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German Pages 163 [164] Year 1967
Ernst Konrad Specht · Sprache und Sein
Ernst Konrad Specht
Sprache und Sein Untersuchungen zur sprachanalytischen Grundlegung der Ontologie
Walter de Gruyter & Co. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp.
Berlin 1967
Archiv-Nr. 36 41 671 ©
1967 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sdie Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Thormann & Goetsdi, Berlin 44
Meinem Lehrer Gottfried Martin
Inhalt I. Aufgabe und Umfang der traditionellen Ontologie § l Die Aufgabebestimmung der Ontologie bei Aristoteles § 2 Die historische Entfaltung der Ontologie im Rahmen der philosophischen Disziplinen
l 7
II. Die sprachanalytische Diskussion des Seinsproblems 1. Abschnitt. Exposition des Seinsproblems und seiner sprachlichen Grundlagen § 3 Die Aufgabebestimmung der Ontologie und das Wort »sein" § 4 Die drei großen Standpunkte in der Frage nach dem Sein: Plato, Aristoteles, Kant § 5 Der sprachliche Zugang zum Seinsproblem
2. Abschnitt. Die Analyse des kopulativen „sein"
13 15 22
Gebrauchs von
§ 6 Überblick über die verschiedenen Deutungen der Kopula § 7 Die Deutung der Logiker § 8 Heideggers Deutung
24 26 31
3. Abschnitt. Die Analyse des Gebrauchs von „sein" inExistenzaussagen mit definiten Deskriptionen und Eigennamen § 9 § 10 § 11 § 12 § 13
Die Paradoxien der Existenzaussagen mit definiten Deskriptionen .. Die Theorien von Meinong und Russell zur Lösung der Paradoxien .. Der sprachanalytische Lösungsversuch Die Funktion der Existenzaussagen mit definiten Deskriptionen . . . . Die Verwendung des Wortes „sein" in Existenzaussagen mit Eigennamen
42 44 48 56 58
4. Abschnitt. Die Analyse des Gebrauchs von „sein" in Existenzaussagen mit generellen Subjektsausdrücken. Die philosophischen Konsequenzen für das Seinsproblem § 14 Diskussion eines Beispiels § 15 Die Funktion des Wortes „sein" in Existenzaussagen mit generellen Subjektsausdrücken § 16 Die Anwendung der Ergebnisse auf das Seinsproblem
61 66 68
VIII
Inhalt
III. Die Aristotelische Lehre von der Entfaltung des Wortes „sein" und deren sprachanalytische Diskussion 1. Abschnitt. Ein sprachliches Modell der Aristotelischen Lehre: Das Sprachsystem über die Personen und Schulklassen eines Gymnasiums § 17 Die Entfaltung des Wortes „sein" bei Aristoteles § 18 Das Spradisystem über die Personen eines Gymnasiums § 19 Die Funktion der Existenzaussagen im Spradisystem über die Personen eines Gymnasiums § 20 Das Spradisystem über die Sdiulklassen eines Gymnasiums § 21 Die Funktion der Existenzaussagen im Spradisystem über die Sdiulklassen eines Gymnasiums § 22 Kritisdie Diskussion
73 75 82 85 96 98
2. Abschnitt. Übertragung der am Modell gewonnenen Ergebnisse auf die Aristotelische Lehre: Das Sprachsystem über Substanzen und Qualitäten § 23 Die Dingspradie und die Aristotelisdie Bestimmung der Qualität . . . . 101 § 24 Das Spradisystem über die Qualitäten 103 § 25 Die Funktion der Existenzaussagen im Spradisystem über die Qualitäten 108 § 26 Kritisdie Diskussion 112
IV. Die Grenzen der Aristotelischen Lehre und der Versuch einer umfassenden Interpretation der Bedeutungsentfaltung von .sein" I.Abschnitt. Die Grenzen der Aristotelischen Lehre § 27 § 28 § 29 § 30
Die traditionelle Kritik 119 Ein Modell: Das Spradisystem über die Sdiadizüge 121 Diskussion der Aristotelisdien Lehre anhand des Modells 127 Ein spradianalytisdier Versudi, die vielfadie Verwendung des Wortes „sein" zu verstehen 130
