was sie erstrebte, nämlich seine eigene Begrenztheit im Gegenstandsgebiet der Natur. Was hier wirklich als sehr relativ erwiesen wird, ist die Eindeutigkeit der mathematischen Verhältnisse. Diese Relativität aber ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Abhängigkeit des Begreifens von den Formen und Kategorien des begreifenden Bewußtseins. Das kategoriale Problem, das in dieser Sachlage greifbar wird, ist offenkundig ein ontologisch.es. Keine noch so exakte Naturwissenschaft kann sagen, was Raum, Zeit, Materie, Bewegung selbst eigentlich sind, geschweige denn was Wirken und Bewirktwerden ist. Sie setzt dies alles schon voraus, und zwar ohne sich um Begründung oder Rechenschaft über das Vorausgesetzte zu bekümmern. Das Problem, das in diesen Voraussetzungen steckt, erfordert ein ganz anderes Vorgehen, und sei es auch nur, um es phänomengerecht zu fassen. Die Aufgabe, die hier erwächst, ist eine durchaus metaphysische. Und nur eine strenge Kategorialanalyse kann es zuwege bringen, den unlösbaren Teil der einschlägigen Probleme sauber herauszuarbeiten, um dadurch den lösbaren erst einer Lösung zugänglich zu machen. 6. Die Metaphysik des organischen Lebens

Im biologischen Problemfelde wächst der metaphysische Einschlag gleich bei den ersten Schritten bis zu völliger Ratlosigkeit. Von alters her herrscht in der Philosophie des Organischen die teleologische Auffassung

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des Lebendigen. Allzu deutlich scheinen die Lebensvorgänge zweckmäßig zu verlaufen. Daß der Mensch, dessen Verhalten im Leben^in durchweg zwecktätiges ist, diese Zweckmäßigkeit als Zwecktätigkeit und reale Zweckläufigkeit deutet, ist nicht zu verwundern. Dem Anthropomorphismus, der in dieser Umdeutung liegt, auf die Spur zu kommen, ist erst spät gelungen. Ja, daß hier überhaupt eine Deutung vorliegt, dürfte vor Kants Kritik der ideologischen Urteilskraft schwerlich jemandem ernstlich in den Sinn gekommen sein. Die mechanistische Deutung dagegen, vom Materialismus öfters versucht, von Darwin und seinen Nachfolgern ernstlich in Angriff genommen, leidet an der Schwierigkeit, daß Prozesse von der Komplexheit der organischen sich auf keine Weise in ihrer Ganzheit kausal verstehen lassen. Es sind und bleiben immer nur Teilprozesse und Teilabhängigkeiten, die sich aufzeigen lassen. Über die bloße These, „daß" überhaupt es kausal geordnete Prozesse sein sollen, kommt man nicht hinaus. Beides zusammengenommen läuft deutlich auf die Tatsache hinaus, daß wir das wirkliche kategoriale Determinationsverhältnis der Lebensprozesse nicht kennen. Hier ist etwas, was uns in aller augenfälligen Gegebenheit doch unzugänglich bleibt, ein Irrationales, ein metaphysischer Probleinrest, unabweisbar und unlösbar zugleich, und zwar gerade das Kernstück der Lebendigkeit betreffend. Die Gegebenheitsweise des Organischen läßt diese Sachlage auch durchaus verständlich erscheinen. Sie ist eine doppelte, eine innere und eine äußere, und beide klaffen inhaltlich weit auseinander. Es gibt ein unmittelbares Bewußtsein der eigenen erlebten Lebendigkeit und ihrer Zustände, und es gibt ein objektiv-dingliches Bewußtsein fremden Lebens. Das letztere sieht und erkennt den Organismus in seinen Teilerscheinungen, faßt aber nicht die Ganzheit; das erstere dagegen erlebt ihn als Ganzes, weiß aber nicht um seine Funktionen. Daß beide Arten der Gegebenheit sich gegenseitig ergänzen, ist nicht zu verkennen. Aber das genügt nur für die Praxis des Lebens, nicht für das Verstehen des Wesens. Denn sie schließen nicht aneinander an, stimmen auch durchaus nicht durchweg überein. Der Kranke und der Arzt haben ein sehr divergierendes Bewußtsein von ein und demselben Zustand. Jener fühlt nur, daß ihm etwas „fehlt"; was es ist, weiß er nicht; dieser weiß es wohl, aber nicht aus seinem Lebensgefühl, sondern auf Grund äußerer Symptome. Wirklich entgegengesetzt aber werden die beiden Gegebenheitskreise erst in der theoretischen Betrachtung. Der innere verführt dauernd zur ideologischen Auffassung, der äußere ebenso dauernd zur kausalen. Beide Tendenzen des Verstehens sind offenbar einseitig, und beide urteilen unter Kategorien, die offenbar nicht die eigentümlichen des organischen Lebens sind. Die Kausalkategorie ist vom Gebiet des Anorganischen her, die Zweckkategorie von dem des Seelischen her auf den Organismus übertragen.

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Die Übertragung ist zwar sehr begreiflich. Wie sollte der Mensch denn anders vorgehen als vom Gegebenen zum Nichtgegebenen? Nun ist ihm aber sowohl die äußere Dingwelt als auch die innere Welt des Seelischen in einer gewissen Unmittelbarkeit gegeben, nicht aber die Zwischensphäre des Lebendigen. Dessen Gegebenheit ist vielmehr an jene beiden „Welten" gleichsam aufgeteilt. Nur sind diese beiden „Welten" als Zugänge des Wissens zum Organischen unzureichend. Wir kennen sowohl Kausalzusammenhänge als Finalzusammenhänge. Beide aber treffen auf den Prozeß des Lebens nicht recht zu. Hier eben klafft die große Lücke in unserem Erkennen: den eigentümlichen Determinationstypus im Lebensvorgang kennen wir nicht. Das ist der Grund, warum in unserem Bewußtsein des Lebendigen dauernd entweder Kausaloder Finalvorstellungen sich vordrängen und die Tatsache verdunkeln, daß das Eigentümliche des Lebensvorganges ein metaphysisches Rätsel bleibt. 7. Das Metaphysische im Seelenleben

Ganz so schwierig ist die Sachlage auf dem Arbeitsgebiet der Psychologie nicht. Die Sphäre der Gegebenheiten ist hier eindeutig und in sich zusammenhängend. Doch gibt es auch hier einen metaphysischen Problemhintergrund, der in neuester Zeit sich immer greifbarer zeigt. Er fällt um so schwerer ins Gewicht, als die Psychologie des 19. Jahrhunderts ihn nirgends zu fassen bekommen hat und sich deshalb der trügerischen Gewißheit hingab, eine reine Tatsachenwissenschaft zu sein und aller systematischen Schwierigkeiten überhoben zu sein. Auf dieser Täuschung beruhte ihre scheinbare Überlegenheit über die anderen philosophischen Disziplinen, sowie zuletzt ihre Anmaßung, diese zu ersetzen. Täuschung und Anmaßung des Psychologismus sind gefallen. Das Metaphysische des Grundproblems ist geblieben. Es liegt in der Seinsweise der psychischen Realität, ist also von vorn herein ein ontologisches Problem. Solange man Realität als ein Eigentümliches der sog. Außenwelt ansah — der Dingwelt, des Physischen —, konnte die Psychologie sich metaphysisch unbelastet dünken. Aber nicht einmal der Art, wie wir das Seelische erleben, entspricht diese Ansicht. Jedermann rechnet im Leben mit der Gesinnung des Mitmenschen als mit etwas durchaus Wirklichem, die Ereignisse mit Bestimmendem; jeder kennt die eigenen Zustände, Gefühle, Aversionen, Sympathien, Wünsche, Sehnsüchte, Ängste als etwas Gewichtiges, das auch ohne sein Wissen stets vorhanden ist und ihn aus der dunklen Tiefe des eigenen Ich heraus bestimmt, überfällt, ja gelegentlich vollkommen überrascht. Es gibt offenbar ein reales, unabhängig vom Grade des Erkanntseins ablaufendes Seelenleben, und dieses ist nicht identisch mit dem Bewußtsein. Es verläuft in derselben realen Zeit, in der auch die physischen Geschehnisse verlaufen, wandelt und entwickelt sich in demselben eindeutig-irreversiblen Folgeverhältnis,

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zeigt denselben Modus des Entstehens und Vergehens; ja, es steht in mannigfaltiger Wechselbedingtheit mit dem äußeren Geschehen. Nur die Unräumlichkeit scheidet es von ihm. Hält man die Räumlichkeit und die mit ihr eng verbundene Materialität für einen Wesenszug des Realen überhaupt, so kann man die Realität der psychischen Akte natürlich nicht fassen. Man hat sie durch eine falsche Definition — falsche ontologische Passung des Realseins — von ihnen ausgeschlossen. Gibt man aber der Fülle der angedeuteten Phänomene einmal Raum, so kann man umgekehrt jene Definition nicht mehr halten. Die seelische Welt erweist sich dann als genau ebenso real wie die physische. Damit aber erwächst der Psychologie eine Reihe weiterer Aufgaben. Es fällt ihr nicht nur die ontologische Frage zu, wie diese psychische Realität überhaupt zu fassen ist; es eröffnet sich auch der Ausblick auf ein verzweigtes Feld der unerlebten und unbewußten Zustände und Akte, das offenbar inhaltlich weit reicher ist als das unmittelbar Erlebte und Aufweisbare. Die heutige Psychologie weiß längst um diese Sachlage. Die Zeiten der reinen Erlebnispsychologie — die Akt und Akterlebnis nahezu gleichsetzte — sind vorbei. Gerade die Aktphänomenologie, die strenger als andere Methoden beim rein Gegebenen ansetzte, hat hier Klärung geschaffen. Man baut heute nicht mehr das Bewußtsein aus Elementen auf. Die Elemente gerade haben sich als nirgends rein aufweisbar erwiesen. Was wirklich im Erlebnis gegeben ist, sind stets Zusammenhänge, Ganzheiten. Diese aber weisen überall eindeutig ins Unerlebte zurück. Man kann diese Wandlung als das Einsetzen einer Kritik der psychologischen Vernunft bezeichnen. Man darf das um so mehr, als sie in der Tat zur Unterscheidung von Erscheinung und Ansich innerhalb der inneren Welt geführt hat, nicht anders als die Kantische Kritik zur Unterscheidung von Erscheinung und Ansich der äußeren Welt führte. Damit aber ist das Metaphysische im Seelenproblem spruchreif geworden. Es ist im Gegensatz zur alten Seelenmetaphysik — der psychologia rationalis — das einfache, von der inneren Erfahrung selbst aufgegebene Problem der Seinsweise des Seelischen. 8. Das Metaphysische im objektiven Geiste

Daß die Welt des Geistes noch einmal eine besondere Seinssphäre über der des Seelenlebens ausmacht, ist in der heutigen Zeit, die den Geist selbst vorwiegend historisch sieht, kein Geheimnis. Das Seelenleben ist an das Individuum gebunden, es entsteht und stirbt mit ihm. Das geistige Leben ist niemals Sache des Einzelnen, wie sehr der Einzelne auch als Person ein geschlossenes und einzigartiges Wesen sein mag. Was die Person ist, gibt sie nicht einfach aus sich her. Sie nimmt es im Heranwachsen auf aus der geistigen Sphäre, in die sie hineinwächst. Die geistige Sphäre aber ist eine gemeinsame, ein verzweigtes Ganzes von Anschau-

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ungen, Überzeugungen, Wertungen, Tendenzen, Urteilen und Vorurteilen, Wissen und Irrtümern, Lebens- und Ausdrucksformen; eine Sphäre von jeweiliger Einheit und Ganzheit, und dennoch fließend, sich entwickelnd, um Güter, Ziele, Ideen ringend, — ein Geistesleben, das in geschichtlichen Schritten fortschreitet. Der Geist, in diesem Sinne als Ganzheit verstanden, ist es, was zu jeder Zeit die Menschen verbindet, dort wo das Bewußtsein und die Personalität sie trennt. Mit dem Geiste in diesem Sinne haben es die Geisteswissenschaften zu tun. Hier geht es niemals um die Besonderheit des Individuums allein, selbst da nicht, wo wirklich solche Besonderheit monographisch erfaßt werden soll. Denn sie ist nicht aus sich allein, ist nur aus dem Ganzen eines jeweiligen geschichtlichen Geistes heraus zu verstehen. Dieser geschichtliche Geist aber mit seinem Wandel, seinen Tendenzen, seiner Entwicklung ist etwas Reales, das in der Zeit entsteht und vergeht, wenn er auch das Individuum überdauert; ein jederzeit Einmaliges, so nicht Wiederkehrendes, ein Gebilde von nicht geringerer Individualität als die Person. Er ist das, was Hegel den „objektiven Geist" genannt hat. Man kann das Leben und die Geschicke des objektiven Geistes genau so erfassen und beschreiben, wie man alles Reale, soweit es in die Erscheinung tritt, erfassen und beschreiben kann. Insofern ist an ihm als Phänomen nichts Verborgenes oder Geheimnisvolles. Rätselhaft dagegen bleibt seine Seinsweise. Es genügt nicht zu konstatieren, daß sie ein Modus geistiger Realität ist. Denn sie hat nicht die Form, die wir vom personalen Geist her kennen. Sie ist nicht Subjekt und nicht Bewußtsein. Sie geht weder inhaltlich noch zeitlich im Bewußtsein des Einzelmenschen auf. Ein anderes Bewußtsein aber als das des Einzelnen kennen wir nicht. Diese rätselhafte Seinsweise ist es, die ungewollt zu metaphysischen Thesen verführt. Hegel, der den objektiven Geist als Erster philosophisch faßte, verstand ihn als Einheit einer „Substanz", an der die einzelnen Personen nur akzidentelle Ausprägungen sind. Diese Auskunft ist verständlich als Ausdruck der überwältigenden Rätselhaftigkeit; aber ihre Unhaltbarkeit ist früh erkannt worden und kann keinem Zweifel unterliegen. Es gibt kein Phänomen, das ihr entspräche. Dennoch ist die Sache keineswegs damit erledigt, daß man die Substantialität ablehnt. Die Art der Einheit und Ganzheit, der Lebendigkeit, Entfaltungsfähigkeit, kurz die Seinsweise des objektiven Geistes, bleibt deswegen doch unverstanden. Und wenn man bedenkt, daß es sich um die Seinsweise sehr bekannter und gewichtiger Gegenstände handelt — der Sprache, des Rechts, der Sitte, des Ethos, der Kunst, der Religion, der Wissenschaft —, so meldet sich hier deutlich die Notwendigkeit, ihr auf den Grund zu gehen. Einer Seinsweise als solcher auf den Grund gehen ist aber offenkundig Sache ontologischer Untersuchung. Es ist ein Spezialfall der allgemeinen Aufgabe, das „Seiende als solches" zu verstehen. In ihrem heutigen rückständigen Zustande ist die Ontologie noch keineswegs in der Lage, dieser Aufgabe zu genügen; was wir heute leisten können, ist mehr nur eine

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phänomenologische Vorarbeit: die Beschreibung der typischen Vorgänge und Verhältnisse im Leben des objektiven Geistes. Die Aufgabe aber besteht. Und es ist wichtig, wenn man an die allgemeinen Grundfragen der Ontologie herantritt, sie von vornherein mit im Auge zu haben. 9. Das Metaphysische in der logischen Sphäre

In diesem Zusammenhang fällt es auf, daß schon das Reich des Gedankens — und zwar rein in sich, ohne alle spekulative Rücksicht verstanden — ein metaphysisches Gesicht zeigt. Die Logik, die es mit diesem Reich zu tun hat, verschweigt das; sie gilt von alters her als eine rein immanente, metaphysikfreie Disziplin. Aber eben diese ihre Tradition ist philosophisch fragwürdig. Welche Seinsweise hat denn ein Urteil? Darin, daß es von jemandem im Denkvollzuge gefällt wird, geht es offenbar nicht auf. Es wird vom fremden Bewußtsein aufgegriffen, verstanden, nachvollzogen, es wird Gemeingut Vieler, einer ganzen Zeitgenossenschaft, überdauert sie geschichtlich. Es ist, einmal ausgesprochen und formuliert, in eine Objektivität erhoben, die es unabhängig vom Aktvollzuge macht. Sein Sinn, seine Geltung transzendiert die Grenze des Bewußtseins; es „wandert" von Person zu Person, von Zeitalter zu Zeitalter, und es ändert sich nicht im Wandern. Es gehört einer anderen Sphäre an, als der der dinglichen und der seelischen Realität. Nennt man nun diese Sphäre die „logische Sphäre", so erhebt sich die Frage, von welcher Art sie ist, welche Seinsweise sie hat. Sie ist nicht identisch mit der idealen Seinssphäre; denn auch unwahre Urteile, die nichts Seiendes treffen, gehören ihr an. Auch Irrtümer „wandern" in geprägter Urteilsform. Sie fällt auch nicht in die Seinsebene des objektiven Geistes; denn der objektive Geist läßt Urteile fallen, verwirft sie, bildet sie inhaltlich um; er hat zeitliches Sein, geschichtliche Realität. Der Urteilssinn als solcher aber hat weder Zeitlichkeit noch Realität. Er wandelt sich nicht. Nur seine Anerkanntsein, seine Geltung im Dafürhalten der Menschen wandelt sich. Diese Geltung ist aber nicht der logische Sinn des Urteils. Dasselbe gilt von ganzen Urteilszusammenhängen und -folgen, von dem also, was die Logik „Schlüsse" nennt. Die sog. Schlüssigkeit, die innere Richtigkeit im Folgeverhältnis von Prämissen und Konklusion, besteht offenbar auch da zu Recht, wo sie nicht eingesehen und vollzogen wird. Und diese Seinsweise überträgt sich schließlich auf Begriffe der komplexesten Art, die schon auf Grund ganzer Serien von Urteilen und Schlüssen zusammengebaut sind. Die „Merkmale" des Begriffs sind eben die ihm durch Urteile eingefügten Prädikate. Erwägt man nun aber, daß Begriff, Urteil und Schluß die Strukturelemente sind, in denen die Wissenschaft ihren jeweiligen Inhalt ausformt, so fällt die Frage nach! der

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Seinsweise des Logischen auch auf die Wissenschaft zurück. Die Grundfrage ihres Wesens ist eine nicht weniger ontologische als die des Realen, der Natur, des Lebendigen, des Psychischen und des Geistes. Nur geht es hier wieder um eine grundsätzlich andere Seinsweise. Dazu kommt ein Zweites. Es betrifft die logische Gesetzlichkeit. Wäre diese nämlich eine „bloß" logische, so könnte sie nicht die Wahrheit von Urteilen verbürgen, die aus wahren Prämissen erschlossen sind. Gerade um die Wahrheit des Erschlossenen aber geht es überall, in der Wissenschaft wie im Leben. Ohne sie hätte das ganze Gefüge der logischen Zusammenhänge in unserem Denken keinen Erkenntniswert, und — was mehr ist — auch keinen Lebenswert. Was aber ist in der Wahrheit des Erschlossenen vorausgesetzt? Gesetze, wie das des Widerspruchs, des aufgeschlossenen Dritten, Gesetze der Subsumption, der Urteilstafel, der Schlußfiguren und -Modi, könnten ja auch bloße Denkgesetze sein, ohne ein Analogon in der realen Welt, auf die bezogen eine Konklusion wahr oder unwahr ist. In diesem Felle wäre die logische Konsequenz wertlos. Erst wenn ihr im Realen eine Konsequenz der Seinsverhältnisse entspricht — wenn also auch in der realen Welt Widersprechendes nicht koexistiert, von kontradiktorischen Gegengliedern notwendig eines besteht, das Allgemeine notwendig im Spezialfall zutrifft —, gewinnt die logische Konsequenz Erkenntniswert. Dann aber müssen die logischen Gesetze zugleich allgemeine Seinsgesetze sein. Sie müssen die Welt beherrschen, in der geschlossen wird, und in der das Erschlossene einen Wahrheitsanspruch erheben darf. Damit ist es gesagt, daß auch die Frage nach den logischen Gesetzen im Grunde ein ontologisches Problem ist. Und eine fruchtbare Behandlung der Logik wird erst möglich, wenn man es mit diesem Problem aufnimmt. Tatsächlich steckte dieser Gedanke im alten Universalienstreit. Erst die idealistische und methodologische Logik des 19. Jahrhunderts hat es verschuldet, daß dieses ontologische Grundproblem in Vergessenheit geraten ist. 10. Der Verfall des Erkenntnisproblems

Noch augenfälliger wird dieses Verhältnis in der Erkenntnistheorie. Der neukantische Kritizismus hielt es für ausgemacht, daß die Erkenntniskritik die Metaphysik ersetzen könne. Er verstand diese Kritik als eine rein immanente Disziplin, die ihrerseits ohne metaphysische Voraussetzungen auskommen könne; ja, er glaubte hierfür Kant als Kronzeugen in Anspruch nehmen zu können. Die Folge war nicht nur die vollkommen unkantische Abweisung der metaphysischen Probleme — soweit man diese als solche erkannte ·—·, sondern auch die vollkommene Verflachung und Verkennung des Erkenntnisproblems selbst. Kants Meinung war eine ganz andere. Die Kritik sollte die Metaphysik nic>it unmöglich machen, sondern gerade allererst möglich machen. Aber aucn sie selbst schwebte ihm als eine Untersuchung durchaus metaphy3

H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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siecher Art vor. Wie hätte sonst das Ding an sich die Rolle eines kritischen Grundbegriffs spielen können? Viel tiefer noch greift die berühmte Frage nach der Möglichkeit „synthetischer Urteile a priori". Kant entschied diese Frage in der Formel seines „Obersten Grundsatzes" dahin, daß die Kategorien der „Erfahrung" zugleich Kategorien der „Gegenstände" sein müßten und nur in den Grenzen dieser Subjekt und Objekt umspannenden Identität „objektive Gültigkeit" hätten. Diese Entscheidung ist keineswegs eine idealistische. Sie ist geradezu die Aufweisung einer metaphysischen Grundbedingung — wenn nicht der ganzen Erkenntnis, so doch des apriorischen Einschlages in ihr; eine Entscheidung übrigens, die unabhängig vom Unterschied idealistischer und realistischer Voraussetzungen dasteht. Ähnliches gilt für den anderen „Stamm" der Erkenntnis, den aposteriorischen. Hier führte Kant alles zurück auf die Affektion der Sinne durch das Ding an sich. Den Aporien, die in dieser Auffassung stecken, ist er freilich nicht nachgegangen; auch die transzendentale Ästhetik betrifft ja nur den apriorischen Einschlag in der Sinnlichkeit. Aber soviel ist doch klar, daß er das Transzendenzverhältnis in der sinnlichen Gegebenheit sehr wohl sah und ernst nahm. Die späteren Theorien haben das nicht mehr getan. Und damit beginnt der Verfall des Erkenntnisproblems, der zum Psychologismus einerseits, zum Logizismus andererseits geführt hat. Zum letzteren sind alle Auffassungen zu rechnen, die Erkenntnis und Urteil gleichsetzen, einerlei wie sie sich sonst unterscheiden. So verschiedene Köpfe wie Natorp, Cassirer, Rickert, Husserl, Heidegger sind in dieser Hinsicht demselben Irrtum erlegen. Mit dem Psychologismus aber, den sie bekämpften, ist den logischen Theorien die Verkennung des Transzendenzverhältnisses im Erkenntnisphänomen gemeinsam. In beiden Lagern konnte man sich um so eher der gefürchteten Metaphysik gegenüber in Sicherheit wiegen, als man das ontologische Grundproblem im Urteil genau so wenig zu fassen vermochte wie im seelischen Akt. Hinter dieser Problemverkennung steckt aber noch eine Überlegung, die viel älter ist und die als Fehlerquelle weitgehender Konsequenzen auch die Kritik der reinen Vernunft beherrscht. Man kann sie das „korrelativistische" Argument nennen. Es gibt kein Erkenntnisobjekt ohne Erkenntnissubjekt, sagt dieses Argument; man kann den Gegenstand nicht vom Bewußtsein trennen, er ist überhaupt nur Gegenstand „für" das Bewußtsein. Man muß, wenn man dieses festhält, auch für die Dinge, sofern sie unabhängig von unserer Auffassung bestehen, ein Subjekt annehmen; dieser Annahme kommt die alte Vorstellung des intellectua infinitus oder divinus entgegen. Und in der Tat finden sich sowohl bei Kant als bei den Späteren die mannigfachsten Abwandlungen dieses Begriffs. Sie stellen eine Art Transposition des korrelativistischen Arguments ins Absolute dar und zeigen deutlich den metaphysischen Hintergrund des erkenntnistheoretischen Idealismus.

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Die Konsequenz des Arguments aber ist, daß der eigentliche Sinn des Erkenntnisverhältnisses aufgehoben wird. Erkenntnis kann dann nicht mehr als „Erfassen" von etwas gelten. Am Gegenstande fällt der ganze Unterschied des Erkanntseins und Unerkanntseins hin; ein solcher Erkenntnisbegriff führt darauf hinaus, daß die Welt, nur soweit sie erkannt wird, als seiende besteht; denn das Unerkannte würde ja nicht für das Subjekt bestehen. Und, was weit schlimmer ist, der Gegensatz von „wahr und unwahr" wird preisgegeben; an seiner Stelle bleibt nur die innere Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Begriffen, Urteilen, Vorstellungen übrig. Daß aber das Ganze des Bewußtseinsinhaltes auf seinen Gesamtgegenstand, die seiende Welt, zutreffen oder nicht zutreffen kann — und zwar letzteres auch bei voller innerer Folgerichtigkeit ·—, geht hierbei verloren. Gerade dieses Zutreffen und Nichtzutreffen ist aber der eigentliche Sinn von Wahrheit und Irrtum. Und da Erkenntnis nur im Falle des Zutreffens besteht, das Bewußtsein aber auch unzutreffender Ausformungen des Inhalts fähig ist — sei es in der Vorstellung, in der Phantasie, im Denken, im irrigen Urteil —, so entfällt hiermit auch derjenige Unterschied, auf den im Erkenntnisproblem alles ankommt: der Unterschied von bloßem Vorstellen, Denken, Meinen, Urteilen einerseits und wirklichem Erfassen der Sache andererseits. So gelangt man zu dem Paradoxon einer „Erkenntnistheorie", in der das eigentliche Erkenntnisproblem gar nicht mehr vorkommt. 11. Phänomenologie und Metaphysik der Erkenntnis

Das Charakteristische in dieser geschichtlichen Sachlage ist der Umstand, daß gerade das korrelativistische Argument, auf dem sie beruht, ein Scheinargument ist. Es stützt sich auf das Vorurteil, das der traditionelle Objektbegriff verschuldet hat. „Objectum" — d. h. ein „Entgegengeworfenes" ·— kann etwas natürlich nur „für" jemand sein, „dem" es entgegengeworfen ist. Das deutsche Wort „Gegenstand" — d. h. das „Gegenstehende" — zeigt dieselbe Bezogenheit. Diese Wortbildungen also sind bereits auf Grund eines KorrelationsVerhältnisses zum Subjekt geprägt. Und hält man sich an sie, so wird man im korrelativistischen Vorurteil nur immer wieder bestärkt. Im Erkenntnisproblem aber handelt es sich nicht um eine Wort- oder Begriffsanalyse, sondern um Phänomenanalyse. Und das Erkenntnis„Phänomen" sieht ganz anders aus. Um die Hauptsache in Kürze auszusprechen : an der Erkenntnis ist, im Unterschied zu Vorstellen, Denken, Phantasie, gerade dieses das Wesentliche, daß ihr Gegenstand in seinem Gegenstandsein für das Bewußtsein nicht aufgeht. Das, worauf die Erkenntnis sich wirklich richtet, was sie zu erfassen und immer weiter zu ergründen sucht, hat ein übergegenständliches „Sein". Es ist das, was es ist, unabhängig davon, ob ein Bewußtsein es zu seinem Gegenstande 3*

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macht oder nicht; unabhängig auch davon, wieviel oder wiewenig von ihm zum Gegenstande gemacht wird. Sein Gegenstandsein ist überhaupt etwas Sekundäres an ihm. Alles Seiende wird, wenn überhaupt es zum Gegenstande wird, erst nachträglich zum Gegenstand gemacht. Es gibt kein Seiendes, in dessen Wesen von Hause aus es läge, Gegenstand eines Bewußtseins zu sein. Es rückt erst durch das Auftreten des erkennenden Subjekts in der Welt in das Verhältnis des Gegenstehens ein, und zwar genau in dem Maße, als das Subjekt auf Grund seiner Kategorien innerlich imstande ist, es sich zu „objizieren". Die Objektion eben ist die Erkenntnis. Der Beweis dafür, daß dieses das legitime Erkenntnisverhältnis ist, läßt sich schon am naiven Gegenstandsbewußtsein des Erkennenden erbringen. Niemand bildet sich ein, daß die Dinge, die er sieht, erst dadurch zustande kommen, daß er sie sieht; ein Wahrnehmen, das seinen Gegenstand erst hervorbrächte, würden wir gar nicht Wahrnehmen nennen, sondern bestenfalls Vorstellen. Allgemein: ein Erkennen, das nicht ein an sich Seiendes erfaßte, darf gar nicht Erkennen heißen. Es kann Denken, Urteilen, Phantasieren sein. Aber eben denken läßt sich alles, was bloß nicht widersprechend ist, urteilen läßt sich das Unzutreffendste, die Phantasie vollends hat Freiheit gegen das Seiende und Nichtseiende; Erkenntnis ist etwas ganz anderes. Erkenntnis gibt es nur von dem, was erst einmal „ist" — und zwar unabhängig davon „ist", ob es erkannt wird oder nicht. Freilich gibt es hierbei auch die strenge Korrelativität von Subjekt und Objekt. Nur geht das Erkenntnisverhältnis in ihr nicht auf. Denn sie ist nur das Verhältnis des Subjekts zu dem, was es zu seinem Gegenstande gemacht hat. Das Seiende aber, das zu erkennen steht, geht ja gerade in diesem seinem Gegenstandsein nicht auf. Es ist gleichgültig gegen seine Objektion an ein Subjekt; die Objektwerdung ist ihjm als solchem äußerlich. Sie ändert auch nichts an ihm. Nur im Subjekt ändert sich etwas mit der Objektion. Es entsteht in ihm ein Bild des Seienden, eine Vorstellung, ein Begriff, ein Wissen von ihm. Und das Bild ändert sich weiter mit dem Fortschreiten der Erkenntnis. Aber alle Änderung und alles Fortschreiten spielt lediglich im Bewußtsein; das Seiende, das in diesem Prozeß immer weiter objiziert wird, bleibt davon unberührt. In diesem Punkt hat auch Kant nicht klar gesehen. Er meinte, nur die Erscheinung werde erkannt, das an sich Seiende sei unerkennbar. Ganz das Gegenteil ist zutreffend. Erkannt wird — wenn überhaupt es Erkenntnis gibt — nur das an sich Seiende. Das Erscheinen dagegen ist nichts anderes als das Erkennen selbst — nur vom Objekt aus gesehen. „Ich erkenne etwas" und „es erscheint mir", diese beiden Ausdrücke besagen ein und dasselbe Verhältnis: die Objektion eines Seienden an ein Subjekt. Daß ich ein Seiendes nur insoweit erkenne, als es mir erscheint, ist demnach vollkommen wahr. Aber es ist ein tautologischer Satz. Und er wird unwahr, wenn man ihn ins Negative wendet: das an

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sich Seiende sei nicht erkennbar. Vielmehr eben das an sich Seiende ist das Erscheiende in der Erscheinung. Anders wäre ja die Erscheinung leerer Schein. Und das hat auch Kant nicht gemeint. Es war der gemeinsame Fehler der Bewußtseinstheorien — der neukantischen wie der positivistischen, wie auch der phänomenologischen —, daß sie im Erkenntnisproblem Gegenstand und Seiendes verwechselt haben. Alles Seiende freilich kann zum Objekt werden — wenigstens grundsätzlich, denn es widersetzt sich der Objektion nicht —; aber das heißt nicht, daß es notwendig zum Objekt werden mußte, geschweige denn, daß es schon von sich aus Gegenstand wäre. Es ist ein Irrtum zu meinen, alles Seiende sei Gegenstand, und nur was Gegenstand sei, habe Seinscharakter. Die Welt, als Inbegriff des Seienden verstanden, ist zweifellos nur teilweise Gegenstand der Erkenntnis, vielleicht nur zum kleinsten Teil. Das lehrt überwältigend die unausgesetzte Neuerschließung von Gegenstandsgebieten im Fortschreiten der Erkenntnis. Mit der Einsicht, daß Erkenntnis die Objektwerdung des Seienden — seine Objektion an ein Subjekt — ist, wird das eigentliche Erkenntnisproblem in seinem Kernbestande wieder zugänglich. Es zeigt hiermit allererst wieder sein wahres Gesicht, nämlich das eines metaphysischen Problems. Denn jetzt handelt es sich darum, wie es möglich ist, daß das Subjekt das ihm transzendente Seiende erfaßt; oder, was dasselbe ist, wie dieses Seiende zum Objekt eines Subjekts werden kann. Es gilt, das Transzendenzverhältnis zu überbrücken. In der Behandlung dieser Frage findet alle bloße Phänomenologie der Erkenntnis ihre Grenze und geht in Metaphysik der Erkenntnis über. Aber nicht nur für die Erkenntnistheorie selbst ist die Wiedergewinnung ihres Kernproblems der entscheidende Schritt, sondern auch für die Ontologie. Das „Seiende als solches" rückt hiermit aus seiner scheinbaren Ferne gleichsam in die nächste Nähe und Greifbarkeit. Ist alle Erkenntnis auf ein an sich Seiendes als solches bezogen, so beginnt das Seinsproblem offenbar nicht erst bei den letzten Grundlagen der Welt, sondern mitten im Leben. Es betrifft alles Erkannte und Erkennbare — nicht weniger als das Unerkannte und Unerkennbare. Es haftet an allem Gegebenen, allen Dingen, allen menschlichen Verhältnissen, den geringsten wie den größten. Ja, es umfaßt das Erkenntnisverhältnis selbst. Denn nicht der Erkenntnisgegenstand allein ist ein Seiendes, auch das Subjekt ist ein solches. Und das ganze Verhältnis ist ein Seinsverhältnis. Die Erkenntnistheorie geht im Verfolg ihres eigenen Problems geradlinig in Seinstheorie über. Sie nimmt, indem sie der Ontologie bedarf und sie heraufbeschwört, die Schlüsselstellung zur ontologischen Problemebene ein. 12. Die Metaphysik dee Ethos und der Freiheit

Indessen, in ihr ist das Gewicht des Metaphysischen noch keineswegs das größte. Unter den Problemgebieten des geistigen Seins ist die Er-

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kenntnis auch nur ein Auftakt. Sie betrifft noch nicht das Wesen der Person. Wohl aber geht es um das Wesen der Person, sobald es sich um das Leben mit seinen wechselnden Situationen, Anforderungen, Nöten und Aufgaben handelt. Damit aber steht man im Problem des Ethos und der Freiheit. Allen Lebewesen gemeinsam ist das Drinstehen im Fluß des Geschehens, das ständige Hineingerissensein und Betroffensein von allem, was über sie kommt. Dieser Fluß steht nie still, und das Gestelltsein vor immer neue Situationen, die irgendwie bewältigt werden müssen, setzt keinen Augenblick aus. Aber es ist ein grundsätzlicher Unterschied, wie sich in diesem Drang des Lebens das Tier verhält, und wie sich der Mensch verhält. Das Tier steht hier einfach unter den Gesetzen seiner Art, es tut einfach, was es muß. Es tut zwar je nach der Sachlage sehr verschiedenes, aber doch stets aus einer Notwendigkeit heraus, in der die Faktoren seiner inneren Artung, Reaktionsweisen, Instinkte, und die der äußeren Situation zusammen das Bestimmende ausmachen. Anders der Mensch. Auch er steht im Strom des Geschehens, auch ihn überfallen die Situationen; er wählt sie sich nicht, er gerät in sie — selbst da wo er sie kommen sieht und im Eingreifen oder Ausweichen mit bestimmt; denn sie fallen zuletzt doch stets anders aus, als er sie gewollt. Sind sie aber einmal da, so kann er nicht ausweichen, er muß hindurch, muß handeln. Der Unterschied ist nur: die Situation sagt ihm nicht, „wie" er handeln muß, sie läßt ihm Spielraum, so oder so zu handeln. Ebensowenig zeichnet ihm sein eigenes Wesen eindeutig die Richtung vor. Der Macht der Triebe steht in ihm noch ein anderes entgegen, das ihm Ziele, Aufgaben, Werte vor Augen hält, Mächte von eigener Art und eigenem Gewicht. Auch das eigene Wesen läßt ihm Spielraum. Das aber heißt: die Richtung, die er im Tun einschlägt, ist in seine Freiheit gestellt. Man darf den Sinn dieser Freiheit nicht mißverstehen. Nicht darin hat der Mensch Freiheit, ob er in gegebener Situation handeln will oder nicht; denn auch das Unterlassen ist ein Handeln und kann, wenn es das Rechte nicht war, als Schuld auf ihn zurückfallen. Er ist vielmehr stets zum Handeln gezwungen. Nur darin hat er Freiheit, „wie" er handelt. Das Wie ist in seine Entscheidung gestellt. Und weil eben diese Entscheidung die Betätigung seiner Freiheit ist, so kann man auch sagen: er ist zur freien Entscheidung gezwungen. Oder auch umgekehrt: im Gezwungensein zur Entscheidung ist er frei. Seine Freiheit ist also weder das bloße Negativum des Spielraums — sei es des äußeren oder des inneren — noch auch die Freizügigkeit gegenüber dem Strom des Weltgeschehens. Dieser Strom vielmehr, als Kette der Situationen gesehen, nötigt ihn zur Entscheidung, jener Spielraum aber ist nur Bedingung möglicher Entscheidung. Das Wie der Entscheidung dagegen bleibt seine Sache. Mit ihm ist er auf sich selbst gestellt. Und dieses „Aufsich selbst Gestelltsein" ist seine Freiheit.

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Was wir im Leben Person nennen, ist das in diesem Sinne freie Wesen. Es ist das Wesen, dem wir seine Taten zurechnen, das Verantwortung trägt, Schuld und Verdienst hat; das Wesen, das je nach der Tendenz oder Gesinnung, aus der heraus es sich entscheidet, „gut oder böse" ist. Es ist das Wesen, das niemals zum Guten oder zum Bösen gezwungen ist, sowohl aber zur Entscheidung zwischen Gut und Böse. Denn es gibt keine Freiheit zum Guten allein; nur wer des Bösen grundsätzlich auch fähig ist, ist des Guten im sittlichen Sinne fähig. Wäre der Mensch des Bösen nicht fähig, so stünde er unter dem Gesetz des Guten wie das Ding unter dem Naturgesetz. Dann wäre aber sein Gutsein nicht moralisches Gutsein, nicht sittlicher Wert. Man kann also auch sagen: Person ist das Wesen, das des sittlichen Gut- und Böseseins fähig ist, der Träger sittlichen Wertes und Unwertes. Denn das ist der Sinn sittlichen Wertes, daß er auf Freiheit gestellt ist. Aber damit ist das Rätsel der Person nicht etwa gelöst, sondern allererst in seiner Undurchdringlichkeit erkannt. Denn eben die Freiheit ist die große metaphysische Rätselfrage der Person. Wie ist es denn möglich, daß ein Wesen, das im Strom des Weltgeschehens von unübersehbar mannigfaltigen Faktoren abhängig, bis in sein Empfinden hinein bedingt ist, in seinem Entscheiden doch frei sein sollte? Und gesetzt, daß selbst das sich zeigen ließe, wie es denn möglich ist, daß es außerdem auch noch Freiheit gegen die Forderung des moralisch Guten haben sollte, das doch allein ein Gegengewicht gegen jene Mächte in ihm ausmachen kann? Das Unfaßbare im Wesen der Freiheit ist gerade dieses, daß sie zwei Fronten hat, zugleich Freiheit gegen die Seinsgesetzlichkeit und Freiheit gegen die Sollensgesetzlichkeit ist. Sie bedeutet, daß die Person neben der doppelten Determination durch den Strom des Geschehens und durch das moralische Gesetz noch einen Quell der Selbstbestimmung in sich tragen muß. Und eben das ist das Rätsel. Die Lösung der Kantischen Kausalantinomie genügt bestenfalls nur der einen Seite des Problems. Die andere Seite, die Sollensantinomie, muß noch als gänzlich ungelöst gelten. Nur eine von unten auf durchgeführte ontologische Klärung des Wesens von Mensch, Person, Geist einerseits, Sollen, Sittengesetz, Wert andererseits kann hier Rat schaffen.

13. Metaphysik der Werte

Bei alledem aber ist noch das Wesen des „Guten" als solchen als bekannt vorausgesetzt. Auch diese Voraussetzung ist nicht haltbar. Schon die Vielheit der Moralen beweist es. Seit Nietzsche hat es sich immer deutlicher gezeigt, daß es sich hier gar nicht um ein einheitliches Prinzip handelt — wie noch Kant glaubte —, sondern um eine Vielheit von Werten, die sich erst allmählich in der Geschichte dem Menschen erschließt.

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Insoweit freilich ist das Problem der Werte kein metaphysisches. Auch die reale Welt erschließt sich dem menschlichen Verstehen ja erst allmählich. Wohl aber wird das Problem metaphysisch, sobald es sich um die Seinsweise der Werte handelt. In der älteren Ethik ist diese Frage verschleiert durch das Fehlen des Wertbegriffs. Bei den Alten vertritt die „Idee" die Stelle des Wertes (Idee der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, des Guten überhaupt); aber der eigentliche Wertcharakter tritt an ihr nur im Inhalt hervor, er ist gegen die offenkundig andere Seinsweise ontischer Prinzipien (wie etwa Einheit, Gegensatz, Form, Materie) nicht abgehoben. Kant dagegen hob das Sittengesetz sehr bestimmt und sauber ab von den Gegenstandsprinzipien (z. B. den Kategorien) — durch den Begriff des Sollens. Aber er verlegte den Quellpunkt des Sollens in die Vernunft, und damit entsteht eine neue Schwierigkeit. Denn diese Vernunft — als praktische verstanden — ist dieselbe, welche die freie Entscheidung für oder wider das Sittengesetz zufällt. Sie muß also einerseits das Gesetz als das ihre vorschreiben, andererseits aber gegen eben dieses Gesetz doch Spielraum haben. Hätte sie diesen nicht, so stünde sie unter ihm „wie unter einem Naturgesetz"; sie wäre dann zwar unfehlbar in ihrem Tun, die Unfehlbarkeit aber wäre nicht ihr sittlicher Wert. Kant hat somit zwei heterogene Autonomien auf die praktische Vernunft vereinigt, die des Sollensgesetzes und die der Entscheidung gegenüber dem Gesetz — was offenbar so nicht haltbar ist. Da man nun die Freiheit unmöglich in etwas anderem als dem wollenden Subjekt (der Person) suchen kann, so muß der Fehler beim subjektiven Ursprung des Sollens liegen. Hebt man diesen aber auf, so tritt die Aporie in der Seinsweise des Sollens sofort wieder in den Vordergrund. Denn jetzt kann es sich nur um eine objektive Wurzel handeln. Eine solche aber bedarf zu allererst einer Klärung ihrer Seinsweise. Denn sie muß von anderer Art sein als die der Seinsprinzipien. Diese Aporie macht den ungelösten und beim heutigen Stande der Forschung auch noch ganz unlösbaren Bestand des Wertproblems aus. Sie ist dabei keineswegs ein bloß ethisches Problem. Sie kehrt an allen übrigen Wertgebieten wieder, an dem der Güterwerte, der Vitalwerte, der ästhetischen Werte u. a. m.; sie ist damit keineswegs gehoben, daß man diese Wertgebiete für autonom erklärt. Denn gerade das Verständnis der Autonomie hängt ganz und gar an dem Verständnis ihrer Seinsweise. Das Problem steht hiernach so. Was dem Dafürhalten des Subjekts entzogen ist, das besteht „an sich". Es braucht deswegen nicht real zu sein. Realität kommt für die Seinsweise der Werte auch gar nicht in Betracht, sie bestehen ja offenbar unabhängig davon, ob und wieweit sie in der Welt realisiert werden; und nur so ist es möglich, daß sittliche Werte einen Sollenscharakter haben und dem Menschen als Forderungen entgegentreten. Man muß den Werten also eine andere Seinsweise zu-

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schreiben. Damit freilich würden sie nicht allein dastehen. Es gibt Gesetzlichkeiten und Wesenheiten genug, die ein bloß „ideales Sein" haben; seit Platon hat man für diese Tatsache die mathematischen Verhältnisse angeführt. Aber weder ist es geklärt, welche Seinsweise diese Verhältnisse haben — gerade heute geht wieder lebhaft der Streit darum —, noch kann ihre Seinsweise mit der der Werte ganz identisch sein. Denn offenkundig haben sie keinen Sollenscharakter und beherrschen das Reale, soweit überhaupt sie es betreffen, widerstandslos, wie Naturgesetze. Anders wäre eine mathematische Naturgesetzlichkeit, wie begrenzt immer sie sein mag, ein Ding der Unmöglichkeit. Das ideale Sein der Werte muß also noch eine andere Seinsart haben, die weder subjektgetragen noch auch identisch mit der der anderen Wesenheiten ist. Eine solche nun läßt sich wohl annehmen, aber nicht direkt aufweisen oder ontologisch näher charakterisieren. Sie bildet heute ein offenes Problem — ein Problem, das eben erst aufgedeckt, nicht nur einstweilen unlösbar, sondern auch noch kaum in ganzer Tragweite begriffen ist. An ihm hängt die Aufgabe einer Metaphysik der Werte. Und diese Aufgabe besteht unabhängig davon, wie weit die Mannigfaltigkeit der Werte sich inhaltlich aufzeigen und phänomenologisch beschreiben läßt. Wie gewichtig diese Aufgabe ist, erhellt am besten daraus, daß an ihrer Lösung die Entscheidung über die große Streitfrage von Absolutheit oder Relativität der Werte hängt. Es gibt keine andere Gegebenheit der Werte als das Wertbewußtsein, und zwar in Form des Wertfühlens. Geschichtlich aber ist das Wertgefühl wandelbar. Der historische Relativismus greift diese Tatsache auf und behauptet, die Werte selbst seien dem geschichtlichen Wandel unterworfen; woraus sich ergeben würde, daß sie vom Wertbewußtsein abhängig sind. Diesem Wertrelativismus steht die andere Auffassung gegenüber, nach der das Wertreich zwar an sich unveränderlich besteht, das Wertbewußtsein aber jeweilig nur Bruchstücke von ihm erfaßt. Das Wertfühlen würde sich hiernach zur Sphäre der Werte ebenso verhalten, wie die Erkenntnis zum Seienden überhaupt; denn auch die Erkenntnis erfaßt nicht die ganze seiende Welt mit einem Schlage, sie erschließt sie sich erst allmählich im Vordringen, und ihre Weltbilder lösen sich geschichtlich ebenso ab wie die im Wertgehalt verschiedenen Moralen der Völker und Zeitalter. Aber da die erstere Auffassung das subjektlose Sein der Werte bestreitet, die letztere dagegen es zur Voraussetzung hat, so liegt bei der ontologischen Grundfrage letzten Endes auch die Entscheidung über Recht und Unrecht des Wertrelativismus. Es hat durchaus keinen Sinn, diese Frage durch spekulative Vorentscheidung meistern zu wollen. Man belastet sie dadurch nur noch mehr mit unkontrollierbaren Voraussetzungen. Man klärt sie damit nicht, man verdunkelt sie nur. Nur von einer soliden Arbeit auf ontologischer Grundlage kann man sich wirkliche Klärung versprechen. Diese Arbeit aber liegt heute noch in den Anfängen.

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Einleitung 14. Metaphysik der Kunet und des Schönen

Das Reich des Schönen kann sich an Gewicht mit dem des Ethos und der Freiheit nicht messen, wohl aber an metaphysischer Hintergründigkeit und Irrationalität. Man kann wohl leben, ohne von der Problematik der Künste berührt zu sein, aber man kann nicht philosophieren, ohne von ihr erfaßt zu sein. Darum gehört diese Problematik in den Fragenkreis hinein, in dem das ontologische Problem wurzelt. Das Reich des Schönen ist nicht eine Welt neben der realen Welt. Die Natur, der Mensch, daß Leben mit seiner ungewollten Komik und Tragik, alles, was Gegenstand der Erkenntnis werden kann, kann auch Gegenstand ästhetischen Schauens und Genießens werden. Aber es ist dasselbe nicht an ihm, was diesem Schauen, dasselbe nicht, was dem Erkennen erscheint. Die geographische Landschaft ist nicht die ästhetisch geschaute. Jene besteht an sich, auch ohne Betrachter, diese ist nur „für" ihn da, ist das, was sie ist, nur als gesehene, nur von einem bestimmten Standorte aus; die besondere Perspektive, das Hintereinander im Blickfelde, das besondere Licht sind ihr wesentlich. Schon ein so einfaches Beispiel zeigt, daß die Seinsweise des ästhetischen Gegenstandes eine eigene ist, eine grundandere als die des theoretischen. Und doch geht sie im bloßen Sein „für" den Schauenden nicht auf. Denn ohne das reale Vorhandensein des wirklichen Landstrichs erscheint auch die ästhetische Landschaft nicht. Das Ganze ist also geschichtet aus einem realen Bestandteil, der die Grundlage bildet, und einem irrealen, nur erscheinenden, der sich darüber erhebt. Und doch ist beides so ineinander verwoben, daß es durchaus nur ein einziger Gegenstand ist. Noch greifbarer ist dieses Verhältnis am Kunstwerk. Bei der gemalten Landschaft ist die dargestellte Gegend — wenn überhaupt es eine solche gibt — zwar in keiner Weise gegeben; wohl aber ist ein anderes Reales gegeben, die Ebene der Leinwand mit der Farbenverteilung. Was der Beschauer sieht, ist dennoch weit mehr als dieses: die Raumtiefe mit ihrem Inhalt, ihrem Licht, ihrer „Stimmung". Das alles ist nicht real da, aber es „erscheint" an einem Realen. Und wiederum ist das Ganze eine unlösbare Einheit: die Landschaft erscheint nur im Hinschauen auf die Leinwand, diese aber mit ihren Farbflecken ist ein Bild nur, sofern die Landschaft auf ihr erscheint. Der künstlerische Gegenstand ist ein geschichteter auf allen Gebieten des Schaffens. Im plastisch geformten Stein erscheint die bewegte Figur, erscheint Kraft, Leben, Liebreiz. Im dichterisch geformten Wort erscheinen Gestalten aus Fleisch und Blut, Leidenschaften, Szenen, Schicksale. In der gehörten Klangfolge, die zeitlich abläuft und in keinem Augenblick beisammen ist, erscheint ein musikalisch Ganzes, ein Aufbau, der gerade dann erst sich rundet, wenn jene zeitliche Folge abgelaufen ist. Überall erscheint ein Irreales in einem Realen, deutlich von ihm unterscheidbar,

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und doch unlösbar an seine Gegebenheit gebunden. Stets überhöht ein Schauen geistiger Art das sinnliche Sehen oder Hören; stets ist das Kunstwerk ein Doppelgebilde aus zweierlei Seinsweise, und dennoch gediegene Einheit. Niemals besteht es an sich, abgelöst vom Schauenden; denn das Erscheinende besteht nur für ihn. Aber niemals auch erscheint dieses Erscheinende ohne das real geformte Gebilde. Und dieses wiederum ist nur insofern ein Kunstwerk, als es dem Schauenden jenes Erscheinende vermittelt. Soweit ist das Verhältnis beschreibbar und entspricht den schlichten Tatsachen. Dahinter aber taucht die Frage auf, wie so etwas möglich ist. Daß der Künstler uns etwas hervorzaubert, was nicht wirklich ist, mag verständlich erscheinen. Aber das geformte Werk ist nicht der Künstler. Mit dem Künstler haben wir es im Schauen gar nicht zu tun. Das Werk allein ist gegeben. Von ihm geht die Magie des Erscheinens aus. Das gerade ist das Problem, wie ein reales Gebilde, sinnlich gegeben wie andere Dinge auch, einen von ihm gänzlich verschiedenen und der Seinsart nach heterogenen Inhalt „erscheinen" lassen kann. Hier kann jnan sich nicht auf das Tun des Künstlers berufen; denn dieses wiederholt sich nicht. Der Schauende vielmehr setzt das seine ein, aber nicht nach Belieben, sondern fest determiniert durch das sichtbare Werk. Es hilft auch nichts, sich auf das Wunder der „künstlerischen Form" zu berufen. Denn eben diese Form enthält ja schon das ganze Erscheinungsverhältnis. Als künstlerische ist sie gerade diejenige Geformtheit eines Realgebildes, die das Erscheinen jenes Anderen, Unwirklichen — aber ein Erscheinen in voller Bestimmtheit und Konkretheit — hervorzaubert. Dieses Problem zeigt deutlich den Punkt an, von dem ab die Ästhetik zur Metaphysik des Schönen wird. Sofern es sich aber in jener Schichtung um ein Einheitsverhältnis zweier Seinsweisen handelt, so leuchtet >es ein, daß das Problem ein ontologisch.es ist.

15. Metaphysik der Geschichte

Alles geistige Sein ist im Fluß. Es hat Geschichte. Geschichte ist zwar oiicht Geistesgeschichte allein, aber wohl stets „auch" Geistesgeschichte. Ohne den Faktor des Geistes unterscheidet sie sich vom Naturgeschehen nicht grundsätzlich. Der Geist, um den es sich hier handelt, ist der objektive Geist. Die Einzelperson ist nur in sehr beschränktem Sinne Geschichtsträger. Die großen Geschehnisse sind nur mittelbar die ihrigen. Für größere Entwicklungen reicht auch ihre Lebensdauer nicht hin. Was sich wirklich geschichtlich bewegt, umbildet, entwickelt, das sind die selbstgeschaifenen geistigen Formen der Völker: das Recht, die Politik, die Sitte, die Sprache, das Wissen u. s. f. Sie sind stets Formen einer Gemeinschaft, aber sie haben selbst nicht die Form der Gemeinschaft. Denn sie bestehen

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nicht, wie diese, aus Individuen, sondern aus inhaltlicher Mannigfaltigkeit, die den Individuen gemeinsam ist. Nun haftet am Geschichtsprozeß die alte Frage des Woher und Wohin. Sie ist durchaus keine bloß inhaltliche Frage, zumal in Richtung des Wohin. Nicht darum allein handelt es sich, worauf zu wir uns entwickeln, sondern mehr noch darum, ob die Völker überhaupt sich in einer angebbaren Zielrichtung bewegen, oder ohne eine solche der „Zufälligkeit" und den Ursachenketten ausgeliefert sind. Diese Frage ist eine eminent metaphysische. Sie ist bekannt als Problem der Geschichts-Teleologie. Sie erhält ihr Gewicht aber nicht rein aus sich selbst, sondern aus einer Sinnfrage, die dahinter steht. Denn ist der Geschichtslauf der Zufälligkeit der Verkettungen ausgeliefert, so ist er jedenfalls nicht sinngeleitet; gibt es aber eine Zielrichtung in ihm, so muß auch das Ziel selbst ein sinngebendes sein. Im letzteren Falle ist der Geschichtsprozeß, weil er Verwirklichung des Zieles ist, ein sinnerfüllender Prozeß. Darum ist die Frage der Determinationsweise in der Geschichte (ob sie final oder kausal bestimmt ist) von größter Aktualität. Nach einem Sinn des Lebens vor allem sucht der Mensch; und ohne einen Sinn der Geschichte, so scheint es, kann auch das Leben des Einzelnen nicht sinnvoll sein. Nichts aber erträgt der Mensch schwerer als die Sinnlosigkeit im eigenen Leben. Nicht Leid und Mißgeschick bedrückt ihn so tief wie die Unsinnigkeit des „Für nichts und wieder nichts". Und wo er innerhalb des eigenen Daseins keinen Sinn zu entdecken vermag, da sucht er ihn zwangsläufig über das eigene Dasein hinaus — in dem, was kommt. Diese Sinnfrage ist zwar keine ontologische mehr. Aber da sie am Teleologieproblem haftet, so wurzelt sie in einer ontologischen und ist selbst wenigstens eine ontologisch bedingte Frage. Sie macht seit der Zeit des deutschen Idealismus den eigentlichen Inhalt der Geschichtsphilosophie aus, oder wie man richtiger sagen sollte, der Geschichtsmetaphysik. Zugleich aber steht man mit ihr noch vor einer weiteren Alternative. Für die Art der Determination im Geschichtsprozeß ist es offenbar ausschlaggebend, welche Mächte die bestimmenden sind. Sind es die materiell-physischen, vitalen, ökonomischen Mächte, so ist der Lauf der Ereignisse mitsamt dem Wandel des Geistes „von unten her" bestimmt und folgt der kausalen Abhängigkeit; alles, was geschieht, ist dann Wirkung dessen, was geworden ist, und für ideelle Faktoren ist kein Spielraum. Sind es aber geistige Mächte, so muß es auch die Determinationsform des Geistes sein, die im Geschichtsprozeß waltet, und das ist die teleologische. Denn der Geist ist es, der sich Ziele setzen und sie verwirklichen kann. Der Prozeß ist dann „von oben her" bestimmt und folgt einer Finalordnung, die vom Ende aus dirigiert ist. In diesem Falle ist er sinngeleitet, aber für Faktoren ökonomischer Art ist dann kein Spielraum. So stehen sich historischer Materialismus und historischer Idealismus schroff gegenüber, beide wohlerkannt aus dem Gegensatz von Marx und

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Hegel. Es ist nun zwar keine Notwendigkeit, sie so ins Extrem zuzuspitzen. Der Geschichtsprozeß ist ja selbst ein geschichteter, er enthält das physische und wirtschaftliche Leben der Völker so gut wie das geistige. Es liegt so nah, die beiderseitigen Mächte — die Determination „von unten" und die „von oben" -— in ihm vereinigt zu sehen, gleichsam ineinandergreifend und sich ergänzend. Damit aber erwachsen neue Schwierigkeiten, in erster Linie die, daß kausale und finale Determination einander diametral entgegenlaufen und sich durchaus nicht ohne weiteres harmonisch ineinanderzufügen scheinen. So sind es drei Problemschichten am Geschichtsprozeß, die auf metaphysische Fragen hinauslaufen. Alle drei können grundsätzlich nur behandelt werden, wenn man die Schichtung der Mächte und Faktoren, die das geschichtliche Sein ausmachen, von Grund aus klarlegt. Zu dieser Klarlegung gehört die oben aufgeworfene Frage nach der Seinsweise des objektiven Geistes und seinem Verhältnis zu den ihn tragenden niederen Seinsschichten. Es gehört hierher aber auch die Kategorialanalyse von Kausal- und Finalnexus, über die beide die Akten heute noch nicht geschlossen sind. Und schließlich spielt hier noch die große Frage hinein, ob und inwieweit überhaupt reine Sinn- und Wertmomente als wirklichkeitsformende Mächte in einen allseitig bedingten Realprozeß hineinspielen und ihn bestimmen können. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß diese Fragen ontologischer Art sind; desgleichen daß die bisherige Geschichtsphilosophie sie in der Regel spekulativ vorentschieden hat. Hier, wenn irgendwo, muß ganze Arbeit gemacht werden. Aber sie kann erst beginnen, wenn die allgemeinen Grundfragen von unten auf bereinigt sind. 16. Der geschlossene Rahmen der metaphysischen Probleme

Solange man unter Metaphysik ein einheitliches Problemgebiet versteht, das neben anderen gelagert ist und eine inhaltliche Abgrenzung zuläßt, kann man mit den aufgezeigten metaphysischen Fragen nicht viel anfangen. Sie scheinen nirgends recht hinzugehören, liegen verstreut über alle Forschungsgebiete und zeigen, wenn man von gewissen mehr zufälligen Berührungspunkten absieht, keine eigentliche Zusammengehörigkeit. Das durchgehend Gemeinsame ist nur, daß sie überall im Hintergrund der philosophischen Teilgebiete gelagert sind und dort eine Art Restbestand bilden, mit dem die besonderen Methoden dieser Gebiete nicht fertig werden. Die alte Metaphysik hat sie darum unbeachtet liegen lassen — teils weil sie mit ihren besonderen Gegenständen über und über zu tun hatte, teils weil sie auch nicht Mittel und Wege wußte, ihnen beizukommen. Denn diese alte Metaphysik eben war eine inhaltlich abgegrenzte Disziplin ; Gott, Seele, Ganzheit der Welt waren ihre Gegenstände. Von der Antike bis auf Kant hat sich ihr Begriff gehalten. Aber dieäe Metaphysik

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war es, die der Erkenntniskritik weichen mußte. Sie hat in all den Jahrhunderten ihrer Blüte niemals auf sicherem Boden gestanden; nie konnte sie die Voraussetzungen, die sie zu machen gezwungen war, erweisen, nie ihre Konsequenzen mit den Forschungsresultaten der empirischen Wissenszweige in Einklang bringen. Sie feierte ihre Triumphe im luftleeren Raum der Spekulation, sie war das eigentliche Feld der großen Systembauten, die alle wieder zusammenbrachen, sobald die Kritik nur leise an ihren Fundamenten rührte. Sie ist es, die zuletzt den Namen der Metaphysik, ja den der Philosophie, zweideutig gemacht hat. Sie ist die unsrige nicht mehr. Aber es ist nicht so, daß mit ihr die metaphysischen Probleme ausgestorben wären. Viel eher umgekehrt, die wirklichen, ewig unvermeidlichen Probleme der Metaphysik sind so erst sichtbar geworden. Aber sie liegen nicht mehr im Jenseits der Welt, auch nicht jenseits aller Erfahrung und Gegebenheit, sondern in nächster Nähe, greifbar, mitten im Leben. Sie hängen an allem Erfahrbaren, begleiten das Erkennbare auf allen Gebieten. Denn auf allen Gebieten ist das Erkennbare eingerahmt vom Unerkennbaren. Und weil die Seinszusammenhänge sich nicht an Erkenntnisgrenzen halten, sondern überall über sie weggreifen, so erscheinen auf allen Gebieten die ungelösten und unlösbaren Restfragen im Hintergrunde, und alle Forschung, in welcher inhaltlicher Richtung sie auch gehen mag, stößt irgendwo ungewollt auf sie. Solche Probleme nun, die in diesem Sinne den Hintergrund der Problemgebiete ausmachen, die unvermeidlich und unabweisbar sind, weil ein fester Zusammenhang mit dem Erkennbaren sie uns aufgibt, die aber auch mit den Mitteln endlicher Erkenntnis nicht bis zu Ende lösbar sind und deswegen in allem Fortschreiten der Erkenntnis bestehen bleiben, sind die eigentlichen und legitimen metaphysischen Probleme. Von solcher Art sind die oben aufgewiesenen Grundfragen der philosophischen Teilgebiete. Es sind nicht willkürlich oder vorwitzig konstruierte Schwierigkeiten, ihr Gehalt ist nicht Menschenwerk, man kann sie nicht ändern oder aus der Welt schaffen. Man kann sie mißverstehen, ignorieren, an ihnen vorbeileben. Aber man kann es nicht hindern, daß sie sich wieder und wieder melden. Denn es sind Tatsachen, an denen sie hängen, Grundtatsachen unseres Lebens und der Welt, in der unser Leben sich abspielt. Sie selbst aber sind nichts als die ewigen Rätsel, vor welche diese Welt, wie sie einmal ist, und unser Leben in ihr uns stellt. Die Welt nun zu ändern steht in des Menschen Macht nicht. Sein Leben in ihr ändert sich freilich, aber nicht nach Maßgabe der Probleme, die er aufwirft; sondern umgekehrt, die Probleme, die es ihm aufgibt, ändern sich in dem Maße, als sein Leben in der Welt sich ändert. Macht man sich diese Sachlage einmal klar, so bewahrheitet sich das. Wort Kants von den unabweisbaren und doch unlösbaren Problemen in einer Ausdehnung, die weder er noch seine Zeit zu ermessen wußte. Diese Probleme haben sich in allen Richtungen menschlichen Fragens und Forschens als Grundfragen erwiesen. Sie bilden eine geschlossene Kette

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von Hintergrundproblemen, gleichsam einen Rahmen aller spezielleren Problematik. Und es ist so kein Zweifel, wenn von dem Augenblick an, wo die Philosophie diese ihre Gesamtsituation erkennt, ihr weiteres Schicksal davon abhängig wird, was sie mit diesem Rahmen metaphysischer Probleme anzufangen weiß. Der Augenblick solcher Erkenntnis ist gekommen. 17. Das ontologische Element in den metaphysischen Problemen

Wären die metaphysischen Problemgehalte etwa durchweg Irrationales, so müßte es aussichtslos sein, sie philosophisch in Angriff zu nehmen. Denn Irrationalität im gnoseologischen Sinne heißt Unerkennbarkeit. Ein durchweg Unerkennbares aber gibt es im Bereich faßbarer Probleme nicht. Das Bestehen der Probleme selbst beweist das. In der Problemfassung als solcher ist eben stets auch etwas von der Sache schon erkannt, auf die das Problem geht. Anders wäre es ja unmöglich, ein Problem von anderen auch nur zu unterscheiden. Was wir als ein Irrationales verstehen, ist also stets nur ein teilweise Irrationales. Das bedeutet, daß es an ihm stets auch eine erkennbare Seite gibt. Der durchgehende, alle Erkenntnisgrenzen überbrückbare Seinszusammenhang der wirklichen Welt bürgt uns dafür. Stets finden wir das Unbekannte an Bekanntes, das Unerkennbare an Erkennbares gebunden. Lassen sich also die metaphysischen Probleme auch nicht ganz lösen, so lassen sie sich doch jederzeit mit geeigneten Methoden behandeln. Es gilt nur die Methoden zu finden. Behandlung aber heißt hier einfach ein solches Vordringen der Erkenntnis, bei dem neue Seiten oder Teilbestände des Problems einer Lösung zugeführt, die unerkennbaren Restbestände aber immer weiter eingegrenzt und dadurch relativ greifbar gemacht werden. Selbstverständlich hält sich das Verfahren an die erkennbare Seite der Gegenstände. Das Unerkennbare selbst erkennen zu wollen, wäre ein unbilliger Anspruch. Was aber ist die erkennbare Seite an den metaphysischen Problemen, die wir im ganzen Umkreis der philosophischen Forschungsgebiete als Problemhintergrund gefunden haben? Auch darauf findet sich die Antwort bereits in den vorstehenden Analysen. Auf der ganzen Linie hat es sich gezeigt, daß an diesen Problemen ein ontologischer Einschlag ist. Stets handelte es sich zunächst entweder direkt um die Seinsweise, oder um den Determinationstypus, das Strukturgesetz, die kategoriale Form. Diese Seite der Probleme ist durchaus nicht unlösbar, es gilt nur, sie in geeigneter Weise anzugreifen. Freilich kann es auch hier unüberschreitbare Grenzen der Erkenntnis geben; aber das muß sich dann erst im Fortschreiten herausstellen. An sich sind ontologische Problembestände nicht notwendig irrational; sie sind sogar in der Regel von einer gewissen Zugänglichkeit, ja oft kann schon die bloße Beschreibung des Vorliegenden, wenn sie zugleich streng und all-

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seitig vorgeht, eine gewisse Klärung der Sache erzielen. Da es sich aber um letzte Grundprobleme handelt, an denen jeder Fußbreit gewonnenen Bodens Konsequenzen von größter Tragweite haben kann, so ist hier jedes Bruchstück errungener Sachklärung von unabsehbarem philosophischem Wert. Hier nun läßt sich endlich die Antwort auf die eingangs gestellte Frage geben, warum eigentlich wir zur Ontologie zurückkehren sollen. Wir sollen und müssen es deshalb, weil die gegebene Problemlage in der Philosophie es so verlangt: der ontologische Einschlag in den metaphysischen Grundfragen aller Forschungsgebiete hat sich als die behandelbare und erforschbare Seite in ihnen erwiesen. Man kann das auch so ausdrücken: die Frage der Seinsweise und Seinsstruktur, des modalen und kategorialen Baues ist das noch am meisten Unmetaphysische in den metaphysischen Problemen, das relativ Rationalste im Gesamtbestande dessen, was irrationale Problemreste enthält. Daß dem so ist, kann freilich erst die Durchführung der Aufgabe erweisen. Doch läßt sich wohl auch am vorläufigen Bestände der herangezogenen Problemgebiete ersehen, daß in der Tat hier ein gangbarer Weg sich öffnet. Hat doch sogar die bloße Herausarbeitung des ontologischen Einschlages in jenen Problemen schon eine gewisse Überzeugungskraft. Man spürt die Angriffsflächen möglichen Vorgehens, auch wo man sie noch nicht inhaltlich erfaßt. Soviel aber läßt sich zum Voraus sagen, daß das Schicksal der alten Ontologie uns hierbei nicht irre zu machen braucht. Wohl ist die Metaphysik, die auf ihr stand, zusammengebrochen. Aber diese Metaphysik hatte noch andere Voraussetzungen; an diesen und nicht an der Ontologie lag ihre Schwäche. Und, was wichtiger ist, jene Ontologie war selbst einseitig angelegt; sie kannte auch noch nicht den weiten Problemkreis, der ihr den breiteren Boden hätte geben können, desgleichen nicht die Mannigfaltigkeit der Zugänge und Methoden, die wir heute einer gereif teren philosophischen Erfahrung entnehmen können. Viel eher noch möchte man umgekehrt schließen: wenn sie trotzdem soviele Jahrhunderte Fundament der Philosophie blieb, so muß dafür der Grund sein, daß die Stellung einer Fundamentaldisziplin ihr eben von Rechts wegen zukommt — weit mehr als der Erkenntniskritik, die sie geschichtlich abgelöst hat, — ihr auch da noch zukommt, wo sie vor ihrer Aufgabe versagt. Die Aufgabe eben besteht nicht auf Grund ihrer Leistung, und kein Versagen hebt sie auf. 18. Der Gedanke einer neuen philosophia prima

Eine Schwierigkeit liegt noch darin, daß der Kreis der metaphysischen Probleme so weit auseinandergezogen, über so heterogene Gegenstandsgebiete verteilt ist. Die einzelnen Problemgruppen in ihm scheinen nur zufällig aneinandergefügt zu sein, sie bilden keine greifbare Einheit. Und

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da der ontologische Einschlag an ihnen hängt, so scheint auch dieser nicht recht in sich zusammenzuhängen. Wie also kann man hoffen, daraus die Einheit einer philosophia prima zu gewinnen? Und um eine solche muß es sich doch handeln. Hierzu sind vor aller weiteren Untersuchung die folgenden Gesichtspunkte zu erwägen. Sie ergeben sich teils aus den obigen Überlegungen, teils aus wohlbekannter geschichtlicher Erfahrung und sind grundlegend für die Idee der neuen Ontologie. 1. Eine zum Voraus angebbare Einheit inhaltlicher Art — nach einem Schema oder aus einem Prinzip — darf man hier freilich nicht erwarten. Eine solche Einheit könnte nur die vorweg konstruierte eines „Systems" sein. Die konstruierten „Systeme" aber haben in der Philosophie ausgespielt. Die Geschichte lehrt ihre Hinfälligkeit. Was sich als haltbare Errungenschaft bewährt hat, ist zu keiner Zeit und bei keinem Denker die geprägte Systemform (der „Ismus") gewesen; stets vielmehr waren es Einsichten speziellerer Art, die unabhängig von spekulativen Voraussetzungen, Prägungen und Konstruktionen gemacht wurden — Einsichten, die in der Mehrzahl der Fälle als Inkonsequenz im System dastanden, weil sie nicht hineinpaßten, und es oft schon unter den Händen des Baumeisters sprengten. Diese Sachlage in der Philosophie ist heute eine wohlbekannte1) und bedarf keiner Begründung. Aber selbstverständlich steht dem das populär-metaphysische Bedürfnis nach übersichtlichen Weltbildern dauernd entgegen; und darum ist es notwendig, sich die wissenschaftliche Wertlosigkeit der Systeme immer wieder vor Augen zu halten. 2. Für die neue Ontologie bedeutet dieses, daß eine zum Voraus angebbare Einheit für sie gar nicht in Frage kommt. Selbst wenn sich eine solche anböte, müßte man ihr mit Mißtrauen begegnen, müßte sie wenigstens einstweilen aus dem Spiel lassen, um die ernsthafte Arbeit an den Problemen nicht konstruktiv zu beeinflussen. Wirklich in Frage kommt nur ein Einheitstypus, der sich aus der Vertiefung in den vorliegenden Problembestand von selbst ergibt. Ergibt sich ein solcher nicht, so muß die Untersuchung es mit der Ungewißheit als einem Wesensstück der gegebenen Problemlage aufnehmen und in ihr ausharren. 3. Die Aussicht auf eine Einheit, die erst zu finden wäre, ist indessen gar nicht so gering. Man braucht nur folgendermaßen zu überlegen. Die metaphysischen Probleme zeigen zwar zunächst weitgehende Divergenz; und es ist freilich denkbar, daß die Divergenz bei weiterem Vordringen der Erkenntnis in ihren Bestand noch weiter führt. Aber es ist nicht möglich, daß sie in infinitum weitergeht. Irgendwo müssen die Problemgehalte selbst wieder konvergieren, und sei es auch weit jenseits dessen, l

) Ich habe sie seinerzeit am Beispiel der Kantischen Philosophie programmatisch aufzuzeigen gesucht: „Diesseits von Idealismus und Realismus", Kantstudien XXIX, 1924. 4

H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontologie

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was sich auf Grund heutiger Sachlage voraussehen läßt. Denn es sind Problemgehalte einer und derselben Welt, und nur die Aufspaltung menschlicher Forschung in relativ isolierte Wissenszweige läßt sie getrennt erscheinen. Der Zusammenhangder Welt in sich ist ja nicht fraglich. Seine besondere Form nur ist unbekannt; man darf ihn nicht voreilig konstruieren, man muß ihn dem in Teilphänomenen gegebenen Gefüge erst abgewinnen. Die inhaltlich nicht gegebene Einheit ist als eine vorhandene dennoch gewiß. In diesem Sinne darf man sie sehr wohl als mitgegebene ansehen. Das gerade ist Aufgabe der Ontologie, der Welt das Geheimnis dieser Einheit erst abzugewinnen. Und das kann nicht geschehen, indem man ihr ein postuliertes Einheitsschema aufzwingt — die künstlich erdachte Einheit wird nie auf sie zutreffen —, sondern nur indem man die natürliche, vorhandene Einheit in ihr „sucht". Es wird um so eher gelingen, als man alle hochfliegenden Vorwegnahmen preisgibt und vorurteilslos der gegebenen Mannigfaltigkeit nachgeht, die divergenten Problemlinien unbeirrt verfolgt, wohin immer sie führen mögen. Denn es ist klar: wo Einheit in der Sache enthalten ist, da wird man sie am ehesten finden, wenn man das Suchen nach ihr nicht durch künstlich hineingetragene Einheitsvorstellungen behindert. Den Problemen folgen wollen und ihnen gleichzeitig vorschreiben, wo sie hinausgelangen sollen, ist widersinnig. 4. Für den eigentlich ontologischen Gehalt der metaphysischen Probleme liegt die Sache indessen noch anders, liegt günstiger. Hier zeigt sich von vornherein eine weit größere Konvergenz. Dieser ontologische Gehalt ist eben nicht identisch mit dem metaphysischen Charakter der Probleme. Er betrifft nur die Seinsweisen, Seinsverhältnisse, Seinsformen. Diese aber sind nicht nur weit zugänglicher als die irrationalen Restbestände der Probleme, sondern auch weit einheitlicher und homogener. Sie zeigen schon in der Überschau eine deutliche inhaltliche Zusammengehörigkeit. Und sie eben sind es, die uns am ganzen Problemkreise der metaphysischen Hintergründe die Angriffsflächen möglicher Behandlung darbieten. Das entspricht der geschichtlichen Stellung der Ontologie in den Zeiten ihrer Blüte: stets war sie die diskutierbare Grundlage der Metaphysik. Sie war es auch da, wo man um sie als eigenen Problembereich nicht wußte; und sie blieb es selbst da, wo kritische Arbeit die Metaphysik bekämpfte. Kritik, wo sie auftrat, hat sich stets nur gegen spekulative Konstruktion und Systeme gerichtet, nicht gegen die allgemeinen ontologischen Grundlagen. Sie hat diese vielmehr stets ihrerseits benutzt, stillschweigend vorausgesetzt, oder gar bewußt in ihre Kategorien aufgenommen. Eine eigentliche Kritik des ontologischen Denkens hat es nie gegeben. 5. Die Einheit, um die es hier geht, braucht nicht eine punktuelle zu sein. Sie braucht nicht die Form eines »ersten Prinzips", einer letzten Grundlage, oder überhaupt eines Absoluten zu haben. Es ist ein verbreitetes, aber falsches metaphysisches Einheitsbedürfnis, das sich an

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solche Vorstellungen klammert. Die Seinseinheit der Welt kann auch andere Formen haben, z. B. die eines Zusammenhanges, einer Ordnung, einer in sich mannigfaltigen Gesetzlichkeit oder Abhängigkeit, eines Stufenbaus oder einer Schichtenfolge. Jede dieser Einheitsformen würde dem Gedanken der Problemkonvergenz vollkommen genügen. Und was wir im Leben und in der Wissenschaft von der Welt zu fassen bekommen, spricht deutlich dafür, daß eine dieser Formen die zutreffende ist. 6. Die Idee der neuen philosophia prima hat ihre methodische Einheit darin, daß sie auf allen Gebieten nach dem fragt, was das dem Sein nach Prinzipielle und Grundlegende ist. Diese Frageweise sowie die Form des Suchens, die aus ihr resultiert, schließt von vornherein ihren Gegenstand — in aller Verstreutheit an die Teilgebiete und trotz ihr — zur Einheit zusammen. Die so verstandene Einheit ihres Gegenstandes ist das „Seiende als solches". Die Besonderung seiner Formen und Erscheinungsweisen aber ist die Mannigfaltigkeit der Seinsprinzipien oder -kategorien. In ihrer Durchführung geht daher die Ontologie geradlinig und ohne Grenzstrich in Kategorienlehre über.

19. Philosophia prima und philosophia ultima

Ließe sich nun diese Idee einer „ersten Philosophie" a priori aus einem Prinzip, oder auch einigen wenigen, deren man vor aller Untersuchung gewiß wäre, entwerfen und auf dem Wege der Ableitung durchführen, so könnte man ihr auch in der Darstellung die Form eines Systems geben, ohne befürchten zu müssen, daß dadurch Voraussetzungen erschlichen oder Probleme vergewaltigt würden. Daß dieses nicht möglich ist, erhellt schon aus den soeben aufgeführten Gesichtspunkten. Man kann nicht nach Prinzipien forschen, indem man schon von Prinzipien ausgeht. Man muß erst zu ihnen hinfinden. Und das kann nur geschehen, indem man vom Gegebenen, Sekundären und Abhängigen ausgeht — von demjenigen also, was „unter" den Prinzipien steht und sie enthält, sie aber für das Auge des Alltags und der an Teilprobleme hingegebenen Wissenschaft keineswegs zur Schau trägt. Es ist hier auf der ganzen Linie ebenso wie mit der Einheit der Welt. Das Prinzipielle, das gesucht wird, ist zwar im Seienden vorhanden, und man braucht nicht besorgt zu sein, daß man es verfehle, solange man sich nur wirklich an gegebene Phänomene hält. Aber es ist deswegen doch selbst nicht ohne weiteres mit den Phänomenen mitgegeben; es ist ebensosehr durch sie verdeckt, hinter ihnen verborgen, und es bedarf eines besonderen Vorgehens, um es ihnen abzugewinnen. Hier Hegt der innere Grund, warum die alte Ontologie sich nicht hat halten können. Ihr Fehler bestand im deduktiven Vorgehen, in dem Anspruch, aus einigen wenigen zum Voraus einsichtigen Prinzipien das Seinsgerüst der Welt zu entwerfen. Charakteristisch dafür ist von alters 4*

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Einleitung

her das Ausgehen von gewissen „evidenten" Einsichten, z. B. von den logischen Gesetzen, die man von vornherein als Seinsgesetze gelten ließ. So verfuhr schon Aristoteles im Buch der „Metaphysik" mit der Einführung des Satzes vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten; seine Begriffe von Potenz und Aktus sind auf dieser Basis geprägt. So ist auch Christian Wolf verfahren, indem er den Satz vom zureichenden Grunde aus dem Satz des Widerspruchs abzuleiten suchte. Diese Ableitung ist es, an der alle weiteren Unstimmigkeiten seines Hauptwerkes hängen. Es sind Unstimmigkeiten, die auch seine wirklichen Errungenschaften verdunkelt und den Namen der Ontologie bis in unsere Tage mit dem Odium des spekulativ Metaphysischen belastet haben. Zieht man die Konsequenz aus dieser methodischen Sachlage, so resultiert als Erstes die Einsicht, daß eine erneuerte philosophia prima nicht mehr als „erstes", aller weiteren Forschung vorangehendes Glied eines Systems auftreten kann. Ihr Inhalt kann nicht das der Erkenntnis nach Erste sein, und zwar gerade deswegen, weil er das dem Sein nach Erste ist. Die ratio cognoscendi, als natürliche Ordnung im Fortschreiten der Einsicht, deckt sich nicht mit der ratio essendi, als dem Abhängigkeitsverhältnis des Seienden. Sie läuft im großen Ganzen ihr diametral entgegen. Das „für uns Frühere" ist das „an sich Spätere". Die Erkenntnis schreitet vom Sekundären zum Primären fort. Denn das Gros der Gegebenheiten, der greifbaren Tatsachen, der aufweisbaren Phänomene, liegt eben in der Ebene des ontisch Sekundären. Das ist die alte Weisheit. Aristoteles sprach sie zuerst aus. Aber weder er noch die Nachfahren, die seinen Spuren folgten, haben für die Ontologie selbst die letzten Konsequenzen aus ihr gezogen. Sie müssen aber einmal in aller Strenge gezogen werden. Und das bedeutet, daß die Ontologie, gerade sofern sie der Sache nach philosophia prima sein muß, ihrer Durchführung und Arbeitsweise nach nur philosophia ultima sein kann. Das ist das Zweite, was aus dem dargelegten Verhältnis zu lernen ist: die Ontologie kann nur so erneuert werden, daß alle Forschungsarbeit der anderen Wissensgebiete in ihr vorausgesetzt wird. Sie muß von den einstweiligen Resultaten dieser Arbeit als von einem Gesamtbefunde ausgehen, sie zugrunde legen und dann die Frage nach den Seinsfundamenten erheben, die ihnen allen gemeinsam sind. Es wäre ein Irrtum zu meinen, daß sie damit ihre natürliche Stellung als Fundamentalphilosophie preisgäbe. Denn es liegt im Wesen der Fundamente, daß sie nur im Bückschauen von dem aus, was auf ihnen beruht, sichtbar werden können. Man muß also vielmehr über den Begriff der Fundamentalphilosophie selbst umlernen. Sie kann nicht erste, sie kann nur letzte philosophische Erkenntnis sein, und zwar eben deswegen, weil sie Erkenntnis des an sich Ersten ist. Der Gedankengang dieser Einleitung ist das getreue Spiegelbild der geschilderten Sachlage. Sie hat den Weg des Aufweisens ontologischer Problembestände durch die speziellen Gebiete philosophischer Forschung

Einleitung

hin durchlaufen und ist erst auf Grund des so Gefundenen zu einer Umreißung der Aufgabe gelangt, die der neuen Ontologie als die ihrige zufällt. Der Weg, der nun zu beschreiten ist, wird sich streng an das Aufgewiesene zu halten und es fortschreitend auszuwerten haben.

20. Darstellung, Einteilung und Begrenzung

Wie aber die Ordnungsfolge der Sache und die der Erkenntnis sich nicht decken, so können auch die der Erkenntnis und die der Darstellung des Erkannten sich nicht decken. Der Weg der Forschung selbst ist umständlich, zumal in seinen Anfängen, wo er bei der vollen Mannigfaltigkeit des Gegebenen ansetzt, um von da erst zu einheitlicheren Problemgruppen aufzusteigen. Eine übersichtliche Darstellbarkeit gewinnt er erst in seinen vorgeschritteneren Stadien. Eine Darstellung muß auf Übersichtlichkeit, Kürze, Einheitlichkeit sehen. Sie hat es auch nicht nötig, dem Leser jede eigene Denkarbeit abzunehmen, braucht ihn nicht Schritt für Schritt den ganzen rückläufigen Weg zu führen, den sie von all den Spezialphänomenen her durchlaufen hat. Sie muß dieser an sich unvermeidlichen Umständlichkeit gegenüber eine gewisse Begrenzung walten lassen und sich im übrigen darauf verlassen, daß der Leser das, was über den Weg zu Anfang grundsätzlich gesagt wurde, dauernd im Auge behält. Praktisch bedeutet dieses, daß sie die an den Spezialphänomenen gewonnenen besonderen Einsichten voraussetzt und ihren Ausgang dort nimmt, wo diese bereits zu einer gewissen Einheitsfront zusammengewachsen sind. Der Hinweis auf das Besondere, von dem sie herkommt, kann hierbei immer nur zwischendurch, gleichsam als Erinnerung an das grundsätzlich Ausgemachte, eingestreut werden. Dadurch aber entsteht der Schein, als wäre das Verfahren dennoch ein aprioristisch-deduktives. Denn auf diese Weise beginnt sie mit den allgemeinsten Überlegungen und schreitet zu den spezielleren fort. Dieser Schein nun läßt sich nicht ganz vermeiden, und selbst die nachdrücklichsten Verweisungen auf Phänomenengruppen besonderer Art können ihn nicht ganz aufheben. Um so mehr muß man sich bewußt bleiben, daß es ein bloßer Schein ist und warum er sich nicht vermeiden läßt. Denn, muß man ihn schon in den Kauf nehmen, so sollte er doch niemanden täuschen, der die geschilderte Problemsituation übersieht. Es ist ja auch nicht so, daß die Darstellung nun einfach der ratio essendi folgte und die ratio cognoscendi ganz verschleierte. Diese dürfte vielmehr noch überall genügend durchblicken, nur die Ordnungsfolge der Themen kann sie nicht unmittelbar bestimmen. Es müßte ja sonst die spezielle Kategorienlehre der Ontologie vorangestellt werden. Dabei aber müßten die Grundlagen ungeklärt bleiben. Diese sind zwar in der reinen Erkenntnisfolge das Letzte; aber das Ver-

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hältnis ist nicht etwa so, daß man mit ihrer Behandlung einfach abwarten könnte, bis die spezielleren Probleme gelöst sind; dafür ist der metaphysische (d. h. der nicht bis zu Ende lösbare) Einschlag in diesen viel zu groß. Jeder Fußbreit errungener Einsicht im Allgemeinsten und Fundamentalsten wirft vielmehr sofort Licht auf das Besondere; und «benso umgekehrt. Die wirkliche Forschung also kann hier gar nicht einen einfachen, geradlinigen Weg einhalten. Sie muß auf vielerlei Wegen zugleich vordringen und sich die Ergänzungen zunutze machen, die sich an verschiedenen Stellen der gesamten Problemfront ergeben. Nur so ist es möglich, die allgemein ontologischen Fundamentalfragen zu einer gewissen Einheitlichkeit zusammenzuschließen. Solche Einheitlichkeit ist keine lückenlose, sie hat durchaus nicht die Form eines Systems. Aber man kann im Vertrauen auf sie doch mit dem Grundlegenden beginnen, ohne Gefahr zu laufen, es könnte damit der Schein der Ab.gelöstheit aus dem verzweigten Zusammenhang des Gegebenen entstehen. So hat die Darstellung eine gewisse Freiheit gegen den Erkenntnisweg, nicht anders als dieser sie gegen die Seinsordnung hat. Von solcher Freiheit ist im Folgenden Gebrauch gemacht, wenn auch nur in den Grenzen des didaktisch Erforderlichen. So ist die zugrunde gelegte Einteilung zu verstehen; es sind in ihr vier relativ selbständige Themen zu einer Einheit zusammengefaßt, in der alles sich gegenseitig bedingt und trägt. Jeder Teil ist hier in seiner Weise der grundlegende. Es zeigt nur ein jeder wieder die Grundlagen in anderer Sichtrichtung und von anderen Zugängen aus auf. Zusammengenommen bilden sie durchaus noch nicht die Ontologie, sondern nur die Klärung der Vorfragen zu ihr. Erst wenn diese erledigt sind, kann der Aufbau beginnen. Er wird mit einer Untersuchung über Realität und Wirklichkeit einsetzen müssen, um dann zur Schichtung und kategorialen Gesetzlichkeit der realen Welt fortzuschreiten. Die erstere hat es mit dem innersten Kernstück der Ontologie zu tun, der Lehre von der Modalität. In ihr müssen die Entscheidungen über Wesensmöglichkeit und Realmöglichkeit, Wesensnotwendigkeit und Realnotwendigkeit fallen, mittelbar also auch über Idealität und Realität überhaupt, sowie über den innerhalb der Seinssphären waltenden Zusammenhang der Determination. Die zweite Untersuchung dagegen hat es bereits mit der Besonderung des Seienden nach seiner inhaltlichen Struktur zu tun und bildet damit den Übergang zur Kategorienlehre. Auch zwischen diesen größeren Teilen aber waltet dasselbe Verhältnis. Sie stützen und tragen nicht nur einander gegenseitig, sondern auch die im Nachstehenden dargelegte Untersuchung der ontologischen Vorfragen, nicht anders als sie ihrerseits von dieser gestützt und getragen sind. Das Bedingtheitsverhältnis ist hier ganz und gar ein gegenseitiges. Und dem entspricht es, daß diese „Teile" sich nicht verselbständigen lassen und einer Beurteilung erst im Ganzen unterliegen können.

Einleitung

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21. Verhältnis der neuen zur alten Ontotogie

Im Vorblick auf dieses Ganze — zu dem das Vorliegende nur den Anfang bildet — ist zu sagen, daß in ihm die traditionellen Themen der alten Ontologie nicht eben zur Richtschnur genommen sind. Viel zu stark ist dafür die Beziehung auf heutige Probleme und heutige Wissenschaft. Dennoch machen sich einige der alten Themen geltend, eingefaßt in ein Gefüge von Fragen, die ihnen scheinbar heterogen sind. Ja sogar etwas von ihrer Reihenfolge, die ja nie eine festgefügte war, kehrt ungesucht wieder. Es spiegelt sich darin die Tatsache, daß es sich in ihnen um einen Problembestand handelt, der unabhängig vom Wandel der ProblemFassung und -Stellung ein unwandelbar in den Grundphänomen verwurzelter ist. Ihre ewige Wiederkehr bestätigt das Gesetz der metaphysischen Probleme: sie tauchen immer wieder auf, solange sie nicht bewältigt sind, einerlei ob der Mensch sie in ihrem immer neuen Gewände wiedererkennt oder nicht; bewältigen aber lassen sich an ihnen immer nur Teilfragen. Am deutlichsten sichtbar ist das gerade in den ersten beiden Teilen der hier behandelten „Vorfragen". Sie umfassen die alten Themen „de notione entis" und „de essentia et existentia"; in gewissen Grenzen ist auch die Untersuchung „de singulari et universali" bereits mit hineingezogen. Das zweite dieser Themen beherrscht überdies auch den vierten Teil. Die Gegebenheitsfrage dagegen ist neuzeitlichen Ursprungs und deckt sich mit keinem der alten Probleme. Das Gleiche gilt für die hier noch ausstehende Modalanalyse. Ihr entsprechen die alt-ontologischen Themen „de possibili et impossibili", „de necessario et contingente", „de determinate et indeterminato", sowie das Wolfsche Thema „de principio rationis sufficientis". Erst der Fragenkomplex des kategorialen Auf baus entfernt sich weiter von dieser Linie. Wohl lassen sich in ihm noch Themen unterscheiden, wie „de principiis", „de ordine rerum", „de dependentia", „de simplici et composite"; aber sie machen hier doch nur geringe Bruchstücke des Ganzen aus, passen auch nur teilweise auf die behandelten Gegenstände. Man kann daraus ersehen, wie die Probleme der neuen Ontologie sich mit denen der alten immer noch teilweise decken, teilweise aber über sie hinausgewachsen sind. Die Deckung ist in den Anfängen noch am größten, nimmt dann aber zusehends ab und verschwindet mit zunehmender inhaltlicher Besonderung fast ganz. Mit der Behandlung und Lösung der Probleme aber steht es ganz anders. Sie geht in weit höherem Maße neue Wege, und selbst wo sie einmal auf sehr Altes und Wohlbekanntes hinausläuft, zeigen doch Zusammenhänge und Argumente ein gänzlich verändertes Gesicht. Das aber bedeutet — da isolierte Thesen Abstraktion sind und jede mit ihren Argumenten steht und fällt —, daß in Wahrheit auch der Inhalt scheinbar gleichlautender Thesen ein anderer geworden ist.

ERSTER TEIL Vom Seienden als Seienden überhaupt I. Abschnitt Der Begriff des Seienden und seine Aporie 1. Kapitel. Die ontologische Grundfrage

a) Ausgang diesseits von Idealismus und Realismus Die Ontologie beginnt in einer gewissen Diesseits-Stellung zu den metaphysischen Problemgehalten, sowie zum Gegensatz der philosophischen Standpunkte und Systeme. Es ist für ihre Fragestellung vor der Hand nicht wichtig, ob es einen „Weltgrund" gibt, ob er die Form einer Intelligenz hat oder nicht, ob der Aufbau der Welt ein sinnvoller, ihr Prozeß ein zielgerichteter ist. Das ändert am Charakter des Seienden als solchen nicht viel. Erst bei der weiteren Differenzierung der Probleme fallen diese Unterschiede ins Gewicht. Und dann freilich ergeben sich aus der Behandlung der Seinsfrage Konsequenzen, die für die Metaphysik entscheidend sind. Aber umkehren läßt sich dieses Verhältnis nicht. Weder können wir vor dem Eintritt in das Seinsproblem etwas über Welt und Weltgrund wissen, was die Erfahrung überschritte, noch können Annahmen über diese Gegenstände das Seinsproblem bestimmen. Das Seinsproblem eben ist seinem Wesen nach diesseitig, vordergründig verwurzelt. Es haftet an Phänomenen, nicht an Hypothesen. Man könnte meinen, diese Diesseitsstellung müßte am metaphysischen Gegensatz von Idealismus und Realismus ihre Grenze finden, wenigstens sofern dieser Gegensatz ein rein theoretischer ist. Denn er betrifft das Verhältnis des Seienden zum Subjekt; offenbar ist das Sein ein anderes, wenn es nur „für" das Subjekt, ein anderes, wenn es unabhängig von ihm besteht. Wobei dann weiter der Unterschied, ob es sich um das empirische Subjekt oder ein ihm übergeordnetes handelt, auch das Sein weiter modifizieren würde. Dennoch ist dem nicht ganz so. Wohl geht dieser Unterschied die Ontologie sehr wesentlich an, aber doch nicht in der Weise, daß sie hier von Hause aus Stellung zu nehmen hätte. Es steht vielmehr so, daß sie

1. Kap. Die ontologische Grundfrage

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im Fortschreiten erst allmählich eine Stellungnahme auch in dieser Frage möglich machen kann. Die Seinsphänomene dagegen, rein als solche verstanden, erfordern in diesem Punkte gar keine Vorentscheidung. Sie verhalten sich ebenso indifferent gegen Idealismus und Realismus, wie gegen Theismus und Pantheismus. Das beste Zeugnis dafür ist die Tatsache, daß die idealistischen Theorien es zu aller Zeit und unter allen Umständen mit denselben Seinsphänomenen zu tun haben wie die realistischen. Ihr Anliegen ist es ebensosehr wie das des Realismus, das Wesen der sog. realen Welt — mitsamt ihrem Realitätsmodus — zu verstehen. Und wenn sie diese Welt für bloße „Erscheinung" erklären, oder gar für leeren Schein und Trug, so ist das doch nichtsdestoweniger gerade eine Deutung des Phänomens, eine Erklärung; es ist eine Theorie, die es mit dem Seinsproblem aufnimmt, keineswegs aber eine Ausschaltung dieses Problems. Für den Ausgang der Ontologie handelt es sich nicht darum, ob der Idealismus mit seiner Deutung recht hat. Hier ist nur eines von Wichtigkeit : das Phänomen, welches er deutet, zuvor einmal zureichend zu erfassen und ohne Rücksicht auf alle weitere Deutung zu umreißen. Es ist ein Irrtum zu meinen, daß man sich damit schon auf realistischen Boden stelle und alle weitere Deutung vorwegnehme. Es sieht nur deswegen so aus, weil das Phänomen ein Seinsphänomen ist, und weil man gewöhnt ist, Sein als Ansichsein zu verstehen. Dagegen ist festzuhalten, daß grundsätzlich sehr wohl die Möglichkeit besteht, ein jedes aufweisbare Sein — auch gerade das eines „Seienden als solchen" — auf ein Subjekt rückbezogen zu verstehen. Es bleibt dann nur die Frage offen, ob das ein echtes Verstehen oder ein Mißverstehen ist. Darüber wird sich im weiteren bei der Erörterung der Seinsgegebenheit auch eine Entscheidung ergeben. Aber im Ausgang der Untersuchung läßt sich eine Vorentscheidung nicht treffen. b) Sein und Seiendes. Formaler Sinn der Grundfrage Man darf sich von den Anfängen einer Ontologie nicht zu viel versprechen. Sie müssen sich im Allgemeinsten bewegen, können eine gewisse Abstraktheit nicht vermeiden. Denn alles Konkrete, das sich einführen ließe, ist schon Besonderung. Es gilt, den streng generellen Begriff des „Seienden" zu fassen, wenn nicht inhaltlich, so doch wenigstens formal; und es gilt darüber hinaus festzulegen, was unter dem „Sein" dieses Seienden zu verstehen ist. Denn das ist nicht dasselbe. Sein und Seiendes unterscheiden sich ebenso wie Wahrheit und Wahres, Wirklichkeit und Wirkliches, Realität und Reales. Es gibt vieles, was wahr ist, aber das Wahrsein selbst an diesem Vielen ist eines und dasselbe; die Rede von „Wahrheiten" im Plural ist philosophisch schief und sollte vermieden werden. Ebenso schief ist es, von Wirklichkeiten, Realitäten usf. zu sprechen. Des Wirklichen gibt es vielerlei, die Wirklichkeit an ihm ist eine, ein identischer Seinsmodus.

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Erster

. 1. Abschnitt

So auch ist es mit Seiendem und Sein. Man muß sich die Verwechslung des einen mit dem anderen abgewöhnen. Das ist erste Bedingung alles weiteren Eindringens. Das Sein des Seienden ist eines, wie mannigfaltig dieses auch sein mag. Alle weiteren Differenzierungen des Seins aber sind nur Besonderungen der Seinsweise. Von diesen wird weiter zu handeln sein. Zunächst aber steht das Gemeinsame zur Erörterung. Die Alten haben die Unterscheidung von ov und elvy.1, obgleich die Sprache sie ihnen an die Hand gab, keineswegs klar erfaßt, geschweige denn in ihren Untersuchungen durchgeführt. Das gilt schon von Parmenides, es gilt aber nicht weniger von Platon und Aristoteles. Das Mittelalter, das ihren Spuren folgte, hat es nicht besser gemacht. Es bevorzugte die Frage nach dem ens vor der nach dem esse, ohne aber beide richtig zu unterscheiden. Von hier stammt die gebräuchlich gewordene Verwürfelung der ontologischen Begriffe, die es noch heute schwer macht, eine Frage eindeutig zu stellen. Man braucht indessen diese Verwürfelung gar nicht erst zu entschuldigen. Praktisch ist es natürlich unmöglich, vom Sein zu handeln, ohne das Seiende zu untersuchen. Was hier zu fordern wäre, ist auch gar nicht eine Absonderung des einen vom anderen. Man darf die Grundfrage nach dem Seienden ruhig als Frage nach dem Sein verstehen, denn dieses ist offenbar das Identische in der Mannigfaltigkeit des Seienden. Man muß nur die Unterscheidung vor Augen haben. Und das bedeutet, daß man nicht etwa nach einem einheitlichen „Seienden" hinter der Mannigfaltigkeit alles Seienden zu fragen hat — das würde von vornherein das Suchen nach einer Substanz, einem Absoluten, oder sonst einem Einheitsgrunde bedeuten, und dieser müßte ja selbst wiederum ein Sein haben —, sondern nach dem, was das schlicht ontisch verstandene Generelle darin ist. Das aber ist das Sein. Formal verstanden also ist die Grundfrage der Ontologie nicht die nach dem Seienden, sondern die nach seinem Sein. Daß sie aber gerade deswegen am Seienden ansetzen muß, darf einen nicht wundernehmen. Denn Ansatz und Richtung einer Frage sind nicht ein und dasselbe. c) Die Aristotelische Fassung der Frage Aristoteles hatte daher ganz Recht, die , als Wissenschaft vom ff ov zu verstehen. Übersetzt man das wörtlich, so ist die Frage hier nicht auf das „Sein", sondern auf das „Seiende" gerichtet — nämlich auf das „Seiende als Seiendes", oder wie wir gewöhnlich sagen, auf das „Seiende als solches". Diese klassische Formel trifft genau die Sachlage des Ausgangspunktes. Sie fragt zwar nach dem „Seienden", und nicht nach dem „Sein"; weil sie aber das Seiende, nur sofern es Seiendes ist, also nur in seinem Allgemeinsten meint, so trifft sie mittelbar — über das Seiende hinweg ·— nichtsdestoweniger das „Sein". Denn über allen besonderen Inhalt hinaus

1. Kap. Die ontologische Grundfrage

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ist dieses das allein Gemeinsame alles Seienden. Man darf sich daher diese Formel ohne weiteres zu eigen machen. Sie ist zwar sehr formal, aber in ihrer Art unübertrefflich. Sie ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Sie wehrt vielmehr von vornherein gewisse Einseitigkeiten und Schiefheiten der Problemstellung ab. Im antiken Denken stand dem ov einerseits das , andererseits das gegenüber. Das „Seiende als Seiendes" wird also durch diese Formel gleich vom Seienden als bloß Erscheinendem und vom Seienden als Werdendem unterschieden; womit zugleich die Auffassungen abgewehrt sind, das „Sein" selbst könnte im Erscheinen oder im Werdeprozeß bestehen. Der Sache nach aber geht diese Abwehr noch weiter. Denn man kann sie ebensogut gegen neuzeitliche Auffassungen wenden: das Seiende als Seiendes ist offenbar nicht Seiendes als gesetztes, gemeintes, vorgestelltes; es ist nicht Seiendes als subjektbezogenes, nicht als Gegenstand. Vom „Sein" selbst aber bedeutet das, daß es nicht im Gesetztsein, Gemeintsein oder Vorgestelltsein besteht; desgleichen auch nicht in einem Verhältnis zum Subjekt, nicht also im Gegenstandsein aufgeht. Versteht man diese letzteren Bestimmungen streng diesseits von Idealismus und Realismus, so bedeuten sie, daß das „Sein" selbst dann seinem Wesen nach nicht ein subjektbedingtes ist, wenn es sich wirklich hinterher auf Grund anderer Erwägungen als ein solches herausstellen sollte. Christian Wolf hat die Aristotelische Bestimmung in wörtlicher Übereinstimmung aufgenommen. Er bestimmt die philosophia prima als scientia entis in genere seu quatenus ens est. Die weitere Durchführung zeigt freilich, daß er das ens nicht streng im Sinne des „Seienden" nimmt; die Bedeutung nähert sich nach scholastischer Weise dem, was wir „Gegenstand" nennen würden1). Damit wäre der streng ontologische Sinn der Formel preisgegeben. Das Thema ist dann für eine Seinstheorie einerseits zu weit gefaßt, denn „Gegenstände" können auch rein erdachte, vorgestellte, intentionale sein, d. h. solche ohne eigentlichen Seinscharakter ; und andererseits ist es zugleich zu eng gefaßt, denn offenbar kann es in der Welt mancherlei Seiendes geben, das nicht Gegenstand ist — weder der Vorstellung, noch des Denkens, noch der Erkenntnis. Auch Wolf gegenüber wird es daher nötig sein, den strengen alten Sinn der Aristotelischen Formel festzuhalten. Aristoteles hat in seiner Metaphysik das Seinsproblem zwar viel zu schnell auf besondere Teilfragen hin eingeschränkt und auf bestimmte Kategorien hinausgespielt ·— so auf Substanz, Form, Materie, Potenz, Aktus. Aber vor all dieser Besonderung, die doch erst in der Behandlung des Problems einsetzt ·— um nicht !) Hierauf hat H. Pichler (Über Chr. Wolfs Ontotogie, Lpz. 1910) aufmerksam gemacht. Ich wage nicht recht zu entscheiden, ob diese Annäherung Wolfs an die Meinongsche Gegenstandstheorie ganz stichhaltig ist. Aber zweifellos finden sich bei Wolf Anklänge, die in dieser Richtung gehen.

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Erster Teil. 1. Abschnitt

zu sagen in der Lösung —, hat er das Problem selbst in einer Weise zur Bestimmung gebracht, die vorbildlich und heute noch von unerschöpfter Tragfähigkeit ist. 2. Kapitel. Ein heutiger Versuch. Fehler im Ansatz

a) Abwegigkeit der modifizierten Seinsfrage Martin Heidegger hat das bestritten. An Stelle der Frage nach dem „Seienden als Seienden" setzt er die nach dem „Sinn von Sein". Eine Ontologie sei blind, solange sie diese Trage nicht kläre; die alte Ontotogie müsse deswegen der Destruktion verfallen, ein neuer Ansatz müsse gewonnen werden. Er soll gewonnen werden am „Dasein", das seinerseits, gleich auf das Dasein des Menschen beschränkt wird. Dieses habe den Vorrang vor anderem Seienden, daß es das sich in seinem Sein Verstehende ist. Alles Seinsverstehen sei in ihm verwurzelt, und die Ontologie müsse auf der Existenzialanalyse dieses „Daseins" basiert werden. Die Konsequenz dieses Ansatzes ist, daß alles Seiende von vornherein als relativ auf den Menschen verstanden wird. Es ist das je seinige. Alle weiteren Beatimmungen ergeben sich dann aus dieser Relativierung auf das Ich des Menschen: die Welt, in der ich bin, ist die „je meinige", kann also sehr wohl für jeden eine andere sein; desgleichen ist Wahrheit die „je meinige"1). Damit ist zugleich die Frage nach dem Seienden als Seienden aufgehoben. Gemeint ist nur noch das Seiende, wie es für mich besteht, mir gegeben, von rnir verstanden ist. Auf der ganzen Linie ist über die ontologische Grundfrage schon vorentschieden, und zwar durch die bloße Fassung der Frage. Wenn man also auch aus metaphysischen Gründen den Resultaten zustimmen wollte, so wären diese doch nicht solche, die Sich aus einer Seinsanalyse ergeben, sondern solche, die von vornherein durch eine schiefe Fassung der Frage hineingetragen sind, um dann hinterher wieder eines um das andere aus ihr hervorgeholt zu werden. Das wird dadurch nicht gemildert, daß hier nicht das Erkenntnisverhältnis, sondern ein in größerer Fülle verstandenes Lebens- und „Daseins"-Verhältnis des Menschen zur Welt zugrundegelegt ist. Die Relativität des Seienden auf den Menschen ist und bleibt eben dieselbe, einerlei wie man des näheren seine Gegebenheit auslegt. Die eigentliche Verfehlung im Ansatz dürfte überhaupt darin liegen, daß Sein und Seinsverstehen einander viel zu sehr genähert, Sein und Seinsgegebenheit nahezu verwechselt sind. Wie denn alle weiteren Bestimmungen, die sich in dieser „Existenzial"-Analyse ergeben, im wesentlichen Gegebenheitsmomente sind, und die ganze Analyse sich als Gegebenheitsanalyse dar*) Vgl. zum obigen Martin Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927; insonderheit dieEinleitung, sowie den Anfang dee 1. Teils.

