Funktionaler Strukturalismus: Grundlegung eines Modells zur Beschreibung von Text und Textfunktion 9783110930443, 9783484220225


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German Pages 171 [172] Year 1976

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
Teil I: Wissenschaftsgeschichte und Modellbildung
Kap. I : Formalismus, Strukturalismus, Funktionalismus
Teil II: Theoretische Grundlegung eines funktionalstrukturalistischen Textbeschreibungsmodells
Kap. II: Die thematische Tiefenstruktur als Regulativ von Zeichenwahl und Zeichenorganisation
Kap. III: Die rhetorische Oberflächenstruktur als Funktion der Tiefenstruktur1
Teil III: Theoretische Grundlegung eines funktionalstrukturalistischen Textfunktionsbeschreibungsmodells
Kap. IV: Die wirkungsästhetischen Prämissen der Textfunktionsbeschreibung: Der Text als Instrument zur Erzeugung von Wirkungen
Kap. V: Textstrategien als Verfahren der Wirkungserzeugung
Teil IV: Praktische Anwendung der funktional-strukturalistischen Fragestellungen
Kap. VI: Das Verhältnis von Romanstruktur und leserseitig angenommenen Vorprogrammen in der Geschichte des englischen Romans
Namenregister
Sachregister
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Funktionaler Strukturalismus: Grundlegung eines Modells zur Beschreibung von Text und Textfunktion
 9783110930443, 9783484220225

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Klaus Baumgärtner und Peter von Matt

Lothar Fietz

Funktionaler Strukturalismus Grundlegung eines Modells zur Beschreibung von Text und Textfunktion

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976

Herausgeber für S p r a c h w i s s e n s c h a f t Klaus Baumgärtner (Universität Stuttgart) Herausgeber für Literaturwissenschaft Peter v o n Matt (Universität Zürich)

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Fietz , Lothar Funktionaler Strukturalismus : Grundlegung e. Modells zur Beschreibung von Text u. Textfunktion. - 1. Aufl. - Tübingen : Niemeyer, 1976. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 22) ISBN 3-484-22022-8

ISBN 3-484-22022-8 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

VIII

Einleitung

IX

TEIL I Wissenschaftsgeschichte

und Modellbildung

l

Kap. I: Formalismus, Strukturalismus, Funktionalismus

3

1. Objektivistische Ansätze 2. Funktionalistische Textauffassung TEIL II Theoretische Grundlegung beschreibungsmodells

eines funktional-strukturalistischen

3 10

Text-

Kap. II: Die thematische Tiefenstruktur als Regulativ von Zeichenwahl und Zeichenorganisation

29

31

1. Die semiotischen Grundlagen des Textbegriffes 2. Die thematische Tiefenstruktur des Textes als Funktion des auktorialen Realitätsbewußtseines 3. Die Erschließung der thematischen Tiefenstruktur

38 40

Kap. III: Die rhetorische Oberflächenstruktur als Funktion der Tiefenstruktur

49

1. Konstitution der rhetorischen Oberfläche 1.1 1.2

Verbale und nichtverbale Textrhetorik Typen der Textrhetorik und Modi der Verschlüsselung der thematischen Tiefenstruktur 1.21 Historische Bedingungen der Metaphernbildung ... 1.22 Verschlüsselungsgrade 1.221. Die Rhetorik der unverschlüsselt-expliziten Themenrealisation 1.222. Die Rhetorik der verschlüsselt-impliziten Themenrealisation 1.223. Themenverschlüsselung und Interpretabilität

31

49 54 56 58 59 61 64 67 V

TEIL III Theoretische Grundlegung funktionsbeschreibungsmodells

eines funkt ional-strukturalistischen

Text71

Kap. IV: D i e w i r k u n g s ä s t h e t i s c h e n Prämissen der T e x t f u n k t i o n s b e schreibung: D e r T e x t als I n s t r u m e n t zur Erzeugung v o n Wirkungen 1. Aspekte der Text-Leser-Relation 2. Faktoren der Textfunktionsbeschreibung: Leserseitiges Vorprogramm und auktoriale Intention 3. Vorstufen der funktionalstrukturalistischen Textfunktionsbeschreibung Kap. V : T e x t s t r a t e g i e n als Verfahren der Wirkungserzeugung

...

Die Intention und Strategie der Normbestätigung . . . Die Nutzbarmachung verfestigter Vorprogramme . . . Umwertung, Legitimierung und Tabuierung Aufwertungsverfahren in der Werbung Zwischenbilanz Die Veränderung von Vorprogrammen Umstrukturierung Infragestellung und Auflösung

Anwendung

der

funktionalstrukturalistischen

83

87 90 90 98 98 105 107 113 113 117

3. Grade und Strategien der Leseraktivierung TEIL IV: Praktische stellungen

78

87

1. Grundmöglichkeiten von Intention und Strategien 2. Intentionen und Strategien der Werturteilslenkung 2.1 2.2 2.21 2.22 2.3 2.4 2.41 2.42

73 73

126 Frage131

K a p . V I : D a s Verhältnis v o n R o m a n s t r u k t u r u n d leserseitig ang e n o m m e n e n V o r p r o g r a m m e n in der G e s c h i c h t e d e s englischen R o m a n s

133

1. Das auktoriale Bild vom Leser und die Rhetorik lischen Romans im frühen 18. Jahrhundert

133

1.1 1.11 1.12 1.2 1.3

des eng-

Die Herkunft der leserseitig angenommenen Fiktionsfeindlichkeit Die religiöse Motivation Die empiristische Motivation Rückwirkungen des Kalküls mit der Fiktionsfeindlichkeit auf die Textstruktur Die Ignorierung der Fiktionsfeindlichkeit und ihre Auswirkung auf die Textstruktur

2. Die Thematisierung der Reality-Fact-Fiction-Problematik im Roman des 20. Jahrhunderts 2.1

Der ,neue' Roman als Instrument der Romankritik

.

135 135 137 139 143 146 148

Namenregister

155

Sachregister

157

Meiner Frau

Vorwort

Dieser Versuch der theoretischen Grundlegung eines T e x t - und Textfunktionsbeschreibungsmodells ist nicht denkbar ohne die Herausforderungen und Anregungen aus den verschiedensten Richtungen, wie sie in den Anmerkungen zum Text dokumentiert werden. W a s kaum dokumentierbar ist, sind die Gespräche, von denen Anstöße ausgingen, die zum Plan dieser Arbeit führten und ihre Ausführung begleiteten: Meiner Frau habe ich viele kritische Anregungen zur Systematisierung des Materials und die Ausmerzung mancher Unstimmigkeiten zu danken. Vor allem aber gebührt ihr mein Dank für die praktische Ungeduld, die mich immer wieder daran zu denken zwang, daß der A u f w a n d in einem Verhältnis zu dem projektierten Ergebnis stehen sollte und kann. Den Gesprächen mit Wolf gang Wagner, der den Fortgang der Arbeit mit scharfsinniger Kritik verfolgte, verdanke ich viele Anregungen und Klarstellungen, was die Anwendbarkeit des Modells in der Lehre anlangt. Daß die Demonstrationsbeispiele zum allergrößten Teil aus englischsprachigen Texten bestehen, hängt mit der Tatsache zusammen, d a ß der Verfasser sich als Anglist in anderen Literaturen weniger zu Hause fühlt. Die Beispiele aber wurden in den allermeisten Fällen aus dem auch einem deutschen Leser zugänglichen Repertoire englischer Texte gewählt; und für den Fall von möglichen Verständnisschwierigkeiten finden sich für alle längeren fremdsprachigen Zitate Ubersetzungen im Anmerkungsteil. Da wo publizierte Ubersetzungen zur Verfügung standen und greifbar waren, wurde von ihnen Gebrauch gemacht. In den wenigen anderen Fällen, die auch als solche kenntlich gemacht sind, handelt es sich um Übersetzungen des Verfassers. Die Arbeit ist im wesentlichen das Ergebnis eines Forschungsfreisemesters im Sommer 1973. Das Manuskript wurde im Frühjahr 1975 abgeschlossen. Für seine höchst sachkundige Betreuung in allen Stadien bin ich zu größtem Dank Frau Carola Lang und Frau Ilse Scholz verpflichtet. Tübingen, im Juni 1975.

L. F.

Einleitung

Die Erstellung von Theorien und Modellen' diente in der Geschichte der Literaturwissenschaft zumeist dem Zweck einer für wünschenswert gehaltenen Abgrenzung von den Nachbardisziplinen. Mit dem hier vorgelegten Modell einer funktionalstrukturalistischen T e x t - und Textfunktionsbeschreibung jedoch wird ein Gegenweg eingeschlagen, der allerdings nicht als ein Weg in das geistige Niemandsland zurück gedacht ist, in dem Roman J a k o b s o n die verschiedensten Wissenschaften sich unkoordiniert tummeln sah, sondern als ein Weg, der zu einer gezielten Zusammenarbeit von verschiedenen Disziplinen im Rahmen eines Beschreibungsmodells führen kann, dessen Gegenstand nicht die Struktur von Texten allein und für sich genommen ist, sondern vielmehr das Verhältnis von Textstruktur und Textfunktion. Die nachfolgende Darstellung des aus dieser Fragestellung entwickelten Modells läßt deutlich werden, wo die spezifischen Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen zu suchen sind. An dieser Stelle kann es sich nur darum handeln, den hauptsächlichsten Anregungen nachzugehen, die zur Entwicklung des Modells führten. Das Festhalten am Begriff der Struktur und des Strukturalismus läßt evident werden, in welchem Maße das durch ein >strukturales Denkenim Sinn< hat, und der Vorstellung, die er sich von der Wirklichkeitsvorstellung seiner Leser macht. In diesem k o m m u nikativen Raum zwischen A u t o r und Leser hat der T e x t als Instrument selbst eine Funktion, welche - j e nach Intention - von einer Konservierung bis zur Umstrukturierung der leserseitig a n g e n o m m e n e n Modellvorstellungen reichen kann. So gesehen markiert jeder T e x t ein spezifisches Stadium im historischen Prozess der Umstrukturierung von Wirklichkeitsmodellen, und dieser Umstrukturierungsprozess wird gleichzeitig mittels T e x t e n gesteuert. W e n n es darum geht, die Richtungen zu nennen, aus denen die Anregungen zu einem funktionalistischen Beschreibungsmodell kamen, so machen die Ausführungen des ersten Kapitels deutlich, d a ß die Auseinandersetzung mit einer objektivistischen W e r k ä s t h e t i k die funktionalistische Denkweise förderte. Die stärksten Impulse j e d o c h gingen primär von der Semiotik 3 und zum anderen von den Schriften eines Kreises von Literaturwissenschaftlern aus, den m a n als K o n s t a n z e r Schule 4 bezeichnen könnte und welcher durch die Einbeziehung der K o m p o n e n t e >Leser< in einer wissenschaftlich nachweisbaren F o r m die W e r k ä s t h e t i k in Richtung auf wirkungsästhetische Fragestellungen entgrenzte. W e l c h e Möglichkeiten der differenzierten Analyse eröffnet werden, wenn die objektivistische Isolierung des Untersuchungsgegenstandes überwunden werden kann, wurde dem V e r f a s s e r zudem an zwei gleichsam >fachfremden< Untersuchungen deutlich: In den im Bereich der V e r h a l t e n s f o r s c h u n g vorgen o m m e n e n Untersuchungen der Mimikry bei Tieren, wie sie W o l f g a n g W i c k ler in seinem Buch Mimikry

- Nachahmung

und Täuschung

in der

Natur

vorstellt, wurden die heterogenen E i n z e l b e o b a c h t u n g e n nur dadurch funktional a u f e i n a n d e r beziehbar, d a ß das >Kommunikationssystem zwischen V o r bild und Signalempfänger< s als Erklärungsmodell herangezogen wurde. Ä h n lich produktiv wie dieser funktionalistische Ansatz in der V e r h a l t e n s f o r schung hat sich in der Soziologie Dahrendorfs 6 Definition der sozialen Rolle als ein K o m p l e x von Verhaltenserwartung r e/i ausgewirkt. Das Erstaunliche ist, d a ß solche in anderen W i s s e n s c h a f t e n längst bewährte Erklärungsmodelle in die L i t e r a t u r - und Sprachwissenschaft erst mit V e r s p ä t u n g E i n g a n g finden, obwohl S p r a c h e nicht gut als etwas anderes als ein K o m m u n i k a t i o n s 3 Cf. Kap. II, Anm. 1. ' Cf. Kap. I, Anm. 15, 22, 30; Kap. IV, Anm. 1; und Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation (Frankfurt, 1970). 5 (Frankfurt, 1973), 228. * Cf. Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus - Ein Versuch zur Geschichte und Kritik der sozialen Rolle (Köln, Opladen, 5 1965); cf. dazu Kap. IV, Anm. 4.

X

mittel d e n k b a r ist. Auf mögliche H i n t e r g r ü n d e f ü r dieses verspätete W i r k s a m w e r d e n f u n k t i o n a l i s t i s c h e r A n s c h a u u n g e n in diesen W i s s e n s c h a f t e n wird im ersten K a p i t e l u n t e r wissenschaftsgeschichtlichen A s p e k t e n kurz einzugehen sein. Soweit einem L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l e r d a s Gebiet u n d die W e g e d e r N a c h b a r w i s s e n s c h a f t der Linguistik noch e i n s e h b a r geblieben sind, scheint sich die Z u w e n d u n g zu f u n k t i o n a l i s t i s c h e n M o d e l l e n in d e r Textlinguistik etwa zur selben Zeit wie in d e r L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t zu vollziehen.' M a n k a n n sich allerdings trotz d e r Bekenntnisse zu k o m m u n i k a t i o n s t h e o r e t i s c h e n Fragestellungen nicht des E i n d r u c k s e r w e h r e n , d a ß a u c h die Textlinguistik wied e r u m eine ahistorische Universaltheorie vom T e x t ansteuert. D a s k a n n ein I r r t u m sein, d e r möglicherweise sowohl der terminologischen Verschlüssel u n g des G e m e i n t e n als a u c h d e m D r a n g nach h ö c h s t m ö g l i c h e r Formalisierb a r k e i t zuzuschreiben ist. I m m e r h i n bleibt e r k e n n b a r , d a ß sich die H i n w e n d u n g zu f u n k t i o n a l i s t i s c h e n E r k l ä r u n g s m o d e l l e n mit einer gewissen Parallelität abspielt. D a m i t k ö n n t e auf d e m Boden einer g e m e i n s a m e n theoretischen G r u n d l a g e d a s N e b e n e i n a n d e r zweier N a c h b a r d i s z i p l i n e n zumindest p u n k t u e l l auf eine gezielte K o o p e r a t i o n hin ausgerichtet werden. W a s den g e g e n w ä r t i g e n Z u s t a n d a n l a n g t , bleibt n e b e n dieser theoretischen Möglichkeit allerdings d e r M a n g e l a n p r a k t i s c h e r Z u s a m m e n a r b e i t u n ü b e r s e h b a r : Die g e m e i n s a m e O r i e n t i e r u n g a n d e r Semiotik u n d der K o m m u n i k a t i o n s w i s s e n s c h a f t h a t z w a r B e m ü h u n g e n gezeitigt, die in die gleiche R i c h t u n g tendieren, a b e r keine K o n z e r t i e r u n g d e r A n s t r e n g u n g e n . So bleibt trotz aller gem e i n s a m e n G r u n d l a g e n t h e o r i e n g e g e n w ä r t i g noch ein u n ü b e r s e h b a r e r H i a tus zwischen linguistischer u n d literaturwissenschaftlicher T e x t t h e o r i e festzustellen. D a ß dieser H i a t u s auf G r u n d d e r verschiedenen Interessenlagen u n d Zielvorstellungen nicht a u f h e b b a r ist, versteht sich von selbst, d e n n von einer linguistischen T e x t w i s s e n s c h a f t f o r d e r n zu wollen, d a ß sie sich a u c h mit d e r F r a g e d e r U m s t r u k t u r i e r u n g von W i r k l i c h k e i t s a n s c h a u u n g e n d u r c h Texte u n d mit d e r d a m i t e n g z u s a m m e n h ä n g e n d e n F r a g e n a c h d e n moralistschen V e r f a h r e n d e r V o r s t e l l u n g s - u n d W e r t u r t e i l s l e n k u n g befasse, hieße die Möglichkeiten v o n Einzelwissenschaftlern wie a u c h die von wissenschaftlic h e n T e a m s utopisch ü b e r s c h ä t z e n . Im Bereich des M ö g l i c h e n a b e r steht die K o o r d i n a t i o n der A n s t r e n g u n g e n in d e n verschiedenen W i s s e n s c h a f t e n , die sich mit d e n M e n s c h e n , ihren Ä u ß e r u n g e n , ihrer V e r s t ä n d i g u n g u n d ihren Verständnisschwierigkeiten b e s c h ä f t i g e n , auf d e m Boden einer g e m e i n s a m e n T h e o r i e v o n menschlicher >Kultur als Kommunikation*.*

' Cf. dazu W. Dressler und S. J. Schmidt, eds., Textlinguistik - Kommentierte Bibliographie (München, 1973); S. J. Schmidt, Texttheorie Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation (München, 1973); Dieter Breuer, Einführung in die pragmatische Texttheorie (München, 1974); Wolfgang Dressler, Einführung in die Textlinguistik (Tübingen, 21974). " Cf. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik (München, 1972).

XI

Teil I: Wissenschaftsgeschichte und Modellbildung

Kap. I : Formalismus, Strukturalismus, Funktionalismus

1.

Objektivistische Ansätze

Es ist unabdingbar, daß eine kritische und selbstkritische Wissenschaft in der Lage ist, Auswahl und Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes ebenso wie ihre Fragestellungen zu begründen. Wenn die Fixierung des Untersuchungsgegenstandes aber dem Bestreben entspringt, eine Wissenschaft um ihrer Autonomie willen von einer andern abzugrenzen - als ob Verselbständigung und Hermetismus Werte seien -, dann ist dies die selber wieder folgenreiche Folge eines Wissenschaftverständnisses, in dem weder Begriff noch Gespür besteht für die instrumentale Rolle oder Dienstleistungsfunktion jeglicher Wissenschaft und in dem der Autonomiegedanke höher rangiert als der einer zweckhaften Angemessenheit an den Untersuchungsgegenstand im Netz seiner Bezüge, welche die Verengung der Wissenschaft auf eine scharf abgegrenzte Disziplin unzulässig machen. Was die Linguistik und die Literaturwissenschaft anlangt, so ist das Netz der Bezüge, in denen das Wort bzw. der Text im Rahmen des Kommunikationsvorganges steht, keineswegs unerschlossen, aber die Geschichte der Literaturwissenschaft erweist, daß bei den sogenannten Einzeluntersuchungen das übergreifende Bezugssystem, wenn es bekannt ist, oft als eine quantité négligeable behandelt oder aus Gründen des Autonom- oder Originellseinwollens bewußt ignoriert worden ist. Nur so ist es zu verstehen, daß die verschiedenen Richtungen, die an verschiedenen Punkten des Bezugsnetzes arbeiten, ihren Ansatzpunkt für wesentlicher und relevanter halten als einen andern, anstatt zu einer Kooperation im Rahmen des gemeinsamen Bezugssystems zu gelangen. Es wäre ein Mißverständnis zu meinen, daß hier die Forderung aufgestellt wird, jeder einzelne Literaturwissenschaftler habe in allen seinen Forschungen jeweils die Gesamtbezüge seines Untersuchungsgegenstandes zu untersuchen. Was aber zu fordern ist, ist ein Bewußtsein, an welcher Stelle des Bezugssystems jeweils gearbeitet und geforscht wird und 3

zu welchem Zweck im Hinblick a u f d a s S y s t e m der Bezüge. Stanley E d g a r H y m a n 1 hat mit seiner K a r i k a t u r des >Ideal Criticdritte< Alternative g ä b e , durch welche eine z w e c k h a f t e Koordination

der E i n z e l f o r s c h u n g e n zu gewährlei-

sten ist. Wenn i m m e r diese >dritte Alternative< übersehen oder überlegt verworfen wird, manövriert sich die L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t in ein heikles D i l e m m a : Sie spaltet sich in diskrete Disziplinen, die sich in ihrer A u t o n o m i e selbst als Literaturwissenschaft b e g r e i f e n und darstellen; historisch gesehen führt dieses an einem G e s a m t k o n z e p t nicht relativierte Selbstwertbewußtsein der sich als W i s s e n s c h a f t verstehenden

Disziplinen

zu reaktiven

Haltungen,

zu

Frontstellungen der Formalisten g e g e n ü b e r den Positivisten, der M o r p h o l o gen g e g e n ü b e r den Geistesgeschichtlern etc. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen ist die schärfste und folgenreichste K o n f r o n t a t i o n zu registrieren, als der in Rußland begründete, 2 in P r a g 3 revidierte, etwa gleichzeitig in den U S A " sich a u s p r ä g e n d e und von dort mit einiger Phasenverschiebung a u f die europäischen

Literaturwissenschaften

zurückwirkende >Formalismus< sich zum Ziel setzte, der in der traditionellen L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t v o r h e r r s c h e n d e n m e t h o d o l o g i s c h e n V e r w i r r u n g ein E n d e zu bereiten und die L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t a l s ein g e s o n d e r t e s und integriertes Feld geistiger B e t ä t i g u n g zu systematisieren. E s sei h ö c h s t e Zeit, meinten die F o r m a l i s t e n , d a ß die L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t , die so l a n g e ein geistiges N i e m a n d s l a n d war, endlich ihr G e b i e t b e g r e n z e u n d u n z w e i d e u t i g ihren

For-

schungsbestand bestimme.5 C f . S t a n l e y E d g a r H y m a n , The Armed Vision - A study in the m e t h o d s o f m o d e r n literary criticism (N. Y., 1 9 4 8 ; rev. ed. 1955), 3 8 6 f f . ' C f . V i c t o r Erlich, Russischer Formalismus, übers, von M a r l e n e L o h n e r ( M ü n c h e n , 1964); F r e d e r i c J a m e s o n , The Prison-House of Language - A Criticai A c c o u n t of S t r u c t u r a l i s m a n d R u s s i a n F o r m a l i s m (Princeton, N. Y., 1972); E i d e r O l s o n / K e n neth B u r k e / E l i s e o V i v a s / J o h n C r o w e R a n s o m , Über Formalismus - Diskussion eines ä s t h e t i s c h e n B e g r i f f s , übers, von M e c h t h i l d und A r n i m Paul F r a n k ( F r a n k f u r t , 1966). 1

3

4

5

4

C f . R e n é Wellek, >The L i t e r a r y T h e o r y a n d Aesthetics of the P r a g u e SchoolNew Criticism< und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft - G e s c h i c h t e u n d K r i t i k neuer I n t e r p r e t a t i o n s m e t h o d e n ( H a l l e , 1 9 6 2 ; M ü n c h e n , 2 1 9 7 4 ) ; Ulrich H a l f m a n n , Der amerikanische >New Criticismi - Ein Ü b e r b l i c k ü b e r seine geistesgeschichtlichen u n d d i c h t u n g s t h e o r e t i s c h e n G r u n d l a gen, mit einer a u s f ü r h l i c h e n B i b l i o g r a p h i e ( F r a n k f u r t , 1971); E. M . T h o m p s o n , Russian Formalism and Anglo-American New Criticism ( M o u t o n , 1971). Erlich, op. cit., 190.

E s ist unwiderlegbar, d a ß vor den Formalisten die verschiedensten Disziplinen ihre Fragestellungen a n die Literatur anlegten: A b e r nicht d a ß sie es taten, ist ihnen vorzuwerfen, sondern d a ß sie es taten mit d e m Absolutheitsanspruch, allein durch ihre Fragestellungen den literarischen G e g e n s t a n d erf a ß t zu haben, d a ß sie es taten ohne Berücksichtigung des k o m p l e x e n Netzes der Bezüge, in denen der literarische T e x t steht. In dieser Hinsicht hat auch der F o r m a l i s m u s den v o r a u s g e h e n d e n Partikularismus nicht überwunden, sondern ihn weitergetragen. D e r m e t h o d o l o g i s c h e n Verwirrung*, von der Victor Erlich spricht, wurde zwar in der formalistischen Schule ein E n d e bereitet, a b e r nicht durch die Entwirrung der Verwirrung und die kritische K o o r d i n a t i o n der psychologischen, soziologischen, biographischen, etc., Ansätze in einem K o o p e r a t i o n s m o d e l l einer allgemeinen

als Wissenschaft

vom Text und seiner Funktion,

Literaturwissenschaft

sondern durch d a s puristi-

sche Dekret, daß diese A n s ä t z e nicht in den Bereich der Literaturwissens c h a f t gehören. Aus der G r u n d s a t z e n t s c h e i d u n g , d a ß in A n a l o g i e zur bildenden

Kunst,

zur

Musik

und

zur C h o r e o g r a p h i e , welche

>selbstwertiges

Material< formen, schöpferische Literatur sich auszeichne durch die »Form u n g des selbstwertigen, selbstmächtigen Wortes< resultiert die Reduktion der Methodenvielfalt und die spezifisch formalistische E i n g r e n z u n g des Untersuchungsgegenstandes : S o m i t ist der G e g e n s t a n d der L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t nicht die L i t e r a t u r , s o n d e r n die

Literarizität,

d. h. d a s j e n i g e , w a s d a s v o r l i e g e n d e Werk z u m literarischen W e r k

macht. D o c h gleichen die Literaturhistoriker b i s l a n g meist einer Polizei, die eine b e s t i m m t e Person v e r h a f t e n will und zu d i e s e m Z w e c k f ü r alle F ä l l e alles und jeden, w a s sich nur in der W o h n u n g a n f i n d e t , s a m t d e n unbeteiligten P a s s a n t e n auf der S t r a ß e m i t n i m m t . S o k a m denn a u c h den Literaturhistorikern alles z u p a ß - S o z i a les, P s y c h o l o g i e , Politik, Philosophie. S t a t t einer L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t k a m ein K o n g l o m e r a t von h a u s b a c k e n e n Disziplinen z u s t a n d e . M a n v e r g a ß g e w i s s e r m a ß e n , d a ß diese G e b i e t e jeweils zu e n t s p r e c h e n d e n W i s s e n s c h a f t e n g e h ö r e n - zur Philosophiegeschichte, K u l t u r g e s c h i c h t e , P s y c h o l o g i e usw., und d a ß diese natürlicherweise a u c h literarische D e n k m ä l e r a l s d e f e k t e und z w e i t r a n g i g e D o k u m e n t e verwenden können. W e n n a b e r die L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t eine W i s s e n s c h a f t werden will, ist sie g e n ö t i g t , d a s >Verfahren< a l s ihren einzigen >Helden< zu akzeptieren."

Hier wird unmißverständlich klar, d a ß die A b g r e n z u n g des Untersuchungsg e g e n s t a n d e s p r i m ä r motiviert ist durch die zwar a u s der historischen Situation erklärbare, a b e r a n s o n s t irrationale Setzung v o m Eigenwert einer aut o n o m e n Wissenschaft. Zu »unterscheidenden Merkmalen* 7 und zur >Literariö

R o m a n J a k o b s o n , >Die neueste russische Poesie. Erster E n t w u r f . V i c t o r ChlebnikovVerfahren< cf. V i k t o r S k l o v s k i j , >Die K u n s t a l s V e r f a h r e n s ibid., B d . I, 3 - 3 5 .

' B o r i s E i c h e n b a u m , Literatura 190.

( L e n i n g r a d , 1927), 121; zitiert n a c h Erlich, op.

cit.,

5

zität< wurden die Untersuchungsgegenstände erklärt, welche die Autonomiebestrebungen der Wissenschaftler scheinbar legitimierten. Die Ironie dieses Verfahrens besteht darin, daß daraus keine neue Literaturwissenschaft mit einem eigenen Methodenbewußtsein entstand, sondern eine Dichtungswissenschaft, die sich zur Literaturwissenschaft erklärte. Die interne Bereinigung der Vielfalt von Gegenständen und Methoden durch den Ausschluß der nichtliterarischen Gegenstände und Methoden besaß keine integrierende Kraft, sondern trug zu einer Verschärfung der Gegensätze zwischen den Formalisten und den anderen Forschungsdisziplinen bei. Die Verengung des Blickwinkels auf die Konstitution

des Werkes selbst, die in den vorausgehen-

den Phasen der Literaturwissenschaft ganz sicher nicht im Mittelpunkt der Überlegungen und Forschungen gestanden hatte, hat sich - wenn man die Auswirkungen des Formalismus auf den amerikanischen New Criticism hinzunimmt - als höchst produktiv erwiesen, was die Verfeinerung des Instrumentariums zur Werkanalyse anlangt. Die Beschränkung aber auf die Werke der literaturhaften Literatur hat die Reflexion über die Grundlagen einer allgemeinen

Literaturwissenschaft

lange Zeit blockiert, und die Faszination,

welche die Erforschung der unterscheidenden Merkmale ausübte, hat den Blick für die allgemeinen semiotischen Grundlagen und Prämissen getrübt, die der Analyse der verschiedensten Textsorten gemeinsam sein können. Abgesehen davon, daß die formalistische Vorentscheidung für das literarische Kunstwerk als Untersuchungsgegenstand in sich höchst problematisch ist, da ja die Auswahl des zu untersuchenden Werkes schon das allgemeine Wissen oder die Intuition voraussetzt, daß der gewählte Gegenstand nicht nur Literatur, sondern schöpferische Literatur< im Sinne von Kunst sei - und woher weiß man das? - , erhielt nun der sicher neue Gedanke, daß der Kunstcharak\

ter eines Werkes begründet liege in «einer Form zum erstenmal eine pseudowissenschaftliche Legitimation, pseudowissenschaftlich deshalb, weil die Setzungen, die die Formalisten

hinsichtlich der

Untersuchungsgegenstände

machten, keine gegenstandsorientierte wissenschaftliche Begründung erfuhren, sondern höchstens wissenschaftsgeschichtlich erklärbar sind aus den Bestrebungen, >endlich< eine autonome Wissenschaft zu etablieren. So definierten die Formalisten ihre Untersuchungsgegenstände aus ihrem Wissenschaftsbegriff heraus, statt daß sich der Wissenschaftsbegriff und das Selbstverständnis der >Literaturschöne< Literatur berücksichtigenden Literaturauffassung ableitete. Aus diesem Sachverhalt ergeben sich gleichsam wissenschaftspolitische Konsequenzen, die vom wissenschaftsorientierten Standpunkt der Formalisten höchst logisch sind, die aber vom Standpunkt einer allgemeinen Literaturwissenschaft, in der es um den T e x t im Netz seiner Bezüge geht, jeglicher Logik entbehren.

6

Der formalistische Ansatz f ü h r t dazu, d a ß eine quer durch den Gesamtkomplex >Literatur< verlaufende Grenzziehung, die allenfalls das zu begründende Ergebnis einer allgemeinen Literaturwissenschaft sein könnte, vorgenommen wird zwischen der Literatur als Kunst, als einem hohen und hehren Wirklichkeitsbereich, zu dessen Analyse zudem noch eine a u t o n o m e Wissenschaft zur V e r f ü g u n g steht, und den nichtkünstlerischen »Gebrauchsgegenständen* literarischer Aktivität, um die sieh - da »geistiges Niemandsland« - höchstens die anderen Wissenschaften bemühen. Es wird hier keinesfalls geleugnet, d a ß es zwischen einem Zeitungstext und einem Gedichttext »unterscheidende Merkmale* gibt, aber vom Standpunkt einer allgemeinen Literaturwissenschaft, welche die Grundlagen zur gegenseitigen Erhellung von Textkonstitution und Textfunktion legen will, ist es verfehlt, einen Kunstbegriff mit all seinen wertend-diskriminierenden Implikationen in die Prämissen des Beschreibungsmodells a u f z u n e h m e n , aus denen d a n n Fragestellungen und Untersuchungsmethoden abgeleitet werden, zumal wenn die Abgrenzungskriterien zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Texten formal g e f a ß t werden und so das literarische Kunstwerk durch seine >Form< unterschieden gesehen wird vom Nicht-Kunstwerk. Die Klassifizierung von >Textsorten< kann allenfalls Untersuchungsergebnis einer praktischen allgemeinen Literaturwissenschaft sein, nicht aber ihre Prämisse. W e n n - wie es im Formalismus geschehen ist - die Kriterien des literarischen Kunstwerkes als pure und unhinterfragte Setzungen in die Argumentations-Prämissen a u f g e n o m m e n werden, dann ergibt sich daraus eine Aufspaltung der Literatur in zwei große Textklassen, die unter dem Aspekt ihrer Funktion definiert werden: Die Poesie, die nichts anderes als eine Ä u ß e r u n g mit Ausiichtung auf den Ausdruck ist, [richtet sich] sozusagen nach i m m a n e n t e n Gesetzen; die k o m m u n i k a t i v e Funktion, die sowohl der praktischen als auch der emotionalen Sprache z u k o m m t , wird hier auf ein M i n i m u m reduziert . . . s W o d u r c h manifestiert sich Poetizität? Dadurch, d a ß das W o r t als W o r t und nicht bloß als Repräsentant des benannten O b jektes oder als G e f ü h l s a u s b r u c h e m p f u n d e n wird. D a d u r c h d a ß die W ö r t e r und ihre Z u s a m m e n s e t z u n g , ihre Bedeutung, ihre ä u ß e r e und innere Form nicht nur ind i f f e r e n t e r Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen W e r t erlangen. 9

Es würde der formalistischen Logik widersprechen, wenn nicht im Gefolge solcher Setzungen die Aufspaltung der Zeichenfunktion in eine »ästhetische und eine mitteilende Funktion* 10 geschähe und das Kunstwerk im Unter" J a k o b s o n , op. cit., 31. ° J a k o b s o n , »Was ist Poesie?;, op. cit., 415. 10 J a n Mukarovsky, Kapitel aus der Ästhetik

( F r a n k f u r t , 1970), 21.

7

s c h i e d zur a u ß e r ä s t h e t i s c h e n L i t e r a t u r , w o d a s W o r t >mitteilende F u n k t i o n « b e s i t z t , d e f i n i e r t w i r d als >Ausdruck u m s e i n e r s e l b s t w i l l e n < " : Einige Künste bilden ein Glied in einer kontinuierlichen Reihe, in der sich auch außerkünstlerische, ja außerästhetische Erscheinungen befinden. Als Beispiel wurde die Architektur genannt; eine durchaus ähnliche Stellung hat die Literatur inne. In der Architektur konkurrieren mit der ästhetischen Funktion auch praktische (z. B. Schutz vor Veränderungen der Witterung usf.), in der Literatur wetteifern mit ihr die mitteilenden Funktionen. Es gibt eine ganze Kategorie von sprachlichen Äußerungen, die auf der Grenzlinie zwischen Mitteilung und Kunst liegen, nämlich die Rhetorik. Das eigentliche Ziel der Rhetorik, besonders in ihren typischsten Produkten, z. B. der politischen und der kirchlichen Eloquenz, ist es, auf die Uberzeugung der Zuhörer einzuwirken . . . Ein ähnliches Schwanken zwischen Dichtung und Mitteilung charakterisiert auch den Essay . . . Im übrigen wird die Grenzlinie zwischen Versdichtung und der Kunstprosa bis zu einem gewissen M a ß e durch den stärkeren Anteil der mitteilenden Funktion, also einer außerästhetischen, in der Prosa im Gegensatz zur Versdichtung bestimmt. - Aber auch in anderen Kunstgattungen ist die Dominanz der ästhetischen Funktion nicht vollkommen Das Drama oszilliert zwischen Kunst und Propaganda." Nachdem

die

idealtypische

Antithese

von

ästhetischer und

mitteilender

F u n k t i o n a u f g e s t e l l t w o r d e n ist, b l e i b t i m H i n b l i c k a u f die h i s t o r i s c h e n T e x t e n i c h t s a n d e r e s ü b r i g , als sie zu M i s c h f o r m e n zu e r k l ä r e n , in d e n e n zwei F u n k t i o n e n m i t e i n a n d e r k o n k u r r i e r e n « o d e r >wetteifern< o d e r z w i s c h e n D i c h t u n g u n d M i t t e i l u n g , z w i s c h e n K u n s t u n d P r o p a g a n d a >schwanken< und >oszillierenLesehypothese< des R e z i p i e n t e n l i e g e n , w e n n e i n > W o r t als W o r t . . . u n d n i c h t b l o ß als R e p r ä s e n t a n t des b e n a n n t e n O b j e k t s « g e n o m m e n wird. G e n a u diesen S a c h v e r h a l t d e r L e s e h y p o t h e s e h a b e n die F o r m a l i s t e n in i h r e m A n s c h a u u n g s s y s t e m n i c h t m i t r e f l e k t i e r t , s o n d e r n sie h a b e n ihre p e r s p e k t i v i s c h e u n d - wie o b e n g e z e i g t w u r d e - w i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t l i c h b e d i n g t e >Ansicht< v o m Ä s t h e t i s c h e n z u r S u b s t a n z d e r K u n s t s e l b e r e r k l ä r t .

" Ibid., 20.

8

Die O n t o l o g i s i e r u n g dieser >Ansicht< trägt der T a t s a c h e keine Rechnung, d a ß neben der A u s s a g e >Kunst ist A u s d r u c k u m seiner selbst willen< eine A l t e r n a t i v a u s s a g e möglich ist: >Der Interpret behandelt einen T e x t als Ausdruck u m seiner selbst willen, weil er die durch den T e x t erzeugte Illusion von der Autoreflexivität nicht erkennt.< Durch diese A u s s a g e wird die mögliche L e s e h y p o t h e s e in die Kritik der G r u n d l a g e n einer W i s s e n s c h a f t mit einbezogen und die B e d i n g u n g e n einer T e x t d e u t i i n g werden selbst z u m integralen Bestandteil der D e u t u n g . V o r allem wird es auf d e m B o d e n der zweiten, weiteren und skeptischeren Sehweise und Ansicht möglich, die ontologisierte A u s s a g e über den K u n s t w e r k c h a r a k t e r zu-überprüfen. R o m a n J a k o b s o n deutet - im Unterschied zu M u k a f o v s k y - dieses Problem der L e s e h y p o t h e s e an, wenn er zunächst den W a h r n e h m u n g s f a k t o r mit einbezieht, d a n n a b e r völlig unskeptisch d a s als Wort empfundene

Wort zum besonderen M e r k m a l f ü r

D i c h t u n g selbst erklärt. S o bleibt a u c h bei J a k o b s o n die formalistische T h e s e v o m Zeichen bestehen, d a s in der K u n s t s p r a c h e seine Funktion, auf etwas jenseits seiner selbst zu verweisen, a u f g i b t und statt dessen a u f sich selbst als ein a u t o n o m e s >Ding< verweist. Die These, auf der der F o r m a l i s m u s eine L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t zu begründen versuchte, wird durch die e i n f a c h e F r a g e problematisch, o b die Autonomie und S e l b s t g e n ü g s a m k e i t des künstlerisch verwendeten Zeichens nicht vielleicht daher rühren kann, d a ß der Interpret es als solches w a h r n i m m t oder w a h r n e h m e n will, o b es z u m a u t o n o m e n Zeichen nicht d a d u r c h wird, d a ß der Interpret die Verweisungen des Zeichens nicht erkennt oder erkennen will. D e n W e g , diese Verweisungen zu erkennen, haben sich die F o r m a listen zum großen Teil selbst abgeschnitten, als sie d a s Wort im T e x t nicht mehr in Relation zu einem Sprecher oder Schreiber setzten. Führt m a n diese - auf einfachen empirischen B e o b a c h t u n g e n beruhende und nicht wegzudiskutierende - Relation wieder in die B e t r a c h t u n g ein, d a n n wird jedes W o r t in einem T e x t v e r b a n d zurückverweisen auf den, der es a u s der Fülle des lexikalischen A n g e b o t e s a u s g e w ä h l t hat, und wird die in einem T e x t auftretende K o m b i n a t i o n mit anderen Wörtern eine spezifische Welthaltung bezeichnen, a u c h wenn dies in h o c h g r a d i g e r Verschlüsselung und Indirektheit erfolgt. Selbst eine extrem sinnentleerte und im symbolistischen Sinne >musikalisierte< Dichtung hat Verweisungscharakter, denn diese D i c h t u n g stellt historisch gesehen - eine Reaktion auf a n d e r e historische Erscheinungsf o r m e n v o n Dichtung d a r und wird somit nur »verständlich*, wenn sie nicht als a u t o n o m e Insel und E x k l a v e im Fluß der Geschichte betrachtet wird, sondern - f u n k t i o n a l - als eben ein Teil dieser Geschichte: Wenn diese Einsicht akzeptiert wird, d a n n besteht kein Zweifel d a r a n , d a ß mit der s o g e n a n n ten Sinnentleerung e t w a der symbolistischen D i c h t u n g ein A b l ö s u n g s p r o z e s s von der >sinnhaften< D i c h t u n g einhergeht und d a ß in j e d e m symbolistischen Gedicht d a s Zeichenmaterial in h o c h g r a d i g e r Verschlüsselung a u f die kon-

9

krete Folie verweist, von der es sich ablöst und damit auf seine historische Bedingtheit, d. h. auf die besondere Welthaltung seines Schöpfers. Als ein historisches Gebilde und damit funktional aufgefaßt, verweist auch das sinnentleerte Gedicht über sich hinaus; oder anders gewendet: Es ist eine Metapher für seine spezifische Geschichtlichkeit.

2.

Funktionalistische Textauffassung

Der funktionale Strukturalismus, dessen Grundzüge ip der Folge zu entwikkeln sind, setzt der ahistorischen Lesehypothese und der sich daraus ergebenden ahistorischen Kunstwerkästhetik die empirisch verifizierbare Einsicht entgegen, daß jeder Akt der Setzung eines Zeichens historisch ist, daß somit jedes Zeichen - wie indirekt und verschlüsselt auch immer - auf die geschichtliche Situation seiner Setzung verweist und somit als ein Teil eines geistes- und literaturgeschichtlichen Prozesses Mitteilungscharakter besitzt. Auf dem Boden dieses funktional-strukturalistischen Ansatzes ist den Verfechtern einer Betrachtungsweise, in der die Kunst als autonomer autoreflexiver Wirklichkeitsbereich erscheint, zu bedenken zu geben, daß der Eindruck durch eine Literatur geschaffen wird, in welcher die Illusion der Autoreflexivität erzeugt wird, daß also die Autoreflexivität des Wortes teil einer literarischen Fiktion ist. Wenn dieses Moment der Illusion und Fiktion als Möglichkeit erkannt ist, kann sich eine Literaturwissenschaft nicht mehr auf eine Kunstontologie zurückziehen, sondern sie muß nach den historischen Bedingungen der Tatsache fragen, warum etwa im frühen englischen Roman die Illusion der verifizierbaren Mitteilung und in der symbolistischen Dichtung die Illusion der Autoreflexivität intendiert wird. Nur der letzteren Kunstcharakter zuschreiben zu wollen, wäre völlig unbegründbar. Wenn dieses Phänomen der Illusionsstiftung ernsthaft in die Betrachtung mit einbezogen wird, dann muß die Fiktion vom Wort als Wort, vom autonomen Wort, vom autoreflexiven Zeichen und damit von der ästhetischen Funktion und dem Ausdruck um seiner selbst willen fallen gelassen werden, denn dann dient in einer ganz spezifischen Dichtung ein Zeichen oder Zeichenkomplex dazu, die Illusion seiner Autonomie als Vorstellung im Leser zu erzeugen, aber es behält trotz allem immer noch instrumentale Funktion bei: Es bezeichnet, historisch gesehen, den V e r s u c h t e Illusion zu stiften, daß die kommunikative Funktion der Sprache aufhebbar sei. Daraus ergibt sich für die allgemeine Literaturwissenschaft die Aufgabe, diese Zeichenkomplexe nicht als autonom und autoreflexiv zu behandeln, sondern sie aufzufassen als hochgradige Verschlüsselungen, als metaphorisch uneigentliche Darstellung des Versuchs, die kommunikative Funktion von Sprache zu reduzieren oder aufzuheben. Wenn dies richtig ist, dann folgert daraus nicht, daß Zei10

chen ihres medialen und instrumentalen C h a r a k t e r s verlustig gehen und aut o n o m würden, sondern vielmehr, d a ß sie geistige Prozesse bezeichnen, die sich in der Literatur manifestieren. W e n n dies richtig ist, dann dürfen die formal-stilistischen P h ä n o m e n e nicht mehr als eigenwertig und a u t o n o m behandelt werden, sondern in ihrem medialen und instrumentalen C h a r a k t e r , unter dem Aspekt ihrer thematischen und strategischen Funktion der Erzeugung von Vorstellungen. D a n n erhebt sich auch die ideen- und literaturgeschichtlich relevante Frage, in welchem historischen Nexus das T h e m a der Überwindung der kommunikativen Funktion der S p r a c h e literarisch produktiv wird und welche psychologischen und ideologischen Faktoren als M o t o ren einer solchen Bewegung dienen, denn es ist in der Literaturgeschichte unübersehbar, d a ß die Fiktion von der A u f h e b u n g der Bezeichnungsfunktion des W o r t e s an historische >Orte< gebunden und nicht allenthalben in der Literaturgeschichte produktiv ist. Genau so unübersehbar ist es, d a ß die formalistische Dichtungswissenschaft sich zu genau derselben Zeit ausbildete, wie die futuristische Poetik mit den B e g r i f f e n vom >selbstwertigen Wort< und von der >Befreiung der phonischen Energie< in der Dichtung operierte. 1 2 Die Geschichte des F o r m a l i s m u s ' 3 zeigt, d a ß er sich aus seiner futuristischen O r t h o d o x i e und S t a r r e löste. Grund d a f ü r war ein durch die Husserlsche P h ä n o m e n o l o g i e beeinflußtes neues Wortverständnis.' In dem M a ß e , wie die >Bedeutung< eines W o r t e s als innersprachliche Realität, die vom K l a n g p h ä n o m e n W o r t nicht a b lösbar ist, verstanden und unterschieden wurde vom extrasprachlichen >GegenstandVerfremdung< rein formalistisch und nur unter dem Aspekt der s e m a n t i s c h e n Verschiebung« behandelt wird, nicht aber nach der dahinter anzusetzenden

Wirkintention:

Daß . . . die >Verfremdung< zu einem Vehikel sozialer Kritik wurde, jener typisch Tolstojschen Ablehnung der Zivilisation zugunsten der >NaturZur formalistischen Theorie der poetischen Sprache«, Einleitung zu Texte der russischen Formalisten, Bd. II, op. cit., X I . " Cf. Erlich, op. cit., 1 7 - 1 8 6 . Ibid.,

196; cf. dazu Sklovskij, >Die Kunst als Verfahren«, op. cit., 3 - 3 5 . 1 1

D a s formalistische Vorurteil, d a ß d a s Ästhetische in seiner Eigenwertigkeit nie H a n d l a n g e r der K o m m u n i k a t i o n sein könne, hinderte einen Kritiker wie Sklovskij d a r a n , über die formalstilistische Fragestellung hinauszugehen und die konkrete F r a g e nach d e m unter U m s t ä n d e n >außerästhetischen< Zweck oder nach der Funktion eines Stilmittels zu stellen: N a c h der formalistischen D i c h t u n g s - und K u n s t a u f f a s s u n g hatte D i c h t u n g und K u n s t eigenzwecklich und a u t o n o m zu sein; und so muß es scheinen, d a ß die bloße F r a g e nach d e m medialen und instrumentalen C h a r a k t e r der sogenannten K u n s t s p r a c h e , d. h. die F r a g e nach dem Stil als einem Mittel zu einem Zweck schon ein Verstoß wider den formalistischen Geist ist. Diese Hermetik wurde erst entgrenzt, als die formalistische P r ä m i s s e von der A u t o n o m i e und Zweckfreiheit der Kunst im R a h m e n einer sich an der K o m m u n i k a t i o n s w i s s e n s c h a f t orientierenden Literaturwissenschaft ihre restriktive K r a f t verlor. E i n e Untersuchung wie W o l f g a n g

ISERS

>Image und

M o n t a g e « " macht evident, wie eine Revision der formalistischen Prämissen von der Zweckfreiheit der K u n s t der Literaturwissenschaft neue Impulse zu geben v e r m a g , wenn d a s Mittel der V e r f r e m d u n g als Mittel und nicht mehr als eigenwertige stilistische F o r m untersucht wird, wenn die V e r f r e m d u n g als Mittel zur >Entautomatisierung< von durch die Literatur selber g e s c h a f f e n e n V e r f e s t i g u n g e n von Sehweisen und Ansichten behandelt wird. Wenn m a n im nächsten Schritt anzunehmen bereit ist, d a ß >Literatur< sich nicht nur zu beziehen braucht und auseinandersetzt mit durch sie selbst g e s c h a f f e n e n Sehweisen, Sehgewohnheiten und Ansichten, d a n n ist m a n dabei, ihren Platz im N e x u s der B e z ü g e zu erkennen und der Literaturwissenschaft neue Aufgabenstellungen im R a h m e n einer Wissenschaft

vom Menschen

zuzuweisen.