2. Abschnitt. Welches Seiende gibt es wirklich? § 3l Carnaps Untersdieidung von internen und externen Existenzfragen § 32 Das Weltkastenmodell
135 138
3. Abschnitt. Die Aufgabebestimmung der Ontologie im Lichte der sprachanalytischen Philosophie
142
Literaturverzeichnis Personenverzeichnis Sachverzeichnis
149 151 152
"When I make a word do a lot of work like that," said Humpty Dumpty, "I always pay it extra." (L. Carroll. Through the Looking Glass)
I. Aufgabe und Umfang der traditionellen Ontologie $ 1. Die Aufgabebestimmung der Ontologie bei Aristoteles Diejenige Disziplin der Philosophie, der man im 17. Jahrhundert den Titel Ontologie gab, hat sidi erst allmählich als selbständiger Zweig der Metaphysik etabliert. Ihren Ausgang nimmt diese Disziplin von einer Aufgabebestimmung, die Aristoteles der sogenannten ersten Philosophie stellte. Die erste Philosophie, die er auch Sophia nannte, und die später sapientia oder metaphysica hieß, bestimmt Aristoteles in Buch A seiner Metaphysik als Wissenschaft von den obersten Ursachen und Gründen, in als Wissenschaft vom Seienden als Seiendes und schließlich in A bzw. E als Theologie. Über den inneren Zusammenhang dieser drei Zweige der Metaphysik ist Viel diskutiert worden, ebenso darüber, was Aristoteles eigentlich mit der Formel „Seiendes als Seiendes" gemeint habe. Für unsere Zwecke reicht es aus, wenn wir uns an eine gängige und auch in der heutigen Ontologie noch wirksame Interpretation halten, wonach diese Wissenschaft alle Seienden, sofern sie Seiende sind, zu untersuchen habe1. Bei genauerem Studium lassen sich in den Anfangskapiteln des Buches vier Entfaltungsrichtungen dieser Wissenschaft unterscheiden. Sie hat zu betrachten: das Seiende als Seiendes, die diesem zukommenden Bestimmungen, die Gründe und Ursachen desselben und schließlich die obersten Grundsätze, die für alle Seienden gelten. a) Das Seiende als Seiendes. Aristoteles hat eine ganze Reihe von 1
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Hartmann (1) S. 41 ff. Spedit, Ontologie
2
Aufbau und Umfang der traditionellen Ontologie
quivalenten Formeln gegeben, die alle mehr oder weniger dasselbe besagen und bei sp teren Autoren eine gewisse Rolle spielen. Die bliche Formel lautet: "Εστίν επιστήμη τις ή θεωρεί το δν η δν2. Was unter το δν zu verstehen ist, erl utert eine andere Formulierung, der zufolge die genannte Wissenschaft die Seienden als Seiende betrachten soll3. Diese Wissenschaft hat also alle Seienden zu untersuchen, kein spezielles Gebiet des Seienden: τα οντά f) οντά. Die anderen Wissenschaften handeln jeweils von einem Teil des Seien4 den , ber ein bestimmtes Seiendes, ber eine Gattung desselben5, nicht aber allgemein ber das Seiende" oder ber das Seiende als Seiendes allgemein7. Derselbe Gegensatz zwischen den Einzelwissenschaften und der allgemeinen Wissenschaft kommt auch in der Formel zum Ausdruck, diese Wissenschaft habe das Seiende schlechthin oder auch das Seiende berhaupt zu betrachten8. In hnliche Richtung weisen schlie lich Ausdr cke wie: Das Seiende selbst, das Seiende als solches*1. Gelegentlich wird das η durch ein καθ' όσον ersetzt10. Wegen der Konvertibilit t von ens und unum wird die Formel: ens qua ens der Formel: unum qua unum parallel gesetzt, aber wohl nicht eigens in die Aufgabebestimmung der Ontologie aufgenommen11. Einmal verwendet Aristoteles eine Umschreibung, in der der Philosophie die Aufgabe zugewiesen wird, ber jede