2. Kap. Ein heutiger Versuch. Fehler im Ansatz

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stellt. Dagegen wäre freilich, nichts einzuwenden, wenn bei jedem Schritt das Gegebene als solches wiederum vom Gegebenheitsmodus unterschieden und so wenigstens nachträglich die Seinsfrage wiedergewonnen würde. Aber eben daran fehlt es. Die Modi der Gegebenheit werden für Seinsmodalitäten ausgegeben. Zur Kritik dieser Position wird im folgenden noch mancherlei zu sagen sein. Man könnte sich das Eingehen auf sie sparen, wenn es sich dabei um die allgemeine Seinsfrage handelte. Denn diese ist in ihr grundsätzlich umgangen, ist also auf ihrem Boden auch gar nicht diskutierbar. Aber es handelt sich nicht um das theoretisch Allgemeinste allein. Die Heideggersche Existenzial-Analyse entfaltet vielmehr eine bestimmte Auffassung vom geistigen Sein. Und diese läuft darauf hinaus, alles überindividuell Geistige, allen objektiven Geist, von Grund aus — schon durch die Einseitigkeit der Phänomenbeschreibung — zu entkräften und zu entrechten; das Individuum und seine private Entscheidung allein behält Recht, alles Gemeinsame, Übernehmbare und Tradierbare wird als das Uneigentliche und Unechte ausgeschaltet. Diese Auffassung gibt nicht nur das Wertvollste preis, was die deutsche Philosophie in ihrer Blütezeit (von Kant bis Hegel) zur Einsicht gebracht hat. Sie macht vielmehr die höchste Seinsschicht, die des geschichtlichen Geistes, geradezu ungreifbar; und da die Besonderungen des Seienden in der Welt nicht isoliert dastehen, sondern in mannigfachen Beziehungen und nur aus diesen heraus verstanden werden können, so vernichtet die Verkennung einer Seinsschicht mittelbar auch das Verständnis der anderen. b) Seinsfrage und Sinnfrage Aber auch abgesehen von aller Metaphysik des „Daseins" ist es irreführend, die ontologische Grundfrage als die nach dem „Sinn von Sein" zu verstehen und so die Seinsfrage in eine Sinnfrage umzubiegen. „Sinn" ist ein vieldeutiges Wort. „Sinn von Sein" kann die Wortbedeutung von „Sein" meinen. Dann ist die Sinnfrage eine formale und drängt auf eine Nominaldefinition hin; damit wäre nichts gewonnen. Es kann auch so etwas wie der logische Sinn des Begriffs „Sein" gemeint sein. Dann sieht es die Sinnfrage auf eine Wesensdefinition ab; die Gewinnung einer solchen ist aber bei Begriffen höchster Allgemeinheit nicht möglich. An ihre Stelle tritt die schlichte Untersuchung der Sache, und zwar in ihren Besonderungen. Erst rückläufig von diesen aus kann Licht auf das Allgemeine fallen. Schließlich kann „Sinn" auch eine metaphysische Bedeutung haben und die verborgene innere Bestimmung von etwas meinen, kraft deren es auf eine sinngebende Instanz (etwa einen Wert) bezogen oder auf sie hin angelegt ist. Dann aber wäre mit der Formel „Sinn von Sein" die ontologische Fragestellung ganz verlassen. In den beiden ersteren Fällen also ist in Wahrheit gar nicht nach dem Sinn des „Seins selbst" gefragt, sondern nur nach dem Sinn eines Wortes

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Erster Teü. I.Abschnitt

resp. eines Begriffs. Das ist zwar sehr bescheiden, aber zu wenig für den Anspruch der Ontologie. Denn diese fragt nicht nach Worten und Begriffen, sondern nach dem Seienden als Seienden. Im dritten Falle betrifft die Frage freilich das Seiende, aber nicht als Seiendes, sondern als Sinnträger (Bestimmungsträger) im metaphysischen Verstande. Ob aber das Seiende überhaupt Sinnträger — in irgendeinem Verstande — ist, bleibt dabei unerörtert. Das wird einfach vorausgesetzt. Aber die Voraussetzung ist vor Erörterung der eigentlichen Seinsfrage gar nicht diskutierbar. Allgemein läßt sich sagen: die scheinbar sinnklärende Frage nach dem „Sinn von Sein" ist in ihrer Vieldeutigkeit durchaus sinnverwirrend. In ihren unschuldigen Bedeutungen ist sie überflüssig in ihrer allein gehaltvollen Bedeutung ist sie irreführend. Dazu aber kommt noch eine dreifache Erwägung. 1. Ist es schon nötig nach dem „Sinn von Sein" zu fragen, so ist es erst recht nötig nach dem Sinn von Sinn zu fragen. Denn was Sinn ist, ist um nichts verständlicher, als was Sein ist. Dann aber geht das Fragen in infinitum weiter. Und zur Seinsfrage kommt es gar nicht. 2. Andererseits muß jeder „Sinn" von etwas selbst ein seiender sein, er muß irgendeine Seinsweise haben. Hat er sie nicht, so ist er überhaupt nichts. Also müßte man mindestens ebensosehr nach dem „Sein von Sinn" fragen wie nach dem „Sinn von Sein". Eine solche Frage hätte eine sehr konkrete Bedeutung (wohlbekannt aus spezielleren Fragen, wie derjenigen, ob es einen Sinn des Lebens gibt; in dem „es gibt" oder „es gibt nicht" verrät sich die Seinsfrage). Das ist dann zwar eine Seinsfrage, aber es ist nicht die allgemeine Seinsfrage. 3. „Sinn" ist unter allen Umständen (in allen seinen Bedeutungen) etwas, was „für uns" besteht — genauer für uns oder für etwas, was unseresgleichen ist, und sei es auch nur ein postuliertes logisches Subjekt. "flin Sinn an sich wäre Widersinn. Es ist also noch zu wenig, wenn man sagt: an sich selbst braucht das Seiende als Seiendes keinen Sinn zu haben. Vielmehr muß man sagen: an sich selbst kann es gar nicht Sinn haben. Es kann nur „für jemand" Sinn haben. Sein Sinnhabenfür jemand aber — wenn es ein solches gibt — ist jedenfalls nicht sein „Sein". Das Sein des Seienden steht indifferent zu allem, was das Seiende „für jemand" sein könnte. Hier liegt der Grund, warum Heideggers „Welt" eine auf den Einzelmenschen relative („je meinige") ist. Das Abgleiten der Seinsfrage in die Sinnfrage läßt es anders nicht zu. S. Kapitel. Einstellung der ontologischen Erkenntnis

a) Ungreifbarkeit und Undefinierbarkeit des Seins Das eine Beispiel radikaler Abweichung von der Fragestellung des Aristoteles mag genügen, um zu erweisen, daß solche Abweichung sich

3. Kap. Einstellung der ontologischen Erkenntnis

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rächt. Die Formel des „Seienden als Seienden" ist nicht zu überbieten. Sie entscheidet nichts vor, steht neutral zur Divergenz der Standpunkte und Theorien, diesseits aller Deutung. Die Kehrseite dieser Überlegenheit aber ist, daß sie bloß formal ist, ein Schema, das der Erfüllung harrt. Im Ausgang der Untersuchung ist das berechtigt. Wollte man aber dabei stehen bleiben, so würde die Formel dadurch nichtssagend. Wie ist nun hier weiterzukommen? Wie ist das Problem, das die Formel ausspricht, zu lösen? Auf keinen Fall kann das so geschehen, daß man nun etwa eine nähere Bestimmung nach der anderen aufsuchte und einsetzte. Jede Bestimmung wäre vielmehr eine Einschränkung, sie würde das Sein nicht in genere, sondern in der Besonderung fassen. Ist aber alle nähere Bestimmungschon Verfehlung des Generellen, so muß das „Seiende als Seiendes" offenbar unbestimmt bleiben. Das heißt, es muß rein als solches gerade in seiner Ungreif barkeit und Undefinierbarkeit festgehalten werden. Sein ist ein Letztes, nach dem sich fragen läßt. Ein Letztes ist niemals definierbar. Definieren kann man nur auf Grund eines anderen, das hinter dem Gesuchten steht. Ein Letztes aber ist ein solches, hinter dem nichts steht. Man stelle also keine deplacierten Anforderungen; man verfällt damit nur dem Drang, Scheindefinitionen aufzustellen, wo echte Definitionen nicht möglich sind. Zu verwundern ist daran nichts. Nicht dem Sein allein haftet diese Schwierigkeit an. Auf allen Problemgebieten gibt es irgendein Letztes, das als solches nicht näher bestimmt werden kann. Niemand kann definieren, was Geist ist, was Bewußtsein ist, was Materie ist. Man kann es nur eingrenzen, gegen anderes abheben und von den Besonderungen aus beschreiben. Beim „Seienden als Seienden" — und folglich erst recht beim „Sein" — liegt die Sache aber noch anders, noch schwieriger. Und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens versagt hier auch alles Eingrenzen. Denn es handelt sich um das schlechthin Allgemeine zu allem. Es bleibt nichts neben dem Seienden, wogegen man es ausgrenzen könnte. Man kann es höchstens gegen das Bestimmte überhaupt ausgrenzen, d. h. gegen seine eigenen Besonderungen. Diese sind freilich faßbar. Und faßbar ist auch ihr Verhältnis zu ihrem genus. Zweitens aber handelt es sich nicht einmal um das Allgemeinste angebbaren Inhalts, sondern um das aller besonderen Seinsweisen. Direkt angeben aber läßt sich an allem, was es gibt, nur das Inhaltliche innerhalb seiner Seinsweise, nicht die Seinsweise selbst. Nur auf dem Umweg über den Inhalt läßt sich diese ermitteln. Hier aber geht es um die generelle Seinsweise aller Seinsweisen: das „Sein überhaupt", das Sein, welches allem Seienden als Seienden zukommt. b) Grundsätzliches zum weiteren Vorgehen Damit steigert sich die Aporie noch um ein beträchtliches. Man fragt sich: ist da nicht alles Bemühen vergeblich? Handelt es sich da nicht um

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Erster Teil. 1. Abschnitt

ein schlechthin Irrationales — letzteres im Sinne des Unerkennbaren verstanden —, also um einen metaphysischen Problemgehalt, den man nicht weiter behandeln kann? Darauf ist zu antworten: freilich steckt ein Irrationales im Wesen des „Seins überhaupt", ein Etwas, das wir nicht bis zu Ende aufdecken können. Aber es wäre ein Irrtum zu meinen, es ließe sich nichts daran aufdecken, das „Sein" wäre schlechthin unerkennbar. Es wurde schon oben gezeigt, warum es ein schlechthin Unerkennbares im Bereich stellbarer Probleme nicht gibt: die Seinszusammenhänge überschreiten jede Erkenntnisgrenze, und sie verbinden Erkanntes und Unerkanntes. Dazu aber kommt noch ein Zweites. Was „Sein" in genere ist, mag so ungreifbar sein, wie es will, an den Besonderungen ist das Sein doch etwas sehr wohlbekanntes, ja bei gewissen Gegebenheitsformen etwas ganz unverkennbares. Es gibt Seinsgegebenheit von vielerlei Art, auch sehr unmittelbare; und bei aller Mannigfaltigkeit ist hierbei das Sein selbst etwas durchaus Mitgegebenes, vom rein Fiktiven grundsätzlich durchaus Unterscheidbares. Und das nicht etwa erst in der Reflexion oder Abstraktion, sondern gerade schon im naiven Verhältnis zum Gegebenen. Um die Unaufhebbarkeit des Irrationalen also braucht man beim Sein nicht besorgt zu sein. Es gibt noch Erkennbares genug an ihm. Und damit hat es die Ontologie zu tun. Man muß es nur nicht auf dem Wege logischer Definition zu fassen suchen, nicht von noch Allgemeinerem her, nicht aus einem Prinzip, nicht in Form von Merkmalen. Man muß es dort suchen, wo allein es gegeben ist: in seinen Besonderungen. Oder ist es etwa unmöglich, daß ein Generelles von seinen Besonderungen aus zugänglich wird? Es ist doch wohl umgekehrt: alles Suchen nach Prinzipiellem und Grundlegendem geht diesen Weg. Es gibt keinen anderen. Es ist der eigentliche und unvermeidliche Weg der Philosophie. Denn alle Philosophie sucht nach dem Prinzipiellen. Die Konsequenz für die Ontologie ist, daß sie zwar mit der Herausarbeitung der allgemeinen Grundfrage beginnen konnte, aber nicht unmittelbar anschließend zu deren Lösung übergehen kann. Sie muß die Stellung und Lösung speziellerer Fragen Zwischenschalten. Die Lösung der Grundfrage, soweit sie überhaupt zu geben ist, resultiert dann von selbst im Maße fortschreitender Umschau. Das wird sich mit zunehmender Deutlichkeit in der Analyse des Daseins und Soseins, der Seinsgegebenheit, der Seinsmodi u. s. f. zeigen. In gewissem Sinne ist das Ganze der nachfolgenden Untersuchungen nichts als die immer weiter vordrängende Arbeit an der Lösung der Grundfrage. c) Natürliche und reflektierte Einstellung Man kann es also mit der Aporie der Allgemeinheit und Unbestimmtheit des Seienden als Seienden getrost aufnehmen. Man kann es um so

3. Kap. Einstellung der ontologischen Erkenntnis

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mehr, als diese Aporie die einzige in ihrer Art bleibt und keine weiteren nach sich zieht. Überhaupt, die Ontologie ist keineswegs eine mit besonderen Schwierigkeiten belastete Disziplin. Sie wurzelt zwar im Gehalt der metaphysischen Probleme, braucht es aber mit deren ganzer Schwere nicht aufzunehmen. Sie setzt mehr im Vordergrunde ein, ihre Einstellung ist der natürlichen verwandt. Gerade an ihrer Einstellung kann man sich das leicht klar machen. Diese ist durchaus keine reflektierte, keine solche, zu der man sich erst auf philosophischem Wege durchringen müßte ·— wie das z. B. bei der Erkenntnistheorie, der Logik oder der Psychologie der Fall ist. Zu diesen gerade steht sie in einem sehr eigenartigen Gegensatz, der sich am ehesten als Rückkehr zur natürlichen Einstellung bezeichnen läßt. Die natürliche Richtung der Erkenntnis ist die auf ihren Gegenstand. Im Erkennen weiß das Subjekt um das, was es erkennt, nicht aber darum, worin das Erkennen als solches besteht. Die Erkenntnistheorie aber, die eben danach fragt, worin das Eikennen besteht und was seine Bedingungen sind, muß die natürliche Richtung der Erkenntnis umbiegen, und zwar gegen sie selbst, muß sie zu ihrem eigenen Gegenstande machen Dieses Umbiegen der natürlichen Richtung ist die erkenntnistheoretische Reflexion1). Eine lange Reihe von Aporien taucht im Gefolge solcher Reflexion auf; sie spielen schon tief in die bloße Beschreibung des Erkenntnisphänomens hinein. Daher die Menge der schiefen und einseitigen Phänomenbeschreibungen, an denen bis heute die Erkenntnistheorie leidet. Daß es in der Psychologie ähnlich ist, dürfte wohlbekannt sein. Die eigentümliche Schwierigkeit, seelische Akte zu fassen, liegt keineswegs in deren Verborgenheit, sondern darin, daß sie uns nicht gegenständlich erscheinen, nicht wie Objekte gegeben sind. Man vollzieht sie wohl ohne Schwierigkeit, aber der Vollzug macht sie nicht zu Gegenständen des vollziehenden Bewußtseins. Man muß erst besonders auf sie achten, reflektieren, das Bewußtsein auf sie umstellen. Und mit der Umstellung beeinflußt man sie, entzieht sie also zugleich auch wiederum dem Zugriff. Die Logik vollends hat darin schweren Stand. Wohl bewegt sich das geklärte Wissen in Begriffen und Urteilen; aber Gegenstand des Wissens sind nicht diese, sondern das Inhaltliche, das in ihnen gefaßt wird. Vom Inhalt also muß erst besonders abstrahiert werden, um die logischen Gebilde zu fassen. Es ist wieder eine andere — eine dritte — Reflexion, die hier einsetzt. Und die Geschichte der Logik zeigt, daß sie weit schwieriger ist als die ersten beiden — wie denn die Logik fast immer von ihrer eigenen Ebene auf eine fremde abgeglitten ist: bald auf die psychologische, bald auf die erkenntnistheoretische, bald auf die ontologische. Das letztere Abgleiten ist noch das unschuldigste. Es war in der klassischen Logik das Gewöhnliche. *) „Reflexion" ist hier im ersten und eigentlichen Sinne des Wortes zu verstehen; reflexio eben heißt „Zurückbiegung". 5

H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontologie

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Erster Teil. I.Abschnitt

d) Intentio recta und intentio obliqua Blickt man auf diese Sachlage hin, so sieht man ohne weiteres, wieso die Ontologie ihrer ganzen Einstellung nach weit besser dasteht als die Erkenntnistheorie, Psychologie und Logik. Sie eben bedarf der Umbiegung nicht. Sie beginnt nicht mit Reflexion, stellt die natürliche Richtung des Erkennens nicht um, sie folgt ihr vielmehr, verfolgt sie geradlinig weiter. Sie ist nichts anderes als die Fortsetzung des Vordringens in Richtung auf den Erkenntnisgegenstand. Sie behandelt das Allgemeine und Grundlegende am Erkenntnisgegenstande, braucht also nicht von ihm abzusehen zugunsten anderweitiger Gebilde. Es ist für alles folgende von Wert, sich dieses gleich zu Anfang klarzumachen. Die natürliche Einstellung auf den Gegenstand — gleichsam die intentio recta, die Gerichtetheit auf das, was dem Subjekt begegnet, vorkommt, sich darbietet, kurz die Richtung auf die Welt, in der es lebt und deren Teil es ist, — diese Grundeinstellung ist die uns im Leben geläufige, und sie bleibt es lebenslänglich. Sie ist es, durch die wir uns in der Welt zurechtfinden, kraft deren wir mit unserem Erkennen an den Bedarf des Alltags angepaßt sind. Diese Einstellung aber ist es, die in der Erkenntnistheorie, Logik und Psychologie aufgehoben und in eine quer zu ihr gerichtete — eine intentio obliqua — umgebogen wird. Das ist dann reflektierte Einstellung1). Eine Philosophie, welche eine dieser Disziplinen zur Grundwissenschaft macht — und das haben in der Neuzeit viele, im 19. Jahrhundert alle philosophischen Theorien getan —, wird ganz von selbst in solche reflektierte Einstellung hineingedrängt und findet dann nicht mehr aus ihr heraus. Das aber heißt, daß sie nicht mehr in das natürliche Verhältnis zur Welt zurückfindet; sie läuft in einen weltfremden Kritizismus, Logizismus, Methodologismus oder Psychologismus aus. *) Der hier eingeführte Unterschied der intentio recta und obliqua hat sein Vorbild in der bei den Scholastikern des 13. Jahrhunderts üblichen und wohl durch Wilhelm von Occam am reinsten durchgeführten Unterscheidung von intentio prima und secunda. Er fällt mit dieser keineswegs zusammen. Denn nicht um Einstellung und Blickrichtung handelt es sich bei Occam, sondern um einen Unterschied im actus intelligendi, je nachdem ob er auf einen primären oder sekundären Gegenstand geht. Ein terminus primae intentionis ist ein solcher einer res, d. h. eines esse subjectivum (was in damaliger Begriffssprache nahezu die Bedeutung des Ansichseienden hat): während ein terminus secundae intentionis der eines signum ist, das nur in mente besteht und von der mens gesetzt ist (für den Nominalisten sind genus und species die überzeugenden Beispiele für ein solches). In einem Punkte aber ist der strenge Sinn der alten Unterscheidung in der neuen festgehalten: auch in dieser geht es um Richtung auf ein selbständig Seiendes einerseits und auf ein sekundäres, erst in jener entstandenes Gebilde im Bewußtsein andererseits. Was Occam signum nennt, trifft freilich nicht auf die Akte, wohl aber auf deren innere, erst durch sie geschaffene Gegenstände (den Begriff, die Vorstellung, das Erkenntnisgebilde) zu. In diesem Sinne ist auch die intentio recta eine intentio prima, und die intentio obliqua eine intentio secunda. Man vergleiche hierzu die Ausführungen im Tractatus logicesl. 11—15.

4. Kap. Stellung und Verwurzelung des Seinsproblems

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Die Ontologie aber ist es, die ihrerseits die intentio obliqua aufhebt und zur intentio recta zurückkehrt; ihr fällt damit die ganze Problemfülle de& Gegenstandsreiches, d. h. der Welt, wieder zu. Sie ist die Wiederherstellung der natürlichen Sichtrichtung. Streng genommen kann man nicht einmal sagen, daß dieses eine Wiederherstellung ist. Die Ontologie macht vielmehr die Reflektiertheit gar nicht erst mit. Sie schließt direkt an die natürliche Einstellung an. Wie sie denn geschichtlich älter ist als die reflektierten Disziplinen. Für unsere Zeit freilich kann man hier von Rückkehr und Wiederherstellung sprechen; und dadurch unterscheidet sich die neue von der alten Ontologie, daß sie erst im Sich-Zurückfinden zur intentio recta entsteht. Sie hat den Umweg hinter sich und kann aus der Erfahrung dieses Umweges eine Lehre ziehen. 4. Kapitel. Stellung und Verwurzelung des Seineproblems

a) Natürliches, wissenschaftliches und ontologisches Verhältnis zur Welt Die Einheit der Einstellung von natürlicher und ontologischer Erkenntnis macht indessen noch nicht das ganze Gewicht der Sachlage aus. Es kommt noch eine dritte Erkenntnisart hinzu, die jenen beiden gleichgerichtet ist, an deren mächtigem Zeugnis die Überlegenheit der intentio recta erst ermeßbar wird. Diese Erkenntnis ist die der Wissenschaft. Selbstverständlich kann man auch die Pyschologie unter Wissenschaft subsumieren, desgleichen die Logik und die Erkenntnistheorie. Aber wenn man eine Grenzlinie zwischen Wissenschaft im engeren Sinne und Philosophie zieht, so dürften diese Disziplinen auf die Seite der Philosophie fallen. Außerdem handelt es sich hier nicht um Grenzziehung, die von der Willkür einer Nominaldefinition abhängig wäre. Die Grenze liegt vielmehr fest, sie ist durch den Gegensatz der Einstellung unaufhebbar gezogen. Jene drei Disziplinen scheiden aus, nicht weil sie nicht Wissenszweige wären, sondern weil sie auf der intentio obliqua beruhen. Die große Masse der Wissenschaften hält eindeutig die Linie der intentio recta ein. Sie ist darin der natürlichen Einstellung, aus der sie entspringt, ebenso gleichgerichtet wie der ontologischen. Das leuchtet für die Naturwissenschaften unmittelbar ein. Hier überwiegt die Form der äußeren, dinglichen Gegebenheit; und wenn die Wissenschaft das Gegebene auch sehr anders angreift, als die naive Anschauung — manches als Schein fallen läßt, anderes hinzufügt, was nicht gegeben war und erst durch besondere Methoden ermittelt wird —, so ist diese Umformung des Gegebenen doch niemals eine Umbiegung der Richtung, sondern ganz offenkundig die Fortsetzung des Eindringens in derselben Richtung. Wie denn der naturwissenschaftliche Gegenstand nur die Erweiterung des naiv aufgefaßten Gegenstandes ist. 5*

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Erster Teil. I.Abschnitt

Aber dasselbe gilt auch von den Geisteswissenschaften. Es ist ein Irrtum zu meinen, diese gingen reflektierend vor, weil ihr Gegenstand doch ein „innerer" sei. Das geistige Sein ist nicht identisch mit dem seelischen. Wäre nur das Individuum Geist, so ließe sich der Unterschied freilich schwer bestimmen, obgleich auch dann die Person und ihre Akte sich im nach innen gewandten Selbsterleben nicht erschöpfen ließen. Die Geisteswissenschaften aber haben es auch gar nicht mit Personen und Akten zu tun, sondern mit überindividuellen Gebilden des objektiven Geistes, die einer Vielheit von Individuen gemeinsam sind. Ihre Gegenstände sind das Recht, die Moral, die Kunst, die Dichtung, Sitten und Lebensstil, Religion, Sprache, Kultur u. s. f.; und sofern alle diese Geistesgebiete ihre Geschichte haben, so ist die Geistesgeschichte noch in besonderem Sinne Gegenstand der Geisteswissenschaften. Diese Wissenschaften also sind objektiv, sind nicht weniger auf Gegenstände gerichtet als die Naturwissenschaften, ihre Gegenstände sind nur von anderer Art. Auch sie setzen die natürliche Einstellung des Alltags geradlinig fort, wie denn Recht, Moral, bestehende Sitten usw. schon im Alltag als objektive Mächte gegeben sind, denen gegenüber der Einzelne sich ebenso zurechtfinden muß wie den Naturmächten gegenüber. Zieht man die Konsequenz hieraus, so ergibt sich eine bedeutsame Perspektive. Das natürliche, wissenschaftliche und ontologische Verhältnis zur Welt ist im Grunde ein und dasselbe. Ein Unterschied besteht nur in praktischer Hinsicht und in der Tiefe des Eindringens, nicht aber in der Grundeinstellung auf das ganze Gegenstandsfeld, nicht in der Richtung der Erkenntnis. Die natürliche Einstellung setzt sich in der wissenschaftlichen und in der ontologischen fort. Da aber die letztere es ist, die dieses ganze Verhältnis ins Bewußtsein hebt, so läßt sich mit größerem Recht umgekehrt sagen: die natürliche und die wissenschaftliche Einstellung sind bereits von Hause aus ontologisch. Die Ontologie also findet sich, sofern sie nicht von einseitigen philosophischen Theorien, sondern unmittelbar vom Leben und von der Arbeit der Wissenschaft ihren Ausgang nimmt, von vornherein in der ihr angemessenen Einstellung. Sie findet sich selbst bereits auf dem Wege der intentio recta vor. Sie braucht ihn nur fortzusetzen und kann sich Umwege sparen. b) Gemeinsames Verhältnis zum Seienden. Der natürliche Realismus Nun aber ist das Verhältnis zur Welt nicht durch Einstellung und Richtung charakterisiert, sondern auch durch die Seinsweise, in der die Welt vom Subjekt erscheint und von ihm hingenommen wird. Es fragt sich, ob auch die Seinsweise für jene drei Stufen der Erkenntnis dieselbe ist. Diese Frage ist für die Ontologie noch schwerwiegender als die der Richtung. Denn Ontologie ist nicht Gegenstandstheorie — nicht Wissenschaft von Gegenständen überhaupt, sondern Wissenschaft vom „Seien-

4. Kap. Stellung und Verwurzelung des Seinsproblems

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den als Seienden". Darauf kommt es an, ob im Gerichtetsein der Erkenntnis auf den Gegenstand dieser nur „als" Gegenstand oder als ein Seiendes verstanden wird — d. h. als etwas, was auch ohne Gegenstehen und unabhängig von ihm ist, was es ist. Und hier nun ist der Punkt, in dem die Übereinstimmung sich erst voll bewährt. Denn das ist das eigentlich Wesentliche an ihr, daß die natürliche wie die wissenschaftliche Einstellung, ganz ebenso wie die ontologische, ihren Gegenstand als einen selbständigen, an sich seienden verstehen. Ob sie darin Recht behalten, ob die skeptische oder idealistische Erkenntnistheorie sie nicht eines anderen zu belehren hat, steht einstweilen nicht in Frage; das ist eine spätere Sorge. Wie denn die Ontologie in ihrem Ausgang noch diesseits von Idealismus und Realismus steht. Tatsache ist nur, daß die Wissenschaft den natürlichen Realismus des naiven Weltbewußtseins teilt. Sie geht von ihm aus und bleibt bei ihm stehen, wie weit sie auch inhaltlich über das ursprünglich enge Gegenstandsfeld hinausdringen mag. Und eben dieser natürliche Realismus ist es, der in der Frage nach dem „Seienden als Seienden" die Ausgangsstellung bildet. Der natürliche Realismus ist nicht eine philosophische Theorie. Er gehört zum Phänomen der Erkenntnis und ist in ihm jederzeit aufzeigbar. Er ist identisch mit der uns lebenslänglich gefangen haltenden Überzeugung, daß der Inbegriff der Dinge, Personen, Geschehnisse und Verhältnisse, kurz die Welt, in der wir leben und die wir erkennend zu unserem Gegenstande machen, nicht erst durch unser Erkennen geschaffen wird, sondern unabhängig von uns besteht. Verließe uns diese Überzeugung auch nur einen Augenblick im Leben, wir würden das Leben nicht mehr ernst nehmen. Es gibt philosophische Theorien, die sie preisgeben; damit aber entwerten sie das Leben in der Welt und nehmen es in der Tat nicht mehr ernst. Die natürliche Einstellung kennt ein solches Preisgeben nicht. Die wissenschaftliche kennt es ebensowenig. Die Naturwissenschaft nimmt den Kosmos vom Elektron bis zum Sternsystem, von der Monere bis zum Zentralnervensystem unbeirrt als wirklich; die Geisteswissenschaft nimmt genau ebenso die geschichtlichen Entwicklungen, Wandlungen, Tendenzen, Schicksale als wirklich, einerlei ob sie von drastischer Wucht oder von unwägbarer Subtilität sind. Und nur so weit, als sie hieran festhält, ist sie Wissenschaft. Denn wo sie die Realität dessen, was sie erforscht, bezweifelt, da geht das Erkennen und Forschen in Phantasieren über. Man wende nicht ein, die Wissenschaft arbeite doch auf allen Gebieten mit Annahmen, Hypothesen, Hilfsbegriffen. Sie setzt ja die Annahme nicht dem Gegenstande gleich, den sie erforscht; sie weiß um das Hypothetische als solches, sie unterscheidet ihre Hilfsbegriffe von dem Wirklichen, das zu erkennen steht. Und selbst wo ihr Verwechslungen unterlaufen, da korrigieren diese sich in ihrem Fortgang von selbst. Sie lassen sich eben nicht halten.

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Erster Teil. 1. Abschnitt

c) Inhaltliche Unterschiede und Einheit des Gegenstandsfeldes Ebenso verfehlt wäre der Einwand, die wissenschaftliche Einstellung sei doch ganz anders als die natürliche, sie verändere den Gegenstand, weiche von der Ebene der schlichten Gegebenheit mit ihren Formen der Konkretheit, Anschaulichkeit und Dinglichkeit ab. Ein solcher Einwand beruft sich zwar auf einen wirklich bestehenden Gegensatz, und zwar auf einen berechtigten und unaufhebbaren. Aber er beschreibt ihn falsch und trifft überdies das Phänomen der Seinsauffassung nicht. Die Art, wie die Wissenschaft das Reale auffaßt, ist methodisch wie inhaltlich eine andere als die naive. Sie schreitet vom Einzelfall zum Allgemeinen, von den Dingen zur Gesetzlichkeit, von den Phänomenen zu den Hintergründen fort. Was sie preisgibt, ist nur die Ebene des Gegebenen und allenfalls noch die Konkretheit. Schon von der Anschaulichkeit läßt sich das Gleiche nicht sagen. Die Wissenschaft verzichtet nicht auf Anschauung, .sie ersetzt nur die inhaltlich beschränkte Anschauungsweise durch eine höhere, durch eine Schau, die größere Zusammenhänge übersieht und in die Hintergründe dringt. Diese vermittelte Schau ist die „Theorie"1). Die vielgerügte Unanschaulichkeit der Theorie ist ein. Vorurteil des naiven Bewußtseins. Dieses eben bringt die Vorbedingungen der höheren Schau nicht ohne weiteres mit; es muß sie sich erst lernend erringen. Solange «s sich zur höheren Schau nicht wirklich erhebt, müssen ihm deren Resultate wie begriffliche Abstraktionen erscheinen. Vollends aber der Gegenstand Selbst bleibt durchaus derselbe. Was die Naturwissenschaft ergründet, sind dieselben Dinge, dieselben NaturZusammenhänge, deren Oberfläche auch das naive Bewußtsein sieht. Was die Literatur-, Sprach- und Geschichtswissenschaft herausarbeitet, sind dieselben geistigen Strömungen, die der Mitlebende auch unmittelbar dunkel erlebt. Nicht der Gegenstand ändert sich hier, sondern nur die Gegenstandsauffassung. Der Kreis der Objektion erweitert sich, aber es ist dasselbe Seiende, dieselbe Welt, in die hinein sie vorstößt. So wird es verständlich, warum es auch dieselbe natürliche Realität der Welt ist, die das wissenschaftliche Bewußtsein festhält. Der Seinsmodus des Gegenstandes ändert sich im Vordringen der Erkenntnis nicht. Die Physik hat ein kritisches Bewußtsein, daß die Atome in Wirklichkeit vielleicht ganz anders beschaffen sein könnten, als ihre jeweiligen Atommodelle sie zeichnen. Daß aber das, worum es im Atombegriff geht, etwas ebenso Reales ist wie die Dinge, das ist auch in der hypothetischen Fassung die selbstverständliche Voraussetzung. Nicht die Seinsweise der Realität steht in Frage, sondern nur die besondere Formung und Bestimmtheit. Diese eben ist es, die erst ermittelt werden soll. l

) Es ist hier daran zu erinnern, daß der ursprüngliche Sinn des Wortes in der Tat „Schau" ist. In diesem Sinne wurde der Terminus Von Aristoteles eingeführt.

4. Kap. Stellung und Verwurzelung des Seinsproblems

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Der natürliche Realismus, diesseits aller erkenntnistheoretischen Reflexion, ist die gemeinsame Basis der naiven und der wissenschaftlichen Erkenntnis. Er aber ist es, der auf der ganzen Linie das Seiende schlicht als Seiendes versteht, und nicht etwa als Erscheinung oder als sonst was. Das und nichts anderes will der Satz besagen, daß naive und wissenschaftliche Erkenntnis bereits von sich aus ontologisch eingestellt sind. d) Der gegebene Aspekt des Seienden und seine Verfehlung Die Aporie des „Seienden als Seienden" betraf lediglich seine Allgemeinheit und Undefinierbarkeit. Sie schien auf den ersten Blick überwältigend. Aber ihre Schwierigkeit mildert sich erheblich, wenn man sie im Zusammenhang der Gesamtlage menschlicher Welterkenntnis sieht, in der sie verwurzelt ist. Sie erscheint dann eingebettet in einen so festen und inhaltlich reichen Problemzusammenhang, daß sich die Zugänge zu ihr ganz von selbst eröffnen. Denn der Aspekt des „Seienden als Seienden" ist, wie sich gezeigt hat sowohl im naiven als im wissenschaftlichen Weltbewußtsein bereits enthalten. Man muß ihn also aus diesen beiden Bewußtseinsformen sehr wohl gewinnen können, wenn es gelingt, ihnen die gemeinsamen Wesenszüge abzulauschen. Dieser Weg wird später einzuschlagen sein. Er wird die Form einer Untersuchung über die Gegebenheitsform des Seienden annehmen, und zwar sowohl des realen als auch des idealen Seienden. Der zunächst gegebene Aspekt ist freilich nur der des Realen. Aber es genügt auch für die erste Orientierung. Seine Erweiterung auf andere Seinsweisen kann erst vorgenommen werden, wenn diese sich als gegeben herausgestellt haben. Was aber unmittelbar aus dem Gesagten einleuchtet, ist die Fehlerhaftigkeit der Einstellung, in die man gerät, sobald man anstelle der natürlichen und wissenschaftlichen Erkenntnis eine Form der reflektierten Haltung — etwa die erkenntnistheoretische — zur Basis macht. Man gelangt mit ihr immer nur bis zu „Gegenständen", nicht zum Seienden; ja man kann schließlich, da der volle Seinswert des Seienden schon im Erkenntnisverhältnis vorausgesetzt ist, nicht einmal dieses verstehen. Das ist so paradox nicht, wie es klingt. Es bedeutet einfach, daß ohne ein festes Fußfassen auf ontologischer Grundlage die Erkenntnistheorie ihren eigenen Gegenstand — die Erkenntnis — verfehlen muß. Ihre unvermeidlich reflektierte Einstellung muß um die Reflektiertheit wissen. Sonst verfängt sie sich in ihr und endet in der Sackgasse der Bewußtseinsimmanenz. Um die eigene Reflektiertheit wissen heißt aber, die unreflektierte Einstellung und ihren Seinsaspekt als Grundlage bewußt und unbeirrt festhalten. Und das ist nicht leicht. Sie festhalten, solange man schlicht in ihr steht, ist einfach; sie einhalten, wenn man aus der Reflexion zu ihr zurückgekehrt ist, erfordert nur ein wenig Schulung und Überblick. Aber sie mitten „in" der Reflektiertheit als deren Basis festhalten,

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Erster Teil. 2. Abschnitt

ist ein Ansinnen ganz anderer Art. Es ist das Ansinnen der Erkenntnistheorie. Nicht ganz so hoch ist das der Logik und das der Psychologie. Alle drei indessen haben es an sich, daß sie besondere methodische Übung erfordern. Einmal erlangt, geht die Übung in feste Denkgewohnheit über. Und diese Denkgewohnheit ist es dann, die gerade dem Geübten und Geschulten die Rückkehr zur natürlichen Einstellung und zum Aspekt des „Seienden als Seienden" verschließt. Das ist der Grund, warum der Zugang zur Ontologie uns Heutigen so schwer erscheint — ein Zugang, der dem naiven Weltbewußtsein unmittelbar offen steht. Wir nun haben ein Jahrhundert reflektierter Denkschulung hinter uns, und zwar einer solchen, die um Art und Voraussetzung ihrer Beflektiertheit nicht weiß. Eine solche aber ist identisch mit der grundsätzlichen Verfehlung des ursprünglich gegebenen Seinsaspektes. Die phänomenologische Methode hat es versucht, sich aus diesem selbstgewebten Netz der Philosophie zu befreien. Ihre Losung war: zurück zu den Sachen. Aber sie ist nicht bis zu den Sachen gelangt. Sie langte nur bei den Phänomenen der Sachen an. Ein Beweis, daß auch sie aus der Reflektiertheit nicht herausgefunden hat. Phänomene sind etwas, was zwar in aller Sachgegebenheit da ist, aber bei natürlicher Einstellung nicht bemerkt wird. Auf sie gerade muß erst besonders reflektiert werden1). Das „Phänomen" deckt sich annähernd mit der Gegebenheit. Aber die Gegebenheit deckt sich nicht mit der Sache. Nur die Einstellung auf die Sache ist intentio recta. Die auf das Gegebene als solches ist schon eine reflektierte. Diese Reflexion ist zwar eine andere als die erkenntnistheoretische; sie ist eine bloß bewußtseinstheoretische. Aber sie ist um nichts weniger eine Umbiegung der natürlichen Einstellung. Sie hat denn auch ebenso wie jene den Aspekt des Seienden verfehlt. Daran sind die Versuche, mit ihr zu einer Ontologie zu gelangen, gescheitert. II. Abschnitt Traditionelle Fassungen des Seienden 5. Kapitel. Naiver und substantieller Seinsbegriff

a) Das Seiende als Ding, Gegebenes, Weltgrund Irgendeine Auffassung vom Seienden hat jede Philosophie und jedes volkstümliche Weltbild. Die Vielzahl der Weltanschauungen, worin *) Diese Reflexion ist von Husserl in seinen „Ideen" sehr genau geschildert: als Einklammerung, Absehen vom gegebenen Einzelfall, Reduktion, Vor-die-Klammer-Heben usw. Sie ist der charakteristische Rückzug der Einstellung vom Seienden auf die Erscheinung.

5. Kap. Naiver und substantieller Seinsbegriff

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immer ihre zuvörderst auffallenden Unterschiede liegen mögen, ist auch ebensosehr eine Vielzahl von Seinsauffassungen. Setzt man nun auch voraus, daß sie in ihrer Mehrheit das Allgemeine des „Seienden als Seienden" nicht treffen, so ist doch an der Verfehlung zu lernen, was dieses Allgemeine nicht ist. Und das ist von Wert in einer Problemsituation, bei der alle direkte positive Bestimmung versagt. Es sollen deswegen hier einige typische Fassungen des Seienden aufgeführt werden — nicht um sie festzuhalten, sondern um im Hinausgelangen über sie das Seiende greifbar zu machen. 1. Die naivste Auffassung versteht das Seiende als Ding, das Sein als Dinglichkeit. Sie ist zwar leicht zu widerlegen, weicht schon bei den leisesten Ansätzen der Besinnung; denn offenbar geht schon das organische Sein nicht in Dinglichkeit auf, geschweige denn das seelische und geistige. Aber eben die Besinnung hierauf ist schon eine spätere, um einen Schritt vorgerückte. Die Dinge haben nun einmal die größte Augenfälligkeit und Aufdringlichkeit; das Feld des Seelischen und Geistigen aber erscheint gegen sie derart gewichtslos, luftig, ungreifbar, daß man es gar nicht für ein seiendes nimmt. Dieser Gegensatz liegt im Wesen der Sache und ist nicht aufzuheben. Darum erhält sich die Auffassung vom Seienden als Ding fast unangefochten im Alltagsbewußtsein, ja sogar im Hintergrunde vieler Theorien — und nicht nur der materialistischen. Aus ihr stammt das erst spät geprägte Wort „Realität" (von res hergenommen), das ja von Anbeginn weit mehr umfaßte als die eigentliche „Dinglichkeit". 2. In kritischer Gegenstellung hierzu steht bereits die Auffassung vom Seienden als dem Gegebenen (Sein = Gegebenheit). Man weiß jetzt, daß nicht Dinge allein die Welt ausmachen. Schon ihr Entstehen und Vergehen durchbricht ihre scheinbar geschlossene Seinsfront. Denn es ist ebenso real wie sie selbst; es ist ebenso gegeben. Diese Ansicht ist alt, und zwar in zwei verschiedenen Formen, die ihre doppelte Verwurzelung widerspiegeln. Beide greifen geschichtlich weit über das erste Auftreten des eigentlichen Gegebenheitsbegriffs zurück. Die eine versteht das Seiende als das von den Sinnen Bezeugte. Sie steht im Hintergrunde der Vorsokratik — Parmenides und Heraklit argumentieren gegen sie —, hält sich aber bis in die Thesen des späten Sensualismus (esse = percipi). Die andere faßt das Seiende als das Gegenwärtige ; nach ihr ist das Vergangene ebenso nichtseiend wie das Zukünftige. Sie lief bei Parmenides auf die Verewigung des Seienden im „Jetzt" hinaus. Sie ist ebenso wie die Berufung auf das Sinneszeugnis eine Bevorzugung des Gegebenen; wie denn im Gegenwärtigsein (von den Späteren genannt) dasselbe Motiv des Sich-Darbietens liegt wie im Voraugenstehen und Vorhandensein. Diese Anschauung hält sich, bis man entdeckt, daß nicht alles Seiende den Sinnen zugänglich und nicht alles gegenwärtig ist. Es gibt Verborgenes, das erst die Einsicht höherer Ordnung (das ) erschließt; und es gibt Vergangenes, das sehr gewichtig in der Gegenwart mitspricht, Zu-

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Erster Teil. 2. Abschnitt

künftiges, das in sie hereinbricht. Es gibt eine Seinsverbundenheit des zeitlich Auseinanderliegenden. Damit fällt endgültig die Gleichsetzung von Sein mit Gegebenheit. 3. Hat man einmal entdeckt, daß die Gegebenheit nur an bestimmten Seinscharakteren hängt, die nicht die grundlegenden sind, so gerät man unfehlbar ins andere Extrem: das Gegebene überhaupt ist nur Oberfläche, Äußeres, das eigentlich Seiende aber ist das Innere dieses Äußeren, das Verborgene, Nichtgegebene. Man entwertet nun das Sinnliche ganz — zugunsten eines nur in höherer Schau faßbaren Übersinnlichen. Dieser Gedanke nimmt verschiedene Gestalt an. Das nichtgegebene Seiende wird als Urstoff, als Weltgrund, als Element, als ,,Idee" (innere Gestalt), als Substanz ausgelegt. An Seinsformeln fehlt es nicht dafür ( 8v, , ). So verschieden die inhaltlichen Ausdeutungen, so einheitlich ist der Grundgedanke. Alle Theorien von „scheinbarer und wirklicher Welt" — von den Ideen bis zur Kantischen Lehre vom Ding an sich — zeigen ontologisch dasselbe Gesicht. Seit Aristoteles herrscht in ihnen der Substanzbegriff vor. Aber sie machen auch alle denselben Fehler. Warum eigentlich muß das Innere und Verborgene das allein Seiende sein? Gehört denn die erscheinende und gegebene Oberfläche nicht mit zu ihm? Ist denn der Unterschied des Erscheinenden und des Nichterscheinenden überhaupt ein Seinsunterschied? Ist das Seiende als solches nicht gleichgültig gegen die Grenze der Gegebenheit? Es ist doch vielmehr von vornherein klar, daß das Zugängliche um nichts weniger seiend ist als das Unzugängliche. Sonst müßte ja dieses, wenn es zugänglich wird, sich in ein Nichtseiendes verwandeln. b) Die ontologischen Motive im antiken Substanzgedanken 1. Freilich steckt im Substanzgedanken noch ein anderes: das eigentlich Seiende müßte das Selbständige, Unabhängige, Tragende sein. Jene gegebene Oberfläche ist das Sekundäre, Abhängige. Dieses Motiv steckt auch in den Begriffen des Grundes, des Wesens, der ,,Idee", ja der Materie. Aber auch hier beruht die scheinbare Selbstverständlichkeit auf einem Vorurteil. Denn offenbar ist das Getragene um nichts weniger seiend als das Tragende, das Abhängige um nichts weniger als das Unabhängige. Anders wäre ja das ganze Verhältnis kein echtes Trageverhältnis, kein Abhängigkeitsverhältnis. Das Seiende, rein als Seiendes verstanden, ist offenbar gleichgültig gegen den Unterschied von primär und sekundär, unabhängig und abhängig. So fruchtbar das Substanzprinzip in anderer Hinsicht sein mag, für die ontologische Grundfrage ist es belanglos. 2. Es sind noch weitere ontologische Motive im Substanzbegriff enthalten. Eines davon ist die Ansicht, das Seiende müsse ein Einheitliches sein. Die Vielheit der Dinge, und vollends der Geschehnisse, scheint ein

. Kap. Xaiver und substantieller Seinsbegriff

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verwirrendes Durcheinander zu sein, sie hat die Ungreif barkeit des Vielspältigen und Vieldeutigen an sich. Nur was Einheit hat, kann eindeutig sein. Die Philosophie der Alten ist von dieser Überzeugung ganz durchdrungen : daß es eine Einheit des Prinzips, der ersten Ursache, des letzten Zwecks geben müsse, gilt meist als ausgemacht. Die Eleatik setzte direkt ov und gleich. Die Monismen aller Typen, bis zum Pantheismus und Emanatismus hinauf, beruhen auf dieser Auffassung. Aber ist sie ontologisch haltbar? Warum sollte Vielheit und Mannigfaltigkeit nicht ebenso seiend sein wie Einheit? Etwa nur um der Begreiflichkeit willen? Aber das Unbegreifliche braucht nicht weniger seiend zu sein als das Begreifliche. Oder um der Eindeutigkeit willen? Aber weder ist ein Eines eindeutiger als ein Vieles, noch ist ein Eindeutiges mehr seiend als ein Vieldeutiges. Der Seinsprimat der Einheit ist im Grunde ein rationalistisches Vorurteil. 3. Wichtiger als dieses aber ist die andere Seite im Substanzprinzip: die der Beharrung. Seiendes, so meint man, kann nicht ein Werdendes sein, nicht im Entstehen und Vergehen begriffen sein. Entstehen ist der Weg vom Nichtsein zum Sein, Vergehen der Weg vom Sein zum Nichtsein. Beide also sind nicht reines Sein, sondern ein Gemischtes aus Sein und Nichtsein. Und das ist in sich widersprechend. Nur das Seiende „ist", das Nichtseiende „ist nicht". Nur das Beharrende also ist Seiendes, und seine Beharrung eben ist sein Sein. Hinter dieser bekannten Argumentation der Eleaten steht die Ablehnung der Vergänglichkeit als eines Minderwertigen und das Pathos der Ewigkeit. Das Vergängliche scheint mit einem Mangel, einer Seinsbeschränkung behaftet zu sein. Man gibt es als das Uneigentliche preis zugunsten eines ganz und gar Seienden. Dieses Motiv kehrt abgewandelt im Platonismus, Neuplatonismus und vielen Theorien der Scholastik wieder. Es drückt ein weltanschauliches Gefühls- und Wertungselement im Denken der meisten Ernstgesinnten aus und hält sich dauernd im Hintergrunde der großen Systeme. Und eben durch dieses Verharren im Stimmungshintergrunde ist es zum Hemmnis des ontologischen Denkens geworden. Denn die Voraussetzung darin, der konstruierte Gegensatz von Sein und Werden, ist fehlerhaft. Der Fehler ist auch früh entdeckt worden, bei Heraklit ist er bereits überwunden. Er steckt in der eleatischen Auffassung des Werdens selbst. Dasjenige Werden, das die wirkliche Welt beherrscht, ist gar kein Entstehen aus Nichts und Vergehen in Nichts. Ein Nichts kommt in dieser Welt gar nicht vor. Die Dinge dieser Welt entstehen auch nicht aus Nichts, sondern stets aus etwas, nämlich auseinander ; und sie vergehen nicht in Nichts, sondern gehen nur ineinander über. Das Vergehen des einen ist identisch mit dem Entstehen des anderen. Das Werden ist nicht ein zwiefacher, sondern ein einheitlicher Prozeß. Und das, was in diesem Prozeß sich formt und wieder auflöst, ist ebenso seiend wie das Beharrende, das ihm zugrunde liegt.

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Erster Teü. 2. Abschnitt

Anders ausgedrückt, Entstehen und Vergehen sind überhaupt irreführende Begriffe, sofern sie das Nichtseiende enthalten. Sie werden abgelöst durch den Begriff der Veränderung. Nur ein Beharrendes kann sich verändern: es wechseln an ihm die Zustände, Geformtheiten, Bestimmtheiten, indem es selbst identisch bleibt. Dieser Wechsel ist das Werden. An diesem ausgereiften Substanzbegriff — erst die Neuzeit hat ihn bewußt so erkannt — wird das Grundverhältnis klar. Der Gegensatz des Beharrenden und des Werdenden ist das Wesentliche in ihm. Aber er fällt nicht zusammen mit dem antiken Gegensatz von Seiendem und Werdendem. Dieser letztere ist gar kein Gegensatz. Das Werdende vielmehr ist um nichts weniger seiend als das Beharrende. Denn es besteht im Übergang der Seinszustände des Beharrenden. Werden, Wechsel, Veränderung, Übergang sind selbst eine Form des Seins — und zwar gerade diejenige, die aufs engste an Beharrung gebunden ist. Veränderlich eben ist nur das Beharrende. c) Das Seiende als Substrat und als Bestimmtes (Materie und Form) 1. Der Substanzgedanke spaltet sich früh in zwei Äste. Das beharrende Seiende wird einerseits als unbestimmtes Substrat verstanden, andererseits als bestimmende Form. Beides ist im Aristotelischen Dualismus wieder vereinigt. Im alten Stofifprinzip fließen die Momente des Weltgrundes, der Einheit und der Beharrung zusammen. Hinzu kommt das der Unbestimmtheit ( ). Aus kosmologischen Gründen ist es verständlich, warum Anaximander das Unbestimmte zum Prinzip machte; ontologisch bleibt es zunächst befremdlich. Der Grund aber liegt in der Vielheit und Beweglichkeit des Bestimmten. Nur ein Unbestimmtes scheint identisch verharren zu können. Also muß es vor aller Gegensätzlichkeit das eigentlich Seiende sein. In dieser nackt ontologischen Form hat sich der Gedanke nicht halten können; wie es scheint, nicht einmal bei seinem Urheber. Neben dem tiefverwurzelten Wertgefühl der Griechen, das in der Begrenzung und Bestimmung das allein Affirmative sah, meldet sich ein Bewußtsein der Abstraktheit und Konstruiertheit eines für sich bestehenden Unbestimmten, und sei es auch eines göttlichen. Das Positive an ihm ist eben doch, daß es Substrat „von etwas" ist — d. h. der Bestimmung —, isoliert für sich aber nichts ist. Außerdem, da es doch in die Bestimmung eingeht, so ist diese offenbar an ihm ein nicht weniger Seiendes als es selbst. 2. Viel tiefer greift die Gegenthese: das Seiende ist das Bestimmte, Sein ist Bestimmung, Begrenzung. Das Unbestimmte ist vieldeutig, es ist alles und nichts, im Grunde ein Negatives, dem das Eigentliche (die Eigenheit) fehlt. Bestimmtheit ist nicht nur Form, Maß, Schönheit, sondern auch das allein Affirmative, Eindeutigkeit, Faßbarkeit, Begreifbar-

. Kap. Naiver und substantieller Seinsbegriff

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keit. Ja, sie ist das eigentlich Inhaltliche des Seienden; will man angeben, worin etwas besteht ·— d. h. was es ist —, so muß man sich an sein Sein halten, und dieses erweist sich als Inbegriff seiner Bestimmtheiten. Darum haben die Phythagoreer dem den Seinsvorzug vor dem gegeben. In dieser Überlegung wurzelt der Gedanke Platons, daß die „Ideen" (d. i. Gestalten) das öv sind, in ihr die These des Aristoteles, daß die „Formen" der Dinge ihre Substanz sind. In der Tat erhält sich die Form identisch in der Vielheit der Einzelfälle. Sie erfüllt also die Anforderungen des Substanzprinzips. Diese These hat sich dann in der Scholastik fast unverändert erhalten; ja, man stufte nach der Fülle der Bestimmungen die „Realität" ab: je mehr Bestimmungsstücke, um so „realer" die Sache. Und mit der Realität steigt und fällt auch die Rationalität. Denn nur die Form ist begreifbar, die Materie ist alogisch. Darin verrät sich dann aber auch das rationalistische Vorurteil zugunsten der Form. Ein Seiendes als solches braucht ja gar nicht rational zu sein. Ebensowenig liegt es in seinem Wesen, Maß und Schönheit zu haben. Zeigte sich doch sogar, daß selbst die Eindeutigkeit nicht unbedingt zu ihm gehört. Die Beharrung aber teilt die Form mit der Materie. Ferner, wie sich erwies, daß die Materie nicht selbständig für sich etwas ist, sondern nur in der Geformtheit, als „ihr" Substrat, so ist von der Form offenbar das Gleiche zu sagen. Auch sie besteht nicht für sich, sondern nur als Form von etwas; das Etwas aber ist ihr Substrat. Um nichts mehr also ist die Form seiend als die Materie. Folglich ist auch sie nicht einfach das „Seiende als Seiendes", sondern nur etwas an ihm. d) Die Gleichsetzung von ens und bonum Metaphysisch hängt hiermit eng die Anschauung zusammen, das Seiende sei das Wertvolle („Gute"). Sie klang schon in dem Motiv von Maß und Schönheit an. Sie hängt überhaupt ganz an der Seinsseite der „Form". Platon schrieb den Dingen ein Hintendieren zur Vollkommenheit der Idee zu, und Aristoteles versteht das als das aller Werdeprozesse. Dieser allgemeine Teleologismus der Form beruht auf folgender Gleichsetzung : Form = Sein, Form = Wert, ergo Sein = Wert. Dann gilt offenbar auch weiter: höhere Form = höheres Sein = höherer Wert. So finden wir es noch im Mittelalter: omne ens est bonum; und da sich die Seinsbestimmtheit steigern kann, so gilt vom höchsten Wesen die Gleichsetzung : ens realissimum = ens perfectissimum. Das ist im Grunde nur ein metaphysischer Optimismus. Er könnte als solcher für die Ontologie gleichgültig sein; es geht sie schließlich nichts an, ob Sein etwas Gutes ist oder nicht. Aber das ändert sich, wenn man umgekehrt das Sein im Wert verankert. Und das eben ist der geheime Hintergedanke darin: Sein ist im Grunde nichts anderes als Vollkommenheit, Wert.

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Erster Teil. 2. Abschnitt

Dem zu begegnen ist leicht. Es gibt in der Welt das Unvollkommene, Schlechte, Wertwidrige, es gibt das Böse. Es ist um nichts weniger wirklich als das Vollkommene und Gute. Der Mensch hat daran zu tragen, er kann das Sein des Bösen nicht aus der Welt wegdeuten. Das Theodizeeproblem ist sein Rechten mit der Gottheit um die Unvollkommenheit der Welt. Das Problem wäre sinnlos, wenn Sein gleich Gutsein wäre. Es hilft auch nicht, das Böse für nichtig zu erklären. Man hebt seine Realität damit nicht auf. Und geht man so weit, das Verhältnis umzukehren und nur das Gute, Vollkommene, Schöne für real zu erklären — nämlich durch entsprechende Definition des Realen als Realisation eines Wertvollen —, so treibt man die Täuschung nur noch weiter, ohne an der Wirklichkeit des Wertwidrigen etwas zu ändern. Man hat nur den Begriff verschoben und muß nun einen anderen einführen, um die Tatsächlichkeit des Unvollkommenen zu begreifen. Die Unwirklichkeit von Leiden und Schuld ist wohl im Ernst auch nicht behauptet worden. Vielmehr hat man immer wieder den umgekehrten Ausweg gesucht, beides als Wertvolles im Gesamtzusammenhang der Welt zu verstehen. Dann aber gerät man in eine noch größere Aporie, die freilich keine ontologische mehr ist: man schlägt dem eindeutigen Sinn des Guten und des Wertes überhaupt ins Gesicht. Man verstößt damit nicht nur gegen die Urphänomene des Wertbewußtsems, sondern auch gegen die Voraussetzung, von der man ausging. Denn ist das Gute als solches nicht in sich eindeutig, so ist auch die Bestimmung des Seienden als Guten nicht eindeutig.

6. Kapitel. Das Seiende als Universales und ale Singuläres

a) Das Seiende als Wesensheit (essentia) Eine ganze Reihe der letztgenannten Fassungen ist in der These zusammengenommen, daß das Seiende Wesenheit ist. Die Wesenheit ist Grund, Einheit, Beharrendes, Bestimmtheit (Form), zugleich aber auch Wertprinzip und inneres des Werdens. Bereits das des Aristoteles — dessen Übersetzung essentia ist — faßt diese Momente zusammen. Was neu hinzukommt, ist der Charakter des Allgemeinen. Das ist zwar nur die species, nicht das genus, d. h. nicht das logisch höhere Allgemeine; aber dem Einzelfall gegenüber ist auch die species ein Allgemeines. Das Problem der essentia hat sich deswegen mit Recht zum „Universalien''-Problem entfaltet, und die Kontroverse über die Semsweise der essentia hat sich geschichtlich als Universalienstreit abgespielt. Für die Ontologie sind die feineren Unterschiede innerhalb des Universalienrealismus — ob mehr Platonisch oder mehr Aristotelisch gefaßt, ob ante res oder in rebus — nicht das Wesentliche. Entscheidend ist nur, daß überhaupt das Seinsgewicht der Welt in das Allgemeine verlegt, der

6. Kap. Das Seiende als Universales und als Singul res

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Einzelfall aber mit seiner Individualit t dagegen zur ckgedr ngt wird. Die Welt der Dinge ist nun das Reich des Zuf lligen, n mlich des aus der Wesenheit nicht Folgenden. Das Reich der Wesenheiten dagegen ist eine Sph re des idealen Seins, ohne Verg nglichkeit, Zeitlichkeit, Bewegung, Ver nderung, freilich auch ohne Existenz, Konkretheit und Lebendigkeit. Es ist die Sph re des Vollkommenen, in extremer Deutung eine solche jenseits der Dingwelt, und diese erscheint gegen sie als nichtig. Das Positive dieser Auffassung besteht in der Einsicht, da berhaupt das Allgemeine ein Sein hat. Denn das ist keine Selbstverst ndlichkeit, wie die Menge der Gegenthesen beweist. Das Allgemeine eben ist nicht als solches gegeben, man mu sich zu ihm erst durch besondere berlegung erheben. Insofern ist die Einsicht, da die Wesenheiten ein Seiendes sind, bereits eine ausgereifte Errungenschaft ontologischen Denkens. Das Negative aber liegt darin, da „nur" die Wesenheiten eigentliches Sein haben sollen, die Dinge aber nicht. Das leuchtet schon bei ganz immanenter Kritik nicht ein. Die Wesenheit mu doch Wesenheit „von etwas" sein; ist aber dieses Etwas ein Nichtiges, so ist auch die Wesenheit selbst Wesenheit eines Nichtigen, also wohl auch eine nichtige Wesenheit. Zur essentia geh rt ein Korrelat, und dieses mu ein Seinsgewicht haben, das dem ihrigen die Wage h lt. Hier Hegt der Grund, warum ein extremer Universalienrealismus sich nicht halten kann. Eigentliche Tragkraft f r Problemkonsequenzen haben denn auch in der Scholastik am ehesten die vermittelnden Theorien gehabt, die dem individuellen Einzelfall sein Recht lie en. Damit aber taucht eine andere Schwierigkeit auf. Sie liegt in der Individualit t. b) Individualisierung des Eidos Aristoteles hatte die Differenzierung der Wesenheit auf halber H he abgeschnitten. Das ατομον είδος bildet die Grenze. Unterhalb seiner gibt es keine Wesensunterschiede. Alle weitere Differenzierung ist nicht mehr Sache der Form, Sondern der Materie, von der Form aus gesehen, also ein συμβεβηκος. Das Eidos „Mensch" spaltet sich nur per accidens weiter in die Individuen, Sokrates und Kallias unterscheiden sich nur der Materie nach. „Fleisch und Knochen" sind andere, das Menschsein ist dasselbe1). Da sich das nicht halten l t, ist fr h bemerkt worden. Es gibt auch seelische und geistige Unterschiede menschlicher Individuen, und es geht nicht an, ihnen die Wesentlichkeit abzusprechen. Plotin zog die Konsequenz, es m sse auch Wesensformen des Individuellen (των καδ' έκαστα εϊδη) geben2). Dann aber geht die Differenzierung der Wesenheiten weix ) 2

Aristoteles, Metaphysik Z 1034a 5—8, 1038a 15—30 u. a. ) Plotin, Enneaden V. 7.

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Erster Teil. 2. Abschnitt

ter — bis auf den Einzelfall herab, und der Unterschied der essentiellen und accidentellen Bestimmungen muß preisgegeben werden. Ähnlich dachte Duns Scotus, der Ernst machte mit dem Gedanken, daß die Form selbst das principium individuationis sei. Das ganze Sosein der Dinge, ihre volle quidditas muß sich aus Bestimmungsstücken der Wesenheit zusammensetzen. Ihre Individualität liegt in der aufs höchste differenzierten Wesensform, der haecceitas. In demselben Sinne verficht Leibniz die „Ideen" der Einzeldinge. Er findet im Prinzip der Kombinatorik den Schlüssel dazu. Aber wie man das Individuelle auch versteht, immer reißt es eine Lücke in die Theorie der essentia. Beruht es auf der Materie, so beruht es auf einem ausgesprochen Nichtessentiellen; besteht es in der Differenzierung des Eidos, so hört die essentia auf eine universale zu sein, sie wird selbst individuell, und das Seiende als Seiendes ist nicht mehr das Allgemeine. Wie denn bei der individuell gewordenen essentia die species selbst aufhört, species zu sein. c) Das Seiende als das Existierende Was den Einzelfall von der essentia scheidet, ist neben der Individualität, Vergänglichkeit und Konkretheit die Existenz. Erweist sich das Allgemeine als einseitig, und sucht man das Seiende nun in der volleren Form des Einzelfalles, so setzt man es dem Existierenden gleich und versteht das Sein selbst als Existenz. Um das Sein der essentia braucht man dabei nicht besorgt sein. Denn das Existierende enthält die essentia. Das ist nicht das Ding allein. Existenz haben auch Lebewesen, Personen, Gemeinschaften, alles was Individualität in der Zeit hat. Das geht natürlich nicht an, wenn man unter Existenz die Synthese von Form und Materie versteht, wie sie im des Aristoteles gemeint ist. Aber so eng ist sie auch in der Tat nicht gemeint. Man sieht das am besten am scholastischen Gottesproblem, bei dem es sich gerade um den Nachweis der Existenz Gottes handelte. Die Ablehnung, die das Argument des Anseimus schon in alter Zeit erfuhr, zeigt deutlich, daß Existenz etwas anderes ist als ein Moment der essentia. Letztere enthält nur das Sosein, nicht das Dasein. Daß aber ein Soseiendes Dasein hat, ist etwas, was an seinem Sosein nichts ändert. Wie denn das Allgemeine gleichgültig ist gegen die Anzahl und das Auftreten der Fälle; gleichgültig also auch dagegen, ob überhaupt welche vorkommen oder nicht. Das Vorkommen selbst aber ist die Existenz. Nun ist es klar, daß das, was „vorkommt" und im Vorkommen reales Dasein hat, noch in einem anderen und eigentlicheren Sinne „ist", als das, was nicht vorkommt. Es hat also einen guten Sinn, das „Seiende als Seiendes" im Existierenden zu suchen. Der Nominalismus ist in den meisten seiner Formen diesen Weg gegangen. Freilich ist er dabei früh zu der extremen These gelangt, die Universalien hätten überhaupt kein eigenes

7. Kap. Dae Seiende als Aufbauelement und als Ganzes

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Sein, sie kämen nur in mente vor und beruhten auf Abstraktion. Was aber der Abstraktion zugrunde liegt, ist die Existenz der Einzelfälle. Diese Entwertung der essentia und des Allgemeinen — denn die Wesenheit ist nun beinah zum Unwesentlichen herabgesetzt — läßt sich aber nicht halten. Und zwar gerade ontologisch nicht. Denn man meint ja gar nicht das Existierende rein als solches. Die Existenz selbst ist ja an allem dieselbe. Man meint es vielmehr ,,in" seiner differenten Formung, Bestimmtheit, in der vollen Individualität des Soseins. Die Formung aber ist nicht Sache der existentia sondern der essentia. Sie setzt sich aus zahllosen Bestimmtheiten zusammen, deren jede an einer Vielzahl individueller Fälle wiederkehrt, also allgemein ist. Oder auch umgekehrt. Wenn man das Allgemeine durch Abstraktion aus den Fällen gewinnen kann — und sei es auch nur, um es dann in mente zu haben —·, so muß es doch in den Fällen irgendwie enthalten sein. Da aber die Fälle das Existierende sind und ihr Sosein gerade als existierende an sich haben, so muß die essentia in ihnen notwendig auch ein Sein haben. An ihnen also ist die essentia um nichts weniger seiend als die existentia. Hält man nun die beiderseitigen Thesen des Universalienrealismus und des Nominalismus zusammen, so resultiert, daß beide den gleichen ontologischen Fehler begehen. Jener isoliert das Sosein und kann dann das Dasein des Individuellen nicht fassen, dieser isoliert das Dasein und kann dann das Sosein des Individuellen nicht begreifen. In beiden Fällen ist es dieselbe Isolierung derselben offenbar zusammenhängenden Seinsmomente, die das Begreifen des „Seienden als Seienden" verhindert. Es genügt eben nicht, das Seiende nur als Bestimmtheit, oder nur als real Vorkommendes zu verstehen. Seiendes als Seiendes ist die Einheit beider. Hier liegt der Grund, warum die Kategorien essentia und existentia nicht zureichen, das Seinsproblem zu fassen. Und das ist es, warum die Universalientheorien beider Lager es letzten Endes doch verfehlt haben.

7. Kapitel. Das Seiende als Aufbauelement und als Ganzes

a) Individualität und Allgemeinheit, Individuum und Allheit Beine Individualität für sich gibt es ebensowenig wie reine Allgemeinheit für sich. Alles Existierende ist wohl individuell (und umgekehrt), und alle Bestimmtheit ist wohl der Form nach ein Allgemeines. Aber real ist das Allgemeine nur „im" Individuellen, denn nur dieses hat Existenz; und Bestimmtheit hat das Individuelle nur in dem, was ihm und anderen gemeinsam ist, d. h. in dem, was an ihm der Form nach allgemein ist. In diesen Sätzen, die das Vorausgehende zusammenfassen, treten zwei neue Kategorien hervor: das Einzelne (Individuum) und die Allheit, 6

H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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Erster Teil. 2. Abschnitt

oder in anderer Richtung gesehen: der Teil und das Ganze. An diesen entfaltet sich eine weitere Gegensätzlichkeit der Seinsauffassung. Das Individuum — nicht als das menschliche allein verstanden, sondern generell als Teil, Glied, Element, Einzelwesen — ist als solches keineswegs das Individuelle. „Individuum." ist alles Einzelne, das worin sich die Einzelfälle nicht unterscheiden. Das reine Individuum-Sein ist also etwas durchaus Allgemeines. Und umgekehrt ist jede Zusammenfassung von Individuen etwas in seiner Art Einziges. Sie ist Gesamtheit, Ganzheit. Eine jede Allheit also ist ein Individuelles. Sie „ist" zwar als solche nicht Individualität — ist es um nichts mehr als das Individuum —, aber sie „hat" Individualität, und zwar um nichts weniger als das Individuum, das ihr Element ist. Die beiden Gegensatzpaare: „Individualität — Allgemeinheit" und „Individuum — Allheit" decken sich also nicht. Sie überschneiden sich. Sie sind auch in sich heterogen. Das erstere bildet einen qualitativen Gegensatz, das letztere einen quantitativen. Allgemeinheit ist Gleichartigkeit der Fälle, Individualität ihre Ungleichartigkeit; jene geht auf Identität, diese auf Verschiedenheit zurück. Allheit dagegen ist umfassende Einheit, Zusammenschluß, der Form nach also eine Summe; sie ist erst beisammen, wenn keines der Elemente oder Individuen fehlt. Das Individuum aber ist die Einheit, aus deren Vielzahl sie sich summiert, vom Ganzen aus also gesehen der Teil, das Glied. Dieser Unterschied der beiden Gegensatzpaare ist in der Philosophie die längste Zeit übersehen worden. Teils ist daran das Anklingen der beiderseitigen Termini aneinander schuld, teils aber auch die jahrhundertelange Herrschaft der formalen Logik. Diese ist es, die von Anbeginn den Gegensatz des Allgemeinen und Individuellen (universale und singulare) als einen quantitativen verstanden hat — was er nicht ist — und bei der Einteilung der Urteile unter „Quantität" subsumiert hat. Für die Qualität blieb dann nur der Gegensatz des Affirmativen und Negativen übrig, der in Wahrheit ein viel elementarerer ist und mit der eigentlichen Beschaffenheit nichts zu tun hat. Nach dieser Klärung wird es verständlich, das der quantitative Gegensatz noch einmal eine andere Divergenz der Seinsauffassung heraufbeschwört, die zu neuen Einseitigkeiten führt und zu einer eigenen Richtigstellung bedarf. b) Das Seiende als Individuum, Element, Glied Seit der antiken Atomistik ist die Auffassung verbreitet, das Seiende sei das einfache Element, das nicht weiter auflösbar ist, aus dem aber sich alle höheren Gebilde zusammensetzen. Das „Atom" ist der streng gefaßte Begriff des Elements in diesem Sinne. Der Ausdruck „Individuum" ist davon die wörtliche Übersetzung. Die atomistische Auffassung trägt deutlich ihre Herkunft an der Stirn. Sie entsteht in der „Analyse" des Gegebenen: die Auflösung findet ihre Grenze in den nicht mehr auf lös-

7. Kap. Das Seiende als Aufbauelement und als Ganzes

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baren Elementen, sie stößt hier auf einen Widerstand, den sie nicht beheben kann; und dieser Widerstand wird als das Kennzeichen des Seienden verstanden. Atomistische Denkweise gibt es nicht nur in der Physik. Sie kehrt — freilich relativiert — auf biologischem, psychologischem, soziologischem Gebiet wieder und erstreckt sich bis in die spekulative Metaphysik. Nicht überall handelt es sich um Grenzen der Analysierbarkeit, auch empirisch gegebene Einheiten lassen sich als Elemente höherer Ganzheit verstehen. So sucht man den Organismus von den Zellen aus, den Lebensprozeß von den Teilfunktionen her zu begreifen. In der Psychologie haben lange Zeit die „Empfindungen" die Rolle von Elementen gespielt, aus denen die komplexeren Bewußtseinsinhalte „erklärt" werden sollten. In der Metaphysik vertrat Leibniz die These, das Seiende seien unteilbare „Monaden", d. h. Substanzen immaterieller Art, und die wirkliche Welt sei ihr Inbegriff. Die folgenschwerste These atomistischer Art hat die Soziologie zu verzeichnen. Denn hier handelt es sich um die menschlichen Individuen als Elemente. Setzt man nun die Individuen als das eigentlich Seiende, Reale, Wirkliche, so erscheinen die Kollektivgebilde dagegen als etwas Sekundäres — und zwar nicht nur der Art nach, sondern auch dem Sein nach —, d. h. als etwas nicht recht Reales, halb Unwirkliches, jedenfalls aber etwas, was keine eigentliche Existenz hat. Diese Kollektivgebilde sind Familie, Volk, Staat. Dem kommt die weitverbreitete sensualistische Denkweise entgegen: Individuen eben sind in aller Konkretheit und Greifbarkeit gegeben, man lebt und stößt sich im Alltag mit ihnen; das Kollektivum als Ganzes, auch wenn man in ihm lebt, ist in solcher Drastik nicht gegeben, es verharrt in einer gewissen Ungreifbarkeit, man muß sich auf sein Vorhandensein erst besonders besinnen, es fassen lernen. Und das Fassen ist dann jedenfalls kein sinnliches. So nähert man sich der Vorstellung, daß solche Ganzheiten wohl auch nur in Gedanken, in der Abstraktion bestehen. c) Grenzen der atomistischen Seinsauffassung Diese extreme Konsequenz freilich ist leicht zu widerlegen. Sie steht und fällt mit der sensualistischen Voraussetzung, und die ist schon erkenntnistheoretisch nicht haltbar. Darüber hinaus aber erweisen sich zu Zeiten schon im Erleben selbst die Kollektivgebilde als sehr spürbare reale Mächte. Wer gegen ihr Gesetz verstößt, bekommt ihre Härte zu fühlen. Geschichtlich vollends sind sie es, an denen Wandel und Werden sich vollzieht, und das Individuum ist in dieses Geschehen wie in ein einheitliches Leben höherer Ordnung einbezogen. Vollends das organische und seelische Leben widersteht hartnäckig allen Versuchen, es aus aufweisbaren Elementen allein zu verstehen. Ja selbst der Kosmos ist auf diese Weise nicht zu begreifen. Die sich überlagernden Systemtypen, die ihn beherrschen, zeigen in allen Größen6*

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Erster Teü. 2. Abschnitt

Ordnungen — vom Elektron bis zum Spiralnebel — spezifische Eigen gesetzlichkeit, die derjenigen der Teilgebilde ungleich ist. Und jede dieser Systemordnungen ist ohne Schwierigkeit als existierend aufweisbar. Am meisten hypothetisch sind gerade die letzten und einfachen Elemente. Und nicht anders ist es in der größten aller Seinsperspektiven, der metaphysischen. Ob man die Elemente nun als Monaden versteht oder als sonst was, immer bleibt doch die Welt als Ganzes ein Faktor, der in ihre Verhältnisse bestimmend hineinspielt. Und sie gerade muß doch erst recht eine im vollen Sinne einzige, existierende und individuelle sein. Das Resultat ist: das „Seiende als Seiendes" ist nicht Teil, Element, Individuum. Denn um nichts mehr „ist" das Individuum als die Allheit, um nichts mehr der Teil als das Ganze. Es ist ein Irrtum, das „Sein" so abzustufen, als käme es den einfacheren und niederen Gebilden in höherem Maße zu als den complexeren, gegliederten Systemen. Sein .— und vollends Realität, Dasein, Existenz — stuft sich überhaupt nicht ab. Es ist eines an allem, was ist. Was sich abstuft, ist nur die Größenordnung, die Geformtheit, die sich verdichtende Bestimmtheit. d) Das Seiende als Allheit, Ganzheit, System Und nach dem Gesetz der Antithetik geschieht es, daß überall in der Geschichte, wo atomistische Denkweise der ganzheitlichen weicht, wiederum die letztere übers Ziel schießt und behauptet: nur die höhere Einheit, die Allheit, die Totalität ist das Seiende; das Glied, der Teil, das Individuum ist unselbständig, ist ohne das Ganze nichts, hat also sein Sein im Ganzen. Das will nicht die Selbstverständlichkeit besagen, daß der Teil nur Teil eines Ganzen, das Glied nur Glied eines Systems sein kann. Es besagt vielmehr: 1. daß es keine selbständigen Elementargebilde gibt,sondern nur solche, die Teil oder Glied sind, zu deren Wesen also die Einordnung gehört; und 2. daß diese Elementargebilde ihre Seinsbestimmtheit vom höheren Ganzen her haben. Diese These läßt sich nun, je höher hinauf im Stufenreich des Seienden, um so schlagender erweisen. Am fragwürdigsten ist sie noch in der physisch-materiellen Sphäre. Planeten freilich sind das, was sie sind, nur in einem Sonnensystem; aber von Sonnen läßt sich etwas Analoges nur vermuten, nicht aufzeigen. Ob Elektronen im Verbände des Atoms etwas wesentlich anderes sind als im sog. freien Zustande, wissen wir nicht. Aber die Konsequenz der These behauptet das, und strikt bestreiten kann man es ihr nicht, zumal der „freie Zustand" sich ebensogut als Verband anderer Art auffassen läßt. Wohlbekannt dagegen ist es, daß die Zellen im Organismus der Metazoen und Metaphyten nicht nur unselbständig, sondern auch strukturell und funktional wesentlich durch ihr Gliedsein im System bestimmt sind. Und selbst die freilebenden Zellen sind durch die Verhältnisse der Um-

7. Kap. Das Seiende als Aufbauelement und als Ganzes

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weit bestimmt. Ebenso ist im Seelenleben der einzelne Elementarvorgang für sich genommen eine Abstraktion; er kommt nur im Ganzen weit ausladender Gesamtvorgänge vor und ist von diesen inhaltlich abhängig. Noch deutlicher tritt die Überlegenheit des Ganzen im Verhältnis des Einzelmenschen zur Gemeinschaft zutage. Jedes Individuum wächst schon von vornherein in eine bestehende Gemeinschaft hinein und wird im Hineinwachsen von ihr geformt. Die Allheit der Individuen übt determinierende Macht aus; das Individuum kann ihre jeweiligen Gesetze, Anforderungen, Lebensformen nicht ändern, kann aber nur in ihnen leben, ist also zur Einpassung in sie gezwungen. Und wie es im Übernehmen des im Gemeinschaftsleben geschichtlich gewordenen Geistesgutes zu dem wird, was es ist, so lebt es sich auch im Weitergeben aus. Wie es in der Allheit nur Glied ist, so in der Folge der Geschlechter nur Durchgangsstadium. Ja sogar die geschichtlichen Einzelereignisse zeigen eine ähnliche Unselbständigkeit. Der Fall einer Festung hat sein geschichtliches Sein nicht einfach im Erfolg des Eroberers oder im Schicksal der Besatzung, sondern in der Rolle, die er im Gesamtplan eines Feldzuges spielt; der Feldzug aber hat das seinige ebensowenig in sich allein, sondern im Zusammenhang einer vom Staate geführten Politik. Diese wiederum ist, was sie ist, nur in der weiteren Verflechtung der Mächte und ihrer Interessen, die ihrerseits in der gesamten Weltlage und deren Antezedenzien wurzelt. Es bestätigt sich der Satz: „Die Wahrheit ist das Ganze", den Hegel für das geschichtliche Sein geprägt hat. Die Metaphysik hat den Seinsprimat des Ganzen in der Systemform des Pantheismus ausgeprägt. Der Pantheismus besagt nicht nur, daß das Ganze der Welt die Gottheit sei. Er besagt vielmehr, daß es eine Allverbundenheit alles Einzelnen in der Welt gibt, und daß alles Einzelne — ob Individuum, Geschehnis oder Element — seine Bestimmtheit und seine Existenz von dieser Allverbundenheit her empfängt. Und wenn Bestimmtheit und Existenz (Sosein und Dasein) das ganze Sein des Einzelnen ausmachen, so ist letzten Endes das Seiende als solches das All. e) Der Fehler im Seinsgedanken der Ganzheit Man sieht, es sind die besten, die am meisten auf Überschau und wirkliches Durchdringen gerichteten Tendenzen in Wissenschaft und Philosophie, die sich in diesem Gedanken begegnen. Und man könnte nun meinen, im Prinzip der Ganzheit müsse in der Tat ein Wesensstück des „Seienden als Seienden" greifbar werden. Man erinnert sich hierbei unwillkürlich des eleatischen , der ältesten Fassung des ov, und meint nun auch die geschichtliche Bestätigung dafür zu haben. Dennoch ist dem nicht so. Und das ist wiederum leicht zu sehen. Es ist wahr, daß auf allen Gebieten das Ganze das höhere Gebilde ist; aber es ist nicht wahr, daß das höhere Gebilde eine höhere Seinsweise habe.

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Erster Teil. 3. Abschnitt

Es ist wahr, daß das Individuum in durchgängiger Abhängigkeit von der Allheit dasteht; aber es ist nicht wahr, daß das Abhängige weniger seiend wäre als das Selbständige. Und es ist wahr, daß Teilgebilde und Einzelgeschehnisse jeder Art ihre Bestimmtheit ·— das was sie eigentlich „sind" — letzten Endes aus der Totalität der Welt als einer Allverbundenheit haben; aber es ist deswegen noch lange nicht wahr, daß Bestimmtheit = Sein wäre; und erst recht nicht, daß das Bestimmende in höherem Maße seiend (etwa real oder existierend) wäre als das Bestimmte. Das bedarf an dieser Stelle keines neuen Erweises, die Sache ist bereits oben erwiesen worden. Der Fehler also ist auch hier der alte: man verwechselt das Sein mit einer bestimmten Seinskategorie; man setzt es unbesehen der Totalität gleich, genau so wie es in den früher betrachteten Thesen der Einheit, Bestimmtheit, Beharrung usw. gleichgesetzt wurde. Darum hat auch die ontologische Widerlegung dieselbe Form wie dort: um nichts weniger seiend ist der Teil als das Ganze, das Individuum als die Allheit, das Glied als das System. Das nichtigste Stäubchen im All ist nicht weniger seiend als das All.

III. Abschnitt Beetimmungen des Seienden aus der Seinsweise 8. Kapitel. Wirklichkeit, Realität, Seinegrade

a) Das Seiende als actu ens Alle aufgeführten Fassungen des Seienden beschränken sich auf einzelne Seinskategorien. Sie treffen damit jedesmals eine Seite des Seienden, verfehlen aber das „Seiende als Seiendes". Man kann aus ihnen sehr wohl lernen, was für Grundmomente zum Sein gehören, und man kommt so auch in der Tat — gleichsam von der Besonderung aus — dem ungreifbaren Generellen näher. Nimmt man dazu, daß sich diese Fassungen in Gegensatzpaaren bewegen, so ergibt sich darüber hinaus noch die wichtige Bestimmung, daß das „Seiende als Seiendes" offenbar das Umfassende dieser Gegensätze sein muß. Wie es das Gemeinsame von Teil und Ganzem ist, so auch das Gemeinsame von Einheit und Mannigfaltigkeit, von Beharrendem und Werdendem, von Bestimmten und Unbestimmtem, von Abhängigem und Unabhängigem, von Allgemeinem und Individuellem. Doch liegt es nah, diesem positiven Grundzug noch einen zweiten hinzuzufügen, der das Gemeinsame in seiner Modalität charakterisiert. Als ein solcher bietet sich die Wirklichkeit an. Das Seiende wäre dann als das actu ens der Scholastiker, das Aristotelische öv zu verstehen. Damit reimt sich nicht nur der Sprachgebrauch des Alltags, der das Wort

8. Kap. Wirklichkeit, Realität, Seinsgrade

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„seiend" nicht kennt und dafür einfach „wirklich" sagt, sondern auch die übliche philosophische Abstufung der Seinsmodi, nach der das „Mögliche" noch kein eigentlich Seiendes — gleichsam seine Vorstufe —, und erst das Wirkliche ein vollendet Seiendes ist. Es ist nicht nötig, hierbei das Wirkliche als das Wirksame zu verstehen, oder auch als gebunden an eine bestimmte Art der GegebenheitWohl aber tritt der Gegensatz zum Potenzbegriff dabei in Kraft. Die , des Aristoteles (potentia) ist kein reiner Modalbegriff, deckt sich nicht streng mit „Möglichkeit" (dem reinen Seinkönnen); sie ist auch nicht im heutigen Sinne „dynamisch" zu verstehen (etwa als treibende Kraft), das dynamische Moment in diesem Sinn liegt vielmehr auf Seiten der .. Die ist die passiv erstandene „Anlage" zu etwas. In ihr ist es teleologisch auf das Etwas abgesehen, dessen Anlage sie ist. Die Unvollständigkeit ihrer Seinsweise liegt also lediglich in der Unentschiedenheit zwischen Sein und Nichtsein dieses Etwas. Die «, ist Verwirklichung des letzteren, und damit Entschiedenheit. Im teleologischen Aspekt der Welt nun hat es in der Tat etwas für sich, dem Wirklichen einen Primat vor dem Möglichen einzuräumen. Wie denn Aristoteles im Buch der Metaphysik einen solchen zu beweisen suchte: es gibt keine frei für sich bestehende Potenz, sie haftet immer schon an einem actu Seienden, das zeitlich wie ontisch ihr vorausliegt. Fraglich bleibt daran nur der teleologische Aspekt selbst. Das gerade bleibt unerwiesen, ob wirklich alles Seiende Verwirklichung von Anlagen ist. Diese Frage erfordert eine besondere Untersuchung, die erst in einer speziellen Kategorialanalyse des Finalnexus geführt werden kann. Es darf aber hier vorweggenommen werden, daß ein so allgemeiner Teleologismus sich jedenfalls nicht halten läßt. Und das ist der Grund, warum sich in der Philosophie neue, metaphysisch neutrale Modalbegriife herausgebildet haben. Setzt man aber anstelle von Potenz und Aktus die einfach gefaßten Modi Möglichkeit und Wirklichkeit ein, so ist nicht einzusehen, warum Wirklichkeit allein „Sein" heißen soll. Nicht darauf kommt es hierbei an, ob es ein „bloß Mögliches" ohne Wirklichkeit gibt oder nicht; auch das wird erst später zu entscheiden sein. Aber soviel ist schon vor aller Untersuchung einsichtig: was wirklich ist, muß zum mindesten möglich sein, ein unmögliches Wirkliches ist ein hölzernes Eisen. Dann aber ist das Möglichsein des Wirklichen ein notwendiger Seinsfaktor an diesem. Es geht also nicht an, es vom Sein auszuschließen. Man würde damit auch das Wirkliche selbst vom Sein ausschließen. b) Das Seiende als Reales Geht es mit den Seinsmodi nicht, so geht es vielleicht mit einer bestimmten Seinsweise. Versteht man unter Realität die Seinsweise alles dessen, was in der Zeit seiner Stelle oder Dauer, sein Entstehen und Ver-

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Erster Teil. S.Abschnitt

gehen hat — einerlei ob Ding oder Person, Einzelvorgang oder Gesamtlauf der Welt, so bietet sich die Bestimmung an: das Seiende überhaupt ist das Reale, Sein ist Realität. Das ist nicht dasselbe wie Wirklichkeit. Im Reich des Realen gibt es auch Realmöglichkeit und Realnotwendigkeit, es umfaßt die Seinsmodi; ebensosehr aber kehren diese auch in eventuellen anderen Reichen des Seienden wieder, wenn solche sich aufweisen lassen. Es gibt z. B. auch Wesensmöglichkeit und Wesensnotwendigkeit, und diese sind nicht identisch mit den entsprechenden Realmodi. Und sofern Wesenheiten auch ein Sein haben — wennschon kein reales —, so sind sie gleichfalls Seinsmodi. Erwägt man genau, was in dieser Unterscheidung Hegt, so ist damit eigentlich schon entschieden über die Gleichsetzung von Sein und Realität. Diese Gleichsetzung setzt voraus, daß es kein anderes Seiendes gibt als die reale Welt. Und eben das ist aus dem Wesen der Welt nicht zu erweisen. Man muß sich zum mindesten den Fall offen halten, daß es doch noch ein anderes Reich des Seienden gibt. Gesetzt nun, es gäbe noch ein solches anderes Reich des Seienden — wie man es nennt, ist gleichgültig, aber nennen wir es einmal „ideales Seiendes" —, so muß von diesem gelten, daß es nicht weniger seiend ist als das Reale. Nur die Seinsweise würde eine andere sein. ,,Sein" also müßte als genus Realität und Idealität umfassen. Und „Seiendes als Seiendes" wäre weder das Reale noch das Ideale. Ob es ein ideales Sein gibt, kann hier noch nicht entschieden werden. Dazu gehört eine Untersuchung der entsprechenden Gegebenheiten. Für jetzt aber genügt es, daß die Frage offen bleibt. Solange sie nicht negativ beantwortet ist, kann man jedenfalls Realität und Sein nicht gleichsetzen. Was zu der Gleichsetzung verführt, ist ja auch nichts anderes als die Tatsache, daß das Reale uns im Leben sehr aufdringlich gegeben ist. Denn unser Leben selbst gehört zur realen Welt und spielt sich ganz und gar in ihr ab. Ein Seiendes anderer Art dagegen ist etwas, worauf man bestenfalls erst durch besondere Besinnung hingelenkt wird. Nichts aber wäre verkehrter, als einen Gegensatz der Gegebenheit als Gegensatz von Sein und Nichtsein auszudeuten. c) Seinsschichten, Seinsstufen und Seinsgrade Noch eine weitere Auffassung des Seienden ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen. Wennschon die drei Modi stets einer Seinsweise zugehören, so scheinen sie doch innerhalb der letzteren eine Abstufung zu bedeuten: Wirklichsein ist „mehr" als Möglichsein, und Notwendigsein ist „mehr" als bloß Wirklichsein. So wenigstens ist es die gewöhnliche Ansicht. Etwas ähnliches ließe sich auch im Verhältnis der Seinsweisen selbst erblicken. Nehmen wir einmal an, es gebe ein „ideales Sein";

8. Kap. Wirklichkeit, Realität, Seinsgrade

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es läßt sich dann ohne weiteres als das „höhere" Sein verstehen, z. B. als der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit enthoben, ein Immerseiendes, Ewiges, Göttliches. So ist es von Platon und allen nachmaligen Formen des Platonismus verstanden worden. Es läßt sich aber auch umgekehrt als das niedere und unvollständige Sein Verstehen, und zwar gerade weil ihm das Gewicht des zeitlich-schicksalhaften Hereinbrechens fehlt, ja eben weil es imponderabel in einer gewissen Weltferne thront. So hat die Mehrzahl der wirklichkeitstreuen und weltzugewandten Denker geurteilt. In beiden Fällen handelt es sich um Abstufungen oder Grade des Seins. Und läßt man diese den meisten Theorien gemeinsame Auffassung gelten, so kann man sehr wohl meinen, das „Seiende als Seiendes" sei eben das, was sich in solchen Stufen oder Graden überhöht. Insoweit sind damit noch nicht die inhaltlichen Stufen gemeint, die in der Geformtheit und kategorialen Artung des Seienden liegen und schon für den oberflächlichen Blick die Welt in Schichten aufteilen. Aber der Gedanke der Seinsgrade geht weiter, er greift auf die Schichtung der Welt über. Im aristotelischen Stufenreich blickt deutlich etwas derartiges durch, wiewohl es nicht ausgesprochen wird; und zwar liegt der höchste Seinsgrad hier beim Geiste ( ), der niederste bei der Materie ( ). Die Zwischenstufen — Ding, Lebewesen, Seele — sind so angeordnet, daß immer die höhere die niedere überformt, die niedere aber ihre Vollendung in der höheren gewinnt. Je höher hinauf, um so voller und reicher wird die Formung. Und diese Formungsunterschiede werden als Seinsgrade verstanden. Deutlich ausgesprochen finden wir das dann im Neuplatonismus, der die Materie zum Nichtseienden herabsetzte, den Geist aber als reines Sein, die Gottheit als Überseiendes verstand. In dieser Form hat der Gedanke sich in den größten Systemen des Mittelalters gehalten: je reicher der Inbegriff der Seinsbestitnmtheit (der positiven Wesensprädikate), um so höher der Realitätsgrad. Die Gottheit als ens realissimum schließt die Stufenfolge nach oben ab. Noch in der Hegeischen „Logik" findet sich das Grundschema dieses Gedankens: die „Wahrheit" der niederen Stufe liegt jedesmal in der höheren. Was Hegel „Wahrheit" nennt, ist eben die Seinsvollendung. Und grundsätzlich nicht anders ist es mit der Umkehrung des Gesamtbildes, die zwar in den bedeutenden Weltbildern kaum entwickelt worden, aber im populären Denken dafür wohl zu allen Zeiten weit verbreitet gewesen ist. Für sie ist die Schicht der „Dinge" das eigentliche und allein in vollem Sinne Seiende, und gerade die Materialität macht darin das Seinsgewicht aus. Schon das Geschehen, der Prozeß, die Lebendigkeit erscheinen weniger real. Noch verdünnter, luftiger, wesenloser steht die seelische Innerlichkeit da. Und beim eigentlich Geistigen, das nicht einmal an greifbare Individuen gebunden ist, hört für diese Denkweise alle Faßbarkeit und alles Seinsgewicht auf.

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Erster Teil. S.Abschnitt

d) Zur Kritik der Seinsgrade Soweit es sich hierbei um die Abstufung der Seinsmodi und Seinsweisen handelt, wird man den Gedanken von Seinsgraden überhaupt nicht ganz von der Hand weisen dürfen. Wie er einzuschränken und wie die Stufenordnung anzulegen ist, läßt sich vorweg nicht entscheiden. Darüber wird in anderem Zusammenhang die Untersuchung einzuleiten sein. So aber ist es jedenfalls nicht, daß eine Seinsweise allein, oder ein Seinsmodus allein das Sein überhaupt wäre. Es bleibt auch in der Abstufung ein unaufhebbares Nebeneinander bestehen, das selbst vom Ineinanderstecken nicht beeinträchtigt wird. Anders ist es mit der inhaltlichen Abstufung. Hier ist offenbar das Inhaltliche mit dem Seinscharakter verwechselt. Was in den Seinsschichten sich wirklich abstuft, das ist die Geformtheit, die Bestimmtheit, Beschaffenheit, der Einheits- und Ganzheitstypus, die Art der Systeme und ihre Gliederung. Die Gebilde selbst sind von verschiedener Seinshöhe. Aber die Seinsweise ist die gleiche. Das läßt sich vor der Hand nur an der realen Welt zeigen, weil ihre Seinsweise eine empirisch wohlbekannte ist. Selbstverständlich ist ein tierischer Organismus ein unstreitig höheres Gebilde als ein Stein, ein Atom, ein kosmisches System. Schon die Lebendigkeit erhebt es über diese, von der organischen Geformtheit und dem subtilen inneren Gleichgewicht der Prozesse mit ihrer autonomen Selbstregulierung ganz zu schweigen. Aber deswegen zu behaupten, der Organismus sei das „realere" Gebilde, hat keinen Sinn. Er zeigt ja dieselbe Vergänglichkeit, Zerstörbarkeit, Individualität, Existenz, unterliegt derselben Einordnung in Arten, Gattungen, Ordnungen, hat ebensosehr Wesenszüge und zufällige Sonderzüge an sich, ist ebenso eingespannt in die Zusammenhänge der Welt und mit seinem Sein und Nichtsein abhängig von ihnen. Ja, das Äußere des Organismus trägt sogar dieselben Züge der Dinglichkeit, Sinnfälligkeit, Greifbarkeit wie das leblose Ding. An der Seinsweise als solcher ist schlechterdings kein Unterschied angebbar — es sei denn, daß man ex definitione „Realität" als inhaltliche Bestimmtheit versteht. Aber dann ist Realität nur ein zweites Wort für dieselbe Sache. Und für die Identität der Seinsweise müßte man einen anderen Ausdruck wählen. Dasselbe gilt für seelische und geistige Gebilde: für Bewußtsein und Akt, für Personen und Gesinnungen, Rede und Taten, Individuen und Gemeinschaften, Recht, Sitte, Wissen, geschichtliche Entwicklung. Freilich hört hier die Räumlichkeit, Materialität, sinnliche Greifbarkeit auf. Aber das Entstehen und Vergehen ist dasselbe, die Zeitlichkeit, Dauer, Einmaligkeit, Individualität ist dieselbe. Auch die Einordnung, Abhängigkeit und relative Selbständigkeit ist dieselbe. Es sind nur anders geartete Gebilde, und die Ganzheiten, in die sie eingefügt sind, sind andere. Der Entschluß des Menschen zu einer Tat ist gewiß etwas toto coelo anderes als das Fallen eines Steines. Aber der Charakter des Ge-

9. Kap. Reflektierte Fassungen des Seienden

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schehens überhaupt ist derselbe. „Daß" überhaupt ein Entschluß gefaßt wird, zeigt denselben Seinssinn des „daß" — nämlich den der Realität —, wie „daß" der Stein fällt. Und um die Realität allein handelt es sich. e) Die Seinseinheit der realen Welt Das gerade ist das Eigentümliche der realen Welt, daß in ihr so Heterogenes wie Dinge, Lebendiges, Bewußtes, Geistiges zusammen bestehen, sich überlagern, gegenseitig beeinflussen, bedingen, tragen, stören und teilweise auch bekämpfen. Wie sie denn alle in derselben Zeit gelagert sind, einander folgen oder coexistieren. Wären sie in verschiedener Zeit und von verschiedener Realität, so wäre das nicht möglich. Es könnte zwischen dem Heterogenen kein Verhältnis des Getragen- und Bedingtseins, des Aufeinanderstoßens und Kämpfens sein. Die Einheit der Realität ist das Wesentliche in der Einheit der Welt. Für das Verständnis des „Seienden als Seienden" ist es eine unerläßliche Vorbedingung, daß man die Stufen der „Semshöhe" nicht für Stufen der Seinsweise hält. „Wie" man die Abstufung des näheren versteht, ob man sie mit der Seinshöhe der Gebilde steigen oder fallen läßt, ist gleichgültig, der Fehler bleibt derselbe. Er Hegt nicht in der Bewertung der Seinsschichten, nicht im vorweggenommenen Primat der Materie oder des Geistes. Inhaltlich könnte ein solcher Primat allenfalls bestehen. Aber das würde nur eine Dependenz der Schichten bedeuten, ob man sie nun bei den höchsten oder bei den niedersten Gebilden beginnen läßt. Der Fehler liegt vielmehr in dem, was beiden Auffassungen gemeinsam ist: in der Abstufung der Realität als solcher, d. h. als einer Seinsweise. Die Richtigstellung, um die es hier geht, betrifft die Grundlage ontologischer Erkenntnis. Was eine Seinsweise ist, läßt sich direkt nicht angeben. Direkt angebbar ist immer nur das Inhaltliche. Es gehört eine Denkschulung eigener Art dazu, Seinsweisen zu erfassen. Man kann hier keinen anderen Weg gehen als den der Klärung durch Einstellung des Blickes auf das Gemeinsame und Unterscheidende. Erst wenn dieses geschehen ist, wird es möglich, an die eigentliche Diskussion der Seinsweisen heranzutreten. 9. Kapitel. Reflektierte Fassungen des Seienden

a) Das Seiende als Gegenstand, Phänomen und Zuhandenes Die bisher aufgezählten Fassungen des „Seienden als Seienden" gehören alle der intentio recta an. Man könnte sich auf sie beschränken, nachdem sich bereits zu Anfang gezeigt hat, warum Seinsbestimmungen der intentio obliqua ontologisch nicht in Frage kommen. Dagegen ist zu bedenken, daß die letzteren sich in der heutigen Philosophie doch mit

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Erster Teil. 3. Abschnitt

großer Zähigkeit halten — zumal diejenigen, die in erkenntnistheoretischer Reflexion wurzeln —, und daß solche Zähigkeit ihren Grund haben muß. Die geschichtliche Erfahrung lehrt, daß Gründe dieser Art immer in irgendwelchen Phänomenen liegen, von denen die Reflexion bestimmt ist. Man muß also, um den reflektierten Fassungen auf den Grund zu gehen, ihre Phänomenbasis aufdecken. 1. Die Grundthese aller reflektierten Fassungen ist diese: das Seiende ist „Gegenstand". Man kann diese These so allgemein verstehen, daß die inneren Gegenstandskorrelate aller beliebigen Bewußtseinsakte darunter mit einbegriffen sind, auch das Vorstellen, Phantasieren, das spekulative Denken hat seinen Gegenstand, desgleichen das Wünschen, Hoffen, Begehren usw. In dieser Allgemeinheit wäre das Seiende „intentionaler Gegenstand", ohne Rücksicht auf Realität oder Irrealität. Der Fehler darin liegt zutage. Auf diese Weise wäre Erdachtes und Erdichtetes vom Seienden gar nicht zu unterscheiden. Diesen Unterschied macht aber schon das naivste Bewußtsein. Er gehört ebenso zum Befunde des Bewußtseins wie die durchgehende intentionale Gegenständlichkeit. 2. Näher der Wahrheit kommt die These: das Seiende ist Erkenntnisgegenstand. Erkenntnis unterscheidet sich von den genannten Akttypen dadurch, daß sie um das Ansichsein des Gegenstandes weiß und ihn von bloß innerer intentionaler Gegenständlichkeit unterscheidet. Sie würde sich selbst gar nicht für Erkenntnis halten, wenn sie ihren Gegenstand nicht als einen von ihr selbst unabhängigen meinte. Aber gerade dann ist es inkonsequent, das Seiende als Gegenstand zu fassen. Die Unabhängigkeit bedeutet ja gerade, daß es auch ohne Erkanntwerden ,,ist", was es ist; da aber das Erkanntwerden gerade die Objektion des Seienden ist, d. h. sein Gegenstandwerden für ein Subjekt (sein Zum-Gegenstehen-Kommen), so muß vielmehr umgekehrt gelten: das Seiende, rein als Seiendes verstanden, ist keineswegs von sich aus Gegenstand. Es wird erst vom erkennenden Subjekt zum Gegenstande gemacht, und zwar eben durch das Einsetzen der Erkenntnis (Objektion). Das Einsetzen der Erkenntnis setzt das Seiende stets schon voraus. Das Seiende aber setzt Erkenntnis nicht voraus. 3. Diese Sachlage ändert sich nicht, wenn man anstelle des vieldeutigen Begriffs „.Gegenstand" den des „Phänomens" setzt. Die Phänomenologie sagt: auf die Phänomene kommt es an, sie gilt es zu erfassen. Und sie meint damit das Seiende zu erfassen. Kein Zufall, daß sie auf dieser Basis bis zum Versuch einer Realontologie vorgeschritten ist. Die Voraussetzung darin ist, daß zu allem Seienden ein Sich-Zeigen ( . · ) gehört. Die Phänomene sind dann das sich zeigende Seiende. Zwei Fehler stecken darin. Erstens liegt es im Wesen des Seienden ebensowenig, daß es sich „zeigt", wie daß es zum Gegenstand wird. Es kann sehr wohl verborgenes Seiendes geben, ein solches also, das nicht Phänomen wird. Und zweitens liegt es im Wesen des Phänomens nicht, daß es immer ein Seiendes sein müßte, das sich in ihm zeigt. Es gibt auch

9. Kap. Reflektierte Fassungen des Seienden

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Scheinphänomene, leeren Schein, der nicht Erscheinung von etwas ist. Die Phänomene, rein als solche verstanden, gleichen darin den bloß intentionalen Gegenständen, denen es auch nicht anzusehen ist, ob ihnen etwas Seiendes entspricht oder nicht. Jedenfalls ist das Seiende als Seiendes nicht Phänomen. 4. Bleibt man beim Gegenstandsbegriff und geht man mit ihm hinter das Erkenntnisverhältnis zurück, so gerät man in eine Lebenssphäre, in der das eine und das andere vom Seienden als Gebrauchs- oder Umgangsgegenstand gegeben ist. Heidegger hat für diese Art des Gegebenseins den Terminus des „Zuhandenseins" geprägt. Es könnte jetzt scheinen, das Seiende sei Umgangsgegenstand, Zuhandenes. Aber auch das Zuhandensein ist nur eine Gegebenheitsform, nicht eine Semsform, geschweige denn das Sein selbst. Die Gebrauchsgegenstände des Menschen verschwinden ja auch nicht aus der Welt, wenn er sie nicht gebraucht; nur der Gebrauch selbst verschwindet. Sie haben also ein Sein, das im Zuhandensein nicht aufgeht. Genau so wie die Erkenntnisgegenstände ein Sein haben, das im Gegenstandsein nicht aufgeht. Diese wie jene „sind" übergegenständlich. Der Nachteil des Umgangsverhältnisses gegen das Erkenntnisverhältnis ist überdies ein offenbarer: nicht alles, was „ist", kann Gebrauchsgegenstand werden; wohl aber kann — wenigstens grundsätzlich — alles, was „ist", Erkenntnisgegenstand werden. b) Das Seiende als Transobjektives und Irrationales Hat man eingesehen, daß Sein nicht im Gegenstandsein aufgeht, welche besondere Färbung man diesem auch gibt, so ist man geneigt, aus seiner Übergegenständlichkeit die entgegengesetzte Konsequenz zu ziehen. Das Seiende scheint nun das zu sein, was nicht Gegenstand, auch nicht Erkenntnisgegenstand ist. 1. In aller Erkenntnis gibt es ein Bewußtsein dessen, daß der Gegenstand inhaltlich mehr ist, als was jeweilig an ihm erkannt (objiziert) wird. Man weiß darum, daß noch Unerkanntes in ihm steckt. Das Problembewußtsein ist die ausgeprägte wissenschaftliche Form dieses Wissens. Nennt man nun das Unerkannte in diesem Sinne das „Transobjektive" am Gesamtgegenstande ·— d. h. das, was jenseits der jeweiligen Objektionsgrenze liegt, — so kann man die These so aussprechen: das Seiende ist das Transobjektive. Das hat insofern etwas für sich, als am Unerkannten der Charakter der Unabhängigkeit vom Erkenntnisverhältnis klar zum Ausdruck kommt. Es scheint, daß mit dieser Bestimmung die Abgelöstheit des Seienden vom Erkennenden ausgesprochen ist. Dennoch ist dem in Wahrheit keineswegs so. Vielmehr hat man den Fehler begangen, die Objektionsgrenze zu einer Seinsgrenze zu machen. Ist es denn wahr, daß der Gegenstand nur insoweit ein seiender ist, als er nicht erkannt ist? Der erkannte Teil

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Erster Teil. 3. Abschnitt

muß doch denselben Seinscharakter haben. Wollte man das bestreiten, so müßte man ja annehmen, etwas Seiendes würde dadurch, daß es erkannt (objiziert) wird, zum Nichtseienden gemacht. Und da im Fortschreiten der Erkenntnis es immer weiter objiziert wird, so würde das ja bedeuten, daß es nach und nach vom Erkennen absorbiert und ontisch vernichtet würde. In Wahrheit läßt die Erkenntnis das Seiende ganz unberührt. Sie tastet es nicht an. Und ihr Fortschreiten ändert nichts an seinem Bestände. 2. Es gibt in der Erkenntnis noch ein zweites Grenzbewußtsein; es betrifft die Grenze des Erkennbaren. Jenseits dieser Grenze liegt, was nicht nur unerkannt, sondern auch unerkennbar ist, nicht nur transobjektiv, sondern auch transintelligibel — d. h. gnoseologisch irrational. Dieses liegt noch weiter ab vom Objizierten, scheint also noch größeren Anspruch darauf zu haben, das Seiende als Seiendes zu heißen. In diesem Sinne nannte Kant das Unerkennbare im Hintergründe der Erfahrungsgegenstände das „Ding an sich". Doch liegt hier genau derselbe Fehler vor wie beim Transobjektiven. Auch hier ist eine Erkenntnisgrenze zur Seinsgrenze gemacht. Man hat vergessen, daß ein Seiendes — rein als solches, was immer es im besonderen sei — gleichgültig dagegen besteht, ob es erkannt oder nicht erkannt wird, ob es erkennbar oder unerkennbar ist. Es ist nicht einzusehen, warum etwas Erkennbares weniger seiend sein sollte als ein Unerkennbares. Irrationalität ist kein Semscharakter, sondern nur ein Verhältnis zu möglicher Erkenntnis. Wenn das Unerkennbare ,,an sich seiend" ist, so muß auch das Erkennbare an sich seiend sein. — Ob man nun das Transobjektive oder das Irrationale für das allein Seiende erklärt, in beiden Fällen begeht man denselben Fehler. Denn von beiden Grenzen — der Grenze jeweiliger Objektion und der Grenze der Objizierbarkeit — gilt der gleiche Satz: es sind nur gnoseologische Grenzen innerhalb des Seienden, die seinen Bestand und sein Sein nicht berühren; es sind also keine Grenzen des Seienden gegen Nicht seiendes. In dieser Umdeutung der Erkenntnisgrenzen in Seinsgrenzen läßt sich aber ein noch tiefer versteckter Fehler aufdecken. Wie kommt es denn eigentlich zur Umdeutung? Sind es nicht dieselben Grenzen, die man in den früheren Fassungen (Seiendes = Erkenntnisgegenstand) umgekehrt bewertete? Damals sollte, was diesseits der Grenze lag, das Seiende sein; jetzt soll es das sein, was jenseits der Grenze liegt. Erweist sich aber nun die Grenze als indifferent für das Sein, so liegt doch offenbar hier wie dort derselbe Grundirrtum vor. Worin dieser besteht, läßt sich einfach aussprechen: man ist von der gnoseologischen Reflexion ausgegangen, hat das Subjekt als Bezugspunkt zugrunde gelegt, und man hält nun das Zugrundegelegte auch in der Negation der Gegenständlichkeit fest. Man hat damit alle Gegenstandscharaktere — auch die negierten, auch die Grenzen des Gegenstandsver-

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hältnisses — auf das Seiende übertragen. Darum erscheint das Jenseits beider Grenzen als Seinscharakter. Das Transobjektive ist ebenso auf das Subjekt orientiert wie das Objizierte; es ist das „ihm" Transobjektive, wie dieses das „ihm" Objizierte ist. Und dasselbe gilt für das Irrationale. Es ist also dieselbe Relativität auf das Subjekt, die hier festgehalten wird, wie auch in der Gleichsetzung des Seienden mit dem,, Gegenstande''. Diese Relativität ist der Grundirrtum. Das „Seiende als Seiendes" ist nicht nur ihrer überhoben, besteht nicht nur ohne allen Bezug auf ein Subjekt und vor allem Auftreten von Subjekten in der Welt, sondern es umfaßt das ganze Erkenntnisverhältnis, mitsamt seinem Subjekt und seinen Grenzen. Auch das erkennende Subjekt ist ein Seiendes, nicht anders als seine Objekte und sein Transobjektives; nicht anders auch als sein Unerkennbares. c) Die Subjekttheorien des Seienden Von geringerer Wichtigkeit sind die Auffassungen, die das Seiende ins Subjekt verlegen. Nur im Hinblick auf den Umstand, daß in ihnen die reflektierte Einstellung kulminiert, fallen sie in den ontologischen Problemkreis. 1. In den letztgenannten Fassungen war das Seiende über den Gegenstand hinaus verschoben. Es erwies sich aber, daß dabei das Subjekt als Bezugspunkt zugrunde gelegt war. Legt man nun die Richtung der Verschiebung um, so rückt der Bezugspunkt in den Vordergrund und erhebt den Anspruch das allein Seiende zu sein. Die idealistischen Theorien haben, gestützt aus skeptische Argumente, diese Umlegung vollzogen: das Subjekt ist das Seiende, die Objekte sind nur seine Vorstellungen. Das Cogito-Argument des Descartes, obgleich von ihm nicht idealistisch gewandt, hat hier Bahn gebrochen. Im nachkantischen Idealismus war es der Kampf gegen das „Ding an sich", der alles Seinsgewicht auf das Subjekt zurückfallen ließ. In der Tat kann man das Sein des Subjekts nicht in gleicher Weise skeptisch bestreiten wie das Sein der Objekte. In dieser Form hat der Idealismus wenig Glück gehabt. Das Subjekt bleibt mit sich allein in der Welt — ja, man kann nicht einmal sagen „in der Welt", denn die Welt ist, sofern sie mehr als das Subjekt ist, negiert. Auch die Vielheit der Subjekte ist dann nicht haltbar; die anderen Subjekte sind für das eine ja auch nur Objekte, und die Objekte sind nur seine Vorstellungen. Es macht damit nicht nur die Welt, sondern auch die menschlichen Verhältnisse zur Illusion. Da aber diese für seine Seinsweise wesentlich sind, so wird es selbst zur Illusion. 2. Nicht ganz so dünn ist die These, wenn man die menschlichen Verhältnisse als dem Subjekt wesenszugehörig mit hineinnimmt, und es selbst nicht bloß als erkennendes, sondern als lebendes und handelndes versteht. Das Seiende läßt sich dann als Ich, Person, Mensch oder Geist

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verstehen; oder auch wie Heidegger versucht hat, als „Dasein". Die Welt ist dann die auf den Menschen bezogene und auf sein Tun in ihr relative, wie er sie versteht. Sie ist für jeden die „je seinige"; also nicht eine gemeinsame, seiende, sondern die von ihm in seinem Verhalten für seiend genommene. Die Schwierigkeit des Alleinbleibens ist jetzt aufgehoben. Aber mit ihr ist auch die Strenge der Position aufgehoben. Die Lebensverhältnisse, die menschlichen Beziehungen, die Vielheit der Personen sind als seiend mit vorausgesetzt. Mit ihnen aber ist faktisch die reale Welt, in der der Mensch steht, auch vorausgesetzt. Der Mensch ist nicht das allein Seiende. Das Nichtich ist um nichts weniger seiend als das Ich. 3. Man kann die Reflexion aber auch konsequenter vortreiben. Es läßt sich am Seienden als Subjekt eine ähnliche Verschiebung vornehmen wie am Seienden als Objekt; man kann den Schwerpunkt genau so über das empirische Subjekt hinaus Verlegen wie über das empirische Objekt, und zwar in denselben beiden Etappen: zunächst über die Erkenntnisgrenze, und dann über die Erkennbarkeitsgrenze hinaus. Denn beide kehren im Felde der Subjektivität wieder. Im ersteren Falle kommt es auf einen unbewußten und unerkannten Hintergrund des empirischen Subjekts heraus, im letzteren auf ein überempirisches, absolutes oder metaphysisches Subjekt. Jener Hintergrund ist aus Fichtes Wissenschaftslehre bekannt. Typen des überempirischen Subjekts aber finden sich auch in Systemen nichtidealistischer Art, so z. B. überall wo hinter der Welt ein intellectus divinus, intuitivuö oder archetypus angenommen wird. Zu solchen Theorien ist hier nicht viel zu sagen. Sie verlegen das Sein in einen Seinsgrund, nicht anders als die objektivistischen Hintergrundstheorien. Sie fallen also unter dieselbe Kritik wie jene. Daß der „Grund" hier in der verlängerten Subjektrichtung gesucht wird, macht ontologisch kaum einen Unterschied aus. Jedenfalls liegt er nicht mehr „im" Bewußtsein. Die Theorien sind also nur noch dem Namen nach idealistisch. Die Konsequenz der Reflexion, die sie vollziehen, ist die im Wesen der Sache liegende Selbstaufhebung der Reflexivität. 4. Bei der Zurücknahme des Seienden aus der Objektrichtung kann man es schließlich auch in ein erkenntnistheoretisch allgemeines (transszendentales) oder in ein logisches Subjekt verlegen, wie das im Neukantianismus mehrfach versucht worden ist. Bei solchem Tun aber kann man dem Seinsgewicht des Realen nicht mehr gerecht werden. Es ist nur noch ein Sein sekundärer Art, mit dem man es zu tun hat, ein gleichsam depotenziertes Sein: das Sein als „Setzung", als gedachtes oder prädikatives Sein. Theorien dieses Typus begeben sich in eine Position von so extremer Einseitigkeit, daß sie die wichtigsten Grundphänomene des Lebens verleugenen müssen. Sie haben zwar mit dem Sein, wie sie es verstehen, erstaunlich leichtes Spiel; aber nur deswegen, weil sie das eigentlich „Seiende als Seiendes" grundsätzlich aus dem Spiele lassen.