Der P r a g e r Strukturalismus, der sich aus dem o r t h o d o x e n russischen Form a l i s m u s entwickelte und durch Mittler wie Wellek und J a k o b s o n in der amerikanischen Literaturwissenschaft produktiv wurde, hat einige Schritte in diese Richtung getan, ohne dabei allerdings die formalistischen Prämissen zu revidieren und zu überdenken: Welleks formalstrukturalistische tungsweise in Theory

of Literature"

Betrach-

reflektiert immer noch die formalisti-

sche Wertantithese von ästhetisch und außerästhetisch, wenn er die methodischen A n s ä t z e und d a m i t die sich mit Literatur b e s c h ä f t i g e n d e n Disziplinen aufteilt in >extrinsic< und >intrinsicImage und M o n t a g e . Z u r B i l d k o n z e p t i o n in der i m a g i s t i s c h e n Lyrik und in T. S. Eliots W a s t e LandBedeutungskünstlerischen< Wortes insofern nach, als ein Werk in seiner Immanenz und damit losgelöst von Autor und Leser primär in seinem >ergon P r i s o n - H o u s e o f L a n g u a g e < 2 0 zu ö f f nen u n d n e b e n den t e x t i n t e r n e n F u n k t i o n e n d e r Z e i c h e n a u c h die mit e i n e m Text

als

Mittel der Vorstellungserzeugung

und Vorstellungslenkung

in-

t e n d i e r t e k o m m u n i k a t i v e F u n k t i o n zu b e s c h r e i b e n . S o p r o b l e m l o s diese Ö f f n u n g in d e r T h e o r i e e r s c h e i n e n m a g , so p r o b l e m t r ä c h t i g wird sie in d e r P r a x i s : D i e » g e s c h l o s s e n e Anstalt« des f o r m a l i s t i s c h e n D e n k e n s b i r g t in i h r e r ü b e r s c h a u b a r e n E n g e nur g e r i n g e G e f a h r e n d e r D e s o r i e n t i e r u n g . S o b a l d j e d o c h die f o r m a l i s t i s c h e H e r m e t i k g e s p r e n g t ist, sind in den den T e x t t r a n s z e n d i e r e n d e n D i m e n s i o n e n R ä u m e a u f g e t a n , in d e n e n e i n e D e s o r i e n t i e r u n g l e i c h t m ö g l i c h ist. R o l a n d B a r t h e s h a t in s e i n e m R a c i n e B u c h die sich aus e i n e m i n s t r u m e n t a l e n Z e i c h e n b e g r i f f a b l e i t b a r e n u n d ergebenden P r o b l e m e umrissen, wenn er schreibt: Pour un signe, combiens de signifiés!. . . Pour un signifiant ¡1 y a toujours plusieurs signifiés possibles: les signes sont éternellement ambigus, le déchiffrement est toujours un choix. 21 E s ist s i c h e r r i c h t i g - u n d dies gilt f ü r T e x t e als Z e i c h e n k o m b i n a t i o n e n in s t ä r k e r e m M a ß e als f ü r l e x i k a l i s c h e r u i e r b a r e E i n z e l z e i c h e n - , d a ß die V e r w e i s u n g s r i c h t u n g u n d d a m i t d a s V e r w e i s u n g s o b j e k t eines T e x t e s v e r s c h l ü s -

" Roland Barthes, Sur Racine (Paris, 1960; 1963), 157. S. o., Anm. 2. 31 Barthes, op. cit., 160: »Wieviel Bedeutetes für ein Zeichen . . . für ein Bedeutendes gibt es immer mehrere Bedeutete: die Zeichen sind immer mehrdeutig, und die Deutung ist immer eine WahlGemeinte< n a c h d e m Willen des T e x t v e r f a s s e r s angesiedelt ist. Im zweiten - u n d v o n Barthes illegitim zum N o r m a l f a l l e r k l ä r t e n - Fall bleibt es der D e u t u n g s h y p o t h e s e des Lesers u n d d a m i t seiner K o n d i t i o n i e r u n g überlassen, in welcher A n s c h a u u n g s p h ä r e er ein Z e i c h e n o b j e k t placiert: F ü r den unreflektiert f r e u d i a n i s c h konditionierten Leser wird d a s Zeichen >Zeppelin< nur eine verschlüsselte V e r w e i s u n g auf den Phallos e n t h a l t e n , w ä h r e n d die Bezugswirklichkeit des sozialkritisch konditionierten Lesers n u r eine gesellschaftliche sein wird, in der es d e r unterprivilegierten Schicht verwehrt ist, Z e p p e l i n zu f a h r e n . D a ß d a n e b e n a u c h die Vorstellung, die ein L u f t f a h r t t e c h n i k e r von einem Z e p p e l i n hat, möglich ist, sei n u r a m R a n d e e r w ä h n t . N a c h Barthes k ö n n t e es scheinen, d a ß die Frage, in welchem >Sinne< ein Z e i c h e n k o m p l e x zu verstehen sei, grundsätzlich o f f e n , d a ß die W a h l zwischen d e n Bezugssystemen, in d e n e n ein Z e i c h e n o b j e k t p l a c i e r b a r ist, völlig d e m Leser überlassen ist. Dies ist - wie Isers A b h a n d l u n g über die struktur

der Texte22

Appell-

erwiesen h a t - kein allgemeines M e r k m a l von T e x t e n ,

sondern allein von historisch b e s t i m m t e n T e x t e n : Die Unsicherheit hinsichtlich des >Gemeinten< ist ein P h ä n o m e n , d a s bei m o d e r n e n T e x t e n wesentlich d o m i n a n t e r ist als bei historischen T e x t e n u n d d a s d e s h a l b nicht verallgemeinert werden k a n n , wie es B a r t h e s tut. I m m e r h i n b e d e u t e t sein S t r u k t u r a l i s m u s einen Schritt auf eine f u n k tionalistische Betrachtungsweise v o n T e x t e n zu. A m Schritt v o m G r u n d g e d a n k e n der F u n k t i o n a l i t ä t von T e x t e n zu einer allgemeinen L i t e r a t u r t h e o rie h i n d e r t ihn n u r seine V o r e n t s c h e i d u n g , d a ß d a s G e m e i n t e n u r im Bereich des Gesellschaftlichen zu suchen sei: Ähnlich wie M u k a r o v s k y , d e r die G e gebenheit des s o g e n a n n t e n kollektiven Bewußtseins« 2 3 zur Bezugswirklichkeit erklärte, a r g u m e n t i e r t B a r t h e s mit d e m B e z u g s r a h m e n der überindividuellen I n s t i t u t i o n littéraire« 24 o d e r mit d e r >mentalité collective« 25 , im V e r h ä l t n i s zu welcher die Individualität des T e x t v e r f a s s e r s eine v e r n a c h l ä s s i g b a r e G r ö ß e sei: Autrement dit, l'histoire littéraire n'est possible que si elle se fait sociologique, si elle s'intéresse aux activités et aux institutions, non aux individus . . . Il s'agit donc d'obtenir de l'histoire littéraire, telle que nous la connaissons, une conversion radicale, analogue à celle qui a pu faire passer des chroniques royales à l'histoire proprement 22

Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte - Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa (Konstanz, 1970). 23 Mukarovsky, Kapitel aus der Ästhetik, op. cit., 37. " Cf. Barthes, op. cit., 149. " Ibid., 167. 15

dite. Compléter nos chroniques littéraires par quelques ingrédients historiques nouveaux, ici une source inédite, là une biographie renouvelée, ne servirait à rien: c'est le cadre qui doit éclater, et l'objet se convertir. Amputer la littérature de l'individu l™ An die Stelle d e r formalistischen Fiktion von der A u t o r e f l e x i v i t ä t u n d O b j e k tivität des künstlerischen T e x t e s ist hier die Fiktion von d e r gesellschaftlichen Wirklichkeit als der objektiven Bezugswirklichkeit g e t r e t e n : Es liegt ganz in der Logik dieser V o r e n t s c h e i d u n g , d a ß d e m Gesellschaftlichen als U b e r i n d i viduellem d a s M e r k m a l des O b j e k t i v e n zuzuschreiben sei, d a ß B a r t h e s f o r dert, aus d e r historischen L i t e r a t u r b e t r a c h t u n g d a s I n d i v i d u u m des A u t o r s a u s z u k l a m m e r n . A n die Stelle des individuellen Autors, d e r einen T e x t herv o r b r i n g t , tritt in diesem B e t r a c h t u n g s s y s t e m

eine n u m i n o s e

kollektive

Bezugswirklichkeit. Die E l i m i n a t i o n des individuellen A u t o r s ist bei d e m Strukturalisten Barthes a n d e r s b e g r ü n d e t als bei d e n F o r m a l i s t e n , a b e r ebenso w i r k s a m : D e r >Held< ist hier z w a r nicht d a s > V e r f a h r e n allein, sond e r n die >Helden< sind >[les] techniques, [les] règles, [les] rites et [les] mentalités collectives^" D a m i t wird die objektivistische T h e s e von der A u t o n o m i e des künstlerischen T e x t e s a u f g e g e b e n u n d eine f u n k t i o n a l i s t i s c h e B e t r a c h t u n g s weise e i n g e f ü h r t , in welcher die T e x t k o n s t i t u t i o n als F u n k t i o n einer Bezugswirklichkeit e r k l ä r b a r wird, als F u n k t i o n einer »mentalité collectives D a ß die E n t s c h e i d u n g g e r a d e f ü r das Kollektive als objektive Bezugswirklichkeit fällt, in deren R a h m e n d a s >signifiéDas U n b e w u ß t e d e s A u t o r s wird so f ü r sie [die >neuen Kritiker»] z u m Alibi ihrer P h a n t a sie: es ist eine Art U t o p i a , wo sie - o h n e zu f ü r c h t e n w i d e r s p r o c h e n zu werden die R e c h t f e r t i g u n g ihrer höchst verwirrenden D e u t u n g e n ansiedeln. D i e w u n d e r b a r e E r f i n d u n g d e s B e g r i f f e s v o m kollektiven U n b e w u ß t e n e r l a u b t es, d i e s e l b e Freiheit und I r r a t i o n a l i t ä t in die D i m e n s i o n d e r G e s c h i c h t e e i n z u f ü h r e n . . . M a n versteht s o d a n n , w a r u m die D e u t u n g e n der N e u e n K r i t i k e r so o f t d e s klaren Bewußtseins ermangeln». (Übers, v. Verf.)

18

Aus diesen Überlegungen folgert zumindest, d a ß die A u f n a h m e der hypothetischen Setzung von >objektiven S t r u k t u r e n in die Prämissen eines Beschreibungsmodells illegitim ist. Die Prämissen eines solchen Beschreibungsmodells können nicht mehr enthalten als eine empirische Zeichendefinition, die f ü r alle Texte gültig sein m u ß : Fällt in den Prämissen eine Vorentscheidung über die N a t u r des Zeichenobjektbereiches etwa in dem Sinne, d a ß Zeichen immer auf eine den Sprecher übersteigende Realität gesellschaftlicher oder tiefenpsychischer Art zurückverweisen, d a n n wird durch diese Vorentscheidung der Frage kein Raum mehr gegeben, o b das Objektive nicht Produkt und Konstrukt einer Fragestellung statt vorgegebene Wirklichkeit ist. Da solche Fragestellungen nicht ohne metaphysische Glaubenssätze entschieden werden, erscheint es einer skeptischen Wissenschaftsauffassung angemessener, diese Metaphysik nicht in die Prämissen eines empirischen Beschreibungsmodells aufzunehmen. Setzungen sind, da wo sie geschehen, zunächst und mit aller unmetaphysischen Skepsis als Setzungen und Teile eines Operationsmodells verstanden, deren Brauchbarkeit f ü r die O p e r a t i o n erst durch diese selbst erwiesen oder widerlegt werden kann. Dies steht nicht im Gegensatz zu der Aussage, d a ß solche Setzungen natürlich ableitbar sind aus einer die Literaturauffassung und Literaturwissenschaftsauffassung überdachenden spezifischen Weltanschauung, in der etwa dem Individuellen, von dem so oft im N a m e n einer Wissenschaft oder einer das Individuelle gering achtenden Politik >abgesehen< wird, eine zentrale Rolle zukommt. Der funktionale Strukturalismus steht im Gegensatz zu allen Strukturalismen, in denen überindividuellen Strukturen (psychologischer, soziologischer, ästhetischer, etc., Art) Seinscharakter zugesprochen wird und diese Strukturen abgelöst vom Individualbewußtsein, in dem sie in Erscheinung treten, als Eigenwirklichkeit behandelt werden. Zugespitzt auf das hier zu entwickelnde T e x t - und Textfunktionsbeschreibungsmodell heißt dies: Die Strukturierung eines spezifischen Textes ist nie a d ä q u a t erklärbar ohne Bezug auf das Subjekt des Autors, dessen Sehweise, Realitätsverständnis, Welthaltung und Intention, die er mit dem Text in einer spezifischen historischen Situation und mit einem bestimmten Bild vom Leser vor Augen, verfolgt. Dies schließt nicht aus, d a ß zu einer Zeit in Texten nicht ähnliche Strukturen zu registrieren sind, aber im funktionalistischen Beschreibungsmodell werden sie nicht erklärt als Manifestationen von ahistorischen Konstanten, sondern als historisch erklärbare Gleichrichtung von historischen Subjekten. Es wird nicht Zuflucht genommen zu ontologisierenden Fiktionen strukturaler Universalien, zu einer Metaphysik des Menschlichen Geistes, der Sprache, des Kunstwerkes etc., sowohl was die Prämissen des Beschreibungsmodells als auch was die Befunde der mit diesem Modell erzielten Beschreibungen betrifft.

19

W e n n trotzdem a m B e g r i f f der Struktur und des S t r u k t u r a l i s m u s festg e h a l t e n w u r d e , d a n n h a t d i e s - w i e s c h o n in d e r E i n l e i t u n g a n g e d e u t e t seinen G r u n d darin, d a ß d a s funktionalstrukturalistische A n a l y s e v e r f a h r e n o h n e d a s d u r c h ein > s t r u k t u r a l e s D e n k e n < e n t w i c k e l t e A n a l y s e v e r f a h r e n u n d A n a l y s e i n s t r u m e n t a r i u m nicht d e n k b a r wäre. F ü r die textinterne W a h l und O r g a n i s a t i o n d e r T h e m e n a l s F u n k t i o n v o n W i r k l i c h k e i t s m o d e l l e n b o t sich kein t r e f f e n d e r e r T e r m i n u s a l s d e r d e r S t r u k t u r a n , w i e w o h l d i e r a d i k a l e Historisierung des S t r u k t u r b e g r i f f e s im G e g e n s a t z z u m S t r u k t u r b e g r i f f des o b j e k t i v i s t i s c h e n S t r u k t u r a l i s m u s steht. M i t d e m E t i k e t t >funktional< w i r d verkürzt a u f diese Gegensätzlichkeit und auf die theoretischen und Zielvorstellungen des Modells hingewiesen: Strukturen

Prämissen

aufzudecken,

w e l c h e nicht a l s a h i s t o r i s c h e v e r s t a n d e n , s o n d e r n in ihrer J e w e i l i g k e i t u n d Ü b e r h o l b a r k e i t b e z i e h b a r s i n d a u f d a s h i s t o r i s c h e S u b j e k t , d a s sie in e i n e r historischen

Interaktionssituation

mit der spezifischen Intention

hervor-

b r a c h t e , S t r u k t u r e n v o n b e s t e h e n d e n W i r k l i c h k e i t s a u f f a s s u n g e n zu k o n s e r v i e r e n o d e r u m z u s t r u k t u r i e r e n . W e n n hier d a s I n d i v i d u u m d e s A u t o r s z u m p r i m ä r e n B e z u g s p u n k t g e m a c h t w i r d , d a n n heißt d i e s nicht, d a ß d i e zu beschreibende Funktionskette nicht über d a s A u t o r e n s u b j e k t hinaus v e r f o l g b a r wäre, wohl a b e r d a ß diese Funktionskette zerfällt, wenn d a s Glied des historischen Subjekts a u s der A r g u m e n t a t i o n h e r a u s g e s c h l a g e n wird, d e n n allein d a s B e w u ß t s e i n d e s i n d i v i d u e l l e n A u t o r s stellt d i e V e r b i n d u n g z w i s c h e n V e r g a n g e n h e i t u n d Z u k u n f t her. Bezogen auf den d e m funktionalen Strukturalismus

zugrundeliegenden

Z e i c h e n b e g r i f f heißt d i e s : D e r >signifiesignifiegemeinten Zeichenobjekte< notwendigerweise unter Ausklammerung des individuellen Zeichengebrauches. Wenn im funktionalen Strukturalismus ein Unterschied zwischen dem Gemeinten und der Bedeutung gemacht wird, dann auf Grund der empirischen Beobachtung, daß beim Gebrauch eines Zeichens in einem Text nie der gesamte lexikalische Bedeutungsumfang, der ja das Produkt einer nachträglichen wissenschaftlichen Rationalisierung von verschiedenen historischen Ansichten eines Objektes ist, realisiert wird, sondern auf Grund der Vorprogramme bei Autor und Leser eine historische Ansicht davon: Löst man ein Zeichen nicht vom Sprecher ab, dann bezeichnet es immer ein Gemeintes, d. h. die individualperspektivische Ansicht 30 eines Gegenstandes, die - und dies ist zu ermitteln - übereinstimmen oder nicht übereinstimmen kann mit anderen zeitgenössischen Ansichten desselben Gegenstandes. Die Zielsetzungen des funktionalen Strukturalismus bestehen in Ubereinstimmung mit den Prämissen des Beschreibungsmodells nicht darin, die Struktur des menschlichen Geistes oder eine universale Textstruktur zu erschließen, sondern - ausgehend von der Perspektivität und Geschichtlichkeit aller Weltanschauung und der Instrumentalität aller durch den Menschen gesetzten Zeichen - wird beabsichtigt, dem Gemeinten und seiner Bedingtheit in historischen Realitätsauffassungen nahezukommen, wobei die eigene Realitätsauffassung des Interpreten als interferierender Faktor selber in die Betrachtung mit einbezogen werden muß. Diese Interferenz der eigenen Vorstellungsprogramme - und das wird vom objektivistischen Strukturalismus nicht genügend reflektiert - ist nie auszuschalten, aber sie ist darum nicht als ein Zufälliges auszuklammern, sondern als ein gewichtiger Faktor der intersubjektiven Kommunikation in die Textanalyse mit einzubeziehen. Daraus folgert nicht, daß der Text als Mittel, Ansichten, perspektivische Vorstellungen zu übertragen aus dem Blickpunkt der Wissenschaft gerät, aber es folgert, daß der Text in seinen Bezügen und nicht abgelöst davon als pseudoautonom in Erscheinung tritt.

30

Z u m Begriff der >Ansicht< als Funktion von Standort, Sehweise und H a l t u n g cf. Kap. II, 1. Zu d e m damit z u s a m m e n h ä n g e n d e n Problem der literarischen Gegenstandserfassung durch >eine Mannigfaltigkeit von Ansichten< und zum Begriff der s c h e m a t i s i e r t e n Ansicht< cf. Iser, Die Appellstruktur..., op. cit., 14 und R o m a n Ingarden, Das literarische Kunstwerk (Tübingen, * 1972), 270ff. 21

U n d es folgert weit grundsätzlicher d a r a u s eine a n d e r e W i s s e n s c h a f t s a u f f a s sung, wenn die W i s s e n s c h a f t s t ä n d i g d a s P r o b l e m mitzureflektieren hat, d a ß die Fragestellungen u. U. weiter reichen als die erzielbaren Ergebnisse. Ger a d e die Erschließung von historischen V o r p r o g r a m m e n autorenseits kann in bestimmten Fällen a u s M a n g e l an I n f o r m a t i o n e n a n Grenzen stoßen. Nur der, der von einer W i s s e n s c h a f t fordert oder behauptet, d a ß ihr alles möglich ist, k a n n dies gegen die W i s s e n s c h a f t selber auslegen. E i n solches Wissen u m die Grenzen des >Machbaren< sollte f ü r den W i s s e n s c h a f t l e r kein A n l a ß zu K o m p l e x e n sein, sondern ihm zu einem realistischen Selbstverständnis und V e r s t ä n d n i s von der Reichweite und der begrenzten Funktion der Wissens c h a f t verhelfen. D a r a u s folgert, d a ß der f u n k t i o n a l e Strukturalismus, basierend a u f einer instrumentalen T e x t a u f f a s s u n g , selbst als instrumental verstanden wird, nicht als W i s s e n s c h a f t u m ihrer selbst o d e r u m des T e x t e s willen, sondern als W i s s e n s c h a f t , welche mittels der Literatur und ihrer Erschließung einen B e i t r a g zum Selbstverständnis des zeitgenössischen Menschen in seiner Geschichtlichkeit leisten kann. Wenn Wellek diesen Schritt nicht vollzogen hat, so liegt dies d a r a n , d a ß er einmal a m objektivistischen A n s a t z und zum a n d e r n a m formalistischen Begriff des Ästhetischen

festgehalten hat. Z w a r hat Wellek im G e f o l g e von

V o r ü b e r l e g u n g e n im F o r m a l i s m u s 3 ' den B e g r i f f der Wirksamkeit,

>efficacyefficacy< mit d e m B e g r i f f des Ästhetischen führt nicht eigentlich über den G e d a n k e n der Selbstzwecklichkeit K u n s t hinaus und so bleibt der Zweck,

der

>purposeaesthetic purposeinneren Form< im Unterschied zur >äußeren Form< keinen Ausweg aus dem theoretischen Dilemma weist, weil die Grenzlinie zwischen den beiden ebenso dunkel bleibt wie die zwischen Form und Inhalt: T h i n g s become even m o r e disastrous f o r the traditional concepts when we realize that even in the language, c o m m o n l y considered part of the f o r m , it is necessary to distinguish between words in themselves, aesthetically indifferent, a n d the manner in which individual words m a k e u p units of sound a n d meaning, aesthetically effective. It would be better to rechristen all the aesthetically indifferent elements »materials«, while the m a n n e r in which they acquire aesthetic efficacy m a y be called »structure*. This distinction is by no means a simple renaming of the old pair, content and form. It cuts right across the b o u n d a r y lines. »Materials« include elements formerly considered part of the content, and p a r t s formerly considered formal. »Structure« is a concept including both content and f o r m so f a r as they are organized for aesthetic purposes. T h e work of art is, then, considered as a whole system of signs, or structure of signs, serving a specific aesthetic purpose."1*1

36

Wellek and W a r r e n , op. cit., 140f.: »Noch verhehrender f ü r die traditionellen Beg r i f f e wirkt sich die Überlegung aus, d a ß es selbst in der Sprache, die f ü r gewöhnlich als Bestandteil der Form gilt, notwendig ist, zwischen ästhetisch indifferenten W ö r t e r n an sich und der Art und Weise zu unterscheiden, in der sich einzelne Wörter zu ästhetisch wirksamen K l a n g - und Bedeutungseinheiten z u s a m m e n f i n d e n . Es wäre geratener, d a ß die an sich keiner ästhetischen W i r k u n g fähigen Bestandteile eines literarischen Kunstwerks in »Materialien« u m g e t a u f t werden und d a ß m a n die Art und Weise, in der diese Bestandteile zu ästhetischen W i r k u n g e n organisiert sind, als »Struktur« bezeichne. Diese Unterscheidung ist keineswegs eine bloße Umbenennung des alten Paares, Inhalt und Form. Sie überschneidet vielmehr die alten Grenzlinien. Die »Materialien« enthalten Elemente, die f r ü h e r als Bestandteile des Inhalts wie auch als solche der Form galten. Der Begriff »Struktur« schließt Inhalt und Form in sich ein, sofern sie zu ästhetischen W i r k u n g e n organisiert sind. Das Kunstwerk wird so als ein ganzes System oder eine Struktur von Zeichen, als einem bestimmten Zweck dienend, betrachtet.« Wellek und W a r r e n , Theorie der Literatur, übers, von Edgar und M a r l e n e Lohner, ( F r a n k f u r t , 197 1), 146. Welleks Strukturbegriff ist im R a h m e n einer ganzen Reihe von S t r u k t u r b e g r i f f e n in den verschiedensten Wissenschaften im allgemeinen und in der Literaturwissenschaft im besonderen zu sehen. Cf. dazu H a n s N a u m a n n , ed., Der moderne Strukturbegriff (Darmstadt, 1973); Heinz Blumensath ed., Strukturalismus in der Literaturwissenschaft (Köln, 1972); Viktor 2 m e g a c und Z d e n k o Skreb, eds., Zur Kritik literaturwissenschaftlicher Methodologie ( F r a n k f u r t , 1973). Im R a h m e n der von Erwin Wolff als H e r a u s g e b e r geplanten Geschichte der englischen und amerikanischen Literaturtheorie ist ein Beitrag von A. P. Frank, >Literarische S t r u k t u r b e g r i f f e in der amerikanischen Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts< zu erwarten, der auf dem Struktursymposium der Deutschen Gesellschaft f ü r Amerikastudien 197 1 in G r u n d z ü g e n einer Fachöffentlichkeit vorgestellt wurde.

25

D e r Z e n t r a l b e g r i f f in Welleks A n s a t z ist d e r der Materialien, 3 7 wie sie einem T e x t g l e i c h s a m v o r g e g e b e n sind. E s ist sicher richtig, d a ß diese M a t e r i a l i e n im konventionellen K l a s s i f i z i e r u n g s s c h e m a sowohl d e r F o r m - als a u c h der I n h a l t s s p h ä r e a n g e h ö r e n , d a ß sie als M a t e r i a l i e n a b e r nicht mehr in d e r konventionellen A r t und W e i s e unterschieden werden. E s ist a b e r sicher e b e n s o richtig, d a ß die M a t e r i a l i e n - n i m m t m a n jeden x-beliebigen S p r e c h a k t als M a ß s t a b - bei keiner noch s o primitiven sprachlichen Ä u ß e r u n g als M a t e r i a lien v o r h a n d e n sind, s o n d e r n schon i m m e r z w e c k h a f t o r g a n i s i e r t in Erscheinung treten. Z u M a t e r i a l i e n werden sie erst d u r c h die L e x i k o g r a p h i e , die G r a m m a t i k etc., d. h. d u r c h die S p r a c h w i s s e n s c h a f t im weitesten Sinne. Insofern - u n d dies sollte bei der Beurteilung v o n Welleks o p e r a t i v e n Schlüss e l b e g r i f f e n in Betracht bleiben - leitet sich der B e g r i f f der M a t e r i a l i e n im S i n n e von Bausteinen a u s einer a t o m i s t i s c h e n B e t r a c h t u n g s w e i s e her, wie sie in A n a l o g i e zur B e s c h r e i b u n g von c h e m i s c h e n V e r b i n d u n g s p r o z e s s e n in d e r a n g e l s ä c h s i s c h e n Evolutionslehre des 19. J a h r h u n d e r t f ü r die E r k l ä r u n g von k o m p l e x e r e n geistigen Strukturen a u s einer finiten Z a h l v o n G r u n d e l e m e n ten i m m e r wieder g e p f l e g t wurde. O b w o h l - im Unterschied zu den B a u materialien eines H a u s e s oder den G r u n d e l e m e n t e n einer chemischen Verbind u n g - die Wellekschen >Materialien< nie in unstrukturiertem Z u s t a n d vork o m m e n , d. h. einer S t r u k t u r vorgegeben

dukte

sind, s o n d e r n vielmehr A n a l y s e p r o -

darstellen, erweist sich der B e g r i f f d e r M a t e r i a l i e n im R a h m e n der

Wellekschen S t r u k t u r a u f f a s s u n g als eine operationell b r a u c h b a r e Fiktion, die der S t r u k t u r b e s c h r e i b u n g dient, w ä h r e n d in der F o r m - I n h a l t - A n t i t h e s e keinem der E i n z e l b e g r i f f e eine o p e r a t i o n e l l e Funktion z u k o m m t . In e n g e r A n l e h n u n g a n die g ä n g i g e V e r w e n d u n g des W o r t e s >structure< im E n g l i s c h e n ( = manner

whole is constructed, of something

in which a building

supporting

.. . construction,

framework

or organism

or other

or whole of the essential

complete parts

COD) definiert Wellek die S t r u k t u r als >manner

in which they [materials] a c q u i r e aesthetic efficacyDie K u n s t als Verfahren< (cf. Texte der russischen Formalisten, op. cit., Bd. I., 5; und Sklovskij, >Form a n d M a terial in ArtDie A u f g a b e n der Poetik< (cf. Texte der russischen Formalisten, op. cit., Bd. II, 145) weiterverfolgt, und zu Beginn der dreißiger J a h r e taucht dieser B e g r i f f , w o r a u f mich Herr K o l l e g e G r a b e s hinwies, im B e g r i f f s s y s t e m des Literatlirtheoretikers R o m a n Ingarden (cf. Das literarische Kunstwerk, T ü b i n g e n , 4 1 9 7 2 , 2 9 ; 222) im R a h m e n seines Schichtenmodells auf. Reflexe dieser Diskussion von M a t e r i a l und V e r f a h r e n , M a t e r i a l und F o r m finden sich schließlich in der amerikanischen Literaturtheorie der vierziger J a h r e , wo der M a t e r i a l b e g r i f f im Z u s a m m e n h a n g mit d e m S t r u k t u r b e g r i f f auft a u c h t ! C f . Cleanth B r o o k s , The Well Wrought Um - Studies in the Structure of Poetry, 1942; Ld., 1968, 159; Wellek a n d Warren, op. cit., 140).

Materialien ästhetische Wirksamkeit erlangen. Der Begriff der Struktur bezeichnet also die Art und Weise, in der Teile (Materialien) zu einem Ganzen organisiert sind, damit es als Ganzes ästhetische Wirksamkeit erzielt, d. h. - nun auf den Leser bezogen - Wohlgefallen am Schönen erzeugt. Von der Restriktion, die der formalistische Begriff des Ästhetischen auf Welleks Strukturauffassung ausübt, ist schon die Rede gewesen. Grundsätzlich gesehen aber enthält sein Strukturbegriff Anschauungselemente, die im funktionalen Strukturalismus weitergedacht werden: nämlich daß die Organisationsweise bestimmt wird durch den Gesichtspunkt der Wirksamkeit. Obwohl dieser Strukturbegriff grundsätzliche wirkungsästhetische Fragen aufwirft, verfolgt sie Wellek - als ob die Antworten darauf als gegeben vorausgesetzt werden könnten - nicht weiter. Zwar definiert er das Kunstwerk als >system of signs, or structure of signs, serving a specific aesthetic purposeMaterialien< im Text, aber die weitergehende Frage nach der intendierten Funktion des Textes wird nicht in Problemstellungen differenziert. So unterbleibt letztlich auch die Frage nach der Erklärbarkeit von bestimmten Strukturmerkmalen durch ihre Bedingtheit in der intendierten Funktion. Die durch den Formalismus tradierte Anschauung vom Kunstwerk als einem in sich und für sich wertvollen ergon, bleibt also auch für Wellek verbindlich. Die Annahme, daß die Organisation der Materialien in der Struktur allein im Hinblick auf einen ästhetischen Zweck geschieht, hat Rückwirkungen auf den Umfang des Strukturbegriffes selbst: Struktur als gleichbedeutend mit »ästhetischer Struktun wird nur dem Kunstwerk zugebilligt. Damit wird der Strukturbegriff - obwohl vom Formbegriff fundamental unterschieden wieder mit denselben Wertvorstellungen beladen, wie sie dem Formbegriff anhafteten. Der funktionale Strukturalismus erweitert das von Wellek erstellte Anschauungsmodell in doppelter Hinsicht: 1. Die Elimination des Grundbegriffs des >Ästhetischen< aus den Prämissen des Untersuchungsmodells ist Vorbedingung für eine Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes auf alle sprachlichen Texte. Dieser Schritt beruht auf der empirischen Feststellung, daß es keine unstrukturierte sprachliche Äußerung gibt, wiewohl die Strukturen verschiedener Textsorten voneinander unterschieden sind. Die Dif27

ferenzierung von Textsorten kann aber erst das Ergebnis der Untersuchungen, nicht aber deren Voraussetzung sein. 2. Die Erweiterung des Gegenstandsbereiches geht einher mit einer Erweiterung des Blickwinkels: Der Text wird nicht mehr in seinem bloßen Werkcharakter abgelöst von Autor und Leser untersucht, sondern im Netz seiner Bezüge. Diese Ö f f n u n g der Untersuchungsperspektive führt zu einer grundsätzlich anderen Textauffassung als im objektivistischen Strukturalismus: Im Netz seiner Bezüge gesehen kann der Text nicht mehr objektivistisch als autonomes Werk definiert werden, sondern als ein Medium, als ein Instrument, mittels dessen Vorstellungen vermittelt werden sollen. Die mediale und instrumentale Textauffassung führt zu einer grundsätzlichen Veränderung der Fragestellungen: Auf Grund der Anschauung des Textes als Medium und Instrument ist die innertextliche Struktur nun nicht mehr als autonome Kunstwirklichkeit zu begreifen, sondern vielmehr als Funktion bedingender Faktoren autoren- und leserseits. Rein praktisch gesehen wird so die Werkanalyse in eine Analyse des Werkes als intendierte Wirkstruktur übergeführt. Dies bedeutet keine Abwendung vom Text, wie sie oft in den literatursoziologischen Literatur-als-Ware-Abhandlungen und in Rezeptionsanalysen zu beobachten ist, sondern die Analyse der Textstruktur auch unter dem Aspekt der durch sie intendierten Wirkung. In Anlehnung an René Welleks Strukturauffassung, die durch die funktionalistischen Prämissen modifiziert wird, wird der Text nun definiert als ein strukturierter Verband von auf Vorstellungen verweisenden und Vorstellungen erzeugenden Zeichen, dem die Funktion zugedacht ist, im Aufeinandertreffen mit der Vorstellungswelt des Rezipienten Wirkungen zu erzeugen, welche - je nach auktorialer Intention und den im Leserbewußtsein vorgegebenen Vor(stellungs)-programmen - einerseits von der Verfestigung bis andererseits zur Auflösung und zum Ersatz der leserseitigen Vorprogramme reichen können.

28

Teil II: Theoretische Grundlegung eines funktionalstrukturalistischen Textbeschreibungsmodells

K a p . II: Die thematische Tiefenstruktur als Regulativ von Zeichenwahl und Zeichenorganisation

1.

Die semiotischen G r u n d l a g e n des T e x t b e g r i f f e s

Diese inklusive T e x t d e f i n i t i o n impliziert die f o l g e n d e n Einzelvorstellungen und Fragestellungen: D a s Kernstück der funktional-strukturalistischen T e x t d e f i n i t i o n liegt im B e g r i f f des strukturierten

Zeichenverbandes.

durch den Schlüsselbegriff des Zeichens

E s ist offensichtlich, d a ß -

- d a s funktional-strukturalistische

Beschreibungsmodell auf einer allgemeinen Zeichentheorie basiert, auf der

Semiotik',

welche den Problemkreis der K o m m u n i k a t i o n einschließt. D a s

Problem, d a s sich bei der N u t z b a r m a c h u n g der Semiotik f ü r den funktionalen Strukturalismus erhebt, ist, d a ß in dieser verhältnismäßig j u n g e n Grundl a g e n w i s s e n s c h a f t zwar eine Reihe von divergierenden Zeichendefinitionen erarbeitet wurden, a b e r - auf G r u n d der S t a n d o r t g e b u n d e n h e i t der verschiedenen A n s ä t z e - eine E i n i g u n g auf einen

Zeichenbegriff aussteht. Die im

ersten K a p i t e l in a n d e r e m Z u s a m m e n h a n g für eine funktional-strukturalistische und gegen

eine objektivistische Betrachtungsweise geführte A r g u -

mentation ist hier wieder a u f z u n e h m e n , wenn es sich d a r u m handelt, den G r u n d b e g r i f f des Zeichens als B a s i s des Beschreibungsmodells zu definieren: E s liegt in der L o g i k dieser A r g u m e n t a t i o n , die objektivistische F r a g e >was ist ein Zeichen?< zu ersetzen durch die F r a g e >Welche Funktionen hat ein Zeichen?«. Dies bedeutet, d a ß d a s Zeichen m e d i a l und instrumental als Mittel 1

Z u r E i n f ü h r u n g in die P r o b l e m s t e l l u n g e n der S e m i o t i k cf.: M a x B e n s e , >Semiotikvon einer Art Kontrakt zwischen den Gliedern einer Sprachgemeinschaft^ funktional und historisch weitergedacht wird, dann kann es nicht zu einer wertenden Scheidung des >Sozialen vom Individuellem, des »Wesentlichen vom Akzessorischem6 und zu den objektivistischen Schlußfolgerungen, die sich für den Sprach- und Zeichenbegriff daraus ergeben, kommen, sondern zur Erforschung der Sprache unter dem Aspekt ihrer kommunikativen Funktion. Zugespitzt auf das Problem der 7.eichenfunktion heißt dies, daß - damit ein Zeichen seine kommunikative Funktion erfüllen kann - dem Zeichengebrauch eine Vereinbarung vorauszusetzen ist, was mit dem Zeichen gemeint ist, wofür es gesetzt wird. Es mag einmal an der synchronen Betrachtungsweise und zum andern an der Festigkeit solcher Konventionen liegen, daß der Eindruck entstehen kann, daß das Korrelat von Zeichen und Gemeintem in sich statisch sei und daß dadurch das Signifikat unablösbar vom Signifikans sei. Die Geschichte der sogenannten >Bedeutungsveränderungen< aber erweist, daß bei gleichbleibendem Signifikans das Gemeinte sich verändern kann, d. h., daß der Prozeß der Ubereinkunft nicht abgeschlossen ist, sondern - wiewohl auch unmerklich weiterverläuft. Nur durch das Moment der Unmerklichkeit kann die zudem durch das Lexikon geförderte Illusion entstehen, daß das Gemeinte eine dem Zeichen selbst inhärente Konstante sei. Wertet man diese Überlegungen nun mit dem Blick auf sprachliche Texte aus, dann ergeben sich folgende Schlußfolgerungen: Wenn in der Folge der Begriff des Zeichens verwendet wird, dann wird darunter in Abweichung von de Saussure nicht die »combinaison du concept et de l'image acoustiqueWir benützen h e u t z u t a g e S a l z h a u p t s ä c h l i c h als G e w ü r z , und so impliziert d a s Bild für uns ein geringes, a b e r n o t w e n d i g e s E l e m e n t in der G e s a m t h e i t der menschlichen K u l t u r . . . A b e r in der A n t i k e w a r S a l z g l e i c h e r m a ß e n v o n B e d e u t u n g als K o n s e r vierungsmittel; und d a s Bild wird ähnlich d e m eines christlichen A u t o r s d e s zweiten J a h r h u n d e r t s v e r w e n d e t : >Die C h r i s t e n sind die Seele der Erde< - d e n n sie sind

D e r in d i e s e m B i b e l t e x t d u r c h >Salz< b e z e i c h n e t e Z e i c h e n o b j e k t b e r e i c h gehört w e d e r d e m P a r a d i g m a >Gewürze< n o c h d e m P a r a d i g m a »chemische E n t härterGewürz< explizit

m i t g e s e t z t . I m zweiten S a t z w a r d a s P a r a d i g m a

und bedurfte der Explizierung

impliziert

(Enthärtungsanlage-Enthärtungssubstanz).

I m dritten S a t z schließlich, w a r d a s P a r a d i g m a nicht textintern mit-, s o n d e r n d e m T e x t v o r a u s g e s e t z t . U n d »vorausgesetzt« heißt im B e w u ß t s e i n s o w o h l d e s S p r e c h e r s wie d e s E m p f ä n g e r s v o r a u s g e s e t z t . V e r g l e i c h t m a n die Zeichenobjekte

im R a h m e n ihrer P a r a d i g m e n mitein-

a n d e r , so wird o f f e n s i c h t l i c h , d a ß sie a l s V o r s t e l l u n g e n s t a n d o r t g e b u n d e n , p e r s p e k t i v i s c h , d. h. k u l t u r g e s c h i c h t l i c h d e t e r m i n i e r t s i n d : U m b e r t o E c o h a t d e s h a l b mit den S a u s s u r e s c h e n T e r m i n i a r g u m e n t i e r e n d - d a s S i g n i f i k a t ( = Z e i c h e n o b j e k t ) a l s »kulturelle Einheit« g e f a ß t : D a m i t ist d a s Z e i c h e n o b jekt in den R a h m e n v o n historischen E r f a h r u n g s - u n d V o r s t e l l u n g s w e l t e n g e s e t z t u n d als F u n k t i o n d i e s e r b e g r i f f e n : Einheiten . . . können auch als interkulturelle Einheiten betrachtet werden, die unverändert bleiben können trotz der unterschiedlichen sprachlichen Symbole, durch die sie ausgedrückt werden: /Hund/ denotiert nicht ein physisches Objekt, sondern eine kulturelle Einheit, die konstant und unverändert bleibt, auch wenn ich /Hund/ mit / d o g / , /chien/ oder /cane/ übersetze. Im Falle von / Verbrechen/ kann ich entdecken, daß die entsprechende kulturelle Einheit in einer anderen Kultur eine größere oder begrenztere Extension hat. Im Falle von /Schnee/ kann man herausfinden, daß es für die Eskimos gar vier kulturelle Einheiten gibt, welche vier verschiedenen Zuständen des Schnees entsprechen, und daß die Vielfalt von kulturellen Einheiten auch ihr Lexikon modifiziert und sie dazu zwingt, statt eines Wortes vier Wörter zu gebrauchen. 14 D e r B e g r i f f der »kulturellen Einheit« k ö n n t e den E i n d r u c k e r w e c k e n , d a ß i n n e r h a l b eines n a t i o n a l s p r a c h l i c h a b g e g r e n z t e n K u l t u r k r e i s e s eine d u r c h g e verantwortlich für ihren lebendigen Weiterbestand. Aber wie wird Salz »kraftlos«? Chemisch gesehen kann es seinen Salzcharakter nie verlieren. Aber in den verschiedenen Verwendungen, denen man es in Palästina zuführte, konnte es immer unreiner werden, bis es schließlich wertlos war - und dann war es unmöglich, seine Salzigkeit wieder herzustellen«. (Ubers, v. Verf.) Eco, op. cit., 75. 37

h e n d e u n d a l l g e m e i n v e r b i n d l i c h e >kulturelle Ü b e r e i n k u n f t im H i n b l i c k a u f Z e i c h e n u n d Z e i c h e n o b j e k t b e s t e h t . D i e s ist a l s b r a u c h b a r e A r b e i t s h y p o t h e s e a n z u n e h m e n mit der E i n s c h r ä n k u n g , d a ß eine Ubereinkunft modifiziert und durch eine neue ersetzt werden kann.15 Z u d e m b e d a r f der B e g r i f f der k u l t u rellen Einheit< n o c h einer K o r r e k t u r : D i e p r a k t i s c h e A r b e i t a n T e x t e n g e r a d e der M o d e r n e m a c h t o f f e n b a r , d a ß m a n nicht a u s k o m m t allein mit den gleichs a m kulturoffiziellen Vereinbarungen, sondern d a ß gleichermaßen gruppens p e z i f i s c h e V e r e i n b a r u n g e n , wie sie im J a r g o n , S l a n g o d e r D i a l e k t

zutage

t r e t e n , in B e t r a c h t z u z i e h e n s i n d . W e n n in d e r F o l g e v o n > k u l t u r e l l e n E i n heiten< d i e

Rede

ist, d a n n

immer

in d i e s e m

erweiterten

Sinne, der

ge-

samtkulturelle und gruppenspezifische Vereinbarungen umgreift. B i s h e r w a r d i e R e d e v o n d e r Relation

von Zeichen und Zeichenobjekt, die

- d a m i t K o m m u n i k a t i o n möglich wird - auf einer öffentlichen (oder zumindest gruppeninternen oder intersubjektiven) Ubereinkunft beruht. Festzuhalten w a r , d a ß diese Ü b e r e i n k ü n f t e ( =

Konventionen) grundsätzlich

histori-

scher P r o v e n i e n z u n d d a m i t d e r M ö g l i c h k e i t einer Revision a u s g e s e t z t sind. I m K o n t e x t ihrer P a r a d i g m e n b e t r a c h t e t , o f f e n b a r e n die Z e i c h e n o b j e k t e spezifische R e a l i t ä t s a n s c h a u u n g e n , die durch V e r e i n b a r u n g für eine Zeit ö f f e n t lich u n d d a m i t v e r b i n d l i c h g e w o r d e n s i n d . D a s M o m e n t d e r Ö f f e n t l i c h k e i t u n d Verbindlichkeit b i s a g t nicht, d a ß d e m I n d i v i d u u m eine überindividuelle G r ö ß e w i e d a s K o l l e k t i v o d e r d i e G e s e l l s c h a f t v o r a u s z u s e t z e n ist, s o n d e r n d a ß Individuen im R a h m e n einer G e s e l l s c h a f t oder G r u p p e

Vorvereinbarungen

akzeptieren. J e d e r S p r e c h e r oder A u t o r arbeitet mit diesen öffentlich vereinb a r t e n R e l a t i o n e n z w i s c h e n Zeichen u n d Z e i c h e n o b j e k t , wenn er sie im T e x t organisiert. Im Unterschied aber zur

Einzelzeichen-Zeichenobjekt-Relation,

d i e d u r c h K o n s e n s Ö f f e n t l i c h k e i t u n d V e r b i n d l i c h k e i t g e w i n n t , ist d i e T e x t Textobjekt-Relation zunächst einmal nicht-öffentlicher, individueller Natur.