Substanz zu handeln, insofern sie existiert, περί πάσης της ουσίας f) πέψυκεν12. Die Formel d rfte insofern interessant sein, als hier zur n heren Charakteristik des Aspekts, unter dem das Gegenstandsgebiet betrachtet werden soll, nicht das partizipiale fj v, sondern eine gew hnliche Verbform verwandt wird. Wie mu man nun diese quivalenten Formeln f r die Aufgabebestimmung der Ontologie eigentlich verstehen? Der Ausdruck το ov bezieht sich offenbar auf das Seiende, auf alle Seienden, nicht auf irgendeinen bestimmten Teil des Seienden. Aristoteles stellt sich dabei das Seiende im Sinne eines gewissen Realismus vor. Phantasiegebilde geh ren f r ihn zum Nicht-Seienden. Eine Gegenstandstheorie, die alle Gegenst nde, 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Aristoteles (1) 1003 a 21 Aristoteles (1) 1003 b 15—16, hnlich 1025 b 3—4. Aristoteles (l) 1003 a 24. Aristoteles (1) 1025 b 8. Aristoteles (l) 1003 a 24. Aristoteles (1) 1060 b 31-32. Aristoteles (1) 1025 b 9-10. Aristoteles (1) 1028 a 3-4, hnlich 1061 b 9. Aristoteles (1) 1061 b 9, auch in 1061 b 4. Aristoteles (1) 1004 b 5. Aristoteles (1) 1005 b 6-7
§ 1. Die Aufgabebestimmung der Ontologie bei Aristoteles
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ob sie nun real sind oder nicht, zu untersuchen hat, dürfte Aristoteles nicht beabsichtigt haben13. Fraglich ist, ob der Ausdruck „das Seiende" in der Formel „das Seiende als Seiendes" kollektiv oder distributiv zu verstehen ist14. Der hier bestehende Unterschied mag am Beispiel des Wortes „der Mensch" verdeutlicht werden. Kollektiv gebraucht bedeutet „der Mensch" soviel wie: die Menschheit, distributiv gebraucht heißt es: jeder einzelne Mensch. Kollektiv kann man etwa sagen: „Der Mensch hat sich in den letzten 10 000 Jahren physisch nur noch wenig verändert" = „Die Menschheit hat sich in den letzten 10 000 Jahren physisch nur noch wenig verändert". Distributiv sagt man: „Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen" = „Jeder Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen". Würde man den Ausdruck „der Mensch" im ersten Satz distributiv verstehen, so würde ein falscher Satz resultieren, da nicht jeder einzelne Mensch sich im Laufe der letzten 10 000 Jahre nur wenig verändert hat. Ähnlich wie „der Mensch" kann man auch „das Seiende" einmal kollektiv verstehen und meint dann: alle Seienden als Ganzes genommen. Man kann „das Seiende" aber auch distributiv verwenden und bezieht sich dann auf jedes einzelne Seiende. Sagt man: „Das Seiende hat ewige Existenz", so redet man offenbar kollektiv vom ganzen Seienden. Sagt man aber etwa: „Das Seiende existiert jeweils in einer bestimmten Zeitphase", so will man damit eine distributive Aussage über einzelne Seiende machen, nämlich die, daß jedes einzelne Seiende in einer bestimmten Zeitphase existiert. (Gerade das Problem des distributiven Gebrauchs ist für die Aufgabebestimmung der Ontologie von Wichtigkeit geworden: Hat die Ontologie nur diejenigen Bestimmungen zu betrachten, die jedem einzelnen Seienden zukommen?) Eine weitere Frage betrifft die Bedeutung des Ausdrucks r\ in der Aufgabebestimmung der Ontologie. Die Verwendung des Schemas „. .. fj ..." erfolgt bei Aristoteles so, daß in die erste Leerstelle der Gegenstandsbereich, in die zweite Leerstelle der Aspekt einer Wissenschaft eingesetzt wird. So gebraucht Aristoteles dieses Schema etwa wiederholt bei der Abgrenzung der Mathematik von der Physik15. Die bewegten Substanzen sind danach Gegenstandsbereich mehrerer Wissenschaften u. a. der Physik, die sie als bewegte und etwa der Mathematik, die sie als Körper, Flächen, Linien etc. betrachtet. Die übliche Übersetzung gibt das fj mit „als" oder „insofern" wieder. „Als" und „insofern" sind nun aber nicht genau synonym, wie folgende Erwägung zeigt. Es gibt mehrere Wissenschaften, die die Naturdinge untersuchen, z. B. Chemie, Biologie etc. Die Aufgabe13