10. Kap. Die Grenze der Diesseitsstellung

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10. Kapitel. Die Grenze der Diesseitsstellung

a) Die Phänomenbasis der subjektivistischen Bestimmungen Die letzte Gruppe von Theorien ist ontologisch fast gewichtslos. Sie springt mit dem Seienden so skrupellos um, daß sie sein Problem einfach verfehlt. Dennoch hält sich manches Überbleibsel von ihnen bis in unsere Zeit. Geht man dieser Zähigkeit auf den Grund, so findet man ein Phänomen, auf das sie sich stützen. Es ist im Befunde des Erkenntnisverhältnisses enthalten und aus ihm nicht wegzudeuten. Man kann es das Phänomen der Immanenz nennen; auch unter dem Titel ,,Satz des Bewußtseins" ist es bekannt. Es besagt, daß das Bewußtsein nur seine Vorstellungen hat, nicht aber die vorgestellten Gegenstände, also auch nie wissen kann, ob den Vorstellungen etwas Reales außerhalb des Bewußtseins entspricht. Das Bewußtsein ist in der Immanenz seiner Inhalte —man kann auch sagen seiner intentionalen Gegenstände — gefangen. Dieses Phänomen, das seit den Zeiten des Aristipp die Grundlage aller Skepsis ausmacht, ist als solches nicht wohl zu bestreiten. Hält man sich daran allein, so ist es ein Leichtes zu folgern, daß es weder ein Seiendes außer dem Bewußtsein gibt, noch eine Erkenntnis von Seiendem. Das ändert sich erst, wenn man andere Seiten des Erkenntnisphänomens mit in Erwägung zieht, z. B. das Wissen um die Bewußtseinstranszendenz und den transobjektiven Bestand des Gegenstandes, desgleichen das Problembewußtsein, den Erkenntnisprogreß u. a. m. Diese Seiten des Gesamtphänomens ontologisch auszuwerten, ist also eine Aufgabe, die noch bevorsteht. Es läuft dabei im wesentlichen auf eine Analyse der „Gegebenheit" des Seienden hinaus, und zwar sowohl des realen als auch des idealen Seienden. Denn auf beide Seinsweisen erstreckt sich auch das Immanenzphänomen. Diese Untersuchung wird noch in aller Genauigkeit zu fähren sein. Eines aber läßt sich zum Voraus davon sagen. Der Ausgang der Ontologie ließ sich in einer gewissen Diesseitsstellung gegen die weltanschaulichen Theorien halten, auch gegen Idealismus und Realismus. Diese Stellung aber kann im Fortgang der Untersuchung nicht bleiben. Es muß einen Punkt geben, von dem ab eine Entscheidung in dieser Alternative fällt. Dieser Punkt ist in den letzten Überlegungen erreicht. Wir stehen an der Grenze der Diesseitsstellung. Die Entscheidung über sie liegt bei der Art, wie man mit dem Immanenzphänomen zurechtkommt. Und es läßt sich weiter voraussehen: wenn dieses Phänomen sich nicht in Schein auflöst, wenn also der subjektive Idealismus Recht behält, so ist alle weitere Bemühung im ontologischen Felde gegenstandslos. b) Das korrelativistische Vorurteil Die übrigen reflektierten Bestimmungen des Seienden halten sich alle an den Gegenstandsbegriff resp. den Phänomenbegriff. Sie sind nicht auf 7

H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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eine so schmale Phänomenbasis gestellt wie die Subjektivistischen Theorien, haben aber das Gemeinsame mit ihnen, daß sie am Subjekt als festem Bezugspunkte haften. Es genügt aber nicht, sich klar zu machen —· wie oben geschehen —, daß das Seiende nicht als Gegenstand charakterisierbar ist, daß Gegenstandsein nur das „Gegenstehen" eines Seienden ist, nicht das Sein selbst an ihm, daß das Sein des Subjekts darin Schon vorausgesetzt ist, und daß eben dieses durchaus keinen Seinsvorzug, ja nicht einmal eine Zentralstellung in der seienden Welt hat. Das alles genügt deswegen nicht, weil im Grundphänomen des Erkenntnisverhältnisses doch die Korrelativität von Subjekt und Gegenstand bestehen bleibt. Indem man vom Erkenntnisverhältnis ausgeht — oder auch von einem ihm analogen Gegebenheitsverhältnis aktuellerer Art —, bleibt diese Korrelativität als Basis bestehen und hebt den schlichten Seinscharakter des Gegenstandes auf. Man hat die intentio obliqua zur alleinigen Sichtrichtung gemacht und ist nun in ihr gefangen. Dadurch erhebt man ein Teilphänomen zum Grundphänomen; man macht aus dem Relationscharakter der Erkenntnis ein korrelativistisch.es Vorurteil und mißt diesem nun allgemein ontologische Gültigkeit bei. Die Schiefheit-dieses Vorurteils läßt sich nur auf die Weise aufdecken, daß man die Phänomenbasis in ihm zunächst einmal voll und ganz anerkennt; dann erst läßt sich darin der reelle Phänomenbestand vom Scheinphänomen ablösen. Das Gesamtphänomen kann man folgendermaßen zusammenfassen. Die Erkenntnis besteht darin, daß das Seiende zum Gegenstand des Subjekts gemacht wird. Geht man also von ihr als dem Grundverhältnis aus, so findet man das Seiende stets als Gegenstehendes. Das Reelle daran ist, daß im Bereich der Erkenntnis alle Gegebenheit von Seiendem die Form des Gegenstandseins hat. Illusion dagegen ist, daß deswegen alles Seiende, schon rein als solches, Gegenstand eines Subjekts sei. Hält man dagegen an diesem Verhältnis fest, daß erst die Erkenntnis das Seiende zum Gegenstand macht und bei diesem Tun es selbst als solches, diesseits aller Gegebenheit schon voraussetzt — ja, daß sie um dieses Vorausgesetztsein von ihren naivsten Stufen auf sehr wohl weiß und nur darum sich selbst als unterschieden von bloßem Vorstellen, Denken oder Phantasieren weiß —, so fällt die Illusion ganz von selbst hin. Und mit ihr fällt das korrelativistische Vorurteil. Was übrig bleibt, ist die Form des Gegenstehens im Erkenntnisverhältnis, zugleich mit ihr aber auch die Übergegenständlichkeit des Erkenntnisgegenstandes, d. h. sein im Erkenntnisverhältnis selbst stets Schon vorausgesetztes Ansichsein. „Ansichsein", als Gegensatz zum bloßen „Für-mich-Sein" verstanden, ist nichts anderes als die kategoriale Form, in der sich das „Seiende als Seiendes" im Erkenntnisverhältnis ankündigt. „Ansichsein" also ist kein streng ontologischer Begriff. Er ist nur eine Abwehr und ein Trennungsstrich gegen das bloße Gegenstandsein. Die Erkenntnistheorie braucht diesen Grenzstrich, sie muß ihn um ihrer

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selbst willen ziehen. Denn für sie und ihre reflektierte Einstellung stellt sich das Seiende als solches erst im Hinausgehen über das Gegenstandsverhältnis heraus. „Ansichsein" ist und bleibt ein gnoseologischer Begriff. Die Ontologie kann ihn entbehren. Sie ist von der intentio obliqua zur intentio recta zurückgekehrt. Für sie bedarf es der Abwehr nicht; das korrelativistische Vorurteil ist nicht das ihrige. In ihrem Begriff des „Seienden als Seienden" ist das Ansichsein bereits überboten. c) Sein des Phänomens und des E r k e n n t n i s v e r h ä l t n i s s e s Ganz ähnlich wie mit dem Gegenstandsbegriff ist es mit dem Phänomenbegriff. Alles was sich vom Seienden uns „zeigt", ist eben Phänomen. Das ist ein tautologischer Satz. Aber wenn man ihn umwendet in den Satz „alles Seiende ist Phänomen", so wird er ebenso zum Vorurteil wie der Satz „alles Seiende ist Gegenstand". Ja er ist fast identisch mit diesem; denn was Gegenstand der Erkenntnis wird, das „zeigt" sich eben dem Subjekt. Der Irrtum aber ist ein doppelter. Einerseits braucht nicht alles Seiende sich zu zeigen (zu erscheinen), andererseits aber braucht nicht alles, was uns erscheint, ein sich zeigendes Seiendes zu sein. Das gilt genau so gut wie die analogen Sätze vom Gegenstehen. Weder braucht alles Seiende Gegenstand zu sein, noch brauchen alle Gegenstände — etwa Phantasiegegenstände — etwas Seiendes zu sein. Ontologie ist ebensowenig Phänomenologie wie Gegenstandstheorie. Auch die objektivste Fassung des Phänomenbegriffs erhebt die Theorie der Phänomene nicht zur Theorie des Seienden. Eine heillose Verwirrung entsteht, wenn man den Unterschied von Erscheinen (Sich-Zsigen) und Sein aufhebt. Alle Kritik der Phänomene hört da auf, alle Rangunterschiede des Gegebenen hören auf, jedes Scheinphänomen, jede schiefe Beschreibung kann sich breit machen. Damit soll nicht einer Entwertung der Phänomene das Wort geredet werden. Phänomene sind Gegebenheiten und behalten als solche ihr unaufhebbares Gewicht. Gegebenheit ist in der philosophischen Untersuchung stets das Erste, aber auch nur das Erste. Sie ist nicht das Letzte, nicht das, was über wahr und unwahr entscheidet. Und da es bei wahr und unwahr um das Zutreffen auf Seiendes geht, so kann man auch sagen: sie ist nicht das, was über Sein und Nichtsein entscheidet. Zwischen dem methodisch Ersten und dem Letzten liegt nichts Geringeres als der gesamte Gang der Untersuchung, die eigentliche Arbeit des philosophischen Eindringens. Man muß also das „Phänomen" an seine ihm gebührende Stelle weisen. Dort ist es unersetzbar. Darüber hinaus ist es irreführend. — Die Unterscheidung des Phänomens vom „Seienden als Seienden" darf einen indessen auch nach der anderen Seite nicht voreinnehmen. Es handelt sich nicht darum, die Phänomene als solche vom Sein auszu7*

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Erster Teil. 3. Abschnitt

schließen. Sie haben freilich auch ihre Art Sein — sie „sind" eben doch etwas, und keineswegs nichts —, es ist nur nicht ohne weiteres das Sein dessen, „was" sie zeigen. Ebenso gibt es ein Sein der Phantasievorstellungen, der Gedanken, der Meinungen und Vorurteile; genau so wie es ein Sein der Erkenntnis gibt und ein Sein ihrer Inhalte. In welches besondere Reich des Seienden alle diese Gebilde fallen, welche allgemeinere Seinsweise sie haben, das zu untersuchen ist Aufgabe eines besonderen Teiles der Ontologie — desjenigen, der vom geistigen Sein handelt —, aber nicht Aufgabe der allgemeinen Grundlegung. Vor aller Untersuchung ist im Hinblick auf das Gesagte nur zweierlei festzuhalten. Erstens, die besondere Seinsart dieser geistigen Gebilde ist nicht übertragbar auf andere Gebilde; sie läßt sich nicht verallgemeinern. Und zweitens, schon am Wesen dieser Gebilde selbst ist es ohne weiteres zu sehen, daß das Seiende, welches sie intendieren, weder identisch mit ihnen ist noch auch von ihrer Seinsart zu sein braucht. Die Vorstellung, der Gedanke, der Begriff „sind" etwas anderes als das, „was" vorgestellt, gedacht, begriffen wird; und die ganze Stufe des Seienden, zu der sie zählen, ist eine andere. Dasselbe gilt auch vom Phänomen. Das Sein des Phänomens ist ein grundsätzlich anderes als das Sein dessen, was sich in ihm „zeigt", und dessen Phänomen es ist. Freilich wird beides von dem weiten Rahmen des Seienden überhaupt umspannt. Aber das Sein in genere kann man auf das Sem des Phänomens so wenig zurückführen wie auf irgendeine andere spezielle Seinsart.

ZWEITER TEIL Das Verhältnis von Dasein und Sosein I. Abschnitt Die Aporetik von „Daß" und „Was" 11. Kapitel. Realität und Existenz

a) Die Indifferenzen des Seienden Das Resultat aus der Überschau der traditionellen Fassungen des Seienden — der natürlichen wie der reflektierten — scheint auf den ersten Blick ein negatives zu sein. Durch Eingrenzung gegen Unzutreffendes kann man den Begriff des Seienden nicht gewinnen. Denn er ist das Umfassende zu allem. Es wird sich zeigen, daß diese Ungreifbarkeit durchaus keine absolute ist. Das Seiende ist von seinen Besonderungen her faßbar — genau so, wie das Wesen der Welt nicht auf einen Schlag im Ganzen, wohl aber von innen heraus und aus der Mannigfaltigkeit erfahrbar, erschließbar und erratbar ist. Nun sind die dargelegten Fassungen in Wahrheit lauter Besonderungen des Seienden. Es müßte also sehr wohl auch aus ihnen bereits etwas Positives zu entnehmen sein. Das bestätigt sich, wenn man bemerkt, daß es großenteils Kategorien fundamentaler Art sind, die sich in den Besonderungen verbergen (Einheit, Bestimmung, Substanz, Form usw.), und daß nur deren Verallgemeinerung fehlerhaft ist. Was sich zunächst ergibt, ist, daß das „Seiende als Seiendes" gegen die meisten der aufgeführten Bestimmungen vollkommen indifferent ist. Es ist ebensowohl Dingliches wie Nicht-Dingliches, Gegebenes wie NichtGegebenes, Weltgrund wie gegründete Welt. Diese Indifferenzen betreffen recht eigentlich den Seins-Charakter des Seienden. Sie zeigen deutlich seine Universalität im Gegensatz zu den besonderen Seinskategorien. Und trotz ihrer formalen Negativität bringen sie doch etwas sehr Positives zum Ausdruck, nämlich die Identität des „Seins" selbst in allem, was seiend ist. Das wird sehr eindrucksvoll, wenn man die Reihe weiter verfolgt. Das Seiende als Seiendes ist indifferent gegen Substanz und Accidens, gegen

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Zweiter Teil. I.Abschnitt

Einheit und Mannigfaltigkeit, gegen Beharrung und Werden, gegen Bestimmtheit und Unbestimmtheit (Substrat), gegen Materie und Form, gegen Wert und Unwert. Es ist nicht weniger indifferent gegen Individualität und Allgemeinheit, Individuum und Allheit, Teil und Ganzes, Glied und System. Und womöglich noch vollkommener wird die Indifferenz bei den reflektierten Bestimmungen: ohne jeden Unterschied erstreckt sich der Seinscharakter auf Subjekt und Objekt, Person und Sache, Mensch und Welt, Erscheinendes (Phänomen) und Nichterscheinendes, Objiziertes (Gegenstand) und Transobjektives, Bationales und Irrationales. Der Reihe dieser Indifferenzen ließe sich noch mancherlei anfügen. So z. B. die Indifferenz gegen Absolutes und Relatives, Selbständiges und Abhängiges, Einfaches und Zusammengesetztes, niedere und höhere Geformtheit. Aber der Beispiele sind genug. Es wiederholt sich in allen dasselbe Verhältnis. Um so auffallender ist es, daß zwei Gruppen von Gegensätzen aus dem Schema herausfallen. Die eine ist die von essentia (Wesenheit) und existentia, oder in allgemeinerer Fassung von Sosein und Dasein. Die andere ist die der Seinsmodi und Seinsweisen: von Wirklichkeit und Möglichkeit, Realem und Idealem. Hier besteht nicht die gleiche Indifferenz. Das Seiende überhaupt ist wohl noch das Umfassende, in dem auch diese Gegensätze sich bewegen. Aber der Seinscharakter als solcher ist nicht derselbe in ihnen. In diesem Punkte ist der Ansatz zu einer weiteren Untersuchung gegeben. Es ist nicht schwer zu sehen, daß sie ihren Schwerpunkt im Verhältnis der Seinsmodi haben wird. Aber eben deswegen ist hier nicht von der Modalität auszugehen, sondern von dem anderen Gegensatz, der jenen aufgezählten Kategorien noch näher steht, dem Gegensatz der Wesenheit und Existenz. Beiden Gruppen gemeinsam ist der Gegensatz der Seinsweisen: Realität und Idealität. In ihm laufen auch andere Problemketten noch zusammen, so z. B. die Fragen der Seinsgegebenheit. Mit ihm werden es die nachstehenden Untersuchungen dauernd und unter immer wieder anderen Gesichtspunkten zu tun haben. b) Unstimmigkeit der traditionellen Begriffe Die Erörterung, in die wir eintreten, ist im Grunde bereits eine kategoriale. Sie ist nur noch so allgemein, daß sie selbst der Differenzierung der Seinsweisen vorausliegt. Die Zusammengehörigkeit von essentia und existentia ist seit der Aristotelischen Lehre von der Immanenz der Wesensformen in der Welt des Realen immer gesehen worden, auch dort wo man den Nachdruck auf den Gegensatz legte und dem Universalienreich ein Fürsichsein zusprach. Der Dualismus von Wesenssphäre und Dingsphäre hat die Bezogenheit im Gegensatz nicht aufgehoben. Verlegt man auch spekulativ das ganze Seinsgewicht auf eine Seite der Alternative,

11. Kap. Realität und Existenz

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die andere bleibt doch als ihr Korrelat bestehen. Man kann sie höchstens durch eine metaphysische Nichtigkeitserklärung ausschalten. Aber das bleibt dann ein Gewaltakt denkerischer Willkür. Und. ganz so weit ist weder der extreme Begriffsrealismus noch der extreme Nominaüsmus gegangen. Geht man von den obigen Resultaten (Kap.6b und c) aus: das „Seiende als Seiendes" ist weder essentia noch existentia, so müssen sich diese Negationen jetzt positiv auswerten lassen. Wesenheit und Existenz müssen echte Seinscharaktere sein, die beide dem Seienden in ganzer Ausdehnung zukommen und erst zusammen das „Seiende als Seiendes" ausmachen. Das würde heißen: alles Seiende hat notwendig ein Moment der Wesenheit und ein Moment der Existenz an sich. Der traditionellen Fassung der Begriffe widerspricht das. Existenz im alten Sinne des Wortes kann man nur dem Realen zusprechen. Mathematische Existenz ist zwar auch ein alter Begriff; aber dieser Begriff ist in die große geschichtliche Linie des Universalienproblems nicht recht eingedrungen. Er blieb als Merkstein eines unbewältigten Problems gleichsam außen stehen, um erst in neuerer Zeit wieder Geltung zu gewinnen. Das Problem aber, das in ihm steckte, war ein eminent ontologiöches. Es war das des idealen Seins. Zum mindesten hätte man Existenz im engeren Sinne der Realexistenz von Existenz im weiteren Sinne unterscheiden müssen. Aber eben das lag der extremen Richtung der herrschenden Theorien fern. Man schrieb das Sein entweder den ewigen Universalien oder dem Zeitlich-Realen zu und behielt die Existenz dem letzteren vor. So ist es kein Wunder, daß man den Gegensatz der Seinsweisen, Idealität und Realität, in Parallele zum Gegensatz von essentia und existentia brachte und schließlich ihm gleichsetzte. Die strenge Folge daraus wäre gewesen, daß das Existierende — und mit ihm das Seinsreich des Realen — keine Wesensbestimmtheit hätte haben dürfen. Seine Vergänglichkeit, Individualität und in den meisten Fassungen auch seine Materialität, mußte dem grundsätzlich widerstehen. Gerade so aber ist die Konsequenz niemals durchgeführt worden. Die Durchführung hätte ja auch sofort zu Widersprüchen geführt. War doch der ursprüngliche Platonische Gedanke der Ideen gerade davon ausgegangen, daß das vergängliche Reale die Wesensformen irgendwie enthält — wennschon unvollkommen verwirklicht —, und daß deswegen schon die Wahrnehmung der Dinge an sie gemahnt. c) Essentia und ideales Sein Damit klärt sich einigermaßen das Verhältnis von Existenz und Realität. Aus der Verwürfelung der Begriffe löst sich die Einsicht heraus, daß hier weder Identität noch Gegensatz besteht, daß es sich vielmehr um homologe Gegensatzglieder zweier verschiedener Gegensatzpaare handelt. Sie überdecken sich teilweise und klaffen teilweise auseinander. Zur

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Zweiter Teil. 1. Abschnitt

Realität gehört mehr als nackte Existenz, und Existenz im weiten Sinne gibt es auch außerhalb des Realen. Nicht so leicht ist das Verhältnis der Komplementärglieder zu bestimmen: das von essentia und idealem Sein. Es ist dem von Existenz und Realität nicht einfach analog. Die beiden Gegensatzrichtungen überschneiden sich nicht einfach; sie überdecken sich auch teilweise. Die Wesenheiten scheinen von Hause aus ideales Sein zu haben. Sie scheiden sich vom Realen als dem Zeitlichen und Individuellen durch ihre Zeitlosigkeit und Allgemeinheit. Dasselbe aber gilt auch vom idealen Sein. Es scheint also, essentia und ideales Sein decken sich weit besser als Existenz und Realität. Dennoch kann dem nicht so sein. Halten wir fest, daß der Unterschied des Realen und Idealen — immer vorausgesetzt, daß sich das letztere aufweisen läßt — nicht nur ein solcher der Seinsweisen ist, sondern auch ein Nebeneinander ganzer Reiche oder Sphären des Seienden; dann folgt aus dem Gesagten doch ohne weiteres, daß Wesenheit und ideales Sein sich nicht decken können. Und zwar nicht nur deswegen, weil es auch ideale Existenz gibt, sondern vor allem weil die Wesenheiten kein für sich bestehendes Reich des Seienden bilden. Platonisierende Theorien, die ein solches Für-sich-Bestehen zu verfechten suchten, haben sich vor den Wesensproblemen der realen Welt niemals halten können. Wie aber wollte eine Ontologie sich rechtfertigen, die den Wesenszügen des Realen nicht Rechnung tragen könnte? Sie müßte einen Chorismos aufrichten und die gewichtigsten Fragen — die nach dem „Wesen" der Welt, in der wir leben — einfach ausschalten. Vor dieser Konsequenz kann auch die Unterscheidung des Wesentlichen und Unwesentlichen (Essentiellen und Akzidentellen) in der Geformtheit des Realen nicht schützen. Behält man der essentia das „Essentielle" vor, und meint man damit mehr als eine Tautologie, so stürzt man in Schwierigkeiten noch größeren Ausmaßes. Das Akzidenteile gehört eben doch auch zur Geformtheit, und man kann es unmöglich der Seite der Existenz aufbürden; wenigstens nicht solange man den primären Sinn von existentia, als das nackte „daß es ist", festhält. Man müßte ja sonst für dieses einen anderen Begriff prägen. Außerdem zieht man mit dieser Unterscheidung unvermeidlich eine Grenze, die nur unter herangetragenen Gesichtspunkten ziehbar und ontologisch ganz willkürlich ist. Gibt es denn Sonderbestimmtheiten eines Realen, die im Hinblick auf das Ganze der Weltzusammenhänge nicht auch wesentlich wären? Hier ist mit den Gegensätzen von primär und sekundär, notwendig und zufällig von jeher Mißbrauch getrieben worden. Unter Notwendigkeit in diesem Sinne hat man stets nur die Wesensnotwendigkeit, nicht Realnotwendigkeit verstanden. Damit setzt man aber eben die Grenze, die man ziehen will, schon voraus. Zu alledem kommt aber erst noch die Hauptsache. Das gerade ist das Eigentümliche der realen Welt, daß die allgemeinen Wesenheiten nicht

11. Kap. Realität und Existenz

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jenseits ihrer in Weltenferne thronen, sondern in ihr enthalten sind, sie durchwalten, „ihr" Wesen und „ihren" Formenbestand ausmachen. Darum kann man sie auch in ihr wiederfinden, aus ihr auflesen; darum ist es möglich, sie dem Einzelfall abzugewinnen — sei es nun, daß man diesen Prozeß als ein Herausheben (vor die Klammer Heben) oder als ein Anklingen des Ewigen im Zeitlichen und ein Erinnertwerden an dieses schildert. Das ist der Grund, warum die Wesenheiten mit dem idealen Seienden nicht zusammenfallen. Eine gewisse Deckung der Bereiche wird damit gar nicht bestritten. Es kann sehr wohl so sein, daß Wesenheiten auch ideales Sein haben. Aber weder gehen sie darin auf, noch ist ihre besondere Seinsart dadurch allein charakterisierbar. Und umgekehrt gibt es, wie sich noch zeigen wird, ideales Sein, das nicht im Verhältnis der Wesenheit zum Realen steht. Wie es denn Wissenschaften gibt — es sind ganze Zweige der Mathematik und Logik —, die es ausschließlich mit dem idealiter Seienden als solchem zu tun haben, diesseits aller Anwendung, ja allen Fragens nach Anwendbarkeit auf Reales. d) „Daß" und „Was" des Seienden. Die quidditas Will man die Vieldeutigkeit vermeiden, die das eigenartige Verhältnis der beiden Gegensatzpaare mit sich bringt, so muß man die belasteten Begriffe essentia und existentia einstweilen ausscheiden und andere an ihrer Stelle einführen. Dafür bieten sich aus der gangbaren Terminologie die Begriffe Sosein und Dasein an. Sie stammen zwar aus einer mehr logisch eingestellten Fachsprache, treffen aber im strengen Wortsinn sehr genau den ontologischen Gegensatz, um den es hier zu tun ist. Von den Aussageformen her sind sie als Unterschied von „daß" und „was" wohlbekannt. An allem Seienden gibt es ein Moment des Daseins. Darunter ist das nackte „daß überhaupt es ist" zu verstehen. Und an allem Seienden gibt es ein Moment des Soseins. Zu ihm zählt alles, was seine Bestimmtheit oder Besonderheit ausmacht, alles, was es mit anderem gemeinsam hat, oder wodurch es sich von anderem unterscheidet, kurz alles, ,,was es ist". Dem „Daß" gegenüber umfaßt dieses „Was" den ganzen Inhalt, und zwar bis in die individuellste Differenzierung hinein. Es ist die zur quidditas erweiterte essentia, in die alles Akzidentelle mit aufgenommen ist. Man kann auch sagen, es ist die aus der Höhe ihrer ausschließlichen Allgemeinheit und Idealität herabgezogene, ins Leben und in den Alltag hineingezogene, gleichsam depotenzierte essentia. Die Depotenzierung eben ist die Ausschaltung der hochtrabenden metaphysischen Ambitionen. Das Abrücken vom engeren essentia-Problem geschieht nicht, um dieses ganz beiseite zu schieben. Es handelt sich nur um Gewinnung einer schlichteren und ontologisch fundamentaleren Problembasis. Der Gegensatz von Dasein und Sosein hat außer seiner Durchsichtigkeit noch einen dreifachen Vorzug. Erstens spielt in ihm die Grenze von Allgemein und

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Zweiter Teil. I.Abschnitt

Individuell keine Rolle. Ein „Daß" besteht auch für das Allgemeinste, genau so wie ein „Was" auch am Individuellsten besteht. Auch bei Gesetzlichkeiten z. B. handelt es sich stets darum, ob überhaupt sie „sind" oder nicht sind, d. h. ob sie bestehen, in einer Sphäre des Seienden walten oder nicht. Zweitens, dieses Bestehen oder das nackte „Daß" fällt nicht mit Realität zusammen, deckt sich nicht mit Realexistenz; auch das ideale Sein hat seine Art des Bestehens, die nicht mit seiner Geformtheit zusammenfällt. Und drittens läßt auch das „Was" sich nicht mit Idealität zur Deckung bringen. Wie es über die Wesenhaftigkeit hinaus und in alle Grade der „Unwesentlichkeit" hineinreicht, so durchzieht es auch alle Stufen und Besonderungen der realen Welt. Sosein und Dasein stehen somit an allem Seienden aufeinander bezogen und dennoch in einer gewissen Unabhängigkeit voneinander da. Es hat sehr wohl Sinn, davon zu sprechen, „was" etwas ist, ohne Rücksicht darauf, „ob" überhaupt es ist. Und ebenso kann man ohne Sinnwidrigkeit diskutieren, „ob'' etwas ist, während es noch offen bleibt, „was" es ist. Das hat gewiß seine Grenzen. Aber in erster Näherung ist es gerade eine gewisse Indifferenz von Dasein und Sosein gegeneinander, was an ihrem Verhältnis in die Augen springt. Läßt man in diesem Sinne den Gegensatz als bloße Zweiheit der Kehrseiten am Seienden bestehen, so ist die Unterscheidung selbst nicht zu beanstanden. Sie gehört dann dem Phänomen des Seienden generell an. Aber eben darum bleibt es einstweilen unentschieden, ob sie auch über das Phänomen hinaus an sich, d. h. am Seienden selbst — jenseits aller Phänomenalität — besteht. Und nicht weniger bleibt es unentschieden, ob der Unterschied ein absoluter ist oder ein relativer, der sich mit dem Gesichtspunkt ähnlich verschiebt wie der Unterschied des Wesentlichen und Unwesentlichen. Das will heißen: es fragt sich noch, ob Dasein und Sosein am Seienden selbst stets einander gegenüber bleiben oder ineinander übergehen. 12. Kapitel. Die Trennung von Dasein und Sosein

a) Ontologische Zuspitzung des Gegensatzes Indessen in solcher Neutralität wird der Unterschied schon in der üblichen Fassung nicht festgehalten. Er wird, einmal erkannt, immer mehr zum Gegensatz zugespitzt und schließlich absolut gesetzt. Man teilt alles, was Sein beansprucht, in Dasein und Sosein auf. Es scheint zuletzt, als wäre die Welt im Ganzen, sowie alles, was in ihr Spielraum hat, aus zwei heterogenen Seinsfaktoren zusammengefügt; wobei die Fuge an jedem Teilstück sichtbar bleibt und wie ein Riß das Ganze durchzieht. Daß eine Person existiert, ist ihr Dasein; ihr Alter, Aussehen, Verhalten, Charakter u. a. m. sind ihr Sosein. Daß es in der Reihe der Potenzen die Größe a° gibt, ist deren Dasein; daß sie == l ist, ist ihr Sosein. Nach

12. Kap. Die Trennung von Dasein und Sosein

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diesem Schema läßt sich alles zerlegen. Ja, es scheint, es bedarf hier gar keiner Zerlegung, es ist bereits an sich aufgeteilt in die beiden Bestandstücke des Seienden, und zwar durchgehend: Dasein geht niemals in Sosein über, ist seinerseits in keiner Weise und unter keinem Gesichtspunkt als Sosein zu verstehen; und Sosein geht niemals in Dasein über, ist in keiner Weise auf Dasein zurückzuführen. Auf diese Weise macht man aus der Unterscheidung eine Trennung, und zwar eine radikale, ontische, absolute. Und zunächst scheint alles dafür zu sprechen, daß dem wirklich so ist. Es ist eine ganze Reihe von Argumenten, die sich hier einzustellen pflegen. Im folgenden seien davon die gewichtigeren angedeutet. 1. Alles Sosein kommt einem Daseienden zu. Es schwebt nicht in der Luft, es setzt ein Substrat voraus, „an" dem es haftet. Man versteht daher das Sosein schlechthin als Beschaffenheit — freilich im weiten Sinne —, das Dasein als Substrat der Beschaffenheit. Das Dasein gleicht dann der Aristotelischen , an der die übrigen Kategorien hängen; und diese insgesamt entsprechen dem Sosein. Nun aber gehen Beschaffenheiten niemals in ihr Substrat über, sie bleiben stets etwas „an" ihm. Und Substrate ihrerseits können niemals zu Beschaffenheiten von etwas werden; sie können nur zugrundeliegen, nicht zukommen. Dasein und Sosein also — in aller Enge der Bezogenheit — vermengen sich niemals miteinander. 2. Die oben berührte Indifferenz von Sosein und Dasein gegeneinander läßt sich ohne Schwierigkeit aus der Sphäre der Aussage auf die Sache selbst übertragen. Am Sosein macht es keinen Unterschied, ob „so etwas" existiert oder nicht. Auch wenn es das Etwas „nicht gibt", bleibt es doch „so" beschaffen. Und ebenso das Dasein: es wird doch nicht zum Nichtdasein, wenn ein bestimmtes Sosein ihm fehlt. Das Dasein, so scheint es, ist dem Sosein ebenso „zufällig" oder äußerlich wie dieses ihm. Man kommt damit auf die alte Vorstellung zurück: notwendig ist nur das Essentielle; aber diese Wesensnotwendigkeit bleibt ganz auf die Seite der essentia beschränkt, sie betrifft die Existenz nicht. Der Modalitätsunterschied also scheidet Dasein und Sosein. 3. Das Modalargument läßt sich auch noch weiter vortreiben. Die Wesenheiten erscheinen, vom real Existierenden aus gesehen, als bloße Möglichkeit ; nacktes Sosein also wäre bloß mögliches Sein. Dasein dagegen hat den Charakter der Wirklichkeit. Versteht man nun das Mögliche im Sinne der Scholastik als das, was ebensowohl sein als nicht-sein kann, das Wirkliche aber als das, war nur ist und nicht ,,nicht-ist", so folgt, daß das Sosein schon durch den Seinsmodus vom Dasein getrennt ist. b) Logische und gnoseologische Argumente Zu den ontologischen Überlegungen kommen solche, die aus der Logik und Erkenntnistheorie entlehnt sind. Sie bringen freilich die Aporien der intentio obliqua mit, erheben aber doch den Anspruch, das Seiende zu betreffen.

Zweiter Teil. 1. Abschnitt

1. Die inhaltliche Reihe der Bestimmtheiten an einem Seienden ist das Definierbare an ihm. Ihre Vollständigkeit würde die Totaldefinition ausmachen. Diese erstreckt sich also nur auf das Sosein. Das Dasein bleibt von ihr ausgeschlossen. Es ist nicht nur das Undefinierbare an einem gegebenen Etwas, sondern es fügt, selbst wenn man es den Bestimmungsstücken anfügen wollte, zu ihnen nichts hinzu. 2. Wohlbekannt ist die Einteilung der Urteile in Soseins- und Daseinsurteile, d. h. in solche, die nach der Form ,,S ist P" etwas Inhaltliches aussagen, und solche, die nur das Sein aussagen. Die letzteren tragen die Form „S ist" oder ,,es gibt ein S" und spielen als sog. Existenzialurteile eine eigene Rolle in der Metaphysik; so haben z. B. die Gottesbeweise ein reines Existenzialurteil zum Ziel. Nun sind offenbar diese beiden Urteilstypen radikal geschieden. Zwischen ihnen gibt es keinen Übergang. Da aber das Urteil seinem Sinn nach reiner Seinsausdruck ist — wie ja das prädikative Sein, das „ist", beweist —, so muß man annehmen, daß dem radikalen Urteilsgegensatz ein radikaler Seinsgegensatz entspricht. 3. Die Erkenntnistheorie macht den Unterschied apriorischer und aposteriorischer Erkenntnis. Es ist nicht nötig, ihn in Kantischer Weise auf Anschauung und Denken zu beziehen. Auch ohnedem läßt sich nicht bestreiten, daß es Erkenntnis a priori nur vom Sosein der Gegenstände gibt, während die Erkenntnis a posteriori sich auf Dasein und Sosein erstreckt. Die Seite des Daseins also ist überhaupt nur a posteriori erkennbar. Da nun der Erkenntnisgegenstand ein übergegenständliches Sein haben muß, so überträgt sich der Gegensatz der Erkenntniselemente auf dieses Sein und läßt an ihm Dasein und Sosein als heterogene Seinsmomente erscheinen. 4. Ob sich das Dasein von etwas überhaupt ohne nähere inhaltliche Bestimmtheit erfassen läßt, mag dahinstehen. Ohne Zweifel aber gibt es einen Typus des Wissens, der sich auf das Sosein allein erstreckt und das Dasein offenläßt. Von dieser Art ist alle strenge Erkenntnis des Allgemeinen, alle Gesetzeserkenntnis. Denn selbst wenn hier gewisse Einzelfälle als existent vorgegeben sind, so umfaßt die Allgemeinheit als solche doch grundsätzlich eine Unendlichkeit weiterer Fälle, deren Existenz jedenfalls nicht mit erfaßt wird. In der erkannten Allgemeinheit ist nur die Leerstelle möglicher Realfälle gegeben, nicht diese selbst. Hierdurch entsteht der Schein, als wäre das Sosein der Dinge — also der Inbegriff ihrer Bestimmtheiten, Beschaffenheiten, Unterschiede, und Beziehungen — gar nicht etwas Reales an ihnen. Für das eigentliche Reale bliebe dann nur ihr Dasein übrig. c) Metaphysische Zuspitzungen 1. Man kann bei einseitiger Deutung etwas derartiges sogar aus der Kritik der reinen Vernunft herauslesen. Nach Kant nämlich können wir sehr wohl um die Existenz von Dingen an sich wissen, nicht aber um ihre „Beschaffenheit". Die Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes lassen

12. Kap. Die Trennung von Dasein und Sosein

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es nicht anders zu. Was in Raum und Zeit unter Verstandesbegriffen erkennbar wird, ist nur „Erscheinung". Geht man nun davon aus, daß allein die „Dinge an sich" das im strengen Sinne Seiende ausmachen, so lautet die These Kants, ontologisch ausgedrückt, dahin, daß nur das Dasein des an sich Seienden erkennbar ist, sein Sosein aber nicht. Oder anders gefaßt: das Sosein der Dinge, das wir erkennen, hat nur den Typus eines Für-uns-Seins; ihr Dasein dagegen ist Ansichsein. 2. Die umgekehrte These ist es, mit der Max Scheler zu einem ähnlichen Resultat kommt. Nach ihm ist gerade nur das Sosein der Dinge erkennbar, ihr Dasein als solches aber unerkennbar. Dem liegt der phänomenologische Bewußtseinsbegriff zugrunde, der unter „Erkenntnis" ein Sein der Gegenstände im Bewußtsein (Scheler sagt in mente) versteht. Da nun aber Substanzen mit selbständiger Existenz offenbar nicht ins Bewußtsein einrücken können, so lautet die These nunmehr: nur die Seite des Soseins der Dinge tritt in die mens ein, das Dasein verharrt unaufhebbar extra mentem. Nach dieser Auffassung ist das „Ding" nur ein Umweltobjekt des bestimmt organisierten Subjekts. Es besteht also nur in Beziehung auf ein solches Subjekt. Diese Bezogenheit nennt Scheler „Daseinsrelativität". Der Ausdruck aber ist irreführend. Denn da gerade die Bestimmtheiten der Umweltobjekte von der Organisation des Subjekts abhängig sind, so ist die Bezogenheit weit mehr Soseinsrelativität als Daseinsrelativität. Das erfaßte Sosein der Dinge gerade ist nicht das des Ansichseienden, es besteht nur „für uns". Und das heißt in strenger Konsequenz, daß es nur in mente besteht. Diese Konsequenz ist hier nicht zu vermeiden. Sie findet sich denn auch gelegentlich bei Scheler angedeutet, ohne daß er selbst freilich sie streng festhielte. Läßt man sie gelten, so kann man das Verhältnis auf eine schlanke Formel bringen: das Sosein der Dinge besteht in mente, ihr Dasein besteht extra mentem. Hier ist die Spaltung des Erkenntnisgegenstandes im Anschluß an nominalistische Zuspitzungen weit radikaler vollzogen, als die ontologischen Argumente es konnten. Die Grenze der Subjektivität schiebt sich zwischen das Dasein und Sosein der Dinge. Kein Ding der Welt ist hiernach mehr etwas einheitlich in sich Zusammenhängendes: seine Existenz ist etwas an sich Bestehendes, seine Geformtheit aber bloße Sache der Vorstellung. Oder in anderer Wendung: wie sie an sich sind, dürften die Dinge keine Bestimmtheit und keine Beschaffenheit haben; und wie sie als bestimmte beschaffen sind, könnten sie nicht an sich existieren. d) Fehlerhafte Fassung der Begriffe „in mente" und „extra mentem" Die aufgezählten Argumente sind keine harmlosen Zuspitzungen, die man mit einigen Abstrichen auch gelten lassen könnte. Dazu hängen sie viel zu organisch zusammen. Sie bilden nur verschiedene Kehrseiten einer

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Zweiter Teil. 1. Abschnitt

einheitlichen und über alles Maß einseitigen Tendenz der Theorien, den Gegenstand der Ontologie aufzulösen und sie selbst als gegenstandslos hinzustellen. Es ist darum nicht überflüssig, diese Argumente einer Prüfung zu unterwerfen. Schon die ersten Schritte einer solchen zeigen aber, daß in ihnen ein ganzer Hexenkessel von Fehlern steckt. Die Aufdeckung dieser Fehler aber kann nicht mit einem Schlage geschehen, sondern nur Schritt für Schritt. Und da sie sich nicht durchführen läßt, ohne zugleich das wirkliche Verhältnis von Dasein und Sosein zu entwickeln, so geht sie ohne angebbare Grenze in die positive Darlegung der Sache über. Ein Unterschied läßt sich hier nur zwischen den gröblichen Verirrungen und den tiefer verborgen liegenden Unstimmigkeiten machen. Es liegt auf der Hand, daß bei den letzteren der eigentliche Ernst der Untersuchung liegt, während die ersteren sich relativ leicht erledigen lassen. In einigen Fällen ergibt sich die deductio ad absurdum schon beim leisesten Anrühren. Das sind die künstlichen Konstruktionen, die nicht der Konsequenz des Problems entspringen, sondern einem Standpunkt zuliebe aufgebaut sind. Und es versteht sich von selbst, daß diese zuerst abgebaut werden müssen. Im Gegensatz zur Reihenfolge der aufgeführten Argumente wird also die Kritik im Ganzen den umgekehrten Weg einhalten müssen. 1. Vor allem muß hier mit dem letzten der aufgeführten Punkte (c. 2) abgerechnet werden. Wenn das Sosein in mente, das Dasein aber extra mentem bestehen soll, so sind nicht nur beide geschieden, sondern man kann nicht einmal mehr sagen, daß beide noch ein und dasselbe Seiende beträfen. Das Sosein nämlich dürfte dann nur ein solches der Vorstellung — des objektiv geformten Bewußtseinsinhaltes — sein, während das Dasein das des Gegenstandes wäre, und zwar nicht des intentionalen, sondern des ansichseienden. Da nun das Ansichseiende nach der Voraussetzung der Theorie anders beschaffen sein soll als der Bewußtseinsinhalt, der es repräsentiert, so muß es doch selbst auch ein Sosein haben; sonst läßt sich ja von keiner Andersheit sprechen. Wenn aber es ein Sosein der Dinge nur in mente geben soll, so kann das Ansichsein nicht noch ein Sosein daneben haben. Es kann also auch nicht anders beschaffen sein. 2. Macht man trotzdem Ernst damit, daß die Dinge, wie sie an sich sind, kein Sosein haben, so fällt aller inhaltliche Unterschied zwischen ihnen hin. Sie müßten alle einander gleich sein, nämlich gleich unbestimmt. Denn alle Bestimmtheit und aller Unterschied ist Sache des Soseins. Was ihnen bliebe, wäre das nackte Dasein ohne Bestimmtheit; und das ist an allen dasselbe. Nur für das Bewußtsein, d. h. in seiner Dingvorstellung, würde die Mannigfaltigkeit bestehen. Aber eben das wäre Irrtum. Das bloße Unterschiedmachen selbst wäre schon der Fehler. Denn die Dinge dürften keine Unterschiede haben. 3. Der Widersinn dieser Konsequenzen ist so auffällig, daß man sich unwillkürlich nach einer Fehlerquelle umsieht. Man findet sie in einer

12. Kap. Die Trennung von Dasein und Sosein

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Art Falschspiel mit den Begriffen „in mente" und „extra mentem". Diese beiden bilden zwar einen Gegensatz aber durchaus nicht einen Widerspruch. Sie schließen sich nicht aus. Was unabhängig vom Subjekt an sich besteht, das kann sehr wohl im Bewußtsein wiederkehren. Und was vom Bewußtsein in bestimmter Weise vorgestellt wird, das kann sehr wohl in eben dieser Bestimmtheit auch an sich bestehen. Anders wäre ein Zutreffen der Vorstellung auf die Sache überhaupt ein Ding der Unmöglichkeit. Und das würde heißen, daß Erkenntnis ein Ding der Unmöglichkeit wäre. 4. Es kann also sehr wohl etwas zugleich in mente und extra mentem vorkommen. Und zwar gilt das sowohl vom Sosein als vom Dasein des Etwas. Es ist nicht wahr, daß das Dasein der Dinge nicht erkannt werden könnte. Es wird nicht nur erkannt und sehr konkret vorgestellt, sondern auch in der Erkenntnis aufs bestimmteste vom Nichtdasein unterschieden. Es kommt also sehr wohl auch in mente vor. Und es ist nicht wahr, daß das erkannte und vorgestellte Sosein nicht auch an den Dingen, wie sie an sich sind, bestehen könnte. Die Vorstellung kann zwar irren, aber sie kann offenbar auch zutreffen. Und eben dieses Zutreffen nennen wir Erkenntnis. Das Sosein kommt also sehr wohl auch extra mentem vor. 5. Einen ähnlichen Fehler beging schon der Nominalismus. Er hatte Recht, indem er ein Sein post rem der Universauen feststellte. Denn das Bewußtsein hat sie. Aber er hatte Unrecht, ihnen deswegen das Sein in rebus abzusprechen. Denn sonst könnte das Bewußtsein sie gar nicht aus den einzelnen Realfällen abstrahieren. Sie müssen dafür schon irgendwie darin sein. Auch hier liegt wohl schon etwas von der irrtümlichen Vorstellung zugrunde, „post rem" und „in re" schließe sich aus. e) Falsche Anwendung der Kantischen Begriffe Kaum weniger fehlerhaft, nur weniger gröblich, ist das Argument, das sich auf Kant zu stützen meint (c. 1). Die Beschaffenheit der „Dinge an sich" ist unerkennbar. Dieser Satz steht noch fest auf Kantischem Boden. Man könnte auch allenfalls hinzufügen: erkennbar ist höchstens ihr Dasein. Damit wäre zwischen Sosein und Dasein nur eine Erkenntnisgrenze gezogen, nicht eine Seinsgrenze. Denn daß Dinge an sich auch ihre Bestimmtheit haben und nicht in diffuser Unbestimmtheit dastehen, daran läßt Kant keinen Zweifel. Er gerade verwechselt nicht Sein und Erkennbarsein. Davon zeugt eindeutig der Gedanke der unerkennbaren Dinge an sich. Die Schiefheit wird erst hineingetragen, wenn man alle Bestimmtheit auf die Seite der Erscheinung, alle Existenz auf die des Dinges an sich nimmt. Dann sieht es so aus, als müßte das Sosein überhaupt und als solches ein bloßes Für-uns-Sein, das Dasein dagegen Ansichsein bedeuten. Und damit erst legt man den Trennungsstrich mitten durch die Dinge — sowohl durch die empirisch realen, welche Erscheinung sind, als durch die

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Zweiter Teil. I.Abschnitt

Dinge an sich. An beiden aber ist die Folgerung so unkantisch wie möglich. Daß Dinge an sich auch ein Sosein haben, ist die unausgesprochene, aber offenbar selbstverständliche Voraussetzung aller Kantischen Wendungen, die von der Unmöglichkeit sie zu erkennen sprechen. „Was" sie sind, ist unter den Formen unserer Anschauung und unseres Verstandes nicht faßbar. Das Bestehen eines „Was" aber steht gar nicht in Frage. Und ebenso ist es mit dem Dasein. Dieses ist keineswegs den Dingen an sich vorbehalten. Es gibt auch empirisches Dasein in der Erscheinung. Wird doch der Terminus „Dasein" von Kant geradezu für empirische Realität gebraucht. Das „Dasein der Dinge außer mir" in der „Widerlegung des Idealismus" meint durchaus nicht das der Dinge an sich. Aber es meint doch etwas vom Sosein der empirischen Dinge Verschiedenes. Jedenfalls kann man sich nicht auf Kant berufen, wenn man Dasein als Ansichsein, Sosein als bloßes Fürunssein versteht. Es ist nicht unwichtig, sich klarzumachen, daß sich derartiges in Kantischen Begriffen nicht ohne Widerspruch denken läßt. Aber wichtiger noch ist es, ohne Berufung auf geschichtliche Autorität Klarheit darüber zu gewinnen, warum das auch grundsätzlich und unter Preisgabe aller Rücksicht auf überlieferte Begriffe nicht möglich ist. Der Fehler nämlich liegt tiefer. Er wurzelt in einer Auffassung des Daseins, die ihm einen ontischen Vorrang vor dem Sosein gibt: eigentliches Ansichsein sei nur das Dasein, also das Existieren als Solches. Existenz könne man von Beschaffenheiten nicht aussagen. Das Sosein der Dinge aber bestehe in ihren Beschaffenheiten sowie allem, was gleichen Seinsrang mit ihnen hat, also Beziehungen, Zusammenhängen oder Abhängigkeiten aller Art. Das hieße also: das Sosein der Dinge „ist" nicht nur nicht Existenz, sondern es „hat" auch nicht Existenz. Wohl kommt die Existenz den Dingen zu. Aber sie betrifft allein die Seite des Daseins an ihnen, nicht die des Soseins. Aber eben diese Bewertung des Daseins als bevorzugte Seite des Seienden ist das Vorurteil. Sie stammt aus dem scholastischen Verhältnis von existentia und actualitas, und sie muß mit ihm fallen. Es ist nicht wahr, daß das Sosein der Dinge nicht mit zu ihrer Realwirklichkeit (zu ihnen als actu entia) gehörte. Es hat vielmehr selbst ein „Dasein an ihnen". Wir sagen, die Beschaffenheiten bestehen „an" den Dingen; und wir meinen damit, sie sind wirklich an ihnen vorhanden, nicht etwa ihnen vom Dafürhalten angehängt. Das Dasein der Dinge aber ist Dasein der so-seienden Dinge, nicht einer abstrakten Dingheit (Existenz überhaupt) ohne Bestimmtheit. Gerade der letzteren würde man kein Dasein zusprechen dürfen. Und wie mit den Dingen, so ist es mit allem anderen Seienden auch. Es ist also nicht wahr, daß das Sosein keine Existenz habe. Eher noch könnte man sagen, daß das Soseiende gerade das allein Existierende ist. Und ebenso ist es nicht wahr, daß das Dasein das eigentliche Ansichsein

13. Kap. Aufhebung der Trennung

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sei. Das Dasein hat keinen Seinsvorrang vor dem Sosein. Da gerade das Seiende es ist, was allein Dasein haben kann, so muß man mit demselben Recht sagen können, daß sein Sosein echtes Ansichsein ist. Das Gewicht einer Kugel (ein Bestandstück ihres Soseins) hat dieselbe Seinsweise wie die Kugel selbst. Und wenn die Kugel Dasein hat, so hat auch ihr Gewicht dasselbe Dasein. Hat es dieses Dasein nicht, so kommt es der Kugel auch nicht zu; d. h. dann ist es auch nicht ihr Gewicht. Allgemein gesprochen: ein Sosein, dem kein Dasein an etwas zukommt, ist gar nicht das Sosein dieses Etwas. 13. Kapitel. Aufhebung der Trennung

a) Gesetzeserkenntnis und Existenz der Fälle Nach Erledigung der gröblichen Mißverständnisse gilt es, den ernsthaften Argumenten beizukommen. Unter ihnen liegen die erkenntnistheoretischen noch ziemlich nah der Oberfläche. Das eine von ihnen (Kap. 12b 4) beruft sich auf die Allgemeinerkenntnis, insonderheit die Gesetzeserkenntnis. Hier ist das Sosein einer unendlichen Reihe von Fällen erfaßt, nicht aber ihr Dasein. Nur die Leerstelle möglicher Realfälle ist gegeben, nicht diese selbst. Kann nun das Sosein ohne Dasein erkannt werden, so scheint zu folgen, daß es auch wirklich kein Dasein hat. In diesem Argument ist etwas Bestimmtes ganz richtig gesehen. Daß die Gesetzlichkeit von etwas in gewissen Grenzen erkennbar ist, während das Dasein des Etwas unerkannt bleibt, ist nicht nur eine unbestreitbare, sondern auch eine höchst auffällige Tatsache. Man ist, wenn man sich einmal von ihr überzeugt hat, geneigt, in diesem Erkenntnisphänomen die eigentliche Wurzel der üblich gewordenen Trennung von Dasein und Sosein zu sehen. Wie sich denn seit Platon alle Ideen-, Form- und Essentia-Theorien auf dieses Phänomen gestützt haben. Die Frage ist nur, ob das Phänomen ontologisch zutreffend ausgedeutet worden ist. Und hier liegt eben der Fehler. Es ist derselbe Fehler, der bei den reflektierten Fassungen des Seienden (Kap. 9b) aufgedeckt wurde: die Erkenntnisgrenze wird irrtümlich für eine Seinsgrenze genommen. Man meint, weil die Existenz einer ins Unendliche gehenden Reihe von Fällen nicht erkannt werden kann, so hätten die Fälle selbst auch keine Existenz; da aber ihr Sosein gleichzeitig erkannt wird, so gibt es offenbar dieses Sosein. Es gibt also ein Sosein des Nichtexistierenden. Dieser Schluß ist ein Fehlschluß. Die Existenz unerkannter Fälle kann in keiner Weise bestritten werden. Schon aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht. Sonst hätte es ja gar keinen Sinn, daß sich die Wissenschaft, wenn sie ein Gesetz zum voraus erfaßt hat — oder auch nur hypothetisch annimmt, — hinterher nach den Realfällen umsieht. Sie tut es zwar nicht, um der vollständigen Reihe empirisch habhaft zu werden, 8

H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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Zweiter Teil. 1. Abschnitt

denn das kommt nicht in Frage, sondern nur um an charakteristischen Fällen die Verifizierung des noch Fragwürdigen zu gewinnen. Aber auch das ist schon beweisend dafür, daß sie von vorn herein der Existenz solcher Fälle gewiß ist. Die Wissenschaft also macht die Erkenntnisgrenze nicht zur Seinsgrenze. Sie folgt darin treulich der natürlichen Einstellung. Erst die spekulativen Theorien verkehren das Verhältnis. Was in der Gesetzeserkenntnis gemeint ist, wenn sie das am Einzelfall erkannte Sosein auf eine unendliche Reihe von Fällen ausdehnt, ist also gar nicht das, was das Argument behauptet. Gemeint ist gar nicht das allgemeine Sosein nichtexistierender Fälle, sondern das von existierenden Fällen. Daß deren Existenz nicht konstatiert ist und auch in der Totalität nicht konstatierbar ist, ändert hieran nichts. Desgleichen ändert es nichts daran, daß die Mehrzahl dieser Fälle der Vergangenheit und Zukunft angehört, also teils wirklich nicht mehr, teils wirklich noch nicht existiert. Denn man meint ja gar nicht, daß sie alle zugleich in der Zufälligkeit eines bestimmten Jetzt existieren müßten. Das Vergangene vielmehr ist etwas, was zu seiner Zeit existiert hat, und das Zukünftige ist etwas, was zu seiner Zeit existieren wird. Und dieses Existierthaben und Existierenwerden ist dieselbe Existenz wie das gegenwärtige Existieren. Es ist ein Irrtum, der Gegenwart allein Existenz vorzubehalten. Und selbst wenn man den irrigen Vorbehalt machen wollte, so könnte man doch nicht in Abrede stellen, daß die vergangenen Fälle alle ihr Jetzt gehabt haben und in ihm existiert haben, die zukünftigen aber alle es haben werden und in ihm existieren werden. b) Das gnoseologisch Irritierende in der Erkenntnis a priori Das alles sollte eigentlich selbstverständlich sein. Die Selbstverständlichkeit ist nur deswegen verloren gegangen, weil uns die natürliche Einstellung zur Welt abhanden gekommen und durch reflektierte verdrängt worden ist. Ein Beweis, wie sehr für die Ontologie alles daran liegt, die intentio recta wiederzugewinnen. Irritierend bleibt auch nach der vollzogenen Richtigstellung im Wesen der Gesetzeserkenntnis die Ausschließlichkeit, mit der sie auf das Sosein geht. Der erkenntnistheoretische Hintergrund der letzteren liegt im Wesen des Apriorischen. Damit geht das Problem auf einen anderen Fragepunkt über (Kap. 12b. 3). Erkenntnis des Daseins gibt es nur a posteriori; Erkenntnis a priori erfaßt nur das Sosein. Auch dieses darf man als Befund hinnehmen, wenigstens zunächst. Es fragt sich nur, ob daraus folgt, daß Dasein und Sosein trennbare Bestandteile des „Seienden als Seienden" sind. 1. Was zunächst in die Augen springt, ist der Umstand, daß die soeben durchgeführte Erörterung der Gesetzeserkenntnis sich ohne weiteres auf das apriorische Element in aller Erkenntnis überträgt. Die Erkenntnis

13. Kap. Aufhebung der Trennung

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a priori, wo sie rein als solche herauspräpariert, also aus dem Ganzen des Erkenntniszusammenhanges als Element herausgelöst wird, hat eben die Form des Allgemeinen. Sie ist Gesetzeserkenntnis oder, wie ältere Auffassungen es verstehen, reine Formerkenntnis. Es folgt also, daß die Existenz der unendlich vielen Fälle, die sie vorsieht, in ihr gerade vorausgesetzt ist. Daß sie selbst und als solche sie nicht erkennt, ändert daran nichts. Unerkanntes Dasein ist um nichts weniger Dasein als erkanntes. 2. Im Felde der Realerkenntnis (Erkenntnis des real Seienden) kommt das apriorische Element isoliert nicht vor. Wo man es künstlich isoliert, wie das in gewissen Theorien freilich geschieht, da hört es auf, Erkenntnischarakter — objektive Gültigkeit — zu haben, und geht in Spekulation oder freies Spiel der Kombination über. Hier ist die Errungenschaft der Kritik der reinen Vernunft festzuhalten, daß alles Operieren mit „reinen Verstandsbegriffen" nur im Felde „möglicher Erfahrung" und in ständiger Bückbezogenheit auf diese den Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben kann. Das wäre anders, wenn unser Verstand ein „intuitiver" wäre. Der Sinn dieser Kantischen Bestimmung, bezogen auf unser Problem, ist aber gerade dieser: es wäre anders, wenn das apriorische Element unserer Erkenntnis auch rein für sich, ohne Hilfe der Erfahrung, das Dasein der Dinge erfassen könnte. Die Konsequenz ist schlagend: es gibt apriorische Erkenntnis nur so weit, als der aposteriorischen das Dasein der Fälle zugänglich ist. Sie ist also gar nicht Erkenntnis von nichtdaseienden, sondern nur von daseienden Fällen. 3. Mit der Idealerkenntnis ist es anders. Sie ist überhaupt nur apriorisch. Eine Erkenntnis a posteriori gibt es vom idealen Sein nicht. A posteriori erkennen heißt „vom Einzelfall her erkennen", aber Einzelfälle hat das ideale Sein nicht. Was aber die ideale Existenz — etwa mathematische Existenz — anlangt, so ist diese mit dem Sosein stets gegeben, und zwar auch a priori gegeben. Darüber wird noch Rechenschaft zu geben sein. Jedenfalls aber kann hier erst recht nicht von Trennung des Soseins vom Dasein die Rede sein. 4. Die vermeintliche Trennung im Gebiet der Realerkenntnis stützte sich auf die beiden Sätze: Erkenntnis des Daseins gibt es nur a posteriori, und Erkenntnis a priori erfaßt nur das Sosein. Man beachte aber, daß diese beiden Sätze nicht umkehrbar sind. Man kann nicht sagen, a posteriori gebe es nur Erkenntnis des Daseins; schon die primitive Dingwahrnehmung ist reich an inhaltlicher Bestimmtheit. Und man kann ebensowenig sagen, das Sosein einer Sache erfasse nur die Erkenntnis a priori. Vielmehr ist es offenbar so: zum Sosein der Dinge hat die Erkenntnis beide Zugänge, zum Dasein nur einen, den aposteriorischen. Der ontologische Gegensatz von Dasein und Sosein also und der gnoseologische von a posteriori und a priori stehen nicht einmal parallel zueinander, geschweige denn daß sie sich inhaltlich deckten. Aus dem letzteren also wäre ein Trennungsstrich im ersteren selbst dann nicht ableitbar, wenn ein solcher sich im Erkenntnisgefüge wirklich fände. 8*

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Zweiter Teil. I.Abschnitt

5. Schließlich haben die beiden angeführten Sätze nicht einmal strikte, sondern nur bedingte Geltung. Nur unmittelbar ist die Erkenntnis a priori reine Soseinserkenntnis. Mittelbar erstreckt sie sich auf alles Erkennbare, also auch auf Existenz als solche. Was „mittelbar" hier heißt, ist sehr leicht zu sagen: es trifft überall da zu, wo das apriorische Element der Erkenntnis die Vermittlung bildet, wo also etwa auf Grund empirischer Daten „durch" Gesetzeserkenntnis eingesehen wird, daß etwas nicht direkt Erfahrbares existieren muß. So wurde die Existenz des Siriusbegleiters aus der beobachteten Bewegungskurve des Hauptsternes errechnet. So weiß der Arzt aus dem Krankheitssymptom um das Vorhandensein des Erregers. Ohne aposteriorischen Ausgang wird hier gar nichts erkannt; aber mit ihm wird das Dasein von etwas a priori erkannt. c) Der schiefe Maßstab der Definierbarkeit Es ist wahr, die Definition einer Sache betrifft nur ihr Sosein; das Dasein als solches bleibt aus ihr heraus (Kap. 12b. 1). Man müßte freilich hinzufügen, sie enthält stets nur einen Teil des Soseins, etwa das Essentielle oder was man dafür hält. Immerhin ist sie grundsätzlich jeder Erweiterung fähig und kann sich in einfachen Fällen wohl auch auf das ganze Sosein erstrecken. Aber auch bei idealster Totalität bliebe das Dasein noch jenseits ihrer bestehen. Das scheint zunächst wenig zu besagen. Warum sollte alles an einem Seienden definierbar sein? Wer wollte sich anheischig machen, Geschehnisse des Lebens zu definieren oder die Selbstbewegung des Lebendigen, die Stimmungen der Menschenseele? Aber man sieht leicht, daß die Sache so einfach nicht liegt. Es ist etwas anderes, ob nur die Ungreifbarkeit, Flüchtigkeit oder Komplexheit der Sache der Definierbarkeit eine Grenze vorzieht, oder ob das einfache, lapidare Seinselement der Existenz es tut. Im ersteren Falle liegt der Grund beim Erkennen oder auch bei der Plumpheit des Begriifsmaterials; und da gibt es wenigstens grundsätzlich die Möglichkeit weiterzukommen. Im letzteren Falle aber scheint der Grund auf der Seite des Seins zu liegen; jedenfalls ist die Grenze eine absolute. Indessen, wenn auch der Grund für das Auftreten der Grenze beim Seienden liegt, folgt daraus noch nicht, daß es eine eigentliche Seinsgrenze sei. Es kann ja ebenso sein wie mit der Erkennbarkeitsgrenze, die auch keine Seinsgrenze ist, sondern nur die Reichweite der Objizierbarkeit am Seienden absteckt, während das Seiende selbst gegen sie indifferent bleibt. So läßb sich auch von der Grenze der Definierbarkeit — selbst wenn sie eine absolute ist — nur sagen, daß sie die Grenze des logisch Faßbaren am Seienden ist. Existenz eben ist etwas grundsätzlich Alogisches. Aber der Unterschied des Logischen und Alogischen ist kein Seinsunterschied. Dazu kommt ein Zweites. Es ist nicht etwa so, daß jede besondere Art von Dasein logisch unbestimmbar wäre. Nimmt man etwa das Kantische

14. Kap. Die Urteilstypen und ihre Überführbarkeit

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Beispiel von den 100 Talern auf, so ist ihre Existenz in meinem Vermögensbestande sehr wohl in ihre Definition einbeziehbar. Spezielle Daseinsweise nähert sich eben dem Sosein und läßt sich grundsätzlich in dieses einfügen; sie besteht in diesem Falle im Mein-Sein. Das gibt zu denken, und zwar in umgekehrter Richtung als das roh gefaßte Grenzphänomen. Tatsächlich nämlich gibt es in der Welt das nackte, allgemeine Dasein nicht. Es ist stets bestimmt geartetes Dasein, und das bedeutet Dasein in bestimmten Verhältnissen, Bestehen in bestimmter Relation zu etwas. Das Dasein des Etwas freilich, zu dem es in Relation besteht, ist darin stets vorausgesetzt. Aber unter dieser Voraussetzung ist das bestimmte Dasein des definiendum durchaus einbeziehbar in die Definition. Damit aber ist mittelbar auch das allgemeine Dasein mit einbezogen. Die Konsequenz ist: die Begrenztheit der Definierbarkeit läßt nicht nur auf keine Trennung von Dasein und Sosein sehließen, sie beweist vielmehr, daß auch die Grenze des Logischen keine strikte ist. Ja, es scheint, daß sich hier eine Art kontinuierlichen Überganges von Sosein in Dasein (und umgekehrt) fassen läßt, wie denn das Mein-Sein sich ohne Schwierigkeit als dem Sosein zugehörig ansehen läßt. Es fragt sich nur, ob dieses eine bloß logische oder ontische Verschiebung ist. Sollte das letztere sich bewahrheiten, so würde sich die Sachlage von Grund aus umkehren. Sosein und spezielles Dasein würden am Seienden selbst gegeneinander relativiert sein, und das allgemeine Dasein würde nur einen abstrakten Grenzfall bilden. 14. Kapitel. Die Urteiletypen und ihre Überführbarkeit

a) Sonderstellung des Existenzialurteils und das esse praedicativum Was der Begriff nicht faßt, das nackte Dasein, dafür hat das Urteil Raum. Die Form, in der es Dasein aussagt, ist das Existenzialurteil vom Typus „S ist". Die Tatsache dieses Urteilstypus — als eines zweiten und besonderen neben dem Soseinsurteil „SistP"—ist zweifellos ein Hauptmotiv in der ontischen Scheidung von Dasein und Sosein (vgl. Kap. 12 b. 2). Was für ein logischer Befund aber liegt hier eigentlich vor? Es ist wahr, daß alle Urteile sich in diese zwei Typen aufteilen lassen; ja man kann die Teilung auch bis in die besonderen Formen der Urteile hinein durchführen — in die Quantitätsunterschiede, ins Negative, ins Hypothetische und Disjunktive, ins Problematische und Apodiktische. Aber es ist nicht wahr, daß zwischen dem Soseins- und dem Daseinsurteil kein Übergang wäre; und es ist ebensowenig wahr, daß der formalen Scheidung der Urteilstypen auch eine ontische Geschiedenheit der Seinsmomente entspräche. Das klingt zunächst unglaubwürdig. Die logische Tradition steht geschlossen wie eine Mauer dagegen. Die Sonderstellung der Existenzial-

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Zweiter Teil. I.Abschnitt

urteile ist durch eigene Sonderform belegt. Wie sollte sich die aufheben lassen? Aber eben das ist der fragwürdige Punkt. Die logische Form ist im Hinblick auf den Seinsgehalt der Urteile durchaus nicht das Ausschlaggebende. Man vergißt über der scheinbaren Selbständigkeit der Formalverhältnisse, daß die Urteile einen Seinsgehalt haben, ja daß ihr Aussagecharakter eben darin besteht, daß sie „ihn" aussagen. Es ist kein Zufall, daß die sprachliche Form der Aussage eine Seinsform ist — das „ist", die Copula. Es ist irrig, die Copula als Nebensache im Urteil zu behandeln. Sie ist die logische Hauptsache, das Zeichen der Aussage als solcher, das signum des Zukommens oder Nichtzukommens (des Aristotelischen ). Sie ist die Trägerin des esse praedicativum. Eine Fülle von Irrtümern der logischen Theorien ist hier zu bereinigen. Nur einige Beispiele seien hier angeführt. Es ist nicht wahr, daß nur die Qualität und die Modalität der Urteile an der Copula hängt; auch die Quantität und die Relation wurzelt in ihr. Am Unterschiede des „ist" und „ist nicht" tritt das nur unmittelbar in die Erscheinung; desgleichen am Unterschied des „kann sein", „ist" und „muß sein". Aber man braucht sich in das Wesen des prädikativen Seins nur ein wenig zu vertiefen — d. h. das zu tun, was die formalen Theorien vermeiden —, um einzusehen, daß auch das disjunktive und hypothetische Verhältnis an der Copula hängt und daß beide Transformationen des „ist" sind. Am „ist entweder — oder" läßt sich das noch direkt sehen: am „wenn — so" ist es durch die sprachliche Form verdeckt, läßt sich aber herausheben, sobald man sich auf den besonders gearteten Seinssinn im Abhängigsein besinnt. Und was die Quantität anlangt, so ist nichts irriger, als sie in das S zu verlegen. Denn nicht daraufkommt es an, ob „alle S" beisammen sind oder nur „einige", sondern ob sie alle „P sind" oder nur einige „P sind". Wenn das Urteil besagt, daß P dem S „zukommt", so liegt offenbar der Quantitätsunterschied einzig darin, ob das „Zukommen" selbst ein allgemeines oder partikuläres ist. Geht man nun unter Abstreifung der formalistischen Irrtümer vom primären Sinn des esse praedicativum aus, so fällt auch der Gegensatz der Daseins- und Soseinsurteile hin. Davon kann man sich in den folgenden Überlegungen überzeugen. b) Überführung der Daseinsurteile in Soseinsurteile Das Existenzialurteil unterscheidet sich vom Normaltyp des Soseinsurteils keineswegs durch die sprachliche Form allein, sondern auch durch die logische. Aber auch die logische Form ist nicht identisch mit dem prädikativen Seinsgehalt des Urteils. Wenn man „S a P" kontraponiert, so bekommt man der Form nach ein anderes Urteil: „non-P e S". Das ist der Grund, warum die formale Logik die Kontraposition für eine Schlußform erklärt. Dagegen ist immer mit Recht eingewandt worden:

14. Kap. Die Urteilatypen und ihre Uberführbarkeit

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hier wird doch in der Konklusion nichts neues ausgesagt, es ist nur eine Transformation desselben prädikativen Seinsgehaltes. Daß alle S P sind, das heißt doch eben, daß nichts, was nicht P ist, S ist. Der Konsequenz der Formen tut man damit Unrecht. Aber im Sinne des Seinsgehalts hat das Argument Recht. Genau so ist es mit der Formverschiedenheit des Daseins- und Soseinsurteils. Die Form ,,S ist", welche die Existenz prädiziert, läßt sich ohne Veränderung des prädikativen Seinsgehalts jederzeit in die Form,,S ist P" überführen — genau so wie das a-Urteil durch Kontraposition in das äquivalente e-Urteil übergeführt wird. Man braucht dazu das Daseinsurteil nur in seinen vollen Seinsgehalt aufzulösen. ,,S ist" besagt ja nicht ein unvollständiges Urteil, eines, dem etwa das P fehlte; dann wäre es vielmehr gar kein Urteil. Es besagt auch nicht, daß S etwas Beliebiges, unbestimmt „was" sei, sondern gerade daß es etwas sehr Bestimmtes, nämlich ein Seiendes ist. Was hier prädiziert wird, ist das Dasein, die Existenz. Das voll ausgeformte Urteil würde lauten ,,S ist seiend" oder ,,S ist existent". Das in der elliptischen Form nicht ausgesprochene, aber sehr wohl gesetzte P ist die Existenz. Daß überhaupt Existenz ausgesagt werden kann, mag merkwürdig sein oder nicht, Tatsache ist, daß sie ausgesagt wird, und zwar ganz eindeutig. Daß aber die Form des Urteils dabei eine elliptische wird, liegt an der Zweideutigkeit des Wortes „ist". Dieses kann die Copula bedeuten, es kann aber auch Existenz bedeuten; im letzteren Falle erscheint die Copula noch mit in der Verbalform. Wäre dem nicht so, so müßte die Copula in ,,S ist P" mit dem Prädikat von „S ist" vertauschbar sein. Dann wäre kein Unterschied im prädikativen Sein zwischen „ist" und „ist". Das aber widerstreitet dem Sinn der beiden Urteile. Das „ist" als Zeichen des Zukommens ist wesensverschieden vom „ist" als Existenzialprädikat. Daseinsurteile sind nur der logischen Form nach von Soseinsurteilen verschieden. Dem ausgesagten Seinsgehalt nach gehen sie ohne Abstrich im expliziten Grundtypus des Urteils auf. Dieser aber ist der des Soseinsurteils. Die Bezeichung freilich erweist sich dabei als einseitig. Es besteht also nicht nur kein Grund, von den Urteilen aus auf eine ontische Grenze zwischen Sosein und Dasein zu schließen; sondern es besteht nicht einmal logisch an den Urteilen selbst — an ihrem prädikativen Semsgehalt — eine solche Grenze. c) Nackte und bezogene Daseinsaussage Für den Zweck bloßer Widerlegung eines Arguments könnte das Gesagte genügen. Das Argument stand auf einer irrigen Voraussetzung, der Irrtum ist aufgedeckt, das Argument ist gefallen. Aber nachdem wir einmal so weit hineingeblickt haben, tut sich ein anderer Durchblick auf, der zuerst nicht zu vermuten war. Ihm müssen wir noch einen Schritt weiter nachgehen.

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Zweiter Teü. I.Abschnitt

Es scheint nämlich, daß die Überführbarkeit der Urteilstypen eine gegenseitige ist, daß also nicht nur das Daseinsurteil in ein Soseinsurteil, sondern auch dieses in ein Daseinsurteil umgeformt werden kann, ohne daß der Gehalt des prädikativen Seins geändert wird. In der Tat läßt sich das erweisen, wenn man es zuwege bringt, rein auf das Sein der Aussage hinzublicken und sich vom Versagen der sprachlichen Form nicht irremachen zu lassen. Denn eben die Sätze nehmen hierbei Formen an, die von der Umgangssprache aus willkürlich und gekünstelt erscheinen müssen. Aber man vergesse nicht, daß die Umgangssprache nur an den Bedarf des Lebens, nicht an Prinzipienfragen der Logik angepaßt ist. Man betrachte die Reihe der Sätze: „Die Tafel ist viereckig" — „die Tafel hat vier Ecken" — „an der Tafel sind vier Ecken" — „die vier Ecken an der Tafel sind". Die beiden ersten Sätze zeigen den Typus des Soseinsurteils, der letzte den des Daseinsurteils. Im ersten ist das „ist" Copula, im letzten ist es Existenzprädikat. Dennoch sind die Sätze bei genauem Zusehen äquivalent. Man wende nicht ein, daß niemand im Leben so einen Satz wie den vierten sagen wird. Nicht darauf kommt es an. Übrigens bildet der dritte Satz deutlich die Übergangsform; und das allein sollte schon zu denken geben. Wichtig ist hier nur das eine: der Gehalt des prädikativen Seins ist derselbe. Was anders heißt denn das Viereckigsein der Tafel als dieses, daß es an ihr vier Ecken gibt, daß also die Ecken an ihr ein Dasein haben? Hier läßt sich nicht einwenden, „Dasein an etwas" sei doch nicht Dasein schlechthin. Nacktes Dasein kommt in der Welt nur als abstrakter Grenzfall vor. Alles wirkliche Dasein ist bestimmtes, in gewissen Beziehungen auftretendes Dasein. In allen Daseinsaussagen ist auch nur ein solches gesetzt, auch dann, wenn die Beziehungen nicht mit ausgesprochen sind. Aber auch wenn es nacktes Dasein geben sollte, das bezogene ist ja doch dasselbe Dasein. Existenz ist gleichgültig gegen alles Woran und Worin. d) Überführung der Soseinsurteile in Daseinsurteile Behält man dieses im Auge, so läßt sich sagen: jedes Soseinsurteil sagt das Dasein von etwas an etwas aus. Es sagt z. B. in Wahrnehmungsurteilen das Dasein der Farbe, der Raumgestalt, der Größe, der Härte, oder auch der Teile — an einem Dinge — aus. Ein sehr im Dinglichen befangenes Denken könnte hier freilich meinen, Farbe, Gestalt, Härte habe doch kein Dasein. Aber damit substanzialisiert es das Dasein, reserviert es für Dinge. Und das eben ist der Irrtum. Hätten die Beschaffenheiten des Dinges kein Dasein an ihm — Existenz im strengen Sinne —, so wäre das existierende Ding ja gar nicht in Wirklichkeit so beschaffen. Sein Sosein besteht im Dasein der Beschaffenheiten an ihm — ihrem Vorkommen, ihrem Bestehen, ihrem Vorhandensein an ihm. Die letzteren Ausdrücke sind nichts als Umschreibungen des Daseins.

15. Kap. Aufhebung des ontologischen Scheines

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Formal ausgedrückt heißt das: jedes Urteil „S ist P" läßt sich umformen in ein Urteil „es gibt P an S"; wobei das „es gibt" das Dasein ausspricht. Jedes Soseinsurteil also kann die Form eines Daseinsurteils annehmen. Und hält man das mit dem ersten Resultat zusammen, so ergibt sich, daß beide Urteilstypen ineinander überführbar sind. Die Reduzierbarkeit ist gegenseitig. Es ist kein Zufall, daß diese Überlegung bereits eine mehr ontologische als logische ist. Der Sinn des Urteils und der Gehalt des prädikativen Seins sind wesentlich ontologisch bedingt. Aussage ist eben ihrem Sinn nach Seinsaussage und meint Seiendes — auch dann, wenn die logischformale Reflexion für ihre Zwecke davon absieht. Das Zupassen des Urteils auf die Seinsverhältnisse ist kein äußerliches. Sonst wäre alle Urteilsbildung ein leeres Spiel des Gedankens. Aus dem geklärten Verhältnis der Daseins- und Soseinsurteile also ergibt sich nicht nur kein ontischer Trennungsstrich zwischen Dasein und Sosein des Seienden, sondern nicht einmal ein solcher zwischen den Urteilstypen. Und hält man sich nun an das geheimnisvolle Band, welches die logische Form mit dem Seienden verknüpft — dasselbe Band, das auch das nunmehr widerlegte Argument in Anspruch nahm —, so ergibt sich ein weiterer Durchblick: da die Urteile ineinander übergehen, so steht zu erwarten, daß auch am „Seienden als Seienden" das, was sie aussagen — Dasein und Sosein —, ineinander übergehen muß. Und dann entsteht die Frage, welchen Sinn eigentlich noch die Unterscheidung von Dasein und Sosein behält.

II. Abschnitt Ontiech positives Verhältnis von Dasein und Sosein 15. Kapitel. Aufhebung dee ontologüchen Scheines

a) Ontologischer Mißbrauch der Substratkategorie Die gnoseologischen und logischen Argumente gehören zwar der intentio obliqua an, sollten also ontologisch von vorn herein fragwürdig sein. Ihre Widerlegung aber hat gezeigt, daß bei ihnen die innere Quelle des Scheines liegt, der das Verhältnis von Sosein und Dasein verdunkelt. Sie mußten daher zuerst abgebaut werden. Die ontologischen Argumente sind zwar die zentralen, aber die Beirrung, die von ihnen ausgeht, ist gering gegen jenen Schein; und sie läßt sich leicht beheben, wenn letzterer den Blick nicht mehr beeinträchtigt. Da ist zuerst das Argument der Substrathaftigkeit (Kap. 12a. 1). Es faßt das Verhältnis als ein Anhaften: das Dasein ist das Substrat der Beschaffenheiten: diese machen das Sosein der Sache aus. Sie sind etwas

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Zweiter Teil. 2. Abschnitt

„am" Dasein, nicht dieses etwas „an" ihnen. Beides geht nie ineinander über. Es sind heterogene Momente am Seienden. Daraus folgert dann das Argument die Trennung von Dasein und Sosein. Darin stecken wieder mehrere Fehler: 1. Auch heterogene Momente können sich in der Einheit eines Gebildes durchdringen. So durchdringen sich in der Dingwahrnehmung Gestalt und Farbe. Sie bleiben heterogen, fließen nicht ineinander, stehen aber doch wesensbezogen da. Auch mit Dasein und Sosein könnte es ähnlich stehen. 2. Man kann wohl das Sosein als Gegenstück zu einem Substrat auffassen; es hat den Charakter der Form, der Bestimmtheit, der Beschaffenheit. Und diese auf ein formloses Etwas als Träger zu beziehen ist wenigstens sinnvoll. Im Bereich des Dinglich-Physischen hat man dafür den Begriff der Materie geprägt. Einem solchen Träger würde dann alles, was zum Sosein gehört, „anhaften". Aber Dasein ist durchaus kein Träger. Es hat weder den Charakter der Materie noch den des Substrats. Es ist nicht etwas „Seiendes" neben anderem Seienden, oder hinter ihm, unter ihm; also auch nicht etwas, „an" dem etwas anderes sein Bestehen haben könnte. Es ist vielmehr die Seinsweise des ganzen Seienden, einerlei, woraus dieses sich zusammensetzen mag. Besteht wirklich das Seiende aus einem Substrat mit daran haftenden Beschaffenheiten, so erstreckt sich das Dasein als Seinsweise ebensowohl auf die Beschaffenheit wie auf das Substrat. Und das letztere ist um nichts mehr ein Daseiendes als die ersteren. Es sind also in dem Argument zwei gänzlich windschief zu einander stehende Momente — die freilich beide echt ontische Momente sind — miteinander verwechselt: Seinsträgerschaft und Seinsweise. Das wirkliche Verhältnis zwischen ihnen zu klären kann erst in einer Analyse der Substratkategorie gelingen. Das ist eine viel speziellere und spätere Aufgabe. Die Seinsweise dagegen ist eine Fundamentalangelegenheit der ganzen Ontologie. Man kann sie nicht auf eine einzelne von vielen Kategorien beschränken, die alle in gleicher Weise sie voraussetzen. Das Dasein als Seinsweise spaltet sich nach den besonderen Seinsweisen als reales und ideales Dasein; und denkbar bleibt es, daß solcher Daseinsweisen noch mehr sind. Aber es ist offenbar sinnlos, Idealität oder Realität als Substrate möglicher Beschaffenheiten zu verstehen. Sie kommen vielmehr den besonderen Substraten, die in den beiden Seinssphären vorkommen, ebenso zu wie den getragenen Beschaffenheiten. 3. Ein Motiv dieser Verwechslung liegt im Wortsinn von „Dasein"; es klingt darin etwas von der Drastik des materiell Greifbaren an. Aber die Bedeutung in der Umgangssprache schwankt. Man spricht auch vom menschlichen „Dasein", und auch in dieser Bedeutung klingt ein Unterton von Substanzialität mit. Von beidem ist der ontologische Sinn des Wortes streng zu unterscheiden. Das gelingt am leichtesten, wenn man

15. Kap. Aufhebung des ontologischen Scheines

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sich an den parallelen Ausdruck „Existenz" hält. Aber die Neigung zur Substanzialisierung ist auch in ihm nicht ganz vermieden. Ein weiteres Motiv liegt in der mangelnden Unterscheidung von „Dasein" und „Daseiendem". Ein Daseiendes kann natürlich auch Substrat sein, kann Träger von Beschaffenheiten sein. Man vergißt nur dabei, daß dann die Beschaffenheiten ebenso daseiende Beschaffenheiten sind. Der Daseinscharakter trennt das Substrat nicht von ihnen, sondern verbindet es mit ihnen. b) Die vermeintliche Indifferenz und Zufälligkeit des Daseins Das bedeutendste der ontologischen Trennungsargumente ist ohne Zweifel das der Indifferenz (Kap. 12a. 2). Am Dasein macht es keinen Unterschied, ob das Sosein so oder so ausfällt; und am Sosein macht es keinen Unterschied, ob so etwas existiert oder nicht. Aus dem Wesen heraus — und d. h. aus den Wesensstücken des Soseins — ist das Dasein überhaupt nicht notwendig. Es ist das ihm Zufällige und Äußerliche. Und ebenso äußerlich und zufällig ist dem Dasein das bestimmte Sosein. Dieses Argument ist in hohem Maße lehrreich. Es handelt sich in ihm nicht um das eine oder das andere periphere Vorurteil, sondern um die Grundlage, auf der fast die ganze alte Ontotogie sich aufbaute. Das Wanken der Grundlage reißt das Bauwerk mit sich. 1. Man beginnt hier am besten vom Ende. In gewissem Sinne ist freilich das Dasein vom Sosein aus zufällig, nämlich für eine Betrachtung, welche die Bestimmtheit schon in Gegensatz zur Existenz gesetzt hat. Man dachte dabei immer an eine Sphäre der reinen essentia, die man auch abgelöst für sich betrachten kann. Dann aber nimmt man zwei Schwierigkeiten mit in Kauf. Erstens sind von der essentia aus auch die akzidentellen Bestandteile des Soseins ebenso zufällig wie das Dasein; die Grenze von notwendig und zufällig ginge also nicht zwischen Dasein und Sosein durch, sondern mitten durch das Sosein. Womit die Stringenz des Arguments schon gesprengt ist. Und zweitens hat man die essentia zum idealen Sein gemacht, die Existenz aber gleichwohl dem Realen belassen, und zwar ihm allein. Man hat also den Gegensatz verschoben. Er spielt jetzt nicht mehr innerhalb eines und desselben Seienden, sondern zwischen zwei Seinssphären mit verschiedener Seinsweise. Daß nach der Theorie die Formen des idealen Seins sich in das reale hineinerstrecken und es beherrschen, ändert dann nichts mehr daran. 2. Daß man auf diese Weise das eigenartige Verhältnis von Dasein und Sosein verfehlt, ergibt sich schon daraus, daß beide vielmehr offenkundig als Momente eines und desselben Seienden gegeben sind; was ja am deutlichsten in der Sphäre des Realen sichtbar ist. Betrachtet man nun umgekehrt beide an einem Realfalle — einem Dinge, einem Geschehnis, einer Person —, So sind sie einander nicht zufällig. Denn jetzt sind sie in einen Realzusammenhang eingegliedert, der es bedingt, daß gerade ein so-

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Zweiter Teil. 2. Abschnitt

seiendes Etwas Dasein hat, und nicht ein anderes, oder, was dasselbe ist, daß gerade das hier und jetzt Daseiende ein so beschaffenes ist. Dieser Zusammenhang ist die Realnot wendigkeit. 3. Der Irrtum also, der hier zugrundeliegt, besteht in der Verwechslung von Wesensnotwendigkeit und Realnotwendigkeit. Die erstere gehört der idealen Seinssphäre an, wie sie denn auch ausdrücklich als die der essentia resp. als das Folgen aus ihr bestimmt ist. Daß die Existenz eines einzelnen Realfalles nicht Wesensnotwendigkeit hat, ist hiernach eine Selbstverständlichkeit. Aber sie braucht deswegen nicht überhaupt zufällige Existenz zu sein; j a sie braucht nicht einmal dem Sosein des Realfalles zufällig zu sein. Denn ein andersbeschaffener Fall hätte im gleichen Realzusammenhange gar nicht zur Existenz gelangen können. Sie ist also im Zusammenhang der Sphäre, der sie angehört, auch mit dem Sosein durch Notwendigkeit verknüpft. Nur eben nicht durch Wesensnotwendigkeit, sondern durch Realnotwendigkeit. 4. Geht man dem Fehler weiter auf den Grund, so zeigt sich, daß in dem Argument der Zufälligkeit die Modalität einer Seinssphäre unbesehen auf die andere übertragen ist. Die andere aber hat vielmehr ihre eigenen Modalverhältnisse und Modalgesetze. Hier liegt der Ausgangspunkt einer langen Reihe von Untersuchungen, die es mit der Herausarbeitung der Modalgesetzlichkeit und ihrer Unterschiede in den Sphären des Seienden zu tun haben. Der hier erörterte Fehler der alten Ontologie ist nicht der einzige, den es da zu berichtigen gilt. Er gibt nur eine Art von erstem Fingerzeig, auf welchem Felde der Untersuchung die entscheidenden Einsichten über das Wesen des Seienden zu gewinnen sind. c) Der Sinn der Indifferenz und ihre Aufhebung Die vermeintliche Zufälligkeit des Daseins hängt, soviel wurde bereits klar, an der irrtümlichen Beziehung des Sphärenunterschiedes von Idealität und Realität auf das Verhältnis von Sosein und Dasein. Da nun jene Zufälligkeit in strenger Parallele zu der Indifferenz steht, von der das Argument eigentlich spricht, so ist zu erwarten, daß es sich bei dieser um denselben Irrtum handelt. 1. Es ist freilich wahr, daß in gewisser Weise das Sosein einer Sache sich als gleichgültig gegen das Dasein verstehen läßt. Aber dann hat man es von vornherein einer anderen Seinssphäre zugewiesen als das Dasein. Die Gleichgültigkeit besteht nur, wenn man Sosein als ideales und Dasein als reales Sein versteht. Das ideale Bestehen der Form — im Sinne der reinen, abgelösten essentia — steht in der Tat indifferent gegen Realität und Irrealität. Man hat es nun mit einem anderen Unterschiede zu tun, dem der Seinsweisen, Idealität und Realität. Aber damit trifft man den Sinn von Sosein und Dasein nicht. Weder ist das Sosein als solches ideales Sein, noch das Dasein als solches reales. Sonst könnte das Reale kein Sosein haben und das Ideale in

15. Kap. Aufhebung des ontologischen Scheines

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seiner Sphäre kein Dasein. Ja, man könnte gar nicht mehr davon sprechen, daß Sosein und Dasein einem und demselben Dinge zugehörten; sie würden nicht nur getrennt, sondern auch beziehungslos dastehen. Das aber meinen auch die verwegensten Trennungsargumente nicht. 2. Es ist vielmehr so: ideales Sein hat sein eigenes Sosein und Dasein. Das letztere mag so gewichtslos sein, wie es will; es behält doch den Sinn des Bestehens in seiner Sphäre. Und reales Sein hat sein eigenes Dasein und Sosein. Mag auch das letztere inhaltlich mit einem Sosein der idealen Sphäre zusammenfallen, es ist doch als das eines Realen nicht identisch mit ihm. Es hat, wie sich schon zeigte, selbst reales Dasein an einem real daseienden Etwas. 3. Dasselbe läßt sich von der anderen Seite sehen. Es ist wahr, daß das Dasein nicht gleich zum Nichtdasein wird, wenn das Sosein sich ändert. In gewissem Sinne also ist freilich auch das Dasein gleichgültig gegen das Sosein. Aber auch diese Gleichgültigkeit besteht nur, wenn Dasein reales Sein und Sosein ideales Sein bedeutet; was aus dem angegebenen Grunde nicht angeht. Man könnte hier einwenden: aber das nackte Realsein — das reale Dasein — ändert sich doch in der Tat nicht, wenn bloß die Beschaffenheit des Daseienden sich ändert; auch dann nicht, wenn man die Beschaffenheit als ebenso reale versteht. Die Wendung indessen verschleiert das Verhältnis nur. Wo in aller Welt gibt es denn ein nacktes Realsein ohne alle Beschaffenheit? Seine Beschaffenheit gehört doch vielmehr mit zu seiner Realität, sie hat an ihm dasselbe reale Dasein wie es selbst. Es handelt sich doch nicht um Ausgeburten spitzfindiger Abstraktion, sondern um Reales. Sieht man von solcher Spielerei ab, nimmt man das reale Dasein einer Sache mitsamt dem zu ihr gehörenden ebenso realen Sosein, so ändert sich die Sachlage. Man kann dann nicht mehr behaupten, das Dasein ändere sich nicht, wenn das Sosein sich ändert. Das Dasein der bestimmt gearteten Sache ändert sich sehr wohl mit ihren Beschaffenheiten. Und wenn diese alle verschwunden sind und anderen Platz gemacht haben, ist auch das Dasein der Sache verschwunden. Es ist zum Nichtdasein der bestimmten Sache geworden. Das ist ontologisch gesehen nicht ein beiläufiger Grenzfall. Es ist vielmehr die durchgehende Seinsart des Realen überhaupt. Es ist nichts geringeres als das Entstehen und Vergehen. 4. Von der Indifferenz des Soseins und Daseins gegeneinander bleibt nichts übrig, wenn man beide als das betrachtet, was sie sind, nämlich als die Seinsmomente eines und desselben Seienden. Beide gehören dann stets derselben Seinssphäre an und haben dieselbe Seinsweise. Reales Dasein ist immer das eines real Soseienden, reales Sosein immer das eines real Daseienden. Die Bindung liegt einfach darin, daß das erstere niemals Dasein eines Unbestimmten oder Beliebigen, sondern stets eines sehr Bestimmten ist. Hier hört jeder Schein der Indifferenz auf. Reales Sosein ist ebenso fest an reales Dasein gebunden wie dieses an jenes.

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Zweiter Teil. 2. Abschnitt

5. Und eben dasselbe gilt innerhalb der idealen Seinssphäre. Man pflegt bei ihr das Dasein nicht zu beachten. Aber es besteht so gut wie das reale. Daß es in der Reihe der Potenzen den Fall a° gibt, ist sein ideales Dasein. Und da ihm ein bestimmter Zahlenwert entspricht, so hat er auch ideales Sosein. Ein ideal Daseiendes ist immer ein ideal Soseiendes (und nicht ein Beliebiges); und ein ideal Soseiendes ist immer ein ideal Daseiendes. Auch innerhalb des idealen Seins also sind Dasein und Sosein unlöslich verknüpft, und alle Indifferenz an ihnen ist Schein. 6. Zusammenfassend also läßt sich sagen: innerhalb jeder Seinssphäre sind Sosein und Dasein unlösbar aneinander gebunden. In jeder Sphäre sind sie durch Notwendigkeit verknüpft und kommen isoliert nicht vor. Diese Einsicht ist die Aufhebung des ontologischen Scheines, der immer wieder zum Chorismos der Seinsmomente geführt hat. Indifferenz gibt es nur zwischen den Momenten verschiedener Seinssphären. Das ideale Sosein ist indifferent gegen reales Dasein. Das ist es, was man immer gesehen hat. Und weil man Dasein dem Realen vorbehielt, das Sosein aber als reine essentia verstand, so mußte freilich der Schein entstehen, als wären beide einander zufällig und äußerlich. Das aber war der Fehler. Ein sehr begreiflicher Fehler. Denn ideale Existenz ist schwer faßbar. Und das Sosein hat es an sich, daß es für weite Inhaltsgebiete beiden Seinssphären gemeinsam ist. Überdies, sobald man es begrifflich rein zu fassen sucht, scheint es den Stempel der Idealität (Wesenheit) zu tragen. Kein Wunder, daß man seine Realität darüber vergaß.

16. Kapitel. Die Fehler im Modalargument

a) Falsche Argumentation mit Möglichkeit und Wirklichkeit Noch eines der ontologischen Trennungsargumente bleibt zu erledigen. Es betrifft die verbreitete Ansicht, Sosein sei bloß mögliches Sein, Dasein aber wirkliches. Geht man nun davon aus, daß alles entweder möglich oder wirklich ist, niemals aber beides zugleich — und so entspricht es der Aristotelischen Tradition —, so folgt, daß Dasein und Sosein nur getrennt bestehen können, ja daß sie selbst die Einheit eines Seienden in die Zweiheit der unverbunden bestehenden Faktoren aufspalten (Kap. 12a. 3). Dieses Argument verschiebt das Verhältnis von Sosein und Dasein auf einen Modalitätsgegensatz. Zu einer Beurteilung würde also von Rechts wegen die ganze Modalanalyse von Möglichkeit und Wirklichkeit nötig sein. Diese gehört aber in einen anderen Zusammenhang und kann hier nicht vorweggenommen werden. Einstweilen muß eine allgemeinere Überlegung genügen.

16. Kap. Die Fehler im Modalargument

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1. Am bekanntesten ist das hier gemeinte Verhältnis aus der Leibnizischen Vorstellung von der Weltschöpfung: es sind an sich viele Welten möglich, eine allein wird wirklich. Die möglichen Welten bestehen nebeneinander im Verstande Gottes; unter ihnen wählt Gott die beste, um sie zu verwirklichen. Jene haben ihr Sosein auch ohne Existenz, diese empfängt ihr Dasein aus einem principium convenientiae. — Ein ähnliches Verhältnis meinte auch Kant in der Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises mit den ,,100 möglichen Talern", die sich inhaltlich von ,,100 wirklichen Talern" nicht unterscheiden, also das Sosein mit ihnen teilen, aber des Daseins entbehren. 2. Was heißt nun in diesen Beispielen der Unterschied von möglich und wirklich? Ist damit überhaupt ein echter Modalitätsunterschied gemeint? Das ist nicht ganz einfach zu beantworten. Greifbar aber ist etwas anderes, nämlich daß es sich nicht um den Modalitätsgegensatz allein handelt. Leibnizens „mögliche Welten" im Verstande Gottes vor Erschaffung der Welt sind jedenfalls nicht etwas real-Mögliches; dazu fehlt ihnen die Hauptbedingung, das realisierende Prinzip. Ebensowenig sind Kants „100 mögliche Taler" etwas real-Mögliches; um ihre Realität zu ermöglichen, dazu gehört ein Realprozeß des Werdens, in diesem Falle des Erwerbens, der Arbeit. In diesem Prozeß erst wird ihre Realität ermöglicht. Mit welchem Recht also sind dort die „Welten", hier die „100 Taler" als möglich bezeichnet? 3. Darauf gibt es nur eine Antwort: sie gehören einer anderen Sphäre an, die jedenfalls nicht die des realen Seins ist; und in dieser anderen Sphäre gibt es eine Möglichkeit ganz anderer Art, eine solche nämlich, die nicht an lange Bedingungsreihen gebunden ist. Diese Art Möglichkeit besteht in der Erfüllung einer einzigen Bedingung, der inneren Widerspruchslosigkeit. Dieser Bedingung entsprechen die gedachten „100 Taler" und ebenso die von der Gottheit gedachten „Welten" — und zwar ohne alle Rücksicht auf die Möglichkeit ihrer Realisation. Sie sind eben Gebilde einer anderen Sphäre, einer Sphäre des bloß Gedachten. Und eben dieses bloße Gedachtsein ist es, warum ihnen das Dasein fehlt. b) Richtigstellung der Fehler Es ist nun nicht nötig, die Sphäre des „Möglichen" in diesem Sinne ausschließlich als die des Gedachten zu verstehen. Man kann an ihre Stelle ebensogut die der essentia oder des idealen Seins setzen. Auf das Leibnizbeispiel trifft das ohne weiteres zu; denn von jeher galt der intellectus divinus als das Reich der Wesenheiten. Und am Kantischen Beispiel ändert sich wenigstens nichts, wenn man es so versteht. 1. Dann aber leuchtet ein: tatsächlich ist hier gar nicht ein Modalitätsgegensatz, sondern der Gegensatz der Seinssphären und ihrer Seinsweisen gemeint. Und dann überträgt sich hierher alles, was oben über die verhängnisvolle Vermengung des Unterschiedes von Dasein und Sosein mit

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dem von Realität und Idealität gesagt wurde. Ein bloß ideal Mögliches kann natürlich als solches noch nicht Realwirklichkeit haben; darum scheint es, daß ein Soseiendes auch ohne Dasein bestehen könne. Denn das Dasein behielt man dem Realen allein vor. Hier sind also zwei Fehler übereinandergelagert; denn auch das ideale Sosein hat in seiner Sphäre seine Art Dasein. 2. Im Ganzen also sind hier drei Gegensatzpaare sehr verschiedener Struktur und Dimension aufeinander übertragen und nahezu gleichgesetzt: 1. die Seinsmomente Dasein und Sosein, 2. die Seinssphären Realität und Idealität, und 3. die Seinsmodi Wirklichkeit und Möglichkeit. Darauf beruht das Scheinargument, Sosein sei bloß mögliches Sein, Dasein wirkliches. Für die Widerlegung genügte schon die saubere Unterscheidung der beiden ersten Gegensatzpaare. Denn ohne ihre Gleichsetzung ist das dritte hier gar nicht anwendbar. 3. Aber es läßt sich darüber hinaus auch zeigen, daß das dritte Gegensatzpaar sich mit jenen beiden überschneidet und mit keinem von ihnen zusammenfällt. Es gibt eine eigene Realmöglichkeit, zu der weit mehr gehört als zur idealen Wesensmöglichkeit; und es gibt eine eigene Wesenswirklichkeit, die weit weniger ist als Realwirklichkeit. Ebenso aber gibt es innerhalb des Realen sowohl Wirklichkeit des Soseins als des Daseins, sowohl Möglichkeit des Soseins als des Daseins; und zwar nicht getrennt voneinander, sondern stets nur mit- und durcheinander. Das Gleiche aber gilt von Wesensmöglichkeit und Wesenswirklichkeit; beide erstrecken sich stets sowohl auf das ideale Sosein als das ideale Dasein, niemals auf eines allein. 4. Eine Trennung von Möglichkeit und Wirklichkeit, wie das Modalargument sie annimmt, gibt es nur überkreuz mit dem Sphärengegensatz: nur die Wesensmöglichkeit steht indifferent da, und zwar auch nur gegen die Realwirklichkeit (nicht gegen Wesenswirklichkeit). Das aber ist kein Wunder; denn sie steht schon ebenso indifferent gegen die Realmöglichkeit da. Der wirkliche Gegensatz, der hinter dem Modalverhältnis steht, ist also vielmehr der der ganzen Seinsphären. Das ist es, was die metaphysischen Modalargumente von Aristoteles (Metaph. ) bis auf die Gegenwart nicht gesehen haben. c) Das Lehrreiche in den Fehlern der Argumente Für den genaueren Erweis der letzten Feststellungen bedarf es freilich noch einer weitausholenden Untersuchung über das Verhältnis der Seinsweisen und Seinsmodi. Mit dieser Untersuchung wird es der ganze zweite Band der Ontologie zu tun haben. Vor der Hand aber genügt es, die offenkundig irrige Verwürfelung der Gegensatzpaare im Auge zu haben. Die ganze Reihe der Argumente, die eine Trennung von Dasein und Sosein glaubhaft machen wollten, ist zusammengebrochen. Es erwächst nun die Aufgabe, das positive Verhältnis dieser beiden Seinsmomente zu

17. Kap. Konjunktiver und disjunktiver Gegensatz

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bestimmen. Und auch dafür ist durch die Erörterung der fehlerhaften Argumente bereits einiges geschehen. Es hat sich vor allem gezeigt, daß die ontologischen Irrtümer sich alle auf eine Quelle zurückführen lassen, auf die falsche Einbeziehung des Sphärengegensatzes von Reaütät und Idealität. Dieser Gegensatz scheint in den Traditionen der Ontologie eine gewisse Aufdringlichkeit zu haben, sich überall hinterrücks einzuschleichen. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, daß jahrhundertelang das ontologische Denken sich in den unscharf gefaßten und metaphysisch schwer überlasteten Kategorien essentia und existentia bewegt hat. Dieser Aufdringlichkeit muß man sich erwehren — und zwar nicht, indem man den Sphärengegensatz ignoriert, sondern indem man ihn klärt. Dazu wird sich das Mittel in der Modalanalyse rinden. Dieser Gegensatz ist mit großer Vorsicht anzufassen. Nichts ist schwieriger, als Seinsweisen in ihrer Eigenart verstehen. Und weil sie in alle Verhältnisse hinein spielen, in allen das Innerste des „Seienden als Seienden" ausmachen, so müssen gerade bei ihnen die wichtigsten Aufschlüsse liegen. Erweitert man aber die Perspektive, verbindet man dieses Resultat mit den Konsequenzen, die sich aus der kritischen Erörterung der reflektierten Trennungsargumente ergaben, so springt noch etwas Weiteres in die Augen. Die ganze Unterscheidung von Dasein und Sosein wird fragwürdig. Wie die Urteilstypen ineinander übergehen — ohne Abänderung des prädikativen Seinsgehaltes —, so auch am „Seienden als Seienden" selbst die Seinsmomente Dasein und Sosein, und zwar ebenso ohne Abänderung des ontischen Seinsgehaltes. Was übrig bleibt scheint nunmehr nichts als der Sphärengegensatz zu sein. Der freilich läßt sich nicht aufheben. Aber er ist fälschlich auf das Verhältnis von Dasein und Sosein übertragen. Innerhalb „einer" Sphäre — und das Dasein ist stets das eines Soseienden der gleichen Sphäre — hat er nichts zu suchen. Man muß sich also im Ernst fragen, was er dann überhaupt noch am „Seienden als Seienden" zu suchen hat. 17. Kapitel. Konjunktiver und disjunktiver Gegensatz

a) Der Begriff des ontisch neutralen Soseins Die Widerlegung des Indiiferenzargumentes (Kap. 15b und c) hat auf eine ontische Verbundenheit von Dasein und Sosein hinausgeführt, die sich nur in der Abstraktion aufheben läßt. Greifbar wurde dieses Resultat in der Verlegung der Blickrichtung vom „Sein" auf das „Seiende", in diesem Falle also vom „Dasein" auf das „Daseiende", vom „Sosein" auf das „Soseiende". Das ist kein äußerlicher methodischer Kunstgriff. Er entspricht vielmehr genauestens dem, was sich ganz zu Anfang — in Übereinstimmung mit den ursprünglichen Intentionen der antiken Ontologie — als geboten erwies (Kap. Ib und c). In Kürze läßt sich das so aussprechen: Dasein und Sosein sind wohl etwas Verschiedenes und ihr Gegensatz an einem Seienden braucht nicht 9

H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontologie

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bestritten zu werden; aber „Daseiendes" und „Soseiendes" sind nicht etwas Verschiedenes, Sondern durchaus ein und dasselbe Seiende. Sein Dasein und sein Sosein bilden nur unterschiedene „Momente" an ihm. Bleibt man hiermit streng innerhalb einer Seinssphäre, so hat dieser Satz keine Schwierigkeit an sich. Er wird erst zweideutig, wenn man die Sphären nicht sauber auseinanderhält. Man sagt z. B., eine Gesetzlichkeit, wie die der imaginären Zahlen, habe doch kein Dasein, wohl aber sei sie etwas Soseiendes. Man meint, sie habe kein reales Dasein. Und dagegen ist nichts einzuwenden. Aber man vergißt, daß sie als eine ideal seiende in ihrer Sphäre sehr wohl ihr Dasein hat. So eine Gesetzlichkeit, die an keinem Realen vorkommt (auf kein Reales zutrifft), ist aber auch kein Sosein eines Realen. Reales Dasein kommt daher für sie gar nicht in Frage. Gleichwohl, mit dem bloßen Auseinanderhalten der Sphären ist es hier auch nicht getan. Denn auch zwischen ihnen waltet eine eigenartige Verbundenheit, die ihrerseits in alle ontologischen Überlegungen hineinspielt. Der traditionelle Sprachgebrauch, der „Dasein" stets als reales „Dasein" versteht, ist zwar schief, aber nicht ganz grundlos. Gewichtig eben ist das Dasein nur in der Realsphäre. Und ebenso ist es nicht grundlos, daß „Sosein" stets in einer gewissen Indifferenz gegen Idealität und Realität verstanden wird. Denn es ist das Eigentümliche des Soseins, daß es die beiden Seinssphären verbindet und sich über beide Seinsweisen erstreckt — nicht freilich durchgehend, wohl aber über weite Gegenstandsgebiete hin. Damit kommen wir auf einen neuen und wesentlichen Problempunkt. Es bleibt etwas übrig von der Indifferenz des Soseins — auch nach Aufhebung des Indifferenzarguments —, aber das ist nicht seine Indifferenz gegen das Dasein, sondern gegen Idealität und Realität. Am Rundsein einer Kugel macht es keinen Unterschied aus, ob es sich um eine geometrische Kugel oder um eine materielle handelt. Das Rundsein überhaupt und als solches kommt dieser wie jener zu. In diesem Sinne kann man vollkommen eindeutig vom „Sosein überhaupt" sprechen. Oder, da es sich hierbei um eine Art von Unbestimmtheit hinsichtlich des Unterschiedes von Idealität und Realität handelt, so ist es vielleicht zutreffender, von „neutralem Sosein" zu sprechen. Dieser Begriff des neutralen Soseins nimmt also aus dem abgelehnten Indifferenzbegriff nach Abstreifung aller traditionellen Irrtümer das Positive auf, das in ihm steckt. Man darf ihn nicht allzuweit ausdehnen. Denn durchaus nicht an allem Sosein läßt sich Neutralität aufweisen. Am Sosein der imaginären Zahlen z. B. würde man sie wohl vergeblich suchen, denn diese Gebilde haben nur ideales Sein. Die inhaltliche Überdeckung der idealen und der realen Seinssphäre ist ja überhaupt begrenzt — vielleicht nach allen Richtungen. Von ontischer Neutralität des Soseins läßt sich aber nur innerhalb der Grenzen ihrer inhaltlichen Deckung sprechen. Nichtsdestoweniger darf sie doch einiges Gewicht beanspruchen; denn

17. Kap. Konjunktiver und disjunktiver Gegensatz

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die gegebenen Ausschnitte beider Sphären liegen vorwiegend innerhalb dieser Grenzen. b) Der Sphärenunterschied als Gegensatz der Daseins-Weise Gleich die nächste Folge zeigt eine unerwartete Tragweite. Steht das Sosein als solches neutral gegen Idealität und Realität, so fällt offenbar das ontische Gewicht des Sphärengegensatzes ganz auf die Seite des Daseins. Ideales und reales Sein unterscheiden sich durch die Art und Weise des Daseins. Dieser Unterschied ist es, der in der üblich gewordenen Begriffssprache sich dahin zugespitzt hat, daß man Dasein ohne weiteres als reales Dasein versteht. Die Zuspitzung ist zwar irrig, aber sie enthält wiederum einen Wahrheitskern. Reales Dasein ist das ungleich gewichtigere, gleichsam verdichtete Dasein, die Existenz im engeren Sinne. Das Seinsgewicht des realen Daseins gibt im Leben allen Dingen und allen Verhältnissen ihre Härte, Wucht, Mächtigkeit. Das ideale Dasein dagegen ist etwas gewichtsloses, kaum greifbares, etwas, worauf sich erst ein abgeklärtes, theoretisch gewordenes Denken besinnt. Die Drastik des Lebens wird von ihm nicht berührt. Zu einer Gleichsetzung von Dasein und Realität berechtigt das keineswegs. Der Neutralität des Soseins entspricht vielmehr deutlich die Zweiheit und Gegensätzlichkeit der Daseins-Weisen. Wohl aber gewinnt auf diese Weise der Unterschied von Dasein und Sosein noch einmal größeres Gewicht, als es nach Widerlegung der Getrenntheit scheinen könnte. Es gilt dann folgendes. Neutrales Sosein ist des gewichtslosen idealen Daseins immer gewiß; denn es muß zum mindesten ideales Sosein sein und als solches seine Existenz in der idealen Semssphäre haben. Es kann darüber hinaus auch reales Dasein haben, braucht es aber nicht zu haben. Darin kommt die Indifferenz des bloß ideal Soseienden gegen das reale Dasein zum Ausdruck — die einzige Indifferenz, die der Kritik standgehalten hat. Reales Dasein hat das neutrale Sosein nur, wenn es selbst mehr als neutrales, nämlich reales Sosein ist, d. h. wenn es Sosein eines Realen ist. Darum kann man sehr wohl um das Sosein von etwas wissen, ohne um sein reales Dasein zu wissen. Man weiß dann eben um das neutrale Sosein. Diese Neutralität aber läßt sich nicht umkehren. Und darin unterscheidet sie sich von den abgelehnten Indifferenzen. Das reale Dasein seinerseits ist nicht neutral dem Sosein gegenüber. Es hat notwendig sein Sosein, und zwar sein reales Sosein. Es ist eben das Dasein eines real Soseienden. Das bedeutet nicht, daß man auch schon um das Sosein bis in alle Einzelheiten wissen müßte, wenn man um das Dasein weiß. Die Erkenntnis des Seienden unterliegt in diesem Punkte einem anderen Gesetz als das Seiende selbst. Wohl aber dürfte die Parallele doch soweit gehen, daß im Wissen um das Dasein stets wenigstens etwas vom Sosein mit 9*

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umfaßt wird. Sonst könnte man es gar nicht vom Dasein eines anderen Dinges unterscheiden. Und weiter läßt sich folgern: nur das Sosein als solches — gleichsam das „bloße" Sosein — ist neutrales Sein. Am Dasein scheiden sich die Seinssphären. Ihr Unterschied ist der der „Seinsweise". Die Seinsweise aber hängt an der Weise des Daseins, nicht des Soseins. Der Gegensatz von Idealität und Realität ist ein Gegensatz des Daseins. Die inhaltliche Deckung ihrer Sphären aber ist die Identität des Soseins. Diese Identität — soweit sie eben reicht — ist die Neutralität des Soseins. In kürzester Fassung also: Das Sosein verbindet die beiden Sphären des Seienden. Das Dasein scheidet sie. Versteht man diese Formel mit den angegebenen Abstrichen, so darf man sie in erster Näherung gelten lassen. c) Konjunktion der Seinsmomente und Disjunktion der Seinsweisen Hier erst wird der Unterschied der beiden Gegensatzpaare klar. Die früheren Bestimmungen genügen dafür nicht; sie zeigen nur die Andersheit des Gegensatzcharakters, ohne ihn positiv bestimmen zu können. Das Verhältnis von Dasein und Sosein steht nicht nur nicht in Parallele zu dem von Realität und Idealität, es spielt vielmehr in einer anderen ontischen Dimension. Das läßt sich nun unter Einsetzung der getroffenen Bestimmungen näher präzisieren. Dasein als solches ist zwar nicht selbst Seinsweise, es differenziert sich aber mit der Seinsweise und ist somit stets Dasein in bestimmter Seinsweise. Sosein ist inhaltliche Bestimmtheit, und diese läßt verschiedene Seinsweise zu. Das ist seine Neutralität. Realität und Idealität aber sind reine Seinsweisen und erstrecken sich sowohl auf das Dasein wie auf das Sosein. Hält man dieses fest, So lassen sich zwei Sätze aufstellen: 1. Der Unterschied von Dasein und Sosein ist der von Seinsweise und Semsbestimmtheit. Denn es gibt kein neutrales Dasein. 2. Der Unterschied von realem und idealem Sein ist der Unterschied der Daseinsweisen unter sich. Denn da das Sosein neutral ist, besteht die Seinsweise in der Daseinsweise. Diese Sätze sprechen ein ontisches Grundverhältnis komplexer Art aus. Nach Einführung des neutralen Soseinsbegriffs ist die Überschneidung der beiden Gegensatzpaare eine reguläre; im geometrischen Bilde gesprochen, sie stehen senkrecht aufeinander. Wohl zu beachten aber ist hierbei, daß sich das ganze Verhältnis nicht substanzialisieren läßt. Es gilt nur von den reinen Seinsmomenten und Seinsweisen, es ist nicht auf einen Träger übertragbar. Es gibt kein neutral „Soseiendes", sondern nur neutrales „Sosein". Es gibt auch kein real Daseiendes, das nicht ein real Soseiendes wäre. Die Seinsweise des Daseins ist an jedem „Seienden" ohne weiteres zugleich Seinsweise des Soseins. Sie erstreckt sich stets vom Dasein unmittelbar auf das Sosein. Man muß also den beiden ersten Sät-

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zen, um sie in richtiger Begrenzung zu verstehen, noch einen dritten anfügen : 3. Das Sosein eines bestimmten Seienden ist niemals neutrales Sosein; es ist stets entweder ideales oder reales Sosein, nicht anders als sein Dasein. Der Unterschied von realem und idealem Sein ist stets auch ein Unterschied der Soseinsweisen unter sich. Denn zu jeder Art Dasein gehört ein Sosein seiner eigenen Sphäre. Die Neutralität des Soseins besteht nur im Absehen vom bestimmten „Seienden"; ihr Sinn ist lediglich die inhaltliche Deckung der Sphären. Die relative Berechtigung im Begriff des neutralen Soseins sowie der Sinn der Sätze l und 2 wird am besten sichtbar, wenn man einstweilen von der Neutralität ganz absieht und die vier Glieder des kombinierten Gegensatzverhältnisses einander gegenüberstellt (Fig. 1). Es stehen sich dann horizontal die Seinsmomente Sosein (Ss.) und Dasein (Ds.), vertikal ideales (i.) und reales (r.) Sein gegenüber. In dieser Dimensionierung fällt der Unterschied des horizontalen und des vertikalen Gegensatzes sofort auf. Der erstere ist ein solcher von unlöslich verbundenen Momenten, der letztere der einer AlterFigur l native; jener bildet ein konjunktives Verhältnis, dieser ein disjunktives. Der eine hat die Form des „sowohl als auch", der andere die des „entweder — oder". Demnach ergibt sich der Doppelsatz: Das Sein alles Seienden — einerlei ob ideal oder real — ist sowohl Sosein als auch Dasein; aber das Sein alles Seienden — einerlei ob Sosein oder Dasein — ist entweder ideales oder reales Sein. Versteht man dieses als eine Bestimmung des „Seienden als Seienden" überhaupt — und es wurde zu Anfang gezeigt, wie dessen Bestimmungen überhaupt nur solche sein können, die von innen heraus, aus seinen Besonderungen und deren Verhältnissen gegeben werden können —, so kann man jetzt sagen: das „Seiende als Seiendes" ist charakterisiert durch zwei heterogene Verhältnisse, die es sich überschneidend durchziehen; das eine ist das konjunktive Verhältnis der Seinsmomente, das andere das disjunktive der Seinsweisen. Das letztere spaltet es in Seinssphären auf, das erstere hält es — quer zum Gegensatz der Sphären — in sich zusammen. Dieses Ineinander von Konjunktion und Disjunktion ist das ontische Grundschema im Aufbau der Welt. d) Exposition und Reduktion des Grundschemas Es gilt nun dieses Doppelverhältnis auszuwerten. Dafür mangelt es nicht an mehr oder weniger unklaren Vorbildern; unklar sind sie, weil sie

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in den Theorien nirgends ausgeführt, sondern nur stillschweigend zugrunde gelegt sind. Es muß aber gesagt werden, daß in aller Unklarheit doch etwas vom Wissen um das ontische Grundschema sich in allen Theorien findet. Im alten essentia-Begriff schillern ideales Sein und Sosein ineinander. Wo die Universalien als ante res seiend verstanden werden, da überwiegt der Charakter des idealen Seins; wo sie als in rebus seiend verstanden werden, da ist der Soseinscharakter bestimmend. Es ist begreiflich, warum diese Unklarheit sich halten konnte: die Neutralität des Soseins leistete ihr Vorschub. Der Irrtum war nur, daß sie als Idealität verstanden wurde.