2.

Die thematische Tiefenstruktur des Textes als Funktion des auktorialen

Realitätsbewußtseins

D e r T e x t als strukturierter Z e i c h e n v e r b a n d , der d u r c h ein I n d i v i d u u m strukturiert w i r d , verweist p r i m ä r z u r ü c k a u f d i e B e z ü g e , d i e d u r c h ein I n d i v i d u u m zwischen Zeichenobjekten (Vorstellungen) hergestellt werden, und die Wertv o r s t e l l u n g e n , d i e es mit d i e s e n v e r b i n d e t . S o g e s e h e n v e r w e i s t j e d e r T e x t a u f e i n e n Entwurf

der Realität,

viduum vorgestellt

oder

s o w i e sie v o n e i n e m s t a n d o r t g e b u n d e n e n postuliert

wird, o d e r a u f

eine individuelle

IndiAus-

e i n a n d e r s e t z u n g mit e i n e m Realitätsentwurf. D a ß dies nicht nur f ü r fiktio-

" C f . d a z u d a s von E c o , op. cit., 95, zitierte Beispiel von C y c l a m a t und Zucker.

38

nale, sondern auch f ü r wissenschaftlich-deskriptive T e x t e gilt, erweist sich etwa im Großen d a r a n , d a ß bei gleichbleibender Realität etwa d e m ptolemäischen Denken mit all seinen Auswirkungen a u f die verschiedensten T e x t e bis zum Beginn der M o d e r n e ein anderer Realitätsentwurf zugrunde liegt als dem kopernikanischen Weltbild. D a b e i spielt es in diesem Z u s a m m e n h a n g keine Rolle, o b d a s eine Weltbild richtiger als d a s a n d e r e ist, sondern w a s in diesem A r g u m e n t a t i o n s z u s a m m e n h a n g b e d e u t s a m ist, ist die T a t s a c h e , d a ß beide Realitätsentwürfe zunächst von Einzelnen g e m a c h t und erst nach und nach öffentlich-verbindlich und d a m i t durch Ubereinkunft als >richtig< erklärt wurden. Historisch-genetisch betrachtet führt ein solches Verbindlichwerden eines Realitätsentwurfes zur Gleichrichtung

individueller Sehweisen und zur Aus-

bildung von spezifischen Vorstellungsstrukturen, die s o l a n g e Gewohnheit bleiben, bis sie von einem neuen Realitätsentwurf a b g e l ö s t werden. Angew a n d t a u f d a s P r o b l e m des T e x t e s als strukturierten Zeichenverband heißt dies, d a ß der T e x t strukturiert ist durch den R e a l i t ä t s b e g r i f f und Realitätsentwurf des individuellen Autors. A n d e r s gewendet: A u s w a h l und O r g a n i s a t i o n der Zeichen in einem T e x t ist reguliert oder gesteuert durch die Vorstellungsp r o g r a m m e , die ein Autor zu vermitteln beabsichtigt. D a s Problem der Intention, die mit der Vermittlung solcher V o r s t e l l u n g s p r o g r a m m e durch einen T e x t verfolgt wird und die auf A u s w a h l und O r g a n i s a t i o n der Zeichen, d. h. auf die Strukturierung des T e x t e s selber zurückwirken kann, wird im Z u s a m m e n h a n g des K a p i t e l s IV a b g e h a n d e l t . Dieser Sachverhalt wird unter dem A s p e k t der Textstrukturierung in der F o l g e abgekürzt so bezeichnet: Der T e x t als strukturierter Zeichenverband ist thematisch

tiv des T e x t e s ist der thematische

Code.

C o d e erscheinen die Zeichen als rhetorische flächenstruktur

eines Textes.

reguliert. D a s

Regula-

Im Verhältnis zum thematischen

Mittel,

Im Verhältnis

als die rhetorische Ober-

zur rhetorischen

chenstruktur erscheint der C o d e als die thematische

Tiefenstruktur

Oberfläeines

Textes. Betrachtet m a n dieses zunächst einseitig aus d e m A u t o r - T e x t - V e r hältnis entwickelte S c h e m a nun im größeren Z u s a m m e n h a n g des K o m m u nikationsschemas A u t o r - T e x t - L e s e r , so heißt dies: Mittels des Z e i c h e n m a terials wird der thematische

Code

umgesetzt in eine beim Leser die Vorstel-

lungen des C o d e s intendierende rhetorische Oberflächenstruktur. D a m i t ist eine Doppelfunktion

des T e x t e s in A n s a t z zu b r i n g e n : Die rhetorische Ober-

flächenstruktur eines T e x t e s hat einmal die Funktion, auf die thematische Tiefenstruktur und d a m i t auf die Vorstellungsstruktur des Autors in ihrer individuellen und sozialen Bedingtheit zu verweisen; und zum a n d e r n die Funktion, diese thematische T i e f e n s t r u k t u r beim Leser zur Vorstellung zu bringen, d. h. sie zu stimulieren.

Für die T e x t b e s c h r e i b u n g ergibt sich d a r a u s

die F r a g e , o b und wie die W a h l der rhetorischen Mittel auch einem auktorialen Wirkkalkül,

d. h. einem K a l k ü l mit d e m Leser entspringen, so wie sich ihn 39

der Autor vorstellt, d. h. dem Kalkül mit dem >intendierten< oder >impliziten< Leser." Für eine funktionalstrukturalistische T e x t - und Textfunktionsbeschreibung ergeben sich aus dieser theoretischen Grundlegung folgende Aufgabenstellungen : 1. Erschließung und Beschreibung des Vorstellungsprogramms, des thematischen Codes, der Auswahl und Organisation der Zeichen in der rhetorischen Oberflächenstruktur eines Textes reguliert. 2. Beschreibung der rhetorischen Mittel als Repräsentamene und Wirkstimuli. 3. Beschreibung der vom Autor intendierten Wirkung des Textes. 4. Beschreibung der zur Realisation der intendierten Wirkung verwendeten Strategien als Verfahren der Vorstellungs- und Werturteilslenkung.

3.

Die Erschließung der thematischen Tiefenstruktur

Auf der thematische Tiefenstruktur genannten operationeilen Ebene tritt die f ü r einen bestimmten Text spezifische Themenorganisation, die unter ihrem funktionalen Aspekt als der thematische Code eines Textes bezeichnet wird, abgelöst von den rhetorischen Mitteln, durch welche sie realisiert wird, in Erscheinung. Zur Demonstration des Verfahrens, wie ein thematischer Code zu erschließen ist, wird hier der Prologtext zu Shakespeares Romeo and Juliet aus einem doppelten G r u n d gewählt: Zum einen ist das durch die funktional-strukturalistische Analyse gewonnene Bild von den im Prolog exponierten Themen und ihrer Organisation am nachfolgenden Dramentext ü b e r p r ü f b a r ; und zum andern ergibt sich im zweiten Schritt der Analyse daraus eine Möglichkeit, die theoretische Aussage, d a ß ein und derselbe thematische Code durch verschiedene rhetorische Mittel realisiert werden kann, kritisch zu überprüfen. 1

Two households, both alike in dignity, In fair Verona, where we lay our scene, From ancient grudge

4

break to new

mutiny

W h e r e civil blood makes civil h a n d s unclean. F r o m f o r t h the fatal loins of these two A pair of star-crossed lovers

16

40

foes

take their life;

W a s den Faktor des Lesers anlangt, verdankt diese funktionalistische Konzeption entscheidende Anregungen von Erwin W o l f f , >Der intendierte Leser - Überlegungen und Beispiele zur E i n f ü h r u n g eines literaturwissenschaftlichen Begriffs*, Poetica I V / 2 (1971), 141-166; und W o l f g a n g Iser, Der implizite Leser - K o m m u n i k a t i o n s f o r m e n des R o m a n s von Bunyan bis Beckett (München, 1972). Zur Konzeption des Lesers in der Rezeptionsforschung cf. unten Kap. IV, Anm. 10.

Whose misadventured piteous overthrows 8

D o t h with their d e a t h bury their p a r e n t s '

strife.

T h e f e a r f u l p a s s a g e of their d e a t h - m a r k e d A n d the c o n t i n u a n c e of their p a r e n t s '

love,

rage,

Which, but their children's e n d n o u g h t c o u l d r e m o v e , 12

Is now the two hours' t r a f f i c o f o u r s t a g e ; T h e which, if you with p a t i e n t e a r s attend, W h a t here shall miss, our toil shall strive to m e n d . "

Die Initialfrage einer solchen A n a l y s e ist, o b es im Zeichenverband des T e x tes Zeichen gibt, deren O b j e k t e sich einem semantischen P a r a d i g m a 1 8 einordnen lassen. Im vorliegenden T e x t liegt ein P a r a d i g m a o f f e n und unverschlüsselt z u t a g e : D a s P a r a d i g m a >Zweiheittwo< (1; 5;), >both< (1) und >pair< (6) einordnen lassen. A u s g e h e n d von diesem v o r l ä u f i g gewonnenen P a r a d i g m a sind zwei praktische F r a g e n zu stellen: a.) Enthält d a s Zeichenfeld noch mehr Zeichen, die d e m Z w e i h e i t s p a r a d i g m a einzuordnen sind? und b.) L ä ß t sich d a s erste P a r a d i g m a differenzieren? Ein zweiter D u r c h g a n g des T e x t e s macht deutlich, d a ß mehr Zeichenmaterial vorliegt, d a s - unter anderen Begleitvorstellungen - Zweiheitsvcrstellungen signalisiert: >grudge< (3), >mutiny< (3), >foes< (5), >strife< (8), >rage< (10); >lovers< (6) und >love< (9): E s wird d a r a u s offensichtlich, d a ß d a s Vorstellungsp a r a d i g m a >Zweiheit< zwei U n t e r p a r a d i g m e n in sich schließt, die im R a h m e n des G r u n d p a r a d i g m a s antithetisch a u f e i n a n d e r bezogen sind: >Entzweiung< (>grudge, mutiny, strife, foesZweisamkeit< (>loveZwei H ä u s e r , beid in A n s e h n gleich, im s c h ö n e n V e r o n a , u n s e r m S c h a u p l a t z , feindlich wecken V e r j ä h r t e n H a ß in s t o l z g e m u t e n S ö h n e n , D i e ihre H a n d mit B ü r g e r b l u t b e f l e c k e n . A u s d e n zwei F e i n d e s h ä u s e r n sehn wir sprießen Ein liebend P a a r , d a s glühend sich erstrebt, U m sternlos j u n g sein L e b e n zu beschließen, D a s seiner V ä t e r H a ß mit sich b e g r ä b t . D e s j u n g e n P a a r e s L i e b e s g l ü c k und N o t , D e r Eltern g r i m m e n H a ß und schwere S ü h n e , D i e nichts v e r s ö h n t e a l s der K i n d e r T o d , Entrollt nun in zwei S t u n d e n u n s r e Bühne. Wollt ihr ein hold g e d u l d i g O h r uns leihn, Soll, w a s noch m a n g e l h a f t , b a l d b e s s e r sein.< Romeo und Julia, übers, v. A. W. Schlegel, S ä m t l i c h e D r a m e n , B d . III ( M ü n c h e n , o. J.), 2 8 3 . Z u d e r den B e g r i f f e n s e m a n t i s c h e K o m p o n e n t e < u n d >Paradigma< z u g r u n d e liegend e n T h e o r i e cf. die e i n f ü h r e n d e D a r s t e l l u n g >Die S t r u k t u r d e s S i g n i f i k a t s « und >Zur A n a l y s e u n d B e s c h r e i b u n g von Signifikatstruktureneinfachen< Zeichenmaterial gewonnenen Vorstellungsparadigmen wird o f f e n b a r , d a ß der bildhafte Zeichenkomplex der vierten Zeile, >civil blood makes civil hands uncleanEntzweiung< einzuordnen ist: Die durch diesen Zeichenkomplex intendierte Grundvorstellung ist nämlich dieselbe wie die von >civil war< (Bürgerkrieg), der mit >unclean< eine W e r t u n g beigefügt wird. Soweit das Zeichenmaterial im Hinblick auf die Zeichenobjekte bisher gesichtet ist, läßt sich aussagen, d a ß die Auswahl thematisch gesteuert ist. Anders gewendet heißt dies, d a ß durch die bisherigen Untersuchungen der Zeichenobjekte im Rahmen ihrer Paradigmen ein Teil des den Text regulierenden thematischen Codes erschlossen worden ist. Die Untersuchung m u ß weitergeführt werden mit der Frage, ob das bis dahin unberücksichtigt gebliebene Zeichenmaterial in Bezug steht zum erschlossenen C o d e oder ob es auf zusätzliche Vorstellungsparadigmen verweist, die mit den erschlossenen in Beziehung gesetzt sind: Soweit der thematische C o d e bisher erschlossen ist, zeigt sich, d a ß er in sich antithetisch strukturiert ist (Entzweiung - Liebe). Thematische Kontraste sind auch gesetzt bei den Zeichenobjekten von >life< (6), >loins< (5, Prokreation, Geburt) auf der einen Seite und »death« (8), »deathmarked« (9), >end< (11) auf der andern Seite; und bei >parents< (8; 10) und >children< (11). Das Vorstellungselement »Öffentlichkeit* in >householdscivil blood makes civil hands unclean< (4) kontrastiert thematisch mit dem Vorstellungselement >Privatheit< bei »pair of . . . lovers< (6). Die zusätzlich erschlossenen thematischen Antithesen von >alter Generation« und >junger Generation« »Öffentlichkeit« und >Privatheit« sind mit der thematischen Grundantithese von »Entzweiung« und »Liebe« in Beziehung gesetzt, sie bilden komplexe thematische Antithesen, oder auf den Autor bezogen, antithetische Vorstellungskomplexe. Unter vorläufiger Ausklammerung des Verbmaterials sind bisher statische Vorstellungsbereiche, die antithetisch a u f e i n a n d e r bezogen sind, erschlossen worden: Der Vorstellungsbereich einer alten Gesellschaftswelt, die in öffentlich-überindividuelle Einheiten (households) gespalten und entzweit ist, und der Vorstellungsbereich einer neuen Privatwelt, in der Einzelwesen in Liebe zueinander finden. Diese beiden Welten sind nicht u n a b h ä n g i g voneinander und nebeneinander existierend vorgestellt, sondern in einem übergreifenden Vorstellungsschema a u f e i n a n d e r bezogen: Die junge Generation entspringt den >fatal loins« (5) der alten Generation. Ihr Leben ist schicksalhaft bestimmt und ihre neue, dem Individuellen und Privaten rechnungtragende Lebensf o r m der Liebe deshalb bezeichnet als >star-crossed< (6) und »death-marked« 42

(9). Alle drei Zeichenobjekte gehören d e m V o r s t e l l u n g s p a r a d i g m a

deter-

minierend u n d / o d e r determiniert zum Scheitern< an. T h e m e n s y n t a k t i s c h betrachtet ü b e r n i m m t diese Teilvorstellung im thematischen C o d e die Funktion eines C o d e - V e r b s , d a s die antithetischen Teilcodes in ein Agent-PatientVerhältnis 1 9 zueinander setzt: D i e s e thematische C o d e - F o r m e l reguliert Zeichenwahl und Z e i c h e n o r g a n i s a t i o n der Zeilen 1 , 3 - 7 und 10. E s verbleiben aber noch eine Reihe von Textteilen, die durch den erarbeiteten C o d e nicht a b g e d e c k t sind. An diesen Teilen ist die Untersuchung weiterzuführen: Oberflächenstrukturell fällt auf, d a ß Teile des V o r s t e l l u n g s p a r a d i g m a s >Scheitern< in den Zeilen 7 und 11 - g r a m m a t i s c h gesehen - Subjektfunktion erlangen: An diesem g r a m m a t i s c h e n Sachverhalt ist anzusetzen: >[the lovers'] overthrows doth . . . bury their parents' strife (7f.). . . [nought] but their children's end . . . could remove [the] parents' rage< (12, 11). Zweimal im T e x t - und die Wiederholung ist ein rhetorisches Mittel der Vorstellungsintensivierung - tauchen Zeichenfelder a u f , die gleich strukturiert sind: Diese A u s s a g e gilt nicht nur f ü r die f o r m a l - g r a m m a t i s c h e Satzstruktur, sondern gleichermaßen für die Zeichenobjekte: S o gehören die S a t z s u b j e k t e >overthrows< und >end< demselben thematischen P a r a d i g m a des >Scheiterns< an. Die Verben >bury< und >remove< teilen als Teile eines P a r a d i g m a s die Grundvorstellung >endgültig beseitigem Gfinal abandonmentburyRage< und >strife< fallen unter d a s schon e i n g a n g s betrachtete P a r a d i g m a >EntzweiungDie

entzweite

Ge-

sellschaftswelt der Eltern bedingt das Scheitern der privaten Welt der Liebe ihrer Kinder< aus, so gliedert sich an d a s T h e m a >Scheitern< eine neue CodeFormel an, in der d a s Scheitern thematisches Subjekt ist: D a s Scheitern der privaten Welt der Liebe beseitigt die Entzweiung in der öffentlichen Gesellschaftswelt. Ü b e r p r ü f t m a n , welche T e x t e l e m e n t e durch diesen erweiterten C o d e nicht a b g e d e c k t werden, so verbleiben in erster Linie die f o l g e n d e n Adjektive >unclean< (4), >misadventur'd< (7), >piteous< (7) und >fearful< (9). >Unclean< ist d e m E n t z w e i u n g s t h e m a , >misadventured< ( =

>unfortunatebewertendPerson< wie die Zeit o d e r d a s K o l l e k t i v , w e l c h e G e i s t o d e r B e w u ß t s e i n b e s ä ß e . Geist u n d B e w u ß t s e i n sind E i g e n s c h a f ten, die allein d e m sterblichen I n d i v i d u u m w ä h r e n d der Zeit seiner E x i s t e n z z u k o m m e n . D i e T a t s a c h e , d a ß d a s I n d i v i d u u m mit s e i n e m B e w u ß t s e i n u n d seinen

Vorstellungsstrukturen

im

funktionalstrukturalistischen

Beschrei-

b u n g s m o d e l l d i e z e n t r a l e B e z u g s w i r k l i c h k e i t ist, schließt nicht a u s , B e d i n g u n gen interindividueller U b e r e i n s t i m m u n g e n , d i e bis zur V o r s t e l l u n g s u n i f o r m i e r u n g v o n G e s e l l s c h a f t e n reichen k ö n n e n , festzustellen.

21

48

Zur kritischen Besprechung der Begriffe Thema, Thematologie, thematics, Stoff, Motiv etc. cf. Harry Levin, »Thematics and Criticisms Disciplines of Criticism Essays in Literary Theory, Interpretation and History, edd. by P. Demetz, Th. Greene, and L. Nelson, Jr. (New Haven, 1968) 125-145.

K a p . III: Die rhetorische Oberflächenstruktur als Funktion der Tiefenstruktur 1

1.

Konstitution der rhetorischen

Oberfläche

In d e n b i s h e r i g e n B e t r a c h t u n g e n w u r d e d i e r h e t o r i s c h e O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r eines T e x t e s allgemein als Funktion der thematischen Tiefenstruktur definiert. D i e s e r S e k t o r d e s f u n k t i o n a l - s t r u k t u r a l i s t i s c h e n b e d a r f nun einer eingehenderen

Beschreibungsmodells

Analyse.

dieselbe

thema-

t i s c h e T i e f e n s t r u k t u r in v e r s c h i e d e n e > S p r a c h e n < ü b e r s e t z b a r ist: 1

W i r g e h e n d a b e i v o n d e r B e o b a c h t u n g a u s , d a ß ein und

D e n bei-

d e n S ä t z e n >Der H u n d b i ß d e n M a n n < u n d T h e m a n w a s bitten b y the dog< u n t e r l i e g t e i n u n d d i e s e l b e t h e m a t i s c h e T i e f e n s t r u k t u r , thematische

Syntax,

selbst w e n n der englische S a t z - d e m englischen S p r a c h g e b r a u c h g e m ä ß e i n e a n d e r e grammatische

Syntax

aufweist: An der grundsätzlichen

-

Gültig-

k e i t d e r A u s s a g e , d a ß e i n u n d d i e s e l b e t h e m a t i s c h e T i e f e n s t r u k t u r in v e r s c h i e d e n e S p r a c h e n ü b e r s e t z b a r ist, ä n d e r n a u c h d i e b e i m p r a k t i s c h e n Ü b e r 1

D i e U n t e r s c h e i d u n g v o n »Oberflächen«- und »Tiefenstruktur« ist durch N. C h o m s Structures, T h e H a g u e , ' 1 9 6 6 ; ' 1957), und rein kys B e g r i f f e a n g e r e g t (cf. Syntactic formal b e t r a c h t e t , m ö g e n g e w i s s e Ü b e r e i n s t i m m u n g e n zwischen d e m C h o m s k y schen M o d e l l der S y n t a x b e s c h r e i b u n g und d e m hier v o r g e l e g t e n M o d e l l der them a t o l o g i s c h - r h e t o r i s c h e n T e x t b e s c h r e i b u n g f e s t s t e l l b a r sein, wenn e t w a g e s a g t wird, d a ß e i n - u n d d i e s e l b e t h e m a t i s c h e T i e f e n s t r u k t u r in verschiedene rhetorische O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r e n ü b e r s e t z b a r ist. In dieser Hinsicht sind a u c h A n r e g u n g e n d e r K a s u s t h e o r i e n u t z b a r g e m a c h t worden. D i e G e s a m t k o n z e p t i o n des T e x t b e s c h r e i b u n g s m o d e l l s a b e r (cf. K a p . II, 2) impliziert, d a ß hier von einer a n d e r e n K o n zeption d e r T i e f e n s t r u k t u r a u s z u g e h e n ist: Als t h e m a t i s c h e (und nicht s y n t a k t i s c h e ) T i e f e n s t r u k t u r wird sie erklärt a l s F u n k t i o n eines W i r k l i c h k e i t s m o d e l l s in einem Individualbewußtsein und einer i n d i v i d u a l - p e r s p e k t i v i s c h e n W e l t - A n s c h a u u n g , d. h. eine T e x t s t r u k t u r g e s c h i c h t e k a n n nicht v o m historischen A u t o r und intendierten L e s e r und ihren jeweiligen M o d e l l v o r s t e l l u n g e n v o m R e a l e n a b s t r a h i e r e n , wie es eine a u f Universalien a b z i e l e n d e L i n g u i s t i k k a n n o d e r zu k ö n n e n vermeint.

" D i e s e A n n a h m e v o n d e r M ö g l i c h k e i t »synonymer Texte« steht in d i a m e t r a l e m G e g e n s a t z zu den Ü b e r l e g u n g e n von C l e a n t h B r o o k s , »The H e r e s y of P a r a p h r a s e « , The Well Wrought Um, op. cit., 161, der die M ö g l i c h k e i t einer s y n o n y m e n P a r a p h r a s e in A b r e d e stellt.

49

setzen a u f t a u c h e n d e n Schwierigkeiten nichts, wenn etwa der Übersetzer feststellen muß, d a ß die Vereinbarungskonventionen verschiedener Nationalsprachen divergieren: S o m a g es sein - u m ein bekanntes Beispiel zu nennen d a ß es f ü r die Vorstellung, die ein Deutscher mit d e m Wort >Gemütlichkeit< verbindet, im Englischen kein einzelnes Wort gibt, >umschreibbar< a b e r ist auch diese k o m p l e x e Vorstellung, wenn sie in ihre K o m p o n e n t e n zerlegt und f ü r diese d a n n die f r e m d s p r a c h l i c h e n Zeichen g e f u n d e n werden. Sicher ist die P a r a p h r a s e - wenn m a n die Anzahl der verwendeten Zeichen betrachtet nicht so ö k o n o m i s c h wie die V e r w e n d u n g eines einzelnen Wortzeichens, a b e r die Ö k o n o m i e des Zeichengebrauchs ist allein ein oberflächenstrukturelles Problem. S o läßt sich theoretisch und praktisch durch

tiefenstrukturell

orientiertes Ubersetzen eine Vielzahl von T e x t e n herstellen, die sich zwar unter d e m A s p e k t ihrer klanglichen oder g r a p h i s c h e n Q u a l i t ä t , ihrer Ö k o n o mie und auch ihrer g r a m m a t i s c h e n S y n t a x nach unterscheiden, denen a b e r allen dieselbe thematische T i e f e n - und damit Vorstellungsstruktur unterliegt. Ein Sonderproblem,

d a s hier kurz gestreift werden muß, erhebt sich bei

der U m s e t z u n g einer zunächst allein sprachlich realisierten T i e f e n s t r u k t u r in ein anderes Z e i c h e n - M e d i u m : Die Literaturwissenschaft ist mit diesem Problem bei der >Metaphysical Poetry< des 17. J a h r h u n d e r t s konfrontiert: Die Forschungen zum Problem der E m b l e m - L i t e r a t u r 2 haben a u f g e z e i g t , welch ein enger Z u s a m m e n h a n g zwischen der >Metaphysical Poetry< und der Em-

blematik

jener Zeit besteht. Bisher haben die Untersuchungen vornehmlich

dem Zweck gedient, entweder E n t s p r e c h u n g e n zwischen den sprachlichen Texten und den >Bildtexten< der E m b l e m b ü c h e r jener Zeit a u f z u d e c k e n oder >dunkle Stellen< von sprachlichen T e x t e n durch Hinzuziehung der E m b l e m a tik aufzuklären. Diese Untersuchungen basieren alle auf der V o r a u s s e t z u n g , d a ß ein und dieselbe thematische T i e f e n s t r u k t u r mittels verschiedener Medien realisierbar ist: Schließt m a n sich der von der Semiotik g e m a c h t e n Unterscheidung von ikonischen

Zeichen

und symbolischen

Zeichen3

an, so heißt

dies, d a ß d a s E m b l e m die thematische T i e f e n s t r u k t u r mittels ikonischer, d. h. bildlicher Zeichen, der sprachliche T e x t mittels symbolischer, d. h. sprachlicher Zeichen realisiert. Durch diese Untersuchungen ist eine G r u n d l a g e gelegt, auf der eine komparative

oder kontrastive

Medienrhetorik

aufbauen

könnte, wenn die bisher erzielten E r g e b n i s s e unter semiotischem A s p e k t ausgewertet würden. a

C f . d a z u E. N. S. T h o m p s o n , > E m b l e m BooksProblems in E m b l e m Literaturen, Jicp 4 6 ( 1 9 4 6 ) ; R. M. F r e e m a n , english Emblem Books (Ld., 1948); P. M. D a l y , »Trends a n d P r o b l e m s in the S t u d y of E m b l e m a t i c LiteratureLexikon< der ikonischen Zeichen im V e r h ä l t n i s z u m L e x i k o n d e r v e r b a l - s y m b o l i s c h e n Z e i c h e n einen wesentlich kleineren U m f a n g h a t , so e r h e b t sich die Frage, welche spezifischen t h e m a t i s c h e n S a c h v e r h a l t e sowohl ikonisch als a u c h verbal-symbolisch realisiert w e r d e n k ö n n e n . Die zweite u n d interessantere F r a g e ist allerdings, welche t h e m a t i s c h e n S t r u k t u r e n - auf G r u n d d e r Begrenztheit des ikonischen Lexikons - sich einer ikonischen Realisierung nicht a n b i e t e n o d e r entziehen u n d somit allein d u r c h verbale Z e i c h e n realisierbar sind, u n d welchen restriktiven E i n f l u ß die in >Bildtexten< realisierten t h e m a t i s c h e n P r o g r a m m e auf d a s V o r s t e l l u n g s v e r m ö g e n v o n A u t o r e n u n d d a m i t auf die t h e m a t i s c h e Tief e n s t r u k t u r a u c h von s p r a c h l i c h e n T e x t e n ausüben. Diese F r a g e n k ö n n e n nicht ahistorisch-theoretisch a b g e h a n d e l t werden, d e n n es zeigt sich, d a ß d a s ikonische Lexikon in b e s t i m m t e n Kulturkreisen u n d auf verschiedenen technologischen E n t w i c k l u n g s s t u f e n desselben Kulturkreises eine V a r i a b l e ist: D a s Reservoir ikonischer Zeichen h a t e t w a mit der E i n f ü h r u n g des Filmes eine bis d a h i n u n e r h ö r t e E r w e i t e r u n g e r f a h r e n . Die Semiologie des Films' ist z w a r in A n g r i f f g e n o m m e n , a b e r die F r a g e , inwieweit - e t w a im S t u m m f i l m - die B e s c h r ä n k u n g d e r zur V e r f ü g u n g s t e h e n d e n nur-bildlichen Zeichen die Realisierung spezifischer T h e m e n u n d T h e m e n k o n s t e l l a t i o n e n möglich u n d die a n d e r e r u n m ö g l i c h m a c h t , ist noch u n b e a n t w o r t e t . E b e n s o die zusätzliche Frage, o b sich die t h e m a t i s c h e n C o d e s v o n S t u m m f i l m u n d T o n f i l m e i n m a l in ihrer inneren D i f f e r e n z i e r t h e i t u n d K o m p l e x i t ä t u n d zum a n d e r e n in d e m A s p e k t d e r W i r k l i c h k e i t s a u f f a s s u n g unterscheiden. Diese E i n z e l f r a g e n verd i c h t e n sich zu d e r Schlüsselfrage, o b u n d in welcher R i c h t u n g die W a h l v o n nichtsprachlichen M e d i e n zu t h e m a t i s c h e n Restriktionen f ü h r t , d e n e n s p r a c h l i c h e T e x t e selbst nicht u n t e r w o r f e n sind. D e n e i n f a c h s t e n Z u g a n g zur L ö s u n g dieses P r o b l e m s bietet eine vergleichende A n a l y s e sprachlicher T e x te, die in d a s M e d i u m des Films o d e r des F e r n s e h e n s umgesetzt werden. So zeigt e t w a die russische Othello - V e r f i l m u n g eine w e i t g e h e n d e U m s e t z u n g der >Tierbilder< in S h a k e s p e a r e s T e x t in visuelle Tierbilder. Hier n u n e r h e b t sich die grundsätzliche F r a g e , o b die in d e r Semiotik g e m a c h t e Unterscheid u n g zwischen >symbolischen< u n d >ikonischen< Zeichen zur E r f a s s u n g d e r r h e t o r i s c h e n O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r eines T e x t e s ausreicht: I m S h a k e s p e a r e schen D r a m e n t e x t ist es u n v e r k e n n b a r , d a ß die T i e r b i l d e r nicht Tiervorstellungen bezeichnen, sondern S t a d i e n in einem V e r t i e r u n g s - u n d D e g r a d i e rungsprozess, d e m O t h e l l o d u r c h I a g o u n t e r w o r f e n wird, signalisieren. Die U m s e t z u n g d e r im s p r a c h l i c h e n T e x t also m e t a p h o r i s c h v e r w e n d e t e n >images< in >picturespictures< realisierbar; es fällt allerdings bei S h a k e s p e a r e a u f , d a ß er den thematischen Bereich der S e x u a l i t ä t nie b i l d h a f t in Szene setzt, sondern immer nur verbal realisiert. E s hat bis ins 20. J a h r h u n d e r t gedauert, bis d a s Bett nicht nur als K r a n k e n - sondern auch als L i e b e s l a g e r einen unverstellten Platz auf Bühne, L e i n w a n d und Bildschirm g e f u n d e n hat und bis die schon eine g e r a u m e Zeit s a g b a r e n D i n g e auch z e i g b a r wurden. Andererseits stellt m a n fest, d a ß der thematische Bereich des >gewaltsamen Tötens< bei S h a k e s p e a r e sowohl verbale als auch b i l d h a f t e Realisierungen erfuhr, d. h. d a ß f ü r diesen Bereich nicht dieselben Medienrestriktionen gelten wie f ü r den Bereich der Sexualität. Sieht m a n von d e m allein thematologisch interessanten und deshalb in diesem Z u s a m m e n h a n g irrelevanten Fall a b , d a ß es T a b u s gibt, welche die Realisierung bestimmter T h e m e n k r e i s e ü b e r h a u p t verhindern, so bleibt festzustellen, d a ß - wie a n g e d e u t e t - bei bestimmten T h e m e n auch die Wahl der Realisierungsmittel m i t b e s t i m m t wird durch V o r b e h a l t e und T a b u s des Dekorums. W a s Levin L u d w i g in seiner Studie Soziologie

der literarischen

Geschmacksbildung'

SCHÜCKINC

vorwiegend

unter d e m A s p e k t der T h e m e n w a h l in A n g r i f f g e n o m m e n hat, wäre ausweitb a r auf rhetorische und medienrhetorische A s p e k t e von T e x t e n , wie sie Rudolf Stamm® unter a n d e r e m an den B e a r b e i t u n g e n von S h a k e s p e a r e s t ü c k e n durch D a v e n a n t und D r y d e n untersucht hat. A u c h bei der A n a l y s e der rhetorischen O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r geht der funktional-strukturalistische A n s a t z über die formal-stilistischen Beschreibungen hinaus und f r a g t zurück nach textexterner B e d i n g u n g und Funktionalität der V e r w e n d u n g spezifischer rhetorischer Mittel. E s sind im Verlauf der D a r l e g u n g e n i m m e r wieder die B e g r i f f e der

Rhetorik,

der Medienrhetorik,

Oberflä-

chenstruktur

der rhetorischen

Mittel

und der rhetorischen

verwendet worden. Die D a r l e g u n g e n sollten deutlich g e m a c h t

haben, d a ß der B e g r i f f der Rhetorik in diesem funktional-strukturalistischen A n s c h a u u n g s m o d e l l ein weiteres Feld u m f a ß t als nach der konventionellen V e r e i n b a r u n g . D a m i t ist eine A n g l e i c h u n g an die B e d e u t u n g s v e r e i n b a r u n g v o r g e n o m m e n worden, wie sie sich in der angelsächsischen Literaturwissens c h a f t eingebürgert hat. Wenn W. C. Booth von The Rhetoric

of

Fiction

spricht, d a n n meint er d a m i t allgemein die im R o m a n zur D a r s t e l l u n g verwendeten Mittel. In Anlehnung an diese B e g r i f f s v e r e i n b a r u n g werden hier unter rhetorischen

Mitteln

die verschiedenen Arten von Zeichen und ihre

' Ibid., 1 / 1 / 1 1 7 . ' (Bern, 3. neu b e a r b . A u f l . 1961). * R u d o l f S t a m m , >Englischer L i t e r a t u r b a r o c k ? < , Die Kunstformen ters, ed. R. S t a m m ( B e r n , 1956), 3 8 1 - 4 1 2 . ( C h i c a g o , 1961).

des

Barockzeital-

53

Organisation in der Textoberfläche verstanden. Die Darlegung des funktionalistischen Ansatzes hat deutlich werden lassen, daß - im Unterschied zu einer formal-stilistischen Betrachtungsweise - die rhetorische Oberflächenstruktur nie für sich allein analysierbar ist, sondern immer nur im Netz der Bezüge von thematischer Funktion, zeitgenössischer Bedingung und auktorialer Intention. 1.1.

Verbale und nichtverbale Textrhetorik

Vor einer Verengung des Blickwinkels allein auf die verbalrhetorischen Modi der Themenrealisierung sei vorher noch einmal der Begriff des rhetorischen Mittels exemplifiziert: Es ist bekannt, daß im thematischen Code von Shakespeares Hamlet

das Thema des Vergiftens einen zentralen Platz ein-

nimmt: Hamlets Vater ist von Claudius, seinem Onkel, vergiftet worden. Dieses T h e m a wird, als der Geist Hamlet und dem Leser Akt und Umstände des Vergiftens zur Vorstellung bringt, zunächst einmal mit verbal-rhetorischen Mitteln realisiert: Sleeping within my orchard, My custom always in the afternoon, Upon my secure hour thy uncle stole, With juice of cursed hebona

in a vial,

And in the porches of my ear did pour The leperous

distilment,

whose effect

Holds such an enmity with blood of man, That swift as quicksilver it courses through the natural gates and alleys of the body; And with sudden vigour it doth posset And curd, like eager dropping into milk, The thin and wholesome blood: so it did mine."

"

54

Hamlet, The New (Cambridge) Shakespeare, ed. J . D. Wilson (Cambridge UP, 1969), I / 5 / 5 9 f f . : >Da ich im Garten schlief, Wie immer meine Sitte nachmittags, Beschlich dein Oheim meine sichre Stunde Mit S a f t verfluchten Bilsenkrauts im Fläschchen Und träufelt' in den Eingang meines Ohrs Das schwärende Getränk; wovon die Wirkung So mit des Menschen Blut in Feindschaft steht, D a ß es durch die natürlichen K a n ä l e Des Körpers hurtig wie Quecksilber läuft Und wie ein saueres L a b , in Milch getropft, Mit plötzlicher Gewalt gerinnen macht D a s leichte, reine Blut. S o tat es meinem«. Hamlet, übers, v. A. W. Schlegel, Sämtliche Dramen, Bd. III, op. cit., 611.

In I I I / 2 h a t S h a k e s p e a r e d a s s e l b e T h e m a mit d e n n i c h t - v e r b a l e n M i t t e l n d e r P a n t o m i m e in S z e n e gesetzt. D i e A n w e i s u n g f ü r die P a n t o m i m e l a u t e t f o l gendermaßen : The dumb show enters. Enter a King and a Queen, very lovingly; the Queen embracing him and he her. She kneels, and makes show of protestation unto him. He takes her up, and declines his head upon her neck: lays him down upon a bed of flowers: she, seeing him asleep, leaves him. Anon comes in a fellow, takes off Iiis crown, kisses it, and pours poison in the King's ears, and exit. The Queen returns; finds the King dead, and makes passionate action. The poisoner, with some two or three mutes, comes in again, seeming to lament with her. The dead body is carried away. The poisoner wooes the Queen with gifts: she seems loth and unwilling awhile, but in the end accepts his love." S i e h t m a n e i n m a l v o n den in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g u n w e s e n t l i c h e n U n t e r s c h i e d e n d e r P e r s p e k t i v e n v e r h ä l t n i s s e i m E r i n n e r u n g s b e r i c h t der G e i s t - G e stalt u n d d e r s z e n i s c h e n P a n t o m i m e a b , so bleibt d e r S a c h v e r h a l t , d a ß ein u n d d a s s e l b e T h e m a m i t v e r s c h i e d e n e n r h e t o r i s c h e n M i t t e l n zur V o r s t e l l u n g g e b r a c h t wird. Z i e h t m a n n u n a n d e r e r s e i t s d a s a u f Hamlet

Othello

folgende Stück

z u m V e r g l e i c h hinzu, so ist f e s t z u s t e l l e n , d a ß i m v e r b a l r h e t o r i s c h e n

Bereich zumindest punktuelle Ähnlichkeiten auftreten, etwa wenn Shakes p e a r e d i e I a g o - G e s t a l t in I I / 3 / 3 4 9 d a s s e l b e W o r t m a t e r i a l , wie es in d e r zitierten H a m l e t - S t e l l e v e r w e n d e t wird, w i e d e r v e r w e n d e n l ä ß t : >1*11 p o u r this p e s t i l e n c e into his ear.< 13

,a

Ibid., I I I / 2 / p o s t 133.: >Ein König und eine Königin treten auf, sehr zärtlich; die Königin umarmt ihn und er sie. Sie kniet und macht gegen ihn die Gebärde der Beteuerung. Er hebt sie auf und lehnt den K o p f an ihre Brust; er legt sich auf ein Blumenbett nieder, sie verläßt ihn, da sie ihn eingeschlafen sieht. Gleich darauf kommt ein Kerl herein, nimmt ihm die Krone ab, küßt sie, gießt Gift in die Ohren des Königs und geht ab. Die Königin kommt zurück, findet den König tot und macht leidenschaftliche Gebärden. Der Vergifter kommt mit zwei oder drei Stummen zurück und scheint mit ihr wehzuklagen. Die Leiche wird weggebracht. Der Vergifter wirbt mit Geschenken um die Königin; sie scheint anfangs unwillig und abgeneigt, nimmt aber zuletzt seine Liebe an.< Hamlet, übers, v. A. W. Schlegel, op. cit., 644f. Othello, op. cit, I I / 3 / 3 4 9 . 55

1.2.