14 15
Vgl. die Unterscheidung der Wissenschaft vom öv fj öv bei Aristoteles und der Wissenschaft vom ens in genere seu quatenus ens est bei Wolff; Pichler (1) S. 3. Vgl. Ross (1) 1. Bd. S. 251. Aristoteles (1) 1077 b 27-30
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Aufbau und Umfang der traditionellen Ontologie
Bestimmungen der einzelnen Wissenschaften ließen sich etwa so formulieren: Die Chemie betrachtet die Naturdinge als Dinge, die aus Elementen zusammengesetzt sind; die Biologie betrachtet die Naturdinge als belebt. Das würde nun in einer Hinsicht nicht ganz den Tatsachen entsprechen. Während die Chemie nämlich alle Naturdinge in ihre Betrachtungen einschließt, richten sich die Erwägungen der Biologie nur auf eine Teilklasse der Naturdinge, nur auf die belebten Dinge. Das „als" gibt demnach nur den Aspekt einer Wissenschaft an, tangiert aber nicht den Gegenstandsbereich. Etwas anders liegen die Dinge beim „insofern". Bestimmt man die Biologie etwa so: „eine Wissenschaft, die die Naturdinge betrachtet, insofern sie belebt sind", so liegt darin zugleich eine Einschränkung auf bestimmte Naturdinge. Die Biologie untersucht Naturdinge nur, insofern sie belebt sind, d. h. Naturdinge, die nicht belebt sind, werden nicht berücksichtigt. Bei der Aufgabebestimmung der Ontologie spielen diese feineren Bedeutungsnuancen von „als" und „insofern" keine Rolle, da mit dem Aspekt, den hier das „als" angibt, zugleich jede Einschränkung auf irgendein spezielles Gebiet des Seienden ausgeschlossen wird. Das Seiende soll betrachtet werden als Seiendes, d. h. mit Hinblick auf eine Bestimmung, die allen Seienden zukommt. (Während die Bestimmung: „Belebt-sein" ja keineswegs allen Naturdingen zukommt!) Wir führen zum Schluß noch zwei Aufgabebesrimmungen der Ontologie an, die heute viel gebraucht werden und die mit der Aristotelischen Formel weitgehend äquivalent sind. Statt: „Wissenschaft vom Seienden als Seiendes" sagt man häufig: „Wissenschaft vom Seienden, insofern es ist". Diese Betrachtung macht deutlich, daß die Ontologie das Seiende mit Hinblick auf dasjenige betrachten soll, was mit dem Verb „sein" ausgesprochen wird. Die zweite Formel: „Wissenschaft vom Seienden hinsichtlich seines Seins" bringt denselben Sachverhalt zum Ausdruck, läßt ihrer Wortform nach aber an eine Hypostasierung denken. Die Wendung „ . . . insofern es ist" ist weitgehend neutral und gestattet keine Vermutung darüber, was mit dem „ist" gemeint ist. Die Formulierung „... hinsichtlich seines Seins" legt aber den Gedanken nahe, daß es neben dem Seienden noch etwas anderes gibt: das Sein (wie immer man sich das denken mag)18. Die Formeln „Wissenschaft vom Seienden als solchem, vom Seienden im allgemeinen, vom Seienden schlechthin, vom Seienden überhaupt, vom Seienden selbst" zielen alle darauf, den Aspekt, unter dem das Seiende zu betrachten ist, in die Angabe des Gegenstandsbereiches verkürzend einzubeziehen und bedürfen keiner weiteren Erörterung. 16
Vgl. Heidegger (1), Einleitung. Zur Kritik: Stegmüller (2) S. 190.