Figur 2

Figur 3

Da nun ideales Dasein schwer faßbar und für den ungeschulten Blick v om idealen Sosein kaum unterscheidbar ist, so neigen alle Theorien dazu, es zu ignorieren. Der Unterschied der Seinsmomente fällt dann in den beiden oberen Gliedern des Grundschemas weg, und das Gesamtverhältnis wird dreigliedrig: es steht ein einheitliches ideales Sein (i. S.) dem realen Sosein und dem realen Dasein gegenüber (Fig. 2). Das in dieser Weise vereinfachte Schema ist offenkundig schief und läßt sich nicht halten. Denn entweder ist es jetzt überflüssig, überhaupt noch eine Sphäre idealen Seins anzunehmen, da doch deren eigene Seinsweise (i. Ds.) gestrichen ist (eine Konsequenz, die Aristoteles zog); oder aber das Sosein der realen Welt (r. Ss.) wird in die Idealität hineingezogen, und in der Ebene des Realen bleibt nur das Dasein (r. Ds.) übrig. Und dann haben wir die traditionell gewordene Gleichsetzung von Dasein mit Realität, Sosein mit Idealität, die sich bereits als unhaltbar erwiesen hat. In beiden Fällen läßt die Reduktion von den vier Gliedern nur zwei übrig. Ganz anders, wenn man die Reduktion in der Vertikale beginnt. Die Seite des Daseins kommt dafür nicht in Frage; denn eben im Dasein unterscheiden sich ideales und reales Sein grundsätzlich. Aber im Sosein ist kein prinzipieller Unterschied zwischen ihnen. Es ist grundsätzlich

17. Kap. Konjunktiver und disjunktiver Gegensatz

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dasselbe am idealen wie am realen Gebilde. Darin besteht seine Neutralität. Es steht nun das einheitlich verstandene, gemeinsame oder neutrale Sosein (n. Ss.) beiden Daseinsweisen „horizontal" gegenüber, wobei in der Zweiheit der letzteren immer noch die „Vertikale" (der Sphärengegensatz) zur Geltung kommt. Diese zweite Art der Reduktion hat offenbar eine ganz bestimmte objektive Berechtigung, wennschon sie einen Unterschied fallen läßt, der an sich auch besteht. Erstens entspricht sie einem aufzeigbaren Grundphänomen, der Neutralität des Soseins — oder, um es inhaltlich auszusprechen, der Konvergenz der Sphären in ihrem beiderseitigen Strukturgehalt. Zweitens aber entspricht sie auch dem anderen, ebenso aufzeigbaren Grundphänomen, der Divergenz des Daseins in den Sphären. Das so reduzierte Schema paßt also genau auf die beiden oben (unter c) formulierten Sätze. An ihm ist es direkt sichtbar, wie der Unterschied von idealem und realem Sein ein Unterschied in der Art des Daseins ist; desgleichen daß es kein neutrales Dasein gibt; wobei dann der Unterschied von Dasein und Sosein sich als der von Seinsweise und Seinsbestimmtheit herausstellt. Man kann in diesem Schema nicht das neutrale Sosein einfach in die ideale Sphäre hineinnehmen und somit das ideale Sosein als dem realen übergeordnet (als sein genus) ansehen, wie das in den essentia-Theorien mehrfach geschehen ist. Denn am neutralen Sosein besteht kein Unterschied der Seinsweisen; die Seinsbestimmtheit als solche ist in der Tat dieselbe in beiden Sphären; sie ist wirklich neutral gegen die Seinsweise. Und das wiederum heißt nicht, daß sie gleichgültig gegen das Dasein überhaupt wäre — ohne Dasein wäre sie ja nichtseiende Bestimmtheit, d. h. keine Bestimmtheit. Die Neutralität betrifft nur die „Art" des Daseins. e) Die Rolle des neutralen Soseins im Universalienstreit Schwer einzuschätzen dürfte einstweilen die philosophische Bedeutung dieses Resultats sein. Die rein ontologischen Konsequenzen können sich so schnell nicht zeigen, und so könnte man denn hier leicht am Erkenntniswert solcher Einsichten zweifeln. Es sei daher, bevor wir weiter gehen, auf einige Folgerungen hingewiesen, die nicht direkt auf unserem Wege liegen, aber ein helles Schlaglicht auf das Gesagte werfen. Worum es im Universalienstreit ging, war im Grunde nicht das ideale Sein, sondern das Sosein. Der Terminus essentia, den man so leicht als ideale Wesenheit versteht, läßt das nicht erkennen. Aber man bedenke, daß der Streit doch gerade darum ging, ob die Universalien ante res oder in rebus oder post res (in mente) bestünden. Diese Eventualitäten passen nicht auf das ideale Sein, wohl aber auf das neutrale Sosein. Die Neutralität ist hier nur noch auf eine dritte, offenbar abhängige Sphäre, die der mens humana bezogen; und da der Sphären ja mehr sein können als die

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beiden selbständigen Seinssphären, so ist nicht einzusehen, warum die Neutralität des Soseins sich nicht auch auf weitere Sphären mit abhängiger Seinsweise erstrecken könnte. Die universalia ante res lassen sich ohne Schwierigkeit als ideales Sosein verstehen; die universalia in rebus sind offenkundig reales Sosein. Die nominalistisch verstandenen universalia in mente repräsentieren das Sosein im Bewußtsein. Faßt man dieses zusammen und erwägt man dabei, daß in allen drei Fällen inhaltlich dasselbe Universalienreich gemeint war, desgleichen daß in allen drei Fällen die Existenz daneben ein ontologisches Sonderproblem blieb, so leuchtet es ein, daß das große Streitobjekt in der Tat das in seiner Neutralität schillernde Sosein war. Das Schillern an ihm ist eben die Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit der Seinsweise. Will man dafür einen plastischen Beweis, so dürfte er darin liegen, daß in der Konsequenz des Universalienrealismus die ganze quidditas — bis herab zur Individualität des Einzelfalles (der haecceitas) — in die essentia aufgenommen werden konnte. Noch mehr beweisend dürfte die Tatsache sein, daß derselbe Duns Scotus, der die letztere Konsequenz zog, alle drei Fälle in einer ontologischen Theorie vereinigt hat; womit er überdies in seiner Zeit nicht allein stand. Was für einen Sinn hätte es wohl, etwas derartiges vom ideal Seienden zu behaupten? Das würde ja heißen, daß Gebilde von sehr bestimmter Seinsweise vielmehr dreierlei Seinsweise hätten! Man mag den Meistern der Hochscholastik mancherlei Einseitigkeit vorwerfen, aber daß sie bewußt das in sich selbst Widersprechende verfochten hätten, wird gerade ihnen niemand nachsagen, der ihre logische, zum Formal-Pedantischen neigende Arbeitsweise kennt. Das Rätsel löst sich einfach, wenn man die essentia im Sinne des neutralen Soseins versteht. Denn eben die Neutralität ist es, welche die drei Seinsweisen von vorn herein — nicht nur zuläßt, sondern geradezu ihrem Wesen nach umfaßt. Darin besteht die Klassizität des großen Universalienstreites, daß er ein unvermeidliches Ringen mit einer ontologischen Vieldeutigkeit war, die es am Sosein des Seienden wirklich gibt. Er hat mit diesem Ringen ein unbestreitbares Grundproblem bis dicht an seine Spruchreife herandisputiert. Die Neuzeit aber mit ihrer fortschreitenden Abwendung von den ontologischen Dingen hat die errungene Problemsituation nicht auszuwerten gewußt. f) Die Stellung der phänomenologischen „Wesenheiten" Eine zweite Konsequenz betrifft sehr heutige und naheliegende Dinge, bewegt sich aber mehr auf erkenntnistheoretischer Linie: Was die phänomenologische Arbeitsweise unserer Tage, am konkreten Fall ansetzend, als Wesen „vor die Klammer" hebt, ist nicht das eigentliche Wesen, sondern das Sosein, und zwar in Form des neutralen Soseins. Sie hält sich dabei

17. Kap. Konjunktiver und disjunktiver Gegensatz

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freilich nur an das Allgemeine im Sosein und erweckt dadurch den Schein, als handelte es sich um die ideale Wesenheit. Wäre es unmittelbar das ideale Sein, das in phänomenologischer Reduktion gewonnen wird, so bliebe es ontologisch unverständlich, wieso es dem realen Fall durch Einklammerung des Daseins abgewonnen werden könnte. Einem Realen als solchem kann man nichts als sein reales Sosein und sein reales Dasein abgewinnen. Wäre es aber das reale Sosein, das herausgehoben wird, so bliebe es unverständlich, wie man es hinterher als ein selbständiges, gleichsam frei schwebendes Gebilde rein in sich betrachten und ihm in dieser Betrachtung noch Gesetze abgewinnen könnte. Das geht offenbar mit dem realen Sosein nicht an. Wohl aber geht es mit dem neutralen Sosein an. Dieses, und nicht das ideale Sein wird herausgehoben. Das leuchtet auch auf andere Weise ein. Das Wesen der Sache kann nur eines sein; das Phänomen aber kann auf verschiedene Weise ausfallen, es ist mit der Sache nicht identisch, es unterliegt den subjektiven Faktoren, die in der Art des Sehens stecken. Es kann auch so ausfallen, daß das Wesen darin verzerrt erscheint. Dennoch kann man vom Phänomen, gerade als solchem, etwas vor die Klammer heben: sein Sosein. Dieses kann aber ein anderes sein als das der Sache. Es ist eben nur das Sosein des Phänomens. Was zurückbleibt, ist denn auch nicht die Realität, sondern das im Phänomen selbst mitgegebene Dasein. Wäre es nun ein bloß phänomenales Sosein, das so gewonnen wird, so wäre mit der ganzen Methode nicht viel anzufangen, und man könnte sie sich sparen. So aber liegt das Verhältnis auch nicht. Das Sosein als solches vielmehr, das herausgehoben wird, darf sehr wohl als neutrales verstanden werden, d. h. als ein solches, das auch an der Sache selbst reales Sosein und, darüber hinaus in die echte Wesenssphäre erhoben, ideales Sosein sein könnte. Ob es das ist, unterliegt freilich noch einer anderen Prüfung, und man darf sich nicht verhehlen, daß die reine phänomenologische Methode, soweit sie ohne Ergänzung durch andere Methoden arbeitet, diese Prüfung schuldig bleibt. Aber als Ansatz für ein weiteres Verfahren bleibt sie im Recht und ist unentbehrlich, weil alle Gegebenheit die Form des Phänomens hat. Es liegt nicht im Wesen des neutralen Soseins, daß man es unbesehen, etwa auf Grund einer zum Voraus garantierten, totalen Inhaltsidentität der Sphären, beliebig aus einer Sphäre in die andere übertragen könnte. Das trifft nicht einmal für die ideale und reale Sphäre zu — in denen diese Identität auch schon eine begrenzte ist —, geschweige denn für die Sphäre der subjektbezogenen Phänomene in ihrem Verhältnis zu jenen beiden. Streng genommen läßt sich von einer Identität des neutralen Soseins nur sprechen, wo es bereits feststeht, daß Phänomen und Sache inhaltlich koinzidieren. Für diesen Fall freilich läßt sich dann sagen, daß wenigstens mittelbar das ideale Sosein durch Reduktion erfaßt wird. Aber eben das darf nicht allgemein für Phänomene jeder Art vorausgesetzt werden, und

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Zweiter Teil. 3. Abschnitt

es kann auch an einem Einzelphänomen in seiner Isoliertheit niemals ausgemacht werden. Zieht man aber einen weiteren Phänomenzusammenhang hinein, an dem sich dann mancherlei „Wesenstäuschung" von selbst ausschaltet, so geht man damit zu einem Verfahren anderer Art über, in welchem die inhaltlichen Abweichungen der Sphären greifbar werden. In Wahrheit nähert man sich erst damit dem Seienden. So erklärt es sich, daß Phänomenologie als solche nicht Ontologie ist und es auf ihrem Boden auch nicht werden kann. Sie bleibt grundsätzlich beim Sosein der Phänomene stehen und kann darüber auf keine Weise hinaus. Das kann immer erst eine Methode, die im Anschluß an sie — und zugleich im Gegensatz zu ihr — den Blick von den Phänomenen ab und über sie hinaus auf das „Seiende als Seiendes" wendet.

III. Abschnitt Das innere Verhältnis der Seinemomente 18. Kapitel. Das Dasein im Sosein und das Sosein im Dasein

a) Verbundenheit und Realität im Verhältnis der Seinsmomente Die Klärung der Sachlage im Verhältnis der beiden Gegensätze — des Gegensatzes der Seinsmomente und des Gegensatzes der Seinsweisen — ist noch keineswegs die endgültige Klärung des Verhältnisses von Sosein und Dasein. Das war schon aus der logischen Überführbarkeit der Soseins- und Daseinsurteile ineinander zu entnehmen. Der Begriff des „neutralen Soseins", dessen Berechtigung ja nur eine relative ist, kann hier sogar leicht irreführend werden, insofern er den Schein erweckt, als gäbe es noch eine neutrale Sphäre neben den Seinssphären, in der es reines Sosein ohne Dasein gäbe. Das ontisch Wirkliche daran ist lediglich die inhaltliche Konvergenz der Sphären, eine Konvergenz, die deren Disjunktivität keineswegs aufhebt. Für jede der Sphären aber bleiben die Sätze in Kraft: kein Sosein ohne Dasein, und kein Dasein ohne Sosein. Diese beiden Sätze sprechen die Konjunktivität der Seinsmomente aus. Und da der Unterschied der Seinssphären im Unterschied der Daseinsweisen wurzelt, so spricht der erste der beiden Sätze zugleich die ontische Spaltung im Wesen des Soseins aus. Denn ein neutrales Dasein gibt es nicht. Auf dem konjunktiven Charakter im Gegensatz der Seinsmomente also beruht der disjunktive Charakter im Gegensatz der Seinsweisen. Wie aber ist nun das konjunktive Verhältnis von Sosein und Dasein selbst beschaffen? Man sieht sich nach einem Vergleich um; mannigfache Gegensatzverhältnisse bieten sich dafür an. Aber keines paßt auf das gesuchte zu. Im Gegensatz „Berg und Tal" etwa steckt auch eine Ver-

18. Kap. Das Dasein im Sosein und das Sosein im Dasein

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bundenheit der Momente. Aber sie artet in vollkommene Relativität aus. An einer Wellenlinie braucht man nur in der Betrachtung die Richtung zu ändern, und die Wellenberge erscheinen als Wellentäler. Im Gegensatz von Form und Materie liegt eine andere Verbundenheit; aber auch ihr eignet eine bestimmte Art von Relativität. Jeder Formträger kann selbst schon Formung niederer Art enthalten, und alles Geformte kann wieder zum Träger höherer Formung werden. Im Aufbau der realen Welt ist das ein wohlbekanntes Verhältnis. Es hat zur Folge, daß alles, was jemals für absolute Materie erklärt wurde — wenn es nicht ein abstrakter Begriff blieb, — sich wieder in Formung auflöste, und alles, was man für reine Form hielt, sich als Materie anderer Formung erwies. Die Frage wäre nun, ob im Verhältnis von Sosein und Dasein des Seienden überhaupt eine ähnliche Relativität steckt. Daß sie ganz von derselben Art ist, wird man nicht erwarten dürfen. Wohl aber zeigte die logische Analyse, daß überhaupt das Verhältnis einer Relativierung fähig ist, die seinem Gegensatzcharakter nicht widerspricht. Treifen schon die beiden obigen Sätze nicht mehr auf das neutrale Sosein zu, so zeigt die letzte Formulierung der Frage erst recht ein Verhältnis an, in dem die Isolierung eines Seinsmoments vom anderen abwegig wird. Es mag eine spätere Sorge sein, welche Berechtigung ihr in der Betrachtung bleibt. Vor der Hand geht es nicht um Gesichtspunkte der Betrachtung, sondern viel eher um das Absehen von ihnen. Denn es besteht der Verdacht, daß der ontische Unterschied von Dasein und Sosein selbst erst durch eine bestimmte Art der Betrachtung zum Gegensatz gestempelt worden ist. b) Primäres Weltbewußtsein. Sprache und logische Form Nicht die Theorien allein projizieren ihre Betrachtungsweise in das Seiende hinein, das sie betrachten; auch das naive Weltbewußtsein tut es. Es denkt beim Seienden in erster Linie an Dinge; schon Verhältnisse, Bewegungen, Prozesse gelten ihm als weniger seiend. Es kann zwar dabei nicht stehen bleiben, behält aber auch im Fortschreiten etwas von der Ausgangsposition zurück. Es substanzialisiert die Dinge und spricht ihnen als Substanzen das Dasein zu. Ihren Beschaffenheiten, Veränderungen, Verhältnissen spricht es gemeinhin kein Dasein zu. Es versteht sie als etwas ontisch Sekundäres, sagt sie „von" den Substanzen aus, faßt sie als das „Wie" oder „Was" der Dinge zusammen. Das Dingsein als solches sagt es nicht aus, die Dinge selbst sind ihm das Subjektum — das „subtantiv" Seiende, dem jenes alles zukommt, das aber selbst keinem anderen zukommt. Kein Zweifel, daß dieses eine Betrachtungsweise ist. Kein Zweifel auch, daß aus ihr die Geläufigkeit des Gegensatzes von Dasein und Sosein stammt. Natürlich kann sie schon im Leben nicht festgehalten werden. Ist der Bach, die Wolke, der Wald ein Ding? Ist nur das Wasser Substanz, oder auch die Welle, der treibende Schaum? Ist die Baumgruppe ein Ding

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Zweiter Teil. S.Abschnitt

oder nur Beschaffenheit des Waldes? Ist die Borke am Baum ein Sosein des Baumes, oder hat sie ein Dasein? Die Sprache substanzialisiert wahllos alles, wovon sich etwas aussagen läßt. Und wovon ließe sich nicht etwas aussagen? Sie sagt aber auch von allem Augsagbaren und Anhaftenden ebenso wahllos aus, „daß" es ist. Sie macht dabei keinen Unterschied des Substantiellen und Nichtsubstantiellen. Im „daß" aber steckt die Daseinsaussage. Die Sprache schreitet fort mit der Entwicklung des Weltbewußtseins. Aber sie hält in ihren Formen die eigenen Ursprünge fest. Der Mensch weiß längst, daß das anhaftende (adjektive) Sein auch Dasein ist, scheidet es längst nicht mehr vom dingartigen (Substantiven) Sein; ja, er weiß, daß das letztere auch stets ein Sosein von etwas ist — der Baum an seiner Stelle ein Sosein des Waldes, das Blatt an der seinigen ein Sosein des Baumes —, aber er behält die einmal geprägte Sprach- und Denkform bei, er kanonisiert grammatikalisch den Gegensatz der Substantiva und Adjektiva und trägt ihn als Scheidung der Seinsmomente in das entwickelte Weltbewußtsein hinein, auf das er nicht mehr zupaßt. Zuletzt kommt die Logik als Theorie dran. Sie bemächtigt sich der von der Sprache geprägten Formen, stellt fest, daß sie durchaus auch Formen des Gedankens sind und kanonisiert sie nun endgültig in den Begriffsund Urteilstypen. Ihr ist es nicht um die Welt zu tun. Ihre Orientierung am Seienden beschränkt sich auf den Seinsgehalt der Aussage, das prädikative Sein. Sie entdeckt die ,,daß"-Aussage als eine eigene neben der „Was"-Aussage, findet die sprachliche Form beider streng geschieden. Auf einen Seinsgehalt hin, der darüber hinaus läge, analysiert sie die Aussage nicht. So bleiben unvermittelt die Daseins- und Soseinsurteile nebeneinander stehen. c) Inhaltliche Relativität von „Daß" und „Was" Diese Überlegungen zeigen allein schon, daß der Gegensatz der Seinsmomente nicht ontologisch festgehalten werden kann. Dasein ist zwar nicht Substanz des Soseins, wohl aber hat die Substanzialisierung des „Daseienden" seine Wesenstrennung vom Sosein als dem Anhaftenden verschuldet. Und ebenso hat die Adjektivierung des Soseins dessen Wesenstrennung vom Dasein begünstigt. Wie aber, wenn sich nun erweist, daß die Seinsweise — und mit ihr überhaupt das Dasein — gleichgültig gegen den Unterschied des Substantiven und des adjektiven Seins ist? Die Konsequenz muß die Relativierung des „Daß" und „Was" gegeneinander sein. Das kann man am Begriff der „Beschaffenheit", der stets beim Sosein sich aufdringlich anbietet, nicht sehen. Zu einseitig ist an ihm der adjektive Charakter betont. Wohl aber kann man es am „Was" oder „Wie" sehen. Seinsweise ist doch schließlich auch eine Bestimmtheit am Seienden. Seinsweise aber ist Sache des Daseins. Ja, selbst beim bloßen Gegensatz von Sein und Nichtsein versagt diese Auffassung nicht. Nennt

18. Kap. Das Dasein im Sosein und das Sosein im Dasein

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doch die traditionelle Urteilstafel diesen Gegensatz den der „Qualität". Sonst ließe sich ja auch das Dasein nicht aussagen, und das Existential urteil wäre ontologisch sinnlos. Und ebenso ist es mit dem „Daß". Die Bestimmtheit einer Sache ist doch schließlich auch ein „Daß" und wird sprachlich in „daß"-Sätzen gefaßt. Es ist dasselbe „Daß", ob ich nun sage, „daß" die Sache so und so ist, oder ob ich sage, „daß" sie ist. Auch im Sosein also steckt die Seinsweise, nicht anders als auch im Dasein Bestimmtheit steckt. Denn in aller Bestimmtheit geht es um das Sein der Bestimmtheit, und in allem Sein geht es um die Bestimmtheit der Seinsweise. Die Korrelation von Dasein und Sosein bleibt zwar bestehen und mit ihr ein gewisser Gegensatz. Aber sie läßt keine Grenzziehung zu. Es bleibt nur ein Richtungsgegensatz übrig. Man kann wohl künstlich eine Grenze ziehen — wie das im naiven Dingbewußtsein geschieht, und nicht weniger in der logischen Scheidung der Urteilstypen —, aber eine solche Grenze hält nicht stand. Sie verschiebt sich beim Einsetzen der ontologischen Überlegung und zerfließt schließlich ganz. Hierauf beruht die Überführbarkeit der Daseinsurteile und Soseinsurteile ineinander, die oben aufgewiesen wurde (Kap. 14. b—d). „S ist" läßt sich nicht nur auflösen in „S ist seiend" oder im Spezialfall in „S ist real·', sondern es ist schlechthin identisch damit. So wenigstens, wenn man sich im Blick auf den Seinsgehalt durch die logische Form nicht irre machen läßt. Und „S ist P" läßt sich nicht nur auslegen als „P ist da an S" oder als „P ist vorhanden (ist seiend, ist real) an S", sondern es ist schlechthin identisch damit. Die letztere Identität läßt sich gut aus der Aristotelischen Analytik belegen. Der stehende Ausdruck des Aristoteles für das prädikative Sein ist das ( A), was sich nur ungenau durch das „Zukommen" wiedergeben läßt. Es steckt darin das Zu-Gebote-Stehen, das Vorhandensein, das „es gibt" (es gibt B an A). Daselbe aber tritt in derselben Analytik auch in der nackten Bedeutung von „da sein", Gegebensein, Existieren auf. d) Besondere Umformungen der Urteile und ihr ontologischer Sinn Der Seinsgehalt der Urteile ist weit konstanter als ihre logische Form. Man kann den existenzialen Sinn von ,,S ist P" noch auf andere Weise greifen als im Dasein von P an S. Die kategorische Urteilsform besagt auch, daß die ganze Relation „S ist P" da ist, eine Seiende ist. Diese Urteilsform eben spricht die Verbindung (Synthesis), die sie aussagt, als eine seiende aus. Das sieht man am deutlichsten, wenn man die hypothetische Urteilsform dagegenhält, in der das prädikative Sein der Apodosis nur als ein bedingtes ausgesprochen ist. Im modus ponens des hypothetischen Schlusses hebt dann die minor die Bedingtheit auf, indem sie die Bedin-

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Zweiter Teü. 3. Abschnitt

gung als erfüllte (seiende) kategorisch ausspricht. Die conclusio setzt darauf ebenso kategorisch das Sein der Apodosis. Hierbei tritt der ,,daß"-Sinn im Sosein von etwas (im P-Sein von S) in aller Deutlichkeit in die Erscheinung. Daß die Bahn der Erde realiter eine elliptische ist, heißt dem Seinsgehalt nach eben dieses, daß die elliptische Bahnform in der Erdbewegung real ist. So wird es zwar nicht ausgesprochen; denn die Urteilsform verlegt das Gewicht auf die Seite des Soseins. Sie verschweigt das Sein des Soseins, aber sie verschweigt nicht das Sein des ganzen Verhältnisses. Dieses ist im kategorischen (unbedingten) Charakter des „ist" mit enthalten. Diesen „daß"-Sinn im Sosein eines Etwas kann man in jedem beliebigen Urteil wiederfinden. Das Sosein eines Daseienden besagt überhaupt nichts anderes, als ,,daß" etwas Bestimmtes „an" etwas Bestimmten „da ist". „Der Baum ist ein Lebendiges" besagt nichts, als „daß" Leben in dem Baume „ist". „Die Lebewesen sind sterblich" besagt, „daß" der Tod an ihnen etwas wirklich eintretendes ist. Sprachlich flüssiger erscheinen folgende Beispiele. „Einige Pflanzen sind nicht grün" — „Es gibt einige Pflanzen, die nicht grün sind". Oder: „Kein Mensch tut das Böse um des Bösen willen" — „Es gibt keinen Menschen, der...". Hier liegt deutlich der zweite Typus der Umformung vor; es gibt das ganze Verhältnis „S ist P" nicht, gibt es an keinem Falle von S. An diesen Beispielen beruht die sprachliche Flüssigkeit auf dem negativen Charakter der Urteile (o- und e-Urteil). Logisch aber spielt das keine Rolle. Bei sprachlich biegsamem Inhalt wird die Umformung auch in den a-Urteilen flüssig. „Jeder siebente Tag ist ein Sonntag" — „Alle sieben Tage gibt es einen Sonntag". Der ontologische Sinn dieser Umformungen ist ein sehr einfacher. Nicht die Überführung der Urteile ist das Wesentliche, sondern die unbegrenzte Vertauschbarkeit der Daseinsaussage und umgekehrt, und zwar bei intakt bleibendem prädikativem Seinsgehalt. Für diese Sachlage ist auch die „Relativität" der Seinsmomente offenbar kein ganz zutreffender Ausdruck. Ebenso unzureichend ist das Bild von der zerfließenden Grenze und dem zurückbleibenden Unterschied. Das Wesen der Sache liegt vielmehr darin, daß im Sosein selbst und als solchem ein Daseinscharakter steckt und im Dasein selbst ein Soseinscharakter. Das aber muß nun auch im Absehen von den Urteilen am „Seienden als Seienden" direkt aufweisbar sein. 19. Kapitel. Identität und Verschiedenheit der Seinemomente

a) Die fortlaufend verschobene Identität von Dasein und Sosein im Ganzen des Seinszusammenhanges Die These, in der hier alles zusammenläuft, läßt sich so formulieren: alles Sosein von etwas „ist" selbst auch Dasein von etwas, und alles Da-

19. Kap. Identität und Verschiedenheit der Seinsmomente

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sein von etwas „ist" auch Sosein von etwas. Nur ist das Etwas hierbei nicht ein und dasselbe. Das Dasein des Baumes an seiner Stelle „ist" selbst ein Sosein des Waldes, der Wald wäre anders ohne ihn; das Dasein des Astes am Baum „ist" ein Soäein des Baumes; das Dasein des Blattes am Aste „ist" ein Sosein des Astes; das Dasein der Rippe im Blatt „ist" ein Sosein des Blattes. Diese Reihe läßt sich nach beiden Seiten verlängern; immer ist das Dasein des einen zugleich Sosein des anderen. Aber sie läßt sich auch umkehren: das Sosein des Blattes „ist" das Dasein der Rippe, das Sosein des Astes ist das Dasein des Blattes usf. Daß es immer nur ein Bruchstück des Soseins ist, das im Dasein von etwas anderem besteht, daran wird man hierbei keinen Anstoß nehmen dürfen. Denn es handelt sich gar nicht um die Vollständigkeit des Soseins. Wohl aber läßt sich sagen, daß auch die übrigen Bruchstücke des Soseins auf dieselbe Weise im Dasein von immer wieder anderem und anderem bestehen. Sieht man auf ein isoliertes Stück des Seienden allein hin, so fallen Sosein und Dasein an ihm auseinander. Behält man das Ganze der Seinszusammenhänge im Auge, so ist immer — und zwar in bestimmter Reihenordnung — das Sosein des einen auch schon das Dasein des anderen. Auf diese Weise nähert sich das Verhältnis von Sosein und Dasein im Ganzen der Welt der Identität. Und da es sich bei dieser Identität um eine fortlaufende Verschiebung des Inhalts handelt, so kann man sie als fortlaufend verschobene Identität bezeichnen. Die reinen Qualitäten, die nicht den Charakter von Teilen eines Ganzen haben, machen keineswegs eine Ausnahme. Nur die übliche Ausdrucksweise, die das adjektive Sein als ein „bloßes" Sosein vom vermeintlich substantiellen scheidet, hindert diese Einsicht. Tatsächlich haben auch die Farben der Dinge, ihre Härte, Elastizität, Raumform, ihre Bewegung oder Veränderung im selben Sinne ein Dasein an ihnen. Dasein ist nicht ein Vorrecht der Substanzen. Denn „es gibt" die Beschaffenheiten am Substantiellen genau in demselben Sinne, indem es Substanzen gibt. Der Sprachgebrauch ist durch die substantielle Dingauffassung bestimmt. Das „Seiende als Seiendes" aber geht in dieser Auffassung nicht auf. Und dieses Verhältnis ist unabhängig davon, welche von den sog. Qualitäten eigentliche Realität haben. Diejenigen, die sie nicht haben, die also nur für eine bestimmte Auffassungs- oder Anschauungsweise bestehen, kommen auch nicht als solche der realen Sphäre in Betracht. Sind z. B. Farben keine physischen Eigenschaften, so haben sie natürlich auch kein reales Dasein. Sie sind dann aber auch kein reales SoSein der Dinge. In den scholastischen Begriffen ausgedrückt, besagt dieses Resultat: die existentia selbst ist auch essentia, und die essentia selbst ist auch existentia. Das schlägt der alten Auffassung ins Gesicht. Aber eben in diesem Punkte gilt es umzulernen. Das war der Fehler, daß man die essentia isoliert der idealen Sphäre vorbehielt, die existentia aber der realen. Und war ebenso fehlerhaft, beide isoliert als die des vereinzelten

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Zweiter Teil. 3. Abschnitt

Seienden (ens) zu nehmen. Es gibt die entia nur im Semszusammenhang. In ihm aber ist die Existenz des einen stets essentia des anderen. Und umgekehrt: Der zweite der beiden Sätze — die essentia selbst ist auch existentia — besagt keineswegs, daß man im Sinne des „ontologischen Arguments" aus dem Wesen von etwas auf Seine Existenz schließen könnte, und wenn es noch so sehr id quo majus nihil cogitari potest wäre. Es würde vielmehr nur die Existenz eines anderen folgen, und auch das nur, wenn bereits feststünde, daß das in Frage stehende Wesen das Wesen eines Existierenden ist. Was weder im ontologischen Argument noch in irgend einem ihm analog gebauten Schluß der Fall ist. b) Das Sosein als Dasein von etwas „an" etwas Es muß an dieser Stelle noch einmal gründlicher auf eine formale Schwierigkeit eingegangen werden, als das bei der Diskussion der Urteile möglich war, — auf die Schwierigkeit im Verhältnis von Dasein schlechthin und „Dasein an etwas". Das letztere ist die besondere Daseinsform alles Soseins, das erstere aber ist offenbar die ontische Grundform des Daseins. Oder es gilt doch dafür. Es genügt natürlich nicht, den Gegensatz des Substantiellen und Anhaftenden (Attributiven, Akzidenteilen, Adjektiven) hierin zu erkennen und für ontisch irrelevant zu erklären. Denn Dasein ist nicht Substanz — auch nicht Substrat (Träger) — des Soseins. Es sind vielmehr zwei andere Überlegungen, die hier den Ausschlag geben. 1. Daß etwas nicht frei schwebend, sondern nur „an" etwas anderem da ist, macht den Charakter des Daseins in keiner Weise zweideutig. Das Woran oder Worin ändert überhaupt nichts an der Existenz als solcher. Relevant ist es nur für die ontische Kehrseite des Daseins, nämlich dafür, daß es zugleich das Sosein von etwas anderem ausmacht. Der Unterschied freischwebender Existenz (soweit es eine solche geben mag) und anhaftender Existenz ist also sehr wohl ein ontischer; aber er ist ein Unterschied im Sosein, nicht im Dasein. Und daß jedermann in natürlicher Einstellung ihn als wesentlich empfindet, ist nur der Beleg dafür, in welchem Maße die natürliche Einstellung eine rein inhaltliche — auf das Sosein gerichtete ·.— iät, das Dasein aber als unbemerkte Selbstverständlichkeit hinnimmt, die im Sosein des größeren Seinszusammenhanges restlos aufgeht. Im Leben fällt es niemandem ein, die Einzelexistenz eines Seienden so vollständig isoliert zu sehen, wie es nötig wäre, um das nackte Dasein als solches herauszuheben. Man darf hierin einen Beweis sehen, daß die Isolierung, durch die allein der Unterschied von Dasein und Sosein zum Gegensatz gestempelt wird, eine nachträglich hineingetragene, durch die substantielle Auffassungsweise geschaffene und erst durch die Theorie kanonisierte ist. Die Hauptschuld an der Kanonisierung dürfte die formal-logische Technik der Exi-

19. Kap. Identität und Verschiedenheit der Seinsmomente

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stenzialaussage tragen. In ihr eben ist grundsätzlich vom Realzusammenhange abgesehen. Der Zusammenhang aber ist ontisch immer da. Und er ist es, in dem das Dasein des einen sich jederzeit als Sosein eines anderen erweist. 2. Im Existenzialurteil wird die Nacktheit des Daseins durch Abstraktion von allen Seinsbezogenheiten — den Relationen des Woran, Worin, Wodurch usw. — erreicht, also durch Abstraktion von alledem, auf Grund dessen das ausgesagte Dasein besteht. Das ist logisch möglich, weil die Seinsrelationen in der Tat logisch gleichgültig sind. Und diese logische Gleichgültigkeit wiederum ist nicht etwas schlechthin Unsinniges, sondern beruht auf der ontischen Eigenart des Daseins. Sie wird möglich dadurch, daß in der Existenz von etwas die Semsrelationen, auf denen sie beruht, inhaltlich nicht enthalten sind. Sie liegen über deren inhaltlichen Bereich hinaus, in einem Zusammenhang, dessen Dasein nicht identisch ist mit dem Dasein des Etwas. Die Existenz eines Etwas steht und fällt zwar mit den Relationen, die sie tragen. Aber bestände sie freischwebend ohne die Relationen, so wäre sie nichtsdestoweniger dieselbe Existenz desselben Etwas. Es ist also logisch sehr wohl sinnvoll, von den Relationen zu abstrahieren. Der Fehler kommt erst hinein, wenn man diese Abstraktion für ontische Isoliertheit ausgibt. Und das geschieht, sobald man aus der Form des Existenzialurteils eine eigene Daseinsform ableitet. Ins Ungeheuerliche aber steigert sich der Fehler, wenn man daraufhin — mit den älteren Seinstheorien — diese Daseinsform des ontisch Isolierten zum eigentlichen und alleinigen Grundtypus des Daseins macht. Damit erklärt man die tragenden Seinsrelationen für ontisch unwesentlich oder gar geradezu für nicht daseiend. Und dann ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der These des Neukantianismus, daß die Relationen überhaupt subjektiven Ursprungs seien und erst durch die Auffassungsweise in die Gegenstände hineingetragen würden. Demgegenüber ist festzuhalten, daß die Relationen ontologisch von Hause aus nicht nur wesentlich sind, sondern stets das tragende Geflecht aller Einzelexistenz ausmachen. Sie haben dieselbe Existenz wie das substantielle Einzelne. Alles Existierende hat sein Woran, Worin und Wodurch, und dieses ist selbst ein im gleichen Sinne existierendes. In der Existenz unterscheiden sich Bestimmtheiten und Beschaffenheiten nicht von ihrem Träger, sei dieser nun ein wirklich substantieller oder ein nur vermeintlich substantieller. Wie nämlich die Beschaffenheiten nur etwas „an" einem Dinge (oder sonstigen Etwas) sind, so sind auch die Dinge selbst nur etwas „an" oder „in" einem Dingzusammenhang „im" Weltgeschehen, „in" der Welt. Als ein solches „Daran" und „Darin" aber gehören sie zum Sosein der Welt. Dinge und alles, was gleich ihnen substantiell erscheint, haben keinen Daseinsvorzug vor den Zusammenhängen, in denen sie stehen. 10 H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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Zweiter Tea. S.Abschnitt

c) Reichweite der Identität von Sosein und Dasein Wie die Bestimmtheiten nur „an" einem Daseienden „sind", so »ist" auch das Daseiende nur „an" und „in" einem Daseinszusammenhang. Und dieser ist selbst ein daseiender. Dasein ist nicht Träger des Soseins, sondern seine und seines Trägers Seinsweise. Das Dasein eines Daseienden ist dasselbe Dasein wie das seiner Bestimmtheiten, dasselbe also wie das seines Soseins. Es ist zwar Dasein eines anderen Etwas — eines an ihm Seienden —, aber das Dasein selbst, rein als Seinsweise verstanden, ist dasselbe. Es rechtfertigt sich somit der Satz, daß alles Sosein von etwas sich als Dasein von etwas verstehen läßt. Denn alles Sosein „ist" Dasein von etwas an etwas. Ob dieser Satz sich auch umkehren läßt, ob er sich analog in ebenso unbegrenzter Allgemeinheit auch vom Dasein aussagen läßt, ist einstweilen noch nicht untersucht. Man muß dazu Beispiele größeren Stils heranziehen. Daß Sokrates gelebt hat (existiert hat), heißt sinnvoller Weise nicht, daß er isoliert für sich, neben der Welt da war, sondern daß er „in" ihr da war. Dann aber ist seine Existenz ein Sosein der Welt. Und wer wollte verkennen, daß die Welt ohne sein Leben in ihr wirklich eine andere wäre. Und umgekehrt. Daß der Lauf des Weltgeschehens gesetzlich determiniert ist, heißt ontologisch: es gibt eine gesetzliche Determination im Lauf des Weltgeschehens. Das Sosein des Weltgeschehens erweist sich als Dasein der Gesetzlichkeit „in" ihm. Im ersten Beispiel erwies sich das Dasein von etwas „in" der Welt als ein Sosein der Welt; im zweiten erweist sich ein Sosein der Welt als Dasein von etwas in ihr. Soweit also dürfte das Identitätsverhältnis „im Ganzen" wohl ein umkehrbares sein. Tiefer ins Prinzipielle hinein führt ein kategoriales Beispiel. Kant meinte, es handle sich im Kausalnexus um das „Dasein" von etwas. Das läßt sich gewiß nicht bestreiten, aber es ist doch nur die Hälfte der Wahrheit. Eine bestimmte Wirkung hängt nicht nur am Dasein der Ursache, sondern ebensosehr an ihrem Sosein. Desgleichen hängt auch das Sosein der Wirkung ebensosehr wie ihr Dasein an der Ursache. Die Wirkung ist da, weil die Ursache da ist; aber die Wirkung ist auch nicht weniger „so", weil die Ursache „so" ist. Ungleiche Ursachen — ungleiche Wirkungen. Es gibt offenbar keine bloße Ursache des Daseins von etwas, die nicht zugleich Ursache seines Soseins wäre. Der Grund hiervon liegt in dem angegebenen Verhältnis der fortlaufend verschobenen Identität: das Sosein der Ursache ist selbst etwas an ihr Daseiendes; dasselbe gilt vom Sosein der Wirkung. Und umgekehrt: das Dasein der Ursache in einem bestimmten Stadium des Geschehens ist selbst ein Sosein dieses Stadiums; desgleichen, das Dasein der Wirkung (ihr Auftreten) in einem bestimmten Stadium des Weltgeschehens ist selbst ein Sosein dieses Stadiums. Beide machen überdies sehr wesentlich das Sosein des Gesamtgeschehens mit aus.

19. Kap. Identität und Verschiedenheit der Seinsmomente

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Allgemein ist zu sagen: es gibt keine getrennten Ursachen des Daseins und Ursachen des Soseins; und es gibt keine getrennten Wirkungen des Daseins und Wirkungen des Soseins. Es gibt sie deswegen nicht, weil nicht zwei Arten des Verursachens und Bewirkens einander parallel laufen, sondern die eine selbst zugleich die andere ist, d. h. weil es überhaupt im Kausalnexus nur ein einziges Bewirken und Bewirktwerden gibt, welches ebensowohl Sosein mit Sosein als Dasein mit Dasein verknüpft. Das scheinbar zwiefache Bewirken ist vielmehr ein identisches. Wie könnte es anders sein, da doch die Einzelgeschehnisse nicht isoliert laufen, sondern stets einem Gesamtgeschehen angehören und nur in der Abstraktion sich herauslösen lassen. Ist doch das Dasein jeder besonderen Ursache selbst ein Sosein des größeren Ursachenkomplexes und das Dasein jeder Wirkung selbst ein Sosein der größeren Gesamtwirkung. Je mehr sich der Blick in der Breite der Seinszusammenhänge zurechtfindet, um so evidenter wird es — gerade am Kausalgeflecht der Welt —, daß die verschobene Identität von Dasein und Sosein ein allgemeines Seinsgesetz ist. d) Die ontische Grenze der Identität Die philosophische Erfahrung sagt, daß Identitätsthesen, wenn sie nicht leere Tautologien sind, stets ihre Geltungsgrenze haben. Faßt man die Grenze nicht, so wird die These fehlerhaft. Wo aber liegt bei Dasein und Sosein die ontische Grenze der Identität? Daß am isolierten Einzelgebilde, womöglich gar in substantieller Fassung, Dasein und Sosein etwas ganz verschiedenes sind, macht offenbar keine solche Grenze aus. Denn die Isolierung ist Abstraktion, und eine Identitätsgrenze, die man hier suchen wollte, wäre keine ontische Grenze. Auch würde sie dem allgemeinen Seinsgesetz, wie es formuliert wurde, nicht widerstreiten. Denn dieses behauptet gar nicht, daß das Sosein von etwas zugleich sein eigenes Dasein wäre und umgekehrt. Es behauptet nur, daß das Sosein von etwas zugleich das Dasein eines anderen und das Dasein von etwas zugleich das Sosein eines anderen ist. Es ist wichtig, sich dieses klarzumachen. Wir haben ein ähnliches Verhältnis in allen Reihenstrukturen. So z. B. in der Kausalreihe. Die Ursache von A ist nicht zugleich Wirkung von A. Wohl aber ist sie überhaupt zugleich Wirkung, nämlich Wirkung eines anderen. Der Kausalnexus besteht nicht aus zweierlei Reihen, einer solchen von Ursachen und einer solchen von Wirkungen, sondern nur aus einer einzigen Reihe, in der alles zugleich Ursache und Wirkung ist. Darin besteht die ontische Identität der Ursachen und Wirkungen. Sie ist gleich der von Dasein und Sosein eine fortlaufend verschobene Identität. An diesem Beispiel aber wird es klar, wo die Grenze der Identität in einer solchen Reihe zu suchen ist. Sie ist dort zu suchen, wo die Reihe selbst ihre Grenze findet: im ersten Gliede. Daß alles zugleich Ursache und Wirkung ist, gilt nur, wenn die Reihe in infinitum weitergeht und 10*

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Zweiter Teil. S.Abschnitt

damit hat es seine metaphysische Schwierigkeit. Hat sie aber ein erstes Glied, so ist es nur Ursache, nicht Wirkung. An diesem Dilemma setzt die kosmologische Kausalantinomie ein. Auch im Verhältnis von Dasein und Sosein sind wir auf einen Reihencharakter gestoßen. Man erinnere sich des Beispiels: das Dasein des Baumes ist Sosein des Waldes, das Dasein des Astes Sosein des Baumes, das Dasein des Blattes Sosein des Astes, das Dasein der Rippe Sosein des Blattes. Wie weit sich diese Reihe abwärts verlängern läßt, mag hier auf sich beruhen, eine angebbare Grenze wird sich nicht ziehen lassen. Wohl aber stoßen wir auf eine Grenze, wenn wir sie aufwärts weiter verfolgen. Das Dasein des Waldes ist auch ein Sosein der Landschaft, das Dasein der Landschaft ein Sosein der Erde, das Dasein der Erde ein Sosein des Sonnensystems. Diese Fortsetzung der Reihe stößt auf ein Endglied, die Welt als Ganzes. Und von diesem Ganzen läßt sich nicht mehr sagen. daß sein Dasein das Sosein eines weiteren sei. Die Äußerlichkeit des Beipsiels — daß die ganze Reihe sich hier im Dinghaften bewegt — darf einen nicht über die Wesentlichkeit des ontischen Verhältnisses täuschen. Beispiele aus der geistigen Welt zeigen genau dasselbe Gesicht. Immer ist das Letzte, dem etwas als sein Sosein anhaften kann, der Inbegriff des Seienden überhaupt, die Welt als Ganzes. Auch ohne Berücksichtigung des Reihencharakters, bei Überspringung aller Zwischenglieder, leuchtet das ein. So etwa an dem Sokratesbeispiel: daß es einen Sokrates gegeben hat, ist ein Sosein der Welt. Aber daß es die Welt gibt, ist nicht mehr ein Sosein von etwas. Die Welt wäre anders ohne Sokrates; aber was gibt es noch, das anders wäre ohne die Welt? Offenbar nichts. e) Der Richtungsunterschied in der verschobenen Identität Will man sich nun auf metaphysische Spielereien einlassen, so kann man vielleicht noch „das Nichts" substantivieren und sagen, das Nichts wäre anders, wenn es nicht durch den Inbegriff des Etwas — die Welt — eingeschränkt wäre. Aber erstens gewinnt man damit nichts, denn die Aporie springt dann sogleich auf das Nichts selbst über; es ist ja nicht eine Aporie der Welt, sondern eine solche des letzten Gliedes, und letztes Glied ist alsdann das Nichts. Zweitens aber ist es hier nicht um ein Spiel mit spekulativen Begriffen zu tun, sondern um ein, Seinsgesetz. Und dazu tut man gut, auf dem Boden des Seienden zu bleiben. Der Satz: „alles Sosein ist Dasein von etwas" läßt sich nicht umkehren. Wenigstens nicht in strikter Allgemeinheit. Man kann nicht mit gleichem Recht sagen, alles Dasein sei Sosein von etwas. Das Dasein des Ganzen macht eine Ausnahme. Und eö ist auch klar, warum es die Ausnahme macht: das Ganze ist der Inbegriff alles dessen, was da ist; es kann außer ihm nichts dasein, woran es selbst ein Sosein wäre. Allgemein also gilt die Umkehrung nur „innerhalb" der Welt. Das ist zwar nicht wenig, aber doch eine begrenzte Allgemeinheit. Und da in-

20. Kap. Das Ergebnis und seine Konsequenzen

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haltlich alles besondere Dasein im Dasein der Welt — also im Ausnahme fall — enthalten ist, da es mit dem Dasein der Welt steht und fällt, so erweist sich gerade dieser Grenz- und Ausnahmefall als ontologisch gewichtig. Sein Gewicht erstreckt sich mittelbar auf alles besondere Dasein. Und das Resultat ist, daß am Gegensatz der Seinsmomente doch etwas zurückbleibt, was in der verschobenen Identität nicht aufgeht. Das ist es, was sich am Reihencharakter als der Richtungsunterschied von Dasein und Sosein darstellte. Wenn das Dasein von B ein Sosein von A ist, so ist deswegen doch nicht das Dasein von A ein Sosein von B, sondern von einem dritten. Diese Richtung im Geschaltetsein der Seinsmomente ist eine eindeutige und irreversible. Und das ist der Grund, warum am seienden Einzelgebilde die Seinsmomente geschieden und heterogen erscheinen, ja bis in die Aussageform hinein gegensätzlich dastehen. Die Geschiedenheit freilich ist Schein. Aber die Heterogeneität ist nicht bloßer Sehern. Auch die durchgehende Identität ist nur Teilmoment am Gesamtverhältnis. Es bleibt ein Rest von Übergewicht auf der Seite des Daseins. Und dieses ist es, was vom Ganzen her über das Einzelne hin sich erstreckt und an keinem Falle in der Bestimmtheit aufgeht. Das stimmt gut zusammen mit dem Umstand, daß im Dasein die Semsweise steckt. Die Seinsweise eben ist an allem Seienden das ontische Grundmoment. 20. Kapitel. Das Ergebnis und seine Konseqnenzen

a) Zusammenfassung der Resultate Was bleibt übrig vom traditionellen Gegensatz der essentia und existentia? Verschwunden ist er nicht. Aber es hat sich erwiesen, daß etwas anderes, und zwar etwas viel DifFerenzierteres in ihm steckt. Weder das Verhältnis von Form und Materie noch das von Möglichkeit und Wirklichkeit paßt auf ihn. Das „Seiende als Seiendes" hat sich vielmehr als Überschneidung zweier Gegensatzpaare erwiesen, die beide latent im Verhältnis von essentia und existentia stecken. 1. Es bleibt also ein viergliedriges Verhältnis bestehen, in dem der Unterschied der Seinsweisen senkrecht auf dem der Seinsmomente zu stehen kommt (Fig. 1). Hierbei liegt der Unterschied der Seinsweisen im Seinsmoment des Daseins. Das Sosein dagegen konvergiert inhaltlich in den Sphären. Für sich betrachtet ist es neutral. 2. Der Unterschied des Soseins und Daseins erhält sich ungeschmälert in diesem Verhältnis; aber er besteht als Gegensatz nur am einzelnen Seienden und am Ganzen der Welt. In den Seinszusammenhängen innerhalb der Welt läuft er auf durchgehende Identität hinaus, indem alles Sosein selbst auch Dasein und alles Dasein selbst auch Sosein ist. Diese Identität der Seinsmomente besteht nur bei Verschiedenheit des Bezogen seins, ihre Verschiedenheit nur bei Identität des Bezogenseins. An ver-

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Zweiter Teü. 3. Abschnitt

schiedenem Seienden sind sie nach bestimmter Reihenordnung identisch, an einem Identischen sind sie unaufhebbar verschieden. 3. Ihr Unterschied bleibt so als ein relativer in seinem Recht. Aber er hat nicht den Sinn von zweierlei Sein eines Seienden. Dasein und Sosein bleiben als Seinsweise und Seinsbestimmtheit auch in ihrem Zusammenfallen in Gegensatz zueinander; ihre Identität ist nicht tautologisch, sondern synthetische Identität, sie wurzelt in der Struktur der Seinszusammenhänge. Und ebenso bleiben sie auch in ihrer Gegensätzlichkeit streng aneinander gebunden; man kann niemals von einem Seienden (einerlei welcher Sphäre) sagen, es habe nur Dasein oder nur Sosein, es hat immer beides. Diese Gebundenheit aneinander fällt nicht mit jener Identität zusammen. Sie besteht nicht nur an verschiedenem Seienden, sondern auch an einem und demselben. 4. Gegen diesen „konjunktiven" Gegensatz der Seinsmomente hebt sich der „disjunktive" der Seinsweisen als ein vollkommen anderer ab. Seine Vermengung mit dem ersteren ist der Hauptfehler der alten Ontologie gewesen und hat all die traditionellen Unklarheiten der essentiaTheorien verschuldet. Ideales und reales Sein sind weder aneinander gebunden, noch gibt es an ihnen etwas, worin sie identisch wären. Die wirkliche Verbundenheit, die zwischen den Sphären besteht, ist eine rein inhaltliche; sie beruht auf der Gemeinsamkeit des Soseins, auf dessen „Neutralität", aber eben diese ist keine durchgehende. Sie liegt auch nicht im Wesen der Seinsweise, sondern des Inhaltlichen, und ihre Begrenztheit in der Welt ist inhaltliche Begrenztheit. 5. Die Gemeinsamkeit des idealen und realen Soseins ist somit durchaus nur seine Neutralität, d. h. die Gleichgültigkeit inhaltlicher Bestimmtheit überhaupt gegen den Unterschied der Seinsweise. Sie hebt also den Gegensatz der Sphären nicht auf; denn ein isoliertes Sosein ohne Dasein gibt es nicht; und dem Dasein nach fällt alles Seiende unter ein disjunktives Verhältnis. Es gibt daher kein Seiendes, das nicht entweder ideal oder real seiend wäre (oder, wenn es weitere Seinsweisen gibt, unter diese fiele); d. h. es gibt kein „neutral Seiendes", nur die Seite (das Seinsmoment) des Soseins als solchen ist an ihm neutral. Das Seinsmoment als solches aber fällt unter ein konjunktives Verhältnis und kommt für Sich nicht vor. b) Ausblick auf weitere Aufgaben Diese vorläufigen Resultate genügen bereits, die Ontologie auf eine neue Basis zu stellen. Es geht jetzt nicht mehr an, die Seinsbestimmtheit des Realen (etwa der Dinge) von einem Reich idealer Wesenheiten abzuleiten, während die Existenz allein das Realsein ausmachen müßte. Realbestimmtheit ist vielmehr Bestimmtheit sui generis, und sie ist stets identisch mit der Realexistenz mannigfaltiger Faktoren und Zusammenhänge. Es ist auch nicht mehr möglich, den Seinscharakter in das Substantielle allein zu verlegen. Substanzen haben in der Seinsweise nichts

20. Kap. Das Ergebnis und seine Konsequenzen

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voraus vor Beschaffenheiten, Veränderungen, Relationen. Das vereinfacht die Sachlage in der Ontologie beträchtlich. Wie denn überhaupt die grundsätzliche Auflösung des alten Verhältnisses von esöentia und existentia in ein System zweier sich überschneidender Verhältnisse nicht den Charakter einer Komplizierung, sondern den der Aufdeckung eines unerwartet einfachen und übersichtlichen GrundVerhältnisses hat. Darüber ist nicht zu vergessen, daß insoweit nur das Verhältnis von Sosein und Dasein geklärt ist, das der Seinsweisen aber noch weiterer Untersuchung bedarf. Unter „idealem Sein" läßt sich sehr Verschiedenes verstehen; auch sein Bestehen selbst ist oft bestritten und ebenso oft wieder behauptet worden. Reales Sein ist zwar empirisch nur allzu bekannt, aber was es ist, d. h. was es mit seiner Seinsweise ontologisch auf sich hat, ist deswegen doch nicht weniger ungeklärt. Die weiteren Grundfragen, die sich hier anschließen, sind also: 1. die nach der Gegebenheit des Realen und des Idealen, 2. die nach dem Seinscharakter des einen wie des anderen, und 3. die nach der inneren Struktur ihres Verhältnisses zueinander. Die erste dieser Fragen ist eine erkenntnistheoretische und kann gesondert behandelt werden. Mit ihr haben es die folgenden Teile zu tun. Die zweite kann, soweit überhaupt sie sich behandeln läßt, nur im Zusammenhang der Modalitätsverhältnisse erörtert werden. Sie gehört in den Problembereich einer anderen Untersuchung. Die dritte aber betrifft bereits den strukturellen Aufbau der Welt. Sie ist eine Frage des Verhältnisses der Seinsschichten zu den Seinssphären. Sie erfordert eine umfassende Analyse der kategorialen Gesetzlichkeit und macht den Gegenstand einer dritten Reihe von Untersuchungen aus1). c) Der Schein der Getrenntheit und sein ontologischer Grund Die Argumente der Getrenntheit von Dasein und Sosein, wie sie oben (Kap. 12. a—c) zusammengestellt wurden, haben sich als Scheinargumente erwiesen. Die Seinsmomente sind nicht wesensverschiedenes Sein, sondern zusammengehörige Seiten desselben Seienden. Weder hat das Dasein eine Selbständigkeit, die das Sosein nicht hätte, noch das Sosein eine Abhängigkeit, die das Dasein nicht hätte. Ihre Heterogeneität ist nur die von bezogenen Gliedern. Und da im Seinszusammenhang sich die Bezogenheit in Reihen einordnet, so geht sie innerhalb jedes größeren Ganzen in Identität über, und vom Gegensatz bleibt nichts als der Richtungsunterschied zurück. Nachdem dieses Verhältnis durchschaut ist, erhebt sich aber die Frage, worauf denn der Schein der Wesensverschiedenheit beruht. Der Schein ist ja nicht ein willkürlich hineingetragener, er wird auch nach Aufdek*) Die beiden letztgenannten Fragen gehören also nicht zum Thema, dieses Buches. Ihre Behandlung ist in den anschließenden Werken „Möglichkeit und Wirklichkeit" und „Der Aufbau der realen Welt" durchgeführt.

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Zweiter Teil. 3. Abschnitt

kvmg der Sachlage nicht einfach aufgehoben; er besteht vielmehr fort, er ist ein unvermeidlicher Schein. Er hat nicht einfach den Charakter eines Irrtums, den man durch Einsicht berichtigen kann. Er gleicht vielmehr der Täuschung, die auch als durchschaute noch Täuschung bleibt. Es gibt zwei Gründe dieses Scheines. Der erste ist ein ontologischer. Er liegt darin, daß im Dasein einer Sache die Relationen, in denen sie steht, nicht inhaltlich enthalten sind — denn sie gehören der Seite der Bestimmtheit an, das Dasein als solches aber ist nur Seinsweise —, im Sosein aber wohl enthalten sind. Man kann freilich auch beim Sosein einer Sache von allen weiteren Relationen abstrahieren und nur ein einzelnes Bestimmungsstück herausheben. Aber eben dazu bedarf es der Abstraktion, und diese muß vollzogen werden, während das Dasein auch ohne besonderen Akt der Abstraktion sich in einer gewissen Nacktheit darbietet. Und von „einer" Relation kann beim Sosein niemals abstrahiert werden. Das ist seine Zugehörigkeit zu einem Daseienden. Bestimmtheit ist dem Wesen nach etwas „an" etwas. Seinsweise dagegen ist gleichgültig gegen das Woran und Worin. Das Dasein einer Sache steht zwar in Seinsrelationen, die selbst daseiende sind; aber es „besteht" nicht in ihnen. Das Sosein hingegen besteht wesentlich mit in ihnen. Das ist der Grund, warum das Dasein als etwas Selbständiges, das Sosein als etwas Unselbständiges „erscheint". Dieser Grund ist nicht ein Scheingrund. Er ist ein echter Seinsgrund. Es ist ein Irrtum zu meinen, Gründe des Scheines müßten selbst Schein sein. Ein Schein, der unaufhebbare Konstanz an sich hat, kann vielmehr nur auf einem ontischen Grunde beruhen. Erst die Einsicht in den ontischen Grund der Unaufhebbarkeit ist die Entkräftung des Scheines. Aber auch sie ist nur seine Aufdeckung, nicht seine Beseitigung. Was es damit auf sich hat, ist im metaphysischen Felde aus Kants transzendentaler Dialektik wohlbekannt. Diese eben ist eine Logik des Scheines, und ihr Geschäft ist Aufdeckung der Gründe des Scheines. In der Sphäre des Alltags ist das weit weniger bekannt. Aber gerade sie steht hier in Frage. Dies wird sehr einleuchtend am Verhältnis von Ding und Beschaffenheit. Die Beschaffenheit ist ein solches, das nur „an" einem Daseienden bestehen kann. Darum kann man bei ihr nicht von allen Relationen abstrahieren. Sie allein ist im dinglichen Denken vor der isolierenden Abstraktion geschützt. Die Dinge selbst sind es nicht. Sie haben darum im naiven Bewußtsein den Schein der Selbständigkeit an sich. Und dieser fällt auf die Seite des Daseins. Gerade am dinglichen Denken haftet primär das Vorurteil der Wesensverschiedenheit. Die Dinge eben werden als Substanzen verselbständigt, die Beschaffenheiten erscheinen unselbständig. Und So scheint es denn, daß sie kein Dasein haben, ihre Träger aber „an sich" kein Sosein. Denn da sie nicht „an sich" sind, in ihnen aber das Sosein besteht, so kann dieses auch den Dingen nicht „an sich" zukommen. Der Fehler liegt im

20. Kap. Das Ergebnis und seine Konsequenzen

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Haften am sinnfälligen Phänomen. Man sieht nicht, daß Dingphänome nicht die Dinge selbst sind. d) Der erkenntnistheoretische Grund der Trennung Der zweite Grund, der hier mitspielt, liegt im eigenartigen Aufbau der menschlichen Erkenntnis. Auch er ist im weiteren Sinne ein Seinsgrund; wie denn die Erkenntnis zum geistigen Sein gehört, und das Erkenntnisverhältnis des Subjekts zur Welt ein Seinsverhältnis ist. Dieser Grund ist leicht faßbar: man trennt an den „Gegenständen" Dasein und Sosein, weil ihre Gegebenheitsweise eine verschiedene und oft auch eine in weit auseinanderliegenden Einsichten getrennte ist. Der springende Punkt in dieser Verschiedenheit ist die Dualität der Erkenntnisquellen — oder mit Kant zu reden, der Erkenntnisstämme ·— also des apriorischen und des aposteriorischen Elements der Erkenntnis. Die Bezogenheit dieser Dualität auf die beiden Seinsmomente läßt sich in zwei einfachen Sätzen aussprechen: 1. Dasein ist nur a posteriori erkennbar; 2. a priori ist nur das Sosein erkennbar. Das gilt freilich nur für reales Dasein und Sosein; das ideale Sein ist überhaupt nur a priori erkennbar. Aber der Nachdruck des Daseinsproblems liegt nun einmal in der realen Sphäre. Ferner ist zu bemerken, daß der zweite Satz nur stimmt, solange es sich um „rein" apriorische Erkenntnis handelt; sobald Erfahrungselemente zugrundeliegen, läßt sich durch Anwendung apriorischer Gesetzeserkenntnis auch das Dasein von etwas Bestimmten ermitteln. Von diesem Fall, der in der Wissenschaft wie im Leben der gewöhnliche ist, muß hier abgesehen werden. In ihm treten die Erkenntniselemente bereits gemischt auf. Der reine Fall aber ist deswegen durchaus nicht ein konstruierter. Es gibt auf vielen Wissensgebieten das apriorische Wissen um das Allgemeine als solches, etwa als Wissen um das Gesetz, ohne daß die einzelnen Fälle gegeben sind. Es liegt dann ein Wissen um das Sosein ohne Wissen um das Dasein vor. Genauer besehen, stellt sich das Verhältnis folgendermaßen dar. Gesetzt, a priori und a posteriori (nicht zu verwechseln mit Denken und Anschauung) seien ursprüngliche Gegebenheitsweisen des Seienden, so gilt nicht etwa die einfache Zuordnung: Dasein — a posteriori gegeben, Sosein — a priori gegeben. Sondern erstens brauchen beide überhaupt nicht gegeben zu sein, Dasein wie Sosein einer Sache bestehen auch ohne Gegebenheit, ja auch ohne erkennbar zu sein. Und zweitens gibt es auch a posteriori gegebenes Sosein. Zum letzteren zählen z. B. alle wahrgenommenen Qualitäten, Raumformen, Verhältnisse, Vorgänge. Die Wahrnehmung gibt zwar das Dasein der Dinge, aber nicht das nackte Dasein, sondern das Dasein mit einem erheblichen Teil des Soseins. Das kommt deutlich in den obigen beiden Sätzen zum Ausdruck. Diese sprechen kein Parallelverhältnis aus. Sonst müßte sich der zweite Satz

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Zweiter Teil. 3. Abschnitt

umkehren lassen. Und das geht nicht an. Das Sosein ist in vielem auch a posteriori erkennbar. Es liegt also ein Überlagerungsverhältnis zwischen den Seinsmomenten und den Gegebenheitsweisen vor. Die Beziehung beider Gegensatzpaare ist durch die Objektion des Seienden hergestellt; und natürlich kommt sie nur innerhalb der Grenzen möglicher Objektion in Frage. Sie läßt sich nicht als dimensionales Überschneidungsverhältnis ausdrücken. Überlagerung ist etwas ganz anderes als Überschneidung. Was darin sofort in die Augen springt, ist vielmehr ein doppeltes Grenzverhältnis, in welchem die beiden Grenzen einander nicht entsprechen. Die Grenze von apriorischer und aposteriorischer Gegebenheit trifft der Lage nach nicht zusammen mit der ontischen von Dasein und Sosein. Erk. a priori

Erk. a posteriori

Sosein

Dasein Figur 4

Vom Sosein also gibt es sowohl apriorische als aposteriorische Erkenntnis, vom Dasein nur aposteriorische. Und umgekehrt: aposteriorische Erkenntnis gibt es sowohl vom Sosein als vom Dasein, apriorische nur vom Sosein. Hinsichtlich der Zweiheit der Erkenntnisquellen — und damit der Erkennbarkeit überhaupt — hat Somit die Seite des Soseins einen Vorzug. Das Dasein bleibt auf das aposteriorische Element allein angewiesen. Erwägt man nun, welche ungeheure Tragweite in der Erkenntnis — und zumal in der wissenschaftlichen — das apriorische Erkenntniselement hat, so wird es sehr wohl verständlich, warum das Ausgeschlossensein des Daseins von ihm den Schein erweckt, als wäre das Sosein etwas von ihm Abtrennbares. In aller rein apriorischen Erkenntnis eben erscheint es tatsächlich als ein getrennt vom Dasein erkanntes. Man kann das auch schroffer aussprechen: am objizierten Seienden steht es auch wirklich abgetrennt da. Das Objizierte aber ist der Gegenstand. Und da nun weder das natürliche noch das wissenschaftliche Bewußtsein das Seiende vom Gegenstand als solchem scharf zu unterscheiden weiß, so muß notwendig die Trennung von Dasein und Sosein als eine ontische erscheinen. Was die Erkenntnis scheidet, das muß sie auch für an sich geschieden halten. 21. Kapitel. Gegebenheitsweisen und Seinsweisen

a) Dreifache Überlagerung und dreifaches Grenzverhältnis Nun gibt es aber, wie sich zeigte, ein sehr bestimmtes Verhältnis zwischen den beiden ontischen Gegensätzen, dem von Dasein und Sosein

21. Kap. Gegebenheitsweisen und Seinsweisen

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und dem von realem und idealem Sein. Dieses Verhältnis stellte sich als dimensionale Überschneidung dar. Ihrerseits wiederum zeigen die beiden Arten der Gegebenheit ein ebenso bestimmtes Verhältnis zum Gegensatz von real und ideal. Aber es ist ein anderes als das zu den Seinsmomenten. Auch dieses neue Verhältnis läßt sich annähernd (nicht restlos freilich) als ein Überlagerungsverhältnis darstellen. Und auch hier fallen die Grenzen nicht zusammen. Nur ist die Grenze der Seinsweisen gegen die der Gegebenheitsweisen nach der anderen Seite verschoben. Das läßt sich wiederum in einigen Sätzen zusammenfassen: 1. Erkenntnis a priori gibt es sowohl vom Idealen als vom Realen, Erkenntnis a posteriori nur vom Realen. 2. Vom Realen gibt es sowohl Erkenntnis a priori als Erkenntnis a posteriori, vom Idealen nur Erkenntnis a priori. Hinsichtlich der Zweiheit der Seinsweisen und ihrer Sphären hat somit das apriorische Erkenntniselement einen Vorzug. Das ist auffallend genug, denn hinsichtlich der Zweiheit der Seinsmomente ergab sich ein Vorzug des aposteriorischen Elements. Man darf hierin ohne weiteres einen neuen schlagenden Beweis für die Heterogeneität der beiden ontischen Gegensatzpaare erblicken, in die sich der alte Gegensatz von essentia und existentia aufgelöst hat. Drückt man nun das in derselben Weise schematisch aus wie die erste Überlagerung, und nimmt man aus dieser (Fig. 4) gleich das Verhältnis der Gegebenheitsweisen zu den Seinsmomenten mit hinein, so bekommt man die gemeinsame Überlagerung dreier Gegensatzpaare, und zwar mit drei gegeneinander verschobenen Grenzen (Fig. 5). In dieser Überlagerung fällt sogleich der Richtungsunterschied in der Verschiebung der beiden ontischen Grenzen gegen die gnoseologische Grenze auf. Geht man von der letzteren aus, so ist die Grenze der Seinsweisen nach links (in den Bereich des a priori Erkennbaren hinein) verschoben, die der Seinsmomente aber nach rechts (in den Bereich des a posteriori Erkennbaren hinein). Sie sind also in entgegengesetzter Richtung verschoben. Erk. a priori ideales Sein

l l

Erk. a posteriori reales Sein

Sosein

(Dasein) Figur 5

An diesem Schema wird aber bei näherem Zusehen eine Unstimmigkeit bemerkbar. Sie liegt in dem involvierten Überlagerungsverhältnis der Seinsweisen und Seinsmomente. Der Gegensatz von ideal und real und der von Sosein und Dasein können sich gar nicht überlagern, weil

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Zweiter Teü. 3. Abschnitt

sie sich vielmehr dimensional überschneiden. Und dieser Fehler des Schemas -wird sehr spürbar in der Stellung das Daseins. Das Sosein ist zutreffend gelagert, es greift über ideales und reales Sein über, wie es ihm zukommt. Aber das Dasein ist auf das reale Sein beschränkt. Es steht also im Schema nicht an der richtigen Stelle (was in Fig. 5 durch die Klammer angedeutet ist). Das würde zwar dem alten Begriff der existentia entsprechen. Aber es reimt sich nicht mit der Tatsache, daß gerade im Moment des Daseins der Unterschied der Seinsweisen liegt. b) Berichtigung des Schemas Wahre Stellung der Gegebenheitsweisen Will man diesen Fehler berichtigen, so findet man leicht heraus, daß es unmöglich ist, das innerhalb des Schemas durchzuführen. Die drei Gegensatzpaare und ihre Grenzverhältnisse lassen sich auf keine Weise in einer dreifachen Überlagerung eindeutig fassen. Es ist in ihr kein Platz für ideales Dasein. Das reißt ein Loch in die ganze Disposition. Man müßte in der mittleren Region das ideale Sein bis über das Dasein hinausziehen; oder man müßte die Grenze der Seinsmomente (in der unteren Region) weit nach links, noch über die der Seinsweisen hinaus verlegen. In beiden Fällen aber stimmen dann die übrigen Grenzverhältnisse nicht mehr. Man muß offenbar zu einem anderen Schema greifen. Man muß das Überlagerungsverhältnis in ein dimensionales Überschneidungsverhältnis umwandeln, wie es der Stellung der beiden ontischen Gegensatzpaare entspricht. Von der ontischen Seite ist auszugehen, nicht von der Erkenntnisseite. Das Überlagerungsverhältnis wurde ja überhaupt erst dadurch involviert, daß der Gegensatz der Gegebenheitsweisen zum Ausgang genommen wurde. Das war der Fehler. Dieser Gegensatz läßt freilich ein Überlagerungsverhältnis mit jedem der beiden ontischen Gegensätze zu. Kombiniert man dann beide Überlagerungen miteinander, so ergibt sich eine dritte; und diese fällt falsch aus, weil sie auf das Verhältnis der beiden ontischen Gegensatzpaare nicht paßt. Gehen wir also vom zweidimensionalen Verhältnis der letzteren aus, wie es in Fig. l vor der Reduktion des Soseins (also mit Übergehung seiner Neutralität) angegeben wurde. Es kommt dann alles darauf an, wie sich die Reichweite der apriorischen und der aposteriorischen Erkennbarkeit auf die vier Glieder des Schemas verteilt. Diese Verteilung läßt sich in der Tat eindeutig einzeichnen (Fig. 6), wobei das Verhältnis ihrer Bereiche anschaulich zum Ausdruck kommt. Den Ertrag kann man in folgenden Punkten zusammenfassen. 1. Die Erkenntnis a priori bestreicht drei von den ontischen Gegensatzfeldern (i. Ss., i. Ds. und r. Ss.). Nur das reale Dasein ist von ihr ausgeschlossen.

21. Kap. Gegebenheitsweisen und Seinsweisen

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2. Die Erkenntnis a posteriori bestreicht nur zwei Felder (r. SB. und r. Ds.). Die beiden Felder des idealen Seins sind von ihr ausgeschlossen. 3. Die apriorische und die aposteriorische Erkenntnis haben von den vier ontischen Feldern nur eines gemeinsam: das reale Sosein. 4. Reales Dasein ist nur der Erkenntnis a posteriori zugänglich. 5. Ideales Sein (sowohl i. Ss. Erk.a priori als auch i. Ds.) ist nur der Erkenntnis a priori zugänglich. Die Punkte l, 3 und 4 werden nur dadurch modifiziert, daß die Erkenntnis a priori sich mittelbar (unter Voraussetzung aposteriorischer Ausgangsgegebenheit) auch auf reales Dasein erstreckt. Streng also treffen diese drei Sätze nur zu, wenn man die Erkenntnis a priori lediglich als das „rein" apriorische Erkenntniselement versteht, ohne Bücksicht darauf, inwieweit es in solcher Reinheit vorkommt. Figure c) Gespaltenheit der Erkenntnis und Schein der ontischen Spaltung Aber noch eins ist zu beanstanden. In dieser Disposition ist ein scharfes Grenz Verhältnis zwischen Dasein und Sosein vorausgesetzt. Die Untersuchung aber hat gezeigt, daß ein solches nicht besteht, daß zwischen Dasein und Sosein nur ein Richtungsunterschied übrig bleibt. Das folgte aus der allgemein ontischen Sachlage, daß alles Dasein von etwas selbst wiederum Sosein von etwas und alles Sosein von etwas auch wiederum Dasein von etwas ist. Andererseits aber geht tatsächlich der Schritt zwischen dem, was a priori erkennbar, und dem, was nur a posteriori erkennbar ist, gerade zwischen realem Sosein und realem Dasein hindurch; was in Fig. 6 deutlich durch die schräge Begrenzungslinie des apriorischen Erkenntnisbereiches zum Ausdruck kommt. Das wäre ein Ding der Unmöglichkeit, wenn die Gegebenheitsweisen des Gegenstandes selbst Seinsmomente an ihm als einem ansichseienden wären, oder auch nur den Seinsmomenten streng entsprächen. Beides ist offenbar nicht der Fall. Erkenntnisgrenzen sind überhaupt keine Seinsgrenzen. Auch die Grenze des Apriorischen ist eine bloß gnoseologische Grenze, und eine ontische Grenze, die ihr entspräche, gibt es nicht. Da

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Zweiter Teil. 3. Abschnitt

aber der Grenzstrich, den sie zieht, den Gegenstand betrifft, und dieser ein ansichseiender ist, so entsteht der Schein, als trennte sie damit das Dasein vom Sosein ab. Die Zweiheit der Erkenntnisquellen hat ihren Grund in der Organisation der Erkenntnis, also in der Artung des erkennenden Subjekts, nicht in der Artung des Seienden; also auch nicht in einer Gespaltenheit des Seienden in Dasein und Sosein. Das Seiende, soweit überhaupt es in das Verhältnis der Objektion tritt, ist und bleibt homogen. An ihm sind Dasein und Sosein nur richtungsunterschieden und gehen innerhalb größerer Seinszusammenhänge restlos ineinander über. Die Artung und Organisation unserer Erkenntnis erst trägt die Spaltung hinein; denn sie ist in der Tat eine gespaltene. Sie kann die Spaltung zwar nicht in das Seiende selbst hineintragen — denn das Seiende ist an sich und ihrer Macht entzogen —, wohl aber in den Begriff des Seienden, den sie sich macht. Und so erweckt sie auf Grund ihrer eigenen Gespaltenheit den Schein, als wäre das Seiende selbst gespalten. Dieser Schein ist zwar der ganz naiven Einstellung fremd. Er entsteht aber beim Einsetzen der Reflexion. Und er befestigt sich in der erkenntnistheoretischen Überlegung. In seiner Weise ist auch er unaufhebbar, aber er ist sehr wohl durchschaubar. Und er wird durchschaubar in der Aufdeckung der ontischen Bezogenheit von Dasein und Sosein und ihres Verhältnisses zur Gespaltenheit der Gegebenheitsweisen. Deswegen besteht auch die obige Anordnung (Fig. 6) mitsamt den fünf Folgesätzen, in denen sie exponiert ist, sehr wohl zu Recht. Die ontologische Schiefheit der Grenzsetzung in ihr ist keine willkürliche, sondern die dem Phänomen der Gegebenheitsweisen entsprechende. Sie zeigt die wirklichen Gegenstandsbereiche apriorischer und aposteriorischer Erkenntnis im Seienden auf. Diese eben grenzen sich gnoseologisch scharf gegeneinander aus. Und darin dürfte wohl der innerste Grund der Hartnäckigkeit liegen, mit der sich die Scheidung von Dasein und Sosein in den philosophischen Theorien gehalten hat.

DRITTER TEIL Die Gegebenheit des realen Seins I. Abschnitt Die Erkenntnis und ihr Gegenstand 22. Kapitel. Gnoseologisches und ontologisches Ansichsein

a) Aufhebung der ontologischen Neutralität In der Bestimmung des „Seienden als Seienden", von der wir ausgingen, spielte die Unterscheidung vom Gegenstandsein eine entscheidende Rolle. Der springende Punkt dabei ist die Unabhängigkeit des Seienden von der Objektion. Da nun aber alle Gegebenheit von Seiendem die Form der Objektion hat, es selbst also stets als Gegenstand erfaßt wird, so erhebt sich die Frage, was es eigentlich mit der Gegebenheit selbst auf sich hat. Es genügt dafür nicht, um die Unterscheidung von Sein und Gegebensein zu wissen. Es wird dadurch nur greifbar, daß es sich um Ansichseiendes handelt. Inwiefern sich aber ein solches behaupten läßt, wird dadurch nicht klargestellt. Sofern nun die Behauptung auf Gegebenheit beruht, zugleich aber gerade dieses behauptet, daß das Seiende im Gegebensein nicht aufgeht, so entsteht hier eine Aporie, die es zu lösen gilt. Die Untersuchung, die hiermit einsetzt, hätte der Sache nach an den Anfang gehört. Doch ist sie vor der Klärung des Verhältnisses von Dasein und Sosein nicht durchführbar. Denn in ihr geht es ganz und gar um das Moment des Daseins. Daß etwas ,,an sich ist", heißt eben, daß es besteht, existiert, und zwar nicht nur „für uns", nicht bloß in der Meinung oder im Dafürhalten. Es handelt sich also um den Erweis des Daseins. Und da dieser nicht auf irgendein bestimmtes Seiendes geht, sondern im Ganzen und generell auf das Dasein alles dessen, was wir als Seiendes in Anspruch nehmen, so kann man auch das Übergehen des Daseins in Sosein hier nicht geltend machen. Denn am Ganzen der Welt findet dieses seine Grenze. Vielmehr wird es klar, daß wir hier an dem Punkte stehen, wo die Ontologie ihre neutrale Diesseitsstellung gegen Idealismus und Realismus nicht länger

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Dritter Teil. 1. Abschnitt

aufrecht erhalten kann. Nur die Anfänge konnten neutral sein. Mit der Frage nach dem Ansichsein wird in dieser Alternative die Entscheidung herausgefordert. Nach dem Voraufgegangenen ist es nicht schwer zu sehen, daß sie für den Realismus ausfallen muß. Doch ist hierbei gleich vorzubemerken, daß der Ausdruck „Realismus" keineswegs wirklich zupaßt auf die Position der Ontologie; wie denn auch keiner der hergebrachten Typen realistischer Systematik sich mit ihr deckt. Das geht schon deswegen nicht an, weil es sich in ihr keineswegs bloß um reales Sein handelt, sondern ebensosehr auch um ideales. Und es wäre gänzlich verfehlt, hier von vorn herein mit dem Gedanken der Reduktion auf einen alleinigen Seinstypus zu spielen. Vor allem muß der Irrtum abgewehrt werden, als hätte der Begriff des idealen Seins irgendetwas mit Idealismus zu tun. Der Idealismus gerade behauptet die „Idealität" des Realen; um das ideale Sein pflegte er dann weiter nicht besorgt zu sein. b) Erkenntnistheoretischer Hintergrund des Ansichseinsbegriffs Eine weitere Klärung verlangt der Ansichseinsbegriff selbst. Er ist durchaus kein ontologischer Begriff, steht also dem des „Seienden als Seienden" in keiner Weise gleich. Er stammt voll und ganz aus erkenntnistheoretischen Erwägungen, ist in der Sichtrichtung der intentio obliqua gebildet. Er ist ein Gegenbegriff zum Begriff der Erscheinung, des Phänomens, des Gegenstandes. Diese Gegenstellung haftet ihm an und macht ihn zweideutig. Denn sie ist ein durchaus nur gnoseologischer Gegensatz. Ontologisch ist sie schief. Gegenstandsein, Fürmichsein, Phänomensein sind eben auch Sein. Und zwar ebensosehr ontisch „an sich". Die ganze Relation, der sie angehören, die Erkenntnisrelation, ist eine Relation zwischen Realem, dem realen Subjekt und dem realen Objekt. Sie ist selbst eine reale Relation. Daß ich etwas erkenne, mag dem Etwas äußerlich sein, „mir" ist es nicht äußerlich. Es ist an mir etwas Reales. Und folglich ist es auch an sich etwas Reales. Und es kann im Realzusammenhange sehr wesentlich und folgenschwer sein. Wie es denn im Erkenntnisprozeß auch sein zeitliches Entstehen hat. Das wiederum heißt: auch das Gegenstandsein als solches ist in seiner Weise Ansichsein. Darum kann man es selbst auch wiederum zum Gegenstande der Erkenntnis machen; was in der Erkenntnistheorie tatsächlich geschieht. Anders wäre ein philosophisches Wissen um die Erkenntnis ein Ding der Unmöglichkeit. Ist aber das Gegenstandsein auch etwas „an sich", so gilt das gleiche auch vom „Fürmichsein", von der Erscheinung, vom Phänomen. Und damit ist eben das, wovon das „Ansichsein" unterschieden wurde, selbst als Ansichsein erkannt. Ist das nun ein Widerspruch? Ist der Begriff des Ansichseins falsch gebildet?

22. Kap. Gnoseologisches und ontologischee Ansichsein

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Das ist nicht möglich, denn ohne Ansich-Charakter des Gegenstandes gibt es Erkenntnis nicht. Vielmehr löst sich die Schwierigkeit leicht, wenn man den erkenntnistheoretischen Ursprung des Ansichseinsbegriffs festhält. Gnoseologisch ist der Unterschied des ,,an sich" und „für mich" vollkommen eindeutig und wesentlich. „Gegenstand" eben kann ein Seiendes nur im „Gegenstehen" sein, also nur relativ auf ein Subjekt. Im Gegensatz zu diesem Relativsein bedeutet das Ansichsein nichts als die Unabhängigkeit vom Subjekt, und speziell vom Erkanntwerden durch das Subjekt. Das erschöpft den Charakter des Seins im „Seienden als Seienden" nicht. Daß aber das Fürmichsein und mit ihm das Gegenstandsein selbst Erkenntnisgegenstand werden können, also auch ein gnoseologisches Ansichsein haben, widerspricht dem keineswegs. Denn es ist nicht derselbe Erkenntnisakt, der es zum Gegenstande macht. Das Gegenstandsein eines Seienden kann sehr wohl in einem primären Erkenntnisakt erst Zustandekommen, für einen zweiten darübergelagerten aber ein Ansichseiendes, d. h. ein von ihm unabhängig Bestehendes sein. Das Erkenntnisverhältnis eben kann sich auf alles, auch auf sich selbst, erstrecken. Nur der Fall ist dann ein anderer. Ontologisch dagegen ist gerade die Unabhängigkeit unwesentlich. Wenn etwas „an sich" ist — d. h. wenn es mitsamt seinem Sosein ein Dasein in seiner Seinssphäre hat —, so ist es dafür ganz gleichgültig, ob dieses sein Dasein in Relation zu etwas anderem Seienden seiner Sphäre steht (also etwa zu einem realen Subjekt) oder nicht. Es ist gleichgültig, selbst wenn die Relation eines Abhängigseins hat. Denn die Abhängigkeit ist selbst eine seiende, und in ihr ist das Abhängige um nichts weniger seiend als das Unabhängige. Alles Seiende steht in durchgehenden Abhängigkeiten. Das ganze Unabhängige ist nur ein Grenzfall. c) Aufhebung der Reflektiertheit im ontologischen Ansichsein Soweit die Ontologie es mit einer Gegebenheitsfrage zu tun ha^, kann sie den Begriff des Ansichseins trotz seiner Zweideutigkeit nicht entbehren ; denn Gegebenheit ist eine Erkenntnisangelegenheit. Und Seinsgegebenheit zeigt nun einmal das Seiende in der Gegensatzstellung des „an sich" zum „für mich". Man kann also vom gnoseologischen Ansichsein, das nur in diesem Gegensatz besteht, das ontologische Ansichsein unterscheiden, in welchem er aufgehoben ist. Wobei es aber gilt, die Aufhebung nach der richtigen Seite hin zu vollziehen: nicht nach dem Subjekt zu, sondern nach dem „Seienden als Seienden" zu. Vom Subjekt aus gesehen, hebt sich (nach dem Satz des Bewußtseins) alles Ansichseiende in ein Fürmichseiendes (mir Gegenstehendes) auf; vom „Seienden als Seienden" aus gesehen, hebt sich alles Ansichseiende und Fürmichseiende in schlechthin Seiendes auf. 11 H a r t m a n n , Zar Grundlegung der Ontologie

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Dritter Teil. 1. Abschnitt

Der ontologische Ansichseinsbegrüf stellt sich somit als die Bückkehr des Seinsaspektes aus der intentio obliqua zur intentio recta dar. Das Aufgehobene behält hierbei — streng nach dem Hegeischen Gesetz der „Aufhebung" — die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch an sich. Es ist nicht einfach identisch mit dem „Seienden als Seienden"; denn in diesem ist nichts aufgehoben. Es ist vielmehr nur der Aspekt des „Seienden als Seienden", den dieses in der Rückkehr des Blicks aus der Reflektiertheit zur natürlichen Einstellung annimmt. Das ontologische Ansichsein ist die Aufhebung der Reflektiertheit im gnoseologischen Ansichsein. Ontisch an sich seiend ist alles, was es gibt, in irgendeinem Sinne. Auch das nur in mente Seiende. Denn die mens mit ihren Inhalten ist selbst ein Seiendes (geistig Seiendes). Man darf ontologisches Ansichsein nicht auf das Bestehen oder Fehlen bestimmter Relationen beschränken; also auch nicht auf das Fehlen der Relation zum Subjekt. Die Abhängigkeit wie die Unabhängigkeit ist in gleicher Weise an sich seiend. „Ansichsein" als erkenntnistheoretischer Begriff ist nur ein Notbehelf der Reflexion gegen das Fürmichsein und das bloße Gegenstandsein. Seine ontologische Zweideutigkeit ist das Anhaften dieser Gegenstellung in der Aufhebung der Reflexion. Denn 1. wehrt er nur eine Relativität ab, auf die es ontologisch (in der intentio recta) nicht mehr ankommt; und 2. drückt er immer noch die negative Relativität auf das Subjekt aus (die Unabhängigkeit von ihm), was der grundsätzlichen Gleichgültigkeit des „Seienden als Seienden" gegen die in ihm spielenden Relationen zuwiderläuft. d) Das Gesetz des Erkenntnisgegenstandes und das Seiende Was Gegenstand der Erkenntnis ist, das hat vielmehr ein übergegenständliches Sein, es ist an sich. Dieser Satz spricht das Gesetz des Erkenntnisgegenstandes aus. Er ist ebendamit das Grundgesetz der Erkenntnis selbst. Und das will heißen: ein Bewußtseinsakt, der nicht ein Ansichseiendes erfaßt, mag Denken, Vorstellen oder Phantasieakt — vielleicht auch Urteilsakt — sein, ein Erkenntnisakt ist er nicht. Jene anderen Bewußtseinsakte haben auch Gegenstände, aber nur intentionale, nicht ansichseiende. Die Metaphysik der Erkenntnis geht mit dieser Einsicht in Ontologie über. Damit vollzieht sich die Abstreifung der Reflektiertheit im Begriff des Ansichseins. Das gnoseologische Ansichsein, das ein bloßer Hilfsbegriff war, wird zum Schwerpunkt der Erkenntnisrelation. Es ordnet sich dem ganzen Verhältnis über und wandelt sich so zum ontologischen Ansichsein. Dieses aber tritt nun mit dem Anspruch auf, den Seinscharakter alles Seienden überhaupt aus der Sichtrichtung der Erkenntnis heraus aufzudecken. Diese Sichtrichtung ist auch ontologisch wesentlich, weil in ihr das Problem der Gegebenheit einsetzt.

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Alle Zweideutigkeit, die ihm durch seine Herkunft anhaftete, läßt sich auf der gewonnenen ontologischen Basis vermeiden. Sie lag darin, daß doch auch das Gegenstandsein etwas „ist", ja daß sogar bloß intentionale Gegenstände, Gedanken, Vorstellungen etwas „sind" und als seiende selbst wiederum an sich bestehen und Gegenstände möglicher Erkenntnis ausmachen. Das Gesetz des Erkenntnisgegenstandes hebt sich darin nicht auf, sondern erfüllt sich. Es erfüllt sich an eben diesen subjektgetragenen und subjektbezogenen Gebilden. Denn sie sind nicht Gegenstand derjenigen Erkenntnis, deren Inhalt sie sind. In dieser gerade bleiben sie unerkannt und ungegenständlich. Erkenntnis ist stets nur auf ihren Gegenstand gerichtet, und diesen versteht sie als das von ihr Unabhängige, nicht aber auf die inhaltlichen Gebilde im eigenen erkennenden Bewußtsein, die sie selbst erst hervorbringt. Sie weiß nicht um das Bild des Gegenstandes, das sie sich macht, um Vorstellung, Begriff, Gedanken; sie weiß nur um den Gegenstand selbst, aber dieses ihr Wissen hat die Form der Vorstellung, des Begriffs, des Gedankens. Deswegen ist auch im Erkenntnisphänomen das Bild nicht direkt aufzeigbar. Bild, Vorstellung, Gedanke sind durchsichtig, sie „stehen nicht gegen"; erst die erkenntnistheoretische Reflexion entdeckt sie. In dieser Reflexion werden sie Gegenstand einer zweiten Erkenntnis — einer gegen die erste „zurückgebogenen" (reflektierten). Indem die letztere sich aber auf sie richtet, hat sie nicht mehr dasselbe Seiende zum Gegenstande, das Gegenstand der ersten Erkenntnis war. Das Wesen des gnoseologischen Ansichseins ist ein relationales. Es besagt nur, daß das Sein des Gegenstandes niemals in Abhängigkeit von derjenigen Erkenntnis steht, deren Gegenstand es ist. Argumentiert man also gegen das Ansichsein mit dem geistigen Sein der Vorstellung, so verkennt man den Sinn der Unabhängigkeit. Denn auch die Vorstellung ist unabhängig von demjenigen Erkenntnisakt, der sie zum Gegenstand nimmt. Abhängig ist sie nur von dem primären Erkenntnisakt, in dem sie entsteht. In diesem aber wird sie nicht erkannt. In ihm ist sie gar nicht Erkenntnisgegenstand. Das gnoseologische Ansichsein einer Sache besteht wesenhaft in ihrer „negativen" Relativität" auf den Akt, in dem sie als seiend erfaßt wird. In diesem Erfassen der Sache aber ist kein zweiter Akt enthalten, auf den auch noch die Vorstellung der Sache „negativ relativ" sein könnte, für den also ihr Sein gegeben wäre. Nur sofern eine zweite Erkenntnis sich auf sie als solche richtet, hat auch sie ihr gnoseologisches Ansichsein, Aber sie hat es nicht auf Grund dieser, sondern auf Grund der ersten Erkenntnis. So zeigt, ohne Sinnveränderung, schon das gnoseologische Ansichsein grundsätzlich dieselbe Spannweite wie das ontologische. Es expandiert gleichsam ins Unendliche, aus seiner eigenen inneren Seinsschwere heraus. Ein Beweis, daß das ontologische Ansichsein von vornherein hinter ihm 11*

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steht und nur der Entfaltung seiner Dialektik bedarf, um in aller Klarheit greifbar zu werden. Der Aufweis der Gegebenheit des „Seienden als Seienden" darf also ruhig vom gnoseologischen Ansichsein als einem Wesensstande des ErkenntnisphänomenB ausgehen. Denn dieses Phänomen transzendiert in ihm sich selbst und führt geradlinig ins ontologische Problem hinüber. 23. Kapitel. Die Transzendenz des Erkenntnisaktes

a) Beweislast der Skepsis und Problem der Realitätsgegebenheit Die Skepsis, der Kritizismus und gewisse Formen des Idealismus haben bestritten, daß es ein Ansichseiendes gebe. Diese Theorien zu widerlegen ist nicht schwer. Sie bauen sich auf lauter Argumenten der intentio obliqua auf und verfehlen daher die Grundphänomene. Denn die Reflektiertheit selbst ist schon die Abkehr von ihnen. Was sie immer wieder vorbringen, sind Abwandlungen dreier Motive. Das eine ist der Satz des Bewußtseins (daß uns nur unsere Vorstellungen gegeben seien); das zweite ist das korrelativistische Vorurteil, es gebe kein Seiendes, das nicht Objekt eines Subjektes wäre; das dritte beruht auf der Annahme, Wert und Sinn in der Welt ließen sich nur aus einer zugrundeliegenden Subjektivität, einer Weltvernunft nach Analogie der menschlichen, verstehen. Das letzte dieser Argumente ist ein rein metaphysisch-spekulatives und bedarf keiner Erörterung. Das zweite beruht auf falscher Analyse der Erkenntnisrelation. Nur das erste stützt sich wenigstens auf ein wirkliches Phänomen, wenn auch auf ein nur einseitig verstandenes. Mit ihm, sowie mit dem zweiten, werden wir es noch zu tun haben. Beiden begegnen wir auch in heutigen Theorien, wennschon sie verkappt auftreten. Sie haben immerhin das geschichtliche Verdienst, das Problem des Ansichseins spruchreif gemacht zu haben. Sie haben unter anderem sehr deutlich dieses zum Bewußtsein gebracht, daß man das Ansichsein nicht eigentlich „beweisen" kann. Wir finden immer nur Gegebenheiten; aber Gegebenheiten können auch Sache des Subjekts sein, sie verbürgen kein Ansich. Wir finden nur Phänomene; Phänomene aber können auch Schein sein. Es fragt sich nur: braucht man denn überhaupt einen „Beweis" des Ansichseins? Letzte Dinge „beweisen" wollen, ist ein Nonsens. Sie müßten ja schon auf etwas beruhen, woraus sie sich beweisen ließen. Dann aber wären sie nichts Letztes. Das „Seiende als Seiendes" aber ist ein Letztes. Im übrigen lassen sich drei besondere Gründe angeben, warum es des Beweises hier nicht bedarf. 1. Die Beweislast fällt vielmehr dem zu, der das Ansichsein bestreitet. Die Gegebenheit des Ansichseins — zumal in Form des realen Daseins — ist im Grundphänomen der Weltgegebenheit mit enthalten; sie begleitet

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alle Teilphänomene, begleitet den Menschen lebenslänglich in allen Situationen. Man muß also, wenn man dieses Phänomen für Schein erklärt, auch zeigen, wie der Schein zustande kommen kann. Die Skepsis hat das weislich nie versucht. Es kann nie gelingen. 2. Die idealistische Metaphysik hat es versucht. Fichte und Schelling griffen zur Erklärung des Scheines auf eine „unbewußte Produktion" zurück, in der das „Ich" die Welt hervorbringe. Aber das Ich wurde auf diese Weise selbst zu einem Ansichseienden, und zwar nicht das bewußte, sondern das unbewußte Ich. Sie erwiesen also das Gegenteil von dem, was sie meinten. 3. Aber auch gesetzt, es ließe sich zeigen, daß alles gegebene Ansichseiende auf Schein beruhte, man käme auch damit nicht um das Ansichsein herum. Es müßte sich dann das „Ansich" auf den hinter dem als Schein entlarvten Seienden stehenden Seinsgrund übertragen. Und dieser wäre das eigentlich Ansichseiende. Denn auf irgend etwas muß doch auch der Schein beruhen. Alles übrige — alle besonderen Seinskategorien — würden dann dem „Schein" zukommen. Und sofern dieser nicht willkürlich, sondern auf Grund jenes Seinsgrundes notwendig wäre (was nicht zu umgehen ist), kämen sie ihm auch ontologisch notwendig zu. Dieselben Bestimmungen also würden dann eine wohlfundierte Ontologie des Scheins ausmachen, die sich in nichts als dem Index „Schein" von der Ontologie des Seins unterschiede, also dieselbe Ontologie wäre. Sie hätte es eben mit dem Sein des Scheines zu tun. Denn auch der Schein „ist" doch etwas. b) Konsequenzen Die Frage nach dem „Wie" der Seinsgegebenheit Zwei Konsequenzen lassen sich sogleich hieraus ziehen. Die erste betrifft das Verhältnis der Ontologie zum metaphysischen Gegensatz der Standpunkte. Es ist wahr, daß die Ontologie nur im Ausgang die strenge Neutralität gegen Idealismus und Realismus einhalten kann; mit dem Auftreten der Gegebenheitsfrage wird die idealistische Position hinfällig. Aber die Ontologie wird deswegen doch nicht einseitig auf Realismus festgelegt. Vielmehr zeigt die letzte der obigen Überlegungen deutlich, daß der ganze Gegensatz der Standpunkte für sie ein untergeordneter ist und bleibt. Das entspricht aufs beste der geschichtlichen Entwicklung des Idealismus von Berkeley bis Hegel. Die tragende Basis wird immer weiter über das empirische Subjekt hinaus verlegt, um schließlich in einem Absoluten zur Ruhe zu kommen; wobei gleichzeitig das Getragene, die erscheinende Welt, immer objektiver verstanden wird und zuletzt wieder auf den vollen Semswert des Realen hinausgelangt. Das ist keine zufällige Entwicklung. Sie ist notwendig, weil der „Schein", sobald man ihn universell versteht, vom Sein schlechterdings nicht mehr zu unterscheiden ist.