T y p e n d e r T e x t r h e t o r i k u n d M o d i der V e r s c h l ü s s e l u n g der thematischen Tiefenstruktur

D e r V e r g l e i c h der t h e m a t i s c h e n T i e f e n s t r u k t u r e n v o n Hamlet

Othello

und

m a c h t j e d o c h evident, d a ß d a s hier h e r a u s g e g r i f f e n e Z e i c h e n m a t e r i a l , d a s s o w o h l in Hamlet

a l s a u c h in Othello

auftritt, verschiedene Zeichenobjekte

h a t : V e r w e i s e n >hebona< u n d >leperous distilment< in Hamlet

auf die Vorstel-

l u n g v o n p h y s i s c h w i r k e n d e m G i f t , d a s d e m K ö n i g ins O h r g e t r ä u f e l t w u r d e , so v e r w e i s t >pestilence< in Othello

n u n a u f die die P s y c h e

vergiftende

E i f e r s u c h t , die O t h e l l o d u r c h l a g o s u g g e r i e r t wird. Rein lexikalisch

gesehen,

g e h ö r e n die Z e i c h e n o b j e k t e aller drei W ö r t e r d e m s e m a n t i s c h e n P a r a d i g m a v o n »physisch w i r k e n d e m tödlichen Gift< an. A u f d e m H i n t e r g r u n d a b e r d e r t h e m a t i s c h e n T i e f e n s t r u k t u r e n b e i d e r S t ü c k e wird deutlich, d a ß >pestilenceleperous distilmentpsychisch< u n d >physisch< a n g e h ö r e n . S c h l ä g t m a n d e n v o n

PEIRCE

vorgeschlagenen W e g der

S e m i o s e ein, so heißt dies, d a ß >leperous distilment< u n d >pestilence< verschied e n e t e x t i n t e r n e Interpretanten14

h a b e n : D e r I n t e r p r e t a n t f ü r >pour t h e le-

p e r o u s distilment< ist in Hamlet

selbst g e g e b e n : >pour poisonvergiften< - wie g e z e i g t w u r d e - e i n m a l m i t v e r b a l e n u n d z u m a n d e r e n m i t n i c h t - v e r b a l e n M i t t e l n realisiert. Z i e h t m a n d i e g r u n d s ä t z l i c h e n M ö g l i c h k e i t e n in B e t r a c h t , die bei d e r v e r b a l e n R e a lisierung zur V e r f ü g u n g stehen, so läßt sich s a g e n , d a ß S h a k e s p e a r e - a b g e sehen v o n der S z e n e n a n w e i s u n g zur P a n t o m i m e - nicht v o n d e r M ö g l i c h k e i t G e b r a u c h g e m a c h t h a t , d a s T h e m a u n v e r s c h l ü s s e l t - d i r e k t mit >to poison< zu b e z e i c h n e n , s o n d e r n d a ß er e i n m a l >to poison< substituiert

h a t d u r c h d a s Bild

>pour the l e p e r o u s distilment< u n d d a ß er z u m a n d e r n d i e s e t h e m a t i s c h e

Othello

G r u n d v o r s t e l l u n g in d e r P a n t o m i m e visuell realisiert hat. In der a u s

zitierten Stelle - >I'll p o u r this p e s t i l e n c e into his ear< - h a t - orientiert m a n sich a n der t h e m a t i s c h e n T i e f e n s t r u k t u r - d a s B i l d d e s P e s t e i n t r ä u f e i n s einen h ö h e r e n V e r s c h l ü s s e l u n g s g r a d , denn >pestilence< ist hier nicht n u r ein

ches 14

56

Substitut

f ü r G i f t f l ü s s i g k e i t , s o n d e r n eine Metapher

bildli-

f ü r »tödliche

Zum Peirceschen Begriff des >Interpretanten< cf. E. Walther, Allgemeine lehre, op. cit., 91f.; und Eco, op. cit., 76ff.: >Das Interpretansvergiften< durch >to p o u r poisonpoison< durch einen b i l d h a f t e n Interpretanten >hebona< oder >leperous distilmenttödliche Eifersucht suggerieren< in der M e t a p h e r >to/ p o u r pestilence into his earvergiften< durch die rhetorischen Mittel der P a n t o m i m e . Weitgehend ungeklärt bei den v o r a u s g e h e n d e n Überlegungen blieben die V o r a u s s e t z u n g e n , welche die Entschlüsselung des T h e m a s a u s seiner hochg r a d i g e n Verschlüsselung in d a s rhetorische Mittel der M e t a p h e r gewährleisten und so die M e t a p h e r als Mittel der Vorstellungserzeugung, d. h. K o m munikationsmittel, >verwendbar< werden lassen. Die einfachste Möglichkeit besteht darin, d a ß - wie bei den einfachen L e x e m e n - die V e r e i n b a r u n g hinsichtlich des Zeichenobjekts der M e t a p h e r b e k a n n t ist, d a ß die M e t a p h e r T o p o s c h a r a k t e r hat. Durch d a s Bekanntsein der Vereinbarungskonvention wird zwar erklärbar, w a r u m ein m e t a p h o r i s c h g e b r a u c h t e s Zeichen zu einer bestimmten Zeit ohne weiteres als K o m m u n i kationsmittel verwendet werden kann, nicht j e d o c h wie sie >ursprünglich< und grundsätzlich als Vorstellungserzeuger v e r w e n d b a r wurde. Die a n d e r e und in der zitierten Othello-Stelle

verwendete Möglichkeit ist, daß der K o n t e x t , in

d e m d a s metaphorisch und d a m i t v o m deskriptiv orientierten L e x i k o n abweichend verwendete Zeichen auftritt, Interpretanten

enthält, welche d a s

Zeichenobjekt der M e t a p h e r eingrenzen, definieren. S o heißt es in

Othello:

I'll p o u r this pestilence into his ear, T h a t [ D e s d e m o n a ] r e p e a l s [ C a s s i o ] f o r her b o d y ' s lust. 1 5

In dieser Stelle wird eine von der lexikalischen Konvention abweichende neue V e r e i n b a r u n g zwischen einem bekannten Zeichen und einem neuen Zeichenobjekt getroffen. Im status

nascendi

dieser M e t a p h e r - und d a s heißt,

s o l a n g e die V e r e i n b a r u n g noch neu ist - b e d a r f es noch der textinternen Interpretanten, u m die V e r e i n b a r u n g zu treffen und sie beim Leser oder Zuschauer zu einer zumindest f ü r die D a u e r der A u f f ü h r u n g gültigen K o n v e n "

Othello, op. cit., 1 1 / 3 / 3 4 9 : >Derweil der g u t e T r o p f In D e s d e m o n a d r i n g t , ihm beizustehn, U n d sie mit N a c h d r u c k sein G e s u c h b e g ü n s t i g t , T r ä u f l ich den G i f t t r a n k in O t h e l l o s O h r : D a ß sie zu eigner L u s t zurück ihn ruftabrufbarbrauchbar< wird. Damit bleibt aber die andere Frage weiter offen, welche spezifischen Vorstellungsstrukturen bei Autor und Leser die Metaphernbildung, d. h. die Übertragung eines lexikalisch bereits einem spezifischen Zeichenobjekt zugeordneten Zeichens zu einem neuen Zeichenobjekt zu ermöglichen. Greifen wir noch einmal zurück auf die Beispiele in Hamlet und Othello: Sowohl >hebona< und >leperous distilment< als auch >pestilence< sind gekoppelt mit dem Verb >pourFlüssigkeit eingießen< erzeugt wird. Aus dem Kontext seiner Interpretanten genommen gehört also >pestilence< wie >hebona< und >leperous distilment< dem Vorstellungsparadigma von p h y sisch wirkendem, tödlichen Gift< an. Im Othello-Text aber wird dieses Zeichen übertragen auf die Vorstellung >psychisch wirkende, tödliche Eifersucht^ Legt man die mit >pestilence< bezeichneten zwei Zeichenobjekte in ihre Komponenten auseinander, so ergibt sich, daß die beiden Zeichenobjekte die Vorstellungskomponente >tödlich< gemeinsam haben, daß sie durch diese eine Komponente einem gemeinsamen Paradigma angehören, während die anderen Komponenten, »psychisch wirkend< und »physisch wirkend< einander antithetisch zugeordneten Paradigmen angehören. Daß die Übertragung des Zeichens >pestilence< von einem >ursprünglich< physischen Vorstellungsbereich auf einen psychisch-geistigen Vorstellungsbereich möglich wird, ist nur historisch erklärbar aus der Vorstellungsstruktur des Elisabethanischen Weltbildes und damit aus der übereinstimmenden Sehgewohnheit Shakespeares und seines Publikums: Der damaligen Gewohnheit entsprechend sah Shakespeare die Gesamtwirklichkeit in zwei dualistisch aufeinander bezogene Wirklichkeitsbereiche, in die spirituelle und die physische Welt, aufgeteilt. Der Mensch in seiner Körperlichkeit und Geistigkeit wurde vorgestellt als an beiden teilhabend, als Verbindungsglied zwischen beiden Seinsbereichen. Zudem herrschte die Vorstellung, daß die beiden Seinsbereiche trotz aller qualitativen Unterschiedenheit in sich gleich strukturiert seien: daß sie unter dem Aspekt ihrer hierarchischen Struktur betrachtet korrespondierten, übereinstimmten. Diese Korrespondenzen oder korrespondierenden Strukturen sah man in den verschiedensten Wirklichkeitsbereichen: in der Hierarchie der Geistwesen, an deren Spitze Gott gedacht wurde; im Staate, an dessen Spitze der Herrscher stand; im Einzel58

menschen, dessen höchste Geisteskraft der Ratio den andern Kräften übergeordnet war, ebenso wie im Tierreich, wo etwa der Löwe die höchste hierarchische Position innehatte. Genau dieses Korrespondenzdenken wird produktiv auch bei der Metaphernbildung, bei der Übertragung eines Zeichens mit zunächst physischem Zeichenobjekt auf ein psychisches Zeichenobjekt. Hier wird sichtbar, wie das Problem der Wahl der rhetorischen Mittel eines Textes eingelagert und bedingt ist in und durch den größeren Zusammenhang der Vorstellungsstrukturierung zu einer gegebenen Zeit. Es braucht keiner besonderen Erwähnung, daß Metaphern, die aus der spezifischen Weltanschauung der Elisabethaner heraus entstanden, weitergereicht und weiterverwendet wurden in Zeiten, da die dualistische Weltanschauung und das Korrespondenzendenken durch monistische und kausal strukturiert gedachte Weltbilder verdrängt worden war. Die für die Textbeschreibung relevante Frage dabei ist nicht die Weiterverwendung von >alten< Metaphern, sondern ob und in welchem Maße die metaphorische Übertragung produktiv blieb oder ob sich andere Übertragungstypen und damit eine andere Rhetorik ausbildeten.

1.2 2.

Verschlüsselungsgrade

Wenn oben gesagt wurde, daß metaphorisch verwendete Bilder einen höheren Grad der Sinn-Verschlüsselung aufweisen als die ein Zeichenobjekt >direkt und unverschlüsselt bezeichnenden Zeichen, dann bedarf diese Feststellung an dieser Stelle einer Präzisierung und grundsätzlichen Klärung: Jede Zuordnung eines Zeichens zu einem Zeichenobjekt beruht auf einer Vereinbarung. Wird die Vereinbarung zum Allgemeingut einer Sprachgemeinschaft, dann erhebt sich für deren Mitglieder das Problem der Verschlüsselung und analytischen Entschlüsselung nicht, da die Vereinbarung bekannt ist und nicht erst durch eine Entschlüsselung erkannt werden muß. Dies gilt auch für metaphorisch verwendete Zeichen. Im Falle von metaphorischen Neuvereinbarungen, wie sie etwa Shakespeare mit >pestilence< vornahm, bedurfte es allerdings der die Vorstellung lenkenden Interpretanten, um die Übertragung des Zeichens von einem lexikalisch vorfixierten Zeichenobjekt auf ein neues und noch unbekanntes erkennbar und dadurch den metaphorischen Gebrauch des Zeichens entschlüsselbar zu machen. Verfolgt man diesen Gedankengang weiter, so heißt dies, daß Shakespeare davon ausging, daß in diesem Falle das Bewußtsein seiner Leser oder Zuhörer durch eine stehende Vereinbarung des Zeichens >pestilence< mit der Vorstellung >any fatal epidemic disease, affecting man or beast< vorprogrammiert war und die von ihm intendierte Neuvereinbarung desselben Zeichens mit einem neuen Zeichenobjekt leserseits noch nicht ohne Interpretanten realisiert werden konnte. 59

D a s Vorhandensein von textinternen Interpretanten, deren

Zeichenob-

j e k t - R e l a t i o n a u k t o r i a l e r s e i t s a l s b e i m L e s e r b e k a n n t v o r a u s g e s e t z t w i r d , läßt d a r a u f s c h l i e ß e n , d a ß e i n e V e r e i n d e u t i g u n g d e r i n t e n d i e r t e n V o r s t e l l u n g bea b s i c h t i g t ist. In e i n e - n u r zu k o n s t a t i e r e n d e , a b e r n i c h t a u f l ö s b a r e - S c h w i e rigkeit gerät der T e x t a n a l y t i k e r allerdings i m m e r d a n n , wenn durch die T r a d i t i o n e i n e s B i l d g e b r a u c h e s nicht e r u i e r b a r e V e r w e n d u n g e n eines B i l d e s a u f tauchen und die Möglichkeit zwischen den beiden Alternativen besteht, d a ß e n t w e d e r d i e m e t a p h o r i s c h e V e r w e n d u n g eines B i l d e s a u k t o r i a l e r s e i t s a l s unproblematisch und beim Leser nachvollziehbar betrachtet wird und

deshalb

keine vereindeutigenden Interpretanten v o r h a n d e n sind oder deren Nichtvorh a n d e n s e i n a u f d i e I n t e n t i o n z u r ü c k z u f ü h r e n sein k ö n n t e , d e n L e s e r zur eig e n e n H y p o t h e s e n b i l d u n g zu v e r a n l a s s e n , w a s - a u s seiner S i c h t - m i t e i n e m m e t a p h o r i s c h v e r w e n d e t e n B i l d g e m e i n t sein k ö n n t e . A u f d e m H i n t e r g r u n d dieser Ü b e r l e g u n g e n wird deutlich, welche Schwierigkeiten einer die verschiedensten historischen G e g e b e n h e i t e n und die v o m T e x t a u t o r gemachten A n n a h m e n und Intentionen abdeckenden Theorie der R h e t o r i k t y p e n i m V e r h ä l t n i s zu G r a d e n d e r S i n n v e r s c h l ü s s e l u n g e n t g e g e n stehen. W e n n in d e r F o l g e a b e r e i n e S y s t e m a t i s i e r u n g d e r r h e t o r i s c h e n M i t t e l u n d M o d i zur T h e m e n r e a l i s i e r u n g u n t e r d e m A s p e k t d e r V e r s c h l ü s s e l u n g v o r g e n o m m e n w i r d , d a n n g e s c h i e h t d i e s g r u n d s ä t z l i c h nicht v o m > I n n e n s t a n dort< d e s T e x t a u t o r s o d e r h i s t o r i s c h e n L e s e r s , w e l c h e r d i e V e r e i n b a r u n g s k o n v e n t i o n e n seiner Z e i t >weißbekannt
ursprünglichen< Ü b e r t r a g u n g s s c h r i t t e ,

welche

theoretisch den Schritten der nachvollziehenden O p e r a t i o n entsprechen. D e r B e g r i f f d e r > V e r s c h l ü s s e l u n g < ist s o m i t e i n e o p e r a t i o n e l l e G r ö ß e , w e l c h e a u s den begründeten A n n a h m e n über eine historisch v o r a u s z u s e t z e n d e genetis c h e I n i t i a l s t u f e a b g e l e i t e t ist. W e n n in d e r F o l g e d i e R h e t o r i k d e r O b e r f l ä -

60

chenstruktur in die zwei in sich differenzierten Klassen der rhetorischen Mittel zur einerseits unverschlüsselten und andererseits verschlüsselten Themenrealisierung unterteilt werden so ist dies nicht mit formalrhetorischen Kriterien möglich, sondern - wie der Begriff der Themenrealisierung zeigt - immer nur im Bezug der verwendeten Rhetorik zu der zu realisierenden thematischen Tiefenstruktur. Dabei wird von der operationellen Setzung ausgegangen, daß die thematische Tiefenstruktur als der Bereich der Regulative, des jeweils durch einen Text Gemeinten und damit als das durch den Textsemantiker zu Entschlüsselnde, selbst keinerlei Züge der Verschlüsselung aufweist. Orientiert an dem Bereich der thematischen Tiefenstruktur sind - was die Rhetorik der Oberflächenstruktur unter dem Aspekt der Verschlüsselung der tiefenstrukturellen Sachverhalte betrachtet anlangt - zwei grundsätzliche Modi der Themenrealisierung und damit zwei Klassen der dazu verwendeten rhetorischen Mittel zu unterscheiden: Auf der einen Seite die rhetorischen Mittel, durch welche die thematischen Konzepte direkt, unverschlüsselt, explizit bezeichnet werden und auf der andern Seite, die in sich stark differenzierbare Klasse der rhetorischen Mittel, durch welche die thematischen Konzepte indirekt bezeichnet und deshalb - unter dem Aspekt der analytischen Entschlüsselung betrachtet - erst über Zwischenstufen der Reduktion erschließbar werden. 1.221. Die Rhetorik der unverschlüsselt-expliziten Themenrealisation Am unverschlüsseltsten liegt die thematische Tiefenstruktur in einem Text zutage, in dem die Thematik konzeptualisiert wird. Im Hinblick auf die oben behandelten Beispiele heißt dies, daß das Thema >vergiften< oder >geistig korrumpieren direkt mit dem konzeptualisierenden Zeichen >Vergiften< oder >Korrumpieren< bezeichnet wird. Alexander Popes Essay on Man enthält eine Fülle von Beispielen, in denen dieser begrifflieh-argumentative Realisationsmodus, der in andern Texten mit andern Modi gemischt sein kann, in Reinform, d. h. unvermischt mit Substitutionen durch Bilder und Metaphern, vorkommt: Two Principles in human nature reign; Self-love, to urge, and Reason, to restrain. 16

" Alexander Pope, Essay on Man, Epistle III, The Poetical Works (Ld., 1956), 53f.: >Zwei Prinzipien regieren in der menschlichen Natur: Die Eigenliebe als Antrieb und die Vernunft als zügelnde Kraft.< (Übers, v. Verf.) Cf. dazu Herbert Grabes, »Die rhetorische Struktur von Popes Essay on ManSelf-love< und >Reason< in eine Zeichenart zu übersetzen, die dem Lexikon und damit der stehenden Vereinbarung nach Zeichenobjekte aus der konkret-welthaltigen Vorstellungssphäre haben: Reason is the card, but Passion is the gale."

Durch die Bilder >card< ( = >map or plangale< ( = >wind of considerable strengthcard< und >gale< auf die abstrakten Vorstellungen >reason< und >passion< erst ermöglichen. In Popes Wahl der rhetorischen Mittel ist allerdings ein größerer Widerwille als bei Shakespeare dagegen zu entdecken, die Zeichen >reason< und >card< etc. - auch nachdem die Vereinbarung ihrer potentiellen Austauschbarkeit einmal getroffen ist - auch auszutauschen und damit den Prozess der Metaphorisierung zu Ende zu führen. Betrachtet man den Gebrauch der Bilder in diesem Beispiel näher unter dem Aspekt ihrer textinternen Funktion, so ergibt sich, d a ß sie auf die Illustration der abstrakten Schlüsselvorstellungen >Reason< und >Self-love< beschränkt bleiben, daß sie als bildhafte Interpretanten der auf das abstrakte Konzept verweisenden Zeichen fungieren, ohne die >Selbständigkeit< eines metaphorisch gebrauchten Zeichens zu gewinnen. Als illustrierende Interpretanten sind sie Hilfsmittel, die abstrakten Vorstellungen ( = abstrakte Zeichenobjekte) einmal zu veranschaulichen und zum andern zu definieren, soweit ihre Definition f ü r einen bestimmten Leser nicht schon mit dem Zeichen >Self-love< und >Reason< hinlänglich gegeben ist. Als Illustranten und Interpretanten haben diese Bilder also eine strategische Funktion: Sie stehen im Dienst einer textintern betriebenen Semiose. Bezieht man diesen Zeichengebrauch zurück auf das Menschenbild Popes, so hat man es grundsätzlich mit denselben Vorstellungsstrukturen der Korrespondenz wie bei Shakespeare zu tun. Das Verfahren der mit Interpretanten textintern betriebenen Semiose und die ausbleibende Verselbständigung der Bilder zu Metaphern aber verrät, d a ß Pope bei seiner Leserschaft die Vorstellungsstrukturen der Korrespondenz zwischen den verschiedenen Bereichen des Anschauungssystems nicht mehr mit der Selbstverständlichkeit wie Shakespeare voraussetzen kann.

" Ibid., 108: >Die V e r n u n f t ist die Karte, a b e r die Leidenschaft ist der Sturmreason< n o c h d e m V o r s t e l l u n g s b e r e i c h d e s G ö t t l i c h e n : Reason, your [God's] viceroy in mee . . . " D i e V o r s t e l l u n g der menschlichen,

den Menschen

in K o r r e s p o n d e n z g e s e t z t zu einer göttlichen,

lenkenden

Vernunft

die Welt lenkenden

wird

Vernunft:

die m e n s c h l i c h e V e r n u n f t wird so v o r s t e l l b a r a l s Stellvertreter d e r g ö t t l i c h e n V e r n u n f t . P o p e d a g e g e n e n t n i m m t d e n I n t e r p r e t a n t e n zu >reason< einer innerweltlichen V o r s t e l l u n g s s p h ä r e : D i e e n t s c h e i d e n d e V o r s t e l l u n g s k o m p o n e n te bei >card< ist innerweltlicher N a t u r ; die » L a n d k a r t e « ist P r o d u k t menschlicher A k t i v i t ä t u n d hat den Z w e c k , m e n s c h l i c h e O r i e n t i e r u n g in der e m p i rischen Welt zu gewährleisten. B e d i n g u n g eines

Korrespondenzendenkens

u n d d a m i t B e d i n g u n g der Ü b e r t r a g u n g u n d Ü b e r t r a g b a r k e i t eines Z e i c h e n s a u f einen a n d e r n , a b e r g l e i c h s t r u k t u r i e r t e n V o r s t e l l u n g s b e r e ' c h ist die V o r s t e l l u n g v o n z w a r h e t e r o g e n e n W i r k l i c h k e i t s b e r e i c h e n , die a b e r f o r m a l gleiche S t r u k t u r e n a u f w e i s e n . D i e s e s A n s c h a u u n g s s y s t e m ist in d e m zitierten P o p e - B e i s p i e l nicht m e h r p r o d u k t i v . I m V e r h ä l t n i s z u m E l i s a b e t h a n i s c h e n allumfassenden Weltbild, das noch d a s partikulare Menschenbild überdachte, b e g i n n t sich bei P o p e der V o r s t e l l u n g s b e r e i c h zu v e r e n g e n a u f den M e n schen in seiner innerweltlichen U m g e b u n g . Z w a r ist n o c h ein B e w u ß t s e i n v o n d e r u r s p r ü n g l i c h e n W e i t e d e s alten W e l t b i l d e s v o r h a n d e n , a b e r d a n e b e n existiert ein noch s t ä r k e r e s B e w u ß t s e i n von der U n m ö g l i c h k e i t , d e n überm e n s c h l i c h e n B e r e i c h e r k e n n e n zu k ö n n e n : >Presume not G o d to Scan, the p r o p e r s t u d y o f m a n k i n d is m a n . < " F ü r S h a k e s p e a r e g a b es - w a s die K o r r e s p o n d e n z zwischen d e n verschied e n e n S e i n s b e r e i c h e n seines W e l t e n m o d e l l s a n l a n g t - kein P r o b l e m des E r k e n n e n s , s o n d e r n nur d a s Wissen.

In d e m A u g e n b l i c k , w o die E r k e n n b a r k e i t

u n d V e r i f i z i e r b a r k e i t v o n u n e m p i r i s c h e n S e i n s b e r e i c h e n z u m P r o b l e m wird, b e g i n n t sich der V o r s t e l l u n g s h o r i z o n t zu v e r e n g e n u n d die F o l g e d a v o n wird nicht n u r im t h e m a t i s c h e n B e r e i c h v o n T e x t e n s i c h t b a r , s o n d e r n m a n i f e s t i e r t sich wie in d e m P o p e - B e i s p i e l a u c h in d e r P r o d u k t i v i t ä t b e s t i m m t e r rhetorischer M i t t e l , wie d e r m e t a p h o r i s c h e n Zeichen. In d i e s e r g e i s t e s g e s c h i c h t lichen S i t u a t i o n wirkt d a s K o r r e s p o n d e n z e n k o n z e p t z w a r n o c h n a c h , a b e r , d a es nicht m e h r die einzig g ü l t i g e M o d e l l v o r s t e l l u n g zur E r k l ä r u n g v o n W e l t z u s a m m e n h ä n g e n darstellt, k o m m t es - d a w o n o c h Ü b e r t r a g u n g e n v o n Z e i c h e n v o n e i n e m k o n k r e t e n a u f einen g e i s t i g e n V o r s t e l l u n g s b e r e i c h v o r g e n o m m e n w e r d e n - nicht m e h r zu vollen V e r s e l b s t ä n d i g u n g eines B i l d e s zur " Holy Sonnets, X I V , Englische Barockgedichte, Englisch und Deutsch, hrsg. v. H. Fischer (Stuttgart, 1971), 52f.: »Dein Vizekönig in mir, die V e r n u n f t . . .< " Pope, op. cit., lf.

63

Metapher, d. h. zum Gebrauch eines übertragenen Bildes ohne textinterne Interpretanten. Damit ist - vom systematisch-kontrastiven Standpunkt her betrachtet - ein größerer Grad an Explizitheit und damit ein geringerer Grad der Verschlüsselung festzustellen, wenn man die Verselbständigung etwa der Tierbilder in Othello zu eigenständigen Metaphern als Folie ansetzt. 1.222. Die Rhetorik der verschlüsselt-impliziten Themenrealisation Mit diesen Ausführungen sind die grundsätzlichen Probleme des bildlichmetaphorischen Realisationsmodus in einem Text gekennzeichnet. Es ist deutlich geworden, daß dieser Realisationsmodus - unter dem Aspekt der Vorstellungsverschlüsselung betrachtet - in sich selbst nach Verschlüsselungsgraden differenziert ist. Nach >unten< hin berührt er sich mit dem grifflich-argumentativen, nach >oben< hin mit dem dritten nun zu kennzeichnenden Realisationsmodus der Inszenesetzung eines Themenkomplexes. Je nachdem, ob dazu die rhetorischen Mittel des Dramas oder des Erzählens eingesetzt werden, erfährt dieser Modus die Bezeichnung dramatischer oder fiktionaler Realisationsmodus. Auf dieser dritten Realisationsebene ist der Grad der Themenverschlüsselung noch einmal gesteigert, denn bei der reinen Verwirklichung dieses Modus sind sowohl die begrifflich-argumentativen als auch bildlich-metaphorischen Interpretanten als graduell direktere Verweise auf die thematische Tiefenstruktur getilgt. Texte dieses >rhetorischen< Typus treten in der Romangeschichte da auf, wo das die dargestellte Handlung kommentierende und deutende Erzählmedium aus der Darstellung eliminiert wird, wo nach Lubbock 20 an die Stelle des >telling< das >showing< tritt, wo nach F. Stanzet 21 die »personale Erzählsituation« in Erscheinung tritt, wo die szenische Darstellung von Personen und Handlungen nicht überlagert oder durchdrungen wird von Kommentaren und Deutungen als komplexen Interpretanten der dargestellten Handlungen oder Personen. Im Zusammenhang mit literarischen .Charakterisierungstechniken unterscheidet man zwischen direkter und indirekter Charakterisierung. Diese Unterscheidung impliziert das hier zur Diskussion stehende Problem der Verschlüsselung und der dazu verwendeten rhetorischen Mittel. In der direkten Charakterisierung werden Eigenschaften, Dispositionen einer Gestalt direkt, und das heißt in diesem Zusammenhang, unverschlüsselt benannt und beim Leser direkt zur Vorstellung gebracht: Percy Lubbock, The Craft of Fiction (Ld., 1929; new ed. 1965). " Franz Stanzel, Die typischen Erzahlsituationen im Roman ,(Wien-Stuttgart, 1955).

64

M r . A b r a h a m A d a m s w a s an excellent s c h o l a r . . . H e w a s , b e s i d e s a m a n o f g o o d sense, g o o d p a r t s , a n d g o o d n a t u r e ; but w a s at the s a m e time a s entirely i g n o r a n t of the w a y s of this world a s an i n f a n t j u s t entered into it could p o s s i b l y be. A s he h a d never any intention to deceive, so he never s u s p e c t e d such a d e s i g n in others. H e w a s generous, friendly, a n d b r a v e to a n e x c e s s ; but simplicity w a s his c h a r a c teristic."

Die Vorstellung des Fieldingschen A d a m s , die hier mittels der Technik der direkten C h a r a k t e r i s i e r u n g erzeugt wird, wird in Joseph

Andrews

gleichzei-

tig noch mit den Mitteln der indirekten C h a r a k t e r i s i e r u n g erzeugt: Mit diesem V e r f a h r e n stellt Fielding Einzelhandlungen seiner G e s t a l t dar, in denen sich die A d a m s - G e s t a l t weltfremd, a r g l o s , freigebig, freundlich, t a p f e r und einfältig >benimmtAußerungen< eines Menschen selbst Zeichenfunktion zugeschrieben. A m bekanntesten und a m leichtesten nachvollziehbar sind diese Vereinbarungen in der

Medizinischen

Semiotik

, 23 wo ein sichtbares S y m p t o m als (An)zeichen

für

eine K r a n k h e i t verstanden wird. Eine Korrelierung von nicht-verbalen >Symptomen< und den durch sie signalisierten körperlichen und geistigen Zuständen ist nicht allein auf den Anschauungsbereich der Medizin beschränkt, sondern sie geschieht im R a h m e n von jedem D i a g n o s e v e r f a h r e n , sowohl im "

23

H e n r y Fielding, Joseph Andrews, E v e r y m a n ' s L i b r a r y (Ld., 1956), 5 : >Mr. A b r a h a m A d a m s w a r ein v o r t r e f f l i c h e r G e l e h r t e r . . . A u ß e r d e m w a r er ein M a n n v o n g e s u n d e m M e n s c h e n v e r s t a n d , guten F ä h i g k e i t e n und g u t m ü t i g e r N a t u r , zugleich a b e r o h n e alle Weltkenntnis, wie ein K i n d , d a s g e r a d e ins L e b e n eingetreten ist. W i e er selbst n i e m a l s die A b s i c h t hatte, zu betrügen, so hatter er n i e m a l s a n d e r e im V e r d a c h t . E r w a r e d e l m ü t i g , freundlich und bieder bis z u m Ü b e r m a ß ; a b e r sein c h a r a k t e r i s t i s c h e s w a r die Einfalt.« Die Geschichte der Abenteuer Joseph Andrews, übers, v. R. Schaller, S ä m t l i c h e R o m a n e in vier B ä n d e n , hrsg. v o n N o r b e r t Müller, Bd. I ( M ü n c h e n , 1955), 19f. C f . E c o , op. cit., 2 1 ; verzeichnet w e i t e r f ü h r e n d e s b i b l i o g r a p h i s c h e s M a t e r i a l .

65

physischen, psychischen oder technischen Bereich. Die so getroffenen Vereinbarungen bilden die Voraussetzung dafür, daß im indirekten Charakterisierungsverfahren die mit verbalen Zeichen realisierte Darstellung einer symptomatischen Handlung erkennbar ist als auf die psychische und geistige Konstitution des Handelnden selbst zurückverweisend. In dem zitierten Text aus Joseph Andrews hat Fielding der indirekten Charakterisierung von Parson Adams durch symptomatische Handlungen Interpretanten beigegeben, durch welche die mit der indirekten Charakterisierung intendierten Vorstellungen vereindeutigt werden. So bedient sich Fielding eines Mischverfahrens der rhetorischen Mittel, wenn er auf der einen Seite das Verhalten von t, Adams in Szene setzt und neben der Darstellung von als symptomatisch erkennbaren Handlungen die Eigenheiten dieser Gestalt unverschlüsselt explizit direkt benennt. Bei Texten, in denen die textinternen Interpretanten eliminiert sind und die Darstellung der symptomatischen Handlungen verabsolutiert ist, entweder weil der Autor die damit getroffenen Vereinbarungen als bekannt voraussetzt oder weil er aus strategischen« Gründen dem Leser vereindeutigende Interpretanten vorenthält, liegt dieser Realisierungsmodus in Reinform vor. In den bisherigen Überlegungen ist die Technik der indirekten Charakterisierung zur Demonstration eines grundsätzlichen Sachverhalts herangezogen worden. Nimmt man die durch die Darstellung symptomatischer Handlungen« intendierten Vorstellungen von der »inneren« Konstitution einer Gestalt als Bezugswirklichkeit, so läßt sich das dabei verwendete Darstellungsverfahren als Externalisierung umschreiben. Um das Problem der Externalisierung im weiteren Sinne kreisen auch T. S. Eliots Überlegungen zur Rhetorik der gegenständlichen Entsprechunge T h e only way of expressing emotion in the f o r m of art is by finding an >objective correlativeHamlet«, Elizabethan Essays (Ld. 1942), 61: >Der einzige Weg, ein Gefühlserlebnis künstlerisch zu gestalten, besteht im Auffinden einer gegenständlichen Entsprechung«; mit anderen Worten: einer Reihe von Gegenständen, einer Situation, einer Kette von Ereignissen, welche die Formel dieses besonderen Erlebnisses sein sollen, so daß, wenn die äußeren Tatsachen, die sinnlich w a h r n e h m b a r sein müssen, gegeben sind, das Erlebnis unmittelbar hervorgerufen wird.< T. S. Eliot, Essays II, hrsg. v. H. Viebrock, übers, v. H. H. Schaeder (Frankfurt, 1969), 98.

66

eine g e g e n s t ä n d l i c h e Entsprechung< repräsentiert werden. D a r u n t e r versteht Eliot die Darstellung einer Reihe von G e g e n s t ä n d e n , Situationen und Vorgängen. I m Z u s a m m e n h a n g mit seiner F o r d e r u n g nach einer »depersonalization< 2 * der D i c h t u n g postuliert Eliot eine b e s t i m m t e Rhetorik: Die Darstellung von >emotions< soll mittels »gegenständlicher Entsprechungen* geschehen, um so weitgehend d a s auszuschalten, w a s Eliot als d a s Persönliche, Private und individuell E i n m a l i g e versteht. Eliots H i n w e n d u n g zum D r a m a ist motiviert durch dieses Bestreben nach Externalisierung, d. h. der R e p r ä s e n t a t i o n von Vorstellungen von psychischgeistigen Prozessen durch Zeichenkomplexe, welche eigentlich und zunächst einmal Vorstellungen von konkret-äußerlichen Dingen und H a n d l u n g e n bezeichnen.

Eliots

spätere

Stücke

sind

hervorragende

Beispiele

für

die

fortschreitende V e r v o l l k o m m n u n g dieser Technik der Externalisierung und d a m i t der Verschlüsselung der thematischen Tiefenstruktur durch d a s rhetorische Mittel der Inszenesetzung. Vergleichbare Relationen von thematischer Tiefenstruktur und rhetorischer O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r sind in den R o m a n t e x ten Ernest H e m i n g w a y s festzustellen, der Eliots T h e o r i e der »gegenständlichen E n t s p r e c h u n g ; kannte 2 6 und diese für den fiktionalen Realisierungsmodus n u t z b a r machte.

1.223. Themenverschlüsselung und Interpretabilität Den v o r l ä u f i g letzten Schritt in diesem Prozess der Externalisierung unter gleichzeitiger V e r m e i d u n g von textinternen, unverschlüsselten Interpretanten stellen die D r a m e n t e x t e von H a r o l d Pinter dar. Auch beim s p ä t e n Eliot bleibt der Deutungsspielraum

noch weitgehend dadurch eingeschränkt, d a ß

die dargestellten »Äußerungen* als »Symptome* oder »symptomatische H a n d lungen< deutbar sind und so zurückverweisen auf Vorstellungen von der inneren psychischen Konstitution der Dramengestelten und d a m i t a u f die kohärente thematische Tiefenstruktur der Dramentexte. Bei Pintertexten wird der D e u t u n g s s p i e l r a u m der dargestellten H a n d l u n q e n durch die »deliberate omission of an e x p l a n a t i o n or a motivation for the actione 2 7 größer. Im Ans c h a u u n g s s y s t e m W o l f g a n g Isers 2 ' argumentiert, heißt dies, d a ß hier eine größere semantische

Indeterminiertheit

der Darstellung vorliegt: Dies gilt

sicher nicht von den einzelnen L e x e m e n , die f ü r die H a n d l u n g s d a r s t e l l u n g verwendet werden, sondern von den durch sie konstituierten größeren Zei25 26

"

T . S. Eliot, / T r a d i t i o n a n d the Individual Talent«, Selected Prose (Ld., 1953), 26. C f . Verf., » H e m i n g w a y - The Sun Also Rises*-, Der amerikanische Roman, hrsg. v. H.-J. L a n g ( D ü s s e l d o r f , 1972), 2 7 6 - 3 0 0 . M a r t i n Esslin, The Theatre

1968), 265. 2 " Iser, Die Appellstruktur...,

of the Absurd,

Pelican B o o k s A 9 2 9 ( H a r m o n d s w o r t h ,

op. cit.

67

chenverbänden, mit denen nicht mehr eindeutige, sondern

mehrdeutige

S y m p t o m e und s y m p t o m a t i s c h e H a n d l u n g e n bezeichnet werden. A n d e r s gewendet heißt dies, d a ß mit d e m g e g e b e n e n Zeichenmaterial verschiedene Vorstellungen als Zeichenobjekte >vereinbar< sind, d a ß a b e r der A u t o r textintern keine dieser möglichen V e r e i n b a r u n g e n als die f ü r ihn gültige markiert hat. H i e r tritt nun der Fall ein, d a ß je nach Lesehypothese

divergierende

thematische D e u t u n g e n g e g e b e n werden können, die dennoch mit d e m T e x t >vereinbar< sein können. S o deutet M a r t i n Esslin den Raum,

in d e m sich die H a n d l u n g von Pinters

erstem S t ü c k >Room< abspielt, mit einer existentiellen L e s e h y p o t h e s e : T h e r o o m b e c o m e s a n i m a g e of the s m a l l a r e a of light a n d w a r m t h that our consciousness, the f a c t that we exist, o p e n s u p in the vast o c e a n o f n o t h i n g n e s s f r o m which we g r a d u a l l y e m e r g e a f t e r birth a n d into which we sink a g a i n when we die. T h e r o o m , this s m a l l s p e c k o f w a r m t h a n d light in the d a r k n e s s , is a p r e c a r i o u s f o o t hold. 2 8

Reinbert T a b b e r t in Harold

Pinters Dramen

der verlorenen

Identität

wählt

d a g e g e n eine soziopsychologische L e s e h y p o t h e s e : Für ihn ist der H a n d l u n g s r a u m des Z i m m e r s die letzte Zuflucht des Individuums, und der A u ß e n r a u m der R a u m der Gesellschaft, welche vor der Individualsphäre nicht halt macht und sie ständig bedroht: Gleich a n d e r e n zeitgenössischen englischen D r a m a t i k e r n geht es a l s o a u c h Pinter u m d a s V e r h ä l t n i s v o n I n d i v i d u u m und G e s e l l s c h a f t , a b e r in einer b e s o n d e r e n Zuspitzung. In seinen S t ü c k e n gibt es an d e r >Vergesellschaftung< des I n d i v i d u u m s keinen Z w e i f e l mehr. M i t B e g r i f f e n von H a n s Freyer, H e r b e r t M a r c u s e und H. M . E n z e n s b e r g e r k a n n m a n die M e n s c h e n , die er a u f die B ü h n e bringt, als A n g e h ö r i g e s e k u n d ä r e r S y s t e m e n O p f e r g e s e l l s c h a f t l i c h e r >Repression< und P r o d u k t e der >Bewtißtseinsindustrie< bezeichnen. 3 0

Beide Lesehypothesen entzünden sich an der durch den Pintertext erzeugten Vorstellung von zwei kontrastierenden R ä u m e n : dem K o n t r a s t von erleuchtetem, in sich geschlossenem I n n e n r a u m und von dunklem, kaltem Außenraum. J e n a c h d e m wie diese H a n d l u n q s r ä u m e gedeutet werden, fallen auch die D e u t u n g e n der darin vor sich gehenden H a n d l u n g e n und H a n d l u n g s t r ä ger aus. Beide L e s e h y p o t h e s e n sind mit d e m T e x t vereinbar. Durch d a s Feh29

Esslin, op. cit., 2 6 6 : >Der R a u m wird z u m Bild d e s kleinen L i c h t - u n d W ä r m e b e zirks, d e n unser Bewußtsein, die T a t s a c h e , d a ß wir existieren, in d e m weiten M e e r des N i c h t s e r ö f f n e t , a u s d e m wir n a c h d e r G e b u r t a u f t a u c h e n und in d a s wir zurücksinken, wenn wir sterben: D e r R a u m , dieser kleine Fleck v o n W ä r m e u n d Licht in der Dunkelheit, ist ein unsicheres Refugium.« (Übers, v. Verf.)

30

Reinbert T a b b e r t , Harold 1969), 3.

68

Pinters

Dramen

der verlorenen

Identität

(Diss. T ü b i n g e n ,

len v o n textinternen expliziten Interpretanten sind die beiden Lesehypothesen j e d o c h weder verifizierbar noch falsifizierbar. F a l s c h w ä r e es, die L e s e h y p o t h e s e n f ü r die thematische T i e f e n s t r u k t u r zu halten, denn diese weist genau an den Stellen, wo durch die Lesehypothesen A u s s a g e n g e m a c h t werden, thematische >Leerstellen< auf. Diese Leerstellen bilden Teile des thematischen C o d e s und zu ihrer Realisierung ist eine Zeichenkonstellation verwendet, mit der keine festgelegten Vorstellungen vorvereinbart sind. Für den an V o r v e r e i n b a r u n g e n von Zeichen und Zeichenobjekten gewöhnten Leser stellen diese Zeichenkonstellationen eine Herausf o r d e r u n g dar, eine mit d e m K o n t e x t vereinbare V e r e i n b a r u n g zu treffen, um die Leerstellen zu tilgen. Iser bezeichnet dies als Bestreben zur N o r m a l i s i e rung« des Textes. Psychologisch gesehen hat dieser D r a n g zur Normalisierung wohl seine Wurzeln im empirischen Erkenntnisinteresse zumindest des aufklärerischen Menschen, d a s A n o n y m e , U n b e k a n n t e und d a m i t auch f ü r gefährlich Gehaltene a u f z u k l ä r e n , sich ein Bild d a v o n zu m a c h e n , um es als d a s schließlich und endlich B e k a n n t e und Bezeichnete zu domestizieren oder es f ü r domestiziert zu halten. Die Ü b e r l e g u n g e n gingen von der B e o b a c h t u n g aus, d a ß thematische Tiefenstrukturen durch verschiedene >rhetorische< M o d i realisiert werden können, die - nach d e m G r a d der Vorstellungsverschlüsselung betrachtet - in zwei G r u p p e n unterteilt wurden: Bezieht m a n den G r a d der Verschlüsselung als operationalen Index a u f die thematische Tiefenstruktur, so liegt diese im b e g r i f f l i c h - a r g u m e n t a t i v e n M o d u s a m direktesten zutage. Die zweite G r u p p e von Realisierungsmodi weist im Verhältnis dazu einen höheren G r a d der Verschlüsselung a u f : Im R a h m e n dieser G r u p p e wurden drei rhetorische M o d i herausgestellt: 1. Der bildliche

Modus

: Substitution eines Zeichens mit a b s t r a k t e m Zei-

chenobjekt durch seinen >BildSprache, die die D i c h t e r verwenden«, v o m thematischen

und

strategischen

A s p e k t her erweitert w e r d e n k ö n n t e , u m so von e i n e m f o r m a l i s t i s c h e n zu einem f u n k t i o n a l - s t r u k t u r a l i s t i s c h e n L i t e r a t u r v e r s t ä n d n i s zu g e l a n g e n , d a s im H i n b l i c k a u f d a s P r o b l e m der K l a s s i f i z i e r b a r k e i t , d e r E i n o r d n u n g s b a r k e i t in eine T y p o l o g i e v o n T e x t f u n k t i o n e n - der u n a n a l y t i s c h e n Intuition weitgehend entbehren kann. W i r b e d i e n e n uns zur D e m o n s t r a t i o n d e r S a c h v e r h a l t e k o m p l e x e r T e x t e , bei d e n e n die E r z e u g u n g v o n V o r s t e l l u n g e n V o r s t u f e d e r E r z e u g u n g u n d L e n k u n g v o n W e r t v o r s t e l l u n g e n ist. E s sollen d a b e i - b e z o g e n a u f die d a r a n beteiligten F a k t o r e n - i m m e r w i e d e r zu b e o b a c h t e n d e M e c h a n i s m e n der W e r t u r t e i l s l e n k u n g h e r a u s p r ä p a r i e r t werden. D a z u b e d a r f es n o c h e i n m a l einer kurzen V e r g e g e n w ä r t i g u n g der P r o b l e m a t i k der einzelnen

Faktoren

selbst. E s ist d a v o n a u s z u g e h e n , d a ß im a u k t o r i a l e n W i r k k a l k ü l mit d e m T e x t d e r F a k t o r d e r I n t e n t i o n m i t d e m a u k t o r i a l e n Bild v o m L e s e r in e i n e m f ü r die T e x t s t r u k t u r r e l e v a n t e n V e r h ä l t n i s steht. D i e Intention u n d d a s Bild v o m L e s e r b e s t i m m e n die z u r R e a l i s i e r u n g d e r I n t e n t i o n v e r w e n d e t e n M i t t e l der V o r s t e l l u n g s - u n d U r t e i l s l e n k u n g , d. h. die v e r w e n d e t e n d e s T e x t e s . W a s die Erschließung

die M ö g l i c h k e i t e n , d a ß die Intention explizit selber a u s g e s a g t o d e r implizit

Strategieelemente

dieser F a k t o r e n a n l a n g t , so e r g e b e n sich u n d u n v e r s c h l ü s s e l t im T e x t

ist, u n d s o m i t a u s den v e r w e n d e t e n S t r a t e -

Zur E i n f ü h r u n g in die Problematik cf. R o l a n d Posner, >Literatursprachliche Aspekte«, Lexikon der Germanistischen Linguistik, op. cit., 5 1 3 - 5 2 2 ; Winifred M . T. Nowottny, The Language Poets Use (LDie A u f g a b e n der Poetik«, Texte der russischen Formalisten, op. cit., Bd. II, 147; und Viktor Sklovskij, >Die K u n s t als Verfahren«, ibid., Bd. I, 3ff.

3

C f . d a z u K l a u s B a u m g ä r t n e r , >Der methodische S t a n d einer linguistischen Poetik«, Jahrbuch für internationale Germanistik 1 (1969), 15-43.