5 1. Die Aufgabebestimmung der Ontologie bei Aristoteles
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b) Die Bestimmungen des Seienden. Der ontologische Zweig der Sophia hat nach Aristoteles nicht nur das Seiende als Seiendes zu betrachten, sondern auch die diesem als einem solchen, d. h. als Seiendem zukommenden Bestimmungen, die passiones entis, wie sie später genannt wurden. Hier sind also eine Reihe von Prädikaten aufzuführen, die im engsten Zusammenhang mit dem Seienden als Seiendes stehen: es sind Prädikate, die sich dann zeigen, wenn man das Seiende betrachtet, insofern es ist. Die wichtigste Bestimmung, der man begegnet, ist natürlich das Prädikat „Seiendes" selbst, das jedem Seienden zukommt und von dem jedes Seiende seinen Namen hat. Da Aristoteles bei den passiones entis jeweils auch die gegensätzlichen Prädikate angibt, schließt sich hier das NichtSeiende (non ens) an. Umfangsgleich mit diesem obersten Prädikat ist der Begriff: Eines, unum. Ein jedes Seiende ist eben auch zugleich ein Seiendes, ein unum17. Im Gegensatz zu Einem steht der Begriff des Vielen, die Vielheit, multitude18. Ens und unum mit ihren jeweiligen Gegensätzen bilden die obersten und jedem Seienden uneingeschränkt zukommenden Bestimmungen. Andere passiones kommen durch die Kategorieneinteilung zustande. Das ganze Seiende zerfällt in zehn verschiedene Gattungen, denen also die obersten Gattungsprädikate: „Substanz", „Qualität", „Quantität", „Relation" usw. entsprechen. Die diesen gegensätzlichen Prädikate werden nicht eigens angegeben, haben auch in der Sprache keinen eigenen Namen. Den Gattungen des Seienden korrespondieren die verschiedenen Gattungen des Einen in den einzelnen Kategorien. Wichtig geworden sind hier die Bestimmungen: Identität und Verschiedenheit (was Einheit bzw. Vielheit in der Kategorie der Substanz bedeutet), Gleichheit und Ungleichheit (d. h. Einheit und Vielheit in der Kategorie der Quantität), Ähnlichkeit und Unähnlichkeit (d. h. Einheit und Vielheit in der Kategorie der Qualität)19. Einheit und Vielheit in den restlichen Kategorien werden nicht eigens benannt. An diese Prädikate knüpfen sich in lockerer und durchsichtiger Weise weitere Bestimmungen an: Gegensatz, Genus und Spezies, Ganzes und Teil, früher und später, außerdem vielleicht noch Bewegung und Ruhe20. In gewissem Sinne gehören hier auch alle diejenigen Bestimmungen hin, die Aristoteles im Bedeutungskatalog von Buch aufzählt. So hat man jedenfalls die einzelnen Begriffe dieses Katalogs verstanden21. Wir hätten also unter den passiones entis ebenfalls zu nennen Begriffe wie: Prinzip, Ursache, Element, Notwendigkeit, Akt, Potenz, Wesen etc. etc. 17 18 19 20 21
Aristoteles (1) 1003 b 22- 1004 a 2 Aristoteles (1) 1004 a 10. Aristoteles (1) 1003 b 33-36, 1004 a 17-20 Aristoteles (1) 1004 a 20-21, b 29, 1005 a 16-17. Thomas (1) S. 208.