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Die zweite Konsequenz aber ist, daß es sich für die Ontologie beim Gegebenheitsproblem gar nicht um ihre Rechtfertigung, resp. um die Widerlegung unnatürlicher Theorien handelt, sondern um etwas anderes. Da die Skepsis und der Bewußtseinsidealismus selbst bereits auf versuchter Widerlegung einer natürlichen, durch ein unaufhebbares Grundphänomen gegebenen Position beruhen, so käme es auf leere Widerlegung einer Widerlegung heraus; was überdies die Tatsache nur verdunkeln würde, daß die Beweislast auf der Gegenseite liegt. Worauf es ankommt, ist in der Tat etwas anderes. Nicht „ob" Ansichsein gegeben ist, sondern „wie" es gegeben ist, steht in Frage. Das ist genau derselbe Unterschied, der die Kritik der reinen Vernunft beherrscht: nicht „ob" synthetische Urteile a priori möglich sind, ist ihre Frage, sondern „wie" sie möglich sind. Und auch hier handelt es sich um eine Möglichkeitsfrage. Denn die Gegebenheit von Ansichsein schließt wirklich eine Schwierigkeit ein, die mit der bloßen Bekämpfung von Argumenten und Theorien nicht zu beheben ist. Nur eine positive Analyse der einschlägigen Gegebenheitsphänomene kann hier helfen. Es sind drei Phänomengruppen, die hierfür sich darbieten: 1. das Erkenntnisphänomen mit seinen Teilphänomenen, 2. das Phänomen der emotional-transzendenten Akte und 3. das Phänomen des Lebenszusammenhanges. Das erste von ihnen zeigt den durchsichtigsten Aufbau und ist geeignet, die Struktur des Grundverhältnisses greifbar zu machen. Das zweite trägt das Hauptgewicht der Gegebenheit des realen Daseins. Und sofern reales Dasein die Zentralstellung in der ontologischen Ansichseinsfrage einnimmt, liegt bei dieser Phänomengruppe das Hauptgewicht der Untersuchung. Das dritte aber baut die beiden ersten Phänomene in einen umfassenden Zusammenhang ein und weist damit den Gegebenheitsphänomenen überhaupt ihre ontologische Stellung an. Einstweilen haben wir es nur mit dem ersten, dem Erkenntnisphänomen, zu tun. c) Erkenntnis als transzendenter Akt Unter einem „transzendenten Akt" soll im Folgenden immer ein solcher verstanden werden, der nicht im Bewußtsein allein spielt — wie Denken, Vorstellen, Phantasieakt —, sondern das Bewußtsein Überschreitet, aus ihm hinausreicht und es mit dem verbindet, was unabhängig von ihm an sich besteht; und zwar ohne Unterschied, ob dieses Unabhängige ein dingliches, seelisches oder geistiges Etwas ist. Es sind also Akte, die eine Relation herstellen zwischen dem Subjekt und einem Seienden, das nicht erst durch den Akt entsteht; oder auch: Akte, die ein Übergegenständliches zum Gegenstande machen. Transzendente Akte sind wohl „auch" Bewußtseinsakte. Sie bleiben mit dem einen Gliede der Relation ans Bewußtsein gebunden. Aber sie gehen darin nicht auf. Das andere Glied liegt entweder jenseits des Bewußtseins, oder es besteht doch unabhängig vom Bewußtseinsakt. Das

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Letztere zu bemerken ist nicht überflüssig. Das andere Glied der Relation ist nicht notwendig ein Außerbewußtes. Es kann auch wiederum ein Bewußtseins-Akt oder -Inhalt sein. Wesentlich aber ist, daß es auch dann in einer ganz bestimmten Jenseitsstellung steht, nämlich zum jeweiligen aktvollziehenden Bewußtsein. Die Transzendenz des Aktes bedeutet nur das Hinausgehen auf ein vom Akt Unabhängiges als Solches, einerlei ob es sonst zum Bewußtsein gehört oder nicht. Die Bedeutung von „transzendent", die hiermit eingeführt wird, ist nicht die in der Philosophie übliche. Aber sie entspricht besser der Bedeutung des Wortes. Man bezeichnet sonst Gegenstände als transzendent und unterscheidet sie von immanenten Gegenständen. Das widerspricht dem Wortsinn von transcendere („hinübersteigen"). Die Gegenstände übersteigen keine Grenze, sie liegen von vornherein entweder diesseits oder jenseits der Grenze. Wohl aber muß der Akt — resp. die Relation zum Gegenstande — eine Grenze übersteigen, wenn der Gegenstand jenseits ihrer liegt. Nicht Gegenstände von Akten also, sondern allein die Akte selbst können transzendent oder immanent sein. Dieses vorausgesetzt, läßt sich das Grundphänomen der Erkenntnis so aussprechen: die Erkenntnis, als Akt verstanden (denn sie ist nicht „nur" Akt), geht nicht darin auf, Bewußtseinsakt zu sein; sie ist ein transzendenter Akt. Dieser Satz ist von grundlegender Bedeutung für die Ontologie. Denn die Gegebenheit des Seienden beruht in erster Linie auf Erkenntnis. Nur als transzendenter Akt aber kann Erkenntnis dem Bewußtsein das Dasein des Seienden „geben". Wäre das Bewußtsein keiner transzendenten Akte mächtig, es könnte vom Sein der Welt, in der es lebt, nichts wissen. Es wäre in seiner Immanenz gefangen und könnte um nichts als seine eigenen Produkte, seine Gedanken oder Vorstellungen wissen. Wie denn die Skepsis von jeher eben dieses behauptet hat. Nicht die Skepsis allein verkennt diese Sachlage. Alle Theorien verkennen sie, die Erkenntnis gleich Denken oder auch gleich Urteil setzen. Denken kann man sich alles Mögliche, auch Nichtseiendes; erkennen aber kann man nur, was „ist". Das Urteil vollends ist nur eine logische Form, die das Erkannte und zum Inhalt Gewordene annehmen oder auch nicht annehmen kann. Spricht man eine Einsicht aus, so nimmt sie ohne weiteres die Form des Urteils an; fügt man sie bewußt einem Zusammenhang von Einsichten ein, so nimmt sie wiederum Urteilsform an. Aber weder das Aussprechen noch das Einfügen ist identisch mit der Einsicht Selbst. Diese allein ist Erkenntnis, gebende Instanz, Fühlungnahme mit dem Seienden. d) Der erfassende Akt und sein Gegenstand Den transzendenten Akten ist es gemeinsam, auf ansichseiende Gegenstände gerichtet zu sein. Darin steht der Erkenntnisakt nicht allein da. Er ist auch keineswegs ein ontisch primäres Verhältnis des Subjekts zur

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Welt. Er ißt stets in einen Zusammenhang mannigfaltiger Akte eingebettet, transzendenter wie nicht transzendenter. Aber er hat vor anderen transzendenten Akten dieses voraus, daß er allein der rein „erfassende" Akt ist. Das philosophierende Bewußtsein besteht im Erfassen der Welt, wie sie ist. Es findet sich also in seiner Selbstbesinnung als erkennendes vor. Und erst von diesem vorgefundenen Eikenntnisverhältnis aus können die anderen, ontisch fundamentaleren Arten des Verhältnisses zur Welt rekonstruiert werden. Die Analyse der transzendenten Akte hat also mit dem Erkenntnisakt als dem der ratio cognoscendi nach ersten zu beginnen. Das Husserlsche Gesetz der Intentionalität ist ein allgemeines Gesetz aller Bewußtseinsakte. Da die transzendenten Akte „auch" Bewußtseinffakte sind, bleibt es in ihnen durchaus gewahrt; auch sie haben ihren intentionalen Gegenstand. Auch die Erkenntnis hat ihn, sie bringt einen Inhalt, eine Vorstellung, ein Bild des Ansichseienden hervor, und zwischen Akt und Bild besteht das Verhältnis der Intentionalität. Aber das Bild ist nicht der Erkenntnisgegenstand. Es fällt auch bei völligem Zutreffen mit ihm nicht zusammen, sondern bleibt ihm gegenüber, ein anderes als er, ein Bewußtseinsgebilde. Das Gesetz des Ansichseins und der Übergegenständlichkeit des Gegenstandes ist das besondere Gesetz der transzendenten Akte. Es ist insofern das genaue Gegenstück zum Gesetz der Intentionalität. Wie dieses das allgemeine Gesetz des Bewußtseins ist, so ist das Gesetz des Ansichseins das der Bewußtseinstranszendenz. Und diese eben hat die Form der transzendenten Akte. Es unterscheidet die letzteren als gebende Akte — und das will heißen als seinsgebende ·— von den bloßen Bewußtseinsakten. So allein ist es möglich, Erkenntnis als Erfassen eines Ansichseienden von bloßem Denken, Vorstellen, Phantasieren zu unterscheiden. Es ist kein Zufall, daß das Husserlsche Gesetz hierfür keine Handhabe bietet. Wie denn das Phänomen dea Erfassens der Aktphänomenologie bisher so gut wie unbekannt geblieben ist. Unter den transzendenten Akten wiederum zeichnet sich der Erkenntnisakt durch den reinen Charakter des Erfassens aus. Das Verhältnis des Subjekts zu seinem ansichseienden Gegenstande ist hier ein vollkommen einseitiges, rezeptives: es wird wohl von ihm bestimmt, bestimmt aber seinerseits ihn in keiner Weise. Das Seiende, das zum Gegenstand gemacht (objiziert) wird, bleibt unbeeinflußt; es ändert sich nichts an ihm. Nur im Subjekt ändert sich etwas, in ihm wird das Wissen um den Gegenstand hervorgebracht. Hierin besteht seine Rezeptivität. Für das Seiende, das ihm objiziert wird, bleibt die Objektion äußerlich. Es besteht gleichgültig dagegen, ob und wie weit es zum Gegenstand des Subjekts gemacht wird. Darin besteht sein Ansichsein. Ein solches Verhalten des Subjekts zu einem Ansichseienden ist eben das Erfassen. Der Terminus „Erfassen" spiegelt freilich Spontaneität des Subjekts vor. Und eine solche gibt es im Erkennen auch. Aber sie ist keine Aktivi-

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tat gegen den Gegenstand. Sie erschöpft sich in der Synthese des Bildes. Das Erfassen bedeutet auch nicht, daß das Subjekt den Gegenstand umfaßte oder in sich einbezöge. Der Gegenstand geht auch als erfaßter nicht ins Bewußtsein ein, er bleibt ihm unauf hebbar gegenüber. Er selbst wird nicht zur Vorstellung, zum Gedanken, zum Erkenntnisinhalt. Er bleibt unangetastet an sich, was er an sich war. Und das Subjekt weiß ihn, auch nachdem es ihn erfaßt hat, als ansichseienden. Das Erfassen ist kein ,,Im-Bewußtsein-Haben". Man kann ansichseiende Gegenstände nicht „haben", wie man Gedanken und Vorstellungen „hat". Das Erfassen drückt vielmehr die Transzendenz des Aktes aus, das Haben nur ein immanentes Bewußtseinsverhältnis. Erfassen kann man nur Ansichseiendes, Haben nur Bewußtseinsinhalte. Da aber im Erfassen ein Bewußtseinsinhalt (das Bild des Gegenstandes) entsteht, so gibt es freilich im Erkenntnisakt auch ein Haben. Aber es ist das Haben des im Erfassen entstehenden Bildes, nicht das des Erkenntnisgegenstandes. Das Haben also ist nicht die gebende Instanz. Es beruht schon auf dem Erfassen. Das Haben des Bildes ist nichts als die Bewußtseinsform des Erfaßthabens. Es ist kein zweiter Akt neben dem Erkenntnisakt, sondern nur der immanente Innenaspekt seines Resultats. Und da der Bewußtseinsinhalt (das Bild) nicht Gegenstand der Erkenntnis ist, so wird er auch als solcher im erkennenden Bewußtsein nicht bemerkt und ist am unreflektierten Phänomen des Erfassens nicht direkt aufweisbar. Das erkennende Bewußtsein eben ist nur erfassendes Gegenstandsbewußtsein und weiß um die vom Gegenstand unterschiedene Seinsweise seiner Inhalte nicht. 24. Kapitel. Die Antinomien im Erkenntnisphänomen

a) Phänomen und Theorie. Der natürliche Realismus Diese Sachlage ist ontologisch gewichtiger, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Sie besagt: wenn es kein Ansichseiendes gibt, so gibt es auch keine Erkenntnis. Denn es gibt dann nichts, was erkannt werden könnte. Man könnte freilich die Konsequenz ziehen, das eben sei fraglich, ob es Erkenntnis gibt, d. h. ob das, was wir unsere Erkenntnis nennen, auch wirklich Erkenntnis ist. Aber die Konsequenz ist außerordentlich mißlich. Denn das „Phänomen" der Erkenntnis besteht nun einmal und läßt sich nicht wegdeuten. Und man müßte es schon im Ganzen für Schein erklären, wenn man es nicht grundsätzlich für ein Realphänomen nimmt. Erklärt man es aber für Schein, so muß man zeigen, worauf der Schein beruht, und warum er ein unvermeidlicher, durchgehender, uns lebenslänglich beherrschender ist. Warum das nicht gelingen kann, ist oben gezeigt worden. Es bleibt bei jeder Art Erklärung 1. das Sein des Grundes, auf dem der Schein beruht, und 2. das Sein des Scheines selbst. Wobei

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noch gar nicht in Rechnung gestellt ist, daß die Erklärungen selbst höchst gewagte und metaphysisch exponierte Theorien sind, deren Voraussetzungen sich durch nichts belegen lassen und sich selbst in Widersprüche verwickeln. Das haben die berühmten idealistischen Versuche zur Genüge gelehrt. Sie können die Beweislast, die ihnen zufällt, schlechterdings nicht tragen. Gegen Phänomene kämpfen Theorien vergebens. Nur „mit" den Phänomen können sie etwas leisten. Hier aber handelt es sich um das Grundphänomen aller Erkenntnis: das Ansichsein des Gegenstandes liegt nicht nur im Wesen der Erkenntnisrelation, wie etwa erst die philosophische Reflexion dieses ihr Wesen aufdeckt; sondern alle Erkenntnis, auch die naivste, hat bereits ein Wissen um das Ansichsein ihres Gegenstandes und versteht ihn von vornherein als ein von ihr unabhängig Seiendes. Dieses unmittelbare Wissen um das Ansichsein ist identisch mit dem Grundphänomen des natürlichen Realismus. Im Unterschied zu anderen Formen des Realismus — sowie überhaupt zu anderen „Standpunkten" — ist der natürliche Realismus nicht eine Theorie, eine Doktrin, eine These, sondern eine Basis, auf der sich alles menschliche Weltbewußtsein von Hause aus vorfindet. Alle abweichenden Weltauffassungen müssen sich erst durch besondere Thesen von ihm abheben, wobei sie aber ihn als Grundphänomen nicht aufheben können, sondern erklären müssen. Sie sind keine Phänomene, sondern Theorien; müssen sich also mit ihm als dem durchgehenden Grundphänomen auseinandersetzen. Wie überwältigend stark dieses Grundphänomen ist, wird sich erst an dem emotional-transzendenten Akten zeigen. Einstweilen genügt es, seine Reichweite innerhalb der Erkenntnis zu erwägen. Denn diese umspannt alle Abstufungen von der naivsten bis zur entfaltet wissenschaftlichen Erkenntnis. Das ist auf allen Stufen eine wohlbekannte Tatsache. Niemand, der ein Ding wahrnimmt (sieht, tastet), bildet sich ein, es entstehe erst im Sehen und verschwinde wieder mit dem Wegsehen. Die Wahrnehmung unterscheidet schon ihr eigenes Tun von ihrem Gegenstande, weiß um ihre Zufälligkeit für ihn und um seine Gleichgültigkeit gegen sie. Sie überträgt die eigene Subjektivität nicht auf ihn. Sie sieht ihn als ansichseienden. Dieses Unterscheiden und Wissen ist in ihr nur nicht ins Bewußtsein gehoben. Es ist vielmehr die innere selbstverständliche Form des Seinsbewußtseins in ihr. Dasselbe gilt von den höheren Erkenntnisstufen. Der Experimentierende, der nach einer bestimmten Gesetzlichkeit sucht, weiß zum voraus, daß diese, wenn sie überhaupt besteht, unabhängig von seinem Suchen und Finden besteht. Findet er sie, so fällt es ihm nicht ein zu glauben, sie käme erst dadurch zustande; er weiß, daß sie von jeher da war und sich durch das Finden nicht ändert. Er sieht in ihr ein Ansichseiendes. Genau so der Historiker, der aus „Quellen" ein unbekanntes Ereignis rekonstruiert. Er weiß, daß es auch ohne sein Rekonstruieren war, wie es war; nur das Wissen darum entsteht unter seinen Händen.

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Erst das philosophische Bewußtsein ist in seiner Theorienbildung von dieser Linie abgewichen. Aber damit nimmt es eine Beweislast auf sich, die es nicht tragen kann. Denn abweisen kann die Theorie das gemeinsame Phänomen der natürlichen und der wissenschaftlichen Realität nicht. Sie muß es mit ihm aufnehmen. b) Die Antinomie von Ansichsein und Gegenstandsein Im Phänomen der Erkenntnis als eines transzendenten Aktes steckt eine doppelte Antinomie, die einer Klärung bedarf. Das Subjekt-ObjektVerhältnis hat die Form einer Korrelation. Das Objektsein ist also an das Subjektsein seines Gegengliedes gebunden, nicht weniger als dieses an jenes. Die Transzendenz des Aktes aber besagt, daß das Sein des Objekts unabhängig vom Subjekt dasteht. Ansichsein ist Unabhängigkeit, Gegenstandsein Abhängigkeit. Bei so äußerlicher Fassung scheint der Widerstreit unauflösbar. Dennnoch ist er Schein. Die Hauptsache ist darin gar nicht in Rechnung gezogen: daß das Gegenstandsein ja gar nicht Ansichsein ist. Es beruht wohl mit auf ihm, koinzidiert aber nicht mit ihm. Das Ansichseiende ist es, das ,,zum Gegenstand gemacht" wird; es selbst bleibt dabei unabhängig, aber sein Gegenstandsein ist nicht unabhängig vom Subjekt. In Gegenstellung kann es eben nur zu einem Subjekt treten. Das Gegenstandsein ist einem Ansichseienden als solchem äußerlich; das Ansichsein seinerseits ist dagegen einem Erkenntnisgegenstande als Solchem nicht äußerlich. Fehlt es ihm, so kann er wohl Gegenstand, aber nicht Erkenntnisgegenstand, und der Akt nicht Erkenntnis sein. Das läßt sich weiter zuspitzen: im Erkenntnisverhältnis ist dem Gegenstande das Ansichsein wesentlich, das Ansichseiende aber ist gleichgültig gegen das Gegenstandsein; es läßt ein solches zu, ohne es zu erheischen. Aus diesem Verhältnis ergibt sich: die Unabhängigkeit des Erkenntnisgegenstandes vom Subjekt — sein Ansichsein also — wird von der Abhängigkeit des Gegenstandseins vom Subjekt gar nicht berührt. Darin liegt die Lösung der scheinbaren Antinomie. Abhängigkeit und Unabhängigkeit im Erkenntnisgegenstande widersprechen sich nicht, weil erstere nur das Gegenstandsein, letztere aber das Ansichsein in ihm betrifft, und das Gegenstandsein dem Ansichsein äußerlich ist. Ein solches Verhältnis ist nichts Außergewöhnliches. Man vergleiche es mit dem von Masse und Gewicht eines Körpers. Die Masse ist unabhängig davon, an welchem Punkt auf der Erde oder auf dem Monde sie sich befindet. Das Gewicht ist nicht unabhängig davon. Derselbe Körper also ist in demselben Verhältnis zugleich unabhängig und abhängig. Und die Abhängigkeit seines Gewichts tangiert die Unabhängigkeit seiner Masse nicht. Genau in demselben Sinne ist es zu verstehen, daß die Abhängigkeit des Gegenstandseins die Unabhängigkeit des Ansichseins nicht tangiert.

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c) Die Antinomie der Phänomentranszendenz In der Auflösung der Gegenstandsantinomie sieht man deutlich, wie das Erkenntnisphänomen sich selbst überschreitet und in ein Seinsphänomen übergeht. Es sprengt seinen Rahmen. Wie anders soll man es verstehen, daß das Eikenntnisobjekt in seinem Objektsein nicht aufgeht, und dennoch eben dieses sein Nichtaufgehen dem Erkenntnisverhältnis — und also auch dem Objektsein — wesentlich ist? Indem sich diese Antinomie löst, kommt eine zweite zum Vorschein. Sie betrifft den Phänomencharakter als solchen am Erkenntnisphänomen. Im Wesen des „Phänomens" liegt es, daß es selbst konstatierbaren Tatsachencharakter hat, daß aber die Tatsächlichkeit dessen, was seinen Inhalt ausmacht, an ihm nicht konstatierbar ist. So ist z. B. das Phänomen der täglichen Sonnenbewegung am Himmel von Osten nach Westen gegeben und jederzeit konstatierbar; aber ob die Sonne im Weltraum wirklich eine solche Bewegung ausführt, ist daran nicht konstatierbar. Allgemein: ein Phänomen A bedeutet als solches nicht das Sein von A. Es kann auch das Sein von B (d. h. eines ganz anderen) dahinterstehen. Im obigen Beispiel: es kann statt einer Bewegung der Sonne eine solche der Erde dahinterstehen. Wäre dem nicht so, so könnte es Täuschung und Schein gar nicht geben. Am Phänomen A ist es niemals ersichtlich, ob A auch an sich ist, ob also das Phänomen selbst Erscheinung von A oder Schein ist. Es gibt also eine grundsätzliche Gleichgültigkeit des Phänomens gegen Sein und Nichtsein von A. Ist dem aber so, wie kann es da das Phänomen des Ansichseins (von A) geben? Ein solches müßte doch die Konstatierbarkeit dieses Ansichseins bedeuten. Liegt es aber im Wesen des Phänomens A, daß nur es selbst, nicht aber das Ansichsein von A konstatierbar ist, so ist das unmöglich. Nun hat sich gezeigt, daß im Erkenntnisphänomen ein Ansichseinsphänomen steckt. Denn es besagt ganz eindeutig, daß der Akt überhaupt nur dann Erkenntnis ist, wenn sein Gegenstand im Gegenstandsein nicht aufgeht. Folglich besteht am Erkenntnisphänomen ein innerer Widerspruch. Es ist in sich antinomisch. Sein Inhalt widerstreitet dem Wesen des Phänomenseins. Oder positiv ausgedrückt: das Erkenntnisphänomen ist so geartet, daß es seinen eigenen Phänomencharakter überschreitet. In diesem Überschreiten besteht seine „Phänomentranszendenz". Sie hängt mit der Akttranszendenz der Erkenntnis aufs engste zusammen, ist aber mit ihr keineswegs identisch. Die Antinomie in ihr läßt sich nach zwei Seiten entwickeln. Einerseits läßt sich sagen: die Phänomentranszendenz ist selbst nur Phänomen; dann besteht die Möglichkeit, daß auch die Akttranszendenz der Erkenntnis und mit ihr das Ansichsein des Gegenstandes nur Schein wäre. Aber dann müßte man den Schein aufdecken und „erklären". Oder aber man müßte sagen: Phänomene transzendenter Akte sind in der Tat auch selbst

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„transzendente Phänomene"; und das würde heißen, daß sie mehr als Phänomene sind. Es müßte in ihnen die Gegebenheit des Ansichseienden selbst mit enthalten sein. Von diesen zwei Fällen scheidet der erstere aus, weil es nicht gelingen kann, den „Schein" als einen durchgehenden, d. h. notwendigen, zu erklären. Der zweite Fall ist immerhin diskutierbar. Da das Phänomen A von sich aus gleichgültig ist gegen Sein und Nichtsein von A, so läßt das Phänomen des Ansichseins es sehr wohl zu, daß das Ansichsein auch wirklich besteht. Was aber nicht angeht, das ist, daß am Phänomen des Ansichseins das Ansichsein selbst konstatierbar sei. Und das eben scheint der Fall zu besagen. Indessen, hier gerade dürfte der Irrtum liegen. Der Fall besagt das keineswegs. Das Phänomen bleibt Phänomen, und wenn es noch so sehr Phänomen eines Ansichseienden ist. Im Grunde sind ja alle Phänomene auch Ansichseinsphänomene. Stets erscheint in ihnen A als seiend. Es gehört also zum Wesen des Phänomens überhaupt, daß es sich selbst „transzendiert", seinen Inhalt als einen überphänomenalen erscheinen läßt. Weisen aber alle Phänomene grundsätzlich über sich hinaus, so liegt im Phänomen des Ansichseins kein Ausnahmefall vor. Das allgemeine Verhältnis tritt an ihm nur eigenartig in die Greifbarkeit. Aber soviel ist klar: die Phänomentranszendenz hebt auch in ihm den Phänomencharakter nicht auf. Im Gegenteil, sie erfüllt ihn gerade. d) Die Lösung der Antinomie und ihr Restproblem Phänomene als solche sind unstabil. Sie fordern das Bewußtsein heraus, sich an ihnen für Sein oder Schein zu entscheiden. Man kann sie nicht abweisen, kann aber bei ihnen auch nicht stehen bleiben. So ist es schon im Leben, so noch mehr in der Wissenschaft, so vollends in den philosophischen Grundfragen. In dieser Herausforderung, diesem Ansinnen an das Bewußtsein — beruhend auf der UnStabilität des Phänomenbewußtseins — besteht die eigentliche, allen Phänomenen gemeinsame und ihnen als solchen eigentümliche Selbsttranszendenz. Sie besteht also nicht darin, wie es anfangs scheinen konnte, daß etwa Phänomene bestimmter Art das Ansichsein ihres Inhalts verbürgen könnten. Das können sie in keinem Falle. Im Phänomen des Ansichseins liegt nur insofern ein besonderer Fall vor, als es sich hier um den Seinscharakter in genere handelt, um das Ansichsein als solches. Die ontische Seite der Frage ist hier betont. Darum ist auch die in Wahrheit generelle Selbsttranszendenz des Phänomens hier betont und ins Bewußtsein gehoben. Und so scheint sie denn gerade hier den Phänomencharakter zu sprengen. Darin sind zwei Irrtümer. Erstens müßte sie genau so sehr auch andere Phänomene sprengen. Und zweitens ist das Sprengen überhaupt Schein. Das Wahre daran ist lediglich die geschilderte Unstabilität der Phänomene als solcher. Damit aber erweist sich, daß auch die in der Phäno-

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Dritter Teil. 1. Abschnitt

mentranszendenz aufgezeigte Antinomie auf Schein beruht. Sie löst sich, der Widerstreit wird hinfällig. Und das wiederum heißt, daß die Phänomentranszendenz selbst als in sich widerspruchsfrei zu Recht besteht, also ihrerseits nicht Schein ist. Aber sie bedeutet, hier wie überall, etwas anderes als das Konstatierbarwerden des Ansichseins. Sie beschränkt sich auf das Hinausdrängen des Phänomens über sich selbst — zu einer Entscheidung über Sein und Nichtsein seines Inhaltes. Und, so muß man hinzufügen, dieses Hinausdrängen ist nicht ein Hindrängen auf eine bestimmte Seite der Alternative. In ihm ist keine Vorentscheidung zugunsten des Ansichseins. So wenigstens ist es im rein beschreibenden, geklärten Phänomenbewußtsein. Drängte das Phänomen des Ansichseins strikt auf dessen Bestehen hin, so wäre damit der Beweis des Ansichseins erbracht, und der Skepsis bliebe überhaupt kein Spielraum. So ist es nicht. Rein prinzipiell bleibt die Möglichkeit bestehen, daß an den Erkenntnisgegenständen nichts Ansichseiendes wäre; und das heißt, daß sie gar nicht Erkenntnisgegenstände wären. Dann aber wäre auch das, was wir Erkenntnis nennen, gar nicht Erkenntnis. Im Cartesianischen Zweifel ist diese Konsequenz gezogen. Ihr theoretisches Gewicht ist zwar ein geringes; denn die Beweislast fällt der Gegenseite zu. Aber sie ist einstweilen nicht behoben. 25. Kapitel. Traneobjektivität und Übergegenständlichkeit

a) Problembewußtsein und Erkenntnisprogreß Die Phänomenbasis muß erweitert werden. Das ist zunächst noch innerhalb des Erkenntnisphänomens möglich. Denn dieses ist mit dem Dargelegten nicht erschöpft. Es gibt noch Teilphänomene der Erkenntnis, in denen das Gewicht der Ansichseinsgegebenheit ein größeres ist: das des Problembewußtseins und das des Erkenntnisprogresses. Problem ist dasjenige am Gegenstande, was noch nicht erfaßt ist, das Unerkannte an ihm. Problembewußtsein also ist das Wissen um dieses Unerkannte. Am Erkenntnisinhalt macht es sich als Bewußtsein seiner Inadäquatheit geltend, entspricht also dem Sokratischen Wissen des Nichtwissens. Der Erkenntnisprogreß ist die Überwindung der Inadäquatheit, die Tendenz und Bewegung der Adäquation, das Vortreiben der Eikenntnis in das Unerkannte hinein und die Umwandlung des Unerkannten in Erkanntes. Der ontologisch wichtige Punkt darin ist, daß der Begriff des Erkenntnisgegenstandes sich damit noch einmal wesentlich verschiebt. Dem Subjekt steht jetzt nicht allein der objizierte Teil des Gesamtgegenstandes gegenüber, sondern auch der nichtobjizierte, das ,,Transobjektive". Dieses ist nicht objectum, wohl aber objiciendum. Der seiende Erkenntnis-

25. Kap. Transobjektivität und Übergegenständlichkeit

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gegenstand ist also in Erkanntes und Unerkanntes gespalten, und zwischen beiden geht die Grenze der jeweiligen Objektion hindurch. Was jenseits ihrer liegt, ist das Transobjektive. Das Problembewußtsein ist also selbst ein Bewußtsein des Transobjektiven ; denn es ist das der Objektion vorgreifende Wissen um das Sein des Unerkannten. Damit erweist sich das Phänomen des Problembewußtseins als ein eminentes Ansichseinsphänomen. Beim Objizierten, als dem erkannten Teil des Gegenstandes, kann man sich allenfalls einbilden, daß es in seinem Gegenstandsein aufginge und kein Ansichsein hätte; beim Transobjektiven kann man es nicht, denn von ihm gerade gilt, daß es noch gar nicht zum Gegenstande geworden ist. Es steht noch jenseits der Reichweite der Subjekt-Objekt-Korrelation. Da aber Ansichsein eben die Indifferenz gegen diese Korrelation bedeutet — denn es ist die Unabhängigkeit vom Subjekt —, so kommt dem Transobjektiven notwendig Ansichsein zu. Dagegen kann man einwenden, das sei doch auch nur ein „Phänomen" des Ansichseins, nicht dieses selbst. Das Problembewußtsein kann ja irren; es kann auch ins Leere fragen, wo nichts ist. Dem steht das Phänomen des Erkenntnisprogresses entgegen. Wenn Probleme gelöst werden, so wird das Transobjektive in Objiziertes gewandelt. Das beweist, daß das Transobjektive nicht nichts war, sondern daß etwas da war, was sich möglicher Erkenntnis darbot. Der Progreß pflegt zwar inhaltlich so zu gehen, daß sich das Transobjektive im Maße fortschreitender Objektion als anders beschaffen erweist, als sich vorwegnehmen ließ; aber es erweist sich damit doch nicht als nichts. Das Ansichsein bestätigt sich. Das reine Problembewußtsein nimmt ja auch seine inhaltliche Bestimmung gar nicht vorweg. Es ist das Nichtwissen des Inhalts. Es weiß nur um das Vorhandensein. Der Erkenntnisprogreß, als das einsetzende Wissen um die Bestimmtheit, ist die Bestätigung, daß wirklich in der verlängerten Objektrichtung — über die Objektionsgrenze hinaus -— ein Ansichseiendes lag, etwas, was vor dem Eindringen der Erkenntnis und unabhängig von ihr schon bestand und sich im Problembewußtsein geltend machte. Dieses Phänomen ist von größter ontologischer Tragweite. Ginge der Erkenntnisgegenstand im jeweilig Objizierten auf, so könnte man allenfalls glauben, daß er auch im Objektsein für das Subjekt aufgehe. Geht er aber inhaltlich im Objizierten nicht auf, so kann er auch der Seinsweise nach im Objektsein nicht aufgehen. Er muß Ansichsein haben, muß an Sich gleichgültig gegen das Erkenntnisverhältnis dastehen. b) Das Ansichsein des Transobjektiven und des Objizierten Zerfällt nun der Erkenntnisgegenstand durch die Objektionsgrenze in Objiziertes und Transobjektives und erweist sich das Transobjektive als

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Dritter Teü. I.Abschnitt

ansichseiend, so muß auch das Objizierte an ihm Ansichsein haben. D. h. der Gegenstand als ganzer muß Ansichsein haben. Es hat keinen Sinn, den Teilen eines Ganzen verschiedene Seinsweise zuzusprechen. So allein entspricht es auch der Gleichgültigkeit des Seienden gegen seine Objektion und gegen die jeweilige Grenze der Objektion an ihm. Das wird noch deutlicher vom Erkenntnisprogreß aus. Die Objektion schreitet fort. Wäre nun das Transobjektive allein ansichseiend, das Objizierte aber nicht, so müßte man ja schließen, daß mit dem Fortschreiten der Erkenntnis das Ansichsein Schritt für Schritt aufgehoben oder vernichtet würde. Denn eben das Transobjektive wird hierbei fortschreitend objiziert. Das hat offenbar keinen Sinn. Man würde sich damit wieder dem lächerlichsten aller Vorurteile nähern, der Vorstellung, daß die Gegenstände bei ihrem Erkanntwerden „ins Bewußtsein hineinspazierten". Die Erkenntnisgegenstände, ob erkannt oder nicht, bleiben dem Bewußtsein unaufhebbar gegenüber. „Dinge" gibt es im Bewußtsein nicht, genau so wenig wie es Gedanken oder Vorstellungen außer dem Bewußtsein gibt. Die Objektion ändert daran nichts. Das eben ist die Gleichgültigkeit des Seienden gegen die Objektion. Ansichseiend also ist entweder das Ganze des Eikenntnisgegenstandes oder nichts an ihm. Er ist ontisch homogen. Ist das Transobjektive in ihm „an sich", so notwendig auch das Objizierte. Noch einem anderen Vorurteil muß man hier begegnen. Es ist das die Ansicht, daß der Gegenstand im Fortschreiten der Eikenntnis sich „ändere". Die Atome der heutigen Physik z. B. sind anders als die des Demokrat. Im Neukantianismus hat man daraus den Schluß gezogen, der Gegenstand „entstehe" überhaupt erst im Erkenntnisprogreß. Dem liegt eine gröbliche Verwechselung zugrunde: nicht der Gegenstand entsteht, sondern das Bild des Gegenstandes, die Vorstellung oder der Begriff des Gegenstandes entsteht. Der „Begriff" des Atoms unterliegt dem Wandel. Darin besteht die Annäherung an die Wahrheit. Die Atome selbst, aus denen die Dinge wirklich bestehen, machen diesen Wandel nicht mit. Wenn überhaupt es sie gibt, so waren sie dieselben einst wie heute. Ihr Sein ist gleichgültig gegen den Wandel der Auffassung und gegen das fortschreitende Erkanntwerden ihres Wesens. 26. Kapitel. Die Grenzen der Erkennbarkeit

a) Das Auftreten des gnoseologisch Irrationalen Noch einen Schritt weiter führt das Phänomen des gnoseologisch Irrationalen. Mit diesem ist nicht ein Alogisches gemeint, sondern ein Transintelligibles; nicht ein Undenkbares, sondern ein Unerkennbares. Sein Auftreten ist das Grenzphänomen der Erkenntnis. Die Objektionsgrenze steht nicht fest. Sie ist verschiebbar; und sie wird verschoben im Erkenntnisprogreß. Jede neue Einsicht treibt sie

26. Kap. Die Grenzen der Erkennbarkeit

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vor. Der Gegenstand bleibt dabei wie er war, nur die Erkenntnis nimmt zu. Die Frage ist: geht diese Verschiebbarkeit der Grenze in infinitum fort, oder ist sie selbst begrenzt? Gibt es eine zweite Grenze hinter der ersten, eine Grenze der Objizierbarkeit, der Erkennbarkeit, der gnoseologischen Rationalität? Sie müßte eine unverschiebbare Grenze sein. Die Frage nach ihr ist identisch mit der nach dem Auftreten des Transintelligiblen. Gemeint ist nicht eine Grenze, die in der Endlichkeit und Erschöpf barkeit des Gegenstandes liegen könnte. Eine solche würde kein Unerkennbares übrig lassen. Wohl denkbar wäre es, daß die Sache ihrerseits dem Vordringen der Erkenntnis an einem bestimmten Punkte eine Grenze vorzöge. Man müßte dann wohl annehmen, daß der Gegenstand sich weiterem Eindringen der Erkenntnis widersetzte, sie abwehrte. Er wäre dann jedenfalls nicht gleichgültig gegen die Objektion. Der dritte mögliche Fall wäre der, daß die Sache sich zwar nicht widersetzt, die Erkenntnis aber so eingerichtet ist, daß sie nicht beliebig weit vordringen kann; die Organisation unserer Erkenntnis könnte sehr wohl auf bestimmte Seiten des Seienden hin angelegt sein, vor anderen aber grundsätzlich versagen. Sie selbst würde in diesem Falle ihrem eigenen Vordringen in das Seiende die Grenze vorziehen. Ist z. B. die Erkenntnis an bestimmte innere Bedingungen, Formen oder Kategorien gebunden, so muß man das Auftreten der Erkennbarkeitsgrenze am Seienden geradezu a priori erwarten. Der erste dieser drei Fälle rangiert von vornherein aus. Er betrifft nicht das Auftreten des Unerkennbaren. Der zweite ist schon ernster zu nehmen. Wir kennen besondere Fälle, in denen ein Gegenstand sich gegen das Erkanntwerden zur Wehr setzt. Die menschliche Person ist ein solcher Gegenstand. Ein Mensch kann das Eindringen fremden Wissens um ihn abwehren, kann sein Wesen verschleiern, den Erkennenden täuschen. Er kann sich verstecken, sich eine Maske wählen, kann irreführen. Aber erstens handelt es sich in unserem Problem nicht um ein Sichunerkennbar-Machen, sondern lediglich um ungemachtes Unerkennbaröein. Zweitens gibt es die Initiative der Erkenntnisabwehr nur bei Gegenständen, die selbst Erkenntnis haben und um ihr Erkanntwerden wissen; was sich offenbar nicht weiter verallgemeinern läßt. Und drittens ist alles Sich-unerkennbar-Machen abhängig vom Gegenfaktor der fremden Erkenntniskraft, Intelligenz, Erfahrung, Menschenkenntnis. Im allgemeinen dürfte es damit so stehen, daß in dem Kampf zwischen Täuschen und Durchschauen das Täuschen die größere Überlegenheit erfordert. Sonst wird die Abwehr durchbrochen, die Verschleierung durchschaut. Übrigens beweist schon die bloße Möglichkeit des Durchschautwerdens, daß eine Grenzsetzung dieser Art keine unverschiebbare ist, also jedenfalls nicht ein Unerkennbares anzeigt. 12 H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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Dritter Teil. 1. Abschnitt

Von der abenteuerlichen Vorstellung einer Erkenntnisabwehr durch den Gegenstand muß also hier abgesehen werden. Man müßte denn schon an den Cartesischen deus malignus glauben, der die Welt daraufhin angelegt hat, uns zu täuschen. Das Seiende als solches widersetzt sich seinem Erkanntwerden nicht. Es bietet sich durchaus wehrlos dar. Es ist eben gleichgültig gegen die Objektion. In einem anderen Sinne läßt sich die Grenze der Objizierbarkeit am Seienden eher denken. Das Seiende könnte von einem gewissen Punkte ab so geartet sein, daß es nicht Gegenstand werden kann. Thesen dieser Art sind oft verfochten worden, z. B. „Gott kann nicht Gegenstand sein", „Das Subjekt kann nicht Objekt werden" oder Schelers Satz: „Personen und Akte sind nicht gegenstandsfähig". Behauptungen dieser Art rechnen nicht mit der Neutralität des Seienden gegen die Objektion. Sie setzen voraus, das Erkanntwerden änderte etwas an der Sache, oder gar es zöge sie ins Bewußtsein hinein. Aber die Sache gerade bleibt unaufhebbar gegenüber, ja sie bleibt in der Objektion grundsätzlich untangiert. Gegenstand werden kann alles Seiende, wenn es ein Bewußtsein gibt, das es zum Gegenstand zu machen weiß. Tatsache ist, daß auch Personen und Akte sehr wohl erfaßt werden, schon im alltäglichen Leben, und nicht weniger in der Wissenschaft (z. B. der historischen). Daß sie im letzten Kern undurchschaut bleiben, soll nicht bestritten werden. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an uns, den Erkennenden, weil wir nicht weiter vorstoßen können oder ein derartig in sich mannigfaltiges und variables Gebilde nicht erschöpfen können. Das aber fällt unter den dritten Fall. Es ist nicht haltbar, daß ein Seiendes — sei es ganz oder teilweise — die Artung habe, nicht Gegenstand der Erkenntnis werden zu können. So etwas läßt sich nur behaupten, wenn man Erkenntnis auf logisch-begriffliche Form einschränkt. Aber Erkenntnis ist nicht auf sie eingeschränkt, hat mit Begrifflichkeit überhaupt nur mittelbar zu tun. Man mag über menschliche Menschenkenntnis sehr verschieden denken; daß es sie gibt, wird niemand bestreiten, desgleichen daß der ausgereifte Mensch ohne ein gewisses Maß von Menschenkenntnis nicht leben kann. Aber sie ist zweifellos kein begriffliches Ei kennen. Es gibt kein an sich gegenstandsunfähiges Seiendes. Es liegt vielmehr im Wesen des Ansichseienden, „an sich" sehr wohl Gegenstand der Erkenntnis werden zu können. Und an ihm liegt es nicht, wenn es tatsächlich nicht Gegenstand wird oder nicht werden kann. Das aber heißt streng formuliert: es gibt kein an sich Unerkennbares. Das ist es, was der Satz Husserls ausspricht: alles was ist, ist auch erkennbar. Das Seiende ist an sich wehrlos gegen die Erkenntnis. Es liegt in seinem Wesen, sich darzubieten, wo und wie immer Erkenntnis sich ihm zuwendet. Die Frage ist nur: liegt es auch im Wesen der Erkenntnis, sich auf alles sich ihr Darbietende richten zu können? Ist sie ihrerseits fähig, alles Seiende zu ihrem Gegenstande zu machen?

26. Kap. Die Grenzen der Erkennbarkeit

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b) Begriff und Stellung des „für uns" Unerkennbaren Das aber heißt: wenn es auch kein an sich Irrationales gibt, so kann es deswegen doch sehr wohl ein „für uns Irrationales" geben. Damit stehen wir beim dritten Fall. Wenn es eine bestimmte, unüberschreitbare Artung und Organisation der Erkenntnis gibt ·— nämlich der wirklichen, menschlichen Erkenntnis, die allein wir kennen —, und wenn diese auf Objektion bestimmter Seiten des Seienden angelegt, anderen Seiten aber unangemessen ist, so gibt es auch am Seienden etwas, was von der Erkennbarkeit ausgeschlossen ist. Dann also gibt es das „für uns Unerkennbare". Daß es dies gibt und daß dadurch eine subjektbedingte, aber für das Subjekt nicht verschiebbare Grenze der Erkennbarkeit gesetzt ist, dafür läßt sich eine Reihe von Gründen angeben. 1. Wir haben im System der Sinne ein Schema im Kleinen, wie überhaupt Erkenntnisorganisation angelegt ist. Die Sinne, die wir haben, sind ganz bestimmten Seiten des Seienden zugeordnet; sie sind der Auffassung bestimmter Gruppen von Beschaffenheiten oder Prozessen angepaßt. Über diese hinaus nehmen sie nichts wahr. Wohlbekannt ist es z. B., wie der Gesichtssinn, der Wärmesinn, der Tonsinn sehr begrenzten Ausschnitten aus dem Kontinuum der Wellenlängen zugeordnet sind —, Ausschnitten, die nicht einmal aneinanderschließen. Was nicht in die Ausschnitte fällt, ist den Sinnen unmittelbar nicht zugänglich. Ist es nun mit der nichtsinnlichen Erkenntnis — dem Verstehen, dem Begreifen, dem Schließen und Deuten — ebenso bestellt, so muß auch das Ganze der menschlichen Erkenntnisorganisation einem Gesamtausschnitt des Seienden angemessen sein, über dessen Grenze hinaus das Seiende unerkennbar ist. 2. Daß dem tatsächlich so ist, ergibt sich schon aus der früh entdeckten Tatsache, daß unser Verstehen, Begreifen und Eindringen an sehr bestimmte Formen oder Kategorien gebunden ist. Alles, was wir auffassen, bleibt an diese Formen gebunden, über sie hinaus versagt alles Vorstellen. Dem entspricht die Angepaßtheit unserer Erkenntnis an das Lebensnotwendige. Im natürlichen Weltbewußtsein ist das sich Darbietende und an sich Vorhandene auf das vital Relevante hin seligiert. Verstand und Sinne dienen eben ursprünglich nicht dem reinen Wissen, sondern der Selbstbehauptung. Den höheren Zwecken der Erkenntnis sind beide von Hause aus wenig angemessen. Erst besondere Methoden im Verstandesgebrauch lehren die erweiterte Anwendung. Aber beliebig erweitern läßt sich auch die methodische Anwendung nicht. Sie bleibt an die Reichweite der Kategorien gebunden. 3. In der Praxis der Wissenschaften stoßen wir hierbei allenthalben auf sehr spürbare Grenzen. Es ist oben in der Einleitung auf eine Reihe von Grundproblemen hingewiesen worden, die alle „metaphysischen" Charakter tragen, d. h. einen unaufhebbar irrationalen Einschlag ent12*

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Dritter Teil. I.Abschnitt

halten; die bekanntesten Beispiele sind: das Rätsel des Lebendigen, der psychophysischen Einheit, der Freiheit, der ersten Ursache u. a. m.; sie alle sind unvermeidliche Problembestände, die man nicht abweisen kann, weil sie in langen, eindeutigen Phänomenreihen verwurzelt sind. Die Unlösbarkeit beruht hier offenbar nicht auf unangemessenem ^Ansatz", sondern auf dem grundsätzlichen Versagen menschlicher Erkenntniskategorien. 4. Auch das Seiende hat seine Prinzipien (Seinskategorien). Unter ihnen aber gibt es solche, die grundsätzlich den Erkenntniskategorien unangemessen sind. In der Forschung drängen sie sich als Problempunkte auf, an denen jede Lösung einer Aporie neue Aporien sichtbar werden läßt. Von dieser Art sind die Unendlichkeit, das Kontinuum, die Substrate, die Individualität, die konkreten Totalitäten; also einerseits das Einfachste und Elementarste, andererseits das Komplexeste. Bei diesen kategorialen Momenten des Seienden ist es so, daß unsere Erkenntnis-Organisation fest an die entsprechenden Gegenkategorien gefesselt ist: an die Endlichkeit, die Diskretheit, die Geformtheit, das Typenhafte, den Teilaspekt. 5. Man kann hierher auch die Gebundenheit der Erkenntnis an die logischen Gesetze rechnen. Wie weit das Reale ihnen entspricht, läßt sich nicht mit Gewißheit angeben. Das Auftreten der Antinomien in gewissen Problemrichtungen macht es sehr unwahrscheinlich, daß sich das Seiende dem Gesetz des Widerspruchs restlos fügt. Enthält es aber den Widerspruch in sich — etwa in Form des realen Widerstreits —, so sind die Antinomien unlösbar; ja schon der Versuch, sie zu lösen, wäre ein Irrweg. Lösen lassen sich nur scheinbare Antinomien, die echten nicht. Worin sich denn deutlich eine Grenze des Zureichens unserer Erkenntnisgesetze für das Seiende zeigen dürfte. 6. Auch der klassische Rationalismus hat Grenzen der Erkennbarkeit in diesem Sinne aneikannt, indem er dem endlichen Intellekt den intellectus infinitus entgegensetzte und nur für ihn die unbegrenzte Erkennbarkeit aller Dinge gelten ließ. Das ist ein deutlicher Grenzbegriif der Erkenntnis: die folgerichtig gebildete Idee einer Erkenntnis, wie wir sie nicht haben. Irrtum war es nur, daß man aus der Idee die Erweiterbarkeit unseres Intellekts und seine Annäherung an sie erschließen zu können meinte. Solche Annäherung läßt sich aus ihr genau so wenig erschließen, als sich aus der Idee Gottes die Fähigkeit des Menschen, Gott zu werden, erschließen ließe. Der positive Sinn der Idee vielmehr ist das Wissen um das uns Unerreichbare als solches. c) Das Seinsgewicht des unendlichen Restes Man darf hiernach das Unerkennbare im Hintergrunde der Erkenntnisgegenstände sehr wohl mit zum Phänomenbestand der Erkenntnis rechnen.

26. Kap. Die Grenzen der Erkennbarkeit

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Das bedeutet, daß es die zweite Grenze, die unverschiebbare, wirklich gibt, und daß jenseits ihrer ein Transintelligibles liegt. Es liegt nicht etwa jenseits des Transobjektiven, sondern ist ein Teil von ihm, wie dieses selbst ein Teil des ganzen objiciendum ist. Aber auch die zweite Grenze ist eine nur gnoseologische, keine ontologische. Sie begrenzt am Seienden nur die Reichweite der Erkennbarkeit, nicht das Seiende selbst. Ansichseiend ist vielmehr ebensowohl das Erkennbare wie das Unerkennbare. Am Ansichseienden macht weder das Erkanntsein noch das Erkennbarsein einen Unterschied aus. Das folgte aus dem Gesetz des Erkenntnisgegenstandes, der eben nur dann ein solcher ist, wenn er an sich und unabhängig vomEikanntseinwie vom Erkennbarsein ist, wie er ist. Dem Sein kann weder das Erkanntsein noch das Erkennbarsein etwas hinzufügen oder abziehen. Gegen dieses Gesetz hat man nach zwei entgegengesetzten Seiten verstoßen. Man meinte einerseits, das Unerkannte, und vollends das Unerkennbare, könne gar nicht seiend sein; man konnte sich Seiendes nur korrelativistisch als Objekt eines Subjekts denken. Und man meinte andererseits wiederum, nur das Unerkennbare könne eigentliches (subjektunabhängiges) Sein haben; das Erkennbare sei abhängig vom Subjekt oder gar bloße Erscheinung (Kant). Beide Auffassungen machen denselben Fehler, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Sie verkennen die Gleichgültigkeit des Ansichseienden gegen Objektion und Objizierbarkeit, desgleichen den bloß gnoseologischen Charakter beider Grenzen. Das „Sein" hebt weder diesseits noch jenseits einer dieser Grenzen erst an, sondern geht kontinuierlich durch. Nur das Wissen um Seiendes findet an ihnen seine Schranke. Vorurteile der einen wie der anderen Richtung sind im eigenen Denken schwer aufhebbar. Sie haben alle unsere Begriffe durchtränkt und ziehen ständig Nahrung aus der Tatsache, daß beide Grenzen sich vom Subjekt aus wie Horizonte in die seiende Welt hineinprojizieren. Es entsteht dadurch immer wieder der Schein, als wären es Seinsgrenzen. Für das Verständnis des Ansichseinsphänomens in der Erkenntnis — und speziell in der Erkennbarkeitsgrenze — ist es aber erforderlich, den Schein zu durchschauen. Hat man sich dieses einmal klar gemacht, so gewinnt das Auftreten des gnoseologisch Irrationalen ein einzigartiges Gewicht. Denn nun stellt sich das Erkennbare als endlicher Ausschnitt aus dem Seienden dar, und der natürliche Schwerpunkt des Totalgegenstandes (des objiciendum) liegt nicht nur über die erste, sondern auch über die zweite Grenze hinaus. Er liegt nicht nur im Transobjektiven, sondern auch im Transintelligiblen. Das ist es, warum aller Erkenntnisprogreß auf das Unerkennbare zu ponderiert, warum alle irgendwie fundamentalen Problemketten auf irrationale Grundprobleme hindrängen. Das Transintelligible ist gleichsam der unendliche Rest aller Problemgehalte, die der endlichen Erkenntnis eine Grenze möglichen Vordringens

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Dritter Teil. I.Abschnitt

ziehen. Denn das Seiende braucht keineswegs begrenzt zu sein. Man spürt im Leben den großen Rest nur deswegen nicht, weil unsere Seinsoffenheit auf das Lebensrelevante zugepaßt ist und sich mit Irrelevantem nicht beschwert. Überdies liegt es im Wesen des Irrationalen, nur als Grenzphänomen der Eikenntnis — gleichsam in deren Negation noch eben faßbar — auftauchen zu können. Es ist eben die Aufhebung der Gegenstellung des Seienden; direkt erfassen läßt sich aber nur, was in Gegenstellung tritt. d) Das Ansichsein des Irrationalen Für die Gegebenheit des Ansichseienden hat das Auftreten des Irrationalen im Eikenntnisphänomen entscheidende Bedeutung. Aber sie liegt nicht darin, daß das Irrationale in höherem Sinne seiend wäre als das Rationale. Sie liegt vielmehr darin, daß das Ansichsein des ganzen Gegenstandsfeldes der Erkenntnis sich von hier aus weit schlagender aufdrängt. Es ist also verstärkt dieselbe Bedeutung wie die des Transobjektiven. Ginge nämlich der Erkenntnisgegenstand im erkennbaren Transobjektiven auf, so ließe sich immer noch glauben, daß er nichts anderes als mögliches Objekt des Subjekts (also „Gegenstand möglicher Erfahrung" im korrelativistischen Sinne) sei. Ragt er aber über die Grenze möglicher Objektion auch hinaus, ist er inhaltlich mehr, als was unseren Kategorien faßbar ist, so liegt die Sache anders. Es ist dann ein Widersinn in sich selbst, zu meinen, er könnte auch jenseits möglicher Gegenstellung noch in seinem Gegenstandsein aufgehen. Hier muß notwendig jede Abhängigkeit vom Subjekt, jede Relativität auf den Eikenntnisakt, jede Korrelativität wegfallen. Gibt es ein Unerkennbares, so muß dieses notwendig unabhängig vom Subjekt dastehen. Es muß Ansichsein haben. Zerfällt nun aber das Ganze des Eikenntnisgegenstandes (das objiciendum) durch die Grenze der Eikennbarkeit in Rationales und Irrationales, und erweist sich das Irrationale notwendig als ansichseiend, so muß auch das Rationale an ihm — also sowohl das Objizierte (Erkannte) als auch der objizierbare Teil des Transobjektiven (das Erkennbare) — Ansichsein haben. Und das besagt: der Erkenntnisgegenstand muß überhaupt und als ganzer Ansichsein haben. Denn wenn überhaupt Ansichsein an ihm besteht, so besteht es — seinem eigenen Wesen nach — gleichgültig gegen Objektion und Objizierbarkeit und gleichgültig also auch gegen deren Grenzen. Der Totalgegenstand ist unter allen Umständen homogen. Ist ein Teil von ihm relativ auf das Subjekt, so ist es der ganze Gegenstand auch. Ist aber ein Teil von ihm ansichseiend, so ist notwendig der ganze Gegenstand ansichseiend. Daß etwas an ihm objizierbar ist, heißt aber nicht, daß es sich in bloßes Gegenstandsein auflösen könnte. Das Gegenstandwerden depotenziert

27. Kap. Emotional-rezeptive Akte

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seinen Seinscharakter nicht. Es bleibt dem Seienden als einem solchen überhaupt äußerlich. Weil aber am Phänomen des Irrationalen die Gegebenheit des Ansichseins der Evidenz am nächsten gebracht ist, so fällt von diesem Phänomen aus auch das hellste Licht auf das Objizierte und Objizierbare: sein Ansichsein ist von der gleichen Gewißheit wie das des Irrationalen.

II. Abschnitt Die emotional-transzendenten Akte 27. Kapitel. Emotional-rezeptive Akte

a) Stellung und Struktur der ontisch fundamentalen Akte Die Erkenntnis ist unter den transzendenten Akten der durchsichtigste, reinste, objektivste. Aber als Zeugnis des Ansichseins ist er der stärkste nicht. Gegen ihn als isoliert genommenen hatte die Skepsis zu leichtes Spiel. Sein Vorzug der Objektivität wird aufgewogen durch den Nachteil, daß er im Lebenszusammenhang ein sekundärer Akt ist. Er hebt sich immer erst aus einem Geflecht tiefer verwurzelter Akte heraus, die ebenso transzendent sind wie er. Ja, zumeist steht er nicht einmal herausgehoben da, sondern bleibt in ihrem Geflecht verschlungen. Erst die Wissenschaft löst ihn heraus. Und ebendamit setzt sie sich der Skepsis aus. Sie verliert gleichsam das Erdreich unter den Füßen, in dem sie wurzelt. Die Verwurzelung aber ist für das Seinsproblem das wesentliche. Sie reicht im lebendigen Aktzusammenhang tiefer in das Ganze des Seienden hinein. Denn der Aktzusammenhang der Aktträger ist ein Ausschnitt des Welt- und Seinszusammenhanges, in dem sie stehen. Die Erkenntnis ist unter den transzendenten Akten der einzige nichtemotionale. Die anderen alle haben einen Einschlag von Aktivität, Energie, Ringen, Einsatz, Wagnis, Leiden, BetrofFensein. Darin besteht ihr emotionaler Charakter. Aller Umgang mit Personen, alles Schalten mit Dingen, alles Erleben, Erstreben, Begehren, Tun, Handeln, Wollen, Gesinntsein gehört hierher; desgleichen alles Gelingen und Mißlingen, Erleiden, Ertragen, aber auch Erwarten, Erhoffen, Befürchten. Ja, schon die innere Stellungnahme, die Wertreaktion, die Wertantwort zählt zu diesem Aktzusammenhang. Diese Akte stehen im Leben nicht geschieden da, sie fließen ineinander über; andererseits geht ihre Differenzierung bis ins Unwägbare fort. Die Analyse darf die verschwimmenden Grenzen nicht künstlich scharf machen, die Mannigfaltigkeit nicht durch herangetragene Typisierung verkürzen. Worauf es ankommt, ist aber gerade das Gemeinsame in ihnen: die Akttranszendenz und das Ansichsein des Gegenstandes. Denn in dieser

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Dritter Teil. 2. Abschnitt

Hinsicht sind sie dem Erkenntnisakt überlegen. Es wird sich zeigen, daß die durchgehende Überzeugtheit vom Ansichsein der Welt, in der wir leben, nicht so sehr auf der Wahrnehmung als auf dem erlebten Widerstande beruht, den das Reale der Aktivität des Subjekts leistet, — auf einer breiten Basis der Lebenserfahrung also, welche die emotionalen Akte liefern. Indem die Analyse von der Erkenntnis zum Aktgefüge im Hintergrund der Erkenntnis fortschreitet, geht sie vom ontisch Sekundären zum ontisch Primären und Fundamentalen über, zugleich aber auch zum weniger Durchschaubaren und Analysierbaren. Sie hat aber dabei den Vorteil, daß diese Akte nur eine einzige Seinsweise der Gegenstände kennen, die reale. Es handelt sich in ihrer Transzendenz nur um reales Ansichsein. Man darf also bei ihrer Analyse den schwerfälligen Begriff des Ansichseins fallen lassen und direkt von „Realität" sprechen. Wobei freilich nicht zu vergessen ist, daß es sich in der „Realität" nicht um die Art des Ansichseins handelt, sondern um das Ansichsein als Solches. Bei den aktiven (spontanen) Akten hat man außerdem den Vorteil, daß in ihnen schon das Aktbewußtsein selbst zwischen intentionalen und realem Gegenstande unterscheidet, was bei der Erkenntnis nicht der Fall ist. Dort holt erst die Theorie das geformte Erkenntnisgebilde (den Gedanken, die Vorstellung, die Meinung) ans Licht. Im Wollen dagegen ist der vorgesetzte Zweck vom zu erreichenden Zweck von vornherein unterschieden. Und im Spannungsverhältnis zwischen dem einen und dem anderen bewegt sich der Akt. b) Eigenart der emotional-rezeptiven Akte Die transzendenten Akte haben alle die Form von Relationen zwischen seiendem Subjekt und seiendem Gegenstande. Es sind Akte desselben Subjektes, das auch erkennt; und ihre Gegenstände sind wenigstens grundsätzlich dieselben, die auch erkannt werden können. Aber die Aktstruktur ist anders. In der Erkenntnisrelation bleibt der Gegenstand untangiert, imverändert; und das Subjekt wird wenigstens nicht in seinem Lebenshabitus betroffen, sondern nur dem Bewußtseinsinhalt nach modifiziert. Beides ändert sich in den emotional-transzendenten Akten: das erstere in den spontanen, das letztere in allen, am greifbarsten aber in denen mit rezeptivem Charakter. Es soll hier mit den emotional-rezeptiven Akten begonnen werden, weil in ihnen der Gegebenheitsmodus des realen Daseins die am reinsten ausgeprägte Form und die unmittelbarste Gewichtigkeit hat. Es sind dieses die Akttypen des „Erfahrene", „Erlebens" und „Erleidens" mit ihren mannigfaltigen Spielarten. In gewissem Betracht gehört auch noch das „Ertragen" dazu, soweit es sich in ihm nicht um die Aktivität des ,,damit-fertig-Werdens" handelt, sondern um das rein hinnehmende Moment des „Tragen-Müssens".

27. Kap. Emotional-rezeptive Akte

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Diese Akte haben das Gemeinsame, daß dem Subjekt etwas „widerfährt". Das Subjekt selbst erlebt oder erfährt das ,,Widerfahrnis" in der Form eines sehr bestimmten Betroffenseins. Das BetrofFenSein ist ein durchaus reales. Und weil es seinem Wesen nach Betroffensein „von etwas" ist, so kündigt sich in ihm unabweisbar die Realität des Widerfahrnisses an, dessen also, was im Betroffensein als das Betreffende, Zustoßende oder sich Aufdrängende empfunden wird. Im Erleiden wird die Aufdringlichkeit des Zustoßens besonders schroff. So ist es schon im äußerlichsten Fall, wenn man einen physischen Schlag oder Stoß erhält und der Schmerz einen über alle Argumente drastisch über die Realität des schlagenden oder stoßenden Etwas belehrt. Hier bedarf es keines Kausalschlusses, keiner Reflexion oder Kombination. Die schlagende Beweiskraft des Widerfahrnisses ist unmittelbar identisch mit dem Bewußtsein des Betroffenseins. Nicht anders ist es, wenn man im Kampfe unterliegt, sei es im physischen oder geistigen, wenn man seelischem Druck erliegt, oder auch wenn man emporgerissen wird von fremder Kraft: die siegende, bedrükkende oder tragende Kraft ist im eigenen Betroffensein von ihr unmittelbar als eine reale empfunden. Im eigentlichen Erleben und Erfahren ist das Betroffensein nicht ganz so drastisch. Dafür ist es inhaltlich unendlich reicher. In diesen beiden Akttypen bewegt sich vorwiegend das unmittelbare Bewußtsein alles dessen, was mit uns selbst und anderen Personen geschieht. c) Widerfahrnis und Betroffensein. Härte des Realen und Ausgeliefertsein Aber es stuft sich weiter ab. Im „Erleben" ist die Ichbetontheit noch mehr im Vordergrunde. Das „Erfahren" ist objektiver, es zeigt bewußtere Gegenstellung zum Widerfahrnis, steht der Erkenntnis näher. Der Erlebende geht noch mehr auf im Erlebnis. Dementsprechend ist im Erleben das Betroffensein ein unmittelbareres und stärkeres. Es steht darin dem im Erleiden näher. Indessen auch im Erfahren fehlt es keineswegs. Man darf sich hier vom erkenntnistheoretischen Sprachgebrauch nicht beirren lassen, der alle Erfahrung zur Erkenntnis rechnet. Das Erfahren, von dem hier die Rede ist, steht noch weit diesseits der Erkenntnis und hat mit Empirie nichts gemein; sein Korrelat ist nicht ein Beobachtungsgegenstand, sondern ein Geschehnis, das einem „widerfährt". Schlichtes Erfahren in diesem Sinne ist es, wenn mich jemand betrügt, dem ich getraut hatte; ich erfahre darin nicht nur den Betrug selbst, sondern auch den Menschen als einen unehrlichen. Das kann direkt in Erkenntnis übergehen; aber die Art, wie das Erfahrene sich aufzwingt und empfunden wird, geht darin nicht auf. Das Betroffensein ist nicht ein Erfassen.

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Dritter Teil. 2. Abschnitt

So erlebt und erfährt man Geschehnisse, Situationen, Spannungen und Lösungen, an denen man irgendwie beteiligt ist, oder in denen man selbst drinsteht. Und im Maße des Beteiligtseins ist man von ihnen betroffen; im Maße des Betroffenseins aber ist die Realität des Geschehens, der Situationen usw. mehr oder weniger schlagend gegeben. Kein Zweifel, das Realitätsbewußtsein der jeweiligen Situation wartet nicht erst die Erkenntnis ab. Vielmehr umgekehrt, die Erkenntnisgegebenheit — wo es zu ihr kommt — ist hier stets schon getragen von der primären Erlebnisgegebenheit. Sehr deutlich wird das auch an der Art, wie man die Folgen seiner Taten erfährt. Das ist nicht ein Erfahren „von" ihnen, etwa vom Hörensagen ; nicht unbeteiligtes Einsetzen des Wissens um sie. Es ist ein gelegentlich sehr empfindliches Zu-Fühlen-Bekommen, ein Getroffenwerden von ihnen. Man muß die Folgen der eigenen Taten auskosten, man kann nicht um sie herum, muß sie auf sich nehmen. Sie sind da und lasten. Dieselbe Art des Erfahrens ist es, wenn andere Personen an mir handeln, mich gut oder übel behandeln: ich „erfahre" die Behandlung. Desgleichen „erfahre" ich auch ihre Gesinnungen gegen mich. Und zwar beides wiederum nicht im Sinne des Erkennens. Ich verkenne dabei vielleicht gar ihre Gesinnungen, mißverstehe sie; ich kann ja auch die erfahrene Behandlung vollkommen verkennen. Aber deswegen habe ich sie doch „erfahren", bin von ihr betroffen worden. Das Erkennen kann i chin gewissen Grenzen aufhalten, die Aufmerksamkeit kann ich richten. Das Eifahrene kann ich nicht aufhalten, es wartet nicht auf das Aufmeiken. Denn das Widerfahrnis als Solches ist unaufhaltsam, es fragt nicht nach Bereitschaft, es geschieht mir. Es „widerfährt" eben. Ich kann ihm vielleicht in gewissen Grenzen ausweichen, aber nur soweit ich es voraussehe; aber ich kann nicht ausweichen, ohne handelnd einzugreifen und damit neues Widerfahrnis heraufzubeschwören. Das Ausweichen hat enge Grenzen. Und mit unberührtem Dabeistehen und Zuschauen hat es nichts gemein. Hier gibt es kein auswählendes Sich-Richten auf das Erwünschte oder Interessierende wie bei der Erkenntnis. Der Mensch, im Zuge der Ereignisse stehend, kann nicht nach Belieben erfahren oder nicht erfahren. Sondern er erfährt, was ihm widerfährt, nicht mehr und nicht weniger. Diesem Gesetz ist er lebenslänglich unterworfen. Hier liegt eine gewisse Schicksalhafbigkeit vor. Man darf dieses Wort nur nicht metaphysisch-fatalistisch verstehen. Nicht um ein Geschicktsein der Ereignisse handelt es sich, sondern einfach um ihr Eintreten auf Grund von Mächten, über die wir nichts vermögen. Es ist das Drinstehen im breiten Zuge der Realzusammenhänge, die der Mensch nicht vorgesehen und nicht geschaffen hat, deren Auswirkung am eigenen Leben er aber nicht aufhalten kann. Weder passiv noch wehrlos ist dieses Drinstehen im Einzelnen. Wohl aber ist es beides im Ganzen. Denn erst am Widerfahrnis setzt die Aktivität ein. Was zugrundeliegt, ist gerade das

27. Kap. Emotional-rezeptive Akte

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ungesuchte, ungeschaffene, im allgemeinen wohl auch unverschuldete Hineingerissensein und Ausgeliefertsein des allseitig exponierten und verletzbaren Menschenwesens an den Strom des realen Geschehens — gleichsam die immer wieder neu erfahrene Härte des Realen —, und das ganz unabhängig davon, ob und wie weit der Strom des Geschehens auch ein erkannter ist. Diese Härte des Realen eben ist es, die im Betrofiensein uns trifft. Es ist das reale Ansichsein der Verhältnisse, Geschehnisse und Situationen, das sich darin unmittelbar an uns bekundet. d) Die Schicksalsidee. Erfahren und Erfassen In derselben Weise „erfährt" und „erlebt" man schließlich alles, was in den Bereich des eigenen Lebens hineinreicht. Man erfährt den Lauf der Welt, erleidet das eigene Geschick, erlebt Erfolg und Mißlingen — nicht nur das eigene, sondern im Maße der Teilhabe auch das der Anderen. Man erlebt auch die gemeinsamen, öffentlichen Ereignisse, den laufenden Gang der Geschichte. Und je nach dem Grade politischen Mitlebens ist man davon mit betroffen; man kann auch davon erschüttert, erdrückt, angewidert oder erhoben sein. Der Durchschnittsmensch erfährt die sozialen Verhältnisse, in denen er steht, als eine Art dauernden Hintergrundes, von dem sich die besonderen Geschehnisse erst abheben. Er erfährt sie, wie man den Geschmack des täglichen Brotes erfährt; er erfährt sie bejahend oder verneinend, getragen von ihnen oder bedrückt, aber er kann nicht ohne weiteres aus ihnen heraus. Er ist in ihnen gefangen. Und das Gefangensein wiederum wird als Macht, als Druck, als Schicksal empfunden. Es ist die Schwere, der Widerstand, die Härte des Realen, was auch hier überall am eigenen Leben erfahren, erlebt oder erlitten wird: eine eminente, unmittelbare Gewißheit des Ansichseins. Aber wiederum, daß man das Erfahrene auch erkennt, liegt darin nicht. Es ist nicht nur, daß man noch lange nicht versteht, worauf es beruht; man hat vielmehr zumeist nicht einmal die nackte Tatsachenkenntnis, wie eigentlich die bestehenden Verhältnisse sind. Gerade das eigene DarinStehen macht das Verstehen schwer. Der Epigone erkennt sie aus der geschichtlichen Distanz leichter, aber er erlebt und erfährt sie nicht mehr. Er ist von ihnen nicht betroffen. In allem Erfahren, Erleben und Erleiden ist ein Moment des „Ertragene", oder zum mindesten des „Ertragenmüssens". Es beschränkt sich freilich auf das, was als schwer, hart oder bitter empfunden wird; aber gerade Widerfahrnisse solcher Art sind es, die in erster Linie das Gewicht des Realitätszeugnisses liefern. Das Müssen darin ist ein echtes Gezwungensein; es spiegelt ganz eindeutig die Unaufhaltsamkeit und Unausweichlichkeit der Geschehnisse und wird als deren „Unerbittlichkeit" empfunden—gleichsam als die erschreckende Gleichgültigkeit des Widerfahrnisses gegen den, der es tragen muß.

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Dritter Teil. 2. Abschnitt

Dieses Empfinden, ins Metaphysische gesteigert, ist der Boden, auf dem die Schicksalsidee gewachsen ist, und aus dem sie bis auf den heutigen Tag dauernd Nahrung zieht. Sehr naiv ist darin der Vorbestimmungsgedanke, die Vorstellung des Verhängnisses ( ), dessen durchsichtiges teleologisches Schema den Anthropomorphismus verrät; großartig aber bleibt die auch in solcher Deutung noch erkennbare Auffassung von der überlegenen Macht des Weltgeschehens überhaupt. Der Sache nach ist diese Macht nichts anderes als das Gewicht der Realität, dessen Unerbittlichkeit in den verschiedenen Formen des Betroffenseins erfahren wird. Und die metaphysische Deutung, die diesem Gewicht in der Schicksalsidee gegeben wird, ist der beste Beweis, daß Erfahren nicht Erfassen (Erkennen, Verstehen) ist. Denn gerade das Gefüge des Realzusammenhanges, auf dem es beruht, ist in ihr von Grund aus verkannt. Und noch weiteres Licht fällt von hier aus auf das Verhältnis von Erfahren und Erfassen. Beide können demselben realen Geschehen gelten, und dann ist in beiden dem Inhalt nach ein und dasselbe zur Gegebenheit gebracht. Grundverschieden aber bleibt auch dann die Art der Gegebenheit : im Erfahren ein Erfaßtsem des Menschen vom Geschehen, ein Überihn-Kommen des Unabwendbaren, im Erfassen ein Gegenüber bleiben, gleichsam ohne sein Berührtsein, oder doch unabhängig davon. Vielleicht ist überhaupt dieses der charakteristische Gegensatz: Erfahren ist deswegen nicht Erfassen, weil es vielmehr ein Erfaßtsein ist. Das wesentliche in diesem Verhältnis ist, daß im Ganzen des Menschenlebens dem Erfaßtsein die Priorität vor dem Erfassen zukommt. Nicht daß es sich zum voraus schon auf alle Gegenstände möglicher Erkenntnis erstreckte ; die Reichweite des ausgereiften Erkennens ist die weitere. Wohl aber ist die Realität der Welt, in der das Erkennen spielt und die es erkennt, zuvörderst einmal durch das Erfaßtsein vom Strom des Geschehens gegeben, in dem sie besteht. Das Erfaßtsein ist nicht ein bloßes Bild. Es ist selbst etwas sehr Reales, das mit uns geschieht, ein wirkliches In-Mitleidenschaft-Gezogensein. Und ebenso klingt es noch deutlich durch in den schwächeren Abstufungen des Betroffenseins: im Erschüttertsein, Gepacktsein, Ergriffensein, ja selbst im Erhobensein, Berührtsein, Beeindrucktsein, Angetansein, Gefesseltsein. Am unteren Ende dieser absteigenden Reihe dürfte das Interessiertsein stehen, in dem das eigentliche Betroffensein so gut wie verschwunden ist. Man kann es als das Übergangsglied zum Erfassen ansehen. 28. Kapitel. Abstufungen des Erfahrene und Einheit der Realität

a) Widerstanderfahren und Dingrealität Nahe verwandt mit diesen Aktphänomenen ist das Widerstandsbewußtsein der gehemmten Aktivität. Es unterscheidet sich vom rein rezeptiven Erfahren oder Erleiden durch die zuvor eingesetzte Spontaneität

28. Kap. Abstufungen des Erfahrene und Einheit der Realität

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(des Begehrens, Strebens, Wollens), die den Widerstand erleidet. Insofern gehört dieses Phänomen zur Hälfte bereits in eine andere Aktgruppe. Immerhin ist das Erfahren der Hemmung mit dem Streben, das gehemmt wird, nicht identisch; und andererseits lassen sich natürlich die rezeptiven Akte überhaupt nicht streng isolieren von den spontanen. In allem Erfahren und Erleben sind bereits Rückschläge auf die Eigentendenz der Person enthalten und machen sich als Wesensmomente in der Form des Betroffenseins geltend. Es geht denn auch hier nicht um Isolierung, sondern gerade um Aufweisung der stets im Gesamterleben mit enthaltenen Momente. Ist man auf die Momente des Widerstanderfahrens einmal aufmerksam geworden, so kann man nicht verkennen, daß gerade in ihnen die Gegebenheit von Realität eine eigentümlich verdichtete Form annimmt. Wobei das Wesentliche ist, daß sie alle Stufen der menschlichen Aktivität begleitet, von den niedersten bis zu den höchsten, ohne daß das empfundene Gewicht des Realwiderstandes sich wesentlich änderte. Nur die DraStik des Betroffenseins ändert sich, aber sie betrifft nur den Höhenunterschied der widerstehenden Seinsschichten. Man vergleiche daraufhin die folgende Reihe von Beispielen. Ich will einen Stein wälzen und erfahre den Widerstand seiner Schwere; ich will jemanden bekämpfen und erfahre seine Gegenwehr; ich will mir fremdes Eigentum aneignen und erfahre den Gegenschlag des Gesetzes; ich will jemanden überzeugen und erfahre den Widerstand seines selbsttätigen Denkens. Es ist überall dasselbe Erfahren desselben Real Widerstandes. Denn eben real ist nicht nur die Schwere des Steines, real ist ebensosehr die Abwehr des Angegriffenen, die Macht des bestehenden Rechtes resp. seiner berufenen Vertreter; ebensosehr auch die Selbsttätigkeit des fremden Gedankens. Von eigenartiger Drastik freilich ist der erfahrene Widerstand auf der niedersten Stufe. Es ist ein Irrtum, die Sinne allein für die Gegebenheit der Dingrealität aufkommen zu lassen. Es liegt immer schon im Widerstandserlebnis eine Basis des Erfahrenen zugrunde, die in das Wahrgenommene mit einbezogen wird. Die Wahrnehmung fällt schon auf den vorbereiteten Boden einer primitiveren, aber stärkeren Realitätserfahrung. Nicht als müßte allem Sehen von Dingen schon ein Sich-Stoßen an denselben Dingen vorangegangen sein; der naiv erfahrene Widerstand wird vielmehr ohne weiteres verallgemeinert. In der Verallgemeinerung aber liegt er gleichwohl schon zugrunde und braucht daher keineswegs erst in das Gesehene hineininterpretiert zu werden. Das ist der Grund, warum unter den Sinnen der motorische — und mit ihm der Tastsinn — dauernd ein Übergewicht an Realitätsgewißheit haben. Sie beruhen eben dank ihrer sehr aktiven Funktionsweise (Abtasten, Stoßen, Heben usw.) selbst schon auf gehemmter Aktivität. Max Scheler hat aus diesen Tatsachen den Schluß gezogen, alles Realitätsbewußtsein beruhe auf dem Widerstandserlebnis, und diese These

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zu einem „voluntativen Realismus" ausgebaut1). Aber gerade in dieser Zuspitzung läßt sie sich nicht halten. Denn erstens ist die Mannigfaltigkeit der emotionalen Akte, die am Realitätszeugnis beteiligt sind, viel größer. Zweitens ist es irrig, die Gegebenheitsweise auf das Seiende selbst zu übertragen; man kann nicht dem Realen selbst einen voluntativen Hintergrund zuschreiben, weil die Bewußtseinsform, in der es primär gegeben ist, einen voluntativen Hintergrund hat. Und drittens geht es nicht an, die emotionale Gegebenheit für das „Dinglich"-Reale allein in Anspruch zu nehmen; die Form, in der sie auftritt, mag bei Dingen eine besonders aufdringliche sein, sie gilt doch in gleicher Weise für alles Reale — für das Lebendige, Seelische und Geistige nicht weniger als für das grob Materielle. Überdies dürfte es nicht einmal wahr sein, daß die Art des Betroffenseins im Widerstandserlebnis der äußerlich motorischen Hemmung die stärkste ist. Sie erreicht gerade in den höheren Formen des Erfahrene und Erleidens ein noch ganz anderes Gewicht. b) Zur Klärung des ontologischen Realitätsbegriffes Es bedarf hier, bevor wir weitergehen, einer Rechtfertigung des zugrundegelegten Realitätsbegriffes. Es ist nicht ohne weiteres der übliche; dieser bevorzugt die Seinsweise der Dinge als eigentliche Realität (was dem ersten Wortsinn von realitas ja auch entspricht). Dinge sind eben dem naiven Bewußtsein die nächstliegenden Repräsentanten des Realen. Sie scheinen durch ihre Substantialität den Seinsvorzug vor allem zu haben, was sonst in der Welt ist. Es zeigte sich nun bereits früher, daß ein solcher Seinsvorzug des Substantiellen sich keineswegs rechtfertigt. Es läßt sich ferner zeigen, daß auch der Substanzcharakter selbst etwas durchaus Fragwürdiges an den Dingen ist (was nachzuweisen Sache einer viel spezielleren Kategorialanalyse ist). Dazu aber kommt noch eine dritte Überlegung, die durch die obigen Aktphänomene an dieser Stelle nahegelegt ist. Dinge sind nicht allein Gegenstände der Wahrnehmung, sie sind auch Gegenstände des Begehrens, des Erringens, des Tauschens, Kaufens, Handelns, der Bearbeitung, der Benutzung, des Streites und Haders. Sie stehen also mitten inne in der Sphäre, in der das Menschenleben sich abspielt, in der Sphäre des Wirkens und Strebens, des Leidens und Ringens, der menschlichen Verhältnisse und Situationen, sowie des geschichtlichen Geschehens. Wo immer in der Welt es um Realität der Dinge geht, da geht es ebendamit auch um Realität der menschlichen Verhältnisse, Situationen, Konflikte, Schicksale, ja um Realität des Geschichtslaufes. Darauf beruht das Gewicht des Realitätsproblems: es betrifft stets zugleich und in gleicher Unmittelbarkeit das dingliche und das menschliche Sein, das Sein der materiellen und das der geistigen Welt; und zwar mit Einschluß alles dessen, was der Stufenordnung nach zwischen dieser und jener liegt. *) Wobei er älteren Gedanken von F. Bouterwek und Maine de Biran folgte.

28. Kap. Abstufungen des Erfahrene und Einheit der Realität

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Der Realitätsbegriff also, der hier zugrundegelegt wird, ist von vornherein ein erweiterter, im Gegensatz zu allen bloß dinglich orientierten Fassungen stehender. Aber gerade dadurch ist er der natürliche Realitätsbegriff: er allein begreift die „reale Welt", in der wir leben, als eine einheitliche, d. h. als eine Welt, die das Heterogene verbunden und mannigfaltig ineinander verstrickt in sich enthält: lebendige und leblose Gebilde, dingliche und geistige Vorgänge. Es ist dieselbe Seinsweise, die Materie und Geist umspannt; wie denn Materie und Geist dieselben Grundmomente der Individualität und Zeitlichkeit zeigen. Auch das geistige Sein entsteht und vergeht in der Zeit, ist in aller Besonderung einmalig und unwiederbringlich, wenn es einmal vergangen ist. Nur die Räumlichkeit scheidet das Dingliche von ihm. Es ist der Grundirrtum materialistischer Denkweise, das Ausgedehnte allein für real zu halten. Die Materie eben ist ausgedehnt. Real aber ist nicht die Materie allein. Nicht die Räumlichkeit ist das unterscheidende (spezifische) Merkmal des Realen, sondern die Zeit. Nicht Größe, Meßbarkeit, Sichtbarkeit zeichnen das Reale aus, sondern Werden, Prozeß, Einmaligkeit, Dauer, Nacheinander, Zugleichsein. c) Realität und Zeitlichkeit Dieser ontologische Realitätsbegriff hängt ganz und gar an der Einheit und Einzigkeit der Realzeit. Das Bestehen einer solchen ist heute vielfach bestritten worden; man hat die Einheit der Zeit in eine Pluralität der Zeiten aufgelöst. Man geht dabei vom Unterschied des Geschehens in der Zeit aus — des geschichtlichen etwa und des Naturgeschehens — und schreibt diesen Unterschied der Zeit selbst zu. Oder man deutet gar den Zeitstrom selbst als ein Hervorbringen der Ereignisse (ein „Zeitigen"); und da dieses ein sehr verschiedenes in Natur und Geschichte ist, so glaubt man, auch die Zeit selbst müsse verschieden sein. Damit aber hebt man nicht nur die Einheit der Welt auf, die doch nun einmal eine zugleich natürliche und geschichtliche ist, sondern auch den Sinn der durchgehenden Gleichzeitigkeit und des durchgehenden Nacheinander selbst, das alles Geschehen umfaßt und verbindet. Das gerade ist das Wesentliche an der Realzeit, daß sie alles Reale ohne Unterschied und Art und Stufe umspannt, daß sie natürliches und geschichtliches, seelisches und dingliches Geschehen vereinigt. Von der Geschichtswissenschaft aus sieht man das am deutlichsten, sie macht den ausgiebigsten Gebrauch von der durchgehenden Gleichzeitigkeit: ihre Zeitrechnung ist vom Naturgeschehen hergenommen; denn sie rechnet nach Tagen, Jahren, Jahrhunderten. Sie setzt also in aller Ausdrücklichkeit die durchgehende Parallelität alles Geschehens, des physischen wie des menschlich-geschichtlichen, in einer Zeit voraus. Eine Zeitanalyse, die dieses Einheitsphänomen ignoriert, ist eine falsche Analyse. Und eine Realontologie, die auf solcher Ignorierung be-

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Dritter Teü. 2. Abschnitt

ruhte, wäre eine falsche Realontologie. Sie würde nur einen Bruchteil des Realen umfassen, nur die niederen Schichten. Die Seinsweise der höheren bliebe unverstanden. Das ist es, was in der Analyse der emotional-transzendenten Akte zur Klarheit kommt, und in deren erster Gruppe, den rezeptiven, bereits sich aufgedrängt hat. Die charakteristische Härte des Realen ist in allem unmittelbar gegeben, was im Erfahren, Erleben und Erleiden sich aufdrängt. Gerade bei den Dingen ist das Betroffensein des Erlebenden ein relativ schwaches oder doch oberflächliches. Erst bei Widerfahrnissen, Situationen, Schicksalen der menschlichen Sphäre erreicht es sein volles Gewicht. Ein Beweis, daß bei diesen, und nicht bei den Dingen, das eigentliche Kernstück der Realitätsgegebenheit liegt. d) Erkenntnis und emotionales Realitätsbewußtsein Das Erkenntnisphänomen kann, so zeigte sich, schon für den Realitätsanspruch, den es selbst erhebt, nicht voll aufkommen; noch weniger also für die volle Realitätsgewißheit, in der wir leben. Die traditionell gewordene Isolierung des Erkenntnisproblems schneidet es von seiner natürlichen Basis ab. Diese liegt im Zusammenhang der Lebensphänomene. Jene Isolierung ist eine Folge der hochgespannten Erwartungen, die man seit Kant mit der Aufgabe der „Kritik" verbunden hat. Sie ging bereits von dem Vorurteil aus, daß alle primäre Gegebenheit im Felde der Erkenntnis liege. Das wahre Verhältnis ist das umgekehrte. Ein isoliertes Erkenntnisverhältnis gibt es im Leben nicht und in der Wissenschaft nur näherungsweise. Auch in der Näherung aber ist schon nachträglich von allen primären Formen der Gegebenheit abgesehen. Das reine „Subjekt-Objekt"-Verhältnis ist ontisch sekundär. Es ist schon eingefügt in eine Fülle primärer Verhältnisse zu denselben Gegenständen — Dingen, Personen, Lebenslagen, Geschehnissen. Die „Gegenstände" sind in erster Linie nicht etwas, was wir erkennen, sondern etwas, was uns praktisch „angeht", mit dem wir uns im Leben „stellen" und „auseinandersetzen" müssen; etwas, womit wir „fertig werden" müssen, was wir ausnutzen, überwinden oder ertragen müssen. Das Erkennen pflegt erst nachzuhinken. So können z. B. Personen freilich auch Erkenntnisgegenstände werden. Nur kommt es im Leben meist nicht dazu; die Distanz, das unbeteiligte Gegenüberstehen und Eindringen ist so leicht nicht aufzubringen, muß der Aktualität erst abgerungen werden. Denn zunächst treten Personen uns als Mächte gegenüber, mit denen wir rechnen, paktieren, auskommen oder kämpfen müssen; oder als Faktoren der Lebenslagen, in die wir geraten und in denen wir uns durchfinden müssen. Und wenn man sie trotzdem Gegenstände nennen will, so sind sie jedenfalls zunächst Gegenstände der Stellungnahme, des Liebens und Hassens usw., nicht solche des Erkennens.

29. Kap. Die emotional-prospektiven Akt«

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Und wie mit den Personen, so ist es mit allem, was der Sphäre des Menschenlebens angehört. Überall zeigt sich der Primat des Erfahrene und Erlebens vor dem Erkennen. Das emotionale Realitätsbewußtsein ist das zugrundeliegende. Einbezogen in den Lebenszusammenhang setzt die Erkenntnis ein. Und auch wo sie ihn nachträglich abstreift und hinter sich läßt, bleibt sie doch mit ihrer einen Seite dauernd an ihn rückgebunden. Diese Seite ist die ursprüngliche Gegebenheit des realen Daseins der Welt, die wir erkennen. Denn es ist dieselbe Welt, in der wir leben. 29. Kapitel. Die emotional-prospektiven Akte

a) Das Leben im Vorgriff und das Vorbetroffensein Der Strom des Geschehens, in dem wir stehen, berührt uns nicht mit dem allein, was zur Stunde gegenwärtig ist. Wir leben dem Kommenden entgegen, können es in gewissen Grenzen kommen sehen. Der Mensch steht nicht ohne „Vorsehung" im Leben. Und wie begrenzt diese auch sein mag, sie stellt ihn mit seinem Weltbewußtsein doch auf eine verbreiterte Basis. Denn eben dieses, daß er das Kommende kommen sieht, gibt ihm auch die Macht, sich darauf einzurichten, die vorgreifende Empfangsstellung, die aktiv sich anpassende Bereitschaft. Das Kommensehen ist so wenig wie das Gegenwartsbewußtsein ein rein erkennendes. Gerade die Erkenntnis des Kommenden ist beschränkter als die emotionale Antizipation. Unabhängig vom eigentlichen Erkennen leben wir dauernd in dem Bewußtsein, daß der Strom des Geschehens unaufhaltsam auf uns „zukommt" und daß dieses „Zukünftige" unaufhaltsam in die Gegenwart einrückt, also auch daß es uns im Maße seines Eindickens treffen muß. Des Kommenden sind wir auch als des Unerkannten gewiß. Darum rechnen wir mit ihm als dem Unberechenbaren, Unvermuteten, Überraschenden. Und diese Rechnung ist es, die immer stimmt. Denn es ist immer neues Geschehen im Anzüge. Den emotional-rezipierenden Akten treten so die emotional-antizipierenden (prospektiven) an die Seite. Sie sind nicht weniger transzendent als jene. Das Rechnen mit dem Kommenden als einem Unaufhaltsamen hat von vornherein einen sehr bestimmten Gewißheitscharakter an sich, sehr verschieden von dem des Gegenwartsbewußtseins, und doch echte Realitätsgewißheit. Nur ist es eine Gewißheit, die der Gegebenheit des bestimmten Realen vorausgeht. Die Akte dieser Art — ihre Grundtypen sind das Erwarten, das Vorgefühl, die Bereitschaft, das Gefaßtsein ·— greifen dem Erleben und Erfahren vor. Oder richtiger vielleicht, sie bestehen selbst in der Vorwegnahme des Erlebens und Erfahrens, und nicht weniger des Erleidens, ja selbst des Ertragene. Damit aber sind sie zugleich die Vorwegnahme des Betroffenseins. Das Betroffensein selbst ist in ihnen ein vorempfundenes. Es wandelt sich ab zum „Vorbetroffensein". 13 H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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Dritter Teü. 2. Abschnitt

Die allgemeine ontologische Grundsituation des Menschen ist hierbei sein In-der-Zeit-Stehen. Dieses ist kein Stillstand, es ist das Mitgehen mit dem Zeitstrom, in dem der Gegenwartspunkt sich ständig verschiebt, also mit dem Strome mitwandert. Das Bewußtsein ist mit seiner jeweiligen Realität an diese wandernde Gegenwart gebunden; es kann aus ihr nicht heraus, sein Dasein ist, wie das alles Realen, ein jeweilig gegenwärtiges. Es macht den ontischen Gleichschritt der Zeit mit. Aber mit seinem Inhalt ist es nicht an Gegenwärtiges gebunden, Erfassen und Erfaßtsein gibt es auch von Vergangenem und Zukünftigem, wiewohl beides nicht unbegrenzt. Das eben ist die Eigenart der transzendenten Akte, daß sie auch die Gegenwartsgebundenheit des Bewußtseins transzendieren, dessen gegenwärtige Akte sie sind. In ihnen geschieht das Vorgreifen in das Zukünftige. Es besteht nicht darin, daß der Mensch realiter zum voraus im noch nicht Gegenwärtiggewordenen leben — etwa sich selbst vorweg sein — könnte; das kann er keineswegs. Es besteht vielmehr allein darin, daß er mit dem Bewußtsein dem Gegenwärtigen vorgreift, an das er dem realen Dasein nach gebunden bleibt. Er kann nicht erfahren oder erleben, was noch nicht eingetreten ist, aber er kann es vorsehen, vorfühlen, erwarten, darauf gefaßt sein. Das ist nicht wenig. Und es ist tief charakteristisch, daß er nicht nur des Vorgriffs in diesem Sinne fähig ist, sondern auch mit dem, was ihn jeweilig beschäftigt und aktuell angeht, wesentlich im Vorgriff lebt. Dadurch lebt er im Vorbetroffensein. Es kommt unablässig neues Geschehen auf uns zu, das wir erfahren werden und das uns betreffen wird. Dieses Zukommende ist das Zukünftige, und zwar gerade sofern es noch das Anrückende ist. Aber eben insofern ist es auch schon das uns Betreffende. Die prospektiv-transzendenten Akte sind nichts anderes als die besonderen Formen des allgemeinen, habituellen Eingestelltseins auf das Anrückende als solches. Die Unmöglichkeit des Entrinnens, des Ausweichens, des Heraustretens aus dem Strom der Geschehnisse, verbunden mit der engen Begrenztheit alles Abwehrens und Beeinflussens, alles inhaltlichen Umlenkens, gibt dem Anrückenden als solchem sein ungeheures Realitätsgewicht, noch ehe es wirklich geworden ist. Und zugleich gibt es den antizipierenden Akten das Gewicht des Realitätszeugnisses. Damit wiederum hängt es zusammen, daß auch die antizipierende Art der Realitätsgegebenheit eine so eigenartig unaufhebbare ist, während das Wissen um die besondere Beschaffenheit des anrückenden Realen ein höchst lückenhaftes ist. Handelte es sich um Erkenntnis, so wäre das nahezu ein Widerspruch — denn alles Dasein ist auch Sosein von etwas —, aber Erwartung, Vorgefühl, Bereitschaft sind nicht Erkenntnis. b) Reelle Antizipation. Erwartung und Bereitschaft Das ist am einfachsten am Akt der Erwartung zu sehen. Auch die Bereitschaft und das Sich-gefaßt-Machen gehören aufs engste zu ihr. Das

29. Kap. Die emotional-prospektiven Akte

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Anrückende hat in jeweiliger Gegenwart bereits ein bedeutendes Übergewicht über das Gegenwärtige; dieses ist ja immer schon halb abgetan. Der dunkle Schoß der Zukunft hält den Blick gebannt. Gerade er erscheint als unerschöpfliche Quelle von Geschick und Mißgeschick. Und immer ist, was aus ihm hervorbricht, das uns Zustoßende, Überfallende, Überkommende. Dem entspricht das Leben in ständiger Erwartung des Kommenden. In diesem generellen Sinne ist die Erwartung keineswegs illusionär, wie sehr immer sie inhaltlich fehlgreifen mag. Sie bekommt im Strom der Ereignisse dauernd Recht — wenigstens grundsätzlich; denn Ereignisse sind immer im Anrücken. Das Vorbetroifensein ist ebenso wirkliches Betroffensein vom Anrückenden wie das Erleben und Erleiden vom Gegenwärtigen. Die Erwartung rechnet mit dem Eintreten von etwas Bestimmtem. In der Bestimmtheit aber ist sie täuschbar. Diese Täuschbarkeit wiederum hebt den vollen Sinn des Vorbetroffenseins in ihr nicht auf. Denn sie „kann" nicht nur wissen um ihre Täuschbarkeit, sondern sie weiß tatsächlich um sie, und dieses Wissen ist ihr wesentlich. Sie rechnet mit dem Bestimmten auch keineswegs als mit einem ihr Gewissen; selbst im Gefaßtsein auf das bestimmte Anrückende ist noch deutlich ein Bewußtsein dessen, daß es „eventuell" auch anders ausfallen kann. Das besagt, sie rechnet in Wirklichkeit überhaupt nur mit der Eventualität; rechnet also auch stets mit der Möglichkeit anderweitigen Ausfalls. Gerade dadurch aber ist sie durchaus reell eingestellt. Sie kann es selbst bei minimaler Voraussicht sein — z. B. auf Grund äußerlicher Analogie, die ihrerseits nicht einmal bewußt zu sein braucht. Denn es handelt sich ja nicht um Erkenntnis des Anrückenden. Im Verhalten, nicht im Wissen, ist man durch die Erwartung bestimmt. Nicht erst der Ausfall unterscheidet zwischen dem erwarteten und dem wirklich eintretenden Ereignis — man kann sagen zwischen dem intentionalen und dem realen Gegenstande der Erwartung —, auch nicht die vielleicht begleitende Erkenntnis erst tut es, sondern schon die Erwartung selbst und als solche. Sie hat das Bewußtsein der Unbestimmtheit an sich, und sie rechnet mit dieser ihrer eigenen Unbestimmtheit. Das kann selbst in der Bereitschaft und im Gefaßtsein sehr wesentlich mitspielen; man kann sehr wohl auf etwas gefaßt sein, was man nicht einmal für sehr wahrscheinlich erachtet. Gerade in der Unbestimmtheit der Erwartung tritt also deutlich das Bewußtsein der Realität zutage. Denn diese Unbestimmtheit ist nur inhaltliche Ungewißheit. Und sie ist jederzeit begleitet von der um so stärkeren Gewißheit, daß der Lauf der Ereignisse die volle, unwiderrufliche Bestimmtheit bringen wird. Andererseits zeigt die enge Verbundenheit von Erwartung und Bereitschaft· noch eine andere Seite im Verhältnis zum Anrückenden. Bereitschaft, und vollends das Gefaßtsein auf das Kommende, sind schon selbst ein inneres, reales Sicheinrichten; also nicht nur ein Rechnen mit 13*

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Dritter Teil. 2. Abschnitt

dem Kommenden, sondern auch schon die einsetzende Aufnahmestellung für sein Eintreten — gleichsam das Deckung-Suchen gegen seine Wucht oder auch der beginnende und sich selbst vorwegnehmende Widerstand. Hier wird die Realität des Vorbetroffenseins eine ganz greifbare. Das Menschenwesen hat darin eine Art Schutzinstanz; sein Ausgeliefertsein an den Strom des Geschehens findet hier eine Grenze. Es ist durch das Vorbetroffensein und die Macht der Bereitschaft dem Ansturm des Anrückenden weit besser angepaßt als durch starres Widerstehen. Es ist der biegsamen Einpassung in die immer neuen Realverhältnisse fähig. Aber nur dadurch, daß es im Vorbetroffensein das wirkliche Betroffenwerden vorwegnehmen und ihm vermöge der Bereitschaft die Spitze abbrechen kann. Im prospektiven Akt der Erwartung liegt somit — was man ihm auf den ersten Blick nicht ansehen konnte — ein Realitätszeugnis von ganz eigenartiger Gewichtigkeit. Dieser Akt erweist sich als ein selbst höchst realer Modus des aktuellen Zurechtkommens im Leben, des Fertigwerdens mit eben denselben anrückenden Realverhältnissen, welche die Erwartung dem Bewußtsein anzeigt. Im Fertigwerden-Müssen aber liegt die ganze Härte des Realen. c) Sekundäre Formen der Vorfühlung Ganz ausschalten lassen sich in diesem Zusammenhang auch solche Aktformen wie Vorgefühl und Ahnung nicht. Sie unterscheiden sich von Erwartung und Bereitschaft durch ihre Unbestimmtheit, Verschwommenheit, ihr schwankendes Vorspiegeln, ihre hochgradige Täuschbarkeit, den Einschlag des Phantasiespieles und der Subjektivität, kurz durch ihre Unreelh'tät. Die inhaltliche Fühlung mit dem Realen geht hier leicht verloren, sie weicht der Illusion. Ontologisch aber wird man diesen Akten so nicht gerecht. In einem Punkte sind und bleiben sie reell: darin nämlich, daß sie Fühlung mit dem unaufhaltsam Anrückenden überhaupt sind. In diesem Punkte täuschen sie nicht, beruhen vielmehr auf Gewißheit. Ja, sie sind das am weitesten vortastende Gefühlszeugnis dieser Gewißheit, ein Realitätszeugnis des Anrückenden im Bewußtsem noch vor der bestimmten Erwartung. In ihnen steckt die dunkle Ankündigung der Ereignisse vor ihrem Greifbarwerden, gleichsam ihr vorausgeworfener Schatten im Bewußtsein; das Anrückende bleibt zwar unkenntlich an seinem Schatten, aber daß es anrückt, ist doch gewiß. Im Vorgefühl ist das Realitätszeugnis so angelegt, daß es treffsicher nur dem „Dasein" des Kommenden gilt, seinem Sosein aber nur verschwommen und unsicher. Wobei die oben entwickelte Relativität von Dasein und Sosein gerade in der Verschwommenheit mit zum Ausdruck kommt. Denn das Bewußtsein trennt, was ontisch untrennbar ist.

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Aus dem gleichen Grunde kann man auch der Neugier, soweit sie dem Zukünftigen gilt, die Beachtung nicht versagen. Denn auch sie ist eine Form des Hinlebens auf das Anrückende, wennschon der Unernst ihrer Einstellung sie himmelweit von denjenigen Akten scheidet, die es im Vorblick mit dem Schicksalhaften des Geschehens aufnehmen. Die Grundlage der Neugier ist dieselbe antizipierende Haltung — wennschon aus der Unerfülltheit im Gegenwärtigen und aus der Leere der Langeweile heraus —, dieselbe nach vorwärts gerichtete Empfangsstellung des Bewußtseins wie in der Erwartung und Ahnung, nur eben mit dem leichtfertigen Gefühlston der Sensationslüsternheit, gleichsam das habituelle Schnüffeln in der Zuku'nft. Sie steht darin, so paradox es klingen mag, reeller da als die anderen prospektiven Akte: die Unbestimmtheit des Inhalts ist in ihr nicht nur absolut geworden, sondern geradezu das Wesentliche. Sie erwartet nicht nur nicht das Bestimmte, ahnt es auch nicht, sondern will es auch nicht ahnen. Sie fühlt überhaupt nicht inhaltlich vor. Was sonst wohl ungewollt geschieht, und zu Enttäuschungen führt, das Überraschtwerden, darauf gerade legt sie es an: sie will sich überraschen lassen. Sie will das unvermittelte Betroffenwerden aus heiterem Himmel; und sie kann es wollen, weil sie mit dem Ernst des Betroffenseins nicht rechnet. Und das Eigentümliche ist, daß sie darin ihrer Sache vollkommen gewiß ist. Sie spielt ein sicheres Spiel. Denn eben neues Geschehen ist immer im Anzüge. Alle Ungewißheit im Vorblick betrifft das Sosein des Anrückenden; hier aber ist nicht das Sosein, sondern nur das Anrücken selbst vorweggenommen. Im Warten auf das Unerwartete als solches erreicht das Vorbetroffensein gerade die der menschlichen Vorsehung adäquateste Form.

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a) Die Akttranszendenz im emotional-selektiven Vorgreifen Die Erwartung und ihre Abarten, hinab bis zur Neugier, sind im Gefühlston neutral. Anders ist es mit Hoffnung und Furcht sowie deren Besonderungen. Zur Aktgruppe der Hoffnung zählt etwa das Hinleben auf Ersehntes, das Aussichthaben auf etwas, das Sich-Freuen auf etwas, bis herab zur Vorfreude, die sich schon in der Gegenwart erschöpft; zur Aktgruppe der Furcht gehören die vielerlei Abschattungen der Befürchtung und Besorgnis, der Ängstlichkeit, sowie die eigentliche Angst. In diesen beiden Aktgruppen ist das Grundmoment der Erwartung das Gemeinsame. Neu aber ist die selektive Wertbetontheit. Akte dieser Art sind des Anrückenden als solchen immer gewiß, und darin liegt auch bei ihnen die Realitätsgegebenheit und die Echtheit ihrer Akttranszendenz. Der Wertakzent dagegen ist in ihnen nicht nur ein Gefühlston des Vorbetroffenseins, sondern auch ein Prinzip der subjektiven Auswahl.

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Die hoffenden Akte rücken im Vorgreifen das Erwünschte ins Blickfeld, sie seligieren das Anrückende zum voraus auf das Wertvolle hin und halten sich einseitig an dieses. Die fürchtenden Akte haben die Tendenz, im Vorgreifen das Unerwünschte und Widrige, ja das Bedrohliche ins Blickfeld zu rücken; sie seligieren zum voraus das Anrückende auf das Wertwidrige hin — gleichsam fasziniert von seinem unaufhaltsamen Näherkommen — und halten sich ebenso einseitig an dieses. Dem entspricht der Gefühlston des Gehobenseins bei den ersteren, der des Bedrücktseins bei den letzteren. Und je nach dem Dominieren der einen oder der anderen wird die gesamte Lebenshaltung des Menschen eine optimistische oder pessimistische. Es ist klar, daß dieses selektive Gefühlsmoment etwas sehr Subjektives, Unreelles, ja direkt Illusorisches in beide Aktgruppen hineinträgt. Nicht zu vergessen aber ist darüber das Reelle: das Rechnen mit dem Anrükkenden als einem eminent Realen, einerlei ob es nun das Ersehnte oder das Gefürchtete und Bedrohliche ist; es ist eben doch das Rechnen mit ihm als einem von uns Unabhängigen und ein Wissen um diese Unabhängigkeit. Der Furcht wie der Hoffnung erscheint das Anrückende unbeirrbar als ein solches, das nur seiner eigenen, an sich bestehenden Gesetzlichkeit, Folgerichtigkeit oder Notwendigkeit gehorcht ·— sei es nun, daß das Erwartete (Gefürchtete, Ersehnte) eintritt oder nicht —, keineswegs aber durch unser Hoffen, Sehnen, Fürchten herbeigesehnt oder abgewandt werden kann. Das Wissen um diese Unabhängigkeit ist dasselbe wie im erkennenden Verhältnis zum Zukünftigen. Es ist nur in diesen Akten ein ganz anders gewichtiges und im Gefühlston selbst uns bestimmendes. Denn angesichts des Ersehnten oder Gefürchteten spürt der Mensch sehr beengend die Grenzen seiner Macht; er „erfährt" sie als die Ohnmacht, dem Glück nachzuhelfen, dem Unheil zu wehren. Und im Hinblick auf das Bedrohliche kann dieses Ohnmachtsgefühl sich zum Erdrückenden steigern. Im Gefühlston der Ohnmacht liegt, unbeschadet seiner Subjektivität, gerade das „Reelle" dieser Akte, das ihnen eigentümliche und unaufhebbare Realitätszeugnis. Aber es zeugt nicht vom Ansichsein des bestimmten Befürchteten oder Erhofften, sondern nur vom Ansichsein des ganzen Stromes der Ereignisse, sofern wir selbst in ihm stehen und ihm ausgeliefert sind. Am mächtigsten ist dieser Gefühlston in der Furcht; in ihr wird die Gleichgültigkeit des Anrückenden gegen unser Betroffensein von ihm am meisten schicksalhaft empfunden, und dieses Empfinden ist, ,reell·'. In den Akten des Fürchtens eben hat der Mensch die größte Empfindlichkeit für das Realitätsgewicht dessen, was im Anzüge ist. Das wird womöglich noch deutlicher in der Haltung des Gefaßtseins, die er dem Gefürchteten entgegensetzt. Mit dieser Haltung vollzieht er bereits im Vorbetroffensein die innere reale Umstellung und gibt sich Selbst durch die Art der Bereitschaft das Gegengewicht gegen die Schwere des an sich unaufhaltsam Heranrückenden.

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b) Das Rechnen mit der Glückschance Aber auch in der optimistischen Einstellung fehlt es nicht am Bewußtsein der ontischen Gleichgültigkeit des Anrückenden. Alles reine Hoffen weiß sehr wohl darum, daß es sich im Erhofften nur um eine „Chance" handelt, und daß die Entscheidung über sie nicht bei uns steht. Der Optimismus des Hoffens und sein positiver Lebenswert liegt nicht in einer subjektiven Steigerung der Chance — etwa zum festen Glauben an ihr Eintreten —, wird also auch vom „Trug der Hoffnung" nicht vernichtet; denn dieser trifft nur die Blindheit des Verblendeten. Das Positive der Hoffnung liegt lediglich im Rechnen mit der glückhaften Chance als einer solchen, gleichsam im Überstrahltsein des dunklen Gegenwärtigen von ihr. Darin ist auch die Vorfreude reell und keineswegs illusorisch. Denn sie ist selbst schon echte Freude und Erfüllung. Hierin allein, und nicht in einer Superstitiösen Gewähr der Verwirklichung, besteht der reelle Sinn jenes hohen Pathos, das man gern mit der Hoffnung als einer moralischen Kraft verbindet. Die populäre Vorstellung, als wäre das Ausharren in der Hoffnung ein Verdienst, welches die Erfüllung als eine Art Belohnung sich erringen könnte, entkleidet die Hoffnung ihres echten Transzendenzcharakters. Denn sie nimmt ihr das Bewußtsein, daß die Entscheidung über Erfüllung und Nichterfüllung unabhängig von ihr fällt; sie spiegelt ihr einen Einfluß auf den Gang der Ereignisse vor, steigert ihr Wesen dünkelhaft zu eingebildeter Aktivität, zu einer Art metaphysischen Handelns. Sie läßt so die Hoffnung sich selbst verkennen und gibt sie damit erst der großen Lebensenttäuschung preis, der zu spät kommenden Einsicht, daß sie sich selbst zum Narren gehalten hat. Daß hiermit auch der sittliche Charakter der Hoffnung als einer Kraft im Leben verkannt wird, beruht auf derselben Verkehrung ihres Wesens, gehört aber nicht mehr hierher. Der Mensch wird durch die Vernichtung der Transzendenz des Aktes um die Macht der Lebensbejahung im Mißgeschick gebracht. Denn das Fehlschlagen der Aussicht, die sich starr an eine bestimmte Chance klammert und sie damit zu zwingen meint, muß ihn erdrücken. Verkleinert und gleichsam ins Banale gezogen findet sich dasselbe Verhältnis in allem Spekulieren auf die Glückschance, z. B. in den Hazardspielen, im Lotterieprinzip, ja in mancher Art von Börsenspekulation. Was der nüchterne Spieler klar im Gefühlsunterton hat, ist das Bewußtsein der Gleichgültigkeit des über ihn entscheidenden „Zufalls" gegen sein Wünschen und Hoffen. In diesem Punkt ist auch er durchaus reell eingestellt. Erst wenn ihn die Leidenschaft des Glücksspieles hinreißt, verliert er dieses Bewußtsein und verfällt der Selbsttäuschung, als könnte er den „Zufall" zwingen. Aber dann eben ist sein Verhalten nicht mehr reine Spekulation. Subjektiv angesehen, kommt das, was er sich vortäuscht, geradezu dem Falschspielen gleich. Wie denn psychologisch von

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dieser Selbsttäuschung bis zur Täuschung der Spielpartner — d. h. zum wirklichen Falschspiel — nur ein geringer Schritt ist. c) Das Illusorische im Vorbetroffensein und die Grenze der Akttranszendenz Was der Realitätsgegebenheit in den prospektiven Akten entgegensteht, ist der Einschlag des Illusorischen. Hoffnung und Vorfreude neigen zum rosigen Ausmalen, Befürchtung und Angst zum Schwarzsehen; auch das neutrale Vorgefühl und die Ahnung neigen zur Ausschweifung. Von der einfachen Erwartung und Bereitschaft, von allem schlichten Rechnen mit dem Kommenden als einem Unbekannten unterscheiden sich diese Akte durch innere Labilität und „Unreellität". Im Hoffen wie im Befürchten ist stets ein Haschen nach Ahnungen, zugleich aber auch die Tendenz zur Veikennung dessen, was das „Reelle" in der Ahnung ist — daß sie nämlich berechtigt nur damit rechnet, daß überhaupt Anrückendes unterwegs ist. Die Hoffnung nimmt das Ahnen für eine Art Gewähr des Erträumten; sie verfällt damit dem Trug der Träume. Die Angst vollends ist fasziniert von der selbsterzeugten bösen Ahnung. Auch sie verfällt dem Vorgespiegelten, nur mit verhängnisvoll umgekehrten Vorzeichen ; ihr Tragen und Sichverzehren am Irrealen, das nie wirklich wird, kann ein sehr reales Tragen sein. Hier ist die Grenze der Akttranszendenz deutlich zu greifen. Mit dem Illusorischen werden diese Akte — soweit eben sie ihm unterliegen — auf ihre „unreelle" Seite zurückgeworfen und verlieren den Wert der Realitätsbezogenheit. Die Illusion bedeutet überhaupt dieses, daß die Fühlung mit dem Ansichseienden verloren geht. Sie ist im Gebiet der emotionalen Akte dasselbe, was die Phantasie im Gebiet der vorstellenden ist. Die Phantasie schweift frei, ohne Realobjekt; dasselbe tut die Illusion, auch sie hat nur noch selbstgeschaffene, intentionale Objekte. Wie das Phantasierte im Vorstellungsbereich keinen Erkenntniswert hat, so das Illusorische keinen Seinswert. Das ist etwas ganz anderes als das bloße Auseinanderklaffen von intentionalem und realem Objekt. Ein solches gibt es im Irrtum, in der Täuschung, in der Inadäquatheit, in der Divergenz von Erwartetem und Eintreffendem ; das hebt die Akttranszendenz noch nicht auf, löst die Realitätsbezogenheit als solche nicht, es begrenzt sie nur inhaltlich. In der freien Phantasie dagegen und in der Illusion ist die ganze Beziehung gelöst. Sie treffen mit ihrer Intention überhaupt nicht mehr in den Strom des Realgeschehens hinein, sie haben sich von ihm emanzipiert. Sie sind mit ihrer Objektseite an nichts gebunden, erfahren also auch von ihr her keine Berichtigung. Sie rechnen auch nicht mehr mit dem Realen und seiner Gewichtigkeit, Selbständigkeit, Gleichgültigkeit gegen das Tun der Akte. Sie spielen vielmehr ihrerseits dieselbe Gleichgültigkeit gegen das Ansichseiende aus — als wäre dieses, sowie das Betroffenwerden von ihm,

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damit auch ausgeschaltet. Die Phantasie freilich kommt dabei zu ihrem Recht, sie kann sich die ausgespielte Gleichgültigkeit wohl geben, wo sie das Spiel um seiner Selbst willen treibt und es nicht für Erkenntnis ausgibt. Die Illusion kann es nicht. Es fehlt ihr die Unschuld des Spielens und das Wissen um seine Unverbindlichkeit. Mit ihrem Ausspielen der Gleichgültigkeit gegen das Reale verspielt sie notwendig im Leben. Die Gleichgültigkeit ist Selbsttäuschung. Sie kann sie sich nicht wirklich geben. Der Strom des Realgeschehens geht über das Vorgespiegelte ebenso gleichgültig hinweg wie über ihr Erträumen und Befürchten und begräbt es in seiner eigenen Nichtigkeit. d) Metaphysische Vorspiegelung und Scheinargumentation Etwas besonderes ist es in diesem Zusammenhange noch mit der Angst. Sie ist in weit höherem Maße als Hoffnung, Vorfreude oder Befürchtung der Vorspiegelung ausgeliefert; sie ist unter den prospektiven Akten der am meisten illusorische und ontologisch zweideutige. Man ängstigt sich im Leben meist ohne Anlaß zu eigentlicher Befürchtung — etwa wenn eine erwartete Person ein wenig zulange ausbleibt —, man malt sich aus. was alles geschehen sein könnte, und suggeriert sich das Ausgemalte an; die unwahrscheinlichste Möglichkeit nimmt Gestalt an. Die Angst ist erfinderisch, ausschweifend und unbelehrbar in der Ausschweifung; so oft sie auch ihre eigene Nichtigkeit erfährt, sie bleibt doch im Selbstbetrüge stehen. Ihr Wesen ist nicht das Rechnen mit dem wirklich Anrückenden, und sei es auch ein bloß unbestimmtes, sondern die innere Gestörtheit des Gleichgewichts und der subjektive Zwang zu Selbstquälerei. Die Angst ist nicht etwa gegenstandslos. Denn sie ist eindeutig auf das Anrückende gerichtet; und die Unbestimmtheit, in der ihr das Anrückende erscheint, ist wohlbegründet. Die „Gegenstandslosigkeit", die man ihr nachsagt, ist etwas anderes: nämlich gerade das Abschweifen von der Fühlung mit dem wirklich Kommenden — wie etwa die nüchterne Erwartung ihrer fähig ist —, die Neigung zur Verfälschung des vorsehenden Blickes sowie zur rein subjektiven Erzeugung von Bildern und Vorstellungen, die hemmungslos dem wirklich Vorsehbaren (und vielleicht auch wirklich zu Befürchtenden) untergeschoben werden. Das also ist das Eigentümliche der Angst, daß die wirkliche Fühlung mit dem Anrückenden, deren der Mensch sehr wohl fähig ist, in ihr zerstört wird. Die Transzendenz des Aktes, die Realitätsbezogenheit, ist aufgehoben. Es ist wohlbekannt, daß der Trug und die Qual der Angst sich bis in die Unabsehbarkeit metaphysischer Perspektiven hinein breit macht. Hier wie im Leben zerstört sie das ruhige Rechnen mit dem Realen. Und das ist der Punkt, in dem auch die Ontologie sich der Verfälschung erwehren muß, die von selbstquälerischen Metaphysikern immer wieder in ihren Problembereich hineingetragen wird.

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Von alters her ist z. B. die Todesangst der Menschen von spekulativen Fanatikern gewissenlos ausgenutzt worden. Statt sie den Unwissenden auszureden, schürte und nährte man sie mit den gewagtesten Jenseitsvorstellungen. Und doch liegt es auf der Hand, daß hier jede reelle Fühlung mit dem Kommenden fehlt, jeder Anhalt, ob überhaupt der Tod irgendwie sonderlich wichtig für den Menschen ist. Als bloßes Aufhören — mehr wissen wir von ihm nicht — ist er es jedenfalls nicht. Erschreckend muß er natürlich für den sein, der das Leben ausschließlich aus dem Belange der eigenen Person heraus führt und die Welt als bloß die seinige versteht: die habituelle Verkehrtheit des Sich-selbst-Wichtignehmens rächt sich am Ich-Menschen. Relativ gleichgültig wird der Tod für den, der sich selbst in unverfälscht ontischer Einstellung als geringfügiges Individuum unter Individuen sieht, als Tropfen im Gesamtstrom des Weltgeschehens, des geschichtlichen wie des noch größeren kosmischen, und in Ehrfurcht vor dem Großen sich zu bescheiden weiß. Das ist die natürliche Haltung des Menschen in der noch ungebrochenen Lebensverwurzelung. Das Wichtigtun mit dem eigenen Dasein ist immer schon Entwurzelung, künstliche Steigerung des Selbst zum allein Existierenden, oder gar superstitiöse Einschüchterung des moralisch aus dem Gleis Geworfenen. Soweit sie nicht das vitale Widerstreben gegen die Auflösung ist, ist alle Todesangst ansuggerierte, selbstgemachte Pein. Das metaphysische Gaukelspiel der Angst, gesteigert durch die Unmoral zuchtloser Selbstquälerei, ist die unversiegbare Quelle endloser Irrung. Es berührt wunderlich, wenn man sieht, daß ernsthafte Denker in der Durchbildung philosophischer Theorien diesem Gaukelspiel verfallen und die Angst zum Ansatz der Selbstbesinnung auf das Echte und Eigentliche des Menschen machen1). Gerade die Angst ist der denkbar schlechteste Führer zum Echten und Eigentlichen. Gerade sie verfällt grundsätzlich jedem Truge — sei es der Tradition oder der selbstverschuldeten Vorspiegelung. Der Angsterfüllte ist von vornherein der zum nüchternen Blick ins Leben und in das Seiende, wie es ist, Unfähige. Er ist prädisponiert, auf jede Täuschung hereinzufallen, und zwar im Leben wie in der Theorie. Er ist auch philosophisch der in die Reflexion unrettbar Verstrickte, der sich den Rückweg zur intentio recta und zur Einstellung des ontologischen Denkens von Grund aus verbaut hat. 31. Kapitel. Emotional-spontane Akte

a) Die Aktivität und ihre Art von Akttranszendenz Der Mensch lebt nicht nur im Erwarten des Künftigen, Sei es nun im Gefaßtsein auf Gewichtiges oder im spielerischen Sensationsbedürfnis, x

) So Martin Heidegger in seiner bekannten Analyse der Angst; und zwar mit ausdrücklicher Bevorzugung der Todesangst. Er folgt darin dem unseligsten und raffiniertesten aller Selbstquäler, den die Geschichte kennt, Sören Kierkegaard.