74

gieelementen - gleichsam als unbekannte, aber nichtsdestoweniger wirksame G r ö ß e - a b z u l e i t e n ist. A h n l i c h e s gilt a u c h f ü r d i e a n d e r e G r ö ß e d e s a u k t o r i a l e n B i l d e s v o m L e s e r , d e s i m p l i z i t e n o d e r i n t e n d i e r t e n L e s e r s u n d d e n bei i h m a u k t o r i a l e r s e i t s a n g e n o m m e n e n V o r p r o g r a m m e n , d i e a u c h w i e d e r explizit o d e r i m p l i z i t i m T e x t v o r h a n d e n sein k ö n n e n . D i e E r f a h r u n g i m U m g a n g m i t T e x t e n lehrt, d a ß i m a u k t o r i a l e n K a l k ü l mit d e m L e s e r nie L e s e r m i t seiner m ö g l i c h e n V i e l f a l t v o n öffentlichen

und privaten

der

Rollen 4

u n d d e r d a r a u s r e s u l t i e r e n d e n K o m p l e x i t ä t in R e c h n u n g gestellt w i r d , sond e r n d a ß i m a u k t o r i a l e n B i l d v o m L e s e r Einzelrollen u n d Einzelerwartungen

Einzelhaltungen

und

a n v i s i e r t w e r d e n . D i e bei b e s t i m m t e n T e x t e n s o in

A n s a t z g e b r a c h t e n V o r p r o g r a m m e leserseits k ö n n e n s o s p e z i e l l sein wie b e i m p a r o d i e r e n d e n T e x t , der seine W i r k u n g nur erzielen kann, wenn die parodierte F o l i e d e m L e s e r b e k a n n t ist, d. h. T e i l seiner V o r p r o g r a m m e bildet. V o n d e r R e i h e d e r b e i m realen

Leser

daneben anzunehmenden

Vorprogramme

w i r d bei d e r P a r o d i e p r i m ä r n u r d a s eine, mit d e m d e r P a r o d i e n a u t o r r e c h n e t , a b g e r u f e n . E i n e b e t r ä c h t l i c h e K o m p l e x i t ä t s e r w e i t e r u n g a b e r ist bei d e n W i s s e n s - u n d W e l t e r f a h r u n g s p r o g r a m m e n in A n s a t z zu stellen, mit d e n e n e t w a ein K o m ö d i e n a u t o r k a l k u l i e r e n m u ß , soll d i e I n t e n t i o n realisiert N i m m t m a n schließlich ein W e r k w i e J o y c e s Finnegans

Wake,

werden.

d a n n müßte

J o y c e - a b l e i t b a r a u s d e r T e c h n i k d e r s u b t i l e n M y t h e n t e l e s k o p i e r u n g - eig e n t l i c h m i t e i n e m L e s e r g e r e c h n e t h a b e n , bei d e m d i e v e r s c h i e d e n s t e n Bild u n g s p r o g r a m m e v o r h a n d e n u n d a b r u f b a r sind. S o l l t e J o y c e d i e s g e t a n hab e n , d a n n h a t er s i c h e r ein u n r e a l i s t i s c h e s B i l d v o n s e i n e m m ö g l i c h e n L e s e r g e h a b t . A u s d e r T e x t s t r u k t u r ist j e d o c h v i e l m e h r a b z u l e i t e n , d a ß J o y c e mit einem L e s e r rechnete, dessen B i l d u n g s - und E r f a h r u n g s p o t e n t i a l hinter dem d e s i d e a l e n F i n n e g a n s W a k e - L e s e r z u r ü c k s t e h t u n d d e r d u r c h d e n T e x t erst d a z u a n g e r e i z t w e r d e n soll, d e m i d e a l e n L e s e r n a h e z u k o m m e n , d e s s e n Wiss e n s p r o g r a m m e s o u m f a s s e n d s i n d , d a ß a l l e s u n d j e d e s d a r a u s a b r u f b a r wird. In d i e s e m Z u s a m m e n h a n g f ä l l t a u f , d a ß e i n e r s e i t s bei b e s t i m m t e n T e x t s o r t e n nur g a n z b e s t i m m t e und punktuell f i x i e r b a r e V o r p r o g r a m m e leserseits anvisiert w e r d e n , d. h. d i e a u k t o r i a l e I n t e n t i o n mit b e s t i m m t e n T e x t e n , w i e e t w a pornographischen

oder

parodistischen,

auf

nur

ganz

spezifische

Vor-

p r o g r a m m e aus einer möglichen größeren Fülle beim realen L e s e r abzielt, o h n e d a b e i e x p l i z i t d a s V o r h a n d e n s e i n a n d e r e r V o r p r o g r a m m e l e u g n e n zu w o l l e n . A n d e r e r s e i t s - u n d d i e s ist s c h o n ein T e i l einer W i r k u n g s s t r a t e g i e -

* Zum Begriff der >Rolle< cf. Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der sozialen Rolle (Köln/Opladen, '1964); Lothar K r a p p m a n n , Soziologische Dimensionen der Identität - Eine Darstellung struktureller Bedingungen für das Verhalten des Individuums in Interaktionsprozessen an Hand amerikanischer Untersuchungen (Diss. Berlin, 1969); Hans Peter Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft - Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens (Stuttgart, 1972). 75

w i r d b e i einer a n d e r e n K a t e g o r i e v o n T e x t e n der L e s e r g a n z b e w u ß t a l s vereinseitigt a u f einzelne R o l l e n fixiert u n d reduziert g e s e h e n , o d e r in b i l d u n g s m ä ß i g e r , m o r a l i s c h e r o d e r s o n s t einer H i n s i c h t a l s defizient,

aber auch als

b e s s e r u n g s f ä h i g u n d b i l d b a r b e t r a c h t e t , u n d dies nicht zuletzt d u r c h d e n T e x t , d e r bei ihm eine W i r k u n g in dieser R i c h t u n g intendiert. S o ist bei einig e n T e x t s o r t e n d e r S a c h v e r h a l t zu b e o b a c h t e n , d a ß es zur R e a l i s i e r u n g der a u k t o r i a l e n Intention n u r eines b e s c h r ä n k t e n * V o r p r o g r a m m s leserseits bed a r f ; u n d bei der a n d e r e n , d a ß d e r L e s e r g r u n d s ä t z l i c h a l s ein v e r e i n s e i t i g t e s M a n g e l w e s e n v e r a n s c h l a g t wird, d a s ü b e r w e n i g e r u m f a s s e n d e o d e r w e n i g e r >richtige< V o r s t e l l u n g s p r o g r a m m e v e r f ü g t , a l s sie i h m d u r c h den T e x t a u f d i r e k t e o d e r i n d i r e k t e W e i s e v e r m i t t e l t w e r d e n sollen. J e d e r o r i g i n a l e T e x t d i e s e r A r t ist nicht nur - wie es A r n o l d d e f i n i e r t e - ein >criticism o f lifecriticism o f t h e readermentalen V o r p r o g r a m m s * wird hier zur B e z e i c h n u n g der S u m m e der a n g e b o r e n e n o d e r e r w o r b e n e n V o r a u s s e t z u n g e n v e r w e n d e t , die als motivierend e F a k t o r e n f ü r eine s p e z i f i s c h e W i r k l i c h k e i t s a u f f a s s u n g und W e l t - und Erw a r t u n g s h a l t u n g eines I n d i v i d u u m s in A n s a t z zu b r i n g e n sind. D i e V e r w e n d u n g dieses B e g r i f f e s signalisiert keineswegs d e t e r m i n i s t i s c h e A n n a h m e n , wie sie etwa Mensch. D a s E r e r b t e als b e s t i m m e n bei I. E i b l - E i b e s f e l d t , D e r vorprogrammierte der F a k t o r im menschlichen V e r h a l t e n (Wien, 1973) o f f e n s i c h t l i c h sind. D e m Ges a m t k o n z e p t d e s B e s c h r e i b u n g s m o d e l l s ist vielmehr zu e n t n e h m e n , d a ß die Uberholbarkeit o d e r M o d i f i z i e r b a r k e i t solcher V o r p r o g r a m m e d u r c h T e x t e f ü r m ö g l i c h g e h a l t e n wird. Z u m B e g r i f f der >Intention< cf. W. K. W i m s a t t , Jr., >The Intentional Fallacyrestricted code< zu einem >elaborated code< 8 auf lexikalischer wie syntaktischer E b e n e zu erweitern. D a b e i wird die Strategie verfolgt, noch nicht B e k a n n t e s durch schon Bekanntes zur Vorstellung zu bringen, f ü r den Schüler neue V e r e i n b a r u n g e n mit Hilfe ihm schön b e k a n n t e r zu lehren. In didaktischen T e x t e n dieser Art liegen zwei S p e z i f i k a unverhüllt z u t a g e : D a s Bild von einer Zielgruppe T e x t a u t o r und die Intention

(Schüler einer bestimmten A l t e r s g r u p p e ) beim (Erweiterung des Vorstellungshorizontes mit

gleichzeitiger Erweiterung des L e x i k o n s und D i f f e r e n z i e r u n g der Syntax). Abstrahiert m a n von den f ü r einen didaktischen Ü b u n g s t e x t charakteristischen Spezifika, so bleiben zwei allgemeine Fragestellungen, die f ü r jede T e x t und T e x t f u n k t i o n s b e s c h r e i b u n g zentral sind: Die F r a g e nach d e m

len Bild vom Leser

auktoria-

und die F r a g e nach der im Hinblick auf diese Z i e l g r u p p e

mit d e m T e x t verfolgten Intention.

A u s diesen beiden Fragestellungen ergibt

sich eine dritte nach der zur Verwirklichung der Intention eingeschlagenen

Strategie,

d. h. den Mitteln zum Zweck.

Diese Fragestellungen unterliegen einer wesentlichen B e s c h r ä n k u n g , die sich a u s der d a s T e x t b e s c h r e i b u n g s m o d e l l tragenden skeptischen A u f f a s s u n g herleiten, bis zu welcher Grenze ein Sachverhalt noch wissenschaftlich verifizierbar und b e l e g b a r ist: E s fällt an diesen Fragestellungen a u f , d a ß nicht nach d e m tatsächlichen Leser und der tatsächlichen Wirkung, sondern nach d e m auktorialen Bild v o m Leser - also nach d e m >impliziten< oder nach dem >intendierten LeserAlso, Ihr Tölpel, meidet - was in der Pöbelsprache heißt, verlaßt - den Umgang - was auf bäurisch heißt, die Gesellschaft - dieser Frauensperson - was im gemeinen Leben heißt, Mädchen; welches alles zusammen heißt: meidet den Umgang dieser Frauensperson, oder, Tölpel, du kommst um; oder, damit du es besser verstehst, du stirbst.< Wie es Euch gefällt, übers, v. A. W. Schlegel, Sämtliche Dramen, Bd. I, op. cit., 737.

89

Anreiz zum Lachen nicht durch ein im Shakespeareschen Wirkkalkül unberücksichtigt bleibendes zensorisches Vorprogramm außer Kraft gesetzt und blockiert ist, daß die sprachliche Ungebildetheit des Clowns eigentlich nur Symptom eines Leidens an der Gesellschaft ist. Wenn der Leser mit einem solchen modernen Vorprogramm ausgestattet ist, wird er sich der Shakespeareschen Intention verweigern undv werden die Komödienstrategien fehllaufen. Mit diesem Demonstrationsbeispiel ist die Erörterung des wirkungsästhetischen Problemkreises bis zu einem Punkt vorgetrieben worden, an dem eine Zusammenschau der Faktoren der auktorialen Intention und der leserseitig angenommenen Vorprogramme im Rahmen einer Beschreibung von typischen Verfahren der Werturteilslenkung in Angriff genommen werden kann.

2.

Intentionen und Strategien der Werturteilslenkung

2.1.

Die Intention und Strategie der Normbestätigung

Die auktoriale Intention eines Textes richtet sich an den beim Leser angenommenen Vorprogrammen aus. Die Intentionsskala kann von der der Erweiterung der Vorstellungswelt des Lesers über ihre Analyse bis hin zu ihrer Bestätigung, Plausibilisierung und Legitimierung auf der einen oder zu ihrer Falsifizierung und Auflösung auf der andern Seite reichen. Damit sind die Endpunkte der Typenskala bezeichnet, auf der sich Intentionen und Strategien, die durch Texte verfolgt werden, ansiedeln lassen. Zur Demonstration der Intention und Strategie der Normbestätigung und Normverfestigung im Leserbewußtsein wird hier ein Komödientext des 16. Jahrhunderts gewählt, an dem das Verfahren wegen der ihm zugrundeliegenden einsinnigen Intention exemplarisch darstellbar wird. Die Wahl eines Komödientextes impliziert keinesfalls, daß die Strategie der Normbestätigung und Normverfestigung allein auf Komödientexte beschränkt ist, wie es überhaupt im Rahmen des hier vorgeführten Modells unsinnig wäre, die neuen Einteilungskriterien sofort wieder zur Deckung zu bringen mit den herkömmlichen Gattungsvorstellungen. Nicholas Udalls im allgemeinen als erste englische Komödie bezeichnetes Stück Ralph Roister Doisterdas wahrscheinlich 1553 geschrieben wurde, gehört in den Bereich der Renaissance-Literatur, in der sowohl in thematischer wie in rhetorischer Hinsicht eine Rückbesinnung auf die klassische Tradition sichtbar wird. Udall schrieb seine Komödie nach dem Vorbild des Miles Gloriosus, aber Roister ist - weil das Stück zur Aufführung durch die 2

90

Minor Elizabethan

Drama, vol. II, Everyman's Library 492 (Ld., 1964).

Schüler von Westminster-School gemeint war - bei weitem nicht so libertinistisch ausgefallen wie sein literarischer Vorläufer. Udall hat die mit seiner Komödie verfolgte Intention im Prolog zu seinem Stück explizit umrissen: Der dominante und achtmal wiederholte Schlüsselbegriff in diesem Prolog ist >mirthmirth with modesty< abzielt. Er baut durch den Prolog etwaige Erwartungen von der Zuschauerseite ab, wenn er vorausschickt, daß die durch seine Komödie intendierte Heiterkeit nicht mittels >scurrilityabuserecreationin an honest fashion«, auf ehrliche und anständige Art und Weise. Und nun folgt bei ihm ein Katalog der möglichen Folgen dieser Heiterkeit: Diese Art von Heiterkeit verlängert das Leben, stiftet Gesundheit, entspannt den Geist, vertreibt die Schwermut und Tiefsinnigkeit, vertieft Freundschaft, wenn sie - und hier finden wir die späteren Gedankengänge von Sir Philip Sidney schon in Grundzügen vorformuliert - mit der Anschauung von >virtue< und >decent comeliness< vermischt ist, das heißt mit der Anschauung von Tugend und sittlicher Anmut. Schon aus diesem Prolog wird deutlich, daß es Udall nicht um eine den Zuschauer von seinem höheren Menschsein entspannende Komödie geht, nicht um eine Hanswurst-, Phallos- oder Wanstkomödie, sondern daß er ihn auf einen Wert- und Normrahmen der Tugend und Anmut verpflichtet wissen will, von dem her er Abweichungen von der Norm aus dem Gefühl der eigenen Normgerechtigkeit heraus verurteilt und mißbilligt. Und es ist eine bestimmte Abweichung, welche er - orientiert an dem Miles Gloriosus - ins Auge faßt, nämlich die Großmäuligkeit und Großspurigkeit, hinter der nichts steckt, >vain-gloriousnessDie K o m ö d i e o d e r d a s Interludium, d a s wir spielen wollen, heißt Roister Doister. Sie n i m m t die R e n o m m i e r s u c h t a u f s K o r n , deren E n e r g i e n s t ä n d i g d u r c h die G r o ß m ä u l i g e n g e s p e i s t werden.« (Übers, v. Verf.)

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Udall intendiert also keine Komik und Heiterkeit, welche den Rahmen und die Norm selbst in Frage stellt, sondern welche selbst im Rahmen bleibt und das aus dem Rahmen Fallende, hier eine einzelne menschliche Schwäche, die Schwäche der Angeberei, als leere Angeberei entlarvt. Roister Doister tritt zunächst in der Gesellschaft von Mathew Merrygreeke auf, das heißt also in der Gesellschaft einer Gestalt, welche nicht in die in dieser Komödie dargestellte Gesellschaft integriert ist, sondern ein selbstgenügsames Dasein außerhalb des gesellschaftlichen Rahmens führt: Merrygreeke ist charakterisiert als bindungslose Gestalt, die ihren Lebensunterhalt einmal da und einmal dort findet. Dieses Da und Dort befindet sich nicht innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens, sondern ebenfalls bei Aussenseitergestalten, deren Nicht-Integriertsein in den Normrahmen der Arbeits- und Gesellschaftswelt durch die sprechenden Namen signalisiert wird: Louis Loyterer, der Bummler, Watkin Waster, der Verschwender, und Davy Diceplayer, der Glücksspieler. Merrygreeke ist charakterisiert als die Gestalt des Parasiten, welche aus der klassischen Komödie bekannt ist. Die Merrygreeke-Gestalt faßt zu Beginn der Handlung - und damit wird der Roister Doister-Handlung der entscheidende Impuls gegeben - den Entschluß, sich an Roister Doister heranzumachen. Durch diese Gestalten Konstellation des Parasiten und des großspurigen Angebers spielt die Komödienhandlung zunächst einmal außerhalb des für die Gesamtkomödie konstitutiven gesellschaftlichen Rahmens, welcher bezeichnet wird - und auch hier sind die Namen wieder bedeutsame Signale - durch die Gestalten von Christian Custance und Gawyn Goodluck, Gestalten, welche auf eine fast allegorisch zu nennende Weise die Norm christlicher Constantia und des daraus resultierenden weltlichen Glückes verkörpern und repräsentieren. Wir haben also in der Personenkonstellation dieses Stückes zwei einander antithetisch zugeordnete Gruppen gegeben, was die thematische Funktion anlangt: Auf der einen Seite die Gruppe, welche die gesellschaftliche und moralische Norm repräsentiert, die Gestalt der treuen Frau und des erfolgreichen Mannes, und auf der andern Seite die die Abweichungen von dieser Norm repräsentierenden Gestalten, Ralph Roister Doister und Mathew Merrygreeke, welche beide auf verschiedene Art und Weise aus dem Rahmen fallen, der eine als Parasit und der andere als Großsprecher, dessen verbale Selbstdarstellung keine Entsprechung im persönlichen und gesellschaftlichen Wesen dieser Gestalt hat, und dessen Worte, besonders dessen große Worte, sich deshalb enthüllen als eitler und leerer Schein. Udall hat die thematische Antithese von moralischer Norm und Abweichung von dieser Norm insofern dramatisch ausgewertet, als er die den Normrahmen repräsentierenden Gestalten mit den außerhalb des Normrahmens ste-

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henden Gestalten handelnd miteinander in Beziehung setzt: E r läßt Roister Doister und Christian C u s t a n c e und die u m diese Gestalten gruppierten anderen D r a m e n f i g u r e n als d r a m a t i s c h e s Spiel und Gegenspiel a u f e i n a n d e r treffen und sich miteinander auseinandersetzen: Dies wird d a d u r c h möglich, d a ß Udall ein die V e r b i n d u n g zwischen beiden Personenkonstellationen ermöglichendes T h e m a , d a s T h e m a der Liebe, einführt. Roister Doister liebt Christian C u s t a n c e , welche j e d o c h G a w y n G o o d l u c k versprochen ist. Roister Doister tritt bei seinem ersten Auftritt als zutiefst Verliebter in Erscheinung, dessen Verhältnis zur Welt durch seinen Liebesschmerz gestört ist und der d e s h a l b eine übersteigerte Lebensmüdigkeit an den T a g legt: C o m e d e a t h w h e n t h o u wilt, I a m w e a r y o f my life. 4

S o fällt a l s o diese G e s t a l t zunächst durch die Übersteigerung und komische U n a n g e m e s s e n h e i t des Liebesschmerzes aus d e m R a h m e n der N o r m a l i t ä t , in den sie sich durch die Heirat mit der die N o r m verkörpernden Christian C u s t a n c e zu integrieren versucht. D e r Versuch der Integration in den gesellschaftlichen N o r m r a h m e n löst neue Ubersteigerungen a u s : M a t h e w Merrygreeke suggeriert Roister, d a ß er sich der a n g e b e t e t e n B ü r g e r f r a u Christian C u s t a n c e nur d a d u r c h als E h e m a n n empfehlen kann, d a ß er ihr in der Rolle des heldischen L i e b h a b e r s gegenübertritt. Durch die M a c h e n s c h a f t e n M a thew Merrygreekes identifiziert sich Roister mit der ihm vorgeschlagenen Rolle des Helden und S u p e r m a n und begreift sich schließlich und endlich als solchen, ohne einer zu sein. Die g a n z e zweite Szene des 1. Aktes hat die Funktion, den V o r g a n g des Hineinschlüpfens Roister Doisters in die ihm unangemessen große Rolle des Heroen und d a m i t in ein neues Selbstverständnis auszufalten. Mit der H i l f e M a t h e w Merrygreekes lernt er sich schrittweise begreifen als Mensch von heldischer Stärke, d e m die M a u e r n des Tower selbst keinen Widerstand bieten, den n i e m a n d anzugreifen w a g t , kurz als einen Herkules, der überall siegreich ist. Die S z e n e gipfelt in der L o b r e d e des Parasiten auf Roister Doister, als ihm vorgestellt wird, welches Ansehen er angeblich bei der die N o r m repräsentierende G e s e l l s c h a f t genießt: M e r r y g r e e k e : A n d y e will not believe w h a t they s a y in the street, W h e n y o u r m a s h i p p a s s e t h b y , all s u c h a s I m e e t , T h a t s o m e t i m e s 1 c a n s c a r c e f i n d w h a t a n s w e r to m a k e . W h o is this (saith o n e ) S i r L a u n c e l o t d u L a k e ? W h o is this, g r e a t G u y o f W a r w i c k , saith a n o t h e r ? N o ( s a y I) it is the thirteenth H e r c u l e s b r o t h e r , W h o is this? n o b l e H e c t o r o f T r o y , s a i t h the t h i r d ? N o , but o f the s a m e nest ( s a y I) it is a bird. W h o is this? g r e a t A l e x a n d e r ? o r C h a r l e s le M a i g n e ? 4

Ibid., 1 / 2 / 1 : > K o m m T o d , wenn es dir b e l i e b t , ich bin m e i n e s L e b e n s müde.< ( Ü b e r s , v. V e r f . )

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No, it is the tenth worthy, say I to them again: I know not if I said well. Roister: Yes, for so I am. Merry. Yes, for there were but nine worthies before you came. To some others, the third Cato I do you c a l l . . . etc.s D i e Identifikation mit mythischen, legendären und historischen Heldengestalten wie Sir Launcelot aus dem Arthus-Kreis, oder Herkules oder H e k t o r von T r o j a , oder Goliath und S a m s o n , oder Alexander dem G r o ß e n , oder K a r l dem G r o ß e n , oder dem Stoiker C a t o bewirkt letztlich nicht die Integration im gesellschaftlichen R a h m e n , sondern im Gegenteil das immer weiter Herausfallen der Roister-Gestalt. Die lachenerregende Strategie dieser K o m ö d i e besteht also in der Darstellung, wie die Hauptgestalt ihre gesellschaftliche Integration betreibt, aber mit unangemessenen, d. h. normfremden Mitteln betreibt, und so auf unfreiwillige Art und Weise in i m m e r größere Distanz zu dem m a ß g e b e n d e n N o r m r a h m e n tritt. Das Lächerliche der Hauptgestalt wird dadurch bewirkt, d a ß sie keine angemessene Vorstellung vom Normdenken der Gesellschaft besitzt, sondern irrigerweise a n n i m m t , einer christlichbrügerlichen Gesellschaft durch die heldischen Ideale einer ritterlichen G e sellschaft, welche tot ist, imponieren zu können. In dieser Hinsicht ist die Roister-Doister-Gestalt ähnlich wie die D o n Quichote-Gestalt eine in der Gesellschaftsgeschichte zu spät g e k o m m e n e und dadurch komische Figur: V o r dem die gängige Gesellschaftsnorm repräsentierenden R a h m e n her erscheint Roister Doister in doppelter Hinsicht als der lächerliche N a r r : E i n m a l dadurch, d a ß er einer bürgerlichen Gesellschaft mit ritterlichen Heldenidealen zu imponieren versucht, und zum zweiten dadurch, d a ß er nicht nur nicht ein tatsächlich zu spät g e k o m m e n e r ritterlicher Held ist, sondern d a ß er sich nur mit der Rolle des Helden identifiziert, welche er als Produkt einer kleinbürgerlichen Gesellschaft selbst nicht m e h r auszufüllen vermag. S o h a b e n wir es also hier zu tun mit dem G r u n d t h e m a des großsprecherischen Kleinbürgers, welcher die kleinbürgerlichen Normvorstellungen mißversteht, ind e m er meint, das Bürgertum dadurch beeindrucken zu können, d a ß er in der Rolle des ritterlichen Helden auftritt, die der Bürger selbst nicht m e h r auszufüllen vermag. 5

94

Ibid., 1 / 2 / 1 8 l f f . : >Und Ihr werdet nicht glauben, was alle, die ich treffe, auf der Straße sagen, wenn Eure Lordschaft vorbeigeht. Manchmal weiß ich nicht, was ich antworten soll. Wer ist dies (sagt der eine), Sir Launcelot du Lake? Wer ist dies, der große Guy von Warrick, sagt ein anderer? Nein (sage ich), er ist der dreizehnte Bruder des Herkules. Wer ist er? der edle Hektor von Troja, sagt der dritte? Nein, aber er entstammt derselben Linie. Wer ist er? Alexander der Große? Nein, er ist ein großer Held der zehnten Generation, erwidere ich: Ich weiß nicht, ob ich recht getan habe. R: Ja, denn der bin ich in der Tat. M: J a , denn es gab ja nur neun Heldengenerationen, bevor Ihr kamt. Anderen gegenüber heiße ich Euch den dritten Cato .. .< (Übers, v. Verf.)

S o wird Roister Doister weder den bürgerlichen noch den ursprünglich ritterlichen Normvorstellungen gerecht, denn als Z u s p ä t g e k o m m e n e r besitzt er weder die Substanz der ritterlich-heldischen Gesellschaft noch die der gesellschaftlichen Gruppe, in die er sich durch die Heirat integrieren will. Roister führt deshalb eine komische Existenz sowohl a u ß e r h a l b veralteter Normvorstellungen als auch a u ß e r h a l b zeitgenössischer Normvorstellungen.

Vom

Normstandpunkt eines mittelalterlich heldischen Ideals her erscheint er als der Scheinritter, der seiner Rolle nicht gerecht wird und vom bürgerlichen S t a n d p u n k t her tritt er als Gestalt in Erscheinung, welche den bürgerlichen Normen nicht gerecht werden kann. V o m Standpunkt des vom Autor Udall in Schutz genommenen N o r m r a h m e n her erscheint Roister Doister - und diese Urteile werden durch das ganze Stück hindurch durch die Gestalt von Christian Custance artikuliert - als >brainsick foolnormale< Gesellschaft ihren Sieg über Roister Doister davongetragen hat, und d a ß er gerade durch Anwendung inadäquater Mittel seinem Ziel nicht näher g e k o m m e n ist, sich durch eine Heirat in den n o r m - und m a ß g e b e n d e n Gesellschaftsrahmen zu integrieren. In die' Ibid., I V / 8 / 4 3 4 : >Hilfe! Fort! Ich falle!« (übers, v. Verf.)

95

sem Stadium der Handlungsentwicklung aber ist es unmöglich, daß Roister noch auf komische Art und Weise eine selbstgenügsame Existenz außerhalb der Gesellschaft führen kann, ohne bemitleidenswert zu werden. Udall hat deswegen dem Schluß eine überraschende Wendung gegeben, indem er zwar die Versuche der Roister Doister-Gestalt fehlschlagen läßt, sich aus eigener Kraft zu integrieren, aber die Gesellschaft so großmütig erscheinen läßt, daß sie zum Schluß dem Ausgestoßenen gnädig die Hand reicht und in sich aufnimmt. So endet diese Komödie damit, daß sich die Gesellschaft ihre Großzügigkeit auch gegenüber dem Außenseiter und dem Sonderling bestätigt und so zu ihrem gesteigerten Selbstbewußtsein beiträgt. Die Norm, von der die Hauptgestalt abwich, hat schließlich und endlich den Sieg davongetragen und die Diskrepanz der Ausgangssituation, in der normgerechtes Verhalten und Abweichung von der Norm einander entgegenstanden, ist dadurch aufgehoben, daß die Hauptgestalt sich schließlich und endlich zwar nicht aus eigener Karft zu integrieren vermag, ihr die Integration aber schließlich angeboten wird durch eine sich als Maßstab verstehende Öffentlichkeit, die zudem im Besitz ihrer Normen und Werte der gnädigen Vergebung fähig ist. Bis zu diesem Punkt wurde im wesentlichen die sich dramenintern zwischen Roister und der Öffentlichkeit abspielende Handlung in thematischen Kategorien abgehandelt. Es bleibt die Frage zu beantworten, wie - nun mit dem Blick auf die dramenexterne Zuschauerschaft - die dramatische Konkretisierung dieser Themen unter dem Aspekt der Werturteilslenkung deutbar ist. Gerade im thematischen Bereich fällt ins Auge, daß das Thema der Normabweichung nie mit Themen gekoppelt wird, durch welche eine positive Wertung der Normabweichung durch den Zuschauer ausgelöst werden könnte: Roister findet außerhalb des Normrahmens keine Identität und kein Selbst. Die Identifikationen mit heroischen Rollen bleiben durchschaubar als Rollen, die der Rollenträger nicht auszufüllen vermag: Normabweichung zeitigt so nicht Selbstfindung jenseits einer das Individuum zwanghaft einengenden Öffentlichkeit, sondern allein Rollen- und damit Pseudo-Identitäten. Gemessen an den von der drameninternen Öffentlichkeit repräsentierten Tugenden und Tüchtigkeiten, welche zudem am Ende noch den Sieg davontragen, wird das Thema der Normabweichung hinübergespielt in das Thema der Glücklosigkeit und so kontrapunktiert mit dem Erfolg der normgerecht handelnden Gestalt Goodluck. Durch diese Strategie der thematischen Kopplungen wird die Normabweichung nicht positiv als Emanzipation von sterilen Konventionen, sondern negativ als Irrweg zur Vorstellung gebracht, den Roister nicht aus eigener Kraft, sondern - und auch darin liegt ein Moment der Gewichtung und Wertung - den er nur mit dem Willen der mächtigeren, weil normgerechten Öffentlichkeit verlassen und so der Lächerlichkeit entgehen kann. Durch sol96

c h e A p p e l l e a n d i e d r a m e n e x t e r n e Z u s c h a u e r s c h a f t u n d ihre F u r c h t v o r d e r B l o ß s t e l l u n g u n d L ä c h e r l i c h k e i t ist d i e W i l l i g k e i t zur I d e n t i f i k a t i o n m i t d e n a l s >siegreich< d a r g e s t e l l t e n N o r m e n b i s z u r H a l t u n g d e r N o r m b e s t ä t i g u n g steigerbar. L e g t m a n d i e b i s h e r in U m r i s s e n k e n n t l i c h g e w o r d e n e S t r a t e g i e w e i t e r a u s e i n a n d e r , so e r g i b t sich f o l g e n d e r D e t a i l b e f u n d : W e n n d e r T e x t n i c h t n u r d a z u g e m e i n t ist, d i e R e a k t i o n d e r d r a m e m ' n f e r n e n Ö f f e n t l i c h k e i t a u f d i e A b w e i c h u n g v o n ihrer N o r m d a r z u s t e l l e n , s o n d e r n a u c h b e i m d r a m e n e x f e r -

nen P u b l i k u m W i r k u n g e n zu e r z i e l e n , d a n n ist d i e s nur d a d u r c h m ö g l i c h , d a ß d a s P u b l i k u m zu e i n e r H a l t u n g d e r Parteilichkeit

v e r a n l a ß t wird. D a b e i g i b t

es t h e o r e t i s c h n u r zwei A l t e r n a t i v g r u p p e n : E n t w e d e r d i e I d e n t i f i k a t i o n mit e i n e r d e r b e i d e n d r a m e n i n t e r n e n S e i t e n v o n S p i e l u n d G e g e n s p i e l o d e r mit e i n e r i m T e x t e x p l i z i t nicht d a r g e s t e l l t e n d r i t t e n P o s i t i o n , a n d e r d a n n d i e P o s i t i o n e n v o n S p i e l u n d G e g e n s p i e l g l e i c h e r m a ß e n relativiert w e r d e n k ö n n ten. B e i d e m hier zur D i s k u s s i o n s t e h e n d e n K o m ö d i e n t e x t , in d e m d i e I n t e n t i o n z u d e m v o m A u t o r e x p l i z i e r t ist, ist es u n w i d e r l e g b a r , d a ß d i e I d e n t i f i k a t i o n d e s P u b l i k u m s m i t einer d e r d r a m e n i n t e r n e n P a r t e i e n i n t e n d i e r t ist: D i e K o n z e p t i o n d e r R o i s t e r - G e s t a l t ist d a r a u f h i n a n g e l e g t , d i e s e - t r o t z ihres B e s t r e b e n s , sich zu i n t e g r i e r e n - sich nicht d e r T r a g w e i t e ihrer N o r m a b w e i c h u n g b e w u ß t w e r d e n zu l a s s e n , d. h. ihr nicht b e w u ß t w e r d e n zu l a s s e n , wie l ä c h e r l i c h sie v o m S t a n d p u n k t d e r d r a m e n i n t e r n e n Ö f f e n t l i c h k e i t erscheint. Voraussetzung für das Gelingen der Strategie, dieselbe Reaktion auch beim d r a m e n e x t e r n e n P u b l i k u m zu e r z i e l e n , ist, d a ß d a s P u b l i k u m e n t w e d e r d e n N o r m s t a n d p u n k t d e r d r a m e n i n t e r n e n Ö f f e n t l i c h k e i t >mitbringt< o d e r e i n e l a t e n t e D i s p o s i t i o n z u r E i n n a h m e eines s o l c h e n S t a n d p u n k t e s b e s i t z t , a u f d e n es d u r c h d e n T e x t w e i t e r v e r p f l i c h t e t w e r d e n k a n n . D e r e x t e n s i v e A u f b a u des N o r m r a h m e n s läßt d a r a u f schließen, d a ß U d a l l mit einem

Publikum

r e c h n e t , bei d e m d i e N o r m v o r s t e l l u n g e n s o w o h l b e s t ä t i g t a l s a u c h v e r f e s t i g t werden müssen. Die Darstellung der Reaktion der drameninternen Öffentlichkeit h a t d a b e i d i e F u n k t i o n , d i e R e a k t i o n d e s P u b l i k u m zu k a n a l i s i e r e n : I h m w i r d d u r c h d i e V e r m i t t l u n g d e r d r a m e n i n t e r n e n Ö f f e n t l i c h k e i t zu wissen suggeriert, d a ß die Roister-Gestalt - i m m e r im Verhältnis zur m a ß g e b e n d e m Ö f f e n t l i c h k e i t - e i n e l ä c h e r l i c h e G e s t a l t ist. G l e i c h z e i t i g - u n d dies g e schieht z u m großen Teil direkt, o h n e die V e r m i t t l u n g der D a r s t e l l u n g der d r a m e n i n t e r n e n Ö f f e n t l i c h k e i t - ist d u r c h d e n T e x t ein A p p e l l a n e l e m e n t a r e G e f ü h l e der L u s t u n d Unlust im P u b l i k u m intendiert, welche d a s v a g e G e f ü h l d e r Ü b e r l e g e n h e i t ü b e r d i e H a u p t g e s t a l t , d i e sich ihrer W i r k u n g in d e r Ö f f e n t l i c h k e i t nicht b e w u ß t ist, i n t e n s i v i e r e n : D u r c h d i e T h e m e n a s s o z i a t i o n v o n N o r m a b w e i c h u n g und Scheitern a u f der einen und von N o r m v e r h a l t e n , E r f o l g h a b e n u n d ö f f e n t l i c h e r A n e r k e n n u n g ist i n t e n d i e r t , d a s P u b l i k u m z u r B e s t ä t i g u n g d e r d r a m e n i n t e r n e n a l s d e r g ü l t i g e n u n d >richtigen< N o r m zu veranlassen.

97

H i n z u k o m m t , d a ß i m T e x t selbst k e i n e A l t e r n a t i v e zur >erfolgreichen< N o r m dargestellt und zugelassen wird: Unterstützt durch die bisher charakterisierten

Verfahren

monoperspektivischen

der Werturteilslenkung

wird

so

die T e c h n i k

der

D a r s t e l l u n g a l s die G r u n d s t r a t e g i e e r k e n n b a r , mittels

d e r e r eine V e r f e s t i g u n g u n d B e s t ä t i g u n g v o n a l s v o r h a n d e n a n g e n o m m e n e n V o r p r o g r a m m e n b e t r i e b e n w i r d : D i e m o n o p e r s p e k t i v i s c h e T e c h n i k liefert keinen A n l a ß , die im T e x t selbst v e r t r e t e n e N o r m a u f f a s s u n g zu relativieren o d e r g a r in F r a g e zu stellen u n d bildet so die B a s i s , a u f d e r die v e r s c h i e d e n e n V e r f a h r e n zur B e s t ä t i g u n g u n d V e r f e s t i g u n g v o n N o r m e n a l s V e r f a h r e n d e r Normplausibilisierung aufbauen.

2.2.

Die Nutzbarmachung verfestigter V o r p r o g r a m m e

2.21.

Umwertung, Legitimierung und T a b u i e r u n g

In d e n v o r a u s g e h e n d e n E r ö r t e r u n g e n s t a n d die F r a g e i m M i t t e l p u n k t , mit w e l c h e m V e r f a h r e n N o r m p r o g r a m m e , die b e i m T e x t r e z i p i e n t e n a l s verschied e n g r a d i g f e s t v e r a n k e r t v o r a u s g e s e t z t w e r d e n , b e s t ä t i g t b z w . v e r f e s t i g t werden. In d e r F o l g e steht die A n a l y s e der S t r a t e g i e n im M i t t e l p u n k t d e r E r ö r t e r u n g e n , mittels d e r e r b e i m R e z i p i e n t e n a l s v e r f e s t i g t a n g e n o m m e n e N o r m u n d W e r t v o r s t e l l u n g e n a u f a n d e r e , neue V o r s t e l l u n g s b e r e i c h e z u m Z w e c k ihrer L e g i t i m i e r u n g u n d T a b u i e r u n g w e i t e r ü b e r t r a g e n w e r d e n . E s h a n d e l t sich d a b e i u m V o r s t e l l u n g s b e r e i c h e , v o n d e n e n a n g e n o m m e n wird, d a ß mit ihnen e n t w e d e r n o c h keine >autorisierte< o d e r >legitimiertemindere< W e r t v o r s t e l l u n g v e r b u n d e n wird. Z u r e x e m p l a r i s c h e n

De-

monstration des Verfahrens der Wertvorstellungsübertragung von einem als v e r f e s t i g t a n g e n o m m e n e n ( T a b u - ) B e r e i c h a u f einen >minderwertigeren< V o r s t e l l u n g s b e r e i c h u n d d e r d a d u r c h v e r f o l g t e n Intention k a n n ein G e d i c h t t e x t v o n H e n r y N e w b o l t m i t d e m T i t e l Vigil England! where the sacred flame Burns before the inmost shrine, Where the lips that love thy name 4 Consecrate their hopes and thine, Where the banners of thy dead Weave their shadows overhead, Watch beside thine arms tonight, 8 Pray that God defend the Right. Think that when tomorrow comes War shall claim command of all, Thou must hear the roll of drums, 12 Thou must hear the trumpet's call. 98

dienen:

Now before they silence ruth, Commune with the voice of truth; England! on thy knees tonight 16 Pray that God defend the Right. Hath thou counted up the cost What to foeman, what to friend? Glory sought is Honour lost, 20 How should this be knighthood's end? Know'st thou what is Hatred's meed? What the surest gain of Greed? England! wilt thou dare tonight 24 Pray that God defend the Right? Single-hearted, unafraid, Hither all thy heroes came, On this altar's steps were laid 28 Gordon's life and Outram's fame. England! If thy will be yet By their great example set, Here beside thine arms tonight 32 Pray that God defend the Right. So shalt thou when morning comes Rise to conquer or to fall, Joyful hear the trumpets call. 36 Then let Memory tell thy heart; >England! What thou wert, thou art!< Gird thee with thine ancient might Forth! and God defend the Right!' ' Henry Newbolt, Collected Poems 1897-1907 (Ld, 1910), 134ff.: »Nachtwache. England! wo die heilige Flamme vor dem innersten Schrein brennt, wo die Lippen, die deinen Namen lieben, ihre und deine Hoffnungen weihen. 2. Wo die Banner deiner Toten droben ihre Schatten weben, wache neben deinen Waffen heute Nacht, bete, daß Gott das Recht verteidigen möge. 3. Denke, wenn der Morgen kommt, daß der Krieg seinen Anspruch auch auf uns alle erheben wird, du mußt den Trommelwirbel hören, du mußt den Ruf der Trompete hören. 4. Bevor das Mitleid zum Schweigen gebracht wird, kommuniziere mit der Stimme der Wahrheit; England! auf deinen Knien bitte heute, daß Gott das Recht verteidige. 5. Hast du die Kosten veranschlagt für den Feind und für den Freund? Ruhm, den man sucht, ist verlorene Ehre, und wie sollte dies das Ziel der Ritterlichkeit sein? 6. Weißt du, was des Hasses Lohn ist? Was der sicherste Gewinn der Gier? England! willst du heute es wagen, zu Gott zu beten, daß er das Recht verteidige? 7. Einzeln und unerschrocken kamen hierher alle deine Helden, auf diese Altarstufen wurden Gordons Leben und Outrams Ruhm gelegt. 8. England! wenn du noch immer nach ihrem großen Vorbild strebst, hier, neben deinen Waffen bete heute Nacht, daß Gott das Recht verteidige. 9. So wirst du, wenn der Morgen kommt, aufstehen, um zu siegen oder zu fallen und fröhlich den Ruf der Trompeten hören. Dann laß' die 99

D u r c h d a s T i t e l s i g n a l Vigil

kann der g e s a m t e Vorstellungsumfang, der v o m

Wachsein über N a c h t w a c h e vor Kirchenfesten und nächtlicher

Andacht

reicht, a b g e r u f e n w e r d e n . D i e E i n s c h r ä n k u n g a u f d a s G e m e i n t e , >eve o f a f e s t i v a h , >nocturnal devotionsEnglandRight< w i r d d a s T h e m a v o n N a t i o n , R e c h t u n d legit i m e m A n s p r u c h , d. h. a l s o d a s in sich d i f f e r e n z i e r t e T h e m a v o m S t a a t a l s d e m innerweltlichen M a c h t - u n d R e c h t s b e r e i c h a n g e s c h l a g e n . W e l c h e Bed e u t u n g d i e s e m T h e m a z u g e m e s s e n wird, erweist sich d a r a n , a n w e l c h e m P l a t z die t h e m a t i s c h e n S c h l ü s s e l b e g r i f f e E n g l a n d u n d R e c h t in d e r rhetorischen O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r d e s T e x t e s s t e h e n : D e r g a n z e T e x t der ersten S t r o p h e ist v e r k l a m m e r t d u r c h die b e i d e n Z e i c h e n , welche d i e V o r s t e l l u n g v o m staatlich-innerweltlichen B e r e i c h e r z e u g e n sollen. D i e s e s T h e m a ist i m T e x t g e k o p p e l t mit d e m T h e m a religiöser H e i l i g k e i t , d a s d u r c h die s a m t u n d s o n d e r s einem

thematischen P a r a d i g m a angehören-

d e n W ö r t e r >sacred, shrine, c o n s e c r a t e , God< konkretisiert wird. D u r c h die K o p p e l u n g d i e s e r V o r s t e l l u n g e n a u s d e m kirchlich-religiösen A n s c h a u u n g s bereich, d i e m i t W e r t v o r s t e l l u n g e n l a n g e r T r a d i t i o n b e f r a c h t e t sind, mit V o r stellungen a u s d e m s t a a t l i c h - n a t i o n a l e n A n s c h a u u n g s b e r e i c h wird eine Ü b e r t r a g u n g der religiösen u n d d a m i t von h ö h e r e m T a b u g e h a l t b e s t i m m t e n W e r t v o r s t e l l u n g e n a u f den in d e r c h r i s t l i c h - a b e n d l ä n d i s c h e n T r a d i t i o n z w e i t r a n g i g e n W e r t b e r e i c h d e r zeitlichen N a t i o n intendiert, d. h. W e r t v o r s t e l l u n g e n v o n d e m einen A n s c h a u u n g s b e r e i c h a u f d e n a n d e r e n ü b e r t r a g e n , u m s o ein n a t i o n a l e s W e r t b e w u ß t s e i n in ein n a t i o n a l r e l i g i ö s e s ü b e r z u f ü h r e n . V o n d i e s e m B e i s p i e l her wird deutlich, w e l c h e R o l l e eine p r ä z i s e A n a l y s e d e r t h e m a t i s c h e n T i e f e n s t r u k t u r a l s V o r a u s s e t z u n g der Ü b e r l e g u n g e n z u m W i r k k a l k ü l eines T e x t e s spielt. In d e m hier b e t r a c h t e t e n F a l l e sind n u n a u c h A u s s a g e n ü b e r d a s a u k t o r i a l e r s e i t s a n g e n o m m e n e V o r p r o g r a m m bei d e r L e s e r s c h a f t zu m a c h e n : D i e I n t e n t i o n d e r W e r t ü b e r t r a g u n g v o n e i n e m A n s c h a u u n g s b e r e i c h a u f d e n a n d e r n wird nur realisierbar, w e n n - wie der T e x t v e r f a s s e r hier a n n i m m t - die sich m i t d e m s a k r a l - k i r c h l i c h e n B e r e i c h verb i n d e n d e n W e r t v o r s t e l l u n g e n b e i m L e s e r v o r h a n d e n u n d d a z u h i n n o c h une i n g e s c h r ä n k t t a b u sind, d a m i t sie die F u n k t i o n d e r

Bezugswertwirklichkeit

e r f ü l l e n können.