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Aufbau und Umfang der traditionellen Ontotogie
Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß viele der aufgezählten Bestimmungen jedem Seienden zukommen, meistens in disjunktiver Form22. Jedes Seiende ist entweder Eines oder Vieles usw. Aber es ist auch zu sehen, daß nicht alle Bestimmungen von allen Seienden gelten können. Von Zahlen kann man beispielsweise nicht behaupten, daß sie in Ruhe oder Bewegung seien. Schwierigkeiten bereiten vor allem auch die obersten Gattungsprädikate und alle diejenigen Bestimmungen, die diesen Prädikaten implizite folgen. Jedenfalls haben wir eine Liste sehr allgemeiner Begriffe vor uns, wenn es auch nicht immer ganz ersichtlich ist, wie die einzelnen Begriffe mit der ursprünglichen Aufgabe der Betrachtung des Seienden als Seiendes strikt zusammenzubringen sind. c) Die Gründe und Ursachen des Seienden. Aristoteles bestimmt die Sophia im ersten Buch der Metaphysik als eine Wissenschaft, die die ersten Gründe und Ursachen zu erforschen habe23. Die Begriffe Grund bzw. Ursache entfalten sich dabei in der bekannten vierfachen Weise als causa formalis, materialis, movens und finalis. Die genannte Wissenschaft hat also die letzte Formursache, die primäre Materie, die erste Bewegursache und den Endzweck aller Dinge aufzufinden24. Bei der zweiten Aufgabebestimmung der Sophia als Ontologie zieht Aristoteles die erste Aufgabebestimmung mit der zweiten zusammen. Die Wissenschaft vom Seienden als Seiendes sei zugleich Wissenschaft von den ersten Gründen und Ursachen des Seienden als Seiendes25. Wegen der Schwierigkeiten, die der Ursachelehre des Aristoteles im Laufe der Geschichte begegnet sind, ist diese Aufgabebestimmung der Ontologie nicht in ihrer ursprünglichen Form erhalten geblieben. Ein Teil der Probleme, die mit der Suche nach den ersten Ursachen verbunden sind, werden heute gewöhnlich unter Titeln wie: „Die Prinzipien des Seienden" oder „Die Strukturen des Seienden" abgehandelt. Ein anderer Teil hat sich in die Erörterung des Satzes vom Grunde verschoben, wieder andere Teile werden im Zusammenhang mit der Erörterung von „Wesensgründen des Seienden", „Seinsgründen" usw. diskutiert26. Die Frage nach der causa movens und der causa finalis werden schließlich als Fragen nach Kausalität und Teleologie behandelt. Jedenfalls ist aber festzuhalten, daß schon Aristoteles gesehen hat, daß man neben dem Seienden als Seiendes und den passiones entis noch 22 23 24 25 26
So Duns Scotus. Aristoteles (1) 981 b 27-29. Aristoteles (1) 982 b 24-983 b 1. Aristoteles (1) 1003 a 26-32. Heidegger (3), vor allem S. 47.