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sei es im Fürchten oder im Hoffen. Er lebt auch im aktiven Vorgriff in die Zukunft. Sein Begehren, Wollen, Tun, Handeln, ja im Keime schon die innere Stellungnahme, die Gesinnung, ist ein Vorgreifen und Vorbestimmen. Das ist ein Wesensgesetz dieser Akte. Der Entscheidung und dem aktiven Zugriff des Menschen steht das, was schon ist, wie es ist, nicht mehr offen: also weder das Vergangene, das er erfahren hat, noch das eigentlich Gegenwärtige, das er zur Zeit erfährt. Beides hat seine vollständige Geformtheit schon an sich, und keine Macht der Welt vermag es zu ändern. Das einmal Geschehene und Gewordene kann der Mensch nicht mehr beeinflussen. Wohl aber in gewissen Grenzen das noch Ungewordene. Denn er selbst kann seine Entscheidung in die Kette der Bedingungen einreihen, die es im Anrücken formen. Seiner Initiative steht nur das Zukünftige offen. Das ist der Grund, warum alle aktiven (spontanen) Akte prospektiv gerichtet sind. Sie sind es nur in ganz anderer Weise die antizipierenden Akte; denn diese sind noch ganz rezeptiv, stehen im Zeichen des Vorbetroffenseins. Im Wollen und Handeln ist kein Vorbetroffensein, keine Hinnahme, kein passives Offenstehen. Sie sind vielmehr die Grenze des Ausgeliefertseins und der Schicksalhaftigkeit; sie sind Macht, die der Mensch von sich aus der eigenen Ohnmacht entgegensetzt. Sie sind recht eigentlich das Wunder des Menschenwesens: sie bewegen das Anrückende schon im Herankommen, gleichsam aus der Ferne; und in den Grenzen menschlicher Vorsehung und menschlicher Machtmittel meistern sie es. Dieses Verhältnis ist in der Tat ein höchst wunderbares. Was im Strom des Geschehens erfahrbar ist, das ist nicht mehr lenkbar; und was in ihm noch lenkbar ist — und gerade solange es lenkbar ist —, nicht erfahrbar. Das ist es, was das Bild vom Schleier besagt, mit dem uns die Zukunft verhangen ist. Wäre aber der Schleier ganz undurchdringlich, so wäre uns alles Leben im Vorgriff und damit alles Lenken und Handeln abgeschnitten; das Ausgeliefertsein an das Weltgeschehen wäre ein vollständiges. Der schmale Riß im Schleier, die eng begrenzte Vorsehung des Menschen — gepaart mit seiner Fähigkeit der Aktivität, d. h. der Realisation des Vorgesetzten —, enthebt ihn der Schicksalhaftigkeit. Man sieht, die emotional-spontanen Akte sind ebenso transzendent wie die erfahrenden und die erwartenden. Aber ihre Transzendenz ist von anderer Art. Sie besteht nicht in Gegebenheit des Realen, sondern in der Tendenz, es erst hervorzubringen; wie denn in ihnen nicht die handelnde Person als die betroffene dasteht, sondern umgekehrt etwas in ihrem Lebensumkreis von ihr betroffen wird. Handelte es sich in diesen Akten nur um den Zweck als einen im Bewußtsein gesetzten, so ließe sich freilich die Transzendenz der Akte bestreiten; aber es handelt sich vielmehr von vornherein um die Realisation des Zweckes. Wie denn das Wollen sich nur auf das Erreichbare richtet, auf das also, zu dem es die Mittel sieht, nicht aber auf das Erträumte, zu dem es die Macht nicht hat. Darin unterscheidet es sich vom machtlosen Wünschen und Sehnen. Es kann sich

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zwar täuschen in seinem Können; aber auch in der Täuschung noch rechnet es von Hause aus mit der realen Chance des Erreichens und bekundet dadurch eindeutig seine Transzendenz. Ersehnen läßt sich auch das Unmögliche. Es wollen aber, im Wissen um die Unmöglichkeit, wäre Wahnsinn. Nicht alles Wollen geht in Handlung über, wohl aber hat alles Wollen die Tendenz, in Handlung überzugehen. Die Tendenz ist ihm wesentlich, anders ist es gar nicht Wollen. Im Willen also ist die Realtranszendenz des Aktes immer schon vorvollzogen, sie wartet nicht erst auf die Realisation des Gewollten. Und dementsprechend ist die Realsphäre, in die es vorstößt, immer schon auf Mittel möglicher Realisation hin vorseligiert. Und je bestimmter und umsichtiger diese Selektion sich vollzieht, um so eindeutiger hebt die Transzendenz des teleologischen Aktes sich schon im Ansatz von der ohnmächtigen Immanenz des träumenden Wünschens ab. b) Unmittelbare Spontaneität und mittelbare Rezeptivität Die Transzendenz der aktiven Akte ist also noch schwerwiegender als die der rezeptiven. Sie ist unmittelbar greifbare Realtranszendenz, eine Kraft, zu lenken und zu wirken, die ihr Realitätsgewicht in der Welt als Eingriff in sie bekundet. Hierdurch reihen sich Wille und Handlung sowie alle ihnen verwandten Akte homogen in den Realzusammenhang der Geschehnisse ein und sind zugleich das Wissen um diese Einreihung. Auf dem Wissen liegt hierbei der Nachdruck. Denn die Einreihung geht nicht von ihnen allein aus. Alle Akte stehen eben im Grunde schon als solche im selben Realzusammenhang der Geschehnisse; wie denn stets in ihnen schon Reaktion auf Reales ist. Aber im Willens- und Handlungsakt tritt das Eingereihtsein für das Aktbewußtsein selbst greifbar in die Erscheinung. Das handelnde Subjekt kann sich nicht einbilden, daß es unbeteiligt dastände und keine Welt hätte, „auf" die es handelte. Das Handeln ist sein Beteiligtsein in ihr. Und dieses ist ein höchst aktuell bewußtes und das Bewußtsein mit Verantwortung belastendes. Es ist Schlechterdings unaufhebbar. Und da die reale Welt, auf welche Wille und Handlung sich bezogen sehen, dieselbe ist, auf die sich auch die rezeptiven Akte und das Erkennen bezogen finden, so ist das Ansichsein dieser einen, realen Welt durch die Realtranszendenz des Willensaktes noch einmal in neuartiger Gewichtigkeit zur Gegebenheit gebracht. Diese Gegebenheit haftet indessen keineswegs an der Aktivität allein und als solcher. Sie haftet noch weit mehr an der mittelbaren Rezeptivität, die alle spontanen Akte begleitet und von ihnen geradezu involviert wird. Alles Gegebensein hat eben die Form der Rezeptivität und — bei emotionalen Akten — des Betroffenseins. Es lassen sich denn auch in der Tat drei voneinander sehr verschiedene Momente der begleitenden Rezep-

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tivität an den spontanen Akten aufzeigen, in denen dem Wollenden und Handelnden Reales zur emotionalen Gegebenheit kommt. An erster Stelle steht hier jener Widerstand des Realen gegen die Aktivität, der — wie oben gezeigt wurde — eine Spezialform des Erfahrene ausmacht. Auf Grund der aufgewiesenen Realtranszendenz der spontanen Akte läßt sich dieses Phänomen jetzt tiefer ausschöpfen. Alles menschliche Tun stößt vor in einen Realzusammenhang, der seine feste Bestimmtheit schon hat. In ihm findet es seine Mittel, aber auch die Grenzen dessen, was ihm möglich ist. Realisieren läßt sich in ihm nur, wozu sich in ihm die Mittel darbieten. Nicht erst Gelingen und Mißlingen im Erfolg entscheiden über die Realisierbarkeit menschlicher Zwecke; in Wahrheit sind schon im Wollen selbst die Mittel einkalkuliert und ihnen entsprechend ··— in den Grenzen des Vorsehbaren — die Zwecke auf Erreichbarkeit hin vorseligiert. Wo das Realisieren eine lange Kette von Einzelaktionen umfaßt, da spielt es sich im ständigen Ringen mit der veränderlichen Chance ab. Es bewegt sich in immer neuem Ansetzen, Fortführen, Mißlingen, Zulernen, Versuchen und Wiederansetzen. Es ist ein Vorwärtskommen, in dem jeder Schritt dem Widerstande des Realen abgerungen werden muß. Was wir im Leben „Arbeit" nennen, ist wesentlich ein solches Abringen, einerlei von welcher Art die Arbeit sei. Nicht die Leistung allein macht Arbeit aus; es gehört ebensosehr der eigenartige Modus der Erfahrung zu ihr, der die Leistung erst ermöglicht. Der Mensch „erfährt" Stets erst in ihrem Verlaufe die Sache, an der er arbeitet. Die Sache aber erschließt sich ihm im Widerstande den sie leistet, — in ebendem also, wodurch sie sich ihm zu verschließen scheint. Am Widerstand der Sache bekommt er das Gewicht ihrer Bestimmtheit zu fühlen. Er ringt mit ihrer Eigengesetzlichkeit. Und indem er sie so erfährt, ringt er sie ihr ab und lernt sie beherrschen. Was so am Widerstand der Sache erfahren wird, ist nicht nur die Härte ihrer Realität, sondern auch die eigene Kraft des Menschen, ihrer Herr zu werden. Auch diese Kraft, wiewohl sie im Eindringen, Verstehen und Sichanpassen besteht, ist eine reale, und die Erfahrung, die der Mensch mit ihr macht, ist Realerfahrung. c) Das Rückbetroffensein der Person in der eigenen Handlung Die Aktivität im Wollen und Handeln ist nicht auf Sachen als Realobjekte beschränkt. Sie geht weiter auf Personen. Auch die Arbeit geschieht nicht um der Sachen willen; das Interesse der Personen steht in ihrem Hintergrunde. Das Handeln im engeren Sinne vollends ist stets ein solches an Personen und gegen sie. Das „zweite" und eigentliche Realobjekt der Handlung, des Wollens, ja schon der Gesinnung, ist die fremde Person. Sie ist die in diesen Akten unmittelbar betroffene.

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Darauf beruht das zweite Moment der Realitätsgegebenheit in den spontanen Akten. Zunächst freilich scheint es umgekehrt zu sein. Nicht der Handelnde ist der betroffene, sondern der Behandelte; der Handelnde kann, so scheint es, höchstens den Widerstand der fremden Person erfahren, ihre Abwehr, ihren Gegenschachzug. Aber nicht darum ist es hier zu tun; das gehört zum Widerstandserlebnis. Es gibt indessen noch eine andere Art, wie der Handelnde die fremde Person als Realobjekt erfährt. Eben dadurch, daß der Andere der betroffene ist, erfährt der Handelnde in seiner Handlung, daß Handlung und Wille von der betroffenen Person zurückstrahlen — auf die eigene Person, ja daß sie die eigentümliche Macht haben, diese sehr eindeutig und sehr empfindlich zu „treffen", zu „zeichnen", sie gewissermaßen abzustempeln. Es sind die scheinbar unwägbaren, jenseits des Realen verwurzelten Momente von sittlichem Wert und Unwert, die auf den Handelnden zurückfallen und dann als die seinigen ihm anhaften — er mag das nun anerkennen oder ablehnen, einsehen oder verkennen. Nicht um den idealen Gehalt der Werte handelt es sich hierbei, sondern um Erfüllung und Verfehlung der idealen Forderung, die von ihnen ausgeht, im realen Verhalten des Menschen. Darum haben sie in der Welt des menschlich Wirklichen ein Realitätsgewicht, das sich ins Ungeheure steigern und jede äußere Härte des Realen übertreffen kann. Dieses Gewicht besteht nicht in der Auffassung des Menschen vom Wertvoll- und Wertwidrigsein. Es liegt vielmehr aller Auffassung und aller Deutung schon zugrunde. Es ist ein unaufhebbares Elementarphänomen, daß Handlung und Wille ihre Wertprägung durch eben das erfahren, was sie in der realen Welt an realen Personen anrichten — wobei das Anrichten nicht etwa erst im äußeren Geschehen (im Erfolg) liegt, Sondern schon in der Intention. Denn das Anrichten hat schon in der Intention des Handelnden und Wollenden sein Gewicht im Betroffenwerden von Personen. Dieses Gewicht fällt zurück auf den, der es so gewollt hat. Es belastet ihn, „zeichnet" ihn, ist ein ihn rückbetreffendes. Er kann dem Zurückfallen des Gewollten auf ihn — sei es als Schuld oder als Verdienst — auf keine Weise entgehen; es vollzieht sich an ihm ohne sein Zutun, als Fluch oder Segen seiner Tat. Denn es besteht nicht in seiner Meinung, auch nicht im Werturteil der Mitmenschen allein, sondern an sich. Es ist unaufhaltsam, ein echtes, reales ,,Rückbetroffensein", nicht weniger als das direkte Betroffensein vom äußeren Widerfahrnis. Es „widerfährt" eben tatsächlich dem Schuldigen als innere Folge der Tat; und er „erfährt" es innerlich nicht anders, als er die sichtbaren Folgen seiner Tat äußerlich erfährt. Dem entspricht denn auch die Art, wie es von ihm selbst erlebt und empfunden wird. Empfunden nämlich wird das Rückbetroffensein gerade als ein vom Empfinden Unabhängiges, als ein schicksalhaft über den Schuldigen Hereinbrechendes, ihn Überfallendes und in seiner Weise Unerbittliches: es fällt ihm zu als etwas, das

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er tragen muß, das er nicht abschütteln kann, auch wenn es ihn zuinnerst bedrückt und bedrängt. In kurzer Formel besagt das: dieses über uns Hereinbrechende, von dem wir im eigenen Wollen und Handeln rückbetroffen sind, wird im Rückbetroffensein selbst von uns als ein eminent Reales erfahren. d) Das Realitätsgewicht von Personen für Personen Käme es hierbei nur auf die äußeren Folgen der Taten an, so wäre das moralische Rückbetroifensein nur eine besondere Form des Erfahrens. So entspräche es der Auffassung der Erfolgsethik. Das wahre Gewicht des Ethos wurzelt tiefer: in den ersten Ansätzen der Initiative, im keimhaften Wollen, in der inneren Haltung. Schon die Gesinnung als solche, aus der Tat und Untat entspringen, zeigt vor allem bestimmten Wollen die Transzendenz des Gerichtetseins auf die fremde Person. Sie ist dadurch schon von Hause aus, im Ansinnen, durch sittlichen Wert und Unwert gezeichnet, steht schon unter dem Rückbetroffensein von dem, was im Augenblick der Entscheidung aus ihr hervorgehen kann. Und das kann nicht anders sein; denn schon in ihr als erstem Ansatz der möglichen Intention ist das Betroffensein der fremden Person vorweggenommen. Es stellt sich hierbei heraus, daß in praktischer Hinsicht — und das ist die im Leben maßgebende Hinsicht — das Seinsgewicht von Personen für Personen ein aktuelleres und unmittelbarer empfundenes ist als das von Sachen und Sachverhalten. Von den Sachen aus und von unserem Schalten mit ihnen, soweit keine Personen mitbetroffen sind, gibt es kein eigentliches Rückbetroffensein der eigenen Person. Dem entspricht die Tatsache, daß keine skeptische oder idealistische Theorie den Personen in gleicher Weise die Realität abzusprechen gewagt hat wie den Dingen. Diese Einsicht hat in der Neuzeit bereits ihre Geschichte. Es gibt Theorien, die unter ihrem Eindruck den Personen allein die eigentliche Realität zusprechen, die sie den Dingen absprechen. Damit hypostasiert man den Unterschied der Gegebenheit zu einem Unterschied des Seins — ein Fehler, dem wir schon mehrfach begegnet sind. Demgegenüber ist festzuhalten: Personen und ihre Akte haben nicht höhere „Realität" als Dinge und Dingverhältnisse; sie gehören nur einer höheren Schicht des Realen an, haben die unvergleichlich höhere Seins- und Strukturfülle, sie sind die inhaltlich höheren Gebilde. Sie haben deswegen für uns die weit gewichtigere Art der „Realitätsgegebenheit"; denn die Gegebenheit hängt nicht an der Seinsweise, sondern an der praktischen Relevanz. Die Seinsweise selbst aber ist gerade die gleiche, wie denn Personen und Sachen gemeinsam miteinander in einer realen Welt und einer Realzeit bestehen und gerade durch diesen Seinszusammenhang auf einer Ebene die Fülle der Situationen heraufführen, die stets ebensosehr sach- als personbedingt sind.

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Das ontologische Grundphänomen der Realität als solcher ist gerade die Einheit der Seinsweise in der Mannigfaltigkeit der Seinshöhe und der menschlichen Relevanzen. Der Grund des Unterschiedes der Gegebenheit aber liegt in der unermeßlich reicheren emotionalen Verbundenheit zwischen Person und Person. Es ist die unübersehbare Fülle und Gewichtigkeit der emotional-transzendenten Akte, in denen diese Verbundenheit sich auslebt. Zu Sachen und Sachverhältnissen gibt es von uns aus keine Verbundenheit von gleicher Tiefe und Innerlichkeit. Darum hat die Skepsis so leichtes Spiel, wenn sie das von ihr bestrittene Verhältnis der Transzendenz auf Dinge allein bezieht. Das eben ist ihr Fehler: sie tut, als gäbe es eine reale Welt der Dinge, die nicht zugleich die Welt der Personen und ihres Schaltens mit Dingen in bezug auf Personen wäre. e) Scheinbare Gespaltenheit der Realität. Fehler der Theorie Die Skepsis verschweigt das Realitätsgewicht der Personen; der Personalrealismus erkennt es, aber er verschweigt seinen unaufhebbaren Zusammenhang mit dem Seinsgewicht der Dinge. Beides ist Halbheit, beides ist widersinnig, sobald man das Ganze des einschlägigen Phänomenzusammenhanges vor Augen hat. Man kann nicht den Personen die Realität lassen, die man den Dingen und Geschehnissen bestreitet. Viel zu tief sind dafür die Personen in den Realzusammenhang der Geschehnisse hineingestellt und allseitig von ihm betroffen. Sind sie real, so ist auch ihr Betroffensein ein reales. Dann aber ist auch die ganze Sphäre, in der ihr Leben und ihr Ringen um Besitz, Güter, Macht usw. sich abspielt, eine reale. Sind Dinge und Geschehnisse nicht real, so auch nicht das Betrofifensein von ihnen; dann aber auch nicht die betroffenen Personen. Realität ist kein Seinsvorzug bestimmter Wesen. Sie wächst nicht mit der Seinsform, mit der Organisation, mit der Werthöhe. Sie kommt entweder allem zu, was in der Zeit entsteht und vergeht, oder keinem. Es hat keinen Sinn zu meinen, der Mensch Sei realer als die Luft, die er atmet — oder auch umgekehrt, die Luft sei realer —; denn das Atmen selbst kann nur entweder ein realer oder ein nicht realer Prozeß sein. Im ersteren Falle sind beide real, im letzteren beide irreal. Die Spaltung der Realität ist der Fehler der Theorie. Vielmehr ist der Schluß so zu ziehen: gibt es im Rückbetroffensein der eigenen Person eine unaufhebbare Gegebenheit fremder Personen im vollen Gewicht ihres Realseins, so überträgt sich dieses Gewicht notwendig auf die ganze Sphäre, in der sich das Leben der Personen abspielt, also auf Dinge, Geschehnisse, Verhältnisse, Situationen, kurz auf den ganzen Weltzusammenhang, aus dem ihr Leben ein Ausschnitt ist. Das ist im Grunde eine sehr einfache Weisheit. Wie die Dinge in das menschliche Tun einbezogen sind, so das Sein der Menschen in das ding-

32. Kap. Innere Aktivität und Freiheit

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liehe Geschehen. Ein fallender Stein kann den Menschen erschlagen, und er erschlägt dann mit dem Leibe auch das von ihm getragene geistige Sein der Person. Nur metaphysisches Vorurteil konnte einen so schlichten und geläufigen Zusammenhang verkennen. Setzt man ihn wieder in seine Rechte, so gewinnt die Ontotogie aus dem Gewicht des praktischen Lebens und speziell des Ethos die stärkste und unaufhebbarste Gegebenheit der Realität — und zwar nicht für die höchsten Formen des Realen allein, sondern für das Ganze des WeltzusammenhangeS. Denn dessen einheitliche Seinsweise ist unabhängig von ihrem Gegebenheitsmodus gewiß.

32. Kapitel. Innere Aktivität und Freiheit

a) Die Eigenart interpersonaler Verbundenheit Eine besondere Sache ist es noch mit den Gesinnungsakten, sofern sie diesseits alles Handelns, ja aller Zielsetzung stehen. Es liegt nah, Wohlwollen und Neid, Sympathie und Eifersucht, Verehrung und Verachtung, und Liebe für etwas rein Inneres zu halten, das aller Transzendenz entbehrt; man hält dann die Gegenstände dieser Akte für rein intentionale. Das Umgekehrte ist der Fall. Gerade das intentionale Objekt läßt sich an ihnen schwer aufzeigen — es sei denn, daß man es rein schematisch als Aktkorrelat versteht. Niemals aber ist ein echter Gesinnungsakt ohne Realobjekt. Sein Realobjekt aber ist jedesmal Person. Niemand kann lieben oder hassen, ohne „jemand1' zu lieben oder zu hassen. Und selbst wo es sich um etwas Bestimmtes an jemand handelt, das man liebt, ist doch die Person mit betroffen. Man kann freilich Naturerscheinungen bewundern; aber da ist das Bewundern mehr ein Bestaunen, nicht eigentliche Gesinnung gegen das Bestaunte, und kommt ihm auch nicht eigentlich zugute. Und der Staunende weiß um das Nicht-zugute-Kommen und Unbetroffen-Bleiben des Objekts. Man kann andererseits das Gold verachten, das Eisen verehren, man kann ein Land oder eine Stadt lieben, an Gebrauchsgegenständen hängen. Man verachtet aber in Wahrheit die Macht, die den Menschen herabzieht, verehrt die Waffe, die ihn adelt, liebt den Lebensraum, der sein Boden und das Feld seiner Taten ist, hängt am stummen Zeugen seiner Arbeit und seines Fleißes. Stets ist das Sein der Person mit hineingenommen, und die Gesinnung gilt mittelbar ihr. Was dagegen wirklich in der Gesinnung verschwindet, ist das teleologisch-aktive Moment. Es setzt nicht ganz aus, aber es ist ins Potentielle zurückgesunken; oder vielmehr es ist noch nicht zur Aktivität erwacht. Damit verschwindet der bestimmte Zweck als Gegenstand aktiver Intention und mit ihm der bewußt antizipierende Charakter des Aktes. Potentiell aber besteht er. Und er bleibt fühlbar im steten Ausbrechenkönnen. 14 H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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Dritter Teil. 2. Abschnitt

Diese Fühlbarkeit der Gesinnung — z. B. die der Erbitterung gegen den rücksichtslosen Ausbeuter persönlicher Lebenslage — besteht sowohl im Träger der Gesinnung als auch in der betroffenen Person. Und zwar ist sie für beide zugleich ein Vorgefühl möglichen Ausbrechens. Der Taille schlummert nur in der Gesinnung und mit ihm die Tat; oder er ist festgehalten durch die Ohnmacht zur Tat. Bei der ersten Chance wird er freiwerden und in Aktion übergehen. Insofern liegt auch in der Gesinnung schon Aktivität und Antizipation, und mit ihr das Bückbetroffensein der eigenen Person und die Realgegebenheit der fremden. Diese Gegebenheit kommt indessen noch anders zum Ausdruck. Wie der Wille sehr bestimmt mit fremdem Willen rechnet, ihn in seine Chance einbezieht, ihm zu begegnen sucht, so rechnet auch die Gesinnung schon mit der fremden Gesinnung. Ja, dieses, daß sie wesenhaft einer Person gilt, bedeutet in erster Linie eben, daß sie der Person als einer bestimmt jsinnten gilt. Man verehrt und verachtet nicht wahllos, auch nicht auf ußerlichkeiten hin, sondern auf die innere Gesamthaltung, d. h. auf die Gesinnung hin. Man bewundert Edelmut und Opferfähigkeit, verachtet Kleinlichkeit an einer Person, man liebt sie im Bewußtsein ihrer Güte, ihres Freimutes, ihrer moralischen Überlegenheit. Alle Gesinnung ist schon auf Gesinnung bezogen. Wir kennen sie im Leben gar nicht isoliert für sich. Im lebendigen Gegenüber der Personen ist diese Bezogenheit eine allseitige und durchgehende. Sie bindet die Menschen in ihrem vielschichtigen Miteinandersein noch mit einem anderen, tieferen und elementareren Bande aneinander als Wille, Handlung, Erleben und Erfahren. Sie bildet ein Netz höchst aktueller, realer Beziehungsfäden, durch welches die Personen vor aller bewußten Besinnung in zutiefst empfundener Wirklichkeit einander gegeben sind. Sie ist eminente Realitätsgegebenheit.

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b) Die primäre Gegebenheit in der Stellungnahme Dieses Band legt sich nicht erst sekundär über die drastischere Verbundenheit, über das härtere Betroffensein durch die Handlung. Es präexistiert immer schon als ein darunter liegendes, und alle drastisch ins Bewußtsein tretende Realitätsgegebenheit erhebt sich schon auf seinem Hintergrunde — dergestalt, daß die primäre Gegebenheit der Personen stets schon in sie hineingenommen ist. Wie eigentlich fremde Gesinnungen uns gegeben sind, ist freilich eine sehr rätselhafte Sache. Der ontische Modus des Kontaktes ist durch ein kompliziertes Netz von Faktoren bedingt. Aber die Gegebenheit selbst ist deswegen doch nichts weniger als zweifelhaft. Sie ist auch nicht rätselhafter als andere Gegebenheit, z. B. die sinnliche der leiblichen Erscheinung. Und als Gegebenheit selbst betrachtet, ist sie vollkommen einfach. Sie besteht als Phänomen unabhängig von ihrer Auflösbarkeit in Faktoren. Das Phänomen aber ist dieses, daß Personen überhaupt uns zunächst in ihren Gesinnungen gegeben sind, und nicht in ihrer äußeren Erschei-

32. Kap. Innere Aktivität und Freiheit

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nung, ihrem Gebaren, Tun, Bewegen, Ausdruck. Diese Momente spielen überall mit, sie eben sind ohne Zweifel Faktoren der Gegebenheit; aber sie sind nicht das Erste, das mit seinem Realitätsgewicht ins Bewußtsein tritt. Das erste Personenbewußtsein hat die Form der inneren Stellungnahme; es ist das „sich in bestimmter Weise Berührtfühlen" von einem Menschen, die empfundene Ablehnung, das Abgestcßensein oder Hingezogensein, das Sichöffnen und Sichverschließen, Vertrauen oder Mißtrauen, das Nähe- oder Distanzgefühl. Diese Momente sind es, welche die sogenannten ersten Eindrücke beherrschen. Und sie bleiben bestimmend in allen späteren, reflektierteren und „objektiveren" Eindrücken. Sie werden freilich auch überdeckt von diesen; oft zum Schaden der echten Realitätsgegebenheit, sie werden verfälscht durch bewußte Maßstäbe, Begriffe, Konvention. Aber die leiseste Erfahrung, die an sie anklingt, holt sie wieder hervor und beweist damit ihr Zugrundeliegen. Diese Gesinnungsmomente, als erste Beantwortung fremder Gesinnung, sind nicht nur in hohem Maße prospektiv — indem sie uns sagen, was wir von den Menschen zu gewärtigen haben —, sie sind auch bereits ein inhaltlich sehr bestimmtes und aktuelles Betroffensein der eigenen Person von der fremden. Und insofern liegt in ihnen eine erste, allem weiteren vorangehende Realitätsgegebenheit. Sofern aber Personen nicht eine eigene Seinsweise beanspruchen können, sondern die der übrigen Welt teilen, in der sie stehen, so überträgt sich diese Gegebenheit, ebenso wie bei Handlung und Wille, auf das Ganze der realen Welt. c) Die Rolle der Situation und ihre Gegebenheitsform Am Wollen und Handeln tritt indessen noch eine dritte Form des Realobjektes neben der Sache und der Person auf. Das ist die jeweilige Situation, in der und an der es zu handeln gilt. Alle Initiative des Menschen ist situationsbedingt, zugleich aber auch situationsgestaltend. Sie ist hervorgerufen von der Lebenslage, gleichsam herausgefordert von ihr, stößt aber selbst wiederum formend in sie vor. Dieses Verhältnis zeigt wieder eine neue Form der Realitätsgegebenheit. Die Situation, in der wir handeln, wählen wir uns nicht nach Belieben. Wir können, wo wir sie kommen sehen, höchstens in gewissen Grenzen vorbauen oder ausweichen; aber selbst im Ausweichen beschwören wir die neue ungewollte Situation herauf, und im allgemeinen sehen wir sie nicht einmal kommen. Die Situation kommt ungerufen, sie überfällt den Menschen, er „gerät" in sie. Ist er aber einmal in sie geraten, So ist er auch in ihr gefangen: er kann nicht „zurück" aus ihr, er müßte denn das Geschehene ungeschehen machen, was ontisch unmöglich ist; er kann auch nicht „seitwärts" ausweichen, auch dafür ist es, wenn sie einmal eingetreten, zu spät. Er muß also „vorwärts", nach dem Gesetz der Zeit, die niemals stillsteht; er muß hindurch. Und das besagt, er muß handeln. Er muß entscheiden, was immer durch die besondere Art der einmal gewordenen Situation ihm zu entscheiden zufällt. 14*

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Dritter Teü. 2. Abschnitt

Darin hat er keine Freiheit, ob überhaupt er handeln und entscheiden will oder nicht. Tatsächlich entscheidet er auch stets so oder so, wie immer er sich verhalten mag. Er entscheidet und handelt tatsächlich auch dann, wenn er unentschieden und untätig das Eingreifen vermeidet. Es hilft ihm nichts, daß er sich um das Handeln drückt. Das Unterlassen ist auch ein Handeln, und was es in der realen Welt anrichtet, ist von derselben Folgenschwere wie das aktive Tun; wie denn die Mitbeteiligten der Situation vom Unterlassen ebenso betroffen sind, die eigene Person aber ebenso rückbetroffen ist. Wie sich der Mensch auch Stellt, zum Handeln zwingt ihn die Situation unter allen Umständen. Wie aber er zu handeln hat, schreibt sie ihm nicht vor. Darin hat er Freiheit. So ergibt sich die ontisch eigenartige Sachlage: die Situation, in die er gerät, ist für ihn zugleich Unfreiheit und Freiheit, Zwang und Spielraum. Sie ist Zwang zum Entscheiden überhaupt, Freiheit aber darin, wie er entscheidet. Hält man diese beiden Momente zusammen — und sie hängen nun einmal unlöslich zusammen —·, so tritt das Paradoxe im Wesen der Situation deutlich in die Erscheinung: der Mensch ist durch die Situation, in die er gerät, zur freien Entscheidung genötigt. Oder in Kürze: die einmal gewordene Situation ist für ihn der „Zwang zur Freiheit". Das eben heißt es, daß er ihr nicht „rückwärts" noch „Seitwärts" ausweichen kann, daß er nur durch sie „hindurch" kann, daß aber die Art, „wie" er durch sie hindurchkommt, bei ihm steht. Könnte er sich bloß treiben lassen, ohne überhaupt auch anders zu können, der Zwang wäre ein vollständiger, und es bliebe ihm keine Freiheit. So aber sind die Situationen des Lebens nicht. Sie nötigen weder zur Untätigkeit noch zu bestimmtem Tun, wohl aber zur Entscheidung zwischen dem einen und dem anderen. Sie fordern den Menschen heraus zur Entscheidung, appellieren an seine Freiheit. Damit nötigen sie zur Betätigung der Freiheit. Gerade als freies Wesen also „erfährt" der Mensch die Situation als einen Zwang. Er erfährt sie somit als reale Macht, und zwar als eine solche, die ihn nicht nur äußerlich, sondern zuinnerst, im Wesenskern der Personalität betrifft. Der Realzwang zur Freiheit, der von ihr ausgeht, ist ein besonderer und neuer Modus seines Betroffenseins von der realen Welt, in der er lebt. Denn dieses Betroffensein greift tiefer als jedes andere. Es ist kein bloßes „Widerfahrnis", was ihn hier betrifft, es ist das unaufhaltsame Hineingedrängtwerden in Verantwortung und Schuld. Denn ohne die Gefahr des Schuldigwerdens kann er im Wertkonflikt nicht Entscheidung fällen. Den Wertkonflikt aber führen die Situationen herauf. Die Schicksalhaftigkeit der Widerfahrnisse ist nur eine äußere, und wenn sie noch so schwer ist. Die der Situationen — auch wenn diese noch so fließend, vergänglich, ephemer, unwägbar sind —ist eine innere. Denn sie betrifft das moralische Sein des Menschen. Was er unter dem „Zwang zur Freiheit" entscheidet und anrichtet, fällt auf ihn zurück. Nun aber besteht das Menschenleben wesentlich in der ununterbrochenen Kette

33. Kap. Der Lebenszusammenhang als seiender

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der Situationen, es wird von ihr dauernd in Atem gehalten. Und jede einzelne Situation fordert den Menschen zur Tat heraus, der Tat aber folgt das Rückbetroffensein. Es ist ein einziges, andauerndes Belastetsein durch die nicht abreißende Kette von Anforderungen an seine Freiheit. Er erfährt darin — in noch einmal anderer und tiefer einschneidender Weise — die Härte des Realen. Er erfährt sie mit dem Organ seiner Freiheit. III. Abschnitt Reales Leben und Realitätserkenntnis 33. Kapitel. Der Lebenszusanunenhang als seiender

a) Der Inbegriff der Akttranszendenz als realer Lebensmodus Die Reihe der emotional-transzendenten Akte ist mit den behandelten drei Gruppen nicht erschöpft. Das sind nur diejenigen, die sich annähernd isolieren und analysieren lassen. Die Isolierung aber verdunkelt zugleich eine wesentliche Seite an ihnen, den unlösbaren Aktzusammenhang. Eine Fülle weiterer, schwer differenzierbarer Akte hängt damit zusammen; sie bildet ein Geflecht von ineinandergreifenden Bezogenheiten des Menschen auf die Welt — von den primitivsten bis zu den geistigsten — und geht, dem reflektierenden Bewußtsein zugrundeliegend, gleichsam unterirdisch durch alles hindurch. Der reale Strom des Bewußtseins und der reale Strom des Weltgeschehens begegnen sich in ihr, und alle besondere Realitätsgegebenheit spielt in ihrer Sphäre. Sie ist, im einzelnen kaum greifbar, im Gesamteffekt das Leben. Der objektive Lebenszusammenhang im weiten Sinne, wie er in den aufgezeigten Akten stückweise — gleichsam an Musterbeispielen — hervorgetreten ist, kann als durchgehende Gegebenheit erst in der Fülle dieses Geflechtes erschöpft werden. Um sein reales Ansichsein, sofern es in einem Gesamtphänomen als Einheit faßbar ist, handelt es sich jetzt. In seiner unübersehbaren Vielspältigkeit ist eines durchgehend einheitlich: die Transzendenz der Akte selbst und das Ansichsein dessen, worauf sie sich richten. Die einzelnen Akte Selbst verschwinden hier ganz im Aktgefüge. Ihre Transzendenz aber verschwindet nicht, sie gerade ist noch am Gesamtphänomen des Gefüges ebenso unmittelbar aufweisbar wie an den einzelnen Akttypen. Sie ist eine durchgehende, auf der ganzen Linie der Aktmannigfaltigkeit identische; und das ist für das Realitätsproblem das wesentliche; denn es beweist, daß das Übergehen der inneren in die äußere Realität ein allseitiges ist. Der Bewußtseinsstrom gliedert sich dem Strom des Weltgeschehens ein und ist zugleich das Bewußtsein dieser Eingliederung. Er ist es im Ganzen wie im Besonderen, ohne Rück-

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Dritter Teil. 3. Abschnitt

sieht auf Verflochtenheit und Isolierbarkeit der Akte. Denn nur das Gewicht des Betroffenseins ist verschieden, der Seinsmodus des Erfahrenen ist derselbe. Es kann sich hier nicht darum handeln, diese Mannigfaltigkeit zu durchlaufen. Nur um Ergänzung des Gesamtbildes ist es zu tun. Dazu gilt es, noch einige allgemeine Grundtypen der Eingliederung zu erfassen die keineswegs mehr in einer bestimmten Aktform aufgehen, sondern das ganze Aktgefüge voraussetzen. Von solcher Art ist die Wertfühlung im Erleben, der Umgang mit Personen, das Schalten mit Dingen, das mitlebende Drinstehen in sozialen, kulturellen, geschichtlichen Verhältnissen sowie das Einbezogensein in die kosmischen Zusammenhänge. b) Das Realitätsgewicht in den Wertbezügen Am Menschen gibt es für den Menschen schwerlich etwas, was nicht bestimmte Wert- oder Unwertakzente trüge. Dabei geht es nicht um moralische Werte allein; Vitalwerte, Glückswerte aller Art spielen mit, desgleichen ästhetische Werte und die ganze Mannigfaltigkeit geistiger Güterwerte. Jedes menschliche Verhalten, jeder Gefühlsausdruck, jede Reaktion ist ansprechend oder befremdend, man fühlt „dafür" oder man fühlt „dawider". Auch wo sie unbemerkt bleiben, sind diese Akzente vorhanden und geben allem die Färbung. Alles ist von der inneren „Wertantwort" begleitet; die neutrale Auffassung des Menschlichen ist nur ein Grenzfall, der rein wohl erst in der theoretischen Besinnung vorkommt. Im Leben selbst ist er schwerlich jemals gegeben. Die Reaktion des Wertgefühls ist keineswegs an eigentliches Betroffensein der eigenen Person gebunden. Sie begleitet nicht die transzendenten Akte der fremden Person allein, sondern schlechterdings alles, was an ihr in die Erscheinung tritt, ihr ganzes SoSein. Wie jemand geht und steht, zupackt und spricht, sich verbirgt oder zeigt, wie er mit Schwierigkeiten ringt oder selbstvergessen sich einem Eindruck überläßt — alles löst Freude, Entzücken, stilles Einvernehmen oder auch Ablehnung und Abkehr aus. Ähnliches gilt von der Auffassung aller Gegenstände, Dinge, Geschehnisse, Verhältnisse, Situationen. Es sind nur andere Werte, die sie bestimmen. Wohl kann uns auch manches gleichgültig lassen, aber eine Scharfe Grenze der Wert-Unwert-Betontheit gibt es im Leben nicht; sie verschwimmt, schwankt — je nach dem eigenen Geöffnet- oder Verschlossensein. Aber wo immer die Wertakzente auftreten, sind sie nicht nachträglich, sondern zugleich mit der Auffassung der Sache da. Für diese allgemeine, durchgehende Wertfühlung nun ist es charakteristisch, daß sie ein durchaus transzendentes Aktmoment ist, daß also ihre Gegenstände als real ansichseiende gegeben sind. Nicht um die Werte in ihrer reinen Idealität handelt es sich in ihr, sondern um Gegebenheit eines „Realen" als eines wertvollen oder wertwidrigen. Und gerade von

33. Kap. Der Lebenszusammenhang als seiender

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diesen Wertakzenten her hat das erfahrene Reale im Leben eine eigene Gewichtigkeit, ja Aufdringlichkeit für uns. Man sieht das sehr deutlich, sobald man ein Beispiel von tieferer Wertbetontheit wählt. Ich bin etwa Zeuge, wie ein Mensch roh behandelt oder ein notorisch Harmloser verleumdet wird. Das Ganze geht mich nichts an, ich weiß auch, daß es tausendmal geschieht, ohne daß ich es zu ändern vermag. Aber „daß" es hier und jetzt geschieht, unter meinen Augen, harte Wirklichkeit ist, geht mir nach, läßt mir nicht Ruhe. Die Realitätsschwere des Unrechts als eines geschehenen, resp. seine Wertwidrigkeit als die eines Realen, macht das Gewicht des Eindrucks aus. Wäre die Sache wertindifferent, ihr Realsein würde mich nicht berühren. Wäre sie ein bloß gedachter Fall, so wäre die Ablehnung auch eine bloß gedachte, wäre nicht wirkliche — d. h. nicht aktreale — Wertreaktion in mir. Nur das real geschehene Unrecht löst die reale Gefühlsverletzung aus. Allgemein also: nur das Wertwidrigsein oder Wertvollsein eines „Realen" ruft die lebendige, wirkliche Wertantwort hervor. Das gilt streng allgemein von aller und jeder wirklichen Wertreaktion, auch da, wo es sich nur um Angenehmes oder Unangenehmes, um Nützliches oder Nutzwidriges handelt, um Lästiges, Förderliches, Erfreuliches, oder was sonst es sei. Überall beantwortet das Wertgefühl mit wirklichem Einsatz nur das Reale, nicht das Erdachte oder bloß Vorgestellte. Man würde sich doch nicht „aufregen", wenn das Aufregende nicht wirklich geschehen wäre. Wo der Dichter es an seinen Gestalten erscheinen läßt, wo der Schauspieler im Rampenlicht es naturwahr darstellt, da fehlt denn auch die eigentliche Schwere der Wertreaktion. Sie ist wohl da, klingt gleichsam an, aber es fehlt ihr das Realitätsgewicht. Das Wertgefühl im Leben selbst hat diese ontologische Funktion, daß es durchgehend an allem Realen, das uns begegnet, das Wertbetonte und Unwertbetonte heraushebt und in seinem Realitätsgewicht fühlbar macht. Wir fühlen eben das unverrückbar Reale in seiner Härte am Stärksten dort, wo es das Wertgefühl tangiert. Weder das Wertindifferente noch das Irreale regt uns auf. Der Umkreis des Erlebten und Erfahrenen ist von vornherein durch das Ansprechen der Wertantwort seligiert. So kommt es, daß die Wertfühlung im Leben, obgleich sie an sich etwas ganz anderes ist — nur axiologische, nicht ontologische Fühlung ist ·—, dennoch mittelbar die Bedeutung eines gewichtigen Realitätszeugnisses gewinnt. Und weil es für das Reale seinerseits offenbar gleichgültig ist, ob und wie das Wertgefühl es axiologisch beantwortet, so überträgt sich auch diese Form der Realitätsgegebenheit auf alles, auch auf das nicht wertbeantwortete Reale. D. h. sie überträgt sich auf die ganze Sphäre. c) Die praktische Gegebenheit der Dingwelt Nach anderer Richtung führt das Schalten und Walten mit Dingen in den Lebenszusammenhang hinein. Es macht in ihm die andere, aber gleich primäre Seite der Realitätsgegebenheit aus.

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Dritter Teil. 3. Abschnitt

Der Mensch „gebraucht" Dinge, er benutzt, verwertet sie, wendet sie an, wie er sie findet, zu seinen Zwecken. Ja, er verbraucht sie, nutzt sie ab. Aber er gestaltet sie auch erst für seinen Gebrauch. Sie gehen als die seinigen in seine Personsphäre ein, gehören zu ihr, empfangen von ihr die Prägung als das, was sie „für ihn" sind. Jeder Mensch hat eine solche engere Dingsphäre um sich. Kleider, Möbel, Haus, Werkzeug gehört dazu und vieles mehr. An diesen Dingen ist ihm zunächst nicht wichtig, was sie an sich sind, sondern ausschließlich, was sie „für ihn" sind. Sie haben in seiner Auffassung und in seinem Leben ein „Für-ihn-Sein" eigener und betonter Art. Heidegger hat dafür den Ausdruck „Zuhandensein" geformt; dieser trifft das Verhältnis sehr genau, ist nur vielleicht etwas zu eng, weil er nur auf eigentliches Arbeitszeug streng zupaßt. Der allgemeinere ontologische Ausdruck für die Seinsart solcher Dinge in der Personsphäre müßte lauten: „ihr Dasein zu etwas für uns". Geht man von der Person als dem gebrauchenden „Ich" aus, so ist das „Fürmichsein" der Gebrauchsgegenstände nicht nur etwas anderes als ihr Ansichsein, sondern auch der Gegebenheit nach das Frühere, ein echtes . Ontisch, im Weltzusammenhang, kann es deswegen sehr wohl das Spätere Sein. Aber es wäre irrig zu meinen, im Fürmichsein „meiner Sachen" stecke kein Ansichsein. Das Fürmichsein beruht nicht bloß auf dem Dafürhalten des Ich, besteht nicht bloß in „meiner Vorstellung". Es ist ein Realverhältnis, das unabhängig von meinem erkennenden Erfassen besteht, gleichgültig dagegen, ob ich mir überhaupt eine Vorstellung davon mache, oder nicht. Erkenntnistheoretisch also ist es selbst durchaus ein ansichseiendes Verhältnis im strengen Sinne, wenn auch ein in den weiteren ontischen Zusammenhängen sekundäres; es ist reales Fürmichsein. Und folglich ist auch das Gebrauchsding selbst und als solches ein durchaus reales — nicht etwa eret im Absehen von seinem Fürmichsein, sondern gerade in ihm und mit ihm. Der Beweis dafür ist, daß gerade das Fürmichsein meines Werkzeugs — nämlich das, was es wirklich für mich, meine Arbeit, mein Leben ist — von mir erst nach und nach an ihm erfahren wird: im Lernen des Gebrauchs (des Handwerks etwa), in der Anwendung oder auch im Ausprobieren, Dahinterkommen, im Entdecken dessen, was ich alles damit machen kann. Dieser Prozeß ist aber ein Prozeß an mir, nicht am Werkzeug. Es ist der Prozeß der praktischen Bildung durch die Arbeit mit dem Werkzeug, die Entwicklung des Ich, die Steigerung seiner Fähigkeit und Geschicklichkeit. Man sagt vielleicht wohl, „das Werkzeug wird mir immer mehr"; aber in Wahrheit wächst man selbst an das Werkzeug heran, während es seinerseits unverändert verharrt. Es verharrt dabei gerade in seinem Fürmichsein; denn ich weiß in dieser Entwicklung sehr wohl darum, daß die frühere Begrenztheit des Gebrauchs nicht an ihm, sondern an mir lag. Auf das Werkzeug springt der Prozeß erst dann über, wenn ich etwas an ihm selbst ändere, es etwa „verbessere". Dann ändert

33. Kap. Der Lebenszusammenhang als seiender

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sich sein reales Fürmichsein grundsätzlich — nicht nur „meine" Leistungsfähigkeit mit ihm, sondern auch „seine" Leistungsmöglichkeit in meiner Hand. Heideggers Analyse des „Zuhandenseins" ist wertvoll, insoweit sie eine bestimmte, durchaus primäre — nicht freilich „die" primäre — Gegebenheitsweise des Realen und damit der Welt aufdeckt. Ihre Stärke ist die Beschränkung auf die engste Sphäre des Alltags, so freilich wie sie im Leben wohl niemals sich ausgrenzen läßt. Irrig dagegen ist die Vermengung von Gegebenheitsweise und Seinsweise. Die Art der Aufdeckung wird dem aufgedeckten Sein als seine Eigenart zugerechnet; dadurch wird dieses Sein auf das Ich bezogen, dem es gegeben ist, und die Welt steht relativiert als „je meinige" da. Anders ausgedrückt: verkannt ist der Ansichseinscharakter (die Realität) im Zuhandensein selbst. Das In-der-Welt-Sein dessen, dem das Zuhandene zuhanden ist, durfte nicht als ein Sein in der je seinigen Welt gefaßt werden; das „Dasein" des Menschen durfte sich nicht als das allein reale herausheben. Denn das Zuhandensein der Dinge für ihn ist schon getragen von ihrem Dasein und Sosein in der realen Welt. Die Welt also, in der der Mensch sich auf Grund dieses Verhältnisses findet, ist von vornherein nicht die seinige allein. Das Zuhandensein, ohne Interpretationsvorurteile gesehen, ist vielmehr eine sehr bestimmte und unaufhebbare Gegebenheit der Realität der Welt als der einen und ansichseienden. Sie ist freilich nur eine Form dieser Gegebenheit unter vielen, aber doch eine fundamentale. Sie ist es dadurch, daß die Zuhandenheit der Gebrauchsdinge „für mich" sich selbst als eine reale und im Leben als real erlebte herausstellt. Wie sie denn auch jederzeit eine weiter erlebbare und erfahrbare ist. Sie ist die im Gebrauch erlebte und erfahrene Realität der Dinge, ist als solche sehr fühlbar in der erzielten Leistung mit dem Werkzeug und zeugt in ihr deutlich von der Ganzheit des Realzusammenhanges, in dem allein der Gebrauch möglich ist. Ontologisch gefaßt sieht das Verhältnis folgendermaßen aus. Das „Zuhandene" ist zwar nicht als Vorhandenes „gegeben"; gegeben nämlich ist es nur im Zusammenhang des realen Fürmichseins. Aber es geht nicht an, daraus den Schluß zu ziehen, daß es gar nicht vorhanden „sei". Vielmehr ist es offenbar so: „zuhanden" sein kann überhaupt nur das, was zunächst einmal vorhanden ist. Es kann nur „für mich sein", wenn überhaupt es „ist". Die ontische Abhängigkeit ist entgegengesetzt der Gegebenheitsabhängigkeit. Die Gegebenheit des Ansichseins ist vermittelt durch die Gegebenheit des Fürmichseins, das Fürmichsein selbst aber ist bedingt durch das Ansichsein. So kommt das, worauf Heidegger hinzielt, viel schärfer heraus: das Erschlossensein der Welt durch die Zuhandenheit. Die Welt ist mir nicht als bloße „Umwelt" und vollends nicht als „je meinige" erschlossen, son-

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Dritter Teü. S.Abschnitt

dem als die eine reale, in der alle Personen und ihr zugehöriger Kreis von Zuhandenem sich lokalisieren. Dann aber ist das Erschlossensein der Welt strenge Realitätsgegebenheit. d) Der Gegenstand der „Sorge" Hierher gehört auch das von Heidegger breit erörterte Phänomen der „Sorge". Im Sorgen um etwas ist deutlich der Charakter des transzendenten Aktes ausgeprägt, und zwar der eines teleologisch-prospektiven Aktes. Es gehört eng zusammen mit Wollen, Erstreben, Tun, Handeln, nicht weniger aber auch mit Erwartung, Furcht, Hoffnung. Je nachdem man es weiter oder enger faßt, wird es alle diese Akte umfassen oder eine Beöonderung unter ihnen sein. In weitester Fassung bleibt das Sorgen eine undifferenzierte, diffuse Gesamthaltung des Subjekts zum zeitlich Anrückenden, ohne bestimmteres Aktgepräge. Die Zentralstellung, die Heidegger ihm gibt, dürfte der Tendenz entsprungen sein, ein möglichst primitives Seins- und Weltbewußtsein zu rekonstruieren. Fraglich bleibt nur, ob wir ein so primitives Bewußtsein kennen, resp. ob die Rekonstruktion ein wirklich Gegebenes trifft. Was wir kennen, ist immer schon ein erstrebendes, handelndes, arbeitendes, erleidendes, hoffendes oder fürchtendes Bewußtsein und zugleich auch stets schon ein erkennendes. Darüber hinaus liegt in der gedrückten Schattierung der Sorge eine gewisse Einseitigkeit. Selbst für den grauen Alltag mit seiner Enge und Kleinlichkeit darf man diese Schattierung nicht verallgemeinern. Es mag erbaulich sein, dem Leben in der Stickluft nachzugehen, um dann das Wunder des Durchbruchs aus ihr heraus ins Licht und in die Freiheit zu zeigen. Aber glaubwürdig wird beides nur dem scheinen, der aus unglückseliger Veranlagung die gleiche Bedrücktheit mitbringt und die rauhe Welt, in der er ringt und schafft, von vornherein entwertet sieht. Und vollends mit Ontologie hat das nicht viel zu tun. Hält man sich streng an ein neutral verstandenes „Sorgen", so steckt darin die ganze Reihe der transzendenten Akte, soweit sie prospektiv sind. Es Steckt darin vor allem das, was man schlichte Arbeit nennen kann, das Beschaffen von Notwendigem, das Bestreiten von Bedürfnissen — und keineswegs der eigenen allein —, das Aufkommen für Fehlendes, das Betreiben von Angelegenheiten, das Hinarbeiten auf Erstrebtes, das aktive Sicheinstellen und Sichrüsten auf Hereinbrechendes, das Tragen von Verantwortung für Kommendes, das Einstehen für Übernommenes, das Einhalten eingegangener Verpflichtung. Man kann diese Aufzählung beliebig weit in die Besonderungen hinein fortsetzen. Vor dem summarischen Titelbegriff „Sorge" hat sie den doppelten Vorzug der Bewertungsneutralität gegen die „Welt" sowie der reineren und mannigfaltigeren Prospekt!vität. All diese Akte haben die Unrast und das In-Atem-Gehaltensein des Menschen vom Anrückenden

34. Kap. Besondere Sphären der Einbettung in die reale Welt

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miteinander gemein; und dieses eben ist der reelle Gehalt dessen, was Heidegger das Sich-selbst-Vorwegsein nennt. Sorge im engeren Sinne ist aber nur einer unter ihnen. Das ontologisch allein wesentliche daran ist aber die Transzendenz der Akte, d. h. dieses, daß in ihnen das Anrückende selbst als Realobjekt gegeben ist. Als Ganzes zusammengenommen sind sie nur eine einzige, wiewohl komplexe und differenzierte Grundform der Realitätsgegebenheit. Das philosophisch wichtige an der Sorge ist eben das, was allein ihr selbst wichtig ist, ihr Gegenstand. Und von ihm gilt auf der ganzen Linie dasselbe, was vom Gegenstand aller prospektiven Akte galt: seine Seinsweise ist in ihr eindeutig als vollgewichtiges, reales Ansichsein gegeben. 34. Kapitel. Besondere Sphären der Einbettung in die reale Welt

a) Das Realphänomen der „Arbeit" Zentraler als die Sorge hebt sich aus diesen Akten die „Arbeit" heraus. Ihr Grundphänomen ist weder ein ökonomisches noch ein soziologisches, sondern ein ontologisches. Als transzendenter Akt ist Arbeit ein Tun bestimmter Art. Sie ist reale Leistung am Realen, schaltet mit Dingen als Mitteln, ist insofern ein Verwenden und Verwerten (vgl. Kap. 31 b). Sie hat darüber hinaus ihr Zielobjekt, das sie verwirklicht und in der Verwirklichung erst zum Realobjekt macht. Zugleich aber ist sie stets Arbeit „an etwas", trifft also ein schon Vorhandenes, das sie in seinem Sosein umbildet. Schließlich ist durch Sie ihr Ziel stets auch weiter hinausbezogen auf „jemand" — auf Personen, „für" die sie geschieht, denen ihr Ziel als Frucht zufallen soll. Ob es die eigene Person ist, für die sie geschieht, oder eine fremde, oder Verbände von Personen, ändert an diesem Verhältnis nichts. So ist Arbeit als realer Akt der Person auf viererlei verschiedenes Reales hinausbezogen. Und sofern im Bewußtsein der Arbeit ein Wissen um diese Bezogenheit ist, so Steckt in ihr eine vierfache Realitätsgegebenheit. Von besonderem ontologischen Gewicht ist hierbei die innere Seite der Arbeit, man könnte sagen, die moralische. Arbeit ist Einsatz, Aufwand, Drangeben: die Person setzt sich ein, wendet Kraft auf, gibt ihre Energie dran. Arbeit will vollbracht, „geschafft" sein. Sie stößt nicht nur auf den Widerstand der Sache, sie ringt ihm auch das Erstrebte erst ab, ringt es ihm auf. Wohl läßt der Mensch fremde Kraft für sich arbeiten, verwendet die an sich neutrale Naturgewalt. Aber er muß sie lenken, ja allererst für seine Zwecke einfangen, und beides erfordert zunächst einmal den eigenen Einsatz von Kraft, Erfahrung, Einsicht. Der Mensch gibt sich dran in der Arbeit, verbraucht sich wohl gar in ihr. Dieses, daß Arbeit nie von selbst läuft, sondern durch den Einsatz des Menschen „geleistet" werden muß, macht ein eigenartiges Verhältnis

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Dritter Teü. 3. Abschnitt

zwischen Person und Sache aus. Der Mensch ist darauf angewiesen, sich in seiner Arbeit unausgesetzt an der Sache zu messen. Seine Tendenz geht dahin, über sie hinauszuwachsen, ihrer Herr zu werden. Er „erfährt" also ständig in Seiner Arbeit sowohl sich selbst als auch die Sache: sich selbst in der Spontaneität eingesetzter Energie, der physischen wie der geistigen, die Sache in ihrem Widerstande gegen diese. Beides ist unaufhebbar aneinander gebunden, und beides ist Realitätserfahrung. Hier liegt deutlich der Beweis, daß ich die Welt in der Arbeit — und allgemein im Schatten mit Dingen — nicht als ,,die meinige" erfahre. Ich erfahre sie vielmehr in der Härte ihres Widerstandes, in der Eigenbestimmtheit und im Eigensinn der Dinge. Diese Eigenbestimmtheit erfahre ich als fremde Macht, an der ich entweder versage oder mich durchsetze. Die Entscheidung darüber steht nicht beim Willen allein. Ontologisch zu beachten ist hierbei ferner die Erfahrung der Gleichstellung von Person und Sache im Realitätscharakter. Sie ist eine Funktion der Gegenseitigkeit von Wirken und Widerstand, des Sich-Messens von zweierlei Macht auf gleicher Ebene. Das Übergewicht der Sache an Realitätsgewicht ist hierbei ihre Passivität und Gleichgültigkeit, das neutrale Geschehenlassen, aber zugleich auch die Härte ihrer mitgebrachten Bestimmtheit, gleichsam ihre Trägheitskraft. Das Übergewicht der Person ist von anderer Art. Es liegt in ihrer Spontaneität, Initiative, Anpassungsfähigkeit, ihrem Erfahren und Erfinden, ihrer ideologischen Kraft, den passiven Widerstand gleichsam zu überlisten. Aber immer Steht hier Macht gegen Macht. Und das ist der eindeutige Beleg am Realphänomen der Arbeit, daß die Sphäre des Realen in sich homogen ist, d. h. daß alles Wirkliche in ihr ontisch gleichgestellt ist und der Seinsweise nach eine einheitliche Welt ausmacht. b) Die Gegebenheitsform der weiteren Realzusammenhänge Parallel zum Schalten mit Dingen steht der „Umgang mit Personen". Er ist im obigen (Kap. 31 und 32) auf Grund der spontanen Akte, die ihn wesentlich ausmachen, bereits analysiert worden. Die Analyse ist aber jetzt zu ergänzen, sofern es sich im Leben nie allein um das Verhalten zu einzelnen Personen handelt, sondern stets zugleich um die Stellung zu größeren Einheiten und Ganzheiten. Auch diese werden im eigenen Verhalten des Menschen zu ihnen von ihm erfahren, erlebt und erkannt. Wir treten damit in das Phänomengebiet des sozialen, rechtlichen, politischen und geschichtlichen Lebenszusammenhanges. Jene Ontologie der „Situation", die für alles Wollen und Handeln den Rahmen gibt, überträgt sich auch auf die größeren Verhältnisse. Neben die private, ephemere Situation tritt die Gesamtsituation der jeweiligen Lebensverhältnisse, in der Alle gemeinsam stehen, von der der Einzelne zwar in verschiedenem Maße betroffen sein kann, die aber gleichwohl ihn

34. Kap. Besondere Sphären der Einbettung in die reale Welt

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umfaßt hält — auch dann, wenn er sie nicht durchschaut, ja sie vielleicht nicht einmal als besonders geformte Situation empfindet, weil er in sie hineingeboren ist und das Leben nicht anders kennt. Auch die Gesamtsituation des Gemeinschaftslebens ist beweglich, aber in anderen Zeitmaßen. Dem Einzelnen, der nur in einer Phase ihrer Bewegung lebt, erscheint sie leicht als stillstehend. Und gemessen am fliehenden Tempo der persönlichen Lebenslagen hat sie in der Tat eine gewisse Konstanz. Ihre Bewegung ist die der Geschichte. Auch in der Gesamtsituation ist der Mensch zur Initiative herausgefordert, vor Entscheidungen gestellt, wenn auch vom Verhalten des Einzelnen hier weniger abhängt. Seine Entscheidung ist nur ein verschwindender Bruchteil dessen, was den Prozeß bewegt. Es sind Ausnahmefälle, in denen sie darüber hinauswächst. Aber prinzipiell ist die Sachlage die gleiche. Der Mensch „gerät" in die Gesamtsituation, ist in sie hineingestellt, ist von ihr umfangen und getragen wie von einer zweiten Natur; und vor dem Einsetzen der Reflexion hält er sie auch für etwas Naturgegebenes, Notwendiges, Unumstößliches. Das allgemein Geltende scheint ihm zu gelten. Aber auch die Gesamtsituation zeichnet ihm keineswegs vor, was er zu tun hat, wie er sich gegebenenfalls zu verhalten hat. Sie läßt ihm Spielraum, sich So oder anders zu entscheiden. Und darum geht von ihr derselbe Zwang zur Entscheidung aus wie von der privaten Situation. Der Mensch „erfährt" diesen Zwang als einen realen, ihn selbst in seinem Leben eingrenzenden, bestimmenden, mit Verantwortung belastenden, aber auch ihn schirmenden und tragenden. Und dadurch erfährt er das Gemeinschaftsleben selbst in seiner Realität. Die Gültigkeiten des öffentlichen Lebens sind für den Einzelnen eine einzige ununterbrochene Kette solchen Erfahrens. Schon die engste Interessengemeinschaft, in der er steht, hemmt sein Tun in bestimmter Richtung, fördert es in anderer. Sie formt die Chancen vor, die ihm offenstehen. Deutlicher kommt das im Rechtsverhältnis heraus. Alles bestehende Recht grenzt bestimmte Befugnis und Verpflichtung des Einzelnen aus. Man kann bei bestimmtem geltenden (positivem) Recht nicht beliebig, sondern nur auf bestimmte Weise leben. Man konnte unter antikem Recht Sklaven halten, man kann es unter heutigem nicht; man könnte den Sklaven nicht hindern, fortzulaufen und frei zu sein. Man kann unter bürgerlichem Recht Eigentum haben, man könnte es unter kommunistischem Recht nicht; man könnte die Mitlebenden nicht hindern, es als das ihrige zu betrachten und zu gebrauchen. Der Mensch „erfährt" die Realität des bestehenden Rechtsverhältnisses in sehr spürbarer Weise — an den Grenzen der eigenen Handlungsund Entschlußfreiheit. Er kann diese wohl durchbrechen, aber nicht ungestraft. Das Recht steht als reale Macht gegen ihn auf, behandelt ihn als den Brecher bestehender Ordnung. Er kann es höchstens insgeheim bre-

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Dritter Teil. 3. Abschnitt

chen, muß aber dann den Schein wahren. Oder er kann es öffentlich in seinem Prinzip bekämpfen; dann aber kommt es darauf an, ob er die Kraft hat, die öffentliche Gesamtsituation des Bestehenden umzuwälzen, die Menschen zu überzeugen, sie mitzureißen. Der Spielraum, den die gegebene Gesamtsituation läßt, reicht wohl grundsätzlich über sie selbst hinaus, aber nicht für beliebige Initiative des Einzelnen, sondern nur für eine ihr ebenbürtige reale Macht. Der Neuerer muß die geschichtliche Macht des lebendigen Rechtsbewußtseins der Gesamtheit in Bewegung setzen. Nur sie hat die Kraft durchzudringen. In derselben Weise „erfährt" der Mensch die politische Situation, in der er lebt, ja in gewissen Grenzen den Lauf der Weltgeschichte. Das Schicksal von Volk und Staat ist stets auch Schicksal des Einzelnen. Krieg und Frieden, Revolution und Reaktion, Inflation und Arbeitsnot, alles betrifft ihn mit, greift bestimmend in sein Leben, und zwar unabhängig davon, wieweit er es erkennt, durchschaut oder auch nur verstehend verfolgt. Auch dieses Erfahren ist kein besinnliches Beobachten, sondern ein drastisches und einschneidendes, ein Erfahren am eigenen Leib und Leben, Wohlsein, Besitz, Familie, — ein Erfahren, das stets auch Erleiden und Ertragenmüssen ist, stets neues Sichzurechtfinden und Bewältigen des Hereinbrechenden erfordert. Und wiederum zeigt sich die Kehrseite der Realsituation. Auch als geschichtliche stellt sie Anforderungen an den Menschen, die über Sein eigenes Ergehen in ihr hinausreichen. Auch von ihr geht der Appell an die eigene Entscheidung aus, der ihn zur Betätigung der Freiheit nötigt und ihn mit Verantwortung für die Mit- und Nachwelt belastet. Wie sehr auch sein Tun im politisch-geschichtlichen Geschehen verschwinden mag, es ist doch nicht ohne Folgen und Gewicht für das Ganze. Aus dem Tun der Einzelnen integriert sich das der Menge; und selbst wo die Menge nur dem führenden Individuum folgt, erfordert doch schon das bloße Folgen Entscheidung und Einsatz. c) Das Leben im kosmischen Zusammenhang Über den geschichtlichen Lebenszusammenhang hinaus ist nur noch der kosmische, der in den äußeren Dimensionen von Raum und Zeit ins Ungemessene führt. Er „betrifft" den Menschen sehr wohl, schon im Allernächsten, aber zumeist nicht fühlbar, weil er das Gewohnte ist, das sich in menschlichen Zeitmaßen nicht ändert. Die Gegebenheit von Tag und Nacht, Sommer und Winter ist die des Regelmäßigen und deshalb Unaufdringlichen. Erst das Besondere und Auffallende hebt sich gegen den gleichmäßigen Hintergrund solchen Wechsels ab. Hier ist eine Grenze der Realitätsgegebenheit, zwar eine verschwimmende, nicht als Grenzstrich angebbare, aber doch eine unaufhebbar

35. Kap. Erkenntnis und emotionale Gegebenheit

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in der Form der Gesamtsituation unseres Lebens verwurzelte. Gerade das größte, härteste, unbeeinflußbarste und überlegenste Reale ist im allgemeinen nicht ein in seinem vollen Gewicht gegebenes. Und das gilt keineswegs von den makrokosmischen Verhältnissen allein; es gilt ebenso von den Bewegungen der Atome, von den Lebensvorgängen in unserem Körper, von allem, worauf und worin unser Leben physisch beruht. Alle Realverhältnisse solcher Art, sie mögen uns noch so nah betreffen, werden doch nicht im Betroffensein erfahren. Sie werden erst spät und auf Umwegen erfaßt, d. h. sie werden nur „erkannt". Und für den Zweck der Erkenntnis bedarf es erst einer besonderen Besinnung auf das Gegebene. Denn es gibt zwar das einschlägige Gegebene stets im Leben, aber es bleibt unbemerkt. Andererseits aber steht es dem Bewußtsein jederzeit frei, sich auf die Fälle der latenten Gegebenheiten zu besinnen, sie aus ihrer Verdecktheit herauszuheben. Das Bewußtsein „entdeckt" dann im scheinbar Selbstverständlichen das Unverstandene. Dann wird es ihm zum Problem. Und mittelbar, auf dem Umweg über das Problem, kann ihm auch der Modus des eigenen Betroffenseins von den bestehenden Verhältnissen überzeugend fühlbar werden. Gelegentlich aber tritt der kosmische Zusammenhang überwältigend, gleichsam alles über den Haufen rennend, in die unmittelbare Gegebenheit, und dann erreicht das Betroffensein des Menschen einen Grad der Intensität, der alles sonst Erfahrene weit hinter sich läßt. Erdbeben, vulkanische Ausbrüche, Überschwemmungen lassen ihn bis ins Innerste erzittern, sich klein, abhängig, ausgeliefert fühlen. Er verzeichnet solche Naturkatastrophen in den Annalen seiner Geschichte als Schicksal, Verhängnis, deutet sie superstitiös als Eingriff der Götter, als Strafgericht. Auch ein vorgeschrittenes Erkennen entschlägt sich bei solchem Erfahren nicht leicht des Grauens. Die immer vorhandenen, alles tragenden Naturmächte gemahnen auch den Wissenden erst im Hervorbrechen über die gewohnten Grenzen an ihr Vorhandensein. Von Alters her ist solches Gemahnen dem Menschen zum Anstoß des Eindringens geworden, weit mehr als der ebene Gleichfluß der alltäglichen Abläufe. Aber weil die Deutung es von jeher schon im Erleben selbst verfälscht hat, bedarf es gerade hier eines weiten geschichtlichen Umweges, bis nüchterne Besinnung dem realen Kern des Erlebten auf die Spur kommt und aus dem hilflosen Erfaßtsein vom Überwältigenden ein wirkliches Erfassen der Zusammenhänge wird. 35. Kapitel. Erkenntnis und emotionale Gegebenheit

a) Identität der Welt und Ausschnitte der Gegebenheit Überblicken wir nun die Sachlage. Das Erkenntnisproblem konnte den eigenen Bedarf an Realitätsgewißheit nicht decken, geschweige denn den der Ontologie. Die stärkere Gegebenheit zeigte sich in den emotional-

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Dritter Teil. 3. Abschnitt

transzendenten Akten, die alle wiederum im Gesamtphänomen des Lebenszusammenhanges vereinigt sind. In den verschiedenen Arten des Betroffenseins, im Vor- und Rückbetroffensein, im Widerstanderfahren, im Gezwungensein zur freien Entscheidung ist ein solcher stärkerer Gegebenheitsmodus des Realseins aufgewiesen. Es erhebt sich nun noch die Frage, inwieweit diese stärkere Gegebenheit auch wirklich der Erkenntnis zugute kommt, sie stützt und trägt. Denn denkbar wäre es immerhin, daß sie „windschief" zu ihr stünde, sich mit ihr gar nicht berührte; es könnte ja zweierlei Art Realität geben, oder auch zwei inhaltlich verschiedene reale Welten, eine solche der Wahrnehmungsgegebenheit und eine der emotionalen Gegebenheit. In diesem Falle würde aus der letzteren für die erstere nichts folgen, und die Erkenntnis würde aus ihrer Einlagerung in das emotionale Leben nichts gewinnen. Dann aber dürfte auch Wahrgenommenes und Erlebtes nicht inhaltlich ineinander übergreifen, ja auch nicht zueinander passen. Es müßte unmöglich Sein, das Erlebte oder Erlittene auch zu erkennen. Eine solche Unmöglichkeit besteht keineswegs. Erfahrenes und Erlebtes ist grundsätzlich sehr wohl auch erkennbar. Es braucht nur nicht notwendig auch erkannt zu sein. Die Folgen meiner Taten, die ich im Verhalten der Menschen erfahre, treffen mich unabhängig davon, ob ich sie als solche auch erfasse oder nicht. Wo aber Erkenntnis einsetzt, hebt sie das primäre Erfahren nicht auf. Erfahrenes und Erlittenes geht im Leben ohne angebbare Grenze in Erkanntes über. Alle Wahrnehmung und alle Erkenntnis überhaupt ist eingeflochten in den Erlebniszusammenhang. Es gibt eben nur eine Realität, und sie ist die der einen realen Welt, in der wir leben und sterben, in der wir handeln, hoffen, fürchten, leiden, erfahren und ertragen, — dieselbe aber auch, in der wir erkennen. Sie ist es, von deren Zusammenhängen wir so vielfach betroffen, bedrängt, bewegt sind; sie aber ist es auch, deren Zusammenhänge Gegenstand möglicher Erkenntnis sind. Freilich deckt sich der Ausschnitt der Welt, den wir erkennen, inhaltlich nicht ohne weiteres mit dem Ausschnitt, den wir emotional erfahren. Aber die beiden Ausschnitte stehen doch auch nie ohne Berührung nebeneinander. Sie überschneiden sich Stets teilweise, decken sich jederzeit in genügender Breite, um die Identität der Welt, aus der sie herausgeschnitten sind, ohne weiteres als eine mitgegebene erkennen zu lassen. Es sind dieselben Personen, die wir wahrnehmen und beurteilen, an denen wir aber zugleich auch handeln, und deren Behandlung wir erfahren. Die Dinge, die wir sehen und tasten, sind dieselben, mit denen wir auch im Handeln schalten und deren Widerstand wir erfahren. Die Ereignisse, die uns betreffen, die Folgen eigenen Tuns, an denen wir zu tragen haben, sind dieselben, die wir auch begreifen lernen können. Und die Situationen, die unsere Entscheidungen herausfordern, sind dieselben, die wir auch objektiv durchschauen und von höherer Warte aus beurteilen können.

35. Kap. Erkenntnis und emotionale Gegebenheit

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Es gibt in der heutigen Philosophie eine Betrachtungsweise, welche die Verschiedenheit der Aspekte und Ausschnitte weit übertreibt. Schon die Unterschiede der Sinnesgebiete genügen zum Anlaß für solches Auseinanderreißen. „Tastding" und „Sehding" decken sich nicht, motorischer und visueller Raum sind nicht identisch; die „Umwelt" des Kindes und die des Erwachsenen klaffen weit auseinander. Gegensätze solcher Art bestehen ohne Zweifel, und ihnen könnte man den der erlebten und der erkannten Welt anreihen. Aber solange diese Art Betrachtung nur Unterschiede konstatiert, macht sie halbe Arbeit und bleibt methodisch oberflächlich. Das Eigentümliche Solcher Gegensatzphänomene ist eben gerade, daß sie durch die Identität dessen, was den Gegenstand der Aspekte ausmacht, von vornherein über alle Unterschiede hinweg verbunden und fest aufeinander bezogen sind, und daß das Bewußtsein um diese Identität immer schon weiß. Das natürlich eingestellte Bewußtsein kennt keine „Sehdinge" und keinen „Sehraum"; erst die psychologische Theorie bildet diese Begriffe zum Zweck ihrer Unterscheidungen. Es gibt keine wirklichen Dinge, die nur „Sehdinge" wären. Dasselbe gilt von den „Umwelten"; es sind gar keine „Welten", sondern nur Aspekte einer und derselben Welt, wennschon in sehr verschobenen Ausschnitten. Das Kind lebt in derselben realen Welt wie der Erwachsene, es sind ihm nur andere Seiten der Welt und in anderem Umkreis gegeben. Dasselbe gilt grundsätzlich von dem — im übrigen ganz anders gearteten — Gegensatz der erkannten Welt und der emotional erfahrenen Welt. Es ist schon ein Mißbrauch des Wortes, jede von beiden als „Welt" zu bezeichnen. Nichts im Gesamtphänomen des Weltbewußtseins weist daraufhin, daß es verschiedene Welten wären. Alle inhaltliche Verschiedenheit beruht hier vielmehr schon auf der Identität der einen realen Welt, die auf zweierlei Art erfahren, aber vom Bewußtsein selbst doch jederzeit als die eine verstanden wird. b) Schlußfolgerung aus der Transzendenz der emotionalen Akte Man darf also sehr wohl einen generellen Schluß aus der Analyse der emotional-transzendenten Akte ziehen, welcher der Erkenntnis zugute kommt. Ist es nämlich, im ganzen gesehen, dieselbe reale Welt, die hier wie dort den Gegenstand ausmacht, so überträgt sich offenbar das Gewicht der emotionalen Realitätsgegebenheit auf die Erkenntnisgegenstände. Emotionales Erfahren und objektives Erkennen sind und bleiben zwar grundsätzlich verschieden, aber die Gegenstände solchen Erfahrene sind deswegen doch zugleich Gegenstände möglicher Erkenntnis. Hat man dieses Verhältnis einmal durchschaut, so kann man den wahrgenommenen Sachzusammenhängen die Realität grundsätzlich nicht bestreiten, wie sehr auch der Einschlag der subjektiven Auffassungsformen sie überlagern mag. Denn es ist dieselbe Realität, von der wir auch 15 H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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Dritter Teil. S.Abschnitt

im Lebenszusammenhang mannigfach betroffen sind. Man braucht deswegen nicht mit dem naiven Realismus der Meinung zu sein, das Reale wäre auch inhaltlich (dem Sosein nach) genau so beschaffen, wie die Wahrnehmung es zeigt. Nicht um das Sosein des Realen handelt es sich hier, sondern um seine generelle Seinsweise, die Realität als solche. Alle kategoriale Überformung durch die Auffassungsart des Subjekts ist eben doch nur inhaltliche Überformung. Es bleibt ein Realitätskern zurück, der von ihr nicht betroffen wird. Auf ihn allein bezieht Sich der gezogene Schluß. Das mag erkenntnistheoretisch ein mageres Resultat sein; ontologisch ist es das allein Grundlegende und Ausschlaggebende. Das Gewicht dieses Schlusses aber läßt sich erst ermessen, wenn man Sich klar macht, daß nicht erst das philosophische Denken ihn nachträglich vollzieht. Er ist vielmehr nur die logische Rekonstruktion eines ganz primären und fundamentalen Folgeverhältnisses, das unser ganzes Leben in der Welt von Grund aus beherrscht und durchsetzt, das aber eben deswegen im Bewußtsein nur vorausgesetzt, nicht als solches bemerkt und gegenständlich erfaßt wird. Kraft dieses Folgeverhältnisses überträgt sich jederzeit das Gewicht der erlebten und im Betroffensein erfahrenen Realität ohne weiteres auf das Wahrgenommene und von ihm weiter auf die Gegenstände jeweiliger Erkenntnis. Denn von vornherein steht alle Wahrnehmung und alles höhere Erkennen fest eingefügt in denselben Lebenszusammenhang da, in dem wir die Härte des Realen schicksalhaft erfahren. Beides kommt außer ihm überhaupt nicht vor. Nachträglich erst, auf dem Wege der Abstraktion, setzt das Herausreißen der Erkenntnis aus diesem Zusammenhang ein, ihre künstliche Isolierung zum Zweck besonderer theoretischer Betrachtung. Es sind erst die philosophischen Theorien, die das vollziehen. Ihnen aber geschieht es dann, daß sie im Fortschreiten der Betrachtung die vollzogene Abstraktion vergessen und nun das Erkenntnisverhältnis für ein auf sich selbst gestelltes und gleichsam in der Luft schwebendes nehmen. Erst über diesem ersten Irrtum, sofern er stillschweigend zur Grundlage weiterer Überlegungen gemacht wird, erhebt sich dann der zweite noch weit größere, der sich in den Scheinargumenten der Skepsis und des erkenntnistheoretischen Idealismus breit macht. Diese Argumente haben alle ohne Unterschied das schon zur Voraussetzung, sie stehen und fallen mit ihm. c) Weitere Konsequenzen Das Wissen um die Relativität und inhaltliche Täuschbarkeit der Wahrnehmung ist alt, es spielt schon in ein sehr naives Verhältnis zum Gegenstande hinein. Daß trotzdem im Leben die Wahrnehmung als vollgültiges Realitätszeugnis hingenommen wird und die Grundlage aller Empirie bildet, wäre kaum zu verstehen, wenn sie nicht vor aller Reflexion an eine stärkere Grundform der Gegebenheit rückgebunden wäre.

35. Kap. Erkenntnis und emotionale Gegebenheit

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Die Unselbständigkeit der Wahrnehmung, ihre Einbettung in den emotionalen Erlebniszusammenhang, ist erkenntnistheoretisch betrachtet nicht ihre Schwäche, sondern ihre Stärke. Denn sie ist Einbettung in den Realzusammenhang des Menschenlebens und in dessen im Tun und Leiden enthaltene Grundformen des Erfahrene. Hinter dem Wahrnehmen steht jederzeit schon das Gewicht der emotional-transzendenten Akte und des Betroffenseins. An diesem Gewicht hat sie ihren Rückhalt, an ihm findet sie im Zweifelsfalle immer wieder, und vor aller bewußten Überlegung, ihre Bewährung. Und nicht anders als mit der Wahrnehmung steht es mit den höheren Stufen der Erkenntnis. Gemeinhin tritt Erkenntnis im Leben als die nachträgliche oder auch laufend mitfolgende Erhebung des emotional Erfahrenen und Erlebten in die Objektivität auf. So ist unser Wissen um persönliche Eigenart der Menschen, um ihr Wollen, Trachten und Gesonnensein getragen vom eigenen Handeln, Leiden und Durchmachen, unsere Voraussicht des Kommenden von Erwartung, Furcht, Hoffnung und Bereitschaft; ja selbst der reine Wissensdrang und die philosophische Grundeinstellung des Erstaunens ist der Neugier eng verwandt und praktisch nicht scharf von ihr zu scheiden. Darüber hinaus gibt es freilich eine Sphäre des Urteils und der entspannten, objektiven Einstellung. In reiner Form kennen wir sie in der Wissenschaft. Aber zu ihr müssen wir uns erst in besonderer Selbstzucht erheben. Und auch in ihr bleibt aller Anspruch auf Realgültigkeit dem Lebenszusammenhang verbunden. Die Erkenntnis der Welt, indem sie sich aus der Enge des unmittelbaren Welterfahrens befreit und über sie erhebt, bleibt doch mit ihren Wurzeln in ihr haften. Und nur so kann sie der Realität dieser Welt gewiß sein. Das Verhältnis, auf das es hier ankommt, ist also die Rückfundierung der Erkenntnis auf den Lebenszusammenhang, in dem sie steht. Erkenntnis hat vor den emotional-transzendenten Akten den Vorzug der Objektivität, der inhaltlichen Geformtheit und der grundsätzlich unbegrenzten Überschau. Sie hat aber den Nachteil der geringeren Realitätsgewißheit. Sie ist nach der Seite des Soseins der Welt allem Erfahren im Modus des Betroffenseins überlegen, bedarf aber in bezug auf das Dasein der Welt der Ergänzung durch diesen Modus. Das widerspricht der ontischen Relativität von Sosein und Dasein keineswegs; denn diese hat ihre Grenze im Dasein der Welt als eines Ganzen. Was die emotional-transzendenten Akte der Erkenntnis an Rückhalt gewähren, ist eben die Gewißheit der Realität im Ganzen der erkennbaren Welt. Das Ergänzungsverhältnis zwischen ihnen und der Erkenntnis ist also von vornherein ein solches, das der Realitätsgewißheit der Erkenntnis zugute kommt. d) Die Abstufung der Phänomentranszendenz und die Erkenntnis Es wurde oben (Kap. 24 c und d) gezeigt, wie bereits das Erkenntnisphänomen seinen eigenen Phänomencharakter transzendiert, diese seine 15*

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„Phänomentranszendenz" aber nicht aus eigenen Mitteln rechtfertigen kann. Denn Phänomene können auch Scheinphänomene sein. Es fragte Sich weiter: woran sind Realphänomene von Scheinphänomenen zu unterscheiden? Die Frage kommt der anderen gleich: wie ist Erscheinung von Schein zu unterscheiden? Es genügt dafür nicht zu wissen, daß in der Erscheinung ein Seiendes „erscheint", im Schein aber nicht. Denn eben das ist fraglich, woran man daä „Erscheinen" eines Seienden vom leeren Schein unterscheiden soll. Und ebensowenig kann man sich hier auf Kriterien berufen, die in den weiteren Zusammenhängen liegen, etwa in der „Übereinstimmung" mit anderweitig Erkanntem; denn eben das, womit das Erfaßte übereinstimmen soll, unterliegt derselben Fraglichkeit. Man muß also nach einem anderen Ansatzpunkt ausschauen. Ein solcher kann nur in einer Phänomentranszendenz liegen, die stärker ist als die des Erkenntnisaktes. Der Akt selbst muß dazu den Charakter eines unabweisbar gegebenen Realverhältnisses haben, das im Leben sich dem Bewußtsein aufdrängt. Das ist es, was bei den emotional-transzendenten Akten der Fall ist. Denn im Modus des Betroffenseins und seiner Abarten führt der besondere Erscheinungsgehalt von sich aus und als solcher schon gebieterisch und unvermeidlich auf etwas hinaus, was gelbst nicht Erscheinung ist, auf ein charakteristisch Unphänomenales und Überphänomenales. Die Überphänomenalität in der Art der Gegebenheit ist der springende Punkt, auf den es im ErgänzungsVerhältnis von Eikenntnis und emotionalem Erfahren ankommt. Denn da Erkennen und Erfahren sich auf dieselbe Welt beziehen, der Erkenntnisgegenstand aber im Erkennen selbst mit dem Anspruch der Übergegenständlichkeit auftritt, So erfährt die letztere in der Überphänomenalität des emotional Erfahrenen ihre Bestätigung. Die in sich Ungewisse Phänomentranszendenz der Erkenntnis wird durch die tiefer im Realzusammenhang des Lebens gegründete Phänomentranszendenz der emotionalen Akte zur Gewißheit erhoben. Übersieht man nun die ganze Mannigfaltigkeit der transzendenten Akte, der emotionalen und der nicht emotionalen, so kann man unter ihnen eine eindeutige Abstufung der Phänomentranszendenz erkennen. Ganz untenan stehen die apriorischen Elemente der Erkenntnis; ihr Phänomen zeigt keine Phänomentranszendenz, wie denn ihre „objektive Gültigkeit" erst eines besonderen Erweises bedarf. Ganz obenan dürften die emotional-rezeptiven Akte stehen, solche Akte wie Erfahren, Erleiden und verwandte. In ihnen treibt das Phänomen selbst unaufhaltsam über Sich hinaus; das Reale „erscheint" in der Form der Aufdringlichkeit, Härte, Belastung, ja des Zwanges. In dieser Form kann es nicht skeptisch abgelehnt werden. Die Phänomentranszendenz ist hier eine schlagende. Zwischen diese Extreme ordnen sich zwanglos alle übrigen transzendenten Akte ein. Aber diese Stufenfolge ist deswegen doch keine solche der Akttranszendenz. Die letztere läßt ein Mehr und Weniger gar nicht zu; nur die Art ihrer Gegebenheit im Aktphänomen stuft sich ab. Und

36. Kap. Die Sonderstellung der Erkenntnis

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diese Abstufung ist identisch mit der Abstufung im Gewicht der Realitätsgegebenheit. Im Maße dieses Gewichts eben steigt und fällt das Moment der Phänomentranszendenz. Man kann das auch anders aussprechen: das Gewicht der Realitätsgegebenheit in einem Akte ist um so größer, je untrennbarer am Aktphänomen selbst die Realität des Aktes mit der Realität seines Gegenstandes verknüpft ist — etwa die Tatsächlichkeit des Erfahrens mit der Tatsächlichkeit dessen, was man erfährt. In den emotional-transzendenten Akten ist das in solchem Maße der Fall, daß die Ablösung des einen vom anderen nur noch in der Abstraktion, d. h. unter Preisgabe des Phänomens, gelingen kann. Beim eigentlichen Erfahren und Erleiden wird es sinnlos, das „Widerfahrnis" als ein bloß aktgetragenes, mit dem Akte stehendes und fallendes, zu verstehen. Solches Verstehen ist Mißverstehen des Aktphänomens. Es ist darüber hinaus ein tiefes Verkennen dessen, was gewichtig und ernst ist im Menschenleben, ein spielerisches Verscherzen des Wesentlichen.

36. Kapitel. Die Sonderstellung der Erkenntnis

a) Homogeneität und Gegensatz im Aktzusammenhang Unter den transzendenten Akten nimmt die Erkenntnis freilich eine Sonderstellung ein — aber nicht in der Weise, daß sie auf eine andere Welt bezogen wäre. Sie steht nicht außerhalb des Lebenszusammenhanges (wie die logischen Gebilde), spielt aber doch „in" ihm eine so bestimmte und einzigartige Rolle, daß sie sich ganz von Selbst aus ihm heraushebt. Sie ist als transzendenter Akt homogen unter die übrigen transzendenten Akte eingereiht, kommt im Leben ohne sie kaum vor und teilt deren Richtung auf das Reale. Ja, sie begleitet die meisten der emotionalen Akte, begleitet das Erleben und Erfahren, durchleuchtet und deutet es; sie ist im Erwarten, Hoffen und Fürchten mit beteiligt, das Element der Voraussicht gehört ihr an; in alle Gegebenheit von Personen und Situationen, in alle Arbeit und alle Verantwortung spielt sie hinein. So wenigstens ist es in dem Weltbewußtsein, das allein wir kennen, dem unsrigen. Wie es in dem eines Primitiven aussehen mag, ließe sich nur rekonstruieren. Wir kennen es nicht anders, als daß überall, wo emotionale Realitätsgegebenheit ins Licht des Bewußtseins gehoben wird, Erkenntnis schon mit am Werke ist. Ja, das Ins-Bewußtsein-Heben gerade ist wesentlich ihr Werk. Aber es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, wenn sie selbst nicht von vornherein eingebettet in den Lebenszusammenhang dastände. Löst man sie aus diesem Zusammenhang heraus, faßt man sie als etwas rein auf sich Gestelltes, so isoliert man sie künstlich und macht das Grund-

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phänomen in ihr, das Erfassen des Seienden, unverständlich. Bringt man sie gar in prinzipiellen Gegensatz zum emotionalen Erfahren, so wird auch ihre ontische Funktion im Leben verdunkelt. Ein ontologisch grundlegender Gegensatz besteht hier gar nicht. Der wirkliche Unterschied der Erkenntnis vom emotionalen Erfahren ist vielmehr ein rein struktureller. Er ist gewichtig genug, aber er hat nicht die Form eines scharfen Trennungsstriches. Das Grundlegende in ontischer Hinsicht ist die Homogeneität des Aktgefüges als eines geschlossenen und lebendigen Ganzen. Die Gemeinsamkeit der Transzendenz und die Gleichsinnigkeit ihrer Richtung auf die eine reale Welt ist das verbindende und gleichsam einheitstiftende Moment in dieser Ganzheit. Als Bezogenheit auf die Welt ist die Erkenntnis ein Sekundäres und von anderen Formen der gleichen Bezogenheit abhängiges Verhältnis. Wo und wie immer sie einsetzt, wächst sie aus dem Gefüge der emotional-transzendenten Akte hervor — nicht zwar als ihr Produkt, wohl aber als ihr Erfordernis und ihre Ergänzung. Ihre Autonomie ist die eines Abhängigen und Getragenen. Sie hat die Form derjenigen Selbständigkeit, die überall im Weltzusammenhang dem Gebilde höherer Ordnung über dem der niederen zukommt: Eigengesetzlichkeit in der Abhängigkeit. Die Art ihrer Heraushebung aus dem Aktgefüge ist charakterisiert durch die Abstreifung der Emotionalität als solcher, und zwar unter Beibehaltung des Gewichts der emotionalen Gegebenheit. Das Erfaßtsein und Betroffensein weicht dem unbeteiligten ,.Erfassen", das Subjekt rückt in Distanz zu seinem Objekt; es löst sich aus dem Drang des Aktuellen, und eben dadurch wird ihm die bedrängende Welt zu einer Welt von Gegenständen. Aber dieser Übergang ist keine scharfe Begrenzung, sondern unmerkliche, verschwimmende Verschiebung. Erst vom gewonnenen Resultat aus erscheint sie wie ein Grenzstrich. Denn die Verwurzelung der Objektivität in den Formen des emotional Gegebenen wird nicht mit ins Licht der Erkenntnis erhoben. Sie ist im ausgereiften Bewußtsein der Gegenstände verschwunden. Das täuscht dem Subjekt eine Freiheit der Erkenntnis vor, die diese weder im Ganzen noch in einem Teil hat. Das Verschwinden des Betroffenseins hebt also tatsächlich die Gebundenheit der Erkenntnis an den Lebenszusammenhang nicht auf. Es hebt nur das Wissen um sie auf. Selbst in der Wissenschaft, wo die Erkenntnis sich eigene Ziele setzt, die als solche wirklich das Lebensaktuelle weit hinter sich lassen, bleibt doch die Rückbindung an primäre Gegebenheit bestehen; und darüber hinaus gibt es eine Zielsetzung auch des wissenschaftlichen Vordringens, die unablässig an diesen Hintergrund erinnert; denn immer wieder gibt es emotionale Aktualität, Forderungen der Lebenslage und des praktischen Interesses, die neue Gegenstandsbereiche in die Greifbarkeit, ja allererst in das Feld des Bemerkten einrücken lassen.

36. Kap. Die Sonderstellung der Erkenntnis

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b) Soseins- und Daseinsgegebenheit in der Aktmannigfaltigkeit Gemeinsam ist ferner allen transzendenten Akten, daß die Seinsgegebenheit in ihnen ebenso wie in der Erkenntnis eine solche des Daseins und des Soseins zugleich ist. Das tritt freilich zurück bei den passivprospektiven Akten, sofern das Subjekt hier nur mit der Chance rechnet und reell nur des Anrückenden überhaupt gewiß ist; aber auch in der Chance noch rechnet es doch mit etwas Bestimmtem. Ganz deutlich wird das Verhältnis bei den Grundtypen emotionaler Gegebenheit, beim Erfahren, Erleben und Erleiden, und kaum weniger beim Tun, Handeln, Wollen, im Umgang mit Personen und im Zwang zur Entscheidung bei gegebener Situation. Man erfährt und erleidet eben stets etwas Bestimmtes — und zwar nicht bloß anhängenderweise, Sondern wesentlich und als Solches. Ebenso erfährt man im Rückbetroffensein bestimmte Schuld, im Erfaßtsem von der Situation den Zwang zu bestimmter Entscheidung (nicht zu beliebiger), in der Arbeit am Dinge einen Widerstand von bestimmter Artung. Alles das betrifft das Sosein des Realen, und keineswegs sein nacktes, allgemeines Dasein ohne Differenzierung. Das aber bedeutet: gerade die emotional-transzendenten Akte machen den ontologisch sehr relativen Unterschied zwischen Dasein und Sosein überhaupt nicht; für sie ist das Gegebene noch ontisch einfach. Erst nachträgliche Reflexion macht den Unterschied; er wird sekundär durch die Erkenntnis hineingetragen. Gerade ihm also entspricht hier nicht wie in der Erkenntnis ein primärer Unterschied der Gegebenheit. Das hängt freilich auch mit der Schwäche aller emotionalen Gegebenheit zusammen, nämlich mit der inhaltlichen Undeutlichkeit. Verschwommenheit oder Dunkelheit, die ihr in vielen Aktarten eigen ist. Es ist zwar wohl auch das Sosein der Sache gegeben, und zwar durchaus primär, zugleich mit dem Dasein, aber es ist in seiner Bestimmtheit nicht fest umrissen. Das gilt nicht nur vom Hoffen und Fürchten, es gilt auch von vielen Formen des Erleidens und Erlebens, desgleichen vom Rückbetroffensein im eigenen Tun und vom Erfahren der fremden Person in ihrem Verhalten. Wie es das „dunkle" Schuldgefühl gibt, das schon das Gewicht der Schuld empfindet, aber noch nicht recht weiß, worin sie besteht, so gibt es auch das dunkle Bewußtsein fremden Mißtrauens, oder fremder Ablehnung. Ebenso kann man eine aufgeregte Straßenszene sehr eindrucksvoll „erleben", ohne sich recht klar zu werden, was da eigentlich vorgeht. Unser Leben ist voll von solcher inhaltlich dunklen oder verschwommenen Gegebenheit, bei der aber die Tatsächlichkeit selbst (das Dasein oder die Realität als solche) ganz außer Frage steht. Man kann nicht sagen, daß bei ihr kein Sosein gegeben wäre; denn es ist sehr wohl mit empfunden; man kann auch nicht sagen, daß es ungewiß wäre; denn ge-

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rade das Wenige, was inhaltlich gegeben ist, wird keineswegs als ungewiß empfunden. Das Sosein ist in diesen Akten eben nur „undeutlich" gegeben — das ist etwas anderes als „ungewiß" —, es zeigt eine gewisse Unbestimmtheit, und oft genug ist es auch von einem Wissen um diese Unbestimmtheit begleitet. Im letzteren Falle setzt dann die Tendenz ein, zur Bestimmtheit der Sache durchzudringen. Diese Tendenz aber ist stets schon das Einsetzen der Erkenntnis. Denn darin besteht die eigentümliche Überlegenheit der Erkenntnis über die emotionalen Akte aller Art, daß sie die nähere Bestimmtheit dessen, was sie erfaßt, nicht nur in Andeutungen gibt, sondern inhaltlich durchdringt und in die objektive Bewußtseinsform der Vorstellung, des Gedankens oder auch des Begriffs erhebt. c) Überlegenheit der Erkenntnis und intellektualistisch.es Vorurteil Nach der Seite der Soseinserfassung also liegt die Stärke der Erkenntnis, nach der Seite der Daseinsgegebenheit die der emotional-transzendenten Akte. Dasein und Sosein sind zwar in beiden Arten des Aktes gegeben; aber dort ist das Dasein „ungewiß", hier das Sosein „undeutlich" gegeben. Sind also die Akte im übrigen homogen und im Ganzen auf dieselbe Welt bezogen, so dürfte das Ergänzungsverhältnis in ihnen ein geradezu ideales sein. Die Sonderstellung der Erkenntnis unter den übrigen transzendenten Akten ist nicht in einer ontischen Heterogeneität, sondern gerade auf Grund ihrer Homogeneität mit ihnen zu suchen: nämlich in dem Komplementärcharakter ihrer Vorzüge und Schwächen zu denen der emotional-transzendenten Akte. Dieses Ergänzungsverhältnis ist auch im Leben bekannt. Platon hat es zuerst geschildert — als ein Nicht-fertig-Werden der mit ihrem Gegebenen und ein Zuhilferufen der höheren Einsicht. Er bezog es zwar nur auf die Wahrnehmung, aber gerade das Zuhilferufen paßt noch weit besser auf die emotionalen Formen der Gegebenheit mit ihrer Dunkelheit und Verschwommenheit, welche die Tendenz zur Klärung, Verdeutlichung und Bestimmung in der Tat bereits mitbringen. Das Mitbringen der Tendenz ist eben das Herbeirufen der Erkenntnis. Die große inhaltliche Überlegenheit der Erkenntnis, ihre Fähigkeit der Kritik und des NachprüfenS, die ihr eine Art richterlicher Stellung unter den gebenden Akten anderer Art verleiht, ist durch ihre weitgehenden praktischen Folgen im Leben selbst viel zu allgemein anerkannt und objektiv befestigt, als daß es für sie des Erweises bedürfte. Umgekehrt dagegen gibt es viel Überschätzung der reinen, durch eigene Methoden abgesonderten, wissenschaftlichen Erkenntnis; es gibt das weit verbreitete intellektualistische Vorurteil, als vermöchte Erkenntnis allein und auf sich gestellt alles zu leisten, was der Mensch sich an Gewißheit wünscht; wobei dann nicht nur ihre inhaltliche Grenze, sondern auch ihr Rück-

36. Kap. Die Sonderstellung der Erkenntnis

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fundiertsein auf die emotionale Gegebenheit des Daseins ihrer Gegenstandswelt verkannt wird. Dieses intellektualistische Vorurteil entsteht mit einer gewissen Zwangsläufigkeit überall da, wo man das Erkenntnisproblem einseitig an der Wissenschaft orientiert. Die Gefahr, die es für die Philosophie bedeutet, liegt nicht in seinem Irrtum allein, sondern gerade darin, daß Irrtum und Wahrheit in ihm unheilvoll gemischt sind. Die Überschätzung der Wissenschaft, zumal der exakten, die aus ihm resultiert, ist ebenso grundsätzlich verfehlt wie ihre Unterschätzung, die sich als Reaktion auf jene einstellt. Hier wie überall im Leben neigt der Mensch gefühlsmäßig zur Einseitigkeit der Extreme, und es hält schwer, den schlichten Weg der Synthese und der Einstimmigkeit mit den beiderseitigen Phänomenen einzuhalten. d) Verselbständigung und Sachentfremdung der Wissenschaft Der große Aufschwung der exakten Wissenschaft im 19. Jahrhundert hat zur Verselbständigung ihrer Methoden, ja zu deren Nachahmung in der Philosophie geführt. Man glaubte damit die Philosophie auf „reellen" Boden zu stellen. Die Tendenz entstand in der Reaktion gegen Hegel, der freilich mit diesen Methoden willkürlich umgesprungen war. Man berief sich auf die Kantische Orientierung am Faktum der Wissenschaften, verallgemeinerte sie und gelangte zum neukantischen Idealismus einerseits, zum reinen Positivismus andererseits. Gemeinsam ist diesen Richtungen nicht nur die Ausschaltung der metaphysischen Grundprobleme in der Philosophie, sondern auch eine gewisse Verfälschung der positiven Wissenschaft selbst. Man reduzierte sie auf das „wissenschaftliche Denken" als solches, auf ihre inneren Methoden und Operationen, setzte sie unabhängig vom Sein der Welt, ließ sie gleichsam ihre Wege für sich laufen; ja man verstand sie als rein quantitatives Denken, wobei die Voraussetzung war, daß eben das Quantitative das allein exakt Faßbare sei. Diese Entwicklung läuft auf Preisgabe des ontischen Sachgehalts in der Wissenschaft hinaus. Das Qualitative und noch mehr das eigentlich Substantielle bleibt außerhalb des Erfaßten. Man beschränkt sich auf Relationen, Gesetze, Formen, versteht sie als die vom Denken gesetzten, hineingetragenen oder gar subjektiv erzeugten. Letzterer Auffassung wiederum liegt das Vorurteil zugrunde, Relationen seien nichts Seiendes, nur Gedachtes; dem Gegenstande der Erkenntnis, der wesentlich in Relationen besteht, konnte man auf diese Weise auch kein selbständiges Sein zusprechen. Er wurde mehr und mehr dem im Erkenntnisprozeß inhaltlich sich aufbauenden Begriff gleichgesetzt. Und dem entsprechend mußten seine Gesetze — d. h. alles, was in ihm an inneren Verhältnissen faßbar wurde — als logische Verhältnisse, Urteile, Formeln verstanden werden. Man ließ die Wissenschaft leerlaufen.

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Dritter Teil. 3. Abschnitt

Der Pragmatismus, obgleich auf anderem Boden gewachsen, fügt sich dieser Tendenz organisch ein. Für ihn sind die Formen der Auffassung, also auch die Gesetze der wissenschaftlich gefaßten Gegenstände, von vornherein etwas Fiktives, das mit der wirklichen Beschaffenheit des Seienden nichts zu tun hat; sie gelten ihm als Mittel praktischen Verhaltens, zweckmäßig für jeweilig gewordene Verhältnisse, eine Art Ökonomie des Bewußtseins in seiner lebensnotwendigen Weltorientierung. Galt schon den Neukantianern die Wahrheit als bloß immanente Übereinstimmung der Begriffe und Urteile, so hebt der Pragmatismus den Sinn des Wahrseins vollkommen auf. An seine Stelle tritt die praktische Zweckdienlichkeit, die nackte Nützlichkeit der AuffaSöungsweise in gegebenen Verhältnissen, ohne Rücksicht auf alles Zutreffen oder Nichtzutreffen. Diese philosophischen Richtungen und alles, was sie an Abarten hervorgetrieben haben, bilden im Grunde einen einzigen großen Kehraus der Erkenntnis aus der Wissenschaft — oder was dasselbe ist, des Seins aus ihrem Gegenstandsfelde —, eine Tendenz, die freilich den gesunden Kern der Forschung nicht berühren konnte, wohl aber ihre theoretischspekulativen Folgerungen mit bestimmt hat. Man spürt das heute deutlich in der Gewagtheit der Konsequenzen, welche die theoretische Physik gezogen hat. Der Begriff des Naturgesetzes selbst, einst das Fundament exakter Bestimmung, ist in Auflösung begriffen. Man spricht von Gesetzen der Wissenschaft und tut, als handelte es sich noch um Realgesetze der Naturzusammenhänge. Man relativiert die Dimensionen, in denen alle Bestimmtheit spielt, verwechselt die wissenschaftliche Bestimmbarkeit mit der Bestimmtheit des Seienden, die Grenzen der einen mit denen der anderen. Man entfernt sich vom wirklich Gegebenen in die mathematischen Formehi und kehrt zuletzt gar die Fragestellung um. Man fragt nicht mehr, welche Formeln dem Gegebenen am besten entsprechen, sondern welche Deutung des Gegebenen den errechneten Formehi am besten entspricht. Als wären nicht die aufweisbaren Phänomene, sondern die Formehi der feste Boden, auf dem das übrige sich erhebt. e) Wissenschaftskritik und Phänomenologie Die Reaktion gegen diese Richtung geht nicht weniger fehl. Sie hat ihre Vorläufer in den frühen Vertretern geisteswissenschaftlicher Orientierung, setzt aber radikal erst bei Bergson und den französischen Wissenschaftskritikern ein, um dann in Deutschland durch die aufkommende Phänomenologie festere Form zu gewinnen; die letztere allerdings ist hierbei mehr im Sinne des Schulzusammenhanges als der methodischen Leistung zu verstehen. Die Wissenschaftskritik geht von der entleerten und ins Formelhafte abgesunkenen Gestalt der Wissenschaft aus, durchschaut diese, hält sie

36. Kap. Die Sonderstellung der Erkenntnis

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aber irrig für das Wesen der Wissenschaft selbst. Sie läßt sich so von einer schmalen geschichtlichen Augenblickstendenz der Wissenschaft täuschen. Sie sieht durch den aufgetürmten Begriffsapparat nicht mehr hindurch, sieht nicht die Zusammenhänge mit der Gegebenheitsfülle, mit dem anschaulich Konkreten; sie sieht nur die Abstraktion und Konstruktion. Ihr gilt die Wissenschaft als lebensfremd, anschauungsfremd, als zurechtgemachte „Theorie". Sie fügt zu dem vermeintlichen Kehraus des Seins aus der Wissenschaft auch noch den Kehraus der Wissenschaft aus dem Leben und aus der Philosophie. Das Resultat ist eine Rückkehr zum „naiven" Weltbewußtsein. Da man aber als philosophierender Mensch ein solches nicht hat, So kann man Sich hierbei nicht auf primäre Gegebenheit beziehen, sondern muß es zu rekonstruieren suchen; wobei die theoretische Belastung der Rekonstruktion sich dann freilich nicht vermeiden läßt. Die Rückkehr als solche ist der Tendenz nach durchaus positiv zu bewerten. Weit fraglicher ist aber von vornherein die negative Seite, die Ausschaltung der Wissenschaft mit ihren zahllosen, erst durch sie aufgedeckten Zugängen zum Gegebenen, — eine Verurteilung der WissenSchaft, als wäre sie der Feind der Wahrheit, als wäre es ihr Werk, die Anschauungsquellen zu verstopfen, um im Konstruierten zu leben. So meint man sich auf „naiv" verstandene „Phänomene" zurückziehen zu müssen. Charakteristischerweise sind es aber lauter Bewußtseins- und Aktphänomene, nicht Welt- und Gegenstandsphänomene, an denen man die reine Gegebenheit abzulesen meint, und deren Phänomenalität man noch besonders unterstreicht. Auf dieser Grundlage wird dann „Phänomenologie" als Rückkehr zu Wahrheit und Leben proklamiert. Darin liegen zwei Konsequenzen, die sich alsbald fühlbar machen. Erstens verurteilt man damit die Philosophie zum Verharren an der Oberfläche, versagt ihr das Eindringen, das Aufdecken, den Schluß, das Verstehen, das Erklären. Phänomene als solche sind notwendig Oberfläche; sie sind, inhaltlich verstanden, die dem Erfassen zugekehrten Außenseiten der Gegenstände, wobei die Überfärbung durch die subjektiv bedingte Anschauungsweise noch Elemente hineinträgt, die dem Gegenstande nicht angehören. Die Wesensschau kommt auf diese Weise nicht unmittelbar zum Wesen des Seienden, sondern zunächst immer nur zum Wesen des „Phänomens" des Seienden. Und bleibt man grundsätzlich bei diesem stehen, so schneidet man sich vom Seienden ab. Die Philosophie wird so zwar wieder bunt und anschaulich-mannigfaltig; aber es ist eine seichte Buntheit, ein plätscherndes Schwimmen an bewegter Oberfläche. Der Rekurs auf Phänomene ist fruchtbar und notwendig; sie sind die Angriffsfläche alles möglichen Eindringens. Und da sie sich nicht von Selbst aufdrängen, sondern Bemühung, Aufzeigung und Beschreibung verlangen, so ist die auf sie gerichtete Methode als Vorarbeit nicht zu vermeiden. Aber das Stehenbleiben bei ihnen ist der Tod alles tieferen Eindringens, die Preisgabe der eigentlich philosophischen Probleme.

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Dritter Teil. 3. Abschnitt

Dazu kommt ein Zweites. Man glaubt an das naive Bewußtsein als maßgebende Instanz aller Gegebenheit. Aber man bemerkt nicht, daß man es gar nicht kennt. Ein jedes Bewußtsein kann unmittelbar nur sich selbst, nicht das fremde kennen, ein ihm heterogenes also schon ganz und gar nicht. Das naive Bewußtsein nun philosophiert nicht, reflektiert also auch nicht auf sich; das philosophierende Bewußtsein aber ist nicht naiv. Beide also fassen das naive Bewußtsein nicht; jenes nicht, weil es nicht danach fragt, dieses nicht, weil es ihm himmelfern steht und es nicht kennt. Man rekonstruiert also das naive Bewußtsein und gibt das Rekonstruierte für Beschreibung eines unmittelbar Gegebenen aus. Die Beschreibung aber fällt notwendig falsch aus. Ein klassisches Beispiel dafür ist Husserls Analyse der reinen Wahrnehmung. In Wirklichkeit kennen wir reine Wahrnehmung im Leben gar nicht; wir kennen die Wahrnehmung nur gemischt mit anderweitigen Erkenntnismomenten, nur im Ganzen größerer Zusammenhänge und in diese hinein verarbeitet; wie sie für sich genommen aussehen mag, ist daraus nicht zu entnehmen. Anstelle eines Geschauten wird ein Gemutmaßtes beschrieben. Das mag an sich hingehen. Aber daß das Beschriebene nun für unmittelbar Gegebenes ausgegeben wird, ist eine ungeheure Selbsttäuschung. Da ist immer noch die geschmähte Wissenschaft urwüchsiger, die ihre Konstruktionen wenigstens nicht für „Phänomene" ausgibt, nicht Naivität vortäuscht, dafür aber tatsächlich der natürlichen Richtung des Bewußtseins auf die Sache treu bleibt und somit bei aller Entfernung vom Ausgang immer noch die geradlinige Fortsetzung des wirklich naiven Welterfassens ist.

37. Kapitel. Die Stellung der Wissenschaft

a) Methodische Irrtümer und Mißverständnisse Im Gesamtresultat: wo Phänomenologie eine vorbereitende Methode ist, leistet sie Ausgezeichnetes und Unentbehrliches; wo sie das Ganze der Philosophie an sich reißt, wird sie zum Verzicht auf wissenschaftliche Bildung und größere Zusammenschau, zum neuen Appell an den gesunden Menschenverstand — als ob dieser für sein „Verstehen" nicht erst zu lernen brauchte ·—, also zu einer Art gewollt ungebildeten Philosophierens. Die Folge ist der kritiklose Glaube an Evidenz und vermeintlich infallible Gewißheit, die Preisgabe der im Ringen der Jahrhunderte erarbeiteten Kriterien, die allgemeine Destruktion der philosophischen Errungenschaften und das Verschwinden des in ihnen greifbar werdenden Erkenntnisproblems. Die letzte Phase dieser Entwicklung ist die Rückkehr zum Weltbilde des „unglücklichen Bewußtseins" — wie Hegel es erstmalig beschrieben, und Kierkegaard es unter dem Druck seiner Zwangsvorstellungen unfreiwillig nachgezeichnet hat.