Erinnerung deinem Herzen sagen: England, was du warst, bist du noch. Gürte dich mit deiner alten Macht. Vorwärts! und Gott verteidige das Recht!« (Ubers, v. Verf.; Zahlen im Text verweisen auf die Strophen). 100

Bezieht m a n die Zeilen 5 und 6 in die thematische Analyse mit ein, d a n n wird deutlich, d a ß die beiden bisher erschlossenen T h e m e n durch ein drittes Thema der traditions- und ruhmreichen Nation ergänzt werden, metaphorisch realisiert durch das Bild der >Banner deiner Totenwerthaltigen< thematischen Anschauungsbereich intendiert ist. Im ersten Schritt soll im Leserbewußtsein ein Englandbild erzeugt werden, in dem der innerweltlichen Nation Wertvorstellungen von gleichsam >höheren< weil zeitlosen oder zeitenthobenen Wirklichkeiten übertragen werden: Dem Leser, der als ein Teil des apostrophierten England mitangesprochen wird, soll durch diese Strategie der T h e m e n k o p p l u n g und W e r t ü b e r t r a g u n g entweder ein hochgradig positives Englandbild eingepflanzt oder - sofern er dieses schon besitzt - dieses durch das ein hohes Ansehen genießende Medium der Dichtung bestätigt und befestigt werden: Aber nicht um eines unproduktiven Selbstwertbewußtseins des Lesers als Engländer willen, sondern zu dem handfesten patriotischen Zweck, dieses England, das als der Hort des Rechts betrachtet wird, im Kriege gegen ein anderes Land rückhaltlos zu unterstützen. Die im thematischen Code überschaubar werdende T h e m e n k o p p l u n g hat selbst wieder einen strategisch funktionalen Aspekt, d. h. anders gewendet, sie wird erklärbar aus intentionalen und strategischen Gesichtspunkten, die der Verfasser mit dem Text im Hinblick auf einen Leser verfolgt: Durch diese Koppelung wird intendiert, das nationale und nationalistische Wertbewußtsein mittels eines religiös-kirchlichen Wertbewußtseins zu steigern und zu festigen. Damit wird eine Verquickung von innerweltlich-empirischen mit n i c h t - oder überempirischen Wertvorstellungen und letzlich eine Sakralisierung und damit Tabuierung von innerweltlichen Wertanschauungen intendiert. Die Realisierung dieser Intention setzt allerdings einen Leser voraus, dem die religiös-kirchlichen Wertvorstellungen und die >Werte< der glorreichen Tradition und Vergangenheit noch nicht problematisch geworden sind, der deshalb auf diesem Nebenweg der Religiosität und des Bewußtseins von einer glorreichen Tradition als verleitbar betrachtet wird f ü r das im Text vertretene nationalistische Programm. W e n n - so das Wirkkalkül des Autors - der Leser durch die 1. Strophe auf das dort entfaltete Englandbild verpflichtet werden kann, d a n n kann in der Wirkstrategie der zweite Schritt getan werden, nämlich den Leser vertraut zu machen mit der Unausweichlichkeit eines Krieges, der hier - wie die Nation auch - als ein eigenmächtiges Subjekt zur Vorstellung gebracht wird, das 101

B e f e h l s g e w a l t ü b e r alle M e n s c h e n h a t : A b e r b e v o r d e r K r i e g s l ä r m d a s mitm e n s c h l i c h e G e f ü h l z u m S c h w e i g e n b r i n g t , soll d a s K o l l e k t i v E n g l a n d , d e m auch der Leser angehört, Zwiesprache mit der S t i m m e der Wahrheit halten: Now before they silence ruth Commune with the voice of truth. S t a t t v o m K r i e g a l s s o l c h e m eine V o r s t e l l u n g zu e r z e u g e n , b r i n g t sich n u n d e r S p r e c h e r selbst a l s W i s s e n d e r zur V o r s t e l l u n g u n d ins s t r a t e g i s c h e S p i e l mit d e m L e s e r : E r setzt sich nicht a l s d e r b l i n d e B e f ü r w o r t e r d e s K r i e g e s in S z e n e , s o n d e r n a l s einer d e r i m W i s s e n u m den K r i e g die e r f a h r u n g s h a l t i g w i r k e n d e K o n z e s s i o n m a c h t , d a ß > T r o m m e l u n d T r o m p e t e « d a s M i t l e i d im M e n s c h e n z u m S c h w e i g e n b r i n g e n . D u r c h d i e s e Umlenkung

des Lesers auf

die V o r s t e l l u n g d e s ü b e r l e g e n e n B e s c h e i d w i s s e n s d e s S p r e c h e r s ü b e r den K r i e g wird die mit >Krieg< zu e r w a r t e n d e V o r s t e l l u n g d e s S c h r e c k l i c h e n u n d L e i d e r r e g e n d e n v e r d r ä n g t u n d der L e s e r im n ä c h s t e n S c h r i t t a b g e l e n k t a u f die V o r s t e l l u n g der n u m i n o s e n > S t i m m e d e r W a h r h e i t « : D i e s e m a n t i s c h e U n terdeterminiertheit d e s B e g r i f f e s d e r >voice o f truth< ist b e r e c h n e t : W e n n der L e s e r mit d e m B e g r i f f d e r W a h r h e i t eine p o s i t i v e W e r t v o r s t e l l u n g v e r b i n d e t - u n d i m a l l g e m e i n e n b e s t e h t d a r ü b e r eine e i n d e u t i g e V e r e i n b a r u n g - d a n n wird i h m d u r c h > S t i m m e d e r Wahrheit« die V o r s t e l l u n g einer z u v e r l ä s s i g e n I n s t a n z s u g g e r i e r t , m i t d e r sich der S p r e c h e r d e s G e d i c h t e s s o w i e s o u n d v o n v o r n h e r e i n in U b e r e i n s t i m m u n g gibt, a l s d e r e n S p r a c h r o h r er a u f t r i t t , d u r c h welches d e m L e s e r die N o t w e n d i g k e i t eines K r i e g e s u m d e s R e c h t e s E n g l a n d s willen v o r A u g e n gestellt wird. G l e i c h z e i t i g e r z e u g t d e r S p r e c h e r , u m die e i g e n e A k z e p t a b i l i t ä t b e i m L e s e r zu f ö r d e r n , v o n sich die V o r s t e l l u n g d e s sich t r o t z seines W i s s e n s u m die Welt in d e r M a c h t G o t t e s b e f i n d l i c h e n M e n schen, d e r den L e s e r n n u r d e n b e s c h e i d e n e n R a t g e b e n k a n n , sich a u c h a n G o t t zu w e n d e n , d a m i t er d a s R e c h t v e r t e i d i g e : Pray that God defend the Right. D i e o f f e n s i c h t l i c h e B e s o n n e n h e i t , die d e r S p r e c h e r d e m L e s e r zu B e g i n n d e r dritten S t r o p h e zur S c h a u stellt, zielt d a r a u f a b , eventuelle B e d e n k e n a b z u b a u e n , d e n n es w i r d die V o r s t e l l u n g e r z e u g t , d a ß alles v o m S p r e c h e r in seiner k o m p e t e n t e n A r t s c h o n v o r ü b e r l e g t u n d d u r c h r e f l e k t i e r t ist. A u f die F r a g e , o b der L e s e r sich d e r A u s w i r k u n g e n d e s K r i e g e s f ü r F r e u n d u n d F e i n d b e w u ß t ist, f o l g e n p r ä z i s e A n t w o r t e n , d u r c h w e l c h e a l l e r d i n g s e i n e R e f l e x i o n d e s P h ä n o m e n s K r i e g verhindert wird. S t a t t eine V o r s t e l l u n g v o m K r i e g zu e r z e u g e n , wird d i e B l i c k r i c h t u n g u m g e l e n k t a u f s e k u n d ä r e F r a g e n d e r f a l s c h e n u n d richtigen M o t i v a t i o n z u m K r i e g f ü h r e n : R u h m s u c h t , H a ß u n d H a b s u c h t (>glory s o u g h t , h a t r e d , greed«) stellen f a l s c h e B e w e g g r ü n d e d a r , a b e r die Verteid i g u n g v o n R e c h t u n d A n s p r u c h (>rightKrieg< der Krieg selbst legitimiert. Das Verfahren, durch die Rechtfertigung des Krieges den Blick auf diesen als O r t des Sterbens und Leidens zu verstellen, wird in der vierten Strophe f o r t g e f ü h r t , in der er als eine Möglichkeit zum Heldentum und Selbstaufopferung dargestellt wird. Sir J a m e s O u t r a m und Charles Gordon, von denen der eine f ü r die Niederschlagung einer Meuterei in Indien im J a h r e 1857 und der andere f ü r die Niederwerfung des Sudans b e r ü h m t wurden, werden als die Leit- und Vorbilder der ruhmreichen Sieger beschworen und so durch die Vorstellung >Sieg< der Blick auf die leidvolle Realität des Krieges blockiert: Unter den Wertvorstellungen von Heldentum und Ruhm soll sich die Vorstellung vom Krieg als Leiden und Sterben nicht entfalten können. Im Kalkül mit Vorstellungs- und W e r t p r o g r a m m e n , von denen durch Newbolt a n g e n o m m e n wird, d a ß sie einmal durch den Leser nicht in Frage gestellt werden und zum anderen durch Schlagworte a b r u f b a r sind, entwickelt er eine Tabuierungsstrategie, die sich im grundsätzlichen Aspekt der W e r t ü b e r t r a g u n g bei Texten wiederholt, deren Intention es ist, eine Wirklichkeitsanalyse zu verhindern. Diese Verfestigung von unreflektierten Vor-Urteilsprogrammen geschieht nicht um ihrer selbst, sondern um eines extraliterarischen Zweckes willen. Im vorliegenden Beispiel werden die historischen Vorbilder von G o r d o n und O u t r a m zur N a c h a h m u n g e m p f o h l e n : E n g l a n d ! if thy will be yet By their great e x a m p l e set, Here beside thine arms to-night Pray t h a t God d e f e n d the Right.

Der >ifAufklärung< in den Krieg ziehen zu wollen, ist gedacht als eine Herausforderung, den Zweifel nicht gerechtfertigt zu erweisen und sich der großen Leitbilder würdig zu erweisen. In dieser Gesinnung, die durch das Gedicht entweder erzeugt, befestigt und bestätigt werden soll, wird England a m Morgen aufstehen, um zu siegen oder zu fallen - dies ist jetzt gleichgültig - und in freudiger Stimmung den Trommelwirbel und den Ruf der T r o m p e t e n hören, um sich selbst zu bestätigen, d a ß es im Verhältnis zu den heroischen früheren Zeiten nicht schlechter geworden ist, d a ß es noch ist, was es war. So endet das Gedicht in der Vision dessen, was es selbst mit zu bewirken intendiert: Im Gefühl der Ubereinstimm u n g mit der Stimme der Wahrheit, in Erinnerung der heldenhaften Vergangenheit und mit Gottes Hilfe wird England in den Krieg ziehen, um sein Recht zu verteidigen: 103

Gird thee with thine ancient might Förth! And God defend the Right! Newbolt schrieb a m V o r a b e n d des Krieges von 1914 in sein T a g e b u c h : I spent most of the years of my life under the certainty that my country must pass through the trial of a great war; the necessary efforts of training for it the force and the thought and the characters." Eine formalistische L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t , die die D i c h t u n g n u r u n t e r d e m K r i t e r i u m d e r L i t e r a t u r h a f t i g k e i t b e t r a c h t e t , wird ein solches patriotischimperialistisches Gedicht nicht als l i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t s w ü r d i g b e t r a c h t e n , weil seine h o c h g r a d i g e Z w e c k h a f t i g k e i t so unverschlüsselt g r e i f b a r ist. T e x t e dieser Art a b e r sind sicher ebenso h ä u f i g wie T e x t e d e r >hohen< L i t e r a t u r , wie sie in den konventionellen K a n o n s der Schulen u n d Universitäten figurieren. Ein f u n k t i o n a l - s t r u k t u r a l i s t i s c h e s Beschreibungsmodell m u ß in d e r L a g e sein, eine Analyse a u c h solcher T e x t e zu gewährleisten. Z u d e m zeigt die p r a k t i s c h e Arbeit mit T e x t e n aller möglichen A r t e n o d e r Sorten, d a ß die hier d e m o n s t r i e r t e n I n t e n t i o n e n u n d Strategien nicht nur in T e x t e n dieser Art vaterländisch-imperialistischen D i c h t u n g i m m e r wieder wiederholt werden, s o n d e r n d a ß - vielleicht mit g r ö ß e r e r Subtilität u n d Verschlüsselung - ebendieselben Strategien in d e r s o g e n a n n t h o h e n L i t e r a t u r wie in d e r W e r b u n g v o r k o m m e n . Es ist d a b e i i m m e r f o l g e n d e G r u n d k o n z e p t i o n in R e c h n u n g zu stellen: V o r a u s s e t z u n g f ü r die T a b u i e r u n g eines Vorstellungsbereiches ist einmal d a s V o r h a n d e n s e i n u n d die A b r u f b a r k e i t von u n p r o b l e m a t i s c h e n W e r t p r o g r a m m e n b e i m Leser, die d u r c h die Strategie des T e x t e s auf einen a n d e r e n A n s c h a u u n g s b e r e i c h w e i t e r ü b e r t r a g e n werden. Z u r U n t e r s t ü t z u n g dieses G r u n d v e r f a h r e n s d e r W e r t u r t e i l s l e n k u n g werden u n t e r s t ü t z e n d e u n d intensivierende V e r f a h r e n v e r w e n d e t : Die W a h l des M e d i u m s selbst spielt eine Rolle im Wirkkalkül, d. h. ein T e x t m e d i u m , von d e m wie bei d e r D i c h t u n g , die Vorstellung des S a k r o s a n k t e n assoziiert word e n ist, k a n n wie im vorliegenden Falle selbst in die Strategie einbezogen werden. D a s Ansehen des M e d i u m s wird so n u t z b a r g e m a c h t f ü r die d u r c h es t r a n s p o r t i e r t e n W e r t v o r s t e l l u n g e n , ein P h ä n o m e n , d a s alltäglich b e o b a c h t b a r ist, w a s die I n f o r m a t i o n s v e r m i t t l u n g d u r c h die m o d e r n e n M e d i e n anlangt. Gleichzeitig k a n n die implizite oder explizite Vorstellung, die d e r Sprecher v o n sich selbst erzeugt, zur Realisierung der I n t e n t i o n u n t e r s t ü t z e n d wirken: W e n n der S p r e c h e r in seiner Zuverlässigkeit, Besonnenheit u n d Überlegenheit den E r w a r t u n g e n d e r Leser entspricht, k a n n eine Ü b e r t r a g u n g der sich mit seiner Person v e r b i n d e n d e n V o r s t e l l u n g e n auf die d u r c h den 8

The Later Lite and Letters of Sir Henry Newbolt (Ld., 1918), 187: >Ich habe die meisten Jahre meines Lebens in der Gewißheit gelebt, daß mein Land die Prüfung eines großen Krieges und die nötigen Anstrengungen dafür durchstehen muß, die Kraft, den Geist und den Charakter darauf vorzubereiten^ (Übers, v. Verf.)

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Text zu vermittelnden Werte geschehen. Strategien dieses Grundtypus sind in jedem Stadium der Textgeschichte auffindbar. Das historisch Wandelbare sind die bezugsgebenden Vorstellungs- und Wertprogramme, von denen angenommen wird, daß sie so verfestigt sind, daß sie sich selbst wieder durch die Strategie der Wertübertragung zur Verfestigung neuer oder zumindest noch nicht verfestigter Wirklichkeitsanschauungen nutzbar machen lassen. 2.22.

Aufwertungsverfahren in der Werbung

Wertvorprogramme, die als nicht in Frage stehend angenommen und durch den Text nicht in Frage gestellt werden, spielen auch im Kalkül der Werbung eine zentrale Rolle. Die Textfunktionsanalyse einer Werbeanzeige für den englischen Kleinwagen Austin Mini, die am 15. 4. 1973 im Sunday Times Magazine erschien, kann diesen Sachverhalt exemplarisch demonstrieren. Der Text besteht bei dieser Anzeige aus verbalen und nichtverbalen Zeichenelementen: Die wichtigsten Bildzeichenelemente sind ein rotes MiniAuto im Mittelgrund des Bildes, das eine einsame Küstenlandschaft darstellt, und ein sich an der Hand haltendes Paar im Hintergrund des Bildes, das das Auto auf dem von der Ebbe freigegebenen Strandstück geparkt hat und in Richtung des zurückgewichenen Meeres hinausgegangen ist. Der untere Rand des Bildes trägt in großen Buchstaben die Aufschrift: You're never too old for this sort of thing.

Der unter dem Bild in zwei Kolumnen plazierte verbale Text in mittelgroßen Lettern hat folgenden Wortlaut: The Mini has always been a young car. It's something to do with the fun of driving it, and a lot to do with the cost of buying it (from £ 692) and running it (42 miles to a gallon of three star). But the Mini doesn't appeal only to the young. Its character has made it popular with every age of man and woman. For instance, the comfort of the Mini's seats, the softness of its carpeting and upholstery endears it to any body that's taken a few knocks in life. The performance of its transverse engine and the roadholding of front wheel drive can add excitement to any journey that's become routine. There are now five Minis in the range, from the 850 to the 1275 GT, and over three million have been bought. By the young of all ages. Visit your Austin or Morris Showroom and take a Mini out for a test drive. It could take years off you.9 9

Sunday Times Magazine, 15. 4. 1973 >Der Mini ist immer ein junges Auto gewesen. Das hat etwas mit dem Vergnügen zu tun, das es macht, ihn zu fahren; und eine Menge mit den Anschaffungskosten (ab 692 Pfund) und mit den Betriebskosten (6,6 Liter Normal auf 100). Aber der Mini wirkt nicht nur auf die Jungen. Sein Charak-

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Unternimmt man die thematische Analyse des Textes, dann fällt auf, daß das Thema >gute Technik und Ausstattung« (Quermotor, Frontantrieb, niedriger Benzinverbrauch, Normalbenzin, weiche Teppiche und Polsterung, fünf Modelle zur Auswahl, niedriger Anschaffungspreis) gekoppelt ist mit dem Thema des >Jungseins< und in verschlüsselter Form mit dem damit eng zusammenhängenden Thema des erotischen Vergnügens: Das thematische Schlüsselwort >young< (= jung, die Jungen) taucht leitmotivisch den ganzen Text hindurch dreimal auf, und der Text schließt mit der Paraphrase für verjüngen* (= >take years off sb.Jugend< eine semantisch weitgehend offene Leerformel für alle möglichen positiven Wertassoziationen, die sich bei verschiedenen Sprechern verschieden kombinieren können. Im vorliegenden Text wird aber ein besonderer Wertaspekt des Jungseins unter anderen möglichen, aber unbestimmt gelassenen, herausgestellt, nämlich der sexuellen Potenz und des erotischen Vergnügens: >You're never too old for this sort of thing< ruft im Zusammenhang mit dem dazugehörigen Bild einmal die Vorstellung ab: >Für den Mini bist du nie zu alt< und gleichzeitig die andere, für den Engländer sich mit dem - scheint es - semantisch so unbestimmten >this sort of thing< sehr bestimmt verbindende Vorstellung der >Liebefunendear< und der zweideutige Satz >any body that's taken a few knocks in lifeTechnik des Mini< und >Jungsein< sind zum Zwecke der Werturteilslenkung des Lesers, d. h. in strategischer Funktion aufeinander bezogen: Im Unterschied zu anderen, die strategische Funktion verhüllenden Texten, wo der Leser durch die Textstrategie veranlaßt wird, die Übertragung der dem einen Anschauungsbereich eigenen Wertvorstellungen auf den andern selbst zu leisten, wird hier die Übertragung explizit im Text selber vorgenommen: The Mini has always been a

young

car.

It could takc years o f f you.

ter hat ihn bei Männern und Frauen jeden Alters beliebt werden lassen. Zum Beispiel, der K o m f o r t der Sitze des Mini, die Weichheit der Teppiche und der Polsterung gewinnen die Zuneigung aller jener, die einige Stöße im Leben abbekommen haben. Die Leistung der querliegenden Maschine und die Straßenlage des Vorradantriebs kann jeder Reise, die zur Routine geworden ist, Erregung verleihen. Es gibt jetzt fünf Minis in der Modellreihe, vom 8 5 0 bis zum 1 2 7 5 GT; und über drei Millionen sind gekauft worden. Von den Jungen aller Altersklassen. Besuchen Sie Ihren Austin- oder Morrishändler und fahren Sie den Mini Probe. Es könnte Ihnen J a h r e abnehmen.« (Ubers, v. Verf.)

106

D e m Leser wird nicht nur suggeriert, d a ß der Mini ein A u t o mit

Vorzügen

ist, sondern gleichzeitiq, d a ß er öffentlichen

Symbolwert

technischen besitzt,

d a ß er erkennbares Zeichen f ü r >the y o u n g of all ages< sei - und wer würde nicht wenigstens f ü r j u n g gelten

wollen und sei es nur durch d a s Hilfsmittel,

als d a s der Mini hier fungiert. A b e r d a m i t nicht g e n u g : D e r Mini wird nicht nur von der J u g e n d g e k a u f t , er gilt nicht nur als Zeichen

des Jungseins

mit

all seinen V o r z ü g e n vor d e m Altsein, sondern er ist bei F r a u und M a n n jeden Alters p o p u l ä r : Selbst den Alten, die d a s Z e u g zum J u n g s e i n nicht mehr haben, bietet er >comfort< ( K o m f o r t und T r o s t ) und >softness< (Weichheit) und dies sichert ihm die >Zuneigung< (endear) derer, an denen d a s L e b e n nicht ohne S c h l ä g e v o r ü b e r g e g a n g e n ist: A l s o eine Strategie der A n t h r o p o m o r phisierung, d. h. Vermenschlichung und Übertragung

von menschlichen Ei-

g e n s c h a f t e n auf einen unbelebten G e g e n s t a n d , und d a r ü b e r hinausgehend eine jeglicher Wirklichkeitserfahrung widersprechende irrationale D ä m o n i sierung des technischen G e g e n s t a n d e s als >JungmacherIt could take years o^f you.< Der Mini wird nicht nur als >junges< Auto, d. h. A u t o f ü r J u n g e , nicht nur als öffentliches Zeichen des J u n g s e i n s f ü r Menschen jeglichen Alters, sondern - letzte irrationale S t u f e des A p p e l l s an ein Wunschdenken - als mögliches Mittel zur V e r j ü n g u n g zur Vorstellung gebracht. I m m e r aber, o b es sich u m s J u n g s e i n , J u n g g e l t e n , oder u m s Wiederjungwerden handelt, sollen die positiven Wertvorstellungen, die sich mit dem J u n g s e i n verbinden, beim Leser a b g e r u f e n und auf den technischen G e g e n s t a n d übertragen werden.

2.3.

Zwischenbilanz

Bevor der Schritt zur Analyse der T e x t s t r a t e g i e n u n t e r n o m m e n werden kann, mittels derer eine Erschütterung oder A u f l ö s u n g von leserseitig vorausgesetzten V o r p r o g r a m m e n intendiert wird, scheint es geboten, eine Z u s a m m e n schau und A u s w e r t u n g der bisheriqen Erörterungen v o r z u n e h m e n : Unter d e m A s p e k t der Werturteilslenkung durch T e x t e wurde eine T y p e n r e i h e von Intentionen und Strategien als A r b e i t s g r u n d l a g e erstellt, welche a u f der einen Seite durch den Intentionstypus begrenzt wird, ein beim Leser als v o r h a n d e n a n g e n o m m e n e s V o r p r o g r a m m in direktem oder indirektem V e r f a h r e n zu bestätigen und zu verfestigen. Dieses V e r f a h r e n des E i n g e h e n s a u f leserseitig a n g e n o m m e n e V o r p r o g r a m m e z u m Zweck ihrer B e s t ä t i g u n g und Verfestig u n g wurde a b g e g r e n z t von einer zweiten V e r f a h r e n s g r u p p e : Als typologisches Kennzeichen dieser V e r f a h r e n wurde die Intention bestimmt, leserseitig als v o r h a n d e n a n g e n o m m e n e V o r p r o g r a m m e nutzbar zu m a c h e n zur Übert r a g u n g der sich mit ihnen verbindenden W e r t - und Normvorstellungen auf eine Vorstellungwelt, mit der der Textrezipient die intendierten Wertvorstellungen noch nicht oder nicht mehr verbindet. Für T e x t e dieses T y p u s sind 107

grundsätzlich folgende strukturelle Sachverhalte als charakteristisch herausgestellt worden: Beim Leser wird durch den Textautor ein fest verankertes Wertprogramm in Ansatz gebracht, von dem angenommen wird, daß es (durch Gewohnheit) so stark internalisiert ist, daß es nicht in Frage steht und durch den Text nicht in Frage zu stellen ist. Dies ist Voraussetzung für die Nutzbarmachung eines solchen Vorprogrammes zum Zweck der Umwertung, Legitimierung, Akzeptabilitätssteigerung, Internalisierung und Tabuierung von Einzelvorstellungen, Vorstellungskomplexen oder Anschauungssystemen, die diesen Grad der Werthaftigkeit, Verfestigtheit und Zweifellosigkeit entweder noch entbehren oder seiner verlustig zu gehen Gefahr laufen. Texte solcher Art sind eng beziehbar auf die auktoriale Einschätzung nicht nur eines statischen Bildes vom Leser, sondern auf die historischen Situationen und Prozesse, in denen der Leser gesehen wird. So deckt die Textfunktionsbeschreibung mittels einer Leserbildanalyse immer etwas von der >timelinessöffentlich< geworden ist, wie sich daraus heute eine Ideologie des Jungseins entwickelt hat, in der zumindest das Altsein implizit abgewertet oder totgeschwiegen und verdrängt wird. Stellt man die beiden Bezugwertbereiche in Vergleich miteinander, was ihren Grad der Öffentlichkeit und ihre Geschichte anlangt, so stellt man fest, daß beim sakral-kirchlichen Bereich das Moment der privaten und existentiellen Erfahrbarkeit der Wertigkeit hinter dem Moment der öffentlichen Sanktioniertheit zurückgetreten ist; daß das subjektive religiöse

Tremendum der ur-

sprünglichen Erfahrung des Sakralen und Numinosen externalisiert und auf die Kirche übertragen ist. Das heißt, daß im Zuge der Konventionalisierung eine Abstraktion von der Werterfahrung

auf die Wertkonvention stattgefun-

den hat und daß das Wertprogramm, mit dem auktorialerseits gerechnet wird, nicht mehr auf der Eigenerfahrung, sondern auf der Konditionierung zu einem bestimmten Wertschema beruht. Anders bei den sich mit der Grundvorstellung Jungsein verbindenden Wertauffassungen: Hier wird ein Wertbereich abgerufen, der zwar auch schon einer starken Ideologisierung ausgesetzt ist, wo aber gleichzeitig noch die uneingeschränkte Möglichkeit der Erfahrung besteht, aus der Lust- und Unlustgefühle resultieren. Gemeinsam ist den beiden Bezugswertbereichen, daß sich - genetisch gesehen - Wertvorstellungen aus Lust- und Unlusterfahrungen heraus entwickeln. Unterscheidbar sind sie voneinander durch den Grad der Öffentlichkeit, Entprivatisiertheit und den Grad der hinter den Wertvorstellungen noch vorhandenen Erfahrungshaltigkeit der Wertvorstellungen. Genetisch gesehen ist davon auszugehen, daß am Anfang jeder Wertvorstellungsbildung elementare Lust - und Unlustgefühle,

Angst und Freude

anzusetzen sind. In Spätzeiten sind die individuellen Elementarerfahrungen 109

öffentlich geworden und damit den objektiv und verbindlich erscheinenden Werten nicht mehr ohne weiteres anzumerken; aber in den Textstrategien wird auch heute noch mit dem der rationalisierten Wertwelt unterliegenden >Rohmaterial< der Wertbildung gearbeitet, wenn - etwa zur Abwertung eines Vorstellungsbereiches - dieser mit einem Unlust- und Angstgefühle assoziierenden Vorstellungsbereich gekoppelt wird. Durch Strategien dieser Art wird nicht an das rationale Wertbewußtsein appelliert, sondern gleichsam die Rationalisierung kurzgeschlossen. Auf diesem Wege - der ein Weg der Erinnerungsaktivierung ist - werden elementare Erlebnisprogramme reaktiviert und abgerufen, wie sie jedem Individuum als animalische Angst vor dem Tode oder als Leidens- und l/n/usterfahrung beim Kranksein zugänglich sind. Shakespeare ist ein Meister dieser Art von Werturteilslenkung auf dem Wege der Übertragung von elementaren Emotionen auf zunächst wertindifferent erscheinende Vorstellungskomplexe. Diese Sachverhalte sind unter dem Aspekt der Funktion von Shakespeares Bildern,10 etwa der Krankheitsund Tierbilder, so ausgiebig und kompetent untersucht worden, daß hier nicht mehr im Detail davon die Rede sein muß. Daß diese auf die Steuerung der Zuschauerhaltung zielenden Strategien nicht an das rhetorische Mittel von sprachlichen Bildern gebunden, sondern ein thematisch-tiefenstruktureller Faktor sind, erweist sich, wenn man einen Text unterschiedlicher rhetorischer Qualität, etwa das Pinterstück The Dumb Waiter," zum Vergleich und zur Kontrolle der Aussage heranzieht: Die zentrale Thematik dieses Stückes ist - wie in anderen Pinterstücken auch - Entindividualisierung, Entpersönlichung, Verlust der persönlichen Identität und die Verfunktionalisierung des Menschen. Die Konkretisierung dieser Themen durch Bühnengestalten, welche zwei Spielarten des entpersönlichten Menschen repräsentieren, enthält als Kontrastprogramm zur Wert- und Wunschvorstellung vom Menschen als freiem Individuum selbst schon eine Reihe werturteilslenkender Elemente. Daß Pinter zur Intensivierung der intendierten Leserreaktion beide Dramengestalten zudem noch als >kalte Killen zur Vorstellung bringt, ist Teil einer Strategie der Wirkungssteigerung, die dadurch erzielt werden soll, daß der Leser seine Unlust- oder Horrorreaktion gegenüber Tod und Mord auf die Vorstellung vom entpersönlichten Individuum überträgt. Die Ausfaltung der Thematik >Mord< - und das war der Ausgangspunkt der Überlegungen - geschieht hier nicht mit dem rhetorischen Mittel von sprachlichen Bildern, sondern wird in Szene gesetzt.

10

Cf. Wolfgang Clemen, The Development of Shakespeare's Imagery (Ld., 1967); dazu als Forschungsbericht: Kenneth Muir, »Shakespeare's Imagery - Then und Nowaus seiner Sicht< dies alles als L u g und Trug: T h i s is the excellent f o p p e r y o f the w o r l d that when we a r e sick in f o r t u n e , o f t e n the surfeits o f our o w n b e h a v i o u r , w e m a k e guilty of our d i s a s t e r the sun, the m o o n a n d s t a r s ; a s if we were villains on necessity, f o o l s b y heavenly c o m p u l s i o n , k n a v e s , thieves a n d treachers b y spherical p r e d o m i n a n c e , d r u n k a r d s , liars a n d a d u l t e r e r s by a n e n f o r c e d o b e d i e n c e o f p l a n e t a r y influence, a n d all that w e a r e evil in b y a divine thrusting on. A n a d m i r a b l e e v a s i o n o f w h o r e m a s t e r m a n , to lay his g o a t i s h d i s p o sition to the c h a r g e of a star! 1 3

Die im modernen Sinne >aufgeklärte< Edmund-Gestalt stellt eine Korrespondenz (oder gar Kausalität) zwischen Transzendenz und Immanenz in Abrede und erklärt das menschliche Verhalten als ein rein innerweltliches psychologisches Phänomen. Die aufgeklärte Modernität des Welt- und Menschenbildes der Edmund-Gestalt aber wird dem Elisabethanischen Zuschauer suspekt gemacht, indem Shakespeare gleichzeitig diese Gestalt als illegitimen Sohn und Intriganten zur Vorstellung bringt, der die Entzweiung, die bei Shakespeare seit den frühen Bürgerkriegshistorien als das Urübel des Ordnungsverlustes gilt, zwischen dem legitimen Sohn Edgar und Gloucester betreibt und so die Katastrophe befördert, die aus dem Auseinanderbrechen der >nature< im Sinne von natürlichen Banden und Bindungen resultiert. Die Vorstellung vom unsympathischen Intriganten ist nicht aus der Naturauffassung Edmunds herleitbar, aber es wird durch die Strategie des Textes die Vorstellung erzeugt, daß ein Nexus zwischen Weltanschauung, illegitimem Sohnverhältnis und Intrigantentum Edmunds besteht und daß so die Übertragung der beim Zuschauer intendierten Antipathie gegen diese Gestalt auf die von ihr vertretene Weltanschauung gerechtfertigt wird. Durch dieses Verfahren der Abwertung von Ansichten wird gleichzeitig der Effekt erzielt, die von Gloucester und Shakespeare in Schutz genommene Weltanschauung als richtig und verbindlich für Ordnung und Lauf der Welt hinzustellen und damit alle Abweichungen davon als Irrlehren, die ins Chaos führen, indirekt abzuqualifizieren. Was bei Shakespeare K o s m o s und Mensch umfassende Dimension hat, erscheint im 18. Jahrhundert reduziert auf die Ebene von >Vorurteilen< kleineren Maßstabs. Obwohl die Strategie der Emotionalisierung in den Grundzügen die gleiche geblieben ist, sind die durch sie manipulierten Wertvorstellun13

Ibid., 1 2 I f f . : >Das ist die a u s b ü n d i g e Narrheit dieser Welt, d a ß , wenn wir a n G l ü c k k r a n k sind - o f t durch die Ü b e r s ä t t i g u n g unseres W e s e n s - , wir die S c h u l d unserer U n f ä l l e a u f S o n n e , M o n d und S t e r n e schieben, a l s wenn wir S c h u r k e n w ä r e n durch N o t w e n d i g keit, N a r r e n durch h i m m l i s c h e E i n w i r k u n g , S c h e l m e , D i e b e und V e r r ä t e r d u r c h die U b e r m a c h t d e r S p h ä r e n , T r u n k e n b o l d e , L ü g n e r und E h e b r e c h e r durch die erzwungene A b h ä n g i g k e i t von p l a n e t a r i s c h e m E i n f l u ß und alles, worin wir schlecht sind, durch göttlichen Anstoß. E i n e herrliche A u s f l u c h t f ü r d e n Liederlichen, seine hitzige N a t u r d e n Sternen zur L a s t zu legen !< Ibid., 7 1 6 f .

112

g e n in ihrer D i m e n s i o n g e s c h r u m p f t , g a n z in Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t d e r V e r e n g u n g d e s u r s p r ü n g l i c h g r o ß d i m e n i o n i e r t e n W e l t b i l d e s a u f ein innerweltliches G e s e l l s c h a f t s - und Menschenbild.

2.4.

Die Veränderung von V o r p r o g r a m m e n

2.4 1.

Umstrukturierung

D i e v o r a u s g e h e n d e n E r ö r t e r u n g e n z u m P r o b l e m d e r B e s t ä t i g u n g , Intensivier u n g o d e r N u t z b a r m a c h u n g v o n V o r p r o g r a m m e n h a b e n d e u t l i c h w e r d e n lassen, in w e l c h e m M a ß e z u m G e l i n g e n d i e s e r S t r a t e g i e n

>unproblematische
Er s a g t e , nur L e u t e in verzweifelten U m s t ä n d e n o d e r a b e r solche, die es weiter a l s ihre M i t m e n s c h e n bringen wollten, w a g t e n sich a u f der S u c h e n a c h A b e n t e u e r n in die weite Welt hinein, u m durch U n t e r n e h m u n g e n , a b s e i t s v o n den g e w o h n t e n W e g e n , zu g r o ß e m R e i c h t u m o d e r zu u n g e m e i n e m R u h m zu g e l a n g e n ; derlei D i n g e seien f ü r mich entweder allzu hoch o d e r g a r zu weit unter m i r ; ich g e h ö r e e i n m a l d e m M i t t e l s t a n d a n , g e n a u e r g e s a g t , der o b e r e n Schicht d e s niederen L e b e n s k r e i s e s , die er in l a n g e r E r f a h r u n g a l s den b e s t e n S t a n d der Welt g e f u n d e n h a b e , a l s den S t a n d , welcher der menschlichen G l ü c k s e l i g k e i t a m g ü n s t i g s t e n sei, d a m a n in ihm weder d e m E l e n d , d e r H ä r t e , der M ü h s a l u n d der P l a g e d e s H a n d w e r k e r - und T a g l ö h n e r d a s e i n s n o c h a u c h d e m H o c h m u t , der Ü p p i g k e i t , d e m E h r g e i z und der M i ß g u n s t der höheren S t ä n d e u n t e r w o r f e n sei.< Robinson Crusoe, übers, v. H a n nelore N o v a k , R o m a n e , Bd. I, hrsg. v. N. Miller ( M ü n c h e n , 1968), 3 6 f .

114

nahmen, sondern in deren Wertbewußtsein sich die Vorstellung der >Mitte< vereinbarte mit der Wertvorstellung von >Zentrummediocritas« als g o t t g e g e b e n e r S t a t u s verpflichtete - d a s ist die L o g i k - dazu, den in einem als gültig betrachteten G e s a m t s y s t e m a n g e s t a m m t e n und a n g e wiesenen Platz nicht zu verlassen: S i n c e every p l a c e in the Scale must be filled, a n d since e a c h is w h a t it is by virtue o f the s p e c i a l limitations which d i f f e r e n t i a t e it f r o m a n y other, m a n ' s d u t y was to k e e p his place, a n d not to seek to t r a n s c e n d i t . "

D a s individualistische Ausbrechen Robinson C r u s o e s a u s der v o r g e g e b e n e n O r d n u n g wird so textintern als V e r s t o ß gegen eine gottgewollte O r d n u n g und somit als etwas so Gravierendes wie die >original sin< interpretiert und bewertet. Robinson selbst, der nach all den Irrungen und Wirrungen seine A u t o b i o g r a p h i e schreibt, bekennt sich a m E n d e seines L e b e n s zu den Anschauungen seines V a t e r s , nach denen der Ausbruch a u s der >best of all states in the world< in nichts als ins Elend führt. Diese textintern betriebene

timation

der Mitte dient - nun b e z o g e n auf die beim Leser

Legi-

in Rechnung zu

stellenden V o r p r o g r a m m e - nur einer Intensivierung der zumindest seit Horaz literarisch nachweisbaren W e r t k o n s t a n t e der als >golden< bezeichneten Mitte. O b w o h l mit der >Mitte< im L a u f

der Geschichte verschiedene

Vor-

stellungen verbunden wurden, h a f t e t der bloßen L e e r f o r m e l >Mitte< bis heute eine Wertvorstellung an, die immer d a n n reaktiviert wird, wenn es gilt, eine Position zu legitimieren, sei es in der Politik oder der K u n s t g e s c h i c h t e : Der >Verlust der MitteVirtualität< cf. Wolfgang Iser, >Die Leserrolle in Fieldings Joseph Andrews und Tom Jonesmiddle station< besitzt, sondern daß er die Selbstrelativierung unreflektierterweise an Wirklichkeitsbereichen vornimmt, die der Erscheinung zwar von ihm unterschieden, aber ihm ihrem Wesen nach sehr verwandt sind. Die Gulliver eigene Anpassungshaltung führt - sieht man vom II. Teil ab - dazu, daß er nacheinander in im Verhältnis zueinander konträre Anschauungssysteme gerät, die ihm zunächst als fremd erscheinen, in die er sich jedoch nach und nach hineindenkt, so daß eine vergleichende Kritik der Systeme unterbleibt. Dies ist eine Quelle der Irritation, die noch dadurch verstärkt wird, daß der Leser - Gulliver gleichsam als einen >verläßlichen< Erzähler einschätzend - sich eine Zeitlang auf diese Gestalt verläßt, um sich schließlich und endlich von ihrer Mangelhaftigkeit zu distanzieren und dazu herausgefordert zu werden, die Implikationen von Gullivers Erfahrungen selbst zu reflektieren. In diese Strategie gehört es, daß Swift seine Hauptgestalt nicht ausstattet mit einem verbindlichen Normbewußtsein und daß er sie ein solches Normbewußtsein auch nicht erringen läßt, sondern daß er diese Gestalt sich immer wieder orientieren läßt an den jeweiligen in sich geschlossenen Systemen, die von denen, die darin befangen sind, als verbindliche und objektive Normen aufgefaßt werden, die jedoch dem Leser durchsichtig werden sollen als Reihe von Normsetzungen. So wird dem Leser zwar durch die Gulliver-Gestalt die Anschauung vom unverbundenen Nebeneinander verschiedener >normativer< Sehweisen und Normbegriffe vermittelt, aber die Reflexion über die Pluralität von Normen unterbleibt. Wenn im Laufe der Reisedarstellung Gullivers normative Sehweise und sein Normprogramm im Kontakt mit dem jeweilig fremden Normsystem entprogrammiert wird, dann führt dies nie zu einer Normproblematisierung, sondern immer nur zu einem Wechsel der Normanschauungen, d. h. es handelt sich um Umprogrammierungen zu immer in sich geschlossen bleibenden normativen Anschauungen. Nur einmal wird unverschlüsselt rationalisiert, in welcher Richtung der Leser bei der Reflexion der Gulliverschen Erfahrungen gesteuert werden soll: Nach seiner Rückkehr aus dem Land der Riesen wirkt die im Land der Riesen erworbene Seh- und Verhaltensweise nach: I looked down upon the servants, and one or two friends who were in the house, as if they had been pigmies, and I a giant. I told my w i f e , she had been too t h r i f t y ; f o r I f o u n d she had starved herself and her daughter to nothing. In short I behaved myself so unaccountably, that they were all of the captain's opinion, when he first 119

saw m e ; a n d c o n c l u d e d I h a d lost m y wits. T h i s I mention a s a n i n s t a n c e of

power

of habit

and

thegreat

prejudice

Im letzten S a t z wird - übrigens zum einzigen M a l e - durch Gulliver selbst ein D e u t u n g s a n g e b o t f ü r seine E r f a h r u n g e n gemacht, d a ß d a s Problem der N o r m kein objektives, sondern eines .von Gewohnheit

und Vorurteil

ist. Nur

im K o n t r a s t mit der auch noch zu Beginn des 18. J a h r h u n d e r t s g ä n g i g e n A u f f a s s u n g , d a ß N o r m e n objektiv fundiert seien, ist d a s Provozierende dieses Swiftschen K o n t r a s t p r o g r a m m e s zu ermessen. D i e s e Ü b e r l e g u n g e n zur historischen Situtation, a u s der heraus die spezifischen Faktoren im K a l k ü l mit dem a n g e n o m m e n e n Leser K o n t u r e n gewinnen, sind nötig, um die Intention der Travels

einzukreisen. E s geht d a b e i um

zweierlei: einmal die zeitgenössische Wertvorstellung v o m M e n s c h e n als einem geborenen animal

rationale

zu zerstören, und zum andern, aber d a m i t

z u s a m m e n h ä n g e n d , die sich mit der Mittelstellung des M e n s c h e n in der S c h ö p f u n g verbindende Wertvorstellung zu erschüttern. G e r a d e w a s die letztere Intention anlangt, ist es interessant zu sehen, welche S t r a t e g i e n Swift verwendet, u m den Leser zu irritieren: Indem er die Gulliver-Gestalt in die Mitte zwischen die Liliputaner und die Riesen und in die Mitte zwischen die h o c h g r a d i g vergeistigten

Bewohner von L a p u t a und die

naiv-sittlichen

H o u y h n h n m s plaziert, legt er gleichsam K ö d e r vertrauter D e n k s c h e m a t i s men a u s : F o r m a l gesehen koinzidiert die S w i f t s c h e Vorstellungstriade, in welcher d e m Menschen die Mittelposition z u k o m m t mit der v o m alten Weltbild her bekannten T r i a d e , in der d e m als M i k r o k o s m o s verstandenen M e n s c h e n ebenfalls die Mittelposition z u k a m . Aber innerhalb der f o r m a l e n K o n g r u e n z , v e r m ö g e derer d a s V o r p r o g r a m m von der Mittelstellung des M e n s c h e n in der S c h ö p f u n g s o r d n u n g a b r u f b a r werden soll, ergibt sich sehr schnell eine Kollision der V o r s t e l l u n g s s y s t e m e : Swift setzt d e m herkömmlichen S c h e m a der A r t d i f f e r e n z i e r u n g zwischen den Wirklichkeitsbereichen ein neues S c h e m a der G r a c / a b s t u f u n g e n zwischen den einem monistischen A n s c h a u u n g s s y s t e m zuzurechnenden Z w e r g - und Riesenwesen entgegen. Gulliver als M e n s c h n i m m t zwischen den beiden E x t r e m e n des monistischen S y s t e m s eine Zwischenstellung ein. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes braucht hier nur d a s P r o b l e m der S e h f ä h i g k e i t und S e h s c h ä r f e h e r a u s g e g r i f f e n zu werden: 20

J o n a t h a n S w i f t , Gulliver's Travels [1726], E v e r y m a n ' s L i b r a r y 6 0 (Ld., 1960), 1 5 9 : >Auf die Bedienten u n d ein p a a r Freunde, die im H a u s wohnten, s c h a u t e ich h e r a b , a l s w ä r e n sie P y g m ä e n und ich ein Riese. Ich m a c h t e meiner F r a u V o r w ü r f e , d a ß sie zu sehr a m E s s e n g e s p a r t hätte, d e n n sie und die T o c h t e r seien j a zu einem N i c h t s z u s a m m e n g e s c h r u m p f t . K u r z , ich b e n a h m mich so unsinnig, d a ß alle, ähnlich wie der K a p i t ä n , glaubten, ich h ä t t e den V e r s t a n d verloren. Dies e r w ä h n e ich nur als Beispiel f ü r die g r o ß e M a c h t , die G e w o h n h e i t und V o r u r t e i l e über uns haben.< Reisen ... von Lemuel Gulliver, übers, v. H. H a n s e n ( M ü n c h e n , o. J.).