§ 2. Die historische Entfaltung der Ontologie
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andere Bestimmungsstücke untersuchen muß, wenn man wirklich zu einer umfassenden Lehre vom Seienden als Seiendes kommen will. d) Die sogenannten Axiome des Seienden. Daß eine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes betrachtet, auch die obersten Axiome untersuchen muß, die für alle Seienden gelten, bedarf eigentlich keiner weiteren Erörterung27. Aristoteles diskutiert als Beispiel für solche Axiome den Satz vom Widerspruch und den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Als Grundsätze, die von allen Seienden gelten, sind sie zugleich Axiome allen logischen Schließens28. Später hat man noch weitere ontologische Grundsätze hinzugefügt, etwa den Satz der Identität und den Satz vom zureichenden Grunde. Der ganze Problemkreis, der damit angerührt ist und der u. a. auch die Frage des Verhältnisses von Ontologie und Logik umfaßt, kann hier nicht eigens diskutiert werden. 5 2. Die historische Entfaltung der Ontologie im Rahmen der philosophischen Disziplinen Die heutige Ontologie hat sich, wie gesagt, aus dem „ontologischen Zweig" der Sophia heraus entwickelt. Die letztere fällt bei Aristoteles unter die sogenannten theoretischen Wissenschaften, denen die praktischen und produktiven Wissenschaften entgegengesetzt sind29. Die theoretischen Wissenschaften selbst gliedern sich auf in: die erste Philosophie, die zweite Philosophie und in die Mathematik (für die folgenden Betrachtungen vgl. Tabelle S. 10 f.). Diese Teildisziplinen lassen sich weiter aufteilen. Bei der ersten Philosophie kann man unterscheiden: Die Lehre vom Seienden als Seiendes, die Lehre von den ersten Gründen und die Lehre von Gott. Die zweite Philosophie läßt sich vielleicht nicht so eindeutig gliedern. Wir könnten sie aber etwa aufteilen in die Lehre vom Kosmos, von der Seele, von den unbeseelten Dingen. Die Mathematik hätte die Zweige der Arithmetik und Geometrie. Dabei finden sich in den Aristotelischen Schriften, sowohl in der Metaphysik als in den Schriften zur Physik, Partien, die heute teilweise in die Philosophie, teilweise in die Einzelwissenschaften gehören. Das Mittelalter hat die Aristotelische Gliederung im großen und ganzen beibehalten. In der Benennung der ersten Philosophie und ihrer einzelnen Teile führten sich allmählich die Ausdrücke: metaphysica, prima philosophia, sapientia und theologia ein, so daß z. B. Thomas die ganze erste Philosophie sapientia, den ontologischen Zweig metaphysica, die 27 28 29
Aristoteles (1) 1005 a 19-b 19. Aristoteles (1) 1005 b 5-9. Aristoteles (1) Met. E, 1.
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Aufbau und Umfang der traditionellen Ontologie
Untersuchung der ersten Gründe prima philosophia und den theologischen Teil theologia nennt30. Erst bei Wolff findet eine tiefgreifende Umgestaltung des ganzen Aufbaus statt. Zunächst wird der Titel sapientia durch metaphysica ersetzt, und dieser metaphysica werden neue Disziplinen zugewiesen, die früher nicht zur sapientia gehörten. Das hängt u. a. mit der Ausdifferenzierung der Kosmologie und Psychologie in eine mehr philosophische, „rationale" und eine mehr einzelwissenschaftlich orientierte Forschungsrichtung zusammen. Wolff teilt die metaphysica also nun ein in metaphysica generalis und metaphysica specialis. Die erstere nennt er ontologia oder prima philosophia und bestimmt sie nach dem Vorbild des ontologischen Zweigs der Aristotelischen sophia als „scientia entis in genere seu quatenus ens est"31. Eine eigenständige Lehre von den ersten Gründen ist verschwunden. Die metaphysica specialis umfaßt die rationale Theologie (also den Nachfolger der Aristotelischen Lehre von Gott und der mittelalterlichen theologia), die rationale Kosmologie und die rationale Psychologie. Die beiden letzten Disziplinen behandeln z. T. das, was Aristoteles in seiner Psychologie bzw. Kosmologie diskutiert hat. Kant hat den Aufbau Wolffs übernommen, aber er gliedert (im Zusammenhang mit seiner Begründung der Physik) der metaphysica specialis noch eine physica rationalis an. Freilich ändert Kant teilweise die Namen der einzelnen Disziplinen, u. a. aus dem Bedürfnis heraus, das Schema Wolffs seinen transzendentalphilosoph'ischen Überlegungen anzupassen. Die theoretische Philosophie überhaupt nennt er „Metaphysik der Natur" (die metaphysica Wolffs) und weist ihr die Aufgabe zu, „... alles, sofern es ist, (nicht das, was sein soll,) aus Begriffen a priori..." zu erwägen32. Merkwürdig ist an dieser Bestimmung, daß die Formel „das Seiende, insofern es ist" auftaucht, zugleich allerdings erkenntnistheoretisch präzisiert wird als apriorische Wissenschaft. Diese Metaphysik der Natur hat zwei Unterabteilungen, die Transzendentalphilosophie und die Physiologie der reinen Vernunft. Kant weist ihnen folgende Aufgaben zu: „Die erstere betrachtet nur den Verstand, und Vernunft selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären (ontologia); die zweite betrachtet Natur, d. i. den Begriff gegebener Gegenstände, (sie mögen nun den Sinnen, oder, wenn man will, einer anderen Art von Anschauung gegeben sein,) und ist eine Physiologie (obgleich nur rationalis)"33. Die Transzendentalphilosophie entspricht bei aller subjektbezogenen 30 31 M 33
Thomas (1) Prooemium Pidiler (1) S. 3. Kant (1) A 845. Kant (1) A 845.