37. Kap. Die Stellung der Wissenschaft

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Irrtum über Irrtum. Der Kampf gegen den Intellektualismus endet in der Vernichtung des Intellekts und in der unintelligenten Anmaßung der Unwissenheit. In der allgemeinen Abwertung der Erkenntnis überhaupt wird gerade dasjenige radikal verfehlt, um dessentwillen die ganze Zurichtung der Phänomenanalyse — auch die der engeren Phänomenologie selbst — unternommen wurde: das Erfassen des „Seienden als Seienden". Das große Mißverständnis der Wissenschaftskritik liegt nicht in den inhaltlichen Einzelheiten — da hatte sie in manchem auch recht —, sondern im Grundsätzlichen: in der Verkennung der Tatsache, daß gerade die Wissenschaft von jeher auf das Seiende als Seiendes gerichtet war und es selbst in ihren Auswüchsen noch geblieben ist. Die Beurteilung der Wissenschaft als der ins Große ausgewachsenen Zusammenschau und des durch Arbeitsteilung unübersichtlich gewordenen Aufbaues ist eben nicht leicht. Sie verlangt allseitiges Eindringen, wie es der Einzelne in der Tat nicht mehr aufbringen kann. Darüber aber hätte man nie vergessen dürfen, da'! gerade die positive Wissenschaft in allen ihren Verzweigungen ontologisch eingestellt ist, und daß in diesem Punkte die Philosophie sich mit Recht an ihr hätte orientieren können. Nicht durch sie selbst, sondern durch die einseitig philosophische Auswertung ihrer abgelösten Resultate ist die Verkennung ihres Wesens heraufgeführt worden. b) Einbettung der Wissenschaft in den Lebenszusammenhang Die eingerissenen Schäden können nur geheilt werden, wenn es gelingt, die ontologische Einbettung der Erkenntnis überhaupt und der Wissenschaft im besonderen wiederzugewinnen. Die Grundlage dazu ist durch die Analyse der emotional-transzendenten Akte geschaffen. Es hat sich gezeigt, daß die Erkenntnis überhaupt — und damit grundsätzlich auch die wissenschaftliche — nicht in einem Richtungsgegensatz zum Erfahrungsmodus dieser Akte steht, also auch nicht zu den wahren Grundformen des unreflektierten Weltbewußtäeins, sondern sich ihnen homogen einfügt, daß sie also den Lebenszusammenhang, wie er wirklich erlebt und erfahren wird, nicht „gegen" sich, sondern stets „für" sich und gleichsam hinter sich hat. Man kann dieses Verhältnis das Grundgesetz der Realitätsgegebenheit nennen: alle transzendenten Akte, einschließlich der Erkenntnis, einschließlich auch ihrer komplexen Verwobenheit im erlebten Lebenszusammenhang, sind bei aller Struktur- und Leistungsverschiedenheit doch eindeutig homogen; in ihnen allen wird grundsätzlich ein und dieselbe Realität — d. h. das Dasein einer und derselben realen Welt — erfahren, wennschon in verschiedener Weise und von verschiedener Seite; wobei subjektiverseits nicht nur das erfahrene Bewußtsein selbst eines ist, sondern auch die Einheit dieser mannigfaltigen Erfahrung weiß und mit er-

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Dritter Teil. S.Abschnitt

fährt, dergestalt daß die Besonderheit der einzelnen Akte ihm gegen die Einheit der Gesamterfahrung — als der Erfahrung „einer" gemeinsamen und identischen Realwelt, in der es selbst steht und lebt, — vollkommen verschwindet. Dieses Verhältnis ist der Boden, auf dem die Wissenschaft erwächst. Und diesen Boden verläßt sie niemals, solange sie nicht entartet und in ein gegenstandsloses Spiel mit Begriffen übergeht. Entartet sie aber, so hört sie auf, Wissenschaft zu sein. Man kann die angegebene Homogeneität auch noch anders beschreiben. Naive Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnis haben die Grundeinstellung auf die reale Welt als Gesamtgegenstand — d. h. die intentio recta — miteinander gemein. Sie sind von Hause aus ontologisch eingestellt. Sie bringen diese Einstellung als ihre natürliche Art, in der Welt zu stehen und in die Welt zu Sehen, bereits mit. Und dieses bedeutet inhaltlich, daß beide von Hause aus alles, was ihnen in der Welt begegnet, als Ansichseiendes verstehen, ja es als ein solches empfinden, erleben, erfahren und — erkennen. Für die Philosophie ergibt sich, daß sie es gar nicht nötig hat, sich noch besonders auf ontologischen Boden zu stellen; sie steht immer Schon auf ihm, wenn sie ohne Verschiebung der natürlichen Einstellung vom Leben und von der Wissenschaft herkommt. Die Richtung der Ontologie ist keine sekundäre, erst von der Theorie vollzogene; sie ist, wie schon zu Anfang (Kap. 4) gezeigt wurde, die nämliche wie die der natürlichen und wissenschaftlichen Erkenntnis, ist deren geradlinige Portsetzung. Jetzt aber zeigt es sich, daß dieser Richtungszusammenhang noch weiter zurückreicht, noch tiefer im Lebenszusammenhang wurzelt. Denn schon diesseits aller eigentlichen Erkenntnis, auch der natürlichen, ist die Grundeinstellung des Bewußtseins eben dieselbe — als die des Erlebens und Erfahrene, des Fürchtens und Hoffens, des Wollens und Handelns, d. h. als die der emotional-transzendenten Akte. Die ontologische Einstellung ist also von Anbeginn denjenigen Akten eigen, auf denen die erste und grundlegende Gegebenheit der Realität als solcher beruht. Hiermit schließt sich der Kreis der Erörterungen, die dem Problem der Realitätsgegebenheit gewidmet waren. Sie haben zu ihrem Ausgangspunkt zurückgeführt. Erst mit diesem Resultat ist der Boden für eine realontologische Untersuchung sichergestellt. Auf diesem Boden darf sich die Analyse ungefährdet der kategorialen Besonderung des Seienden hingeben. Die Besorgnis, sie könnte sich dabei von der Seinsweise des Gegebenen entfernen, braucht sie nicht zu hemmen. c) Richtigstellung wissenschaftskritischer Vorurteile Das weitere, das sich in dieser Richtung folgern läßt, betrifft nur noch einzelne Einseitigkeiten und Irrtümer über das Wesen der Wissenschaft, und insonderheit der exakten.

37. Kap. Die Stellung der Wissenschaft

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1. Die exakte Wissenschaft ist weit entfernt, rein quantitative Erkenntnis zu Sein. Das Quantitative ist nur das Faßbarste am real Seienden und deswegen das Mittel exakter Fassung. Aber Beschränkung auf das Quantitative oder gar „Auflösung" alles Faßbaren in Quantität gibt es in keiner Wissenschaft; stets geht es um etwas anderes, was durch die quantitativen Verhältnisse mittelbar erfaßt wird. Und dieses Andere ist der eigentliche Gegenstand, der in den Formen der Fassung niemals aufgeht. Typen dieses Anderen sind: der Körper, die Kräfte, die Energien, der reale Prozeß, das Geschehnis, das Wirken und Bewirktwerden. Man muß, um eine mathematische Formel der Mechanik, die sich in den Zeichen m, t, g, v ... bewegt, auch nur sinngemäß zu verstehen, schon wissen, was Masse, zeitliche Dauer, Beschleunigung, Geschwindigkeit überhaupt ist. Dieses Wissen aber ist nicht ein solches von Quantitäten, sondern von den Verhältnissen, in denen mögliche Quantität sich bewegt, — oder in genauerer kategorialer Fassung, von den Substraten und Dimensionen möglicher Quantität. Es gibt in der Wissenschaft keine leerlaufende quantitative Bestimmung; sie ist immer Bestimmung eines anderen, Unquantitativen. Darauf allein beruht die große Bedeutung der Mathematik in der exakten Wissenschaft. Anders wäre diese nicht Wissenschaft vom Realen. 2. Die Wissenschaft löst ihren Gegenstand ebensowenig in Relationen auf wie in Quantitäten. Ihre Tendenz ist nicht „relationalistisch". Und da alle Gesetzlichkeit Relationsform hat, so kann man auch sagen: der Inhalt der Wissenschaft geht nicht in Gesetzlichkeit auf. Es handelt sich immer um Gesetze eines bestimmten Realen; und nicht die Gesetzlichkeit als solche und um ihrer selbst willen, sondern das bestimmte Reale ist ihr Gegenstand. Es sind also nur bestimmte Seiten am Realen, die in Gesetz und Relation aufgehen; genau so wie an Gesetz und Relation es nur eine bestimmte Seite ist, die in Quantität aufgeht. 3. Andererseits gilt es, Gesetz und Relation deswegen nicht zu unterschätzen. Sie sind weit entfernt, etwas bloß Erdachtes oder Hineingetragenes zu sein (etwa bloß in mente zu bestehen). Sie sind nicht Resultat, sondern Gegenstand der Forschung, sind als ein solcher selbst real. Indem sie das generelle Sosein einer bestimmten Art des Realen ausmachen, haben sie — nach dem oben entwickelten Grundverhältnis von Dasein und Sosein — selbst reales Dasein ,,an" diesem Realen. Wieweit sie aber erkannt werden, ist eine Frage, die an ihrem Realsein nichts ändert. 4. Die von der Wissenschaft aufgestellten Gesetze — und seien sie noch so exakt, durchsichtig, einleuchtend — dürfen nicht ohne weiteres für Realgesetze der Natur ausgegeben werden. Sie unterliegen dem Irrtum wie aller andere Erkenntnisinhalt auch, können streng genommen stets nur als Annäherungsstufen an jene gelten, die im Fortschreiten der Einsicht wieder überschritten werden. Die Realgesetze der Natur, soweit es Solche gibt, bestehen „an sich" und walten in ihr unabhängig von allem Erkanntwerden. Denkbar wäre es, daß wir trotz aller hochentwickelten Gesetzes Wissenschaft keines von ihnen recht kennten.

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Dritter Teil. 3. Abschnitt

5. Wissenschaft ist nicht, was die Kritik ihr nachsagt, Isolierung, Auflösung, Abstraktion, oder gar Verarmung und Verfälschung des Weltbildes. Sie ist gerade von Grund aus Zusammenschau, Synthese des Gesamtbildes, ein Schauen höherer Ordnung mit wohlgeprüften Mitteln der Schau ( ); sie ist eine gewaltige Bereicherung der Weltauffassung, Aufdeckung des sonst Verborgenen, Faßbarmachung des sonst Unfaßbaren. Sie ist das auch da noch, wo sie einseitig vorgeht. Denn sie ist grundsätzlich an keine ihrer Einseitigkeiten gebunden, kann sie in voller Freiheit alle wieder überschreiten. 6. Nur die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und der Aufteilung des Gesamtgegenstandes an die Spezialgebiete der Forschung hindert die Überschau des Einzelnen. Die Wissenschaft selbst geht immer auf das ungeteilte Ganze, aber der konspektiven Köpfe sind zu aller Zeit nur wenige. Zur Überschau bedarf es eminenter Intuitionskraft, einer solchen, für die alle Begrifflichkeit und alles Schließen nur Mittel ist. Solches Schauen ist unendlich inhaltsreicher als das naive. Aber da es ein Schauen großen Stiles ist, ist und bleibt es eine seltene Gabe. Wer sie nicht hat, dem sind die „Gesetze" nur Abstraktionen; er sieht nicht das Wesen in der Form, fühlt nicht den Pulsschlag des Wirklichen in der geprägten Begrifflichkeit. Wie denn Begriffe selbst ihm auch nicht das lebendige Begreifen sind. 7. Weil die Synthese in der wissenschaftlichen Schau eine Anforderung ist, die weit über das Durchschnittsmaß menschlichen Könnens geht, so gilt in der Wissenschaft der Satz: wenige sind auserwählet. Weil sie aber auf ihren Teilgebieten unübersehbar verzweigter Spezialarbeit bedarf, so zieht sie im Maße ihrer Verzweigung immer mehr Köpfe an sich, als der Synthese fähig sind. Diese der Synthese unfähigen Köpfe, deren sie nicht entraten kann, die aber im Hinblick auf das Ganze nur ein begrifflichformales Wissen haben, sind es, die den Sinn der Wissenschaft entheiligt und ihr inhaltliches Gebäude dem Lebenszusammenhang entfremdet haben. Dieser Zustand ist in ihr selbst zwar nicht aufhebbar, wohl aber gibt es in ihr ein Gegengewicht gegen ihn, die Philosophie. Dauernde Aufgabe der Philosophie ist es, das Gewissen der Wissenschaft zu sein und immer wieder zur lebendigen Überschau zurückzuführen. d) Ontologische Einbettung der Erkenntnis Die Philosophie hat diese Aufgabe nicht immer erfaßt. Sie hat Sich von den Teilerfolgen der positiven Wissenschaft auf einzelnen Gebieten blenden und zu deren Einseitigkeiten verführen lassen; sie hat im Verfolg solcher Tendenzen nicht selten die Fühlung mit dem Leben und mit der Unmittelbarkeit verloren — einerlei ob dieses nun in kritisch-negativiStischer oder in positivistischer Richtung geschah. Ihre Aufgabe selbst aber ist dadurch nicht verändert, sie bricht immer wieder durch. Ihre Rückkehr zur natürlich-ontologischen Einstellung in unseren Tagen ist

37. Kap. Die Stellung der Wissenschaft

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trotz mancher Umwege und Abwege, die sie dabei gegangen ist, im Grunde doch unverkennbar eine neue Form der Selbstbesinnung auf ihr Wesen und ihre Aufgabe. Man kann es sich wohl nicht verhehlen, daß diese Selbstbesinnung eine ontologische ist, und daß der entscheidende Schritt dabei in der Einsicht der Homogeneität aller transzendenten Akte und dem beginnenden Verständnis für die Stellung der Erkenntnis innerhalb der letzteren besteht. Daß die Erkenntnis dem emotionalen Erfahren gegenüber sekundär ist, hat man wohl schon oft begriffen; aber gerade dann begriff man nicht, daß sie trotzdem die besondere Bedeutung und den Vorzug hat, das ins Bewußtsein gehobene und objektiv erfaßte Resultat aller Seinserfahrung und Seinsgegebenheit zu sein. Es ist kein Zufall, daß die emotional-transzendenten Akte alle die Tendenz haben, in Erkenntnis auszulaufen, sie gleichsam herbeirufen, und doch wiederum in ihr als Momente der Gegebenheit verzeichnet bleiben. Das gilt gerade auch von der bewußt methodischen, wissenschaftlichen Erkenntnis. Ontologisch ausgedrückt: unser Drinstehen in der realen Welt ist ein Gebundensein an sie mit mannigfaltigen Relationsfäden. An und in diesem Gebundensein erfahren wir die Welt, erfahren auch unser eigenes Sein, als ein Sein in ihr. Und beides geschieht dadurch, daß die Relationsfäden selbst seiende sind, Sofern sie unser reales In-ihr-Sein ausmachen. Die Erkenntnis — und mit ihr Wissenschaft und Philosophie — ist ein Typus der Relation. Sie hat dasselbe Sein wie die anderen; aber sie ist diejenige Relation, in welcher die übrigen uns in ihrem objektiven Ertrag gegeben sind. Das ist nur möglich auf Grund der oben beschriebenen Homogeneität. Emotionale Gegebenheit könnte nicht in Erkenntnis auslaufen, wenn der Transzendenzcharakter der einschlägigen Akte nicht derselbe wäre wie in der Erkenntnis. Zwischen Erleben und Erkennen ist keine inhaltlich angebbare Grenze. Auch in den Formen des Erlebens steckt latent schon ein Moment des Erkennens; und auch Erkenntnis ist eine Form des Erlebens — ein emotional verblaßtes, inhaltlich aber erweitertes Erleben. Dieser Relationszusammenhang läuft in den durchgehendenWeltzusammenhang aus. Wir, die Seienden Subjekte, sind in der Welt, und unser Sein gehört mit zum Sein der Welt. Dieser Satz läßt sich nicht umkehren; Die Transzendenz unserer welterfahrenden Akte läßt es nicht zu. Das Sein der Welt aber ist durchgehend in sich gebunden: ein einziger großer Zusammenhang der Bedingtheit und Abhängigkeit, ein einziger Strom des Geschehens ist es, worin unser Leben und Erfahren bedingtes TeilgeSchehen ist. Ein von ihm abgeschiedenes Sein wäre uns unerfahrbar. Von hier aus erweist sich alle Philosophie der Ichbezogenheit und der Weltrelativität als ein gröbliches Mißverständnis der Gegebenheitsphänomene. Die Welt ist nicht „jemandes" Welt, ist es nicht einmal „für" den Einzelnen, wie immer begrenzt und entstellt er sie sehen mag. Sie kann es nicht sein, weil jeder „Jemand" schon real in der einen Welt steht 16 H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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Dritter Teil. 3. Abschnitt

und alle Verschiedenheit nur die Grenzen seiner Orientierung in ihr betrifft. Die Welt ist kein Korrelat von irgendetwaö; sie ist vielmehr die gemeinsame Seinsebene und der Spielraum aller möglichen Korrelation. „Ich und die Welt" — oder gar ,,ich und meine Welt': — das ist ebenso ontologisch schief wie „Gott und die Welt". Entweder Gott existiert, dann gehört er zum Inbegriff des Existierenden, gehört also zur realen Welt; oder er existiert nicht, dann aber steht er der Welt auch nicht gegenüber. Dasselbe gilt vom Ich. Es ist ontologisch von Wichtigkeit, die „Welt"-Kategorie von vorn herein als das Umfassende zu verstehen, das sie ist. Eine Schiefe Weltkategorie ist ebenso desorientierend wie eine schiefe Ichkategorie. Ein Unterschied kann höchstens in der Gegebenheitsweise des Ich liegen, nicht in der Seinsweiße. Man kann mit Descartes sagen: ein einziges Ansichseiendes erlebt der Mensch unmittelbar, sich selbst, das Ich. Das ist wenigstens sinnvoll. Aber auch das ist den Phänomenen nach nicht haltbar. Gerade den Phänomenen nach ist alles Erfahren äußerer Realität von derselben Unmittelbarkeit. Der Skepsis bleibt es nur solange ausgesetzt, als man Erfahren auf Erkennen beschränkt. Aber gerade solche Beschränkung hat sich als willkürlich erwiesen. Erkenntnis gibt es isoliert nicht, sie kommt nur im Gefüge der transzendenten Akte vor, in denen der Lebenszusammenhang besteht. Von ihnen aus gesehen aber steht alles Reale dem eigenen Ich gleich unmittelbar gegeben da. Das Cartesische Argument ist erledigt, weil es beweist, was ohnehin in der homogenen Realitätsgegebenheit bereits als Bestandteil enthalten ist.

VIERTER TEIL Problem und Stellung des idealen Seins I. Abschnitt Die Gegebenheit des mathematischen Seins 38. Kapitel. Ontologische Aporetik der Idealität

a) Die Grundaporie und ihre Folgen Die emotional-transzendenten Akte haben nur das Reale zum Objekt. Eine Ausnahme macht hier freilich die Wertfühlung; aber sie betrifft nur eine bestimmte Art des Idealen, und zwar diejenige, deren Seinscharakter am schwierigsten faßbar und am meisten umstritten ist. Ihr Inhaltsbereich muß also vor der Hand zurückgestellt werden. Was übrig bleibt, ist eine Art von Seinsgegebenheit, die auf Erkenntnis allein angewiesen bleibt, — und zwar, wie oben bereits gezeigt wurde, auf eine besondere Art und Quelle der Erkenntnis, die apriorische. Das macht die Gegebenheit des idealen Seins von vornherein außerordentlich schwierig. Denn gerade die apriorische Erkenntnis unterliegt der gnoseologischen Aporie, wieso in ihr überhaupt ein Seiendes gegeben sein kann; gerade sie gilt nur für einen Anzeiger möglichen Seins, nicht für Gegebenheit von wirklich Seiendem, — wie sich denn auch im ganzen Gebiet der Realerkenntnis niemals rein a priori eingehen läßt, ob etwas wirklich ,,ist" oder nicht „ist", sondern immer nur „wie" ein bereits als real Bezeugtes beschaffen ist. Wobei im Bezeugtsein der Realität stets schon die Reihe aposteriorischer Gegebenheiten, einschließlich der emotionalen, enthalten ist. Hieraus ergibt sich ohne weiteres die Grundaporie des idealen Seins. Sie lautet dahin, daß es sich vorweg keineswegs ausmachen läßt, ob es überhaupt ideales Sein gibt. Diese Aporie ist eine zugleich ontologische und gnoseologische. Die Frage ist erstens, ob dasjenige, was den Gegenstand der Idealerkenntnis bildet, überhaupt ein Ansichseiendes ist; und zweitens, ob die sogenannte Idealerkenntnis — und das ist die von Wesensverhältnissen aller Art — überhaupt eigentliche „Erkenntnis" ist. 16*

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Vierter Teil. I.Abschnitt

Denn einem Gegenstandsbewußtsein als solchem ist es nicht anzusehen, ob es Erkenntnis ist oder nicht. Es kann auch bloßes Denken, Vorstellen, Phantasie sein. Es kann dabei sehr wohl strenge Denkform und innere, logische Richtigkeit haben; die Ausgangspunkte, auf denen es beruht, können doch auf Irrtum beruhen. Die logische Form in all ihrer klaren Durchsichtigkeit und Nachprüfbarkeit sichert davor nicht. Urteil und Begriff leisten nicht Gewähr für ihren Gegenstand, und die exakteste Schlußform läßt die objektive Gültigkeit ihrer Prämissen offen. Oder anders ausgedrückt: es könnte sehr wohl sein, daß hier bloß ein immanenter, intentionaler Gegenstand vorläge, kein anslchseiender also; und folglich auch kein eigentlicher Erkenntnisgegenstand. b) Ideales Sein und Idealerkenntnis Man erwartet nun für diese Aporie eine Entscheidung aus der Analyse des Erkenntnisaktes heraus. An ihm, so meint man, muß sich doch zeigen, ob er ein transzendenter Akt ist oder nicht. Aber ebendas ist in diesem Falle schwierig. Denn das natürliche Seinsbewußtsein ist ausschließlich auf das Reale eingestellt. Das Ideale gilt ihm zunächst immer bloß als ein „Irreales". Und in der Negativität dieser Abgehobenheit gegen die Seinsschwere des Realen geht das Seinsbewußtsein am Idealen verloren. Es ist der „Irrealität" eines gegenständlich geformten Bewußtseinsinhaltes niemals direkt anzusehen, ob hinter ihm ein vom Bewußtsein unabhängig Seiendes steckt oder nicht. Erst die Zusammenhänge mit dem Realen können darüber entscheiden. In diesen aber verschwindet die Selbständigkeit des eigentlich idealen Seinscharakters. Die Gründe dieses Verhältnisses liegen also in der Eigenart menschlichen Erfahrens. Die Gegebenheit des Realen ist in den emotional-transzendenten Akten verwurzelt. In diesen ist und bleibt das Betroffensein ein unaufhebbares; auch das naivste Weltbewußtsein, das wir kennen, findet sich schon in der vollkommenen und unerschütterten Überzeugtheit von der Realität der Welt vor, in der es seine Erfahrung macht. Hier ist die ontologische Einstellung die natürliche, die erst nachträglich durch Skepsis oder künstliche Theorie erschüttert werden kann. Umgekehrt steht es mit dem idealen Sein. Für dieses sprechen zunächst keine emotional-transzendenten Akte. Die Folge davon ist, daß es überhaupt kein natürliches Bewußtsein des idealen Seins gibt, sondern nur ein sekundär auftauchendes, in der Erkenntnis gegebenes, und zwar erst in einer hoch entwickelten, geklärten Erkenntnis, die zur Stufe der Wissenschaft erhoben ist. So ist denn auch geschichtlich das ideale Sein erst spät entdeckt worden ; vor Platon finden sich nur undeutliche Spuren davon in der Philosophie. Und auch in seiner Entdeckung ist es nicht etwa gleich rein in Seinem Wesen aufgezeigt worden; es wurde vielmehr zunächst mit meta-

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physischen Theorien belastet und als Prämisse für sehr gewagte Schlüsse benutzt, mit deren spekulativen Endgliedern es dann von vornherein verwechselt wurde. Erst langsam hat sich in der Geschichte ein geklärteres Bewußtsein des idealen Seins herauskristallisiert. Die eSsentia-Theorien des Mittelalters und der in ihnen ausgefochtene Universalienstreit haben trotz der immer neuen spekulativen Belastung, die sie hineintrugen, das meiste hierzu beigetragen. Aber selbst in der Kantischen Zeit ist das Problem noch nicht spruchreif. Auch Kant fragte nicht nach der objektiven Gültigkeit des ideal Apriorischen in der Erkenntnis, sondern nur nach der des real Apriorischen; wie es denn in seiner transzendentalen Deduktion nur um objektive „Realität" des Erkenntnisgegenstandes geht, nicht aber zugleich um eine entsprechend objektive Idealität. Daß die mathematische Erkenntnis, deren synthetisch-apriorischen Charakter er in der transzendentalen Ästhetik klar erkannte, auch einer Deduktion ihrer objektiven Gültigkeit bedurft hätte, kommt ihm nicht zum Bewußtsein. Er kennt das Problem offenbar noch nicht. Das hat außer seinen geschichtlichen Gründen auch einen ontologischen Grund. Vom idealen Sein geht keine Aktualität aus, es hängt im Leben nichts an ihm als solchem, wenigstens nicht unmittelbar. Es „betrifft" den Menschen nicht direkt, es „überkommt" ihn nicht schicksalhaft, wie Ereignisse ihn überkommen, es „rückt nicht an" und bedroht niemanden; denn es ist nicht in der Zeit. Es durchwaltet vielmehr still und verborgen das Reale, sowie auch das Bewußtsein des Realen; es betrifft insofern also wohl auch den Menschen in seinem Leben, aber unmerklich und gleichsam stetig. Sein Bestehen und sein Walten ist ein unauffälliges, das erst einer besonderen Einstellung des Bewußtseins bedarf, um allererst bemerkt zu werden. Darum gibt es kein Erleben und kein Erleiden des ideal Seienden, kein eigentliches Betroffensein von ihm. Seine Existenz ist eine unaufdringliche. Das Zeitlose ist als das Immerseiende ( ) notwendig im Leben das Verborgene, wie sehr es auch der fortgeschrittenen Erkenntnis ein offenkundiges sein mag. Darum ist dieses sein „stilles Bestehen" in ganz anderem Maße als die Realexistenz ein bestreitbares. Es sticht von vornherein gegen die „laute" und aufdringliche Existenz des Realen ab. Denn so ist der Mensch: was sich nicht drastisch aufdrängt, ihn nicht erfaßt, herumwirbelt, bedrängt oder bedroht, das wird ihm so leicht nicht glaubhaft. c) Ansatz der Seinsgegebenheit in der mathematischen Erkenntnis Wo also ist das Phänomen des idealen Seins faßbar? Am bekanntesten und am frühesten gefaßt ist es wohl in der Mathematik. Vom „Sein" der Zahlen wußten die Pythagoreer. Und da sie Seine Zeitlosigkeit erkannten, hielten sie es für das allein reine und vollkommene Sein. Platon ist in ihren Spuren weitergegangen, er nannte die Geometrie eine

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. Im spätantiken Platonismus hat diese Auffassung fortgelebt; Proklos lehrte ein „mathematisches Sein" und spezieller ein „geometrisches Sein" ( ). In der Mathematik spricht man heute noch von „mathematischer Existenz", und man Sagt diese in Form von Existenzialurteilen aus. Z. B. :,,es gibt zwischen je zwei ganzen Zahlen eine unendliche Reihe gebrochener"; „es gibt keinen Logarithmus einer negativen Zahl"; „es gibt nur eine Gerade zwischen zwei Punkten"; „es gibt fünf regelmäßige Körper", usf. Das sind nicht nur der logischen Form nach Existenzialurteile, sondern auch dem Inhalt nach. Sie sagen, was es in der betreffenden Sphäre gibt oder nicht gibt. Es handelt sich also nicht um das logische Sein des Urteils, sondern um das vom Urteil unabhängige Sein des mathematischen Gebildes, von dem das Urteil spricht. Und da der Unterschied von Dasein und Sosein ontisch relativ ist, so muß Sich derselbe Seinssinn auch in der Form der Soseinsurteile zeigen. An einfachen Beispielen ist das leicht zu sehen: „3eist = 729"; ,,a° ist = l"; „die Winkelsumme im Vieleck ist = 2 (n — 2) R"; „ ist = 3,14159 ...". Mit dem „ist" in diesen Urteilen ist gemeint, daß der Gegenstand wirklich, d. h. an sich, So beschaffen ist, resp. daß die betreffende Beschaffenheit an ihm eine seiende ist. Es ist früh der Gedanke aufgekommen, es handle sich in Solchen Urteilen nur um Gedachtes oder gar nur um das Denken, resp. Denkenmüssen; die Logarithmen z. B., die geometrisch strenge Gerade, 36 oder a° gebe es nur in Gedanken, etwas Wirkliches sei damit gar nicht gemeint. Aber die Urteile selbst sagen darüber nichts. Sie meinen durchaus kein „Ich denke so" oder „Ich muß so denken"; sie sprechen vielmehr einfach ein „Es ist So" aus. Sie sagen also ein Sein aus, und nicht ein Denken. Vom Denken ist hier gar nicht die Rede, auch nicht von einem besonderen mathematischen Denken, das etwa noch anders wäre als sonstiges Denken. Jede Interpretation, die in dieser Richtung geht, weicht vom Sinn der Aussage ab; sie fügt etwas hinzu, was in den Urteilen schlechterdings nicht vorkommt. In solcher Interpretation liegt die Wurzel einer langen Kette von Fehlern, die sich in den mathematischen Denktheorien breit gemacht haben. Auch Kants Theorie der „synthetischen Urteile a priori in der Mathematik" hat hier ihren Ausgangspunkt, obgleich sie nicht das Denken, sondern die Anschauung zur Grundlage der Urteile macht. Denn die Anschauungsform ist als die des Subjektes gemeint und nicht als Eigenart des Gegenstandes. d) Einwände und Kritik der Einwände Man wendet nun ein: wir finden doch diese Urteile nur im Denken; man kann das, was sie aussagen, nicht von der Aussage ablösen. Es ist Sache der logischen Setzung. Das Denken, die Aussage, das Setzen haben es eben in sich, daß sie nur so ausfallen können und nicht beliebig.

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Ja, man argumentiert weiter: mit dem Dreieck, an dem man etwas mathematisch dartut, meint man doch weder das gezeichnete, an dem man demonstriert (das ist bloße Hilfskonstruktion der Anschauung, und überdies inadäquat), noch auch ein dinglich reales Dreieck, sondern das „Dreieck überhaupt", in abstracto, d. h. so wie es nur im geometrischen Denken vorkommt. Man meint es also als dessen intentionalen Gegenstand. Desgleichen meint man mit 36 nicht drei Dinge, die 6mal mit 3 zu multiplizieren wären, sondern allgemein und in abstracto die 6. Potenz von 3, wie nur das arithmetische Denken sie faßt. Aber die Hauptsache, der Gegenstand und sein Seinscharakter, ist in Solcher Argumentation übersehen. Freilich findet man die Urteile, in denen die gemeinten Verhältnisse ausgesprochen sind, nur im Denken; aber das gilt von allen Urteilen, auch von solchen über Reales, z. B. von dem Urteil „das Atomgewicht von H ist = l". Hier wird man sich hüten zu schließen, der Wasserstoff mit seinem Atomgewicht ,,sei" nur im Denken. Das Urteil „setzt" freilich, aber die Setzung meint nicht sich selbst, sondern ein anderes, das unabhängig vom Setzen besteht, aber von ihm inhaltlich getroffen wird. Oder auch: sie meint das Gesetzte nicht „als" Gesetztes, sondern als ein an sich Bestehendes. Ihr Wesen, sofern sie Ausdruck eines Erkenntnisverhältnisses ist, besteht darin, sich selbst zu transzendieren und auf ein Ansichseiendes hinzuweisen. Und dem entspricht es, daß im Inhalt des Urteils nicht enthalten ist, was vom Urteil selbst oder von der Setzung handelte. Das Urteil ist vielmehr der reine Ausdruck eines gegenständlichen Verhältnisses, und dieses ist in der Setzung selbst bereits von ihr (der Setzung als solcher) unterschieden. Gemeint also ist es von vornherein als ein Ansichseiendes. Ob es auch wirklich an sich „ist", geht aus der Setzung allein freilich nicht hervor; das ist eine weitere Frage; denn das Setzen und mit ihm das Meinen kann auf Irrtum beruhen. Das Urteil kann unwahr Sein. Aber gerade im Irrtumsfalle ist es einleuchtend, daß das An sichbestehen eines Seinsverhältnisses das eigentlich Gemeinte war. Denn der Irrtum besteht ja gerade im Nichtzutreffen des Ausgesagten auf das Seiende. Und wo das letztere fehlt, verliert der Unterschied von wahr und unwahr seinen Sinn. Fällt man nun in das andere Extrem, versteht man das gemeinte Seinsverhältnis als ein reales -— versteht man also die „3" als drei Dinge, das Dreieck als ein materielles ·—, so ist wiederum der Sinn der mathematischen Aussage mißverstanden. Es fehlt ihr dann nicht nur die charakteristische Allgemeinheit und Notwendigkeit, sondern auch die Exaktheit und das genaue Zutreffen. Im Ernst zieht auch niemand, der den Sinn des mathematischen Urteils versteht, Solch eine Konsequenz. Diese liegt nur deshalb scheinbar so nah, weil man gewohnt ist, unter Seiendem nur Reales zu verstehen, und darum Sein mit Realität verwechselt. Das aber ist es gerade, was die Urteile der Mathematik aller Denkgewohnheit zum Trotz lehren, daß es noch ein Sein anderer Art gibt, und daß es irrig ist, die mathematischen Gebilde einfach deshalb, weil sie von sich aus

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Vierter Teü. 1. Abschnitt

nicht real sind, für nichtseiend, d. h. für bloße Gedankengebilde zu halten. Daß die letztere Auffassung nicht zurecht besteht, davon zeugt überwältigend die Tatsache, daß die anorganische Natur sich in weitem Ausmaße nach mathematischer Gesetzlichkeit richtet; daß also tatsächlich die mathematischen Verhältnisse weit entfernt sind, bloß im Denken zu bestehen, sondern die reale Welt durchziehen und in ihr als ihre Grundverhältnisse enthalten sind. Von dieser Seite der Sache wird unten noch ausführlich die Rede sein. Denn sie betrifft das Verhältnis von idealem und realem Sein. Und daran hängt noch ein weiterer Kreis von Fragen. Vor der Hand genügt es, den Unterschied der Seinsweisen als einen in der mathematischen Aussage gegebenen und von ihr gemeinten festzuhalten. Denn ihn näher zu bestimmen ist so schwierig nicht, wenn man sich einmal von dem Vorurteil der Subjektivität des idealen Seins freigemacht und eingesehen hat, warum und in welchem Sinne wir es bei ihm mit echtem Ansichsein zu tun haben. e) Mathematisches Urteil und mathematischer Gegenstand Die Aussage also ist so beschaffen, daß sie sich selbst transzendiert. Sie sagt nicht sich selbst aus — das wäre ein Urteil über ein Urteil —, sondern den bestimmten Inhalt; und dieser ist schon in der Aussageform als ein seiender gekennzeichnet. Darin besteht der ontologische Sinn der Copula. Das ,,ist" im Urteil ist zwar identisch mit der Setzung, aber die Setzung selbst meint ein anderes, ein Seiendes. Ausgesagt wird nicht, daß der Begriff (das Subjekt des Urteils) so und so „ist", sondern daß der Gegenstand so und so „ist". Im Falle des mathematischen Urteils also gilt die Aussage dem mathematischen Gegenstande. Das läßt sich an den Beispielen ohne Schwierigkeit aufzeigen. Im Satz von der Winkelsumme des Vielecks meint man zwar nicht das gezeichnete Vieleck, an dem man demonstriert, aber auch nicht — und zwar erst recht nicht — den Gedanken oder den Begriff des Vielecks. Sondern man meint das Vieleck selbst, als Solches und in genere. Ein Begriff hat keine Winkelsumme, er hat auch keineWinkel, er ist überhatipt kein räumliches Gebilde. Der Begriff des Vielecks macht davon keine Ausnahme. Der Satz von der Winkelsumme also sagt das, was er aussagt, nicht vom „Begriff" des Vielecks aus, sondern vom Vieleck selbst in genere. Der Begriff dagegen, der im Urteil die Stelle des Subjekts einnimmt, ist nur die gedankliche Fassung des Vielecks in genere, fällt also mit diesem nicht zusammen. Er ist nur sein Vertreter in der Sphäre des Gedankens. Die Aussage geschieht wohl mit seiner Hilfe, gilt aber nicht ihm, sondern der Sache, d. h. dem Vieleck als räumlichem Gebilde. Die Aussage von etwas Räumlichem über einen Begriff wäre eine widersinnige Aussage. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit Sein. Die Kompliziertheit der logischen Probleme aber und die Verselbständigung der logischen

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Gebilde (Begriff und Urteil) hat es mit sich, gebracht, daß die gegenteilige Ansicht sich festgesetzt hat. Im Felde des realen Seins ist die Verwechselung von Begriff und Sache nicht so gefährlich; hier arbeitet ihr das mächtige natürliche Realitätsbewußtsein entgegen. Wo aber die Sache von anderer Seinsweise ist, die sich nicht so vorlaut im Bewußtsein anmeldet, da wird diese Verwechselung höchst verführerisch; denn natürlich vereinfacht sie das Verhältnis. Das ist einer der Hauptgründe, warum es so schwer ist, das ideale Sein rein und als solches zu fassen. Darum gilt es gerade an diesem Punkte einzusetzen, um die von der Tradition verwirrte Sachlage zu klären. Dazu ist die soeben am Sinn des mathematischen Urteils aufgewiesene Unterscheidung von Begriff und Gegenstand der Aussage der erste Schritt. Deswegen ist es wichtig, dieses erste, scheinbar nichtssagende Resultat in aller Strenge festzuhalten und für das weitere zugrundezulegen: die Größe der Winkelsumme wird nicht vom Begriff des Vielecks ausgesagt, sondern vom Vieleck selbst; und man meint dabei das Vieleck nicht, sofern es gedacht wird, sondern sofern es an sich und seinem eigenen Wesen nach so „ist". Ja, man weiß dabei auch sehr wohl, daß alles so oder anders Denken an diesem „Sosein" des Vielecks nichts ändert. Nur unter dieser Voraussetzung hat es überhaupt einen Sinn, von Wahrheit oder Unwahrheit solcher Urteile zu sprechen. Denn Wahrheit bedeutet das Zutreffen der Aussage auf etwas, was unabhängig von ihr so ist, wie es ist; Unwahrheit ebenso das Nichtzutreffen. Gibt es das Sein der Sache jenseits des Begriffs resp. den seienden Sachverhalt jenseits des Urteils nicht, so gibt es auch nichts, worauf Begriff und Urteil zutreffen könnten, und der Unterschied von wahr und unwahr wird hinfällig. Da es aber gerade in der Mathematik einen sehr bestimmten Anspruch auf Wahrheit gibt, so ist ebendamit in ihr das Sein der Gegenstände, von denen sie in ihren Urteilen handelt, stillschweigend vorausgesetzt. Und da es sich bei ihren Gegenständen nicht ohne weiteres um reales Sein handeln kann, so muß ihnen ein Sein anderer Art zukommen. Dieses Sein anderer Art ist mit dem Ausdruck „ideales Sein" gemeint. f) Weitere Beispiele und Folgerungen Diese Überlegung folgt genau dem Phänomen des mathematischen Urteils, des Schlusses, der rechnenden, beweisenden, ableitenden Operation, kurz des mathematischen Denkens, wie wir es vorfinden und in aller Genauigkeit analysieren können. Die Art aber, wie im Verfolgen des Phänomens das Vorausgesetztsein des Gegenstandes als eines an sich bestehenden zutage kommt, ist die charakteristische Form der Gegebenheit des idealen Seins. Nachträglich kann man sich auf dieses Sein freilich auch unmittelbar besinnen. Zunächst aber bedarf es des Umweges über die Aussage. Denn eben die Aussage sowie die ganze Sphäre des Gedankens, in der Sie spielt, verbirgt das ideale Sein. Sie verbirgt es dem Blick

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im ersten Hinschauen — und zwar gerade durch ihr eigenes Vorgelagertsein, ihre eigene Bewußtheit —, und ehen darum enthüllt sie es ihm bei tieferem Eindringen. Denn das Eindringen besteht im Durchschauen des Vorgelagertseins und im Durchdringen auf das vom Urteil Verdeckte. Die Alternative „entweder real oder bloß gedacht" erweist sich als Irrtum. Es ist nicht wahr, daß nur dinglich reale Vielecke, oder auch gezeichnete, an sich sind. Es gibt noch ein anderes Ansichsein, ein irreales, das aber weit entfernt ist, bloße Abstraktion zu sein. Dieses ist das im geometrischen Urteil gemeinte. Dasselbe gilt vom Gegenstand der Sätze „a° = l" oder „36 = 729". Wenn einer aussagte ,,a° = 0" oder ,,36 = 728", so ließe sich sehr leicht zeigen, daß dem nicht so „ist", daß also die Aussage unwahr ist; und das will heißen, daß sie das, was a° resp. 36 in Wirklichkeit „ist", nicht trifft. Darin zeigt sich deutlich, daß ein Wirklichsein der Größen a° und 36 in ihrer Sphäre, ein Sein sui generis, im Sinn der Aussage schon vorausgesetzt ist, auf welches bezogen die Aussage wahr oder unwahr Sein kann, an dessen Bestehen aber das Wahrsein oder Unwahrsein der Aussage nichts mehr ändern kann. Die Seinsweise also, um die es sich hier handelt, hat offenbar Selbständigkeit gegen Urteil und Meinung, gegen Erkanntsein und Nichterkanntsein, gegen Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit. Sie hat diese Selbständigkeit, obgleich der Gegenstand, dem das Urteil sie zuspricht, kein realer ist und auch nicht als realer gemeint ist. Solche Selbständigkeit aber ist der genaue Sinn dessen, was die Erkenntnistheorie Ansichsein nennt: das vom Erkennen unabhängige Bestehen des Gegenstandes, oder — wie sich bereits oben in einer allgemeineren Erörterung erwies — die Übergegenständlichkeit des Erkenntnisgegenstandes. Es ist hierbei von Wichtigkeit, diesen schlichten Sinn des „gnoseologischen Ansichseins" in aller Strenge festzuhalten und nicht etwa mit dem Kantischen Begriff des „Dinges an sich" oder sonst einer metaphysisch substanzialisierten Bedeutung zu vermengen. Denn nur in dem angegebenen Sinne trifft er auf das Phänomen zu. In diesem Sinne aber ist er nicht ablösbar von ihm: im mathematischen Denken, Urteilen und Erkennen selbst ist der erfaßte Gegenstand als ein solcher verstanden, der unabhängig vom Denken, Urteilen und Erkennen besteht. Er ist verstanden als ein solcher, der von jeher bestanden hat und bestehen wird, als ein zeitloser also, niemals aber als einer, der erst im Urteil zustande kommt. Dieser Ansichseinscharakter ist es, den das ideale Sein mit dem realen teilt. Darin unterscheiden sich die beiden Seinsweisen nicht; und das ist der Grund, warum überhaupt man sie ontologisch einander nebenordnen muß und jede vorschnelle Zurückhaltung des einen auf das andere — wie sie des öfteren versucht worden — zu vermeiden hat. In dieser Hinsicht also ist von der einfachen Dingwahrnehmung bis zur mathematischen Erkenntnis ein und dasselbe Grundphänomen feststellbar. Wie wir

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im visuellen Erblicken der Dinge nicht meinen, daß die erblickten Dinge erst im Erblicken entstehen, sondern daß sie schon vorher an sich bestanden und nur ins Gesichtsfeld des Sehens rückten, so meinen wir auch, daß beim mathematischen Erkennen der zeitlosideale Gegenstand nur ins Gesichtsfeld der Einsicht rückt, nicht aber mit der Einsicht erst entsteht. Und darum halten wir solche Einsicht, obschon sie kein Reales betrifft, für echte Erkenntnis. Der Unterschied der Seins weisen aber liegt nicht im gnoseologischen Ansichsein, sondern in der besonderen Art des Bestehens. 39. Kapitel. Theorien und Auffassungen

a) Mathematischer Subjektivismus Soweit also darf man vom gnoseologischen Ansichsein der mathematischen Gegenstände sprechen, nämlich als von einem gemeinten und im mathematischen Denken schon vorausgesetzten. Dieses Meinen nun und dieses Voraussetzen kann natürlich auch irrig sein. Es könnte also in Wirklichkeit doch so sein, daß nur das Denken die mathematischen Gegenstände ,,setzt", sie aber als gesetzte verkennt, sich gleichsam von der inneren Geformtheit und Objektivität der gesetzten Gebilde — und Speziell von ihrer Zeitlosigkeit — täuschen läßt und sich deswegen der Illusion ihres Ansichseins hingibt. Es entsteht also auf diese Weise an der mathematischen Erkenntnis dieselbe Aporie, die an der Realerkenntnis aus der antiken Skepsis wohlbekannt ist, der aber dort das Gewicht der emotional-transzendenten Akte und des Lebenszusammenhanges entgegensteht. Die Position, die man einnimmt, wenn man dieser Möglichkeit Raum gibt, ist somit die einer mathematischen Skepsis. Diese bedeutet nicht etwa, daß man die mathematischen Urteile als solche bezweifelt, sondern nur, daß man das in ihnen gemeinte und vermeintlich getroffene Sein der mathematischen Gegenstände in Abrede stellt. Es sind in unserer Zeit zwei Theorien, die diese Position ausbauen: der mathematische Subjektivismus und der mathematische Intuitivismus. Der erstere behauptet: es gibt keine ersten mathematischen Gegebenheiten, die fest und unumstößlich wären. Die Mathematik mit ihren Setzungen Schwebt dann frei im Reich des Gedankens. Sie fängt mit Definitionen und Axiomen an, die sie im Hinblick auf weitere Operationen zweckmäßig anlegt, läßt dann das Definierte bedingt gelten und besteht im übrigen rein im Ziehen der Konsequenzen. Der Mathematiker in seinem umgrenzten Arbeitsfelde kann mit dieser Auffassung auskommen; seine Position ist dann die eines vom Weltzusammenhang abgelösten, rein in sich bestehenden Gedankenzusammenhanges; seine Wissenschaft wird zu einer Art von Schachspiel höherer Ordnung unter sehr bestimmten logischen Gesetzen, die er voraussetzt und als maßgebend anerkennt. Sein Kriterium ist allein das der inneren

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Übereinstimmung, der Satz des Widerspruchs. Außer dieser vorausgesetzten Gesetzlichkeit beruht alles auf reiner Setzung. Das gewinnt eine gewisse Überzeugungskraft aus der neueren Axiomatikforschung. Von den Axiomen und Definitionen hängt der logischen Folge nach alles Besondere ab; sie selbst aber stehen, wenn man die ursprünglichen Gegebenheiten der Anschauung — nicht der empirischen, sondern der apriorischen, etwa im Sinne der Kantischen Raumanschauung — ausschaltet, nicht unverrückbar fest. Man kann sie nicht in der Weise beweisen, wie man aus ihnen die besonderen Theoreme beweisen kann. Es besteht also grundsätzlich die Möglichkeit, sie aufzuheben, zu verschieben, gegen andere zu vertauschen. Das berühmte Beispiel des 11. Euklidischen Axioms, an dem diese Überlegungen einsetzten, ist nur eines von vielen. Die Konsequenz aber ist dann eine in wesentlichen Stücken anders ausfallende Geometrie und Arithmetik. Rein logisch genommen, hat die klassische Geometrie Euklids keinen Vorzug vor einer anders angelegten. Verallgemeinert führt diese Überlegung auf den reinen mathematischen Subjektivismus hinaus. Hängt nämlich alles an den ersten Setzungen und können diese willkürlich geändert werden, so hört alle Beziehung der Mathematik auf eine seiende Gegenstandssphäre auf. Wie sie selbst, von einer solchen aus gesehen, ein zufälliges System bildet, so erscheint auch von ihr aus alles besondere mathematische Sein als ein zufälliges. b) Mathematischer Intuitivismus Dagegen läßt der mathematische Intuitivismus immerhin feste erste Gegebenheiten gelten, welche erstmalig in reiner innerer Schau erbracht sind und dann für alles weitere als Grundlage gelten. Es ist nicht nötig, diese Anschauungsbasis auf die Kantische Raum- und Zeitanschauung zu beschränken; man kann ihr auch eine erweiterte Grundlage geben. Wichtig aber ist, daß man von einer solchen Anschauungsbasis aus leicht eine „Wesensaxiomatik" gegen die Vielzahl möglicher Axiomsysteme aufstellen kann, welche dann nicht nur dem Gefüge der Theoreme genügt, sondern auch in sich notwendig ist. Hier ist nun freilich die Willkürlichkeit aufgehoben. Man kann nicht mit beliebig gewählten Definitionen und Axiomen beginnen; denn die Intuition schreibt bestimmte vor; sie ist selbst Intuition bestimmter, unverschiebbarer Inhalte, und diese Inhalte allein kann man in den Ausgangssätzen umreißen. Es hängt also nicht alles an Setzungen. Wohl aber hängt es an ersten Evidenzen. Was diese eigentlich sind, und worin ihr Feststehen wurzelt, ist keineswegs leicht zu sagen. Denn man faßt sie wohl gegenständlich-inhaltlich, aber nicht als ein erfaßtes Seiendes. Ihre Gegenständlichkeit also ist eine bloß intentionale. Geht man diesem eigentümlichen Verhältnis weiter nach, so findet man, daß hier für die Gegebenheit nur der gebende Anschauungsakt auf-

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kommt, nicht aber ein gebender Gegenstand. Ein solcher eben müßte mehr sein als ein bloß intentionaler; er müßte ansichseiender Gegenstand sein, und die Intuition müßte sich auf ihn als einen von ihr unabhängigen beziehen, müßte also in die Anschauung seines Wesens versenkt sein und ihm seine an sich bestehenden Wesenszüge abzugewinnen suchen. Mit einem solchen Gegenstande aber rechnet diese Art mathematischer Anschauung nicht. Die Evidenz bleibt eine innere, immanente, ihr Phänomen ist ein Bewußtseinsphänomen; der gebende Akt, dem sie anhaftet, ist kein transzendenter Akt, und darum ist in ihr kein Seinszeugnis. Mit dieser Theorie ist also gegen den Subjektivismus nur wenig gewonnen. Man könnte mit dem Intuitionsbegriff viel weiterkommen; denn von Rechts wegen ist Anschauung eine Form des Erfassens (Erkennens), kann also nur ein transzendenter Akt Sein, und dann ist sie notwendig auf einen ansichseienden Gegenstand hinausbezogen. Das aber gerade übersieht die Theorie. Der Sinn des erfassenden Aktes ist in dieser „Intuition" verkannt. Es bleibt ein bloß inneres Verhältnis des Bewußtseins zu seinem Inhalt übrig. Daß man Intuition für Setzung sagt, ist nur ein Unterschied der inneren Modalität. Man hat im Grunde nur den einen immanenten Akt durch einen anderen ersetzt. c) Verhängnisvolle Konsequenzen Beide Theorien laufen darauf hinaus, daß mathematische Gesetzlichkeit eine solche des Bewußtseins, mathematische Gegenstände aber bloße Bewußtseinsinhalte sind; ihr Unterschied ist nur ein solcher der Bewußtseinsfunktion, die zugrundegelegt wird. Mit der „Anschauung" kommt man dem Grundphänomen immerhin etwas näher als mit dem setzenden Denken; aber auch sie ist subjektivistisch gefaßt, und die Konsequenz bleibt eine mißliche. Denn sie deutet die Phänomene um. Es gibt dann keine eigentlichen Zahlengesetze und Raumgesetze, sondern nur solche der Anschauung; genau so wie es nach der Setzungstheorie nur solche des Denkens gibt. Daß die Gerade die kürzeste ist, bedeutet dann nur, daß sie als die kürzeste vorgestellt werden muß; daß a° = l ist, bedeutet ebenso eine Notwendigkeit des anschaulichen Vorstellens (etwa in der Vorstellung der Potenzreihe). Dem Sinn der Aussage nach ist aber weder hier noch dort von einer Vorstellungsnot wendigkeit die Rede, und sei es auch noch so sehr von einer anschaulichen — genau so wenig wie von einer Denknotwendigkeit —, sondern von der Beschaffenheit gegenständlicher Gebilde, nämlich einer Linie und einer bestimmten Potenz. Von der erSteren wird eine räumliche Quantität, von der letzteren eine Zahlengröße ausgesagt, was beides weder auf die Anschauung als solche noch auf das Denken als solches zutrifft. Es gibt wohl die Vorstellung „der Größe" und den Begriff „der Größe", aber weder die Vorstellung selbst noch der Begriff selbst kann „Größe" haben — und zwar weder räumliche noch arithmetische Größe.

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Es hilft auch nichts, wenn man sich auf den Denk- oder Anschauungszwang in diesen Gesetzen beruft. Freilich gibt es eine Unmöglichkeit, die Sache anders zu denken oder vorzustellen. Aber nicht von dieser Unmöglichkeit sprechen die Gesetze, sondern von einer anderen und fundamentaleren: von der Unmöglichkeit, daß die Sache anders „sei" (daß a° nicht = l, die Gerade nicht die kürzeste „sei"). Daß das Bewußtsein sie nicht anders fassen kann, ist dann schon die Folge dieses ihres So-undnicht-anders-,, Seins". In beiden Theorien, wie man sie auch wendet, steckt eben schon eine bestimmte Interpretation des Grundphänomens: die Umdeutung der Gesetzlichkeit — aus einer solchen des Gegenstandes in eine solche des Gegenstandsbewußtseins. Interpretation freilich ist das Recht der Theorie. Es ist nur die Frage, ob sie sich halten läßt. Im vorliegenden Falle läßt sich zeigen, daß sie gerade den ontologisch wesentlichen Punkt im Phänomen verfehlt, sich also philosophisch nicht halten läßt. Dieses nachzuweisen ist die Aufgabe der nächsten Kapitel. Der Nachweis hat nur äußerlich die Form einer Widerlegung. In Wahrheit läuft er auf die primäre Herausarbeitung des Grundphänomens selbst hinaus, sofern es in den Voraussetzungen der mathematischen Wissenschaft enthalten ist. Die beiden angeführten Theorien geben dafür nur den polemischen Anlaß. Sie sind beide nach einem und demselben Schema gearbeitet und stehen daher trotz aller Gegensätze im besonderen doch dicht beieinander. Das Gemeinsame des Schemas in ihnen aber enthält den traditionellen Grundfehler, dessen Wurzel es aufzudecken gilt. d) Der erkenntnistheoretische Grundfehler Interpretationen dieser Art machen nämlich den Fehler, daß sie den Erkenntnischarakter der mathematischen Wissenschaft geradezu ignorieren. Erkenntnis ist nicht dasselbe wie Denken oder anschauliches Vorstellen; sie ist nicht ein Produzieren von Inhalten, auch nicht ein bloßes „Haben" von Inhalten, sondern ist ihrem Wesen nach „Erfassen" eines Ansichseienden. Der Unterschied von Haben und Erfassen geht überall da verloren, wo man am Wesen der Wissenschaft einseitig die logische Gesetzlichkeit ins Auge faßt. Denn diese ist indifferent gegen das Erfassen. Die logischen Wissenschaftstheorien des 19. Jahrhunderts haben daher das Erkenntnisproblem von Grund aus verfehlt, ja es ungeachtet unentwegten Redens von „Erkenntnis" fast in Vergessenheit gebracht. Zugleich mit dem Ansichsein des Gegenstandes ging auch der Transzendenzcharakter des Aktes verloren, und das Erkenntnisphänomen wurde zu einem bloßen Bewußtseinsphänomen verflacht. Es ist begreiflich, daß gerade die Methodologie der mathematischen Wissenschaften dieser Auffassung Vorschub leisten mußte; denn auf ihrem Gebiete eben entstehen der ontologischen Fassung des Gegenstandes ernstliche Schwierigkeiten. Dem Problem des

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idealen Seins vollends waren Theorien solcher Art nicht entfernt gewachsen. Die Phänomenologie trat zwar dieser logischen Richtung entgegen, deckte aber den Grundfehler in ihr nicht auf, sondern übernahm ihn in ihre eigene, anschaulich erweiterte Art der Phänomenbeschreibung hinein. Mit ihrem unscharfen, gleichsam ontologisch neutralen Begriff des intentionalen Gegenstandes hat sie dem alten Vorurteil nur noch Vorschub geleistet. Zwar verdankt die Lehre vom idealen Sein ihr einen neuen Anstoß; dieser wurde von ihr durch die Herausarbeitung der \Vesenssphäre gegeben. Aber gerade den Seinscharakter der Wesenheiten brachte sie nicht zum Bewußtsein. Vielmehr artete sie selbst durch die Unbestimmtheit, die sie dieser Sphäre ließ, zu einer metaphysischen Theorie aus, was sich in der Rückkehr Husserls zum Idealismus neukantischer Färbung deutlich spiegelt. So kommt es, daß gerade sie am wenigsten zwischen dem „Haben" des Bewußtseinsinhaltes und dem „Erfassen" des seienden Gegenstandes zu unterscheiden wußte. Gerade diese beiden Momente aber gilt es streng auseinanderzuhalten, um der eingerissenen Begriffsverwirrung Herr zu werden. „Haben" kann man Gedanken, Vorstellungen, Anschauungen, Meinungen, Begriffe, intentionale Gegenstände. Das Haben ist ein bewußtseinsimmanentes Verhältnis und berührt die bewußtseinsunabhängigen Gegenstände nicht. „Erfassen" dagegen kann man nur einen ansichseienden Gegenstand, einen solchen also, der unabhängig vom Bewußtsein (also auch vom Erfassen selbst) besteht und in seinem Gegenstandsein für das Bewußtsein nicht aufgeht. So „erfaßt" die Realerkenntnis reale Geschehnisse, Personen, Sachen und Sachverhältnisse (Sachverhalte). Das „Erfassen" ist eben seinem Wesen nach ein transzendentes Verhältnis, und seine Gegenstände haben notwendig ein übergegenständliches Ansichsein. Überträgt man dieses Verhältnis auf die Erkenntnis idealer Gegenstände, also etwa auf die reine Mathematik, so muß man die Konsequenz ziehen, daß die letztere nur dann als eigentliche Erkenntnis, und d. h. als „Erfassen" von etwas gelten kann, wenn ihre Gegenstände auch ein Ansichsein haben. Es genügt dafür nicht, daß sie im bloßen „Haben" der mathematischen Gebilde bestehe, auch wenn deren immanente Gesetzlichkeit noch so groß ist. Als Erkenntnis muß sie echtes Erfassen sein. Und das ist nur möglich, wenn die mathematischen Gebilde — Zahlen, Zahlverhältnisse, Figuren, Raumverhältnisse usw. — ein vom Bewußtsein und vom Erfassen selbst unabhängiges Sein haben. Dann aber dürfen diese Gebilde nicht erst durch Setzung oder Intuition entstehen, sondern müssen auch ohne sie und vor ihr zeitlos als das bestehen, was sie sind. e) Die Gegenprobe: Mathematik ohne Erkenntnis Ausweichen kann man dieser Folgerung nur auf die eine Weise, daß man der Mathematik den Charakter der Erkenntnis abspricht. Was in

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ihr geschieht, braucht dann kein Erfassen zu sein, also auch nicht transzendenter Akt. Und dann bedarf sie freilich keiner seienden Gegenstände. Aber damit langt man wieder bei der Vorstellung vom Gedankenschachspiel an. Das ist an sich wohl eine Möglichkeit, entspricht aber wenig dem Ernst der Mathematik. Ist diese nämlich nicht Erkenntnis, so ist sie auch keine Wissenschaft, sondern ein exakt geformtes Phantasiespiel. Das wird der Mathematiker am wenigsten zugeben. Er könnte höchstens noch die Ausfiucht wählen, Mathematik sei Wissenschaft vom Denken oder Anschauen — um nicht zu sagen: vom Phantasieren. Das aber läßt sich im Ernst nicht durchführen; auch dann nicht, wenn man es auf eine bestimmte Art des Denkens oder der Anschauung beschränken wollte. Denn offenbar handelt die Mathematik überhaupt nicht von Denken und Anschauung, Sondern von Zahlen, Größen, Figuren und allem, was mit diesen in gleicher Seinsebene zusammenhängt. Eine Wissenschaft von jenen Akten dagegen wäre Psychologie. Im letzten Grunde weiß ja auch der Mathematiker sehr genau um die selbständige Seinsweise seiner Gegenstände. Er ist nur deswegen nicht gewöhnt, seine Gegenstände als „seiende" zu bezeichnen, weil er naiverweise glaubt, Sein sei nur Realität. Das ist begreiflich; denn er kann den allgemeineren Begriff des „Ansichseins", den erst die Philosophie herausarbeitet, unmöglich haben. Gegen diesen würde er nicht viel einzuwenden haben. Ohne ihn aber ist die Seinsweise mathematischer Gegenstände nicht faßbar. Mit bewußt subjektivistischer Denkweise freilich reimt sich das nicht. Sie eben bestreitet den Erkenntnischarakter der Mathematik — allerdings ohne zu erwägen, was sie damit preisgibt. Mit der intuitivistischen Auffassung verträgt es sich weit besser; doch kommt dabei sehr deutlich die innere Inkonsequenz der Theorie zum Vorschein. „Intuition" ist nämlich von vornherein ein Modus des Erkennens, also ein „Erfassen", ein transzendenter Akt; sie ist darin von Grund aus anders gestellt als die „Setzung", und es ist nur die Theorie, die das verkennt. Die Wahrheit der Intuition ist, daß sie nicht gebender, Sondern aufnehmender (rezeptiver Akt ist, und daß die gebende Instanz hinter ihr beim Gegenstande zu suchen ist. Dieser bestimmt die Anschauung, insoweit er sich ihr „darbietet" (erscheint), und zwar als ein gegen den Anschauungsakt selbst indifferenter. Er ist also schon als ansichseiender vorausgesetzt. Bietet sich ein solcher Gegenstand nicht dar, liegt also kein Seiendes vor, das sein bestimmtes Sosein schon an sich hätte, so ist auch der Akt kein schauendes Erfassen. Daß sich an diesem Punkte immer wieder Irrtümer vordrängen, hat seinen Grund in der Zweideutigkeit des traditionellen Intuitionsbegriffs. In ihm ist zwischen erfassender und konstruierender (phantasierender) Anschauung keine Grenzscheide gezogen. Für das bloße Bewußtseinsphänomen der Intuition — d. h. der Schau höherer Ordnung — ist das

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auch nicht nötig; denn in beiden Fällen ist die konkrete Bildhaftigkeit des Bewußtseinsinhaltes dieselbe, und eben diese Bildhaftigkeit — im Gegensatz zur Abstraktheit der Begriffe — versteht man dann unter Anschaulichkeit. Wenn man nun diesen neutralen Sinn von „Intuition" Streng festhielte, so wäre dagegen nichts einzuwenden; aber in dieser Neutralität würde sich der Intuitionsbegriff zur Grundlegung der Mathematik auch nicht eignen. Denn so bleibt die Herkunft der ersten Gegebenheiten zweideutig. Die Theorie Substituiert also stillschweigend den engeren Begriff der „erfassenden Intuition", nimmt damit tatsächlich das Erkenntnisverhältnis mitsamt seiner Transzendenz in Anspruch, durchschaut diesen Anspruch aber nicht und verfährt daher weiter so, als hätte sie einen ansichseienden Gegenstand gar nicht vorausgesetzt. Von welcher Seite man die Sachlage auch ansieht, eine Mathematik, die nicht Erkenntnis wäre, ist und bleibt ein schiefer und dem Sinn der Wissenschaft nicht entsprechender Begriff. Sie wäre zwar kein unmögliches, wohl aber ein nichtssagendes Unterfangen; nichtssagend nämlich, weil sie gegenstandslos bliebe. Man muß also, um ihr wirkliches Vorgehen philosophisch zu verstehen, beim anderen Ende anfangen; d. h. man muß zuvor die Seinsweise ihres Gegenstandsfeldes zu verstehen suchen. Solches Verstehen aber läuft auf die nähere Bestimmung des idealen Seins hinaus. 40. Kapitel. Idealerkenntnis und objektive Gültigkeit

a) Immanente und transzendente Apriorität Mit dieser Bestimmung darf man es sich freilich nicht zu leicht machen. Es liegt nah, sich hier auf die bekannte intersubjektive Einheit der mathematischen Sätze zu berufen, d. h. auf die Übereinstimmung der verschiedenen Subjekte in dem, was sie als einleuchtend einsehen. Beschränkt man diese Übereinstimmung subjektiverseits auf die Grenzen des dem Einzelnen Zugänglichen, und objektiverseits auf Inhalte, die wissenschaftlich genügend geklärt sind, um allgemeine Gültigkeit zu beanspruchen, so besteht ihr Phänomen zurecht. Die Frage ist nur, ob es zureicht, um den Seinscharakter der mathematischen Gegenstände greifbar zu machen. Hier aber stößt man auf eine Grenze der Argumentation. Man kann einen beliebigen mathematischen Sachverhalt wohl jedem einleuchtend machen, der das Erkenntnisniveau (die mathematische Fähigkeit und Vorbildung) hat, ihn zu erfassen: er wird, wenn überhaupt er ihn faßt, ihn ,,so und nicht anders" finden. Darin besteht die vielberufene Übereinstimmung der Subjekte in ihrer mathematischen Einsicht; und da es Sich um Erkenntnis a priori handelt, so läßt sich dieses Phänomen genauer bezeichnen als die „intersubjektive Allgemeinheit des Apriorischen". Da sie bloß Übereinstimmung von Subjekt zu Subjekt bedeutet 17 H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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Vierter Teil. 1. Abschnitt

und das Zutreffen auf die Sache noch in der Schwebe läßt, so ist sie trotz der Vielzahl der Subjekte, die sie umfaßt, eine bloß immanente oder subjektive, und das a priori, auf das sie sich stützt, ist eine bloß „immanente Apriorität", an der die „objektive Gültigkeit" — d. h. der eigentliche Erkenntniswert — noch in Frage steht. Von dieser immanenten Apriorität nun läßt sich zeigen, daß sie überall da, wo sie wirklichen Erkenntnischarakter hat, schon auf einem gemeinsamen Verhältnis der Subjekte zur seienden Sache, d. h. auf „transzendenter Apriorität" beruht — auf einer solchen also, die schon objektive Gültigkeit hat. Die intersubjektive Übereinstimmung ist dann schon Folge der Identität des Gegenstandes, der eben deswegen allen als der gleiche einleuchtet, weil er an sich sein bestimmtes Sosein hat und dieses von jedem, der es überhaupt in Sicht bekommt, nur so gesehen werden kann, wie es ist, nicht aber wie es nicht ist. Will man nun aber diese Überlegung als Argument für das Ansichsein des Gegenstandes verstehen, so begeht man einen logischen Zirkel. Ihre Voraussetzung war ja gerade, daß die immanente Apriorität schon Erkenntnischarakter habe, und das heißt eben, daß ihr Gegenstand ein ansichseiender sei. Es ist also genau das vorausgesetzt, was erwiesen werden sollte. Denn das ist das Eigentümliche des Apriorischen im Bewußtsein, daß es keineswegs notwendig apriorische „Erkenntnis" ist, ja daß es ihm als solchem niemals direkt anzusehen ist, ob es Erkenntnis ist oder nicht. Es gibt eben auch Bewußtseinsinhalte, die nicht aus der Erfahrung stammen, also a priori sind, aber doch nicht Erkenntnisse sind, sondern etwa freie Erfindung, Konstruktion, Einbildung oder auch irrige Annahmen, Voraussetzungen, unbegründete Meinungen. Was wir im Leben ein „Vorurteil" nennen, ist etwas durchaus Apriorisches, der Name besagt das ganz eindeutig; aber das Vorurteil hat keinen Erkenntnischarakter, es fehlt ihm die „objektive Gültigkeit". Darum ist das erste Anliegen aller Erkenntnistendenz, sich von Vorurteilen freizumachen. Der Neukantianismus hat es verschuldet, daß die Zweischneidigkeit und der Problemcharakter des Apriorischen in Vergessenheit geraten ist, daß Apriorität eo ipso für Erkenntnis gelten konnte. Kant dagegen wußte noch um die Schwierigkeit des Erkenntnisanspruchs im Apriorischen. Daher seine umständliche Bemühung um den Berechtigungserweis dieses Anspruchs für eine bestimmte, sehr eng begrenzte Auslese erster apriorischer Grundinomente. Urteilen läßt sich a priori alles Mögliche, aber nicht alles a priori Geurteilte ist wahr (hat objektive Gültigkeit). Urteile als solche sind überhaupt indifferent gegen wahr und unwahr; es ist ihnen als solchen nicht anzusehen, ob sie Ausdruck einer Einsicht in die Sache (Erkenntnis) sind oder nicht. Der Nachweis der „objektiven Gültigkeit" bildet denn auch bei Kant das Hauptanliegen der „Kritik". Und es besteht in nichts anderem als in der Aufweisung der Grundbedingung, unter der „synthetische Urteile a priori" als inhaltliche Einsicht in das Wesen der Sache gelten dürfen. Wie denn andererseits das negative Geschäft

40. Kap. Idealerkenntnis und objektive Gültigkeit

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der „Kritik" darin besteht, zu zeigen, daß gewisse apriorische Urteile der Metaphysik den Anspruch auf Geltung und Erkenntniswert zu Unrecht erheben. b) Ideale Apriorität und Notwendigkeit Was vom Urteil gilt, das gilt erst recht von der Vorstellung, der Meinung, der Ansicht. Sie alle enthalten apriorische Momente, und diese sind das Fragwürdige in ihnen. Meinungen über eine Sache, die man sich nach vager Analogie bildet, sind in hohem Maße apriorisch; die Verallgemeinerung, die in der Analogie steckt, kann niemals von Erfahrung gedeckt sein, sie greift also vor. Man hat das Bild der Sache vorweg, bevor die Gegebenheit es stützen kann. Daher die Tendenz, Meinungen nachträglich aus der Erfahrung zu bewahrheiten. Die Vorwegnahme hat immer zunächst den Charakter des Vorurteils. Die Konsequenz, die hier zu ziehen ist, lautet dahin: immanente Apriorität, auch wenn sie noch so sehr subjektiv allgemein ist, ist niemals ohne weiteres „ideale Apriorität". Ihre Allgemeinheit kann stets auch die eines Vorurteils Sein. Die ideale Apriorität ist, wenn überhaupt sie als Erkenntnis gelten darf, transzendente Apriorität. D. h. sie ist Einsicht in das Wesen eines Seienden. Das Seiende aber, das sie zur Einsicht bringt, ist ein ideal Seiendes. Woran aber soll man erkennen, ob ein ganzes Inhaltsgebiet des Apriorischen wie das mathematische eine bloß immanente oder eine echte ideale Apriorität — d. h. transzendente, seinserfassende Apriorität — hat? Im einen wie im anderen Falle fehlt die Probe der Empirie. Wenn konstruktive Meinungen und Vorurteile ebenso allgemein sein können wie echte Einsicht, was spricht dann eigentlich dafür, daß die Mathematik echte Seinserkenntnis ist? Aus ihr selbst heraus ist das dann offenbar nicht entscheidbar. Denn weder aus ihren Inhalt noch aus dessen Gegebenheitsweise läßt sich hier ein Maßstab gewinnen. Hier bietet sich nun neben der intersubjektiven Allgemeinheit als ein z weites Moment die Notwendigkeit an. Sie ist stets als Merkmal der Apriorität angesehen worden. Die Form, in der sie dem Bewußtsein fühlbar wird, ist aber zunächst auch eine bloß subjektive; denn man erfährt sie als eine Art Denkzwang oder auch allgemeiner als Anschauungs- und Vorstellungszwang. Es ist unmöglich, die Gerade anders vorzustellen, als daß sie die kürzeste zwischen zwei Punkten ist; unmöglich a° anders als = l zu denken, wobei man dann die ganze Reihe der Potenzen vor Augen hat, unter denen die nullte den für jedes a gleichen Zahlenwert l hat. Das Denken resp. die Anschauung „erfährt" also hier eine Macht,über die es nicht Herr ist. Das Bewußtsein „erfährt" gleichsam die Härte und Unnachgebigkeit der Sache, mit der es zu tun hat. Dieses Erfahren ist zwar nicht so drastisch wie das des Realen. Aber es ist durchaus nicht weniger hart. Wenn überhaupt es sich zum Erfassen rein mathematischer 17*

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Gebilde erhebt — wozu es freilich nicht durch das Leben gezwungen ist —, ßo stößt es bei ihnen auf dieselbe feste Bestimmtheit, der es nichts abhandeln kann. Die Unaufdringlichkeit des idealen Gegenstandes bedeutet also nicht Erweichung seiner Konturen. Diese bilden ein durchaus unverrückbares Sosein; und das Bewußtsein, das sich auf sie besinnt, erfährt sie in voller Unwandelbarkeit. Es ist auch von der letzteren vollkommen überzeugt. Es weiß, daß es ihm nicht freisteht, a° = 0 zu setzen oder die Gerade als die „längere" vorzustellen; es weiß, daß es damit weder das Wesen von a° noch das der Geraden treffen würde. Der Zwang, der hier in der Überzeugtheit des Bewußtseins selbst vom Gegenstande ausgeht, ist durchaus dem zu vergleichen, der vom Realen ausgeht. Man kann ihn nachprüfen, indem man den Nichtwissenden durch Fragen auf die Sache hinleitet und ihn selbst sie finden läßt. Das ist es, was schon das berühmte Platonische Experiment mit dem „mathematischen Knaben" erwiesen hat. Das mathematische Denken erfindet nicht; es ist Einsicht in die Sache, kann also nur „finden" und im Finden sich überzeugen — von dem, was „ist", nicht aber von dem, was nicht ist. c) Denknotwendigkeit und Seinsnotwendigkeit Auf diesem Verhältnis beruht die Notwendigkeit im mathematischen Denken. Geht man ihr also unreflektiert nach, so findet man, daß sie schon im Denkzusammenhang selbst auf eine Seinsnotwendigkeit hinausweist, von der sie getragen ist. Hier wurzelt ferner die Platonische Begründung für die Möglichkeit einer Übereinstimmung der Meinungen ( ); desgleichen für die Möglichkeit, einen anderen zu überzeugen oder sich von ihm überzeugen zu lassen. Das ist der Sinn des antiken „Dialogs", in welchem der Gegner zum Zeugen der Wahrheit gemacht wird. Es ist der große Gedanke, daß in der Selbstkontrolle des Hinschauens auf die Sache durch die Gemeinsamkeit der Bemühung um sie — also in der gemeinsamen Fühlungsnahme ( ) mit ihr — die Sache selbst genötigt wird, sich zu zeigen, wie sie an sich ist. Und daß die am besten durchgeführten Beispiele dieses dialogischen Verfahrens mathematische Beispiele sind, legt davon Zeugnis ab, daß das ganze Verhältnis wesentlich an der Erkenntnis idealen Seins entdeckt wurde. Hier liegt nun also, so sollte man meinen, eine Erfahrung des idealen Seins vor, die den Vergleich mit der des realen Seins sehr wohl aushält und an inhaltlicher Evidenz ihr wohl gar überlegen ist. Dennoch ist sie als Ansichseinszeugnis ihr nicht gleich. Es bleibt die Möglichkeit, sie subjektiv zu deuten; denn auch das Subjekt kann unter unwandelbarer, intersubjektiv identischer Gesetzlichkeit Stehen. Das würde für die Übereinstimmung genügen, würde es auch Sehr wohl verständlich machen, daß das Subjekt den erfahrenen Denkzwang irrigerweise auf Seinsnotwendigkeit zurückführte. Das ist zwar eine skeptische Deutung, aber sie ist durch Berufung auf die Notwendigkeit im Apriorischen allein nicht

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zu erledigen. Und wenn es kein weiteres Argument für das ideale Sein der mathematischen Gegenstände gäbe, so hätte man auf dieser Basis noch kein Recht, von einem solchen zu sprechen. Oder in anderer Fassung: soweit ließe sich ideale Apriorität immer noch als bloß „immanente Apriorität" mit intersubjektiver Gesetzlichkeit verstehen. Es könnte sein, daß gar keine „Sache" da ist, die „sich zeigen" könnte, daß die Notwendigkeit aus einem ursprünglichen Denkzwang herstammte, aus einer Subjekts- oder Aktgesetzlichkeit, die nur deswegen am Gegenstande zu hängen scheint, weil dieser aktgetragen ist. Bewußt nämlich wird dann nicht der Akt selbst, sondern nur sein intentionaler Gegenstand; beruht aber dieser ganz auf dem Akt, so muß die am Akt unsichtbare Notwendigkeit an ihm sichtbar werden. So würde sich die „erfahrene" Gegenstandsnotwendigkeit als das Verborgenbleiben einer vorhandenen Aktnotwendigkeit erklären lassen. Das ist zwar eine ziemlich künstliche Theorie, aber man kann sie nicht mit dem bloßen Hinweis auf das Phänomen, das sie deutet, widerlegen. Ja, man kann sie überhaupt nicht aus dem Tatsachenbereich der Idealerkenntnis heraus entkräften, solange man diese von der Realerkenntnis isoliert. Man kann diese Kalamität populär in der Form der Cartesischen Idee vom deus malignus ausdrücken: es „könnte" sein, daß Gott unseren Intellekt (resp. Intuitus) so geformt hätte, daß wir alle zeitlebens a° = l denken müßten, während a° in Wirklichkeit etwas anderes wäre (etwa = 0). Dieses verallgemeinert würde bedeuten, daß „unsere" Mathematik nicht Erkenntnis sein könnte. 41. Kapitel. Idealerkenntnis und Realerkenntnis

a) Das Zutreffen mathematischer Erkenntnis auf Realverhältnisse Deswegen fällt nun das ganze Gewicht der Ansichseinsfrage des idealen Seins auf das Verhältnis zum realen Sein. Und dementsprechend gilt es, den Erkenntnischarakter der Mathematik aus ihrer Beziehung zur Realerkenntnis heraus zu bestimmen. Dieses Verhältnis darf als das eigentlich Wunderbare im Reiche der Idealerkenntnis gelten, und zwar eben deswegen, weil es die Möglichkeit einer immanent-Subjektiven Interpretation der einschlägigen Phänomene von Grund aus abschneidet. Es ist denn auch seit seiner Entdeckung von allen denen, die seine Bedeutung ermaßen, als das große Wunder der Erkenntnis angesehen worden. Daß seine weltanschauliche Tragweite dabei auch früh überschätzt worden ist und später immer wieder zur Überschätzung geführt hat, darf einen gegen seine rechtmäßige Bedeutung nicht voreinnehmen. In den ersten Anfängen des naturwissenschaftlichen Denkens wurde dieses Verhältnis von den älteren Pythagoreern entdeckt. Sie entdeckten

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es an der Berechenbarkeit der Tonh hen aus der Saitenl nge sowie an der mathematischen Bestimmbarkeit der Gestirnbewegungen am Himmel; und sie formulierten es dahin, da die Prinzipien des Mathematischen zugleich Prinzipien des Seienden (d. h. des Realen) sein m ten1). Das w rde also hei en, da die Realverh ltnisse der Dinge, Vorg nge, Bewegungen sich in aller Strenge nach den Gesetzen der mathematischen Idealgebilde — der Zahlen und Figuren richten. Diese klassische Entdeckung ist, auf mancherlei Umwegen freilich, die Grundlage der exakten Naturwissenschaft geworden. Sie ist mit dieser keineswegs ohne weiteres identisch, hat auch zuerst zu mancherlei zahlenmystischen Konstruktionen verleitet. Aber das Grundph nomen, da berhaupt sich Vorg nge der Natur mathematisch fassen und vorausberechnen lassen, ist darin prinzipiell erfa t. Damit aber ist auch der Seinscharakter der mathematischen Gegenst nde prinzipiell erfa t. Man mu sich hierbei Rechenschaft geben, was eigentlich mit diesem Grundph nomen gesagt ist. Setzt man hier die lange Reihe der Errungenschaften ein, welche die exakte Naturwissenschaft der letzten drei Jahrhunderte zu verzeichen gehabt hat, und erw gt man, da sie alle auf demselben Verh ltnis beruhen, so kann man die ontologische Konsequenz in folgender Weise ziehen. 1. Die mathematische Gesetzlichkeit, die unser Rechnen beherrscht und sich in rein innerer Schau erfassen l t, trifft zu auf die Verh ltnisse der dinglich-realen Welt. Sie kann nicht etwa erst durch das mathematische Denken — etwa durch die rechnende Auffassungsweise — in die Gegenst nde der Naturwissenschaft hineingetragen Sein; denn diese bieten sich zun chst der Beobachtung dar und werden in ihr unabh ngig von der Berechnung erfahren, sie bestehen also vor aller Fassung in mathematische Formern. Folglich mu die mathematische Gesetzlichkeit unabh ngig vom mathematischen Denken und Deuten schon in ihnen enthalten sein. 2. Dann aber ergibt sich die weitere Konsequenz, da diese mathematische Gesetzlichkeit nicht nur eine solche der idealen mathematischen Gebilde sein kann, sondern wenigstens mittelbar auch eine Gesetzlichkeit des Realen. Da sie aber in der reinen Mathematik ohne R cksicht auf Realverh ltnisse rein in sich selbst — als selbst ndiger Gegenstand — erfa t und entwickelt werden kann, so ist offenbar die Mittelbarkeit ihrer Geltung im Realen ihr wesentlich. Sie besteht also unabh ngig von ihrem Walten in der Realsph re und kann deswegen auch unabh ngig von ihr erfa t werden. Sie ist nur „potentiell" Realgesetzlichkeit. D. h. ihr selbst ist es u erlich, da berhaupt eine reale Welt existiert, deren Verh ltnisse sich nach ihr richten; der realen Welt aber ist es wesentlich, da die raumzeitlichen und materiellen Verh ltnisse in ihr von dieser Gesetzlichkeit durchwaltet werden. *) Ariet Metaph. A935b 25 f.: ... τάς τούτων (των μαΰημάτων) αρχάς των όντων αρχάς ψή^ησαν είναι πάντων. Vgl. 936 a 1.

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3. Dieses vorausgesetzt aber folgt weiter: eine Gesetzlichkeit, welche potentiell auch Realgesetzlichkeit im angegebenen Sinne ist, die also die RealVerhältnisse, soweit sie der Seinsstufe nach unter sie fallen, auch wirklich durchwaltet und unverbrüchlich beherrscht, kann unmöglich eine bloß subjektive oder Aktgesetzlichkeit des Bewußtseins Sein. Sie muß vielmehr eine Gesetzlichkeit der Gegenstände — und zwar in dem vollen Sinne übergegenständlicher Erkenntnisgegenstände — sein; d.h. sie muß von Hause aus reine Seinsgesetzlichkeit sein. Denn das Reale, das sie beherrscht, ist durch die ganze Wucht der emotionalen Gegebenheit als ansichseiend bezeugt. Dann aber müssen auch die mathematischen Gegenstände als solche schon einen Seinscharakter haben. b) Apriorische Realerkenntnis Wollte man dieses Verhältnis selbst idealistisch interpretieren, so müßte man nicht nur die „Realität" der realen Welt und mit ihr die Realitätsgegebenheit umdeuten — was, wie gezeigt, grundsätzlich nicht gelingen kann —, sondern man müßte auch ein gesetzgebendes transzendentales Subjekt annehmen, welches die Welt des Realen hervortriebe (Fichte) oder doch ihr seine Gesetze „vorschriebe" (Kant). Man würde damit also in die größten metaphysischen Gewagtheiten zurückfallen. Versuche dieser Art sind im deutschen Idealismus sowie im Neukantianismus zur Genüge angestellt worden. Sie haben sich alle als undurchführbar erwiesen. Das Gewicht des Arguments, das im mathematischen Apriorismus der Naturwissenschaft liegt, läßt sich an konkreten Beispielen sehr anschaulich machen. Der Astronom berechnet Verfinsterungen, berechnet die örter der Wandersterne am Himmel aus dem Gesetz ihrer Bewegung; und das Berechnete, wenn die Zeit kommt, für die es gilt, tritt ein. Die Gestirne also richten sich in ihrem Lauf nach denselben mathematischen Gesetzen, welche das rechnende Denken anwendet. Der Artillerist richtet sein Geschütz nach dem Gesetz der ballistischen Kurve, in der die errechneten Momente der Wurfparabel, des Luftwiderstandes, der seitlichen Abweichung durch den Drall, der Erddrehung usw. enthalten sind; und in den Grenzen der gleichfalls rechnerisch eingeschätzten Genauigkeit trifft das Geschoß sein Ziel. In derselben Weise berechnet der Techniker die Tragfähigkeit einer Brückenkonstruktion, die Leistung einer Maschine, und die Probe nach erfolgter Ausführung bestätigt die Rechnung. Das geht soweit, daß überall, wo sich hernach eine Unstimmigkeit ergibt, der Fehler sich in den empirischen Voraussetzungen finden läßt, nicht aber in der Rechnung. Die Reihe dieser Phänomene und ihre inhaltliche Mannigfaltigkeit ist unübersehbar. Man kann im Hinblick auf sie allenfalls der Meinung Raum geben, es handle Sich in der mathematischen Gesetzlichkeit gar nicht um eine eigene Idealgesetzlichkeit, es müßte Sich vielmehr direkt um Real-

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gesetzlichkeit handeln; aber man kann sie nicht für eine bloße Akt- oder Bewußtseinsgesetzlichkeit halten, auch nicht für bloße Denkgesetzlichkeit. Denn nach einer solchen würde sich die Natur nicht richten. Man muß also umgekehrt in dem mathematischen Einschlag der Naturverhältnisse den strengen Beweis dafür erblicken, daß es sich in den mathematischen Gebilden, deren Gesetze der Errechnung des Realen zugrundeliegen, um Ansichseiendes im vollen Sinne des Wortes handelt. Dann aber läßt sich sagen: die Mathematik als Wissenschaft ist kein bloßes Schachspiel nach Spielregeln des Gedankens, sondern echte Seinserkenntnis im Sinne eines transzendenten Erfassens. Und die Allgemeingültigkeit ihres Inhaltes, ihre InterSubjektivität und Notwendigkeit für alles Denken des Einzelnen, beruht nicht bloß auf immanenter Apriorität, sondern auf transzendenter. Was aber in dieser stattfindet, ist ein wirkliches SichZeigen ansichseiender Gegenstände, das in allem echten Hinschauen auf die Sache sich vollzieht. Die Möglichkeit der Verständigung, des Überzeugens und Überzeugtwerdens beruht nicht auf Denknotwendigkeit, sondern auf der Identität des idealen Gegenstandes für alle Schau, die sich auf ihn richtet. Dieser Gegenstand ißt das mathematische Gebilde selbst — Zahl, Menge, Größe, Raum, sowie deren Verhältnisse und Gesetzlichkeiten in ihrer Idealität. Diese können nicht ursprünglich Sache des Gedankens oder der Vorstellung sein, weil sie dann nicht durchgehende Verhältnisse und Gesetze des Realen sein könnten. c) Die Äquivokation im Begriff der Idealität Die mathematischen Gebilde sind „Gegenstand" der Wissenschaft, nicht Produkt der Wissenschaft. Aber sie gehen wie alle Gegenstände echter Erkenntnis auch im Gegenstandsein nicht auf; sie haben ein übergegenständliches Ansichsein, und ihre Gesetzlichkeit ist den Naturverhältnissen ebenso eigen wie denen des mathematischen Denkens. Die Natur treibt nicht Wissenschaft, aber sie wartet auch nicht auf die Wissenschaft des Menschen vom Mathematischen, sondern sie „ist" an sich selbst mathematisch geordnet. Und zwar ist sie das ohne Rücksicht auf unser mathematisches Verstehen oder NichtverStehen. Die Wissenschaft ist unser Teil, sie kommt hinterher. Und sie eben findet die Natur bereits mathematisch geformt. Das ist der Sinn des Galileischen Satzes, daß die Philosophie im Buche der Natur mit mathematischen Buchstaben geschrieben ist. Hier also liegt der wahre und allein zureichende Erkenntnisgrund für das Ansichsein der idealen Gegenstände; zunächst freilich nur der mathematischen, aber es wird sich zeigen, daß das Argument sich ohne weiteres auf weitere Gebiete der Idealerkenntnis ausdehnt, denn die Seinsweise der mathematischen Gegenstände läßt sich von der der Wesenheiten anderen Inhalts gar nicht abtrennen. Dieses Argument liegt charakteristischerweise nicht in der Gegebenheit des Idealen als solchen auch nicht

41. Kap. Idealerkenntnis und Bealerkenntnie

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im reinen Phänomen der Idealerkenntnis, sondern in der Gegebenheit und der Erkenntnis des Realen, sofern dieses die idealen Seinsstrukturen bereits als die seinigen voraussetzt und enthält. Durch das IneinanderVerwobensein des idealen und des realen Seins tritt gleichsam das ganze Gewicht des realen Ansichseins hinter die scheinbar schwebenden idealen Gebilde und zeigt diese in ihrer wahren ontischen Artung. Eins aber ist hierbei wohl im Auge zu behalten: erwiesen ist insoweit nur, daß die mathematischen Gegenstände überhaupt Seinscharakter haben, nicht daß dieser ein besonderes „ideales" Sein ist. Trägt man aus irgendwelchen Gründen Bedenken, ein solches gelten zu lassen, befürchtet man etwa, damit eine überflüssige Verdoppelung der seienden Welt heraufzubeschwören, was dem ontologisch ungeschulten Denken wohl immer naheliegt, so kann man mit dem Hinweis auf die Realität der mathematischen Verhältnisse in der Natur dem nicht begegnen. Für eine solche Ansicht gibt es immerhin Stützpunkte. Ideales Sein ist dem von Natur auf die reale Welt allein eingestellten Bewußtsein — trotz der langen und reichhaltigen Geschichte seines Problems — etwas höchst Paradoxes und Verdächtiges. Man ist gewohnt, von einer ganz anderen Unterscheidung auszugehen, vom Gegensatz der Außenwelt und Innenwelt, von der Cartesischen Dualität cogitatio und extensio, der erkenntnistheoretischen Korrelation Subjekt und Objekt. Die Außenwelt läßt man dann wohl als seiend gelten, die Innenwelt betrachtet man als Sache der Vorstellung, des Denkens, der Phantasie. Das Reale setzt man dann der Außenwelt gleich, das Ideale der Innenwelt; denn „Idee" versteht man dem in der Neuzeit eingerissenen Sprachgebrauch entsprechend als Vorstellung. So wird das „Ideale" dem Immanenten gleichgesetzt und dadurch unbesehen seines selbständigen Semscharakters beraubt. Erweist sich nun das Mathematische als real in den Naturverhältnissen, so meint man, es sei damit zwar der Sphäre der Vorstellung und den Denkens enthoben, aber eben deswegen auch gerade nicht ein ,,Ideales". Solange man an dieser Bedeutung des „Idealen" festhält, bleibt natürlich überhaupt kein Spielraum für ideales Sein. Damit entrückt man die idealen Gegenstände grundsätzlich ihrer ontologischen Fassung. In Wahrheit aber gehen zwei ganz verschiedene Begriffe des „Idealen" durcheinander. Ihre Äquivokation hat eine heillose Verwirrung angerichtet. In der subjektiven Fassung bedeutet das Ideale nur das „Irreale"; Irrealität aber kommt auch den Phantasiegegenständen zu, also rein intentionalen, aktgetragenen Gegenständen, die gar nicht Erkenntnisgegenstände sind. Idealität im ontologischen Sinne ist etwas ganz anderes, eine Seinsweise sui generis neben der des Realen. Und daß es diese gibt, dafür ist der Rekurs auf das Ineinandergeschaltetsein der Seinsweisen nur die Hälfte des Nachweises. Die andere Hälfte liegt darin, daß es auch eine selbständige Gegebenheit der idealen Gebilde, unabhängig von deren Enthaltensein im Realen, gibt.

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Vierter Teil. 2. Abschnitt

II. Abschnitt Verbundenheit des idealen und realen Seins 42. Kapitel. Das Verschwinden der idealen Gegenstände im Erkenntnisfelde

a) Das Vorgelagertsein des Begriffs Bevor wir an den zweiten Teil des Nachweises herantreten, der den Grenzstrich gegen das Reale ziehen und zugleich das positive Verhältnis von idealem und realem Sein herausarbeiten soll, ist noch eine andere Seite der Idealerkenntnis ins Auge zu fassen. Die traditionelle Äquivokation im Idealitätsbegriffist nicht der einzige Grund für die Verkennung des Seinscharakters idealer Gegenstände. Sie ist vielmehr schon hervorgerufen durch eine Eigentümlichkeit derjenigen Erkenntnisart, die es mit ihnen zu tun hat. Man kann diese Eigentümlichkeit bezeichnen als das Verschwinden des gnoseologischen Gegenstandscharakters im Erkenntnisfelde. Da aber am gnoseologischen Gegenstandscharakter die Übergegenständlichkeit und das Ansichsein hängt, so ist ein solches Verschwinden zugleich ein Verschwinden des idealen Seins — und folglich auch des eigentlichen Erkenntnischarakters in der Idealerkenntnis. Man erinnere sich hier des oben Dargelegten (Kap.38f.). Die mathematische Aussage bringt wohl das rein mathematische Verhältnis zum Ausdruck, aber sie verbirgt es zugleich auch, und zwar durch ihr eigenes gedanklich geformtes Vorgelagertsein und ihre Bewußtheit, gleichsam durch ihre logische Vordringlichkeit. Sie erweckt den Schein, als handelte es sich in ihr nur um sie selbst, um ihr gedankliches Bestehen, man kann auch sagen: um ihr begriffliches Bestehen. Denn sie eben bewegt sich in der Sphäre des Begriffs. Der Begriff seinerseits ist wohl Begriff der Sache, aber er ist nicht identisch mit der Sache. Er kann sie vielmehr auch verfehlen. Aber weil hier alles Erfassen der Sache — d. h. des mathematischen Gegenstandes — die Form des Begriffs annimmt, so ruft das Auftreten des Begriffs im Bewußtsein den Schein hervor, als wäre er selbst schon die Sache, und dadurch wird diese, mitsamt ihrem Seinscharakter, verdeckt. Der Begriff, indem er das ideale Seinsverhältnis erfaßt („begreift"), verbirgt es auch zugleich dem Bewußtsein. Er verschwindet nicht gegen das Gewicht des Gegenstandes. Er ist seinem Wesen nach vordringlich. Dadurch läßt er die Seinsweise dessen, was er faßt, verschwinden. Daß dem So ist, dafür legen die besprochenen Theorien des mathematischen Denkens Zeugnis ab. Sie verlieren die Seinsweise der mathematischen Gegenstände derartig aus dem Auge, daß diese ihnen geradezu als Produkte der Wissenschaft erscheinen. Aber auch für eine unvoreingenommene Einstellung ist es keineswegs leicht, den Unterschied zwischen der Aussage und dem ausgesagten Größenverhältnis, zwischen dem Begriff des Dreiecks und dem Dreieck selbst eindeutig festzuhalten.

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Angesichts dieser Sachlage muß man sich fragen, woran das eigentlich liegt. Aussagen (Urteile) und Begriffe gibt es doch auch im Felde der Realerkenntnis. Warum drängen sie sich denn dort nicht vor? Warum fällt es so leicht nicht einem Menschen ein, den Begriff eines Dinges oder einer Person mit dem Dinge oder der Person selbst zu verwechseln? Oder muß man vielleicht gelten lassen, daß es solche Verwechslung auch bei der Realerkenntnis gibt? Freilich gibt es Theorien, die da sagen, wir hätten überhaupt nur unsere Begriffe und Vorstellungen von der realen Welt, nicht diese Welt selbst. So hat die Skepsis von alters her gelehrt, so hat der subjektive Idealismus die Konsequenz gezogen und damit dem natürlichen Weltbewußtsein den Erkenntnischarakter bestritten. Am weitesten sind die Neukantianer gegangen, indem sie das Ganze der Natur auf den begrifflichen Inhalt der Wissenschaft zu reduzieren suchten. Aber das sind schließlich bloß philosophische Theorien, Auswüchse einseitiger Problemdeutung auf Grund unvollständiger Analyse des Erkenntnisphänomens. Sie heben das natürliche Realitätsbewußtsein nicht auf. Denn dieses ist in einer Gegebenheit von ganz anderer Gewichtigkeit verwurzelt als Wissenschaft und Theorie. Das lehrte die Erörterung der emotionalen Akte und des Lebenszusammenhanges. b) Aufdringlichkeit und Unaufdringlichkeit des Gegenstandes Gerade diese Verirrung lehrt aber auch, wo wir den Grund für das Verschwinden des idealen Gegenstandes zu suchen haben. Er dürfte in erster Linie in der Gegebenheitsweise zu suchen sein. Diese eben ist eine sehr andere als die des Realen. Realität ist aufdringlich. Sie wird nicht im Erkennen allein erfahren, sondern auch im Erleben und Erleiden, im Betroffensein des Menschen von den Geschehnissen, ja im Vor- und Rückbetroffensein. Sie überfällt den Menschen und überzeugt ihn von sich im Überfall. Sie wartet nicht auf Urteil und Begriff, sie ist „vor" allem eigentlichen Erkanntsein da, erfaßt ihn unwiderstehlich, gleichgültig dagegen, ob das Erkennen nachfolgt; vollends die wissenschaftliche Erkenntnis und die Begriffsbildung folgt erst von ferne nach. Der ideale Gegenstand dagegen drängt sich nicht auf. Die reinen Raum- und Größenverhältnisse, auch wo man im Leben wirklich mit ihnen rechnet, bleiben als solche unbemerkt; sie erscheinen versenkt in die Realverhältnisse, denen sie anhaften. Erhebt sich aber die Erkenntnis dazu, sie rein als solche in ihrer allgemeinen Gesetzlichkeit zu erfassen, so tut sie das in wissenschaftlicher Form. Und dann nimmt die Art, wie sie ins Bewußtsein gehoben und zu Gegenständen der Betrachtung gemacht werden, logische Struktur an. Das aber heißt, sie werden in Form des Begriffs und des Urteils ins Bewußtsein gehoben. Da das Bewußtsein sie in anderer Gegebenheit nicht kennt, so ist es verständlich, daß sich in ihm die Begrifflichkeit „vordrängt". Das ist

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Vierter Teil. 2. Abschnitt

zwar nicht dieselbe Aufdringlichkeit, die das Betroffensein hat, aber eben doch eine gewisse Vordringlichkeit; und diese gehört nun nicht dem Gegenstande selbst, sondern dem „Begriff" des Gegenstandes an. Man darf sie auch nicht so verstehen, als würde nun gar nicht der Gegenstand erkannt, sondern nur der Begriff des Gegenstandes; erkannt wird vielmehr hier wie dort der Gegenstand, und der Begriff ist nur die inhaltliche Form, in der er erfaßt wird. Anders wäre es ja gar nicht Erkenntnis. Aber das erkennende Bewußtsein neigt nun dazu, diese inhaltliche Form des Erfassens für den Gegenstand selbst zu nehmen. Es verwechselt sie mit ihm. Es meint nun, es nur mit seinen selbstgeformten Gebilden, den Begriffen und ihren Verhältnissen, zu tun zu haben; und es bemerkt gar nicht, daß es sich Selbst damit den Erkenntnischarakter abspricht, desgleichen nicht, daß es seinen Gegenständen den Seinscharakter abspricht. So entsteht im mathematischen Bewußtsein das Blendwerk einer Wissenschaft, die nur ein immanentes Spiel des Gedankens treibt. Die Unaufdringlichkeit des idealen Gegenstandes begünstigt diese Täuschung. Es steht hinter dem Operieren mit Begriffen kein Gegebenheitsmodus, der das Begriffsspiel kraftvoll durchbräche und das Bewußtsein nötigte, sich auf das überbegriffliche und übergegenständliche Sein der mathematischen Gebilde zu besinnen. In den Grenzen der reinen Mathematik also bleibt die Vordringlichkeit des Begriffs vollkommen ungestört; sie stößt in ihrem Felde auf kein Hindernis und kann sich zu einem System von Begriffen und Urteilen auswachsen, in dem der ontologische Sinn der Aussage und der Begriffsbildung vollkommen vergessen ist. Darin besteht das Verschwinden des idealen Semscharakters im Gegenstandsfelde der reinen Idealerkenntnis. Dieses Verschwinden findet seine Grenze erst im Zusammenhang der Idealerkenntnis mit der Realerkenntnis. Es stößt auf Widerstand in dem Augenblick, wo das erkennende Bewußtsein sich darauf besinnt, daß es Realverhältnisse gibt, die mathematische Gesetzlichkeit haben und sich mathematisch verstehen lassen. Da wird es dann unmöglich, die mathematischen Verhältnisse als solche der Begriffe allein anzusehen. Das Gewicht des Realgegenstandes zwingt zur Besinnung auf das Sein des Idealgegenstandes. Der verschwundene und von der Begrifflichkeit verdeckte Seinscharakter des Idealen kommt wieder zum Vorschein. Und damit verschwindet dann zugleich die Vordringlichkeit des Begriffs. In der Wissenschaft selbst liegt die Schwelle dieser Besinnung an der Grenzscheide reiner und angewandter Mathematik. c) Die Stellung des Erkenntnisgebildes in der Idealerkenntnis Was der Begriff in der Wissenschaft ist, das ist die Vorstellung in der Alltagserkenntnis. Sie nimmt die mannigfaltigsten Formen an, kann sich weit von der logischen Struktur entfernen; sie unterliegt außerdem der

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weitestgehenden Abstufung der Bewußtheit. Gemeinhin ist sie selbst als Gebilde überhaupt nicht bewußt, wird im Erkennen der Gegenstände gar nicht bemerkt, obgleich das Erkennen der Gegenstände eben darin besteht, daß das Bewußtsein eine Vorstellung von ihnen gewinnt. Das Bewußtsein eben ist und bleibt im Erkenntnisverhältnis ganz dem Gegenstande zugewandt. Das Bild, das es sich im Erkennen von ihm macht — sei es nun in Form eines Begriffs von ihm, einer Meinung über ihn oder auch nur eines Wahrnehmungsbildes von ihm — macht nicht einen zweiten Gegenstand neben dem Realgegenstande aus, sondern verschwindet im Gegenstandsbewußtsein. Man kann das auch so ausdrücken: das inhaltliche Erkenntnisgebilde im erkennenden Bewußtsein ist die Form, in der dieses den Gegenstand erfaßt. Deswegen wird es im Erfassen des Gegenstandes nicht mit erfaßt. Um dieses Verhältnis ist in neuerer Zeit viel gestritten worden1). Die zünftige Phänomenologie hat das Auftreten des Bildes im Erkenntnisverhältnis grundsätzlich bestritten, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es sich im naiven Gegenstandsbewußtsein nicht aufzeigen läßt. Freilich ist das nicht beweisend; denn ebensowenig wie ein Bildbewußtsein (oder Vorstellungsbewußtsein) gibt es in der unreflektierten Alltagserkenntnis ein Aktbewußtsein; aber es wäre doch sonderbar, wenn man daraus folgern wollte, daß gar kein Akt vorliege, sie also auch kein Akt sei, Es zeigt Sich vielmehr, daß überall, wo die Erkenntnis fortschreitet, insonderheit wo sie Irrtümer aufdeckt und berichtigt, ein Bildbewußtsein auftritt. Erweist sich nämlich, daß der Gegenstand in bestimmter Hinsicht anders ist, als er vorgestellt wurde, so differiert die neugewonnene Vorstellung gegen die frühere, und daran wird diese sichtbar. Aber das Lehrreiche an jenem Einwände für unser Problem ist die mit Recht geltend gemachte Tatsache, daß im natürlichen Erkenntnisverhältnis das Bild des Gegenstandes als solches nicht bewußt wird. Das Bewußtsein „hat" zwar eine Vorstellung des Gegenstandes, „erfaßt" aber nicht sie, sondern nur in ihr und gleichsam durch sie hindurch den Gegenstand selbst. Die Vorstellung also bleibt unbemerkt. Sie verschwindet gegen das Gewicht des Gegenstandes; oder um ein anderes Gleichnis zu gebrauchen, sie ist nur ein Medium der Gegenstandserfassung, ist für den auf die Sache eingestellten Blick durchsichtig. So ist es in der Realerkenntnis, soweit sie unreflektiert in natürlicher Einstellung besteht. Erst in der wissenschaftlichen Reflexion ändert sich das, sofern hier das Bild nicht mehr die bewegliche Form der Vorstellung hat, sondern die festere und logisch durchgebildete des Begriffs annimmt. Der Begriff wird in bewußt methodischer Synthese aufgebaut, an ihm wird gearbeitet und gemodelt. Diese Arbeit rückt ihn ins Licht des Bewußtseins. Das ist der Grund, warum wissenschaftliche Erkenntnis nicht l

) Das Wesentliche dazu findet eich in der „Metaphysik der Erkenntnis" (3. Aufl.) 1941, Kap. 10 „Kritische Zusätze"; insonderheit die Absätze a, b und f.— Außerdem zum allgemeinen Problem der Idealerkenntnis Teil V desselben Werkes.

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Vierter Teil. 2. Abschnitt

unreflektiert auf den Gegenstand gerichtet ist, sondern stets von einer Erkenntnis zweiter Ordnung begleitet wird, in der ihr eigenes inhaltlich aufbauendes Tun zum Gegenstande gemacht ist. In vorgerücktem Stadium geht diese zweite Erkenntnis in Methodologie über. Von der Methode nämlich gilt dasselbe wie vom Bilde: auch die naive Erkenntnis ,,hat" ihr bestimmtes Verfahren, aber sie weiß nicht darum, „erfaßt" es nicht. Erst die wissenschaftliche bringt es zum Bewußtsein, indem sie es zum Gegenstande macht. Aber das ist dann ebensosehr ein Gegenstand zweiter Ordnung, wie die zugehörige Erkenntnis eine Erkenntnis zweiter Ordnung ist. d) Zweierlei Verschwinden. Vorstellung und Begriff Vergleicht man nun die Erkenntnis idealer Gegenstände mit der unreflektierten Realerkenntnis — also etwa mit dem schlichten Erfassen von Dingen oder Geschehnissen im Alltag —, so fällt jetzt der Gegensatz klar in die Augen. In der ersteren, so zeigte sich, hat der Gegenstand die Tendenz zu verschwinden, und das Bild drängt sich vor; in der letzteren verschwindet das Bild, und das Bewußtsein hat es nur mit dem Gegenstande zu tun. Beides geht so weit, daß es die Theorie zur Verleugnung des Verschwundenen verführt. Die mathematische Theorie kann sich einbilden, das Bewußtsein habe es in der Mathematik nur mit Begriffen zu tun; und die Phänomenologie der Realerkenntnis verfallt der Illusion, es gebe in dieser Erkenntnis gar kein Bild des Gegenstandes. Selbst wenn man sich von Solchen Extremen der Theorie freimacht, bleibt doch in beiden Fällen die Tatsache des Verschwindens bestehen. Man muß also fragen, woran das liegt. Den Fingerzeig zur Antwort gibt gerade die Umkehrung der Sachlage im Verhältnis von Idealerkenntnis und Realerkenntnis. In der letzteren ist der Gegenstand von Hause aus aufdringlich, seine Gegebenheit ist im emotionalen Betroffensein verwurzelt ; in der Idealerkenntnis fehlt dieses Moment ganz, ihr Gegenstand muß erst von wissenschaftlicher Besinnung aufgespürt und aus seiner Verborgenheit hervorgeholt werden. Offenbar ist es die Aufdringlichkeit des Gegenstandes, die das Erkenntnisgebilde im Bewußtsein verschwinden läßt. Und dementsprechend muß man folgern, daß seine Unaufdringlichkeit es ist, die das Erkenntnisgebilde bewußt werden, den Seinscharakter des Gegenstandes aber verschwinden läßt. Es scheint, das erkennende Bewußtsein hat nicht Raum für zwei hintereinandergeschaltete gegenständlich geformte Gebilde; es faßt nur entweder das eine oder das andere. Und hat die Gegebenheit des Erkenntnisgegenstandes nicht die Stoßkraft, sich mit dem Gewicht seines Ansichseins ihm aufzudrängen und dadurch das Bild aus dem Bewußtsein zu verdrängen, so wird der Gegenstand selbst vom Bilde verdrängt und gleichsam verdeckt. Das aber bedeutet, daß das Bild seinerseits sich vordrängt. Dazu paßt sehr genau der oben angegebene Unterschied von Vorstellung und Begriff. Sieht man von der logischen Seite des Begriffs ab, so

43. Kap. Die dreifache Hintereinanderschaltung

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sind beide nur verschiedene Formen des Erkenntnifigebildes; in beiden faßt das Bewußtsein nicht sie selbst, sondern den Gegenstand; sie sind also Formen des Gegenstandsbildes. Die Vorstellung aber ist flüchtig, der Begriff dagegen ist fest ausgeformt, durchgebildet. Er erfordert die bewußt aufbauende Arbeit. Ist nun ein Erkenntnisgegenstand so geartet, daß er erst auf der Stufe der wissenschaftlichen Arbeit faßbar wird, so ist seine Erkenntnis eben damit an die begriffliche Form des Bildes gebunden. Diese aber ist eben das ins Bewußtsein gehobene Erkenntnisgebilde. Die begriffliche Form des Bildes also ist es, was in der Idealerkenntnis die Seinsweise des Gegenstandes verdeckt. Oder, um das ganze Verhältnis kurz zusammenzufassen: eben diejenige Geformtheit des Bildes, in der das ideale Sein faßbar wird, läßt zugleich seinen Seinscharakter verschwinden. Die Realerkenntnis arbeitet zwar auch mit dem Begriff, aber nur auf ihren höheren Stufen. Und hier ist für Erhaltung des Seinsbewußtseins durch die primäre Gegebenheitsweise des Realen gesorgt. Diese ist stark genug, um auch in der begrifflichen Durcharbeitung des Erkenntnisgebildes nicht verdeckt zu werden. Hier geht der Einfluß der Begrifflichkeit nur so weit, daß durch sie das Bestehen des Bildes ins Bewußtsein gerückt wird. Und das wiederum ist ohne Verschwinden des Gegenstandes möglich, weil auf der Stufe der Wissenschaft die mitfolgende Erkenntnis zweiter Ordnung Spielraum schafft für Erfassung des ganzen Erkenntnisverhältnisses, d. h. für die Zweiheit der hintereinandergeschalteten Gebilde: des Bildes im Bewußtsein und des ansichseienden Gegenstandes. Grundsätzlich ist zwar auch die Idealerkenntnis Solchen Umfassens fähig. Und gemeinhin fehlt es auch in der mathematischen Erkenntnis nicht an ihm. Es ist ihr nur erschwert durch das Fehlen der vorbegrifflichen Gegenstandserfassung. Darum geschieht es, daß sie in ihrer Hingegebenheit an Begriff und Aussage die Seinsorientierung verliert.