120

Den Liliputanern wird ein mikroskopisches Auge zugeschrieben, das ein viel feineres Auflösungsvermögen als das menschliche Auge besitze, das wiederum im Verhältnis zu den Augen der Riesen durch ein feineres Auflösungsvermögen gekennzeichnet sei. Die aus der Physiologie des Auges resultierende Sehweise und Welt-Anschauung gilt in den jeweiligen Bereichen, die geschlossene Bereiche sind, als Norm. Durch die Gulliver eigene Neigung, sich auf seinen Reisen den jeweiligen >Normwelten< anzupassen, gelangt er nicht zu einer Synopsis der Normpluralität und der sich daraus ergebenden Auffassung der Normen als zur Gewohnheit gewordenen Setzungen oder als Ergebnisse von im Subjekt selber liegenden Bedingungen. W e n n - wie Swift es bestimmte - der Text der Travels als Herausforderung zur Irritation des Lesers gemeint ist, d a n n kann damit nur ein Leser gemeint sein, dem die Vorstellung von der Pluralität von Normen und von deren historisch-situationeller Bedingtheit ein Novum ist. Z u m andern m u ß es ein Leser sein, der durch die Darstellung der Unfähigkeit Gullivers, seine Norme r f a h r u n g e n zu überschauen und zu reflektieren, dazu provoziert werden kann, die Zusammenschau der N o r m e r f a h r u n g e n zu leisten und so den Erkenntnishorizont der Gulliver-Gestalt zu überschreiten. Diese Strategie, den Leser unzufrieden zu machen mit den Erkenntnisleistungen des Romanhelden, ist historisch nicht eigentlich fixierbar, wohl aber der Sachverhalt, die Pluralität von Normen als ein Novum erscheinen zu lassen. Dies war - sieht man von den naiv Gläubigen an ungeschichtliche und damit einmalige Normen ab, die es zu allen Zeiten geben wird - zum letzten Mal möglich zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als die Anschauung der hierarchisch gegliederten Seinskette noch nachwirkte und von Pope ein letztes Mal reaktiviert wurde: in dieser herkömmlichen Welt-Anschauung waren alle Glieder der Seinskette als Produkte der S c h ö p f u n g relativ gedacht zu dem absoluten Bezugspunkt des vollendeten Schöpfergottes, aber jedem Glied war sein unverwechselbarer Platz in der S c h ö p f u n g s o r d n u n g zugesichert. So implizierte die Anschauung von der menschlichen Mittelstellung in der Schöpfungshierarchie u. a. die Vorstellung von der Gesichertheit im Rahmen einer gottgegeben und gottgewollten O r d n u n g . In den in Swifts Roman zur Darstellung kommenden Triaden (Liliputaner - Mensch - Riese; hochgradig vergeistigter Mensch - Mensch - naives Pferd) aber gibt es den absoluten Bezugspunkt der göttlichen Vollkommenheit und Vollendung nicht mehr. Zwar nimmt Gulliver eine Mittelstellung zwischen den Liliputanern und den Riesen und später zwischen den L a p u t a n e r n und den H o u y h n h n m s und zwischen diesen und den Yahoos ein, aber er vermag nicht wie im konventionellen W e l t - und Menschenbild seinen Platz und seine Funktion gültig als Mittelstellung und K l a m m e r zwischen zwei extremen Seinsbereichen zu bestimmen. Die Bezugswirklichkeiten, an denen er sein Menschentum mißt, wech121

sein vielmehr im Verlauf seiner Reise beständig: Statt mit einem konstanten, absoluten Bezugspunkt im konventionellen Welt- und Menschenbild, wie es Swift als Vorprogramm beim Leser voraussetzt, hat es der Leser in den Travels mit einer ständig wechselnden Bezugsskala zu tun, die es Gulliver unmöglich macht, eine feste Vorstellung von einer gleichbleibenden Relativität der menschlichen Natur im Verhältnis zu Gott als dem absoluten Bezugspunkt der Schöpfung zu gewinnen. Statt ¡dessen hat Swift in den Travels durch die Darstellung der Gulliver-Gestalt und ihrer Begegnungen mit verschiedenen Bezugswirklichkeiten, die alle dem innerweltlichen Bereich anqehören, das Thema eines ins Gleiten geratenen Relativitätsbewußtseins in Szene gesetzt. Und er hat seine Reiseromanparodie dadurch beendet, daß er das Gleiten des Relativitäts- und Selbstwertbewußtsein Gullivers dadurch zum Stillstand bringt, daß er Gulliver sich identifizieren läßt mit dem naiven und darum so einsichtigen Ethos der >Zwischenpferdlichkeit< der Houyhnhnms. Diese Schlußbildung ist - im Hinblick auf den intendierten Leser - insofern irritierend und frappierend, als das desorientierte Wertbewußtsein der einzigen Menschengestalt, Gulliver, durch die Begegnung mit den edlen Pferden und ihrer einfachen Moral umprogrammiert wird. Diese Umprogrammierung wird aber für den Leser nur negativ bewertbar, da Gulliver gleichzeitig dadurch zum Misanthropen, zum Menschenfeind und Menschenverächter wird: Die Perversion des Wertdenkens wird nur dadurch verständlich, daß eine ebenfalls als relativ zu begreifenden Wert- und Normwelt, nämlich die der edlen, aber naiven Pferde, absolut und zum Bezugspunkt gesetzt wird. Einerseits ist also das Thema eines gleitenden und instabilen Selbstwertbewußtseins zu konstatieren, andererseits das Thema eines sich bei Gulliver zum Schluß verfestigenden Selbstwertbewußtseins, das zur Perversion seiner Menschlichkeit führt. Dieses Vorstellungsprogramm wird durch den Text der Travels auf das im Leserbewußtsein als vorhanden angenommenes Programm eines konstanten Selbstwert- und Relativitätsbewußtsein angesetzt. Diese Kollision von zwei möglichen Vorstellungswelten intendiert weder die Verfestigung der einen noch der anderen, sondern zielt - und dies wird besonders durch die Darstellung des Umschlags eines positiven Wertbewußtseins in eine negative Haltung dem Menschen gegenüber am Schluß des Romans deutlich - auf die Erschütterung jedweder konstanten Selbstwertauffassungen des Menschen. Die von Swift mit dem Gulliver-Text verfolgte Intention ist es also, das konventionelle und erstarrte Relativitätsbewußtsein aufzulösen, ohne dabei die Absicht zu hegen, an seine Stelle ein neues von der gleichen Konstanz zu setzen und zu legitimieren. Diese Art der Herausforderung ist nur denkbar, wenn im Leser eine potentielle Mündigkeit vorausgesetzt wird, welche die 122

durch Gulliver dargestellte Beschränktheit transzendiert. Gulliver entzieht sich seinem ins Gleiten geratenen und keinen verbindlichen Fixpunkt mehr besitzenden Normbewußtsein dadurch, daß er sich die Ideologie einer einfachen Sittlichkeit zu eigen macht ohne - wie der Leser es soll - dadurch irritiert zu werden, daß dieses sich an der naiven Zielsetzung der >Zwischenpferdlichkeit< orientierte Denken zu Lasten und auf Kosten der >Zwischenmenschlichkeit< geht. So wird also durch die Einschätzung der einfachen Sittlichkeit nach ihren Folgen und durch die Rückübertragung der Werturteile über die Folgen auf die Ursache beabsichtigt, daß der Leser zum Schluß sowohl zu seinem ursprünglichen Vorproqramm im Sinne von Welt-Anschauung wie zu der von Gulliver gewählten Lösung in reflektorische Distanz tritt. Orientiert man sich am Stand des Wertdenkens jener Zeit, so kann Swift nur einen Lesertypus im Auge haben, für den die Objektivität von Normen, zumal von >öffentlichenstrategischen< Gründen die Gabe der Zusammenschau der perspektivischen Welt-Anschauungen aus der Distanz eines reflektierten Rückblicks vom Autor versagt wird. Anders gewendet: Während der perspektivetragenden Hauptgestalt Gulliver durch ihr Bestreben zur Anpassung die jeweiligen Erfahrungsbereiche sehr schnell zur Gewohnheit und vertraut und damit deren Normen unproblematisch werden, bleiben dem Leser die jeweiligen Erfahrungsbereiche fremd. Der Leser überschaut aus dieser Distanz des Fremdbleibens die Wirklichkeitserfahrungen der Gullivergestalt und registriert aus dieser distanzierten Zusammenschau von heterogenen Welt-Anschauungen und der dazugehörigen Normen deren Bedingtheit und Abhängigkeit von Standort, Sehweise, Sehgewohnheit und damit von der 123

Vorprogrammbelastetheit

und Vorprogrammbedingtheit

jeglicher

Reali-

t ä t s - u n d N o r m a u f f a s s u n g . W a s f ü r die G u l l i v e r g e s t a l t a u f G r u n d d e r s t r a t e g i s c h e m K o n z e p t i o n nicht zu irritierenden A n s c h a u u n g w e r d e n k a n n , soll - g e r a d e d u r c h diese K o n z e p t i o n - f ü r d e n L e s e r zur B e u n r u h i g u n g u n d d a m i t zur Q u e l l e der >richtigen< E r k e n n t n i s werden. D i e s wird im R a h m e n d i e s e r s p e z i f i s c h e n S t r a t e g i e d e r W e r t u r t e i l s l e n k u n g d a d u r c h intendiert, d a ß B e k a n n t e s a u s h i s t o r i s c h - r e l a t i v i e r e n d e r Sicht a l s e t w a s zur G e w o h n h e i t gew o r d e n e s u n d d a r u m Ü b e r h o l b a r e s u n d d a u e r n d B e d e n k e n s w e r t e s in E r s c h e i n u n g tritt. U b e r b l i c k t m a n die S k a l a v o n I n t e n t i o n e n u n d S t r a t e g i e n , d a n n s p a n n t sie sich v o n d e n E n d b e g r e n z u n g e n , der V e r f e s t i g u n g bis zur I n f r a g e s t e l l u n g v o n leserseitig a n g e n o m m e n e n V o r p r o g r a m m e n . D i e V e r f e s t i g u n g s v e r f a h r e n a r beiten d u r c h w e g mit d e r T e c h n i k , s c h o n B e k a n n t e s nicht in F r a g e zu stellen u n d ( f ü r d e n L e s e r ) n o c h F r e m d e s mit H i l f e v o r h a n d e n e r V o r p r o g r a m m e b e k a n n t zu m a c h e n u n d d a m i t ü b e r z u f ü h r e n in die G e s c h l o s s e n h e i t eines

in

sich s c h e i n b a r h o m o g e n e n , t a t s ä c h l i c h a b e r nur d u r c h d a s V e r f a h r e n h o m o g e n g e m a c h t e n , V o r s t e l l u n g s b e r e i c h s , in d e m eine P e r s p e k t i v e herrscht. I m R a h m e n eines s o l c h e n V e r f a h r e n s wird die H e r m e t i k d e r einen

Perspektive

nicht a u f g e b r o c h e n , s o n d e r n z u m Z w e c k e d e r I l l u s i o n i e r u n g d e s L e s e r s , d a ß d i e d a v o n a b l e i t b a r e eine

W e l t - A n s c h a u u n g die g ü l t i g e ist, s o z u s a g e n >ge-

pflegtrichtigem< o d e r » f a l s c h e m Bewußtsein< zu versehen. D e r G r u n d d a f ü r ist v i e l f ä l t i g e r N a t u r : M i t e i n e m T e x t f u r i k t i o n s b e s c h r e i b u n g s m o d e l l dieser A r t k a n n u n d d a r f nicht d e r f a l s c h e A n s p r u c h e r h o b e n u n d d e r f a l s c h e E i n d r u c k e r z e u g t w e r d e n , d a ß es q u a M o d e l l die E r k e n n t n i s v o n >richtigem< u n d >fals c h e n Bewußtsein< leiste. W o h l a b e r k a n n die A u f k l ä r u n g der h i s t o r i s c h e n F r a g e geleistet werden, w a s zu einer b e s t i m m t e n Z e i t v o n b e s t i m m t e n Indiv i d u e n o d e r G r u p p e n f ü r richtiges o d e r f a l s c h e s B e w u ß t s e i n g e h a l t e n wurde. E i n e W i s s e n s c h a f t , die sich m i t d e m P r o b l e m der W e r t u r t e i l s l e n k u n g d u r c h T e x t e b e s c h ä f t i g t , w ü r d e d a s Ziel d e r r a d i k a l e n A u f k l ä r u n g selbst pervertieren, w e n n sie bei d e r D a r s t e l l u n g d e r E r z e u g u n g v o n Parteilichkeit selbst d e r 124

Identifikation mit einer der analysierten Positionen das W o r t reden würde. Unter der T a r n k a p p e der Wissenschaftlichkeit, die nicht erst seit heute einen hohen und darum für M i ß b r ä u c h e geschätzten Prestigewert besitzt, könnte die Indoktrination unerkannt betrieben werden: Eine solche >Wissenschaft< mit einem im Dienste nur einer Gruppe oder Klasse stehenden >Erkenntnispolitischeparteipolitische< Wissenschaft, denn sie soll gerade radikal darüber aufklären, mit welchen Techniken, Tricks und Appellen mittels Texten Parteilichkeit erzeugt oder Parteilichkeit entlarvt wird. Mit diesem Konzept der radikalen A u f k l ä r u n g verbindet sich aufs engste das Bild von einem Rezipienten solcher wissenschaftlichen Analysen: Er wird grundsätzlich für fähig gehalten, Einsicht in die historische Relativität und dadurch kritische Distanz zu allen absolutistischen und totalitären N o r m - und Zielsetzungen zu gewinnen. W a s so eher wie eine Hoffnung klingt, ist aber Voraussetzung dafür, d a ß der Mensch zu einem a u f g e k l ä r t e n , mündigen und selbstverantwortlich entscheidenden Wesen werden kann. So gesehen kann ihm die historisch orientierte Wissenschaft durch Vor-Entscheidungen seine eigenen Entscheidungen nicht abnehmen, ohne ihm ein Stück seiner potentiellen Mündigkeit abzusprechen. Diese Mündigkeit und Selbstverantwortlichkeit als Ziel und Zweck bleibt solange gefährdet, wie die Mittel zu seiner Erreichung nicht am Zweck orientiert bleiben: Eine Wissenschaft, die ihre Rezipienten - selbst im guten Glauben auf Erfolg - mit zweckunangemessenen Mitteln und Verfahren zur Mündigkeit zu manipulieren versucht, pervertiert den Zweck durch die verwendeten Mittel und disqualifiziert sich selbst dadurch, d a ß sie nicht über die Determination des Zweckes durch die Mittel Bescheid weiß: Mündigkeit und Selbstverantwortung kann nicht durch Gängelung und Indoktrination, sondern nur durch die Analyse dieser Verfahren erzeugt werden.

125

3.

G r a d e und Strategien der Leseraktivierung

N e b e n den A n n a h m e n über spezifische V o r p r o g r a m m e beim Leser spielen im Wirkkalkül zwei allgemeinere F a k t o r e n eine Rolle, welche die Textstruktur m i t b e s t i m m e n : E i n m a l bis zu welchem G r a d e der Leser v o m A u t o r für f ä h i g und m ü n d i g gehalten wird, a m S i n n f i n d u n g s - und eventuell Sinnstiftungsprozess beteiligt zu werden; und zum zweiten, bis zu welchem G r a d eine solche Aktivierung b e i m V e r f o l g b e s t i m m t e r Intentionen auktorialerseits f ü r a n g e b r a c h t e betrachtet wird. Mit welchem G r a d an Explizitheit zur Minderung des A u s l e g u n g s s p i e l r a u m e s textintern die Relationen zwischen Einzelvorstellungen bezeichnet sind, hängt von zweierlei a b : E i n m a l von der auktorialen Einschätzung, bis zu welchem G r a d e die A n s c h a u u n g von der Relation zweier G e g e n s t ä n d e so verfestigt ist, d a ß die bloße N e n n u n g der G e g e n s t ä n d e genügt, um auch die Vorstellung ihres Verhältnisses mit abzurufen. Z u m andern d a v o n , wie weit der Auslegungsspielraum

f ü r den Leser

auktorialerseits o f f e n g e h a l t e n wird. W a s sich - wenn es theoretisch beschrieben wird - als scheinbar e i n f a c h e Alternative darstellt, ist f ü r den T e x t a n a l y t i k e r o f t eine K r u x : E s kann sein, d a ß ein T e x t , der ein M i n i m u m an expliziten Relationsbezeichnungen enthält, f ü r ein L e s e p u b l i k u m gemeint ist, dessen R e l a t i o n s a n s c h a u u n g e n so schematisiert und internalisiert sind, d a ß sie mit einem M i n i m u m an Zeichen a b r u f b a r sind und ein A u s l e g u n g s s p i e l r a u m nicht besteht. Für den Elisabethanischen Leser etwa b r a u c h t e d a s R e l a t i o n s s c h e m a der K o r r e s p o n d e n z nicht s t ä n d i g expliziert und rationalisiert zu werden, und so könnte es f ü r den im K a u s a l i t ä t s d e n k e n erzogenen modernen Leser scheinen, d a ß scheinbare >Leerstellen< interpretabel seien und die Relation der K a u s a l i t ä t an die Stelle der K o r r e s p o n d e n z gesetzt werden könnte, wenn diese Alternative ü b e r h a u p t noch w a h r g e n o m m e n und nicht s o f o r t a n die Stelle des K o r r e s p o n d e n z s c h e m a s d a s der K a u s a l i t ä t gesetzt wird. D e r G r a d der semantischen O f f e n h e i t und Interpretabilität eines T e x t e s ist nur zu bestimmen aus den F a k t o r e n der T e x t s t r u k t u r und d e m ihr impliziten historisch-fixierten Bild v o m Leser unter dem A s p e k t von bei ihm vorhandenen

Relationierungs-,

Normierungs-

und W e r t u n g s s c h e m a t a .

Nur

nach einer A n a l y s e dieser Faktoren k a n n eine A u s s a g e über den d a m i t zus a m m e n h ä n g e n d e n G r a d der Beteiligung und Aktivierung des Lesers bei der S i n n f i n d u n g oder S i n n s t i f t u n g g e m a c h t werden. A n d e r s gewendet heißt dies: Die T e x t s t r u k t u r f ü r sich g e n o m m e n s a g t noch nichts über den G r a d der semantischen Determiniertheit aus, sondern diese ist nur zu b e s t i m m e n durch die Z u s a m m e n s c h a u von T e x t s t r u k t u r und den leserseitig a n g e n o m m e n e n V o r p r o g r a m m e n unter d e m A s p e k t ihrer Internalisiertheit. T e x t e , in denen R e l a t i o n i e r u n g s s c h e m a t a explizit mitgesetzt sind, implizieren die auktoriale 126

Grundannahme, daß der durch den Text zu vermittelnde Vorstellungskomplex neu für den Leser ist und daß der Leser nicht oder noch nicht fähig ist, die im Text explizierten Beziehungen und Bewertungen der Teilvorstellungen untereinander selbst vorzunehmen. Der Auslegung, welche eine Beteiligung und Aktivierung des Lesers voraussetzt, sind durch semantisch so präzis determinierte Texte enge Grenzen gesetzt. Der Text ist so angelegt, daß eine eindeutige Nachvollziehbarkeit der intendierten Vorstellungen, ihrer Relationen und ihrer Bewertung gewährleistet ist. Der Spielraum für die tungsaktivität

ten. Am anderen Ende der Skala stehen die von Iser in Die der

Texte21

Deu-

des Lesers ist bei dieser Art von Texten weitgehend beschnitAppellstruktur

charakterisierten Texte, die auf Grund ihrer hochgradigen

semantischen Indeterminiertheit den Normalisierungswillen herausfordern, die semantische Unbestimmtheit zu beseitigen. Es ist von Iser im einzelnen dargestellt worden, mit welchen Textstrategien dieses Normalisierungs- als Sinnstiftungsbedürfnis ausgelöst und wie es gelenkt wird. Jede Normalisierung eines solchen Textes durch den Leser kann nur die Gültigkeit einer Deutungshypothese beanspruchen, welche andere Deutungshypothesen nicht falsifiziert oder ähnliche nicht verifiziert. Der Leser, der die >Hypothesenhaftigkeit« der eigenen Deutung realisiert, wird letztlich zur erkenntnistheoretischen Reflexion über sein eigenes Tun veranlaßt. Isers Modellvorstellung von der Appellstruktur der Texte liegt die anthropologische Annahme eines Dranges zur >Normalisierung< zugrunde. Dieses kann auf eine grundsätzlichere anthropologische Annahme zurückgeführt werden, daß es ein Grundbedürfnis des Menschen ist, in einer sinnhaften Welt zu leben und daß er deshalb dazu neigt, die Sinnhaftigkeit da, wo sie gleichsam im Raum der Kontemplation möglich ist, herzustellen, wenn sich, wie bei semantisch unbestimmt belassenen Texten, die Möglichkeit dazu bietet. Texte, die verschiedene Normalisierungen und >Textrearrangements< 22 zulassen, müßten schließlich zur Reflexion des Lesers über seine eigenen Normalisierversuche als sinnhafte Hypothesen und Fiktionen und über deren Ursprung und Bedingtheit in internalisierten Welt-Anschauungen, d. h. zurück zu den eigenen Vorprogrammen führen. Dabei in Ansatz gebrachte Faktoren wie das leserseitige Bedürfnis nach geschlossener Sinnhaftigkeit, Rationalität, Erklärbarkeit, Aufklärbarkeit und Bestimmbarkeit von Unbestimmtem spielt im auktorialen Kalkül auch in allen den Texten eine Rolle, durch welche Spannung

er-

zeugt wird, die entweder durch eine textintern >vor-geschriebene< oder durch den Leser selbst erstellte Lösungen gelöst werden kann. Aus werkästhetischer Sicht wurde dieser Sachverhalt immer verkürzt mit dem Etikett des »spannenden Textes< bezeichnet. Aus wirkungsästhetischer " 22

Op.

cit.

Zum Begriff des >Rearrangements< cf. Götz Wienold, Semiotik furt, 1972), 72ff.

der Literatur

(Frank-

127

Sicht aber werden die verschiedenen Faktoren durchschaubar, welche bei der Spannungserzeugung und Spannungslösung in Ansatz zu bringen sind. Die Spannungslösung kann auf verschiedene Art und Weise erfolgen: Einmal ist denkbar, daß - analog zur Detektivgeschichtenstrategie - eine Stellvertretergestalt (Detektiv, auktorialer Erzähler), die zur Aufklärung der >weißen Stell e n notwendigen Operationen vornimmt. Der Leser ist dabei Zeuge, wie die auch ihn herausfordernde und in Spannung auf die >Aufklärung< versetzende Informationslücke gefüllt wird. Ein höherer Grad der Beteiligung wird allerdings in den Texten erreicht, in denen der Leser selbst zur Hypothesenbildung herausgefordert wird, bevor das Problem einer Lösung zugeführt wird. Dabei kann natürlich die Richtung, in der der Leser seine >Lösung< sucht, durch explizite oder implizite Deutungshinweise gesteuert werden, der Leser aber in die Illusion versetzt werden, daß die Lösung seine Eigenleistung sei. Wenn die durch den Leser antizipierte Lösung dann noch nachträglich durch den Text bestätigt wird, dann wird in ihm das Selbstwertgefühl der Kompetenz in einer Rolle erzeugt, die eigentlich nicht seine eigene ist, sondern in die er während der Textlektüre hineingeschlüpft oder in die er hineinmanövriert worden ist. Die Strategie der Steigerung des Selbstwertgefühls des Lesers ist nicht Selbstzweck, sondern dient dazu, das Interesse am Text wachzuhalten. Indem das bewußte Interesse des Lesers an der Lösung eines Problems aktiviert wird, kann er gleichzeitig auf anderen Gebieten inaktiviert und können ihm dort >fertige< Lösungen untergeschoben werden, deren Reflexion gerade durch die Erfahrung eines gesteigerten Selbstwertes blockiert werden kann. Ähnliche Appelle an Selbstwertgefühle des Lesers waren bei der Analyse der den Leser auf einen Normrahmen verpflichtenden und ihn gleichzeitig darin bestätigenden Komödienstrategie festzustellen, daß er im Besitz der gültigen Norm sei. In ähnliche Richtung verweist auch das etwa im Roman des 18. Jahrhunderts zu beobachtende Kalkül, dem Leser zu suggerieren, daß er die Aufmerksamkeit und das Vertrauen des Autors genießt, daß er als Gesprächspartner ernst genommen wird. Daß Fielding diese Strategie der Vertraulichkeit ironisch als Strategie decouvrierte, ist begründet im aufklärerischen Ethos solcher Texte, durch welche dem Leser demonstriert und zu Bewußtsein gebracht werden soll, wie er durch den Appell an seine Eitelkeit verführbar wird. Strategien, mittels derer das Selbstwertbewußtsein gesteigert werden soll, sind viel praktizierte Verfahren, aber unter dem Aspekt der im Wirkkalkül eine gewichtige Rolle spielenden anthropologischen Annahmen von bestimmten >Eitelkeiten< beim Leser noch nicht im Detail untersucht. Dieses theoretisch basierte, aber aus der Praxis des Umganges mit Texten entstandene und auf die praktische Anwendung ausgerichtete Modell der Text- und Textfunktionsbeschreibung weist an vielen Stellen Lücken und lose Enden auf, aber es ist zu hoffen, daß die losen Enden sichtbar ge128

blieben sind und zur V e r k n ü p f u n g der hier niedergelegten G e d a n k e n g ä n g e mit denen in anderen auf Kooperation ausgerichteten Disziplinen dienen können.

129

Teil IV: Praktische Anwendung der funktional-strukturalistischen Fragestellungen

Kap. VI: Das Verhältnis von Romanstruktur u n d leserseitig a n g e n o m m e n e n

Vorprogrammen

in d e r G e s c h i c h t e d e s e n g l i s c h e n R o m a n s '

1.

D a s a u k t o r i a l e Bild v o m L e s e r u n d d i e R h e t o r i k des e n g l i s c h e n R o m a n s im f r ü h e n 18. J a h r h u n d e r t

Die v o r a u s g e h e n d e n D a r l e g u n g e n g a l t e n e i n e r m ö g l i c h s t

systematischen

D a r s t e l l u n g der f o r m a l s t r u k t u r a l i s t i s c h e n F r a g e s t e l l u n g e n im R a h m e n der t h e o r e t i s c h e n G r u n d l e g u n g e n des T e x t - und T e x t f u n k t i o n s b e s c h r e i b u n g s m o dells. D a b e i w u r d e u m d e r A n s c h a u l i c h k e i t u n d des P r a x i s b e z u g e s willen imm e r v e r s u c h t , d i e t h e o r e t i s c h e A u s s a g e a u c h a m T e x t zu d e m o n s t r i e r e n . Es h a n d e l t e sich d a b e i u m T e x t e , bei d e n e n f u n k t i o n a l - s t r u k t u r a l i s t i s c h e F r a g e s t e l l u n g e n und P r o b l e m e in ihrer G r u n d s ä t z l i c h k e i t u n d T y p i k erörtert werden k o n n t e n . T r o t z des Bestrebens, d i e s e zur D e m o n s t r a t i o n eines M o d e l l s v e r w e n d e t e n T e x t e nicht als d i s k r e t e P a r t i k e l d e r T e x t g e s c h i c h t e zu b e h a n deln, e r g a b sich bei d e r D a r s t e l l u n g des M o d e l l s an k e i n e r S t e l l e die G e l e g e n heit, den historischen P r o z e ß , d e m sowohl leserseitige V o r p r o g r a m m e und die a u k t o r i a l e n A n n a h m e n d a r ü b e r als a u c h die T e x t s t r u k t u r e n u n t e r w o r f e n sind, ü b e r eine l ä n g e r e S t r e c k e zu v e r f o l g e n . D i e s e m Z w e c k ist d e r vierte Teil der D a r s t e l l u n g g e w i d m e t , in d e m t y p i s c h e E r s c h e i n u n g e n des e n g l i s c h e n R o m a n s i m 18. J a h r h u n d e r t in B e z i e h u n g gesetzt w e r d e n sollen mit s p e z i f i schen A n n a h m e n von L e s e r e r w a r t u n g e n u n d d e n sich d a r a u s e r g e b e n d e n R ü c k w i r k u n g e n a u f den R o m a n t e x t selber. In d e r F o l g e soll d a n n d a s W e i t e r w i r k e n u n d die M o d i f i k a t i o n d e r zu j e n e r Zeit d e r R o m a n g e s c h i c h t e geb i l d e t e n V o r p r o g r a m m k o n v e n t i o n e n in d e r G e s c h i c h t e des e n g l i s c h e n Rom a n s im 20. J a h r h u n d e r t die R e d e sein.

' Eine Vorstufe zu diesen Ausführungen stellt der Aufsatz des Verfassers ;Fiktionsbewußtsein und Romanstruktur in der Geschichte des englischen und amerikanischen Romans«, Gestaltungsund Gesellschaftsgeschichte, hrsg. v. H. Kreuzer (Stuttgart, 1969) 115-131, dar.

133

An Romanen zu Beginn des 18. J a h r h u n d e r t s fällt als erstes ins Auge, d a ß sie nicht als Romane, als >fictionWiedergaben< von verbürgten und n a c h p r ü f b a r e n historischen Ereignissen. In diesem Z u s a m m e n h a n g finden sich immer wieder die Beteuerungen, d a ß das Erzählte wahr sei, d a ß es nicht der E r f i n d u n g entstamme, sondern der Wirklichkeitsbeobachtung und Wirklichkeitserfahrung. Mit diesen Beteuerungen lassen es die R o m a n a u t o ren nicht bewenden, sondern die Wahrheitsbeteuerungen sind dazuhin gekoppelt mit einem o f f e n e n Protest gegen die Art von Texten, die nur der E r f i n d u n g entstammen, die nur dichterische Fiktion sind: So finden sich also die Wahrheitsbeteuerungen in den meisten Fällen zusammen mit dem Protest gegen Fiktivität und erzeugen die vordergründige Illusion der Abwertung der Kunstwirklichkeit als erfundener Wirklichkeit. Diese Beobachtung, d a ß im Roman, der selber eine E r f i n d u n g ist, gegen den Roman als E r f i n d u n g protestiert und polemisiert wird, um so seine eigene Fiktivität zu verhüllen, trifft auf eine andere Beobachtung: Im frühen 18. J a h r h u n d e r t ist eine ungewöhnliche H ä u f u n g von Romaneinkleidungen festzustellen, die die Illusion fördern, es handle sich nicht um Romane, sondern um Autobiographien, Tagebücher oder Briefsammlungen. Darbietungsmodi also, wie sie in der Lebenswirklichkeit vorgegeben und bekannt sind als Biographien, Autobiographien, Briefwechsel etc. Diese Darstellungsmodi werden hier z u s a m m e n g e f a ß t unter dem Dachbegriff des historischen Erzählens, und da wo sie im Rahmen des Romans verwendet werden, wird in der Folge die Rede sein von den Fiktionen des historischen Erzählens. Beide Beobachtungen, die explizite Polemik gegen das Fiktive und die rhetorische Einkleidung von Romanen in Fiktionen des historischen Erzählens stehen in engstem Z u s a m m e n h a n g miteinander und haben eine gemeinsame Bedingung: sie sind strategische Mittel der Autoren, beim Leser die Illusion zu fördern, d a ß es sich bei den Romanen nicht um R o m a n e im Sinne von Fiktionen, sondern um >Wiedergaben< historisch-verifizierbarer Ereignisse handle. Wenn man in Betracht zieht, d a ß diese Art von Illusionierungsstrategien (>formal realismfeyn'd story< handle und dieser Protest gegen d a s Fiktive im R a h m e n eines R o m a n s selbst ist begleitet von der auf Ulusionierung abzielenden Versicherung, d a ß der E r z ä h l e r z u m großen Teil selbst A u g e n z e u g e des Geschehens gewesen sei oder zum andern Teil verbürgte I n f o r m a t i o n e n von darin involvierten Personen besitze. 1 5 Im Verhältnis zu C o n g r e v e , der sich d a r a u f beschränken zu können glaubt, d e m skeptischen Fiktionsbewußtsein des Lesers durch einen höheren G r a d an Wahrscheinlichkeit entgegenzuwirken, rechnet A p h r a Behn nicht nur mit einem Wahrscheinlichkeitsanspruch, einem Wahrheitsanspruch

sondern mit

der L e s e r s c h a f t , welche von einer hochgesteiger-

ten Fiktionsfeindlichkeit beherrscht vorgestellt wird. W ä h r e n d C o n g r e v e - auf G r u n d der kontinentalen E i n f l ü s s e - nie die r a d i k a l e F o r d e r u n g erhebt, d a ß sich der R o m a n als Kunstwirklichkeit zu verhüllen habe, und er sich d a m i t b e g n ü g t , die Fiktion den Gesetzen der empirischen Wahrscheinlichkeit zu unterwerfen, versucht A p h r a Behn die Illusion zu erwecken, d a ß d a s dargestellte R o m a n g e s c h e h e n nicht erfunden,

erfahren

sondern

wurde. D a m i t ist sie in der Geschichte des englischen R o m a n s eine

der ersten, welche - mit Blick auf den von ihr als fiktionsfeindlich verstandenen Leser - die Fiktion einer historisch fundierten E r z ä h l u n g a u f b a u t , in der - zum Zweck der Leser-Illusionierung - die Fiktivität des Dargestellten verhüllt und in A b r e d e gestellt wird, um mittels dieser Illusionierungsstrategie die beim Leser a n g e n o m m e n e Fiktionsfeindlichkeit nicht w i r k s a m werden zu lassen. 13

C f . ibid.: »Novels a r e o f a m o r e f a m i l i a r n a t u r e ; c o m e n e a r us, a n d represent to us intrigues in practice, deliqht us with a c c i d e n t s a n d o d d events, but not such a s a r e wholly u n u s u a l or u n p r e s i d e n t e d , such which not b e i n g so d i s t a n t f r o m o u r belief b r i n g a l s o the p l e a s u r e near us. R o m a n c e s give m o r e w o n d e r , novels m o r e deligth.«

A p h r a B e h n , The Fair Jih, 70. " Ibid., 74. 14

140

T h e W o r k s , vol. V , ed. M . S u m m e r s ( S t r a t f o r d , 1915),

Daniel Defoe verfeinert diese sich nur aus der auktorialen Annahme der Fiktionsfeindlichkeit beim Leser ableitbare Illusionierungsstrategie weiter, und es soll in der Folge kurz die Rückwirkung dieses Kalküls auf die Textstruktur der Zeugenfiktion umrissen werden, die einen Untertypus der allgemeinen Fiktion des historischen Erzählens darstellt. Hauptelement der Zeugenfiktion ist die Gestalt des Erzählmediums, das in doppelter Funktion zur Vorstellung gebracht wird: einmal als erinnernde Gestalt, die im Augenblick des Erinnerns gleichzeitig auf die Vermittlung des Erinnerten ausgerichtet ist, und zum zweiten als bezeugende Gestalt, die zum Zeitpunkt ihrer erinnerten Zeugenschaft noch nicht auf Vermittlung ausgerichtet war. Dieser einfache Sachverhalt impliziert das grundsätzliche Vorhandensein zweier Zeitebenen, nämlich der Zeitebene eines Hier und Jetzt des Erinnerns und Vermitteins und einer Zeitebene des Dort und Damals, der Zeitebene des Erinnerten. Es wird schon an dieser Stelle der Argumentation offensichtlich, daß in den Fiktionen des historischen Erzählens die Zeit als empirische Größe eine eminente Rolle zu spielen beginnt und so ist eines der hervorstechendsten thematischen Merkmale der novel das Moment der Zeit, das in der romance eine untergeordnete Rolle spielte. Die zeitliche Distanz, die den erinnernden Vermittler vom erinnerten Geschehen trennt, kann sich unter anderem thematischen Aspekt dazuhin als moralische Distanz zum Dort und Damals manifestieren. Durch den zeitlichen und moralischen Abstand kann in der Fiktion des historischen Erzählens das erinnernde Medium frei über die erinnerte Zeit als vergangene Zeit verfügen, da es zu jedem erinnerten Zeitpunkt schon die Zukunft kennt, die ihm als Zeugen im erinnerten Dort und Damals noch unbekannt und dunkel war. Aus dieser Privilegiertheit des zurückblickenden Mediums resultiert die Möglichkeit des Vor- und Rückgreifens in der Chronologie und die explizit kausale Verknüpfung von Handlungsabschnitten verschiedener Zeitebenen. Und daraus hinwiederum leitet sich die illusionsträchtigste Strategie der Selektion im Rahmen der Fiktion des historischen Erzählens ab: Durch diese Teilfiktion der Auswahl wird der illusionsfördernde Eindruck erweckt, als ob dem Erzählten eine größere Wirklichkeitsfülle vorauszusetzen sei, aus der das für die Information des Lesers Relevante und Unentbehrliche ausgewählt wurde. Durch die Fiktion der Selektion werden die vordergründigen Proteste gegen das Fiktive und die direkten Beteuerungen der Authenzität und Wahrheit indirekt gestützt. Im Rahmen der Gesamtstruktur betrachtet, unterstehen die genannten Einzelelemente alle dem einen Zweck, dem skeptischen Fiktionsbewußtsein des Lesers entgegenzuwirken, um ihm die Fiktivität der Romanfiktion zu verhüllen. Diese fiktionale Verhüllungsstrategie wird von Defoe mit letzter Konsequenz angewendet. Sowohl in Robinson Crusoe als auch in Moll Flanders wählt Defoe die Einkleidung der Romane in die fiktive Autobiographie. Hat, 141

wie bei Aphra Behn, der Vermittler als Augenzeugengestalt seinen Standort gleichsam an der Peripherie des beobachteten Geschehens und bedarf er deshalb noch der ergänzenden Informationen, so ist in der fiktiven Autobiographie eine Personalunion zwischen Vermittler und Handlungsprotagonist vorhanden. Das erinnernd-erzählende Ich ist die einzige Instanz, die von sich selbst als erinnertem Ich >wahres< Zeugnis ablegen kann. Mögliche Einwände gegen die Authenzität der Informationen, auf die der auktoriale Erzähler angewiesen ist, sind hier ausgeräumt. Aber Defoe läßt es bei der einfachen Fiktion des autobiographisch Dokumentarischen nicht bewenden. In Robinson Crusoe überlagert er die im erinnernden Erzählen Gestalt gewinnende Fiktion der Tatsächlichkeit und Geschichtlichkeit durch eine zweite illusionsfördernde Fiktion. Er schaltet der fiktiven Autobiographie einen Rahmen vor, in welchem ein Herausgeber gleichsam als unbeteiligter Sachverständiger sein Urteil über die Authentizität des Dargestellten abgibt: The editor believes the thing to be a just history of fact, neither is there any appearance of fiction in it.18

Die autorialen Zeugen- und Dokumentenfiktionen zusammen mit den in Defoes fiktiven Autobiographien und in Richardsons Briefromanen wirksamen Fiktionen der Realitätsbezogenheit treten massiert in den Anfängen des modernen englischen Romans auf und sind - ideengeschichtlich gesehen Ausdruck der Reaktion auf eine von den Autoren beim Leser angenommene Fiktionsfeindlichkeit. Durch die Fiktion der Realitätsbezogenheit wird der fiktive Charakter der Texte verleugnet und der Lebenswirklichkeit der Vorzug vor der Kunstwirklichkeit gegeben. Damit ist ein Eingehen auf die beim Leser angenommenen Vorprogramme zu konstatieren, was hinwiederum Rückwirkungen auf den Text nach sich zieht, der - als Instrument der Vorstellungserzeugung aufgefaßt - dazu brauchbar werden muß, die Vorbehalte gegen die Fiktivität nicht wirksam werden zu lassen oder sie zu unterlaufen. Anders gewendet heißt dies, daß die zur Illusionierung des Lesers eingesetzten Erzählstrategien Funktionen der leserseitig angenommenen Vorprogramme und der auktorialen Intention sind.

16

Defoe, Robinson Crusoe, op. cit., 1: »Der Herausgeber hält das Ganze für den getreuen Bericht wirklicher Begebenheiten und kann keine Anzeichen einer freien Erfindung darin entdeckend Robinson Crusoe, übers, v. H. Novak, op. cit., 35.

142

1.3.

Die Ignorierung der Fiktionsfeindlichkeit und ihre Auswirkung auf die Textstruktur

In dem Maße, wie sich die Annahme von der Fiktionsfeindlichkeit der Leserschaft im Laufe des 18. Jahrhunderts zurückbildet oder von Autoren, die ein anderes Lesepublikum als Defoe im Sinn haben, gar nicht als Faktor berücksichtigt wird, verändern sich die Erzählstrategien. Fielding erklärt zwar seinen Tom Jones im Untertitel noch als >Historydas Publikum zu überreden, daß (diese Geschichte) aus einer alten griechischen Handschrift gezogen seibook of nature< orientiert bleibt. In der Vereinbarkeit des Fiktiven mit d e m W a h r e n zeichnet sich in der R o m a n g e s c h i c h t e ein neues S t a d i u m ab. D a s Entscheidende dabei ist nicht, d a ß die von Behn, R i c h a r d s o n und D e f o e konventionalisierten Erzählstrategien weiterhin produktiv bleiben, sondern d a ß sich ein Fielding oder nach ihm ein Sterne aus ihnen lösen. Wie stark die A n n a h m e von der Fiktionsfeindlichkeit der L e s e r s c h a f t nach der M i t t e des 19. J a h r h u n d e r t s a b n i m m t , erweist sich an der

Novel.

Gothic

Z w a r ist bei einem A u t o r wie H o r a c e W a l p o l e in d e m R o m a n

Castle of Otranto

The

( 1 7 6 4 ) noch der Z w a n g zur gattungsgeschichtlichen K o n -

vention sichtbar, wenn er eine D o k u m e n t e n - und H e r a u s g e b e r f i k t i o n auszub a u e n v e r s u c h t , " aber es ist unverkennbar, mit welch geringem A u f w a n d er die A p o l o g i e f ü r die phantastisch-unrealistischen E l e m e n t e des R o m a n s betreibt. Wie stark die zu A n f a n g des 18. J a h r h u n d e r t s zu b e o b a c h t e n d e n Ann a h m e n über die leserseitigen V o r b e h a l t e gegen d a s Fiktive im allgemeinen und den R o m a n als fiktive Kunstwirklichkeit im besonderen gegen E n d e des J a h r h u n d e r t s im Zurückgehen waren, erweist sich schließlich d a r a n , d a ß nun tatsächlich historische S t o f f e d e m R o m a n anvertraut werden, ohne d a ß d a s Problem der Fiktivität dabei eine e r n s t h a f t e Rolle spielte. E s ist hier nicht der Ort, den Auswirkungen dieser veränderten H a l t u n g zum Fiktiven nachzugehen, wie sie sich in der amerikanischen R o m a n g e C f . H o r a c e W a l p o l e , The Castle of Otranto, S h o r t e r N o v e l s of the E i g h t e e n t h C e n tury, ed. P. H e n d e r s o n , E v e r y m a n ' s L i b r a r y 8 5 6 (Ld., 1958), 9 9 f . : >Miracles, visions, n e c r o m a n c i e s , d r e a m s , a n d o t h e r p r e t e r n a t u r a l events, a r e e x p l o d e d n o w even f r o m r o m a n c e s . T h a t w a s not the c a s e when o u r a u t h o r w r o t e ; m u c h less when the story itself is s u p p o s e d to h a v e h a p p e n e d . Belief in every kind of p r o d i g y w a s so establish- e d in t h o s e d a r k a g e s , that a n a u t h o r w o u l d not b e f a i t h f u l to the m a n n e r s o f the times w h o s h o u l d o m i t all m e n t i o n of them. H e is not b o u n d to believe t h e m h i m s e l f , but he m u s t represent his a c t o r s a s believing them.
Fiktionsbewußtsein und R o m a n s t r u k t u r . . .neuen< Romans aus seinen Gattungskonventionen, welche weitgehend und langanhaltend durch bestimmte A n n a h m e n über leserseitige V o r p r o g r a m m e mitbestimmt wurden, sind in der Philosophiegeschichte Entwicklungen zu konstatieren, die sich in das von der Romangeschichte entworfene Bild einfügen, die aber f ü r den R o m a n in der Radikalität, mit der sie gemeint sind, erst relativ spät im 20. J a h r h u n d e r t produktiv werden. Nietzsches >Lehre vom bewußt gewollten Schein«, an die in diesem Z u s a m m e n h a n g zu denken ist, soll in den Worten Vaihingers kurz angedeutet werden: Nietzsche l e h r t . . . , d a ß der Welt des schwankenden«, v e r f l i e ß e n d e n Werdens« im Interesse des Begreifens und der ästhetischen Befriedigung von der >Phantasie< eine Welt des >Seins< gegenübergestellt wird, in welcher alles vollendet« und >gerundet< erscheint, u n d d a ß d a d u r c h ein . . . >Kampf< zwischen >Erkenntnis< und >Kunst«, zwischen >Wissenschaft< u n d > Weisheit« entsteht, der aber nur d a d u r c h gelöst wird, d a ß jene >erdichtete< Welt als berechtigter u n d u n e n t b e h r l i c h e r Mythus« a n e r k a n n t wird, woraus sich endlich ergibt, d a ß >Falsch< und »Wahr« relative Begriffe sind. 21

W a s hier als »Mythus« bezeichnet wird, sind sinnhafte Fiktionen, die im Medium der Kunst der Wirklichkeit als das ganz andere entgegengestellt werden. Bevor Lawrence Durrell und wahrscheinlich in seiner Nachfolge M a r garet Drabble die Dichotomie von >sinnhafter Fiktion« und »Wirklichkeit« im Alexandria-Quartett (1957-1960) und The Waterfall (1969) im R o m a n selbst thematisierten, hatte Aldous Huxley diese T h e m a t i k in einem seiner weniger bekannten R o m a n e The Genius and the Goddess (1955) aufgegriffen. Huxley läßt seine Gestalt J o h n Rivers die These entwickeln, d a ß sich Geschichtsschreibung und Biographik ebenso wie die Philosophie im G r u n d e ihres Wesens nicht vom R o m a n unterscheiden, denn gerade ihre innere Schlüssigkeit und s i n n h a f t e Motiviertheit weise sie allesamt als nicht übereinstimmend mit der bezugsgebenden Wirklichkeit, d. h. als >History Fiction, Philosophy Fiction, Biography Fiction«, als sinnhafte Fiktionen des menschlichen Geistes aus:

" Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob - System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus (Berlin, 21913), 771. 146

T o t a l Reality is a l w a y s t o o u n d i g n i f i e d to be r e c o r d e d , t o o senseless o r t o o horrible to b e lcft u n f i c t i o n a l i z e d . "

Huxley geht wie Nietzsche d a v o n aus, d a ß die Bildung sinnhafter Fiktionen d e m menschlichen B e d ü r f n i s entspringe, in einer kohärent sinnhaften Welt leben zu wollen, d a ß die Fiktionalisierung und d a m i t S i n n h a f t m a c h u n g des Welterlebnisses zum M y t h u s geradezu eine B e d i n g u n g der Sinnhaftigkeit darstellt. W o jedoch der R o m a n des 18. J a h r h u n d e r t s mit seinen realistischen Illusionierungsstrategien dem Leser die Vorstellung zu suggerieren trachtete, d a ß eine U b e r e i n s t i m m u n g von T e x t und L e b e n herrsche, d a ß die Darstellung authentisch und d o k u m e n t a r i s c h und d a m i t zuverlässig sei, intendiert H u x l e y in The Genius and the Goddess,

die »official biography< Henry M a a r -

tens' d u r c h s c h a u b a r zu m a c h e n als >official fictionfactsoffizielle< nur durch eine »private Fiktion< ersetzt. Durch die E i n f ü h rung des s k e p t i s c h - f r a g e n d e n G e s p r ä c h s p a r t n e r s wird eine Relativierung der T h e o r e m e der J o h n - R i v e r - G e s t a l t und d a m i t beim Leser ein Reflexionsanstoß über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit objektiver und »unfiktionalisierter< V e r g a n g e n h e i t s d a r s t e l l u n g intendiert und d a d u r c h ein möglicherweise vorhandenes, durch die R o m a n g e s c h i c h t e g e p f l e g t e s unreflektiertes V o r p r o g r a m m von der uneingeschränkten Möglichkeit authentischer und objektiver Erinnerung in F r a g e gestellt. Dieses V e r f a h r e n dient keinesfalls dazu, den R o m a n als Fiktion zu diskreditieren, sondern vielmehr dazu, die durch d a s B e g r i f f s p a a r >fact-fiction< erzeugten Wertvorstellungen von Wahrheit und L ü g e zu problematisieren, relativieren und sie dem V e r e i n b a r u n g s a u t o m a t i s m u s zu entziehen, indem ein d o p p e l t e s E r k l ä r u n g s a n g e b o t für die Fiktionalisierung q u a S i n n h a f t m a c h u n g g e m a c h t wird: Rivers spielt mit der H y p o t h e s e , d a ß vielleicht >total reality is always too undignified to b e recorded, too senseless or too horrible to be left unfictionalizedi. Dieser expliziten H y p o t h e s e steht die andere, skeptischere mit d e m S a t z >the M u s e s are the d a u g h t e r s of Memory« 2 3 a n g e d e u t e t e H y p o t h e s e gegenüber, d a ß die Erinnerung immer

nur einen R o m a n von der V e r g a n g e n h e i t hervorbringen kann,

d. h. d a ß Fiktionalisierung ein integrales und nicht eliminierbares M o m e n t jeder S i n n b e z u g s s t i f t u n g und nachträglichen Rationalisierung ist. " A l d o u s H u x l e y , The Genius and the Goddess (Ld., 1955), 8 : >Die totale Wirklichkeit ist i m m e r zu würdelos, a l s d a ß sie w i e d e r g e g e b e n w e r d e n könnte, zu sinnlos o d e r schrecklich, als d a ß sie unfiktionalisiert b e l a s s e n werden könnte.* (Übers, v. Verf.) 23 Ibid., 9.