§ 2. Die historische Entfaltung der Ontologie
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Umgestaltung aber doch der ontologia Wolffs34. Im Sinne dieser Umgestaltung ist auch der berühmte Satz der Kritik der reinen Vernunft zu verstehen: „.. . der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben (z. E. den Grundsatz der Kausalität) muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen"35. Ein eigentümlicher Zug bei dieser Neubestimmung der Ontologie vom Subjekt her liegt darin, daß die traditionelle Formel der Ontologie nur leicht modifiziert in die Aufgabebestimmung der Metaphysik der Natur eingeht, daß wir dagegen in der Transzendentalphilosophie, die doch eigentlich der Nachfolger der Ontologie sein soll, nur noch die Wendung „Gegenstände überhaupt" (Seiendes überhaupt) vorfinden. Der Bezug auf das „. .. insofern es ist" oder auf das „.. . als Seiendes" scheint sogar durch die Spezifikation „ . . . ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären" bewußt gelöst zu sein. Pichler hat das so gedeutet, als ob sich bei Kant hier eine (übrigens schon bei Wolff andeutende) Wendung der Ontologie zur daseinsfreien Gegenstandstheorie vollzöge3'. Der Wolffschen metaphysica specialis entspricht die Physiologie der reinen Vernunft. Die letztere gliedert sich dadurch weiter auf, daß der Gebrauch der Vernunft entweder immanent oder transzendent sein kann, d. h. entweder innerhalb der Erfahrung bleibt oder diese übersteigt. Die transzendente Physiologie umfaßt natürlich die rationale Theologie und die rationale Kosmologie, die immanente Physiologie umfaßt dagegen die rationale Physik und die rationale Psychologie, was alles, mit Ausnahme der neubegründeten rationalen Physik, schon bei Wolff vorliegt37. Nach Kant bricht das System der theoretischen Wissenschaften in vielem zusammen. Es ist aber bedeutsam, daß man bei den neuen Ansätzen zur Ontologie, wie sie sich seit 1900 bemerkbar machen, doch wiederum an der alten Einteilung anknüpft. Husserl gliedert die Ontologie beispielsweise in eine formale und in verschiedene regionale Ontologien38. Die formale Ontologie dürfte etwa dem entsprechen, was bei Wolff metaphysica generalis, ontologia, genannt wird. Die einzelnen regionalen Ontologien betrachten dann den Gegenstandsbereich der Natur, das Psychische oder den Menschen, schließlich auch die Gegenstände der Arithmetik und der Geometrie. Charakteristisch für die ganze Entwicklung ist die Ausweitung der Ontologie auf die regionalen Gegenstandsgebiete. Was man früher ratio34 35 39 37 38
Vgl. Pichler (1) S. 73 S. Kant (1) A 247. Pichler (1) S. 4. Kant (1) A 845 ff. Husserl (1) S. 23 ff.
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Aufbau und Umfang der traditionellen Ontologie
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