43. Kapitel. Die dreifache Hintereinanderschaltung

a) Die Nahstellung des idealen Seins zum Bewußtsein Neben der Unaufdringlichkeit des Gegenstandes und der Begrifflichkeit des Erkenntnisgebildes läßt sich aber für das Verschwinden des idealen Seins in der Idealerkenntnis noch ein weiterer Grund aufzeigen. Dieser liegt in der eigenartigen Zwischenstellung, welche die idealen Gebilde zwischen dem Erkenntnisgebilde und dem Realen einnehmen. Seit der Entdeckung des idealen Seins ist der Unterschied seiner Stellung zum Bewußtsein von der des realen Seins wohlbekannt. Sie kommt darin zum Ausdruck, daß es in „innerer" Schau erfaßt wird. Das Bewußt* sein hat hier gleichsam den direkten Zugang zum Gegenstande; es muß sich freilich erst durch eine besondere Besinnung auf ihn einstellen; wenn

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Vierter Teil. 2. Abschnitt

es die Besinnung aber vollzieht, so erfaßt es den Gegenstand unmittelbar. Dieses Erfassen hat man als Intuition bezeichnet, und man meint damit ein Schauen höherer Ordnung und apriorischen Charakters, in dem das Bewußtsein direkt in Fühlung mit seinem Gegenstande kommt. Dieser Umstand hat mehr als alles andere zu der Auffassung verleitet, als handle es sich hier gar nicht um Seiendes, Sondern bloß um Gedachtes. Diese Auffassung nun mag hier auf sich beruhen, sie ist durch das Enthaltensein der mathematischen Verhältnisse im Realen erledigt. Was aber übrig bleibt von der Unmittelbarkeit der inneren Schau, wenn man von aller Deutung absieht, das ist die innere Faßbarkeit oder Gegebenheit selbst. Man kann sie bildlich als die ,,Nahstellung" des idealen Seins zum Bewußtsein bezeichnen. Sie steht offenbar in Gegensatz zur Bewußtseinsfremdheit oder Fernstellung des realen Seins, das in rein innerer Schau niemals faßbar ist. Die Transzendenz des Erfassens hat beim letzteren sichtlich die größere Spannweite. Das aber bedeutet, daß der ideale Gegenstand der ganzen Bewußtseinssphäre näher gerückt erscheint. Er nimmt in dieser Hinsicht in der Tat eine Zwischenstellung ein. Er steht, vom Subjekt aus gesehen, jenseits des Erkenntnisgebildes, aber diesseits des Realen. Da es aber einen ontischen Zusammenhang des idealen und des realen Seins gibt und das letztere, soweit es a priori erkennbar ist, immer von idealen Wesensverhältnissen beherrscht ist, so greift das Erkennen durch diese hindurch ins Reale. Erwägt man nun, daß das erkennende Bewußtsein, wie sich zeigte, nicht einmal für zwei hintereinandergeschaltete Gebilde Spielraum hat, sondern stets das eine zugunsten des anderen verdrängt, so ist es leicht zu ermessen, daß es bei der Hintereinanderschaltung von drei Gebilden ·— des Bildes, des idealen und des realen Gegenstandes — erst recht nicht das ganze Verhältnis überschaut. Wenigstens nicht, solange es nicht in besonderer Reflexion sich zu ihm rückwendet. Tatsächlich verschwinden denn auch in der Regel die Zwischenglieder: es verschwindet in der apriorischen Realerkenntnis nicht nur das Bild, sondern auch die ideale Wesensstruktur (z. B. das Mathematische), und zwar zugunsten des Realgegenstandes. Das ideale Sein erscheint versenkt in das Reale, so daß es erst einer besonderen Herauslösung bedarf, um als solches erfaßt zu werden. Es ist für die Erkenntnis in das Reale hinein verschwunden. Wo aber, wie in der reinen Mathematik, kein Realgegenstand vorhanden ist, die Hintereinanderschaltung also nur zweigliedrig ist, da macht es die Vordringlichkeit des Begriffs, daß der ideale Gegenstand umgekehrt in das Erkenntnisgebilde hinein verschwindet. In beiden Fällen also entschwindet der ideale Seinscharakter dem Bewußtsein, das eine Mal nach jenseits, das andere Mal nach diesseits seiner Sphäre. Und der Gesamteffekt ist, daß es überhaupt schwer hält, ihn wirklich zu erfassen. Er entwischt gleichsam unter dem Zugriff des erkennenden Bewußtseins. Dieses ist von Natur auf seine Erfassung nicht

43. Kap. Die dreifache Hintereinanderschaltung

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eingerichtet. Und nur indem es in der philosophischen Besinnung seine Natur überschreitet, bringt es das ihm ursprünglich Versagte zuwege. b) Nominalismus und Realismus In dieses Verhältnis spielt nun noch einmal der alte Universalienstreit hinein, und zwar in anderer Weise als in das Verhältnis von Dasein und SoSein. Hier handelt es sich nicht um die Beziehung von essentia und exitentia, sondern um das Sein der essentia selbst. Denn die essentia war es, die als ideales Gebilde verstanden wurde. In diesem Streit finden wir beide Arten des Verschwindens. Der Nominalismus war es, der die essentia zur bloßen Sache des Gedankens machte, zu etwas Nachträglichem also (post rem), das kein eigenes Sein hat. Er ließ das ideale Sein in das Erkenntnisgebilde hinein verschwinden und behielt als allein Seiendes das Reale übrig. Der Nominalismus also ist „Realismus" im heutigen Sinne des Wortes. Was man den mittelalterlichen Realismus nennt, ist etwas ganz anderes. In ihm handelt es sich nicht um das Sein der realen Welt, sondern gerade um das der idealen Wesenheiten. Diese Auffassung verstand die essentia als ontische Grundlage des Realen, und zwar entweder so, daß sie nur „im" Realen besteht, oder so, daß sie außer ihm eine selbständige und übergeordnete Sphäre bildet. Im ersteren Fall besteht sie in rebus, im letzteren ante res. Von diesen beiden Formen des Universalienrealismus entspricht die erstere genau dem oben gekennzeichneten Fall, in dem der ideale Gegenstand dem Bewußtsein in das Reale hinein entschwindet. Denn in der Tat ist hier der eigenartige Seinscharakter der essentia verschwunden : er erscheint nur noch versenkt in die Dinge. Für freie Idealität ist hier kein Raum. Die andere, weit extremere Form — es ist die Platonische — gibt der essentia gerade das, was jene ihr versagt, und was erst recht der Nominalismus ihr versagt: das selbständige Sein. Man sollte also meinen, daß sie die beiden Seiten des Grundphänomens am besten zu vereinigen wüßte. Hier ist das Ideale dem Bewußtsein weder in das Reale noch in die Vorstellung (den Begriff) entglitten. Aber dieser UniVersalienrealismus fällt in ein drittes Extrem: er übersteigert den Seinscharakter des Idealen zum allein eigentlichen Sein und setzt den des Realen zur bloßen Abhildlichkeit, j a zum Schein herab; ihm also entschwindet nun das Reale zugunsten der idealen Wesenheiten, und so bürdet er diesen weit mehr auf, als sie tragen können. Er erweist sich als Idealismus der Wesenheiten und des göttlichen Verstandes. Das Lehrreiche an diesen Theorien ist nicht so sehr die metaphysische Konsequenz als vielmehr der greifbare Beleg für die ungeheure Schwierigkeit, das ideale Sein rein als solches zu fassen. Das Mittelalter ist um diese Aufgabe offenbar weit mehr besorgt gewesen als wir Heutigen. Dennoch ist ihm die Fassung nicht gelungen. Nach drei Seiten entglitt den 18 H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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Vierter Teil. 2. Abschnitt

scholastischen Theorien das Sein der essentia: in den Begriff, in die Dinge und in die göttliche Jenseitigkeit. Jede dieser Fassungen entspricht nur einer Seite des Gesamtverhältnisses, wie die Phänomene es zeigen. Dem Ganzen entspricht keine. c) Die unaufhebbare Täuschung Nachdem die Irrtümer einmal aufgedeckt sind, hält es So schwer nicht, das Sein der idealen Gegenstände rein zu fassen. Es ist damit oben der Anfang gemacht worden, und die nachfolgenden Kapitel werden den Versuch zu Ende zu führen haben. Eins aber muß man dabei klar im Auge behalten: das ständige Verdecktwerden selbst, das den idealen Gegenständen eigen ist, ihr Verschwinden für das Bewußtsein, ihr Entgleiten in den Begriff, in das Reale oder in hypostasierte Transzendenz läßt sich nicht aufheben. Das Inhaltliche der Idealerkenntnis wird dadurch nicht eingeschränkt, wohl aber bleibt die Täuschung über den Seinscharakter ihrer Gegenstände bestehen. Man halte dazu das Gesagte zusammen. Die Entdeckung des idealen Seins in der Platonischen Philosophie begann gleich mit einer Übersteigerung seines ontischen Gewichts; die Folge war die im UniverSalienrealismus fortlebende Hypostasierung der ganzen Sphäre. Diese scheint dann wie eine zweite Welt über der realen zu schweben und drückt die letztere zur Uneigentlich keit herab. Besinnt man sich nun mit den Aristotelikern auf das Gewicht des Realen, so wird die eigene Seinsweise der essentia unglaubwürdig. Es bleibt von ihr nichts als das Allgemeine in der realen Welt übrig. Wendet man sich aber der intentio obliqua folgend, dem Tun des Bewußtseins und seinen Inhalten zu, so findet man an Stelle eines Seienden Stets nur den Begriff. Das sind Richtungen der Auffassung, die man nicht einfach damit abtun kann, daß man ihre Schiefheit einsieht. Man kann sie nicht wie Gewohnheiten ablegen, man unterliegt ihrem Zwang immer wieder. Denn Sie sind in der Art des Phänomens gegründet. Irrtümer sind Sache der Meinung, man kann sie einsehen, und mit der Einsicht sind sie erledigt; kein Mensch behält den Irrtum bei, den er einmal durchschaut hat. Täuschungen kann man wohl auch durchschauen, aber sie sind damit nicht erledigt, Sie bestehen fort; denn sie sind nicht Sache des Urteils, auch nicht der Meinung, sondern des Phänomens, wie es einmal gegeben ist. Das schräg insWasser getauchte Ruder sieht immer wieder gebrochen aus, wie sehr wir auch wissen, daß es Täuschung ist. Das Verschwinden des idealen Seins für das erkennende Bewußtsein ist nicht Irrtum, sondern Täuschung. Und diese Täuschung ist nicht aufzuheben, weil sie in der Art der Gegebenheit des idealen Seins begründet ist. Die Unaufdringlichkeit des Gegenstandes ist hier ebenso innerlich verknüpft mit seiner Seinsweise wie die Vordringlichkeit des Begriffs mit seiner Erscheinungsweise und das Verschwinden in den Dingverhältnissen mit seinem Versenktsein in das Reale.

44. Kap. Relative Selbständigkeit des idealen Seins

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Die Täuschung, daß ideale Gegenstände kein Sein hätten, läßt sich nur „aufdecken", nicht „aufheben". Die Ontologie muß die Last der unaufhebbaren Illusion auf sich nehmen und ihr immer wieder durch Besinnung auf ihre Gründe begegnen. Sie kann sich bei keinem weiteren Schritt auf das einmal Ausgemachte verlassen, muß den Kampf gegen die Täuschung stets von neuem führen. Und was das schwerste ist, sie muß sich gleichzeitig auch nach der anderen Seite vorsehen. Denn nichts geschieht ihr leichter als der Fehler des Platonismus, die Seinsweise der Wesenheiten, wenn sie sie wirklich erfaßt, als die „höhere" zu deuten und dadurch erst recht zu verkennen. 44. Kapitel. Relative Selbständigkeit des idealen Seins

a) Rolle der Idealität des Realapriorismus Das Enthaltensein der Wesensverhältnisse im Realen ist der Beweis für ihren Seinscharakter. Aber daß dieser ihr Seinscharakter ein anderer ist als der des Realen, läßt sich gerade daraus nicht abnehmen. Es fehlt also noch der Beleg für ihre „Idealität". Es gilt zu zeigen, daß z. B. das Mathematische, ungeachtet seiner bestimmenden Rolle in der realen Welt, nicht von Hause aus und nicht an sich schon etwas Reales ist, sondern auch ohne Realität an sich zurecht besteht — und zwar als ebendasselbe, als das es auch im Realen enthalten ist. Für diesen Teil des Nachweises lassen sich drei Argumente anführen: 1. aus dem Wesen des Apriorismus, 2. aus der Stellung der reinen Mathematik zur angewandten und 3. aus der Indifferenz des Mathematischen (und der Wesenheiten überhaupt) gegen den realen Fall. Das erste dieser Momente ist allbekannt. Alle apriorische Erkenntnis des Realen ist „objektiv allgemein". Das will heißen: sie spricht in jedem Urteil, zu dem sie führt, von einer Totalität möglicher Realfälle, gleichgültig ob diese in Wirklichkeit vorkommen, vorgekommen sind oder vorkommen werden. Diese Totalität ist eine innere, im Wesen der Sache liegende und insofern eine recht eigentlich „ideale". Sie besagt, daß auch alle tatsächlich unbekannten Fälle, die künftigen wie die vergangenen, unter die generelle Einsicht fallen, die das Urteil ausspricht; ja, sie erstreckt sich darüber hinaus auf Fälle, die im Realzusammenhang der Welt niemals wirklich werden; denn der Realzusammenhang ist, von der Wesengeinsicht aus gesehen, ein „zufälliger". Wobei es sich freilich nicht um Realzufälligkeit handelt, sondern nur um Wesenszufälligkeit. Was Kant mit der „Allgemeinheit und Notwendigkeit" der synthetischen Urteile a priori meinte, entspricht genau dieser Totalität. In diesen beiden Momenten charakterisierte er die Kennzeichen echter Apriorität. In der reinen Mathematik nun wird eine solche Totalität als selbstverständlich hingenommen. Aber im einzelnen mathematischen Satz ist sie keineswegs besonders ausgesprochen, sondern nur Stillschweigend voraus18*

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Vierter Teil. 2. Abschnitt

gesetzt. Das Recht dieser Voraussetzung ist daher ein Gegenstand besonderer erkenntnistheoretischer Erörterung und muß besonders nachgewiesen werden. Der Satz selbst indessen steht indifferent zu ihr. Denn er spricht, rein in seinem Wesensgehalt verstanden, überhaupt nicht von Realfällen; die Totalität aber ist gerade die der Realfalle. Die Allgemeinheit der Einsicht ist nicht die einer Kollektivaussage, sondern nur die einer Wesensaussage. Die Mannigfaltigkeit der Realfälle also ist in der mathematischen Einsicht gar nicht vorgesehen. In ihr wird nur der ideale Gehalt des Satzes als solcher angeschaut. Dieser ideale Gehalt ist hier bereits der Gegenstand der Erkenntnis, und zwar als in sich geschlossener und vollgültiger. Erkenntnis dieser Art wartet nicht darauf, ob hinter ihm noch ein Gegenstandsfeld anderer Art auftaucht oder nicht. Daß hinter ihm tatsächlich die Realfälle als weitere Gegenstände auftauchen, ändert an dem Grundverhältnis nichts mehr; das beweist immer nur das Ansichsein der mathematischen Gegenstände, nicht aber ihre Idealität. Ihre Idealität ist vielmehr umgekehrt an der Indifferenz der Wesenseinsicht und ihres Gegenstandes gegen die „Zufälligkeit" des Realen zu erfassen. Denn was am mathematischen Gegenstande mathematisch einzusehen ist, wird durchaus unabhängig von aller Gegebenheit oder Nichtgegebenheit der Realfälle — gleichsam diesseits ihrer Mannigfaltigkeit und ihres Seinsgewichtes — eingesehen. b) Echte Selbständigkeit und falsche Isolierung des idealen Gegenstandes Es geht also Schon aus diesem ersten Grunde nicht an, das ideale Sein ganz in reales aufzulösen. Wollte man das dennoch versuchen, so müßte man die mathematische Erkenntnis von vornherein als Realerkenntnis verstehen; was wiederum hieße, daß es reine Mathematik nicht gibt. Dann aber wird es schwer, die Apriorität der mathematischen Erkenntnis aufrecht zu erhalten. Damit fällt man in den „mathematischen Empirismus", der alles auf Realerfahrung zurückführt: man macht z. B. die Erfahrung, daß 3 · 12 Dinge 36 Dinge sind, und abstrahiert daraus den allgemeinen Satz. Aber das Mißliche bleibt, daß auf diese Weise sich keine Streng allgemeinen Sätze ergeben. Was sich wirklich ergibt, bedarf vielmehr noch der Verallgemeinerung. Diese aber ist auf Grund der Empirie gar nicht möglich; man kann eben ohne vorgegebene strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit nie wissen, wie die übrigen — d. h. nicht erfahrenen — Fälle ausfallen. Aber man kann das sehr wohl wissen, wenn man nicht auf Realfälle, sondern auf die idealen mathematischen Verhältnisse selbst hinschaut. Wie aber sollte man auf ideale mathematische Verhältnisse hinschauen können, wenn diese kein selbständiger Gegenstand der Schau sind? Anschaubar müssen Sie doch gerade diesseits der BeSonderung in den Realfällen sein. Und in der Tat gibt es diese Anschaubarkeit. So ist das Drei-

44. Kap. Relative Selbständigkeit des idealen Seins

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eck, der Kreis, die Ellipse, die Potenzenreihe, die Zahl e usw. durchaus in sich selbst anschaubar, und zwar in dem charakteristischen Singular der idealen Wesenstruktur, diesseits aller Mannigfaltigkeit des Realen. Auf solcher Anschaubarkeit der idealen Gegenstände in sich selbst beruht die ganze reine Mathematik; und diese, rein als Tatsache verstanden, ist eben dadurch die eindeutige Widerlegung nicht nur des mathematischen Empirismus, sondern auch des mathematischen Realismus. Andererseits ist es wichtig, gleich hier vor zu weitgehenden Schlüssen auf der Hut zu sein. Die selbständige Gegenständlichkeit ist ein immerhin mißverständlicher Ausdruck. Was an ihr wirklich feststellbar war, ist nur die objektive Allgemeinheit und einsichtige Notwendigkeit. Ob diese nur für den Bereich möglicher Realfälle besteht oder auch über ihn hinaus, ist ihr so keineswegs anzusehen. Man darf also daraus noch nicht ein selbständiges Sein des Allgemeinen machen. Oder genauer, es liegt kein Grund vor, die a priori einsichtigen idealen Verhältnissen für etwas zu halten, was isoliert für sich bestünde und gleichsam neben der Welt der Realfälle eine zweite Welt ausmachte. Die selbständige Gegenständlichkeit für eine bestimmte Art der Schau berechtigt dazu nicht. Das durchgängige VerSenktsein der idealen Wesensverhältnisse in das Reale könnte, ungeachtet der Isolierung in der Schau, sehr wohl ontisch zurecht bestehen. Die Geschichte der Philosophie ist reich an Beispielen von Verfehlung solcher Art. Seit dem Platonismus ist es immer wieder geschehen, daß die Sphäre der Wesenheiten oder auch nur die des Mathematischen wie eine zweite Welt von Dingen oder Substanzen neben die reale gesetzt wurde. Und immer war es die Selbständigkeit, mit der sie als Gegenstandssphäre auftritt, was hier zur Isolierung verleitete. Aber Gegenständlichkeit ist nicht Sein; und was als Gegenstand bestimmter Einsicht isoliert auftritt, braucht an sich nicht isoliert zu bestehen. Und da es, wie gezeigt wurde, überhaupt ein Ineinanderstecken der Seinsweisen in der einen Welt gibt, so ist es gerade hier geboten, den Gesichtspunkt der Isolierung überhaupt und endgültig fallen zu lassen. Die Seins weise des Allgemeinen und Wesenhaften in der Welt kann sehr wohl eine höchst eigenartige sein, und die Isolierbarkeit seiner Erfassung kann ganz eindeutig davon Zeugnis ablegen. Aber wollte man das Sein des Allgemeinen und Wesenhaften deswegen aus dem Gefüge des Realen herausreißen, so würde man die Einheit der Welt verfehlen, in der das der Seinsweise nach Heterogene fest verbunden dasteht. c) Reine und angewandte Mathematik Daß reine Mathematik anwendbar ist auf Realverhältnisse der Natur, verbürgt den Ansichseinscharakter des idealen Gegenstandes. Daß sie aber vor aller Anwendung und unabhängig von ihr eine apriorische und in sich geschlossene Wissenschaft ist, daß sie also dieselben Gesetze, die sich hinterher als anwendbar erweisen, schon ebenso gegenständlich rein in Sich erfaßt, das beweist, daß dieser Ansichseinscharakter ursprünglich

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Vierter Teü. 2. Abschnitt

ein idealer ist, und daß die Gebilde, die ihn haben, unabhängig von der Besonderheit des gegebenen Realen, das sie beherrschen, zurecht bestehen. Am Verhältnis der reinen und angewandten Mathematik läßt sich daher das Grundsätzliche im Verhältnis von idealem und realem Sein beleuchten. Es gibt ein durchgehendes Enthaltensein idealen Seins im realen. Die reale Welt ist durchformt und durchwaltet von idealen Wesensverhältnissen. Ob diese Durchgeformtheit sich auf alle Seiten und Charaktere des Realen erstreckt, ist eine andere Frage; von Wichtigkeit ist nur, daß es sie gibt und daß sie aufweisbar ist. Man kann das auch so aussprechen: das ideale Sein funktioniert im realen als eine Art Grundstruktur. Und folglich steht die reale Welt in einer inneren Abhängigkeit von ihm. Dieses Verhältnis läßt sich aber nicht umkehren. Das ideale Sein ist seinerseits nicht durch das reale bedingt, ist an die Existenz von etwas Realem nicht gebunden. Es hat Selbständigkeit gegen dessen Vorhandensein, und darum ist es gerade im Absehen vom Realen rein erfaßbar. Die Bedingtheit, die hier waltet, ist also eine einseitige: das Mathematische beherrscht wohl einen bestimmten Ausschnitt des Realen, aber dieser beherrscht nicht das Mathematische. Innerhalb dieses Ausschnittes richten sich die Realverhältnisse wohl nach mathematischen Gesetzen, aber das bindet diese nicht an die Sphäre der Realität. Das ist der Grund, warum auf gewissen Gebieten das Ideale inhaltlich weit über das Reale hinausreichen kann, d. h. daß es auch Idealverhältnisse gibt, die in keiner Realität enthalten („realisiert") sind. Die bekanntesten Beispiele dafür bilden die imaginären Zahlen und die nichteuklidischen Räume. Etwas der Imaginärzahl Entsprechendes gibt es in der physischen Welt nicht. Und von der Vielzahl geometrischer „Räume" läßt sich wenigstens sagen, daß nur einer von ihnen der Struktur und den Gesetzen nach auf den Realraum zutreffen kann, daß also nur eines dieser geometrischen Dimensions- und Gesetzessysteme das des existierenden Kosmos sein kann. Denn der kosmische Raum ist notwendig „einer". Und welche Geometrie auch die seinige sein mag, es bleiben immer die übrigen nach, die dann eben irreal sind und bleiben. Als ideale Gegenstände aber stehen die irrealen Räume durchaus ebenbürtig neben dem einen, der im Kosmos realisiert ist. Sie haben also in derselben Weise wie er ideales Sein, nur eben nicht reales; wie sie denn der reinen Anschauung und dem Denken dieselbe strukturelle Härte darbieten. Darum ist es diesen Räumen geometrisch auch nicht anzusehen, welcher von ihnen der reale Raum ist. In Kürze kann man das Verhältnis auch so aussprechen: ideales Sein steht indifferent gegen reales — nämlich gegen Seine eigene Realisation in der Welt —; reales Sein aber steht niemals indifferent gegen ideales da, es setzt immer Idealstruktur Schon voraus, trägt sie in sich und ist durchwaltet von ihr.

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d) Die „Zufälligkeit" des Realen und der „Möglichkeitsbereich" des Idealen Darauf beruht die vielberufene „Zufälligkeit" des Realen vom Standpunkt des Idealen aus. Notwendig vom idealen Sein aus ist immer nur ideales, niemals reales Sein. Solche Notwendigkeit ist also nicht die Realnotwendigkeit, sondern bloße Wesensnotwendigkeit. Aus ihr folgt nie, daß die Sache real ist; und das eben bedeutet, daß trotz Solcher Notwendigkeit das Realsein der Sache „zufällig" bleibt. Aber diese Zufälligkeit ist wiederum nur Wesenszufälligkeit, nicht Realzufälligkeit; im Realzusammenhange kann die Sache ihr zum Trotz sehr wohl notwendig sein. Darum auch stellt sich das Reich des idealen Sems, vom Realen aus gesehen, als ein Reich von „Möglichkeiten" dar. In diesem Sinne sprach Leibniz von der Vielzahl der „möglichen Welten". Aber auch von solcher Möglichkeit gilt, daß sie nur Wesensmöglichkeit, nicht Realmöglichkeit ist. Zu letzterer dürfte noch eine lange Kette von Realbedingungen gehören; und solange die nicht erfüllt sind, ist die Sache vielmehr realiter unmöglich. Genau untersuchen lassen sich diese Verhältnisse erst in einer speziellen Modalanalyse. Diese gehört in einen anderen Kreis von Erörterungen. Hier bleibt nur noch das eine hinzuzufügen: die „Zufälligkeit" des Realen und der „Möglichkeitsbereich" des Idealen sind keine eigentlichen Modalbestimmungen, sondern nur das Spiegelbild des Verhältnisses von Allgemeinem und Individuellem, sofern in der einen gemeinsamen Welt beides ineinandersteckt. Die Idealstrukturen eben sind allgemein, und insofern schließen Sie eine gewisse Unbestimmtheit ein; diese aber Stellt sich als Pluralität der „Möglichkeiten" dar. Die Realfälle wiederum sind individuell und insofern vom Allgemeinen aus „zufällig". Hinter dem Widerspiel dieser Modalitäten steht also vielmehr das Ineinandergeschaltetsein des Idealen und des Realen. Wobei der eigentliche Ertrag der ganzen Überlegung deutlich auf das hinausläuft, was oben bereits als Wesen dieses Verhältnisses angegeben wurde: die Seinsweise des Idealen ist durchaus keine vom Realen abgelöste, wohl aber eine solche von relativer Selbständigkeit, und deswegen auch von selbständiger Erfaßbarkeit. Die Stellung des Idealen im Gefüge der Welt ist durch die des Allgemeinen in der Mannigfaltigkeit der Fälle eindeutig charakterisiert. Das allgemeine eben besteht keineswegs jenseits der Fälle (ante res) für sich, aber auch keineswegs nur in mente als von ihnen abstrahiertes (post rem), sondern durchaus in rebus. Aber es geht gleichwohl in der Besonderheit der Realfälle nicht auf, sondern umfaßt mehr. Deswegen kann man Seine Seinsweise nicht ohne weiteres derjenigen des Gemeinsamen in den Realiallen gleichsetzen. Nur im Sinne dieses Hinausragens über die Realsphäre ist es berechtigt, von einer eigenen Seinsweise des Idealen zu sprechen. Das geschieht ohne Gefahr von Mißverständnissen, solange man aus dem schlichten Ansichseinscharakter, der nur den Unter-

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schied vom Sein der Realfälle bezeichnet, nicht ein verselbständigtes oder gar substantialisiertes Für-Sich-Bestehen macht. Formal also läßt sich wohl von einer Priorität des idealen Seins vor dem realen sprechen—so wie sie von allen platonisierenden Richtungen der Philosophie behauptet worden ist. Ontologisch aber läßt sich das nicht festhalten, am wenigsten wenn man mit der Priorität die Vorstellung verbindet, als handelte es sich um die höhere, absolutere oder vollkommenere Seinsweiöe. Wie ontologisch das Allgemeine stets nur ein Moment im real-Individuellen und als solches ein Untergeordnetes ist. so muß vom idealen Sein gelten, daß es vielmehr die niedere und gleichsam unvollständige Seinsweise ist, das reale aber erst die vollständige. Wie denn immer das niedere im Höheren, nicht aber dieses in jenem enthalten ist. Die Unvollständigkeit eben ist die Unbestimmtheit des allgemeinen, und diese wiederum beschwört die vage Pluralität der „Möglichkeit" herauf, die keine eigentliche Realmöglichkeit sind. Darum ist auch die „Bedingtheit" des Realen durch das Ideale keine Determination zum Realsein, geschweige denn zur Besonderheit des Realen. Sie ist nur die einseitige Abhängigkeit im Sinne der Teilbedingung. Sie bedeutet also nur das Bedingtsein des höheren Gebildes durch das niedere. Wie denn das Allgemeine im Individuellen nur Strukturelement ist. 45. Kapitel. Indifferenz und Gebundenheit

a) Die „Ungenauigkeit" der Realfälle Die Indifferenz des Mathematischen gegen den realen Fall ist mit dem Gesagten noch nicht erschöpft. Sie spielt nicht nur dort, wo das Mathematische inhaltlich über das Reale hinausreicht, sondern auch innerhalb der Grenzen seiner Herrschaft im Kosmos. Es ist viel über die Tatsache debattiert worden, daß es in der Natur kein mathematisch genaues Dreieck, keinen exakten Kreis, keine strenge Ellipse gibt, daß die realen Figuren und Bewegungskurven viel komplizierter sind, daß also auch die mathematisch formulierbaren Gesetze der Mechanik auf keinen einzigen Fall wirklich stattfindender Bewegung genau zutreffen. So sind z. B. die Keplerschen Gesetze in den Planetenund Kometenbahnen nur annähernd erfüllt; immer gibt es kleine — oft freilich auch recht beträchtliche — Abweichungen, die zwar selbst annähernd meßbar, aber durchaus nicht als bloße „Störung" auffaßbar, also auch nicht eliminierbar sind. Daß man sie der Tradition gemäß als „Störungen" bezeichnet, macht die Sache nicht besser. Denn die Störungen können sich häufen und die Grundform sehr wesentlich abändern. Man könnte meinen, das bedeute eine Geltungsgrenze des Mathematischen in der realen Raumbewegung. Man hat hierbei auch in der Tat anfangs an das Platonische Verhältnis gedacht, wonach die reine Ellipse etwa die Idealform ist, zu der die wirkliche Bewegung der Himmels-

45. Kap. Indifferenz und Gebundenheit

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körper im Räume tendiert, ohne sie erreichen zu können. Das Reale ist dann das Reich der Unvollkommenheit, das Ideale das der Vollkommenheit. Dieser Teleologismus der Idealform weicht schon der einfachsten Überlegung. Der Realfall eben ist komplex. Man weiß auch sehr wohl darum, daß in ihm Bedingungen mitsprechen, die in der Einfachheit eines allgemeinen Grundgesetzes gar nicht berücksichtigt sind. Daß kein materielles Dreieck mathematisch exakt ist, bedeutet also gar nicht, daß die Gesetze des Dreiecks in ihm nicht erfüllt wären; es bedeutet vielmehr, daß sie sich mit anderen Formgesetzen in der Einheit einer komplexen Form überlagern, weil überhaupt im Realfall eine viel kompliziertere Form vorliegt. Daß wir uns bei ihrer Erfassung an die einfache Form einer geometrisch übersichtlichen Figur halten, geschieht nur deswegen, weil die Kompliziertheit der wirklichen Form sich dem Erfassen entzieht. An die Stelle der letzteren tritt in der Auffassung die vereinfachte Figur. Diese aber deckt sich nicht mit der realen. Dasselbe gilt für die Gesetze der Mechanik. Das Galileische Fallgesetz gilt unmittelbar nur für den absolut freien Fall. Dieser aber ist real gar nicht herstellbar. Es mischen sich stets andere Faktoren hinein, die den Fall verschieben. Die Gesetzlichkeit kompliziert sich mit anderer Gesetzlichkeit. Aber sie selbst bleibt auch als Komponente der komplexen Gesetzlichkeit durchaus bestehen (z. B. in der besonderen ballistischen Kurve eines Geschosses). Ebenso sind die Keplerschen Ellipsen zwar in keiner Planetenbahn rein gegeben — aber nicht weil ihr Gesetz nicht zuträfe, sondern weil Ablenkungen mit hineinspielen. Das ist sehr wohl nachweisbar daran, daß sich in den Grenzen gegebener Beobachtungsgenauigkeit die Ablenkungen selbst wiederum unter denselben Gesetzen erklären lassen, so daß man sich der wirklichen individuellen Bahn innerhalb angebbarer Fehlergrenzen rechnerisch nähern kann. Somit liegt in den Abweichungen gerade die Bestätigung eines vollkommen exakten Entsprechens. b) Irrige und zutreffende Schlußfolgerungen Das Wesen dieser Phänomene ist also nicht die „Ungenauigkeit" des Realen, sondern seine Konkretheit. Es ist ein Mißverständnis, aus ihnen den — oft gezogenen — Schluß zu ziehen, die idealen Verhältnisse träfen auf das Reale nicht zu; das ist eine vollkommene Verkehrung der Tatsachen, beruhend auf Verkennung des Sinnes in den Methoden der Wissenschaft. Das zu sagen und trotz der an sich klaren Sachlage immer wieder zu betonen, ist heute leider notwendig; denn die wissenschaftliche Halbbildung, die diesem Irrtum Vorschub leistet, hat längst auf die Philosophie selbst übergegriffen und dort das ihrige zur Verdunkelung der ontologischen Probleme beigetragen. Satt dessen läßt sich hier Sehr wohl ein anderer Schluß ziehen, der auf den ersten Blick freilich nur das Erkenntnisproblem betrifft: es ist un-

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Vierter Teü. 2. Abschnitt

möglich, aus der Beobachtung von Realfällen allein —- und sei sie noch so genau ·— die einfachen mathematischen Gesetze des Quantitativen zu abstrahieren, obgleich sie in den Fällen enthalten sind; man kann sie also niemals rein empirisch gewinnen, sondern immer nur in der reinen Schau der einfachen Grundverhältnisse selbst. Man kann sie exakt nur am idealen Sein gewinnen. Das ist es, was die reine Mathematik tut. Der Grund dafür liegt nicht etwa in der bloßen Tatsache, daß die unübersehbare Vielzahl der Fälle nicht empirisch durchlaufen werden kann; er liegt auch nicht darin, daß etwa die einfachen Gesetze in den Realfällen nicht streng erfüllt wären (sie Sind es ja vielmehr trotz aller Komplexheit der Fälle); er liegt vielmehr darin, daß die Realfälle niemals einfache Fälle sind, und daß es ihnen als solchen nicht anzusehen ist, welche Momente ihrer Bestimmtheit der einfachen Grundgesetzlichkeit angehören. Im Experiment kann man die Realbedingungen freilich beeinflussen, kann sie So isolieren, daß der reale Fall sich dem einfachen Idealfalle nähert. Aber weder kann man die Näherung bis zur völligen Deckung vortreiben, noch kann man auf allen Wissensgebieten experimentieren. Die Bewegung der kosmischen Körper im Weltraum ist jeder Beeinflussung entzogen; ihre Gesetze also lassen sich überhaupt nur am idealen Fall erfassen, indem man diesen hypothetisch zugrundelegt. So wurden die Keplerschen Gesetze erfaßt. Die Beobachtung der scheinbaren Bewegung des Mars gab nur die Hinführung auf sie. Die Kenntnis der einfachen mathematischen Grundgesetze setzt also deren Erfaßtheit diesseits des Realen schon voraus. Sie haben, weil sie in rein apriorischer Erkenntnis exakt faßbar sind — und zwar nur in ihr —, und weil andererseits die komplexen Realfälle sich auf Grund ihrer Geltung verstehen lassen, notwendig ein ideales Ansichsein, das unabhängig von der Besonderheit der Realfälle so ist, wie es ist. Im allgemeinen ist es ja überhaupt so: die mathematischen Verhältnisse werden zunächst rein in sich selbst, streng a priori, erschaut und erst hinterher wird das am Idealen Erschaute auf das Reale „angewandt". Erst die „Anwendung" aber stoßt auf die Komplexheit des Realfalles. Jenes Erschaute aber ist und bleibt als solches unabhängig davon, ob sich überhaupt Realfälle finden, auf die es zutrifft. c) Sinn und Grenzen der Indifferenz des idealen Seins Und weil nun alle mathematischen Gegenstände in der Seinsweise homogen sind, alle die gleiche Idealität haben und in gleicher Weise rein a priori gegeben sind, indifferent gegen das Bestehen oder Nichtbestehen entsprechender Realfälle, — und weil andererseits das Reale nachweisbar den einschlägigen Idealstrukturen unterworfen ist -—, so folgt, daß alle mathematischen Gegenstände ideales Ansichsein haben. Dieses Ansichsein bedeutet nicht, daß hier ein gegen das Reale besteht, es bedeutet nicht Abgelöstheit oder Jenseitigkeit, nicht ein

45. Kap. Indifferenz und Gebundenheit

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ontisches Schweben der idealen Seinssphäre als einer für sich bestehenden Welt. So weit reicht das Indifferenzphänomen nicht. Die „Idealität" bedeutet nur Indifferenz gegen die Besonderheit und Existenz der Realfälle; das „Ansichsein" aber hält das Ideale dennoch grundsätzlich am Realen fest, denn es ist durch nichts als durch sein Enthaltensein im Realen belegt. Dieses Enthaltensein, obschon es kein durchgehendes ist, genügt, um es über den Charakter des bloßen Gegenstandseins zu erheben. Man sieht hieraus, daß der Seinscharakter der idealen Gegenstände in einem gewissen Doppelaspekt gegeben ist, und daß diese Gegebenheitsform sich nicht willkürlich ausschalten läßt. Geht man von der reinen Schau der mathematischen Gebilde aus, so drängt sich ihre Indifferenz gegen das Reale auf und verleitet zu einer übertriebenen Verselbständigung der Sphäre. In diesem Aspekt erscheint das ideale Sein dem Realen übergeordnet. Es liegt in seinem Wesen nicht, Realisierung zu erfahren; es bleibt ihm äußerlich, daß es einer realen Welt zur Grundstruktur dient, ihr die Gesetzlichkeit oder die Formentypik darbietet. Es bleibt, was es im Wesen ist, auch wenn kein Realfall ihm entspricht. Es liegt aber wohl im Wesen des realen Seins, die Struktur des idealen an sich zu haben und somit Realisation eines Idealen zu Sein. Ihm ist es nicht äußerb'ch, daß die Idealverhältnisse in ihm walten. Der Zusammenhang der beiden Seinsweisen liegt hiernach in der Artung des Realen allein, nicht in der des Idealen. Die Notwendigkeit des Realen enthält wohl die Wesensnotwendigkeit, geht aber in ihr nicht auf; darum ist der Schluß von der essentia auf die existentia nicht möglich. Und weiter zeigt dieser Aspekt, daß Idealerkenntnis nicht ohne weiteres auch Realerkenntnis ist, daß aber wohl in aller Realerkenntnis ein Moment der Idealerkenntnis enthalten ist. Denn der Einschlag des Apriorischen in ihr hängt an den im Realen enthaltenen Idealstrukturen. Weiter aber reicht dieser Aspekt nicht. Er ist und bleibt ontologisch einseitig. Er kann das volle Verhältnis nicht fassen, weil er von vornherein der intentio obliqua angehört — er stammt aus der Reflexion auf die durch den Gedanken, den Begriff, die Aussage isolierten Allgemeinheiten. Seine Labilität zeigt sich untrüglich an seiner Unfähigkeit, die erfaßten Gebilde in der Schwebe festzuhalten, in die er sie versetzt; sie zeigt sich in der Tendenz, sie entweder zu hypostasieren und aus ihnen ein Reich von Formsubstanzen zu machen, oder sie zu bloßen Begriffen zu depontenzieren. Das erstere ist aus dem Platonismus, dem Universalienrealismus, ja selbst aus der phänomenologischen Fassung der Wesenheiten wohlbekannt; das letztere hat den Nominalismus, den Subjektivismus und den philosophischen Relativismus hervorgetrieben. Dem tritt entsprechend der andere Aspekt entgegen. Er ist der ontologische und besteht in der Rückkehr zur intentio recta. Er zeigt die Verbundenheit von idealem und realem Sein als das Grundphänomen. In seiner Blickrichtung steht die ideale Wesensstruktur als das im Realen

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enthaltene Allgemeine da, und die Eigenart ihrer Seinsstufe tritt nur als Grenzphänomen hervor: nämlich überall da, wo das Reich des Mathematischen inhaltlich die Reichweite des Realen überschreitet. Damit ist der Indifferenz des idealen Seins eine Grenze vorgezogen. Nicht auf seine Verselbständigung läuft die Phänomenkette seiner Gegebenheit hinaus — weder ein schwebendes Ideenreich noch auch eine bloß mentale Abgelöstheit der idealen Gebilde folgt aus ihr —. sondern lediglich die Gleichgültigkeit gegen Zahl, Besonderung und Existenz der Realfälle. Dieses Resultat in aller Besonderung der Probleme streng festzuhalten ist aber eine Aufgabe, die nur gelingen kann, wenn der Überblick über das Ganze des Grundverhältnisses bis in alle Spezialisierung hinein aufrecht erhalten wird. Dazu aber bedarf es noch einer erweiterten Überlegung.

III. Abschnitt Das ideale Sein im Realen 46. Kapitel. Die Phänomenologie der Wesenheiten

a) Die Einklammerung und das Herausheben Die Ausgangsuntersuchung zeigte, wie ideales Sein im Unterschiede zum Realen nur in der Erkenntnis gegeben ist, und auch da rein nur in der apriorischen Erkenntnis erfaßt wird, wie also Aktualität des Betroffenseins in seiner Gegebenheit ganz fehlt. Das mathematische Sein war eine überzeugende Probe solcher „unaufdringlichen" Gegebenheit. Das ändert sich aber, sobald man darauf aufmerksam wird, daß es noch sehr viel anderes ideales Sein gibt als das mathematische. Ja, es ändert sich eigentlich Schon, wenn man die Rolle des Mathematischen im Realen — also das pythagoreische Verhältnis — mit in Betracht zieht. Was im Realen „enthalten" ist, kann eben doch grundsätzlich in der Realerfahrung auch mit erfahren werden. Das bestätigt sich in der Tatsache, daß die Anfänger der Geometrie vielfach von bloßer Messung realer Raumverhältnisse ausgegangen und erst dadurch mittelbar auf die allgemeine geometrische Gesetzlichkeit hingeführt worden sind. Dasselbe gilt von mechanischer Gesetzlichkeit. Die genaue Zusammenstellung der beobachteten Stellungen des Mars führte Kepler auf den Gedanken der Bahnellipse. Nur „erfährt" man das ideale Sein auf diese Weise nicht als solches und nicht in der ihm eigentümlichen Allgemeinheit, sondern in der Besonderung des Einzelfalles; und dann bedarf es erst eines besonderen Verfahrens, um es nachträglich rein „herauszuheben". Solches Herausheben geschieht durch bewußtes Absehen vom Besonderen des Realfalles; was

46. Kap. Die Phänomenologie der Wesenheiten

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wiederum die Einsicht voraussetzt, daß bestimmte Momente des Falles das Wesensallgemeine in ihm sind. Einsicht dieser Art aber ist bereits eine apriorische. Mit diesem Vorbehalt also darf man sagen, daß hier eine andere Gegebenheit des idealen Seins einsetzt. Gerade am mathematischen Sein ist sie im vorgeschrittenen Stadium der exakten Wissenschaften in den Hintergrund gedrängt. Man muß schon auf andere Inhaltsgebiete hinblicken, um dieses Verhältnis ontologisch auszuwerten. Die Phänomenologie Husserls hat hier Bahn gebrochen. Sie hebt durch Analyse aus dem Realen Wesenszüge, Wesensgesetze, Wesenszusammenhänge heraus. Diese als solche überschreiten durch ihre Allgemeinheit grundsätzlich den Realfall, den die Anaylse vorhatte. Das Absehen vom „zufälligen" Besonderen des Falles wird durch ausdrückliche,,Einklammerung" vollzogen; was herausgehoben wird, tritt eben damit „vor die Klammer". Dieses Verfahren ist nicht Abstraktion. Durch Abstraktion käme man niemals zu einem streng Allgemeinen. Die Analyse kommt aber zu einem streng Allgemeinen. Ein solches umfaßt alle möglichen Realfälle der einschlägigen Art, Fälle also, die man kennt, und Fälle, die man nicht kennt; man kann es somit nur a priori einsehen. Es wird auf Grund der Einsicht, daß es zum Wesen der Sache gehört, vor die Klammer gehoben. Diese Einsicht eben ist eine apriorische. Nur ist diese apriorische Einsicht nicht rein auf sich selbst gestellt, sondern durch die Gegebenheit des Realfalles veranlaßt. Und das ist möglich, sofern dieser ein Spezialfall des Allgemeinen ist. Ob das an Akten oder an Gegenständen von Akten geschieht, ist hierbei ein vollkommen sekundärer Unterschied. Die Phänomenologie hat vorwiegend Akte analysiert, ihre Herkunft von der Psychologie brachte es so mit. Am Problem der Akte wurde das Verfahren herausgebildet. Aber Akte Sind genau so real wie Erkenntnisgegenstände, wie Dinge und Geschehnisse. Sie haben psychische Realität in demselben Sinne, wie diese physische Realität haben. So ist denn auch die Art der Gegebenheit die gleiche. Das „Wesen" wird „am" Realen vorgefunden. So verschieden inhaltlich die Wesensstrukturen der Akte und die der Aktgegenstände sein mögen, sie sind doch darin dasselbe, daß sie Strukturen eines Realen sind und erst durch das Vor-die-Klammer-Heben in die Allgemeinheit des Idealen erhoben werden. Genauer gesprochen, ihre ursprüngliche Allgemeinheit und Idealität muß erst aus ihrer Verwobenheit mit dem Besonderen des Realfalles herausgelöst und gleichsam wiedergewonnen werden1). 1

) Es ist im folgenden festzuhalten, was oben (Kap. 17f.) über die Wesensschau gesagt wurde: diese erfaßt, streng genommen, unmittelbar nicht das ideale Sein, sondern das „neutrale Sosein". Nur so kann sie es am Realfall finden. Das hindert natürlich nicht, daß sie auf diesem Umwege mittelbar auch sich auf das Erfaßte in seiner Idealität besinnt.

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b) Die Wesenheit und ihr Verhältnis zum Realen Das ontologische Verhältnis, das hier zugrundeliegt, ist offenbar das des Enthaltenseins, oder des DrinSteckens des Idealen im Realen; dasselbe Verhältnis also, das wir am mathematischen Sein fanden. Wohl aber läßt sich hier in Zweifel ziehen, ob es auch Sinn hat, das ideale Sein der Wesenheiten rein in sich zu betrachten, als ob es auch ohne Realfälle irgendwie „vorkäme". Ein solches Vorkommen gibt es bei gewissen Arten des Mathematischen sehr wohl. Aber wo sich das auf Wesenheiten konkreterer Art übertragen läßt, ist wenigstens aus der Art, wie man sie gewinnt, nicht zu ersehen. Halten wir uns zunächst an das Positive des Verhältnisses. Dieses ist — gerade in der Allgemeinheit, welche die Phänomenologie ihm gibt — ein altbekanntes. Und schon zwischen der Platonischen und der Aristotelischen Auffassung klaffte hier der Gegensatz hinsichtlich des abgelösten Bestehens der Wesenheiten. Nach Platon gibt es ein Fürsichbestehen der Wesensformen, nach Aristoteles kommen sie nirgends als im Realen vor. Beide aber kannten das Verfahren der Besinnung auf Sie, und beide wußten um den Ausgang vom Realfall: Platon in der „Wiedererinnerung" an die Idee anläßlich des Wahrgenommenen, Aristoteles in der Auffindbarkeit des Allgemeinen im Einzelnen Selbst, als eines solchen, das jederzeit in ihm enthalten ist. Systematisch gesprochen: es ist das Paradoxe im Wesen des Allgemeinen, daß es in keinem Besonderen oder Einzelnen aufgehen kann, und dennoch inhaltlich ganz und ungeschmälert in ihm enthalten ist, daß also die Erkenntnis es am Gegenteil seiner selbst gewinnen kann. Es gibt somit eine Realität des Allgemeinen in den Realfällen selbst; sie besteht in nichts anderem als darin, daß diese in aller Verschiedenheit einen gewissen Bestand von Grundzügen gemein haben. Gemeinsamkeit solcher Art ist also in der Tat eine reale; und diese ihre Realität ist von der Reihe der Realfälle nicht ablösbar. Andererseits aber ist eben dieses Wesen des Allgemeinen gleichgültig gegen die Anzahl der Realfälle; ja es ändert sich inhaltlich auch nicht, wenn es keinen Realfall gibt. Insofern besteht an ihm die Indifferenz gegen das Reale, die an den mathematischen Gegenständen greifbar wurde. Und daran wiederum leuchtet ein, daß seine Seinsweise von Hause aus eine bloß ideale ist. Indem die Analyse am Realfall alles einklammert, was diesem in seiner Besonderheit angehört, stößt sie auf das Allgemeine in seiner Idealität. Sie erkennt es daran, daß sie sich auf seine Wesentlichkeit für alle möglichen Realfälle besinnt, wobei gerade seine Indifferenz gegen deren Besonderheit, Anzahl und Existenz in die Augen fällt. Das Verwunderliche daran ist, daß am Einzelfall mehr eingesehen werden kann, als in ihm als solchem ist. Dieses Hinausgreifen über ihn ist aber gerade die Leistung des Apriorischen. Die Abstraktion oder „Reduktion" als solche bringt das nicht zuwege; sie bleibt nur die Hinführung auf Einsicht anderer

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und unmittelbarer Art, die Wesenseinsicht, die ebenda, wo jene aufhört, erst beginnt, dann aber ein neuartiges und selbständiges Eindringen bedeutet. Man kann das auch so aussprechen: es kann darum am Einzelfall mehr eingesehen werden, als in ihm ist, weil das Einsehen an ihm zugleich ein Absehen von ihm ist, ein Hindurchsehen gleichsam durch ihn auf ideale Wesenheit. Und tatsächlich wird das Allgemeine nicht an ihm, sondern an der letzteren erschaut. Der Einzelfall wird, sobald die Einsicht auf Wesenszüge in ihm durchstößt, zugleich repräsentativ für eine Allheit möglicher Fälle, und zwar ohne daß diese selbst mit erfaßt würden. Das aber heißt, daß das Allgemeine in ihm nicht in seiner Realität, sondern in seiner Idealität erkannt wird. Hier liegt der Grund, warum Aristoteles das ,,Wesen" in den Dingen selbst suchte, zugleich aber auch der Grund, warum Platon es nicht in den Dingen selbst suchte, sondern jenseits ihrer Besonderheit. Das eine wie das andere hat, recht verstanden, seine Berechtigung; und die Wahrheit des ganzen Verhältnisses liegt nicht etwa in der Mitte, sondern in der Synthese beider Auffassungen. Jede von ihnen blickte nur auf die eine Seite des Verhältnisses hin, beide aber nahmen das ganze Verhältnis in Anspruch, und beide gingen methodisch den gleichen Weg. Der Weg eben ist die apriorische Besinnung auf das allgemeine Wesen, Sofern der Einzelfall ihr den Anlaß darbietet. c) Freie und anhangende Idealität Ontologisch dürfte dieses Verhältnis für alle Idealität ein und dasselbe Sein und jeder Idealstruktur zugrunde liegen. Die Beispiele von Wesensstrukturen, denen im Reich des Realen nichts entspricht, ändern hieran grundsätzlich nichts; denn sie bestätigen nur die auch anderweitig greifbare Indifferenz. Und wenn man solche Strukturen nicht zu einer PseudoRealexistenz hypostasiert — wie der Universalienrealismus tat —, so ist ihre Idealität dieselbe wie die der übrigen auch. Gnoseologisch dagegen — d. h. in der Weise, wie ideales Sein gegeben ist und Gegenstand wird — besteht hier ein entscheidender Unterschied. Man kann ihn als den der „freien" und „anhangenden Idealität" bezeichnen1). Dieser Unterschied liegt nicht im ontischen Verhältnis zum Realen, sondern im Erkenntnisverhältnis zum Subjekt, d. h. in der Art der Zugänglichkeit des Idealen. „Freie Idealität" soll diejenige heißen, die wie die mathematische unmittelbar in sich selbst zur Anschauung gebracht werden kann, im Realfall gebunden aber nur verdunkelt oder verunklärt erscheint; „anhangende Idealität" diejenige, die nur mittelbar am Realfall und durch ihn hindurch zur Anschauung gelangt, losgelöst von ihm aber nicht faßbar ist. So eingeführt in „Metaphysik der Erkenntnis", 3. Aufl. 1941, V. Teil. Kap. 62.

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Man kann auch sagen, diese zweite Form des Idealen kommt nur als Wesenheit eines Realen vor. An ihr also ist die Aristotelische Forderung der Realimmanenz des Eidos schon in der Gegebenheit erfüllt. An der ersteren ist sie das nicht. Man kann auch auf Grund dieser Unterscheidung den , der dem Platon zum Vorwurf gemacht wurde, ohne Schwierigkeit aus Platons einseitiger Orientierung an der Mathematik verstehen. Daß Wesenheiten nur als solche eines Realen „gegeben sind", brauchte an sich freilich nicht zu bedeuten, daß sie auch nur Wesenheiten eines Realen „sind". Gegebenheit ist als solche nicht Seinsweise. Der Indifferenz bleibt also grundsätzlich auch hier ein gewisser Spielraum. Und gerade, daß man Wesenheiten „vor die Klammer heben" kann, beweist ihre Ablösbarkeit, d. h. daß sie an sich sehr wohl auch freie Idealität haben könnten. Das Verfahren der Ablösung besteht allerdings nur in mente; realiter läßt sich vom Wirklichen nichts ablösen. Was es in sich hat, bleibt in ihm. Aber diese Gebundenheit ist nur dem Realen wesentlich, dem Idealen ist sie äußerlich. Vom Gesichtspunkt des Wesens aus also bedeutet die Ablösbarkeit durchaus nicht nur ein Verfahren des Menschen, sondern ist der Ausdruck dieser Äußerlichkeit und des ontischen Verhältnisses der Seinsweisen. Die Möglichkeit, das Ideale in mente vom Realen abzulösen, beruht eben darauf, daß das Ideale von sich aus indifferent gegen das Reale ist. Diese Indifferenz wird an ihm spürbar, sobald man den Blick auf seine Eigenart richtet. Die Kehrseite des Verhältnisses aber ist, daß man das Reale keineswegs vom Idealen ablösen kann. Es bleibt auch in der Einklammerung alles Besonderen durchsetzt vom Idealen. Es ist ja auch nicht, daß man etwa an einem gegebenen Fall beliebig abstrahieren könnte, wovon man will; freilich kann man das machen, aber dann kommt man nicht auf die Wesensstruktur. Das Abstrahierte behält die Wesenszüge an sich. Es gibt keinen Realfall, der nicht ideale Struktur in sich trüge und sie zu seinem Realsein mit benötigte. Wollte man an einem Falle von ihr selbst abstrahieren, so würde man seine Realität mit zerstören und ein leeres „Abstraktum" übrigbehalten, ein Unbestimmtes, das so nirgends vorkommt. Solche Experimente kann man in Gedanken machen, aber sie führen zu keiner Einsicht, sondern bleiben leere Spielerei. Abstrahiert man dagegen bei der Wesensschau von der Realität des Einzelfalles, So ist das Resultat kein leeres „Abstraktum", sondern eine sehr bestimmte Wesensstruktur, die in der Art, wie sie als „Wesen der Sache" einleuchtet, dieselbe „Härte", d. h. dieselbe Widerstandskraft gegen gedankliche Willkür beweist, wie das Mathematische. d) Einheit der Wesenheiten und Zweiheit der Zugänge Das Eigentliche der phänomenologischen Analyse ist eben nicht Abstraktion — d. h. ein Negatives —, sondern die positive Schau, oder das Erfassen der Wesensstruktur. Dieses Erfassen steht immer in einem deut-

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liehen Gegensatz zum negativen Tun der Einklammerung; es hat Selbständigkeit gegen das empirisch Gegebene, obschon es an ihm seine Ansätze findet. Und das ist nur möglich, wenn die Wesensstruktur etwas an sich ,.ist". Nicht Isolierung bedeutet das, nicht Fürsichsein, nicht Abgelöstsein vom Realen, wohl aber Selbständigkeit gegen den erfassenden Akt. Denn das Erfassen ist transzendenter Akt. Ich kann z. B. aus einem beliebigen gegebenen „Ganzen" — etwa einem Kristall, einem tierischen Organismus oder dem Erdkörper — das Wesensverhältnis von „Teil und Ganzem" herausheben. Ich werde dabei ihre strenge Korrelativität finden, desgleichen das Vorausgesetztsein des Ganzen im Teil (als Teil), das Vorausgesetztsein des Teils im Ganzen (als Ganzem), die Wesensbezogenheit des Teils auf andere Teile im Ganzen und vieles mehr. Ich muß dazu abstrahieren von allem, wodurch Kristall, Organismus und Erde sich unterscheiden; das macht keine Schwierigkeit, denn das gesuchte Wesensverhältnis wird von diesen Unterschieden nicht berührt. Ich kann aber nicht am Wesen des Erdkörpers abstrahieren vom Wesensverhältnis „Teil und Ganzes", oder auch nur von einer der Teilgesetzlichkeiten, die in ihm stecken. Ich kann das nicht, weil der Erdkörper ohne dieses Wesensverhältnis gar nicht Erdkörper ist. Das Erstere aber kann ich deswegen sehr wohl, weil das Verhältnis „Teil und Ganzes" auch ohne Erdkörper „etwas ist", was zurecht besteht und sich selbst erschauen läßt. Dieses „Etwas-Sein" — nicht in Abgelöstheit vom Realen überhaupt, wohl aber von der Besonderheit und Existenz des bestimmten Realfalles — ist das ideale Ansichsein. Nicht anders ist es mit der Aktwesenheit. Wenn ich am erlebten Akt der Reue die eigentümliche Wendung des Ich gegen sich selbst, die Umstellung zur fremden Person, die Umwertung des eigenen Tuns usw. heraushebe, so ist das nur möglich, weil diese Momente zusammen eine Wesensstruktur bilden, die auch ohne den besonderen realen Aktvollzug zurecht besteht — z. B. auch als unerfüllte Sittliche Anforderung an den Schuldigen Sinn hat —, also auch im Absehen vom Realfall dasselbe an sich ist, was sie an ihm ist. Insoweit also besteht auf der ganzen Linie dasselbe Verhältnis wie beim mathematischen Sein. Das Gesetz der Winkelsumme besteht auch ohne das reale Vieleck zurecht; aber ich kann es am realen Vieleck herausheben, sofern ich mehr im Auge habe als das bloß faktisch Gemessene, das ja bestenfalls eine Annäherung an das Gesetz zeigt, — d. h. sofern ich das allgemeine Wesen des Vielecks in ihm erschaue. Auch so erfasse ich das Wesen am Beispiel des Realfalles. Der Unterschied ist nur: die mathematische Wesensschau kann sich frei im Idealen bewegen, die übrige Wesensschau im allgemeinen nicht. Diese bleibt mit ihrem Erschauen an die empirischen Anlässe gebunden, jene kann ihrer entraten, sie findet unmittelbare Zugänge zum idealen Sein. Aber eben das ist ein bloß gnoseologischer Unterschied, den man nicht ins Ontische transportieren darf. Er betrifft nur die Zweiheit der Zugänge 19 H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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zur Einheit der Wesenheit. Sonst wäre die mathematische Beweisführung an der gezeichneten Figur ein Ding der Unmöglichkeit. Der gnoseologische Unterschied also ist gerade beweisend dafür, daß ein Seinsunterschied der Wesenheiten nicht besteht. Und das bedeutet, daß ontologisch die „anhangende Idealität", die wir aus den Realfällen herausheben, und die „freie Idealität", die wir unmittelbar in sich selbst erfassen, vielmehr eine und dieselbe Idealität sind. 47. Kapitel. Wesensschau und Evidenz

a) Die Idee der mathesis universalis Für den Nachweis des idealen Seins hat das Reich der heraushebbaren Wesenheiten noch den besonderen Vorzug vor dem Mathematischen, daß es von ganz anderer Weite und Reichhaltigkeit ist und sich auf alle Formen und Schichten des Realen erstreckt, ohne an ihnen eine bestimmte Seite zu bevorzugen. Bedenkt man, daß das Mathematische nur die niederste Stufe der Formung — die quantitative — betrifft, so leuchtet die Größe dieses Vorzuges ohne weiteres ein. Sie wird auch durch das Versagen der „Exaktheit" in der Art der Aufweisung kaum geschmälert. Denn Exaktheit betrifft nicht das Seiende selbst, sondern nur seine Erfaßbarkeit; sie ist kein ontologisches Moment, sondern nur ein gnoseologisches. An sich wäre eine exakte Wesenswissenschaft von Gegenständen und Akten, materiellen und geistigem Sein, sehr wohl denkbar. Husserls Idee einer Philosophie als exakter Wissenschaft — eine Erneuerung der Cartesischen mathesis universalis — fußt auf dieser prinzipiellen Möglichkeit. Aber die Möglichkeit besteht nur ontologisch, nicht gnoseologisch. Die Wesenheiten aller Seinsgebiete ließen Exaktheit der Erfassung wohl zu. Aber die Einrichtung unserer Erkenntnis läßt sie nicht zu: sie hat kein Organ, andere als logische und mathematische Verhältnisse exakt zu fassen. Ihr das Organ zu schaffen hat der Mensch die Macht nicht. Er kann nur die Erkenntniskraft, die er hat, bis an die Grenze ihrer Tragfähigkeit auswerten. Wo immer in der Philosophie die Idee der mathesis universalis auftaucht, da spielt auch verkappt die Utopie des intellectus inftnitus hinein. Hier liegt der Fehler in der Rechnung HuSSerls, wie der alten Rationalisten; es ist die ohne den Wirt gemachte Rechnung der Wissenschaft. Darum bleibt die führende Rolle des Mathematischen und seine Orientierungskraft für die Ontologie des Idealen bestehen, trotzdem es inhaltlich begrenzt und eng gegen das weite Reich der Wesenheiten dasteht. Andererseits aber hat das Reich der Wesenheiten den großen Vorzug, daß es seinen Zusammenhang mit dem Realen schon mitbringt. Die Art seiner vermittelten Gegebenheit demonstriert ihn uns ad oculos vor. An diesem Zusammenhang aber hängt, wie wir sehen, das AnsichSeinszeugnis.

47. Kap. Wesensschau und Evidenz

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Denn das Reale ist durch das Gewicht des Betroffenseins im Erfahren als ansichseiend gegeben. Gibt es nun ein ideales Geflecht von Wesenheiten, das sich schon in der Art seiner Gegebenheit als dem Realen immanent erweist, das also schon immer vor unserem Erfassen und Dafürhalten in ihm als Seine Bestimmtheit enthalten ist, so ist eben damit auch seine gnoseologische Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Indifferenz gegen die Objektion — kurz sein Ansichsein — gewährleistet. Es kann nicht im Herausheben erst entstehen, weil das Reale ohne Seine Strukturen gar nicht ist, was es ist. Erweist sich aber dieses Geflecht zugleich als indifferent gegen die Existenz und Besonderheit der Realfälle, ist es an seinem Bestände einsichtig, daß diese ihm als Solche äußerlich sind, und daß es auch ohne sie als das, was es ist, einsichtig bleibt, so schließen sich die beiden Indifferenzmomente — die Indifferenz gegen die Objektion oder das Erfaßtwerden und die Indifferenz gegen das Realsein der Fälle — zusammen und machen gemeinsam den strengen Begriff des idealen Ansichseins aus. Sie bilden also zusammen den Erweis für das Bestehen und die Reichweite eines solchen. b) Grenzen der inhaltlichen Gewißheit Diesen Vorzügen der erweiterten Wesensschau steht indessen ein Nachteil entgegen, der ihre Resultate gefährdet. Er betrifft die inhaltliche Gewißheit im Wissen um das ideale Sein. Die Wesensschau hat als einzige und letzte Instanz ihrer Gewißheit die „Evidenz" der Schau selbst. Sie kann sich auf nichts anderes berufen, woran sie eine Kontrolle ihrer selbst hätte. Die stillschweigende Voraussetzung dabei ist, daß sie selbst infallibel ist. Man muß also fragen: ist sie das wirklich? Von vornherein dürfte das nicht wahrscheinlich sein. Keine uns bekannte Erkenntnisinstanz ist absolut irrtumsfrei. Aber gibt es dann einen Verlaß auf das Geschaute? Man braucht das Bedenken, das hier auftaucht, nicht gleich zu verallgemeinern. In der Mathematik z. B. liegt die Sache anders, und dem entspricht die vielberufene Gewißheit der mathematischen Sätze. Hier wird die Härte des Soseins nicht nur am subjektiv spürbaren Widerstand gegen mögliches Andersdenken erfahren; die Mathematik sichert vielmehr auch ihre einzelnen Einsichten durch Einreihung in die großen Zusammenhänge des bereits Erfaßten und Gesicherten. Dieselbe methodische Bedeutung hat auch das bekannte Euklidische Beweisverfahren. Es besteht in der Rückführung bis auf die Axiome; und diese wiederum sind nicht einfach ihrer Evidenz in sich überlassen, sondern in Rücksicht auf das Speziellere, das auf ihnen als Bedingungen ruht, gesichert. So ist die ganze Sphäre des mathematischen Seins in sich gebunden; und das bedeutet für die Wissenschaft einen einzigen, großen Wesenszusammenhang von Bedingung und Bedingtem, der lückenlos das Ganze durchzieht. Die Evidenztäuschung im Einzelnen ist hier so gut wie ausgeschal19*

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tet. Es bliebe höchstens die Möglichkeit, das Ganze anzuzweifeln, was aber angesichts des Verhältnisses zum Realen wiederum nicht angeht. Anders ist es in der Wesensschau, die vom Realen ausgehend Wesenheiten heraushebt. Sie schaut „stigmatisch", d. h. sie schaut auf den einzelnen Punkt hin. Ihr fehlt der breite Zusammenhang im Überschauen der Sphäre, die „konspektive" Schau. Sie findet daher nicht leicht Gegenhalt und Korrektur an anderem Geschauten. Ihre Evidenzen ruhen in sich, Stehen jede für sich und haben die Fragwürdigkeit des Fürsichstehenden an sich. Den Beleg dafür liefert die Praxis der Wesensschau selbst, am deutlichsten in der Divergenz des Geschauten verschiedener Individuen. Die Verschiedenheit des Ausganges und der Hinleitung kann eben sehr Verschiedenes in die Reichweite der Schau bringen. Irrtümer, die in der konspektiven Schau sich ohne weiteres herausstellen, weil die Unstimmigkeit sofort greifbar wird, bleiben in der stigmatischen unbehoben stehen. Sie werden erst spürbar, wo größere Zusammenhänge einbezogen werden. Aber eben das liegt nicht im Verfahren der reinen Wesensschau. c) Subjektive und objektive Evidenz Die Berufung auf unmittelbare „Evidenz" hat das Mißliche an sich, daß in ihr selbst — d. h. im Evidenzbegriff als solchem schon — eine Äquivokation enthalten ist. Man meint bei Solcher Berufung natürlich die „objektive Evidenz", die nicht nur das Überzeugtsein des Subjekts vom Geschauten, sondern auch die zureichende Gewähr der Wahrheit im Überzeugtsein bedeutet. Man meint also nichts geringeres als die Gewißheit im Wissen um wahr und unwahr. Aber gerade diese ist niemals unmittelbar gegeben; und wo man vielleicht wirklich mit einer bestimmten Einsicht Anspruch auf sie hätte, da ist sie doch nicht feststellbar. Denn „gegeben" sein kann sie nur in Form der Überzeugtheit. Die Überzeugtheit nun „hat" man dann zwar, aber sie gerade ist nicht objektive Gewähr, kann auch täuschen. Sie ist eben nur subjektive Evidenz. Die subjektive Evidenz nun ist zwar überall, wo sie auftritt, auch wirklich gegeben, aber sie ist nur eine Bewußtseinsmodalität, nicht Erkenntnismodalität : überzeugt sein kann man auch vom Unwahrsten. Vorurteile und Irrtümer können in diesem Sinne sehr überzeugend sein. Darin besteht die Täuschbarkeit der Überzeugung. Wollte man sich in der WissenSchaft auf Überzeugung berufen, man machte sich lächerlich. Subjektive Evidenz also ist jedenfalls kein Kriterium. Aber auch die objektive ist keines. Wäre sie jemals gegeben, so wäre sie freilich eines, denn ihr Sinn ist eben die zureichende Gewähr. Aber sie ist nie gegeben. Ein Kriterium muß „gegeben" sein, denn es muß dem Bewußtsein das Anzeichen der Gewißheit sein. Wäre die Subjektive Evidenz ein solches Anzeichen, so wäre sie die Vermittlung der objektiven. Das

47. Kap. Wesensschau und Evidenz

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gerade ist sie nicht. Man müßte vielmehr Schon ein Kriterium dafür haben, ob im gegebenen Falledie Subjektive Evidenz Anzeichen der objektiven ist oder nicht. Das aber heißt: weder die subjektive noch die objektive Evidenz ist Kriterium der Wahrheit — diese haben wir nicht, und bei jener hilft uns das Haben nichts —, sondern es müßte vielmehr noch ein Kriterium der Evidenz selbst geben. Dieses müßte sagen, ob die gegebene subjektive Evidenz zugleich objektiv ist. Es gibt eine verbreitete Ansicht, in der Idealerkenntnis gebe es keine Täuschungsmöglichkeit. Man läßt für ihren ganzen Bereich den Satz Spinozas gelten: veritas norma est sui et falsi. Diese Ansicht beruht auf Verkennung des idealen Seins; sie verkennt aber damit zugleich den echten Erkenntnischarakter der Wesensschau. Man meint eben immer wieder, hier gebe es nur den inneren, intentionalen Gegenstand, und über diesen sei Täuschung, Irrtum, Fehlgreifen doch gar nicht möglich. Dann aber darf man auch nicht von Intuition, Schauen, Erfassen solcher Gegenstände sprechen, darf die Beschäftigung mit ihnen nicht für Wissenschaft ausgeben. Denn Wesensschau ist dann nur ein Spiel der Vorstellung. Man meint, der Gedanke bleibe hier doch bei sich selbst, tranSzendiere sich selbst gar nicht, daß ebendieselben Wesenheiten, die man erfaßt, auch Wesenheiten des Realen sind und in ihm jedenfalls Ansichsein haben. So also kommt man der Schwierigkeit im Evidenzbegriff nicht bei. Die Möglichkeit der Evidenztäuschung überhaupt bestreiten, heißt die Idealerkenntnis erst recht vernichten. d) Positiver Sinn der Evidenztäuschung Ganz so schlimm steht es freilich nur bei der rein stigmatischen Schau, wie die zünftige Phänomenologie sie einseitig herausgebildet hat. In Wirklichkeit ist die WeSensschau keineswegs auf sie allein angewiesen. Sie ist ebenso wie die Geometrie sehr wohl der konspektiven Schau mächtig. Sie kann die Einzelerkenntnisse einbauen in den Zusammenhang eines Ganzen, in dem dann die Fehlerquellen der Einzelschau sich kompensieren. Das geschieht überall ganz von selbst, wo wissenschaftlich vorgegangen wird. Wissenschaft eben ist Zusammenhang, Einbau, Zusammenschau. In der Synthese stigmatischer und konspektiver Intuition ergibt sich ein wenigstens relatives Kriterium ·— vergleichbar dem der Realerkenntnis in der Synthese apriorischer und aposteriorischer Elemente. Es ist nur hier wie dort kein absolutes Kriterium; aber ein solches ginge überhaupt über Menschenmaß. Indessen wenn man nun meint, die Gegebenheit des idealen Seins in der Wesensschau werde durch die Aporie der Evidenz illusorisch, oder auch nur geschwächt, so zieht man einen vollkommen irrigen Schluß. Diese Aporie betrifft lediglich das inhaltliche Erfassen der einzelnen Wesenheit, keineswegs aber die Gegebenheit ihres Semscharakters. Zudem erstreckt sich die Täuschung meist nur auf das Negative, besteht also im Nichtsehen; das positiv Erschaute ist ihr weit weniger unterworfen.

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Vierter Teil. 3. Abschnitt

Der Irrtum des Phänomenologen setzt in der Regel dort ein, wo er sagt „das gibt es nicht"; wo er etwas sieht und sagt „das gibt es", pflegt er sich nicht zu irren. Und das ist wohl verständlich, denn alles eigentliche Erschauen ist affirmativ. Aber es handelt sich hier um eine noch grundlegendere Überlegung. Zugegeben also, man kann sich im Herausheben von Wesensstruktur aus dem Realfall in Einzelheiten täuschen, kann treffen oder verfehlen, erfassen oder fehlgreifen. Dann ist doch zu Sagen: das gilt von aller Erkenntnis, auch von der Realerkenntnis. Und bei dieser wird doch niemand behaupten wollen, daß die Möglichkeit von Täuschung oder Irrtum die Realität des Gegenstandes antaste. Ganz im Gegenteil: wo man etwas verfehlen kann, da muß ja erst recht das, was man verfehlen kann, zuvor einmal vorhanden sein. Ist es nicht vorhanden, so gibt es nichts, was verfehlt werden könnte. Vorhanden sein aber muß es notwendig als ein solches, dessen Sein gegen alles Erfaßt- und Verfehltwerden gleichgültig dasteht. Ein solches aber ist ein im strengen Sinn Ansichseiendes. Man muß also vielmehr den umgekehrten Schluß ziehen: wäre Evidenztäuschung ein Ding der Unmöglichkeit, so ließe sich allenfalls das AnSichsein der Wesenheiten bezweifeln; man könnte dann meinen, Wesenheiten Seien bloß Sache des Gedankens, denn wie sollte der Gedanke sich selbst verfehlen können. Ist aber Evidenztäuschung möglich und tritt sie in gelegentlicher Divergenz des für evident Erklärten (verschiedenerschauender Subjekte) deutlich zutage, So ist das Sein dessen, worüber sie sich täuscht, eben damit erwiesen. In dem Bewußtsein der Unstimmigkeit liegt dann ganz unbestreitbar die Gewähr dafür, daß die Wesenheiten Selbst etwas von allem Dafürhalten und aller Evidenz, allem Schauen und Erkennen Unabhängiges sind. Und das heißt, daß sie etwas Ansichseiendes sind. Wahrheit und Irrtum sind eben nur im Transzendenzverhältnis möglich. Ihr eindeutiger Sinn ist der des Zutreffens oder Nichtzutreifens auf einen Gegenstand, der mehr als Gegenstand ist und seine Bestimmtheiten an sich hat, auch ohne daß er zum Gegenstand der Schau wird. Denn eben mit diesen seinen Bestimmtheiten muß im Bewußtsein das „Wahre" übereinstimmen, das „Unwahre" der Übereinstimmung ermangeln. Diese Sachlage verkennen kann man nur, wenn man unter „Wesenheit" nicht das, was sie ist, versteht ··— in ihr also nicht die ideale Struktur der Sache erkennt —, sondern nur das „vor die Klammer Gehobene" als Bewußtseinsinhalt (also als Begriff oder Abstraktionsprodukt) vor Augen hat. Dieses letztere ist als solches natürlich bloß uneigentlicher Gegenstand, aktgetragener oder intentionaler Gegenstand, nicht Erkenntnisgegenstand. Erkenntnis aber ist auch die Schau nur, sofern sie nicht produziert, sondern „erfaßt". Und das heißt: sie ist es nur, sofern das Aktprodukt (der Begriff oder das herausgehobene Allgemeine) mit der Wesenheit der Sache, wie sie an sich ist und wie sie im Realen als „seine" Struktur enthalten ist, übereinstimmt.

48. Kap. Das Reich des Logischen und seine Gesetze

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48. Kapitel. Das Reich dea Logischen und seine Gesetze

a) Die Doppelgesetzlichkeit des Denkens Noch zwei Gebiete des Idealen sind im obigen nicht berührt: das Logische und das Wertreich. Ersteres schließt sich dem mathematischen Sein an, letzteres den Wesenheiten. Beide abei haben dieses Gemeinsame, daß in ihnen am längsten der Sinn des idealen Seins verkannt worden ist. Bei beiden hängt er am Verhältnis zum Realen, nur ist dieses in ihnen ein sehr verschiedenes; verschieden auch von dem im Mathematischen und in den Wesenheiten. Zunächst sei das Reich des Logischen in die Betrachtung gezogen. Um seine Seinsweise geht ein alter Streit. Er soll hier nicht in ganzer Breite aufgerollt werden. Es genügt, von folgender Bestimmung auszugehen: wenn hier überhaupt ein eigentliches Ansichsein vorliegt, so jedenfalls ideales; und wenn es ideales Sein ist, so zählt es jedenfalls zur „freien Idealität". Seine Gegebenheit ist eine unmittelbare, es wird „in sich" erfaßt, wie der mathematische Gegenstand. Das In-sich-Erfaßtsein, sowie das Bestehen als Sphäre, ist Sogar hier ein besonders reines. Nicht nur daß es keiner Heraussetzung aus dem Realen bedarf, es fehlt vielmehr auch der besondere konkrete Inhalt, der z. B. in der Geometrie immer noch eine gewisse Analogie zum Realen bildet. Die Gesetze der Schlußfiguren und Modi, sowie diese selbst, sind Strukturen von höchster Allgemeinheit, reine Formen möglichen Inhalts. Diese Formen beherrschen die gedanklichen Zusammenhänge, soweit Sie objektiv bestimmt sind, üben eine Art innerer Denknotwendigkeit aus. In dieser Tatsache liegt der Grund der bekannten, immer wieder auftauchenden Auffassung der formalen Logik als einer „Wissenschaft vom Denken". Daß sie das auch mittelbar ist, soll nicht bestritten werden. Ob aber ihr Wesen dadurch primär charakterisierbar ist, ist eine andere Frage. Schon die einfachste Überlegung führt hier auf etwas anderes. Denn einmal sagen die logischen Formen nichts über das Denken selbst, sondern betreffen ausschließlich den Inhalt des Gedankens als einen objektiv geformten. So liegt es deutlich schon im Sinn der kategorischen Aussage, deren copula „ist" und „ist nicht" den reinen Seinssinn ausspricht. Das ist oft und in aller Ausführlichkeit nachgewiesen worden. Andererseits aber gibt es auch eine Psychologie des Denkens. Da handelt es sich um ganz andere Gesetze, um Gesetze des Denkvorganges und der Denkfolge, soweit sie subjektiv bedingt ist. Als Typuä solcher Gesetze sind die Assoziationsgesetze am bekanntesten, die rein deskriptiv genommen ihre Bedeutung für das Kommen und Gehen der Gedanken Sehr wohl behalten, auch nachdem sich erwiesen hat, daß hinter ihnen noch andere Zusammenhangsformen stecken. Denn auch diese sind keine logischen.

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Vierter Teil. S.Abschnitt

Das Denken ist in der eigentümlichen Lage, unter zwei sehr verschiedenen Gesetzlichkeiten zugleich zu Stehen. Es bildet eine Art Kampfplatz ihrer Heterogeneität, wird von ihnen gleichsam auseinandergerissen. Darauf beruht das Phänomen der sog. „logischen Fehler", die es macht. Diese sind keineswegs schlechthin Fehler, sondern eben nur logische; psychologisch sind sie gerade Folgerichtigkeiten. Sie beweisen zur Genüge, daß die logische Gesetzlichkeit weit entfernt ist, das Denken wirklich zu beherrschen und eigentliche Denkgesetzlichkeit zu sein. Das Logische ist vielmehr eine dem Denkvorgang gänzlich heterogene Gesetzlichkeit, die sich erst sekundär über ihn legt und ihn gleichsam einfängt, ihn dabei zugleich umgestaltend und an dasjenige Seiende anpassend, um dessen Erfassung es sich im Denken handelt. Diese Gesetzlichkeit, und allgemein diese Strukturen- und Formenmannigfaltigkeit — das System der logischen Formen — ist ursprünglich eine ontologische, und zwar eine ideal-ontologische. b) Ideal-ontologischer Charakter der logischen Gesetzlichkeit Das ist unschwer nachweisbar aus ihrem Enthaltensein im ganzen Bereich des idealen Seins, am greifbarsten im mathematischen Sein. Wenn z. B. die Gesetze des Kreises sich als Spezialfälle der Gesetze der Ellipse erweisen, so ist darin das dictum de omni et nullo deutlich enthalten. Wenn ein permutatives Gesetz a + b = b -f- a setzt, so ist darin — wie übrigens in jeder Gleichung — der Satz der Identität vorausgesetzt ; denn Gleichheit ist nun einmal partiale Identität. Daß die Euklidischen Beweise nach dem Modi der Syllogistik aufgebaut sind, beweist, daß die letzteren die Zusammenhänge des geometrischen Seins überhaupt durchsetzen, dergestalt daß dieses an ihnen überschaubar wird. Wären die logischen Gesetze bloße Denkgesetze, so müßte ihre „Anwendung" in der Mathematik die mathematischen Gegenstände deformieren. Und jedenfalls könnten sie nicht gerade das Werkzeug sein, mit dem das Denken sich dieser Gegenstände bemächtigt; was wiederum in Fehlern der Rechnung, in Schiefheiten und Unstimmigkeiten irgendwo zutage kommen müßte. Nichts von alledem erfahren wir im mathematischen Denken, sofern es streng logische Form zeigt. Man muß also den umgekehrten Schluß ziehen: die logischen Gesetze sind schon von Hause aus dem mathematischen Sein eigen und beherrschen es als die seinigen. Da sie aber doch Selbst keine mathematischen Gesetze sind, sondern viel allgemeiner als diese, so kann das nur heißen: sie sind von Hause aus Gesetze des idealen Seins. Deswegen sind sie Gesetze auch des mathematischen „Denkens", sofern dieses nicht bloßes Denken, sondern Erfassen mathematischen Seins ist. Zugespitzt läßt sich sagen: daß sich überhaupt ein Denken nach ihnen richtet, ist ihnen ganz äußerlich; für unser Denken aber ist es nicht äußer-

48. Kap. Das Reich des Logischen und seine Gesetze

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lieh, daß es sich nach ihnen richtet. Denn dadurch daß es sich nach ihnen richtet und gleichsam unter sie als Norm der innneren Richtigkeit tritt, ist es fähig, adäquates Denken — d.h. „Erfassen" ·— des mathematischen Seins, und mittelbar alles Realen, das von diesem beherrscht ist, zu sein. An seiner logischen Struktur — an seiner Fügsamkeit also gegen die logischen Gesetze — hängt seine Anpassung an das Seiende, d. h. seine Erkenntnisbedeutung und sein Wahrheitswert. c) Verhältnis des Logischen zur anhangenden Idealität Am Verhältnis zum mathematischen Sein ist diese Sachlage nur deshalb prototypisch faßbar, weil das Mathematische durchsichtig ist und seine Strukturen leicht erkennen läßt. Nicht so leicht hat man es im Verhältnis des Logischen zu den komplexen Wesenheiten, die nur als anhangende Idealität gegeben sind. Dennoch ist sein Enthaltensein auch in ihnen sehr wohl nachweisbar. Es tritt nur deshalb mehr zurück, weil die Wesenheiten hier von weit höherer Konkretheit sind, und die logische Grundstruktur in ihnen von der besonderen inhaltlichen Gestaltung vollkommen zugedeckt ist. Man braucht nur an den schlichten Sinn objektiver Allgemeinheit in den Wesenheiten zu denken, um sich klar zu machen, daß darin das generelle logische Verhältnis von Allgemeinheit und Besonderung, resp. Einzelfall, steckt. Ist in einer Art von Akten z. B. das Aktwesen erfaßt, so gilt dieses a priori für alle möglichen Spezialfälle. Gliedert sich hier Allgemeineres und Spezielleres gegeneinander, so tritt das logische Klassifikationsverhältnis ohne weiteres in Kraft. Das gleiche gilt von den Schlußmodi der Syllogistik. Man „schließt" doch auch tatsächlich in der Ermittlung komplexer Wesenheiten auf Grund von einfachen. Man stellt auf dieseWeise die weiteren „Wesenszusammenhänge" her, die für eine konspektive Schau erforderlich sind und den notwendigen Gegenhalt zur stigmatischen Schau bilden. Schließlich kann man hier noch besonders den Satz des Widerspruchs anführen, der für alles Zusammenbestehen von Wesensmomenten maßgebend ist. Das ist schon in der einfachen Wesensschau die stillschweigende Voraussetzung. Was einen Widerspruch einschließt, das läßt die Schau nicht gelten; und ebenso, was zu anderem Geschautem in Widerspruch tritt, scheidet von selbst aus. Wenn der Satz des Widerspruchs nicht ein Seinsgesetz wäre und im Sein der Wesenheiten Geltung hätte, so wäre das Vergewaltigung der Wesenheiten durch ein tyrannisches Denken. In Wahrheit ist es umgekehrt: die logischen Gesetze sind durchgehende Gesetze des idealen Seins; und daß auch das Denken sich in gewissen Grenzen nach ihnen richtet, ist ihnen äußerlich. Für das Denken aber und für die Schau ist gerade das von zentraler Wesentlichkeit; anders wäre das Erfassen von Wesenheiten, die diese Gesetze enthalten, durch menschliche Schau nicht möglich.

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Vierter Teil. S.Abschnitt

d) Logische Gesetze und Realgesetzlichkeit Das Ausschlaggebende aber ist auch beim Logischen das Verhältnis zum realen Sein. Schließlich steht das ideale Sein sowohl der Wesenheiten als auch des Mathematischen in derselben Fraglichkeit wie das Logische selbst. Ist dieses also nur im Wesensreich oder im mathematischen Gegenstande enthalten, So rückt es auch mit seinem Anspruch auf ideales Ansichsein nur in eine Linie mit ihm. Läßt Sich aber nachweisen, daß es auch im Realen enthalten ist, so tritt hinter sein Eigengewicht die ganze Schwere des realen Ansichseins mit der Aktualität seiner Gegebenheiten. Daß es nun im Realen enthalten ist, liegt mittelbar schon in seinem Verhältnis zum Mathematischen und zu den Wesenheiten; denn diese sind im Realen enthalten. Aber man kann das auch direkt erweisen. Der Erweis liegt in der Eigenart der Realerkenntnis, Sofern diese in allen ihren inhaltlichen Zusammenhängen, ihrer Überschau, ihrem Einschlag an objektiver Allgemeinheit und Apriorität, sowie in deren Verhältnis zum gegebenen Einzelfall, durchgehend die Struktur logischer Gesetzlichkeit zur Voraussetzung hat. Gemeint ist hiermit vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der wir das einmal eingesehene und begriffene Allgemeine auf Realfälle, die in keiner Erfahrung gegeben sind — etwa auf künftige — „anwenden". Das Anwenden eben hat unstreitig die Form der Subsumption, einerlei ob diese nun bewußt ist oder nicht; und Sucht man nachträglich nach einer Ausdrucksform für sie, so nimmt diese notwendig die Gestalt eines der bekannten logischen Schlußmodi an. Das gilt nicht nur vom Allgemeinen in Form der begriffenen und im Urteil ausgedrückten Gesetzlichkeit, wie sie in den Wissenschaften auftritt, Sondern genau ebenso auch von allem unbegriffenen, im Leben selbst intuitiv erfaßten (z. B. nach Analogie erfaßten), nicht gegenständlich bewußten Allgemeinen. Denn dag Eigentümliche hierbei ist, daß wir im Leben mit dieser Art Anwendung zurechtkommen — d. h. daß wir in den Grenzen menschlichen Wissens um wahr und unwahr das Reale durchaus richtig auffassen und behandeln. Die Fehler nämlich, die wir bei solcher Anwendung machen, pflegen nicht in der Form des Anwendens selbst, sondern im Erfassen des Allgemeinen, sowie seines Zupassens auf das Besondere zu liegen. Das wäre ein Ding der Unmöglichkeit, wenn das Reale selbst nicht in seinen Aufbauverhältnissen schon irgendwie „logisch" geordnet wäre, wenn also die Formen der Abhängigkeit, die wir als die unseres Denkens kennen und im Erfassen des Realen anwenden, nicht schon von Hause aus und unabhängig von allem Denken das Reale durchsetzen und beherrschten. Dieses Verhältnis ist und bleibt gänzlich paradox, solange man die logische Gesetzlichkeit als bloße Denkgesetzlichkeit versteht. Es ist aber gar nicht paradox, wenn man einsieht, daß sie ursprünglich Seinsgesetz-

48. Kap. Das Eeich des Logischen und seine Gesetze

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lichkeit ist. Das aber will besagen, daß ihr Wesen sich nicht darin erschöpft, Gesetzlichkeit der logischen Sphäre — als einer Gedankensphäre — zu sein, daß sie vielmehr ursprünglich ideale Seinsgesetzlichkeit ist, und die gedankliche Folgerichtigkeit, die auf ihr beruht, die Wiederkehr einer Seinsfolgerichtigkeit in den Gedanken ist, die gleichfalls auf ihr beruht. Das Eigentümliche des Logischen ist hiernach dieses, daß der Gedanke, indem er der logischen Gesetzlichkeit folgt, nicht seiner Eigengesetzlichkeit, sondern einer ontischen Wesensgesetzlichkeit folgt, deren idealer Ansichseinscharakter sich eben darin ausweist, daß sie die gemeinsame Aufbaustruktur des Realen und des Gedankens ist. Eine Gesetzlichkeit, die nichts als Denkgesetzlichkeit wäre, könnte, auf Realverhältnisse übertragen, nur Verfälschung des Realen sein. Ein Denken, welches seine eigene subjektive Logik im Erfassen von Realgegenständen „anwenden" wollte, wäre ein praktisch im Leben unbrauchbares Denken. Es könnte nicht „erfassendes" Denken sein. Eö könnte dem Menschen in der realen Welt nicht als Orientierung dienen, ihn nicht über Seine Lebenslage, nicht über gegebene Situationen oder über Mittel zu seinen Zwecken belehren, könnte in keiner Ermittlung von Verborgenem eine Handhabe sein. Ein solches Denken wäre nicht das methodische Universalmittel der Zusammenschau weit ausladender Realbezogenheiten und Realabhängigkeiten. Daß aber unser Denken auf Grund seiner Logik ein solches Universalmittel ist, lehrt das Leben und die Realwissenschaft auf allen Teilgebieten. Alle Unstimmigkeit fällt mit einem Schlage fort, wenn das Logische in unserem Denken ursprünglich ideale Seinsgesetzlichkeit ist, wenn also die allgemeinsten Zusammenhangsgesetze des idealen Seins den Kanon ausmachen, der dem Gedankenzusammenhang seine Folgerichtigkeit und das Bewußtsein der Folgerichtigkeit gibt. Das Logische, als Inbegriff dieser Gesetzlichkeit verstanden, tritt dann in dasselbe Verhältnis wie das Mathematische. Es ist einerseits als Wesensstruktur im Realen enthalten, zugleich aber auch als Wesensstruktur des Gedankens im Bewußtsein bestimmend. Oder auch so: es ist als idealontologische Grundgesetzlichkeit nach zwei Seiten das Determinierende: nach der des Denkens und nach der des realen Seins. Und so allein ist es verständlich, daß das Denken, soweit es logischer Gesetzlichkeit folgt, in seinen Schlüssen aus Gegebenem auf Nichtgebenes sich nicht vom Realen entfernt, sondern immer wieder Reales erfaßt. e) Objektive Gültigkeit des Logischen und Möglichkeit der Realwissenschaften Man kann das ohne weiteres an jedem Schlußmodus zeigen. Die erste Figur zeigt im Modus Barbara die Prämissen M a P und S a M. Man weiß nicht, ob S a P gilt; man weiß nur, daß M a P gilt und daß S a M gilt. Die Folge S a P kann nur dann im Denken auftauchen, wenn das Denken unter dem Gesetz der Folge, d. h. des Modus, steht; aber auf das reale

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Vierter Teil. 3. Abschnitt

S kann sie nur zutreffen, wenn auch von vornherein das RealVerhältnis von S, M und P der gleichen Folge unterliegt. Unterläge es ihr nicht, so wären alle unsere Schlüsse im Modus Barbara, auch gerade die exakt gezogenen und denknotwendigen (also die der Wissenschaft), in bezug auf das Reale Fehlschlüsse. Unser Denken wäre dann im Sinne der Cartesischen Idee des deus malignus gezwungen, falsch zu schließen — nämlich falsch nicht in sich, wohl aber in bezug auf das Reale. Die Möglichkeit der Realwissenschaften und eines inhaltlich zusammenhängenden Realitätsbewußtseins überhaupt, als eines logisch geformten und einheitlichen, besteht durchaus nur unter der Voraussetzung, daß logische Gesetzlichkeit als ideale Wesensgesetzlichkeit dem Denken und dem Realen zugleich und identisch zugrunde liegt. Dieses Verhältnis ist in der ursprünglichen Anlage der Aristotelischen Analytik bereits in voller Klarheit durchschaut. Diese Analytik ist eine von Hause aus ontologisch fundierte Logik; sie erbaut sich auf der strengen Parallelität des Ausgesagtwerdens im Urteil ( «. & ) und des ontischen Zukommens oder Zugehörigseins ( ). Sie hat in den Universalientheorien der Scholastik überall die Grundlage gebildet. Das ist erst in der Neuzeit verkannt worden, und zwar im Verfolg der Cartesischen Wendung auf die cogitatio als eine von der extensio abgelöste und ihr heterogene Substanz. Descartes selbst zwar hat eine Konsequenz dieser Art keineswegs gezogen, aber die Erkenntnistheorie der Folgezeit, die von seiner Zweisubstanzenlehre ausging, sah sich immer mehr auf sie hingedrängt. Erst das 19. Jahrhundert hat die Tradition des natürlichen — d. h. des ontologischen — Verhältnisses wirklich durchbrochen. Die Identität der logischen Gesetzlichkeit in der Heterogeneität der Bewußtseinssphäre und der Realsphäre ist und bleibt hierbei etwas Erstaunliches. Sie gehört zu jener langen Kette von „Wundern", auf denen das Phänomen der Erkenntnis beruht. Man kann es sehr wohl verstehen, daß die idealistischen Theorien bei ihrer Besinnung auf die Rolle des Logischen im Erkennen des Realen auf eine Umkehrung des Verhältnisses verfielen. Es mußte so scheinen, als richtete sich das Reale hier nach der Gesetzlichkeit des Bewußtseins. Es ist dieselbe Täuschung, die sich auch beim Mathematischen aufdrängt und die dann verallgemeinert die Herabsetzung der Realität zur subjektiv verstandenen Erscheinung zur Folge hat. Auf den ersten Blick sieht diese Umkehrung wie eine Vereinfachung aus. Erst die Ungereimtheit der weiteren Konsequenzen erweist ihre Unhaltbarkeit. Diese sind oben entwickelt worden und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Kant hat das Verhältnis wenigstens insoweit klar durchschaut, als er das Allgemeine und seine Spezifikation in der Natur als eine Angemessenheit der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen erkannte. Auch darin freilich klingt noch ein Rest von der Umkehrung des Verhältnisses hindurch. Die Grundtatsache aber, die er damit faßte, läuft darauf hinaus, daß vielmehr unser Verstand durch seine logische

49. Kap. Das Reich der Werte und seine Seinsweise

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Gesetzlichkeit, nach der er das Besondere unter Allgemeines subsumiert, der Erkenntnis einer Natur angemessen ist, in der es durchgehende Gemeinsamkeiten gibt, in der also alles Besondere sich allgemeiner Gesetzlichkeit einordnet. Dieses Verhältnis aber ist die über Denkzusammenhang und Realzusammenhang übergreifende Idealität einer Wesensgesetzlichkeit, die im Aufbau des Weltgedankens als logische greifbar wird. 49. Kapitel. Das Reich der Werte und seine Seinsweise

a) Die Sonderstellung der Werte unter den Wesenheiten Das andere noch ausstehende Gebiet des Idealen neben dem des Logischen ist das der Werte. Es ist dem der Wesenheiten verwandt; die Werte sind auch ursprünglich — lange bevor die Frage nach ihrer Seinsweise spruchreif und ein Wertbegriff zu ihrer Fassung vorhanden war — nach Art der Wesenheiten verstanden worden. So verstand Platon die Gerechtigkeit, die Tapferkeit, die Weisheit als „Ideen" — d. h. als Urbilder, die weder aus der Erfahrung geschöpft noch vom Menschen erdacht, wohl aber ihm in der reinen Schau zugänglich sind. Es ist zur Genüge bekannt, daß der Streit um das \Vesen der Werte heute nicht ein abgeschlossener ist, daß noch darüber die Lehrmeinungen weit auseinandergehen, ob sie überhaupt etwas unabhängig vom Dafürhalten und von der „Wertung" Bestehendes sind. Die Stellungnahme zu dieser Frage gehört nicht in die Ontologie, sondern in die Werttheorie; sie kann also hier nicht erörtert werden. Die Verwandtschaft der Werte mit den Wesenheiten aber erfordert, daß sie auf gleicher Ebene mit diesen behandelt werden, zumal die Streitfrage, der sie unterliegen, sich in ihren weiteren Belangen auch auf die Wesenheiten selbst erstreckt1). Ihre Sonderstellung den letzteren gegenüber liegt in folgendem. Die herausgehobenen Wesenheiten haben, ebenso wie das Mathematische, die Eigentümlichkeit, daß alle Realfälle, die der Art nach überhaupt unter sie fallen, sich auch wirklich nach ihnen richten und von ihnen beherrscht sind. Sie verhalten sich also zum Realen wie Gesetze, denen dieses durchgehend unterworfen ist. Das ist bei den Werten anders. Die Realfälle können ihnen entsprechen oder auch nicht entsprechen; und im ersteren Fall sind sie dann eben „wertvoll", imzweiten „wertwidrig". Werte determinieren nicht unmittelbar das Reale, sondern bilden nur die Instanz seines Wertvollseins oder Wertwidrigseins. An ihrem eigenen Bestehen aber ändert das Wertwidrigsein des Realen nichts. Sie stehen also von vornherein unabhängig davon da, ob die Realität ihnen entspricht oder nicht. Insofern ist ihre Selbständigkeit offenbar eine höhere als die der Wesenheiten. !) Zur Erörterung ihrer Seinsweise vgl. des Verf. „Ethik", Berlin 1926, I. Teil, Kap. 15 und 16.

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Vierter Teil. S.Abschnitt

Das ist am bekanntesten an den sittlichen Werten. Es liegt z. B. nicht im Wesen des Versprechens, daß es auch wirklich gehalten wird; wohl aber liegt es in seinem Wesen, daß es wertwidrig ist, wenn man es nicht hält. Am Wertvollsein des „Haltens" ändert das faktische Nichthalten nichts. Auch der abweichende Wille des Menschen oder seine opportunistische Überzeugung vermag daran nichts zu ändern. Diese Unabhängigkeit des Wertes vom Erachten des Menschen steht in strenger Analogie zur Unabhängigkeit der Erkenntnisgegenstände vom Erkennen, d. h. zu deren Übergegenständlichkeit. Sie weist also auf denselben Ansichseinscharakter hin. Und da es sich hier nicht um Realität handeln kann — denn der Wert besteht ja auch unabhängig von der Artung des Realen —, so ist die Seinsweise des Wertes offenbar die des idealen Seins. So kommt es, daß der Wert der realen Handlungsweise sehr verschieden ausfällt, je nachdem sie dem „Werte selbst" entspricht oder nicht (z. B. je nachdem man sein Versprechen hält oder nicht), das Wertvollsein als solches aber — und d. h. der Wert selbst in seiner Idealität, davon unberührt bleibt. b) Wertbewußtsein und Werterkenntnis In dieser Sachlage ist der Grund dafür zu suchen, warum man Werte nicht aus gegebenen Realfällen — also etwa sittliche Werte aus den faktischen Handlungen der Menschen — als ihre Wesenheiten „herausheben", sondern nur unabhängig von ihnen, ja oft geradezu im Gegensatz zu ihnen, erfassen kann. Der wirklichen Handlung läßt sich nur abgewinnen, was in ihr enthalten (realisiert) ist. Ob aber der Wert in ihr realisiert ist, läßt sich nur erkennen, wenn man den Wert selbst schon erfaßt hat und ihn wie einen Maßstab an das Erfahrene anlegen kann; man würde ohne ihn zwar die ontische Beschaffenheit der Handlung sehr wohl in ihren Wesenszügen herausheben können, würde aber auf diese Weise nicht wissen können, ob sie wertvoll ist oder nicht. Daraus folgt gnoseologisch, daß der Apriorismus des Wertbewußtseins ein strengerer und absoluterer ist als der der Wesensschau; die Werterkenntnis ist in ganz anderem Maße auf sich Selbst gestellt alä anderweitige Wesenserkenntnis. Die Hinführung durch den erfahrbaren Realfall versagt an ihr, und durch bloße Einklammerung des Besonderen ist hier nichts zu gewinnen. Ontologisch aber folgt, daß hier ein gewisses „Schweben" des idealen Seins über dem Realen sich zeigt: die Indifferenz ist nicht nur die der Werte gegen das Reale, sondern auch eine solche des Realen gegen die Werte. Die Werte selbst Stehen unabhängig davon da, ob und wie weit das Verhalten der Menschen ihnen entspricht; und dem läßt sich mit allem Anderswollen nichts abhandeln. Aber auch das Reale steht in einer gewissen Unabhängigkeit von ihnen da; es ist weit entfernt sich inhaltlich nach ihnen zu richten. Es behält Spielraum gegen sie. Genauer: es ist nur in seinem Wert- und Unwertcharakter abhängig von ihnen, in seinem Semscharakter ist es unabhängig.

49. Kap. Das Reich der Werte und seine Seinsweise

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Dennoch werden Werte keineswegs im Wegschauen vom Realen erfaßt, sondern gerade im Hinschauen auf ,,sein" Wertvollöein und Wertwidrigsein. Das Wertgefühl nämlich spricht nicht auf fiktive Fälle an, sondern primär nur auf reale; es nimmt das Erdachte nicht ernst. Nur das Gewicht des wirklich Erlebten hat die Kraft, es wachzurufen. Den Wert der Gerechtigkeit macht man niemandem durch schöne Tugendbeispiele einleuchtend. Aber er wird ganz von selbst fühlbar, sobald ein Mensch Zeuge ungerechter Behandlung ist; das sittliche Gefühl lehnt sich auf dagegen, es empört sich. Es spricht an auf das Wirkliche und Aktuelle. Was aber dabei erfaßt wird, ist keineswegs bloß das Wirkliche und Aktuelle; dieses allein wäre an sich noch gar nicht wertgezeichnet. Man erfaßt vielmehr auch sein Wertvollsein und Wertwidrigsein. Und dadurch erfaßt man mittelbar auch den Wert selbst — und zwar charakteristißcherweise am besten dort, wo er dem erlebten Realfall fehlt (wie in dem Beispiel der Empörung angesichts ungerechter Behandlung). Es ist die innere Stellungnahme, die ihn anzeigt. Sie tritt als spontane Gefühlsreaktion auf, gleichsam als „Wertantwort" des Bewußtseins auf das erlebte Reale; und sie ist als solche bereits die Fühlung mit dem Werte selbst. Darum kann die innere Schau — in diesem Falle also die „Wertschau" — im unmittelbaren Anschluß an die Wertantwort auch den Wert Selbst erfassen. Sie erfaßt ihn dann in seiner Reinheit und Allgemeinheit, sofern er unabhängig von seinem Erfülltsein im Realen, ja gerade trotz seinem Unerfülltsein, unabhängig auch vom Erfaßtwerden und vor aller Wertfühlung, an sich besteht. D. h. sie erfaßt ihn in seinem idealen Ansichsein. c) Realität des Wertgefühls und Determinationskraft der Werte Hier besteht also trotz aller Abgelöstheit und trotz dem „Schweben" der Sphäre dennoch eine Analogie zur Wesensschau. Auch die Werte lassen sich „herausheben", nur eben nicht aus den Realfällen des menschlichen Verhaltens, sondern aus denen der Wertreaktion, des tatsächlichen Wertgefühls, der „Wertantwort" und der inneren Stellungnahme. Freiheit gegen die Anforderung, die von den sittlichen Werten ausgeht, hat nur der Wille, und durch ihn die Tat, das Verhalten. Der Wille ist es, der durch die Situation zur Entscheidung herausgefordert ist (vgl. Kap. 32 c), und Seine Entscheidung ist stets auch eine solche für oder wider den einzelnen Wert. Darauf beruht die Fähigkeit des Willens, sittlich gut oder böse zu sein. Das Wertgefühl aber hat nicht Freiheit gegen den einmal von ihm erfaßten Wert; wie es denn auch weniger ein Erfassen des Wertes ist als ein Erfaßtsein von ihm. Es ist vielmehr der unmittelbare Anzeiger des Wertes im Bewußtsein. Und die Probe auf das Exempel liegt in der Tatsache, daß der entscheidende Wille, wo er den Wert mißachtet, in Konflikt mit dem Wertgefühl gerät und in der Stimme des Gewissens seine Verurteilung erfährt.

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Die Unbeirrbarkeit des Wertgefühls, auch durch den eigenen Willen, ist die Determinationskraft der Werte in ihm, ihr Enthaltensein nach Art der Wesenheiten in ihm als einem realen. Die bunte Fülle der Wertreaktionen im Leben, das Durchsetztsein des ganzen Menschenlebens von ihnen, ist die Realsphäre, aus der sich die Wertwesenheiten durch Reduktion zur Einsicht bringen lassen. Die Werte bilden deutlich den idealen Gegenstand der wertfühlenden Akte; sie sind ihr objektiver Gehalt, und dieser wird in ihnen als unabhängig vom realen Verhalten im Tun und Wollen empfunden. Ja, er wird darüber hinaus auch als unabhängig vom Wertgefühl selbst empfunden, indem dieses vielmehr sich selbst als abhängig von ihm empfindet. Insofern ist die an den Wertreaktionen — der sittlichen Stellungnahme und der Wertantwort ·— gewonnene Wesensschau der Werte echte Schau eines ideal Ansichseienden. Man muß sich hier dessen erinnern, was oben über die Akttranszendenz der wertfühlenden Akte gesagt wurde (vgl. Kap. 33b). Dort handelte es sich aber nur um ihre Realtranszendenz. Hier tritt ihre andere Seite, die Idealtranszendenz der Wertfühlung hinzu, die immer in ihnen mit enthalten ist. Sie betrifft das vom Akt unabhängige Bestehen der Werte als eines zweiten Gegenstandsgebietes neben dem der Realobjekte (der Personen). Sie ist nur deswegen nicht direkt spürbar und erfordert eine besondere Wendung des Bewußtseins, weil die Werte als solche nicht als gesonderte Objekte auftreten, sondern nur als akzentgebender Hintergrund der Realobjekte (des menschlichen Verhaltens) mitgegeben sind. Erst die bewußte Wertschau hebt sie aus dem tatsächlichen Aktbestande der Wertreaktionen heraus. Damit ist die Beziehung zwischen Wert und Realität, die durch den Spielraum des realen Verhaltens gegen den Wert erschüttert schien, in aller Strenge wieder hergestellt. Und das ideale Sein der Wertstrukturen ist gewährleistet durch das Ansichsein der realen Wertreaktionen — nicht anders als das der mathematischen Gebilde durch die Realität der Vorgänge gewährleistet ist, in denen sie enthalten sind. d) Der Wandel des Wertbewußtseins und das Sein der Werte Damit reiht sich das Reich der Werte dem der Wesenheiten, und weiter dem Reiche des idealen Seins homogen ein. Daß aber die Werte — oder dasjenige, was in der Terminologie anderer Zeiten ihnen entspricht —, immer wieder in ihrem Seinscharakter verkannt werden, für bloße „Wertung" des Menschen oder gar für Konvention gehalten werden, hat seinen Grund im geschichtlichen Wandel ihrer Geltung. Zwischen ihrem idealen Sein und ihrer geschichtlichen Geltung ist also zu unterscheiden. Dieser Wandel läßt sich nicht bestreiten. Er ist wohlbekannt in der Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Moralen, sowie im Zeitgeschmack der Kulturen, der bald die eine, bald die andere Seite menschlicher Qua-

49. Kap. Das Reich der Werte und seine Seinsweise

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lität bevorzugt. Das Bevorzugen ist zweifellos von ganz anderen Faktoren als den Wertweöenheiten abhängig, es könnte Sonst nicht wandelbar sein. Hier spielt das Dafürhalten mit seiner geschichtlichen Bedingtheit hinein. Ob man den Wert des Glücks für den im Leben maßgebenden „gelten" läßt, oder den des Opfers, des Heldentums, der Rechtlichkeit usf., ist ein Unterschied in der Gesamtauffassung des Lebens; desgleichen ob man Strenge Selbstzucht und Leistung oder Milde und Humanität für das Ausschlaggebende am Ethos hält. Aber damit ändert man am Werte der Humanität selbst gar nichts, desgleichen nichts an dem der Tapferkeit, der Selbstzucht, der Leistung oder der Rechtlichkeit. Sie bleiben, was sie sind, und das Verhalten der Menschen, soweit es semer Artung nach unter sie fällt, bleibt unter ihnen wertvoll oder wertwidrig, einerlei ob es als solches auch gewürdigt, geschätzt und verworfen wird oder nicht, — einerlei also, ob es vom jeweiligen Wertbewußtsein als wertvoll und wertwidrig empfunden wird oder nicht. Das Wertbewußtsein eben ist variabel; darum ist das Wertvollsein nicht identisch mit dem Für-Wertvoll-Gelten. Die wechselnde Geltung bestimmter Werte in bestimmter Zeit bedeutet also gar nicht ihr Entstehen und Vergehen in geschichtlichen Zeitläufen. Der Wechsel ist nicht Wandlung der Werte, sondern Wandlung des Vorzugs, den bestimmte Zeitalter bestimmten Werten (oder auch ganzen Wertgruppen) verleihen. Man kann diesen Vorzug ohne Schwierigkeit dahin verstehen, daß das Wertgefühl unter bestimmten Bedingungen — etwa in bestimmten Lebensverhältnissen — vorzugsweise auf bestimmte Werte anspricht oder eingestellt ist, für andere aber unempfindlich (wertblind) ist. Es ist nicht nötig, dieses Phänomen auf Irrtümer des Wertbewußtseins hinauszuspielen. Blindheit ist nicht Irrtum, Sondern nur das Fehlen der Einsicht. Das Wertgefühl, wo es sich meldet, kann deswegen sehr wohl untrüglich sein; seine Begrenzung liegt dann nur im Negativen, im Mangel oder in der Einseitigkeit seines AnSprechens. Man kann dieses die ,,Enge des Wertbewußtseins" nennen, daß das Wertgefühl zur Zeit immer nur auf einige, nicht auf alle Werte anspricht, daß es also niemals allezugleich im Blickfelde hat, ja sogar die Tendenz zeigt, immer einen Wert allen anderen überzuordnen. Sein Gesichtsfeld ist eben zu „eng" für die Vielheit und Mannigfaltigkeit des Wertreichs. Es faßt immer nur einen AusSchnitt, aber nicht immer denselben; es „wandert" gleichsam geschichtlich mit seinem Blickfelde auf der Ebene der Werte, und so treten immer neue in seinen Kreis. Das wird verständlich, wenn man sich klarmacht, daß es sich nicht eigentlich um ein Erkennen der Werte handelt — wenigstens nicht primär —, nicht also um ein Erfassen der Werte, sondern eher um ein Erfaßtwerden von ihnen. Der Mensch kann nicht neutral zu gefühlten Werten stehen, er ist im Wertfühlen von ihnen gepackt, ergriffen, in seinem Empfinden bestimmt. Es richtet sich etwas in ihm nach ihnen, nämlich 20 H a r t m a n n , Zur Grundlegung der Ontotogie

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Seine Stellungnahme, seine „Wertung" des Erlebten, sein Angetansein und sein Abgestoßensein. Das Erfaßtsein aber zeigt notwendig eine gewisse Beschränkung. Der Mensch kann nicht gleichzeitig von beliebig vielem „erfaßt" sein. Denn jeder Wert beansprucht, einmal gefühlt, den ganzen Menschen. Darin besteht seine ihn erfassende Kraft. Und tatsächlich kann auch ein einzelner Wert sehr wohl ein ganzes Menschenleben bestimmen, prägen, erfüllen. Ja, er kann in einem Menschen tyrannisch werden, andere Wertfühlung verdrängen, den Menschen zum einseitigen Wertfanatiker machen. e) Konsequenzen. Scheinbarer Widerspruch und Lösung Wenn der Wertblick „wandert", so ist er das Relative, nicht die Werte selbst. Diese sind, wo und wie immer sie erfaßt werden, dieselben. Ja, es setzt sogar im Wertbewußtsein etwas ein, was sich dem „Betroffensein