147

2.1.

D e r >neue< R o m a n als Instrument der R o m a n k r i t i k

Als L a w r e n c e Durrell 1957 den ersten B a n d seines

Alexandria-Quartetts

veröffentlichte, hatte er g e n a u diese letztere H y p o t h e s e ihres hypothetischen C h a r a k t e r s entkleidet und zum G r u n d t h e m a seines Q u a r t e t t s g e m a c h t . Durrell versteht die ersten drei Werke nicht als Fortsetzungen voneinander, sondern als >siblingsUnd d a a u f d e m T i s c h l a g d a s g r o ß e Interlinear zu J u s t i n e . . . E s w a r k r e u z s c h r a f f i e r t , kritzelig-verworren u n d g e s p i c k t mit F r a g e n und A n t w o r t e n in v e r s c h i e d e n f a r b e n e n T i n t e n , in M a s c h i n e n s c h r i f t . E s erschien mir d a m a l s i r g e n d w i e " "

148

Diese Interlinearkommentare veranlassen Darley, sein Vergangenheitsbild noch einmal zu überdenken und einen erneuten Versuch der Vergangenheitsarchäologie zu unternehmen: in o r d e r to go on it is n e c e s s a r y to g o b a c k : not that a n y t h i n g I w r o t e a b o u t them is untrue, f a r f r o m it. Y e t when I wrote, the full f a c t s were not at m y d i s p o s a l . T h e picture I drew w a s a p r o v i s i o n a l o n e - like the picture of a lost civilization d e d u c e d f r o m a few f r a g m e n t e d v a s e s , a n inscribed tablet, a n a m u l e t , s o m e h u m a n bones, a gold-smiling death m a s k . "

Während Darley an dieser Stelle das Provisorische seines Vergangenheitsbildes noch damit erklärt, daß ihm nicht alle Fakten zur Verfügung standen, reift im L a u f e seines erneuten Versuches das Bewußtsein, daß je nach Standort, innerer Disposition und Distanz zum Damals verschiedene Vergangenheitsausschnitte in Erscheinung treten, die wiederum verschieden korreliert werden. Damit wird der konventionelle Wahrheitsbegriff, mit dem Durrell beim Leser rechnet, aufgeweicht und als variable Funktion von Standort und Sehweise decouvriert: T r u t h is w h a t m o s t c o n t r a d i c t s itself in time. F r o m the v a n t a g e p o i n t o f this island I c a n see it all in its d o u b l e n e s s , in the intercalation of f a c t a n d f a n c y , with new eyes; a n d re-reading, re-working reality in the light of all I now know, I a m surp r i s e d that m y feelings themselves h a v e c h a n g e d , h a v e g r o w n , h a v e d e e p e n e d even. P e r h a p s then the d e s t r u c t i o n of m y p r i v a t e A l e x a n d r i a w a s necessary ( - the a r t i f a c t o f a true work o f art never shows a p l a n e s u r f a c e - ); p e r h a p s buried in all this there lies the g e r m a n d s u b s t a n c e of a truth - time's u s u f r u c t - which, if I c a n a c c o m m o d a t e it, will c a r r y me a little f u r t h e r in w h a t is really a s e a r c h f o r m y p r o p e r s e l f . " s y m b o l i s c h f ü r die Wirklichkeit, die wir teilten - ein P a l i m p s e s t , a u f d e m jeder von uns seine o d e r ihre individuellen S p u r e n Schicht u m Schicht hinterlassen hatte.* (Übers, v. Verf.)

Ibid., 2 1 0 : >Um fortzuschreiten, ist es n ö t i g z u r ü c k z u g e h e n : nicht d a ß i r g e n d e t w a s , w a s ich über sie schrieb, u n w a h r w ä r e , keineswegs. A b e r a l s ich schrieb, s t a n d e n mir die g a n z e n F a k t e n nicht zur V e r f ü g u n g . D a s Bild, d a s ich e n t w a r f , w a r ein vorläuf i g e s - wie d a s Bild einer verlorenen K u l t u r , d a s m a n a u s ein p a a r B r u c h s t ü c k e n von V a s e n , a u s einer S c h r i f t t a f e l , einem A m u l e t t , einigen menschlichen K n o c h e n , einer g o l d - l ä c h e l n d e n T o t e n m a s k e deduziert.< (Übers, v. Verf.) ** Ibid., 3 7 0 : >Wahrheit ist e t w a s , w a s sich in der Zeit weitestgehend selbst widerspricht. V o m S t a n d o r t dieser Insel k a n n ich alles in seiner D o p p e l h e i t sehen, in der V e r z a h n u n g von F a k t i z i t ä t und P h a n t a s i e , mit neuen A u g e n ; und wenn ich die Wirklichkeit a u f s neue lese und b e a r b e i t e im L i c h t e alles d e s s e n , w a s ich jetzt weiß, bin ich Ü b e r r a s c h t festzustellen, d a ß sich meine G e f ü h l e selbst v e r ä n d e r t h a b e n , d a ß sie g e w a c h s e n sind und sich s o g a r vertieft haben. Vielleicht wurde d e s h a l b die Zers t ö r u n g meines p r i v a t e n A l e x a n d r i a n ö t i g ( - d a s A r t e f a k t eines w a h r e n K u n s t w e r kes zeigt nie eine g l a t t e O b e r f l ä c h e - ); vielleicht liegt in allem d i e s e m der K e i m und die S u b s t a n z einer W a h r h e i t - d e r Zeit N u t z n i e ß u n g - welche, w e n n ich sie f a s s e n k a n n , mich ein S t ü c k c h e n d e m n ä h e r bringt, w a s eigentlich eine S u c h e nach m e i n e m eigenen Selbst ist.< (Übers, v. Verf.) 27

D i e R o m a n e S. Becketts, w e l c h e n - w i e Iser gezeigt hat - dieselbe P h i l o s o p h i e d e s

149

D i e Suche n a c h der V e r g a n g e n h e i t endet in der Einsicht, d a ß Wahrheit und Identität keine unveränderlichen K o n s t a n t e n sind, sondern als Funktionen der Zeit Variable. Die Jeweiligkeit

von S e l b s t - und Weltverständnis rührt an

die Wurzeln des konventionellen W a h r h e i t s b e g r i f f e s . J e d e der Durrellschen Erzählergestalten m a c h t sich ihren jeweiligen R o m a n v o m Leben. Pursewarden, d e m innerhalb des R o m a n w e r k e s die Funktion z u g e d a c h t ist, die mit den Mitteln des R o m a n s konkretisierte T h e m a t i k zu rationalisieren, f a ß t diesen Sachverhalt s o : W e live lives b a s e d on selected ficions. O u r view of reality is c o n d i t i o n e d b y our p o s i t i o n in s p a c e a n d time - not b y our p e r s o n a l i t i e s a s we like to think. T h u s every i n t e r p r e t a t i o n of reality is b a s e d u p o n a u n i q u e position. T w o p a c e s e a s t or west a n d the w h o l e picture is c h a n g e d . 2 8

In allen vier Teilen des Q u a r t e t t s wird mit konventionellen romanrhetorischen Mitteln die Illusion der Realitätsbezogenheit a u f g e b a u t , g e n a u so wie es im formalrealistischen R o m a n des 18. J a h r h u n d e r t s geschah, a b e r im Unterschied zu jener literarischen Folie, durch welche die V o r s t e l l u n g s p r o g r a m me der R o m a n l e s e r konditioniert sind, wird durch die Divergenz der verschiedenen Wirklichkeitsbilder implizit und durch K o m m e n t a r e Pursewardens explizit immer wieder d a s eine G r u n d t h e m a entfaltet, d a ß d a s M o m e n t der Fiktionalisierung j e d e m V e r s u c h der S i n n s t i f t u n g inhärent ist, und d a ß es so nicht nur konstitutiv f ü r die fiktive Literatur, sondern f ü r jeden Vorg a n g der V e r k n ü p f u n g von Einzelvorstellungen zu einem kohärenten Vorstellungsbild, zu einem Welt-, M e n s c h e n - oder Gesellschaftsbild ist. Dies ist sicher philosophiegeschichtlich ein längst ausdiskutierter G e d a n k e . D a ß er in der R o m a n g e s c h i c h t e so s p ä t thematisiert wurde, liegt sicher darin begründet, d a ß die formalrealistische Konvention, die - auf einem v o r k a n t i a nischen Erkenntniskonzept basierend - die Illusion von der Wahrheit als U b e r e i n s t i m m u n g von T e x t a u s s a g e und Wirklichkeit intendiert, sich so verselbständigte, d a ß ein E i n b r u c h neuerer Erkenntnishypothesen über lange Strecken der R o m a n g e s c h i c h t e nicht stattfinden konnte. Durrells Strategien der Vorstellungslenkung lassen erkennen, d a ß er mit einer durch die R o m a n geschichte selber konservierten W a h r h e i t s - und Objektivitätsideologie leser>activen Z u r e c h t m a c h e n s < und >interpretativen C h a r a k t e r s alles Geschehens« (Nietzsche) unterliegt, stellen - w a s die S e l b s t w i d e r s p r ü c h l i c h k e i t der A u s s a g e n der E r z ä h lerfiguren a n l a n g t - e i n e n r a d i k a l e r e n Schritt in der v o n Durreil e i n g e s c h l a g e n e n R i c h t u n g dar. C f . d a z u : W. Iser, S u b j e k t i v i t ä t als S e l b s t a u f h e b u n g ihrer M a n i f e s t a t i o n e n s Der implizite Leser, op. cit., 2 5 2 - 2 7 5 .

™ Ibid., 2 1 0 : >Wir leben ein L e b e n , d a s a u f a u s g e w ä h l t e n Fiktionen beruht. U n s e r e W i r k l i c h k e i t s a n s c h a u u n g ist b e d i n g t d u r c h unseren S t a n d p u n k t in R a u m u n d Zeit - nicht d u r c h unsere Persönlichkeit, wie wir gern meinen. S o b a s i e r t j e d e Wirklichk e i t s d e u t u n g a u f einem e i n m a l i g e n S t a n d p u n k t . Zwei Schritte n a c h O s t e n o d e r W e s t e n u n d d a s g a n z e Bild ä n d e r t sich.< (Übers, v. Verf.)

150

seits rechnet, d e r er eine a n d e r e im T e x t realisierte u n d p l a u s i b i l i s i e r t e entg e g e n z u s e t z e n versucht. D u r r e l l s Q u a r t e t t l a g 1 9 6 0 a b g e s c h l o s s e n vor. I m J a h r e 1969 erschien M a r g a r e t D r a b b l e s R o m a n The Waterfallder

in G r u n d t h e m a t i k , Intentio-

nen u n d R e a k t i o n a u f d a s d u r c h d e n f o r m a l - r e a l i s t i s c h e n R o m a n t y p g e p f l e g te W a h r h e i t s k o n z e p t d e m D u r r e l l s c h e n W e r k strukturell v e r w a n d t ist. In The Waterfall

wechseln zwei a u s der R o m a n g e s c h i c h t e b e k a n n t e Ein-

k l e i d u n g s m o d i m i t e i n a n d e r a b : P a s s a g e n a u k t o r i a l e r E r - E r z ä h l u n g e n werd e n a b g e l ö s t d u r c h I c h - E r z ä h l u n g s - P a s s a g e n , in d e n e n sich d a s E r z ä h l e r - I c h auch als Autor der auktorialen P a s s a g e n preisgibt und Kritik an der dort b e t r i e b e n e n F i k t i o n a l i s i e r u n g seiner L e b e n s g e s c h i c h t e übt. I m ersten - a u k t o r i a l e n Teil - wird die k o n s e q u e n t m o t i v i e r t e G e s c h i c h t e einer v o n ihrem E h e m a n n v e r l a s s e n e n , sich isoliert u n d resigniert f ü h l e n d e n F r a u e r z ä h l t , die ein K i n d e r w a r t e t , d a s K i n d gebiert u n d d a n n getrieben d u r c h ihr G e f ü h l d e r L e e r e u n d V e r l a s s e n h e i t und ihr B e d ü r f n i s n a c h L i e b e ein V e r h ä l t n i s z u m M a n n ihrer C o u s i n e L u c y b e g i n n t . A n dieser Stelle wechselt die a u k t o r i a l e E r z ä h l u n g zur I c h - E r z ä h l u n g : It won't, of course, do: as an account, I mean, of what took place. I tried, I tried for so long to reconcile, to find a style that would express it, to find a system that would excuse me, to construct a new meaning, having kicked the old one out, but I couldn't do it, so here I am, resorting to that old broken medium. Don't let me deceive myself, I see no virtue in confusion, I see virtue in clarity, in consistency, in communication, in honesty. 31 D i e I c h - E r z ä h l e r i n r a t i o n a l i s i e r t hier im N a c h h i n e i n die F a k t o r e n , die zur F i k t i o n a l i s i e r u n g ihrer G e s c h i c h t e f ü h r t e n : D a s B e d ü r f n i s n a c h Klarheit

Folgerichtigkeit Interesse,

und

z u s a m m e n mit d e m a u s e i n e m S c h u l d g e f ü h l resultierenden

sich zu e x k u l p i e r e n , b e d i n g e n gleichzeitig die i m m a n e n t e S i n n h a f -

tigkeit u n d N a c h v o l l z i e h b a r k e i t d e r a u k t o r i a l e n E r z ä h l u n g , a b e r a u c h d a m i t ihre

Unangemessenheit

im

Verhältnis

zum

>FaktischenDas reicht natürlich nicht aus: ich meine als Bericht über das, was geschah. Ich versuchte, ich versuchte sehr lange, die Dinge in Einklang zu bringen, einen Stil, der sie ausdrücken könnte, zu finden, eine neue Bedeutung zu konstruieren, nachdem ich die alte verworfen hatte, aber es gelang mir nicht, und so stehe ich da und nehme Zuflucht zu dem alten zerbrochenen Medium. Ich will nicht der Selbsttäuschung unterliegen. Ich sehe keinen Wert in der Verwirrung, ich sehe die Werte in der Klarheit, der Stimmigkeit, der Kommunikation, der Ehrlichkeit^ (Übers, v. Verf.) 151

it's obvious that I haven't told the truth about myself and James . . . And yet I haven't lied. I've merely omitted: merely, professionally, edited. This is dishonest, but not as dishonest as deliberate falsehood. I have often t h o u g h t . . . that the ways of regarding an event, so different, don't add up to a whole; they are mutually exclusive: the social view, the sexual view, the circumstantialw view, the moral view, these visions contradict each other; they do not supplement one another, they cancel one another, they destroy one another. They cannot co-exist. And so . . . I have omitted everything, almost everything except that sequence of discovery and recognition that I would call love. I have lied, but only by omission." Hier wird d e r >Ansicht< A u s d r u c k gegeben, d a ß die als >Lüge< b e w e r t e t e Literarisierung u n d d a m i t Fiktionsbildung d e m B e d ü r f n i s n a c h >consistency< e n t s p r i n g t , d a s zur Selektion

der dargestellten I n h a l t e u n t e r d e m A s p e k t ih-

rer s i n n h a f t e n V e r e i n b a r k e i t f ü h r t . Einsinnigkeit d e r A n s c h a u u n g u n d d a r aus resultierende innere Stimmigkeit w e r d e n einerseits als B e d i n g u n g e n d e r Fiktionsbildung e r k a n n t , a b e r - im U n t e r s c h i e d zum konventionellen R o m a n - nicht als K r i t e r i u m des W a h r e n g e n o m m e n , s o n d e r n z u m Kriterium d e r s i n n h a f t e n Fiktion, z u m K r i t e r i u m d e r >Lüge< als in sich s i n n h a f t e m K o n strukt erklärt. Andererseits resultiert aus dieser >Einsicht< a b e r kein V o r schlag, wie - e t w a d u r c h die K o r r e l i e r u n g verschiedener >ways of r e g a r d i n g a n eventSehweisen< - eine E n t fiktionalisierung u n d O b j e k t i v i e r u n g des Dargestellten erreicht w e r d e n k ö n n te, d e n n - so die a p o r e t i s c h e I m p l i k a t i o n des G e s a g t e n , die v o m Leser w a h r g e n o m m e n w e r d e n soll - die s i n n h a f t e V e r e i n b a r u n g der e i n a n d e r z u n ä c h s t sich ausschließenden Sehweisen u n d Ansichten, d e r >social view, t h e sexual view, t h e circumstantial view, the m o r a l viewconstistency< wegen wieder den Fiktionen z u z u r e c h n e n wäre. Im R a h m e n dieser u n d i a l e k t i s c h e n Logik gibt es die f ü r den formal-realistischen R o m a n u n d dessen Leser noch konstitutive Alternative zwischen W a h r h e i t u n d Fiktion nicht mehr. Diese H y p o t h e s e wird nicht n u r a r g u m e n t a t i v unverschlüsselt entwickelt, s o n d e r n d u r c h d e n R o m a n z u d e m in Szene gesetzt, w e n n sich die I c h - E r z ä h l u n g , welche als K o r r e k t u r der E r - E r z ä h l u n g gemeint ist, f o r t s c h r e i t e n d als unzuverlässige erweist: aa

Ibid., 46: >Es ist offensichtlich, daß ich über mich und James die Wahrheit nicht gesagt habe . . . Und doch habe ich nicht gelogen. Ich habe nur ausgelassen, nur professionell redigiert. Das ist unehrlich, aber nicht so unehrlich wie eine absichtliche Lüge. Ich habe oft gedacht, daß die verschiedenen Weisen, ein Geschehnis zu betrachten, keine Anschauung von einem Ganzen bewirken; sie schließen sich gegenseitig aus: Die soziale, die sexuelle, die umstandsorientierte, die moralische Sehweise, diese Anschauungen widersprechen einander, sie ergänzen sich nicht, sondern heben einander auf, sie zerstören einander. Sie können nicht nebeneinander existieren. Und so habe ich alles ausgelassen, fast alles, außer der Folge von Entdeckung und Erkennen, die ich als Liebe bezeichnen möchte. Ich habe gelogen, aber nur durch Auslassungen.< (Übers, v. Verf.)

152"

and who can teil if I will now risk a true account? 33 Diese >Unzuverlässigkeit< wird d u r c h d a s >Interesse< d e r E r z ä h l e r i n motiviert dargestellt, sich vor sich selbst zu entschuldigen, a b e r gleichzeitig a u c h d a d u r c h , d a ß die bei der D a r s t e l l u n g u n d D e u t u n g des Lebens - wie es scheint - u n a b w e n d b a r e Fiktionsbildung selbst wieder N o r m v o r b i l d e r f ü r d a s Leben s c h a f f t . D a m i t schließt sich der Kreis in der I m m a n e n z d e r >solipsist universess 3 4 die die Personen darstellen. H u x l e y wie Durreil u n d D r a b b l e versuchen mit d e n g e n a n n t e n R o m a n e n eine Kritik der beim Leser d u r c h die formal-realistische R o m a n t r a d i t i o n u n d d e r ihr z u g r u n d e liegenden objektivistischen E r k e n n t n i s h y p o t h e s e n verfestigten V o r p r o g r a m m e : W o der formal-realistische R o m a n c i e r des 18. J a h r h u n d e r t s d u r c h d e n Protest gegen das Fiktive u n d d u r c h die formalrealistischen E i n k l e i d u n g s f o r m e n die Vorstellung von seinem T e x t als a u t h e n t i s c h , d o k u m e n t a r i s c h , zuverlässig u n d w a h r zu erzeugen beabsichtigte, a r g u mentieren - u n d setzen dieses A r g u m e n t gleichzeitig in Szene - die g e n a n n ten m o d e r n e n Romanciers, d a ß das M o m e n t der Fiktionsbildung jeder Sinnb e z u g s s t i f t u n g i n h ä r e n t ist. W o die Formalrealisten in der inneren Logik, folgerichtigen M o t i v a t i o n u n d nachvollziehbarer

Vorstellungsentwicklung

ein strategisches Mittel sahen, die Illusion der W a h r h e i t zu erzeugen, erklären die m o d e r n e n R o m a n c i e r s gerade das M o m e n t d e r inneren Stimmigkeit als ein integrales M o m e n t d e r Fiktionenbildung. W o die f r ü h e n Romanciers das M o m e n t d e r Perspektivität u n d A n s i c h t s h a f t i g k e i t der dargestellten Sinnzus a m m e n h ä n g e u n t e r d e m Schleier d e r b e h a u p t e t e n A u t h e n t i z i t ä t u n d Faktizität zu v e r b e r g e n suchten, zerreißen die m o d e r n e n R o m a n c i e r s im Verein mit d e r kritischen L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t diesen Schleier, u m das M o m e n t der subjektiv-perspektivischen A n s i c h t s h a f t i g k e i t und Jeweiligkeit von in sich sinnvollen V o r s t e l l u n g s k o m p l e x e n b e w u ß t zu machen. Beabsichtigten die konventionellen Formalrealisten mit ihren Strategien die Übertragung

posi-

tiver W e r t u r t e i l e ü b e r den T e x t als zuverlässiges M e d i u m auf die d u r c h d a s Textvehikel zu v e r m i t t e l n d e n W e r t v o r s t e l l u n g e n , so wird bei den b e t r a c h t e ten R o m a n e n die Zuverlässigkeit des M e d i u m s ebenso radikal in F r a g e gestellt wie die Gültigkeit d e r d a d u r c h zu vermittelnden V o r s t e l l u n g e n : Durrell wie D r a b b l e liegt d a r a n , g e r a d e die Vorstellung der Jeweiligkeit u n d Uberh o l b a r k e i t der W e l t - u n d W e r t v o r s t e l l u n g e n , d. h. ihre Geschichtlichkeit zu d e m o n s t r i e r e n , indem sie sie als F u n k t i o n e n von S t a n d o r t , Sehweise u n d Interesse

durchschaubar

machen:

Faktoren,

die

historisch-variabel,

aber

grundsätzlich u n a u s s c h a l t b a r sind. W e n n - wie es bei den b e t r a c h t e t e n R o m a n t e x t e n d e r Fall ist - neben die I n t e n t i o n , Vorstellungen zu vermitteln, die a n d e r e I n t e n t i o n tritt, ebendiese 33

34

Ibid., 110: >Und wer kann sagen, ob ich jetzt einen wahren Bericht wagen werde?< (Übers, v. Verf.) Ibid., 180. 153

Vorstellungen als Funktionen von Standort, Sehweise, Interesse und d a m i t a l s Weltansichten

zu enthüllen, d e r e n i n n e r e K o h ä r e n z u n d S i n n h a f t i g k e i t

d u r c h F i k t i o n e n im S i n n e v o n T h e o r i e n u n d M o d e l l v o r s t e l l u n g e n b e d i n g t ist, d a n n sind d i e s e T e x t e g e r a d e d e r I n t e n t i o n u n d d e m I n t e r e s s e n a c h r a d i k a l u n t e r s c h i e d e n v o n R o m a n t e x t e n , in d e n e n d i e J e w e i l i g k e i t d e r A n s i c h t h a f t i g keit e n t w e d e r nicht w a h r g e n o m m e n o d e r b e w u ß t verschleiert wird. D i e s e n neueren T e x t e n ist d i e F u n k t i o n z u g e d a c h t , eine ü b e r die K r i t i k d e s R o m a n s im e n g e r e n S i n n e h i n a u s g e h e n d e , a l l g e m e i n e E r k e n n t n i s k r i t i k zu leisten, welc h e a u c h d i e h i s t o r i o g r a p h i s c h e n o d e r f a k t o g r a p h i s c h e n T e x t e einschließt. H i e r t r i f f t sich die v o n S e i t e n d e r R o m a n c i e r s v e r f o l g t e I n t e n t i o n m i t d e r d e s P h i l o s o p h e n K a r l P o p p e r , d e r m i t seiner fallibilistischen E r k e n n t n i s k r i t i k , d i e a u f d e r G e s c h i c h t e d e r n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n T h e o r i e b i l d u n g b e r u h t , die T h e s e zu e r h ä r t e n v e r s u c h t , >daß wir alle G e s e t z e o d e r T h e o r i e n a l s H y p o thesen o d e r V e r m u t u n g e n b e t r a c h t e n m ü s s e n < , " d a ß letztlich v o n j e d e r T h e o rie, so p r o d u k t i v sie eine Z e i t l a n g in praxi

sein o d e r g e w e s e n sein m a g , a n -

z u n e h m e n ist, d a ß sie d u r c h eine n e u e T h e o r i e f a l s i f i z i e r b a r u n d ü b e r h o l b a r ist, d e r e n V a l i d i t ä t u n d W a h r h e i t d a r u m a b e r nicht a l s erwiesen gelten k a n n .

" Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis 154

(Hamburg, 1973), 21.

Namenregister

Abraham 43 Althaus 31 Aristoteles 83 Arnold 76 Bach 43 Bacon 137 Ball 117 Barthes 14-16 Baudissin 57, 111 Baumgärtner 74 Beckett 40, 149 Behn 140, 144 Beißner 145 Bennett 145 Bense 31 Bergson 83 Bernstein 79 Blake 26 Blumensath IX Booth 53 Brecht 83 Breuer XI Brooks 26 Brugmann 17 Bunyan 40, 136, 139 Burke 4 Chomsky 49 Clemen 110 Congreve 139 Cope 137 Dahrendorf 75, X Daly 50 Davenant 53 Defoe 1 1 4 , 1 4 1 - 1 4 2 , 1 4 4 Demetz 48 Donne 63 Drabble 151, 153 Dreitzel 75 Dressler XI Dryden 53 Durrell 148-150, 153 Duthie 111 Eco 31, 34, 37, 56, 65, XI

Eibl-Eibesfeldt 78 Eichenbaum 5 Eliot 6 6 - 6 7 Erlich 4, 22 Esslin 67 Estermann 51 Fielding 65, 128, 143 Fietz 79 Fillmore 43 Fischer 63 Flitner 79 Frank 4, 25 Freeman 50 Gallas IX Gauger 17 Göller 139 Grabes 26, 61 Greene 48 Grimm 79 Günther IX Halfmann 4 Hansen 120 Harms 43 Hartshorne 33 Harvey 36 Hayward 26 Hemingway 67 Henderson 144 Henne 31 Herbert 135, 139 Holenstein 17 Hulme 12 Husserl 11 Huxley 145, 147, 153 Hyman 4 Ingarden 2 1 , 2 4 , 2 6 Iser 12, 15, 21, 40, 67, 118, 127, 149 Jakobson 5, 7, 12, 17, IX J a m e s 145 Jameson 4 J a n i k IX Jauß X Jones 137 Jonson 85 Joyce 75, 145 Kafka 145 Kniiii 51 Krappmann 75 Kreuzer 133 Lang 67

155

L a n g e n d o e n 43 Levin 48 Levy-Strauss IX Lichatschow 24 Link 79 Lohner 4, 25 L o t m a n n IX Lovejoy 115 Lubbers 79 Lubbock 64 M c K e r r o w 135 Metz 51 Miller 114 Müller 65 Muir 110 Mukarovsky 7, 13, 15 Nashe 135, 137 N a u m a n n 25 Nelson 48 Newbolt 99 Nietzsche 146-147 Novak 1 1 4 , 1 4 2 N o w o t t n y 74 O g d e n 33 Olson 4 O s t h o f f 17 Paulus 136 Peirce 33, 50 Picard 18 Pinter 6 7 - 6 8 , 110 Pope 61, 63, 116 P o p p e r 154 Posner 74 Quiller-Couch 89 Rach 51 Ransom 4 Reif IX Richards 33 Richardson 142, 144 Sams 76 Saussure, de 32, 34 Schaeder 66 Schaller 65 Scheffel 14 Scheuerl 79 Schirmer 138 Schiwy IX Schlegel 5 4 - 5 5 , 89 Schmidt 17, X I Schücking 53

156

Scott 145 Sedlmayer 115 Shakespeare 41, 44, 5 1 - 5 2 , 54, 63, 89, 110-111 Shaw 52 Sklovskij 5, 11, 26, 74, 82 Skreb 25 Sprat 137 Staiger 77, 83, 85 S t a m m 53 Stanzel 64 Stegemeier 50 Stempel 5, 11 Sterne 82, 144 Summers 140 Swift 76, 117, 120-121 T a b b e r t 68 T h o m p s o n 4, 50 Tillyard 45 T i m o t h e u s 136 Tolstoj 11 Udall 90 Vaihinger 146 Viebrock 66 Vivas 4 Walker 52 Walpole 144 W a l t h e r 31, 33, 56 Warren 1 2 , 2 2 , 2 5 - 2 6 Weimann 4 Weiss 33 Wellek 4, 12, 2 2 - 2 3 , 2 5 - 2 8 Wickler X W i e g a n d 31 Wieland 143 Wienold 74, 127 Wilde 145 Wilson 41, 52, 54, 89, 111 W i m s a t t 78 Wolff 25, 40 ¿ i r m u n s k i j 26, 74 Z m e g a c 25

Sachregister

Fernsehen

51

Fiktion

10, 127, 136, 138, 146

Fiktion

der

Realitätsbezogenheit

Fiktion der Unmittelbarkeit Fiktionalisierung

147, 1 5 0 - 1 5 1

Fiktionsbildung

152-153

Fiktionsfeindlichkeit Abwertung

Fiktivität

110,112

ästhetisch

8, 12

Ästhetische, das Aktivierung

22

108

Analyse, thematische Ansicht

106

Appellstruktur

Auslegungsspielraum

Autonomie Autor

105 126

8, 12, 23

Automatisierung

108

4, 9

Bedeutung

begrifflich-argumentativ

64

Code, thematischer

[ 145

39, 42, 46, 101

43 15, 127

D i c h t u n g als E r f i n d u n g Dokumentenfiktion Einheit, kulturelle

strategische

70

-

thematische

54, 70

entprogrammieren

3, 10, 16, X 15, 53, 77

Gemeinte, das

19, 39, 47 144

21, 148

Handlung, symptomatische

66

Herleitbarkeit von Werten

108

82

-

76-77

60, 128

10,134

der Sinnhaftigkeit der Wahrheit

Illusionierung

117

77

Erzählen, historisches

134

66-67

108

Illustrant

62

Imagery

1 10

144

153

124, 140

Illusionierungsstrategie 67

20

119,127,147

der Ubereinstimmung

Entsprechung, Gegenständliche

100

21

Gewohnheit 20,39,108,1 18,120,123-124 Gleichrichtung

12

78

Erholungsfunktion

74

76, 146

15, 21, 32, 34, 88,

Geschichtlichkeit

Illusion

Entfunktionalisierung

90

-

10

22

Hypothesenbildung

11 1

Entautomatisierung

154

öffentliche

Hypothese

142 37

Emotionalisierung

Falsifizierung

-

27

Historisierung des Strukturbegriffes

85

50

fallibilistisch

kommunikative

historisch-funktional

136

Disposition, eskapistische

Externalisierung

innertextliche

-

Haltung

127

8

Entspannung

-

Gothic Novel

Deutungshypothese

Emblem

27

Gattungskonvention

46

Deutungsaktivität Dichtung

des T e x t e s

Funktionsdifferenzierung

64

19, 74, 79, 133, 135,

Charakterisierung

Codeverb

23

-

Funktionalität

Bild 51, 6 4

Codestruktur

12

5, 20, 34, 62, 149

Funktionalismus

9 - 1 0 , 14, 16

11,21

Bild v o m L e s e r

3 - 4 , 6, 11, 24

f u n k t i o n a l 9, 20, 76

13, 1 9 - 2 1

Autoreflexivität

23

Formalismus

Funktion, ästhetische

15

außerästhetisch

7

Form-Inhalt

Funktion

107

A u f l ö s u n g 90, 117 Aufwertungsverfahren

51

Form

1 3 4 - 1 3 5 , 139, 143

134

formalstrukturalistisch

8, 1 2 , 2 1 , 123, 1 5 2 - 1 5 3

Anthropomorphisierung

Film

142

145

134, 147

Indeterminiertheit, semantische Individualbewußtsein Individuum

67, 127

17

16-18,44,47-48

Infragestellung

117

157

M e c h a n i s i e r u n g 108 I n s t r u m e n t a l i t ä t 21 M e d i e n 51 Inszenesetzung 57, 64, 6 9 Intention 14, 1 8 - 1 9 , 23, 28, 39, 54, 4, M e d i e n r h e t o r i k 50, 5 3 7 8 - 7 9 , 82, 90, 122, 154 M e h r d e u t i g k e i t 16 Interesse 1 5 3 - 1 5 4 M e t a p h e r 56, 64, 139 I n t e r n a l i s i e r u n g 108 M e t a p h e r n b i l d u n g 58 Interpret 56 Mitteilung 8 I n t e r p r e t a b i l i t ä t 67, 126 Mittel, rhetorische 40, 53 Interprétant 56, 59, 62, 64, 6ß, 88 Modellbildung 3 Irritation 117 Modus, begrifflich-argumentativer 69 J e w e i l i g k e i t 20, 1 2 3 - 1 2 4 , 150, IX bildlicher 69 Kasustheorie 4 3 metaphorischer 69 K l a n g 11 m o n o p e r s p e k t i v i s c h 98, 1 2 3 - 1 2 4 Kollektiv 1 7 - 1 8 , 3 8 , 4 7 - 4 8 Mythos 146-147 K o m m u n i k a t i o n 12, 3 1 , 8 8 , X I New Criticism 4, 6 K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m 34 Nicht-Kunstwerk 7 K o m m u n i k a t i o n s u m s t a n d 84 Norm 24, 8 4 - 8 5 , 121, 123, 128 K o m ö d i e 83 N o r m a b w e i c h u n g 85, 97 Komponente, semantische 4 1 , 5 8 N o r m a l i s i e r u n g 127 Konservierung X N o r m b e g r i f f 119 Konvention 20, 57 N o r m b e s t ä t i g u n g 90, 97 K o n v e n t i o n a l i s i e r u n g 143 N o r m b e w u ß t s e i n 84, 119 K o o p e r a t i o n 3, 1 3 , 8 2 , 129, XI Normen, P l u r a l i t ä t von 119 K o o r d i n a t i o n 4, XI N o r m p r o b l e m a t i s i e r u n g 1 19 Kopplung, thematische 96 Normprogramm 85 K o r r e s p o n d e n z 58 Normrahmen 92 Kultur als K o m m u n i k a t i o n X I Normverfestigung 90 K u l t u r g e s c h i c h t e 76 Novel 139 Kunst 8 O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r , rhetorische 39, 49 Kunstsprache 9 O b j e k t 35 Leerstellen 69, 126 objektivistisch 3, 13, 16, 2 2 - 2 3 , 28, X L e g i t i m i e r u n g 9 0 , 9 8 , 108, 116 Ö f f e n t l i c h k e i t 38 L e s e h y p o t h e s e 8, 10, 6 8 O p e r a t i o n s m o d e l l 19 Leser 13, 21, 28, 40, 79, 101, 128, II 9, P a r a d i g m a , s e m a n t i s c h e s 3 6 , 4 1 , 5 6 152, X Paraphrase 49-50 - intendierter 75, 87 P a r o d i e 80, 82 - r e a l e r 75 Parteilichkeit 97, 124 perspektivisch 37, 148 L e s e r a k t i v i e r u n g 126 P e r s p e k t i v i t ä t 1 8 , 2 1 , 125, 153 L e s e r b i l d a n a l y s e 108 P l a u s i b i l i s i e r u n g 90, 116 L e s e r b i l d k o n v e n t i o n 76, 143 Poetizität 7, 74 L e s e r e r w a r t u n g 118 Polyperspektivität 123-124 Lexikon 3 3 , 3 5 , 5 1 P r a g e r S t r u k t u r a l i s m u s 4, 12 L i t e r a r i s i e r u n g 152 P r i m ä r p r o g r a m m 81 L i t e r a r i z i t ä t 5, 23 P r o b l e m a t i s i e r u n g 108 Literaturgeschichte 82 Propaganda 8 L i t e r a t u r h a f t i g k e i t 104 p s e u d o l o g i s c h 108 l i t e r a t u r s p r a c h l i c h 74 L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t , a l l g e m e i n e 5 6, R e a l i s a t i o n s m o d u s , b e g r i f f l i c h - a r g u m e n t a t i v e r 61 13, 22 dramatischer 64 M a t e r i a l i e n 5, 26

158

- fiktionaler 64 Realitätsbezogenheit 150 Realitätsentwurf 38 Referens 35 Regulativ des Textes 39, 46 Repraesentamen 34 Rezeptionsforschung 40, 79 Rhetorik 8, 53, 133 Rhetoriktypen 60 Rolle 75 R o m a n 133, 147 R o m a n c e 139 Romankritik 148 R o m a n s t r u k t u r 133 Royal-Society 137 Rückwirkung 81 Sakralisierung 101 Schichtenmodell 26 Sehbedingung 123 Sehgewohnheit 12, 124 Sehweise 12, 19, 21, 35, 119, 123-1 148-149, 153 Sekundärprogramm 8 1 Semiose 56 Semiotik 3 1 , X - X I - medizinische 65 Signifikans 32 Signifikat 32, 3 4 - 3 5 , 41 Sozialgeschichte 82 Sprecherhaltung 44 S t a n d o r t 21, 124, 148-149, 153 Steuerung 110 Steuerungselement 46 Strategie 40, 79, 90 Strategiekonvention 144 strategisch 11 Struktur 20, 26, IX Struktur des menschlichen Geistes Struktur, ästhetische 27 Strukturale Anthropologie IX Strukturalismus 3, 20, 25, 28, IX Strukturbegriff 25, 27 Strukturbeschreibung 47 Strukturgeschichte 47, 82 Strukturwandel 48 Substitut, bildliches 56 Substitution 57 T a b u 53 T a b u i e r u n g 98, 101, 104, 108 Tabuierungsstrategie 103

Text 5, 28, 35 Text als Instrument 73, 81, X T e x t a u f f a s s u n g 22 instrumentale 28 T e x t a u t o r 82 Textbeschreibungsmodell 31 Texte, epigonale 76 originale 76 T e x t f u n k t i o n 7, IX T e x t f u n k t i o n s b e s c h r e i b u n g 73, 83, 128 Textfunktionsgeschichte 77 Textkonstitution 7 Textlinguistik X I Textrezipient 82 Textrhetorik 54 T e x t s e m a n t i k 61 Textstrategie 87 T e x t s t r u k t u r 21, 39, 82, 126, 139, 141, 143, IX Texttheorie XI T h e m a 20, 48 thematisch 11 T h e m a t o l o g i e 48 T h e m e n k o p p l u n g 101 T h e m e n o r g a n i s a t i o n 40 Themenrealisierung 5 7 , 6 1 , 6 4 Themenverschlüsselung 67 Theorie des Komischen 83 Theorie des Lächerlichen 83 Tiefenstruktur, syntaktische 49 thematische 3 1 , 3 9 - 4 0 , 4 9 , 5 6 T r a g ö d i e 83 Überholbarkeit 2 0 , 7 8 , 8 1 , 125, 153 Ü b e r t r a g u n g 5 8 - 6 0 , 6 2 - 6 3 , 70, 87, 100, 104, 106-107, 153 Ü b e r t r a g u n g s t y p e n 59 U m p r o g r a m m i e r u n g 81, 119 U m s t r u k t u r i e r u n g 4 7 - 4 8 , 1 13, X U m w e r t u n g 98, 108 Universalien 19, 49 Vereindeutigung 16 Verfahren 5 V e r f r e m d u n g 1 1, 83, 124 Verschlüsselung 5 6 - 5 7 , 60, 69 Verschlüsselungsgrad 59 Virtualität 118 Voreinstellung 137 V o r p r o g r a m m 16, 22, 28, 75, 78, 80, 83, 98, 113, 126, 133, 142 Vorstellungsaktivierung 70

159

Vorstellungsbild 35 ikonische 5 0 - 5 1 Vorstellungserzeuger 4 6 - 4 7 , 58 - symbolische 50 Vorstellungserzeugung 14, 89 Zeichenbegriff 1 4 , 2 0 , 3 1 Zeichendefinition 19 Vorstellungsgewohnheit 52 Zeichendefinition, objektivistische Vorstellungslenkung 14, 150 Z e i c h e n e m p f ä n g e r 32 V o r s t e l l u n g s p r o g r a m m 28, 39 Z e i c h e n f u n k t i o n 7, 14, 33, 35, 65 Vorstellungsstruktur 4 4 - 4 7 Zeichengebrauch 36 Vorstellungsuniformierung 48 Zeichenobjekt 20, 3 6 - 3 7 , 43, 5 7 - 5 8 Vorstellungswelt 35, 73 Zeichenorganisation 31 Vorurteil 1 1 7 , 1 2 0 , 1 2 3 , 1 3 5 Zeichensender 32 V o r u r t e i l s p r o g r a m m 136 Zeichensystem 34 W a h r h e i t 138 Zeichenwahl 31 W a h r h e i t s a n s p r u c h 140 Zeugenfiktion 141 W a h r h e i t s b e t e u e r u n g 134 Z u s c h a u e r h a l t u n g 44 W a h r n e h m u n g s w e l t 35 Zweck 22, 73, 82, 88, 117 Wahrscheinlichkeitsanspruch 140 Zweckfreiheit 12, 22, 77 Werbung 104-105 Zweckhaftigkeit 104 Werkästhetik 13, 22, 127, X Werkanalyse 6 Werktheorie 27 W e r t a u f f a s s u n g 80 Wertbereich 109 W e r t e r f a h r u n g 109 Wertkriterium 77 W e r t p r o g r a m m 104, 108, 117 Wertübertragung 101-102,113 Strategie der 108 Werturteilslenkung 40, 7 3 - 7 4 , 90, 96, 104, 106-107, 110, 113, 124, XI Wertvorstellung 106 Wert weit 73 Wirkästhetik 13, 22 W i r k f u n k t i o n 80 Wirkintention 11 Wirkkalkül 39, 81, 90, 100, 109 Wirklichkeitsanalyse 103 Wirklichkeitsanschauung 138 Wirklichkeitsbezug 137 Wirklichkeitsmodell 2 0 , 4 9 , 143-144, IX Wirksamkeit 22, 27 ästhetische 27 W i r k u n g 28, 70 intendierte 28, 87 wirkungsästhetisch 12, 27, 73, X Wirkungserzeugung 87 W i s s e n s c h a f t s a u f f a s s u n g 6, 22 Wissenschaftsgeschichte 3, 6, 23 wissenschaftspolitisch 6 Wohlgefallen, ästhetisches 23 Zeichen 28

160

32